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Im Sog des Schweigens: Ein Südfrankreich-Krimi
Im Sog des Schweigens: Ein Südfrankreich-Krimi
Im Sog des Schweigens: Ein Südfrankreich-Krimi
eBook498 Seiten6 Stunden

Im Sog des Schweigens: Ein Südfrankreich-Krimi

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Über dieses E-Book

Romantisches Südfrankreich-Flair trifft packende Krimispannung:
Die Zwillingsschwestern Charlène und Aurélie würden alles füreinander tun – sogar die Rollen tauschen. Für einen beruflichen Termin geben sie sich einen Abend lang als die jeweils andere aus. Am nächsten Morgen ist Charlène tot. Sollte tatsächlich sie sterben, oder hätte Aurélie das eigentliche Opfer sein sollen? Um das herauszufinden, beschließt Aurélie, die Rolle ihrer Schwester weiterzuspielen. Doch statt Antworten ergeben sich immer neue Fragen. Warum behandelt Charlènes Ehemann sie derart abweisend? Und was hat es mit den verstörenden Tagebucheinträgen ihrer Schwester auf sich? Während sich Aurélie immer tiefer in ihre Rolle verstrickt, muss sie mehr und mehr erkennen, dass die ganze Wahrheit noch viel grausamer ist, als es den Anschein hatte ...
SpracheDeutsch
HerausgeberGrafit Verlag
Erscheinungsdatum21. März 2024
ISBN9783987080166
Im Sog des Schweigens: Ein Südfrankreich-Krimi
Autor

Silke Ziegler

Silke Ziegler lebt mit ihrer Familie in Weinheim an der Bergstraße. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als sie während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs auf ihre erste Romanidee stieß. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist oder an einem ihrer Romanprojekte schreibt, geht sie gern wandern oder liest.

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    Buchvorschau

    Im Sog des Schweigens - Silke Ziegler

    Umschlag

    Silke Ziegler

    Im Sog des Schweigens

    Ein Südfrankreich-Krimi

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2024 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

    Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

    Internet: http://www.grafit.de

    E-Mail: [email protected]

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/Katy; shutterstock/by-studio

    Lektorat: Dr. Marion Heister

    E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    eISBN 978-3-98708-016-6

    Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

    Silke Ziegler, Jahrgang 1975, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Weinheim an der Bergstraße. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als ihr während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs die Idee für ihr erstes Buch kam. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist oder an einem ihrer Romanprojekte schreibt, geht sie gern wandern oder liest.

    Für meine Kinder, das Beste in meinem Leben

    Geschwister sind nie allein.

    Sie tragen einander immer im Herzen.

    Prolog

    Selbst ein aufmerksamer Beobachter hätte an diesem wunderschönen Frühlingstag die sich anbahnende Tragödie nicht annähernd erahnen können.

    Die Sonne strahlte von einem fast wolkenlosen Himmel und erwärmte die Luft bereits auf angenehme fünfundzwanzig Grad. Im Schatten war es hingegen noch etwas kühler.

    Die beiden sechsjährigen Mädchen auf dem Spielplatz ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Die exakt gleiche Haarlänge, die kleinen vorwitzigen Stupsnasen, die dunklen, ausdrucksvollen Augen, die zarten Wangenknochen und der leicht trotzige Zug um die wohlgeformten Lippen. Nichts, aber auch gar nichts in den Gesichtern der beiden hob sich so eklatant ab, dass eine Unterscheidung der Mädchen möglich gewesen wäre. Außer ihren Eltern war wirklich niemand in der Lage, sie auseinanderzuhalten.

    Die Kinder buddelten im Sandkasten, eines grub ein Loch, das andere versuchte eifrig, eine Mauer zu errichten. Doch der Sand war zu trocken, die Körnchen hafteten nicht richtig aneinander.

    Während die beiden in ihre ganz eigene Fantasiewelt versunken waren, saßen die Eltern am Rand des Spielplatzes auf einer dunklen Holzbank und unterhielten sich leise.

    Sie waren ein attraktives Paar Mitte dreißig. Die Frau sah aus wie eine ältere Version ihrer beiden Töchter, lediglich ihre Augen waren eine Nuance heller. Ihrem Körper sah man die zurückliegende Zwillingsschwangerschaft nicht an. Sie hatte das Glück, essen zu können, was sie wollte, ohne ein Gramm zuzunehmen. Ihr Mann besaß die Figur eines Sportlers, der regelmäßig laufen ging. Sehnige, muskulöse Beine, schlanke Arme, einen durchtrainierten Oberkörper. Sein dunkles Haar stand in interessantem Kontrast zu seinen hellen grünen Augen. Wenn man die vier an diesem Vormittag zusammen sah, wirkten sie wie eine typische französische Durchschnittsfamilie.

    »Aurélie, Charlène, möchtet ihr etwas Melone?« Die Mutter kramte in ihrem Korb, den sie heute früh hastig gepackt hatte, und holte die Schüssel mit den klein geschnittenen Obststückchen hervor.

    Der Spielplatz lag nur zweihundert Meter vom Mittelmeer entfernt, sogar hier konnte man das leichte Rauschen der Wellen hören. Da es noch früh war, befanden sie sich ganz allein auf dem Platz.

