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Psychopharmaka: Ratgeber für Patienten und Angehörige
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eBook540 Seiten3 Stunden

Psychopharmaka: Ratgeber für Patienten und Angehörige

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Über dieses E-Book

In diesem Ratgeber erfahren Patienten und Angehörige, was sie über Psychopharmaka und ihren Nutzen wissen müssen: Wie wirken die Substanzen? Welche Nebenwirkungen haben Psychopharmaka? Wo liegen die Grenzen dessen, was Psychopharmaka leisten können? Verständlich präsentieren die Autoren Fakten, sie räumen mit Mythen auf und treten damit Vorbehalten und Vorurteilen entgegen, die häufig über Psychopharmaka geäußert werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum16. Feb. 2018
ISBN9783662555767
Psychopharmaka: Ratgeber für Patienten und Angehörige

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    Buchvorschau

    Psychopharmaka - Gerd Laux

    IAllgemeiner Teil

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2018

    Gerd Laux und Otto DietmaierPsychopharmakahttps://doi.org/10.1007/978-3-662-55576-7_1

    1. Einführung

    Gerd Laux¹, ², ³  und Otto Dietmaier⁴

    (1)

    Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, Institut für Psychologische Medizin (IPM), 83564 Soyen, Deutschland

    (2)

    Zentrum für Neuropsychiatrie, 84478 Waldkraiburg, Deutschland

    (3)

    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität, 80336 München, Deutschland

    (4)

    Ltd. Pharmaziedirektor Klinikum am Weißenhof Zentrum für Psychiatrie, 74189 Weinsberg, Deutschland

    1.1 Seelische Erkrankungen – häufig und kostenintensiv

    1.2 Pro und kontra Psychopharmaka

    1.3 Ein Rückblick auf die Geschichte

    1.4 Fehlentwicklungen

    1.5 Mehr Antidepressiva, weniger Beruhigungsmittel

    Wohl kaum eine andere Arzneimittelgruppe hat durch ihre Einführung so immense therapeutische Möglichkeiten eröffnet wie die Psychopharmaka. In den rund 60 Jahren seit ihrer Entdeckung haben sie vielen psychisch Kranken entscheidend geholfen und dafür gesorgt, dass seelische Krankheiten auch durch Nichtpsychiater/Allgemeinärzte behandelt werden können. Heute sind die Psychopharmaka aus der Therapie psychischer Erkrankungen nicht mehr wegzudenken, die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 19. Version 2015)) hat 12 Substanzen aus dieser Gruppe in die Liste der unentbehrlichen Medikamente aufgenommen.

    1.1 Seelische Erkrankungen – häufig und kostenintensiv

    Psychische Erkrankungen wie Depressionen, Demenzen, psychosomatische Störungen, Belastungs- und Anpassungsstörungen, Alkoholismus und Schizophrenie zählen insbesondere in den modernen Industriegesellschaften zu den Hauptgründen für durch Behinderung beeinträchtigte Lebensjahre (Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO, Hochrechnungen der Weltbank und der Harvard Universität). In Deutschland leidet etwa jeder Dritte innerhalb eines Jahres an psychischen Störungen, die der Behandlung bedürfen, und bei den Patienten eines Allgemeinarztes beträgt der Anteil psychisch Kranker rund ein Drittel. Über 40 % der Krankschreibungen stehen im Zusammenhang mit psychischen Störungen (Abb. 1.1).

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    Abb. 1.1

    Häufigkeit psychischer Erkrankungen in Deutschland

    Gleichzeitig haben neue Untersuchungen ergeben, dass sich viele körperliche und psychische Erkrankungen gegenseitig bedingen – z. B. erhöhen psychische Erkrankungen das Risiko für koronare Herzerkrankung, Schlaganfall und Diabetes, umgekehrt sind u. a. Herzinfarkt, Schlaganfall, Parkinson-Erkrankung, chronische Lungen- und Rheumaerkrankungen sowie chronische Schmerzzustände zu einem hohen Prozentsatz v. a. mit Depressionen und Angststörungen verbunden.

    Auch als Ursache für Frühberentungen haben psychische Störungen stark zugenommen, mit ca. 35 % liegen sie aktuell laut Statistik der Rentenversicherungsträger an der Spitze!

    Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist sozialmedizinisch von größter Bedeutung.

    Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrugen die direkten Krankheitskosten für psychische und Verhaltensstörungen im Jahr 2010 etwa 28,7 Mrd. Euro, damit mehr als 11 % der gesamten Krankheitskosten.

