Niklas Luhmann-Das Recht Der Gesellschaft-Suhrkamp Verlag (1995)
Niklas Luhmann-Das Recht Der Gesellschaft-Suhrkamp Verlag (1995)
suhrkamp taschenbuch
wissenschaft 1 1 8 3
Niklas Luhmann
Das Recht der Gesellschaft
Suhrkamp
6 7 8 - 06 05 04
03
02
Inhalt
Vorwort
9
...
38
124
165
5 Kontingenzformel Gerechtigkeit
214
239
297
8 Juristische Argumentation
338
407
. .
10 Strukturelle Kopplungen
440
496
$50
Register
587
Vorwort
Von der fachlichen Zuordnung her kann der folgende Text als
Rechtssoziologie gelesen werden - aber in einem zugleich weiteren
und engeren Sinne. Der Kontext des Textes ist eine Theorie der
Gesellschaft und nicht eine der auf bestimmte Ausschnitte beschrnkten speziellen Soziologie, die den Sektionen soziologischer
Gesellschaften oder einzelnen Lehrveranstaltungen ihren Namen
geben. Niemand wird bestreiten, da in der Gesellschaft das Recht
einen wichtigen Platz einnimmt. Also mu eine Gesellschaftstheorie sich um das Recht der Gesellschaft kmmern. Und da auch noch
die anspruchsvollsten Figuren des Rechts in der Gesellschaft und
nur in der Gesellschaft vorkommen, gilt dies bis in die feinsten
Verzweigungen der juristischen Semantik und fr jede im Recht
getroffene Entscheidung - auch wenn sie nur den Durchmesser von
pfeln oder die Ingredienzen der Biersorten betrifft, die verkauft
werden drfen. Keine Esoterik, keine Seltsamkeit, die vorkommt,
darf vorab aus dem Relevanzbereich der Soziologie ausgeschlossen
werden. Die Selektion obliegt allein der soziologischen Theorie.
Dies kann gewi Verschiedenes bedeuten. Wenn im folgenden der
Bezug auf die Gesellschaft als umfassendes, alles Soziale einschlieendes System als Referenz gewhlt wird, liegt darin also auch eine
Einschrnkung, verglichen etwa mit Anstzen einer Institutionentheorie, einer Handlungstheorie, einer. Professionssoziologie. Einschrnkung soll nicht besagen, da Begriffe anderer Provenienz
nicht zugelassen werden; aber die Zuweisung ihrer Pltze obliegt
der Gesellschaftstheorie. Die Begriffe (wie: operative Geschlossenheit, Funktion, Codierung/Programmierung, funktionale Differenzierung, strukturelle Kopplung, Selbstbeschreibung, Evolution
usw.) sind so gewhlt, da sie auch in anderen Funktionsbereichen
der modernen Gesellschaft angewandt werden knnen. (Ob mit Erfolg, bleibt zu zeigen.) Gelnge ein solcher Gesamtversuch der
Anwendung abstrakter Begriffe auf hchst verschiedene Sachbereiche wie Politik und Religion, Wissenschaft und Erziehung, Wirtschaft und eben Recht, dann drngte sich die Vermutung auf, da
eine solche bereinstimmung im Verschiedenen kein Zufall ist,
sondern etwas ber die Eigenart der modernen Gesellschaft aus7
sagt; und dies gerade deshalb, weil ein solcher Befund nicht aus dem
Wesen des Rechts oder irgendeinem anderen Wesen gefolgert
werden kann.
Mit diesem Beweisziel vor Augen begreifen die folgenden Untersuchungen rechtlich orientierte Kommunikation als Vollzug von Gesellschaft. Sie setzen daher immer, auch wo dies nicht explizit gesagt
wird, zwei Systemreferenzen voraus: das Rechtssystem und das
Gesellschaftssystem. Sie folgen mit dieser Orientierung Untersuchungen ber die Wirtschaft und ber die Wissenschaft, die bereits
publiziert sind. Eine Einbeziehung weiterer ist geplant.
Meine Arbeiten zum Thema Rechtssystem reichen weit zurck. Sie
waren ursprnglich als Parallelpublikation zu einer evolutionstheoretisch angelegten Rechtssoziologie geplant, die systemtheoretische
Aspekte voraussetzen mute, ohne sie ausreichend einbeziehen zu
knnen. In letzter Zeit haben vor allem Aufenthalte an der Law
School der Northwestern University in Chicago und an der Cardozo School of Law der Yeshiva University in New York Mglichkeiten geboten, mich mit der Denkweise des Common Law
vertraut zu machen. Ich danke den amerikanischen Kolleginnen
und Kollegen fr diese Frderung. Von Kritik habe ich vor allem
aus Anla einzelner Vortrge und Tagungen profitiert. Auch kritische uerungen zu dem noch unfertigen Konzept einer Autopoiesis des Rechts haben die Dosierung der Argumentation im hier
vorgelegten Buch beeinflut. Ich hoffe, da es mir gelungen ist,
allzu schnell gewachsene Miverstndnisse auszurumen. Da jede
Theorie mit distinkten Eigenarten auch gut begrndbare Ablehnung auslst, versteht sich von selbst. Aber dann sollte man sich an
eine Eigenart der jdischen Rechtsexegese erinnern: da es wichtig
ist, Dissense auf ein angemessenes Niveau zu bringen und als Tradition zu bewahren.
1
Niklas Luhmann
1 Siehe Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988; ders., Die
Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990.
2 Siehe Niklas Luhmann, Rechtssoziologie (1972), 2. Aufl. Opladen 1983.
3 Siehe vor allem Gunther Teubner (Hrsg.), Autopoietic Law: A New Approach to
Law and Society, Berlin 1988, und das Heft 13/5 (1992) des Cardozo Law Review.
8
Kapitel i
i Im Common Law findet man entsprechendes Gedankengut allerdings eher unter der
(vielleicht treffenderen) Bezeichnung rules.
kann es sich empfehlen, Regeln fr Interessenabwgung zu entwickeln, die beteiligte Interessen nicht vorab schon als unrechtmig klassifizieren. Und wenn es darum geht, eine ungerechtfertigte
Bereicherung an den abzufhren, der entsprechend benachteiligt
ist, gert die Praxis rasch in riffreiches Wasser, in dem kein prinzipienorientierter Kurs gesteuert werden kann und doch wiederholt
anwendbare Regeln entwickelt und durch verallgemeinerungsfhige
Gesichtspunkte begrndet werden mssen.
Eine zweite wesentliche Quelle der begrifflichen Abstraktion und
der theoretischen Systematisierung ist der Rechtsunterricht. Man
kann dessen Bedeutung im Verhltnis zur Entscheidungspraxis des
Rechtssystems verschieden einschtzen. In jedem Fall bereitet jedoch die Ausbildung im Erziehungssystem auf die Ausbung juristischer Berufe vor. Sie kann sich mehr Abstraktion, mehr Allgemeinurteile, auch mehr Philosophie leisten, als jemals am
Arbeitsplatz wird genutzt werden knnen. Das fr Ausbildungszwecke zubereitete Theoriematerial hat dazu gefhrt, da man die
Text- und Fallabhngigkeit der berzeugungskraft juristischer Argumente, also den lokalen Charakter juridischer Rationalitt oft
verkennt. Immerhin wird jede Entwicklung juristischer Theorien
auf Akzeptanz im System achten. Die amerikanischen Law Schools
halten engen Kontakt mit der American Bar Association. In
Deutschland sind juristische Examina Staatsexamen. Die Auswirkungen von Universittsprodukten personeller oder textmiger
Art knnen der Praxis des Rechtssystems nderungen nahelegen,
Lehrbcher und Monographien werden gelegentlich in Gerichtsentscheidungen zitiert, aber es mu sich dabei immer noch um eine
im System verwendbare nderung handeln; und um eine nderung
von etwas, was bereits vorlag. Wissenschaftliche Forschung hat natrlich hnliche Beschrnkungen zu beachten aber in einem ganz
anderen System.
2
2 Siehe an Hand dieses Beispiels Charles Fried, The Artificial Reason of the Law or:
What Lawyers Know, Texas Law Review 60 (1981), S. 35-58.
3 Bei R.B.M. Cotterrell, Jurisprudence and Sociology of Law, in: William M. Evan
(Hrsg.), The Sociology of Law: A Social-Structural Perspective, New York 1980,
2
S. 2 1 - 2 9 ( 3 ) l*
est m
10
5 Diese Auffassung hatte eine Zeitlang die sogenannte Critical Legal Studies-Bewegung in den Vereinigten Staaten motiviert. Sie wird heute aber zunehmend ersetzt
durch ein Interesse an der sozialen Relevanz von Rechtsformen, das sich nicht mehr
unreflektiert ideologiekrkisch versteht. Siehe z. B. Alan Hunt, The Ideology of
Law: Advances and Problems in Recent Applications of the Concept of Ideology to
the Analysis of Law, Law and Society Review 19 (1985), S. 1 1 - 3 7 ; Stewart Field,
Without the Law? Professor Arthurs and the Early Factory Inspectorate, Journal of
Law and Society 17 (1990), S. 445-468.
6 So z.B.Christian Atias, Epistemologie juridique, Paris 1985, S. 86f.
7 Siehe vor allem die Zeitschrift Rechtstheorie (seit 1970) sowie zahlreiche, das Terrain sondierende Verffentlichungen ihres geschftsfhrenden Redakteurs Werner
Krawietz, etwa: Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis: Eine
II
10
Untersuchung zum Verhltnis von dogmatischer Rechtswissenschaft und rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung, Wien 1978; ders., Recht als Regelsystem,
Wiesbaden 1984. In Frankreich hatte man schon frher von thorie gnrale du
droit gesprochen und dabei im wesentlichen an eine Klrung der Prinzipien und
Begriffe des Rechts gedacht, die den Anforderungen positiver Wissenschaftlichkeit
im Sinne Comtes entsprechen sollte.
8 Siehe nur Krawietz a.a.O. (1978), S. 2ioff.
9 Siehe speziell dazu: Werner Krawietz, Staatliches oder gesellschaftliches Recht?
Systemabhngigkeiten normativer Strukturbildung im Funktionssystem Recht, in
ders. und Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme: Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt 1992, S. 247-301. Ich komme
auf diese Frage bei der Behandlung des Normbegriffs (Kap. 3) zurck.
10 Auch wenn Krawietz a.a.O. (1992) das entschieden bestreitet.
12
11 Who cares, fragt zum Beispiel Philip Soper, A Theory of L a w , Cambridge Mass.
1984, in seiner Einleitung zu entsprechenden Untersuchungen. Doch die Antwort:
die Philosophie, wird kaum befriedigen, denn dann htte man immer noch die
Frage, woher die Philosophie die Relevanz der Frage kennt und wieso sie sich
gehindert fhlt (wie man hofft), sie nicht einfach negativ zu beantworten.
12 Siehe als ein Bekenntnis zu solchen residualen Wertungen des Rechts (im Unterschied etwa zu ideologischen oder rein privaten Ansichten) den Abschnitt Rational Reconstruction (als Anliegen der Methode) in: D. Neil MacCormick / Robert
S.Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes: A Comparative Study, Aldershot,
Hants. England 1992, S. 18 ff. Hier wird zum Beispiel nicht bezweifelt, da justifications notwendig und in ihrem Begrndungsduktus beurteilbar sind; for
rational reconstruction has also a normative element in so f a r as the rationally
reconstructed underlying structure presupposes a model of good or acceptable justification for the decisions of rational beings (S. 22); und die Feststellung,
Interpretation is through and through a matter implicating fundamental vaiues of
the law (S. 538) wird offensichtlich auch von denen, die ihre Untersuchungen
damit beschlieen, positiv bewertet. (Und wer sollte anders urteilen, wenn schon so
formuliert wird.).
13
ihre eigenen Mastbe Wert legt und sich hierin nicht reinreden
lt.
Auch hier wird von Rechtstheorie gesprochen. Eine strikt wissenschaftliche Analyse gibt dem Theoriebegriff aber eine ganz andere,
eine den Gegenstand konstituierende Funktion. Jede wissenschaftliche Bemhung hat sich vorab ihres Gegenstandes zu vergewissern.
Sie mu ihn bezeichnen und das heit: unterscheiden knnen. Dies
gilt unabhngig davon, wie man in Fragen der Erkenntnistheorie
optiert, ob man also eher realistischen, eher idealistischen oder eher
konstruktivistischen Theorien folgt. Mit der Bestimmung des Gegenstandes ist in einem pluralistischen Wissenschaftskontext jedoch
zugleich die Mglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit gegeben, da
verschiedene Theorien und erst recht verschiedene Disziplinen ihren Gegenstand verschieden bestimmen und deshalb nicht miteinander kommunizieren knnen. Sie sprechen dann, auch wenn sie
denselben Namen, in unserem Falle Recht, verwenden, ber Verschiedenes. Es mgen dann Seiten um Seiten mit Auseinandersetzungen gefllt werden, die aber ohne Ergebnis bleiben oder
bestenfalls der Schrfung der eigenen Waffen dienen. Man redet
aneinander vorbei.
Dies liegt besonders im Verhltnis von Rechtswissenschaft und Soziologie nahe. Fr die Rechtswissenschaft geht es um eine normative Ordnung. Fr die Soziologie je nach Theorierichtung um
soziales Verhalten, Institutionen, soziale Systeme - also um etwas,
was so ist, wie es ist, und allenfalls zur Prognose und Erklrung
herausfordert. Man kann es bei der Feststellung dieses Unterschiedes belassen, mu dann allerdings einrumen, da die Disziplinen
und innerhalb der Disziplinen die verschiedenen Theorien einander
nichts zu sagen haben. Die allgemeine Theorie des Rechts oder das,
was in Einfhrungskursen gelehrt wird, hat sich dann darauf zu
beschrnken, vorzustellen, was es so alles gibt: Rechtsrealismus
amerikanischer und skandinavischer Variante und analytische
Rechtstheorie, soziologische Jurisprudenz und Rechtssoziologie,
vernunftrechtliche und rechtspositivistische Strmungen mit den
jeweils unterschiedlichen Abschwchungen ihrer Sptphasen, konomische Analyse des Rechts und Systemtheorie. Auf einen gemeinsamen Nenner mu man verzichten. Oder?
Vielleicht kann man sich heute aber mindestens darauf verstndigen, da es sich nicht lohnt, ber die Natur oder das Wesen des
H
13
Kann man die Bemhung um einen interdisziplinr und international gemeinsamen Ausgangspunkt so weit treiben, wird auch der
Auswahlbereich fr Theorien klein, die hierzu etwas sagen knnen.
Wir knnen dies in vier Punkten zusammenfassen:
( i ) Die Theorie, die beschreibt, wie etwas seine eigenen Grenzen
im Verhltnis zur Umwelt erzeugt, ist heute die Systemtheorie.
Es mag durchaus andere Theorieangebote geben, aber wenn es
sie bereits gibt, halten sie sich gut versteckt. Und deshalb kann
auch (noch) nicht entschieden werden, ob ihnen mit Vernde15
13 Einen neueren berblick ber solche Versuche mit dem Ergebnis, ihr Resultat
bleibe ambivalent, findet man bei Manuel Atienza, Introduccin al Derecho, Barcelona 1985, S. 5 ff.
14 Andr-Jean Arnaud, Droit et socit: Un carrefour interdisciplinaire, Revue interdisciplinaire d'tudes juridiques 10 (1988), S. 7-32 (8). Vgl. auch ders., Essai d'une
definition stipulative du droit, Droits 10 (1989), S. 11-14.
15 Immerhin: Eine ber die Systemtheorie weit hinausgreifende kybernetische Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung versucht Ranulph Glanvilie, Objekte, Berlin
1988. Und berhaupt melden sich unter dem Kennwort der Beobachter heute
Theorieanstze, die nicht mehr unbedingt auf systemtheoretische Ausformulierungen angewiesen zu sein scheinen. Vgl. z. B. Niklas Luhmann et al., Beobachter:
Konvergenz der Erkenntnistheorien?, Mnchen 1990. Auch an die Spieltheorie
knnte man denken; aber ob diese sich dauerhaft von einer konstruktivistisch ansetzenden Systemtheorie unterscheiden kann, ist derzeit nicht sicher abzusehen.
Vgl. hierzu das Heft 17-18 (1991) der Zeitschrift Droit et Socit; ferner Francois
Ost, Pour une thorie ludique du droit, Droit et Socit 20-21 (1992), S. 89-98,
sowie Michel van de Kerchove / Francois Ost, Le droit ou les paradoxes du jeu,
Paris 1992 mit Hinweisen auf die neuere Diskussion.
15
(3) Uber den Begriff des beobachtenden Systems erschliet die Systemtheorie einen Zugang zu einer sehr allgemein gehaltenen
konstruktivistischen Epistemologie. Damit kann man nicht nur
auf Kognition spezialisierte Systeme erfassen , sondern Systeme jeder Art, die selbstproduzierte Beobachtungen einsetzen, um ihr Verhltnis zur Umwelt zu regeln, zu der sie keinen
direkten operativen Zugang haben - also auch Systeme wie Religion, Kunst, Wirtschaft, Politik - und eben Recht. Die
Zusammenfhrung von derart unterschiedlichen, polykontexturalen Konstruktionen mu dann ber eine Theprie der Beobachtung zweiter Ordnung geleistet werden.
17
18
(4) Hier angelangt, kann man nun zwei Mglichkeiten sehen und
entsprechend eine juristische und eine soziologische Beobachtungsweise des Rechts (immer: des Rechts als eines sich selbst
beobachtenden Systems) unterscheiden. Der Soziologe beobachtet das Recht von auen, der Jurist beobachtet es von
16 Diese Formulierung bei Humberto R. Maturana, Biologie der Kognition, zit. nach
ders., Erkennen: Die Organisation und Verkrperung von Wirklichkeif. Ausgewhlte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig 1982, S. 34.
17 Hierzu Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990.
18 Zu den Mglichkeiten, die interdisziplinre Orientierung der Rechtstheorie in einer
konstruktivistischen Epistemologie abzusichern, siehe auch Andr-Jean Arnaud,
Droit et Socit: du constat la construction d'un champs commun, Droit et Socit 20-21 ('992), S. 17-37. Vgl. ferner Gunther Teubner, How the Law Thinks:
Towards a Constructivist Epistemology of Law, Law and Society Review 23 (1989),
S-727-7S716
21
17
II
Diese berlegungen zwingen uns zu der Anerkennung, da das,
was als Rechtstheorie vorliegt, durchweg im Zusammenhang mit
Selbstbeschreibungen des Rechtssystems entstanden ist. Es geht um
theoretische Bemhungen, die - bei aller Bereitschaft zur Kritik das Recht zunchst einmal respektieren und sich zu entsprechenden
normativen Bindungen bekennen. Das gilt sowohl fr juristische
Theorien im engeren Sinne, die aus der Fallpraxis erwachsen und
deren Regeln auf verallgemeinerbare Gesichtspunkte beziehen,
etwa auf das Prinzip des Vertrauensschutzes, als auch fr Reflexionstheorien des Rechtssystems, die die Eigenwertproduktion des
Rechts und den Sinn der Autonomie des Rechtssystems darstellen.
Formuliert man solche sich aus der Praxis quasi naturwchsig ergebenden Tendenzen als normatives Gebot, so laufen sie auf die
Forderung konsistenten EntScheidens hinaus. Das kann als Abwehr
von Aueneinflssen formuliert werden (ohne Ansehen der Person) oder auch als rechtsinterne Norm der Gerechtigkeit, der
gleichen Behandlung gleicher Flle. Offensichtlich erfordern solche
Kriterien weitere Spezifikationen, das heit weitere Unterscheidungen, etwa die zwischen relevanten und irrelevanten Personmerkmalen oder die zwischen gleichen und ungleichen Fllen. Daran wird
mit Hilfe von Begriffen und Theorien gearbeitet, etwa zur Fixie18
schaftlicher Autonomie. Der Durchbruch scheint im 12. Jahrhundert erfolgt zu sein. Seit dem Mittelalter ist diese Entwicklung mit
groen Erfolgen, aber auch mit entsprechenden Sicherheitsverlusten vorangetrieben worden - mit Sicherheitsverlusten, auf die dann
die Kautelarjurisprudenz durch Vorwegnahme von Entscheidungsproblemen reagieren mute.
22
Das alles kann uns am Beginn unserer Untersuchungen nur marginal beschftigen. Wir mssen darauf zurckkommen. Im Augenblick interessiert nur ein summarischer Blick auf die Folgen dieser
Art von Theorieentwicklung. Sie hat zahlreiche Rechtstheorien,
aber keine Theorie des Rechts hervorgebracht. Sie hat zur Abbildung ihrer Kasuistik in problemspezifischen Theorien gefhrt,
nicht aber zu einem angemessenen Verstndnis des Rechts als einer
sich selbst erzeugenden Einheit. Das Ergebnis war eine Theorienvielfalt, nicht aber eine Selbstdarstellung des Rechts als Recht. Den
Konsistenzbedrfnissen (Redundanzbedrfnissen) der Praxis
konnte auf diese Weise Rechnung getragen werden, aber die Grundlagen muten dogmatisch angeboten bzw. vorausgesetzt werden,
das heit: mit Hilfe von unanalysierten' Abstraktionen.
Diese Feststellungen sind nicht als Kritik der bisherigen Theorieentwicklung und ihres Rationalittsniveaus gemeint. Im Gegenteil:
Man knnte heute eher ein Defizit von Informationsverarbeitung in
diesem professionell-rationalen Sinne feststellen. Es geht uns also
nicht um eine Umlagerung von Rationalittsinteressen. Wir beschrnken uns vielmehr auf die Frage, wie man das Recht als
Einheit begreifen kann; und wir werden die Mittel der Systemtheorie einsetzen, um zu untersuchen, auf was man sich einlt, wenn
man die Einheit des Rechts als System definiert.
Natrlich ist dies keine neue Frage. Es gibt eine Reihe von typischen Behandlungsweisen, die aber - und das sollte uns eine Warnung sein - ohne nennenswerten Einflu auf die Rechtspraxis selbst
23
22 Vgl. Harold J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, dt. bers. Frankfurt 1991, S. 252 t. mit Blick auf die Methodisierung der
Beweisfhrung und die Einfhrung von (zu widerlegenden) Vermutungen. Siehe
zum Paradoxieproblem in diesem Zusammenhang auch Roberta Kevelson, Peirce,
Paradox, Praxis: The Image, the Conflict, and the Law, Berlin 1990, S. 35ff.
23 Siehe hierzu Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart
'974-
20
24
geblieben sind. Die vielleicht einflureichste, jedenfalls traditionsreichste Konstruktion der Einheit des Rechts hatte mit der Vorstellung einer Hierarchie von Rechtsquellen oder Rechtstypen gearbeitet: ewiges Recht, Naturrecht, positives Recht. Sie konnte sich auf
ein stratifiziertes Gesellschaftssystem und eine entsprechend hierarchisierte Weltarchitektur sttzen, setzte aber die Notwendigkeit
einer hierarchischen Ordnung dogmatisch und verstellt sich damit
den Blick auf die Paradoxie der Einheit einer Vielfalt. Die Einheit
kann dann nur die Rangdifferenz selbst sein.
Im 18. Jahrhundert wird angesichts des Zerfalls der Stndeordnung
und der zunehmenden Verzeitlichung und Historisierung von
Strukturbeschreibungen
die einheitsstiftende Differenz von
Rangordnung auf Fortschritt umgestellt. Das Recht ist, nach Hume,
Rousseau, Linguet, Kant und anderen, die historische Zivilisierung
der Gewalt. Bereits Darwin wird jedoch kategorisch ablehnen, von
hher und niedriger auch nur zu reden - und damit die Fortschrittsidee sabotieren. Damit ist auch die Geistmetaphysik Hegels
ihrer Tragfhigkeit beraubt.
25
1976.
16 Siehe dazu aus der Sicht des angelschsischen Rechts W.T.Murphy, The Oldest
Social Science? The Epistemic Properties of the Common Law Tradition, TheMor
21
bleme stieen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zieht man sich
folglich auf die Geltung von Werten zurck, die niemand bestreitet,
auch wenn (oder vielleicht gerade weil) daraus fr konkrete Flle
nichts folgt. Die Leitdifferenz lautet jetzt: Sein und Geltung, und
fr die Ermittlung des Geltenden werden nicht mehr inhaltliche,
sondern nur noch prozedurale Vorgaben akzeptiert. Damit scheint
es mglich zu sein, die Einheit des Rechts in Argumentationsregeln
oder schlichter: in einen auszuhandelnden Interessenausgleich zu
verlegen. Bemerkenswert ist, da all diesen Versuchen eine eigentmliche Rechtsferne anhaftet. Das ist verstndlich und vermutlich
nicht zu ndern. Denn ber die Einheit des Rechts wird im Recht ja
nicht entschieden, sie wird nur dadurch produziert und reproduziert, da ber Rechtsfragen entschieden wird. Erstmals scheint die
sogenannte konomische Analyse des Rechts diese Diskrepanz von
jurisprudentiell brauchbaren Problemtheorien und Einheitsbeschreibungen zu durchbrechen. Sie bietet einen Nutzenkalkl
an, der in einem sehr spezifischen Sinne rational ist und zugleich
hinreichend einfach zu handhaben. Das hat, vor allem in den USA,
zu einer berraschenden Annherung von Theorie und Jurisprudenz gefhrt freilich unter Inkaufnahme von Vereinfachungen, die
eine Anwendung auf verschiedenartigsten Praxisfeldern erst ermglichen, aber in ihren Auswirkungen auf die Gerichtspraxis selbst
begrenzt geblieben sind. Nach langen Erfahrungen mit einem rein
individualistisch verstandenen Utilitarismus, mit den Problemen
der Aggregation individueller zu sozialen Prferenzen, mit der Unterscheidung von Handlungsnutzen und Regelnutzen sind hinreichende Kautelen eingebaut. Die These, die die bekannten Aggregationsprobleme berspringt, lautet, da man gerade auf Grund eines
individualistischen Ausgangspunktes die fr das Gemeinwohl gnstigere bzw. ungnstigere Lsung (nicht natrlich: das Gemeinwohl) ausrechnen knne. Dennoch bleiben viele Probleme unge27
28
27 Mit dieser groben Datierung soll nicht bestritten werden, da auch der Fortschrittsglaube und mit ihm das Schema Gewalt/Zivilisation noch Anhnger findet. Siehe
zum Beispiel Walter Bagehot, Physics and Politics: Thoughts on the Application of
the Principles of Natural Selection and Inheritance to Political Society, (1869),
zit. nach Works Bd. IV, Hartford 1895, S. 427-592, der die Entwicklung auf ein age
of discussion zulaufen sieht.
28 Inzwischen lehrbuchreif, auch in Deutschland. Siehe Hans-Bernd Schfer / Claus
Ott, Lehrbuch der konomischen Analyse des Zivilrechts, Berlin 1986.
22
lst. Das vielleicht wichtigste ist: da man mit der Zukunft nicht
rechnen kann. Es darf also fr die Rechtsgeltung des Ergebnisses
solcher Nutzenkalkle keinen Unterschied machen, ob sie sich spter als richtig oder als falsch erweisen. Wie alle Versuche, die Einheit
des Rechts in irgendeiner Form (und Form heit: magebende Unterscheidung) in das Recht einzufhren, beruht auch dieser auf der
Auflsung (Entfaltung, Invisibilisierung, Zivilisierung, Asymmetrisierung) einer Paradoxie. Im brigen ist die letzte Indifferenz
gegen richtig oder falsch in bezug auf zuknftige Bewhrung von
Erwartungen ein typisches Merkmal riskanten Handelns. Die konomische Analyse des Rechts rechtfertigt mithin Rechtsentscheidungen als Risikobernahmen.
Diese berlegungen ermutigen uns, ohne in eine detaillierte Polemik einzutreten , nach anderen Mglichkeiten Ausschau zu halten.
Als Leitdifferenz dient uns die Unterscheidung von System und
Umweh, wie sie allen neueren Varianten der Systemtheorie zugrunde liegt. Das hat, wie leicht zu sehen, den wichtigen Vorteil,
da die Gesellschaft (mitsamt ihrer Umwelt) als Umwelt des
Rechtssystems mit in den Blick kommt. Die konomische Analyse
des Rechts kann die Gesellschaft nur als allgemeines System eines,
wie indirekt immer vermittelten, Vorteilsausgleichs in Rechnung
stellen. Die Systemtheorie kann eine sehr viel reichhaltigere, konkretere Gesellschaftsbeschreibung ausarbeiten, und dies nicht zuletzt in ihrer Anwendung auf andere Funktionssysteme der Gesellschaft. Die innergesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems
erscheint dann als hochkomplex mit der Konsequenz, da das
Rechtssystem dadurch auf sich selber verwiesen wird: auf eigene
Autonomie, selbstbestimmte Grenzen, einen eigenen Code und
hochselektive Filter, deren Ausweitung das System gefhrden oder
sogar seiner Strukturdeterminiertheit berauben knnte.
29
30
29 Vgl. etwa Karl-Heinz Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic analysis of
law und amproperty rights approach, Juristen-Zeitung 41 (1986), S. 817-824; ders-,
Nochmals: Kritik an der konomischen Analyse des Rechts, Juristen-Zeitung 43
(1988), S. 223-228. Auch in den amerikanischen Law Schools ist man entsprechend
scharf und unvershnlich gespalten. Siehe auf der Gegenseite etwa Bruce A. Ackerman, Reconstructing American Law, Cambridge Mass. 1984.
30 Das bedeutet im brigen, da Zeitverzgerungen in Anschlag gebracht werden
mssen, wodurch diese Theorie sich selbst an ihrem empfindlichsten Punkte trifft:
an der Unmglichkeit der Berechnung der Zukunft.
23
Wie die konomische Analyse des Rechts hat auch die systemtheoretische ihre Nachteile. Im Vergleich zu den zuvor skizzierten
Rechtstheorien sind beide neuartig; aber in einem ganz verschiedenen Sinn. Der Nachteil der Systemtheorie (wenn es denn ein
Nachteil ist) liegt in ihrer hohen Eigenkomplexitt und der entsprechenden Abstraktheit der Begriffe. Ihr gedanklicher Einzugsbereich ist interdisziplinr und mit den gewohnten Mitteln -wissenschaftlicher Disziplinen (und seien es Grodisziplinen wie Physik,
Biologie, Psychologie, Soziologie) nur ausschnitthaft zu erfassen.
Kein Jurist wird sich hier angemessen informieren, geschweige
denn angesichts rapider Entwicklungen auf dem laufenden halten
knnen. Anwendungen sollen damit nicht ausgeschlossen sein, aber
sie werden sich mehr sporadisch und punktuell, eher zufllig und
mehr in der Form von Irritationen als in der Form logischer
Schlsse ergeben. Wir verzichten daher vorab auf die Vorstellung
einer praxisleitenden Theorie und beschreiben statt dessen das
Rechtssystem als ein System, das sich selbst beobachtet und beschreibt, also eigene Theorien entwickelt und dabei konstruktivistisch, das heit ohne jeden Versuch der Abbildung von Auenwelt im System vorgehen mu.
Auerdem arbeitet die Systemtheorie selbstverstndlich mit ihrer
eigenen Leitunterscheidung, der Unterscheidung von System und
Umwelt. Sie mu daher immer die Systemreferenz angeben, von
der aus gesehen etwas anderes Umwelt ist. Zieht man die Selbstbeschreibungsfhigkeit von Systemen in Betracht, fhrt das zwangslufig zur Unterscheidung von Selbstbeschreibungen und Fremdbeschreibungen des Rechtssystems. Man kann unter dem Kennwort Rechtstheorie zwar eine Integration beider Perspektiven
postulieren, mu aber gerade von der Systemtheorie aus mit einem
Wiederauseinanderbrechen rechnen, sobald man die Theorieleistungen genauer spezifiziert.
Der Sinn dieser Art systemtheoretischer Beschreibung liegt vor allem in der Herstellung eines Zusammenhangs von Rechtstheorie
und Gesellschaftstheorie, also in einer gesellschaftstheoretischen
Reflexion des Rechts. Die europische Gesellschaft hatte seit dem
Mittelalter eine im internationalen und interkulturellen Vergleich
ungewhnliche Dichte und Anwendungsintensitt rechtlicher Regulierungen entwickelt, bis hin zur Definition der Gesellschaft
selbst als Rechtsinstitut. Man denke unter anderem daran, da be24
32
25
Die systemtheoretische Analyse ist heute, wenn weit genug begriffen, der einzig ausgearbeitete Kandidat. Sie erfordert zunchst,
da man die Erklrung aus einem Prinzip (Gerechtigkeit, Nutzenkalkl, Gewalt) durch die Erklrung aus einer Unterscheidung
ersetzt, also hier der Unterscheidung von System und Umwelt.
Mehr und mehr zeigt sich aber, da dies keineswegs ausreicht, sondern eine ganze Galaxie von Unterscheidungen erforderlich macht,
die ausreichend aufeinander abgestimmt werden mssen; neben der
Unterscheidung von System und Umwelt vor allem die evolutionstheoretische Unterscheidung von Variation/Selektion/Restabilisierung, die kommunikationstheoretische Unterscheidung von Information/Mitteilung/Verstehen und, sehr viel fundamentaler, die
Unterscheidung von Operation und Beobachtung. Wir werden den
sich daraus ergebenden Begriffsapparat nur sehr selektiv einsetzen
und ihn bei entsprechender Gelegenheit vorstellen. Im Moment
kommt es nur darauf an, auf die Theorietypik hinzuweisen. Eine
komplexe Gesellschaft kann, auch wenn man dabei auf entsprechende Komplexitt (requisite variety) verzichten mu, nur durch
eine komplexe Theorie angemessen beschrieben werden. Und auch
ein Urteil ber das Recht der Gesellschaft ist nicht anders zu gewinnen.
33
III
Aus allgemeinen erkenntnistheoretischen Grnden gehen wir davon aus, da jede Beobachtung und Beschreibung eine Unterscheidung zugrunde legen mu. Um etwas bezeichnen (intendieren,
thematisieren) zu knnen, mu sie es erst einmal unterscheiden
knnen. Unterscheidet sie etwas von allem anderen, bezeichnet sie
Objekte. Unterscheidet sie dagegen etwas von bestimmten (und
nicht von anderen) Gegenbegriffen, bezeichnet sie Begriffe. Zur Be34
33 Betont sei der historische, andere Mglichkeiten keineswegs ausschlieende Charakter dieser Feststellung.
34 Vgl. fr ein diesen Gedanken entfaltendes Kalkl George Spencer Brown, Laws of
Form, zit. nach dem Neudruck New York 1979. Zum Implikationszusammenhang
von Unterscheiden und Selbstreferenz vgl. auch Louis Kauffman, Self-reference
and recursive forms, Journal of Social and Biological Structures 10 (1987), S. 53 bis
72-
26
36
denken verstanden werden. Das Generalisierungspostulat der Transzendentalphilosophie fhrt diese Annahme auf ein Prinzip
zurck.
Nebenher luft die temporale Unterscheidung, mit der die Aufklrung sich zur Promotion des Fortschritts berechtigt, die Unterscheidung von Gewalt und Zivilisation. Diese Unterscheidung hat
in ihrem Ausgangspunkt Gewalt (vis, nicht potestas) bereits einen rechtsspezifischen Ansatz. Entsprechend wird, seit Thomasius,
Naturrecht nur noch als erzwingbares Recht verstanden und ber
die Auen/Innen-Unterscheidung gegen Moral abgegrenzt. In dieser Form tendiert die Unterscheidung Gewalt/Zivilisation bereits
dazu, nur noch positives Recht anzuerkennen. Aber der (im
18. Jahrhundert neu geschaffene) Begriff der Zivilisation bezieht
noch die gesamte gesellschaftliche Entwicklung (auch Erziehung,
auch die Vorteile der Arbeitsteilung) ein und macht damit die
Rechtstheorie abhngig von der Voraussetzung eines zivilisatorischen Fortschritts. Gegenber dem lteren Naturrecht liegt in der
Einbeziehung von Geschichte und in der Tendenz zur Reduktion
auf (wie immer argumentativ kontrolliertes, vernnftig durchdachtes) positives Recht jedoch eine deutliche Anpassung an die Bedingungen der modernen Gesellschaft, die sich im 18. Jahrhundert
abzuzeichnen beginnen.
Die Unterscheidung Gewalt/Zivilisation wird bereits im 18. Jahrhundert, zunchst erfolglos, angegriffen. Sie zerfllt - nicht unbedingt als Unterscheidung, wohl aber als ausreichende Grundlagentheorie des Rechts - mit dem Verlust des Fortschrittsvertrauens und
wird ersetzt durch die Unterscheidung von Sein und (Wert-)Geltung. Mit Hilfe dieser Unterscheidung kann das Recht sich von den
Fakten des gesellschaftlichen Lebens absondern, eine eigene geistige Existenz behaupten, die Autonomie eines besonderen Kulturbereichs in Anspruch nehmen. Innerhalb der Rechtstheorie
fhrt das dann zu Schulstreitigkeiten, etwa zu der Kontroverse Be37
38
28
griffsjurisprudenz/Interessenjurisprudenz, und zur weiteren Unterscheidung von Legalitt und Legitimitt, letztere durch Bezug
auf Werte definiert.
Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, da die frhe Rechtssoziologie durch die Unterscheidung von Normen und Fakten in
Gang und zugleich auf Distanz gebracht wurde. Fr den juristischen Praktiker war es immer selbstverstndlich gewesen, da er
auch ber Fakten und Faktenzusammenhnge zu urteilen habe, und
dies um so mehr, je mehr ihm social engineering zugemutet
wurde. Insofern fhrte die Reduktion der Rechtswissenschaft auf
eine Normwissenschaft zum Ergnzungspostulat einer Rechtssoziologie als Hilfswissenschaft fr die Rechtssetzung und Rechtsanwendung - als Rechtstatsachenforschung, wie manche heute
noch sagen. In der Soziologie selbst hat dies nicht viel Resonanz
gefunden. Ihr ging es bei der Durchsetzung des Unabhngigkeitsanspruchs ihrer Disziplin eher darum, die Gesellschaft selbst als
Norm generierendes, auf normative Orientierungen (Religion, Moral, Recht) angewiesenes Faktum darzustellen. Jedenfalls ist es
soziologisch (also auch: rechtssoziologisch) ganz unmglich, den
Gegenstandsbereich der Soziologie mit Hilfe der Unterscheidung
von Normen und Fakten zu bezeichnen.
39
40
41
601-614;
34 (1912),
9 (1988),
S.
190-201.
41 Gewisse Zusammenhnge mit der Rechtstheorie wurden mit Hilfe des (gegenwrtig gerade wieder aufgewrmten) Begriffs der Institution hergestellt. Siehe vor
allem Santi Romano, L'ordinamento giuridico, Neudruck der 2. A u f l . Firenze
1962; Maurice Hauriou, D i e Theorie der Institution und zwei andere Aufstze, dt.
bers. (Hrsg. von Roman Schnur), Berlin 1965. Sie haben den Rechtsquellenbegriff
soziologisiert, haben aber juristisch nicht sehr weit gefhrt. Z u r aktuellen Diskussion vgl. Neil M a c C o r m i c k / O t a Weinberger, An Institutional T h e o r y of Law,
Dordrecht 1986.
29
IV
Im Unterschied zu jurisprudentiellen, rechtsphilosophischen oder
sonstigen Rechtstheorien, die auf Gebrauch im Rechtssystem selbst
abzielen oder jedenfalls den dort einleuchtenden Sinn aufnehmen
und verarbeiten wollen, ist der Adressat der Rechtssoziologie die
Wissenschaft selbst und nicht das Rechtssystem. Bei aller Nhe zu
rechtstheoretischen Formulierungen (denn schlielich handelt es
sich immer um das Recht) mu diese Differenz im Auge behalten
werden. Das heit vor allem, da die Analysen der folgenden Kapitel normative Implikate strikt vermeiden. Die Aussagen bleiben voll
und ganz auf der Ebene dessen, was die Soziologie als Fakten feststellen kann. Alle Begriffe haben in diesem Sinne eine empirische
Referenz. Das heit natrlich nicht, da wir uns auf Aussagen beschrnken, die durch empirische Forschungen im Sinne des blichen Instrumentariums abgedeckt sind oder abgedeckt werden
knnen. Dazu ist die Reichweite der anerkannten Methoden zu
gering.
42
31
32
4 4
als
Unterscheidung!
- ohne
Belang.
Oder
anders
A n d e r s als d i e b l i c h e R e c h t s s o z i o l o g i e , d i e i h r e Z u g e h r i g k e i t z u r
Soziologie v o r allem an der Verwendung empirischer Methoden
ausweist u n d i m b r i g e n i n d e r S o z i o l o g i e gebrauchte T h e o r i e n auf
das R e c h t b e r t r g t , gehen w i r d a v o n a u s , d a das R e c h t s s y s t e m ein
45
verstehen sich daher auch, ja sogar in erster Linie, als ein Beitrag zur
Gesellschaftstheorie. Ebenfalls im Kontrast zu blichen sozialwissenschaftlichen Analysen des Rechts interessiert uns aber nicht
primr, welche Einflsse die Gesellschaft auf das Recht ausbt.
Eine solche im Kontext von L a w and Society-Forschungen bliche Fragestellung setzt ja voraus, da das Recht bereits konstituiert
ist als etwas, was gesellschaftlichen Einflssen mehr oder weniger
unterliegen kann. Die Vorfrage, wie Recht in der Gesellschaft berhaupt mglich ist, wird dabei weder gestellt noch beantwortet.
Das folgende Kapitel dient der Ausarbeitung dieser Fragestellung.
Dabei setzen w i r voraus, da die Einheit eines Systems nur durch
das System selbst und nicht durch Faktoren in dessen Umwelt produziert und reproduziert werden kann. Das gilt sowohl fr die
Gesellschaft selbst als auch fr ihr Rechtssystem. Wir legen den
folgenden Analysen zwar durchgehend und konsequent die S y stemreferenz Rechtssystem zugrunde, mssen aber vorab klarstellen,
da
das
Veriiltnis
dieses
Systems
zum
umfassenden
also
Operationen
der
Gesellschaft.
Das
Rechtssystem
vollzieht Gesellschaft, indem es sich in der Gesellschaft ausdifferenziert. Es legt, anders gesagt, mit den eigenen Operationen (die
zugleich gesellschaftliche Operationen sind) einen eigenen Schnitt
in die Gesellschaft, und erst dadurch entsteht in der Gesellschaft
eine gesellschaftsinterne U m w e l t des Rechts, so da man daraufhin
fragen kann, wie Einflsse dieser Umwelt auf das Recht ausgebt
werden knnen, ohne da dies dazu fhrte, da Recht und Gesellschaft nicht mehr zu unterscheiden sind.
Die darin liegende Problematik der zweideutigen Beziehung von
Recht und Gesellschaft wird klar, wenn man von einem strikt operativen Ansatz ausgeht. Das heit: Die Einheit eines Systems (und
das schliet Strukturen und Grenzen des Systems ein) wird durch
die Operationen des Systems produziert und reproduziert. Wir
werden auch von operativer Geschlossenheit des Systems spre-
4 6
D a s erlaubt e s z u sagen, d a das R e c h t s s y s t e m i n s o f e r n ein T e i l s y stem der G e s e l l s c h a f t ist, als es die O p e r a t i o n s w e i s e d e r K o m m u n i k a t i o n b e n u t z t , also n i c h t s anderes t u n k a n n , als i m M e d i u m v o n
S i n n mittels K o m m u n i k a t i o n F o r m e n (Stze) z u b i l d e n . D a dies
mglich und im
L a u f e einer langen s o z i o k u l t u r e l l e n E v o l u t i o n
4 7
46
Siehe auch Niklas Luhmann / Raffaele De Giorgi, Teoria della societ, Milano
1992, und fr soziale Systeme im allgemeinen Niklas Luhmann, Soziale Systeme:
Grundri einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984.
47 Proteste gegen diese Ausgrenzung, nicht so sehr der Huser, wohl aber der Menschen, sind Legion. Siehe fr den Bereich der Rechtssozioiogie etwa Walter Kargl,
Kommunikation kommuniziert? Kritik des rechtssoziologischen Autopoiesebegriffs, Rechtstheorie
21 (1990),
S.
352-373.
35
z w a r a u c h i n A n w e n d u n g auf das R e c h t .
4 8
Was Z e i c h e n b z w . Spra-
50
E s ist j a
A n a l y s e erffnet
fr die
Kommunikationen
entbehrlich.
Aber
die
Kommunikation
S.2$f.
49 Bis hin etwa zu Jacques Derrida, Le Supplement de copule, in: Jacques Derrida,
Marges de la philosophie, Paris
1972,
S.
209-246,
Weise dekonstruiert.
50 Siehe fr Linguistik, Sprachphilosophie usw. die Vorlagen eines Symposiums Le
langage du droit, publiziert in den Archives de philosophie du droit
36
19 (1974).
37
Kapitel 2
39438
64 (1973),
S.
363-
Kontext
der
naturrechtlichen
Tradition
war z w a r positives
arbitrary.
39
Wie immer man diese bisherigen Versuche, das Problem der Kontextierung der Positivitt des Rechts zu behandeln, beurteilen mag,
sie lassen es offen, ob man nicht besser fhrt, wenn man das mit
Positivitt unzulnglich bezeichnete Problem begrifflich anders
formuliert. Wir wollen das im folgenden mit Hilfe systemtheoretischer Mittel versuchen. Unter System verstehen wir dabei nicht,
wie manche Juristen, einen Zusammenhang aufeinander abgestimmter Regeln , sondern einen Zusammenhang von faktisch voll6
4 Offenbar war diese Version des Problems motiviert durch die versptete Rezeption
des westeuropischen Natur-/Vernunftrechts in Deutschland, und sie brachte dabei
auch das Naturrecht auf die Seite des auf externer Sanktionsgewalt beruhenden
Rechts, whrend sich andererseits die Ethik spezialisierte auf eine Theorie der Begrndung moralischer Urteile. Vgl. etwa Fritz von Hippel, Z u m Aufbau und
Sinnwandel unseres Privatrechts, Tbingen 1957, S. 42ff.; Werner Schneiders, N a turrecht und Liebesethik: Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick
auf Christian Thomasius, Hildesheim 1971. Und nur, wenn das Recht in diesem
Sinne hart gemacht wird, kann es als Garant subjektiver Freiheit erscheinen unter
Einschlu der Freiheit, die eigene Moral zu whlen, soweit nicht das Recht selbst
entgegensteht.
5 Siehe fr die aktuelle Diskussion etwa David Lyons, Ethics and the Rule of Law,
Cambridge Engl. 1984; Otfried Hffe, Kategorische Rechtsprinzipien: Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt 1990. Auswege ohne groen begrifflichen Aufwand
bietet die Zuspitzung des Problems auf spezifische Rechtsfragen, etwa Verfassungsinterpretation und Menschenrechte. Aber darin steckt dann auch der Verzicht
darauf, die Frage der Einheit des Rechts im Hinblick auf Moral zu stellen.
6 Siehe dazu (aber gegen die Beschrnkung auf die sprachfrmig gegebene Gestalt der
Regeln unter Absehen von den Auswirkungen auf das Verhalten) Werner Krawietz,
Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984. Dabei ist auch zu bedenken, da das Recht
zahllose Texte enthlt, die rein sprachlich weder als Regeln noch als Sollaussagen
erscheinen - etwa: pater est quem nuptiae demonstrant. (Im brigen zugleich ein
Beispiel fr die Geschlossenheit des Rechtssystems, denn selbstverstndlich ist hier
40
zogenen Operationen, die als soziale Operationen Kommunikationen sein mssen, was immer sie dann noch zustzlich als
Rechtskommunikationen auszeichnet. Das aber heit: die Ausgangsunterscheidung nicht in einer Normen- oder Wertetypologie
zu suchen, sondern in der Unterscheidung von System und Umwelt.
Der bergang zu einer System/Umwelt-Theorie erfordert eine
zweite, vorab zu klrende Unterscheidung. blicherweise beziehen
Rechtstheorien sich auf Strukturen (Regeln, Normen, Texte), die als
Recht klassifiziert werden. Das gilt auch und besonders fr Theorien des positiven Rechts, es gilt zum Beispiel explizit fr die rules
of recognition in Harts Rechtstheorie. Die Frage, was Recht ist
und was nicht, stellt sich damit nur im Hinblick auf die Spezifik
bestimmter Regeln. Will man dagegen Anregungen folgen, die in
der neueren Systemtheorie ausgebrtet worden sind, mu man von
Strukturen auf Operationen umstellen. Die Ausgangsfrage lautet
dann, wie Operationen die Differenz von System und Umwelt erzeugen und, da dies Rekursivitt erfordert, wie Operationen erkennen, welche Operationen dazugehren und welche nicht. Strukturen sind zur jeweils hochselektiven Verknpfung von Operationen
erforderlich, aber das Recht hat seine Realitt nicht in irgendeiner
stabilen Idealitt, sondern ausschlielich in den Operationen, die
den rechtsspezifischen Sinn produzieren und reproduzieren. Zustzlich gehen wir davon aus, da dies immer Operationen des
Rechtssystems selbst sein mssen (die natrlich auch von auen
beobachtet werden knnen). Das und nichts anderes besagt die
These operativer Schlieung. Man knnte, wenn man die erkenntnistheoretische Terminologie adaptieren will, auch von operativem
Konstruktivismus sprechen.
7
nicht die Rede von dem Erzeuger des Kindes, den man normalerweise als den Vater
bezeichnen wrde.)
7 Siehe H . L . A . Hart, T h e C o n c e p t of Law, Oxford 1961. Wenngleich dieser Bezug
klar ist, kommt auch Hart nicht umhin, fr die Handhabung dieser Regeln auf so
etwas wie institutionelle Praktiken zu verweisen.
8 Das kann auch fr die Rechtstheorie nicht ganz berraschend kommen. Melvin
A r o n Eisenberg, T h e Nature of C o m m o n L a w , Cambridge Mass. 1988 unterscheidet
zum Beispiel text-based theories und generative theories und optiert (gegen Hart
und Raz) fr die letztgenannte Version.
41
II
Was mit System, im Unterschied zu Umwelt, gemeint sein kann, ist
in der systemtheoretischen Forschung umstritten. Will man die
Falle des Entropiegesetzes der Thermodynamik vermeiden, mssen
alle Aussagen der Systemtheorie als Aussagen ber die Differenz
von System und Umwelt formuliert werden oder jedenfalls von der
Form dieser Unterscheidung ausgehen. Hierfr hatte die ltere Systemtheorie zunchst die Form offene Systeme vorgeschlagen.
Angriffspunkt dieser These war das Entropiegesetz mit der Einsicht, da Systeme, die gegen ihre Umwelt abgeschlossen sind, sich
allmhlich der Umwelt angleichen, also auflsen, weil sie Energie
verlieren und thermodynamisch irreversibel dem Wrmetod ausgesetzt sind. Fr den Aufbau von Komplexitt, fr die Herstellung
und Erhaltung von Negentropie, sei daher ein kontinuierlicher
Austausch mit der Umwelt erforderlich - sei es von Energie, sei es
von Information. Etwas formaler beschrieben, transformieren diese
Systeme Inputs in Outputs nach Magabe einer Transformationsfunktion, die es ihnen ermglicht, einen Gewinn fr die eigene
Selbsterhaltung auf einem durch Evolution erreichten Komplexittsniveau einzubehalten.
Dem soll durch die Theorie operativ geschlossener Systeme nicht
widersprochen werden, wenngleich diese Theorie in der Begrifflichkeit (zum Beispiel was Information betrifft) oft andere Akzente setzt. Schon die Input/Output-Modelle hatten zugelassen,
da ein System seinen eigenen Output als Input verwenden kann.
9
10
9 Francisco Vrela geht so weit, input-type descriptions und closure-type descriptions als zwei verschiedene complementary modes of descriptions nebeneinanderzustellen. So in: Hans Ulrich/Gilbert J.B. Probst (Hrsg.), Self-Organization and
Management of Social Systems: Insights, Promises, Doubts, and Questions, Berlin
1984,
S.
25-32.
1983, S. 147-164.
42
41 (1968),
S.
398-428.
11
Para-
Gehirns
gezeigt.
E i n e m e h r theoretische B e g r n d u n g
1 2
und
Vgl. auch, in der Art eines Einfhrungstextes, ders., An Introduction to the Legal
System, Homewood III. 1968, ferner Charles D. Raab, Suggestions for a Cybernetic
Approach to Sociological Jurisprudence, Journal of Legal Education 17 (196$),
S. 397-411; Ottmar Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel 1970,
insb. S. 76ff.; William J. Chambliss / Robert B. Seidman, Law, Order, and Power,
Reading Mass. 1 9 7 1 , und unter dem Gesichtspunkt eines Teilsystems des politischen Systems Glendon Schubert, Judicial Policy Making, 2. Aufl. Glenview III.
1974, S. 138 ff.
11 Im Anschlu an Heinz von Foerster, On Self-organizing Systems and Their Environments, in: Marshall C. Yovits / Scott Cameron (Hrsg.), Self-organizing Systems:
Proceedings of an Interdisciplinary Conference 5 and 6 May 1959, Oxford i960,
S.31-JO.
12 Die nichtbercksichtigten Mglichkeiten werden damit, um eine Formulierung von
Yves Barel, Le paradoxe et le Systeme: Essai sur le fantastique social, 2. Aufl. Grenoble 1989, S. 71, aufzunehmen, potentialistert, das heit: in den Status bloer
Mglichkeiten anderer Kombination versetzt, die das System als Bedingung ihrer
Mglichkeit voraussetzen und gegebenenfalls durch Operationen des Systems aus
der Inaktualitt in Aktualitt berfhrt werden knnen - eine Bedingung evolutionrer Strukturnderungen. Mit anderen Worten: Das System erinnert auch das, was
es selber ausgeschlossen hat.
43
p e n d e n z e n k a u s a l e r A r t f r das S y s t e m s t r u k t u r e l l notwendig s i n d .
M a n d e n k e n u r a n die k o m p l e x e n u n d h o c h s e l e k t i v e n p h y s i k a l i s c h e n B e d i n g u n g e n des L e b e n s auf der E r d e . E s w r e a b s u r d , hinter
s o l c h e A l l t a g s e i n s i c h t e n z u r c k z u f a l l e n . I n d e r Systemtheorie ist
d e s h a l b seit l a n g e m geklrt, d a die O f f e n h e i t ( U m w e l t a b h n g i g keit) a u f der B a s i s v o n Materie oder E n e r g i e n i c h t s besagt gegen die
T h e s e i n f o r m a t i o n e l l e r oder semantischer G e s c h l o s s e n h e i t .
15
Wir
14
13 Siehe z. B. Gerhard Roth, Die Konstitution von Bedeutung im Gehirn, in: Siegfried
J.Schmidt (Hrsg.), Gedchtnis: Probleme und Perspektiven der interdisziplinren
Gedchtnisforschung, Frankfurt 1991, S. 360-370.
14 Man beachte, da der Begriff der Produktion niemals die Kontrolle ber smtliche
Ursachen des Produktes voraussetzt. Zum Beispiel ist fr die Herstellung einer
Fotografie - sagen wir: des Eiffelturms - die wichtigste Ursache der Eiffelturm
selbst. Er allein ist unentbehrlich, der Fotoapparat, ja sogar der Fotograf knnten
ausgewechselt werden. Also liegt die wichtigste Ursache auerhalb des Produktionsvorgangs. Der Begriff der Produktion bezeichnet nur das zur Herstellung und
Erhaltung einer Abweichung Notwendige - einer Abweichung von dem, was anderenfalls der Fall sein wrde. Ein weiteres typisches Merkmal ist das der Disponibilitt im System. Erst wenn zustzlich noch gesichert ist, da die Disponibilitt im
System durch das System selbst produziert wird, kann man im strengen Sinne von
einem <*ropoietischen System sprechen. Aber das sind zustzliche, also einschrnkende Anforderungen, die nichts daran ndern, da kein System alle Ursachen
kontrolliert, die nicht entfallen knnten, ohne da die Autopoiesis selbst entfiele.
Deshalb ist autopoietische Reproduktion immer auch die Reproduktion der Grenzen des Systems, die interne und externe Ursachen trennen.
44
Die Innovation, die mit dem Begriff der Autopoiesis eingefhrt ist,
bertrgt die Vorstellung der selbstreferentiellen Konstitution auf
die Ebene der elementaren (fr das System nicht weiter auflsbaren)
Operationen des Systems und damit auf alles, was im System fr das
System als Einheit fungiert. Es geht also nicht mehr nur um Selbstorganisation im Sinne systemeigener Bestimmung und Vernderung
von Strukturen, also auch nicht mehr nur um Autonomie im alten
Sinne von Selbstregulation. Damit fllt zugleich ein neues Licht auf
ein altes Problem, nmlich auf das Verhltnis von Struktur und
Operation (Proze) bzw. Norm und Handlung oder Regel und
Entscheidung.
Irritierend am Begriff der Autopoiesis und Anla fr eine umfangreiche kritische Diskussion ist vor allem, da der revolutionierende
Effekt des Begriffs in einem umgekehrten Verhltnis steht zu seinem Erklrungswert. Der Begriff sagt nur: da es Elemente und
Strukturen eines Systems nur gibt, wenn und solange es seine Autopoiesis aufrechterhalten kann. Er sagt nichts ber die Art der
Strukturen, die sich daraus im Zusammenwirken mit strukturellen
Kopplungen zwischen System und Umwelt ergeben. Autopoiesis
wird mithin als Invariante eingefhrt. Sie ist bei allen Arten von
Leben, bei allen Arten von Kommunikation stets dieselbe. Und
wenn das Rechtssystem ein autopoietisches System eigener Art ist,
dann gilt das fr jede Rechtsordnung gleichermaen, nur bezogen
auf den Code, der die Operationen des Systems dem System zuordnet. Aber das erklrt noch nicht, welche normativen Programme
das System ausbildet.
15
Geht man von selbstproduzierten Operationen aus, dann folgt daraus, da alles, was geschieht, in der Gegenwart geschieht. Das heit
auch: da alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht. Auch Vergangenheit und Zukunft sind stets, und nur, gleichzeitig relevant, sind
Zeithorizonte jeweils gegenwrtiger Operationen und knnen als
solche nur in der Gegenwart unterschieden werden. Ihre rekursive
Verknpfung wird in jeweils aktuellen Operationen hergestellt.
Deshalb sind auch die dafr notwendigen Strukturen nur aktuell in
15 Ich gebe also allen Kritikern recht, die betonen, da der Begriff der Autopoiesis
empirisch nichts erklrt. Aber das gilt ja fr jeden Begriff, auch zum Beispiel fr
den des Handelns. D e r Sinn einschneidender begrifflicher Vernderungen liegt in
den Anpassungszwngen, die sie auf Theoriezusammenhnge ausben. U n d erst
Theorien knnen in ihrem Realittsbezug beurteilt werden.
45
von
strukturgebenden
Erwartungen,
und
um
so
16
gegen die Schriftform und zugleich zu kompensatorischen Entwicklungen, die auf das neue Problem reagieren, nmlich ( i ) zur
Entwicklung von Rechtsgelehrsamkeit und professioneller Kunstfertigkeit fr den etwaigen Umgang mit Texten fr den Fall des
Falles; und (2) zur Akzeptanz von Normnderungen, die im System selbst mit dafr bereitgestellten Verfahren durchgefhrt werden als funktionales quivalent frs Vergessen.
All das ndert aber nichts an der Ausgangslage, da das System
seine Aktualitt allein in seinen Operationen hat; da nur das geschieht, was geschieht, und da - im System wie in seiner Umwelt alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht.
Will man ein damit bezeichnetes systemtheoretisches Forschungsprogramm durchfhren, verlangt das ausreichende Genauigkeit in
der Bezeichnung derjenigen Operation, die die autopoietische Reproduktion durchfhrt. Im Bereich der Biologie kann auf Grund
biochemischer Forschungen hierber Konsens vorausgesetzt werden - bis hin zu der Ansicht vieler Biologen, der Begriff der
Autopoiesis sei trivial, weil er nur ein Wort anbiete fr etwas, was
man in der Operationsweise sehr viel genauer beschreiben knne.
17
16 Siehe Peter Goodrich, Literaey and the Language of the Early C o m m o n Law, Journal of Law and Society 13
(1987),
S.
422-444.
1988,
S.
97-127.
mawechsel aus dem Geist der Naturwissenschaften: Die Theorien der Selbststeuerung von Systemen (Autopoiesis), Journal fr Sozialforschung 31 (1991) S. 3-24,
und als Gegenkritik Walter Kargl, Kritik der rechtssoziologischen AutopoieseKritik, Zeitschrift fr Rechtssoziologie 12 (1991), S. 120-141. Es kann uns aber ganz
gleichgltig sein, ob der Begriff auf lebende Systeme angewandt werden kann oder
nicht. Deshalb ist es auch kein Einwand, wenn man sagt, da die Anwendung auf
soziale Systeme die Sinngebung durch Maturana und Varela verflsche. (So z. B.
Ulrich D r u w e , Recht als autopoietisches System: Zur Kritik des reflexiven Rechtskonstrukts, Jahresschrift fr Rechtspolitologie 4 (1990), S. 1 0 3 - 1 2 0 , 115 f.) Man
sollte von einem Kritiker wohl verlangen drfen, da er zwischen dem abstrakten
Sinn des Begriffs und seiner Materialisation durch biochemische b z w . kommunikative Operationen unterscheiden kann. Im soziologischen Kontext kommt es allein
darauf an, ob der Begriff der Autopoiesis zur Formulierung von wissenschaftlich
fruchtbaren (und das schliet ein: empirisch fruchtbaren) Hypothesen fhrt. So
47
F r eine T h e o r i e s o z i a l e r S y s t e m e k a n n ein s o l c h e r K o n s e n s n i c h t
v o r a u s g e s e t z t w e r d e n ; u n d erst recht gilt d i e s , w e n n man das
R e c h t s s y s t e m als ein a u t o p o i e t i s c h e s , operativ geschlossenes S o z i a l s y s t e m b e s c h r e i b e n w i l l . D i e R e c h t s w i s s e n s c h a f t selbst hat als
Textwissenschaft keinen Erluterungsbedarf in dieser H i n s i c h t . D i e
R e c h t s s o z i o l o g i e b e g n g t s i c h z u m e i s t m i t e i n e m vagen Begriff des
H a n d e l n s o d e r Verhaltens (behaviour) u n d f l l t die rechtsspezifis c h e n G e h a l t e d u r c h A n n a h m e n ber die V o r s t e l l u n g e n u n d I n t e n t i o n e n d e r H a n d e l n d e n , d e n gemeinten S i n n ( M a x Weber) des
H a n d e l n s e i n . D a s w i r d u n s n i c h t gengen. W i r bestreiten n i c h t ,
da sich p s y c h i s c h e quivalente rechtsbezogener Operationen b i l d e n u n d d a sie (mit d e r b e k a n n t e n U n Z u v e r l s s i g k e i t ) e m p i r i s c h
abfragbar s i n d . A b e r w e r s i c h b e w u t a m R e c h t orientiert, m u j a
bereits w i s s e n , w a s e r d a b e i i m S i n n hat. E r m u s i c h auf e i n bereits
k o n s t i t u i e r t e s S o z i a l s y s t e m R e c h t o d e r auf textliche Sedimente d i e ses S y s t e m s b e z i e h e n k n n e n . D i e A n t w o r t a u f die F r a g e , welche
O p e r a t i o n e n das R e c h t als R e c h t p r o d u z i e r e n , m u vorausgesetzt
w e r d e n . P s y c h i s c h e S y s t e m e b e o b a c h t e n das R e c h t , sie erzeugen es
n i c h t , d e n n s o n s t bliebe e s tief v e r s c h l o s s e n i n d e m , w a s H e g e l
e i n m a l die finstere I n n e r l i c h k e i t des G e d a n k e n s
1 8
genannt hat.
D e s h a l b ist e s n i c h t m g l i c h , p s y c h i s c h e S y s t e m e , B e w u t s e i n
o d e r gar d e n g a n z e n M e n s c h e n fr einen T e i l o d e r a u c h n u r fr
eine
interne
Komponente
des
Rechtssystems
zu
halten.
19
Die
sieht im brigen auch Richard Lempert, The A u t o n o m y of L a w : T w o Visions C o m pared, in: Teubner a.a.O., S.
152-190 (15
18 Vorlesungen ber die sthetik B d . i , zit. nach Werke Bd. 13, Frankfurt 1973,
S.18.
19 Dieser Punkt ist freilich kontrovers. Siehe zum Beispiel Christophe Grzegorczyk,
Systme juridique et ralit: Discussion de la thorie autopoitique du droit, in:
Paul Amselek / Christophe G r z e g o r c z y k (Hrsg.), Controverse autour de l'ontologie du droit, Paris
13 (1992),
S.
1729-1743; David E . V a n
13 (1992), S. 1745-
1761. Leider beschrnken sich die Gegner der Konsequenzen des Konzepts autopoietischer Geschlossenheit auf den trivialen Hinweis, da es ohne Menschen nicht
geht. Dies entscheidet aber noch nicht darber, ob konkrete Menschen als Systemteile des Rechts Komponenten seiner Autopoiesis sind eine kaum wirklich zu
denkende Annahme - oder ob sie als Umweltbedingungen unentbehrlich sind. Jacobson a . a . O . verrt im brigen, da mit Individuum gar nicht das lebende und
48
A u t o p o i e s i s des R e c h t s k a n n n u r b e r s o z i a l e O p e r a t i o n e n realisiert
werden,
A u t o p o i e t i s c h e S y s t e m e s i n d s o m i t a n i h r e n O p e r a t i o n s t y p u s geb u n d e n , u n d z w a r s o w o h l f r die E r z e u g u n g n c h s t e r O p e r a t i o n e n
als a u c h f r d i e B i l d u n g v o n S t r u k t u r e n . E s g i b t , anders gesagt,
k e i n e W e s e n s v e r s c h i e d e n h e i t o d e r M a t e r i a l v e r s c h i e d e n h e i t von
O p e r a t i o n u n d S t r u k t u r . S c h o n i m L e b e n s p r o z e d e r Z e l l e s i n d die
E n z y m e zugleich Daten, Produktionsfaktoren u n d Programme. Im
G e s e l l s c h a f t s s y s t e m gilt dasselbe f r S p r a c h e . E i n e B e s c h r e i b u n g
des R e c h t s s y s t e m s k a n n deshalb n i c h t d a v o n a u s g e h e n , d a N o r m e n ( w i r w e r d e n C o d e s u n d P r o g r a m m e u n t e r s c h e i d e n ) v o n anderer S u b s t a n z u n d Q u a l i t t s i n d als K o m m u n i k a t i o n e n . R e c h t s b e z o gene K o m m u n i k a t i o n e n h a b e n als O p e r a t i o n e n d e s R e c h t s s y s t e m s
i m m e r eine d o p p e l t e F u n k t i o n als P r o d u k t i o n s f a k t o r e n u n d als
Strukturerhalter.
Sie
setzen
Anschlubedingungen
fr
weitere
2 0
M a n k a n n die F u n k t i o n e n d e r Z u s t a n d s b e -
BEWUTE SYSTEM MENSCH GEMEINT IST. INDIVIDUAIS FIGURE IN THE COMMON LAW ONIY IN
THE CHARACTER THEY DISPLAY THROUGH INTERACTION ORIENTED TOWARD THE VALUES EXPRESSED
IN PRIOR APPLICATIONS OF NORMS. THE INDIVIDUALS APPLYING NORMS MAY HAVE HOSTS OF
ATTITUDES (PERSONALITY, EMOTION) TOWARD THE APPLICATION. THE ATTITUDES DO NOT MATTER: ONLY THE display OF CHARACTER IN INTERACTION MATTERS (S. 1684). DEM KANN MAN
NUR ZUSTIMMEN. EIN SOLCHER SCHRUMPFBEGRIFF VON INDIVIDUALITT IST JEDOCH NICHTS
ANDERES ALS DER BEGRIFF DER PERSON, NMLICH EINE IN DER KOMMUNIKATION PRODUZIERTE
AUSWAHL VON MERKMALEN; ALSO NICHTS, WAS DIE HANDLUNG ERKLREN KNNTE. GERADE
DIESE THEORIE AUTOPOIETISCHER SYSTEME NIMMT IM UNTERSCHIED ZU HUMANISTISCHEN
THEORIEN INDIVIDUEN ERNST. TAKING INDIVIDUALS SERIOUSLY, KNNTE MAN SIE BERSCHREIBEN.
20 DIE DETERMINATION LIEGT NATRLICH IM SYSTEM SELBST UND NICHT IM BEGRIFF DER AUTOPOIESIS. DAS BERSEHEN KRITIKER, DIE SICH AUF DEN BEGRIFF DER AUTOPOIESIS KONZENTRIEREN UND DER THEORIE AUTOPOIETISCHER SYSTEME MANGELNDE AUSSAGEKRAFT VORWERFEN - ZUM BEISPIEL WALTER L. BHL, SOZIALER WANDEL IM "UNGLEICHGEWICHT: ZYKLEN,
FLUKTUATIONEN, KATASTROPHEN, STUTTGART 1990, S. i8^FF.; DERS., POLITISCHE GRENZEN
DER AUTOPOIESE SOZIALER SYSTEME, IN: HANS RUDI FISCHER (HRSG.), AUTOPOIESIS: EINE
49
22
21 Eine Theorie, die mit der Unterscheidung von Operation und Beobachtung arbeitet, ist daher immer eine autologische Theorie. Das heit: Sie fertigt eine
Beschreibung an, die sowohl qua Operation als auch qua Beobachtung auf sie selbst
zutrifft und die sie daher auch an sich selbst testen kann oder zumindest nicht durch
Annahmen ber sich selbst widerlegen darf.
22 Selbstverstndlich sind andere Beobachtungsweisen damit nicht ausgeschlossen etwa im Hinblick auf den A k z e n t , mit dem gesprochen wird. A b e r diese Beobachtungen sind fr die Autopoiesis des Systems nicht unerllich, sondern bleiben
gelegentlich ergriffene Mglichkeiten.
5i
23 So Louis Kauffman, Self-reference and recursive forms, Journal of Social and Biological Structures 10 (1987), S. $3-72 (53).
Komplexittsreduktion
bestimmbaren)
Umweltver-
D i e Unterscheidung von
Seitenblick
auf
eine gleichzeitig
existierende
Umwelt
operiert
u n d s i c h n i c h t n u r m i t einer A r t k y b e r n e t i s c h e r K o n t r o l l e a n den
E f f e k t e n d e r eigenen O p e r a t i o n e n i m S y s t e m s e l b s t orientiert.
D a v o n z u u n t e r s c h e i d e n s i n d a n s p r u c h s v o l l e r e F o r m e n der Selbstreferenz,
vor
allem
solche
der
Selbstbeschreibung
des
Systems.
im
System
gemeint.
Auch
dies
kann,
wenn
Selbstbeschxti-
53
bung, nur als Operation des Systems selbst geschehen, als eine unter
vielen Operationen. Wir werden das Anfertigen solcher Modelle
oder Texte des Systems im System auch Reflexion nennen. Und es
fllt auf Grund dieser Theorieanlage leicht, zuzugestehen, da
Selbstbeschreibungen dieser Art eine ganz marginale Bedeutung haben mgen, deren Relevanz mit der Ausdifferenzierung des Systems und den Differenzierungsformen, die die Gesellschaft zult,
variieren wird.
Von Autopoiesis und operativer Geschlossenheit kann man, all dies
vorausgesetzt, nur dann sprechen, wenn die Operationen, die einander - und damit das System - reproduzieren, bestimmte Merkmale aufweisen. Sie bilden emergente Einheiten, die es nur dank der
operativen Geschlossenheit des Systems geben kann; und sie leisten
als solche Einheiten eine eigenstndige Reduktion von Komplexitt
sowohl der Umwelt des Systems als auch des Systems selbst. In
der Faktizitt des Vollzugs liegt ja schon, da nicht alles, was es
gibt, bercksichtigt werden kann; und an die Stelle dieser Komplettrelationierung tritt die selektive, aber tragfhige Kopplung und
das rekursive Netzwerk der autopoietischen Reproduktion.
III
Will man, von diesen Instruktionen ausgehend, die Besonderheiten
der selbstreferierenden Operationsweise des Rechtssystems feststellen, kommt eine ganze Hierarchie von Bestimmungen zum
Zuge. Ein operativer Ansatz kann die Einheit des Rechtssystems
nicht als Einheit eines Textes oder als Konsistenz einer Textmenge
begreifen , sondern nur als ein soziales System. Die basale Opera24
25
24 Entsprechend mten Leser ihre Einwnde sortieren je nach dem, auf weicher
Ebene sie greifen sollen: ob gegen die Theorie autopoietischer Systeme als solche,
ob gegen den durch Kommunikation definierten Begriff des sozialen Systems, gegen den Gesellschaftsbegriff oder nur gegen die Darstellung des Rechtssystems als
eines autopoietischen Systems innerhalb der Gesellschaft.
25 So der herkmmliche juristische Systembegriff mit seiner bis in den Anfang des 17.
Jahrhunderts zurckreichenden Tradition. Vgl. etwa Claus-Wilhelm Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz am Beispiel des deutschen
Privatrechts, Berlin 1969, und, mit Betonung von Werten als Grundlagen der Systembildung, Franz-Josef Peine, Das Recht als System, Berlin 1983. Vermittelnd,
und deshalb unscharf, Torstein Eckhoff / Nils Kristian Sundby, Rechtssysteme:
$4
tion, die soziale Systeme aus ihrer Umwelt ausgrenzt, kann als
Kommunikation begriffen werden. Damit liegt zugleich der Begriff der Gesellschaft fest als das umfassende System aller Kommunikationen, in dessen Umwelt es keine Kommunikationen, sondern
nur Ereignisse anderen Typs gibt.
Diese Begriffsdisposition hat weittragende Folgen. Ihr folgend mu
man alle sozialen Systeme als Vollzug von Gesellschaft begreifen.
Auch das Rechtssystem ist danach ein zur Gesellschaft gehriges,
Gesellschaft vollziehendes Sozialsystem. Titel wie Recht und Gesellschaft verweisen dann nicht auf zwei unabhngige, einander
gegenberstehende Gegenstnde, sondern mssen differenzierungstheoretisch reformuliert werden. Das Rechtssystem ist, um
diesen wichtigen Punkt zu wiederholen , ein Subsystem des Gesellschaftssystems. Die Gesellschaft ist also nicht einfach die Umwelt des Rechtssystems. Sie ist teils mehr - insofern nmlich, als sie
die Operationen des Rechtssystems selbst einschliet; und teils weniger - insofern nmlich, als das Rechtssystem es auch mit der
Umwelt des Gesellschaftssystems zu tun hat, vor allem mit mentalen und krperlichen Realitten der Menschen, aber auch mit
anderen physikalischen, chemischen, biologischen Sachverhalten, je
nach den Ausschnitten, die das Rechtssystem fr rechtlich relevant
erklrt.
26
27
28
Als soziales System und als Vollzug von Gesellschaft haben die
Operationen des Rechtssystems Merkmale, die nicht nur im
Rechtssystem realisiert werden. Das gilt fr alle Merkmale, die
29
6 (1991),
S.
248-252,
betont mit Recht, da hier ein wesentlicher Unterschied bestehe zwischen operativer Schlieung des Gesellschaftssystems und der gesellschaftlichen Teilsysteme. Ich
55
3 0
i n der Gesellschaft
wrde nur in den Konsequenzen, die aus diesem Unterschied folgen, weniger weit
gehen.
30 Hierzu auch Niklas Luhmann, Wie ist Bewutsein an Kommunikation beteiligt?,
in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialitt der Kommunikation, Frankfurt 1988, S. 884-90j; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft,
Frankfurt 1990, S. 11 ff.
56
selbst ( i m U n t e r s c h i e d z u m U n t e r s c h i e d des U n t e r s c h i e d e n e n ) a n
die Stelle d e r Identitt tritt.
31
W i r halten z u n c h s t a l s o n u r fest: D i e
also v o n
Selbstbeschreibungen
bestimmter A r t ,
m a g der
31
57
falls nach den Bedingungen fragen, unter denen solch eine Konstruktion als plausibel angeboten werden kann. Es mu zum
Beispiel immer schon Konflikte gegeben haben, in denen der Sieger
seinen Sieg als Recht und damit als zukunftsbindend behaupten
kann. Oder, um den berhmten Anfang des zweiten Teils des Discours sur l'origine et les fondemengs de l'ingalit parmi les hommes zu zitieren: Le premier qui ayant enclos un terrain, s'avisa de
dire, ceci est moi, et trouva des gens asss simple pour le croire, fut
le vrai fondateur de la socit civile.
32
1964, S. 164.
33 Siehe Heinz von Foerster, Principies of Self-Organization - In an Socio-Managerial
ontext, in: Hans Ulrich / Gilbert J.B. Probst (Hrsg.), Self-Organization and M a nagement of Social Systems: Insights, Promises, D o u b t s , and Questions, Berlin
k a u m mglich,
d i e s e n P a r t i k u l a r i s m e n R e c h n u n g z u tragen. U n d d e s h a l b m s s e e s
G e s e t z g e b u n g u n d B i n d u n g des R i c h t e r s a n das G e s e t z g e b e n .
34
Die
Konditionierung
von
Heilschancen.
D i e Rechtspflege
gesellschaftlichen S t r u k t u r e n a n e r k e n n t u n d i n der
3 5
M i t d e n gesellschaftlichen S t r u k t u r e n w a n d e l n
34 Siehe Rhetorik 1354 a 32 - 1354 b 1 5 . Zur Aufnahme dieses Gedankens im Hochmittelalter vgl. Aegidius Columnae Romanus (Egidio Colonna), De regimine
principum Teil II, Buch III, zit. nach der Ausgabe Rom 1607, Nachdruck Aalen
1967, S. 507 ff. Ausfhrlicher unten Kap. 7, II.
3$ Estienne Pasquier, Les recherches de la France, Paris 166 j, S. 577 f. berichtet von
einem Fall, in dem der Kaiser whrend des Prozesses einen Brgerlichen geadelt
59
sich dann auch die Formen, in denen die Rechtsordnung ihnen von
sich aus Rechnung trgt. Dabei nehmen mit zunehmender Komplexitt die Isomorphien und semantischen Ubereinstimmungen
ab, der gesamtgesellschaftliche Bezug der Normen wird abstrahiert
und ist im allgemeinen nicht mehr an ihrem Regelungszweck erkennbar. Aber die Form der Lsung bleibt: Das Rechtssystem wird
ausdifferenziert, um von sich aus den Gesellschaftsstrukturen
Rechnung tragen zu knnen mit all den Folgeproblemen einer
kompletten Rekonstruktion gesellschaftlicher Abhngigkeiten
durch rechtssysteminterne Vorkehrungen.
36
Fr die Ausdifferenzierung und operative Schlieung eines Rechtssystems scheinen nun zwei weitere Errungenschaften wichtig zu
sein, die sich wechselseitig stimulieren, und zwar ( i ) die funktionale
Spezifikation des Rechts, das heit: die Ausrichtung auf ein spezifisches gesellschaftliches Problem, und (2) die binre Codierung des
Systems durch einen Schematismus, der einen positiven Wert
(Recht) und einen negativen Wert (Unrecht) vorsieht. Anders als
eine ltere, sich an den Vorteilen der Arbeitsteilung orientierende
Theorie funktionaler Differenzierung und Spezifikation vermuten
knnte, reicht eine Orientierung an der Funktion allein nicht aus.
Das ergibt sich schon daraus, da der Bezugsgesichtspunkt Funktion immer dazu auffordert, nach funktionalen quivalenten Ausschau zu halten, also Systemgrenzen zu berschreiten. Man sieht
aber auch, da die Funktion des Rechts in der Praxis als Begrndungsgesichtspunkt keine Rolle spielt. Was dem allenfalls nahekommen knnte, ist der zivilrechtliche Begriff der causa; aber
nomen et causa waren im alten Recht nur Erfordernisse der Klageberechtigung, und causa ist folglich auch heute nur ein Interpretationsgesichtspunkt einzelner Rechtsinstitute. Das Recht selbst
braucht keine causa. Will ein Jurist erkennen, ob eine Kommunikation zum Rechtssystem gehrt oder nicht, mu er daher immer
auch prfen, ob es berhaupt um die Zuordnung von Recht und
Unrecht, also um die Domne des Rechtscodes geht. Nur beide
hat, um ihm gegen den adeligen Prozegegner Recht zu verschaffen. In bereinstimmung mit dem geltenden Recht! N u r : wann hatte man in solchen Fllen schon
einen Kaiser zur Hand.
36 Siehe dazu meinen Versuch, die Grundrechte im H i n b l i c k auf die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems zu interpretieren in: Niklas Luhmann,
Grundrechte als Institution: Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965.
60
E r r u n g e n s c h a f t e n , F u n k t i o n u n d C o d e z u s a m m e n g e n o m m e n , bew i r k e n , d a d i e r e c h t s s p e z i f i s c h e n O p e r a t i o n e n s i c h d e u t l i c h von
a n d e r e n K o m m u n i k a t i o n e n u n t e r s c h e i d e n lassen u n d d a d u r c h , mit
n u r m a r g i n a l e n R a n d u n s c h r f e n , s i c h aus s i c h s e l b s t heraus reproduzieren knnen.
W i r w e r d e n beide E r r u n g e n s c h a f t e n i n d e n b e i d e n f o l g e n d e n K a p i teln a u s f h r l i c h vorstellen u n d b e g n g e n u n s a n d i e s e r Stelle mit
einer
groben
Charakterisierung.
Die
funktionale
Spezifikation
Erwartungen
auch
dann
festgehalten
werden
knnen,
formorientiertes,
unterscheidungsgeleitetes
Beobachten.
Sie
aus
kontrolliert.
37
Was
mit
diesem
Kontrollschema
R e c h t / U n r e c h t n i c h t erfat w i r d , gehrt n i c h t z u m R e c h t s s y s t e m ,
s o n d e r n z u seiner i n n e r - o d e r a u e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n U m w e l t .
37 Z u r Entstehung dieser sekundren Beobachtungsweise und zu ihren Zusammenhngen mit der Entstehung von Logik und wissenschafdichen Beweisverfahren
siehe Yehuda Elkana, Das Experiment als Begriff zweiter O r d n u n g , Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 244-271.
6l
Das Rechtssystem etabliert sich, wenn die genannten Voraussetzungen erfllt sind, als ein autopoietisches System. Es konstituiert und
reproduziert emergente Einheiten (inclusive: sich selber), die es
ohne operative Geschlossenheit nicht geben wrde. Und es leistet
auf diese Weise eine eigenstndige Reduktion von Komplexitt, ein
selektives Operieren angesichts einer Flle von Mglichkeiten, d i e sei es ignoriert, sei es abgewiesen - jedenfalls unbercksichtigt bleiben, ohne da dies der Autopoiesis Abbruch tut.
Harold Berman hat viele Belege dafr zusammengestellt, da diese
Umstellung auf Autonomie des Rechtssystems bereits im 11./12.
Jahrhundert in der Form einer Revolution der gesamten Rechtskultur durchgefhrt worden ist. Das drfte im weltweiten Vergleich zugleich die Abweichung Europas, die ganz ungewhnliche Bedeutung des Rechts fr den gesellschaftlichen Alltag und die
gesellschaftliche Entwicklung Europas erklren.
38
IV
Einem Vorschlag von Francisco Varela folgend kann man die operative Geschlossenheit eines Systems als Autonomie bezeichnen.
Gordon Pask konstatiert: Computing systems own their autonomy to computing their own boundaries. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion hat diese Begriffsverwendung eher zu
Konfusionen gefhrt. Wenn wir den autopoietischen Begriff der
39
40
41
6z
s o n d e r n eine K o n s e q u e n z v o n operativer G e s c h l o s s e n h e i t .
4 3
D e m g e g e n b e r geht d i e h e r k m m l i c h e r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e
Lehre nicht v o n Operationen, sondern von Personen aus. Die
A u t o n o m i e des R e c h t s s y s t e m s ist d a m i t d u r c h die U n a b h n g i g k e i t
der R i c h t e r u n d eventuell der A n w l t e
4 4
gesichert u n d U n a b h n g i g -
keit d e f i n i e r t d u r c h F r e i h e i t v o n u e r e n P r e s s i o n e n , d e n e n m a n
s i c h , w e n n n i c h t auf t r a n s z e n d e n t a l e Weise, d a n n jedenfalls ber
L e b e n s z e i t a n s t e l l u n g u n d W e i s u n g s u n g e b u n d e n h e i t i n d e r eigenen
Organisation entziehen k a n n .
4 5
N i e m a n d w i r d d i e institutionelle
71943 Dies weicht auch von Varela ab, der Autonomie als the assertion of the system's
identity through its internal functioning and selfregulation definiert (1978, S. 77).
Diese Verlagerung des Begriffs auf die Ebene der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung (statt nur: auf die Ebene der Strukturproduktion) bringt dann Jacques
Miermont, Les conditions formelles de l'tat autonome, Revue internationale'de
systmique 3 (1989), S. 2 9 5 - 3 1 4 , dazu, Autonomie als Produkt einer Imagination
des Systems aufzufassen: Sie existiert nur als Metareferenz von Selbstreferenz und
Fremdreferenz (Aber wrde es hier nicht gengen, von Identitt zu sprechen?). In
unserem Text wird dagegen durchgehend auf eine Unterscheidung von Operation
und Beobachtung (als einer Operation besonderer Art) Wert gelegt.
44 Siehe z u m Anwalt/Klient-Verhltnis zum Beispiel John P. H e i n z , T h e Power of
Lawyers, Georgia L a w Review 17 (1983), S. 8 9 1 - 9 1 1 .
45 Vgl. hierzu (nicht sehr straff am Thema bleibend, aber materialreich) Joachim
63
u n d p o l i t i s c h e W i c h t i g k e i t s o l c h e r A b s i c h e r u n g e n bestreiten, m a n
hat E r f a h r u n g e n n i c h t n u r n a c h
gesichert
werden
kann,
ja
gesichert
werden
mu.
( D e r K a f f e e i n u n s e r e m B e i s p i e l s o , d a Z u c k e r u n d S a l z i n deutlich
verschiedenen G e f e n aufgehoben werden.)
A l s S o z i o l o g e tendiert m a n d a z u , d i e A u t o n o m i e v o n Personen gegenber V e r f h r u n g e n oder Pressionen ihrer s o z i a l e n U m w e l t z u n c h s t e i n m a l f r einen M y t h o s o d e r a u c h f r eine Ideologie z u
halten.
4 6
Wenn
aber begriffliche
Klrungen
a u s b l e i b e n , zieht m a n
zurck.
4 7
E i n gradualisierter Autonomiebegriff
ganz b l i c h
4 8
gibt aber
gerade e m p i r i s c h e n
Zu
relativer Autonomie
(als
Selbstverstndlichkeit)
auch
Lawrence
64
U n t e r s u c h u n g e n keinerlei H i n w e i s e (auer d e m : A b s u r d i t t e n z u
v e r m e i d e n ) . I n d e r n e u e r e n r e c h t s s o z i o l o g i s c h e n L i t e r a t u r reagiert
m a n d a m i t auf E n t t u s c h u n g e n mit Staatsableitungen oder hnlichen radikal-marxistischen A n s t z e n .
4 9
D a s R e c h t werde schon
5 0
S. 241-270; Fred E. Katz, A u t o n o m y & Organizaons: T h e Limits of Social C o n trol, N e w York 1968.
49 Siehe Marc V. Tushnett, T h e American L a w of Slavery, 1810-1860: Considerations
of Humanity and Interest, Princeton 1 9 8 1 ; ders., American L a w of Slavery 1810 i860: A Study in the Persistence of Legal Autonomy, L a w and Society Review 10
(1985), S. 1 1 9 - 1 8 4 ; Isaac D. Balbus, Commodity Form and Legal Form: An Essay
on the Relative A u t o n o m y of the Law, L a w and Society Review 11 (1977), S. 5 7 1 588 (hier nur: Autonomie in bezug auf die Prferenzen einzelner Akteure, nicht in
bezug auf die Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft); Alan Stone, The
Place of L a w in the Marxian Structure-Superstructure Archetype, L a w and Society
65
51
making or applying l a w . Auch das kann noch verschieden interpretiert werden. Jedenfalls aber handelt es sich um Autonomie in
unserem Sinne, denn looks ist eine interne Operation. Die Frage
ist dann nur, wie das Rechtssystem Selbstreferenz und Fremdreferenz, die immer beide impliziert sind, zum Ausgleich bringt. Unsere These ist dann allerdings, da das Rechtssystem, wenn es die
Umwelt nicht nur als Bereich von Tatsachen, sondern auch in ihren
S t a n d a r d s fr beachtlich hlt, dazu einer internen Legitimation
bedarf. Wir kommen darauf unter VI zurck.
V
Wenn man die operative Geschlossenheit, die autopoietische Selbstreproduktion und die Autonomie des Rechtssystems auf diese
Weise beschreibt: welche Kommunikationen sind damit erfat und
wo zieht das System folglich seine eigenen Grenzen?
In der soziologischen Literatur, die den Begriff des Rechtssystems
(legal System) verwendet, ist es blich, dabei nur an den organisierten Rechtsbetrieb, also vor allem an Gerichte und Parlamente zu
denken, eventuell noch an Verwaltungen, die Rechtsverhltnisse auf
Grund von Delegationsnormen gestalten und an die Anwaltskanzleien, die den Zugang der Rechtssuchenden zu den Gerichten
kanalisieren. Im Rechtssystem sind danach eigentlich nur Juristen
ttig. Die Schwierigkeiten liegen nicht zuletzt darin, da man
beim Systembegriff blicherweise an Menschen als Mitglieder
denkt, zumindest an bestimmte Rollen. Das Von-einem-Autoangefahren-Werden ist aber keine Rolle im Rechtssystem, ja nicht
einmal ein Ereignis im Rechtssystem, obwohl es doch offensichtlich
rechtlich relevant ist; ja vielleicht wird man deswegen angefahren,
weil man auf seinem (vermeintlichen) Recht besteht, auf einem markierten Fugngerbergang die Strae zu berqueren und das Auto
zum Halten zu veranlassen. Wre das ein Ereignis im Rechtssystem
oder nicht? Sind Vertrge rechtssysteminterne Operationen? Sind
52
51 A . a . O . , S. 159.
52 O f t dient auch der vage Begriff rechtlicher Institutionen als Platzhalter. Oder man
setzt das, worber man spricht, als bekannt voraus. O d e r man errtert, wie L a w rence Friedman, T h e Legal System: A Social Science Perspective, N e w York 1975,
S. 1 ff. das Problem, um dann jede Definition abzulehnen.
66
tglichen
Leben
oder
in
anderen
Funktionssystemen.
Ins
n u r eine
sucht
und
behauptet
eine
rekurrente
Vernetzung im
ist
nach
unserem
Verstndnis
eine
K o m m u n i k a t i o n im
67
auerhalb
des
organisatorisch-professionellen
inneren
R e c h t infolge der
$3 Siehe dazu zutreffend Walter Kargl a.a.O. (1991), S. 134 ff. Andererseits kann ich
Kargl (in: Walter Kargl, Kommunikation kommuniziert?: Kritik des rechtssoziologischen Autopoiesebegriffs, Rechtstheorie 21 (1990), S. 3 5 2-373) nicht folgen, wenn
er meint, der Begriff des politischen Systems werde dadurch ausgehhlt, nmlich
auf Parteipolitik reduziert. G a n z abgesehen davon, da auch in der Parteipolitik
Rechtsfragen auftauchen, ist, wie jeder darin Erfahrene wei, praktisches Handeln
im Parlament und in den Spitzenlagen der Verwaltungsbrokratie und selbst in der
Kommunalverwaltung ganz unmglich, wenn man nicht zwischen politischen Fragen und Rechtsfragen unterscheiden kann.
68
lautet:
Unbefangenheit
und
U n p a r t e i l i c h k e i t des
R i c h t e r s . ) E s gibt i m a u e r j u r i s t i s c h e n A l l t a g d e s R e c h t s s y s t e m s
d e n n a u c h k e i n e V o r s c h r i f t / F a l l - R e l a t i o n e n , s o n d e r n eher E r f a h r u n g s w e r t e i m U m g a n g m i t R e c h t u n d v o r a l l e m : i n der Vermeid u n g entsprechender Unannehmlichkeiten.
A b e r a u c h dies m u als rechtssysteminterner S a c h v e r h a l t verstand e n w e r d e n , d e n n U n g e w i h e i t ebenso w i e A n g e w i e s e n s e i n auf
m i l i e u s p e z i f i s c h e K o n t a k t e m i t R e c h t s i n d F o l g e n der b i n r e n C o d i e r u n g , u n d sie k o m m e n b e r h a u p t n u r v o r , w e n n d i e Rechtsfrage
gestellt w i r d . D i e operative S c h l i e u n g des S y s t e m s w i r d gerade
d a d u r c h besttigt, d a es diese v e r s c h i e d e n e n P e r s p e k t i v e n innerh a l b des S y s t e m s u n d deshalb ein h i n e i n o r g a n i s i e r t e s Beobachten
v o n B e o b a c h t e r n gibt. D a s R e c h t s s y s t e m ist u n d bleibt sehr w o h l
aus z a h l l o s e n v e r s c h i e d e n e n A n l s s e n , aber i m m e r n u r i n t e r n , reizbar. E s ist, w i e m a n m i t H e i n z v o n F o e r s t e r s a g e n k n n t e , gegenber Anlssen
undifferenziert
indifferent c o d i e r t .
5 4
codiert,
oder
besser vielleicht
K o m m u n i k a t i o n i n das R e c h t s s y s t e m , w e i l e s
b e r h a u p t keine
r e c h t l i c h e K o m m u n i k a t i o n a u e r h a l b des R e c h t s s y s t e m s gibt. D a s
ist eine K o n s e q u e n z des b e r g a n g s v o n i n p u t - t y p e descriptions z u
closure-type descriptions (Varela).
55
U n d e s ist e i n e K o n s e q u e n z
e i n z i g e n C o d e als b i n r e n S c h e m a t i s m u s , der a n d e r e C o d i e r u n g e n
5 6
O r d n u n g - also
die
Handelnden
und
ihre
O p f e r - ihren
W e l t b e z u g selbst s c h o n n a c h R e c h t u n d U n r e c h t klassifizieren o d e r
n i c h t . W e n n sie s i c h i m R e c h t o d e r i m U n r e c h t w h n e n und das
m i t t e i l e n , k a n n der B e o b a c h t e r d e n s e l b e n S a c h v e r h a l t anders b e u r teilen. W e n n sie gar n i c h t a n R e c h t b z w . U n r e c h t d e n k e n , sondern
anderes i m S i n n h a b e n , k a n n d e r B e o b a c h t e r zweiter O r d n u n g
g l e i c h w o h l d i e Werte R e c h t b z w . U n r e c h t a p p l i z i e r e n . I m U n t e r s c h i e d z u der (operativ g e w i u n e n t b e h r l i c h e n ) N o r m a t i v i t t der
E r w a r t u n g e n u n d der B e z u g n a h m e auf h i s t o r i s c h vorliegende, als
R e c h t interpretierbare S t r u k t u r e n hat d e r C o d e z w e i B e s o n d e r h e i t e n : E r ist u n i v e r s e l l h a n d h a b b a r , w a s i m m e r a n K o m m u n i k a t i o n
v o r l i e g t , u n d e r e r m g l i c h t d i e S c h l i e u n g des S y s t e m s d u r c h R e f o r m u l i e r u n g seiner E i n h e i t als D i f f e r e n z .
56 Dies ist gegen Einwnde von Hubert Rottleuthner, A Purified Theory of Law:
Niklas Luhmann on the A u t o n o m y of the Legal System, Law and Society Review
23 (1989), S. 779-797 (792 f.) festzuhalten. Denn jede Hinzunahme weiterer Unterscheidungen auf der Ebene der Codierung (wie z . B . erlaubt/verboten, geltendes/nichtgeltendes Recht) wrde eine eindeutige Grenzbestimmung durch jede
Operation ausschlieen und Unklarheiten erzeugen. Parsons hatte brigens aus
hnlichen Grnden auf die Tempovorteile binrer Schematisierungen beim Aufbau
komplexer Systeme hingewiesen, dann allerdings eine Kreuztabeilierung zugelassen, die aber nur noch Klassifikationsvorteile (Typenbildungen) erbringt.
Erst wenn Produkte dieser Form (Unterscheidung) einer Beobachtung zweiter Ordnung rekursiv aufeinander Bezug nehmen (und
dann so tun knnen, als ob dies immer schon der Fall gewesen sei),
zieht sich das Rechtssystem zu autopoietischer Geschlossenheit zusammen. Sicher war dies bereits in einigen Stadtkulturen des
antiken Mittelmeerraums der Fall, und sicher nicht zufllig: nur in
den Stdten. Das schliet wildes (manche sagen: naturwchsiges)
Normieren nicht aus - so wenig wie die Erzeugung einer Ebene der
Beobachtung zweiter Ordnung in der Wissenschaft der Magie den
Garaus gemacht hat. Somit ist auch die funktionale Spezifikation
des Rechts auf ein Prozessieren normativer Erwartungen allein
58
59
71
noch keine ausreichende Erklrung fr die evolutionre Ausdifferenzierung des Rechtssystems , obwohl es ohne ein rechtsspezifisches Problem auch nicht geht. Nur die Codierung bietet ein
Korrelat fr die Universalisierung des Rechts , nmlich fr die
Mglichkeit, auf alle Sachverhalte anwendbar und durch jede Kommunikation reizbar zu sein, unabhngig von dem, was die Primrbeobachter motivierte.
60
61
72
durch
ihren
eigenen
Vollzug
schon
wieder
verndern
73
D i e b i n d e n d e E n t s c h e i d u n g v o n Rechtsfragen
k o m m t z w a r n u r d u r c h A s s o z i i e r u n g m i t der p o l i t i s c h e n F u n k t i o n
k o l l e k t i v b i n d e n d e n E n t s c h e i d e n s z u s t a n d e , die d e n R e k u r s auf
D u r c h s e t z u n g s g e w a l t garantiert. A b e r das h e i t keineswegs, da
n i c h t riesige M e n g e n v o n R e c h t s k o m m u n i k a t i o n e n auerhalb dieses engen B e r e i c h s der P a r l a m e n t e u n d G e r i c h t e z u s t a n d e k o m m e n
u n d d a n i c h t riesige M e n g e n v o n p o s i t i v e m R e c h t a u c h ohne E i n s c h a l t u n g dieser I n s t a n z e n , also o h n e jede p o l i t i s c h e K o n t r o l l e
geschaffen w e r d e n , n m l i c h d u r c h Vertrge.
W e n n g l e i c h die E i n h e i t des S y s t e m s k e i n e K o m p o n e n t e der O p e r a t i o n e n des S y s t e m s sein k a n n ( b z w . f r d i e s e n Z w e c k d u r c h spezifische U n t e r s c h e i d u n g e n reprsentiert w e r d e n m u ) , lt sie sich
d o c h b e o b a c h t e n u n d b e s c h r e i b e n . D i e s k a n n n u r d u r c h einen B e o b a c h t e r geschehen, der seinerseits e i n autopoietisches System sein
m u . D a b e i m a g e s s i c h m e i n e n externen B e o b a c h t e r ( W i s s e n schaft z u m Beispiel) o d e r u m das R e c h t s s y s t e m selbst handeln.
E n t s p r e c h e n d u n t e r s c h e i d e n w i r F r e m d b e o b a c h t u n g u n d Selbstbeo b a c h t u n g . A u c h dieses T h e m a k a n n erst i n e i n e m spteren K a p i t e l
a u s f h r l i c h behandelt w e r d e n .
6 2
I m A u g e n b l i c k m u n u r das V e r -
hltnis v o n S e l b s t b e o b a c h t u n g / S e l b s t b e s c h r e i b u n g z u r operativen
G e s c h l o s s e n h e i t des S y s t e m s geklrt w e r d e n .
W e n n die E i n h e i t des R e c h t s (also das R e c h t als G e s a m t h e i t seiner
O p e r a t i o n e n u n d S t r u k t u r e n ) b e o b a c h t e t w e r d e n s o l l , m u sie v o n
etwas a n d e r e m u n t e r s c h i e d e n w e r d e n . A u e r d e m k a n n die B e z e i c h n u n g d e r E i n h e i t n a t r l i c h n i c h t i n einer B e z e i c h n u n g aller E l e -
74
mente und ihrer Relationen bestehen, sie kann nur verkrzt und
vereinfacht erfolgen. Beides gilt fr externe und fr interne Beobachtungen gleichermaen. Sowohl die Unterscheidung, die fr
diese Zwecke gewhlt wird, als auch die Vereinfachungsleistung
sind Leistungen des beobachtenden Systems. Oft sagt man auch,
da die Beobachtung (und erst recht dann durch sie bestimmte
Operationen der Planung, Steuerung, theoretischen Reflexion) ein
Modell des Rechtssystems voraussetze. Jedenfalls ist das, was
beschrieben wird, nicht die komplette Wirklichkeit des Systems.
Um die erforderliche Reduktion zu markieren, wollen wir die Einheit als Gegenstand einer Beobachtung und Beschreibung Identitt
nennen.
63
Externe Beobachter - ein Heinrich von Kleist, ein Franz Kafka, ein
Walter Benjamin zum Beispiel - knnen das Rechtssystem sehr verschieden identifizieren. Wenn man wissen will wie, mu man den
Beobachter beobachten. Das Rechtssystem ist bei seinen Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen weniger frei, aber, gleichsam zur Entschdigung dafr, auch sicherer und besser informiert.
Es mu die Beobachtung und Beschreibung mit den Operationen
des geschlossenen Systems vollziehen, und das heit: ihnen selbst
einen normativen Status und eine Zuordnung zum Code Recht/Unrecht verleihen. Es mu zum Beispiel sagen, da es recht ist, Recht
und Unrecht zu unterscheiden, whrend externe Beobachter genau
darin ein Unrecht sehen knnten. Insofern ist die Theorie des operativ geschlossenen selbstreferentiellen Systems nicht nur eine Objekttheorie, sondern sie erfat auch die Reflexionsleistungen des so
beschriebenen Systems; sie beschreibt das System als ein sich selbst
beschreibendes System.
63 Vgl. Jean-Louis Le Moigne, La thorie du systme gnral: Thorie de la modlisation, Paris 1977. Eines der Beispiele Le Moignes ist das Bruttosozialprodukt als
Selbstbeschreibung eines Systems (S. je). Das Beispiel zeigt zugleich, wie komplex
(und abwegig?) die Voraussetzungen sein knnen, auf die eine solche Modellbildung sich einlt.
75
VI
Die Beschreibung von Systemen als operativ geschlossen gibt ein
recht einseitiges Bild, das wir nunmehr korrigieren mssen. Durch
operative Schlieung konstituiert sich eine Einheit in einem Bereich, der dann fr sie Umwelt wird. Weder die Existenz noch die
Relevanz der Umwelt wird geleugnet. Im Gegenteil: Die Unterscheidung von System und Umwelt ist genau die Form, die es
erlaubt, ein System oder die Umwelt im Unterschied zum jeweils
anderen zu bezeichnen. Wir verrennen uns also nicht in die Absurditt zu behaupten, es gebe Recht ohne Gesellschaft, ohne Menschen, ohne die physikalischen und chemischen Sonderbedingungen auf unserem Planeten. Nur: Beziehungen zu dieser Umwelt
kann das System nur auf Grund von Eigenleistungen herstellen, nur
im Vollzug eigener Operationen, die nur dank jener rekursiven Vernetzung mglich sind, die wir als Geschlossenheit bezeichnen.
Oder kurz gesagt: Offenheit ist nur auf Grund von Geschlossenheit
mglich.
Die ltere Lehre von den umweltoffenen Systemen hatte diese Offenheit kausal interpretiert und fr das Erkennen von Regelmigkeiten im Verhltnis von Systemen und Umwelten einen unabhngigen Beobachter vorausgesetzt. Das bleibt unbezweifelt. Selbstverstndlich kann ein Beobachter nach Magabe eigener Kriterien und
eigener Zurechnungsprferenzen Kausalbeziehungen oder Wahrscheinlichkeiten im Verhltnis zwischen Systemen und Umwelten
feststellen, zum Beispiel eine bevorzugende Behandlung von Angehrigen der Oberschichten im Recht. Wir gehen statt dessen von
einer Vorfrage aus, nmlich von der Frage, wie das Recht berhaupt
operiert und wie es seine eigenen Operationen und deren Effekte
beobachtet. Damit verschiebt sich das Problem zu der Frage nach
den Formen der Internalisierung der Unterscheidung von System
und Umwelt durch das System oder, formaler ausgedrckt: nach
dem Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene und nach dem imaginren Raum von Mglichkeiten,
den das System mit dieser Operation erschliet.
Um den internen Gebrauch dieser Unterscheidung deutlich heraus64
64 RE-ENTRY IM SINNE VON GEORGE SPENCER BROWN, LAWS OF FORM A.A.O., S. 56 F.,
69 FF.
76
zustellen, werden wir Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden, also sagen, da ein System, das ber entsprechende
Beobachtungsfhigkeiten verfgt, zwischen Selbstreferenz und
Fremdreferenz unterscheiden kann. Wir selbst befinden uns mit
dieser Terminologie (anders als die ltere Lehre von offenen Systemen) auf einer Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Wir
beobachten, wie das System beobachtet und wie es dabei die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz operationalisiert.
Anders als im blichen Verstndnis von Autonomie unterscheiden
wir scharf zwischen Fragen kausaler Abhngigkeit/Unabhngigkeit
(die ein Beobachter je nach Auswahl von Ursachen und Wirkungen
so oder anders beurteilen mag) und Fragen der Referenz, die immer
das System als Beobachter voraussetzen. Fremdreferenz gilt uns
deshalb noch nicht als Einschrnkung der Systemautonomie, weil
das Referieren immer eine systemeigene Operation bleibt, die im
System durch interne Vernetzungen ermglicht, das heit: an Normen sichtbar sein mu. Und deshalb charakterisiert die Operation
des Beobachtens mit Hilfe der Unterscheidung von Selbstreferenz
und Fremdreferenz zunchst auch nur das System selbst, und zwar
genau in der eigenen Handhabung seiner Autonomie.
Je nach dem, ob wir auf die Funktion achten, die im normativen Stil
des Erwartens fixiert ist, oder auf den Code Recht/Unrecht, finden
wir verschiedene Formen, mit denen das Rechtssystem Selbstreferenz und Fremdreferenz auseinanderzieht. Was die Funktion angeht, knnen wir feststellen, da das Rechtssystem normativ
geschlossen und zugleich kognitiv offen operiert. Das Verstndnis
65
66
65 Anders Lempert a.a.O., S. 159 mit der oben (S. 6j f.) zitierten Definition, die im
Begriff der Autonomie bereits darauf abstellt, ob das System sich auf sich selbst
(Formalismen, Verfahren, Begriffe) oder auf seine Umwelt bezieht. Die oben im
Text formulierte Version bringt einfach grere Distanz gegenber Kausalfeststellungen zum Ausdruck, die doch eigentlich nur Rckschlsse auf den zulassen, der
sie trifft.
66 Arthur J.Jacobson, Autopoietic L a w : T h e N e w Science of Niklas Luhmann, Michigan Law Review 87 (1989), S. 1647-1689 (1650, 168$) meint, es gebe keine
empirische Evidenz fr die Verwendung dieser Unterscheidung in Rechtssystemen.
Der Einwand ist nicht leicht zu verstehen. Da es auf die Verwendung der Worte
normativ/kognitiv nicht ankommen kann, drfte sich von selbst verstehen. Man
knnte die These aber leicht empirisch testen (und widerlegen), wenn man Flle
sammeln wrde, in denen eine Form aus einem nichtjuristischen Bereich im Recht
77
67
henden Kommentierung.
D i e T h e s e n o r m a t i v e r G e s c h l o s s e n h e i t richtet s i c h v o r allem gegen
die V o r s t e l l u n g , M o r a l k n n e i m R e c h t s s y s t e m unmittelbar gelten.
I n v i e l e n lteren R e c h t s o r d n u n g e n - w u r d e d i e s d u r c h F o r m a l i s m e n
ausgeschlossen - u n d d a n n d u r c h die U n t e r s c h e i d u n g v o n G e r e c h tigkeit u n d B i l l i g k e i t a u s g e g l i c h e n . I n der m o d e r n e n Gesellschaft ist
eine U n m i t t e l b a r g e l t u n g der M o r a l i m R e c h t s s y s t e m erst recht u n m g l i c h , u n d dies aus e i n l e u c h t e n d e n G r n d e n . D a s R e c h t s s y s t e m
m u h i n r e i c h e n d e K o n s i s t e n z seines E n t s c h e i d e n s sicherstellen,
also i n s o w e i t als E i n h e i t f u n g i e r e n k n n e n . M o r a l i s c h e B e w e r t u n gen s i n d dagegen t y p i s c h p l u r a l i s t i s c h gegeben, u n d m a n kann s i c h ,
w o K o n s e n s fehlt, m i t F r a g m e n t i e r u n g i h r e r A n h n g e r , also m i t
Gruppenbildung helfen.
68
relevant wird, ohne durch das Recht dazu autorisiert zu sein; oder in denen der
bloe Versto gegen die N o r m die N o r m auer Kraft setzt, weil der Richter gehalten ist, aus dem Versto zu lernen. Jedenfalls mu ein empirischer Test der
Auflsungsstrke der Theorie Rechnung tragen, wenn er sie verifizieren oder falsifizieren will. Es gengt deshalb nicht, festzustellen, da das tgliche Leben solche
Unterscheidungen nicht benutzt.
67 Siehe vor allem die sehr sorgfltigen berlegungen von Lempert a.a.O., S. 178 ff.
68 Gegen die herrschende Auffassung im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten hat
besonders Robert M. C o v e r darauf hingewiesen, da auch Minderheiten ein Recht
haben, ihre Auffassung als Moral anerkannt zu sehen, und da deshalb Richter
nicht einfach ihre Mehrheitsmeinung als die Moral ausgeben knnen. Siehe; The
Supreme Court, 1982 Term. Foreword: N o m o s and Narrative, Harvard Law Review 97 (1983), S.4-68, und ders., T h e Folktales of Justice: Tales of Jurisdiction,
T h e Capital University L a w Review 14 (1985), S. 179-203. Diese Auffassung grndet sich auf eine Tradition der religisen Anerkennung von Minderheitsmeinungen
im jdischen Recht des Talmud.
78
69
71
Nur wenn das Recht gegen die unbestndige Flut und Ebbe moralischer Kommunikationen differenziert und von ihr an Hand
rechtseigener Geltungskriterien unterscheidbar ist, knnen auch die
Tatsachen spezifiziert und gegen eine Gesamtbeurteilung der Personen abgegrenzt werden, auf die es in Rechtszusammenhngen
ankommt. Die Offenheit in bezug auf kognitive Fragen hngt direkt von der normativen Geschlossenheit des Systems ab, und sie
kann nur zu grerer Differenziertheit und Spezifizitt entwickelt
69 Vgl. dazu Luc J. Wintgens, L a w and Morality: A Critical Relation, Ratio Juris 4
(1991). S. 1 7 7 - 2 0 1 .
70 Hierzu auch Niklas Luhmann, The C o d e of the Moral, Cardozo L a w Review (14
(1993). S. 995-1009).
71 Viele rechtstheoretische Kontroversen in dieser Frage scheinen darauf zurckzugehen, da man das Problem des Verhltnisses von Recht und Moral auf diese Frage
beschrnkt. U n d natrlich wird niemand ernstlich bestreiten, da ein gewisses Ma
an Begrndungskonvergenz (ein ethisches Minimum des Rechts) immer gegeben
ist. Bei der spezifischen Begrndung von rechtlich problematischen Entscheidungen in hard cases hilft diese Einsicht jedoch nicht weiter, und sie ndert auch
nichts daran, da das Recht sich immer an Rechtstexten als Recht ausweisen
mu.
79
Normative Schlieung heit demnach nicht nur, aber selbstverstndlich auch, da Normen gegenber Enttuschungen stabil gehalten werden mssen. Aus dem Versto gegen die Norm allein
ergibt sich noch kein adaptives, normnderndes Lernen. Das fhrt
aber nur auf die Frage, wie diese kontrafaktische Enttuschungsfestigkeit, diese Bockigkeit systemintern ermglicht und gesichert
werden kann. Die Antwort liegt in den rekursiven Vernetzungen
der Autopoiesis des Systems. Die Norm wird durch vorherige und
72 Andernfalls kommt es, wie Kritiker immer wieder bemerkt haben, zu eklatanten
Widersprchen, wenn behauptet wird, da kognitives und normatives Erwarten
einander wechselseitig ausschlieen und doch beide zugleich praktiziert werden.
80
als
dieselbe
schaffen
widriges
dungen
(wie
sein mag)
Verhalten
der
auch
i m m e r
kondensiert.
im
der
Das
Interpretationsspielraum
Rechtssystem
Gerichte
aus.
A b e r
be-
schliet k o n k r e t w e d e r rechtsnoch
dann
rechtswidrige
bleibt
die
Entschei-
Bezeichnung
als
des
nicht
Systems
sei
es
rechtskrftigen
gung bei
in
der
F o r m
Entscheidung,
spterer Orientierung an
der
sei
es
A u f h e b u n g
als
einer
noch
Nichtbercksichti-
Przendenzentscheidungen.
Die
n o r m a t i v e G e s c h l o s s e n h e i t ist m i t h i n d e r K o n t e x t l a u f e n d e r Selbstbeobachtung
A u c h
des
Lernen,
intern
Systems
auch
induziert
im
Schema
n d e r u n g
d u r c h
nicht
v o n
m e h r
rechtmig/rechtswidrig.
N o r m e n
bleibt
akzeptable
mglich,
sei e s
Rechtsfolgen,
sei e s
des
Sinnes
spezifischer
u n d
sich
auch kognitiv z u
sammenhang.
Eine
autopoietischen
f f n u n g
Bedingung
N o r m e n .
schlieen,
f r
der
A b e r
das
S y s t e m
sieht
Wfsseraszusammenhang herzustelw o h l
Kognition
Einarbeitung
Normzu-
aber einen
steht
i m m e r
des
unter
Einzelfalles
der
oder
als
d u r c h
Ein
des
M a c h t s p r u c h
Rechtsbruch
M a c h t
o h n e
Rechtssystem,
chen
solchen
wollen,
tion.
da
Systems.
