Diplomarbeit Hyperaktivität Adhs Ads
Diplomarbeit Hyperaktivität Adhs Ads
Fachbereich 9 - Erziehungswissenschaften
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
einer Diplom-Pädagogin
Thema:
vorgelegt von:
Wiebke Haverkamp
am:
27. August 1996
Gutachter:
Prof.`in Dr. Line Kossolapow
Ko-Gutachter:
Dr. Hans-Günther Roßbach
"Hiermit erkläre ich an Eides Statt, daß ich die voliegende Diplomarbeit ohne fremde
Hilfe angefertigt und nur die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe."
........................................
(Wiebke Haverkamp)
"Das vorliegende Exemplar ist im Sinne der Prüfungsordnung die urschriftliche
Ausfertigung der Diplomarbeit."
I
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis I
Abbildungsverzeichnis IV
Abkürzungsverzeichnis V
1 Einleitung 1
1.1 Einführung in die Thematik und Erläuterungen zur Problematik...........................1
1.2 Definitorische Erläuterungen der Begriffe Hyperaktivität und Kreativität.............3
1.2.1 Definition des Begriffes Hyperaktivität ............................................................3
1.2.2 Definition des Begriffes Kreativität...................................................................5
1.3 Zum Verlauf der Arbeit...........................................................................................8
2 Das hyperaktive Kind im Vorschulalter....................................................................10
2.1 Das Erscheinungsbild des hyperaktiven Kindes.................................................11
2.1.1 Hyperaktivität..................................................................................................12
2.1.2 Aufmerksamkeitsstörungen.............................................................................13
2.1.3 Impulsivität......................................................................................................13
2.1.4 Emotionale Auffälligkeiten.............................................................................14
2.1.5 Lernstörungen..................................................................................................15
2.1.6 Teilleistungsstörungen.....................................................................................15
2.1.7 Soziale Schwierigkeiten...................................................................................15
2.1.8 Selbstwertprobleme.........................................................................................16
2.2 Zur Ätiologie des hyperaktiven Verhaltens...........................................................17
2.2.1 Genetische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität...................................18
2.2.2 Organische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität...................................19
2.2.2.1 Pränatale Schädigung ...............................................................................19
2.2.2.2 Perinatale Schädigung...............................................................................20
2.2.2.3 Postnatale Schädigung...............................................................................20
2.2.3 Ökologische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität.................................20
2.2.4 Psycho-soziale Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität.............................22
2.2.4.1 Die ökonomisch-kulturellen Einflußfaktoren............................................24
2.2.4.2 Die Einflußfaktoren des sozialen Umfeldes..............................................24
2.2.4.3 Die psycho-emotionalen Einflußfaktoren ................................................25
2.3 Die Diagnose der Hyperaktivität............................................................................27
2.3.1 Differentialdiagnostik......................................................................................28
2.3.2 Klinische Diagnostik........................................................................................31
2.4 Die Beziehungsmuster des hyperaktiven Kindes .................................................35
2.4.1 Die Beziehung des hyperaktiven Kindes zu den Eltern...................................36
2.4.2 Die Beziehung des hyperaktiven Kindes zu anderen Kindern........................39
2.5 Die Selbsteinschätzung des eigenen hyperaktiven Verhaltens..............................40
3 Theoretische Grundlagen der Kreativitätsforschung in Verbindung mit
Hyperaktivität 41
3.1 Ansätze der amerikanischen Kreativitätsforschung...............................................41
3.1.1 Die Geschichte der Kreativitätsforschung.......................................................41
3.1.2 Kreativitätstheorien..........................................................................................42
3.1.3 Kreativität und Intelligenz...............................................................................47
3.1.4 Motivation zur Kreativität...............................................................................49
3.2 Die kreative Persönlichkeit und das hyperaktive Kind..........................................51
3.2.1 Flüssigkeit........................................................................................................52
II
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abbildung
ADD Attention Deficit Disorder
ADHD Attention Deficit Hyperactivity Disorder
AÜK Arbeitskreis überaktives Kind
bzw. beziehungsweise
ca. circa
d.h. das heißt
DSM Diagnostisches und Statistisches Manual
EEG Elektroenzephalogramm
et al. et allii
evt. eventuell
f. folgende
ff fortfolgende
HKS Hyperkinetisches Syndrom
Hrsg Herausgeber
ICD International Classification of Diseases
MAS Multiaxiales Klassifikationssystem
MCD Minimale Cerebrale Dysfunktion
MFF-Test Matching Familiar Figures-Test
u.a. unter anderem
usw und so weiter
TTCT Torrance Tests of Creative Thinking
vgl. vergleiche
Vol. Volume
WHO World Health Organisation
z.B. zum Beispiel
ZNS Zentralnervensystem
1
1 Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik und Erläuterungen zur
Problematik
Jedes Kind muß während seiner Entwicklung schwierige Phasen seiner persönlichen
Entfaltung durchlaufen und bewältigen. Neben solchen "normalen"
entwicklungsbedingten Problemen treten bei manchen Kindern
Verhaltensschwierigkeiten auf, die besorgniserregend sind. Dadurch wird nicht nur die
Erziehungsatmosphäre belastet, sondern die notwendige Entfaltung des Kindes gestört.
In diesem Fall ist pädagogisches Handeln gefordert. 1
In der Pädagogik und der Psychologie wird vieles im Verhalten von Kindern, das von
Eltern schnell als "Ungezogenheit" oder "Trotz" tituliert wird, als Notsignal des Kindes
verstanden. Das Kind befindet sich in einer Notsituation, die von seiner Umgebung oft
nicht wahrgenommen wird. Infolgedessen weiß das Kind sich nicht mehr zu helfen, es
kommt möglicherweise zu Verhaltensschwierigkeiten. Verhaltensauffälligkeiten sind
somit die Reaktion des Kindes auf eine gestörte Lebenswelt. Diese Vehaltensauffällig-
keiten übernehmen als Mittel der Problemlösung ebenfalls eine vorbeugende Funktion,
die das Kind vor schweren Störungen und Erkrankungen schützt. 2
Die Zahl verhaltensauffälliger Kinder nimmt in der heutigen Gesellschaft zu, obwohl
die meisten Verhaltensschwierigkeiten bei Kindern durch einen pädagogisch ver-
ständnisvolleren Umgang gemildert oder behoben werden können. Eine Art der
Verhaltensauffälligkeiten ist das hyperaktive Verhalten bei Kindern. Diese fallen durch
kognitive, soziale und motorische Entwicklungsdefizite auf, zu deren Hauptmerkmalen
Angst, Unsicherheit, Aggression, Hyperaktivität und ein stark gestörtes oder wenig
entwickeltes Selbstwertgefühl gehören. 3
Hyperaktives Verhalten bei Kindern äußert sich in einem hohen Niveau der kindlichen
Handlungen und Aktivität, auch in Situationen, in denen dies unangemessen ist. 4
Das hyperaktive Kind ist nicht in der Lage, seine Aktivität zu reduzieren, so daß es sich
in einer ständigen Unruhe befindet und seine Aktivität somit nicht nach bestimmten
sinnvollen Zielen ausrichten und steuern kann. Die hyperaktiven Kinder sind daher
nicht einfach aktiver als andere Kinder, sondern sie besitzen die Schwierigkeit ihre
Aktivität zu kontrollieren. Ein weiterer schwerwiegender Aspekt ist, daß die Umwelt
unterschiedlich tolerant auf das hyperaktive Verhalten des Kindes reagiert. Es ist daher
immer eine subjektive Entscheidung, ab welchem Ausmaß ein Verhalten als hyperaktiv
betrachtet wird. Dies hängt von der jeweiligen Belastbarkeit der Person und den
Normvorstellungen der Gesellschaft ab. 5
Hyperaktive Kinder brauchen aus diesen Gründen wirksame Hilfe, die von einem pro-
fessionellen Helfer - einem Pädagogen - kommen kann.
Dazu bietet die Kreativitätsforschung vielfältige Möglichkeiten. Kreativ sein bedeutet
schöpferisch tätig zu sein. Daraus ergibt sich die Frage, ob hyperaktive Kinder
überhaupt schöpferisch tätig sein können oder anders gefragt, kann die Erziehung
hyperaktiver Kinder so gestalten werden, daß sie diesen zu kreativen Potentialen
verhilft?
Die Begriffe Kreativität und Kreativitätsförderung dürfen innerhalb dieser Thematik
nicht von den allgemeinen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen her
auf die Problematik des hyperaktiven Kindes übertragen werden. Vielmehr muß
untersucht werden, in welchem Maße und in welcher Art Kreativität und
Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern aufgrund ihrer Fähigkeiten oder ihres
Entwicklungsstandes möglich ist. Daraus ergeben sich zahlreiche Fragen, die im
Verlauf dieser Arbeit erläutert werden sollen: Welchen Sinn kann Kreativitätsförderung
für die Persönlichkeitsentwicklung des hyperaktiven Kindes haben? Sind
Unzulänglichkeiten in der Persönlichkeitsentwicklung durch Kreativitätsförderung ab-
zubauen?
Kreativität umfaßt kognitive, affektive und psychomotorische Aspekte. Sie trägt im we-
sentlichen dazu bei, selbständig angemessene Problemlösungen zu finden. Daher ist sie
als Grundausstattung des Menschen in allen Ausprägungen zu finden. 6
Zu ähnlichen Aussagen gelangt Landau (1984), indem sie sagt, daß in jedem Menschen
die Grundlage für die Kreativität vorhanden ist, und daß es die Aufgabe der Erziehung
ist, die Kreativität zu entwickeln, damit sie zur natürlichen Aktivität des Selbst werden
kann. 7
Daraus kann geschlossen werden, daß auch in einem hyperaktiven Kind die Grundlage
zur Kreativität vorhanden sein muß.
Sinn und Ziel einer Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern kann primär sicher-
lich nicht in einem gesellschaftlichen Aspekt liegen, in dem Sinne, daß hyperaktive
Kinder zu einer für die Gesellschaft nutzbringenden Kreativität erzogen werden.
Vielmehr ist das Ziel der Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern in erster Linie
die Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung.
Diese Art der Kreativität, die auch intraindiviuelle Kreativität genannt wird, beschreibt
die Situation, in der ein Individuum für sich etwas völlig Neues entdeckt, dies kann z.B.
eine Idee sein, an die dieses Individuum vorher nie selbständig gedacht hat, die jedoch
in der bestehenden Gesellschaft für andere Menschen bereits bekannt ist. Während
5Vgl. Petermann, U. (1991), S. 121.
6Vgl. Limberg, R. (1978), S. 9.
7Vgl. Landau, E. (1984), S. 93.
3
Landau (1984) betont, daß die individuelle Kreativität für die Entwicklung des Indivi-
duums besonders wichtig ist. Des weiteren ist sie die Voraussetzung für soziale
Kreativität, die wiederum für die Entwicklung der Gesellschaft notwendig ist. 9
"Jährlich schwillt die Literatur über das hyperkinetische Kind weiter an:
Klarheit über Zusammenhänge ist trotzdem weniger denn je in Sicht. Ur-
sächliche Faktoren, Untersuchungsbefunde, Klassifikationen und Therapie-
empfehlungen werden oft nur in Form von Listen abgehandelt. ...Das
hyperkinetische Kind ist kaum noch zu fassen."
10
Der Begriff Hyperaktivität ist somit nicht der einzige Terminus, der in Forschung und
Praxis verwendet wird. Bereits vor 1970 ergab eine Zählung eines Komitees in einem
Gegenwärtig werden in der Medizin und in der Psychiatrie bereits über 70 verschiedene
Begriffe für das "Zappelphilipp-Syndrom" entsprechend den Deutungen seiner
Ursachen und Symptome verwendet. 14
Dennoch stimmen die meisten Forscher darin überein, daß es sich bei der
Hyperaktivität um eine "Verhaltensstörung" handelt. Dieses Einvernehmen beruht
darauf, daß sich zunächst überwiegend die Medizin mit dieser Thematik beschäftigte
und sie erst später in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, so auch in der Pädagogik,
Bedeutung bekam. Hieraus resultierte ein Umdenken und Hyperaktivität wurde nicht
mehr vorbehaltlos als "Verhaltensstörung" aufgefaßt, sondern unter dem neutraleren
Begriff der "Verhaltensauffälligkeit" betrachtet. Die Folge davon ist, daß Hyperaktivität
von verschiedenen wissenschaftstheoretischen und fachdidaktischen Standpunkten aus
unterschiedlich betrachtet wird. Aus pädagogischer Sicht wird das hyperaktive Kind mit
seinen Entwicklungsschwierigkeiten und Selbstwertproblemen gesehen, während der
Mediziner an einer (medikamentösen) Behandlung der vermeintlichen (organischen)
Ursache interessiert ist. 15
Festlegung auf eine Ursache, verweist aber durch den medizinischen Terminus auf das
Organische. Somit wird die Verhaltensauffälligkeit zur Krankheit und eine medizini-
sche Behandlung wird gerechtfertigt.
Im Verlauf dieser Arbeit soll die Definition des Begriffes Hyperkinetisches Syndrom
nach dem multiaxialen Klassifikationsschema (MAS) für psychiatrische Erkrankungen
im Kindes- und Jugendalter nach Rutter, Shafer und Sturge (1986) als grundlegend
angenommen werden:
Nach dem multiaxialen Klassifikationssystem werden noch drei Varianten des hyperki-
netischen Syndroms unterschieden: 19
Ursprünglich stammt der Begriff Kreativität von dem lateinischen Wort "creare" ab,
was soviel wie zeugen, gebären, schaffen, erschaffen heißt und somit schon in seiner
Ursprünglichkeit etwas dynamisches, sich entwickelndes beinhaltet, was auf ein
bestimmtes Ziel hinweist. 21
Diese Begriffsdefinition wurde bis in das 20. Jahrhundert hinein auf den künstlerischen
Bereich verengt. Ab 1950 setzten systematische wissenschaftliche Untersuchungen in
Amerika ein, ausgelöst durch die vielbeachtete Rede von Guilford über das Thema
"creativity", die er als Präsident der "American Psychological Association" gehalten
hatte.
Ulmann (1970) verwendet Kreativität zunächst als Arbeitsbegriff, der verschiedenen
ältere Begriffe impliziert und der durch eine wachsende experimentelle Forschung
ständig einen neuen Sinn erhält. 22
In den 70er Jahren wurde der Begriff Kreativität mit unzähligen Definitionen belegt,
die zu mehr Verwirrung als zur Klärung beitrugen. Auf einem Symposium über
Kreativität haben Wissenschaftler fast 400 verschiedene Bedeutungen zum
Kreativitätsbegriff benannt. Die häufigsten Begriffassoziationen waren: Originalität,
Erfindungsreichtum, Flexibilität, Entdeckung, Außergewöhnliches, Intelligenz sowie
verschiedene synonym verwandte Begriffe wie z.B. produktives Denken, divergentes
Denken, Originalität, Einbildungskraft und Erfindungsreichtum. 23
Ein Zitat von Ausubel (1968) ist in diesem Zusammenhang auch heute noch von beson-
derer Bedeutung:
"Creativity is one of the vaguest, most ambigous, and most confused terms
in psychology and education today." 24
Im Verlauf der letzten Jahre wurde Kreativität vor allem in der Freizeitindustrie zu
einem Modewort gemacht, um die vielseitigen Spiel- und Freizeitartikel zu vermarkten.
Im Sinne einer wissenschaftlichen Betrachtung ist der Kreativitätsbegriff deutlich von
dem Freizeitbegriff abzugrenzen.
Im wissenschaftlichen Kontext müssen bei der Begriffsbestimmung von Kreativität im-
mer verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. Dies ist zum einen der
gesellschaftliche Aspekt, der die gesellschaftlichen Verhältnisse umfaßt und zum
20Vgl. Mühle, G. / Schell, Ch. (1970), S. 7.
21Vgl. Landau, E. (1984), S. 13.
22Vgl. Ulmann, G. (1970), S. 13.
23Vgl. Eisler-Stehrenberger, K. (1990), in: Petzold, H. / Orth, I. (1990), S. 115.
24Ausubel, D. P. (1968), zitiert nach Limberg, R. (1978), S. 13
7
anderen ist es der Persönlichkeitsaspekt der jeweiligen Person und dessen Umfeld. Aus
den verschiedenen Grundannahmen ist es nicht verwunderlich, daß eine große Anzahl
von Definitionen entstehen, die alle einen unterschiedlichen Schwerpunkt setzten.
Eisler-Stehrenberger (1990) unterstreicht diese Aussage, indem sie sagt:
Beer und Erl (1974) dagegen beziehen sich auf die Definition von Mead, die das Neue
in bezug auf die Erfahrungswelt des Individuums in den Vordergrund stellt, die für des-
sen Entwicklung von zentraler Bedeutung ist:
"In dem Maße, als eine Person etwas für sie selbst neues macht, erfindet,
ausdenkt, kann man sagen, daß sie einen kreativen Akt vollbracht hat."
27
Die individuelle Kreativität ist zugleich Voraussetzung für die soziale Kreativität, die
für die Entwicklung einer Gesellschaft und einer Kultur notwendig ist.
Das subjektiv Neue bekommt innerhalb der verschiedenen Definitionskonzepte eine
herausragende Bedeutung. So läßt sich prinzipiell jede Neuentdeckung eines Menschen
als einen kreativen Akt bezeichnen, so daß jeder Mensch über ein bestimmtes Maß an
kreativen Fähigkeiten verfügt. Diese Aussage wird in dem Definitionskonzept von
Guilford (1950) bestätigt, der besonders die Untrennbarkeit der Kreativität von der
Persönlichkeit des kreativen Menschen hervorhebt und Kreativität als eine Fähigkeit be-
schreibt, die alle Menschen bis zu einem gewissen Grade besitzen, egal wie schwach
oder wie selten auch immer, so daß von allen Menschen kreative Akte erwartet werden
können. 28
In diesen Aussagen spiegelt sich das pädagogische Interesse an der Kreativität wieder.
Im Blickpunkt steht die Voraussagbarkeit und Erlernbarkeit der Kreativität. Dabei ist
für die Entwicklung des Kreativitätspotentials zum einen die Persönlichkeit von
besonderer Bedeutung und zum anderen die Bedingungen und Voraussetzungen der
Umwelt, die den kreativen Menschen beeinflussen.
Landau (1984) kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß den verschiedenen kreativen
Prozessen eine gemeinsame Fähigkeit zu Grunde liegt. Dies ist die Fähigkeit, Beziehun-
gen zwischen vorher unbezogenen Erfahrungen zu finden, die sich in der Form neuer
Denkschemata als neue Erfahrungen, Ideen oder Produkte ergeben. Dieses kreative Po-
tential ist in jedem Individuum vorhanden und kann in jeder Lebenssituation angewandt
werden. 29
Kreativität ist somit zum einen die Fähigkeit, Beziehungen zwischen zuvor
unabhängigen Erfahrungen herzustellen und zum anderen beinhaltet Kreativität die
Haltung des Individuums gegenüber seiner Umwelt, die es ihm ermöglicht, diese in
neuer Gestalt zu erleben, sensibel auf Veränderungen zu reagieren und auf
Gegebenheiten produktiv einzuwirken. 30
Im folgenden zweiten Kapitel wird zunächst ein Überblick über die Thematik der Hy-
peraktivität gegeben. Dieser Überblick liefert Informationen über das Erscheinungsbild
der Hyperaktivität, wobei die primären und sekundären Symptome der Hyperaktivität
vorgestellt werden. Des weiteren wird die Ätiologie des hyperaktiven Verhaltens
dargestellt, in der Auseinandersetzung mit genetischen, organischen, ökologischen und
psycho-sozialen Verursachungsfaktoren. Außerdem wird in diesem Kapitel die
Diagnostik der Hyperaktivität beschrieben, wobei die Gründe für die Schwierigkeiten
einer diagnostischen Erhebung diskutiert werden. Ferner werden im zweiten Kapitel die
unterschiedlichen Beziehungsmuster des hyperaktiven Kindes und deren Auswirkungen
auf das Verhalten des hyperaktiven Kindes dargestellt. Abschließend wird auf die
Selbsteinschätzung des hyperaktiven Verhaltens des Kindes eingegangen.
Das zentrale Thema des dritten Kapitels bilden die theoretischen Grundlagen der Krea-
tivitätsforschung. Dabei wird zunächst auf die Anfänge der Kreativitätsforschung einge-
gangen, die sich auf die Geschichte der Kreativitätsforschung, auf unterschiedliche
Kreativitätstheorien, auf den Zusammenhang zwischen Kreativität und Intelligenz und
auf die verschiedenen Motivationstheorien beziehen. Daran schließt sich die
Darstellung der kreativen Persönlichkeit an, wobei an dieser Stelle bereits Bezüge auf
29Vgl. Landau, E. (1984), S. 14.
30Vgl. Bloch, S. (1982), S. 19.
9
die Problematik der Hyperaktivität hergestellt werden. Weiterhin werden der kreative
Prozeß und das kreative Produkt vorgestellt, ebenfalls im Zusammenhang mit
Hyperaktivität. Außerdem werden die Bedingungen einer kreativen Umwelt zur
Förderung des hyperaktiven Kindes beschrieben.
Im abschließenden siebten Kapitel wird auf die Notwendigkeit einer Erziehung zur
Kreativität bei hyperaktiven Kindern im Vorschulalter eingegangen, wobei die grundle-
genden Aspekte der Kreativitätsforschung einbezogen werden. Des weiteren werden die
pädagogisch-therapeutischen Interventionsmöglichkeiten bei hyperaktiven Kindern hin-
sichtlich ihrer Brauchbarkeit bewertet und mit anderen Interventionsmöglichkeiten ver-
glichen. Außerdem soll eine Integration kreativer Aspekte in die therapeutische Arbeit
vorgenommen werden. Zusätzlich wird ein Ausblick auf notwendige zukünftige For-
schungsansätze gegeben.
10
Dennoch bleibt die Reaktion anderer Kinder auf das hyperaktive Kind nicht unbeachtet.
Es sieht sich selbst oft sehr negativ, zeigt ein geringes Selbstvertrauen, welches häufig
durch Selbstüberschätzung überspielt wird. Schon hier entscheidet die Fähigkeit der Be-
treuungsperson, inwieweit das Selbstvertrauen des Kindes beeinträchtigt wird, weil nie-
mand das kindliche Verhalten als "krankhaft" erkennt. Hyperaktive Kinder brauchen
eine konsequente Führung, um Beziehungen zu anderen aufbauen zu können. 34
Bis heute hat sich das ungenaue Erscheinungsbild des hyperaktiven Verhaltens kaum
verändert. Die Uneinheitlichkeit hängt zum einen mit der Vielfalt der Ursachen und
zum anderen mit der Synthese der verschiedenen Einflußfaktoren zusammen.
Die Komplexität des Erscheinungsbildes kann sehr unterschiedlich sein, so daß bei eini-
gen Kindern nur wenige Symptome auftauchen, während andere einen vollständigen
Symptomkomplex aufweisen. 36
Aus diesem Grund kann es das hyperaktive Kind nicht geben, sondern viele
hyperaktive Kinder mit individuell verschieden gepaarten Symptomen. Generell wird in
der Literatur zwischen Kernsymptomen oder Zentralsymptomen und Sekundär- bzw.
Periphersym-
ptomen unterschieden. Jedem dieser Symptomgruppen werden jeweils vier Einzelsym-
ptome zugeordnet.
35Hoffmann, H. (1848), zitiert nach von Lüpke, H. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 57.
36Vgl. Bauer, A. (1986), S. 39.
37Vgl. Ebenda, S. 40.
12
ZENTRALSYMTOME PERIPHERSYMTOME
HYPERAKTIVITÄT Lernstörung
AUFMERKSAM-
Teilleistungsstörung
KEITSSTÖRUNG
HYPERKINETISCHES
SYNDROM
IMPULSIVITÄT Soziale Störung
EMOTIONALE Selbstwert-
AUFFÄLLIGKEIT probleme
2.1.1 Hyperaktivität
Zunächst einmal kann jedes Verhalten eines Menschen als Aktivität bezeichnet werden
und ist somit unauffällig. Psychopathologisch wird Hyperaktivität als ungerichtete, ziel-
lose motorische Aktivität definiert, die sich bis zur Tobsucht steigern kann. Hinzu
kommt ein starker Rededrang sowie die Unfähigkeit eine kurze Zeit still zu sitzen. 38
2.1.2 Aufmerksamkeitsstörungen
Ein weiteres Kennzeichen des hyperaktiven Kindes, das fast ausnahmslos auftritt, ist die
leichte Ablenkbarkeit oder eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne. Das Symptom der
Aufmerksamkeitsstörung ist im Gegensatz zur Hyperaktivität nicht so leicht ersichtlich,
dennoch ist es bedeutungsvoller und wird oftmals in der Fachliteratur als das Haupt-
merkmal des hyperaktiven Verhaltens bezeichnet. Aufmerksamkeit ist schwer zu
definieren und daher in bezug auf die Hyperaktivität ein undeutliches Konstrukt. Mit
Aufmerksamkeit kann zum einen ein mehrdimensionaler Prozeß zur Aufnahme und
Verarbeitung von Informationen über die Umgebung verstanden werden
(unwillkürliche Aufmerksamkeit). Zum anderen wird Aufmerksamkeit als ein
"ebenfalls mehrdimensionaler Prozeß der gezielten Hinwendung des Bewußtseins auf
einen bestimmten Gegenstand, einen Vorgang, eine Handlung, eine Gesamtsituation" 40
Es gibt paradoxerweise das Phänomen, daß bei manchen hyperaktiven Kindern die Ab-
lenkbarkeit überlagert ist von der Fähigkeit, für eine außergewöhnlich lange Zeitspanne
bei einer speziellen, meist selbst gewählten Tätigkeit zu verweilen. Das Kind wirkt
dann hingerissen und völlig gefangen oder ungewöhnlich ausdauernd. 42
2.1.3 Impulsivität
Impulsivität ist ein sehr häufiges Charakteristikum des hyperaktiven Kindes. Dieses
Symptom bezieht sich vor allem auf die Problemlösefähigkeit des Kindes. Generell
wird das Problemlöseverhalten bei hyperaktiven Kindern als unreif beschrieben. Sie
handeln ohne zu überlegen und folgen meist ihrem ersten Impuls. Hyperaktive Kinder
können sich schlecht entscheiden, wenn sie mehrere Alternativen zur Auswahl angebo-
ten bekommen. Des weiteren sind hyperaktive Kinder nicht in der Lage, ihre
Bedürfnisse für kurze Zeit zurückzustellen. Ihre Frustrationsgrenze ist in allen
Bereichen sehr gering, was situationsunangemessene Reaktionen zur Folge haben
kann. 43
Kagan (1964) und seine Mitarbeiter in Boston benutzen Impulsivität als ein Konstrukt,
welches in dem von ihm entwickelten "Matching Familiar Figures-Test" (MFF-Test)
meßbar ist. Der MFF ist ein visueller Auswahltest, bei dem ein Kind aus sechs
ähnlichen Figuren diejenige heraussuchen soll, die völlig identisch mit einer vorgege-
benen Standardfigur ist. Sämtliche Figuren sind dabei gleichzeitig verfügbar. Für
Kagan (1964) gibt es zwei Möglichkeiten an ein Problem heranzugehen. Die erste
Möglichkeit beinhaltet eine impulsive Herangehensweise, bei der dem ersten Impuls
direkt gefolgt wird. Die zweite Möglichkeit besteht in einer reflektierenden Weise, bei
der zuerst überlegt wird, wie das Problem am besten angegangen werden kann. Im
MFF-Test wird Impulsivität mit Hilfe der Zeit, die ein Kind benötigt, um alternative
Lösungen bei Zuordnungsaufgaben zu berücksichtigen, erfaßt sowie die Fehler, die es
dabei macht. Hyperaktive Kinder zeichnen sich durch ein schnelles entscheiden aus, bei
dem sie jedoch viele Fehler machen. Das reflektierende Kind braucht dagegen längere
Entscheidungszeiten, macht aber dafür weniger Fehler. Impulsivität bezeichnet somit
das Unvermögen des hyperaktiven Kindes, Aktionen und Reaktionen durch vorheriges
Denken zu steuern und dadurch ein Verhalten gegebenenfalls hemmend zu
kontrollieren. 44
Durch ihre Impulsivität bringen sich hyperaktive Kinder häufig in Gefahr, da sie nicht
auf Warnungen reagieren und Gefahren nicht richtig einschätzen sowie ziellos handeln.
