Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen
Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen
Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen
eBook273 Seiten3 Stunden

Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Die Forschung der letzten zehn Jahre zur erfolgreichen klinischen Anwendung von psychoaktiven Substanzen hat die Diskussion um eine neue Therapieform angestoßen. Sie nutzt pharmakologische Substanzen nicht im üblichen Sinne als Medikation, sondern es wird damit durch wenige Anwendungen eine Art Türöffner-Funktion erfüllt, um therapeutische Veränderungen zu bewirken."

Dirk Revenstorf

Im Oktober 2021 fand eine Online-Tagung (ketamin-kongress.de) statt, die sich großer positiver Resonanz seitens der teilnehmenden Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen erfreute. Es ging um den begleitenden Einsatz von Ketamin in psychotherapeutischen Prozessen, oder umgekehrt: um die Begleitung des Einsatzes von Ketamin in psychotherapeutischer Behandlung. Ketamin als legalisierte Substanz steht hier auch als Beispiel für die Möglichkeiten, die der Einsatz psychoaktiver Substanzen, wie etwa Psilocybin, bieten könnte.

Erfahrene internationale Fachleute geben hier Einblick in ihre Praxis und in die erstaunlichen Möglichkeiten, besonders mit Begleitung durch Hypnose, und sie thematisieren auch, welche Risiken zu beachten sind. Vorab schaut Fritz B. Simon aus dezidiert systemtheoretischer Perspektive auf diese Entwicklung. Warum ist es so wichtig, zwischen Psyche, Organismus und Kommunikationssystemen zu unterscheiden, wenn man die Wirkung psychoaktiver Substanzen verstehen und gute Professionalisierung und begleitende Forschung sichern will? Und wie ist die Interaktion des biologischen, des psychischen und des sozialen Bereiches der menschlichen Erfahrung unter Einwirkung bewusstseins-erweiternder Substanzen aus systemischer Sicht zu verorten?
Die Herausgeber:innen:
Dirk Revenstorf, Prof. em. Dr., Dipl.-Psych.; Professor für klinische Psychologie an der Universität Tübingen, Psychotherapeut. 1984-1996 Präsident der Milton Erickson Gesellschaft für klinische Hypnose. Autor von 16 Büchern und mehr als 180 Artikeln. Erhielt den Pierre Janet Award of Clinical Excellence der International Society of Hypnosis und den Milton-Erickson-Preis.

www.meg-tuebingen.de
Matthias Ohler, Studium der Philosophie und Linguistik; Systemischer Berater, Musiker; Geschäftsleiter des Carl-Auer Verlages; Geschäftsführer der Auer & Ohler GmbH Heidelberger Kongressbuchhandlung; Leiter der Carl-Auer Akademie im Carl-Auer Verlag; Dozent und Ausbilder in eigenen Weiterbildungsreihen und an Hochschulen, Kliniken sowie Weiterbildungsinstituten. Mitbegründer des Ludwig-Wittgenstein-Instituts.
Frauke Nees, Dipl.-Psychologin, Klinische Hypnose und Hypnotherapie (DGH), Personzentrierte Psychotherapie (GwG, HPG), Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT nach Reddemann), "TraumaticStress Studies" bei Bessel van der Kolk in Boston, IFS (Internal Family System, level 3), Ketamine Assisted Therapy (Polarisinsight, San Francisco, Heal-ingRealms Center in San Francisco, KetaminTraining Center Phil Wolfson), Bindungsbasierte Therapie BBT und SAFE®-Mentorin (Brisch), Somatic Embodiment & Regulation Strategies (Linda Thai), Deep Brain Reorienting (Frank Corrigan), Certified Practitioner Angewandte Improvisation (AIN Applied Improvisation Network). Autorin und Dozentin.
Bernhard Trenkle, Dipl.-Psych., Dipl.-Wi.-Ing.; Psychologischer Psychotherapeut und Coach mit eigener Praxis in Rottweil; 1984–2003 Vorstandsmitglied der Milton Erickson Gesellschaft für Klinische Hypnose (M. E. G.); Gründungsherausgeber des M.E.G.a.Phon (1984–1998); 1986 Gründer des Milton Erickson Instituts Rottweil; Past-Präsident der International Society of Hypnosis (ISH), Mitglied des Direktoriums der Milton Erickson Foundation, Phoenix, USA. 1999 erhielt er den Life Time Achievement Award der Milton Erickson Foundation, 2012 den Milton-Erickson-Preis der M. E. G.
SpracheDeutsch
HerausgeberCarl-Auer Verlag
Erscheinungsdatum3. Mai 2024
ISBN9783849790639
Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen

Mehr von Dirk Revenstorf lesen

Ähnlich wie Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen

Ähnliche E-Books

Psychologie für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen - Dirk Revenstorf

    Ketamin und Psychotherapie – was geht?

    Matthias Ohler & Dirk Revenstorf

    Ein Vorwort

    Im Oktober 2021 fand eine Online-Tagung statt, die sich großer positiver Resonanz seitens der teilnehmenden Ärzt:innen und Psychtherapeut:innen erfreuen durfte: www.ketamin-kongress.de. Es ging um den begleitenden Einsatz von Ketamin in psychotherapeutischen Prozessen, oder umgekehrt: um die Begleitung des Einsatzes von Ketamin in psychotherapeutischer Behandlung. Ketamin als legalisierte Substanz steht hier auch als Beispiel für die Möglichkeiten, die der Einsatz psychoaktiver Substanzen, wie etwa Psilocybin, MDMA und andere bieten können.

    Frauke Nees gab den Impuls, Dirk Revenstorf, Gunther Schmidt, Bernhard Trenkle und die Carl-Auer Akademie haben das Thema gern aufgegriffen, um zu helfen, es nach langem Dornröschenschlaf neu ins Bewusstsein der klinischen Praxis und Forschung bringen. Damit sollte auf die Chancen der Verwendung von Ketamin und anderer psychoaktiven Substanzen für gelingende therapeutische Prozesse aufmerksam gemacht werden. Diese Tagung sollte dazu genutzt werden, zu einem professionellen Umgang mit diesem historisch belasteten Thema beizutragen. Es wurden daher auch amerikanische Autoren eingeladen, um einen Blick auf die dort bereits verbreitete Anwendung der durch psychoaktive Substanzen unterstützten Psychotherapie zu werfen. Das Panorama wurde für diesen Band durch zwei wichtige Beiträge erweitert. Nämlich einmal durch Fritz Simons Essay über eine systemische Einordnung des Themas und zum anderen durch die medizinischpharmakologische Betrachtung der möglichen Nebenwirkungen von Ernil Hansen.

    Erfahrene internationale Fachleute geben hier Einblick in ihre Praxis und in die erstaunlichen Möglichkeiten, besonders mit Begleitung durch Hypnose, und sie thematisieren auch Risiken. Vorab schaut Fritz B. Simon aus dezidiert systemtheoretischer Perspektive auf diese Entwicklung. Wie ist sie aus systemischer Sicht zu verorten? Und warum ist es so nützlich, zwischen Psyche, Organismus und Kommunikationssystemen zu unterscheiden, wenn man die Wirkung psychedelischer Substanzen verstehen und gute Professionalisierung und begleitende Forschung sichern will?

    Die Meinungen über die Verwendung solcher Substanzen in der Therapie sind geteilt. Umso wichtiger ist es, zu informieren, um für einen gepflegten Diskurs und Erfahrungsaustausch die nötige Basis zu haben. Wir freuen uns, dass es die Tagung gab, und noch mehr, dass es dieses Buch jetzt gibt. Und wir freuen uns auf weitere Entwicklungen, Erfahrungsaustausch, verantwortliche Praxis und solide Forschung. Wir hoffen, mit diesem Band mit einer Türöffner-Funktion zu einer breiteren Diskussion über psychoaktive Substanzen in der psychotherapeutischen Landschaft beizutragen, so wie die psychoaktiven Substanzen eine katalytische Funktion im therapeutischen Prozess haben.

