Persönlichkeit braucht Tugenden: Positive Eigenschaften für eine moderne Welt
Von Josef Rattner und Gerhard Danzer
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Persönlichkeit braucht Tugenden - Josef Rattner
Josef Rattner und Gerhard DanzerPersönlichkeit braucht TugendenPositive Eigenschaften für eine moderne Welt10.1007/978-3-642-16991-5_1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1. Arbeitsfähigkeit
Josef Rattner¹ und Gerhard Danzer², ³
(1)
Institut für Tiefenpsychologie, Eichenallee 6, 14050 Berlin
(2)
Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik, Charité Campus Mitte, Luisenstraße 13a, 10117 Berlin
(3)
Ruppiner Kliniken, Fehrbelliner Str. 38, 16816 Neuruppin
Zusammenfassung
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass in der Psychoanalyse häufi g die Probleme des Liebeslebens und der Sexualität abgehandelt wurden, indes Fragen von Arbeitsfähigkeit , Arbeitstechnik und Arbeitsstörungen nur am Rande tiefenpsychologischer Überlegungen und Falldarstellungen auft auchen. Das war sicherlich ein Mangel; aber nach und nach erkannten auch die Psychoanalytiker, dass die Arbeit im Menschenleben mindestens ebenso wichtig ist wie die Liebe.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass in der Psychoanalyse häufig die Probleme des Liebeslebens und der Sexualität abgehandelt wurden, indes Fragen von Arbeitsfähigkeit , Arbeitstechnik und Arbeitsstörungen nur am Rande tiefenpsychologischer Überlegungen und Falldarstellungen auftauchen. Das war sicherlich ein Mangel; aber nach und nach erkannten auch die Psychoanalytiker, dass die Arbeit im Menschenleben mindestens ebenso wichtig ist wie die Liebe.
Die Liebe ist das romantischere Phänomen; das menschliche Dasein gründet jedoch überwiegend in der Prosa des Alltags, und darum gehören die Probleme der Arbeit immer auch zum Interessenbereich einer lebensnahen Psychologie.
Der Begriff
In der Folge wollen wir den Charakterzug der Arbeitsfähigkeit genauer schildern und ihn in seiner neurosenpsychologischen sowie kulturellen Bedeutung würdigen. Das Wörterbuch der Psychologievon Wilhelm Hehlmann definiert folgendermaßen:
Arbeit , planmäßige und mit Dauergerichtetheit betriebene Zwecktätigkeit. Ziel ist die Schaffung, Erhaltung und Förderung wirtschaftlicher, sozialer und anderer Werte; die Antriebe stammen meist aus dem Streben nach Bedürfnisbefriedigung (sekundäre Bedürfnisse), teils jedoch aus dem Werkstreben und der inneren Verpflichtung zu einer Aufgabe. Vor allem aus den beiden letzten resultiert die Arbeitsfreude. Die Arbeitshaltung, das heißt die selbstverständliche Bereitschaft zur Arbeit ohne jedesmaligen Entschluss hat der Mensch erst spät erworben. Im Gegensatz zur Arbeit steht (neben Spiel, Feier und Muße) die Beschäftigung, welcher die Dauergerichtetheit oder die Planmäßigkeit abgeht (Hehlmann 1968, S. 30).
Und da auch die Philosophen viel über dieses Problem ausgesagt haben, konsultieren wir zusätzlich ein Philosophisches Wörterbuch:
Arbeitals ethisches Phänomen soviel wie „Einsatz, Aufwand, Drangeben: die Person setzt sich ein, wendet Kraft auf, gibt ihre Energie dran. Die Arbeit will vollbracht, geschafft sein. Sie stößt nicht nur auf den Widerstand der Sache, sie ringt ihm auch das Erstrebte erst ab. … Die Tendenz des Menschen geht dahin, über die Arbeit hinauszuwachsen, ihrer Herr zu werden. Er erfährt also ständig in seiner Arbeit sowohl sich selbst als auch die Sache: sich selbst in der Spontaneität eingesetzter Energie, der physischen wie der geistigen, die Sache in ihrem Widerstand gegen diese. Beides ist unaufhebbar aneinander gebunden, und beides ist Realitätserfahrung" (Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie. Zit. aus Schischkoff 1978, S. 34).
