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Die 100 Tage der Republik Mayonnaise
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eBook300 Seiten3 Stunden

Die 100 Tage der Republik Mayonnaise

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Über dieses E-Book

Franz-Pepi Neumayer hat es satt, ein passives Rädchen im System zu sein. Kurzerhand sagt er sich los von einer undurchschaubaren Politik der Mächtigen, von Österreich und der gesamten EU, und erklärt seinen Hühnerhof zum unabhängigen Staatsgebiet, dem er selbst als Kaiser vorsteht. Die gute alte Zeit, in der die Österreicher noch etwas galten in der Welt, steht im Begriff wiederbelebt zu werden. Die zur Zollbeamtin ernannte Oma muss fortan die Hofeinfahrt bewachen, der Euro wird abgeschafft und der Schilling wiedereingeführt. Doch bald wird deutlich, dass im Sog der Veränderung nicht nur das eine oder andere Huhn als Kollateralschaden abgeschrieben werden muss.

»Als Staatsmann kann man nicht immer nur nett sein. Politik bedeutet, dass man hin und wieder hart durchgreifen muss. Dass man sagt: Du, du, du und du, ihr schaut jetzt in die Röhre.«

»In einer Ära, wo Xenophobie zur Tugend erhoben, Populisten als Retter gefeiert, Verschwörungstheorien zur neuen Wissenschaft erklärt und alternative Fakten als Evangelium gepriesen werden - leuchtet Die 100 Tage der Republik Mayonnaise wie ein unerwarteter Strahl der Hoffnung auf; ein fröhliches Gegengift gegen den Marsch in die Arme der neuen Rechten, das dem drohenden Schatten des Autoritarismus ein Schnippchen schlägt.« Knut Loch
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Juni 2024
ISBN9783759797421
Die 100 Tage der Republik Mayonnaise

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    Buchvorschau

    Die 100 Tage der Republik Mayonnaise - Horst-Uwe Lachswedel

    Franz-Pepi Neumayer hat es satt, ein passives Rädchen im System zu sein. Kurzerhand sagt er sich los von einer undurchschaubaren Politik der Mächtigen, von Österreich und der gesamten EU, und erklärt seinen Hühnerhof zum unabhängigen Staatsgebiet, dem er selbst als Kaiser vorsteht. Die gute alte Zeit, in der die Österreicher noch etwas galten in der Welt, steht im Begriff wiederbelebt zu werden. Die zur Zollbeamtin ernannte Oma muss fortan die Hofeinfahrt bewachen, der Euro wird abgeschafft und der Schilling wiedereingeführt. Doch bald wird deutlich, dass im Sog der Veränderung nicht nur das eine oder andere Huhn als Kollateralschaden abgeschrieben werden muss.

    Für die Hühner

    Die Österreicher sind ein Volk,

    das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt.

    Inhaltsverzeichnis

    AN EINEM STAHLGRAUEN FRÜHLINGSMORGEN

    100

    99

    97

    ALS DER FRANZ-PEPI DIE MAMA,

    95

    91

    DASS FRANZ-PEPI DIE ELTERN DER MAMA

    88

    85

    80

    77

    74

    DER SCHUSS KNALLTE

    68

    61

    ZUR BEERDIGUNG KAM DER ALFONS,

    57

    56

    ALS DIE MAMA IHREN ELTERN,

    55

    54

    51

    50 ½

    50

    42

    33

    30

    28

    27

    25

    21

    20

    18

    15 ½

    15

    3

    2

    1

    EPILOG

    AN EINEM STAHLGRAUEN FRÜHLINGSMORGEN

    wirft Franz-Pepi den Traktor an und ruft mit zum Trichter geformten Händen solange «Kikeriki» zum Schlafzimmerfenster hinauf, bis ein Hausschuh herabgeflogen kommt. Aus dem geöffneten Fenster sieht verschlafen die Mama auf ihren Gatten hinab und erkundigt sich, ob sie den psychiatrischen Notdienst rufen soll.

    «Nein, aber die Kinder kannst du mir aus den Betten holen. Heute ist der Tag! Perfektes Sonnenblumenwetter!», ruft er aufgeregt.

