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Lebewohl, Martha: Die Geschichte der jüdischen Bewohner meines Hauses
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eBook385 Seiten4 Stunden

Lebewohl, Martha: Die Geschichte der jüdischen Bewohner meines Hauses

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Über dieses E-Book

Marthas Flügel und Bettys blaues Sofa
24 Verschwundene. Deportiert aus dem Haus, in dem Ingke Brodersen wohnt. Ein »Judenhaus«. Einige flüchten, andere verstecken sich. Von ihnen erzählt die Historikerin. Und von denen, die heute Zuflucht suchen.
Hanns-Stephan ist zwölf, als er 1939 in London Liverpool Station auf dem Bahnsteig steht. Gerettet mit dem Kindertransport. Seine Mutter stirbt im Bombenhagel. Sein Vater Siegfried Jacob taucht unter und überlebt. Ihm gehört das Haus, in das andernorts vertriebene Juden zwangseingewiesen werden. Ein sogenanntes »Judenhaus«, wie es auch in anderen Ländern Europas zu finden war. Als Ingke Brodersen in eine Wohnung im vierten Stock genau dieses Hauses einzieht, weiß sie nichts von Martha, Clara und Bertha. In einer beeindruckenden Recherche rekonstruiert sie die Lebenswege der Verfolgten. Und sie wendet sich denen zu, die heute Vertriebene sind: Safed aus Bosnien oder Aziz und Rana aus Kabul. So ist ihr Buch ein bewegendes Zeugnis des Gedenkens und gelebter Mitmenschlichkeit.
»Dieses Buch erzählt von 24 Verschwundenen. 1942 deportiert aus dem Haus, in dem ich wohne. Und von den anderen, die entkamen. Ich lernte sie alle erst Jahre nach meinem Einzug kennen. Ich erzähle ihre Geschichten. Und meine.« Ingke Brodersen
SpracheDeutsch
HerausgeberKanon Verlag
Erscheinungsdatum15. Apr. 2023
ISBN9783985680757
Lebewohl, Martha: Die Geschichte der jüdischen Bewohner meines Hauses

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    Buchvorschau

    Lebewohl, Martha - Ingke Brodersen

    Ingke Brodersen

    Lebewohl, Martha

    Die Geschichten der jüdischen Bewohner meines Hauses

    kanon verlag

    Für Siegfried Kurt Jacob (1884–1954), einst Eigentümer des Hauses, in dem ich heute wohne. Er hatte den Mut und den Eigensinn, sich dem Schicksal zu verweigern, das die Nationalsozialisten ihm aufzwingen wollten.

    Der Verlag dankt der Inge Deutschkron Stiftung für die freundliche Unterstützung dieses Projekts.

