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Sklavenjahre
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eBook345 Seiten4 Stunden

Sklavenjahre

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Über dieses E-Book

Sklavenjahre – Aus dem Leben eines Kriegskindes – ist der zweite Band einer biografischen Romantrilogie.
Die im früheren Jugoslawien geborene deutschstämmige Lisa wird mit elf Jahren von Elisabeta Kranau, ihrer biologischen Mutter, nach Deutschland geholt. Das Land ist ihr genauso fremd wie ihre Mutter. Auffanglager, Durchgangslager, Umschulung in einem Kinderheim, die Rückkehr zu Elisabeta Kranau und die Integration in das deutsche Schulsystem lassen dem Mädchen wenig Raum zum Ankommen. Als Jugendliche muss sie lernen, mit sexuellen Übergriffen ihres Ausbilders, Respektlosigkeit und Machtmissbrauch umzugehen. Instinktiv passt sie sich auch hier an genau wie in Jugoslawien akzeptiert, was sich nicht ändern lässt, findet Freunde unter Gleichaltrigen und begegnet ihrer ersten Liebe, die jedoch von Anfang an im Schatten der Elisabeta-Kranau-Diktatur steht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Feb. 2024
ISBN9783384166647
Sklavenjahre
Autor

Cora Andrash

Cora Andrash, Ende des zweiten Weltkriegs in Südost-Europa geboren, verbringt ihre früheste Kindheit in einem Vernichtungslager für Deutschstämmige im ehemaligen Jugoslawien. Danach häufiger Wechsel von Bezugspersonen und Wohnorten. Derzeit lebt sie in Deutschland. Bereits mit zwölf Jahren beginnt sie zu schreiben. Veröffentlicht werden Teile ihrer Texte erst Jahrzehnte später. Ihre Neugier auf fremde Länder und ihr Interesse an Menschen mit verhängnisvollen Schicksalen führen sie in unterschiedliche Gebiete rund um den Globus. Dabei sammelt sie mit besonderer Vorliebe außergewöhnliche Lebensgeschichten.

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    Buchvorschau

    Sklavenjahre - Cora Andrash

    Cover des Romans Sklavenjahre

    Buch

    Sklavenjahre – Aus dem Leben eines Kriegskindes ist der zweite Band einer biografischen Romantrilogie. Die im früheren Jugoslawien geborene deutschstämmige Lisa wird mit elf Jahren von Elisabeta Kranau, ihrer biologischen Mutter, nach Deutschland geholt. Das Land ist ihr genauso fremd wie ihre Mutter. Auffanglager, Durchgangslager, Umschulung in einem Kinderheim, die Rückkehr zu Elisabeta Kranau und die Integration in das deutsche Schulsystem lassen dem Mädchen wenig Raum zum Ankommen. Als Jugendliche muss sie lernen, mit sexuellen Übergriffen ihres Ausbilders, Respektlosigkeit und Machtmissbrauch umzugehen. Instinktiv passt sie sich auch hier an – genau wie in Jugoslawien – akzeptiert, was sich nicht ändern lässt, findet Freunde unter Gleichaltrigen und begegnet ihrer ersten Liebe, die jedoch von Anfang an im Schatten der Elisabeta-Kranau-Diktatur steht.

    Autorin

    Cora Andrash, Ende des Zweiten Weltkriegs in Südost-Europa geboren, verbringt ihre früheste Kindheit in einem Vernichtungslager für Deutschstämmige im ehemaligen Jugoslawien. Danach häufiger Wechsel von Bezugspersonen und Wohnorten. Derzeit lebt sie in Deutschland. Bereits mit zwölf Jahren beginnt sie zu schreiben. Veröffentlicht werden Teile ihrer Texte erst Jahrzehnte später. Ihre Neugier auf fremde Länder und ihr Interesse an Menschen mit verhängnisvollen Schicksalen führen sie in unterschiedliche Gebiete rund um den Globus. Dabei sammelt sie mit besonderer Vorliebe außergewöhnliche Lebensgeschichten.

    Cora Andrash

    Sklavenjahre

    Aus dem Leben eines Kriegskindes

    Roman

    © 2024 Cora Andrash

    Lektorat: Renate Forschner

    Coverdesign von: Gabi Schmid · buechermacherei.de

    Satz & Layout von: Rebekka Redwitz · fraeuleinkorrekt.com

    Covergrafik: #347874886 | AdobeStock

    Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

    Alle in diesem Buch beschriebenen Geschehnisse basieren auf biografischen Überlieferungen von Zeitzeugen. Die meisten Ortsnamen und alle Personennamen wurden aus Datenschutzgründen geändert. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

    Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany.

