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Psychische Störungen verstehen: Orientierungshilfe für Angehörige
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eBook329 Seiten3 Stunden

Psychische Störungen verstehen: Orientierungshilfe für Angehörige

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Über dieses E-Book

Dieses Sachbuch hilft Angehörigen und anderen Nahestehenden, psychische Störungen besser zu verstehen. Die häufigsten Krankheitsbilder werden beschrieben, Entstehungsbedingungen verständlich dargestellt. Es informiert über adäquate Behandlungsansätze und Beratungsangebote, vermittelt einen Überblick über die Wirkung von Psychopharmaka und Psychotherapie bei den einzelnen Störungen. Alle, die rund um Betroffene beteiligt sind, werden dabei unterstützt, einen möglichst konstruktiven Umgang mit den auftretenden Belastungen und die richtige Balance zwischen Unterstützung und Abgrenzung zu finden. 

Zum Kontext: 

25 % der Menschen in Westeuropa erleiden einmal in ihrem Leben eine behandlungsbedürftige psychische Störung. Daher ist davon auszugehen, dass jeder Mensch in seinem nahen Umfeld zumindest mit einem/einer psychisch Kranken zu tun hat. Viele fragen sich: Wie kann ich diese Krankheit/Störung verstehen? Wie ist die Prognose? Wie soll ich mit dem/der Betroffenen umgehen? Wie kann ich helfen? Wer kann helfen? Wann sind Psychopharmaka nötig und wie gefährlich sind sie wirklich? Dieses Buch gibt Antworten.  

Über die Autorin: 

Dr. Elisabeth Wagner, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Lehrtherapeutin für systemische Familientherapie, betreut viele Betroffene, aber auch deren soziales Umfeld. Dieses zu unterstützen, ist ihr ein Anliegen.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum21. Juli 2021
ISBN9783662631560
Psychische Störungen verstehen: Orientierungshilfe für Angehörige

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    Buchvorschau

    Psychische Störungen verstehen - Elisabeth Wagner

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021

    E. WagnerPsychische Störungen verstehenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-63156-0_1

    1. Warum gibt es so viel Verwirrung in der Psycho-Landschaft?

    Elisabeth Wagner¹  

    (1)

    Baden, Österreich

    Psychische Störungen nehmen in der öffentlichen Aufmerksamkeit einen breiten Raum ein. Die Zeit der Tabuisierung ist vorbei, allerorts werden Erklärungen für psychische Störungen und Ratschläge für den richtigen Umgang damit gegeben. Dennoch bleibt die Lage widersprüchlich und unübersichtlich: Kann man der Psychiatrie trauen, sind Psychopharmaka gefährlich, ist Psychotherapie eine seriöse Behandlungsmethode? In diesem Kapitel wird erklärt, wie durch unzulässige Verallgemeinerungen Widersprüche erzeugt werden und wie dieses Buch zur Orientierung im Informationsdschungel beitragen soll.

    Die Psychiatrie ist immer wieder Gegenstand eines kontroversiellen öffentlichen Diskurses. Während es bei den Volkskrankheiten Diabetes und Bluthochdruck keine öffentlichkeitswirksamen radikalen Infragestellungen der medizinischen Behandlungsstandards gibt, schaffen es psychiatriekritische Publikationen, in denen von gefährlichen Psychopharmaka, erfundenen Krankheiten und menschlichen Versuchskaninchen berichtet wird, immer wieder auf die Bestsellerlisten. Dass sie eine angemessene Darstellung des psychiatrischen Versorgungssystems bieten, bezweifle ich.

    Viele Betroffene und Angehörige misstrauen der Psychiatrie und setzen auf Psychotherapie oder alternative Heilmethoden. Aber sind sie da besser aufgehoben? Ist der Wissensstand hier konsistenter und in widerspruchsfreier Art allgemein verfügbar? Im Gegenteil – die Vielfalt der Psychotherapiemethoden, die sich in ihren Grundannahmen, aber auch in Frequenz und Dauer der Behandlung erheblich unterscheiden, verunsichert viele. Kann es wirklich sein, dass eine systemische Kurztherapie in zehn Sitzungen genauso wirksam ist wie eine dreijährige Psychoanalyse mit vier Sitzungen pro Woche? Muss man sich wirklich mit seiner Kindheit beschäftigen, wenn man Panikattacken hat? Kann andererseits eine Psychotherapie langfristig wirksam sein, wenn sie sich nur mit den aktuellen Symptomen und nicht mit den zugrundeliegenden Ursachen beschäftigt? Auch hier ist die Verunsicherung groß, und die Orientierung und kundige Entscheidung schwierig.