    Die Kosten für psychische Erkrankungen steigen überproportional.

    Der Kostenfaktor Arzneimittel schlug 2015 mit knapp 40 Mrd. Euro zu Buche (17 % der Leistungsausgaben der GKV), d. h. pro gesetzlich Versichertem werden ca. 500 Euro jährlich für Arzneimittel ausgegeben. Psychopharmaka gehören in Anbetracht der oben skizzierten Häufigkeit und Bedeutung psychischer Erkrankungen zu den meistverordneten Medikamenten (Tab. 1.1), preislich gehören sie mit Tagestherapiekosten von z. B. durchschnittlich ca. 20 Cent für ein Antidepressivum in Deutschland zu den preisgünstigsten Medikamenten.

    Tab. 1.1

    Meistverordnete Arzneimittelgruppen in Deutschland. (Adapt. nach Arzneiverordnungsreport 2017)

    Bezogen auf die medizinischen Anwendungsgebiete (Indikationen) gehören die Psychopharmaka zu den verordnungsstärksten Gruppen: Insgesamt wurden 2016 2 Milliarden Tagesdosen (DDD) Psychopharmaka verschrieben.

    Wie in allen europäischen Ländern stehen auch in Deutschland Antidepressiva mit weitem Abstand an der Spitze der Psychopharmakaverordnungen. Ca. 8 % aller Europäer nehmen Antidepressiva ein, davon ca. 5 % der Deutschen (Griechenland 3 %, Portugal 16 %). Hinsichtlich Antidepressiva-Tagesdosen je 1.000 Personen liegt Deutschland im Mittelfeld unter dem OECD-Durchschnitt, deutlich darüber liegen Australien, Kanada, Schweden, Großbritannien, Dänemark und Spanien.

    Auch in Deutschland zählen Psychopharmaka zu den am häufigsten verordneten Arzneimitteln. Der Umsatz dieser Arzneimittelgruppe betrug im Jahr 2015 im ambulanten Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mehr als 2,5 Mrd. Euro

    1.2 Pro und kontra Psychopharmaka

    1.2.1 Ablehnung – „nur teure Placebos"

    Keine andere Arzneimittelgruppe ist so umstritten und wird so emotional diskutiert wie die Psychopharmaka, viele Menschen begegnen ihnen mit Skepsis. Sie sollen abhängig machen, ruhigstellen und die Persönlichkeit verändern. Die vertretenen Ansichten sind teilweise sehr undifferenziert. Gefördert durch negative Schlagzeilen und eine häufig unqualifizierte Berichterstattung in den Medien, bestehen erhebliche Vorurteile und Wirksamkeitszweifel gegenüber Psychopharmaka. So werden Studien an ausgewählten Patienten referiert, in denen z. B. Antidepressiva nur bei schweren Depressionen einer Placebogabe überlegen waren. Da in kontrollierten Studien oft ca. 40 % der „Depressionen" auf Placebo respondieren und ca. 60 % auf ein Antidepressivum, wird ihnen insgesamt nur eine schwache Wirksamkeit attestiert.

    Im Falle der referierten Depressionsstudien muss darauf hingewiesen werden, dass die Diagnose „leicht- bis mittelgradige Depression unscharf ist und in nicht wenigen Fällen eine stressbedingte, psychoreaktive „Befindlichkeits- oder Anpassungsstörung („Burn-out, wenn arbeitsplatzbedingt) und keine depressive Erkrankung im eigentlichen Sinne vorlag. Auch wird moniert, dass vonseiten der pharmazeutischen Unternehmen nur positive Studien (wiederholt) publiziert werden („Publication Bias). Hierzu ist zu bemerken, dass seit einigen Jahren alle Studien in einem öffentlich zugänglichen Internetregister aufgeführt werden und dass die Publikationsverzerrung (leider) auch für Psychotherapiestudien gilt. (http://​clinicaltrials.​gov, EudraCT, PharmNetBund).