Dasselbe Wörterbuch spielt uns auch einen Begriff zu, der für unsere weiteren Ausführungen noch belangvoll zu werden verspricht, nämlich:
Arbeitsethos , ein der menschlichen Arbeit als solcher, abgesehen von ihrem Zweck zugeschriebener sittlicher Wert. Allerdings taucht der Begriff vorzugsweise dort auf, wo der Sinn der Arbeit als einer Gemeinschaftsfunktion bedroht ist: Es wird dann versucht, ihn durch Betonung des Arbeitsethos wiederherzustellen (so zum Beispiel in Diktaturen; „Helden der Arbeit"). Auch die Unterbewertung der geistigen und künstlerischen Arbeit in der kapitalistisch-technischen Gesellschaft soll durch Hinweis auf das ihr innewohnende Arbeitsethos kompensiert werden. – Im außerchristlichen Raum ist der Begriff Arbeitsethos unbekannt. Dort gilt die Arbeit, wenn nicht als Fluch, so doch als das, was das Leben zur Last macht und den Menschen hindert, sich um sich selbst zu kümmern (Schischkoff 1978, S. 34).
Der Begriff in der Psychoanalyse
Sigmund Freud war sich der Bedeutung der Arbeitsfähigkeit für die seelische Gesundheit wohl bewusst; so definierte er bei Gelegenheit: Seelisch gesund ist derjenige, der arbeiten und lieben kann.Gleichwohl hat er sich nie eingehend mit dem Problem der Arbeitsfähigkeit und ihrer seelisch-geistigen Voraussetzungen befasst.
Die Psychoanalyse sah in der Arbeit so etwas wie eine sublimierte Aggression. Nach diesem Konzept gibt es in jedem Menschen einen urtümlichen Aggressionstrieb . Dieser wird gespeist durch die Triebstärke der oralen, analen und phallischen Partialtriebe; vermutlich gibt es jedoch auch ein gewisses Quantum an autonomer Aggressivität, das durch die Erziehung und Bildung sozialisiert werden muss. Gelingt dies, wird die Aggression zur Triebkraft sozialkultureller Leistungen. In großen Kulturschöpfungen liegt demnach gebändigte Kampfbereitschaft vor, die sich an wertvolle Ziele und Zwecke geheftet hat.
Die Kritik hat eingewendet, dass die Psychoanalytiker hier Aktivität mit Aggression verwechseln. In allem Tun ist seelische Energie investiert. Es bedeutet eine unzulässige Verallgemeinerung, wenn man an den frühkindlichen Anfang des Seelenlebens das Aggressive setzt und daraus ableitet, dass jedes Aktivsein in Aggressivität wurzelt. Dies entspricht dem pessimistischen Menschenbild Freuds, das auch in der Formel „Homo homini lupus" zum Ausdruck kommt.
Für Alfred Adler war der Sinn der Arbeit aus der sozialen Zusammenhangsbetrachtung zu begreifen. Die irdischen Verhältnisse sind karg und geben dem Menschen nur teilweise die Voraussetzung, sein Leben zu fristen. Er muss die Welt zielbewusst verändern, um in ihr leben zu können. Arbeit wird notwendig, damit die Gemeinschaft wachsen und sich entwickeln kann. Wer arbeitet, tut etwas für sich und für die Menschheit. Darum liegt in der Arbeitsfähigkeit eine Stellungnahme zum gesellschaftlichen Sein. Der arbeitende Mensch bezeugt seine Solidarität mit der Mitwelt.
Erziehung zur Arbeitstüchtigkeit
Der leistungsfähige Mensch fällt nicht einfach vom Himmel. Individualpsychologisch gesehen, hat er einen spezifischen Werdegang hinter sich. Arbeitsfähigkeit ist Bestandteil einer seelischen Struktur und Entwicklungslinie. Diese muss man sich vor Augen halten, wenn man zur Arbeitstüchtigkeit erziehen will.
Wer später im Leben gut arbeiten kann, hat in der Regel als Kind einen Großteil jener Aufgaben bewältigt, die zu seinem Entwicklungspensum gehörten. Die Arbeitsleistung entsteht aus vielen Vorformen, von denen sich der psychologische Laie kaum genug Rechenschaft zu geben weiß.
