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Lange Schatten im Oktober: Hallsteins zweiter Fall
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eBook294 Seiten4 Stunden

Lange Schatten im Oktober: Hallsteins zweiter Fall

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Über dieses E-Book

Der zweite Bruno-Hallstein-Roman spielt in seiner Heimatstadt Berlin, hauptsächlich in den Bezirken Reinickendorf und Mitte. In seinem Wohnort Tegel wird er bei einem Spaziergang Opfer eines Unfalls. Eigentlich wollte er nur die ihm anvertraute Hündin ausführen, aber oben auf der Tegeler Sechserbrücke rennt ihn ein offenbar in Panik fliehender Mann brutal um. Im Nachhinein glaubt Bruno zu wissen, wer das war, sein alter Klassenkamerad Lutz Strehlow. Ob der ihn auch erkannt hat? Das könnte von Belang sein, denn etwa zur gleichen Zeit wird in unmittelbarer Nähe eine unbekannte tote Frau entdeckt. Und es kommt noch dicker, Bruno bekommt eine schriftliche Einladung zu einem Klassentreffen. Einladender und Veranstalter ausgerechnet der Rüpel Lutz Strehlow. Zufall? Falle?
Bruno wäre nicht Bruno, wenn er sich durch solche Fragen von eigenen Nachforschungen abhalten ließe. Obwohl wirklich kein Held, gelingt es ihm doch kraft seiner Systematik, sich Schritt für Schritt der Auflösung der verzwickten Geschichte zu nähern. Dabei begegnen ihm alte Stasiseilschaften und Manager, die sich jahrelang mit fragwürdigen Ost-West-Geschäften persönlich bereichert haben. Die Konstellation mit den beiden deutschen Staaten und ihrer durch eine Mauer geteilten Hauptstadt schuf dafür die besten Voraussetzungen. Dann aber geschieht das Unfassbare, die Mauer fällt! Alles ist plötzlich anders. Das scheinbar perfekte Geschäftsmodell, gestrickt aus Korruption, Betrug und Repressalien, funktioniert auf einmal nicht mehr. Durch den Wegfall der Mauer reichen die langen Schatten der Vergangenheit auf einmal viel weiter und erreichen auch Bruno.
Aber er hat Verbündete, Freunde, die ihn unterstützen. Die einen, meist männliche, sorgen für die gute Verpflegung, die anderen, durchweg weibliche, für die gute Stimmung und ein paar emotionale Turbulenzen. Wie schon im ersten Roman wird Bruno Hallstein mehr oder weniger durch Zufall Detektiv und irgendwie macht es ihm auch wieder Spaß.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Dez. 2014
ISBN9783738008487
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    Buchvorschau

    Lange Schatten im Oktober - Jürgen Heller

    Vorbemerkung

    Die Handlung in dem vorliegenden Roman ist vollständig frei erfunden, ebenso alle Namen und Personen. Entstehende Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt. Die Kulisse mit realistischen Ortsbeschreibungen und historischen Hintergründen dient ausschließlich der Authentizität. Der Leser soll den Eindruck gewinnen, so hätte es sein können.

    Jürgen Heller

    Berlin, Sonntag, 02.10.2011

    Bruno Hallstein sitzt recht verspannt auf seiner roten Ledercouch und versucht die Hingabe der dunkeläugigen Schönheit zu ignorieren. Er ist den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht einfach nicht gewöhnt, genauer gesagt, nicht mehr. Die hier ist auch noch von der Sorte Hemmungslos und gibt sich voll und ganz ihren Gefühlen hin. Im Gegensatz zu Bruno hat sie es sich sehr gemütlich gemacht, liegt mehr als dass sie sitzt. Die leise Musik scheint sie noch zu beflügeln, denn sie legt jetzt ihren Kopf auf seinen Schoß und seufzt dabei filmreif. Bruno wagt nicht sich zu bewegen, einerseits ist ihm die Situation unangenehm, andererseits will er die Situation nicht ungenutzt lassen, schließlich ist er der Mann, ist hier zu Hause und außerdem sieht doch keiner zu. Er greift ganz vorsichtig nach seinem Glas. Sofort erhebt sie den Kopf und schaut ihn dermaßen verliebt an, dass er den Wein mit einem großen Schluck auf einmal austrinkt. Dann, nach kurzem Zögern, fährt seine rechte Hand über ihren Hals und greift ihr in das wellige, kastanienbraune Haar. Sofort spürt er wieder den leichten Druck ihres Kopfes auf seinen Oberschenkeln. Seine Finger spielen in ihrem Haar, und er spürt, wie sie es genießt.