    Hier muss kurz auf das Placebophänomen eingegangen werden: Schon 1955 wurden bemerkenswerte Wirkeffekte von wirkungslosen „Scheinmedikamenten u. a. bei Schmerzpatienten beschrieben („the powerful Placebo). Untersuchungen zur Heilkraft von Vorstellungen konnten zeigen, dass positive Erwartungen („Der Glaube versetzt Berge), Rituale („konditioniertes Lernen) und das Vertrauen zum Therapeuten von entscheidender Bedeutung sind. Bemerkenswerterweise sind Scheinmedikamente, von deren hilfreicher Wirkung man überzeugt ist (Heilserwartung), auch dann erfolgreich, wenn der Patient weiß, dass er mit einem Scheinmedikament behandelt wird („offener Placeboeffekt")! Bei psychosomatischen und psychischen Erkrankungen (z. B. Reizdarmsyndrom, Schlaf-, Angst-, depressive Störungen) spielt der Placeboeffekt eine besondere Rolle, 30–60 % der Patienten sprechen auf diese Behandlung an. Jüngst wurden interessante biologische Effekte von Placebos auf Immunsystem und neurobiochemische Prozesse (Endorphine, Dopamin, Oxytocin) beschrieben.

    Umfrageergebnisse

    Repräsentative Umfragen, wie die Behandlung mit Psychopharmaka in der deutschen Bevölkerung gesehen wird, ergaben, dass (verglichen mit anderen Industriestaaten) in keinem Land der Wissensstand derartig niedrig ist. Auf die Frage nach der am besten geeigneten Behandlung für psychische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depression nannte nur jeder Siebte Psychopharmaka. Dagegen wurde mehr als doppelt so häufig von ihrem Gebrauch abgeraten.

    An den ins Feld geführten Argumenten wird ein erschreckendes Unwissen über Psychopharmaka deutlich. Es zeigt sich, dass nicht zwischen den verschiedenen Psychopharmakagruppen differenziert wird, sondern dass sie offenbar alle mit den Beruhigungsmitteln (Tranquilizern) gleichgesetzt werden. So wird stereotyp behauptet: Psychopharmaka dienen zur Ruhigstellung, sie liefern die Patienten den Ärzten aus, machen abhängig und verursachen schwere Nebenwirkungen.

    1.2.2 Zustimmung

    Demgegenüber attestierten Patienten in verschiedenen psychiatrischen Kliniken, wohl basierend auf den gemachten eigenen Erfahrungen, Psychopharmaka positivere Effekte als bei Befragungen der Bevölkerung (Laienpublikum). Die medikamentöse Behandlung nahm knapp hinter den Therapiegesprächen den zweithöchsten Rang unter den Therapiemaßnahmen ein. In der Behandlungsrealität gibt es z. B. an der Wirksamkeit von Antidepressiva keinen Zweifel: So wurden im Rahmen des vom Bundesministerium, industrieunabhängig, geförderten Studienprojektes „Kompetenz Depression" 1000 Klinikpatienten evaluiert – ca. 70 % der Patienten sprachen erfolgreich auf die Antidepressivatherapie an. Auch in ambulanten Praxisstudien respondieren in der Regel 50–85 % der Patienten auf die Antidepressivatherapie. Eine neue große Studie konnte auch zeigen, dass Psychopharmaka ähnlich gut wirksam sind wie Medikamente gegen körperliche Krankheiten. In den wenigen kontrollierten Studien zur Psychotherapie bei Depressionen und Angststörungen konnten übrigens keinesfalls höhere Erfolgsquoten erzielt werden.

    Nur nach vorliegendem Wirksamkeitsnachweis in RCT-Studien gegen Standardmedikation oder Placebo werden Medikamente vom deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) bzw. der Europäischen Medizin Agentur (EMA) zugelassen.

    1.3 Ein Rückblick auf die Geschichte

    Vielen ist nicht mehr bewusst, wie die Lebensumstände und Behandlungsmethoden für Menschen mit psychischen Erkrankungen vor der Zeit der Psychopharmaka waren. Jahrhundertelang war es üblich, sie wegzusperren, und sie wurden häufig als „Hexen oder „vom Teufel besessen betrachtet. Zur „Therapie" der Geisteskrankheiten wurden Methoden verwendet, die heute eher als Folter bezeichnet würden, wie z. B. die Drehmaschine, das Tropfbad (Abb. 1.2), glühende Eisen oder Stricke. Als Arzneimittel dienten in erster Linie Rauschdrogen, die euphorische Zustände oder Halluzinationen erzeugten, darunter auch Alkohol, Haschisch oder Kokain, die in heutiger Zeit als Suchtdrogen gelten.

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    Abb. 1.2

    a Tropfbad, b Bädertherapie.