    ISBN 978-3-98568-074-0

    eISBN 978-3-98568-075-7

    1. Auflage 2023

    © Kanon Verlag Berlin GmbH, 2023

    Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport

    Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

    Satz: Marco Stölk

    Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

    Printed in Germany

    www.kanon-verlag.de

    Ingke Brodersen

    Lebewohl, Martha

    Inhalt

    Vierundzwanzig

    Die jüdischen Bewohner des Hauses

    Zehnter August 1942

    Die Lücke im Stuck

    Ihre Namen

    Rusts Kautsch

    Die »Mauer des Gedenkens«

    Marthas Stein

    Der Himmel blieb stumm: Martha Cohen

    Die Frau im schwarzen Kleid

    Der jüdische Gelehrte

    Geld, Schreibmaschine, Emanzipation

    Das Testament

    Vier Frauen und ein Flügel

    Marthas Vermögenserklärung

    Deutsche Bank und der Oberfinanzpräsident

    Spurensuche

    Die Unbekannten

    Die doppelte Edith

    Vom anderen Leben

    Aktenlektüre

    Eine blieb zurück: Clara Marcus

    Das rettende Affidavit

    Bürokratische Schikanen

    Ein Haus in Berlin

    Das Bayerische Viertel

    Begegnung im Grundbuchamt

    Die Letzte: Bertha Sternson

    Die Männer flüchten

    Shanghai, Stadt der Extreme

    Sidneys Rente

    14. Dezember 1942

    Der Architekt des Führers

    Der rote Einband

    Mietverhältnisse mit Juden

    »Weltstadt« Berlin

    »Entjuden«

    Räumen, umsiedeln, abreißen

    Speer unterm Weihnachtsbaum

    Das »Judenhaus«

    Der Sternträger

    »Schachteln«

    Zwangswohngemeinschaften

    Sara, Israel und der Beerdigungskommissar

    Mutter und Tochter

    Die »arischen« Hausbewohner

    Die Tore schließen sich

    Wer flieht, wird heimatlos

    Safed und seine mörderischen Nachbarn

    Winston Churchill und die »enemy aliens«

    Abschied für immer

    Vom Leben in der Erinnerung

    Wer nicht flieht, wird ermordet

    Der Krieg gegen das Buch

    Die Papier-Brigade

    Sarajewos Ruine

    Mutabor: eine andere werden

    Das Wort: eine Waffe

    Flucht nach Italien

    Die getrennten Brüder

    »Polen-Aktion«

    Abgeschoben

    Verhaftet in Mailand

    Mussolinis Judengesetze

    Antrag auf Entschädigung

    Rosenkrieg

    Ins Warschauer Getto

    Vermögenserklärung und »Abtransport«

    »Umsiedlung« nach Treblinka

    Im Tower

    Herbert Marcuse und die »Feindabwehr«

    Die Schwestern

    Tod im Grunewald

    Deutsch-argentinische Beziehungen

    Buenos Aires oder Auschwitz

    Gefangenennummer 95448

    Kampf um ein Todesdatum

    Gefangen im »Deutschtum«

    Ausreiseverbot

    Trennung und Trauma

    Vom Leben im »Dazwischen«

    Entwurzelt

    Senat, zwölf Jahre

    In letzter Minute

    Am Genfer See

    Fake-Visum

    Comandante Che

    Auf Kuba

    Illimani

    »Most loyal enemy alien«

    Im »Paradiesgetto«

    27. August 1942

    Oskars Tod

    Die Reichsvereinigung

    Heimeinkaufsverträge

    Zum Sterben nach Sobibór

    Himmlers Schmach

    Bettys blaues Sofa

    Zwei Töchter und die Hoffnung auf Zukunft

    Ausgeplündert

    Bettys Schwester

    »Entjudungsgewinne«

    Nach der »Evakuierung«

    Die Profiteure

    »Judenhäuser« zum Schnäppchenpreis

    »Station Z«: Max Markus

    »I desire the passport for the purpose of protection«

    Vom Gefängnis ins Lager

    »Schikanen-Promenade«

    Iwan mit der Mundharmonika

    Großrazzia

    Ausgeliefert

    Das »Wiener Modell«

    Die einzige Tochter

    Ein Zug fährt durch die Nacht

    Etwas Besseres als den Tod

    Verhaftung

    Edith und die britische Dienstbotenkrise

    Hanns-Stephan und der Kindertransport

    Untertauchen

    Bratkartoffeln im Versteck

    Jüdische Greifer

    Jacobs Kampf um Entschädigung

    Rosenbaums Vermächtnis

    Wiedergutmachung

    Walter Janka und die »Gruppe Mexiko«

    Entschädigungsverfahren

    Die Balken von Ravensbrück

    Verschwunden

    Meine Schützlinge

    Verstreut in alle Welt

    Zonen-Pakete und Baracken

    Kopfbilder

    Familiengeschichten

    Heldenglanz

    Geschäftsbilanz

    Lebewohl, Martha

    Dank

    Quellen

    Antisemitische Verordnungen

    In Memoriam

    Personenregister

    Vierundzwanzig

    Dieses Buch erzählt von vierundzwanzig Verschwundenen. Sie wurden 1942 deportiert aus dem Haus, in dem ich wohne. Ich erfuhr von ihnen erst Jahre nach meinem Einzug. Sie befanden sich auf einer Liste mit Namen von mehr als 6000 verschwundenen Jüdinnen und Juden aus Berlin-Schöneberg, die ermordet worden waren. Darunter die Vierundzwanzig.

