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Der Mantel des Anderen
Der Mantel des Anderen
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eBook537 Seiten7 Stunden

Der Mantel des Anderen

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Über dieses E-Book

Der Autor erzählt in zwei Abschnitten die spannende, wie ergreifende Geschichte einer Familie und deren Umfeld in der DDR. Aus der Zeit vor der Wende bis in die Jahre nach 2010. Ein Offizier der Nationalen Volksarmee kann, als liebender Mann und Vater zweier kleiner Söhne, seiner Familie ein über der Norm privilegiertes Leben bieten. Die persönliche Unfreiheit, die endlosen Lügen und unerfüllbaren Versprechungen der führenden Köpfe in Partei und Staat frustrieren ihn so sehr, dass er einen folgenschweren Entschluss fasst. Die Konsequenzen dieses Entschlusses zerstören Ehe und Familie. Da für die wütenden Stasileute der Familienvater nicht mehr greifbar ist, toben sie sich an der Mutter der beiden Buben aus und entziehen ihr die Kinder. Es kommt zur Zwangsadoption in verschiedenen Familien. Nach drei Jahrzehnten führt das Schicksal die Jungen, als sie erwachsen und verheiratet sind, über weite Umwege wieder zueinander. In den spannenden Handlungssträngen spielen Länder wie Kuba, die USA, Afghanistan und Griechenland wesentliche Rollen. Bis das Schicksal auch die Sickingenstadt Landstuhl in Südwetdeutschland mit einbindet.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Okt. 2020
ISBN9783347127197
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    Buchvorschau

    Der Mantel des Anderen - Horst A. Mangasser

    Böses darf man nicht nur denen zur Last legen, die es tun, sondern auch denen, die es nicht verhindern, obwohl sie dazu in der Lage wären.

    Thukydides, Historiker aus Athen

    ERSTER ABSCHNITT

    KUBANISCHE NACHT 1980

    Nach elf Stunden leiteten die Piloten den Sinkflug ein. Weite Strände, Zuck7errohr- und Tabakplantagen, viele kleine Dörfer und Städte zogen, durch Fetzen weißer Wolken sichtbar geworden, unter der Maschine vorbei. Es war leicht auszumachen, welche Passagiere nur den Heimflug angetreten hatten oder wer sich Kuba zum ersten Mal näherte und mit gerecktem Kopf versuchte das Land aus den kleinen Fenstern zu taxieren. Als die Anschnallpflicht und aufrechte Sitze verlangt waren, setzte der russische Kapitän Kozlow die Maschine wenige Minuten später unsanft auf der Piste des internationalen Flughafens José Martí in Havanna auf. Das starke Rauschen des Umkehrschubs irritierte jene, die dies zum ersten Mal erlebten. Das Flugzeug rollte zur Parkposition. Wichtigtuer und Möchtegerne verließen ihre Sitze, bevor die Anschnallzeichen erloschen waren, und ernteten missachtende Blicke der Kabinencrew.

    Die Fluggäste traten über die herangefahrene Treppe hinaus auf die alte Betonfläche. Urlauber überraschte das ungewohnte tropischheiße Klima. Der Geheimdienst fotografierte, registrierte und kontrollierte sie. Die Einreise der siebenköpfigen Gruppe aus Ostberlin verlief etwas entspannter, die Männer waren angemeldet. Die Beamten prüften die Mitglieder des Kollektivs im klimatisierten Terminal Drei.

    Nach den Formalitäten hatten die Männer ihre Westen und Sakkos abgelegt. Es war nicht zu übersehen, dass die Reisebekleidung aus den besten Stücken kombiniert wurde, die in ihren Kleiderschränken zu finden gewesen waren. Ihre Kragen hatten sie weit geöffnet, die Kehlen waren ausgetrocknet und einige dachten darüber nach, dass es besser gewesen wäre, sich gegen Ende des Fluges ein kaltes Getränk bestellt zu haben. Frank Leonhard, leitender Ingenieur der Gruppe, sah sich unauffällig um. Seine Männer wollten so schnell als möglich an eine der Bars, die kühlende Getränke anboten. Ihr Bordgepäck hinter sich herziehend, strebten sie in verschiedene Richtungen. Er rief sie zurück.

    „Männer, bitte nicht zerstreuen, wir sollten hier zusammenbleiben. Im Hinblick darauf, dass wir nicht wissen, wann wir zum Flug nach Guantánamo aufgerufen werden."

    Nach der Ermahnung trotteten sie gemeinsam zur nächsten Bar, um ihren Durst zu stillen. Einige sah man auf dem Weg zum kühlenden Nass ihre in Ostberlin als Wegegeld erhaltenen Pesos sortieren. Frank schlenderte, dem Augenschein nach, vor der Bar hin und her und erweckte den Eindruck, als interessiere ihn die Konstruktion der Halle. Er sah sich suchend um, schaute durch die Verstrebungen des riesigen Gebäudes und durch die Scheiben, mit denen die Bereiche des Komplexes abgetrennt waren. Sein Freund Deron, den er bis zu diesem Tag so bezeichnet hatte, war nirgends zu entdecken. Hat Deron nicht stets so getan, als habe er alles im Griff, dachte Frank enttäuscht.

    Er fuhr sich mit der flachen Hand, in einer selbstberuhigenden Geste, mehrfach über den Nacken, um den Schweiß zu entfernen. Einen kleinen unbedeutenden Hinweis, während einer nicht verräterischen Begegnung, wollte er von Deron haben. Er selbst hatte sich schon eigene kleine und unauffällige Signale ausgedacht, mit denen er verständlich machen wollte, dass er bereit war. Dazu kam es in diesen Minuten nicht. Er ging zu seinem Team, fand am halbrunden Tresen eine Lücke und knöpfte das Hemd um einen Knopf weiter auf, bevor er sich ein Bier bestellte.

    Reihum sah er sich seine Kollegen an. Der Jüngste hatte erst vor einem Jahr sein Studium abgeschlossen. Großer Wissensdurst war trotz seines schüchternen Wesen immer Antrieb. Der Älteste mit zweiundfünfzig Jahren war ein erfahrener Fachmann im Maschinenbau und bekanntermaßen ein Schlitzohr. Frank schmunzelte, dachte über die Familiengeschichten der Kollegen nach und sah sich weiter unauffällig in der großen Halle um. Er zuckte, als er unerwartet an der linken Schulter gepackt wurde. Erschrocken drehte er sich und sah den Kollegen Tim Radtke vor sich. Radke hatte als Einziger seine Krawatte nicht gelockert. Als Maschinenbautechniker war er maßgeblich an der Fertigstellung der Anlage, die das Kollektiv installieren sollte, beteiligt.