    Die Gefahren der Verallgemeinerung

    Die letztgültige Antwort auf die Frage, ob gesamtgesellschaftlich mehr Schaden durch den unkritischen Gebrauch von Psychopharmaka oder durch das Unterlassen professioneller Behandlung entsteht, bleibt im Bereich des Spekulativen. Dennoch sollten die beiden Probleme unabhängig voneinander beobachtet werden: Der unkritische Einsatz von Psychopharmaka durch mangelhaft ausgebildete oder im Druck der Versorgung überforderte Ärzt:innen stellt ein gravierendes Problem dar, die Unterlassung einer adäquaten professionellen Behandlung psychisch Kranker und die daraus folgende Einschränkung von Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten ein anderes. Es gibt hier keine Logik des Entweder – oder sondern des Sowohl – als auch. Psychiatrische Störungen sind sowohl über- als auch unterdiagnostiziert, sie sind sowohl überschießend wie auch unzureichend psychopharmakologisch behandelt. Ähnliches gilt auch für andere Behandlungsstrategien: Psychotherapie wird in ihrem Wert für die Behandlung psychischer Störungen sowohl über- als auch unterbewertet. Das ist kein Widerspruch, wie bei näherer Betrachtung schnell einleuchtet. Dass in ein und derselben Gesellschaft unbehandelte Angststörungen oder unbehandelter Abhängigkeitserkrankungen zu chronifizierten Krankheitsverläufen mit deutlichen Beeinträchtigungen führen und gleichzeitig andere Personen unkritisch und überschießend behandelt werden, kann eigentlich nicht verwundern. Nicht die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Probleme erzeugt den Widerspruch, sondern der gleichzeitige Gültigkeitsanspruch von verallgemeinernden Behauptungen.

    Aussagen wie „Es werden zu viele Psychopharmaka verschrieben, „Psychische Störungen sind noch immer unterdiagnostiziert, „Die heutige Arbeitswelt macht krank" enthalten einen Funken Wahrheit, sind aber unzutreffend und irreführend, sobald ein allgemeiner Gültigkeitsanspruch erhoben wird: Ja, vielen Menschen werden unkritisch Psychopharmaka verschrieben. Andere erhalten sie nicht, obwohl sie davon profitieren würden. Ja, in vielen Bereichen sind psychische Störungen unterdiagnostiziert, in anderen Bereichen ist eher die inflationäre Anwendung psychiatrischer Diagnosen das Problem. Ja, manche Menschen leiden unter Merkmalen der heutigen Arbeitswelt. Für viele Menschen ist aber Erwerbstätigkeit ein stabilisierender Faktor. In diesem Buch soll daher auf ideologisch motivierte Verallgemeinerungen verzichtet werden. Stattdessen versuche ich,

    Angehörigen und interessierten Laien durch eine ausgewogene Darstellung des relevanten Wissens die Orientierung zu erleichtern.

    Zum Aufbau des Buches

    In den einleitenden Kap. 1, 2, 3, 4 und 5 wird zunächst der Stellenwert psychischer Störungen in modernen Zivilisationsgesellschaften dargestellt. Was wissen wir über die Häufigkeit psychischer Störungen und über die gesellschaftlichen Folgekosten? Nehmen psychische Störungen wirklich ständig zu? Im Zusammenhang damit müssen natürlich auch die Diagnosestandards vorgestellt werden – wie verlässlich sind psychiatrische Störungen zu diagnostizieren, wie „modeabhängig", inflationär oder auch zurückhaltend werden verschiedene Störungen diagnostiziert? Ein weiteres Kapitel widmet sich den wichtigsten Ursachen psychischer Störungen. Dabei werden Genetik und Epigenetik, frühe Kindheitserfahrungen und Traumata genauso thematisiert wie aktuelle Belastungen und gesellschaftliche Faktoren. Das letzte einführende Kapitel gibt einen Überblick über die wichtigsten Behandlungsstrategien (Psychopharmakologie und Psychotherapie) und beschreibt die Versorgungslandschaft im deutschen Sprachraum.

