Bakunin und Mises in eine Front!?: Die Vincent-Sessions
Von Michael von Prollius und Stefan Blankertz
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Über dieses E-Book
Michael von Prollius
Dr. Michael von Prollius ist Publizist und Gründer vom Forum Freie Gesellschaft. Forum Freie Gesellschaft Forum Freie Gesellschaft (www.forum-freie-gesellschaft.de) ist eine Internetplattform, die für eine Ordnung der Freiheit wirbt. Die Autoren setzen sich mit Analysen und Kommentaren für eine freie Gesellschaft und freie Märkte ein. Grundlage bilden die Ideen der europäischen Humanisten, Ökonomen und Sozialphilosophen. Dieses Bewusstsein wach zu halten und an einer Erneuerung des klassischen Liberalismus mitzuwirken, ist das wesentliche Ziel von Forum Freie Gesellschaft.
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Buchvorschau
Bakunin und Mises in eine Front!? - Michael von Prollius
CC-BY, Foto: Michael Fraley, 23. März 2009, flickr.com/photos/mrfraley/3378349614. Kolorierung:
MICHAEL VON PROLLIUS ist Publizist und Gründer von «Forum Freie Gesellschaft», einer Internetplattform, die für eine Ordnung der Freiheit wirbt.
STEFAN BLANKERTZ, Wortmetz, Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt; ewiger Student der «Akademie für neoliberalen Kulturmarxismus».
Beide üben sich in «Vincent-Sessions» seit 2016; die besten Stücke daraus sind in diesem Live-Album dokumentiert.
INHALT
I Intro
Wie es dazu kam, dass wir dieses Buch schreiben
II Die 6 Strophen
1 Skizzierung der eigenen Grundthesen
2 Stärken der jeweils anderen Position
3 Schwächen der eigenen Position
4 Warum man trotzdem festhält an der eigenen These
5 Kanon: Wichtige Denker der eigenen Position
6 Erste Schritte in Richtung einer Verwirklichung
III Refrains
1 Ludwig von Mises, unser nicht makelloser Held
2 Liberalismus und Anarchismus: ein schmaler Grat
3 Friedens- oder Gewaltmärkte?
4 Verfassung der Freiheit als unvollendeter Fortschritt
IV Bridge
Das Stadtrat-Gespräch in Liberstadt 2016
V Kontra-faktischen Skizzen
Einleitung: Hätte es anders kommen können?
Ein klassisch liberales, friedliches Deutschland, 1849 bis 1914
Ukrainische Anarchisten verhindern den Zweiten Weltkrieg, 1920 bis1939
VI Sündenregister
Fehler unserer liberalen und anarchistischen Ahnen
Index
I
INTRO
WIE ES DAZU KAM,
DASS WIR DIESES BUCH SCHREIBEN
Im «Vincent» gibt es eine Nische mit Blick auf Spreekanal, EY mit Tränenpalast, S-Bahnhof Friedrichstraße. Bei warmem Wetter ist sie offen & unverstellt zum schmalen Bürgersteig darunter. Zwei Barhockerstühle, ein Jack Daniels, ein Cuba Libre. Vorbeischlendernde Touristen, joggende Berliner und zum Bier strebende etablierte Damen und Herren könnten Worte und Namen von zwei Herren hören, die kaum jemand von ihnen zuordnen kann: Proudhon und Bakunin, Hayek und Hazlitt, dezentraler politischer Wettbewerb, eine verpasste Chance, Anarchisten und Liberale.
Im Laufe der Jahre wechselten Bücher über den Tisch den zugeneigten Besitzer: Proudhon: Für eine dezentrale Nation. Unterschied ist Leben, Harmonie der Tod. Politik macht Ohnmacht. Mit Marx gegen Marx. Ein liberales Manifest. Drei Mal Freiheitsliebe und 17 Zeilen für die Freiheit. Fortsetzung folgt.
Der Austausch der beiden auf dem Barhocker wird von Vincent van Gogh beobachtet, zumindest von einigen seiner Gemälde. Inzwischen ist die Konversation in den Sessions ähnlich umfangreich wie es die Briefwechsel von van Gogh waren. Während van Goghs Werk dem Post-Impressionismus zugeordnet wird und stilistisch Aspekte des Realismus, Naturalismus und Impressionismus aufgreift, fanden und finden die Sessions in der Zeit des Post-Liberalismus statt. Impressionen des Tagesgeschehens werden zwar aufgegriffen, indes geht es um reale Alternativen und um positive Utopien einer freiheitlicheren Welt.
