Erschlagt die Armen!: Roman
Von Shumona Sinha
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Über dieses E-Book
"Erschlagt die Armen!" ist Titel eines Prosagedichts von Charles Baudelaire, und die Protagonistin dieses Romans scheint ihn wörtlich genommen zu haben: Die junge Frau schlägt einem Migranten in der Metro eine Weinflasche über den Kopf und findet sich in Polizeigewahrsam wieder. Dort soll sie sich erklären:
Was treibt eine dunkelhäutige Frau indischer Abstammung, die in der Asylbehörde als Dolmetscherin zwischen Asylbewerbern und Beamten vermittelt, zu einer solchen Tat? Täglich übersetzt sie das Jammern und die Lügen der Asylbewerber, deren offensichtliches Elend der Behörde nicht reicht - und ist angewidert vom System, deren Teil sie geworden ist. Als Migrantin bleibt sie fremd in den Augen der Beamten, aber auch für ihre ehemaligen Landsleute ist sie fremd - als eine, die es geschafft hat. Schließlich scheint es auch für sie in der menschengemachten Enge der Welt keine andere Begegnung als den Angriff zu geben.
Erschlagt die Armen! ist ein zorniger Roman, der in kraftvoller, bilderreicher Sprache aufrüttelnde Fragen zu Identität und Zusammenleben in einer globalisierten Welt stellt.
Ausgezeichnet mit:
• Prix Valéry Larbaud 2012
• Prix du Roman Populiste 2011
• Shortlist des Prix Renaudot und Prix Médicis
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Buchvorschau
Erschlagt die Armen! - Shumona Sinha
silencieuse
Weißes Verlangen
Erschöpft und mürbe sinke ich auf den feuchten Boden meiner Zelle und denke wieder an diese Leute, die wie ungeliebte Quallen die Meere befallen und sich an fremde Ufer geworfen haben. Hier bestellte man sie in halb blickdichte, halb durchsichtige Büros in den Randzonen der Stadt. Wie viele andere war ich beauftragt worden, ihre Berichte von einer Sprache in eine andere zu übersetzen, von der Sprache des Antragstellers in die Aufnahmesprache. Nach Tränen schmeckende Berichte voll Bitterkeit und Gewalt, Winterberichte, Berichte von schmutzigem Regen und schlammigen Straßen, von endlosem Monsun, als würde der Himmel bersten.
Ich hätte nie gedacht, dass der Weg so kurz wäre, dass es einen direkten Weg gäbe, eine Abkürzung zwischen den Befragungszimmern und dem schimmeligen Raum auf dem Polizeirevier, wo ich seit gestern unablässig den Stammbaum meiner Familie, den Verlauf meiner Gedanken und meiner Irrwege, die Kombinationen aus Zeit und Raum nachzeichne, um meinen Werdegang zu rechtfertigen und die Situation zu rekonstruieren, damit mein plötzliches Verlangen verständlich wird, den Mann, diesen Migranten, mit einer Weinflasche zu schlagen. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter. Ich mache mir Angst: Ohne hinzuschauen habe ich nach der Flasche gegriffen und ihr Gewicht gespürt, als ich fester zupackte, damit sie mir nicht aus der Hand rutschte, habe auf diesen Kopf gezielt, der zornesschwarz Gift und Galle spuckte, und zugeschlagen.
Einige Monate vorher hatte ich Türen hinter mir zufallen lassen, die von meinem Freund und die des Büros, in dem ich gearbeitet hatte. Ein Jahr voller Brüche, voller Mangel, ein Fehlen von allem. Ich lebte in einem Zustand von Gereiztheit und Verwirrung. Die Stadt schien sich abgeschottet zu haben. Ihre Türen waren wieder schwer. Sie waren groß und grün, aus geschnitztem Holz, mit Eisengriffen, die die Zeit glatter und dunkler gemacht hatte, und waren mit meinen Händen nicht mehr zu bewegen. Manchmal versuchte ich, sie unter Einsatz meines ganzen Körpers aufzustoßen, als wollte ich ein gesunkenes Schiff wieder an die Oberfläche bringen. Es war verstörend, in einer Stadt, in einem Land vor verschlossenen Türen zu stehen, wo man alles darangesetzt hatte, sie aufzubekommen.