    »Nein, wir müssen erst noch das Loch fertig graben«, rief Charlène zurück und wies ihre Schwester in eifrigem Ton an, sich zu beeilen. Aurélie machte sich sofort mit neuem Feuereifer an die Arbeit. Hoch konzentriert stach sie wieder und wieder ihre Schaufel mit dem langen Holzstiel in den trockenen Sand, die kleine Zungenspitze zwischen die Lippen gepresst, während Charlène zum wiederholten Mal versuchte, den Sand höher aufzutürmen. Die Mädchen rackerten und gaben ihr Bestes, doch ihre Bauten drohten immer wieder aufs Neue einzustürzen. Charlène stampfte mit dem Fuß auf, Aurélie presste die Kiefer aufeinander.

    »Na kommt, Mädchen«, lockte die Mutter erneut, da sie zu spüren schien, dass die Stimmung bei ihren Töchtern zu kippen drohte. »Stärkt euch erst, und dann könnt ihr weitermachen!«

    Aurélie packte die Hand ihrer Schwester und zog sie hinter sich her zu den Eltern.

    »Ein Stück für dich«, sagte ihre Mutter zu ihr und drückte ihr die Melone in die Hand. »Und eins für dich.« Charlène senkte ihren Blick und starrte auf den Boden.

    »Wir schaffen das«, sprach Aurélie ihrer Schwester Mut zu. »Vielleicht müssen wir noch etwas tiefer graben, da wird der Sand nasser.«

    »Ihr seid zwei so fleißige Baumeisterinnen«, mischte sich ihr Vater ins Gespräch. »Ich bin mir sicher, dass ihr eine Lösung für euer Problem finden werdet.« Er arbeitete als Produktmanager bei einer großen Firma in Narbonne. Problemlösungen waren sozusagen sein Spezialgebiet.

    Nachdem Charlène ihre Melone aufgegessen hatte, wischte sie sich mit einem feuchten Tuch, das ihre Mutter ihr reichte, über die verklebten Lippen. Immer wieder wanderte ihr Blick zum Sandkasten. Sie kniff die Augen zusammen, als ob sie abwägen wollte, wo genau sich die Komplikation in ihrem Bauwerk befand.

    »Charlène, komm«, forderte Aurélie ihre Schwester auf und fasste erneut nach ihrer Hand.

    Doch Charlène drehte sich weg und schüttelte nur stumm den Kopf.

    »Komm«, wiederholte Aurélie bestimmter und trat einen Schritt um ihre Schwester herum, um ihr wieder ins Gesicht sehen zu können. »Wir bekommen das hin.«

    »Ich habe keine Lust mehr.«

    Aurélie ließ die Schultern hängen, sah hilflos erst zu ihrer Mutter, dann zu ihrem Vater, bevor sie sich umdrehte und ohne ein weiteres Wort allein zum Sandkasten zurückrannte.

    Unschlüssig stand Charlène vor der Bank und schien nicht zu wissen, wie sie sich nun verhalten sollte.

    »Setz dich«, schlug ihre Mutter vor und legte die flache Hand neben sich auf die Sitzfläche.

    Das Mädchen schob seine Unterlippe vor und reagierte nicht. Minutenlang blieb sie reglos stehen, die Arme vor dem Oberkörper gekreuzt. Ihre Eltern wechselten stumme Blicke miteinander, sprachen sie aber nicht an.

    Abrupt drehte sich Charlène schließlich um und schlenderte zur Rutsche.

    Von Aurélie neugierig beobachtet, kletterte sie in Windeseile die Leiter nach oben und rutschte nach unten. Ohne zu zögern, rannte sie erneut zur Leiter und hastete ein weiteres Mal nach oben, als sei der Teufel hinter ihr her.

    Aurélie ließ ihre Schaufel sinken und schien abzuwägen, ob sie sich ihrer Schwester anschließen oder an ihrem ursprünglichen Projekt festhalten sollte.

    Nachdem Charlène weitere Male gerutscht war, traf ihre Schwester eine Entscheidung. »Warte auf mich. Wir rutschen zusammen!« Achtlos ließ sie die Schaufel in den Sand fallen und rannte zu Charlène.

    Diese verzog ihren Mund, wartete aber, nachdem sie die Leiter ein weiteres Mal erklommen hatte, bis ihre Schwester ebenfalls oben ankam. »Halt dich an mir fest.« Sie nahm die Hände ihrer Schwester und zog sie enger an ihren Bauch. Zusammen rutschten die Mädchen unter lautem Geheul nach unten.

    Ihre Eltern sahen dem Vergnügen zu und lachten.

    Eine Viertelstunde später verließen die Mädchen die Rutsche und steuerten gemeinsam auf das Klettergerüst zu. Entschlossen griff Charlène nach den Stangen und stieg das Spielgerät hinauf. Aurélie überlegte nur für den Bruchteil einer Sekunde und tat es ihrer Schwester dann gleich. Oben angekommen begannen die beiden laut zu kichern und winkten den Eltern auf der Bank zu.

    »Wollen wir uns an den Griffen entlanghangeln?«, schlug Charlène vor und musterte Aurélie lächelnd.

    Diese betrachtete ehrfürchtig die Strecke, die bis zur anderen Seite führte. »Ich weiß nicht …«, gab sie zögernd zurück. »Was ist, wenn wir uns nicht halten können?«

    Charlène rümpfte die Nase. »Ach was, das schaffen wir locker. Wir sind doch keine Babys mehr.«

    Ihre Schwester schien noch immer nicht überzeugt von dem Vorschlag.

    »Na los. Du zuerst, ich komme dann hinter dir«, drängte Charlène weiter.