Gleichzeitig neigen sie zu gesteigerter Erregbarkeit mit unkontrollierten
Wutausbrüchen. Die Selbstwahrnehmung und Reflexion des eigenen Verhaltens ist
stark vermindert.
Durch die verschiedenen beschriebenen Kernsymptome ist die Beeinträchtigung des hy-
peraktiven Kindes so stark, daß sich zwangsläufig zusätzliche Symptome ergeben, die
bereits erwähnten Sekundär- oder Periphersymptome. Sie werden deshalb als zweitran-
gig bezeichnet, weil sie als Folge der Primärsymptome auftreten und sich in der In-
teraktion mit der sozialen Umwelt entwickeln (Sekundärneurotisierung). 46
2.1.5 Lernstörungen
Lernstörungen bei hyperaktiven Kindern stehen in keinem Zusammenhang mit einer In-
telligenzschwäche. Der Intelligenzquotient liegt bei dem überwiegenden Teil der
Kinder im Normalbereich, häufig sogar darüber. Die auffälligsten Lernstörungen
beziehen sich auf bestimmte Schulfächer, vor allem auf die Kulturtechniken. Weitere
Auffälligkeiten zeigen sich in dem Lerntempo der Kinder. Lernprozesse vollziehen sich
wesentlich langsamer als bei der entsprechenden Altersgruppe. Dies läßt sich durch die
Aufmerksamkeitsstörung erklären. 47
2.1.6 Teilleistungsstörungen
In der Regel ist nicht das gesamte Leistungspotential des hyperaktiven Kindes
betroffen, sondern es handelt sich um eine Teilleistungsschwäche, d.h. einer
verminderten Leistungsfähigkeit in bestimmten Bereichen. Diese Leistungsbeeinträch-
tigung umfaßt z.B. Bereiche im Rechnen (Dyskalkulie), die Lese-Recht-
schreibschwäche (Legasthenie) oder Fehler in der grammatikalischen Satzbildung
(Dysgrammatismus). Des weiteren sind neben den kognitiven Leistungen auch die der
48
2.1.8 Selbstwertprobleme
Selbstwertprobleme treten bei hyperaktiven Kindern häufig erst als Folge der vorange-
gangenen Kernsymptome auf.
Durch die mit der Aufmerksamkeitsstörung einhergehende Wahrnehmungsstörung hat
das hyperaktive Kind ein geringes Selbstvertrauen, verbunden mit einer negativen
Selbsteinschätzung. Es erfährt sich selbst als weniger leistungsfähig als andere und
gerät aus diesem Grund schnell in einen Konkurrenzdruck. Als Folge versuchen die
Kinder um ihre Position innerhalb des Freundeskreises, der Familie oder in verschie-
denen Institutionen zu kämpfen. 51
Das hyperaktive Kind wird zunehmend unglücklich, zum einen über sich selbst und
zum anderen über die Reaktionen der Umwelt auf sein Verhalten. Wie in Abbildung 2
deutlich wird, kann das Zusammenwirken von Unaufmerksamkeit und geringer
Selbsteinschätzung häufig zu einem Teufelskreis führen, der für das hyperaktive Kind
nur schwer aufzulösen ist. 52
Unaufmerksamkeit
"Hört man auf den einen Experten, so ist Hyperaktivität ganz und gar
das Resultat einer falschen Ernährung. Hört man auf den nächsten, so
erfährt man, daß eine medikamentöse Behandlung die einzige Lösung ist.
Und der Dritte behauptet, daß überhaupt kein Problem vorliegt. Kein
Wunder, daß sich Eltern verunsichert fühlen und nicht wissen, welchen Weg
sie wählen sollen." 54
Die Unsicherheiten in bezug auf die verursachenden Faktoren beruhen zum einen auf
wissenschaftstheoretischen Ungenauigkeiten, da bisher keine ausreichende Anzahl
empirischer Untersuchungen vorliegen und zum anderen auf einem Mangel an
Bei der Entstehung der Hyperaktivität kann mit hoher Wahrscheinlichkeit gesagt
werden, daß unterschiedliche Faktoren und Ursachen aus verschiedenen Bereichen
zusammenwirken, Hyperaktivität ist somit multifaktoriell bedingt. Hinsichtlich der
Verursachung werden vier Faktorenbereiche diskutiert:
1. Genetische Verursachungsfaktoren;
2. Organische Verursachungsfaktoren;
3. Ökologische Verursachungsfaktoren;
4. Psycho-soziale Verursachungsfaktoren. 56
Der Beitrag der Genetikforschung zur Erklärung der Entstehung hyperaktiven Verhal-
tens gewann in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Dies hängt zum einen
damit zusammen, daß das Erscheinungsbild der Hyperaktivität in epidemiologischen
Studien bei Jungen häufiger nachgewiesen wurde als bei Mädchen (Verhältnis von 9:1),
was auf eine genetisch bedingte geschlechtsspezifische Disposition hinweist.
Andererseits wurde festgestellt, daß viele Eltern hyperaktiver Kinder ebenfalls in ihrer
Kindheit hyperaktiv waren. 58
In bezug auf die genetischen Faktoren werden in der Regel Befragungen bei
Verwandten ersten (Eltern) und zweiten Grades und Zwillingsstudien durchgeführt.
Studien, die sich mit der Befragung von Eltern und Verwandten befassen, zeigen, daß
die Eltern hyperaktiver Kinder häufiger hyperaktive Störungen aufweisen als Eltern und
Verwandte unbelasteter Kinder. 59
Auffälliger sind die Ergebnisse von Befragungen bei eineiigen Zwillingen. Eineiige
Zwillinge ähneln sich in auffälligen Verhaltensweisen stärker als Zweieiige. Zur
Verdeutlichung soll eine Studie von Goodman und Stevenson (1989) an 102 eineiigen
und 111 gleichgeschlechtlichen zweieiigen Zwillingen angeführt werden. Die Kinder
schwanken zwischen sehr guter Aufmerksamkeit und äußerster Belastung durch Hype-
raktivität und Unaufmerksamkeit. Die Rating Skala-Einschätzungen von Eltern und
55Vgl. Bauer, A. (1986), S. 19.
56Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 31f.
57Vgl. Wender, P. / Wender, E. (1988), 31f.
58Vgl. Bernau, S. (1995), S. 49; Hartmann, J. (1994), S. 19f.
59Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 32.
19
Lehrern ergaben, daß 51% der eineiige und 33% der zweieiigen Zwillinge
vergleichbare Hyperaktivität aufwiesen. 60
Die Aussagekraft dieser Zahlen wird jedoch aufgrund der Erwartungseffekte von den
Autoren selbst in Frage gestellt. 61
Wie die vererbte Störung genau aussieht ist bisher noch nicht bekannt. Dabei ist mit Si-
cherheit nicht nur ein einzelnes Gen für die Störung verantwortlich. 62
Aus diesen Gründen wird in einigen Fällen eine erbliche Belastung angenommen, ohne
daß sie bisher nachgewiesen wurde, da bislang keine Untersuchungen vorliegen, die ge-
netische Einflüsse als eindeutige Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität hervorhe-
ben.63
Bereits in den 50er und 60er Jahren wurde als entscheidende Ursache für das
hyperaktive Verhalten eine leicht gestörte Hirnfunktion angenommen, die durch
Schäden in der Schwangerschaft oder während der Geburt entstanden sind. In der
gegenwärtigen Literatur wird vermehrt auf pränatale, perinatale und postnatale
Schädigungen als Ursache der Hyperaktivität hingewiesen. 65
aktiven Verhaltens in Betracht gezogen. In den 70er Jahren wurde erstmals die Vermu-
tung geäußert, daß ungünstige Beleuchtungen und/oder beengte Wohnverhältnisse das
hyperaktive Verhalten beeinflussen, da diese beim Kind Konzentrationsstörungen oder
motorische Unruhe auslösen können. Eine hinreichende Erklärung für die Entstehung
der Hyperaktivität bieten diese Faktoren jedoch nicht, da keine genauen empirischen
Untersuchungen vorliegen und daher die Zusammenhänge zwischen ihnen und dem
kindlichen (Fehl-)Verhalten nur hypothetisch aufgestellt werden können. 71
David, Clark und Voeller veröffentlichten 1972 eine Studie zum Bleigehalt im Blut
hyperaktiver Kinder mit dem Ergebnis, daß alle Kinder mit extremer motorischer
Unruhe erhöhte Bleiwerte aufwiesen. Der erhöhte Bleigehalt wirkt sich schon in
geringer Konzentration auf den Gehirnstoffwechsel aus, weil Blei neurotoxisch
(nervengiftig) ist. Gefährdet für die Bleiintoxikation sind vor allem Kinder, die in der
74
Nähe von Industriestandorten wohnen. Ebenso hat der vermehrte Autoverkehr eine
drastische Erhöhung des Bleigehalts in der Luft verursacht. Blei aus der Luft wird nicht
nur eingeatmet sondern zu einem großen Teil über die Nahrung, vor allem durch
Gemüse und Obst, aufgenommen.
Kinder werden durch Blei in der Nahrung viel stärker belastet als Erwachsene, da sie
Blei bis zu 40-50% stärker resorbieren als Erwachsene (5-10%). 75
Weitere Ursachen für die erhöhte Bleibelastung sind Wasser-Hausanschlüsse und -in-
stal-lationen aus Blei, die vorwiegend in Altbauten zu finden sind und einen hohen
Bleianteil an das Trinkwasser abgeben. 76
Die Bleibelastung ist sicher nicht die einzige Ursache für das hyperaktive Verhalten,
aber für viele Kinder, die in der Großstadt oder in Industriegebieten aufwachsen, kann
sie den entscheidenden Faktor ausmachen. 77
71Vgl. Luckert, H. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 26; Vernooij, M. (1992), S. 35.
72Vgl. Calatin, A. (1992), S. 139; Prekop, J. / Schweizer, Ch. (1993), S. 68; Ross, D.M. / Ross, S.A.
(1982), S. 83ff.
73Vgl. Wender, P.H. / Wender, E.H. (1988), S. 35.
74Vgl. David, Clark und Voeller (1972), in: Vernooij, M. (1992), S. 36.
75Vgl. Prochazka, E. (1995), S. 19.
76Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 36.
77Vgl. Calatin, A. (1992), S. 142.
22
Als weitere ätiologische Einflüsse für das hyperaktive Verhalten werden Nahrungsmit-
telallergien diskutiert. Dabei handelt es sich hauptsächlich um zwei Richtungen: Die
Feingold-These aus dem nordamerikanischen Raum und die von Hafer (1985) in
Deutschland propagierte Phosphat-These. Die Kernaussage beider Ansätze besagt, daß
hyperaktives Verhalten bei Kindern durch nahrungsbedingte Stoffwechselstörungen
ausgelöst und aufrechterhalten wird. Die 1973 von Feingold in Gang gesetzte
Diskussion um die Wirkung von Nahrungsmittelzusätzen und von organischen und
anorganischen Phosphaten in der Nahrung hält derzeit an. Feingold (1973) ging davon
aus, daß Farbstoffe, die in der Nahrung enthalten sind, hyperaktives Verhalten auslösen
können. Diese Farbstoffe sind z.B. Salicylate, die in vielen Früchten enthalten sind. Er
entwickelte eine Diät, die salicylathaltige Nahrungsmittel verbietet und auf den Ver-
zicht von künstlichen Farb- und Geschmackstoffen achtet. 78
Die als Feingold- oder Kaiser-Permanente-Diät bezeichnete Diät wird in Kapitel 5.1.2.2
eingehender beschrieben.
Beobachtungen in der eigenen Familie brachten Hafer (1985) dazu, sich mit dem Pro-
blem der Hyperaktivität auseinanderzusetzen. Sie entdeckte, daß Zusätze von Phospha-
ten in vielen Fertigprodukten und der natürlich hohe Phosphatgehalt bestimmter Nah-
rungsmittel Stoffwechselstörungen im Bereich der Neurohormone auslösen, die zu Ver-
änderungen im Gehirnstoffwechsel und im Verhalten führen. 79
Die phosphatredurierte Diät von Hafer wird in Kapitel 5.1.2.3 ausführlicher erläutert.
Die Ernährung ist nicht die Hauptursache der Hyperaktivität, aber sie beeinflußt das
Verhalten jedes Menschen, auch das des Nicht-Hyperaktiven, sowohl in negativer, als
auch in positiver Weise. 81
dar, innerhalb derer sich das Kind orientieren muß. Ändern sich die
Rahmenbedingungen, ändert sich auch das kindliche Verhalten; verändert sich das
Kind, bewirkt sein Verhalten eine Veränderung bestimmter psycho-sozialer Faktoren.
Das Verhalten des Kindes und die Rahmenbedingungen stehen somit in einem wechsel-
seitigen Beeinflussungsverhältnis zueinander.
Das kindliche Fehlverhalten, als Folge psycho-sozialer Faktoren kann daher als
Reaktion des Kindes auf beeinträchtigende Bedingungen und das daraus resultierende
psychische Ungleichgewicht verstanden werden. 82
Nach Steinhausen (1988) zeigt sich hyperaktives Verhalten bei Kindern aus unteren
Einkommensklassen tendenziell häufiger als bei Kindern aus anderen Sozialschichten,
was u.a. auf ungenügende psychiatrische und pädagogische Beratung zurückzuführen
ist, obwohl zweifelhaft bleibt, ob die Eltern aus diesen Schichten durch eine
angemessene Beratung ihre ökonomische Situation verändern könnten. Die
Arbeitslosigkeit der Eltern oder eines Elternteils kann ebenfalls eine erhebliche
Auswirkung auf das Verhalten des Kindes haben, denn die so entstandene materielle
Armut wirkt sich häufig psycho-emotional deprivierend auf das Kind aus. 85
Familiäre Beziehungen haben einen großen Einfluß auf die Entwicklung des hyper-
aktiven Verhaltens eines Kindes. Wird eines der Kinder bevorzugt oder benachteiligt,
so beeinträchtigt dies ebenso das kindliche Verhalten, wie Gleichgültigkeit und
Desinteresse. Dennoch muß in diesem Zusammenhang betont werden, daß das el-
87
terliche Verhalten zwar einen starken Einfluß auf das Kind hat und somit auch sein
hyperaktives Verhalten verstärkt bzw. erst dazu beiträgt, daß das hyperaktive Verhalten
sichtbar wird, aber nicht ausschließlich die Ursache kindlicher Verhaltensstörungen ist.
88
Verunsicherungen hervor, in einigen Fällen fühlen sich die Kinder bedroht, je nach
Ausmaß der psychischen Störung und dem daraus resultierenden Verhalten des
Elternteils. Psychische Störungen können von extremen Stimmungsschwankungen über
Depressionen bis zu Alkohol- und Drogenkonsum reichen. Das hyperaktive Verhalten
des Kindes als Folge dieser Situationen beinhaltet eine Signal- und/oder Schutzfunktion
des Überfordert-Seins. In dem zweiten Bereich des sozialen Umfeldes muß zwischen
Kindergarten und Schule differenziert werden. Während das Kind im Kindergarten
seinem Bewegungsimpuls relativ frei nachkommen kann, herrschen in der Schule
unkindliche Regeln vor, z.B. eine starke Bewegungseinschränkung sowie die über einen
längeren Zeitraum geforderte Aufmerksamkeit und Konzentration. Das Kind kann den
Anforderungen nicht gerecht werden und gerät zunehmend unter einen Leistungs- und
Konkurrenzdruck, der das hyperaktive Verhalten verstärkt. Im Kindergarten treten diese
Situationen weniger stark auf. Das Kind kann auf spielerische Weise lernen und steht
nicht so sehr unter Leistungsdruck. Dies bestätigen zahlreiche Studien, in denen das
hyperaktive Verhalten erst bei Schuleintritt diagnostiziert wird. Somit stellen sowohl
die Familiensituation als auch die Schule einen wichtigen Beeinflussungsfaktor für
kindliches Verhalten dar. 89
Für eine relativ störungsfreie Entwicklung müssen vier Formen der Erziehung
vermieden werden:
- Verwöhnung;
- Härte und Lieblosigkeit;
- Vernachlässigung und Gleichgültigkeit;
- Wechselklima. 91
Die verwöhnende Erziehung führt zu einer Überbehütung des Kindes. Es wird durch die
positiv wirkenden Emotionen überhäuft und erdrückt. Es steht unter ständiger Aufsicht
und wird dadurch in seiner Selbständigkeitsentwicklung behindert. Die Folgen sind Ge-
genreaktionen des Kindes, die von tyrannischem, aggressivem Verhalten, über Lern-
und Leistungsstörungen bis zum völligen Rückzug reichen, wobei jedes Kind seine
individuellen Verhaltensschwerpunkte entwickelt. Die harte und lieblose Erziehung
setzt eine autoritär-dominante Erzieherpersönlichkeit voraus, die ihre (persönliche)
Macht an dem Schwächeren, dem Kind, erprobt und mißbraucht. Daher kann in diesem
Zusammenhang eher von Dressur als von Erziehung gesprochen werden. Nicht erfüllte
Forderungen haben Sanktionen zur Folge, auf die das Kind zum einen mit Angst und
Mißtrauensgefühlen und zum anderen mit Rache-, Haßgefühlen und Ablehnung
reagiert. Soziale Kontakte kommen innerhalb dieses Erziehungsstils kaum zustande und
wenn sie sich dennoch entwickeln, gestalten sie sich in übertriebener Herrschsucht oder
übertriebener Untertänigkeit. Beides beinhaltet keine tragbare Basis für eine Beziehung.
Die vernachlässigende Erziehung fordert von dem Kind viel Eigeninitiative und
Verantwortung. Vernachlässigung beinhaltet sowohl eine emotionale als auch eine
materielle Vernachlässigung. Die Folgen für das Kind beziehen sich auf das Gefühl von
persönlichem Unwert und Lebensangst. Gefühle wie Liebe und Geborgenheit lernt das
Kind nicht kennen. Das erzieherische Wechselklima ist für das Kind sehr verunsichernd,
denn durch die Nicht-Vorhersagbarkeit der Reaktionen der Bezugspersonen erlebt sich
das Kind einer willkürlich eingesetzten Übermacht ausgeliefert. Es wird ebenfalls in
seiner Entwicklung beeinträchtigt und die Folgen sind Mißtrauen,
Konzentrationsstörungen und eine resignierende Lebensgrundstimmung. 93
Aus den vorangegangenen Überlegungen wäre dennoch eine Verlagerung des Schwer-
punktes in der "Behandlung" hyperaktiver Kinder von einer medizinisch-
therapeutischen zu einer mehr psychologisch-pädagogischen sinnvoll und
wünschenswert.
Dabei steht die Schwierigkeit der Definition der Hyperaktivität in unmittelbarem Zu-
sammenhang mit einer eindeutigen Diagnose. Die Schwierigkeiten werden deutlich in
der bestehenden Unsicherheit der Auftretenswahrscheinlichkeit der Hyperaktivität, bei
der Schwankungen von 3-10% vorhanden sind. Eine weitere Schwierigkeit bei der
Diagnose besteht in bezug auf die Aussagekraft der angewandten diagnostischen
Verfahren im Bereich von Medizin, Psychologie und Pädagogik. Aufgrund der
fehlenden Eindeutigkeit der Untersuchungsbefunde bei der Erstellung der Diagnose
Hyperaktivität, wegen der mangelnden Einigkeit bei der Gewichtung und Bewertung
der Einzelbefunde sowie durch die Vielzahl und Differenziertheit von Erscheinungsbild
und Ätiologie ergibt sich eine Mehrdimensionalität der Verhaltens- und
Untersuchungsebenen im diagnostischen Prozeß. Daher wird der Nachweis für
Hyperaktivität oftmals auf der Basis einer Summationsdiagnose erstellt. Dies bedeutet,
98
daß die Diagnose Hyperaktivität nur dann gestellt werden darf, wenn mehrere auffällige
Einzelbefunde zusammenkommen. Eine mehrdimensionale Diagnostik ist besonders
wichtig, da sie die Situationsspezifität, den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes
und die soziale Einbindung mitberücksichtigt. Ferner wird in der mehrdimensionalen
Diagnosenstellung eine Fehldiagnose weitgehend ausgeschlossen. Nur eine
Klassifizierung auf der Basis verschiedener teils unabhängiger Untersuchungsbefunde
gibt die Sicherheit für die Diagnose. Die praktische Umsetzung wird jedoch durch eine
mangelnde Kooperationsbereitschaft der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen
(Medizin, Psychologie, Pädagogik) untereinander und durch die mangelnde Zusammen-
arbeit mit den Eltern erschwert. 99
Von besonderer Wichtigkeit ist, daß es nicht bei einer Feststellung der Auffälligkeit
bleibt, sondern daß die Diagnose in unmittelbarer Verbindung mit der Therapie steht.
Eine Diagnose ist daher nur dann sinnvoll, wenn sie zu unterstützenden und fördernden
Maßnahmen führt und somit die Entwicklung der kindlichen Gesamtpersönlichkeit ge-
währleistet und die Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten fördert.
Allgemein gilt für die Diagnose, daß je früher sie gestellt wird, die
Behandlungschancen um so größer sind und die Prognosen für das Kind günstiger
werden. Folglich sollte eine Diagnose möglichst schon im Vorschulalter erstellt werden.
Die wichtigste Voraussetzung für eine Diagnoseerstellung ist die Gründlichkeit,
Sorgfalt und Umsichtigkeit, mit der sie realisiert wird.
100
2.3.1 Differentialdiagnostik
Die Abgrenzung des hyperkinetischen Syndroms von anderen Störungsbildern, bei
denen Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen ebenfalls eine Rolle spielen, sollte
sich an folgenden Kriterien orientieren: Zunächst muß hinterfragt werden, ob es sich bei
der beobachteten Hyperaktivität um eine eindeutige pathologische Form handelt oder
um eine Reifungsvariante im Temperament des Kindes. Weiterhin sollte bei der
differentialdiagnostischen Abklärung berücksichtigt werden, daß Kinder aus sozial
gestörten Familien oft schlechte Lösungsstrategien, eine geringe Selbstkontrolle und
Defizite in der Aufmerksamkeit zeigen. Folglich sollte untersucht werden, ob das
auffällige Verhalten des Kindes Ausdruck seiner Psychopathologie oder vielmehr das
Resultat einer unstrukturierten Sozialisation ist.
101
sche Manual (DSM) und das International Classification of Diseases (ICD) von großer
Bedeutung.
In der 10. Revision der ICD (ICD-10) der Internationalen Klassifikation der Erkrankun-
gen der World Health Organisation (WHO) wird unter dem Aspekt der Differentialdia-
gnose auf die Notwendigkeit verwiesen, tiefgreifende Entwicklungsstörungen (z.B. Au-
tismus), Angststörungen, emotionale Störungen sowie affektive Störungen (manisch
oder depressiv) auszuschließen. Nach der ICD-10 werden unter dem Begriff
hyperkinetische Störungen Verhaltensauffälligkeiten mit folgenden charakteristischen
Merkmalen verstanden:
- ein früher Beginn in der Vorschulzeit (gewöhnlich bereits in den ersten fünf Lebens-
jahren);
- eine Kombination von überaktivem, wenig gesteuertem Verhalten mit deutlicher
Unaufmerksamkeit;
- ein Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen, die einen kognitiven Einsatz ver-
langen;
- eine Tendenz, nicht vorhersehbar von einer Tätigkeit zu einer anderen rasch zu
wech-
seln, ohne etwas zu Ende zu bringen (dieser Aspekt soll nur dann diagnostiziert
werden, wenn sie im Verhältnis zum Alter und Intelligenzniveau des Kindes sehr
stark
ausgeprägt sind);
- eine desorganisierte, mangelhaft gesteuerte und überschießende motorische
Aktivität,
die sich sowohl im grobmotorischen Bereich als ständiges Herumlaufen, Aufstehen
und Platzveränderung äußern kann als auch im feinmotorischen Bereich in Form von
Koordinationsproblemen (undeutliches Schriftbild), Problemen bei allen zeichneri-
schen Tätigkeiten und beim Malen sowie allgemein in der Heftführung. Hierbei
sollte der Beurteilungsmaßstab sein, daß die Aktivität im Vergleich zu anderen
Kindern in der gleichen Situation mit gleicher Intelligenz extrem ausgeprägt ist.
