Die Föhr-Affäre: Inselkrimi
Von Doris Oetting
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Buchvorschau
Die Föhr-Affäre - Doris Oetting
Doris Oetting
Die Föhr-Affäre
Inselkrimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Föhr und in Hamburg.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2022
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Anette Damm, Dortmund
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-249-2
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-239-3
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Doris Oetting, geboren 1970, lebt im ostwestfälischen Minden. Sie arbeitet hauptberuflich in der Qualitätssicherung einer Textagentur und freiberuflich als Autorin von Kurzgeschichten und Romanen. Neben Kurzkrimis in verschiedenen Anthologien veröffentlichte sie 2016 ihren ersten Roman, eine Familiengeschichte, die überwiegend in Travemünde spielt. Anschließend folgten zwei Sammlungen von Kurzgeschichten über unterschiedliche Themen des alltäglichen Lebens. 2018 erschien der Roman „Das Haus auf Föhr, in dem ein dunkles Familiengeheimnis aufgedeckt wird. 2020 folgte der Krimi „Kalte Liebe in Cuxhaven
, der sich mit dem Thema Stalking beschäftigt und aufzeigt, dass man sein Vertrauen leider allzu oft den falschen Menschen schenkt. Mit „Die Föhr-Affäre" kehrt Doris Oetting nun auf ihre Lieblingsinsel zurück, diesmal mit einem Kriminalroman.
Weitere Informationen zu der Autorin unter www.doris-oetting.de
Für meinen Vater,
der schon seit fast zwanzig Jahren fehlt.
Ich hätte dir so viel zu erzählen.
Und für meine Mutter,
die noch da ist, aber doch so fern.
Und für meinen Mann.
Ohne dich wäre alles nur halb so schön.
Prolog
Still kauerte er mit geschlossenen Augen auf dem Hocker in der Ecke und presste die Hände zwischen seine Oberschenkel. Er gab sich alle Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Jungs weinen nicht. Es war so ungerecht. Er hatte es nicht getan. Er hatte den Ball nicht gegen das Schlafzimmerfenster geschossen, so dass die Scheibe in tausend Teile zerbrach. Er konnte überhaupt nicht so hoch und so weit schießen, kein einziges Mal hatte er das bisher geschafft. Er konnte ja ohnehin kaum etwas. Außerdem war er nicht mal in der Nähe gewesen, als das mit dem Fenster geschah.
Aber das würde seine Mutter ihm nicht glauben. Sie gab ihm die Schuld, so wie sie ihm an allem Schlechten, das passierte, die Schuld gab. Sie musste einfach jemanden finden, den sie bestrafen konnte, auch wenn der völlig unschuldig war. Und das war immer ihr Sohn. Versuchte er, sich zu erklären oder zu rechtfertigen, hörte sie nicht zu. Manchmal schrie sie ihn stattdessen an wie eine Wahnsinnige, ohne dass man ein Wort verstehen konnte. Manchmal blieb sie stumm, schaute einfach an ihm vorbei und sie schien weit weg zu sein. Er hatte sich schon öfter gefragt, ob sie vielleicht nicht alle Tassen im Schrank hatte. Natürlich würde er es nicht wagen, das laut auszusprechen. Nicht auszudenken, was für einen Ärger ihm das einbrächte.
Jedenfalls hatte er es längst aufgegeben, sich gegen ihre Ungerechtigkeiten zu wehren. Es hatte ja doch keinen Zweck. Sie sagte und zeigte ihm immer wieder, wo sein Platz innerhalb der Familie war. Und der war nun mal in der letzten Reihe. Er war unwichtig und wurde kaum beachtet. Die meiste Zeit saß er abseits und las. Er liebte Bücher, konnte sich stundenlang in die Geschichten vertiefen und in Gedanken all die Abenteuer miterleben, die dort erzählt wurden. Der Rest der Familie ließ ihn überwiegend in Ruhe, so wie sie auch von ihm in Ruhe gelassen werden wollten. Nur wenn etwas Schlimmes passierte, dann wurde er herbeigerufen und ohne die geringste Chance auf Verteidigung schuldig gesprochen.
