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Karl R.

Popper

Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 1

UTB

Francke

U4-Text: Kindlers Neues Literaturlexikon zu diesem Buch:


Die oene Gesellschaft und ihre Feinde ist so schrieb Bertrand Russel anllich der ersten Ausgabe ein Werk von grter Bedeutung, das es verdient, wegen seiner meisterhaften Kritik der Feinde der Demokratie in weiten Kreisen gelesen zu werden. Poppers Angri auf Platon ist unorthodox, aber meiner Meinung nach vllig gerechtfertigt. Seine Analyse von Hegel ist vernichtend. Marx wird mit gleichem Scharfsinn untersucht, und sein Anteil an der Verantwortung fr das zeitgenssische Unheil wird festgestellt. Das Buch ist eine kraftvolle und tiefschrfende Verteidigung der Demokratie.

Der Brockhaus ber Karl Popper:

2004-04-20 Nicht zum Verkauf !

Karl R. Popper

Die oene Gesellschaft und ihre Feinde I Der Zauber Platons

Francke Verlag Mnchen

Dem Andenken des Philosophen der Freiheit und Menschlichkeit Immanuel Kant sei die deutsche Ausgabe gewidmet

Titel der Originalausgabe: The Open Society and Its Enemies, I. The Spell of Plato. (Routledge and Kegan Paul, London) bersetzt von Dr. P. K. Feyerabend. In der englischen Ausgabe sind die Kapitel der beiden Bnde von bis 25 numeriert. In der deutschen Ausgabe sind die Kapitel des ersten Bandes von bis 0 numeriert und die des zweiten Bandes von bis 5. Deutsche Ausgabe 957 A. Francke AG Verlag, Bern 4. Auage 975 A. Francke Verlag GmbH, Mnchen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-7720-33-0 Einbandgestaltung: A. Krugmann, Stuttgart

EINFHRUNG ZUR DEUTSCHEN AUSGABE Diese Ausgabe ist dem Andenken Immanuel Kants, des Philosophen der Freiheit, der Menschlichkeit und des Gewissens gewidmet. Wer dieses Buch liest, wird sehen, wieviel der Verfasser Kant zu verdanken hat. Moral predigen ist leicht, Moral begrnden schwer, wie Schopenhauer sagt. Die Moral, die in diesem Buch implizite gepredigt wird, ist die, die Kant begrndet hat so gut sie der Verfasser eben versteht. Kein Name ist mehr mibraucht worden als der Kants. Um klar zu zeigen, welchen Kant der Verfasser meint nmlich den kritischen Philosophen der Aufklrung und nicht den des deutschen Idealismus , wird hier als Einfhrung zur deutschen Ausgabe dieses Buches eine Gedchtnisrede wiedergegeben. Sie wurde vom Verfasser am Abend des 2. Februars 954, dem hundertfnfzigsten Todestage Kants, im Londoner Rundfunk gehalten. Penn, 3. Dezember 955. VORWORT ZUR ERSTEN ENGLISCHEN AUSGABE Auch wenn in diesem Werk, dessen erster Band das vorliegende Buch bildet, harte Worte ber einige der grten geistigen Fhrer der Menschheit fallen, so hoe ich doch, da mein Beweggrund nicht als Wunsch verstanden wird, sie herabzusetzen. Mein Beweggrund ist eher in meiner
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berzeugung zu suchen, da wir, wenn unsere Kultur weiterbestehen soll, mit der Gewohnheit brechen mssen, groen Mnnern gegenber unsere geistige Unabhngigkeit aufzugeben. Groe Mnner knnen groe Fehler machen, und ich versuche hier, zu zeigen, da einige der grten geistigen Fhrer der Vergangenheit den immer wieder erneuerten Angri auf Freiheit und Vernunft untersttzt haben. Ihr irrefhrender Einu, dem so selten entgegengetreten wird, hat oft gerade die verfhrt, von denen die Verteidigung unserer Kultur abhngt, und er spaltet sie noch immer in feindliche Lager. Die Verantwortung fr diese tragische Spaltung, die wohl unser Schicksal besiegeln kann, trifft uns, wenn wir es nicht wagen, Ideen zu kritisieren, die, wie wir zugeben mssen, einen wichtigen Teil unseres geistigen Erbgutes bilden. Unsere Furcht vor einer teilweisen Kritik dieses Erbgutes kann die Zerstrung des Ganzen zur Folge haben. Die beiden Bnde knnen als eine kritische Einfhrung in die Philosophie der Politik und der Gesellschaft und als eine Untersuchung einiger der Prinzipien des sozialen Wiederaufbaus bezeichnet werden. Ziel und Weg werden in der Einleitung besprochen. Die Probleme des Werkes sind die unserer eigenen Zeit auch dort, wo es in die Vergangenheit zurckblickt. Ich habe mich sehr bemht, sie so einfach wie mglich darzustellen, in der Honung, Dinge zu klren, die uns alle betreen. Obgleich das Werk von seiten des Lesers nichts voraussetzt als einen oenen Kopf, strebt es nicht so sehr eine
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Popularisierung der behandelten Fragen als ihre Lsung an. Ich versuche jedoch, beiden Zwecken zu dienen, und habe deshalb all jene Dinge, die vielleicht von weniger allgemeinem Interesse sind, am Ende des Buches in Anmerkungen zusammengefat. Christchurch, Neuseeland, April 944.

VORWORT ZUR AMERIKANISCHEN AUSGABE Vieles, was in diesem Werk enthalten ist, nahm zu einem frheren Zeitpunkt Gestalt an; aber den Entschlu zur Niederschrift fate ich im Mrz 938, als mich die Nachricht von der Invasion sterreichs erreichte. Die Niederschrift erstreckte sich bis ins Jahr 943, und der Umstand, da der grte Teil whrend jener schweren Jahre geschrieben wurde, wo der Ausgang des Krieges ungewi war, mag vielleicht erklren, warum mir heute manche meiner kritischen Bemerkungen emotionaler und in der Formulierung hrter erscheinen, als ich es jetzt wnschte. Aber Zeit und Umstnde verlangten eine scharfe Sprache: auf einen groben Klotz gehrt ein grober Keil; wenigstens erschien mir die Sache damals in diesem Licht. Weder der Krieg noch irgendein anderes Ereignis dieser Zeit wurden in dem Buche ausdrcklich erwhnt; dennoch war es ein Versuch, diese Ereignisse und ihre Grnde zu verstehen und einige der Fragen anzuschneiden, die, wie ich voraussah, nach
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dem Kriege erst zu wirklich brennenden Problemen werden wrden. Die Erwartung, da sich der Marxismus zu einem zentralen Problem entwickeln wrde, war der Grund dafr, da ich ihn so ausfhrlich behandelt habe. Im Dunkel der gegenwrtigen Weltlage betrachtet, drfte die Kritik des Marxismus, die ich im zweiten Band dieses Werkes vorlege, als dessen wichtigster Punkt erscheinen. Eine solche Beurteilung des Werkes wre wohl nicht ganz verfehlt und ist vielleicht unvermeidbar; dennoch sind meine Ziele viel weiter gesteckt. Der Marxismus ist schlielich nur eine Episode, nur einer der vielen Irrtmer, in die wir in unserm unentwegten und so gefhrlichen Kampf um den Aufbau einer bessern und freien Welt verfallen sind. Es kam mir nicht unerwartet, da manche mich tadelten, weil ich Marx zu scharf kritisiert htte; andere wieder meinten, ich htte Marx, im Vergleich zu der Heftigkeit meines Angries auf Platon, viel zu milde behandelt. Aber ich glaube noch immer an die Notwendigkeit, Platon aufs schrfste zu kritisieren, und zwar gerade deshalb, weil die allgemeine Verehrung des gttlichen Philosophen in seiner berwltigenden geistigen Leistung eine wirklich ernsthafte Grundlage besitzt. Andererseits wurde Marx so oft aus persnlichen und moralischen Grnden angegriffen, da hier ein Bedrfnis bestand, seine Theorien einer strengen rationalen Kritik zu unterwerfen, gleichzeitig aber zu versuchen, ihren erstaunlichen moralischen und intellektuellen Einu zu verstehen und richtig einzuschtzen. Mit Recht oder mit Unrecht hielt ich selbst meine Kritik
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des Marxismus fr vernichtend; daher glaubte ich, es mir leisten zu knnen, nach Marx wirklichen Errungenschaften zu suchen und hinsichtlich seiner Motive im Zweifelsfall das Beste anzunehmen. Auf alle Flle ist es immer besser, die Strke eines Gegners nicht zu unterschtzen, besonders dann, wenn wir ihn bekmpfen wollen. Kein Buch kann jemals fertig werden: whrend wir daran arbeiten, lernen wir immer gerade genug, um seine Unzulnglichkeit klar zu sehen, wenn wir es der entlichkeit bergeben. Was meine Kritik an Platon und Marx betrifft, so war diese unvermeidliche Erkenntnis nicht viel peinlicher, als ich es gewohnt war. Aber viele meiner positiven Vorschlge und vor allem das starke Gefhl des Optimismus, das das ganze Werk durchdringt, machten auf mich im Laufe der Nachkriegsjahre mehr und mehr den Eindruck der Naivitt. Es schien mir, als gehre meine eigene Stimme einer fernen Vergangenheit an; sie klang wie die Stimme eines der honungsfreudigen Sozialreformer des achtzehnten oder sogar des siebzehnten Jahrhunderts. ber dieses pessimistische Gefhl bin ich aber hinweggekommen, zum groen Teil infolge eines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten. Und ich bin nun froh, da ich mich bei der Revision des Werkes darauf beschrnkt habe, neues Material einzufgen und sachliche und stilistische Fehler zu verbessern: ich bin froh, da ich der Versuchung widerstanden habe, seine Tonlage tiefer zu stimmen. Denn trotz der gegenwrtigen Weltlage bin ich so honungsvoll wie nur je.
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Ich glaube, ich sehe heute klarer als zuvor, da alle unsere Nte und Schwierigkeiten einen Ursprung haben, der bewundernswert und gesund, wenn auch sehr gefhrlich, ist: sie sind die Folge unseres ungeduldigen Bemhens, das Los unserer Mitmenschen zu verbessern. Denn alle diese Schwierigkeiten sind eine Begleiterscheinung einer Bewegung, die vielleicht die grte aller moralischen und geistigen Revolutionen unserer Geschichte darstellt, einer Bewegung, die vor dreihundert Jahren begann: Es ist das Bestreben ungezhlter unbekannter Menschen, sich und ihre Seelen von der Herrschaft der Autoritt und des Vorurteils zu befreien; ihr Versuch, eine oene Gesellschaftsordnung aufzubauen, die die absolute Autoritt des blo Vorhandenen und des blo Traditionellen ablehnt, jedoch alte und neue Traditionen zu erhalten und fortzuentwickeln strebt, welche ihren Forderungen von Freiheit, Menschlichkeit und vernnftiger Kritik entsprechen; ihre Weigerung, sich passiv zu verhalten und alle Verantwortung fr die Lenkung der Welt einer menschlichen oder bermenschlichen Autoritt zuzuschieben; ihre Bereitwilligkeit, die drckende Last der Verantwortung fr vermeidbares Leid mitzutragen und es nach Mglichkeit zu lindern. Die zerstrenden Krfte, die durch diese Revolution entfesselt wurden, sind erschrekkend; aber sie knnten wohl noch gebndigt werden. London, 4. Juli 950.

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Vorwort

IMMANUEL KANT DER PHILOSOPH DER AUFKLRUNG Eine Gedchtnisrede zu seinem hundertfnfzigsten Todestag Hundertfnfzig Jahre sind verossen, seit Immanuel Kant in Knigsberg, der preuischen Provinzstadt, wo er die achtzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, starb. Seit Jahren hatte er in vlliger Zurckgezogenheit gelebt, und seine Freunde dachten an ein einfaches Begrbnis. Aber dieser Sohn eines Handwerkers wurde wie ein Knig begraben. Als sich das Gercht von seinem Tode durch die Stadt verbreitete, strmten Menschenmengen zu seinem Hause. Viele Tage lang wurde zu jeder Tageszeit dorthin gewallfahrtet. Am Tage des Begrbnisses stand aller Verkehr in Knigsberg still. Ein unabsehbarer Zug folgte unter dem Gelute aller Glocken der ganzen Stadt dem Sarg. Nie hatten, so berichten die Zeitgenossen, Knigsbergs Einwohner einen solchen Leichenzug gesehen. Was mochte diese erstaunliche und spontane Bewegung wohl bedeuten? Kants Ruf als groer Philosoph und guter Mensch ist dafr kaum eine hinreichende Erklrung. Mir scheint, diese Ereignisse hatten eine tiefere Bedeutung. Ich mchte die Vermutung wagen, da damals, im Jahre 804, unter der absoluten Monarchie Friedrich Wilhelms III., jenes Glockenluten fr Kant ein Nachhall der amerikanischen und franzsischen Revolutionen, ein Nachhall
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der Ideen der Jahre 776 und 789, war. Kant war fr seine Mitbrger zu einem Symbol dieser Ideen geworden, und sie kamen zu seinem Begrbnis, um einem Lehrer und Verknder der Menschenrechte, der Gleichheit vor dem Gesetz, des Weltbrgertums, des ewigen Friedens auf Erden und was vielleicht noch wichtiger ist der Selbstbefreiung durch das Wissen zu danken. Die Keime aller dieser Ideen waren dem europischen Festland von England her zugetragen worden, und zwar in einem Buche, das im Jahr 732 verentlicht worden war: in Voltaires Briefen aus London ber die Englnder. In diesem Buche unternahm Voltaire eine Gegenberstellung der englischen konstitutionellen Regierungsform und der kontinentalen absoluten Monarchie; er verglich die englische religise Toleranz mit der Unduldsamkeit der rmischen Kirche und die erhellende Macht von Isaak Newtons Weltsystem und John Lockes analytischem Empirismus mit dem Dogmatismus Rene Descartes. Voltaires Buch wurde verbrannt; aber seine Verentlichung war der Beginn einer philosophischen Bewegung von welthistorischer Bedeutung einer Bewegung, deren eigentmliche Angrislust in England kaum verstanden wurde, da sie nicht den Verhltnissen dieses Landes entsprach. Diese Bewegung wird gewhnlich im Franzsischen eclaircissement und im Deutschen Aufklrung genannt. Fast alle modernen philosophischen und politischen Bewegungen lassen sich direkt oder indirekt auf sie zurckfhren. Denn sie sind entweder unmittelbar aus der Auf12 Kant: Der Philosoph der Aufklrung

klrung, oder dann aus der romantischen Reaktion gegen die Aufklrung, die die Romantiker gerne als Aufklrerei oder Aufklricht bezeichneten, entstanden. Sechzig Jahre nach Kants Tode wurden diese ursprnglich englischen Ideen den Englndern als ein oberchlicher und anspruchsvoller Intellektualismus vorgestellt, und das englische Wort enlightenment, das damals zuerst auftauchte, um das Wort Aufklrung (eclaircissement) ins Englische zu bersetzen, hat sogar heute noch den Beigeschmack einer oberchlichen und anspruchsvollen Aufklrerei. Kant glaubte an die Aufklrung; er war ihr letzter groer Vorkmpfer. Ich wei wohl: dies ist nicht die heute bliche Ansicht. Whrend ich in Kant den letzten Vorkmpfer der Aufklrung sehe, wird er fter als der Grnder jener Schule angesehen, die die Aufklrung vernichtete der romantischen Schule des Deutschen Idealismus, der Schule von Fichte, Schelling und Hegel. Ich behaupte, da diese beiden Ansichten unvereinbar sind. Fichte und spter Hegel versuchten Kants Ruhm fr sich auszuntzen; sie gaben ihn als den Grnder ihrer Schule aus. Aber Kant lebte lange genug, um die wiederholten Anbiederungsversuche Fichtes, der sich als Kants Nachfolger und Erbe ausgab, zurckzuweisen. In einer entlichen Erklrung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre (7. August 799), die viel zu wenig bekannt ist, ging Kant so weit, zu schreiben: Gott bewahre uns vor unseren Freunden es gibt nmlich auch bisweilen betrgerische,
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hinterlistige, auf unser Verderben sinnende und dabei doch die Sprache des Wohlwollens fhrende sogenannte Freunde, vor denen und ihren ausgelegten Schlingen man nicht genug auf der Hut sein kann. Aber nach Kants Tod, als er sich nicht mehr wehren konnte, wurde dieser Weltbrger bentzt, um den Zwecken der nationalistischen romantischen Schule zu dienen, und zwar trotz allem, was er gegen den romantischen Geist, den sentimentalen Enthusiasmus und die Schwrmerei gesagt und geschrieben hatte, mit Erfolg. Aber hren wir, was Kant selbst ber die Idee der Aufklrung sagt: Aufklrung, schreibt er, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmndigkeit. Unmndigkeit ist das Unvermgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschlieung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklrung. Was Kant hier sagt, ist ohne Zweifel ein persnliches Bekenntnis; es ist ein Abri seiner eigenen Geschichte. Aufgewachsen in rmlichen Verhltnissen und im beschrnkten Gesichtskreis des Pietismus, beschritt er mutig den Weg der Selbstbefreiung durch das Wissen. In spteren Jahren blickte er (wie Hippel berichtet) manchmal mit Entsetzen auf die Sklaverei der Jugend, die Zeit seiner geistigen Unmndigkeit, zurck. Man knnte wohl sagen,
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da der Leitstern seines ganzen Lebens der Kampf um seine geistige Selbstbefreiung war. Newtons Himmelsmechanik und die Kosmologie Eine entscheidende Rolle in diesem Kampf spielten Newtons Physik und Himmelsmechanik, die auf dem europischen Festland durch Voltaire bekannt geworden waren. Das Kopernikanische und Newtonsche Weltsystem bten auf Kants intellektuelle Entwicklung wohl den denkbar strksten Einu aus. Sein erstes wichtiges Buch, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, trug den interessanten Untertitel Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebudes, nach Newtonischen Grundstzen abgehandelt. Es ist wohl der groartigste Wurf, der je in der Kosmologie und Kosmogonie getan wurde. Es enthlt die erste klare Formulierung nicht blo jener Theorie, die heute gewhnlich die Kant-Laplacesche Hypothese vom Ursprung des Sonnensystems genannt wird, sondern auch eine Anwendung dieser Theorie auf das Milchstraensystem selbst (das Thomas Wright fnf Jahre vorher als ein Sternensystem interpretiert hatte). Damit antizipierte Kant eine Idee von Jeans. Aber selbst das wird noch in den Schatten gestellt durch Kants Idee, die Nebelsterne seien als Milchstraen, als ferne Sternensysteme, die unserm eigenen analog sind, zu deuten. Es war, wie Kant in einem seiner Briefe erklrt, das kosmologische Problem, das ihn zur Theorie der Erkenntnis
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und zu seiner Kritik der reinen Vernunft fhrte. Das Problem, das er zu lsen versuchte kein Kosmologe kann ihm entrinnen , war das verwickelte Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, und zwar sowohl mit Bezug auf den Raum als auch mit Bezug auf die Zeit. Fr das Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt im Raume gibt es seit Einstein einen glnzenden Lsungsvorschlag, nmlich eine Welt, die endlich, aber ohne Grenzen ist. Einstein, so kann man wohl sagen, durchhieb damit den Kantischen Knoten; aber er hatte dafr viel schrfere Waen zur Verfgung als Kant und dessen Zeitgenossen. Fr das Problem der zeitlichen Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt gibt es dagegen bis heute noch keinen so einleuchtenden Lsungsvorschlag. Kant berichtet in jenem Brief, er habe das zentrale Problem der Kritik der reinen Vernunft gefunden, als er versuchte zu entscheiden, ob die Welt einen zeitlichen Anfang hat oder nicht. Zu seinem Erstaunen entdeckte er, da sich scheinbar gltige Beweise fr beide Mglichkeiten aufstellen lieen. Die beiden Beweise sind interessant, und es braucht freilich Aufmerksamkeit, um ihnen zu folgen; aber sie sind doch nicht lang und nicht schwer zu verstehen. Um den ersten Beweis vorzubereiten, beginnen wir mit einer Analyse des Begries einer unendlichen Folge von Jahren (oder Tagen oder irgendwelchen gleich langen und endlichen Zeitintervallen). Eine solche unendliche Folge von Jahren ist eine Folge, die immer weiter geht und niemals zu einem Ende kommt. Sie kann niemals abgeschlossen
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vorliegen: eine abgeschlossene oder vollendete unendliche Folge von Jahren ist (fr Kant) ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst. Kants erster Beweis argumentiert nun folgendermaen: Die Welt mu einen Anfang in der Zeit haben, da sonst im gegenwrtigen Augenblick eine unendliche Folge vor Jahren verossen ist und daher abgeschlossen und vollendet vorliegen mu. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmglich. Damit ist der erste Beweis gefhrt. Um den zweiten Beweis vorzubereiten, beginnen wir mit einer Analyse des Begries einer vllig leeren Zeit der Zeit vor der Entstehung der Welt. Eine solche leere Zeit, in der es berhaupt nichts gibt, mu notwendigerweise eine Zeit sein, worin kein Zeitintervall von einem anderen Zeitintervall durch seine zeitlichen Beziehungen zu Dingen oder Vorgngen dierenziert ist; denn Dinge oder Vorgnge gibt es eben berhaupt keine. Betrachten wir nun aber das letzte Zeitintervall einer solchen leeren Zeit das Zeitintervall, das dem Anfang der Welt unmittelbar vorangeht: dann wird oenbar, da dieses Zeitintervall von allen vorhergehenden Intervallen dadurch dierenziert ist, da es in einer engen und unmittelbaren zeitlichen Beziehung zu einem bestimmten Vorgang, nmlich der Entstehung der Welt, steht; andererseits ist, wie wir gesehen haben, dasselbe Zeitintervall leer, das heit es kann in keiner zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang stehen. Also ist dieses letzte leere Zeitintervall ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst. Kants zweiter Beweis argumentiert nun folgendermaen: Die Welt kann keinen Anfang in der Zeit haben,
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da es sonst ein Zeitintervall geben mte nmlich das Intervall unmittelbar vor der Entstehung der Welt , das sowohl leer ist als auch dadurch charakterisiert, da es in einer engen zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang in der Welt steht. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmglich. Damit ist der zweite Beweis gefhrt. Wir haben hier einen Widerstreit zwischen zwei Beweisen. Kant nannte einen solchen Widerstreit eine Antinomie, und er fand sich auf hnliche Weise in andere Antinomien verwickelt, zum Beispiel in solche hinsichtlich der Begrenzung der Welt im Rume. Auf diese anderen Antinomien gehe ich jedoch hier nicht nher ein. Raum und Zeit Was knnen wir, fragte Kant, von diesen verwirrenden Antinomien lernen? Seine Antwort lautet, da unsere Vorstellungen von Raum und Zeit auf die Welt als Ganzes unanwendbar sind. Die Vorstellungen von Raum und Zeit sind natrlich auf gewhnliche physische Dinge und Vorgnge anwendbar. Dagegen sind Raum und Zeit selbst weder Dinge noch Vorgnge. Sie knnen nicht einmal beobachtet werden; sie haben einen ganz anderen Charakter. Sie stellen eher eine Art von Rahmen fr Dinge und Vorgnge dar; man knnte sie mit einem System von Fchern oder mit einem Katalogsystem zur Ordnung von Beobachtungen vergleichen. Raum und Zeit gehren nicht zu der wirklichen empirischen Welt der Dinge und Vorgnge, sondern
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zu unserem eigenen geistigen Rstzeug, zu dem geistigen Instrument, womit wir die Welt angreifen. Raum und Zeit fungieren hnlich wie Beobachtungsinstrumente. Wenn wir einen Vorgang beobachten, dann lokalisieren wir ihn in der Regel unmittelbar und intuitiv in einer raumzeitlichen Ordnung. Wir knnen daher Raum und Zeit als ein Ordnungssystem charakterisieren, das sich wohl nicht auf Erfahrung grndet, aber in aller Erfahrung verwendet wird und auf alle Erfahrungen anwendbar ist. Dies ist der Grund dafr, da wir in Schwierigkeiten geraten, wenn wir die Vorstellung von Raum und Zeit auf einem Gebiet anzuwenden versuchen, das ber alle mgliche Erfahrung hinausgeht; aber gerade das taten wir in unsern beiden Beweisen ber den Beginn der Welt. Der Theorie, die ich hier skizziert habe, gab Kant den unschnen und zwiefach irrefhrenden Namen Transzendentaler Idealismus. Er hatte bald Grund, die Wahl dieses Namens zu bereuen, denn der Name fhrte manche seiner Leser dazu, ihn fr einen Idealisten zu halten und zu glauben, Kant bestreite die Realitt der physischen Dinge und gebe physische Dinge fr bloe Vorstellungen oder Ideen aus. Vergeblich bemhte er sich, klarzumachen, da er nur den empirischen Charakter und die Realitt des Raumes und der Zeit bestritten hatte einen empirischen Charakter und eine Realitt nmlich von der Art, wie wir sie den physischen Dingen und Ereignissen zuschreiben. Alle Mhe, seine Stellung darzutun, war umsonst. Die Schwierigkeit seines Stils besiegelte
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sein Schicksal; er war dazu verurteilt, als Urheber des Deutschen Idealismus in die Geschichte einzugehen. Es ist hohe Zeit, dieses Urteil zu revidieren. Kant hatte immer betont, da die physischen Dinge in Raum und Zeit wirklich sind real, nicht ideal. Und was die wilden metaphysischen Spekulationen der Schule des Deutschen Idealismus betrifft, so wurde der Titel der Kritik der reinen Vernunft von Kant in der Absicht gewhlt, einen kritischen Angri auf solche spekulative Vernnfteleien anzukndigen. Denn was die Kritik kritisiert, ist eben die reine Vernunft: sie kritisiert Vernunftschlsse ber die Welt, die das Prdikat rein in dem Sinn verdienen, da sie von Sinneserfahrung unberhrt und durch keine Beobachtung kontrolliert sind. Kant kritisierte die reine Vernunft, indem er zeigte, da reines spekulatives, durch keine Beobachtungen kontrolliertes Argumentieren ber die Welt uns immer in Antinomien verwickeln mu. Kant schrieb unter dem Einsse von Hume seine Kritik, um zu zeigen, da die Grenzen mglicher Sinneserfahrung und die Grenzen vernnftigen Theoretisierens ber die Welt identisch sind. Er glaubte die Richtigkeit dieser Theorie besttigt zu nden, als er entdeckte, da sie den Schlssel zu einem zweiten wichtigen Problem enthielt dem der Gltigkeit der Newtonschen Physik. Wie alle zeitgenssischen Physiker war auch Kant vllig davon berzeugt, da Newtons Theorie wahr und unanfechtbar sei. Er schlo daraus, da diese Theorie nicht nur das Resultat von angesammelten
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Beobachtungen sein knne. Was sonst konnte aber ihr Wahrheitsgrund sein? Kant gri dieses Problem an, indem er sich zunchst den Wahrheitsgrund der Geometrie klar machte. Die euklidische Geometrie, sagte er, ist nicht auf Beobachtungen, sondern auf unsere rumliche Intuition, auf unser intuitives Verstndnis von rumlichen Beziehungen gegrndet. Die Newtonsche Physik bendet sich in einer hnlichen Situation. Obwohl sie sich in Beobachtungen bewhrt, ist sie doch nicht das Resultat von Beobachtungen, sondern von unseren eigenen Denkmethoden: von den Methoden, die wir anwenden, um unsere Sinnesempndungen zu ordnen, zueinander in Beziehung zu setzen, zu assimilieren, zu verstehen. Nicht die Sinnesdaten, sondern unser eigener Verstand die Organisation und Konstitution unseres geistigen Assimilierungssystems ist verantwortlich fr unsere naturwissenschaftlichen Theorien. Die Natur, die wir mit ihrer Ordnung und ihren Gesetzen erkennen, ist das Resultat einer ordnenden und assimilierenden Ttigkeit unseres Geistes. Kants eigene Formulierung dieser Idee ist glnzend: Der Verstand schpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.

Kants Kopernikanische Wendung Diese Formulierung drckt gleichzeitig eine Idee aus, die Kant selbst stolz seine Kopernikanische Wendung nannte. Kopernikus, schreibt er, nachdem es mit der Erklrung
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der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen knnte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe liee. Es war Kants Idee, durch eine hnliche Wendung das Problem des Wahrheitsgrundes der Naturwissenschaft zu lsen das Problem nmlich, wie denn eine exakte Naturwissenschaft von der Art der Newtonschen Physik mglich sei und jemals hatte aufgefunden werden knnen. Wir mssen, sagt Kant, die Idee aufgeben, da wir passive Zuschauer sind, die warten, bis die Natur ihnen ihre Gesetzmigkeiten aufdrngt. An Stelle dessen mssen wir die Idee setzen, da, indem wir unsere Sinnesempndungen assimilieren, wir, die Zuschauer, diesen die Ordnung und die Gesetze unseres Verstandes aufzwingen. Unser Kosmos trgt den Stempel unseres Geistes. Dieser Hinweis Kants auf die aktive Rolle des Beobachters, des Forschers und des Theoretikers hat einen unauslschlichen Eindruck gemacht nicht nur auf die Philosophie, sondern auch auf die Physik und die Kosmologie. Es gibt so etwas wie ein Kantisches intellektuelles Klima, ohne das die Theorien von Einstein oder Bohr undenkbar sind, und Eddington, so kann man wohl sagen, war in dieser Hinsicht Kantischer als Kant. Ja sogar die, die Kant nicht berallhin folgen knnen (auch ich gehre zu ihnen), werden ihm darin zustimmen, da die Vernunft des Forschers die Natur ntigen msse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr gleichsam am Leitbande gngeln las22 Kant: Der Philosoph der Aufklrung

sen msse. Der Forscher mu die Natur ins Kreuzverhr nehmen, um sie im Lichte seiner Zweifel, Vermutungen, Ideen und Inspirationen zu sehen. Das, glaube ich, ist eine tiefe philosophische Einsicht. Sie ermglicht es, die Naturwissenschaft (nicht nur die theoretische, sondern auch die experimentelle) als eine echt menschliche Schpfung anzusehen und ihre Geschichte, hnlich wie die Geschichte der Kunst und der Literatur, als einen Teil der Ideengeschichte zu behandeln. Aber man kann der Kopernikanischen Wendung Kants noch eine andere Bedeutung zuschreiben eine Bedeutung, die uns auf eine Ambivalenz in seiner Einstellung hinweisen mag. Diese Wendung lst nmlich ein menschliches Problem, das durch Kopernikus selbst geschaen wurde: Kopernikus nahm der Menschheit ihre zentrale Position in der Welt. Kants Kopernikanische Wendung ist eine Wiedergutmachung dieser Position. Denn Kant beweist uns nicht nur, da unsere rumliche Stellung in der Welt irrelevant ist, sondern zeigt uns auch, da sich, in gewissem Sinne, unsere Welt um uns dreht. Denn wir sind es ja, die, wenigstens zum Teil, die Ordnung erzeugen, welche wir in der Welt nden. Wir sind es, die unser Wissen von der Welt erschaen. Wir sind es, die die Welt erforschen; und die Forschung ist eine schpferische Kunst.

Kant: Der Philosoph der Aufklrung

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Die Kopernikanische Wendung der Ethik Von Kant, dem Kosmologen, dem Philosophen der Erkenntnis und der Wissenschaft, wenden wir uns nun zu Kant, dem Moralphilosophen. Ich wei nicht sicher, ob man nicht schon frher darauf hingewiesen hat, da die Grundidee der Kantischen Ethik ebenfalls auf einer Kopernikanischen Wendung beruht, die in jeder Hinsicht jener entspricht, die ich soeben beschrieben habe. Denn Kant macht den Menschen zum Gesetzgeber der Moral in genau der selben Weise, in der er ihn zum Gesetzgeber der Natur machte, und gibt ihm durch diese Wendung die gleiche zentrale Position in der moralischen wie frher in der physischen Welt. Kant vermenschlicht die Ethik, gleich, wie er die Wissenschaft vermenschlicht hat. Die Lehre von der Autonomie Kants Kopernikanische Wendung im Gebiete der Ethik ist in seiner Lehre von der Autonomie enthalten, worin er sagt, da wir dem Gebote einer Autoritt niemals blind gehorchen drfen, ja da wir uns nicht einmal einer bermenschlichen Autoritt als einem moralischen Gesetzgeber blind unterwerfen sollen. Wenn wir dem Befehl einer Autoritt gegenberstehen, sind doch immer nur wir es, die auf unsere eigene Verantwortung hin entscheiden, ob dieser Befehl moralisch oder unmoralisch sei. Eine Autoritt mag die Macht besitzen, ihre Befehle durchzusetzen, ohne
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da wir ihr Widerstand leisten knnen; aber wenn es uns physisch mglich ist, unsere Handlungsweise zu whlen, dann liegt die Verantwortung bei uns. Die Entscheidung liegt bei uns; denn wir knnen dem Befehl gehorchen oder nicht gehorchen, wir knnen die Autoritt anerkennen oder verwerfen. Die selbe Idee wird von Kant mutig auf das Gebiet der Religion angewendet. Er schreibt: Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerich zu sagen: da jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begrien einen solchen selbst machen msse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren. Denn auf welcherlei Art ein Wesen auch als Gott bekannt gemacht und beschrieben worden, ja ihm ein solches auch selbst erscheinen mchte, so mu er doch allererst urteilen, ob er befugt sei (das heit, ob er durch sein Gewissen befugt sei), es fr eine Gottheit zu halten und zu verehren. Das moralische Gesetz Kants Ethik ist nicht auf den Satz beschrnkt, das Gewissen des Menschen sei seine einzige Autoritt. Er versucht auch festzustellen, was unser Gewissen von uns fordern kann. Er gibt verschiedene Formulierungen des moralischen Gesetzes. Eine von ihnen ist: Handle so, da du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals blo als Mittel brauchst. Den Geist der Kantischen Ehtik
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kann man vielleicht in die Worte zusammenfassen: Wage es, frei zu sein, und achte und beschtze die Freiheit aller anderen. Kant errichtete auf der Grundlage dieser Ethik seine wichtige Staatslehre und seine Lehre vom internationalen Vlkerrecht. Er verlangte einen Vlkerbund, einen Fderalismus freier Staaten mit der Aufgabe, den Frieden auf Erden zu verknden und aufrechtzuerhalten. Kant und Sokrates Ich habe versucht, in wenigen Strichen Kants Philosophie von der Welt und vom Menschen mit ihren beiden Grundideen zu skizzieren: der Newtonschen Kosmologie und der Ethik der Freiheit, jenen beiden Grundideen, auf die Kant selbst in seinem schnen und fast immer falsch verstandenen Wort vom gestirnten Himmel ber uns und dem moralischen Gesetz in uns hinwies. Wenn wir weiter in die Vergangenheit zurckgehen, um einen noch umfassenderen Blick auf Kants Platz in der Geschichte zu erlangen, so knnen wir ihn wohl mit Sokrates vergleichen. Beide wurden beschuldigt, die Staatsreligion verdorben und die Jugend geschdigt zu haben. Beide erklrten sich fr unschuldig, und beide kmpften fr Gedankenfreiheit. Freiheit bedeutete ihnen mehr als Abwesenheit eines Zwanges: Freiheit war fr sie die einzig lebenswerte Form des Lebens. Die Verteidigungsrede und der Tod des Sokrates haben
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die Idee des freien Menschen zu einer lebendigen Wirklichkeit gemacht. Sokrates war frei, weil sein Geist nicht unterjocht werden konnte; er war frei, weil er wute, da man ihm nichts anhaben konnte. Dieser Sokratischen Idee des freien Menschen, die ein Erbgut unseres Abendlandes ist, hat Kant auf dem Gebiete des Wissens wie auf dem der Ethik eine neue Bedeutung gegeben. Und weiter hat er ihr die Idee einer Gesellschaft freier Menschen hinzugefgt einer Gesellschaft aller Menschen. Denn Kant hat gezeigt, da jeder Mensch frei ist: nicht weil er frei geboren, sondern weil er mit einer Last geboren ist mit der Last der Verantwortung fr die Freiheit seiner Entscheidung.