    „Die Forschung der letzten zehn Jahre zur erfolgreichen klinischen Anwendung von psychoaktiven Substanzen hat die Diskussion um eine neue Therapieform angestoßen. Sie nutzt pharmakologische Substanzen nicht im üblichen Sinne als Medikation, sondern es wird damit durch wenige Anwendungen eine Art Türöffner-Funktion erfüllt, um therapeutische Veränderungen zu bewirken. In diesem Zusammenhang ist Ketamin von besonderem Interesse, da es sich um eine legale Substanz handelt, die in der Anästhesie verwendet wird und ohne weiteres in der psychotherapeutischen Praxis genutzt werden kann."

    Dirk Revenstorf

    Einige systemtheoretische Aspekte der Nutzung bewusstseinserweiternder Drogen in der Psychotherapie

    Fritz B. Simon

    Betrachtet man die Entwicklung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Feldes der letzten 70 Jahre (seit die ersten Psychopharmaka auf den Markt kamen), so zeigt sich eine Spaltung zwischen – um es idealtypisch zuzuspitzen – Biopsychiatrie und Psychotherapie. Ihr zugrunde liegen teilweise ideologische, zumindest aber theoretische Differenzen. Beide Fraktionen (die natürlich nicht so klar gegeneinander abgegrenzt sind, wie es dieser Begriff suggeriert) konstruieren unterschiedliche Hypothesen (= Erklärungen) für die Entstehung psychischer Dynamiken im Allgemeinen, von „Problemen, „Störungen, „Krankheiten" (wie immer diese jeweils definiert sein mögen) im Speziellen. Wie immer sie es nennen mögen, in jedem Fall aber folgen sie unterschiedlichen Hypothesen darüber, welche Prozesse zu ihrer Lösung (ob ihnen nun ein Krankheitswert zugeschrieben wird oder nicht) beitragen: Die biologische Psychiatrie sucht Heilungs-/Lösungsprozesse durch die Intervention in den Organismus des Klienten, die Psychotherapie in die Kommunikation.

    Dieser, hier nur oberflächlich skizzierte, Kontext bestimmt auch die fachliche Diskussion, ob und wie bewusstseinserweiternde Drogen in der Therapie verwendet werden können oder sollten. Auf der einen Seite gibt es klinische Erfahrungen in der Arbeit, z. B. mit Ketamin, die vielversprechend sind, auf der anderen Seite gibt es prinzipielle ethische und moralische, aber auch theoretische wie klinische Bedenken (siehe die Beiträge in diesem Band).

    An dieser Stelle können eventuell einige Aspekte der neueren Systemtheorie zur konzeptuellen Klärung beitragen (Maturana 1982, Maturana u. Varela 1984, Luhmann 1984, v. Foerster 1985, Spencer-Brown 1969). Sie können hier selbstverständlich nur kurz skizziert werden, doch im besten Fall überbrücken sie ideologische und/oder theoretische Gräben, die praktische Konsequenzen haben …

    Die Prämissen: Der „ganze" Mensch ist in seiner Ganzheit nicht zu erfassen, da er nicht in dieser Ganzheit beobachtet werden, ja, nicht einmal theoretisch erfasst werden kann. Denn es handelt sich um unterschiedliche Phänomenbereiche, mit denen der Beobachter konfrontiert ist, wenn er mit einem Menschen (der er auch selbst sein kann) zu tun hat: der Organismus ist durch materielle, biochemisch-physiologische Prozesse bestimmt, die Psyche wird durch ideelle Dynamiken (Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Zuschreibung von Bedeutung etc.) definiert, und soziale Systeme sind Kommunikationssysteme, die – wie die Psyche – Sinn prozessieren.