    „Frank, begann er, als er die Irritation sah, „entschuldige, mir fiel eben eine Frage ein, die ich seit längerer Zeit mit mir herumtrage und die mir das Wälzen des Lexikons nicht beantwortet hat.

    „Tim, erwiderte er spontan, „es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten. Möchtest du nicht frische Luft auf deinen Luxuskörper lassen? Keiner hat etwas dagegen, du darfst die Krawatte ablegen. Ich vermute, unten im Süden ist es noch wärmer als hier. Wo drückt der Schuh, was interessiert dich?

    Tim Radke fummelte an seiner Krawatte, bis sie lose baumelte, zog die Augenbrauen hoch und sagte: „Ist nicht wichtig. Ich habe gelesen, dass man in den Tropen das sogenannte Kreuz des Südens sehen kann. Wir sind doch jetzt in den Tropen, oder?"

    „Nimmt man die Temperaturen als Maßstab, dann ja. Eigentlich hängt das nicht direkt oder ausschließlich mit den Tropen zusammen und hat nichts damit zu tun, dass du dieses Kreuz des Südens hier auf Kuba nicht sehen kannst. Die Geografie, besser die Erdkrümmung, erlaubt dir das nicht."

    „Außer den kurzen Urlauben in Bulgarien und Ungarn, war ich immer nur zu Hause, antwortete Tim. „Du weißt, mehr geht normal ja nicht. Zum ersten Mal ist dies eine weitere Reise.

    „Zunächst ist das Kreuz des Südens lediglich eine Ansammlung von Sternen, die ein Kreuz bilden. Wirklich gut kannst du das südlich des Äquators sehen. In Südamerika oder in der Südsee, schon in subtropischen Bereichen auf der anderen Seite der Erde."

    „Demnach macht es wenig Sinn am Abend den Himmel abzusuchen und jenseits des Äquators, sagte Radtke kopfschüttelnd, „das wird für uns ein Traum bleiben.

    „Das lohnt sich hier nicht wirklich, das Suchen am Himmel. Obwohl Sternegucken kann ja sehr beruhigend sein."

    „Danke und entschuldige, dass ich gestört habe. Es sah aus, als würdest du Ausschau halten, oder träumen."

    „Nein, wen sollte ich hier erwarten, ihr seid ja alle bei mir. Ich habe nur geträumt."

    Er wandte sich wieder seinem Bier zu. Während Radtke zur anderen Tresenecke ging, dachte er darüber nach, was das für eine Art Aktion gewesen sei. So dämlich ist der Radtke doch nicht, dass er das nicht weiß oder irgendwo nachlesen kann. Er bestellte sich ein weiteres Bier, während sie auf den Weiterflug warteten. Die Gruppe schlenderte nach der letzten Erfrischung durch die große Haupthalle. Der Aufruf zum Weiterflug in den Süden kam in deutscher Sprache.

    Sie wurden vom Vorfeldmanager über Terminal Eins hinausgeführt und zu einer älteren Iljuschin-Il-18 Turbopropmaschine der Cubana Air. Über die an der Maschine angedockte, vergammelte Treppe bat man sie an Bord. Nachdem der Dispatcher den Piloten die Papiere übergeben hatte, ging er nicht zum Ausgang, um die Maschine zu verlassen. Entgegen dem üblichen Verfahren lief er mit ernstem Gesichtsausdruck, die Passagiere musternd, in der Maschine bis zum Ende und zurück. Verdammt, Scheiße, dachte Frank, da läuft etwas schief. Als er kommentarlos das Flugzeug verließ, atmete er tief durch. Für ihn war klar, einer vom Geheimdienst, auf der Suche, aber nach was?

    Der Flug schien mit größeren Gruppen von Sportfans ausgebucht. In Havanna zeigten die lokalen Uhren vor vier und die der Kollegen, noch nicht umgestellt, die deutsche Zeit. In Berlin war es gegen zehn Uhr am Abend.

    Die Triebwerke heulten mehrfach mit höchstem Schub, bis die kubanischen Piloten die Turboprop beim Start so steil hochzogen, als übten sie in einem Kampfjet. Die ausländischen Passagiere erschraken. Zwei korpulentere Kubanerinnen schrien kurz auf. Frank hielt das für eine Frustmarotte der Piloten. Wie in den meisten sozialistischen Staaten, wurde die Cockpitcrew aus dem fliegenden Personal der Luftwaffe rekrutiert, sie unterstand dem Geheimdienst. Er selbst war als Oberst der NVA, seit einiger Zeit in zivil unterwegs und hatte Verständnis für die Piloten, die lieber mit ihren russischen Kampfmaschinen trainiert hätten. Nachdem die Reiseflughöhe erreicht war, stellte sich etwas Ruhe und entspannte Atmosphäre ein. In den Reihen der vielen Sportfans wurde palavert, mit Kompetenz geprahlt und mit absoluter Sicherheit die Ergebnisse irgendwelcher noch bevorstehender Wettkämpfe voraus gesagt.

    Der Kollege Ernst Hofmann, konnte mit dem ihm zugewiesenen Platz, nach seinem permanent freudigen Grinsen zu urteilen, das große Los gezogen haben. Frank hatte bei dem kurzen Treffen in Schönefeld beobachtet, dass die Verabschiedung von ihm und seiner achtzig Kilo schweren Frau, eine frostige Angelegenheit war. Nun saß Ernst Hoffmann auf einem Platz in der Mitte. Links und rechts neben ihm zwei gutaussehende Kubanerinnen. Er wusste zunächst nicht, mit welcher ihm die Unterhaltung, ohne Sprachkenntnisse, am fruchtbarsten erschien.

    Frank verließ mehrmals seinen Sitz, um in den hinteren Bereich der Maschine zu spazieren. Beobachtete kurz das Trio mit Ernst in der Mitte und sobald ihn die Blicke der Kollegen trafen oder Fragen aufkamen, begründete er den Gang damit, dass in seinem Magen etwas nicht in Ordnung sei und er sich bewegen müsse. Er hatte in der zweiten Reihe einen Platz und wollte, während er wandelte, mit den meisten Passagieren Blickkontakt. Immer in der Hoffnung, unter ihnen Deron zu entdecken. Um ihm zu zeigen, dass alles okay sei. Der Freund, der Kuba als seine Heimat ansah, musste alle Daten kennen, inklusive die Flugdaten. Er ging davon aus, dass er alles wusste. Inklusive der Details wie die Abflug- und Ankunftzeiten. Auch der Name des Hotels in Guantánamo müsste ihm bekannt sein.

