„Übergeneralisierung (Linguistik)“ – Versionsunterschied

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'''Übergeneralisierung''' bedeutet, dass eine Sprachform regelwidrig nach dem Vorbild einer oder mehrerer anderer Sprachformen gebildet wird. Der Begriff wird besonders häufig in der [[Sprachdidaktik]] und in der [[Spracherwerb]]sforschung verwendet. Übergeneralisierungen kommen dann zustande, wenn ein Sprecher/Schreiber einen Ausdruck verwenden möchte, dessen Verwendungsmöglichkeiten er nicht oder nicht sicher genug kennt.
'''Übergeneralisierung''', auch '''Überregularisierung''',<ref>Jörg Meibauer et al.: ''Einführung in die germanistische Linguistik.'' 2007, ISBN 978-3-476-02141-0, {{Google Buch|BuchID=c4D7DAAAQBAJ|Seite=276|Hervorhebung="Daher findet man neben dem älteren Begriff Übergeneralisierung heute häufiger den Begriff Überregularisierung."}}</ref> bedeutet in der Sprachwissenschaft, dass eine Sprachform regelhaft, aber unüblich nach dem Vorbild einer oder mehrerer anderer Sprachformen gebildet wird. Der Begriff wird besonders häufig in der [[Sprachdidaktik]] und in der [[Spracherwerb]]s&shy;forschung verwendet. Übergeneralisierungen kommen auch dann zustande, wenn ein Sprecher/Schreiber einen Ausdruck verwenden möchte, dessen Verwendungsmöglichkeiten er nicht oder nicht sicher genug kennt.


== Übergeneralisierung im Spracherwerb ==
== Übergeneralisierung im Spracherwerb ==
Besonders auffällig sind Übergeneralisierungen bei Kindern, die dabei sind, ihre [[Muttersprache]] zu erlernen. Es dauert eine Weile, bis sie den Wortschatz und die Regelsysteme soweit beherrschen, dass sie sie sicher und angemessen anwenden können. In der Entwicklungsphase, in der dieses Stadium noch nicht erreicht ist, können Übergeneralisierungen gehäuft beobachtet werden. So ist immer wieder zu hören, dass Kinder die unregelmäßigen Verben mit regelmäßigen, dadurch aber falschen Formen verwenden, wie beispielsweise „fliegte“ oder „trinkte“. [[Els Oksaar]], die ausführlich auf Übergeneralisierungen eingeht und ihnen eine „systembildende Wirkung“ zuschreibt, zitiert als weiteres Beispiel den Satz: „Opa hat gesitzt und gelest.“<ref>Els Oksaar: ''Spracherwerb im Vorschulalter. Einführung in die Pädolinguistik.'' Kohlhammer, Stuttgart 1977, ISBN 3-17-004471-0, Seite 198f.</ref>
Besonders auffällig sind Übergeneralisierungen bei Kindern, die dabei sind, ihre [[Muttersprache]] zu erlernen. Es dauert eine Weile, bis sie den Wortschatz und die Regelsysteme so weit beherrschen, dass sie sie sicher und angemessen anwenden können. In der Entwicklungsphase, in der dieses Stadium noch nicht erreicht ist, können Übergeneralisierungen gehäuft beobachtet werden. So ist immer wieder zu hören, dass Kinder die [[Starkes Verb|starken]] („unregelmäßigen“) Verben mit [[Germanisches schwaches Verb|schwachen]] („regelmäßigen“) verwechseln. Dadurch verwenden sie Formen wie „fliegte“ oder „trinkte“. [[Els Oksaar]], die ausführlich auf Übergeneralisierungen eingeht und ihnen eine „systembildende Wirkung“ zuschreibt, zitiert als weiteres Beispiel den Satz: „Opa hat gesitzt und gelest.“<ref>Els Oksaar: ''Spracherwerb im Vorschulalter. Einführung in die Pädolinguistik.'' Kohlhammer, Stuttgart 1977, ISBN 3-17-004471-0, S.&nbsp;198&nbsp;f.</ref>