    Was alle drei Typen von Systemen miteinander verbindet, ist (und hier kommt die neuere Systemtheorie ins Spiel), dass sie autonom und strukturdeterminiert funktionieren. Das soll heißen: Sie erschaffen und erhalten sich als gegenüber ihren Umwelten abgegrenzte Einheiten selbst, d.h. sie kreieren eine Innen-außen-Unterscheidung, und das tun sie allein durch ihre internen Prozesse („Autopoiese, Maturana 1982). Ihr individuelles Funktionieren ist jeweils von ihren inneren, im Laufe ihrer individuellen Geschichte geformten, Strukturen bestimmt („Strukturdeterminiertheit, Maturana 1982). Konkret heißt das bezogen auf die genannten drei Typen von Systemen: Der Organismus eines Individuums bildet durch seine physischen Prozesse seine eigenen Strukturen und er erhält sie auch so; er grenzt sich aktiv als Einheit gegen den Rest der Welt ab. Er grenzt sich auch – und das ist das Radikale an dem Ansatz – gegen die Psyche des jeweiligen Individuums ab. Analoges kann für die Psyche eines Individuums gesagt werden: Seine Psyche grenzt sich durch ihre eigenen Prozesse vom Rest der Welt ab, und der physische Organismus wird nie Teil der Psyche, d.h. die Psyche eines Menschen enthält keine biochemischen Bestandteile; aber genauso wenig wird die Psyche je Teil des physischen Organismus, d. h. er enthält keine Gedanken oder Gefühle. Organismus und Psyche sind klar gegeneinander abgegrenzte Phänomene und Phänomenbereiche.

    Nach dieser Konzeptualisierung sind Organismus, Psyche und soziale Systeme jeweils klar gegeneinander abgegrenzte autopoietische Systeme, die füreinander jeweils als Umwelten fungieren: Der Organismus des Individuums fungiert als Umwelt seiner Psyche wie auch als Umwelt des jeweiligen sozialen Systems, in dem es lebt (also z. B. seiner Familie, einer Organisation); die Psyche eines Menschen ist demnach Umwelt seines Organismus wie des jeweiligen sozialen Systems; und das soziale System ist Umwelt von Psyche wie auch Organismus. Diese Konzeptualisierung widerspricht dem Alltagsdenken der meisten Menschen, hat aber den großen Vorteil, dass sie in der Lage ist, die Komplexität radikal zu reduzieren, ohne dabei den Zugang zur Komplexität der Systeme zu verbauen, so dass für die Praxis relevante Hypothesen über die Wechselbeziehungen der drei Systeme entwickelt werden können.

    Um ein einfaches Beispiel zu geben, das diesen Aspekt zu veranschaulichen vermag: Eine große Organisation mit Hunderttausenden von Mitarbeitern wie die Deutsche Post ist in ihrer Struktur nicht durch die Psyche der Mitarbeiter definiert. Die Psyche des einzelnen Briefträgers mag zwar dafür verantwortlich sein, dass an einem bestimmten Tag die Briefe nicht ausgetragen werden, aber sie ist nicht dafür verantwortlich, dass überhaupt Briefe ausgetragen werden. Natürlich braucht solch eine Organisation Mitarbeiter (ihre Organismen und psychischen Systeme), die über die individuelle Kompetenz verfügen, die in ihrem Job nötigen Tätigkeiten zu leisten. Aber darüber hinaus ist die „private Psychodynamik des Mitarbeiters nicht für das Erklären der Organisation von Belang. Solange genügend Leute „mitspielen findet diese Organisation statt. Wer Mitglied des Systems bleiben will, muss sein Verhalten an den für die Organisation charakteristischen Spielregeln der Interaktion und Kommunikation orientieren. Er muss sich ihnen anpassen. Andernfalls wird er den dafür gegebenen Regeln entsprechend aus der Kommunikation zeitweise oder dauerhaft ausgegrenzt (gekündigt, krankgeschrieben, in Pension geschickt o. Ä.). In Paarbeziehungen oder Familien und teilweise auch in Teams ist es umgekehrt: Dort passen sich die Spielregeln der Interaktion und Kommunikation den psychischen und auch den körperlichen Strukturen und Zuständen der Mitglieder an. Wenn ein Kind geboren wird, dann ändern sich z. B. die Spielregeln einer Familie radikal, um den Bedürfnissen des Neugeborenen gerecht werden zu können. Die grundlegende Frage ist also: Welches System passt sich dem anderen mehr an? Anpassung heißt aber nicht, dass die jeweilige Autonomie und Innensteuerung (Strukturdeterminiertheit) aufgegeben würde.