    Danach werden in den Kap. 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12 und 13 einzelne Störungsbilder, nämlich die Schizophrenie, die Depression, die bipolare Störung, Angsterkrankungen, die Zwangsstörung, Essstörungen, Traumafolgestörungen und die Borderlinestörung hinsichtlich der Symptome und des Behandlungsbedarfes beschrieben. Der Stellenwert der psychopharmakologischen und der psychotherapeutischen Behandlung wird für jede Störung dargestellt, um die Orientierung im Behandlungssystem zu erleichtern. Darüber hinaus finden sich jeweils Literaturverweise zu diagnosespezifischen Ratgebern für Angehörige sowie Hinweise auf hilfreiche Links im Netz. Bei jedem Krankheitsbild wird auch auf die Rolle der Angehörigen eingegangen, soweit hier bestimmte störungsspezifische Aspekte von Bedeutung sind. Auf eine Darstellung der Suchterkrankungen wurde verzichtet, da hier je nach verwendeter Substanz und Konsummuster soviel individualisierte Information nötig wäre, dass dies den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Dasselbe gilt für die Verhaltenssüchte wie Kaufsucht, Spielsucht, Internetsucht, etc.

    In den abschließenden Kapiteln werden störungsübergreifende Themen, die für Angehörige relevant sind, behandelt: der Umgang mit Selbstmordgefahr, die psychiatrische Behandlung gegen den Willen von Betroffenen, typische Beziehungskonstellationen aber auch Überlegungen zur angemessenen Selbstfürsorge und zur gelingenden Kooperation mit den professionell Helfenden.

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021

    E. WagnerPsychische Störungen verstehenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-63156-0_2

    2. Verbreitung psychischer Störungen: Leben wir in einer Gesellschaft psychisch Kranker?

    Elisabeth Wagner¹  

    (1)

    Baden, Österreich

    2.1 Wie werden die Daten über die Verbreitung psychischer Störungen erhoben?

    2.2 Wie lässt sich die Zunahme psychischer Störungen in den administrativen Daten interpretieren?

    2.3 Die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Prävalenz psychischer Störungen

    2.4 Über den Zusammenhang von Depression und Arbeitswelt

    2.5 Die Ausweitung der Diagnosekriterien für psychische Störungen

    2.6 Pathologisierung und Medikalisierung menschlicher Leidenszustände

    2.7 Wie sollten Angehörige mit dem Verdacht einer psychischen Störung umgehen?

    Literatur

    Laut Medienberichten werden psychische Störungen, allen voran Angststörungen, Depressionen und Abhängigkeitserkrankungen immer häufiger. Auch die Verordnung von Antidepressiva und anderen Psychopharmaka ist in den letzten 15 Jahren eklatant angestiegen. Wie sind diese Daten zu interpretieren? Treten psychische Störungen heute tatsächlich häufiger auf oder haben sich nur die Diagnosegewohnheiten der Behandelnden sowie das Inanspruchnahme-Verhalten der Betroffenen verändert? Dieses Kapitel soll bei der Orientierung helfen und dazu ermutigen, die dominanten gesellschaftlichen Diskurse zu diesem Thema zu hinterfragen. Dies soll Angehörige dabei unterstützen, die gesellschaftliche Dimension psychischer Störungen zu erkennen.

    Immer wieder finden sich in den Medien alarmierende Meldungen über den Zuwachs psychischer Störungen. Jede zweite in Deutschland befragte Person fühlt sich Burnout gefährdet, die Depression könnte laut WHO bereits 2020 die zweithäufigste Volkskrankheit sein, auch Angst- und Abhängigkeitserkrankungen nehmen zu. Fachleute aus dem Bereich Soziologie, Psychologie und Psychiatrie nehmen sich dieses Themas an und verorten die Ursachen in der Gesellschaft: Vom erschöpften Selbst ist die Rede (Ehrenberg 2008), von der narzisstischen Gesellschaft (Maaz 2014), von der krankmachenden Beschleunigung der Arbeitswelt durch Digitalisierung und neue Medien. Unterschiedlichste soziale Faktoren und gesellschaftliche Entwicklungen werden in diesen kulturkritischen Schriften als pathogen – also krankmachend – beschrieben und liefern damit Erklärungen für die zunehmende Verbreitung und damit das Verständnis psychischer Störungen. Warum ist das für Angehörige und Betroffene relevant?