    Aufmerksam beobachteten die Eltern von ihrer Warte aus, was ihre Töchter auf dem Klettergerüst vorhatten.

    Noch immer stand Aurélie auf der kleinen Plattform des Spielgeräts und schien sich unsicher zu sein, wie sie sich verhalten sollte. Die Griffe befanden sich knapp drei Meter über dem Boden. Aurélie war einen Meter zwölf groß. Das waren fast zwei Meter Differenz. Das Mädchen hatte Angst vor der enormen Höhe.

    »Na, mach schon«, raunte Charlène hinter ihr. »Wir bekommen das hin. Mama und Papa sind doch auch da. Was soll denn passieren?«

    Aufgeregt fuhr sich Aurélie über den Mund. Ihr kleines Herz klopfte wild, als sie nach dem ersten Griff fasste.

    Nein, selbst ein aufmerksamer Zuschauer hätte die sich anbahnende Tragödie an diesem Tag nicht erkennen können.

    1

    Zweiundzwanzig Jahre später

    Als Aurélie das Café am Canal de la Robine in Narbonne betrat, saß ihre Schwester bereits in der hinteren rechten Ecke an einem kleinen runden Tisch. Aurélie hatte nicht viel Zeit, sie musste in knapp fünfundvierzig Minuten wieder in der Schule sein, da sie ihrer zehnten Klasse heute das Wirken Claude Monets nahebringen wollte.

    Als Charlène vor einer halben Stunde angerufen hatte und um ein dringendes Treffen bat, hatte Aurélie erst abgelehnt. Doch dem flehenden Tonfall ihrer Zwillingsschwester konnte sich Aurélie auch im größten Stress nicht widersetzen. Wieder einmal hatte sie sich also breitschlagen lassen und dem Treffen schließlich zugestimmt. Sie fragte sich zum wiederholten Mal, was es so Wichtiges zu bereden gab.

    Charlène erhob sich, als sie Aurélie entdeckte, und winkte. »Bonjour, Süße!«

    Sie umarmten sich und küssten sich auf die Wangen.

    »Du machst es spannend«, bemerkte Aurélie, während sie sich setzte. »Ich habe dir gesagt, dass ich …«

    »… keine Zeit habe«, fiel Charlène ihr sanft ins Wort. »Ich weiß. Und ich werde mich beeilen. Versprochen.« Sie fasste nach Aurélies linker Hand und drückte sie. »Danke, dass du gekommen bist«, raunte sie verschwörerisch.

    Aurélie verdrehte die Augen.

    In dem Moment brachte ihnen die Kellnerin zwei Kaffee.

    »Ich war so frei«, erklärte Charlène grinsend. »Da du es eilig hast.«

    »Danke«, erwiderte Aurélie aufrichtig und führte die Tasse an ihre Lippen.

    »Nicht dafür.« Charlène lehnte sich zurück und musterte Aurélie eingehend.

    »Was ist?«

    Charlène nickte vieldeutig. »Es klappt.«

    Aurélie verstand kein Wort. »Was meinst du?«

    Charlène deutete auf ihr Haar. »Unsere Frisuren …«

    In Aurélie wuchs die Ungeduld. »Liebstes Schwesterherz«, setzte sie an und verzog ihre Mundwinkel, »wärst du so gnädig und würdest bitte Klartext mit mir sprechen?«

    Zwei junge Männer in schwarzen Anzügen setzten sich an den Nebentisch.

    Aurélie sah sie nur für den Bruchteil einer Sekunde an, bevor sie sich wieder ihrer Schwester zuwandte.

    Charlène räusperte sich und beugte sich dann über den Tisch. »Ich benötige deine Hilfe«, flüsterte sie.

    Aurélie betrachtete die gleichmäßigen Gesichtszüge ihrer Schwester. Unter den braunen Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet. Kleine Trockenheitsfältchen schienen sich seit ihrem letzten Treffen vor zwei Wochen vertieft zu haben, wenn das überhaupt möglich war. Charlène sah müde und ausgelaugt aus.

    »Klartext«, wiederholte Aurélie ihre Bitte.

    Charlène seufzte theatralisch und rollte mit den Augen. »Bastien.«

    Aurélie erstarrte innerlich und hoffte sogleich, dass ihre Schwester nicht erneut von ihr verlangen würde, was sie auf keinen Fall nochmals tun konnte. Sie schluckte und bemühte sich um eine unbeteiligte Miene.

    »Was genau meinst du?«, gab sie sich ahnungslos.

    Charlène lächelte sie wissend an. »Ach komm, Aurélie, du weißt, was ich meine.«

    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Charlène. Das mache ich nicht mehr. Das ist … unfair und kindisch. Wir sind keine Teenager mehr. Damals war ein Rollentausch witzig, vor allem, weil es niemand merkte. Aber Bastien …« Sie schnaufte. »Er ist dein Mann, Charlène! Überleg mal. Wenn er merkt, dass wir …«

    Charlène sah sie eindringlich an. »Hat er es beim letzten Mal gemerkt?«

    Aurélie fühlte sich unter dem Blick ihrer Schwester plötzlich verletzlich und angreifbar. »Nein.«

    Charlène hob die Schultern. »Na, siehst du!«

    Aurélie schüttelte den Kopf. »Das meinte ich nicht. Nein, ich werde es nicht tun.«

    Ihre Schwester stöhnte leise auf und sah entschuldigend zu ihren nächsten Tischnachbarn. »Aurélie, es ist wirklich wichtig! Ich würde dich nicht um einen so großen Gefallen bitten, wenn ich eine … andere Alternative hätte.«

    Aurélie wusste, dass sie sich kein weiteres Mal auf dieses Spiel einlassen durfte. Nur zu deutlich war ihr noch im Gedächtnis, wie das letzte Mal verlaufen war.