    Diese drei Systeme – Organismus, Psyche, soziales System – sind zwar in ihrem Funktionieren autonom – d. h. innengesteuert, denn es gibt keine geradlinigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen Ereignissen in der jeweiligen Umwelt und der Reaktion des Systems –, aber sie sind nicht unabhängig voneinander. Denn sie sind miteinander zu System-Umwelt-Einheiten „gekoppelt und in Interaktion miteinander; sie bestimmen damit gegenseitig die Bedingungen, unter denen ihr autonomes Verhalten sich entfalten kann. „Kopplung bedeutet, dass diese Systeme miteinander eine Ko-Evolution durchlaufen, bei der sie sich gegenseitig „irritieren". Sie sind zwar jeweils durch ihre internen Strukturen determiniert, doch sie reagieren auf Störungen oder Anregungen (= Irritationen) durch ihre Umwelten.

    Die Psyche eines Individuums ist mit seinem Organismus „fest gekoppelt, mit dem jeweils aktuellen sozialen System ist es nur „lose gekoppelt, d. h. das soziale Umfeld kann im Prinzip gewechselt werden, auch wenn das individuell unterschiedlich schwerfallen oder auch attraktiv sein kann.

    Das alles klingt sehr abstrakt, ist aber relativ simpel und sehr praktisch. Dazu ein einfaches Beispiel: Wer als „ganzer Mensch" auf der Straße steht und von einem Passanten angerempelt wird (eine Irritation), reagiert körperlich aufgrund der senso-motorischen Muster/Strukturen, die sich im Laufe seines Lebens geformt haben, und versucht automatisch (strukturdeterminiert) sein Gleichgewicht zu bewahren, indem er reflexhaft eine Bewegung macht, die das Rempeln ausgleicht. Im besten Fall findet er sein Gleichgewicht wieder, im schlechtesten fällt er trotzdem hin. Doch die Interaktion mit dem Rempler (ein soziales Ereignis) irritiert auch die Psyche. Je nachdem, wie sie das Anrempeln erklärt, reagiert die angerempelte Person: Sie schimpft, wenn sie es für Rüpelei hält, hat Mitleid mit dem Rempler, wenn sie seine Blindenbinde sieht, usw.

    Noch ein Aspekt, der theoretisch für unsere Fragestellung von Bedeutung ist: Als psychisches System ist in dieser Konzeptualisierung ausschließlich das Bewusstsein definiert, und soziale Systeme sind als Kommunikationssysteme definiert (vgl. Luhmann 1984). Das bedeutet zum einen, dass soziale Systeme nicht aus ganzen Menschen als Elementen bestehen (was schon aufgrund der Komplexität ihrer individuellen psychischen Systeme die Komplexität explodieren ließe), sondern aus einzelnen Kommunikationen bzw. Mustern der Kommunikation oder auch deren Spielregeln. Und zum anderen bedeutet dies, dass unbewusste Prozesse nicht in der Psyche verortet sein können, wenn psychische Systeme als Bewusstseinssystem konzeptualisiert sind. Es bedeutet nicht, dass unbewusste Prozesse geleugnet würden, sondern dass ihre Genese in einem der mit dem Bewusstsein gekoppelten Systeme verortet wird. Das individuelle Unbewusste ist demnach in biologischen Strukturen (z. B. des Gehirns, aber sicher nicht nur des Gehirns), die sich im Laufe der individuellen Geschichte geformt haben, zu verorten; das kollektive Unbewusste im sozialen System (z. B. in Strukturen der jeweiligen Sprache und Kultur, den aktuellen sozioökonomischen Verhältnissen usw.) (vgl. Simon 2018).

    Um das Modell ein wenig zu konkretisieren: Die Kopplung zwischen einer individuellen Psyche und einem individuellen Körper ist fest, das heißt, beide bilden füreinander Umwelten, die sie nicht loswerden. Allerdings können sie, da sie sich gegenseitig irritieren, versuchen, sich zu beeinflussen. So wird eine Person, die aufgrund der eigenen körperlichen Beschaffenheit einen Leidensdruck entwickelt, entweder versuchen, den Körper zu verändern (z. B. Schönheitsoperation, Hungern, Schminken usw.) oder aber – qua Selbstreflexion, z. B. initiiert durch einen Kommunikationsprozess – das eigene Bewusstsein zu verändern (Body Positivity, Psychotherapie, Coaching usw.).

