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Schabbat Schalom mit Michal Natovich| MDR KULTUR | 16.08.2024 Wochenabschnitt Waetchanan- Vom Privileg der Freiheit

18. Juli 2024, 09:48 Uhr

Freiheit, ein sicheres Zuhause und Geborgenheit im Leben sind nicht selbstverständlich – daran erinnert die Leipziger Religionspädagogin Michal Natovich in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts "Waetchanan".

"Damals rief ich den Herrn um Gnade für mich an: Lass mich doch hinüberziehen! Lass mich das prächtige Land jenseits des Jordan sehen, dieses prächtige Bergland und den Libanon!" (Deuteronomium 3)

Mit diesen Worten beginnt diese Woche der Wochenabschnit "Wa´et`chanan". Mosche, der große Anführer der Israeliten, fleht Gott an, ihn in das Land Israel zu lassen. Mosche, der als Baby dem sicheren Tod entkam und als Prinz von Ägypten aufgezogen wurde, der nach der Ermordung eines Polizisten aus Ägypten entkam, aber mit dem Auftrag von Gott zurückkehrte, sein Volk aus der Knechtschaft zu befreien.

Nach vierzig harten Jahren, in denen er die Israeliten durch die Wüste führte und mit Hunger, Durst, Kriegen und den endlosen Klagen der Israeliten konfrontiert war, fragte er Gott, nein, er flehte ihn an, das gelobte Land betreten zu dürfen. Aber Gott weigerte sich und sagte: „Genug! Trag mir diese Sache niemals wieder vor!“ (Deuteronomium 3,26)

Das Bild des alten Mosche, der allein auf dem Berggipfel steht und das Land Israel nicht betreten darf, um sein Volk in seinem Land leben zu sehen, ist herzzerreißend und erdrückend. Warum hat Gott ihn nicht hineingelassen, vor allem, nachdem er darum gebettelt hatte? Schließlich war Mosche derjenige, der am meisten getan und alle möglichen Schwierigkeiten auf sich genommen hatte, um die hebräischen Sklaven in ein freies Volk zu verwandeln. Viele Generationen lang rätselten die Kommentaren, warum.

In der Bibel steht eindeutig, dass Mosche bei einer früheren Gelegenheit sündigte, als Gott ihn aufforderte, das Wasser mit Worten aus dem Felsen zu holen. Mosche aber schlug zweimal auf den Felsen, zeigte damit seinen Zorn und hörte nicht wirklich auf die Worte Gottes. Eine weitere Interpretation liefert der Midrasch Rabba. Ihm zufolge war es nicht angemessen, dass Mosche als Anführer das Land Israel betreten durfte, da die gesamte Generation der aus Ägypten befreiten Sklaven bestraft wurde. 

So oder so, dieses starke Bild des alten Anführers, der auf dem Berg steht und das gelobte Land betrachtet, der sehnsüchtig darauf wartet, seine Lebensaufgabe zu erfüllen, den letzten Schritt aber nicht machen darf – dieses Bild ist herzzerreißend. Es könnte sein, dass dieses Bild so herzzerreißend ist, weil es uns etwas Wichtiges lehrt und uns etwas in Erinnerung ruft. 

Zunächst einmal erinnert es die neue Generation der Israeliten, die das Privileg hatte, in das gelobte Land zu ziehen, daran, dass dies in der Tat ein großes Privileg ist und nichts Selbstverständliches. Es könnte uns auch daran erinnern, dass wir dankbar sein sollten für die Gaben der Freiheit, des sicheren Zuhauses und der Geborgenheit in unserem Leben, denn nicht jeder hatte die Möglichkeit, sie zu haben. Und mit diesen Gedanken im Herzen wünsche ich uns allen Schabbat Schalom!

Zur Person: Michal Natovich Michal Natovich wurde 1979 in Israel geboren und wuchs in einer modernen orthodox-jüdischen Familie auf. Sie studierte Literatur auf Lehramt und arbeitete nach ihrem Diplom-Abschluss mehrere Jahre als Lehrerin für Hebräische Sprache und Literatur an einer israelischen Schule.

Seit 2012 wohnt sie mit ihrer Familie in Leipzig. Dort war sie als Hebräisch-Dozentin in verschiedenen Institutionen tätig.

Seit 2020 arbeitet sie als Lehrerin für Jüdische Religion in Leipzig und Dresden.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 16. August 2024 | 15:45 Uhr