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Einleitung
Ich verhehle gar nicht, da ich die aufgeblasene Anmaung ganzer Bnde voll Einsichten dieser Art, so wie sie jetziger Zeit gangbar sind, mit Widerwillen ansehe, indem ich mich voll kommen berzeuge, da die im Schwang gehenden Methoden den Wahn und die Irrtmer ins Unendliche vermehren mssen und da selbst die gnzliche Vertilgung all dieser eingebildeten Einsichten nicht so schdlich sein knne, als die ertrumte Wissenschaft mit ihrer so verwnschten Fruchtbarkeit. Kant

Dieses Werk wirft Probleme auf, die vielleicht nicht aus dem Inhaltsverzeichnis deutlich werden. Es beschreibt einige der Schwierigkeiten, denen unsere Zivilisation ins Auge zu sehen hat eine Zivilisation, von der man vielleicht sagen kann, da sie Menschlichkeit, Vernnftigkeit, Gleichheit und Freiheit zum Ziele hat; eine Zivilisation, die sich gleichsam noch immer in ihren Kinderschuhen bendet und die sich weiterentwickelt, obgleich sie so oft und von so vielen der geistigen Fhrer der Menschheit verraten worden ist. Es versucht zu zeigen, da sich diese Zivilisation noch immer nicht vom Schock ihrer Geburt erholt hat vom Schock des bergangs aus der Stammes- oder geschlossenen Gesellschaftsordnung, die magischen Krften unterworfen ist, zur offenen
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Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fhigkeiten des Menschen in Freiheit setzt. Es versucht zu zeigen, da der Schock dieses bergangs einer der Faktoren ist, die den Aufstieg jener reaktionren Bewegungen ermglichten, die auf den Sturz der Zivilisation und auf die Rckkehr zur Stammesgebundenheit hingearbeitet haben und noch hinarbeiten. Und es deutet an, da die Ideen, die wir heute totalitr nennen, einer Tradition angehren, die ebenso alt oder ebenso jung ist wie unsere Zivilisation selbst. Es versucht dadurch einen Beitrag zum Verstndnis dieser Ideen und zur Bedeutung unseres ewigen Kampfes gegen sie zu leisten. Es versucht weiterhin die Anwendung der kritischen und rationalen Methoden der Wissenschaft auf die Probleme der oenen Gesellschaft zu analysieren. Es analysiert die Prinzipien des demokratischen sozialen Wiederaufbaus, die Prinzipien dessen, was ich als Sozialtechnik der Einzelprobleme bezeichne im Gegensatz zur utopistischen Sozialtechnik (die Ausdrcke werden im 9. Kapitel nher erklrt). Und es versucht einige der Hindernisse zu beseitigen, die einer rationalen Behandlung der Probleme des sozialen Wiederaufbaus im Wege stehen. Dies geschieht durch eine Kritik jener sozialphilosophischen Ideen, die verantwortlich sind fr das weitverbreitete Vorurteil, da eine demokratische Reform der Gesellschaft unmglich sei. Die mchtigste dieser Richtungen habe ich Historizismus genannt. Die Entwicklung, die Entstehung und der Einu einiger bedeutsamer Formen des Historizismus bildet eines
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der Hauptthemen des Buches, das man vielleicht als eine Sammlung von Randbemerkungen zur Geschichte gewisser historizistischer Philosophien beschreiben knnte, Einige Worte ber den Ursprung des Buches werden zeigen, was hier unter Historizismus verstanden wird und wie er mit den anderen erwhnten Gegenstnden verbunden ist. Obgleich ich vor allem an den Methoden der Physik interessiert bin (an einer Art von Problemen also, die von den in diesem Buch behandelten Problemen sehr verschieden sind), habe ich mich auch viele Jahre hindurch mit der Frage des ziemlich unbefriedigenden Zustandes einiger der Sozialwissenschaften und insbesondere der Sozialphilosophie beschftigt. Das fhrt natrlich zum Problem ihrer Methoden. Mein Interesse an diesem Problem wurde nur noch vermehrt durch den schnellen Aufstieg totalitrer Strmungen in unserer Zeit sowie durch die Unfhigkeit der verschiedenen Sozialwissenschaften und sozialphilosophischen Richtungen, diese Entwicklung zu verstehen und anderen verstndlich zu machen. In diesem Zusammenhang schien mir ein Umstand von besonderem Interesse. Man hrt nur zu oft die Bemerkung, da totalitre Manahmen in der einen oder der anderen Form unvermeidlich sind. Zahlreiche Autoren, die man auf Grund ihrer Intelligenz und ihrer Ausbildung als fr ihre Aussprche verantwortlich halten sollte, kndigen an, da es keinen Ausweg aus dieser Situation gebe; sie fragen uns, ob wir wirklich naiv genug seien, anzunehmen, da die Demokratie eine
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dauernde Einrichtung bleiben knne; ob wir nicht shen, da sie nur eine der vielen Regierungsformen darstellt, die im Verlaufe der Geschichte kommen und gehen. Sie gebrauchen das Argument, da die Demokratie, wenn sie totalitre Methoden bekmpfen will, zu ihrer Nachahmung gezwungen werde und da sie auf diese Weise selbst totalitr werden msse. Oder sie behaupten, da unser industrielles Gesellschaftssystem nicht fortbestehen knne, wenn wir nicht zu kollektivistischen Planungsmethoden greifen; und aus der Unvermeidbarkeit eines kollektivistischen konomischen Systems schlieen sie auf die Unvermeidbarkeit totalitrer Formen des sozialen Lebens. Argumente dieser Art hren sich vielleicht plausibel genug an. Aber Plausibilitt ist kein verllicher Fhrer in solchen Dingen. Tatschlich sollte man eine Diskussion dieser plausiblen Argumente nicht beginnen, ohne sich vorher die folgende methodische Frage gestellt zu haben: Ist eine Sozialwissenschaft berhaupt fhig,so anspruchsvolle historische Prophezeiungen zu mchen? Wenn wir einen Menschen fragen, welche Geheimnisse die Zukunft fr die Menschheit auf Lager hat was fr eine Antwort knnen wir da wohl erwarten? Knnen wir mehr erwarten als unverantwortliche Wahrsagerei? Das ist eine Methodenfrage der Sozialwissenschaften. Sie ist klarerweise grundlegender als jede Debatte ber ein besonderes Argument, das zur Untersttzung irgendeiner historischen Voraussage entwickelt wird. Eine sorgfltige Untersuchung dieser Frage hat mich zu
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der berzeugung gefhrt, da solche anspruchsvolle historische Prophezeiungen weit ber den Anwendungsbereich wissenschaftlicher Methoden hinausgehen. Die Zukunft hngt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhngig. Es gibt aber eine Reihe einureicher Sozialphilosophen, die die entgegengesetzte Ansicht vertreten. Sie behaupten, da jedermann sein Gehirn zur Vorhersage bevorstehender Ereignisse verwende; da es fr den Strategen sicher eine legitime Beschftigung sei, wenn er das Ergebnis einer Schlacht vorherzusehen versucht; und da die Grenzen zwischen einer solchen Voraussage und anspruchsvolleren historischen Prophezeiungen verschwommen seien. Sie behaupten, da die Aufgabe der Wissenschaft ganz allgemein in der Aufstellung von Vorhersagen bestehe oder vielmehr in der Verbesserung unserer Alltagsvorhersagen und in ihrer sicheren Begrndung; und da insbesondere die Aufgabe der Sozialwissenschaften darin bestehe, uns langfristige historische Prophezeiungen zu liefern. Sie glauben auch, Gesetze der Geschichte entdeckt zu haben, die es ihnen ermglichen, den Verlauf historischer Ereignisse vorherzusehen. Ich habe die verschiedenen sozialphilosophischen Richtungen, die solche Ansprche erheben, unter dem Namen des Historizismus zusammengefat. An anderer Stelle, in The Poverty of Historicism (Economica 944/45), habe ich versucht, diese Ansprche zu widerlegen und zu zeigen, da sie trotz ihrer Plausibilitt auf einem gewaltigen Miverstndnis der wissenschaftlichen Methode beruhen, insbesondere
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auf der Vernachlssigung der Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Vorhersage und historischer Prophezeiung. Whrend ich mit der systematischen Analyse und der Kritik der Ansprche des Historizismus beschftigt war, versuchte ich auch Material zur Illustration seiner Entwicklung zu sammeln. Die Aufzeichnungen, die ich fr diesen Zweck sammelte, wurden die Grundlage dieses Buches. Die systematische Analyse des Historizismus zielt auf Wissenschaftlichkeit. Nicht so dieses Werk. In ihm werden viele Ansichten ausgesprochen, die persnlicher Natur sind. Der wissenschaftlichen Methode verdankt es hauptschlich ein klares Bewutsein , der Grenzen dessen, was man beweisen kann; es fhrt keine Beweise vor, wo nichts zu beweisen ist, und es gebrdet sich nicht als Wissenschaft, wo es nicht mehr zu geben vermag als eine persnliche Ansicht. Es versucht nicht die alten Systeme der Philosophie durch ein neues zu ersetzen. Es versucht nicht, der Anmaung ganzer Bnde voll Einsichten dieser Art der Metaphysik der Geschichte und des Schicksals so wie sie jetziger Zeit gangbar sind, einen weiteren hinzuzufgen. Es versucht vielmehr zu zeigen, da diese prophetische Weisheit schdlich ist, und da die Metaphysik der Geschichte die Anwendung der Schritt fr Schritt vorgehenden Methoden der Wissenschaften auf die Einzelprobleme der Sozialreform verhindert. Und es versucht weiterhin zu zeigen, da wir vielleicht einmal die Mitschpfer unseres Geschickes werden knnen, wenn wir es erst aufgegeben haben, als seine Propheten zu posieren.
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Als ich die Entwicklung des Historizismus verfolgte, fand ich, da die gefhrliche Gewohnheit des historischen Prophezeiens, die unter unseren intellektuellen Fhrern so weit verbreitet ist, verschiedene Funktionen erfllt. Es ist immer schmeichelhaft, wenn man dem inneren Kreis der Eingeweihten angehrt und wenn man die ungewhnliche Fhigkeit besitzt, den Verlauf der Geschichte vorauszusehen. Auerdem ist es Tradition, den geistigen Fhrern derartige Fhigkeiten zuzuschreiben; ihre Abwesenheit kann daher leicht zu einem Prestigeverlust fhren. Auf der anderen Seite ist die Gefahr, als Scharlatan entlarvt zu werden, fr jene Propheten sehr gering; denn sie knnen immer darauf verweisen, da weniger anspruchsvolle Vorhersagen sicher erlaubt seien; und die Grenzen zwischen diesen und dem Augurentum sind ieend. Es gibt aber manchmal auch andere und vielleicht tiefere Beweggrnde dafr, da historizistische Ansichten vertreten werden. Die Propheten, die die Ankunft eines Milleniums verknden, drcken manchmal ein tieiegendes Gefhl der Unzufriedenheit aus; und es ist wohl mglich, da ihre Trume einer Reihe von Menschen Honung und Aufmunterung verleihen, ohne die sie wohl kaum auskommen knnten. Aber wir mssen auch zu der Einsicht kommen, da uns ihr Einu daran hindern kann, den alltglichen Aufgaben des sozialen Lebens ins Gesicht zu sehen. Und jene geringeren Propheten, die die unausweichliche Ankunft gewisser Ereignisse, wie etwa eines Abgleitens in totalitre Ideen und Praktiken (oder in ein Managertum)
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ankndigen, tragen dadurch, ob sie es wollen oder nicht, manchmal zu ihrer Verwirklichung bei. Sie erzhlen uns, da die Demokratie nicht ewig whren wird; was genau so wahr und genau so irrelevant ist wie etwa die Bemerkung, da die menschliche Vernunft nicht ewig whren wird, da ja die Demokratie und sie allein einen institutionellen Rahmen darstellt, innerhalb dessen eine Reform ohne Gewaltanwendung und damit die Anwendung der Vernunft auf die Fragen der Politik mglich ist. Aber ihre Erzhlung hat die Tendenz, die Kmpfer gegen totalitre Ideen zu entmutigen; es ist ihr Beweggrund, den Aufstand gegen die Zivilisation zu untersttzen. Wir nden, wie mir scheint, einen weiteren Beweggrund, wenn wir uns berlegen, da die historizistischen Metaphysiken dazu neigen, die Menschen von der Last ihrer Verantwortung zu befreien. Wenn man wei, da gewisse Ereignisse mit Sicherheit eintreten werden, was auch immer zu ihrer Verhinderung unternommen wird, dann fhlt man sich berechtigt, den Kampf gegen sie einzustellen. Man kann insbesondere den Versuch zur Beherrschung jener Dinge aufgeben, die die meisten Menschen bereinstimmend fr soziale bel halten, wie des Krieges; oder, um ein geringeres, aber nichtsdestoweniger wichtiges Beispiel zu erwhnen, der Tyrannei des Amtsschimmels. Ich mchte nicht den Eindruck erwecken, da der Historizismus immer derartige Folgen haben mu. Es gibt Historizisten insbesondere die Marxisten , die die Menschen nicht vom Druck ihrer Verantwortung zu befreien
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wnschen. Andrerseits gibt es aber sozialphilosophische Richtungen, die, ob historizistisch oder nicht, die Impotenz der Vernunft im sozialen Leben predigen und die, auf Grund dieses Antirationalismus, die Haltung propagieren: Folge dem Fhrer, dem ,groen Staatsmann, oder werde selbst ein Fhrer; eine Haltung, die fr die meisten Menschen passive Unterwerfung unter die persnlichen oder anonymen Krfte bedeuten mu, die die Gesellschaft beherrschen. Es ist nun von Interesse zu sehen, da manche von denen, die die Vernunft fr die sozialen bel unserer Zeit verantwortlich machen, dies einerseits tun, weil sie berzeugt sind, da historische Voraussagen die Krfte der Vernunft bei weitem bersteigen und andrerseits, weil sie sich nicht vorstellen knnen, da eine Sozialwissenschaft oder die Vernunft in der Gesellschaft eine andere Funktion haben knnte als die Funktion der historischen Vorhersage. Sie sind mit anderen Worten enttuschte Historizisten; sie sind Menschen, denen das Elend des Historizismus aufgegangen ist, die aber dennoch nicht bemerken, da sie das grundlegende historizistische Vorurteil weiter beibehalten, die Lehre nmlich, da die Sozialwissenschaften prophetisch sein mssen, wenn sie berhaupt von Nutzen sein sollen. Klarerweise mu diese Haltung zur Ablehnung der Anwendbarkeit der Wissenschaft und der Vernunft auf die Probleme des sozialen Lebens fhren und schlielich zur Doktrin von Gewalt, Herrschaft und Unterwerfung. Warum untersttzen alle diese sozialphilosophischen Richtungen den Aufstand gegen die Zivilisation? Und worin
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liegt das Geheimnis ihrer Popularitt? Warum ziehen sie so viele Intellektuelle an und verfhren sie? Ich neige zur Annahme, da sie eine tiefgefhlte Unzufriedenheit mit einer Welt ausdrcken, die unseren moralischen Idealen und unseren Vollkommenheitstrumen nicht entspricht und nicht entsprechen kann. Die Tendenz des Historizismus (und verwandter Ansichten), den Aufstand gegen die Zivilisation zu untersttzen, ist vielleicht dem Umstnde zuzuschreiben, da der Historizismus selbst zum Groteil eine Reaktion gegen die inneren Spannungen unserer Zivilisation mit ihrer Forderung nach persnlicher Verantwortlichkeit darstellt. Diese letzten Anspielungen sind etwas vage, aber sie mssen fr eine Einfhrung ausreichen. Sie werden spter durch historisches Material untersttzt werden, und das insbesondere im Kapitel Die oene Gesellschaft und ihre Feinde. Ich war versucht, dieses Kapitel an den Beginn des Buches zu stellen; mit dem aktuellen Interesse, auf das es rechnen kann, wre es sicher eine ansprechendere Einleitung gewesen. Aber ich fand, da sich das volle Gewicht dieser historischen Interpretation nicht ermessen lt, solange ihr nicht das Material vorausgeht, das frher im Buche besprochen wird. Es scheint, da man zuerst durch die Identitt der platonischen Theorie der Gerechtigkeit mit der Theorie und der Praxis der modernen totalitren Richtungen beunruhigt werden mu, bevor man die Dringlichkeit einer Deutung dieser Dinge fhlen kann.
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DER ZAUBER PLATONS


______ FR DIE OFFENE GESELLSCHAFTSORDNUNG (ungefhr 430 v. Chr.):
Obgleich nur wenige eine politische Konzeption entwerfen und durchfhren knnen, so sind wir doch alle fhig, sie zu beurteilen. Perikles von Athen

GEGEN DIE OFFENE GESELLSCHAFTSORDNUNG (ungefhr 80 Jahre spter):


Das erste Prinzip von allen ist dieses: Niemand, weder Mann noch Weib, soll jemals ohne Fhrer sein. Auch soll niemandes Seele sich daran gewhnen, etwas ernsthaft oder auch nur im Scherz auf eigene Hand allein zu tun. Vielmehr soll jeder, im Kriege und auch mitten im Frieden, auf seinen Fhrer blicken und ihm glubig folgen. Und auch in den geringsten Dingen soll er unter der Leitung des Fhrers stehen. Zum Beispiel er soll aufstehen, sich bewegen, sich waschen, seine Mahlzeiten einnehmen nur, wenn es ihm befohlen wurde. Kurz, er soll seine Seele durch lange Gewhnung so in Zucht nehmen, da sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, unabhngig zu handeln, und da sie dazu vllig unfhig wird. Platon von Athen

Der Mythos vom Ursprung und Schicksal


Erstes Kapitel: DER HISTORIZISMUS UND DER SCHICKSALSMYTHOS Es ist eine weitverbreitete Annahme, da eine wahrhaft wissenschaftliche oder philosophische Haltung der Politik gegenber und ein tieferes Verstndnis des Soziallebens im allgemeinen auf einer Betrachtung und Deutung der menschlichen Geschichte beruhen msse. Whrend der gewhnliche Mensch den Rahmen seines Lebens und die Bedeutung seiner persnlichen Erfahrungen und kleinlichen Sorgen als gegeben hinnehme, habe der Sozialwissenschaftler oder Philosoph die Dinge von einer hheren Warte aus zu betrachten. Fr ihn ist das Individuum eine Schachgur, ein ziemlich unbedeutendes Instrument in der allgemeinen Entwicklung der Menschheit. Und er ndet, da die wahrhaft bedeutenden Schauspieler auf der Bhne der Geschichte entweder die Groen Nationen und ihre Groen Fhrer sind, oder vielleicht die Groen Klassen, oder die Groen Ideen Wie dem auch sei er wird versuchen, den Sinn des Spiels zu begreifen, das auf der historischen Bhne aufgefhrt wird; er wird versuchen, die Gesetze der historischen Entwicklung zu verstehen. Und wenn ihm dies gelingt, so wird er wohl auch zuknftige Entwicklungen voraussagen knnen. Er kann dann die
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Politik auf einer soliden Grundlage aufbauen und uns praktische Anweisungen geben, indem er uns mitteilt, welche politischen Handlungen aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgreich sein werden und welche nicht. Dies ist die kurze Beschreibung einer Einstellung, die ich Historizismus nenne. Dieser ist eine alte Idee oder vielmehr eine lose verbundene Gruppe von Ideen, die, unglcklicherweise, so sehr ein Teil unserer geistigen Atmosphre geworden sind, da sie gewhnlich als gegeben hingenommen und kaum je in Frage gestellt werden. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, da die historizistische Methode in den Sozialwissenschaften zu sehr drftigen Resultaten fhrt. Ich habe auch in groben Zgen eine Methode anzugeben versucht, die meiner Meinung nach bessere Ergebnisse zeitigen wrde. Wenn aber der Historizismus eine unbrauchbare Methode darstellt und wertlose Resultate hervorbringt, dann mag es ntzlich sein, seiner Entstehung nachzugehen und zu untersuchen, wie es mglich war, da er sich so erfolgreich festsetzen konnte. Ein historischer berblick, mit dieser Absicht unternommen, kann zur gleichen Zeit dazu dienen, die verschiedenen Ideen zu analysieren, die sich nach und nach um die zentrale historizistische Lehre angesammelt haben die Lehre, da die Geschichte von besonderen historischen oder Entwicklungsgesetzen beherrscht ist, deren Entdeckung uns die Mglichkeit geben wrde, das Schicksal der Menschen vorauszusagen. Soweit habe ich den Historizismus auf ziemlich abstrakte
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Weise gekennzeichnet. Er lt sich vortreich illustrieren durch die Lehre vom auserwhlten Volk, eine seiner einfachsten und ltesten Formen. Diese Lehre ist einer der Versuche, die Geschichte durch eine theistische Interpretation verstndlich zu machen, also dadurch, da man Gott als den Urheber des Spiels auf der historischen Bhne ansieht. Die Theorie nimmt, genauer gesagt, an, da Gott ein Volk zum auserwhlten Werkzeug seines Willens erkoren hat und da dieses Volk die Erde besitzen wird. In dieser Lehre ist es der Wille Gottes, der das Gesetz der historischen Entwicklung bestimmt. Dadurch unterscheidet sich die theistische Form des Historizismus spezisch von anderen Formen. Ein naturalistischer Historizismus zum Beispiel knnte das Entwicklungsgesetz als ein Naturgesetz ansehen; ein spiritueller Historizismus wrde es als ein Gesetz der geistigen Entwicklung betrachten; ein konomischer Historizismus wieder als ein Gesetz der konomischen Entwicklung. Der theistische Historizismus hat mit diesen anderen Formen die Lehre gemeinsam, da es besondere historische Gesetze gibt, die entdeckt werden knnen und auf die sich Voraussagen ber die Zukunft der Menschheit grnden lassen. Die Lehre vom auserwhlten Volk ist das Produkt einer Gesellschaft, die in Stmmen organisiert ist. Der Tribalismus, das heit das Hervorheben der auerordentlichen Bedeutung des Stammes, ohne den das Individuum nicht die geringste Bedeutung besitzt, ist ein Element, das wir in vielen Formen historizistischer Theorien nden werden.
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Andere, nicht mehr stammesgebundene Formen knnen noch immer ein kollektivistisches Element beibehalten; sie knnen noch immer die Bedeutung irgendeiner Gruppe oder eines Kollektivs hervorheben einer Klasse zum Beispiel ohne die das Individuum ein bloes Nichts ist. Eine andere Seite der Lehre vom auserwhlten Volk ist, da das, was als das Ziel der Geschichte hingestellt wird, in der fernsten Zukunft liegt. Dieses Ziel lt sich zwar mit einer gewissen Bestimmtheit beschreiben. Dennoch haben wir einen langen Weg zurckzulegen, um es zu erreichen. Und dieser Weg ist nicht nur lang, sondern verschlungen, er fhrt aufwrts, abwrts, nach rechts und nach links. Es ist daher mglich, jedes erdenkliche historische Ereignis in diesem Deutungsschema unterzubringen: Keine erdenkliche Erfahrung kann das Schema widerlegen2. Denen aber, die an es glauben, verleiht es Sicherheit in bezug auf den schlielichen Ausgang der menschlichen Geschichte. Eine Kritik der theistischen Interpretation der Geschichte wird im letzten Kapitel des zweiten Bandes unternommen werden. Dort wird auch gezeigt, da einige der grten christlichen Denker diese Theorie als Gtzenkult abgelehnt haben. Ein Angri auf diese Form des Historizismus sollte daher nicht als ein Angri auf die Religion aufgefat werden. Die Lehre vom auserwhlten Volk dient im vorliegenden Kapitel blo als eine Illustration. Ihre Eignung dazu kann man aus der Tatsache ersehen, da sie in den Hauptzgen3 mit den beiden wichtigsten modernen Formen des Historizismus bereinstimmt (beide werden in diesem
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Werk analysiert werden) mit der Geschichtsphilosophie der Rassenlehre oder des Faschismus auf der einen (rechten) Seite und mit der marxistischen Geschichtsphilosophie auf der anderen (linken) Seite. An die Stelle des auserwhlten Volkes tritt bei der Rassenlehre die auserwhlte Rasse (auserwhlt von Gobineau). Sie ist als ein Instrument des Schicksals zum schlielichen Besitz der Erde auserkoren. In der Geschichtsphilosophie Marxens nimmt die auserwhlte Klasse ihre Stelle ein. Sie ist das Instrument zur Schaung einer klassenlosen Gesellschaft und zur gleichen Zeit diejenige Klasse, die bestimmt ist, einmal die Erde zu besitzen. Beide Theorien grnden ihre historischen Voraussagen auf eine Deutung der Geschichte, die zur Entdeckung eines Gesetzes ihrer Entwicklung fhrt. Im Fall der Rassenlehre hlt man dieses Gesetz fr eine Art Naturgesetz; die biologische berlegenheit des Blutes der auserwhlten Rasse erklrt den Verlauf der Geschichte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; dieser Verlauf ist nichts als ein Kampf der Rassen um die Herrschaft. In der marxistischen Geschichtsphilosophie nden wir ein konomisches Entwicklungsgesetz die Geschichte wird als ein Kampf der Klassen um die konomische Vorherrschaft interpretiert. Der historizistische Charakter dieser beiden Bewegungen macht unsere Untersuchung aktuell4. Wir werden auf beide spter in diesem Buche zurckkommen. Beide gehen direkt auf die Philosophie Hegels zurck. Wir mssen also auch diese Philosophie ins Auge fassen. Hegel5 aber folgt hauptKapitel 1: Der Historizismus und der Schicksalsmythos 43

schlich gewissen Philosophen des Altertums. Daher ist es notwendig, die Theorien Heraklits, Platons und Aristoteles zu diskutieren, bevor wir im zweiten Band zu den neueren Formen des Historizismus zurckkehren. Zweites Kapitel: HERAKLIT Erst seit Heraklit nden wir in Griechenland Theorien, die sich, was ihren historizistischen Charakter betrifft, mit der Lehre vom auserwhlten Volke vergleichen lassen. In Homers theistischer (oder besser polytheistischer) Interpretation ist die Geschichte ein Produkt des gttlichen Willens. Aber die homerischen Gtter legen keine allgemeinen Gesetze fr ihren Verlauf fest. Was Homer hervorzuheben und zu erklren versucht, ist nicht die Einheit der Geschichte, sondern eher ihr Mangel an Einheit. Nicht ein Gott ist der Verfasser des Stckes auf der Bhne der Geschichte; eine ganze Anzahl von Gttern mischt sich hinein. Ein Ahnen des Schicksals, die Idee, da geheime Mchte hinter der Szene wirken, hat die homerische Interpretation mit der jdischen gemeinsam. Aber die letzte Absicht des Schicksals wird bei Homer nicht enthllt; zum Unterschied von seinem jdischen Gegenstck bleibt es im Dunkel verborgen. Der erste Grieche, der eine deutlich historizistische Lehre einfhrte, war Hesiod. Es ist wahrscheinlich, da er von orientalischen Quellen beeinut war. Er verwendet
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die Idee einer allgemeinen Richtung oder Tendenz der geschichtlichen Entwicklung. Seine Interpretation der Geschichte ist pessimistisch. Die Menschheit ist, wie er glaubt, in ihrem Abstieg vom Goldenen Zeitalter zu physischem und moralischem Verfall bestimmt. In Platon nden wir den Hhepunkt der verschiedenen historizistischen Ideen, die von den frhgriechischen Philosophen vorgebracht wurden. Er versucht die Geschichte und das Sozialleben der griechischen Stmme, insbesondere der Athener, zu erklren, und er entwirft zu diesem Zweck ein grandioses philosophisches Weltbild. Sein Historizismus ist durch verschiedene Vorgnger, insbesondere durch Hesiod stark beeinut; der bedeutendste Einu aber kommt von Heraklit. Heraklit war der Philosoph, der die Idee der Vernderung entdeckte. Bis zu seiner Zeit hatten die griechischen Philosophen, von morgenlndischen Ideen beeinut, die Welt als ein riesiges Gebude angesehen, dessen Bausto die materiellen Dinge darstellten. Die Welt war die Totalitt der Dinge der Kosmos (der ursprnglich ein orientalisches Zelt oder Mantel gewesen zu sein scheint). Die Philosophen stellten sich Fragen wie diese: Aus welchem Sto ist die Welt verfertigt? oder Wie ist sie gebaut, wie ist ihr wahrer Grundplan beschaen? Sie hielten die Philosophie oder die Physik (beide waren lange Zeit hindurch ununterscheidbar) fr die Untersuchung der Natur, das heit des ursprnglichen Materials, aus dem dieses Gebude, die Welt, errichtet worden war. Prozesse, soweit sie in
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Betracht gezogen wurden, spielten sich entweder innerhalb des Gebudes ab; oder man nahm an, da sie es aufbauten oder in Gang hielten, indem sie die Stabilitt oder das Gleichgewicht einer im wesentlichen statisch gedachten Struktur strten und wiederherstellten. Diese Prozesse waren zyklisch (wenn wir von den Prozessen absehen, die mit dem Ursprung des Gebudes in Verbindung stehen; die Frage Wer erbaute es? wurde von den Orientalen, von Hesiod und von anderen diskutiert). Diese sehr natrliche Fragestellung natrlich auch heute noch fr viele von uns wurde vom Genius des Heraklit berwunden. Er fhrte die Ansicht ein, da es kein solches Gebude, keine stabile Struktur, keinen Kosmos gebe. Der Kosmos ist bestenfalls ein planlos aufgeschtteter Misthaufen, lautet einer seiner Aussprche2. Er stellte sich die Welt nicht als ein Bauwerk, sondern eher als einen ungeheuren Proze vor, nicht als Gesamtheit der Dinge, sondern als die Gesamtheit aller Ereignisse, Vernderungen oder Tatsachen. Alles ist in Flu und nichts in Ruhe ist der Leitspruch seiner Philosophie. Heraklits Entdeckung beeinute die Entwicklung der griechischen Philosophie fr eine lange Zeit. Man kann die philosophischen Systeme des Parmenides, Demokrit, Platon und Aristoteles allesamt sehr angemessen als Versuche bezeichnen, die Probleme dieser wechselnden Welt, die Heraklit entdeckt hatte, zu lsen. Die Gre dieser Entdeckung lt sich schwerlich berschtzen. Sie wurde erschreckend genannt, und ihre Wirkung wurde mit der
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eines Erdbebens verglichen, in dem alles zu wanken scheint3. Und fr mich besteht kein Zweifel, da sich diese Entdeckung Heraklit durch erschtternde persnliche Erfahrungen enthllte, unter denen er infolge der sozialen und politischen Wirren seiner Tage litt. Heraklit, der erste Philosoph, der sich nicht nur mit der Natur, sondern in weit grerem Mae mit ethisch-politischen Problemen beschftigte, lebte in einem Zeitalter sozialer Revolutionen. In seiner Zeit begannen die griechischen Stammesaristokratien der neuen Kraft der Demokratie zu weichen. Um die Auswirkung dieser Revolution zu verstehen, mssen wir uns die Stabilitt und Starrheit des sozialen Lebens in einer Stammesaristokratie ins Gedchtnis rufen. Das soziale Leben wird durch soziale und religise Tabus bestimmt; jedermann hat seinen vorbestimmten Platz innerhalb des Ganzen der sozialen Struktur; jedermann fhlt, da sein Platz der richtige, der natrliche Platz ist, der ihm durch die Krfte, die die Welt regieren, zugeteilt wurde; jedermann kennt seinen Platz. Der Tradition gem war Heraklits eigener Platz der des Hauptes der kniglichen Familie der Priesterknige von Ephesos; er verzichtete aber zugunsten seines Bruders auf seine Ansprche. Trotz seiner stolzen Weigerung, am politischen Leben seiner Stadt teilzunehmen, untersttzte er die Sache der Aristokraten, die sich vergeblich der steigenden Flut der neuen revolutionren Krfte entgegenzustemmen versuchten. Diese Erfahrungen im sozialen und politischen Bereich spiegeln sich in den erKapitel 2: Heraklit 47

haltenen Fragmenten seines Werkes4. Die Ephesier tten wohl daran, sich, so viele ihrer erwachsen sind, Mann fr Mann zu erhngen und die Stadt den Unmndigen zu berantworten , so lautet einer seiner Ausbrche; er wurde durch die Entscheidung des Volkes veranlat, den Hermodoros, einen der aristokratischen Freunde Heraklits, zu verbannen. Hchst interessant ist Heraklits Deutung der Motive des Volkes, sie zeigt, da sich der Schatz der antidemokratischen Schlagworte seit den allerersten Tagen der Demokratie nicht sehr verndert hat. Sie sagten: unter uns soll keiner der Beste sein; ersteht aber ein solcher, so sei er es anderswo und bei anderen. Diese Feindschaft gegen die Demokratie bricht berall in den Fragmenten durch: Sie stopfen sich den Wanst wie das Vieh Denn was ist ihr Sinn und Verstand? Landfahrenden Sngern folgen sie und dem Aberglauben des Volkes, denn sie wissen nicht, da die meisten Menschen schlecht sind und nur die wenigen gut sind In Priene lebte Bias, des Teutameos Sohn, dessen Wort mehr bedeutet als das anderer Mnner (er sagte: ,Die meisten Menschen sind schlecht) Der Haufe macht sich keine Gedanken, nicht einmal ber die Dinge, ber die sie stolpern; sie lernen nichts aus dem, was sie erfahren haben; ihnen selber freilich kommt es anders vor. Im gleichen Tonfall geht es weiter: Gesetz kann es auch sein, dem Willen eines Mannes zu gehorchen. Ein anderer Ausdruck der konservativen und antidemokratischen Gesinnung Heraklits ist, seinem Wortlaut, wenn auch nicht seiner Absicht nach, sogar fr Demokraten an48 Der Mythos vom Ursprung und Schicksal

nehmbar: Fr die Gesetze der Stadt soll ein Volk kmpfen, wie fr ihre Mauern. Aber der Kampf, den Heraklit fr die alten Gesetze seiner Stadt fhrte, war vergeblich, und die Vergnglichkeit aller Dinge machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Dieses Gefhl spiegelt sich in seiner Theorie der Vernderung5: Alles iet, so sagt er, und man kann nicht zweimal in denselben Flu steigen. Enttuscht argumentiert er gegen den Glauben, da die bestehende soziale Ordnung ewig whren werde: Wir drfen nicht handeln und reden wie die Kinder, die nach dem beschrnkten Grundsatz grogezogen wurden: ,Wie es uns berliefert ward. Dieses nachdrckliche Hervorheben der Vernderung und insbesondere der Wandlungen im sozialen Leben ist ein wichtiges Charakteristikum nicht nur der Philosophie Heraklits, sondern des Historizismus im allgemeinen. Sicher verndern sich die Dinge und sogar die Knige wechseln: diese Wahrheit mu vor allem denen eingehmmert werden, die ihre soziale Umgebung fr selbstverstndlich halten. Soviel ist zuzugeben. Aber in der Herakliteischen Philosophie manifestiert sich auch eines der weniger empfehlenswerten Merkmale des Historizismus: Eine bermige Betonung der Vernderung, der Wandelbarkeit aller Dinge, verbunden mit dem Glauben an ein unerbittliches und unabnderliches Schicksalsgesetz. Dieser Glaube ist ein Ausdruck fr eine Haltung, die fr die meisten, wenn nicht fr alle Historizisten charakteristisch ist. Auf den ersten Blick scheint diese Haltung dem
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Nachdruck zu widersprechen, mit dem die Historizisten die Bedeutung der Vernderung hervorheben. Aber dies lt sich vielleicht erklren, wenn wir annehmen, da alle Historizisten der Idee der Vernderung einen unbewuten Widerstand entgegensetzen; ihre bermige Betonung der Vernderung wre dann ein Symptom der Anstrengung, die sie aufzuwenden haben, um diesen Widerstand zu berwinden. So wre auch die emotionale Spannung erklrt, aus der heraus viele Historizisten (auch heute noch) sich gebrden, als htten sie etwas ganz Neues und nie vorher Bemerktes entdeckt. Dies legt den Gedanken nahe, da diese Historizisten die Vernderung frchten und da sie die Idee der Vernderung nicht ohne schwere innere Kmpfe akzeptieren knnen. Oft scheint es, als versuchten sie sich ber den Verlust einer stabilen Welt zu trsten, indem sie an der Annahme eines unvernderlichen Gesetzes festhalten, das die Vernderung beherrscht. (Bei Parmenides und Platon stoen wir sogar auf die Lehre, da die wechselnde Welt, in der wir leben, eine bloe Tuschung ist und da eine in hherem Grade wirkliche Welt existiert, in der sich nichts verndert.) Das Hervorheben der Vernderung fhrt Heraklit zur Theorie, da alle materiellen Dinge, feste, ssige und gasfrmige, den Flammen gleichen; da sie nicht so sehr Dinge als Prozesse sind, und da sie alle als Transformationen des Feuers aufgefat werden mssen. Die scheinbar feste Erde (die aus Asche besteht) ist nichts als Feuer in einem Zustand der Umwandlung, und selbst Flssigkeiten
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(Wasser, das Meer) sind umgeformtes Feuer (und knnen vielleicht in der Form von l zu Brennsto werden). Verwandlungsformen des Feuers sind zuerst das Meer, die eine Hlfte des Meeres aber Erde, die andere heie Luft6. Auch alle anderen Elemente Erde, Wasser und Luft sind umgeformtes Feuer: Alles wechselt sich um in Feuer und Feuer in alles, so wie das Gold fr Waren und Waren fr Gold. Nachdem aber Heraklit alle Dinge auf Flammen, auf Prozesse (wie Verbrennung) reduziert hat, entdeckt er in den Prozessen ein Gesetz, ein Ma, eine Vernunft, eine Weisheit; und nachdem er den Kosmos als Gebude zerstrt und ihn einen Misthaufen genannt hat, fhrt er ihn als die vorausbestimmte Ordnung der Ereignisse im Weltproze wieder ein. Jeder Proze in der Welt, insbesondere das Feuer selbst, entwickelt sich nach einem wohlbestimmten Gesetz, seinem Ma7. Dieses Gesetz ist unerbittlich und unwiderstehlich. In dieser Beziehung gleicht es unserer modernen Vorstellung vom Naturgesetz und der Vorstellung, die sich die modernen Historiker von historischen Gesetzen oder Entwicklungsgesetzen machen. Es unterscheidet sich aber von diesen Vorstellungen in folgender Hinsicht. Es ist ein Machtspruch der Vernunft, der, genau wie das vom Staate auferlegte Gesetz, durch Bestrafung zur Geltung gebracht wird. Diese Versumnis, zwischen legalen Gesetzen oder Normen auf der einen Seite und Naturgesetzen oder Regelmigkeiten auf der anderen Seite zu unterscheiden, ist fr den StamKapitel 2: Heraklit 51