    Unter den Passagieren konnte er ihn nicht entdecken. Die Fluggäste waren so mit sich, ihren Sitznachbarn und den Angehörigen beschäftigt, dass keiner seine zufällige Begegnung mit einem jüngeren Kubaner hätte verfolgen können. Der junge Mann war, wie Frank, langsam in das Heck der Maschine gegangen. Bei seinem dritten Versuch, weit hinten zwischen den letzten Sitzreihen, trafen sie zusammen. Sie standen sich nur kurz eng gegenüber. Der Kubaner drückte ihm unbemerkt ein klein gefaltetes Papier in die Hand. Sofort ließ er die Infos in der Hosentasche verschwinden. Zurück auf dem Platz kamen ihm erste Bedenken.

    Es ist unmöglich, dachte er, dass Deron, nur um mir und meiner Familie zu helfen, rein aus Freundschaft, diesen Aufwand betreibt. Wer trägt die Kosten? Was, verdammt, steckt dahinter? Dass es hier wie zu Hause in der DDR viele Gegner des Regimes gibt, ist bekannt. Wer, zum Teufel, finanziert Aktionen wie diese?

    Die Maschine flog über Santa Clara, Ciego de Avila und über die großen Plantagen, die überwiegend von Kooperativen bewirtschaftet wurden. Bis weit südöstlich von Las Tinas, nach den verbliebenen hundertdreißig Meilen, die schachbrettartig angelegte Stadt Guantánamo auftauchte. Nach einer ausholenden Warteschleife setzte die Maschine zur Landung an. An diesem tropisch-schwülen Tag war es Abend geworden. Im Gegensatz zum Gedränge und Geschiebe in der Hauptstadt verlief das Auschecken zügig und diszipliniert. Das in Berlin aufgegebene Gepäck kam relativ schnell, und zur Verwunderung der Passagiere, vollzählig aufs Band.

    Die Männer wurden in einem ungepflegten, nicht klimatisierten Kleinbus, in dem es stark nach vergammeltem Obst roch, zu ihrer Unterkunft gefahren. Dem eigentlichen Ziel, einem kleinen Hotel am Stadtrand, mit dem Namen Tortuga. Neben den letzten Häusern, vor riesigen Bananenplantagen lag das Haus an einer schmalen Seitenstraße. Ein von Säulen gehaltener Baldachin schirmte die geschwungene Treppe ab. Mit dem großen Eingangsportal hatten die Architekten versucht den Eindruck zu erwecken, als seien hier die wichtigsten Persönlichkeiten abgestiegen. In diesem kleinen Hotel mit neun Zimmern, die alle in der ersten Etage lagen.

    Die Räume waren über die staatliche Reiseagentur reserviert. Die Aufteilung für die Mitglieder des Berliner Kollektivs lag, mit den Namen, bei der Ankunft an der Rezeption vor. Das Haus strahlte schon im Eingangsbereich Gemütlichkeit aus. Die Einrichtungen waren in dunklem Mahagoni ausgeführt und schienen dem Stil nach aus den Dreißigerjahren zu stammen.

    „Es ist mir klar", rief Frank in die Gruppe, die mit den Zimmerschlüsseln in der Hand ratlos in der Hotelhalle stand, „dass es ein anstrengender Tag war, bis wir endlich hier ankamen. Wenn ihr euer Gepäck im Zimmer habt und die Kehle anfeuchten wollt, kommt bitte wieder herunter. Wir haben alle Hunger, das Essen wird vorbereitet. Zuvor sollten wir auf die gute Ankunft anstoßen. Ich gebe einen aus und was ist hier besser als ein Cuba-Libre*."

    Er wusste, dass der zu diesem Getränk benötigte Rum hervorragend ist und die Cola eine Nachahmung. Kubanische Führer vermieden die Originalmarke in dieser ehemaligen Coca-Cola-Stadt Havanna durch eine Lizenz aufzuwerten. Als die Kollegen an der Bar versammelt waren, bestellte er für jeden eine große Version des Getränks. Nach dem ersten Prost bot er eine weitere Runde an. Darauf musste verzichtet werden. Das flinke Personal hatte das Essen auf einem langen, schön dekorierten Tisch serviert. Hunger und Durst der Männer waren enorm und ihre Müdigkeit unübersehbar.

    In dem kleineren Industrieareal am südöstlichen Rand von Guantánamo sollten die wichtigsten Elemente der DDR-Anlage installiert und von den angereisten Technikern in Betrieb genommen werden. Das Gebiet lag an der Pedro-Perez-Straße und wurde von einem dauerhaft wasserführenden Fluss begrenzt, der die für den Betrieb notwendige Menge Wasser liefern sollte. Die Vorbereitungen waren aus Sicht des staatlichen Betreibers abgeschlossen.

    Alles in allem war dies wieder ein Kompensationsgeschäft zwischen Kuba und der DDR. Eine Vereinbarung unter dem Minister für die Nahrungsgüterwirtschaft und dem, der für Handel und die Versorgung zuständig war. Der Vertrag sah vor, dass der ganze Aufwand mit kubanischem Zucker zu verrechnen sei und keinesfalls gegen die unreifen und sauren Orangen, die den Menschen in Ostdeutschland manchmal an Weihnachten zugemutet wurden.

    Wie geplant begann der erste Tag der kollektiven Tätigkeit im Industriegebiet erst gegen zehn Uhr. Auf der Baustelle prüften sie bis zum Abend die Voraussetzungen für eine zügige Umsetzung des Auftrags. Sie kontrollierten das bereits vorhandene Material und die Vorarbeiten. Bei der Durchsicht der Bauteile mit Hilfe der umfangreichen Listen wurde festgestellt, dass ein wichtiges Teil im Hafen von Santiago vergessen worden war. Die Einhaltung des engen Zeitplans erschien schon an diesem ersten Tag fragwürdig.

    Gutgelaunt kehrten sie ins Hotel zurück. Nach einer Erfrischung und einem kühlen Bier kamen sie zum Abendessen im Hotelrestaurant zusammen. Die Küchencrew hatte größere Platten mit Hähnchenfleisch, Fisch und Malanga, einer stärkehaltigen Wurzelknolle, mit scharfen Chilisoßen auf den Tisch gebracht. An diesem Abend blieben die Männer lange zusammen und unterhielten sich mit der Unterstützung des Dolmetschers.