Schon ein Kind muss kooperieren lernen. Indem es sich an Reinlichkeit gewöhnt, mit seinen Geschwistern gute Beziehungen aufbaut, auf das (vernünftige) Wort der Eltern hört, richtig sprechen lernt und gute Gewohnheiten im Alltag aufbaut, bereitet es sich darauf vor, lebenstüchtig zu werden. Viele produktive Arbeiter haben als Kinder selbstständig spielen gelernt.
Schule
Auch die Schule ist eine Einübung im gesellschaftlich nützlichen Tätigsein. Der faule Schüler wird meistens kein fleißiger Mitmensch werden. Die Schule ist gewissermaßen der Beruf des Kindes.Füllt es diesen gut aus, wird es danach auch im Berufsleben florieren. In der Schulzeit wird vielerlei eingeübt, das später wichtig ist: etwa das geduldige Lernen, die saubere Ausführung von Arbeiten, das Überwinden von Schwierigkeiten, die Einordnung in eine Gruppe, das Anerkennen von Autoritäten.
Es ist ein Jammer, dass Schulkinder unzählige schlechte Gewohnheiten trainieren, von denen sie als Erwachsene nicht mehr loskommen. Unaufmerksamkeit beim Unterricht, Nachlässigkeit in den Schulaufgaben, Schulstunden als Gelegenheit zu Jux, Schabernack und Lehrerenervierung: All das macht die Schule zum Ort der Langeweile und des Zeitvertrödelns. Und aus miserablen Schülern werden oft trost- oder hilflose Erwachsene, die sich nicht selten auf die Unnützlichkeitsseite des Lebens schlagen.
Arbeit
Man muss schon als Jugendlicher in eine soziale Lebensform hineinwachsen, um später schaffen und wirken zu können. Somit ist Arbeitsfähigkeit charakterbedingt.Sie ist ein Zeichen dafür, dass der Aufbau der moralisch-sittlichen Persönlichkeit zumindest teilweise gelungen ist.
Nun ist aber der Charakter eine freie Schöpfung des Kindes im Rahmen der vorgegebenen Umstände und Möglichkeiten. Das bedeutet, dass Begabungen und angeborene Dispositionen in ihm nicht die alleinig entscheidende Rolle spielen. Es kommt nicht nur darauf an, was einer mitbringt, sondern vor allem auch, was er daraus macht. Es würde in die Irre führen, wenn wir die Qualitäten und Mängel eines Menschen lediglich auf die hypothetische Vererbung zurückführen würden.
Begabung vs. Training
Begabung ist ein Begriff, der sich vorzüglich für Ausflüchte und Ausreden eignet. Wenn man irgendetwas nicht kann und auch nicht willig ist, es zu lernen, kann man sagen, dass man dazu nicht begabt sei – und daraufhin legt man die Hände in den Schoß. Sind aber unsere Leistungsqualifikationen das Ergebnis von Lernprozessen und von Training , wäre die Konsequenz davon, dass man sich durch geduldige Arbeit an sich selbst sogenannte Begabungen zulegen kann. Die tüchtigsten Exemplare unter den Kulturmenschen waren geduldige Lerner; sie bekamen nichts geschenkt. Nur der bequeme Betrachter schreibt ihnen angeborene Vorzüge zu, was ihn davon dispensiert, sich selbst anzustrengen. Friedrich Nietzsche sagte in Menschliches, Allzumenschlichesmit Recht:
Redet nur nicht von Begabung, angeborenen Talenten ! Es sind große Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie bekamenGröße, wurden „Genies" (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel niemand gern redet, der sich ihrer bewusst ist: sie hatten alle jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Teile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein großes Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten als an dem Effekte eines blendenden Ganzen (Nietzsche, 1988a, S. 152 f.).
Alfred Adler kämpfte zeitlebens gegen den Begabungswahn und die Vererbungsmythologie, die so viele Menschen entmutigen; im Bereich des Arbeitenkönnens sind Erziehung und Selbsterziehung wichtiger als angebliche Anlagen.