mestabuismus charakteristisch. Beide Arten von Gesetz werden in der gleichen Weise als magisch angesehen, und das macht eine rationale Kritik der von Menschen geschaffenen Tabus ebenso unvorstellbar wie den Versuch, an der Weisheit und Vernunft der Gesetze oder Regelmigkeiten der natrlichen Welt Verbesserungen anzubringen: Alle Ereignisse verlaufen mit der Notwendigkeit des Schicksals Die Sonne wird die Mae ihrer Bahn nicht berschreiten; sonst werden die Erinnyen sie holen, die Gttinnen des Schicksals und Helferinnen der Gerechtigkeit. Aber die Sonne gehorcht nicht nur dem Gesetz. Das Feuer wacht ber dem Gesetz in der Gestalt der Sonne und (wie wir sehen werden) in der Gestalt von Zeus Blitz und fllt, ihm gem, sein Urteil: Die Sonne ist der Hter und Wchter der Wiederholung, sie begrenzt und richtet die Vernderungen und die Jahreszeiten, die alle Dinge hervorbringen, sie kndigt sie an und stellt sie dar Diese Weltordnung dieselbe fr alles hat weder ein Gott noch ein Mensch erschaen, sondern sie war immer, ist und wird immer sein: ein ewig lebendiges Feuer, nach Maen auammend und nach Maen verlschend In seinem Fortschreiten wird das Feuer alles richten und hinrichten. Mit der historizistischen Idee eines unbarmherzigen Geschicks kann man oft ein mystisches Element verbunden nden. Eine kritische Analyse des Mystizismus wird in Band II, Kapitel 4 gegeben werden. Hier mchte ich nur zeigen, welche Rolle der Antirationalismus und der Mystizismus in der Philosophie Heraklits spielen8: Die
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Natur liebt es, sich zu verbergen. So schreibt er, und der Gott, dem das Orakel von Delphi zu eigen ist, spricht nichts aus und verbirgt auch nichts; was er meint, deutet er durch Zeichen an. Heraklits Verachtung fr den mehr empirisch eingestellten Forscher ist typisch fr alle Vertreter dieser Haltung: Vielwisserei braucht nicht viel Verstand; sonst wrden ja Hesiod und Pythagoras und auch Xenophanes mehr besessen haben Pythagoras ist der Vater aller Betrger. Mit dieser Verachtung der Wissenschaft geht die mystische Theorie intuitiven Verstehens Hand in Hand. Heraklits Erkenntnistheorie geht von der Tatsache aus, da wir als Wachende in einer gemeinsamen Welt leben. Wir knnen uns verstndigen, kontrollieren und korrigieren; dieser Umstand versichert uns, da wir nicht Opfer eines Traumes, einer Illusion sind. Aber diese Theorie erhlt eine zweite, eine symbolische, eine mystische Bedeutung. Sie wird zur Lehre einer mystischen Intuition, die den Auserwhlten verliehen wird, den Wachenden, denen, die die Fhigkeit haben zu sehen, zu hren und zu sprechen: Man darf nicht handeln und reden wie im Schlafe Fr die Wachenden gibt es nur eine einzige und gemeinsame Welt; die Schlafenden wenden sich ihren besonderen Welten zu Sie sind weder fhig zu hren noch zu reden Auch wenn sie hren, so sind sie doch wie Taube. Von ihnen gilt der Spruch: Sie sind da und sind doch nicht da. Eines allein ist Weisheit: Den Gedanken zu verstehen, der alles durch alles lenkt. Die Welt, deren Erfahrung den Wachen gemeinsam ist, ist die mystische Einheit, die Einheit aller
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Dinge, die durch die Vernunft allein begrien werden kann: Man mu dem Allgemeinen folgen, die Vernunft ist allgemein Aus allem wird eines und aus einem alles Eins, das allein Weisheit ist, will nicht und will doch auch mit dem Namen des Zeus genannt werden Es ist der Blitz, der alle Dinge lenkt. Soweit die allgemeineren Zge der Herakliteischen Philosophie des allgemeinen Wechsels und des verborgenen Geschicks. Dieser Philosophie entspringt eine Theorie ber die treibende Kraft hinter aller Bewegung. Eine Theorie, deren historizistischer Charakter aus der Betonung der Bedeutung der Sozialdynamik im Gegensatz zur Sozialstatik klar wird. Heraklits Dynamik der Natur im allgemeinen und des sozialen Lebens im besonderen besttigt die Ansicht, da seine Philosophie von den sozialen und politischen Strungen angeregt ist, die er erfahren hatte. Denn er erklrt, da Kampf und Streit das dynamische, aber auch das schpferische Prinzip aller Vernderung und insbesondere der Unterschiede zwischen den Menschen darstellen. Und als ein typischer Historizist sieht er im Urteil der Geschichte ein moralisches Urteil9; denn er behauptet, da das Ergebnis des Krieges immer gerecht sei0; der Krieg ist der Vater und der Knig aller Dinge; die einen erweist er als Gtter, die anderen als Menschen, indem er diese zu Sklaven und jene zu Herren macht Man mu wissen, da der Krieg allem gemeinsam ist und da das Recht Streit ist und da alles geschieht auf Grund von Streit und Notwendigkeit.
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Wenn aber die Gerechtigkeit dasselbe ist wie der Kampf oder der Streit; wenn die Gttinnen des Schicksals gleichzeitig die Helferinnen der Gerechtigkeit sind; wenn die Geschichte, oder genauer, wenn der Erfolg, das heit der Erfolg im Krieg, das Kriterium des Verdienstes darstellt, dann mu sich der Mastab des Verdienstes selbst in Flu benden. Heraklit begegnet diesem Problem durch seinen Relativismus und durch seine Lehre von der Identitt der Gegenstze. Diese wieder entspringt seiner Theorie der Vernderung (die die Grundlage von Platons Lehre und noch mehr die Grundlage der Lehre des Aristoteles verbleibt). Ein Ding, das sich verndert, mu eine gewisse Eigenschaft abgeben und die entgegengesetzte Eigenschaft annehmen. Es ist nicht so sehr ein Ding als ein bergangsproze von einem Zustand zu einem entgegengesetzten Zustand und damit eine Vereinigung dieser entgegengesetzten Zustnde. Kaltes wird warm und Warmes kalt; Feuchtes wird trocken und Trockenes feucht Krankheit macht die Gesundheit wertvoll Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Jugend und Alter all dies ist dasselbe; denn diese verndern sich in jene und jene wieder in diese Das Unterschiedene stimmt mit sich selbst berein: es ist eine Harmonie, die aus entgegengesetzten Spannungen entspringt, wie im Bogen oder in der Leier Die Gegenstze passen zusammen, aus der Disharmonie lst sich die beste Harmonie, und alles entsteht auf dem Wege des Streites Der Weg aufwrts und der Weg abwrts sind ein und derselbe Des Wolkenkammes Bahn ist, obwohl gerade
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und krumm, eine und dieselbe Fr die Gtter ist alles schn und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als gerecht, das andere als ungerecht angenommen Das Gute und das Bse sind dasselbe. Der Relativismus der Werte (man knnte ihn sogar einen ethischen Relativismus nennen), der im letzten Fragment seinen Ausdruck ndet, hindert jedoch Heraklit nicht, auf dem Hintergrund seiner Lehre von der Gerechtigkeit des Krieges und vom Urteil der Geschichte eine romantische Stammesethik von Ruhm, Schicksal und von der berlegenheit des groen Mannes zu entwerfen all dies merkwrdig an einige sehr moderne Ideen erinnernd2: Wer im Kampfe fllt, wird von Gttern und Menschen verherrlicht werden Je grer der Fall, desto grer das Los Edle Menschen erstreben eines vor allem anderen: ewigen Ruhm Zehntausend wiegen einen Treichen nicht auf. Es ist berraschend, da man in diesen frhen Fragmenten (sie stammen aus dem fnften Jahrhundert vor Christus) so viele Lehren ndet, die auch die modernen historizistischen und antidemokratischen Tendenzen charakterisieren. Aber abgesehen davon, da Heraklit ein Denker von unbertroener Kraft und Originalitt war und da viele seiner Ideen in Folge davon (durch die Vermittlung Platons) Teil des Bestandes der philosophischen Tradition geworden sind, lt sich die hnlichkeit der Lehren in gewissem Ausma durch die hnlichkeit der sozialen Bedingungen in den entsprechenden Perioden erklren. Historizistische Ideen scheinen in Zeiten groer sozialer
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Vernderungen leicht in den Vordergrund zu treten. Sie erschienen, als das griechische Stammesleben in Trmmer el und ebenso, als das Stammesleben der Juden durch die Auswirkungen der babylonischen Eroberung erschttert wurde 3. Es kann meiner Ansicht nach kaum einen Zweifel darber geben, da Heraklits Philosophie der Ausdruck eines Gefhls des Dahintreibens ist, eines Gefhls, das eine typische Reaktion auf die Ausung der alten Stammesformen, des sozialen Lebens sein drfte. Im modernen Europa wurden historizistische Ideen whrend der industriellen Revolution, besonders aber unter dem Einu der politischen Revolutionen in Amerika und Frankreich neu belebt 4. Es ist wohl mehr als ein blo zuflliges Zusammentreen, da Hegel, der so viel von den Gedanken Heraklits aufnahm und an alle modernen historizistischen Bewegungen weitergab, ein Wortfhrer der Reaktion gegen die Franzsische Revolution war. Drittes Kapitel: PLATONS IDEENLEHRE I Platon lebte in einer Zeit von Kriegen und politischen Erschtterungen, die nach allem, was wir wissen, noch viel unruhiger war als die Zeit, die Heraklit Sorge bereitet hatte. Als er heranwuchs, hatte der Zusammenbruch des Stammeslebens der Griechen in Athen, seiner Geburtsstadt,
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zu einer Periode der Tyrannei und spter zur Errichtung einer Demokratie gefhrt, die sich eiferschtig gegen jeden Versuch zu schtzen suchte, wieder eine Tyrannei oder eine Oligarchie (d. h. einer Herrschaft der fhrenden aristokratischen Familien) einzufhren. Whrend seiner Jugend war das demokratische Athen in einen tdlichen Kampf mit Sparta verwickelt, dem fhrenden Stadtstaat des Peloponnes, der viele Gesetze und Sitten der alten Stammesaristokratie beibehalten hatte. Der Peloponnesische Krieg dauerte, mit einer Unterbrechung, achtundzwanzig Jahre. (Im 0. Kapitel wird anllich einer ausfhrlicheren Besprechung des historischen Hintergrundes gezeigt werden, da der Krieg nicht, wie manchmal behauptet wird, mit dem Fall Athens im Jahre 404 v. Chr. beendet war2.) Platon wurde whrend des Krieges geboren, und er war ungefhr vierundzwanzig Jahre alt, als der Kampf zu Ende ging. Der Krieg brachte schreckliche Seuchen, im letzten Jahr Hungersnot, den Fall der Stadt Athen, Brgerkrieg und eine Schreckensherrschaft, die gewhnlich die Herrschaft der Dreiig Tyrannen genannt wird; diese wurden von zwei Onkeln Platons angefhrt; beide verloren das Leben bei dem erfolglosen Versuch, ihr Regime gegen die Demokraten aufrechtzuerhalten. Die Wiederherstellung der Demokratie und des Friedens brachte fr Platon keine Entspannung. Sokrates, sein geliebter Lehrer, den er spter zum Hauptsprecher der meisten seiner Dialoge machte, wurde angeklagt und hingerichtet. Er selbst scheint sich in Gefahr befunden zu haben; er verlie Athen, zusammen mit anderen Gefhrten des Sokrates.
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Spter, gelegentlich seines ersten Besuches in Sizilien, wurde Platon in die politischen Intrigen verwickelt, die am Hofe des lteren Dionysios, des Tyrannen von Syrakus, gesponnen wurden; und selbst nach seiner Rckkehr und nach der Grndung der Akademie in Athen spielte er zusammen mit einigen seiner Schler eine aktive und zuletzt verhngnisvolle Rolle in den Verschwrungen und Revolutionen3, aus denen die Politik von Syrakus bestand. Dieser kurze Abri politischer Ereignisse mag als Erklrung dafr dienen, warum wir in Platons Werk (wie auch in dem des Heraklit) Andeutungen nden, die uns zeigen, wie schwer er unter der politischen Instabilitt und Unsicherheit seiner Zeit gelitten hat. Platon war, wie Heraklit, von kniglichem Geblt; zumindest der Tradition nach leitet sich die Familie seines Vaters von Kodros, dem letzten der Stammesknige Attikas her4. Platon war sehr stolz auf die Familie seiner Mutter. Wie er in seinen Dialogen (im Charmides und im Timaios) ausfhrt, war diese mit der Familie Solons, des Gesetzgebers von Athen, verwandt. Seine Onkeln Kritias und Charmides, die fhrenden Mnner der Dreiig Tyrannen, gehrten ihr gleichfalls an. Bei einer solchen Familientradition war von Platon ein tiefes Interesse an entlichen Angelegenheiten zu erwarten; und tatschlich besttigen die meisten seiner Werke diese Erwartung. Er selbst berichtet uns (wenn der siebente Brief echt ist), da er von Beginn an hchst begierig nach politischer Ttigkeit war5, da er aber durch die aufregenden Erfahrungen seiner Jugend abgeschreckt wurde. Ich sah,
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da alles schwankte und sich ziellos nderte; da fhlte ich mich schwindlig und verzweifelt. Aus dem Gefhl, da sich die Gesellschaftsordnung und tatschlich alles in Flu befand, entstand, wie ich glaube, die grundlegende Idee zu seiner Philosophie, ebenso wie zur Philosophie des Heraklit; und wie sein historizistischer Vorgnger, so fate auch Platon seine soziale Erfahrung zusammen, indem er ein historisches Entwicklungsgesetz aufstellte. Nach diesem Gesetz, das wir im nchsten Kapitel ausfhrlicher diskutieren werden, fhrt jegliche soziale Vernderung zu Verderbnis, zum Verfall oder zur Degeneration. Dieses grundlegende historische Gesetz ist nach der Ansicht Platons Teil eines kosmischen Gesetzes, das fr alle geschaenen oder gezeugten Dinge gilt. Alle vernderlichen Dinge, alle gezeugten Dinge, sind zum Verfall bestimmt. Platon fhlte gleich Heraklit, da die Krfte, die in der Geschichte am Werk sind, kosmisches Ausma haben. Es kann als fast sicher gelten, da Platon sein Verfallsgesetz nicht fr die volle Wahrheit hielt. Wir haben bei Heraklit eine Tendenz gefunden, die Entwicklungsgesetze als zyklische Gesetze zu versinnbildlichen; sie werden nach Vorbild des Gesetzes aufgefat, das die zyklische Aufeinanderfolge der Jahreszeiten regelt. hnlich ndet sich in einigen Werken Platons die Annahme eines Groen Jahres (seine Lnge scheint 36 000 gewhnliche Jahre betragen zu haben) mit einer Periode der Verbesserung oder Zeugung, die wahrscheinlich dem Frhling und Sommer entspricht, sowie einer Periode des Niedergangs und Verfalls (Herbst und Winter). Nach einem
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der Dialoge Platons (dem Staatsmann) geht unserem eigenen Zeitalter, dem Zeitalter des Zeus, ein Goldenes Zeitalter, das Zeitalter des Kronos voraus: Kronos regiert die Welt, und der Mensch entspriet der Erde; nach Ablauf dieser Periode wird die Welt von den Gttern im Stich gelassen und auf sich selbst verwiesen. Der Verfall nimmt daher stndig zu. Und in der Darstellung des Staatsmannes nden wir auch eine Andeutung, da der Gott am Tiefpunkt vollstndigen Zerfalls wieder das Steuer des kosmischen Schies in die Hand nehmen wird und da sich hierauf alles wieder zum Guten wendet. Es ist nicht sicher, wie weit Platon an die Darstellung des Staatsmannes glaubte. Er gab deutlich zu verstehen, da er sie nicht zur Gnze fr buchstblich wahr hielt. Andererseits besteht nur geringer Zweifel, da fr ihn die menschliche Geschichte in einen kosmischen Rahmen eingespannt war, da er sein eigenes Zeitalter fr ein Zeitalter tiefer Verderbnis hielt mglicherweise der tiefsten, die erreicht werden kann und da er glaubte, die ganze vorhergehende historische Periode sei durch eine ihr innewohnende Tendenz zum Verfall gefhrt worden, durch eine Tendenz, die der historischen und der kosmischen Entwicklung gemeinsam ist6. Ob er auch glaubte, da diese Tendenz notwendigerweise zu Ende kommen msse, sobald der Punkt uerster Verderbnis erreicht ist, das scheint mir unsicher. Aber er glaubte ganz gewi, da es uns durch menschliche oder vielmehr bermenschliche Anstrengung mglich sei, den verhngnisvollen historischen Ablauf zu durchbrechen und dem Verfallsproze ein Ende zu machen.
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II Wie gro die hnlichkeit zwischen Platon und Heraklit auch sein mag hier sind wir auf einen wichtigen Unterschied gestoen. Platon glaubte, das Gesetz des historischen Schicksals, des Verfalls knne durch den von der Macht des Verstandes untersttzten moralischen Willen des Menschen durchbrochen werden. Es ist nicht vllig klar, wie Platon diese Ansicht mit seinem Glauben an ein Schicksalsgesetz in Einklang gebracht hat. Es gibt aber einige Andeutungen, die vielleicht die Sachlage erklren. Platon glaubte, da das Gesetz des historischen Verfalls auch einen sittlichen Verfall zur Folge habe. Jedenfalls hngt seiner Ansicht nach der politische Verfall hauptschlich vom sittlichen Verfall (und vom Mangel an Wissen) ab; der sittliche Verfall hinwieder ist in weitem Ausma auf rassische Degeneration zurckzufhren. Auf diese Weise tritt das allgemeine kosmische Verfallsgesetz im Bereich menschlicher Angelegenheiten zutage. Es ist daher verstndlich, da der groe kosmische Wendepunkt mit einem Wendepunkt im Bereiche menschlicher Angelegenheiten im moralischen Bereich und im Bereich des Verstandes zusammentreen kann; und so kann es uns erscheinen, als sei er durch eine moralische oder intellektuelle Anstrengung des Menschen herbeigefhrt worden. Platon mag geglaubt haben, da ebenso, wie das allgemeine Verfallsgesetz sich in einem sittlichen Verfall ausdrckt, der zum politischen Verfall fhrt, auch die
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Ankunft des kosmischen Wendepunktes in der Ankunft eines groen Gesetzgebers zutage treten werde, eines Gesetzgebers, dessen Verstandeskraft und dessen sittlicher Wille fhig sind, die Periode des politischen Verfalls zu beenden. Die Prophezeiung der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters, eines neuen tausendjhrigen Reiches, die wir im Staatsmann nden, ist wahrscheinlich der mythische Ausdruck eines derartigen Glaubens. Wie dem auch sei, Platon glaubte sicher an beides an eine allgemeine historische Tendenz zum Verfall, wie auch an die Mglichkeit, da wir den weiteren Verfall auf dem Gebiet der Politik vermeiden knnen, wenn wir nur der politischen Vernderung Einhalt gebieten. Dies ist also das Ziel, das er anstrebt7. Er versucht es durch die Grndung eines Staates zu verwirklichen, der nicht verfllt, der sich nicht verndert, und der eben deshalb von den beln aller anderen Staaten frei ist. Der von den beln der Vernderung und des Verfalls freie Staat ist der beste und der vollkommenste Staat. Er ist der Staat des Goldenen Zeitalters, das keine Bewegung kannte. Er ist der zum Stillstand gebrachte, der versteinerte Staat. III Platon glaubt an einen idealen Staat, der keinen Vernderungen unterworfen ist; damit weicht er radikal von den Grundstzen des Historizismus ab, die wir bei Heraklit gefunden haben. So bedeutsam dieser Unterschied auch sein mag er fhrt zu weiteren Berhrungspunkten zwischen Platon und Heraklit.
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Trotz der Khnheit seines Denkens scheint es Heraklit nicht gewagt zu haben, den Kosmos durch das Chaos zu ersetzen. Wie wir zeigten, half ihm die Annahme eines unvernderlichen und die Vernderung beherrschenden Gesetzes scheinbar ber den Verlust seiner stabilen Welt hinweg. Diese Tendenz, den letzten Konsequenzen des Historizismus auszuweichen, ist fr viele Historizisten charakteristisch. Bei Platon wird diese Tendenz vorherrschend. (Er stand hier unter dem Einu der Philosophie des Parmenides, des groen Kritikers Heraklits.) Heraklit hatte seine Erfahrung der sozialen Vernderung verallgemeinert und sie auf die Welt aller Dinge ausgedehnt; wie ich angedeutet habe, tat Platon dasselbe. Aber Platons Glauben an die Existenz eines vollkommenen und unvernderlichen Staates erstreckt sich gleichfalls auf den Bereich aller Dinge. Platon nimmt an, da jedem gewhnlichen und verfallenden Gegenstand ein vollkommener Gegenstand entspricht, der nicht dem Verfall ausgesetzt ist. Dieser Glaube an vollkommene und unwandelbare Dinge, den man gewhnlich die Theorie der Formen oder Ideen, kurz die Ideenlehre nennt, wurde die zentrale Lehre seiner Philosophie. Platon war der Ansicht, da es uns mglich sei, das eherne Schicksalsgesetz zu durchbrechen und den Verfall durch das Anhalten aller Vernderung zu verhindern; dies zeigt, da seinen historizistischen Neigungen wohlbestimmte Grenzen gesetzt waren. Ein kompromiloser und voll entwickelter Historizismus wrde nicht ohne weiteres zugeben, da der
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Mensch durch irgendwelche Anstrengungen die Gesetze des historischen Geschicks ndern kann auch dann nicht, wenn er sie entdeckt hat. Er wrde bestreiten, da er ihnen entgegenarbeiten kann; denn alle Plne und Handlungen sind Mittel, mit deren Hilfe die unerbittlichen Entwicklungsgesetze das historische Geschick des Menschen realisieren; gerade so, wie dipus vom Verhngnis ereilt wurde auf Grund der Prophezeiungen und der Manahmen, die sein Vater zum Zwecke seiner Vermeidung getroen hatte und nicht diesen Manahmen zum Trotz. Um diese durch und durch historizistische Einstellung besser zu verstehen und um die entgegengesetzte Tendenz zu analysieren, die sich in Platons Glauben ndet, da wir unser Schicksal beeinussen knnen, werde ich den platonischen Historizismus mit einer diametral entgegengesetzten Einstellung konfrontieren, die wir auch bei Platon nden und die man die sozialtechnische Einstellung 9 nennen knnte. IV Der Sozialtechniker stellt keine Fragen ber historizistische Tendenzen oder ber das Geschick des Menschen. Er hlt den Menschen fr den Herrn seines eigenen Geschicks, und er glaubt, da wir ebenso, wie wir das Antlitz der Erde verndert haben, auch die Geschichte des Menschen in bereinstimmung mit unseren Zielen beeinussen oder verndern knnen; der Sozialtechniker glaubt nicht, da uns diese Ziele durch unseren historischen Hintergrund oder durch geschichtliche Tendenzen auferlegt werden;
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er ist vielmehr der Ansicht, da sie von uns selbst gewhlt oder sogar erschaen sind, ebenso, wie wir neue Gedanken, neue Kunstwerke, neue Huser oder neue Maschinen erschaen. Im Gegensatz zum Historizisten, der meint, da verstndiges politisches Handeln allein dort mglich sei, wo der zuknftige Verlauf der Geschichte zuerst bestimmt worden ist, hat der Sozialtechniker von einer wissenschaftlichen Basis der Politik eine ganz andere Vorstellung; diese Basis besteht fr ihn in der Kenntnis von Tatsachen, die fr die Konstruktion oder nderung sozialer Institutionen in bereinstimmung mit unseren Wnschen und Zielen notwendig sind. Eine derartige Wissenschaft htte uns mitzuteilen, welche Schritte wir unternehmen mssen, um zum Beispiel Depressionen zu vermeiden oder zu schaen oder um eine mehr oder weniger gleichmige Verteilung der Gter herzustellen; mit anderen Worten: Der Sozialtechniker hlt eine Art sozialer Technologie fr die wissenschaftliche Basis der Politik (Platon, wie wir sehen werden, vergleicht diese Basis mit dem wissenschaftlichen Hintergrund der Medizin); im Gegensatz dazu sieht der Historizist in der Politik eine Wissenschaft von unvernderlichen historischen Tendenzen. Man darf aus der eben gegebenen Beschreibung der Haltung des Sozialtechnikers nicht den Schlu ziehen, da es unter den Sozialtechnikern selbst keine bedeutsamen Dierenzen gibt. Im Gegenteil; der Unterschied zwischen einer Richtung, die ich Sozialtechnik der Einzelprobleme nenne, und einer anderen, fr die ich die Bezeichnung uto66 Der Mythos vom Ursprung und Schicksal

pistische Sozialtechnik oder universalistische Technik gewhlt habe, bildet eines der Hauptthemen dieses Buches (vgl. insbesondere Kapitel 9, wo ich meine Grnde angebe, warum ich die erste befrworte und die zweite ablehne). Aber im Augenblick befasse ich mich einzig mit dem Gegensatz zwischen dem Historizismus und der Sozialtechnik. Dieser Gegensatz wird vielleicht noch deutlicher, wenn wir uns berlegen, wie sich der Historizist und der Sozialtechniker den sozialen Institutionen gegenber verhalten, das heit Einrichtungen gegenber wie einer Versicherungsgesellschaft, einer Polizeigewalt, einer Regierung oder etwa einer Gemischtwarenhandlung. Der Historizist ist geneigt, die sozialen Institutionen hauptschlich vom Standpunkt ihrer Geschichte, das heit ihres Ursprunges, ihrer Entwicklung und ihrer gegenwrtigen und zuknftigen Bedeutung anzusehen. Er wird etwa betonen, da ihr Ursprung einem denitiven Plan, einem Entwurf und dem Verfolgen bestimmter menschlicher oder gttlicher Ziele zuzuschreiben sei; oder er wird behaupten, da sie nicht zur Erfllung irgendwelcher klar gefater Zwecke entworfen wurden, da sie vielmehr als der unmittelbare Ausdruck gewisser Instinkte und Leidenschaften aufgefat werden mten; oder er behauptet, da sie einst als Mittel zu bestimmten Zwecken dienten, da sie aber spter diesen Charakter verloren htten. Andrerseits ist der Sozialtechniker am Ursprung der Institutionen, an den ursprnglichen Absichten ihrer Grnder kaum interessiert (obgleich es keinen Grund gibt, warum er nicht zugeben
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sollte, da nur wenige soziale Institutionen bewut gegrndet werden, whrend die groe Mehrheit einfach als das unbeabsichtigte Resultat menschlicher Handlungen ,gewachsen ist0). Sein Problem ist vielmehr dieses: Angenommen, unsere Ziele sind so und so beschaen; ist dann diese Institution wohl geplant und organisiert, um ihnen zu dienen? Betrachten wir die Institution der Versicherung als ein Beispiel! Ist die Versicherung als ein protsuchendes Gewerbe entstanden? Oder besteht ihre historische Mission darin, dem Gemeinwohl zu dienen? ber diese Fragen wird sich der Sozialtechniker kaum den Kopf zerbrechen. Aber er kann bestimmte Versicherungsinstitutionen kritisieren, indem er etwa zeigt, wie ihr Gewinn vergrert werden knnte, oder, was davon sehr verschieden ist, wie es mglich wre, den Nutzen zu vergrern, den sie der entlichkeit erweisen; und er wird angeben, wie man vorgehen mu, wenn man ihren Wirkungsgrad in der einen oder der anderen Richtung vergrern will. Die Polizei ist ein anderes Beispiel einer sozialen Institution. Manche Historizisten nennen sie ein Instrument zum Schutz der Freiheit und Sicherheit, andere sehen in ihr ein Instrument der Klassenherrschaft und Unterdrckung. Der Sozialtechniker wird aber etwa Manahmen vorschlagen, die die Polizei zu einem geeigneten Instrument zum Schutze der Freiheit und Sicherheit machen, und er kann ebenso Manahmen ersinnen, die es gestatten, sie in ein mchtiges Instrument der Klassenherrschaft zu verwandeln. (In seiner Funktion als ein Brger, der gewisse Ziele anstrebt, an die er
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glaubt, mag er die Forderung stellen, da diese Ziele und die entsprechenden Manahmen angenommen werden sollten. Aber als ein Techniker wird er sorgfltig zwischen der Frage der Ziele und ihrer Wahl auf der einen Seite und Tatsachenfragen, das heit Fragen nach den sozialen Auswirkungen, die irgendeine ergriene Manahme nach sich zieht, auf der anderen unterscheiden.) Allgemeiner knnen wir sagen, da der Ingenieur oder der Techniker Institutionen in rationaler Weise als Mittel betrachtet, die bestimmten Zwecken dienen, und da er sie als Techniker vllig gem ihrer Eignung, Wirksamkeit, Einfachheit usf. beurteilt. Andererseits wird der Historizist eher versuchen, den Ursprung und die Bestimmung dieser Institutionen ausndig zu machen, um die wahre Rolle abzuschtzen, die sie im Verlauf der Geschichte spielen er wird sie zum Beispiel als von Gott gewollt oder vom Schicksal gewollt oder bedeutenden historischen Strmungen dienend usf. charakterisieren. Bei all dem ist der Sozialtechniker nicht zur Behauptung gezwungen, da die Institutionen Mittel zu bestimmten Zwecken oder Instrumente sind; er mag des Umstandes wohl gewahr sein, da sie sich von mechanischen Instrumenten oder Maschinen in zahlreichen wichtigen Punkten unterscheiden. Er wird zum Beispiel nicht vergessen, da sie in einer Weise wachsen, die dem Wachstum der Organismen hnlich (wenn auch keinesfalls gleich) ist, und da dieser Umstand fr die Sozialtechnik von groer Bedeutung ist. Er ist nicht zu einer instrumentalistischen Philosophie
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sozialer Institutionen gezwungen. (Niemand wird sagen, eine Orange sei ein Instrument oder ein Mittel fr einen Zweck; aber wir sehen Orangen oft als Mittel fr Zwecke an, zum Beispiel dann, wenn wir sie essen wollen oder wenn wir unseren Lebensunterhalt durch ihren Verkauf verdienen wollen.) Beide Einstellungen, der Historizismus und die Sozialtechnik, kommen manchmal in typischen Kombinationen vor. Das frheste und wahrscheinlich einflureichste Beispiel einer solchen Kombination ist die politische Philosophie und die Sozialphilosophie Platons. Sie vereinigt gleichsam einen Vordergrund von oenkundig technologischen Elementen mit einem Hintergrund, der von einer berreichen Ansammlung typisch historizistischer Zge beherrscht wird. Diese Kombination ist fr eine betrchtliche Anzahl von Sozialphilosophen und politischen Philosophen charakteristisch, deren Lehrgebude spter utopische Systeme genannt wurden. Alle diese Systeme empfehlen eine Art von Sozialtechnik, da sie die Annahme gewisser, wenn auch nicht immer sehr realistischer institutioneller Mittel zur Durchfhrung ihrer Ziele fordern. Eine nhere Betrachtung dieser Ziele ergibt jedoch hug, da sie durch historizistische berlegungen bestimmt sind. Insbesondere Platons politische Ziele hngen in weitem Ausma von seinen historizistischen Lehren ab. Erstens ist es sein Ziel, dem herakliteischen Flu zu entkommen, der sich in sozialen Revolutionen und im historischen Verfall uert. Zweitens glaubt er, dies durch die Errichtung eines
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Staates erreichen zu knnen, der so vollkommen ist, da er am allgemeinen Verlauf des historischen Verfalls keinen Anteil hat. Drittens ist er der Ansicht, da man das Modell oder Original dieses vollkommenen Staates in der entfernten Vergangenheit aunden knne, in einem Goldenen Zeitalter, das in der Morgendmmerung der Geschichte existierte; denn wenn die Welt im Laufe der Zeit verfllt, dann mssen wir wachsende Vollkommenheit nden, je weiter wir in die Vergangenheit zurckschreiten. Der vollkommene Staat ist sozusagen der erste Vorfahre, der Ahnherr der spteren Staaten, die gleichsam die degenerierten Nachkommen dieses vollkommenen oder besten oder idealen Staates darstellen2; eines idealen Staates, der nicht bloe Phantasie, noch ein Traum, noch eine Vorstellung in unserem Geiste ist, sondern dem angesichts seiner Stabilitt hhere Wirklichkeit zukommt als all jenen verfallenden, dem Wechsel unterworfenen Gesellschaftsordnungen, die in jedem Augenblick vergehen knnen. Somit hngt sogar das politische Ziel Platons, der beste Staat zu einem groen Teil von seinem Historizismus ab; und was fr seine Staatsphilosophie gilt, lt sich, wie wir bereits angedeutet haben, auf seine allgemeine Philosophie aller Dinge ausdehnen, auf seine Lehre von den Formen oder Ideen. Die vernderlichen Dinge, die entarteten und verfallenden Dinge sind, wie der Staat, gewissermaen die Nachkommen, die Kinder der vollkommenen Dinge. Und wie Kinder sind sie Abbilder ihrer Ahnherrn. Den Vater oder
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das Original eines vernderlichen Dinges nennt Platon die Form, das Modell oder die Idee dieses Dinges. Wie bereits vorhin mssen wir hervorheben, da die Form oder Idee trotz ihres Namens keine Idee in unserem Geiste ist; sie ist kein Vorstellungsbild, kein Traum, sondern ein wirkliches Ding. Sie ist sogar in hherem Grade wirklich als alle die gewhnlichen und vernderlichen Dinge, die trotz ihrer scheinbaren Festigkeit zum Verfall verurteilt sind; denn die Form oder Idee ist vollkommen und verfllt nicht. Man darf sich nicht denken, da die Formen oder Ideen wie die vergnglichen Dinge ihren Wohnsitz in Raum und Zeit haben. Sie benden sich auerhalb des Raumes und auch auerhalb der Zeit (denn sie sind ewig). Sie stehen aber mit Raum und Zeit in Verbindung; da sie nmlich die Ahnherrn oder Modelle der gezeugten Dinge sind, die in Raum und Zeit entstehen und verfallen, so mssen sie zu Beginn der Zeit mit dem Raum in Berhrung gestanden haben. Da sie sich nicht mit uns zusammen in unserem Raum und in unserer Zeit aufhalten, so knnen wir sie nicht wie die gewhnlichen vernderlichen Dinge, die wahrnehmbaren Dinge, mit unseren Sinnen erfassen. Diejenigen wahrnehmbaren Dinge, die Kopien oder Kinder desselben Modells oder Originals sind, sind nicht nur diesem Original, ihrer Form oder Idee, sondern auch einander hnlich, wie das bei Kindern derselben Familie der Fall ist; und wie die Kinder mit dem Namen ihres Vaters genannt werden, so tragen auch die wahrnehmbaren Dinge
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den Namen ihrer Formen oder Ideen; sie werden alle nach ihnen benannt, wie Aristoteles sagt3. Wie ein Kind seinen Vater sieht es erblickt in ihm ein Ideal, ein einzigartiges Vorbild, eine gottgleiche Personikation seiner eigenen Wnsche; die Verkrperung der Vollkommenheit, Weisheit, Festigkeit, des Ruhmes und der Tugend; die Macht, die es geschaen hat, bevor seine Welt begann, die es nun behtet und untersttzt und kraft deren es existiert so sieht Platon seine Formen oder Ideen. Die platonische Idee ist das Original und der Ursprung des Dinges; sie ist das Verstndige am Ding, der Vernunftgrund seines Daseins, das feste untersttzende Prinzip, kraft dessen es existiert. Sie ist die dem Ding innewohnende und es zum Guten bestimmende Kraft, sein Ideal, seine Vollendung. Der Vergleich zwischen der Form oder Idee einer Klasse wahrnehmbarer Dinge und dem Vater einer Familie wird von Platon im Timaios, einem seiner sptesten Dialoge entwickelt. Dieser Vergleich stimmt mit vielem, das Platon vorher geschrieben hat, gut berein4 und er wirft ein bemerkenswertes Licht auf jene Schriften. Aber im Timaios geht Platon einen Schritt ber seine frheren Lehren hinaus; er beschreibt hier die Berhrung der Form oder Idee mit der Welt in Raum und Zeit mit Hilfe einer Erweiterung seines Gleichnisses. Er nennt den abstrakten Raum, in dem sich die wahrnehmbaren Dinge bewegen (ursprnglich war dies die ghnende Leere zwischen Himmel und Erde) einen Behlter und er vergleicht ihn mit der Mutter
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der Dinge, in der die wahrnehmbaren Dinge zu Beginn der Zeiten durch die Formen geschaen werden; diese prgen sich dem reinen Raum auf und geben dadurch der Nachkommenschaft ihre Gestalt. Wir mssen, so schreibt Platon, uns drei Arten von Dingen vorstellen: zunchst jene Dinge, die gezeugt werden; hierauf jene Dinge, in denen die Zeugung stattndet, und drittens das Modell, nach dessen Vorbild die gezeugten Dinge geboren werden. Und wir drfen dann das empfangende Prinzip passend mit der Mutter, das Modell mit dem Vater und ihr Produkt mit dem Kinde vergleichen, und er fhrt fort, indem er zunchst die Modelle, die Vter, die unwandelbaren Formen oder Ideen nher beschreibt: Das eine ist die unvernderliche Form, die unerzeugt und unzerstrbar ist unsichtbar und fr keinen der Sinne wahrnehmbar und nur der rein denkenden Betrachtung zugnglich. Zu jeder einzelnen dieser Formen oder Ideen gehrt ihre Nachkommenschaft, die Rasse wahrnehmbarer Dinge, eine andere Art von Dingen, jener Form gleichnamig und hnlich, aber sinnlich wahrnehmbar, erschaen, in steter Bewegung, entstehend an einem Orte und wieder von da verschwindend, durch auf Wahrnehmung gegrndete Meinung erfabar. Und der abstrakte Raum, der mit der Mutter verglichen wird, wird auf die folgende Weise beschrieben: Ein Drittes aber ist der Raum, ewig und unzerstrbar, welcher allem, was ein Werden hat, eine Sttte gewhrt 5. Es trgt vielleicht zum Verstndnis der Ideenlehre bei, wenn wir sie mit gewissen religisen Ansichten in Grie74 Der Mythos vom Ursprung und Schicksal