102
Die American Psychiatric Association (APA) hat seit der dritten Revision (DSM-III) ih-
rer Zusammenstellung verschiedener psychischer Störungen das
Aufmerksamkeitsdefizit in den Vordergrund gestellt und daher die Bezeichnung Atten-
tion Deficit Disorder (ADD) entwickelt, die schon mit der bald folgenden Revision,
dem DSM-III-R erneut in die Bezeichnung Attention Deficit Hyperactivty Disorder
(ADHD) umbenannt wurde. 104
fehlen kann. Aus praktischen Gründen wird in der Literatur nur selten die vollständige
Bezeichnung Attention Deficit Hyperactivity Disorder verwendet, stattdessen wird von
Hyperaktivität oder hyperkinetischem Syndrom (HKS) gesprochen, wobei diese
Begriffe synonym gebraucht werden. 106
Die ICD-10 hat den Begriff ADHD nicht übernommen, weil er die Kenntnis
psychologischer Prozesse beinhaltet, die noch nicht verfügbar ist. Tatsächlich hat die
unter dem Einfluß des DSM-III-R realisierte Forschung in der letzten Zeit zahlreiche
Belege für die Schlußfolgerung gewonnen, daß ein reines Auf-
merksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität (ADD/-H) eine eigenständige kin-
derpsychiatrische Diagnose und nicht eine Unterform des ADHD (der hyperkinetischen
Störung) darstellt. Im Unterschied dazu ist die Klassifizierung nach dem zusätzlichen
Vorliegen eine Störung des Sozialverhaltens, welche in der ICD-10 berücksichtigt wird,
empirisch bereits abgesichert. 107
Unabhängig von der Benennung des Störungsbildes ist in den beiden amerikanischen
Diagnosesystemen eine Übereinstimmung der wesentlichen Symptome nicht zu überse-
hen. Dabei wird die Aufmerksamkeitsstörung und die Überaktivität als primäre Auffäl-
ligkeit genannt. Als drittes Hauptsymptom tritt Impulsivität mit Ungeduld und schnell
wechselnder Tätigkeiten hinzu.
Die Anamnese und die Verhaltensbeobachtung bilden dabei das Kernstück der
Diagnose. Neben einer medizinischen Anamnese (mütterliche Anamnese, prä-, peri-,
postnatale Anamnese) sind eine Entwicklungsanamnese des Kindes und eine Famili-
enanamnese notwendig. Aus den gesammelten Informationen können mögliche
Risikofaktoren ausgeschlossen werden, die auf die Verursachung der Hyperaktivität
hinweisen können. Um sicher zu gehen, sollten die Daten der Anamnese sowohl aus
den Angaben der Eltern als auch von anderen Bezugspersonen (Kindergarten, Schule)
zusammengestellt werden. Somit können mögliche Fehlinformationen ausgeschaltet
werden. Diese grundsätzlichen Probleme der Anamneseerhebung können durch
ergänzende Verhaltensbeobachtungen oder durch Fragebögen und Schätzskalen
(teilweise) verringert werden. 109
Die Symptomliste von Conners (1973) hat sich für die erste diagnostische Orientierung
bewährt. Der in Abbildung 4 dargestellte Conners-Fragebogen ist international
anerkannt und wird immer wieder für ärztliche Untersuchungen und wissenschaftliche
Studien zur Hyperaktivität eingesetzt. Er beinhaltet verschiedene Items zum Verhalten
des jeweiligen Kindes.
33
Ursprünglich setzt sich der Fragebogen aus einem 39-Items umfassenden Lehrer-
fragebogen und einem 73-Items starken Elternfragebogen zusammen. Diese beiden Fra-
gebögen wurden aus Gründen der Praktikabilität auf 10 Beobachtungen reduziert und
als Eltern-Lehrer-Fragebogen herausgegeben. 110
Das Vorliegen eines Merkmales gilt nur dann als gegeben, wenn die jeweilige Verhal-
tensauffälligkeit wesentlich häufiger als bei gleichaltrigen Kindern auftritt und sie be-
reits über ein halbes Jahr beobachtet wird. In der Auswertung bedeuten 30 Punkte
extreme Hyperaktivität, 15-30 Punkte eine starke Hyperaktivität und 10-15 Punkte
bedeuten mäßig hyperaktiv. Somit liegt der dringende Verdacht auf ein
hyperkinestisches Syndrom dann vor, wenn der Punktwert in der Bewertungsskala über
15 Punkten liegt. Kritisch betrachtet bleibt in der Beurteilung des Fragebogens die
Situationsspezifität unberücksichtigt. Die angeführten Verhaltensmerkmale werden
absolut gesetzt, ohne daß der normative Bezugsrahmen, Personen oder der Charakter
der Eltern impliziert werden. 111
Eine weitere Methode der Diagnoseerhebung bezieht sich auf die kinderneurologische
Untersuchung. Mit der neurologischen Untersuchung sollen Funktionsstörungen im Ge-
hirn nachgewiesen werden. Dabei werden häufig sogenannte weiche neurologische Zei-
chen (soft-signs) deutlich, die sich in Entwicklungsverzögerungen in der Grob- und
Feinmotorik oder in Abweichungen im Hirnstrombild zeigen. Feinneurologische
Zeichen sind eine Minderleistung oder Reifungsverzögerung des Zentralnervensystems,
wobei die neurologische Basis dieser Abweichung im einzelnen nicht bekannt ist. Somit
läßt sich bei der neurologischen Diagnoseerstellung keine unmittelbare Beziehung zur
Verhaltensebene der Symptome der Hyperaktivität herstellen. 113
Neben der klinischen Diagnostik werden durch eine stark psychologisch ausgerichtete
Diagnostik Informationen im Entwicklungsverlauf des Kindes durch ein Elterngespräch
im Zusammenhang mit den Umwelteinflüssen auf das Kind sichtbar gemacht. In diesem
Zusammenhang kann die Diagnose als systemorientierte Analyse verstanden werden.
Die Ursachen für das auffällige kindliche Verhalten sind nicht nur im Kind begründet,
sondern besonders häufig im sozio-ökonomischen Umfeld (Familie, Schule,
Kindergarten, Freundeskreis). Dabei werden die Auffälligkeiten im Hinblick auf die
psychosoziale Entwicklung des Kindes und in Abhängigkeit von Umweltfaktoren
betrachtet. 118
116Bauer, A. (1986), S. 87
117Vgl. Ebenda, S. 83.
118Vgl. Ebenda, S. 84.
119Vgl. Ebenda, S. 85.
36
Belastungen eine immer wesentlichere und entscheidendere Rolle sowie die Beziehung
des hyperaktiven Kindes zu Gleichaltrigen und Geschwistern. 120
"Die fehlende Offenheit für die Andersartigkeit unserer heutigen Welt, die
mangelnde Sensibilität für den Wandel in uns selbst und in unserer Umwelt
bewirkt, daß wir das Verhalten von Kindern als störend erleben, obwohl es
nur Spiegelbild unserer eigenen, defizitären Situation ist."121
Eltern von hyperaktiven Kindern machen sich oft selbst Vorwürfe und bekommen diese
auch aus ihrer Umgebung zu spüren. Als Folge der Schuldgefühle sehen sich die Eltern
handlungsunfähig, was sich negativ auf das Kind auswirkt. Schuldgefühle können
verhindert werden, indem Zusammenhänge zum positiven Verhalten bedacht und
hervorgehoben werden.
In der neueren psychologischen Forschung kann noch nicht mit Sicherheit gesagt wer-
den, welche elterlichen Verhaltensformen eine Beeinträchtigung des kindlichen Verhal-
tens zur Folge haben. Einige Verhaltensweisen wirken sich jedoch mit Sicherheit
negativ auf das kindliche Verhalten aus:
- schlechte Vorbilder;
- keine gefühlsmäßige Beziehung;
- keine Anerkennung und Lob;
Kind Eltern
Ermahnung
Unverständnis
desKindes
Unghorsam
Elternärgerlich
Strafe
Kindwirdwütend
Schläge
TrotzreaktiondesKindes
Haßgefühle
auswegloseSituation
sekundäre Störung,
Isolation
Abb. 5: Das störende Verhalten des hyperaktiven Kindes löst eine Kette von
Reaktionen
aus.
[In Anlehnung an Taylor, E. (1986), S. 49.]
Viele dieser Interaktionsmuster werden gelernt und können somit auch wieder verlernt
werden. Dies gilt gleichermaßen für Eltern und Kinder.
Die häufigen Auseinandersetzungen und die mangelhaften Konfliktlösungen der Eltern
mit ihrem Kind sowie die Frustrationen hinterlassen bei den Eltern einen nachhaltigen
Eindruck. Die Folgen sind, daß keine Freude mehr aufkommt, ungezwungenes Spiel
verlernt wird und körperliche Kontakte vergessen werden. Viele Eltern geraten so in ei-
nen Zustand, in dem sie sich Vorwürfe machen, sich aber ebenso scheuen und schämen,
123Vgl. Petermann, U. (1991), S. 21f.
38
sich ihrer Umwelt zu öffnen. Daraus entsteht ein Teufelskreis von zunehmender Feind-
seligkeit, aus dem die Familie schwer herausfinden kann. Aufgrund der
Versagensgefühle ist die Familie nur ungern bereit sich psychosozialen Hilfsangeboten
zu öffnen und die Problemlage mit professioneller Hilfe zu kompensieren. 124
Der Teufelskreis kann vermieden werden. Der erste Schritt dazu besteht darin, daß
Kind so zu akzeptieren, wie es ist. Das setzt eine "Selbsterziehung" der Eltern voraus,
damit sich eine Entspannung und schließlich eine Lösung der Probleme abzeichnen
kann. Dem Kind muß auf der einen Seite seine Eigenständigkeit gelassen werden und
auf der anderen Seite muß das Kind lernen, daß ihm Grenzen gesetzt werden. Die
Grenzen sind für das hyperaktive Kind notwendig, da es sich selbst nicht richtig ein-
schätzen, nicht vorausschauen und Gefahren nicht erkennen kann. 126
Die Abbildung 6 verdeutlicht, wie die Eltern durch ihr eigenes Verhalten und Reagieren
das Kind günstig lenken können und dadurch eine angenehme Familienatmosphäre ent-
stehen kann. Trost, Geborgenheit und Zuwendung sind die zentralen Aspekte, damit
sich das Kind verstanden und angenommen fühlen kann. Die Kinder brauchen den
Rückhalt, den die elterliche Führung gewährt. Das Verständnis der Eltern für ihre
Kinder und die Toleranz ihnen gegenüber ist der Grundstein für eine günstige
Entwicklung. 127
Kind Eltern
Ignorieren
Ausweichreaktion
desKindes
Redefluß
störendfür Eltern
Ermahnung
teilweisesVerstehen
desKindes
Traurigkeit VerständnisdurchEltern
Trost
Beruhigung
FreudeamKind
Zuwendung
Abb. 6: Durch verständnisvolles und einfühlsames Verhalten der Eltern kann ein
erträgliches Familienklima entstehen.
Das hyperaktive Kind nimmt auf die Bedürfnisse und Gefühle anderer keine Rücksicht,
es respektiert keine Grenzen und kann aus negativen Erfahrungen nicht lernen. Die dar-
aus entstehenden sozialen Komplikationen können die niedrige Selbsteinschätzung des
Kindes verstärken und Beziehungen zu anderen noch schwieriger gestalten. 129
Das Selbstbewußtsein beruht auf den Reaktionen der anderen. Da das hyperaktive Kind
von der Umwelt abgelehnt wird, hat es ein geringes Selbstbewußtsein. Die Folgen sind
ein niedriges Selbstwertgefühl und wenig Selbstvertrauen. Daraus resultiert sein Versa-
gen in allen wichtigen Bereichen des kindlichen Lebens. 133
Die Kinder, denen durch ihre Umwelt Verständnis entgegengebracht wird und die als
eigenständige Persönlichkeit mit Anerkennung und Respekt behandelt werden, kommen
am besten mit ihrem eigenen auffälligen Verhalten zurecht. 134
Mit einer Verspätung von 15 Jahren machte sich die Kreativitätsforschung in Deutsch-
land bemerkbar und knüpfte an die dortige denkpsychologische Tradition an. 137
Anlaß für den Durchbruch zu einem weit über den pädagogisch-psychologisch hinaus-
wirkenden Reformwillen bot ein technisch-politisches Ereignis: der "Sputnik-Schock",
d.h. die ernüchternde Feststellung, daß die Amerikaner um ihre Vorherrschaft in
Wissenschaft und Technik bangen mußten, seit dem Start des ersten Weltraumsatelliten
durch die UdSSR. Diese hatten durch die Ausbildung einer wesentlich größeren Anzahl
von Wissenschaftlern eine breite Basis für die Auswahl schöpferischer Forscher. Als
Folge wollten die Amerikaner dieses Ungleichgewicht durch die Kreativitätsforschung
kompensieren. Des weiteren wurde der Sputnik-Schock für die Propagierung von Bil-
138
güter, sondern um deren Absatz. Daher war Kreativität ein wichtiges Instrumentarium
im Marketing, vor allem in der Werbung. 139
Einen weiteren Grund für den Boom der Kreativitätsforschung sah Preiser (1976) in
einem Wandel der Erziehungsideale. Er führte dazu an, daß zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts das Erziehungsideal "Gehorsam" und die damit einhergehende autoritäre
Erziehung in der amerikanischen Mittelschichtsgesellschaft von einem neuen
Erziehungsideal abgelöst wurde, der gut angepaßten, problem- und konfliktfreien
Persönlichkeit. Dieser neue Erziehungsstil erzeugte jedoch überangepaßte,
konformistische Personen. Es verbarg sich die Gefahr, eines neuen, versteckten
Autoritarismus. 140
3.1.2 Kreativitätstheorien
Die verschiedenen in Kapitel 1.2.2 beschriebenen Kreativitätsdefinitionen sind
Ausdruck der unterschiedlichen Denkpositionen der Autoren. Aus diesem Grunde
existieren verschiedene Theorien zur Kreativität.
Realität, mit der es sich zum einen vor seinen Trieben und zum anderen vor der
Außenwelt, die seiner Befriedigung entgegensteht, schützt und diese zugleich
überwindet. Freud sieht jedoch in dieser Fähigkeit keinen allgemein verbreiteten
Mechanismus, sondern eine Methode, deren Schwäche darin besteht, daß sie nicht
allgemein verwendbar und somit nur wenigen Menschen zugänglich ist, da sie
besondere, selten vorkommende Anlagen und Begabungen voraussetzt. Dadurch
beschränkt Freud die Fähigkeit zum kreativen Produzieren vornehmlich auf Künstler. 143
Deutsch (1960) stellt in bezug auf die Aussagen Freuds den folgenden Zusammenhang
zur Neurose her:
"Wenn der Druck der triebhaften Impulse ansteigt und eine neurotische
Lösung droht, führt die unbewußte Abwehr zur Schöpfung eines Kunst-
werkes. Der psychische Effekt ist eine Entlastung der aufgestauten Emo-
tionen bis ein erträgliches Niveau erreicht ist." 144
Kris (1952) betont den strukturalen Aspekt der Freudschen Theorie. Er stellt die Rolle
des Ich gegenüber dem Es heraus. Kris sieht in der Kreativität eine "Regression des
Ich". In der Phantasie, in Träumen, in Rauschzuständen und Müdigkeit tritt eine solche
Regression der Ich-Funktion ein, in der sich insbesondere Inspiration vollzieht. Jedoch
betont er, daß nicht jede Regression kreativ ist. Kris überschreitet das Konzept von
Freud dahingehend, daß er zwar die Konflikte im Unbewußten sieht, doch er teilt dem
Ich eine besondere Bedeutung zu, denn das Ich agiert im Bewußten und Vorbewußten. 145
Zusammenfassend kann formuliert werden, daß der kreative Prozeß die Erfüllung
aufgestauter Gefühle ist. Er entwickelt sich mit Hilfe freier Assoziation, die durch
Phantasien, Tagträume und Kindheitsspiele angeregt werden. Dabei nutzt das kreative
Individuum diese Assoziationen zur Verarbeitung. Das nichtkreative Individuum
dagegen verdrängt diese Assoziationen. 146
In dem existentialistischen Ansatz ist Kreativität nur dann möglich, wenn eine Begeg-
nung zwischen dem Individuum und seiner eigenen Welt und seiner Umwelt stattfindet.
Die Begegnung bekommt somit einen zentralen Stellenwert. Einer der Hauptvertreter
dieser Theorierichtung ist May (1959), der besonders den Aspekt der Begegnung des
intensiv bewußten Menschen mit seiner Umwelt betont. Dabei ereignet sich Kreativität
in einem Akt der Begegnung und ist mit dieser Begegnung als Zentrum zu verstehen. 148
Einer der Hauptvertreter dieses Ansatzes ist Guilford, der durch seine "Struktur des In-
tellekts" eine Erweiterung des Intelligenzkonzeptes geliefert hat. 1950 kommt Guilford
zu der Einsicht, daß Kreativität nicht mit den traditionellen Intelligenztests gemessen
werden kann, da dies zu einer Eliminierung von ca. 70% der Kreativen führen würde.
Er folgert daraus, daß für die Kreativität andere als die bis dahin bekannten Intelligenz-
modelle zugrunde liegen müssen. Dennoch zählt er die Kreativität zu den Leistungen
des Intellekts, mit der Einschränkung, daß für ihr Zustandekommen ein komplexes
Zusammenwirken verschiedener Intelligenzfaktoren verantwortlich ist. Guilford (1950)
analysiert einzelne Faktoren und Fähigkeiten des kreativen Verhaltens und entwickelt
ein dreidimensionales Modell der Struktur des Intellekts, das Denkinhalte,
Denkprodukte und Denkoperationen umfaßt. Aus dieser Struktur eleminiert Guilford
verschiedene Faktoren und faßt sie in ähnlichen Klassen wieder zusammen. Die
Klassifikation wird nach der Art des Denkprozesses, seinem Inhalt und seinem Produkt
vorgenommen und ergibt folgende Faktorengruppen: 151
Aus dem Zusammenwirken der fünf Denkoperationen, den sechs Produktarten und den
vier Inhaltsgruppen ergeben sich insgesamt 120 (4x5x6) verschiedene Intelligenzfakto-
ren, die voneinander unabhängig sind. Jeder der Faktoren entspricht bestimmten Fähig-
keiten, die mit Guilfords divergenten Produktions-Testbatterien (DPT) gemessen wer-
den. 155
Jeder der Faktoren in Guilfords Modell entspricht bestimmten Fähigkeiten, die bei der
Entstehung kreativer Leistungen bedeutsam sind:
- Flüssigkeit - Erinnerungsfähigkeit;
- Flexibilität - Flüssigkeit der gespeicherten Information;
- Originalität - Bereitschaft, Dinge anders zu sehen;
- Elaboration - Aufbau einer Struktur nach gegebener Information;
- Sensitivität - Problemerfassung, Offenheit der Umwelt gegenüber;
- Neudefiniton - Sehen neuer Zusammenhänge. 156
Nach Mednick (1963) besitzt jeder Mensch ein spezifisches Assoziationsreservoir, das
er im Laufe seines Lebens erworben hat, das sprachlich kodiert ist und daher im Vorbe-
wußten bleibt, bis es zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Bewußtsein abgerufen wird
und dann zu einer Problemlösung beiträgt. Dabei ist die Anzahl der Assoziationen, die
ein Individuum zu den erforderlichen Elementen eines Problems hat von großer Bedeu-
tung, da die Wahrscheinlichkeit zu einer kreativen Lösung zu kommen mit der Anzahl
der Assoziationen steigt. 158
Auf der Grundlage dieser Überlegungen hat Mednick (1963) einen Test entwickelt, der
Kreativität messen soll. Der "Remote Association Test" (RAT) geht von der Annahme
aus, daß hochkreative Individuen auf ein vorgegebenes Reiz-Wort eine große Anzahl
von Assoziationen produzieren, im Gegensatz zu weniger kreativen Individuen. In
Mednicks Test werden den Versuchspersonen bei jeder Aufgabe drei Wörter
vorgegeben, die in einer gewissen gemeinsamen Assoziationsgrundlage zueinander
stehen. Die Aufgabe der Versuchspersonen ist, ein viertes Wort zu finden, das zu allen
drei Reiz-Wörtern in assoziativer Beziehung steht. 159
Wertheimer (1959) als Vertreter dieses Ansatzes geht davon aus, daß sich das Denken
durch das Gruppieren, Reorganisieren und Strukturieren des Individuums vollzieht. Da-
bei bleibt das Denken jedoch immer auf das Ganze (das Problem, das gelöst werden
soll) bezogen. Somit kann im gestalttheoretischen Ansatz das Problemlösen als
einsichtige Umformung unvollständiger Strukturen zu einer neuen Gestalt verstanden
werden. Jedoch ist die "Tendenz zur guten Gestalt" die treibende Kraft, die für eine
harmonisierende, problemlösende Umgestaltung verantwortlich ist. 161
Kreativität baut auf dieser Fähigkeit auf und erweitert sie, indem sie neue Beziehungen
zwischen den Informationen herstellt. Landau (1990) verdeutlicht dies, indem sie sagt:
1. Konvergentes Denken
Das konvergente Denken zeichnet sich durch Gradlinigkeit und Eindimensionalität aus
und ist richtungsweisend. Dabei werden Direktinformationen eingeholt, die zu
logischen Schlüssen und richtigen Antworten führen, wobei eine Mehrdeutigkeit
zugunsten konventioneller Übereinstimmung und der Überprüfbarkeit ausgeschlossen
wird. Konvergentes Denken besteht somit für Guilford (1964) hauptsächlich in einem
Erkennen und Reproduzieren einer einzig richtigen Lösungsmöglichkeit, wobei die
richtige Antwort bereits von vornherein fest steht. 166
2. Divergentes Denken
Das divergente Denken wird oftmals als Synonym für kreatives Denken verwendet. Die
Hauptkennzeichen des divergenten Denkens sind Gedankengänge, die sich von Bekann-
tem ausgehend, in mehrere Richtungen bewegen und dabei neue Ideen generieren. Die
Hauptaufgabe beim divergenten Denken besteht darin, das Bekannte zu verwerfen und
eine Vielzahl von eigenständigen Ideen zu produzieren. Dabei kommt es nicht darauf
an, eine einzige richtige Lösung zu finden, sondern auf möglichst verschiedene Ideen zu
kommen. 167
Der Unterschied zwischen konvergentem und divergentem Denken besteht somit darin,
daß das konvergente Denken auf eine einzige richtige Lösung trifft, während das diver-
gente Denken von einem Bekannten und Herkömmlichen ausgeht und zu mehreren
individuellen Lösungen gelangt. 168
Um echte Kreativität zu entwickeln, muß das divergente Denken trainiert werden. Aber
auch das konvergente Denken ist wichtig, da es hilft, die Fülle divergenter Ideen
logisch zu ordnen und abzuwägen. Die Verbindung von konvergentem und divergentem
Denken wird als Grundlage kreativer Fähigkeiten angenommen. Dabei ermöglicht
Intelligenz das Anpassen des Gelernten an verschiedene Situationen, während
Kreativität darüber hinausgeht. Sie ist Aktualisierung und Verwirklichung der poten-
tiellen situativen Möglichkeiten. In dieser Beziehung sieht Landau (1984) einen der
wichtigsten Beiträge der Kreativitätsforschung zur Erweiterung des Intelligenzbegriffes,
da dadurch jedem Individuum die Möglichkeit gegeben wird, sein kreatives Potential
voll auszuschöpfen. In dieser Erweiterung liegt das Ziel jeder kreativen Erziehung.
169
Dieses Zitat von Heckhausen (1963) wirft die Frage nach der Motivation auf. Warum
handelt ein Individuum kreativ?
Als notwendige Bedingung zur Motivation können zwei Voraussetzung betrachtet wer-
den. Dies ist zum einen eine große Sensitivität für die in der Umwelt vorhandenen Lüc-
ken und das Fehlen an Geschlossenheit. Zum anderen ist eine starke Leistungsmoti-
vation die Voraussetzung zur Motivation. 171
Der Zielaspekt in Verbindung mit Drang und Verstärkung wird in der Motivationsfor-
schung als einer der wichtigsten Aspekte bezeichnet. Dabei ist in jedem zielorientiertem
Verhalten meist die Verstärkung bereits impliziert. Alle Handlungen im Sinne einer
Zielorientierung werden organisiert, somit wird das Ziel gleichzeitig zum Verstärker.
Dies wird auch im kreativen Prozeß deutlich. 173
Jeder kreative Prozeß und jedes kreative Produkt setzt eine Motivation voraus. Dabei
wird Motivation in der Literatur mit unterschiedlicher Betonung erläutert. Die unter-
schiedlichen Theorien zur Motivation können danach klassifiziert werden, ob sie die
Motivation als das Vermeiden unerwünschter Zustände oder als das Annähern an er-
wünschte Zustände ansehen. Der Vermeidungsaspekt hat eine Verminderung der Span-
nung zum Ziel, während sich der Annäherungsaspekt auf eine Spannungsvergrößerung
und eine Suche nach stärkeren Stimulationen konzentriert. 174
gangen wird, von denen jedes ein klar ersichtliches individuelles Ziel hat während
monistisch bedeutet, daß ein bestimmtes Motiv als maßgebend angesehen wird. 175
Landau (1984) ordnet die verschiedenen Motivationen zur Kreativität drei Theoriekon-
zepten zu. Dies sind die reduktionsorientierte Theorie, die existentialistische Theorie
und die Kommunikationstheorie. Innerhalb der reduktionsorientierten Theorie wird die
Motivation der Kreativität auf unakzeptierte, unerfüllte Impulse aus der Vergangenheit
zurückgeführt. Dies ist analog zu der Spannungsreduktion oder der Vermeidungstheorie
sowie zu dem Drangaspekt der Motivation. Die Grundlage dieser Motivationsform liegt
in der Sublimationstheorie von Freud. 176
In der existentialistischen Theorie wird die Motivation zur Kreativität aus den
Neigungen des Individuums, sich zu aktualisieren gesehen. Das entspricht der
Annäherungs-/ Herausforderungstheorie und dem Zielaspekt der Motivation. Rogers
(1959) geht von einer Selbstaktualisierung aus, in der er die Motivation sieht. Der
Drang des Individuums nach Selbstaktualisierung erfolgt durch die permanente Suche
nach neuen Beziehungen zur Umwelt. Dabei ist die Selbstaktivierung die Motivation
für die Kreativität und gleichzeitig auch der Zielaspekt. 177
In jeder dieser Theorien kann kreatives Verhalten als eine bewußte Antwort auf eine
Herausforderung der Umwelt angesehen werden. In diesem Sinne definiert
Heckhausen (1965) Motivation als "Wirkungsgefüge vieler Faktoren eines gegebenen
Personen-Umwelt-Bezuges, die das Erleben und Verhalten auf Ziele richten und
steuern". 179
Weitere Fähigkeiten und Merkmale einer kreativen Persönlichkeit sind das Interesse
(interest), damit ist die Neigung oder der Antrieb eines Menschen gemeint sowie die
Einstellungen (attitudes). Diese stehen für die Bevorzugung eines bestimmten Gegen-
standes oder eines bestimmten Situationstypus. Ein letztes Merkmal einer kreativen Per-
son ist die Temperamentseigenschaft (temperamental qualities), welche die allgemeine
emotionale Verfassung des Menschen beschreibt. 182
Nach Guilford (1952) weist die kreative Persönlichkeit folgende Merkmale auf:
1. Flüssigkeit (fluency);
2. Flexibilität (flexibility);
3. Originalität (originality);
4. Ausarbeitung (elaboration);
5. Problemsensitivität (sensitivity to problems);
6. Neudefinition (redefinition).
Die Faktoren Flüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration sind in der
praktischen Kreativitätsforschung die wichtigsten Aspekte. 183
Kreativität ist durch diese Merkmale nicht vollständig erfaßt und die Addition der Ein-
zelmerkmale ergibt auch nicht den kreativen Menschen.