    Die gesellschaftliche Dimension psychischer Störungen

    Das Erleben einer psychischen Störung ist nicht unabhängig von der gesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Phänomene. In keinem anderen Fach der Medizin ist Krankheit so eng mit dem sozialen und gesellschaftlichen Kontext verbunden wie in der Psychiatrie – und dieser Einfluss gilt in beide Richtungen: Gesellschaftliche Faktoren können krank machen, psychisches Leiden verursachen, daran besteht kein Zweifel. Andererseits bestimmen gesellschaftliche Diskurse auch, wie Unbehagen, Unzufriedenheit, subjektives Leid von den Betroffenen und ihren Angehörigen gedeutet wird. Der dauernde Verweis auf die Zunahme psychischer Störungen in den Medien enthält implizit auch die Einladung, jede Unzufriedenheit als Ausdruck einer psychischen Störung zu deuten. Dies kann zu einer weiteren „Medikalisierung normaler und unvermeidlicher menschlicher Leidenszustände beitragen. Angehörige sind neben den Medien wichtige „Bedeutungskonstrukteure von psychischen Problemen und sollten daher medial verbreitete Deutungsangebote nicht unreflektiert übernehmen. Vor allem die einseitige Darstellung der modernen Arbeitswelt und der schulischen Leistungsanforderungen als Gefahr für die psychische Gesundheit kann zu einer unproduktiven Opferhaltung beitragen und sollte daher kritisch hinterfragt werden.

    2.1 Wie werden die Daten über die Verbreitung psychischer Störungen erhoben?

    Es ist wichtig, hier verschiedene Datenquellen zu unterscheiden: Die wichtigste Datenquelle für die Erfassung psychischer Störungen sind die jährlich erscheinenden Berichte von Krankenkassen und Rentenversicherungen, also administrative Daten . Diese Routinedaten beinhalten die Diagnosen, die im Versorgungsalltag von den Leistungserbringern, also Arztpraxen und Krankenhäusern, an die Krankenkassen übermittelt werden. Administrative Daten geben damit Auskunft darüber, welche Leistungen des Gesundheitssystems aufgrund welcher Diagnose in Anspruch genommen werden und haben daher eine hohe Bedeutung vor allem für die Versorgungsforschung. Die administrativen Daten belegen eine Zunahme psychischer Störungen. Da die Nennung von Diagnosen nur der Administration und Abrechnung der erbrachten Leistungen dient, geben sie allerdings keine zuverlässige Auskunft über die tatsächliche Verbreitung psychischer Störungen.

    Um die tatsächliche Verbreitung psychischer Störungen zu erheben, braucht es epidemiologische Studien, in denen repräsentative Stichproben der Bevölkerung hinsichtlich des Vorliegens einer psychischen Störung befragt werden. Damit werden alle Personen erfasst, die nach den aktuellen wissenschaftlichen Kriterien die Diagnosekriterien einer psychischen Störung erfüllen und nicht nur jene, die sich in Behandlung begeben. In solchen Studien können auch wichtige Fragen der Versorgungsforschung untersucht werden: Wie viele Personen mit welchen Störungen werden von wem behandelt, wie viele bleiben unbehandelt? Im Gegensatz zu den Medienberichten und den administrativen Daten der Kranken- und Rentenversicherungen zeigen diese epidemiologischen Studien für die letzten 50 Jahre keine Zunahme von psychischen Störungen im Allgemeinen noch für Depression im Speziellen (Jacobi et al. 2014).