    978-3-384-16664-7 (E-Book, Version 1.0)

    978-3-384-16663-0 (Softcover)

    Inhaltsverzeichnis

    Retrospektive

    Am Ende der Nacht beginnt ein anderes Land

    Durchgangslagerleben

    Heimkinderheimat

    Das Versprechen

    Die guten und die anderen Tage

    Burgstadt zum Bleibenmüssen – Teil 1

    Ferienkind auf dem Maierhof

    Burgstadt zum Bleibenmüssen – Teil 2

    Berufsberatung

    Leibeigen

    Tanzstunden und andere Lektionen

    Stellensuche

    Mit dem Nachtexpress erinnerungwärts

    Foto Haberland oder Foto Zeller

    Danke

    Band I zur Trilogie

    Retrospektive

    Lisa hat Onkel Willi nie mehr wiedergesehen. Sie hat nie erfahren, ob ihm die Flucht aus dem Vernichtungslager nach Ungarn geglückt ist. Aber aus der Milchstraße schaut immer noch ihr Stern herunter. Und dann sind Tante Resi und Onkel Willi wieder da. Wenngleich Onkel Willi das Kind in eine andere Galaxis geführt hat, wird der Blick in den tiefen Nachthimmel Lisa ein Leben lang an den Geruch warmer, trockener Erde und an Glücksmomente in einem Vernichtungslager erinnern. Aber auch an eine nach Verwesung stinkende Scheune, in der Tante Resi starb, denn aus dieser Scheune kam niemand lebend heraus.

    Auch Mara und Milan hat Lisa nicht wiedergesehen, obwohl es einst ihr sehnlichster Wunsch gewesen ist, bei den beiden auf dem Vojitsch-Hof arbeiten zu dürfen. Später, dachte Lisa damals, wenn ich Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt habe und richtig groß sein werde, dann werde ich dort arbeiten und mein Essen selber verdienen.

    Das Vernichtungslager Gakovo, der zerschossene Sallasch¹, die Schafhütte, der Schlangenwald und die Häuser an der Donau sind unauslöschliche Bilder in Lisas Erinnerung. Ebenso wie ihr Geburtsort Otice, das Haus in der Pfarrgasse mit Eva – ihrer Schicksalsmutter und biologischen Großmutter – dem Wachhund Bobbi, dem kleinen, gehbehinderten Hahn Pinguin und die Schule, in der das Kind aus dem Vernichtungslager zum Mädchen herangewachsen ist.

    Und dann ist da noch der Abschied am Bahnhof von Otice mit Evas Gott-segne-dich-mein-Kind! Lisa spürt Evas Daumenkuppe auf ihrer Stirn und die drei kleinen Kreuze, ihre Hände klammern an Evas Hand.

    „Komm jetzt, sonst fährt der Zug ohne uns!" Lisas biologische Mutter zerrt Lisas Arm zum Zug. Dieser Stimme wird Lisa ab jetzt folgen müssen. Eva, der Bahnhof von Otice, die aus der 5a und alles andere aus Lisas bisherigem Leben werden nur noch Bilder der Erinnerung sein.


    1 Aus dem Ungarischen Szálás übernommen: Bleibe, Quartier, kleines Gehöft

    Am Ende der Nacht beginnt ein anderes Land

    Der Zuglärm schmerzte in den Ohren. Die Restwärme des Sommerabends zog mit dem Fahrtwind durch die Waggons. Die Menschen auf den abgenutzten Holzbänken schwiegen in sich hinein: ihre Bündel auf dem Schoß, die Holzkoffer im Blick.

    Lisa saß neben der fremden Mutter, gegen deren Nähe sich ihr Innerstes sträubte. Unter Lisas Beinen klemmte das weiße Puppenbett, fest verschnürt in braunes Papier. Noch gestern war nicht klar, ob Lisa es werde mitnehmen dürfen. „Du bist kein Kleinkind mehr, das ständig mit Puppen spielt. In Deutschland wirst du viel lernen müssen. Zum Spielen wirst du keine Zeit haben", hatte sie gesagt, sie, die für Lisa noch immer fremde Kranau Elisabeta, geborene Harider, von Bekannten und Verwandten die Harider Lissi genannt.

