Frauen und Jungen: Eine pädagogische Herausforderung
Von Ilka Weigand und Armin Krenz
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Buchvorschau
Frauen und Jungen - Ilka Weigand
1.1 Junge oder Mädchen?
Abbildung 1: Dieses Symbol soll das Schild und den Speer eines Kriegers nach dem Vorbild des Kriegsgottes Mars symbolisieren.
»Es ist ein Junge!« oder »Es ist ein Mädchen!«
Jeweils eine dieser beiden Aussagen wird freudig getroffen, wenn ein Kind geboren wird. In den meisten Ländern der Welt verbinden die Menschen damit die Vorstellung von einem kleinen Erdenbürger, der mit äußeren Geschlechtsmerkmalen geboren wurde, welche ihn als Jungen und sie als Mädchen auszeichnen.
Es scheint den Menschen ein inneres Bedürfnis zu sein, diese Einordnung vornehmen zu können. Nicht vorstellbar, dass die Geburt eines Babys allein mit der beruhigenden Aussage begleitet wird: »Es ist ein gesundes Kind.« Die schwangere Mutter, der Vater, die Eltern, die Omas, die Opas und Freunde (nicht so Geschwister – hier liegt meist der konkrete Wunsch nach Bruder oder Schwester vor) sagen häufig vorab: »Hauptsache gesund – egal, was es wird!« Dennoch ist es unerlässlich, sogleich zu wissen, ob es sich um eine Tochter oder einen Sohn handelt. Warum? Nur weil sowohl die eine als auch die andere Möglichkeit zur Verfügung steht? Nein! Mit dieser Kategorisierung erhalten die Menschen, die Kontakt zueinander aufnehmen wollen, (emotionale) Sicherheit. Immer wenn wir in Verbindung zu einem anderen Menschen treten, ist unser erstes Anliegen die Suche danach, festlegen zu können, ob es sich bei unserem Gegenüber um einen Mann oder eine Frau handelt.
Es gibt kaum Situationen, die zu größerer Verwirrung führen als die, nicht eindeutig feststellen zu können, ob unser Gesprächspartner Mann oder Frau ist. Die Tatsache, dass wir beispielsweise aufgrund von Sprachunterschieden mit einem Menschen nicht kommunizieren können, irritiert uns dagegen deutlich weniger. Hier reagieren wir in der Regel nicht verunsichert und beunruhigt, sondern versuchen mit Kreativität und Freude eine Brücke zu bauen. Wir gestikulieren, malen oder versuchen über andere Sprachstämme einen Kontakt herzustellen. Dieses positive Miteinander wird sich jedoch nicht entwickeln, wenn wir uns in einer Unterhaltung mit jemandem befinden, dessen Geschlecht nicht definiert ist. Intuitiv werden wir immer versuchen, Merkmale an unserem Gegenüber zu entdecken, durch die eine Zuschreibung abgeleitet werden kann. Auch im Falle einer persönlichen Ansprache mit einem eindeutig geschlechtszuschreibenden Namen, wird sich kein freudig unbeschwertes Gespräch einstellen, wenn der optische Beweis fehlt. Es werden männliche und weibliche Eigenschaften gesucht, denn mit diesen verbinden wir die geschlechtliche Identität eines Individuums.
Dazu zwei Beispiele:
1. Beispiel aus der Familie: In einem Kinderwagen wird stolz ein kleines Kind von der Oma oder dem Opa präsentiert. Es lacht freundlich und gestikuliert mit den Händchen. Die Gratulation zum Baby wird immer von der heimlichen (oder offenen) Frage begleitet: »Ist das ein Junge oder ein Mädchen?«
2. Beispiel aus dem gesellschaftlichen Bereich: Im Stundenplan vom Fitnesscenter ist Yoga mit Maxi angeschrieben. Der Name Maxi lässt alles offen. Kurz darauf kommt Maxi in die Stunde und stellt sich vor. Kurze lockige Haare und ein ansehnlich durchtrainierter Körper zeichnet sich in der Sportkleidung ab. Ein überaus schöner Mensch mit angenehm sanfter und doch tiefer Stimme. Maxi muss nochmals in einen anderen Raum, um Equipment zu holen. Leichtes Raunen und eine nicht gestellte Frage bleiben zurück. Ein Mann formuliert nach einer kleinen Pause seine Unsicherheit: »Was ist denn das für ein harter Knochen?«
Welcher Form der Verunsicherung stehen wir hier gegenüber?