Willkrakt,
d e r
e r k e n n b a r - auch w e n n das
Folgen
das
Eingriffen
dies
Ein
lediglich
auf
bleibt.
hufig
u n d
ausgesetzt
v o r k o m m t
- ,
in
breit
ist -
und
operiert
streuenden
w e r
Sachberei-
w r d e
i m Zustand der
bestreiten
K o r r u p -
verzichtet
siert
den
scheidung,
auch
C o d e
nicht
auf N o r m e n
R e c h t / U n r e c h t
d u r c h
einen
schlechthin;
d u r c h
Rejektionswert,
eine
aber
es
mediati-
vorgeordnete
knnte
m a n
im
Unter-
A n s c h l u
73
Fllen
zu
einer
V o r p r f u n g
Es k o m m t dann in d a f r ausgein
der
Frage,
ob
R e c h t
ange-
Siehe mit vielen Belegen Marcelo Neves, Verfassung und Positivitt des Rechts in
d e r p e r i p h e r e n M o d e r n e : Eine t h e o r e t i s c h e B e t r a c h t u n g u n d e i n e D a r s t e l l u n g des
F a l l s B r a s i l i e n s , B e r l i n 1992.
gl
7 5
Autopoiesis
7 6
D i e s e A n a l y s e n z e i g e n , d a Selbstreferenz u n d F r e m d r e f e r e n z i n
der F o r m v o n n o r m a t i v e r S c h l i e u n g u n d k o g n i t i v e r f f n u n g z u s a m m e n w i r k e n m s s e n , u n d z w a r auf der B a s i s n o r m a t i v e r S c h l i e u n g . D a s S y s t e m k a n n L e r n l e i s t u n g e n d e m Z u f a l l , das heit d e m
i m S y s t e m n i c h t v o r g e s e h e n e n A n s t o v o n a u e n b e r l a s s e n , wenn
es die M g l i c h k e i t h a t , n d e r u n g e n als n d e r u n g e n des geltenden
R e c h t s z u p r a k t i z i e r e n u n d i n das r e k u r s i v e N e t z w e r k wechselseitiger Interpretation seiner N o r m e n e i n z u a r b e i t e n . P r e s s i o n e n k a n n
m a n s c h l u c k e n u n d n a c h r e g u l i e r e n - etwa N i c h t v e r f o l g u n g v o n
Straftaten auf d a s O p p o r t u n i t t s p r i n z i p d e r Staatsanwaltschaft z u r c k f h r e n o d e r N i c h t V o l l s t r e c k u n g v o n G e r i c h t s u r t e i l e n auf den
h h e r e n R e c h t s w e r t der V e r m e i d u n g v o n U n r u h e n . D i e A u t o p o i e sis des S y s t e m s i s t , i m R e c h t w i e i n der G e s e l l s c h a f t w i e i m L e b e n
a u c h , ein z i e m l i c h r o b u s t e s P r i n z i p - gerade w e i l sie n u r weiterlaufen oder a u f h r e n k a n n . D a s h e i t aber n i c h t , d a D e s t r u k t i o n
n i c h t m g l i c h w r e , u n d m a n k a n n a n d e r A r t der L e r n l e i s t u n g e n ,
d i e d e m S y s t e m aufgentigt w e r d e n , W a r n s i g n a l e ablesen. N i c h t
u m s o n s t hatte d e r liberale Staat m i t seiner nie wieder erreichten
R e c h t s k u l t u r d i e L e g e n d e verbreitet, der absolute Staat sei d u r c h
M a c h t s p r c h e des M o n a r c h e n regiert w o r d e n
Rechtsprinzip,
das
der
Gewaltenteilung,
7 7
- u m ein anderes
dagegen
durchzuset-
zen.
Gegenber groen historischen U m b r c h e n und
Gefhrdungen
also m i t sehr u n t e r s c h i e d l i c h e n N o r m i n h a l t e n
75 Siehe hierzu Dieter Simon, Waren die NS-Richter unabhngige Richter?, Rechtshistorisches Journal 4 (1985), S. 1 0 2 - 1 1 6 .
76 Diese Bemerkung zielt auch auf die verbreiteten Bemhungen, ethisch-politische
Ablehnung dieses Regimes durch Korrekturen der Rechtstheorie zum Ausdruck zu
bringen. Zu lernen wre hier, da es auf politische Wachsamkeit ankommt, und
nicht auf rechtstheoretische Wachsamkeit.
77 Siehe dazu Regina O g o r e k , Das Machtspruchmysterium, Rechtshistorisches Jour-
78
Sie verlangt, d a n o r m a t i v e E n t s c h e i d u n g s r e -
7 9
D a s V o r s c h r e i b e n der F o r m v o n F a k t e n ,
80
b e r n a h m e m o r a l i s c h e r W e r t u n g e n aufrufen, etwa b o n a f i d e s ,
w u r d e n i m R e c h t i n e i n e m s p e z i f i s c h j u r i s t i s c h e n Sinne g e b r a u c h t .
81
84
82
K o g n i t i v offen h e i t d e m n a c h n i c h t s a n d e r e s , als da
8 4
8 3
U n d Oliver Wendell H o l -
D a s R e c h t k a n n n o r m a t i v e V o r g a b e n z w a r aus d e r M o r a l
85
D a s Gegenteil
82 D a dieser Sachverhalt lteren Vorstellungen ber Informationen als eine Art von
handelbaren und bertragbaren Daten widerspricht, liegt auf der Hand. Deshalb
wird oft geklagt, die Theorie des autopoietischen Systems sei in diesem Punkte
unklar; sie zeige nicht, wie eine Information von auen nach innen komme. (So
z . B . William M . E v a n , Social Structure and L a w : Theoretical and Empirical Perspectives, N e w b u r y Park Cal. 1990, S. 38 ff. (42).) Sie ist jedoch in dieser Hinsicht
nicht unklar, sie schliet vielmehr einen solchen bertragungsvorgang begrifflich
aus.
83 D
85
8 6
D a s S y s t e m k a n n T a t s a c h e n nicht als
die f r die R e c h t s a n w e n d u n g Z u r e c h -
n u n g s u n f h i g k e i t , S c h u l d u n f h i g k e i t u s w . bedeutet.
I m R e c h t s s y s t e m b e k o m m t d a m i t die U n t e r s c h e i d u n g v o n N o r m e n
u n d F a k t e n eine B e d e u t u n g , die s i c h i n k e i n e m anderen F u n k t i o n s system findet.
87
U n d wohlgemerkt:
Es
geht n i c h t d a r u m ,
da
geltenden Recht keine eindeutige, deduktiv anwendbare Entscheidungsregel zu finden ist, da alle Rechtsentscheidungen einer moralischen Rechtfertigung bedrfen.
In dem Justizverweigerungsverbot steckte dann implizit eine Verweisung auf Moral.
Dagegen mag man Einwendungen vorbringen. Aber selbst wenn L y o n s recht htte,
wrde immer noch gelten, da es eine rechtliche (und nicht nur eine moralische)
Begrndung fr die Relevanz der Moral fr das Recht gibt, nmlich das Justizverweigerungsverbot. Vgl. dazu auch unten Kap. 6, III.
86 Hierzu mit vielen Belegen R. Bruce Dickson, Risk Assessment and the Law: Evolving Criteria by which Carcinogenicity Risk Assessment A r e Evaluated in the
Legal C o m m u n i t y , in: Vincent T. Covello et al. (Hrsg.), Uncertainty in Risk A s sessment, Risk Management, and Decision Making, N e w York 1987, S. 1 4 5 - 1 5 7 .
87 Siehe dazu auch Vilhelm Aubert, T h e Structure of Legal Thinking, in: Legal Essays:
Festskrift til Frede Castberg, Kopenhagen 1963, S. 41-63. Fr die typische rechtstheoretische Reflexion dieser Unterscheidung vgl. etwa Christian Atias, Epistemologie juridique, Paris 1985, S. 123 ff.
86
diese Unterscheidung ankommt, also auch auf die Sorgfalt und Genauigkeit, mit der beide Seiten der Unterscheidung unterschieden
und Vermischungen vermieden werden. Denn die Unterscheidung
reprsentiert im System die Unterscheidung von Selbstreferenz und
Fremdreferenz, also die Art und Weise, in der in jeder Operation
des Systems die Differenz von System und Umwelt reflektiert wird.
Und allein schon deshalb drfte, selbst wenn es sie gbe, eine Logik
nicht zugelassen werden, die von Fakten (und seien es: Fakten des
vernnftigen Bewutseins) auf Normen zu schlieen erlaubt oder
umgekehrt von Normen auf Fakten.
Bercksichtigt man, da es sich bei der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz um die Einheit einer Form handelt, die
nach zwei Seiten hin anschlufhig ist, liegt die Folgerung nahe, da
eine Reaktion auf zunehmende gesellschaftliche Komplexitt auf
beiden Seiten stattfinden mu. Das Rechtssystem wird einerseits in
seiner Normenstruktur komplexer. Manche meinen, dies an einem
Ausweichen von sachlichen Generalisierungen auf Verfahrensregelungen erkennen zu knnen (Prozeduralisierung). Aber auch die
kognitive Seite und in diesem Bereich die Verweisung auf rechtsexterne Kriterien gewinnt an Gewicht. Dabei macht es im Prinzip
keinen Unterschied, ob auf rechtsexterne Normen (ethische Kriterien, gute Sitte, lokale Gepflogenheiten bestimmter Professionen
usw.) oder auf Wissenskomplexe (Stand der Technik, Stand der wissenschaftlichen Forschung) verwiesen wird. Ob eine solche Verweisung vorliegt, bedarf im brigen jeweils sorgfltiger Prfung. Es
ergibt sich nicht schon allein daraus, da Terminologien verwendet
88
89
88 Siehe zum Beispiel Reiner Frey, Vom Subjekt zur Selbstreferenz: Rechtstheoretische berlegungen zur Rekonstruktion der Rechtskategorie, Berlin 1989, insb.
S. 100 ff., im Anschlu an Wiethlter.
89 Vgl. zum letztgenannten Fall Peter Marburger, Die Regeln der Technik im Recht,
Berlin 1979; Rainer Wolf, Der Stand der Technik: Geschichte, Strukturelemente
und Funktion der Verrechtlichung technischer Risiken am Beispiel des Immissionsschutzes, Opladen 1986. D i e strukturelle hnlichkeit der Verweisung auf Technik
und der Verweisung auf gute Sitten und Moral wird, soweit ich sehe, nirgends
vermerkt. Jedenfalls sind die normativen Vorgaben fr die Beurteilung der juristischen Relevanz externer Regeln und Sachverbaltsbeurteilungen keine konstanten
Gegebenheiten. Sie unterliegen selbst einer richterlichen und gesetzgeberischen
Fortentwicklung des Rechts. Eine solche verlangt zum Beispiel Gerd Winter, Die
Angst des Richters bei der Technikbewertung, Zeitschrift fr Rechtspolitik (1987),
S. 425-431.
87
90 So, bereits fr das rmische Recht, Yan Thomas, Le langage du droit romain: Problmes et mthodes, Archives de Philosophie du Droit 19 (1974), S. 103-125 - gegen
eine (allerdings nicht wirklich durchdachte) bliche Meinung. Vgl. auch die A u s fhrungen zu The A u t o n o m y of the Legal Lexicon, in: Bernard S.Jackson,
Semiotics and Legal Theory, London 1985, S.46ff. Fr einen bedeutungsreichen
Einzelfall siehe Antonio Carcaterra, Intorno ai bonae fidei iudicia, Napoli 1964.
91 M i t den Folgen dieser, sei es im Beweisverfahren stattfindenden, sei es institutionell
vorgesehenen Beteiligungen von Sachverstndigen hat sich Helmut Schelsky verschiedentlich befat. Siehe z. B. D i e Soziologen und das Recht: Abhandlungen und
Vortrge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 39 ff.
Siehe auch Julian L. Woodward, A Scientific Attempt to Provide Evidence for a
Dcision on Change of Venue, American Sociological Review 17 (1952), S. 447-452,
fr beweisrechtliche Probleme bei einer rein wissenschaftlichen Tatsachenermittlung und -auswertung. (Der Fall betrifft allerdings eine juristisch eher untypische,
politisch aber aufregende Untersuchung von Vorurteilen aus Anla eines Todesurteils gegen Schwarze wegen Vergewaltigung einer weien Frau.
88
92
bereits h i n g e w i e s e n .
93
K l a r ist, d a die M e t h o d e e m p i r i s c h e r M e i -
n u n g s f o r s c h u n g n i c h t a n g e w a n d t w i r d , e s also n u r d a r u m geht, da
89
sich bei der Interpretation von Gesetzestexten explizit auf den alltglichen Sprachgebrauch berufen. Es handelt sich in all diesen
Fllen nicht um Belege fr die These der Entdifferenzierung und
auch nicht um Indikatoren fr einen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Rechts, sondern um einen Fall von Interpntration.
Das soll heien: Das Recht setzt voraus, da die Umwelt Komplexitt strukturiert und reduziert hat und benutzt seinerseits dann das
Resultat, ohne dessen Zustandekommen zu analysieren (und wenn:
dann unter rein rechtlichen Gesichtspunkten). Das fhrt weder zu
einer Verwischung der Systemgrenzen noch zu einem berlappen
der Systeme, noch notwendigerweise zu einer gesamtgesellschaftlichen Gewichtsverlagerung aus dem Rechtssystem in andere Funktionssysteme. Im Prinzip geht es um einen ganz normalen Vorgang
der Unsicherheitsabsorption im Verkehr zwischen Systemen (so
wie das Gehirn die chemischen Ordnungsleistungen der Nervenzellen benutzt, ohne sie als eigene Operationen zu ordnen). Man
erkennt die unberhrt bleibende Autonomie daran, da es normalerweise rechtsspezifische Entscheidungen sind, die einen solchen
Ausgriff ntig machen und ihm im Rechtssystem dann einen dort
verantworteten, zumeist sehr engen Anschlu wert verleihen; und
ferner daran, da die Autorisation des Rechts auch Irrtmer deckt,
etwa Irrtmer ber die technische Realisierbarkeit von Auflagen zu
veranschlagten Kosten, whrend die Technik in solchen Fllen dann
schlicht nicht funktioniert. In allen kognitiven Operationen nimmt
das Rechtssystem in Anspruch, sich rechtskrftig irren zu knnen
und im Anschlu daran dann selbst zu entscheiden, ob etwas und
was zu tun ist, wenn der Irrtum sich herausstellt.
Da d a s Recht das Heranziehen von Nichtrecht in rechtlichen Entscheidungen legitimieren mu, zeigt bereits, da es sich auch bei
fremdreferentiellen Kognitionen stets um Aspekte rechtssystemin94
95
96
94 in this sens, ordinary meaning is as mucH a construct of the law as is legal principle, bemerken D. Neil M a c C o r m i c k / Robert S. Summers, Interpretation and
Justification, in dies. (Hrsg.), Interpreting Statutes: A Comparative Study, Aldershot Hants, England
1992,
S.
511-544 (517).
95 Zu diesem Begriff von Interpntration als Pauschalanknpfung an externe K o m plexitt nher Niklas Luhmann, Soziale Systeme a.a.O. S. 286 ff.
96 Zunehmend fhren solche Entdeckungen heute zu verfassungsrechtlichen Auflagen
an den Gesetzgeber. A b e r das betrifft nur die Irrtmer des Gesetzgebers, nicht die
des Richters.
90
98
99
97 Siehe vor allem Roger Smith / Brian Wynne (Hrsg.), Expert Evidence: Interpreting
Science in the L a w , London 1989.
98 It follows, heit es bei Smith und Wynne a.a.O., S. 3, that the many areas of legal
decision making which draw on scientific or technical expertise value a firm structuring and classification of problems, clear distinctions between what is and is not at
issue, precise decision rules (leading as far as possible, to decisions following automatically from the facts of a problem) and efficiency in presentation and procedure*.
99 Vgl. z . B . Susan Leigh Star, Scientific Work and Uncertainty, Social Studies of
Science 15 (1985), S. 391-427; Brian L. Campbell, Uncertainty as Symbolic Action
in Disputes A m o n g Experts, Social Studies of Science 15 (1985), S.429-453.
91
100
100 Dies Beispiel zeigt im brigen auch, wie sehr historische Entwicklungen mitzubercksichtigen sind. A u f das hohe Lernrisiko der Auslegung des Willens der
Vertragschlieenden hat sich das Recht erst im 19. Jahrhundert eingelassen.
92
Offenheit
z u m A u s d r u c k gebracht?
W i r a n t w o r t e n : m i t H i l f e der D i f f e r e n z v o n C o d i e r u n g u n d P r o grammierung.
A u f der E b e n e des C o d e s besteht die O f f e n h e i t des S y s t e m s n u r i n
seiner k u r z g e s c h l o s s e n e n Selbstreferenz, n m l i c h d a r i n , d a jede
O p e r a t i o n jederzeit b e r die beiden Werte R e c h t u n d U n r e c h t verfgen k a n n . H i e r h a n d e l t e s s i c h - i m U n t e r s c h i e d z u jeder T e l e o l o gie, die auf ein gutes ( n a t r l i c h e s , perfektes usw.) E n d e abstellt u m eine O f f e n h e i t i n der Z e i t d i m e n s i o n . M a n k a n n n i c h t a b s c h l i e e n , m a n k a n n n u r a n s c h l i e e n . E b e n das lt aber z w a n g s l u f i g
offen, w i e die Werte R e c h t u n d U n r e c h t zugeteilt w e r d e n u n d was
i n dieser H i n s i c h t richtig b z w . u n r i c h t i g ist. R e g e l n , die darber
entscheiden
i m m e r fr Interpretation),
w o l l e n w i r P r o g r a m m e n e n n e n . W i r d e n k e n dabei a n R e c h t s g e setze, aber a u c h a n andere E n t s c h e i d u n g s p r m i s s e n des R e c h t s s y stems, etwa a n S e l b s t b i n d u n g e n d u r c h P r j u d i z i e n i n d e r G e r i c h t s p r a x i s . U b e r C o d i e r u n g ist die operative G e s c h l o s s e n h e i t des
S y s t e m s gesichert. A u f der E b e n e der P r o g r a m m i e r u n g k a n n dann
festgelegt w e r d e n , i n w e l c h e n H i n s i c h t e n das S y s t e m aus w e l c h e n
A n l s s e n K o g n i t i o n e n z u p r o z e s s i e r e n hat. D a s k a n n i n k o m p l e x e r
w e r d e n d e n G e s e l l s c h a f t e n z u sehr weitreichender A u f g e s c h l o s s e n heit gegenber v o r w e g n i c h t festlegbaren U m w e l t b e d i n g u n g e n f h ren. E s fhrt j e d o c h n i e m a l s z u r A u f l s u n g der E i n h e i t d e s R e c h t s ,
solange diese i m S y s t e m d u r c h e i n e n ( u n d n u r einen) C o d e p r s e n tiert w i f d , der n i r g e n d w o s o n s t i n der G e s e l l s c h a f t b e n u t z t w e r d e n
kann.
S c h l i e l i c h k n n t e m a n n o c h d i e F r a g e stellen, o b e s n i c h t d o c h u n d
93
1 0 1
M a n d e n k e a n die
1 0 2
M t e m a n n i c h t z u g e s t e h e n , d a das R e c h t s s y s t e m
1 0 3
W r e dies j e d o c h
Recht ndern.
U n t e r den heutigen
Bedingungen
der M a s s e n p r e s s e u n d des F e r n s e h e n s geschieht eine solche U m o r i e n t i e r u n g sehr v i e l s c h n e l l e r als z u der Z e i t , ' als e s u m ein
E i n p e n d e l n des R e c h t s auf B e d i n g u n g e n des k a p i t a l i s t i s c h e n W i r t schaf tens g i n g .
und
1 0 4
E n t s p r e c h e n d k n n e n die A u s s c h l g e erratischer
s c h n e l l e r w i e d e r revisionsbedrftig s e i n ,
und
entsprechend
liegt d e r K a u s a l s c h l u v o m M e i n u n g s w a n d e l a u f R e c h t s n d e r u n g
nher. D a m a n d e n S a c h v e r h a l t k a u s a l b e s c h r e i b e n k a n n , soll a u c h
101 Siehe Joel Handler, Social Movements and the Legal Systems: A Theory of Law
Reform and Social Change, N e w York 1978. Die Untersuchung von Handler konzentriert sich allerdings auf die soziale Bewegung selbst, und bei dieser Systemreferenz erscheint dann das Rechtssystem nur als eine der Variablen, die den Erfolg
b z w . Mierfolg sozialer Bewegungen mit dem Ziel der Rechtsnderung erklren.
102 George L. Priest, T h e N e w Legal Structure of Risk Control, Daedalus 119,4
(1990), S. 207-227, spricht geradezu von einer Revolutionierung des amerikanischen Zivilrechts.
103 D e n Einwand hat Marjorie Schaafsma vorgebracht in einem Referat fr den Kurs
Sociology of L a w , den ich im Herbstsemester 1989 an der L a w School der Northwestern University gegeben habe.
104 Hierzu James W. Hurst, Law and the Conditions of Freedom in the NineteenthCentury United States, Madison Wisc. 1956; ders., Law and Social Process in
United States History, A n n Arbor 1960; Morton J. Horwitz, T h e Transformation
of American Law, 1780-1860, Cambridge Mass. 1977.
94
VII
verfassungsmig/verfassungswidrig
berzieht.
105
Verfas-
die G e s i c h t s p u n k t e
1 0 6
E s s i e h t s o a u s , als o b die
V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t e n , die o h n e h i n s c h o n m i t h h e r e m Recht z u
t u n h a b e n , auf n o c h m a l s H h e r e s z u r c k g r e i f e n m t e n , u m s i c h
v o n i h r e n U n s i c h e r h e i t e n z u befreien.
S c h e i n b a r i m K o n t r a s t ( u n d w i e m a n c h e v e r m u t e n : i n ideologis c h e m K o n t r a s t ) d a z u findet m a n das P r i n z i p der N i c h t - I d e n t i t t
der
Verfassung
mit
weltanschaulichen,
religisen,
ideologischen Gesellschaftskonzeptionen.
107
moralischen,
I n D e u t s c h l a n d ergibt
s i c h die A t t r a k t i v i t t dieses P r i n z i p s v o r a l l e m a u s d e n E r f a h r u n g e n
m i t d e m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s , der eine s o l c h e D i s t a n z z w i s c h e n
R e c h t u n d W e l t a n s c h a u u n g als R e l i k t des l i b e r a l e n Rechtsstaates
prinzipiell verworfen hatte.
108
E i n e etwas sorgfltigere A n a l y s e b e -
lehrt u n s j e d o c h r a s c h , d a der v e r m e i n t l i c h e W i d e r s p r u c h v o n
Nicht-Identitt
und
Rckgriffen
auf
Werte
sich
auflsen
lt.
N i c h t - I d e n t i t t w i r d unter a n d e r e m N a m e n a u c h als P l u r a l i s m u s
vertreten. D a s heit z u n c h s t z w a r n u r , d a d i e V e r f a s s u n g weltans c h a u l i c h - p o l i t i s c h e D i f f e r e n z e n als T e r r a i n d e r P o l i t i k akzeptiert
u n d n i c h t als R e c h t s t e x t fr die eine o d e r a n d e r e Seite optiert. Z u s t z l i c h findet m a n
106 Michael Perry, Morality, Politics and Law, London 1988, spricht von einem Rckgriff auf die moral aspirations des Volkes. Zurckhaltender klingt es, wenn Ronald
D w o r k i n , Taking Rights Seriously, London 1978, v o n constitutional morality
spricht oder Neil M a c C o r m i c k von institutional morality (Institutional Morality
and the Constitution, in: Neil MacCormick / O t a Weinberger, An Institutional
Theory of L a w : N e w Approaches to Legal Positivism, Dordrecht 1986, S. 1 7 1 -
188).
107 Vgl. Herbert Krger, Staatslehre, 2. Aufl. Stuttgart 1966, S. 178ff.; Alexander
Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Werner Maihofer (Hrsg.), Ideologie
und Recht, Frankfurt 1969, S. 37-61 ( 5 2 f f R e i n h o l d Zippelius, Allgemeine
Staatslehre 3. Aufl., Mnchen 1 9 7 1 , S. ii2f.
108 Siehe nur Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Grodeutschen Reiches,
Hamburg 1939, durchgehend.
96
in
allgemeine
Wertprogramme
uminterpretiert,
um
die
97
VIII
10
n i s s e z u erwarten s i n d , a b g e k r z t v o n G e l t u n g s p r e c h e n .
E b e n s o w i e G e l d ist a u c h G e l t u n g ein S y m b o l o h n e i n t r i n s i s c h e n
W e r t . E s verweist i n k e i n e r W e i s e auf die Q u a l i t t eines G e s e t z e s ,
eines r e c h t s k r f t i g e n U r t e i l s o d e r eines V e r t r a g e s . E s entzieht s i c h
j e d e r q u a l i t a t i v e n G e w i c h t u n g , die z u e i n e m b e s s e r o d e r s c h l e c h -
109 Hierzu auch Niklas Luhmann, Die Unbeliebtheit der politischen Parteien, in:
Siegfried Unseld (Hrsg.), Politik ohne Projekt? Nachdenken ber Deutschland,
Frankfurt 1993, S . 4 3 - 5 3 .
no Validity is a quality ascribed to the System as a whole, heit es zum Beispiel bei
A l f Ross, On L a w and Justice, London 1958, S. 36.
98
1 1 1
- aber d a n n w i e d e r u m nicht
a u f G r u n d der i n t r i n s i s c h e n Q u a l i t t d e r N o r m , s o n d e r n auf G r u n d
v o n geltendem R e c h t , das B e d i n g u n g e n r e c h t l i c h e r G e l t u n g vorschreibt.
E s ist dieser P u n k t , a n d e m m i t H a b e r m a s z u d i s k u t i e r e n w r e .
112
1 1 3
E i n sol-
c h e s K r i t e r i u m fr die U n t e r s c h e i d u n g G e l t u n g / N i c h t g e l t u n g kann
j e d o c h gerichtlich n i c h t b e r p r f t w e r d e n . E s ist n i c h t justiziabel,
ist i m R e c h t s s y s t e m selbst n i c h t p r a k t i z i e r b a r . S c h o n ein k u r z e r
B l i c k a u f k o l o g i s c h vermittelte Betroffenheiten drfte gengen,
u m das k l a r z u s t e l l e n .
114
E s k a n n d e s h a l b n u r als L e g a l t i k t i o n f u n k -
99
115
tionieren. Man nimmt etwa an, dies Erfordernis sei erfllt, wenn
die blichen rechtsstaatlichen Verfahrensregeln eingehalten seien.
Davon ausgehend lieen sich gewisse verfahrensrechtliche Verbesserungen entwickeln - aber dies dann offensichtlich, ohne da
deren Einfhrung/Nichteinfhrung sich auf die Geltung des Rechts
auswirken wrde. Ein systemuniverseller, normativer Geltung/Nichtgeltung-Test fr jede Rechtsnorm lt sich offenbar
nicht in praktikable Programme umsetzen. Geltung wird durch
eine Art Idealisierung des Abwesenden begrndet.
Die Unvermeidlichkeit von legalfiktionaler Legitimitt besttigt,
da ein normfrei gehaltener Geltungsbegriff, der sich dann konditionieren lt, der Komplexittsdiskrepanz von System und Entscheidung besser gerecht wird. Theoriegeschichtlich gesehen ersetzt
diese Auffassung von Geltung als Symbol der Einheit des Rechts
die Frage nach den Rechtsquellen und damit den Ausgangspunkt
aller positivistischen Rechtstheorien.
Mit dem Begriff der
Rechtsquelle war das Problem zu hoch angesetzt. Zum Beispiel
fhrte diese Metapher Savigny dazu, die Vorstellung des Vertrags als
Rechtsquelle ausdrcklich abzulehnen. Auerdem suggeriert
116
117
S.188.
1 1 6 D a s gilt allerdings nicht fr den normalen rechtstheoretischen Diskurs ber Begriff und Kriterien der Rechtsgeltung, der fast alle in der Rechtstheorie laufenden
Kontroversen widerspiegelt und jede Abgrenzung des Phnomens gegenber anderen Gesichtspunkten der Beurteilung von Recht vermissen lt. Vgl. nur Fran$ois O s t / Michel van de Kerchove, Jalons pour une theorie critique du droit,
Bruxelles 1987, S. zyzff. und die dort ausgewertete Literatur.
1 1 7 Siehe Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Rmischen Rechts Bd. i,
Berlin 1.840, S. 1 2 . Das widerspricht jedoch dem rmischen Zivilrecht. Gerade die
Rmer hatten (den Hinweis verdanke ich Dieter Simon) von lex contractus gesprochen und damit die inhaltliche Geltungsfestlegung durch Vertrag gemeint.
U n d noch in den naturrechtlichen Rekonstruktionen des entsprechend erweiterten Vertragsbegriffs liest man etwa: Les Conventions tiennent Heu des loix (Jean
D o m a t , Les loix cives dans leur ordre naturel, z. A u f l . Paris 1697, Bd. 1, S. 72).
Erst die Durchsetzung des Gesetzgebungspositivismus scheint dazu gefhrt zu
haben, da man den engen Zusammenhang von gesetzlicher und vertraglicher
Disposition aus den Augen verloren hat. U n d daran hat sich bis heute nichts
gendert, auch wenn - und dies gilt bezeichnenderweise vor allem fr das Arbeits-
IOO
Ob das Rechtssystem die Begrndungsfigur der Rechtsquelle benutzt oder nicht, um Zweifel zu beheben, wird damit zu einer
empirischen Frage. Das kann man feststellen. Die Bedeutung der
Geltungssemantik ist damit jedoch nicht erschpft. Man mu auerdem fragen, welche Funktion die Form der Geltung, das heit
die Unterscheidung von Geltung und Nichtgeltung erfllt. Der
Ubergang zu einer Theorie selbstreferentieller, operativ geschlossener Systeme erzwingt diese Theorierevision. Geltung ist ein Eigenwert des Rechtssystems, der im rekursiven Vollzug der systemeigenen Operationen entsteht und nirgendwo anders verwendet
werden kann.
119
Auch wenn der Begriff der Rechtsquelle von Juristen noch gebraucht wird: in der Rechtstheorie ist er seit langem abgelst
recht - die gegenteilige Auffassung diskutiert wird. Siehe dazu Klaus Adomeit,
Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, Mnchen 1969, insb. S. 77 ff.
1 1 8 Siehe nur William Graham Sumner, Folkways: A Study of the Importance of
Usages, Manners, Customs, Mores and Morals (1906), Neuausgabe N e w York
i960; Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), Neudruck
Berlin 1967. Zur A b w a n d l u n g in eine Theorie doppelter Institutionalisierung siehe
Paul Bohannan, Law and Legal Institutions, International Encyclopedia of the
Social Sciences Bd. 9, Chicago 1968, S. 73-78.
1 1 9 Vgl. unter allgemeineren sozialtheoretischen Gesichtspunkten Robert Platt, Reflexivity, Recursion and Social Life: Elements for a Postmodern Sociology, The
Sociological Review 37 (1989), S. 636-667.
101
worden durch Figuren, die man als Paradoxieauflsung (oder: Tautologieentfaltung) mit Externalisierungstendenz
bezeichnen
knnte. Hier geht es, im Anschlu an Entwicklungen in der Logik
und der Linguistik, um Inanspruchnahme einer Metaebene, auf der
Regeln die, Geltung von Regeln regulieren. Kelsens Grundnorm
ist ein solches Theorieangebot, Harts secondary rules of recognition ein anderes. Die vielleicht berzeugendste Lsung eines so
gestellten Problems liegt im Rckgriff auf den faktischen Sprachgebrauch der Juristen. Der Ausgangspunkt dieser berlegungen
ist: Alles Recht ist geltendes Recht. Nicht geltendes Recht ist kein
Recht. Also kann die Regel, die Geltung erkennbar macht, nicht
eine der geltenden Regeln sein. berhaupt kann es im System keine
Regel geben, die die Anwendbarkeit/Nichtanwendbarkeit aller Regeln regelt. Das Problem mu gdelisiert werden durch Verweisung auf eine externe Grundlage. Und dann ist Sprache, also
Gesellschaft im allgemeinen, ein berzeugender Ausweg, da
schlielich das Recht ein Teilbereich der gesellschaftlichen Sprachgemeinschaft ist, so wie alle Wissenschaftssprachen schlielich auch
in die Umgangssprache eingebettet sein mssen. Die Entfaltung der
Tautologie Recht ist geltendes Recht durch Unterscheidung mehrerer Ebenen der Regulierung hat ihren Realittsgrund im Faktum
gesellschaftlicher Differenzierung, nmlich in der Ausdifferenzierung eines Rechtssystems im Gesellschaftssystem.
Nur ist das Mehrebenenkonzept selbst kein logisch geeignetes Mittel, weil die Unterscheidung mehrerer Ebenen der Sprache oder der
Regulierung selbst wieder paradox wird, sobald man nach der Einheit der Mehrheit von Ebenen fragt. Das Problem stellt sich aber
nur fr einen Beobachter, der Unterscheidungen verwenden mu,
um etwas zu bezeichnen (hier: als geltendes Recht) und beim Verwenden der Unterscheidung nicht zugleich die Einheit der Unterscheidung beobachten kann. Wir verlagern das Problem deshalb auf
die operative Ebene und sehen im Symbol der Rechtsgeltung nur
den Vollzug des bergangs von einem Rechtszustand in einen anderen, also nur die Einheit der Differenz eines vorher und nachher
geltenden Rechtszustands.
120
121
102
123
125
103
126
126 Siehe z . B . David R . D o w , When Words Mean What We Believe They Say: The
Case of Article V, Iowa L a w Review 76 (1990), S. 1-66. D o w sieht darin unter
Hinweis auf die Torah eine religis begrndete und deshalb durch Denken nicht
aufzulsende, also hinzunehmende Paradoxie. Vgl. ferner Peter Suber, The Paradox of Self-Amendment, N e w York 1990, mit der These eines partizipationsdemokratischen (also politischen!) Auswegs. Im Text argumentieren wir dagegen,
da jede Paradoxie durch hinzugefgte Unterscheidungen entfaltet werden kann allerdings nicht auf eine logisch kontrollierbare und damit zwingende Weise.
104
128
10$
130
106
zug auf geltendes Recht herstellbar sein, und dies sowohl fr die
Bezeichnung bestimmter Erwartungen oder Handlungen als rechtmig als auch fr den Gegenfall der Unrechtmigkeit.
Im Anschlu an Talcott Parsons kann man Geltung daher auch als
ein zirkulierendes Symbol bezeichnen, das mit jeder Verwendung
zu weiteren Operationen weitergereicht wird - so wie Zahlungsfhigkeit in der Wirtschaft oder kollektive Bindung in der Politik. Das
Symbol wird von Operation zu Operation transferiert und besteht
nur in dieser permanenten Reproduktion. Es ist kein Symbol eines
Bestandes, an dem der Proze des faktischen Rechtsgeschehens
entlangfliet. Es ist ein Symbol der dynamischen Stabilitt des Systems, die sich in Rckgriffen und Vorgriffen auf Vergangenes und
Knftiges manifestiert. Die Geltung von morgen ist, bei gleichbleibender Symbolfunktion, eine andere Geltung, weil heute etwas
entschieden wird. Wir hatten bereits gesagt: Das Recht ist eine historische Maschine, die sich mit jeder Operation in eine andere
Maschine verwandelt.
Ahnliches besagt der linguistische Begriff des Verschiebers (shifter). Hierbei handelt es sich um ein Symbol (das bevorzugte Beispiel der Linguistik sind die Personalpronomina), das nur mit
Bezugnahme auf den Proze, der es benutzt, benutzt werden kann
und daher von Moment zu Moment seine Referenz wechselt. Das
erfordert einen Verzicht auf stabile externe Referenzen, bringt aber
eben damit eine Art existentielle Verankerung in dem System zum
Ausdruck, das solche Verschieber benutzt, um sich selbst in Differenz zur Umwelt mit kontrollierter Dynamik auszustatten.
Nicht jede Rechtskommunikation transportiert allerdings Geltung
in diesem Sinne, zum Beispiel nicht das bloe Anmelden von
Rechtsansprchen. Es mu sich um rechtswirksame Entscheidungen handeln. Diese liegen aber nicht nur in den Entscheidungen des
Gesetzgebers und der Gerichte, sondern in breitestem Umfang
auch in der Grndung von Korporationen und in Vertrgen, die in
die Rechtslage eingreifen und sie ndern. Es gengen einseitig131
132
1974,
S- 35-541 3 2 Die Rechtstheorie mu hier auf die Tatsache reagieren, da seit dem 18. Jahrhundert und in Reaktion auf die ausdifferenzierte Geldwirtschaft das Geltungssymbol
auch Privaten zur Verfgung gestellt wird und trotzdem nichts an seiner Wirk-
107
samkeit einbt: ein weiterer Beleg fr die Differenzierung von Rechtssystem und
politischem System. V g l . auch Arthur J.Jacobson, T h e Private Use of Public A u thority: Sovereignty and Associations in the C o m m o n Law, Buffalow L a w
Review 29 (1980), S. 599-665; Morton H o r w i t z , T h e Transformation of American
Law 1780-1860, Cambridge Mass. 1977, S. 160ff. Wir kommen darauf in Kapitel
10 ausfhrlich zurck.
133 Insofern war es konsequent, wenn man zwischen der Bill of Rights und der Verfassung auch redaktionell unterschied - so in der Verfassung von Virginia von 1776
die berhmte Bill of Rights und darauf folgend The Constitution or Form of
Government. Siehe den Text in: Francis N. Thorpe (Hrsg.), The Federal and State
Constitutions, Colonial Charters and O t h e r Organic Laws Bd.7, Washington
1909, S. 3 8 1 2 - 3 8 1 9 . N o c h die Verfassung Virginias von 1830 zitiert die Bill of
Rights nur und sagt, sie shall be prefixed to this constitution and have the same
relation there to as it had to the former constitution of this Commonwealth
(a.a.O., S. 3820). D e r emphatische Verfassungsbegriff, der die Menschenrechte
einschliet, lt zugleich den Verdacht aufkommen, da diese Rechte entsprechend abgewertet werden und nur noch positives Recht sind, das mit der Verfassung selbst gendert werden kann. Die Verfassung mu dann als selbstbegrndend
gedacht werden. Vgl. dazu auch starke Argumente in: Ronald Dworkin, Taking
Rights Seriously, L o n d o n 1978. Es bleibt noch hinzuzufgen, da dieses Problem
im englischen C o m m o n L a w formal gar nicht auftreten kann, weil die konstitutionellen Schranken der Regierungsgewalt ohnehin als Ergebnis einer langen
geschichtlichen Entwicklung des Schutzes individuellen Rechts interpretiert werden.
108
109
netzung
der
Operationen
mit
mglichst
geringem
Informations-
zu
bewegt
der
sich
sie
nur
zwingt,
einmal
Hierarchie
mative
von
Begrndung
verzichten. Jede
ein
und
wieder
von
Geltung
normative
individualisierender
nie
in
einer
Begrndung
i.
obersten
von
Faktor:
zu
Geltung
Norm
wrde
zu
sich
selbst
voraussetzen
mssen;
sie
wrde
ihr
eigenes
undso-
weiter voraussetzen mssen. Die einzige unabdingbare Geltungsg r u n d l a g e liegt deshalb in der
Gleichzeitigkeit
stems
und
seiner
jetzt -
geschieht
Zukunft.
aller
Die
Zeit.
faktischen
Umwelt.
und
Operationen
Denn
nicht
in
Zeithorizonte
alles,
der
sind,
des
was
Gesellschaftssy-
aktuell
Vergangenheit
was
Aktualitt
geschieht,
oder
in
betrifft,
der
Leer-
da m a n
Inkapazitt
diese
Man
kann
gegebenen
sttzt
sich
gar nicht
anders
Moment
auch
die
als
Geltung
des
ungeprft zu
andere
unterstellen, da im
Operationen
des
Der
einzige
Geltungstest
liegt
Auf
Geltungssymbols.
Rechtssystems
Geltungssymbol
deshalb
im
Gelingen
Anschlu
des
von
Systems.
Operation
Und
als
an
Operation,
Nebenprodukt
in
der A u t o -
dieser
laufenden
Komplexitt
grund
als
den
beschreibt.
Modus
und
Es
gibt
die
dafr
keinen
Einschrnkung
anderen
des
Letzt-
Modus
der
Produktion.
IX
Neben
dem
Rechtssystem
formalen
ber eine
Symbol
zweite
der
Rechtsgeltung
Mglichkeit,
seine
verfgt
das
operative
Ge-
15
Als erstes fllt auf, da nicht behauptet wird, alles sei gleich oder
alles solle gleichgemacht werden. Vielmehr ist Gleichheit ein Formbegriff, der davon lebt, da es eine andere Seite gibt: die Ungleichheit. Gleichheit ohne Ungleichheit gibt keinen Sinn - und umgekehrt. Wenn Gleiches gleich behandelt werden soll, mu Ungleiches ungleich behandelt werden; denn sonst knnte das, was in
bestimmten Hinsichten ungleich ist, nicht seinerseits von Fall zu
Fall als gleich behandelt werden. Verzichtet man auf einen Normbegriff der Gleichheit, gelangt man zu der aristotelischen Regel, da
Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln sei. Es handelt sich also um ein Beobachtungsschema, das nur die Entwicklung
von Normen und Prferenzen nahelegt, aber nicht selber schon die
Prferenz fr Gleichheit festlegt. (Es wre wenig plausibel, wollte
man vorschreiben, da alle Straftter gleich bestraft werden sollen.)
Die Form der Gleichheit dient demnach dazu, Ungleichheiten auffllig werden zu lassen, die ihrerseits im Rahmen der entdeckten
Unterschiede gleiche Behandlung verdienen, bis auch diese Gleichheit wieder das Beobachten und Bezeichnen von Ungleichheit
nahelegt. Wie alles Vergleichen dient auch dieses dem Entdecken
von Ungleichheiten und fhrt damit zu der Anschlufrage, ob diese
Ungleichheiten eine Gleichbehandlung verbieten oder nicht. Und
dies erst ist die Frage, die in der Rechtsentwicklung praktische Bedeutung erlangt.
Von hier aus kann dann Gleichheit aus einer Form in eine Norm
transformiert werden. Gleichbehandlung gilt dann als die Regel,
135 Vgl. auch Raffaele De Giorgi, Modelli giuridici dell'uguaglianza e dell'equit, Sociologia del diritto 18 (1991), S. 1 9 - 3 1 .
136 Darauf werden wir in Kapitel 5 ausfhrlich zurckkommen.
III
von der Ausnahmen mglich sind, wenn die Ungleichheit der Flle
sich aufdrngt. Gleichbehandlung ist fr sich selbst Grund genug,
Ungleichbehandlung dagegen begrndungsbedrftig. Die Symmetrie der Zwei-Seiten-Form wird durch das Regel/AusnahmeSchema asymmetrisiert.
Es ist jedoch die Form, nicht die Norm, die das System schliet.
Distinction is perfect continence. Die Unterscheidung gleich/
ungleich enthlt alles, sogar sich selber, denn auch der Gleichheitssatz mu auf alle Flle gleich angewandt werden. Bei genauerem
Zusehen erkennt man ein Paradoxieauflsungsprogramm. Die Universalitt (continence) des Gleichheitssatzes heit, da es bei seiner
Anwendung nur gleiche und keine ungleichen Flle gibt. So gesehen
reprsentiert der Gleichheitssatz das System im System. Er bentigt
keine weiteren Grnde, da er nur die Autopoiesis des Systems beschreibt. Der logische Trick (oder der logische Sprung aus der
Paradoxie in die Asymmetrie einer handhabbaren Regel) liegt in der
Interpretation der Form als Norm.
137
138
Die Form der Gleichheit ist so formal, da sie sich vorzglich den
wechselnden Differenzierungsformen des Gesellschaftssystems anpassen lt. In stratifizierten Gesellschaften ist eben der unterschiedliche soziale Status das, was Ungleichbehandlung rechtfertigt. Unde oportet quod etiam leges imponantur hominibus
secundum eorum conditionem. In funktional differenzierter Gesellschaft wird nur der Bezugspunkt gendert. Ungleich ist jetzt
das, was im internen Operieren der Funktionssysteme als ungleich
behandelt werden mu, damit diese ihre Funktion erfllen knnen.
Jetzt heit die Form der Gleichheit aber nicht mehr: Erkennen der
Wesen nach hnlichkeiten und Unterschieden, sondern Dynamisierung des Gesamtsystems durch stndige Wiederholung der
Frage, ob etwas gleich oder ungleich sei.
139
140
Gott
benutzt
den
Gleichheitssatz
auch
als
Paradoxieauflsungspro-
gramm, aber in umgekehrter Richtung. Er behandelt alle Snder (nicht aber wohl,
so hofft man, alle Snden) als ungleich, nmlich als Individuen. Fr seine Praxis
des Gleichheitssatzes gibt es den Fall der Gleichheit nicht.
139 Thomas von Aquino, Summa Theologiae Ia Hae q. 96, art. 2, zit. nach der Ausgabe
Turin 1 9 J 2 , S.435.
140 So z. B. G u i d o Calabresi, A C o m m o n L a w for the Age of Statutes, Cambridge
112
I m b r i g e n m u m a n heute e i n e n p o l i t i s c h e n u n d e i n e n rechtlichen
G e b r a u c h des G l e i c h h e i t s s a t z e s u n t e r s c h e i d e n . D i e P o l i t i k verlangt,
d a M e n s c h e n g l e i c h b e h a n d e l t w e r d e n . D a s R e c h t verlangt, da
F l l e g l e i c h b e h a n d e l t w e r d e n . D a s G l e i c h h e i t s g e b o t der Verfassung
m a g als R e c h t s n o r m d a z u f h r e n , d a d i e p o l i t i s c h e G l e i c h h e i t
r e c h t l i c h als G l e i c h h e i t / U n g l e i c h h e i t d e r F l l e interpretiert w i r d ;
aber p o l i t i s c h gelingt das nie v l l i g , d a d i e P o l i t i k s i c h zumutet,
n e u e G l e i c h h e i t s i m p u l s e a u f z u n e h m e n u n d i n R e c h t ( u n d erst damit: in Rechtsflle) zu transformieren.
Das
Kriterienbedarf. Es
selbst legt d i e bentigten K r i t e r i e n aber n o c h n i c h t fest. D i e G l e i c h heit selbst ist k e i n G l e i c h h e i t s k r i t e r i u m (so w e n i g w i e d i e Wahrheit
ein W a h r h e i t s k r i t e r i u m ist). W h r e n d i m N a t u r r e c h t eher v o n Vern u n f t p r i n z i p i e n ausgegangen w u r d e , hat d a s C o m m o n L a w seit
d e m 1 6 . J a h r h u n d e r t m e h r auf d i e g e s c h i c h t l i c h e K o n t i n u i t t des
U n t e r s c h e i d e n s gesetzt. D a b e i g i n g ( u n d geht) m a n d a v o n a u s , da
eine T r a d i t i o n v o n R e c h t s e n t s c h e i d u n g e n i m m e r s c h o n vorliegt, die
F l l e z u gleicher b z w . u n g l e i c h e r B e h a n d l u n g a u s s o r t i e r t h a b e n . I n
d i e s e r T r a d i t i o n findet d e r R i c h t e r das S c h e m a g l e i c h / u n g l e i c h i n
bereits k o n k r e t i s i e r t e r G e s t a l t v o r . E r hat, w e n n e r b e r h a u p t R e c h t
s p r e c h e n w i l l , s i c h a n diese T r a d i t i o n z u h a l t e n ; a b e r gerade dies
e r l a u b t e s i h m , seinerseits z u u n t e r s c h e i d e n u n d F l l e z u ungleicher
B e h a n d l u n g a u s z u s o n d e r n , w e n n e r eine - m a n k n n t e sagen:
gleichheitsfhige U n g l e i c h h e i t e n t d e c k t u n d dies b e r z e u g e n d dart u n k a n n . D i e V e r n u n f t dieser P r a x i s liegt i n d e r H a n d h a b u n g der
Z w e i - S e i t e n - F o r m v o n g l e i c h u n d u n g l e i c h , u n d d a s hat i h r , w i e die
E r f a h r u n g z e i g t , eine stndig erneuerte V e r b i n d u n g v o n K o n t i n u i t t
Mass. 1982, S. 13 f. an Hand der Rechtsprechung zur equal protection clause: The
rnost powerful engine of change in the common law was, strangely enough, the great
principle that like cases should be treated alike (13). hnlich - justitia Semper
reformanda - auch Reinhold Zippelius, Der Gleichheitssatz, Verffentlichungen der
Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 47 (1991), S. 7-32 (31 f.). Im allgemeinen ist dieser Dynamisierungseffekt allerdings so selbstverstndlich, da der Blick
mehr auf die (rechtlichen und sozialen) Grnde gerichtet ist, die die Durchsetzung
von Rechtsnderungen erschweren. Siehe fr viele Leon H. M a y h e w , Law and Equal
Opportunity: A Study of the Massachusetts Commission Against Discrimination,
Cambridge Mass. 1968; Dinesh Khosla, Untouchability - a Case Study of Law in
Life, in: A d a m Podgorecki et al. (Hrsg.), Legal Systems and Social Systems, London
1985, S. 1 2 6 - 1 7 3 .
141
Legt man eine systemtheoretische Begrifflichkeit zugrunde, kommen ganz andere Aspekte zutage. Man kann dann begreifen, da
und wie eine Autopoiesis des Rechtssystems in Gang gebracht
wird, indem Konfliktmaterialien, Beilegung von Streitigkeiten in
Einzelfllen, zurckgewiesene oder auch besttigte Ansprche
nicht mehr nur als historische Ereignisse erinnert, sondern als Vorgaben fr die weitere Praxis zusammengeschlossen und reflektiert
werden. Da neue Flle sowohl als gleich als auch als ungleich gesehen werden knnen, legt die Tradition allein das sptere Entscheiden noch nicht fest. Was aber zu akzeptieren ist, ist die rekursive
Vernetzung frherer mit spteren Entscheidungen im selben System
- eben das, was wir operative Geschlossenheit nennen. Was Recht
und was Unrecht ist, kann nur in Auseinandersetzung mit frheren
Entscheidungen und, in geringerem Umfang, in Voraussicht knfti141 Vgl. dazu Gerald J. Postema, Bentham and the C o m m o n Law Tradition, O x f o r d
1986, S. 3 ff.; W . T . M u r p h y , T h e O l d e s t Social Science? The Epistemic Properties
of the C o m m o n L a w Tradition, T h e Modern L a w Review
54 (1991),
S.
182-21 5.
142 Siehe die Juristentypologie von R . C . van Caenegem, Judges, Legislators and Professors: Chapters in European Legal History, Cambridge England 1987.
114
143 Hierzu ausfhrlicher Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in ders.,
Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 1 1 - 6 4 .
" 5
Schaft gehrt, kann man nicht im voraus sagen, wer was zu sagen
oder wer was beizutragen hat. Unter diesen Umstnden sind Annahmen ber die Natur des Menschen und ber Rechte, die sich
aus dieser Natur logisch schlssig ergeben, bestenfalls noch malerische Details in Entscheidungsbegrndungen. Funktional dienen
Menschenrechte dem Offenhalten von Zukunft fr je systemverschiedene autopoietische Reproduktion. Keine Einteilung, keine
Klassifikation und erst recht: keine politische Sortierung von Menschen darf die Zukunft einschrnken. Denn Menschen gehren zur
Umwelt des Systems, und die Zukunft ergibt sich, je gegenwrtig
unprognostizierbar, allein aus der Autopoiesis und dem structural
drift der Gesellschaft.
Die bisherigen Analysen betreffen nur einen Ausschnitt der Gleichheitsproblematik, gleichsam die Semantik der Gleichheitsform, die
das System zur Produktion eigener Kriterien zwingt. Unabhngig
davon gibt es noch ein zweites Problem: die Gleichheit der Handlungskompetenz im System. Hier handelt es sich nicht um ein
Problem der Autonomie , sondern um ein Problem der Inklusion.
Offenkundig variieren Chancen vor Gericht, aber auch Chancen,
Gesetzgebung zu beeinflussen, mit sozialer Schichtung; und zwar
deshalb, weil Unterschiede in finanziellen Ressourcen, in Sprachgewandtheit und Interaktionskompetenz oder auch in unterstellter
Zivilitt mit Schichtung variieren. Weder von der Funktion des
Rechts noch von der Autonomie des Systems her gesehen haben
Unterschiede des Zugangs zum Recht und der Handlungskompetenz im Recht eine Funktion. Ob und wie sie die Evolution des
Systems beeinflussen, ist schwer festzustellen - es sei denn an Einzelfllen oder in spezifischen Problembereichen. Rechtssysteminterne Bemhungen um Chancenausgleich (etwa mit Hilfe des
Instituts des Armenrechts im Bereich der Prozekosten) finden
144
145
146
Il6
darin eine Schranke, da es Schichtung auch in d e r modernen Gesellschaft durchaus gibt. Im brigen sind auch Unterschichtinteressen zunchst nur Interessen, deren Berechtigung sich weder aus
dem Unterschichtenstatus noch aus dem Interesse als solchem ergibt. Ein Rechtsfall darf nicht allein deshalb schon anders entschieden werden, weil Beteiligte einer benachteiligten Schicht angehren
- es sei denn, da das Recht selbst solches vorsieht.
X
W i r haben uns lange mit einer Beschreibung der operativen Geschlossenheit des Rechtssystems aufgehalten. D a s war nicht zu
vermeiden, denn solange man nicht genau genug wei, wovon berhaupt die Rede ist, kann man mit empirischen Arbeiten oder gar mit
Kausalerklrungen nicht beginnen. Die Systemtheorie erhht zunchst einmal die Ansprche an die Genauigkeit und Differenziertheit von Beschreibungen. Das heit aber nicht, da ihr Anregungspotential sich darin erschpft, ihre Untersuchungen damit beendet
seien.
147
Bedingungen dieser operativen Geschlossenheit. Der Ausgangspunkt dafr ist die Vermutung, da es strukturelle Vorkehrungen
geben mu, die die Wahrscheinlichkeit der Erfllung normativer
Erwartungen erhhen, weil anderenfalls die Entwicklung sich nicht
weit von den Selbstverstndlichkeiten entfernen und bei den elementarsten Strukturen des zwischenmenschlichen Verkehrs stehenbleiben m u .
148
147 D i e hufig zu hrende Forderung nach einer empirischen Umsetzung systemtheoretischer Analysen besteht vllig zu Recht; aber sie ist gegenber dem Begriff der
Autopoiesis natrlich unangebracht und verbleibt zumeist so unspezifiziert, da
man vermuten mu, der Ruf nach Empirie ertne reflexartig immer dann, wenn
jemand auf unvertrautes Gelnde gelockt wird. Erst recht ist die im Zusammenhang damit zu hrende Klage ber den Abstraktionsgrad der Systemtheorie
unangebracht. Denn die sogenannten empirischen Forschungen abstrahieren
schon aus methodischen Grnden sehr viel strker, sie wissen es nur nicht.
148 ber den Erfllungsgrad von Verhaltenserwartungen in sehr einfachen (nicht
schon kolonisierten) Tribalgesellschaften hat man heute recht skeptische Vorstellungen. Vgl. z . B . Leopold Pospisil, Kapauku Papuans and Their Law, N e w
Hven 19$8, Neudruck 1964, insb. S. 250; Ronald M . B e r n d t , Excess and Restraint: Social Control A m o n g a N e w Guinea Mountain People, Chicago 1962.
"7
Wir begngen uns mit der Errterung von zwei verschiedenen Bedingungen, die im Laufe der Rechtsevolution ineinandergreifen mit
sehr verschiedenen, historisch und kulturell variierenden Formen
der Kombination. Einmal mu das, was das Recht fordert, hinreichend spezifiziert sein, so da ein Wiederaufgreifen, ein Wiederholen, eine kondensierende und konfirmierende Expansion mglich
wird. Zum anderen mu das Recht hinreichende Aussicht auf
Durchsetzung haben, weil man anderenfalls sich schlielich doch
lernend den Fakten beugt. Es darf nicht dabei bleiben, da dem,
dessen Rechtserwartungen enttuscht worden sind, nur besttigt
wird, richtig erwartet zu haben. Es mu etwas fr eine sei es
reale, sei es kompensatorische Durchsetzung seines Rechts geschehen.
149
149 Diese Funktion der bloen Besttigung bernimmt in gewissen Hinsichten die
Religion, die sich damit die Probleme der Erklrung von Leid, Unrecht, Unglck
einhandelt. In gewisser Weise scheint sich die Religion am Punkte genau dieses
Ungengens der Rechtsdurchsetzung zu kristallisieren, indem sie, im Verein mit
neuartigen Moralvorstellungen, Erwartungen stimuliert, die rechtlich ohne Sanktion bleiben mssen. M a n kann dies an der Abhebung von neuen Motivationsansprchen gegenber den im Vergeltungsprinzip erfabaren Rechtstatbestnden
erkennen, namentlich im Alten Testament.
Il8
einfach so). Man kann daher auch sagen: Das Gedchtnis hlt die
Eigenwerte der rekursiven Produktionsweise des Systems zur
Verfgung.
Gesellschaften, die nur mndlich kommunizieren knnen, sind in
ihrem Gedchtnis auf psychische Systeme angewiesen, und zwar
sowohl auf deren Erinnerungsvermgen als auch auf ihre Fhigkeit,
Erinnertes, das andere gar nicht erlebt oder vergessen haben, plausibel zu kommunizieren. Lebensalter nimmt Autoritt in Anspruch. Da dies zu erheblichen Fluktuationen der Normvorstellungen und zu ihrer Anpassung an neue Sachlagen fhrt, ist
bekannt. Die dabei zu erwartende Unsicherheit ist gleichwohl nicht
sehr hoch, weil der Spielraum, der durch Normierungen gestaltet
werden kann, nicht sehr gro ist.
Sobald Schrift zur Verfgung steht, verliert das Systemgedchtnis
die Leichtigkeit des Vergessens, des Nichtwiederaufgreifens oder
auch der Neukonstruktion einer passenden Vergangenheit. Es wird
durch Schrift gehrtet und zugleich psychisch dekonditioniert. Die
wohl eindrucksvollste Auseinandersetzung mit diesem ursprnglichen Problem der Schrift findet man im jdischen Recht ; und
zwar in der Form von genau darauf zielenden Unterscheidungen.
Das Recht der Torah ist auf dem Berge Sinai offenbart, also ein
durch Religion bestimmter Text. Es ist offenbart fr Moses, der es
hren, und fr das Volk, das das Geschehen sehen konnte. Es ist
offenbart fr schriftliche und fr mndliche Uberlieferung, womit
die Authentizitt der Textgrundlage und zugleich die stndige Anpassungsfhigkeit und das Abschleifen ursprnglicher Hrten garantiert ist. Und die Tradition hat sowohl Konsens als auch
150
151
152
150 Im Sinne von Heinz von Foerster, Gegenstnde: greifbare Symbole fr (Eigen)Verhalten, in ders., Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985, S. 207-216. Siehe auch: Gedchtnis ohne Aufzeichnung a . a . O . , S. 1 3 3 - 1 7 1 , und ders., What is Memory that it m a y have Hindsight
and Foresight as well, in: Samuel Bogoch (Hrsg.), T h e Future of the Brain Sciences, N e w York 1969, S. 19-64.
1 5 1 D a z u allgemein Arthur J.Jacobson, T h e Idolatry of Rules: Writing Law According to Moses, with Reference to Other Jurisprudences, C a r d o z o Law Review 11
(1990), S. 1 0 7 9 - 1 1 3 2 .
i j 2 Siehe Georg H o r o w i t z , T h e Spirit of Jewish L a w (1953), N e u d r u c k N e w York
1973; Louis Ginzberg, On Jewish Law and Lore (1955), N e u d r u c k N e w York
1977. G e z a Vennes, Scripture and Tradition in Judaims - Haggadic Studies, 2.
Aufl. Leiden 1973 (weitgehend exegetisch); ders., Scripture and Tradition in Ju-
li?
Dissens zu berliefern, sowohl die Mehrheitsmeinung, die zu bindenden Entscheidungen fhrt, als auch die damit zurckgewiesenen
Auffassungen, die ebenfalls im offenbarten Text fundiert sind, dessen Uneindeutigkeit seinen religisen Charakter belegt. Selbstverstndlich sind dies Unterscheidungen einer spteren Zeit, vor
allem der Zeit nach der Zerstrung des zweiten Tempels. Sie zeigen
auf eindrucksvolle Weise die Entfaltung der ursprnglichen Paradoxic des Rechts durch genau darauf bezogene Unterscheidungen;
und wenn man die mehrtausendjhrige Tradition, die letztlich ohne
Staat auskommen mute, als empirischen Beleg nehmen darf, dann
zeigt sie, da hier tatschlich eine unter Sonderbedingungen stabile
Problemlsung gefunden worden ist. Aber jeder Versuch, sich darauf einzustellen, verstrickt in das Paradox und damit in die Freiheit,
sich problemlsend zu verhalten - konsentierend oder dissentierend. Da es unter diesen Umstnden gerade jdischen Autoren
leichter fllt als anderen, die das Recht einsetzende Paradoxie anzuerkennen, wird deshalb nicht berraschen.
Schrift scheint damit der Anla gewesen zu sein, die Einheit des
Systems durch Unterscheidungen wiederzugeben, deren Einheit
dann nur noch paradox formuliert werden kann. Auch wo dies
nicht mit dieser Deutlichkeit erfat ist, kann man sehen, da das
Rechtssystem auf schriftliche Fixierung durch Korrektive reagiert sei es durch Interpretationsfreiheiten, sei es durch Einrichtung von
Verfahren der Rechtsnderung, sei es auch durch Expansion in bisher rechtlich nicht erfate Bereiche. Das materielle Substrat des
153
154
155
daism: Written and Oral Torah, in: Gerd Baumann (Hrsg.), The Written Word:
Literacy in Transition, Oxford 1986, S. 79-95; Eliezer Berkowitz, N o t in Heaven:
T h e Nature and Function of the Halakha, N e w York 1983, insb. S. joff.; Jose
Faur, Golden Doves with Silver Dots: Semiotics and Textuality in Rabbinic Tradition, Bloomington Ind. 1986, insb. S. 84 ff.; vgl. femer Ishak Englard, Majority
Decision vs. Individual Truth: The Interpretation of the Oven of Achnai A g g a dah, Tradition: A Journal of Orthodox Jewish T h o u g h t 15 (1975), S. 1 3 7 - 1 5 2 .
1 5 3 Siehe Jeffrey I. Roth, Responding to Dissent in Jewish L a w : Suppression Versus
Self-Restraint, Rutgers L a w Review 40 (1987), S. 3 1 - 9 9 ; ders., T h e Justification for
Controversy Under Jewish Law, California L a w Review 76 (1988), S. 338-387;
Suzanne Last Stone, In Pursuit of the Countertext: T h e Reclaiming of Jewish
Sources in Contemporary American Legal Scholarship, M s . 1992.
154 Vgl. nur Benjamin N. C a r d o z o , The Paradoxes of Legal Science, N e w York
1928. ,
155 In diesem Sinne scheint es kein Zufall zu sein, da der frhneuzeitliche Begriff der
Polizei in dem Zeitraum eingefhrt wurde, als der Buchdruck sich auszuwirken
120
157
zirkulr) gesicherte
Bindungswirkung aus. (Zu rank societies vgl. z . B . Morton H . F r i e d , The Evolution of Political Societies: An Essay in Political A n t h r o p o l o g y , N e w York 1967.)
Selbst fr die von Homer geschilderte Gesellschaft ist diese Frage nicht sicher zu
beantworten. Insofern kann man auch nicht sicher entscheiden, ob das A m t die
Erfllung der Funktion der selektiven Stabilisierung oder umgekehrt die Funktion
das A m t erzeugt hat. In all diesen Fllen hngt die Etablierung einer Errungenschaft von Evolution ab, und Evolution heit: zirkulr produzierte Verstrkung
einer Abweichung v o m vorherigen Zustand (dviation amplification).
121
solche Situation zu kommen? Untersttzung mu daher auf generalisierte Teilnahme gesttzt, als Pflicht zur Untersttzung der
Untersttzer ausgebaut, ber Hierarchisierung der Zugehrigkeit
kleiner zu greren Verbnden erweitert und schlielich in die
Form ausdifferenzierter politischer Absicherung gebracht werden.
Das erfordert eine funktionale Spezifikation der Politik auf kollektiv bindendes Entscheiden (auch fr rechtsfreie Rume, etwa Entscheidungen, ber Krieg und Frieden) und auf deren Absicherung
durch Kontrolle ber den Einsatz physischer Gewalt.
Entgegen dem ersten Anschein heit dies nicht, da Rechtssystem
und politisches System nur ein einziges System bilden. Sie sind jedoch auf besondere Formen der strukturellen Kopplung angewiesen und durch sie verknpft. Eine der bedeutendsten und folgenreichsten Erfindungen auf diesem Gebiet war das rmische Amt des
Prtors, der die Bedingungen zu formulieren hatte, unter denen er
eine Klage gewhren, also ein Gericht mit der Streitentscheidung
beauftragen und mit Vollstreckungsgarantie ausstatten wrde.
Aus der Wiederverwendung solcher Formeln hat sich dann das aktionenrechtliche System des rmischen Rechts und aus dessen
Interpretation in Lehre und Fallpraxis das entwickelt, was wir als
rmisches Recht kennen. Einen funktional quivalenten Mechanismus bilden, wie wir noch ausfhrlich darstellen werden, die modernen Verfassungen.
158
159
122
ren Zustand der Gesellschaft zutreffend spiegelt. Schon die kontrafaktische Struktur der Normativitt steht dem entgegen, und auch
die politische Garantie des Rechts kann natrlich nicht sicherstellen, da alle Erwartungen erfllt werden. Man mu auf Kompensationen fr Nichterfllung ausweichen, vor allem auf Strafen und auf
Geldzahlungen. Was aber unbestritten erreicht worden ist, ist die
Erzeugung von Eigenkomplexitt auf der Grundlage der Ausdifferenzierung eines Rechtssystems zu operativer Geschlossenheit.
123
Kapitel 3
124
2 In individualistischer (und dann: utilitaristischer) Perspektive ist fr diese Frage Jeremy Bentham der prominente Autor. Siehe zum Thema Erwartungssicherheit bei
Bentham Gerald J. Postema, Bentham and the C o m m o n L a w Tradition, Oxford
"5
perschaften (a.a.O. S. 170)? Oder ist es die eloquente Empathie derer, die bei jeder
Gelegenheit ihre Betroffenheit ber das Betroffensein der Betroffenen uern? Oder
wie ist es, um am Fall zu argumentieren, mglich, eine Regelung von Immigrationsproblemen zu finden, die im gleichmigen Interesse von Mitgliedern wie Anwrtern liegt (a.a.O. S. 158), wenn man zuvor herausfinden mu, weicher Regelung alle
Betroffenen zustimmen knnten?.
4 Darauf zielt der Begriff des double institutionalization bei Paul Bohannan, Law
and Legal Institutions, International Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 9, Chicago 1968, S. 73-78, der aber mehr das Problem als seine Lsung anzeigt.
5 Man kann diese Zeitbindung zwar explizit boykottieren, indem man unterbrechend
reagiert; aber dadurch macht man nur auf das aufmerksam, was anderenfalls der Fall
sein wrde.
126
6 Wir setzen hier voraus, da diese Sinnbesetzung eine Leistung der systemischen
Kommunikation ist und nicht eine Leistung des Bewutseins; und erst recht nicht
eine Reprsentation externer Sachverhalte im Bewutsein. Zur Kritik solcher
(durchaus blicher) Vorstellungen vgl. Dean MacCannell / Juliet F. MacCannell,
' The Time of the Sign: A Semiotic Interpretation of Modern Culture, Bloomington
Ind. 1982, insb. S. 1 5 2 L ; Benny Shanon, Metaphors for Language and Communication, Revue internationale de systemique 3 (1989), S. 43-59. Die hier eingenommene Position zwingt dann auch dazu, die Vorstellung aufzugeben, Kommunikation sei eine bertragung von vorgefatem Sinn auf ein anderes System.
7 In diesem Sinne spricht Alfred Korzybski, Science and Sanity: An Introduction to
Non-aristotelian Systems and General Semantics (1933), 4. Aufl. Lakeville 1958,
von time-binding als Funktion der Sprache.
8 Mit dieser These eines Doppelerfordernisses, nicht aber mit ihrer Interpretation,
folgen wir George Spencer Brown, Laws and Form, zit. nach dem Neudruck New
York 1979, S. 10.
9 Ausfhrlicher Niklas Luhmann, Identitt - was oder wie?, in ders., Soziologische
Aufklrung Bd.5, Opladen 1990, S. 14-30.
10 Pierre Bourdieu zum Beispiel spricht von pouvoir symbolique, rapports de force,
12/
128
Dieser Zukunftsbezug der Rechtsfunktion erklrt den Symbolisierungsbedarf aller Rechtsordnung. Es handelt sich bei Rechtsnor12 Die hier sichtbar werdende Offenheit und Einschrnkungsnotwendigkeit ist vor
allem-von Thomas Hobbes erkannt und thematisiert worden - wie man wei: ohne
jeden Einflu auf die jurisprudentielle Praxis seiner Zeit. Man braucht, wie unser
Text zeigen soll, nicht einmal die (immerhin noch rechtsnahe) Sprache der subjektiven Rechte zu verwenden, um das Problem zu formulieren. Mit diesem Abstraktionsschritt erweitert sich dann das Blickfeld von einer noch im Kontext von civil
society formulierten politischen Theorie zu einer Theorie der Gesellschaft, in der
das politische System und das Rechtssystem Teilsystemfunktionen wahrnehmen.
129
Offensichtlich steht eine Steigerung von Zeitbindungen auf der Linie des kontrafaktisch stabilisierten Erwartens in Widerspruch zu
dem, was man als Belieben im Bereich der sozialen Konvenienz
voraussetzen knnte. Eine Extensivierung und Intensivierung normativer Zeitbindungen erzeugt in der Sozialdimension neue Anlsse fr Konsens/Dissens. Sie erzeugt eigene Entscheidungslagen,
indem sie Situationen so definiert, da man sich fr oder gegen die
Erwartung entscheiden mu. Sie erzeugt, wie Anhnger des labeling approach sagen, Devianz. Sie erzeugt natrlich auch Konformitt. Das Resultat ist eben die Zwei-Seiten-Form Konsens/Dissens mit den sich an ihr entzndenden sozialen Spannungen. Das
Resultat ist eine Entzweiung, eine Bifurkation mit der fr Bifurka13 Speziell hierzu Mario Bretone, Le norme e il tempo: Fra tradizione classica e coscienza moderna, Maceriali per una storia della cultura giuridica 19 (1989), S. 7-26.
13
II
Die Frage nach der Funktion des Rechts wird durch die Analyse des
vorigen Abschnittes auf zwei verschiedene Gleise gesetzt - je nach
dem, wie man das Bezugsproblem formuliert. Abstrakt gesehen hat
das Recht mit den sozialen Kosten der zeitlichen Bindung von Erwartungen zu tun. Konkret geht es um die Funktion der Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen,
sachlichen und sozialen Generalisierung. Das Recht ermglicht
14
131
16
17
ders., Ausdifferenzierung des Rechts: Beitrge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt
S.
15 Vgl. Bernard Barber, The Logic and Limits of Trust, New Brunswick N.J. 1983,
S. 22 f. und passim.
1981,
73-91.
16 Vgl. auch Niklas Luhmann, Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer
Komplexitt, 3. Aufl. Stuttgart 1989, S. joff.; ders., Familiarity, Confidence, Trust:
Problems and Alternatives, in: Diego Gambetta (Hrsg.), Trust: Making and Breaking Cooprative Relations, Oxford 1988, S. 94-107.
17 Ein komplexes Tableau von Rechtsfunktionen entwirft Joseph Raz, On the Functions of Law, in : A . W . B . Simpson (Hrsg.), Oxford Essays in Jurisprudence (Second
Sries), Oxford 1973, S. 278-304. Seine Grundunterscheidung von normativen und
sozialen Funktionen verdeckt jedoch genau das Problem, auf das es hier ankommt:
die soziale Funktion der normativen Form von Erwartungen. Vmcenzo Ferrari,
Funzioni del diritto: Saggio critico-ricostruttivo, Roma 1987, S. 87ff. diskutiert
drei verschiedene Funktionen des Rechts, die jedoch zum Teil weit ber das Recht
hinausgreifen (orientamento sociale!), lehnt aber eine Zusammenfassung zu einer
einheitlichen Formel ab, weil dadurch die begrifflichen Erfordernisse des Funktionsbegriffs nicht mehr erfllt werden knnten. Auch sonst findet man oft die
Voraussetzung, da das Recht eine Vielzahl von Funktionen erflle - zumeist in der
Form einer bloen Auflistung. Siehe z. B. Davis et al. a.a.O. (1962), S. 65 ff.; Michel
van de Kerchove / Franois Ost, Le systme juridique entre ordre et dsordre, Paris
1988, S, 161 ff. im Anschlu an R. Summers / Ch. Howard, Law, Its Nature, Functions and Limits, 2. Aufl. Englewood Cliffs N . J . 197s- (Bei all dem ist natrlich gar
kein Zweifel, da ein Beobachter, dem es nicht um das Problem der Einheit des
132
Rechts geht, das Recht unter sehr viel verschiedenen funktionalen Gesichtspunkten
analysieren kann, denn jede Norm hat natrlich eine eigene Funktion.) William
J. Chambliss / Robert B. Seidman, Law, Order, and Power, Reading Mass. 1971,
S. 9 f. gehen davon aus, da das Rechtssystem performs a myriad of functions,
both manifest and latent, und erklren sich dann (begreiflicherweise) unfhig, daraus die wesentlichen auszuwhlen. Und damit unterbleibt dann auch eine Klrung
des Begriffs eines Rechtssystems.
18 Dem widerspricht Werner Krawietz, Zur Einfhrung: Neue Sequenzierung der
Theoriebildung und Kritik der allgemeinen Theorie sozialer Systeme, und ders.,
Staatliches oder gesellschaftliches Recht? Systemabhngigkeiten normativer Strukturbildung im Funktionssystem Recht, in: Werner Krawietz / Michael Welker
(Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme: Auseinandersetzungen mit Luhmanns
Hauptwerk, Frankfurt 1992, S. 14-42, 247-301. Krawietz meint, diese behavioristische Fassung des Normbegriffs trage der Eigenart der Norm als Norm nicht
hinreichend Rechnung. Was immer man nun unter behavioristisch verstanden
wissen will: als Soziologe wird man nicht auf die Meinung verzichten wollen, da
Normen als Sinnstrukturen der sozialen Realitt faktisch vorkommen. Die Alternative wre zu sagen: Es gibt gar keine Normen, es handelt sich um einen Irrtum. So
weit werden weder Soziologen noch Juristen gehen wollen. Und schon die Meinung, es sei eine illusionre oder fiktionale Realitt, knnte auf eine Basis in
faktischem Erleben und Kommunizieren nicht verzichten. Selbst die Auffassung,
der Krawietz anzuhngen scheint: da die normative Qualitt von Normen nur aus
Normen zu gewinnen sei (S. 30), mte fr diese gedankliche Operation einen Platz
in der realen Welt nachweisen.
Eine ganz andere Frage ist, welcher Gegenbegriff zur Definition des Begriffs der
133
gen in der enttuschten Hinsicht auf oder man behlt sie bei.
Antezipiert man diese Bifurkation und legt man sich im voraus auf
eine der beiden Mglichkeiten fest, bestimmt man im ersten Falle
seine Erwartungen als kognitiv, im anderen Falle als normativ."
Mithin bezeichnet der Normbegriff die eine Seite einer Form, die
auch eine andere Seite hat. Er kommt ohne diese andere Seite nicht
vor, er mu gegen sie gesetzt sein unter Offenhalten von bergangsmglichkeiten. Er ist Resultat der Option eines Beobachters
und wird empirisch nur dann aktualisiert, wenn mit dieser Form
unterschieden wird.
Im funktionalen Begriff der Norm als einer kontrafaktisch stabilisierten Verhaltenserwartung liegt noch keine Vorentscheidung ber
die Motive, aus denen Normen befolgt oder nicht befolgt werden.
Im Gegenteil: gerade davon mu abgesehen werden, wenn die
Norm ihre Funktion erfllen soll. Die Norm mag befolgt oder
nicht befolgt werden, weil sie unbekannt ist. (Ihre Bekanntgabe
knnte Widerstands- oder Umgehungsmotive wecken.) Sie kann
befolgt oder nicht befolgt werden, weil sie Informationen gibt zum Beispiel ber die Gefhrlichkeit von Sachlagen im Verkehrsoder im Umweltrecht; und dann nicht befolgt werden, weil man
eigenen Informationen mehr traut als denen, die mit der Norm
bermittelt werden. Es mag, aber die Flle werden selten sein, eine
Rolle spielen, ob man die Norm fr begrndet (legitim usw.) hlt
oder nicht; oder auch, ob die Norm sich mit moralischen Wertungen im Einklang befindet oder in dieser Hinsicht neutral oder gar
moralwidrig beurteilt wird. Ein Verhalten kann auch ohne jede normative Regulierung, zum Beispiel aus Interaktionszwngen heraus,
so ablaufen, wie es erwnscht ist; und wenn man den Verlauf beeinflussen will, sind nicht nur Normen, sondern in erster Linie wohl
positive Anreize oder auch spezifische Unsicherheiten das naheliegende Mittel.
Und natrlich wirken Sanktionserwartungen sich aus. Heute beNorm verwendet wird. Wenn nicht lernbereite Kognition, was dann? Eine andere
Lsung dieses Problems wird von der Kritik nicht vorgeschlagen. Jedenfalls sollte,
und das macht die Sache schwierig, Einverstndnis darber herstellbar sein, da
Normwidrigkeit, Normversto etc. den Normbegriff voraussetzen (Negieren kann
man nur, was man identisch hlt) und deshalb dieses Problem nicht lsen.
19 Zuerst vorgeschlagen hat diese Unterscheidung Johan Galtung, Expectation and
Interaction Processes, Inquiry 2 (1959), S. 2 1 3 - 2 3 4 .
134
Das damit angesprochene Problem der Durchsetzbarkeit von Normen kann also als Stabilittsbedingung der Normprojektion behandelt werden. Ohne jede Aussicht auf Erfllung lassen sich Normen
schwer durchhalten. Wenn man, darber hinausgehend, die Verhaltenssteuerung selbst als eine zweite Funktion des Rechts ansieht ,
kommen sehr viele (und ganz andere) funktionale quivalente ins
21
20 Siehe nur als besonders eindeutigen Fall Karl Olivecrona, Law as Fact, Kopenhagen
- London 1939.
21 So Niklas Luhmann a.a.O. (Anm. 14).
'35
r 6
3
23 So im Ergebnis auch Jrgen Habermas, Faktizitt und Geltung: Beitrge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt 1992.
137
24
2 6
24 Sieht man hier das Problem, kommt es denn auch zu einer hchst problematischen
Diskussion ber Alternativen zum Recht, in der gar nicht mehr geprft wird, was
denn die Funktion des Rechts ist, von der aus man funktionale quivalente ermitteln kann. Siehe zum Beispiel den Bd. 6 des Jahrbuchs fr Rechtssoziologie und
Rechtstheorie (1980) zum Thema: Alternative Rechtsformen und Alternativen
zum Recht; ferner typisch Donald Black, Sociological Justice, New York - Oxford
1989, S.
ff.
2$ Zu dieser polemogenen Natur des Rechts siehe Julien Freund, Le droit comme
motif et Solution des conflits, in: Luis Legaz y Lacambra (Hrsg.), Die Funktionen
des Rechts, Beiheft 8 des Archivs fr Rechts- und Sozialphilosophie, Wiesbaden
1974, S.47-62; ders-, Sociologie du conflit, Paris 1983, S. 22, 327ff. u. . .
26 In dieser Richtung meint Karl-Heinz Ladeur, Computerkultur und Evolution der
Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft: Zur Theorie rechdichen Entscheidens in komplexen Handlungsfeldern, Archiv fr Rechts- und Sozialphilosophie 74
(1988), S. 218-238 (233), Entwicklungstendenzen zu erkennen. Vielleicht wrde Ladeur bestreiten, da er den Normbegriff aufgibt; aber dann mte er explizieren,
was er unter Normen versteht, wenn nicht Stabilisierung kontrafaktischen Erwartens.
139
140
Bis weit in die Neuzeit hinein hat man in diesen Problemen der
sozialen Konditionierung des Umgangs mit Knappheit Rechtsprobleme gesehen. Eigentum, also die Parzellierung von Zugriffschancen mit Anerkennung der entsprechenden Chancen anderer, wurde
als Rechtsinstitut und die Gesellschaft als Gesellschaft von Eigentmern gesehen, die sich in der Form von Vertrgen vertragen.
Schon immer konnte aber die Lohnarbeit nur mit Mhe unter dieses Schema gebracht werden; denn es gibt - was immer man darber
hren kann - kein mit Geldwirtschaft kompatibles Recht auf Arbeit. Die wirtschaftliche Funktion des Eigentums entzieht sich
ebenfalls der rechtlichen Steuerung, obwohl sie natrlich, wie alles
Verhalten, Gegenstand rechtlicher Beurteilung sein kann. Knappheit und Normierung von Verhaltenserwartungen bilden verschiedene Formen der Kollision von Zeitbindung und Sozialitt, sind
also auch verschiedenartige Probleme. In komplexer werdenden
Gesellschaften setzt sich deren Differenzierung durch. Wirtschaftssystem und Rechtssystem sind deshalb jeweils fr sich geschlossene
autopoietische Funktionssysteme, wenn eine Gesellschaft sich ihre
Ausdifferenzierung leisten kann.
28
Unser zweites Beispiel ist fast noch nicht spruchreif. Es wird erst
seit wenigen Jahren diskutiert, und seine Semantik befindet sich
noch in einem vorbegrifflichen Stadium. Wir errtern es unter dem
Stichwort Risiko. Gemeint sind damit Entscheidungen, die die
Mglichkeit nachteiliger Folgen in Kauf nehmen; und dies nicht in
der Form gegenzubuchender Kosten, deren Aufwendung gerechtfertigt werden kann, sondern in der Form mglicher, aber mehr
oder weniger unwahrscheinlicher Schden, deren Eintritt die Entscheidung als Auslseursache brandmarken und sie nachtrglich
der Reue aussetzen wrde.
Das Problem liegt darin, da die Schden nicht nur den treffen, der
die Entscheidung riskiert hat, und auch nicht nur den, der von ihren
positiven Wirkungen profitiert. Auch hier haben wir also eine Form
von Zeitbindung mit sozialen Kosten, aber eine Form ganz anderen
Typs. Whrend die Normierung eine Bifurkation nach dem Schema
27 Ausfhrlicher zu diesem Thema Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft,
Frankfurt 1988.
28 Zum Auslaufen dieser Tradition vgl. Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 1 1 64.
141
30
Um so mehr fhren die Unterschiede dieser Probleme zu Unterschieden in der Einschtzung der Zukunft. Im Recht kann man
sich, von Revolutionen und politischen Umstrzen einmal abgesehen, einigermaen sicher fhlen, da bei allen Rechtsnderungen
erworbene Rechte respektiert werden. In der Wirtschaft gibt es die
durch die Wirtschaft selbst konditionierte Mobilitt von arm zu
reich oder umgekehrt bei Erhaltung oder auch Verschrfung eben
dieser Differenz. In der Risikoperspektive erscheint dagegen die
Zukunft als das ganz Andere - einerseits in ihrer Unsicherheit, an-
142
III
Wenn es darum geht, etwas zu projektieren, was auch gilt, wenn es
nicht entsprechend realisiert wird: wer kann das tun? Und was
mu man voraussetzen, wenn es darum geht, zunehmend voraussetzungsvolle kontrafaktische Erwartungen zu erzeugen, zu erhalten, zu validieren? Diese Frage leitet von der Funktionsbestimmung
zu ihrer Realisierung in Systemen ber, und sie fhrt auf zwei
ineinandergebaute Systemreferenzen: die Gesellschaft und ihr
Rechtssystem.
Die Antwort setzt eine durch das System etablierte Unterscheidung
von System und Umwelt voraus. Ein System, das Erwartungen normiert, besttigt sich selbst, indem es in die Umwelt eine Differenz
einzeichnet, die nur in vorgezeichneter Weise und nicht ohne das
System Zustandekommen kann. Das geschieht durch das Aufstellen
von Normen, von denen man ebenso gut / ebenso schlecht auch
abweichen kann. Und dann macht e s / r das System einen Unterschied, ob nach der im System vorgezeichneten Norm gehandelt
wird oder nicht. Das System bleibt, in den Grenzen seiner Mglichkeiten, stabil, wie immer die Umwelt optiert.
Als autopoietisches, operativ geschlossenes System ist das Recht
gehalten, seine Funktion eigenstndig zu gewhrleisten. Selbstverstndlich kann dies nicht in der Weise geschehen, da alle empirischen Bedingungen fr eine Reproduktion der Operation des
Systems im System selbst erzeugt werden; denn das hiee: die Welt
ins System einzuschlieen. Gleichwohl mu das Recht als ein strukturdeterminiertes Funktionssystem operationsfhig bleiben und die
Kontinuitt der Bedienung der eigenen Funktion intern vorsehen.
Intern aber heit: mit dem eigenen Operationstypus.
Beschreibt man dies als (externer oder interner) Beobachter, treffen
nur tautologische Formulierungen zu: Recht ist, was das Recht als
143
"44
Fr diesen Bereich, fr dieses Entscheidungssystem des Rechtssystems haben sich die wohletablierten Formen der Reflexivitt entwickelt. Sie benutzen die Form der doppelten Modalisierung, sie
normieren das Normieren, schrnken den Gebrauch dieser Mg32 hnliche Strukturen eines universell zustndigen Funktionssystems mit einem organisierten Kernbereich finden sich auch in anderen Fllen - etwa das politische
System und die Staatsorganisation oder das Erziehungssystem und die Schulen.
33 Hierzu mit dem kybernetischen Begriff der Rckkopplung Torstein Eckhoff / Nils
Kristian
Sundby,
Rechtssysteme:
Eine
systemtheoretische
Einfhrung in die
Rechtstheorie, Berlin 1988. Siehe auch dies., The Notion of Basic Norm(s) in Jurisprudence, Scandinavian Studies in Law 19 (1975), S. 1 2 3 - 1 5 1 . Zum zirkulren
Verhltnis von Regel und Entscheidung ferner Josef Esser, Grundsatz und Norm in
der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tbingen 1956; ders., Vorverstndnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt 1970.
145
34 wenn die moderne Familie ein Sozialsystem ist, in der alles, was die Familienangehrigen tun oder erleben, thematisiert werden kann (vgl. Niklas Luhmann, Sozialsystem Familie, in ders., Soziologische Aufklrung Bd. 5, .Opladen 1990, S. 1962 1 7 ) , so wre dies ein Bereich, in dem man die Tragweite und den Verfall dieses
146
der Sicherheitsbasis der normativen Erwartungen normativer Erwartungen. Es ist auf der Basis der Reflexivitt seiner Operationen
ausdifferenziert. Nur so ist denn auch die Inanspruchnahme von
Kompetenz im Entscheidungssystem des Rechts sozial einfhlbar
und akzeptabel. Nur so sind die Entscheidungsinstanzen des
Rechts mehr als das, was sie in den meisten Hochkulturen waren:
Fremdkrper korporativer Art in einer nach Familien (Husern)
geordneten Gesellschaft mit der Folge, da eine Verstndigung unter Nachbarn oder eine drfliche oder zunftinterne Selbstjustiz
immer den Vorrang hatte vor dem Gang zum Gericht. Nur so kann
sich gegen diese in der Evolution eher wahrscheinliche Struktur ein
Vertrauen in formales Recht und eine verbreitete, differenzierte
Inanspruchnahme von Recht fr die Strukturierung von Problemen
des tglichen Lebens entwickeln.
Aber: Wie steht es empirisch um diese Grundlage des Rechts? Und
von welchen Bedingungen hngt die Antwort auf diese Frage
ab?
Wir vermuten einen Doppeleffekt. Einerseits wirkt sich die organisatorische und professionelle Straffung des geltenden Rechts auf
den Wildwuchs von normativen Projektionen einschrnkend und
disziplinierend aus. Man kann feststellen oder feststellen lassen, was
in einem offiziellen Sinne Recht bzw. Unrecht ist. Je differenzierter
die Gesellschaft - und in der alten Welt bezieht sich das auf den
Proze der Stadtbildung -, desto strker das Angewiesensein auf
solche Reduktionen. Andererseits kann die Ausdifferenzierung eines Entscheidungssystems im Rechtssystem sich auf die allgemeine
Bereitschaft, normatives Erwarten normativ zu erwarten, negativ
auswirken, ja zur Erosion der eigenen Grundlagen in der Reflexivitt tendieren und sich schlielich nur noch als politisch gesttzte
Organisation halten. In den lteren Hochkulturen lt sich eine
solche Insulation der gleichwohl unentbehrlichen Entscheidungszentren durchgehend beobachten, und sie stimmt hier mit der
Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie berein. Aber
auch in der modernen Gesellschaft kann, selbst wenn die Durchsetnormativen Erwartens normativer Erwartungen empirisch gut testen knnte. Akzeptiert man Ladendiebsthle der eigenen Kinder, behandelt man sie rein kognitiv
(Lat Euch nicht erwischen!), akzeptiert man auch Nachgiebigkeit gegenber
Rechtsverletzungen etwa von Seiten der Nachbarn? Wie wirken sich Versicherungen auf diese Frage aus? usw.
147
35 Siehe z. B. Adam Podgorecki et al., Knowledge and Opinion About Law, London
1973. ber ltere polnische und skandinavische Untersuchungen berichtet Klaus
A. Ziegert, Zur Effektivitt der Rechtssoziologie: Die Rekonstruktion der Gesellschaft durch Recht, Stuttgart 1975, S. 189 ff. Vgl. auch die unser Problem ebenfalls
148
149
ist, findet hier einen Kanal, der direkt zu den politischen Entscheidungszentren fhrt. Das Rechtssystem kann solche Phnomene nur
als rechtmiges bzw. unrechtmiges Verhalten klassifizieren, es
kann auf die eigene Irritation intern reagieren mit dem flexiblen
Instrumentarium einer wechselseitigen Anpassung von Interessen
und Begriffen, das wir in einem spteren Kapitel behandeln werden.
Das kann politisch und professionell mehr oder weniger gekonnt
geschehen. Aber an den eigentlichen sozialen Ressourcen der
Rechtsbildung, an den auf normatives Erwarten gerichteten normativen Erwartungen judiziert man vorbei.
IV
Zu den wichtigsten Konsequenzen der Normform, in der die Funktion des Rechts erfllt wird, gehrt die in ihr angelegte Differenzierung von Recht und Politik. Die Angewiesenheit beider Systeme
aufeinander ist offensichtlich, und das macht es schwer, die funktionale Differenzierung zu erkennen. Das Recht ist zu seiner Durchsetzung auf Politik angewiesen, und ohne Aussicht auf Durchsetzung gibt es keine allseits berzeugende (unterstellbare) Normstabilitt. Die Politik benutzt ihrerseits das Recht zur Diversifikation
des Zugriffs auf politisch konzentrierte Macht. Aber gerade dieses
Zusammenspiel setzt eine Differenzierung der Systeme voraus.
Es gengt ein ganz einfacher Gedankengang, um den Ausgangspunkt einer solchen Differenzierung zu erkennen. Die Politik benutzt das Medium Macht, und politische Macht artikuliert sich in
berlegener, mit Zwang drohender Weisungsgewalt. Sobald politische Tendenzen zu einer kollektiv bindenden Entscheidung integriert sind in einer Art Umschaltstation, die Planungskmpfe in
durchsetzbare Entscheidungen transformiert, kann deren Befolgung erzwungen werden-." Normatives Sollen dagegen setzt
keine Machtberlegenheit, ja berhaupt keine berlegenheit dessen
36
37
38
tS
und Enttuschungen. Anomie im Sinne Drkheims betrifft die Unsicherheit des Erwartens, nicht die Tatsachen des faktischen Verhaltens anderer. Gewi: Erwarten und Verhalten stabilisieren einander, aber Normen produzieren grere Sicherheit im Erwarten, als
es vom Verhalten her gerechtfertigt ist, und das ist ihr spezifischer
Beitrag zur Autopoiesis der gesellschaftlichen Kommunikation.
Damit fllt zugleich ein bezeichnendes Licht auf das vieldiskutierte
Problem der Rechtsdurchsetzung. Politisch gesehen geht es um die
Frage, ob ein vorgeschriebenes Handeln oder Unterlassen durch
Machteinsatz auch erzwungen werden kann. Auch eine Rechtssoziologie, die vorherrschend auf Sanktionsgewalt abstellt und nach
einem aus dem 18. Jahrhundert stammenden Schema Recht als ueren Zwang Von Moral als inneren Zwang unterscheidet, folgt
dieser primr politischen Perspektive. ' U n d das gilt auch dann
noch, wenn man, etwa mit Jeremy Bentham, die Erwartungssicherheit darin sieht, da erwartungsgem gehandelt wird. Bei einigem
Nachdenken fallen jedoch Merkwrdigkeiten auf. Lge die Funktion des Rechts in der macht- und sanktionsgedeckten Sicherstellung des vorgeschriebenen Handelns oder Unterlassens, htte es der
faktische Rechtsbetrieb stndig, ja vorwiegend mit dem eigenen
Nichtfunktionieren zu tun. Recht liefe auf eine Abwicklung der
eigenen Defekte hinaus; oder vielleicht besser: es htte mit der Unzulnglichkeit der Realisierung politischer Plne zu tun. Und wieso
dann ein binrer Code Recht/Unrecht? Und wieso dann die Entscheidung, die Rechtsdurchsetzung, vom Strafrecht abgesehen, der
Initiative eines privaten Klgers berlassen? Und wieso der bedeutende Bereich von Erlaubnisnormen, die die Rechtsgestaltung dem
Privatwillen berlassen und ihm nur die Voraussicht der rechtlichen
Relevanz seines etwaigen Verhaltens ermglichen?
Solche Tatsachen zwingen dazu, das Zentrum des Problems der
Rechtsdurchsetzung von Verhalten auf Erwartung zu verlagern und
damit zugleich den Unterschied von Recht und von Politik im Sinne
effektiver Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen herauszuarbeiten. Die Funktion des Rechts besteht nur darin, Erwar3
39 D a s gilt besonders, obwohl mit vielen wichtigen Nuancierungen, fr die Rechtssoziologie Theodor Geigers. Vgl. insb.: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts,
(1947), Neudruck Neuwied 1964, und dazu krzlich H e i n z Mohnhaupt, Anfnge
einer Soziologie der Rechts-Durchsetzung und die Justiz in der Rechtssoziologie
Theodor Geigers, Ius C o m m u n e 16 (1989), S. 1 4 9 - 1 7 7 .
IJ2
40 Hierzu Klaus A. Ziegert, Gerichte auf der Flucht in die Zukunft: Die Bedeutungslosigkeit der gerichtlichen Entscheidung bei der Durchsetzung von Geldforderungen,
in:
Erhard
Blankenburg /
Rdiger Voigt
(Hrsg.),
Implementation von
Kln
1978,
und,
eher zu Vorfeldstrategien,
zur
Rechtssoziologie
und
konomie
des
Konsumentenkredits,
Kln
1982.
41 Siehe auch Niklas Luhmann, Rechtszwang und politische Gewalt, in ders., Ausdifferenzierung des Rechts: Beitrge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt 1 9 8 1 , S. 1 5 4 - 1 7 2 .
!53
der
4 2
schlagt -
seinerseits
an
Parsons'
Theorievorstellungen
an-
D i e F u n k t i o n des R e c h t s w i r d h i e r a r c h i s c h h o c h veranentsprechend
der
allgemeinen
Bedeutung
normativer
R e g u l i e r u n g i m P a r s o n s s c h e n T h e o r i e a u f b a u . D a s R e c h t garantiere
s o z i a l e K o n t r o l l e u n d I n k l u s i o n d e r I n d i v i d u e n i n die Gesellschaft
( v o r a l l e m b e r d i e N o r m der G l e i c h h e i t ) . D a s s e l b e P r o b l e m bricht
a u f andere W e i s e w i e d e r auf, w e n n m a n h e u t e d i e V o r s t e l l u n g einer
w e n n a u c h beschrnkten Steuerung der Gesellschaft durch Recht
(statt n u r : einer Selbststeuerung des R e c h t s s y s t e m s ) z u retten v e r 4 3
s u c h t ; o d e r w e n n m a n m e i n t , e i n e n W a n d e l des R e c h t s s y s t e m s
42 Siehe vor allem Leon H. Mayhew, Stability and Change in Legal Systems, in: Bernard Barber / A l e x Inkeles (Hrsg.), Stability and Social Change, Boston 1 9 7 1 ,
S. 1 8 7 - 2 1 0 ; Talcott Parsons, The L a w and Social C o n t r o l , in: William M. Evan
(Hrsg.), Law and Sociology, N e w York 1962, S. 56-72.
43 Siehe vor allem Gunther Teubner / Helmut Willke, K o n t e x t und Autonomie: G e sellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, Zeitschrift fr Rechtssoziologie 5 (1984), S . 4 - 3 5 ; Helmut Willke, Kontextsteuerung durch Recht? Zur
Steuerungsfunktion des Rechts in polyzentrischer Gesellschaft, in: Manfred Glagow / Helmut Willke (Hrsg.), Dezentrale Gesellschaftssteuerung: Probleme der
Integration polyzentrischer Gesellschaft, Pfaffenweiler
Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt 1989, S. 81 ff. Diese Vorstellungen sind sehr interessiert und kritisch aufgenommen worden. Bei einem greren historischen Abstand fllt auf, da die Diskussion nicht mehr auf die Frage nach
der Funktion des Rechts bezogen wird - so als ob es selbstverstndlich wre, da
diese durch Gesellschaftssteuerung erfllt werden knne.
54
nicht nur auf der Ebene seiner Programme und seiner Dogmatil^
sondern auch und vor allem auf der Ebene seiner Funktion beobachten zu knnen.
Je nachdem, welchen Funktionsbegriff man offen oder verdeckt zugrunde legt, erscheint die moderne Ausdifferenzierung des Rechtss y s t e m s als Problemfall. Gemessen an den traditionellen Erwartungen an eine rechtliche Integration der Gesellschaft erscheint sie als
Funktionsverlust, als lack of sufficient articulation with the other
differentiated S y s t e m s of society. So gelinge es dem Recht trotz
eindeutiger juristischer Beurteilung nicht, die civil rights-Bewegung, vor allem auf dem Gebiet der Rassengleichheit, wirksam
gegenber konomischen, aber auch familialen, nachbarlichen usw.
Interessen durchzusetzen. So sehr dies zutrifft: die Frage bleibt,
ob man dies als Funktionsversagen auffassen mu oder ob es nicht
richtiger wre (nicht zuletzt auch unter empirischen Gesichtspunkten), die sei es traditionale, sei es futuristische Funktionsbestimmung zu berprfen. Das Festhalten einer weiten und Positives
betonenden Funktionsbestimmung fhrt offensichtlich dazu, da
die gegebenen Verhltnisse dann beklagt werden mssen. Das kann
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46
!55
Es ist nicht leicht, ber diese vordergrndige Polemik hinauszugelangen. Sorgfalt in der Bestimmung der Funktionen und begriffliche Genauigkeit in dem Gesamtkontext, der dazu beitrgt, sind eine
Mglichkeit. Das wrde es erfordern, Begriffe wie soziale Kontrolle oder Inklusion, Sollen, Werte, Gleichheit, Konsens, Zwang,
Zeit, kontrafaktische Stabilisierung, die gegebenenfalls zur Bestimmung der Funktion von Recht beitragen knnten, nicht als unanalysierte Abstraktionen hinzunehmen, sondern weiter aufzulsen
und in komplexere Begriffsvernetzungen einzubauen. Das hindert
natrlich niemanden, gleichwohl auf eine (nur komplexere) ideologische Verschleierungstaktik zu schlieen und die Theorie (des
anderen) darauf zu reduzieren. Immerhin knnte dann aber eine
Voreingenommenheit in dem Mae ertrglicher sein, als sie im Nebeneffekt auch noch zur Frderung wissenschaftlicher Theorieentwicklung beitrgt.
VI
Die Diskussion ber Steuerung durch Recht knnte von der Einfhrung einer weiteren Unterscheidung profitieren. Von der Funktion des Rechts mu man die Leistungen unterscheiden, die das
Recht fr seine innergesellschaftliche Umwelt und vor allem fr die
anderen Funktionssysteme der Gesellschaft erbringt. Die Funktion
ergibt sich aus dem Bezug auf das Gesellschaftssystem als Einheit.
Fr eine bestimmte Funktion ist das Rechtssystem ausdifferenziert,
und hier geht es, wie gesagt, darum, da man sich auf bestimmte
47 Hierfr lieen sich zahlreiche Zeugnisse anfhren. Besonders eklatant Gnter
Frankenberg, Unordnung kann sein: Versuch ber Systeme, Recht und Ungehorsam, in: Axel Honneth et al. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen: Im Proze der
Aufklrung: Jrgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt 1989, 8.690-712.
156
Erwartungen als Erwartungen (nicht: als Verhaltensprognosen) verlassen kann. An diese Funktion knpfen dann aber andersartige
Leistungserwartungen an, die fr die innergesellschaftliche Umwelt
des Rechtssystems mehr oder weniger wichtig, mehr oder weniger
schwer zu ersetzen sind. Erst unter dem Regime der funktionalen
Differenzierung lassen diese beiden Aspekte, Funktion und Leistung, sich unterscheiden; und zwar ungeachtet der Tatsache, da
auch jetzt Leistungen des Funktionssystems auf Grund der Funktion erwartet werden, und nicht etwa auf Grund eines Status oder
eines Ethos der Funktionstrger oder auf Grund einer allgemeinen
gesellschaftlichen Moral.
48
Bei der Analyse der Funktion des Rechts muten zwei Gesichtspunkte zurckgestellt werden, die jetzt als mgliche Leistungen des
Rechts diskutiert werden knnen, nmlich die Verhaltenssteuerung
und die Konfliktlsung. Nicht nur die Durchhaltbarkeit von normativen Erwartungen, sondern auch zahlreiche andere gesellschaftliche Funktionen und nicht zuletzt alltgliche Verhaltenskoordinationen sind darauf angewiesen, da Menschen sich tatschlich so
verhalten, wie das Recht es vorschreibt, also zum Beispiel beim
check-out ihre Hotelrechnung tatschlich bezahlen, sich tatschlich
an die Vorschriften des Straenverkehrs halten und vor allem: tatschlich davon absehen, andere mit physischer Gewalt zu bedrohen. Selbst wenn man sicher sein kann, da solche Erwartungen
berechtigt sind, gengt das allein nicht, um eine etwas anspruchsvollere soziale Normalitt der Komplementaritt des Verhaltens zu
erreichen. Andere Interaktions- oder Organisations- oder Funktionssysteme der Gesellschaft sind in dieser Hinsicht auf Subvention durch das Recht angewiesen.
Da dies nur eine Leistung ist, zeigt sich daran, da die auerrechtlichen Systeme ber zahlreiche funktionale quivalente verfgen,
um das gewnschte Verhalten als Prmisse anderen Verhaltens sicherzustellen. Zum Beispiel dient das Kreditkartensystem dazu,
49
48 Zu ParaHelen in anderen Fllen funktionaler Ausdifferenzierung vgl. Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt 1977, S. 54 ff. ; Niklas Luhmann / Karl
Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem
(1979),
Neudruck
157
Fragestellung diskutiert, ob die Geltung des Rechts allein auf Sanktionen beruhe
oder ob auerrechtliche Motivationsmittel hinzutreten mten. Siehe etwa Georg
Jellinek, Allgemeine Staatslehre, j. Aufl. 6. Neudruck Darmstadt 1959, S. 332 ff.
co Siehe z. B. Richard T. LaPiere, A T h e o r y of Social C o n t r o l , N e w York 19 J4 passim,
insb. S. 19ff., 3i6ff.
158
51 D a z u Johan Galtung, Institutionalized Conflict Resolution: A Theoretical Paradigm, Journal of Peace Research 2 (1965), S. 348-397.
52 Vgl. Richard Lempert / Joseph Sanders, An Invitation to L a w and Social Science,
N e w York 1986, S. 133 ff.
159
53
160
G e s i c h t s p u n k t e , d i e z u r K o m m u n i k a t i o n z u g e l a s s e n w e r d e n , dies e m Z i e l u n t e r o r d n e t . E s geht u m l e b e n s - u n d d u r c h s e t z u n g s f h i g e
A r r a n g e m e n t s , n i c h t (oder n u r s e k u n d r ) u m die Z u o r d n u n g der
Werte R e c h t b z w . U n r e c h t z u A n s p r c h e n .
5 6
D a n n wird schon im
G e s i c h t s p u n k t eines
anderenfalls d r o h e n d e n Rechtsstreits
d u r c h g e f h r t . E s w i r d g l e i c h s a m m i t d e m F e u e r gespielt, m i t der
U n g e w i h e i t des A u s g a n g s , m i t K o s t e n u n d m i t z e i t l i c h e n V e r z g e r u n g e n ; aber d i e M g l i c h k e i t des g e r i c h t l i c h e n R e c h t s s c h u t z e s ist
bei j e d e r b e r l e g u n g p r s e n t , u n d d i e F o r m d e r e v e n t u e l l e n E i n i g u n g ist eine F o r m des geltenden R e c h t s , d i e ihrerseits bei Bedarf
K l a g e m g l i c h k e i t e n erffnet. D a s S c h l i c h t u n g s v e r f a h r e n lebt von
der e i g e n t l i c h e n F u n k t i o n des R e c h t s , n o r m a t i v e E r w a r t u n g e n z u
s t a b i l i s i e r e n ; aber e s k a n n dieser F o r m e i n e n s o z i a l e n M e h r w e r t
a b g e w i n n e n , der als L e i s t u n g d e s R e c h t s d e n betroffenen p s y c h i schen u n d sozialen Systemen zugute k o m m t .
W i l l m a n s o w o h l d i e F u n k t i o n als a u c h d i e L e i s t u n g e n des R e c h t s s y s t e m s i m Z u s a m m e n h a n g b e u r t e i l e n , bietet e s s i c h a n , i m R e c h t
eine A r t I m m u n s y s t e m der G e s e l l s c h a f t z u s e h e n .
5 7
Mit zunehmen-
d e r K o m p l e x i t t des G e s e l l s c h a f t s s y s t e m s n e h m e n D i s k r e p a n z e n
z w i s c h e n N o r m p r o j e k t i o n e n z u , u n d z u g l e i c h ist d i e Gesellschaft
m e h r darauf angewiesen, da fr solche K o n f l i k t e friedliche L s u n g e n g e f u n d e n w e r d e n , w e i l anderenfalls d e r A u s b a u v o n K o m m u n i k a t i o n s m e d i e n u n d F u n k t i o n s s y s t e m e n u n d z u m B e i s p i e l die
E n t w i c k l u n g v o n Stdten b e r a l l stagnieren w r d e . D a s k a n n nat r l i c h d u r c h a u s v o r k o m m e n , u n d ist i n der M e h r z a h l d e r Flle
a u c h s o v e r l a u f e n . A b e r e s gibt a u c h d i e M g l i c h k e i t , das S y s t e m
l6l
gegen Pathologien jener Art strker zu immunisieren. Es bleibt dabei offen und unvorhersehbar, wann und aus welchen Anlssen es
jemandem einfllt, auf Konfliktkurs zu gehen und einer Normprojektion eine andere Normprojektion entgegenzusetzen. Und es
gibt, wie in der Immunologie generell, fr solche Vorflle auch
keine konkret vorbereitete Antwort. Das Rechtssystem sieht nicht
voraus, wann es dazu kommt und wie die Situationen aussehen werden, wer beteiligt sein wird und wie stark das Engagement sein
wird. Seine Mechanismen sind darauf angelegt, ohne Ansehen der
Person zu wirken. Und sie brauchen Zeit, um die Immunantwort
aufzubauen. Die Sachlage wre viel zu komplex fr Punkt-zuPunkt-Korrespondenzen zwischen Umweltanla in den psychischen und psychisch-situativen Dispositionen und der Problemlsung, die sich im Sozialsystem durchsetzt. Und auch insofern kann
man von Immunsystem sprechen, als einmal gefundene Lsungen
die Wahrscheinlichkeit neuer Infektionen verringern bzw. ihre
Bearbeitungszeit verkrzen.
Schon im Kontext der Frage nach der Funktion des Rechts gibt es
mithin eine Reihe von Argumenten, die zeigen knnen, da die
Ausdifferenzierung eines Rechtssystems, wenn einmal auf den Weg
gebracht, sich bewhrt. Wir hatten gesehen, da bei Vermehrung
unkoordinierter Normprojektionen der Punkt erreicht wird, an
dem eine quasi naturwchsige Reflexivitt im normativen Erwarten
normativen Erwartens keine Lsungen mehr liefert und ersetzt
werden mu durch die Ausdifferenzierung eines organisierten Entscheidungssystems im Recht, das dann die Blicke auf sich zieht und
ein Netzwerk von offiziell geltenden Normen entwickelt, an dem es
sich selbst orientiert, sofern es gengend politische Untersttzung
findet. Ein anderer Gesichtspunkt war, da Funktion und Leistungen differenziert werden knnen, sobald sich ein Funktionssystem
bildet, und dann im Leistungsbereich viele, im Funktionsbereich
dagegen keine (oder praktisch kaum realisierbare) funktionale
quivalente fr normatives Erwarten zur Verfgung stehen. Und
schlielich geben auch die Vorzge eines nachgeschalteten Immunsystems, das mit geringerer Komplexitt und statt dessen mit einer
eigenen Geschichte arbeitet im Verhltnis zu dem, was unvorhersehbar an Strfllen auftritt, Grnde zu erkennen, die fr die
Ausdifferenzierung sprechen.
Wenn es um die viel diskutierte Frage geht, weshalb die Entwick162
$8 Dazu Kapitel 6.
163
164
Kapitel 4
3 Vgl. fr ein aktuelles Beispiel Salim Alafenish, Der Stellenwert der Feuerprobe im
Gewohnheitsrecht der Beduinen des Negev, in: Fred Scholz / Jrg Janzen (Hrsg.),
Nomadismus - ein Entwicklungsproblem?, Berlin 1982, S. 1 4 3 - 1 5 8 .
4 So auch David Hume, A Treatise of Human Nature Book III, Part II, Section II, zit.
nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1956, Bd. 2, S. 203 fr. fr justice/injustice. Wir kommen ausfhrlicher auf diese Frage zurck, wenn es um die
166
Bedingungen der Mglichkeit der Evolution operativer Schlieung geht. Vgl. unten
Kapitel 6 , I .
5 Vgl. fr die konfuzianische Tradition Pyong-Choom Hahm, The Korean Political
Tradition and Law, Seoul 1967, insb. S. 29 t., 41 ff., 53; David J.Steinberg, Law,
Development, and Korean Society, Journal of Comparative Administration 3 (1971),
S. 215-256. Fr die seitherige Diskussion siehe Kun Yang, Law and Society in Korea:
Beyond the Hahm Thesis, Law and Society Review 23 (1989), S. 891-901. Fr Japan
siehe die fr heutige Verhltnisse ebenfalls umstrittenen Thesen von Takeyoshi Kawashima, The Status of the Individual in the Notion of Law, Right, and Social Order
in Japan, in: Charles A. Moore (Hrsg.), The Status of the Individual in East and West,
Honolulu 1968, S. 429-448. Zu weiteren Forschungen, die eine Distanz zur Hrte
der binren Codierung belegen, vgl. auch Zensuke Ishimura, Legal Systems and
Social Systems in Japan, in: Adam Podgorecki et al. (Hrsg.), Legal Systems & Social
Systems, London 1985, S. 1 1 6 - 1 2 5 .
6 Siehe auch Vilhelm Aubert, In Search of Law: Sociological Approaches to Law,
Oxford 1983, S.72ff.
167
7 Auch dies wre im brigen, wie die Logik heute wei, ein fundierender Zirkel, da die
Axiome ja nur dazu da sind, Deduktionen zu ermglichen.
8 Ob man einen Ursprung der obligatio allein aus Deliktsrecht und vor Entstehung der
Vorstellung eines das Verhalten nach (!) Vertragsschlu bindenden Vertrages annehmen kann, ist umstritten. Vgl. dazu Giovanni Pugliese, Actio e diritto subiettivo,
Milano 1939, S. 73 ff. mit weiteren Hinweisen. Bemerkenswert ist jedoch vor allem
die Abstraktion einer beide Entstehungsanlsse, Delikt und Vertrag, bergreifenden
Kategorie und damit die Entwicklung eines Vertragsrechts aus der Perspektive der
nach dem Vertragsschlu zu erfllenden, ja eventuell neu entstehenden synallagmatischen Verpflichtungen.
9 Vgl. George P. Fletcher, Paradoxes in Legal Thought, Columbia Law Review 85
170
11
12
VI
nis zu mglicherweise schadenstiftendem Verhalten mu mit bernahme der Haftung fr Schden entgolten werden.
Ein zweites Beispiel entnehmen wir dem Bereich der Duldung
rechtswidrigen Handelns durch den Staat. Es gehrt zu den beharrlich wiederholten Lehren der Staatsrson, da ein Frst
Unrecht bersehen msse, wenn dessen Verfolgung zu nicht mehr
kontrollierbaren Unruhen fhren, also den Frieden und die Herrschaft gefhrden wrde. Noch im 19. Jahrhundert liest man,
Frieden beruhe auf einem Nachlassen von der absoluten Rechtsforderung , und berhaupt darf man die romantische Bewegung
als die vorlufig letzte gezielte Opposition gegen die Dominanz des
binren Codes Recht/Unrecht einschtzen. Aber schon gelten
uneigenntzige Verbrechen , also Aktivitten, die um bestimmter Ideen willen den Rechtscode als Zwei-Werte-Schema attackieren, als Merkwrdigkeit der Zeit, und heute empfiehlt man in der
gleichen Problemlage die Bagatelldelikte des zivilen Ungehorsams. Verschrft stellt sich dieses Problem der Rejektion des
Codes, wenn nicht nur irgendwelche externen Ideen oder Instanzen
den Rechtscode ablehnen, sondern dies dem Recht selbst zugemutet wird. Wie das? Kann der, der lange Zeit und mit Wissen der
zustndigen Behrde rechtswidrig handelt, schlielich eine Art Verjhrung oder doch Vertrauensschutz in Anspruch nehmen? Auch
hier wird das Problem im Zug historischer Entwicklungen akut, die
vermehrt dazu fhren, da die Behrden das Recht (oder die Sachverhalte) nicht ausreichend kennen oder nicht voll durchsetzen
knnen oder Absehen von der Erzwingung des Rechts in ein Ver13
14
15
16
17
13 Siehe fr einen wichtigen Ausschnitt Georg Hermes / Joachim Wieland, Die staatliche Duldung rechtswidrigen Verhaltens: Dogmatische Folgen behrdlicher Unttigkeit im Umwelt- und Steuerrecht, Heidelberg 1988. Vgl. auch Josef Isensee,
Verwaltungsraison gegen Verwaitungsrecht, Steuer und Wirtschaft 50 (1973),
S.199-206.