Das gleiche [[Phänomen]] tritt auch bei [[Substantiv]]en auf, wenn es darum geht, diese im [[Plural]] zu verwenden. Hans Ramge berichtet von seinem Sohn Peter, wie er nach und nach eine Pluralendung nach der anderen lernt und diese immer wieder verallgemeinert, dabei auch verschiedene Formen gleichzeitig nebeneinander, so z. B. „Räder“ neben „Rade“ und „Räders“.<ref>Hans Ramge: ''Spracherwerb. Grundzüge der Sprachentwicklung des Kindes.'' 2., überarbeitete Auflage. Niemeyer, Tübingen 1975, ISBN 3-484-25016-x, Seite 68ff.</ref>
Das gleiche Phänomen tritt auch bei [[Substantiv]]en auf, wenn es darum geht, diese im [[Plural]] zu verwenden. [[Hans Ramge]] berichtet von seinem Sohn, der nach und nach eine Pluralendung nach der anderen lernt und diese immer wieder verallgemeinert, dabei auch verschiedene Formen gleichzeitig nebeneinander, so z.&nbsp;B. „Räder“ neben „Rade“ und „Räders“.<ref>Hans Ramge: ''Spracherwerb. Grundzüge der Sprachentwicklung des Kindes.'' 2., überarbeitete Auflage. Niemeyer, Tübingen 1975, ISBN 3-484-25016-X, S.&nbsp;68&nbsp;ff.</ref>


== Übergeneralisierung als allgemeine Sprecherstrategie ==
== Übergeneralisierung als allgemeine Sprecherstrategie ==
Natürlich sind Übergeneralisierungen nicht auf Kinder im Spracherwerbsalter beschränkt. Es handelt sich vielmehr um eine Strategie, der alle Menschen gelegentlich folgen, wenn sie einen Ausdruck gebrauchen wollen oder müssen und dessen Verwendungsregeln nicht kennen. [[Analogie (Sprachwissenschaft)|Analogie]] oder [[Regel]]übertragung führen in solchen Fällen zu Übergeneralisierungen.
Übergeneralisierungen sind nicht nur auf Kinder im Spracherwerbsalter beschränkt. Es handelt sich vielmehr um eine Strategie, der alle Menschen gelegentlich folgen, wenn sie einen Ausdruck gebrauchen wollen oder müssen und dessen Verwendungsregeln nicht kennen. [[Analogie (Sprachwissenschaft)|Analogie]] oder [[Regel (Richtlinie)|Regelübertragung]] führen in solchen Fällen zu Übergeneralisierungen.


== Hyperkorrektur und Übergeneralisierung ==
== Hyperkorrektur und Übergeneralisierung ==
[[Hyperkorrektur]] ist ein Phänomen, das gelegentlich als eine Form von Übergeneralisierung angesehen wird. So findet man im Artikel „Übergeneralisierung“ bei Helmut Glück einen Verweis auf „Hyperkorrektur“ dergestalt, dass "Hyperkorrektur" als eine der Bedeutungen von "Übergeneralisierung" angegeben wird.<ref>Helmut Glück (Hrsg.), unter Mitarbeit von Friederike Schmöe: ''Metzler Lexikon Sprache.'' Dritte, neubearbeitete Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, ISBN 978-3-476-02056-7</ref>
[[Hyperkorrektur]] ist ein Phänomen, das gelegentlich als eine Form von Übergeneralisierung angesehen wird. So findet man im Artikel „Übergeneralisierung“ bei Helmut Glück einen Verweis auf „Hyperkorrektur“ dergestalt, dass „Hyperkorrektur“ als eine der Bedeutungen von „Übergeneralisierung“ angegeben wird.<ref>[[Helmut Glück]] (Hrsg.), unter Mitarbeit von [[Friederike Schmöe]]: ''Metzler Lexikon Sprache.'' 3., neu bearbeitete Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, ISBN 3-476-02056-8.</ref>