    Mein Bruder und ich, die das Spektakel im Innenhof längst aus den Betten und ans Fenster getrieben hat, brechen in jubelndes Geschrei aus. Im Nu liegen unsere Pyjamas wie abgelegte Schlangenhäute zwischen Spielzeugtraktor, Plastikpferd und Plastikschweinen auf dem Fußboden, und ein fiebriger Wettkampf entspinnt sich darüber, wer von uns schneller sein Drecker-Outfit angezogen hat. Bruder Klaus in seinem blauen Kinder-Overall sieht aus wie ein Miniatur-Bauer und ich bemühe mich gleichermaßen, den hiesigen Modeidealen in nichts nachzustehen, indem ich ein geblümtes Kopftuch umbinde, wie auch die Oma eines trägt.

    «So, liebe Kinder», sagt Franz-Pepi, als wir schließlich im Hof unten stehen, «das hier ist die Agnes.» Liebevoll tätschelt er einen der an metallenen Zinken aufgehängten Plastikcontainer jenes mechanischen Wunderwerks, das er mir nun etwas genauer als «unsere Einzelkornsämaschine» vorstellt.

    «Wir werden die Agnes gleich hinten an den Traktor hängen, aber zuerst müssen wir sie mit Saatgut beladen», sagt er, belehrend als spräche er zu einem Säugling und nicht mit einer Kindergärtnerin der zweiten Stufe. Bruder Klaus, der aus vorherigen Jahren schon längst Bescheid weiß, öffnet den Deckel des ersten Behälters und beginnt, mithilfe eines Messbechers, die Saatkörner einzufüllen. Ich wäre ihm gerne zur Hand gegangen, denn so schwierig scheint mir die Aufgabe nicht zu sein. Doch weil es mein erstes Mal bei der Aussaat ist, zieht mich der Vater zu einigen Stellschrauben und Griffen an der Seite hin. Während er an der Maschine herumhantiert, erklärt er mir, wie hier der Setzabstand und dort die Saattiefe eingestellt wird, was bei diesem Vorgang alles beachtet und bei jenem unterlassen werden soll. Ich nicke fleißig. Sich Papas Monologe anhören zu müssen, ist offenbar der Preis, den man fürs Traktorfahren bezahlen muss.

    Schließlich bekomme auch ich einen Messbecher in die Hand gedrückt und mit vereinten Kräften dauert es nicht lange bis die Agnes vollständig befüllt ist. Der Papa wirft den Traktor an und die Mama bringt noch schnell ein Tablett mit drei dampfenden Tassen.

    Damit wir so früh am Morgen wenigstens ein bisschen was Warmes im Bauch hätten.

    Dann geht es los. In der vertraut nach Motoröl riechenden Fahrerkabine des Traktors sitzen mein Bruder rechts und ich links vom Papa, der das tuckernde Gefährt über den Vorplatz aus der Einfahrt lenkt. Hinter uns schließt die Mama das Tor und wirft uns drei Kusshände hinterher.

    Wir fahren die Anhöhe hinauf, zu deren Fuß unser Hof in der Senke liegt. Drei schwarze Silhouetten gegen den Morgenhimmel. Franz-Pepi nickt nach Osten hin, wo sich zwischen violett-purpurnen Schlieren die Sonne durch den Dunst kämpft. «Wer von euch weiß, wofür das Morgenrot steht?» fragt er.

    «Russische Atomraketen!» sagt mein Bruder, dessen Wissen sich samt und sonders auf seine Computerspiele und darauf, was er gerade im Fernsehen gesehen hat, bezieht.

    «Heute hoffentlich nicht», lacht Franz-Pepi und wendet sich an mich. «Weißt du es noch, Jessi? Abendrot bringt Sonnenschein, bei Morgenrot wird’s...»

    «...Regen sein!» rufe ich.

    «Super. Und darum säen wir heute die Sonnenblumen. Denn für die Pflanzen ist es am besten, wenn sie gleich als Erstes, nachdem sie in der Erde liegen, eine Ladung Wasser bekommen.»