14 Fr Nachweise siehe Niklas Luhmann, Staat und Staatsrson im Ubergang von
traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in ders., Gesellschaftsstruktur und
Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 65-148 (89).
15 Friedrich Schlegel, Signatur des Zeitalters, in: Dichtungen und Aufstze (hrsg. von
Wolfdietrich Rasch), Mnchen 1984, S. 593-728 (700), im Kontext einer allgemeinen Polemik gegen rcksichtsloses Absolutsetzen von Standpunkten.
16 Siehe hierzu Regina Ogorek, Adam Mllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifungen des Michael Kohlhaas, Kleist-Jahrbuch 1988/89, S.96-125.
17 Schlegel a.a.O., S. 598.
17*
18 Vgl. Keith Hawkins, Environment and Enforcement: Regulation and the Social
Definition of Pollution, Oxford 1984; Gerd Winter, Bartering Rationality in Regulation, Law and Society Review 19 (1985), S. 219-250. Fr die Breite dieses
Phnomens einer paktierten Implementation politischer Ziele, in die rechtliche Erwgungen dann nur noch eingebaut werden, siehe auch Dieter Grimm, Die
Zukunft der Verfassung, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1 (1990), S. 5-33
(17 ff.); Charles-Albert Morand, La contractualisation du droit dans I'etat providence, in: Francois Chazel / Jacques Commaille (Hrsg.), Normes juridiques et
regulation sociale, Paris 1991, S. 1 3 9 - 1 5 8 . Arthur Benz/Wolfgang Seibel (Hrsg.),
zwischen Kooperation und Korruption, Baden-Baden 1992.
19 Hierzu Niklas Luhmann, The Third Question: The Creative Use of Paradoxes in
Law and Legal History, Journal of Law and Society 15 (1988), S. 1 5 3 - 1 6 5 .
'73
II
In praktischer Hinsicht sind binre Codes leicht zu handhaben.
Ohne diesen Vorzug wren sie nicht institutionalisierbar. Man
kann, mit dem blichen Blick fr Formen, zwei Werte zugleich im
Auge behalten, wenn der eine den anderen ausschliet. Man
braucht dann nur noch die Zusatzregel, da alles, was nicht Recht
ist, Unrecht ist oder umgekehrt, um das System zu schlieen. Dieser Vorzug des Schematismus verdeckt jedoch komplizierte logische
Strukturen. Wir wollen sie mit dem logisch-mathematischen Begriff
des re-entry als doppelten Wiedereintritt der Form in die Form
bezeichnen.
Im Normalfall sind Formen so gebaut, da ein re-entry nur auf der
einen Seite (nmlich der Innenseite der Form) in Betracht kommt,
da die andere Seite als unmarked State nur der Abgrenzung halber
mitgefhrt wird. Das gilt, prototypisch, fr die Unterscheidung
von System und Umwelt, die nur im System und nicht in der Umwelt vollzogen werden kann. Logisch ist diese Asymmetrie jedoch
nicht zwingend, denn der Begriff des re-entry besagt ja nur, da ein
Raum durch einen Schnitt (die Markierung der Form) in zwei Hlften geteilt, wodurch berhaupt erst ein spezifischer, Welt reprsentierender Raum erzeugt wird, der dann fr einen Wiedereintritt der
Unterscheidung in das Unterschiedene zur Verfgung steht. Fr
die Funktion der Codierung reicht das re-entry auf einer Seite nicht
aus; denn das wrde in operativer Hinsicht besagen, da die Grenze
der Form nicht berschritten, da man vom Unrecht im Recht
gleichsam nur trumen kann. Jedes berschreiten der Grenze verlre sich im infiniten Raum der Andersheit und kehrte nie wieder
zurck. Nur wenn man die Mglichkeit des re-entry auf beiden
Seiten der Form bereitstellt, kann aus Selbstreferenz Symmetrie
entstehen, die dann im System wiederum durch Konditionierungen
re-asymmetrisiert werden kann.
20
21
22
20 Dasselbe gilt fr andere wichtige Flle - so fr die Form des Zeichens, die nur ins
Bezeichnende und nicht ins Bezeichnete hineincopiert werden kann.
21 Vgl. George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979, S. $6(.,
69 ff.; Francisco Varela, A Calculus for Self-ref erence, International Journal of General Systems 2 (1975), S. 5-24; Louis H. Kauffman, Self-reference and Recursive
Forms, Journal of Social and Biological Structures .10 (1987), S. 53-72 ($6i.).
22 Zur Voraussetzung von Selbstreferenz, Unterscheidung, zeitbrauchenden Opera-
174
All diese berlegungen setzen einen Zusammenhang von Selbstreferenz und Unterscheidung voraus. Das eine ist nur mit dem
anderen gegeben und umgekehrt. Nur selbstreferentielle Systeme
knnen unterscheiden (beobachten), weil sie dazu die Unterscheidung bzw. das mit ihrer Hilfe Bezeichnete von sich selbst unterscheiden mssen; und umgekehrt setzt natrlich Selbstreferenz die
Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz voraus.
Therefore, self-reference and the idea of distinction are inseparable
(hence conceptually identical), liest man bei Kauffman. Keine
zustzliche Komplikation kann diese elementare Bedingung rckgngig machen, auch nicht dialektisch aufheben, sondern eben
nur: bezeichnen. Folglich landen wir bei jedem Versuch, Welteinheit in der Welt bzw. die Einheit der Unterscheidung, auf der eine
24
tionen und re-entry fr die Erzeugung von Symmetrie siehe besonders Kauffman
a.a.O. (1987).
23 So (im Kontext einer Kritik der in den U S A verbreiteten Auffassung von Dekonstruktion als Methode der Ablehnung von Unterscheidungen) J . M . Balkin, Nested
Oppositions, Yale Law Review 99 (1990), S. 1669-1705: nested oppositions - that
is oppositions which also involve a relation of dependence, similarity, or Containment between the opposed concepts.
24 A.a.O. (1987), S. 53.
75
26
27
25 So z. B. durch einen Zwischenschritt, der die Norm der Gerechtigkeit einfhrt, die
dann als gleiche Behandlung gleicher und als ungleiche Behandlung ungleicher Flle
definiert wird.
26 Oder in einer etwas poetischeren Wendung une lumire qui, clairant le reste,
demeure son origine dans l'obscurit* - so Maurice Merleau-Ponty, Le Visible et
l'Invisible, Paris 1964, S. 1 7 2 .
27 Es bedarf kaum der Erwhnung, da dieser Code-Begriff nicht mit dem der Semiotik bereinstimmt. Die Semiotik bezeichnet mit Code (oder Kode) eine
Funktion oder Zuordnungsregel, die einen Ausdruck mit einem gemeinten Inhalt
verbindet. Vgl. z. B. in Anwendung auf das Recht Thomas M. Seibert, Zur Einfhrung: Kode, Institution und das Paradigma des Rechts, Zeitschrift fr Semiotik
2 (1980), S. 183-195. Aber wenn es denn um eine Zuordnungsregel geht (und nicht
um die zugeordneten Inhalte selbst), liegt auch dem semiotischen Sprachgebrauch
176
reiche Strukturen, die in schrfster Vereinfachung auf die Errungenschaft von Bistabilitt zurckgefhrt werden knnen. Damit sind
Systeme gemeint, die zwei Zustnde (positiv/negativ, i/o, an/aus
usw.) annehmen knnen, von denen ihre weiteren Operationen
ausgehen. Es sind Systeme mit eingebauter Unterscheidung, mit
eingebauter Form und mit der Mglichkeit von Operationen, die
den Anschlupunkt fr weitere eigene Operationen von der einen
Seite auf die andere Seite verlagern - in der Terminologie von Spencer Brown: Operationen des crossing. Die Errungenschaft besteht darin, da zwei und nur zwei nicht zugleich benutzbare
Anschlupunkte bereitgestellt sind. Sie setzt nicht voraus, da das
System ber die Mglichkeit des Beobachtens, des Selbstbeobachtens, der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz
verfgt (wie dies im Falle des Rechtssystems selbstverstndlich gegeben ist). Schon Bistabilitt bewirkt, da das System mit eigenen
Operationen und vllig determiniert auf eine hochkomplexe Umwelt reagieren kann, ohne sich ihr anpassen zu mssen. Dies hlt sich
in allen daran anschlieenden Fortentwicklungen durch und wird
nicht mehr verndert. Auch binre Codes wie der von Recht und
Unrecht haben mithin die Form von Bistabilitt und garantieren
dadurch, da das System seine weiteren Operationen sowohl bei
der Feststellung von Recht als auch bei der Feststellung von Unrecht ansetzen kann - ungeachtet der positiv/ negativ-Differenz, die
besagt, da man nur mit Recht und nicht mit Unrecht im System
Positionen aufbauen kann.
Logisch gesehen setzt Bistabilitt den Ausschlu von dritten Werten (oder Bezeichnungen) voraus, die weder dem einen noch dem
anderen Wert zugeordnet werden knnen. Unter dieser Voraussetzung sind die beiden Werte durch bloe Negation konvertibel, ohne
da dies eine Interpretation der Werte erfordern wrde. Operativ
erfolgt dieser Ausschlu durch die Erzeugung einer Umwelt, fr
die dies Weder/Noch unterstellt werden kann. Anders als in einer
primren Anwendung des Kalkls von Spencer Brown ist also die
andere Seite der Unterscheidung nicht eo ipso der unmarked
letztUcheinebinreStrukturzugrunde,undderhierfavorisierteBegriffsvorschlaggeht
nur insofern darber hinaus, als der Code selbst als eine artifizielle Verdopplung der Realitt gesehen wird und damit den Sinn beider Seiten der codierten
Beziehung verndert. Und die Frage ist dann, was mit der Verdopplung als solcher
(oder: mit der Form des Codes) gewonnen werden kann.
'77
Dank des binren Codes gibt es einen positiven Wert, wir nennen
ihn Recht, und einen negativen Wert, wir nennen ihn Unrecht. Der
positive Wert wird angewandt, wenn ein Sachverhalt mit den Normen des Systems bereinstimmt. Der negative Wert wird angewandt, wenn ein Sachverhalt gegen die Normen des Systems
verstt. Das, was wir soeben Sachverhalt genannt haben, wird
vom System selbst konstruiert. Das System erkennt keine externe
Instanz an, die ihm vorschreiben knnte, was ein Sachverhalt ist,
wenngleich dieser Begriff sowohl systeminterne als auch systemexterne Gegebenheiten bezeichnen kann. Die Jurisdiktion, die mit
der Zuerkennung der Werte Recht und Unrecht praktiziert wird, ist
eine systeminterne Angelegenheit. Es gibt auerhalb des Rechts
keine Disposition ber Recht und Unrecht. Das ist im brigen eine
vllig triviale Feststellung (die allerdings im Kontext ihrer theoretischen Auswertung nichttriviale Konsequenzen hat). Man kann sie
auch in der Feststellung zusammenfassen, da, immer wenn eine
Operation ber Recht und Unrecht disponiert, das System sie als
systemeigene Operation erkennt und ins rekursive Netzwerk weiterer Operationen einfgt. Die Frage kann dann allenfalls noch sein,
in welchem Umfang Konsistenz (oder: informationelle Redundanz)
gesichert ist - im Mittelalter etwa im Verhltnis von kanonischem
Recht, Zivilrecht und lokalen Rechtsgewohnheiten bei Fehlen einer
einheitlichen Gerichtsbarkeit.
Der Ordnungs- und Separierungseffekt der Codierung beruht auf
ihrer Zweiwertigkeit. Das heit zunchst einmal, da das System
kein zielgerichtetes System sein kann, das teleologisch orientiert,
auf ein gutes Ende hinarbeitet und bei Erreichen des Endes seine
Operationen einstellt. Anders gesagt: Die Einheit des Systems ist
28 Vorsorglich sei angemerkt, da die Begriffe Welt bzw. Umwelt hier technisch genau
verstanden werden und von den Dingen und Ereignissen in der Welt bzw. Umwelt
unterschieden werden mssen, die fr das System selbstverstndlich spezifizierbar
sind, sofern sein Code und seine Programme dies vorsehen.
178
im System nicht als Ziel, als zu erreichender Endzustand reprsentierbar. Zielorientierungen kann es im System geben, aber nur fr
Episoden, etwa einzelne Verfahren, die zu einem Gesetz oder zu
einem Gerichtsurteil fhren, oder auch fr Vertragsverhandlungen
mit dem Ziel eines Vertragsschlusses. Mit dem Erreichen ihres Zieles sind diese interaktioneil durchgefhrten Verfahren bzw. Verhandlungen beendet. Die Voraussetzung solcher Zielsetzung und
Beendung ist jedoch, da nicht auch das Recht selbst damit am
Ende ist und aufhrt. Im Gegenteil: Die Episodisierung, Zielmarkierung, temporale Differenzierung im Recht beruht gerade darauf,
da das Rechtssystem selbst weiter operiert und die Resultate der
Verfahren oder Verhandlungen in den Bedingungszusammenhang
der weiteren Operationen einfgt. Wre das Recht selbst mit dem
Verfahren am Ende, wrde man mit dem Verfahren gar nicht erst
beginnen. Das Recht ist also eine endlose Geschichte, ein autopoietisches System, das Elemente nur produziert, um weitere Elemente
produzieren zu knnen; und die binre Codierung ist die Strukturform, die das garantiert.
29
Dies kommt auch darin zum Ausdruck, da jede Recht oder Unrecht besttigende Entscheidung ihrerseits in der weiteren Verwendung wieder entweder rechtmige oder unrechtmige Tatbestnde erzeugen kann. Es ist Unrecht, wenn der, der dank eines
rechtskrftigen Urteils im Recht ist, dieses eigenhndig vollstreckt;
und im Gefngnis hat man Anspruch auf Ernhrung, menschliche
Behandlung usw., obwohl man wegen eines Unrechts einsitzt. Jede
Operation, die fr den einen oder den anderen Wert optiert, ffnet
damit erneut den Code mit der Mglichkeit, anschlieende Operationen wieder nach dem einen oder dem anderen Wert zu beurteilen. Damit ist nichts anderes gesagt, als da das System auch in
zeitlicher Hinsicht ein auf Grund seiner Geschlossenheit offenes
System ist. Die autopoietische Reproduktion ist in dieser Hinsicht
die Reproduktion der Wiederverwendbarkeit des Codes. Ein ausdifferenziertes, am eigenen Code orientiertes Rechtssystem ist also
dadurch gekennzeichnet, da es den laufenden Anschlu von rechtmigem Verhalten an Unrecht ebenso wie die immer wieder neu
29 Siehedazu die Ausfhrungen ber Episodenverknpfung im Rechtssystem bei
Gunther Teubner, Episodenverknpfung: Zur Steigerung von Selbstreferenz im
Recht, in: Dirk Baecker et al. (Hrsg.), Theorie als Passion, Frankfurt 1987, S. 423446.
179
31
180
tes konnte sich nicht schlicht neben Recht und Unrecht auf die
Werteliste setzen. Ihm blieb nur die Mglichkeit, sich dem binren
Code zu stellen, aber ihm gegenber die Position eines Rejektionswertes zu reklamieren, das heit eines Wertes, der es ermglicht,
in bestimmten Fllen die Entscheidung zwischen Recht und Unrecht bzw. die Verbindlichkeit dieses Optionszwanges abzulehnen.
Wir finden uns hier in den Auslufern einer antiken und mittelalterlichen Diskussion der Frage, ob das Recht sich selbst von seiner
Anwendung dispensieren knne. Das wird man heute, vor allem
nach der Einfhrung und Durchsetzung des Justizverweigerungsverbots, ablehnen mssen. Auch reprsentiert ein Rejektionswert
nicht, wie in der rmischen Rhetorik oder der mittelalterlichen
Rechtstheorie, einen hherrangigen Wert. Man kann ja nicht
durch Rejektion des Codes ihm hhere Mastbe oktroyieren.
Vielmehr geht es nur um die logische Form, die das Gesellschaftssystem whlen mu, wenn es mit einer Mehrzahl von unterschiedlich codierten Systemen zurechtkommen mu und selbst ber
keinen bergeordneten Code verfgt.
32
33
34
Eine Erlaubnis zur Selbstrejektion des Codes ist paradox konstruiert, weil sie fr die Selbstrejektion wiederum Rechtmigkeit (und
nicht Rechtswidrigkeit) reklamiert. Eben deshalb entfaltet man die
Paradoxie durch eine Unterscheidung von Ebenen der Rechtsgeltung. Davon zu unterscheiden ist ein anderer Fall, der in Direktbe32 Dieser Begriff im Kontext einer Logik transjunktiver Operationen bei Gotthard
Gnther, Das metaphysische Problem einer Formalisierung der transzendentaldialektischen Logik, und dems., Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations, in: ders., Beitrge zur Grundlegung einer operationsfhigen Dialektik Bd.i,
Hamburg 1976, S. 189-247 bzw. 249-328.
33 Vgl., immer noch unbertroffen, das von Alessandro Bonucci, La derogabilit del
diritto naturale nella scolastica, Perugia 1906, ausgebreitete Material.
34 Zur logischen Form wre noch anzumerken, da die Bercksichtigung von Akzeptions- bzw. Rejektionswerten die klassische Struktur der zweiwertigen Logik
sprengt. Damit fllt auch die Bindung an eine ontologische bzw. ethisch-politische
Weltsicht, die auf eine einzige Leitunterscheidung, nmlich Sein/Nichtsein bzw.
gut/schlecht bezogen war und schon aus logischen Grnden fr Beobachter keine
strukturreicheren Optionsmglichkeiten erffnen konnte. So konnte denn auch,
wie unter anderem Heidegger moniert hat, in der ontologischen Metaphysik zwischen Wahrheit (Codewert) und Richtigkeit (Programmkonformitt) der Erkenntnis nicht unterschieden werden. Und hnliche Schwierigkeiten bedingen noch
heute die Hartnckigkeit, mit der man legitimatorische Werte oberhalb des Rechts
sucht - oder vermit.
l8l
obachtung die Form einer Tautologie annimmt. Jedem Funktionssystem ist erlaubt, die eigene Zweiwertigkeit als Ausschlu dritter
Werte nochmals zu formulieren, und das heit im gesellschaftlichen
Kontext: die Codes anderer Funktionssysteme zu rejizieren unter
der Voraussetzung, da es den eigenen bedingungslos akzeptiert.
Aber damit ist nur die Optionsmglichkeit limitiert, nicht auch die
Relevanz punktuell zu beachtender Werte. Im Rechtssystem entspricht dem, wie wir noch ausfhrlich sehen werden, die Differenzierung von Codierung und Programmierung, mit der die auf der
Code-Ebene ausgeschlossenen anderen Werte auf der Programmebene zur Geltung gebracht werden knnen; unter der Voraussetzung freilich, da sie nur dazu verwendet werden, eine Entscheidung zwischen Recht und Unrecht zu konditionieren.
Die Einheit eines Codes kommt darin zum Ausdruck, da ber den
einen Wert nicht ohne Bercksichtigung des anderen entschieden
werden kann. Damit wird ein unmittelbares Rechtsbewutsein, wie
man sagen knnte, gebrochen. Man mu immer davon ausgehen,
da auch der andere Wert einsetzbar wre, so sehr man in einer
bestimmten Situation von Recht bzw. von Unrecht berzeugt sein
mag. Die Zuordnung von Werten zu Sachverhalten setzt daher die
Prfung und Verwerfung der gegenteiligen Mglichkeit voraus - so
wie ein Satz im System Wissenschaft nur als wahr bezeichnet werden kann, wenn man zugleich behauptet, geprft zu haben, da er
nicht unwahr ist. Selbstverstndlich gibt es in solchen Fragen keine
absolute Sicherheit und auch keine Instanz, die - man mte fast
sagen: unabhngig von sich selbst - feststellen knnte, was fr jeden
mglichen Standpunkt zutrifft. Aber dieses Endgltigkeitsdefizit
kann im System kompensiert werden - sei es durch zugestandene
Hypothetik aller wissenschaftlichen Aussagen, sei es durch die Institution der Rechtskraft, die das Wiederholen der Prfung unter
gleichen Prmissen rechtmig blockiert.
Auf diese Weise entfaltet der Code das Paradox, das darin liegt,
da die Einheit des Systems in zwei inkompatiblen Werten besteht,
also da eine Unterscheidung zwei Seiten hat, die, zeitlich gesehen,
zugleich relevant sind, aber nicht zugleich benutzt werden knnen.
Die Einsetzung des zweiten Wertes bewirkt dann, da man der ersten Intuition, die weitere Operationen an das anschlieen will, was
man fr Recht hlt, nicht ohne weiteres folgen kann (oder wenn:
nur auf eigenes Risiko). Der zweite Wert ist daher ein Negativwert,
182
35 Der Begriff bezieht sich also mit positiver Emphase auf genau die Unabhngigkeit
von konkret-subjektiven Sinnstiftungen, die Husserl in seiner Kritik der modernen,
technisch idealisierten Wissenschaften beklagt. Siehe Edmund Husserl, Die Krisis
der europischen Wissenschaften und die Transzendentale Phnomenologie, Husserliana Bd. V I , Den Haag 1954.
183
ist schwer zu sagen, was hier das primre Motiv ist. Der Code erlaubt durch die glatte (eben: technische) Kopplung von Wert und
Unwert, da dies quasi automatisch geschieht und da man sich
nicht besonders exponieren mu als jemand, dem es vor allem daran
liegt, da sein Gegner unrecht bekommt.
Technisierung kann als Bedingung von und als Aufforderung zu
rationalem Entscheiden begriffen werden. Damit werden dann aber
Rationalittsansprche durch die Form des Codes limitiert. Man
kann von spezifisch juridischer Rationalitt sprechen, daraus
aber nicht ableiten, da es sich um gesamtgesellschaftliche Rationalitt handele. Damit wird auch die Verwendung des Begriffs Vernunft in diesem Zusammenhang problematisch. Was jedoch
erreicht werden kann, ist: da innerhalb von unscharfen Toleranzzonen feststellbar ist, ob bei der Zuordnung der Werte Recht und
Unrecht ein Fehler unterlaufen ist oder nicht. Und das wiederum ist
Voraussetzung dafr, da es sinnvoll sein kann, eine Hierarchie der
Fehlerkontrolle, also einen darauf spezialisierten Instanzenzug in
das System hineinzuorganisieren. Nur so ist schlielich die Vorstellung vertretbar, da viele Verfahren gleichzeitig nebeneinander
ablaufen und trotzdem gleichsinnig entschieden werden, so da es
nicht, oder nur in geringem Mae, sich auf das Ergebnis auswirkt,
welches Gericht, welche Kammer, welcher Richter mit einer Entscheidung befat ist. Diese Frage hat zwar bei Praktikern und auch
in der Rechtssoziologie erhebliche Aufmerksamkeit gefunden, und
offensichtlich kann es unter Umstnden darauf ankommen. Aber
selbst dann bewhrt sich die Technisierung des Codes insofern, als
dies als eine Anomalie behandelt wird, und da man auf Grund von
Rechts- und Sachverhaltskenntnissen spezifizieren kann, ob und in
genau welchen Hinsichten es einen Unterschied machen kann, wer
die Entscheidung trifft.
36
37
184
ren. Das macht die rechtliche Bewertung von vielen gesellschaftlichen Bewertungen unabhngig und erffnet zugleich einen weiten
Spielraum fr die Kombination von Eigenschaften. Es kann dann
zum Beispiel gute, aber unfhige, oder fhige, aber bse Menschen
geben - im Unterschied zu den Mglichkeiten der obengenannten
harmonieorientierten Hochkulturen (und auch im Unterschied
zum arete/virtus-Begriff unserer Tradition, die auf Bndelung der
guten bzw. der schlechten Eigenschaften angewiesen w a r . ) Das
heit natrlich nicht, da ein Durchgriff auf gesellschaftliche
Wertungen nicht mehr mglich wre; aber er mu systemintern
legitimierbar, systemintern anknpfbar, autopoietisch verwendbar
sein.
38
39
All dies unterstellt, gibt es immer noch zwei mgliche Interpretationen des Codes. Die eine behandelt den Code als Einteilung der
Welt in zwei Hlften: Recht und Unrecht. Alles, was der Fall sein
kann, ist entweder Recht oder Unrecht. Bei einer solchen Beobachtung und Beschreibung spezifiziert man die eine Seite des Codes
und fhrt die andere als Restkategorie mit: als das, was als unmarked space (Spencer Brown) bleibt, wenn die Form des Rechts
gesetzt ist. Dafr gibt es dann wieder zwei Ausfhrungen. Man
kann entweder Recht oder Unrecht als Innenseite des Codes behandeln und die jeweils andere Seite folglich als Auenseite, als
Restkategorie. Die Probleme der einen wie der anderen Option
knnen dadurch korrigiert werden, da man die Normen, die etwas
erlauben bzw. verbieten, relativ unbestimmt formuliert. Die Programme des Systems (wir kommen darauf gleich zurck) knnen
ihre Spezifikationsleistungen also mehr auf der einen oder mehr auf
der anderen Seite des Codes ansetzen, mehr zivilrechtlich das
Recht-Haben oder mehr strafrechtlich das Im-Unrecht-Sein konditionieren. Die jeweils unterbestimmte Seite dient dann gleichsam
40
38 Vgl. Siegfried Streufert / Susan C.Streufert, Effects of Conceptual Structure, Failure, and Success on Attribution of Causaiity and Interpersonal Attitudes, Journal
of Personality and Social Psychology 11 (1969), S. 1 3 8 - 1 4 7 , zu entsprechenden Effekten hoher Systemkomplexitt.
39 Formal gesehen handelt es sich hier um unterschiedliche Modelle fr den Umgang
mit Variett und Redundanz. Wir kommen bei der Behandlung von Argumentation
darauf zurck.
40 Da dies nur eine sehr oberflchliche Vorstellung der Differenz von Zivilrecht und
Strafrecht vermittelt, sollte sich nach einer langen, mindestens auf Bentham zurckgehenden Diskussion von selbst verstehen. In jedem Falle wird die andere Seite des
l85
als variety pool fr Zwecke der Auslegung und der Argumentation. Es bleibt also trotz dieser Spiegelbildlichkeit der Lagen ein
Darstellungsunterschied, ein politischer Unterschied, ein semantischer Unterschied und auch ein Unterschied fr die rechtliche
Behandlung von Zweifelsfllen, ob man vom Erlauben oder vom
Verbieten ausgeht.
Diese Version des Codes als Weltschnitt, als Universalcode, ist jedoch nicht die einzig mgliche. Hierbei handelt es sich um die
Version, die im Rechtssystem selbst praktiziert wird und nur durch
Vermittlung des Rechtssystems gesellschaftliche Operationen
(Kommunikationen) strukturiert. Die andere Version bietet sich an,
wenn man von der Gesellschaft als dem alle Kommunikationen umfassenden und einschlieenden System ausgeht. Legt man diese
Systemreferenz zugrunde, gibt es viele Teilsysteme mit jeweils verschiedenen Codes, die nur aus der Sicht des Teilsystems einen
Funktionsprimat und eine universelle Geltung beanspruchen. Man
denke, um den Unterscheidungsbereich zu verdeutlichen, an den
Eigentumscode des Wirtschaftssystems, an den Selektionscode des
Erziehungssystems oder an den Machtcode des politischen Systems. Solche Codes gelten fr die Gesellschaft dann nur mit
Systemindex. Die Gesellschaft fordert nur, da man diese Unterscheidungen mit ihren je spezifiscnen positiven und negativen Werten voneinander unterscheiden kann. Sie selbst bentigt keinen
eigenen Code, da ihre operative Geschlossenheit und ihre Grenzen
dadurch gesichert und fallweise feststellbar sind, da man Kommunikation von Nichtkommunikation unterscheiden kann. Statt dessen steht sie heute vor dem Problem, wie sie sich selbst beschreiben
soll als ein System, das mehrere jeweils fr sich universelle Codierungen vorsieht. Die traditionellen Beschreibungsmittel einer zweiwertigen Logik und einer Ontologie, die das Beobachten nach dem
Schema Sein/Nichtsein strukturiert, reichen dafr nicht aus. Auch
geht es nicht an, den wahr/unwahr-Code der Wissenschaft als Form
der Selbstbeschreibung der Gesellschaft zu akzeptieren (was nicht
ausschliet, da die Wissenschaft ihrerseits die Gesellschaft beschreibt), denn auch dieser Code ist nur der Code eines gesell-
186
III
Der Code des Rechtssystems hat Eigenschaften, die es ausschlieen, da das Rechtssystem sich ausschlielich am Code selbst
orientiert. Der Begriff des Codes ist, mit anderen Worten, kein
Nachfolgebegriff fr den alten Begriff des Prinzips; oder er bernimmt die Nachfolge allenfalls teilweise. Wir wollen diese Insuffizienz der reinen Codierung unter zwei Gesichtspunkten errtern:
zeitlich und sachlich.
Zeitlich gesehen ist und bleibt der Code invariant. Tauscht man ihn
gegen andere Werte, etwa den des Nutzens oder den der Erhaltung
politischer Macht, befindet man sich in einem anderen System.
Auch das Hinzufgen weiterer Werte ist, wenngleich aus mehr
praktischen Grnden, ausgeschlossen. Insofern reprsentiert der
Code die Art und Weise, wie das System seine eigene Einheit produziert und reproduziert. Er reprsentiert die Autopoiesis des
Systems, die ebenfalls nur erfolgen oder nicht erfolgen kann. Er hat
eine entsprechende Hrte. Anders gesagt: Der Code bietet keine
41 Siehe erneut die beiden oben zitierten Studien von Gotthard Gnther a.a.O.
187
Mglichkeit der Anpassung des Systems an seine Umwelt. Ein codiertes System ist angepat - oder es existiert nicht. Eine Gesellschaft kann sich ein ausdifferenziertes Rechtssystem leisten - oder
nicht. Es gibt in dieser Hinsicht keine Zwischenlsungen.
Sachlich gesehen ist der Code eine Tautologie und, im Falle der
Selbstanwendung, eine Paradoxie. Das heit: Er allein reicht nicht
aus, um Informationen zu produzieren. Die Tautologie ergibt sich
daraus, da die Werte des Codes mit Hilfe einer Negation, die
nichts bedeutet, austauschbar sind. Recht ist nicht Unrecht. Unrecht ist nicht Recht. Negationen sind aber Operationen, die die
Identitt des Negierten voraussetzen und nicht verndern drfen.
Insofern kann man den Code auch als eine bloe Duplikation des
Prferenzwertes bezeichnen. Er besagt, da Recht nicht Unrecht
sein darf und Unrecht nicht Recht. Nur wenn das gesichert ist - und
als Gegenbeispiel eignen sich immer wieder die griechischen Tragdien, die genau diese Errungenschaft am Gegenfall spiegeln sollten -,
kann man im oben behandelten Sinne von Technisierung sprechen.
Eine Paradoxie kommt zustande, wenn man den Code auf sich
selbst anwendet, also die Frage stellt, ob es recht oder unrecht ist,
zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden. Die fr Juristen (und
Logiker) triviale Antwort, es sei recht, lt offen, was denn in diesem Falle als Gegenbegriff zu Recht, als auch mgliches Unrecht
funktioniert. Die andere Antwort, es sei unrecht, erzeugt dasselbe
Problem im umgekehrten Sinne. Im einen Falle ist das Recht als
rechtlich legitim, im anderen als rechtlich illegitim behauptet. Aber
die Frage nach der Einheit der beiden Behauptungen, die Frage der
Einheit des Codes, ist nicht einmal gestellt. Sie ist, wie wir sagen
wollen, invisibilisiert. Das ist nur eine andere Version der sehr viel
allgemeineren These, da die Unterscheidung, mit der man beobachtet, nicht selber bezeichnet werden kann, sondern der Beobachtung als blinder Fleck dient, nmlich als (nicht-vernnftige)
Bedingung ihrer eigenen Mglichkeit. Ein Beobachter dieses Beobachters, der dies nicht wahrhaben will (und das kann im Rechtssystem selbst durch theoretische Reflexion geschehen), bekommt nur
Tautologien und Paradoxien zu sehen. Er destruiert also seine ei42
42 Siehe dazu auch Niklas Luhmann, Sthenographie und Euryalistik, in: Hans Ulrich
Gumbrecht / K.Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrche: Situationen einer offenen Epistemologie, Frankfurt 1991, S. 58-82.
188
Und finden sie in der systeminternen Unterscheidung von Codierung und Programmierung. Schon die Codierung selbst kann als
Form der Entfaltung der Tautologie/Paradoxie des Rechts angesehen werden, allerdings als eine Form, die das Problem nur reartikuliert. Codes sind dank ihrer Zweiwertigkeit Voraussetzungen
weiterer Konditionierung, Bedingungen der Mglichkeit von Bedingungen, die regeln, welcher der beiden Werte zutreffend anzuwenden ist. Ohne sie htten Programme keinen Gegenstand. Aus
der Codierung ergibt sich aber nur ein Ergnzungsbedarf, ein Bedarf fr Supplemente etwa im Sinne von Derrida , ein Bedarf fr
hinreichend deutliche Instruktionen. Da die Werte Recht und Unrecht nicht selber Kriterien fr die Feststellung von Recht und
44
45
43 Vgl. nur Douglas R. Hofstadter, Gdel, Escher, Bach: An Etemal Golden Braid,
Hassocks, Sussex 1979, mit der These der Unvermeidlichkeit von tangled hierarchies.
44 Zu beachten ist, da es andere Formen der Konditionierung gibt, die fr Systembildungen schlechthin unerllich sind, vor allem Bedingungen, die unabhngige
Variationsmglichkeiten koppeln, synchronisieren, also, wenn die Bedingungen gegeben sind, voneinander abhngig machen. Vgl. zur fundierenden Bedeutung dieser
Art von conditionalities W. Ross Ashby, Principles of the Self-Organizing System,
in: Heinz von Foerster / George W.Zopf (Hrsg.), Principles of Self-Organization,
N e w York 192, S. 255-278; neu abgedruckt in Walter Buckley (Hrsg.), Modem
Systems Research for the Behavioral Scientist: A Sourcebook, Chicago 1968,
S. 108-118.
45 Siehe zur Einfhrung Jacques Derrida, Grammatologie, dt. bers. Frankfurt 1974,
S. 244 ff.
189
46
48
In geraffter Formulierung kann man daher auch sagen: Codes generieren Programme. Oder besser: Codes sind Unterscheidungen,
die nur mit Hilfe einer weiteren Unterscheidung autopoietisch produktiv werden knnen, nmlich mit Hilfe der Unterscheidung
Codierung/Programmierung. Sie sind die eine Seite einer Form, deren andere die Programme des Systems sind. Und nur ber dies
komplizierte Unterscheiden von Unterscheidungen im System kann
49
46 Schon im klassischen Sprachgebrauch von knon, kriterion, regula war der Bezug
auf einen zweiwertigen Schematismus vorgesehen, zumeist aber mit der Tendenz,
die Begrndung der Kriterien durch den Prferenzwert des Schematismus selbst
abzudecken.
47 Das Rechtssystem hatten wir oben, Kapitel 2, III, als eine historische Maschine
beschrieben.
48 Dies allerdings bereits in der Antike und lngst bevor die neuzeitliche Gesellschaft
Kritik als ihre Spezialitt entdeckt hat. Siehe mit umfangreichen Belegen Dieter
Nrr, Rechtskritik in der rmischen Antike, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Abhandlungen N . F . 77, Mnchen
1974. Viel von der mittelalterlichen und frhmodernen Rechtskritik ist im brigen
auf Einwnde gegen schriftliche Fixierung in einer fremden (lateinischen, im Common Law auch franzsischen) Sprache zurckzufhren.
49 Da es historisch umgekehrt gelaufen ist, da Codes erst entstehen konnten, nachdem eine hinreichende Menge von programmiertem Rechtsmaterial vorhanden war,
werden wir im Kapitel ber Evolution des Rechts ausfhren. Zum bemerkenswerten Alter der Form des Konditionalprogramms vgl. auch unten IV.
190
das anlaufen und ablaufen, was ein Beobachter als Entfaltung der
Tautologie/Paradoxie des Systems beschreiben wrde. Codes garantieren insofern die Autopoiesis des Systems, als sie jede Selbstfestlegung des Systems mit der Mglichkeit des Gegenteils konfrontieren, also keine Endgltigkeit, keine Perfektion zulassen. Fr
sich allein ermglichen sie jedoch eine solche Selbstfestlegung noch
nicht, weil sie alles zulassen. Die autopoietische Selbstdetermination des Systems kommt erst durch die Differenz von Codierung
und Programmierung zustande.
Auch in vormodernen Gesellschaften findet man diese Differenzierung von Codierung und Programmierung. Sie hat hier jedoch
einen spezifischen Verwendungszusammenhang. In der binren
Schematisierung liegt ein Risiko der Abstraktion und der Forcierung eines harten entweder/oder, das sozial schwer ertrglich ist
und noch heute (vor allem in fernstlichen Lndern) zu der Empfehlung fhrt, davon in situ keinen Gebrauch zu machen. Darin
liegt aber ein Verzicht auf durchgreifende Juridifizierung der Operationen des Gesellschaftssystems. Europa schlgt seit dem Mittelalter einen anderen Weg ein. Das Risiko der Recht/UnrechtCodierung wird akzeptiert , aber die Ebene der Programmierung
wird benutzt, um das Recht in die Gesellschaft zu reintegrieren. Die
Ebene der Programmierung wirkt dann als Ausgleichsebene fr etwaige Diskrepanzen zwischen Recht und Gesellschaft. Das entsprechende Produkt heit Naturrecht. Uber den Begriff der
Natur, der selbst eine normative Form annimmt (nmlich Perfektion und Korruption zu unterscheiden erlaubt), werden gesellschaftliche Selbstverstndlichkeiten in das Recht berfhrt, vor
allem solche der sozialen Differenzierung oder solche der Vorteilhaftigkeit von Arbeits- und Eigentumsteilung. Sowohl Adel als
auch Eigentum werden zwar als Institute des positiven Rechts gefhrt, weil sie zu deutlich an Sonderregelungen gebunden sind, aber
die Argumentation, die dies rechtfertigt, beruft sich auf die Natur
des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, und erst die
50
51
50 Man wird jedoch hinzufgen mssen: soweit nicht Rcksichten auf die politischen
Machtverhltnisse entgegenstehen.
51 Andere Ausgleichsformen liegen im Begriff der iurisdictio, die auch die Mglichkeit einschliet, vom strengen Recht abzuweichen und Billigkeit walten zu lassen
mit der Mglichkeit, hier eine zweite, elastischere Rechtsordnung anzuschlieen,
wie sie vor allem in England genutzt wird.
191
Sozialkontraktlehren des 17. Jahrhunderts signalisieren einen Zugriff, der von bestimmten Gesellschaftsformen abstrahieren kann
und statt dessen auf vertraglich nicht disponible Menschenrechte
oder auf Schranken der Eigenrationalitt und Selbsterhaltung der
rechtssetzenden Gewalt abstellt.
Der bergang zu einem Gesellschaftssystem mit voll ausgebauter
funktionaler Differenzierung wird auf Naturrecht in diesem Sinne
verzichten knnen. Die Programmebene dient jetzt den Erfordernissen, die im Code selbst vorgezeichnet sind. Als Supplement der
Codierung dient sie der Ausrichtung der konditionierenden Semantik an einem und nur einem Code. Deshalb gibt es jetzt nur noch im
Rechtssystem selbst produziertes positives Recht. Die Anforderungen an eine gesellschaftliche Integration werden gelockert bzw.
in EntScheidungsprozesse berfhrt. Und im brigen liegt ein Korrektiv auch darin, da auch die anderen Funktionssysteme sich
unter Anleitung durch eigene Codes und darauf spezialisierte Programme operativ schlieen.
Nur unter der Voraussetzung binrer Codierung kann es berhaupt
zu rechtsspezifischen Richtigkeitsproblemen kommen, denn nur
unter dieser Voraussetzung gibt es eine rechtsspezifische Kontingenz. Das, was richtig ist, wird nur durch die eigenen Programme
fixiert. Es gibt zwar immer die Mglichkeit, den Rechtscode selbst
zu rejizieren und das Urteil anderen Kontexturen zu berlassen etwa den Codes der Wissenschaft oder der Moral. Aber es gibt von
hier aus dann keinen Durchgriff auf das Recht. Es wrde das Recht
so gut wie vollstndig auer Kraft setzen, bedrfte es einer wissenschaftlichen oder einer moralischen (oder konomischen, sthetischen usw.) Re-evaluation. Deshalb gibt es fr das Recht auch
kein Problem der Legitimation, das es nicht selbst zu lsen htte. Es
gibt jede Menge von Kompatibilittsproblemen im Verhltnis der
Programme zueinander. Es gibt die Regel, da neues Recht altes
Recht bricht, und es gibt die Ausnahme von dieser Regel im Interesse des Vorrangs von Verfassungsrecht. Aber damit ist erneut nur
auf Komponenten der Programmstruktur des Rechts verwiesen.
Die Frage nach der Richtigkeit der Programmatik als solcher hat
keinen erkennbaren Sinn - es sei denn, um das zu wiederholen, im
Kontext einer Rejektion des Rechtscodes.
52
192
193
selbstverstndlich geht es im Recht auch auf der Ebene der Programme immer um die Funktion des Rechts, also um das Stabilhalten normativer Erwartungen. Wir haben es bei dieser Darstellung
nicht mehr mit der Hierarchie von ewigem Recht, Naturrecht und
positivem (nderbarem) Recht zu tun, aber in gewisser Weise erbringt die hier skizzierte Theorie dafr ein Ersatzangebot: Die
Invarianz und Unabdingbarkeit wird durch den Code vertreten, die
AnderbarkeitundindiesemSinne:diePositivittdurchdieProgramme
des Systems. In jedem Falle handelt es sich um rechtssysteminterne Einrichtungen, die aber auf das umfassende Gesellschaftssystem und dessen Umwelt als Bedingung ihrer Mglichkeiten angewiesen sind. Und, was Anpassung betrifft, kann man formulieren,
da das System in den Bedingungen seiner Anpassungsfhigkeit,
die durch Variation der Programme realisiert wird, immer schon
angepat ist.
Die Unterscheidung von Codierung und Programmierung erlaubt
es schlielich, zwei verschiedene Varianten des allgemeinen Problems der Rechtssicherheit zu unterscheiden. Rechtssicherheit mu
zunchst und vor allem in der Sicherheit bestehen, da Angelegenheiten, wenn das gewnscht wird, allein nach dem Rechtscode
behandelt werden und nicht etwa nach dem Machtcode oder nach
irgendwelchen, vom Recht nicht erfaten Interessen. Dies Problem
war in allen lteren Gesellschaften akut und ist es heute noch in
manchen Entwicklungslndern, ja selbst in Lndern der Dritten
Welt, die die Schwelle zur Industrialisierung schon deutlich berschritten haben. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob auf
Grund der Programme des Systems auch die Entscheidungen der
Gerichte voraussehbar sind. Hier kann man mit erheblicher Unsicherheit zurechtkommen und gegebenenfalls alternative Wege
der Konfliktlsung bevorzugen, sofern nur die Mglichkeit gewhrleistet ist, einen Rechtsfall nach Magabe des Rechtscodes
entscheiden zu lassen.
53
194
IV
Gegenber zu erwartenden Protesten und gegenber allem, was die
Juristen seit dem social engineering approach am Anfang dieses
Jahrhunderts und seit der Planungseuphorie der 6oer Jahre zu denken sich angewhnt haben, ist festzuhalten: Programme des
Rechtssystems sind immer Konditionalprogramme. Nur Konditionalprogramme instruieren die laufende Verknpfung von Selbstreferenz und Fremdreferenz ; nur sie geben der Umweltorientierung des Systems eine kognitive und zugleich im System deduktiv
auswertbare Form. Der rmische Formularproze wurde mit der
Weisung: si paret ... eingeleitet. Das Gegenmodell der Zweckprogramme eignet sich zum Beispiel fr Investitionsentscheidungen
oder fr Entscheidungen eines Arztes oder auch fr Planungsentscheidungen einer Verwaltungsbehrde. Zweckprogramme lassen
es aber nicht zu, die Tatsachen, die im Rechtsverfahren zu bercksichtigen sind, hinreichend zu limitieren. Fr das Rechtssystem
kommt eine Zweckprogrammierung nicht oder, wie wir gleich sehen werden, allenfalls im Kontext eines Konditionalprogrammes in
Betracht.
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57
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60
etwa: Wenn jemand berechtigt ist, bestimmte Zwecke zu verfolgen, darf er unter
der Voraussetzung a,b,c... entsprechend handeln.
58 Im Sinne von Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1 9 8 1 , S. 201 ff.;
ders., Principies of Self-Organization - in a Socio-Managerial Context, in: Hans
Ulrich / Gilbert J . B . Probst (Hrsg.), Self-Organization and Management of Social
Systems: Insights, Promises, Doubts, and Questions, Berlin 1984, S.2-24 (9 f.).
59 Komplementr dazu mag es auch Systeme geben, die versuchen, ihre Umwelt in die
Form von Trivialmaschinen zu bringen, obwohl sie sich selbst nicht so verstehen.
Das Erziehungssystem mag dafr als ein Beispiel dienen. Es operiert nach Magabe
von Zweckprogrammen in Reaktion auf das jeweils Erreichte, aber so, da die zu
Erziehenden richtige Antworten geben knnen und letztlich verlliche Menschen
werden.
60 Siehe hierzu vor allem Jean Bottro, Le Code de Hammu-rabi, Annali della
Scuola Normale Superiore di Pisa 1 2 , 1 (1982), S. 409-444.
196
61 Zur Bedeutung dieser Wenn-Dann-Form als Form des Rechts siehe Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978, S . 4 5 , 53 f. u. . MacCornck hlt diese Form fr unerllich auch und gerade dann, wenn die juristische
Argumentation auf Folgen der Entscheidung abstellt.
197
gramme sind also keineswegs Traditionsfestschreibungen. Sie knnen, je nach der Wahl der Bedingungen, in hohem Mae
zukunftsoffene Programme sein.
Durch die Form des Konditionalprogramms ist nur ausgeschlossen,
da knftige, im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht feststehende Tatsachen bei der Entscheidung zwischen Recht und Unrecht den Ausschlag geben. Genau das ist die Form, in der
Zweckprogramme sich festlegen. Die neuzeitliche Subjektivierung
des Zweckbegriffs hat allerdings zu einer Simplifikation gefhrt, die
dringend der Korrektur bedarf, denn anders werden die Vorbehalte
gegenber der Einfhrung von Zweckprogrammen ins Recht nicht
verstndlich. Die Simplifikation besteht darin, da Zwecke nur
noch als gegenwrtige Vorstellungen (Intentionen) angesehen werden in polemischer Abwendung von der alteuropischen (aristotelischen) Tradition, die Zwecke (tle) als Endzustnde einer Bewegung und damit als von der Bewegung her gesehene Zukunft
gedacht hatte. Da diese naturale Zweckkonzeption ersetzt werden mute in dem Mae, als die gesellschaftliche Evolution die
Zukunft fr mehr Mglichkeiten ffnete, ist leicht einzusehen. Die
daraufhin akzeptierte Form des intentionalen Zweckbegriffs wird
aber ihrerseits den Komplexitten der Zeitdimension nicht gerecht;
sie erfat sie nur aus einer Perspektive, indem sie den Zweck als
gegenwrtigen Zustand eines zweckorientierten Systems beschreibt. Das hatte unter anderem den Vorteil, da man Zwecksetzungen im Unterschied zur Tradition als whlbar, also als kontingent darstellen konnte. Mit dieser Intentionalisierung (Mentalisierung) des Zweckbegriffs verdeckt dieses Konzept jedoch die
Differenz zwischen gegenwrtiger Zukunft und knftigen Gegenwarten; und diese Differenz wird immer wichtiger in dem Mae, als
das Fortschrittsvertrauen und mit ihm das Venrauen in zweckrationale Problemlsungen schwinden. Zweckprogramme verschleiern
mithin das in der Zukunft liegende Problem: da die knftigen Gegenwarten nicht mit der gegenwrtig projektierbaren Zukunft
bereinstimmen werden. Das Mitrauen, das Max Weber und heute
zum Beispiel Jrgen Habermas der Alleingeltung von Zweckratio62
61 Siehe dazu Niklas Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik B d . 2 , Frankfurt
1981, S.9-44.
198
199
Man kann dann nicht auch noch von der Zukunft abhngig machen,
ob die Erwartungen, auf die man sich jetzt schon festlegen mu, in
der Zukunft berechtigt gewesen sein werden. Man will es jetzt wissen bzw. im Entscheidungszeitpunkt feststellen knnen, und dies
kann nur in der Form eines Konditionalprogramms garantiert werden.
Trotz all dem findet man Zweckprogramme im Recht, und empirisch orientierte Rechtssoziologen mgen daraufhin die hier vorgeschlagene Theorie als widerlegt ansehen. Zuvor sollte man
jedoch den Befund genauer analysieren.
Offensichtlich geht es in keinem Falle um echte Zweckprogramme in dem Sinne, da erst die Zukunft darber entscheiden wird,
was Recht und was Unrecht ist. Gerade bei einer zunehmend von
Unwissen getragenen kologisch orientierten Gesetzgebung liefe es
auf ein juristisches Desaster hinaus, wenn alle Manahmen als
rechtswidrig angesehen werden mten, falls sich herausstellen
sollte, da ihr Zweck auf die vorgesehene Weise nicht erreicht werden kann oder der Mittelaufwand bei neu hinzukommender Sachkenntnis als ungerechtfertigt erscheint. Die eine Seite des Problems,
nmlich die Frage, was knftige Gegenwarten bringen werden,
wird vielmehr ausgeblendet. Der Richter darf (und mu) diese Seite
der Zukunft ignorieren. Er sttzt seine Entscheidung, dem Recht
folgend, allein auf das, was er in der Gegenwart seiner Entscheidung
als Zukunft kommen sieht, also auf das, was fr ihn nach einer mit
aller gebotenen Sorgfalt erhobenen Sachlage die gegenwrtige Zukunft ist. Die Hoffnung war, da er sich dabei auf empirische
Gesetzmigkeiten oder jedenfalls auf statistisch gesicherte Hochwahrscheinlichkeiten sttzen knnte, die ihm etwa sagen, da ein
Kind nach der Scheidung am besten bei dem Elternteil aufgehoben
ist, zu dem es bereits starke Bindungen entwickelt hat. Mit der
Kritik dieser wissenschaftlichen Theorie bricht dann eine Welt von
64
64 Heimut Willke, Ironie des Staates, Frankfurt 1992, S. I77f. meint zum Beispiel, die
Rechtsentwicklung sei ber diese Bedenken hinweggegangen und habe Zweckprogramme als Einrichtungen des Rechts fest etabliert, ja gehe inzwischen auch
darber noch hinaus und lege auch Relationierungsprogramme nahe. Aber dann
mte mit mehr Sorgfalt gezeigt werden, genau wie denn die juristische Relevanz
von Zwecken oder Relationen zur Geltung kommt. Denn politische Sinngebungen
dieser Art, .die niemand bestreiten wird, sind als solche noch kein praktikables
Recht.
200
65
Gewiheitsquivalenten zusammen. Nach wiederholten Erfahrungen dieser Art wird man wohl zweifeln, ob es der Wissenschaft
in hinreichendem Umfang gelingt, gengend feste Zusammenhnge
zwischen Vergangenheit und Zukunft vorzugeben, nach denen der
Richter sich dann - wie nach Normen! - zu richten hat, wenn er
nicht falsch (bzw. anfechtbar) entscheiden will. Wenn aber diese
Lsung ausfllt: was heit es dann, wenn das Recht die Entscheidung zwischen Recht und Unrecht, die on the spot getroffen
werden mu, von der Frage abhngig macht, wie ein vorgegebener
Zweck - in unserem Beispiel: das Kindeswohl - am besten erreicht
werden kann?
Der Richter kann sich in einen Therapeuten verwandeln, der versucht, eine gescheiterte Ehe dazu zu bringen, wenigstens fr das
Kind noch gemeinsam zu sorgen. Die Reformen der Jugendgerichtsbarkeit dieses Jahrhunderts sind unter diesem moralischtherapeutischen Gesichtspunkt unternommen worden. Oder er
bernimmt die Rolle eines Unternehmensberaters, der zu verhindern sucht, da die Firmen, deren Zusammenschlu genehmigt ist,
doch noch eine marktbeherrschende Position erreichen. Man sieht
aber sofort, da er dann, obzwar Richter, nicht mehr im Rechtssystem operieren wrde. Die Ausstattung von Zweckprogrammen
66
67
65 Vgl. dazu Jutta Limbach, Die Suche nach dem Kindeswohl - Ein Lehrstck der
soziologischen Jurisprudenz, Zeitschrift fr Rechtssoziologie 9 (1988), S. 1 $5-160.
Zu juristischen Entscheidungsbehelfen franzsischer Richter in der gleichen Situation - Konsens der Eltern, ausdrcklicher Wunsch der Kinder, gegebener Status
quo, also alles bereits feststellbare Sachverhalte - vgl. Irne Thry, The Interest of
the Child and the Regulation of the Post-Divorce Family, International Journal of
the Sociology of Law 14 (1986), S. 3 4 1 - 3 5 8 . Siehe auch dies., Divorce et psychologisme juridique: Quelques lments de rflexion sur la mdiation familiale, Droit et
Socit 20-21 (1992), S. 2 1 1 - 2 2 8 .
66 Zur heute wohl berwiegenden, auch soziologisch begrndbaren skeptischen Beurteilung Richard Lempert / Joseph Sanders, Invitation to Law and Social Science:
Desert, Disputes, and Distribution, N e w York 1986, S. 258 ff. Siehe insb. die Feststellung S.169H., da entgegen einer therapeutischen Absicht und Bercksichtigung aller Aspekte der Person des Kindes sich die binre Codierung durchsetzt.
Vgl. auch Anthony Platt, The Child Savers : The Invention of Delinquency, Chicago
1969.
67 Charles W. Lidz / Andrew L. Walker, Therapeutic Control of Heroin: Dedifferentiating Legal and Psychiatric Controls, in: Harry M. Johnson (Hrsg.), Social
System and Legal Process, San Francisco 1978, S. 294-321, analysieren solche Flle,
in denen die Perspektiven in einer Situation von Moment zu Moment wechseln,
unter dem Gesichtspunkt der Entdifferenzierung.
201
mit einer Kybernetik der Nachsteuerung wrde nicht ins Rechtssystem passen; oder sie wrde bei jeder anfallenden Entscheidung das
Problem nur wiederholen, da die Zukunft keine ausreichende
Auskunft darber gibt, ob etwas jetzt schon rechtmig oder
rechtswidrig ist.
Vor allem die politischen Tendenzen zum Wohlfahrtsstaat haben
dazu gefhrt, da der ffentlichen Verwaltung und in sehr viel geringerem Umfang auch den Gerichten durch den Gesetzgeber
Zweckformulierungen vorgegeben werden. Zweckorientierung
mag sehr wohl eine sinnvolle politische Perspektive sein. In der
Anwendung durch das Rechtssystem spricht jedoch viel dagegen:
Einerseits kann die Sensibilitt von Zweckprogrammen fr die Umstnde der Zweckerreichung nicht ausgeschpft werden. Andererseits sind Zweckprogramme rechtstechnisch zu unprzise, um
Mibrauch oder auch Widerstand gegen ein Erreichen des Zwecks
wirksam auszuschlieen. Das gilt auch und gerade fr Gesetze, die
sich auf die Bezeichnung von Zwecken beschrnken. Juristisch
gesehen kann die Benennung eines Zweckes nur heien, da Manahmen nur rechtmig sind, wenn sie zweckorientierten Kriterien
gengen wie-zum Beispiel Kriterien der kausalen Eignung oder der
Vertretbarkeit der Mittelwahl. Eine gesetzliche oder in der justitiellen Praxis erarbeitete Zweckvorgabe kann nicht mehr sein als ein
Leitfaden fr die Ermittlung der Konditionen, die die Entscheidung
zwischen Recht und Unrecht tragen knnen. Das Konditionalprogramm mu dann (mehr oder weniger) fallweise zusammengestellt
werden, und Erfahrungen lassen vermuten, da der Richter dann
stereotypisierte Manahmen ins Auge fat, deren Eignung er unterstellt. Der Zweck erlaubt es ihm, von Nebenfolgen abzusehen.
Das gilt mit einiger Evidenz fr Manahmen, die im Jugendstraf68
69
68 Vgl. mit Blick auf die verfassungsmigen Konsequenzen Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt 1991, insb. S. I97ff., 4 1 1 ff. Nach Meinung von
Grimm kann die Verfassung angesichts solcher Vernderungen ihre Funktion weiterhin nur erfllen, wenn sie sich ihnen anpat.
69 Siehe als Fallanalyse zum Scheitern eines solchen Gesetzes und zur anschlieenden
Novellierung durch Vorgabe von Regeln David Schoenbrod, Goal Statutes or Rules
Statutes: The Case of the Clean Air Act, U C L A Law Review 30 (1983), S. 740-828.
Schoenbrod betont die beiden im Text genannten Gesichtspunkte: Nichtausschpfung der Sensibilitt des Zweckprogramms fr Bedingungen besserer Zweckerreichung und Schwierigkeiten bei der Uberwindung von Widerstand der Interessenten.
202
recht an die Stelle der Strafe treten knnen. Je mehr solche Zweckmigkeitserwgungen eine Entscheidung tragen, um so hher
wird die Wahrscheinlichkeit, da die Entscheidung falsch ist; denn
die Zukunft bleibt unbekannt auch fr den Richter. Zweckberlegungen exponieren ihn einer empirischen Kritik, und nur die
Amtsautoritt und der Zwang, entscheiden zu mssen, machen die
Entscheidung dann gltig.
Der Entscheidungsrahmen des Rechts ist also niemals ein Zweckprogramm, das fordern wrde, fr einen - sei es freigewhlten, sei
es vorgegebenen - Zweck geeignete Mittel ,zu suchen und dabei in
das Programm eingebaute Beschrnkungen, zum Beispiel der erlaubten Kosten oder auch Rechtsschranken, einzuhalten. Immer
liegt als geltender Text zunchst eine Wenn-Dann-Struktur zugrunde. Und nur bei Problemen in der Interpretation dieses Textes
kann das Rechtssystem, wie wir noch ausfhrlich sehen werden,
von der Erwgung ausgehen, welchem Zweck das Programm dienen sollte. Dabei gewhrt dann gerade die konditionale Programmierung Freiheiten in der Imagination von Zwecken, die bei einer
Zweckprogrammierung niemandem gestattet werden wrden.
Im Extremfall reduziert sich die Konditionierung also auf eine
Kompetenznorm. Recht ist das, was der Richter letztverbindlich
fr ein geeignetes Mittel zum Zweck hlt. Aber auch das ist noch
ein Konditionalprogramm, denn Recht ist es nur, wenn der Richter
die Kompetenz mit Recht wahrnimmt, also wenn er ein Richter ist.
Dann luft die Rechtspraxis in das zurck, was ein Beobachter als
Tautologie beschreiben wrde: Recht ist das, was das Recht als
Recht bezeichnet. Die Programmierfunktion wrde gegen Null
tendieren. Selbst dann wre die Autopoiesis des Rechtssystems
nicht gefhrdet, denn immer noch wre klar, wen man beobachten
mu, wenn man wissen will, was Recht und was Unrecht ist. Die
Autopoiesis ist durch den Code, nicht durch die Programme des
Systems garantiert. Die Frage kann deshalb nur sein, welche strukturellen Folgewirkungen es im Rechtssystem und in den Interpenetrationsverhltnissen zu Systemen seiner gesellschaftlichen Umwelt hat, wenn die Detailkonditionierung der Rechtsprogramme
durch eingebaute Zweckprogramme ersetzt wird.
Die Festlegung des Rechts auf Konditionalprogramme schliet im
70
203
brigen keineswegs aus, da Zweckprogramme anderer Funktionssysteme auf Recht zurckgreifen, etwa die Zweckprogramme der
Politik auf das Verfassungsrecht, die Zweckprogramme des Erziehungssystems auf Schulpflicht, Anstaltsordnungen, Elternrechte
und -pflichten, die Zweckprogramme der Wirtschaft auf Eigentum.
Das bedeutet aber nicht, da die Zwecke selbst juridifiziert werden.
Vielmehr bietet das Recht nur konditionale Sicherheiten an (und es
wren keine Sicherheiten, wren sie nicht konditioniert), um anderen Systemen eine grere Reichweite der Zweckwahl zu ermglichen. Gesamtgesellschaftlich gesehen liegt also Fruchtbarkeit in
einem Zusammenspiel von Zweckprogrammen und Konditionalprogrammen. Aber dieses Zusammenspiel setzt voraus, da, und
ist nur deshalb ergiebig, weil die Systeme und ihre Programmtypen
getrennt bleiben.
71
V
Die Programmierung ergnzt die Codierung. Sie fllt sie mit Inhalt.
Die Unterscheidung von Codierung und Programmierung erlaubt
es, den Code selbst zu tautologisieren, ihn als formale Umtauschrelation von Werten zu behandeln und das System trotzdem mit
Entscheidungsfhigkeit auszustatten. Sie kombiniert Invarianz mit
Vernderbarkeit, also auch Invarianz mit Wachsrumsmglichkeiten.
Wenn einmal der Code als solcher (vor allem: durch eine Gerichtsorganisation) etabliert ist, kommt auch ein Proze der Regelbildung in Gang, der eine autopoietische Form annimmt, der sich aus
sich selber speist.
Darin kann man eine Entfaltung der ursprnglichen Paradoxie der
binren Codierung sehen. Der Jurist kann sich an die Regeln halten
und vergessen, da er in einem binr codierten System arbeitet.
Aber nicht ganz. Das Problem der Einheit der Wertedifferenz des
Codes kehrt in das System zurck. Das kann in der Form von Unentscheidbarkeiten geschehen, bei denen Athena auf dem Areopag
aushelfen mute. Dies Problem ist inzwischen durch das Verbot der
Entscheidungsverweigerung so in die Gerichtsverfassung einge71 Und, wie wir weiter unten sehen werden, in einem Ausbau und einer Normalisierung dieses Zusammenspiels durch strukturelle Kopplungen.
204
baut, da es seinerseits als Wachstumsprinzip fungiert und Richterrecht generiert. Wir kommen darauf in Kapitel 7 zurck. Neben
diesem eher verfahrensrechtlichen Fall gibt es aber noch ein materiellrechtliches Problem, an dem sich zeigen lt, da und wie die
ausgeschlossene Paradoxie ins System zurckkehrt, und zwar das
Problem des Tkechxsmibrauchs.
Hier geht es nicht, wie ein Blick in die juristische Literatur vermuten lassen knnte, um ein lstiges Nebenproblem nach Art einer
Unbestimmtheit, die in der Fallpraxis auf Regeln gezogen und damit bagatellisiert werden knnte. Allein schon der Umstand, da es
am Problem der Rechtssouvernitt auftritt , verweist auf tieferliegende Grnde. Und in der Tat: Am Problem des Rechtsmibrauchs
macht sich die Paradoxie der Identitt der Differenz im System wieder bemerkbar und lt ahnen, da alle Ausschlieung, alle Entfaltung, alle Auflsung der Ursprungsparadoxie nur Selbsttuschung
war.
72
72 Vgl., um eine ganze Tradition in einem Satz zu zitieren, Ernst Forsthoff, Der Staat
der Industriegesellschaft: Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland,
Mnchen 1 9 7 1 , S. 1 2 : Die Souvernitt gibt ihrem Trger nicht nur das Monopol
rechtmiger Gewaltausbung, sondern auch die alleinige Befugnis der Definition
von Recht und Unrecht, und das ohne Sanktionen im Falle eines Mibrauchs.
73 Ob wir Derridas Begriffe iterabilite und trace hier richtig zitieren, mu dahingestellt bleiben. Auch sie haben jedenfalls einen Bezug auf die Paradoxie der
Grundform des Unterscheidens. Siehe z. B. Jacques Derrida, Limited Inc., Paris
1990, S.222 ff., 230 f.
205
handlicherer Form. Wie bei Spencer Brown das cross der ursprnglichen Unterscheidung auch unbeobachtet (rein operativ)
vollzogen werden kann, nicht aber das marker der in sich selbst
eintretenden Unterscheidung, so kann auch der Jurist unbedacht
lassen, da jede Setzung von Recht korrespondierendes Unrecht
erzeugt, und kann trotzdem sehen, da es Flle eines Rechtsgebrauchs gibt, die rechtlich problematisch sind und gegebenenfalls
als Unrecht bezeichnet werden mssen. Das Recht mu im Hinblick auf die Unvorhersehbarkeit der Verwendungssituationen mit
einem gewissen berschu an Mglichkeiten ausgestattet sein, und
dabei mu es bleiben. Auch das mibrauchte Recht bleibt ein vom
Recht anerkanntes Recht. Nur bestimmte Verwendungsformen
mssen ausgeschlossen werden. Das kann zum Beispiel mit Hilfe
eines Regel/Ausnahme-Schemas geschehen oder mit der These, da
Rechtsformen bestimmten Zwecken dienen und zwar auch mit Sinn
fr Nebenzwecke verwendet werden drfen, aber nur solange, als
der eigentliche Zweck gewahrt bleibt. So ist die Verwendung von
Steuern fr wirtschaftspolitische oder kologische Lenkungsfunktionen zugelassen und berechtigt, solange der Hauptzweck der
Geldversorgung des Staates gewahrt bleibt. (Man sieht an diesem
Beispiel im brigen, da die sekundr eingesetzte Zweckkategorie
hohe, aber nicht unbegrenzte Interpretationselastizitt an die Hand
gibt.) So kann auch der Zuschauer eines Theaterstcks oder der
Leser eines Romans beobachten und durchschauen, wie in der vorgefhrten Geschichte die Personen sich selbst und einander tuschen; und er kann sogar wissen, da er (im Falle des Kriminalromans) selbst auf eine falsche Spur gelockt wird. Aber er wird dies
nur beobachten knnen, wenn er nicht zugleich in Rechnung stellt,
da die Erzhlung selbst eine Tuschung ist und da ihr keine
Wirklichkeit entspricht. Die Form in der Form vertritt die Form,
und die Paradoxie dieser Reprsentation besteht eben darin, da es
sich um dieselbe und zugleich um nicht dieselbe Unterscheidung
handelt.
206
VI
Die Paradoxie, die mit dem Problem der Anwendung des Codes auf
sich selbst erzeugt wird, lt sich durch Programmierung allein
nicht aus der Welt schaffen. Die durch Codierung initiierte Programmierung ergnzt die Leitunterscheidung des Systems durch
eine zweite Unterscheidung: die der richtigen bzw. falschen Anr
Wendung von Kriterien fr die Zuteilung von Recht und Unrecht.
So kommt es zur Generierung sachlicher Komplexitt. Das System
kann lernen zu lernen, kann Kriterien ausprobieren und eventuell
auswechseln. Es wchst in der Sachdimension von Sinn (auch wenn
es an sekundrer Stelle Zeitbegriffe, zum Beispiel Verjhrung, benutzt). Damit allein kann man jedoch nicht (und schon gar nicht:
logisch-deduktiv) auf Entscheidungen durchgreifen. Das fhrt auf
die Frage, ob man in ganz anderer Weise auch die Notwendigkeit,
zu einer Entscheidung zu kommen, zur Entfaltung der Paradoxie
nutzen kann.
74
Und das geschieht in der Tat. Das Rechtssystem verfgt ber Mglichkeiten, Entscheidungen aufzuschieben und eine Zeitlang im
Ungewissen zu operieren. Es nutzt, da Zukunft immer als ungewi vor Augen steht, diesen Zeithorizont aus, um selbst Ungewiheit zu erzeugen und zu erhalten mit der Aussicht, spter zu einer
(jetzt noch nicht entscheidbaren) Entscheidung zu kommen. Es
handelt sich, ganz hnlich brigens wie im kognitiven Bereich des
Wissenschaftssystems, um selbstgeschaffene Ungewiheit, weil
nicht die Welt selbst in Zweifel gezogen, sondern nur die Zuteilung
der Codewerte als gegenwrtig noch unklar behandelt wird. Das
Rechtssystem leistet sich diese Ungewiheit, weil es selbst verspricht, sie zu gegebener Zeit zu beseitigen. Und es kann deshalb
auch rechtlich eindeutige Bedingungen fixieren, die das Vorgehen
75
74 Auf das, was hier unter Entscheidung verstanden werden soll, kommen wir in
anderem Zusammenhang zurck. Vgl. Kap. 7, III.
75 Vgl. auch die Ausfhrungen ber den Schleier des Nichtwissens in bezug auf die
eigene Position und die eigenen Interessen in der gesellschaftlichen Zukunft bei
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, dt. bers. Frankfurt 1975, S. 159 ff.
Rawls sieht hierin eine unerlliche Bedingung der Bereitschaft, sich auf Beurteilung unter allgemeinen Gesichtspunkten einzulassen. Der Gedanke geht auf Aristoteles zurck, war hier aber zunchst nur fr den Gesetzgeber gedacht
gewesen.
207
Anerkennung zu veranlassen, bis sie am Ende Gefangene ihrer eigenen Teilnahme sind und wenig Aussichten haben, nachtrglich die
Legitimitt des Verfahrens zu bestreiten. In welchem konkreten
Zuschnitt auch immer: verbleibende Ungewiheit ist das, was fr
die Dauer des Verfahrens als gemeinsam vorausgesetzt bleibt - neben Anfang und Ende und Aktenzeichen die einzige Invariante.
Der strikt binre Code des Rechtssystems wird auf diese Weise um
einen dritteh Wert angereichert, nmlich den Wert der Ungewiheit
der Wertzteilung. Die Paradoxie der Einheit der Differenz von
Recht und Unrecht wird also nicht durch das Draufdoppeln des
positiven Wertes aufgelst (das Gericht hat das Recht, Recht und
Unrecht festzustellen) noch, wie im Falle von tragic choices,
durch das Draufdoppeln des negativen Wertes (ob Recht oder Unrecht - es ist auf alle Flle Unrecht, so zu entscheiden). Vielmehr
wird mit dem Wert der Ungewiheit der Entscheidung der Code als
Einheit bezeichnet, ein self-indication im strengen Sinne. Eben dies
geschieht durch Einbau einer Zeitdifferenz, durch Futurisierung;
also nicht als Geltungsfestlegng des Rechtssystems, sondern nur
fr die als Einzelverfahren ausdifferenzierte Episode, deren Ende
absehbar bleibt.
76
77
209
Schema von Norm und Devianz oder Idealitt und Realitt nicht zu
sehen bekommt: die eigentmliche Diversitt von Perspektiven; das
Prozessieren ohne Anfangs- oder Endkonsens, ja ohne jede Selbigkeit des Sinnerlebens der Beobachter; ferner die in der Ungewiheit
liegende Irritabilitt;.und mit all dem: die Chance kreativer Transformationen der Prmissen, von denen das Rechtssystem im weiteren auszugehen hat.
Es gibt keine andere Normordnung, die eine solche, ber Verfahren
laufende Reflexivitt entwickelt hat. Man findet sie nur im Recht
und nicht zum Beispiel in der Moral. Und vielleicht liegt hier das
entscheidende Abgrenzungskriterium dieser beiden Codierungen,
das das Recht, im Unterschied zur Moral, befhigt, ein autopoietisches System zu sein. Nur das Recht verfgt ber die seit Hart viel
diskutierten secundary rules, nur das Recht kann sich rechtmig
selbst bezweifeln, nur das Recht verfgt in seinen Verfahren ber
Formen, die es ermglichen, jemandem rechtmig sein Unrecht zu
bescheinigen, und nur das Recht kennt jeden weder eingeschlossenen noch ausgeschlossenen Grenzwert der temporren Unentschiedenheit der Rechtsfrage. Die Moral kann Probleme der Anwendung
des Codes auf sich selbst nur in der Form von Begrndungsdiskursen behandeln, also nur in der Form einer Ethik, also nur in der
Form semantischer Abstraktionen, deren Orientierungswert unsicher bleibt.
78
VII
Am Schlu dieses Kapitels soll ein bereits mehrfach berhrter
Aspekt nochmals besonders hervorgehoben werden. Die Autopoiesis des Rechts beruht auf einer einheitlichen Operationsweise, an
der sich Produktion und Strukturerhaltung (-nderung) zwar unterscheiden, aber nicht trennen lassen. Codes und Programme
79
78 Wir setzen hier voraus, da das im 18. Jahrhundert eingefhrte Abgrenzungskriterium des ueren vs. inneren Zwanges nicht funktioniert. Denn einerseits verfgt
auch die Moral mit der Gefahr des Achtungsverlustes ber drastisch wirkende uere Disziplinierungen, und andererseits dienen viele Rechtsvorschriften der Ermglichung und nicht dem Gebieten oder Verbieten von Handlungen oder
Unterlassungen.
79 Vgl. oben Kap. 2, II.
211
(Normen) findet man daher nicht vor als Sachverhalte eigener Qualitt, als ob sie wie Ideen oberhalb der Kommunikation eine eigene
Existenz fhrten. Sie sind nur an der Kommunikation beobachtbar.
Codes ermglichen es, in bezug auf das System zugehrig/nicht
zugehrig zu unterscheiden; und Programme, die Recht und Unrecht zuordnen, sind Gegenstand von Urteilen ber Geltung/Nichtgeltung. Ein Beobachter kann sie als Strukturen bezeichnen und beschreiben. Aber empirisch gesehen sind sie immer
nur mit den Operationen des Systems gegeben. Sie sind Momente
der Autopoiesis des Systems, nicht fr sich existierende Bestnde.
Die gegenteilige Auffassung verdankt, wie Piatons Ideenlehre
schlechthin, ihr Vorkommen der Schrift. Schriftliche Texte begnstigen in der Tat die Vorstellung, als ob das Aufgeschriebene auf der
Materialbasis Papier tatschlich fr sich existiere, und die Ideenlehre registriert dann, dazu passend, die Einsicht, da man das
Wesen der Welt nicht gut als Papier bezeichnen, auf Papier reduzieren kann. Tatschlich ist jedoch auch Schrift fr soziale Systeme
nichts anderes als eine Produktionsweise von Kommunikation mit erheblichen Konsequenzen fr die Form der Strukturen, die
dabei mitproduziert werden. Da Produktion und Strukturbildung
nur in einem vollzogen werden knnen (weil das System selbst ihre
Einheit ist und ermglicht), wird verstndlich, wenn man Zeit mit
in Betracht zieht. Um sich Zeit (und damit Zukunft, und damit
Ungewiheit) zu schaffen, richtet das Rechtssystem Verfahren ein.
Das System operiert in der Form der Verkettung von Einzelereignissen und konstituiert dafr eine Eigenzeit, die mit den Umweltzeiten mehr oder weniger gut synchronisiert werden kann. Deshalb
hat die Ausdifferenzierung des Rechtssystems mittels Codierung
und Programmierung auch eine strikt temporale Seite. Sie unterwirft das Geschehen, das im Rechtssystem behandelt wird, Regeln,
die den Rechtsproze davon unabhngig machen, wann oder wie
etwas angefangen hat, und wann oder wie etwas aufhren wird. Es
kommt zum Beispiel nicht (oder allenfalls kraft besonderer rechtlicher Bestimmung) darauf an, wann ein Streit angefangen hat oder
wer ihn angefangen hat. Es kommt nur darauf an, wer im Recht
bzw. im Unrecht ist. Andernfalls wrde man sich in eine endlose
Vorgeschichte verstricken, die jeder, wie Therapeuten sagen, auf
eigene Weise punktiert. Bedingung der Ausdifferenzierung in
zeitlichem Sinne ist mithin, da die Relevanz vergangener Tatsachen
212
und ihrer Sequenz ausschlielich davon abhngt, was die Programme des Rechtssystems selbst .eingrenzen und ausgrenzen. Was
und wie etwas angefangen hat, ist eine Konstruktion des Rechtssystems selbst. (Man denke nur an Einrichtungen w i e das Grundbuch
oder die Verjhrung, die Rechtsbeweise erleichtem und den Rckgriff in die Vorgeschichte innerhalb enger Grenzen halten.)
Was fr die Vergangenheit gilt, gilt auch fr die Zukunft. Zumindest
insofern, als es auf systemeigene Grenzbestimmungen ankommt,
verhalten Vergangenheit und Zukunft sich zueinander symmetrisch. Was Zukunft betrifft, wird man vor allem an die Institution
der Rechtskraft denken. Aber auch die ausgiebig errterte Unbrauchbarkeit teleologischer Perspektiven gehrt in diesen Zusammenhang, denn sie mten, ernstgenommen, bis zum Eintritt des
angestrebten Zustandes jede Bindungswirkung aufschieben. Mit
dieser apodiktischen zeitlichen Selbstjustiz verhindert das Rechtssystem unabsehbare und unkontrollierbare Interferenzen externer
Bedingungen. Oder anders herum formuliert: Eine Rechtsordnung,
die Ausdifferenzierung und operative Schlieung erreichen' und
sich damit als Rechtssystem konstituieren will, kann dies nur, wenn
sie das zeitliche Bezugsfeld der sozialen Interdependenzen unter
Kontrolle bringt und nach eigenen Regeln abschneidet. Das heit
aber auch, da ein erhebliches Ma an zeitlicher Desintegration im
Verhltnis zur gesellschaftlichen Umwelt in Kauf genommen werden mu. Im Recht gibt es andere Vergangenheiten und andere
Zuknfte als in anderen Bereichen der Gesellschaft.
Dafr gibt es dann aber wieder kompensatorische Einrichtungen.
Zu ihnen gehrt vor allem die jederzeitige Ansprechbarkeit des
Rechtssystems und, im Zusammenhang damit, die detaillierte Spezifikation, unter der Rechtsfragen aufgegriffen und erledigt werden.
Das ermglicht im Wechsel der Situationen dann doch, immer wieder neu anzufangen und die bereits erledigten Angelegenheiten
unter anderen Gesichtspunkten wiederaufzugreifen.
80
80 Da dies keine Besonderheit des Rechtssystems ist, sondern auf sehr verschiedene
Weise ein Erfordernis der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen schlechthin,
liee sich durch vergleichende Analysen zeigen. Siehe hierzu Niklas Luhmann, Die
Homogenisierung des Anfangs: Zur Ausdifferenzierung der Schulerziehung, in:
Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schon* (Hrsg.), Zwischen Anfang und Ende:
Fragen an die Pdagogik, Frankfurt 1990, S . 7 3 - 1 1 1 .
213
Kapitel 5
Kontingenzformel Gerechtigkeit
I
Die Einheit des Rechtssystems ist im Rechtssystem zunchst in der
Form der operativen Sequenzen gegeben, die das System autopoietisch reproduzieren. Die Operationen knnen ihre Systemzugehrigkeit beobachten, also System und Umwelt unterscheiden. Dies
Unterscheiden aktualisiert Selbstreferenz, also eine Bezeichnung
des sich bezeichnenden Systems im Unterschied zu allem anderen.
Das, was in dieser Form sich als Rechtssystem-in-einer-Umwelt
bezeichnet, ist jedoch zu komplex fr eine voll aktualisierende Erfassung - allein deshalb schon, weil es in zeitstellendifferenten
Operationen gegeben ist. Der mit jeder Operation gegebene Zirkel
der Selbstreferenz mu von Moment zu Moment wiederholt werden. Er entfaltet sich dadurch in eine lineare Unendlichkeit immer
weiteren Operierens desselben Systems. Auch auf diese Weise bezieht sich das System auf sich selbst und erscheint dann als ein
selbstreferentielles System mit in sich hineincopierten operativen
Selbstreferenzen.
1
Um diese Form durch Wiederholung zu ermglichen, mu das System Operationen als wiederholte erkennen, sie also identifizieren
knnen. Und es mu dies in jeweils anderen Situationen tun, also
Generalisierungen leisten. Spencer Brown begreift diesen komplexen Vorgang als Einheit von Kondensierung und Konfirmierung
der rekursiven Operationen des Systems. Das Kondensieren setzt
voraus und hinterlt Identitten. Deren Konfirmierung bewirkt
Kompatibilitt mit immer anderen Situationen. Im Medium Sinn
ermglicht dies eine Erlebniseinheit von Identitt und Horizont,
von sinnbestimmtem Aktualittskern mit einer Vielzahl von Verweisungen auf andere Mglichkeiten. Das wiederum fhrt zu Er2
1 Siehe dazu Louis H. Kauffman, Self-Reference and Recursive Forms, Journal of Social and Biological Structures 10 (1987), S. 53-72, der sowohl die gerichtete endlose
Linearitt des Systemprozesses als auch das re-entry der Systemform in sich selbst
aus der basalen Selbstreferenz des Beobachtens ableitet.
2 Vgl. George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck N e w York 1979, S. 10.
214
215
"977. S. 394-
2l6
Rechtssystems. Aber wenn das System sich mit dieser Norm selbst
bezeichnet, kann es nicht zugleich spezifizieren, was damit gemeint
ist, ohne eigene Operationen als nichtzugebrig zu qualifizieren.
Wir haben das Problem der Gerechtigkeit zunchst also durch Unterscheidungen limitiert: Selbstreferenz, aber nicht als Operation,
sondern als Beobachtung; nicht auf der Ebene des Codes, sondern
auf der Ebene der Programme; und nicht in der Form von Theorie,
sondern in der Form einer (enttuschungsanflligen) Norm. All das
heit, da es ungerechte (oder: mehr oder weniger gerechte)
Rechtssysteme geben kann. Weder die operative Autopoiesis des
Systems noch der notwendig invariante Code kann gerecht sein.
Diese Abgrenzungen sind fr die Przisierung der Fragestellung
wichtig. Aber: Was genau ist damit positiv bestimmt? Wie kann
diese Selbstkonfrontation mit einer selbstreferentiellen Norm spezifiziert werden? Wie kann das System die eigene Einheit in einem
normativen Programm zum Ausdruck bringen, das zugleich im System anwendbar, und zwar berall anwendbar ist?
II
In der Suche nach einer Antwort auf diese Fragen gehen wir davon
aus, da die Idee der Gerechtigkeit als Kontingenzformel des
Rechtssystems aufgefat werden kann. Damit rckt diese Formel,
ohne da wir den Wertbegriff bemhen mten, auf eine Ebene der
Vergleichbarkeit mit andersartigen Kontingenzformeln anderer
Funktionssysteme - etwa dem Prinzip der Limitationalitt (= Ergiebigkeit von Negationen) im Wissenschaftssystem', dem Prinzip
der Knappheit im Wirtschaftssystem , der Idee eines einzigen Gottes im Religionssystem oder Ideen wie Bildung oder Lernfhigkeit
10
11
8 So auch Arthur Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit: Problemgeschichtliche Betrachtungen, Frankfurt 1984, insb. S. 31.
9 Siehe
S.
Niklas
Luhmann,
Die Wissenschaft
der
Gesellschaft, Frankfurt
1990,
Gesellschaft,
1988,
392 ff.
10 Siehe
Niklas
Luhmann,
Die
Wirtschaft
der
Frankfurt
S. 1 7 7 11 Siehe Niklas Luhmann Die Funktion der Religion, Frankfurt 1977, S.200ff.
218
12
im Erziehungssystem. Der Begriff der Kontingenzformel tritt damit an die Stelle zahlreicher anderer Oberbegriffe in der Definition
von Gerechtigkeit - etwa Tugend, Prinzip, Idee, Wert. Aber er
ersetzt diese Angaben nicht voll; denn von Kontingenzformel kann,
wie wir zeigen wollen, nur ein externer Beobachter sprechen, whrend das System selbst Gerechtigkeit in einer Weise bezeichnen
mu, die deutlich macht, da Gerechtigkeit geboten ist und das
System sich mit ihr als Idee, Prinzip oder Wert identifiziert. Systemintern wird die Kontingenzformel unbestreitbar gesetzt; sie
wird, knnte man im Anschlu an Aleida und Jan Assmann sagen,
kanonisiert.
13
14
16
12 Siehe Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, 2. Aufl. Frankfurt 1988, S. 58 ff.
13 Fr einen berblick, der zugleich zeigt, da erst in der Neuzeit die auf Tugend
bezogenen Gerechtigkeitsbegriffe abstrahiert werden, siehe Hans Nef, Gleichheit
und Gerechtigkeit, Zrich 1941, S. 58 ff.
14 Siehe Aleida und Jan Assmann (Hrsg.), Kanon und Zensur, Mnchen 1987; Jan
Assmann, Das kulturelle Gedchtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identitt
in frhen Hochkulturen, Mnchen 1992, S. 103 ff.
15 Unter diesen naturrechtlichen Gerechtigkeitsbegriff fallen im brigen auch utilitaristische Konzepte, soweit sie sich auf natrliche Neigungen der Menschen beziehen (Bentham). Sie unterscheiden sich vom klassischen Naturrecht nur dadurch,
da sie von angeborenen zu erworbenen Neigungen bergehen.
16 Wir kommen im Kapitel 1 1 , III auf das Naturrecht als Form der Selbstbeschreibung
des Rechtssystems zurck.
219
17
An die Stelle von Annahmen ber die Natur treten Annahmen ber
die Selbstspezifikation der Formel. Kontingenzformeln haben also
die Form eines Zirkelschlusses - und gerade darin liegt ihre sich
selbst einsetzende, nicht weiter auflsbare Ursprnglichkeit. ' Sie
beziehen sich auf die Differenz von Unbestimmbarkeit und Bestimmbarkeit. Ihre Funktion liegt darin, diese Grenze zu berschreiten und dafr historisch gegebene Plausibilitten in Anspruch
zu nehmen. Dasselbe kann man mit dem logischen Begriff der Entfaltung von Paradoxien bzw. Tautologien ausdrcken. Oder auch
mit einem Begriff aus der Theorie beobachtender Systeme als Beobachtbarmachen des Unbeobachtbaren durch Substitution einer Unterscheidung fr eine Einheit, die nur paradox oder tautologisch
beschrieben werden kann.
1
Da das Rechtssystem die Funktion wahrnimmt, normative Erwartungen zu stabilisieren, liegt es nahe, auch Gerechtigkeit als Norm
auftreten zu lassen. Dabei mu man vermeiden, in dieser Norm ein
Selektionskriterium (also in unserer Sprache: ein bestimmtes Programm) zu sehen ; denn damit wrde die Norm der Gerechtigkeit
neben andere Selektionskriterien des Systems treten und ihre Funktion der Reprsentation des Systems im System verlieren. Das heit
auch, da die Norm der Gerechtigkeit angenommen werden mu,
ohne da vorausgesehen werden kann, welche Entscheidungen daraus folgen und welche Interessen sie begnstigen wird; und da die
Praxis der Einzelfallentscheidungen bis hin zum Vorschlag gesetzgeberischer Problemlsungen sich eher am Eindruck der Ungerech21
20 Von Gerechtigkeit als self-justifying ideal spricht auch Edwin Norman Garlan,
Legal Realism and Justice, New York 1 9 4 1 , S. 124 f. Allerdings folgt daraus nicht
zwingend, da es sich um eine nur nominelle Vereinheitlichung ohne operative
Funktion handele. Im Gegenteil: Paradoxieentfaltung ist berhaupt nur als Operation mglich.
21 Zu den heute bekanntesten Vertretern dieser Auffassung der Gerechtigkeit als Selektionskriterium (oder auch: als Supercode gerecht/ungerecht) gehrt John Rawls,
A Theory of Justice, Cambridge 1 9 7 1 , dt. bers. Frankfurt 197$. Diese Theorie
beeindruckt vor allem wegen der Przision, die sie erreicht.
221
23
In ihrer allgemeinsten Form wird die Kontingenzformel Gerechtigkeit in einer langen, noch immer bindenden Tradition als Gleichheit
ausgewiesen. In der Gleichheit sieht man ein allgemeines, formales
Moment, das alle Gerechtigkeitsbegriffe enthlt, das aber nur so viel
bedeutet wie Regelhaftigkeit oder Konsistenz. Gleichheit wird
dabei, wie fr Kontingenzformeln notwendig, als ein sich selbst
legitimierendes Prinzip angesehen. Gerechtigkeit braucht sich
also nicht weiter zu begrnden. Im brigen ist mit Kontingenzformel gesagt, da Gerechtigkeit weder eine Aussage ber das Wesen
oder die Natur des Rechts enthlt, noch ein Prinzip der Begrndung der Rechtsgeltung, noch schlielich ein Wert ist, der das Recht
als vorziehenswrdig erscheinen liee. Im Vergleich zu all diesen
Annahmen leistet der Begriff der Kontingenzformel eine Abstraktion - und genau damit entspricht er dem formalen Prinzip der
Gleichheit, das ebenfalls weder das Wesen einer Sache, noch einen
Grund, noch einen Wert bezeichnet. Die Kontingenzformel ist nur
ein Schema der Suche nach Grnden oder Werten, die nur in der
Form von Programmen Rechtsgeltung gewinnen knnen. Jede
Antwort auf die damit aufgeworfene Frage mu im Rechtssystem
durch Mobilisierung seiner Rekursivitt gefunden werden. Sie kann
nicht von auen eingegeben werden. Mit Gleichheit ist zunchst
einmal nur ein Formbegriff bezeichnet, der Ungleichheit mitmeint
und ausschliet. In einer weiteren, mit Aristoteles beginnenden
Entwicklung kann aber auch die andere Seite dieser Form, nmlich
Ungleichheit, dem Prinzip der Gerechtigkeit unterworfen werden,
nmlich als Forderung, ungleiche Flle ungleich zu behandeln. Erst
damit wird die Systemformel komplett, nmlich fr alle Entscheidungen des Rechtssystems relevant. Freilich scheint nun auch die
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24 Alte Lehre. Siehe zum Beispiel P.A. Pfizer, Gedanken ber Recht, Staat und Kirche, Stuttgart 1842, Bd. 1, S. 5 7 L : Gleichheit als formeller Faktor allen Rechts.
Oder unter Neueren: Chaim Perelman, ber die Gerechtigkeit, dt. bers., Mnchen 1967, S. 27, 55.
25 Hierzu bereits oben Kap. 2, IX. Da diese zweite Regel, Ungleiches ungleich zu
behandeln, nicht schon logisch aus dem Gleichheitsprinzip folgt, ist heute wohl
anerkannt. Auch ist der Gleichheitssatz selbst kein Grund fr Ungleichbehandlung. Siehe nur Adalbert Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1 9 7 1 , S. 53 ff. Es geht um die andere Seite
der Form der Gleichheit und darum, diese andere Seite nicht unmarkiert zu lassen
(im Sinne von alles andere), sondern sie spezifisch zu bezeichnen und damit
zugnglich zu machen. Eben deshalb knnen wir sagen, da durch die zweite Regel
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das Prinzip der Gerechtigkeit komplettiert wird im Hinblick auf seine Funktion als
Kontingenzformel des Rechtssystems.
26 Siehe fr Belege z. B. Arlette Jouanna, L'ide de race en France au XVIe sicle et a
dbut du XVIIe, 2. Aufl. 2 Bde., Montpellier [98], insb. Bd. 1, S. 275 ff.
27 Zu den inhaltlichen Voraussetzungen dieser Formel vgl. Wolfgang Waldstein, Ist das
suum cuique eine Leerformel?, in: lus Humanitatis: Festschrift fr Alfred Verdross, Berlin 1980, S. 285-320.
28 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sah man dies zunchst an der Reduktion von
Schichtung auf Eigentumsverhltnisse und an der dadurch bedingten neuen, gleichsam rechtlosen Armut. Ii ne suffit plus, liest man bei Jacques Necker, De
l'importance des opinions religieuses (1788), zit. nach uvres compltes Bd. 1 2 ,
Paris 1 8 2 1 , S. 80 f., d'etre juste, quand les lois de proprit rduisent un troit
ncessaire le plus grand nombre des hommes. Aber statt dessen auf religis motivierte bienfaisance zu setzen, ist erst recht anachronistisch.
29 Neuere politologische und soziologische Forschungen zum Problem der Gerech-
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Diese historische und gesellschaftsstrukturelle Relativitt der Forderung konsistenten Entscheidens macht es notwendig, sie durch
ein weiteres Merkmal zu ergnzen. Konsistenz wre ja mit relativ
einfachen Mitteln erreichbar, wenn es nur wenige Arten von Entscheidungen gbe. Das ist jedoch in entwickelten Gesellschaften
mit ausdifferenziertem Rechtsbetrieb nicht der Fall. Deshalb kann
von Gerechtigkeit nur im Sinne einer adquaten Komplexitt des
konsistenten Entscheidens die Rede sein. Die Adquitt ergibt
sich aus dem Verhltnis des Rechtssystems zum Gesellschaftssystem. Man hat in diesem Sinne auch von Responsivitt des
Rechtssystems gesprochen. Innerhalb der Theorie autopoietischer
Systeme wre Irritabilitt (perturbability, Sensitivitt, Resonanz)
der geeignete Terminus. Das Rechtssystem kann in seiner eigenen
Komplexitt zwar nicht allen gesellschaftlichen Sachverhalten
Rechnung tragen. Es mu, wie jedes System im Verhltnis zur Umwelt, Komplexitt reduzieren und den eigenen Komplexittsaufbau
durch hohe Mauern der Indifferenz schtzen. Aber die interne Re30
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konstruktion der Umwelt kann dann gleichwohl mehr oder weniger komplex ausfallen. Dem Erfordernis der Gerechtigkeit entspricht eine solche interne Komplexitt allerdings nur, wenn sie mit
Entscheidungskonsistenz noch kompatibel ist. Wir werden im Kapitel ber Argumentation mit dem Begriffspaar Variett/Redundanz auf diese Frage zurckkommen.
III
In der historischen Entwicklung scheint das Problem der Gerechtigkeit zunchst im Verhltnis reziproker Leistungen aufzutreten.
Man darf nicht mehr verlangen, als man durch eigene Leistungen
verdient bzw. einem von Seiten des Schdigers geschuldet wird. Das
ist aus der Bedeutung der Norm der Reziprozitt in segmentren
Gesellschaften abzuleiten. Noch Aristoteles fhrt dieses Prinzip
als einen besonderen Typus der synallagmatischen (seit dem Mittelalter: commutativen) Gerechtigkeit fort und auch heutige
Autoren bleiben dabei. In Adelsgesellschaften konnte die Maxime
der Reziprozitt den vernderten Strukturen dadurch angepat
werden, da die Leistungen hherrangiger Personen als Gunsterweise hher bewertet wurden mit dem Extremfall, da Gottes
Gnade niemand wirklich verdienen kann. In komplexeren Gesellschaften werden dagegen die Einschtzungen des Leistungswertes,
soweit dieser nicht ber Marktpreise feststeht, zum Problem, und
damit verliert die Norm der Reziprozitt ihre praktische Bedeutung. Auerdem mssen zahlreiche Rollen, vor allem Professionsrollen, also auch Rollen des Richters, aus dem Geltungsbereich der
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36 So Claude Buffier, Trait de la socit civile, Paris 1726, Bd. IV, S. 26 ff.
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auf Hilfe dringend angewiesen sind oder nicht. Solche Gesichtspunkte zhlen, wenn sie in der Programmstruktur des positiven
Rechts aufgefhrt sind, also als Tatbestandsmerkmale zu bercksichtigen sind. Anderenfalls nicht. Solange diese Programmstruktur nicht wertesensibel, differenziert und komplex genug entwikkelt ist, fhrt man einen Ausgleichsbegriff der Billigkeit (aequitas)
mit. Dieser setzt jedoch Sonderkompetenzen innerhalb der allgemeinen iurisdictio des Frsten voraus (bzw. in der religisen Parallelstruktur: die Motivierbarkeit Marias ). Die Letzteinheit des
souvernen Entscheiders bleibt also in der Form einer entfalteten
Paradoxie Gerechtigkeit und Billigkeit, oder in Tugendbegriffen:
iustitia und dementia - programmiert. Sie mag, wie in England,
auch zu einem Nebeneinander verschiedener Gerichtsbarkeiten
fhren, deren eine in besonderem Mae der Rechtsentwicklung
dient, die dann equity genannt wird. Dies wird jedoch in dem
Mae obsolet, als die Fortentwicklung des Rechts auf die Gesetzgebung bergeleitet wird und zugleich die Gerichte grere Interpretationsfreiheiten in Anspruch nehmen.
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37 Diese Abkopplung wird von der heutigen Rechtsphilosophie berwiegend abgelehnt. Auch die Rechtsprechung zum verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz legitimiert ihre Diskriminierungen verbaldemokratisch, das heit mit Bezug auf
vermeintlich verbreitete Einschtzungen. Das bleibt jedoch ohne Kontrolle. Fr die
Rechtsphilosophie hat das die Folge, da man so zu einem ethischen Begriff der
Gerechtigkeit gelangt, der seinerseits nicht reprsentativ sein kann fr die Gesamtheit der in der Gesellschaft kursierenden Werturteile. Siehe etwa den Bezug auf
soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten bei Rawls a.a.O. Wir kommen darauf
bei der Behandlung des Problems der Gesetzgebung (unter Kap. 7, III) zurck.
38 Genau hier, und nicht im Gleich/Ungleich-Schema, liegt denn auch der Bruch mit
der Tradition. Autoren, die auf Kontinuierung Wert legen, sprechen denn auch mit
einer ausfllungsbedrftigen Leerformel von wesentlich Gleichem bzw. wesentlich Ungleichem. So Ralf Dreier, Recht - Moral - Ideologie: Studien zur
Rechtstheorie, Frankfurt 1981, S. 277, oder Henkel a.a.O., S. 395 f. Als Kritik etwa
Nef a.a.O., S. 105 f.
39 Hierzu Peter-Michael Spangenberg, Maria ist immer und berall: Die Alltagswelten
des sptmittelalteriichen Mirakels, Frankfurt 1987.
40 Zur bergangssituation in Schottland, wo der Vergleich mit der englischen Rechtsentwicklung ber equity besonders naheliegt, vgl. David Lieberman, The Legal
Needs of a Commercial Society: The Jurisprudence of Lord Kames, in: Istvan
Hont/Michael Ignatieff (Hrsg.), Wealth and Virtue: The Shaping of Political Economy in the Scottish Enlightenment, Cambridge Engl. 1983, S. 2 0 3 - 2 3 1 ; ferner,
England einbeziehend, ders., The Province of Legislation Determined:
Theory in Eighteenth-Century Britain, Cambridge Engf 1989.
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Legal
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klammert werden, obwohl sie Rechtsgeltung innerhalb des Rechtssystems produzieren. Sie lehnen sich an Disziplinierungen anderer
Systemprovenienz an, kommen also auch ohne Gerechtigkeitskontrolle keineswegs arbitrr zustande. Die rechtsinterne Nichtausschliebarkeit des Rechtsschutzes und das Verbot der Justizverweigerung mgen dann ausreichen, um dem Prinzip der Gerechtigkeit
eine systemweite Realittsbasis zu verschaffen.
Ein weiterer Grund, Gerechtigkeit neu auszuwuchten, um ihren
Rundlauf unter heutigen Bedingungen zu garantieren, ergibt sich
aus der wohlfahrtsstaatlichen Tendenz zu Zweckprogrammen.
Zweckprogramme legitimieren die Wahl von Mitteln und schaffen
damit Ungleichheit. Ihre politische Legitimation liegt im Inklusionsprinzip. Jeder, der durch das Programm begnstigt wird, wird
durch das Programm begnstigt; und benachteiligt werden wiederum nach Mglichkeit nur alle - nmlich als Steuerzahler. Man
knnte daran denken, diese riesige politische Ausgleichsmaschinerie der Umverteilung als Fall von distributiver Gerechtigkeit
anzusehen; aber es fehlen ja die naturrechtlichen Grundlagen, und
an ihre Stelle ist die Kontingenz der politischen Entscheidung getreten, die nicht allein schon wegen des Prinzips der Umverteilung
als gerecht gelten kann. Es entspricht zwar einer verbreiteten berzeugung, die sich auch in sozialpsychologischen Untersuchungen
widerspiegelt, da Unglck entweder verdient ist oder einen Anspruch auf Hilfe begrndet. Aber diese einfache Dichotomisierung komplexer und vor allem: strukturabhngiger Problemlagen
berfordert offensichtlich den Interventionsstaat. Immerhin scheint
sie das individualistische Korrelat fr eine entsprechende Politik zu
bilden und so zu erklren, da der Wohlfahrtsstaat politisch keine
Akzeptanzprobleme hat. Nur erinnert diese Gerechtigkeitsvorstellung eher an Leibnizens Vorstellung der ordo seu perfectio circa
mentes als an irgend etwas, was das Rechtssystem einzulsen vermchte.
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45 Siehe vor allem Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt 1991. Als
berblick speziell ber Rechtsmeinungen und Rechtsprechung zum Gleichheitssatz siehe auch Reinhold Zippelius, Der Gleichheitssatz, Verffentlichungen der
Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 47 (1991), S. 8-33. Ganz offensichtlich treten hier Tendenzen zu materieller Werteabwgung, das heit zu jeweils
eigenen Wichtigkeitsurteilen zutage, in denen die Rechtsprechung fast unvermeidlich politisch wird, auch wenn sie meint, sich an Normzwecke zu binden.
46 Dazu mehr im Kapitel ber strukturelle Kopplungen.
47 Kelsen hatte in dieser Beziehung von Gerechtigkeit als Gleichheit und konditionaler Programmierung ein rein logisches Problem gesehen. Siehe Hans Kelsen, Das
Problem der Gerechtigkeit, in ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien i960,
S. 337ff. (393 ff.). Mit Bezug auf Derridas Begriff des Supplement wollen wir
darauf hinweisen, da dem nicht so ist. Kelsen hatte offenbar nicht registriert,
welche Probleme im Verhltnis von Logik und Paradoxien bereits zu seiner Zeit
diskutiert wurden.
48 Der Gleichheitssatz sei kein Konditionalprogramm, liest man auch bei Podlech
a.a.O., S. jo.
49 So z. B. Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. Heidelberg 1963, S. 22 ff.
231
Wenn dies zutrifft, dann schliet es nicht aus, da auch Zweckprogramme einer Gerechtigkeitskontrolle unterworfen werden. Aber
das wrde dann nicht auf Werteabwgung hinauslaufen, sondern
auf Rekonditionalisierung. Die Gerechtigkeit lge dann nicht schon
in der Zweckmigkeit der Zweckprogramme und auch nicht in
ihren immanenten Beschrnkungen, etwa der Kostengnstigkeit
oder der Verhltnismigkeit der Mittel. Sie lge in einer Zusatzkonditionierung, die zum Beispiel festlegt, welche Merkmale vorliegen mssen, damit ein Zweckprogramm angewandt werden
kann, also zum Beispiel nicht in der Umweltvertrglichkeit rechtlicher Manahmen (Erlaubnisse, Verbote usw.), sondern in der
Rechtsvertrglichkeit einer Umweltpolitik.
Angesichts dieser Probleme eines politisch induzierten Zunehmens
sowohl der gesetzgeberischen Eingriffe in das Recht als auch der
Zweckprogrammierung kann man die mit Naturrecht nicht mehr
zu behebende Krise des Prinzips der Gerechtigkeit verstehen. Aber
dieser Krise kann weder mit dem Rckzug auf Ethik noch mit
Werteabwgung abgeholfen werden. Das verlagert die Problematik
nur in die Frage der Legitimation des positiven Rechts. Da aber
nur das positive Recht selbst gilt, das heit: das Symbol der
Rechtsgeltung benutzen kann, mu man nicht nach rechtsexternen,
sondern nach rechtsinternen Kriterien fragen. Diese Kriterien
werden durch die Frage aufgerufen, wie man trotz zunehmender
Komplexitt im Recht immer noch konsistent entscheiden, das
heit: gleiche Flle von ungleichen Fllen unterscheiden kann. Es
kann durchaus sein, da ein in diesem Sinne gerechtes Recht auch
ethisch bevorzugt wird. Aber das versteht sich, wie eine lange Tradition lehrt, keineswegs von selbst. Eine klare Trennung von Gerechtigkeit und moralischem Urteil bzw. ethischer Reflexion ist
nicht nur eine Frage der Autonomie des Rechtssystems. Sie garantiert auch die Rechtsunabhngigkeit der moralischen Beurteilung
des Rechts und nicht zuletzt: die Mglichkeit des moralischen Dissenses in der Beurteilung von Rechtsfragen. Und sie ist Voraussetzung dafr, da man berhaupt wissen kann, um was es in der
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50 Die alteuropische Tradition hatte, zumindest in einem ihrer Strnge, eher dazu
tendiert, den ethischen Begriff der Gerechtigkeit inhaltlich auf Recht zuzuschneiden - etwa in dem Sinne, da Gerechtigkeit sich auf ueres Handein (operationes,
actus) im Hinblick auf andere (ad alterum) beziehe und auf das nach dem Recht
Geschuldete (sub ratione debiti legalis), wie es in Formeln der Scholastik heit.
232
IV
Die Form der Frage nach Gleichheit/Ungleichheit durchzieht eine
lange, mehr als zweitausendjhrige Tradition. Sie ist als Form, die
man in Texten findet, identisch geblieben. Das macht es schwer,
nderungen zu erkennen, die sich bei der historischen berleitung
dieser Formel aus alten Gesellschaften in die ganz anders gebaute
moderne Gesellschaft vollzogen haben mssen. Um unsere Analysen zusammenzufassen, greifen wir deshalb nochmals auf das Problem des Naturrechts zurck.
Im naturrechtlichen Kontext konnte man davon ausgehen, da sich
die Dinge ihrem Wesen nach unterscheiden, also von sich aus entweder gleich oder ungleich sind. ber die Wesen war nicht zu
disponieren. Sie galten als erkennbar - und zwar als im Modus der
Beobachtung erster Ordnung erkennbar. Wer anders urteilte,
mute sich im Irrtum befinden; und das Problem war dann nur
festzustellen (zum Beispiel mit Hilfe der dialektischen Methode
oder der mittelalterlichen Quaestionentechnik), wer im Irrtum ist
und wer die richtige, durch Sachkenntnis und Autoritten gedeckte
Meinung vertritt.
Bereits das sich noch als Naturrecht verstehende neuzeitliche Vernunftrecht bricht mit dieser Tradition. Es generalisiert und singularisiert die Einzelrechte der Freiheit und Gleichheit zu fundamentalen, angeborenen Menschenrechten. Was jetzt als Natur
unterstellt wird, enthlt (ganz im Gegensatz zum Naturbegriff der
Naturwissenschaften) keinerlei Information ber naturimmanente
Einschrnkungen. Im Gegenteil: Die Vorstellung einer natrlichen
berlegenheit bestimmter Menschen ber andere (die ja erfahrungsmig sehr nahe liegt), wird mit den Prinzipien angeborener
Freiheit und Gleichheit zurckgewiesen. Diese Prinzipien eignen
sich aber nicht zur Interpretation des geltenden Rechts. Sie gera51
51 Man denke an die ohne weiteres vorausgesetzte Kompatibilitt von Gleichheit und
Sklaverei in den U S A . Zu dieser Rechtsferne des Rechts der natrlichen Gleichheit und zu seiner verfassungspolitischen Bedeutung um 1800 siehe Ulrich Scheuner, Die Verwirklichung der Brgerlichen Gleichheit, in: Gnter Birtsch (Hrsg.),
233
Die in der Moderne wichtigste Form der Entfaltung dieser Paradoxien arbeitet mit einer historischen Differenz. Sie kommt in der
Unterscheidung von Naturzustand und Zivilzustand zum Ausdruck. Auf der Ebene der allgemeinen Menschenrechte ist Freiheit
Ausschlu externer Beschrnkungen und Gleichheit Ausschlu von
Ungleichheit. Nur so knnen diese Rechte in abstracto als Unterscheidungen und Bezeichnungen begriffen werden. Aber das fhrt
zurck in die alte naturrechtliche Paradoxie, da Recht nur als Abweichung vom Recht vorkommen kann. Die Auflsung der Paradoxie liegt dann in einem re-entry der Unterscheidung in das
Unterschiedene. Die Freiheit mu rechtlich akzeptierte Einschrnkungen, die Gleichheit mu rechtlich akzeptierte Ungleichheiten
akzeptieren. Die andere Seite von Freiheit und Gleichheit wird in
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das Recht einbezogen, die Differenz selbst wird Gegenstand rechtlicher Regulierung, die ber beide Seiten der beiden Unterscheidungen verfgen kann. Damit ist erneut die Ausdifferenzierung des
Rechtssystems besttigt, denn die Regulierung mu innerhalb des
Rechtssystems geschehen; es mu sich um rechtsgltig eingefhrte
Beschrnkungen (also nicht nur um solche der Vernunft) handeln
und um Ungleichheit der Rechtsflle, nicht um Ungleichheit der
Menschen. Mit dieser Paradoxieentfaltung wird jedoch das gesamte
Recht als kontingent, also als positiv postuliert, und die Formulierung der Ausgangspunkte als Prinzipien oder Rechte oder Werte
dient lediglich dazu, dies zu verschleiern. Die Grundlage des
Rechts ist nicht eine als Prinzip fungierende Idee, sondern eine
Paradoxie.
53
Wenn man diesen Schleier vor der Paradoxie lftet, wird klar, da
und wie das Postulat der Gerechtigkeit als Kontingenzformel dient.
Man hat Kontingenz in ihrer jeweiligen Ausformulierung zu akzeptieren, kann sich aber eben deshalb durch Rechtsnderungen helfen.
Dem entspricht, da das Recht sich selbst der Beobachtung zweiter
Ordnung aussetzt, um im Kontext von Freiheit/Beschrnkung oder
Gleichheit/Ungleichheit anders disponieren zu knnen. Entsprechendes gilt fr die moderne Gesellschaft allgemein als durchge-
53 Die Verschleierung der Paradoxie durch ein re-entry wird noch deutlicher, wenn im
Stile des moralisierenden Vernunftrechts Freiheit nicht nur von ihrem Gegensatz,
sondern in sich selbst nochmals nach liberty und licentiousness unterschieden wird.
Die Unterscheidung libertas/licentia war Gemeingut des damaligen Naturrechts,
ausgebildet aus Anla der Polemik gegen Hobbes, konnte dann aber auch benutzt
werden, um das Insistieren auf derart zivilisierten Freiheitsrechten zu legitimieren
und politische Bedenken zu zerstreuen. Siehe z.B. Christian Wolff, Jus naturae methodo scientifica pertractatum, Pars I, 150 f., zit. nach der Ausgabe Frankfun Leipzig 1740, Nachdruck Hildesheim 1972, S.^of.; ders., Grundstze des Naturund Vlkerrechts, 84 (hier: Freiheit/Frechheit), zit. nach der Ausgabe Halle 1754,
Nachdruck Hildesheim 1972, S. 52. Wie man an den zitierten Stellen sieht, kann
diese Paradoxie des re-entry, des Wiederholens der Unterscheidung in der Unterscheidung, sowohl zu radikal kritischen als auch zu eher konservativ-analytischen
Zwecken benutzt werden. (Siehe hierfr Richard Price, Observations on the Nature
of Civil Liberty, The Principles of Government, and the Justice and Policy of the
War with America, 2. Aufl. London 1776, S. 12 ff.) Inzwischen ist auch die kritische
Theorie konservativ geworden. Jrgen Habermas, Faktizitt und Geltung: Beitrge
zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt
1992, S. 5 1 , unterscheidet in der Nachfolge Kants (ohne auf das Naturrecht Bezug
zu nehmen) Willkrfreiheit und Autonomie.
235
hende Form ihrer operativen Selbstbestimmung. In strikter Parallele zur Ausdifferenzierung der Funktionssysteme als vorherrschender Differenzierungsform hat die Gesellschaft sich auf einen
Modus der Beobachtung zweiter Ordnung umgestellt. Man mu,
um sich in anspruchsvollen, gleichsam artifiziellen Situationen zurechtfinden zu knnen, Beobachter beobachten. Das gilt wohl fr
alle Funktionssysteme. Es gilt auch fr das, was man als den intellektuellen Diskurs der Moderne bezeichnen knnte. Und es gilt
auch fr das Rechtssystem.
54
Jede Entscheidung von Rechtsfragen - darauf werden wir im Kapitel ber Argumentation ausfhrlich eingehen mu sich selbst im
Kontext anderer Entscheidungen verorten. Sie mu also beobachten, wie das Recht durch andere Beobachter beobachtet wird. Dabei
kann es sich um Gesetzgeber handeln, und dann kommt es auf deren Vernderungsintention an; oder um Gerichtsentscheidungen,
und dann kommt es darauf an, wie diese das Problem des Falles
definiert und mit welchen Erwgungen sie ihre Entscheidungen begrndet haben. Eine sorgfltige, auch theoretisch diskutierte Kultur
der Ermittlung solcher rationes decidendi hat vor allem das Common Law entwickelt aus Anla der dort geltenden Przendenzbindungen.
In diesem Kontext gewinnt die Gleich/Ungleich-Unterscheidung,
also die Frage der gerechten Fall-Lsung, eine neue, zeitgeme
Funktion. Man wrde zunchst ja vermuten, da ein System, das
auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung operiert, dazu
tendiert, konservativ zu werden; das heit: so zu entscheiden, wie
die beobachteten Beobachter entschieden haben. Denn von der Na54 Vgl. z. B. fr Wirtschaft Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt 1988; fr Familien Niklas Luhmann, Sozialsystem Familie, in
ders., Soziologische Aufklrung Bd. 5, Opladen 1990, S. 1 9 6 - 2 1 7 ; fr Politik Niklas
Luhmann, Gesellschaftliche Komplexitt und ffentliche Meinung, in: ders., Soziologische Aufklrung a.a.O., S. 1 7 0 - 1 8 2 ; fr Wissenschaft Niklas Luhmann, Die
Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, insb. S. 3 1 8 ff., 362 ff. Zu diskutieren
wre allenfalls, ob das System der Krankenbehandlung eine Ausnahme bildet. Hier
richtet sich die Beobachtung des Arztes auf den Krper des Patienten. Der Arzt
beobachtet in erster Linie, wie der Krper des Patienten auf Arzneimittel reagiert.
