Die eigene Mitte wiederfinden: Mit Borderline und innerer Zerrissenheit umgehen - spirituelle Impulse
Von Anselm Grün und Donata Müller
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Über dieses E-Book
"Viele sagen mir im Gespräch: "Ich habe meine Mitte verloren. Ich kenne mich selber nicht mit mir aus. Oft geht es mir gut. Aber dann geschieht aus heiterem Himmel ein Einbruch. Und ich weiß nicht mehr, was mit mir geschieht." Auch für sie soll dieses Buch eine Hilfe sein, ihre Mitte wieder zu finden. Sie können selber etwas für sich tun und Wege finden, die die Hoffnungslosigkeit verwandeln."
(Anselm Grün)
Anselm Grün
Anselm Grün, Dr. theol., geb. 1945, Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, geistlicher Begleiter und Kursleiter in Meditation, Fasten, Kontemplation und tiefenpsychologischer Auslegung von Träumen. Seine Bücher zu Spiritualität und Lebenskunst sind weltweite Bestseller – in über 30 Sprachen.Sein einfach-leben-Brief begeistert monatlich zahlreiche Leser (www.einfachlebenbrief.de).
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Buchvorschau
Die eigene Mitte wiederfinden - Anselm Grün
1. Was ist Borderline?
Aus der Geschichte der Erforschung
Bevor aus der fachlichen Sicht der Psychiatrie das Phänomen Borderline beschrieben und erklärt wird, möchte ich etwas von der Geschichte der Borderline-Forschung erzählen. Der Begriff »Borderline« wurde zum ersten Mal im Jahre 1938 von Adolph Stern geprägt. Er beschreibt mit diesem Begriff Patienten, die man nicht in die üblichen Krankheitsbilder von Neurose oder Psychose einordnen kann. Sie stehen gleichsam zwischen Neurotikern und Psychotikern, an einer Grenzlinie also. »Diese Patienten waren offenbar kränker als neurotische Patienten […], aber dennoch interpretierten sie die reale Welt nicht wie die psychotischen Patienten ständig falsch.« (Kreisman 243) Beim Psychotiker ist die Wahrnehmung der Realität stark verzerrt. Borderline-Klienten können die Wirklichkeit durchaus realistisch wahrnehmen. Aber sie schwanken oft zwischen einer pessimistischen und optimistischen Sicht. Sie teilen die Welt in schwarz-weiß ein. Borderline-Klienten sind aber kränker als Neurotiker. Sie haben kein wirkliches Ichgefühl. Daher tun sie sich schwer, sich in der Welt zurechtzufinden. Sie wissen nicht, wer sie eigentlich sind.
Die amerikanischen Psychiater Kreismann und Straus sprechen von vielen möglichen Ursachen für Borderline-Erkrankungen. Dabei haben sie nicht nur die persönliche Lebensgeschichte und die Erfahrungen mit den Eltern im Blick, sondern auch die veränderte Gesellschaft. Die beiden Autoren beschreiben diese Auswirkungen der Gesellschaft vor allem im Blick auf die amerikanische Gesellschaft. Sie meinen: »Für viele hat die amerikanische Kultur den Kontakt mit der Vergangenheit verloren und hat keine Verbindung zur Zukunft.« (Kreisman 99) Sie vertreten die These, Borderline sei eine pathologische Reaktion auf die Zustände in der Gesellschaft, vor allem auf eine Gesellschaft, »der es an Beständigkeit und Verlässlichkeit fehlt« (Ebd 99): Weil die Gesellschaft ihre Stabilität verloren hat, »werden Borderline-Symptome wie Schwarzweißdenken, Selbstzerstörung, extreme Stimmungsschwankungen, Impulsivität, schlechte Beziehungen, ein beeinträchtigtes Identitätsgefühl und Zorn verständliche Reaktionen auf die Spannungen innerhalb unserer Kultur. (vgl. ebd. 100)
Ein anderer Grund für das Entstehen von Borderline ist für diese Autoren, dass die Vergangenheit negativistisch gesehen, also generell und pauschal abgewertet wird. »Die Abwertung der Vergangenheit zerstört die Wahrnehmungsverbindung mit der Zukunft, die zu einem riesigen, unbekannten Faktor wird, eine Quelle nicht nur der Hoffnung, sondern auch der Angst.« (Ebd. 105f.) Was Kreisman und Straus von der amerikanischen Gesellschaft schreiben, gilt zum großen Teil auch für die deutsche oder europäische Gesellschaft. Daher ist bei den Heilungsfaktoren nicht nur an persönliche Therapie zu denken, sondern auch an die Schaffung gesünderer gesellschaftlicher Strukturen und an ein neues Gespür für die Wurzeln, aus denen wir leben.
Neben Kreismann und Straus hat sich in den USA vor allem Otto F. Kernberg mit dem Phänomen Borderline auseinandergesetzt. Er geht – in Anlehnung an Sigmund Freud – davon aus, dass es sich um eine Ichspaltung handelt. Das Ich spaltet sich in verschiedene Zustände. Und diese Ichspaltung hat eine schützende Funktion für den Patienten. Sie schützt ihn vor der Angst, sich dem eigenen Chaos zu stellen. Daher ist die Ichspaltung für Kernberg immer auch »ein aktiver, sehr starker Abwehrvorgang« (Kernberg 18). Der Klient wehrt sich offensichtlich gegen das innere Chaos, das er nicht aushalten könnte, wenn er es anschauen würde. Kernberg hat die Erfahrung gemacht, dass die extremen Reaktionen dem Therapeuten, aber auch den Angehörigen gegenüber Übertragung frühkindlicher Erfahrungen sind. Kernberg erzählt von einem Mann, der ihn einige Sitzungen lang extrem beschimpfte, dann schlug seine Reaktion ins Gegenteil um. Er lobte ihn und nannte ihn den besten Menschen, den er je getroffen, der so viel Geduld mit ihm habe. Doch nach einiger Zeit begann der Klient erneut, ihn zu beschimpfen. In der positiven Phase war er darauf nicht ansprechbar. Und in der negativen Phase wollte er nicht an seine lobenden Worte erinnert werden. Kernberg meint nun, diese unterschiedlichen Reaktionen seien Übertragungen gewesen. Wenn der Klient ihn beschimpfte, übertrug er das Bild seiner Mutter, die er oft als ablehnend und vernachlässigend erfahren hatte, auf den Therapeuten und umgekehrt, wenn er ihn mit Lob überschüttete, sein inneres Bild einer idealisierten Mutter und die Erfahrung »eines schwachen, aber beschützenden Vaters« (Kernberg 19).