Ein Ursprung der Sessions liegt in der Veranstaltung «The Battle: Ankap versus Libakap», die das Antibürokratieteam initiiert hatte. Der «Mythos Anarchokapitalismus» traf auf «Widerstand: Aus den Akten Pinker vs Anarchy». 2016 standen Gegensätze, intellektuell aufpoliert und munter gebattelt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Impulse für die wiederbelebte Österreichische Schule waren Teil einer breiteren Diskussion mit einem engagierten Publikum.
Im Vincent ist van Gogh Gastgeber und Publikum zugleich, stehen Gemeinsamkeiten beider Weltanschauungen und das, was sie zu sagen haben, stärker im Vordergrund. Dazu gehört die Suche nach einer Antwort auf die Frage: War das im 19. Jahrhundert versäumte Bündnis von Anarchisten und Liberalen eine verpasste Chance?
Zurück in die Zukunft des 19. Jahrhunderts. Pierre-Joseph Proudhon, der französische Revolutionär und Gegenspieler von Karl Marx, attackierte in mehreren Briefen zwischen 1862 und 1864 den italienischen Zentralismus. Proudhon warb für den Föderalismus, der dem Wesen Italiens entspreche: geographisch, ethnographisch, historisch, politikökonomisch und völkerrechtlich.
Für ihn ist das Prinzip der Revolution nicht der starke Einheitsstaat, vielmehr die eigenständige, also sich selbst verwaltende Kommune, die mit anderen Kommunen durch freiwillige Föderation Verbindungen eingeht. Keine Armee, keine Bürokratie, keine Steuern, keine Überwachung. Für seine neuen Ideen erfindet er den Begriff «Anarchismus».
Wäre die Geschichte Italiens richtig abgebogen, in Richtung Föderalismus, so hätte das ein Beispiel für Frankreich und damit auch Deutschland sein können. Kaum auszumalen, wie die Welt sich entwickelt hätte, wenn Europa und der Welt die Geißel des Nationalismus erspart geblieben wäre. Wahrscheinlich würden wir heute nicht den verkrampften, zentralistischen Korporatismus erleben, der so sklerotisierend wirkt. Stattdessen würde sich eine kreative Vielfalt im Umgang mit zahlreichen Herausforderungen entfalten, deren ausufernder Krisencharakter erst durch eine politisierte Zentralisierung konstruiert werden konnte.
Zentralismus zerstöre das Politische statt das politische Leben der Massen zu heben, diagnostizierte Proudhon zeitlos treffend. Die Nation werde nach dem Raub der Selbstbestimmung der 26 Millionen Menschen von einer gewaltigen Bürokratie, von Legionen von Beamten beherrscht werden. Die Nation werde ersetzt durch Angestellte, Soldaten, Steuerzahler. Die Einheit Italiens werde zum Grundstein von Despotismus und bürgerlicher Ausbeutung. Das Nationalstaat-Streben habe viel Blut und Opfer, Geld, Bildung und Freiheit gekostet, auch für Frankreich.
Berlin, im Deutschen Herbst 2022
Michael von Prollius
Stefan Blankertz
II
DIE 6 STROPHEN
1. SKIZZIERUNG DER EIGENEN GRUNDTHESEN
HISTORISCH
Mit dem klassischen Liberalismus bricht die Menschheit in die moderne Welt auf. Massenwohlstand und massenhaftes Entkommen aus einer durch die Geburt vorherbestimmten Welt sind Folgen. Der klassische Liberalismus, fortan als «Liberalismus» bezeichnet, ist und bleibt der Schlüssel für Wohlstand, Wohlbefinden und Wohlfahrt. Ein regionales, nationales, internationales, globales, kosmopolitisches Begreifen der mit Menschen belebten Welt.
Der Liberalismus ist identisch mit dem Wert der besseren Ideen und weist den Weg in eine bessere Zukunft. Erst mit den liberalen Ideen der Aufklärung endet die absolute Herrschaft der Wenigen mit ihrem Reichtum und beginnt die Entfaltungsmöglichkeit der Vielen – unauflösbar verbunden ist damit auch der Wechsel vom Existenzminimum zum Wohlstand der Massen.