So wie heute bei der Sache mit der Fensterscheibe. Ohne ihm nur einen winzigen Augenblick zuzuhören, hatte seine Mutter das Strafmaß verkündet und ihn angewiesen, sich mit blankem Hinterteil bäuchlings über den Küchenstuhl zu legen. Dann hatte sein Vater den Gürtel aus seiner Hose gezogen und ihn wieder und wieder mit voller Wucht auf ihn niedersausen lassen. Sie hatte danebengestanden und laut mitgezählt, wie sie es immer tat. Und für jeden Klagelaut, der von ihm zu hören war, kam ein weiterer Schlag dazu. Heute hatte er die Lippen und die Zähne so zusammengepresst, dass ihm jetzt nicht nur der Hintern, sondern auch die Kiefermuskeln wehtaten. Aber er hatte es geschafft, keinen Mucks von sich zu geben und somit nur das von ihr beschlossene Dutzend Gürtelhiebe kassiert.
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann seine Mutter einmal lieb zu ihm gewesen war. Nie konnte sie sich über etwas freuen, was er tat. Wie auch, sie beachtete ihn ja nicht. Manchmal glaubte er, dass sie ihn hasste. Von seinem Vater konnte er keine Unterstützung erwarten. Er sah zwar aus wie ein starker Mann, groß und kräftig. Aber er verhielt sich oft wie ein Zwerg. Ein Wicht, der sich von seiner Frau am Nasenring durch die Manege führen ließ, die Nachbarn machten sich deswegen über ihn lustig. Er würde es niemals wagen, eine andere Meinung als die seiner Ehefrau zu vertreten oder die Stimme zu erheben in dem Haus, in das er eingeheiratet hatte. Vermutlich waren sogar die Hochzeit und der Nachwuchs beschlossen worden, ohne ihn mehr als naturgemäß unbedingt nötig einzubeziehen. Seit er denken konnte, hatte seine Mutter sich nur einmal ein wenig freundlicher um ihn gekümmert, als er krank gewesen war und niemand wusste, ob er überleben würde. Sobald er genesen war, hatte sie sich abweisender verhalten als je zuvor, so dass er sich kaum noch in ihre Nähe gewagt hatte.
Kapitel 1
Langsam drehte Julia den Kopf nach rechts und zwang sich, ihn anzusehen. Wie er dalag, ganz ruhig. Neben ihr. Auf dem zerwühlten Laken. Die morgendlichen Sonnenstrahlen, die durch die Äste des Baumes direkt vor dem bodentiefen Schlafzimmerfenster hereinfielen, unterteilten sein Gesicht und seinen Körper in helle und dunkle Streifen. Es war halb neun am Sonntagmorgen und bis vor wenigen Minuten hatten sie guten und erfüllenden Sex gehabt. Und jetzt war er tot. Beim Liebesakt auf ihr zusammengebrochen mit einem kurzen Aufschrei des Schmerzes als Abschiedsgruß.
In diesem Moment hatte auch sie sich nicht mehr bewegen können. Vor Schreck oder wegen des Gewichts des toten Körpers auf ihr. Mühsam hatte sie ihn von sich heruntergerollt und sich die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Der Anblick der weit aufgerissenen Augen in seinem Gesicht, das bald einer Wachsfigur ähneln würde, ließ sie frösteln. Sie nahm sich vor, nicht zu schreien, nicht aufzuspringen, ruhig zu bleiben, bis sie aus diesem Alptraum erwachte. Um etwas anderes konnte es sich schließlich nicht handeln.
Minutenlang lag sie da, stocksteif und bewegungslos.
