1914: Das Ereignis und sein Nachleben
Von Kurt Pätzold
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Über dieses E-Book
Ein Jahrhundert später wird die Legende von den Ahnungslosen, die schlitternd oder taumelnd, nun gar schlafwandelnd in den Weltkrieg gerieten, reanimiert. Interessen und Ziele derer, die ihn bei vollem Bewusstsein vorbereiteten und auslösten, gehören zu den gemiedenen oder ins Abseits gestellten Themen. Die Fahndung nach den Kriegsschuldigen gilt als antiquiert. Sie jedoch nimmt der Historiker Kurt Pätzold mit der Frage nach Ursachen und Verursachern des "Weltfestes des Todes" (Thomas Mann) wieder auf. Ferner befasst er sich in seiner Arbeit mit den verklärenden Dogmen von Vaterlandsverteidigung und Heldentum, vom unbesiegten deutschen Kaiserheer und der den Nachkommenden auferlegten Pflicht, den angeblich für sie Gestorbenen "nachzueifern".
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Buchvorschau
1914 - Kurt Pätzold
Das Buch
Den Begriffen Urkatastrophe, Zweiter dreißigjähriger Krieg und Zivilisationsbruch haftet ein schwer wiegender Mangel an: Sie sagen nichts aus über das Wesen des Weltkrieges. Das leistete indessen eine Charakteristik, die keine nachträgliche Schöpfung ist, sondern vor dem Eintritt und inmitten der Ereignisse gebräuchlich war. Sie lautete imperialistischer Krieg und war eine entlarvende Entgegensetzung zur Lüge vom Verteidigungskrieg gegen jene, die ihre Familien, ihre Heimat, ihr Vaterland bedrohten, die Deutschland nicht »hochkommen« lassen wollten und es eingekreist hätten ... Die Charakteristik des Weltkrieges als imperialistischer Krieg ist weitgehend in Vergessenheit gebracht worden, und die genannten Begriffe erfüllen auch so etwas wie eine Verdrängungsfunktion. Aber die imperialistischen Pläne der beteiligten Großmächte lassen sich nun mal nicht aus der Geschichte retuschieren.
Der Autor
Kurt Pätzold, Jahrgang 1930, geboren in Breslau, studierte in Jena Geschichte, Philosophie und politische Ökonomie. Ging später nach Berlin und konzentrierte sich dort auf Lehre und Forschung auf seinem Gebiet: deutscher Faschismus und Imperialismus. Aufsehen erregte der international renommierte Historiker mit verschiedenen Publikationen zum Dritten Reich und der Judenverfolgung, darunter »Geschichte der NSDAP« und »Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite«. Zugleich beschäftigt er sich zunehmend mit peripheren Themen, die im weitesten Sinne den kulturhistorischen Hintergrund für den deutschen Nationalismus, Militarismus und Rassismus darstellen.
Impressum
ISBN eBook 978-3-89793-313-2
ISBN Print 978-3-89793-215-9
© 2014 verlag am park in der edition ost Verlag und Agentur GmbH, Berlin
Cover: Unter Verwendung eines Fotos von Robert Allertz, Soldatenfriedhof in Verdun, 2013
Fotos: Robert Allertz
verlag am park im Vertrieb der Eulenspiegel Verlagsgruppe
www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de
Kurt Pätzold
1914
Das Ereignis und sein Nachleben
Vorsatz
Friedrich Engels (1820-1895),
geschrieben am 15. Dezember 1887 als Einleitung zu Sigismund Borkheim, Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807, Hottingen-Zürich 1888
Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, |351| wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt. Das ist es, meine Herren Fürsten und Staatsmänner, wohin Sie in Ihrer Weisheit das alte Europa gebracht haben.
Aus: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, Berlin/DDR 1962 S. 351
Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke (1800-1891),Generalstabschef der preußischen und der deutschen Armee.Aus seiner Rede, gehalten als Abgeordneter des Reichstages am 14. Mai 1890
Meine Herren, wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt – wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegeneinander in den Kampf treten; keine derselben kann in ein oder zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, dass sie sich für überwunden erklärte, dass sie sich nicht wieder aufrichten sollte, wenn auch erst nach Jahresfrist, um den Kampf zu erneuern. Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden –, und Wehe dem, der zuerst die Lunte an das Pulverfass schleudert.
Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages VIII. Legislaturperiode, I. Session 1890/91, 4. Sitzung, 14. Mai 1890, S. 76
August Bebel (1840 -1913),
Rede im Deutschen Reichstag am 11. November 1911
So wird man eben von allen Seiten rüsten und wieder rüsten … Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Mllionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. – Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch … Er kommt nicht durch uns, er kommt durch Sie selber … Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge, (Lachen) Seien Sie sicher, sie ist im Anzug! Sie stehen heute auf dem Punkte, Ihre eigene Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben!
Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 268, S. 7722
Zuvor
2014 wird es am 28. Juli exakt ein Jahrhundert her sein, dass die Habsburger k.u.k.-Monarchie Serbien angriff und damit einen Krieg begann, den Kenner der deutschen und europäischen Zustände schon Jahrzehnte vorher nahen sahen und später als Weltkrieg bezeichneten. Bald nach seinem Ende wurde er Erster Weltkrieg genannt. Die Zählung setzte sich jedoch erst durch, als der zweite ausgetragen wurde. Die zeitliche Entfernung des Ereignisses von unseren Tagen lässt sich verdeutlichen. Die heute Großmütter sind, könnten ihren Enkeln erzählen, was sie als Kinder von ihren Omas über den Krieg der Jahre 1914 bis 1918 einst hörten. Das waren meist Geschichten vom Hungern im Steck- oder Kohlrübenwinter.
Die Zeitzeugen dieses Weltkrieges leben nicht mehr. In den ersten Jahren dieses 21. Jahrhunderts meldeten Zeitungen in Ländern, die an ihm teilgenommen hatten, es sei im biblischen Alter auch der letzte Mann verstorben, der als junger Bursche in diesem Kriege Soldat war. Nun erzählen vom Geschehen nur noch Geschichtsbücher, Romane, Gedichte, Dokumentenbände, Tagebücher, Fotografien, Filmaufnahmen, Zeichnungen und Gemälde. Allgemeines Interesse erregen sie nicht mehr. Das ging vor kurzem auch aus einer unrepräsentative Befragung von Bürgern auf Straßen deutscher Städte hervor, meist vergeblich wurde nach Kenntnissen vom Geschehen der Jahre von 1914 bis 1918 gefahndet. Es scheint zu jener Geschichte zu gehören, von der ein mittlerweile geflügeltes Wort sagt, dass sie nicht mehr qualmt und der dritten und vierten Generation danach nichts mehr zu sagen habe.
Dem wurde von Publizisten und Politikern in der Bundesrepublik, die sich damit befassten, wie des Ereignisses angemessen und mit Nutzen zu gedenken sei, widersprochen. Der Blick in den Ersten Weltkrieg mit 38 an ihm teilnehmenden Staaten, Millionen Opfern, Verwüstungen ganzer Städte und Landstriche und seinen Folgen noch für die Nachgeborenen und für die Beziehungen von Staaten und Völkern könne ein starkes Gefühl für den Gewinn wachrufen, der mit den heutigen friedlichen Zuständen in Europa erreicht sei. Daraus wiederum würde höhere Wertschätzung für die auf dem Kontinent entstandenen überstaatlichen Organisationen und deren Tätigkeit erwachsen können, zumal deren Ansehen in den jüngsten Zeiten ökonomischer und politischer Krisen deutlich gefallen ist. Manche Geschichtsinterpreten zogen gar eine aufsteigende Linie vom Jahre 1914 in unsere Tage, so dass der Weltkrieg mit der Erfahrung eines Menschenschlachthauses als Voraussetzung oder Grundsteinlegung für eine Entwicklung zu Demokratie, Menschenrechten, ganz allgemein zu Wohlbefinden erscheint. So lässt sich Vergangenes bei etwas Gewaltanwendung ausbeuten. Zu wessen Vorteil und Nutzen? Zum Ruhme der heute Herrschenden und Regierenden, denen die Bewohner des alten Kontinents ihr Glück aktuell verdanken. Natürlich haben jene, welche auf die jetzt besetzten Staatsplätze aspirieren, diesem Gebrauch widersprochen und diese Selbstbedienung am Tische der Clio einen Missbrauch genannt.