    Du bist mir vielleicht ein Luder. Was machst du eigentlich, wenn ich das alles Harry erzähle? Der ahnt von nichts, geht davon aus, dass du ihm treu bist. Aber so sind die Weiber. Sei's drum. Ich kann ja doch nicht widerstehen.

    Brunos Hand wandert zärtlich streichelnd über ihren schlanken Körper nach unten, landet schließlich auf ihrem wunderschön geformten Po. Das allerdings scheint ihr nicht zu gefallen, geht ihr wohl zu weit. Sie erhebt sich abrupt und schaut plötzlich in Richtung Tür, so als würde dort jeden Augenblick jemand eintreten.

    Was ist Lucie? Plötzlich Gewissensbisse? Harry ist in München, den kannst du vergessen.

    Lucie scheint ihn nicht zu hören, ist von der Couch runter und steht schon unmittelbar vor der Wohnzimmertür. Dann wendet sie ihren Kopf und schaut Bruno aus ihren wunderschönen Augen an.

    Ach so, du willst raus! Drückt die Blase? Na dann los, tut mir auch gut.

    Lucie dreht eine Runde um ihre eigene Achse und wedelt nicht nur mit dem Schwanz, nein, das ganze Hinterteil schwingt in freudiger Erregung. Bruno öffnet die Tür zum Flur und kaum ist die ein Spalt weit offen, zwängt sich Lucie hindurch und rotiert aufgeregt vor der Garderobe. Dort hängt ihr Brustgeschirr samt Leine, und obwohl sie es natürlich genau weiß, dass es ohne nicht los geht, tollt sie vor Freude so ausgiebig herum, dass Bruno Minuten braucht, um die Irish-Red-Setter-Dame zu bändigen und ausgehfertig zu machen. Dabei unterstützt sie die Prozedur mit einer Mischung aus Jaulen, Hecheln und Lachen. Jawohl, Lucie kann lachen, hat jedenfalls Harry schon oft genug erzählt. Bruno zieht sich seine graue Jacke über und greift nach der blauen Schirmmütze mit dem aufgestickten Tiroler Adler. Die hat er sich aus dem letzten Urlaub mitgebracht, weil er es ausgesprochen praktisch fand, dass der Tiroler Adler vom Brandenburger Adler auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden ist, jedenfalls für Laien. Beide sind rot und haben goldene Flügelspangen mit Kleeblattenden. Außerdem schauen beide in die gleiche Richtung. Allerdings trägt der Tiroler Kumpel eine goldene Krone und einen grünen Kranz um das Haupt, Lorbeer oder so. Weil nun die mehr oder weniger berühmte Ur-Tirolerin, Margarete Maultasch, Mitte des 14. Jahrhunderts einen Brandenburger Markgrafen geheiratet hat, liegt natürlich der Verdacht nahe, dass…, aber hier haben gewissenhafte Historiker nachgewiesen, dass der Tiroler Adler auch schon weit vorher in der Landesgeschichte auftaucht. Ihm, Bruno, ist es egal. Entscheidend für ihn ist, dass er die Mütze sowohl in Brandenburg, wie auch in Tirol aufsetzen kann. Außerdem findet er, die Mütze kleidet ihn und das will etwas heißen. Normalerweise ist er mit seinem Spiegelbild ja nie zufrieden, zu dick, zu hässlich, zu alt, was es halt so an negativen Attributen gibt.

    Bruno zieht den Wohnungsschlüssel ab, der immer von innen im Türschloss steckt und verstaut ihn in der Hosentasche. Alle wichtigen Dinge, wie Portmonee, Schlüssel, Handy steckt er immer in die Hosentasche, weil er meint, dass er einen Diebstahlsversuch besser bemerken würde. Andererseits sehen vollgestopfte Hosentaschen mitunter sehr fragwürdig aus. Aber jetzt hat er ja eine Jacke drüber, und außerdem will er ja nur ein wenig mit dem Hund spazieren gehen. Er zieht die Wohnungstür hinter sich zu und steigt dann die zwei Stockwerke zu Fuß hinunter. Lucie schleift die Leine hinter sich her und befindet sich immer eine halbe Etage im Voraus. Sie bleibt aber auf jedem Treppenabsatz stehen und schaut wo er bleibt. Im Parterre angekommen, öffnet sich prompt die Tür der ehemaligen Portierswohnung. Frau Krause.