    Bezogen auf das Feld der Psychiatrie/Psychotherapie kann festgestellt werden, dass alle, die dort professionell tätig sind, vor einem gemeinsamen Problem stehen: Man kann eine fremde Psyche von außen nicht beobachten. Was aber noch gravierender ist: Man kann auch von außen nicht direkt in eine fremde (autonome, strukturdeterminierte) Psyche intervenieren. Das können weder Biopsychiater noch Psychotherapeuten, welcher Schule sie sich auch immer zurechnen mögen. Man muss immer „über die Bande" spielen. Was man als Therapeut praktisch tun kann, ist lediglich in eine der Umwelten eines psychischen Systems zu intervenieren: in den Organismus oder in das soziale System. Mit anderen Worten: Biopsychiater versuchen die körperliche Umwelt eines psychischen Systems zu verändern, indem sie Psychopharmaka verordnen, Elektroschocks verabreichen (euphemistisch Elektrokrampftherapie genannt), früher Insulin- oder Fieberkuren durchführten usw., um so auf das Gehirn, die Synapsen, postsynaptische Potentiale, Transmitter oder irgendwelche andere vermeintliche oder tatsächliche Orte des Organismus einzuwirken. Ihre Hoffnung dabei ist, dass sich dadurch die Dynamik des psychischen Systems ihrer Klienten in einer positiv bewerteten Weise verändert.

    Die Kopplung des Individuums mit dem aktuellen sozialen System, an dem es im Alltag teilnimmt (Familie, Organisation, Freundschaft etc.), ist lose, d. h. es kann gewechselt werden. Darin liegt die Chance, seine Lebensbedingungen zu ändern, und es eröffnet auch die Möglichkeiten der Psychotherapie, d. h. die Kreation eines sozialen Systems, an das gekoppelt das psychische System eines Klienten einen Wandel erfährt. Psychotherapeuten gestalten im optimalen Fall solch ein spezifisches soziales System (die Kommunikation mit dem Klienten oder einem Klientensystem), von dessen Dynamik sie eine Veränderung des sich daran koppelnden psychischen Systems ihres Klienten in einer positiv bewerteten Weise erhoffen (z. B. korrigierende Erfahrungen, die Änderung familiärer Spielregen usw.).

    Was heißt das nun für die Anwendung bewusstseinserweiternder Drogen in der Psychotherapie? Wie deren Name beschreibt, besteht ihre Wirkung darin, körperliche Veränderungen auszulösen, welche die Grenzen des Bewusstseins – und damit, systemtheoretisch betrachtet, der Psyche – erweitern.

    Um dies einordnen zu können, ein Blick auf die Entwicklung psychischer Strukturen. Wenn ein neugeborener menschlicher Organismus zum Teilnehmer eines Kommunikationssystems (z. B. einer Familie) wird, entwickeln sich selbstorganisiert seine psychischen Strukturen. Es ist ein Prozess, der evolutionären Regeln folgt, d.h. dem Dreischritt von Variation, Selektion und Retention. Aus der Menge der Wahrnehmungen erfolgt eine Selektion aufgrund interner Relevanzkriterien (z. B. Bedürfnisbefriedigung usw.), die mit einer Selektion des eigenen Verhaltens gekoppelt wird (Bildung sensomotorischer Muster, Assoziationsnetze, Strukturen des Denkens und Fühlens, Verhaltensmuster usw.). Wenn sich Erfahrungen wiederholen, so werden diese Strukturen bestätigt (Retention). Auf diese Weise werden im Laufe der individuellen Geschichte – körperlich fixiert – dem Bewusstsein selbstorganisiert Strukturen, Prozessmuster, Erfahrungsmöglichkeiten und Grenzen der Erfahrung verpasst.