Wir werden Antworten in den wissenschaftlichen Theorien suchen, indem wir die Ansätze der Wissenschaft zur Klärung des Sachverhaltes heranziehen. Dadurch wird deutlich, dass wir uns mit der Fixierung auf Geschlechtszuschreibungen in einem Teufelskreis bewegen. In diesem Teufelskreis sind die Frauen leider unverkennbar involviert, was nachfolgend eindrücklich klar werden wird. Zum verständlichen Herleiten wird immer wieder – entsprechend der sozialpädagogischen Tradition – ein breit gefächerter Bezug gewählt, der eine systemische Sichtweise ermöglicht und gleichfalls eine Metaperspektive anbietet.
Mit Bedacht werden an dieser einführenden Stelle zunächst zwei Ansätze (pädagogisch und soziologisch) gewählt, um eine Verbindung zum Thema aufzubauen, um dann – im weiteren Verlauf des Buches – vertiefende Kapitel anzubieten. Diese beiden grundverschiedenen Ansätze aus der Wissenschaft beschreiben den Sachverhalt mit wenigen Worten und stehen gleichzeitig für die Ambivalenz im Umgang mit dem Thema Geschlecht.
Aus der Sicht der Soziologie beschreibt Stein-Hilbers (2000, S. 36):
Der Erwerb einer Geschlechtsidentität kann als interaktiver Aushandlungsprozess verstanden werden, in dem Individuen auf bewährte Symbolsysteme zurückgreifen und sich gleichzeitig als einmalig und unverwechselbar präsentieren. Sie tun dies in den Strukturen von Zweigeschlechtlichkeit und sie gestalten damit auch das System Zweigeschlechtlichkeit: Sie verkörpern und realisieren Eigenschaften und Verhaltensweisen, die in einer jeweiligen Kultur als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ definiert werden.
[…] Identitätskonstruktionen sind ein Kernbereich menschlicher Persönlichkeitsentwicklung. Menschen sind darauf angewiesen, sich als kontinuierlich gleichartige und kohärente Person zu erleben und auch von anderen so wahrgenommen zu werden.
Ein Beispiel …
… für stabile (im Sinne von beständige) und gleichzeitig individuell auftretende Menschen sind Jungen in Lederhosen und Trachtenhemd sowie Mädels im Dirndl: Ein bewusstes Ausstrahlen von Geschlecht und traditionsoffener Kultur – in Verbindung mit entsprechender Kleidung.
Wichtig in dieser Darstellung ist die Aussage, dass wir uns in unserem Geschlecht als einmalige Persönlichkeit präsentieren und auch so unverwechselbar wahrgenommen werden wollen. Somit bekräftigt sie das Bedürfnis von Menschen, als stabile Persönlichkeiten zu erscheinen. Gleichzeitig spiegeln wir mit unserem Geschlecht aber auch unsere Individualität.
In Abweichung dazu definiert Sielert (2002, S. 26) den Begriff Geschlechtsidentität an sich als Einschränkung hinter dem sich Polarität verbirgt.
[…] es wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in der Postmoderne alle Menschen zur Herausbildung einer Geschlechtsidentität veranlasst sind, um handlungsfähig zu werden, ohne dass diese Identität in bestimmter Weise inhaltlich genau vorgegeben sei.
Sielert stellt damit Geschlechtsidentität überhaupt infrage und hebt hervor, dass keine entsprechende Übereinkunft zu inhaltlichen Verbindlichkeiten getroffen worden ist. Seine Annahme ist demzufolge, dass Geschlecht letztlich nicht wichtiger wäre als zum Beispiel Herkunft, Alter o. Ä. Interessant ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der männliche Autor den Verzicht von Geschlechtsidentität einfordert. – Bravo!
Leider ist das nicht die Realität. Die Unsicherheit in der Yogagruppe in Bezug auf das nicht zu identifizierende Geschlecht von Maxi hätte nicht zu dem Bedürfnis geführt, eine Klassifizierung als harter Knochen vorzunehmen.