    Wenn Lisa schon nicht bei Eva bleiben durfte, so wollte sie doch etwas mitnehmen, das an sie erinnerte. Etwas zum Festhalten. Sie klammerte sich an das Puppenbett, schluckte alles hinunter, was an Bitterem hochkommen wollte. Die salzigen Tropfen neben den Lippen fing sie mit der Zunge ein.

    Jetzt, im Zug nach Irgendwo, suggerierte das verschnürte Puppenbett: auf Evas Schoß sitzen und ganz laut Lieder in ihr Ohr singen, damit es in ihrem Kopf nicht immer so still ist. Evas Geruch steckte in Lisas Nase, an ihren Wangen kitzelten Evas Haarspitzen.

    Bei Nacht rollen die Züge viel lauter als bei Tag. Vielleicht, weil die Nacht leiser ist. Zuerst Richtung Süden, dann Westen und schließlich Nordwest. Irgendwo dort ist Deutschland. Jedenfalls sah das auf der Landkarte so aus.

    Lisa wollte nicht nach Deutschland. Sie wollte es nie und mit dieser fremden Frau schon gar nicht. Wie meistens, wenn es dort wehtat, wo niemand es sehen konnte, träumte Lisa sich in eine andere Realität:

    Eva geht durch den Hinterhof, schaut nach, ob alles in Ordnung ist. Bobbi trottet hinter ihr her. Alles ist wie immer. Eva verriegelt das Hoftor, schließt die Eingangstür zum Wohnbereich von innen ab und geht zu Bett. Das Zimmer nebenan ist leer. Die Möbel sind verkauft, und ich sitze im Zug nach Deutschland. Ob Bobbi spürt, dass ich nicht mehr zurückkommen werde? Wird er mich vermissen? Am Tor auf mich warten? Mich suchen?

    Lisa gegenüber saßen Leni und Franz mit ihrem knapp zwei Jahre alten Sohn Fränzchen. Die junge Familie war in Otice mit eingestiegen und wollte auch nach Deutschland zu Lenis Schwester. Fränzchen schlief in Lenis Armen. Franz versteckte das Gesicht hinter seinem Hut. Alle Plätze im Waggon waren belegt, bepackt, besetzt von Obdachlosen und deren Habseligkeiten unterwegs im Zug ins Ungewisse, auf der Suche nach einer Zukunft in einem fremden Land.

    Lisas Gedanken kehrten nach Otice zurück. Eva sagt: „In dieser Nacht ist es wieder so schwarz wie in einer Kuh." Ob sie schon schläft? Und morgen früh? Sie wird für sich allein Milchsuppe kochen. Sie wird allein Ähren lesen gehen. Wenn sie so müde ist, dass sie nicht mehr gehen kann, wird sie sich auf die Erde setzen, die Augen schließen und ein wenig verschnaufen. Und wenn sie die Augen wieder öffnet, wird sie noch immer allein sein.

    Räder und Gleise quietschten, Waggonpuffer kollidierten, die Luft schrie. Ein letzter kräftiger Ruck würgte das Rattern ab. Die Lokomotive pustete sich aus, bereit für eine längere Pause zwischen dunkel und stockdunkel.

    „Nimm das Puppenbett in die eine Hand und halte dich mit der anderen an der Schnur meines Kartons fest! Wenn du hier im Dunkeln verlorengehst, werde ich dich nicht mehr finden und ohne dich nach Deutschland fahren müssen."

    Das war die Stimme, vor der Lisas Innerstes schauderte.

    Hier verlorengehen? dachte Lisa, nein, das werde ich bestimmt nicht, irgendwie werde ich zu Eva nach Otice zurückfinden. Ganz sicher. Ich werde warten, bis alle weg sind und dann einen Schaffner fragen, wann der nächste Zug nach Otice fährt.

    Der Bahnsteig stöhnte unter dem Gestank von Altöl und Petroleum, Schmutz und Schweiß. Ellenbogen, Gepäck und Stimmen rangen ums Durchdringen. Ein Lautsprecherorgan verkündete etwas, das niemand verstand.

    „Der Fernzug wird sich um eine Stunde verspäten." Jemand hatte doch etwas verstanden und schrie es über die Köpfe hinweg.

    Kranau Elisabeta sorgte mit den Kanten ihres Holzkoffers fürs Durchkommen, vorbei an fremden Schienbeinen und fremdem Gepäck. Lisas eine Hand hielt sich an der Schnur des Kranau-Elisabeta-Pappkartons fest, die andere zerrte das Puppenbettpaket hinterher. Franz und Leni folgten hautnah. Fränzchen klammerte mit beiden Armen um Lenis Hals. Franz war mit Rucksack, Brustsack, Koffer und Kartons zugepackt: eine Gepäcksäule mit Beinen und Hut.