    So geht das aber nicht, Herr Hallstein. Der Hund gehört an die Leine. Wenn der mich beißt, werde ich Sie verklagen, da können Sie Gift drauf nehmen. Mein Sohn ist Rechtsanwalt.

    Ist ja schon gut, Frau Krause, der Hund beißt ja nicht, nicht mal Sie. Der weiß gar nicht wie das geht. Ist doch eine Dame, wie Sie. Sie können sie ruhig streicheln, dann haben Sie eine neue Freundin.

    So weit kommt es noch. Ich habe 'ne Tierhaarallergie und außerdem sind Haustiere gar nicht erlaubt. Ich werde mich bei der Hausverwaltung beschweren. Der kackt doch überall hin.

    Das heitere Zwitschern eines Wellensittichs dringt aus der Wohnung von Frau Krause, und Bruno setzt sein nettestes Lächeln auf.

    Wie war das noch mit den Haustieren oder ist das Ihr Sohn, der da zwitschert?

    Das geht Sie gar nichts an!

    Wumm! Die war zu! Bruno bleibt gelassen. An anderen Tagen hat er sich schon schwarz geärgert über diese Nachbarin, die bei ihm den Arbeitstitel Blöde Ziege trägt, aber heute, mit Lucie an seiner Seite, macht ihm die zickige Frau Krause nichts aus. Er kann sich nicht erinnern, sie jemals lachen gesehen zu haben oder mal ein nettes Wort sagen, vielleicht 'Guten Morgen Herr Hallstein, wie geht's denn Ihrem Hund?'

    Außerdem hast du garantiert gar keinen Sohn! Welcher Mann würde sich das mit dir antun?

    Bevor Bruno die Haustür öffnet, angelt er nach der Leine. Zumindest auf dem Weg bis zur Seepromenade kann er Lucie nicht frei laufen lassen. Auf der Straße empfängt beide eine fast sommerliche Wärme, obwohl es Oktober ist und die Dämmerung schon eingesetzt hat. Bruno bedauert, dass er die warme Jacke gewählt hat. In seiner Wohnung hat er nicht viel von dem herrlichen Altweibersommertag bemerkt. Seitdem der Altbau komplett saniert wurde, ist es an heißen Tagen drinnen angenehm kühl, und im Winter braucht er keine dicken Pullover mehr, um es auf der Couch auszuhalten. Und wie lange hat das gedauert, bis endlich alle Wohnungseigentümer mit der Investition einverstanden waren. Bruno hat damals seine ganze Ingenieurskompetenz einbringen müssen, hat Berechnungen angestellt, anhand derer man sehen konnte, nach welcher Zeit die Kosten durch Einsparungen wieder kompensiert werden. Dabei wusste er natürlich ganz genau, wie fragwürdig solche sogenannten Wirtschaftlichkeitsrechnungen sind. Die anderen Wohnungseigentümer waren aber beeindruckt und nur dadurch ist es zu einer positiven Entscheidung gekommen. Jetzt sind alle froh und bis auf Frau Krause, die allerdings auch nur zur Miete wohnt, sind alle anderen Hausbewohner ausgesprochen freundlich, wenn sie Bruno über den Weg laufen.