chenland vergleichen. Wie in vielen primitiven Religionen sind zumindest einige der griechischen Gtter nichts als idealisierte Stammesvter und Helden Personikationen der Tugend oder Vollkommenheit des Stammes. Demgem fhrten gewisse Stmme und Familien ihre Herkunft auf den einen oder den anderen Gott zurck. (Es wird berichtet, da Platons eigene Familie sich vom Gott Poseidon herleitete6.) Wir brauchen nur daran zu denken, da diese Gtter unsterblich, ewig und vollkommen oder fast vollkommen sind, whrend die gewhnlichen Menschen, in den Werdegang aller Dinge einbezogen, dem Verfall unterliegen (das ist tatschlich das schlieliche Schicksal jedes menschlichen Individuums), um zu sehen, da sie zum gewhnlichen Menschen in derselben Beziehung stehen wie Platons Formen oder Ideen zu den wahrnehmbaren Dingen, die sie abbilden7 (oder wie sein vollkommener Staat zu den verschiedenen gegenwrtig bestehenden Staaten). Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen der griechischen Mythologie und Platons Ideenlehre: Die Griechen verehrten viele Gtter als die Vorfahren der verschiedenen Stmme oder Familien; hingegen macht die Ideenlehre die Annahme notwendig, da es nur eine Form oder Idee des Menschen gibt8; denn eine der zentralen Behauptungen dieser Theorie besagt, da jede Rasse oder Art von Dingen nur eine Form besitzt. Die Einzigartigkeit der Form (die der Einzigkeit des Ahnherrn entspricht) ist ein notwendiges Element der Theorie, wenn sie eine ihrer wichtigsten Funktionen
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erfllen soll, nmlich die hnlichkeit wahrnehmbarer Dinge durch die Annahme zu erklren, da die hnlichen Dinge Kopien oder Abdrcke einer Form sind. Wenn es daher zwei gleiche oder hnliche Formen gbe, so wrde uns ihre hnlichkeit zur Annahme zwingen, da sie beide ein drittes Urbild abbilden, und dieses wre dann die allein wahre und einzelne Form. Oder, wie sich Platon im Timaios ausdrckt: Die hnlichkeit wrde auf diese Weise nicht als eine hnlichkeit zwischen diesen beiden Dingen, sondern genauer in Beziehung zu demjenigen bergeordneten Ding erklrt werden, das ihr Urbild ist9. Im Staat, der vor dem Timaios entstanden ist, hatte Platon die Sache noch klarer dargelegt; als Beispiel verwendet er hier das wesentliche Bett, das heit die Form oder Idee eines Bettes: Gott hat also nur jenes eine wesentliche Bett hergestellt. Zwei dieser Art oder noch mehr wurden weder von Gott erschaen, noch werden sie je von ihm erzeugt werden; auch wenn er zwei einzelne schfe und nicht mehr, dann wrde doch ein weiteres zutage treten, nmlich die von beiden dargestellte Form; sie und nicht jene beiden wre dann das wesentliche Bett20. Dieses Argument zeigt, da die Formen oder Ideen Platon nicht nur den Ursprung oder Anfangspunkt aller Entwicklungsreihen in Raum und Zeit (insbesondere in der menschlichen Geschichte) geben, sondern da sie ihm auch zur Erklrung der hnlichkeiten zwischen wahrnehmbaren Dingen derselben Art dienen. Wenn Dinge einander hnlich sind, weil sie irgendeine Kraft oder Eigenschaft, zum
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Beispiel Weie oder Hrte oder Gte gemeinsam haben, dann mu diese Kraft oder Eigenschaft in allen von ihnen dieselbe sein; sonst kann sie nicht zu ihrer hnlichkeit beitragen. Nach Platon haben alle weien Dinge an der einen Form oder Idee der Weie Anteil, alle harten Dinge an der Idee der Hrte. Sie haben an jenen Ideen Anteil im gleichen Sinn, in dem die Kinder der Besitztmer und Gaben der Vter teilhaftig sind; im gleichen Sinn auch, in dem die vielen besonderen Reproduktionen einer Radierung, die alle Abzge einer und derselben Platte sind und die daher einander gleichen, an der Schnheit des Originals teilnehmen. Der Umstand, da diese Theorie zur Erklrung der hnlichkeit zwischen wahrnehmbaren Dingen aufgestellt wurde, scheint auf den ersten Blick mit dem Historizismus in keiner Weise verbunden zu sein. Aber eine solche Verbindung besteht; und wie uns Aristoteles erzhlt, war gerade sie es, die Platon zur Entwicklung der Ideenlehre veranlate. Ich werde versuchen, einen kurzen Abri dieser Entwicklung zu geben; ich werde mich dabei der Darstellung des Aristoteles sowie einiger Andeutungen in Platons eigenen Schriften bedienen. Wenn sich alle Dinge fortwhrend verndern, dann ist es unmglich, etwas Bestimmtes ber sie auszusagen. Wir knnen kein wirkliches Wissen, sondern bestenfalls nur vage und trgerische Ansichten von ihnen besitzen. Dieser Umstand beunruhigte zahlreiche Nachfolger des Heraklit; das wissen wir von Platon und von Aristoteles2.
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Parmenides, einer der Vorgnger Platons, der ihn wesentlich beeinute, hatte gelehrt, da reine Vernunftserkenntnis im Gegensatz zu blo empirischen Ansichten nur eine unvernderliche Welt zum Gegenstand haben knne und da es tatschlich eine solche Welt enthllt. Aber die unvernderliche und ungeteilte Realitt, die Parmenides hinter der Welt vergnglicher Dinge entdeckt zu haben glaubte22, stand in keiner Beziehung zu dieser Welt, in der wir leben und sterben. Sie war daher unfhig, sie zu erklren. Damit konnte sich Platon nicht zufriedengeben. Sowenig er auch diese vernderliche empirische Welt liebte, und sosehr er sie verachtete im Grunde fhlte er sich von ihr magisch angezogen. Er wollte das Geheimnis ihres Verfalls, ihrer strmischen Wandlungen und ihrer Unglckseligkeit enthllen. Er hoffte, die Mittel zu ihrer Rettung zu entdekken. Er war zutiefst beeindruckt von Parmenides Lehre einer unvernderlichen, realen, soliden und vollkommenen Welt hinter dieser gespensterhaften Welt, in der er litt. Aber diese Vorstellung lste seine Probleme nicht, solange sie der Welt der wahrnehmbaren Dinge beziehungslos gegenberstand. Er suchte Wissen, nicht Meinung; rein rationales Wissen von einer Welt, die sich nicht ndert; zur gleichen Zeit wnschte er aber ein Wissen zu erlangen, das zur Untersuchung dieser wechselnden Welt und insbesondere dieser wechselnden Gesellschaftsordnung, zur Untersuchung der politischen Vernderung mit ihren seltsamen historischen Gesetzen dienen konnte. Platon setzte es sich zum Ziel, das Geheimnis der kniglichen Wissenschaft
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der Politik zu entdecken, das Geheimnis der Kunst, ber Menschen zu herrschen. Eine exakte politische Wissenschaft schien aber ebenso unmglich wie ein exaktes Wissen von einer vernderlichen Welt; es gab keine festen Gegenstnde im Gebiet der Politik. Wie war es mglich, auch nur eine politische Frage zu diskutieren, wenn sich die Bedeutung von Worten wie Regierung, Staat, Stadt mit jeder neuen Phase der historischen Entwicklung nderte? Die politische Theorie mu Platon in seiner herakliteischen Periode ebenso trgerisch, schwankend und unergrndlich erschienen sein wie die politische Praxis. In dieser Situation erhielt Platon, wie uns Aristoteles erzhlt, von Sokrates einen hchst bedeutsamen Wink. Sokrates war an ethischen Fragen interessiert; er war ein ethischer Reformator, ein Moralist, der alle mglichen Leute belstigte, sie zum Denken zwang und von ihnen verlangte, da sie die Grundstze ihrer Handlungen erklrten und rechtfertigten. Er pegte Fragen zu stellen und war selten mit den Antworten zufrieden. Die typische Antwort, die er erhielt, war, da wir in bestimmter Weise handeln, weil es weise (oder wirksam oder gerecht oder fromm usf.) ist, so zu handeln; und diese Antwort reizte ihn nur, seine Untersuchung mit der Frage fortzusetzen, was denn Weisheit oder Wirksamkeit oder Gerechtigkeit oder Frmmigkeit eigentlich sei. Mit anderen Worten, er wurde dazu gefhrt, die innere Kraft eines Dinges zu untersuchen. So diskutierte er z. B. die Weisheit, die sich in verschiedenen
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Handwerken und Berufen zeigt, um das Gemeinsame aller dieser verschiedenen und wechselnden weisen Verhaltensformen aufzunden und um so herauszubekommen, was Weisheit eigentlich sei, was Weisheit eigentlich bedeute; oder (um Aristoteles Darstellungsweise zu verwenden), was ihr Wesen sei. Es war natrlich, so sagt Aristoteles, da Sokrates nach dem Wesen suchen sollte23, das heit nach der inneren Kraft oder dem vernnftigen Gehalt eines Dinges und nach den wirklichen, unwandelbaren oder wesentlichen Bedeutungen der Begrie. In diesem Zusammenhang wurde er der erste, der das Problem universeller Denitionen stellte. Man hat diese Versuche des Sokrates, ethische Begrie, wie Gerechtigkeit oder Bescheidenheit oder Frmmigkeit zu diskutieren, mit Recht mit modernen Diskussionen der Freiheit (Mill24 z. B.) oder der Autoritt oder des Individuums und der Gesellschaft (z. B. Catlin) verglichen. Es besteht kein Bedrfnis zur Annahme, da Sokrates jene Begrie bei seiner Suche nach ihrer unwandelbaren oder essentiellen Bedeutung personiziert oder da er sie wie Dinge behandelt hat. Zumindest legt es der Bericht des Aristoteles nahe, da er nicht so vorgegangen ist und da es Platon war, der die Methode des Sokrates, nach der Bedeutung oder Essenz zu suchen, zu einer Methode der Bestimmung der realen Natur, der Form oder der Idee eines Dinges weiterentwickelte. Platon behielt die Lehre des Heraklit bei, da alle wahrnehmbaren Dinge sich stndig in einem Zustand der Vernderung benden und da es
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von ihnen kein Wissen gibt, er fand aber in der Methode des Sokrates einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten. Obgleich es keine Denition wahrnehmbarer Dinge geben konnte, da sie sich stets vernderten, war es mglich, Denitionen und wahres Wissen von Dingen einer anderen Art zu erhalten von den inneren Krften der wahrnehmbaren Dinge. Wenn das Wissen oder das Denken einen Gegenstand besitzen soll, dann mu es, abgesehen von den wahrnehmbaren Dingen, andere unwandelbare Wesenheiten geben, sagt Aristoteles25, und er berichtet, da Platon Dinge dieser anderen Art Formen oder Ideen nannte und sagte, die wahrnehmbaren Dinge seien von ihnen verschieden und alle nach ihnen benannt. Die vielen Dinge aber, die denselben Namen wie eine bestimmte Form besitzen, existieren, indem sie an ihr teilhaben. Diese Darstellung des Aristoteles stimmt eng mit Platons eigenen Argumenten im Timaios26 berein, und sie zeigt, da Platons Grundproblem darin bestand, eine wissenschaftliche Methode zur Behandlung wahrnehmbarer Dinge aufzunden. Er verlangte rein rationales Wissen und nicht bloe Meinung; und da es unmglich war, ein reines Wissen von den wahrnehmbaren Dingen selbst zu erhalten, so bestand er, wie wir schon erwhnten, darauf, zumindest eine Art reinen Wissens zu erlangen, das in irgendeiner Weise auf die wahrnehmbaren Dinge bezogen war und das auf sie angewendet werden konnte. Das Wissen von den Formen oder Ideen erfllte diese Forderung, denn die Form verhielt sich zu den wahrnehmbaren Dingen wie
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ein Vater zu seinen minderjhrigen Kindern. Die Form ist der erklrbare und verantwortliche Reprsentant der wahrnehmbaren Dinge und kann daher in wichtigen Fragen ber die vernderliche Welt konsultiert werden. Nach unserer Analyse hat die Theorie der Formen oder Ideen in Platons Philosophie zumindest drei verschiedene Funktionen, [] Sie ist ein hchst wichtiges methodologisches Hilfsmittel, denn sie ermglicht reines wissenschaftliches Wissen und sogar Wissen, das sich auf die Welt der in Vernderung begrienen Dinge anwenden lt, von der wir unmittelbar keinerlei Wissen, sondern nur Meinung erlangen knnen. So wird es mglich, die Probleme einer sich stets verndernden Gesellschaft zu untersuchen und eine politische Wissenschaft aufzubauen. [2] Sie verschafft den Schlssel zu der dringend bentigten Theorie der Vernderung und des Verfalls, zu einer Theorie der Zeugung und des Niedergangs und insbesondere den Schlssel zur Geschichte. [3] Sie ernet im sozialen Bereich einen Weg zu einer Art von Sozialtechnik; und sie macht es mglich, Instrumente zu schmieden, die der politischen Vernderung Einhalt gebieten knnen; denn sie legt es nahe, einen besten Staat zu planen, der der Form oder Idee eines Staates so nahesteht, da er nicht zugrunde gehen kann. Mit Problem [2], der Theorie der Vernderung und der Geschichte, werden wir uns in den beiden nchsten Kapiteln, in Kapitel 4 und 5, beschftigen. Dort wird Platos deskriptive Soziologie behandelt werden, das heit seine Beschreibung und Erklrung der wechselnden sozialen
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Welt, in der er lebte. Problem [3], das Anhalten der sozialen Vernderung, wird in den Kapiteln 6 bis 9 seine Behandlung nden; dort werden wir Platons politisches Programm vorfhren und besprechen. Problem [], das Problem der Methodologie Platons, wurde mit Hilfe der Aristotelischen Darstellung der Geschichte oder Theorie Platons im gegenwrtigen Kapitel kurz umrissen. Dieser Diskussion mchte ich einige weitere Bemerkungen hinzufgen. VI Ich verwende den Namen methodologischer Essentialismus (oder Wesenslehre), um eine von Platon und vielen seiner Nachfolger vertretene Ansicht zu charakterisieren. Nach dieser Ansicht besteht die Aufgabe des reinen Wissens oder der Wissenschaft in der Entdeckung und Beschreibung der wahren Natur der Dinge, das heit in der Entdeckung und Beschreibung ihrer verborgenen Realitt oder Essenz. Fr Platon ist die Ansicht charakteristisch, da sich das Wesen wahrnehmbarer Dinge in anderen und in hherem Grade wirklichen Dingen, in ihren Ahnherrn oder Formen aunden lasse. Viele der spteren methodologischen Essentialisten, zum Beispiel Aristoteles, folgten ihm hierin nicht zur Gnze; aber sie alle stimmten mit ihm insofern berein, da sie die Entdeckung der verborgenen Natur oder Form oder Essenz zur Aufgabe der reinen Wissenschaft machten. Auch folgten alle methodologischen Essentialisten Platon in der Annahme, da es mglich sei, diese Essenzen mit Hilfe der intellektuellen Intuition zu erkennen und zu unKapitel 3: Platons Ideenlehre 83

terscheiden, sowie in der Annahme, da jede Essenz einen ihr eigentmlichen Namen besitze, den Namen, nach dem die wahrnehmbaren Dinge genannt werden, und da sie sich in Worten beschreiben lasse. Und sie alle nennen eine Beschreibung der Essenz eines Dinges eine Denition. Dem methodologischen Essentialismus zufolge gibt es drei Weisen, ein Ding zu kennen: Ich meine, da wir erstens seine unvernderliche Realitt oder sein Wesen kennen knnen; zweitens die Denition des Wesens und drittens seinen Namen. Und so ergeben sich denn auch zwei Fragen in bezug auf jedes reale Ding Man kann den Namen darbieten und die Denition dazu verlangen, oder man kann die Denition darbieten und nun nach dem Namen fragen. Als Beispiel fr diese Methode verwendet Platon das Wesen von gerade (im Gegensatz zu ungerade): Eine Zahl kann ein Ding sein, das der Teilung in gleiche Teile fhig ist. Ist sie so teilbar, so wird sie ,gerade genannt; und die Denition des Namens ,gerade lautet ,Zahl, die in gleiche Teile teilbar ist. Und wenn wir den Namen erhalten und nach der Denition gefragt werden, oder wenn wir die Denition erhalten und nach dem Namen gefragt werden, dann sprechen wir in beiden Fllen von einem und demselben Wesen, ob wir es nun ,gerade oder ,Zahl, teilbar in gleiche Teile nennen. Nach diesem Beispiel geht Platon daran, diese Methode auf einen Beweis der wirklichen Natur der Seele anzuwenden, von dem wir spter noch mehr hren werden27. Der methodologische Essentialismus, die Theorie also, da es das Ziel der Wissenschaft sei, Wesenheiten zu ent84 Der Mythos vom Ursprung und Schicksal

hllen und mit Hilfe von Denitionen zu beschreiben, lt sich besser verstehen, wenn wir ihm seinen Widerpart, den methodologischen Nominalismus gegenberstellen. Der methodologische Nominalismus stellt sich nicht die Aufgabe, die wahre Natur eines Dinges ausndig zu machen und zu denieren; es ist vielmehr sein Ziel, das Verhalten eines Dinges unter verschiedenen Umstnden zu beschreiben und insbesondere anzugeben, ob dieses Verhalten irgendwelche Regelmigkeiten aufweist. Mit anderen Worten: der methodologische Nominalismus sieht das Ziel der Wissenschaft in der Beschreibung der Gegenstnde und Ereignisse unserer Erfahrung und in einer Erklrung dieser Ereignisse, das heit in ihrer Beschreibung mit Hilfe universeller Gesetze28. Unsere Sprache und insbesondere diejenigen ihrer Regeln, die wohlkonstruierte Stze und Schlsse Von einer bloen Anhufung von Werten unterscheiden, sind fr ihn das groartige Instrument wissenschaftlicher Beschreibung29; die Worte hlt er fr Hilfswerkzeuge zur Durchfhrung dieser Aufgabe und nicht fr Namen von Wesenheiten. Der methodologische Nominalist wird nie annehmen, da eine Frage wie Was ist Energie? oder Was ist Bewegung? oder Was ist ein Atom? fr die Physik von Bedeutung sei; aber Fragen wie Wie kann die Energie der Sonne nutzbar gemacht werden? oder Wie bewegt sich ein Planet? oder Unter welchen Bedingungen strahlt ein Atom Licht aus? wird er fr wichtig halten. Und den Philosophen, die ihm erzhlen, er knne nie hoen, eine genaue Antwort auf irgendeine der wie-Fragen zu
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geben, solange er nicht die was-Frage beantwortet habe, wird er, wenn berhaupt, entgegnen, da er den bescheidenen Grad von Genauigkeit, den er mit seinen Methoden erreichen kann, dem prtentisen Wirrwarr bei weitem vorziehe, den sie mit den ihren erreicht htten. Wie wir in unserem Beispiel angedeutet haben, ist der methodologische Nominalismus heutzutage in den Naturwissenschaften ziemlich allgemein akzeptiert. Auf der anderen Seite werden die Probleme der Sozialwissenschaften noch immer zum grten Teil mit essentialistischen Methoden behandelt. Dies ist meiner Meinung nach einer der Hauptgrnde ihrer Rckstndigkeit. Aber viele Denker, die diese Situation bemerkt haben30, fllen ein anderes Urteil. Sie halten den Unterschied der Methoden fr notwendig, und sie glauben, da er eine wesentliche Verschiedenheit zwischen den Naturen dieser beiden Untersuchungsfelder widerspiegle. Die Argumente, die gewhnlich zur Untersttzung dieser Ansicht angefhrt werden, heben die Bedeutung der sozialen Vernderungen hervor und oenbaren weitere Aspekte des Historizismus. Der Physiker, so lautet ein typisches Argument, hat es mit Gegenstnden wie der Energie oder den Atomen zu tun, die, obgleich sie sich verndern, bis zu einem bestimmten Grad konstant bleiben. Er kann die nderungen beschreiben, denen diese relativ unwandelbaren Entitten unterworfen sind; er hat es nicht ntig, Wesenheiten oder Formen oder hnliche unwandelbare Entitten zu konstruieren oder zu entdecken, um etwas Dauerndes
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zu erhalten, ber das er dann bestimmte Behauptungen machen kann. Der Sozialwissenschaftler ist jedoch in einer vllig anderen Lage. Sein ganzes Interessengebiet ist der Vernderung unterworfen. Im sozialen Gebiet steht alles unter der Herrschaft des historischen Flusses; es gibt dort keine unwandelbaren Wesenheiten. Wie knnen wir zum Beispiel Regierungsformen studieren? Wie knnten wir sie in der Mannigfaltigkeit der verfassungsmigen Institutionen identizieren, die wir in verschiedenen Staaten und in verschiedenen historischen Perioden vornden, ohne anzunehmen, da diese etwas wesentlich gemeinsam haben? Wir nennen eine Institution eine Regierung, wenn wir sie ihrem Wesen nach fr eine Regierung halten, das heit, wenn sie mit unserer intuitiven Vorstellung von einer Regierung bereinstimmt; und diese intuitive Vorstellung knnen wir in einer Denition formulieren. Dasselbe wrde fr andere soziologische Wesenheiten gelten, zum Beispiel fr die Zivilisation. Wir mssen ihr Wesen erfassen, so schliet das historizistische Argument, und es in Form einer Denition niederlegen. Diese modernen Argumente sind, wie mir scheint, den weiter oben berichteten Argumenten sehr hnlich, durch die Platon nach dem Berichte des Aristoteles zu seiner Lehre von den Formen oder Ideen gefhrt worden ist. Der einzige Unterschied besteht darin, da Platon (der die Atomtheorie nicht akzeptierte und von Energie keine Ahnung hatte) diese Lehre auch auf das Gebiet der Physik und somit auf die Welt als Ganzes anwandte. Das weist darauf hin, da
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eine Diskussion der Methoden Platons fr die Sozialwissenschaften auch heute noch aktuell sein kann. Bevor ich Platons Soziologie beschreibe und bevor ich darlege, in welcher Weise er seinen methodologischen Essentialismus auf diesem Gebiet angewendet hat, mchte ich es ganz klar machen, da ich mich bei der Behandlung Platons auf seinen Historizismus und auf seinen besten Staat beschrnken werde. Der Leser darf daher nicht eine Darstellung der gesamten platonischen Philosophie oder eine gerechte und billige Behandlung des Platonismus erwarten. Dem Historizismus stehe ich in oener Feindschaft gegenber; diese Feindschaft beruht auf der berzeugung, da er nicht nur unzulnglich, sondern geradezu schdlich ist. Meine Darstellung der historizistischen Zge des Platonismus wird daher stark kritisch sein. Ich bewundere vieles an Platon, besonders jene Teile seines Werkes, die meiner Meinung nach unter dem Einu des Sokrates verfat wurden; aber ich halte es nicht fr meine Aufgabe, den zahlreichen Werken, die seinem Genius den schuldigen Tribut zollen, ein weiteres hinzuzufgen. Ich sehe meine Aufgabe vielmehr darin, jene Elemente seiner Philosophie zu zerstren, die meiner Ansicht nach Unheil anrichten. Die totalitre Tendenz in Platons politischer Philosophie ist es, die ich zu analysieren und zu kritisieren versuchen werde3.

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Der Mythos vom Ursprung und Schicksal

Platons deskriptive Soziologie


Viertes Kapitel: RUHE UND VERNDERUNG Platon war einer der ersten Sozialwissenschaftler und zweifellos der bei weitem einureichste. Er war ein Soziologe in dem Sinn, in dem der Ausdruck Soziologie von Comte, Mill und Spencer verstanden wird; das heit er wandte seine idealistische Methode erfolgreich bei der Analyse des sozialen Lebens des Menschen, der Gesetze seiner Entwicklung, ebenso wie der Gesetze und Bedingungen seiner Stabilitt an. Trotz des groen Einusses, den Platon ausbte, ist diese Seite seiner Lehren wenig beachtet worden. Dies scheint auf zwei Faktoren zurckzugehen. Erstens hat Platon einen Groteil seiner Soziologie in so engen Zusammenhang mit seinen ethischen und politischen Forderungen gebracht, da die deskriptiven Elemente zum Groteil bersehen wurden. Zweitens wurden viele seiner Gedanken so sehr als selbstverstndlich hingenommen, da man sie einfach unbewut und daher unkritisch absorbierte. Hauptschlich auf diese Weise haben seine soziologischen Theorien einen so groen Einu gewonnen. Platons Soziologie ist eine geniale Mischung von Spekulation und genauer Beobachtung von Tatsachen. Die Theorie der Formen, der allgemeinen Vernderung und
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des allgemeinen Verfalls, der Zeugung und des Niedergangs gibt natrlich den spekulativen Rahmen ab. Aber auf dieser idealistischen Grundlage errichtet Platon eine erstaunlich realistische Theorie der Gesellschaftsordnung, die imstande ist, die Hauptrichtungen der historischen Entwicklung der griechischen Stadtstaaten sowie die sozialen und politischen Krfte zu erklren, die in seinen eigenen Tagen am Werke waren. Der spekulative oder metaphysische Rahmen von Platons Theorie der sozialen Bewegung wurde bereits entworfen. Es ist die Welt der unwandelbaren Formen und Ideen, deren Nachkommenschaft aus den in Raum und Zeit sich verndernden Dingen besteht. Die Formen oder Ideen sind nicht nur unwandelbar, unzerstrbar und unvergnglich, sondern auch vollkommen, wahr, wirklich und gut; tatschlich wird gut einmal im Staat erklrt als alles, was erhlt und schlecht als alles, was zerstrt oder verdorben ist. Die vollkommenen und guten Formen oder Ideen gehen den Kopien, den wahrnehmbaren Dingen, voraus; sie sind gleichsam die Vorvter oder Ausgangspunkte in der in Flu bendlichen Welt 2. Diese Ansicht wird verwendet, um den allgemeinen Verlauf und die Hauptrichtung aller Vernderungen in der Welt der wahrnehmbaren Dinge zu bewerten. Wenn nmlich der Ausgangspunkt aller Vernderung vollkommen und gut ist, dann kann diese nur vom Vollkommenen und Guten wegfhren; sie ist notwendigerweise auf das Unvollkommene und Schlechte, auf den Verfall zugerichtet.
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Diese Theorie lt sich im Detail entwickeln. Je hnlicher ein wahrnehmbares Ding seiner Form oder Idee ist, desto weniger verdorben mu es sein, denn die Formen selbst sind der Verderbnis nicht fhig. Die wahrnehmbaren oder gezeugten Dinge sind aber keine vollkommenen Kopien; in der Tat kann keine Kopie vollkommen sein, denn sie ist nur eine Nachahmung der wahren Wirklichkeit, sie ist nur Erscheinung und Illusion, nicht die Wahrheit. Keines der wahrnehmbaren Dinge (die hervorragendsten vielleicht ausgenommen) ist daher seiner Form gengend hnlich, um unvernderlich zu sein. Absolute und ewige Unvernderlichkeit kommt nur den gttlichsten aller Dinge zu; die Krper gehren nicht dieser Ordnung an 3, sagt Platon. Ein wahrnehmbares oder gezeugtes Ding ein physischer Krper etwa oder eine menschliche Seele wird sich, wenn es ein gutes Nachbild ist, zu Beginn nur sehr wenig verndern; und die lteste Vernderung oder Bewegung, die Bewegung der Seele, ist (im Gegensatz zu den sekundren und tertiren Vernderungen) noch immer gttlich. Jede nderung aber, wie klein sie auch immer sei, mu seine hnlichkeit mit der ihm zugeordneten Form vermindern und es anders, damit aber weniger vollkommen machen. In dieser Weise wird das Ding mit jeder Vernderung mehr und mehr vernderlich und dem Verderb ausgesetzt; es entfernt sich stndig von seiner Form, die der Grund seiner Unbeweglichkeit und seines Sich-in-Ruhe-Bendens ist, wie es Aristoteles ausdrckt; er umschreibt die Lehre Platons auf folgende Weise: Dinge werden gezeugt, indem
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sie an der Form teilhaben, und sie verfallen, indem sie die Form verlieren. Dieser Proze des Verfalls, langsam zuerst und spter schneller, dieses Gesetz des Abstiegs und Untergangs wird von Platon in den Gesetzen, dem letzten seiner groen Dialoge, dramatisch beschrieben. Die Stelle handelt vor allem vom Geschick der menschlichen Seele. Platon gibt aber deutlich zu verstehen, da sie fr alle Dinge gilt, die einer Seele teilhaftig sind, das heit fr alle lebendigen Dinge. Es ist also alles, was einer Seele teilhaftig ist, der Vernderung unterworfen, so schreibt er, und whrend sich die Dinge verndern, werden sie gem der vom Schicksal bestimmten Ordnung und Gesetzmigkeit fortgefhrt. Je geringer die nderung ihres Charakters, desto unbedeutender der beginnende Verfall in ihrer Rangordnung. Wenn aber die Vernderung und mit ihr die Verdorbenheit zunimmt, dann fallen sie hinab in den Aby und in die als die Unterwelt bekannten Rume. (Im weiteren Verlauf dieser Stelle erwhnt Platon die Mglichkeit, da eine Seele, die in auergewhnlichem Ausma der Tugend teilhaftig geworden, durch die Kraft ihres eigenen Willens und wenn sie mit der gttlichen Tugend selbst in Verbindung steht, hchst tugendhaft werden und sich in einen anderen, besseren Bereich hinber bewegen kann. Das Problem der auergewhnlichen Seele, die sich selbst und vielleicht auch andere vor dem allgemeinen Schicksal zu retten vermag, wird im 8. Kapitel diskutiert werden.) An einer vorhergehenden Stelle in den Gesetzen fat Platon seine Lehre von der Vernderung so
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zusammen: Die Vernderung, ausgenommen die Vernderung des blen, ist die schwerste all der verrterischen Gefahren, denen ein Ding ausgesetzt ist sei es nun eine Vernderung der Jahreszeiten, des Windes, der Nahrung des Krpers oder des Charakters der Seele. Und um des Nachdrucks willen fgt er hinzu: diese Behauptung gilt fr alles, mit der einzigen Ausnahme, wie gesagt, des blen. Kurz ausgedrckt: Platon lehrt, da die Vernderung von bel, die Ruhe aber gttlich ist. Wir sehen nun, da Platons Lehre von den Formen oder Ideen einen bestimmten Verlauf der Entwicklung der in Flu bendlichen Welt impliziert. Sie fhrt zu dem Gesetz stndig zunehmender Verdorbenheit aller Dinge in dieser Welt. Dieses Gesetz behauptet nicht so sehr, da der Verfall notwendigerweise zunehmen werde, sondern es sagt vielmehr aus, da die Neigung zum Verfall sich fortwhrend vergrert; das heit, die Gefahr oder die Wahrscheinlichkeit des Verfalls nimmt zu, aber auergewhnliche Entwicklungen in der entgegengesetzten Richtung sind nicht ausgeschlossen. Es ist somit mglich (und die letzten Zitate deuten das an), da eine hervorragende Seele dem Wechsel und dem Verfall trotzt und da sich ein sehr schlechtes Ding, zum Beispiel ein sehr schlechter Staat, durch Vernderung verbessern lt. (Wenn eine derartige Verbesserung von Wert sein soll, so mssen wir versuchen, ihr Ergebnis festzuhalten, das heit, wir mssen versuchen, die weitere Vernderung auf jeden Fall zum Stillstand zu bringen.)
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Die Darstellung, die Platon im Timaios vom Ursprung der Arten gibt, steht in vollem Einklang mit dieser allgemeinen Theorie: Der Mensch, das hchste unter den Lebewesen, ist von den Gttern geschaen worden; die brigen Arten entstehen aus ihm durch einen Proze des Verfalls und der Degeneration. Zunchst entarten gewisse Mnner die Feiglinge und Bsewichte; aus ihnen werden die Weiber. Jene, denen es an Weisheit mangelt, entarten gleichfalls und verwandeln sich Schritt fr Schritt in niedere Tiere. Vgel, so hren wir, entstehen durch die Transformation von harmlosen, aber allzu leichtlebigen Menschen, von Menschen, die auf ihre Sinne zu groes Gewicht legen; das Geschlecht der Landtiere entstand aus jenen, die an der Philosophie kein Interesse hatten; und Fische, Schellsch eingeschlossen, entstanden aus den allerunverstndigsten und dmmsten, aus Menschen der uersten Unwissenheit4. Es ist klar, da sich diese Theorie auf die menschliche Gesellschaft und auf ihre Geschichte anwenden lt. In diesem Fall erklrt sie Hesiods 5 pessimistisches Entwicklungsgesetz, das Gesetz des historischen Niedergangs. Wenn wir dem Bericht des Aristoteles Glauben schenken knnen (wir haben ihn im letzten Kapitel skizziert), dann wurde die Lehre von den Formen oder Ideen ursprnglich mit der Absicht eingefhrt, einer methodologischen Forderung, der Forderung nach reinem oder rationalem Wissen gerecht zu werden; ein derartiges Wissen ist im Falle wahrnehmbarer und vernderlicher Dinge unmglich. Nun sehen wir, da
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die Theorie noch mehr leistet. ber die Erfllung dieser methodologischen Forderung hinaus liefert sie eine Theorie der Vernderung. Sie erklrt die allgemeine Richtung der Vernderung aller wahrnehmbaren Dinge und damit die historische Tendenz zum Verfall, wie sie der Mensch und die menschliche Gesellschaft aufweist. (Und sie leistet noch mehr; wie wir im sechsten Kapitel sehen werden, bestimmt die Ideenlehre auch die Grundzge der politischen Forderungen Platons und sogar die Mittel zu ihrer Verwirklichung.) Wenn ich mit der Annahme im Recht bin, da die Philosophie Platons, ebenso wie die Heraklits, der sozialen Erfahrung der beiden Denker, insbesondere der Erfahrung des Klassenkampfes und dem niederdrckenden Gefhl entsprang, da ihre eigene soziale Umwelt sich auste, dann knnen wir verstehen, warum die Ideenlehre in Platons Philosophie eine so bedeutende Rolle einnahm, als er fand, da sie die Erklrung der allgemeinen Tendenz zum Verfall liefern konnte. Er mu sie als die Lsung eines hchst verwirrenden Rtsels willkommen geheien haben. Fr Heraklit war es noch unmglich gewesen, ber den Verlauf der politischen Entwicklung unmittelbar ein ethisches Verdammungsurteil zu fllen; hingegen fand Platon in seiner Ideenlehre die theoretische Basis fr ein pessimistisches Urteil im Stil Hesiods. Platons Gre als Soziologe liegt aber nicht in seinen allgemeiner und abstrakten Spekulationen ber das Gesetz des sozialen Verfalls. Sie liegt vielmehr in der Flle und der Detailliertheit seiner Beobachtungen sowie in der erstauKapitel 4: Ruhe und Vernderung 95

nenswerten Schrfe seiner soziologischen Intuition. Er sah Dinge, die man vor ihm nicht gesehen hatte und die erst in unserer Zeit wieder entdeckt worden sind. Als Beispiel erwhne ich seine Theorie der primitiven Anfnge der Gesellschaft, des Stammespatriarchats und, ganz allgemein, seinen Versuch, die typischen Perioden in der Entwicklung des sozialen Lebens anzudeuten. Ein anderes Beispiel ist Platons soziologischer und konomischer Historizismus, sein Hervorheben des konomischer Hintergrundes des politischen Lebens und der historischen Entwicklung; eine Theorie, die von Marx unter dem Namen des Historischen Materialismus wiedererweckt wurde. Ein hchst interessantes Gesetz politischer Revolutionen, nach dem alle Revolutionen eine Spaltung in der herrschenden Klasse (oder Elite) voraussetzen, ist ein drittes Beispiel; dieses Gesetz ist die Grundlage seine Analyse der Mittel, mit deren Hilfe der politischen Vernderung Einhalt geboten und ein soziales Gleichgewicht geschaen werdet kann; es wurde in jngster Zeit von den totalitren Theoretiker wiederentdeckt, insbesondere von Pareto. Ich wende mich nun einer ausfhrlicheren Diskussion dieser Punkte zu; dabei wird insbesondere der dritte Punkt, die Theorie der Revolution und des Gleichgewichts zu besprechen sein. II Die Dialoge, in denen Platon diese Fragen diskutiert, sind, chronologisch geordnet, die folgenden: Der Staat, ein viel
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spterer Dialog, genannt der Staatsmann, und die Gesetze, das spteste und umfangreichste seiner Werke. Diese Dialoge stimmen trotz gewisser geringer Unterschiede sehr gut miteinander berein; sie sind in mancher Hinsicht parallel, in anderer Hinsicht komplementr zueinander. Die Gesetze6 zum Beispiel erzhlen den Abstieg und den Untergang der menschlichen Gesellschaft so, als handle es sich um eine Darstellung der griechischen Vorgeschichte, die hier ohne Unterbrechung in die Geschichte bergeht; hingegen nden wir an den entsprechenden Stellen des Staates eine mehr abstrakte, systematische Darstellung der Entwicklung von Regierungsformen; der Staatsmann, noch abstrakter, enthlt eine logische Klassikation der Regierungstypen und nur einige Anspielungen auf historische Ereignisse. In hnlicher Weise formulieren die Gesetze den historizistischen Aspekt der Untersuchung sehr deutlich. Was ist das Urbild oder der Ursprung eines Staates? fragt Platon hier, und er verbindet diese Frage mit der folgenden: Besteht nicht die beste Methode, sich nach einer Antwort auf diese Frage umzusehen, darin, da man die jeweilige Entwicklung der Staaten zum Guten wie zum Bsen hin untersucht? Der einzige grere Unterschied im Bereich der soziologischen Lehren scheint aber einer rein spekulativen Schwierigkeit zuzuschreiben zu sein, die Platon beunruhigt haben drfte. Er nahm als Ausgangspunkt der Entwicklung einen vollkommenen und daher unvergnglichen Staat an; und nun fand er es schwierig, die erste Bewegung, gleichsam den Sndenfall des Menschen zu erklren, der alles weitere
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in Gang setzt 7. Im nchsten Kapitel werden wir hren, wie Platon dieses Problem zu lsen versuchte. Zuerst aber werde ich einen allgemeinen berblick ber seine Theorie der sozialen Entwicklung geben. Nach der Darstellung des Staates ist die ursprngliche oder primitive Form der Gesellschaft, die gleichzeitig auch der Form oder Idee eines Staates am hnlichsten ist, der beste Staat also, ein Knigtum der weisesten und gotthnlichsten Menschen. Dieser ideale Stadtstaat ist der Vollkommenheit so nahe, da es schwer zu verstehen ist, wie er sich je verndern konnte. Dennoch kommt es zu einer Vernderung; und damit setzt der Streit Heraklits ein, die Treibkraft aller Bewegung. Nach Platon ist innerer Wettstreit, Klassenkampf, der aus Selbstsucht und insbesondere aus materiellem oder konomischem Selbstinteresse entspringt, die wichtigste Kraft in der Sozialdynamik. Marx Formel Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkmpfen8 pat auf Platons Historizismus fast ebensogut wie auf den von Marx. Die vier auallendsten Perioden, die Marksteine in der Geschichte des politischen Verfalls, gleichzeitig die bedeutendsten Spielarten der bestehenden Staaten9, werden von Platon in der folgenden Ordnung angefhrt: unmittelbar auf den vollkommenen Staat folgt die Timarchie oder Timokratie, die Herrschaft der Vornehmen, die nach Ehre und Ruhm streben; hierauf die Oligarchie, die Herrschaft der reichen Familien; die Demokratie wird als nchste in der Reihe geboren; sie ist die Herrschaft der Freiheit, das heit der
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Gesetzlosigkeit; und schlielich kommt die Tyrannei die vierte und endgltige Krankheit des Staatswesens0. Wie wir aus der letzten Bemerkung ersehen knnen, ist die Geschichte fr Platon eine Geschichte des sozialen Verfalls; sie ist gleichsam die Geschichte einer Krankheit: Die Gesellschaft ist der Patient; und der Staatsmann soll, wie wir spter sehen werden, ein Arzt sein (und umgekehrt) ein Heilknstler, ein Retter. Und ebenso wie die Beschreibung des typischen Verlaufs einer Krankheit nicht immer und auf jeden einzelnen Patienten angewendet werden kann, ebenso ist Platons Theorie des historischen Verfalls nicht zur Anwendung auf die Entwicklung jedes besonderen Staatswesens bestimmt. Sie soll aber sowohl den ursprnglichen Weg der Entwicklung, durch den die Hauptformen des konstitutionellen Verfalls zustande gekommen sind, als auch den typischen Ablauf der sozialen Vernderung beschreiben. Wir sehen, da Platon die Absicht hatte, ein durch ein Entwicklungsgesetz gelenktes System historischer Perioden aufzustellen; anders ausgedrckt: er hatte eine historizistische Theorie der Gesellschaft vor Augen. Dieser Versuch wurde von Rousseau neu belebt und von Comte, Mill, Hegel und Marx mit einem modernen Gewand versehen; ziehen wir aber die historischen Zeugnisse in Betracht, die damals zur Verfgung standen, so sehen wir, da Platons System historischer Perioden ebenso gut war wie das System jedes einzelnen dieser modernen Historizisten. (Der Hauptunterschied besteht in der Bewertung des geschichtlichen Ablaufs.
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Der Aristokrat Platon verdammte die Entwicklung, die er beschrieb. Hingegen zollen ihr diese modernen Autoren Beifall, da sie an ein Gesetz des historischen Fortschrittes glauben.) Ich werde Platons vollkommenen Staat bald im Detail diskutieren. Zunchst mchte ich aber kurz umreien, welche Rolle die konomischen Motive und der Klassenkampf nach seiner Analyse beim Proze des bergangs zwischen den vier zerfallenden Formen des Staates spielen. Von der ersten Form, in die der vollkommene Staat entartet, von der Timokratie, der Herrschaft der ehrgeizigen Edelleute heit es, sie sei in fast jeder Hinsicht dem vollkommenen Staate selbst hnlich. Es ist wichtig zu beachten, da Platon diesen besten und ltesten der bestehenden Staaten ausdrcklich mit der dorischen Konstitution Spartas und Kretas identizierte und da diese beiden Stammesaristokratien in der Tat die ltesten bestehenden Formen des politischen Lebens in Griechenland waren. Platon hat die Institutionen beider ausgezeichnet beschrieben; diese Beschreibung ist fast zur Gnze in gewissen Teilen seiner Charakterisierung des besten oder vollkommenen Staates enthalten, dem die Timokratie so hnlich ist. Dadurch, da Platon Sparta mit dem vollkommenen Staat verglich, wurde er einer der erfolgreichsten Frsprecher dessen, was ich den Groen Mythos von Sparta nennen mchte, des stets andauernden und einureichen Mythos von der berlegenheit der spartanischen Verfassung und der spartanischen Lebensweise.
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Der Hauptunterschied zwischen dem besten oder vollkommenen Staat und der Timokratie besteht darin, da die letzte ein instabiles Element enthlt; die einstmals vereinigte patriarchalische herrschende Klasse ist nunmehr gespalten; diese Spaltung fhrt zum nchsten Schritt, zu ihrer Entartung in die Oligarchie. Die Ursache der Spaltung ist der Ehrgeiz. Zuerst, so schreibt Platon vom jungen Timokraten, nimmt er wahr, wie seine Mutter sich darber rgert, da ihr Gemahl nicht auch zu den Herrschern gehre 2 So wird er ehrgeizig und verlangt nach Auszeichnung. Entscheidend zur Herbeifhrung der nchsten nderung sind jedoch die sozialen Tendenzen zu Wettstreit und Bereicherung. Wir mssen nun, sagt Platon, den bergang der Timokratie in die Oligarchie darstellen selbst einem Blinden ist die Art dieses Umschwungs klar Es ist die Schatzkammer, die einen solchen Staat ins Verderben fhrt. Sie (die Timokraten) suchen nun ernderisch nach Gelegenheiten, um sich in prachtvoller Weise zur Schau zu stellen und um Geld zu verbrauchen; zu diesem Zwecke verdrehen sie die Gesetze: und sie und ihre Weiber gehorchen nicht der Verfassung ; und jeder will den anderen bertreen. Solcherart entsteht nun der erste Konikt der Klassen: der Konikt zwischen Tugend und Geld oder zwischen der alteingebrgerten feudalen Einfachheit und dem neuen Reichtum. Der bergang zur Oligarchie ist vollendet, sobald die Reichen ein Gesetz aufstellen, das alle die vom entlichen Dienst ausschaltet, deren Vermgen nicht das festgesetzte Ausma erreicht. Diese Forderungen
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setzen sie mit Waengewalt durch, sobald Drohungen und Erpressung sich als erfolglos erweisen Mit der Grndung der Oligarchie kommt es zu einem Zustand potentiellen Brgerkriegs zwischen den Oligarchen und den rmeren Klassen: ebenso, wie ein krnklicher Krper sich mitunter ohne ueren Grund im Kampfe mit sich selbst bendet ebenso fllt auch ein Staat in gleichen Umstnden einer Krankheit anheim Unter dem geringsten Vorwand etwa wenn die Oligarchen aus einem anderen oligarchischen Staat oder die Demokraten aus einem demokratischen Bundesgenossen heranfhren fhrt er Krieg gegen sich selbst. Und bricht nicht in einem derart kranken Staate sogar ohne solche Hilfe von auen von Zeit zu Zeit ein Brgerkrieg aus?3 Dieser Brgerkrieg erzeugt die Demokratie: Da entsteht denn die Demokratie, wenn die Armen siegreich sind, die Oligarchen teils tten, teils verbannen und mit dem Reste das Anrecht auf die Brgerschaft und die Staatsverwaltung auf gleicher Basis teilen Platons Beschreibung der Demokratie ist eine lebendige, aber bis zur Leidenschaft feindselige und ungerechte Parodie des politischen Lebens in Athen und des demokratischen Glaubensbekenntnisses, das Perikles in unbertroener Weise ungefhr drei Jahre vor Platons Geburt formuliert hatte (Perikles Programm wird spter, im 0. Kapitel, diskutiert)4. Platons Beschreibung ist ein glnzendes Stck politischer Propaganda; wir knnen ermessen, welches Unheil sie angerichtet haben mu, wenn wir zum Beispiel
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bedenken, da ein Mann wie Adam, ein ausgezeichneter Gelehrter und Herausgeber des Staates, unfhig ist, den Verleumdungen zu widerstehen, die Platon in glnzender Rhetorik gegen seine Geburtsstadt schleudert. Platons Beschreibung der Genesis des demokratischen Menschens, so schreibt Adam5, ist eines der kniglichsten und glnzendsten Schriftstcke im ganzen Bereich der Literatur, der alten, wie auch der modernen. Und wenn derselbe Schreiber fortsetzt: Die Beschreibung des demokratischen Menschen als das Chamleon der menschlichen Gesellschaft zeichnet ihn fr alle Zeiten, dann sehen wir, da es Platon gelang, zumindest diesen Denker gegen die Demokratie zu kehren; und es erhebt sich die Frage, wieviel Schaden seine giftgefllten Schriften wohl angerichtet haben mgen, wenn sie, unwidersprochen, geringeren Geistern vorgelegt wurden Es scheint, da Platon oft, wenn sein Stil, um einen Ausdruck von Adam6 zu verwenden, zu einer Hochut von Gedanken, Bildern und Worten wird, dringend einen Mantel bentigt, um die Lckenhaftigkeit seiner Argumentation oder gar, wie im vorliegenden Fall, das vllige Fehlen rationaler Argumente zu verhllen. Statt dessen schmht er, identiziert die Freiheit mit der Gesetzlosigkeit, die persnliche Freiheit mit Zgellosigkeit und die Gleichheit vor dem Gesetz mit der Unordnung. Die Demokraten werden als liederlich, geizig, unverschmt, gesetzlos, schamlos, als wilde und schreckliche Raubtiere hingestellt, die jeder Laune folgen und die nur dem Vergngen sowie unntiKapitel 4: Ruhe und Vernderung 103