    (Quelle: Bezirkskrankenhaus Gabersee, Archiv; mit freundlicher Genehmigung)

    Erst nach der Französischen Revolution kam es zur Befreiung der Kranken aus Ketten und Kerkern und zu einem Umschwung in der Behandlung. Angewandt wurden jetzt eher dämpfende Arzneimittel wie Sedativa und Hypnotika, mit deren Hilfe z. B. Aggressivität oder psychotische Unruhe beherrscht werden konnten, ohne den Kranken ständig einsperren zu müssen. Doch der großzügige Einsatz dieser Mittel führte auch dazu, dass die psychiatrischen Krankenhäuser Verwahranstalten glichen, in denen die Kranken in einer Art Dämmerzustand dahinvegetierten (Abb. 1.3).

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    Abb. 1.3

    Wie es früher war: Zwangsjacke zur Ruhigstellung erregter Patienten.

    (Quelle: Bezirkskrankenhaus Gabersee, Archiv; mit freundlicher Genehmigung)

    Das Zeitalter der modernen Psychopharmaka begann 1952 mit der Entdeckung von Chlorpromazin. Tab. 1.2 zeigt die Meilensteine in der Geschichte der Psychopharmaka im Überblick. Die Entwicklung der modernen Psychopharmaka brachte eine Öffnung der psychiatrischen Krankenhäuser mit sich. Hunderttausende konnten zwar nicht von ihrer Krankheit, aber vom Zwang der Dauerhospitalisierung befreit werden. Heute ist es dank der modernen Psychopharmaka möglich, dass sehr viele psychisch Kranke beruflich und sozial wieder voll integriert werden und die Therapie „humaner" gestaltet werden kann.

    Tab. 1.2

    Meilensteine in der Geschichte der Psychopharmaka

    1.4 Fehlentwicklungen

    Verständlicherweise lösten die Fortschritte in der Medikamentenentwicklung eine gewisse Psychopharmakaeuphorie aus, und es kam häufig zu einer unkritischen und unkontrollierten Anwendung dieser Medikamente.

    So wurden z. B. nur noch Neuroleptika eingesetzt und auf begleitende psycho- oder soziotherapeutische Maßnahmen verzichtet, Tranquilizer sah man als medikamentöse Konfliktlöser an.

    Die Kritik benutzte undifferenzierte Schlagworte wie „chemische Zwangsjacke, „verordnete Anpassung oder „Pillenkeule", die leider zum Teil heute noch en vogue sind. Etwa seit 25 Jahren hat sich der inadäquate Einsatz von Psychopharmaka zum Glück geändert und ist einem zumeist differenzierten Verordnungsmuster gewichen. Das verbreitete Negativimage kann allerdings nach wie vor dazu führen, dass Patienten − durch diese Kampagnen verunsichert und irritiert − ihre dringend benötigten Medikamente (z. B. Antipsychotika/Neuroleptika oder Antidepressiva) abrupt absetzen, mit der Folge, dass sie wieder erkranken und in psychiatrische Kliniken aufgenommen werden müssen, einen Selbstmordversuch unternehmen oder Absetzsymptome erleiden.

    1.5 Mehr Antidepressiva, weniger Beruhigungsmittel

    Die zum Teil berechtigte öffentliche Kritik sowie die fachliche Information der Ärzte haben zu einer Trendwende geführt. Abb. 1.4 zeigt, wie sich die Verordnung von Psychopharmaka über einen Zeitraum von 10 Jahren (2006–2015) entwickelt hat (gilt für den ambulanten GKV-Bereich). Auffällig ist v. a. die kontinuierliche Zunahme der Verordnungszahlen für Antidepressiva, deren Anzahl an definierten Tagesdosen sich in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt hat. Antipsychotika haben in diesem Zeitraum eine Zunahme von ca. 35 % zu verzeichnen. Der bereits seit etlichen Jahren zu beobachtende deutliche Rückgang bei der Verordnung von Beruhigungsmitteln (Tranquilizer) setzt sich fort.

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    Abb. 1.4

    Verordnungen von Psychopharmaka 2006 bis 2015 nach definierten Tagesdosen. (Mod. und erw. nach Schwabe und Paffrath 2016, Abb. 41.1, S. 664)

    Fazit

    Es ist unbestritten, dass Psychopharmaka aus der Therapie nicht mehr wegzudenken sind. Bei ihrem Einsatz sind jedoch bestimmte Regeln zu beachten. Wir möchten mit diesem Buch den interessierten Leser sachlich hierüber informieren und die Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren der Psychopharmaka aufzeigen.

