Leibniz: Zu seinem zweihunderjährigen Todestag 14. November 1916
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Leibniz - Wilhelm Max Wundt
Wilhelm Max Wundt
Leibniz: Zu seinem zweihunderjährigen Todestag 14. November 1916
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
EAN 4064066433253
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.
I. Leibniz und seine Zeit.
II. Leibniz und die Scholastik.
a. Leibniz als Mathematiker.
b. Die dynamische Naturphilosophie.
c. Die Aktualität der Seele.
d. Die Einheit der Wissenschaften.
III. Leibniz und die neue Wissenschaft.
a. Der Wandel der Substanzbegriffe.
b. Die Lex continuitatis .
c. Der neue Idealismus.
d. Philosophie und Theologie.
IV. Leibniz und die Zukunft der deutschen Philosophie.
Anmerkungen.
Vorwort.
Inhaltsverzeichnis
Der Verfasser dieser kleinen Schrift hat sich vor sehr vielen Jahren einmal mit dem kühnen, vielleicht phantastischen Plan getragen, eine wissenschaftliche Leibniz-Biographie zu schreiben. Natürlich ist nichts aus dem Plan geworden, er ist nicht einmal bis zu den Anfängen seiner Ausführung gediehen. Aber als ich infolge meines späteren Lehrberufs von Zeit zu Zeit immer wieder veranlaßt war, zur Beschäftigung mit diesem merkwürdigen Manne zurückzukehren, sammelte sich mir im Lauf der Jahre eine Anzahl von Bemerkungen an, die mir in mancher Beziehung das Bild dieser Persönlichkeit in etwas verändertem Lichte gegenüber dem überlieferten erscheinen ließen. Diese Schrift beabsichtigt daher nicht, mit den verschiedenen Interpretationen der Leibnizschen Philosophie in Wettstreit zu treten, und sie hat deshalb auch nirgends Anlaß gehabt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich bin überhaupt nicht von seiner Philosophie, sondern zunächst von seinen mathematisch-physikalischen Arbeiten ausgegangen, die mich dann, so weit dies möglich war, zu gelegentlichen Beschäftigungen mit seinen sonstigen wissenschaftlichen und praktischen Interessen geführt haben. Von hier aus suchte ich endlich den Wegen nachzugehen, auf denen er zu seinen philosophischen Ideen gelangt ist. Er selbst ist ja, wie bekannt, im wesentlichen diesen Weg gegangen und darum, hierin nicht unähnlich seinem großen Nachfolger Kant, erst spät zu der Reihe von Gedanken gelangt, die man sein System zu nennen pflegt, und die doch eigentlich mehr den Charakter einer phantasievollen Verknüpfung seiner wissenschaftlichen Ideen als den eines strengen logischen Systems besitzen. Ich bekenne, daß mir im Zusammenhang mit dieser Betrachtung vieles in der Kultur seiner eigenen und der folgenden Zeit sowie in der weiteren Geschichte der deutschen Philosophie verständlicher geworden ist, als es zuvor war.
Ich veröffentliche diese Studie zum zweihundertjährigen Todestag des Mannes, mit dem die neue deutsche Philosophie begonnen hat. Möge dieser Tag daran erinnern, daß die deutsche Philosophie, mehr als manche unserer Zeitgenossen Wort haben wollen, aus eigener Kraft entstanden ist, und daß sie zu einer Zeit geboren wurde, da die deutsche Nation ungleich mehr als heute einer ungewissen Zukunft entgegensah.
Leipzig, im September 1916.
W. Wundt.
I.
Leibniz und seine Zeit.