    Ich wohne dort, in Schöneberg, im Bayerischen Viertel, wo um die Wende zum 20. Jahrhundert ein urbanes Quartier erbaut worden war. In seinen Jugendstilhäusern entstanden großbürgerliche Wohnungen mit Bad und Zentralheizung, besonders begehrt bei den assimilierten Juden, die es ökonomisch zu etwas gebracht hatten. So wie der Rechtsanwalt Siegfried Kurt Jacob, der das Haus in der Berchtesgadener Straße 37 kaufte, wenige Jahre bevor die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Seine Wohnungen vermietete er an Juden und Nichtjuden. Das Judentum spielte für ihn, wie für die meisten jüdischen Bewohner dieses Viertels, keine verpflichtende Rolle mehr. Sie selbst sahen sich als deutsche Bürger, so wie andere auch, viele als Patrioten. Die Nationalsozialisten änderten das: Dass Jacob Jude war, wurde zu seinem »rassischen« Merkmal, seinem Identitätskern erklärt und begründete den Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft – mit allen daraus abgeleiteten Konsequenzen.

    Von dem, was in Jacobs Haus passiert war, wusste ich nichts, als ich in eine Wohnung im vierten Stock zog. Einige Jahre später wurden Tafeln an den Straßenlaternen des Bayerischen Viertels aufgehängt, ein Bildmotiv auf der einen, eine der vielen antijüdischen Verordnungen der Nationalsozialisten auf der Rückseite. Eine Chronik der täglichen und immer straffer angezogenen »Einschnürungen« (Victor Klemperer), mit denen den jüdischen Bürgern in Deutschland schon vor ihrer Deportation Schritt für Schritt das Leben genommen wurde.

    Vor unserem Haus hängt eine dieser Tafeln: »26.3.1942 Kennzeichnungszwang für jüdische Wohnungen durch den Judenstern«. Auch an unserer Wohnungstür wird der schwarze Stern auf weißem Grund befestigt gewesen sein. Hinter der Tür wohnte Martha Cohen. Im September 1942 wurde sie nach Theresienstadt verschleppt.

    Davon erfuhr ich aus dem Katalog »Orte des Erinnerns«, der Straße für Straße, Hausnummer für Hausnummer auflistet, wer aus diesem Viertel »in den Osten« deportiert worden war. Nach Theresienstadt, Auschwitz, Riga, Trawniki, Sobibór, Treblinka, Majdanek, Piaski. So lernte ich die Namen aller vierundzwanzig kennen, die in die »Judenwohnungen« des Hauses Berchtesgadener Straße 37 zwangseingewiesen worden waren. Ihre eigenen Wohnungen hatten sie räumen müssen. Der Generalbauinspektor Albert Speer brauchte Platz für seine geplante Neugestaltung Berlins zur »führenden Weltstadt«. Dafür ließ er abreißen und wegschaffen, was im Wege war. Dazu gehörten auch die Juden.

    Davon erzähle ich. Von den Vierundzwanzig, für die das Haus, in dem ich wohne, die letzte Adresse war. Wie sie sozial isoliert, ausgeplündert, stranguliert wurden. Ein legalisierter Mord, »ordnungsgemäß« und vor aller Augen durchgeführt. Ich erzähle von der Verzweiflung jener, die aus dem Deutschen Reich fliehen wollten, aber vor immer mehr verschlossenen Toren standen; von dem »kleinen Tod«, wenn Eltern Abschied von ihren Kindern oder Kinder Abschied von Vater, Mutter und Geschwistern nehmen mussten und sie alle einander nie wiedersahen; von dem finanziellen Raub der Nationalsozialisten, die Geld für die Kriegskasse brauchten – vor 1933 war Siegfried Kurt Jacob ein vermögender Mann gewesen, 1945 mittellos und zudem herzkrank; von dem Jahre dauernden Kampf um Entschädigung für alles, was ihm und anderen geraubt worden war.