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2018

    Gerd Laux und Otto DietmaierPsychopharmakahttps://doi.org/10.1007/978-3-662-55576-7_2

    2. Was sind Psychopharmaka?

    Gerd Laux¹, ², ³  und Otto Dietmaier⁴

    (1)

    Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, Institut für Psychologische Medizin (IPM), 83564 Soyen, Deutschland

    (2)

    Zentrum für Neuropsychiatrie, 84478 Waldkraiburg, Deutschland

    (3)

    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität, 80336 München, Deutschland

    (4)

    Ltd. Pharmaziedirektor Klinikum am Weißenhof Zentrum für Psychiatrie, 74189 Weinsberg, Deutschland

    2.1 Definition

    2.2 Einteilung in Substanzgruppen

    2.1 Definition

    Der Begriff Psychopharmakon taucht bereits im Mittelalter auf, allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang, nämlich als Titel einer Sammlung von Trost- und Sterbegebeten des Reinhardus Lorichius (1548).

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts untersuchte der Psychiatrie-Ordinarius Kraepelin, wie sich verschiedene Genuss- und Arzneimittel auf einfache psychische Vorgänge auswirken. Dabei befasste er sich mit Alkohol und Tee, aber auch mit Morphium und Chloralhydrat. Mit diesen Studien wurde er zum Begründer der „Pharmakopsychologie".

    Psychopharmaka sind Substanzen, die gestörte Stoffwechselprozesse im Gehirn beeinflussen und sie bei Fehlregulationen normalisieren können.

    Im weitesten Sinne ist jede in therapeutischer Absicht gegebene Substanz, die in die Steuerungsfunktionen des zentralen Nervensystems eingreift und seelische Abläufe verändert („psychotroper Effekt"), ein Psychopharmakon.

    Dieser Begriff ist sehr weitgefasst und beinhaltet z. B. auch zentral wirksame Schmerzmittel (Analgetika), Parkinsonmittel und Mittel gegen Epilepsie.

    2.2 Einteilung in Substanzgruppen

    Psychopharmaka lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten in Gruppen einteilen und ihre wachsende Zahl hat dazu geführt, dass immer wieder neue Klassifizierungen vorgeschlagen wurden. Manche Einteilungen orientieren sich an der chemischen Struktur, konnten sich jedoch nicht durchsetzen, da chemisch nahe verwandte Stoffe klinisch oft sehr unterschiedliche Wirkungen hervorrufen; andere gehen von den biochemischen oder neurophysiologischen Wirkmechanismen aus.

    Heute werden die Psychopharmaka im engeren Sinne (= klassische Psychopharmaka) üblicherweise in die in der nachfolgenden Übersicht dargestellten Gruppen eingeteilt.

    Gruppeneinteilung von „klassischen" Psychopharmaka

    Antidepressiva

    Stimmungsstabilisierer

    Antipsychotika/Neuroleptika

    Tranquilizer (Beruhigungsmittel)

    Hypnotika (Schlafmittel)

    Antidementiva

    Psychostimulanzien

    Entzugs- und Entwöhnungsmittel

    Weitere Bezeichnungen, die sich bei der Klassifikation von Psychopharmaka finden, sind u. a. Antimanika (Mittel zur Behandlung der Manie) – hierzu zählen Neuroleptika/Antipsychotika und Stimmungsstabilisierer – Sedativa (Beruhigungsmittel), Anxiolytika (Mittel gegen Angsterkrankungen) sowie Antiaddiktiva (Entzugs- und Entwöhnungsmittel).

    Enge Beziehungen zu psychischen Erkrankungen besitzen moderne „Life-Style"-Medikamente wie Sexualtherapeutika (Sildenafil u. a.) sowie Mittel zur Gewichtsreduktion (Orlistat) und Raucherentwöhnung (Bupropion, Vareniclin).

    Neue Aktualität hat eine eigentlich schon alte Klassifikation erhalten, die bereits 1957 von Delay vorgeschlagen wurde, da sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch die europäische Arzneimittelbehörde (EMA) in der sog. ATC-Klassifikation (Anatomisch – Therapeutisch – Chemisch) für die Einteilung der Psychopharmaka die Untergruppen „Psycholeptika bzw. Psychoanaleptika" verwendet:

    Psycholeptika – Mittel mit vorwiegend dämpfender Wirkung auf die Psyche – beinhalten Antipsychotika, Tranquilizer/Anxiolytika sowie Hypnotika/Sedativa,

    Psychoanaleptika – mit vorwiegend anregender Wirkung auf die Psyche – umfassen Antidepressiva, Stimmungsstabilisierer, Psychostimulanzien und Antidementiva.