gen und unreinen Wnschen leben. (Sie fllen sich den Wanst wie das Vieh so hat sich Heraklit ausgedrckt.) Es wird ihnen vorgeworfen, da sie Scham einfltiges Betragen nennen, Migung aber Unmnnlichkeit Bescheidenheit und Mahalten im Ausgeben nennen sie Niedrigkeit und Mangel an guten Sitten7 usf. Und hier gibt es noch weitere Kleinigkeiten dieser Art, sagt Platon, wenn die Flut seiner Schmhungen zu versickern beginnt, der Lehrer frchtet seine Schler und er schmeichelt ihnen Alte Mnner lassen sich herab , um nicht als mrrische, despotische alte Herren zu erscheinen. (Es ist Platon, der Lehrer der Akademie, der das in den Mund des Sokrates legt; er vergit dabei, da Sokrates nie ein Schulmeister gewesen ist und da er, sogar als alter Mann, nie mrrisch und despotisch erschien. Er war nie herablassend, sondern er liebte es, die Jugend, zum Beispiel auch den jungen Platon, als seine Gefhrten und Freunde zu behandeln. Wir haben allen Grund anzunehmen, da Platon selbst weniger bereit war, sich herabzulassen und mit seinen Schlern zu diskutieren.) Aber die hchste Welle all dieses berusses an Freiheit wird erreicht, so setzt Platon fort, wenn gar die Sklaven und Sklavinnen, die auf dem Markte gekauft worden sind, genau so frei sind wie ihre Besitzer Doch was die Hauptsache ist: siehst du, wie all das die Herzen der Brger so zartbesaitet macht, da sie durch den bloen Anblick der Sklaverei irritiert werden und nicht zulassen, da auch nur irgendwer versklavt werde und sei es auch nur in der mildesten Form. Hier zahlt
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schlielich Platon seiner Geburtsstadt, wenn auch nicht mit Absicht, den schuldigen Tribut: es wird fr immer einer der grten Triumphe der athenischen Demokratie sein, da sie die Sklaven menschlich behandelte und da sie trotz der unmenschlichen Propaganda von Philosophen wie Platon und Aristoteles der Aufhebung der Sklaverei sehr nahe kam, wofr Platon hier selbst Zeugnis ablegt8. Weitaus verdienstvoller, wenn auch gleichfalls durch Ha inspiriert, ist Platons Beschreibung der Tyrannei und insbesondere des bergangs zu ihr. Er betont, da er Dinge schildert, die er selbst gesehen hat9; die Anspielung bezieht sich ohne Zweifel auf seine Erfahrungen am Hof des lteren Dionysios, des Tyrannen von Syrakus. Der bergang von der Demokratie zur Tyrannei, so sagt Platon, wird am leichtesten durch einen volkstmlichen Fhrer herbeigefhrt, der es versteht, den Klassenantagonismus zwischen den Reichen und den Armen innerhalb des demokratischen Staates auszuntzen und dem es gelingt, eine Leibwache oder eine eigene Privatarmee aufzubauen. Die Menschen, die ihn zuerst als den Verteidiger der Freiheit begrten, werden bald versklavt; und sie mssen fr ihn kmpfen in allen Kriegen, die er immer wieder beginnen mu: denn er mu das Volk fhlen lassen, da es einen Feldherrn nicht entbehren kann20. Mit der Tyrannei ist die niedrigste Staatsform erreicht. Ein sehr hnlicher berblick ber die verschiedenen Regierungsformen ndet sich im Staatsmann; dort diskutiert Platon den Ursprung des Tyrannen und des Knigs, der
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Oligarchien und Aristokratien sowie der Demokratien2. Wieder werden die verschiedenen bestehenden Regierungsformen als entwertete Kopien des wahren Modells oder der Form des Staates, des vollkommenen Staates, des Mastabes aller Nachahmungen erklrt, eines Staates, von dem es heit, er habe in den alten Zeiten des Kronos, des Vaters des Zeus, bestanden. Zum Unterschied vom Staat zhlt Platon hier sechs verschiedene entartete Regierungsformen auf; dieser Unterschied ist aber unbedeutend, insbesondere, wenn wir uns daran erinnern, da Platon im Staat 22 die Reihe der vier diskutierten Typen als nicht vollstndig bezeichnet und die Existenz von Zwischenformen zugegeben hat. Die sechs Typen des Staatsmannes ergeben sich auf die folgende Weise: zuerst werden drei Regierungsformen unterschieden, die Herrschaft des Einzelnen; die Herrschaft der Wenigen und die Herrschaft der Vielen. Jede dieser Formen wird dann je nach dem Ausma, in dem sie das einzig wahre Original durch Abbildung und Bewahrung seiner alten Gesetze23 nachahmt oder nicht nachahmt, in zwei weitere Typen eingeteilt, in eine verhltnismig gute und eine schlechtere. So kommt es zur Unterscheidung von drei konservativen oder rechtmigen und drei uerst verderbten oder gesetzlosen Formen; die Monarchie, die Aristokratie, eine konservative Form der Demokratie sind, in der Reihe ihres Verdienstes angeordnet, die gesetzestreuen Kopien. Aber die Demokratie verwandelt sich in ihre gesetzlose Form und entwickelt sich weiter ber die Oligarchie, die gesetzlose Herrschaft der Wenigen, zur Tyrannei, der gesetzlosen Herrschaft des
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Einzelnen; diese ist, wie Platon schon im Staat feststellte, die allerschlechteste Staatsform. Die Tyrannei, der allerschlechteste Staat, ist nicht notwendigerweise das Ende der Entwicklung. Das ist in einer Stelle in den Gesetzen angedeutet, die teilweise die Darstellung des Staatsmannes wiederholt und teilweise24 an sie anknpft. Gebt mir einen Staat, den ein junger Tyrann beherrscht, so ruft Platon hier aus, der das Glck hat, der Zeitgenosse eines groen Gesetzgebers zu sein und der ihn durch einen glcklichen Zufall trifft. Was knnte ein Gott wohl mehr fr einen Staat tun, den er glcklich zu machen wnscht? Die Tyrannei, der schlechteste Staat, kann auf diese Weise vielleicht reformiert werden. (Dies stimmt mit der oben zitierten Bemerkung in den Gesetzen berein, nach der alle Vernderung, die Vernderung eines schlechten Dinges ausgenommen, von bel ist. Es besteht wenig Zweifel, da Platon, wenn er von dem groen Gesetzgeber und dem jungen Tyrannen spricht, an sich selbst und an seine verschiedenen Experimente mit jungen Tyrannen gedacht haben mu, insbesondere an seine Versuche, die Tyrannei des jngeren Dionysios in Syrakus zu reformieren. Diese unglckseligen Experimente werden spter besprochen werden.) Eines der Hauptziele von Platons Analyse politischer Entwicklungen ist die Ermittlung der Triebkrfte der historischen Vernderung. In den Gesetzen wird der historische berblick ausdrcklich mit dieser Absicht unternommen: Sind nicht in dieser Zeit tausend und aber tausend StaaKapitel 4: Ruhe und Vernderung 107

ten entstanden und sind dabei nicht alle mglichen Arten von Staatsverfassungen zutage getreten Suchen wir also, wenn mglich, der Ursache so zahlreicher Vernderungen habhaft zu werden. Vielleicht verschafft uns das einen Einblick in das Geheimnis der Geburt wie auch der Wandlungen der Staatsverfassungen25. Als Ergebnis dieser Untersuchungen entdeckt Platon das soziologische Gesetz, da innere Uneinigkeit, Klassenkampf vom Antagonismus der konomischen Klasseninteressen geschrt, die Treibkraft aller politischen Revolutionen ist. Aber seine Formulierung dieses Grundgesetzes geht noch weiter. Er betont, da einzig der Zwiespalt innerhalb der herrschenden Klasse selbst sie so sehr schwchen kann, da es mglich wird, ihre Herrschaft zu strzen. Umwlzungen in jeglicher Verfassungsform entstehen, ohne Ausnahme, innerhalb der herrschenden Klasse selbst, und das nur dann, wenn diese Klasse der Wohnsitz der Uneinigkeit geworden ist26 so lautet seine Formel im Staate; und in den Gesetzen sagt er (mglicherweise unter Bezugnahme auf diese Stelle im Staat): Wenn nun ein Knigtum oder irgendeine Herrschaft verfllt wo anders liegt da die Schuld als bei den Herrschern selbst? Wer kann sie wohl zerstren als diese? oder haben wir schon wieder vergessen, was wir vor kurzer Zeit sagten, als wir, durch unsere Errterung darauf gefhrt, diese Wahrheit feststellten? Dieses soziologische Gesetz und die Beobachtung, da konomische Interessen die hugsten Grnde der Uneinigkeit sind, sind fr Platon der Schlssel zur Geschichte. Es ist aber noch mehr. Es
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ist auch der Schlssel zu einer Analyse der Bedingungen, die fr die Herstellung des politischen Gleichgewichtes notwendig sind; die notwendig sind, um den politischen Verfall aufzuhalten. Platon nimmt an, da diese Bedingungen im besten oder vollkommenen Staat des Altertums verwirklicht waren. III Platons Beschreibung des vollkommenen oder besten Staates wurde gewhnlich als das utopische Programm eines Fortschrittlers aufgefat. Trotz seiner wiederholten Versicherungen (im Staat, im Timaios und im Kritias), da er eine weit zurckliegende Vergangenheit beschreibe, und trotz der Parallelstellen in den Gesetzen, deren historische Absicht oenkundig ist, wird oft angenommen, da Platon eine verhllte Beschreibung der Zukunft geben wollte, ich glaube aber, da Platon meinte, was er sagte, und da viele charakteristische Zge seines besten Staates, besonders die im Buch zwei bis vier des Staates angefhrten (wie auch seine Darstellung der primitiven Gesellschaft im Staatsmann und in den Gesetzen) historische27 oder gar prhistorische Beschreibungen sein sollen. Das trifft vielleicht nicht auf alle Charakteristika des besten Staates zu. Zum Beispiel deutet Platon selbst an, da das Knigtum der Philosophen (beschrieben im Buch fnf bis sieben des Staates) mglicherweise nur fr die zeitlose Welt der Formen oder Ideen, fr den Staat im Himmel gilt. Diese absichtlich unhistorischen Elemente der Beschreibung werden spter,
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zugleich mit Platons ethisch-politischen Forderungen diskutiert werden. Es mu natrlich zugegeben werden, da Platon mit seiner Beschreibung der primitiven oder alten Verfassungen keine exakte historische Darstellung zu geben beabsichtigte; er wute, da er dazu nicht die notwendigen Daten besa. Ich glaube jedoch, da er ernsthaft versuchte, die alten Stammesformen des sozialen Lebens so gut als mglich zu rekonstruieren. Daran zu zweifeln besteht kein Grund, zumal der Versuch in einer beachtenswerten Anzahl von Details sehr erfolgreich war. Es htte auch schwerlich anders sein knnen Platon erhielt ja sein Bild durch eine idealisierte Beschreibung der alten Stammesaristokratien von Kreta und Sparta. Mit seiner scharfen soziologischen Einsicht hatte er bemerkt, da beide nicht nur alt, sondern erstarrt, der Bewegung beraubt, versteinert waren; da sie die berreste einer noch lteren Form darstellten. Und er zog den Schlu, da diese ltere Form noch stabiler und noch sicherer gefestigt gewesen sein msse. Diesen sehr alten und daher sehr guten und sehr stabilen Staat versuchte er so zu rekonstruieren, da daraus klar wurde, wie es gelungen war, den Zwiespalt von ihm fernzuhalten; wie man den Klassenkampf vermieden hatte und wie der Einu der konomischen Interessen auf ein Minimum reduziert und unter Kontrolle gehalten werden konnte. Dies sind die Hauptprobleme, die Platon bei der Rekonstruktion des besten Staates vorschwebten. Wie lst Platon das Problem, den Klassenkampf zu vermeiden? Wre er fortschrittlich gewesen, dann htte
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er vielleicht an eine klassenlose Gesellschaft mit gleicher Verteilung der Rechte und Pichten unter den Brgern gedacht; denn in Athen waren starke ausgleichende Tendenzen am Werk das knnen wir zum Beispiel aus seiner eigenen Parodie der athenischen Demokratie ersehen. Platon hatte aber nicht die Absicht, einen zuknftigen Staat zu konstruieren, er wollte vielmehr einen Staat wiederherstellen, der vergangen war den Vater des spartanischen Staates, und dieser hatte sicher nicht die Form einer klassenlosen Gesellschaft. Er war ein Sklavenstaat, und dementsprechend ist auch Platons bester Staat auf eine sehr starre Unterscheidung zwischen den Klassen gegrndet: er ist ein Kastenstaat. Das Problem der Vermeidung des Klassenkampfes wird nicht durch die Abschaung der Klassen, sondern dadurch gelst, da die herrschende Klasse eine unanfechtbare bermacht erhlt. Wie in Sparta ist es ihren Mitgliedern allein erlaubt, Waen zu tragen, sie allein haben politische und andere Rechte, sie allein erhalten eine Erziehung, das heit ein spezielles Training in der Kunst, ihre menschlichen Schafe oder das menschliche Herdenvieh niederzuhalten. (Tatschlich beunruhigt ihre berwltigende Superioritt Platon ein wenig; er frchtet, sie knnten die Schafe qulen, statt sie blo zu scheren, und nicht Wachhunden, sondern Wlfen gleichen28. Dieses Problem wird spter in diesem Kapitel behandelt werden.) Solange die herrschende Klasse einig ist, kann ihre Autoritt nicht angefochten werden, und es kann daher auch keinen Klassenkampf geben.
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Platon unterscheidet in seinem besten Staat drei Klassen: Die Wchter, ihre bewaneten Hilfstruppen oder Krieger und die Klasse der Arbeiter. In Wirklichkeit gibt es aber nur zwei Kasten, die militrische Kaste die bewaneten und ausgebildeten Herrscher und die unbewaneten und nicht ausgebildeten Beherrschten, die menschlichen Schafe; denn die Wchter bilden keine besondere Klasse, es sind dies blo die alten und weisen Krieger, die vom Rang der Hilfstruppen in den Rang der Wchter erhoben wurden. Da Platon die Kaste der Herrscher in zwei Klassen teilt, in die Klasse der Wchter und die Klasse der Hilfstruppen, ohne hnliche Unterteilungen innerhalb der Klasse der Arbeiter auszuarbeiten, ist hauptschlich dem Umstand zuzuschreiben, da er nur an den Herrschern interessiert ist. Die Arbeiter, Hndler usf. interessieren ihn nicht im mindesten, sie sind nur menschliches Herdenvieh, und ihre einzige Funktion besteht darin, fr die Befriedigung der materiellen Bedrfnisse der herrschenden Klasse zu sorgen. Platon geht sogar so weit, da er es seinen Herrschern verbietet, den Menschen dieser Klasse zur Erledigung ihrer unbedeutenden Probleme Gesetze zu geben29. Deshalb ist auch unsere Information ber die unteren Klassen so drftig. Aber Platon bewahrt nicht vlliges Schweigen. Gibt es nicht Packesel, so fragt er einmal, die keinen Funken von Intelligenz besitzen und die nicht wrdig sind, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden? Nur ber Krperkraft verfgen sie, mit der sie harte Arbeit bestehen knnen. Da diese hliche Bemerkung zu dem beschwich112 Platons deskriptive Soziologie

tigenden Kommentar Anla gegeben hat, da Platon in seinem Staat keine Sklaven zulasse, so mchte ich hier auf das Irrtmliche dieser Auassung verweisen. Es ist wahr Platon diskutiert nirgends ausdrcklich den Status der Sklaven in seinem besten Staat, und er sagt sogar, da der Name Sklave besser vermieden werden sollte; wir sollten die Arbeiter lieber Hilfskrfte oder sogar Angestellte nennen. Aber das geschieht aus Grnden der Propaganda. Nirgends ist die geringste Andeutung dafr zu nden, da die Institution der Sklaverei abgeschafft oder gemildert werden soll. Im Gegenteil Platon hat nur Verachtung brig fr jene zartbesaiteten athenischen Demokraten, die die Bewegung zur Abschaung der Sklaverei untersttzen. Und er macht diese seine Ansicht vllig klar, zum Beispiel anllich der Beschreibung der Timokratie, des zweitbesten Staates, der unmittelbar auf den besten folgt. Hier sagt er vom timokratischen Menschen: Er wird geneigt sein, die Sklaven grausam zu behandeln, denn er verachtet sie nicht so, wie der wahrhaft Gebildete sie verachten wrde. Da es aber eine der Timokratie berlegene Erziehung nur im besten Staat gibt, so mssen wir daraus schlieen, da es Sklaven in Platons bestem Staate gibt und da sie nicht grausam behandelt, sondern geziemend verachtet werden. In seiner rechtschaenen Verachtung fr die Sklaven geht Platon auf diesen Punkt nicht nher ein. Dieser Schlu wird durch eine Stelle im Staat voll besttigt, die die damals bliche Versklavung von Griechen durch Griechen kritisiert und damit endet, da Platon die Versklavung von Barbaren
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ausdrcklich gutheit und sogar unseren Brgern (d. h. den Brgern des besten Staates) den Rat erteilt, den Barbaren zuzufgen, was gegenwrtig die Griechen den Griechen zufgen. Dieser Schlu wird auerdem durch den Inhalt der Gesetze und die hchst unmenschliche Haltung besttigt, die Platon hier den Sklaven gegenber an den Tag legt. Da die herrschende Klasse allein politische Macht besitzt (einschlielich der Macht, die Zahl des menschlichen Herdenviehs innerhalb der Grenzen zu halten, die seine Ungefhrlichkeit gewhrleisten) so reduziert sich das ganze Problem der Erhaltung des Staats auf das Problem der Erhaltung der inneren Einheit der Herrenklasse. Wie wird diese Einheit bewahrt? Durch Training und andere psychologische Hilfsmittel, daneben aber hauptschlich durch die Ausschaltung konomischer Interessen, die Anla zur Uneinigkeit geben knnten. Diese konomische Enthaltsamkeit wird durch die Einfhrung des Kommunismus erreicht und kontrolliert. Das Privateigentum, insbesondere das Eigentum an kostbaren Metallen wird abgeschafft. (Der Besitz kostbarer Metalle war in Sparta verboten.) Dieser Kommunismus ist auf die herrschende Klasse beschrnkt, die allein vor der Spaltung bewahrt werden mu; Streitigkeiten unter den Beherrschten sind nicht der Beachtung wert. Da jede Art von Eigentum Gemeinbesitz ist, so mssen auch Frauen und Kinder Gemeingut sein. Keinem Mitglied der Herrscherklasse darf es mglich sein, seine Kinder oder seine Eltern zu identizieren. Die Familie
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mu zerstrt oder, vielmehr, so ausgedehnt werden, da sie die gesamte Kriegerklasse umfat. Die Treue zur Familie knnte sonst eine mgliche Quelle der Uneinigkeit werden; daher sollte jeder auf alle sehen, als ob sie einer Familie angehrten30. (Dieser Vorschlag war weder so neu noch so revolutionr, wie er klingt; wir brauchen uns nur die spartanischen Einschrnkungen des privaten Charakters des Familienlebens sowie das Verbot privater Mahlzeiten ins Gedchtnis zu rufen, auf das Platon fortwhrend unter dem Namen der gemeinsamen Mahlzeiten verweist.) Aber sogar der Gemeinbesitz von Frauen und Kindern ist nicht ganz hinreichend, um die Herrscherklasse vor allen konomischen Gefahren zu bewahren. Es ist wichtig, da es weder Reichtum noch Armut gibt. Beide bedrohen die Einheit: Die Armut, weil sie die Menschen zu verzweifelten Manahmen zur Befriedigung ihrer Bedrfnisse hinreit; der Reichtum, weil sich die meiste Vernderung vom berusse herleitet, von einer Anhufung von Reichtum, die gefhrliche Experimente ermglicht. Nur ein kommunistisches System, in dem weder fr groen Mangel noch fr groen Reichtum Platz ist, kann die konomischen Interessen auf ein Minimum reduzieren und die Einheit der herrschenden Klasse verbrgen. Der Kommunismus der herrschenden Klasse im besten Staat folgt also aus Platons fundamentalem Gesetz der sozialen Vernderung; er ist eine notwendige Bedingung der politischen Stabilitt, die das grundlegende Kennzeichen dieses Staates ist. Diese Bedingung ist aber trotz ihrer WichKapitel 4: Ruhe und Vernderung 115

tigkeit nicht hinreichend. Soll die herrschende Klasse sich wirklich als eine Einheit, als ein Stamm, das heit als eine groe Familie fhlen, so ist uerer Druck auf sie ebenso notwendig wie die inneren Bindungen zwischen ihren Mitgliedern. Dieser Druck lt sich durch Hervorheben und Vergrern des Abstandes zwischen den Herrschern und den Beherrschten erreichen. Je strker das Gefhl ist, da die Beherrschten eine andere und berhaupt untergeordnete Rasse darstellen, desto strker wird das Gefhl der Einheit unter den Herrschern sein. Auf diese Weise erhalten wir das erst nach einigem Zgern ausgesprochene fundamentale Prinzip, da eine Vermischung zwischen den Klassen nicht zugelassen werden drfe3. Jede Einmischung und jeder Wechsel von einer Klasse in eine andere ist das grte Verbrechen gegen das Gemeinwesen und wrde mit vollstem Recht als die niedrigste Schandtat bezeichnet werden, sagt Platon. Eine derart starre Trennung der Klassen bedarf aber der Rechtfertigung, und der Versuch einer solchen kann nur von der Behauptung ausgehen, da die Herrscher den Beherrschten berlegen sind. Demgem versucht Platon seine Trennung der Klassen in dreifacher Weise zu rechtfertigen, indem er behauptet, da die Herrscher in dreifacher Hinsicht in Rasse, in Erziehung und in ihren Werturteilen eine ungeheure berlegenheit besitzen. Platons moralische Werturteile, die natrlich mit denen der Herrscher seines besten Staates zusammenfallen, werden wir im 6., 7. und 8. Kapitel diskutieren; ich beschrnke mich daher an dieser Stelle auf die Beschreibung einiger seiner
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Ideen ber den Ursprung, die Aufzucht und die Erziehung seiner herrschenden Klasse. (Vorerst mchte ich aber noch meiner berzeugung Ausdruck geben, da persnliche berlegenheit, sei es nun berlegenheit der Rasse, Intelligenz, Sitte oder Erziehung, niemals einen Anspruch auf politische Prrogative begrnden kann, selbst dann nicht, wenn sie sich feststellen liee. Die meisten Menschen in zivilisierten Lndern geben heutzutage zu, da die rassische Superioritt ein Mythos ist; aber auch wenn sie eine besttigte Tatsache wre, sollte sie keine besonderen politischen Rechte hervorbringen, wenn es auch zutreen mag, da fr die berlegenen Personen besondere moralische Verantwortlichkeiten entstehen. hnliche Anforderungen sollten an die intellektuell, moralisch oder an die ihrer Erziehung nach Ausgezeichneten gestellt werden; ich kann mich des Gefhls nicht erwehren, da die entgegengesetzten Forderungen gewisser Intellektualisten und Moralisten nur zeigen, wie wenig erfolgreich ihre Erziehung gewesen ist, da es ihr nicht gelang, sie auf ihre eigene Beschrnktheit und auf ihr Pharisertum aufmerksam zu machen.) IV Wenn wir Platons Ansichten ber Ursprung, Aufzucht und Erziehung seiner herrschenden Klasse verstehen wollen, so drfen wir die zwei Hauptpunkte unserer Analyse nicht aus den Augen verlieren. Wir mssen vor allem daran denken, da Platon einen Staat der Vergangenheit rekonstruiert, einen Staat allerdings, der mit der Gegenwart so eng verKapitel 4: Ruhe und Vernderung 117

bunden ist, da sich gewisse seiner Zge noch immer an bestehenden Staaten, zum Beispiel an Sparta feststellen lassen; zweitens, da er seinen Staat im Hinblick auf die Bedingungen seiner Stabilitt rekonstruiert und da er die Brgschaft fr diese Stabilitt einzig innerhalb der herrschenden Klasse selbst, insbesondere in ihrer Einheit und Strke sucht, Was den Ursprung der Herrscherklasse betrifft, so sei erwhnt, da Platon im Staatsmann von einer Zeit spricht, die sogar der des besten Staates vorausgeht; zu jener Zeit war Gott selbst der Hirt der Menschen, und er herrschte ber sie genau so, wie der Mensch noch immer ber die Tiere herrscht. Frauen und Kinder waren keine Besitztmer.32 Das ist nicht blo das Gleichnis vom guten Hirten; im Lichte dessen, was Platon in den Gesetzen sagt, mssen wir ihn buchstblicher interpretieren. Denn dort heit es, da diese primitive Gesellschaft, die sogar dem ersten und besten Staat vorausgeht, eine Gemeinschaft von nomadischen Berghirten unter der Herrschaft eines Patriarchen gewesen sei: Die Regierung entstand, so schreibt Platon von der Periode vor der ersten Niederlassung, als die Herrschaft des ltesten der Gruppe; er erbte seine Autoritt von seinem Vater oder von seiner Mutter; alle anderen folgten ihm, wie eine Schar von Vgeln; so formten sie eine einzelne Horde; und diese stand unter jener vterlichen Herrschaft, die von allen die gerechteste ist. Wir hren, da sich diese Nomadenstmme in den Stdten des Peloponnes insbesondere in Sparta als
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Dorer niederlieen. Es wird nicht genau erklrt, wie das geschah; wir verstehen aber Platons Zgern, wenn angedeutet wird, da diese Niederlassung in Wirklichkeit eine gewaltsame Unterwerfung war. Dies ist, nach allem, was wir wissen, die Wahrheit ber die dorische Niederlassung im Peloponnes. Wir haben daher allen Grund, anzunehmen, da Platon mit seiner Schilderung eine ernsthafte Beschreibung prhistorischer Ereignisse zu geben beabsichtigte; eine Beschreibung nicht nur des Ursprungs der dorischen Herrenrasse, sondern auch des Ursprungs ihres menschlichen Herdenviehs, das heit der ursprnglichen Einwohner. In einer Parallelstelle im Staat gibt uns Platon eine mythologische, aber prgnante Schilderung der Eroberung, an einer Stelle, die vom Ursprung der Erdgeborenen handelt (das heit der Herrenklasse seines besten Stadtstaates; der Mythos der Erdgeborenen wird im 8. Kapitel von einem anderen Gesichtspunkt aus diskutiert werden). Ihr siegreicher Einmarsch in die von Handwerkern und Arbeitern gegrndete Stadt wird folgendermaen beschrieben: Nachdem wir die Erdgeborenen bewanet und im Kampfe gebt haben, lassen wir sie nun ins Feld ziehen, unter dem Befehl der Wchter, bis sie die Stadt erreichen. Dort halten sie Umschau um den besten Ort fr ihr Lager zu nden: den Ort der sich am besten eignet um die Einwohner niederzuhalten falls sich einer unwillig zeigen sollte, dem Gesetz zu gehorchen und um uere Feinde abzuwehren, die gleich Wlfen die Herde anfallen. Diese kurze, aber triumphierende Schilderung
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der Unterwerfung einer sehaften Bevlkerung durch eine erobernde Kriegerhorde (die im Staatsmann mit der Schar nomadisierender Berghirten der Periode vor der Niederlassung identiziert wird) verdient festgehalten zu werden; wir brauchen sie bei der Deutung der von Platon oftmals wiederholten Behauptung, da die guten Herrscher, seien es nun Gtter oder Halbgtter oder Wchter, patriarchalische Hirten der Menschen sind und da die wahre politische Kunst, die Kunst des Herrschens in einer Art Hirtenschaft besteht, das heit in einer Fertigkeit in der Behandlung und Niederhaltung des menschlichen Herdenviehs. In diesem Lichte mssen wir auch seine Schilderung der Aufzucht und des Trainings der Hilfstruppen verstehen, die den Herrschern unterworfen sind wie Schferhunde den Hirten des Gemeinwesens. Die Aufzucht und die Erziehung der Hilfstruppen und damit der herrschenden Klasse in Platons bestem Staat ist, wie das Tragen von Waen, ein Klassensymbol und damit ein Klassenvorrecht 33. Zucht und Erziehung sind nicht leere Symbole, sondern, wie auch die Waen, Instrumente der Klassenherrschaft und zur Sicherstellung der Stabilitt dieser Herrschaft vonnten. Sie werden von Platon einzig unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, das heit als mchtige politische Waen, als Mittel, die ntzlich sind zum Hten des menschlichen Herdenviehs und zur Vereinigung der herrschenden Klasse. Es ist zu diesem Zweck wichtig, da sich die Herrenklasse als eine berlegene Herrenrasse fhlt. Der Wchterstand
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mu rein bleiben34, sagt Platon (zur Verteidigung des Kindsmordes); und er argumentiert, da wir zwar Tiere mit groer Sorgfalt zchten, da wir aber unsere eigene Rasse vernachlssigen, ein Argument, das seither stndig wiederholt worden ist. (Die Ttung kleiner Kinder war keine athenische Einrichtung; Platon sah, da sie in Sparta aus eugenischen Grnden vollzogen wurde; er schlo daraus, da es sich hier um eine alte und daher gute Einrichtung handeln msse.) Er verlangt, da die Prinzipien, deren sich ein erfahrener Zchter bei der Aufzucht von Hunden, Pferden oder Gegel bedient, auch bei der Aufzucht der Herrenrasse eingehalten werden sollten. Wenn du nicht nach diesem Gesichtspunkt zchten wrdest, so geht Platons Argument, glaubst du nicht, da dann die Rasse deiner Vgel und deiner Hunde schnell entarten wrde?, und er zieht den Schlu, da dieselben Prinzipien auf die Menschenrasse Anwendung nden. Die Rassenmerkmale nun, die von einem Wchter oder einem Angehrigen der Hilfstruppen verlangt werden, sind, genauer gesagt, die eines Schferhundes. Unsere kriegerischen Athleten mssen wachsam sein wie Wachhunde, fordert Platon, und er fragt: Sicherlich besteht doch kein Unterschied zwischen der natrlichen Begabung eines tchtigen jungen Hundes und der eines vortreichen jungen Mannes, wenn es sich ums Wachen handelt? In seiner enthusiastischen Bewunderung fr Hunde geht Platon so weit, da er in ihnen eine wahrhaft philosophische Natur entdeckt; denn ist nicht die Liebe zum Lernen identisch mit philosophischer Einstellung?
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Die Hauptschwierigkeit, die Platon zu schaen macht, ist diese: Die Wchter und die Hilfstruppen mssen mit einem Charakter ausgestattet sein, der wild und sanft zugleich ist. Klarerweise sind sie zur Wildheit zu erziehen, denn sie mssen jeder Gefahr furchtlos und unberwindlich begegnen. Wenn aber dies ihre Natur sein soll, wie kann man sie daran hindern, gegeneinander und gegen ihre Mitbrger zu wten?35 Es wre in der Tat einfach ungeheuer, wenn die Hirten Hunde hielten die die Schafe qulen, so da sie nicht Hunden, sondern eher Wlfen glichen. Das Problem ist vom Gesichtspunkt des politischen Gleichgewichts oder eher vom Gesichtspunkt der Stabilitt des Staates aus betrachtet von Wichtigkeit, denn Platon verlt sich nicht auf ein Gleichgewicht der Krfte verschiedener Klassen. Ein solches Gleichgewicht wre instabil. Eine Kontrolle der Herrenklasse, ihrer willkrlichen Gewalten, ihrer Wildheit durch die Gegnerschaft der Beherrschten kommt nicht in Frage; die berlegenheit der herrschenden Klasse darf nicht angetastet werden. Die einzig zulssige Kontrolle der Herrenklasse ist daher die Selbstkontrolle. Ebenso, wie die herrschende Klasse konomische Enthaltsamkeit ben, das heit von einer bermigen konomischen Ausbeutung der Beherrschten Abstand nehmen mu, ebenso mu sie auch fhig sein, sich bei der Behandlung der Beherrschten einer zu groen Heftigkeit zu enthalten. Aber das lt sich nur erreichen, wenn die Wildheit ihrer Natur durch Sanftmut ausgeglichen wird. Das ist fr Platon ein sehr ernstes Problem, da die Wildheit das genaue Gegenteil der Sanft122 Platons deskriptive Soziologie