Nach Ulmann (1970) wirken Kreative häufig kindlich, emotional unstabil, unreif und
einseitig in ihren Interessen. Kreative verdrängen ihre Impulse nicht, sondern sie leben
sie aus. Damit wirken sie in ihrem Verhalten abweichend von anderen. 184
Außerdem können sich hyperaktive Kinder schlecht konzentrieren und verfügen nur
über eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Hyperaktive Kinder zeigen somit ebenfalls
ein einseitiges Interesse. Paradoxerweise sind manche Kinder jedoch fähig, eine sehr
lange Zeit mit einer selbstgewählten Tätigkeit zu verbringen, was eine gute Voraus-
setzung für kreative Leistungen sein kann.
186
Die Ähnlichkeiten der Definitionen von kreativen Personen und hyperaktiven Kindern
deuten darauf hin, daß hyperaktive Kinder in bezug auf zahlreiche Eigenschaften einer
kreativen Persönlichkeit übereinstimmen.
Im folgenden werden die einzelnen Merkmale einer kreativen Persönlichkeit erläutert
und hypothetisch auf die Problematik der Hyperaktivität - sofern möglich - übertragen.
3.2.1 Flüssigkeit
Das Merkmal Flüssigkeit wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Generell wird
unter dieser Fähigkeit die Gesamtheit der Ideen bezeichnet, die in einem bestimmten
Zeitraum produziert werden. 187
Kossolapow (1973) sieht in dem Merkmal Flüssigkeit "ein Repertoir von ähnlichen
Wendungen, Vorstellungen, Erfahrungsbereichen, bei denen es darauf ankommt, daß
sie auf Abruf da sind." 188
Landau (1984) beschreibt diese Fähigkeit als Geläufigkeit und meint damit die Bega-
bung eines Menschen, sich in bestimmten Situationen zu erinnern, in Worten, Ideen und
Assoziationen, Stärken bzw. Ausdrücken. Damit sind verbale Fähigkeiten
angesprochen, die auch bei hyperaktiven Kindern gegeben sind, z.B. durch eine hohe
verbale Hyperaktivität. Des weiteren können bei hyperaktiven Kindern Ideengeläufig-
189
Aus diesen Gründen kann generell abgeleitet werden, daß hyperaktive Kinder über eine
Ideengeläufigkeit verfügen, auch wenn sie anders ausgerichtet ist als bei verhal-
tensunauffälligen Kindern. Eine weitere Bestätigung findet diese Aussage darin, daß im
praktischen Bereich unter Ideengeläufigkeit ein häufiger Wechsel von einer Tätigkeit zu
einer anderen verstanden wird. Hyperaktive Kinder können sich schwer auf eine Sache
konzentrieren und wechseln häufig von einer Tätigkeit zur nächsten. Dabei zeigen sie
jedoch eine hohe Phantasievorstellung, die ebenfalls auf eine starke Ideengeläufigkeit
hindeutet. 191
3.2.2 Flexibilität
Der Faktor der Flexibilität kann als eine Fortsetzung bzw. Erweiterung der assoziativen
Fähigkeiten der Flüssigkeit gesehen werden. Flexibilität beinhaltet das Distanzieren von
Bekanntem und Vertrautem, das Überschreiten unterschiedlicher Vorstellungen, zugun-
sten von neuen, ungewöhnlichen Handlungen. Dabei ist im Gegensatz zum
quantitativen Aspekt der Geläufigkeit der qualitative Aspekt (die Verschiedenartigkeit)
bei der Flexibilität von besonderer Bedeutung. 193
Landau (1984) definiert Flexibilität als Flüssigkeit der gespeicherten Information und
unterscheidet zum einen eine spontane Umschiebung der Informationsklassen und zum
anderen eine sich anpassende (adaptive) angemessene Zugangsmöglichkeit zu einem
Problem. Im Unterschied zur Ideengeläufigkeit wird mit dem Faktor der spontanen Fle-
xibilität nicht die Anzahl der aufgezählten Verwendungszwecke gemessen, sondern wie
oft eine neue Klasse von Verwendungsmöglichkeiten gefunden wird. 194
Die Übertragung des Verhaltens hyperaktiver Kinder auf das Merkmal der spontanen
Flexibilität ist schwer. Hyperaktive Kinder neigen zwar aufgrund ihrer Impulsivität zu
Spontanreaktionen, aber es ist zweifelhaft, ob dabei eine Verschiebung der
Informationen vorgenommen wird, da sie meist ihrem ersten Impuls folgen, ohne über
ihre Handlungsweise nachzudenken. Dennoch verfügen hyperaktive Kinder über eine
hohe Spontaneität, die sich in ihrem extremen Bewegungsbedürfnis ausdrückt. 195
Mit der sich anpassenden Flexibilität wird die Fähigkeit gekennzeichnet, sich den ver-
schiedenen Problemen anzupassen, sich unter einer Zielsetzung in seinen Gedankengän-
Der Aspekt der angepaßten Flexibilität ist bei hyperaktiven Kindern kaum zu erkennen,
sie können sich schlecht einer Situation anpassen und schlecht über eine längere Zeit-
spanne bei einer Tätigkeit verharren, um zu einem Ergebnis zu gelangen.197
Generell kann in bezug auf das hyperaktive Verhalten von Kindern kaum von einer
spontanen oder adaptiven Flexibilität gesprochen werden, wobei sie eher zu einer spon-
tanen Flexibilität neigen, die ihrer Natur Folge leistet.
Die Förderung von Flexibilität sollte sich nach Kossolapow (1973) nicht nur auf den
verbalen Bereich beziehen, da so die Sprachkompetenz der Erwachsenen zu einer Stär-
kung seiner Position führt (durch eine bessere verbale Ausdrucksfähigkeit), sondern vor
allem durch den Umgang mit verschiedenen Materialien auf einer anschaulich-
handgreiflichen Ebene manifestiert werden. Dies wird in dem folgenden Zitat
verdeutlicht:
"Zu fördern wäre das Hantieren mit den Gegenständen über längere
Zeit hin (Materialvertrautheit), die Unterstützung von Neugier- und
Entdecker- verhalten (Erweiterung des Fragehorizonts), der kollektive Erfahrungsaus-
tausch über eine Sache (gruppaler Lernprozeß)." 198
Durch diese Möglichkeit der Förderung bekommen hyperaktive Kinder die Chance,
sich erstens länger auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren und somit ihre
Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen und ihre Impulsivität und motorische Unruhe zu
hemmen. Zweitens haben sie durch die Unterstützung von Neugier- und
Explorationsverhalten die Gelegenheit, ihre Hyperaktivität zu nutzen, um ihren
Horizont zu erweitern. Dies kann zu einer besseren Integration des Kindes in eine
soziale Gruppe führen, mit dem Ergebnis einer positiven Peer-Beziehung, in der das
Kind von anderen akzeptiert und integriert wird und seine Außenseiterposition
verlassen kann. Dies führt als Konsequenz zu einer Steigerung des beeinträchtigten
Selbstwertgefühls (vgl. Kapitel 2.4).
3.2.3 Originalität
Originalität ist die Fähigkeit, viele ungewöhnliche und ausgefallene Lösungsansätze
und Ideen zu produzieren. Landau (1984) bezeichnet Originalität als die Bereitschaft
eines Individuums, bestimmte Dinge anders zu betrachten. 199
Diese Fähigkeit kann bei hyperaktiven Kindern sehr ausgeprägt sein, da für sie viele
Dinge eine andere Bedeutung haben. Nach Kossolapow (1973) sind besonders Kinder
in ihrem Verhalten und in ihrem Denken originell, da sie eine große Anzahl
ungewöhnlicher ausgefallener Ideen haben. 200
In bezug auf eine Förderung der Originalität muß dabei zunächst geklärt werden, wel-
ches Verhalten für das einzelne Kind normal ist und wie sich das, was als originell be-
zeichnet wird, zur Sozialbasis des Kindes und zu seinem Selbstverständnis verhält.
Für die Förderung der Originalität bei hyperaktiven Kindern bedeutet dies, daß die Er-
zieher, vor allem die Eltern, den Kindern mehr Freiheit lassen und sie dadurch vor
einem konformen Denken und Handeln bewahren. Die Eltern und Erzieher sollen die
hyperaktiven Kinder in ihrer Eigenart und Originalität akzeptieren. Als Folge fühlen
sich die Kinder angenommen. Sie bewerten sich selbst positiv, was zu einer Sta-
bilisierung ihres Selbstwertgefühls führt. 202
3.2.4 Elaboration
Eine weitere Fähigkeit der kreativen Persönlichkeit ist die Elaboration. Landau (1984)
definiert sie als die Fähigkeit, die den Aufbau einer Struktur nach vorhandenen
Informationen ermöglicht. Das bedeutet, daß jede Idee einer sorgfältigen und genauen
Ausarbeitung bedarf, um zu einer konkreten Durchführung überzugehen, die einzelnen
Aspekte des kreativen Produktes weiterzuentwickeln und anschließend zu einem
Ergebnis zu gelangen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Durchhaltevermögen et-
203
was herauszufinden, das den Charakter eines Produktes beinhaltet. Die Elaboration
bietet Anregungen für bildliche, sprachliche und motorische Aktivität. Für hyperaktive
Kinder beinhaltet diese Fähigkeit große Schwierigkeiten, da sie erhebliche Probleme in
der Motorik, besonders in der Feinmotorik haben. Des weiteren sind bei ihnen
überschießende Bewegungen in der Grobmotorik vorhanden. Ein anderer
Störmechanismus der Elaborationsfähigkeit bei hyperaktiven Kindern liegt in der
mangelhaften Konzentrationsfähigkeit und in der starken Ablenkbarkeit. 204
Die Fähigkeit der Elaboration wird besonders dann gestört, wenn eine geringe Motiva-
tion zur Tätigkeit vorhanden ist. 205
Die bildlichen, sprachlichen und motorischen Anregungen stellen aus diesen Gründen
für hyperaktive Kinder keine günstige Ausgangsbasis dar. Dennoch kann die
Für das hyperaktive Kind kann die Folge der Elaboration eine aktive
Auseinandersetzung - durch Bewußtseinsbildung und Veränderungsstrategien - mit sich
selbst und seiner Umwelt sein. Hierdurch kann es zu einer gestärkten Ichposition in der
Interaktion mit seinem Umfeld gelangen. Eine wichtige Voraussetzung ist dafür, daß
dem hyperaktiven Kind in der Kreativitätsförderung solche Ziele, Sachaspekte und
Probleme angeboten werden, die es aufgrund seiner Fähigkeiten erfassen kann, so daß
es nicht durch eine Überforderung und den entstehenden Druck in seinem hyperaktiven
Verhalten verharrt und in Unsachlichkeiten, z.B. Clownerie verfällt. Ein weiteres Ziel
innerhalb einer Kreativitätsförderung ist nach Seeboth (1973) die Hinführung des
Kindes zu einer intensiven Auseinandersetzung mit einem anderen (Gegenüber), bei
dem ein Ausgleich zwischen der eigenen Aktivität und dem Unterordnen unter die
Aktivität der anderen erfolgen soll, d.h. es findet eine aktive Interaktion statt.
207
3.2.5 Problemsensitivität
Die Sensitivität für Probleme ist eine wichtige Voraussetzung für die kreativen Leistun-
gen innerhalb einer Situation. Landau (1984) beschreibt Sensitivität als die Fähigkeit
eines Individuums, Probleme zu erkennen sowie eine Offenheit der Umwelt
gegenüber. Dabei sind Umwelterleben und Problemsensitivität abhängig von dem
208
kann auf eine hohe Problemsensitivität geschlossen werden. Dennoch steht bei
hyperaktiven Kindern die Schwierigkeit im Vordergrund, Wünsche und Bedürfnisse
anderer wahrzunehmen und sensibel auf ihre Umwelt einzugehen. Die Förderung
210
einer verbesserten Wahrnehmung der kindlichen Umwelt und der Sensitivität für
Probleme liegt in einem gleichberechtigten Sozialkontakt zwischen dem Erzieher und
dem hyperaktiven Kind.
"Wenn das Kind erfährt, daß auch der Erwachsene nicht alles weiß, daß er
seinerseits um Orientierung zur Problemerfassung und -lösung bemüht ist,
läßt sich über den Sozialkontakt gemeinsamer Bemühungen leicht ein
Lernfeld aufbauen, bei dem der Erzieher durchaus nicht immer der
Gebende ist." 211
3.2.6 Neudefinition
Nach Landau (1984) ist Neudefinition die Fähigkeit der kreativen Person, ein Objekt
oder ein Teil davon anders als zuvor zu interpretieren und es dadurch zu einem neuen
Zweck zu verwenden. 212
Kossolapow (1973) sieht vor allem bei Kindern günstige Voraussetzungen, die Redefi-
nitionsfähigkeit zu üben und zu entwickeln, da ihre Experimentierfreude noch
ursprünglich vorhanden ist, da sie weniger von Konventionen reguliert werden als
Erwachsene. 213
Walters (1991) geht davon aus, daß jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, Informationen
aus der Umwelt über einen bestimmten "Kanal" aufzunehmen, der die Informationen
filtert und verarbeitet, mit dem Ziel unwichtige Informationen von wichtigen
Informationen zu trennen, damit nur die wichtigen in das Bewußtsein gelangen und im
Gehirn gespeichert werden. Somit ist der Kontakt zur Umwelt hergestellt. Bei
hyperaktiven Kindern ist nach Walters (1991) dieser "Kanal" zu eng und somit kann
nur eine sehr geringe Menge an Information aufgenommen werden. Jede zusätzliche
Information bedeutet eine Belastung für das Kind. Die Reaktionen des hyperaktiven
Kindes sind sehr unterschiedlich. So kann es zum einen zu einer Erregung kommen, mit
der Folge, daß es wie getrieben herumrennt, zum anderen kann es in einen pani-
kähnlichen Zustand gelangen, der das Kind handlungsunfähig macht. Beides führt zu
einer psychischen Ermüdung, die nun wiederum den "Kanal" weiter einengt.215
Die Folge ist ein zunehmendes Desinteresse. Das Kind ist nicht mehr in der Lage, die
günstigste Lösung in bezug auf ein Problem zu bedenken, sondern es wird sich für die
erste beste ihm angebotene Lösung entscheiden. Die Folgen sind falsche Reaktionen,
die schnell zu Frustration und Überforderung führen. Hyperaktive Kinder können die
einmal in falsche Bahnen gelenkte Tätigkeit nicht mehr schnell genug verändern und
halten so an den gewohnten Abläufen fest. Dadurch fällt es ihnen schwer, Fehler zu
vermeiden und falsche Handlungen zu korrigieren. Dennoch geben hyperaktive Kinder
in den meisten Fällen nicht auf, sie fangen trotz ständiger Niederlagen und Fehlschläge
von vorne an, überwinden sich selbst immer wieder ohne zu verzagen. 216
unwichtige
wichtige Umweltreize Informationen
Informationen
hyperaktives
Kind
ungefilterte
Aufnahme
zu enger
Kanal
weitere Ein-
engung
des Kanals
Frustration,
Überforderung,
inneres Chaos
Für die Förderung der Fähigkeit der Redefiniton muß das hyperaktive Kind zunächst
motiviert werden, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Ebenso muß das Ziel selbst eine
ausreichende Anziehungskraft auf das Kind ausüben, so daß ein starkes Interesse
216Vgl. Walters, U. (1991), S. 24.
59
besteht. Dadurch wird das hyperaktive Kind zu einer hohen Durchhalte- und
Konzentrationsfähigkeit motiviert. 217
Die dritte Voraussetzung zur Förderung der Redefinitionsfähigkeit bezieht sich auf die
Erzieherperson. Seine Aufgabe besteht darin, sich selbst zurückzunehmen, "indem er
seine Autorität nicht dazu gebraucht, tradierte (überlieferte) Sichtweisen zu verabsolu-
tieren und dadurch das Kind von vorgegebenen Normvorstellungen abhängig zu ma-
chen." 219
Die zuvor genannten Merkmale der kreativen Persönlichkeit stellen kognitive Faktoren
der Kreativität dar. Neben diesen Faktoren erläutert Kossolapow (1973) emotionale
Kennzeichen einer kreativen Persönlichkeit, wobei diese nicht von den kognitiven zu
trennen sind. Zu den emotionalen Faktoren gehören:
1. Selbstsicherheit - Selbstaktualisierung;
2. Nonkonformität und Spontaneität;
3. Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen. 220
1. Selbstsicherheit - Selbstaktualisierung
Mit Selbstsicherheit ist die Steigerung der Ausdrucksfähigkeit durch das Zutrauen zu
sich selbst gemeint. Das bedeutet, daß die Selbstfindung als Voraussetzung zur
Entwicklung von Ich-Stabilität gilt und der Entwicklung von Widerstandspotentialen.
"Für das Kind, das zum guten Teil Produkt seiner Umwelt, der Sozialer-
fahrungen, die es gemacht hat, sein dürfte, kommt viel darauf an, in einer
durch Arbeitsprozesse und Freizeitregulierung 'gleichgeschalteten' Umge-
bung abweichende Verhaltensmuster kennenzulernen und einzuüben.
Ab- wehr nicht um jeden Preis, wohl aber als kritisches In-Frage-
Stellen sonst fraglos akzeptierter Denkschemata und Praktiken." 221
Die Aufgabe des Erziehers besteht darin, dem Vorschulkind Verstärkungen zu geben,
da eine positive Selbsteinschätzung eine wichtige Voraussetzung der kreativen
Leistungen ist. Die Stabilisierung des Selbstbewußtseins und die Selbstsicherheit sind
von unterschiedlichen Situationen und personellen Bedingungen abhängig. Dabei hat
der Erzieher die Aufgabe, das Kind in seinen positiven Eigenschaften zu stärken und
trotzdem eine Verabsolutierung der eigenen Möglichkeiten durch Relativierung in
bezug auf die Gruppe und die Gesellschaft zu vermeiden. 222
Bei hyperaktiven Kindern spielt die Stabilisierung des Selbstbewußtseins ein besondere
Rolle, da sie aufgrund der erfahrenen Ablehnung durch die Umwelt regelmäßig wenig
Selbstbewußtsein entwickelt haben. Hierbei kommt dem Erzieher die Aufgabe zu, das
Kind zu unterstützen, indem dieser positives Verhalten verstärkt und dem Kind Erfolgs-
erlebnisse vermittelt. 223
Hyperaktive Kinder handeln oft nonkonform. Sie agieren, ohne jegliche Folgen zu
überdenken, respektieren nicht das Eigentum anderen Mitmenschen und halten sich
nicht an Vereinbarungen. Jedoch führt dieses nonkonforme Verhalten nicht unbedingt
225
Besonders bei der Förderung hyperaktiver Kinder ist die Erhöhung der
Frustrationstoleranz ein wichtiges Ziel, da sie unter einer niedrigen Frustrationstoleranz
leiden. Dem hyperaktiven Kind kann dadurch geholfen werden, indem es Erfolg erfährt.
Dadurch wird sein Selbstbewußtsein gestärkt und das Kind lernt, Widerstände zu
überwinden. Es erfährt, daß es nicht gleich verzweifeln muß, wenn ihm etwas mißlingt.
Durch die positive Einstellung zu sich selbst und zu seinen Handlungen werden
Frustrationen besser toleriert. Wenn für das Kind die eigenen Handlungen verständlich
229
sind und, wenn es sein Problem genau definiert hat, ist es möglicherweise auch in der
Lage, ausdauernd an einer Lösung zu arbeiten. 230
Kinder, die sich durch die oben genannten Verhaltensmerkmale und Fähigkeiten aus-
zeichnen, werden oft als unbequem angesehen. Ihr Verhalten weicht von der
allgemeinen Norm ab. Dennoch ist es gerade dieses Verhalten, das es ihnen ermöglicht,
kreativ zu sein. 231
Bisher liegen lediglich wenige Untersuchungen vor, die den Zusammenhang zwischen
Hyperaktivität und Kreativität untersuchen. Shaw (1992) vergleicht eine Gruppe hyper-
aktiver Kinder mit einer entsprechenden Kontrollgruppe, bezüglich ihrer Antworten in
speziellen psychologischen Tests und Aufgaben. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die
hyperaktiven Kinder eine höhere Kreativität in bezug auf figurales Denken aufweisen
als die Kontrollgruppe. Des weiteren stellt er fest, daß die Gruppe der hyperaktiven
Kinder mehr geistige Bilder und Vorstellungen beim Problemlösen zeigt. Diese höheren
Kreativitätsscores treten ebenfalls bei kreativen Kindern auf. 232
Eine weitere Studie führt Cramond (1994) an 34 hyperaktive Kinder (acht Mädchen
und 26 Jungen) im Alter von sechs bis acht Jahren unter Verwendung der Torrance
Tests of Creative Thinking--Figural Form A (TTCT; Torrance, 1962) durch. Dabei
zeigen die hyperaktiven Kinder insgesamt Werte nahe dem allgemeinen
In der Literatur sind bisher keine Untersuchungen zu den Prozeßabläufen bei hyperakti-
ven Kindern durchgeführt worden. Es ist jedoch anzunehmen, daß die kreativen
Prozesse bei hyperaktiven Kindern aufgrund ihrer niedrigen Aufmerksamkeitsspanne
und Konzentrationsfähigkeit schneller gestört werden können, als bei
verhaltensunauffälligen Kindern.
Auf die Problematik des hyperaktiven Kindes übertragen bedeutet dies, daß das Ziel für
die Kinder ansprechend sein muß und aus ihrem Interessens- und Erfahrungsbereichen
stammt. Die Problemstellung sollte daher nicht zu komplex, sondern eher greifbar und
konkret ausgerichtet sein. Durch die faßbaren Ziele ist das Kind in der Lage, konkrete
Handlungen auszuführen und es kann folglich einen kreativen Prozeß durchlaufen. Um
diese Zielvorstellungen zu unterstützen, sind Lob und Anerkennung des Erziehers von
enormer Wichtigkeit, die das hyperaktive Kind zu einer Weiterführung des Problemlö-
sens motivieren. Als weitere Voraussetzung des kreativen Prozesses kann die Beseiti-
gung von störenden Nebenzielen angesehen werden. Eine störende Einflußnahme von
233Vgl. Cramond, B. (1994), S. 7f.
234Vgl. Landau, E. (1984), S. 14.
235Vgl. Ebenda, S. 17.
236Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 44.
63
Nebenzielen während des kreativen Prozesses ist häufig gegeben und nicht vermeidbar.
Die Aufgabe des Erziehers besteht erstens darin, dem Kind die Möglichkeit zu geben,
sein Ziel ungestört zu verfolgen, ohne Änderungen oder Unterbrechungen durch die
Umgebung. Das kann durch eine angemessene Zielsetzung und Zielprägnanz sowie
durch Hilfen zur Verstärkung der Ausdauer und Konzentration gewährleistet werden. 237
Eine weitere Voraussetzung zum kreativen Prozeß ist ein bestimmtes Maß an Beweg-
lichkeit zur Zielverfolgung und zum Sich-Einspielen auf das Ziel. Bei hyperaktiven 239
Kindern liegt eine starke Beweglichkeit im motorischen Bereich vor, die die Gefahr
beinhaltet, das Einspielen auf ein Ziel zu hemmen bzw. zu verhindern. Bei ihnen
mangelt es an einer Steuerung ihrer Aktivität, sie handeln nach ihrem ersten Impuls und
bleiben so wahrscheinlich bei Nebenaspekten des Zieles stecken. 240
Der Erzieher achtet deshalb darauf, die Hypermotorik des Kindes zu kanalisieren und
sie zu einer bestimmten Zielsetzung zu lenken. Dem Kind muß Spielmaterial geboten
werden, das der Phantasie freien Spielraum läßt. 241
Diese Aufteilung wird heute annähernd beibehalten und als die grundsätzlichen
Denkprozesse eines jeden kreativen Prozesses angesehen. Die bekannteste
Phaseneinteilung des kreativen Prozesses stammt von Poincaré (1913), die 1926 von
Wallace übernommen wurde und der Einteilung von Dewey (1910) sehr ähnlich ist.
Die Einteilung vollzieht sich in vier unterschiedliche Phasen:
1. Die Vorbereitungsphase;
2. die Inkubationsphase;
3. die Illuminationsphase;
4. die Verifikationsphase. 243
Jede dieser vier Phasen versetzt das Individuum in einen bestimmten psychischen Zu-
stand, der in der ersten Phase als Spannung, dann als Frustration, später als Freude und
in der letzten Phase als Konzentration erlebt wird. Jedem kreativen Prozeß muß eine
Auseinandersetzung zwischen Person und Umwelt vorausgehen. Umgekehrt führt eine
aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt fast automatisch zu kreativen Wahrnehmun-
gen und kreativen Handlungen. 244
Diese vorkreative Phase wird in das Phasenmodell von Preiser (1976), Abbildung 8, in-
tegriert.
In der Vorbereitungsphase wird das Problem wahrgenommen und es werden aus der
Umwelt und aus dem Gedächtnisspeicher Informationen gesammelt, die das Problem
betreffen. Die Problemwahrnehmung ist die Folge einer aktiven unvoreingenommenen
Auseinandersetzung mit der Umwelt und den eigenen Bedürfnissen. Dabei werden, wie
aus Abb. 8 ersichtlich wird, innere und äußere Probleme berücksichtigt. Die inneren
Probleme beinhalten Spannungszustände, Motive oder Bedürfnisse des Individuums.