    Zwei Stunden nach dem Essen trieb es Frank ins Zimmer zum Telefon. Unschlüssig verbrachte er wenige Minuten am Fenster stehend. Nahm dann den Hörer ab und bat das Englisch sprechende Mädchen an der Rezeption um die Vermittlung einer Verbindung nach Ostberlin. In nervöser Sehnsucht hatte er seine Uhr abgenommen, hielt sie in der Hand und starrte auf den Minutenzeiger. Nach elf Minuten kam ein erlösendes Klingeln aus dem klebrigen Gehäuse. Hastig riss er den Hörer hoch. Bis die Verbindung stand, konnte er nur lang gezogene, quietschende Töne vernehmen. Nach weiteren Minuten gab es ein Klickgeräusch – wie üblich, hatten sich die Abhörer in der DDR eingeschaltet – Maren meldete sich.

    „Liebling, ich bin es. Wir sind gut angekommen. Wie geht es dir? Was machen die Kinder? Ist alles in Ordnung?"

    „Schatz, endlich meldest du dich. Zu viel Zeit ist seit unserem kurzen Gespräch aus Moskau vergangen. Ich habe große Sehnsucht. Es freut mich, dass ihr gut angekommen seid, und jetzt tut es gut dich zu hören."

    „Ja, es hat alles geklappt, der Anfang ist gemacht. Alle Kollegen sind gut gelaunt – und wie ist es bei dir?"

    „Alles bestens, sorge dich nicht. Wir ziehen das durch, wie schon oft und sind bald wieder zusammen."

    „Ich freue mich und hoffe auf ein gutes Ende. Die Wärme hier gefällt mir, die macht Lust auf Urlaub. Zuhause werden Reisen nach Kuba angeboten, mit Interflug von Schönefeld aus. Vielleicht sollten wir darauf sparen. Wie und was immer sein wird, ein gutes Ende ist in Sicht und es wird schön, oder?"

    „Es wird wunderbar, ich liebe dich und warte auf dich. Bleib, wie du bist, alles wird gut."

    „Natürlich, es läuft doch. Die Kubaner hatten uns in ein Terrassenrestaurant eingeladen. Das Hotel ist nur für uns, klein und sehr stilvoll. Im alten Kolonialstil aus den Dreißigerjahren. Ich gehe gleich wieder runter zu den Kollegen, die sitzen mit kubanischen Mitarbeitern beim Bier. Es ist schon Abend hier."

    „Gut, pass auf dich auf. Bis zum nächsten Gespräch."

    „Bis bald, Liebling, ich küsse und drücke dich und die Kinder. Ich umarme dich und – du weißt schon."

    „Natürlich, gute Nacht."

    Nachdem er aufgelegt hatte, blieb er sitzen, unschlüssig und unwillig, gleich wieder hinunter zu gehen. Dort wurde länderverständigende Gemütlichkeit geprobt, für die seine Laune in dieser Stunde nicht reichte.

    Im Grunde habe ich meine wunderbare Frau, die ich so sehr liebe, vor wenigen Minuten erneut belogen. Mein Schweigen ist so viel wie eine mit Worten formulierte Lüge. Wir hätten darüber reden müssen, zu Hause, auf einem freien Feld, ohne Zu- und Abhörer. Hätte sie die geplanten Möglichkeiten abgelehnt und mich bedrängt, es nicht zu tun, ihr Wunsch wäre mir wie ein Befehl gewesen. Ich kann es beenden und muss nicht weitermachen, mich darauf einzulassen. Was wird sein, wenn ich jetzt aussteige und einer in der Reihe dieser schon vorhandenen Mitwisser mich hinhängt?

    Am nächsten Morgen zeigte sich das Kollektiv nach der Ankunft auf der Baustelle und dem mañana des Vortags stark beeindruckt. Das fehlende Maschinenteil stand am richtigen Platz bereit.

    „Das überrascht mich. Weil ich überzeugt bin, dass die Mentalität der Kubaner das eigentlich gar nicht zulässt. Ein so großes Teil nachts über eine solche Entfernung sicher zu transportieren. Sehr gut, dass es ohne sichtbaren Schaden angekommen ist und unsere Arbeit nicht verzögert", erklärte er den Kollegen.

    Der Dolmetscher Jorge, der auf die richtige Aussprache Chorge großen Wert legte und als Tourguide angepriesen war, begleitete die Gruppe von Anfang an. Er hatte seit der Ankunft die Funktion eines Aufpassers und zog für einen Augenblick die Augenbrauen hoch. Er hielt Franks Einwurf, die Mentalität betreffend, nicht für sehr gelungen.

    Am Ende des ersten Aufbautages war der Zeitplan eingehalten. Durch das ungewohnte Klima sehr ermüdet, kehrten sie ins Hotel zurück. Sie freuten sich auf eine Dusche und einen entspannenden Abend mit kubanischen Kollegen. Für Frank Leonhard war der Anfang des Wegs in die kapitalistische Freiheit für den Abend dieses Tages geplant. Die Details kannte er nur für die ersten Minuten. Die Mitteilung, die er in der Maschine erhalten hatte, gab ihm das Datum und wenige Verhaltensregeln für die erste halbe Stunde nach dem Verlassen des Hotels vor.

    Zwei Jahre waren vergangen, in denen er mit Deron auf eine Möglichkeit gewartet hatte. Er konnte sich beim besten Willen den Ablauf nicht vorstellen. Absolute Geheimhaltung hatten sie verabredet. In allen kurzen Mitteilungen, Gesprächen und Briefen ging es nach außen immer nur um Privates. Der Rest wurde in einer Art ausgetauscht, von der sie überzeugt waren, dass er von lauschenden Dritten nicht erkennbar sein würde. Insbesondere nicht von jenen in der DDR, die alle Telefonate abhören. Der Gastarbeiter Deron, ein kubanischer Ingenieur, war, nach Franks Einschätzung, zu einem verlässlichen Partner geworden. Die Freundschaft in Berlin, wurde von Monat zu Monat fester, intensiver und privater. Nach außen verstanden sie es, alle Zusammenkünfte in Ostberlin, in den verschiedenen Urlaubsorten und sogar ein mögliches Treffen auf Kuba, in den Zusammenhang der immer wieder propagierten Völkerverständigung zu stellen.