Das heit: wie der Krper des Patienten diskriminiert. Das heit: wie der Krper
des Patienten beobachtet, wie er beobachtet wird. Dabei knnen psychosomatische
Zusammenhnge bercksichtigt werden. Aber der unmittelbare soziale Umgang
mit rzten bleibt ausgesprochen schwierig und gleichsam unsensitiv.
236
tur der Sache her ist kein Widerspruch zu erwarten; und wenn alles
kontingent ist, also alles anders sein knnte, ist es eben deshalb
genausogut mglich, es so zu machen wie bisher. Das gilt verstrkt
fr das Rechtssystem, das den Anderungsmechanismus in der Form
von Gesetzen und Vertrgen ausdifferenziert hat und das in der
Gerichtsorganisation ber eine Hierarchie verfgt, die es nahelegt
oder sogar erzwingt, da die unteren Instanzen sich nach der
hchstinstanzlichen Rechtsprechung richten. Es ist diese im Recht
besonders ausgeprgte Tendenz, sich nach Vorentscheidungen zu
richten, die durch die Kontingenzformel Gerechtigkeit korrigiert
werden.
Gerade weil Entscheidungen als kontingent, eben als Entscheidungen getroffen werden mssen, liegt eine Provokation in der Frage,
ob im Verhltnis zu Vorentscheidungen ein Verhltnis der Gleichheit oder der Ungleichheit des zu entscheidenden Falles gegeben ist.
Das Schema gleich/ungleich fhrt gewissermaen in ein System, das
aus guten Grnden (zum Beispiel Rechtssicherheit) zur Repetition
tendiert, eine Bifurkation ein. Gerade ein nach auen hin operativ
geschlossenes System mu intern Schlieungen verhindern. Selbstverstndlich geschieht dies vor allem durch die Mechanismen, die
die Geltungsgrundlagen der Entscheidungen verndern - eben Gesetze und Vertrge. Aber das sind Mechanismen, die auf sehr
unsichere Annahmen ber eine sehr unsichere Zukunft angewiesen
sind. Deshalb bedarf es einer zweiten Korrektur, einer Auffangkorrektur, die angesichts von konkreten Fllen, die durch das, was
bereits Vergangenheit geworden ist, vorgelegt werden, erneut offene Entscheidungslagen erzeugt. Der Vergleich unter dem Gesichtspunkt gleich/ungleich in bezug auf Unterscheidungen, die
immer neu getroffen werden mssen, scheint diese Funktion zu
erfllen. Das Prfen der Intention des Gesetzgebers oder der Vertragschlieenden ist dann nur eine mgliche Sonde, mit der geprft
werden kann, ob eine Auslegung des (wie immer rekonstruierten)
Willens der Rechtsgestalter auf der Linie ihrer Intention liegt
(also ihr gleicht) oder nicht. Und zustzlich knnen Entscheidungsvergleiche retrospektiver oder prospektiver Art angestellt
werden, um Konsistenz in der Vernderung zu wahren und die Entscheidungen weiterem Beobachtetwerden auszusetzen.
Gerechtigkeit in diesem Verstndnis ist also ganz spezifisch auf den
Modus der Beobachtung zweiter Ordnung eingestellt; und dann
237
238
Kapitel 6
I
ber die Geschichte des Rechts seit der Antike wei man ziemlich
gut Bescheid. Die verfgbaren Quellen sind jedoch nicht in theoretischer Perspektive bearbeitet worden. Nach heutiger Auffassung
kommen fr eine solche Aufgabe nur evolutionstheoretische Konzepte in Betracht. Der Begriff Evolution wird aber in der Literatur
(auch in der rechtsbezogenen Literatur, soweit sie ihn verwendet )
sehr unscharf eingesetzt und vor allem auch in der Kritik evolutionstheoretischer Anstze verzerrt dargestellt. Schon im 18. Jahrhundert findet man, vor allem bei Hume, Lord Kames und
Ferguson, Darstellungen der Evolution von Recht mit Merkmalen,
welche modernen Evolutionstheorien nahekommen (wie: Planlosigkeit, nachtrgliches Erkennen von Errungenschaften, allmhliche Entwicklung, akzidentielle Anste, Akkumulation von Weisheit aus Anla von Einzelfallentscheidungen), aber eine klare
differenztheoretische Struktur vermissen lassen. Ahnliches gilt in
der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts fr die Arbeiten der historischen Rechtsschule. An der heutigen Literatur fllt auf, da Beitrge, die sich relativ konkreten Rechtsfragen widmen oder die
Evolution einzelner Rechtsinstitute behandeln , den Begriff der
1
239
(1978), S.961-1005; Ronald A.Heiner, Imperfect Decisions and the Law: On the
Evolution of Precedent and Rules, Journal of Legal Studies 15 (1986), S. 227-261.
4 Vorgeschlagen zum Beispiel von dem Soziologen Albert G. Keller, Law in Evolution, Yale Law Journal 28 (1919), S. 769-783.
5 So sehr emphatisch Ernst Mayr, Evolution und die Vielfalt des Lebens, Berlin
9796 So auch Keller a.a.O., S. 779.
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Die Form, in der dieses Problem expliziert wird, ist die Unterscheidung von Variation und Selektion. Diese Unterscheidung produziert, wenn sie als reale Differenz (zum Beispiel von Mutation bzw.
genetischer Rekombination auf der einen Seite und Uberlebensdauer auf der anderen) eingerichtet ist, zwangslufig eine Formenvielfalt, die sowohl von der Ausgangslage als auch im Verhltnis der
Arten zueinander Abweichungen erzeugt, die als differenzierte
Umweltbedingungen wiederum die Evolution selbst beeinflussen.
Alles andere, und sogar das fr Darwin so wichtige Dogma der
natural selection, halten wir fr sekundr. Denn das Problem der
Ausarbeitung dieser und anderer Aspekte von Evolutionstheorie
verlagert sich heute mehr und mehr in die Frage des Verhltnisses
von Evolutionstheorie und Systemtheorie, oder genauer: des Verhltnisses von Variation/Selektion und System/Umwelt als verschiedener, abstimmungsbedrftiger Formwahlen einer Theorie.
Von natural selection im Sinne einer systemexternen Selektion
kann man ja nur sprechen, wenn man angibt, wie das zu begreifen
ist, was als System einer Selektion durch die Umwelt ausgesetzt
ist.
7
241
( 1 ) Variation eines autopoietischen Elements im Vergleich zum bisherigen Muster der Reproduktion;
(2) Selektion der damit mglichen Struktur als Bedingungen weiterer Reproduktionen; und
(3) Stabilhalten des Systems im Sinne der dynamischen Stabilitt,
also Weiterfhren der autopoietischen, strukturdeterminierten
Reproduktion in dieser genderten Form.
In nochmals abstrahierter Form heit dies: Variation betrifft die
Elemente, Selektion betrifft die Strukturen, Stabilisierung betrifft
die Einheit des Systems, das sich autopoietisch reproduziert. Alle
drei Komponenten bilden einen notwendigen Zusammenhang (es
gibt keine Systeme ohne Elemente, keine Elemente ohne Systeme
usw.), und die Unwahrscheinlichkeit aller Evolution liegt letztlich
darin, da ein differenzierter Zugriff auf diese Komponenten trotzdem mglich ist. Aber wie?
Wir knnen hier nicht untersuchen, ob man die Evolution der Gesellschaft mit dieser Theorie darstellen kann. Wir setzen das voraus. Die Frage ist dann aber, ob es innerhalb eines evoluierenden
Gesellschaftssystems noch weitere Evolutionen geben kann, etwa
eine solche des Rechtssystems. Dieses Problem stellt sich in genauer Parallele zu der Frage, ob es in einem strengen Sinne autopoietische Systeme in autopoietischen Systemen geben kann, oder
ob die damit gegebene Abhngigkeit von einer Umwelt, die ihrerseits die innere Umwelt eines autopoietischen Systems ist, dem
Begriff der Autopoiesis widerspricht. Konkreter formuliert: Die
Gesellschaft kommuniziert und grenzt sich dadurch gegen eine uere Umwelt ab. Das Rechtssystem kommuniziert auch und vollzieht insofern die Autopoiesis der Gesellschaft. Die Gesellschaft
benutzt Sprache, das Rechtssystem - mit nur leichten Variationen
der Verstndlichkeitsbedingungen - ebenfalls. Die Gesellschaft ist
auf strukturelle Kopplung mit Bewutseinssystemen angewiesen.
8
8 Hierzu Niklas Luhmann / Raffaele De Giorgi, Teoria della societ, Milano 1992,
S.i ff.
9
9 Auch die Biologie stt auf dieses Problem mit der Frage, ob es nur eine Gesamtevolution des Lebens gibt, die zur Erzeugung der Artenvielfalt auf der Grundlage
eines im chemischen Sinne prinzipiell gleichartigen Reproduktionsverfahrens gefhrt hat, oder ob man auch von der Evolution einzelner Arten oder Populationen
sprechen kann, wenn die Bedingungen der bisexuellen Reproduktion solche Systeme
ausgrenzen.
242
11
12
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io Oft wird an genau diesem Punkt bestritten (aber warum eigentlich nur auf Grund
dieser Abhngigkeiten?), da es eine Autopoiesis von Teilsystemen geben knne.
Siehe zum Beispiel fr Wirtschaft Josef Wieland, Die Wirtschaft als autopoietisches
System - Einige eher kritische berlegungen -, Delfin X (1988), S. 18-29, fr Wissenschaft Wolfgang Krohn / Gnther Kppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt 1989, S. 21 ff.; fr das Rechtssystem William M.Evan, Social
Structure and Law: Theoretical and Empirical Perspectives, Newbury Park Cal.
1990, S.44f. Dabei spielt das (theoretisch unbedachte) Argument mit empirischer Beweisfhrung eine Rolle, nmlich die Unterstellung, da Handeln nur am
Menschen zu beobachten sei. Selbst fr Gesellschaften, die noch keine Schrift kennen, mu man das jedoch bezweifeln. Gleichviel, wenn man so argumentiert,
schliet das jede Anwendung der Evolutionstheorie im hier vorgetragenen Verstndnis auf auerbiologische Sachverhalte aus.
1 j Vgl. auch Huntington Cairns, The Theory of Legal Science Chapel Hill N . C . 1941,
S. 29 ff.; Richard D. Schwanz / James C. Miller, Legal Evolution and Societal Complexity, American Journal of Sociology 70 (1964), S. 159-169.
12 Vielleicht ist das sogar der typische Fall. Vgl. Niles Eldredge / Stephan Jay Gould,
Punctuated Equilibria: An Alternative to Phyletic Gradualism, in: Thomas
J . M. Schopf (Hrsg.), Models in Paleobiology, San Francisco 1972, S. 8 2 - 1 1 5 .
13 Analysen Hegels, die auf die durch seine Theorie diktierten bergangsprobleme
bezogen sind, lassen sich in genau diesem Sinne lesen, etwa die Darstellung der
Anfnge einer symbolischen sthetik in den Vorlesungen ber die sthetik, zit.
nach der Ausgabe Frankfurt 1970 Bd. 1 (Werke Bd. 1 3 ) , S. 4 1 8 f. Fr preadaptive
advances einer Autopoiesis des Kunstsystems vgl. ferner Hans Belting, Bild und
Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, Mnchen 1990.
15
16
Aber diese Kompatibilitt von Systemtheorie und Evolutionstheorie allein gengt natrlich nicht. Man mu zeigen knnen, wie
Evolution auf dieser Systemebene realisiert wird. Und wenn dies
gelingt, liegt darin zugleich ein weiteres Argument fr die Annahme
einer eigenstndigen Autopoiesis des Rechtssystems.
244
II
Bevor wir zu untersuchen beginnen, wie im Falle des Rechtssystems die evolutionren Funktionen der Variation, Selektion und
Stabilisierung differenziert sind, mssen wir klren, wie berhaupt
Strukturen des Rechtssystems fixiert sind, so da sie dem Zugriff
der Evolution unterliegen. Es liegt nahe, hier an schriftliche Fixierung zu denken, aber bei einer genaueren Nachfrage stellt sich
heraus, da damit recht komplizierte Fragen angeschnitten
sind.
17
Schrift ist, wie in ganz ephemerer Weise auch die Laute der mndlichen Kommunikation, ein Mechanismus der strukturellen Kopplung von Physik, wahrnehmendem Bewutsein und Kommunikation, von physischer, psychischer und sozialer Realitt. In dieser
Hinsicht leistet Schrift viel mehr als das, was sie ausdrckt, nmlich
17 Siehe fr einen ersten berblick Jack Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, dt. bers. Frankfurt 1990, S. 2 1 1 ff.
18 Vgl. zu transmission delay als Form eines temporal memory Klaus Krippendorff, Some Principles of Information Storage and Retrieval in Society, General
Systems 20 (1975), S. 1 5 - 3 5 (19ff.).
245
vor allem die Ausdifferenzierung von Texten, die dann als identische
Grundlage fr die Bildung verschiedener Meinungen dienen knnen. Sie setzt dabei eine Unterlage, einen espace blanc voraus als
ein infinite marqu et marquable , also einen eigens prparierten
unmarked space, der in Richtung auf einen marked space berschritten werden kann, indem die Markierung erzeugt und zugleich
unterschieden wird. Erst im Medium mglicher Markierungen
sind Markierungen mglich, deren Kombinationsmglichkeiten ein
Medium fr diejenige Formbildung hergibt, die dann ihrerseits als
Text erscheint.
19
20
Diese physikalische Medium/Form-Form gibt der Schrift die Konstanz mit, die ganz unabhngig von ihrer kommunikativen Verwendung besteht - oder sich auflst. In ihren physikalischen Merkmalen gehrt die Schrift zur Umwelt des Kommunikationssystems. Sie
kann mit diesem Merkmal keine Komponente sozialer Kommunikation sein. Das Kommunikationssystem assimiliert sie nur, um
mit Piaget zu sprechen, indem es Schrift als Information benutzt.
Die Assimilation bezieht sich nur auf den Sinn, nicht auf die Physik
der Schrift. Eben deshalb kann die Schrift Konstanzen gewhrleisten, die einen differentiellen Informationsabruf im geschlossenen
Kommunikationszusammenhang des Systems nicht behindern und
es dem System ermglichen, in der Wiederverwendung von Sinn
eigene Identitten zu kondensieren. Schrift erleichtert den Wiederzugriff auf Sinngehalte, sie erschwert das (an sich durchaus wohlttige) Vergessen.
21
22
23
19 Diese Formulierung bei Julia Kristeva, Semeiotik: Recherche pour une smanalyse, Paris 1969, S . 3 1 5 .
20 Dies in der Terminologie von George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck
New York 1979.
21 Dies gilt auch dann, wenn die Schriftform, die optische Gestaltung usw., wie neuerdings oft hervorgehoben, in der Kommunikation eine wichtige Rolle spielt.
22 Eine hnliche Unterscheidung findet auch in den Zellmembranen statt. Auch hier
werden unverndert gelassene physikalische Objekte in den geschlossenen Verwertungs- und Reproduktionszusammenhang der Zelle eingegliedert. Vgl. Jean-Claude
Tabary, Interface et assimilation, tat stationaire et accomodation, Revue internationale de systmique 3 (1989), S. 273-293.
23 Wir sagen erschwert; denn da auch schriftlich fixierte Rechtstexte vergessen
werden bzw. obsolet werden knnen, ist vor allem fr die Zeit vor der Erfindung
des Buchdrucks anzumerken. Vgl. Mario Bretone, Le norme e il tempo fra tradizione classica e coscienza moderna. Materiali per una storia della cultura giuridica
19(1989), S.7-26.
246
25
26
27
28
247
Verwendung in divinatorischen Zusammenhngen ihr die erste gesellschaftsweite Verbreitung gegeben mit Einschlu des Ubergangs
zur Phonetisierung in Mesopotamien. Rechtsprobleme traten in
diesen frhen Hochkulturen als Divinationsprobleme auf, das heit
als Probleme herauszufinden, was geschehen war und wie Schuld
und Unschuld verteilt sind in enger Analogie zu gnstigen und ungnstigen Umstnden. Auf diese Weise nahm das Recht an der
Komplexifikation und der Rationalisierung sowie an der fachlichen
Expertise teil, die fr Divinationszwecke entwickelt worden war;
und Schrift diente im einen wie im anderen Zusammenhang der
Aufzeichnung des dazu ntigen Wissens. Die gefundenen Schriftzeugnisse, etwa der berhmte Codex Hammurabi, waren denn auch
nicht Gesetze in unserem Sinne, nicht Fixierungen des durch sie in
Geltung gesetzten Rechts. Sie entsprachen in ihrer Wenn/DannForm genau den normalen Regeln der Divination und dienten in
diesem Kontext der Lsung von Fallproblemen, auch der Gerichtspraxis. Die generalisierende Kasuistik und die binre Codierung
in gnstige und ungnstige Zeichen war primr fr Divinationszwecke geschaffen worden, und der entsprechende Komplexittsschub mitsamt seiner Schriftgelehrsamkeit kam dann auch dem
Recht zugute.
29
30
31
Es gab, mit anderen Worten, eine mit Hilfe von Schrift entwickelte
Rechtskultur und entsprechende Expertise, lngst bevor man
schriftliche Fixierung als Geltungsbedingung ansah. Noch die rmische stipulatio war eine einseitig-bindende Erklrung, die" der
Form nach mndlich erfolgte, aber fr Beweiszwecke auch notiert
gelesen und als Schrift verselbstndigt. Anders ist die Pltzlichkeit der Entstehung
einer sehr komplexen Schrift kaum zu erklren. Sie setzt, als preadaptive advance
eine in viele Lebenssituationen ausgreifende, rationalisierte Divinationspraxis voraus.
29 Siehe Jean Bottro, Symptmes, signes, critures en Msopotamie ancienne, in:
Vernant et al. a.a.O. (1974), S. 70-197. Vgl. weitere einschlgige Beitrge in ders.,
Msopotamie: L'criture, la raison et les dieux, Paris 1987, S. 133 ff., 157ff.
30 Bottro a.a.O. (1974), S. 142 spricht von identite formelle entre justice et divination.
31 Hierzu Jean Bottro, Le Code Hammu-rabi, Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa 1 2 , 1 (1988), S. 409-444; Wiederabdruck in ders., Msopotamie a.a.O.,
S. 191-223. Bottro deutet den Codex Hammurabi als eine Selbstglorifikation des
Knigs, als eine Art politisches Testament, das zeigt, wie durch Rechtsentscheidungen Ordnung gewhrleistet worden ist.
248
werden konnte. Auch fhrte die schriftliche Fixierung nicht sogleich zum Verzicht auf anwesende Zeugen. Schrift hat aber, und
das drfte ihren frhen Gebrauch in rechtlichen Angelegenheiten
erklren, den groen Vorzug, Abweichungen erkennbar zu machen,
die in den Aufgeregtheiten einer streitigen mndlichen Kommunikation allzuleicht untergehen wrden. Sie dient im Hinblick darauf
auch der vorgreifenden Fixierung und Konfliktvermeidung. (In der
antiken Diskussion wird allerdings immer wieder auch erwhnt,
da sie bessere Mglichkeiten der Flschung und Tuschung biete
als mndliche Kommunikation unter Anwesenden). Erst relativ
spt bernimmt die Schriftfassung auch die Funktion der Publikation und der Offenlegung des Rechts fr jedermann. Fr das
konkrete Sichtbarmachen von Abweichungen gengen einige
schriftkundige Experten. Die Publikationsfunktion setzt eine hinreichend weit verbreitete Literalitt voraus.
32
Whrend orale Kulturen in ihrem Gedchtnis auf strikte (wie immer dann fiktive) Wiederholung angewiesen waren, zum Beispiel in
ritueller Form, geben schriftliche Texte grere Freiheiten der Verwendung in nicht vorgesehenen Situationen, bedingt allerdings
durch grere Sorgfalt in der Abfassung der Texte selbst. Sie mssen aus sich heraus verstndlich sein und dem Interpretationsspielraum Schranken setzen. Und vor allem: Sie mssen Widersprche
vermeiden und fr hinreichende Konsistenz sorgen. Jan Assmann
nennt das bergang von der Dominanz der Wiederholung zur
Dominanz der Vergegenwrtigung, von ritueller zu textueller Kohrenz. Schon in sehr frhen, in die Anfnge der Schriftkultur
zurckreichenden Zeiten wird in Rechtsangelegenheiten Schrift gebraucht, vor allem, wie gesagt, zur Klarstellung und zum Erkennbarmachen etwaiger Abweichungen. Dabei bleibt es in allen ber
33
249
35
. 34 Zur Langsamkeit dieser Entwicklung selbst unter der Regie des Alphabets und zu
Problemen der Archivierung in Athen vgl. Rosalind Thomas, Oral Tradition and
Written Record in Classical Athens, Cambridge Engl. 1989, S. 34 ff. Harris a.a.O.
(1989).
35 Diese Unterscheidung hatte schon in Athen zur Kritik der Schriftlichkeit des
Rechts (unter anderem im Hinblick auf Flschungsmglichkeiten und auf Interpretationsprobleme) gedient, und nichtgeschriebenes Recht hatte von da her die Aura
von Hherwertigkeit um sich. Siehe John Walter Jones, The Law and Legal
Theory of the Greeks: An Introduction, Oxford 1956, S. 26ff.; Jacqueline de Romilly, La loi dans apense grecquedes origines Aristote, Paris 1 9 7 1 , S. 27 ff. Eine
entsprechende Lehre findet man noch heute im jdischen Recht. Das Recht sei auf
dem Berg Sinai sowohl fr schriftliche als auch fr mndliche Tradierung offenbart
worden. Jahwe, der seinem Wesen gem Zeit, also auch Zukunft sei, habe von
Anbeginn auf Anpassungselastizitt, also auf Interpretierbarkeit Wert gelegt unter
Inkaufnahme einer unabgeschlossenen, mglicherweise kontroversen Fortbildung.
Siehe nur George Horowitz, The Spirit of Jewish Law (1953), Neudruck New York
1 9 7 3 ; Eliezer Berkowitz, Not in Heaven: The Nature and Function of Halakha,
N e w York 1983; Geza Vermes, Scripture and Tradition in Judaism: Written and
Oral Torah, in: Gerd Baumann (Hrsg.), The Written Word: Literacy in Transition,
Oxford 1986, S. 79-95. Dabei wird unterstellt, da das Gebot mndlicher Lehre
und berlieferung es nicht ausschliet, Meinungen in Notizen, Glossen und Kommentaren festzuhalten. Fr eine Neuauflage dieser Unterscheidung im Common
Law siehe schlielich Sir Matthew Haie, The History of the Common Law of
England, zuerst posthum 1 7 1 3 , zit. nach der Ausgabe von Charles M. Gray, Chicago 1 9 7 1 , S. 16. Lex scripta wird definiert als Statutes or Acts of Parhament,
which in their original Formation are reduced into Writing, and are so preserv'd in
their Original Form and in the Same Stile and Words wherein they were first made.
ber die leges non scriptae kann dann sehr wohl auch schriftliches Material existieren, aber es ist nicht in gleicher Weise mageblich fr Identitt und Geltung des
Sinnes, sondern nur Form seiner berlieferung.
250
Die schriftliche Fixierung von politischen Gesetzen, etwa der SoIons, ist demgegenber ein Sptprodukt der Evolution. Sie setzt ein
dies legitimierendes Verfahren voraus, und sie wirft all die Probleme
auf, die sich daraus ergeben, da der geschriebene Text in der Wortwahl zu eindeutig ist und deshalb das, was als Recht in Anspruch
genommen wird, nicht hinreichend erfat. Im Anschlu an die Solonischen Gesetze entwickelt sich deshalb die Lehre von den graphoi nomoi, denen hherer Rang zugesprochen w i r d und im
37
36 Zu dieser Form der Prsentation religisen Sinnes siehe auch Niklas Luhmann, Die
Ausdifferenzierung der Religion, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik
Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 259-357. Ganz weltlich wiederum heit symblaion (neben dem blicheren syngraphe) im Griechischen auch so viel wie schriftlicher
Vertrag; und gemeint ist damit die Einheit von etwas Getrenntem oder auch die
Mglichkeit des Beweises dieser Einheit.
37 Der vielleicht bekannteste Fall dieser Forderung nach hherrangigem ungeschriebenem Recht ist der der Antigone. Aber er richtet sich gerade gegen die moderne
Tyrannis. Siehe explizit zum Thema des altertmlichen Sprachgebrauchs der geschriebenen Gesetze, der eine Interpretation, also eine Unterscheidung von Text
und Sinn erfordert, Lysias, Against Theomnestus I, 6-y, zit. nach der Ausgabe der
Loeb Classical Library, London 1957, S. 106ff. Noch bei Lysias findet man im
brigen in der Unterscheidung geschriebene/ungeschriebene Gesetze einen religisen Hintergrundsinn angedeutet (und sei es aus rhetorischen Grnden), wenn in
Against Androcines 10, a.a.O. S. 1 2 1 , betont wird, da eine geschuldete Bue auch
den Gttern gezahlt wird wegen der Verletzung ihres Rechtes. Im brigen versteht
251
Anschlu daran eine lange Tradition der Suche nach hherrangigen, bergesetzlichen Rechtsgrundlagen. Selbstverstndlich
kann von einer wie immer zu bewertenden mndlichen berlieferung nur die Rede sein, nachdem es Schrift gibt, nachdem also die
Unterscheidung schriftlich/mndlich verfgbar ist ; und insofern
ist jede emphatische Betonung, jede Kanonisierung einer mndlichen berlieferung eine historische Rckblendung der ber Schrift
verfgenden Gesellschaft (der mndliche Teil der Thorah zum Beispiel eine Rckprojektion des Talmud).
38
Da Recht als Schrift in Geltung gesetzt wird (und ich meine Geltung im oben, Kap. 2, VIII, erluterten Sinne), mu gegenber
allem davorliegenden Rechtsgebrauch oraler Gesellschaften eine
Katastrophe gewesen sein, das heit: eine Umstellung auf ein
anderes Prinzip der Stabilitt mit tiefgreifender Vernderung aller
Sinnhorizonte, darunter einer neuartigen Inanspruchnahme von
Religion zum Ausschalten und Wiederzulassen von Kontingenz. Es
liegt auf der Hand, da Verwendung von Schrift parallel luft zu
einer Umstellung der Gesellschaft von segmentrer auf stratifikatorische Differenzierung und durch sie begnstigt wird. Dabei
kommt es zu einer bisher unbekannten Konzentration von materiellen und symbolischen (rhetorischen) Ressourcen in einer Oberschicht oder, bei weniger ausgeprgter Schichtung, in einer Herrschaftsbrokratie. Damit ist jedoch nur eine recht oberflchliche
Erklrung gewonnen, die zudem fr heutige Verhltnisse wenig besagt. Denn es versteht sich fast von selbst, da alle Kommunikationsformen in engem Zusammenhang stehen mit der jeweiligen
Differenzierungsform des Gesellschaftssystems. Wie die Einordnung von Rechtsfragen in Zusammenhnge der Divination zeigt, ist
der bergang zur Stadtbildung und zur Schichtung, zur Reichsbildung und zu schichtspezifischer Endogamie bei weitem noch kein
ausreichender Grund fr die Ausdifferenzierung eines besonderen
39
es sich von selbst, da von ungeschriebenem Recht nur in einer Schriftkultur die
Rede sein kann.
38 Dazu Niklas Luhmann, The Form of Writing, Stanford Literature Review 9 (1992),
S. 25-42.
39 Peter Goodrich, Reading the Law, Oxford 1986, leitet daraus einen durchgehenden
Zusammenhang von Recht, Schrift und symbolisch-repressivem politischem
Machtgebrauch ab - mit der Tendenz freilich, dann den Machtbegriff selbst zu
mystifizieren.
252
41
Jedenfalls wird durch Schrift der Zugriff auf Recht sowohl erweitert
als auch eingeschrnkt und konzentriert - und es fragt sich seitdem :
fr wen? Das Recht wird in die Schriftform eingeschlossen und
dadurch als Form ausdifferenziert. Man kann es jetzt leicht unterscheiden, was nicht schon heit, da es damit leicht gemacht wird,
festzustellen, was als Recht gilt. Es ist nicht mehr frei verfgbar zur
Untermauerung von normativen Erwartungen, fr die man in sozialen Situationen Untersttzung finden kann. Es ist nicht mehr
einfach an der Zahl der Eideshelfer ablesbar, die eine Partei aufbieten kann. The Code encodes the law, it secludes it in a new
40 So Dean MacCannell / Juliet F. MacCannell, The Time of the Sign: A Semiotic
Interpretation of Modern Culture, Bloomington Ind. 1982, S. 26-27. Kurz darauf
nennen die Autoren das the self-reading of culture*.
41 Siehe immerhin die Anregungen bei L.L.Salvador, Evolution et hermneutique:
vers une cosystmique de la Cognition, Revue internationale de systmique 6
(1992), S. 185-203.
253
42
254
44
Bis hin zur modernen Gesellschaft, in der Gesetzgebung die Evolution des Rechts mit noch schwer berblickbaren Auswirkungen zu
dominieren beginnt, ist alle Rechtsevolution, vor allem die einmalige, zweitausendjhrige Evolution des rmischen Zivilrechts,
durch die Differenz von Text und Interpretation ermglicht worden, und das hat die Form ihrer Resultate entscheidend geprgt.
43 Vgl. dazu Karl Clauss, Die Sens-clair-Doktrine als Grenze und Werkzeug, in: Hubert Hubien (Hrsg.), Le raisonnement juridique: Actes du Congres Mondiale de
Philosophie du Droit et de Philosophie Sociale, Bruxelles, 30.8.-3.9.1971, Bruxelles
15.71, S . 2 - 2 5 .
S l
2 6
5
Verfassungen.
III
Wie die autopoietischen Systeme selbst, so sind auch die Bedingungen der Evolution ein Produkt von Evolution. Das gilt fr die
soeben behandelte Differenz von Text und Interpretation. Aber
auch das Auseinanderziehen von Einwirkungen auf Elemente (Variation), Einwirkungen auf Strukturen (Selektion) und Einpassung
in die Autopoiesis des Reproduktionszusammenhanges komplexer
Systeme (Restabilisierung) entsteht selber als ein Produkt gesellschaftlicher Evolution. Die Schwelle zur Eigenstndigkeit einer
Rechtsevolution liegt in der operativen Schlieung des Rechtssystems. Wir mssen diese Geschichtlichkeit der Geschichte mit im
Blick behalten, wenn wir die einzelnen evolutionren Mechanismen
darstellen.
Die fr die Evolution des Rechts ausschlaggebende Variation betrifft die Kommunikation unerwarteter normativer Erwartungen.
Das geschieht sicher zumeist nachtrglich, aus Anla eines Verhaltens, das sich im Rckblick als Enttuschung einer Erwartung zeigt.
Der Fall macht die Norm sichtbar, die es vor dem Fall als Struktur
gesellschaftlicher Kommunikation gar nicht gab. Ex facto ius oritur. So etwas kommt vor, sobald es berhaupt normatives Erwarten
gibt, also in allen Gesellschaften, die man sich im historischen
Rckblick vorstellen kann. Eine Variation dieser Art ist nicht einmal darauf angewiesen, da die Gesellschaft zwischen Regeln und
Handlungen unterscheiden kann. Es gengt, da man an der Qualitt des Verhaltens einen Grund fr Ablehnung erkennt und dies
erfolgreich zum Ausdruck bringen kann. Strukturbildung und
Strukturnderung lassen sich, wenn berhaupt strukturelle Rckwirkungen feststellbar sind, kaum trennen. Das Problem wird in
einfachen Gesellschaften durch Konstruktion einer zu ihm passenden Geschichte gelst. Variation und Selektion lassen sich nicht
unterscheiden, und was sich als Erwartung durchsetzt, hngt von
zahlreichen situativen und gesellschaftsstrukturellen Bedingungen
ab. Und auch heute findet man, wenn die Orientierung am geltenden Recht, aus welchen Grnden immer, ausgeklammert ist, genau
diese Struktur, nmlich die Tendenz, durch Beschuldigungen und
45
45 Wir werden diese berlegung nutzen, wenn es um die Evolution von Menschenrechten in der heutigen Weltgesellschaft geht. Siehe Kap. 12, V.
257
Gegenbeschuldigungen, Einbeziehen weiterer Tatsachen, Umdisposition in den Kausalzurechnungen, zunchst einmal Ambivalenz
zu erzeugen - also der Annahme entgegenzuarbeiten, da nur der
eine recht und folglich der andere unrecht haben msse. Das liegt
daran, da Anschuldigungen, auf der anderen Seite der Form, immer zugleich Selbstrechtfertigungen sind - und umgekehrt. Dieser
elementare Mechanismus unterluft den scheinbar feststehenden,
objektiven Recht/Unrecht-Code und erzeugt Ambivalenz in der
Frage, welche Norm nun eigentlich auf den Fall zutrifft. In einer
solchen Tendenz zur Ambivalentisierung des Normbezugs drfte
der Ausgangspunkt fr eine Evolution liegen, die dem daraus resultierenden Klrungsdruck abzuhelfen versucht.
In sehr einfachen Verhltnissen wird man kaum unterscheiden knnen, ob derjenige, der die Ordnung strt, dies - aus welchen
Motiven auch immer - einfach tut oder ob er es tut, weil er sich
selber im Recht glaubt. Er wird, wenn erwischt, versuchen, sich
irgendwie zu verteidigen, und dadurch an der Wiederherstellung
oder auch Modifikation einer erwartbaren Ordnung mitwirken.
Aber mangels einer ausdifferenzierten, in schriftlichen Texten fixierten Rechtsstruktur lassen sich Rechtskonflikte von einfachen
Enttuschungen ohne Anspruch auf ein Recht dessen, der als Strer
erscheint, kaum unterscheiden. Die multifunktionale Kontextierung aller sozialen Einrichtungen (vor allem natrlich: familialer
und religiser Art) macht eine feste Regelbildung schwierig, da die
Situationen, in denen diese Einrichtungen in Anspruch genommen
werden, sich zu stark unterscheiden und daher als unvergleichbar
46
47
46 Siehe dazu (mit berblick ber einschlgige Forschungen) Heinz Messmer, Unrecht und Rechtfertigung, Diss. Bielefeld 1993. Die Untersuchung betrifft Versuche, mit einem sogenannten Tter/Opfer-Ausgleich Strafverfahren gegen Jugendliche zu vermeiden.
47 In der soziologischen Literatur sind hnliche Sachverhalte fr den Fall von Straftaten unter dem Stichwort Neutralisierung behandelt worden. Der Beschuldigte
erkennt zwar die Differenz von Recht und Unrecht an und unterstellt sich damit
der Rechtsordnung; aber er sucht Argumente (Mitschuld der anderen Seite, andere
Darstellung von Kausalitten usw.), die fr seinen Fall diese Differenz neutralisieren. Siehe vor allem Gresham M.Sykes/David Matza,TechniquesofNeutralization,
American Sociological Review 22 (1957), S. 664-670; David Matza, Delinquency and Drift, New York 1964 (zum Beispiel S. 184 ber moral holiday). Der
Grund fr diese Form der Darstellung ist: da ein Beschuldigter in anderen Rollen
immer auch normkonform handelt und vor allem darauf angewiesen ist, da andere
dies tun.
258
48
48 Sehr genau erfat von Sally Falk Moore, Descent and Legal Position, in: Laura
Nader (Hrsg.), Law in Culture and Society, Chicago 1969, S. 374-400 (376): . . .
the more multiplex the social relations, the more contingencies there are that may
affect any particular act or transaction. This multiplicity not only makes it difficult
to state norms precisely, but sometimes it may even make it impossible, since the
assortment of contingencies can vary so much from one case to another. Auch in
solchen Gesellschaften gibt es zwar Regeln von nahezu juridischer Qualitt, nmlich solche, die die Zugehrigkeit von Personen zu Teilsystemen der Gesellschaft
betreffen (Inklusion). Aber diese Regeln werden dann als angeborene oder erworbene Qualitt der Person evident und haben ihrerseits nicht unmittelbare rechtliche
Konsequenzen.
49 Die Forschung ber Recht in einfachen Gesellschaften hat sich denn auch hauptschlich durch diese Frage leiten lassen, ob man berhaupt von Recht sprechen
kann, wenn es keine feststehenden Regeln gibt, ja oft nicht einmal die Mglichkeit,
zwischen Qualitten des Handelns und Regeln zu unterscheiden. Davon ausgehend
haben Ethnologen sich der Frage zugewandt, wie Konflikte behandelt und in streitigen Disputen geschlichtet werden - sei es mit, sei es ohne Berufung auf fallweise
einleuchtende Regeln. Vgl. z. B. Max Gluckman, The Judicial Process Among the
Barotse of Northern Rhodesia, Manchester 1 9 5 5 ; Paul J.Bohannan, Justice and
Judgement Among the Tiv, London 1957; Lloyd Fallers, Law Without Precedent:
Legal Ideas in Action in the Courts of Colonial Busoga, Chicago 1969; Philip
Gulliver, Structural Dichotomy and Jural Processes Among the Aruscha of Northern Tanganyika, Africa 31 (1961), S. 1 9 - 3 5 ; ders., Dispute Settlements Without
Courts: The Ndendeuli of Southern Tanzania, in: Laura Nader (Hrsg.) a.a.O.,
S. 24-68; Leopold Pospisil, Kapauku Papuans and Their Law (1958), Neudruck
o.O. 1964. Siehe auch fr noch wildere Verhltnisse, Ronald M. Berndt, Excess and
Restraint: Social Control Among a N e w Guinean Mountain People, Chicago
1962.
2
59
Die Evolution des Rechts beruht auf jener, zunchst kaum realisierbaren Unterscheidung von unstreitigen und streitigen Enttuschungsfllen. Denn nur wenn Konflikte verbalisiert werden, wenn
Strer sich verteidigen, Anerkennung fr Ausnahmelagen zu erreichen versuchen oder gar eigene Rechte behaupten, kann eine Beobachtung zweiter Ordnung entstehen, weil nur dann man entscheiden mu, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Nur derartige
Situationen fhren nach und nach zu einer Zuspitzung von Problemstellungen oder auch zur Entwicklung des Regel/AusnahmeSchemas. Schon in tribalen Gesellschaften entstehen dafr Verfahren der Verhandlung und mit ihnen ein Entscheidungsbedarf, auch
wenn es noch keine politische Autoritt fr kollektiv bindendes
Entscheiden gibt und noch keine an geschriebenen Texten orientierte rekursive Vernetzung der Argumentation.
In einer abstrakteren Version kann man diese Ausgangslage auch so
darstellen, da die evolutionre Errungenschaft von Sprache und
Recht die Gesellschaft nicht nur wie eine Population von Lebewesen strukturell ihrer Umwelt anpat, sondern darber hinaus auch
vorbergehende Anpassungen an vorbergehende Lagen ermglicht. Abrupt ausbrechende Konflikte mssen fallweise gelst oder
doch entschrft werden. Das erfordert nicht unbedingt starr durchgehaltene, von Fall zu Fall tradierte Entscheidungsregeln, geschweige denn umweltangepate Normen. Erst eine grere Problemdichte fhrt zu einem Bedarf an stabilen Orientierungen, und
diese mgen auf vielerlei Weise, etwa in der Form einer situationspragmatisch ausgearbeiteten Divinationskunde oder auch in der
Form von normativen Grundstzen ausgebildet werden. In beiden
Fllen ergibt sich der oben errterte Zusammenhang mit der Evolution von Schrift. Evolutionre Errungenschaften, die sich jetzt
bewhren, mssen vorbergehende Probleme mit tradierbaren (redundanten) Lsungsmustern versorgen, also Variabilitt und Stabilitt kombinieren knnen.
Voraussetzung jeder weiteren Entwicklung ist mithin, da sich Interaktionssysteme ausdifferenzieren, in denen ber die Lsung von
normativen Konflikten verhandelt werden kann. Dann wird
50
50 Wir lassen die zunchst sicher funktional quivalente Divinationspraxis hier und im
folgenden beiseite, geben aber zu bedenken, da Gesellschaften (wie China), die
diese Orientierung pflegen und ihre Schrift darauf aufbauen, entsprechend weniger
Anla hatten, eine elaborierte Rechtskultur zu entwickeln.
260
Dafr fehlen naturale Gesichtspunkte in den Kpfen der Menschen, wie sie im lteren Naturrecht unterstellt worden waren.
Keine Gesellschaft kann ihr Recht auf Konsens sttzen, wenn darunter verstanden werden soll, da jederzeit alle jeder Norm zustimmen. Eine derartige Fixierung von Bewutseinszustnden ist weder
erreichbar noch wre sie, wenn erreicht, feststellbar. Konsens kann
also nicht Bedingung der Rechtsgeltung sein und wrde im brigen
auch jede Evolution ausschlieen. Evolution hngt davon ab, wie
das Problem der sozialen Abstimmung statt dessen gelst wird. Genau darauf zielt die Evolution von Kompetenznormen und, diese
einschrnkend, von Verfahren. Zuvor hatte man mit der Unterstellung von Konsens und mit erfolgreichem Ignorieren von Dissens
operieren mssen. Verfahren ermglichen es zustzlich, da es gengt, wenn einige (die Richter, die Gesetzgeber) die Geltung von
Normen als verbindlich fr alle ansehen und entsprechend entscheiden. Im Vergleich zu bloen Konsensunterstellungen ermglicht dieses Einige fr alle-Prinzip eine hhere Spezifikation von
Normen und damit auch eine ausgearbeitete Sensibilitt fr Rechtsprobleme und fr die Unzulnglichkeiten einer gegebenen Normlage. Konsensunterstellungen werden dadurch nicht berflssig, es
51 Dies zeigen umfangreiche Forschungen ber heute noch auffindbare tribaie Gesellschaften (Literatur oben Anm. 49), die jedoch kaum noch ursprngliche Zustnde
antreffen, sondern es mit Gesellschaften zu tun haben, die (besonders in Afrika)
unter dem Einflu von Hochkulturen und zuletzt unter dem Einflu von Kolonialregimes leben und somit eigentlich Teile der Weltgesellschaft sind.
2I
die Formulierung) von rechtsspezifischen Begriffen und Entscheidungsregeln. Die Berufung auf alte Gesetze - die der solonischen
Reform etwa oder die Volksgesetze Roms - mag hilfreich sein, erweist sich aber im Rechtsbetrieb sehr bald als mehr oder weniger
illusionre Referenz. Entscheidend ist nicht der Legitimationsmodus, sondern die irgendwie erreichte Ausbootung von Argumenten
ad hoc und ad hominem. Denn damit ist ein allzu direkter Einflu
von auerrechtlichen Sozialstrukturen, vor allem natrlich: von
schichtbedingtem Status und Zusammenhngen der Verwandtschaft, der Freundschaft, des Klientelismus, auf den Rechtsbetrieb
abgewehrt. Mehr als irgendwo sonst erkennt man an den Formen
der zugelassenen Argumentation und an ihrer, wie immer zunchst
formalistischen und traditionalistischen Einschrnkung, die Ausdifferenzierung des Rechtssystems. Die Ausdifferenzierung von
Rechtsverfahren ist nur eine Bedingung der Mglichkeit; die Spezifikation der Art und Weise, wie im Rechtssystem auf Rechtsmaterialien argumentativ Bezug genommen wird, ist der eigentliche
Trger der Evolution des Rechtssystems, der Durchbruch zu einer
eigenstndigen, auch gegen Moral und common sense und auch
gegen den Alltagssinn von Worten differenzierbaren Rechtskultur.
52
Wenn nicht, so knnen wir zusammenfassen, ad hoc und ad hominem argumentiert werden darf, ergibt sich ein auf andere Weise zu
befriedigender Begrndungsbedarf, vor allem in Richtung auf Bindungen an identifizierbare Nonnbestnde und auf Entwicklung
von Begriffen und Entscheidungsregeln, die als auch fr andere
Flle geltend unterstellt werden knnen. Erst wenn diese Praxis
eingebt ist, kann man im Rechtssystem einen Begriff von Gerechtigkeit akzeptieren, der fordert, da gleiche Flle gleich und ungleiche Flle ungleich zu entscheiden seien, und es dem Rechtssystem
berlt zu ermitteln, was und an Hand welcher Regeln etwas als
z6)
53
gleich bzw. als ungleich anzusehen ist. Das Resultat ist dann, langfristig gesehen, die Absonderung eines Bestandes an Begriffen und
Maximen, Prinzipien und Entscheidungsregeln, die - teils formalistisch, teils kritisch gehandhabt - das Material bilden, das es dem
Richter ermglicht, Argumente ad hoc und Argumente ad hominem zurckzuweisen.
54
56
53 Da die Ethik mit diesem Problem nie zu Randegekommen ist, besttigt indirekt
unser Ausdifferenzierungsargument. Die Entscheidung zwischen gleichartig und
ungleichartig erfordert eine Fhrung durch die in der Autopoiesis des Rechtssystems bereits bewhrten Unterscheidungen. Eine nur ethische, gewissermaen
rohmoralische Argumentation liefe auf Willkr und Willkr auf Ungerechtigkeit
hinaus. Das ist natrlich umstritten. Siehe nur: David Lyons, Justification und
Judicial Responsibility, California Law Review 72 (1984), S. 178-199; ders., Derivability, Defensibility, and the Justification of Judicial Decisions, The Monist 68
(1985), S. 325-346, und dazu Neil MacCormick, Why Cases Have Rationes und
What These Are, in: Laurence Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, Oxford 1987,
S. 1 5 5 - 1 8 2 (166ff.).
54 Da Ausnahmen mitgefhrt werden, soll damit nicht bestritten werden. Zu den
ersten Erfahrungen, die der Verfasser dieses Buches als Rechtsreferendar machte,
gehrte das Verlangen eines Amtsrichters, in den Entwurf eines Strafurteils - es
handelte sich um einen Verkehrsunfall - aufzunehmen, da der Schuldige im Krieg
mit einem eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet worden war. Der daraufhin
verbesserte Entwurf der Begrndung des Urteils, da Trger hoher Kriegsauszeichnungen vermutlich ihre Fahrfhigkeiten berschtzen und unvorsichtig, wenn nicht
aggressiv fahren, befriedigte den Richter ebenfalls nicht. Die Kriegsauszeichnung
sollte nur als Merkmal der Person und ohne (kontrollierbare) juristische Konsequenzen erwhnt werden.
55 Vgl. dazu Joseph C.Smith, The Theoretkal Constructs of Western Contractual
Law, in: F . S . C . Northrop / Helen H . Livingston (Hrsg.), Cross-Cultural Understanding: Epistemology in Anthropology, N e w York 1964, S. 254-283.
56 Vgl. Wolfgang Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der rmischen Juristen, 2.
Aufl. Graz 1967; Mario Bretone, Storia del diritto romano, Roma 1987, S. 153 ff.
Zur davorliegenden rhetorisch-politischen Behandlung von Rechtsfragen in Athen
264
wirtschaftliche und mit Amtsmonopolen ausgestattete Professionalisierung findet man erst sehr viel spter, vor allem im Bereich des
mittelalterlichen kanonischen Rechts, des Common Law und im
frhmodernen Territorialstaat.
Der Ansto fr eine abweichende Entwicklung, die den Ausgangspunkt bildet fr eine rechtseigene Evolution, wird in der Differenziertheit der rmischen Fallpraxis gelegen haben, vor allem in den
unterschiedlichen Instruktionen, die der zustndige Amtstrger den
von ihm zu ernennenden Richtern als Entscheidungsprmisse vorgab. Da dieses Anweisungsmaterial in der Form des Ediktes gesammelt wurde, konnte es aus aktuellen Anlssen neu redigiert und
verfeinert werden. Erst diese allmhlich zunehmende Komplexitt
machte eine entsprechende Sachkunde notwendig, die von den Beteiligten (die natrlich nicht in irgendeinem heutigen Sinne Juristen
waren) in Anspruch genommen werden konnte. Rechtskunde (Jurisprudenz) war deshalb zunchst nichts anderes als ein Wissen von
dem, was da vor sich geht, mit dem Versuch, ber Klassifikation,
spter dann auch mit Hilfe epigrammatischer Formulierungen (regulae) bersicht zu gewinnen. Es mute dabei nicht vorausgesetzt
werden, da es im Bereich hilfreicher Abstraktionen eine aus sich
selbst heraus einsichtige Ordnung gebe, obwohl man das so produzierte Textmaterial im Mittelalter so zu lesen und als solches (also
unabhngig von den Erfordernissen der Fallpraxis) immer neuen
Konsistenztests zu unterwerfen begann. Eine Vorstellung wie: Geltung qua System war und blieb dem rmischen Zivilrecht fremd.
Immerhin war das Begriffsmaterial mitsamt der Tendenz, es zu
Sprchen (brocardia) zu kondensieren, so weit entwickelt, da man
im Mittelalter hier anschlieen konnte; und erst seitdem wird
Rechtsdogmatik ein stabilisierender Faktor, der auf die Evolution
des Rechts selbst zurckzuwirken beginnt.
57
vgl. J. Walter Jones, The Law and Legal Theory of the Greeks: An Introduction,
Oxford 1956, S. 128ff.; Hans Julius Wolff, Rechtsexperten in der griechischen
Antike, Festschrift fr den 45. Deutschen Juristentag, Karlsruhe 1964, S. 1 - 2 2 .
57 Mit einem ahnlichen Argument sieht deshalb Harold J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, dt. bers., Frankfurt 1 9 9 1 , den
entscheidenden Einschnitt auf Grund eines Zusammentreffens gesellschaftlicher
und organisatorischer Entwicklungen mit einer Wiederentdeckung der rmischen
Texte erst im 1 1 . / 1 2 . Jahrhundert. Das Motiv lag auch hier nicht in dem zu schaffenden Rechtssystem, sondern in dem Widerstand der Kirche gegen eine mgliche
Theokratie des Kaisertums, gegen einen politisch-religisen Despotismus.
265
59
60
266
unintended consequences (S. 47). Das Motiv war zunchst die Lsung von im
feudalen Kontext auftretenden politischen Konflikten zwischen Vasallen und zwischen Vasallen und Herren.
26
Aufmerksamkeit ein fr Argumentationsformen, die auf bedenkliche Weise wieder in die Nhe von ad hoc und ad hominem Argumenten geraten - zum Beispiel Interessenabwgung als trojanisches Pferd jeder juristischen Dogmatik.
Weder bei der Variation noch bei der Selektion geht es um eine
extern induzierte Innovation des Rechts. Evolution ist kein Planverfahren. Zum Rechtsstreit kann es aus sehr verschiedenen Anlssen kommen, sehr oft (wenn nicht zumeist) auf Grund einer
ungeklrten Sachlage. Das Rechtssystem hat keine Kontrolle ber
die Anlsse, die zum Streit fhren und Entscheidungen ntig machen. Auch dienen Rechtsverfahren nicht der nderung des Rechts,
sondern der Klarstellung des Rechts. They declare the law, wie man
im Common Law sagt. Selbst wenn Entscheidungsregeln gesucht
und gefunden werden, die nach dem Eindruck des Gerichts neuartig sind, und selbst wenn bewut wird, da eine bisherige Rechtspraxis nicht mehr befriedigt, weil die in ihr vorausgesetzten
Umstnde sich gendert haben, liegen nur punktuelle Strukturnderungen vor, aber nicht eine Planung oder Steuerung des Systems
als System. Demgem ist die allmhliche Transformation des
Rechts nicht eine Folge zweckgerichteter Aktivitten. Sie ergibt
sich aus der stndig reproduzierten Differenz von Variation und
Selektion, sie ist eine Ablagerung des Wirksamwerdens der evolutionren Differenz. Man braucht die nderbarkeit des Rechts daher
zunchst auch nicht in die Selbstbeschreibung des Rechts aufzunehmen; man braucht sie nicht zu reflektieren. Sie ergibt sich von
selbst.
Entsprechend ist die Streitentscheidung keineswegs durchweg eine
Entscheidung zwischen altem und neuem Recht. Der AntigoneMythos stilisiert eine Ausnahmesituation. Die Vorstellung, neues
Recht knne besser sein als altes, ist eine sehr spte Reflexion auf
eine bereits seit langem eingefhrte Praxis. Zunchst geht es, selbst
bei schon vorhandenem Rechtswissen, allenfalls um eine vorsichtige
Erweiterung, um ein Argumentieren mit Analogien , um eine Extension von Erfahrungen mit Fllen auf neue Flle. Evolution ist
hier, wie sonst auch, kein Ergebnis zielgerichteter Prozesse, son61
61 Und sogar Allegorien, knnte man mit Blick auf jdisches Recht hinzufgen. Siehe
Louis Ginzberg, On Jewish Law and Lore (1956), Neudruck New York 1977,
S. 1 2 7 - 1 5 0 .
26g
dem ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt, ein epigenetisch eintreffendes Resultat. In ein Gesellschaftssystem, das sich diese Art von
Rechtsbetrieb leistet, ist bereits eine Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung eingebaut, die es ermglicht, ein Rechtssystem auszudifferenzieren. Es gibt in der Form gerichtlicher Verfahren bereits
eine Ebene, von der aus normative Erwartungen besttigt bzw. zurckgewiesen werden knnen je nach dem, ob sie dem Recht
entsprechen oder nicht. Der Code Recht/Unrecht wird bereits benutzt, und auch der Effekt einer solchen Codierung tritt, wie
vorauszusehen , ein: da sich im Rechtssystem eine programmatische Semantik ablagert, auf die man zurckgreifen kann, wenn man
Kriterien fr die Zuordnung der Rechtswerte braucht. Die Selektionsfunktion kann aber noch nicht von Problemen der Restabilisierung des Systems unterschieden werden. Sie operiert mit Bezug
auf ein als stabil unterstelltes Recht, mit Rechtfertigung an altem
Recht oder, wo das nicht ausreicht, mit Bezug auf Natur oder auf
eine durch Gott gegebene Ordnung. Selbst wenn es, wie im spteren rmischen Kaiserreich, bereits eine umfangreiche Praxis kaiserlicher Erlasse (constitutiones) gibt, die ins Recht eingreifen, gibt das
Rechtssystem diesem Phnomen mit allen Zeichen des Zgerns
einen Sonderstatus.
62
63
64
62 Das gilt auch fr die Evolution lebender Systeme und gilt besonders dann, wenn
man eine Richtungsangabe im Sinne von Steigerung der Eigenkomplexitt von
Systemen fr ein Merkmal von Evolution hlt. Siehe dazu G. Ledyard Stebbins,
Adaptive Shifts and Evolutionary Novelty: A Compositionist Approach, in: Francisco Ayala / Theodosius Dobzhansky (Hrsg.), Studies in the Philosophy of
Biology: Reduction and Related Problems, London 1974, S. 285-306 (302 ff.). Vgl.
auch ders., The Basis of Progressive Evolution, Chapel Hill N . C . 1969.
63 Vgl. Kapitel 4.
64 Diese als Zugestndnis formulierte Einsicht, der Ulpian die berhmte Formulierung Quod principi placuit, legis habet vigorem ( D . i . 4 . 1 . 1 . ) gegeben hat, wird
erst in der Frhmoderne in den Rang einer Souvernittsmaxime gebracht; und
selbst dann mu man zunchst noch davon ausgehen, da einem tugendhaften Frsten nicht schlechthin Beliebiges gefallen kann, denn sonst wre er kein Frst,
sondern ein Tyrann, dem man mit Recht Widerstand leisten kann.
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68
270
Autoritten entlehnt sind, zu lernbaren Rechtsmaximen und knnen dann in der Rechtspraxis als scheinbar altes Gedankengut auch
zur Durchsetzung innovativer Forderungen verwendet werden. '
Das Rechtswissen, das der Praxis Stabilitt verleiht, entwickelt sich
an Hand von Fallerfahrungen in einem vorsichtigen Vergleich alter,
schon entschiedener mit neuen Fllen. Als Vergleichsgesichtspunkte dienen begriffliche Klassifikationen, Zuordnung zu Rechtsinstituten, bereits begrndete und bewhrte, wiederholt verwendete Entscheidungsregeln. Die Methode ist im wesentlichen das
immer neue Testen der Reichweite von Analogieschlssen - also
weder Deduktion aus Prinzipien noch ein induktives Generalisieren, denn das Ziel ist ja nicht, generalisierbare Regeln zu finden,
sondern zu begrndbaren Fallentscheidungen zu kommen. Bei diesem Vorgehen ist die neu anstehende Entscheidung nicht unbedingt
durch das vorgefundene Rechtswissen schon festgelegt. Es kann
durchaus sein, da gerade am vorhandenen Fallrepertoire die Neuartigkeit des jetzt zu entscheidenden Falles erkennbar wird. Wie
typisch in evolutionren Zusammenhngen ist das gefestigte Resul6
69 Man kann dies gut an den juristischen Begrndungen ablesen, die bereits vor Bodin
die rechtssouverne Frstenherrschaft proklamieren. Bei Jacobus Omphalius, De
officio et potestate Principis in Reipublica bene ac sancte gerenda libri duo, Basel
1550, finden sich die blichen Formeln wie Princeps legibus solutus est, Princeps lex animata in terris, Principis voluntas pro ratione habeatur oder auch die
in Anmerkung 64 zitierte Formel durchgehend, obwohl
Rechtslage jener Zeit noch der Text selbst den Frsten von Rechtsbindungen freistellen. Als ein Beispiel fr solche kontextlose und damit sinnverflschende Maximenbildung siehe auch Adhmar Esmein, La maxime Princeps legibus solutus est
dans l'ancien droit public franais, in: Paul Vinogradoff (Hrsg.), Essays in Legal
History, London 1 9 1 3 , S. 201-214, und zur Geschichte dieser Formel ausfhrlicher
Dieter Wyduckel, Princeps Legibus Solutus : Eine Untersuchung zur frhmodernen
Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979. Ein anderes Beispiel ist die Verwendung einer
Formulierung aus D 4 5 . 1 . 1 0 8 , mit der an der angegebenen Stelle ein komplizierter
Mitgiftfall abgeschlossen wird. Im Text heit es : nulla promissio potest consistere,
quae ex voluntate promittentis statum capit. Jean Bodin, Les six livres de la Rpublique, Paris 1583, Nachdruck Aalen 1967, S. 1 3 2 , zitiert falsch, nmlich statt
promissio obligatio, und leitet daraus die folgenreiche Doktrin ab, da ein Souvern
sich aus naturrechtlichen Grnden nicht selbst binden knne. Und ein letztes Beispiel: Die Sentenz Quod omnes tangit omnibus tractari et approbari dbet, bezieht
sich ursprnglich auf einen Fall mit einer Mehrheit von Vormndern, wird aber im
Mittelalter als Argument in der Diskussion des Reprsentationsprinzips in Krperschaften verwendet.
271
70
72
70 Berhmt vor allem die offizielle Redaktion der franzsischen coutumes, die
schon im frhen 15. Jahrhundert, also bereits vor dem Buchdruck einsetzte, aber
mit Hilfe des Buchdrucks dann verbreitet, verbessert, juristisch durchgearbeitet
und modernisiert wurde. Fr einen knappen berblick siehe Philippe Sueur, Histoire du droit public franais XVe-XVIIIe sicle Bd. 2, Paris 1989, S. 39 ff.
71 In Italien beginnt eine humanistische (besser vielleicht: rhetorische) Kritik der typischen juristischen Textverarbeitung des Mittelalters bereits im frhen 15. Jahrhundert, also schon vor der Einfhrung des Buchdrucks. Dabei stehen zunchst
aber Stilfragen im Vordergrund, und eine bereits lange Pflege der rhetorischen Tradition liefert die Mittel. Vgl. etwa Domenico Maffe, Gli inizi dell'umanesimo
giuridico, Milano 1956, Neudruck 1968. Zu den Folgen des Buchdrucks, die erst im
16. Jahrhundert zum Problem werden, siehe Hans Erich Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Jrgen Blhdorn /
Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft: Zum Problem ihrer
Beziehungen im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1969, S. 63-88; ders., Die Literatur des
gemeinen Rechts unter dem Einflu des Humanismus, in: Helmut Coing (Hrsg.),
Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europischen Privatrechtsgeschichte II, i, Mnchen 1977, S. 615-795 (74*
findet man aus gleichem Anla erfolglose Anregungen, sich am rhetorisch-humanistischen Trend auf dem Kontinent zu orientieren. Siehe dazu Peter Goodrich,
Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, London 1990,
insb. S. 70ff.; ferner die ebenfalls erfolglose Initiative von Francis Bacon, auf dem
Wege der Gesetzgebung durch neue Zusammenfassungen und durch methodische
Verwissenschaftlichung der Gesetzgebung zu reagieren. Siehe De augmentis scientiarum 8, 3, aphorism 59 ff., zit. nach der engl. bersetzung in: The Works of
Francis Bacon, London 1857fr. Bd. V (1861), S. l o f L ; ders., A Proposition toHis
Majesty ... Touching the Compilation and Amendment of the Laws of England,
Works a.a.O. Bd. XIII (1872), S. 57-71 und dazu Barbara Shapiro, Sir Francis Bacon
and the Mid-Seventeenth Century Movement for Law Reform, American Journal
of Legal History 24 (1980), S. 331-360. .
72 Vgl. hierzu und zu Gegenbewegungen von Bacon ber Hobbes und ber Blackstone bis zu Bentham Gerald J. Postema, Bentham and the Common Law Tradi-
Zusammenfassend kann man jetzt von einer auf begriffliche Systematik und geschichtliche Kohrenz achtenden Rechtsdogmatik
sprechen. Dieses von der Fallpraxis abstrahierte (aber gegen sie keineswegs unempfindliche) semantische Material bietet Mglichkeiten der Errterung von Konstruktionsfragen. Man kann es benutzen, um nichtkonstruierbare Entscheidungen abzulehnen; aber
auch, um Entscheidungen damit zu begrnden, da sie dem seit
langem blichen Begriffsgebrauch entsprechen. In vielen Fllen
kommt es auf diese Weise zu einer allmhlichen Ausdehnung der
Tragweite begrifflich benennbarer Rechtsinstitute in einem typisch evolutionren Proze der Abweichungsverstrkung: Aus
kleinen,, sich bewhrenden Anfngen entstehen Einrichtungen von
erheblicher Tragweite; und deren Bedeutung ist dann, da sie zahllose Fallerfahrungen zusammenfassen, in der Form von Definitionen kaum noch zu beschreiben. Nur Praktiker verstehen ihre
Relevanz.
73
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird man dazu bergehen,
dies als Begriffsjurisprudenz abzulehnen und Innovationen mehr
und mehr ungeschtzt als Ausbungen von Kompetenznormen, sei
es des Gesetzgebers, sei es, in zunehmendem Umfang, auch des
Richters, zu rechtfertigen. Das allgemeine Instrument des Unterscheidens kann nun sehr viel freier gehandhabt werden, mit erheblichen Auswirkungen allerdings auf das, was sich daraufhin an
rechtlicher Semantik mit Programmfunktionen ablagert.
Durch die Ausdifferenzierung einer Rechtsdogmatik, die mit unverwechselbaren Zgen ins Rechtssystem gehrt (und nicht mit
dem in Lateinschulen gelehrten Naturrecht zu verwechseln ist),
wird auch die Stabilisierungsfunktion ausdifferenziert. Rechtsverfahren mgen Variationen aufnehmen und ihnen strukturelle Bedeutung fr die knftige Rechtsprechung geben. Auch wenn das
gelingt, ist aber immer noch die Frage, ob dies einen Einflu auf die
Rechtsdogmatik hat oder nur als jederzeit nderbares Recht bzw.
ber die Przedenzwirkung von Gerichtsentscheidungen in das
Rechtssystem eingeht. Es kommt, mit anderen Worten, zu einer
Differenzierung von Selektionsfunktion und Stabilisierungsfunktion, Oxford 1986; David Lieberman, The Province of Legislation Determined:
Legal Theory in Eighteenth-Century Britain, Cambridge Engl. 1989.
73 Fr Beispiele, nmlich das Haftungsrecht und die due process Klausel in den U S A ,
siehe Lawrence H.Friedman, Total Justice, New York 1985.
274
tion, wobei das, was der Stabilisierung dient, eigene Innovationsimpulse aussendet. Noch im 17. Jahrhundert wird das politische
System eindringlich vor Neuerungen gewarnt, die immer die Gefahr von Widerstand, Aufruhr und Brgerkrieg mit sich bringen.
Das Rechtssystem hat aber bereits eine dynamische Stabilitt erreicht, die Innovationen mit weitreichenden Folgen ermglichen etwa im Eigentumsbegriff, im Begriff des subjektiven Rechts, im
Umfang der Einklagbarkeit von formlos geschlossenen Vertrgen
und nicht zuletzt in der gegenber dem Mittelalter innovativen Vorstellung eines ffentlichen Rechts.
74
75
Nur ber eine ausgearbeitete Rechtsdogmatik kann die Stabilisierung und Restabilisierung des Rechts von der einfachen (und dann
zumeist religis begrndeten) Geltung bestimmter Normen auf deren Konsistenz verlagert werden. Die Dogmatik garantiert, da das
Rechtssystem sich in seiner eigenen Vernderung als System bewhrt. Man hat deshalb auch von systematischer Methode gesprochen. Dabei darf jedoch nicht verkannt werden, da dies
keine Reflexion der Einheit des Systems, keine Orientierung an
dem Gesamtsinn des Systems im System erfordert , sondern nur
das Bemhen um konsistente Lsung hnlicher Fallprobleme.
berliefertes ebenso wie gendertes Recht gilt, wenn es im Kontext
76
77
74 Siehe z. B. Iustus Lipsius, Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, zit. nach der
Ausgabe Antwerpen 1604, S. 96; Jean de Marnix, Rsolutions politiques et maximes
d'Estat, erw. Auflage Bruxelles 1629, S. 286ff.; Johann Hieronymus Im Hof, Singularia Politica, 2. Aufl. Nrnberg 1657, S. 241 ff.; Estienne Pasquier, Les Recherches de la France, Neuauflage Paris 1665, S. 678 (II n'y a rien qu'il faille tant
craindre en une Republique que la nouveaut).
75 Fr einen spteren Zeitraum kann man auch in den Vereinigten Staaten feststellen,
da die Voraussetzungen fr eine moderne (kapitalistische) Wirtschaftsordnung im
Rechtssystem und nicht im politischen System geschaffen worden sind. Siehe Morton J. Horwitz, The Transformation of American L a w , 1780-1860, Cambridge
Mass. 1977. Vgl. dazu kritisch (die Eigenleistung des Common L a w bestreitend und
auf bernahmen aus der Zivilrechtstradition hinweisend) A . W . B . Simpson, The
Horwitz Thesis and the History of Contracts, in ders-, Legal Theory and Legal
History, London 1987, S. 203-271. Vgl. ferner ders., Innovation in Nineteenth Century Contract L a w , a.a.O., S. 1 7 1 - 2 0 2 .
j6 So im Anschlu an Nicolai Hartmann Heino Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, Bielefeld 1973, S. 28 im Hinblick auf das laufende Justieren von System und
Problemlsungen.
77 Dies ist nur eine andere Version der Feststellung, da die Orientierung an der
Funktion des Rechts nicht ausreicht, um die Entscheidungen des Systems festzulegen.
2
75
benachbarter Rechtsvorstellungen haltbar ist. Als Indiz der Konsistenz dient dann die dogmatische Konstruierbarkeit von Problemlsungen. Das wiederum macht es mglich, Nichtkonstruierbarkeiten zu erkennen und es als Problem wahrzunehmen, wenn das
Resultat einem vernderten Rechtsgefhl bzw. dem geschulten
Blick fr akzeptable Fallsungen widerspricht. Gerade eine Rechtsdogmatik oder, ihr entsprechend, eine breit ausgearbeitete Kenntnis
der ratio decidendi in einer Vielzahl von Gerichtsentscheidungen
ermglichen es, Defekte wahrzunehmen und, nicht immer erfolgreich, nach besseren Konstruktionsmglichkeiten zu suchen. Das
Recht gewinnt die Chance, am eigenen Defekt zu reifen, etwa bei
prinzipiell anerkanntem, auch gesetzlich fixiertem Verschuldensprinzip in begrenztem Umfang Haftung auch ohne Verschulden
zuzulassen - sei es, weil der subjektiv Unschuldige eine gefhrliche
Lage geschaffen hat; sei es, weil er allein ber Kontrollmglichkeiten und Alternativen verfgt, die dazu beitragen knnen, Schden
zu vermeiden. Auf Grund dogmatischer Rekonstruktionen kam
man im spten Mittelalter auf die Idee, da das Prinzip der bona
fides alle Lcken im berlieferten System der rmischen Vertragstypen und entsprechender Klagerechte (actiones) fllen knne, so
da jeder Vertrag, der nicht gegen Recht verstt, als Titel anerkannt werden konnte: ex nudo pacto oritur obligatio. So sucht und
findet das Interesse an Kapitalakkumulation und Haftungsbeschrnkungen im 18. Jahrhundert Rechtsformen fr juristische Personen, die nicht im alten Privilegienrecht der Korporation untergebracht werden konnten. Man kann dies als Anpassung des Rechts
an sich ndernde Bedarfslagen auffassen, aber das heit keineswegs,
da die Umwelt das Rechtssystem determiniert. Vielmehr erkennt
das Rechtssystem Defekte nur auf dem eigenen Bildschirm und
kann fr Abhilfen nur eigene, passende Mittel benutzen. Die Um78
79
276
weit mag das Rechtssystem irritieren und Strungen im Rechtsempfinden auslsen: aber schon solche Irritationen sind systeminteme
Formen der Problemstellung, und die Lsungen sind natrlich an
das gebunden, was man im Rahmen des geltenden Rechts konstruieren zu knnen glaubt.
In diese Form der Innovation durch Defektausgleich wird, vom
Rechtssystem her gesehen, auch die Gesetzgebung einbezogen. Es
wird ein Mistand bemerkt. Die Frage ist dann: Kann man ihm
ohne oder nur mit Rechtsnderung abhelfen? Eine solche mischief
rule gilt, zumindest als Interpretationsmaxime, im Common Law
noch heute. Sie erfordert, da man das Recht als System sieht,
nmlich als eine Gesamtheit von als konsistent praktizierten Problemlsungen, und fr gegebene Probleme eine von diesen auswhlt, bei der Interpretation von Gesetzen unterstellt, der Gesetzgeber habe so vorgehen wollen, oder schlielich als Richter eine auf
den Fall passende, generalisierbare Regel einfgt, wenn keine zu
finden ist. In diesem Sinne motiviert das geltende Recht selbst zur
Innovation, aber auch zur Ablehnung von Innovationen im Interesse der Erhaltung von Stabilitt = Konsistenz = Gerechtigkeit.
Jedenfalls kann Rechtsevolution, die in dieser Weise vor sich geht,
weder als blind noch als schlicht intentional begriffen werden ,
aber erst recht nicht als Punkt-fr-Punkt-Reaktion auf Auenanste. Die Evolution operiert zirkulr, indem sie teils mit Variation
auf Auenanste reagiert und teils die Stabilisierung zur Motivierung von Innovationen wiederverwendet:
80
81
Variation
Selektion
Stabilisierung i
277
erlaubt es, die Frage nach evolutionren Vernderungen der Bedingungen fr Rechtsevolution zu stellen. Vor allem ist zu bemerken,
da die Einrichtungen zur Stabilisierung oder Restabilisierung des
Rechts selbst dynamisch geworden sind und ihrerseits die Variation
des Rechts betreiben. Das Recht wartet nicht mehr darauf, da die
Leute sich streiten, um dann eine gerechte, mit dem Recht bereinstimmende Lsung zu finden. Sondern es produziert selbst durch
regulatorischen Eingriff ins tgliche Leben die Situationen, die dann
Anla zu Konflikten werden. Es betreibt - sich selbst.
Konkret drften die Anlsse dieser Formvernderung von Evolution vor allem im massiven Wirksamwerden von Gesetzgebung im
19. und 20. Jahrhundert zu suchen sein. Das steht in engem Zusammenhang mit der Demokratisierung des politischen Systems und
der verfassungsmigen Kanalisierung des politischen Einflusses
auf die Gesetzgebung. Die Politik lst im Rechtssystem einen prasselnden Einschlag riesiger Mengen von immer neuen Direktiven
aus, die aufgenommen, verstanden und verarbeitet sein wollen.
Zwar wird jeweils im Verfahren fachkompetent geprft, ob die politischen Wnsche sich mit Hilfe des geltenden Rechts erfllen
lassen oder dessen nderung voraussetzen. Insofern ist das Rechtssystem nach wie vor als System im Spiel, und insofern wirkt nach
wie vor als Variation nur das, was das System als Irritation wahrnehmen und wofr es dann eine Form suchen kann. Aber der
Variationsmechanismus selbst hat sich gendert. Das Rauschen
der Politik wird zu einem weiteren, heute wohl schon vorherrschenden Variationsanla. Es sind nicht mehr nur aufgetretene
Konflikte, die das Recht variieren und gegebenenfalls Anla geben,
neue Regeln zu bevorzugen: sondern die Politik verfolgt eigene
Ziele und schafft dadurch erst die Differenzen, die gegebenenfalls
zum Konflikt werden knnen. Wenn ein Staat verlangt, da bei der
Einreise bestimmte Formulare ausgefllt und, wie in den USA, Fragen nach der eigenen Rasse beantwortet werden, ist das nicht die
Lsung eines Konfliktes, sondern die Schaffung einer ungnstigen
Position fr den, der es in dieser Frage zu einem Konflikt kommen
lassen will. Ohne die Norm gbe es gar keinen Konflikt. Der Varia.tionsmechanismus des Rechts wird durch selbsterzeugte Konflikte
zirkulr aufgeheizt, und die Norm selbst gibt schon an, wie der
Konflikt zu lsen ist.
Bei solchen Tatbestnden mu sich die Evolution des Rechts auf
278
Interpretation sttzen. Interpretation vollzieht einen Konsistenztest, indem sie prft, welches Verstndnis einer Norm in den
Kontext anderer Normen pat. Die Gesetze vertreten - anders als
die groen Kodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts - zumeist
gar kein Konsistenzinteresse mehr. Die Gerichtsbarkeit hat demgegenber grere Interpretationsfreiheiten durchgesetzt. Sie kann
angesichts der vorgegebenen Texte diese Freiheiten aber kaum zur
Wiedergewinnung von Konsistenz nutzen. Es gibt, und auch dies
zeigt die aufgerissene Kluft an, eine umfangreiche Diskussion ber
Methoden der Gesetzesinterpretation , die aber fr die Begrndung von Einzelfallentscheidungen kaum Bedeutung gewonnen
hat. (Weshalb sollten die Gerichte sich mit ihren Entscheidungen
zugleich auf eine bestimmte Methode festlegen?) Der Ausweg liegt
in einer hheren Ambiguittstoleranz, in einer Aufweichung der
traditionellen Dogmatik, in unbestimmten Rechtsbegriffen und in
Abwgungsformeln, mit denen die Gerichte geeignet erscheinende
ad hoc Lsungen, aber eben nicht eine durchgehend konsistente
Rechtspraxis erreichen knnen. Und der Gesetzgeber bernimmt
solche Formeln, weil er selber nicht erkennen kann, unter welchen
Einschrnkungen Konsistenz trotz neuer Normen gewahrt bleiben
knnte.
82
279
Als Resultat dieser Evolution gibt es fr das Rechtssystem - Moralphilosophen mgen darber anders urteilen - nur noch positives
Recht. Das heit: nur noch Recht, das vom Rechtssystem selbst
durch Verfgung ber das Symbol der Rechtsgeltung in Geltung
gesetzt ist. Das gilt ganz unabhngig von der konkreten Ausgestaltung rechtlicher Traditionen. Es gilt fr das kontinentale Zivilrecht
ebenso wie fr das englische Common Law; und es gilt auch unabhngig von dem Ausma, in dem der Gesetzgeber ttig wird, um
neues Recht zu schaffen oder altes zu kodifizieren. Es zeigt sich im
Common Law zum Beispiel an der Festigung der PrzedentienBindung im 19. Jahrhundert, also auch dort, wo der von Bentham
und Austin empfohlene Gesetzespositivismus sich nicht durchsetzen kann. Es ist unbestritten, da das geltende Recht nicht als
logisch geschlossenes System begriffen werden kann, denn kein logisches System kann seine eigene Widerspruchsfreiheit begrnden.
Aber die Antwort auf dieses Unvollstndigkeitsproblem liegt nicht
in einer externen Geltungsgarantie, sondern in der laufenden Pro85
84 Die bereits (in Kap. 4, IV) diskutierte Neigung, Entscheidungsgrnde in den Folgen
von Entscheidungen zu suchen, die im Zeitpunkt der Entscheidung noch gar nicht
bekannt sein knnen, sondern irgendwie eingeschtzt werden mssen, ist ein deut.licher Beleg fr diese Tendenz zur Fehlerfreundlichkeit. Es macht im Hinblick
auf Rechtskraft keinen Unterschied, ob die Folgeneinschtzung fehlerhaft ist oder
nicht. Vgl. auch das Urteil ber die so scheinprzise konomische Analyse des
Rechts bei Anthony D'Amato, Can A n y Legal Theory Constrain A n y Judicial
Decision, University of Miami Law Review 43 (1989), S. $ 1 3 - 5 3 9 .
85 Zu dieser englischen Entwicklung im 1 8 . / 1 9 . Jahrhundert siehe die Beitrge von
Gerald J. Postema und Jim Evans in: Laurence Goldstein (Hrsg.), Precedent in
L a w , Oxford 1987.
280
IV
Der umfangreiche vorangegangene Abschnitt, der die Evolution des
Rechts zu einer systemisch-operativen Geschlossenheit dargestellt
hat, bedarf in einer wichtigen Hinsicht einer Korrektur. Es kann bei
der These bleiben, da das Recht aus sich selbst heraus evoluiert
und da die gesellschaftliche Umwelt Zufallsanste beisteuert, die
Variationen und eventuell innovative Selektionen auslsen. Responsivitt in bezug auf Umwelt zeigt sich dann im wesentlichen in
einzelnen Rechtsinstituten, etwa in den strafrechtlich registrierten
Empfindlichkeiten oder in den zivilrechtlichen Formen, die bevorzugt mit Klagemglichkeiten ausgestattet werden, oder schlielich,
parallel zur Entwicklung des modernen Territorialstaates, in der
Entstehung eines (von Zivilrecht und Naturrecht zunchst kaum
unterscheidbaren) ffentlichen Rechts, das im modernen Verfassungsrecht seinen Kulminationspunkt findet. Aber gibt es nicht
auch gesellschaftliche Bedingungen, die ber eine solche SpeziesVielfalt des Rechts hinaus entscheidend dafr sind, da ein Rechtssystem sich berhaupt operativ schlieen und eigene Strukturen mit
ausschlielich eigenen Operationen spezifizieren und bei intern erkennbaren Anlssen ndern kann?
Wir vermuten, da das Hobbes-Problem der Omniprsenz physischer Gewalt eine solche Bedingung darstellt. Positiv formuliert
heit das, da das Recht gesicherten Frieden voraussetzen mu,
wenn es mehr leisten soll als die bloe Konditionierung physischer
Gewalt. Und das verweist auf die Abhngigkeit der Evolution des
Rechts von der parallellaufenden Evolution eines politischen Systems, das mit einer Art primrer Enteignung der Gesellschaft die
Disposition ber das Machtmittel physischer Gewalt entzieht und
281
86
86 Siehe dazu im Kontext einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975.
87 So vor allem Berman a.a.O. (1991).
282
88
knnen. Dann kann das Problem der strukturellen Kopplung spezifiziert und eingeschrnkt werden auf das Verhltnis von Politik
und Recht - sei es, da man diese Funktionssysteme als in der
Spitze konvergierende Einheit begreift, sei es, da man sie durch die
Sonderinstitution der Verfassung koppelt. Die Evolution sucht,
knnte man sagen, Lsungen fr das Problem der strukturellen
Kopplung des Rechtssystems, die dessen Evolution nicht behindern; oder was auf dasselbe hinausluft: die einen Aufbau rechtseigener Komplexitt durch eine Sonderevolution des Rechtssystems
ermglichen.
89
90
283
Aber mit einer im Laufe des 17. Jahrhunderts durchgesetzten Normalpazifizierung der Territorien erweist sich auch dieses Reservatrecht, ohne Proze zu verurteilen, als berflssig - jedenfalls
solange der Rechtsfriede hlt.
Darf man sagen, da im Zuge der Ausdifferenzierung eines selbst
evoluierenden Rechtssystems das Recht seinen Frieden mit der Gewalt bricht? Jedenfalls wird nun das auf sich selbst verwiesene
Recht als paradox sichtbar - und auch so formuliert. Eine externe
Referenz - die auf die faktisch dominierende Gewalt - mu gekappt
und durch Selbstreferenz ersetzt werden, die sich dann auf andere
Weise mit der Umwelt, und jetzt heit das: mit dem Zentralwillen
des politischen Machthabers, zu arrangieren hat.
Seit dem 11. Jahrhundert entwickelt sich in Europa auf der Textgrundlage des rmischen Rechts ein vom Strafrecht getrenntes
Zivilrecht, das zunchst in kanonisches Recht und weltliches Zivilrecht mit entsprechenden Gerichtsbarkeiten aufgeteilt wird. Auch
in diesem Bereich mu der unmittelbare Zugriff dessen, der sich in
seinen Rechten verletzt fhlt, auf eigene Gewalt blockiert werden.
Seine Gewalt mu, anders knnte sich keine Rechtskultur entfalten,
durch Zugang zu Gerichtsverfahren abgefunden werden - eine Ablsung, die natrlich nur berzeugt, wenn die Gerichtsurteile auch
vollstreckt werden knnen und die Urteilsfindung nicht durch Vorausblick auf die Machtlage verzerrt wird. Auch hier ist, will man die
evolutionre Unwahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung erkennen, eine Merkwrdigkeit zu notieren: Das Recht mu Verste
gegen das Recht selbst feststellen und eliminieren knnen. Es mu
den Machttest, durch den es seine Anpassung an die Umwelt gesichert hatte, ersetzen durch selbstgeregelte Beweisverfahren - eine in
das System bernommene Paradoxie der Feststellung von Unrecht
nach den Regeln des Rechts. Die Paradoxie der Einheit des binren
91
92
91 Qu'il n y a ren si iuste qui ne puisse avoir son opposite aussi iuste, heit es bei
Ayrault a.a.O. (1598), S. 91 ff. Beispiel: Vater- oder Muttermord am Fall von Orest.
Die Auflsung der Paradoxie erfolgt dann rein juristisch ber das Regel/Ausnahme-Schema. Man mu hier im brigen bercksichtigen, da der Kult paradoxer
Formulierungen in der Rhetorik der Sptrenaissance blich ist und nicht als ein
Erkenntnisfehler gesehen wird, sondern als Aufforderung zu weiterem Nachdenken. Vgl. mit viel Material Rosalie L. Colie, Paradoxia Epidemica: The Renaissance
Tradition of Paradox, Princeton 1966.
92 Hierzu ausfhrlich Berman a.a.O. (1991).
284
Codes Recht/Unrecht mu nicht gdelisiert, nicht durch Externalisierung aufgelst, sie mu rechtsintern entfaltet werden.
Die Lsungen sind uns so vertraut, da das Problem kaum noch
erkennbar ist. Noch in der frhen Neuzeit war jedoch (zum Beispiel aus Anla der Bauernkriege von 1525 und Luthers Reaktion
darauf) dieser Zusammenhang von funktionierender/nichtfunktionierender Gerichtsbarkeit und gewaltsamer Rechtssuche durchaus
gegenwrtig. Heute kann man das Problem an der verbleibenden
Anomalie des Notwehr-/Notstandsrechts wiedererkennen. Es bleiben Restflle, Grenzflle, in denen das Recht es unter rechtlich
geregelten Bedingungen erlaubt, gegen das Recht zu verstoen.
Und nicht zufllig sind dies Flle, in denen die Anwendung physischer Gewalt erlaubt und der rechtstypische Verweis auf ein Gerichtsverfahren ausgeschaltet wird. Immer wo Gewalt im Spiel ist,
erscheint auch die Paradoxie der rechtlichen Codierung - aber in
einer Form, die sogleich rechtsintern entfaltet, durch Konditionierungen geregelt und damit als Paradoxie invisibilisiert wird.
Rckbersetzt in die Sprache der Evolutionstheorie besttigt diese
Analyse den Zusammenhang von Autopoiesis und struktureller
Kopplung als Voraussetzung jeder Evolution. Evolution kann nur
die Autopoiesis der Systeme benutzen, die sie voraussetzen mu.
Innerhalb der klassischen evolutionstheoretischen Unterscheidungen Variation/Selektion/Restabilisierung sind deshalb zirkulre
Formulierungen unvermeidlich, und Umweltanste erscheinen als
Zuflle, die ein bereits evoluierendes System betreffen und von ihm
in gerichtete Entwicklung umgearbeitet werden. Fhrt man zustzlich den Begriff der strukturellen Kopplung ein (auf den wir in
einem spteren Kapitel systematisch zurckkommen werden), lt
sich auerdem noch beschreiben, durch welche Formen die Zuflle kanalisiert werden, die im System als Irritationen bemerkt
und als Probleme mit systemadquaten (autopoietisch funktionierenden) Problemlsungen versorgt werden knnen. Fr die Evolution des Rechts scheint das Problem der physischen Gewalt diese
kritische, Evolution ermglichende oder blockierende Funktion zu
erfllen.
93
93 Vgl. Winfried Schulze, Buerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frhen Neuzeit, Stuttgart 1980.
285
V
Die vorstehenden berlegungen haben noch keine Lsung angeboten fr ein Problem, das in den evolutionstheoretischen Diskussionen eine betrchtliche Rolle gespielt hat, nmlich fr die Frage, ob
sich im Aufbau und Abbau von Strukturen durch Evolution bestimmte Muster zeigen oder ob es vllig beliebig zugeht. Diese
Frage war mit dem Begriff des Fortschritts beantwortet gewesen.
Sie stellt sich neu, wenn man auf die Bewertung von Evolution als
Fortschritt verzichtet. Denn dann steht man vor der Notwendigkeit, eine Nachfolgebegrifflichkeit anzubieten oder die Evolutionstheorie vllig abzukoppeln von jeder Beschreibung der durch
Evolution entstehenden Ordnung.
Dem Vorbild Darwins folgend, begngt man sich oft damit, evolutionstheoretisch zu erklren, wie die Gesellschaft es berhaupt zu
einer so hochentwickelten, differenzierten Rechtskultur gebracht
hat. Dabei werden die evolutionr entstandenen Institutionen
(Eigentum, Vertrag, Rechtsfhigkeit von Korporationen, subjektive
Rechte, gerichtliche Verfahrensformen usw.) als gegeben vorausgesetzt und nicht weiter analysiert. Die Evolutionstheorie gibt dann
eine Erklrung dafr, da so unwahrscheinliche Errungenschaften,
so weitreichende Abweichungen vom Ausgangszustand, berhaupt
mglich geworden sind und als normal praktiziert werden knnen.
Zugleich impliziert eine solche Erklrung die Folgerung, da es
ohne Evolution nicht geht und da alle Intentionen auf Planung
und Verbesserung des Rechts zu dessen Evolution zwar beitragen,
aber das Resultat nicht entscheidend (und wenn, dann eher in einem
destruktiven Sinne) bestimmen knnen.
94
Theorien, die mehr zu sagen versuchen, haben oft deutlich fortschrittshnlichen Charakter. Oft dient das Evolutionsargument
auch zur Tarnung einer ohnehin akzeptierten Theorieprferenz.
Man beweist die Theorie dadurch, da man behauptet, da die ihr
entsprechenden Strukturen von der Evolution begnstigt, durch sie
gefrdert worden seien. So Ronald Heiner fr Lsungen des Problems unvollstndiger Information. So Robert Clark fr die Auffas95
286
sung, da die Evolution Einrichtungen frdere, die Transaktionskosten und andere Kosten ersparen.' Dabei treten jedoch viele
altbekannte Probleme auf (und vielleicht deshalb sucht die konomische Evolutionstheorie des Rechts heute Untersttzung bei der
Soziobiologie), vor allem die Tatsache, da die Beteiligten gar nicht
im vorgesehenen Sinne kalkulieren und man nicht recht wei, wie
sich in ihren Kpfen quantitative Schlufolgerungen bilden , und
ferner all das, was mit der Unbekanntheit der Zukunft und den
unvermeidlichen sozialen Kosten jeder Zeitbindung zusammenhngt.
6
97
98
96 Siehe Robert C. Clark, The Interdisciplinary Study of Legal Evolution, Yale Law
Journal 90 (1981), S. 1 2 3 8 - 1 2 7 4 . Im einzelnen ist dann auch innerhalb dieser konomischen Analyse des Rechts vieles, unter anderem auch die genaue Formulierung
des Auswahlprinzips strittig. Vgl. auch die Beitrge von Paul H. Rubin, Why Is the
Common Law Efficient, Journal of Legal Studies 6(1977), S.65-83 und Jack Hirshieifer, Evolutionary Models in Economics and L a w : Cooperative versus Conflict
Strategies, Research in L a w and Economics 4 (1982), S. 1-60, die zwar in der Frage
des Erfolgs-Kriteriums nicht weiterfhren, aber zustzlich zu den Vorteilen konomischer Kooperation auch die Vorteile des Betreibens von Rechtsstreitigkeiten in
Rechnung stellen im Hinblick darauf, da das Bekmpfen ineffizienter Regeln sich
konomisch lohnen mu.
97 Vgl. z . B . Jean Lave, Cognition in Practice: Mind, Mathematics and Culture in
Everyday Life, Cambridge Engl. 1988.
98 Diese Argumente sind nicht als Widerlegung gemeint, sie fordern lediglich zu grerer Genauigkeit im empirischen Beweisangebot und zu einer deutlicheren evolutionstheoretischen Argumentation auf.
99 Ein anderer Vergleichsgesichtspunkt wre: da die systemtheoretische Analyse des
Rechts besser als die konomische Analyse Rckschlsse auf sich selber (Autologien) erzeugen und verkraften kann.
287
des Rechtssystems kann hier als Beleg dienen, die ungewollt ausgelste Entstehung hherer Komplexitt, und das Resultat ist vor
allem, da man im Recht selbst ber Komplexitt zu klagen und
nach Abhilfen zu suchen beginnt. Die Evolution beginnt, auf ihr
eigenes Resultat zu reagieren. Aber hat das irgendeinen hheren
Sinn - auer da es eben so geschieht? Realisiert sich auf diese
Weise Zivilisation, wie das 18. Jahrhundert durchgngig meint,
oder sogar Geist ?
Es wird heute kaum noch behauptet, da Komplexitt als solche die
Anpassungschancen eines Systems verbessere. Fr eine solche Hypothese mte man Zusatzargumente finden, die auch der Selbstgefhrdung durch Komplexitt Rechnung tragen. Wir begngen uns
mit dem unbestreitbaren Faktum der Ermglichung hherer Komplexitt, und unbestreitbar ist ja wohl, da das Recht der modernen
Gesellschaft trotz aller neu entwickelten Abstraktionen, Generalisierungen, Vereinfachungen sehr viel komplexer ist als das Recht
lterer Gesellschaftsformationen.
Es ist nur eine andere Version dieses Sachverhaltes, wenn man sagt,
da die Evolution, solange es geht, Unwahrscheinlichkeiten normalisiere - Unwahrscheinlichkeiten begriffen als Grad der Abweichung von einem Ausgangszustand. Mit derartigen Aussagen ist
jedoch nicht viel mehr gewonnen als eine Fragestellung fr weitere
Forschungen, die zu klren htten, wie ein System seine eigenen
Einrichtungen an zunehmende Komplexitt anpat; oder in anderen Worten: wie sich Komplexitt als Selektionsdruck auswirkt und
dafr geeignete, komplexittsadquate Strukturen erzeugt - oder
eben weitere Evolution verhindert.
100
Operative Schlieung des Systems und umweltindifferente Codierung sind die primren Antworten auf diese Frage. Die Umwelt
wird ausgeschlossen - es sei denn, da das System selbst sie nach
Magabe seiner eigenen Informationsverarbeitungsmglichkeiten
fr beachtlich hlt. Dazu mu das System die Fhigkeit entwickeln,
i o o Man kann dies, gegen einen zu erwartenden Protest der Statistiker, auch als Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen bezeichnen. D a s besagt nichts weiter, als
da es, sprachlich gesehen, extrem unwahrscheinlich ist, da ein bestimmter Satz
gesprochen wird, und zugleich, da diese Unwahrscheinlichkeit vllig normal ist,
nmlich ein Merkmal eines jeden Satzes, der gesprochen wird. Eben deshalb kann
das Zustandekommen von Sprache nur evolutionr erklrt werden.
288
102
103
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108
107 Wir merken aber an, da die moderne Form des subjektiven Rechts nur einen
Teil dieser Personalisierung abbildet. Denn es geht wesentlich auch darum, da
Ansprche wegen Verletzung von Rechten oder wegen sonstigen unerlaubten
Handelns nur an Personen und nicht an Gruppen oder soziale Bedingungszusammenhnge irgendwelcher Art adressiert werden knnen. Zu Anfngen, die mit der
Auflsung der Clan-Strukturen des Feudalsystems, aber auch mit dem Widerstand der Kirche gegen eine sich abzeichnende politische Theokratie zusammenhngen und in England sich bereits im 1 2 . Jahrhundert abzeichnen, siehe Brian
Tierney, Religion and Rights: A Medieval Perspective, Journal of L a w and Religion 5 (1987), S. 1 6 3 - 1 6 5 . Ausfhrlicher ders., Religion, Law, and the Growth of
Constitutional Thought 1 1 5 0 - 1 6 5 0 , Cambridge Engl. 1982. Vgl. ferner Palmer
a.a.O. (1985).
108 Siehe auch K a p . 5, IV.
291
ebenso wie in anderen Funktionssystemen erweisen sich der Umweg ber die Vereinzelung von Personen und die semantischen
Korrelate des modernen Individualismus als Voraussetzung dafr,
da die Funktionssysteme Eigenkomplexitt aufbauen und die Entscheidung ber Inklusion/Exklusion in eigene Regie nehmen knnen.
Was im Rechtssystem evoluiert ist und im groen und ganzen zufriedenstellt, wenn man Hrten des Grundmusters ausgleicht, wird
zum Problem in dem Mae, als das politische System das Recht als
Regulierungsinstrument zu benutzen sucht. Politische Kompaktziele mssen dann aufgelst und in Formen dekomponiert werden,
die auf rechtsfhige Personen bezogen werden knnen. Vor allem
aber zeigt sich bei der Umsetzung kologischer Probleme und Regelungsziele in Umweltrecht, wie wenig die unausweichliche Personalisierung den Sachverhalten gerecht wird. Das liegt vor allem an
den Schwierigkeiten der Kausalzurechnung bei kologischen Auswirkungen gesellschaftlich bedingten Handelns, die es ausschlieen, wesentliche Effekte zu erreichen, wenn man alles ber
individuell motivierende Pflichten und Rechte leiten mu. Deshalb
wird zum Beispiel, ohne viel Erfolg, ber Popularklage im Interesse ffentlicher Interessen diskutiert, ohne da dem im materiellen
Recht abgrenzbare Positionen entsprechen wrden. Vor allem
dies Beispiel macht deutlich, wie sehr die Form der Personalisierung
ein Eigenprodukt der Rechtsevolution ist und nicht etwa durch die,
sei es innergesellschaftliche, sei es auergesellschaftliche Umwelt
diktiert war. Das entspricht unserer theoretischen Annahme, da
die Evolution autopoietischer Systeme eher dem Austesten des
Spielraums dient, den die Autopoiesis fr den Aufbau von komplexen Ordnungen freigibt, als der Anpassung des Systems an eine
gegebene Umwelt.
110
293
VI
Eine der schwierigsten Fragen bei einer historischen Betrachtung
des Rechts haben wir fr den Schlu dieses Kapitels aufgespart.
Kann man sagen, da infolge der evolutionr entstandenen Eigendynamik des Rechtssystems dessen gesellschaftliche Bedeutung und
vor allem dessen Gre zugenommen hat? Wenn man diese Frage
auf absolute Zahlen bezieht, ist dies selbstverstndlich der Fall. Es
gibt mehr Juristen und mehr Gesetze als frher (wenngleich in regional sehr unterschiedlicher Weise, wie man an einem Vergleich
von Japan und den USA leicht erkennen kann). Es gibt entsprechend einen immer noch wachsenden berdru, Klagen ber zu
viel rechtliche Regulierungen, die alle freien Initiativen strangulieren, Forderungen nach Deregulierung, auergerichtlichen Konfliktlsungen, Entbrokratisierung. Dem kann jedoch leicht entgegengehalten werden, da solche Hypertrophierungen, oder so
scheint es, in allen Funktionssystemen zu beobachten sind, vom
politischen System bis zum Erziehungssystem, von der wissenschaftlichen Forschung bis zum Geldmedium der Wirtschaft. Jrgen Habermas hat, in freilich etwas anderem Kontext, von Kolonisierung der Lebenswelt gesprochen. Mit anderen Worten: Die
Alltagsbedeutung der Funktionssysteme nimmt zu, und es gibt in
vielen Hinsichten Gegenbewegungen des Zurck zum natrlichen
Leben, die ihre Ziele jedoch kaum erreichen. Im allgemeinen entsteht daraus das paradoxe Phnomen, da Gegenbewegungen wiederum die Strukturmittel der Funktionssysteme in Anspruch
nehmen mssen, so als ob es gelte, Biopflanzen zu zchten. Verwaltungsvereinfachungen erfordern Prfvorschriften und Prfvorgnge, die die Verwaltung zustzlich belasten.
Der Eindruck des Zuviel lt sich oberflchlich besttigen, aber
das Problem liegt weniger in den absoluten Zahlen als in den Relationen. Da manche Ressourcen, vor allem natrlich Zeit, nur begrenzt zur Verfgung stehen, mte man feststellen knnen, ob das
Wachstum einzelner Funktionssysteme mehr Zeit, mehr Geld,
mehr natrliche Ressourcen, Energie, Motivation usw. in Anspruch
nimmt auf Kosten anderer Verwendungen. Das fhrt die empirische
111
in Siehe fr regionale Fallstudien etwa Vilhelm Aubert, Continuity and Development in L a w and Society, Oslo 1989.
294
Forschung in nahezu unlsbare Probleme. Denn wie soll man feststellen, welche anderen Verwendungen stattgefunden htten, wenn
die Ressourcen nicht durch die Hypertrophie des Rechts so stark
belastet worden wren? Vor allem ist es aber unrealistisch, bei einem
solchen Untersuchungsdesign von Summenkonstanzannahmen
auszugehen. Denn die Gesellschaft insgesamt hat an Gre und
Komplexitt zugenommen. Mit einer Zunahme gesellschaftlicher
Kommunikationsmglichkeiten wachsen auch die Mglichkeiten,
den Bedarf zu befriedigen.
Fr die bliche empirische Soziologie drfte es naheliegen, von der
Bevlkerungszahl auszugehen und zu prfen, ob die Zahl der Juristen bzw. der Rechtsvorflle (zum Beispiel Gesetze, Gerichtsprozesse) pro Kopf der Bevlkerung zugenommen hat." Auch das
fhrt in erhebliche Schwierigkeiten, da man die zu korrelierenden
Einheiten (wie umfangreich ist die Praxis eines Juristen, wie wichtig
ein Gesetz, wie komplex ein Gerichtsverfahren?) nur willkrlich
festlegen kann. Vor allem aber ist angesichts der Entwicklung kommunikativer Medien und Techniken die Bevlkerungszahl kein
relevanter Indikator. Es kme auf die Zahl kommunikativer Einheiten an, und auch hier wre es so gut wie sinnlos, diese rein
quantitativ und ohne Rcksicht auf Qualitt und Folgen abzuschtzen. Selbst wenn der Eindruck vorherrscht, da das Rechtssystem
geradezu explosionsartig gewachsen ist und sich in immer mehr
Lebensgebiete hineinfrit, die frher durch Gewohnheiten, Alternativenmangel, Sozialisation, soziale Kontrolle usw. bestimmt waren, selbst dann gibt es kaum Mglichkeiten, diesen Eindruck als
wissenschaftliche Hypothese zu verifizieren.
Das sollte ein Anla sein, beim gegebenen Forschungsstand auf
Aussagen, die sich auf die Einheit des Rechtssystems beziehen, im
Kontext evolutionrer Vernderungen zu verzichten. Man kann gewi feststellen, da sich in der Evolution des Rechtssystems Strukturen ndern, da neue evolutionre Errungenschaften ausgebildet
werden, vielleicht auch, da die Erwartungen an die Juridifizierung
von Sachverhalten sich verndern, da zum Beispiel mit verbesserten Verfahrens- und Beweistechniken Formalismen abgebaut und
2
95
innere Tatbestnde (Motive usw.) rechtlich relevant werden knnen. In diesem Sinne ist auch die These von Friedman zu verstehen, da sich die Erwartungen an Gerechtigkeit im Sinne einer
Schicksalsausgleichsfunktion verschieben. Noch strker verallgemeinernd wird man auch sagen knnen, da eine volle Ausdifferenzierung des Rechtssystems zur Universalisierung des eigenen
Codes fhrt und keine Sachverhalte mehr kennt, die aus der Natur
der Sache (etwa: als familieninterne Angelegenheiten) fr rechtliche
Regelung nicht in Betracht kommen. Was rechtlich geregelt wird
und was nicht und welche Arten von Regelungen in Geltung gesetzt
werden, ist jetzt allein Sache des Rechtssystems selbst; und dasselbe
gilt mutatis mutandis fr andere ausdifferenzierte Funktionssysteme. Beschrnkungen sind nur noch als Selbstlimitierungen realisierbar. Aber all diese Aussagen sind und bleiben Aussagen ber die
Strukturen des Systems und deren Variation. Sie lassen keine Rckschlsse auf die Zu- oder Abnahme der gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts zu. Auch im abschlieenden Kapitel, das sich
diesen Fragen nochmals zuwenden wird , werden wir nicht zu
Prognosen kommen. Der Evolutionsbegriff selbst schliet Prognosen aus.
113
114
115
1 1 3 A.a.O. (198$).
1 1 4 Der Kuriositt halber und im Sinne feministischer Interessen sei angemerkt, da
noch vor hundert Jahren eine Gesellschaft, die Recht zur Beschrnkung der hausherrlichen Gewalt einzusetzen versuchte, als Sklavengesellschaft charakterisiert
werden konnte, jedenfalls in Spanien. El pueblo en que el jefe de familia no puede
arreglar sus asuntos domsticos sin pedir permiso al juez, o sin consultar de continuo la ley, es un pueblo esclavo... Qu sacaremos de ser reyes en el Parlamento si
no podemos reinar en nuestra casa? liest man bei Flix M. de Falguera, Idea
general del derecho cataln: Su espritu y principios que lo informan, in: Conferencias de derecho cataln, Barcelona i883,.zit. nach Juan B. Vallet de Goytisolo,
Estudios sobre Fuentes del Derecho y Mtodo Jurdico, Madrid 1982, S. 5 1 .
1 1 5 Siehe Kapitel 1 2 , insb. Abschnitt V.
296
Kapitel 7
i Vgl. fr eine historische Fallanalyse Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen
Systems wissenschaftlicher Disziplinen: Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt 1984.
297
Von diesen Vorgaben ausgehend fragen wir nach den Formen interner Differenzierung des Rechtssystems. Diese Frage ist nicht mit
dem Hinweis auf unterschiedliche Rechtsgebiete und auf den historischen Wandel der entsprechenden Unterscheidungen zu beantworten. Es geht also nicht um Unterschiede wie ffentliches Recht
und Privatrecht, Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht, Sachenrecht und Schuldrecht und erst recht nicht um prinzipielle Einteilungen des Rechtsstoffes, etwa mit dem rmisch-rechtlichen
Schema persona/res/actio. Semantische Einteilungen dieser Art
werden sich nicht unabhngig vom Komplexittsniveau des Systems entwickeln; aber sie geben noch keinen Aufschlu ber die
operativen Systembildungen im Rechtssystem.
Auch folgen wir nicht der blichen Einteilung in Gesetzesrecht und
Richterrecht. Diese Unterscheidung ist, ihrer Form nach, durch die
Theorie des positiven Rechts bestimmt und stellt zur Diskussion,
ob man von einer oder von mehreren Rechtsquellen auszugehen
habe. Man kann darber diskutieren, aber eine Entscheidung ist
ohne Rckgriff auf abstraktere theoretische Grundlagen nicht ab2 Das betont (aber eine andere Auffassung ist wohl nie vertreten worden) Karl Otto
Hondrich, Die andere Seite sozialer Differenzierung, in: Hans Haferkamp / Michael
Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung: Beitrge zu
Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1987, S. 275-303.
298
zusehen; und man darf vermuten, da eine theoretische Abstraktion eher die Fragestellung relativieren wird als in der Rechtsquellenfrage weiterzuhelfen. Differenzierungstheoretisch geht es uns
auch, und sogar in erster Linie, um die Stellung der Gerichte als
einem ausdifferenzierten Teilsystem des Rechtssystems. Aber die
Frage wird dann sein, welche Form der Differenzierung sich einem
Rechtssystem aufdrngt, wenn es Gerichte ausdifferenziert.
II
Einen ersten Anhaltspunkt gewinnen wir mit der fr die Selbstbeschreibung des Systems prominenten Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Dies liegt besonders deshalb nahe,
weil sie in der alteuropischen Tradition explizit mit Ausdifferenzierung gerechtfertigt worden war. Aristoteles hatte in einer im
Mittelalter wieder aufgegriffenen Textstelle das Problem in der
Unabhngigkeit der Rechtsprechung von verwandtschaftlichen und
freundschaftlichen Bindungen des Richters gesehen, in der Unabhngigkeit also von der segmentaren Differenzierung in einer schon
schichtmig und nach Stadt/Land differenzierten Gesellschaft.
Die Lsung lag fr Aristoteles in der Eigendifferenzierung der
Rechtspflege nach Gesetzgebung und Rechtsprechung. Denn der
Gesetzgeber msse allgemeine Normen vorgeben, deren Auswirkungen auf Freunde und Feinde, Nahestehende und Fernerstehende er wegen der Allgemeinheit der Normen und der Unbestimmtheit knftiger Anwendungsflle schwer berblicken knne.
Es genge dann, den Richter an das Gesetz zu binden, um ihn daran
zu hindern, Freunde zu begnstigen und Feinde zu benachteiligen.
Nichts anderes sollte auch die Formel ohne Ansehen der Person
besagen.
3
299
4 Siehe z. B. Pietro Costa, Iurisdictio: Semntica del potere politico nella pubblicistica
medievale (i 100-1433), Milano 1969; Brian Tierney, Religion, Law, and the Growth
of Constitutional Thought 11 $0-1650, Cambridge Engl. 1982, S. 30ff.; Edward Powell, Kingship, Law and Society: Criminal Justice in the Reign of Henry V., Oxford
1989.
5 Siehe hierzu den globalen berblick von Shmuel N. Eisenstadt, The Political System
of Empires, N e w York 1963.
6 Zur Kritik kommt es erst auf Grund der Neukonzipierung der Souvernitt des
Staates. So mit besonderer Schrfe der Jurist C . L . P . (Charles Loyseau, Parisien),
Discours de I'abus des iustices de village, Paris 1603.
7 Vgl. Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Regime,
Ius Commune 4 (1972), S. 188-239; Michael Stolleis, Condere leges et interpretan:
Gesetzgebungsmacht und Staatsbildung in der frhen Neuzeit, in ders., Staat und
Staatsrson in der frhen Neuzeit: Studien zur Geschichte des ffentlichen Rechts,
Frankfurt 1990, S. 167-196. Als einen zeitgenssischen Beleg siehe etwa die Zusammenfassung von promulgatio, interpretado und executio der Gesetze als Komponenten des ius majestatis bei Johannes Althusius, Politica methodice digesta (1614), Cap.
X, Nachdruck der Harvard Political Classics B d . II, Cambridge Mass. 1932,
S. ff.
9 4
300
Zunchst wird also die gleichsam unitarische Vorstellung von Verantwortung fr das Recht nur neu bestimmt. Die politischen Verschiebungen auf dem Weg vom Stndestaat zum absolutistisch
regierten Staat erzeugen terminologische Variationen und nutzen
sie fr ein allmhliches Aushhlen alter Mitwirkungsrechte. Erst im
18. Jahrhundert ndert sich dies durchgreifend, und erst jetzt gewinnt die Differenzierung von Gesetzgebung und Rechtsprechung
die heute gelufige Prominenz. Im Zusammenhang mit ausgeprgten Interessen an Rechtsreformen hat vor allem Jeremy Bentham
eine deutliche Trennung von Gesetzgebung und Rechtsprechung
gefordert, ohne damit allerdings wirklich ins Common Law einbrechen zu knnen. Der zusammenfassende Kompetenzbegriff der
iurisdictio wird ersatzlos gestrichen. Man denkt jetzt, was immer
die Begrndungsfiguren der Natur oder der Vernunft noch besagen
mgen, konsequent vom positiven Recht her; und rckblickend gesehen hat man den Eindruck, als ob das Risiko der Entscheidungsabhngigkeit allen Rechts auf zwei Instanzen verteilt und damit
ertrglich gestaltet werden sollte. Nicht die Ausdifferenzierung,
sondern die Kontingenz des bereits ausdifferenzierten Systems ist
9
8 Zu diesem auch rfr lgislatif genannten recourir au Prince fr den Fall, da die
Interpretation keine klaren Ergebnisse ergibt, vgl. an prominenter Stelle Jean Domat,
Les loix civiles dans leur ordre naturel, 2. Aufl. Paris 1697, Bd. 1, S. 25. Siehe ferner
den berblick ber europische Praxis im 17. und 18. Jahrhundert bei Mohnhaupt
a.a.O. (1972), S. 220 ff.
9 Siehe dazu unter Einbeziehung nichtpublizierter Quellen Gerald J. Postema, Bentham and the Common Law Tradition, Oxford 1986, insb. S. 191 ff.; David Lieberman, The Province of Legislation Determined : Legal Theory in Eighteenth-Century
Britain, Cambridge Engl. 1989.
301
io Vgl. Regina Ogorek, De PEsprit des legendes, oder wie gewissermaen aus dem
302
aber zugleich ist verstndlich, da man die neue Schrfe der Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung nur mit Hilfe
eines korrespondierenden Einheitskonzepts wahrnehmen und
empfehlen konnte. Deshalb betonte man das Recht als System im
Sinne einer aus einem Prinzip konstruierbaren Mannigfaltigkeit,
deshalb die Methode als keine Abweichung tolerierende Deduktion. Deshalb fordert man das sogenannte rfr lgislatif als Behelf
fr Flle, in denen (wie man meinte: ausnahmsweise) Interpretationsprobleme auftreten, und deshalb sah man auch keine Schwierigkeiten, das Rechtssystem genau parallel zu (oder gar: identisch
mit) der politischen Ordnung zu konzipieren.
Die Realitt hat diese monistische Konzeption von Differenzierung
jedoch rasch widerlegt. Allenfalls im Stil der Entscheidungsbegrndung hchster Gerichte kann man Nachwirkungen dieser hierarchischen Auffassung von Gewaltenteilung noch erkennen - so
vor allem in Frankreich. Die Interpretation von Gesetzen und die
damit zu konzedierenden Eigenwilligkeiten knnen den Gerichten
nicht entzogen werden. Die Bindung an das Gesetz wird selbst
zum Gegenstand richterlicher Interpretation. Die Gerichte haben
zu entscheiden, wie weit sie Flle ber Interpretation lsen knnen
und wie weit sie Rechtsnderungen durch den Gesetzgeber fordern
mssen, wenn die Problemlsungen nicht befriedigen. Und erst
diese Auffassung der richterlichen Aufgabe macht es mglich, das
Verbot der Justizverweigerung zu normieren und zu verlangen, da
die Gerichte alle ihnen vorgelegten Flle selbst zu entscheiden haben.
11
12
33
zu einer anderen Differenzierungsform ersetzt htte. Die Interpretationsvollmachten des Richters im Verhltnis zum Gesetzgeber
werden ausgeweitet - nicht zuletzt als Folge des Altwerdens der
groen Kodifikationen. Zunehmend beschftigen auch Probleme
der Vertragsauslegung (Interpretation des Willens der Vertragschlieenden) die Gerichte. Eine Mehrheit von Methoden der Gesetzesauslegung wird diskutiert, und von strenger Deduktion ist immer
weniger die Rede. Der Richter findet sich unter der Doppelanforderung: jeden Einzelfall zu entscheiden und gerecht zu entscheiden,
was als mindestes heit: in den Einzelfllen Gleichheit walten zu
lassen, also dieselben Regeln anzuwenden. Dabei mu auch die Gesetzesauslegung mit ihren in der Judikatur selbst entwickelten
Regeln gerecht sein. Der Entscheidungszming und die mit ihm einhergehende, durch ihn produzierte Freiheit, nach Grnden fr eine
(wie immer fragwrdige) Entscheidung zu suchen, wird durch Gerechtigkeitsgesichtspunkte eingeschrnkt. Und diese Trias von
Zwang, Freiheit und Einschrnkung produziert Recht. Es entsteht
zugleich mit immer mehr Gesetzesrecht immer mehr Richterrecht.
Fr diese Entwicklung gibt es im 19. Jahrhundert zunchst die
Schutzhypothese, der Gesetzgeber habe rational gehandelt und
seine Texte seien entsprechend zu interpretieren. Das ermglicht
es, die Form der Hierarchie im Verhltnis von Gesetzgebung und
Rechtsprechung noch zu bewahren, zugleich aber den Richter
schon an der Textproduktion zu beteiligen. Der Akzent liegt auf der
Methode als Garantie der bereinstimmung von oben und unten.
Darauf folgen dogmatische Eselsbrcken anderer Art - vor allem
die Lehre von der Vollstndigkeit (Lckenlosigkeit) der Rechtsordnung in der Form einer ntzlichen Fiktion und die Unterscheidung von Buchstaben und Geist des Gesetzes mit der Funktion
einer noch verdeckten Freigabe richterlicher Rechtsbildung.