Äußere Probleme entstehen durch theoretische Widersprüche, kognitive Dissonanzen
oder durch gesellschaftliche Bedürfnisse und vorgegebene Aufgaben. 246
Bei den Vorgängen innerhalb der Vorbereitungsphase findet keine normierende oder
klassifizierende Kontrolle statt, die Information kann deshalb als Rohmaterial
bezeichnet werden, welches ungehindert gesammelt werden kann. 247
Die Dauer der Vorbereitungsphase ist abhängig von der Art des Problems, vom Wissen
über das Problem und von individuellen Gewohnheiten.
243Vgl. Landau, E. (1984), S. 64.
244Vgl. Preiser, S. (1976), S. 43.
245Vgl. Landau, E. (1984), S. 64.
246Vgl. Preiser, S. (1976), S. 43.
247Vgl. Eisler-Stehrenberger, K. (1990), in: Petzold, H. / Orth, I. (1990), S. 148.
65
Person:
spontan aktiv Umwelt:
und reaktiv, Person-Umwelt- sozial und
wahrnehmend Interaktion materiell
und handelnd
äußeres Problem:
inneres Problem: Widerspruch,
Spannungszustand, Dissonanz,
Motiv, Bedürfnis Problemwahrnehmung gesellschaftliches
und -analyse Bedürfnis, Aufgaben
Problem-
neudefinition
Vorbereitung:
Informationssammlung
rational
unbewußt organisiert
inspirativ
Hypothesen-
bildung
Inkubation
Illumination Synthese
(Einfall)
Überprüfung und
Ausarbeitung
Realisierung Realitäts-Adaptation
Bei dem inspirierten Zugang vollziehen sich die Assoziationen im Unbewußten. Sie
werden kombiniert, erweitert und umgestellt. Die Zeit der Inkubationsphase ist für das
Individuum eine unruhige und frustrierende Zeit, die oft von Min-
derwertigkeitsgefühlen begleitet wird. Das Individuum muß eine hohe
Frustrationstoleranz besitzen, um das Ziel im kreativen Prozeß weiter zu verfolgen und
nicht auf Nebenaspekte oder Nebenziele abzugleiten. 249
ist und ob sie die eigene Erfahrungswelt des kreativen Individuums oder der Kultur
erweitert. 252
In der abschließenden Phase des kreativen Prozesses zeigt sich, wie hoch die Ausdauer
und der Einsatz sowie die Fähigkeiten und Fertigkeiten einer kreativen Person sind. Die
Schwierigkeiten dieser Phase liegen darin, das Neue kommunizierbar zu machen. Das
kreative Produkt bekommt seine Bewährung und Anerkennung nicht nur durch das Um-
setzen in die Praxis, sondern ist ebenfalls der Kritik der Umwelt ausgesetzt. Die neue
Einsicht wird daher erst dann zur Kommunikation freigegeben, wenn die individuelle
Bewertung und die Reaktionen der Umwelt positiv sind. Für die Kultur und ihren Fort-
schritt ist eine angemessene kreative Kommunikation von besonderer Bedeutung. Die
Verifikation einer Idee kann teilweise zu einer Verwerfung oder Modifikation führen. 253
Bei hyperaktiven Kindern können einige dieser Phasen in einem kreativen Prozeß vor-
handen sein. Problematisch wird es in der Inkubationsphase, in der es häufig zu Frustra-
tionen und in Folge zu Minderwertigkeitsgefühlen kommt. Hyperaktive Kinder haben
eine niedrige Frustrationstoleranz, weshalb sie häufig zu Ausbrüchen neigen. 254
Als Folge daraus können die Kinder ihr weiteres Ziel nicht verfolgen und bleiben in der
Inkubationsphase stecken.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich in der Verifikationsphase, da die hyperaktiven
Kinder nicht in der Lage sind, ihre eigenen Ideen erneut zu überdenken und sie in eine
kommunizierbare und diskutierbare Form zu bringen. Hyperaktive Kinder sind nur
selten in der Lage Selbstkritik oder Sachkritik auszuüben. 255
Es kann somit möglich sein, daß hyperaktive Kinder mit dem erreichen der Illuminati-
onsphase, mit dem Aha-Erlebnis zufrieden sind.
Das kreative Produkt wird nach Ghiselin (1958) somit an dem Ausmaß gemessen, in
dem kreative Leistungen das jeweilige Bedeutungsuniversum umstrukturieren. Das am
häufigsten in der Literatur benannte Kriterium für die Beurteilung eines kreativen Pro-
duktes ist die Neuartigkeit (im einer bestimmten Situation und einem bestimmten Sy-
stem) und seine Sinnhaftigkeit (Angemessenheit und Realitätsbezogenheit).
Das ist besonders wichtig in bezug auf hyperaktive Kinder, da so auch ihre
Denkprozesse als kreativ bezeichnet werden können, die innerhalb eines Kulturkreises
keinen Neuheitswert besitzen, aber für das Kind eine Neuheit darstellen.
Neben dem Bewertungskriterium der Neuheit werden noch weitere Merkmale für das
kreative Produkt verwendet. Eines davon ist die Brauchbarkeit. Stein (1953) führt in
diesem Zusammenhang an, daß ein kreatives Produkt nicht nur einen Neuheitswert hat,
sondern durch eine Gruppe zu irgendeinem Zeitpunkt als brauchbar, nützlich oder be-
friedigend angesehen wird. 258
Stein (1953) weist darauf hin, daß das Ergebnis eines kreativen Prozesses anderen
vermittelt wird. Das kreative Produkt kann somit als Kommunikationsmittel betrachtet
werden. Letztlich können jedoch auch differenzierte Bewertungskriterien nicht darüber
hinwegtäuschen, daß die Beurteilung eines kreativen Produktes je nach individuellen
oder sozialen Wertvorstellungen ausfällt - eine objektive Beurteilung kann es nicht ge-
ben. Das kreative Produkt bildet eine wichtige Komponente im kreativen Prozeß. Dabei
stehen Produkt und Prozeß in einem dialektischen Verhältnis. Liegt die Betonung auf
der Materialisierung des Schaffensprozesses, so wird das Produkt betont und gefördert.
Dagegen steht der kreative Prozeß im Vordergrund, wenn die Originalität der Idee, das
Offensein gegenüber inneren und äußeren Anstößen und das Hervorbringen
überschießender Möglichkeiten stärker betrachtet wird. Innerhalb der Pädagogik steht
der kreative Prozeß mehr im Vordergrund. Die primäre Zielsetzung ist dabei die
Verstärkung der kreativen Haltungskomponenten und weniger das leistungsmotivierte
Endprodukt. 259
Bei der Betrachtung des kreativen Produktes, ist es in bezug auf hyperaktive Kinder
wichtig, das kreative Produkt als Ausdruck ihrer Persönlichkeit wahrzunehmen und zu
verstehen, denn im kreativen Produkt werden die Wechselwirkungen von Persönlichkeit
und Prozeß deutlich. 260
Aus diesem Grund sollte der Erzieher mit äußerster Vorsicht in der Stellungnahme und
in der Beurteilung kreativer Produkte von hyperaktiven Kindern vorgehen, da sich die
Verhaltensauffälligkeiten der Kinder in der Persönlichkeit und im Prozeß bemerkbar
machen und sich im Produkt widerspiegeln. Folglich beinhaltet das kreative Produkt
den Anspruch, daß jeder, auch hyperaktive Kinder, ein solches gestalten kann, ohne daß
dafür bestimmte herausragende Fähigkeiten oder Fertigkeiten zur Herstellung
vorhanden sein müssen.
Die wichtigsten Einflüsse der sozialen Umwelt auf die Entwicklung des hyperaktiven
Kindes werden im folgenden dargestellt.
Die Ausführungen sind hypothetisch, da bislang keine Untersuchungen zu den
Einflüssen der Umwelt auf hyperaktive Kinder wissenschaftlich nachgewiesen wurden.
Dennoch bieten sich die in der Literatur beschriebenen Einflüsse für eine Übertragung
auf hyperaktive Kinder an.
Die Problematik der Unter- bzw. Überforderung bei hyperaktiven Kindern wurde
bereits hinreichend erläutert (vgl. Kapitel 3.2). Das hyperaktive Kind kann durch eine
angemessene äußere Anregung aktiviert werden, sein Energiepotential auf seine
Umwelt zu richten.
Preiser (1976) führt verschiedene Aktivierungsangebote an:
- Angebote einer anregenden, abwechslungsreichen Umwelt, die das Kind nicht über-
fordert;
- Anregungen für Informations-, Verständnis- und Provokationsfragen geben;
- Akzeptieren der Eigenproduktionen der Kinder, wobei ihnen ein "warm-up"
(Anlaufzeit) ermöglicht werden soll;
- Akzeptieren und tolerieren der Spontaneität, Eigeninitiative, Selbständigkeit sowie
des Explorationsverhaltens;
- Vermeidung von Frustration und Fehlschlägen, da sonst eine aktive Auseinander-
setzung mit der Umwelt nicht mehr möglich ist, daher sollen ausreichen
Gelegenheiten
zur Bedürfnisbefriedigung vorhanden sein. 264
Eine Reduzierung des Konformitätsdrucks ist somit von besonderer Bedeutung für die
Kreativitätsaktivierung. Preiser (1976) nennt folgende Möglichkeiten zur Reduzierung
des Konformitätsdrucks:
- Beschränkung der Disziplinierungsmaßnahmen auf ein Minimum;
- Vermeidung der Diskriminierung abweichenden Verhaltens und andersartiger
Persönlichkeiten als abnorm;
- Vermeidung bestimmter Fixierungen von Altersrollen;
- Verhinderung der Fixierung von Geschlechterrollen, da Kreativität sowohl weibliche
Sensibilität als auch männliche Unabhängigkeit des Denkens benötigt;
- Reduktion der Orientierung an Gleichaltrigen;
- Respektieren von ungewöhnlichen Ideen einer Minderheit;
- Akzeptieren von individueller Besonderheit und Interessen;
- Toleranz abweichendem Verhalten gegenüber;
In Kapitel 4.3.1 wird vertiefender auf den Aspekt des Konformitätsdrucks eingegangen.
Die Arbeit in einer Gruppe kann kreative Prozesse negativ oder positiv beeinflussen.
Sie ist dann positiv, wenn die innerhalb einer Gruppe handelnden Kinder sich mit ihren
unterschiedlichen Einstellungen, Motivationen, Fähigkeiten und
Persönlichkeitsmerkmalen nicht als störend erfahren. Dabei erlebt das Kind die
Situation in der Gruppe als Chance, die vorhandenen Informationsstrukturen aufzulösen
oder zu erleichtern. Dadurch wird die Erarbeitung neuer Problemlösungen ermöglicht. 270
Abschließend soll betont werden, daß sich viele Forderungen dazu eignen, hyperaktive
Kinder im Sinne einer Kreativitätsförderung zu einer gefestigten Persönlichkeit zu
erziehen, die daraufhin Teil einer kreativen Gesellschaft wird.
"Zusammenfassend kann man sagen, daß die Kulturen, die ihre Kinder
offen und frei dazu erziehen, die Herausforderungen der Umgebung anzu-
nehmen und an diese Fragen zu stellen, sie zum divergenten Denken zu
bringen, und jene, die sich am Prozeß und nicht am Produkt orientieren, die
kreativeren Persönlichkeiten hervorbringen."273
In einer Welt, ohne Impulse und Anregung ist keine Kreativitätsförderung möglich. Es
liegt somit in der Hand von Eltern und Pädagogen, die Umwelt für das Kind entspre-
chend zu gestalten. 274
Im Vorschulalter hat das Kind im besonderen Maß die Möglichkeit für spontane Aktivi-
täten. Diese bilden, im Gegensatz zu reaktiven Verhaltensweisen, die Grundlage für
Kreativität. Heinelt (1974) nennt folgende Merkmale der Kreativität des
Vorschulalters: Zum ersten lebt das Kind in einem psychisch entspannten Feld, das für
die Entfaltung kreativen Verhaltens optimale Voraussetzungen beinhaltet. Das Kind
verfügt über eine außerordentliche Erlebnisfähigkeit, Aufnahmebereitschaft und über
ein starkes Interesse. Diese Fähigkeiten ermöglichen dem Kind, seine Umwelt staunend
und fragend gegenüberzutreten. Dabei ist das kindliche Verhalten noch nicht von festen
Leistungszielen bestimmt. Folglich entwickeln sich die kindlichen Interessen ohne
Druck und Zwang. Zum zweiten erfährt und entdeckt das Kind im Vorschulalter seine
Umgebung als etwas Neues, ohne durch Denkinhalte, Erfahrungen oder Automatismen
beeinflußt zu sein. Zum dritten sieht Heinelt als Merkmal der Kreativität im
Vorschulalter die Unreflektiertheit und Konfliktfreiheit des Vorschulkindes im
Gegensatz zum Schulkind an. Als viertes Charakteristikum wird beschrieben, daß sich
kritische Einstellungen noch nicht entwickeln können. Das Vorschulkind nimmt unvor-
eingenommen, engagiert an der Umwelt teil und identifiziert sich mit dieser. Das fünfte
Kriterium der Kreativität bezieht sich nach Heinelt auf das kreative Denken des
273Landau, E. (1984), S. 96
274Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 44.
74
Kindes, daß noch nicht seinen Gegenpart im konvergenten Denken hat. Das Training
dieses konvergenten Denkens erfolgt erst in der Schule.275
Aus diesen Merkmalen der Kreativität im Vorschulalter lassen sich verschiedene Anfor-
derungen an die gesamte Umwelt des Kindes stellen. Somit ist es notwendig, daß für
eine Förderung des Kindes in der Vorschulzeit eine kreative Umgebung vorhanden ist,
mit dem Ergebnis kreativer Kinder und kreativer Erzieher. 276
Die entwicklungspsychologischen Aspekte stellen jedoch nur eine Richtschnur dar, weil
der kindliche Entwicklungsstand nicht einer bestimmten Phase oder Stufe zugeordnet
ist. Die Entwicklung verläuft kontinuierlich und individuell unterschiedlich. Dennoch
kann davon ausgegangen werden, daß die Phase des Kleinkindalters entscheidend für
die kreative Entwicklung ist. Folglich sind Kindheit und Kreativität eng miteinander
verbunden. 278
Heinelt (1974) unterscheidet prinzipiell in der Entwicklung der Kreativität des Kindes
zwischen kreativen Einstellungen und kreativen Vollzügen. Unter kreativen Einstellun-
gen des Kindes werden das Staunen, das Fragen und das Infragestellen
zusammengefaßt. Somit machen sie nicht nur das kreative Verhalten des Kindes aus.
Neben den kreativen Einstellungen besitzt das Kind kreative Vollzüge, die die
konkreten Dimensionen des Verhaltens darstellen. Zu den kreativen Vollzügen gehören
das Sozial-, das Spiel- und das Sprachverhalten sowie das musikalische, literarische und
275Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 44.
276Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 43.
277Ulmann, G. (1970), S. 122
278Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 24.
279Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 33.
75
das gestaltende Interesse. Die kreativen Einstellungen und Vollzüge stehen in einem
ständigen Wechselverhältnis und sind nicht immer klar von einander zu trennen. 280
Im folgenden werden die einzelnen Faktoren der kreativen Einstellungen und Vollzüge
dargestellt.
Ebenso wie das Staunen ist das Fragen durch eine Art der Neugier gekennzeichnet, des-
sen Ziel die Sprachaneignung und damit verbunden ein Wissens- und
Informationserwerb ist (Wandlung von den Was-Fragen bis zum dritten Lebensjahr zu
den Warum-Fragen bis zum Alter von fünf Jahren). Durch das Fragen wird die
Problemsensibilität und die Kommunikationsfähigkeit des Kindes gefördert. 282
Mit ca. acht Jahren tritt zu dem Staunen und Fragen das Infragestellen hinzu. Das Kind
gibt sich nicht mit einer Möglichkeit zufrieden. Alte Möglichkeiten werden in Frage ge-
stellt und neue Alternativen werden ausprobiert. Das Infragestellen hat zum Ziel, kon-
struktive Anregungen zu erhalten. 283
Produkte, dennoch entdeckt es für sich selbst neues Verhalten. Folglich ist das Kind
kreativ, weil es eine Verhaltensänderung zur Lösung eines Problems erfahren hat. Die
Aspekte der Neuheit und der Seltenheit des kreativen Produktes beziehen sich daher nur
auf das Kind selbst und nicht auf die Umwelt. Im Illusionsspiel werden mit Hilfe der
Phantasie eigene Vorstellungen und Wünsche in Gegenstände und Dinge hinei-
ninterpretiert. Der Realitätsbezug ist hierbei noch nicht vorhanden, im Gegensatz zum
Rollenspiel, bei dem konkrete Erfahrungen, Beobachtungen und Erlebnisse in die
Spielsituation eingefügt werden. Im Rollenspiel wird bereits die soziale Kreativität er-
lernt. 285
Auf die Rolle des Spiels wird in Kapitel 4.3 näher eingegangen.
Ein weiterer kreativer Akt wird in dem Sprachverhalten gesehen. Darunter werden das
Lallen, die Lallmonologe des kleinen Kindes und das Erlernen der Sprache verstanden
und später das Finden von eigenen Bezeichnungen für Dinge und Menschen und das
Verstehen. Des weiteren bilden Neugierde und Wissensdurst Grundlagen zum kreativen
Erlernen. Somit besitzt das junge Kind bereits Voraussetzungen zum kreativen Verhal-
ten. Das formende Gestalten als weiteres kreatives Verhalten setzt häufig bei den zu-
286
vor erlebten Spielsituationen an. Sowohl das frühkindliche Kritzeln, das spätere
Zeichnen als auch der Umgang mit Materialien (Ton, Sand, Farben usw.) stellen eine
Entfaltung kreativer Fähigkeiten dar. Ebenso können musikalische Interessen im
Zusammenhang mit einer Spielsituation auftreten, wenn das Kind z.B. emotionale
Erlebnisse verarbeitet. Das musikalische Interesse äußert sich im Wiederholen und
Erfinden von Melodien. Dieses Phänomen ist im Vorschulalter besonders ausgeprägt.
Das literarische Interesse bezieht sich vornehmlich auf Märchen und Erzählungen, die
das Kind in sein Alltagsgeschehen integriert. 287
Torrance zeigt in seinen Längs- und Querschnittuntersuchungen von 1964 und 1966 ei-
nen annähernden Entwicklungsverlauf des divergenten Denkens. Jedoch verläuft die
Entwicklungskurve kreativer Leistungen diskontinuierlich. Nach Torrance steigen alle
in seinen Kreativitästests gemessenen Faktoren (Flüssigkeit, Flexibilität, Originalität
und Elaboration) im Alter von drei bis viereinhalb Jahren an. Mit dem Eintritt in den
Kindergarten (da sich die Untersuchungen auf amerikanische Verhältnisse beziehen,
sind hier Kinder im Alter von fünf Jahren gemeint) fällt die Fähigkeit zum divergenten
Denken geringfügig ab. Daraufhin findet ein Anwachsen bis zum Alter der dritten
Klasse statt. In der vierten Klasse setzt eine starke Abnahme aller Fähigkeiten des
divergenten Denkens ein. Ab der fünften Klasse findet ein Anstieg bis zur elften Klasse
statt, der durch einen kleinen Abfall um die siebte Klasse gekennzeichnet ist. 288
Die deutlichen Abfälle in der kreativen Entwicklung sind in der Regel auf
einschneidende kulturelle oder soziale Ereignisse zurückzuführen. Alle drei Abfälle
entstehen in einer Phase der Umstellung in der Aktivität des Kindes. Folglich kann das
Kind seine Ziele nicht mehr selbst aussuchen und es wird durch Einschränkungen in
seiner spontanen Aktivität gestört. 289
Abschließend kann festgestellt werden, daß das kreative Denken im Vorschulalter be-
sonders starke Anregungen und Angebote erhält und sich bereits hier zu einer festen
Einstellung und Fähigkeit ausbildet.
Widmer (1976) nennt folgende Zielvorstellungen in bezug auf eine Erziehung zur
Kreativität. Er unterscheidet zwischen einer Persönlichkeitsfunktion, einer sozialen
Funktion, einer Bewältigungsfunktion und einer tranzendental-kulturellen Funktion der
Kreativitätserziehung. 291
Unter dem Persönlichkeitsaspekt sieht Widmer (1976) die Funktion der Kreativitätser-
ziehung in dem Finden, Festigen und Modifizieren der Ich-Identität des Kindes in
bezug zu seiner Umwelt durch Neuschaffung und Veränderung. Vom Standpunkt der
sozialen Funktion aus, soll die Kreativitätserziehung dem Kind zu einer angstfreien
(1970), S. 128f.
289Vgl. Seiffge-Krenke, I. (1974), S. 130.
290Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 49
291Vgl. Widmer, K. (1976), S. 761.
78
sozialen Veränderung verhelfen. Weiterhin soll dem Kind eine Modifizierung seiner
Rollenfunktion und eine Ausformung tragender Begegnungen ermöglicht werden. Die
Bewältigungsfunktion der Kreativitätserziehung bezieht sich auf den Aspekt des
Bestehens und Veränderns der sozialen, gesellschaftlichen und sachwelt-bezogenen
Situation, unter einem angstfreien Einsatz emotionaler, kognitiver und
psychomotorischer Fähigkeiten. Unter der transzendental-kulturellen Funktion soll die
Kreativitätserziehung dem Kind helfen, sinnverstehend und engagiert der Umwelt und
der transzendantalen Welt gegenüber zu treten. 292
Die Aufgaben einer kreativen Erziehung bestehen nach Parnes (1964) darin, dem Kind
Hilfestellung zu leisten, damit es seine Fähigkeiten anwenden kann.293
Die primären Hindernisse, die eine Hemmung der Kreativität zur Folge haben, sind vor
allem:
1. Konformitätsdruck;
2. Autoritätsfurcht;
3. Erfolgsprämien;
4. Informations- und Innovationssperren;
5. Überbetonung der Geschlechterrollen;
6. Spiel - Arbeit - Dichotomie. 296
4.3.1 Konformitätsdruck
Durch den Druck der Gruppe ist die freie Entfaltung des Kindes behindert. Das Kind
wird dazu angehalten sich anzupassen, wenn vom Erzieher für alle Kinder gleichzeitig
dieselbe Aufgabe gestellt wird, die nach einheitlichen Maßstäben bewertet wird. Die für
die kreative Entfaltung charakteristischen spontanen Experimente und unkonventionelle
Denk- und Handlungsweisen werden durch die Anpassung an Werthaltungen und Er-
gebniserwartungen an die Gruppe verhindert. Unter dem Aspekt des
Konformitätsdrucks kann sich ebenfalls die Orientierung an der Peer-Group hemmend
auf die Kreativitätsentwicklung auswirken. Das Kind wirkt ängstlich und entwickelt
Minderwertigkeitsgefühle, da es mit den Leistungen der anderen nicht konkurrieren
kann. Folglich kann das Kind aus Angst vor dem Anderssein keine kreativen Alterna-
tiven und Initiativen ergreifen. Es verdrängt das Bedürfnis, die Umwelt selbst zu
entdecken. Somit entsteht durch die Orientierung an der Gruppe der Gleichaltrigen ein
Konformitätsdruck. 297
Die Aufgabe der Erziehung zur Kreativität besteht hierbei darin, den Kinder ihre Mög-
lichkeiten bewußt zu machen und ihnen zu helfen, diese zu entwickeln. Dabei soll die
Individualität des Kindes gefördert werden, indem es in den Eigenschaften, durch die es
sich von anderen unterscheidet, unterstützt wird. 298
4.3.2 Autoritätsfurcht
In Kapitel 3.5 wurde bereits erläutert, daß sich autoritäre Haltungen und Umweltbedin-
gungen hinderlich auf die Entfaltung der kreativen Persönlichkeit auswirken. Sie
4.3.3 Erfolgsprämien
Erfolgsbestätigungen sind Anpassungsmittel, die das konvergente Denken unterstützen
und nicht das kreative Denken fördern. Durch Belohnung kann das Verhalten des
Kindes in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Kreativität beinhaltet dagegen
spielerisches, zweckfreies und erfolgsunabhängiges Tun sowie die Möglichkeit Fehler
zu machen und diese zu korrigieren. Durch die Erfolgsabhängigkeit werden die
schöpferischen Kräfte blockiert, da sie von der eigentlichen Entwicklung, dem
kreativen Prozeß ablenken. 301
Die Orientierung wird somit immer auf das Produkt und nicht auf den Prozeß gerichtet
sein. Die Folge ist ein dauerndes Streben nach neuen Errungenschaften, ohne Befriedi-
gung aus dem Prozeß selbst. Ein so erzogenes Kind wird sich somit keine Mißerfolge
eingestehen und es wird auch nicht aus seinen Fehlern lernen. Daher liegt das Ziel einer
Erziehung zur Kreativität darin, daß alles was das Kind tut, mit Freude und Hingabe ge-
macht wird. 302
Prinzipiell entstehen die Fragen der Kinder aus der Phantasie und dem
Neugierverhalten und nicht unbedingt aus angesammelten Wissen. Erzieher haben
oftmals Angst vor diesen Phantasien der Kinder, da sie befürchten, auf ihre Fragen
keine Antworten zu haben. Daher wird versucht, die kindlichen Phantasien zu
unterdrücken. Die Folge ist eine Hemmung des kreativen Lernens, was zu einer reinen
Wissensansammlung führt. Wenn das Kind nicht die Möglichkeit bekommt Fragen zu
stellen und nur das akzeptieren soll, was andere zuvor entdeckt haben, so wird die
Fähigkeit zu eigenem Entdecken verhindert. 304
Das Kind muß daher im Rahmen einer Kreativitätserziehung ermutigt werden, Fragen
(auch kritische) zu stellen und das richtige Fragen zu lernen. Durch diese Art der kreati-
ven Fragestellung ist eine wichtige Voraussetzung für die wachsende Persönlichkeit er-
füllt, da ihm so genügend Raum zur freien Entfaltung zur Verfügung steht.
hers entscheidend, die dem Kind die Möglichkeit für Alternativen bietet und das Kind
ermutigt, sich schöpferisch zu betätigen. 309
Daraus ergeben sich folgende fördernde Faktoren für eine kreative Entfaltung:
1. Offen sein;
2. Problematisieren;
3. Assoziieren;
4. Experimentieren;
5. Bisoziieren. 310
4.4.2 Problematisieren
Das Kind versucht, sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden zu geben, sondern
bessere Lösungsmöglichkeiten zu finden. Diese produktive Unzufriedenheit bleibt
solange erhalten, bis ein besserer Weg gefunden wird. Diese Einstellung kann zu einer
Grundhaltung werden, die Selbstvertrauen und Kraft erfordert, aber zugleich eine
zentrale Voraussetzung für Kreativität ist. 312
4.4.3 Assoziieren
Die zuvor beschriebene Unzufriedenheit (das Problematisieren) kann nur produktiv
sein, wenn sie in fließende Assoziationen und in vielen phantasievollen Einfällen
mündet.