    Von dem Verschwinden der Vierundzwanzig profitierten ihre nichtjüdischen Nachbarn. Für das Haus in der Berchtesgadener Straße war im Grundbuch schon eine »arische« Interessentin als künftige Eigentümerin vorgemerkt. Vor den Mietern trat sie auch so auf, sie glaubte, sicher sein zu können, dass der eigentliche Eigentümer Siegfried Kurt Jacob nicht wiederkehren würde. Aber er überlebte, so wie einige andere seiner jüdischen Mieter. Nicht alle warteten auf den ihnen von den Nationalsozialisten zugedachten Tod. Sie tauchten unter, oder sie wurden vertrieben in alle Welt, nach Quito, Shanghai, Buenos Aires, Kapstadt, Havanna, ihre neue Bleibe konnten sie sich nicht mehr aussuchen. Von ihrer Flucht, ihrem Leben in der Fremde, von ihrem Heim-Weh – auch davon handelt dieses Buch, es soll nicht nur ein Buch über Tote sein.

    Die Liebsten, die Heimat, die eigene Sprache, die Kultur, all das, was vertraut ist, zu verlieren, hinterlässt Wunden. Entwurzelung blockiert die soziale Lebenskraft. Ich erzähle von zerbrochenen Ehen, gewaltsamen Trennungen, von Selbstmorden, Vertrauensverlust und von zerschnittenen Lebensfäden selbst der Entkommenen.

    Es sind Geschichten von den jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern dieses einen Hauses in Berlin, aber sie stehen für viele andere, denen Gleiches angetan wurde. Es sind Bruchstücke ihres Lebens, von denen ich schreibe, allzu oft nur aus der Zeit des Schreckens, vom Ende her gesehen. Ein unvollständiges Bild: Ich wollte nicht zulassen, dass die mir Anvertrauten nur als Transportnummer, als Sterbeurkunde, als Opfer, Gedemütigte und Ohnmächtige auftauchten. Deshalb rief ich die Dinge zu Hilfe, die ihnen etwas bedeutet hatten, bevor sie ihnen genommen wurden: Marthas Steinway-Flügel, der die Pianistin bis zuletzt begleitete; Bettys mit Lyoner Seide bezogene Armsessel, ein Geschenk ihres Vaters; Ediths Singer-Nähmaschine, die sie mitnehmen wollte nach Großbritannien in ihr neues Leben; und Siegfried Kurt Jacobs Bratkartoffeln, die er sich im Versteck machte – ohne Butter, aber eine Hoffnung gebende Reminiszenz an eine bessere Vergangenheit, die ihm half, das einsame Leben eines Untergetauchten weiter durchzustehen.

    Begehe ich eine unzulässige Grenzübertretung, wenn ich von »Martha«, »Edith«, »Betty«, »Hermann«, »Kurt« spreche? Wenn ich die jüdischen Bewohner dieses Hauses oft nur mit ihrem Vornamen benenne, als seien sie gute Freunde? Ich könnte auf praktische Gründe verweisen: Es wäre ermüdend gewesen, immer den ganzen Namen in der hier erforderlichen Häufigkeit erwähnt zu finden. Aber das war nicht der einzige, nicht einmal der vorrangige Grund.

    Die Verschwundenen sind mir während der Arbeit immer näher gekommen durch das, was ich über sie in Erfahrung brachte. Sie wurden, ob ich es wollte oder nicht, zu ständigen Begleitern, die sich nicht mehr fortschicken ließen. Doch trotz aller Vertrautheit, die dabei entstand, blieb eine Mauer zwischen uns. Eine Mauer des Schreckens. Eines Schreckens, wie ich ihn nie kennengelernt habe. Ich kann mir nicht vorstellen, was sich in ihren Seelen, ihren Herzen, ihren Köpfen abspielte, als aus ihrem Dasein unaufhaltsam ein Alptraum wurde.

    Wir wissen inzwischen viel über diese mörderische Zeit, über die Entrechtung der Juden, ihre Knechtung, Ausgrenzung, Verarmung, über die Transporte, die Lager, die Todesmärsche, die Ermordung – über das »Knochengerüst« (Olga Tokarczuk) der nationalsozialistischen Verfolgung. Unverzichtbar dieses Wissen, aber abstrakt und fern bleibt es, solange darauf nicht die unverwechselbare Textur eines bestimmten Lebens gespannt ist, ein Gesicht erkennbar, eine Stimme hörbar wird. Erst dann begreifen wir.