    »Aurélie, Bastien und ich …« Charlène fuhr sich durch das dichte Haar. »Er flippt aus, wenn ich heute Abend schon wieder …«

    »Heute Abend?«, entfuhr es Aurélie panisch. »Das geht nicht. Das ist … viel zu kurzfristig. Ich … Ich habe …«

    »Was? Was hast du? Hast du ein Date mit Jules?«

    Aurélie schloss kurz die Augen.

    Die Sache mit Jules musste sie unbedingt beenden. Sie liebte ihn nicht, zumindest nicht so, wie er es verdient hätte. Und seit Februar … Sie wusste, dass sie ihm niemals das geben konnte, was er gern von ihr hätte. Und ihr war ebenso klar, dass Jules ihre Beziehung in einem ganz anderen Licht sah als sie. Er wollte Kinder, wollte heiraten. Auch Aurélie hatte ähnliche Pläne gehabt, doch Jules war nicht der Mann, mit dem sie sich deren Umsetzung vorstellen konnte.

    »Hat es dir die Sprache verschlagen?«, drangen Charlènes Worte wieder zu ihr durch.

    Aurélie fasste sich an die Kehle und schüttelte erneut den Kopf. »Nein, ich treffe mich nicht mit Jules. Aber …«

    Charlène klatschte in die Hände. »Dann passt ja alles.« Sie kramte in ihrer Tasche, bis sie ihr Handy fand, kurz hervorzog und aufs Display sah. »Am besten bist du um kurz nach sieben bei uns. Bastien hat noch einen Termin und kommt etwas später. Er wird uns also nicht in die Quere kommen.«

    »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«, gab Aurélie zurück und bemühte sich, ihren Ärger nicht allzu deutlich zu zeigen. »Ich werde das nicht tun. Es ist nicht in Ordnung.«

    Charlène seufzte schwer. »Du musst mir helfen, Schwesterherz. Du musst einfach. Ich habe einen superwichtigen Termin heute Abend, den kann ich auf keinen Fall absagen.«

    Aurélie konnte es nicht glauben. Hörte Charlène ihr überhaupt zu? Was war nur mit ihrer Schwester los? Und mit Bastien? »Ich verstehe das Problem nicht. Erzähl ihm doch einfach, dass du einen Termin hast.«

    Charlène wackelte mit dem Kopf. »Es ist gerade etwas schwierig mit uns. Bastien ist der Ansicht, ich arbeite zu viel … Du weißt doch, wie er ist …«

    Ja, Aurélie wusste nur zu genau, wie Charlènes Mann war. Und genau deswegen konnte sie sich absolut nicht vorstellen, dass er kein Verständnis für einen Interviewtermin seiner Frau aufbringen würde.

    »Du bist Journalistin! Bastien ist sich darüber im Klaren, dass du keine Arbeitszeiten von acht bis fünf hast. Er hat doch auch öfter Abendtermine.«

    Charlène zog eine Grimasse. »Er führt ja auch eine Immobilienfirma. Das ist in seinen Augen etwas ganz anderes.«

    »Ihr solltet dringend miteinander reden«, wagte Aurélie sich auf vermintes Gelände.

    Wie erwartet verzog ihre Schwester missbilligend das Gesicht. »Das sollten du und Jules auch.«

    »Aber ihm spiele ich zumindest kein Schmierentheater vor«, patzte Aurélie zurück.

    »Lass uns nicht streiten. Bitte«, schlug Charlène sofort einen versöhnlicheren Ton an.

    Aurélie nickte.

    »Also?«

    »Also was?«

    »Kann ich auf deine Unterstützung zählen?«

    »Charlène …«

    »Danke, Süße.« Charlènes Gesicht nahm einen zufriedenen Ausdruck an.

    Aurélie rang um Fassung. Wieso schaffte ihre Schwester es jedes Mal wieder, sie zu überreden? Und wie sollte sie den Abend bloß unbeschadet überstehen?

    »Das ist das letzte Mal!«, erklärte sie mit Nachdruck. »Das allerletzte Mal!«

    Charlène nickte grinsend und hob eine Hand. »Versprochen. Hoch und heilig!«

    2

    »Was ist das Typische an Monets ›Frau mit Sonnenschirm‹?«, wollte Aurélie von Yvonne, ihrer besten Schülerin, wissen.

    Die Jugendliche betrachtete das an die Wand projizierte Bild und legte den Kopf schief. »Die Gesichtszüge der Frau sind verschwommen, wässrig«, setzte sie an. »Er benutzt nur wenige Farben und …«

    Aurélies Gedanken schweiften ab. Warum hatte sie sich nur auf diesen hirnrissigen Vorschlag ihrer Schwester eingelassen? Wenn sie nur daran dachte, was ihr heute Abend bevorstand, schoss ihr Puls schon in die Höhe. Wenn Bastien je herausfände …

    »Madame Garnier?«

    Yvonnes Stimme riss Aurélie aus ihren Überlegungen. Sie spürte die Blicke der Schüler auf sich. Mist! Sie räusperte sich. »Kannst du noch etwas mehr zu Monets Maltechnik sagen?«

    Yvonne kniff die Augen zusammen. »Ich hatte Sie gerade gefragt, ob das zweite Bild, das er mit diesem Motiv gemalt hat, in direktem Zusammenhang mit diesem hier steht? Ob die Frau ihm etwas bedeutet hat?«

    Aurélie schluckte und versuchte sich zusammenzureißen. Verdammt, Charlène! Ihre Schwester hatte sie durch ihre kurzfristige Planung derart aus dem Konzept gebracht, dass sie sich kaum auf ihren Unterricht konzentrieren konnte.