Hyperkorrektur wird ebenfalls für im Ergebnis falsche Sprachformen verwendet; anders als bei „Übergeneralisierung“ ist damit aber ein besonderer sozialer Aspekt verbunden: hyperkorrekte Formen haben ihre Ursache darin, dass jemand sich sprachlich an eine für vorbildhaft gehaltene Sprachform anpassen will und dabei „über das Ziel hinausschießt“.
Hyperkorrektur wird ebenfalls für im Ergebnis falsche Sprachformen verwendet; anders als bei „Übergeneralisierung“ ist damit aber ein besonderer sozialer Aspekt verbunden: Hyperkorrekte Formen haben ihre Ursache darin, dass jemand sich sprachlich an eine für vorbildhaft gehaltene Sprachform anpassen will und dabei „über das Ziel hinausschießt“.


== Übergeneralisierung als Folge der Rechtschreibreform von 1996 ==
== Übergeneralisierung in anderen Bereichen ==
Außer im Spracherwerb gibt es noch in anderen Bereichen Gegebenheiten, bei denen man von Übergeneralisierung spricht, z.&nbsp;B. in der Logik oder beim Einsatz [[Künstliches neuronales Netz|künstlicher neuronaler Netze]].
{{Quelle}}
Seit der [[Rechtschreibreform]] von 1996 hat die Zahl der ss/ß-Fehler sowie der Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung und Auseinander- und Zusammenschreibung aufgrund von Übergeneralisierungen der Regeländerungen deutlich zugenommen. Typische Fehler bestehen darin, unabhängig von der grammatischen Bedeutung Komposita möglichst getrennt, ohne ẞ oder Kommata, und Verben mit Versalinitial zu schreiben. Übergeneralisierungen bei der Getrenntschreibung wirken sich bei Deutschmuttersprachlern auch auf deren englische Orthographie aus. So läßt sich eine deutliche Zunahme fälschlich getrenntgeschriebener englischer Komposita ("down load" statt korrekt "download", "set up" statt korrekt "setup", "home made" statt korrekt "homemade" etc.) seit der Rechtschreibreform beobachten.


== Weblinks ==
== Weblinks ==
{{Wiktionary|Übergeneralisierung}}
{{Wiktionary|Übergeneralisierung}}

== Literatur ==
* G. Marcus, S. Pinker, M. T. Ullman, M. Hollander, J. Rosen, F. Xu: ''Overregularization in language acquisition.'' (= ''Monographs of the Society for Research in Child.'' 228). University of Chicago Press, Chicago 1992, ISBN 0-226-50456-5.


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
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[[Kategorie:Angewandte Linguistik]]
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[[Kategorie:Scheinargument]]

[[ar:التعميم المتحيز]]
[[ca:Secundum quid]]
[[el:Βεβιασμένη γενίκευση]]
[[en:Hasty generalization]]
[[es:Generalización apresurada]]
[[fa:تعمیم شتاب‌زده]]
[[fi:Hätäinen yleistys]]
[[he:הכללה חפוזה]]
[[hu:Secundum quid]]
[[ja:早まった一般化]]
[[ko:성급한 일반화]]
[[nl:Overhaaste generalisatie]]
[[ro:Generalizarea pripită]]
[[zh:輕率概化]]

Aktuelle Version vom 20. Februar 2023, 15:59 Uhr

Übergeneralisierung, auch Überregularisierung,[1] bedeutet in der Sprachwissenschaft, dass eine Sprachform regelhaft, aber unüblich nach dem Vorbild einer oder mehrerer anderer Sprachformen gebildet wird. Der Begriff wird besonders häufig in der Sprachdidaktik und in der Spracherwerbs­forschung verwendet. Übergeneralisierungen kommen auch dann zustande, wenn ein Sprecher/Schreiber einen Ausdruck verwenden möchte, dessen Verwendungsmöglichkeiten er nicht oder nicht sicher genug kennt.