mut ist. Sein Sprecher, Sokrates, zeigt sich verwirrt bis ihm wieder der Hund einfllt. Wohlgezchtete Hunde sind von Natur aus sehr sanft gegen Freunde und Bekannte, doch ganz anders gegen Unbekannte, so sagt er. Und damit ist bewiesen, da der Charakter, den wir unseren Wchtern verleihen wollen, der Natur nicht widerspricht. Das Ziel, die Aufzucht der Herrenrasse, ist damit festgesetzt, und es ist gezeigt, da es sich erreichen lt. Es ergab sich aus einer Analyse der Bedingungen, die zur Erhaltung der Stabilitt des Staates notwendig sind. Genau dasselbe beabsichtigt Platon in der Erziehung. Auch hier ist sein Ziel rein politischer Natur: den Staat durch Mischung eines wilden und eines sanften Elements im Charakter der Herrscher zu stabilisieren. Die beiden Gegenstnde, in denen die Kinder der griechischen Oberklassen erzogen wurden, die Gymnastik und die Musik (diese schlo, im weiteren Sinn des Wortes alle literarischen Studien ein), werden von Platon zu den zwei Elementen des Charakters, zur Wildheit und zur Sanftmut in Beziehung gesetzt. Hast du nicht beobachtet, so fragt Platon36, wie es um das Innere von Leuten bestellt ist, die ausschlielich in der Gymnastik, nicht aber in der Musik unterrichtet werden? und wie es mit jenen steht, bei denen das Umgekehrte der Fall ist? Wer nur in gymnastischer Kunst erzogen wird, wird wilder, als recht ist; und wer nur in musischer Kunst aufwchst, wird weichlicher, als schn ist Wir aber behaupten, da unsere Wchter diese beiden Naturen vereinigen mssen. Darum sage ich auch, da ein Gott
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den Menschen die beiden Knste, Musik und Gymnastik, geschenkt haben mu; und ihr Zweck ist nicht so sehr der Dienst an Seele oder Leib, sondern die richtige Abstimmung jener zwei Hauptsaiten, das heit der zwei Elemente der Seele, der Sanftmut und der Wildheit. Das wren die Umrisse unseres Systems der Bildung und Erziehung, so beschliet Platon seine Analyse. Obwohl Platon das sanfte Element der Seele mit ihrer philosophischen Veranlagung identiziert, und obwohl die Philosophie in den spteren Teilen des Staates eine so vorherrschende Rolle spielt, ist er doch in keiner Weise zugunsten des sanften oder philosophischen Elements der Seele, zugunsten der musikalischen, das heit der literarischen Erziehung voreingenommen. Diese Unparteilichkeit im Abwgen der zwei Elemente ist um so bemerkenswerter, als sie ihn veranlat, der literarischen Erziehung die strengsten Einschrnkungen aufzuerlegen im Vergleich zu dem, was zu seiner Zeit in Athen blich war. Das ist natrlich nur ein Teil seiner allgemeinen Neigung spartanische Sitten den Sitten Athens vorzuziehen. (Kreta, sein anderes Modell, war der Musik sogar noch feindlicher gesinnt als Sparta37.) Platons politische Prinzipien der literarischen Erziehung beruhen auf einem einfachen Vergleich. Er sah, da Sparta sein menschliches Herdenvieh ein bichen zu grob behandelte; dies ist ein Symptom oder sogar ein Zugestndnis eines Gefhls der Schwche38 und damit ein Symptom der beginnenden Degeneration der Herrenklasse. Andrerseits war Athen bei der Behandlung der Sklaven viel zu liberal
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und nachlssig. Dies war fr Platon ein Beweis, da Sparta ein etwas zu groes Gewicht auf die Gymnastik und Athen natrlich ein viel zu groes Gewicht auf die Musik legte. Diese einfache Schtzung befhigte ihn ohne weiteres, das seiner Meinung nach wahre Ma oder die wahre Mischung der zwei Elemente der Erziehung im besten Staat zu rekonstruieren und die Prinzipien seiner Erziehungspolitik festzulegen. Vom athenischen Gesichtspunkt aus beurteilt, luft all dies auf nichts weniger hinaus als auf die Forderung, die musische Erziehung durch ein strenges Festhalten am Beispiel Spartas und seiner strikten Staatsaufsicht ber alle literarischen Angelegenheiten zu unterdrcken39. Nicht nur die Dichtung, sondern auch die Musik, im modernen Sinn des Wortes, ist durch eine strenge Zensur zu beaufsichtigen und beide sollen nur der Strkung der Stabilitt des Staates dienen; sie haben die Aufgabe, das Klassenbewutsein und die Klassendisziplin der jungen Generation zu strken40 und sie bereitwilliger zu machen, den Klasseninteressen zu dienen., Platon vergit sogar, da es die Funktion der Musik war, die jungen Mnner zu besnftigen; er verlangt Musikformen, die ihre Tapferkeit, das heit ihre Wildheit, vergrern. (Ich kann es kaum glauben, da Platon, der ja ein Athener war, in derart aberglubischer und intoleranter Weise ber die Musik reden konnte; besonders wenn wir bedenken, wie weit die aufgeklrte zeitgenssische Kritik fortgeschritten war4. Aber sogar heute noch hat Platon viele Musiker auf seiner Seite; wahrscheinlich fhlen sie sich geschmeichelt durch die hohe Meinung, die er von der
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Bedeutung der Musik [d. h. von ihrer politischen Macht] hegte; dasselbe gilt fr die Erzieher und in noch hherem Grad fr die Philosophen, da Platon verlangt, da sie herrschen sollen. Diese Forderung wird im 8. Kapitel diskutiert werden.) Das politische Prinzip, das die Erziehung der Seele bestimmt die Wahrung der Stabilitt des Staates ist auch fr die Erziehung des Krpers magebend. Das Ziel ist einfach das Ziel Spartas. Der athenische Brger wurde dazu erzogen, sich in allen Lebenslagen zurechtzunden; Platon forderte hingegen die Ausbildung der herrschenden Klasse zu einer Klasse von Berufskriegern, die bereit sind, gegen innere und uere Feinde des Staates zuzuschlagen. Kinder beiderlei Geschlechts, so wird uns zweimal mitgeteilt, mssen hoch zu Ro als Zuschauer in den Krieg gefhrt werden; und vorausgesetzt, da die Lage ungefhrlich ist, soll man sie ganz in die Nhe des Kampfes bringen und Blut schmecken lassen, so, wie man es mit jungen Hunden tut42. Die Beschreibung eines modernen Autors, der die gegenwrtige totalitre Erziehung eine intensivierte und fortwhrende Form der Mobilisierung nennt, pat in der Tat sehr gut auf Platons ganzes Erziehungssystem. Dies ist ein Abri der platonischen Theorie des besten oder ltesten Staates; eines Staates, der seine menschliche Herde genau so behandelt wie ein kluger, aber hartherziger Hirte seine Schafe; nicht zu grausam, aber mit geziemender Verachtung Als eine Analyse der spartanischen Sozialinstitu126 Platons deskriptive Soziologie

tionen und der Bedingungen ihrer Stabilitt und Instabilitt sowie als ein Versuch, festere und ursprnglichere Formen des Stammeslebens zu rekonstruieren, ist Platons Beschreibung in der Tat hervorragend. (In diesem Kapitel haben wir es nur mit dem deskriptiven Aspekt zu tun. Die damit verbundenen ethischen Fragen werden wir spter diskutieren.) Ich glaube, da sich vieles in Platons Schriften, das man gewhnlich als mythologische oder utopische Spekulation ansah, auf diese Weise als eine soziologische Beschreibung und Analyse deuten lt. Wir mssen zum Beispiel zugeben, da sein Mythos von der Unterwerfung einer sehaften Bevlkerung durch triumphierende Kriegerhorden vom Standpunkt einer deskriptiven Soziologie aus betrachtet eine gut gelungene Beschreibung darstellt. Tatschlich knnte sie sogar als die Vorwegnahme einer interessanten (wenn auch wahrscheinlich zu anspruchsvollen) modernen Theorie vom Ursprung des Staates gelten, nach der eine zentralisierte und organisierte politische Macht gewhnlich aus einer solchen Eroberung hervorgeht43. Es mag sein, da es in Platons Schriften mehr Beschreibungen dieser Art gibt, als wir gegenwrtig beurteilen knnen. V Wir fassen zusammen. Der Versuch, die vernderliche soziale Welt, so wie er sie wahrnahm, zu verstehen und auszudeuten, fhrte Platon zu einer sehr detaillierten Entwicklung einer systematischen historizistischen Soziologie. Er hielt die bestehenden Staaten fr verfallene Abbilder einer
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unwandelbaren Form oder Idee. Er versuchte diese Form oder Idee des Staates zu rekonstruieren oder zumindest eine Gesellschaft zu beschreiben, die ihr soweit als nur mglich glich. Als Material fr seine Rekonstruktion verwendete er alte Traditionen sowie die Ergebnisse seiner Analyse der sozialen Institutionen von Sparta und Kreta, der ltesten Formen des sozialen Lebens, die er in Griechenland nden konnte; in ihnen erkannte er erstarrte Formen noch lterer Stammesgesellschaften. Um aber sein Material in geeigneter Weise zu verwenden, bentigte er ein Prinzip der Unterscheidung zwischen den guten oder ursprnglichen oder alten Zgen der bestehenden Institutionen und den Symptomen ihres Verfalls. Dieses Prinzip fand er in seinem Gesetz politischer Revolutionen, nach dem der Ursprung der sozialen Vernderung in der Uneinigkeit der herrschenden Klasse sowie in ihrer vorwiegenden Beschftigung mit konomischen Angelegenheiten zu suchen ist. Bei der Rekonstruktion seines besten Staates muten also alle Keime und Elemente der Uneinigkeit und des Verfalls so radikal wie nur mglich ausgemerzt werden; das heit, da dieser Staat aus dem spartanischen Staat zu entwickeln war und das mit Rcksicht auf die Bedingungen die ntig sind, um die Einigkeit der herrschenden Klasse sicherzustellen; und diese wird durch wirtschaftliche Enthaltsamkeit, durch die Aufzucht sowie die Erziehung jener Klasse erwirkt. Dadurch, da Platon die bestehenden Gesellschaftsformen als dekadente Abbilder eines idealen Staates interpretierte, gab er den etwas unfertigen Ansichten Hesiods
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ber den Verlauf der menschlichen Geschichte mit einem Schlag einen theoretischen Hintergrund und versah sie mit einer Flle praktischer Anwendungen. Er entwickelte eine bemerkenswert wirklichkeitsnahe historizistische Theorie, nach der der Grund der sozialen Vernderung in der herakliteischen Uneinigkeit und im Klassenkampf zu suchen ist; in diesem erkannte er die Triebkraft der Geschichte, aber auch die Kraft, die zum Verfall fhrt. Er wandte diese historizistischen Prinzipien auf die Geschichte des Untergangs und des Verfalls der griechischen Stadtstaaten an, und er bentzte sie insbesondere zu einer Kritik der Demokratie, die er verweichlicht und degeneriert nannte. Und wir knnen hinzufgen, da er sie spter in den Gesetzen44 auch bei der Schilderung des Untergangs und des Verfalls des Persischen Reiches angewendet hat; damit leitete er eine lange Reihe von Untergangs- und Verfallsdramatisierungen der Geschichte von Weltreichen und Zivilisationen ein (O. Spenglers berchtigter Untergang des Abendlandes ist vielleicht die schlechteste, wenn auch nicht die letzte45). All dies lt sich, wie ich denke, als ein hchst eindrucksvoller Versuch zur Erklrung und Rationalisierung seiner Erfahrung des Zusammenbruchs der stammesgebundenen Gesellschaft interpretieren; einer Erfahrung hnlich der, die Heraklit veranlat hatte, die erste Philosophie der Vernderung zu entwickeln. Unsere Analyse der deskriptiven Soziologie Platons ist jedoch noch immer unvollstndig. Seine Darstellung des Abstiegs und Untergangs und mit ihr fast alle spteren
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Geschichten dieser Art zeigen zumindest zwei Eigentmlichkeiten, die wir bis jetzt noch nicht diskutiert haben. Platon stellte sich diese dem Untergang geweihten Gemeinschaften als eine Art von Organismus vor, und den Verfall als einen dem Altern hnlichen Proze. Und er glaubte, da der Untergang selbstverschuldet war in dem Sinn, da der moralische Verfall, der Sndenfall und der Untergang der Seele mit dem Verfall des sozialen Krpers Hand in Hand gehe. All dies spielt eine bedeutsame Rolle in Platons Theorie der ersten Vernderung im Mythos von der Zahl und vom Sndenfall des Menschen. Diese Theorie und ihre Verbindung mit der Ideenlehre wird im nchsten Kapitel diskutiert werden. Fnftes Kapitel: NATUR UND KONVENTION Platon war nicht der erste, der sich mit sozialen Phnomenen auf wissenschaftliche Weise befate. Wir haben den Beginn der Sozialwissenschaften zumindest in die Generation des Protagoras zu verlegen, des ersten jener groen Denker, die sich Sophisten nannten. Er ist durch die Erkenntnis charakterisiert, da es notwendig ist, zwischen zwei verschiedenen Elementen in der Umgebung des Menschen zu unterscheiden zwischen seiner natrlichen Umgebung und seiner sozialen Umgebung. Diese Unterscheidung ist schwer zu treen und schwer zu erfassen. Das knnen
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wir aus dem Umstand ersehen, da wir sie uns auch jetzt noch nicht vllig zu eigen gemacht haben. Sie wurde seit der Zeit des Protagoras stndig in Frage gestellt. Wie es scheint, haben die meisten von uns eine starke Neigung, die Besonderheiten unserer sozialen Umgebung hinzunehmen, als seien sie natrlich. Ein charakteristischer Zug der magischen Einstellung einer primitiven geschlossenen oder Stammesgesellschaft ist dieser: sie lebt in einem Zauberkreis unvernderlicher Tabus, Gesetze und Sitten, die als ebenso unvermeidlich empfunden werden wie der Aufgang der Sonne, der Kreislauf der Jahreszeiten oder hnliche klare Regelmigkeiten des Naturverlaufs. Und erst nach dem Zusammenbruch dieser magischen geschlossenen Gesellschaft kann sich ein theoretisches Verstndnis fr den Unterschied zwischen Natur und Gesellschaft entwickeln. Eine Analyse dieser Entwicklung erfordert, wie ich glaube, das klare Erfassen einer wichtigen Unterscheidung, der Unterscheidung zwischen [a] Naturgesetzen (etwa den Gesetzen, die die Bewegung der Sonne, des Mondes und der Planeten, die Aufeinanderfolge der Jahreszeiten und so fort beschreiben, oder dem Gravitationsgesetz oder zum Beispiel den Gesetzen der Thermodynamik) auf der einen Seite und [b] normativen Gesetzen oder Normen Verboten und Geboten, das heit Regeln, die gewisse Verhaltungsweisen verbieten oder fordern auf der anderen; Beispiele fr Gesetze der letzten Art sind die Zehn Gebote, die gesetzlichen Vorschriften, die den Vorgang der
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Wahl von Parlamentsmitgliedern regeln, oder die Gesetze, aus denen die Verfassung von Athen besteht. Eine Diskussion dieser Dinge wird oft nahezu unmglich gemacht durch die Tendenz, die angegebene Unterscheidung zu verwischeni Einige weitere Bemerkungen sind daher am Platze: Ein Gesetz der Art [a] ein Naturgesetz beschreibt eine strikte, unvernderliche Regelmigkeit, die entweder tatschlich in der Natur besteht (in diesem Fall ist das Gesetz ein wahrer Satz) oder nicht besteht (in diesem Fall ist es falsch). Wir nennen ein Naturgesetz oft eine Hypothese, wenn wir nicht wissen, ob es wahr oder falsch ist, und wenn wir auf diese unsere Unsicherheit verweisen wollen. Ein Naturgesetz ist unvernderlich; es lt keine Ausnahmen zu. Denn wenn wir vom Eintreten eines Ereignisses berzeugt sind, das ihm widerspricht, dann sagen wir nicht, da hier eine Ausnahme besteht, oder eine nderung des Gesetzes, sondern wir betrachten unsere Hypothese als widerlegt, da es sich herausgestellt hat, da die angenommene strikte Regelmigkeit nicht existiert, oder mit anderen Worten, da das vermeintliche Naturgesetz nicht ein wahres Naturgesetz war, sondern ein falscher Satz. Da Naturgesetze unvernderlich sind, knnen sie weder bertreten noch erzwungen werden. Sie sind auerhalb menschlicher Kontrolle, obwohl sie mglicherweise von uns fr technische Zwecke verwendet werden knnen und obwohl wir in Schwierigkeiten kommen knnen, wenn wir sie nicht verstehen oder wenn wir sie ignorieren.
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Ganz andere Verhltnisse herrschen, wenn wir uns den Gesetzen der Art [b], den normativen Gesetzen, zuwenden. Ein normatives Gesetz, sei es nun eine gesetzliche Verfgung oder ein sittliches Gebot, kann vom Menschen durchgesetzt werden. Es kann auch gendert werden. Wir knnen es gut oder schlecht, richtig oder unrichtig, annehmbar oder unannehmbar nennen. Aber wahr oder falsch ist es nur in einem metaphorischen Sinn, denn es beschreibt keine Tatsache, sondern legt Richtlinien fr unser Verhalten fest. Es kann bertreten werden, sobald es nur in irgendeiner Hinsicht von Bedeutung ist; und es ist berssig und bedeutungslos, wenn keine Mglichkeit besteht, ihm entgegen zu handeln. Verbrauche nicht mehr Geld, als du besitzt ist ein wichtiges normatives Gesetz. Es kann eine wichtige moralische oder legale Regel sein, und dies um so mehr, als es so oft gebrochen wird. Nimm nicht mehr Geld aus deiner Brse, als sie enthlt mag seinem Wortlaut nach ebenfalls ein normatives Gesetz sein; aber niemand wird eine solche Regel ernsthaft als einen bedeutungsvollen Bestandteil eines sittlichen oder rechtlichen Systems in Betracht ziehen, da es nicht mglich ist, sie zu bertreten. Wenn ein bedeutungsvolles normatives Gesetz eingehalten wird, so ist dies immer auf menschliche Einwirkung, menschliche Handlungen und Entscheidungen zurckzufhren, gewhnlich auf den Entschlu, Sanktionen anzuwenden zur Bestrafung oder Abschreckung derjenigen Menschen, die das Gesetz bertreten. Ich glaube und hier wei ich mich in bereinstimmung
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mit einer groen Zahl von Denkern, insbesondere mit vielen Sozialwissenschaftlern , da die Unterscheidung zwischen Gesetzen der Art [a] Gesetzen, die Regelmigkeiten des Naturverlaufs beschreiben und Gesetzen der Art [b] Normen wie Verboten und Geboten eine grundstzliche ist, und da beide Arten von Gesetzen kaum mehr miteinander gemein haben als den Namen. Aber diese Ansicht wird keinesfalls allgemein akzeptiert; ganz im Gegenteil: zahlreiche Denker sind der Meinung, da es natrliche Normen Verbote und Gebote gibt, das heit Normen, die im Hinblick auf Naturgesetze der Art [a] aufgestellt werden. Nach ihrer Auassung sind zum Beispiel gewisse rechtliche Normen der menschlichen Natur angemessen, das heit, sie stimmen mit psychologischen Naturgesetzen der Art [a] berein; andere rechtliche Normen knnen sich im Gegensatz zur menschlichen Natur benden. Normen, von denen sich zeigen lt, da sie der menschlichen Natur entsprechen, seien nun von Naturgesetzen der Art [a] wirklich nicht sehr verschieden. Andere sagen, da die Naturgesetze der Art [a] den normativen Gesetzen sehr hnlich sind, da sie durch den Willen oder durch die Entscheidung des Schpfers des Universums festgelegt wurden eine Auassung, die zweifellos der Verwendung des ursprnglich normativen Wortes Gesetz fr Gesetze der Art [a] zugrunde liegt. Alle diese Ansichten mgen der Diskussion wert sein. Aber wenn man sie diskutieren will, so ist es zuallererst notwendig, zwischen Gesetzen der Art [a] und Gesetzen der Art [b] zu unterscheiden um nicht den
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Gegenstand der Auseinandersetzung durch eine fehlerhafte Terminologie zu verwirren. Der Ausdruck Naturgesetz bleibt daher von uns ausschlielich fr Gesetze der Art [a] vorbehalten, und wir lehnen es ab, ihn auf irgendwelche Normen anzuwenden, von denen man behauptet, sie seien natrlich in dem einen oder anderen Sinne des Wortes. Eine solche Vermengung ist vllig unntig. Denn wir knnen leicht von natrlichen Rechten und Pichten oder von natrlichen Normen sprechen, wenn wir den natrlichen Charakter von Gesetzen des Typus [b] hervorheben wollen. II Wenn man die Soziologie Platons verstehen will, so mu man sich meiner Ansicht nach berlegen, wie die Unterscheidung zwischen natrlichen und normativen Gesetzen zustande gekommen sein mag. Ich werde zuerst den wahrscheinlichen Ausgangspunkt und das Endstadium dieser Entwicklung besprechen und etwas spter drei Zwischenstadien, die eine gewisse Bedeutung zu haben scheinen. Sie alle spielen in Platons Theorie eine Rolle. Den Ausgangspunkt kann man naiven Monismus nennen. Der naive Monismus ist charakteristisch fr die geschlossene Gesellschaftsordnung. Das Endstadium nenne ich kritischen Dualismus (oder kritischen Konventialismus). Er charakterisiert die oene Gesellschaft. Der Umstand, da auch jetzt noch viele Menschen nicht bereit sind, den Schritt zum kritischen Dualismus zu tun, kann als AnzeiKapitel 5: Natur und Konvention 135

chen dafr dienen, da wir uns noch immer mitten im bergang von der geschlossenen zur oenen Gesellschaft benden (vergleiche Kapitel 0). Der naive Monismus, wie ich den Ausgangspunkt nannte, hat die Trennung zwischen natrlichen und normativen Gesetzen noch nicht vollzogen. Durch unangenehme Erfahrungen lernt der Mensch, sich an seine Umgebung anzupassen. Er unterscheidet nicht zwischen Sanktionen, die ihm von anderen beim bertreten eines normativen Tabu auferlegt werden, und den Unannehmlichkeiten, die er in seiner natrlichen Umgebung erleidet. Zwei weitere Mglichkeiten lassen sich in diesem Stadium unterscheiden. Der naive Naturalismus ist die eine: Regelmigkeiten, ob natrlich, ob konventionell, gelten als vllig unabnderlich. Dieses Stadium scheint jedoch nur eine abstrakte Mglichkeit darzustellen, die wahrscheinlich niemals verwirklicht gewesen ist. Wichtiger ist ein Stadium, das wir den naiven Konventionalismus nennen knnen, ein Stadium, in dem sowohl die natrlichen wie auch die normativen Regelmigkeiten als Ausdruck der Entscheidungen menschenhnlicher Gtter oder Dmonen und als von diesen abhngig empfunden werden. So etwa kann angenommen werden, da der Kreislauf der Jahreszeiten, die Besonderheit der Bewegung der Sonne, des Mondes, der Planeten den Gesetzen oder Rechtssprchen oder Entscheidungen unterworfen sind, die Himmel und Erde regieren und die zu Beginn vom Schpfergott festgesetzt und ausgesprochen wurden2. Eine solche Denkweise legt die
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Annahme nahe, da sogar die Naturgesetze unter gewissen auerordentlichen Umstnden einer Modikation fhig sind; da es den Menschen mglich ist, sie manchmal mit der Hilfe von magischen Praktiken zu beeinussen; und da die natrlichen Regelmigkeiten wie auch die Normen durch Sanktionen aufrechterhalten werden. Diese Haltung wird durch den folgenden Ausspruch Heraklits treich illustriert: Die Sonne wird die Mae ihrer Bahn nicht berschreiten, sonst werden die Erinnyen sie holen, die Gttinnen des Schicksals und die Helferinnen der Gerechtigkeit. Der Zusammenbruch der magischen Stammesgemeinschaft ist eng mit der Erkenntnis verbunden, da die Tabus von Stamm zu Stamm wechseln, da sie vom Menschen gesetzt und durchgesetzt werden und da man sie ohne unerfreuliche Nachwirkung bertreten kann, sobald es nur gelingt, den Sanktionen der Mitmenschen zu entkommen. Beschleunigt wird diese Erkenntnis durch die Beobachtung, da Gesetze von menschlichen Gesetzgebern geschaen und verndert werden. Ich denke dabei nicht nur an Gesetzgeber wie Solon, sondern auch an die Gesetze, die von den Brgern demokratischer Staaten geschaen und durchgesetzt wurden. Erfahrungen dieser Art fhren zu einer bewuten Unterscheidung zwischen den auf Entschlu und bereinkunft gegrndeten normativen Gesetzen, die der Mensch erzwingt und den natrlichen Regelmigkeiten, die sich seiner Macht entziehen. Von kritischem Dualismus (oder kritischem Konventionalismus) knnen wir spreKapitel 5: Natur und Konvention 137

chen, sobald diese Unterscheidung klar verstanden wird. In der Entwicklung der griechischen Philosophie kndigt sich dieser Dualismus von Tatsachen und Normen als der Gegensatz zwischen Natur und Konvention an3. Diese Position wurde vor langer Zeit vom Sophisten Protagoras, einem lteren Zeitgenossen des Sokrates, erreicht. Sie wird jedoch noch immer so wenig verstanden, da eine genaue Erklrung angemessen erscheint. Zunchst drfen wir nicht denken, da der kritische Dualismus eine Theorie ber den historischen Ursprung der Normen impliziert. Er hat nichts zu tun mit der klarerweise unhaltbaren historischen Behauptung, da Normen zuallererst vom Menschen bewut geschaen oder eingefhrt, nicht aber von ihm als bereits vorhanden aufgefunden wurden (wann immer er zuerst fhig war, etwas Derartiges zu entdecken). Er hat daher auch nichts mit der Behauptung zu tun, da nicht Gott, sondern die Menschen die Urheber der ersten Normen waren; auch unterschtzt er nicht die Bedeutung normativer Gesetze. Am allerwenigsten behauptet er, da die Normen, weil konventionell, das heit vom Menschen geschaen, blo willkrlich sind. Der kritische Dualismus behauptet nur, da Normen und normative Gesetze von Menschen gemacht und verndert werden knnen und das letzte insbesondere durch die Entscheidung oder bereinkunft, sie zu beachten oder umzuformen, und da daher der Mensch fr sie moralisch verantwortlich ist; nicht fr diejenigen Normen, die er in der Gesellschaft vorndet, sobald er beginnt, ihre Einrichtungen kritisch ins Auge zu
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fassen, wohl aber fr die Normen, die zu dulden er bereit ist, sobald er erkannt hat, da er sie ndern kann. Normen sind das Werk des Menschen in dem Sinn, da niemand auer uns selbst fr sie verantwortlich ist weder die Natur noch Gott. Wenn wir nden, da sie nicht einwandfrei sind, so ist es unsere Aufgabe, sie so gut als nur mglich zu verbessern. Meine Behauptung, da die Normen auf bereinkunft beruhen, bedeutet also nicht, da sie willkrlich sind, oder da eine Gruppe normativer Gesetze ebenso gut ist wie eine andere. Das folgt aus der letzten Bemerkung. Wenn ich sage, da gewisse Rechtssysteme verbessert werden knnen, da manche Gesetze besser sind als andere, so meine ich, da wir die bestehenden normativen Gesetze (oder sozialen Institutionen) mit Standardnormen vergleichen knnen, die nach unserer Entscheidung der Verwirklichung wert sind. Aber sogar sie sind unser Werk, insoferne als unsere Entscheidung fr sie von uns selbst gefllt wird, und insoferne, als wir allein die Verantwortung zu tragen haben, wenn wir sie annehmen. In der Natur kommen sie nicht vor. Die Natur besteht aus Tatsachen und Regelmigkeiten und ist an sich weder sittlich noch unsittlich. Wir sind es, die der Natur unsere Mastbe aufzwingen und wir fhren auf diese Weise Sitten in die natrliche Welt ein4, obgleich wir selbst ein Teil dieser Welt sind. Wir sind Erzeugnisse der Natur; aber die Natur hat uns mit der Macht ausgestattet, die Welt zu verndern, die Zukunft vorherzusagen und zu planen und weitreichende Entscheidungen zu treen, fr die wir moralisch verantwortlich sind. Doch betreten
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Verantwortlichkeit und Entscheidungen die Welt erst mit uns. III Um diese Einstellung zu verstehen, mu man sich folgendes vor Augen halten: Entscheidungen lassen sich niemals aus Tatsachen (oder aus der Behauptung von Tatsachen) herleiten, obgleich sie sich auf Tatsachen beziehen. Zum Beispiel hngt der Entschlu, die Sklaverei zu bekmpfen, nicht von der Tatsache ab, da alle Menschen frei und gleichberechtigt geboren werden und da niemand in Ketten geboren wird. Denn selbst wenn wir alle als freie Menschen zur Welt kmen, knnten doch einige Menschen versuchen, andere in Ketten zu legen, und sie knnten dieses Vorgehen sogar fr ihre Picht halten. Umgekehrt: Auch wenn die Menschen wirklich in Ketten geboren wrden, so knnten doch viele von uns ihre Befreiung verlangen. Etwas genauer: Wenn wir glauben, da eine Tatsache abgendert werden kann (und das trifft etwa zu auf die Tatsache, da viele Menschen an Krankheiten leiden), so knnen wir ihr gegenber immer verschiedene Haltungen einnehmen: Wir knnen uns entschlieen, einen Versuch zu ihrernderung zu unternehmen; wir knnen uns entschlieen, jedem solchen Versuch Widerstand entgegenzusetzen; oder wir knnen uns entschlieen, berhaupt nichts zu tun. Alle moralischen Entscheidungen beziehen sich in der angegebenen Weise auf die eine oder die andere Tatsache, insbesondere auf Tatsachen des sozialen Lebens, und um140 Platons deskriptive Soziologie

gekehrt geben alle Tatsachen des sozialen Lebens die man ndern kann, zu vielen verschiedenen Entscheidungen Anla. Das zeigt, da sich die Entscheidungen niemals aus diesen Tatsachen oder einer Beschreibung dieser Tatsachen herleiten lassen. Aber sie knnen auch nicht aus einer anderen Klasse von Tatsachen hergeleitet werden; ich meine hier jene natrlichen Regelmigkeiten, die wir mit Hilfe der Naturgesetze beschreiben. Es ist natrlich wahr, da sich unsere Entscheidungen mit den Naturgesetzen (die Gesetze der menschlichen Physiologie und Psychologie eingeschlossen) in bereinstimmung benden mssen, wenn es jemals mglich sein soll, sie durchzufhren. Entsprechen sie derartigen Gesetzen nicht, so sind sie einfach undurchfhrbar. Zum Beispiel lt sich der Entschlu, da jedermann mehr arbeiten und weniger essen solle, aus physiologischen Grnden nur in einem bestimmten Ausma realisieren; darber hinaus widerspricht er gewissen physiologischen Naturgesetzen. hnliche Grenzen sind der Entscheidung gesetzt, da jedermann weniger arbeiten und mehr essen solle; auch hierfr gibt es verschiedene Grnde, die Naturgesetze der Wirtschaftswissenschaft eingeschlossen (spter, im Abschnitt IV dieses Kapitels werden wir sehen, da es auch in den Sozialwissenschaften Naturgesetze gibt; wir werden sie soziologische Gesetze nennen). berlegungen wie diese erlauben uns, gewisse Entscheidungen auszuschalten, weil sie Naturgesetzen (unvernderlichen Tatsachen) widersprechen. Aber das bedeutet
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natrlich nicht, da sich auch nur eine Entscheidung aus solchen unvernderlichen Tatsachen logisch herleiten lt. Die Situation ist vielmehr diese: Angesichts irgendeiner Tatsache sei diese nun nderbar oder unvernderlich, knnen wir verschiedene Entscheidungen treen; zum Beispiel die Entscheidung, sie zu verndern; sie vor denjenigen zu schtzen, die sie zu ndern wnschen; sie nicht zu stren usw. Ist die fragliche Tatsache unvernderlich entweder, weil eine nderung auf Grund der bestehenden Naturgesetze nicht mglich ist, oder weil eine Vernderung fr diejenigen, die sie herbeifhren wollen, aus anderen Grnden zu schwierig ist , dann ist jede Entscheidung, die sich ihre Vernderung zum Ziele setzt, einfach unpraktisch, uninteressant und bedeutungslos. Der kritische Dualismus betont also die Unmglichkeit einer Reduktion von Entscheidungen oder Normen auf Tatsachen; man kann ihn somit einen Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen nennen. Aber dieser Dualismus scheint verschiedenen Angrien ausgesetzt zu sein. Entscheidungen sind Tatsachen so mag man einwenden. Wenn wir uns entschlieen, eine bestimmte Norm anzunehmen, so ist dieser Entschlu selbst eine psychologische oder soziologische Tatsache, und es wre absurd zu behaupten, da zwischen ihr und anderen Tatsachen keine Gemeinsamkeit bestehe. Andererseits hngen unsere Entscheidungen ber Normen, das heit die Normen, die wir annehmen, ohne Zweifel von gewissen soziologischen Tatsachen ab, wie etwa vom Einu unserer Erziehung. Da142 Platons deskriptive Soziologie

her scheint es absurd, einen Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen zu postulieren oder zu behaupten, da sich Entscheidungen nicht aus Tatsachen herleiten lieen. Dieser Einwand lt sich durch den Hinweis beantworten, da von einer Entscheidung in zweifacher Weise die Rede sein kann: Wir knnen sagen, da eine gewisse Entscheidung unterbreitet, berlegt, erreicht oder gefllt wurde; andererseits knnen wir den Akt des Entscheidens in Erwgung ziehen und ihn eine Entscheidung nennen. Nur Entscheidungen der zweiten Art knnen als Tatsachen beschrieben werden. In hnlicher Weise sprechen wir einerseits davon, da eine gewisse Resolution einer Ratsversammlung unterbreitet wurde; andererseits wird der Akt der Annahme durch die Versammlung die Resolution dieser Versammlung genannt. Wir sprechen von einer Anregung oder von einem Vorschlag, den wir im Sinn haben, und andererseits vom Akt des Anregens oder Vorschlagens. Und dieser kann ebenfalls ein Vorschlag oder eine Anregung genannt werden. Eine analoge Zweideutigkeit ist bei deskriptiven Stzen wohlbekannt. Betrachten wir etwa den Satz: Napoleon starb auf St. Helena. Es wird zweckmig sein, wenn wir diesen Satz von der Tatsache unterscheiden, die er beschreibt. Diese, also die Tatsache, da Napoleon auf St. Helena starb, nennen wir eine primre Tatsache. Ein Historiker, Professor A., der die Biographie Napoleons verfat, kann unter Umstnden den erwhnten Satz verwenden. Er beschreibt in diesem Fall die primre Tatsache. Daneben gibt es eine sekundre Tatsache, die von der primren Tatsache vllig verschieden ist;
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nmlich die Tatsache, da er diesen Satz niedergeschrieben hat. Ein zweiter Historiker, Professor B., kann in einer Biographie des A. diese sekundre Tatsache auf folgende Weise beschreiben: Professor A. hat behauptet, da Napoleon auf St. Helena starb. Die so beschriebene sekundre Tatsache ist nun zuflligerweise selbst eine Beschreibung. Sie ist jedoch eine Beschreibung vllig anderer Art als der Satz Napoleon starb auf St. Helena. Das Verfassen einer Beschreibung oder das uern einer Behauptung ist eine soziologische oder psychologische Tatsache. Aber die verfate Beschreibung ist von der Tatsache zu unterscheiden, da sie verfat wurde. Man kann sie aus ihr nicht einmal herleiten, denn das wrde bedeuten, da wir aus A. behauptete, da Napoleon auf St. Helena starb Napoleon starb auf St. Helena mit Recht folgern knnen; und das ist klarerweise nicht der Fall. Auf dem Gebiete der Entscheidungen ist die Situation analog. Das Fllen einer Entscheidung, die Annahme einer Norm oder einer Richtlinie ist eine Tatsache. Die angenommene Norm oder Richtlinie ist jedoch keine Tatsache. Es ist eine soziologische Tatsache, da die meisten Menschen der Norm du sollst nicht stehlen zustimmen. Aber die Norm du sollst nicht stehlen ist keine Tatsache und kann nie aus Stzen hergeleitet werden, die Tatsachen beschreiben. Man sieht dies am klarsten, wenn man sich daran erinnert, da in bezug auf eine gegebene Tatsache stets verschiedene und sogar einander entgegengesetzte Entscheidungen mglich sind. So ist es zum Beispiel angesichts der soziologischen Tatsache, da die meisten Menschen die Norm du sollst
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nicht stehlen akzeptieren, dennoch mglich, sich fr ihre Annahme zu entscheiden oder umgekehrt; es ist mglich, diejenigen zu ermutigen, die die Norm akzeptiert haben; es ist aber in gleicher Weise mglich, sie zu entmutigen oder zur Annahme einer anderen Norm zu berreden. Um zusammenzufassen: Aus der Feststellung einer Tatsache lt sich niemals ein Satz herleiten, der eine Norm, eine Entscheidung oder einen Vorschlag fr ein bestimmtes Vorgehen ausspricht. Und das ist nur ein anderer Ausdruck dafr, da es unmglich ist, Normen oder Entscheidungen oder Vorschlge aus Tatsachen herzuleiten5. Die Behauptung, da Normen ein Werk der Menschen sind (Menschenwerk nicht in dem Sinn, da sie bewut aufgestellt wurden, sondern in dem Sinn, da die Menschen sie einer Beurteilung unterwerfen und sie ndern knnen das heit in dem Sinne, da wir fr sie vllig verantwortlich sind), ist oft miverstanden worden. Fast alle diese Miverstndnisse gehen auf einen fundamentalen Irrtum zurck, nmlich auf die Annahme, da Konvention Willkr bedeutet; da ein System ebenso gut ist wie jedes andere, sobald wir nur die Freiheit haben, ein beliebiges normatives System auszuwhlen. Es mu natrlich zugegeben werden, da die Ansicht, da Normen konventionell oder knstlich sind ein gewisses Element von Willkr andeutet: es kann verschiedene Systeme von Normen geben, zwischen denen nicht viel zu whlen ist. (Diesen Umstand hat Protagoras gebhrlich betont.) Aber Knstlichkeit hat keinesfalls vllige Willkr zur Folge. Zum
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Beispiel sind mathematische Kalkle, Sinfonien, Theaterstcke in hohem Grade knstlich. Aber daraus folgt nicht, da ein Kalkl oder eine Sinfonie oder ein Theaterstck ebenso gut ist wie jedes andere. Der Mensch hat neue Welten geschaen die Welt der Sprache, der Musik, der Dichtung, die Welt der Wissenschaft. Und die bedeutendste von ihnen ist die Welt der moralischen Forderungen der Forderungen nach Gleichheit, Freiheit, nach Hilfe fr die Schwachen6. Wenn ich hier das Gebiet des Sittlichen mit dem der Musik oder der Mathematik vergleiche, so folgt daraus nicht, da diese hnlichkeiten sehr weit reichen. Vor allem besteht ein groer Unterschied zwischen moralischen Entscheidungen und Entscheidungen auf dem Gebiet der Kunst. Viele moralische Entscheidungen betreen Leben und Tod anderer Menschen. Entscheidungen auf dem Gebiet der Kunst sind weitaus weniger dringend und wichtig. Es ist daher im hchsten Grade irrefhrend, zu sagen, da sich ein Mensch fr oder gegen die Sklaverei in hnlicher Weise entscheide wie fr oder gegen gewisse Werke der Musik oder Literatur oder da moralische Entscheidungen reine Geschmackssache seien. Sie sind auch nicht einfach Entscheidungen darber, wie wir die Welt verschnern sollen, oder ber hnlichen Luxus; ihre Dringlichkeit ist eine weitaus grere (vergleiche dazu Kapitel 9). Unser Vergleich sollte nur zeigen, da wir keineswegs zur Annahme der vlligen Willkrlichkeit moralischer Entscheidungen gezwungen sind, sobald wir einmal zugegeben haben, da diese Entscheidungen von uns abhngen.
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Die Ansicht, da die Normen Menschenwerk sind, wird seltsam genug von einigen Denkern mit der Behauptung angefochten, da hier ein Angri auf die Religion vorliege. Es mu natrlich zugegeben werden, da ihr bestimmte primitive Religionsformen widersprechen, so etwa die Religionen blinder Autoritt, die Magie und der Tabuismus. Zu einer Religion, die auf der Idee persnlicher Verantwortlichkeit und auf der Idee der Freiheit des Gewissens aufbaut, besteht jedoch, wie ich glaube, kein Gegensatz. Natrlich denke ich dabei vor allem an das Christentum, zumindest in der Form, in der es gewhnlich in demokratischen Lndern interpretiert wird, an ein Christentum, das im Gegensatz zu jedem Tabuismus predigt: Ihr habt gehrt, was von jenen in alter Zeit gesagt wurde ich aber sage euch , und das in jedem einzelnen Fall die Stimme des Gewissens dem blo formalen Gehorsam und der Erfllung der Gesetze entgegenhlt. Ich wrde also nicht zugeben, da jemand,der ethische Gesetze fr Menschenwerk im angegebenen Sinn hlt, mit der religisen Auassung in Konikt kommen mu, nach der sie uns von Gott gegeben sind. Historisch beginnt die Ethik zweifellos mit der Religion. Aber mit historischen Fragen habe ich im Augenblick nichts zu schaen. Ich frage nicht, wer der erste ethische Gesetzgeber gewesen ist. Ich behaupte nur, da wir ganz allein die Verantwortung fr die Annahme oder fr die Ablehnung vorgeschlagener moralischer Gesetze tragen; wir mssen zwischen den wahren und den falschen Propheten unterscheiden. NorKapitel 5: Natur und Konvention 147