    Als zwei Sekunden später die Schulglocke läutete, atmete Aurélie erleichtert aus. »Richtig. Ich gehe Anfang der nächsten Stunde noch mal auf deine Frage ein, einverstanden, Yvonne?« Sie warf der Schülerin einen freundlichen Blick zu. »Monet wird uns eh noch einige Stunden lang beschäftigen, sodass wir auch genügend Zeit haben werden, um uns mit seinem Privatleben zu beschäftigen.«

    Yvonne nickte und wandte sich dann an ihre Tischnachbarin.

    Aurélie räumte ihre Unterlagen zusammen, schaltete den Beamer aus und wartete, bis die Klasse vollständig den Raum verlassen hatte. Da es ihre letzte Stunde für heute war, schloss sie den Kunstraum hinter sich ab und machte sich auf den Weg Richtung Lehrerzimmer.

    Auf dem Flur begegnete sie Carole Dumiers, die an der Schule als Mathematik- und Geschichtslehrerin arbeitete. Carole war vier Jahre älter als Aurélie, verheiratet und im fünften Monat schwanger. Aurélie und Carole hatten sich auf Anhieb verstanden, als sie sich vor drei Jahren als Kolleginnen kennenlernten. Seitdem war zwischen ihnen eine gute Freundschaft entstanden, die Aurélie sehr schätzte und nicht mehr missen wollte.

    »Na, was machen die angehenden van Goghs und Gauguins der Neuzeit?«, fragte Carole grinsend.

    Aurélie lachte. »In der Zehnten gibt es tatsächlich einige vielversprechende Talente.«

    »Wenn ich das nur auch mal von meinen jungen Mathegenies sagen könnte«, seufzte Carole, verzog dann aber gutmütig ihr Gesicht. »Wie sieht es bei dir heute Abend aus? Wollen wir zusammen essen gehen? Paul hat ein Arbeitstreffen. Und ich hätte mal wieder Lust auf den leckeren Taiwanesen.«

    Aurélie schüttelte den Kopf. »Heute geht es leider nicht.«

    »Uh, triffst du dich noch immer mit Jules? Ich dachte, du wolltest die Sache beenden?«

    Aurélie blieb stehen und blies die Wangen auf. »Meine Schwester braucht mich.« Sie konnte Carole kaum von ihrem aberwitzigen Vorhaben berichten. »Aber Jules …«, fuhr sie fort und schnaufte schwer. »Ich muss wirklich dringend mit ihm reden.«

    »So schlimm?«, hakte Carole nach, während sie Aurélie behutsam zur Seite schob, da eine Gruppe Schüler an ihnen vorbeidrängte.

    Aurélie sah sich um. »Es geht einfach nicht mehr. Am Anfang dachte ich wirklich, das mit uns könne etwas Ernsthaftes werden. Jules ist so unheimlich nett, zuvorkommend … Er ist intelligent, hat ein riesiges Allgemeinwissen.«

    »Außerdem sieht er umwerfend aus«, merkte Carole an und grinste erneut. »Diesen Aspekt solltest du nicht unterschlagen. Schließlich benötigen wir unsere Männer nicht nur für unsere Fortbildung und unseren Intellekt.« Sie lachte.

    Aurélie stöhnte. »Du hast gut reden. Du bist ja mit deinem Traummann verheiratet.«

    Carole berührte sie am Oberarm. »Der Richtige kommt schon noch, Aurélie. Du bist jung. Wer weiß? Vielleicht triffst du ihn schon heute Abend im Supermarkt.«

    Im Supermarkt wohl eher nicht, widersprach Aurélie stumm, verkniff sich aber diesbezüglich jedwede Erwiderung. Sie wollte jetzt nicht über ihr katastrophales Liebesleben nachdenken und schon gar nicht darüber reden. »Lass uns einen anderen Termin finden, einverstanden?«, wechselte sie daher zu einem unverfänglichen Thema.

    »Ich schaue mal auf meinem Kalender«, gab Carole zurück und schenkte ihr noch ein aufmunterndes Nicken. »Lass den Kopf nicht hängen, Aurélie. Ich muss weiter. Meine Elfte wartet. Die können es gar nicht abwarten, sich erneut ausgiebig mit Vektorrechnungen zu beschäftigen.«

    Aurélie verdrehte die Augen. »Bin ich froh, dass ich diese Zeit hinter mir habe. Vektorrechnung! Pah! Das sind Themen, die die Welt echt braucht.« Sie lachte.

    Auch Carole stimmte in das Gelächter ein und verabschiedete sich dann von ihr.

    Die Schulklingel ertönte und kündigte die nächste Stunde an. Doch Aurélie hatte Feierabend. Als sie das Lehrerzimmer betrat, war dieses leer. Sie steuerte ihren Schreibtisch an und warf einen Blick auf den Kalender, der neben ihrem Laptop lag. Wieder wanderten ihre Gedanken zu Jules.