    Sie trafen sich, während Derons Aufenthalt in der DDR, kurzfristig beim Sport, zu kulturellen Anlässen und Ausflügen. Der kubanische Freund besuchte sie zu Hause und brachte jedes Mal eine Köstlichkeit aus dem Intershop und für die Kinder Kleinigkeiten mit. Das sorgte zunächst für große Augen und Erstaunen. Kubanische Angestellte und Arbeiter in der DDR bekamen kein Vermögen von zu Hause mit. Sie waren nicht privilegierter als andere und wurden nur in Ostmarkt bezahlt. Bekannt war, dass diese Austauscharbeiter aus Kuba und den anderen sozialistischen Ländern, einen Lohn von eintausendzweihundert Ost-Mark bekamen. Von dem Betrag wurde automatisch die Hälfte ins Heimatland überwiesen. Da blieb nie viel für allzu lustiges Freizeitleben übrig. Maren und Frank vermuteten, dass Deron mehr im Beutel hat. Er sprach spanisch, englisch, französisch und gut deutsch. Während eines langen Ausflugs, den beide Männer alleine unternahmen, hatte Deron seinem Freund jede Hilfe angeboten, sollte er irgendwann nach Kuba kommen können.

    Offiziell, so sein Versprechen, wolle er in seiner Heimat ein guter Fremdenführer sein, und seinem deutschen Freund die Schönheiten des Landes zeigen. Ohne Kollektiv im Schlepptau. Damals deutete Deron an, er könne ihm, falls der Wunsch bestehe und er alleine reise, von Kuba aus die Flucht in die Vereinigten Staaten organisieren. Sei er erst dort, werde er veranlassen, dass es zur Ausreise und einer Zusammenführung mit dem Rest der Familie kommen müsse. Er habe sehr gute Beziehungen. Die Behörden der DDR würden das aus völkerrechtlichen Gründen nicht verweigern können. Sie hatten, nachdem seine Teilnahme an der geplanten Kuba-Mission endgültig feststand, oft telefoniert. Er konnte sich ruhig vorbereiten. Aus unverdächtigen Bereichen wurde versucht, wenige Einzelheiten der Reise verschlüsselt zu besprechen. Deron unterrichtete ihn nie im Detail, was sich hinter dem, was er sehr gute Beziehungen nannte, verbarg.

    An diesem dritten Abend hatte der Aufpasser und Dolmetscher kubanische Zigarren organisiert und zum Tabakgenuss geladen. Nach dem Essen saßen sie beim Bier und pafften diese Zigarren. Frank war nach einer Weile hustend aufgestanden, hatte zu seinen Kollegen geblickt und gesagt: „Ich gehe mir ein wenig die Beine vertreten. Das Bier macht mir einen dicken Kopf."

    Ernst Hofmann, der Elektrotechniker, rief ihm zu: „Das ist eine gute Idee, soll ich mitkommen?"

    Das Mitkommen hätte die Planungen zunichtegemacht. Er entgegnete schnell: „Nein, bitte, bleib hier, du verqualmst mir mit deiner Zigarre die frische Luft. Ich muss den Kopf freibekommen. Es liegt viel vor uns. Ich werde über unsere weitere Arbeit nachdenken."

    Sofort nach der Ankunft in seinem Hotelzimmer hatte er das im der Maschine erhaltene, kleingefaltete Papier geglättet, mehrfach gelesen und sich die Anweisung eingeprägt, bevor er sie in der Toilette versenkte. In dieser simplen Mitteilung, mit einer Schreibmaschine in einwandfreiem Deutsch geschrieben, stand:

    Für Frank – am dritten Abend nach der Ankunft.

    Nach dem Abendessen persönliche Papiere gut in der Kleidung

    verstecken. Gegen neun Uhr am Abend das

    Hotel alleine verlassen. Keine Verfolger/Kollegen dulden!

    Aus dem Hauptausgang schlendern, nach rechts

    gehen, bis zur ersten Kreuzung. Darauf achten, dass keine

    Passanten anwesend sind. In die schmale

    Straße nach rechts abbiegen. Fünfzig Meter weiter steht

    ein dunkler Buick mit roten Türen in Fahrtrichtung.

    Schnell und wortlos im Fond einsteigen. Der Fahrer weiß

    Bescheid. Keine Fragen stellen, keine Unterhaltung

    führen. Sobald der Fahrer unterwegs hält, seinen Anweisungen folgen. Achtung! Der Wagen steht nur eine Stunde in der

    Seitenstraße. Ist kein Zusteigen möglich, gilt das gleiche Verfahren wie vorstehend, einen Tag später!

    Er verließ den Kreis der Kollegen und ging hinauf in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich ab und öffnete den Koffer. Aus dem Seitenfach nahm er den Umschlag mit seinen persönlichen Papieren, knöpfte die Hose auf und schob das Konvolut in die Unterhose. Alle Unterlagen, die das Projekt betrafen, legte er offen ausgebreitet auf sein Bett. Er sah sich um, öffnete vorsichtig die Tür, ging auf den Korridor und zog leise zu. Den Schlüssel ließ er stecken. Ungesehen von Personal und Kollegen verließ er das Hotel.

    Auf der Straße folgte er den Anweisungen, die er sich eingeprägt hatte. Schlenderte zweihundert Meter zur Kreuzung und ging dort nach rechts in die Seitenstraße. Den beschriebenen Wagen sah er. Frank lief hin und bestieg das Fahrzeug mit den roten Türen wortlos. Der Fahrer, ein junger Kubaner, nickte kurz und fuhr sofort in südöstliche Richtung auf das Meer zu. Nach fünfundvierzig Minuten bog er in ein Waldstück ab, ließ den Wagen langsam rollen und hielt nach mehreren hundert Metern an. Er vergewisserte sich in alle Richtungen blickend, dass er alleine unterwegs war. Mit einer kleinen Geste und nur wenigen Worten in Englisch, bat er ihn in den ersten Weg auf der linken Seite zu gehen.