    2.2 Wie lässt sich die Zunahme psychischer Störungen in den administrativen Daten interpretieren?

    Am deutlichsten nehmen in den administrativen Daten die Depressionsdiagnosen zu. Fast 30 % der Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung erhalten innerhalb eines Jahres in Deutschland die Diagnose einer psychischen Störung, bei ca. 10 % der Versicherten wird eine depressive Störung diagnostiziert (DGPPN-Dossier 2018). Die Verschreibung von Antidepressiva ist in Deutschland von 2008 bis 2017 um 50 % angestiegen, derzeit werden im deutschen Sprachraum ca. 60 Tagesdosen pro 1000 Einwohner verordnet (Janson 2019). Mehr als die Hälfte der an einer psychischen Störung Leidenden wird nur hausärztlich behandelt.

    Heißt dies, dass Antidepressiva leichtfertig und überschießend verordnet werden? Das mag vorkommen, aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle: Die Zunahme an Depressionsdiagnosen in der Hausarztpraxis könnte auch auf eine höhere Sensibilität gegenüber depressiven Störungen durch bessere Schulung der Allgemeinmediziner:innen zurückzuführen sein. Die Enttabuisierung psychischer Störungen könnte dazu beigetragen haben, dass Betroffene offener ihre diesbezüglichen Beschwerden schildern und sich nicht auf die Präsentation ihrer somatischen Symptome (Schmerzen, Schwindel, Übelkeit, …) beschränken – beides durchaus wünschenswerte Folgen der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz psychischer Störungen. Auch die zunehmende Verordnung von Antidepressiva durch Allgemeinmediziner:innen verweist nicht primär auf eine fahrlässige Verschreibungspraxis sondern unter anderem auch darauf, dass in den letzten dreißig Jahren gut verträgliche, nebenwirkungsarme Medikamente entwickelt wurden, die als „First-Line-Therapie" auch in der Hausarztpraxis sicher verschrieben werden können.

    Dennoch ist eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuell zu beobachtenden niederschwelligen Verordnung von Psychopharmaka und der vergleichsweise seltenen Inanspruchnahme von Psychotherapie notwendig (siehe dazu Abschn. 7.​6), ebenso eine Auseinandersetzung mit der Frage, bei welchen psychischen Störungen eine fachärztliche Expertise sinnvoll bzw. notwendig ist.

    2.3 Die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Prävalenz psychischer Störungen

    Für eine genaue Einschätzung der Auswirkungen der Pandemie auf die Häufigkeit psychischer Störungen ist der Beobachtungszeitraum noch zu kurz. Zu einer eindeutigen Zunahme psychischer Störungen kam es jedenfalls im Kindes- und Jugendalter. Eine repräsentative Studie des Robert-Koch-Instituts zeigt, dass in der Corona-Situation die Punktprävalenz von 10 auf 16 % gestiegen ist, das heißt, dass zum Untersuchungszeitpunkt nun bei 16 % aller befragten Kinder und Jugendlichen eine psychische Störung vorlag (Ravens-Sieberer et al. 2021). Sowohl im niedergelassenen Bereich, also bei Kinder- und Jugendpsychiater:innen und Psychotherapeut:innen, wie auch im stationären Bereich ist dieser vermehrte Bedarf spürbar. Verfügbare Behandlungsplätze werden knapp, Eltern fühlen sich zunehmend allein gelassen. Kinder aus bildungsfernen und sozial schwachen Familien sind besonders hart betroffen, viele von ihnen können vom Lehrpersonal nicht mehr erreicht werden und verlieren so den Anschluss an die Schule. In diesen Fällen ist auch mit langfristigen negativen psychosozialen Folgen zu rechnen.

    Auch unter Erwachsenen haben Angststörungen, Depressionen und Alkoholabhängigkeit im Jahr der Pandemie zugenommen. Die Suizidrate ist aber bislang in Europa nicht angestiegen.

    2.4 Über den Zusammenhang von Depression und Arbeitswelt

    Vier Fünftel aller Personen mit einer Depressionsdiagnose bleiben arbeitsfähig und nehmen nur ambulante Leistungen in Anspruch. Dass die Mehrzahl dieser leicht Depressiven nur medikamentös behandelt wird, dass nur bei einem Fünftel der antidepressiv Behandelten auch Psychotherapie zum Einsatz kommt, ist, wie bereits ausgeführt, kritisch zu betrachten.