Im Mittelpunkt des Liberalismus steht der einzelne Mensch, mit seinen Stärken und Schwächen, mit seiner proportionierlichsten Bildung der Kräfte zu einem Ganzen. Das Privateigentum und die Herrschaft des Rechts sind notwendige Bedingungen. Das Recht des Stärkeren wird durch die Herrschaft des Rechts ersetzt. So kann sich die Freiheit eines jeden Einzelnen entfalten. Zugleich wird die Willkür des Einen mit der Willkür des Anderen unter allgemeinen Rechtsgesetzen in Einklang gebracht.
Das Koordinationsproblem und damit das Problem von Knappheit und Opportunitäten lösen Menschen auf Märkten selbstbestimmt und selbstverantwortlich. Kooperation und Wettbewerb sind die elementaren Bestandteile des Entdeckungsverfahrens, das uns Dinge beschert, von denen die Masse nicht einmal geträumt hat – vom Bleistift über Waschmaschinen und Geschirrspüler bis iPod und iPad.
Für das Dilemma der Macht gibt es eine praktikable Lösung: Jemand muss mit etwas Macht betraut werden, aber niemand kann mit viel Macht ausgestattet werden. Deshalb ist für klassisch Liberale der Minimalstaat mit hoheitlichen Aufgaben die bestmögliche Lösung – bessere Alternativen gibt es nur bei den Engeln; und glauben Sie mir, als Erzengel Michael weiß ich, wovon ich rede.
Im Unterschied zum Anarchokapitalismus und Anarchismus wird die mit Macht ausgestattete Organisation – der Staat – sichtbar und abgrenzbar gemacht, sie wird verschiedenen Verfahren und Regeln unterworfen, die sowohl für Transparenz und Rechenschaft sorgen sollen als auch wirksam einhegen soll. Das Problem bleibt: Wer kontrolliert den Kontrolleur, wer beschränkt die Macht des Mächtigen? Jemand muss etwas Macht innehaben, aber man kann niemandem trauen, der viel Macht besitzt.
Liberale sind offensichtlich keine Anarchisten. Liberale wollen den Staat nicht abschaffen, sondern klein halten. Sie lehnen den umverteilenden, den räuberischen, den selbstbezogenen Staat ab und arbeiten auf eine Begrenzung des Staates zur Sicherung der Freiheit hin. Liberale wollen die aktuelle Gesellschaft nicht überwinden, sondern mehr Freiheit, Verantwortung und Selbstbestimmung erwirken. Ihre Utopie ist der Minimalstaat.
Die historischen Verdienste des Liberalismus bestreiten Anarchisten nicht, weder in ihrer klassischen Ausrichtung von Proudhon bis Paul Goodman noch in ihrer anarchokapitalistischen Ausrichtung. Doch die Probleme des Liberalismus beginnen nicht erst mit dem Aufkommen des Sozialliberalismus in den 1970er Jahren, dem Kompromiss der Liberalen mit der Sozialdemokratie, und nichteinmal erst mit dem Nationalliberalismus, dem Kompromiss der Liberalen mit dem militaristischen Nationalstaat. Ob bei den kriegerischen Konstitutionen des geeinigten Italiens oder des Deutschen Reichs, ob in Österreich-Ungarn, ob in Spanien, die Liberalen haben stets den Zentralstaat favorisiert, meist den Föderalismus verachtet und Sezessionsbestrebungen bekämpft. Die Opposition der englischen Liberalen gegen den Kolonialismus war auf einige wenige Vertreter beschränkt. Sogar in den USA haben die Liberalen von der Konstitution des Zentralstaats an diesen meist hochgehalten; die Opposition gegen die Verfassung – also die Idee, die USA sollten ein Bund von souveränen Einzelstaaten bleiben – war zwar stark, aber musste ohne intellektuelle Unterstützung der Liberalen auskommen. Liberale wie Ludwig von Mises, der ein unumschränktes Sezessionsrecht forderte (und damit, ohne es selber zu realisieren und zu wollen, zum Begründer des Anarchokapitalismus wurde) stellten leider Ausnahmen dar.