    Beispielhaft für dieses Selektionsprinzip ist das Gehirn: Zu Beginn der individuellen Entwicklung sind die Möglichkeiten der Netzwerkbildung zwischen Neuronen nahezu unbegrenzt: Mit der zunehmenden Erfahrung (Lernen) werden diese Möglichkeiten aber reduziert, d. h. bestimmte Netzwerkverbindungen werden verstärkt, während andere mangels Aktivierung verkümmern. Mit anderen Worten: Das Lernen eines Systems nimmt ihm vielfältige Möglichkeiten der alternativen Strukturbildung. Das gilt aber nicht nur für das Gehirn, sondern für selbstorganisierte Systeme generell.

    Gesteuert wird dieser Selektionsprozess in Bezug auf das Bewusstsein wie auch den Organismus (insbesondere des Gehirns) durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit in der Kommunikation.

    Worauf die Aufmerksamkeit in der Kommunikation nicht fokussiert wird, tritt nicht ins Bewusstsein. Dies ist das Selektionsprinzip. Konsequenz: Worauf die Aufmerksamkeit nicht fokussiert wird, existiert auch nicht für das Bewusstsein.

    Doch, was außerhalb dieses Fokus der Aufmerksamkeit in der Kommunikation geschieht, ist rein physiologisch zu einem großen Teil der Wahrnehmung zugänglich, auch wenn es nicht bewusst wird. Die Selektionskriterien und -schwellen des Organismus sind andere als die des Bewusstseins. Diese nicht ins Bewusstsein tretenden Ereignisse und Prozesse (Irritationen des Organismus) finden ihren Niederschlag in unbewussten (d. h. körperlichen) Strukturen und Prozessmustern. Das bedeutet, dass all dies in die Strukturbildung, das Knüpfen von organischen Assoziationsnetzen, physiologischen Reaktionsmustern etc. eingeht, und damit dann als relevante Umwelt des Bewusstseins dessen Funktion irritiert.

    An dieser Stelle muss betont werden, dass der Irritationsbegriff der neueren Systemtheorie, abweichend vom umgangssprachlichen Gebrauch, neutral in der Bewertung ist. Eine Irritation kann positiv bewertet werden, etwa als Anregung und Kreativität fördernd, aber auch als Störung, die das Gleichgewicht des Systems in Frage stellt. Es gibt keine absolute und kontextunabhängige Bewertung von Irritationen bzw. ihrer Wirkungen.

    Bewusstseinserweiternde Drogen verschieben, so die Hypothese (um zum Thema zurückzukommen), die Grenze zwischen bewussten und unbewussten Strukturen. Sie eröffnen einen Zugang zu bis dahin unbewussten Strukturen und Assoziationen, indem sie den Fokus der Aufmerksamkeit auf im Prinzip bewusstseinsfähige, aber im Alltag aus dem Bewusstsein ausgeschlossene Strukturen richten. Analoges ist unter sensorischer Deprivation und auch im Traum zu beobachten: Der Mangel an Irritationen durch die physische und/oder soziale Umwelt führt zur Verschiebung der individuellen Aufmerksamkeit auf Inhalte, die im Wachbewusstsein den erlebten, sozialen Selektionsprinzipien folgend, ausgegrenzt sind. Ob dies jeweils positive oder negative Wirkungen auf denjenigen hat, der dies erlebt, ist nicht generell zu bewerten.

    Zur Anwendung in der Therapie ist zunächst festzustellen, dass in jeder Form von Heilbehandlung, in der es zur Interaktion Therapeut/Klient kommt, unvermeidlich ein soziales System (=Kommunikationssystem) kreiert wird. Also ist auf dessen Gestaltung zu achten und zu reflektieren, welche Suggestionen, Beziehungsangebote, Rollenzuschreibungen, Wirklichkeitskonstruktionen, Kausalitätsmodelle usw. implizit vermittelt werden.

    Entscheidend erscheint aus einer systemtheoretischen Perspektive, dass bei jeder Intervention alle drei miteinander gekoppelten Systeme betroffen sind. Daher ist die Art

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1