Schlielich kommt es, nachdem man sogar Topik und Rhetorik als
Methoden hatte gelten lassen, zu einer Kritik von zu stark auf Methoden setzenden Rechtstheorien. Es festigt sich die Auffassung
13
14
13 Vgl. Franois Ost / Michel van de Kerchove, Jalons pour une thorie critique du
droit, Bruxelles 1987, S. 35y ff. (siehe auch S. 97fr.).
14 Siehe (mit nur noch sehr vagen Abgrenzungsvorstellungen) Martin Kriele, Theorie
der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, Berlin 1967, 2. Aufl. 1976. Lesenswert insbesondere die Auseinandersetzung mit
304
16
Wie ist dieser Rckstand der Beschreibung gegenber den Verhltnissen zu erklren? Wir vermuten: da die besondere Stellung der
Gerichte im Rechtssystem nicht ausreichend begriffen worden ist
und wenden uns daher zunchst dieser Frage zu.
III
Zur Prominenz der Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung gehrt, da die Eigenart der Gerichtsttigkeit primr,
wenn nicht ausschlielich, innerhalb dieser Unterscheidung bestimmt wird. Es handelt sich, im Unterschied zur Gesetzgebung,
Larenz und der Versuch, Methodenbewutsein durch Entscheidungsverantwortung zu ersetzen. In Frankreich entspricht dem die Kritik an der cole de
Pexegese. Vgl. Julien Bonnecase, L'Ecole de l'exgse en droit civil, 2. Aufl. Paris
1924.
15 Siehe dazu den Streit um die Frage, ob Richterrecht eine eigene Rechtsquelle sei,
etwa Josef Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, Festschrift fr Fritz von Hippel, Tbingen 1967, S. 95-130 (ablehnend), oder Heinrich
Wilhelm Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, Tbingen 1971 (bejahend). Zum Problem der faktischen Verbreitung der Vorstellung,
es gebe ein besonderes Richterrecht siehe auch Eduard Picker, Richterrecht oder
Rechtsdogmatik - Alternativen der Rechtsgewinnung?, Juristenzeitung 43 (1988),
S. 1 - 1 2 , 62-75.
16 Vgl. Torstein Eckhoff, Feedback in Legal Reasoning and Rule Systems, Scandinavian Studies in L a w 1978, S. 3 9 - 5 1 ; Michel van de Kerchove / Franois Ost, a.a.O.
(1987), S. 205ff.; dies., Le systme juridique entre ordre et desordre, Paris 1988,
S. 102 ff.
35
um die Anwendung des Rechts durch Entscheidung von Einzelfllen. Wenn aus Anla solcher Entscheidungen allgemeine Entscheidungsregeln, Leitstze, Prinzipien, Rechtstheorien entwickelt
oder besttigt werden, geschieht das gleichsam mit linker Hand und
nur in Befolgung des Gesetzes, das gebietet, Entscheidungen zu
begrnden (313 ZPO). Kein Gericht darf selbst einen Proze beginnen, auch wenn die Kalamitten ringsum anwachsen. Damit ist
gesichert, da die Entscheidungsttigkeit des Gerichtes konkret
bleibt und die Entwicklung von Regeln nebenherluft. Obwohl
man durchaus sieht, da das Richterrecht in manchen Bereichen
viel bedeutsamer sein kann .als das Gesetzesrecht!
Mit Hilfe der Asymmetrie des Verhltnisses von Gesetzgebung und
Rechtsprechung und mit Hilfe zugeordneter Begriffsmittel, etwa
der Lehre von den Rechtsquellen, versucht man die Offenlegung
eines Zirkels zu vermeiden, der sich ergeben wrde, wenn man zugeben mte, da das Gericht das Recht selbst schafft, das es
anwendet. Vor allem dient die Stilisierung der Gerichtsentscheidung als Erkenntnis des Rechts - und selbst die Rechtsquellenlehre stellt die Rechtsquellen noch als Erkenntnisquellen dar -,
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der Asymmetrisierung eines Verhltnisses, das anderenfalls als zirkulr dargestellt werden mte. Aber der Zirkel wrde gar nicht
auftreten, wenn die Gerichte dort, wo sie kein Recht finden knnen, gar nicht entscheiden mten, sondern sich mit einem non
liquet begngen knnten. Das wird ihnen jedoch nicht erlaubt und zwar rechtlich nicht erlaubt. Der operativen Schlieung des
Systems, dem Abkoppeln von aller direkten Teilnahme an Umwelt,
entspricht systemintern die Notwendigkeit des Entscheidens. Der
Systemzustand kann nicht so hingenommen werden, wie er sich als
Weltzustand ergibt. Die Differenz System/Umwelt wird im System
als offenes Problem erfahren; und am Ende einer langen Erfahrung
mit dieser Zsur und nach der Entwicklung derjenigen Rechtseinrichtungen, die es ermglichen, damit umzugehen, setzt sich das
System selbst unter Entscheidungszwang.
Doch was ist das, was die Gerichte tun mssen: entscheiden?
Da Entscheiden als Verhalten jedermann vertraut ist und im brigen
die Gerichte ausdrcklich, ffentlich und, wenn man so sagen darf,
mit Wrde entscheiden, unterbleibt zumeist die Frage nach der
Eigenart dieses Vorgangs. Die entscheidungstheoretische Literatur
fhrt auch nicht sehr weit, da sie sich ganz berwiegend mit Fragen
der Rationalitt oder mit empirischen Fragen- des Entscheidungsprozesses (im Sinne einer Sequenz von Kleinstentscheidungen)
befat. Erst recht setzt die Literatur ber juristische Argumentation
voraus, da es um Begrndung oder Beeinfluung von Entscheidungen geht. Aber die Entscheidung selbst ist kein weiteres (finales?) Argument. Sondern was?
Es wrde den Rahmen einer Untersuchung des Rechtssystems
sprengen, wollte man hier eine ausgearbeitete Entscheidungstheorie
einfgen. Aber da die Gerichtsentscheidung eine Zentralstellung im
gesamten System hat, ist esdoch wichtig, zumindest ein gewisses
Verstndnis dafr zu gewinnen, da das System sich selbst an diesem Punkte zum Rtsel wird.
Sicher hat die Entscheidung es immer mit einer Alternative zu tun,
die aus mindestens zwei und oft mehr whlbaren Pfaden besteht,
die ihrerseits dann wieder Zustnde, Ereignisse, aber auch weitere
Entscheidungen enthalten mgen, die durch die Entscheidung erWarum ist der Richter eine Ausnahmefigur, whrend dasselbe Argument fr den
Gesetzgeber nicht gelten wrde?
37
mglicht werden, ohne sie also nicht realisiert werden wrden, aber
nur begrenzt voraussehbar und, wenn es um weitere Entscheidungen geht, prinzipiell unvoraussehbar sind. Die Entscheidung selbst
ist aber keine Komponente der ihr vorliegenden Alternative, kein
weiterer Pfad. Sie ist, mu man deshalb vermuten, das durch die
Alternativitt der Alternative ausgeschlossene Dritte. Sie ist die Differenz, die diese Alternativitt konstituiert; oder genauer: sie ist die
Einheit dieser Differenz. Also ein Paradox. Entscheidungen gibt es
nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur: Unentschiedenes!) vorliegt. Denn anderenfalls wre die Entscheidung
schon entschieden und mte nur noch erkannt werden.
Diese Paradoxie liegt im Sachverhltnis des ausgeschlossenen Dritten zur Alternative, die es konstruiert, um ausgeschlossen zu sein
(= entscheiden zu knnen) - so wie ein Beobachter nicht die Unterscheidung sein kann, mit deren Hilfe er etwas bezeichnet, sondern sich selbst als blinden Fleck seines Beobachtens ausschlieen
mu. Hinzukommt ein Zeitproblem. Schon allgemein gilt, da ein
System nur in dem Zeitpunkt existiert, in dem es operiert, und da
es dabei von einer mit diesem Zeitpunkt gleichzeitigen (was immer
auch heit: unkontrollierbaren) Welt ausgehen kann. Zeitliche
Extension ist nur dadurch mglich, da man die Gegenwart als
Unterscheidung, als Einheit der Differenz von Vergangenheit und
Zukunft einsetzt. Und sie eben damit zum blinden Fleck einer sich
ins Inaktuelle ausdehnenden Zeit macht. Weil dies mglich ist, kann
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Voraussetzung, es knne mit Recht ber Recht und Unrecht entschieden werden, ebenfalls eine Paradoxie ist und da die Einheit
des Systems berhaupt nur als Paradox beobachtet werden
kann.
Hier mag der Grund liegen, weshalb das System seine eigene Einheit nur mit Hilfe von Unterscheidungen in Operationen umsetzen
kann und da man Unterscheidungen wie Recht und Unrecht,
Normen und Fakten oder eben: Geltung (qua Entscheidung) und
Grnde (qua Argumentation) im System nicht auf ein Prinzip, einen Ursprung, eine Vernunft reduzieren kann. Das heit dann in
den Konsequenzen auch, da das System ber sein Geltungssymbol
nur in dieser mysterisen Form des Entscheidens disponieren kann;
und es heit ferner, da es zwar viele Entscheidungen freistellen
kann, aber auch die Mglichkeit bereitstellen mu, sich selbst zur
Entscheidung zu zwingen, wenn anders die Paradoxie von
Recht=Unrecht nicht gelst werden kann.
IV
Das bringt uns auf eine Spur, die tiefer fhrt und den bisherigen
Diskussionsstand unterminiert. Vertrge mssen nicht abgeschlossen, Gesetze mssen nicht erlassen werden (sofern die Verfassung
dies nicht im Einzelfall vorschreibt), aber Gerichte mssen jeden
ihnen vorgelegten Fall entscheiden. Man nennt die entsprechende
Norm - und die doppelte Negation in der Formulierung ist logisch
aufschlureich - Verbot der Justizverweigerung.
Whrend das rmische Recht und noch das mittelalterliche Recht
nur fr bestimmt definierte Klagen (actio, writ) Rechtsschutz gewhrte , ist es im bergang zur Neuzeit selbstverstndlich gewor24
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29
26 Der Text lautet: Le juge qui refusera de juger, sous prtexte du silence, de l'obscurit ou de l'insuffisance de la loi, pourra tre poursuivi comme coupable de dni
de justice. Die Rechtsfigur des dni de justice ist viel lter, bezog sich aber vordem
auf ein auergewhnliches Rechtsmittel gegen Prozeverzgerungen, denen auch
nach mehrmaliger Abmahnung nicht abgeholfen wurde. (Vgl. z. B, Pierre Ayrault,
Ordre, formalit et instruction judiciaire (1576), 2. Aufl. Paris 1598, S. 280.) Das
setzt die Vorstellung einer absoluten Rechtsoberhoheit (iurisdictio) des Monarchen
voraus und mute deshalb nach dem bergang zur konstitutionellen Gewaltenteilung reformuliert werden. Da dies explizit formuliert werden mute, war im
brigen der Anla, eine eng damit zusammenhngende Frage zu entscheiden, nmlich die Frage des rfr lgislatif in Fllen, in denen der Richter davon ausgehen
wollte, da ihm ein Problem vorlag, ber das im Gesetz noch nicht entschieden
war. In der Konsequenz des Verbots des deni de justice lag dann die Ablehnung des
rfr lgislatif. In Frankreich gilt dieser Text des Art. 4 Code civil denn auch als
positivrechtlicher Ausgangspunkt fr eine Diskussion von Rechtsquellen- und Interpretationsproblemen. Siehe etwa A. Bayart, L'article 4 du C o d e civil et la mission
de la C o u r de cassation, Journal des Tribunaux 71 (1956), S. 3 5 3 - 3 5 5 .
27 Die Historiographie hat sich dann fast ausschlielich mit dieser politischen Neutralisierung und mit den ihr folgenden Kompetenzausdehnungen befat und die
strukturelle Voraussetzung im Justizverweigerungsverbot kaum behandelt.
28 Vgl. fr einen neueren berblick ber die Entwicklung im 19. Jahrhundert in
Deutschland Regina Ogorek, Individueller Rechtsschutz gegenber der Staatsgewalt: Zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im 1 9 . Jahrhundert, in:
Jrgen Kocka (Hrsg.), Brgertum im 19. Jahrhundert: Deutschland im europischen Vergleich, Mnchen 1988, B d . 1, S. 372-405; dies., Richterliche Normenkontrolle im 19. Jahrhundert: Zur Rekonstruktion einer Streitfrage, Zeitschrift fr
Neuere Rechtsgeschichte 11 (1989), S. 1 2 - 3 8 .
29 Vgl. etwa William L . S . Felstiner, Influence of Social Organization on Dispute Processing, L a w and Society Review 9 (1974), S. 63-94, ^
u r
3"
das ist kein Einwand gegen die strukturelle Bedeutung der Mglichkeit, es zu tun. Denn die Mglichkeit, Gerichte anzurufen, lt
jeden Verzicht darauf und jede auergerichtliche Einigung als vorgezogene Problemlsung erscheinen - wie immer man deren Freiwilligkeit beurteilen mag.
Da der Entscheidungszwang fr Gerichte in genau jener Zeit formuliert wird, in der Kants Philosophie ohnehin den Primat der
Praxis vor der Erkenntnis verkndet, mag reiner Zufall sein, oder
jedenfalls drfte es nicht leicht fallen, direkte Einflsse nachzuweisen. Kein Zufall aber ist es, da mit dem Sichtbarwerden der
modernen Gesellschaftsstrukturen ein Komplexittsbewutsein
entsteht, das den Anspruch ausschliet, die Probleme der Welt logisch oder auch nur theoretisch abzuarbeiten. Die Daseinslage
zwingt zu Verkrzungen. Die an sich endlose Interpretation der
Welt oder der Texte mu abgebrochen werden. Man mu gegen die
Mglichkeit besseren Wissens so tun, als ob es etwas gbe, auf das
man sich verlassen knne; oder das jedenfalls den Einsatz des Handelns rechtfertige. Vor diesem in Richtung Pragmatismus tendierenden Hintergrund der Weltbeschreibung bedarf dann auch die
Sonderform des Verbots der Justizverweigerung keiner tieferen Begrndung mehr. Und mehr noch: Sie harmoniert auch mit dem
aufkommenden Rechtspositivismus. Denn wenn der Handlungsdruck zur Abkrzung der Wissenssuche zwingt, kann fr die
Geltung der Entscheidung keine Zeitbestndigkeit mehr verlangt
werden, und man mu fr neue Zweifel, bessere Einsichten und
nderung der Regeln offen bleiben.
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aussichten der Klger und ber die daraus ableitbaren Funktionen der Justiz,
Zeitschrift fr Rechtssoziologie i (1980), S. 33-64; Marc Galanter, Justice in Many
R o o m s : Courts, Private Ordering, and Indigenous L a w , Journal of Legal Pluralism
19 (1981), S. 1-47. Fr einen breiteren, auch vorbeugende Interessen einbeziehenden berblick vgl. Barbara A. Curran, The Legal Needs of the Public: A Final
Report of a National Survey, Chicago 1977.
30 There is good reason to believe that most settlements would not have been reached
but for the possibility of a court-ordered reSolution, meinen Richard Lempert /
Joseph Sanders, An Invitation to Law and Social Science, N e w York 1986, S. 138.
31 Fr eine Darstellung dieser Zeitlogik des Akzeptierens von Zeichen siehe aus heutiger Sicht Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin 1989.
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32
kann, drfte heute unbestritten sein. Die Welt bietet keine Garantie fr logische Ordnung und Ableitbarkeit. Das Verbot der Justizverweigerung ergibt sich auch nicht daraus, da die Bindung an die
Gesetze keine andere Wahl lt. Denn sobald unlsbare Probleme
der Gesetzesfindung und der Interpretation auftreten, wre dem
Richter freigestellt, Lcken im Recht festzustellen und die Entscheidung abzulehnen. Es bedarf also einer institutionellen Vorsorge, wenn das Rechtssystem als universell kompetent und
zugleich als entscheidungsfhig eingerichtet werden soll. Dies kombinatorische Problem von Universalitt und Entscheidungsfhigkeit wird im Verbot der Justizverweigerung zum Ausdruck
gebracht, und zwar in der fr das Rechtssystem angemessenen
Form einer Norm, das heit: mit notfalls kontrafaktischem Geltungsanspruch.
Es gibt einige Literatur, die sich mit den praktischen Schwierigkeiten befat, die aus dem Verbot der Justizverweigerung resultieren.
Es versteht sich von selbst, da eine solche Regel nur praktiziert
werden kann, wenn mehr oder weniger formale Entscheidungen,
die auf die Streitsache selbst nicht eingehen, erlaubt sind, vor allem
ber Beweislastregeln, Fristversumnisse, Unzustndigkeiten, Verfahrensvorschriften, oder auch substantiellere Regeln der Konvenienz (de minimis non curat praetor) oder die berhmte political
questions-Doktrin des amerikanischen Verfassungsrechts benutzt werden knnen. Das mag den Juristen zu der Frage fhren,
wann die Handhabung solcher Ausweichmglichkeiten auf eine
Verletzung des Verbots der Justizverweigerung (dreifache Negation!) hinausluft. Wichtiger sind Analysen, die die Aufgabe der
richterlichen Rechtsfortbildung mit diesem Verbot in Zusammenhang bringen. Man kann sogar so weit gehen, den modernen
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35
32 Siehe dazu Ilmar Tammel, On the Logical Openness of Legal Orders, American
Journal of Comparative Law 8 (1959), S. 187-203.
33 Speziell hierzu Fritz W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung: Die
Political Questions Doktrine in der Rechtsprechung des amerikanischen Suprme
Court, Karlsruhe 1965; ders., Judicial Review and the Political Question: A Functiona! Analysis, Yale Law Journal 75 (1966), S. 5 1 7 - 5 9 7 . Zu bemerken ist, da es sich
auch bei dieser Konfliktregel um eine vom Suprme Court entwickelte, von den
Gerichten anerkannte Selbstbeschrnkung des Rechtssystems handelt und nicht
etwa um eine politisch oktroyierte Limitation.
34 Vgl. z . B . Louis Favoreu, Du dni de justice en droit public franais, Paris 1965.
35 Vgl. Ekkehart Schumann, Das Rechtsverweigerungsverbot: Historische und me313
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39
314
Vertretbarkeit von Entscheidungsregeln fhren, aber unter heutigen Bedingungen kaum zur Unbestreitbarkeit ihrer Geltungsgrundlage. Auerdem hat die Berufung auf Moral den (schwer
ertrglichen) Nachteil, den Rechtsauffassungen, die unter dem
Druck des Entscheidungszwangs zurckgewiesen werden, die moralische Berechtigung absprechen zu mssen.
Auch vor der Ausdifferenzierung des Rechtssystems gab es dieses
Problem der hard cases. Damals wurden sie durch Gottesurteil
entschieden. Heute scheint die moralische Uberzeugung der Richter von den moralischen Uberzeugungen des Volkes ein funktionales quivalent zu bieten - ebenfalls unvorhersehbar, aber mit
weitaus besseren Mglichkeiten, zur Rechtsbildung beizutragen
und damit Unvorhersehbarkeit in Vorhersehbarkeit zu transformieren. Was immer die Rechtstheorie nun von einer solchen moralischen berheblichkeit halten mag: Wenn man Gerichte dem
Entscheidungszwang aussetzt, kann man nicht zugleich die Logik
ihrer Argumentation dem infiniten Regre oder logischen Zirkeln
aussetzen. Man wird ihnen nachsehen mssen, wenn sie sich an
Prinzipien halten.
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41
42
In ihrer Praxis pflegen Gerichte sich auf das zur Entscheidungsbegrndung Notwendige zu beschrnken. Wenn schon entschieden
und begrndet werden mu, dann mit dem Mindestma an Selbstfestlegung, das fr die Entscheidung des konkreten Falles unerllich ist. Unntzes Gerede ist zu vermeiden. Sogenannte obiter
dicta, also Gelegenheitsuerungen, kommen vor und knnen
sinnvoll sein, um die rechtspolitischen Intentionen des Gerichts anzudeuten. Das gilt vor allem fr hchstinstanzliche Gerichte,
40 So aber Dworkin a.a.O. mit Hilfe der Unterscheidung von rules und principles.
Vgl. zur hard cases-Diskussion und zur Kritik an Dworkins Unterstellung einer
einzig-richtigen Entscheidbarkeit aller Flle auch Aharon Barak, Judicial Discrtion, N e w Hven 1989, mit weiteren Hinweisen.
41 Dieser Einwand (vor dem Hintergrund einer jdischen Tradition der religisen
Legitimierung von Dissens) bei Robert M. Cover, The Suprme Court, 1982 Term.
Foreword: Nomos and Narrative, Harvard Law Review 97 (1983), S. 4-68.
42 Lorsque les lments du dossier ne permettaient pas au juge de trancher, il remettait les parties au jugement des dieux - so Jean Bottro, Msopotamie: L'criture,
la raison et les dieux, Paris 1987, S. 1 5 1 , fr die wohl frheste Gesellschaft mit
hochentwickeltem Interesse an Recht und Justiz. Ausfhrlicher ders., L'ordalie en
Msopotamie ancienne, Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di
Lettere e Filosofia, ser. III, B d . X I . (1982), S. 1005-1067.
315
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zuletzt die zunehmende Unscharfe in der Abgrenzung von Gesetzgebung und Rechtsprechung und das Hin- und Herschieben von Regelungsproblemen je nach dem, ob sie und in welchen Konstellationen sie politisierbar sind - das alles sind Sptfolgen eines Entscheidungszwanges, der sich in einer komplexer werdenden Gesellschaft
und angesichts der Beschleunigung von Strukturnderungen in fast
allen Gesellschaftsbereichen immer strker auswirkt. Viele Klagen
ber Gerichte und ebenso die jngsten Schwerpunkte der soziologischen Justizforschung gewinnen bei dieser Sichtweise verschrfte
Bedeutung. Das gilt fr alte Klagen ber berlastung der Gerichte
und die lange Dauer von Prozessen ebenso wie fr neueste Forschungen ber access to law (denn das heit: Zugang zu Gerichten,
und nicht Zugang zu Vertrgen oder Zugang zum Gesetzgeber). Es
gilt fr die Frage, ob Gerichtsverfahren berhaupt ein geeigneter
Mechanismus sind fr die Lsung von Konflikten, wenn als direkte
Konsequenz des Entscheidungszwangs nur sehr enge Themenausschnitte justitiabel sind - Ausschnitte aus einem normalerweise sehr
breiten Spektrum von konfliktauslsenden, -steigernden oder
-abschwchenden Faktoren. Es gilt schlielich fr den Zuschnitt der
Rollen des Klgers und des Beklagten auf individuelle (seien es lebende, seien es korporative) Personen ungeachtet der Tatsache, da die
Beteiligten oft als Reprsentanten einer Klasse von gleichgelagerten
Fllen auftreten und doch individuell disponieren knnen. Eine reiche Diskussion ber Alternativen und ber Reformmglichkeiten
setzt hier an ; aber sie wird wohl kaum wagen, den Kern der Sache
anzutasten: den Entscheidungszwang, der die Gerichte vor allen anderen Einrichtungen des Rechtssystems auszeichnet.
Die Paradoxie des unentscheidbaren Entscheidens sucht und findet,
wenn man so sagen darf, akzeptable Auflsungsformen. Die Formulierungen, mit denen wir diese Entwicklung charakterisieren,
klingen negativ, sind aber nicht so gemeint - als ob es bessere Mglichkeiten gbe, die zu ergreifen man versumt habe. Die wichtigere
Frage ist, wie ein Rechtssystem zu beschreiben ist, in dem die Paradoxie seiner Selbstbegrndung immer deutlicher hervortritt und
auch der Ort erkennbar wird, an dem das Problem der Entparadoxierung anfllt: die Rechtsprechung.
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48 Siehe etwa der diesem Thema gewidmete B d . 6 (1980) des Jahrbuchs fr Rechtssoziologie und Rechtstheorie, insb. S. 142 ff.
319
V
Wir wiederholen zunchst noch einmal: Weder Gesetze noch Vertrge stehen unter rechtlichem Entscheidungszwang. Man kann die
Geltungslage im Rechtssystem mit Wahl dieser Formen ndern oder es lassen. Nur die Gerichte haben in dieser Hinsicht eine Ausnahmestellung. Gesetze oder Vertrge mgen aus politischen bzw.
wirtschaftlichen Grnden zu Entscheidungen gentigt sein, aber
das sind Zwnge anderer Art, denen gegenber das Rechtssystem
frei ist zu entscheiden, ob und in welchen Zusammenhngen sie
rechtlich relevant sind - oder nicht. Gerichte dagegen mssen aus
Rechtsgrnden ber jede Klage, die bei ihnen eingeht, entscheiden.
Nur ihnen obliegt das Paradoxiemanagement des Systems, wie immer man es konkret bezeichnen will. Nur sie mssen, wo ntig,
Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit transformieren, nur sie mssen, wo ntig, Unverfgbarkeit von Prinzipien fingieren. Nur sie
sind zur Entscheidung gezwungen und genieen folglich das Privileg, Zwang in Freiheit umwandeln zu knnen. Kein anderes Organ
der Rechtspflege hat eine derartige Stellung.
Aber die Paradoxie ist das Heiligtum des Systems, seine Gottheit in
vielerlei Gestalt: als unitas multiplex und als re-entry der Form in
die Form, als Selbigkeit des Unterschiedenen, als Bestimmbarkeit
der Unbestimmbarkeit, als Selbstlegitimation. Die Einheit des Systems kann im System durch Unterscheidungen zum Ausdruck
gebracht werden, die in dieser Funktion zu Leitunterscheidungen
werden, indem sie verdecken, was sie offenbaren. Strukturell geschieht dies durch Differenzierung, durch Multiplikation der Unterscheidung des Systems und seiner Umwelt im System. Deshalb
ist die Frage der Paradoxieentfaltung der Schlssel zum Differenzierungsproblem; und von der Differenzierungsform her regelt
sich, welche Semantik Plausibilitt gewinnt bzw. verliert.
Wenn es zutrifft, da den Gerichten die Aufgabe zufllt, das
Rechtssystem zu entparadoxieren, wie es mit dem Verbot der Justizverweigerung verlangt und zugleich getarnt wird, sprengt dies
die Mglichkeit, die Differenzierung des Rechtssystems als Weisungshierarchie zu beschreiben. Denn die Gerichte geben dem
49
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51
50 Die Verwendung dieses Schemas liegt, selbst dort, wo Soziologen sich beteiligen,
fest in den Hnden der Geographen. Siehe etwa den Sammelband von Jean Gottmann (Hrsg.), Centre and Periphery, London 1980. Die bertragung auf institutionelle Kontexte ist vor allem von Edward Shils, Centre and Periphery, in: The
Logic of Personal Knowledge: Essays Presented to Michael Polanyi, London 1961,
S. n 7-131, angeregt worden. Im Text sehen wir, der Leser wird das leicht erkennen,'
von jeder rumlichen Materialisierung ab. Denn Raum ist nur ein Fall von Paradoxieentfaltung durch Unterscheidungen, die auf die Inkonsistenzen neurophysioiogischer Informationsverarbeitung abgestimmt sind und insofern fr Tiere und
Menschen naheliegen.
51 Es fllt auf, da diese rein ber Organisation laufende Legitimation von Richterrecht in der Literatur selten benutzt wird. Offenbar zgert die Rechtstheorie,
Fragen von gesellschaftlicher Tragweite einem Mechanismus zu berlassen, der nur
auf der Ebene formal organisierter Sozialsysteme funktionieren kann. Siehe aber bei
Melvin Aron Eisenberg, The Nature of Common L a w , Cambridge Mass. 1988, die
ganz beilufige Bemerkung: Like a conventional trustee, the judge is morally
bound by his acceptance of office to obey the rules that govern the conduct of his
office (S. 3). Man wird fragen drfen: nur morally bound? .
321
eignet sich die Peripherie als Kontaktzone zu anderen Funktionssystemen der Gesellschaft - sei es zur Wirtschaft, zum huslichen
Familienleben oder zur Politik. In oft sehr indirektem Anschlu an
das Vertragsrecht prosperieren zahlreiche Neubildungen von privaterzeugtem Recht, vor allem das interne Recht von Organisationen, ferner Recht als Resultat provisorischer kollektiver Verstndigungen von Interessenverbnden und anderen Groorganisationen,
marktspezifische Interpretationen allgemeiner Regulierungen, das
Recht der allgemeinen Geschftsbedingungen und anderes dieser
Art. Und ebenso ufert die Gesetzgebung, politischem Druck
nachgebend, aus und sickert in immer weiter reichendem Umfang
in vordem rechtsfreie Rume ein - so ins Innere des Familienlebens oder der Schulen und Universitten oder der Arzt/PatientBeziehungen. In der Peripherie werden Irritationen in Rechtsform
gebracht - oder auch nicht. Hier garantiert das System seine Autonomie durch Nicht-entscheiden-Mssen. Hier wird sichergestellt,
da das Recht nicht einfach als willenlose Fortsetzung rechtsexterner Operationen fungiert. Das Zentrum bedarf dieses Schutzes gerade weil es unter der entgegengesetzten Prmisse operiert. Deshalb arbeiten Gerichte, verglichen mit Gesetzgebern und Vertragschlieenden, unter viel strkerer kognitiver Selbstisolation. Man
denke nur an die Formalitten der Beweisverfahren. Auerdem
mu auch der Zugang zu Gerichten freigestellt und hoch selektiv
organisiert sein. Nur ein winziger Prozentsatz von Rechtsfragen
wird den Gerichten zur Entscheidung vorgelegt. Aber wenn dies
geschieht und wenn die Beteiligten dabei bleiben, dann mu entschieden werden, wie leicht oder wie schwer es fllt und wie
konservativ oder kreativ auch immer das Ergebnis ausfllt.
Weiter liegt ein Sinn dieser Form der Differenzierung nach Zentrum
und Peripherie in der Beschaffung eines gesellschaftlich notwendigen und ausreichenden Konsenses (bzw. in der Aufrechterhaltung
einer entsprechenden Fiktion). Wenn Gerichte unter Entschei52
53
322
Schlielich ist fr die Uberordnung der Differenzierungsform Zentrum/Peripherie bezeichnend, da nur innerhalb des Zentrums
andere Differenzierungsformen zugelassen sind - und zwar sowohl
Segmentierung als auch Uber- und Unterordnung. Nur die Gemunikation und Konsens in modernen Gesellschaften, Frankfurt 1992, S. 197-211 ebenfalls mit erheblichen Zweifeln an Konsenssicherungsmglichkeiten der G e richte.
54 So in Jrgen Habermas, Faktizitt und Geltung: Beitrge zur Diskrstheorie des
Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992, S. 241.
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56
55 Vgl. hierzu Charles-Albert Morand, La contractualisation du droit dans l'tat providence, in: Franois Chazel / Jacques Commaille (Hrsg.), Normes juridiques et
rgulation sociale, Paris 1991, S. 139-1 j 8 ; Arthur Benz / Fritz W.Scharpf / Reinhard Zintl, Horizontale Politikverflechtung: Z u r Theorie von Verhandlungssystemen, Frankfurt 1992.
56 Diese Formulierung im vlkischen Kontext bei Hans Grossmann-Doerth,
Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft und staatliches Recht, Freiburg 1933.
324
VI
Die jetzt deutlichen Zusammenhnge von Entscheidungszwang,
Gerichtsorganisation und Zentralposition der Gerichte im Rechtssystem fhren zu neuen Einblicken in die operative Geschlossenheit des Rechtssystems, und zwar unter zeitlichen und sachlichen
Gesichtspunkten.
Entscheidungen knnen, ganz abstrakt, begriffen werden als eine
Form, mit der der Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft
unterbrochen und wiederhergestellt wird. berall, wo entschieden
wird, verlngert sich das Vergangene nicht automatisch in die Zukunft (qua Wesen oder Natur, qua Unmglichkeit oder Notwendigkeit), sondern die Verbindung wird gekappt und einer Entscheidung berlassen, die nur in der Gegenwart und immer auch anders
mglich ist. Wie kann die Gesellschaft, so ist zu fragen, sich auf ein
solches Unterbrechungsrisiko einlassen; und weiter: wie ist es mglich, dieses Risiko einem Teilsystem der Gesellschaft, hier dem
Rechtssystem,-zu berantworten?
Die Entschuldigung ist gewissermaen: es wird ohnehin gestritten.
Gewinnen oder Verlieren ist ohnehin eine offene Frage. Der Anla
zwingt zur Ttigkeit. Aber damit ist noch nicht gesagt, wie ein ope2
3 5
rativ geschlossenes System die Wiederverknpfung von Vergangenheit und Zukunft zustande bringt.
Gerichte rekonstruieren die Vergangenheit im Format des vorliegenden Falles. Was zur Fallentscheidung ntig ist, wird in Betracht
gezogen - mehr nicht. Bei der Einschrnkung des Informationsbedarfs hilft ihnen das geltende Recht. Es wird als Datum, also
ebenfalls als Produkt der Vergangenheit unterstellt. Die Idealvorstellung, man knne aus dem Recht die Fallentscheidung deduzieren, wrde fr die Praxis bedeuten, mit der Vergangenheit allein
auszukommen und die Zukunft der logischen Notwendigkeit/Unmglichkeit zu berlassen. Man knnte die Zukunft errechnen,
brauchte also gar nicht zu entscheiden. Da dies so nicht geht, ist
bekannt. Faktisch sind Gerichte gentigt, eine Zukunft zu entwerfen. Das geschieht im Entwurf von Entscheidungsregeln, an die das
Gericht sich auch in knftigen Fllen gleicher Art halten wird. Dies
knnen Regeln der Interpretation von Gesetzen sein, aber auch, wie
vor allem im Common Law, Regeln, die aus der Fallabstraktion
direkt gewonnen werden. Immer geht es dabei um das Erfinden
von Beschrnkungen, die auch fr die Zukunft verbindlich sein sollen. Das heit: Das System wird zeitlich geschlossen, indem die
Gegenwart (die ohnehin mit der Entscheidung vergeht) als Vergangenheit einer knftigen Gegenwart konstruiert wird. Die Entscheidung wird modo futuri exacti unter Regeln gestellt und dadurch
diszipliniert.
57
Diese Form der Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft erfordert eine zweite Zeit, eine in der Gegenwart zentrierte, in ihr
konstruierte, mit ihr sich ndernde Zeit. Das ndert nichts daran,
da in der Realitt die in sie hineinfingierten Spielrume gar nicht
bestehen, denn in Wirklichkeit geschieht immer nur das, was geschieht, und alles, was aktuell geschieht, geschieht gleichzeitig.
Eben das zeigt aber auch, da Zeit, gesehen als Differenz, immer die
57 Hierzu gibt es ausfhrliche theoretische Diskussionen, etwa die juristische Methodenlehre, bezogen auf das Vorgehen bei der Interpretation von Gesetzen oder die
komplizierte Diskussion ber das Herausfinden der Entscheidungsregeln frherer
Entscheidungen mit Bezug auf das, was fr den jetzt anstehenden Fall bindend sein
knnte. Es fllt aber auf, da in den gerichtlichen Entscheidungsbegrndungen
theoretisch-methodologische Festlegungen dieser Art kaum vorkommen - so als ob
es vermieden werden mte, die Selbstbindung des Gerichts auch auf solche Fragen
zu erstrecken.
326
60
58 Eisenberg a.a.O., S. 7.
59 Kontinentaleuropische Juristen werden auf Kodifikationen ganzer Rechtsgebiete
durch den Gesetzgeber hinweisen. Ob man das als Ausnahme gelten lassen will
oder nicht: Es kommt heute nicht mehr vor, und auch die Idee, die Gerichte durch
Kodifikationen auf eine bloe Anwendung des Gesetzes, auf bloe Routineentscheidungen zu reduzieren, ist durch die Geschichte widerlegt.
60 Siehe als Summe einer lebenslangen Beschftigung mit diesem Thema Peter Noll,
Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973 (S.9 ff. zu Grnden fr dieses Defizit). Vgl.
ferner Hermann Hill, Einfhrung in die Gesetzgebungslehre, Heidelberg 1982,
sowie die fr die 80er Jahre bezeichnende Verschiebung der Problematik in eine
Rechtspolitologie (Jahresschrift fr Rechtspolitologie seit 1987).
3*7
keine berzeugende juristische Gesetzgebungs~wissenschaft entwikkeln lassen, so sehr Juristen und Nichtjuristen (wie Jrgen Habermas) noch heute daran festhalten, da das Gesetz die Basis fr die
Rationalitt aller Rechtsentscheidungen sei.
VII
Die Gttin Evolution hat offenbar Mut gehabt - mehr Mut als ein
Planer mit Voraussicht je htte haben knnen. Sie kappt gesamtgesellschaftliche Vorgaben der Rechtsentscheidung - ohne sie zu
ersetzen. Und trotzdem mssen die Gerichte entscheiden. Sie knnen es nicht davon abhngig machen, da ihnen etwas Einleuchtendes einfllt, ja nicht einmal davon, da sie sicher sind, wie zu
entscheiden ist. Wie soll das gehen?
Formal verhalten die Gerichte sich so, da ihre Entscheidung, die ja
im Rechtssystem (das ist nicht zu bezweifeln) getroffen wird, allein
durch das geltende Recht bestimmt wird. Die Entscheidung wird
als Erkenntnis des Rechts oder als Anwendung des Rechts ausgegeben. Und das Recht enthlt genug Regeln (etwa Beweislastregeln),
um zu garantieren, da dies in allen Fllen mglich ist. Da dies
mglich ist, kann also nicht bezweifelt werden. Man sieht das an
den angefertigten Texten. Aber damit ist die weiter ausgreifende
Frage noch nicht beantwortet, wie es mglich ist.
Ein Soziologe mte konkreter fragen: Wodurch werden die gesamtgesellschaftlichen Vorgaben der Rechtsentscheidung, etwa
Rcksichten auf den sozialen Status der Parteien oder auf das soziale Netzwerk ihrer Beziehungen, ersetzt? Die bliche Antwort
(und vor allem ist hier an die Tonlage der critical legal studies Bewegung und ihre neomarxistischen Parallelen zu denken) lautet
bekanntlich: sie werden nicht ersetzt, sie sind nach wie vor wirksam. Aber das ist voreilig, ist jedenfalls ohne historischen Vergleich
gesagt. Was immer man mit einer latent structure analysis oder
mit einer schlichten Neuzurechnung von Erscheinungen auf Ursachen noch herausfinden oder herausstellen mag : Es bleibt die
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329
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68
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1982. Zu indischen Juristen Material in: Law and Society Review 3 (1968)
Heft 2.
66 Ausreichende empirische Forschungen, ja selbst Hypothesen fehlen. Aber man
knnte berlegen, ob Opposition zu politischen Regimes den Rckhalt in der Profession strkt und ob andererseits vermehrt kautelarische Aufgaben strker an die
Organisation binden, deren Interessen man damit vorsorglich und nicht nur in
offenen Kontroversen vertritt. Auch das spektakulre Wachstum des Personbestandes der Profession mag Konkurrenzdruck, und damit Organisationsabhngigkeit
verstrken.
67 Insbesondere seit dem bahnbrechenden Vortrag von Talcott Parsons, The Professions and Social Structure, Social Forces 17 (1939), S. 457-467, neugedruckt in ders.,
Essays in Sociological Theory, N e w York 1949.
68 Wie weit solches Expertenwissen als Rechtswissen die Praxis (besonders der Anwlte) tatschlich bestimmt und wie weit nicht eher Organisationswissen, Milieukenntnisse,
Kontaktfhigkeit,
bedrfte einer
331
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Achtet man nicht so sehr auf die institutionelle und mehr auf die
operative Seite der Autopoiesis des Rechtssytems, dann erscheinen
organisatorische und professionelle Einflsse auf das, was kommuniziert bzw. nicht kommuniziert wird, wie Pufferzonen um die
eigentliche Gerichtsttigkeit. In deren Schutz kann dann das Gericht seine eigene Entscheidung, die die Rechtsgeltungslage verndert, als Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts darstellen.
Schlielich wirken auch die Gerichtsverfahren in diese Richtung.
73
33
VIII
Orientiert man sich allein am Gesamtsystem der Gesellschaft, so
scheint es sich bei der Differenzierung von Zentrum und Peripherie
um eine sehr alte, sicherlich vormoderne Form der Differenzierung
zu handeln. Man denkt an die Differenzierung von Stadt und Land
- und lt sich durch Geographie ablenken. Damit ist sicher zu
Recht festgestellt, da die Differenzierung des Gesellschaftssystems
heute nicht mehr dem Schema von Zentrum und Peripherie folgt es sei denn, man definiere Gesellschaft aus dem Blickwinkel der
wirtschaftlichen und der technologischen Entwicklung ; und
selbst dann wird auf die geringe geographische Stabilitt solcher
Zentren hingewiesen. Alles spricht dafr, da Einteilungen der
Weltgesellschaft nach Zentren und Peripherien durch die primordiale Form der funktionalen Differenzierung regiert werden und ihr
folgen.
74
75
76
333
da die Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie innerhalb von Funktionssystemen zu neuer Blte kommt; und zwar in
dem Mae, als auch hier die Form der Hierarchie sich als zu restriktiv erweist. Wenn das zutrifft, dann wre unser das Rechtssystem
betreffende Befund kein Einzelfall; und man knnte die Analyse
auch durch Vergleich mit entsprechenden Entwicklungen in anderen Funktionssystemen absttzen.
Im Wirtschaftssystem, um damit zu beginnen, stt man auf durchaus vergleichbare Strukturen. Hier obliegt das Paradoxiemanagement den Banken. Nur sie haben die Mglichkeit, ihre eigenen
Schulden gewinnbringend zu verkaufen. Nur sie stehen vor dem
Problem, die Wirtschaft zugleich zum Sparen und zum Geldausgeben anreizen zu mssen. Ihre Funktion beruht auf dem elementaren
Sachverhalt, da wirtschaftliche Transaktionen mit Zahlungen operieren und jede Zahlung, ihrem Geldwert entsprechend, zugleich
Zahlungsfhigkeit und Zahlungsunfhigkeit erzeugt. Die damit verbundenen Zeitprobleme werden durch Handel mit Zahlungsversprechen ausgeglichen; also dadurch, da die Banken die Rckzahlung von Einlagen versprechen und sich die Rckzahlung von
Krediten versprechen lassen und aus der Differenz Gewinn ziehen,
also sich selbst unterhalten. Damit verbindet sich die Funktion der
Vermehrung der Geldmenge, also die weitere Paradoxie, da die
Geldmenge im Wirtschaftssystem zugleich als konstante und als
variable Summe behandelt wird. Und es funktioniert - im Rahmen
von Randbedingungen, die vor allem von der Zentralbank beobachtet werden.
77
335
ist der Staat nicht mehr, wie im 18. Jahrhundert, die Zivilgesellschaft selbst; und auch nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert, das
politische System. Er ist nur noch das Zentrum des politischen Systems, das periphere Prozesse der politischen Gruppierung und
Disziplinierung in der Form von Parteien, ferner Prozesse der Konsensbeschaffung und der tglichen Vermittlung politikrelevanter
Interessen voraussetzt. Die politische Peripherie mu, um ihre Zulieferungsfunktion erfllen zu knnen, freier gestellt sein als der
Staat selbst. Es darf nicht dahin kommen, da jede geuerte Meinung, jeder Pressionsversuch, jeder politische Schachzug sogleich
zu einer kollektiv bindenden Entscheidung gerinnt. Auch hier mu
also Entgegengesetztes im System zugleich und komplementr ermglicht werden, und auch hier ist die dafr gefundene Form die
Differenzierung von Zentrum und Peripherie.
Ausschlaggebend fr die Erhaltung dieser Ordnung ist die Erhaltung der Differenz von Zentrum und Peripherie. Deren systeminterne Grenze wird durch Amtstrgerschaft markiert und im
grenzberschreitenden Kreislauf politischer Macht reproduziert.
Anders knnte es keine Differenz von Staat und politischen Parteien, keine Lobby, keine Differenz von Regierung und Opposition, keine Konkurrenz um die Besetzung politischer mter, also in
einem Wort: keine Demokratie geben. Aber man kann es auch umgekehrt sehen: Die Demokratisierung des politischen Systems erhht die Systemkomplexitt in einem Ausma, da das System sich
eine hierarchische Organisation nur noch in seinem staatlichen
Kernbereich leisten kann und als Gesamtsystem zur Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie bergehen mu.
Beispiele dieser Art knnten vermehrt werden , aber es mu uns
gengen, die Form zu erkennen. Komplexittsprobleme knnen
durch Rckgang auf eine, wie es scheint, primitivere Differenzierungsform gelst werden: durch Anerkennung der Differenz von
79
337
Kapitel 8
Juristische Argumentation
I
Auch Argumentation ist eine Form mit zwei Seiten. Dabei geht es
natrlich nicht um den Unterschied von guten und schlechten,
berzeugenden und weniger berzeugenden Argumenten; denn das
sind ja in beiden Fllen immer schon Argumente. Vielmehr ist fr
ein Verstndnis von Argumentation zunchst entscheidend zu sehen, was man damit nicht erreichen, nicht bewirken kann. Und das
ist: das Geltungssymbol des Rechts zu bewegen. Kein Argument
vermag, wie zum Beispiel ein Gesetz oder ein Vertrag oder ein Testament oder eine rechtskrftige Gerichtsentscheidung, das geltende Recht zu ndern, neuen Rechten bzw. Pflichten Geltung zu
verschaffen und damit Voraussetzungen festzulegen, die ihrerseits
wieder gendert werden knnen. Dies nicht zu knnen, ist eine
Entlastung der Argumentation, eine Freistellung fr eine andere
Art von Disziplin. Zugleich ist diese Geltungsabhngigkeit auch
eine Voraussetzung dafr, da die juristische Argumentation auf
das durchs Recht gefilterte Recht beschrnkt wird und nicht durch
moralische oder sonstige Vorurteile ins Schleudern kommt.
Geltungsbewegung und Argumentation operieren natrlich nicht
unabhngig voneinander, denn sonst wrde man nicht erkennen
knnen, da es sich um Operationen ein und desselben Systems
handelt. Sie werden durch strukturelle Kopplungen verknpft, und
zwar durch Texte. In der Form von Texten gewinnt das System die
Mglichkeit, sich durch eigene Strukturen zu koordinieren, ohne
damit im voraus schon festzulegen, wie viele und welche Operationen die Wiederverwendung bestimmter Strukturen, das Zitieren
bestimmter Texte, auslsen oder sie ndern werden. Und nur dann
kann man auch die Idealforderung aufstellen und ertragen, da gleiche Flle gleich entschieden werden sollen (Gerechtigkeit).
1
i Auch Jrgen Habermas, Faktizitt und Geltung: Beitrge zur Diskurstheorie des
. Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992, insb. S. 2joff., 286ff.
vertritt eine vergleichbare Auffassung mit dem wichtigen Argument, es msse sichergestellt werden, da die rechtliche Argumentation auch auf andere als moralische Prmissen reagieren knne.
338
Schon weil sie den Bezug der Argumentation zur Geltung des
Rechts vermitteln, haben Texte, und besonders Gesetzestexte, in
ihrem normalen (oder fachspezifischen) Sinn eine berragende Bedeutung fr die juristische Argumentation. Texte ermglichen eine
vereinfachte Selbstbeobachtung. Im normalen Entscheidungsgang
beobachtet sich das System nicht als System (-in-einer-Umwelt),
sondern als Ansammlung aufeinander verweisender Rechtstexte.
Die Juristen nennen bekanntlich auch das ein System. Neuerdings spricht man, etwas lockerer, von Intertextualitt. Was als
Text in Betracht kommt, wird durch diese Funktion der Reprsentation des Systems im System geregelt. Es kann sich um Gesetze
und Gesetzeskommentare, aber natrlich auch um Gerichtsentscheidungen oder andere Dokumente einer feststehenden Rechtspraxis handeln. Entscheidend ist, da das System sich interne
Zusammenhnge vergegenwrtigen kann, also die Mglichkeiten
des jeweils gegenwrtigen Operierens dadurch einschrnken kann.
Das Finden der fr die Entscheidung relevanten Texte erfordert
fachliche Kompetenz und ist so ein zentrales (oft bersehenes) Moment juristischen Knnens. Denn Interpretieren und Argumentieren kann man nur, wenn man die einschlgigen Texte bereits
gefunden hat.
2
Als Beobachtungen erster Ordnung - in der Nische des Rechtssystems, knnte man sagen - gewinnen die Operationen des
2 Robert S. Summers / Michele Taruffo, Interpretation and Comparative Analysis, in:
D. Neil MacCormick / Robert S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes: A Comparative Study, Aldershot Hants. England 1992, S. 4 6 1 - 5 1 0 (481 f.) geben noch weitere,
mehr praktische Grnde fr dieses Vorwiegen an, nmlich die leichte Verfgbarkeit
der Texte im Vergleich zu den Referenzen anderer Argumentationsmittel und die
Schwierigkeit ihrer Widerlegung.
3 Fr die Przedenzentscheidungen des Common Law ist von Michael S. Moore, Precedent, Induction, and Ethical Generalization, in: Laurence Goldstein (Hrsg.),
Precedent in Law, Oxford 1987, S. 1 8 3 - 2 1 6 , bestritten worden, da es sich berhaupt
um Texte handelt. Dann aber bleibt als Interpretationsverfahren nur die freie induktive Generalisierung. Der Autor beabsichtigt das - siehe auch seine Argumente gegen
eine moraltheoretische Skepsis in Michael Moore, Moral Reality, Wisconsin Law
Review 1982, S. 1 0 6 1 - 1 1 5 6 -, aber die Ergebnisse vermgen fr die Rechtspraxis
nicht zu berzeugen, sondern zeigen eher die Vorteile der Textgebundenheit aller
Argumentation.
4 Man darf daran erinnern, da die alte, noch in vorherrschend mndlichen Kulturen
aufgewachsene Topik genau diese inventio betont hatte - ganz im Unterschied zu
dem, was heute als Topik empfohlen wird.
339
5 Mit einer strkeren Formulierung knnte man auch sagen: als ein Wahrmachen der
falschen Prmisse, der Gesetzgeber habe rational entschieden.
6 So Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin 1989, S. 232.
7 Sehr hnlich setzt, um darauf zum Vergleich hinzuweisen, auch Jrgen Habermas an.
Auch in seiner Sicht, die an Max Weber anschliet, ersetzen positivrechtlich geltende
Texte zunchst die Begrndung. Die eigentmliche Leistung der Positivierung der
Rechtsordnung besteht darin, Begrndungsprobleme zu verlagern, also die technische Handhabung des Rechts ber weite Strecken von Begrndungsproblemen zu
entlasten, aber nicht darin, die Begrndungsproblematik zu beseitigen.- (Theorie des
kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, Bd. 1, S. 354) Aber dann trennen sich
die Wege. Der Jurist wird das Begrndungsdefizit als Notwendigkeit einer Interpretation der Texte auffassen, fr die dann weitere Grnde angegeben werden mssen.
Fr Habermas liegt dagegen das Problem darin, da die Gesatztheit selbst noch
einer Begrndung bedarf, und dies nicht formal oder funktional (es geht nicht ohne
Texte), sondern inhaltlich im Hinblick auf noch zu verhandelnde postkonventionelle
Kriterien. Aber damit greift Habermas deutlich ber das hinaus, was als Recht unter
340
Beobachtung zweiter Ordnung kommt es zur Aufstellung von Regeln wie: Texte seien nicht rein wrtlich, sondern sinngem zu
verstehen. Dann beobachtet man sich (oder andere) beim Lesendes
Textes und stt auf Zweifel. Anla dazu ist zumeist, da die am
Text gefundene Entscheidung zu unbefriedigenden Ergebnissen
fhrt - sei es die eigenen Interessen nicht hinreichend durchsetzt;
sei es Folgen hat, die gewollt zu haben man dem Textverfasser nicht
ernsthaft unterstellen kann. Dann mu man angesichts mehrerer
Mglichkeiten nach einer berzeugenden Begrndung suchen. Man
mu die ratio finden, die Entscheidungsregel, die dem Text zugrunde liegt, und diese begrnden.
8
Schon bei der Textinterpretation ist der bergang zu einer Beobachtung zweiter Ordnung mglich, nmlich wenn man die Frage
stellt (und sich damit begngt), wie der Text gemeint war. Dabei
mu der Text als Kommunikation und die zu vermutende Rationalitt des Textes als Rationalitt der textschaffenden Intention (vor
allem: des Gesetzgebers) angenommen werden. Die Argumentationstheorie geht darber hinaus. Sie evaluiert Argumente im Hinblick auf ihre berzeugungskraft fr den Kommunikationsproze,
im Hinblick also auf ihre Durchschlagskraft in der Kommunikation. Dies mag in vielen Fllen leicht einzuschtzen sein: In der
10
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12
der gerichtlichen Verantwortung, (rasch) zu Entscheidungen zu kommen, praktiziert wird und praktiziert werden kann.
8 Siehe fr viele Jean Domat, Les loix civiles dans leur ordre naturel, 2. Aufl. Paris
1697, Bd. i, S. X C I I und fr die heutige Diskussion etwa Franois Ost / Michel van
de Kerchove, Entre la lettre et l'esprit: Les directives d'interprtation en droit,
Bruxelles 1989. Stanley Fish ist durch harte Attacken gegen diese Regel bekannt
geworden; aber das kann letztlich nur besagen, da jeder Umgang mit Texten in
konkreten Situationen mit spezifischen Beschrnkungen stattfindet, woraus nicht
folgt, da sich wrtliche und sinngeme Auslegung nicht unterscheiden lieen.
Dies zu: Stanley Fish, Ding what Cornes Naturally: Change, Rhetoric, and the
Practice of Theory in Literary and Legal Studies, Oxford 1989.
9 Neil MacCormick, Why Cases Have Rationes and What These Are, in: Laurence
Goldstein (Hrsg.), Prcdent in Law, Oxford 1987, S. 1 5 5 - 1 8 2 (161) nennt dies
treffend second-order justification.
10 In der deutschen Rechtstheorie spricht man hiervon subjektiven Interpretationslehren.
11 Vgl. dazu Franois Ost / Michel van de Kerchove, Jalons pour une thorie critique
du droit, Bruxelles 1987, S. 97ff., 35Sff-, insb. 405 ff.
12 blicher wre es zu sagen: berzeugungskraft fr andere Teilnehmer an der Kommunikation. Aber wie soll das getestet werden, es sei denn durch die Kommunikation selbst.
341
Verordnung steht zwar nur, da der Hund an die Leine mu; aber
niemand wird ernsthaft zweifeln, da dann auch der Herr an die
Leine mu. Oft knnen jedoch Zweifel erst in der Kommunikation
(und sei es: antezipierter Kommunikation) behoben werden. Das
setzt Kommunikation als einen sich selbst beobachtenden Proze
voraus und installiert Beobachtung zweiter Ordnung in bezug darauf. Man hat sich dann auf die Prmisse einer Vorverstndigung
ber das Vorhandensein eines Textes und ber die Aufgabe rationaler Sinngebung einzulassen, ist im brigen aber nicht an das gebunden, was man dem Autor des Textes (ohne ihn wirklich beobachten
zu knnen) als Intention unterstellen kann. Das Argumentieren mit
der Intention des Gesetzgebers bleibt mglich, wird aber eine Argumentationsform unter anderen.
Die primren Unterscheidungen, mit denen das Recht seine eigenen
Verfgungen argumentierend beobachtet und evaluiert, lassen sich,
eben wegen dieser Textabhngigkeit, nicht auf eine einzige Formel
bringen. Es geht einerseits um Fehler bei der Lektre von Texten,
die geltendes Recht darstellen, und andererseits um Grnde fr
diese oder jene Interpretation. Da es sich bei einer Argumentation
nur um den zweiten Fall, nur um Begrndungen handeln kann, ist
fr Juristen schon mit dem Begriff der Argumentation entschieden
und bedarf keiner weiteren berlegung. Fr einen Augenblick
mssen wir bei dieser Beobachtungsweise verweilen, denn das, was
blicherweise als Argumentationstheorie firmiert, geht nicht
ber diese Beobachtungsebene hinaus. Es bemht sich nur um
Qualittsgewinne auf dieser Ebene.
13
Auf den ersten Blick fllt auf, da es sich um ein qualitatives Dual
handelt, hnlich wie Lust (Grnde) und Unlust (Fehler). Dabei geht
es nicht um eine symmetrische Umtauschrelation, in der man die
eine Seite durch die bloe Negation der jeweils anderen erzeugen
knnte. (Die Vermeidung von Fehlern ist noch keine gute Begrndung, und gute Begrndungen knnen, auch wenn man das weniger
gern zugestehen wird, sehr wohl logische Fehler enthalten.) Jede
Komponente dieses Duals ist ihrerseits wieder eine Form des Beobachtens, das heit eine Unterscheidung. Das wird man fr den Fall
14
13 Siehe etwa Gerhard Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, Berlin 1977;
Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt 1978.
14 Das ergibt im brigen auch die logische Nachprfung theoretisch erfolgreicher
wissenschaftlicher Argumente.
342
mehr viel zu sagen ist. Man kann in ihm baden - und es genieen.
Dann mu man allerdings von vielem absehen, was inzwischen zu
den gesicherten Errungenschaften des modernen Denkens gehrt.
Im Bereich der logischen Fehlerkontrolle mte man nach wie vor
daran glauben, da Axiome der Logik als a priori einsichtig gefhrt
werden knnen und nicht nur als Komponenten bestimmter Kalkle, die man durch andere Kalkle ersetzen knnte. Im Bereich
der empirischen Fehlerkontrolle mte man weiterhin von den
klassischen Naturwissenschaften ausgehen, die objektiv feststellbare Naturgesetze vorausgesetzt hatten und keine zirkulren Vernetzungen des (wissenschaftlichen) Beobachtens mit der durch es
konstruierten Wirklichkeit kannten." Im Bereich der Begrndungsttigkeit selbst mte man darauf verzichten, die Erosion
aller Prinzipien und deren Ersetzung durch Paradoxien und/oder
Ausgangsunterscheidungen zur Kenntnis zu nehmen. Um diesen
Problemen auszuweichen, scheint sich die Theorie der begrndenden Argumentation mehr und mehr auf Verfahrensprinzipien zu
verlegen. Was als Argumentationstheorie auftritt, besteht dann
im wesentlichen in der Empfehlung eigener Argumente fr geeignete Verfahren ohne viel Rcksicht darauf, w i e Juristen in praktischen Situationen tatschlich argumentieren. Inzwischen gibt es
bereits eine umfangreiche Diskussion ber Prozeduralisierung,
16
17
18
die sich offen zu diesem Programm bekennt. Damit ist keine Umstellung von Theorie auf Methode gemeint, jedenfalls keine Methode in dem Sinne, da die Sicherheit (Problemlosigkeit) der
Schritte gewhrleistet sein und die Reihenfolge der Argumente vorweg festgelegt werden knnte, mit denen man ein vorgestelltes Ziel
erreicht. Wie in der alten Rhetorik bleibt vieles der Kunstfertigkeit
und der Entscheidung im Moment berlassen, oder auch einfach
dem Zufall.
Entscheidend ist vielmehr die Einbeziehung von Zeit und Sequenz,
von Strategie und von Lernmglichkeiten in die Definition der Situation. Auch die in alter Weise auftretenden Prinzipien scheinen
sich zunehmend als verkappte Verhaltensvorschriften zu erweisen.
Wenn zum Beispiel Klaus Gnther Angemessenheit als Prinzip
der Normprfung in Anwendungssituationen empfiehlt, so fat er
damit die Regel der Unparteilichkeit und der Bercksichtigung aller
(!) Umstnde der Situation zusammen. ' Beides sind jedoch keine
Sachkriterien mehr, sondern lediglich Verfahrens- oder Verhaltensvorschriften fr die Erzeugung von inhaltlich dadurch noch nicht
bestimmten oder auch nur abgrenzbaren Entscheidungen. Und zudem fllt auf, da die Plausibilitt solcher Regeln ziemlich direkt
mit ihrer Unanwendbarkeit korreliert. Denn wie soll man alle Umstnde der Situation (und nur der Situation?) bercksichtigen knnen?
1
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18 Siehe etwa die Beitrge von Klaus Eder und von Karl-Heinz Ladeur in: Dieter
Grimm (Hrsg.),
22
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24
21 Ich beziehe mich hier auf eine Diskussion des Buches von D. Neil MacCormick /
Robert S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes: A Comparative Study, Aldershot
Hants. UK 1992, mit Richtern. Die vergleichende Analyse operiert auf einer Ebene
der Beobachtung zweiter Ordnung und unterscheidet deshalb Typen methodischer
Interpretation. Die Fallsensibilitt der Praxis lt sich diesen Typen schwer zuordnen, obwohl sie sich durchaus von generalisierenden Erwgungen und rekursiver
Einbeziehung anderer, hnlicher Flle leiten lt.
22 Siehe dazu vor allem Charles Fried, The Artificial Reason of the Law or: What
Lawyers Know, Texas Law Review 60 (1981), S. 35-58.
23 Ein wichtiger Hinweis hierzu bei Melvin Aron Eisenberg, The Nature of the Common Law, Cambridge Mass. 1988, S. 83 ff. (94): Ob mit Auslegung einer Entscheidungsregel oder mit Fallanalogie argumentiert werde, sei quivalent und hnge nur
davon ab, wie weit eine Entscheidungsregel schon vorformuliert sei. Zur kontinentalen Lehre siehe jetzt A.W.Heinrich Langhein, Das Prinzip der Analogie als
juristische Methode: Ein Beitrag zur Geschichte der methodologischen Grundlagenforschung vom ausgehenden 18. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 1992.
24 Da ein Argumentieren mit Analogien ein logisch nicht zu rechtfertigendes, eher
konservatives Prinzip ist, drfte allgemein anerkannt sein. The very process of
reasoning by analogy facilitates relative stability in the law, liest man bei F.James
Davis et al., Society and the Law: New Meanings for an Old Profession, New York
1962, S. 1 2 2 . In einer anderen, sogleich zu erluternden Terminologie kann man
auch sagen, da der Analogieschlu zwischen Redundanz und Variett vermittelt
und, gerade weil er logisch nicht determiniert ist, je nach Khnheit (oder: je nach
346
Wer Begrnden als Berufung auf Grnde versteht, wird sich gentigt sehen, auch Grnde zu begrnden. Wer Grnde zu begrnden
hat, braucht haltbare Prinzipien. Wer Prinzipien benennt, verweist letztlich auf die Umwelt des Systems, in der die benannten
Prinzipien ebenfalls anerkannt werden. Das gilt besonders, wenn
diese Prinzipien mit dem Zusatz moralisch oder ethisch oder
vernnftig ausgestattet werden. Wenn eine Argumentationstheorie so angelegt ist, kann sie die These operativer Geschlossenheit des
Rechtssystems nicht akzeptieren und wird dazu tendieren, aus der
Argumentationspraxis selbst Grnde zu gewinnen, die dagegen
sprechen. Dieser Gedankenzug strkt sich empirisch und moralisch
zugleich, und das knnte die Hrte der Diskussion ber das Theorem der operativen Geschlossenheit erklren. Aber knnen Prinzipien auf die Notwendigkeit, sich zu unterscheiden, verzichten?
Und wenn nicht: Wer trifft die Unterscheidung, wenn nicht das
Rechtssystem selbst? Auch kann man vermuten, da mit einem
Prinzip (Verhltnismigkeit, Angemessenheit, Werteabwgung
usw.) oft, wenn nicht immer, entgegengesetzte Entscheidungen begrndet werden knnen. Die Angabe eines Prinzips heit dann nur:
das Unterscheiden ins System zurckdelegieren. Schlielich verdeckt das Prinzip in der Statik seiner Formulierung die Zeitlichkeit
der Operationen des Systems, das laufende Wiederholen und Abndern, Kondensieren und Konfirmieren, distinguishing und over26
27
beabsichtigtem Ergebnis) mehr in die eine oder mehr in die andere Richtung tendieren kann.
2j Siehe auch den dies aufgreifenden Vortragstitel von Charles Fried a.a.O.
26 Auch Prozeduralisten, die einer solchen Festlegung auszuweichen versuchen, kommen nicht umhin, Verfahrensprinzipien zu benennen oder die Vernunft selbst fr
ein Prinzip zu halten, auf das man unangreifbar zurckgreifen kann.
27 Siehe dazu die verschiedenen Beitrge im Band 13 (1992), Heft 5 des Cardozo Law
Review.
347
ruling in der tglichen Praxis des Systems. Das mag dann dazu
dienen, Einheit vorzutuschen, wo im Zeitlauf Regeln gewechselt
werden, also Inkonsistenz fr Konsistenz auszugeben. Auch
wenn man vom Theorem der operativen Geschlossenheit des
Rechtssystems ausgeht, kann man also dem Prinzipiengebrauch in
der Begrndungspraxis Rechnung tragen; und wie im weiteren Verlauf unserer Analysen deutlich werden wird, knnte man Prinzipien als Redundanzformeln ansehen, die mit jedem Ausma an
Variett des Systems kompatibel zu sein scheinen.
In dem Mae, in dem die Anachronismen eines Prinzipienglaubens
und die Impraktikabilitt einer Flucht in Verfahrensdirektiven in
ihrer Unzulnglichkeit erkennbar werden, bleibt nur resolute Resignation im Stile der Frankfurter Schule - oder die Suche nach
anderen strukturreicheren Beobachtungsmglichkeiten. Es knnte
daran gedacht werden, die Frage nach den Bedingungen der Mglichkeit des Argumentierens zu stellen und im gleichen Zuge die
Autologik der Vernunft durch ein strker distanzierendes Instrumentarium zu ersetzen. Wenn dies gelingen soll, mu man freilich
przise genug angeben knnen, wie (das heit: mit welcher Unterscheidung) es geschehen soll.
28
II
Blickt man mit ausgeprgten Theorieinteressen auf das zurck, was
in den vergangenen Jahrzehnten unter der Bezeichnung Argumentationstheorie Karriere gemacht hat, findet man wenig Hilfreiches. Die in der juristischen Methodenlehre hauptschlich beachteten Anregungen arbeiten mit dekontextiertem, antikem und
frhmodernem Gedankengut, mit Begriffen wie Topik, Rhetorik,
Dialektik und schlielich Hermeneutik. Dabei wird der Zusammenhang dieser Formenlehren mit einer primr oralen, wenngleich
schon ber schriftliche Texte verfgenden Kultur und zugleich mit
Erstreaktionen auf eine durch Schrift suggerierte Bezweifelbarkeit
29
bersehen. Das ist nicht mehr unsere Situation. Eine zweite, eher
durch den linguistic turn der Philosophie ausgelste Welle normativer Theorien ber normatives Argumentieren hat die Jurisprudenz selbst kaum erreicht, sondern hlt sich in kritischer
Praxisferne. Mit einer Pauschalablehnung dieser Bemhungen ist
zwar ebenfalls wenig gewonnen, aber jedenfalls hat es Sinn, nach
anderen Mglichkeiten Ausschau zu halten.
Zunchst bentigen wir einen Begriff der Argumentation, der nicht
definitorisch bereits das Moment der Begrndung enthlt, sondern
uns die Mglichkeit bietet, nach den Bedingungen der Mglichkeit
und nach der Funktion von Begrndungen zu fragen. Wir bleiben
fr eine Weile noch bei der Selbstdarstellung von Argumentation als
Anbieten von vermeintlich berzeugungskrftigen Entscheidungsgrnden. Dann ist es hilfreich, sich klar zu machen, da diese
Grnde fr wiederholten Gebrauch angeboten werden mssen.
Schon im Einzelfall, schon bei ihrer Erfindung mssen sie auf ein
rekursives Netzwerk von Sttzerwgungen bezogen werden. Der
Einzelfall mu sich selbst im Kontext frherer und spterer Entscheidungen verorten. Das kann durch Analogiebildung, aber auch
durch Unterscheidung geschehen. Das anstehende Problem ist anders geschnitten als die, an die man bisher gedacht hatte. In beiden
Fllen, bei Analogiebildung wie bei Unterscheidung, steht in der
juristischen Argumentation (das unterscheidet sie von Reflexionstheorien) nicht das System vor Augen. Die Argumentation luft,
um eine alte aristotelische Terminologie zu benutzen, nicht de toto
ad seipsum, sondern de parte ad partem. Das heit, ebenfalls altsprachlich: Man bedient sich der wirkungstechnisch gnstigen,
auch in der Rhetorik und der Pdagogik bewhrten Orientierung an
exempla. Solche Beispiele werden von dem zur Entscheidung an30
31
32
30 Ein weiterer Grund fr dieses Begriffsrevirement liegt in typischen Schwchen teleologischer Begriffsbildung: da sie keinen Platz haben fr das Milingen, die
Korruption, das Nichterreichen des Zieles..Und auch der normale Ausweg, auf die
subjektive Intention des Begrnders abzustellen, fhrt in bekannte Schwierigkeiten, etwa die der Unterscheidung von Zweck und Motiv.
31 So der Philosoph gegen den Theologen bei Marius Salamonius de Alberteschis, De
Principatu ( 1 5 1 3 ) , zit. nach dem Neudruck Milano 1955, S. 26. Vgl. zur Vorgeschichte dieser Darstellung des Schlusses vom Teil auf einen anderen Teil (hos meros
prs meros) ohne Bezugnahme auf das Ganze Aristoteles* Analytica priora 69a
13-15.
32 So auch eine der eindrucksvollsten Darstellungen der Argumentationsweisen des
349
35
34
Von hier aus ist der Schritt nicht weit zu einer Darstellung der juristischen Argumentation mit Hilfe von Begriffen, die nicht als
Argumente taugen und in die argumentierende Kommunikation
auch gar nicht eingehen knnen. Wir formulieren den Begriff der
Argumentation dann ganz unabhngig von der Frage, wie gut ihre
Grnde sind, mit Hilfe von drei Unterscheidungen, nmlich ( i )
Operation/Beobachtung; (2) Fremdbeobachtung/Selbstbeobachtung; und (3) strittig/unstrittig. Juristische Argumentation ist demnach eine Kombination von jeweils einer Seite dieser Unterscheidungen, und zwar die Selbstbeobachtung des Rechtssystems, die in
ihrem rekursiv-autopoietischen Kontext auf vergangene bzw. antezipierte Meinungsverschiedenheiten ber die Zuordnung der Codewerte Recht bzw. Unrecht reagiert. Um Beobachtung handelt es
sich, weil es darum geht, Flle oder Fallgruppen an Hand von Unterscheidungen zu diskriminieren. Um Selbstbeobachtung, weil die
Beobachtungsoperation im Rechtssystem selbst abluft. Und um
streitveranlate Kommunikation insofern, als die bloe Disposition
36
34 Vgl. auch hierzu Levi a.a.O. (1948) an Hand spezifischer Regelentwicklungen in der
Praxis amerikanischer Gerichte.
35 Bei Levi a.a.O. liest man: rules are never clear (S. 501): rules are remade with
each case (S. S02); the rules change as the rules are applied (S. 503).
36 Dieser Begriff lt sich leicht ausweiten auf moralische bzw. wissenschaftliche A r gumentation, wenn man die Codes entsprechend auswechselt.
35
ber das Geltungssymbol oder auch die bloe Lektre des Gesetzes
aus dem Begriff der Argumentation ausgeschlossen sein soll.
Trotz all dieser Einschrnkungen umfat dieser Begriff noch Argumente, die der Funktion von Argumentation nicht gerecht werden etwa Argumente wie: der Grundherr hat immer recht, die Partei hat
immer recht, das Militr hat immer recht. Wir mssen daher zustzlich nach den Bedingungen fragen, die die Erfllung der Systemfunktion von Argumentation ermglichen.
Wie immer, wenn es um Bedingungen der Mglichkeit oder um
Funktionen geht, ist ein Beobachter zweiter Ordnung im Spiel.
Auf dieser Ebene zweiter Ordnung knnen wir die Frage stellen,
wie ein System seine eigene Autopoiesis mit Einschlu seiner
Selbstbeobachtung (also sich selbst) ermglicht, und auf diese Frage
antwortet ein anderes, auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung nicht sinnvoll einsetzbares Instrumentarium.
In Anlehnung an berlegungen, die ursprnglich aus der technisch
interessierten Informationstheorie stammen, unterscheiden wir Information und Redundanz. Information ist der berraschungswert
von Nachrichten, gegeben eine begrenzte oder unbegrenzte Zahl
anderer Mglichkeiten. Redundanz ergibt sich (zirkulr) daraus,
da sie beim Operieren autopoietischer Systeme in Anspruch genommen wird. Eine Operation verringert den Selektionswert anderer, etwa ein Satz den Auswahlbereich dazu passender Beitrge. Das
hat den Effekt, da die Auswahl von Anschluoperationen zugleich
leicht und schwierig wird - leicht, wenn der Auswahlbereich klein
ist, und schwierig, weil nun anspruchsvolle Selektionskriterien eingefhrt werden knnen, die nicht einfach zu erfllen sind, ja sogar
unter Umstnden nur durch eine vorsichtige Wiederausweitung des
37
38
37 An dieser Stelle trennen wir uns definitiv von Theorien, die den Begriff der Argumentation ausschlielich an Qualittsmerkmaien der Grnde, etwa an der Vernnftigkeit der Grnde ausrichten. Wir fragen statt dessen nach der Systemfunktion,
weil wir die eigene Analyse nicht den Grnden gefgig machen wollen, die im
System selbst mobilisiert werden. Das schliet es selbstverstndlich nicht aus, da
man bemerkt und zu schtzen wei, da die Juristen vernnftig oder sonstwie gut
(elegant, berzeugend usw.) zu argumentieren versuchen.
38 Wie leicht zu erkennen sein wird, nehmen wir hier Anregungen der Philosophie
Kants auf, ohne allerdings der weiteren Ausarbeitung die Unterscheidung empirisch/transzendental zugrunde zu legen. Man kann auf diese Unterscheidung um so
leichter verzichten, als mit der Unterscheidung von Beobachtung erster und zweiter
Ordnung eine Nachfolgebegrifflichkeit zur Verfgung steht.
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41
39 Siehe etwa Pierre Mimin, Le Style des jugements, 2. Aufl. Paris 1970, insb.
S.
99
ff.
40 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, Works III, S. 357, zitiert
nach David Lieb'erman, The Province of Legislation Determined: Legaltheory in
eigtheenth-century Britain, Cambridge Engl. 1989, S. 2.
41 Toward a Theory of Stare Decisis, Journal of Legal Studies 1 (1972), S. 1 2 5 - 1 3 4 . Vgl.
auch Giorgio Lazzaro, Entropia della Legge, Torino 1985.
353
ein System ber etablierte Redundanzen eine berlastung mit Informationen abwehrt, aber gerade auf diese Weise neue Feinheitsgrade im Unterscheiden und Bezeichnen gewinnen kann. Redundanzen schlieen also nicht nur Informationen aus, sie produzieren
auch Informationen, indem sie die Sensibilitt des Systems spezifizieren. Auf diese Weise gibt es im System dann Informationen, die
es in der nicht entsprechend vorbereiteten Umwelt nicht geben
kann. Die Reduktion von Komplexitt dient der Steigerung von
Komplexitt.
Sicher erfordert eine solche Entwicklung eine hohe Indifferenz gegenber der Umwelt des Systems. Nur sehr wenige Kommunikationen, die in der Umwelt kursieren, haben im Rechtssystem
Informationswert. Doch wre es zu einfach, den Bedarf fr Redundanzen ausschlielich als Abwehr von Umweltgeruschen (noise)
zu interpretieren. Ebensosehr mssen die Einzeloperationen des
Systems gegeneinander isoliert und dann aber selektiv verknpft
werden. Denn schon Systeme mit sehr geringer Gre, vom
Rechtssystem ganz zu schweigen, knnen nicht mehr alle Operationen mit allen anderen Operationen verknpfen. Strukturierte Komplexitt ist immer auf selektive Verknpfung der Elemente angewiesen, also auch, das ist nur die andere Seite der Medaille, auf Abwehr
von intern produziertem Rauschen. Information ist ein Unterschied, der fr das System einen Unterschied macht, der den
Systemzustand verndert (Bateson). Und die Auswahl derjenigen
Informationen, die diese Kapazitt haben sollen, ist die Funktion
von Redundanz. Die Operationen des Systems widmen sich zwar,
ihrer Intention nach, der Informationsverarbeitung, das heit: der
stndigen Umformung von Informationen in andere Informationen
fr andere Operationen. Aber wie ein Schatten begleitet diesen Vorgang die Reproduktion der Redundanzen des Systems. Shapiro
spricht von einem stream of reassurances, der neue Differenzen
nur in sehr geringer Zahl aufnehmen kann. " In einer anderen Begriffssprache mit evolutionstheoretischem, aber auch neurophysiologischem bzw. wahrnehmungstheoretischem (konstruktivistischem) Hintergrund knnte man Redundanzen auch als Attraktoren bezeichnen, die die Informationsverarbeitung organisieren.
42
43
42 A.a.O., S . 1 3 1 .
43 Vgl. z. B. Michael Stadler / Peter Kruse, Visuelles Gedchtnis fr Formen und das
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Der Begriff wird zwar nicht sehr klar definiert, aber der Theoriekontext macht zweierlei deutlich: Operationsfhigkeit unter Bedingungen, die als Chaos vorausgesetzt werden knnen, und einen
lokalen Bezug, der Schwerpunktbildungen ermglicht, ohne dafr
auf einen Bezug zur Einheit oder Ganzheit des Systems angewiesen
zu sein. Im evolutionstheoretischen Kontext heit dies, da Attraktorbildungen nicht auf einen sinngebenden Anfang oder Grund
zurckgefhrt werden knnen, sondern wie zufllig entstehen,
dann aber in ihren Folgen festgeschrieben werden. Das System ist
insofern ein historisches System ohne letzten Grund dafr, da es
so ist, wie es ist. Und im bewutseins- bzw. kommunikationstheoretischen Kontext heit dies, da Attraktoren als Werte fungieren, da man es also vorzieht, ihnen zu folgen, weil anderenfalls der
Ordnungsverlust, eben das Chaos, unertrglich wre.
Gesehen unter dem Gesichtspunkt der Koordination ist Redundanz demnach die invisible hand des Systems. Aber die sichtbare Hand einer organisatorischen Weisungshierarchie wre nicht
ein Gegenfall, wie diese Metapher vermuten lt, sondern ein Anwendungsfall; denn auch Weisungen einer obersten Instanz lassen
sich durch Redundanz tragen und geben den im System kursierenden Informationen nur eine spezifische Form (unter anderem: die
der Unverantwortlichkeit fr die Selektion, in der man durch die
Weisung gedeckt ist). Auch die sichtbare Hand (etwa des Gesetzgebers) steht demnach im Dienste der unsichtbaren Hand. An allen
Operationen sind die intendierte Selektion und die nichtintendierte
Reproduktion der Redundanzen des Systems zu unterscheiden.
Eine Operation, die nicht diesen Doppelaspekt aufweist, wre nicht
als eine Operation erkennbar, die zum System gehrt und das rekursive Netzwerk der Verknpfung von Operationen reproduziert.
Andere Rechtstheoretiker benutzen den Begriff der Institution, um
die rechtsimmanente Einschrnkung des Prozessierens von Rechtsfragen zu bezeichnen. Dabei wird jedoch zwischen Einschrn44
45
47
scheidungsidealen, die etwa die Optimierung von Einzelentscheidungen unter Auswertung von mglichst vielen Informationen im
Sinn haben.
Ein Systembegriff von Gerechtigkeit ist natrlich nicht punktuell in
Einzelentscheidungen zu realisieren. Er entzieht sich damit auch,
gegen die Meinung fast aller Autoren, die sich mit diesem Thema
befat haben, der moralischen Zurechnung oder deren ethischer
Bewertung. Statt dessen - wiederum: statt dessen - kommt es auf
die Vermeidung von Fehlern an, und das heit nun: die Vermeidung
erkennbarer Inkonsistenzen. Fehler sind, so gesehen, operative
Indikatoren fr die etwaige Ungerechtigkeit des Systems. Zugleich
dienen sie aber auch als Form von Erkenntnis, die es ermglicht,
sich von Entscheidungen anderer, die man als fehlerhaft ansieht, zu
distanzieren, also auf die Unmglichkeit absoluter Konsistenz aller
Entscheidungen zu reagieren.'" Wie immer, Fehler bleiben ein Erkenntnisschema der Beobachtung erster Ordnung, bei der man
versucht, sie zu vermeiden oder sie anderen anzulasten, aber nicht
nach den Bedingungen ihrer Mglichkeit, nicht nach der Konstitution von Redundanz fragt. Fr einen Beobachter zweiter Ordnung
tritt jedoch diese Frage der Erzeugung und Erhaltung ausreichender Redundanzen ins Zentrum des Interesses, und fr ihn ist
erkennbar, da es auch andere Systemimperative gibt als nur diesen
einen der Erhaltung von Redundanz. Denn wie knnte man sonst
das Wachstum des Systems erklren oder auch die (immer durch
Kritik modifizierte) Toleranz der Gesellschaft fr ihr Recht?
Liegt das Problem aber nur in den Beschrnkungen der Fhigkeit
zur Informationsverarbeitung, mit denen jedes System zurechtkommen mu? Geht es um bounded rationality im Sinne von
48
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Herbert Simon oder um die Notwendigkeit dezentralisierten Umgangs mit Komplexitt im Sinne von Hayek oder Lindblom?
Kann Konsistenz nur deshalb nicht erreicht werden, weil keine
Stelle ber die dafr notwendigen Informationen (die ja Informationen ber alle davon abhngigen Entscheidungen und alle Alternativen einschlieen mten) verfgt? Wenn es nur das wre, lge
die Lsung in einer radikalen Vereinfachung der Themen, mit denen
das System sich befat.
51
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Da dieser Ausweg nicht gangbar ist, wird klar, wenn man einsieht,
da Redundanz nicht die einzige Bedingung ist, von der die Autopoiesis des Systems abhngt. Eine zweite Bedingung nennen wir
Variett und meinen damit die Anzahl und Verschiedenartigkeit der
Operationen, die ein System als eigene erkennen und durchfhren
kann. Redundanz und Variett sind auf den ersten Blick kontrre
Erfordernisse: Redundanz ist die Information, die man bereits hat,
um Informationen bearbeiten zu knnen, und Variett ist die Information, die einem dazu noch fehlt. Je grer die Variett eines
Systems, desto schwieriger wird es, von einer Operation mit nur
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nur in wenigen Hinsichten auf andere durchschlagen, so wie umgekehrt die notwendige Information ber das Recht bei allen Entscheidungen in engen Schranken gehalten werden mu, weil man
anders nicht fr unterschiedliche Sachverhalte unterschiedliche
Entscheidungsmglichkeiten bereithalten knnte. Aber dies Erfordernis ist kein festes Systemma - etwa im Sinne einer negativen
Gerechtigkeit. Es variiert vielmehr mit der Komplexitt des Systems, die mit Autopoiesis noch kompatibel ist und nur ber loose
coupling kompatibel bleiben kann.
Variett und Redundanz sind, mit anderen Worten, aneinander steigerungsfhige Sachverhalte. Die Steigerungsmglichkeiten werden,
wie bereits gesagt, durch Analogiebildungen abgetastet, wobei es
entweder zur Generalisierung vorhandener Regeln kommt oder zur
Neubildung von Regeln fr Situationen, die als neuartig und damit
als noch nicht erfat angesehen werden. Im Laufe der Evolution
gelingt es zuweilen, Rechtsformen zu finden, die ein hheres Kombinationspotential realisieren. Dabei mag sich irgendwann herausstellen, da die Redundanzen des Systems, die so erfolgreich auf
hohe Variett eingespielt sind, mit Operationstypen (zum Beispiel
Formen individueller Rechtswahrnehmung) rechnen, die an Bedeutung verlieren, und umgekehrt mit Problemen (etwa solchen der
ffentlichen Gter oder des kollektiven Interesses an ertrglichen
Umweltbedingungen) nicht fertig werden, die inzwischen vorherrschende Bedeutung gewonnen haben. Oder es mag sich als zweckmig erweisen, Abgrenzungsgesichtspunkte, die unter dem Druck
von Variett zu viel Zweifelsflle erzeugen, zu ersetzen durch andere, die treffender zu generalisieren sind - zum Beispiel: Haftung
fr in sich gefhrliche Objekte durch Gefhrdungshaftung als Ab57
58
terbrechungen zu bezeichnen. Siehe W. Ross Ashby, Design for a Brain: The Origin
of Adaptive Behavior, 2. Aufl. London 1954, insb. S. I36ff., 153 ff.
57 Es liegt auf derselben Linie, ist aber eine fragwrdige Vereinfachung, wenn man
sagt, Evolution laufe auf eine Reduktion von Transaktionskosten hinaus, die anderenfalls bei einer Anpasssung an Umweltvernderungen anfielen. So Robert
C. Clark, The Interdisciplinary Study of Legal Evolution, Yale Law Review 90
(1981), S. 1238-1274.
58 Hierzu illustrativ die Diskussion ber Probleme der Entwicklung des Verfassungsrechts bei Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Staatswissenschaften und
Staatspraxis (1990), S. 5-33; neu gedruckt in ders., Die Zukunft der Verfassung,
Frankfurt 1991, S. 397-437.
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III
Redundanz ist zwar keine logisch ermittelbare Bestimmtheit. Sie
wrde, in Hegels Terminologie, nicht in den Bereich der Notwendigkeit, sondern in den Bereich des Zufalls gehren, da mit der
Bestimmtheit der einen Information noch nicht die Bestimmtheit
einer anderen gesetzt ist. Aber es handelt sich um einen sehr stark
prparierten Zufall und insofern doch um eine nur noch von wenigen Informationen abhngige Festlegung des Systems. In gleicher
Weise ist auch Schrift keine entscheidungsreife Determination des
Rechts. Wir hatten dieses Vorurteil (wenn es eines ist) mit der Diskussion des Textbegriffs bereits korrigiert. Schrift ist nur eine
Form, die eine Differenz von Textkrper und Interpretation, von
Buchstaben und Geist des Gesetzes erzeugt. Es gibt keine schriftliche Fixierung des geltenden Rechts, ohne da dadurch ein Interpretationsbedarf entsteht. Beides wird in einem Zuge, als eine ZweiSeiten-Form erzeugt. Sobald Texte geschrieben sind, entsteht daher
ein Problem der Interpretation.
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und Rhetorik fhrt mithin irre. Sie betont Unterschiede, die wir
vernachlssigen knnen. Man wird unterstellen drfen, da die
Interpretation nur das in den Text hineinliest bzw. aus ihm herausholt, was sich in der Kommunikation argumentativ verwenden lt.
Wrde der Text selbst schon garantieren, da alle Leser ihn in allen
Situationen gleichsinnig verstehen, bedrfte er keiner Interpretation. Interpretiert wird nicht zur Selbsterleuchtung, sondern zur
Verwendung in kommunikativen Zusammenhngen, wie immer selektiv dann Ergebnisse, Grnde, Argumente vorgetragen werden
und wie immer die Sicherheit, weitere Argumente nachschieben zu
knnen, zur Inanspruchnahme und Anerkennung von Autoritt
beitrgt. Man unterstellt dabei, da die an der Kommunikation Beteiligten denselben Text vor Augen haben. Die Schriftform des
Textes garantiert nicht unbedingt Grenzen der Khnheit des Interpretierens, wohl aber die Einheit des sozialen Zusammenhangs einer
kommunikativen Episode. Sie konstituiert ein soziales Medium fr
das Gewinnen neuer Formen, nmlich guter Grnde fr eine bestimmte Auslegung des Textes. Man kann sich vom Wortsinn des
Textes entfernen, solange man sich vom Wortsinn entfernt. Man
konstituiert damit erst die Differenz zwischen einem wrtlichen
und einem sinngemen Verstndnis, und das ist mglich, solange
und soweit die Interpretation die einheitstiftende Funktion des Textes nicht sprengt.
65
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Fr die juristische Interpretation/Argumentation gilt eine Besonderheit, die diesen Zusammenhang verstrkt. Sie mu eine Entscheidung ber Recht und Unrecht vorschlagen bzw. begrnden
knnen. Denn im Rechtssystem knnen Entscheidungen erzwungen werden, Gerichte (und das begrndet ihre Zentralstellung im
System) drfen sie nicht verweigern. Alle juristische Argumentation, die Textinterpretationen vortrgt, hat daher einen Entscheidungsbezug, und zwar einen Bezug auf Entscheidungen in Angele-
65 Selbst die Streitfrage, ob man selbst von der eigenen Argumentation berzeugt sein
msse oder nicht, wenn man andere berzeugen will, ist bekanntlich innerhalb der
Rhetorik diskutiert worden.
66 Beilufig, aber treffend, formuliert Alexander Hamilton, The Federalist Papers
N0.78, zit. nach der Ausgabe von Jacob E. Cooke, Middletown Conn. 1961, S. 525:
In such a case (bei Widersprchen zwischen Gesetzen) it is the province of the
courts to liqudate and fix their meaning and Operation (Hervorhebung durch
mich, N . L . ) .
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67 Das unterscheidet im brigen den Umgang mit Rechtstexten vom Umgang mit
literarischen Texten; aber auch vom Umgang mit sakralen Texten, die nur fr die
gleichsinnig Glaubenden diese Qualitt haben. Der Jurist kann sich den, fr den
bzw. gegen den er argumentiert, nicht aussuchen.
68 Dieses Rechtsinstitut ist selbst in hohem Mae interpretationsbedrftig, und durch
seine detaillierte Bestimmung wird dann zwischen Kontinuitt und Diskontinuitt,
zwischen Redundanz und Variett vermittelt. Eine bemerkenswert mavolle Darstellung gibt Neil MacCormick a.a.O. (1968).
69 Siehe zu einer Theorie der Argumentation, die Przedenzbindungen, Gesetzesinterpretation und die (besonderen Freiheiten der) verfassungsmigen berprfung
von Gesetzen in den Vereinigten Staaten bergreift, Levi a.a.O. (1948). In allen
Fllen stellt sich unausweichlich das Problem der Wiederholung von Entscheidungsregeln in immer neuen, immer anderen Fallsituationen.
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Dem entspricht, da Argumentation, ihrem Selbstverstndnis zufolge, Grnde vortrgt, einer bestimmten Interpretation den Vor70 Vergleiche zwischen angelschsischem und kontinentaleuropischem Rechtsgebrauch sehen hier oft Differenzen, die in der Praxis gar nicht bestehen. Die
Przedenzorientierung taucht nur in anderen Kontexten auf.
71 Das ist nichts anderes als eine in diesem Zusammenhang zum Ausdruck kommende
Version von Autopoiesis. Das System kann nicht sein eigenes Ende ins Auge
fassen, sondern operiert bis auf weiteres.
72 Mit MacCormick a.a.O. (1987), S. 162 ff. mu man in diesem Sinne Universalisierbarkeit und Generalisierbarkeit unterscheiden.
366
zug vor anderen zu geben. Grnde werden dabei, mit oder ohne
ausschlaggebendem Erfolg, als gute Grnde, als vernnftige
Grnde dargestellt. Sie heien in der Tradition auch rationes (rationes decidendi, reasons usw.). Uber die Begrndbarkeit dieser
Grnde vermag, wie oben gezeigt, schlielich nur noch die Vernunft Auskunft zu geben, indem sie sich selbst ins Spiel bringt. Im
Ergebnis fhrt diese Praxis des vernnftigen Argurnentierens dazu,
dem Recht selbst den Charakter einer durchdachten Vernnftigkeit,
eines Kondensats geprfter guter Grnde zu geben. Neil MacCormick bezeichnet diesen Zusammenhang als Institution. Dabei
ist auch impliziert, da es fr die Grndlichkeit einer Begrndung
noch weitere Kriterien geben msse als die in den Grnden selbst
genannten - etwa solche der Professionalitt, der Eleganz, der
Knappheit und nicht zuletzt: das Vermeiden von Lcherlichkeit.
Im Ergebnis entsteht aus all diesen Kontrollvorgngen, bei denen
man gerade auch aus Versten lernt, eine Tradition von Prinzipien,
Entscheidungsregeln, Doktrinen, aber auch abgelehnten Alternativkonstruktionen, die das Reservoir bildet, aus dem dann die
Gesetzgebung und vor allem die richterliche Rechtsbildung schpfen. Das Resultat ist wieder Schrift - also wieder interpretierbar.
Die Realitt dieses strukturellen Bezugsgersts liegt nicht in einer
fr sich bestehenden Ideen-Sphre, sondern allein in den tatschlichen kommunikativen Operationen des Systems, die es benutzen oder vergessen.
73
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Ein solches Gewebe von Entscheidungsgesichtspunkten - wir nennen es Rechtsdogmatik - kann auch innovativ eingesetzt werden.
Man kann spter erkennen, da bei der frheren Festlegung von
Regeln bestimmte Konstellationen bersehen oder schlichtweg Argumentationsfehler begangen worden sind. Das mag ein Anla sein,
den damals gemeinten Sinn zu rekonstruieren oder auch neue Regeln einzufhren. Die Haftung aus Verschulden wird durch Gefhr75
73 Siehe insb. seine Beitrge in: Neil MacCormick / Ota Weinberger, An Institutional
Theory of Law: New Approaches to Legal Positivism, Dordrecht 1986.
74 Nicht alle, aber einige der Begriffsexerzitien, die Rudolf von Jhering, Scherz und
Ernst in der Jurisprudenz, 2. Aufl. Leipzig 1885, gesammelt hat, knnten hier als
Belege dienen. Sie sind Beispiele nicht fr die Irrtmer einer Begriffsjurisprudenz
(denn sie knnten ebensogut im Bereich der Interessenjurisprudenz gesammelt
werden), sondern Beispiele fr Verste gegen den juristischen Geschmack.
75 Vgl. im Kontext von Evolution oben Kapitel 6, III.
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Whrend diese berlegungen sich auf eine breite rechtstheoretische, rechtshistorische und methodologische Diskussion sttzen
knnen, ist bisher kaum beachtet worden, da Grnde Differenzen
erzeugen und ber das, was sie ausschlieen, auf sich selbst ver78
76 Fr den Fall einer abrupten, durch Rechtsprechung ausgelsten Wende im japanischen Umweltrecht siehe Helmut Weidner, Bausteine einer prventiven Umweltpolitik: Anregungen aus Japan, in: Udo Ernst Simonis (Hrsg.), Prventive Umweltpolitik, Frankfurt 1988, S. 143-165.
77 Vgl. auch Peter Goodrich, Reading the Law, Oxford 1986, S. 123 : The view that a
facet of a statutory text is absurd does not connote a critical valuation of the text
from outside the legal culture and professional comptence, but rather invokes the
catgories of legal doctrine, or the rationality and justice of the law, to secure an
acceptable meaning for the text within the wider legal genre to which it belongs.
78 Vgl. zum Grundstzlichen Jean-Franois Lyotard, Le diffrend, Paris 1983.
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weisen. Bernard Rudden nennt dies inbuilt consequence, verfolgt diesen Gedanken aber nicht sehr weit. Vielleicht hat die allzu
punktuelle Auffassung von Grnden den Einblick in solche Tatbestnde erschwert. Denn Grnde sind nicht etwa einfach zu bezeichnende Gesichtspunkte, sondern komplexe Gedankengnge, die ihre
Ausschlieungseffekte mitrechtfertigen. Nur im Hinblick auf ihre
Wiederverwendung oder als Folge davon werden sie zu Regeln kondensiert, damit ihre Identitt erkennbar und zitierbar bleibt. Zugleich konfirmiert die Wiederverwendung den Grund als auch fr
andere Entscheidungen geeignet und gibt ihm damit einen generalisierten und angereicherten Sinn. Der Ertrag solcher Konfirmierungen kann seinerseits kondensiert werden zu Prinzipien, die
offenlassen, wovon sie ihrerseits sich unterscheiden, vielmehr als
letzte Entscheidungsgesichtspunkte behandelt/gehandelt werden.
Es braucht Zeit und vor allem die Erfahrung vieler Flle, um solche
Prinzipien reifen zu lassen. Ihre berzeugungskraft wchst durch
Bewhrung in verschiedenartigen Sachlagen. Wenn all dies erarbeitet ist, ist es nicht mehr so leicht, traditionsreich etablierte Grnde
abzulehnen und durch neue Grnde zu ersetzen. Die Tradition
macht zu deutlich sichtbar, was dann alles anders entschieden wer80
81
82
79 Consequences, Juridical Review 24 (1979), S. 1 9 3 - 2 9 1 , insb. 194, 199 f. Inbuilt consequence ist the effect of a rule upon itself.
80 Unter anderem ist zu bedenken, da sehr oft die Reihenfolge der Argumente eine
Rolle spielt, zum Beispiel fr die Frage, welche Beweise erhoben werden mssen,
also in welchen Hinsichten das System Umweltkontakt suchen mu. Siehe hierzu
Laurens Walter / John Thibaut / Virginia Andreoli, Order of Presentation at Trial,
Yale Law Journal 82 (1972), S. 216-226; Michael E. Levine / Charles R. Plott,
Agenda Influence and Its Implications, Virginia Law Review 63 (1977), S. 561-604;
Charles R. Plott / Michael E. Levine, A Model of Agenda Influence on Committee
Decisions, American Economic Review 68 (1978), S. 1 4 6 - 1 6 0 . Zu einem weiteren
Aspekt Wolfgang Schild, Der Straftatbegriff als Argumentationsschema, in: Winfried Hassemer et al. (Hrsg.), Argumentation und Recht, Beiheft N . F . 1 4 des
Archivs fr Rechts- und Sozialphilosophie, Wiesbaden 1980, S. 213-229. Man kann
den glcklichen Begriff des Argumentationsschemas akzeptieren, auch wenn man
der Meinung nicht folgt, da es sich dabei um ein Abbild des ontologischen Stufenbaus der Wirklichkeit (a.a.O., S. 214) handeln msse.
81 Mit der Unterscheidung von Kondensierung und Konfirmierung als zwei Lesarten
einer Unterscheidung im Zuge ihrer Wiederverwendung folge ich einer Anregung
von George Spencer Brown, Laws of Form, Neudruck New York 1979, S. 10.
82 Die Notwendigkeit einer (begrifflich schwer zu klrenden) Unterscheidung von
Regeln und Prinzipien wird vor allem in der Literatur zum Common Law betont wohl wegen der dort wichtigeren Funktion von Entscheidungsregeln.
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den mte. Zumeist werden daher neue Gesichtspunkte nur hinzugefgt - sei es als Ausnahmen von fortgeltenden Regeln, sei es als
neue Prinzipien fr bisher nicht erfate oder nur fehlerhaft erfate
Flle. Das vorliegende Recht wird nicht eigentlich in seinen Prinzipien, sondern in dem, was sie auszuschlieen schienen, fortentwikkelt. Das, was bereits gilt, wird in seiner Kehrseite modifiziert.
Argumentation macht ein System komplexer mit erheblichen Folgen fr die dann einsetzenden begrifflichen (rechtsdogmatischen)
Systematisierungen.
Vor allem die Rechtstechnik des Common Law mit dem hohen Ma
an Aufmerksamkeit fr die Regeln (und nicht nur: fr die Gesetze),
die die Entscheidung determinieren, macht diesen Ausschlieungseffekt deutlich, und die darauf bedachten kontroversen Pldoyers
der Parteivertreter (barrister) tragen das ihre dazu bei, da Urteilsbegrndungen die Vor- und Nachteile entgegengesetzter Regeln
gegeneinander abwgen. Die Meinungsverschiedenheiten im Richterkollegium werden nicht verdeckt, sondern publiziert , so da
die Kontroversstruktur der Grnde fr knftige Bezugnahmen zur
Verfgung steht. Im Vergleich dazu trgt die juristische Argumentation in den kontinentaleuropischen Rechtsordnungen eher die
Zge einer als richtig vertretenen Exegese. Allerdings darf der Unterschied, vor allem fr die neuere Zeit, nicht berschtzt werden ;
und auerdem ist zu bedenken, da auch die festgehaltene Einzelfallkontroverse keineswegs den gesamten Ausschlieungseffekt
einer gut begrndeten Regel sichtbar macht.
Mit all dem sollte klar geworden sein, da Grnde etwas verschweigen mssen, und zwar ihre Redundanz. Sie verwenden Unterscheidungen mit ihrer bezeichneten, nicht mit ihrer unbezeichneten
Seite. Was nicht bezeichnet wird, kann auch nicht benutzt werden.
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Achtet man genauer darauf, da alles Bezeichnen von Unterscheidungen abhngt einschlielich der Bezeichnung Dekonstruktion,
kommt man bereits auf ein besser vertrautes Gelnde. Die Unterscheidungen lassen ein crossing zu. Man kann fragen, welche
Entscheidungen durch welche Entscheidungen, welche Grnde
durch welche Grnde ausgeschlossen sind. Man kann auf der anderen Seite der Unterscheidung eine Bezeichnung ansetzen und damit
die Unterscheidung selbst unterscheiden als ein auf beiden Seiten
spezifiziertes Beobachtungsinstrument. Das fhrt zwar nur zur Bezeichnung der Unterscheidung und verschweigt dann die andere
Seite der Unterscheidung, die fr diese Bezeichnung bentigt wird.
Wovon, knnte man dann weiter und immer weiter fragen, unterscheidet sich die Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung? Dekonstruktivisten werden nie arbeitslos. Aber unter
ihren Blicken kann das Rechtssystem Schritt fr Schritt eine Unterscheidungsarchitektur entwickeln, mit der es die jeweils sich stellende Aufgabe der Vermittlung von Variett und Redundanz zu
87
8j Vgl. das Kapitel The Inscrutabifity of Silence and the Problem of Knowledge in the
Human Sciences, in: Steve Fller, Social Epistemology, Bloomington Ind. 1988,
S..39.
86 Anzumerken wre hier, da Amerikaner mit ihrem aufs Praktische gerichteten Sinn
Dekonstruktion fr eine Methode halten und sie, vor allem in den Literaturwissenschaften, aber auch in einigen Rechtsschulen, anzuwenden versuchen. Das
widerspricht jedoch dem ursprnglichen Sinn des Begriffs, den Derrida bewut im
Vagen belassen hatte und mit spteren Selbstkommentierungen immer weiter dekonstruiert.
87 Fr einen mglichen Zusammenhang von Dekonstruktion und Beobachtung
zweiter Ordnung lesenswert: J. M. Balkin, Nested Oppositions, Yale Law Review
99 (1990), S. 1669-1705. Siehe auch ders., Deconstructive Practice and Legal
Theory, Yale Law Journal 96 (1987), S. 743-786.
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erfllen sucht. Weitere Fragen sind erlaubt, wenn Unterscheidungen beidseitig spezifiziert werden knnen und der dies Anregende
damit zu erkennen gibt, da er seinerseits etwas verschweigt. Das ist
nur eine andere Version der These, da ein System nur im System
und nicht in der Umwelt operieren kann.
IV
Grnde sind Unterscheidungen eines Beobachters. Im Kontext juristischer Argumentation beobachtet der Beobachter einen Text
und verschafft sich durch dessen Interpretation den Freiraum fr
einen eigenen Begrndungsentwurf, der weitere re-limitierende
Gesichtspunkte in Betracht zieht. Der Beobachter kann sich also
nicht damit begngen, das vorzustellen, was er fr besser hlt. Auch
eine abstrakte Werteabwgung mu sich vom Text her rechtfertigen
lassen; sonst verliert sie juristisch Hand und Fu. Und sie darf sich
Interpretationsfreiheiten nur schaffen in der Absicht, sie mit Hilfe
des Rechts selbst wiedereinzuschrnken. Gute Grnde allein gengen nicht, man mu auch zeigen, da sie mit geltendem Recht
konsistent sind - zum Beispiel dadurch, da man eine Norm in zwei
verschiedene Auslegungen spaltet und dann eine von diesen in Anspruch nimmt, um den Grund als begrndet darstellen zu knnen.
Nur wenn die Konsistenz mit geltendem Recht bewiesen ist, interessiert berhaupt, wie gut die guten Grnde sind.
Damit ist aber noch keineswegs geklrt, welche Funktion das Argumentieren mit Grnden berhaupt erfllt. Der Beobachter des
Textes stellt es so dar, als ob es darum gehe, den besseren Grnden
zum Sieg zu verhelfen. Er ist als Teilnehmer am Rechtssystem gehalten, Anliegen als entscheidbar darzustellen. Er kann sich nicht
damit begngen, auf seine Prferenzen oder seine Interessen aufmerksam zu machen. Er steht unter einem systemspezifischen
Formzwang, der sich daraus ergibt, da das System binr codiert ist
und als Code nur die Werte Recht und Unrecht anerkennt. Das mag
fr ihn als Insider des Systems zutreffen, gibt aber noch keinen
Aufschlu ber die Frage nach der Funktion des Argumentierens.
Um fr diese Frage eine Antwort zu finden, beobachten wir die
Beobachter der Texte mit Hilfe der bereits eingefhrten Unterscheidung von Variett und Redundanz. Wir erreichen damit die Ebene
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373
Rechtsgeltung zu einer Entscheidung zu verhelfen, und es wird deshalb als ein Kriterium (nur) der Ethik angesehen. Das Geltungsproblem wird in die Unterscheidung von Recht und Ethik aufgelst
mit der Folge, da Gerechtigkeitsforderungen in der juristischen
Praxis als juristisch unschdlich und als argumentativ unbrauchbar
behandelt werden knnen. Interpretiert man dagegen das Postulat
der Gerechtigkeit als Postulat der Konsistenz des Entscheidens
(gleiche Flle seien gleich und ungleiche ungleich zu behandeln) ,
kann man Konsistenz als Redundanz auffassen und damit als die
eine Seite einer Unterscheidung, deren andere, nmlich Variett,
offenbar verhindert, da es in der Welt des Rechts gerecht zugeht.
Was mit der Unterscheidung von Variett und Redundanz zustzlich gewonnen wird, ist die Einsicht, da die Angelegenheit noch
eine andere Seite hat. Und das sind nicht etwa die weniger guten
Grnde oder das unbegrndete (dezisionistische) Entscheiden,
wie der Textinterpret meinen wrde, sondern die Erfordernisse
einer ausreichenden (und unter modernen Bedingungen: hohen)
Variett des Systems.
89
Fr die Operationen des Rechtssystems ist es notwendig, die berzeugungskraft der besseren Grnde zu kommunizieren, was immer
die Beteiligten psychisch dabei erleben und wie immer unaufrichtig dies geschieht. Von den psychischen Motiven auch der Richter
wird abgesehen - es sei denn, da das Recht selbst sie fr relevant
hlt, zum Beispiel bei Verdacht der Befangenheit (und selbst dann
mu bekanntlich nicht die Befangenheit bewiesen werden, sondern
nur die Mglichkeit eines Verdachtes). Auch die Anwaltsethik wird
dadurch stabilisiert, da es in der Kommunikation immer so aussehen mu, als ob der Anwalt von den Grnden berzeugt sei, die fr
seinen Mandanten sprechen; und dies kann nicht mit beliebigen
Grnden geschehen, sondern nur in den Schranken juristischer Argumentation. Ein Beobachter dieser Kommunikationsweise (wir
also) kann sie aber doppelt sehen: zugleich als notwendig und als
kontingent - als notwendig fr das System und als kontingent insofern, als die Variett der Flle ein stndiges Neuberlegen erzwingt
und das System mit Redundanz allein nicht auskommt. Man gewinnt damit ein Verstndnis fr die Notwendigkeit der Nichtnotwendigkeit aller Grnde und damit ein Verstndnis fr den
paradoxen und fruchtbaren Effekt von Schrift.
Wer Argumentation allein als Suche nach guten Grnden unter Vermeidung von Fehlern auffat, beschreibt ein sich durch Argumentation festlegendes System. Erst wenn man die durch Rechtsflle
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Der bergang von der Begrndungssuche zum Schema Variett/Redundanz, der bergang also von der Beobachtung zweiter
zur Beobachtung dritter Ordnung schliet das Beibehalten handlungstheoretischer Prmissen, in denen die Argumentationstheorie
normalerweise formuliert wird, aus und erzwingt den bergang
zur Systemtheorie. Argumentieren erscheint jetzt nicht mehr als
mehr oder weniger erfolgreiches Handeln (obwohl zu konzedieren
ist, da es auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung so
beschrieben werden kann), sondern als massenhaftes und gleichzeitiges Geschehen in einem komplexen System ohne klare Linienfhrung, mit Clusterbildungen an Hand bestimmter Texte, aber
ohne Hierarchiebildung und ohne Teleologie, bezogen auf das Gesamtsystem. Wie von einem Flugzeug aus sieht man auf das leicht
gerunzelte Meer der Argumente. Ein Gesamtsinn ist nicht vom Ziel
der einzelnen Operationen her erkennbar, auch nicht als Aggregation solcher Einzelziele, sondern nur als Funktion der Tatsache, da
berhaupt argumentiert wird. Und eben das mu dann in der Begrifflichkeit von Variett und Redundanz ausgedrckt werden.
92 Im Problem der Selbstorganisation und des Lernens lag denn auch diejenige
Schwierigkeit, die Henri Atlan dazu gefhrt hat, Systeme als Ordnung des gegenlufigen Verhltnisses von Redundanz und Variett zu begreifen.
93 Diese Differenz scheint, aber das bedrfte der historischen berprfung, in der
Unterscheidung von iustitia und aequitas Ausdruck zu finden, die erst in der Neuzeit endgltig aufgegeben worden ist.
3/6
V
Da Grnde begrndet werden mssen, steht fest, denn es gibt
bessere und schlechtere Grnde. Auerdem schlieen sie etwas aus,
und auch das bedarf der Begrndung. Damit steht aber noch nicht
fest, wie Grnde begrndet werden knnen. Sofern der eindeutige
Wortsinn des Textes ausreicht (Geschwindigkeitsbegrenzung
loo km/h), ist das kein Problem. Bei jeder interpretativen Argumentation, die darber hinausgeht, stellt sich jedoch die Frage des
94
95
wie.
377
liehen Dekoration von Begrndungen, aber die wirkliche Argumentation begrndet sich, daran kann, empirisch gesehen, gar kein
Zweifel bestehen, durch Beurteilung der Folgen von Rechtsentscheidungen; oder genauer: durch Beurteilung der unterschiedlichen Folgen, die bei der Annahme unterschiedlicher Regeln
eintreten wrden. Schon das Naturrecht hatte auf den gesellschaftlichen Nutzen der Rechtsnormen abgestellt , allerdings gesttzt
auf die Legalvermutung, da dieser Nutzen im Zweifel zu unterstellen sei. Nutzen war nur die Dachformel fr die seit eh und je
bliche Alternativenberlegung in der Form: was wre der Fall,
wenn nicht diese, sondern eine andere Regel gelten wrde." Auch
die Billigkeit (aequitas) diente im Rahmen der frstlichen iurisdictio
als Korrektiv fr unannehmbare Folgen strenger Rechtsanwendung. Das bot jedoch noch kaum Spielraum fr dogmatische
Gestaltung im Hinblick auf spezifische Folgen bestimmter Rechtskonstruktionen oder Entscheidungsregeln, sondern diente eher als
Korrelat der Unterscheidung von unvernderlichem und vernderlichem Recht. Inzwischen hat sich die Kontrolle des Rechts an
Hand erwnschter bzw. unerwnschter Folgen als einzig berzeugendes Prinzip durchgesetzt und ist in der Rechtstheorie wohl
einhellig akzeptiert und auch durch sorgfltige Entscheidungs97
98
100
101
97 Siehe z. B. Thomas von Aquino, Summa Theologiae IIa Ilae q. 57 a.3 mit der
Unterscheidung secundum sui rationem und secundum aliquid quod ex ipso consequitur, illustriert am Beispiel des Nutzens des Ackerbaus.
98 So Jean Domat, Les loix civiles dans leur ordre naturel, 2. Aufl. Paris 1697, Bd. 1,
S. L X V : Gerechtigkeit des positiven Rechts sei dessen justice particulire**, und
dann S. X C I fr eine prsomption pour l'utilit de la loy, nonobstant les inconveniens.
99 Zum Beispiel Alexandre Beileguise, Trait de noblesse et de son origine, Paris
1700, S. 145 ff. Was wre der Fall, wenn man den Adel nach Verlust durch eine
derogierende Ttigkeit (Handel) mit deren Einstellung ohne besondere lettres de
rhabilitation des Knigs wiedererwerben wrde: Man knnte dann wochenweise
zwischen adeligem und nichtadeligem Status hin und her pendeln, Steuerpflicht
wre unklar usw.
oo Und dies bereits im Wege der Interpretation. Siehe Domat a.a.O., Bd. 1, S. 19:
Les loix naturelles sont mal appliques, lorsqu'on en tire des consquences contre
l'quit. Oder mit umgekehrter Blickrichtung gegen leichtfertige Innovationen
. (qui ad pauca respicit facile pronunciat) Haie a.a.O., S. 504: The Expounder
must look further than the prsent Instance, and whether such an Exposition may
not introduce a greater inconvenience than it remdies.
101 Vgl. etwa Adalbert Podlech, Wertungen und Werte im Recht, Archiv des ffentlichen Rechts 95 (1970), S. i8$-223, insb. 198ff.; Wolfgang Kilian, Juristische
3/8
102
104
Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung: Methodenorientierte Vorstudie, Frankfurt 1974, S. 2 1 1 ff. Gunther Teubner, Folgenkontrolle und responsive
Dogmatik, Rechtstheorie 6 (1975), S. 179-204; Thomas Sambuc, Folgenerwgungen im Richterrecht: Die Bercksichtigung von Entscheidungsfolgen bei der
Rechtsprechung, errtert am Beispiel des Paragraphen 1 U W G , Berlin 1977; Thomas W.Wlde, Juristische Folgenorientierung: Policy Analysis und Sozialkybernetik: Methodische und organisatorische berlegungen zur Bewltigung der
Folgenorientierung im Rechtssystem, Knigstein /Ts. 1979; Hubert Rottleuthner,
Zur Methode einer folgenorientierten Rechtsanwendung, in: Wissenschaften und
Philosophie als Basis der Jurisprudenz. Beiheft 13 des Archivs fr Rechts- und
Sozialphilosophie, Wiesbaden 1 9 8 1 , S . 9 7 - 1 1 8 ; Hans-Joachim Koch / Helmut
Rmann, Juristische Begrndungslehre: Eine Einfhrung in Grundprobleme der
Rechtswissenschaft, Mnchen 1982, S. 227ff.; siehe aber auch zu den besonderen
Problemen des Strafrechts Winfried Hassemer, ber die Bercksichtigung von
Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze, Festschrift Helmut Coing, Mnchen
1 9 8 2 , 5 . 4 9 3 - 5 2 4 , und zur Diskussion ber Reformalisierung des Straf rechts in den
U S A Joachim J. Savelsberg, Law That Does Not Fit Society: Sentencing Guidelines as a Neoclassical Reaction to the Dilemmas of Substantivized Law, American
Journal of Socioiogy 97 (1992), S. 1 3 4 6 - 1 3 8 1 .