    Der Fernzug kam zwei Stunden später und auf einem anderen Bahnsteig. Aussteigen wollte niemand, viele drängten hinein. Widerwillig ließ Lisa sich ziehen, treiben, schieben und dann in einen Waggon zerren. Schließlich steckten alle im Laufgang fest. Eigentlich sollte der Gang die Reisenden in die einzelnen Abteile geleiten, aber diese quollen über. Kleine Kinder saßen auf dem Schoß ihrer Mütter, größere Kinder zwischen den Sitzen der Erwachsenen oder vor ihren Füßen auf dem Boden. Lisa saß auf dem Holzkoffer im Laufgang vor einem Fenster zwischen Pappkarton und Puppenbettpaket. Kranau Elisabeta wachte und beobachtete. Leute suchten nach Plätzen, die es längst nicht mehr gab. Höchstens noch etwas Atemluft vor den Fenstern. Ansonsten steckte der Laufgang samt Inhalt im Menschen-Mief fest. Draußen am Bahnsteig schrillte eine Pfeife. Türen schlugen zu. Die Nacht drückte herein. Lisas Wahrnehmung schwappte erneut nach Otice zurück. Evas Lächeln ist da, und die frische Brotkruste, die sie extra für Lisa aufgehoben hat. Die warme Milch. Es ist wie immer.

    Doch dann plötzlich die Stimme, die keine Widerrede duldete: „Wach auf! Wir müssen unbedingt einen Platz da drin bekommen. Noch länger hier stehen bringt mich um." Kranau Elisabeta schob ihren sperrigen Holzkoffer vor den Eingang eines Abteils.

    „Bitteschön, lasst uns zu dem Sitzplatz, auf dem das Gepäck liegt, ich bin schwerkrank, und das hier ist mein Kind. Die Stimme, die normalerweise keinen Protest duldete, hatte plötzlich Kreide verschluckt: „Ich habe keinen Mann mehr, bitteschön durchlassen! Vergelt’s Gott!

    Lisa ließ sich in das Abteil schieben und hinsetzen. Neben ihr auf demselben Sitz hatte sich ein schlafender kleiner Junge auch zur Seite schieben lassen. Der Holzkoffer stand dort, wo normalerweise Beine und Füße hingehören. Lisas Beine lagen auf dem Koffer. Kranau Elisabeta fand zwischen Koffer und Fenster für eines ihrer Beine Platz, das andere hing schräg über dem Koffer herunter. Mit im Abteil, zwischen Gepäck verteilt, saßen Großmutter, Mutter, Vater, zwei Jungs und ein Baby. Im Halbdunkel sahen ihre Schatten wie Gepäck aus, und die Umrisse der Gepäckstücke ähnelten Menschen. Das Abteilfenster war zur Hälfte heruntergeschoben. Lautsprecherstimmen verkündeten Verworrenes. Der Nachtgestank des Bahnhofs reizte Augen und Nase. Irgendwann lärmte der Zug aus dem Bahnhof hinaus, in ein schwarzes Nichts hinein. Das monotone Auf und Ab der Eisenräder betäubte.

    Der junge Tag ließ Hügel und Wälder vorbeirauschen und Dörfer entlang der Strecke, an deren Bahnstationen sich das Anhalten nicht lohnte. Die Bilder überholten die Blicke. Draußen, irgendwo zwischen Himmel und Erde, wuchsen Bergriesen in grünen Kleidern, mit grauen Hälsen und weißen Köpfen. Lisa hatte noch nie richtige Berge gesehen. Die höchsten Erhebungen waren ein paar Grashügel gewesen bei einer Klassenfahrt über die Donau nach Kroatien. Das, was jetzt dort draußen vorbeizog, konnte keine Wirklichkeit sein. Lisas Augen folgten den fliegenden Kolossen, während sich bereits neue Riesen in ihr Sichtfeld drängten. Lisa sog die Bilder in sich auf wie trockener Sand die ersten Wassertropfen. An einer kleinen Station mit schmutzigen Häusern zwischen himmelhohen, grüngrauen Felsen und gleißendem Blau endete Jugoslawien.

    „Wir sind an der Grenze, auf der anderen Seite der Berge ist Österreich."