Inhaltsverzeichnis
Daß der gegenwärtige Krieg der größte und furchtbarste sei, den die Welt jemals gesehen, ist ein in den letzten Monaten oft gehörtes Wort. Doch für uns Deutsche trifft dieses Wort nicht zu. Das deutsche Volk hat einen Krieg erlebt, furchtbarer und zerstörender als diesen. Das war jener Krieg, in welchem dreißig Jahre lang der deutsche Boden zum Kriegstheater geworden war, auf dem die Völker Europas ihre Kämpfe ausfochten und der schließlich nur deshalb zu Ende ging, weil die Söldnerscharen, die hier aus aller Welt zusammenströmten, in den niedergebrannten Dörfern und verarmten Städten nichts mehr zu plündern fanden. Unter den Trümmern der von ihr angerichteten Verwüstung hatte die Kriegsfurie zuletzt sich selber begraben. Zurückgelassen aber hatte sie an der Stelle einer zuvor blühenden Kultur eine durch Hunger, Seuchen und Gewalttaten dezimierte, um den kümmerlichen Aufbau ihres zerstörten Besitzes sich abmühende Bevölkerung. Über ein Jahrhundert, in manchen Gegenden das Doppelte dieser Zeit, soll nach der Schätzung der Wirtschaftsstatistik verflossen sein, bis der Wohlstand der Nation annähernd wieder auf der gleichen Höhe angelangt war, die er vor dem Kriege erreicht hatte. Doch wer könnte schätzen, was das deutsche Volk in diesem halben Jahrhundert der Friedlosigkeit versäumt hatte! Denn auch für ein Volk gilt in gewissem Sinne, was für den einzelnen Menschen gilt: eine verlorene Lebenszeit läßt sich nicht wieder ersetzen. Und was für eine gewaltige Zeit europäischer Kultur ist gerade diese erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gewesen! Es ist das Zeitalter, in dem sich England zur ersten Seemacht der Welt zu erheben begann, in dem Frankreich zur unbestritten herrschenden Landmacht Europas geworden war, und in dem mit dem politischen Aufschwung in beiden Ländern die Blüte der Kunst und der Wissenschaft sich verband. Wohl kann man nicht ohne Rührung dessen gedenken, daß selbst in dieser trostlosen Zeit des deutschen Niedergangs neben den Nachfolgern Shakespeares und den großen französischen Klassikern die Stimmen der deutschen Dichtung ihren eigenen Reiz besitzen. Um so mehr lastete auf einem andern Gebiet geistigen Schaffens, das mehr als der Ausdruck seelischer Stimmungen in Poesie und Musik von der Gunst äußerer Bedingungen abhängt, das schwere Schicksal dieses Krieges. Es ist die neue Wissenschaft, die in diesem Jahrhundert den glänzenden Abschluß des Zeitalters der Renaissance bildet. Zwar die große Umwälzung der Himmelskunde, die ihr den Weg bereitete, war vorangegangen. Noch reichte das Leben des großen deutschen Forschers, der durch die Entdeckung der Gesetze der Planetenbewegungen dem neuen Weltsystem die Herrschaft gesichert hatte, in die Zeit der Schrecken des Krieges hinein. Doch Kepler fristete, unstet von Ort zu Ort wandernd, notdürftig sein Dasein und starb schließlich im Elend. An jenem Aufschwung auf allen Gebieten der Forschung, der vornehmlich in diese erste Hälfte des Jahrhunderts fällt, und von dem mit Recht gesagt worden ist, er sei nicht bloß eine Wiedergeburt, sondern eine völlige Neuschöpfung, an ihm hat die deutsche Wissenschaft keinen nennenswerten Anteil genommen.
Indes die deutschen Universitäten zumeist in der ödesten Spätscholastik befangen geblieben waren, hatte Richelieu die Pariser Akademie gegründet, die sich rasch zu einer Art obersten Tribunals der Wissenschaften erhob. Ihr folgte bald die Königliche Gesellschaft zu London. Eine Reihe hervorragender Mathematiker und Physiker sammelte sich um diese neuen Pflanzstätten der Wissenschaft, die auch aus der Ferne die hervorragendsten Gelehrten in ihren Kreis zogen. Neben den exakten Wissenschaften sind es die Fragen des Staats- und Völkerrechts, die in dieser bewegten Zeit besonders die Geister beschäftigen. Vor allem aber erhebt sich unter dem mächtigen Impuls der Naturwissenschaft und in grundsätzlicher Abkehr von der aristotelischen Scholastik die neue Philosophie. Um die Zeit, in der der deutsche Krieg zu einem Weltkrieg zu werden begann, entwarf Francis Bacon sein großes Werk »Über den Wert und die Fortschritte der Wissenschaften«, in welchem er seine Übersicht über alles, was die neue Wissenschaft geleistet und was sie noch zu leisten habe, mit einer begeisterten Lobpreisung ihres Wertes für den Fortschritt der Menschheit begleitete. Und zwanzig Jahre später, als sich das zerstörende Werk des Krieges seinem Ende zuneigte, verfaßte Descartes jene Reihe seiner Schriften, die seinem und noch dem größten Teil des folgenden Jahrhunderts als die unbestritten größten Schöpfungen der Philosophie galten.
