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Aufarbeitung des Anschlags

Der Terror von Solingen, die grüne Ministerin und das „Organisationsversagen“

Autorenprofilbild von Kristian Frigelj
Von Kristian FrigeljKorrespondent
Veröffentlicht am 02.09.2024Lesedauer: 5 Minuten

Nach dem Messerangriff in Solingen debattiert der Landtag von Nordrhein-Westfalen über den islamistischen Anschlag und das Paket der Ampel zur Asylpolitik. „Konkret bleibt die Frage, wie es zum Abschiebeversagen kommen konnte“, so Reporter Max Hermes.

Bei einer Sondersitzung des NRW-Landtags geraten Ministerpräsident Wüst (CDU) und Flüchtlingsministerin Paul (Grüne) unter Druck: Die Opposition legt ihnen zur Last, dass der Terrorverdächtigen Issa Al Hassan nicht abgeschoben wurde. Die Grünen finden aber: Das könne man Paul „kaum zum Vorwurf machen“.

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Als Josefine Paul (Grüne) am Redepult steht, spricht sie nicht von „Fehlern“. Auch nicht von „Versäumnissen“, die sie zumindest in den Tagen zuvor erkannt habe. Nordrhein-Westfalens Flüchtlings- und Integrationsministerin sagt am Freitagmorgen stattdessen mehrfach, dass es „Lücken“ gebe.

Es fallen auch solche ungelenken Sätze: „Und der Terror muss auch etwas verändern. Er hat auf schmerzliche Weise offengelegt, dass es große Lücken in der sicherheitspolitischen Architektur unseres Landes gibt.“

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Die Sondersitzung im Landtag läuft seit eineinhalb Stunden, sie wurde wegen des tödlichen Messeranschlags eines syrischen Flüchtlings in Solingen einberufen. Paul kommt erst spät als Rednerin an die Reihe, da hat die Opposition bereits umfassend Kritik geübt. Die 42-Jährige wirkt unbeeindruckt – dabei geht es um ihren Verantwortungsbereich.

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne)
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne)Quelle: Christoph Reichwein/dpa; M. Popow/pa; kampee patisena/Getty Images/generativ bearbeitet; Montage: Infografik WELT

Eigentlich hätte der mutmaßliche Attentäter Issa Al Hassan bereits im Juni 2023 nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Das Land hatte längst grünes Licht gegeben: Ein Platz im Flugzeug mit Ziel Sofia, der bulgarischen Hauptstadt, war bereits reserviert. Doch als die Zentrale Ausländerbehörde in Bielefeld ihn nachts aus der Unterkunft in Paderborn abholen wollte, wurde er nicht in seinem Zimmer gefunden.

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Einen weiteren Versuch gab es nicht. Die Überstellungsfrist lief Ende August ab, und die Zuständigkeit für den Asylantrag ging von Bulgarien auf Deutschland über. Al Hassan wurde dann am 28. August 2023 nach Solingen zugewiesen. Fast genau ein Jahr darauf folgte dann die tödliche Messerattacke gegen drei Volksfest-Besucher in Solingen.

Abschiebungen sind Aufgabe der Bundesländer. Deshalb ist der Fall politisch so brisant für die schwarz-grüne Landesregierung. Es ist eine undankbare Zuständigkeit, wenn der Bund keine oder nicht ausreichenden Regelungen mit den Herkunftsländern zur Rücknahme trifft. Aber wenn es selbst in den wenigen möglichen Fällen misslingt, dann gerät eine Landesregierung in die Bredouille. Paul kündigt am Freitag an, man werde „alle Steine umdrehen, um auch in unserer Landesverantwortlichkeit die Systeme weiter besser aufzustellen“.

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Es ist auch ihre Kommunikation, die die Opposition besonders reizt. Paul meldete sich drei Tage nach der Tat erstmals zu Wort. Dabei gibt es warnende historische Beispiele, dass schon solch eine Verzögerung ein Fehler an sich ist. Nach den zahlreichen sexuellen Übergriffen von ausländischen Männern auf junge Frauen in Köln am Jahreswechsel 2015/2016 hatten die damalige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und ihr Innenminister Ralf Jäger (beide SPD) darauf erst Tage später reagiert.

Nach der Tat von Solingen waren Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), seine Stellvertreterin Mona Neubaur (Grüne) und Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) umgehend vor Ort. Pauls Abwesenheit fiel dennoch auf – und bietet der Opposition Anlass zur Kritik, die auch auf Wüst zurückfällt.