    Sie hatte den Investmentbanker vor einem knappen Jahr bei einer kleinen Feier einer entfernten Bekannten kennengelernt. Jules Dupois war wie Aurélie allein zu der Einladung erschienen, und so waren sie recht schnell ins Gespräch gekommen, da die restlichen Gäste ausnahmslos aus Pärchen bestanden. Jules war an jenem Abend witzig und charmant gewesen. Mit seinem dunklen Haar und den hellen Augen zog er nicht nur Aurélies Blicke immer wieder auf sich. Nachdem sie den kompletten Abend miteinander verbracht hatten und problemlos von einem Gesprächsthema zum nächsten wechselten, war seine Frage, ob sie sich wiedersehen würden, fast überflüssig. Aurélie hatte selten einen Mann getroffen, der so aufmerksam und zuvorkommend war wie Jules. Immer wieder brachte er ihr ein Buch mit, über das sie kurz davor gesprochen hatten. Oder er schenkte ihr eine Postkarte mit einem besonders hübschen Kunstdruck. Oft begleitete er sie zu Vernissagen junger Künstler, von denen sie ihm im Vorfeld vorgeschwärmt hatte. Es hatte keine zwei Wochen gedauert, bis sie ein Paar waren. Drei Tage später war sie mit ihm im Bett gelandet. Und obwohl Jules auch in dieser Hinsicht ein wahrer Glücksgriff war, brannte die Flamme der Begeisterung in Aurélies Innerem nach wie vor nur lauwarm. Jules war toll. Er war respektvoll, charmant, hatte Humor. Und doch …

    Der letzte Funke, der Aurélie zum Brennen bringen sollte, fehlte. Monatelang hatte sie versucht, diese Tatsache zu verdrängen. Hatte sich wieder und wieder gefragt, was mit ihr nicht stimmte, dass sie Jules nicht das geben konnte, was in ihr schlummerte. Seit einigen Monaten wusste sie hingegen, was fehlte. Sie liebte ihn nicht. Nach wie vor schaffte sie es einfach nicht, sich auf einen Mann einzulassen. Mit Haut und Haaren, mit ihrer Seele und ihrem Herzen. Mit jeder einzelnen kleinen Zelle ihres Körpers.

    Es lag nicht an Jules, es lag an Aurélie. Sie war das Problem und niemand sonst. Und sie musste endlich den Mut aufbringen, Jules die Wahrheit zu sagen. Er hatte so viel zu bieten. Jede andere Frau würde sich glücklich schätzen, einen Mann wie ihn an ihrer Seite zu wissen. Doch solange Aurélie ihm vormachte, dass mehr aus ihrer Beziehung werden konnte, nahm sie ihm die Möglichkeit, die Frau zu finden, die ihm all das geben konnte, wozu Aurélie nicht in der Lage war. Selbst wenn es wehtun würde, wieder allein zu sein, musste sie jetzt stark bleiben. Auch sich tat sie keinen Gefallen, an einer Beziehung festzuhalten, die früher oder später zum Scheitern verurteilt war. Wenn sie den heutigen Abend überstanden hatte, musste sie mit Jules reden. Wahrscheinlich fiel er aus allen Wolken, da er wohl kaum nachvollziehen konnte, was mit Aurélie nicht stimmte, aber irgendwann würde er ihr dankbar sein, dass sie ihn freigegeben hatte.

    Und vielleicht … ja, ganz vielleicht gab es möglicherweise noch eine klitzekleine Chance, dass auch Aurélie eines Tages ihr eigenes Liebesglück fand.

    3

    »Monsieur Richaud, Ihr Konzept klingt genial«, erklärte Thomas Bordet mit Begeisterung in der Stimme, nachdem Bastien dem Investor sein neuestes Bauprojekt in allen Details vorgestellt hatte. »Es spricht rüstige Rentner genauso an wie Senioren, die teilweise auf Hilfe angewiesen sind.«

    »Und diese beiden Gruppen zusammen unterzubringen, war der ursprüngliche Ansatz«, fügte Bastien hinzu. »Das Grundstück am Ortsausgang von Narbonne liegt verkehrstechnisch perfekt. Eine angemessene Anzahl von Parkplätzen wäre auch überhaupt kein Problem.« Er schob Bordet das Exposé zu, das seine Assistentin Sylvie in den letzten Tagen erstellt hatte.

    »Und Sie sind sich sicher, dass Sie das Grundstück für den genannten Preis erwerben können?«, hakte Bordet nach.

    Bastien nickte und erhob sich von seinem Platz. Während der Investor das Exposé durchblätterte, trat Bastien ans Fenster und sah ins Freie. Auf der Strandpromenade von Gruissan, die sich in etwa dreißig Meter Entfernung befand, war reger Fußgängerverkehr. Es war ein heißer Junitag, viele Leute waren auf dem Weg zum Strand. Die ersten Touristen, die nicht an die Ferien gebunden waren, bevölkerten seit drei Wochen den kleinen Ort am Mittelmeer, in dem Bastien aufgewachsen war und nach wie vor lebte. Schon sein Vater hatte sein erstes Architekturbüro in Gruissan eröffnet, Bastien war nach seinem Studium vor vier Jahren Teilhaber geworden und hatte ihr Aufgabengebiet kontinuierlich fortgeführt und erweitert. Mittlerweile war das Planen und Konzipieren neuer Häuser, die ursprüngliche Domäne von Bastiens Vater, nur noch ein Teilbereich unter all ihren Aufträgen. Philippe Richaud führte seit Bastiens Einstieg in die Firma das Büro in Narbonne, während Bastien zwischen Gruissan und Narbonne pendelte. Gegen Abend hatte er im Nachbarort noch einen wichtigen Termin mit seinem Vater und zwei interessierten Bauträgern, die die Gestaltung einer Ferienhaussiedlung bei ihnen angefragt hatten. Bis zum Nachmittag würde er heute aber zu Hause arbeiten.