    Obwohl nur ein Fünftel aller Personen, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde, das sind nur 1,6 Prozent aller Erwerbstätigen, deshalb in einem Beobachtungszeitraum von einem Jahr auch krankgeschrieben werden, kommt es aufgrund der außergewöhnlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu einer stetigen Zunahme von Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen. So ist das Arbeitsausfallvolumen aufgrund psychischer Störungen im vergangenen Jahrzehnt um knapp 70 % gestiegen. Im Jahr 2016 wurden 15 % der Arbeitsunfähigkeitstage durch eine psychische Erkrankung verursacht, womit diese zur zweithäufigsten Ursache für Krankschreibungen geworden sind (Statista Research Department 2019).

    Auch wenn sich die Aufmerksamkeit der Medien speziell auf die durch psychische Störungen bedingte Arbeitsunfähigkeit richtet, sollte daraus nicht geschlossen werden, dass die Erwerbstätigen einem besonders hohen Depressionsrisiko ausgesetzt sind, dass also „Arbeit krank macht". Während jedes Jahr bei 5 % der erwerbstätigen Versicherten eine Depression diagnostiziert wird, ist der Anteil bei den Arbeitslosen ca. viermal so hoch. Und auch im hohen Lebensalter kommt es zu einem deutlichen Anstieg der Depressionsdiagnosen: Im 85. Lebensjahr werden 25 % der Frauen und 15 % der Männer als depressiv diagnostiziert. Ohne die Belastungen moderner Arbeitswelt damit leugnen zu wollen, spricht viel dafür, Berufstätigkeit auch als Beitrag zu psychischer Gesundheit zu interpretieren.

    Auch dass heute über 40 % aller Erwerbsminderungsrenten aufgrund psychischer Störungen bewilligt werden, ist kein Beweis für die krankmachende Wirkung der Arbeitswelt. Eher ist anzunehmen, dass die moderne Informations- und Dienstleistungsgesellschaft vor allem durch die Notwendigkeit von lebenslangem Lernen und die Häufigkeit von Umstrukturierungen höhere Anforderungen an die Flexibilität und psychische Funktionsfähigkeit der Beschäftigten stellt. Während früher ein durchschnittlicher Arbeitnehmer gute Chancen hatte, seinen erlernten Beruf jahrzehntelang in relativ unveränderter Art durchführen und dabei entlastende Routinen entwickeln zu können, ist heute in den meisten Jobs aufgrund regelmäßiger technischer Veränderungen eine hohe Anpassungs- und Lernfähigkeit gefordert. Die moderne Arbeitswelt bietet immer weniger Nischen für Menschen, die nur einfache handwerkliche oder gleichförmige körperliche Tätigkeiten durchführen können, da diese Jobs entweder durch Maschinen oder billige ausländische Arbeitskräfte erledigt werden. Die moderne Arbeitswelt macht daher nicht unbedingt krank, stellt aber höhere Anforderungen an die psychische Funktionsfähigkeit und ist damit weniger tolerant gegenüber psychischen Beeinträchtigungen, die dadurch häufiger als früher zu Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung führen.

    2.5 Die Ausweitung der Diagnosekriterien für psychische Störungen

    Dass in epidemiologischen Studien keine Zunahme an psychischen Störungen zu verzeichnen ist, könnte sich allerdings bald ändern, da in den letzten Überarbeitungen der modernen psychiatrischen Diagnoseschemata ein deutlicher Trend zur Verschiebung der Grenze zwischen gesund und krank zu bemerken ist. Dieser Trend betrifft die gesamte Medizin: Allgemeine Leidens- und Risikozustände wie etwa die Adipositas (Übergewicht), die in der Renaissance noch als Statussymptom galt, werden heute mit Diagnosen belegt. Die Schwellenwerte z. B. für Bluthochdruck und Hyperlipidämie (erhöhte Blutfettwerte) wurden herabgesetzt. Begründet wird dies jeweils damit, dass eine frühere Behandlung langfristig zu geringeren gesundheitlichen Schäden führt. Ähnliches gilt für die Diagnose psychiatrischer Störungen: Durch die Ausweitung der Diagnosekriterien für Alkoholmissbrauch kann Personen mit einem problematischen Alkoholkonsum, auch wenn sie noch nicht schwer abhängig sind, ein spezifisches Behandlungsangebot gemacht werden. Das ist sicher sinnvoll. Heikler wird es schon bei der Diagnose „Soziale Phobie", die seit der Ausweitung der Definitionskriterien zu einer der häufigsten psychischen Störungen wurde. Dass damit Menschen, die unter ihrer Schüchternheit leiden und davon beeinträchtigt sind, nun ein therapeutisches Angebot gemacht wird, ist der positive Aspekt. Dass auf der anderen Seite eine normale menschliche Eigenschaft, nämlich Schüchternheit, zur psychiatrischen Störung stilisiert wird, ist nicht zwingend zum Vorteil der Betroffenen. Ebenso erscheint es mir bedenklich, wenige Wochen nach dem Tod eines nahen Angehörigen eine depressive Episode zu diagnostizieren. Früher war ein Todesfall eines nahen Angehörigen in den letzten 12 Monaten vor der Diagnosestellung noch ein Ausschlusskriterium einer Depression. In der letzten Überarbeitung der Diagnosekriterien konnte schon nach zwei Monaten, jetzt kann schon zwei Wochen nach einem Todesfall eine Depression diagnostiziert werden – als dürfte eine Trauerreaktion nicht mehr länger als zwei Wochen andauern.