    Frank stieg aus und lief im Schein der abgeblendeten Scheinwerfer zu dem angegebenen Weg. Als er mit langsamen Schritten einbog, lief ihm ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Angst ließ sein Herz rasend schlagen, er hatte das Gefühl, dass Mund und Kehle trotz der tropischen Schwüle austrockneten. Er konnte nicht wissen, was ihn erwartete. Zum ersten Mal in seinem Leben befiel ihn derart großes Unwohlsein und fühlbare Angst. Die unbekannten Geräusche fremder Tiere und die Gerüche vieler unbekannter Pflanzen, in einem dunklen Wald auf Kuba. Ich bin illegal unterwegs, in einem Staat, in dem die Restriktionen und Überwachungsmechanismen so ausgeprägt sind, wie in allen anderen der sozialistischen und totalitären Staaten. Das Nicht einord nen können dieser momentanen Situation verursachte ihm einen heftigen, unangenehmen Schweißausbruch. Die Überlegung: Wer will mich auf dieser Tour hereinlegen?, war in diesen Minuten heftig. Viele Bilder, die er im Westfernsehens gesehen hatte, schwirrten ihm durch den Kopf. Sollte er abbrechen, jetzt, hier und sofort? Oder versuchen, die Angst nicht zuzulassen? Zum Teufel, auf was habe ich mich eingelassen? Könnte ich nur mit Deron reden.

    Er ging langsam, sah kurz nach einer Biegung den dort wartenden zweiten Wagen und stieg entsprechend der Weisung ein. Es war eine amerikanische Limousine aus der Zeit des kubanischen Kapitalismus. Am Steuer saß ein junger Chauffeur. Dieser Wagen stammte, wie die vielen anderen, aus den Jahren, in der amerikanische Geschäftemacher Kuba zum größten Puff in der Karibik ausgebaut hatten. Sein Fahrer nickte kurz und startete. Sie kamen nach wenigen Kilometern aus dem Wald und erreichten über eine schmale Straße die Fernroute. Der Fahrer umfuhr die restlichen Ausläufer der Stadt. Viele Kilometer weiter, mehr als eine Stunde später, bogen sie in einen Feldweg zwischen zwei hoch mit Zuckerrohr bewachsenen Feldern ein. Der Fahrer stoppte, drehte sich nur halb um und nickte in befohlener Routine.

    Als er ausgestiegen war, sah für ihn die Situation nicht mehr ganz so bedrohlich aus. Die Zweifel waren nicht so beängstigend wie zuvor. Er sollte zum nächsten Fahrzeug geradeaus laufen und dort einsteigen. Dazu musste er am hohen Bewuchs des Feldes entlang, bis er auf einem der Seitenwege den Wagen sah. Er ging auf den Straßenkreuzer zu, immer in der angespannten Bereitschaft auf alles, was ihm begegnen könnte, zu reagieren. Am Wagen öffnete er, sich erneut umsehend, die Tür zum Fond und stieg ein. Der Kubaner hob die Hand und fuhr sofort los. Gemessen an den ersten beiden Teilfahrten fuhren sie zu einem weiter entfernteren Ziel. Frank blieb genug Zeit, über die Situation, die unbekannten Planungen Derons und über seine geliebte Frau nachzudenken. Er dachte daran, dass sie im Schlaf liege und ihre Träume mit ihm unterwegs sein würden. Er versuchte sich an vage Hoffnungen zu klammern, die in seinen Gedanken entstanden und die er für realistisch hielt.

    Nach vielen Kilometern erreichten sie einen größeren Fluss, der parallel zur Straße floss. Der junge Mann vor ihm, dessen lange, schwarze Haare einen unangenehmen Geruch verbreiteten, fuhr einige Minuten mit gemäßigtem Tempo und abgeblendetem Licht. Zu Hause hatte Frank einige Karten Kubas studiert und vermutete aufgrund der Breite des Stroms, dass es hier im Südwesten des Staates der Guantánamoriver sein müsse. Hinter einer Flussbiegung hielt der Fahrer behutsam an, wendete den Kopf und sagte relativ leise: „Camine hacia al río y suba al barco que esta preparado en la orilla. Tenga cuidado, la pendiente es resbalosa*."

    Mit seinen wenigen Spanischkenntnissen konnte er heraushören, dass er aussteigen und den leichten Hang hinunter zum Ufer des Flusses gehen müsse, um in das dort liegende Boot zu steigen. Er wandte sich zum Fahrer, bedankte sich mit „adios gracias*" und verließ den Wagen. Der Kubaner fuhr so langsam, wie er angehalten hatte weiter. Frank ging vorsichtig den nach wenigen Schritten beginnenden, glitschigen Abhang zum Fluss hinunter und bestieg das wartende Boot. Im wenigen Licht dieser Nacht konnte er gut erkennen, dass es ein Einheimischer war, der am Ruder stand. Der nickte mehrfach schnell und verwies auf das als Bank eingezogene Brett. Dann hob er rasch eine alte Latte vom Schiffsboden auf, mit der er sich sicher vom Ufer abschob.

    Langsam glitt das Boot in die seitliche Strömung, sie trieben in dem offenen Schiff, an dessen Ende ein starker Außenbordmotor befestigt war, eine größere Strecke. In der Mitte des Stroms hatte sich die Geschwindigkeit merklich erhöht. Der Skipper ließ das Boot ohne Motorantrieb treiben und führte es sehr geschickt den mäandernden Fluss abwärts. Es glitt leise durchs Wasser, bis sie in einen Abschnitt kamen, der auf beiden Seiten zwischen alten Bäumen dicht mit Schilf bewachsen war. Sie waren lange unterwegs. Es wurde ihm wieder unheimlich.

    Es gluckerte um das Boot herum, Fische sprangen aus dem Wasser, um klatschend wieder einzutauchen. Einige schlugen außen gegen die Bordwand. Sobald der Skipper in den Biegungen näher ans Ufer fuhr, wurde er von den herabhängenden Blätterbüscheln heftig gestreift. In der Überlegung, wo diese Fahrt irgendwann enden würde, kam er zu keiner Antwort. Er konnte die Teilabschnitte dieser Reise nicht einordnen, wusste nicht, wohin das alles führen sollte. Es waren Pfiffe und laut krächzende Geräusche zu hören. Er zwang sich zur Ruhe, alles schien aussichtslos. Plötzlich erschraken beide Männer heftig. Ein peitschender Knall, ein Geräusch, wie ein Schuss, fuhr ihnen in die Glieder. Sekunden danach schlug bei der Biegung, die sie kurz zuvor passiert hatten, etwas ins Wasser.

    Der Kubaner duckte sich rasch, schaute zu Frank und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Er deutete ihm mit der anderen Hand, dass er in die Hocke gehen solle. Mit dem Unterarm wischte er sich nach bangen Minuten den Schweiß vom Gesicht. Sein Herz schlug wie nach einem Dauerlauf, bis in den Hals. Er hatte einen dicken Kloß in der Kehle. Sein Hemd war durchnässt, die Ruhe dahin. Panische Angst hatte ihn eingeholt. Er dachte, so ein Mist. Verdammt, sollte hier mein begonnenes Abenteuer in die lang ersehnte Freiheit schon zu einem schlimmen Ende kommen?