Da in jedem Menschen Phantasie steckt, kann sie geübt und gefördert werden, damit sie
kreativ ausgedrückt werden kann. 313
4.4.4 Experimentieren
Durch das bereits geübte Assoziieren wird die nötige Vielschichtigkeit der Standpunkte
verdeutlicht. Um jedoch eine gegebene Situation zu überwinden, ist es oft nötig, starre
Bezugsrahmen zu durchbrechen. Durch eine tragende Beziehung zwischen Erzieher und
Kind wird Angst abgebaut und verhindert. 314
Eine Voraussetzung für das kreative Lernen ist, daß das Kind motiviert wird und spürt,
daß Kreativität von ihm erwünscht wird. Dies wird möglich, wenn der Erzieher im
Sinne Rogers (1959) die psychologische Sicherheit und die psychologische Freiheit
durch das Gewähren einer kritikarmen Atmosphäre fördert. Die psychologische
Sicherheit kann erzielt werden, indem das Kind in seiner Individualität akzeptiert und
ihm Vertrauen entgegen gebracht wird. Dazu sollte eine kritikarme Atmosphäre
vorhanden sein, damit das Kind sich so fühlen kann wie es ist und nicht so wie es sein
muß. Nur so ist das Kind in der Lage, sein Selbst auszudrücken und eine neue
Beziehung zu seiner Umwelt herzustellen. Unter psychologischer Freiheit wird eine
permissive (gewährende) Haltung verstanden, die dem Kind Freiraum zu spontanen und
spielerischen Handlungen gibt. Jedoch sollte hierbei neben einer permissiven auch eine
responsive Umwelt vorhanden sein, die mit dem Kind interagiert. 315
Für die Arbeit mit hyperaktiven Kindern bedeutet das: Zum einen soll das hyperaktive
Verhalten abgebaut werden. Dies geschieht am besten dadurch, indem der Erzieher
nicht auf das hyperaktive Verhalten reagiert. Zum anderen braucht das Kind die Zuwen-
dung der Umgebung, um kreative Leistungen zu erbringen. Die Kunst des Erziehers
liegt folglich darin, das Kind zu kreativen Leistungen zu motivieren, ohne seiner
Hyperaktivtät allzu große Beachtung zu schenken. Das spielerische Experimentieren
des Kindes wird zugelassen und gefördert. Anpassung und routinemäßiges Verhalten
soll dadurch vermindert werden. Die Voraussetzungen hierfür bestehen nicht nur in der
Aufwertung des spielerischen Experimentierens gegenüber einer intellektuellen
Einübung, sondern vor allem in der Neuerweckung sinnlicher Fähigkeiten. 317
4.4.5 Bisoziieren
Der kreative Prozeß lebt durch die Spannung gegensätzlicher Motive, z.B. im
Gegensatz zwischen Arbeit und Spiel, Planung und Zufall, Bewußtem und
Unbewußtem. Diese Gegensätze sollten vom Kind wahrgenommen und in seine Person
integriert werden. 318
Gerade im Spiel bieten sich dem Kind Möglichkeiten kreativ zu werden und
eingefahrene Wege zu verlassen. Dabei können Spannungspole zugleich spielerisch
verknüpft werden. 319
Da der Erzieher in einer direkten und engen Beziehung zu dem Kind steht, hat er dem-
entsprechend eine besondere Bedeutung. Folglich ist für die Kreativitätsförderung die
Beachtung und positive Anerkennung des Kindes seitens des Erziehers notwendig, da
das Kind bei einer Mißachtung aufhört kreativ zu sein. Der kreative Erzieher sollte in
seiner Gesamtpersönlichkeit kreativ sein, wenn er sich den Aufgaben einer Förderung
zur Kreativität stellen will. Um jedoch selbst kreativ zu werden, muß der Erzieher
einen Entwicklungsprozeß durchlaufen, bei dem er seine eigene Kreativität entwickelt.
Folglich kann der Erzieher nur dann kreative Leistungen von den Kindern verlangen,
wenn er alle Faktoren, die die Kreativität bestimmen, in sich integriert hat.
322
Ein Erzieher, der über ein starkes intellektuelles Neugierverhalten verfügt, wird eine
hilfreiche Stütze für die Entfaltung der kindlichen Kreativität sein. Dadurch, daß er
neue Ideen und originelle Einfälle der Kinder aufgreift und sie zur Weiterentwicklung
dieser Ideen auffordert, besteht die Möglichkeit, daß sich kreatives Potential entwic-
kelt.323
Ein weiteres Ziel des Erziehers muß sein, zu mehr innerer Freiheit und Aufgeschlossen-
heit zu gelangen. Außerdem sollte der Wunsch nach einer Veränderung der pädagogi-
schen Routine vorhanden sein, die zu einem veränderten Verhältnis zwischen Erzieher
und Kind führt. In der gegenwärtigen Kindergartenerziehung ist immer noch das gehor-
same Kind erwünschter als das fragende, fordernde und unbequeme. 324
Eine weitere Aufgabe des Erziehers besteht darin, eine Atmosphäre der Akzeptanz zu
schaffen, in der sich kreative Leistungen vollziehen können. Hier kann das Kind Selbst-
vertrauen entwickeln und sich angenommen fühlen. Durch das positive emotionale
Klima bekommt das Kind die Möglichkeit, kreativ etwas Neues zu entdecken. Durch
Erfolgserlebnisse wird bestehendes kreatives Verhalten unterstützt und gefördert. 325
Da Kreativität immer in einem Kontext zwischen Erzieher und Kind stattfindet, sollte
der Aufbau einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit angestrebt werden. Das
beinhaltet, daß der Erzieher in bezug auf das Kind ein Ziel setzt und Anregungen zu ge-
meinsamen Leistungen gibt, wobei sich das Kind dann selbst entscheiden soll, ob es
diesen Anregungen folgt. 326
Folglich ist die psychische Beteiligung des Erziehers ein Kennzeichen einer kreativitäts-
fördernden Erzieherhaltung. Der Erzieher beobachtet das Kind genau, um ihm mögli-
cherweise Hilfe durch bestimmte Impulse zu geben. Bei hyperaktiven Kindern fällt es
dem Erzieher oftmals schwer, aufgrund der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstö-
rungen ein Ziel vor Augen zu haben. Hier kommt dem Erzieher zunächst vorrangig eine
unterstützende Funktion zu. Er muß sich zurückhalten und nur dann hilfreich
eingreifen, wenn es unbedingt notwendig ist. Das Kind sollte seine Aufgabe selbst zu
einem Abschluß bringen. Dabei ist die Geduld der Erziehers gefordert. Durch Ungeduld
wird dem Kind die Möglichkeit des kreativen Agierens genommen oder der kreativen
Prozeß unterbrochen. Durch diese Störungen wird vor allem das leicht ablenkbare
hyperaktive Kind an der Zielverfolgung gehindert. 327
Es stellt sich die Frage, inwieweit der Erzieher auf den kreativen Prozeß Einfluß
nehmen kann. Flechsig (1972) drückt dies folgendermaßen aus:
"Die Einwirkung des Erziehers wird dabei vor allem in der Phase der
Motivation für kreatives Verhalten und bei der Beurteilung seiner Produkte eine
Rolle spielen, während für die Dauer des kreativen Prozesses das Individuum bzw. die
Gruppe sich selbst überlassen bleibt, so daß der Erzieher sich im wesentlichen für
gelegentliche Hilfen bereithalten muß." 328
Jedoch können einige in der Wirtschaft praktizierten Techniken unter Vorbehalt von der
Pädagogik übernommen und auf den Bereich der Vorschulerziehung transformiert wer-
den.
In der zweiten Phase (red-light-stage) werden die zuvor gesammelten Ideen modifiziert
und verbessert und weitere Ideen können hinzugefügt werden. Dabei sollen nach
Osborn Checklisten oder Kontroll-Listen Verfahren angewandt werden, mit deren
Hilfe neue Ideenkombinationen gefunden werden. Osborn empfiehlt folgende Fragen:
- Anders verwenden. Wie kann etwas anders verwendet werden?
- Adaptieren. Was ist so ähnlich?
- Modifizieren. Was ist noch zu verändern?
- Magnifizieren. Was läßt sich vergrößern, verdoppeln oder multiplizieren?
- Minifizieren. Was kann weggenommen, verkleinert oder verkürzt werden?
- Substituieren. Wodurch kann etwas ersetzt werden?
- Rearrangieren. Was kann verdreht, anders angeordnet werden?
- Umkehren. Wie ist es mit dem Gegenteil?
- Kombinieren. Lassen sich Gedanken, Absichten und Elemente kombinieren? 332
Brainstorming kann mit dem Wort "Gehirnsturm" oder "Ideensturm" übersetzt werden,
folglich wird diese kreative Technik zu einer der effektivsten Denkmethoden.333
Durch das Brainstorming bekommt das Vorschulkind in der ersten Phase die Möglich-
keit, sich kritikfrei innerhalb der Gruppe zu äußern. Dadurch wird eine eventuell
vorhandene Angst vor Blamagen verhindert und Rollenzwänge werden aufgehoben.
Durch die anschließende Diskussion der Ideen in der zweiten Phase des Brainstorming
entsteht Kommunikation innerhalb der Vorschulgruppe. 334
Durch die Fragestellungen in der zweiten Phase können die Kinder Dinge verfremden,
verändern und umwandeln. Somit sollen die Checklisten hauptsächlich zur Anregung
des kreativen Denkens dienen. Daher sind die Fragen auch als Ergänzung und nicht als
Ersatz für mehr intuitive Formen des kreativen Denkens gedacht. 335
In bezug auf hyperaktive Kinder bietet das Brainstorming eine gute Chance zur Integra-
tion des Kindes, da es in der ersten Phase seine Gedanken frei äußern kann, ohne jegli-
ches (Vor-)Urteil seitens der Gruppe. Dadurch wird im Brainstorming die Wichtigkeit
des einzelnen Kindes sowie seine Fähigkeit, sich an der Diskussion zu beteiligen, aner-
kannt.
Für Kinder im Vorschulalter bietet der morphologische Kasten eine Möglichkeit des
Experimentierens, wobei der Ausgangspunkt immer ein Problem bzw. eine Aufgabe ist.
Dabei müssen die Themen kindgerecht gestellt werden. 337
Für hyperaktive Kinder wird der morophologische Kasten nur dann die Chance zur
kreativen Entfaltung bieten, wenn seine Aufmerksamkeit und Konzentration über einen
längeren Zeitpunkt auf ein interessantes Problem gelenkt werden kann. Dennoch bietet
das ungestörte praktische Experimentieren dem hyperaktiven Kind die Gelegenheit
seine Impulsivität und Hyperaktivität auszuleben und eine neue Sicht des Problems zu
bekommen.
Für das Kind im Vorschulalter werden dadurch einzelne Wörter in einem größeren Be-
deutungszusammenhang gesehen und neue Begriffe werden erlernt. Dadurch können
neue Erfindungen und Problemlösungen zustande kommen, die zunächst als ungeeignet
erscheinen. Doch gerade diese "dummen" Ideen sind häufig die kreativsten und brauch-
barsten. 339
Durch die starke Phantasie der hyperaktiven Kinder und ihren ungewöhnlichen Gedan-
kengängen kann es ihm mit Hilfe der synektische Methode ermöglicht werden, in eine
Gruppe integriert zu werden.
Folgende Aussage von Kossolapow (1972) verdeutlicht die Annahme, daß die Förde-
rung der Sinneswahrnehmung eine wichtige Grundlage für die Kreativitätsförderung ist:
Die Aktivierung der Sinne und die Kreativitätserziehung stehen folglich in einem engen
Zusammenhang. Dies kann in spielerischer Art vom Kind entwickelt werden.
Maria Montessori hat beispielsweise ein besonderes Arbeitsmaterial für die
Sinnesschulung entwickelt. Dabei soll das Kind lernen, die Erfahrungen, die es im
Umgang mit den Materialien gesammelt hat, auf Situationen des Alltags zu
transferieren: Geschmacksübungen zum Schmecken von Nahrungsmitteln aus der
Umgebung; Hörübungen zum unterscheiden von Geräuschen; Tastübungen und
Sehübungen zum differenzierten Zuordnen und Beschreiben von Farben, Formen usw.;
Bewegungsübungen zur Bewegungssicherheit mit Hilfe der Rhythmik, Tanz und freier
Körperbewegung. 342
Besonders für hyperaktive Kinder ist die Schulung der Sinne wichtig, da gerade bei
ihnen die Entwicklung der Sinneswahrnehmung retardiert ist (vgl. Kapitel 2.1.6) und
dadurch die kreative Entwicklung stagniert.
339Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 65.
340Vgl. Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 161.
341 Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 161
342Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 66.
90
Die Methoden der Kreativitätsförderung sind in der Arbeit mit hyperaktiven Kindern
heute noch nicht integriert. Bisher liegen auch keine wissenschaftlichen Studien zur
Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern vor.
Aus diesem Grund werden vornehmlich medizinische und pädagogisch-therapeutische
Fördermöglichkeiten bei hyperaktiven Kindern angewandt. Dabei gibt es verschiedene
therapeutische Hilfen, die je nach Schwerpunkt eingeteilt und benannt werden.
In den USA steht die medikamentöse Behandlung hyperaktiver Kinder seit Jahrzehnten
im Vordergrund. In Deutschland dagegen wird die Behandlungsmethode in
Abhängigkeit von der therapeutischen Zielsetzung und einem mehr medizinischen oder
mehr psychologisch-pädagogischen Standpunkt unterschiedlich bewertet. Zum einen
steigen gegenwärtig die Zahlen von Medikamentenverordnungen an, zum anderen wird
die Kritik an der Behandlungsmethode immer stärker. 347
Zu Beginn der 80er Jahre entfachte in Deutschland die von den Pädagogen stark kriti-
sierte Medizinisierung abweichenden Verhaltens, von der hyperaktive Kinder besonders
betroffen sind. Medizinisierung bedeutet, daß ein Verhalten als medizinisches Problem
oder Krankheit diagnostiziert wird und somit die Berechtigung bekommt, medizinisch
behandelt zu werden. 348
Aus den genannten Gründen hat in den letzten zehn Jahren die Verordnung von Medi-
kamenten bei der Behandlung hyperaktiver Kinder stark zugenommen. Dennoch muß
betont werden, daß Medikamente auch hilfreich sein können. Gefährlich ist allein der
Mißbrauch. Eine länger andauernde Verabreichung von Medikamenten bei auffälligen
Kindern und Jugendlichen ist nur dann sinnvoll, wenn gleichzeitig weitere Bemühungen
eingesetzt werden, die dem Kind und der Umwelt bei der Lösung der Probleme helfen.
Ein leichtfertiger Umgang mit Medikamenten, und besonders mit psychoaktiven bei
fehlender diagnostischer Klarheit und fragwürdigen Interessen von der Umwelt ist ab-
zulehnen.
Die bei der Behandlung hyperaktiver Kinder gebräuchlichen Medikamente gehören zu
der Gruppe der Psychopharmaka. Sie können unterschieden werden nach:
- Neuroleptika: dämpfende Mittel mit hypnotisch- antipsychotischer Wirkung;
- Tranquilizer: beruhigende Mittel ohne hypnotisch-antipsychotischer Wirkung;
- Antidepressiva: stimmungsaufhellende Mittel;
- Psychostimulantien: antriebssteigernde, anregende Mittel.
Bei der Behandlung hyperaktiver Kinder werden ausschließlich Psychostimulantien ver-
wendet. Verabreicht werden hierbei vor allem die Wirkstoffe Methylphenidat, Amphe-
tamine und Fenethylinhydrochlorid. 351
Die paradoxe Wirkung der Stimulantien basiert darauf, daß Hyperaktivität und
Impulsivität durch die Stimulantien gehemmt und normalisiert werden, so daß auf das
ZNS prinzipiell eine erregende Wirkung ausgeübt wird. Daraus entsteht für das Kind
ein optimales Erregungsniveau, welches wiederum Hemmungssysteme aktiviert, die die
Motorik kontrollieren. Stimulantien wirken derart auf Subsysteme des ZNS ein, daß das
Transmitterangebot im Gehirn erhöht wird. Daher verändern sich Reaktionsfähigkeit
und Gedankenarbeit des Kindes. Das betroffene Kind lernt, sich anders zu verhalten.353
diesem Punkt aus, daß sich die globale Aktivität bei Stimulantieneinwirkung erhöhen
kann, daß sich aber die Bewegungen beim Sitzen reduzieren. 356
Ein drittes Ziel ist ebenfalls von großer Bedeutung. Die Verbesserung der Konzentrati-
onsfähigkeit und des Aufmerksamkeitsverhaltens unter Stimulantieneinfluß. 358
In allen drei Therapiezielen scheint sich, für die Dauer der Medikation, eine zumindest
kurzfristige Verbesserung des Verhaltens zu zeigen. Neuere Langzeitstudien, die Aus-
kunft über Dauereffekte geben könnten, liegen nicht vor.
Die Beeinflussung der Medikamente beschränkt sich hauptsächlich auf die Primärsym-
ptome. Bei den Sekundärsymptomen (vgl. Kapitel 2.1) werden lediglich zu dem Be-
reich "Sozialverhalten" (subjektive) Elternbeobachtungen angeführt, die besagen, daß
das hyperaktive Kind weniger streitsüchtig ist, daß es besser mit Gleichaltrigen koope-
rieren kann und daß es weniger Auseinandersetzungen zwischen Kind und Eltern gibt.
Diese Effekte können jedoch auch durch die veränderte elterliche Zuwendung oder
durch positive elterliche Erwartungen hervorgerufen werden. 359
aufmerksamer und zufriedener. Es arbeitet besser mit, kann sich besser konzentrieren
und beendet angefangene Arbeiten. Außerdem bekommt das Kind mehr Feingefühl für
die Bedürfnisse anderer und reagiert besser auf erzieherische Maßnahmen. 360
Bei einer kritischen Betrachtung der Stimulantientherapie muß der Blick ebenfalls auf
mögliche unerwünschte Nebenwirkungen gerichtet werden. Dies betrifft vor allem eine
Verringerung des Appetits und Einschlafstörungen. Des weiteren werden Schwindel,
Bauchschmerzen, Krampfanfälle, allergische Reaktionen, Verstimmungs- und Angstzu-
stände sowie Ruhelosigkeit genannt. Während der ersten Monate der Medi-
kamenteneinnahme tritt häufig ein Gewichtsstillstand oder eine -abnahme ein, was die
Eltern sehr beunruhigt. Es scheint aber, daß das Größenwachstum dabei nicht beein-
trächtigt wird. 361
Da Stimulantien bei Kindern und Jugendlichen eher dysphorisch wirken, kann (im Ge-
gensatz zu Erwachsenen) die Gefahr einer Medikamentensucht bei ihnen nahezu ausge-
schlossen werden. 362
Dem hyperaktiven Kind kann dadurch die Möglichkeit genommen werden, sich aktiv
mit seinem Problemverhalten auseinanderzusetzen, ein ausreichendes
Problembewußtsein aufzubauen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, die es ihm
ermöglichen, die Diskrepanz zwischen Eigenverhalten und Umweltanforderungen
360Vgl. Eichlseder, W. (1992), S. 122ff; Voss, R. (1992), S. 24; Wender, P. (1991), S. 48.
361Vgl. Cramond, B. (1994), S. 205; von Lüpke, H. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 71.
362Vgl. Klicpera, Ch. (1982), in: Steinhausen, H-Ch. (1982), S. 83.
363Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 38.
96
der Problembewältigung, in der alle Betroffenen mit dem Kind eine gestörte Situation
gemeinsam bewältigen wollen.
Steinhausen (1982) kommt in einer umfassenden Übersicht zu dem Schluß, daß die
vielen positiven Befunde der amerikanischen Studien unter methodisch unzureichenden
Bedingungen zustande gekommen sind und eher auf Placebo-Effekten beruhen. Er zieht
den Schluß, daß die genannten Nahrungsmitteladditiva bestenfalls bei einer Minderheit
In Übereinstimmung mit Untersuchungen aus den USA konnte Hafer (1984) bei
einigen hyperaktiven Kindern Verhaltensänderungen feststellen. Dabei handelte es sich
vor allem um eine Verringerung von Hyperaktivität und Impulsivität verbunden mit
einer Erhöhung der Aufmerksamkeit und Konzentration sowie einer Reduzierung
allgemeiner Verhaltensstörungen. Besonders deutlich wurde die Wirkung bei einer
Unterbrechung der Diät, bei der innerhalb kurzer Zeit die vorherige Symptomatik
erneut auftrat. Kritisiert werden muß an dieser Studie, daß sie sich vornehmlich auf
Eltern- und Lehrerbefragungen bezog. Die wenigen Studien, in denen standardisierte
Verhaltensbeobachtungen oder objektive Testverfahren eingesetzt wurden, bestätigten
die Ergebnisse nicht. 374
Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, daß bei einer feststellbaren Verhaltensänderung
auch die Veränderung der familiären Zuwendung als wesentlicher Faktor berücksichtigt
werden muß. Das Kind bekommt auf natürliche Weise eine Sonderstellung innerhalb
der Familie, so daß die Symptomverbesserung als Placeboeffekt zu verstehen ist. Sie
beruht somit häufig mehr auf der positiv veränderten Einstellung der Eltern zu ihrem
Kind und auf den hoffnungsvollen Erwartungen des Kindes selbst und der Familie. 376
In diesem Zusammenhang bemerkt Steinhausen (1982), daß im günstigsten Fall bei ei-
ner geringen Anzahl von hyperaktiven Kindern ein Zusammenhang zwischen
Symptomen und Nahrungsmitteln zu bestehen scheint. Außerdem ist die Anwendung in
bezug auf mögliche Schädigungen, sowohl körperlich im Sinne von Mangelerscheinun-
gen, als auch psychisch, infolge dauerhafter Verzichtleistungen, bei geringen
Erfolgsquoten fragwürdig. 377
liegt im Nachweis eines Zusammenhangs von Ernährung und Verhalten. Das war von
ärztlicher Seite bislang bezweifelt worden. Der "Arbeitskreis überaktives Kind" hat be-
reits seit vielen Jahren auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Viele Eltern haben oft
von guten Erfolgen bei Einhaltung einer bestimmten Diät in bezug auf eine Besserung
des hyperaktiven Verhaltens berichtet. Dennoch bleibt die Frage nach den
Nahrungsmittelallergien umstritten. Daher sollte die Wirkung der diätischen
Behandlungsformen auf wisssenschaftlicher Ebene weiter erforscht werden. 380
Unter dem lerntheoretischen Aspekt können drei Erklärungsansätze zur Entstehung der
Hyperaktivität unterschieden werden:
1. Hyperaktivität als Folge von Konditionierungsprozessen;
2. Hyperaktivität als Ergebnis von Modellernen;
3. Hyperaktivität als Reaktion auf Unterstimulierung. 384
Der zweite Aspekt bezieht sich darauf, daß viele menschliche Verhaltensmuster so
komplex sind, daß sie nur sehr umständlich oder nur unzulänglich durch einfache
operante Konditionierung erworben werden. Für die Hyperaktivität bedeutet dies, daß
zum Teil auch über die Beobachtung einer Modellperson bzw. eines Modellverhaltens
gelernt wird. Meistens ist den Eltern die eigene Vorbildfunktion jedoch nicht bewußt.
387
Reizdeprivation ist ein Verhalten, das als Eigenstimulation verstanden werden kann,
nämlich vermehrte Aktivität. Aufgrund der positiven selbstverstärkenden Konsequenz
(Reduktion des unangenehmen Gefühls von Reizdeprivation) wird das
selbststimulierende Verhalten (Hyperaktivität) weiterhin gezeigt. Da die Hyperaktivität
in der Familie und in Institutionen wie Kindergarten und Schule, ein nicht akzeptiertes
Verhalten ist, wird der Prozeß der Eigenstimulation meist durch Sanktionen, also
aversive Reize von außen, unterbrochen. Die Folge ist eine Verminderung der
kindlichen Hyperaktivität mit der erneuten Reizdeprivation als Konsequenz daraus. Das
Kind versucht wiederum diese Reizdeprivation durch Eigenstimulierung abzubauen, mit
der Folge, daß die Hyperaktivität nach kurzer Zeit ansteigt. Somit steht das Kind
zwischen Bedürfnisbefriedigung und sozial erwünschtem Verhalten. Die Folge seines
Verhaltens provoziert jedoch immer eine negative Konsequenz, entweder eine erhöhte
Reizdeprivation oder Sanktionen von außen. 388
Verminderte Reizdeprivation
(positiver Reiz)
Reizdeprivation
(negativer Reiz)
Eigenstimulation
(Hyperaktivität als Reaktion)
Insgesamt können die lerntheoretischen Ansätze der Komplexität des Phänomens nicht
gerecht werden. Die Hyperaktivität als erlerntes, unerwünschtes Verhalten zu beschrei-
Wichtig ist, daß nicht die Informationsverarbeitung an sich gestört ist. Defizite treten
verstärkt in Situationen hervor, in denen die Anforderungen an das Kind quantitativ und
qualitativ steigen. In diesen Fällen zeigen hyperaktive im Vergleich zu unauffälligen
Kindern erhebliche Leistungseinbußen. Die Folge ist, daß das Kind keine altersgerechte
Entwicklung durchläuft, d.h. es lernt nicht, über sich, sein Umfeld, situative
Gegebenheiten und Probleme sowie Problemlösungen nachzudenken. Es erfährt
ständige Mißerfolge im Kognitiven wie im Sozialen. 393
Hier soll eine Problemsituation dahingehend betrachtet werden, daß die problemauslö-
senden Bedingungen und Faktoren sowie der Kern des Problems erfaßt werden und die
Zusammenhänge reflektiert werden. Daraus entsteht die Grundstruktur des Problems,
als Basis für den nächsten Schritt.
3. Alternative Lösungsmöglichkeiten
Alternative Lösungsmöglichkeiten zu suchen, zu sammeln und gedanklich
durchzuspielen führt zum vierten Schritt.
4. Handlungsentscheidung
Nach Überprüfung der Vor- und Nachteile sowie der Möglichkeiten und Grenzen der
alternativen Lösung wird unter Einschätzung der eigenen Einsatzbereitschaft und des
eigenen Handlungsvermögens, die Entscheidung für eine der Alternativen getroffen.