    Die Ermordeten selbst, schreibt Primo Levi, italienischer Jude, der Auschwitz überlebte, konnten ihre Geschichten nicht mehr erzählen, von ihnen ist keiner je zurückgekommen, »um über seinen Tod zu berichten«. Es ist an uns, ihre Stimmen zu hören, zu verstehen, sie sprechen zu lassen und so vor dem Vergessen, der Verlorenheit zu bewahren.

    Mit der »Inbesitznahme« dieser Wohnung in diesem einstigen »Judenhaus« bin ich in seine Geschichte eingetreten, die mich nicht mehr aus der Verantwortung entließ: Spuren der Verschwundenen aufzufinden und ihre Geschichten zu erzählen, auch wenn mich dabei ängstigt, dass jene, die hier, von diesem Haus auf die Straße des Todes geschickt wurden, nur durch die Worte vorstellbar werden, die ich für sie finde.

    Berlin im Februar 2023

    Die jüdischen Bewohner des Hauses

    Kurt Baron, Handelsvertreter für Textilien

    Jakob und Helena Berger, Kaufmann und »Geschäftsfrau«

    James Brandus, Rechtsanwalt und Notar, und seine Frau Elsbeth

    Hermann Bratt, Pelzhändler, und seine Frau Klara

    Martha Cohen, Pianistin

    Hertha und Charlotte Glücksmann

    Alice Heinrichsdorff

    Else und Heymann Herzfeld

    Sara Ihlenfeld, Verkäuferin

    Siegfried Kurt Jacob, Notar und Rechtsanwalt, Eigentümer des Hauses, seine Frau Edith und der gemeinsame Sohn Hanns-Stephan Günther

    Moritz und Martha Kallmann, Kaufmann und »Geschäftsinhaberin«

    Hermann Katz, Dentist

    Levy Louis David Kayser, Textilfabrikant, und seine Frau Emmy

    Hermann Salomon Hirsch Kriss

    Max Lewin, Inhaber einer Brauerei, und seine Frau Johanna

    Clara Marcus, Korrespondentin

    Max Markus

    Oskar Mendelsohn, Handelsvertreter

    Kurt Rechnitz, Geschäftsführer eines Getreidewarenhandels, und seine Frau Betty

    Alfred Rosenbaum, Arzt

    Klara Seldis, Rentnerin

    Hedwig Steiner, Modistin, Tochter Lilly und Sohn Gerald

    Martha Steinitz

    Bertha Sternson, »Lageristin«, ihr Mann Simon Siegmund, Geschäftsführer einer Zigarettenfabrik

    Paula Pauline Suransky

    Ida Wolle, Verkäuferin

    Zehnter August 1942

    An diesem Tag wurde Clara Marcus aus dem vierten Stock des Vorderhauses der Berchtesgadener Straße 37 in Berlin-Schöneberg zum »Abtransport« nach Theresienstadt geholt. Zwei Wochen später war sie tot. Diese Wohnung, in die die Gestapo eindrang, ist heute mein Zuhause.

    Die Lücke im Stuck

    Von der Gewalttat an jenem Tag wusste ich nichts, und den Namen von Clara Marcus kannte ich nicht, als ich an einem regnerischen Dezemberabend zum ersten Mal den Hausflur unseres künftigen Zuhauses betrat. Ich hatte höchstens einen flüchtigen Blick für die von einer großbürgerlichen Vergangenheit zeugenden Spiegelwände, die Marmorsäulen, die Jugendstil-Ornamente im Eingangsflur. Ich war erschöpft von einem langen Arbeitstag, müde und hungrig, vor meinem leeren Magen hing meine einjährige Tochter im Tragetuch, die mit mir frühmorgens auf den Flug nach Berlin gegangen war. Dort wartete in Charlottenburg ein neuer Arbeitsplatz auf mich, ich sollte ein nach der Wende gegründetes Unternehmen aufbauen und suchte eine Bleibe für meine Familie und mich.