    Das Boot glitt weiter stromabwärts. Etwas später kamen sie in ein zu beiden Uferseiten offeneres Gelände. Die Böschung war abgeflacht, man konnte darüber hinwegsehen. Der Bootsführer drehte sich um und flüsterte nach langer Überlegung: „Eso fue un cazador." Frank konnte das Wort Jäger heraushören. Er hatte auf mehrere Schüsse, vielleicht auch eine Attacke gewartet und stellte sich die Frage, was einen kubanischen Jäger in einer Nacht mit wenig Licht auf die Pirsch treibt. Würde der Jäger, was er für unwahrscheinlich hielt, über ein Nachtsichtgerät am Gewehr verfügen, wäre das keine beruhigende Feststellung. Ein fremder Weißer, in der Nacht auf einem kubanischen Fluss in einer verdammt einsamen Gegend, das würden den Kubaner mit der Flinte veranlassen, die Beobachtung sofort zu melden.

    Das Boot glitt geräuschlos weiter. Nach einer ausladenden Biegung ließ der Skipper es in einem spitzen Winkel auf die rechte Seite und das Ufer zutreiben. Dort legte er auf der Schlickbank vorsichtig an. Mit einer Handbewegung bat er seinen Gast auszusteigen. Er hatte seine Füße vorsichtig auf das Ufer gesetzt, war gestrauchelt und stand dann fest und sah den Skipper fragend an. Wie aus dem Nichts tauchte ein großgewachsener dunkelhäutiger Mann hinter ihm auf. Frank erschrak, als dieser ihn am Oberarm nahm und mit der anderen Hand in eine Richtung deutete.

    Er zog ihn hinauf auf den schmalen Uferweg, den sie sofort und wortlos in die angedeutete Richtung beschritten. Der Farbige Begleiter lockerte seinen Griff nicht und lief mit ausladenden Schritten. Trotz der Dunkelheit gingen sie zielgerichtet weiter, als habe sein Guide diesen Weg schon mehrfach gemacht.

    Nach mehreren Hundert Metern bogen sie nach rechts und kamen nach einer weiteren halben Stunde Fußmarsch zu einer leichten Biegung. In der Ferne sah Frank schemenhaft einen Wagen auf dem bewachsenen Feldweg stehen. Dieses Auto war, wie alle zuvor, ein altes amerikanisches Modell. Die Farbe musste schwarz oder braun sein. Deutlicher war bei der Annäherung die auffällig helle Kofferraumhaube zu erkennen. Er wusste, was zu tun war und konnte sehen, dass das Fahrzeug kein Nummernschild trug. Er folgerte daraus, dass die nächste Etappe nicht, wie die Teilabschnitte zuvor, auf öffentlichen Straßen fortgesetzt werden würde.

    Der Begleiter ließ ihn los und verschwand im Dunkel auf einem der abweichenden Pfade. Der nochmalige Fahrzeugwechsel, diesmal saß ein älterer Kubaner am Steuer, wurde wieder bedrückender. Große Angst war nun Franks permanenter Begleiter, sie ließ ihn nicht mehr los. Ursache für den perlenden Schweiß, der ihm im Nacken, auf Stirn und Brust herunterlief, war nicht nur die tropische Schwüle er Nacht. Er stellte sich die Frage: Waren das Vertraute, in die Aktion eingeweihte und ehrenamtliche Mitarbeiter von Deron, oder von wem? Bin ich schon in den Händen der kubanischen Häschern, die mich am Ende dieser Fahrt den Behörden ausliefern werden?

    Er hatte keine Vorstellung, was ihm bevorstand, und hätte ab diesem Zeitpunkt nicht mehr fliehen können. Wie und wohin? Wie lange die Odyssee dauern und wohin die Fahrten gehen könnten, hatte er aus keiner Mitteilung herauslesen können. Wieder war es der junge Kubaner, der ihn kurz informierte. In schlechtem Englisch mit wenigen Worten sagte er, dass dies der letzte Transportabschnitt sei und dass es eine Weile dauern würde bis zum Endpunkt. Und dann? Was würde nach dieser letzten Fahrt am sogenannten Endpunkt der sonderbaren Tour, in einer schauerlichen Nacht, auf ihn warten?

    Der schmale, holprige Pfad, auf dem sie unterwegs waren, schien nicht zu enden. Die Zweifel wurden unerträglich. Er versuchte in seinem Kopf, mit den schulischen Spanischkenntnissen, einen Satz zu formulieren. Damit wollte er um ein Ende des Unternehmens und um die Rückführung bitten. Der junge Fahrer bremste plötzlich, fuhr dann ganz langsam wieder weiter, um nach wenigen Metern erneut anzuhalten. Frank hatte die Suche nach den richtigen Wört ern verworfen, sich aufgereckt und sah intensiv nach vorne.

    Plötzlich bemerkte er, dass in der Mitte am unteren Ende des Armaturenbretts, ein kleines winziges Lämpchen in roter Farbe mehrfach an und aus ging. Der Kubaner griff in diesen Bereich und das Signal erlosch. Sie standen wenige Augenblicke auf dem Weg, dann legte der Fahrer den Gang ein und fuhr weiter. Nach einigen Minuten sah er, als nach vorne aus der Frontscheibe schaute, in einiger Entfernung ein selten genutztes, einflügeliges Tor. Langsam fuhren sie darauf zu. Bei der Annäherung war zu sehen, dass die Pforte einen hohen Zaun unterbrach, der mit scharfem Stacheldraht gekrönt und auf der sichtbaren Seite damit belegt war.

    Sie näherten sich dieser geschlossenen Durchfahrt. Als sie kurz vor dem Tor ankamen, blitzten plötzlich unglaublich grelle, große Scheinwerfer auf, die das gesamte Areal erhellten. Bis weit hinter diesem Zaun war innerhalb von Sekunden der kaum überschaubare Bereich taghell erleuchtet. Zwischen der Bepflanzung und dem Zaun sah er auf der Innenseite einen befahrbaren Kontrollweg. Wie auf ein heimliches Kommando öffnete sich das alte Tor fast geräuschlos, der Wagen rollte hindurch und ohne erkennbares Zutun schloss sich die Pforte hinter dem Fahrzeug sofort wieder. Der durch den hohen Zaun unterbrochene Pfad setzte sich auf der gegenüberliegenden Seite, so weit es einsehbar war, fort.