Dann wurde ich als Dolmetscherin angeheuert. Die Sprachengymnastik konnte beginnen. Die Männer dort waren einander ähnlich. Sie waren dem Land aus Lehm entflohen, das von der schwarzen Bucht geschluckt wird, und hatten nichts als den Bericht der menschlichen Zugvögel zum Geleit. Das müde Zischeln ihrer Stimmen drang in meine langsamen, faulen Sommertage, und in meinem Kopf, der die Erinnerung an das Elend seit Langem gelöscht hatte, vermischte sich alles und geriet durcheinander. Die Erzählungen dort waren einander ähnlich. Immer dasselbe, abgesehen von einigen Details, Daten, Namen, Akzenten und Narben. Es war, als würden hunderte Männer ein und dieselbe Geschichte erzählen und als wäre die Mythologie zur Wahrheit geworden. Ein einziges Märchen und vielfältige Verbrechen: Vergewaltigungen, Morde, Übergriffe, politische und religiöse Verfolgung. Es waren leidgeprüfte tusi-talas, tusi-talas wider Willen. Ich hörte mir ihre Geschichten aus zerhackten, zerstückelten, hingespuckten, herausgeschleuderten Sätzen an. Die Leute lernten sie auswendig und kotzten sie vor die Computerbildschirme. Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen. Es war im Übrigen untersagt, das Wort Elend auch nur in den Mund zu nehmen. Es brauchte einen edleren Grund, einen, der politisches Asyl rechtfertigte. Weder das Elend noch die sich rächende Natur, die ihr Land zerstörte, konnten ihr Exil, ihre verzweifelte Hoffnung auf Leben rechtfertigen. Kein Gesetz erlaubte ihnen die Einreise in dieses Land Europas, wenn sie keine politischen oder religiösen Gründe vorbrachten, wenn sie keine sichtbaren Spuren einer Verfolgung an sich nachweisen konnten. Also mussten sie die Wahrheit verstecken, vergessen, verlernen und eine neue erfinden. Die Märchen der menschlichen Zugvögel. Mit gebrochenen Flügeln und schmierigen, stinkenden Federn. Mit Träumen traurig wie Lumpen.
Der Traum ist eine Erinnerung vor der Zeit. Der Traum ist der Wille, der uns Kilometer, Grenzen, Meere und Ozeane überwinden lässt und auf den grauen Schleier unseres Gehirns die Farbgischt eines anderen Lebens sprüht. Und diese Männer befallen das Meer wie ungeliebte Quallen und werfen sich an fremde Ufer.
Den Mund voll Kirschen
Recht und schlecht drehte sich die Erde weiter. Die Natur gestaltete sich um, in den Ländern des Südens eindrucksvoller als in denen des Nordens. Hier und da traten Flüsse und Ströme über die Ufer. Länder ertranken, mitsamt ihrer Reisfelder, ihrer Kokospalmendünen, ihrer strohgedeckten Hütten, Moscheen und Tempel. Und die Leute zogen immer weiter in die sichersten und trockensten Länder.
»Und Sie? Sind Sie hier geboren? Haben Sie Ihre Heimat früh verlassen? Woher stammen Ihre Eltern?«, fragte mich der Mann, der die Vernehmung führte und den ich seit meiner Ankunft auf dem Revier Herrn K. nenne, weil ich mir seinen langen, knirschenden Nachnamen nicht merken kann.
»Was heißt schon früh oder spät? Ich kann mein ganzes Leben hier verbringen, ohne dazuzugehören.«
Sofort bereute ich es, derart heikle Gedanken laut ausgesprochen zu haben. Ich hätte einfach mein Herkunftsland nennen sollen, das zu meiner Hautfarbe passt, zur Lehmfarbe, die mich für immer mit dem Mann verbindet, den ich angegriffen habe. Dabei braucht es nicht allzu viel Scharfsinn, dachte ich mir, um die Unterschiede zwischen ihm und mir auszumachen und zu erkennen, welchen sozialen Klassen wir angehören und dass Welten zwischen uns liegen.