    Auf der Hügelkuppe wendet Franz-Pepi den Traktor und hält, ohne den Motor abzudrehen. Unter uns liegt das Haus mit seinen sich um den Innenhof gruppierenden Wirtschaftsgebäuden, der Garten mit Beeten und Obstbäumen.

    «Das Auenland», bemerkt Bruder Klaus. Und tatsächlich kann man die von Brachland umgebene, grüne Oase dafür halten: Eine paradiesische Insel in braunschwarzer See.

    Franz-Pepi beschreibt inzwischen mit bogenförmigen Bewegungen seines Armes die Route, die wir mit dem Traktor nehmen müssen, um die bereits gesetzte Saat nicht versehentlich zu überfahren.

    «Ansonsten gäbe es nämlich keine Mayonnaise.»

    Aha. Mein Bruder und ich nicken, als hätten wir vollkommen verstanden.

    Franz-Pepi erklärt: «Wenn wir über die Körner fahren ist die Erde zu fest und die Pflanzen können nicht keimen. Dann gibt es keine Sonnenblumen und auch keine Sonnenblumenkerne. Fehlen die Kerne, können wir kein Öl pressen und ohne Öl gibt es keine Mayonnaise.»

    «Ahaaa», machen mein Bruder und ich.

    «Ihr seht, für den Bauer hängt alles zusammen. Er muss auf jedes kleinste Detail achten, sonst kann es ihn leicht seine Existenz kosten, wenn er nur versehentlich mit dem falschen Bein aufsteht.» Dann erinnert Franz-Pepi daran, sich festzuhalten, er lockert die Bremse und endlich rumpeln wir ins Feld hinein.

    Als wir auf der richtigen Spur sind, lässt mich der Vater den Schalter drücken, mit dem die Agnes aktiviert wird, sodass sie alle sechzig Zentimeter ein Sonnenblumenkorn in die Erde pflanzt. Bruder Klaus, der ebenso seinen Beitrag zu dem gemeinsamen Werk leisten will, fragt: «Darf ich fahren?»

    «Selbstverständlich», ruft Franz-Pepi im Motorendröhnen, «sobald die Leasingraten vom Traktor abbezahlt sind.»

    «Juhu», schreit Bruder Klaus und wirft die Hände in die Höhe, wodurch es ihn fast von der Sitzbank geschleudert hätte. Schnell fasst er einen Handgriff, ehe er fragt: «Und wann ist das?»

    «In drei Jahren», lacht Franz-Pepi und strubbelt ihm übers Haar.

    «Aber dann bin ich ja schon elf. Nein, zwölf», rechnet mein Bruder.

    «Richtig. Ab zwölf darf man Traktorfahren.» Und mit einem listigen Seitenblick fügt Franz-Pepi hinzu: «Aber lenken darf man schon vorher.» Er überlässt meinem Bruder das Lenkrad und zeigt ihm, wie der Traktor in der Spur gehalten wird. Wohlig geschaukelt blicke ich hinaus auf die braune Erde und stelle mir vor, wie hinter uns eine Spur von Sonnenblumen erblüht.

    Wenn ich aus heutiger Sicht an diese Zeit zurückdenke, so erstaunt mich vor allem die Unschuld, mit der das Leben damals vor sich hin plätscherte. Man erhob sich des Morgens, verrichtete sein Tagwerk und ließ sich des Abends erschöpft und zufrieden ins Bett fallen. Morgen für Morgen ging wie gewohnt die Sonne auf und so wie sie Tag für Tag den Erdball umrundete, so tuckerten wir an diesem Vormittag Schlaufe um Schlaufe um den Hof herum. Wir führten ein gewöhnliches Bauerndasein, eingebettet in den kosmischen Rhythmus der Jahreszeiten, geborgen im friedvollen Schoß der Welt. Nichts gab es, nicht das kleinste Zeichen, das darauf hingewiesen hätte, dass diese harmonische Zeit eines stinknormalen Alltags schon sehr bald zu Ende sein würde –außer vielleicht die blutrote Färbung des Himmels, die für Regen stand. Doch selbst wer Wetterallegorien abergläubisch ernst zu nehmen pflegt, hätte niemals die geballte Wucht des Infernos vorauszusehen vermocht, welches noch vor Ablauf des Jahres über uns hereinbrechen und als die «100 Tage der Republik Mayonnaise» in die Geschichte eingehen sollte.