    Kranau Elisabeta war bisher ziemlich einsilbig gewesen, was nicht zu ihr passte. Jetzt lächelten ihre Lippen, was auch nicht zu ihr passte.

    „Achtung, Achtung! Niemand verlässt den Zug! Bleiben Sie alle auf Ihren Plätzen!", verkündete eine tiefe Männerstimme auf Jugoslawisch² durch den Lautsprecher. Fast zeitgleich schob ein Blauuniformierter die Abteiltüre auf, hinter ihm versperrte eine graugrüne Partisanenuniform mit Gewehr den Weg.

    „Ausreisepapiere!"

    Kranau Elisabeta hatte ihre kyrillische und lateinische Reisepapiersammlung als Erste griffbereit. Der Blauuniformierte las, schaute, las weiter, blätterte die Papiere durch, schaute und schüttelte den Kopf.

    „Wieso sind Sie aus Deutschland nach Jugoslawien gekommen und wollen nun wieder zurück nach Deutschland?"

    „Wegen der Kleinen hier, sie durfte nicht in Begleitung des Roten Kreuzes zu mir nach Deutschland reisen; ich musste sie selbst abholen."

    „Sie kamen vor drei Jahren?" Die Falte zwischen den buschigen Augenbrauen des Uniformierten vertiefte sich.

    „Ich habe drei Jahre gebraucht, um das Geld für die Ausreisedokumente zusammenzubekommen. Zuerst musste ich für mich und mein Kind die jugoslawische Staatsbürgerschaft beantragen und gleich danach wieder darauf verzichten. Das kostete vierundzwanzigtausend Dinar. Alles andere steht hier auf dem Formular."

    Der Uniformierte winkte ab, blätterte mit bewegungslosem Gesicht weiter. Jede Seite erhielt einen Stempel. Zwei Exemplare behielt der Uniformierte, den Rest bekam Kranau Elisabeta wieder. Bei den anderen im Abteil las und stempelte er schneller. Danach schritten die beiden Uniformierten wortlos zum nächsten Abteil. Niemand traute sich, die Abteiltür hinter ihnen zuzuschieben. Niemand redete. Selbst die Kinder hielten sich an das schier atemlose Schweigen. Die Kontrollgänge der Uniformierten dauerten eine halbe Ewigkeit. Aber auch diese endete irgendwann.

    Draußen schrillte ein Signal. Türen schlugen in die Rahmen. Die Lokomotive rüttelte die Waggons zurecht, nahm Fahrt auf. Bilder verwahrloster Gärten und verlassener Häuser streiften am Fenster vorbei. Graue, steile Felswände kamen näher. Schließlich donnerte der Zug mit einem markdurchdringenden Pfiff in einen Berg hinein. Es war gehörtötend laut und kuhnacht. Dass man in einen so großen Berg ein Loch und eine Röhre für den Zug bohren konnte, passte nicht in Lisas Vorstellungsvermögen. Auch das Wort Tunnel fehlte bisher in ihrem Wortschatz. Gerne hätte sie gewusst, wie das mit dem Tunnelbohren funktioniert. Aber wen sollte sie fragen?

    Auf der anderen Seite des Tunnels hingen Wolken wie ungewaschene Gardinen vor dem Zugfenster. „Jetzt sind wir in Österreich." Kranau Elisabeta atmete laut ein und noch lauter wieder aus. Ihre Nasenflügel vibrierten. In ihren grauen Augen glitzerten kleine helle Punkte. Lisa betrachtete das flatternde Spiegelbild der Fremden im Abteilfenster. Das akkurat hochgesteckte Haar hatte sich verselbstständigt. Wetterhexen nannte Eva Frauen mit ähnlich wirren Frisuren.

    Österreich döste im Frühnebel. Die Gegenwart flog am Zug vorbei, immer weiter von Otice weg. An einem großen Bahnhof mit unzähligen Gleisen und hohen Gebäuden hielten Gegenwart und Zug an. Der Nebel war davongezogen. Die Berge standen auf Distanz. „Das ist Linz", stellte die Kranau-Elisabeta-Stimme halblaut fest. Ihr Mund lächelte wieder, zeigte Goldzähne. Leute stiegen aus. Gepäckstücke drängten auf den Bahnsteig. Der quoll über den Rand hinaus wie Evas Brotteig im warmen Körbchen. Stimmen riefen sich angenehm klingende Worte zu, Gesichter lachten, Hände winkten, Arme hielten Körper umschlungen. Lisa hörte eine Sprache, die sie nicht kannte.