5. Überprüfung
Die Effizienz der Handlung, bezogen auf die Problemlösung wird im fünften Prozeß-
schritt kritisch bewertet. Schlägt die ausgewählte Methode nicht an, wird eine Alterna-
tive ausprobiert. Im positiven Fall, d.h. nach erfolgreicher Problembewältigung wird
der Gesamtprozeß zur Festigung der Einzelschritte noch einmal nachvollzogen, so daß
das Kind später selbständig die Einzelschritte auf ähnliche Problemsituationen
übertragen kann.
Das Kind lernt bei der spielerischen Vermittlung von Problemlösefertigkeiten u.a. seine
Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit auf eine Sache zu lenken, Impulsiv-Reaktionen
stärker zu kontrollieren und zurückzuhalten, vermehrt situationsgerecht zu reagieren
sowie die selbstverstärkte Wirkung eines erfolgreichen Prozesses als positive Rückmel-
dung zu werten. Langfristig wird das Kind durch das Problemlösetraining mehr Sicher-
heit und vor allem mehr Selbstvertrauen bekommen, besonders im Hinblick auf die Be-
wältigung von Problemen. 397
Das Hauptziel des Selbstinstruktionstrainings ist somit, daß das Kind lernt, sein Verhal-
ten in Konfliktsituationen mit Hilfe einprägsamer Sätze effektiv zu steuern. Gemeinsam
mit dem Kind wird dazu für bestimmte Konfliktfelder oder bezogen auf eine bestimmte
Symptomatik (z.B. Konzentrationsstörungen) ein Selbstinstruktionsprogramm
erarbeitet, welches dann in Beispielsituationen spielerisch eingeübt wird.
399
Der "Porteus Labyrinth-Test" ist ein Test zur Erfassung des kognitiven Stils. Er besteht
aus zwölf Labyrinthen mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad, die das Kind mit einem
Stift vom Anfang bis zum Ende durchfahren soll. 401
Meichenbaum & Goodman (1971) erweiterten das Konzept von Palkes et al.
Meichenbaum beobachtete insbesondere impulsive Kinder und fand heraus, daß unan-
gemessenes Problemlöseverhalten im wesentlichen dadurch entsteht, daß die handlungs-
begleitenden Kognitionen undifferenziert sind. Mit Hilfe eines Trainings der kognitiven
Begleitung von Handlungen, dessen Besonderheit die Versprachlichung der Ein-
zelkognitionen und der Handlungssequenzen ist, versucht das Kind, Verbesserungen im
Problemlöseverhalten zu erreichen. Das Kind lernt mit Hilfe des Therapeuten als
positivem Modell seine Aufmerksamkeit zu zentrieren, Schwierigkeiten zu erkennen
und abzuschätzen, kognitive Abläufe wahrzunehmen und zu verbalisieren, kognitive
Impulsivität zu kontrollieren sowie mit eigenen Fehlern anders umzugehen im Sinne
einer erhöhten Frustrationstoleranz. 402
Abikoff (1987) gibt eine Übersicht über die Studien zur kognitiven Verhaltenstherapie.
Abgesehen davon, daß viele Arbeiten von ihren methodischen Vorgaben her nicht ver-
gleichbar sind, lassen sich zusammenfassend doch einige Schlußfolgerungen ziehen:
Das hochgesteckte, globale Ziel, mit kognitiven Trainingsprogrammen Fähigkeiten wie
Aufmerksamkeit, Genauigkeit und Gedächtnis zu verbessern, konnte in den meisten der
von Abikoff (1987) herangezogenen Studien nicht erreicht werden. Ebensowenig
gelang es, die Leistungen der Kinder in schulischen Disziplinen wie Lesen oder
Rechnen zu verbessern. 406
Der Erfolg eines Selbstinstruktionstrainings setzt voraus, daß dem hyperaktiven Kind
verdeutlicht wird, in welchen Situationen es seine neue Problemlösefähigkeit einsetzten
kann und mit welchem Erfolg. Eine Verhaltensänderung stellt immer einen mühsamen
und langwierigen Prozeß dar, bei dem der Erfolg sich oft erst nach und nach einstellt.
Daher sind hohe Abbruchraten nicht verwunderlich. Aus diesem Grunde sollte eine
Kombination der kognitiven Verhaltenstherapie mit anderen Behandlungskonzepten in
Betracht gezogen werden. 407
Exkurs: Bewegungserfahrung
Für die kindliche Entwicklung sind die Bewegungserfahrungen, die ein Kind mit
seinem und über seinen Körper macht von großer Bedeutung. Bewegungserfahrungen
bilden die Grundlage für die Entwicklung des kindlichen Selbstbewußtseins mit der
Folge, daß das Kind ein positives Selbstbild gewinnt und seine Zufriedenheit mit sich
selbst zunimmt. Das Kind entdeckt durch und in Bewegung seinen Körper und es lernt,
Körpersignale wahrzunehmen und mit seinem Körper umzugehen. Im engen
Zusammenhang mit dieser Körpererfahrung steht der Aufbau des Selbst, das Vertrauen
in die eigene Person. Über die Körpererfahrung entwickelt das Kind ein Verständnis
von Können und Nichtkönnen, von Erfolg und Mißerfolg, von seiner Leistungsfähigkeit
und seinen Grenzen. Aus diesem Grunde können die über Körper und Bewegung ge-
machten Erfahrungen als Grundlage der kindlichen Identitätsentwicklung angesehen
werden. 413
Zimmer (1996) merkt an, daß die Körper- und Bewegungserfahrungen aus psychomo-
torischer Sicht gerade für das Kind nicht nur ein wichtiges Instrument zur Aneignung
der Wirklichkeit darstellt, sondern auch als Grundlage der Identitätsentwicklung
angesehen werden kann. Psychomotorische Erfahrungen sind somit immer
Erfahrungen, die das Kind mit seiner ganzen Person macht. Aufgrund dieser
Überlegungen müßte die kindliche Erziehung immer auch eine psychomotorische
Erziehung sein, wobei die kindliche Bewegung als Grundlage der
Entwicklungsförderung angesehen werden kann. 415
sozial-
sensorischer motorischer geistiger
emotionalen
Fähigkeiten Fähigkeiten Fähigkeiten
Verhaltens
In der Psychomotorik wird das Kind als handelndes Subjekt verstanden, das Verantwor-
tung für sich selbst übernehmen kann. Aus dieser Sicht ist das Kind ein sich selbst
gestaltendes und regulierendes Wesen. Damit ist das eigenverantwortliche Handeln
nicht nur das Ziel, sondern auch die Methode der Fördermaßnahme. 417
In bezug auf das Verhalten hyperaktiver Kinder ist dieser ganzheitliche Aspekt von be-
sonderer Bedeutung, da die Symptomatik bezogen auf die Motorik hyperaktiver Kinder
innerhalb dieses Ansatzes wie folgt beschrieben wird:
Generell sind die Bewegungen hyperaktiver Kinder zuviel und zu schnell. Sie zeigen
eine enorme Bewegungsproduktion und einen gesteigerten Bewegungsdrang, einen
kaum zu stoppenden Redefluß (verbale Hyperaktivität) sowie unbefriedigende
feinmotorische Leistungen. 418
416Ebenda, S. 22
417Vgl. Zimmer, R. (1996), in: Passolt, M. (1996), S. 36.
418Vgl. Kiphard, E.J. (1988), S. 2f.
419Vgl. Kiphard, E.J. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 68.
112
Ferner soll die Bewältigung der motorischen Unruhe angeregt werden, wobei in erster
Linie die Selbstheilungskräfte des hyperaktiven Kindes aktiviert werden sollen, die ihm
zu mehr Selbstakzeptanz, Autonomie und bewußtem Erleben verhelfen sollen. Das
Kind bekommt hierdurch die Möglichkeit, auf der Basis des eigenen Handelns zu
lernen.
Da bei hyperaktiven Kindern das ZNS nicht durch Erregungssteigerung, sondern durch
ein vermindertes Aktivierungsniveau gekennzeichnet ist, bewirken aktivierende Stimuli
eine Verminderung der Hyperaktivität. Dies gilt für strukturierende Außenreize, beson-
ders über taktil-kinäthetische Analysatoren. Aus diesem Grund ist die motorische
Aktivität als durchaus sinnvolle Eigenstimulation zu sehen.
Im folgenden soll das Bewegungs- und Verhaltenstrainingsprogramm zur Minderung
des hyperaktiven Verhaltens anhand der sechs Phasen vorgestellt werden.
vestibuläre System stimuliert. Diese vestibuläre Stimulation bewirkt eine Abnahme der
Hyperaktivität und eine Zunahme des Wachheits- und Aufmerksamkeitsgrades.
Diese erste Phase hat eine große Bedeutung innerhalb des gesamten bewegungspädago-
gischen Förderprogramms. Das hyperaktive Kind bekommt die Freiheit des Raumes
und der Handlungsaktivität zu spüren, es kann seinen Bewegungsdrang ungehemmt
ausleben und muß sich nicht an das Ruhebedürfnis der Erwachsenen anpassen. Diese
Bewegungsfreiheit stärkt das Selbstbewußtsein des hyperaktiven Kindes und vermittelt
ihm das Gefühl als anerkanntes Mitglied in der Gesellschaft zu bestehen. Die
Bewegungs- und Handlungsfreiheit innerhalb der Ausübung vestibulär-motorischer
Aktivitäten führt zu selbstgeplanten Bewegungshandlungen, die das kindliche Neugier-
verhalten befriedigen. 423
sert sich ihr oft erheblich angeschlagenes Selbstbewußtsein. Sie werden für
die Gemeinschaft interessanter und entwickeln ihrerseits soziale Kom-
munikationsfähigkeit. Gerade Erfolge im Bewegungsbereich wirken
mitunter Wunder." 428
nerhalb der Psychomotorik auch Grenzen. Diese entstehen, wenn die Einflußnahme nur
auf das hyperaktive Kind bezogen ist. Da die Hyperaktivität aber ein Produkt der sozia-
len Zusammenhänge ist, bleibt bei einseitiger Einflußnahme der Umweltaspekt unbe-
rücksichtigt. Die Folge ist, daß die Umwelt dem Kind in unveränderter Weise begegnet
und dessen Fortschritte nicht erkennt und somit nicht weiter fördert. Daher ist ein multi-
modaler Ansatz von besonderer Bedeutung. Psychomotorik wirkt dann als integraler
Bestandteil eines umfassenden Ansatzes, bei dem das Kind, die Familie und die
Pädagogen in ständiger Kommunikation miteinander stehen, mit dem Ziel, das
Zusammenleben erfolgreicher zu gestalten.
6 Kreativ-therapeutische Interventionen am
ausgewählten Beispiel der Musiktherapie zur
Förderung hyperaktiver Kinder
Eine besonders gute Möglichkeit zur Entfaltung der kreativen Kräfte bietet die Musik.
Da Kinder in der Regel einen guten Zugang zur Musik haben, stellt diese als kreatives
Ausdrucksmittel einen großen Spielraum zur Sammlung ungehemmter und spontaner
Erfahrungen dar. Durch die Musik kann Problemsensitivität und Flexibilität erlernt
werden, womit eine erworbene Sicherheit gemeint ist. Indem das Kind für das
musikalische Material die Sensititvität entwickelt hat, offen in der Wahrnehmung seiner
Umwelt ist und dadurch Sicherheit erlangt, kann es diese Fähigkeiten auch auf andere
Gebiete übertragen. 430
Da in der Erziehung zur Kreativität bzw. in der Kreativtherapie mit Hilfe der Musik vor
allem die Nonverbalität hervorgehoben wird, eignet sich diese besonders gut für die Ar-
beit mit hyperaktiven Kindern, wenn bei ihnen von einer gestörten Kommunikationsfä-
higkeit ausgegangen wird.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten der kreativ-therapeutischen Förderung, jedoch
liegen in bezug auf die Musiktherapie bei hyperaktiven Kindern einige (wenige)
Berichte vor, die im folgenden erläutert werden.
beschränkt sich ein therapeutisch-pädagogisches Verständnis "auf die Stützung des Ichs,
auf eine Förderung des Gefühls eigener Identität, auf die Förderung allgemeiner
Reifungsprozesse und auf das Anbieten eines Du in einer vertrauensvollen Atmosphäre.
Gleichzeitig ist diese Beschränkung eine Erweiterung der therapeutischen Grenzen,
denn Pädagogik geht über die Therapie hinaus und trifft das Kind in seinem alltägli-
chen Leben an" . 434
Hyperaktive Kinder, besonders wenn sie noch sehr jung sind, können oftmals ihre Wün-
sche und Bedürfnisse nicht verbalisieren. Aus diesem Grund bietet sich im Rahmen
eines therapeutischen Angebots für Vorschulkinder besonders der Einsatz von
themenbezogenen Vergegenständlichungen an. Dadurch werden Gefühle, Probleme und
Erfahrungen leichter ausgedrückt. Somit schafft sich das Kind über das kreative Ge-
stalten einen Kommunikationsträger, um sein Inneres und seine Betroffenheit nonverbal
mitzuteilen.
Die Kreativitätsförderung beim Kind umfaßt eine Gewöhnung an Alternativen, eine Er-
mutigung des Erkundungsdranges sowie die Wahrnehmung verbaler und nonverbaler
gestalterischer Möglichkeiten. Dies kann zu einer Ich-Stärke und Ich-Stabilität, zu
einem positiven Selbstwertgefühl und zu einem offenen und zukunftsgerichteten
Verhalten führen. 436
434Bloch, S. (1982), S. 9
435Kossolapow, L. (1985), in: Kossolapow, L. / Mannzmann, A. (1985), S. 37
436Vgl. Kossolapow, L. (1988), in: Schuhmacher, D. (1988), S. IX.
437Vgl. Bernau, S. (1995), S. 159.
118
findet bereits in der Zweisamkeit von Thema und demjenigen statt, der sich damit
beschäftigt. Kommunikation ist in diesem Zusammenhang ein Austausch zwischen
einem Gebenden (das sich-mitteilende Thema) und einem Nehmenden. Die
Gemeinsamkeit des Austausches wird dabei durch das gemeinsame Thema begründet.
Folglich beinhaltet Kommunikation ein Mit-Teilen (Geben) und ein Teil-Nehmen
(Nehmen) als eine Grundlage menschlicher Existenz. Über die Kommunikation teilt
sich die Welt mit, infolgedessen findet Kommunikation auch dann statt, wenn sich ein
Subjekt einem sich gebenden Objekt zuwendet. Kreativität bedeutet somit
438
Kommunikation, da das Individuum in einem ständigen Kontakt mit der Innen- und der
Außenwelt steht. Durch die Offenheit, mit der es die Umwelt erlebt, ist es in der Lage,
Probleme zu erkennen und zu empfinden. Die Beziehung in seiner Innenwelt
ermöglicht Assoziationen mit Gewußtem und Erlebten. Daraus ergeben sich neue
Einsichten, die eine Lösung herbeiführen können. Diese Einsichten werden zunächst
nur subjektiv erlebt, um sie dann in eine objektive Form zu bringen, die der Außenwelt
verständlich ist.439
Aus diesem Grund ist es naheliegend Musik dort als Therapeutikum zu verwenden, wo
die Kommunikation gestört ist und der Bezug zur Emotionalität verlorengegangen ist,
z.B. bei hyperaktiven Kindern. Durch die musikalische Kommunikation kann eine In-
teraktion entstehen und damit die soziale Integration des hyperaktiven Kindes gefördert
werden.
Die Kommunikation innerhalb der Musiktherapie kann auf dreifache Art beschrieben
werden. Zum einen ist es die Kommunikation des Kindes mit dem musikalischen
Material, zum zweiten die Kommunikation vom Kind zum Therapeuten, durch das
Material und zum dritten die Kommunikation vom Kind zum anderen Kind. Folglich
kann sich das Kind durch das musikalische Material aktiv an seiner Umwelt beteiligen
und sich dieser mitteilen. 441
Heute kann die Musiktherapie von einem wissenschaftlichen und von einem therapeuti-
schen Standpunkt aus definiert werden. In wissenschaftlicher Hinsicht ist die Musikthe-
rapie ein Spezialgebiet, das sich mit der Untersuchung zum Klang-Mensch Komplex
beschäftigt, wobei es sich sowohl um musikalische oder nichtmusikalische Klänge
handeln kann. In der wissenschaftlichen Sichtweise wird nach Möglichkeiten gesucht,
um Diagnosekriterien und Methoden für die Therapie zu entwickeln. Im
therapeutischen Kontext verwendet die Musiktherapie Klang, Musik und Bewegung
dazu, regressive Wirkungen zu erzielen und Kommunikation zu ermöglichen. Dadurch
sollen Heilungsprozesse und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft angeregt wer-
den.443
Außerdem kann die Musiktherapie in eine aktive und in eine passive Form untergliedert
werden, je nachdem ob die Musik praktiziert wird oder dargebotene Musik angehört
wird. Da sich bei der passiven Musikaufnahme ebenfalls ein aktiver Vorgang vollzieht,
wird der Begriff passiv durch rezeptiv ersetzt. Rezeptive Musiktherapie bedeutet folg-
lich, daß durch die Musikaufnahme eine Beeinflussung stattfindet. Es werden therapeu-
tisch angestrebte, emotionale oder körperliche Reaktionen ausgelöst. Unter aktiver Mu-
siktherapie wird eine therapeutisch beabsichtigte und gezielte aktive Musikbeteiligung
mit der menschlichen Stimme und ausgewählten Musikinstrumenten verstanden. 445
Daher unterscheiden sich die Ziele der rezeptiven und der aktiven Musiktherapie. Die
rezeptive Musiktherapie will primär das Aktivitätsniveau beeinflussen, z.B. durch das
Anstreben einer Antriebsförderung oder einer Entspannung. Die aktive Musiktherapie
zielt dagegen auf eine Verhaltsmodifikation und eine Verbesserung der
Kommunikations- und Kontaktfähigkeit durch Selbst- und Fremderfahrungen ab. 446
Die Wahl der Therapieform sollte von der Art der Störung abhängig sein. Dabei muß
beachtet werden, ob die Beeinträchtigung den Kontakt in der Gruppe erlaubt oder erfor-
dert oder ob zunächst eine Einzeltherapie vorzuziehen ist. In der Einzeltherapie steht
die Beziehung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten im Mittelpunkt. Dabei
muß der Therapeut dem Patienten gegenüber eine akzeptierende Haltung einnehmen. In
der Gruppentherapie ist die gemeinsame Zielsetzung von zentraler Bedeutung, die
Entwicklung eines gemeinsamen "Wir-Ideal". Dabei ist die Beziehungsdynamik
innerhalb der Gruppe ausschlaggebend. 448
1. Das Orff-Schulwerk
Die Eignung des Orff-Schulwerks liegt im Aufgreifen elementar-menschlicher
Gegebenheiten, in der Sprache, Bewegung, Spiel, Musik, Rhythmus und Dialog
berücksichtigt werden und außerdem Ordnungen erfahren werden. Weitere Vorzüge
liegen im gemeinsamen Musizieren, welches Kontaktaufnahme fördert und die
Harmonie in der Musik und in ihrem persönlichen Raum erfahrbar machen kann. Das
Orff-Schulwerk wird bei körperlich und geistig behinderten, autistischen, verhal-
tensgestörten, seh-, hör- oder sprachbehinderten Kindern und bei psychosomatisch ge-
störten Kindern eingesetzt. 449
König (1969) schließt daraus, daß zur wahren Musiktherapie nur der musizierende
Mensch befähigt ist. Dabei bilden Gesang, Instrumentalmusik und Eurhythmie die
Hauptformen einer möglichen Musiktherapie. Er lehnte somit die rezeptive
Musiktherapie ab.
Die anthroposophisch ausgerichtete Musiktherapie wird bei autistischen, schizophrenen
gelähmten tauben und schwerhörigen Kinder angewandt. 452
Musik kann als therapeutisches Medium unterschiedlich auf hyperaktive Kinder einwir-
ken, es begleiten und Orientierungen geben:
2. Zentrierung
Der Impuls für die Konzentrationsfähigkeit des hyperaktiven Kindes muß aus dem
Inneren kommen. Dafür muß ein Bewußtsein des eigenen Selbst entwickelt werden,
damit das Kind aus diesem Zentrum heraus lernen kann, sich zu konzentrieren. Die
Musik unterstützt das Kind im Prozeß der Zentrierung. Rhythmus und Klang bewirken,
daß das Kind hinhört, sich auf etwas einläßt und sich konzentriert. Die
Musikinstrumente übernehmen die Funktion des Vermittlers zwischen der Innen- und
der Außenwelt. Die Folge ist eine Vertiefung und Intensivierung des kindlichen
Bewußtseins. Das hyperaktive Kind erlebt sich als Ganzes. Die intra- und
interpersonalen Prozesse werden intensiver wahrgenommen. 455
3. Regeneration
Hyperaktivität ist der Ausdruck der permanenten Suche des Kindes nach sich selbst.
Dabei wird die Unruhe von Unsicherheit, Aggression und Angst begleitet, die Auslöser
von Streß sind. Hyperaktive Kinder befinden sich in einem ständigen Teufelskreis, bei
dem Hyperaktivität ein Zeichen von Streß ist, der gleichzeitig wieder durch die
Hyperaktivität verstärkt wird. Dadurch kommen die Kinder nicht zur Ruhe. Der
Teufelskreis kann durch die regenerative Wirkung der Musik durchbrochen werden.
Das hyperaktive Kind bekommt durch die Musik die Möglichkeit sich zurückzuziehen,
sich zu erholen und sich fallen zu lassen. Dadurch kann es Vertrauen aufbauen, woraus
neue Kräfte mobilisiert werden können. 456
Der Unterschied besteht in der Anwendung. Das Orff-Schulwerk beruht auf der Prakti-
zierung der oben genannten Techniken, damit musikalische Fähigkeiten und
Fertigkeiten vermittelt werden. Der Schwerpunkt liegt in der Schule, wodurch
pädagogische Funktionen übernommen werden. Damit kann bereits in der Vorschule
begonnen werden. Die Orff-Musiktherapie dagegen bedient sich der Musik, damit Ziele
im sozialen, sprachlichen, motorischen und akustischen Bereich erreicht werden. 458
Durch die musikalischen Mittel und die Spielmaterialien werden neben den akustischen
auch taktile und optische Eigenschaften gefördert, folglich steht die kindliche Entwick-
lung im Mittelpunkt der Therapie. Weiterhin werden durch die musikalische Aktivität
verschiedene Grundfertigkeiten in den akustischen, visuellen, motorischen, sprachlichen
und sozialen Bereichen integriert. Die Vorgehensweise der Therapie ist interaktionsori-
entiert, da durch diese Methode eine responsive Art und Weise des Umgangs mit dem
Kind die Bereitschaft des Kindes verstärkt, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren
und sich selbständig mit Problemen auseinanderzusetzen. Prinzipiell bedeutet dies, daß
sich der Musiktherapeut auf das Interesse des Kindes einstellt und beide aktiv am Ge-
schehen teilnehmen. Für Orff (1992) soll sich die Interaktion aus den Möglichkeiten
des Kindes entwickeln. Daher hat die Behandlung kein vorgefaßtes Ziel. Die Ziele
werden für das Kind individuell vom Therapeuten formuliert. Dabei können zunächst
kleine Ziele angestrebt werden, woraus sich weitere Ziele ergeben. Die Therapie ist also
ein Prozeß, der bildlich als langer Weg dargestellt werden kann.
"Dabei sind die unbegradigten Wege vorzuziehen, eben die Wege, die
Kinder gerne gehen und die für das Kind Weg bedeuten. Die Richtung
allerdings, das Wohin wird vom Therapeuten indiziert. Er wird nun all die
Um- und Nebenwege mitgehen, wird verweilen, wo ein Verweilpunkt sich
ergibt." 460
Provokation ist ein wichtiges therapeutisches Mittel in der Orff-Musiktherapie und soll
im Sinne des Wortes etwas hervorrufen und nicht verschrecken. Die Provokation stellt
einen Reiz dar, der das kindliche Interesse wecken und die Fassungskapazität etwas er-
weitern und dadurch anreichern soll. Der Reiz kann von musikalischer, aber auch von
gesprochener oder gezeigter Art sein. Durch die Provokation kann die
Konzentrationsfähigkeit des Kindes verstärkt werden und neue Spielmöglichkeiten
können erkannt werden. Grundsätzlich muß der Therapeut das Kind genau beobachten.
Diese Beobachtung bestimmt dann auch die Provokation im Hinblick auf das
Therapieziel. 462
Das Erlebnis zu dem ein Kind innerhalb der Therapie kommen soll, kann in drei prinzi-
pielle Erlebnis- und Bildungskategorien eingeteilt werden:
Um die Erfahrungen im sozialen Bereich zu machen, muß die Fähigkeit zur Toleranz
und die Fähigkeit zu einer sinnbezogenen Reaktion und Interaktion gefördert werden.464
Das Kind kann daraufhin seine Persönlichkeit entwickeln und einen Sinn für soziale In-
teraktion bekommen und seine Objektwelt verstehen.
über einem Resonanzkasten werden zu einer Gitarre oder Geige. Das Ergebnis sind eine
Vielzahl verschiedener Klangfarben. 469
Ein weiterer therapeutischer Aspekt liegt in der Verwendung der Instrumente. Dabei
können sie ohne eine bestimmte Melodie oder ohne einen bestimmten Rhythmus
verwendet werden. In bezug auf Hyperaktivität besteht in diesen verschiedenen
Einsatzarten für die Kinder die Möglichkeit sich zu betätigen. Dies fördert den Aufbau
von Konzentration und Geduld. 470
Von der zweiten Stunde an erwartet das Kind den bereits bekannten Raum und das be-
kannte instrumentale Material. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, die
Spannung aufrechtzuerhalten, indem die bekannten Elemente mit neuen in Verbindung
gebracht werden. Dabei dient das bereits bekannte Material der Orientierung. Zu
Beginn jeder Stunde sollte daher immer etwas rituelles angeboten werden, um das
Klima wiederherzustellen. Anschließend kann etwas aus therapeutischer Sicht Neues in
die Situation eingebracht werden. Der weitere Aufbau einer Stunde kann weiterhin in
der Entwicklung der Situation entstehen durch das Annehmen der kreativen spontanen
Beiträge der Kinder, wodurch ein Höhepunkt der Therapiestunde entsteht.