    Neben den chemischen Substanzen gibt es Medikamente, die aus Pflanzen bzw. Pflanzeninhaltsstoffen gewonnen werden: Man bezeichnet sie als Phytopharmaka. Auch einige Vertreter mit Wirkungen auf die Psyche finden sich darunter (z. B. Johanniskraut (Kap.​ 16) oder Lavendel (Kap.​ 19).

    Jüngst wurde eine neue Nomenklatur und Einteilung für Psychopharmaka vorgeschlagen, die an pharmakologischen Wirkungen orientiert ist (Neuroscience based Nomenclature [NbN]).

    Fazit

    Exakte Abgrenzungen zwischen den einzelnen Psychopharmakagruppen sind nicht immer möglich. Untersuchungen zur Überprüfung der Wirkeigenschaften sowie die teilweise sich überschneidenden Anwendungsgebiete neuerer Substanzen weisen darauf hin, dass die Übergänge zwischen Antipsychotika, Antidepressiva, Stimmungsstabilisierern und Tranquilizern fließend sein können und zum Teil dosisabhängig sind.

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2018

    Gerd Laux und Otto DietmaierPsychopharmakahttps://doi.org/10.1007/978-3-662-55576-7_3

    3. Wie wirken Psychopharmaka?

    Gerd Laux¹, ², ³  und Otto Dietmaier⁴

    (1)

    Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, Institut für Psychologische Medizin (IPM), 83564 Soyen, Deutschland

    (2)

    Zentrum für Neuropsychiatrie, 84478 Waldkraiburg, Deutschland

    (3)

    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität, 80336 München, Deutschland

    (4)

    Ltd. Pharmaziedirektor Klinikum am Weißenhof Zentrum für Psychiatrie, 74189 Weinsberg, Deutschland

    3.1 Die Rolle der Neurotransmitter

    3.2 Rezeptoren, Signalübertragung, Nervenzellplastizität

    Psychopharmaka greifen je nach Substanzgruppe in sehr unterschiedlicher Wirkungsweise in zahlreiche Abläufe und Mechanismen des zentralen Nervensystems (ZNS) ein. So können sie an der Bildung (Synthese) neuer Überträgersubstanzen (Neurotransmitter) und deren Speicherung und Freisetzung beteiligt sein. Teilweise beeinflussen sie die Effekte abbauender Enzyme, v. a. üben sie direkte Wirkungen auf Rezeptoren und die Neuroplastizität des Gehirns aus. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass es sich bei den neurobiologischen Funktionen des ZNS um äußerst komplexe Vorgänge handelt, die in einem Umfeld von ungefähr 100–1000 Mrd. Nervenzellen des menschlichen Gehirns ablaufen. Trotz beeindruckender Erkenntnisse der modernen Hirnforschung sind die Ursachen vieler psychischer Krankheiten bislang noch nicht vollständig geklärt.

    3.1 Die Rolle der Neurotransmitter

    Psychopharmaka entfalten ihre Wirkung v. a. über sog. Neurotransmitter (körpereigene Botenstoffe, Überträgersubstanzen), deren Ausschüttung sie hemmen oder fördern können. Diese Neurotransmitter übertragen Signale und Informationen zwischen Nervenzellen (Abb. 3.1).

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    Abb. 3.1

    Erregungsübertragung zwischen Nervenzellen durch Neurotransmitter – Wirkort der Psychopharmaka

    Die wichtigsten Neurotransmitter sind:

    Dopamin,

    Noradrenalin,

    Serotonin,

    Acetylcholin,

    GABA (Gamma-Aminobuttersäure),

    Glutamat.

    Wird die chemische Übertragung von Nervenzellerregungen krankheitsbedingt gestört, kommt es zu Veränderungen an den Bindungsstellen (Rezeptoren) der Neurotransmitter sowie zu einer Störung ihres Kreislaufs (Ausschüttung, Wiederaufnahme, Abbau).

    Da Veränderungen in der Zahl oder Empfindlichkeit der Rezeptoren und nachgeschalteter Regelkreise sowie das Wachstum von Nervenzellen nur langsam ablaufen, tritt die Wirkung von Psychopharmaka teilweise verzögert ein (z. B. Antidepressiva).

    3.1.1 Depressionen

    Depressionen gehen offenbar mit einem Mangel an Noradrenalin und/oder Serotonin einher. Denn unter einer Behandlung mit Reserpin

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