    „Wie reden diese Leute?"

    „Na, deutsch natürlich." Die Kranau Elisabeta schüttelte den Kopf. Die hochgezogenen Augenbrauen legten ihre Stirn in Falten, ihre schmalen Lippen pressten zusammen, was sie vor Fremden nicht sagen wollte. Der Klang dieser deutschen Sprache kam Lisa wie ein Lied vor, das sie zum ersten Mal hörte.

    Die Gegenwart fuhr weiter. Draußen zeigte sich Österreich von allen Seiten: grüne Berge, graue Felsenwände mit gezackten Drachenrücken. Schluchten versanken in dichten Wäldern. Wasserfälle schossen aus dem Nichts einer steilen Wildnis heraus und stürzten sich ins Nichts einer abgrundtiefen Schlucht hinab. Hier war das Ende der Welt ganz weit oben, fast schon in der Mitte des Himmels. Die Silhouetten mancher Felsformationen glichen Figurenrohlingen aus der Werkstatt eines Steinmetzes: hier ein alter Mann mit Bart, dort eine Frau mit krummer Nase und Kopftuch, ein Löwenkopf, ein Adlerschnabel.

    Die laufenden Bilder stoppten an einem kleinen, namenlosen Bahnhof. Uniformierte schoben die Abteiltüren auf: „Grüß Gott! Die Papiere bitte!, sagten sie, lasen und stempelten, ohne etwas zu fragen, und „Danke! Auf Wiederschauen! Für Lisa waren diese Redewendungen fremd, die Höflichkeit einer Uniform völlig ungewohnt. Aber sie hatte sie verstanden, obwohl es ein anderes Deutsch war.

    „Jetzt sind wir bald in Deutschland, stellte die Kranau Elisabeta fest, „Gott sei Dank.

    Sie faltete flüchtig die Hände, schaute schräg nach oben, dort wo sie Gott vermutete, und dann auf das Gepäck. Alles war noch da. Zwei weitere Holzkoffer gefüllt mit Kleidung, Geschirr und ein paar Erinnerungsstücken an die alte Heimat, hatte sie als Frachtgut aufgegeben und an die Adresse der Familie ihres im Krieg vermissten Mannes nach Burgstadt schicken lassen. Isolde, die jüngere Schwester ihres Mannes, hatte ihrem großen Bruder beim Abschied vor zehn Jahren versprochen, seine Frau Elisabeta statt seiner als ältere Schwester in die Familie aufzunehmen, sollte er nicht mehr aus dem Krieg zurückkehren. Er war nicht mehr zurückgekommen, und Kranau Elisabeta, geborene Harider, wollte nun die Rolle der ältesten Tochter in der Familie ihrer Schwiegermutter übernehmen und die der großen Schwester ihrer Schwägerin Isolde. Diese hatte inzwischen selbst einen Mann und einen zweijährigen Sohn.


    2 Im Vielvölkerstaat Jugoslawien mit sechs Teilrepubliken, vier Sprachen und zwei grundlegend unterschiedlichen Schriften – Kyrillisch und Lateinisch – war die Bezeichnung für die offizielle Amtssprache Serbo-Kroatisch, Kroato-Serbisch oder aber Jugoslawisch. Es gab gravierende Unterschiede, da die einzelnen Regionen außer der Amtssprache ihre eigene Sprache und ihre eigene Kultur beibehielten. Dies führte unter anderem auch zum raschen Verfall Jugoslawiens nach Titos Tod.

    Durchgangslagerleben

    Der Anfang von Deutschland sah genauso aus wie das Ende von Österreich: Berge, Häuser, Bahnhöfe. Der erste Bahnhof in Deutschland bedeutete für den Zug aus Jugoslawien Endstation – für die Reisenden war hier der Anfang von Irgendwo. Lisa wäre gerne weitergefahren. Immer weiter. Immer weiter. Einmal um die Erdkugel und dann in Otice aussteigen, Lisas Wunschtraum. Aber die Gegenwart war nun mal Deutschland, der Beginn eines Lebens, das viel besser werden sollte als das, was Lisa bisher kannte. Lisa wollte aber kein besseres Leben. Sie wollte zurück zu Eva nach Otice.