Zwei Jahre vor dem Ende des Krieges ist Leibniz geboren. Seine Jugend fällt in eine Zeit, in die wir uns heute schwer hineindenken können. Wie anders mußte doch die Welt einem Geschlecht erscheinen, in welchem die jugendlichere Hälfte der Lebenden den Frieden noch niemals gesehen hatte, die ältere aber diesen Frieden nur noch in dem verklärenden Licht jugendlicher Erinnerungen erblickte, das durch den Kontrast gegen die Schrecken des seither Erlebten um so heller strahlte. So falsch es darum wäre, zu meinen, dieses Geschlecht habe nun sofort sich bemüht, auf dem geradesten Wege nachzuholen, was es bis dahin verabsäumt, so sehr würde man fehlgehen, wollte man vermuten, dieses so lange Jahre ohnmächtig der äußeren Gewalt fügsam gewordene Volk sei auf lange hinaus zu einer Wiedererhebung nicht mehr fähig gewesen. Das letztere würde womöglich noch irriger sein als das erste. Dies zeigt vor allem die Literatur dieser Jahre nach dem Krieg. Insbesondere ist es eine Eigenschaft, die die Menschen dieser Restaurationszeit auszeichnet: das ist das rastlose Streben, die alten glücklichen Zustände wiederherzustellen, die den religiösen und politischen Wirren, auf die man diesen unseligen Krieg zurückführte, vorangegangen waren. So war denn dieses Geschlecht vor allem praktischen Interessen zugewandt. Es ist erstaunlich zu sehen, wie sehr in der Literatur dieser Zeit die politischen Fragen und die Verhandlungen über die religiösen Streitpunkte und ihre mögliche Ausgleichung vorherrschen. Der Krieg war ja zu einem guten Teil ein Religionskrieg gewesen. Konnte man nicht hoffen, daß fernerhin für alle Zeit Friede bleiben werde, wenn nur erst der Glaubenszwiespalt beseitigt sei? In den weitesten Volkskreisen gingen Gerüchte um, die von einem nahe bevorstehenden ewigen Religionsfrieden zu erzählen wußten. Der Erzkanzler Johann Philipp von Schönborn zu Mainz, ein den Protestanten geneigter Fürst, und sein Minister Boineburg, der selbst von der protestantischen zur katholischen Kirche übergetreten war, sollten sich, nach der Volkssage, mit dem Papste bereits über die wechselseitigen Konzessionen verständigt haben, unter denen die große Vereinigung der Religionen ins Werk zu setzen sei. Nicht weniger wie die Kirchenspaltung empfand man aber die politische Zerklüftung Deutschlands als eine Hauptursache des hereingebrochenen Unheils. In der Wiederaufrichtung des deutschen Reichs in alter Herrlichkeit, gefestigt durch ein unauflösliches, jede fremde Einmischung von den deutschen Grenzen künftighin fernhaltendes Bündnis der Fürsten, sah man die sichere Bürgschaft eines dauernden Friedens. Das lebendige Nationalgefühl und sein Widerspiel, der Kampf gegen welsche Mode und fremden Übermut, die uns bei den Dichtern des dreißigjährigen Krieges in so erfreuendem Kontrast zur Not dieser Zeit anmuten, sie setzen sich jetzt, wo der ersehnte Friede wirklich erreicht ist, in hoffnungsreiche Pläne einer politischen und nationalen Wiedergeburt um, die sich freilich allzu leicht über die äußeren Schwierigkeiten und die inneren Hemmungen hinwegtäuschen, denen diese patriotischen Wünsche begegnen.
Um die Stellung, die Leibniz in seiner Zeit einnimmt, richtig zu würdigen, muß man diesen Charakter der Zeit selbst in Betracht ziehen. Je weniger wir uns aber heute mehr in jene hochgehenden und schließlich getäuschten Erwartungen zurückdenken können, um so mehr sind wir geneigt, einen Mann wie diesen, der mit dem, was er Bleibendes geschaffen, weit über sie hinausreicht, nach seinem Verhältnis zu uns, nicht nach dem zu seiner eigenen Umgebung und nach denjenigen Seiten seines Wirkens zu beurteilen, in denen er selbst die Hauptaufgabe seines Lebens gesehen hat. Wer Leibniz heute liest, der liest seine philosophischen, zum Teil wohl auch seine mathematischen Schriften, falls er sich hier nicht mit dem mehr oder weniger oberflächlichen Bericht in einer Geschichte der Mathematik begnügt. Selten wirft wohl einmal ein Jurist seinen Blick in die juristischen oder ein Historiker in die politischen Schriften. So bleibt denn nur der allgemeine Eindruck, daß wir hier einem Wissen und Können gegenüberstehen, das überhaupt, um möglich zu sein, nicht bloß einer erstaunlichen persönlichen Begabung, sondern vielleicht auch einer außerordentlichen Zeit bedurfte, in der die Kräfte der Nation nach langem Siechtum wieder zu neuem Leben erwacht waren. Fast ein Jahrhundert lang war ja die deutsche Wissenschaft nahezu stehen geblieben. Die Traditionen der älteren Zeit waren verloren gegangen, die deutschen Vorläufer der neuen Weltanschauung, ein Nikolaus von Kues, ein Paracelsus sind viel später erst, als das Interesse an ihnen ein rein historisches geworden war, in ihrer philosophischen Bedeutung wieder entdeckt worden.
So hatte an der