men der verschiedensten Art wurden als das Werk Gottes ausgegeben. Wer die christliche Ethik der Gleichheit, der Duldung und der Gewissensfreiheit nur deshalb akzeptiert, weil sie beansprucht, auf gttlicher Autoritt zu beruhen, der baut auf schwachem Grund. Nur zu oft wurde behauptet, da die Ungleichheit gottgewollt sei, oder da wir mit den Unglubigen keine Nachsicht ben drften. Wer jedoch die christliche Ethik aus der berzeugung annimmt, da er in dieser Weise richtig gewhlt hat, und nicht, weil es so befohlen wurde, der hat die Entscheidung selbst getroen. brigens schliet die Behauptung, da die Entscheidung und Verantwortlichkeit bei uns selbst liegt, nicht aus, da Glaube, Erleuchtung durch Tradition oder groe Vorbilder uns dabei behilich sein knnen oder drfen. Noch folgt aus ihr, da die Schpfung moralischer Entscheidungen ein blo natrlicher Vorgang ist, ein Vorgang von der Art physikochemischer Prozesse. Tatschlich lehrte Protagoras, der erste kritische Dualist, da die Natur keine Normen kennt, da die Einfhrung der Normen auf den Menschen zurckgehe und als seine bedeutendste Errungenschaft betrachtet werden msse. Er behauptet also, da Institutionen und Konventionen die Menschen ber die wilden Tiere erhoben haben, wie es Burnet7 ausdrckt. Immer wieder verweist er darauf, da es der Mensch ist, der die Normen schafft, da er als das Ma aller Dinge betrachtet werden msse; dennoch bringt der Mensch seiner Ansicht nach die Normen nur mit bernatrlicher Hilfe zustande. Die Normen, so lehrt er, sind den ursprnglichen und
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natrlichen Zustnden durch den Menschen aufgeprgt dies aber mit Zeus Hilfe. Auf sein Gebot verleiht Hermes den Menschen ein Verstndnis fr Gerechtigkeit und Ehre; und er verteilt diese Gabe gleichmig an alle von ihnen. So wird in der ersten klaren Formulierung des kritischen Dualismus fr eine religise Interpretation unseres Gefhls fr Verantwortlichkeit Raum geschaen. Und das zeigt, wie wenig diese Lehre einer religisen Einstellung widerspricht. Eine hnliche Einstellung lt sich, wie ich glaube, am historischen Sokrates beobachten (vergleiche Kapitel 0). Sein Gewissen und sein religiser Glauben zwingen ihn, alle Autoritt in Frage zu stellen. Er sucht nach Normen, deren Gerechtigkeit er vertrauen kann. Die Lehre von der Autonomie der Ethik ist unabhngig vom Problem der Religion. Sie ist aber mit jeder Religion vereinbar, die das individuelle Gewissen respektiert. Und fr eine solche Religion scheint sie sogar notwendig zu sein. IV Soviel ber den Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen oder die Lehre von der Autonomie der Ethik, wie sie zuerst von Protagoras und Sokrates vertreten wurde8. Diese Lehre ist, wie ich glaube, unerllich fr ein richtiges Verstndnis unserer sozialen Umgebung. Das bedeutet natrlich nicht, da alle sozialen Gesetze, das heit alle Regelmigkeiten unseres sozialen Lebens normativ und vom Menschen geschaen sind. Im Gegenteil: Auch im sozialen Leben gibt es wichtige Naturgesetze. Fr sie
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scheint der Ausdruck soziologische Gesetze angemessen zu sein. Gerade dieser Umstand, da wir im sozialen Leben auf beide Arten von Gesetzen, auf natrliche wie auch auf normative Gesetze treen, macht die klare Unterscheidung beider so wichtig. Unter soziologischen Gesetzen oder Naturgesetzen des sozialen Lebens verstehe ich nicht so sehr die angeblichen Evolutionsgesetze, an denen Historizisten wie Platon interessiert sind, wenn auch die Formulierung derartiger Regelmigkeiten der historischen Entwicklung wenn es sie gbe sicher unter die Kategorie soziologischer Gesetze fallen wrde. Ich denke auch nicht so sehr an die Gesetze der menschlichen Natur, das heit an psychologische und soziopsychologische Regelmigkeiten des menschlichen Verhaltens. Mir schweben vielmehr Gesetze von der Art vor, wie sie in modernen konomischen Theorien, zum Beispiel in der Theorie des internationalen Handels oder in der Theorie der Konjunkturschwankungen formuliert werden. Diese und andere wichtige soziologische Gesetze sind mit dem Funktionieren sozialer Institutionen verbunden (vergleiche Kapitel 3 und 9). Sie spielen in unserem sozialen Leben eine hnliche Rolle wie etwa das Hebelgesetz im Bauwesen. Denn ebenso wie Hebel sind Institutionen notwendig, wenn wir etwas erreichen wollen, das unsere Muskelkraft bersteigt. Wie Maschinen vervielfachen auch die Institutionen unsere Macht zum Guten und zum Bsen. Wie Maschinen bentigen auch sie verstndige Beaufsichtigung durch Menschen, die ihre Funktionsweise und vor
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allem die verschiedenen Zwecke begreifen, fr die jede von ihnen gebraucht oder mibraucht werden kann: wir knnen sie nicht vllig automatisch bauen. Auch erfordert ihre Konstruktion einige Kenntnis sozialer Regelmigkeiten, die ihrer Wirkungsweise Grenzen setzen9. (Diese Einschrnkungen sind in gewisser Hinsicht dem Gesetz der Erhaltung der Energie analog; nach diesem Gesetz knnen wir keine Maschine bauen, die sich ohne Energiezufuhr in stndiger Bewegung bendet.) Grundstzlich werden jedoch Institutionen immer im Hinblick auf bestimmte Normen aufgebaut, sie werden mit einem wohlbestimmten Ziel vor Augen entworfen. Das gilt vor allem fr smtliche bewut geschaenen Institutionen; aber auch jene Institutionen, die als das unbeabsichtigte Resultat menschlicher Handlungen entstanden sind (vgl. Bd. 2, Kap. 4) und das ist bei weitem die Mehrzahl , sind das indirekte Ergebnis eines zweckhaften Vorgehens der einen oder anderen Art; und ihr Funktionieren hngt zum Groteil davon ab, da gewisse Normen beachtet werden. (Sogar mechanische Maschinen werden nicht aus Eisen allein, sondern gleichsam aus einer Vereinigung von Eisen und Normen hergestellt; das heit durch Umwandlung physischer Dinge nach gewissen normativen Regeln ihren Plnen oder Entwrfen.) Normative und soziologische Gesetze, also Naturgesetze, sind in Institutionen aufs engste miteinander verwoben. Das Funktionieren von Institutionen kann daher unmglich verstanden werden, solange man nicht zwischen beiden zu unterscheiden vermag. (Diese Bemerkungen sind eher
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als Andeutungen denn als Lsungen gewisser Probleme gedacht. Genauer: die erwhnte Analogie zwischen Institutionen und Maschinen darf nicht als der Vorschlag einer Theorie aufgefat werden, nach der in einem essentialistischen Sinn Institutionen Maschinen sind. Sie sind natrlich keine Maschinen. Und obgleich hier die These vertreten wird, da wir ntzliche und interessante Resultate erhalten, wenn wir nach dem Zweck einer Institution fragen, oder wenn wir fragen, ob sie berhaupt einem Zwecke dient, so wird doch wieder nicht behauptet, da jede Institution einen bestimmten Zweck, gewissermaen ihren wesentlichen Zweck erflle.) V In der Entwicklung vom naiven oder magischen Monismus zu einem kritischen Dualismus, der klar die Unterscheidung zwischen Normen und Naturgesetzen erkennt, gibt es zahlreiche Zwischenstadien. Darauf ist bereits verwiesen worden. Die meisten dieser Zwischenstadien entspringen dem Miverstndnis, da aus dem konventionellen oder knstlichen Charakter einer Norm ihre vllige Willkrlichkeit folge. Platons Position enthlt Elemente aus allen diesen Stadien. Um sie zu verstehen, ist es notwendig, die drei wichtigsten der erwhnten Zwischenpositionen zu besprechen. Es sind dies [] der biologische Naturalismus, [2] der ethische oder juridische Positivismus, [3] der psychologische oder spirituelle Naturalismus. Es ist interessant, da jede dieser Positionen zur Verteidigung von ethischen Gesichtspunkten verwendet
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wurde, die im radikalen Gegensatz zueinander stehen, insbesondere zur Verteidigung der Anbetung der Macht und zur Verteidigung der Rechte der Schwachen. [] Der biologische Naturalismus oder, genauer, die biologische Form des ethischen Naturalismus ist eine Theorie, die behauptet, da es trotz der Willkrlichkeit der sittlichen Gesetze und der Staatsgesetze ewige, unvernderliche Naturgesetze gebe, aus denen jene hergeleitet werden knnen. Ein biologischer Naturalist wird etwa so argumentieren: Esitten, das heit die Zahl der Mahlzeiten und die Art der eingenommenen Nahrung, sind ein Beispiel fr die Willkrlichkeit von Konventionen; dennoch gibt es auf diesem Gebiet zweifellos gewisse Naturgesetze: ein Mensch stirbt, wenn er zuwenig oder zuviel Nahrung zu sich nimmt. Es scheint also, da, hnlich wie eine Wirklichkeit hinter der Erscheinungswelt steht, so die unvernderlichen Naturgesetze, insbesondere die biologischen Gesetze, hinter unseren willkrlichen Konventionen stehen. Der biologische Naturalismus wurde nicht nur zur Verteidigung der Lehre der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, sondern auch zur Sttzung der entgegengesetzten These von der Herrschaft des Starken verwendet. Der Poet Pindar war einer der ersten, der diese Form des Naturalismus vertrat. Er verwendete sie zur Begrndung der These, da der Starke zum Herrschen berufen sei. Der Starke tut mit dem Schwachen, was ihm beliebt. Dies sei ein in der Natur allgemein gltiges Gesetz0. Gesetze, die den Schwachen beschtzen, sind daher nicht nur willkrlich,
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sondern eine knstliche Verdrehung des wahren Naturgesetzes, nach dem der Starke zur Freiheit und der Schwache als sein Sklave geboren wird. Platon diskutiert diese These ziemlich ausfhrlich. Er greift sie an im Gorgias einem Dialog, der noch von Sokrates stark beeinut ist. Im Staat wird sie in den Mund des Thrasymachos gelegt und mit dem ethischen Individualismus identiziert (vergleiche das nchste Kapitel); in den Gesetzen ist Platon dem Standpunkt Pindars schon nher gekommen; aber noch immer setzt er ihm die Herrschaft des Weisesten entgegen, die, wie er sagt, ein besseres Prinzip darstellt und die sich ebensosehr mit der Natur in bereinstimmung bendet. (Vergleiche die Zitate spter in diesem Kapitel.) Eine humanitre oder die Gleichberechtigung betonende Interpretation des biologischen Naturalismus hat zuerst der Sophist Antiphon vertreten. Auf ihn geht auch die Gleichsetzung von Natur und Wahrheit, Konvention und Meinung (oder trgerischer Meinung) zurck. Antiphon ist ein radikaler Naturalist. Seiner Ansicht nach sind die meisten Normen nicht nur willkrlich, sondern sie stehen geradezu im Gegensatz zur Natur. Die Normen, so sagt er, sind uns von auen auferlegt; die Naturgesetze hingegen sind unausweichlich. Die bertretung menschlicher Normen bringt Nachteile und ist sogar gefhrlich, sobald sie von den Htern jener Normen beobachtet wird; es ist jedoch keine innere Notwendigkeit mit ihnen verbunden, und wer sie bertritt, braucht sich nicht zu schmen. Scham und Strafe sind willkrlich von auen auferlegte Sanktionen. Auf diese
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Kritik der konventionellen Moral grndet Antiphon eine utilitaristische Ethik. Man wird nden, da viele der hier erwhnten Handlungen der Natur widersprechen. Denn sie haben mehr Leid im Gefolge, statt weniger, weniger Freude, wo es mehr geben sollte, und sie verletzen, wo es nicht notwendig ist2. Zugleich lehrte er die Notwendigkeit der Selbstbeherrschung. Seine Lehre von der Gleichberechtigung der Menschen formuliert er auf folgende Weise: Wir verehren die vornehm Geborenen, und wir beten sie an, nicht aber die niedrig Geborenen. Das sind barbarische Sitten. Denn, was unsere natrlichen Gaben betrifft, so sind wir alle und in allen Punkten gleichgestellt, ob wir nun zuflligerweise Griechen sind oder Barbaren Atmen wir doch alle die Luft durch Mund und Nase. hnliche Ansichten nden wir beim Sophisten Hippias. Nach Platon spricht er seine Zuhrer auf folgende Weise an: Mitbrger! Ich betrachte euch, die ihr hier zugegen seid, insgesamt als Verwandte, als Freunde und als Mitbrger, zwar nicht auf Grund des konventionellen Gesetzes, aber von Natur aus. Denn die Gleichheit ist von Natur aus ein Kennzeichen der Verwandtschaft; aber das herkmmliche Gesetz, der Tyrann der Menschheit, legt uns hug einen widernatrlichen Zwang auf3. Derselbe Geist war mit der athenischen Freiheitsbewegung verbunden, mit den starken freiheitlichen Tendenzen, die damals in Athen am Werke waren, wo man sich die Befreiung der Sklaven zum Ziel gesetzt hatte (dies wurde im 4. Kapitel erwhnt); diesen Geist drckt auch Euripides aus, wenn er sagt: Was Sklaven
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schndet, ist der Name nur. In allem anderen ist ein edler Knecht um nichts geringer als der freie Mann. Anderswo sagt er: Die Gleichheit ist das Naturgesetz der Menschen. Und Alkidamas, ein Schler des Gorgias und ein Zeitgenosse Platons, schrieb: Gott schuf alle Menschen frei. Niemand ist von Natur aus ein Sklave. hnlicher Ansicht ist Lykophron, ein anderes Mitglied der Schule des Gorgias: Eingebildet ist der Glanz der vornehmen Geburt, und ihre Prrogativen sind auf ein bloes Wort gegrndet. Die Theorie der biologischen und moralischen Ungleichheit der Menschen, die Platon und sein Schler Aristoteles aufstellten, ist die Reaktion auf diese groe humanitre Bewegung (die ich spter, im 0. Kapitel, als die der groen Generation beschreiben werde): Griechen und Barbaren sind von Natur aus ungleich; der Gegensatz zwischen ihnen entspricht dem Gegensatz zwischen natrlichen Herren und natrlichen Sklaven. Die natrliche Ungleichheit der Menschen ist einer der Grnde fr ihr Zusammenleben, denn ihre natrlichen Gaben ergnzen einander. Das Leben in der Gesellschaft beginnt mit der natrlichen Ungleichheit und mu auch weiterhin auf ihr beruhen. Ich werde diese Lehren spter ausfhrlicher besprechen. Hier mgen sie dazu dienen, um zu zeigen, in welcher Weise sich der biologische Naturalismus zur Untersttzung sehr verschiedener ethischer Lehren verwenden lt. Im Lichte unserer Analyse, nach der es unmglich ist, Normen auf Tatsachen zu grnden, ist dieses Ergebnis jedoch nicht weiter unerwartet.
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Aber berlegungen wie diese reichen vielleicht nicht aus, um eine Theorie, die so populr ist wie der biologische Naturalismus, aus der Welt zu schaen. Ich bringe daher zwei mehr direkte Einwnde: Es mu zugegeben werden, da manche Verhaltensweisen (z. B. unbekleidet sein, von roher Nahrung leben) in gewissem Sinn natrlicher sind als andere. Und man glaubt nun, da bereits dieser Umstand die Wahl der angegebenen Verhaltensweisen rechtfertige. Aber das Interesse an Kunst, Wissenschaft oder sogar das Interesse an den naturalistischen Argumentationen ist sicher nicht natrlich im angegebenen Sinn. Nur wenige Menschen werden gewillt sein, den letzten Konsequenzen ins Auge zu sehen, zu denen die Wahl der bereinstimmung mit der Natur als hchster Norm fhrt; denn sie fhrt nicht zu einer natrlicheren Zivilisationsform, sondern zur Roheit4. Wichtiger ist der zweite Einwand: der biologische Naturalist nimmt an, da er seine Normen aus der Beobachtung von Naturgesetzen herleiten knne, die die Bedingungen fr Gesundheit usf. angeben, wenn er nicht naiverweise glaubt, da wir keinerlei Normen anzunehmen brauchen, sondern einfach den Naturgesetzen gem leben knnen. Er bersieht, da er eine Wahl, eine Entscheidung trifft; da manche Menschen gewisse Dinge unter Umstnden mehr schtzen als ihre Gesundheit. (Man denke an die vielen Menschen, die ihr Leben bewut aufs Spiel setzten, um die medizinische Forschung zu frdern.) Er bendet sich also im Irrtum, wenn er glaubt, keine Entscheidung getroen zu haben, oder wenn er meint,
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da es ihm gelungen sei, seine Normen aus biologischen Gesetzen zu deduzieren. [2] Der ethische Positivismus teilt mit der biologischen Form des ethischen Naturalismus den Glauben, da wir versuchen mssen, die Normen auf Tatsachen zurckzufhren. Die Tatsachen sind aber in diesem Fall soziologischer Natur, es sind die tatschlich bestehenden Normen. Nach der Ansicht der Positivisten gibt es keine anderen Normen als das positive Recht, das in einem Staat in Kraft ist und dem daher positive Existenz zukommt. Andere Mastbe gelten als wirklichkeitsleere Einbildungen. Die bestehenden Gesetze sind die einzig mglichen Mastbe der Tugendhaftigkeit: Was ist, ist gut. (Macht ist Recht.) Nach gewissen Formen dieser Theorie ist es ein gewaltiges Miverstndnis, wenn man glaubt, da das Individuum zur Beurteilung der Normen der Gesellschaft imstande sei; es sei vielmehr die Gesellschaft, die den Kodex liefert, dem gem das Individuum beurteilt werden msse. Der ethische (moralische, juridische) Positivismus ist gewhnlich konservativ, sogar autoritr. Das ist eine historische Tatsache. Die Autoritt Gottes wurde oft angefhrt. Die Argumente dieser Theorie sttzen sich, wie ich glaube, auf die angebliche Willkrlichkeit der Normen: Wir mssen an die bestehenden Normen glauben, weil wir keine besseren Normen nden knnen. Hier erhebt sich nun die Frage: wie ist es um die Norm wir mssen glauben selbst bestellt? Wenn sie eine blo bestehende Norm ist, dann kann sie nicht als Argument zugunsten dieser Normen angefhrt
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werden; wenn sie aber an unsere Einsicht appelliert, so wird doch zugegeben, da wir selbst Normen aunden knnen. Wenn wir andererseits aufgefordert werden, die Normen wegen unserer angeblichen Unfhigkeit, sie zu beurteilen, auf hheren Befehl hin anzunehmen, dann knnen wir weder beurteilen, ob die Ansprche der Autoritt zu Recht bestehen, noch feststellen, ob wir nicht einem falschen Propheten gefolgt sind. Und wenn schlielich behauptet wird, da es keine falschen Propheten geben knne, da die Gesetze auf jeden Fall willkrlich seien, so da es vollauf genge, berhaupt Gesetze zu besitzen, dann bleibt noch immer die Frage, warum denn der Besitz von Gesetzen so wichtig ist; warum sollten wir uns nicht bei Abwesenheit aller weiteren Mastbe entschlieen, einfach ohne Gesetze zu leben? (Diese Bemerkungen mgen die Grnde andeuten fr meine Annahme, da autoritre oder konservative Prinzipien gewhnlich ein Ausdruck von ethischem Nihilismus sind, das heit ein Ausdruck eines extremen moralischen Skeptizismus, eines Mitrauens gegenber dem Menschen und seinen Mglichkeiten.) Die Theorie natrlicher Rechte wurde im Verlauf der Geschichte oft zur Untersttzung von gleichheitlichen und humanitren Ideen verwendet. Die positivistische Schule war jedoch gewhnlich im entgegengesetzten Lager zu nden. Das ist aber ein bloer Zufall. Denn, wie wir gezeigt haben, lt sich der ethische Naturalismus mit den verschiedensten Absichten verwenden. (In jngster Zeit diente er dazu, die ganze Frage durch die AnknKapitel 5: Natur und Konvention 159

digung gewisser, angeblich natrlicher Rechte und Pichten als Naturgesetze zu verwirren.) Andererseits gibt es auch humanitre und fortschrittliche Positivisten. Wenn alle Normen willkrlich sind warum sollten wir dann nicht tolerant sein? Das ist ein typischer Versuch, eine humanitre Einstellung auf positivistische Weise zu rechtfertigen. [3] Der psychologische oder spirituelle Naturalismus ist gewissermaen eine Kombination der beiden vorhergehenden Theorien und lt sich am besten mit Hilfe eines Arguments gegen ihre Einseitigkeit entwickeln. Dieses Argument lautet so: Der ethische Positivist ist im Recht, wenn er den konventionellen Charakter aller Normen hervorhebt, und wenn er sie als das Produkt des Menschen und der menschlichen Gesellschaft auat; er bersieht jedoch, da sie gerade deshalb die psychologische oder geistige Natur des Menschen und die Natur der menschlichen Gesellschaft ausdrcken. Der biologische Naturalist wieder ist im Recht mit der Annahme, da es gewisse natrliche Ziele und Zwecke gibt, aus denen wir natrliche Normen deduzieren knnen; er bersieht, da unsere natrlichen Ziele nicht notwendig Gesundheit, Freude, Nahrung, Unterkunft und Schutz sind. Die Menschen, oder zumindest einige Menschen, wollen nicht von Brot allein leben; sie streben nach hheren, nach geistigen Zielen. So ist die menschliche Natur beschaen. Wir knnen daher die wahren natrlichen Ziele des Menschen aus seiner eigenen, wahren Natur herleiten. Diese ist geistig und sozial. Und weiterhin lassen sich die
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natrlichen Normen des Lebens aus seinen natrlichen Zielen deduzieren. Diese plausible Position wurde, wie ich glaube, zuerst von Platon formuliert. Er stand hierbei unter dem Einu der sokratischen Seelenlehre, das heit der Lehre des Sokrates, da der Geist wichtiger ist als das Fleisch5. Diese Lehre spricht unsere Gefhle zweifellos viel strker an als die beiden vorher besprochenen. Aber sie kann, wie diese, mit jeder ethischen Entscheidung kombiniert werden, mit einer humanitren Haltung ebensogut wie mit der Anbetung der Macht. Wir knnen uns nmlich entschlieen, alle Menschen als dieser geistigen menschlichen Natur teilhaftig zu behandeln. Oder wir knnen mit Heraklit behaupten, da die vielen sich den Wanst fllen wie das Vieh, da sie niedere Naturen haben und da nur wenige Auserwhlte der geistigen Gemeinschaft der Menschen wrdig sind. Dementsprechend wurde der spirituelle Naturalismus vielfach und insbesondere von Platon zur Rechtfertigung der natrlichen Vorrechte der Vornehmen oder Auserwhlten oder Weisen oder der natrlichen Fhrer verwendet. (Platons Einstellung wird in den nchsten Kapiteln diskutiert.) Andererseits dient er in der christlichen und in anderen6 humanitren Formen der Ethik (Paine, Kant) dazu, um die Anerkennung der natrlichen Rechte jedes menschlichen Individuums zu fordern. Es ist klar: auf der Basis des spirituellen Naturalismus lt sich jede positive, das heit bestehende Norm verteidigen. Denn man kann immer sagen: Diese Normen sind nur deshalb in
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Kraft, weil sie gewisse Zge der menschlichen Natur ausdrcken. Auf diese Weise kann der spirituelle Naturalismus in praktischen Fragen mit dem Positivismus verschmelzen, und dies trotz ihrer traditionellen Opposition. In der Tat: Diese Form des Naturalismus ist so weit und so vage, da sie zur Verteidigung jeder ethischen Position dienen kann. Alles, was einem Menschen zustt, kann natrlich genannt werden; denn wie htte es ihm zustoen knnen, ohne in seiner Natur zu liegen? Wenn wir auf diese kurze bersicht zurckblicken, so knnen wir zwei Haupttendenzen unterscheiden, die der Annahme eines kritischen Dualismus entgegenstehen: Zunchst eine allgemeine Neigung zum Monismus7, eine Neigung, Normen auf Tatsachen zu reduzieren. Die zweite Tendenz liegt tiefer und bildet mglicherweise den Hintergrund der ersten: Sie beruht auf dem Widerstreben, uns einzugestehen, da wir allein die Verantwortung fr unsere ethischen Entscheidungen tragen und da niemand sonst diese Verantwortung bernehmen kann: weder Gott noch die Natur, noch die Gesellschaft, noch auch die Geschichte. Alle angefhrten ethischen Theorien suchen eine Person oder ein Argument ausndig zu machen, das uns von der Last dieser Verantwortung befreien soll8. Aber wir knnen uns nicht vor dieser Verantwortung drcken. Wir sind es, die eine Autoritt anerkennen, ganz gleich, um welche Autoritt es sich auch immer handeln mge. Und wir tuschen uns nur selbst, wenn wir diesen einfachen Umstand nicht erfassen.
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VI Wir kommen nun zu einer ausfhrlicheren Analyse des platonischen Naturalismus und seiner Beziehung zum Historizismus Platons. Platon verwendet den Ausdruck physis natrlich nicht immer in gleicher Weise. Die wichtigste Bedeutung, die er mit ihm verbindet, fllt, wie ich glaube, mit der Bedeutung zusammen, die er dem Ausdruck Wesen zuschreibt. So wird das Wort Natur auch heute noch von den Essentialisten verwendet; noch immer sprechen sie von der Natur der Mathematik, der Natur des induktiven Schlieens, der Natur des Glcks und Elends 9. In diesem Sinn bedeutet das Wort fr Platon nahezu dasselbe wie Form oder Idee. Denn wie wir oben zeigten, ist die Form oder die Idee eines Dinges auch sein Wesen. Der wichtigste Unterschied zwischen Naturen und Formen oder Ideen scheint dieser zu sein: Wie wir sahen, ist die Form oder die Idee eines wahrnehmbaren Dinges nicht in diesem Ding enthalten, sondern von ihm getrennt; sie ist sein Vorvater, sein Ersterzeuger; aber sie (der Vater) bertrgt etwas auf die wahrnehmbaren Dinge, auf ihre Nachkommen, die von ihnen erzeugte Rasse nmlich ihre Natur. Die Natur ist somit die eingeborene oder ursprngliche Qualitt eines Dinges und insoferne sein inhrentes Wesen; sie ist die ursprngliche Anlage oder Disposition eines Dinges, und sie bestimmt jene unter seinen Eigenschaften, die sowohl seine hnlichkeit mit der Form oder Idee bedingen als auch seine Zugehrigkeit zu seiner Form oder Idee.
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Natrlich ist daher, was einem Ding eingeboren oder ursprnglich zugeteilt ist. Knstlich ist hingegen, was spter vom Menschen durch ueren Zwang gendert, hinzugefgt, aufgeprgt wurde. Alle Produkte menschlicher Kunst sind, wie Platon wiederholt betont, bestenfalls Kopien der natrlichen wahrnehmbaren Dinge. Diese aber sind ihrerseits nur Abbilder der gttlichen Formen oder Ideen; somit sind die Produkte der Kunst Abbilder von Abbildern, zweifach von der Wirklichkeit entfernt, daher weniger gut, weniger wirklich, weniger wahr 20 als sogar die vernderlichen (natrlichen) Dinge. Wir sehen, da Platon mit Antiphon 2 in mindestens einem Punkt bereinstimmt, in der Annahme nmlich, da der Gegensatz zwischen Natur und Konvention oder Kunst, dem Gegensatz zwischen Wahrheit und Falschheit, zwischen Wirklichkeit und Erscheinung, zwischen primren oder ursprnglichen und sekundren oder vom Menschen geschaenen Dingen sowie dem Gegensatz zwischen den Gegenstnden rationalen Wissens und den Gegenstnden trgerischer Meinung entspricht. Er entspricht auch dem Gegensatz zwischen den Nachkommen gttlicher Kunstfertigkeit oder den Produkten gttlicher Kunst auf der einen Seite und dem, was der Mensch aus ihnen macht, das heit den Produkten menschlicher Kunst 22 auf der anderen. Wenn daher Platon den inneren Wert gewisser Dinge vor Augen zu fhren trachtet, so hebt er hervor, da sie natrlich und nicht knstlich seien. So behauptet er in den Gesetzen, da die Seele als das erste und allen materiellen Dingen Vorherge164 Platons deskriptive Soziologie

hende betrachtet werden msse; von ihr msse man daher sagen, da sie von Natur aus existiert: Fast niemand kennt die der Seele innewohnende Macht und insbesondere ihren Ursprung. Sie wissen nicht, da sie eines der ersten Dinge ist und allen Krpern vorausgeht. Mit dem Wort ,Natur wnscht man das zu beschreiben, was seiner Entstehung nach zuerst da war; wenn es sich aber herausstellt, da die Seele das erste ist und nicht etwa das Feuer oder die Luft so wird man mit vollem Recht gerade ihr den besonderen Vorzug zuerkennen, von Natur aus zu sein 23. (Platon wiederholt hier seine alte Lehre, da die Seele den Formen oder Ideen verwandter ist als der Krper; diese Lehre bildet auch die Grundlage seiner Unsterblichkeitslehre.) Aber Platon lehrt nicht nur, da die Seele das erste ist und daher von Natur aus besteht; er gebraucht den Ausdruck physis, sobald er ihn auf den Menschen anwendet, hug auch als einen Namen fr seine geistigen Fhigkeiten, Gaben oder natrlichen Talente; in diesem Sinn ist die Natur eines Menschen ziemlich dasselbe wie seine Seele; sie ist das gttliche Prinzip, durch das er an der Form oder Idee, am gttlichen Ahnherrn seiner Rasse, teilhat. Auch der Ausdruck Rasse wird hug in einem sehr hnlichen Sinn verwendet. Eine Rasse ist als die Nachkommenschaft desselben Ersterzeugers eine Einheit. Demgem mu sie durch eine gemeinsame Natur vereinigt sein. Rasse und Natur sind daher bei Platon vielfach Synonyma, zum Beispiel dann, wenn er von der Rasse der Philosophen oder von denjenigen spricht, die eine philosophische NaKapitel 5: Natur und Konvention 165

tur haben; und beide Worte sind in ihrem Gebrauch den Worten Wesen und Seele nahe verwandt. Platons Lehre von der Natur ernet einen weiteren Zugang zu seiner historizistischen Methodologie. Da es die Aufgabe der Wissenschaft zu sein scheint, die wahre Natur ihrer Gegenstnde zu untersuchen, so ist es die Aufgabe einer Sozial- oder politischen Wissenschaft, die Natur der menschlichen Gesellschaft und des Staates zu studieren. Die Natur eines Dinges ist aber nach Platon sein Ursprung. Zumindest ist sie durch seinen Ursprung bestimmt. Also wird die Methode aller Wissenschaften in der Untersuchung der Ursprnge der Dinge, das heit in der Untersuchung ihrer Grnde bestehen. Auf die Gesellschaftswissenschaften und die politischen Wissenschaften angewendet, fhrt dieses Prinzip zur Forderung, den Ursprung der Gesellschaft und des Staates zu untersuchen. Die Geschichte wird daher nicht um ihrer selbst willen studiert, sie dient vielmehr als die Methode der Sozial Wissenschaften: Das ist die historizistische Methodologie. Was ist die Natur der menschlichen Gesellschaft, des Staates? Diese Grundfrage der Soziologie mu gem der historizistischen Methodologie in die folgende Frage umgewandelt werden: Was ist der Ursprung der Gesellschaft und des Staates? Die Antwort, die Platon im Staat und in den Gesetzen 24 gibt, stimmt mit der Position des spirituellen Naturalismus berein, die wir weiter oben beschrieben haben: Der Ursprung der Gesellschaft ist eine Konvention, ein Gesellschaftsvertrag aber nicht nur das. Er ist vielmehr
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eine natrliche bereinkunft, eine bereinkunft, die auf der menschlichen Natur, genauer, auf der sozialen Natur des Menschen beruht. Diese soziale Natur des Menschen entspringt der Unvollkommenheit des menschlichen Individuums. Im Gegensatz zu Sokrates 25 lehrt Platon, da das menschliche Individuum wegen der in der menschlichen Natur gelegenen Beschrnkungen nicht selbstgengsam sein knne. Obwohl Platon behauptet, da es sehr verschiedene Grade menschlicher Vollkommenheit gibt, so stellt es sich doch heraus, da sogar die wenigen relativ vollkommenen Menschen noch immer von anderen (weniger vollkommenen) abhngen wenn auch nur deshalb, weil jene die schmutzige manuelle Arbeit fr sie verrichten 26. Sogar die seltenen und ungewhnlichen Naturen, die sich der Vollkommenheit nhern, sind solcherart von der Gesellschaft, vom Staate abhngig. Sie knnen Vollendung nur durch den Staat und im Staat erreichen. Der vollkommene Staat mu ihnen den geeigneten sozialen Standort bieten, ohne den sie notwendigerweise verderben und zugrunde gehen. Der Staat ist daher hher zu stellen als das Individuum; denn nur er ist selbstgengsam (autark), vollkommen und fhig, die notwendige Unvollkommenheit des Individuums aufzuheben. So hngen also die Gesellschaft und das Individuum voneinander ab. Sie verdanken einander ihre Existenz. Die Gesellschaft verdankt ihre Existenz der menschlichen Natur, die nicht sich selbst genug ist, sondern anderer bedarf.
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Und das Individuum verdankt seine Existenz der Gesellschaft, da es nicht selbstgengsam ist. Aber innerhalb dieses Bereichs gegenseitiger Abhngigkeit manifestiert sich die berlegenheit des Staates dem Individuum gegenber auf verschiedene Weise; zum Beispiel in der Tatsache, da der Keim des Verfalls und der Uneinigkeit eines vollkommenen Staates nicht im Staate selbst, sondern in seinen Individuen heranreift; er hat seine Wurzel in der Unvollkommenheit der menschlichen Seele, der menschlichen Natur; genauer gesprochen in der Tatsache, da die menschliche Rasse dem Niedergang ausgesetzt ist. Darauf auf den Ursprung des politischen Verfalls und auf seine Abhngigkeit vom Verfall der menschlichen Natur werde ich sogleich zurckkommen. Vorerst aber einige Bemerkungen ber charakteristische Zge der platonischen Soziologie insbesondere ber Platons Fassung der Theorie vom Gesellschaftsvertrag und ber seine Darstellung des Staates als Superindividuum, das heit seine Fassung der biologischen oder organischen Staatstheorie. Es ist nicht sicher, ob die Theorie, da Gesetze durch einen Gesellschaftsvertrag entstehen, zuerst von Protagoras oder von Lykophron (seine Theorie wird im nchsten Kapitel diskutiert werden) vorgeschlagen wurde. Die Idee ist auf jeden Fall mit dem Konventionalismus des Protagoras nahe verwandt. Platon verband mit seinem Naturalismus bewut konventionalistische Ideen und sogar eine Version der Vertragstheorie. Das ist ein Hinweis darauf, da der Konventionalismus in seiner ursprnglichen Form nicht
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die vllige Willkrlichkeit der Gesetze behauptet haben kann; Platons Bemerkungen ber Protagoras legen davon Zeugnis ab 27. Wie sehr sich Platon der konventionalistischen Elemente seiner Fassung des Naturalismus bewut war, das kann man aus einer Stelle der Gesetze ersehen. Hier gibt Platon eine Liste der verschiedenen Prinzipien an, auf die sich die politische Autoritt grnden lt; er erwhnt Pindars biologischen Naturalismus (vergleiche weiter oben), das Prinzip, da der Starke herrsche, der Schwache aber sich beherrschen lasse; er nennt es ein der Natur entsprechendes Prinzip, wie es der thebanische Poet Pindar einst aufstellte. Ihm stellt er ein anderes Prinzip gegenber und empehlt es mit dem Hinweis, da es den Konventionalismus mit dem Naturalismus vereinige: Aber da ist auch eine Forderung, und sie ist das schwerwiegendste Prinzip, der gem der Weise fhren und herrschen, der Unwissende aber ihm folgen solle; und dies, o Pindar, weisester der Dichter, ist sicher nicht im Widerspruch mit der Natur, sondern ihr gem; denn nicht uerer Zwang ist erfordert, sondern die wahrhaft natrliche Herrschaft eines Gesetzes, das auf gegenseitiger bereinkunft beruht 28. In hnlicher Weise nden wir im Staat Elemente der konventionalistischen Vertragstheorie mit naturalistischen (und utilitaristischen) Zgen kombiniert. Ein Staatswesen entsteht deshalb, so hren wir hier, weil wir nicht selbstgengsam sind; oder gibt es einen anderen Grund zur Staatengrndung? Die Menschen versammeln viele
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Helfer in einer gemeinsamen Siedlung; denn sie bentigen viele Dinge und wenn sie ihre Gter teilen, der eine gebend, der andere empfangend, erwartet da nicht jeder auf diese Weise eine Frderung seines Interesses?29 Die Einwohner versammeln sich also, auf da jeder sein eigenes Interesse frdere; das ist ein Element der Vertragstheorie. Aber dahinter steht die Tatsache, da sie nicht selbstgengsam sind, eine Tatsache der menschlichen Natur; und das ist ein naturalistisches Element. Dieses Element wird weiter entwickelt. Von Natur aus gleicht kein Mensch dem anderen in jeder Hinsicht. Jeder hat seine besondere Natur. Der eine eignet sich zu dieser, der andere zu jener Arbeit Wrde nun der einzelne Besseres zustande bringen, wenn er in vielen Berufen arbeitet oder nur in einem? Sicher wird mehr und Besseres produziert werden, und dies wird auf einfachere Weise geschehen, wenn jedermann eine seinen natrlichen Gaben entsprechende Beschftigung ausbt. So wird das konomische Prinzip der Arbeitsteilung eingefhrt (und das erinnert uns an die hnlichkeit zwischen dem Historizismus Platons und dem der materialistischen Geschichtsauassung). Aber dieses Prinzip ist hier auf ein Element des biologischen Naturalismus gegrndet, auf die natrliche Ungleichheit der Menschen. Diese Annahme kommt zuerst auf ganz unaullige und scheinbar unschuldige Weise herein. Wir werden aber im nchsten Kapitel sehen, da sie weitreichende Konsequenzen hat. Es stellt sich nmlich heraus, da die einzig wirklich bedeutsame Arbeitsteilung die zwischen Herrschern und Beherrsch170 Platons deskriptive Soziologie