    100

    Am 19. Juli des Jahres 20-- beschließt Franz-Pepi Neumayer, dass es reicht. Mit dem Staat, mit der Politik, mit allem. Anschließend fährt er zum Baumarkt nach Radigstätten und kauft zwei Rollen Absperrband in rot-weiß-rot. An der Kassa wartend entschließt er sich außerdem für ein neues Paar Arbeitshandschuhe. Spontan und entgegen sein knappes Budget. Doch, so die Überlegung, wer ein großes Werk in die Tat umzusetzen plant, der sollte gut ausgerüstet sein.

    Zurück auf unserem Hof in Dunskirchen rammt er den Geländewagen in eine wild auseinander stiebende Horde Hühner hinein, springt aus dem ohne einen Hauch von Ordnung schräg zum Haus geparkten Fahrzeug und lässt dieses mitten auf dem staubigen Vorplatz in der Sonne stehen. Dabei ist er selbst es, der bereits ungezählte Male darauf hingewiesen hat, dass die Hitze der Elektronik schade und dass der Nissan gefälligst unters Garagendach gehöre.

    An diesem Tag macht Franz-Pepi sich weder die Mühe, den Wagen in den Schatten zu parken, noch hat er Interesse daran, das unschuldige Opfer seiner Manie aus dem Kühlergrill zu klauben. Der Tatendrang hat ihn gepackt wie ein schweres bengalisches Fieber und das Ergebnis droht nicht weniger verheerend zu werden.

    Der hölzerne Verschlag neben dem Kuhstall, welchen wir übertrieben «Scheune» nennen, weil dies bei den Höfen der Gegend so üblich, ist die nächste Station seines großen Planes. Diese mit dem Krempel von Generationen angeräumte Rumpelkammer kann mit Fug und Recht als neumayerisches Atommüll-Endlager bezeichnet werden. Verbraucht und Nutzlos ruhen hier Seite an Seite mit Alt und Kaputt, eine handgetriebene Ölpresse, ein schartiger Pflug, genügend abgefahrene Autoreifen, um ein militärisches Trainingscamp auszustatten, sechseinhalb Fahrräder und die alten Holzzuber, in denen früher die Mayo zubereitet wurde. Ein staubbedecktes Durcheinander, welches insgeheim darauf spekuliert, eines Tages in den Antiquitätenstand erhoben und für einen Batzen Geld verkauft zu werden. Und genau deswegen war es undenkbar, den Kram einfach wegzuschmeißen, oder – der Einfachheit halber – den Schuppen in Brand zu stecken; nicht etwa, weil sich niemand diese Plackerei antun wollte. In Franz-Pepis oft gehörten Worten: Hier werden Zeugen der «guten alten Zeit» bewahrt.

    Dies erklärt allerdings nicht, warum er die Zaunpfosten ausgerechnet an diesem Ort verstaut hat. Vielleicht hatte er gehofft, nie wieder einen Zaun bauen zu müssen, vielleicht existiert jener «verfluchte Volltrottel» aber auch wirklich, dem er, während er Pfosten um Pfosten aus der hintersten Ecke des Gerümpelhaufens hervorzerrt, die Schuld an diesem «organisatorischen Verbrechen» anlastet.

    Bis zu diesem Zeitpunkt, der in das sechste Jahr meines Erdendaseins fällt, hielt sich die geschichtliche Bedeutung des Örtchens Dunskirchen, gelinde gesagt, in Grenzen. Abgesehen von den gelegentlichen Streitereien unter Nachbarn, wenn ein Kalb sich an fremder Weide gütlich getan oder ein Hahn nervtötend früh zu krähen beliebte, hatten hier keine nennenswerten historischen Schlachten oder Ereignisse stattgefunden. Und wenn man den Wirten, den Pfarrer und die Greißler-Marie nicht mitzählte, so gab es auch keine berühmten Söhne oder Töchter, auf die wir mit Stolz als auf einen oder eine aus unserer Mitte hätten blicken können. Weder war hier je etwas Bedeutendes geschehen noch machte die Ansammlung verblasster Einfamilienhäuser und Bauernhöfe den Eindruck als würde sie es je auf die Seiten eines Geschichtsbuches schaffen.