1.1 Strukturanalyse der Arbeitsfähigkeit
Wie alle Charaktereigenschaften und grundlegenden Merkmale des menschlichen Seelenlebens besitzt auch die Arbeitsfähigkeit eine für sie eigentümliche Struktur; sie ist ein Kompositum, das sich aus Strukturelementen zusammensetzt. Diese Voraussetzungen und Bestandteile sollen in der Folge erläutert werden.
Strukturelemente
Stimmung
Die Grundstimmung des arbeitsfähigen Menschen ist heiter oder doch optimistisch.Stimmungen sind jene Phänomene, durch die der Mensch primär seine Welt und sich selbst erschließt. Sie sind Erkenntnisvorgänge; im Stimmungsgehalt unseres Lebens, der einem Wechsel unterliegt, zeigt sich uns die Umwelt in einem ständig veränderten Licht. Sind wir etwa heiter, befinden wir uns in einem Lebensraum, der uns Expansion und Selbstverwirklichung zu gestatten scheint. Heiterkeit ist wie ein Spielraum voller Möglichkeiten.
Andererseits geben uns gedrückte Stimmungen meistens nur den Widerstandscharakter der Welt zur Kenntnis. Die eigene innere Verschlossenheit spiegelt sich wider in allerlei wirklichen oder vermeintlichen Hindernissen, die uns den Weg nach vorne verbauen.
Lernen und Arbeiten sind miteinander verwandt: Lernen bezieht sich meist auf geistige Arbeit. Man hat mit Recht davon gesprochen, dass es zu guten Lernprozessen einer gewissen Lernstimmung bedarf; diese ist durch Angstfreiheit, Zuversicht und innere Entschlossenheit gekennzeichnet. Ähnlich ist es mit der Arbeit; schon das volkstümliche Diktum besagt: „Wer schaffen will, muss fröhlich sein!"
Wie will man sich tüchtig einsetzen, wenn man nicht ein Bewusstsein des Eigenwertes hat, nicht an den Wert der Sache glaubt und überhaupt verzagt und kleinmütig im Leben steht! Der heitere Mensch, der gewiss auch einen ernsten Seelenhintergrund hat, ist mit sich einigermaßen im Reinen, weiß großenteils, was er will und kann und ist bestrebt, seine existentiellen Anliegen im Rahmen der Gemeinschaft zu verwirklichen.
Man spricht oft von der Stimmung, als ob sie etwas Biologisches wäre; nichts ist falscher als das. Denn wir sind immer so gestimmt, wie es zu unserem Charakter, seinen Lebenszielen und unserer jeweiligen Situation passt. Wir bekommen in unserem Gestimmtsein (ohne es zu wissen) die Quittung für tausenderlei Haltungen, Einstellungen, Gewohnheiten, Denkprozesse und Werturteile. Gern würden wir alle eine mutige und gehobene Stimmung haben, die uns anfeuert und beflügelt – aber eine solche stellt sich nur bei jenem ein, der sich klug und tapfer mit dem Leben auseinandersetzt, nicht das Unmögliche will und sich nicht bei jedem Frustrations- oder Versagungserlebnis in den Schmollwinkel setzt.
Reife des Charakters
Nach Freud entsteht seelische Reife erst nach Absolvierung eines langen und mühsamen Entwicklungsprozesses. Dieser führt aus kindlichen Stadien der Libidoorganisation zum Primat des Eros und des Sexus im Seelenhaushalt. Kommt es zu Fixierungen oder Regressionen, bleibt der Mensch auf einem infantilen Plateau des Sexuallebens stehen; er wird unter Umständen ein oraler, analer oder phallischer Charakter.
Diese Charakterstrukturen werden prägenital genannt und bedeuten im Grunde nicht nur seelische Unreife, sondern auch Charakteranomalien .Was die Psychoanalyse unter dem Titel der Prägenitalität beschreibt, sind meistens Charakterschwächen , Untugenden oder gar Laster. Natürlich gibt es auch im Bereich des Normalen seelische Komponenten, welche der oralen, analen und phallischen Triebbefriedigung dienen.