    In den letzten Monaten hatte ich mir schon etliche Mietwohnungen angeschaut, keine schien mir geeignet. Und alle teuer. An diesem Abend hatte mich der hartnäckige Makler Herr K. nach Schöneberg gelockt, ins Bayerische Viertel, dort waren wir mit einer Wohnung im vierten Stock verabredet. Bei meinen ersten Besichtigungen war ich noch die anliegenden Straßen abgelaufen, hatte Lärmpegel, Kita-Nähe, öffentliche Verkehrsanbindung und Einkaufsmöglichkeiten geprüft. Diese Vergewisserung, ob das Umfeld halbwegs tauglich war, hatte ich inzwischen aufgegeben – ich wollte einfach nur noch eine Wohnung mit Heizung und Badewanne.

    Der Fahrstuhl hielt direkt neben der Wohnungstür. Ihr abblätterndes Dunkelbraun schien mich wissen lassen zu wollen, dass mich keine ästhetischen Überraschungen hinter der Tür erwarteten. Am liebsten hätte ich gleich abgewunken und wieder kehrtgemacht, aber da hatte Herr K. mit seinem feinen Gespür für die Absprungbereitschaft seiner Kundin schon entschlossen den Klingelknopf gedrückt.

    In der Wohnung lebte eine Männer-Wohngemeinschaft, die in der Zeit des Nachwende-Hypes auf dem Berliner Wohnungsmarkt, vermutlich im Schulterschluss mit Eigentümern und Maklern, ein neues Win-win-Geschäftsmodell entdeckt hatte: Als Mieter signalisierte man Bereitschaft zum Auszug – gegen eine beträchtliche und durch nichts gerechtfertigte »Abstandszahlung«, die der Käufer zu leisten hatte. Das ermöglichte dem Makler, eine »bezugsfertige« Wohnung zum Verkauf anzubieten, ein barwerter Vorteil. In mir fand das Modell eine willige, weil wehrlose Kundin. Ich war die monatelang erfolglose Suche längst leid. Außerdem war ich an diesem Abend auch noch spät dran, ich musste mein Flugzeug erreichen. Also sagte ich ja, nachdem ich mit gleichgültigem Blick die abgehängte Decke im Flur registriert und sinniert hatte, ob damit wohl feuchte Stellen oder ein anderer Makel kaschiert werden sollten, bevor ich dann für einige tausend D-Mark Eigentümerin eines rotgestrichenen, sechzig Zentimeter breiten Sperrholzregals wurde.

    Darunter bettete ich zwei Wochen später eine Luftmatratze mit Schlafsack für mein Kind und mich. Der Raum war leer, die Wohngemeinschaft inzwischen ausgezogen. Nur das Rot des Regals gab dem Zimmer ein bisschen Rouge. Kurz vor dem Einschlafen fielen die Scheinwerfer eines Autos, das in unsere Straße einbog, auf eine merkwürdige Lücke im Stuck der Zimmerdecke – eine große Ecke der Rosetten-Girlande fehlte. Ein Bombenschaden? Schlampigkeit? Konkurs des Stuckateurs? Bis in die Träume dieser ersten Nacht hinein verfolgte mich der Auftrag, irgendwann nachzuforschen, was es damit auf sich hatte.

    Ihre Namen

    Von Clara Marcus und den anderen jüdischen Bewohnern unseres Hauses hörte ich erst Jahre später. Der Berliner Finanzbeamte Andreas Wilcke hatte die Namen aus den Akten der nationalsozialistischen Oberfinanzdirektion geborgen, 6069 Jüdinnen und Juden, die aus unserem Quartier deportiert worden waren; ohne Wilcke wären sie spurlos im mörderischen Getriebe des »Dritten Reiches« und der eifrig schreddernden deutschen Nachkriegsgesellschaft untergegangen. Wilcke hielt ihre Namen, zusammen mit ihren Geburts- und Deportationsdaten, handschriftlich auf Karteikarten fest. Oft sind das die einzigen dokumentarischen Zeugnisse, die es von ihnen noch gibt. Sie tapezieren heute die Wände des Willy-Brandt-Saals im Rathaus Schöneberg.