    Der junge Kubaner ließ den Wagen langsam rollen, bis der Weg in einer asphaltierten Straße mündete. Das Licht erlosch so plötzlich, wie es eingeschaltet worden war. Der Kubaner lenkte das Fahrzeug nach rechts und fuhr langsam weiter, bis auf der linken Seite der Straße ein Gebäude sichtbar wurde. Gegenüber hielt er wortlos an, schaltete den Motor aus und blieb sitzen. Es dauerte nur Sekunden, bis sich von hinten zwei amerikanische Offiziere in Uniform dem Fahrzeug näherten, ein älterer und ein jüngerer. Der Jüngere bat Frank höflich auszusteigen und mitzukommen.

    Er kletterte aus den alten, ausgesessenen Kunstledersitzen und folgte den Uniformierten, die ihn in das Gebäude gegenüber brachten. Dort liefen sie wenige Meter durch einen klimatisierten Flur bis zur Tür eines größeren Büros. Der jüngere Soldat öffnete, beide ließen Frank den Vortritt. Er nahm sofort einen angenehmen Bohnenkaffeegeruch wahr.

    Das waren die ersten Eindrücke, die der geflohene Ingenieur und Oberst der NVA, Frank Leonhard, in der eingeschränkten amerikanischen Wirklichkeit auf Kuba wahrnahm. Die Schauder, die Ängste, die vielen Beklemmungen und alle Befürchtungen waren verschwunden. Er spürte nur große Sehnsucht nach seinen Lieben und fühlte sich schmutzig. Der ältere Offizier war etwas zurückgetreten, als der Jüngere sich an Frank wandte und akzentfrei in Deutsch ansprach.

    „Herr Oberst, willkommen bei uns in Guantánamobay. Das war für Sie eine außergewöhnliche Odyssee. Wir hoffen, dass Sie dafür Verständnis haben. Es wäre auf anderen Wegen unmöglich gewesen, Sie zu uns zu bringen. Deron lässt Sie herzlich grüßen, er wird morgen hier sein. Ich bringe Sie gleich auf Ihr Zimmer. Dort liegt alles, was Sie benötigen bereit. Sie sollen sich frisch und kommunikativ fühlen. Ihre persönlichen Papiere haben Sie dabei? Ich bitte Sie, mir diese vorab zu geben?"

    Frank sah ihn verdutzt an und öffnete geniert die Hose, zog den Gummi der Unterhose vom Körper weg und griff das stark angeschwitzte Päckchen mit seinen persönlichen Papieren, die er dem Offizier reichte, der schmunzelte und bedankte sich.

    „Darf ich Ihnen Kaffee und ein Essen ordern? Kalt oder warm, große oder kleine Speisen, es ist alles vorhanden."

    „Ein Kaffee und etwas zum Knabbern wären gut, großen Hunger habe ich keinen. Diese lange Fahrt zu Ihnen war für mich emotional und physisch extrem belastend. Ich wusste nicht, wer was veranlasst hatte, was positiv und real im Hintergrund stand. Ich hatte schon mit einer Entführung gerechnet, mit ausrauben, zusammenschlagen und irgendwo im Wald liegenlassen, oder mich an den kubanischen Geheimdienst ausliefern."

    „Wie schon erwähnt, der direkte Weg wäre uns lieber. Leider geht das nicht, noch nicht. Sie wissen, wo Sie sind? Sie sind bei uns in absoluter Sicherheit und sollten das optimistisch sehen. Wir bieten Ihnen, was immer Sie benötigen, um sich wohlzufühlen, antwortete der Soldat, ging zur Anrichte, auf der ein Telefon stand, mit dem er die Order durchgab. Überraschend schnell kam eine Soldatin und brachte ein Tablett mit Kaffee und Keksen. Während er trank und knabberte, telefonierte der Offizier leise. Als er die Gespräche beendet hatte, sagte er: „Gehen wir?

    Sie verließen den Raum und betraten einen langen Flur, vor dessen Ende ein Soldat mit umgehängter Waffe patrouillierte. Durch einen der hinteren Ausgänge kamen sie auf die Straße und betraten gegenüber ein vergleichbar großes Gebäude. Darin roch es angenehm nach Blumen und aus unsichtbaren Lautsprechern erklang leise Musik. Sein Begleiter öffnete auf der linken Seite die Tür zum zweiten Raum und führte ihn hinein. Das Zimmer stellte sich wie ein kleines gepflegtes Hotelzimmer dar. Mit bezogenem Bett, auf dem frische Handtücher lagen. Er sah ein Regal, einen kleinen Nachtschrank und eine Beleuch tung dar über. Gegen über dem Bett führte eine offenstehende Tür in den sauberen Waschraum mit Dusche. Das Bad war, wie alle anderen Räume, geräuschlos klimatisiert. Frank sah sich um. Er freute sich auf die Erfrischung und das saubere Bett.

    „Ich wünsche Ihnen eine angenehme erste Nacht. Für alles, was Sie hier nicht vorfinden, wählen Sie bitte mit dem Telefon die neun. Mehr Möglichkeiten bietet das Telefon leider nicht."

    Durch den Zusatz mehr Möglichkeiten bietet das Telefon nicht, wollte er ihm sagen, dass es sinnlos sei, Telefongespräche zu versuchen. Der Offizier wünschte eine angenehme Nacht und verließ mit militärischem Gruß den Raum. Frank fand neben den Handtüchern einen Schlafanzug und frische Unterwäsche aus Militärbestand. Im Bad lagen alle Hygiene- und Kosmetikartikel inklusive eines Rasierapparates für Nassrasur und in einer Spraydose der notwendige Schaum. Auch für Schuhputzmaterial war gesorgt. Er duschte lange und genoss das frische Wasser. Nach den Ritualen in dem kleinen Bad zog er den Schlafanzug an, kroch ins Bett und schlief nach wenigen Minuten ein.

    Gegen halb acht am Morgen läutete das neben dem Bett stehende Telefon. Er schlief sehr fest, erschrak und wusste erst nicht, wo er war, drehte sich um und musste sich orientieren, bevor er den Hörer abnahm. Der junge Offizier vom Vorabend begrüßte ihn und erkundigte sich nach seinem Befinden. Wollte wissen, ob er denn gut geschlafen habe und ob es ihm gut gehe.

    „Wie ein Toter habe ich geschlafen" antwortete Frank „und die

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