Ein Geräusch aus dem Wohnraum nebenan ließ sie aus ihrer Starre erwachen. Was war das? Außer ihnen war niemand hier. Valentin war Künstler, genauer gesagt Maler, und lebte allein und gewollt abgeschieden in seinem Haus in Hedehusum, einem kleinen Ort zwischen den Dörfern Wittsum und Utersum auf der Nordseeinsel Föhr. Sie wusste aus seinen Erzählungen, dass es sich bei der kleinen Kate um das einstige Zuhause eines verarmten Bauern handelte, der selbst dieses bescheidene Heim irgendwann nicht mehr unterhalten konnte. Valentin hatte Haus und Grundstück in einem miserablen Zustand, dafür aber zu einem fairen Preis bekommen und liebevoll renoviert. Hier trafen sie sich, wann immer sie auf der Insel weilte, heimlich für ihre Stunden zu zweit. Obwohl beide ungebunden waren und ihr Liebesleben somit niemanden etwas anging, hielten sie ihre Treffen geheim. Beide hatten nicht die geringste Lust, zum Inhalt des Inseltratsches zu werden und damit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zum Glück gab es neben dem Haus einen Schuppen. Dort ließ sie immer schnell ihren knallroten Porsche 911 verschwinden, denn natürlich sollte niemand ein Auto vor dem Haus stehen sehen. Schon gar nicht ein so Auffälliges.
Die Räumlichkeiten im Inneren waren überschaubar. Neben dem Schlafzimmer und einem angrenzenden Bad gab es nur eine offene Küche mit Kochinsel, die an einen geräumigen Wohnbereich angrenzte. Valentin hatte das Wohnzimmer mit einer Selbstbauwand geteilt, und jenseits dieser Wand befand sich sein Atelier, ein kreatives Chaos aus Staffeleien, blütenweißen oder zum Teil bereits bemalten Leinwänden, unzähligen Farbdosen und -tuben und einem Sammelsurium an Pinseln und Rakeln. Und mit kunterbunten Farbspritzern auf dem Boden und an den Wänden, bei deren Anblick man eine kürzlich stattgefundene Konfettimaschinen-Explosion vermutete. Der typische Geruch von Farbe und Terpentin hing in der Luft und waberte durch das gesamte Haus, aber weder Valentin selbst noch Julia störten sich daran. Dafür liebten beide die Kunst zu sehr, jeder auf seine Art. Da das Haus über keinen Flur verfügte, betrat man von der Haustür aus sofort den Wohnbereich. Und aus genau dieser Richtung vernahm sie jetzt ein pochendes Geräusch.
In unregelmäßigen Abständen klopfte jemand immer wieder an die Tür. Sie blieb still liegen und wartete ab, aber das Klopfen hörte nicht auf. Wer konnte das sein? Valentin bekam niemals Besuch. Er hatte keine Freunde, weil er keine brauchte. Über irgendwelche Verwandte hatte er nie nur die geringste Andeutung gemacht. Und Kontakt zu seinen Nachbarn hätte er selbst dann nicht gepflegt, wenn es welche gäbe. Die einzigen Lebewesen in unmittelbarer Nähe seines Hauses waren Pferde und Kühe. Es gab weit und breit nur Felder, Wiesen und einen schmalen Landwirtschaftsweg, auf dem außer ihm und ihr und hin und wieder einem Bauern auf einem Traktor selten jemand unterwegs war.
Alle paar Tage fuhr Valentin mit seinem klapprigen VW Polo, an dessen beste Zeiten sich vermutlich niemand mehr erinnern konnte, in die Inselhauptstadt Wyk. In der Filiale der Postbank hatte er ein Postfach, damit nicht einmal der Briefträger zu ihm kommen musste. Dass die Leute Valentin für einen seltsamen Kauz hielten, störte ihn nicht. Julia hatte ihr ganzes Verhandlungsgeschick aufbringen müssen, ihn als Galeristin vertreten und einige seiner Bilder in ihrer Galerie in Hamburg ausstellen zu dürfen. Der Verkauf der Werke lief zwar schleppender als angenommen, aber dafür war zwischen ihr und Valtentin das entstanden, was man als Bettgeschichte ohne große Emotionen bezeichnen konnte. Beide wollten nichts Verbindliches und erst recht nichts Kompliziertes, aber sie wollten und konnten auch nicht mehr aufeinander verzichten, nachdem sie zum ersten Mal zusammen im Bett gelandet waren.