    Piding stand mit schwarzen lateinischen Buchstaben auf einer weißen Tafel. Kranau Elisabeta drängte zur Abteiltür hinaus. Lisa konnte ihren scharfen Befehlen nicht folgen, weil sie mit dem Puppenbett über fremde Kisten klettern musste. Wenn alle es eilig haben, geht es nie schneller. Jeder wusste das. Niemand hielt sich daran. Menschen und Gepäck verstopften zuerst die Türen im Zug und anschließend die Bahnsteige. Flucht und Ankommen behinderten sich gegenseitig. Ausscheren war unmöglich. Jemand hatte „Immer der Straße entlang!" gerufen. Diejenigen, die den Ruf gehört hatten, folgten ihm. Die Masse zog hinterher, denn es gab nur diese eine Straße.

    Für Lisa bedeutete das Wort Lager Kenn-ich-weiß-ich-war-ich-schon-mal. Das Lager in Piding war aber kein Vernichtungslager für Deutschstämmige – so wie es in Jugoslawien nach dem zweiten Weltkrieg viele gab – , in denen Frauen, Kinder, Alte und Kranke auf nackter Erde zwischen Ungeziefer und Ratten verhungerten, in denen Unschuldige erschossen oder zu Tode gefoltert wurden. Das einzige Vergehen der Inhaftierten waren ihre deutschen Namen. In einem dieser Lager verbrachte Lisa ihre früheste Kindheit. Dass sie überlebt hat, verdankt sie ihrer Großmutter Eva.

    Piding war ein riesiges Holzbarackendorf mit einigen großen Steingebäuden dazwischen. Hinweisschilder Küche, Speisesaal, Essenausgabe führten die Hungrigen direkt zum Ziel. Dreimal am Tag. Morgens und abends gab es zum Brot immer Streichkäse oder Mettwurst. Mit Wasser verdünnte, warme Milch oder nur trockenes Brot, mit Salz und Paprikapulver bestreut, gab es hier nie. In allen Wohnbaracken standen kleine Eisenöfen mit funktionierendem Abzug. Kohlen und Holz durfte sich jeder holen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Die Leute konnten sich frei bewegen, gehen wohin sie wollten. Das Lager war nicht bewacht. Vielleicht ist in Deutschland tatsächlich alles besser als in Jugoslawien, dachte Lisa, dieses Lager ist es jedenfalls.

    Franz und Leni mit Fränzchen und Kranau Elisabeta mit Lisa logierten in einer Vierundzwanzig-Personen-Baracke mit zwölf Stockbetten: grob gezimmerte, ungehobelte Bettgestelle mit einem harten Strohsack, einem flachen Strohkissen und zwei grauen Militärdecken. Eine als Laken, die andere als Decke. Kranau Elisabeta schlief unten, im Bett neben ihr Leni mit Fränzchen. Lisa schlief oben. Im Bett daneben lag Franz, atemnah. Er stank nach kaltem Zigarettenrauch, schnarchte vor sich hin. Lisa ignorierte, was sie roch und was sie hörte, zog die Decke über den Kopf und ließ sich in ihre Traumwelt tragen. Sie kletterte mit dem gleichen Gefühl in ihr Bett, mit dem sie an der Donau hinter der Schafhütte in ihr selbstgebautes Versteck gekrabbelt war. Auch hier durfte sie mit sich selbst allein sein. Das Bett, die Decke, das Kissen musste sie mit niemandem teilen, nicht einmal mit der Kranau Elisabeta.

    Um zehn Uhr abends musste in allen Baracken das Licht gelöscht werden. Franz hatte als einziger eine Armbanduhr. Punkt 22:00 Uhr rief er:

    „Licht aus, Messer raus! Drei Mann zum Blutrühren!"³

    Die Kranau Elisabeta kicherte aus dem unteren Bett heraus in die dunkle Baracke hinein. Die Dunkelheit war es nicht, vor der Lisa sich fürchtete – Dunkelheit schützte, machte unsichtbar – , sondern das Blutrühren.

    Bluttriefende Gesichter aus dem Vernichtungslager erscheinen und Bilder von Eva, Bobbi, Pinguin und Mutz. Die Schule und der Bahnhof von Otice sind da. Evas weißes, winkendes Taschentuch fliegt hinter dem Zug her.

    Lisa redete im Schlaf. Sie redete laut. Ausschließlich Serbisch. Die Sprache ihrer Wahrnehmung, die Sprache, die sie am besten verstand. Die Sprache ihrer Gedankenbilder. Sie war an den Orten, die sie niemals freiwillig verlassen hätte. Die Bilder waren immer grau. Trotzdem wollte sie dort leben.