Es gibt eine andere Art des Erinnerns. Sie fragt beim Blick in das Geschehen, wie lange es immer zurückliegen mag, ob sich aus den Erfahrungen der Väter und Vormütter nicht ein Gedankenanstoß für das Verständnis der Gegenwart, für eigenes Urteilen und Verhalten gewinnen lässt. Da stößt der Betrachter des Ersten Weltkrieges auf mindestens drei Angebote. Das erste betrifft die generelle Frage, wie dieser Krieg entstand, aus welchen Prozessen er hervorging, wer an ihnen interessiert war und sie antrieb. Das zweite gilt der Frage, wie es kam, dass Menschenscharen in Deutschland aber auch in anderen Staaten freudig, manche begeistert und jubelnd, und so viele nichtsahnend in den Krieg und auf die Schlachtfelder zogen. Das dritte fordert zu der Erforschung der Ursachen und Bedingungen heraus, unter denen es im Kriege und vor allem nach seinem Ende gelang, Millionen um die denkbaren Lehren ihrer Erfahrungen zu betrügen. Denn vor jenem Jahre 1914 hatte es zwar Volksbetrug längst schon gegeben, aber kein Ereignis war bis dahin derart in den Nebel von Legenden und Lügen getaucht worden wie dieser Krieg. Diese Leistung wurde in Deutschland erst nach 1990 übertroffen und da im Hinblick auf die Geschichte des untergegangenen ostdeutschen Staates.
Mittelalterliche Ritterhelme in der Waffen- und Rüstkammer im Großmeisterpalast von Valletta auf Malta
Auf den Seiten dieses Buches werden diese drei Angebote in durch seinen Umfang gebotener Kürze aufgenommen werden. An eine Schilderung der Vorgeschichte des Krieges wird sich eine Darstellung des Verlaufs anschließen, die nicht weiterreicht als bis zum Scheitern des ersatzlosen Kriegsplanes der deutschen Eroberer. Dann schon wendet sich die Darstellung dem zu, was das Nachleben des Krieges genannt wird und das von dem Bestreben beherrscht wurde, Voraussetzungen und Bedingungen für die Revanche und die Wiederaufnahme der gewalttätigen Expansionspolitik zu schaffen. Eine Auswahl zeitgenössischer Texte schließt den Band mit einem Blick in Zeugnisse der vielstimmigen Kriegspropaganda ab. Dabei ist der Blick auf Deutschland gerichtet und, allein aus Gründen des Umfangs dieses Bandes, gelten der Entwicklung in anderen Staaten nur gelegentliche Seitenblicke, soviel Gleiches, Ähnliches, Unterscheidbares oder Gegensätzliches da auch zu schildern wäre.
Der Autor dankt Professor Dr. Walter Schmidt (Berlin) und Frau Dr. Erika Schwarz (Rehfelde) für kritische Anregungen nach der Durchsicht dieses Textes. Für Hinweise zu einzelnen Passagen hat der Autor Dr. Richard Lakowski (Erkner) und Dr. Friedrich-Martin Balzer (Marburg) zu danken.
Kurt Pätzold Berlin, im Januar 2014
1. Von Ursachen und Verursachern
In einem der Zitate, die diesem Buch voran stehen, ist eine Äußerung des Generalstabschefs der preußisch-deutschen Armee, des Generalfeldmarschalls Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke (der Ältere) festgehalten, wonach in Europa seit zehn Jahren ein Krieg drohe und zwar zwischen Großmächten. Der galt dem berühmt gewordenen Manne nicht als ein Ereignis, das kommen werde und müsse, aber als eine Möglichkeit, von der er wünschte, dass sie nicht eintrete. Die Warnung, die er 1890 während einer Debatte, in der es um die Bewilligung weiterer Staatsmittel für die Rüstung ging, aussprach, blieb wie viele andere ungehört. Moltke starb im Jahre darauf.
Der Generalstabschef der preußisch-deutschen Armee in den Kriegen 1864, 1866 und 1870/71 war nicht der einzige, der sich in dieser Weise besorgt äußerte. Drei Jahre vor ihm sagte Friedrich Engels in seiner berühmt gewordenen prophetischen Warnung vor einem Weltkrieg Veränderungen voraus, die er, die wirtschaftlichen, politischen und moralischen Zustände revolutionierend, zur Folge haben werde. Auch er sah diese Entwicklung nicht als unabwendbar an, doch als unausbleibliche Folge der Politik gekrönter und ungekrönter Herrscher Europas, namentlich des von ihnen vorangetriebenen Rüstungswettlaufs.
Der Staat, der sich dem Volke immer mehr entfremde, schrieb Engels, die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft skizzierend, sei dabei, sich in ein »Konsortium von Agrariern, Börsenleuten und Großindustriellen« zu verwandeln und die Spießbürger in ihm, an deren Spitze Adel und Fürsten, seien noch aufgeblasener und chauvinistischer geworden als jene zu Zeiten, von denen im Buch Sigismund Borkheims gehandelt werde, für das er dies in der Einleitung schrieb. Damit hatte er Charaktere der Herrschenden beschrieben, die auf dem weiteren Weg des Kaiserreichs eine verhängnisvolle Rolle spielten. Damit waren jedoch noch nicht die Widersprüche bezeichnet, für deren »Lösung« sich Führer