Natürlich hatte es etwas Unprofessionelles an sich, wenn eine Galeristin mit einem der von ihr vertretenen Künstler schlief. Immerhin war Julia so etwas wie seine Agentin. Da sie seine Bilder verkaufte oder es zumindest versuchte und auch hin und wieder Auftragsarbeiten an ihn vermittelte, bestand zwischen ihnen eine gewisse Abhängigkeit. Aber passierte das nicht jeden Tag unzählige Male? Der Chef mit der Sekretärin, der Arzt mit der Krankenschwester und so weiter. Hier gab es me too nun eben mal andersrum. Und wer sollte je davon erfahren? Valentins ohnehin seltenen Ausstellungen auf der Insel wurden überwiegend von Touristen besucht, wodurch eine gewisse Anonymität gewahrt blieb. Für seine bescheidenen Ansprüche verdiente er genug Geld. Julia und er hatten oft darüber gelacht, dass sein Nachname Velstand das norwegische Wort für Wohlstand war, denn genau danach strebte Valentin überhaupt nicht. Er hatte sich sein Leben ganz nach seinen Vorstellungen eingerichtet, und die Meinung anderer war nichts, worüber sich Valentin den Kopf zerbrach.
Und jetzt war er tot. Gestorben beim Sex mit ihr. Was sollte sie bloß tun? Ihr Herz schlug schnell und hart gegen ihre Rippen und auf ihrer Stirn sammelten sich Schweißperlen, während über den Rest ihres Körpers eine Gänsehaut lief. Beruhige dich und denk nach, ermahnte sie sich selbst. Du bist 42 Jahre alt, also benimm dich nicht wie ein Kind, das ein Monster im Kleiderschrank vermutet. Außerdem bist du nicht schuld an seinem Tod. Es ist passiert. Einfach passiert. Sie musste sofort den Notruf wählen. Ihre Jacke, in der ihr Smartphone steckte, hatte sie gestern an einen der Haken neben der Tür gehängt. Aber von dort kam das unheimliche Klopfen.
Da sie es ohnehin nicht mehr aushielt, neben ihm zu liegen, schwang sie die Beine aus dem Bett und griff nach ihrer Kleidung, die auf dem Fußboden lag. Schnell schlüpfte sie in ihre verwaschenen Jeans und das dunkelgrüne T-Shirt und strich mit den Fingern aus reiner Gewohnheit durch ihr streichholzkurzes blondes Haar. Barfuß und so leise wie möglich ging sie zur Schlafzimmertür, die nur angelehnt war. Sie sah durch den schmalen Spalt in den angrenzenden Wohnraum, konnte so aber fast gar nichts und somit auch nichts Außergewöhnliches erkennen. Sie schloss die Augen und versuchte sich auf das Hören zu konzentrieren. Das Klopfen kam wie vermutet von der Haustür, an der es keine Klingel gab. Irgendjemand begehrte Einlass. Aber wer? Und warum? Sie durfte auf keinen Fall öffnen. Um zu erklären, dass Valentin nicht zu sprechen war, wäre ihr vermutlich etwas eingefallen, aber wie sollte sie ihre eigene Anwesenheit begründen? Sie schafften es schon seit zwei Jahren, ihre Beziehung, ihre Affäre, ihr Techtelmechtel oder wie immer man es nennen wollte, vor dem Rest der Welt zu verbergen, und dabei sollte es jetzt erst recht bleiben.
Sie warf einen Blick zurück auf das Bett, auf Valentins leblosen Körper. Woran war er gestorben? War er einem Herzinfarkt erlegen? Oder einem Hirnschlag? Sie hatte das dringende Bedürfnis, das Schlafzimmer und damit den Anblick der Leiche hinter sich zu lassen. Außerdem musste sie irgendwie zu ihrem Handy gelangen und den Notruf absetzen. Es war zwar keine Eile geboten, Valentin war ohnehin nicht zu mehr zu helfen, aber wie sollte sie erklären, warum sie so lange damit gewartet hatte? Allerdings war das Klopfen noch immer zu hören, obwohl inzwischen zehn Minuten oder mehr vergangen waren. Würde der ungebetene Gast denn nie aufgeben? Sie musste leise sein, um ihm nicht zu verraten, dass jemand im Haus war. Vorsichtig öffnete sie die Tür ein Stück weiter, schlich in den Wohnraum und entdeckte sofort die Herkunft der Klopfgeräusche. Sie hatten am gestrigen Abend vergessen, das winzige Fenster neben der Haustür zu schließen, und jetzt wurde es vom Wind hin und her geschleudert und schlug immer wieder auf und zu.