102 Vgl. insbesondere MacCormick a.a.O. (1978).
103 Da eine sorgfltige Analyse von Zweck/Mittel-Strukturen gerade in der pragmatisch-instrumentalistischen Rechtstheorie vernachlssigt wurde (und, wie man
sich denken kann, aus gutem Grund!), wird neuerdings gesehen. Siehe Robert
Samuel Summers, Instrumentalism and American Legal Theory, Ithaca 1982,
S.6off., 240ff., 255fr. Entsprechend nimmt die Kritik zu bis hin zu erneuerten
Interessen an analytischer Jurisprudenz.
104 Siehe dazu Robert Nagel, Legislative Purpose, Rationality and Equal Protection,
Yale Law Journal 82 (1972), S. 1 2 3 - 1 5 4 , der mit guten Grnden die Neigung von
Gerichten kritisiert, den Gesetzgeber an Standards der Zweckrationalitt zu messen und ihm Defekte in dieser Hinsicht (hinter denen sich politische Kompromisse
verbergen mgen) anzulasten. Im deutschen Recht, wo viel mehr mit dem Willen
des Gesetzgebers argumentiert und viel weniger auf przise Fixierung von Entscheidungsregeln geachtet wird, ist diese Warnung um so mehr angebracht. Der
379
stemtheoretische Beschreibung legt es demgegenber nahe, zunchst einmal systeminterne und systemexterne Folgen zu unterscheiden.
Systeminterne Folgen sind Rechtsfolgen, und ihre Beachtung ist
selbstverstndlich geboten. Das ist ein normales Moment der Rekursivitt aller zu begrndenden Rechtsentscheidungen, die nicht
nur vergangene, sondern auch knftige Entscheidungen in Betracht
zu ziehen haben. Wenn ber Entscheidungsgrnde und die sie generalisierenden Regeln diskutiert wird, gehrt es zum Test zu
prfen, welches Verhalten im Falle der Annahme einer solchen Regel rechtmig bzw. rechtswidrig sein wrde.
Geht es zum
Beispiel um die Frage, ob das Aufstellen von Waren in den Regalen
eines Selbstbedienungsladens bereits ein Vertragsangebot ist und die
Entnahme von Waren aus den Regalen demgem zum Vertragsabschlu fhrt, so ist zu bedenken, da in diesem Fall ein Zurckstellen von Waren in die Regale juristisch nicht mehr mglich ist, und
andererseits das Mitnehmen unbezahlter Waren kein Diebstahl,
sondern lediglich die Nichterfllung einer Vertragspflicht wre.
Ein Jurist wird die Folgen dieser Konstruktion fr unakzeptabel
halten, ganz ohne Rcksicht auf die empirische Frage, wie die Leute
in Selbstbedienungslden sich empirisch verhalten wrden, wenn
die eine bzw. andere Rechtskonstruktion glte. Ein solches Urteil
bedarf keiner empirischen Prognose. Es ist nicht mit den entsprechenden Unsicherheiten belastet. Es kann im Zeitpunkt der Entscheidung auf Grund verfgbarer Rechtskenntnisse bereits mit der
blichen Sicherheit von Rechtsauffassungen getroffen werden. Es
105
106
107
Richter fingiert hier oft ein Zweckprogramm, das er selbst nicht aufstellen drfte,
aber fr seine Entscheidung bentigt, als Resultat von Politik.
105 Das ist selbstverstndlich auch ohne explizite systemtheoretische Begrifflichkeit
mglich. Siehe zum Beispiel die Unterscheidung von behavioural consequences
und juridical consequences bei Rudden a.a.O. und im Anschlu daran Neil MacCormick, Legal Decisions and Their Consequences: From Dewey to Dworkin,
New York University Law Review 58 (1983), S. 239-258. Zur Unterscheidung von
Rechtsfolgen und Realfolgen auerhalb des Rechtssystems vgl. auch Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974, S. 4 1 , und ausfhrlich
Gertrude Lbbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen: Welche Rolle knnen Foigenerwgungen in der juristischen Regel- und Begriffsbildung spielen?, Freiburg
1981.
106 Darauf stellt auch Mac Cormick a.a.O. (1983) ab, seine in dieser Hinsicht noch
unausgearbeiteten Ausfhrungen von (a.a.O.) 1978 interpretierend.
107 Das Beispiel stammt von Rudden a.a.O.
38c
109
108 Das zeigen im brigen auch rechtssoziologische Untersuchungen, die jedoch bei
einem so wichtigen Thema noch auffallend selten sind. Siehe aber James W. Marquart / Sheldon Eckland-Olsen / Jonathan R. Sorensen, Gazing Into the Crystall
Ball: Can Jurors Predict Dangerousness in Capital Cases?, Law and Society Review 23 (1989), S. 459-468,
109 Aus eigener Erfahrung: Die Frage, ob eine nderung des ffentlichen Dienst-
381
111
112
rechts mit Aufgabe des Prinzips der Lebenszeitanstellung Folgen fr die Nachwuchsrekrutierung haben wrde, und wenn ja: welche?, lt sich empirisch nur
sehr schwer und nur mit sehr zeitabhngigen (z. B. arbeitsmarktabhngigen) Indikatoren testen. Vgl. die Untersuchung im Auftrag der Kommission fr die Reform
des ffentlichen Dienstrechts (1970-73) von Niklas Luhmann / Renate Mayntz,
Personal im ffentlichen Dienst: Eintritt und Karrieren, Baden-Baden 1973. Erst
recht wrde das gelten, wenn man weitere, ffentlich diskutierte und in der politischen Argumentation wichtige Fragen einbezogen htte, etwa Rckwirkungen
auf das Berufsethos und die politische Unabhngigkeit der Beamten. Die Bedeutung der Sozialwissenschaften fr die Rechtspflege drfte nach allem weniger in
der Sicherung von Prognosen liegen, als in der Ausweitung der Problemstellungen, also in einem Beitrag zur Erhhung von Variett, der das Wiedergewinnen
von Redundanz nicht einfacher, sondern schwieriger macht. Vgl. zu diesem Thema
mit viel Material Paul L. Rosen, The Supreme Court and Social Science, Urbana
III. 1972.
1 1 0 So in breiter historischer Perspektive N. E. Simmonds, The Decline of Juridical
Reason: Doctrine and Theory in the Legal Order, Manchester 1984. Vgl. auch
Helmut Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung
von Juristen, Juristenzeitung 29 (1974), S. 410-416; neu gedruckt in ders., Die
Soziologen und das Recht, Opladen 1980, S. 196-214.
1 1 1 Siehe als gemeinsame uerung eines Juristen und eines Soziologen Hans Joachim
Bhlk / Lutz Unterseher, Die Folgen der Folgenbercksichtigung, Juristische
Schulung 20 (1980), S. 323-327.
1 1 2 MacCormick a.a.O. (1983), S. 254, kommt dagegen zu dem Schlu: So, in the
main, what I shall call consequentialist reasoning law is focused not so much on
estimating the probability of behavioural changes, as on possible conduct and its
certain normative Status in the ght of the ruling under scrutiny, mu dann aber
als Ersatz fr diese riskante conjectural answer ihrerseits nicht unproblemati-
382
Er kann in der Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung Begrndungstrends beobachten und wird vermuten drfen, da ein
Trend zu empirischer Folgenprognose eher der Variett als der Redundanz des Systems zugute kommt und Responsivitt im Verhltnis zu gesellschaftlich verbreiteten und wechselnden Prferenzen an
die Stelle dessen setzt, was traditionell Gerechtigkeit heit.
Auf eine lange Geschichte der Begrndungsreflexion reagiert das
Rechtssystem gewissermaen pervers: Je mehr man nach Notwendigkeiten sucht, desto mehr Kontingenzen entdeckt man. Je
mehr man es vermeiden mu, sich dem Begrndungsparadox zu
stellen und die Unbegrndbarkeit der Grnde zuzugestehen, desto
mehr verlagert sich das Argumentieren vom Sicheren ins Unsichere,
von der Vergangenheit in die Zukunft, vom Feststellbaren ins nur
Wahrscheinliche. Wenn es schlielich nur noch um die Bewertung
von Folgen geht, kann jeder sicher sein, da andere auch nicht sicherer urteilen knnen. Dann nimmt das Begrndungsparadox die
leichter akzeptable Form des Zeitparadoxes an, das heit hier: die
Form des Gegenwrtigmachens von Zukunft. Was aber faktisch damit geschieht, ohne da dies einen weiteren oder besseren Grund
andienen knnte, ist eine Erhhung der Variett des Systems und
eine Herausforderung an eine Neuformierung der verbleibenden
Redundanzen.
113
In der Zukunft verbirgt sich, knnte man vermuten, der dritte Wert,
der mit binren Codierungen ausgeschlossen sein sollte. Wie man
aus einer mehr als zweitausendjhrigen Diskussion de futuris contingentibus wei, gilt dies fr das Schema wahr/unwahr, und erste
Versuche, den Wert unbestimmbar als dritten Wert in die Logik
einzufhren, haben hier ihre Wurzeln. Im Recht scheint die was
wre wenn-Kalkulation auf ein hnliches Problem aufzulaufen
(das dann natrlich auch nicht mit Berufung auf Wissenschaft verdrngt werden kann). Die Wissenschaft hilft sich mit (korrigierbaren) Prognosen, das Recht dagegen mit (unkorrigierbaren) Entscheidungen. Das kann weder vermieden noch durch Problemversche moralische Kategorien der rightness bzw. wrongness einfhren, die the
branch of law in question makes relevant (S. 256).
1 1 3 Vgl. Raffaele De Giorgi, Scienza del diritto e legittimazione: Critica dell'epistemologia giuridica tedesca da Kelsen a Luhmann, Bari 1979, dt. Ausgabe Wahrheit und
Legitimation im Recht: Ein Beitrag zur Neubegrndung der Rechtstheorie, Berlin
1980.
383
VI
Wir hatten gesagt, da gute Grnde immer als mgliche Interpretationen eines Textes vorgetragen werden mssen, fr den unzweifelhafte Rechtsgeltung in Anspruch genommen werden kann. Alle
juristische Argumentation mu Konsistenz mit geltendem Recht
nachweisen, und erst auf der Basis eines dafr geeigneten (oder geeignet gemachten, zurechtinterpretierten) Textes kann sie die Qualitt ihrer Grnde ins Spiel bringen und ihr Resultat subsumtionslogisch prsentieren. Deduction comes only in after the interesting
part of the argument, settling a ruling in law, has been carried
through. Es wre eine sehr verkrzte Beschreibung dieses komplizierten Prozesses, wollte man sagen, der Jurist deduziere aus
Begriffen.
114
Vielmehr entstehen Begriffe erst im Laufe solcher Argumentationsprozesse und vor allem: im Zuge vielfltiger Wiederholungen in
jeweils etwas anderen Entscheidungslagen. Texte sind keine Begriffe, sondern Objekte (obwohl es natrlich einen Begriff des
Textes geben kann). Begriffe entstehen im Umgang mit Texten erst
dadurch, da die sie bestimmenden Unterscheidungen ihrerseits
114 MacCormick a.a.O (1978), S. 1 5 7 .
384
przisiert, also ihrerseits unterschieden werden. Genau das geschieht im Argumentieren. Worauf es in bestimmten Hinsichten
ankommt, wird unterschieden von dem, worauf es nicht ankommt;
und das, worauf es nicht ankommt, ist nicht alles andere, sondern
ein anderes Problemverstndnis, eine andere Interpretation, eine
andere Entscheidungsregel, die zu anderen Rechtsfolgen fhren
wrde. Das Argumentieren erzeugt eine Sequenz von Grnden und
Folgerungen, und wie jede Sequenz dient auch diese dem Bewahren
und Wiederverwenden von Unterscheidungen. Begriffe ermglichen einen wahlfreien Zugriff auf bereits bewhrte Unterscheidungen, ohne da man die Sequenz ihrer Erarbeitung zurckverfolgen
mte, und sie organisieren auf ihrer Ebene neue, emergente Unterscheidungen. So kann man zu dem Ergebnis kommen, da die
Anfechtung eines Vertrages unter anderen Bedingungen mglich ist
und andere Folgen hat als ein Rcktritt vom Vertrag, da Besitz und
Eigentum, Vorsatz und Fahrlssigkeit, Rechtswidrigkeit und
Schuld unterschieden werden mssen, weil es nur so mglich ist,
Bedingungen und Folgen (Wenns und Danns) verschieden zu koppeln.
115
117
119
386
hinreichenden Bestimmtheit generell (!) vorschreiben kann; ob delegierte Befugnisse ihrerseits delegiert werden knnen usw. Solche
Regelungsentscheidungen werden dann zu Komponenten des Begriffs, und wenn man sie nicht mitmeinen will, whlt man zweckmigerweise ein anderes Wort und, wenn mglich, einen anderen
Begriff. In diesem Sinne werden in Begriffen also Erfahrungen gespeichert und abrufbar bereitgehalten, wenngleich der Begriff selbst
diese Erfahrungen nicht formuliert (sonst wrde ein Text daraus
werden), sondern nur bei gegebenem Anla reaktualisiert.
Der Diskussion ber juristische Begriffe hat es viel geschadet, da
Begriffe ganz punktuell begriffen wurden als bestimmt durch angebbare Merkmale. Dementsprechend wurde der Geltungsgrund
der Begriffe im System ihres Zusammenhangs gesehen oder im
Prinzip, das die Einheit des Systems bezeichnet. Das konnte zu dem
Eindruck fhren, als ob die Begriffe aus sich selbst heraus gelten,
bestrkt durch die im 19. Jahrhundert aufkommende Vorstellung,
die Rechtsdogmatik selbst sei eine Rechtsquelle. Nach dem rechtstheoretischen Verzicht auf den Begriff der Rechtsquelle bedarf
deshalb das Verhltnis von Rechtsbegriffen und Rechtsdogmatik
einer Klrung.
Sicher ist die Dogmatik kein System - und zwar weder im soziologischen Sinn noch im juristischen Sinn der Konstruktion aus
einem Prinzip. Eher kann man sie als Gesamtausdruck fr die Notwendigkeit begrifflichen Argumentierens im Recht bezeichnen;
oder auch als Absicherung der Begriffe gegen ein stndiges und
schlielich grenzenloses rechtspolitisches Hinterfragen, also als
eine Stoppregel fr Begrndungen suchendes Rsonieren. Da
diese Bemhung um Konsistenz auf ein Traumbild unpolitischer
Praxis hinauslaufen und leicht in Gefahr juristischer Verfremdung von Sachverhalt und Interessenlage geraten kann , liegt auf
der Hand, spricht aber nicht gegen Begriffe, sondern nur fr einen
Ausgleichsbedarf exklusiv begrifflicher, das heit: exklusiv selbstreferentieller Orientierung.
120
121
Begriffe fr sich allein genommen sind noch keine Entscheidungs120 Glnzend hierzu Josef Esser, Juristisches Argumentieren a.a.O. (1979), insb.
S. 20 ff. - glnzend im Hinblick auf sprachliche Virtuositt, sensible Unscharfe in
der begrifflichen Darstellung der Begriffe und Genauigkeit der Problemorientierung.
121 Formulierungen von Esser a.a.O., S. 21 und 22.
387
122 Zit. nach: Friedrich Carl von Savigny, Das Recht des Besitzes: Eine civilistische
Abhandlung, 5. Aufl. Stuttgart 1837.
388
VII
Vielleicht war das Interesse an begrifflicher Konsolidierung des
Rechts im Zuge der Positivierung des Rechts der modernen Gesellschaft wie in einer Art Immunreaktion gegen externe Einflsse
bertrieben worden. Vielleicht machten die Entscheidungsprobleme des Systems auch einen Bedarf fr mehr Variett sprbar.
Jedenfalls betrat mit Pathos und getragen durch eine schwungvolle
intellektuelle Bewegung, die mehr auf Pragmatismus als auf begriffliche Klarheit, mehr auf Zweckdienlichkeit als auf Regeln setzte,
um 1900 eine neue Rechtstheorie die Bhne. In Deutschland erschien sie unter Berufung auf Jhering als Interessenjurisprud e n z . In den Vereinigten Staaten wurde das bald copiert , und
mit Konzepten des social engineering, der social policy, des Instru123
124
123 Siehe eine Auswahl wichtiger Texte in: Gnter Ellscheid / Winfried Hassemer
(Hrsg.), Interessenjurisprudenz, Darmstadt 1974; ferner etwa Paul Oertmann, Interesse und Begriff in der Rechtswissenschaft, Leipzig 1 9 3 1 . Ein frher Versuch,
juristische Begrifflichkeit und bewertete Interessenperspektiven unter dem Gesichtspunkt der Zweckorientierung zu verbinden (wobei der Akzent noch auf der
Funktion juristischer Begriffe liegt), ist Gustav Rmelin, Juristische Begriffsbildung, Leipzig 1878. Zum breiteren Kontext der Methodendiskussion seit dem
spten 18. Jahrhundert auch Johann Edelmann, Die Entwicklung der Interessenjurisprudenz: Eine historisch-kritische Studie ber die deutsche Rechtsmethodologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bad Homburg 1967.
124 Vgl. Roscoe Pound, Mechanical Jurisprudence, Columbia Law Review 8 (1908),
S. 605-623.}.
389
125
128
390
Da der Begriff des Interesses in der Form einer Theoriekontroverse eingefhrt worden war, und da noch heute die Theoriegeschichte, wenngleich in besser ausgewogener Form, so geschrieben
wird, verdeckt aber einen wichtigen Sachverhalt. Auf Interesse allein kann es natrlich nicht ankommen, besonders, wenn man
immer wieder betont, da das Recht die Interessen nicht schafft,
sondern nur anerkennt. Die Frage ist dann, welche Interessen das
Recht fr schutzwrdig hlt und wie das Recht etwaige Interessenkonflikte entscheidet. Wenn man aber das wissen will, mu man das
Recht selbst beobachten (die Realisten wrden sagen: Richterverhalten voraussehen) und nicht die Interessen. Man mu die dazu
ntigen Redundanzen ermitteln. Man gesteht das nicht gerne zu,
aber die Fluchtformeln fallen entsprechend vage aus. If you ask
how he (der Richter) is to know when one interest outweighs another, I can only answer that he must get his knowledge just as the
legislator gets it, from experience and study and reflection, in brief,
130
Begriffsjurisprudenz, die rmische in erster Linie; eben darum braucht der Zusatz
nicht erst hinzugefgt zu werden (Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der
Jurisprudenz: Eine Weihnachtsgabe fr das juristische Publikum (1884), zit. nach
der 1 3 . Aufl. Leipzig 1924, Nachdruck Darmstadt 1964, S. 347). Die Ubersteigerungen in Richtung Begriffsjurisprudenz erklrt Jhering (a.a.O., S. 363) mit der
durchaus modernen Trennung von (universitrer) Rechts/e/?re und praktischer
Rechtsanwendung.
129 Diese Idee des maximum of free individual self-assertation sei durch die soziale
Entwicklung berholt, meint Roscoe Pound, An Introduction to the Philosophy
of Law (1922), 2. Aufl. 1954, Neudruck New Hven 1959, S. 40 ff. Und in der Tat:
Dafr stand jetzt selbst in Nordamerika kein Land mehr zur Verfgung.
130 Pound, Jurisprudence a.a.O., Bd. III, S. 1 7 , 2 1 .
391
131
from life itself, sinniert ein Richter. Wir haben bereits gesehen,
da auch die Vorausschau auf Folgen dieses Problem zwar komplexer macht, aber im Prinzip ebenfalls nicht lst. Die Interessenformel disbalanciert die Rechtspraxis in Richtung auf Vorgaben durch
die Umwelt, das beste Recht mte danach in der grtmglichen
Interessenverwirklichung liegen. Es htte keinen Eigenwert.
Aber eben damit wird unklar, was das Recht den Interessen als
Gegenbegriff, als die andere Seite der Form entgegenzusetzen hat,
wenn man solche Vagheiten wie Berufung auf die Lebenserfahrung
des Richters (wer mchte dem schon ausgesetzt sein!) nicht gelten
lt.
132
Man kann natrlich sagen: auch das ffentliche Interesse, das Gemeinwohl, die Gesamtheit der ffentlichen Gter sei ein Interesse. Aber was wre dann kein Interesse? Schlielich wird das Recht
selbst zum Interesse. Um wieder Cardozo zu zitieren: One of the
most fundamental social interests is that the law shall be uniform
and impartial. Dann spiegelt das Recht sich selbst in seiner Umwelt als deren Interesse; es beobachtet, wie es von Interessenten
beobachtet wird. Es mu sich selbst dann fr eine Interessenabwgung zur Disposition stellen. Aber wie wrden der Common sense
und die Lebenserfahrung des Richters hier helfen? Und so helfen,
da dem Interesse der Umwelt am Recht Rechnung getragen wird
und zugleich andere Interessen zu ihrem Recht kommen? Im Ergebnis geht dabei viel an rechtsdogmatischer Strenge und begrifflicher Kontrolliertheit ber Bord, weil die Anforderungen an die
Flexibilitt und Responsivitt der Rechtspraxis zunehmen. Es
mehren sich, meint Esser im Blick auf die hchstrichterliche Entscheidungspraxis, Entscheidungen, die ohne groen dogmatischen
Aufwand rein situative und notative Errterungen ber die angemessene Verantwortungs- und Pflichtanforderung zur Begrndung
133
392
134
benutzen. Oder in anderem Zusammenhang: ber das Stadium der Verbalisierung von Wertungen kommt man offenbar nicht
hinaus.
135
VIII
Mit systemtheoretischen Mitteln fllt es nicht schwer, das damit
aufgedeckte Problem zu rekonstruieren. In einem sehr allgemeinen
Sinn kann man formale und substantielle Argumente unterscheiden. Formale Argumente enden im Bezug auf das System, auf
Texte, oder auch auf Formvorschriften (zum Beispiel notarielle Beurkundung), die dazu bestimmt sind, ein Abdriften in Sachargumente zu verhindern. Substantielle Argumente beziehen dagegen
Erwgungen ein, die auch auerhalb des Systems Anerkennung finden (wie im System angenommen w i r d ) . Mit einer formalen
Argumentation praktiziert das System mithin Selbstreferenz, mit
einer substantiellen Argumentation Fremdreferenz. Die formale
Argumentation ist letztlich auf allen ihren Ebenen diktiert durch
die Notwendigkeit, zu einer Entscheidung zu kommen und ein
Eintauchen in die volle Komplexitt der Weltsachverhalte zu ver136
137
393
hindern. Die substantielle Argumentation verhindert, da das System sich auf diese Weise selbst isoliert. Beobachtet man diese
Unterscheidung in der Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung, dann sieht man, da es durchaus substantielle Grnde fr
formales Argumentieren gibt, die aber nicht in die Begrndung aufgenommen werden; und da auch substantielles Argumentieren
ber Stoppregeln verfgt und auf unmittelbare Verstndlichkeit und
berzeugungskraft rekurriert, also auf Bedingungen, die im nchsten Moment schon wieder in Zweifel gezogen werden knnten.
Mit Hilfe dieser Unterscheidung knnen wir Bezug auf Begriffe als
formales, Bezug auf Interessen dagegen als substantielles Argumentieren beschreiben. Begriffe sind gespeicherte Erfahrungen mit der
Behandlung von Rechtsfllen, die aber als Erfahrungen nicht mehr
aufgenommen und kritisch diskutiert werden. Interessen verweisen
dagegen auf Katalysatoren der Selbstorganisation von Umweltrelevanzen. Selbstverstndlich bleibt, ungeachtet dieser doppelten Referenz, Argumentieren immer eine systeminterne Operation - sei es
eine formale oder begriffliche, sei es eine substantielle oder interessenbezogene Beobachtung. Immer mssen daher Interessen im
Rechtssystem fr dessen Operationen so aufbereitet und dargestellt
werden, da sie begrndbare Entscheidungen ermglichen - auch
und gerade in Konfliktfllen. Wer seine Interessen in anderer Form
kommuniziert, etwa als bloe Wnsche oder Prferenzen, macht
sich nicht als Teilnehmer am Rechtssystem erkennbar. In der Sichtweise des Rechtssystems sind Interessen in ihrem Naturzustand
gleichwertig, das System homogenisiert sozusagen das, was es als
Information ber Interessen wahrnimmt, und ist selbst, auf Entscheidung zusteuernd, nur daran interessiert, ob es sich um schtzenswerte Interessen handelt oder nicht und welche Interessen im
KonfliktfalL geopfert werden mssen. Und das, nur das, mu argumentativ gezeigt werden.
Mit dem Begriff des Interesses konstruiert das System fr interne
Zwecke eine Fremdreferenz. Der Begriff verweist auf etwas, was als
Umwelt vorausgesetzt werden mu, aber vorausgesetzt in einer
Kompaktheit des Zugriffs, die den systeminternen Informationsverarbeitungsmglichkeiten entspricht. Die Einheit eines Interesses
liee sich immer weiter dekomponieren (zum Beispiel zu therapeu-
394
138
138 Wir merken zur Verdeutlichung an und wiederholen: die Einheit des Interesses.
Mit anderen Worten: die kommunikative Fixierung des Interesses fr Referenz in
weiterer Kommunikation. Da dem eine Realitt zugrunde liegt, die im System
nicht beliebig umkonstruiert werden kann, wird nicht bestritten.
139 Zirkulre Argumentation ist denn auch ein Sonderfall, den Julius Stone, Legal
System and Lawyers' Reasonings, Stanford Cal. 1964, S. 235 ff. (258 ff.) unter dem
allgemeinen Titel der illusory reference abhandelt und mit Beispielen belegt.
140 Vgl. dazu Stein Braten, The Third Position: Beyond Artificial and Autopoietic
Reduction, in: Felix Geyer / Johannes van der Zouwen (Hrsg.), Sociocybernetic
Paradoxes, London 1986, S. 193-205.
395
142
143
141 Vgl. vor allem Franois Gny, Science et technique en droit positif: Nouvelle
contribution la critique de la mthode juridique, 4 Bde. Paris 1913-1930.
142 Vgl. Edelmann a.a.O., S. 89 f. unter Berufung auf Heinrich Stoll.
143 Gnter Ellscheid, Einleitung, in: Ellscheid / Hassemer a.a.O. (1974), S. j f. spricht
von der hermeneutischen Bedeutung des zurckgesetzten Interesses und bemerkt dazu: Indem die Interessenjurisprudenz methodische Anweisungen gibt,
das Verschwinden des zurckgesetzten Interesses aus dem Auslegungshorizont zu
verhindern, setzt sie offenkundig eine mehr als formale Idee von Gerechtigkeit in
juristische Methode um. Hier wre auch an die weise Vorkehrung des jdischen
Rechts zu erinnern: Dissense in der Tradition des Rechts zu bewahren und damit
fr Neuabwgung verfgbar zu halten. Hinweise oben Kap. 2, X. Anm. 1 5 3 .
396
144
146
144 Siehe Yves Barel, Le paradoxe et le systme: Essai sur le fantastique social, 2.Aufl.
Grenoble 1989, S. 71 f., 198 5 f., 392f.
145 Siehe nur die Kritik von Gerhard Struck, Interessenabwgung als Methode, in:
Dogmatik und Methode: Festgabe fr Josef Esser, Kronberg/Ts. 1975, S. 1 7 1 - 1 9 1 .
Auch Heinrich Hubmann, Die Methode der Abwgung, in ders., Wertung und
Abwgung im Recht, Kln 1977, S. 145-169 zeigt, da die Rechtsprechung in
Fllen, wo Abwgung praktiziert wird, weit entfernt ist von hinreichender methodischer Klarheit.
146 Und so auch Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre fr Juristen: Theorie der
Norm und des Gesetzes, 2. Aufl. Heidelberg 1991, S. 24 ff.
397
148
149
150
Ob es markante historische Disbalancierungen in Richtung auf Primate fremdreferentieller (instrumenteller, substantieller, interessenbezogener) oder selbstreferentieller (formaler, analytischer, begrifflicher) Rechtspraxis gibt, mu nheren Untersuchungen
berlassen bleiben. Jedenfalls kann kein System in dieser Form
Fremd/Selbst die jeweils andere Seite ganz aus den Augen verlieren;
denn das wrde die Form selbst aufheben. Wenn man den mglichen Spielraum von Argumentation auf diese Form, also auf die
Unterscheidung von Selbstreferenz (= formal) und Fremdreferenz
(= substantiell) zurckfhrt, wird klar, da es keine natrliche
(naturrechtliche?) Prferenz fr Selbstreferenz gibt. Die alte Lehre
von der conservatio sui, die zu ihrer Zeit gegen die Naturlehren
aristotelischer Provenienz gerichtet war, ist systemtheoretisch im
Begriff der Autopoiesis untergebracht (der keine Prferenz des Systems, sondern die Existenz des Systems bezeichnet). Das gibt die
Freiheit, in der Frage Selbstreferenz/Fremdreferenz ein Dauerproblem des Systems zu sehen, das verschiedene Gewichtungen
zult. Was zhlt, ist die Unterscheidung. Dann kann man in
bezug auf bestimmte historische Lagen des Rechtssystems (oder
anderer Systeme) untersuchen, ob Tendenzverschiebungen zu
erwarten sind - so die von Weber vorausgesagte Verschiebung von
formaler zu substantieller Rationalitt oder, gegenlufig, die heute
oft geforderte Rckkehr zu strker formalen, an Recht und
Gerechtigkeit (Gleichheit/Ungleichheit) orientierten Entscheidungskriterien .
151
1 5 2
151 William E. Nelson, The Impact of the Antislavery Movement upon Styles of Judicial Reasoning in Nineteenth Century America, Harvard Law Review 87 (1974),
S. 513-566, hatte eine Umstellung von instrumentellen auf formale Argumente als
Folge der Antisklaverei-Bewegung behauptet. Siehe aber auch die Kritik mit Gegenbeispielen von Harry N.Schreiber, Instrumentalism and Property Rights: A
Reconsideration of American Styles of Judicial Reasoning in the Nineteenth
Century, Wisconsin Law Review 1975, S. 1 - 1 8 . Vgl. dazu auch die von der Rezension sehr kritisch aufgenommene Untersuchung von Marc Tushnett, The American Law of Slavery 1810-1860: Considerations of Humanity and Interest,
Princeton 1981.
152 Da dies, i n s t i t u t i o n e l l gesehen, in den U S A wenig Aussichten hat (und dasselbe
wird man fr die Bundesrepublik Deutschland behaupten knnen), zeigt Joachim
J.Savelsberg, Law That Does Not Fit Society: Sentencing Guidelines as a Neoclassical Reaction to the Dilemmas of Substantivized Law, American Journal of
Sociology 97 (1992), S. 1 3 4 6 - 1 3 8 1 .
399
IX
Sieht man das Interpretieren, Argumentieren und Begrnden als
eine Operation im Rechtssystem, dann fllt auch das logische
Schlieen unter diesen Begriff. Es ist durch eine besondere Art von
Sicherheit ausgezeichnet, oder genauer: durch die Form logisch
zwingend/logisch fehlerhaft. Dabei manipuliert die Logik das Operieren so, da jeweils eine eindeutige Zuordnung zur einen bzw.
anderen Seite der Form mglich ist. Die dafr notwendige Verfgung ber Prmissen verhindert aber, da die Logik begrnden
kann. Sie selbst wei das seit Gdel. Gleichwohl wre es verfehlt,
daraus auf eine Kritik des logischen Schlieens oder gar auf eine
juristische Irrelevanz der Deduktion zu schlieen - zu schlieen!
Aber man mu den Auftrag der Logik anders formulieren.
Im systemtheoretischen Kontext und spezieller: im Kontext der
Organisierung von Redundanzen hat die Logik eine besondere
Funktion. Negativ formuliert fllt ins Gewicht, da sie (auf der
anderen Seite ihrer Form) den Nachweis von Fehlern ermglicht.
400
401
lsung als die eindeutig beste den Test besteht und damit zu einer
einzig richtigen Entscheidung fhrt. Gerade in der Praxis der Gerichtsberatung zeigt sich hufig, da unterschiedliche Entscheidungen annhernd gleich gut begrndbar sind. Dann hat man eine
Situation, die durch Argumentation nicht eindeutig determiniert
ist, sondern, in der Terminologie von Herbert Simon, mehrere Varianten eines satisficing behavior zult. Die Entscheidung
kann, ja mu dann ber zweitrangige Kriterien (oder ohne einheitliche Kriterien als Mehrheitsbeschlu) gefunden werden. Anders
gesagt: Uber noch so gut gewhlte Kriterien kann das System weder
im Ganzen noch im Detail einen rationalen Eigenzustand garantieren - und dies gerade auch bei hohen Ansprchen an gute, einsichtige, professionell gekonnte Argumentation. Eine Diskurstheorie
(wie die von Jrgen Habermas), die dies ignoriert, wird weder der
hochentwickelten Eigenart juristischer berzeugungsmittel gerecht noch erreicht sie ihr Ziel. Sie kann den durch Argumente
ausgelsten Informationsbedarf nicht ins System wiedereinfhren,
sondern sieht sich gentigt, mit der Legalfiktion zu arbeiten, da
bei der Einhaltung bestimmter Verfahrensbedingungen letztlich die
Vernunft siegen wird.
154
Unsere Zurckhaltung in bezug auf die Annahme operativ erreichbarer, gleichsam aggregierbarer Rationalitt ist abgestimmt mit der
evolutionstheoretischen These, da Komplexitt nicht ein Naturoder Vernunftziel der Evolution ist, sondern ein mit ihr eintretendes Nebenprodukt. Argumentation hat es deshalb auch nicht mit
einer instrumentellen Ausnutzung der Ressource Komplexitt zu
tun, sondern mit der Frage, wie das System trotz evolutionr anwachsender Komplexitt immer noch zurechtkommt, und das
heit: sich immer noch in einem fortsetzungsfhigen Verhltnis zur
Umwelt operativ geschlossen reproduzieren kann.
155
154 Vgl. Herbert A.Simon, Models of Man - Social and Rational: Mathematical Essays on Rational Human Behavior in a Social Setting, New York 1957, S. 204f.,
2 2ff.
5
402
X
Abschlieend kehren wir noch einmal zu einem bereits mehrfach
erwhnten Gesichtspunkt zurck. Wir hatten gesagt: Argumentieren versteht sich immer in einem Kontext der Beobachtung zweiter
Ordnung. Es geht immer um Ausarbeitung eines Arguments - fr
andere Beobachter. Indem das Rechtssystem auf ein (wie immer in
der Praxis abgekrztes) Argumentieren eingerichtet wird, zeigt es
Merkmale, die fr Funktionssysteme generell typisch sind. Die
Wirtschaft orientiert ihre Operationen an Preisen, weil dies die
Mglichkeit gibt zu beobachten, wie Beobachter den Markt beobachten. Die Politik orientiert ihre Operationen an der ffentlichen
Meinung, um im Spiegel der ffentlichen Meinung die Resonanz
ihrer Aktionen in den Augen anderer Beobachter zu beobachten.
Der Knstler richtet das Kunstwerk durch die Wahl der es bestimmenden Formen so ein, da Beobachter beobachten knnen, wie er
es beobachtet hatte. Dem Erzieher wird eine Absicht, zu erziehen,
unterstellt, denn anders knnte man nicht systemspezifisch beobachten, wie er seine Zglinge beobachtet; und umgekehrt werden
diese als Kinder vorgestellt, damit ein Medium vorstellbar wird, in
dem beobachtet werden kann, wie der Erzieher die Formen whlt,
auf die hin er erziehen will. Die Beispiele lieen sich vermehren.
Und dann mag es auch kein Zufall sein, da parallel zur wachsenden
Prominenz einer Mehrzahl von Funktionssystemen im 18. Jahrhundert auch die Interaktionstheorie - etwa in der Form von
Konversationsvorschriften - auf ein Beobachten der Beobachter
umgestellt wird.
156
l 56 Zu den Beispielen, die im folgenden aufgefhrt werden, siehe Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt 1988; Niklas Luhmann,
Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988, insb. S. 93 ff. Niklas Luhmann,
Gesellschaftliche Komplexitt und ffentliche Meinung, in ders., Soziologische
Aufklrung Bd. 5, Opladen 1990, S. 170-182; ders., Weltkunst, in: Niklas Luhmann / Frederick D. Bunsen / Dirk Baecker, Unbeobachtbare Welt: ber Kunst
und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7-45 (23 ff.); Niklas Luhmann, Das Kind als
Medium der Erziehung, Zeitschrift fr Pdagogik 37 (1991), S. 19-40; ders., System und Absicht der Erziehung, in ders. und Karl Eberhard Schorr (Hrsg.),
Zwischen Absicht und Person: Fragen an die Pdagogik, Frankfurt 1992, S. 102124; ders., Sozialsystem Familie, in ders-, Soziologische Aufklrung Bd. 5, Opladen 1990, S. 196-217; Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, passim, insb. S. 362 ff. .
403
Wenn diese Verlagerung der Kernoperationen auf eine Ebene zweiter Ordnung auf diese Weise mit Ausdifferenzierung von Funktionssystemen korreliert, kann man vermuten, da dies von einem
gesellschaftstheoretischen Standpunkt aus zu den Strukturmerkmalen der Moderne gehrt. Dann treten die Besonderheiten der
einzelnen Funktionssysteme zurck. Die Frage, wie dies erreicht
wird, findet von System zu System unterschiedliche (aber vergleichare) Antworten. Da es im einen wie im anderen Fall erreicht (oder
doch angestrebt) wird, scheint dagegen zu den Bedingungen der
Ausdifferenzierung des Systems zu gehren. Deshalb mu im
Rechtssystem argumentiert werden; denn unter der Bedingung der
Ausdifferenzierung mu das System Halt an sich selbst (und nicht
Halt an der Welt) suchen, und das erfordert jene rekursive Schlieung auf der Ebene des Beobachtens zweiter Ordnung.
Diese Einsichten fhren zu Fragen an die Art und Weise, wie die
Reflexionstheorien der entsprechenden Systeme diese Sachverhalte
beschreiben. Oder genauer: wie sie sich vergewissern, da sie sinnvoll beobachten, auch wenn sie nur ihr Beobachten beobachten.
Eine solche Koordination von Selbstbeschreibung mit Selbstsinngebung erfordert Emphasen, die nicht mehr in Frage gestellt werden;
das heit: Festlegung von inviolate levels (Hofstadter). So assoziiert die Wirtschaft (oder die Wirtschaftstheorie, wenn sie Hayek
zitiert) marktbedingte Preise mit Rationalitt der Informationsverarbeitung; oder die Politik ffentliche Meinung mit Demokratie;
oder das Erziehungssystem erzieherische Absichten mit guten Absichten. Auch die Argumentationskultur des Rechtssystems beruht
in ihrer Selbstbeschreibung auf solchen Abschluregeln. Sie haben
die Form von Asymmetrien, die nicht weiter hinterfragt werden. Es
geht um Anwendung einer Norm und dabei, soweit Argumentation ntig ist, um Auslegung eines Textes. Es geht also um sehr
spezifische Unterscheidungen. Man hat, bei sorgfltiger Beobachtung der praktischen Arbeitsweise, Zirkel entdeckt. Die Norm wird
durch ihre Anwendung berhaupt erst erzeugt, jedenfalls erst mit
erkennbarem Sinn aufgeladen. Und die Auslegung vollzieht einen
hermeneutischen Zirkel, indem sie erst das bestimmt, was auszulegen ist; und es dabei zugleich so zurechtrckt, da begrndbar
wird, weshalb eine Auslegung erforderlich ist.
157
404
Insoweit finden wir uns noch auf gelufigem Terrain modemer Methodendiskussion. Aber wie, wenn all dies - Zirkel hin, Zirkel her nur veranstaltet wird, um eine Beobachtung zweiter Ordnung zu ermglichen? Sollte diese Vermutung sich besttigen, dann ginge es
letztlich um die Erstellung von Normtexten zur Organisierung von
Beobachtungsverhltnissen. Man htte es dann mit zeitabstrakten
Texten zu tun, die zwar keine gleichsinnige Beobachtungsweise aller
Beobachter garantieren, aber doch in der Lage sind, durch Verwendung spezifischer Formen (Unterscheidungen) ausreichende Vorgaben zu leisten und dadurch Beliebigkeit (also Zerfall, also Entropie)
auszuschlieen. Solche Normtexte wrden, hnlich wie komplexe
Computerprogramme, zwar keinen Einblick in die konkret ablaufenden Operationen mehr erlauben, und sie wrden auch keine
Gleichsinnigkeit der Beobachtungsresultate mehr garantieren; aber
sie knnten so weit spezifiziert sein, da erkennbar wird, wenn ein
Grund vorliegt, die nderung der Texte selbst in Erwgung zu ziehen. Sie wrden es dem System ermglichen, ohne Vollkontrolle seiner Operationen auf einschlgige Irritationen zu reagieren.
Wenn uns diese berlegungen richtig einstimmen, knnen wir erkennen, da die Methodendiskussion der letzten Jahre bereits
hnliche Wege sucht. Das gilt fr ltere berlegungen zur richterlichen Prfung von Gesetzen im Hinblick auf Verfassungsmigkeit,
die den beschwerlichen Weg der Aufhebung und Neufassung im
Wege der Gesetzgebung durch Interpretation umgehen ; es gilt
fr Arbeiten, die an die strukturierende Rechtslehre Friedrich Mllers anschlieen ; es gilt besonders fr die polykontexturalen,
relativistischen, diskurs- und organisationsspezifischen Vorstellungen des Umgangs mit Recht, die Karl-Heinz Ladeur entwickelt
hat. Man knnte, wenn man in die Soziologie ausgreifen will, an
Giddens Begriff des structuration denken oder, wenn in die Philosophie, an Wittgensteins Begriff des Sprachspiels (sofern ein
158
159
160
158 Siehe etwa F.James Davis et al., Society and the Law: New Meanings for an Oid
Profession, New York 1962, S. 163: The result has been that judicial construction
has become as much a part of Statutes as the text itself.
159 Siehe Friedrich Mller, Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984.
160 Siehe etwa Karl-Heinz Ladeur, Gesetzesinterpretation, Richterrecht und Konventionsbildung in kognitivistischer Perspektive: Handeln unter Ungewiheitsbedingungen und richterliches Entscheiden, Archiv fr Rechts- und Soziaiphilosophie 77 (1991), S. 176-194-
405
406
Kapitel 9
407
und Samuel Pufendorf war dies aber auch etablierte Naturrechtstheorie. Andererseits waren wir bereits im Kapitel ber die Funktion des Rechts auf die Notwendigkeit gestoen, Funktionen und
Durchsetzungsmodalitten der Politik und des Rechts zu unterscheiden.
Eine der Besonderheiten, die die europische Entwicklung weltweit
auszeichnet, lag sicher in der besonderen Betonung der rechtlichen
Voraussetzungen gesellschaftlichen Zusammenlebens auf der
Grundlage des in Rom entwickelten Zivilrechts und der naturrechtlichen Formulierung seiner Grundlagen. Das schlo im Mittelalter
eine Vorstellung der Einheit von Recht und Politik aus, und ohne
diese Grundlagen htte die Revolution der auf den Papst hin organisierten Kirche gegen das zur Theokratie tendierende Kaisertum
nicht stattfinden und htte wohl auch die verfassungsrechtliche Bindung des konstitutionellen Staates nicht erfunden werden knnen. Das Recht war gleichsam schon da, als der moderne Staat sich
politisch zu konsolidieren begann, und zwar teils als lokal ermittelbare Gewohnheit und teils als ein formal ausgearbeitetes, in viele
Rechtsinstitute differenziertes, schriftlich fixiertes, lehr- und lernbares Recht. Es gab Feudalrecht und Stadtrechte, Knigsrecht und
seit dem Hochmittelalter vor allem die Trennung von kanonischem
Recht und weltlichem Zivilrecht, die auch in einer entsprechend
differenzierten Gerichtsbarkeit Ausdruck fand. Juristisch gesehen
gab es noch im 16. Jahrhundert kein ffentliches Recht und keinen einheitlichen Rechtsbegriff (dominium, imperium, iurisdictio),
der die angestrebte Einheit der Territorialgewalt abbilden konnte.
Immerhin konnte man sich iurisdictio und imperium auch nicht
getrennt vorstellen, denn das htte fr das konkrete Denken jener
Zeit ja imperium in einem rechtsfreien Raum und iurisdictio ohne
Durchsetzungsvermgen bedeutet. Das ungewhnliche Ausma
rechtlicher Durchdringung von gesellschaftlich relevanten Fragen
schwchte zugleich die Bedeutung dieser Unterscheidung ab. Auch
der Begriff der potestas berbrckte in gewissem Sinne diese
Klftungen, ohne die rechtlichen Instrumente im Detail durchdringen zu knnen; und dasselbe gilt fr das neue Verstndnis von
Souvernitt.
3
408
Schon hier, und erst recht spter, unterscheiden sich regional unterschiedliche europische Rechtsordnungen danach, ob die Rechtsentwicklung primr an die Gerichtspraxis oder eher an die Universittsgelehrsamkeit oder an die juristische Beratung des Gesetzgebers anknpft, ob es sich also eher um Richterrecht oder um
Professorenrecht oder um gesetzesfrmig codifiziertes Recht handelt. Fr diese Optionen mag es mehr oder weniger direkte Grnde
in der gleichzeitigen politischen Evolution gegeben haben; aber die
Eigendynamik des Rechts und die Spezifik seiner Problemlagen
schlieen ein direktes Hineincopieren politischer Ordnungsvorstellungen in das Recht aus. Die Politik beeinflut selbstverstndlich
Einzelentscheidungen, aber strukturell scheint sie sich vor allem auf
die Prferenz fr Rollentypen auszuwirken, mit denen das Rechtssystem sich selbst stimuliert.
4
Angesichts der rasch wachsenden Komplexitt und der damit verbundenen Rechtsunsicherheit hatte der frhneuzeitliche Territorialstaat seine Aufgabe zunchst darin gesehen, das in seinen
Territorien geltende Recht mitsamt der Organisation der Rechtspflege zu vereinheitlichen, es unter zentrale Kontrolle zu bringen
und damit die eigene Staatseinheit zu konsolidieren. Darin lag sein
Verstndnis von Souvernitt (im Unterschied zu dem des Mittelalters) und seine politische Konsolidierung. Der Begriff der Souvernitt bzw. der hoheitlichen Gewalt (potestas) verdeckte, da zwei
sehr verschiedene Begriffe von (politischer) Macht im Spiel waren,
nmlich die Vorstellung einer generalisierten Fhigkeit, Gehorsam
fr Weisungen zu erreichen, und die Vorstellung von Rechtsmacht,
5
409
die daran zu erkennen war, da Macht in der Form von Recht auftrat und durchgesetzt wurde, also in immer schon spezifizierter
Form. Der Zusammenschlu beider Aspekte von Herrschaft war
vor allem deshalb unerllich, weil es als Lokalverwaltung nur Gerichtsbarkeit gab. Souvernitt bedeutete seit der zweiten Hlfte des
16. Jahrhunderts daher praktisch vor allem: politisch zentralisierte
Kontrolle der Gerichtsbarkeit mit Aufhebung grundherrlicher,
kirchlicher oder korporativer, auf jeweils eigene Rechte begrndeter Gerichtsbarkeiten; sie bedeutete Aufzeichnung und Vereinheitlichung regionaler Sonderrechte unter Inanspruchnahme der
Druckpresse; sie bedeutete bernahme der Sprache und der begrifflichen Errungenschaften des rmischen Zivilrechts - wenn
nicht als geltendes Recht, so doch als Grundlage der Rechtsgelehrsamkeit; und sie bedeutete zunehmende Gesetzgebungsttigkeit.
Mit einer glcklichen Formulierung von Fritz Neumann kann man
deshalb auch von einem politischen Gesetzesbegriff sprechen
und darin eine Art Transmissionskonzept zwischen politischer Raison und rechtlicher Geltung sehen.Theoretisch ging man deshalb,
sptestens seit der zweiten Hlfte des 16. Jahrhunderts, mit Bodin,
Suarez, Pufendorf usw. von der Vorstellung einer naturrechtlichen
Einheit von Politik und Recht aus. Sie beruhte auf der Annahme,
da erst dadurch das Individuum als Rechtssubjekt konstituiert
werde und als solches Voraussetzung sei fr das Entstehen einer auf
Arbeitsteilung und Vertrag beruhenden Wirtschaft. Die wohl
schrfste Formulierung dafr hat Hobbes geliefert. Die Individuen,
6
410
vorher nur Krper, die tten und gettet werden knnen und dies,
da mit ratio ausgestattet, schon vorgreifend tun, werden zu Individuen im Sinne einer zweiten, knstlichen Natur, indem sie den
Souvern autorisieren, willkrlich Recht zu setzen. Dadurch erst
kann eine Korrespondenz von Rechten und Pflichten eingerichtet
werden. Das Individuum verdankt mithin seine zivile Individualitt
der Einheit von Recht und Politik, und diese Einheit ist damit unauflslich an das Individuumsein der Individuen gebunden. Am
Abschlu dieser Politik und Recht integrierenden organisatorischen
und semantischen Bewegung stehen die groen Kodifikationen des
18. und 19. Jahrhunderts und schlielich die Vorstellung, die Funktion des Staates bestehe in der Garantie von Freiheit nach Magabe,
also in den Schranken, des Rechts.
Das Zentralmotiv fr diesen Zusammenschlu von Politik und
Recht drfte das Problem des Widerstandsrechts gewesen sein, das
Europa in hundert Jahre Brgerkrieg gestrzt hatte. Nirgendwo ist
dieser Zusammenhang deutlicher zu fassen als bei Hobbes. Die
Einsicht war: das Recht knne aus sich selbst heraus mit seinen
eigenen Ressourcen der ungeschriebenen Tradition, des artificial
reason der Juristen, der Begrndbarkeit dessen, was dem Einzelnen als sein Recht erscheint, nicht den Frieden sichern. Gerade
wenn sich jeder Teilnehmer auf seine natrliche Vernunft berufen
knne oder in den Rechtsmaterialien, die der Buchdruck allen vor
Augen gefhrt hat, nach Begrndungen suchen knne, wrde das
Recht die eigene Voraussetzung, nmlich den Frieden, zerstren.
Das galt besonders im Hinblick auf eine schon schwindende sozialstrukturelle Voraussetzung: da der Adel auf der Basis seiner
eigenen (bewaffneten) Haushalte sich auf sein eigenes Urteil ber
Recht und Unrecht sttzen knne. Es galt um so mehr, als man in
den Auslufern des mittelalterlichen Denkens Religion, Recht und
Moral nicht scharf trennte, sondern in einem Sinngebungszusammenhang integrierte, so da Religions- und Moralfragen unversehens in Rechtsfragen umschlagen und auf diesem Terrain ausgefischten werden konnten. Und erst recht lag das Widerstandsrecht
9
10
9 Siehe neben dem Leviathan auch: A Diaiogue between a Philosopher and a Student
of the Common Laws, zit. nach der Ausgabe Chicago 1 9 7 1 ; ferner Behemoth, or
The Long Parliament, zit. nach der Ausgabe von Ferdinand Tnnies, London 1889,
neu herausgegeben und eingeleitet von Stephen Holmes, Chicago 1990.
10 Siehe hierzu Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought
411
auf der Hand, wenn man die verfgbaren Theorieangebote nutzte sei es, da man sagen konnte, der Frst sei auch nur civis und als
solcher ans Recht gebunden; sei es, da man zwischen rex und tyrannus unterschied und der Parteibildung im Adel die Entscheidung berlie, welcher der beiden Flle gegeben war. Gab es fr die
damit offensichtlichen Probleme eine andere Lsung als die der
Einheit von Politik und Recht, als die der Grndung der Rechtsgeltung auf politisch durchgesetzte Gewalt, die dann fr Rechtszwecke den Namen auctoritas annahm? Und wie anders htte
das Recht die Willkr der widerstreitenden Prtentionen abarbeiten
knnen als mit Eigenttigkeit auf der Grundlage politisch gesicherter Geltung des Rechts?
11
Noch die sptere Kritik des zirkulren Arguments der Vertragskonstruktion kommt nicht umhin, das Widerstandsrecht wiederzubeleben. David Hume zum Beispiel grndet die Bindung der Regierung
auf Versprechungen, die zwar qua Konvention gelten, die aber ihrerseits in der menschlichen Natur verankert sei. Das Argument
wird auf das Terrain der wirtschaftlichen Eigentumsinteressen verschoben; aber eine Regierung, heit es, die diese Interessen, die das
Fundament der Gesellschaft selbst sind, nicht vertritt und schtzt,
mu mit berechtigtem Widerstand rechnen. Nach wie vor sttzt
sich die Argumentation auf das alte Schema von Tugend und Korruption , zieht daraus aber nicht mehr positivrechtliche, sondern
politische Konsequenzen. Zugleich kommt die Tendenz auf, solche
12
13
Bd. 2:The Ageof Reformation, Cambridge Engl. 1978; Richard Saage, Herrschaft,
Toleranz, Widerstand: Studien zur politischen Theorie der niederlndischen und
der englischen Revolution, Frankfurt 1 9 8 1 ; Diethelm Bttcher, Ungehorsam oder
Widerstand? Zum Fortleben des Mittelalterlichen Widerstandsrechts in der Reformationszeit (1529-1530), Berlin 1991.
11 Aber Autoritt, und das ist das Neue in Hobbes' Argumentation, ist keine natrlich-berlegene Fhigkeit und erst recht keine Adelstchtigkeit. Sie beruht auf
Autorisierung. I Authorise ... heit es im Text des Covenant in Leviathan II, 17,
zit. nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1953, S. 89. Aber das ber
Autorisierung vermittelte Argument ersetzt die Berufung auf Natur durch einen
Zirkel; denn die Autorisierung setzt die durch sie erst zu begrndende Rechtsgeltung fr sich selbst bereits voraus.
12 Siehe A Treatise of Human Nature Book III, Part II, Sect. IX, zit. nach der Ausgabe
der Everyman's Library, London 1956, Bd. 2, S. 25off.
13 Vgl. dazu (im Anschlu an Pocock) David Lieberman, The Province of Legislation
Determined: Legal theory in eighteenth-century Britain, Cambridge Engl. 1989,
S.
7
ff.
412
15
16
14 Hierzu Niklas Luhmann, Verfassung as evolutionre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176-220 (188 f.).
15 Berhmt und folgenreich die englische equity-Rechtsprechung des Court of Chancery. Fr ursprnglich parallellaufende franzsische berlegungen siehe Grimaudet a.a.O. (1580), opuscule II, fol. i i v ff. oder Franois de Lalouette (L'Alouete),
Des affaires d'Etat, des Finances, du Prince et de sa Noblesse, Mets 1597, S. 88. Das
luft in Frankreich dann mehr in Richtung auf die Interpretationszustndigkeit des
Gesetzgebers selbst (rfr lgislatif), wenn immer in der Rechtsprechung Flle
auftauchen, die vom Gesetzgeber noch nicht entschieden waren.
16 Vgl. mit umfangreichem Material Francicso Surez, Tractatus de legibus ac Deo
legislatore, Lugduni 1619, Buch II, cap. XIV und XV S. 91 ff-, fr Dispense vom
Naturrecht und Buch VI, S. 368 ff., fr Dispense vom positiven Recht oder im
Kontext einer sehr umsichtigen Behandlung des Themas Staatsrson Scipio Ammirato, Discorsi Sopra Cornelio Tacito, Fiorenza 1598, S. 223 ff. Oft wird die Mglichkeit, Naturrecht zu derogieren, bestritten; aber selbst wenn dies geschieht,
findet man typisch im selben Text auch die gegenteilige Meinung. So bei Jeremy
Taylor, Ductor Dubitantium, or, the Rule of Conscience in all her General Measures (1660), zit. nach: The Whole Works Bd. IX und X, London 1851/52, Nachdruck
Hildesheim 1970, Bd. II, I, a.a.O., Bd. IX, S. 333ff. insb. 347ff. Dispense vom
Naturrecht nur durch Gott und nicht by any human power. Aber dann: The
exactness of natural law is capable of interprtation, and may be allayed by equity,
and piety,' and necessity. Das Problem wird vermieden, wenn man die Herrschaftserhaltung selbst, also die ratio status, als das einzig bindende Naturrecht
ansieht, das alles andere Recht berhaupt erst ermglicht; denn dann kann man
413
\
Paradox der sich selbst einsetzenden Differenz von Recht und Unrecht nicht mehr einfach externalisiert im Hinblick auf die in der
Situation gegebene Machtlage, sondern auf eine bergeordnete Einheit von Recht und Politik bernommen, die in der Person des
Souverns verkrpert war. Aber das blieb eine offensichtlich brchige, prekre Lsung, deren berzeugungskraft davon abhing,
da der Souvern das war, was er sein sollte: gottesfrchtig, vernnftig, offen fr das, was das Recht selbst ihm eingibt.
Auf diese Weise konnten jedoch die operativen Unterschiede zwischen politischer und rechtlicher Kommunikation nicht wirklich
integriert werden. Vom Widerstandsrecht her gesehen konnte das
moderne politische System des Territorialstaates nicht akzeptieren,
da Untertanen mit Berufung auf Recht in die Politik eingriffen, das
heit: den Frieden strten. Das politische System mute Geschlossenheit beanspruchen, nmlich Geschlossenheit in bezug auf alles,
was in bezug auf Code und Funktion der Politik als politisch zu
qualifizieren ist. Genau dasselbe gilt aber auch fr das Rechtssystem. Auch das Rechtssystem kann keinen Ausnahmestatus akzeptieren. Um diese Frage ging es in dem Streit des Londoner
Parlaments, gefhrt durch Coke, mit den Stuarts. Denn wenn es
auch nur eine Instanz geben knnte, die unabhngig vom Recht
ber Leben, Leib und Eigentum verfgen knne, gibt es kein
Recht; denn alle Rechtssicherheit knnte dann von da her aus den
Angeln gehoben werden. In diesem Argument findet man die Entstehungsgrnde der civil rights im Common Law, und auch hier
geht es um nichts anderes als um die operative Geschlossenheit des
Funktionssystems.
Zunchst steht also Geschlossenheitsanspruch (oder: Schlieungsversuch) gegen Geschlossenheitsanspruch. Aber zugleich zeigen
sich in diesem Gegensatz auch die Gesichtspunkte, auf die es ankommt. Das damit erreichte Verstndnis des Zusammenhangs von
Politik und Recht wurde schlielich im Schema Rechtsstaat zusammengefat und berwunden. Im Schema Rechtsstaat wird
der Bedingungszusammenhang von Recht und Freiheit und damit
auch die gegenseitige Steigerungsfhigkeit von Recht und Freiheit
414
fixiert und so fr Kommunikation verfgbar gemacht.' Damit reagiert man auf eine historische Lage des Gesellschaftssystems (konkret: nach der Franzsischen Revolution), in der berdeutlich
geworden ist, da sich ber Kriterien des Vernunftgebrauchs und
der Moral kein Konsens mehr erzielen lt. An deren Stelle tritt
nun die Differenz von Notwendigkeit und Freiheit und deren
Kombinatorik - teils im Schema Erziehung (als Staatsauftrag) ,
teils im Schema Rechtsstaat. Als Rechtsstaat war der Staat zugleich
eine Einrichtung des Rechts und eine Instanz der politischen Verantwortung fr das Recht, das heit: fr die Durchsetzung und die
Fortentwicklung des Rechts in Anpassung an sich ndernde gesellschaftliche Verhltnisse und an politisch durchsetzbare Ziele.
Dieses Modell der Beschreibung eines rechtspolitischen Systems
lie sich in kaum sprbaren, nur durch die Verfassungsfrage markierten bergngen demokratisieren. Die Formen der Inklusion
des Brgers in rechtliche und politische Zusammenhnge beginnen zu divergieren - und zwar gerade deshalb, weil ihnen jetzt
systemspezifische Allgemeinbegriffe wie Rechtsfhigkeit, Staatsangehrigkeit, Wahlrecht zugrunde liegen. Die damit zusammenhngenden politischen und juristischen Kontroversen durchziehen
18
19
17 Der Begriff des Schemas kann hier sehr explizit eingesetzt werden als Form der
Fixierung eines hherstufigen Kontingenzarrangements. Oder auch mit Novalis als
selbstbezgliche Wechselwirkung. Novalis spricht von der Alleseinheit des Schemas. Frey kann nur bestimmt, also nothwendig, Nothwendig nur bestimmt, also
frey seyn. Oder: Das Schema steht mit sich selbst in Wechselwirkung. Jedes ist
nur das>auf seinem Platze, was es durch die anderen ist. Beide Zitate aus: Philosophische Studien 1795/96, zitiert nach: Werke, Tagebcher und Briefe Friedrich
von Hardenbergs, hrsg. von Hans-Joachim Mahl und Richard Samuel, Darmstadt
1978, Bd. 2, S. 14.
18 Fr diese, im folgenden nicht weiter behandelte Parallelproblematik siehe etwa
Heinrich Stephani, Grundri der Staatserziehungswissenschaft, Weienfels - Leipzig 1797; ders., System der ffentlichen Erziehung, Berlin 1805; Christian Daniel
Vo, Versuch ber die Erziehung fr den Staat, als Bedrfni unsrer Zeit, zur
Befrderung des Brgerwohls und der Regenten-Sicherheit, Halle 1799; Karl Salomo Zachariae, ber die Erziehung des Menschengeschlechts durch den Staat,
Leipzig 1802. Da es sich um Reformberlegungen handelt, die durch die Franzsische Revolution ausgelst sind, liegt auf der Hand.
19 Siehe vor diesem Hintergrund speziell zum Problem des Rechtsschutzes gegen Hoheitsakte Regina Ogorek, Individueller Rechtsschutz gegenber der Staatsgewalt:
Zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert, in: Jrgen
Kocka (Hrsg.), Brgertum im 19. Jahrhundert: Deutschland im europischen Vergleich, Mnchen 1988, S. 372-405.
415
20 Wir hatten dieses Modell bereits diskutiert und abgelehnt. Siehe Kapitel 7.
416
Tatschlich ist die Einheitsthese nie bis an den Punkt gefhrt worden, wo man htte sagen mssen: was in der Politik rechtlich
erlaubt sei, bestimme sie selbst aus ausschlielich politischen Gesichtspunkten; und nicht einmal bis zu der Auffassung: Recht sei
nichts anderes als ein politikeigenes Trgheitsmoment, das die Politik daran hindere, allzu flchtigen Launen nachzugeben. Angesichts der Tradition des Common Law und des rmischen Zivilrechts und angesichts des Bewutseins, da es sich hier um
historische, aus der Geschichte des Testens von Rechtsideen begrndete Strukturen handelt, wre die Auffassung, da es sich
lediglich um Politik von gestern handele, als abwegig erschienen.
Aber wie sollte, wenn nicht so, die rechtliche Beschrnkung der
Politik im Einheitssystem gedacht werden? Die Formel Rechtsstaat hat offenbar dieses Problem verdeckt. Auch mag diese Unklarheit mehr als anderes dazu beigetragen haben, den Gedanken
des Naturrechts am Leben zu halten oder denen, die daran nicht
mehr glauben knnen, die Forderung der Legitimitt des politischen Regimes anzudienen. Solche Konstruktionen finden heute
aber kaum noch berzeugende Argumente, und man knnte sie
aufgeben bzw. umformulieren, wenn man Politik und Recht als
zwei getrennte Funktionssysteme anshe.
Gegen starke traditionsgefestigte Plausibilitt soll deshalb in diesem
und im folgenden Kapitel davon ausgegangen werden, da es sich
nicht um ein einziges, mit dem Staatsbegriff zu bezeichnendes System handele, sondern um zwei verschiedene, je fr sich operativ
geschlossene Systeme mit je verschiedenen Funktionen, je verschiedenen Codierungen und je verschiedenen codeabhngigen Programmen. Die im Begriff des Staates und speziell im Schema
Rechtsstaat konzipierte Einheitssicht ist historisch verstndlich.
Sie kann als mehr oder weniger adquat gelten fr eine Phase, in der
im Rechtssystem die Positivierung des Rechts mit Hilfe einer auf
den (politischen) Staat verweisenden Rechtsquellenlehre durchgesetzt werden mute und in der das politische System ein Ttigkeitsfeld gewinnen und gegen etablierte (vor allem stndische) Strukturen durchsetzen mute, damit Politik als kontinuierliches Prozessieren kollektiv bindender Entscheidungen praktiziert werden
konnte. In dem Mae, in dem dies erreicht wird, verliert jedoch die
Einheitssicht an berzeugungskraft. Das Rechtssystem kommt,
auch in der Form des Rechtsstaates, ohne Souvern aus; ja es
417
knnte ihn gar nicht unterbringen, und es bentigt ihn auch nicht,
weil es seine Paradoxien anders auflst. Aber es mu auf Anfragen
entscheiden. Das politische System lt die Paradoxie seines Codes
in der Formel der Souvernitt kulminieren, zuletzt in der Formel
Volkssouvernitt. Aber ein Souvern, das ist ein Implikat des Begriffs, mu nicht entscheiden; er ist auch in der Frage Entscheidung/Nichtentscheidung souvern. Und der Begriff des Volkes
verlagert die Paradoxie auf einen Souvern, der gar nicht entscheiden kann. Ob und wie hier entschieden wird, sind politische
Fragen. Der Staatsbegriff wird zu einer knstlichen Klammer fr
das, was sich inzwischen an Eigendynamik im politischen System
und im Rechtssystem zeigt. Es ist ganz ausgeschlossen, sich Politik
als laufende Interpretation der rechtlich fixierten Verfassung vorzustellen, so sehr politische Ziele unter anderem auch darin bestehen
knnen, talk zu produzieren und in der Form von Verfassungsartikeln (etwa: Umweltschutz als Staatsaufgabe) fr weiteren talk
verfgbar zu machen. Und ebenso gewinnt man keine zutreffende
Theorie des Rechtssystems, wenn man das, was dort faktisch geschieht, als Implementation politischer Programme begreift, so sehr
Rechtsentscheidungen sich an politisch gewollten Folgen orientieren mgen. Selbst wenn es zur politischen Wahl oder Ernennung
von Richtern kommt, kommen nur geeignete Kandidaten in Betracht, und die Hoffnungen, damit das Gericht auf eine politisch
gewnschte Linie zu bringen, mssen sich gerichtsintern durchsetzen lassen und scheitern dann zumeist an der internen Argumentationskultur des Rechtssystems. Auch wenn sich hier dann eben21
22
23
21 Zum Beispiel in der Form von Verfahren. Oder in der Form von subjektiven Rechten. Vgl. Kap. 4, VI und Kap. 6, V.
22 Dies im Sinne von Nils Brunsson, The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions
and Actions in Organizations, Chichester 19851.
23 Vgl. Jessie Bernard, Dimensions and Axes of Supreme Court Decisions: A Study in
the Sociology of Conflict, Social Forces 34 (195 5), S. 19-27; Eloise C. Snyder, The
Supreme Court as a Small Group, Social Forces 36 (1958), S. 232-238. Das berhmte Gegenbeispiel ist faktisch ein einziger Fall: da Roosevelts Richterernennung einen sehr hufigen Gebrauch des judicial review durch den Supreme Court
gegen sozial orientierte Gesetzgebung gestoppt und das Gericht zu der im 19.
Jahrhundert blichen Zurckhaltung zurckgefhrt hat. Hierzu aus der Sicht der
Politikwissenschaft C. Hermann Pritchett, The Roosevelt Court: A Study in Judicial Politics and Values 1937-1947, New York 1948. Zu den methodologischen
Problemen und Unsicherheiten bei empirischen Feststellungen im Bereich des Bermuda-Dreiecks von ideologischen Differenzen (politischer und konomischer
418
Liberalismus), psychologischen Variablen (Einstellungen) und juristischen Kategorisierungen der jeweiligen Fallentscheidungen vgl. Glendon Schubert, The
Judicial Mind, The Attitudes and Ideologies of Supreme Court Judges i946-1963,
Evanston 1965.
24 Ausweitungsmglichkeiten, die mit dem Verfassungsgesetz noch kompatibel sind,
werden immerhin diskutiert. Siehe nur Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung,
Frankfurt 1991, insb. S. 408 ff. Gerade dabei beeindruckt dann aber die um Anschlufhigkeit bemhte Vorsicht des Juristen.
419
sehen oder mit den Kontingenz- und den Transaktionskostenanalysen in der Organisation: jedenfalls ist es ein wirtschaftsspezifisches
Problem, das sich nicht mehr aus der Begrndung von rechtsfhiger
Individualitt herleiten lt, obwohl diese natrlich als Eigenleistung eines anderen Funktionssystems vorausgesetzt bleibt.
Gerade die Durchsetzung des Gesetzespositivismus im 19. Jahrhundert und die rasante Zunahme des Erlasses neuer Gesetze, auf
den ersten Blick also Indikatoren fr eine zunehmende Beherrschung des Rechtssystems durch das politische System, haben zu
Entwicklungen gefhrt, die die Trennung bewut gemacht haben.
Es entsteht parallel dazu, sowohl im Common Law im Hinblick auf
Statutes als auch auf dem Kontinent, ein Bewutsein der Unvermeidlichkeit von richterlichen Interpretationsfreiheiten, wenn nicht
richterlicher Rechtserzeugung. Auch fr die bloe Interpretation
von Gesetzen wird klar, da es nicht darum gehen kann, die in der
Politik ausgetragenen Kontroversen, die in der Entscheidung fr
einen bestimmten Gesetzestext ihren Abschlu fanden, vor Gericht
erneut auszutragen; und auch nicht darum, die politischen Motive
fr die Entscheidung in Zweifelsfllen durch eine richterliche Beweiserhebung zu klren. Allein schon die Kompromihaftigkeit,
die Kontraktualisierung der politischen Meinungsbildung sowie die Politikbedingungen des Neokorporatismus schlieen es aus,
in der Politik nach einer juristisch brauchbaren Intention des Gesetzgebers zu suchen. Statt dessen entwickelt das Rechtssystem
rechtseigene Interpretationstheorien, in denen die legislative Absicht nur eine begrenzte und in jedem Fall: eine am Text zu
konstruierende Rolle spielt.
25
26
27
420
28 Hierzu Niklas Luhmann, Theorie der politischen Opposition, Zeitschrift fr Politik 36 (1989), S. 13-26.
421
II
Wir mssen uns nunmehr den Klammerbegriff des Rechtsstaates
etwas genauer ansehen. Dieser Begriff dient als Schema, das es
ermglicht, zwei gegenlufige Perspektiven als Einheit zu bezeichnen und als zivilisatorische Errungenschaft zu feiern: die juristische
Fesselung der politischen Gewalt und die politische Instrumentierung des Rechts.
Vom Rechtssystem und seiner Funktion aus gesehen, darf es keine
rechtsfreien Rume geben, keine Verhaltensweisen, die durch das
Recht nicht erreichbar sind, keine Enklaven der unregulierbaren
Willkr und Gewaltttigkeit. Dies wird im angelschsischen Bereich auch als rule of law bezeichnet , so da man mit Herman
Finer formulieren kann: the law and the rule (of law, N.L.) cover
the same ground. Wenn rechtliche Unbestimmbarkeit zugelassen
werden mu, mu sie doch rechtlich qualifizierbar sein. Sie wird
dann als vom Recht vorgesehene Freiheit deklariert - sei es als Freiheit des wirtschaftlichen Verhaltens (Eigentumsverwendung, Vertragsschlu) von Privaten; sei es als Freiheit der politischen
Entscheidung, zum Beispiel in der Form der sog. political questions-Doktrin ; sei es schlielich in der Form der Freiheit des
29
30
31
32
29 Vgl. auch Niklas Luhmann, Zwei Seiten des Rechtsstaates, in: Conflict and Integration - Comparative Law in the World Today : The 40th Anniversary of The Institute
of Comparative Law in Japan Chuo University 1988, Tokyo 1989, S.493-506.
30 Vgl. richtungweisend A.V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl. London 1968, S. 183 ff., mit einer eher nationalen Interpretation
peculiar to England, or to those countries which, like the United States of America, have inherited English traditions.
31 So in: The Theory and Practice of Modern Government, rev. Auflage, New York
1949, S.922.
32 Zuerst in der Supreme Court-Entscheidung Marbury vs. Madison 1 Cranch (1803),
S. 137-180. Siehe auch Fritz W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung:
Die Political Questions-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Sup-
422
34
reme Court, Karlsruhe 1965; Judicial Review and the Political Question: A
Functional Analysis, Yale Law Review 75 (1966), S. 517-597.
33 So Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 6. Aufl. (bearbeitet von
Gerhard Anschtz), Leipzig 1905, S. 27. Und in der Anmerkung heit es dazu mit
Belegen: In diesem Sinne wird das Wort in neuerer Zeit ausschlielich gebraucht.
Die groe Rechtsstaatskontroverse des 19. Jahrhunderts ging folglich nur um die
Frage, ob die rechtliche Kontrolle der Verwaltungsttigkeiten den Zivilgerichten
oder besonderen Verwaltungsgerichten berlassen bleiben solle.
34 Siehe Ulrich Scheuner, Begriff und Entwicklung des Rechtsstaates, in: Hans Dombois / Erwin Wilkens (Hrsg.), Macht und Recht: Beitrge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, Berlin 1956, S. 76-88, insb. S. 80ff. zum Gegensatz zur
englischen, franzsischen und schweizerischen Rechtsstaatstradition.
423
35
1987, S.298f.
36 Hiermit befat sich einerseits die sog. Implementationsforschung und andererseits,
mit etwas weiter ausgreifenden Perspektiven, eine Forschungsrichtung, die sich
424
und Verwirklichung - damit soll gesagt sein, da das politische System in der uns bekannten Form gar nicht existieren wrde, wenn
nicht das Rechtssystem eine Differenz von Medium und Form bereithielte, in der auf Grund von politischen Ansten Formen als
geltendes Recht festgelegt und gendert werden knnen. Obwohl
das Recht in dieser Hinsicht autonom funktioniert, also nur tut,
was es selbst tut, ist es neben dem Geld der Wirtschaft die wichtigste Bedingung der Mglichkeit, Politik zu machen, das heit:
politisch zu entscheiden, welches Recht gelten soll (oder, parallel
dazu, wie man politisch verfgbares Geld ausgeben will). Man
denke sich diese Bedingung weg, und die Politik als System brche
zusammen. Es wrde sich gar nicht lohnen, einen Riesenapparat
mit politischen Parteien und Lobby einzurichten, wenn nur darber
zu entscheiden wre, wofr und wie man physische Gewalt einsetzen will. Die gewaltige Extension des Feldes ihrer Mglichkeiten
verdankt die Politik dem Recht und dem Geld. Und auch die Selbstdarstellung der Politik, die politische Rhetorik, die Darstellung
guter Absichten und gegnerischer Missetaten zieht ihren Wein aus
diesen Reben.
Mit der Rechtsstaatsformel bezeichnet das Rechtssystem nur sich
selber, und dann wrde man in der Tat besser von rule of law
sprechen. Die Bezugnahme auf den Staat weist darauf hin, da das
Recht (und vor allem: das Privatrecht) sich nur entwickeln kann,
wenn politisch Frieden gesichert, also freie Gewaltausbung verhindert werden kann. Angesichts der Zustnde in vielen Regionen
und vor allem in Grostdten auf dem amerikanischen Kontinent
hat man einen sehr aktuellen Anla, darauf hinzuweisen. Es kann
auch einen Gegenzusammenhang von Rechtsbruch und politischer
Korruption geben, der dann unter verminderten Ansprchen die
Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bernimmt.
Fr das politische System, das sich als Staat bezeichnet, bringt die
Rechtsstaatsformel ebenfalls eine Bedingung der Steigerung von
Komplexitt zum Ausdruck. Das Recht steht als politisches Bettigungsfeld nur zur Verfgung, wenn und soweit das politische
System Recht Recht sein lt und sich daran hlt, also Gewalt nicht
selbst Rechtspolitologie nennt. Vgl. etwa Rdiger Voigt (Hrsg.), Recht als Instrument der Politik, Opladen 1986, und die seit 1987 erscheinende Jahresschrift fr
Rechtspolitologie. Die Diskussion scheint sich gegenwrtig in begrifflichen Unklarheiten festzulaufen, die mit dem Begriff der Steuerung zusammenhngen.
425
rechtswidrig einsetzt. Je nach Systemreferenz meint die Rechtsstaatsformel also Verschiedenes. Aber sie bringt das Verschiedene in
einer Formel oder wie man dann auch sagen kann: mit einem
Schema - zum Ausdruck und macht es dadurch mglich, auch dies
noch zu bezeichnen, da das politische System ebenso wie das
Rechtssystem ohne das jeweils andere nicht das wre, was es
ist.
Die Rechtsstaatsformel, knnte man zusammenfassend auch sagen,
bringt ein wechselseitig-parasitres Verhltnis von Politik und
Recht zum Ausdruck. Das politische System profitiert davon, da
anderswo, nmlich im Recht, die Differenz von Recht und Unrecht
codiert ist und verwaltet wird. Und umgekehrt gesehen profitiert
das Rechtssystem davon, da der Friede, die eindeutig fixierte
Machtdifferenz und mit ihr die Erzwingbarkeit von Entscheidungen anderswo, nmlich im politischen System, gesichert ist. Mit
parasitr ist dabei nichts anderes gemeint als die Mglichkeit, an
einer externen Differenz zu wachsen.
37
III
Durch funktionale Differenzierung sind die Funktionssysteme freigesetzt zu eigener Determination ihrer Zustnde und Strukturen.
Das heit auch, da systemeigene Zeiten entstehen. Die Frage, was
und in welchen Zeitrumen erinnert bzw. antezipiert wird, variiert
von System zu System. Dasselbe gilt fr das erwartete Tempo des
Anschlusses von Kommunikation an Kommunikation und fr die
darauf reagierende Unterscheidung von eilig und weniger eilig.
Diese Unterschiede machen sich dort bemerkbar, wo Kommunikationen organisiert sind. Sie ergeben sich aber auch, und oft sehr
drastisch, bei organisationsbergreifenden Zeitreihen. Die Schnelligkeit, mit der die Wirtschaft auf Preisnderungen durch Preisnderungen reagiert, kontrastiert auf eigentmliche Weise mit der
Langsamkeit, mit der die Wissenschaft erwnschte neue Forschungsresultate vorlegen kann - ein Bereich, in dem dann eher das
Verhltnis von Langfristigkeit und berraschung (also Nachtrglichkeit) die Orientierung beherrscht.
37 Siehe Michael Serres, Der Parasit, dt. bers. Frankfurt 1981.
426
38
40
38 Dasselbe gilt, mutatis mutandis, fr richtungweisende hchstrichterliche Entscheidungen. Auch sie lassen sich durch mangelnde Folgenvorausschau motivieren - und
werden dann Gegenstand von impact studies. Siehe Stephen Wasby, The Impact
of the United States Supreme Court: Some Perspectives, Homewood III. 1970, oder
auch die Beispiele, die Robert L. Kidder, Connecting Law and Society: An Introduction to Research and Theory, Englewood Cliffs N.J. 1983, S. 112 ff. errtert. Als
Fallstudien siehe etwa Gordon Patric, The Impact of a Court Decision: Aftermath
of the McCollum Case, Journal of Public Law 6 (19 $7), S. 45 5-464 (betr. Religionsunterricht in ffentlichen Schulen) oder James Croyle, The Impact of Judge-made
Policies: An Analysis of Research Strategies and An Application to Products Liability Doctrine, Law and Society Review 13 (1979), S. 949-967.
39 Diese berlegung fhrt, wie hier nur angemerkt werden soll, zu der Vermutung,
da das Zukunftsverhltnis der modernen Gesellschaft (Stichwort offene Zukunft) sehr viel zu tun haben knnte mit der fr die Gesellschaft selbst sichtbaren
Hufung und Beschleunigung von Strukturnderungen.
40 Die Kritik dieser Unterstellung hatten wir in Kapitel 7 vorweggenommen.
428
42
Folglich entwickeln die Kontakte der Verwaltung mit dem Betroffenenkreis, dessen Verhalten beeinflut werden soll, eigene Kriterien fr Erfolg bzw. Mierfolg. Kontakte stellen sich auf Wiederholung ein. Dabei entstehen unter anderem moralische Kriterien
des Zumutbaren und der wechselseitigen Respektierung, der Bedingungen und Grenzen von Zusammenarbeit, der Tragweite von
Verstndigungen. Erst Spannungen und Brche im Netzwerk dieser
ratsamen Kooperation fhren zur Einschaltung des Rechts, zu expliziten Hinweisen auf das, was rechtlich erzwungen oder nicht
41 Dies wird vor allem in am EntScheidungsproze orientierten organisationssozioiogischen Studien gefordert. Siehe nur Colin S. Diver, A Theory of Regulatory
Enforcement, Public Policy 28 (1980), S. 257-299.
42 Hierzu mit guten rechtssozioiogischen Analysen Keith Hawkins, Environment and
Enforcement: Regulation and the Social Definition of Pollution, Oxford 1984.
429
erzwungen werden knnte. Hier wie auch sonst dient das Recht als
Auffangnetz fr das Scheitern der Primrbeziehung. Die berleitung mag aus juristisch ganz unsachlichen, oft auch uneingestehbaren Motiven erfolgen - etwa deshalb, weil es an Zeichen wechselseitigen Respektes fehlt (und vor allem Unterschiede im sozialen
Status der Brokraten und ihrer Klienten knnen hier die Empfindlichkeiten hochtreiben). Aber Motive sind keine Argumente. Sie
bleiben in der Kommunikation vor und nach der Juridifizierung
latent und lassen sich allenfalls in der soziologischen Analyse erschlieen.
Ferner ist den Verwaltungsbehrden klar, da Rechtserzwingung
weitreichende politische Folgen haben kann, wenn sie Interessen
trifft, die sieh politisch vertreten lassen. Die ortsansssige Industrie
oder die Bauern, die Winzer oder die Fischer knnen, auch nachdem eine in ihren Folgen unbersehbare Entscheidung des Gesetzgebers gefallen ist, Rcksichtnahmen auf ebenfalls vorzeigbare
Interessen verlangen; und die Verwaltung ist gut beraten, wenn sie
hierfr politische Sensibilitt entwickelt - vor allem in Fllen, in
denen der Zusammenhang von Rechtsbruch und Schaden nicht sofort oder nur an Hand artifizieller Messungen einsichtig ist. Fr die
unteren Instanzen, die street level bureaucracy, gibt es deshalb
eine Art zweiten Dienstweg zum Vorgesetzten ber die Presse
oder einflureiche Interessenten, und es empfehlen sich deshalb
protektive Strategien, vor allem in der Form von schriftlichen Berichten oder Formularwerk, die sicherstellen, da nichts passiert,
wenn etwas passiert. Whrend juristisch ein enger, nur durch Interpretations- und Beweisprobleme vermittelter Zusammenhang
zwischen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung besteht, klaffen
politisch die Horizonte beider Entscheidungsebenen weit auseinander.
43
430
Wesentliche politischer Verwaltung in der Anwendung von Gesetzen zu sehen. Wir befinden uns nicht mehr in der Situation der
Frhmoderne, in der es als Lokalverwaltung kaum etwas anderes
gab als Gerichte. Die Gesetzesbindung der Verwaltung, die das
19. Jahrhundert erarbeitet hat, bleibt unbestritten; aber sie stellt nur
die Mglichkeit bereit, bei auftretenden Schwierigkeiten auf das
Recht zurckzugreifen. Und selbst heutige Analysen, die der Implementation von rechtsfrmig verabschiedeten Programmen
nachgehen und entsprechende Defekte beklagen oder auf ein typisch brokratisches Fehlverhalten zurckfhren, folgen oft dem
Vorurteil, da Gesetze durchgefhrt werden mten. Die staatliche Regierung und Verwaltung ist jedoch von oben bis unten eine
Organisation des politischen Systems. Sie realisiert Politik und
nicht Recht - wenngleich unter dem Vorbehalt, da jederzeit die
Frage aufgeworfen werden kann, ob dies rechtmig oder unrechtmig geschieht. Aber mit dieser Frage wechselt die Kommunikation ihrer Systemreferenz.
IV
Empirisch knnen Thesen ber Trennung und Kontaktverdichtung
im Verhltnis von politischem System und Rechtssystem berprft
werden, indem man den politischen Einflu von Juristen untersucht. Allerdings mten solche Untersuchungen theoretisch sorgfltig vorbereitet und mten vor allem auf operativer, nicht nur auf
personaler Ebene angesiedelt sein. Es ist eine Frage, ob Juristen
durch ihr Studium und durch ihre Berufsttigkeit fr politische Ttigkeit besonders vorbereitet sind. Es ist eine andere Frage, ob sie in
politischen Kontexten dann auch als Juristen wirken, das heit primr auf die Zuordnung der Entscheidungen zu den Werten Recht
bzw. Unrecht achten.
Da die Politik praktisch in den Hnden der Juristen sei, wird oft
vermutet, aber selten eindeutig belegt. Man weist auf das sogenannte Juristenmonopol in Verwaltungskarrieren hin oder auch
auf die Tatsache, da einflureiche Lobbyisten in Washington durch
(einflureiche?) Anwaltfirmen vertreten werden. Damit ist jedoch
44
44 Siehe z. B. aus der Feder eines solchen Anwaltes Charles Horsky, The Washington
43
noch nicht geklrt, auf welcher Art von Geschicklichkeit der Einflu beruht und in welchem Funktionssystem er eigentlich wirksam
wird. Man kann erkennen, da Juristen, die an kontroverses Verhandeln mit (professioneller) Anerkennung der Gegenseite gewhnt sind, ein offeneres Verhltnis zur Politik haben als andere
akademische Berufe. Aber das bedeutet noch nicht, da ihr etwaiger Einflu auf Politik darauf beruht, da Rechtsfragen politisch
den Ausschlag geben. Wie auch in hheren Industriepositionen
oder bei der Prferenz der Firmen fr bestimmte Anwlte oder
Anwaltsfinnen mag Geschick im Auftreten, Fhigkeit, sich in der
Interaktion oder auch am Telefon durchzusetzen, Milieukenntnisse,
Organisationskenntnisse inclusive das Bekanntsein an den entsprechenden Stellen wichtiger sein als das Rechtswissen selbst. Es mag
sein und ist sicher oft der Fall, da Rechtsfragen den Rahmen des
politisch Mglichen abstecken und da man, wenn man diese
Grenzen berhrt, juristische Argumentations- und Entscheidungshilfe braucht. Aber selbst dann ist es immer noch eine politische
Frage, welches Rechtsrisiko man bereit ist einzugehen. Da
Juristen in Beratungen im Kontaktfeld von Politik und Recht die
Mglichkeit einer abgekrzten Sprech- und Verstndigungsweise
ber Rechtsfragen einbringen und verhindern knnen, da die
Politik unntigerweise an solchen Fragen hngen bleibt, ist ebenso
zu notieren wie die Tatsache, da es eigentlich um etwas anderes
geht.
45
46
Lawyer, Boston 1952. Vgl. auch Heinz Eulau / John D.Sprague, Lawyers in Politics: A Study in Professional Convergence, Indianapolis 1964.
45 Siehe Elmar Lange / Niklas Luhmann, Juristen - Berufswahl und Karrieren, Verwaltungsarchiv 65 (1974), S. 1 1 3 - 1 6 2 (156 ff.)..
46 Eine gute Gelegenheit zu einer Fallstudie bte der Bericht der Studienkommission
fr die Reform des ffentlichen Dienstrechts, Baden-Baden 1973, mit 11 Anlagebnden. Dem Namen der Kommission zufolge ging es um Rechtsfragen, und es
wurden in erheblichem Umfang auch Rechtsgutachten eingeholt, um den verfassungsrechtlichen Spielraum fr Reformberlegungen (institutionelle Garantie des
Berufsbeamtentums usw.) auszuloten. Aber schon die Bestimmung der Gutachter
war politisch vorsortiert, und fr die Empfehlungen der Kommission selbst waren
fast ausschlielich Struktur- und Organisationsfragen ausschlaggebend.
47 Siehe Robert L. Nelson / John P. Heinz, Lawyers and the Structure of Influence in
Washington, Law and Society Review 22 (1988), S. 237-300. In der Zusammenfassung heit es: . . . the findings indicate that lawyers occupy a relatively specialized
432
knnen wohlhabende Klienten sich bessere Anwaltfirmen aussuchen, aber dann bleibt noch offen, ob deren Einflu auf das
juristische Argument (wenn es berhaupt dazu kommt) oder auf die
politische Bedeutung der Klienten zurckzufhren ist. Dies besagt auch, da diese Verwendung von Anwlten fr politische
Kontakte eher im politischen System als im Rechtssystem zu verorten ist und jedenfalls nicht in besonderem Mae juristische Sachkunde in Anspruch nimmt. Empirische Untersuchungen belegen
erhebliche Diskrepanzen zwischen professioneller Selbstdarstellung und faktischen Kontaktnetzen , was jedoch nicht zu dem
Schlu fhren darf, die Anwlte knnten politische Fragen und
Rechtsfragen nicht unterscheiden. Auch sieht man mit Hilfe von
Analysen der Kontaktnetzwerke deutliche politische Einseitigkeiten, die als solche nicht durch Rechtsfragen bestimmt sein knnen,
sondern nichtjuristische Selbstselektionen dokumentieren, die dem
Bild des unvoreingenommenen Anwalts widersprechen. Der
bloe Status als Jurist ist nach all dem kein verllicher Indikator in
der Frage, ob eine Kommunikation mehr im politischen System
oder mehr im Rechtssystem abluft. Auf jeden Fall wrde aber kein
Jurist auf diesem Terrain erfolgreich agieren knnen, wenn er nicht
in der Lage wre, Rechtsfragen und politische Fragen zu unterscheiden, oder sich dem Irrtum hingbe, politische Probleme seien
als Rechtsprobleme zu lsen.
48
49
50
Eine andere Mglichkeit, die Hypothese der Systemtrennung empirisch zu berprfen, knnte darin bestehen, sich wichtige rechtsdogmatische Erfindungen vorzunehmen und zu fragen, ob und
unter welchen Bedingungen sie im System der Parteipolitik berhaupt ein politisches Thema htten werden knnen. Zum Beispiel
die Anscheinsvollmacht, die darauf beruht, da jemand den An-
niche in the System of interest representation, one that allows them to command
substantial economic rewards and to maintain a measure of independence and autonomy in their work, but that limits their influence in policy formation.
48 Siehe Robert L. Nelson et al., Private Representation in Washington: Surveyingthe
Structure of Influence, American Bar Foundation Research Journal 1 9 8 7 , 1 , S. 141200.
49 Vgl. Edward O. Laumann / John P. Heinz et al., Washington Lawyers and Others:
The Structure of Washington Representation, Stanford Law Review 37 (1985),
S. 465-502.
50 Siehe Nelson / Heinz a.a.O., S. 290 ff.
433
V
Die unbestreitbare Dichte des Zusammenhangs von Politik
und Recht rechtfertigt es nach all dem nicht, von nur einem
System zu sprechen. Im Gegenteil: ihre angemessene Darstellung
erfordert es, von zwei unterschiedlichen Systemreferenzen auszugehen.
Dabei mu (und kann) man nicht ausschlieen, da einzelne Operationen fr einen Beobachter einen zugleich politischen und juristischen Sinn haben. Die Verabschiedung eines Gesetzes im Parlament kann als ein politischer Erfolg gebucht werden, mit dem lange
Bemhungen um einen tragfhigen Konsens zum Abschlu kommen, und sie ndert zugleich den Geltungszustand des Rechts, dient
als Instruktion fr Gerichte und darber hinaus fr jeden, der im
entsprechenden Sinnbereich wissen will, was Recht und was Unrecht ist. Da ein Beobachter hier ein Ereignis als Einheit identifi434
52
An dieser Nichtidentitt der Systeme kann auch eine noch so detaillierte rechtliche Regelung des Gesetzgebungsverfahrens, sei es
durch den Gesetzgeber selbst, sei es durch Verfassungsgerichte ,
53
435
tieren oder ndern knnte und sich entsprechend umsichtig verhalten mte.
Auch die systemintern benutzten Symbolisierungen der Einheit des
Systems unterscheiden sich. Will man Zugehrigkeit zum Rechtssystem symbolisieren - und zwar auch und gerade dann, wenn es
um Anderungsvorhabeh geht -, beruft man sich auf geltendes
Recht. Das hatten wir oben (Kap. 2, VIII) behandelt. Geht es dagegen um das politische System, heit die Identifikationsformel
Staat ; und auch dies wird speziell dann relevant, wenn man nderungsanliegen auf Systeme hin kanalisieren will. Da der Staatsbegriff auch ein Begriff des geltenden Rechts ist, wird damit nicht
ausgeschlossen. Aber wenn man Richter und Polizisten, Lehrer und
Amtsrzte als Staatsbeamte bezeichnet, ist damit nicht nur das ihre
Verhltnisse regelnde Gesetz gemeint, sondern auch: da ihr Verhalten politisch zum Thema gemacht werden kann - im Unterschied zum Verhalten frei praktizierender rzte oder privater
body guards, wo Skandale allenfalls zur politischen Forderung
nach gesetzlicher Regelung fhren knnen, die natrlich ebenfalls
an den Staat zu adressieren ist.
54
Blickt man von hier aus zurck auf die traditionelle Semantik des
Staates, so erkennt man entsprechende Bruchstellen zwischen Politik und Recht, vor allem dort, wo es um Vermeidung von Unruhen
und Turbulenzen, also um (inneren) Frieden ging. Schon in der
lteren Lehre von der Staatsrson war dem Frsten konzediert, da
er im Interesse der Erhaltung seiner Macht (und damit: des Friedens) Rechtsbrche sowohl selbst begehen als auch bersehen, das
heit ungeahndet lassen drfe. Die Lehre war eingebettet in einen
ethisch-naturrechtlichen Zusammenhang, in dem (angesichts gegebener Verhltnisse) die Bewahrung des Friedens hoch, ja hher
bewertet wurde als gelegentliche Rechtsverletzungen. Auch nach
dem Zusammenbruch einer solchen umfassenden Legitimationssemantik am Ende des 18. Jahrhunderts regeneriert das Problem.
Bereits David Hume bemerkt: A single act of justice is frequently
55
54 Hierzu nher Niklas Luhmann, Staat und Politik: Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in ders., Soziologische Aufklrung Bd. 4, Opladen 1987,
S. 74-103.
5 5 Siehe hierzu Niklas Luhmann, Staat und Staatsrson im bergang von traditionaler
Herrschaft zu moderner Politik, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3,
Frankfurt 1990, S. 65-148.
437
57
58
56 A Treatise a.a.O., Bd. 2, S. 201. Man kann das ohne Mhe verstehen als Widerspruch auf der Ebene der Einzelereignisse bei Kompatibilitt rekursiv operierender
Systeme. Fr Hume selbst heit das jedoch nur, da die private Eigentumsnutzung
generell gesichert sein mu, auch wenn sie im Einzelfall dem ffentlichen Interesse
widerspricht.
57 Einer der rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen seiner Zeit so charakterisiert Kleist im ersten Satz seiner Novelle ihren Helden. Zum romantischen Kontext und zum Zusammenhang mit einem neueuropisch forcierten
Recht/Unrecht-Schema siehe auch Regina Ogorek, Adam Mllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifungen des Michael Kohlhaas, Kleist-Jahrbuch
1988/89, S.96-125.
58 Zitiert nach der Ausgabe in: Friedrich Schlegel, Dichtungen und Aufstze, Mnchen 1984, S. 593-728 (700). Und ebenda: ... nach dem absoluten Rechtsbegriff
(wrde) jeder Krieg notwendig ein Krieg auf Tod und Leben sein.
438
439
Kapitel io
Strukturelle Kopplungen
I
Je strker die Systemtheorie die operative Geschlossenheit autopoietischer Systeme betont, desto dringender stellt sich die Frage, wie
denn unter dieser Bedingung die Umweltbeziehungen des Systems
gestaltet sind. Denn weder die Realitt noch die kausale Relevanz
der Umwelt wird geleugnet (sonst knnte man nicht einmal von
Differenz, Ausdifferenzierung usw. sprechen). Operative Geschlossenheit heit nur, da die Autopoiesis des Systems nur mit
eigenen Operationen durchgefhrt, da die Einheit des Systems nur
mit eigenen Operationen reproduziert werden kann; sowie umgekehrt: da das System nicht in seiner Umwelt operieren, sich also
auch nicht durch eigene Operationen mit seiner Umwelt in Verbindung setzen kann.
Der theoretische Vorteil dieser Ausgangsposition ist, da sie den
Aussagen ber Beziehungen zwischen System und Umwelt eine
bisher unbliche Przision abverlangt. Die Antwort darauf liefert
der Begriff der strukturellen Kopplung. Er heit so als Gegenbegriff zu operativen Kopplungen (Kopplungen von Operationen
durch Operationen) und auch zur Unterscheidung von den laufenden Kausalitten, die die Grenzen des Systems, wenn man so sagen
darf, ignorieren oder miachten.
1
440
Da strukturelle Kopplungen Systeme zugleich trennen und verbinden, kann man auch mit der auf Zeitlichkeit abzielenden Unterscheidung von analogem und digitalem Prozessieren zum Aus-
441
druck bringen. Die Systeme altern gleichmig in einer gemeinsamen Zeit, ohne dafr auf Zeitmessungen angewiesen zu sein, und in
diesem Sinne analog. Zugleich prozessieren sie aber ihre eigenen
Zeitverhltnisse digital und entsprechend unterschiedlich schnell
oder langsam, mit weiteren oder krzeren Ausgriffen auf Zeitpunkte je ihrer Vergangenheit oder Zukunft sowie mit mglicherweise unterschiedlichen Zeitlngen dessen, was jeweils in einem
System als ein Einzelereignis konstituiert wird. Die Zeit selbst luft
demnach fr alle gleichmig, und das garantiert den operationsunabhngigen Erhalt der strukturellen Kopplungen; aber zugleich
knnen in diese Zeit unterschiedliche Unterscheidungen eingebracht werden mit der Folge, da zum Beispiel die Rechtsverfahren
fr Zwecke in der Wirtschaft (oder auch: in der Politik) oft viel zu
langsam und deshalb als Mechanismen der Herbeifhrung von Entscheidungen nahezu unbrauchbar sein knnen.
Da das System durch seine eigenen Strukturen determiniert ist und
sich nur durch eigene Operationen digitalisieren = spezifizieren
kann, knnen Umweltereignisse, was immer ihre eigene Systemzugehrigkeit sei, nicht als Inputs in das System eingreifen, auch
nicht im Bereich struktureller Kopplungen. Oder anders gesagt:
Das System ist keine Transformationsfunktion, die Inputs auf immer gleiche Weise in Outputs transformiert; und dies auch dann
nicht, wenn es sich selbst durch Konditionalprogramme strukturiert. Im System selbst knnen strukturelle Kopplungen also nur
Irritationen, berraschungen, Strungen auslsen. Die Begriffe
strukturelle Kopplung und Irritation bedingen einander wechselseitig.
5
4 Siehe fr diese Unterscheidung etwa Anthony Wilden, System and Structure: Essays
in Communication and Exchange, 2. Aufl. London 1980, S. 15 j ff. und passim.
5 Ich korrigiere hier eigene frhere Aussagen. Vgl. Niklas Luhmann, Zweckbegriff
und Systemrationalitt, Neudruck Frankfurt 1973, S. 88 ff.; ders., Rechtssystem und
Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974, S. 25 ff. Nach wie vor soll aber nicht bestritten werden, da ein Beobachter das Input/Output-Modell als ein stark simplifizierendes
Kausalmodell verwenden kann, um sich Sachverhalte zurechtzulegen. Im hier vorgelegten Text wird jedoch eine komplexere Theorie bevorzugt.
6 Konkurrierende Begriffspaare, die sich ebenfalls um eine Erklrung des Phnomens
Selbstorganisation und Lernen bei operativ geschlossenen Systemen bemhen, sind
Assimilation/Akkommodation (Jean Piaget) und die oben bereits benutzten Begriffe
Variett/Redundanz (Henri Atlan). Auf einen detaillierten Theorievergleich knnen
wir uns an dieser Stelle nicht einlassen.
442
Strukturelle Kopplungen mit ihrem Doppeleffekt von Einschlieung und Ausschlieung erleichtern es, Irritabilitt zu konzentrie7 Hierzu ausfhrlicher: Niklas Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in
ders., Soziologische Aufklrung Bd. 5, Opladen 1990, S. 95-130.
443
444
gekoppelt, und nach wie vor irritiert das, was in diesen Systemen
vor sich gehen mag, die gesellschaftliche Kommunikation. Durch
Ausdifferenzierung des Rechtssystems entsteht aber zustzlich innerhalb des Gesellschaftssystems ein neues SystenWUmweltverhltnis, nmlich das des Rechtssystems zu seiner innergesellschaftlichen Umwelt. Auch im Rechtssystem wird kommuniziert, auch
das Rechtssystem wird durch Bewutseinssysteme irritiert, aber
zustzlich entstehen Mglichkeiten, fr das Rechtssystem im Verhltnis zu sozialen Systemen seiner innergesellschaftlichen Umwelt
neue Formen struktureller Kopplung zu entwickeln.
Wie immer aber Komplexittsfortschritte erreicht werden: nie fhrenstrukturelleKopplungenUmweltnormenindasRechtssystemein.
Sie irritieren nur. Erst recht ist die Form strukturelle Kopplung kein Normthema, so als ob sie vorgeschrieben werden
knnte. Zwar knnen diejenigen Einrichtungen, die vom Rechtssystem aus gesehen dies leisten (und wir werden von Eigentum,
Vertrag und Verfassung sprechen), Rechtsform annehmen - aber
nicht in ihrer Funktion struktureller Kopplung. Diese mu als gegeben unterstellt werden. Sie steht orthogonal zu den Operationen,
die systemeigene Strukturen (Normen) aufbauen und sich an ihnen
orientieren.
Und die allgemeine Regel gilt auch hier: Solange das Rechtssystem
ohne Einschrnkung den Pressionen seiner gesellschaftlichen Umwelt ausgesetzt ist, kann es sich nicht auf bestimmte Strungen
konzentrieren. Alle denkbaren Pressionen deformieren das Recht,
sei es, da sie es ignorieren und das zustndige Recht umgehen, sei
es, da sie fallweise das System veranlassen, Recht fr Unrecht oder
Unrecht fr Recht zu erklren. Ohne strukturelle Kopplungen im
Verhltnis von gesellschaftlichen Teilsystemen zueinander bleibt
das Recht im Sinne des modernen Sprachgebrauchs korrupt.
Dieser Begriff hat einen deutlich pejorativen Sinn. Man mu aber
darber hinaus sehen, da das Problem nicht allein in der Bekmpfung von Korruption, in Normen gegen Korruption und in deren
Durchsetzung liegt. Die tiefergreifende Frage ist vielmehr, welche
strukturellen Kopplungen im Verhltnis zu anderen Teilsystemen es
ermglichen knnen, Korruption zu ersetzen und zugleich weniger
und, gefrdert durch die Kopplung, mehr Einflu der Umwelt auf
das Rechtssystem zuzulassen.
445
II
Welche strukturellen Kopplungen eine Gesellschaft einrichtet, um
ihre Teilsysteme zu verknpfen und die Verknpfung zugleich zu
beschrnken, um die Differenzierung zu erhalten, hngt offensichtlich von der Form der Differenzierung ab. Strukturelle Kopplungen, die das Rechtssystem mit anderen Funktionssystemen der
Gesellschaft, verbinden, entstehen deshalb erst, wenn die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems so weit fortgeschritten ist, da Trennung und Zusammenhang der Funktionssysteme
ein Problem bilden und die Paradoxie der Einheit des Ganzen, das
aus Teilen besteht, auf strukturelle Kopplungen abgeladen werden
und dadurch Form erhalten kann. Empirisch testen lt sich diese
Theorie, wenn man feststellen kann, da sich im Zuge der Realisation funktionaler Differenzierung tatschlich neue Mechanismen
struktureller Kopplung herausbilden.
9
11
12
9 Ob und wie die Neuartigkeit von Zeitgenossen gesehen oder verdeckt wird, ist eine
zweite Frage. Speziell im 18. Jahrhundert dient die Figur des Naturrechts auch
der Verschleierung der Innovation - sowohl im Verfassungsrecht als auch im Vertragsrecht. Wir werden das im folgenden genauer analysieren.
10 Vgl. oben Kapitel 6, IV.
11 Vgl. Max Gluckman, African Land Tenure, Scientific American 22 (1947), S. 257168; ders., The Ideas in Barotse Jurisprudence 2. Aufl. Manchester 1972.
12 Ein Beispiel dafr: T. Selwyn, The Order of Men and the Order of Things: An
Examination of Food Transactions in an Indian Village, International Journal of the
Sociology of Law 8 (1980), S. 2 9 7 - 3 1 7 .
446
14
15
13 Zur Vorstellung des Verpflichtetseins ohne formelle, gerichtlich durchsetzbare Haftung im frhgriechischen Recht siehe Fritz Pringsheim, The Greek Law of Sale,
Weimar 1950, S. 17. Pringsheim betont aber ausdrcklich, da daraus nicht auf die
Anerkennung von informalen Konsensualvertrgen als Rechtsinstitut geschlossen
werden knne,
14 Man kann dies an der Entwicklung von Vertragstypen ablesen, die nicht nur kommerziell relevante Vertrge, sondern gerade auch unentgeltliche Freundschaftsdienste (zum Beispiel depositum, mandatum) mit Klagemglichkeiten versorgen und
Auenhandel mit einem ius gentium nur sehr zgernd einbeziehen.
15 Hierzu die einflureichen Arbeiten von Otto Brunner, Adeliges Landleben und
europischer Geist: Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688,
Salzburg 1949; ders., Das ganze Haus und die alteuropische konomik, in ders.,
Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. Gttingen 1968, S. 103127. Fr dievorausgehendeGeschichtesieheauch Sabine Krger, Zum Verstndnisder
Oeconomica Konrads von Megenberg: Griechische Ursprnge der sptmittelalterlichen Lehre vom Hause, Deutsches Archiv fr Erforschung des Mittelalters 20
(1964), S. 475-561.
447
Die Voraussetzungen dafr scheinen in einer mit Stratifikation unvereinbaren Differenzierung von Wirtschaftssystemen und politischem System zu liegen. Bis zum Mittelalter waren Politik und
Wirtschaft gemeinsam auf die Ressource Landbesitz angewiesen.
Im Land verkrpern sich eine Vielzahl von strukturell wichtigen
Merkmalen, als da sind: ( i ) knstliche und vernderbare Einteilbarkeit; (2) Dauerhaftigkeit des Bestandes; (3) Selbsterneuerung von
Einknften und Einkommensberschssen; (4) Grundlage fr eine
generationenbergreifende Familienkontinuitt und (5) Angreifbarkeit durch Gewalt, aber nicht durch Diebstahl oder Betrug. Die
Fusion dieser strukturellen Vorteile in einer Institution erklrt die
bemerkenswerte Stabilitt der davon abhngigen politischen konomie. Im Mittelalter beginnt jedoch ein rascher Proze der
Erosion dieser Einheit durch die rapide Entwicklung der Geldwirtschaft. Land wird jetzt zum Beispiel als Sicherheit fr Kredite
bentigt, und das verndert die Rechtsformen des Eigentums und
erzwingt die Veruerbarkeit. Die begriffliche Entwicklung des
Rechtsinstituts Eigentum wird jedoch dadurch behindert, da in
der Schenkungs- und Stiftungskonomie des Mittelalters sowohl
die Kirche als auch die weltlichen Herrschaften ein vitales Interesse
an Landbesitz haben und entsprechend konkurrierende Gerichtsbarkeiten und Rechtssysteme aufbauen. Aber die wirtschaftliche
Entwicklung unterluft, dazu querstehend, diesen Konflikt, indem
sie die wirtschaftlichen Interessen von Land auf Geld umstellt und
Landbesitz als Einkommensquelle und Kreditgrundlage rein konomisch bewertet.
16
16 Hierzu Robert C. Palmer, The Economic and Cultural Impact of the Origins of
Property 1180-1220, Law and History Review 3 (1985), S. 375-396 (386fr.); siehe
auch ders., The Origins of Property in England, Law and History Review 3 (1985),
S. 1 - 50. Vgl. auch Emily Zack Tabuteau, Transfers of Property in Eleventh-Century
Norman Law, Chapel Hill NC 1988, S. 80 ff. fr eine bergangslage mit vorherrschendem Motiv, dem rckzahlungsunfhigen Schuldner sein Land abzunehmen.
17 Siehe Immanuel Wallerstein, The Modern World System Bd. 1, New York 1974, zur
Entwicklung einer internationalen Arbeitsteilung.
448
Bis in die zweite Hlfte des 18. Jahrhunderts, in der sich eine spezifisch wirtschaftliche Betrachtungsweise durchsetzt, werden Eigentum und Vertrag noch unter Berufung auf Natur begrndet.
Sieht man genauer zu, gilt in beiden Fllen das Schema gleich/ungleich - gewissermaen als die Unterscheidung, die das operationalisiert, was die Natur verlangt. Fr das Eigentum wird gesagt, da
die Menschen zwar gleich, nmlich ohne Habe, geschaffen worden sind, aber da die Entwicklung der Gesellschaft um der gre20
18 Diese Formulierung bei Edward Misseiden, The Circle of Commerce. Or, The
Balance of Trade, in Defence of Free Trade, London 1623, Nachdruck Amsterdam
1969, S. 98.
19 Bolingbrokes Dissertation upon Parties (zit. nach Works Bd. II, Philadelphia
1 8 4 1 , Nachdruck Farnborough Hants. England 1969, S. 5 - 1 7 2 ) lt erkennen, da
bis dahin die britische Verfassung zwar mit den Problemen des Mediums Macht (in
der Form kniglicher Prrogative und Ausschaltung aller Widerstandsrechte) fertig
geworden war, nicht aber mit dem politischen Gebrauch des Mediums Geld, das
nach Bolingbroke subtiler und eben deshalb langfristig verhngnisvoller wirkt, weil
man ihm nicht durch offene Revolution entgegentreten kann.
20 Zur zivilrechtlichen Evolution dieser Begriffe im rmischen Recht vgl. auch oben
Kap. 6, III.
449
21
Entsprechende Beschrnkungen sind jedoch in Rechnung zu stellen. Noch im 18. Jahrhundert ist im Eigentumsbegriff die freie
Ausnutzung von Marktchancen nicht mitgedacht ; die politischen
Konnotationen des Begriffs im Kontext von civil society sind
noch zu stark. Eigentum gilt zwar nicht mehr als unentbehrliche
Bedingung von Herrschaft, wohl aber als einzig legitimes Interesse
des Brgers an politischer Mitwirkung durch Reprsentation. Wie
wir in den folgenden Abschnitten zeigen wollen, werden erst um
1800 die Rechtsinstitute Eigentum und Vertrag so adaptiert, da sie
das Wirtschaftssystem zu koppeln vermgen. Etwa gleichzeitig entsteht fr das Verhltnis von politschem System und Rechtssystem
ein neuartiger Begriff der Verfassung. Solange stndische Verhlt23
21 Hinweise dazu in: Niklas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in ders., Geselischaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 11-64.
22 So zum Beispiel Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres, l.H, C.XII, VIII,
zit. nach der Ausgabe Amsterdam 1720, S. 3 7 3 : In contractibus natura aequalitatem imperat. Siehe, mit Einschrnkung auf belastende Vertrge, auch Samuel
Pufendorf, De officio hominis & civis juxta Legem Naturalem libri duo 1.1 c.XV,
III., zit. nach der Ausgabe Cambridge 1 7 3 5 , S. 226f. Erst recht mute die natrliche Gleichheit der Vertragschlieenden bei allen Staats- und Gesellschaftsvertragstheorien vorausgesetzt werden, die ja zu erklren versuchten, wie es berhaupt zur
Instituierung von Ungleichheit kommt.
23 Vgl. fr Amerika z. B. Forrest McDonald, Novus Ordo Seclorum: The Intellectual
Origins of the Constitution, Lawrence Kansas 1985, S. 14.
450
25
26
24 Vgl. Estienne Pasquier, Les Recherches de la France, Neuauflage Paris 1665, S. 577 f.
mit dem Bericht eines Falles, in dem der Kaiser das Problem dadurch lste, da er
den Brgerlichen adelte und ihm dadurch zum Sieg verhalf.
25 Insofern trifft denn auch die historische Darstellung From Status to Contract
(Maine) allenfalls fr das Privatrecht, nicht aber fr das ffentliche Recht zu; wobei
allerdings mitzubedenken ist, da diese Unterscheidung selbst erst im Zuge der hier
skizzierten Entwicklung ihre modernen Konturen gewinnt. Vgl. hierzu Gerhard
Dilcher, Vom stndischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz, Der Staat 27
(1988), S . 1 6 1 - 1 9 3 .
26 Siehe nur John Stuart Mill, A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, zit.
nach der 9. Aufl., London 1875, Bd. II, S.4o8f. (Book V.Chapter VII, 2).
451
III
Wenn das Recht auf Bedrfnisse und Interessen wirtschaftlicher Art
reagiert, befat es sich mit Wirtschaft bereits auf einer sekundren
Ebene. Es kann, wie wir bei der Behandlung der sogenannten Interessenjurisprudenz gesehen haben , fr Interessen einen eigenen
Begriff zur Verfgung stellen, aber das geschieht bereits im Netzwerk der eigenen Operationen. Wirtschaftliche Interessen werden
dadurch homogenisiert, sie werden ihrer spezifisch wirtschaftlichen Relevanz (zum Beispiel ihres Geldwertes) entkleidet, werden
gleichsam zu nackten Interessen abstrahiert, die dann, dem Rechtscode entsprechend, in rechtlich geschtzte / rechtlich nicht geschtzte Interessen sortiert werden. Das setzt voraus, da Wirtschaftssystem und Rechtssystem im oben erluterten Sinne
strukturell gekoppelt sind, erklrt aber nicht wie. Der Begriff Interesse deutet, mehr noch als der Begriff des subjektiven Rechts ,
darauf hin, da das Rechtssystem eine hochsensible Empfangs- und
Transformationsstation fr Nachrichten aus der Wirtschaft konstruiert hat, sagt aber noch nichts darber aus, wodurch garantiert
ist, da eine hohe wechselseitige Irritation in beiden Systemen absorbiert werden kann. Eine Rechtssoziologie, die nur auf dieser
Ebene forscht, um den Einflu wirtschaftlicher Interessen auf das
Recht oder umgekehrt die Knebelung wirtschaftlicher Interessen
durch das Recht zu studieren, verfehlt daher das konstitutive Verhltnis von Wirtschaft und Recht und verfehlt vor allem die gesellschaftlichen Bedingungen der Mglichkeit dieser Differenzie27
28
29
rung.