Paul und die „Klarstellung der Verfahrensweisen“

Viele sagen am Freitagmorgen im Landtag, dass Solingen eine „Zäsur“ bedeute. Die Tat von Solingen offenbart auf dramatische Weise lange bekannte Probleme bei der Registrierung, Unterbringung und beim Umgang mit Asylbewerbern und weitergereisten Flüchtlingen; gerade mit Migranten, die das Land eigentlich wieder verlassen müssten, weil sie keine Aufenthaltsberechtigung haben, aber dennoch bleiben können. Allein in NRW sind etwa 60.000 Menschen ausreisepflichtig, von denen aber fast 50.000 Personen eine Duldung besitzen.

Alles, was bisher über den mutmaßlichen Attentäter und den Umgang der Behörden mit ihm bekannt ist, deutet darauf hin, dass es auch Fehler in NRW gegeben hat. Das lässt sich zumindest aus den Veränderungen ableiten, die Paul nach der Tat angewiesen hat und die Laien wohl längst als Standard vorausgesetzt hätten. Die Zentralen Ausländerbehörden landesweit bekommen nun einen Zugriff auf An- und Abmeldesysteme der Unterkünfte, und müssen sich bei verpassten Flügen umgehend um neue kümmern. Die Unterkünfte müssen künftig melden, wenn ein Bewohner wieder auftaucht. Das war alles bisher so nicht vorgeschrieben. Paul nennt das „Klarstellung der Verfahrensweisen“.

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Von einem „schwarz-grünen Organisationsversagen“ spricht SPD-Fraktionschef Jochen Ott und nimmt Ministerpräsident Wüst in die Verantwortung. „Eine Abschiebung nach Bulgarien wäre ja möglich gewesen. Es ist das Abschiebemanagement dieser Regierung, das nicht funktioniert hat. Das war dysfunktional“, so Ott. „Sie hatten die Aufgabe, ihn zurückzuführen. Sie hatten die Zuständigkeiten und die Kompetenz, und Sie hatten damit auch die Verantwortung. Da erwarte ich einfach etwas mehr Selbstkritik und keine Ausflüchte“, so Ott. FDP-Fraktionschef Henning Höne fragt, warum der „bestehende Werkzeugkasten nicht genutzt wurde“.

Solche mitunter harte Oppositionskritik ist nicht ungewöhnlich und verpuffte bisher weitgehend, doch Solingen kann der dramatische Anlass sein, dass das hängen bleibt. Die Grünen-Fraktion stellt sich vor ihre Ministerin: „Was ganz Europa bei der Verteilung von Geflüchteten über Jahre nicht hinbekommt, kann man einer nordrhein-westfälischen Ministerin wohl kaum zum Vorwurf machen“, sagt Co-Fraktionschefin Verena Schäffer.

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Die Rückendeckung seitens Ministerpräsident Wüst fällt etwas anders aus. Denn er muss auch sich selbst schützen. Der Christdemokrat versucht am Freitagmorgen als erster Redner, die Deutungshoheit zu erlangen. Er macht es anders als später Paul und spricht mehrfach über Fehler. Er lobt zunächst die NRW-Flüchtlingsministerin dafür, dass sie „Versäumnisse“ benannt und Verbesserungen veranlasst habe. Sie sei auch bereit, jede Verbesserung in den Strukturen anzugehen, betont er. Das kann man als Unterstützung verstehen, aber auch als klaren Arbeitshinweis an die Ministerin.

„Mögliche Fehler, und seien es auch nur Fehler mit dem Wissen von heute, werden klar benannt“, sagt Wüst. „Maximale Transparenz“ sei die „Grundlage dafür, dass Fehler erkannt werden und sich nicht wiederholen“. Dem Ministerpräsidenten ist es wichtig, das noch ein weiteres Mal zu betonen: „Ja, möglicherweise wurden – auf welcher staatlichen Ebene auch immer – Fehler gemacht.“

Der Christdemokrat lobt auch, dass ein Untersuchungsausschuss im Landtag eingesetzt wird. „Ich bin überzeugt, es gibt eine Zeit vor Solingen, und es gibt eine Zeit nach Solingen“, sagt Wüst. Das gilt auch für seine Landesregierung – insbesondere für die NRW-Flüchtlingsministerin.

Politikredakteur Kristian Frigelj ist bei WELT zuständig für landespolitische Themen, vor allem in Nordrhein-Westfalen. Seine Artikel finden Sie hier.


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