    Sie erreichen die Berliner Straße, den Tegeler Boulevard. Die Straße ist für die Uhrzeit noch recht belebt, obwohl die Geschäfte geschlossen sind. An der Ecke Alt-Tegel wechselt er die Straßenseite, um dann Richtung Seepromenade zu schlendern. Scheinbar ist soeben eine U-Bahn in die Endstation eingefahren, jedenfalls strömen plötzlich viele Menschen aus den Zugängen zur Linie 6. Wie oft ist er früher hiermit gefahren? Zur Oma, zur Freundin, zum Studium und später zur Arbeit. Bevor die U-Bahn Ende der 1950er Jahre nach Tegel kam, fuhr hier die Straßenbahn. Bruno kann sich noch erinnern, wie sie quietschend um die Ecke kam, um dann hier zu halten, ziemlich genau da, wo er jetzt gerade mit Lucie steht, Linie 41. Das große Textilkaufhaus gab es damals noch nicht. Irgendwann nach dem Mauerbau setzte das große Straßenbahnsterben ein. Mit aller Macht wurde der Verkehr auf die Buslinien und zunehmend auf die U-Bahn verlagert. Außerdem riefen Politiker, Medien und nicht zuletzt die Gewerkschaften die Westberliner Bevölkerung nach dem 13. August 1961 zum S-Bahn-Boykott auf. Schließlich war der Betreiber der S-Bahn die Deutsche Reichsbahn, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein DDR-Unternehmen war. Offizieller Hauptgrund, man wollte der DDR keine Devisen mehr zukommen lassen, denn auf den Westberliner Bahnhöfen musste der Fahrpreis in harter Westwährung bezahlt werden. Die Folge, man sah seit dem nur noch fast leere Geisterzüge durch die Stadt fahren, obwohl die S-Bahn aufgrund ihres Schienennetzes und der günstigen Fahrpreise das bis dahin am häufigsten benutzte öffentliche Verkehrsmittel der Berliner war. Die wenigen Fahrgäste, die weiterhin die S-Bahn benutzten, weil sie nicht anders konnten oder wollten, wurden nicht selten übel beschimpft.

    Um die fehlende Beförderungskapazität einigermaßen zu kompensieren, wurden neue Buslinien installiert und fehlende Busse wurden von westdeutschen Verkehrsbetrieben solidarisch zur Verfügung gestellt. Überhaupt Solidarität, ein großes Wort damals, aber Bruno verstand es nicht. Überhaupt verstand er damals so vieles nicht, aber er war ja auch erst dreizehn, als das alles passierte und es ist inzwischen fünfzig Jahre her.

    Manchmal ertappt er seine Erinnerungen auch dabei, dass sie ihm etwas vormachen, dass sie verfälschen, oft geschönte Geschichten ins Gedächtnis rufen. Sei es drum, heute fahren wieder alle Berliner mit der S-Bahn, wenn sie denn fährt und nicht durch technische Probleme ausfällt. Und es sind sogar auch im Westteil der Stadt wieder Straßenbahnlinien reaktiviert worden. Bruno empfindet es als Attraktion, mit der Tram mitten durch die Stadt zu fahren, nur bedauert er, dass es keine Schaffner mehr gibt. Wie schön war doch der Klingellaut, wenn der Schaffner an diesem Lederriemen zog und dem Fahrer signalisierte: Fahr los.

    Bruno will die Treskowstraße passieren, aber Lucie hindert ihn mit aller Kraft daran weiterzugehen, zu verlockend sind die Gerüche, die ein Kiosk an der Ecke verbreitet. Mehrere Menschen stehen an weißen Bistrotischen und verzehren Bratwurst oder Currywurst oder Pommes Frites oder alles zusammen. Drei ältere Männer trinken Bier aus der Flasche und reden, na über was wohl, natürlich Fußball. Bruno hat mitbekommen, dass Hertha gestern 3:0 gegen Köln gewonnen hat, aber scheinbar ist das den Männern zu wenig, jedenfalls lässt die Stimmung nicht auf viel Freude schließen.

    Vielleicht haben sie einfach schon zu viel Bier im Kopf. Jetzt können wir auch noch einen kleinen Abstecher über die Brunowstraße machen.

    Ist ja gut, Lucie, wir gehen hier lang. Da zeige ich dir mal, wo ich zur Schule gegangen bin. Franz-Marc-Grundschule, sagt dir wohl nichts, wie? Hast du schon mal ein blaues Pferd gesehen?

    Bruno zieht etwas energischer an der Leine, und Lucie reißt sich widerwillig von den kulinarischen Gerüchen los. Gegenüber dem roten Klinkerbau von Brunos alter Schule sticht die Schulstraße auf die Treskowstraße aber Bruno geht weiter bis zur nächsten Querstraße.

    Als Junge habe ich immer damit angegeben, dass diese Straße nach mir benannt ist. Hat mir natürlich keiner geglaubt, aber dass diese Straße und der nachfolgende Platz zwar Bruno gesprochen werden aber eben Brunow, mit W am Ende geschrieben, das hat keiner gemerkt. Kannst du mal sehen, Lucie, so dumm sind Menschen.

    Am Brunowplatz angekommen wechseln sie wieder die Straßenseite und laufen über den Medebacher Weg zurück Richtung Alt-Tegel. An der Ecke biegen sie links ab und steuern nun direkt auf den alten Dorfanger mit der evangelischen Kirche zu.