Orale Charaktere sind häufig ehemals Verwöhnte oder Selbstverwöhner. Sie stehen dem Leben eher passiv gegenüber und erwarten alle Initiative vonseiten der Umwelt. In der Terminologie von Fritz Künkel gesprochen: Sie träumen stets von einem weißen Riesen, der ihnen die Lasten des Lebens abnimmt. Wenn sie arbeitsfähig sind, dann meistens als Routinearbeiter oder ausführende Organe für die Pläne und Projekte anderer.
Der Analcharakter ist ordnungsliebend, gewissenhaft und gründlich, aber schöpferisch ist er wohl kaum. Auch er fügt sich irgendwo in eine Organisation ein. Als Beamter ist er besonders geeignet. Originalität und Spontaneität findet man in seiner Tätigkeit weniger; stattdessen ist er sehr an Schematismen gebunden.
Phallische Charaktere lieben große Gesten, kündigen viel an und leisten selten Übermäßiges. Immerhin haben sie viel Anfangsschwung, der dann allerdings schnell erlahmt. Sofern Zuschauer vorhanden sind, bewirken sie am meisten. Das Leben besteht für sie zu einem Großteil aus Show und Theatralik.
Schöpferisches Denken und Tun ist die Domäne der genitalen Charaktere.Sie sind liebes- und leistungsfähig. Sie arbeiten unter der Ägide eines subtilen Über-Ich, das heißt, sie haben Wertmaßstäbe in sich, die Gutes fordern, ohne Terror auszuüben. Ihr Liebesleben ist meist ebenso geordnet wie ihr Tätigkeitsbereich; sie wollen und können sich selbst verwirklichen, und die Arbeitstüchtigkeit ist ein Teilstück ihrer hohen Selbstachtung. Man kann sie gewissermaßen Persönlichkeiten nennen. Goethe hat diesen Zusammenhang anvisiert in seinem Ausspruch: „Man muss etwas sein,um etwas machenzu können."
Beziehungsfähigkeit
Alfred Adler sagte im Grunde dasselbe wie Freud, wenn er feststellte, dass Arbeits- und Beziehungsfähigkeit zwei Seiten einer Medaille sind. Nur wenn wir beziehungsfähig sind, können wir produktiv und innovativ arbeiten. Beziehung herstellen ist die erste und wichtigste Tätigkeit, welche dem Menschen aufgegeben ist.
Der beziehungsfähige Mensch heißt in der Psychoanalyse genitaler Charakter. Er hat die ödipalen Konflikte seiner Kindheit fruchtbar bewältigt. Er will nicht mehr von seiner Mutter verwöhnt werden und kultiviert keine infantile Rivalität gegenüber dem Vater. Er strebt aus dem engen Rahmen der Familie hinaus und versucht ein gesellschaftliches Wesen zu werden. Er kann Verantwortung für sich selbst und sein Leben übernehmen und interessiert sich für andere Menschen, gliedert sich ein in soziale Zusammenhänge und erringt Fortschritte für sich und die Gesamtheit.
Beziehungsfähigkeit ist so bedeutsam für das Arbeitenkönnen, weil der tätige Mensch auch Beziehung zum Gegenstand seines Tuns aufnehmen muss. Wer Ich-haft und in sich verkapselt ist, kann nicht angesichts irgendeiner beruflichen Aufgabe plötzlich weltoffen und an die Sache hingegeben sein; man hat denselben Lebensstil in allen Bereichen des Daseins. Wer dialogfähig ist, kann daher sowohl mit Menschen als auch mit Aufgaben sinnvoll kommunizieren.
Man erlernt den Dialog an den grundlegenden zwischenmenschlichen Beziehungen (Mutter, Vater und Geschwister) und überträgt ihn dann auf das schulische Lernen und die Berufsausübung. Alles Lernen von Geschicklichkeiten und Berufstauglichkeiten geschieht auf dem Boden tragfähiger Zwischenmenschlichkeit; fehlt diese, sind die Lernvorgänge behindert.
Ängstliche oder gehemmte Charaktere haben häufig Lernschwierigkeiten. Schließlich muss man bei jeglichem Tun in Beziehung mit der Aufgabe bleiben und die Sachverhältnisse wahrnehmen sowie die Eigentümlichkeiten des vorliegenden Problems berücksichtigen, also fast einen Dialog mit dem Arbeitsobjekt führen. Wer das miteinander Sprechenlernen versäumt, kann kaum schöpferisch werden.