    Mit ihren 45 Einwohnern beeindruckte die Ortschaft, deren Namen ich schon damals stets nur mit den Verdauungsproblemen eines Geistlichen assoziierte, einzig dadurch, dass sie sich durch die Wirren der Zeit geschaukelt hatte und bis zu diesem Tag bestehen geblieben war. Doch selbst diese kleine Glanztat konnte im Lichte der jüngsten Verwaltungsreform in Frage gestellt werden, als wir unseres eigenen Bürgermeisters beraubt und dem größeren Radigstätten angegliedert worden waren.

    Die einzigen halbwegs geschichtsträchtigen Symbole im Dorfzentrum von Dunskirchen sind eine große Linde «gepflanzt zum 50. Thronjubiläum seiner EW Majestät», sowie ein Brunnen aus dem Jahre 1908 «errichtet im 60. Regierungsjahr unseres Kaisers Franz-Joseph I». Eine kleine Plakette neben dem spinnwebenverzierten Wasserspeier, darauf Kein Trinkwasser steht, macht für den ortsfremden Besucher – aber nur wenn er die Betonung richtig auf Kein legt – deutlich, dass der Brunnen seit dem Ende der Monarchie ausgetrocknet ist und seither nur noch als Auffangbecken für die welken Blätter des Lindenbaumes dient. Sollte an diesem Punkt die Neugier dessen, der, aus welchen Gründen auch immer, sich in unser Kaff verirrt hat, noch nicht gestillt sein, so informiert eine verwitterte, halb vom Efeu verdeckte Inschrift über den eigentlichen Sinn, der den beiden Denkmälern ursprünglich zugedacht war: «Wurzeln der ruhmvollen Heimat» heißt es über den Lindenbaum, bezüglich des wasserlosen Brunnens ist vom «Quell des zukunftsfrohen Österreich» die Rede. Spätestens jetzt wird unser namenloser Besucher einen kopfschüttelnden Blick über den stillen, trostlosen Platz schweifen lassen und wenn er eine Ahnung von Geschichte hat dabei vielleicht ein bisschen lächeln. Denn rückblickend und insbesondere in Anbetracht zweier verlorener Weltkriege, sind diese allzu optimistischen Einschätzungen von Österreichs Zukunft natürlich vollkommen verlogen. Im gesamten 20. Jahrhundert war Österreich nicht nur kilometerweit am Ruhm vorbei geschlittert, seit dem Ende der Kaiserzeit hatte es zudem keine Veränderung gesehen, die den einstigen Zukunftsoptimismus in irgend einer Weise gerechtfertigt hätte. Wenn sich etwas geändert hatte, so war dies (jedenfalls im Originalton meines Vaters) «zum Schlechten gewesen».

    Doch damit sollte es nun ein Ende haben.

    An diesem heißen Nachmittag des 19. Juli 20--, während die drei am Beckenrand des Brunnens herumlungernden Dorfjugendlichen durch das sporadische Aufheulen-Lassen ihrer Mopedmotoren von ihrer baldigen Flucht kündigen und damit ein akkurates Bild der ländlichen Tristesse Dunskirchens geben, schallen vom Rande des Dorfes die Hammerschläge Franz-Pepi Neumayers. Es ist das sich klopfend ankündigende Geräusch des Neubeginns, welches zugleich den radikalen Bruch mit allem je Dagewesenen und Bekannten darstellt. Denn noch nie, nicht ein einziges Mal in der Geschichte des Dorfes, war jemand auf die Idee gekommen, in der flimmernden Hitze eines Julinachmittages Zaunpfosten einzuschlagen.

    Schwitzend schleppt Franz-Pepi eine Leiter heran und klettert auf das Dach des Hühnerstalles. Ein Fluch entfährt ihm, als er sich beim Abstützen auf dem heißen Wellblech die Hand verbrennt. Doch wissend, um die historische Bedeutung des Moments, beißt er sich auf die Lippen. Er hat eine Rolle zu wahren, richtet sich entsprechend würdevoll auf und stemmt die Arme in die Hüften.