    Das ist jetzt kein Traum, sagt sie zu Eva, nicht wahr, dieses Mal ist es Wirklichkeit? Ich bin jetzt wirklich hier bei dir? Ich bin zurückgekommen.

    Eva antwortete nicht, sie lächelte nicht, ihre Augen waren starr.

    Der Barackenschlaf hatte etwas vom Lagerschlaf ihrer Kindheit, er kannte keine Ruhe: Brummen und Schnarchen, Aufschreie und Abwehr. In den Köpfen brodelten Erinnerungen, die sich nicht unterdrücken lassen wollten. Individuelle Träume. Überlebenskämpfe. Schreie, die nach Worten suchten. Schreie, die nicht abgewürgt werden wollten. Wunden, die sich gegen den Schorf des Vergessens wehrten, über sich keine Lederhaut wachsen lassen wollten. Mitten in die Barackenträume der Erwachsenen hinein heulte und hustete Fränzchen seine Atemnot stoßweise aus.

    „Verdammt nochmal, hört denn der Hosenscheißer nicht endlich auf zu heulen!", wetterte eine Männerstimme.

    „Er ist krank, was sollen wir denn machen?", rief Franz zurück.

    „Für Ruhe sorgen!"

    Fränzchens Hustenanfall nahm ihm die Luft, er drohte zu ersticken. In solchen Nächten ging Leni mit ihm hinaus und kam erst wieder, wenn er in ihren Armen eingeschlafen war. Tagsüber weinte sein Gesicht manchmal unhörbar. Aus seiner Nase sickerte eitriger Schleim. Seine Hose war ständig nass. Leni hatte zu wenige Taschentücher, zu wenige Windeln, zu wenige Hosen, zu wenige Hemdchen für ihr Kind. Sie wusch mehrmals täglich von Hand in einer kleinen, weißen Blechschüssel aus, was Fränzchen nass gemacht hatte. Die Wäsche hing an einer dicken Schnur von Stockbett zu Stockbett diagonal über dem Eisenofen. Das Feuer im Ofen ging nie aus, obwohl es Sommer war. Franz sorgte für Holz- und Kohlennachschub. Trotzdem trockneten Fränzchens Hosen viel zu langsam. Leni bügelte mit einem aus Otice mitgebrachten Bügeleisen – dessen Aufsatz vor Gebrauch mit glühender Holzkohle befüllt werden musste – die nur leicht eingenässten Höschen trocken, ohne sie vorher zu waschen. Der Stoff dampfte. Die Luft in der Baracke stank nach warmem Urin.

    Für den Hunger jeder Barackengruppe waren eine Küche und eine Speisehalle zuständig. Die Türen zur Küche standen immer offen. Im hinteren Bereich blubberten die Suppen in großen Kesseln. Über den Türrahmen hing ein Schild Zutritt für Unbefugte verboten. Das Wort Unbefugte kannte Lisa nicht. Aber verboten bedeutete verboten, so gern Lisa auch hineingegangen wäre. Obwohl alle Speisen blass aussahen, war die Essensausgabe für Lisa Paradies, Schlaraffenland und Knusperhäuschen in einem. Es fehlten nur noch die gebratenen Täubchen, die einem durch die Luft direkt in den Mund flogen, wenn man ihn weit genug öffnete. Punkt zwölf Uhr ging es los. Die Frauen hinter den langen Tischen der Essensausgabe hantierten mit Suppenkelle, Löffel und manchmal Fleischgabel, wenn nötig auch mit den Fingern. Es musste schnell gehen. Die Schlange Hungriger drängte. Einen Platz an den Esstischreihen bekam aber nicht jeder sofort. Zusammenrücken, Teller an Teller schieben, die Ellbogen anlegen, Teller leer essen und sofort Sitzplatz freimachen. Wer sich einen Nachschlag geholt hatte, musste einen neuen Sitzplatz suchen.

    Das mit dem Wasser aus dem Wasserhahn in der Baracke mit dem Schild Waschräume war wie in dem Kinofilm, den Lisa in der vierten Klasse in Otice gesehen hatte. Einen Brunnen, aus dem man das Wasser im Eimer heraufkurbelte, gab es nirgends, einen Trog, in dem man sich wusch, auch nicht, auch keinen Pumpbrunnen. Rechts an der Barackeninnenwand hingen weiße Waschbecken mit ergrauten Rändern. Die Wasserhähne über den Becken wackelten bei jeder Umdrehung. Aus den Duschköpfen in den Kabinen gegenüber sprühte kaltes Wasser, nur ganz früh

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