27 Vgl. oben Kapitel 8, VII und VIII.
28 Zu diesem Vergleich siehe D.Neil MacCormick, Rights in Legislation, in:
P. M. S. Hacker / J. Raz (Hrsg.), Law, Morality and Society: Essays in Honour of
H. L. A. Hart, Oxford 1977, S. 189-209.
29 Fr solche Forschungen, deren Mglichkeiten und Erfolge nicht in Abrede gestellt
werden sollen, gengt dann auch der unklare Begriff einer relativen Autonomie,
der alle weiteren theoretischen Rckfragen abschneidet. Siehe Richard Lempert,
The Autonomy of Law: Two Visions Compared, in: Gunther Teubner (Hrsg.),
Autopoietic Law: A New Approach to Law and Society, Berlin 1988, S. 152-190,
und dazu oben Kap. 2, IV. Wenn dies wirklich eine unabdingbare Voraussetzung fr
empirische Forschung sein sollte, steht damit auch deren theoretische Unergiebigkeit fest. Denn als relativ kann man jedes Ausma der Abhngigkeit bzw.
Unabhngigkeit bezeichnen; der Begriff schliet nichts aus.
452
Das Problem liegt in der Differenzierung und Kopplung der Autopoiesis verschiedener Funktionssysteme. Fr die Ausdifferenzierung eines eigenstndig autopoietischen Wirtschaftssystems ist das
symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Geld die ausschlaggebende Bedingung. Sobald Transaktionen in Geld ausgeglichen werden knnen und soweit dies geschieht, ermglicht die
volle und gleichmige Wiederverwendbarkeit des Geldes (im Unterschied zur geringen und ungleichmigen Wiederverwendbarkeit der Waren bzw. Leistungen) ein autopoietisches Netzwerk, in
dem es mglich ist, durch Zahlungen Zahlungsfhigkeit sowohl
aufzugeben als auch, in anderen Hnden, zu reproduzieren. Wozu
immer ursprnglich erfunden: Geld hat nur in diesem Zahlungsnexus einen kommunikativen Sinn. Dabei mu eine hinreichend breite
Skala von Wiederverwendungsmglichkeiten, also eine Vielzahl von
Waren, Leistungen, schlielich auch von Mrkten gegeben sein, damit es sich lohnt, Geld anzunehmen. Geldzahlungen sind dann
auch ein eindeutig identifizierbares Signal dafr, da es sich um eine
Operation des Wirtschaftssystems handelt, gleichgltig, was im
Kontext bestimmter Transaktionen mit Geld bezahlt wird. Was
ohne Bezug auf Geld abluft, gehrt dann nicht zum Wirtschaftssystem - vom schweitreibenden Umgraben des eigenen Gartens
bis zum Tellerwaschen in der eigenen Kche, es sei denn, da man
dies tut, um Personalkosten oder Gertekosten zu sparen.
Eine ausdifferenzierte Geldwirtschaft stellt hohe, aber (und das ist
entscheidend!) unbezahlbare Anforderungen an das Recht. Um
Wirtschaft in der Form eigener Autopoiesis zu ermglichen, mu
das Recht die eigene Funktion effektiv erfllen, nicht die der Wirtschaft. Das Recht darf also nicht zu den kuflichen Waren oder
Dienstleistungen des Wirtschaftssystems gehren, denn sonst kme
es in der Geldverwendung zu einem circulus vitiosus derart, da die
Bedingungen der Mglichkeit geldvermittelter Transaktion ihrerseits gehandelt und bezahlt werden mssen. Genau diese negative
(und insofern unwahrscheinliche) Bedingung wird durch Mechanismen der strukturellen Kopplung erfllt, die mit einer Trennung
der Systeme und jeweils eigener operativer Geschlossenheit kompatibel sein mssen. Die dafr gefundenen Formen sind Eigentum
und Vertrag.
30
453
Im Wirtschaftssystem gibt es ebenso wie im Rechtssystem Minimalbedingungen der Autopoiesis, die allen Wechsel von Strukturen
(zum Beispiel Preisen) berdauern mssen, wenn die autopoietische Reproduktion weiterhin stattfinden soll. Es handelt sich hierbei um faktische, nicht um normative Bedingungen. Im Rechtssystem mssen Recht und Unrecht, einander ausschlieend, unterscheidbar sein. Im Wirtschaftssystem mu jeweils feststellbar sein,
wer in bezug auf bestimmte Gter (im weitesten, Geld und Dienstleistungen einschlieenden Sinne) dispositionsfhig ist und wer
nicht. So wie der Rechtscode als Bedingung der Konditionierbarkeit des Systems alle Programme transzendiert, so ist auch die
Codierung der Wirtschaft ein Erfordernis, das mit jeder Art der
Gterverteilung kompatibel sein mu, weil anderenfalls die Gter
ihre Qualitt als Gter verlieren wrden.
Es ist blich, diese Voraussetzung wirtschaftlicher Konditionierbarkeit als Eigentum - besser, weil breiter gefat, im Englischen
property - zu bezeichnen. Eigentum ist eine Form der Beobachtung von Gegenstnden aufgrund einer spezifischen Unterscheidung - eben der Unterscheidung unterschiedlicher Eigentmer,
mag dies nun Sachherrschaft, Verfgungsmglichkeit oder was
sonst bedeuten. Der Sinn des Eigentums liegt mithin in der Unterbrechung von Konsenserfordernissen. Fr bestimmte Kommunikationseifolge kommt es auf die Zustimmung des Eigentmers an und
auf niemanden sonst. Was der so spezifizierte Kommunikationsbereich ist, wird durch den Inhalt des Eigentumsrechts festgelegt, und
wieder: entweder ber Bezug auf bestimmte Objekte oder auch
andere Weise. Entscheidend ist, systemtheoretisch formuliert, der
Symmetriebruch.
Es ist ein Erfordernis der Unterscheidung von Eigentmern, da
gewaltsame Wegnahme unterbunden und gegebenenfalls durch das
Recht sanktioniert wird. Darin liegt nicht ohne weiteres schon die
31
31 Das gilt seit der Frhmoderne auch fr den an sich anders konstruierten Fall der
rechtlich zugelassenen, zum Beispiel ber dominium eminens begrndeten Enteignung im ffentlichen Interesse. Die Konstruktion stellt hier andere (paradoxienhere!) Anforderungen, weil hier ein rechtmiger Eingriff vorliegt, fr den
trotzdem eine Entschdigung zu zahlen ist. Die Juristen klren diesen Fall (inclusive der Recritspflicht zur Entschdigung) im Laufe des 17. Jahrhunderts. Vgl. dazu
Christoph Link, Naturrechtliche Grundlagen des Grundrechtsdenkens in der deutschen Staatsrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Gnter Birtsch (Hrsg.),
454
Festlegung auf einen bestimmten Rechtsbegriff. Das Beobachtungsschema Eigentum lt vielmehr im Rechtssystem und im Wirtschaftssystem unterschiedliche Ausformungen zu, und eben deshalb taugt es zur strukturellen Kopplung von Wirtschaft und Recht.
Die Codierung des Wirtschaftssystems konstituiert die Eigenwerte
dieses Systems und hlt dieses System am Laufen ungeachtet der
Frage, welche Einschrnkungen das Rechtssystem mit dem Eigentumsbegriff verbindet, ob und wie es im klassischen Schema persona/res/actio (Digesten 1.5.1) unterscheidet oder heute Sachenrecht und Schuldrecht. Die Wirtschaft festigt ihren Eigentumscode
einfach dadurch, da sie ihn verwendet und da die Unmglichkeit
der entsprechenden Unterscheidung nur dazu fhren kann, da es
dann eben kein Wirtschaftssystem mehr gibt.
Deshalb kann Eigentum mit dieser doppelten, sowohl wirtschaftssysteminternen als auch rechtssysteminternen Bedeutung nur als
Mechanismus struktureller Kopplung angemessen begriffen werden; und angemessen heit hier: aus gesamtgesellschaftlicher Sicht.
Die Kopplung lt wirtschaftseigene Operationen als Irritationen
des Rechtssystems wirksam werden und rechtseigene Operationen
als Irritationen des Wirtschaftssystems. Aber das ndert nichts an
der Geschlossenheit der beiden Systeme. Es ndert nichts daran,
da die Wirtschaft unter durch das Recht erschwerten Bedingungen
Profite bzw. rentablen Kapitaleinsatz sucht und das Rechtssystem
unter durch Wirtschaft erschwerten Bedingungen Gerechtigkeit
oder doch hinreichend konsistente Fallentscheidungen. Und schon
in der klassischen Naturrechtstheorie, bei Locke etwa, war deutlich
gesagt, da das Eigentum jede Rechtsordnung ungerecht macht,
aber da man eben damit wirtschaftliche Vorteile gewinnt.
Die bloe Garantie des Eigentums fr sich allein ist daher noch kein
Mechanismus, der den bergang zu einer marktwirtschaftlichen
(kapitalistischen) Wirtschaftsordnung einleiten wrde. Die
Wirtschaft mu sich selber transformieren, um dann das Problemund Fallmaterial zu liefern, mit dem das Rechtssystem konfrontiert
und irritiert wird.
32
Aber auch abgesehen davon ist Eigentum nur die Ausgangsunterscheidung. Bei allen wirtschaftlichen Transaktionen mu auerdem
die Eigentumslage vor und nach der Transaktion unterscheidbar
sein. Transaktion erfordert eine Unterscheidung von Unterscheidungen (und nicht einfach nur eine Bewegung von Objekten).
Diese Unterscheidung von Unterscheidungen mu ihrerseits zeitfest stabilisierbar sein, obwohl (und gerade weil) sie selbst eine
temporale Unterscheidung ist. Einfacher gesagt: Es mu feststellbar
sein und im weiteren Zeitlauf feststellbar bleiben, wer nach der
Transaktion im Unterschied zu vorher Eigentmer ist und wer
nicht. Auch dieses Erfordernis hat einen Rechtsnamen, nmlich
Vertrag. In der Wirtschaft spricht man von Tausch. Es gibt keine
systemneutrale Bezeichnung. Aber auch hier liegt ein Mechanismus
struktureller Kopplung vor, denn auch hier wrden Wirtschaftssystem und Rechtssystem in weiten Bereichen kollabieren (das heit
auf indisponibles Resteigentum reduziert sein), wenn diese Unterscheidbarkeit der Unterscheidungen nicht funktionierte.
Autopoiesis ist operationsbasierte Systemdynamik, ist in diesem
Sinne dynamische Stabilitt. Die Ausdifferenzierung von Wirtschaft ist daher nicht durch schlichte Sicherung der Besitzstnde,
dem vorherrschenden Interesse stratifizierter Gesellschaften, mglich, sondern nur ber rekursive Vernetzung von Transaktionen, das
heit: mit Hilfe von Geld. Das hat zur Konsequenz, da das bei
allen Transaktionen vorauszusetzende Eigentum seinerseits in Geld
bewertet wird. Wenn es zur Ausdifferenzierung von Wirtschaft
kommt, dominiert deshalb der Zweitcode Geld den Primrcode Eigentum, und mehr und mehr Eigentum wird unter dem Gesichtspunkt mglicher transaktioneller Verwertung bzw. einer nur momentan illiquiden Fixierung als investiertes Kapital bewertet. Diese
Entwicklung entzieht dem Grundeigentum seine politische Relevanz als Form von haushnlicher (oiketischer) politischer Herrschaft, und sie erzwingt die Umstellung des gleichzeitig entstehenden Staats auf Steuern.
33
35
36
457
man hnliche, wenngleich sich lnger hinausziehende Entwicklungen verfolgen - und zwar ohne direkten Einflu des rmischen
Rechts ! Zu begrifflichen Adaptierungen kommt es erst spter und anderswo. Erst im Sptmittelalter, deutlich bei Bartolus, dringt
das Merkmal dispositio, gleichsam als trojanisches Pferd der
Geldwirtschaft, in den Eigentumsbegriff ein und verndert ihn
dann von innen heraus. So absurd dies zunchst erschienen sein
mag: Genu und Gebrauch (im Sinne von fruitio, usus) des Eigentums knnen gerade darin bestehen, da man es aufgibt. Das
wiederum wird erst in dem Mae einleuchten, als man frei ist, die
Bedingungen dafr auszuhandeln. Dispositio verweist auf die sehr
viel schwieriger juristisch anzupassenden Strukturen des Vertragsrechts.
3 7
39
37 Siehe Hans Hattenhauer, Die Entdeckung der Verfgungsmacht: Studien zur Geschichte der Grundstcksverfgung im deutschen Recht des Mittelalters, Hamburg
1969.
38 Zur Zurckfhrung auf Schrift (aber das ist hier doch nur ein vordergrndiges
Phnomen) vgl. Jack Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, dt. bers. Frankfurt 1990, insb. S. 252 ff.
39 Ob sich aus dieser Abkopplung dann eigene, mit dem staatlichen Recht nicht verbundene Rechtsordnungen entwickeln, ist ein in bezug auf die favelas brasilianischer Grostdte viel diskutiertes Thema. Die bejahende Auffassung macht,
zumindest angesichts der heutigen Verhltnisse, einen noch zu positiven Eindruck.
458
hnliche Beobachtungen kann man im Hinblick auf eine Entwicklung anstellen, die man als Juridifizierung des Vertrags bezeichnen
knnte. Im Unterschied zu sonstigen Formen der Reziprozitt - in
archaischen Gesellschaften ebenso wie im modernen Klientelism u s - wird die Ungleichheit der Beteiligten beim Vertrag nicht in
die Leistungsbewertung einbezogen. Die Rechtsgeltung des Vertrages ist davon unabhngig, und eben deshalb eignet der Vertrag sich
als Mechanismus der strukturellen Kopplung.
Der Vertrag ist eine der bedeutendsten evolutionren Errungenschaften der Gesellschaftsgeschichte. Ohne Vertrge knnte zum
Beispiel die Wirtschaft nicht in Unternehmen differenziert werden,
knnte also auch nicht wirtschaftlich rational gehandelt werden.
Aber worum geht es, was ist dies fr eine Errungenschaft?
Vertrge stabilisieren auf Zeit eine spezifische Differenz unter Indifferenz gegen alles andere, inclusive die Betroffenheit von am Vertrag
nicht beteiligten Personen und Geschften. Indifferenz um der Differenz willen - das ist der Formgewinn des Vertrages, sein spezifisches Beobachtungsverhltnis, ist der Unterschied, der einen
Unterschied macht, ist die Information. Gerichte berwachen
diesen Indifferenzerzeugungseffekt - und das vor allem ist der
Grund, weshalb es dem Rechtssystem so schwer fiel, den Vertrag
freizugeben, solange nicht andere Disziplinierungsinstrumente
(sprich: der Markt) hinzukamen.
40
41
42
459
schwierigsten Gedanken, den Juristen je zu denken vermocht haben. Bemerkenswert ist vor allem, da das Problem des Kaufvertrages aus einem sachenrechtlichen Kontext (bertragung von Eigentum mit Schutz gegen Zugriff Dritter) in einen obligationenrechtlichen Kontext verschoben wird. Dabei ist es das Problem,
Strungen und ihre Folgen aufzufangen und zu verteilen mit Hilfe
einer Rechtskonstruktion, die rckblickend eventuell als Vertrag
begriffen werden kann. Der Begriff des Vertrages wird somit unter
dem Gesichtspunkt einer Entstehungsursache (causa) von Obligationen relevant und wird an dieser Systemstelle auch noch in voll
entwickelten Vertragstheorien behandelt. Im wesentlichen ging es
also darum, Leistungsstrungen in Reziprozittsverhltnissen gerecht und in bereinstimmung mit Standarderwartungen an das
Verhalten der Beteiligten in solchen Situationen abzuwickeln. Zunchst gibt es deshalb gar keinen allgemeinen Vertragsbegriff, sondern nur die Frage, fr welche Strungen des Leistungsverhltnisses
eine Klage aus einem Vertrag gewhrt, also eine materiellrechtliche
Haftung als Entscheidungsgrundlage konstruiert werden soll. Es
gibt denn auch weder im altgriechischen noch im rmischen Recht
eine allgemeine rechtliche Anerkennung von formlos getroffenen
Vereinbarungen (nudum pactum) , ja vor der rmischen Erfindung
des zivilrechtlich gltigen Kaufvertrages gab es nicht einmal eine
Klage aus nicht erflltem Kaufvertrag. Bis weit ber das Mittelal43
44
45
46
47
43 Siehe z. B. die fr die Formulierungen des Code civil ausschlaggebende, auch das
Common Law beeinflussende Darstellung bei Robert-Joseph Pothier, Trait des
Obligations (1761), zit. nach uvres Bd. 2, 3. Aufl. Paris 1890, Kap.i, sect.1,1.
44 So fr das Common Law noch des 18. Jahrhunderts Peter Gabel / Jay M. Feinman,
Contract Law, in: David Kairys, The Politics of Law: A Progressive Critique, New
York 1982, S. 172-184 (173 f.). Die Autoren betonen, wie wenig dies den Erfordernissen der konomischen Entwicklung entsprach.
45 Hierzu gegen eine verbreitete ltere Meinung ausfhrlich Pringsheim a.a.O. (1950),
S. 13 ff. Unbestritten bleibt eine Evolution in Richtung auf leichter handhabbare
Formen und eine sehr langsam sich durchsetzende Tendenz, Zeugen als Geltungsbedingung durch Schriftform zu ersetzen.
46 Oder genauer: formlose Vereinbarungen knnen bestehende Vertrge modifizieren,
nicht aber Vertragspflichten begrnden.
47 Siehe dazu Fritz Pringsheim, Gegen die Annahme von Vorstufen des konsensualen Kaufes im hellenistischen Recht, in ders., Gesammelte Abhandlungen Bd. 2,
Heidelberg 1 9 6 1 , S. 3 7 3 - 3 8 1 ; ders., L'origine des contrats consensuels, a.a.O.,
S. 179-193. Grund fr die verzgerte Entwicklung mag gewesen sein, da Umge-
460
ter hinaus bleibt das Vertragsrecht ein Sammelbegriff fr Klagformeln und Vertragstypen, die jeweils einen eigenen Namen haben
und nach ihren besonderen Konditionen behandelt werden.
Causa ist dafr nur eine andere Bezeichnung. Vertrag ist eine
conventio nomen habens a iure civili vel causa. Die neuzeitliche
Adaptierung des Vertragsrechts an die sich ndernden wirtschaftlichen Verhltnisse verluft deshalb in der Form einer Vernderung
des causa-Verstndnisses in Richtung auf einen Vertragszweck und
einen entsprechenden Bindungswillen der Vertragschlieenden, bis
es schlielich im deutschen gemeinen Recht unter "Wegfall einer eigenstndigen causa-Doktrin nur noch auf Willenserklrung und
Motive der Vertragschlieenden ankommt. Ein Vertrag ist jetzt, extrem formal definiert, nichts anderes als-die bereinstimmung der
Willenserklrungen der Vertragschlieenden.
Diese Entwicklung kommt erst im 19. Jahrhundert zum Abschlu.
Man sieht: die Gerichte geben die begriffstechnischen Instrumente,
mit denen sie ihr Urteil ber eine gerechte Abwicklung von Leistungsstrungen nach Vertragsabschlu durchsetzen knnen, nur
sehr zgernd aus der Hand, ersetzen sie schlielich aber durch eine
Auslegung des Willens der Vertragschlieenden an Hand ihrer vermuteten Interessen. Rechtsgrund fr diese Gesamtentwicklung, die
im kanonischen Recht angelaufen war und schlielich den reinen
Konsensualvertrag (aber nie das bloe nudum pactum als formal
bereinstimmende Erklrung) klagbar gemacht hatte, war letztlich
die allgemeine naturrechtliche Regel, da man zu seinem eigenen
Wort zu stehen habe (fides).
48
49
461
51
52
jo Siehe hierzu Diethelm Klippel, Libertas commerciorum und Vermgens-Gesellschaft: Zur Geschichte konomischer Freiheitsrechte in Deutschland im
18. Jahrhundert, in: Gnter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel
von Gesellschaft und Geschichte: Beitrge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Gttingen
1981, S . 3 1 3 - 3 3 5 .
51 Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie: Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien 1989, S. 31 f., umschreibt dies mit dem glcklichen Begriff der Fundamentalisierung (im Unterschied zu rechtstechnischer Konstitutionalisierung) von Individualrechten im
Common Law, die zur Folge hatte, da Eingriffe nicht nur rechtswidrig waren,
sondern auch politischen Aufmerksamkeitswert hatten. Vgl. dazu ferner Dieter
Grimm, Soziale, wirtschaftliche und politische Voraussetzungen der Vertragsfreiheit: Eine vergleichende Skizze, in ders., Recht und Staat der brgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1987, S. 1 6 5 - 1 9 1 .
52 Man kann dies an der Geschichte des action of assumpsit ablesen. Siehe zur Diskussion ber den Zeitpunkt bzw. die Dauer der Entwicklung William M. McGovern, The Enforcement of Informal Contracts in the Later Middle Ages, California
Law Review 59 (1971), S. 1 1 4 5 - 1 1 9 3 .
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57
relle Kopplung von Wirtschaft und Recht ihre moderne (um nicht
zu sagen: perfekte) Form. Die Wirtschaft kann Transaktionen arrangieren, ohne dabei ein enges Netz mglicher Vertragstypen in
Betracht zu ziehen. Sie kann sich, wenn Rechtsfragen im Blick
stehen, auf Beachtung oder Umgehung von Verboten konzentrieren. Umgekehrt gewinnt das Rechtssystem entsprechende Freiheiten fr die Fortsetzung der eigenen Autopoiesis. Es gewinnt die
Freiheit, den Willen der Vertragschlieenden im Rckblick zu interpretieren, etwas nicht ausdrcklich Bedachtes in den Sinn des
Vertrages hineinzuimplizieren ', Vertragselemente ber ergnzende Auslegung einzubauen oder als Versto gegen die guten
Sitten auszubauen ( 157, 138 BGB) und Resultate solcher Gerichtspraxis in fallnahen Regelungen, etwa im Anmerkungsapparat
zu 242 BGB, zu kodifizieren. Auf diese Weise kann man die mit
der Konzession von Vertragsfreiheit aufgegebene Kontrolle in erheblichem Umfang wiedergewinnen. Die Bewhrungsprobe hat
diese Lsung in den Wirtschaftskrisen nach dem Ersten Weltkrieg
bestanden. Vertrge wurden in erheblichem Umfang durch die Gerichte den Verhltnissen angepat - zum Beispiel in der Weise, da
der Begriff der wirtschaftlichen Unmglichkeit mit dem der
Unmglichkeit der Leistung gleichgesetzt wurde. Aus der Perspektive des Rechtssystems ist und bleibt dann der Vertrag eine
Form fr die Entstehung von Obligationen, die im streitigen Fall
nachtrglich zu prfen sind, whrend das Wirtschaftssystem im
Modus von Transaktionen den eigenen Zustand verndert mit Folgen, die durch das Recht faktisch kaum zu kontrollieren, geschweige denn zu steuern sind.
58
60
Zu den bemerkenswertesten strukturellen Kopplungen von Rechts58 Rechtssoziologen arbeiten gerne diese Seite des Auerachtlassens von Recht heraus.
Siehe Stewart Macauley, Non-contractual Retations in Business: A Preiiminary
Study, American Sociological Review 28 (1963), S. 55-67.
59 Jay A.Sigler, An Introduction to the Legal System, Homewood III. 1968, S. 35,
bringt dafr das Beispiel, da Risikokontrolle in bezug auf Schden, die Arbeiter
whrend der Arbeit einander wechselseitig zufgen knnen, nach dem Sinn des
Arbeitsvertrags dem Arbeitgeber obliegt, auch wenn dies nicht ausdrcklich abgemacht ist (Rechtsentwicklung in den U S A und in England im 19. Jahrhundert).
60 Siehe dazu im Zusammenhang mit allgemeinen Trends zur Entwicklung unberechenbarer richterlicher Begrndungsformeln Josef Esser, Argumentations- und
Stilwandel in hchstrichterlichen Zivilentscheidungen, Etudes de Logique Juridique 6 (.976), S. 53-77 (68ff.).
464
System und Wirtschaftssystem, die sich im Anschlu an die Institutionalisierung von Eigentum und Vertragsfreiheit fast unbemerkt
ergeben haben, gehrt eine wichtige Ausnahme irr Recht der Haftung fr absichtlich herbeigefhrte Schden - ein folgenreiches
Rechtsprivileg, das vorstzliche Schdigungen anderer erlaubt,
wenn sie im Rahmen wirtschaftlicher Konkurrenz erfolgen. Man
kann eigene Produktion beginnen, ein eigenes Geschft erffnen,
obwohl man wei oder in Kauf nimmt, da andere dadurch Einkommenseinbuen erleiden oder vielleicht sogar ihren Betrieb
schlieen mssen; und dies, obwohl (im Rahmen des 823 BGB)
ein Recht am eingerichteten und ausgebten Gewerbebetrieb
grundstzlich anerkannt wird. Dies Privileg zur Schdigung anderer wird gewhrt, weil das Wirtschaftssystem auf Konkurrenz
aufbaut und ohne Konkurrenz, so vermutet man wenigstens, nicht
gleich gute Resultate erzielen wrde. Auch dieses Beispiel zeigt im
brigen die Verschiedenheit der Formen, in der dieser Sachverhalt
im Rechtssystem und im Wirtschaftssystem auftritt. Da es sich um
ein Prinzip fast gleichen Ranges mit Institutionen wie Eigentum
und Vertrag handelt, ist fr Juristen schwer zu erkennen, whrend
umgekehrt im Wirtschaftssystem Konkurrenz als fundamentale
Struktur angesehen wird.
Da strukturelle Kopplung sowohl trennt als auch verbindet, wird
auerdem erkennbar, wenn man auf die unterschiedliche Behandlung des Zusammenhangs von Eigentum und Vertrag im Wirtschaftssystem und im Rechtssystem achtet. Im Wirtschaftssystem
besteht der Wert des Eigentums unter der Bedingung von Geldwirtschaft weitgehend (fr konomische Theorie: nahezu ausschlielich) in der Verwendung in Transaktionen. Wert ist Tauschwert. Die
Juristen sind dagegen gewohnt, Rechtsansprche aus Eigentum und
Rechtsansprche aus Vertrag getrennt zu sehen. Es wrde das Zivilrecht revolutionieren, wollte man diese Trennung aufgeben. Man
kann sich allerdings fragen, ob sich das Verfassungsrecht in der Interpretation des Eigentumsschutzes ebenfalls dieser Trennung bedienen mu, oder ob hier nicht eine strkere ffnung gegenber
den wirtschaftlichen Realitten (mit welchen juristischen Konsequenzen auch immer) angebracht wre. Jedenfalls aber verhindert
61
die Trennung der Systeme eine automatische bertragung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ins Recht (trotz aller Theorien ber
konomische Analyse des Rechts), und man kann sich allenfalls
fragen, ob die scharfe Trennung von Eigentumsansprchen und
Vertragsansprchen im Rechtssystem nur Tradition ist und nur
durch die Unbersichtlichkeit der Folgen einer nderung gehalten
wird, oder ob gute Rechtsgrnde nach wie vor dafr sprechen.
Ein Grund fr diese Trennung knnte darin liegen, da der Vertrag
als Quelle von rechtsgltigen Ansprchen dem Privatwillen Macht
ber den Einsatz politischer Gewalt gibt. Sie mu bei der Durchsetzung von Vertragsansprchen zur Verfgung stehen, obwohl sie
am Vertrag gar nicht beteiligt war. Die Khnheit dieser Form wird
erst erkennbar, wenn man begreift, da damit das Rechtssystem
und, was Einsatz von physischer Gewalt angeht, auch das politische
System sich durch Privatwillen, das heit durch Wirtschaft, konditionieren lassen. Das Symbol Rechtsgeltung, dessen Benutzung
den Zustand des Rechtssystems selbst verndert und das politische
System zur Deckung verpflichtet, wird damit partiell fr Konditionierungen geffnet, die in ihrer Motivation nicht durch das Recht
kontrolliert werden. Eine immense Erhhung der Variett des Systems und entsprechend eine rein statistisch fabare Zunahme
zivilrechtlicher Prozesse ist die Folge. Immer noch behalten die
Gerichte das letzte Wort, wenn es darum geht, ob ein Vertrag
rechtswirksam zustande gekommen ist oder nicht. Die ffnung des
Systems beruht auf seiner operativen Schlieung. Sie wird durch
Ausweitung der strukturellen Kopplung zwischen Wirtschaftssystem und Rechtssystem bewirkt, und zwar, wie die kurz angedeu62
zu bestimmen, auf Grund Art. 14 GG zu schtzen, da es sich aus Vertrag, nicht aus
Eigentum herleite. Vgl. dazu kritisch Rupert Scholz, Verdeckt Verfassungsneues zur
Mitbestimmung?, Neue Juristische Wochenschrift 39 (1986), S. 1 5 8 7 - 1 5 9 1 ; Dieter
Suhr, Organisierte Ausbung mediatisierter Grundrechte im Unternehmen, Arbeit
und Recht 26 (1988), S. 65-77.
62 Siehe Christian Wollschlger, Ziviiproze-Statistik und Wirtschaftswachstum im
Rheinland von 1822-1915, in: Klaus Luig / Detlef Liebs (Hrsg.), Das Profil des
Juristen in der europischen Tradition: Symposion aus Anla des 70. Geburtstags
von Franz Wieacker, Ebelsbach 1980, S. 3 7 1 - 3 9 7 . Inzwischen ist die Forschungslage besonders im Hinblick auf Langfristperspektiven sehr viel unsicherer, und
sicher modifizieren andere Variablen wie z. B. auergerichtliche Konfliktbeilegung
das Bild. Siehe dazu die Lnderberichte im Law and Society Review 24 (1990),
S. 257-352.
466
64
die offene wechselseitige Irritation von Rechtssystem und Wirtschaftssystem auf das politische System eine unwiderstehliche Attraktion aus. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts kommt das
Schlagwort von freedom (oder liberty) of the contract in Umlauf , whrend man vorher nur ber die Bindungswirkung vertraglicher Willenserklrungen diskutiert hatte; und der neue Begriff
scheint wie zur Abwehr staatlicher Interventionen, besonders im
Arbeitsrecht und im Kartellrecht, erfunden zu sein. Die strukturelle Kopplung von Rechtssystem und Wirtschaftssystem wird zum
Medium fr das Medium politischer Macht, das heit zu einer losen
Kopplung von Mglichkeiten, die durch kollektiv bindende Entscheidungen in politisch annehmbare Formen gebracht werden
knnen. Um erhoffter wirtschaftlicher Effekte willen werden Eigentumsgebrauch und Vertragsfreiheit rechtlich immer strker eingeschrnkt. Seit einiger Zeit experimentiert das politische System an
den Grenzen dieser Mglichkeit, das heit: mit der Frage, wie weit
es mit Interventionen gehen kann, ohne die Autopoiesis jener beiden Systeme, nmlich die selbstregenerative Kraft des Geldes und
des Rechts, zu gefhrden. Im brigen lautet die inzwischen hinreichend deutliche Lektion, da die auf diese Weise erzielbaren Effekte
nie den politischen Intentionen entsprechen, weil sie immer durch
die selbstreferentielle Operationsweise und Strukturdeterminiertheit der betroffenen Systeme bestimmt sind. Fr die Autopoiesis
des politischen Systems scheint dies jedoch wenig zu besagen, denn
fr sie kommt es auf die kollektiv bindende Kommunikation von
Interventionsabsichten an und nicht auf die viel spter eintretenden
oder nicht eintretenden tatschlichen Effekte.
65
66
IV
Der Ausbau von Eigentumsrechten und Vertragsfreiheit konnte nur
einen Teil der Probleme der sich modernisierenden Gesellschaft
auffangen, konnte nur den Bereich mit Irritationen versorgen, der
dann Privatrecht heit. Im Verhltnis von politischem System und
6% In England etwas frher mit Hhepunkt um 1870 (vgl. Atiyah a.a.O. 1979, insb.
S. 383 ff.), in den U S A erst gegen Ende des Jahrhunderts.
66 Siehe dazu den auch als Zeitdokument bemerkenswerten Aufsatz von Roscoe
Pound, Liberty of Contract, Yale Law Review 18 (1909), S. 454-487.
468
Rechtssystem ergeben sich vllig andere Probleme, und entsprechend beginnt man nach der Durchsetzung des modernen Territorialstaates schrfer als zuvor, zwischen Privatrecht und ffentlichem Recht zu unterscheiden. Die andersartige Situation des
politischen Systems im Verhltnis zum Recht mag zunchst daran
gelegen haben, da die stndisch-stratifikatorische Differenzierung
trotz aller politischen Entmachtung der Stnde die politischen Entwicklungen strker beschrnkte als die Wirtschaft. Solange in der
Wirtschaft agrarische Verhltnisse berwogen, blieb der Adel fr
die Organisation der Arbeit auf dem Lande und die Wertabschpfung politisch unentbehrlich. Die Gutswirtschaft und, mit ihr verbunden, die lokale Gerichtsbarkeit breiten sich seit dem u.
Jahrhundert (Ausnahme Skandinavien) in ganz Europa aus. Fr die
Geldwirtschaft mochte es weniger wichtig sein, wer diese Funktion
erfllte; aber politisch konnte diese Stellung des Adels nicht bergangen werden, ob er diese Funktion nun persnlich oder durch
Vertreter wahrnahm. Die Verhltnisse in den einzelnen europischen Lndern unterschieden sich jedoch erheblich nicht zuletzt
wegen unterschiedlicher Grade der Kommerzialisierung, der Kapitalbildung und der ffentlichen Verschuldung. Unter weiter fortgeschrittenen Verhltnissen konnte man an Reprsentativverfassungen denken, die den Eigentmern als solchen Einflu boten. In
Deutschland waren Rcksichtnahmen zwischen Herrscherhaus
und Stnden mehr oder weniger unvermeidbar.
Seit dem 16. Jahrhundert waren Entwicklungen wirksam geworden,
die den Adel nicht nur finanziell in Schwierigkeiten brachten (und
ihn dadurch von Politik abhngig machten), sondern auch die gesamte stratifikatorische Ordnung mit Hilfe eines danebengebauten
67
68
67 Da diese Unterscheidung viel mit der Differenz von Rechtssystem und politischem System zu tun hat, aber als Einteilung von Rechtsgebieten jener Differenz
nicht gerecht werden kann, zeigt Morton J. Horwitz, The History of the public/privat distinction, University of Pennsylvania Law Review 130 (1982), S. 14231428. Zur lteren deutschen Entwicklung vgl. Rudolf Hoke, Die Emanzipation der
deutschen Staatsrechtswissenschaft von der Zivilistik im 17. Jahrhundert, Der Staat
15 (1976), S. 2 1 1 - 2 3 0 ; Dieter Wyduckel, Ius publicum: Grundlagen und Entwicklung des ffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin
1984, insb. S. 1 3 1 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des ffentlichen Rechts Bd. 1,
Mnchen 1988.
68 Vgl. dazu Gerhard Dilcher, Vom stndischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz, Der Staat 27 (1988), S. 1 6 1 - 1 9 3 .
469
70
69 Hierzu ausfhrlicher: Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176-220.
70 Bei einem so heiklen Thema mu man den Leser bitten, genau zu lesen. Selbstverstndlich kann und soll nicht ausgeschlossen sein, da Rechtspositionen ein Faktor
im politischen Kalkl sind; man denke nur an die rechtlich gesicherte Mglichkeit,
Produktionswerksttten und damit Arbeitspltze ins Ausland zu verlagern. Was
durch die Verfassung als Form struktureller Kopplung ausgeschlossen sein sollte, ist
nur: da diese Mglichkeit als Grundlage fr den Aufbau von Pressionsmacht benutzt werden kann, mit der dann auch ganz andere Ziele verfolgt werden knnen,
also generell Politik gemacht werden kann.
470
71 Auch die dafr wichtigen semantischen und strukturellen Vorleistungen der colonial charters lassen sich auf Grund einer Zentrum/Peripherie-Differenz erklren.
Siehe etwa Donald S. Lutz, The Origins of American Constitutionalism, Baton
Rouge, Louisiana 1988.
471
usw., denen Gesetzeskraft zugesprochen wurde. Politischer und juristischer Sprachgebrauch liefen jedoch nebeneinander her, und nur
in England war es blich geworden, von der Constitution als den
tragenden Prinzipien der rechtlichen und politischen Ordnung des
Landes zu sprechen. Erst die politischen Vernderungen, die Revolutionen in Nordamerika und in Paris sowie der Wegfall der
juristischen Oberaufsicht durch das Reich in Deutschland fhren
dazu, da diese beiden Begriffstraditionen zusammengeschlossen
werden. Seitdem versteht man unter Verfassung ein positives Gesetz, das das positive Recht selbst begrndet und von daher bestimmt, wie politische Macht organisiert und in Rechtsform mit
rechtlich gegebenen Beschrnkungen ausgebt werden kann.
Juristisch gesehen kann eine Verfassung mit diesem Stellenwert nur
ein autologischer Text sein, das heit ein Text, der sich selbst als Teil
des Rechts vorsieht. Das geschieht zum Beispiel in der Form einer
Kollisionsregel, vor allem dadurch, da die Verfassung sich selbst
72
73
74
72 Zur Entwicklung des Sprachgebrauchs vgl, Gerald Stourzh, Constitution: Changing Meanings of the Term from the Early Seventeenth to the Late Eighteenth
Century, in: Terence Ball / John G. A. Pocock (Hrsg.), Conceptual Change and the
Constitution, Lawrence, Kansas 1988, S. 3 5 - 5 4 ; ders., Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff, in ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie: Studien zur
Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien 1989,
S. 1 - 3 5 . Heinz Mohnhaupt, Verfassung I, in: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 6, Stuttgart
1990, S. 831-862. Da der Begriff whrend der amerikanischen und dann whrend
der Franzsischen Revolution einen neuen, durch aktuelle Politik bedingten Sinn
erhlt, ist ebenso unbestritten wie unklar bleibt, worin genau die Innovation besteht. Das Problem liegt nicht zuletzt darin, da politische Begriffe, Postulate,
Organisation vorschlage in Frankreich einen ganz anderen Sinn annehmen als in
den Vereinigten Staaten, wo es kein Stndeproblem gibt, andererseits aber eine
Tradition von colonial charters, die adaptierbar ist; und wo kein Einheitsstaat gegeben ist, sondern die Nation erst durch die Verfassung gebildet werden mu,
usw.
73 Vgl. zu dieser Umstellung aus juristischer Sicht Dieter Grimm, Entstehungs- und
Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Frankfurt 1987, S. 46-76; ders., Verfassung, Staatslexikon, herausgegeben von der Grres-Gesellschaft, 7. Aufl. Freiburg 1989, Bd. 5,
S.634-643; ders., Verfassung II, in: Geschichtliche Grundbegriffe a.a.O., Bd.6,
S. 863-899; beides neu gedruckt in ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt
74 Man mag hier an alte theologische Vorbilder denken, etwa daran, da religise
Erklrungen der Weltordnung eine sich selbst erklrende Komponente enthalten,
nmlich Gott, um einen infiniten Regre abschneiden zu knnen.
472
von der Regel ausnimmt, da neues Recht altes Recht breche; ferner
dadurch, da die Verfassung ihre eigene nderbarkeit/Unnderbarkeit regelt; ferner dadurch, da die Verfassung regelt, ob und durch
wen kontrolliert werden kann, ob das Recht ihr entspricht oder
gegen sie verstt; und schlielich dadurch, da die Verfassung
selbst die Proklamation der Verfassung enthlt und dies mit Berufung auf den Willen Gottes oder den Willen des Volkes symbolisch
externalisiert. Die historischen Umstnde und Absichten der Verfassunggebung kehren, wenn berhaupt, erst ber Auslegungsregeln in die Verfassung zurck.
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78
Mit gutem Recht behandelt das Rechtssystem die Verfassung als ein
75 Siehe die so umstrittene original intent-Doktrin des amerikanischen Verfassungsrechts.
76 Vgl. fr judicial review: Commonwealth v Caton, 8 Virginia (4 Call) S. 5 ff.; Cases
of the Judges of the Court of Appeals, 8 Virginia (4 Call), S. 135 ff.; Barnard v
Singleton, 1 North Carolina {1 Martin) S. 5 ff. und auf nationaler Ebene die berhmte Entscheidung Marbury v Madison, 1 Cranch (1803), S. 137 ff. insb.
176 ff.
77 Zur Unhaltbarkeit einer rein historischen Ableitung von Legitimittsansprchen
vgl. bereits Henry, Viscount Bolingbroke, A Dissertation upon Parties, Letter IX,
zit. nach Works Bd. II, Philadelphia 1 8 4 1 , Nachdruck Farnborough Hants. England 1969, S. 79 ff.
78 Dabei mu es allerdings nicht bleiben, wenn man von der Getrenntheit der Systeme
fr Politik und fr Recht ausgehen kann, also davon ausgehen kann, da das
Rechtssystem durch politische nderungszumutungen nicht korrumpiert wird.
Vor allem in den U S A haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr erfolgreiche
soziale Bewegungen gebildet, die, ohne sich an den Kongre zu wenden, eine nderung der Rechtsprechung fordern. Siehe fr zahlreiche Flle Joel F. Handler,
Social Movements and the Legal System: A Theory of Law Reform and Social
Change, New York 1978.
473
79 Man knnte natrlich sagen, dies gelte auch fr die Verfassung selbst, da sie ja
Menschenwrde und dergleichen erwhnt. Aber dann macht bereits die Ist-Form
dieser Erwhnung (ist unantastbar) stutzig; und ein Blick in die hochkontroverse
Literatur zur Verfassungsinterpretation belehrt, da hier Werte, Moral usw. in verschiedenen Versionen (constitutional morality, aspirational morality, civil religin)
nicht nur als Inhalte bestimmter Normen, sondern als generelle Interpretationsgesichtspunkte, oder noch deutlicher: als Regeln der Schlieung eines anderenfalls
offenen Horizontes rechtlicher Argumentation empfohlen werden. Siehe besonders
deutlich: Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Oxford 1977 (dt. bers.
Frankfurt 1984); ferner etwa Michael Perry, Morality, Politics and Law, London
1988, insb. S. 121 ff. Allerdings fehlt dieser Literatur zumeist (und besonders bei
Neil MacCormick, Institutional Morality and the Constitution, in: Neil MacCormick / Ota Weinberger, An Institutional Theory of Law: New Approaches to Legal
Positivism Dordrecht 1986, S. 171-188) die oben im Text vertretene Schrfe der
Unterscheidung von Verfassungsinterpretation und sonstiger Gesetzesinterpreta-
474
80
constitutional auf. Sobald man aber constitutional/unconstitutional von legal/illegal zu unterscheiden beginnt, hebt die Verfassung ab. Jede Rechtsnorm kann dann verfassungswidrig sein - altes
Recht und neues Recht, Verordnungen und Gesetze; nur nicht die
Verfassung selbst. Das Recht besitzt jetzt also einen durch Selbstexemtion gesicherten Mechanismus, sich selbst fr rechtswidrig zu
erklren. Kein Wunder also, da Thomas Jefferson zunchst
meinte: so weit sei der Auftrag des Volkes zum Erla einer Verfassung eigentlich nicht gegangen ; man msse bei normaler Rechtsnderung durch normale Gesetze bleiben.
81
tion. Und in jedem Falle ist diese Unterscheidung eine Unterscheidung des Rechtssystems.
80 The Oxford English Dictionary (2. Aufl. Oxford 1989, Bd. X V I I I , S. 925 s.v. unconstitutional) bringt einen ersten Beleg von 1734. Siehe auch Bolingbroke a.a.O.,
S.i 1 (unconstitutional expedients) - hier aber, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang ergibt, im Kontext einer Unterscheidung constitution/government und
nicht im Sinne einer Unterscheidung von Verfassungsrecht und normalem Recht.
Grere Verbreitung gewinnt der Ausdruck erst im Kontext der amerikanischen
Polemik gegen die Praxis des Londoner Parlaments, das sich fr souvern hlt und
deshalb glaubt, niemals unconstitutional handeln zu knnen. Erst nach dem Erla geschriebener Verfassungen dringt der Ausdruck auch in die Rechtsprechung
ein im Zuge der Rechtfertigung eines judicial review. Erster Fall wohl Commonwealth v Caton, 8 Virginia (4 Call), S. 5 ff vom November 1782.
81 In seiner Polemik gegen die seinen Vorstellungen nicht entsprechende Verfassung
von Virginia (1776). Siehe Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia (1787),
zit. nach der Ausgabe von William Peden, Neudruck New York 1982, S. noff.
82 Siehe die Argumente von Alexander Hamilton in: The Federalist Papers No. 78, zit.
nach der Ausgabe Middletown Con. 1961, S. 5 2 1 - 5 3 4 ; oder die Argumente von
John Marshall in Marbury v Madison, 1 Cranch (1803), S. 137-180.
475
84
85
83 Hierzu Stephen Holmes, Jean Bodin: The Paradox of Sovereignty and the Privatization of Religion, in: J. Roland Pennock / John W. Chapman (Hrsg.), Religion,
Morality and the Law, New York 1988, S. 5-45.
84 So in: Signatur des Zeitalters, zit. nach Friedrich Schlegel, Dichtungen und Aufstze, hrsg. von Wolfdietrich Rasch, Mnchen 1984, S. 593-728 (713).
85 Vgl. zum gesellschaftstheoretischen Kontext auch Niklas Luhmann, Staat und
476
tion - die Gottes ebenso wie die des souvernen Staates - auf eine
unformulierbare Regel angewiesen ist. Soviel bleibt. Aber das bedeutet keineswegs, wie man zur Zeit des absoluten Staates meinte,
da in irgendeiner Situation willkrlich entschieden werden knne.
Es ist diese Interpretation der Souvernitt als Willkr, die mit dem
modernen Verfassungsstaat aufgegeben und in eine Aufteilung von
Positionen mit unterschiedlichen Identitten berfhrt wird. Das
geschieht zunchst durch das Prinzip der Gewaltenteilung, faktisch
aber durch die Differenzierung von Rechtssystem und politischem
System mit je verschiedenem Paradoxie-handling. Die feste Form
einer hierarchischen Ebenendifferenzierung mu (hier, wie auch in
der Logik) aufgegeben werden. Sie kann nur durch Ambiguisierung
der Innen/Auen-Differenz ersetzt werden. Die Verfassung kulminiert in Punkten, an denen unformulierbar wird, ob sie ihre Geltung dem System oder seiner Umwelt verdankt. Aber auch dies ist
und bleibt eine systeminterne Ambiguitt, die im Rechtssystem
bzw. im politischen System einen je verschiedenen Sinn erhlt je
nach dem, wie die Systeme diese Einla-Stelle fr Irritationen normalisieren. Aus soziologischer Distanz gesehen wird damit ein
Mechanismus der strukturellen Kopplung etabliert, der den beteiligten Systemen nur in jeweils systeminterner Interpretation zugnglich ist. Im weiteren Rahmen der neuzeitlichen Semantik luft
dies auf eine Umstellung von Oben/Unten-Unterscheidungen auf
Innen/Auen-Unterscheidungen hinaus. Damit werden alle Prinzipien systemabhngig, also kontingent. Ihre Letztformulierung
mu dann ersetzt werden durch die Regel der Unformulierbarkeit
der Regel, die die Einheit des Systems konstituiert.
Fr unseren Zusammenhang kommt es also auf die Einsicht an, da
Selbstreferenzprobleme und Paradoxien sich in jedem System auf
jeweils andere Weise stellen und im politischen System anders als im
Rechtssystem. Dies ist der eigentliche Grund, weshalb die Entfaltung der jeweiligen Selbstreferenzen und die Auflsung der jeweiligen Paradoxien ber den Mechanismus struktureller Kopplungen
vermittelt werden und nicht ber Metaregeln oder logische Lsungen, die in den Systemen selbst gefunden werden. Das heit auch:
da fr die Unsichtbarkeit, fr die Inkommunikabilitt, fr die UnStaatsrson im bergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in ders-,
Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 65-148.
477
87
86 Die semantischen Unklarheiten in dieser Hinsicht sind ihrerseits ein Indikator dafr, da es sich um einen (verschieden perspektivierten) Mechanismus struktureller
Kopplung handelt.
87 Vgl. dazu mit einer etwas anderen Interpretation im Sinne von nichtrealisierter
478
479
Entscheidend ist - und das macht der Begriff strukturelle Kopplung sichtbar -, da die Verstrkung der wechselseitigen Irritation
abhngig bleibt vom Ausschlieungseffekt desselben Mechanismus.
Nur wechselseitige Indifferenz macht es mglich, da eine spezifische wechselseitige Abhngigkeit gesteigert wird. Unter dieser
Bedingung, die mit Bezug auf das Gesellschaftssystem als funktionale Differenzierung zu begreifen ist, lsen die Systeme die zirkulre Struktur ihrer Selbstreferenz durch Externalisierung auf. Das
Rechtssystem setzt sich selbst durch Bereitstellung von Mglichkeiten der Gesetzgebung politischen Einflssen aus. Das politische
System setzt sich selbst durch Demokratisierung den Verlockungen
aus, Initiativen zur nderung des Rechts zur Entscheidung zu bringen. Die Selbstreferenz der Systeme nimmt dann den Umweg ber
Einbeziehung der Umwelt in das System. Auf diese Weise werden
hierarchische Asymmetrisierungen entbehrlich, nachdem ohnehin
der Blick nach oben jeden Halt verloren hat.
Als Resultat dieser Entwicklung wird heute diskutiert, ob und wie
der Apparat des klassischen Konstitutionalismus den Entwicklungen zum Wohlfahrtsstaat angepat werden knne. Die Klarheit
der zivilrechtlichen Formen, von denen man im Common Law
89
90
88 Vgl. auch die Betonung des experimentellen, projektiven, auf Selbsterfllung angelegten Charakters der Werte (der Verfassungsinterpretation), deren realer
Kurs letztlich vom Verfassungsgericht provisorisch festgesetzt und immer wieder
neu ins Spiel gebracht wird, bei Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie:
Selbstreferenz - Selbstorganisation - Prozeduralisierung, Berlin 1992, S. 166, 167.
89 Das Argument findet sich brigens bereits im 18. Jahrhundert, bereits im Kontext
der ersten Darstellungen der checks and balances von Gewaltenteilung. Vgl. Henry,
Viscount Bolingbroke, Remarks on the History of England (1730), zit. nach Works
Bd. I, Philadelphia 1841, Nachdruck Farnborough, Hants. England 1969, S. 292-
455 (333 f.)90 Siehe vor allem Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung a.a.O. (1991).
480
ebenso wie im kontinentaleuropischen Zivilrecht um 1800 ausgehen konnte, ist nicht lnger gegeben..Mehr und mehr ndern sich
die Vorstellungen ber Sinn und Funktion der Grundrechte in
Richtung auf allgemeine Wertprogramme, die als Richtlinien der
Politik zu verstehen seien. Die Entscheidungsprobleme treten dann
nicht mehr im politischen berschreiten von Schranken auf, sondern in der Lsung fr stndig neu auftretende Wertkonflikte. Mit
Angaben, wie solche Konflikte zu entscheiden seien, greift die Verfassungsgerichtsbarkeit mehr und mehr in die Politik ein und
diktiert zum Beispiel Ausgaben, wo Sparsamkeit angebracht wre.
Die Entwicklung besttigt die politische berzeugungskraft des
Wohlfahrtsstaates und vor allem die Idee, da unverdiente Schicksalsschlge von der Gemeinschaft ausgeglichen werden mten.
Die ursprngliche Funktion der Verfassung, Politik zu limitieren,
gert dabei auer Sicht. Man sieht zwar, da der Wohlfahrtsstaat ein
politischer Selbstlufer ist , zieht daraus aber nicht die Konsequenz, da es der Funktion einer Verfassung entsprechen mte,
solchen Trends entgegenzuwirken. Eine Anpassung der Verfassung
an die Gegebenheiten des Wohlfahrtsstaates mte eher darin liegen, die Unabhngigkeit der Zentralbank zu garantieren und der
Staatsverschuldung feste Grenzen vorzugeben.
91
92
V
Der bergang zu einer primr funktionalen Differenzierung des
Gesellschaftssystems erfordert neuartige strukturelle Kopplungen
im Verhltnis der Funktionssysteme zueinander, nmlich Kopplungen, die der Autonomie und operativen Geschlossenheit der Funktionssysteme Rechnung tragen knnen. Die Funktionssysteme
werden durch diese Mechanismen in der Gesellschaft gehalten; aber
da sie ohnehin als Kommunikationssysteme operieren mssen,
knnten sie gar nicht aus der Gesellschaft austreten. Strukturelle
91 Da auch die Zivilrechtsprechung solchen Vorstellungen folgt und sich damit einem
sich verndernden Sozialklima fgt, zeigt Lawrence M.Friedman, Total Justice,
New York 1985.
92 Siehe Grimm a.a.O. (1991), S. 325 mit weiteren Hinweisen und mit der Feststellung, der Sozialstaat knne verfassungsrechtlicher Garantien eher entbehren als
anderer Staatsziele. .
481
Kopplungen entwickeln sich daher ineins mit den neuen Funktionsautonomien. Das eine wre nicht ohne das andere mglich.
Diese Darstellung hat noch ganz auer acht gelassen, da es immer
auch strukturelle Kopplungen fr die Auenbeziehungen des Gesellschaftssystems gibt, also fr das Verhltnis des Gesellschaftssystems zu den psychischen Systemen, deren Bewutsein eine fr
Kommunikation notwendige Umwelt ist. Selbstverstndlich unterhlt das Rechtssystem, da es ja selbst Kommunikation durchfhren
mu, unmittelbare Beziehungen zu dieser psychischen Umwelt des
Gesellschaftssystems. Es prgt sich direkt (und nicht etwa auf dem
Umweg ber irgendwelche anderen gesellschaftlichen Instanzen) in
das Bewutsein der Beteiligten ein. Es mu von daher Erleben und
Handeln motivieren knnen, wenn nicht die entsprechende Kommunikation mangels Ressourcen zum Stillstand kommen soll.
Recht bekommen zu knnen, im eigenen Rechtsgefhl besttigt
oder nicht besttigt zu werden, kann Schicksal werden; es ist in
jedem Fall keine belanglose Angelegenheit. Auch in dieser Hinsicht
erfordert der Umbau in Richtung funktionale Differenzierung Umstellungen der Kopplungsmechanismen - schon deshalb, weil jedes
Funktionssystem jetzt die Bedingungen der Inklusion von Bewutsein oder auch von Krperverhalten (zum Beispiel Prsenz, Diszipliniertheit, Bewegungseinschrnkungen, Darstellung von Aufmerksamkeit, etwa bei Gerichtsverhandlungen) selbst definieren
mu und sich dafr, von Sprache abgesehen, kaum noch auf allgemeine gesellschaftliche Ordnungsvorgaben verlassen kann. Das
Rechtssystem mu, wenn es mit ausdifferenzierten Subsystemen
wie Geldwirtschaft, privatisierten Familien, politisch programmierten Staatsorganisationen usw. zu rechnen und sich auf entsprechende strukturelle Kopplungen einzulassen hat, auch sein Verhltnis zu Bewutseinssystemen reformulieren.
Die neuzeitliche Rechtsentwicklung trgt dem dadurch Rechnung,
da sie allgemeine, gesellschaftlich fundierte Normen der Rezipro93
93 Ein hnliches Argument findet man bei Talcott Parsons, The System of Modern
Societies, Englewood Cliffs 1 9 7 1 , insb. S. 18 ff., 82 u. ., hier bezogen auf gesteigerte Ansprche an die integrative (das heit: Individuen einbeziehende) Funktion
der societal Community, die mit Hilfe eines legal Systems in die blichen Menschenrechte umgesetzt werden.
482
94
96
Es liegt auf der Hand, wie stark der bergang zur Rechtsvorstellung subjektiver Rechte seit der Mitte des 1 7 . Jahrhunderts die
bereits diskutierten Mechanismen struktureller Kopplung, das Eigentumsrecht und die Erwartungen, die man an eine Verfassung
richtete, beeinflut hat. Solange man sich traute, naturrechtlich zu
formulieren, konnten Menschenrechte (oder jedenfalls Brgerrechte, civil rights) als Vorgegebenheiten angesehen werden, die
jede Rechtsordnung, wenn sie auf den Titel des Rechts Wert legte,
zu respektieren habe. Ohne Anerkennung dieser naturrechtlichen
Individualrechte, so konnte man denken, gebe es kein Recht. In
gewissem Umfang bernimmt dieser Begriff damit fr die revolutionren Bewegungen des 18. Jahrhunderts die Funktion der alten
Unterscheidung rex/tyrannus, Widerstand zu legitimieren. Und das
Naturrecht auf Eigentum als Grundlage selbstbestimmter Entfaltung von Individualitt erhlt in diesem Zusammenhang einen
Rang, der wirtschaftspolitische Forderungen gleich mit abdeckt.
An die Stelle konkreter Bindungen des Eigentumsgebrauchs tritt
die Annahme, da die individualistisch-rationale Nutzung des Eigentums von selber den allgemeinen Wohlstand mehre, weil Rationalitt jetzt heit: sich nach den Bedingungen des Wirtschaftssystems zu richten. Aber was bleibt von dieser Konstruktion, wenn
97
484
die Referenz auf Natur verblat oder nur noch als unreflektierter,
spezifisch juristischer Sprachgebrauch weitergefhrt wird?
Noch bei Kant und noch bei Savigny stt man auf die alte Regel
der Reziprozitt, jetzt aber nicht mehr als Gebot der Dankbarkeit
formuliert (denn Undankbarkeit gegenber Wirtschaftspartnern
oder gegenber dem Staat, in Wahrheitsfragen oder auch in der
Liebe ist gerade ein Gebot systemadquaten Verhaltens geworden),
sondern abstrahiert zu einem allgemeinen ethischen Gesetz, dessen
Verbindlichkeit jedes Subjekt in sich selbst (ohne Akzeptieren externer Autoritten) feststellen knne. Die alte Form wird nur
generalisiert, um komplexeren Bedingungen gerecht werden zu
knnen. Aber diese Lsung hlt nicht lange, sie zerbricht bereits
um die Mitte des 19. Jahrhunderts an der Frage des GeltungsVerhltnisses von subjektiven Rechten und objektivem Recht, also am
Problem der Einheit des Rechtssystems.
98
98 Unter den heute relevanten Autoren greift Jrgen Habermas dieses Prinzip auf mit
einer nochmaligen Abstraktion, die das Apriori der Symmetrievorgabe von bewutseinstheoretischen Analysen auf linguistische Grundlagen umstellt. Die These
lautet dann: da die Sprache selbst fr angemessenen Gebrauch eine Symmetrie von
Anerkennungsverhltnissen vorschreibe und damit normative Ansprche an gesellschaftliche Rationalitt begrnde. Siehe ausfhrlich Jrgen Habermas, Faktizitt
und Geltung: Beitrge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaates, Frankfurt 1992.
485
101
102 Vgl. William Kennedy, English Taxation 1640-1799: An Essay on Policy and Opinin, London 1 9 1 3 , insb. S. 82 ff.
487
105
103 Vgl. Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1 (1990), S. 5 - 3 3 ; auch in ders., a.a.O. (1991), S. 397-437.
104 Jetzt ausfhrlich in Habermas a.a.O. (1992), S. 109 ff.
105 Fr das Religionssystem findet man eine entsprechende Diskussion unter dem
Stichwort Skularisation. Danach ist Religion in der modernen Gesellschaft zur
Privatsache geworden und damit zur Frage von individuellen Entscheidungen.
Unbestritten auch hier, da solche Entscheidungen sozialen Einflssen unterliegen; aber unter der Bedingung eines institutionalisierten Individualismus (Parsons) wirken diese Einflsse nicht mehr eindeutig zugunsten bestimmter religiser
Bindungen.
489
106
VI
Die alteuropische Tradition hatte, unter Aufnahme des rmischrechtlichen Begriffs der societas, die Gesellschaft selbst als Vertrag
begriffen, wenngleich als einen Vertrag, mit dem der Natur des
Menschen als eines sozialen Lebewesens entsprochen wurde. Man
kann vielleicht interpretieren: die bloe Bettigung im Kontext
einer unausweichlichen Sozialitt sei als Vertragsschlu zu verstehen, und den Konsequenzen knne man sich nur in der Form eines
rechtlich unzulssigen venire contra factum proprium entziehen.
Wenn aber die Einheit der Gesellschaft selbst auf ihrer Rechtsform
beruht, kann das Recht nicht gut als Teilsystem des Gesellschafts-
106 In der bekannten Terminologie von Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organization, and States, Cambridge Mass.
1970.
490
Systems begriffen werden. Vielmehr wird die Rechtsordnung, parallel zur Hierarchie der Stratifikation, als Legeshierarchie konstruiert, als Stufenbau von gttlichem Recht, Naturrecht und positivem
Recht.
Eine Alternativ-Interpretation lag seit dem Hochmittelalter in der
Organismus-Metapher, in der Beschreibung der Gesellschaft als eines politischen Krpers. Hier wurde keine artifizielle, sondern eine
natrliche Konstitution unterstellt. Aber der Begriff der Natur enthielt die Doppelmglichkeit natrlicher (perfekter) und korrupter
Zustnde, in der Herrschaftsstruktur der Gesellschaft etwa die Varianten rex und tyrannus. Die dem Naturbegriff immanente
normative Option fr Perfektion und gegen Korruption wurde ihrerseits als Recht, und zwar als Naturrecht begriffen - und dies auf
der Grundlage einer im Mittelalter durchgehend vorausgesetzten
Einheit von gttlichem Ursprung und Vernnftigkeit des Rechts bei
verbreiteter Wahrnehmung von Korruption. In zwei gegenlufigen Konstruktionen, der artifiziellen (Vertrag) und der natrlichen
(Organismus), war die gemeinsame Voraussetzung mithin die Annahme, die Gesellschaft sei eine Rechtsordnung.
Erst im 18. Jahrhundert wird klar, da dieses Konzept den Verhltnissen der modernen Gesellschaft nicht mehr entspricht, und David
Hume ist in dieser Hinsicht der wohl eindrucksvollste Autor. Nach
wie vor ist eine Gesellschaft ohne Recht undenkbar, aber die Gesellschaft selbst erscheint jetzt als Produkt ihrer Geschichte, und
das Recht entspricht den Vernderungen, die sich daraus ergeben.
Es entwickelt sich in der Gesellschaft mit der Gesellschaft. Wenn
die modernen Grenordnungen der commercial society eine soziale Kontrolle durch Nhe nicht mehr zulassen, mu das Recht
sich dem anpassen und Versprechungen, auch Unbekannten gegenber, fr rechtlich verbindlich erklren. Die Verbindlichkeit von
Versprechungen ergibt sich nicht aus der Natur und auch nicht aus
der Moral. Sie ist eine historisch spte Konvention. Eigentum wird
verfgbar gemacht unter der einzigen Bedingung des Konsenses des
107
108
107 Siehe hierzu die bis in die Volkspoesie hinreichende Untersuchung von Edward
Powell, Kingship, Law, and Society: Criminal Justice in the Reign of Henry V,
Oxford 1989, insb. S. 38 ff.
108 Siehe Hume a.a.O., Book III, Part II, Sect. V, S. 219 ff. Vgl. auch Annette Baier,
Promises, Promises, Promises, in dies., Postures of the Mind: Essays on Mind and
Morals, Minneapolis 1985, S. 174-206, insb. 181 ff.
491
110
Gegenber der Przision des klassisch-juristischen Begriffs der societas bleibt jetzt freilich unklar, was unter Gesellschaft zu verstehen ist. Bei aller Ausarbeitung interner Strukturen fehlt ein Begriff
fr die Einheit des Systems. Auch die Historisierung der Gesellschaftsanalyse ermglicht zwar Darstellungen, kann aber dieses
Theoriedefizit nicht ausfllen. So wird weiterhin von civil society
gesprochen. Will man hherer Differenzierung Rechnung tragen,
erfordert das eine entsprechende Generalisierung der Symbole, die
dann noch fr Einheit stehen knnen, und die Theorie kommt hier
zunchst nicht mit. Ihre Plausibilitt liegt nur darin, den historischen Abstand von Vorgngergesellschaften markieren und als Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen zu knnen.
Auch die im 19. Jahrhundert sich ausbreitende Terminologie der
Klassengesellschaft liefert noch keine zufriedenstellenden Resultate
und bleibt deshalb kontrovers. Sie postuliert, da die Gedanken der
herrschenden Kreise die herrschenden Gedanken seien und da das
Rechtssystem sich nicht unabhngig von ihnen entwickeln knne.
Die herrschaftstheoretische Sicht auf diese Sachverhalte fhren wir
mit einem etwas lngeren Zitat vor: Allgemeine Werturteile der
fhrenden Kulturschicht, die vorhandenen gesetzlichen Werturteilen widersprechen, sind selten. In der Regel wird das gesetzliche
Werturteil wenigstens in einem Teile der Bevlkerung Anklang fin109 Siehe Hume a.a.O., Book III, Part II, Sect. IV, S. 2 1 7 f r .
1 1 0 So Hume sehr prononciert, aber es handelt sich dabei um einen zu seiner Zeit
allgemein verbreiteten Gedanken. Siehe dazu mit weiteren Hinweisen Niklas Lh-,
mann, Am Anfang war kein Unrecht, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik
Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 11-64.
492
112
493
dundanzen, also das, was im Rechtssystem als Gleichheit der Fallbehandlungen, Gerechtigkeit usw. gepflegt wird, eine solche Entwicklung. Wenn die Abtreibung erlaubt wird, limitiert das die
Argumente, mit denen der Streit um Experimente mit menschlichem Genmaterial ausgetragen wird; es limitiert sie nicht notwendigerweise politisch, wohl aber juristisch.
Im Ergebnis fhren diese berlegungen zum Verzicht auf die grobe
Begrifflichkeit der Macht herrschender Kreise, ihre Wertvorstellungen mit Hilfe des Rechts durchzusetzen; aber auch zum Verzicht
auf die dies abschwchenden Gramsci-Begriffe der Hegemonie und
der relativen Autonomie. Es erscheint daher fraglich, aber diese
Auffassung wird Widerspruch finden, ob man ein Verhltnis struktureller Kopplung zwischen Rechtssystem und gesellschaftlicher
Schichtung annehmen kann. Jedenfalls mu man in diesen Theoriebereichen auf die einfache Dualterminologie von oben und unten
oder von Zweck und Mittel verzichten und Entwicklungsanalysen
in den sehr viel offeneren Kontext der Evolutionstheorie berfhren.
Offenbar realisiert sich das Gesellschaftssystem mit Hilfe der Differenz von autopoietischen Funktionssystemen und strukturellen
Kopplungen und grenzt sich dadurch von einer Umwelt ab, in bezug auf die ganz andere strukturelle Kopplungen (nmlich die mit
Bewutseinssystemen) realisiert werden. Weder kann man deshalb sagen, da die Gesellschaft sich als Summe ihrer Funktionssysteme reproduziert; noch kann man diejenigen Formen, in denen
sich strukturelle Kopplungen realisieren (in unserem Bereich also:
Verfassung bzw. Eigentum und Vertrag oder in der Terminologie
des 19. Jahrhunderts: Staat und Gesellschaft) als reprsentativ fr
die gesellschaftliche Ordnung ansehen. Entscheidend ist vielmehr,
da die Realisation von autopoietischen Funktionssystemen und
die Einrichtung von strukturellen Kopplungen, die Irritationen zugleich steigern, dirigieren und ausschlieen, nur zusammen evoluieren knnen.
113
1 1 3 Auch hier fllt, ohne da man auf eine Organismus-Theorie des Gesellschaftssystems zurckkommen mte, eine formale hnlichkeit mit lebenden Systemen
auf. Gewi sind die Operationsweisen des Lebens und der Kommunikation sehr
verschieden, aber ungeachtet dessen setzt auch der lebende Organismus im Inneren autopoietisch lebende Zellen und massive, aber gleichwohl hochselektive
strukturelle Kopplungen voraus.
494
495
Kapitel ii
497
2 So Edward Powell, Kingship, Law, and Society: Criminal Justice in the Reign of
Henry V-, Oxford 1989, S. 29.
498
499
4 Hierzu gibt es durchaus anerkennende Literatur, allerdings eher auf einem Seitenweg
der herrschenden rechtstheoretischen Diskussion. Siehe z. B. Benjamin N. Cardozo,
The Paradoxes of Legal Science, New York 1928; George P. Fletcher, Paradoxes in
Legal Thought, Columbia Law Review 85 (1985), S. 1263-1292; Roberta Kevelson,
Peirce, Paradox, Praxis: The Image, the Conflict, and the Law, Berlin 1990; Michel
van de Kerchove / Franois Ost, Le droit ou les paradoxes du jeu, Paris 1992. .
5 Einen vergleichbaren Sachverhalt formuliert Pierre Bourdieu etwas strker als Zusammenhang von Beschreiben und Vorschreiben in: Ce que parier veut dire:
l'conomie des changes linguistiques, Paris 1982, S. 149 ff.
$00
einen oder anderen Grund (der nichts mit Recht zu tun haben mu)
nicht gedruckt werden kann, hat somit keine Chance, auf die
Selbstbeschreibung des Systems einzuwirken.
II
Will man die Selbstbeschreibung des Rechtssystems in einem ersten
Zugriff von auen beschreiben, liegt es nahe, auf die Identifikation
mit den eigenen Normen abzustellen. Teilnehmer, so wird erwartet,
mssen sich systemloyal verhalten, was immer ihre subjektiven Motive, ihre Hintergedanken, ihr Ehrgeiz, ihre Interessen sein mgen.
Auch zahllose Kommunikationsweisen, die gesellschaftlich mglich und erwartbar sind, mssen auer acht bleiben, wenn sie nicht
dem Rechtssystem zugerechnet werden knnen, und auch innerhalb des Rechtssystems ist bei weitem nicht jede Kommunikation
ein Beitrag zur Selbstbeschreibung.
Keine Beschreibung kann es sich leisten, ihr Objekt zu verfehlen,
aber die Innenbindungen der Selbstbeschreibung gehen darber
hinaus. Denn die Selbstbeschreibung mu sieb selbst dem System,
das sie beschreibt, einordnen, und das kann nur durch bernahme
und Thematisierung systemspezifischer Bindungen geschehen. Anders knnte die Selbstbeschreibung sich selbst nicht als solche
ausweisen, sich selbst nicht von einer externen Beschreibung unterscheiden. Sie kann, mit anderen Worten, nicht prinzipiell bestreiten,
da es richtig ist, den Normen zu folgen und sich so zu verhalten,
wie das Rechtssystem es vorschreibt. Die Erwartungsstabilisierungsfunktion wird als Verhaltensanweisung interpretiert. Aber
eben: interpretiert. Es geht nicht einfach um weitere Normen, auch
nicht um hhere Normen, sondern um Grnde; nicht um Rezepte fr rechtmiges Verhalten, sondern um Rechenschaft. Und
vor allem wird die Unterscheidung von Normen und Fakten, die
fr das System zentrale Bedeutung hat, nicht in Richtung Faktizitt,
6
6 Dies ist der Kernpunkt der sog. Neutralisierungsthese, die als soziologische Theorie
der Devianz vertreten wird. Vgl. die Hinweise oben (Kap. 6, III, Anm. 47). Und auch
hier sieht man deutlich die Differenz von externer und interner Beschreibung. Neutralisierung ist natrlich kein Argument, das im Rechtssystem selbst gebraucht
werden knnte, und erst recht keine Form der Beschreibung der Einheit des Systems.
JOI
7 So z. B. Werner Krawietz, Staatliches oder gesellschaftliches Recht? Systemabhngigkeiten normativer Strukturbildung im Funktionssystem Recht, in: Michael Welker / Werner Krawietz (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1992,
S.247-301.
8 Dies hat im brigen nichts mit der vllig unbestrittenen Einsicht zu tun, die oft an
dieser Stelle genannt wird: da es die Logik nicht erlaubt, von Fakten auf Normen zu
schlieen.
9 Ich sage praktikabel im Hinblick auf die Mglichkeit, mehrwertige Logiken zu
entwickeln, die jedoch in der Alltagskommunikation des Rechtsbetriebs auf kaum
berwindbare Schwierigkeiten stoen wrden.
$02
Die Selbstbeschreibung des Rechtssystems mu, mit anderen Worten, davon ausgehen, da man es im Rechtssystem mit kontroverser
Kommunikation zu tun hat, und dies nicht im Sinne eines leider
unvermeidlichen Defekts, sondern als Konsequenz der Funktion
und der Codierung des Systems. Daraus ergibt sich ein weiterer
Darstellungszwang, dem jede Selbstbeschreibung sich zu fgen hat.
Alle Kommunikation im System mu auf Entscheidbarkeit hin stilisiert werden, und zwar auf eine Entscheidung hin, die gute
Grnde - und lgen sie nur im Verweis auf geltendes Recht - fr
sich in Anspruch nehmen kann. Es gengt nicht, einfach die eigenen
Wnsche, Interessen, Prferenzen darzustellen wie bei Kaufverhandlungen im Wirtschaftssystem. Es mssen vielmehr Darstellungsformen gesucht und gefunden werden, die insinuieren, da
eine systemkonforme Entscheidung - man mag sie dann als rational, vernnftig, gerecht titulieren - mglich ist. Das System mu
als Entscheider angesprochen werden, wie immer kontrovers dann
Tatsachen, Regeln und Prinzipien sein und bleiben mgen. Zu jeder
bestimmten Norm kann eine Kommunikation sich kritisch einstellen: aber wenn sie das tut, mu sie einen Ersatzvorschlag offerieren.
Sie kann nicht einfach Anarchie, freies Belieben oder gar nichts
empfehlen. Sie hat die Notwendigkeit zu respektieren, im Zentrum
des Systems, in der Gerichtsbarkeit, zu einer Entscheidung zu kommen. Deshalb hat auch die Selbstbeschreibung des Systems, sie wre
sonst keine, zunchst einmal diesem Erfordernis argumentativer
Stilisierungaller KontroversenRechnungzutragen. Was immermanzu
erreichen sucht: man mu es im System und durch Bezugnahme auf die Argumentationsmittel des Systems begrnden. Es
kommt nicht unbedingt darauf an, ob es auf alle Fragen eine letztlich richtige Antwort gibt: aber man mu so kommunizieren, als ob
es sie gbe, etsi non daretur Deus.
10
11
Im Unterschied zu normaler Systemkommunikation, die Entscheidungsbegehren oder Entscheidungen selbst begrndet, kann die
Selbstbeschreibung des Systems vermeiden, Partei zu ergreifen. Es
ist nicht ihre Sache zu entscheiden, ob man den Produzenten fr
Fehler der Waren und Folgeschden haften lt oder den Kufer das
10 Dazu bereits oben Kap. 7, IV, 8, V I I und VIII.
11 Siehe dazu, dies Erfordernis ernst nehmend, Ronald M. Dworkin, No Right
Answer?, in: P.M.S. Hacker / Joseph Raz (Hrsg.), Law, Morality, and Society:
Essays in Honour of H . L . A . Hart, Oxford .1977, S. 58-84.
53
13
504
15
16
Darin liegt ein Verzicht auf jede Einheitslsung. Statt dessen wird
die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise gelenkt, wie das System
Geltungen und Argumentationsmittel beschrnkt. Genau das betont heute die institutionelle Rechtstheorie. Sie erklrt auf diese
Weise das, wovon wir ausgegangen sind: da die Selbstbeschreibung des Systems sich mit den Bedingungen identifizieren mu, auf
17
14 Im Kontext einer selbstreferentiellen Begrndung seiner utilitaristischen Rechtstheorie schreibt Jeremy Bentham, An Introduction to The Principles of Morais and
Legislation (1789) New York 1948, S. 5: Is it possible for a man to move the earth?
Yes; but he must first find out another earth to stand upon.
15 Die theologische Lsung hat immerhin den Vorteil, da sie sich auf Gott als einen
Beobachter des Systems beziehen kann. Nur ist dies nicht sehr hilfreich, wenn man
im gleichen Zuge zugestehen mu, da dieser Beobachter selbst nicht beobachtet
werden kann. Eben deshalb war es fr Pufendorf, Locke und viele ihrer Zeitgenossen unerllich, den Willen Gottes schlielich durch eine Art Utilittskalkl zu
spezifizieren mit der Unterstellung, es lge Gott daran, da es den Menschen gut
gehe. Dann freilich kommt man nicht umhin, erhebliche Konstruktionsfehler in der
Schpfung zuzugestehen.
16 Julia Kristeva, Semiotike: Recherches pour une semanalyse, Paris 1969, S. 1 1 .
17 Siehe reprsentativ: Donald Neil MacCormick / Ota Weinberger, Grundlagen des
institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985.
506
19
20
III
Das Natrrecht Alteuropas liegt so weit zurck und steht uns so
fern, da nicht einmal die Distanz dem heutigen Bewutsein gelufig ist. Andererseits ist ein Verstndnis der Reflexionstheorien im
heutigen Rechtsdenken nur mglich, wenn man sieht, da und wie
sie sich aus dem Naturrecht herausgelst haben und dabei auf die
Probleme gestoen sind, die die heutige Diskussion bestimmen.
Das gilt nicht zuletzt fr die Flle, in denen die Argumentation sich
auch heute noch (oder wieder) auf Naturrecht beruft.
Sozialstrukturell gesehen hatte das Naturrecht einen wichtigen
Ausgangspunkt in der Diskrepanz von rechtlich-politischen Einheiten, insbesondere Stadtstaaten oder kleineren Territorialstaaten,
und einem weit ber deren Grenzen hinausgreifenden Handel. Daraus entstanden laufend Fragen nach dem rechtlichen Status von
Fremden in der eigenen Stadt, auf die das fr Brger reservierte
eigene Recht nicht ohne weiteres angewandt werden konnte - also
rmisch gesprochen: Fragen des ius gentium. Darber geht eine fr
das Mittelalter wichtige Digestenstellen hinaus, die auch Tiere einbezieht und dadurch Naturrecht vom Vlkerrecht (Recht aller
507
21
23
Eingewoben in diese Argumentation findet man einen zweiten Gedanken. In Anlehnung an Aristoteles, vor allem aber seit dem
Hochmittellter, setzt das Naturrecht voraus, da es in der Natur
Naturen (Wesen) gibt, die Kenntnis von sich selber haben. Die Vernunft (ratio) findet ihren Ort und entfaltet sich als Natur in der
Natur. Wenn im Mittelalter Selbsterkenntnis gefordert wird, heit
das deshalb nicht: Erkennen der eigenen individuellen Besonderheit
oder gar Subjektheit. Vielmehr geht es um das Erkennen der eigenen Natur, die in analogia entis verstanden wird als Einzelfall der
Weltseele, als imago Dei, als Kreatur der Schpfung. Vor allem die
24
21 Siehe D . i . 1 . 1 . 3 : Ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit, im Unterschied zu D . i . 1 . 1 . 4 : Ius gentium est, quo gentes humanae utuntur. Das vielleicht
berhmteste Beispiel ist das Recht auf Fortpflanzung, das triebhaft angelegt ist,
aber durch Vlkerrecht und erst recht durch Zivilrecht gegenber dem Natttrrecht
eingeschrnkt werden kann. Zur Diskussion in der Glosse siehe ausfhrlich Rudolf
Weigand, Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten von Irnerius bis A c cursius und von Gratian bis Johannes Teutonicus, Mnchen 1967, insb. S. 12 ff.,
78 ff..
22 Zum Beispiel die eher rechtsinnovativ eingesetzte aequitas ( D . i . i . n , Paulus) oder
das eher fr Gerechtigkeitsdefinitionen verwendete ius suum cuique tibuendi
( D . 1 . 1 . 1 0 pr. und 1, Ulpian) mit direktem Bezug auf Stratifikation.
23 So z. B. oft zitiert Johannes von Salisbury im Policraticus Buch IV, Kap. II, zit. nach
der Ausgabe Ioannis Saresberiensis...Policratici...libri VIII, London 1909, Nachdruck Frankfurt 1965, Bd. I, S. 237, mit Bezug auf aequitas und das tribuens
unicuique quod suum est: lex vero eius interpres est, utpote cui aequitatis et iustitiae
voluntas innotuit.
24 Nur so wird auch die Bedeutung der Spiegelmetapher im Mittelalter verstndlich:
Der Spiegel verdoppelt nicht die pure Faktizitt der individuellen Besonderheit,
J08
26
27
28
sondern er zeigt das, was man seiner Natur nach (und das schliet soziale Stellung
ein) zu sein hat.
25 Hierzu Marian Kurdzialek, Der Mensch als Abbild des Kosmos, in: Albert Zimmermann (Hrsg.), Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter: Stellvertretung,
Symbol, Zeichen, Bild, Berlin 1 9 7 1 , S. 3 5-75.
26 Siehe hierzu Horst Dreitzel, Grundrechtskonzeptionen in der protestantischen
Rechts- und Staatslehre im Zeitalter der Glaubenskmpfe, in: Gnter Birtsch
(Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der stndischen zur sptbrgerlichen Gesellschaft, Gttingen 1987, S. 180-214.
27 Vgl. Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo 8.I.II., zit. nach der
Ausgabe Frankfurt-Leipzig 1744 Bd. II, S. 287: Enimvero heic praesupponi debet,
homines in civitatem coituros iam tum iuris naturalis fuisse intelligentes.
28 Siehe Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat: Die Politica des Henning Arnisaeus (ca. 1 5 7 5 - 1 6 3 6 ) , Wiesbaden 1970, S. i97ff.
29 Thomas von Aquino, Summa Theologiae Ia Hae q. 96 a 3. Vgl. auch IIa Ilae q 57
a.2.
509
30
adiaphora bedrfen der Regelung. Da dies so ist, ist aber wiederum aus der Natur einsichtig, zu der eben auch gehrt, da
Handeln sich an Zielen orientiert und mit sehr verschiedenen natrlichen und sozialen Bedingungen zurechtkommen mu. Insofern
ergibt sich der Bedarf fr positives Recht und fr autoritative Gesetzgebung aus der Natur selbst. Das Naturrecht selbst erzeugt die
Differenz von Naturrecht und positivem Recht. Das Problem der
Geltungsform des Rechts wird also ber ein re-entry gelst: Die
Unterscheidung von Naturrecht und positivem Recht wird in das
Naturrecht hineincopiert; und nur unter dieser Bedingung kann
man in einem serisen Sinne von einer naturrechtlichen Rechtsbegrndung sprechen. Die Rechtsqualitt des positiven Rechts setzt,
auch so wird hufig formuliert, Indifferenz des Naturrechts in der
entsprechenden Regelungsfrage voraus. Das Naturrecht wird im
kosmologischen Weltaufbau des Mittelalters deshalb als hherstufig
angesehen. Aber zugleich bleibt auch der animalische Naturrechtsbegriff in der Diskussion, wonach sich die Menschengesellschaft in Abweichung vom Natur(rechts)zustand entwickele, also
gegen das Naturrecht. Damit bleibt das Verhltnis von Naturrecht
und positivem Recht in der mittelalterlichen ebenso wie in der frhneuzeitlichen Selbstbeschreibung des Rechtssystems ambivalent.
Man findet in dieser Tradition, die noch ernsthaft von Naturrecht
gesprochen hatte, nicht das, was heutige Rechtsphilosophen erwarten wrden: da das Naturrecht das positive Recht begrnde? Es
ist im Verhltnis zum Zivilrecht entweder indifferent oder auf Abweichung gefat. Und als zusammenschlieende Perspektive dient
die Vorstellung, da beide Arten von Recht dem Schpfungsplan
Gottes entsprechen.
31
Auch wenn man zugeben mute, da das Recht nicht in allen Details Naturrecht ist und da es in den einzelnen Lndern und zu den
verschiedenen Zeiten unterschiedliche, aber naturrechtgeme
Rechtsordnungen geben kann, galt das Naturrecht doch als Gel30 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik Buch V, Kap. 10 1134b 18-24. Siehe auch
Thomas a.a.O., Ia Ilae q. 95 a.2.
31 Das Argument lautet: Natura autem hominis est mutabilis. Et ideo id quod naturale est homini potest aliquando deficere. (IIa Ilae q.j7 a.2 ad primum.)
32 Vielleicht kann man die Vermutung wagen, da eine solche Auffassung berhaupt
erst sinnvoll wird, wenn es neben dem Zivilrecht auch ffentliches Recht gibt, also
frhestens seit dem 1 7 . Jahrhundert.
510
tungsgrund des Rechts schlechthin, denn die Natur der Weltordnung und des Menschen fordert, da es Recht gibt. Daraus
wiederum folgte, da das positive Gesetz insoweit an der ratio teil
hat, als es aus dem Naturrecht abgeleitet ist; und umgekehrt: da
bei einem Versto gegen das Naturrecht gar kein Gesetz vorliegt,
sondern nur eine Korruption des Gesetzes. Wenn eine solche Korruption gar kein Gesetz ist (so wie ein Tyrann kein Knig), schuldet
auch niemand Gehorsam, und dann ist Widerstand erlaubt, wenn
nicht geboten.
33
Diese Theorie schliet, wie man sieht, aus dem Schema naturgemer
Perfektion/Korruption auf Geltung/Nichtgeltung aller Derivate des Naturrechts. Je nach der Option fr die eine bzw. andere
Seite legitimiert sie Gehorsam bzw. Widerstand - aber all dies unter
der Voraussetzung, da nicht bser Wille oder unauflsbare Wert'konflikte im Spiel sind, sondern es immer nur um die Frage der
richtigen Erkenntnis bzw. eines Irrtums gehe.
Das wird im modernen Territorialstaat unakzeptabel. Man gibt
zwar die Hoffnung noch nicht ganz auf, da Gott den Souvern
beeindrucke und benutzt diese Erwartung als Abschluformel der
Begrndung des Rechts. Aber schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts ist fr Zwecke der Praxis geklrt, da die autoritative Verkndung des Rechts entscheidet. Die Religion trgt jetzt vor allem in
der Form von Brgerkriegen zur darauf reagierenden Rechts- und
Verfassungsentwicklung bei. Ferner wird angesichts zunehmender
Rechtssetzungsttigkeit des modernen Territorialstaates und angesichts ihrer Begrndungsbedrftigkeit eine Bindung an Natur nur
34
33 Unde omnis lex humanitus posita intantum habet de ratione legis, inquantum a
lege naturae derivatur. Si vero in aliquo, a lege naturali discordet, iam non erit lex
sed legis corruptio. (Thomas a.a.O., Ia Ilae q. 9$ a.2.)
34 Siehe neben dem viel zitierten Bodin etwa Franois Grimaudet, Opuscules politiques, Paris i 580, fol. ir: Gesetz sei die souverain raison, empreinte par Dieu, qui
commande les choses qui sont faire, oc deffend les contraires, faicte et publie par
cluy qui a puissance de Commander. Und: Car la loy est l'uvre du Prince.
Der bergangscharakter derart markiger Formulierungen zeigt sich daran, da
gleichwohl vom Frsten Gerechtigkeit verlangt wird, da der Autor inkonsequent
an der Unterscheidung rex/tyrannus festhlt (fol. 3 v - 4 r) und meint, da naturrechtswidrige Befehle (anders bei Versten gegen Zivilrecht) nicht ausgefhrt
werden mten (fol. 5 v ff.). Aber durch das Eingangsstatement fhlt man sich an
John Austin oder andere Rechtspositivisten des 19. Jahrhunderts erinnert, die sich
natrlich nicht mehr auf Gott beziehen, sondern auf eine dem Rechtssetzungsproze vorgeschaltete, an der ffentlichen Meinung orientierte Politik.
5"
36
37
38
35 Was auf diese Weise geschieht, verdeutlicht ein Vergleich mit der davorliegenden
Tradition. Matthew Haie argumentiert in einer gegen Hobbes gerichteten Schrift
noch auf dieser Basis: Die Vernunft (reason, reasonnableness) stecke im Zusammenhang der Dinge, in Congruity, Connexion and fitt Dependence und gehe jeder
Ausbung menschlicher Fhigkeiten (faculties) voraus. Der Richter msse diese
Vernunft erkennen, auch angesichts hoher Inevidence of Laws und unvermeidbarer
Nachteile (mischiefs) aller Problemlsungen. Er solle mehr auf 400-500 Jahre Tradition vertrauen als auf eigene Theorien. So im Manuskript Reflections by the Lord
Cheife Justice Haie on Mr. Hobbes His Dialogue of the Lawe, gedruckt in: William
Holdsworth, A History of the English Law, 3. Aufl. London 1945, Nachdruck
1966, Bd. V, Appendix III, S. 500-513.
36 So Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und der Grundfreiheiten im
Umri, Berlin 1968, S. 58 ff.
37 Vgl. z. B. Jean Domat, Les loix civiles dans leur ordre naturel, 2. Aufl. Paris 1697,
Bd. 1, S. L X X I I I f.
38 Siehe mit quantitativen Angaben fr England David Lieberman, The Province of
Legislation Determined: Legal theory in eighteenth-century Britain, Cambridge
Engl. 1989, S. 13 f.
512
40
41
42
Das neue Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts wendet sich gegen die berlieferte Ordnung, indem es das Recht des Individuums
auf seine eigenen Interessen betont und von diesem Verstndnis aus
neben Selbstbestimmung Freiheit und Gleichheit als natrliche
39 Siehe zu terminologischen Aspekten Jrgen Blhdorn, Zum Zusammenhang von
Positivitt und Empirie im Verstndnis der deutschen Rechtswissenschaft zu
Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Jrgen Blhdorn / Joachim Ritter (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert: Beitrge zu seiner geschichtlichen und systematischen
Bedeutung, Frankfurt 1 9 7 1 , S. 1 2 3 - 1 5 9 - besonders zum Zusammenhang von
Hume, Ptter und Hugo; ferner ausfhrlich Giuliano Marini, L'opera di Gustav
Hugo nelle crisi del giusnaturalismo tedesco, Milano 1969.
40 Siehe als Neuausgabe: Jacques Stern (Hrsg.), Thibaut und Savigny: Ein programmatischer Rechtsstreit auf Grund ihrer Schriften, Darmstadt 1959. Vgl. hierzu auch
Franz Wieacker, Die Ausbildung einer allgemeinen Theorie des positiven Rechts in
Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Festschrift fr Karl Michaelis, Gttingen 1972,
S. 354-362.
41 Siehe dazu Jutta Limbach, Der verstndige Rechtsgenosse, Berlin 1977.
42 So sieht es jedenfalls Christian Atias, Epistmologie juridique, Paris 1985,
S. jff.
4
53
44
43 Vgl. fr einen knappen, auf Frankreich beschrnkten berblick ber die Verschiedenheit der Adels kriterien Arlette Jouanna, Die Legitimierung des Adels und die
Erhebung in den Adelsstand in Frankreich (16.-18. Jahrhundert), in: Winfried
Schulze (Hrsg.), Stndische Gesellschaft und Mobilitt, Mnchen 1988, S. 1 6 5 - 1 7 7 .
Auch wenn damit Naturrecht im strikten Sinne ausschied, konnte man allerdings
auer an Zivilrecht auch an ius gentium denken in Anbetracht der damals unbestritten universalhistorischen und internationalen Verbreitung der Unterscheidung des
Adels vom gemeinen Volk. Aber ius gentium wurde dann immer noch an Hand
der rmischen Quellen interpretiert. Siehe dazu Klaus Bleeck / Jrn Garber, N o bilitas: Standes- und Privilegienlegitimation in deutschen Adelstheorien des 16. und
17. Jahrhunderts, Daphnis 11 (1982), S . 4 9 - 1 1 4 (90 ff.).
44 Siehe dazu Benjamin N. Cardozo, The Paradoxes of Legal Science, New York 1928,
S. 94: Liberty as a legal concept contains an underlying paradox. Liberty in the
most literal sense is the negation of law, for law is restraint, and the absence of
restraint is anarchy. Dasselbe gilt in genauer Entsprechung fr Gleichheit. Die so
umstrittene Kompatibilitt beider Menschenrechte beruht also darauf, da in beiden Fllen ein Paradox aufzulsen ist; aber dies dann auf verschiedene Weisen, die
in Widersprche fhrt. In etwas anderer Formulierung knnte man auch sagen: die
paradoxe Grundstruktur beider Menschenrechte habe die Funktion, die Zukunft
fr eine Festlegung und fr den Austausch der Festlegung von Einschrnkungen
offenzuhalten. Wenn das noch Naturrecht heien soll, verliert dieser Begriff jeden Zusammenhang mit dem in der Tradition blichen Sprachgebrauch.
514
Ein weiterer Anderungspunkt betrifft die Rationalitt der individuellen Einstellung zum Recht. Unter dem Regime des Naturrechts
kann es nur rational sein, das Recht zu beachten und seine Weisungen zu befolgen. Das Individuum hat keine Chance gegen das
Recht. Und vor allem: das gilt fr alle gleichermaen, ohne Rcksicht auf Charakter und Umstnde. Rcksicht auf Individualitt
kann nur im Recht selbst zum Ausdruck gebracht werden, und vor
allem natrlich: durch Differenzierung der Status, der Rollen, der
Vertragspflichten. Unter der gide des positiven Rechts ndert sich
diese Prmisse, weil das Recht selbst keine fr das Individuum verbindliche Rationalitt mehr zum Ausdruck bringt. Im Utilittskalkl eines Bentham kann fr ein Individuum der berwiegende
Nutzen darin bestehen, Rechtsnormen zu brechen; oder zumindest
ist es nicht mehr mglich, von der Rationalitt fr alle auf die Rationalitt fr den Einzelnen zu schlieen. Daraus zieht man dann in
heutigen Theorien des rational choice, der Neuen Politischen
konomie oder der wirtschaftlichen Analyse des Rechts die Konsequenz, da die Rationalitt des Rechts auf einer Ebene der
Beobachtung zweiter Ordnung kalkuliert werden mu: Das Recht
ist nur in dem Mae rational, als es so eingerichtet ist, da es fr
Individuen rational ist, es zu befolgen.
Diese berlegung zeigt, da die Positivierung des Rechts in engem
Zusammenhang steht mit semantischen und strukturellen Innovationen, die die Gesellschaft einem hheren Ma an Individualitt
der Individuen anzupassen suchen und auf Durchgriffsrationalitt
von kosmischen oder religisen oder kommunalen Bedingungen
auf individuelles Verhalten verzichten. Auch die Neuformierung
der Freiheitsrechte als Menschenrechte hat genau diesen Hinter-
515
46
46 Siehe dazu Klippel a.a.O. (1976); ferner Winfried Schulze, Stndische Gesellschaft
und Individualrechte, in: Gnter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von
der stndischen zur sptbrgerlichen Gesellschaft, Gttingen 1987, S. 161-179.
47 Vgl. zu diesem Zusammenhang ausfhrlicher Niklas Luhmann, Individuum, Individualitt, Individualismus, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3,
Frankfurt 1989, S. 149-258.
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48
50
48 Siehe dazu die gelehrte Diskussion in: Jrgen Blhdorn / Joachim Ritter (Hrsg.),
Positivismus im 19. Jahrhundert: Beitrge zu seiner geschichtlichen und systematischen Bedeutung, Frankfurt 1 9 7 1 , S. 27 ff.
49 Siehe dazu Joachim Lege, Wie juridisch ist die Vernunft? Kants Kritik der reinen
Vernunft und die richterliche Methode, Archiv fr Rechts- und Sozialphilosophie
76 (1990), S. 203-226.
50 Siehe als berblick und Kritik Noberto Bobbio, Giusnaturalismo e positivismo
giuridico, 2. Aufl. Milano 1972, insb. S. 159 ff. Bobbio schliet denn auch aus der
laufenden Wiedergeburt der Naturrechtslehre, da es ihr offenbar nicht gelingt,
erwachsen zu werden (S. 190).
517
die Geschichte dieser Selbstbeschreibungsformel des Rechtssystems lehrt das Gegenteil. Selbst wenn man mit Jrgen Habermas
auch fr unser postkonventionelles Zeitalter am Erfordernis
einer vernnftigen Legitimation des Rechts festhlt und den Weg
dahin durch eine Diskurstheorie zu weisen versucht, ist dies mit
einer naturrechtlichen (und insofern starren) Begrndung des
Rechts nicht zu vereinbaren.
51
Abgesehen von der Obsoletheit der Semantik fehlen auch die sozialstrukturellen Grundlagen, die einst eine Kopplung von Naturrecht, Gemeinwohl und Gerechtigkeit hatten plausibel erscheinen
lassen. In der alten Welt der Adelsgesellschaften konnten die
Grundlagen der Rechtsordnung in der Gerechtigkeit gefunden werden. Gerechtigkeit war einerseits die angebrachte, tchtige (tugendhafte) Einstellung zum sozialen Zusammenleben, sie war andererseits das, was dem Einzelnen nach Magabe seines Platzes in der
Gesellschaft zukam, und diese Pltze wurden als feststehend angesehen. Gerechtigkeit - das war mithin die rationale Perfektion der
(stdtischen, politischen, zivilen) sozialen Natur des Menschen und
damit Gegenstand eines Wissens, in dem man zwar irren, aber nicht
anders werten konnte. Sozialstrukturell war dabei vorausgesetzt,
da auch in sozialen Konflikten abschtzbar und am vorgefundenen
Recht erkennbar bleibt, wie und gegebenenfalls nach welchen Regeln unbeteiligte andere den Konflikt beurteilen wrden - und dies
selbst dann, wenn fr die Formulierung der Entscheidung juristisches Fachwissen bentigt wird. Unter solchen Vorbedingungen
konnte man dann auch mit rein fiktiven Begrndungen der Rechtsgeltung arbeiten, etwa Grndungsmythen oder Annahmen ber
einen unvordenklichen und seitdem in der Praxis bewhrten Ursprung des Rechts.
52
Diese Vorstellungswelt hat ihre sozialstrukturellen Voraussetzungen im bergang zur modernen Gesellschaft verloren. Bei allen
Bemhungen um Erhaltung oder Wiederbelebung - im Original53
51 So ausdrcklich Jrgen Habermas, Faktizitt und Geltung: Beitrge zu einer Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992
(mehrfach).
52 Eine rhetorische Floskel, die im Common Law Englands bis weit ins 18. Jahrhundert gehalten hat.
53 Siehe etwa Otfried Hffe, Politische Gerechtigkeit: Grundlegung einer kritischen
Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt 1987.
,18
55
IV
Das Bedrfnis nach einer zeitgemen Neukonzipierung des
Rechts war bereits im 16. Jahrhundert deutlich geworden aus Anla
der Rekonstruktion der Ordnung politischer Staaten nach dem Zerfall der religisen Einheit und ihrer politischen Realisation in der
Reichsidee. Wie nie zuvor wurde damit das Recht selbst der Garant
nationaler und internationaler Ordnung - oder darauf jedenfalls
wollten Innovatoren wie Vitoria und Surez hinaus. Die angestrebte
Einheit von politischer und rechtlicher Ordnung lie sich theologisch nur mit den alten Mitteln des Voluntarismus begrnden. Die
viel benutzten Theorien eines Gesellschafts- und Herrschaftsvertrags hatten das Problem, da sie das Widerstandsrecht des Volkes
im Falle eines (vermeintlichen) Vertragsbruchs des Herrschers nicht
definitiv ausrumen konnten. Deshalb lag eine viel benutzte Alter56
519
58
57 Die Darstellung als Frhpositivismus mag befremden. Aber das Kernargument lautet, da es sich um eine historisch immer neu bewhrte Vernnftigkeit der Entscheidungspraxis handelt, und das kann bei aller Rede von expounding, declaring,
Publishing the law nur berzeugen, wenn die Richter an sich die Mglichkeit gehabt haben, zu anderen Fallsungen zu kommen, und dies immer wieder geprft,
aber abgelehnt haben. Zu den Schwierigkeiten, das Common Law als positives
Recht im Sinne des 19. Jahrhunderts zu verstehen (= durch Entscheidung gesetztes
System von Regeln) vgl. A . W . B . Simpson, The Common Law and Legal Theory, in:
ders. (Hrsg.), Oxford Essays in Jurisprudence (Second Series), Oxford 1973, S.7799.
j8 Das Argument wird sehr deutlich in Kapitel IV Touching the Original of the
Common Law of England der 1 7 1 3 posthum verffentlichten Schrift von Sir Matthew Haie, The History of the Common Law of England, zit. nach der Neuausgabe
von Charles M. Gray, Chicago 1 9 7 1 , S. 39 ff. hnlich auch in der gegen Hobbes
gerichteten Schrift: Reflections a.a.O. Das Argument macht im brigen zugleich
520
60
61
62
521
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65
werden soll. Der Positivist kann sagen wie, nmlich durch Bezugnahme auf das geltende Recht.
Das fhrt zunchst freilich nur auf die Frage, was denn als Recht
gilt bzw. nicht gilt. Wir hatten diese Frage auf unsere Weise bereits
mit der Theorie des im geschlossenen System zirkulierenden Geltungssymbols beantwortet. Aber das ist eine externe Beschreibung,
keine justitiable Selbstbeschreibung des Systems. Deshalb mu man
die Positivitt des Rechts und den rechtstheoretischen Positivismus
als im System fungierende Selbstbeschreibung unterscheiden. Der
rechtstheoretische Positivismus beantwortet die Gelrungsfrage mit
Hilfe des Begriffs der Rechtsquelle. Die Quellenmetapher stammt
zwar, auch in Anwendung auf das Recht, aus der Antike und wurde
durchaus auch auf naturrechtliche Sachverhalte angewandt. Es
scheint aber, da man dabei zunchst mehr an das Zustandekommen gerechter Fallsungen gedacht hat. Fr das rmische und das
mittelalterliche Rechtsdenken war ja die Regel nur eine brevis rerum narrado gewesen. Das in der Sache selbst liegende ius, das fr
gerecht befundene Recht war entscheidend. Daher konnte auch
nicht davon die Rede sein, da die Regel selbst als Bedingung fr die
daraus abzuleitende Entscheidung einer sie legitimierenden Rechtsquelle bedrfe. Erst mit den neuzeitlichen Vertragstheorien (Gro66
67
68
69
70
66 So auch Hendrik Philip Visser't Hooft, Pour une mise en valeur non positiviste de la
positivit du droit, Droits 10 (1989), S. 105-108.
67 Siehe ausfhrlich Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen : Ein Beitrag zur Theorie des
positiven Rechts auf Grundlage dogmenhistorischer Untersuchungen, Kopenhagen-Leipzig 1929. Eine ltere, eher konventionelle Diskussion findet man in: Le
Problme des Sources du Droit Positif, Annuaire de l'Institut de Philosophie du
Droit et de Sociologie Juridique, Paris 1934.
68 Oft berufen sich Sptere auf Cicero, De legibus .VI.20. Hier findet man aber nur
eine ganz beilufige und offensichtlich metaphorische Verwendung von fons, und
im brigen gleichsinnig auch caput (I.VL18). Zur quivalenz von Quellenmetapher und Krpermetaphern noch in der Frhmoderne siehe auch Ren Sve, Brves
rflexions sur le Droit et ses mtaphores, Archives de philosophie du droit 27
(1982), S. 259-262. Im brigen fehlt eine grndliche begriffsgeschichtliche Aufarbeitung. Viele Hinweise in der umfangreichen Aufsatzsammlung von Juan B. Vallet
de Goytisolo, Estudios sobre fuentes del derecho y mtodo jurdico, Madrid 1982.
Siehe auch Enrico Zuleta Puceiro, Teorie del derecho: Una Introduccin crtica,
Buenos Aires 1987, S. 107 ff.
69 So Vallet de Goytisolo a.a.O., S. 60 f.
70 So Paulus, Digesten 50.17.1. Und deshalb: non ex regula ius sumatur, sed ex iure
quod est regula fiat.
2
53
tius, Hobbes) und der durch sie begrndeten Rechtssetzungsautoritt des Staates und mit der zunehmenden Bedeutung staatlicher
Codifizierungen und Neuregulierungen ndert sich der Bezug und
damit der Sinn der Rechtsquellenmetapher. Jetzt erst wird sie zum
Begriff fr die begrndete Geltung abstrakter rechtlicher Normen.
71
Der theoretische Gewinn liegt auf der Hand. Der Begriff der
Rechtsquelle erlaubt eine einfache Identifikation des geltenden
Rechts und erspart jede weitere Frage nach der Natur des Rechts,
dem Wesen des Rechts oder auch den Kriterien der Abgrenzung
von Recht und Sitte, Recht und Moral. Er erlaubt es, das Recht als
geltend zu identifizieren, wie immer die Einzelfallsituationen sein
mgen, in denen es angewandt wird, und unabhngig von beteiligten Personen. (Da es auf Personen hchsten Ranges nicht angewandt werden kann , ist noch selbstverstndlich, betrifft aber nicht
die Geltung, sondern nur die Durchsetzbarkeit des Rechts.) Die
Metapher der Quelle suggeriert jedoch einen Bruch mit dem Woraus, aus dem die Quelle entspringt. Sie funktioniert nur, wenn
man nicht fragt, was vor der Quelle liegt und was die Differenz
zwischen Vor-der-Quelle und Nach-der-Quelle erzeugt. Auf
Dauer wird dieser Trick kaum befriedigen, aber fr eine bergangszeit tut er seine Dienste. Doch das Ungengen zeigt sich bereits
daran, da eine sehr hnliche Unterscheidung danebengesetzt und
mit einer auffallend hnlichen Metaphorik die Begrndungslast
72
73
74
75
71 Sve a.a.O. sieht den Beginn einer zunehmenden Bedeutung dieser Metapher im 16.
Jahrhundert, und zwar im Zusammenhang mit territorialstaatlichen Interessen an
bersichtlichkeit, Vereinheitlichung und Vereinfachung des Rechts. Vgl. auch Hans
Erich Troje, Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einflu des Humanismus, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren
europischen Privatrechtsgeschichte II, 1, Mnchen 1 9 7 1 , S.615-795, insb. 700L
72 Siehe dazu Atias a.a.O., S. 80 f.
73 So liest man bei Pierre Ayrault, Ordre, formalit et instruction judiciaire (1576), 2.
Aufl. Paris 1598, S. 10: Car il est des Lois, comme des fleuves. Pour considrer
quels ils sont, on ne regarde pas les contres par o ils passent mais leur sources &
origine.
74 So nicht nur die Staatsrson-Literatur, sondern auch Juristen wie Ayrault (a.a.O.,
S. i n ) .
75 Aus diesem Grunde unterscheidet Jacques Derrida, Qual Quelle, in: Marges de la
philosophie, Paris 1972, S. 325-363 im Anschlu an Valry zwischen Quelle und
Ursprung - nur um dann um so schrfer sehen zu knnen, da das Problem der
Differenzsetzung sich am Ursprung wiederholt.
2
54
bernimmt, nmlich die Unterscheidung von Grund und Argument. Dieser Ausgangspunkt bietet immerhin, wie es scheint, bessere Mglichkeiten der Verfeinerung als das Vernunftrecht, und er
schliet Argumentationskultur, wie namentlich die Positivisten des
Common Law zeigen, nicht aus, sondern ein.
Die Rechtsentwicklung selbst, besonders die Entwicklung einer
Przedenzbindung im Common Law im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Vollpositivierung des Rechts, hat dazu gentigt, den
Begriff der Rechtsquelle zu erweitern. Nicht nur die Gesetzgebung mitsamt den durch sie delegierten Kompetenzen, sondern
auch die Rechtsprechung gilt als Rechtsquelle. Man unterscheidet
folglich Gesetzesrecht und Richterrecht. Das heit vor allem, da
der Rechtspositivismus seine Bindung an eine rechtsexterne Rechtsquelle, nmlich durchsetzungsfhige politische Macht aufgibt und
statt dessen eine Rechtsquelle hinzunimmt, die nur begrndet
entscheiden kann - was immer das heien mag. Dann liegt es nahe,
auch die Rechtsdogmatik, die solche Begrndungen aufgreift und
kritisch sortiert, als Rechtsquelle anzusehen. Denn die Gerichte zitieren - in einigen Lndern mehr als in anderen - solche Produkte
der Gelehrsamkeit, Lehrbcher und sonstige Verffentlichungen
angesehener Rechtslehrer und lassen unter Umstnden auch ihre
Mitwirkung als Gutachter zu.
76
77
78
Die Rechtsquellenlehre ermglicht es, die Frage nach der Natur des
Rechts zu vermeiden. Dann mu freilich auch ein Ersatz fr die
Spannweite dieser Frage angeboten werden, und damit wird der
Begriff der Rechtsquelle selbst unklar. Ebenso wie bei den Vernunftgrnden bekommt man es mit dem Problem der Einheit einer
Mehrheit zu tun. Im Unterschied zur Theorie der Vernunftprinzipien kann die positivistische Theorie hier aber noch reagieren, und
zwar durch Aufstellung von Kollisionsregeln mit klaren Priorit76 Zum Zeitpunkt und zu Vorentwicklungen im 18. Jahrhundert vgl. Jim Evans,
Change in the Doctrine of Precedent during the Nineteenth Century, in: Laurence
Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, Oxford 1987, S. 3 5 - 7 2 .
77 In anderer Weise auch: einzuschrnken. Vor allem in der Ablehnung der Auffassung, da das Gewohnheitsrecht eine aus sich heraus und auch ohne Anerkennung
durch Gerichte wirksame Rechtsquelle sei.
78 Von Anhngern der critical legal studies Bewegung und von hnlichen ihrem
Selbstverstndnis nach soziologisch argumentierenden, durchschauenden Gruppen
wird den Rechtspositivisten genau dies als Verschleierung ihrer wahren (was immer
das nun heien mag) politischen Abhngigkeit vorgeworfen.
5*5
5*7
5*8
529
V
Das Offenlassen dieser Streitfrage mag den gegenwrtigen Zustand
treffend beschreiben. Es braucht jedoch nicht die letzte Antwort
auf die Frage zu sein, wie das Rechtssystem seine eigene Einheit
reflektiert. Positivitt und Vernunft sind (oder waren) ihrerseits Traditionsformeln, mit denen das 18. Jahrhundert eine neue Situation
(in Kenntnis ihrer Neuartigkeit) zu erfassen versucht hat. Inzwischen liegt das zweihundert Jahre zurck. Selbstbeschreibungsformeln der Tradition wirken heute wie obstacles epistemologiques
im Sinne von Bachelard. Sie zeichnen sich durch zu geringe Komplexitt, durch Uniformierung und durch berbewertung der Leitgesichtspunkte aus, und es mag sein, da sich heute andere
theoretische Perspektiven gewinnen lassen, wobei man zunchst
einmal offenlassen kann, ob sie fr eine Selbstbeschreibung oder
(wie hier) fr eine Fremdbeschreibung der Selbstbeschreibung des
Systems benutzt werden knnen.
82
Angesichts der Bewhrung beider Formeln, Positivitt und Vernunft, im systeminternen Gebrauch wird der externe Beobachter
zunchst nach einer Erklrung suchen. Allgemein fllt auf, da in
der ra des positiven Rechts die Rechtskenntnis auf die Form des
Beobachtens von Beobachtern bergeleitet wird. Im kontinentaleuropischen Recht geht es um die Auslegung des Willens des Gesetzgebers. Die Form des Gesetzes, die Form einer nderung vorherigen Rechtszustandes gengt, um eine Absicht zu unterstellen. Dem
Gesetzgeber passiert nicht nur, da er ein Gesetz erlt; er will
damit etwas Bestimmtes erreichen, beobachtet die Welt also mit
Hilfe von einer oder mehreren Unterscheidungen. Wie das Beobachten dieses Beobachters zu ermitteln ist, und vor allem: wie es bei
lter werdenden Gesetzen in vernderte Verhltnisse zu berfhren
ist, wird zum Methodenproblem. Dabei geht es aber nie um eine
faktische (soziologische) Motivforschung, sondern immer nur um
Grnde, die juristisch Sinn geben und als vernnftig einsehbar dargestellt werden knnen.
Im angelschsischen Common Law wird der bergang zur vollen
Positivierung des Rechts im 19. Jahrhundert durch Anerkennung
82 Siehe dazu auch Francois Ost / Michel van de Kerchove, Talons a.a.O., S. 121 ff. fr
die These der Rationalitt und der Souvernitt des Gesetzgebers.
53
84
Das Substrat dieses Auseinanderziehens von Beobachterperspektiven liegt in der Systemdifferenzierung - vor allem in der Differenzierung von Anwaltspraxen, Gerichten, Rechtsabteilungen in Organisationen und Gesetzgebungsorganen mit je verschiedenen
Auengrenzen zur gesellschaftlichen Umwelt hin. Das Beobachtungsniveau und die differenzbergreifende Verstndigungsmglichkeit wird durch eine gemeinsame Ausbildung zum Juristen und
durch entsprechende professionelle Sozialisation gewhrleistet.
Dennoch wrde es zu kurz greifen, den Strukturgewinn nur durch
83 Evans a.a.O., S. 71 f. weist darauf hin, da die damit erreichte Flexibilisierung den
Bruch mit der Tradition, der im bergang zur Przedenzbindung, also in der Positivierung des Common Law, gelegen hatte, erheblich abschwcht.
84 Die Anregungen dazu stammen aus dem Pragmatismus der Jahrhundertwende.
Siehe Oliver W.Holmes, The Path of the Law, Harvard Law Review 10 (1897),
S. 457-478. Fr den Hhepunkt in den 30er Jahren vgl. vor allem Jerome Frank,
Law and the Modern Mind, New York 1930.
531
85
85 Tendenzen dieser Art gab es vor allem in den 40er und 50er Jahren im Anschlu an
Talcott Parsons, The Professions and Social Structure, Social Forces 17 (1939),
S. 457-467. Aber die Storichtung dieses Vortrags zielte auf Schlieung einer Erklrungslcke, die utilitaristische Theorien des Sozialverhaltens (oder heute wrde
man vielleicht sagen: Theorien des rational choice) offengelassen hatten. Wir ersetzen im Text die damals vorherrschende Perspektive der Realisierung von Wertbeziehungen (Rickert, Weber) durch die Frage der Bedingung der Mglichkeit einer
Beobachtung zweiter Ordnung.