    Was für ein herrlicher Ausblick!

    Nach vorne hin das weite Land unter einem Baldachin aus blauer Seide, Sonnenblumen bis an den künstlichen Horizont der Hochspannungsleitung, Streifen Weidegrases dazwischen, Weizen- und Kartoffeläcker. Rechterhand, halb verdeckt von den Hügeln, drehen sich gemächlich die Rotoren zweier Windkraftanlagen. Zur Linken kann Franz-Pepi das Dach des nächstgelegenen Hofes sehen. Allerdings nur, weil er auf dem Hühnerstall steht – und ein bisschen auch deswegen, weil das Haus der Grösters auf der Hügelkuppe und nicht, wie das unsere, in der Senke gebaut wurde.

    Franz-Pepi zieht tief die Luft ein.

    Seine Füße stecken in Gummistiefeln, unter ihm gackern die Hühner. Dreihundertsechsundsiebzig Hühner minus des einen, das noch immer zwischen Stoßstange und Kühlergrill des Nissan klebt. Dieses traurige Bild kann Franz-Pepi von seinem Standplatz aus freilich nicht sehen, denn zwischen Hühnerstall und Vorplatz, wo das Auto – trotz empfindlicher Elektronik – in der Sonne steht, liegt das Wohnhaus. Ebenso wenig nimmt er wahr, dass dort soeben die Mama aufgetaucht ist, kopfschüttelnd und etwas von schmelzenden Kabeln murmelnd. Aber es wäre Franz-Pepi auch egal gewesen. In diesem Moment hat nur Augen für sein großes Werk. Den neuen Zaun!

    Es ist ja nicht so, als wäre unser Hof bis zu diesem Zeitpunkt ohne Zaun gewesen. Wegen der Hühner ist das gesamte Grundstück inklusive Wohnhaus, Scheune, Kuh-, Schweineund Hühnerstall, Obstgarten, Plumpsklo und Vorplatz von Maschendraht umschlossen. So gesehen scheint nicht besonders einleuchtend, warum Franz-Pepi an diesem Tag eine zusätzliche Reihe von Zaunpfählen außerhalb der ersten einschlug. Vielleicht, so könnte man meinen, war der Zweck des Unterfangens der, dass er den Zaun für Wildtiere oder torkelnde Dorfwirtgäste – also sich selbst – sichtbarer machen wollte. Und damit in einer mondlosen Nacht niemand unversehens gegen das Gitter knallte, hatte er die Pfähle mit rotweiß-rotem Absperrband umwickelt, wie um vorab zu warnen: Achtung hier kommt etwas!

    Offenbar hatte er Weltverbesserungsgedanken.

    Dass er ein gutes Werk getan hat, findet, sich zufrieden umblickend, allenfalls Franz-Pepi selbst. Allerdings bezieht er sich bei dieser Feststellung mehr auf die Qualität der Ausführung, weniger auf den moralischen Wert des Zaunes. «Es ist vollbracht», sagt er und nickt anerkennend vom Hühnerstall herab.

    Der Himmel wölbt sich blau über Obstbäume und Hühner, leise flattern die Absperrbänder in der Brise und nicht eine Wolke trübt den majestätischen Augenblick der Vollendung. Allerdings wäre gut gewesen, wenn in diesem Moment nicht ein spitzer Schrei die Ruhe durchbrochen und eine schimpfende Mama ums Haus gestürmt gekommen wäre: «Welcher Saubär hat die Elsie zerfahren?»

    Es ist klar, dass sie Franz-Pepi meint, den sie sogleich auf dem Dach des Hühnerstalles entdeckt. Das Gezeter ruft auch Bruder Klaus auf den Plan, dicht gefolgt von der Oma, welche in der Eile weder das Strickzeug aus der Hand gelegt, noch den lustigen Wollknäuel bemerkt hat, der artig hinter ihr her hüpft. Selbst Waldemar, der Hund, kommt angetrottet, so wenig will nicht mal er an diesem müden Nachmittag die Chance auf ein bisschen Unterhaltung verpassen.