Zugleich wurden in den extremen Reaktionen auf den Therapeuten zwei verschiedene Selbstbilder offenbar. Da war einmal das Bild »von dem zurückgewiesenen, verachteten, angegriffenen kleinen Jungen« und das Bild von dem »sehnsüchtigen, schuldbeladenen Kind«. (Ebd. 19) Beide Selbstbilder wechselten sich ständig ab. Das Problem bei Borderline-Klienten ist, dass sie diese beiden Selbstbilder nicht zusammenbringen wollen oder können. Die Spaltung in die beiden Selbstbilder und die extremen Reaktionen sind ein Versuch, die verschiedenen Erfahrungen mit den Eltern und mit sich selbst zu bewältigen. Jede psychische Erkrankung hat immer auch einen Sinn. Sie ist ein Versuch, mit der inneren Zerrissenheit zurechtzukommen. Aber oft sind sie eben, wie die Psychologie sagt, suboptimale Wege oder aber – wie bei Borderline – zerstörerische Wege, mit denen man sich selbst und seiner Umwelt schadet. Die Therapie würde darin bestehen, andere Wege zu finden, um die innere Zerrissenheit anzunehmen und bei allen extremen Erfahrungen zur eigenen Mitte zu finden.
Eine besondere Persönlichkeitsstörung
Borderline gehört zu den Persönlichkeitsstörungen und ist eine Unterform des emotional-instabilen Typus. Eine Persönlichkeitsstörung wird definiert als tief verwurzeltes, anhaltendesVerhaltensmuster und äußert sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen. Betroffene Menschen zeigen Auffälligkeiten im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen Menschen. Die Erkrankung beginnt in der Kindheit bzw.Adoleszenz und dauert bis in das Erwachsenenalter an. Typische Symptome sind emotionale Instabilität, Störung des eigenen Selbstbildes, der inneren Präferenzen (inkl. der sexuellen), Neigung zu sehr intensiven, jedoch instabilen Beziehungen, Ängste vor dem Alleinsein bzw. dem Verlassenwerden, chronisches Gefühl der inneren Leere, häufige Stimmungsschwankungen, emotionale Krisen, impulsive Handlungen, Selbstverletzungen bis hin zur Suizidalität.
Häufig werden wir von den Betroffenen oder den Angehörigen nach den Ursachen gefragt, denn meistens lassen sich Erkrankungen besser ertragen und man kann mit den Auffälligkeiten besser umgehen, wenn man weiß, warum sie entstehen, wem oder was man die Schuld für ihren Ausbruch geben kann. Oft hoffen sie, es gebe ein Molekül, das man einfach austauschen, oder ein Medikament, das einem verschrieben werden könne. Immer wieder suchen Eltern in der Biographie ihres erkrankten Kindes verzweifelt nach »der Ursache«, nach einem spezifischen Ereignis, das die jetzige Situation erklären würde. Häufig lässt sich das auslösende Ereignis jedoch nicht so einfach finden, denn »die« auslösende Ursache gibt es nicht. Meist ist es ein ungünstiges Zusammenspiel mehrerer Faktoren, es wird von einem sogenannten »multifaktoriellen Entstehungsmodell« gesprochen.
Zum einen ist natürlich der genetische Faktor wichtig. Obwohl bislang kein eindeutiges »Borderline-Gen« gefunden werden konnte, besteht doch eine gewisse Anfälligkeit für den Ausbruch dieser Erkrankung, wenn in der Verwandtschaft ebenfalls Borderline-Betroffene zu finden sind. Häufig erleben wir im psychiatrischen Alltag »Borderline- Familien«: Jugendliche, die zu uns kommen und bei denen wir diese Diagnose bestätigen können, haben Eltern oder Elternteile, die diese Erkrankung ebenfalls aufweisen oder wenigstens gewisse Auffälligkeiten zeigen, die an eine Borderline-Störung denken lassen. Und bei Rückverfolgung der Familiengeschichte finden sich häufig auch Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins usw., die auch schon immer »irgendwie komisch waren« und das Familienleben auf den Kopf gestellt haben, sich häufig in Streitigkeiten mit ihrer Umwelt befanden, auch wenn bei ihnen diese Erkrankung damals noch nicht bekannt war oder sie sich geweigert haben, psychiatrische Hilfe zu suchen.
Außerdem werden biologische Ursachen diskutiert, beispielsweise ein Ungleichgewicht in den Neurotransmittersystemen, das jedoch auch bei anderen psychiatrischen Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen zu finden ist. Verschiedene pränatale Einflüsse wie Alkohol, Drogen, Zigaretten, Stress usw. sind eine mögliche Ursache für Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter, obgleich hier ebenfalls kein konkreter Zusammenhang z.B. zwischen Nikotinkonsum und Borderline-Entstehung gefunden werden