Kurz verirrten sich meine Gedanken zu dem Panda, den ich vor einigen Monaten adoptiert hatte. Das schwarz auf den braunen Umschlag geprägte Logo garantierte mir lächelnd, dass immer genug Geld für seinen grünen Bambus da sein würde. Freunde von mir hatten mindestens einmal in ihrem Leben Strände gesäubert, an denen Vögel am Öl erstickten. Sie waren Ingenieure, Lehrer und ehrenamtliche NGOler, die ihr durchgetaktetes Leben hassten und Buddhisten wurden. Sie gingen weiter auf Demos, wo rote, flatternde Fahnen wie Klatschmohn blühten, und wenn sie bei Hawkings Theorien im Dunkeln tappten, gaben sie der weißen Stille der Klöster den Vorzug. Und währenddessen wurde weiter abgeschoben.
Gestern führte man mich zunächst in einen Raum mit dünnen Trennwänden aus Glas und Holz. Er erinnerte mich an die halb blickdichten, halb durchsichtigen Büros in der Randzone der Stadt, wo ich arbeite. Dann brachte man mich in einen fensterlosen Kellerraum. Auf dem unterirdischen Parkdeck dieses verschachtelten Gebäudes. Wie eine blasse, flackernde Flamme tauchte aus dem Dunkel Herr K. auf. Er sollte meine Aussage aufnehmen. Wir saßen an einem runden Tisch. Der Raum hatte etwas Gedämpftes. Ein dunkelblauer Teppich glich notdürftig die Wände aus unverputztem Beton aus. Herr K. lächelte von Anfang an. Entschuldigte sich mehrmals für die Strenge des Raums. Sein Lächeln war blond und verlegen. Er war ein netter Junge, der bei der Vorstellung rot wurde, andere hereinzulegen. Er redete um den heißen Brei herum. Was er wissen wollte, war nicht schwierig. Auf den ersten Blick. Aber nur auf den ersten. Ich stammelte wirres Zeug, als ich erklären sollte, warum ich hier war, in diesem Land, warum ich die Flasche gepackt und diesem Typen über den Schädel gezogen hatte. Gleichzeitig beobachtete ich die erstaunliche Wendigkeit, die Herr K. an den Tag legte, er wagte sich weit vor mit seinen Fragen, zog sich zurück, legte nach. Er forderte Erklärungen, er bemühte sich, die Ereignisse zu rekonstruieren.
»Aus Liebe also? Aus Liebe zur Sprache? Oder hatten Sie die Absicht, hier ein Auskommen zu finden?«
»Aus Liebe zur Sprache, denke ich. Ein Beruf ist erst nach und nach daraus geworden, über die Jahre.«
»Also nicht aus einer plötzlichen Laune heraus? Nicht aus Zufall? Alles war genau geplant? War Ihnen klar, dass Sie sich hier niederlassen würden? War es Ihre Entscheidung oder die Ihrer Familie?«
Ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären sollte, aber ich versuchte trotzdem, ihm eine langsame Entwicklung verständlich zu machen, die nichts mit familiären oder beruflichen Zwängen zu tun hatte. Ich wollte ihm das versteckte Verlangen erklären, das Verlangen, das in endlosen Stunden des Lesens gewachsen war. Die Blendung. Die Trunkenheit. Bilder eines Lebens, getragen vom Strom einer fremden Sprache. Darin schwimmen und ertrinken. Auch mein Widerstreben gegen alles, das dieses Niveau nicht erreichte, das keine Erleuchtung brachte, das unweigerlich ins geistige Elend abstürzte.
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie fähig sind, alle zu hassen, die nicht Ihr intellektuelles Niveau erreichen? Die auf den unteren Sprossen der Leiter bleiben?«
Ich biss mir auf die Lippen und fragte mich, ob es stimmte, ob ich hassen konnte, ob ein schlafender Hass plötzlich aus mir hervorgebrochen war und sich mit aller Gewalt über diesem Mann entladen hatte.
Nun saß ich auf der falschen Seite des unsichtbaren Computerbildschirms, auf dem Herr K. meine Worte und Regungen festhielt. Dieser Rollentausch demütigte mich. Sein lächelnder, zunehmend spöttischer Blick demütigte mich. Um das Gesicht zu wahren und einen Anschein von Würde aufrechtzuerhalten, begann ich, meine Worte abzuwägen, wie man Kirschen im Mund hin und her rollen lässt, bevor man sie zerbeißt. Ich