    Indessen hat die Mama sich der Leiter bemächtigt, fest entschlossen, den Übeltäter nicht eher vom Stalldach herunter zu lassen, bis er über das totgefahrene Huhn Rede und Antwort gestanden hat. Doch dieser denkt nicht einmal daran, wegen so einer Lappalie Rechenschaft abzulegen. Blitzschnell erkennt er das Situationspotenzial: Er auf erhöhtem Posten, unten die gesamte Familie nebst Hund – besser hätte er es nicht planen können. Also hebt er theatralisch die Arme, macht einen Schritt nach vorn und beginnt mit einer Donnerstimme zu sprechen als hätten sich vor ihm die Massen versammelt.

    «Liebe Familie, geschätzte Untertanen...»

    «Du hast hier keine Untertanen, Bürschchen!», unterbricht ihn die Mama.

    Franz-Pepi, nun doch stutzig geworden, beschließt, die im Geiste vorbereitete Rede kurz zu fassen. Mögen ihn die Geschichtsbücher als Mann der Taten und nicht der Worte in Erinnerung bewahren. Geredet wurde in der Politik sowieso genug, gebracht hatte es bis dato nichts.

    Daher beschränkt er sich auf das Wesentliche: «Ich proklamiere», sagt der Mann auf dem Hühnerstall und weist mit umfassender Geste über das weite Land: «Österreich!»

    «Du bist mir aber ein schöner Depp!» tönt es von unten. «Natürlich ist das Österreich.»

    Unbeirrt zeigt die hochaufgerichtete Gestalt nach unten, dorthin wo wir alle versammelt stehen. «Ich proklamiere», donnert er mit gesteigertem Crescendo, damit es auch die Hühner mitkriegen: «Unser Reich!»

    Soweit es einem Menschen möglich ist, in verschwitztem Unterhemd und trotz Gummistiefel eine triumphale Pose einzunehmen, gelingt dies Franz-Pepi. Doch anstatt der begeisterten Beifallsstürme ertönen weiterhin nur die trägen Sommernachmittagsgeräusche der Insekten.

    Sich räuspernd hält er es nun doch für besser, dem soeben Gesagten einige erklärende Worte hinterher zu schicken. Er reckt die Brust, er hebt die Hand zum Himmel und er verkündet: «Ich sage uns los von dem Kasperltheater, das die politische Bühne Österreichs bedeutet. Ich sage uns los von den Fesseln Brüssels und der gesamten EU. Ich sage uns los von einer undurchschaubaren Politik der Mächtigen, von Steuerzahlungen zugunsten ausländischer Banken und von einem Land, dessen politisches Gewicht einzig in der Clownerie besteht, die es zum Amüsement der Weltöffentlichkeit betreibt. Ich sage: Wir sind frei von Österreich!»

    Für einen Moment scheint es, als hätten die Hühner zu Gackern, die Grillen zu Zirpen und die Fliegen zu Summen aufgehört, da dieser Paukenschlag von einer Proklamation die Weltgeschichte in ein Vorher und ein Nachher auseinander reißt. Gleichzeitig reißt auch der Geduldsfaden der Mama, die noch immer die Leiter in der Hand hält.

    «Was mit dem Huhn im Kühlergrill vom Auto los ist, will ich endlich wissen!»

    «Das Huhn», intoniert Franz-Pepi selbstsicher, «ist das sowohl traurige wie notwendige Opfer, welches auf dem Weg zur Freiheit gebracht werden musste. Ihm soll beim heutigen Gala-Dinner auf einem Bett aus Rosmarinkartoffeln Würdigung widerfahren.»

    Als hätte er den Sinn dieser Worte verstanden, beginnt Waldemar plötzlich zu bellen, Bruder Klaus ruft: «Super, Grillhendl!», und die Oma bückt sich nach einem völlig verstaubten Wollknäuel. In diesem Moment der allgemeinen Auflösung bleibt der Mama nichts anderes übrig, als seufzend die Leiter wieder am Hühnerstall anzulehnen und Franz-Pepi das Herunterkommen zu ermöglichen. Außerdem ist auch ihr gegrilltes Huhn lieber als auf

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