    Siehst du Lucie, hier bin ich getauft und konfirmiert worden. Besonders die Konfirmation war damals ganz wichtig in meinem Leben. Da gab es die große Feier und es gab Geldgeschenke. Das erste Mal in meinem Leben besaß ich mehr als zweihundert Mark. Und ich war mit deinem Herrchen zusammen im Konfirmationsunterricht, wusstest du das Lucie?

    Lucie läuft jetzt wie von allein. Sie hat erkannt, dass ihr Zuhause nicht mehr weit entfernt ist. Sie kreuzen den Eisenhammerweg und die Wilkestraße.

    Nein Lucie, wir wollen nicht zu Harry, der ist gar nicht da. Komm jetzt. Gleich kann ich dich von der Leine lassen, auch wenn es verboten ist aber um diese Zeit...

    Die Hündin ist zwar etwas verwirrt, weil es nicht in Richtung Heimat geht, aber sie folgt doch willig, und dann haben sie die Greenwich-Promenade erreicht. Vor ihnen liegen einige Fahrgastschiffe, fest vertäut an ihren Anlegern. Sicher haben sie heute bei dem herrlichen Sommerwetter nochmal einen Riesenansturm zu bewältigen gehabt. Die Sonne ist jetzt ganz verschwunden und der See liegt dunkel vor ihnen. Bruno glaubt auf dem Wasser ein Ruderboot zu erkennen.

    Vielleicht ein Angler? Hätte ich auch mal wieder Lust zu, aber alleine? Wenn Harry wieder da ist, muss ich ihn mal fragen…, wo habe ich überhaupt mein ganzes Angelzeug?

    Bruno hat Lucie inzwischen die Freiheit geschenkt. Sie bleibt aber immer in seiner Nähe, schnüffelt mal hier, mal da und schaut alle paar Sekunden in seine Richtung. Er weiß, dass sie im Dunkeln Schiss hat aber irgendwie reizt es eben doch, die ganzen Bäume und Büsche einem Riechtest zu unterziehen. Außerdem hat sie einen Beschützer dabei.

    Komm Lucie, wir gehen noch eben über die Sechserbrücke und dann langsam zurück nach Hause.

    Sie gehen weiter an der Promenade entlang, und sind scheinbar die Einzigen, die hier noch unterwegs sind. Die Laternen spenden ihr spärliches Licht, aber Bruno kennt sich aus, und nachdem sie den Minigolfplatz links liegen lassen, steigen sie die Stufen der Tegeler Hafenbrücke, die von allen aber nur Sechserbrücke genannt wird, empor.

    Im Heimatkundeunterricht hat Bruno gelernt, dass früher jeder, der die Brücke überqueren wollte, einen Brückenzoll von 5 Pfennigen zu entrichten hatte, und zum Fünfpfennigstück sagten alle Sechser. Warum, hat er erst viel später verstanden. Vor der Reichsgründung gab es auch echte Sechser, die den Wert von sechs Pfennigen hatten oder einem halben Groschen. Damals beherrschte aber auch noch der Taler die Währung. Erst mit der Einführung der Reichsmark wurde auch das Dezimalsystem eingeführt, wonach eine Mark 100 Pfennige hatte und der Groschen demnach 10 Pfennige wert war, und darunter gab es das Fünfpfennigstück. Na gut, dachten sich die Berliner, dann ist das eben unser Sechser.

    Der stählerne Fachwerkbogen der Brücke überspannt das Tegeler Hafenbecken und endet in zwei mächtigen Pfeilern, die nach unten den festen Stand der Brücke garantieren, und nach oben in zwei überdachte Plattformen enden, von denen man eine beeindruckende Aussicht über den See genießen kann. Bruno kann es sich nicht verkneifen, wie immer wenn er die Brücke überquert, die Ausbuchtung der gemauerten Aussichtsplattformen zu betreten. Schon als Kind hat er sich hier immer versteckt, um seine Eltern zu erschrecken, wenn sie vorbei liefen. Natürlich waren die völlig überrascht, weil sie ihren Sohn gar nicht vermisst hatten. Leider ist nur noch der zur offenen Seeseite gerichtete Pfeiler für die Öffentlichkeit zugänglich. Sein Bruder auf der gegenüberliegenden Seite ist durch eine Stahlgittertür verschlossen. Dahinter führt eine Wendeltreppe innerhalb des Pfeilers nach unten. Bruno kann sich nicht erinnern, ob dieser Zugang schon immer verschlossen war. Er steht immer noch und schaut über die dunkle Wasserfläche, und auch wenn es jetzt zu dunkel ist, weiß er, dass ganz hinten das Strandbad Tegel zu sehen wäre. Wie viele Tage hat er dort mit seinen Freunden verbracht? Wie viele Stunden saßen sie auf den schwimmenden Holzkreuzen und versuchten sich gegenseitig ins Wasser zu befördern. Wer zuletzt noch oben sitzen blieb war der Held des Augenblicks, besonders wenn auch Mädchen dabei waren. Bruno verliert sich in Erinnerungen und wird erst durch einen energischen Nasenstüber in die Kniekehle wieder in die Gegenwart zurückgerufen.