    Auf diesen Karteikarten war erst ein Drittel der Juden erfasst, die damals im Bayerischen Viertel beheimatet waren. Hier wohnten überwiegend jene, die es sich leisten konnten – Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler, Unternehmer –, unter ihnen viele, die international bekannt wurden. Der Psychoanalytiker Erich Fromm war am Bayerischen Platz zu Hause, dort, wo sich heute die Commerzbank mit neun Stockwerken dem Himmel entgegenreckt, Billy Wilder kurzzeitig am Viktoria-Luise-Platz, die Fotografin Gisèle Freund und Albert Einstein in der Haberlandstraße. Von ihnen las ich, als ich den vom Bezirk und dem Haus der Wannseekonferenz erarbeiteten Katalog »Orte des Erinnerns« in den Händen hielt, in den die Namen von Wilckes Karteikarten Eingang gefunden hatten.

    Die Lektüre war ein Augenöffner. Penibel listet der Katalog auf, wer aus welcher Straße, aus welchem Haus zum »Transport« gezerrt worden ist. In unserer Straße aus den Nummern 2, aus dem Nachbarhaus mit der Nummerierung 2/3, aus 3, 4, 7, 13, 24, und die meisten aus den Nummern 35 und 37. So las ich die Namen der Menschen, die aus unserem Haus auf die Todesreise geschickt worden waren: Jacob und Helena Berger ins Warschauer Getto, James und Elsbeth Brandus, Martha Cohen, Oskar Mendelsohn, Alfred Rosenbaum, Paula Pauline Suransky, Ida Wolle, Hermann Katz, Clara Marcus nach Theresienstadt, Bertha Sternson und Hedwig Steiner nach Riga, Betty und Kurt Rechnitz nach Sobibór, Else Herzfeld und Alice Heinrichsdorff nach Auschwitz, Hertha Glücksmann und Sara Ihlenfeld nach Trawniki, Max Markus ins KZ Sachsenhausen. Und das waren noch nicht alle, was ich aber erst später wusste.

    Der Schreck des Begreifens saß: Was für ein Haus war das, in das meine Kinder, ihr Vater und ich gezogen waren? Wer waren diese einstigen Bewohner? Woher kamen sie? Was wurde aus ihnen? Wer von ihnen wurde aus unserer Wohnung im vierten Stock geholt? Irritierende Fragen. Ich wurde sie nicht mehr los.

    Rusts Kautsch

    Wenn ich zur U-Bahn am Bayerischen Platz gehe, komme ich an der Löcknitz-Grundschule vorbei. Hier sind meine Kinder zur Schule gegangen. 1904 war sie eingeweiht worden, zwei Jahre später hatte sie schon mehr als 1000 Schüler, und mitten im Ersten Weltkrieg führte sie gemischte Klassen aus Jungen und Mädchen ein. Das war damals ungewöhnlich.

    Vor der Schule steht ein Schild: »Sämtliche Berliner Bezirksämter sind angewiesen, jüdische Lehrkräfte an den städtischen Schulen sofort zu beurlauben. 1.4.1933«. Das Schild gehört zu den achtzig Tafeln, die die Künstler Renata Stih und Frieder Schnock 1993 in den Straßen unseres Viertels an den Laternenmasten installiert haben. Auf jedem Schild findet sich eine der zahlreichen antisemitischen Verordnungen, mit denen die Juden in den Jahren des Nationalsozialismus gedemütigt (»An Juden werden keine Seife und Rasierseife mehr ausgegeben oder verkauft«), isoliert, entrechtet (»Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren«), enteignet, ausgehungert wurden (»Die Versorgung von Juden mit Fleisch, Fleischprodukten und anderen zugeteilten Lebensmitteln wird eingestellt«). Die Tafeln führen jedem Vorübergehenden die fortlaufend erlassenen Maßnahmen zur Enteignung des Lebens der Juden vor Augen: Berufsverbote für Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Schauspieler und Musiker, Kündigung von Telefonanschlüssen, Badeverbot im Wannsee, Verbot des Verkaufs von Zeitungen und Bücher an Juden, Verbot der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Zwangsabgabe des Führerscheins, Promotionsverbot, Abgabe warmer Kleidung.