Wir erkennen hier die Adler‘sche These vom Gemeinschaftsgefühl als der fundamentalen Konstante für die seelische Gesundheit. Man kann nicht ohne ausgebildetes Sozialinteresse ein tüchtiger Mensch sein. Man muss mit den Menschen und der Welt emotional verbunden sein, um mit ihnen zusammenwirken zu können.
Gefühle
Die Psychologie fragt sich seit ihrem Bestehen, welche Motivationen in der menschlichen Psyche wirksam sind. Motivationen sind Antriebselemente und Beweggründe für das Handeln. Die naturalistischen Lehren nehmen an, dass die Triebe die Motoren des Seelenlebens seien. Ein Trieb ist eine Bedürfnisspannung, die aus einer biologischen Quelle fließt, so der Hunger und der Sexus. Es ist aber keineswegs sichergestellt, dass diese physiologischen Bedürfnisse die Haupttriebkräfte der Seele sind.
Neuere anthropologische Konzepte legen uns nahe, eher im Gefühl die treibende Kraft des Handelns zu sehen. Vor allem soziale und kommunikative Handlungsweisen sind im Fühlen verankert. Je reicher und differenzierter die Gefühle eines Menschen sind, umso handlungsfähiger wird er sein.
Gefühle scheinen das Zentrum der Personalität auszumachen. Die Person baut sich gewissermaßen aus ihren emotionalen Akten auf. Das Gefühl ist immer wertbezogen; es ist Werterkenntnis und Wertrealisierung. Wenn man von Ich-Stärke spricht, meint man Gefühlsreichtum.
Große Arbeitsfähigkeit ist notwendigerweise mit Emotionsfülle identisch. In der Persönlichkeit des schaffenden Menschen registrieren wir gemeinhin Haltungen von Wohlwollen, Solidarität, Freude, Zugewandtheit sowie Achtung vor sich selbst und vor den Mitmenschen. Andererseits kann man die These wagen, dass hinter jeder Arbeitsstörung ein Gefühlsmanko oder doch eine Gefühlsunsicherheit steht.
Es gibt daher keine Tricks, um aus einem arbeitsgehemmten Menschen einen produktiven Charakter zu machen. Nur wenn das Ich sich weiterentwickelt, können Lebens- und Arbeitstüchtigkeit wachsen. Gefühle sind nicht direkt induzierbar, sondern stellen sich ein, wenn die Person ihre Wertorientierung verfeinert und intensiviert. Derlei muss in der Lebensbewährung und im Aufbau der sittlich-moralischen Persönlichkeit heranreifen.
Wille
Mit Gefühlsreichtum allein wird man jedoch kaum nützliche Arbeit leisten; es bedarf auch der Willenskraft, um Ziele und Zwecke in die Tat umzusetzen und den Widerstand der stumpfen Welt zu überwinden. Philipp Lersch in Der Aufbau der Person(1951) ordnete die Gefühle dem endothymen Grund der Persönlichkeit zu; der Wille jedoch ist ein Zentralphänomen des noëtischen Überbaus. Er gehört mit dem Denken zusammen der geistigen Sphäre an. Das Wollen entspringt dem innersten Kern der Person. Es ist aktive Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, zugleich aber auch eine Art „Selbstauszeugung der Persönlichkeit" (Alexander Pfänder) oder Selbstverwirklichung.
Denken und Wollen sind korrelativ: Wer das eine fördert, festigt das andere. Beide sind Ich-Funktionen oder Erscheinungsweisen des Ich. Sofern und in dem Maße, als ein Ich existiert, ist es auch denkend und wollend. Carl Gustav Jung definierte den Willen als disponible Libido, womit er wohl aussagen wollte, dass nur im Bereich des Bewusstseins Willenseinsatz möglich ist. Wer weitgehend unbewusst lebt, kann weder folgerichtig denken noch entschlossen handeln. Unbewusstheit war für Jung zumindest teilweise schuldhaft; man ist eben weithin Kind