    Ja, ist ja gut Lucie, ich komme.

    Bruno betritt wieder die Holzplanken der Brücke. Plötzlich dann das Geräusch, das ihn herumfahren lässt, weil es hier nicht hergehört. Für den Bruchteil einer Sekunde schaut er in das Gesicht eines Mannes, dann schlägt er auch schon hart auf dem Boden auf. Der andere hat ihn brutal umgestoßen und hastet jetzt mit schnellen Schritten in die Richtung, aus der Bruno und Lucie gekommen sind. Bruno sieht den fliehenden Mann im Schein der abendlichen Beleuchtung kleiner werden, bis er die abwärts führenden Treppenstufen erreicht hat, die für den Rest sorgen, wie aus dem Nichts erschienen und wieder darin verschwunden. Lucie steht winselnd neben Bruno und leckt sein Gesicht ab.

    Nicht Lucie, hör auf damit, ich lebe ja noch.

    Er kommt umständlich wieder auf die Beine und versucht keuchend erst einmal die Fassung wiederzugewinnen. Dann klopft er sich die Hose und die Jacke ab, aber so ganz sauber wird’s natürlich nicht, zu sehr ist der alte, hartnäckige Schmutz ins Gewebe eingedrungen.

    So ein blödes Aschloch! Hat der mich denn nicht gesehen? Und entschuldigt sich nicht mal. Mein Gott, hat der das eilig gehabt. Wie sehe ich denn jetzt aus? Mist, meine Hände brennen wie Sau, da habe ich mir bestimmt die Haut abgeschürft. Ich muss so schnell wie möglich die Hände waschen sonst droht noch eine Entzündung oder sogar Blutvergiftung, Tetanus, was weiß ich?

    Los Lucie, wir gehen jetzt zu dir. Ich muss was trinken und die Hände waschen.

    Bruno greift nach der Hundeleine und geht mit energischem Schritt zurück über die Brücke, Zielrichtung 'Mühle', dem Kneipenrestaurant seines Freundes Harry. Beim Hinuntersteigen der Treppenstufen schmerzt sein rechtes Knie.

    Na das fehlt mir noch. Mit dem Knie habe ich doch sowieso immer Probleme. Pass mal auf, in spätestens drei Monaten will ich Skifahren, wehe wenn da was zurückbleibt. So ein Scheiß, nur weil ich in diesem blöden Häuschen war, der konnte mich ja gar nicht sehen. Aber warum war der auch so hektisch? Wie auf der Flucht.

    Bruno betritt die 'Mühle', Lucie an seiner Seite fühlt sich sofort wie zu Hause und zerrt direkt zur Tür neben dem Tresen, wo es normalerweise hinein geht, denn dahinter liegt Harrys und damit auch Lucies Wohnung. Sie ist zwar etwas verwirrt, weil Bruno in Richtung Kachelofen zu seinem Lieblingsplatz steuert, aber Lucie wäre nicht Lucie, wenn es sie ernsthaft beschäftigen würde. Ihr Grundvertrauen in die Menschen, die sie umgeben, ist unerschütterlich. Sie verzieht sich sofort unter dem Tisch als Bruno Platz nimmt und wartet erst mal ab.

    Hallo Bruno, dich habe ich ja ewig nicht mehr hier gesehen. Warst du krank?

    Sylvia, die wichtigste Beziehung seines Freundes Harry, steht am Tisch und hat eine Speisekarte in der Hand.