Anschließend können die Ideen der Kinder verarbeitet werden. Am Ende einer Stunde
erfolgt ein organischer Abschluß von Bewegungsfolgen. Der Therapeut muß bei der
Planung einer Therapiestunde mögliche Irritationen antizipieren. Diese entstehen aus
der Reizung oder aus Erregung, grundsätzlich aus dem Zustand der Stimulation. Die
Irritationen müssen verarbeitet und in gewissem Maße geduldet werden, damit
produktive Stunden ermöglicht werden. Im weiteren Therapieverlauf orientiert sich der
Therapeut an der vorangegangenen Stunde. Durch genaue Beobachtung in jeder Stunde
entsteht die Grundlage für die Planung der folgenden. 474
Damit dem Therapeuten das Geschehen in einer Stunde nicht entgleitet, so daß kein
kommunikatives kreatives Klima entwickelt werden kann, muß er Leitfäden haben, um
das Geschehen wieder zu binden. Dabei können die Leitfäden nonverbaler Art sein. Die
Leitfäden stellen eine Provokation dar im Sinne des Spielflusses. Der Therapeut muß
wachsam sein, um zu erkennen, wann eine Korrektur des Spielgeschehens nötig ist und
von den Kindern angenommen wird. Zu diesen Leitfäden gehören das ostinate, das kon-
trastierende Moment und das Überraschungsmoment. Das ostinate Moment sollte in ei-
ner Therapiestunde miteingeplant werden, weil dadurch das Geschehen
zusammengehalten wird. Das ostinate Moment kann in einem gesungenen Vers, in einer
gesprochenen Zeile, in einem Rhythmus auf einem bestimmten Instrument oder in
einem Klang bestehen. Durch das kontrastierende Moment kann ein Wechsel in der
Lautstärke und der Zeitqualität entstehen sowie Klangunterschiede und Unterschiede
von Einzel- oder Gruppenbeiträgen. Das kontrastierende Moment entwickelt
Flexibilität, die jedoch noch durch den Vergleich gebunden ist. Dabei tritt das
kontrastierende Moment meist nicht unerwartet auf, sondern im zyklischen Ablauf,
wodurch ein Gefühl der Ordnung erreicht wird. Das Überraschungsmoment dient dem
Therapeuten ebenfalls zur Wiederherstellung eines abwegigen Geschehens. Dabei kann
das Überraschungsmoment durch ein lautes oder leises Signal oder durch ein optisches
oder gestisches Signal dargestellt werden. Dieses Moment ist nicht vorhersehbar wie die
beiden anderen, es entsteht aus der Situation. 475
Aktivitäten folgt. Bei hyperaktiven Kindern kann der Therapeut ebenso die Funktion
des ruhenden Pols einnehmen, indem er nicht dem Kind folgt, sondern bei einer Akti-
vität bleibt und von dort Impulse in die Spielsituation einbringt. Die Impulse können
sich dabei auf eine nonverbale Spiegelung oder Begleitung der kindlichen Aktivität
beziehen, oder eine verbale Kommentierung der Aktivität darstellen. 478
Die Spielregeln werden nicht direkt ausgesprochen, sondern spontan in einer Situation
entwickelt und in das Spiel einbezogen. Sie können jedoch auch vorher formuliert wer-
den.
Abschließend soll ein Zitat von Jacques Emile Dalcrozes angeführt werden, der der
Schöpfer der Rhythmik und ein Wegbereiter der Musiktherapie war. Er hat den Zugang
zur Musiktherapie erschlossen, da er die strengen Schemen der Musikscholastik durch-
brochen hat. Nur so war die Entdeckung des eigenen Rhythmus des Menschen möglich,
der die Ausgangsbasis für die Kommunikation mit den Kranken ist:
"Die Musik muß in der allgemeinen Erziehung eine wichtige Rolle spielen,
denn sie antwortet auf die verschiedenartigsten Wünsche des Menschen.
Musik studieren bedeutet zu sich selbst kommen." 481
Insgesamt legen sowohl die Ergebnisse der Kreativitätsforschung als auch die
Ergebnisse der Anwendung der verschiedenen pädagogisch-therapeutischen
Interventionsmöglichkeiten nahe, daß eine Förderung hyperaktiver Kinder im
Vorschulalter eine wichtige Determinante zur Verbesserung der Symptome des
hyperaktiven Verhaltens und der Persönlichkeitsentwicklung darstellt.
Störende und auffällige Kinder sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Menschliches
Verhalten ist durch Wechselwirkungen bestimmt, das bedeutet, daß das Leiden der Kin-
der auch das Leiden der Eltern bzw. der gesamten Gesellschaft ist. Dies erfordert eine
Erweiterung des Blickfeldes seitens der Eltern, Erzieher und Pädagogen, um das
auffällige Verhalten der Kinder in ihren Lebenszusammenhängen zu verstehen und
somit richtige Hilfestellungen zu geben. Ein erster Schritt hierzu besteht darin, die
bisherigen Verhaltensweisen zu überdenken und hinsichtlich einer pädagogischen
Förderung nicht über die Kinder zu reden und über sie hinweg zu entscheiden, sondern
mit ihnen zu reden und mit ihnen gemeinsam entscheiden, da jegliche pädagogische
Förderung nur durch die Mitarbeit der Kinder wirksam werden kann. Dieses 482
Umdenken über einen anderen Umgang mit dem Kind erfordert sowohl von Eltern als
auch von Pädagogen Flexibilität und Originalität. Das heißt, daß eine Neuorientierung
stattfinden muß, damit die Kinder optimal gefördert werden können.
Die Förderung hyperaktiver Kinder sollte möglichst frühzeitig einsetzten, da sich zum
einen das hyperaktive Verhalten im Vorschulalter verstärkt und die Kinder in diesem
Alter Schwierigkeiten hinsichtlich der Aufmerksamkeit und der sozialen Anpassung
haben, die ihren späteren Lebensweg erheblich beeinflussen. Folglich kann eine
pädagogische Förderung bereits im Vorschulalter die Auffälligkeiten der Kinder erheb-
lich reduzieren, indem sie z.B. eine konsequente Erzieherhaltung seitens der Bezugsper-
son erfahren. 483
Zum anderen haben die Kinder im Vorschulalter die Möglichkeit ihre Aktivität spontan
auszuleben. Dadurch ist bei ihnen die Grundlage zur Entwicklung kreativer Verhaltens-
weisen gegeben. Kreativität im Vorschulalter lebt von diesen ungerichteten und ur-
sprünglichen Aktivitäten des Kindes. Dadurch kann dem Erwachsenen ebenfalls ein
Anstoß zum Umdenken gegeben werden, in die Richtung einer Befreiung von
Anpassungsdruck und Leistungsstrategien. Des weiteren bietet die Vorschule dem Kind
einen optimalen Raum zur Entfaltung ihres kreativen Potentials. Im Vorschulalter sind
Kinder besonders durch ihre Aufnahmefähigkeit, ihr Interesse und durch ihre
Aufnahmebereitschaft gekennzeichnet, was sie für eine pädagogische Förderung
prädestiniert. Das kreative Handeln kann somit bereits im Vorschulalter zur Entfaltung
gelangen. Dabei können kreative Techniken und Methoden, wie z.B. das Brainstorming
oder der Gebrauch der Sinne (vgl. Kapitel 4.6) die Entwicklung kreativer Potentiale
fördern. Außerdem ist vor allem das Kreativitätstraining geeignet, die kognitiven,
484
Um zu einer effektiven Förderung des hyperaktiven Kindes zu gelangen, muß vor allem
berücksichtigt werden, daß das Kind durch ein breites Spektrum an Techniken und Me-
thoden als Gesamtpersönlichkeit angesprochen wird und daß sein kreatives Potential
auf verschiedenen Ebenen gefördert wird, z.B. auf der sprachlichen, der bildlichen, der
musikalischen (vgl. Kapitel 6), der kognitiven (vgl. Kapitel 5.2.1) oder der motorischen
(vgl. Kapitel 5.2.2) Ebene. Folglich muß das hyperaktive Kind entsprechend seiner
geistigen, körperlichen, sozialen und emotionalen Entwicklung gefördert werden. Dabei
sollte immer eine ausgewogenen, ganzheitlich orientierte Förderung des hyperaktiven
Kindes im Mittelpunkt stehen.
verhalten. Eine weitere Eigenschaft der kreativen Persönlichkeit ist die Freiheit von
Angst, zum einen vor sich selbst und zum anderen vor der Umwelt. Außerdem ist der
Neuheitsaspekt ein wichtiger Faktor der kreativen Persönlichkeit. Das kreative Kind
löst sich schnell von traditionellen Normen und Vorstellungen und ist offen für
Veränderungen. Damit ist ein spielerisches Überschreiten von Grenzen und ein Experi-
mentieren verbunden, was die Bereitschaft zum Risiko impliziert. Das kreative Kind
486
ist sehr verspielt und besitzt viel Humor und Phantasie. Es geht Konflikten nicht aus
dem Weg. Um zu einer Problemlösung zu gelangen entwickelt es Ausdauerfähigkeit,
welche mit einem hohen Energiepotential verbunden ist. Bei der Problemlösung ist das
kreativen Kind nicht auf einen bestimmten Weg fixiert.487
Auf den ersten Blick werden kaum Parallelen zwischen dem hyperaktiven Kind und
dem kreativen Kind ersichtlich, da das hyperaktive Kind vornehmlich unruhig,
konzentrationsschwach und unaufmerksam ist. Dennoch können es gerade diese
Fähigkeiten sein, die hyperaktive Kinder zu kreativen Handlungen befähigen. Folglich
kann durch eine gezielte Förderung das kreative Potential des hyperaktiven Kindes
hervorgeholt und gefördert werden, da sich dieses z.B. durch eine hohe
Assoziationsflüssigkeit auf der motorischen Ebenen, einer starken Phantasie, die auf
eine hohe Ideengeläufigkeit hinweist, durch Originalität in bezug auf Problemlösungen
und durch ein hohes Durchhaltevermögen bei selbst ausgewählten Tätigkeiten (vgl.
Kapitel 3.2) auszeichnet. Hyperaktive Kinder geben nicht so schnell auf, sie fangen
trotz ständiger Niederlagen wieder von vorne an. Die Bereitschaft, immer von neuem
488
zu beginnen und nichts als definitiv oder als einen geschlossenen Prozeß zu sehen, ist
eine wichtige Voraussetzung für die Kreativität. Somit kann bei hyperaktiven Kindern
ebenfalls von einer Fähigkeit zur Kreativität gesprochen werden.
Die Kreativitätsförderung beeinflußt das Denken, Handeln, Verhalten und damit die
Persönlichkeit des Kindes. Aus diesem Grunde wird die Förderung der Kreativität mit
in den Bereich der Erziehung eingebunden, da sie alles impliziert, was zur Entwicklung,
Förderung und Beeinflussung der Persönlichkeit gehört. Bei hyperaktiven Kindern
fördert eine Kreativitätserziehung hauptsächlich die Fragehaltung, die Vertrautheit zur
Umwelt und die Auseinandersetzung mit der sachlichen und personalen Umwelt. 489
Die Umwelt bekommt daher einen zentralen Stellenwert bei der Förderung hyperaktiver
Kinder. Somit ist eine Kreativitätsförderung in einer anregungs- und impulsarmen Welt
nicht möglich. Folglich liegt die Gestaltung einer ansprechenden und
kreativitätsfördernden Umwelt bei den Eltern und Pädagogen. Eines der
Hauptprinzipien einer kreativitätsfördernden Umwelt sollte in der Freiheit der Auswahl
des Raumes, des Materials, der notwendigen technischen Hilfsmittel und in der freien
Wahl der Aktivitäten begründet sein. In der praktischen Anwendung bedeutet dies, daß
die Bezugspersonen bestimmte Ge- und Verbote einschränken sollen, wobei jedoch bei
hyperaktiven Kinder wenige, sorgfältig ausgewählte Regeln aufgestellt werden müssen,
die für alle Beteiligten innerhalb einer Gruppe gelten. Auf die Einhaltung dieser
berechtigten Regeln sollte auch bestanden werden. Hyperaktive Kinder verfügen über
eine Hartnäckigkeit, mit der sie gegen erzieherische Regeln angehen. Dabei sollte die
Bezugsperson die Ziele jedoch konsequent verfolgen, da eine inkonsequente Haltung
bei hyperaktiven Kindern negative Folgen haben kann (vgl. die Erzieherhaltung in
Kapitel 2.2 und 4.5). 490
Zunächst besteht die Aufgabe des Erziehers jedoch darin, die Voraussetzungen zur
Kreativitätsförderung zu schaffen. Dies geschieht durch die Förderung von neuen Pro-
blemlösungen, Phantasie und Selbstvertrauen. Außerdem ist eine konstruktive Kritik,
Flexibilität, Spontaneität, Offenheit, divergentes Denken, Neugierverhalten und
Problemsensitivität zu fördern. Des weiteren sollte der Erzieher immer um seine eigene
Kreativität besorgt sein und nicht nur um die der hyperaktiver Kinder. Dabei sollte er
selbst kreativ offen sein und das kreative Verhalten des hyperaktiven Kindes erkennen,
akzeptieren und fördern. Es liegt somit zum großen Teil am Erzieher, ob sich ein
491
hyperaktives Kind kreativ entwickelt. Dabei muß der kreative Erzieher immer
Entscheidungen fällen, zwischen Rezeptivität und Spontaneität, Tradition und
Innovation, Konformität und Nonkonformität, Regel und Freiheit, konvergentem und
divergentem Denken, defensivem und expressivem Verhalten sowie zwischen
Geschlossenheit und Offenheit. 492
Außerdem sollte dem Kind in der Erziehungspraxis eine hinreichende Anzahl verschie-
dener Materialien und Handwerkszeuge zur Verfügung stehen. Dabei sollten alle Mate-
rialien eine anregende Wirkung auf das Kind ausstrahlen und die Möglichkeit zur
Veränderung offen lassen. Das Material sollte vom Kind zweckentfremdet werden
können, damit schöpferische Tätigkeiten zustande kommen. Alles, was vom Kind
neugeschaffen wird, muß in seiner Umwelt Platz und Anerkennung finden. Aus diesen
Aspekten geht hervor, daß eine kindgerechte Umwelt erzeugt werden muß, die sich an
den kindlichen Bedürfnissen orientiert. Dabei sollte sich der Erzieher jeglicher
493
der Auffälligkeiten sein, wodurch das Kind nicht mehr in der Lage ist, kreative
Verhaltensweisen zu entwickeln, da es völlig abblockt und für keinerlei unterstützenden
Maßnahmen mehr offen ist. Für die Entfaltung der Kreativität sind folglich die Kultur,
494
In bezug auf eine ganzheitliche Erziehung wird durch die Kreativitätsförderung die För-
derung der immanenten Kräfte des hyperaktiven Kindes ermöglicht, die durch reaktives
Lernen ignoriert werden. Durch eine kreative Erziehung können weitere Fähigkeiten
des Kindes freigelegt werden, die tief in den Persönlichkeitsbereich hineinreichen und
die durch bestimmte Dispositionen geweckt werden. Damit kann die Förderung der
Kreativität zu einer Komplettierung der Persönlichkeit des hyperaktiven Kindes
beitragen. Als Folge dieser Erziehungsbemühungen wird am Ende ein anderer Mensch
496
stehen, der sich aufgrund seiner Hyperaktivität immer noch von anderen abhebt, der
sich jedoch zu einer Persönlichkeit entwickelt hat, die entsprechend ihrer Eigenart und
Einmaligkeit geprägt ist. Dennoch darf die Kreativitätsförderung nicht überbewertet
werden, da sie nicht die einzige Aufgabe einer pädagogischen Förderung hyperaktiver
Kinder ist, sondern lediglich eine unter anderen. Dennoch kann durch die
Kreativitätsförderung das hyperaktive Verhalten des Kindes zwar nicht aufgehoben
werden, aber das auffällige Verhalten wird in einigen Merkmalen vermindert, z.B.
Pädagogik und Therapie bilden ein Kontinuum, wobei sich Präventives und Kuratives
ineinanderfügen. Durch die Kombination der vom Ansatz her unterschiedlichen
Disziplinen wird die Möglichkeit des Austausches und des Voneinander-Lernens
hervorgehoben. Folglich ist eine Betrachtung der pädagogisch-therapeutischen
497
Bei hyperaktiven Kindern kann seltenst eine völlige Symptomfreiheit erzielt werden,
dennoch gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten mit der kindlichen Verhaltensstörung
besser umzugehen, so daß eine große Anzahl von Folgestörungen verhindert werden
können.
Aus pädagogischer Sicht sollte nicht nur eine Therapieart gewählt, sondern ein
multimodaler Ansatz befürwortet werden. Ein solches Vorgehen kann der Komplexität
der Symptomatik im Hinblick auf die verursachenden Persönlichkeits-, Umwelt- und
Organismusfaktoren am ehesten gerecht werden. Generell sollte dabei die Therapie
speziell auf das Kind zugeschnitten sein, denn jede Therapie ist abhängig von der in-
dividuellen Störung, dem Alter aber auch von den jeweiligen sozialen Lebensbedingun-
gen. Außerdem sollte die Bereitschaft des Kindes, zur Mitarbeit eine besondere Rolle
spielen, da die Therapie immer freiwillig erfolgen sollte und nicht gegen den Willen des
Kindes, was eine Verstärkung der hyperaktiven Verhaltensweisen zur Folge haben
kann.
"Es ist einerlei, ob man mit dem Kind mehr spielt, Sport treibt, oder ob man
es mehr zu musischen Aktivitäten anleitet. Man sollte sich da durchaus
nach den Begabungen und Neigungen eines Kindes richten." 499
Des weiteren ist es sehr wichtig, die Umwelt (Elternhaus und soziale Institutionen) in
den ganzheitlichen Förderansatz zu integrieren, da diese häufig im
Kausalzusammenhang mit den Störungen steht. Dabei kommt den unterschiedlichen
Erziehungsstilen eine besondere Bedeutung zu, die von einer autoritären bis zu einer
absoluten Laissez-Faire Haltung reichen. Ein stark autoritäres Verhalten z.B. und eine
lieblose Erziehung wirken sich auf das hyperaktive Kind hemmend aus, da es zum
einen Sanktionen befürchtet, auf die es dann mit Rache- oder Ablehnungsgefühlen
reagiert, wodurch keine sozialen Kontakte entstehen können. Zum anderen kommen
durch die autoritäre Erziehung eigene Handlungsimpulse der hyperaktiven Kinder nicht
zum Tragen, da sie bereits zuvor unterbrochen werden (vgl. Kapitel 2.2.4.3). In bezug
500
auf eine Förderung der Kreativität und das Erreichen einer Verbesserung der Symptome
ist ein freiheitlich-demokratischer Erziehungsstil als sehr günstig anzusehen. Folglich
spielen die Familienverhältnisse, die Stabilität oder Gestörtheit der Familie, ihre soziale
Integration sowie andauernde psychische Belastungen und negative Erfahrungen eine
immer wesentlichere und zuletzt entscheidende Rolle. 501
Dies wird auch in der Literatur bestätigt. So sagen z.B. Voss / Wirtz (1990), daß das
störende Kind die gestörte Lebenswelt widerspiegelt und das Verhaltensauffälligkeiten
gesunde Reaktionen darauf sind. Sie sind Ausdrucksformen des Kindes in einer
problembeladenen, bedrückenden und krankmachenden Situation. 502
Aus diesem Grund müssen Eltern mit in die Therapie hyperaktiver Kinder einbezogen
werden. Die Mitarbeit der Eltern besteht in einer Verhaltensänderung ihrem
hyperaktiven Kind gegenüber. Den Eltern wird häufig die Schuld am Verhalten ihrer
Kinder gegeben. Daher ist es im therapeutischen Prozeß besonders wichtig, den
Kreislauf dieser Schuldzuweisungen zu durchbrechen, um das hyperaktive Kind
wirksam zu fördern.
Voss / Wirtz (1990) erläutern weitere Verhaltensregeln für Eltern und Pädagogen, um
einen besseren Umgang mit dem hyperaktiven Kind zu erreichen. Dabei ist es vor allem
wichtig, z.B. die Wutanfälle und das auffällige Verhalten des Kindes zu ignorieren,
denn dadurch, daß die Umwelt nicht mehr auf das hyperaktive Verhalten reagiert,
verliert es von selbst das Interesse an den Auffälligkeiten. Ein weiteres Merkmal für
einen verbesserten Umgang mit einem hyperaktiven Kind wird zum einen darin
gesehen, daß dem Kind Problembewältigungen überhaupt erst zugestanden wird.
Häufig wird das hyperaktive Kind unterfordert, weil ihm keine Problemlösung
zugetraut werden. Folglich muß jedes Kind die Möglichkeit bekommen eigene
Erfahrungen in bezug auf die Lösung von Problemen zu machen und dabei eine
Sensitivität für diese zu entwickeln. Dazu gehört ebenfalls, daß sich das Kind mit
möglichen Mißerfolgen und den daraus resultierenden Frustration auseinandersetzt. Bei
erfolgreicher Problembewältigung soll das Kind gelobt werden, dennoch darf nicht das
Gefühl entstehen, nur für gute Leistungen Belohnungen zu erhalten, da sonst das Kind
zwanghaft nach Erfolgsprämien sucht. Trotzdem sollte das hyperaktive Kinder
erfahren, daß kreative Leistungen von ihm erwartet werden. 503
Eine weitere Möglichkeit der Förderung hyperaktiver Kind besteht in der Kombination
der Musiktherapie mit der motopädagogischen Therapie. Durch die Kombination von
Musik und Bewegung kann das hyperaktive Kind seine eigene Körperlichkeit besser
wahrnehmen und zu einem neuen Körpererlebnis gelangen. Außerdem kann das Kind,
nachdem es gelernt hat, verschiedene Grundfertigkeiten im Bereich der Motorik auszu-
führen, diese kreativ anwenden. Das Kind erarbeitet sich neue Bewegungsformen und
verleiht ihnen durch phantasievolle Musik einen individuellen Ausdruck. Durch die
breiten Bewegungsgrunderfahrungen wird der kindlichen Initiative und der Kreativität
genügend Raum gelassen. Die Orff-Therapie eignet sich besonders für eine
506
Verbindung von Musik und Bewegung. Hierbei wird nicht nur Bewegung zur Musik
oder Musik zur Bewegung gefördert, sondern die elementare Musik und die Bewegung
werden in ein Gleichgewicht gebracht. Das bedeutet, daß Melodie, Klang, Instrumente
und Bewegung auf gleicher geistiger und leistungsmäßiger Ebene gehalten werden. Im
504Vgl. Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 132.
505Vgl. Ebenda, S. 81.
506Vgl. Kiphard, E.J. (1989), S. 20.
139
Zusammenhang mit der psychomotorischen Therapie soll durch die Erzeugung von
Bewegungsimpulsen durch Musik eine neue Körperbeherrschung und ein positives
Erlebnis der Körperbewegung vermittelt werden. 507
In bezug auf die Förderung der Kreativität wirkt sich eine Therapie nur dann günstig
auf kreatives Handeln und dadurch auf kreative Produkte aus, wenn die störenden
Symptome beseitigt werden und das Kind dazu befähigt wird, sich aktiv in die
Gesellschaft zu integrieren. Dagegen schadet die Therapie der kreativen Entwicklung,
wenn sie das Kind sozialisiert und zur Konformität in der Gesellschaft erzieht.
508
Prinzipiell kann der therapeutische Prozeß mit dem kreativen Prozeß in Zusammenhang
gebracht werden, wenn nicht sogar jeder therapeutische Prozeß einen kreativer Prozeß
darstellt. Das Ziel der therapeutischen Förderung besteht im allgemeinen in einer Stär-
kung der Persönlichkeit, wobei diese Stärkung des Ichs gleichzeitig als Förderung des
kreativen Verhaltens angesehen werden kann. Des weiteren wird im therapeutischen
Prozeß aus dem vorhandenen Material neue Verbindungen und Beziehungen hergestellt,
die ihren Ausdruck in neuen Erfahrungen, menschlichen Beziehungen oder veränderten
Lebensanschauungen finden. Im kreativen Prozeß werden ebenfalls neue Verbindungen
und Beziehungen hergestellt. 509
Ein weiteres kreatives Ziel der therapeutischen Intervention sollte sein, dem
hyperaktiven Kind das Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu vermitteln, damit es sich
nicht nur den Anforderungen seiner Umgebung anpaßt, sondern, seinen Fähigkeiten
entsprechend neue Bereichen als Herausforderung der Umwelt begegnet. Dadurch soll
dem Kind geholfen werden, trotz seiner Hyperaktivität kreativ zu leben, und es so auf
einen selbständige Zukunft vorzubereiten. Daher muß der Therapeut die Flexibilität
511
Außerdem sollte nicht übersehen werden, daß das "Anders-sein" des hyperaktiven Kin-
des auch Anlaß sein kann, einmalige und originelle Fähigkeiten zu entwickeln und
kreativ zu entfalten. Daß es dazu kommt, bedarf allerdings einer gewissen Toleranz und
Anpassungsfähigkeit der Eltern und Pädagogen. Sie müssen bereit sein, die Eigenart
des hyperaktiven Kindes zu respektieren und zu akzeptieren, da das hyperaktive Kind
eine Persönlichkeit mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenschaften ist. 513
7.3 Ausblick
Insgesamt können durch eine pädagogische Förderung hyperaktiver Kinder im Vor-
schulalter mit Hilfe der Kreativitätsförderung theoretisch einige Symptome der
Hyperaktivität verbessert werden. Dabei ist der Bezug jedoch in der Praxis weiterhin
empirisch zu überprüfen, was nicht Aufgabe dieser Arbeit war.
Die Erziehungswissenschaft sollte sich jedoch in Zukunft um eine empirische Erfor-
schung über den Zusammenhang zwischen Kreativität und Hyperaktivität bemühen.
Erst wenn die soziale Relevanz über die Möglichkeit einer kreativen Förderung bei
hyperaktiven Kindern bewiesen und anerkannt ist, wird eine Einbettung in die
Alltagspraxis möglich sein.
Außerdem ist es wünschenswert, wenn sowohl die Überprüfung der Wirksamkeit der
pädagogisch-therapeutischen Interventionsmöglichkeiten als auch die Überprüfung der
Wirksamkeit hinsichtlich möglicher Kombinationen, Aufgaben in der
wissenschaftlichen Erforschung zum Thema Hyperaktivität werden. Hierzu bietet die
vorliegende Arbeit mögliche Anregungen, damit eine optimale pädagogische Förderung
für hyperaktive Kinder entwickelt werden kann.
142
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