    »Was meinen Sie?« Er drehte sich um und betrachtete den übergewichtigen Bauinvestor. Schweiß lief dem dunkelhaarigen Mann über die Stirn. An den Achseln seines weißen Hemds hatten sich dunkle Flecken gebildet. Bastien machte ein paar Schritte Richtung Tür und stellte die Klimaanlage zwei Grad kühler.

    »Phänomenal, Richaud! Einfach klasse«, wiederholte Bordet und sah auf. »Damit werden wir eine Zeitenwende im Bereich der Seniorenbetreuung einleiten.«

    »Freut mich, dass es Ihnen gefällt.«

    Bordet erhob sich schwerfällig und stellte sich neben Bastien. Ein unangenehmer Geruch stieg Bastien in die Nase, doch er verzog keine Miene. »Sie sind ein Mann mit Visionen. Ich habe vor fünfzehn Jahren mit Ihrem Vater das Haus meiner Schwiegereltern geplant.« Er nickte nachdrücklich. »Sie sind bis heute hochzufrieden. Aber Sie …« Er zeigte zum Fenster hinaus. »Sie haben einen ganz anderen Weitblick.« Er lachte. »Kein Wunder, bei diesem Ausblick.«

    »Der Blick aufs Meer inspiriert mich tatsächlich«, gab Bastien zurück. »Meine Eltern haben ein Haus in der Altstadt, aber mein Traum war es immer, so nah wie möglich am Wasser zu leben.«

    »Und Sie haben sich Ihren Traum erfüllt.«

    Bastien zuckte mit den Schultern. »Dafür sind Träume doch da, oder nicht?«

    »Ich sage es ja, Sie sind ein Mann mit Visionen. Sie lassen sich nicht von Ihrem Weg abbringen«, schmierte Bordet ihm weiter Honig um den Mund. »Und dieses Projekt …«, er zeigte auf das Exposé, das noch immer auf dem Tisch lag, »… das wird Ihnen unzählige Folgeaufträge bescheren.«

    Nachdem sie die weitere Vorgehensweise besprochen hatten, verabschiedete sich der Bauinvestor von Bastien und verließ das Büro.

    Keine zwei Minuten später klopfte es an der Tür.

    »Ja?«

    »Puh, hier riecht es ja genauso eklig.« Seine Assistentin trat ins Zimmer und rümpfte die Nase.

    Bastien schaltete die Klimaanlage aus und riss das Fenster auf.

    »Wie ist es gelaufen?«

    »Ich denke, er hat angebissen«, erwiderte Bastien und räumte die Unterlagen auf dem Besprechungstisch zusammen. »Gute Arbeit, Sylvie. Wirklich. Bordet war sehr angetan von dem Exposé.«

    »Das ich auf deine Anweisung hin erstellt habe.« Sie lächelte schwach.

    »Was steht heute noch an?«, wollte er von ihr wissen, als er ihr die Akten in die Hand drückte.

    »In einer Stunde kommt Moret wegen der Pläne für das Schwimmbad. Und um drei hast du einen Termin mit dem Ehepaar Takahashi. Sie möchten ein altes Haus in Béziers kaufen und suchen einen Architekten, der für sie die Umbaumaßnahmen plant.«

    »Takahashi?«, wiederholte Bastien.

    »Japaner«, sagte Sylvie. »Aus der IT-Branche.«

    »Interessant. Sprechen sie Französisch?«

    Bastiens Assistentin verzog ihre Mundwinkel. »Mehr schlecht als recht. Ich habe Englisch mit ihnen gesprochen.«

    »Okay. Und heute Abend habe ich den Termin mit meinem Vater in Narbonne«, überlegte Bastien laut.

    »Brauchst du mich dafür?«

    Bastien schüttelte den Kopf. »Nein, du kannst ganz regulär Feierabend machen. Es ist ein erstes Gespräch, und ich habe keine Ahnung, ob wir überhaupt ins Geschäft kommen.«

    »Gut.« Sylvie deutete zur Tür. »Dann lass ich dich mal wieder weiterarbeiten. Bitte unterschreibe die drei Briefe noch.« Sie drückte ihm ihre rote Unterschriftenmappe in die Hand.

    Er nickte, und sie verließ sein Büro, das gleichzeitig auch als Besprechungsraum für seine Kunden diente.

    Die Firma brummte. Sie konnten sich vor Aufträgen kaum retten. Vor einigen Jahren hätte niemand für möglich gehalten, dass die Baubranche noch einmal derartig boomen würde. Doch die gesamte Wirtschaftssituation veranlasste immer mehr Menschen, in Immobilien zu investieren, im kleinen genauso wie im großen Stil.