532
ist, die ihrerseits nicht als Grund fr die Geltung des Rechts taugen.
Die Ausnahmen, die man ausprobiert - das Subjekt und sein Bewutsein fr die Vernunft und die Verfassung fr die Positivitt des
Rechts - verdecken beide die gesellschaftlichen und die im weitesten Sinne kologischen Abhngigkeiten des Rechtssystems. Um
der Reflexion einen Grund bieten zu knnen, mssen sie das Problem der Einheit von Selbstreferenz und Fremdreferenz in extremer
Weise kondensieren. Sobald man jedoch darauf aufmerksam wird,
da auch dies noch beobachtet und beschrieben werden kann, verlieren diese Formeln ihren Halt in sich selbst - und wenden sich
gegeneinander, so als ob die Polemik eine Begrndung ersetzen
knnte.
Vernunft wird zum Zitat, das verdeckt, da man nicht weiter wei
und doch mitteilen mchte, da man bestimmte Auffassungen fr
richtig hlt. Mit Berufung auf allgemeine Vernunft (statt zum Beispiel: eigene Erfahrung) stellt man sich dem Beobachtetwerden.
Mein Argument, heit es, kann sich sehen lassen. Und das mag
durchaus sein. Auch die Positivitt der Geltung des Rechts hat diese
Funktion. Soweit man vom geltenden Recht ausgeht, kann man sich
dem Beobachtetwerden exponieren. Man spaltet die Beobachtungen mit der Unterscheidung de lege lata / de lege ferenda und
verweist allzu weit divergierende, allzu kritische Beobachter auf
die Mglichkeit einer Rechtsnderung. Deshalb kann die Positivitt
des Rechts auch als Zulassung von Rechtsnderungen begriffen
werden. Die alte Form der Bindung an Hheres wird ersetzt
durch eine stndig neu auszuhandelnde Kombination von Bindung
und nderung. Die Unterscheidung de lege lata / de lege ferenda
entfaltet die Paradoxie, da das Recht genau deshalb gilt, weil es
gendert werden knnte.
Sobald das System sich auf der Ebene der Beobachtung zweiter
Ordnung selbstreferentiell schliet, werden auch diese Formeln als
Direktiven fr das Beobachten von Beobachtern erkennbar. Die
Letztfragen mssen von der Was-Form in die Wie-Form bersetzt werden. Man fragt dann nicht mehr: Was sagt die Vernunft?
oder: Was gilt als positives Recht auf Grund der dafr magebenden
Rechtsquelle? Sondern die Frage lautet jetzt: Wie tut das System,
was es tut? Wie kettet es Operation an Operation unter Dauerirritation durch die Umwelt?
Damit wird die Schlieung des Rechtssystems zum Ausgangspunkt
533
VI
Bisher sind wir von einem Problem ausgegangen, das traditionell als
Problem der Rechtsquelle behandelt wird. Die Theorie der Rechtsquellen erlaubt es, zwischen geltendem und nichtgeltendem Recht
zu unterscheiden und sich mit Hilfe dieser Unterscheidung auf das
geltende Recht zu konzentrieren - so als ob dies das Recht wre.
Eine andere, fr die neuere Zeit ebenso wichtige, wenn nicht wichtigere Ausgangsunterscheidung ist die zwischen materiellem Recht
und Verfahrehsrecht. Besonders wenn es nur noch positives Recht
gibt, verliert die alte Unterscheidung verschiedener Rechtsquellen
an Bedeutung, und die Frage, wie materielles Recht und Verfahrensrecht zusammenhngen, um die Einheit der Rechtsordnung zu
realisieren, gewinnt an Tragweite fr die Selbstbeschreibung des Sy-
86 Spencer Brown, um nochmals ihn zu bemhen, versteckt das Problem in der dunklen Formulierung: We may also note that the sides of each distinction experimentally drawn have two kinds of reference. The first, or explicit, reference is to the
value of a side, according to how it is marked. The second, or implicit, reference is
to an outside observer. That is to say, the outside is the side from which a distinction is supposed to be seen (a.a.O., S. 69). Aber das System, von dem wir sprechen,
ist zugleich das System, das die Unterscheidung produziert, sich selbst markiert
und mit der dadurch erzeugten Auenseite eine Umwelt setzt, von der aus, und nur
von der aus, es als Einheit beobachtet werden kann. Das System mu sich daher mit
eigenen Operationen der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung so beobachten, als ob es von auen wre.
534
87
88
90
535
91 Siehe dazu Christian Sailer, Subjektives Recht und Umweltschutz, Deutsches Verwaltungsblatt 91 (1976), S. 5 2 1 - 5 3 2 .
536
Soziologisch gesehen drfte es nur darum gehen, Agenten mit Verhandlungsmacht auszustatten. Sie knnen mit Klagen drohen, Verzgerungen bewirken und damit ihre Rechtsgegner bewegen, sich
mit ihnen zu verstndigen, obwohl es gar nicht um ihre Rechte geht.
Das mag rechtspolitisch sinnvoll sein, darber ist hier nicht zu urteilen. Aber die Focussierung der Selbstbeschreibung des Systems
auf das Rechtssubjekt wird dadurch gesprengt. Sie mte, wie KarlHeinz Ladeur meint, auf einen Organisationspluralismus umgestellt werden. Aber dann wre der Einzelmensch nur noch ein
Restposten fr Interessen, deren Organisierung sich nicht lohnt.
Die Selbstbeschreibung des Rechtssystems knnte sich nach wie
vor noch auf Werte beziehen und sich damit externalisieren. Aber
die Werte wren durch Organisationen mit einer Eigendynamik
ausgestattet, und DER MENSCH kme nicht mehr als empirisch
fr sich lebendes Einzelwesen in Betracht, sondern nur noch als der
Fluchtpunkt, in dem alle Werte im Unbestimmbaren konvergieren.
92
537
VII
Fr ein abschlieendes Urteil ber die Mglichkeiten einer Selbstreflexion des Rechts der modernen Gesellschaft ist es sicher zu frh.
Das gilt auch fr die Rolle, die eine soziologische Theorie in diesem
Zusammenhang spielen knnte. Im Moment mehren sich Zeichen
der Unsicherheit, die sehr verschiedene Quellen haben. Das soeben
behandelte Problem, da die Subjektzuweisung von Rechten nicht
mehr befriedigt und doch nicht entbehrt werden kann, ist nur einer
der Grnde. Ein anderer liegt darin, da man zunehmend sich auf
Folgenvoraussicht und auf Rechtfertigung von Entscheidungen
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9 3 Siehe das dem Postmodernismus gewidmete Heft der Zeitschrift Droit et Socit 13
(1989). Seitdem etwa Boaventura de Sousa Santos, Toward a Post-modern Understanding of Law, Onati Proceedings 1 (1990), S . 1 1 3 - 1 2 3 ; Andr-Jean Arnaud,
Legal Interpretation and Sociology of Law at the Beginning of the Post-Modern
Era, Onati Proceedings 2 (1990), S. 1 7 3 - 1 9 2 . Nahestehend auch Karl-Heinz Ladeur, Abwgung - ein neues Rechtsparadigma? Von der Einheit der Rechtsordnung zur Pluralitt der Rechtsdiskurse, Archiv fr Rechts- und Sozialphilosophie
69 (1983), S. 463-483; ders., Abwgung Ein neues Paradigma des Verwaltungsrechts: Von der Einheit der Rechtsordnung zum Rechtspluralismus, Frankfurt
1984, und explizit ders. a.a.O. (1992).
94 Siehe vor allem Arnaud a.a.O. (1990).
539
95 Sociological Justice, New York - Oxford 1989, S. 3 ff. Ich lasse die berblickstabelle (S. 2 1 ) hier abdrucken, weil sie die Diskrepanz besonders deutlich macht.
Jurisprudential
Focus
Sociological
Model
Model
Rules
Social Structure
Process
Logic
Behavior
Scope
Universal
Variable
Perspective
Participant
Observer
Purpose
Practical
Scientific
Goal
Decision
Explanation
Zu notieren wre vielleicht noch, da unter sozialer Struktur nichts anderes ver-
540
Beispiel fest, da die weitaus meisten Rechtsstreitigkeiten berhaupt nicht in frmlichem Verfahren zur Entscheidung gebracht,
sondern irgendwie anders erledigt werden; da sozialer Status
sich auswirkt, und zwar in je verschiedener Weise je nach dem, ob
sich Beteiligte mit gleichem oder mit rangverschiedenem Status gegenbertreten; da Rechtsprobleme in dichten und fortgesetzten
(intimen) Lebensbeziehungen anders behandelt werden als bei grerer sozialer Distanz; da es eine Rolle spielt, ob Klger bzw.
Beklagte Individuen bzw. Organisationen sind, und anderes mehr.
Wahrend der Jurist sich an die Normen hlt, wenn es darum geht,
Entscheidungen vorherzusagen, erkundigt sich der Soziologe nach
den Sozialmerkmalen des Falles. Whrend der Jurist, ermutigt
durch die Selbstbeschreibung des Rechtssystems, darauf hinarbeitet, da gleiche Flle gleich entschieden werden und entsprechend
fr Unterschiede juristisch tragfhige Grnde mobilisiert, stellt der
Soziologe fest, da, statistisch gesehen, juristisch nicht erklrbare
Unterschiede auftreten, fr die man dann eine soziologische Erklrung suchen mu. Und whrend der Jurist sich fr Prognose und
argumentative Beeinflussung von Einzelfallentscheidungen interessiert, begngt sich der Soziologe mit statistisch gesicherten Prognosen; und weder interessiert noch irritiert es ihn, wenn er erfhrt, da
Einzelflle nach dem Gesetz entschieden werden.
Sicher hngt diese Unterschiedlichkeit der Beschreibungen, das
wird keinem Juristen verborgen bleiben, mit einer unterschiedlichen Empfindlichkeit fr Unterschiede zusammen. Der Soziologe
bentigt fr seine statistischen Analysen grobe Kategorien, die viele
gleiche Flle produzieren. Er mu Feinheiten vernachlssigen. Der
Jurist praktiziert dagegen eine ausgefeilte Unterscheidungskunst,
um zu den Ergebnissen zu kommen, die ihm gerecht erscheinen.
Fr ihn ist Mord nicht gleich Mord, Vergewaltigung nicht gleich
Vergewaltigung. Es fllt ihm daher nicht schwer, die Vergewaltigung einer farbigen Frau durch einen Weien anders zu beurteilen
als die Vergewaltigung einer weien Frau durch einen Farbigen, und
er kann in den Fllen andere Unterschiede finden, die die Entscheidung tragen, als den der Rasse. Man wird sagen: er knne seine
Vorurteile hinter anderen Kategorien verstecken. Gewi. Aber
standen wird als die Beziehungen zwischen den sozialen Merkmalen von Personen.
541
ebenso ist es natrlich ein Vorurteil, wenn der Soziologe auf Kriterien abstellt, die in hinreichender Zahl gleiche Flle erzeugen und
sich fr sozialkritische Analysen eignen.
Im brigen bleibt, selbst wenn man die wissenschaftliche Qualitt
der soziologischen Analysen nicht bestreitet (und das knnte nur
im Eingehen auf die einzelnen Untersuchungen geschehen), ihre
Gegenstandserfassung unzulnglich, und zwar in dem uns im Moment interessierenden Punkt. Sie trgt dem Umstand nicht Rechnung, da es sich beim Rechtssystem um ein operativ geschlossenes,
autopoietisches, sich selbst beschreibendes System handelt. Das
Rechtssystem kann aus den soziologischen Analysen keinen Nutzen ziehen; es kann nicht seinerseits statistische Sachverhalte wie
Regeln behandeln, die bei Entscheidungen zu bercksichtigen sind.
Es bedarf weder einer weiteren Begrndung noch kann es Anla
einer Kritik sein (etwa im Sinne der critical legal studies-Bewegung), wenn das Rechtssystem die Befunde der Soziologie nicht
anwendet. Jede Benutzung von Unterscheidungen hat eine spezifische Blindheit zur Voraussetzung; und wenn dies allgemein gilt,
hat es wenig Sinn, dies anderen vorzuwerfen und dem autologischen Rckschlu auf sich selber auszuweichen.
Die gelufige empirische Analyse der Rechtssoziologie beschreibt
das Rechtssystem also gar nicht als Rechtssystem. Sie erfat ihren
Gegenstand unvollstndig. Mglicherweise erscheint dadurch die
Kluft zwischen interner und externer Beschreibung grer, als es
sein mte. Jedenfalls knnte eine komplexere soziologische Theorie, die die Differenz als Folge von Systemdifferenzierung reflektiert, Verstndnis dafr erzeugen, warum dies so ist, und dabei
zugleich von Seiten der externen (soziologischen) Beschreibung
Vermittlungskonzepte anbieten. Verstndlich wird durch eine begriffliche Analyse von Konzepten wie Reflexion oder Selbstbeschreibung, da man die Erwartung einer einzig-richtigen, den
Gegenstand treffenden Beschreibung aufgeben mu, wenn die Beschreibung selbst Teil ihres eigenen Gegenstandes ist und ihn
folglich durch ihren bloen Vollzug verndert. Durch die Herstel96
96 Wir treffen uns hier mit der Forderung von Black a.a.O., S. 3 f., da die soziologische Analyse des Rechts als Konsequenz der Spezifik ihres Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit auf eine (Ablehnung implizierende) Kritik des Rechtsbetriebs
verzichten und sich mit der Exposition und forschungsmigen Weiterverwendung
ihrer Resultate begngen sollte.
542
lung einer Theorie des Systems im System wird das System selbst
verndert, der Gegenstand der Beschreibung ndert sich durch ihren Vollzug; und folglich sind daraufhin andere Beschreibungen
mglich und vielleicht angebracht. Und das gilt fr den soziologischen Vollzug einer Selbstbeschreibung der Gesellschaft wie fr den
rechtstheoretischen Vollzug einer Selbstbeschreibung des Rechtssystems. In beiden Fllen bekommt man es durch die bloen Bedingungen des Operierens mit einer unaufhebbaren Pluralitt mglicher Identifikationen zu tun, fragmenting into versions, wie
Jonathan Potter das nennt.' Darauf zumindest mte man sich verstndigen knnen, und das heit praktisch: Es gibt keine Autoritt
des berlegenen, weil jedenfalls richtigen Wissens. Statt dessen verlagert sich die anspruchsvolle Kommunikation auf die Ebene des
Beobachtens von Beobachtungen, auf die Ebene der Beobachtung
zweiter Ordnung. Das lt sehr groe (zu groe?) Freiheiten zu,
indem jeder das ihm passende Schema benutzt, um zu beobachten,
was ihm an anderen auffllt. So kann sich ein soziologisches Interesse an der Schicht- oder klassenhnlichen Herkunft von Richtern
entwickeln, das zu durchaus treffenden Erkenntnissen fhren kann,
aber nicht in die Urteilsbegrndung eingehen darf. Es interessiert
nur den daran interessierten Soziologen, und wenn man den Versuch machte, es in Politik umzusetzen (die sich in diesem Falle
Reform nennen wrde), wrde das wahrscheinlich mit dem
Rechtsprinzip der Unabhngigkeit der Gerichte und des formal
gleichen Zugangs zu mtern kollidieren.
Neuere Theorieentwicklungen knnten es jedoch nahelegen, einen
Schritt darber hinaus zu tun. Es wre vorstellbar, Theorie selbst als
Form struktureller Kopplung des 'Wissenschaftssystems mit den Reflexionstheorien der Funktionssysteme einzusetzen. Das wrde voraussetzen, da es gelnge, den Formmechanismus der strukturellen
7
98
97 Siehe: What is Reflexion about Discourse Analysis? The Case of Readings, in: Steve
Woolgar (Hrsg.), Knowledge and Reflexiviry: New Frontiers in the Sociology of
Knowledge, London 1988, S. 37-53 (43 ff.) in bezug auf Wissenschaftssoziologie.
Vgl. auch die Kapitel ber: Vielfltige Versionen der Welt und vielfltige Versionen
von Beziehungen bei Gregory Bateson, Geist und Natur: Eine notwendige Einheit,
dt. bers. Frankfurt 1982.
98 Das Problem der zwei Wahrheiten war denn auch derjenige Punkt, an dem die
klassische Wissenssoziologie zum Stillstand gekommen ist. Als berblick ber die
Diskussion vgl. Volker Meja / Nico Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bde. Frankfurt 1982.
543
Kopplung, also die Kanalisierung von Irritation durch Einschlieen/Ausschlieen von Mglichkeiten, an dieser Kontaktstelle zu
realisieren. Wie leicht zu sehen, wre dies ein autologisches Verfahren. Denn der Begriff der strukturellen Kopplung ist seinerseits ein
Begriff der Theorie, die sich auf diese Weise selbst einsetzt. Die
Trennung, operative Geschlossenheit und Funktionsautonomie der
Einzelsysteme, hier: Rechtssystem und Wissenschaftssystem,
knnte gewahrt bleiben. Nach wie vor ginge es im Rechtssystem
um die Pflege normativer Erwartungen und im Wissenschaftssystem um Forschung. Nach wie vor wrde gelten, da man aus
Fakten nicht auf Normen schlieen kann, und jede verdeckte Mogelei in dieser Frage knnte unterbunden werden. Gleichwohl
knnte mit einer entsprechend ausgewhlten Begrifflichkeit ein
Mechanismus struktureller Kopplung eingerichtet werden. Das
Wissenschaftssystem fnde sich dann mit der Dauerfrage konfrontiert, wie es mit sich-selbst-beschreibenden Systemen, die fr es
Forschungsgegenstnde sind, umgehen kann. Das Rechtssystem
knnte seinerseits die eigene Selbstreflexion mit den begrifflichen
Errungenschaften ausstatten, die die Theorie selbstreferentieller Systeme, soweit sie normalwissenschaftlich funktioniert, zur Verfgung stellt. Auch dann mu aber die Selektion dem aufnehmenden
System berlassen bleiben. Die Soziologen mgen fr ihre Theorien
werben. Aber die Juristen wissen, da Werbung fr ein Produkt
noch nicht die Zusage der bernahme der Haftung fr etwaige
Mngel bedeutet.
Halten wir also fest, da die Vorstellung, Theorie sei ein Mechanismus stuktureller Kopplung des Wissenschaftssystems mit den Reflexionstheorien der Funktionssysteme, noch nicht zur Annahme
von bestimmt ausgefhrten Theorien verpflichtet. Zwar liegen im
Begriff der strukturellen Kopplung Eignungsbedingungen; und jedenfalls ist damit ein Problem anvisiert, das sich nicht beliebig lsen
lt. Aber wenn man berhaupt zeigen kann, da es Theorieapparate gibt, die sich fr eine solche Aufgabe eignen, wird damit
zugleich angedeutet, da es auch andere Mglichkeiten geben
knnte. Denn was berhaupt mglich ist, ist auch anders mglich.
544
VIII
Weder die im vorstehenden behandelten Formen der Selbstbeschreibung des Rechtssystems noch ihre Verortung durch den
externen Beobachter Soziologie fhrt auf das Problem zurck, das
wir verschiedentlich berhrt haben - auf das Problem der Paradoxie. Die Selbstbeschreibung selbst ist ein paradoxes Unterfangen,
weil sie die interne Beschreibung so behandelt, als ob es eine externe
Beschreibung wre, die ber objektive Sachverhalte berichten
knnte. Aber das ist nur eine Version dieses Grundproblems neben
vielen anderen. Wir hatten auch gesehen, da der Code des Systems
paradox wird, wenn man ihn auf sich selbst anwendet; und da die
Bemhungen um die Kontingenzformel Gerechtigkeit verdecken,
da es hierbei um die Entfaltung einer Paradoxie geht. Diese Analysen mchten nicht als Dekonstruktion aller Prinzipien des
Rechts verstanden werden. Aber sie machen auf den Grundtatbestand aufmerksam, da jede Frage nach der Einheit einer Unterscheidung oder anders gesagt: jeder Versuch, das Schema des
Beobachtens zu beobachten, auf eine Paradoxie fhrt, also auf ein
Oszillieren zwischen zwei Gegenpositionen (Recht/Unrecht, innen/auen, gleich/ungleich), das weder ein Gedchtnis aufbauen,
weder strukturelle Komplexitt erzeugen noch Anschlufhigkeit
gewhrleisten kann. So kann, mit anderen Worten, das Rechtssystem nicht operieren.
Andererseits mu es, wenn es die eigene Autonomie garantieren
will, die Negation eben dieser Autonomie und die Negation aller sie
sttzenden Konventionen einschlieen - und nicht ausschlieen."
Oder anders gesagt: Es mu das Ausgeschlossene einschlieen und
damit Erfordernisse der Logik wie den Satz vom ausgeschlossenen
Dritten, das Widerspruchsverbot oder auch die Voraussetzung oszillationsfreier Identitten unterlaufen. Die Rekonstruktion dessen,
was hier geschieht (wenn es geschieht), erfordert entweder transklassische Logiken, etwa im Sinne Gotthard Gnthers, oder eine
hinreichend genaue Analyse der Art und Weise, wie das System
selbst mit dem umgeht, was fr es latent bleiben mu. Sie erfordert
545
Auch von hier aus kann man die Verkrzungen analysieren, die
unabdingbar sind, wenn die Einheit des Systems im System dargestellt werden soll. Texte werden nur in Betracht gezogen, wenn sie
gelten. Begrndungsfiguren werden letztlich dogmatisch verankert.
Gerechtigkeit wird nicht in ihrer Funktion als Kontingenzformel,
sondern als Wert bejaht. Mit all dem wird der Zirkel von Selbstbejahung und Selbstverneinung im System selbst unterbrochen. Die
Selbstverneinung wird ausgeschlossen. Es leuchtet dem System
zum Beispiel ein, da die Orientierung an der Unterscheidung von
Recht und Unrecht zu Recht und nicht zu Unrecht geschieht. Davon ist auszugehen.
Wie Jacques Derrida am Verhltnis von Philosophie und Schrift
gezeigt hat, wird Unentbehrliches nicht als gleichrangig, sondern
als nebenschlich, als Supplement mitgefhrt. Ein symmetrisches Verhltnis wird als Haupt- und Nebensache hierarchisiert.
Man kann eine solche Lsung, indem man das Geheimnis ihrer
Willkr aufdeckt, zwar dekonstruieren. Aber dann kann man
auch die Dekonstruktion selbst dekonstruieren durch den Nachweis, da ein solcher Schritt zurck zu nichts anderem fhrt als zu
der Paradoxie des Ursprungs oder des Anfangs, den jedes System
immer schon hinter sich hat. Deshalb ziehen wir es vor, die Formen der Paradoxieentfaltung als Formen der Invisibilisierung des
101
102
100 Hierzu Gotthard Gnther, Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations, in ders., Beitrge zur Grundlegung einer operationsfhigen Dialektik Bd. i,
Hamburg 1976, S. 249-328 (287 ff.).
101 Siehe: De la grammatologie, Paris 1967; ders., Le Supplement de copule: La Philosophie devant la linguistique, in: Jacques Derrida, Marges de la philosophie,
Paris 1972, S. 209-246.
102 Vgl. Niklas Luhmann, Sthenographie und Euryalistik, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrche:
Situationen offener Epistemologie, Frankfurt 1 9 9 1 , S. 58-82.
546
103 Vgl. auch Niklas Luhmann, The Third Question: The Creative Use of Paradoxes
in Law and Legal History, Journal of Law and Society 15 (1988), S . 1 5 3 - 1 6 5 .
104 Siehe dazu und zum Folgenden Klaus A. Ziegert, Courts and the Self-concept of
Law: The Mapping of the Environment by Courts of First Instance, Sydney Law
Review 14 (1992), S. 196-229.
547
IX
Welche Semantik auch immer als Selbstbeschreibung des Rechtssystems bevorzugt wird und welche Unterscheidungen dabei retouchiert werden mssen, eine negative Grundbedingung scheint
unvermeidbar zu sein: Das System kann keine Positionen vorsehen,
die auf alle Flle Recht haben bzw. Recht bekommen. Auf alle
Flle - das heit: ohne Rcksicht auf die Konditionen des Systems. Eine solche Sonderposition des Groen Fhrers, der Partei
usw. wrde die Unterscheidung von Codierung und Programmierung aufheben. Es kann konditionierte Sonderrechte, Notstandsrechte, Ausnahmerechte geben. Was nicht mglich ist, ist ein
unkonditioniertes Recht zu Selbstexemtion. Denn fr ein solches
Recht wre unentscheidbar, ob es im System oder auerhalb des
Systems zu verorten ist.
Mit anderen Worten formuliert: Autonomie kann nicht als Willkr
aufgefasst werden. Sie enthlt ein Verbot der Selbstexemtion, das
Beliebigkeit verhindert und das System unter das Gesetz der historischen Selbstspezifikation zwingt.
Die gegenteilige Auffassung findet sich oft genug im Kontext von
Theoriepolemiken. Stichwort Dezisionismus. Sie kann jedoch
sehr leicht als undurchdacht zurckgewiesen werden.
549
Kapitel 12
I
Das Verhltnis von Rechtssystem und Gesellschaftssystem ist das
Thema dieses Buches. Die Reflexion und Nichtreflexion dieses Verhltnisses im Rechtssystem der Gesellschaft war das Thema eines
besonderen Kapitels. Wenn wir trotzdem am Schlu unserer berlegungen dieser Frage nochmals ein eigenes Kapitel widmen, so
geschieht dies nicht in der Absicht einer zusammenfassenden Rekapitulation. Vielmehr ist in den bisherigen Untersuchungen offengeblieben, welchen Begriff der Gesellschaft wir zugrunde legen und
welche Konsequenzen dies hat fr die Analyse der Beziehungen
von Gesellschaft und Recht. Wir wissen: Das Recht operiert in der
Gesellschaft, vollzieht Gesellschaft, erfllt dabei eine gesellschaftliche Funktion und ist fr diese Funktion zu eigener autopoietischer
Reproduktion ausdifferenziert. Oder das jedenfalls sagt die hier
vertretene Theorie. Darber hinaus sollte man aber noch die Frage
stellen, wie die Gesellschaft zu begreifen ist, in der dies geschieht.
Eine dafr ausreichende Theorie der Gesellschaft liegt nicht vor.
Die sogenannte kritische Theorie und besonders die critical legal
studies Bewegung hatte manche Einsichten beigesteuert, letztlich
aber doch mit unhaltbaren Vereinfachungen gearbeitet, um die Vision einer alternativen Gesellschaft halten zu knnen. Das soll hier
nicht weiter kommentiert werden, denn vordringlich ist doch die
Frage, mit welcher Theorie man die moderne Gesellschaft beschreiben kann, von der auch derjenige auszugehen hat, der viel oder alles
ndern mchte.
Wir vereinfachen uns unsererseits die Aufgabe, indem wir von einer
nderung des leitenden Paradigmas der Systemtheorie ausgehen.
Begreift man die Gesellschaft als das umfassende System aller sozialen Operationen (wie immer man diese dann auffat), so mute die
heute bereits klassische Theorie offener Systeme auch die Gesellschaft als ein offenes, adaptives System mit internen (zum Beispiel
55
kybernetischen) Selbstregulationen auffassen. Die evolutionstheoretischen Aussagen fhrten dann zu der Annahme einer immer besseren Anpassung der Gesellschaft an ihre Umwelt, dargestellt zum
Beispiel als immer bessere Ausnutzung natrlicher Ressourcen fr
die Verbesserung der Lebenslage (heute allerdings kaum mehr: der
moralischen Perfektion) der Menschen. Die Fortschritte der Wissenschaft, die Technik, die marktorientierte Produktion, aber auch
die bessere Anpassung von Politik an die individuellen Meinungen
der Menschen mittels Demokratie boten dafr berzeugende,
durch Planung zu ergnzende Anhaltspunkte. So liest man selbst
heute noch: Clearly, society is an open system that seeks to
achieve a steady state by means of a progressive process of adaptation to its environment.
2
1 Siehe zum Beispiel mit Zukunftsperspektiven und mit der Forderung nach besserer
Anpassung (active adaptation, adaptive planning) Fred Emery, Futures we are in,
Leiden 1977.
2 Und dies aus der Feder oder dem Schreibcomputer eines Soziologen, der der Theorie
autopoietischer Reproduktion sozialer Systeme mangelndes Interesse an empirischen Fragen vorwirft, sich selbst aber clearly in krassen Widerspruch setzt zu
eigentlich offensichtlichen empirischen Sachverhalten. Das Zitat stammt von William M. Evan, Social Structure and Law: Theoretical and Empirical Perspectives,
Newbury Park 1990, S. 219.
3 Siehe z.B. Ottmar Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel 1970.
4 So Paul Bohannan, Law and Legal Institutions, International Encyclopedia of the
Social Sciences Bd. 9, Chicago 1968, S. 73-78 (75). Im weiteren wird dann von double
institutionalization gesprochen. Siehe auch ders., The Differing Realms of the Law,
American Anthropologist 67/6 (1965), S. 33-42. Kritisch dazu Stanley Diamond, The
Rule of Law Versus the Order of Custom, in: Robert P. Wolff (Hrsg.), The Rule of
Law, New York 1971, S. 1 1 5 - 1 4 4 , der Recht mehr als Unterdrckungsinstrument
sieht.
55
Maschine in einer kybernetischen Maschine begriffen werden, programmiert auf Konstanthalten bestimmter Zustnde. Wie immer
die Ausfhrung im einzelnen: Das Recht sttzt und besttigt eine
Gesellschaft, die nach auen hin als angepat beschrieben wird und
es nur noch mit internen Konflikten zu tun hat, die man dann enteder moralistisch-konformistisch bagatellisieren oder kritischklassentheoretisch als Struktur schlechthin behaupten kann.
Ein anderer Gesellschaftsbegriff fhrt zu ganz anderen Folgerungen. Andere Begriffe, andere Unterscheidungen, andere Sichtweisen, andere Problemstellungen. Auf Grund des allgemeinen Konzepts autopoietischer Systeme gehen wir davon aus, da auch das
Gesellschaftssystem ein operativ geschlossenes, sich selbst mit eigenen und nur mit eigenen Operationen reproduzierendes System ist.
Das besagt, da auch die Gesellschaft nicht in der Lage ist, sich mit
eigenen Operationen mit ihrer Umwelt in Verbindung zu setzen.
Gesellschaftliche Operationen, also Kommunikationen, haben
nicht den Sinn, Kontakte zwischen System und Umwelt zu ermglichen; sie dienen nur dazu, die Bedingungen fr die Fortsetzung
der systemeigenen Operationen bereitzustellen. Ebensowenig kann
die Umwelt Operationen anderer Art in das Netz der Autopoiesis
des Systems einfgen - so als ob eine chemische Transformation
oder die Replikation einer Zelle wie ein Satz im Zusammenhang
sprachlicher Kommunikation wirken knnte. Das hat zur Konsequenz, da Kognition nicht lnger als Reprsentation und Evolution nicht lnger als Verbesserung der Anpassungsfhigkeit (oder
gar: der Angepatheit) von Systemen begriffen werden knnen.
5
5 Vgl. Jay A. Sigler, An Introduction to che Legal System, Homewood III. 1968, und
ders., A Cybernetic Model of the Judicial System, Temple Law Quarterly 41 (1968),
S. 398-428. Wenn man mit Sigler zustzlich bercksichtigt, da der Output des Systems zum Input desselben Systems werden kann, befindet man sich am bergang
zu einer Theorie operativ geschlossener Systeme.
6 Zu dieser Parallelkritik von Reprsentation und Adaptation als Verhaltensmodi von
Systemen siehe Francisco J. Varela, Living Ways of Sense-Making: A Middle Path for
Neuro-Science, in: Paisley Livingston (Hrsg.), Disorder and Order: Proceedings of
the Stanford International Symposium (Sept. 1 4 - 1 6 , 1 9 8 1 ) , Stanford 1984, S. 208-224
(220).
55*
werden. Sie kommuniziert zwar ber ihre Umwelt, aber nicht mit
ihrer Umwelt. Sie ist dabei, wie berhaupt, auf ihre eigenen Operationen beschrnkt und kann sich in der weiteren Erzeugung von
Anschluoperationen nur an deren Realitt halten. Sie tut dies, solange es geht, und mit dem Grad an Komplexitt, den sie ihren
eigenen Operationen verdankt. Ihre Umwelt mag sie irritieren
oder auch destruieren, kann aber nicht bestimmen, wie die Kommunikation luft. Wir knnen alles machen, was nicht gegen die
Welt geht, formuliert Ernst von Glasersfeld , und damit ist mitgesagt, da wir nicht wissen knnen, was gegen die Welt geht. Alles
Wissen ist Resultat von Kommunikation ber die Welt.
Das zwingt aber auch zu Korrekturen am bisherigen Zukunftsverstndnis. Autopoiesis ist keine Bestandsgarantie, geschweige denn
ein Fortschrittskonzept. Der Begriff gehrt in einen weiteren Zusammenhang mit Katastrophentheorie oder Chaostheorie. Die evolutionre Einmalerfindung des Lebens hat sich zwar ber mehrere
Milliarden Jahre hinweg als erstaunlich stabil erwiesen, und dies
unter sehr verschiedenen Umweltbedingungen. Ob dies auch fr
die evolutionre Einmalerfindung sinnhafter Kommunikation gelten wird, lt sich nicht ausmachen. Jedenfalls schliet das theoretische Konzept Destruktionen gravierenden Ausmaes oder katastrophale Regressionen und Komplexittsverluste nicht aus, und
ber eine Katastrophe, die alles Leben auf dem Erdball auslschen
knnte, wird bereits - geredet. Aber zugleich wird die Eigendy8
10
7 Es gibt viele weitere Grnde (aber keine radikaleren), dem Adaptionismus mit
Skepsis zu begegnen - auch in der Biologie. Siehe z. B. Stephen J. Gould, Darwinism and the Expansion of Evolutionary Theory, Science 216 (1982), S. 380-387;
Richard M. Burian, Adaptation, in: Marjorie Green (Hrsg.), Dimensions of Darwinism, Cambridge Engl. 1984, S. 287-314. Ob Darwin ursprnglich Adaptionist war, kann man dabei getrost der fachhistorischen Forschung berlassen. Auch
in der Soziologie gibt es distanzierende Stimmen, die sich jedoch eher gegen Systemtheorie schlechthin richten. Siehe z. B. Anthony Giddens, The Constitution of
Society: Outline of the Theory of Structuration, Berkeley Cal. 1984, S. 233 ff.
8 Damit ist zugleich gesagt, da auch der Aufbau von Komplexitt (wie in der Biologie: die polymorphe Reproduktion des Lebens, die Vielheit der Arten) nicht als
bessere Anpassung an die Umwelt begriffen werden kann.
9 In: Siegener Gesprche ber Radikalen Konstruktivismus, in: Siegfried J. Schmidt
(Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt 1987, S. 401-440
(410).
10 Siehe zu den theoretischen Konzepten Walter Bhl, Sozialer Wandel im Ungleichgewicht, Stuttgart 1990.
553
12
13
11 Vgl. u. a. Kap. i, V.
12 Kritik daran findet man bei Jrgen Habermas, Faktizitt und Geltung: Beitrge zur
Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992,
S. 73 ff. Aber Habermas scheint zu verkennen, da es bei Autopoiesis um Reproduktion der Differenz von System und Umwelt geht. Beachtet man dies, dann ist es
theoretisch keineswegs ausgeschlossen, da kommunikative Operationen zugleich
die Auengrenze der Gesellschaft (gegenber Nichtkommunikation) und die gesellschaftsinterne Grenze zwischen rechtlich codierten und anderen Kommunikationen reproduzieren. Ich kenne im brigen keine andere theoretische Konstruktion, die auch nur versuchte, sowohl der Autonomie des Rechts als auch der
Zugehrigkeit des Rechts zur Gesellschaft Rechnung zu tragen. Die bliche L sung mit Hilfe des Begriffs der relativen Autonomie kann weder theoretisch noch
empirisch befriedigen, weil sie in keiner Weise diskriminiert.
13 Und auch nicht, wie bei Parsons, als Entfaltung des Begriffs (!) der Handlung in
sich verselbstndigende Komponenten.
554
des Rechts als systemische Stabilisierung normativer (= kontrafaktischer) Erwartungen mssen nicht gendert werden. Sie dienen
uns, im Gegenteil, als diejenige Konstante, an der wir die Konsequenzen des Verstndnisses der Gesellschaft als eines operativ
geschlossenen Sozialsystems sichtbar machen knnen. Wir erinnern: Bei der Unterscheidung kognitiver und normativer Erwartungen ging es um die Frage, ob und wie weit sich die Gesellschaft
als lernbereit einrichten und ihre Erwartungen laufenden Enttuschungen anpassen kann; wie weit, mit anderen Worten, strukturelle Stabilitt nur in den Grenzen der Erkennbarkeit der Konsequenzen von Lernansten liegt oder wie weit zustzlich normative, explizit lernunwillige Erwartungen hinzukommen mssen.
Fr eine Theorie operativ geschlossener Systeme erscheint dieses
Problem als ein rein internes Problem. Es gibt keinen Transport von
Informationen aus der Umwelt in das System. Das System reagiert
nur auf eigene Zustnde, dies allerdings mit einer intern benutzten
Unterscheidung von System und Umwelt, also mit einer Bifurkation kausaler Zurechnungen. Die Frage ist dann, welche strukturellen Vorkehrungen die Irritabilitt des Systems steigern bzw.
abschwchen, wobei auch Irritabilitt immer als ein strukturabhngiger Eigenzustand des Systems zu begreifen ist.
Auf den ersten Blick liegt es nahe, den kognitiven, also lemfhigen
Erwartungen den Vorzug zu geben. In der Tat haben sie bei der
Konsolidierung der Weltgesellschaft den Trend gefhrt. Man kann
sich heute noch nationale Rechtssysteme leisten (wenngleich im internationalen Verbund wechselseitiger Anerkennung unter dem
Vorbehalt innerstaatlicher Ordnung und mit vlkerrechtlichen
Beziehungen unter dem Vorbehalt des Rechtsbruchs); dagegen sind
nationale Wissenschaften und sogar nationale Wirtschaftssysteme
14
15
555
kaum mehr denkbar. Wo Erwartungen als lernsensibel ausgezeichnet sind, kann man sich dem innergesellschaftlichen und mehr und
mehr auch dem kologischen Lerndruck schwerlich entziehen. Verliert das Recht dadurch an Bedeutung?
Eine derart pauschal gestellte Frage wird man vermutlich nicht einheitlich beantworten knnen. Manches deutet darauf hin, da ein
wichtiger Sttzmechanismus des Rechts, das normative Erwarten
normativen Erwartens an Bedeutung verliert. Man verlangt nicht
mehr unbedingt (wenn man es je getan hat ), da jemand sich fr
seine Rechte einsetzt. Andererseits haben die Menschenrechte als
eine Art Nachholprogramm Konjunktur wie nie zuvor, und auch
Werteinstellungen werden nicht nur in der Form eines bloen Bevorzugens der Werte bzw. eines dispreferencing der Unwerte
vertreten, sondern in weitem Umfange normativ eingefordert. Man
hat nicht nur Werte, man soll sie auch haben und sie sogar anderen
zumuten. Die normative Institutionalisierung von Werteinstellungen erstreckt sich bis hin zu moralisch aufgezogenen Zumutungsprogrammen. Man soll demnach nicht nur die eigenen Werte auf die
Werte anderer erstrecken (im Interesse der Armen, der Benachteiligten, der Hungernden, der Dritten Welt), sondern hat auch
mitzufordern, da andere sich ebenfalls mit diesem Wertprogramm
solidarisieren. Diese Form des normativen Erwartens normativen
Erwartens liegt jedoch weitgehend auerhalb der etablierten juristischen Formenwelt und richtet sich auch gegen das Recht. Recht
oder Unrecht - Humanitt zhlt.
16
16 Hier wren mentalittsgeschichtliche Untersuchungen am Platze. Die bloe Erhebung von Meinungen ber das Recht, prestige of law usw. kann allenfalls den
gegenwrtigen Zustand ermitteln.
556
II
Das Rechtssystem selbst scheint auf das, was oberflchlich als Wertewandel erscheint, was im Grunde aber ein sehr viel lngerfristiger,
nicht nur generationsbedingter Trend ist, auf verschiedene Weisen
zu reagieren. Nimmt man die Konstanz der normativen Funktion
(ohne die Recht nicht Recht wre) als Mastab, dann zeichnet sich
eine Tendenz ab, die man als Temporalisierung der Normgeltung
bezeichnen knnte. Normen und die sie tragenden Geltungen werden nicht mehr in Konstanten der Religion oder der Natur oder
einer unbefragten Sozialstruktur verankert, sondern als Zeitprojektionen erlebt und behandelt. Sie gelten bis auf weiteres. Sie
werden damit nicht nur als kontingent erfahren, sondern werden
auch kognitiv empfindlich. Allerdings heit das nicht, wie Kritiker
der Unterscheidung kognitiv/normativ meinen , da die Unterscheidung selbst kollabiert oder sich in der empirischen Forschung
nicht halten lt. Es kann keine Rede davon sein, da das Recht auf
die pure Tatsache und Hufigkeit abweichenden Verhaltens durch
Normnderung reagiert. Es wre ja auch gar keine Instanz vorhanden, die zu solchen Entscheidungen befugt wre und entsprechende
Verfahren durchfhren knnte. Gemeint ist nur, da Normen mit
Realittsunterstellungen ausgestattet sind, die sich im Rechtssystem
selbst als Irrtum erweisen oder durch nderung der Verhltnisse
inadquat werden knnen. Das gilt besonders evident angesichts
der Dynamik technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen,
angesichts von lebensrelevanten Innovationen im Bereich der pharmazeutischen und apparativen medizinischen Technologie, angesichts der Ausbreitung automatischer Datenverarbeitung, angesichts zunehmender Diskrepanzen von Ausbildung und lebenslanger, gegen Kndigung geschtzter beruflicher Verwendbarkeit des
Wissens, angesichts mancher Vernderungen im Wirtschaftssystem,
aber auch in so privaten Bereichen wie der Karriereabhngigkeit
des gesellschaftlichen Status der Individuen.
17
557
19
Das Recht der modernen Gesellschaft mu nach all dem, und gerade darin erweist es sich als gesellschaftsabhngig, ohne feststehende Zukunft auskommen. Weder knnen Naturparameter,
20
18 Vgl. dazu Lawrence M.Friedman, Total Justice, New York 198 j, insb. S. 45 ff.
19 Siehe etwa die Beitrge von Klaus Eder und Karl-Heinz Ladeur in: Dieter Grimm
(Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfhigkeit des Rechts, Baden-Baden 1990; Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie: SelbstreferenzSelbstorganisation - Prozeduralisierung, Berlin 1992; und jetzt Habermas, a.a.O.
20 Dies gilt im brigen fr Zeichensysteme schlechthin, das heit fr alles, was als ein
558
Zeichen unmittelbare Verstndlichkeit oder praktisch notwendige Akzeptanz erreicht. So Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin 1985.
21 Hierzu kann man auf zahlreiche empirische Forschungen ber Alltagseinstellungen
zu Wahrscheinlichkeiten, ber Risikoeinschtzungen usw. verweisen, aber die
Kenntnis dieses Problems ist fast ebenso alt wie die Wahrscheinlichkeitsrechnung
selber. Bereits Jean Paul wei, da das Menschenherz ... in Sachen des Zufalls
gegen die Wahrscheinlichkeitsrechnung kalkuliert (Siebenks, siebentes Kapitel,
zitiert nach Jean Paul, Werke Bd. 2, Mnchen 1959, S. 226 f.). Hoffnungen und
Befrchtungen erweisen sich als strker.
559
einem erweiterten ius vigilantibus scriptum. Wer heiratet, mu damit rechnen, da das Scheidungsrecht und die rechtliche Regelung
von Scheidungsfolgen gendert werden. Wer langfristig investiert,
kann nicht damit rechnen, da whrend der Abschreibungsdauer
Steuerrecht, Umweltrecht usw. so bleiben, wie sie zur Zeit seiner
Entscheidung galten. Man mu also immer auch eine Gegenrechnung aufmachen fr den Fall, da das Recht, auf das man sich
verlt, gendert wird. Und bei der Rechtsnderung selbst mssen
nicht nur formelle Rckwirkungen vermieden werden, sondern
vermehrt auch diejenigen geschtzt werden, die in bereits getroffenen Dispositionen durch die Rechtsnderung besonders betroffen
sind.
Das Problem ist im brigen so neu nicht. Schon frher war ja unter
Gesichtspunkten des Enteignungsrechts diskutiert worden, ob derjenige, der zum Beispiel an einer viel befahrenen Strae eine Tankstelle errichtet, Entschdigung verlangen kann, wenn die Straenfhrung gendert wird. Solche Probleme drften jetzt nur vermehrt
und vor allem auch in Fllen auftreten, in denen nicht Sachdispositionen, sondern Rechtsdispositionen in Frage stehen. Das Problem
wird nochmals brisanter, wenn die Rechtsnderung nicht durch
Gesetzgebung erfolgt, die es bercksichtigen knnte, sondern
durch richtungweisende hchstrichterliche Rechtsprechung, die
wenig oder allenfalls sibyllinische Mglichkeiten hat, solche Fragen
in die Einzelfallentscheidung einzubeziehen.
Kommunikation im Rechtssystem mu mithin, darauf laufen diese
berlegungen hinaus, strker auch das Eigenrisiko des Rechts beachten. Risikofragen tauchen nicht nur in der Weise auf, da das
Recht riskantes Verhalten als rechtmig oder als rechtswidrig beurteilt. Auch das ist sicher ein Problem, das bereits in vielen
Bereichen zu Rechtsnderungen gefhrt hat und noch fhren wird.
Mehr und mehr geht es hier darum, Verantwortung bis hin zur
Haftung an Mglichkeiten der Risikokontrolle zu binden und so
dem fr Entscheider typischen illusion of control entgegenzuarbeiten. Eine weit darber hinausgehende Frage ist aber, ob und wie
das Recht sein eigenes Risiko akzeptieren kann. Diese Frage hngt
unmittelbar mit der Ausdifferenzierung, operativen Schlieung und
funktionalen Spezifikation des Rechtssystems zusammen. In dieser
Hinsicht ist das Rechtssystem ein Spiegelbild des Gesellschaftssystems. Es ist selbst riskant, weil die Gesellschaft riskant ist. Oder
560
All das gert jetzt aber zustzlich unter die Perspektive einer hohen
temporalen Instabilitt des Normengefges. Das Recht kann nicht
Sicherheit garantieren, wenn die Gesellschaft selbst ihre Zukunft als
entscheidungsabhngiges Risiko begreift. Im Rechtssystem gewinnen Risiken nur eine rechtsspezifische Form. In fremdreferentieller
Perspektive, also bezogen auf Interessen, wird das Risiko des Ent-
22 Enttuschungen in dieser Hinsicht werden heute breit reflektiert. Siehe als ein Beispiel unter vielen Marc Galanter, Why the Haves Come out Ahead: Speculations
on the Limits of Legal Change, Law and Society Review 9 (1974), S. 95-160. In
diesem Zusammenhang fllt besonders auf, da die Rechtssoziologie sich praktisch
nur fr das Recht der Armen, nicht aber fr das Recht der Reichen interessiert - so
als ob diese Ungleichheit der Rechtslagen durch Forschung kompensiert werden
knnte (ein gerade fr Soziologen erstaunlich unrealistischer Gedanke). Vgl. dazu
die Erhebung von Maureen Cain, Rieh Man's Law or Poor Man's Law?, British
Journal of Law and Society 2 (1975), S. 61-66.
561
562
24
26
III
Sieht man das Rechtssystem als Art und Weise, eine offene Zukunft
in die Gesellschaft hineinzunehmen und zu binden, dann kann man
es auch als Immunsystem der Gesellschaft begreifen. Auch hier
handelt es sich, wie bei Autopoiesis (und im engen Zusammenhang damit) um einen Sachverhalt, der zuerst von Biologen entdeckt worden ist, aber allgemeinere Bedeutung hat. Wir argumentieren also nicht per analogiam und benutzen den Begriff auch nicht
rein metaphorisch. Vielmehr geht es um ein sehr allgemeines Problem, das typisch in Systemen auftritt, die den Aufbau ihrer eigenen
Komplexitt auf eine Reduktion von Umweltkomplexitt in der
Form von operationaler Schlieung und struktureller Kopplung
grnden. Immer wenn das geschieht, kann ein System seine Ab565
wehr von Strungen nicht auf eine Voraussicht der Strung sttzen.
Es kann nicht Punkt fr Punkt Gegenmanahmen bereithalten. Das
wrde ein unertrgliches Ma an Umweltkomplexitt in das System
hineinspiegeln. Weder im Positiven noch im Negativen sind Punktfr-Punkt-Beziehungen zwischen System und Umwelt mglich,
denn das wrde die Differenz von System und Umwelt auf ein
SpiegelungsVerhltnis reduzieren. Das Immunsystem kompensiert,
zusammenfassend gesagt, das Fehlen von requisite variety.
Ein Immunsystem kommt ohne Kenntnis der Umwelt aus. Es registriert nur interne Konflikte und entwickelt fr fallweise auftretende Konflikte generalisierbare Lsungen, also mit berschukapazitt fr knftige Flle. Statt die Umwelt zu erforschen,
generalisiert es Erfahrungen mit sich selbst, die ihm als Anzeichen
fr unbekannt bleibende Strquellen dienen. Dabei sttzt sich das
System auf spezifische, hochselektive strukturelle Kopplungen, die
es ihm erlauben, alles andere auer acht zu lassen mit der nicht
auszuschlieenden Mglichkeit, da Strung als Destruktion geschieht - als Weltuntergang. Nur im (aufs Ganze gesehen sehr
schmalspurigen) Bereich struktureller Kopplungen entwickelt sich
ein eigenstndiges Immunsystem fr das Abfangen und Neutralisieren unvorhergesehener Strungen. Das Kommunikationssystem
Gesellschaft ist auf mitwirkendes Bewutsein angewiesen, und im
Normalfall begleitet das Bewutsein die Kommunikation, nimmt
sie wahr, regt entsprechende sensomotorische Mitwirkung des Organismus an, erinnert das, was kommuniziert worden war, in
ausreichendem Umfang bzw. unterstellt fr Zwecke der Kommunikation, da andere sich erinnern. Es ist ebenfalls ganz normal, da
es dabei zu uerungen kommt, die vorausgesetzten oder (und das
wird schon heikler) geuerten Erwartungen widersprechen. Zur
Strung der Kommunikation wachsen sich solche Bagatellvorflle
aus, wenn auf ein Nein mit einem Gegennein geantwortet wird;
denn das bringt die Versuchung mit sich, beim Nein zu bleiben und
das Nein auf beiden Seiten durch weitere Kommunikation zu verstrken. In einem solchen Falle wollen wir von Konflikt sprechen.
27
28
566
Und auch dies pat in die Theorie des Immunsystems: Das Recht
lernt aus Anla von Konflikten. Es wrde ohne Konflikte nicht
entstehen bzw. nicht erneuert und vergessen werden. Dabei kann es
sich auch um Konflikte handeln, die das Recht selbst provoziert etwa Konflikte aus Anla staatlicher Regulierungen. Jedenfalls aber
folgt das Recht nicht aus der Natur der Sache oder der Natur des
Menschen, wie man frher annahm, sondern es entsteht und entwickelt sich auf der Suche nach Lsungen fr Konflikte, sobald
diese Lsungen nicht nur ad hoc (und dann: inclusive Gewaltanwendung) erfolgen, sondern fr mehr als nur einen Fall gelten
sollen. Die Immunantwort benutzt den Zeitbindungseffekt normativer Regeln. Regelbildung ist somit eine Art Antikrperbildung
mit einer am Fall gewonnenen Spezifitt. Wenn das Immunsystem
der Gesellschaft nicht in Anspruch genommen wird, lernt es auch
rung des Rechts: Beitrge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt 1981,
S . 9 2 - 1 1 2 ; ders., Soziale Systeme a.a.O., S.488ff.
29 Es geht also, um die Gegentheorie nochmals zu erwhnen, nicht um eine Zustandsbeschreibung der beteiligten Individuen - so wie ja auch die Biologie ihre Immunologie nicht in der Form einer Beschreibung des Zustandes der beteiligten Zellen
ausarbeiten kann. Siehe N . M . Vaz / F. J. Varela, Seif and Non-Sense: An Organismcentered Approach to Immunology, Medicai Hypotheses 4 (1978), S. 231-267.
567
IV
Im gesellschaftlichen Kontext von Gesellschaft und Recht treten
unter modernen Bedingungen Spannungen auf, die noch wenig analysiert und noch weniger begriffen sind. Das vielleicht wichtigste
Problem liegt in den immer noch zunehmenden Ansprchen auf
individuelle Selbstbestimmung, an denen die klassischen liberalen
Formgebungsmittel zu scheitern scheinen. Es wird immer deutlicher, da man zwar jedes Gesetz befolgen kann, aber nicht alle.
Rechtsbrche werden lebensnotwendig, wenn Leben heien soll:
nach Magabe individueller Selbstbestimmung zu leben. Dabei geht
es keineswegs nurmehr um das klassische Problem der unvermeidbaren Rechtsunkenntnis. Bereiche wie Steuerhinterziehung oder
30 Siehe fr die biologische Parallelvorstellung erneut Vaz / Varela a.a.O. (1978).
568
32
33
oft eine Identifikation mit vertretbaren, wenngleich nicht herrschenden Rechtsmeinungen. Wohl aber sollte die Tatsache mehr
Beachtung finden, da sozial wohlgefllige Perfektionsziele auf der
Ebene der Individuen, aber auch auf der Ebene der Funktionssysteme (einschlielich des Rechts selbst) nicht mehr ohne Rechtsbruch erreichbar sind. Die Gesellschaft benutzt, anders gesagt, das
Recht auch zur Selbstwiderlegung.
Da dieses Problem mit den klassischen Mitteln der liberalen
Rechtstheorie nicht zu lsen, ja nicht einmal adquat zu begreifen
ist, ist bereits angedeutet worden. Die Rechtsform der subjektiven
Rechte als Instrument der Freigabe von Willkr im Recht reicht als
Korrektiv nicht aus; und dies auch dann nicht, wenn man mit in
Betracht zieht, da es dem Rechtsinhaber vom Recht erlaubt wird,
Verletzungen seiner Rechte hinzunehmen. Die Bestimmung der
Funktion des Rechts als eines Instruments der Freiheitssicherung
hat, wie alle Funktionsbestimmungen, kaum interpretativen Wert.
Das gilt auch fr die sogleich zu behandelnden Menschenrechte, die
im brigen ihrerseits kaum zur Disposition des Einzelnen gestellt,
also auch nicht als subjektive Rechte begriffen werden knnen. Die
Menschenrechte sind gewi ein Resultat des modernen Individualismus, aber Unbefolgbarkeiten im Recht sind ein ebenso wichtiges
anderes.
Wrde man diese Problematik strker beachten, kme auch ein
wichtiger Grund fr regionale Differenzierungen ans Licht. Die
positive Seite des Rechts, also die Unterschiede in den Normen und
Interpretationsweisen zwischen den einzelnen Rechtskulturen,
reicht fr einen soziologischen Rechtsvergleich nicht aus. In der
Frage der strukturell induzierten Rechtswidrigkeiten liegt, zumindest fr die Soziologie, der grere Informationswert. Rechtswidrigkeiten haben, gerade in der modernen Gesellschaft, ihre eigene
Logik als Indikatoren fr unterschiedliche Sozialverhltnisse - fr
Probleme des Wohlfahrtsstaates, fr Probleme der Organisationsabhngigkeit, fr Probleme der Inflationsabhngigkeit von regionalen Wirtschaften oder fr die anscheinend zunehmende soziale
Unmotivierbarkeit von Individuen.
Diese Umorientierung auf Mitbeachtung der selbstinduzierten
Rechtswidrigkeiten ist bereits in der Vorstellung angelegt, da das
Recht durch binre Codierung (statt: durch den eigenen Perfektionszustand) identifiziert werden mu. Sie ist aber auch deshalb
570
sinnvoll, weil man anderenfalls angesichts des phnomenalen Ausmaes und der regionalen Unterschiedlichkeit von Rechtsbrchen
kaum von einem welteinheitlichen Rechtssystem als einem Funktionssystem der Weltgesellschaft sprechen knnte. Dazu mehr im
folgenden Abschnitt.
V
Welchen Begriff der Gesellschaft man auch verwenden will, ob den
traditionellen Begriff der Autarkie, das heit: Autarkie in den zum
perfekten Leben (Glck) des Menschen ntigen Bedingungen, oder
den Begriff der Geschlossenheit des kommunikativen Operierens:
es kann kein Zweifel daran bestehen, da unter heutigen Umstnden nur noch ein einziges Gesellschaftssystem besteht: die Weltgesellschaft. Dieser Begriff hat zwar, solange keine ausreichende
Gesellschaftstheorie formuliert ist, ungeklrte Konturen ; aber das
ist kein Grund, den noch viel unbestimmteren Begriff des internationalen Systems zu bevorzugen, bei dem weder klar ist, was
Nation heien soll, noch wie das inter zu verstehen ist. Auch
wenn die meisten Soziologen diesem global System den Titel Gesellschaft verweigern , ist es erst recht unmglich, nationale Systeme (wenn hier der Systembegriff berhaupt angebracht ist) als
Gesellschaftssysteme zu bezeichnen. Dafr fehlt jedes Abgrenzungskriterium, wenn man einmal von den Staatsgrenzen absieht,
die fr diese Frage denkbar ungeeignet sind.
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34 Darauf weist zum Beispiel Kurt Tudyka, Weltgesellschaft - Unbegriff und Phantom, Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), S. 503-508 hin.
35 Siehe mit besonderer Prominenz Talcott Parsons, The System of Modern Societies,
Englewood Cliffs N . J . 1 9 7 1 . Andere sprechen von response to globalities oder von
Trends zur Globalisierung auf der Ebene regionaler Gesellschaftssysteme, so als ob
der Zustand einer einzigen Weltgesellschaft sich zwar ankndige, aber noch nicht
erreicht sei. Siehe z. B. Roland Robertson / Frank Lechner, Modernization, Globalization and the Problem of Culture in World-Systems Theory, Theory, Culture
and Society 11 (1985), S. 1 0 5 - 1 1 8 ; Margaret S. Archer, Foreword, in: Martin Albrow / Elisabeth King (Hrsg.), Globalization, Knowledge and Society, London
1990, S. 1; Roland Robertson, Globality, Global Culture, and Images of the World
Order, in: Hans Haferkamp / Neil J. Smelser (Hrsg.), Social Change and Modernity, Berkeley Cal. 199z, S. 3 9 5 - 4 1 1 ders., Globalization, London 1992.
36 So aber, vom Politischen ausgehend, mit aller Entschiedenheit Anthony Giddens,
The Nation-State and Violence, Cambridge Engl. 1985; ders., The Consequences of
Modernity, Stanford Cal. 1990, S. 12 ff.
571
Weder im regionalen Rahmen noch im weltgesellschaftlichen Rahmen kann es dabei auf die hnlichkeit der Lebensbedingungen
ankommen; denn dann wre nicht einmal Manhattan eine Gesellschaft. Fr unsere Zwecke ist die rekursive Vernetzung der Kommunikation entscheidend - als Voraussetzung dafr die bersetzbarkeit der Sprachen, aber darber hinaus die weltweite Kommunikation der Massenmedien ebenso wie die der privaten
Kommunikationsnetze; ferner die Einheit der kognitiven Bemhungen im Wissenschaftssystem, was immer fr lokale Schwerpunkte oder regional-kulturelle Sonderinteressen sich bilden mgen; femer die auf Krediten aufbauende Weltwirtschaft mit
Weltmrkten fr ihre wichtigsten Produkte; aber auch das weltpolitische System, das Staaten in unauflsbare wechselseitige Abhngigkeit bringt, und dies angesichts der kologischen Konsequenzen
moderner Kriege mit einer zwingenden Logik der Prventionen
und Interventionen. Die verbreitete Klage ber die postkoloniale
Ausbeutung peripherer Lnder durch die Industrienationen, Theorien unter Titeln wie Dependenz oder Marginalitt, sind, was
immer man inhaltlich von ihnen halten mag, ein Beleg fr, nicht ein
Beleg gegen Weltgesellschaft. Die weltweiten Verflechtungen aller
Funktionssysteme sind kaum zu bestreiten.
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37 Hier allein hat es im brigen Sinn, die Weltgesellschaft von den internationalen
Beziehungen her zu sehen, wie es zum Beispiel John "W. Burton, World Society,
Cambridge Engl. 1972, tut.
38 Dies zeigt nicht nur das Scheitern der politischen Realisation einer sozialistischen
Wirtschaft, sondern auch das wirtschaftliche Scheitern nationaler Wirtschaftsisolierungen aus Grnden politischer Selbstprferenz (etwa Brasilien oder Mexiko),
der Verlust der selbstverstndlichen Kreditwrdigkeit fast aller Staaten im internationalen Finanzsystem (mit erheblichen Konsequenzen fr dieses System) oder
auch die groteske Fehleinschtzung der wirtschaftlichen Konsequenzen der politisch erstrebenswerten deutschen Wiedervereinigung. Die Politik kann zwar aus
einsichtigen politischen Grnden ber Manahmen entscheiden, aber die Wirtschaft entscheidet ber deren Folgen.
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39 Anders die auch unter Juristen ganz herrschende Meinung. Siehe fr viele Werner
Krawietz, Recht als Rechtssystem, Wiesbaden 1984, insb. S. y 1 ff. Aber natrlich
haben selbst Juristen den Mut zu reisen und dabei den Geltungsbereich ihrer
Rechtsordnung zu berschreiten.
40 Es gibt Ausnahmen, die man aber eben deshalb ohne besonderen Schutz nicht
betreten kann, zum .Beispiel favelas brasilianischer Grostdte. Auch ist es nicht
ausgeschlossen, da es demnchst Staaten geben knnte, in denen man als Weier
faktisch keinen Rechtsschutz geniet.
573
42
41 Gelegentlich wird diese Rechtsordnung mit Rechtsverhltnissen in tribalen Gesellschaften verglichen. Siehe Michael Barkun, Law Without Sanctions: Order in
Primitive Societies and the World Community, New Hven 1968. Aber das wird
den Instrumenten des modernen Rechtsverkehrs kaum gerecht. Eher knnte man
mit Gerhart Niemeyer, Law Without Force: The Function of Politics in International Law, Princeton 1 9 4 1 , an eine wirtschaftsbrgerche Gesellschaft ohne korrespondierenden Staat denken. Auch dem jdischen Recht lieen sich zweitausendjhrige Erfahrungen mit einer staatenlosen (sich auf fremde Staaten sttzenden)
Rechtskultur entnehmen. Man knnte dann sehen, wie dies begrifflich gearbeitet ist
(zum Beispiel ber den Pflichtbegriff und nicht ber den Begriff der individuellen
Rechte) und wie man sich vorstellen knnte, da politische Anarchie nicht notwendig auf eine fehlende Rechtsordnung hinausluft. Vgl. z. B. Robert M. Cover,
The Folktales of Justice: Tales of Jurisdiction, The Capital University Law Review
14 (1985), S. 179-203. Aber natrlich sind die Grundlagen dieses Rechts in einer
religisen und ethnischen Einheit und in einer gemeinsamen Texttradition nicht
weltweit institutionalisierbar.
42 An deskriptiven, breit angelegten Darstellungen der Entwicklung dieser Idee fehlt
es nicht. Siehe zum Beispiel Gnter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im
Wandel von Gesellschaft und Geschichte: Beitrge zur Geschichte der Grund- und
Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Gttingen 1981; ders. (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der stndischen zur
sptbrgerlichen Gesellschaft, Gttingen 1987, oder, strker an aktuellen Problemen interessiert, Ludger Khnhardt, Die Universalitt der Menschenrechte: Studie
zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlsselbegriffs, Mnchen
1987. Die theoretische Kontextierung bleibt dabei jedoch ungeklrt. Schon da in
der Formulierung dieser Rechtsidee der Begriff Mensch auftaucht, bedrfte einer
besonderen Analyse, die aber in unserem Zusammenhang zu weitlufig ausfallen
mte. Es mu hier gengen, mit Foucault an die semantische Erfindung des Singularmenschen am Ende des 18. Jahrhunderts zu erinnern, und vielleicht noch an
die auch philosophisch anscheinend irresistible Wiederkehr des Menschen - etwa
in der Reanthropologisierung des Subjekts um 1800 oder in der Reanthropologisierung des Heideggerschen Daseins in Frankreich. Juristisch gesehen ist damit
jedenfalls klargestellt, da auch Auslnder mitgemeint sind.
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43
standen. Der Vertrag ist bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die
Form der Entfaltung des Paradoxes der Naturrechte: da sie keine
Ausnahme von sich selber enthalten und sich damit selbst ad absurdum fhren. Aber damit wird die Paradoxie nur verschoben und
taucht in der Vertragskonstruktion wieder auf. Denn jetzt kann die
Geltung des Vertrags, der die Regel begrndet, da Vertrge binden,
nur paradox begrndet werden. Aber genau darin liegt die berlegenheit dieser Konstruktion im Verhltnis zum lteren Naturrecht.
Denn die Geltung des Vertrags mu jetzt darauf beruhen, da in
ihm auf die natrlichen Rechte verzichtet wird. Mit der Lsung
des Problems der Begrndung sozialer Ordnung ber Sozialvertragslehren (im Sinne von pactum unionis, nicht nur pactum subiectionis) konnte man es sich leisten, die zum Vertragsschlu erforderlichen Individuen gleichsam rckwirkend mit natrlichen Rechten
auszustatten, und hatte dann nur noch das Problem, die Form dieser Rechte im Zivilzustand zu bestimmen. Der Versuch Pufendorfs,
sehr unterschiedliche Vorstellungen ber die Ausgangslage des Naturzustandes (Grotius, Hobbes, Spinoza) auf einen Nenner zu
bringen, fhrte zu Formulierungen, die der Idee angeborener (aber
nicht unbedingt unsozialer) Menschenrechte zum Durchbruch verhalfen. Damit konnten traditionelle Unterscheidungen unterlaufen
bzw. als bloe Produkte des Zivilrechts dargestellt werden. Zum
Beispiel gibt es jetzt nicht mehr, wie in der Tradition der Adelsgesellschaften, Menschen mit und Menschen ohne dignitas, sondern Menschenwrde ist jedem Menschen eigen und ist damit auch
eine Schranke der Differenzierungsleistungen des Zivilrechts.
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46
44 In den heutigen Verfassungen wird genau diese Funktion des Vertrags durch den
Gesetzesvorbehalt bernommen.
4j Zur Rckfhrung dieser Idee auf religise Vorstellungen eines von Gott verlangten
und von Gott selbst praktizierten Opfers vgl. Peter Goodrich, Languages of Law:
From Logics of Memory to Nomadic Masks, London 1990, S. 56 ff.
46 In ipso hominis vocabulo iudicatur inesse aliqua dignatio, heit es in Samuel
Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo 3.II.L, zit. nach der Ausgabe
Frankfurt-Leipzig 1744, Bd. I, S. 3 1 3 . Siehe auch mit demselben Wortlaut ders., De
officio hominis & civis iuxta legem naturalem libri duo i . V I L , zit. nach der Ausgabe Cambridge 173 j, S. 143. Es fllt auf und verrt wohl eine historisch bewute
Differenzierungsabsicht, da nicht von dignitas, sondern von dignatio die Rede
ist.
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48
47 Fr die deutsche Version, die solche berlegungen nach der Franzsischen Revolution aufnimmt und eine Lsung, mangeis Aussichten auf Revolution und Verfassung, noch einmal von Naturrecht erwartet, siehe Diethelm Klippel, Politische
Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 178 ff.
48 Siehe als Zusammenstellung etwa Wolfgang Heidelmeyer (Hrsg.), Die Menschenrechte: Erklrungen, Verfassungsartikel, Internationale Abkommen, 2. Aufl. Paderborn 1977.
49 Cultural differences ... cannot explain or justify barbarism and repression, meint
dazu Louis Henkin, The Rights of Man Today, Boulder Col. 1978, S. 129 (zit. nach
Khnhardt a.a.O., 1987, S. 140).
576
einheitlichen Verhltnissen des vorkonstitutionellen Europa. Gerade weltweit zeigt sich nun, wie sinnvoll es ist, das politische
System segmentr in Regionalstaaten zu differenzieren, damit es sich
den lokalen Gegebenheiten besser zuordnen und Konsenschancen nutzen kann; aber zugleich: wie unertrglich es wre, das
Rechtssystem der Willkr regionaler Politikprozesse zu berlassen.
Die mit der Ausbildung des modernen Staates in Europa zuerst
erfahrene Diskrepanz von Politik und Recht weitet sich aus und
gewinnt eine erheblich vernderte Form.
In dieser Situation scheint das Recht der Menschenrechte kaum von
der Klarheit der Geltungsgrundlagen und der Przision entsprechender Texte zu profitieren, wohl aber von der Evidenz der
Rechtsverletzungen. Angesichts von Horrorszenen der verschiedensten Art sind weitere Diskussionen berflssig. Welche Normen und vor allem welche Texte dem zugrunde liegen, ist derzeit
nicht sicher auszumachen. Weitgehend wird die liberale Tradition
der brgerlichen Gesellschaft und ihrer Verfassungsrechte fortgesetzt. Grundrechte wie Freiheit und Gleichheit sind nach wie vor
anerkannt - zugleich aber mit dem Wissen, wie stark sie legal modifiziert werden knnen und wie wenig sie den tatschlichen
Verhltnissen entsprechen. Sie dienen, hatten wir oben gezeigt,
dem Erzeugen und Entfalten einer Systemparadoxie durch Einfhrung von Selbstreferenz ins System und gewinnen deshalb praktikable Bedeutung nur als positives Recht. Wo diese liberale Tradition
berschritten wird - und das gilt heute dramatisch im Bereich der
Kollektivrechte, insbesondere des Rechtes auf Unabhngigkeit
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50 Es mag heute zwar zynisch klingen, aber wenn man sich die Theoriekonstruktion
Kants und die Position der Kritik der Urteilskraft im Kontext der drei Kritiken vor
Augen fhrt, knnte man auch an die Urteilskraft in Fragen des Rechtsgeschmacks
appellieren - um deutlich zu machen, da es sich hier weder um eine rein kognitive
Frage noch um eine Anwendung der praktischen Vernunft in der Form des Sittengesetzes handeln kann.
51 Das ndert sich aliein nicht dadurch, da die U N O entsprechende Erklrungen
verabschiedet.
52 Mit Hasso Hofmann, Menschenrechtliche Autonomieansprche: Zum politischen
Gehalt der Menschenrechtserklrungen, Juristenzeitung 4 7 ( 1 9 9 2 ) , S. 1 6 5 - 1 7 3 (171)
kann man in diesen Modifikationen sowie in den rechtsstaatlichen Anbindungen
der Menschenrechte den eigentlichen Sinn ihrer ber das Naturrecht hinausgehenden Positivierung erkennen.
53 Kapitel 5, IV.
577
und Selbstbestimmung von Nationen, Ethnien und Ethnien im Gebiet anderer Ethnien - gert man auf ungeklrtes Terrain, wo wiederum Gewalt als der hchste Gerichtshof zu fungieren scheint.
Ein Grund fr diese hchst unbefriedigende Sachlage drfte darin
liegen, da die Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat nach dem zweiten
Weltkrieg die Formulierung der Menschenrechte mit in ihren Sog
gezogen hat. Mehr und mehr versteht man unter Menschenrechten
heute nicht nur Abwehrrechte, sondern Versorgungsrechte, insbesondere fr Flle eklatanter Unterversorgung. Die Grundlage dafr
bietet ein anthropologisches Konzept, das dem Menschen im allgemeinen (also unabhngig von regionalen oder kulturellen Differenzen) einen Komplex von teils materiellen, teils geistigen Bedrfnissen und Interessen zuschreibt bis hin zu einem Interesse an
Persnlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung. Daraufhin
knnen krasse Diskrepanzen in Versorgungs- und Lebenschancen
als exemplarische Unrechtserfahrungen markiert und zum Ausgangspunkt genommen werden fr die Frage nach Abgrenzungskriterien. Bei dieser Ausweitung besteht jedoch die Gefahr der
Inflationierung und der Ideologisierung der Diskussion und weiter das Problem, da als Adressaten nicht mehr die Rechtsverletzer
stricto sensu in Betracht kommen, sondern diejenigen, die helfen
knnten. Das Problem der Menschenrechte verschmilzt mit einem
immens erweiterten Desiderat fr Sozialarbeit und Entwicklungshilfe. Die Differenz von Wirtschaft (Vorsorge) und Sozialhilfe
(Nachsorge) lt sich bei enormen regionalen Verschiedenheiten
nicht mehr in klare, durchsetzbare Rechtsansprche umsetzen. Die
Inflationierung ruiniert den Wert des symbolischen Mediums, und
die wirklich krassen, emprenden, aktiven Einbrche in die Zone
des unbedingt Schutzwrdigen - Stichwort Menschenwrde - fallen nicht mehr auf, wenn es als ohnehin normal empfunden wird,
da Menschenrechte berall unbercksichtigt bleiben.
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Von Eklatanz der Verste wird man nur mit Bezug auf Menschenwrde sprechen knnen. Einschrnkungen der Rechte auf Freiheit
und Gleichheit, die auch als Menschenrechte gefhrt werden, sind
so normal und so unentbehrlich, da man staatlichen Rechtsordnungen einen hohen Spielraum (qua Gesetzesvorbehalt) konzedieren mu. Hier handelt es sich im Grunde gar nicht um die
Einheit einer Norm (einer Idee, eines Wertes), sondern um die
Formparadoxien der Unterscheidungen Freiheit/Beschrnkung
und Gleichheit/Ungleichheit, die dann in den einzelnen Rechtsordnungen auf sehr verschiedene Weise entfaltet werden knnen. Oder
in anderen Worten: um Zukunftsperspektiven, die im Unbestimmbaren konvergieren. Trotzdem scheint es auch hier eine spezifische,
sich weltweit durchsetzende Empfindlichkeit zu geben. Man kann
sie an Fllen erkennen, in denen Rollenasymmetrien durch eine externe Referenz festgeschrieben und als unumkehrbar behandelt
werden. Das gilt in besonderem Mae, wenn Rasse als Faktor fr
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580
die Zuordnung zu Rollen benutzt wird (vor allem: als Gesichtspunkt der Zuordnung zu Leben und Tod oder zu Hunger und guter
Ernhrung). Tendenziell haben auch religis oder ideologisch inspirierte Systeme diese Neigung, die Zuordnung zu rollenspezifischen
Chancen von einem in den Rollen selbst nicht disponiblen Faktor
abhngig zu machen. Die Rollenasymmetrien, die nach moderner
Auffassung nur in Funktionssystemen akzeptabel sind (Arzt/Patient, Produzent/Konsument, Klger/Beklagter im Verhltnis zum
Richter usw.) werden durch eine externe Referenz generalisiert, so
da sich strukturelle Benachteiligungen ergeben, die sehr unterschiedliche Funktionssysteme transversal durchziehen. Die Anstigkeit solcher Verhltnisse unter modernen Gesichtspunkten ist
mehr strukturell bedingt als fallbedingt. Deshalb sind Anlsse zur
Emprung und zum Eingreifen schlecht zu markieren und gegen
Hinzunehmendes abzugrenzen. Aber es scheint, da zumindest der
Gesichtspunkt der Rasse bereits deutlich als Menschenrechtsversto akzeptiert wird.
Jm Uberblick ber die hier nur knapp angedeutete Entwicklung der
Doktrin der Menschenrechte zeigt sich, da es immer um die Entfaltung einer fundamentalen Paradoxie geht, die ihre historische
Bestimmtheit an der Frage des Verhltnisses von Individuen zum
Recht hatte. Die Sozialvertragslehren gaben dieser Paradoxie die
Form eines Zirkels: Da die vertragschlieenden Individuen an den
Vertrag gebunden seien, konnte nur aus dem Vertrag selbst erklrt
werden. Auch die Naturrechtslehren bleiben zirkulr, da man sich
auf die Natur des Menschen nur in Fllen beruft, in denen man eine
Verletzung beklagen und eine entsprechende Norm konstituieren
will. Da das berpositive Recht positivierungsbedrftig sei, ist ein
offenes Paradox, das mit rein pragmatischen Erwgungen ber den
Nutzen schriftlich fixierter Texte nur schlecht verhllt ist. Und natrlich ist es auch ein Paradox, wenn man sagt, da Rechte erst
durch ihre Verletzung und durch entsprechende Emprung (Drkheims colere publique) in Geltung gesetzt werden. Aber vielleicht
ist gerade dieses Paradox in den turbulenten Weltverhltnissen unserer Tage und angesichts des Relevanzverlustes klassisch-staatlicher
Ordnungen das zeitgeme Paradox. Wenn aber alle Begrndungsvorstellungen letztlich auf eine Paradoxie auflaufen, ist damit auch
die Diskussion ber die Tragweite des spezifisch europischen Traditionsgutes erledigt, und man wird erwarten knnen, da die
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Weltgesellschaft sich durch drastische Unertrglichkeiten hinreichend skandalisieren lt, um ein von regionalen Traditionen und
von regionalstaatlichen politischen Interessen unabhngiges
Rechtsnormengerst zu konstituieren.
Alles in allem wird diese Instaurierung von Weltrecht regional unterschiedliche Rechtsentwicklungen nicht beseitigen. Zu ihren
wichtigsten Auslsern gehrt die segmentre Zweitdifferenzierung
des weltpolitischen Systems in Staaten, das heit in politische
Systeme, die sich auf die staatliche Organisation kollektiv-bindender Entscheidungen spezialisieren. Das hat zur Folge, da die
strukturelle Kopplung des politischen Systems und des Rechtssystems ber Verfassungen auf der Ebene der Weltgesellschaft keine
Entsprechung hat. Damit allein ist jedoch noch nicht erklrt, weshalb es zu regional so unterschiedlichen Entwicklungen kommt, die
so weit gehen knnen, da die Funktionsfhigkeit und die Ausdifferenzierung der Orientierung am Recht in Frage gestellt sein
knnen.
Es ist zu vermuten, da das Ausgangsproblem in der mangelnden
Inklusion groer Bevlkerungsteile in die Kommunikation der
Funktionssysteme liegt, oder anders gesagt: in einer scharfen Differenz von Inklusion und Exklusion, die zwar durch funktionale
Differenzierung erzeugt wird, aber mit ihr im Ergebnis inkompatibel ist und sie untergrbt. Soziologen tendieren in Ermangelung
anderer Begrifflichkeiten dazu, diesen Sachverhalt als ausgeprgte
soziale Schichtung, wenn nicht als (international gesttzte) Klassenherrschaft darzustellen. Aber diese Begriffe verweisen auf eine
soziale Ordnung, die anerkannt oder doch akzeptiert wird und die
gerade als Ordnung der (wenngleich extrem unterschiedlichen) Inklusion dient. Man denke an die Rangordnung der Familien und
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63 Inklusion definiert Talcott Parsons: This refers to the pattern of action in question, or complex of such patterns, and the individuals and/or groups who act in
accord with that pattern Coming to be accepted in a S t a t u s of more or less fll
membership in a wider solidary social System - so in: Commentary on Clark, in:
Andrew Effrat (Hrsg.), Perspectives in Political Sociology, Indianapolis o. J . ,
S. 299-308 (306).
64 Die traditionelle Reflexion dieser schichtspezifischen Inklusion lief teils ber
Merkmale der anthropologischen Ausstattung des Menschen (vor allem ratio), an
denen alle teilhaben, was immer ihre soziale Position, und teils ber eine Philosophie des Glcks, das nach Gottes Willen jedem zugnglich sei. Letzteres vor allem
im 18. Jahrhundert in einer Situation des bergangs zu anderen InklusionsprinziJ82
ihrer (Abhngige einschlieenden) Haushalte oder an die Fabrikorganisation des 19. Jahrhunderts als Modell der Klassenherrschaft.
Die ausgeprgte Differenz von Inklusion und Exklusion hat sehr
viel gravierendere Folgen. Denn unter dem Regime funktionaler
Differenzierung regelt jedes Funktionssystem die soziale Inklusion
selbst und fr sich, und was an Relikten der alten Schichtungsordnung bleibt, kann dann nur noch nach Inklusion/Exklusion differenzieren. Mit der rasanten Verstdterung und dem Abreien aller
Sicherheiten, die in einer gewissen nichtmonetren Selbstversorgung lagen, wird das Problem noch verschrft. Die Betroffenen sind
dann von der Geldwirtschaft abhngig, ohne nennenswert an ihr
teilnehmen zu knnen. Die subsistenzwirtschaftliche Selbstversorgung mu durch Kriminalitt bzw. durch Teilnahme an mafiosen
Organisationen ersetzt werden.
Man kann gewi nicht sagen, da es unter solchen Umstnden kein
Recht gibt. (Es hat nie Gesellschaften ohne Recht gegeben.) Es wre
auch verfehlt anzunehmen, da es fr positives Recht keine Verwendung gbe oder da internationale Beziehungen, Verkehr, Handel usw. keine Rechtsgrundlagen htten. Die Beschreibung der
Phnomene mu begrifflich sehr viel differenzierter ansetzen. Den
vermutlich besten Zugang gewinnt man mit der These, da die Differenz von Inklusion und Exklusion als eine Art Metacode dient,
der alle anderen Codes mediatisiert. Es gibt zwar den Unterschied
von Recht und Unrecht, und es gibt auch Rechtsprogramme (Gesetze), die regeln, wie die Werte Recht bzw. Unrecht auf Tatbestnde verteilt werden. Aber fr exkludierte Bevlkerungsgruppen
hat diese Frage geringe Bedeutung im Vergleich zu dem, was ihre
Exklusion ihnen auferlegt. Sie werden rechtmig oder unrechtmig behandelt und verhalten sich entsprechend rechtmig oder
unrechtmig je nach Situationen und Chancen. Fr die Inkludierten gilt dasselbe, und dies besonders fr die Politiker und die
Angehrigen der Brokratie. Und wieder: Dies ist keine Frage der
pien, die dann mit Freiheit und Gleichheit umschrieben werden. Siehe zum Glck
des Landmanns und zur Reflexion der Oberschichten auf die Grenzen ihres eigenen
Glcks zum Beispiel das Kapitel Conversation avec un laboureur in: Jean Blondel,
Des hommes tels qu'ils sont et doivent tre: Ouvrage de sentiment, London - Paris
1 7 5 8 , S. 1 1 9 ff. Immer war dabei aber Schichtung als Schema der Inklusion vorausgesetzt, whrend Exklusion ber Zugehrigkeit/Nichtzugehrigkeit zu einer Familie bzw. einem Familienhaushalt bestimmt wurde.
583
sozialen Stratifikation, die Ordnungssubstitute fr Recht bereitstellen wrde, sondern es luft auf eine Unterminierung der Rechtsordnung selbst hinaus. Man kann nicht wissen, ob sie angewandt wird
oder nicht, und selbst die Zuordnung von Kommunikationen zum
Schema Inklusion/Exklusion ndert daran nichts, weil auf beiden
Seiten dieses Schemas (wenngleich in sehr unterschiedlich fataler
Weise) rechtmiges und rechtswidriges Verhalten ohne Beachtung
dieser labels gewhlt werden kann. Anders gesagt: Die Differenz von Codierung und Programmierung funktioniert nicht oder
nur geschwcht, weil andere Prferenzen vorgehen.TDas Dominieren der Unterscheidung Inklusion/Exklusion verndert die Erwartungen, die der Soziologe gewohnheitsmig mit dem Begriff der
Integration (und ber diesen Begriff oft mit dem Recht) verbindet.
Wenn man Integration definiert als Einschrnkung der Freiheitsgrade der integrierten Teile, dann sieht man sofort, da gerade der
Exklusionsbereich hochintegriert funktioniert. Die Negativintegration in die Gesellschaft ist nahezu perfekt. Wer keine Adresse hat,
kann seine Kinder nicht zur Schule schicken. Wer keine Papiere hat,
kann nicht heiraten, kann keine Sozialleistungen beantragen. Analphabeten sind, ob formell ausgeschlossen oder nicht, gehindert,
sinnvoll an Politik teilzunehmen. Die Exklusion aus einem Funktionsbereich verhindert die Inklusion in andere. Dagegen ermglicht die Inklusion eine geringere Integration, also grere Freiheiten, und sie entspricht auf diese Weise der Logik funktionaler
Differenzierung. Funktionale Differenzierung erfordert ein loose
coupling der Funktionssysteme, die Unterbindung von Rckschlssen aus einer Rolle auf andere; und darin liegen auch Chancen
fr Rechtsbrche und Korruption. Die Chancen, die Inklusion gewhrt, knnen in persnliche Vorteile, in Lageverbesserungen, in
Karrieren umgesetzt werden.
65
66
Das ist in gewissem Ausma normal. Wenn aber die Inklusion der
einen auf Exklusion der anderen beruht, untergrbt diese Differenz
das Normalfunktionieren der Funktionssysteme. Vor allem das
65 Fr Belege aus dem Verhltnis der brasilianischen Politik zum Verfassungsrecht
siehe Marcelo Neves, Verfassung und Positivitt des Rechts in der peripheren Moderne: Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falles Brasilien,
Berlin 1992.
66 Wir hatten uns von diesen Erwartungen an die Funktion des Rechts bereits oben,
Kap. 3,1, getrennt.
584
Recht ist dann betroffen. Denn das Rechtssystem beruht nicht nur
auf den systemeigenen Sanktionen, auf Verurteilung zur Zahlung
oder zu Strafen, sondern auch auf gesellschaftsweiter Resonanz
festgestellter Rechtswidrigkeit, die zustzlich motiviert, sich ans
Recht zu halten. Im hochintegrierten Exklusionsbereich ist, abgesehen von der Kontrolle ber den eigenen Krper, nichts zu verlieren.
Im wenig integrierten Inklusionsbereich werden die Folgen von
Rechtmigkeit/Rechtswidrigkeit nicht transportiert, und es lohnt
sich dann auch nicht, sich um die Feststellung dieser Werte nach
Magabe rechtsspezifischer Programme zu kmmern. In (gar nicht
seltenen) Extremfllen spielt es nicht einmal fr die Politik und das
Ansehen von Politikern eine Rolle, ob sie rechtmig oder rechtswidrig handeln. Auch die Organisation der Kontrolle der Gewalt,
die Polizei, richtet sich dann primr nach dem Status, den Inklusion
bzw. Exklusion verleiht, und nicht nach dem Recht. Es wre sicher
bertrieben, daraus auf Irrelevanz oder auf Nichtfunktionieren des
Rechtssystems im ganzen zu schlieen (abgesehen von der akuten
Situation des Brgerkriegs). Aber ob und aus welchen Anlssen der
Rechtscode benutzt wird oder nicht, richtet sich dann nach einer
anderen Differenz, der von Inklusion und Exklusion.
In entwicklungspolitischer Perspektive knnte es so aussehen, als
ob die Exklusion groer Bevlkerungsgruppen von Teilnahme an
den Vorteilen der Entwicklung eine vorbergehende Bedingung der
Entwicklung sei; man knne, knnte es heien, nicht alle sogleich
an allen Vorteilen der modernen Gesellschaften partizipieren lassen.
Die Frage bleibt jedoch, ob eine weltweite Realisierung des derzeitig Wohlstandsniveaus einiger Industrielnder berhaupt mglich
ist - allein schon aus kologischen Grnden. Auch mu man an die
starke Geschichtsabhngigkeit aller autopoietischen Systeme denken. Sie setzen ihre Operationen immer an einer bereits strukturierten Ausgangslage an und knnen dann ebensogut abweichungsverstrkend (mit positivem Feedback) als auch abweichungsmindernd
(mit negativem Feedback) wirken. Schlielich kann man nicht unterstellen, da das derzeit dominierende System der strukturellen
Gewichtung der Funktionssysteme langfristig so bleibt, wie man es
heute vorfindet. Anders als in der Parsonsschen Theorie des allgemeinen Handlungssystems sehen wir funktionale Differenzierung
als ein evolutionres Produkt und nicht als eine logische Folge der
Analyse des Handlungsbegriffs. Es kann daher durchaus sein, da
585
die gegenwrtige Prominenz des Rechtssystems und die Angewiesenheit der Gesellschaft selbst und der meisten ihrer Funktionssysteme auf ein Funktionieren des Rechtscodes nichts weiter ist als
eine europische Anomalie, die sich in der Evolution einer Weltgesellschaft abschwchen wird.
Register
Abhngigkeit s. Interdependenz
Abwgung 2 7 9 , 3 1 8 , 528, 5 3 9 ; s.
Interessenabwgung, Werteabwgung
Abweichungsverstrkung
274
actio 1 2 2 , 290, 3 1 0
Adel 409 Anm. 5, 4 1 1 f., 4 6 9 , 5 1 4
aequitas 2 2 8 , 3 7 6 Anm. 9 3 , 3 7 8 ,
4 1 3 , 508
Akrasie 548 f.
Amplifikation 11
analog/digital 4 4 i f .
Analogieschlsse 2 7 1 , 3 4 6 , 349,
360, 388, 396
Anfang 1 3 8 , 2 1 2 ; s. Ursprung
-/Ende 208
Anomie 1 2 8 , 1 5 2
Anpassung 1 7 7 , 1 8 7 f., 1 9 4 , 240,
2 6 0 , 2 6 2 , 2 7 6 , 284, 288, 2 9 3 ,
$ 5 1 ff., $ 6 1 , 5 6 7
Anschuldigungen 2 j 8
Arbeit 1 4 1
Argumentation 1 9 2 Anm. 5 2 , 2 3 6 ,
2 6 2 ff., 3 0 7 , 3 1 7 , 3 3 8 ff., 503, 525
Funktion von 3 72 ff.
Asymmetrisierung 1 7 4 f., 1 8 8 ,
3 0 6 f.; s. Hierarchie
Attraktor 3 54 f.
Auslegung s. Interpretation
Ausschlu dritter Werte 1 7 7
Autologie 3i6f., 3 4 3 , 4 7 2 f . , 498f.,
526, 542, $44
Autonomie 4 $ , 62 ff., 7 7 , 1 1 6 , 3 0 2 ,
3 2 2 , 4 2 3 , 4 5 2 Anm. 2 9 , $ 4 $ , $ 5 4
Anm. 1 2
Autopoiests 30, 4 5 , 4 7 , 50, $4, 6z,
83, 109, 1 7 9 , i87f., 203, 2 4 1 ,
2 4 2 , 2 9 3 , 3 2 9 , 399, 4 3 6 , 4 4 0 ,
4 $ 4 , 468, $$2ff.
Beschleunigung 4 2 7 f .
Betroffene 1 4 1 f., 5 3 6
- Zustimmung 99 f.
Beweise 19f., 2 8 4 , 2 9 $ f.
Bewutsein 2 6 1 , 4 0 0 , 444, 4 8 2 ,
566
Bifurkation 1 1 4 , i 3 o f . , 1 4 2 , 1 6 6 ,
2
37
Edikt 265
Eideshelfer 2 6 2 f., 2 8 2 , 4 4 6
Eigentum 1 1 5 , 1 4 0 L , 1 5 1 , 1 9 1 , 2 2 4
Anm. 28, 266f., 2 7 5 , 44rJf.,
causa 60, 4 6 0 f.
Code
- Rejektion 1 7 2 f., 1 8 1 f.
- Selbstbezeichnung 209
Codierung, binre 60 f., 67 ff., 1 2 8 ,
2 8 8 , 383f., 420f., 4 J 4 , 5 7 0 L ; s.
Recht/Unrecht
- /Programmierung 9 3 , 165 ff.,
2 1 5 f.
constitutio 4 7 1 f.
coupling s. loose coupling
Critical Legal Studies 11 Anm. 5,
empirische Referenz 31 f.
Enteignung 4 5 4 Anm. 3 1 , 560
Entfaltung einer Tautologie/Paradoxie 5 6 L , 102, 1 1 2 , 120, 1 2 4 L ,
1 4 4 , 168 ff., 1 7 6 , 1 8 2 L , 190 f.,
204, 2 1 5 , 2 2 0 , 234 t., 284, 3 1 0 ,
5 3 1 , 538, 5 6 2
Emergenz 5 4 , 62
empirische Forschung 1 1 7 Anm.
147
3 1 9 , 3 2 0 , 3 7 3 , 3 9 $ , 500, 514
Dankbarkeit s. Reziprozitt
Dekonstruktion 3 7 1 f., 546f.
Delegation 3 86 f.
Deliktsrecht 1 7 0
Demokratisierung 2 7 8 , 3 0 5 , 3 3 6 ,
4 1 j f., 4 2 3 , 4 3 8 , 4 7 1 , 4 7 9 , 4 8 0 ,
516
Derogation 180, 3 0 1 , 4 1 3
Dezisionismus 38 f., 3 7 4 , 5 2 2
Differenzierung
- funktionale 60, 1 1 2 f., 1 1 5 f.,
1 4 1 , 1 5 0 , 1 5 7 , 1 9 2 , 294, 3 3 3 ,
4 2 3 , 446, 479, 4 8 1 f., 5 0 4 L ,
572f., 584f.
- systeminterne 2 9 7 L , 3 2 3
differenztheoretischer Ansatz 2 6 ,
281
dignitas/dignatio 575
Dispense 1 8 0 f., 4 1 3
dispositio 4 5 8
Dissens; s. Konsens
Divination 2 4 5 , 2 4 7 f., 260
588
Erlaubnisnormen 1 9 7 f.
erlaubt/verboten 18 5 f.
Erwartungen 3 2 , 6 1 , 1 2 5 , 1 5 1 f.,
4 4 3 ; s. normative/kognitive
- kontrafaktische 1 2 9 f., 254; s.
Normen
- streitige/unstreitige 1 3 9
Erziehung als Staatsauftrag 4 1 5
Ethik 2 5 , 1 3 7 , 1 5 0 , 2 i i , 2 1 6 , liyf.,
2 3 2 , 264 Anm. $ 3 , 3 4 6 , 3 7 4
Evolution 1 1 4 , 1 3 1 , 1 6 3 , 166, 168,
2 1 9 , 2 9ff., 3 2 8 , 3 5 1 , 360, 3 7 4 ,
3
4 0 2 , 494
Geld, Geldwirtschaft 1 4 0 , 4 2 5 ,
448f., 4 5 3 , 4 5 6 , 5 7 2
Geltung 3 2 , 98 ff., 2 1 2 , 2 1 5 , 2 1 7 ,
2 5 2 , 2 5 5 , 2 6 1 , 2 8 0 , 3 1 0 , 338f.,
3 6 6 , 3 7 3 , 406, 4 6 6 , 4 8 5 , 5 2 3 , 563
Flle s. Rechtsflle
familia s. Haushalt
Familie 1 4 6 Anm. 3 4 , 1 5 9
Fehler 1 8 4 , 3 2 9 , 3 4 2 f . , 3 5 3 , 3 5 6 ,
3 5 7 . 4o f
Folgenbercksichtigung
2 i 4 f f . , 2 6 3 f., 2 7 2 , 2 9 6 , 3 3 8 , 350,
19,
280
Anm. 84, 3 0 9 , 3 i 6 f . , 3 3 0 ,
3 9 3 ff
Formalismus 3 7 6 , 548
Fortschritt 2 1 , 2 8 , 28e
Freiheit als Recht 2 3 3 f., 2 9 1 , 4 8 5 ,
5 1 3 ff., J 7 7 f - , 580f., s. subjektive Rechte
Freiheit, Recht als Garantie 1 5 8 f.,
3 9 1 , 4 1 1 , 4i4f., 4 2 2 f . , 450, 535
- /Leistung 15 6 ff.
5 1 8 ; s. Gleichheit
- /Billigkeit 7 8 , 2 2 8
Gerichte 1 2 1 , 1 4 9 , 2 2 9 L , 2 3 6 f . ,
2 ff.'
- als Organisation 3 2 1 f.
geschriebenes/ungeschriebenes
Recht 250ff.
Gesellschaft als Rechtsverhltnis
490 f.
Gesellschaften, stratifizierte 1 1 2 ,
97
1 9 1 , 2 2 4 , 2 2 6 , 2 5 2 L , 2 6 2 , 299t.,
Gesellschaftssystem 34f., 5 5 ,
1 2 4 f., 1 8 6 f., 4 4 4 , 5 50 ff.
Gesellschaftstheorie 7, 24 f., 492 t.,
5 50 ff.
589
Gesellschaftsvertrag 2 1 , 1 9 2 , 3 5 5
Anm. 78, 4 1 2 , 4 5 0 Anm. 2 2 ,
4 5 1 , 490, 5 i f . , 523 f., 575 f.,
4
58.
590
Idealisierungen 548
Ideen 2 1 2 , 2 1 9
Identitt 7 5 , 2 1 4 ; s. Selbstbeschreibung
Immunsystem, Recht als 161 f.,
j6$_ff.
Imperium 4 0 8 , 4 5 7 Anm. 34
444> 4 5 9
Inklusion 7 4 , 1 1 5 , 1 1 6 , 154, 160,
2 3 0 , 2 9 2 L , 3 2 1 , 4 1 5 , 482, 5 3 6
- /Exklusion 5 8 2 ff.
Input/Output 4 2 , 69, 442
Institution 29 Anm. 4 1 , 355f., 3 6 7 ,
506 f.
Institutionalisierung s. Untersttzung
Integration 1 2 5 f., 1 5 5 , 584f.
Interdependenz, kausale 43 f., 6 5 ,
76f., 4 2 1 f., 428 f., 438
Interessenjurisprudenz 3 89 ff.,
396 f.
Interpntration 90
Interpretation 89f., 2 4 7 , 255 f.,
278 f., 303 f., 3 1 2 , 3 2 7 , 340 ff.,
3 6 2 ff., 4 2 0 , 5 2 7 ; s. Hermeneutik
invisible hand 3 5 5
Irritation, Irritierbarkeit 69, 1 7 5 ,
2 1 1 , 2 7 7 , 2 7 8 , 2 8 5 , 3 2 2 , 374,
4 0 i , 0 5 , 44^ff- 4 7 , 4 9 3 ,
Konkurrenz 465
555
Konsens/Dissens
ius 4 8 3 , 5 2 3
ius eminens 1 8 0
ius gentium 507 t., 5 1 4 Anm. 43
iurisdictio 1 9 1 Anm. 5 1 , 2 2 8 , 289,
3 0 0 f., 3 7 8 , 4 0 8 , 4 6 7
Juristen 264 f., 300, 406, 4 3 1 ff.,
$ 3 1 f., 5 4 8 ; s. Profession
juristische Person 2 7 6 , 2 9 2
Justizverweigerungsverbot 8 5
Anm. 8 5 , 1 8 1 , 2 0 4 f . , 2 3 0 , 3 0 3 ,
3 0 6 , 3 i o f f . , 3 8 5 Anm. 1 1 7 , 5 3 5
Kautelarjurisprudenz 2 0 , 1 9 7 , 3 3 1 f.
Kapital 4 5 6
Karrieren 3 3 0 , 558
Katastrophe 2 5 2
Kausalitt 1 9 6 ; s. Interdependenz
Kirche 408, 448
Klassenherrschaft 582 f.
Knappheit 1 4 0 f., 2 1 8 , 2 2 2
Kommunikation 3 5 , 5 1 , 5 5 , 1 2 6 L ,
295
Kompetenznorm
ii9f., i3of.,
Krankenbehandlung 2 3 6 Anm. 54
Kreditsicherung 2 6 7 , 448
Kreuzen der Grenze 1 7 7 , 1 8 3 , 371
Krieg 163
Kriminalisierung 2 8 3
Kriterien 189f., 2 1 6 ; s. Programme
Kritik 190, 220
274
354. 471
5 3 8 . 558
Lernen 207, 3 7 6 , 5 67 f.
Lesen 3 6 2 f.
Logik 1 9 , 7 3 , 84, 169f., 3 0 2 , 312f.,
3 2 6 , 3 4 3 . 3 4 4 . 3 8 3 . 3 8 8 . 400, 502,
545
- zweiwertige/mehrwertige
180,
5 4 5 . 547
loose coupling 3 59 f.
591
5 5 . 570, 574ff.
Menschenwrde 5 7 5 , 579ff.
Merkregeln 2 7 0
Methode, juristische 304, 3 2 6
Anm. J 7 , 5 3 0 ; s. Interpretation
mischief rule 2 7 6 t.
Moral s. Recht
Code/Programme 78 f.
Motive 4 3 0 , 4 6 1 , 4 6 2 f., 466, 4 8 2
als Auslegungsgesichtspunkt 89,
53
der Normbefolgung 1 3 4 f.
natrliche Rechte 1 5 1
natural selection 2 4 1
Naturrecht 2 7 , 2 8 , 3 9 , 73 f., 1 1 3 f.,
1 1 5 , 1 8 0 , 1 9 1 f., 2 1 7 , 2 I 9 f . ,
Naturzustand/Zivilzustand 2 3 4 ; s.
Zivilisation
Negation 1 8 8 , 545
Neokorporatismus 4 2 0
Neues 428
Neutralisierung von Unrecht 2 5 8
Anm. 4 7
Normnderungen 4 7 , 8 1 , 8 3 , 94,
1 3 0 ; s. Strukturnderungen
Normalitt 1 3 8
592
normative/kognitive Erwartungen
f
referenz
Notwehr, Notstand 285
Nutzen 3 7 8 ; s. Folgenbercksichtigung
obiter dicta 3 1 5 f.
Objekte/Begriffe 26, 5 3 , 384
obligatio 170, 267, 460, 464
obstacles pistmologtques 5 30
ffentliches Recht 2 7 5 , 2 8 1 , 3 1 1 ,
408, 469
491
Parmien 2 7 0
Parteien, politische 41e, 4 2 1
pax et iustitia 4 3 8 ; s Staatsrson
Personalisierung der Rechtslagen
2 9 1 ff., 3 1 9 , 5 3 6 f.
Physiokraten 4 6 7
Pluralismus 2 7 9 f.
political questions-Doktrin 4 2 2
Politik, instrumenteile/symbolische
478
- juristische 1 0 , 1 8 4 , 340, 3 4 1 ,
3 8 2 , 401 f., 5 6 3 f.
Recht
- Abstraktion, Systematisierung
ff., 2 7 2 ff.
- als Befhigung 1 3 6 , 1 5 8 f.; s. Erlaubnisnormen
- als Einheit 20 f., 2 2 , 3 4 , 54, 73,
98, 1 4 6 , 1 7 6 f., 1 8 8 , 2 1 4 , 2 1 7 ,
9
Polizei 1 2 0 Anm. 1 5 5 , 4 3 0
Popularklage 2 9 1 , 2 9 3
Postmoderne 5 3 9 f.
Potentialisierung 43 Anm. 1 2 ,
396 f.
potestas 408, 409
Praetor 1 2 2 , 2 6 5 , 299
Przendenzen-Bindung 280, 3 1 4 ,
365 f., 3 7 0 Anm. 8 3 , 5 2 5 , 530f.
Prinzipien 1 1 4 , 2 1 9 , 3 1 5 , 320, 344,
f
534. 5 4
- Berechenbarkeit 5 8 ; s. Rechtssicherheit
- Form (Unterscheidung) 30
- Irrtmer 90
- konomische Analyse 22 ff.,
286f., 3 4 6 , 4 6 6 , $ 1 5
- postitives, Positivitt 38 ff., 73f.,
1 9 2 , 28of., 2 8 9 , 2 9 1 f., 3 0 1 , 3 1 2 ,
3 8 9 , 4 1 6 , 4 1 7 , 4 3 8 , 474, 479,
5 1 0 , 5 1 5 ff., 5 3 8
- bergesetzliches 3 2 , 2 5 1 f.
- und Moral 39 f., 78 f., 85 f., 88 f.,
96, 1 3 4 , 1 3 7 , 2 1 1 , 2 3 2 f . , 3 i 4 f ,
3 1 8 , 338, 474
3 4 5 . 3 5 ' 3 5 . 4 2 9 . 4 3 f - . 547
593
- gesellschaftsadquate
$62
- unbesimmte 2 7 9
Rechtsbewutsein 148 f.
Rechtsdogmatik 20, 1 7 6 , 2 6 5 , 2 7 4 ,
2 7 9 , 289f., 366, 367f., 387f.,
479f., 486, $ 2 5 , 539
Rechtsdurchsetzung 1 3 5 f., 152f.,
446
415,483
Rechtsvergleich 13 f.
rechtswidrige Rechtsentscheidungen 8 1 , 4 1 3 f . , 4 3 7 f .
Redundanz 3 $ 2 f . , 3 7 o f . , 390,
493 f-
2 3 4 f . 3 > 5 ! . 547
5 3ff-> 534
21,
39,
194, 4 7 4 , 4 9 1 , 539
Rechtsrealismus 390, 5 3 1
Rechtssicherheit 2 0 , 68 f., 1 9 4 ; s.
triviale/nichttriviale Maschinen
Rechtssouvernitt 1 4 6 , 205, 2 7 1
Anm. 69, 409 ff.
Rechtssoziologie 7, 1 7 , 29, 3 1 ,
33 f., 1 2 j f., 3 2 9 , 4 5 2 , $40ff., 561
Anm. 2 2 ; s. Soziologie
Rechtsstaat 4 1 4 f., 4 1 7 , 4 2 2 ff., 489,
579
Rechtssubjekt 4 1 0 f . , 4 1 9 f . , 5 3 5
Rechtssystem
als Teilsystem der Gesellschaft
34f., 5 5 , I24f., 1 4 3 , 1 4 5 , 186f.,
2 2 j f., 2 4 2 t., 444f., 5 0 5 ,
554f-
Ausdifferenzierung 3 4 , $8 ff.,
73I-. 1 3 3 . I37f- I55f-. lf-
2 6 3 , 2 9 7 , 4 4 4 f., 5 5 4 ; s. Evolution
594
Rechtstatsachenforschung 29
Rechtstheorie 11 ff., 1 4 6 , 148, 2 1 6 ,
2 f
Rechtsfhigkeit, allgemeine 2 9 1 ,
Rechtsquellenhierarchie
- /Handlung 2 5 7 f .
Regierung/Opposition 4 2 1 , 436
Reihenfolge der Argumente 369
Rejektionswert 1 8 1 , 1 8 7 , 546
Rekursivitt 50, 8of-, 1 0 1 , 106,
1 0 9 ^ , 1 1 4 , 1 2 6 , I37f., 1 7 8 , 2 2 7 ,
3 2 7 , 349 f., 4 3 4 f., 4 4 1 ; s. Autopoiesis
Religion 1 1 8 Anm. 1 4 9 , 1 1 9 f.,
1 3 0 , 1 6 3 , 2 5 1 , 2 5 2 , 4 8 9 Anm.
105, $ 1 1
Reprsentation, politische 4 6 7 ,
469
Rhetorik 3 0 4 , 3 4 5 , 3 4 8 f., 3 6 3 f.
Richter s. Gerichte
Richterrecht 3 0 4 ! . , 306, 3 1 4 f . ,
316,
409, 4 2 0 , 525
Richtigkeit 1 9 2
Risiko 2 3 , 2 5 , 1 4 1 ff., 171, 1 9 9 ,
4 8 8 , 5 5 4 , 56bf., 563
Rollenasymmetrien
581
rule of law 4 2 2 ; s. Rechtsstaat,
rules of recognition (Hart) 1 0 2 ,
109, 2 1 1
Semantik 1 2 7
Sinn 1 2 7 , 2 1 4 , 2 5 5
social engineering 3 89 f.
Solidaritt 4 8 5 f.
Sollens-Symbolik 1 2 9 , 502
Souvernitt 300f., 3 3 5 , 408,
409 f., 4 1 8 , 4 7 j ff.; s. Rechtssouvernitt
Sozialarbeit 578
soziale Bewegungen 94 f., 1 5 0 , 473
Anm. 78
soziale Kontrolle 1 2 5 f., 1 5 4
Sozialisation 486 f.
Soziologie 1 4 , 16 ff., 21 f., 2 9 , 37,
540ff.; s. Rechtssoziologie
spezifisch/universell 3 6 6
Sprache 36f., 49, 56, 84, 1 0 2 ,
i 2 7 f . , 3 5 3 , 496
- /Fremdbeschreibung 17 f., 2 4 ,
74 f., 496 f.
Selbstorganisation 4 5 , 3 7 6
Selbstreferenz, Selbstbeobachtung
5 1 , 53 f., 73 f., 1 7 5 f., 2 1 4 , 2 8 4 ,
3 3 9 . 477I- 480, 498, 5 3 2
Selbstreferenz/Fremdreferenz 52 f.,
66, 7 7 , 8 3 , 8 7 , 9 2 f . , 1 9 5 , 2 8 8 f . ,
393 f f - 533 5
6 2
Selbstrejektion 181
Selbstspezifikation 2 2 0
Selektion, evolutionre 2 4 2 ,
262 ff.
Staat 4 0 7 ^ , 4 1 6 , 4 2 3 , 4 3 7 , 470,
478,
5 7
6 f . , 582
Staatsangehrigkeit
415
Staatsorganisation 3 3 5 f.
Staatsrson 1 7 2 , 1 8 0 , 4 1 3 f., 4 3 7
Stabilisierung, evolutionre 2 4 2 ,
2 7 2 ff.
Statistik 540 ff.
Steuern 4 5 1 , 456, 4 8 7
Steuerung, gesellschaftliche 1 5 4
Strafe, Strafbarkeit 2 8 3 f., 2 9 2
Stratifikation s. Gesellschaften
structural drift 4 9 5 , 5 6 1
Struktur/Operation 3 7 , 4 1 , 4 5 ,
49 f., 6 3 , 2 1 1 f.
Strukturnderung 5 5 4 ; s. Evolution
- Beobachtung von 46
Strukturdetermination 49 f., 240,
442
Strukturfunktionalismus
165
595
Supplement 1 8 9 , 2 1 6 , 2 3 1 , 546
suum cuique 2 2 4 , 508 Anm. 22
Symbol, operatives 98 f., 1 3 0 , 2 5 1
symbolische Generalisierung 1 2 9 f.
Symmetrie, Symmetriebruch 1 7 4 f.,
4 5 4 . 5^6
Synallagma 2 2 6 f . , 2 6 7 , 459f.; s.
Vertrag
Synchronisation 4 4 3
System
- offenes/geschlossenes 4 2 , 76 f.
- selbstreferentielles 51 f.
- /Umwelt 2 3 , 2 4 , 41 ff., 5 3 , 76f.,
92 f., 1 4 3 , 1 7 7 f . , 297, 374 f.,
440f., 506, 5 3 7 , 5 5 5 , 566
Systematisierung s. Recht
Systembegriff 40 f.
Systemtheorie 15 f., 23 f., 3 7 6 ,
off.
J5
- /Evolutionstheorie 240f.,
55.f.
Tatsachen/Begriffe 33
Tausch 2 6 7
Technik, juristische 396
Technisierung 1 7 5 , 1 8 3 f.
Teleologie 1 7 8 f., 1 9 8 , 2 1 0 , 3 7 6
Terror 4 7 0 f.
Text 2 5 5 f., 3 3 8 ff., 3 6 2 ff., 3 7 2 f.,
Torah 1 1 9 f.
Tradition 1 1 3 f., 1 1 9 f . , 190
tragic choices 209
Transaktion 4 5 3 , 4 5 6 , 464
triviale/nichttriviale Maschinen 58,
196
Tugend 2 1 9 , 2 2 2 , 2 2 7
Ultrastabilitt 401
Umweltrecht 2 9 3 , 4 2 9 , 488, 3 6
Unabhngigkeit, professionelle
63 f.
unbestimmbar/bestimmbar 220 f.
unconstitutional s. verfassungswidrig
Ungewiheit, selbsterzeugte
207ff., 3 1 8 , 3 3 3 , 537f.; s. Zukunft
Ungleichheit s. Gleichheit
Universalismus 7 2 , 1 1 2 , 146, 296,
3"3
universell/spezifisch 366
Unparteilichkeit der Richter 2 1 0 ;
s. Befangenheit
Unruhen s. Frieden
Unsicherheitsabsorption 90, 98
Unterscheidung 26ff., 5 2 , 175 f.,
2 5 5 . 3 1 0 . 342f-, 3 7 1 f., 3 8 4 1 . ,
5 4 2 ; s. Beobachten, Form
Untersttzung, soziale des Rechts
1 2 1 f., 146f., 2 9 2 , 556
Un Wahrscheinlichkeit 1 6 9 , 288
Theokratie 408
Theorien
- juristische 9 f.
- wissenschaftliche 14
Therapie 2 0 1 f.
Topik als Methode 3 0 4 , 3 3 9 Anm.
4. 3 4 8 f-
596
2 t
2 9 2 , 302, 3 3 - > 4 , 5 3 4 ; s .
Prozeduralisierung
Verfassung 39, 95 f., 108f., 1 9 2 ,
2 5 6 Anm. 4 4 , 2 7 8 , 2 8 3 , 290
Anm. 1 0 6 , 4 1 3 , 4 5 o f . , 4 6 7 ,
4 7 0 ff., 5 1 4 , 5 2 6 f.
Verfassungsgerichtsbarkeit
473
Anm. 7 6 , 4 8 1
verfassungswidrig/verfassungsmig 4 7 4 f.
Vergangenheit 1 9 7
- /Zukunft 4 5 , 1 9 7 f .
Vergessen als Anpassung 46 f., 1 1 9 ,
2 4 6 ; s. Gedchtnis
Verhaltenssteuerung 1 5 7 ff.
Verhandlungsmacht
537
Vernunft 1 8 4 , 2 8 1 , 289, 3 4 3 , 3 4 7 ,
Wiedereintritt s. re-entry
Wiederholung I 2 7 f . , 2 i 4 f . , 249,
2 5 5 , 2 6 1 , 3 4 7 , 349f., 385
Willenserklrung 4 6 1 ff.
Willkr 38f., 1 3 8 , 1 9 3 , 2 9 1 , 476f.,
516, 522
3 6 7 , 3 7 7 1 . , $08f., 5 1 7 , $ 2 l f . ,
Zeichen I 2 8 f . , 1 3 0 , 2 5 4 , 2 5 5
JJ2I.
492f., 5 2 i f . , 5 2 6 h , 5 3 J f . , 5 3 7 .
556
567