    Ab dem 11. November 1938 wurden jüdische Kinder auf Weisung des Reichserziehungsministers Bernhard Rust von allen öffentlichen Schulen verbannt (»Jüdische Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen mehr besuchen«). Es könne »keinem deutschen Lehrer und keiner Lehrerin mehr zugemutet« werden, ihnen Unterricht zu erteilen, behauptete der Minister. Rust, vor seinem Antritt als »Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« selbst Lehrer für Latein und Deutsch, sah die nationalsozialistische Ausrichtung aller Bildungsinstitutionen als seine Mission. Die gymnasiale Schulzeit wurde verkürzt, der Religionsunterricht abgeschafft, »Vererbungslehre« eingeführt und die Anzahl der Sportstunden erhöht, schließlich sollten die Jungen »schnell wie Windhunde und hart wie Kruppstahl« werden – ein so einprägsamer Slogan, dass ihn Erwachsene in meiner Kindheit noch dermaßen oft zitierten, dass alle Kinder meiner schleswig-holsteinischen Heimatstadt ihn irgendwann auswendig herunterleiern konnten.

    Auf Rusts Germanisierungs-Agenda stand zudem eine Rechtschreibreform, aus der englischsprachigen Couch sollte die deutsche »Kautsch« werden – auch dieser Vorschlag stieß noch in der autoritären Nachkriegsgesellschaft bei der älteren Generation auf Zustimmung. Ihr waren alle Insignien der angelsächsischen Welt – Kaugummi, Jeans, Parka – suspekt. Ebenso alle Anglizismen. Das war die Sprache, der Habitus der einstigen Sieger.

    Womöglich verdanke ich es dem bleibenden Einfluss von Rust, dass mir noch in der Oberstufe meines Gymnasiums das Wort »Radio« als Ausdrucksfehler angestrichen wurde. Als ich verständnislos nachfragte, wurde ich belehrt, dass in einem Deutsch(!)-Aufsatz nur der »Rundfunkempfänger« auftauchen sollte. Ich hatte es an meiner Schule überwiegend mit Lehrkräften zu tun, die ihr pädagogisches Rüstzeug in der Zeit des »Dritten Reiches« erworben hatten, einige ihrer Glaubenssätze hatten sie aus der »dunklen Zeit« herübergerettet.

    Die »Mauer des Gedenkens«

    Rusts Schulverbot zwang die damals katholische Löcknitz-Schule, ihre jüdischen Schüler zu entlassen. Nationalsozialistischen Ideologen muss »die Löcknitz« ohnehin ein Dorn im Auge gewesen sein: Geprägt von dem demokratischen Aufwind der Weimarer Republik, galt sie als ausgesprochen modern mit ihren koedukativen Klassen, ihrem obligatorischen Schwimmunterricht und ihren Mädchenclubs »gegen die Gefahren der Großstadt«. Ebendeshalb wurde sie von den liberalen jüdischen Familien als Bildungseinrichtung bevorzugt.

    Auf ihrem Schulhof stand eine 1910 eingeweihte Synagoge, die die Reichspogromnacht vom November 1938 fast unbeschädigt überstand, zu dicht war sie umringt von Häusern »arischer« Besitzer. Nur Teile des vorgelagerten Wohnbereichs mit Bibliothek, Schul- und Horträumen brachen ein, für die Beseitigung der Ruinen hatten die Juden aufzukommen.

    Als das Bayerische Viertel nach den letzten »Abtransporten« 1943 als »judenfrei« gemeldet wurde, fielen Grundstück und Gebäude an die Gestapo, in den viergeschossigen Wohntrakt zogen Mitglieder des Reichssicherheitshauptamtes ein – vermutlich nach gründlicher »Entwesung«, das war häufige Praxis bei »frei gewordenen« Judenwohnungen, wie Dokumente zu Rechtsstreitigkeiten über die Kostenübernahme zeigen. Lange konnten die Neumieter sich ihres Wohnortes nicht erfreuen: Im November 1943 fiel eine Brandbombe auf das Haus und zerstörte es – in

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