Sie schlich hinüber und sah nach draußen. Es war weit und breit niemand zu sehen. Erleichtert, dass wenigstens dieses Problem gelöst war, schloss sie das Fenster. Dann holte sie ihr Handy aus der Jackentasche und ließ dabei den Blick durch den Raum wandern. Auf dem Couchtisch stand noch die leere Flasche Rotwein, daneben die beiden benutzten Gläser. Die Decke, in die sie sich spät in der Nacht eingewickelt hatten, lag auf der Armlehne des schon ziemlich verschlissenen Sofas. Ins Bett gegangen waren sie erst gegen drei Uhr morgens, allerdings nicht, um zu schlafen. Sie hatten nur wenig Nachtruhe im herkömmlichen Sinn gehabt, aber dazu wäre die Zeit auch zu schade gewesen.
Ihr Blick wanderte weiter und blieb im Küchenbereich hängen. Bei ihrer Ankunft am späten Abend, sie hatte die letzte Fähre aus Dagebüll genommen, hatte Valentin sie wie so oft mit einem leckeren Essen verwöhnt. Anschließend hatte er aufgeräumt und abgewaschen, wobei er ihre Hilfe wie immer ablehnte. Er war ein wunderbarer Koch. Gewesen, setzte sie in Gedanken hinzu. Valentin lag tot nebenan im Schlafzimmer. Der furchtbare Anblick, dem sie für den Moment entflohen war, drang zurück in ihr Bewusstsein. Sie musste jetzt endlich die Polizei rufen und den Todesfall melden.
Sie tippte die 112 in ihr Handy, doch bevor sie die Taste für den Verbindungsaufbau drückte, stockte sie und sah plötzlich die Schlagzeile im Inselboten schon vor sich: Künstler Valentin Velstand beim Sex gestorben! Wer ist die unbekannte Geliebte? Damit würde Valentin posthum doch noch zum Inselgespräch. Und sie selbst auch. Der Polizei gegenüber würde sie sich ausweisen müssen. Vielleicht würde es auch der Presse gelingen, ihren Namen in Erfahrung zu bringen. Die fanden doch immer irgendwie heraus, was sie nicht wissen sollten.
Welche Kreise würde eine solche Geschichte ziehen? Vielleicht würden auch Journalisten außerhalb von Föhr die Story dankbar aufgreifen, wenn sie sonst nichts Spannendes auf Lager hatten. Waren tote Künstler nicht für die Medien schon immer interessanter gewesen als lebende? Möglicherweise würde sogar in Hamburg darüber berichtet werden. Vermutlich mit einer erheblich reißerischeren Schlagzeile. Sex mit bekannter Harvestehuder Galeristin endet tödlich. Oder ähnlich. Die Klatschweiber aus dem schicken Stadtteil, in dem Julia wohnte und arbeitete, würden sofort auf sie kommen und hätten ihre wahre Freude daran. Sie, die erfolgreiche, stets durchgestylte und unnahbar wirkende Galeristin und dieser ziemlich unbekannte und auf den ersten Blick etwas abgerissen wirkende Inselmaler.
Besonders ein ganz bestimmter Mensch wartete nur auf eine Gelegenheit, sie durch den Dreck zu ziehen, und würde sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. Sie starrte ihr Smartphone mit der eingetippten 112 an und zögerte noch immer.
Kapitel 2
Konstantin Schöller spürte ihren Blick auf sich, bevor er die Augen aufschlug. Es war früh am Sonntagmorgen und er hätte gerne etwas länger geschlafen, aber das passte diesem Betthäschen neben ihm scheinbar absolut nicht. Das war das Lästige an seinen One-Night-Stands, dass manche Weiber dachten, sie könnten anschließend gleich bei ihm einziehen. Jetzt fing sie auch noch an, sein Brusthaar zu kraulen. Wie er es hasste, beim Aufwachen nicht allein zu sein. Er ging lieber zu seinen Eroberungen nach Hause und haute wieder ab, sobald er seine sexuellen Bedürfnisse gestillt hatte. Nur äußerst selten nahm er Frauen mit in seine Penthouse-Wohnung. Blöd, dass er es gestern doch getan hatte. Er setzte sich auf, aber sofort drehte sich das Schlafzimmer um ihn. Tequila. Ja, damit hatte er sich abgeschossen. Mit reichlich Tequila. So viel, dass er sexuelle Höchstleistungen kaum noch für möglich gehalten hatte. Aber scheinbar hatte er es geschafft. Oder die kleine Brünette neben ihm war mit wenig zufrieden.