    Während Bastien zwei Jugendliche auf dem Weg am Meer beobachtete, die mit ihren Skateboards im Slalom langsam an den anderen Passanten vorbeikurvten, musste er an den Streit mit Charlène denken. Um was war es überhaupt gegangen? Er konnte sich schon gar nicht mehr erinnern. Warum gerieten sie in letzter Zeit nur ständig aneinander? Egal, was er sagte, Charlène hatte an allem etwas auszusetzen.

    Er schloss die Augen und wandte sich vom Fenster ab. Gut, vielleicht war er momentan auch nicht gerade in der besten Stimmung, doch er bemühte sich immer wieder, die Situation zwischen ihnen zu deeskalieren. Charlène hingegen schien mehr und mehr in ihrer völlig eigenen Welt zu versinken. Oft hatte er das Gefühl, dass sie ihn gar nicht wirklich wahrnahm, ja, dass sie regelrecht genervt von seiner Anwesenheit war. Er dachte an den Anfang ihrer Beziehung zurück. Es waren ihre überschäumende Energie, ihre unbändige Begeisterungsfähigkeit und ihre unverschämt sexy Art gewesen, die ihn in ihren Bann gezogen hatten. Selten zuvor war ihm eine Frau begegnet, die so viel Selbstbewusstsein und Stärke ausstrahlte.

    Seufzend ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Von Energie und Begeisterungsfähigkeit spürte er kaum noch etwas. Wenn Charlène nicht in der Redaktion arbeitete, zog sie sich in ihr häusliches Büro zurück und verbrachte Stunden an ihrem Laptop.

    Bastien legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Seit wann brannte das Feuer zwischen ihnen nicht mehr heiß und leidenschaftlich? Sehr lange schon, musste er notgedrungen zugeben. Zu lange, um das zu retten, was zwischen ihnen noch existierte? Doch was genau war das? Bastien war klar, dass sie dringend miteinander reden mussten. In den letzten Wochen hatte er mehrmals versucht, an Charlène heranzukommen, doch sie hatte ihn immer wieder aus fadenscheinigen Gründen abgewiesen. Zu viel zu tun, ein dringender Termin, eine wichtige Verabredung, die sie nicht verschieben konnte, Kopfschmerzen … Ihre Liste an Ausflüchten kannte kein Ende. Wollte sie nicht mit ihm reden? Empfand sie die Situation nicht als genauso belastend wie er? Sie waren seit drei Jahren verheiratet. Keine so lange Zeit, als dass die Glut des Verliebtseins schon komplett abgekühlt sein konnte, oder?

    Bastien strich sich durchs Haar und überlegte. Was war nur mit ihnen geschehen? Warum hatten sie sich derart entfremdet? Er konnte keinen genauen Zeitpunkt benennen, an dem die Beziehung gekippt war. Vielmehr hatte sich ihr Zusammenleben schleichend zu einem Nebeneinanderher entwickelt.

    Die Erkenntnis traf ihn schwer. Er war dreiunddreißig. Zu jung, um den Rest seines Lebens eine abgekühlte Beziehung aufrechtzuerhalten. Als sie sich kennenlernten, hatten sie von Kindern gesprochen, hatten große Reisepläne geschmiedet. Beides konnte er sich in der derzeitigen Situation kaum mehr vorstellen. Er musste etwas ändern. In den nächsten Tagen würde er Charlène mit seinen Gedanken konfrontieren. Und er würde keine Ausreden ihrerseits gelten lassen. Die wichtigste Frage von allen musste sie ihm endlich beantworten. Die, ob sie ihn überhaupt noch liebte.

    4

    Aurélie sah in den Spiegel und betrachtete kritisch ihre leicht gebräunte Haut. Da sie momentan täglich stundenlang an ihrem neuesten Projekt, einer Lagunenlandschaft mit sehr viel kompliziertem Schilf und filigranen Flamingos, arbeitete, kam sie kaum an die Luft. Die Arbeit in der Schule und die Malerei in ihrem Atelier nahmen sie momentan vollends in Beschlag.

    Da Charlène noch nie eine Sonnenanbeterin gewesen war, kam Aurélies augenblickliche Stubenhockerei ihrem Rollentausch mehr als zugute. In anderen Sommern konnte man die Schwestern allein anhand ihrer Hautfarbe unterscheiden, weil sich Aurélie gern im Freien aufhielt, viel laufen und schwimmen ging und auch gern mal eine Relax-Stunde am Strand einlegte. In dem Fall hätte Bastien den Unterschied auf Anhieb bemerkt. Bastien!

    Aurélies Magen krampfte sich bei dem Gedanken an ihren Schwager schmerzhaft zusammen. Seit Februar, seit Charlène sie das erste Mal um diesen schwachsinnigen Gefallen gebeten hatte, war Aurélie ihm tunlichst aus dem Weg gegangen. Zweimal hatte Charlène sie zum gemeinsamen Abendessen in ihr Haus in Gruissan eingeladen, was Aurélie nicht hatte ablehnen können. Einmal hatte Jules sie begleitet, beim zweiten Mal war er kurzfristig verhindert gewesen, und Aurélie hatte sich allein in die Höhle des Löwen begeben müssen.

    Bastien jedoch hatte sie bei beiden Treffen genauso wie immer behandelt. Freundlich, aber distanziert. Er ahnte nichts, dessen war sich Aurélie sicher. Sie hingegen hatte es kaum geschafft, ihm in die Augen zu sehen, ohne an den verhängnisvollen Abend denken zu müssen.

    Verflucht, Charlène! Warum musste sie sie bloß erneut in diese unselige Situation bringen? Warum

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