Die beiden Beispiele der Wissenschaft, in der eine Richtung darlegt, dass die Persönlichkeit durch Geschlecht geprägt würde und die andere Aussage gegenteilig lautet, nämlich Geschlecht sei nur ein gesellschaftliches Konstrukt, reflektieren die Situation sehr gut.
Bis heute kann man sich letztlich nur auf Folgendes einigen: Geschlechtliche Identität von Menschen entwickelt sich entlang der Zuschreibung von Geschlecht in Zusammenhang mit den äußerlichen Geschlechtsmerkmalen und gleichfalls in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, um als eine harmonische Persönlichkeit inmitten der Gesellschaft leben zu können.
Sich zu einer harmonischen Persönlichkeit entwickeln zu können, ist für Kinder ein oberstes Bedürfnis. Für Eltern, für Mütter und Väter bedeutet das an dieser Stelle zunächst, einen Raum zum Aufwachsen zur Verfügung zu stellen, der Geschlechtlichkeit darstellt, aber nicht vollends zuschreibt. Diese Aufgabe darf jedoch nicht unreflektiert angenommen werden. Wichtig ist es demzufolge sehr früh – möglichst lange vor der Entscheidung für ein Kind – eine Auseinandersetzung mit sich selbst zu führen:
Welche Vorstellungen habe ich von Geschlecht?
Welchen Mustern folge ich?
Was kann ich davon mit einem veränderten Blickwinkel betrachten?
Sich gewissenhaft mit Geschlecht und der Einstellung zu Geschlecht auseinanderzusetzen, heißt vor allem auch, zu den eigenen Erkenntnissen zu stehen und diese zu leben. Auch traditionelle Werte sind richtig, wenn sie offen gelebt werden.
Im Zusammenleben mit Kindern bedeutet es hier nur das klare Signal: »Ich habe traditionell orientierte Werte, dass sind die Wurzeln meiner Sozialisation / Kindheit. Ich fühle mich unsicher, wenn mein Freund oder Mann auffallend stark geschminkt mit mir ins Kino geht. Das heißt aber nicht, dass meine Verunsicherung auch deine sein muss, denn auch bei mir kann sich das noch ändern. Auch andere Menschen können negativ reagieren, wenn ein Mann sich gern bunte Röcke anzieht. Aber du musst nur für dich wissen, dass das ihrer Sozialisation, Einstellung und Unsicherheit entspricht, welche sie in unserer Kultur und Gesellschaft erlebt haben. Doch bedenke: Alles ist dem schnellen Wandel der heutigen Zeit unterworfen. Was für dich richtig ist, wird wieder etwas anderes und Neues sein und du wirst es in Auseinandersetzung mit deiner Umwelt und Kindheit erfahren.«
Eltern sollten sich bewusst machen, dass es nicht möglich ist, sich hier neutral zu verhalten oder vermeidende Kommunikation einzusetzen. Jedes Kind hat, entsprechend seinem Entwicklungsstand und seinem Verständnis, ausreichend Antennen diese Botschaften zu empfangen. Sozialisation passiert Kindern nicht einfach als programmatischer Vorgang, aus dem sich Eltern und Bezugspersonen mehr oder weniger heraushalten können. In der Pädagogik gibt es heute eine breite Verständigung darüber, dass sich jedes Kind als sozialer Akteur und Konstrukteur der eigenen Persönlichkeit entwickelt. Das geschieht im Wechselspiel mit den Bezugspersonen und der Auseinandersetzung mit der Umwelt.
Ein Kind, das aktiv seine Lebenswelt konstruiert, ist auch aktiv in seiner Identitätsbildung ausgebildet. Hurrelmann u. a. (2003, S. 49) wählt einen interdisziplinären Zugang:
Kinder bringen schon mit der Geburt elementare Fähigkeiten mit, um Impulse aus der sozialen und physikalischen Umwelt aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie müssen im Laufe der ersten Lebensjahre aber noch Strukturen und Programme für die Verarbeitung dieser Lebensweltimpulse erstellen, mit denen sie den von außen und von innen kommenden Informationen Bedeutung und Sinn zuschreiben und sich in der Gemeinschaft anpassungsfähig machen