Als ein Beispiel führe ich die Bildungsreform des von mir hoch geschätzten Wilhelm von Humboldt an. Humboldt war «eigentlich» der Auffassung, der Staat habe in Erziehung nichts zu suchen. Aber er verabscheute die vorhandenen vielfältigen ständischen, handwerklichen und religiösen Bildungs- und Ausbildungswege so sehr, dass er doch meinte, zuerst müsse ein verpflichtendes zentralstaatliches Schulwesen mit einheitlichen Methoden (Vermittlung von Buchwissen), Inhalten (klassische Sprachen) und Abschlüssen (Abitur) eingerichtet werden, um dann dereinst wieder in die Selbstverwaltung der Bürger zurückgegeben werden zu können. Dezentralisierung durch Zentralisierung, eine Dialektik, die an Lenin erinnert.
Während, wie gesagt, die Folgen der durch die Liberalen in Gang gesetzten sozialen und wirtschaftliche Befreiung, die Michael so wunderbar zusammengefasst hat, unbestritten sind, blieb die Neigung der großen Mehrheit der Liberalen zu Nationalismus (Militarismus), Kolonialismus, Interventionismus und Sozialstaat nicht ohne negative Folgen. Wie Liberale wissen und die besten der liberalen Wirtschaftstheoretiker bis ins letzte Detail analysiert haben, führen hohe Staatsausgaben zur Abnahme des Wohlstands und zur Verarmung gerade der Schwächeren in der Gesellschaft. Der Kolonialismus war ein brutal schreckliches Unrecht. Die Kriege waren für die Bevölkerung eine Katastrophe. Die Vertreter der marktradikalen Manchester-Schule haben klar ge sehen, dass ein Liberalismus, der sich nicht radikal gegen Kolonialismus und Interventionismus wendet, verlieren wird. Doch ihre Stimme wurde nicht gehört. Die Chance eines Bündnisses aus Liberalen und Anarchisten ward (wie im Intro bereits angedeutet) verpasst.
Kann man die Versäumnisse und Defizite der Liberalen der Idee des Liberalismus anlasten? Sicherlich nicht alle. Aber meines Erachtens unterschätzen die Liberalen in ihrer Theorie die Eigendynamik der Staatsgewalt: Sie lässt sich nicht eindämmen. Und damit sind wir bei der systematischen Grundthese.
SYSTEMATISCH
DIE ANARCHOK APITALISTISCHEN GRUNDTHESEN
1. Staatliche Herrschaft ist nicht legitimierbar. Die Legitimation staatlicher Herrschaft (= strukturelle Gewalt) aufgrund eines Übereinkommens, das einem gegenseitigen Vorteil dient, kann bloß fiktional sein, denn ein solches Übereinkommen würde ausschließlich zustimmende Personen binden, also keinen Territorialstaat ergeben. Deshalb muss staatliche Herrschaft sich aus anderen Quellen speisen. Diese anderen Quellen sind das ökonomische Interesse, nicht-zustimmende Personen ihrer Ressourcen zu berauben (d.h. Ausbeutung), oder das paternalistische Interesse, Vorschriften zu machen (d.h. Bevormundung). Diese Ausbeutungs- und Bevormundungsinteressen führen zu den sozialen Problemen, welche eine ständige Erweiterung von staatlicher Herrschaft antreiben. In dieser Weise schreitet die Erweiterung der Staatsgewalt fort, bis die Moral und die soziale Kooperation aufgezehrt wurden. Nur dann führte der Zusammenbruch des Staats nicht in Katastrophen, wenn hinreichend viele Menschen die Perspektive der Befreiung in Betracht ziehen.
2. Staatliche Herrschaft ist dysfunktional. Der Staat verursacht selber die meisten Probleme, die er lösen soll. Die übrigen Probleme löst er schlechter, als freiwillige Kooperation es könnte. Freiwillige Kooperation setzt Verfügung über die eigenen Ressourcen voraus, also Eigentum. Der Grund für die schlechte Performance des Staats liegt darin, dass Gewalt stets gegen die Interessen der mit ihr Bedrohten verstößt. Immer gibt es Verlierer. Hieraus resultiert ein permanenter versteckter – oder teilweise offener – (Bürger-) Krieg. Demgegenüber stellt die freiwillige Kooperation eine Win-win-Situation her. Auf diese Weise werden weder alle Probleme gelöst noch alle Konflikte vermieden, aber die Möglichkeitsbedingungen für friedliche Problem- und Konfliktlösungen grundgelegt.