Übergeneralisierung im Spracherwerb

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Besonders auffällig sind Übergeneralisierungen bei Kindern, die dabei sind, ihre Muttersprache zu erlernen. Es dauert eine Weile, bis sie den Wortschatz und die Regelsysteme so weit beherrschen, dass sie sie sicher und angemessen anwenden können. In der Entwicklungsphase, in der dieses Stadium noch nicht erreicht ist, können Übergeneralisierungen gehäuft beobachtet werden. So ist immer wieder zu hören, dass Kinder die starken („unregelmäßigen“) Verben mit schwachen („regelmäßigen“) verwechseln. Dadurch verwenden sie Formen wie „fliegte“ oder „trinkte“. Els Oksaar, die ausführlich auf Übergeneralisierungen eingeht und ihnen eine „systembildende Wirkung“ zuschreibt, zitiert als weiteres Beispiel den Satz: „Opa hat gesitzt und gelest.“[2]

Das gleiche Phänomen tritt auch bei Substantiven auf, wenn es darum geht, diese im Plural zu verwenden. Hans Ramge berichtet von seinem Sohn, der nach und nach eine Pluralendung nach der anderen lernt und diese immer wieder verallgemeinert, dabei auch verschiedene Formen gleichzeitig nebeneinander, so z. B. „Räder“ neben „Rade“ und „Räders“.[3]

Übergeneralisierung als allgemeine Sprecherstrategie

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Übergeneralisierungen sind nicht nur auf Kinder im Spracherwerbsalter beschränkt. Es handelt sich vielmehr um eine Strategie, der alle Menschen gelegentlich folgen, wenn sie einen Ausdruck gebrauchen wollen oder müssen und dessen Verwendungsregeln nicht kennen. Analogie oder Regelübertragung führen in solchen Fällen zu Übergeneralisierungen.

Hyperkorrektur und Übergeneralisierung

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Hyperkorrektur ist ein Phänomen, das gelegentlich als eine Form von Übergeneralisierung angesehen wird. So findet man im Artikel „Übergeneralisierung“ bei Helmut Glück einen Verweis auf „Hyperkorrektur“ dergestalt, dass „Hyperkorrektur“ als eine der Bedeutungen von „Übergeneralisierung“ angegeben wird.[4]

Hyperkorrektur wird ebenfalls für im Ergebnis falsche Sprachformen verwendet; anders als bei „Übergeneralisierung“ ist damit aber ein besonderer sozialer Aspekt verbunden: Hyperkorrekte Formen haben ihre Ursache darin, dass jemand sich sprachlich an eine für vorbildhaft gehaltene Sprachform anpassen will und dabei „über das Ziel hinausschießt“.

Übergeneralisierung in anderen Bereichen

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Außer im Spracherwerb gibt es noch in anderen Bereichen Gegebenheiten, bei denen man von Übergeneralisierung spricht, z. B. in der Logik oder beim Einsatz künstlicher neuronaler Netze.

Wiktionary: Übergeneralisierung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  • G. Marcus, S. Pinker, M. T. Ullman, M. Hollander, J. Rosen, F. Xu: Overregularization in language acquisition. (= Monographs of the Society for Research in Child. 228). University of Chicago Press, Chicago 1992, ISBN 0-226-50456-5.

Einzelnachweise

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  1. Jörg Meibauer et al.: Einführung in die germanistische Linguistik. 2007, ISBN 978-3-476-02141-0, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  2. Els Oksaar: Spracherwerb im Vorschulalter. Einführung in die Pädolinguistik. Kohlhammer, Stuttgart 1977, ISBN 3-17-004471-0, S. 198 f.
  3. Hans Ramge: Spracherwerb. Grundzüge der Sprachentwicklung des Kindes. 2., überarbeitete Auflage. Niemeyer, Tübingen 1975, ISBN 3-484-25016-X, S. 68 ff.
  4. Helmut Glück (Hrsg.), unter Mitarbeit von Friederike Schmöe: Metzler Lexikon Sprache. 3., neu bearbeitete Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, ISBN 3-476-02056-8.