    2.6 Pathologisierung und Medikalisierung menschlicher Leidenszustände

    Ein problematischer Trend moderner psychiatrischer Diagnostik ist die die zunehmende Pathologisierung und Medikalisierung aller leidvollen Zustände und Beeinträchtigungen. Damit wird den Menschen suggeriert, dass ein gesunder Mensch immer ausgeglichen, zufrieden und angstfrei sein muss. Das ist aber nicht die Realität menschlicher Existenz. Auf die ungünstigen Folgen dieser Erwartungshaltung wird im Abschn. 4.​3 genauer eingegangen. Kritische Stimmen haben jedenfalls wiederholt darauf hingewiesen, dass viel zu oft Gesunde beunruhigt und therapiert werden, während für wirklich Kranke die Ressourcen fehlen. Auch wenn es für solche Veränderungen der Diagnosekriterien Daten aus unabhängigen Langzeitstudien geben muss, besteht immer der Verdacht, dass hier auch Interessen der Pharmaindustrie wirksam werden. Ein zurückhaltender Umgang mit der Vergabe psychiatrischer Diagnosen für leichte Störungen, für Persönlichkeitsvarianten und erwartbare menschliche Leidenszustände ist zweifelsohne anzuraten. Interessierte seien hier auf das höchst lesenswerte Buch des amerikanischen Psychiaters Allen Frances (2014) „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" hingewiesen.

    Leichtere Beeinträchtigungen, die aus Lebenskrisen, Verlusten oder Enttäuschungen resultieren, können oft auch ohne professionelle Behandlung bewältigt werden. Beratungs- und Interventionsbedarf besteht dann, wenn die individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten mittelfristig nicht ausreichen, um wieder eine ausreichende Lebensqualität zu erreichen.

    2.7 Wie sollten Angehörige mit dem Verdacht einer psychischen Störung umgehen?

    Auch Angehörigen ist in diesem Zusammenhang zu raten, nicht vorschnell den Verdacht einer psychischen Störung in den Raum zu stellen und psychiatrische Behandlung einzufordern, da die Vergabe psychiatrischer Diagnosen im privaten Umfeld häufig Ärger und Abwehr hervorruft. Wohl aber sollten wahrnehmbare Veränderungen der Stimmung oder des Verhaltens wie Rückzug, übertriebene Ängstlichkeit oder nicht nachvollziehbare Sorgen bei den Betroffenen angesprochen und nach ihrem subjektiven Erleben gefragt werden. „Ich habe den Eindruck, dass du in der letzten Zeit oft schlecht drauf bist, du ziehst dich zurück, triffst dich kaum mehr mit Freunden, verbringst viel Zeit mit Computerspielen. Wie erlebst du das? Bist du zufrieden mit diesem Leben? Wenn man eigene Wahrnehmungen zur Verfügung stellt („Mir fällt auf, dass du, … Ich habe den Eindruck, dass du …) und sich dann ehrlich für das Erleben und die Sichtweise des Gegenübers interessiert, ist die Wahrscheinlichkeit, gemeinsam zu einer adäquaten Einschätzung der Situation zu kommen, sicher größer, als wenn

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