Um sich von ihrer Anwesenheit abzulenken, ging Konstantin in Gedanken die Termine für die kommende Woche durch. Als Nachhilfe- und Fitnesslehrer hatte er sein Auskommen, aber seinen teuren Lebensstil finanzierte hauptsächlich das Erbe seiner verstorbenen Lieblingstante. Seine größte Leidenschaft waren seine politischen Aktivitäten für die Freie und Hansestadt gewesen, die ihm ein gewisses Ansehen und die Aussicht auf einen Platz im Senat beschert hatten, aber das war alles lange her. Konstantin drehte sich um und gab dabei einen Seufzer von sich, den die Frau neben ihm vollkommen falsch deutete. Sofort begann sie erneut, ihn zu kraulen. Er sah sie an. Sie war jung und attraktiv, auch wenn ihre Wimperntusche nicht mehr genau dort anzutreffen war, wo sie hingehörte. Mit leicht geöffneten Lippen sah sie ihn an, offensichtlich auf eine erneute Runde Matratzensport hoffend. Ihm wurde übel, was zu gleichen Teilen am Tequila und ihrer Erwartungshaltung lag.
»Zieh dich an!«, forderte er sie auf.
Ihre Finger in seinem Brusthaar hielten für einen Moment inne, kraulten dann aber unbeirrt weiter.
»Ich sagte, du sollst dich anziehen«, wiederholte er.
»Und dann?«, fragte sie und bemühte sich um einen verführerischen Klang in der Stimme.
»Und dann kannst du gehen, denn das hier war eine Übernachtung ohne Frühstück, kapiert?« Er stand auf, ging, nackt wie er war, zum Schlafzimmerfenster und drehte ihr dabei seine Kehrseite zu.
»Aber … ich meine …«, stotterte sie.
Anstatt zu reagieren, kratzte er sich den Allerwertesten. Die Geräusche hinter ihm ließen ihn erfreut feststellen, dass sie aufgestanden war und sich anzog. Sie versuchte es mit einer Verabschiedung. »Also, dann … Ruf mich an, okay?«
Erneut erhielt sie keine Antwort und wenige Sekunden später fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Er kroch zurück ins Bett, das er endlich wieder für sich allein hatte, und dachte nach. Wie lange wollte er so noch weitermachen? Mit zwanzig war es normal, jedes Wochenende die Puppen tanzen zu lassen. Mit dreißig machte es noch immer Spaß. Mit vierzig war es schon nicht mehr so lustig. In zwei Jahren wurde er fünfzig, da bekam seine Lebensweise langsam etwas Tragisches. Die passende Frau für ihn schien es nicht zu geben. Jünger als er sollte sie sein, schlank, hübsch und nicht allzu gebildet. Er war nicht scharf drauf, mit ihr die Weltpolitik zu diskutieren oder zu jedem Thema ungefragt ihre Ansicht zu hören. Er wollte sich mit ihr sehen lassen können und jederzeit unkomplizierten Sex haben. Das reichte ihm nun, da er alle politischen Ambitonen begraben hatte.
Ein einziges Mal hatte er eine Frau getroffen, mit der ihm eine Zukunft möglich schien. Sechs Jahre war das jetzt her. Als er Julia Lessing in ihrer Galerie zum ersten Mal gesehen hatte, war er sofort von ihr angetan gewesen. Attraktiv und kultiviert war sie. Genau richtig, um mit ihr in den Kreisen Eindruck zu machen, in denen er sich damals bewegte. Mit dieser Frau an seiner Seite hätten sich bestimmt noch mehr wichtige Türen für ihn öffnen können, denn zu ihrer Kundschaft zählten die Ehefrauen der Männer, die ihm bei seiner politischen Karriere von Nutzen waren. Die Galerie hätte sie aus diesem Grund nach