    Grüß dich Sylvia. Ja stimmt, ich war lange nicht hier aber krank? Nee, zum Glück nicht. Aber eben, auf der Sechserbrücke, hat mich irgendein Volltrottel regelrecht umgerannt. Der war vielleicht in Eile kann ich dir sagen. Hat sich nicht mal entschuldigt. Bring mir mal bitte ein Glas Spätburgunder, den badischen. Die Karte kannst du hierlassen, ich schau gleich mal rein. Erst muss ich mir aber mal die Hände waschen. Wirfst du mal ein Auge auf den Hund?

    Bruno steht auf und sofort hebt Lucie den Kopf. Da ihr Ersatzherrchen aber nichts sagt, legt sie ihn gleich wieder auf ihre Vorderpfoten, eigentlich muss niemand auf sie aufpassen. In der Toilette schaut sich Bruno sein Gesicht im Spiegel an, was er an sich sehr ungern tut, aber er will doch mal sehen, ob er noch irgendwo lädiert ist. Nachdem er sich gründlich die Hände gewaschen und den Staub von Hose und Jacke notdürftig mit einem angefeuchteten Handtuch abgewischt hat, betritt er wieder den Gastraum und nimmt Platz. Der Rotwein steht schon da und Bruno nimmt einen für herkömmliche Weintrinker unanständigen Schluck, Brunos Proletenschluck. Sein Knie schmerzt noch immer aber im Sitzen geht es. Er setzt seine Lesebrille auf und studiert die erste Seite der Speisekarte, die mit den Tagesgerichten. Den Rest kennt er auswendig.

    Na Bruno, hast du was gefunden?

    Ja, bring mir bitte die Gurkensuppe mit geröstetem Pumpernickel und danach den gemischten Aufschnittteller. Ich habe keine Lust auf was Großes. Habt ihr wieder das gute Brot?

    Heute Morgen gebacken.

    Gut.

    Sylvia nimmt die Speisekarte wieder an sich und geht zum Tresen zurück. Bruno verfolgt ihren Gang und kann Harry verstehen. In seinem Alter, was will er mehr? Sylvia ist um die Fünfzig und man sieht, dass sie einmal eine Schönheit war. Bruno weiß aber auch, dass sie harte Zeiten durchgemacht hat und die haben auch Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie kam erst ein wenig zur Ruhe, als sie Harry kennenlernte. Der war damals gerade von seiner Frau verlassen worden und froh, mit Sylvia eine zuverlässige Hilfe im Restaurant gefunden zu haben. Seit jener Zeit haben sie immer mehr zueinander gefunden. Sylvia schmeißt den Laden, wenn Harry mal unterwegs ist, und er kann sich auf sie verlassen. Bruno hat mal vorsichtig angefragt, warum sie denn nicht heiraten würden. Die Frage hat er danach nie wieder gestellt. Es gibt einfach Dinge, über die Harry nicht redet, auch nicht mit seinem besten Freund. Bruno glaubt aber zu wissen, dass Sylvia auch immer noch ihre eigene Wohnung hat, obwohl sie meist hier schläft.

    Jaja, so ist das mit den Frauen. Ich würde dich auch nicht verschmähen. Vielleicht solltest du nicht mehr ganz so kurze Röcke tragen und etwas dezenter mit der Schminke umgehen aber sonst… Ich bin jedenfalls allein. Träume immer nur von der und mal von der. Apropos, ich müsste mich mal wieder bei Anna melden, sonst vergisst sie mich noch ganz. Oder Anita! Die schöne Anita. Ich glaube, die würde mich sogar heiraten. Da bin ich doch ganz schön ins Schleudern gekommen, emotional. Komisch, an Carla muss ich gar nicht so oft denken, obwohl mir ihre Trennung doch sehr wehgetan hat, anfangs jedenfalls…

    Na, wo bist du denn in Gedanken? Immer noch bei dem Rüpel von vorhin? Komm, genieße erst mal die Suppe. Wir haben übrigens einen neuen Koch, wusstest du das? Ganz junger Kerl, hat aber schon eine positive Erwähnung in einer Schweizer Gourmetzeitschrift. Bin mal gespannt, wie es dir schmeckt. Du bist doch auch so ein Feinschmecker oder?

    Feinschmecker? Ich weiß nicht. Ich esse gerne gut und genieße es, wenn es schmeckt. Das darf aber durchaus ganz einfach sein, Hausmannskost, Regionalküche, Hauptsache die Qualität stimmt. Du kannst mir übrigens noch einen Wein bringen, bitte.

    Bruno nimmt einen Löffel der Suppe und spürt beim ersten Zungenkontakt,

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