ten ist. Und diese beruht angeblich auf der natrlichen Ungleichheit zwischen Herren und Sklaven, Weisen und Unwissenden. Wie wir gesehen haben, enthlt Platons Position ein Gutteil Konventionalismus und biologischen Naturalismus. Das ist weiter nicht berraschend, wenn wir bedenken, da Platon im groen und ganzen ein spiritueller Naturalist ist; und diese Position lt, wegen ihrer Vagheit, alle derartigen Kombinationen mit Leichtigkeit zu. Diese spirituelle Fassung des Naturalismus ist vielleicht am besten in den Gesetzen dargestellt: Die Menschen sagen, so schreibt Platon, da die grten und schnsten Dinge natrlich seien die geringen hingegen knstlich. So weit stimmt er zu, aber hierauf folgt ein Angri auf die Materialisten, nach denen Feuer und Wasser, Erde und Luft alle von Natur aus bestehen , und die sagen, da alle normativen Gesetze unnatrlich, knstlich und auf unwahren Vorurteilen aufgebaut sind. Dagegen zeigt er zuerst, da weder die Krper noch die Elemente, sondern allein die Seele wahrhaft von Natur aus besteht 30. (Ich habe diese Stelle weiter oben angefhrt.) Daraus wird dann geschlossen, da Ordnung und Gesetz gleichfalls von Natur aus bestehen mssen, da sie der Seele entspringen: Wenn die Seele ursprnglicher ist als der Krper, dann sind auch die Dinge, die von der Seele abhngen (die spirituellen Dinge), ursprnglicher als die vom Krper abhngigen Dinge und die Seele ordnet und lenkt alle Dinge. Dies ist der theoretische Hintergrund fr die Lehre, da Gesetze und zweckvolle Institutionen
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von Natur aus bestehen und nicht durch etwas, das niedriger steht als die Natur, da sie der Vernunft und wahrem Denken entspringen. Das ist eine klare Stellungnahme im Sinne des spirituellen Naturalismus; und sie ist mit positivistischen Ansichten konservativer Art verbunden: Eine gedankenvolle und kluge Gesetzgebung wird eine hchst mchtige Hilfe nden, da die Gesetze unverndert bleiben, sobald sie einmal schriftlich niedergelegt wurden. Aus all dem ist folgendes zu ersehen: Kein Argument, das sich aus Platons spirituellem Naturalismus herleiten liee, ist imstande, irgendeine Frage ber den gerechten oder natrlichen Charakter irgendeines besonderen Gesetzes zu beantworten. Fr die Anwendung auf praktische Probleme ist diese Lehre viel zu vage. Auer einigen allgemeinen Argumenten zugunsten des Konservativismus hat sie nicht viel zu bieten. In der Praxis ist alles der Weisheit des groen Gesetzgebers berlassen (ein gotthnlicher Philosoph ist er, und sein Bild insbesondere in den Gesetzen ist zweifellos ein Selbstportrt; vergleiche Kapitel 8). Im Gegensatz dazu hat jedoch Platons Lehre von der gegenseitigen Abhngigkeit von Staat und Individuum mehr greifbare Resultate, und dasselbe gilt von seinem der Gleichheit feindlichen biologischen Naturalismus. VII Wie oben angedeutet wurde, hlt Platon den idealen Staat wegen seiner Selbstgengsamkeit fr das vollkommene Individuum; der individuelle Brger ist dementsprechend
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das unvollkommene Abbild des Staates. Der Staat ist eine Art Superorganismus, ein Leviathan. Damit wird die sogenannte organische oder biologische Theorie des Staates ins Abendland eingefhrt. Das Grundstzliche dieser Theorie wird spter kritisiert werden 3. Hier mchte ich zunchst auf folgendes aufmerksam machen: Platon verteidigt diese Theorie nicht, und wir nden sie bei ihm kaum explizit formuliert; sie ist jedoch deutlich genug impliziert. Tatschlich bildet die fundamentale Analogie zwischen dem Staat und dem menschlichen Individuum eines der Hauptthemen des Staates. Es ist in diesem Zusammenhang wohl der Erwhnung wert, da die Analogie mehr der Frderung der Analyse des Individuums als der Analyse des Staates dient. Es lt sich die Ansicht vertreten, da Platon (mglicherweise unter dem Einu Alkmaions) nicht so sehr eine biologische Theorie des Staates als eine politische Theorie des menschlichen Individuums gibt 32. Diese Ansicht bendet sich, wie ich denke, in vollkommener bereinstimmung mit seiner Lehre, da das Individuum niedriger steht als der Staat, da es eine schlechte Kopie des Staates ist. Gerade dort, wo Platon seine grundlegende Analogie einfhrt, gebraucht er sie als eine Methode zur Erklrung und Klrung des Individuums. Der Staat, so heit es, ist grer als das Individuum und daher einfacher zu untersuchen. Dies gilt als Grund fr den Vorschlag, die Untersuchung (nmlich der Natur der Gerechtigkeit) im Staat zu beginnen und nachher im Individuum fortzusetzen, stndig nach hnlichkeiten Ausschau haltend
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Knnen wir nicht erwarten, da wir so leichter nden werden, was wir suchen? Platon hlt das Bestehen seiner fundamentalen Analogie fr erwiesen. (Man kann dies aus der Weise ersehen, in der er sie einfhrt.) Dies ist, wie mir scheint, ein Ausdruck seines Verlangens nach einem einheitlichen, harmonischen, einem organischen Staat, nach einer primitiveren Gesellschaftsform (vergleiche Kapitel 0). Der Stadtstaat soll klein bleiben, so sagt er und er soll nur so lange wachsen, als sein Wachstum seine Einheit nicht gefhrdet. Der ganze Staat soll seiner Natur nach eins sein und nicht vieles 33. Platon hebt also die Einheit, die einheitliche Geschlossenheit, die Individualitt seines Staates hervor. Aber er betont auch die Vielheit des menschlichen Individuums. Seiner Analyse zufolge ist die menschliche Seele in drei Teile Vernunft, Energie und Begierde (tierische Instinkte) geteilt. Diese drei Teile entsprechen den drei Klassen seines Staates, den Wchtern, den Kriegern und den Arbeitern (die sich, wie Heraklit sagte, noch immer den Wanst fllen wie das Vieh). Er geht so weit, da er diese Teile einander wie verschiedene und in Streit bendliche Personen 34 gegenberstellt. Wir hren also, schreibt Grote, da der Mensch, obgleich scheinbar eins, tatschlich vieles ist Obgleich das vollkommene Staatswesen scheinbar vieles ist, ist es in Wirklichkeit eins. Dies entspricht natrlich dem idealen Charakter des Staates, dessen unvollkommenes Abbild der Mensch ist. Ein solches Hervorheben der Einheit und Ganzheit,
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insbesondere der Einheit und Ganzheit des Staates, vielleicht aber auch der Welt, kann man eine Ganzheitslehre oder einen Holismus nennen. Platons Holismus ist, wie ich glaube, eng mit dem Stammeskollektivismus verwandt, auf den ich in frheren Kapiteln verwiesen habe. Platon sehnt sich nach der verlorenen Einheit des Stammeslebens. Ein Leben voll von Vernderung, inmitten einer sozialen Revolution erscheint ihm unwirklich. Nur ein stabiles Ganzes, das ewig andauernde Kollektiv, hat Wirklichkeit, nicht aber die vergehenden Individuen. Es ist natrlich fr das Individuum, dem Ganzen zu dienen. Dieses Ganze aber ist nicht nur eine Versammlung von Individuen, sondern eine natrliche Einheit hherer Ordnung. Platon gibt eine hervorragende soziologische Beschreibung dieser natrlichen, das heit kollektivistischen Lebensweise eines primitiven Stammes. Das Gesetz, so schreibt er im Staat, hat die Aufgabe, die Wohlfahrt des ganzen Gemeinwesens herbeizufhren; teils durch berredung, teils durch Zwang sucht es um die Brger das Band der Einigkeit zu schlingen. Es lt sie der Wohltaten teilhaftig werden, mit denen jeder von ihnen der Gemeinschaft zu ntzen vermag. Und in der Tat ist es das Gesetz, das fr den Staat Menschen von der richtigen Einstellung schafft; nicht, um einen jeden nach Belieben handeln oder wandeln zu lassen; nein, es bentzt sie alle als Bindeglieder des Gemeinwesens 35. Ein emotionaler sthetizismus, ein Verlangen nach Schnheit ist in dieser Ganzheitslehre enthalten. Man kann dies zum Beispiel aus einer BemerKapitel 5: Natur und Konvention 175

kung in den Gesetzen ersehen: Jeder Knstler stellt den Teil nur des Ganzen wegen her, nicht das Ganze des Teiles wegen. An derselben Stelle nden wir auch eine wahrhaft klassische Formulierung des moralischen Holismus: Du bist um des Ganzen willen geboren, nicht das Ganze um deinetwillen. Innerhalb dieses Ganzen mssen die verschiedenen Individuen und Gruppen von Individuen mit ihrer natrlichen Ungleichheit ihre besonderen und sehr ungleichen Dienste leisten. All dies wrde nahelegen, da Platons Theorie eine Form der Organtheorie des Staates gewesen ist, auch dann, wenn er nicht manchmal vom Staate als von einem Organismus gesprochen htte. Aber da er dies tat, so besteht kein Zweifel, da er als ein Exponent oder vielmehr als einer der Urheber dieser Theorie zu bezeichnen ist. Da er nicht in allgemeiner Weise die hnlichkeit des Staates mit dem einen oder dem anderen Organismus beschreibt, sondern annimmt, da er mit menschlichen Individuen, genauer, mit der menschlichen Seele verglichen werden knne, so knnen wir seine Fassung der Theorie eine personalistische oder psychologische nennen. Insbesondere entspricht das Leiden des Staates, die Ausung seiner Einheit, dem Leiden der menschlichen Seele, der menschlichen Natur. Es ist mit der Verworfenheit der menschlichen Natur, vor allem der Natur der Mitglieder der regierenden Klasse nicht nur lose verbunden, sondern direkt durch sie hervorgebracht. Jeder einzelne typische Zustand, der im Verlauf der Entartung des Staates eintritt, wird durch ein entsprechendes Stadium der
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Entartung der menschlichen Seele, der menschlichen Natur, der menschlichen Rasse verursacht. Und da angenommen wird, da dieser moralische Verfall aus dem Verfall der Rasse hervorgeht, so stellt sich heraus, da das biologische Element in Platons Naturalismus bei der Begrndung seines Historizismus die wichtigste Rolle spielt. Denn die Geschichte des Untergangs des ersten oder vollkommenen Staates ist nichts anderes als die Geschichte der biologischen Degeneration der Menschenrasse. VIII Die Frage, wie und warum die erste Vernderung eintrat, und wie es zum Verfall kam, bildet eine der Hauptschwierigkeiten in Platons historizistischer Gesellschaftslehre. Darauf haben wir im letzten Kapitel verwiesen. Der erste, der natrliche und vollkommene Stadtstaat, kann den Keim der Ausung nicht in sich tragen, denn ein Staat, der den Keim der Ausung in sich trgt, ist aus gerade diesem Grunde unvollkommen 36. Platon versucht diese Schwierigkeit zu berwinden, indem er die Schuld nicht der Verfassung des ersten oder vollkommenen Staates, sondern seinem eigenen allgemein gltigen historischen, biologischen oder vielleicht sogar kosmologischen Verfallsgesetz in die Schuhe schiebt 37: Alles Geschaene mu verfallen. Aber diese allgemeine Theorie bietet keine wirklich befriedigende Lsung. Denn sie erklrt nicht, warum nicht einmal ein hinreichend vollkommener Staat dem Verfallsgesetz zu entkommen vermag. Und Platon deutet in der Tat an, da
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der historische Verfall htte vermieden werden knnen 38, wenn die Herrscher des ersten oder natrlichen Staates geschulte Philosophen gewesen wren. Das war jedoch nicht der Fall. Sie waren nicht (wie er es von den Regenten seines himmlischen Staates verlangt) in der Mathematik und der Dialektik bewandert; und um die Entartung zu vermeiden, htten sie der Einfhrung in die hheren Mysterien der Eugenik bedurft, jener Wissenschaft, die die Reinhaltung der Rasse der Wchter lehrt und die Anweisungen darber enthlt, wie eine Vermischung des vornehmen Metalls in ihren Adern mit dem gemeinen Metall der Arbeiter vermieden werden kann. Aber diese hheren Mysterien sind schwer zu enthllen. Platon unterscheidet im Gebiet der Mathematik, Akustik und Astronomie scharf zwischen bloer (trgerischer) Meinung, die durch Erfahrung verdorben ist, keine Genauigkeit erreichen kann, die sich, alles in allem, auf niederer Stufe bendet, auf der einen Seite und reinem rationalem Wissen, das exakt und frei von sinnlicher Erfahrung ist, auf der anderen. Diese Unterscheidung wendet er auch auf das Gebiet der Eugenik an. Eine blo empirische Zuchtlehre kann nicht genau sein. Sie kann daher die Rasse nicht vllig rein erhalten. Dies erklrt den Niedergang des Urstaates, der so gut, das heit seiner Form oder Idee so hnlich ist, da ein so gebauter Staat sich kaum erschttern lt. Dies jedoch, so setzt Platon fort, ist die Weise, in der er zugrunde geht, und er macht sich daran, seine Lehre von der Zchtung darzulegen, von seiner magischen Zahl und vom Niedergang des Menschen.
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Alle Panzen und Tiere, so teilt er uns mit, mssen unter Beachtung bestimmter Zeitperioden gezchtet werden, wenn Unfruchtbarkeit und Entartung vermieden werden sollen. Die Herrscher des besten Staates verfgen ber eine genaue Kenntnis dieser Perioden, die mit der Lnge des Lebens der Rasse zusammenhngen, und sie verwenden diese Kenntnis bei der Zucht der Herrenrasse. Diese Kenntnis ist jedoch nicht rational, sondern blo empirisch; sie ist durch Wahrnehmung untersttzte (auf Wahrnehmung gegrndete) Berechnung. (Vergleiche das nchste Zitat.) Wir haben aber eben gesehen, da Wahrnehmung und Erfahrung nie genau und verllich sein knnen. Denn ihre Gegenstnde sind nicht die reinen Formen oder Ideen, sondern die vernderlichen Dinge; und da den Wchtern kein besseres Wissen zur Verfgung steht, kann die Zucht nicht rein gehalten werden, und die Entartung setzt ein. Platon erklrt die Situation auf folgende Weise: Jene Mnner, die ihr zu Lenkern eures Staates herangezogen habt, mgen im Bezug auf eure Rasse (d. h. im Bezug auf die Rasse der Menschen im Gegensatz zur Rasse der Tiere) ein gengendes Ausma an Weisheit besitzen. Da sie aber Berechnungen verwenden, die auf Wahrnehmung gegrndet sind, so wird es ihnen gelegentlich nicht gelingen, einen guten oder berhaupt keinen Nachkommen zu erhalten. In Ermangelung einer rein rationalen Methode 39 werden sie Fehler begehen und eines Tages Kinder auf falsche Art zeugen. In der darauolgenden Stelle deutet Platon ziemlich dunkel an, da dies nunmehr durch
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die Entdeckung einer rein rationalen und mathematischen Wissenschaft vermieden werden knne; diese besitzt in der platonischen Zahl (eine Zahl, die das wahre Zeitma der menschlichen Rasse bestimmt) den Schlssel zum Grundgesetz der hheren Eugenik. Da aber die Wchter in alten Zeiten den Pythagoreischen Zahlenmystizismus und damit den Schlssel zur hheren Zuchtlehre nicht kannten, so mute der sonst vollkommene natrliche Staat verfallen. Platon enthllt teilweise die Geheimnisse seiner mysterisen Zahl, und er setzt fort: diese Zahl ist Herrin ber bessere oder schlechtere Geburten; und immer, wenn die Wchter dieser Dinge (wie ihr wit) unkundig, Braut und Brautgemahl auf eine falsche Weise vereinigen40, so werden die Kinder weder gute Naturen besitzen noch glcklich sein. Auch die besten unter ihnen werden sich als unwrdig erweisen, sobald sie ihren Vtern in der Ausbung der Macht nachgefolgt sind; und wenn sie einmal Wchter sind, dann werden sie auf uns nicht mehr hren nmlich in Dingen musikalischer und gymnastischer Erziehung und, wie Platon besonders hervorhebt, im berwachen der Zucht. Und es werden daher Herrscher ernannt werden, die fr ihre Aufgabe als Wchter gnzlich ungeeignet sind, fr die Aufgabe nmlich, das Metall in den Rassen (die Hesiods Rassen sind ebensogut wie die euren) zu berwachen und zu berprfen das Gold, das Silber, das Erz und das Eisen. So wird sich Eisen mit Silber und Erz mit Gold vermengen, und Vernderung, absurde Gesetzlosigkeit wird aus dieser Mischung entspringen. Sobald aber diese geboren
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sind, erzeugen sie Streit und Feindschaft. Solcherart ist also die Herkunft und die Geburt der Zwietracht zu schildern, wo immer sie entsteht. Das ist Platons Mythos von der Zahl und vom Niedergang des Menschen. Er ist die Grundlage seiner historizistischen Soziologie, insbesondere aber seines fundamentalen Gesetzes sozialer Revolutionen, das wir im letzten Kapitel diskutierten 4. Denn die Entartung der Rassen erklrt den Ursprung der Zwietracht innerhalb der herrschenden Klasse und damit den Ursprung der historischen Entwicklung. Der innere Zwiespalt der menschlichen Natur, das Schisma der Seele, fhrt zum Schisma der herrschenden Klasse. Wie bei Heraklit ist der Krieg, der Klassenkampf der Vater und die Triebkraft der Vernderung und der Geschichte des Menschen. Diese aber ist nichts anderes als die Geschichte des Zusammenbruchs der Gesellschaft. Platons idealistischer Historizismus ruht also, wie wir sehen, letztlich nicht auf einer geistigen, sondern auf einer biologischen Basis; er beruht auf einer Art Metabiologie 42 der Rasse der Menschen. Platon war nicht nur ein Naturalist mit einer biologischen Staatstheorie. Er war auch der erste Vertreter einer biologischen Rassentheorie der Sozialdynamik und der politischen Geschichte. Die Platonische Zahl, so sagt Adam 43, ist somit die Fassung, in die Platons ,Philosophie der Geschichte gefgt ist. Es scheint mir angemessen, diesen Abri von Platons deskriptiver Soziologie mit einer Zusammenfassung und einer Bewertung zu beenden:
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Platon gelang in der Tat eine erstaunlich wahre, wenn auch natrlich etwas idealisierte Rekonstruktion einer frhgriechischen kollektivistischen Stammesgesellschaft, die der Gesellschaftsform Spartas hnlich war. Eine Analyse der Krfte (insbesondere der konomischen Krfte), die die Stabilitt einer solchen Gesellschaft bedrohen, gab ihm die Mglichkeit, das allgemeine Verfahren sowie die sozialen Institutionen zu beschreiben, die zu ihrer Bewahrung notwendig sind. Auerdem rekonstruierte er die wirtschaftliche und die historische Entwicklung der griechischen Stadtstaaten. Diese Leistung ist beeintrchtigt durch seinen Ha gegen die Gesellschaft, in der er lebte, und durch seine romantische Liebe fr die alte Stammesform des Soziallebens. Diese Haltung fhrte ihn zur Aufstellung eines unhaltbaren Gesetzes der historischen Entwicklung, nmlich des Gesetzes vom allgemeinen Niedergang und Verfall. Die gleiche Haltung ist fr die irrationalen, phantastischen, romantischen Elemente seiner sonst glnzenden Analyse verantwortlich. Andererseits schrften sein persnliches Interesse und seine Parteilichkeit seinen Blick und machten so seine Leistung erst mglich. Er leitete seine historizistische Theorie aus der phantastischen philosophischen Lehre her, da die sich wandelnde sichtbare Welt nur eine im Zerfall begriene Kopie einer unvernderlichen, unsichtbaren Welt darstellt. Aber der geniale Versuch, einen historizistischen Pessimismus mit einem ontologischen Optimismus zu verbinden, fhrt zu Schwierigkeiten, sobald man ihn weiter
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ausdenkt. Diese Schwierigkeiten zwangen ihn zur Annahme eines biologischen Naturalismus. Und dieser fhrte ihn (zusammen mit dem Psychologismus 44, das heit der Theorie, da die Gesellschaft von der menschlichen Natur ihrer Mitglieder abhngt) weiter zu Mystizismus und Aberglauben und gipfelte in einer pseudorationalen mathematischen Lehre von der Zchtung der Rassen. Beide Lehren gefhrdeten sogar die eindrucksvolle Einheit seines theoretischen Gebudes. IX Im Rckblick auf dieses Gebude berlegen wir kurz seinen Grundplan 45. Dieser Grundplan, von einem groen Baumeister erschaut, zeigt einen fundamentalen metaphysischen Dualismus in Platons Denken. Auf dem Gebiet der Logik erscheint dieser Dualismus als der Gegensatz zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Im Gebiet mathematischer Spekulation zeigt er sich als der Gegensatz zwischen dem einen und den vielen. Auf dem Gebiet der Erkenntnislehre als der Gegensatz zwischen dem rationalen Wissen, das auf reines Denken gegrndet ist, und der auf speziellen Erfahrungen beruhenden Meinung. Auf dem Gebiet der Ontologie als der Gegensatz zwischen der einen, ursprnglichen, unvernderlichen und wahren Wirklichkeit und den vielen, wechselnden und trgerischen Erscheinungen; zwischen dem reinen Sein und dem Werden oder genauer der Vernderung. Auf dem Gebiet der Kosmologie zeigt er sich als der Gegensatz zwischen
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dem Zeugenden und dem Gezeugten, das dem Untergang geweiht ist; in der Ethik als der Gegensatz zwischen dem Guten, das heit zwischen dem, das Bestand hat, und dem Bsen, das heit dem, das vergeht. In der Politik schlielich tritt Platons Dualismus als der Gegensatz zwischen dem einen Kollektiv, dem Staate, das Vollkommenheit und Unabhngigkeit erreichen kann, und der groen Masse des Volkes, den vielen Individuen, den Einzelmenschen zutage, die unvollkommen und unabhngig bleiben mssen und deren Besonderheit um der Einheit des Staates willen zu unterdrcken ist. (Vergleiche das nchste Kapitel.) Und diese ganze dualistische Philosophie entsprang, wie ich glaube, dem drngenden Wunsch, den Kontrast zwischen der Vision einer idealen Gesellschaftsordnung und dem hassenswerten tatschlichen Zustand auf sozialem Gebiet zu erklren den Kontrast zwischen einer stabilen Gesellschaft und einer Gesellschaft im Zustande der Revolution.

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Platons deskriptive Soziologie

Platons Politisches Programm


Sechstes Kapitel: DIE TOTALITRE GERECHTIGKEIT Die Analyse von Platons Soziologie erleichtert die Erluterung seines politischen Programms. Seine grundlegenden Forderungen lassen sich in zwei Formeln ausdrcken; die erste entspricht seiner idealistischen Theorie von Ruhe und Vernderung, die zweite seinem Naturalismus. Die idealistische Formel lautet: Bringt jegliche politische Vernderung zum Stillstand! Vernderung, Bewegung ist bel, Ruhe gttlich ; es ist mglich, der Vernderung Einhalt zu gebieten, wenn der Staat als eine genaue Kopie seines Urbildes, der Form oder Idee des Staates, aufgebaut wird. Auf die Frage, wie sich dies durchfhren lt, antwortet die naturalistische Formel: Zurck zur Natur! Zurck zum ursprnglichen Staat unserer Vorvter, zurck zu dem primitiven Staat, der in bereinstimmung mit der menschlichen Natur gegrndet wurde und der daher bestndig ist; zurck zum Stammespatriarchat der Zeit vor dem Niedergang, zur natrlichen Klassenherrschaft der weisen wenigen ber die unwissenden vielen. Ich glaube, da sich praktisch alle Elemente des politischen Programms Platons aus diesen Forderungen herleiten lassen. Sie beruhen ihrerseits auf seinem Historizismus; und sie mssen zusammen mit seinen soziologischen Lehren
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von den Voraussetzungen einer gefestigten Klassenherrschaft betrachtet werden. Die Grundelemente, an die ich hier denke, sind: [A] Die strenge Klassenteilung; das heit die herrschende Klasse, bestehend aus Hirten und Wachhunden, mu streng vom menschlichen Herdenvieh geschieden werden. [B] Die Identikation des Schicksals des Staates mit dem Schicksal der herrschenden Klasse; das ausschlieliche Interesse an dieser Klasse und an ihrer Einheit; und, im Dienste dieser Einheit, die starren Regeln zur Zchtung und Erziehung dieser Klasse sowie die strenge berwachung ihrer Mitglieder und die Kollektivisierung aller ihrer Interessen. Aus diesen Grundelementen lassen sich andere Elemente herleiten, zum Beispiel die folgenden: [C] Die herrschende Klasse hat ein Alleinrecht auf Dinge wie kriegerische Tugenden und militrische Ausbildung; sie allein darf Waen tragen und sie allein hat Anspruch auf Erziehung jeglicher Art; sie ist aber von der Teilnahme an wirtschaftlicher Ttigkeit, insbesondere vom Geldverdienen, zur Gnze ausgeschlossen. [D] Eine Zensur mu die gesamte intellektuelle Ttigkeit der herrschenden Klasse kontrollieren, whrend eine unausgesetzte Propaganda ihre Gedanken zu prgen und gleichzuschalten hat. Neuerungen in Erziehung, Gesetzgebung und Religion sind zu verhindern oder zu unterdrkken.
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[E] Der Staat mu sich selbst versorgen knnen. Er mu nach konomischer Autarkie streben; sonst wren nmlich seine Herrscher entweder von den Hndlern abhngig, oder sie wrden selbst zu Hndlern werden. Das eine wrde ihre Macht, das andere ihre Einheit und das innere Gleichgewicht des Staates untergraben. Nicht zu Unrecht, glaube ich, kann man ein solches Programm totalitr nennen. Und es beruht sicher auf einer historizistischen Soziologie. Aber ist das auch alles? Gibt es nicht andere Zge in Platons Programm, Elemente, die weder totalitr sind noch auf dem Historizismus beruhen? Wie steht es mit Platons brennender Sehnsucht nach dem Guten und Schnen oder mit seiner Liebe fr Weisheit und Wahrheit? Welche Bewandtnis hat es mit seiner Forderung, da die Weisen, die Philosophen herrschen sollten? Was sollen wir davon halten, da er hoffte, die Brger seines Staates tugendhaft und glcklich zugleich zu machen? Und was von seiner Forderung, da der Staat auf Gerechtigkeit gegrndet werden sollte? Selbst Autoren, die Platon kritisch gegenberstehen, glauben, da sich seine politischen Lehren trotz gewisser hnlichkeiten von den modernen totalitten Lehren deutlich unterscheiden und zwar durch jene Ziele Platons: die Wohlfahrt der Brger und die Herrschaft der Gerechtigkeit. Crossman zum Beispiel, dessen kritische Einstellung man aus der Bemerkung ermessen kann, da Platons Philosophie den wildesten und grndlichsten Angri auf liberale Ideen darstellt, den die Geschichte
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kennt 2, scheint dennoch zu glauben, da Platon die Errichtung eines vollkommenen Staates plant, in dem jeder Brger wirklich glcklich ist. Ein anderes Beispiel ist Joad. Er diskutiert ziemlich ausfhrlich die hnlichkeit zwischen dem Programm Platons und dem des Faschismus, behauptet aber, da es fundamentale Unterschiede gbe, da der gewhnliche Menschin Platons bestem Staat ein solches Ausma an Glckseligkeit erlangt, als seiner Natur entspricht, und da dieser Staat auf den Ideen eines absolut Guten und einer absoluten Gerechtigkeit errichtet sei. Trotz solcher Argumente glaube ich, da Platons politisches Programm, weit davon entfernt, dem totalitrer Systeme moralisch berlegen zu sein, im Grunde mit ihm identisch ist. Einwnde gegen diese Ansicht beruhen, wie mir scheint, auf einem alten und tief verwurzelten Vorurteil zugunsten der Idealisierung Platons. Crossman hat viel dazu beigetragen, diese Neigung aufzudecken und zu zerstren. Man kann das aus einem Satz ersehen wie diesem: Vor dem Weltkrieg wurde Platon kaum je geradeheraus als ein Reaktionr verurteilt, der sich entschlossen jedem Grundsatz des liberalen Glaubensbekenntnisses entgegenstellte. Statt dessen erhob man ihn in einen hheren Rang entfernt vom praktischen Leben, von einem transzendenten Gottesstaat trumend stellte man ihn dar 3. Aber Crossman selbst ist von der Tendenz nicht frei, die er so klar aufdeckt. Es ist interessant, da diese Tendenz so lange fortbestehen konnte, und dies trotz der Tatsache, da Grote und Gomperz auf den reaktionren Charakter einiger
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Lehren des Staates und der Gesetze verwiesen hatten. Aber nicht einmal diese Denker sahen alle Folgen der erwhnten Lehren; sie zweifelten niemals daran, da Platon im Grunde ein Vertreter humanitrer Prinzipien war. Und ihre Kritik wurde entweder ignoriert oder als Mangel an Verstndnis und Wertschtzung fr Platon ausgelegt, den die Christen fr einen Christen vor Christus und Revolutionre fr einen Revolutionr hielten. Dieses vllige Vertrauen zu Platon ist zweifellos noch immer vorherrschend. Zum Beispiel ndet es Field notwendig, seine Leser darauf aufmerksam zu machen, da wir Platon vllig miverstehen, wenn wir ihn fr einen revolutionren Denker halten. Das ist natrlich sehr wahr; und diese Warnung htte klarerweise keinen Sinn, wre nicht die Tendenz ziemlich weit verbreitet, Platon zu einem revolutionren Denker oder zumindest zu einem Fortschrittler zu stempeln. Aber Field selbst teilt diese Ansicht, wenn er fortfhrt, Platon habe sich in scharfem Gegensatz zu den neuen und umstrzlerischen Tendenzen seiner Zeit befunden. Hier akzeptiert er Platons Zeugnis vom subversiven Charakter dieser neuen Tendenzen sicher zu bereitwillig. Die Feinde der Freiheit haben ihre Verteidiger stets umstrzlerischer Absichten bezichtigt. Und fast immer glckte es ihnen, die Arglosen und Wohlmeinenden zu berreden. Die Idealisierung des groen Idealisten durchdringt nicht nur die Interpretationen der Schriften Platons, sondern auch die bersetzungen. Drastische Bemerkungen von Seiten Platons, die nicht zu dem passen, was ein Vertreter
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humanitrer Prinzipien nach Ansicht des bersetzers sagen sollte, werden hug entweder abgeschwcht oder nicht verstanden. Im englischen Schrifttum beginnt diese Tendenz bereits mit der bersetzung des Titels von Platons sogenannter Republic. Wenn wir diesen Titel hren, dann denken wir zuallererst, der Autor msse ein Liberaler, wenn nicht ein Revolutionr gewesen sein. Aber der Titel Republic ist ganz einfach die englische Form der lateinischen bersetzung eines griechischen Wortes, das keinerlei Assoziationen dieser Art mit sich fhrte und dessen genaue bersetzung die Verfassung oder der Stadtstaat oder der Staat lauten wrde. Die traditionelle englische bersetzung Republic hat zweifellos zur allgemeinen berzeugung beigetragen, Platon knne kein Reaktionr gewesen sein. Angesichts all der Ausfhrungen ber das Gute, ber die Gerechtigkeit und ber die anderen hier erwhnten Ideen, die sich bei Platon nden, bedarf meine These der Verteidigung, da seine politischen Forderungen rein totalitr und antihumanitr sind. Zu diesem Zweck unterbreche ich die Analyse des Historizismus fr die nchsten vier Kapitel und wende mich einer kritischen Untersuchung der erwhnten ethischen Ideen und ihrer Rolle innerhalb der politischen Forderungen Platons zu. Im vorliegenden Kapitel werde ich die Idee der Gerechtigkeit untersuchen; in den drei darauolgenden Kapiteln die Lehre, da die Weisesten und Besten herrschen sollten sowie die Ideen der Wahrheit, der Weisheit, des Guten und des Schnen.
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I Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Gerechtigkeit sprechen? Ich glaube nicht, da verbale Fragen dieser Art besonders wichtig sind oder da es mglich ist, sie in wohlbestimmter Weise zu beantworten; denn Ausdrcke wie der erwhnte werden immer in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Es scheint mir jedoch, da den meisten von uns, insbesondere aber denjenigen, deren allgemeine Einstellung eine humanitre ist, beim Hren des Wortes Gerechtigkeit etwa das folgende vorschwebt: [a] Gleiche Verteilung der Lasten der Staatsbrgerschaft, das heit der im sozialen Leben notwendigen Einschrnkungen der Freiheit 4; [b] gleiche Behandlung der Brger vor dem Gesetz, vorausgesetzt natrlich, da [c] die Gesetze selbst einzelne Brger oder Gruppen oder Klassen weder begnstigen noch benachteiligen; [d] Unparteilichkeit der Gerichtshfe; und [e] gleicher Anteil an den Vorteilen (und nicht nur an den Lasten), die die Mitgliedschaft im Staate dem Brger zu bieten vermag. Htte Platon mit dem Wort Gerechtigkeit irgend etwas von dieser Art gemeint, dann wre meine Behauptung, da sein Programm rein totalitr ist, sicher falsch, und es wre all den Autoren recht zu geben, die annehmen, da Platons Politik auf einer annehmbaren humanitren Basis beruht. Es ist jedoch eine Tatsache, da Platon unter Gerechtigkeit etwas ganz anderes verstanden hat. Was verstand Platon unter Gerechtigkeit? Ich behaupte, da er im Staat den Ausdruck gerecht als Synonym
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fr das, was im Interesse des besten Staates gelegen ist, verwendet. Und was ist im Interesse dieses besten Staates gelegen? Da alle Vernderung durch Aufrechterhalten einer strengen Klassenteilung und Klassenherrschaft zum Stillstand gebracht werde. Wenn diese Interpretation richtig ist, dann folgt, da Platons politisches Programm mit seiner Forderung nach Gerechtigkeit auf dem Niveau totalitrer Lehren verbleibt; und wir htten daraus die Lehre zu ziehen, da wir uns vor der Gefahr hten mssen, durch bloe Worte beeindruckt zu werden. Die Gerechtigkeit ist das zentrale Thema des Staates; tatschlich lautet der traditionelle Untertitel dieses Werkes ber die Gerechtigkeit. Bei seiner Untersuchung der Natur der Gerechtigkeit macht sich Platon die im letzten Kapitel erwhnte 5 Methode zunutze; er versucht zuerst, dieser Idee im Staate nachzuspren; hierauf versucht er, das Ergebnis auf das Individuum anzuwenden. Man kann nicht sagen, da Platons Frage Was ist Gerechtigkeit? eine schnelle Antwort ndet, denn sie wird erst im vierten Buch beantwortet. Die berlegungen, die zu ihr hinfhren, werden an einer spteren Stelle dieses Kapitels ausfhrlicher zu analysieren sein. In Krze sind es die folgenden: Der Staat beruht auf der menschlichen Natur, ihren Bedrfnissen und ihren Beschrnkungen 6. Wir haben festgestellt und, wie du dich erinnern wirst, stndig wiederholt, da jedermann in unserem Staatswesen nur eine Arbeit ausben solle; nmlich diejenige Arbeit, fr die seine Natur am besten geeignet ist. Jedermann soll sich um seine
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eigenen Angelegenheiten kmmern. Das ist der Schlu, den Platon hieraus zieht; der Zimmermann soll sich auf das Zimmerhandwerk beschrnken, der Schuhmacher auf die Herstellung von Schuhen. Es ist zwar nicht weiter schdlich, wenn zwei Arbeiter ihren natrlichen Platz innerhalb des Staates vertauschen. Sollte aber einer, der von Natur aus ein Arbeiter ist (oder ein Mitglied der geldverdienenden Klasse) es fertigbringen, den Kriegerberuf zu ergreifen; oder sollte zum Beispiel ein Krieger in die Klasse der Wchter gelangen, ohne dessen wrdig zu sein; dann wrde diese Vernderung und die heimliche Verschwrung, die zu ihr fhrt, das Verderben des Staates bedeuten. Diese Errterung, die in naher Beziehung zu dem Prinzip steht, da das Tragen von Waen ein Klassenvorrecht sein solle, fhrt Platon zu dem Ergebnis, da jeglicher Wechsel oder Austausch zwischen den drei Klassen Ungerechtigkeit sein msse; das Gegenteil ist daher Gerechtigkeit: wenn sich jede Klasse des Staates um ihre eigenen Angelegenheiten kmmert, die Geldverdiener, die Krieger wie auch die Wchter, dann ist dies Gerechtigkeit. Dieser Schlu wird etwas spter nochmals besttigt und zusammengefat: Der Staat ist gerecht, wenn jede seiner drei Klassen ihrer eigenen Arbeit nachgeht. Aber dies besagt, da Platon die Gerechtigkeit mit dem Prinzip der Klassenherrschaft und des Klassenprivilegs identiziert. Denn der Grundsatz, da jede Klasse ihrer eigenen Arbeit nachgehen solle, bedeutet, kurz und bndig, da der Staat gerecht ist, sobald nur der Herrscher herrscht, der Arbeiter arbeitet und 7 der Sklave front,
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Man sieht daraus, da Platons Begri der Gerechtigkeit von unserer herkmmlichen Auassung (die wir weiter oben analysiert haben) grundverschieden ist. Fr Platon sind Klassenprivilegien gerecht, whrend wir unter Gerechtigkeit eher die Abwesenheit derartiger Privilegien verstehen. Der Unterschied reicht aber weiter. Fr uns ist die Gerechtigkeit eine Art von Gleichheit in der Behandlung von Individuen, whrend Platon darunter nicht eine Beziehung zwischen Individuen, sondern eine Eigenschaft des ganzen Staates versteht, die auf einer Beziehung zwischen seinen Klassen beruht. Der Staat ist gerecht, wenn er gesund, stark, einig stabil ist. II Aber hatte Platon vielleicht recht? Bedeutet vielleicht Gerechtigkeit tatschlich, was er sagt? Ich habe nicht die Absicht, eine solche Frage zu diskutieren. Sollte sich jemand nden, fr den Gerechtigkeit soviel bedeutet wie die unbestrittene Herrschaft einer Klasse, dann wre meine Antwort einfach die: Ich bin mit ganzem Herzen fr die Ungerechtigkeit. Anders ausgedrckt: Ich glaube, da nichts von Worten, aber alles von unseren praktischen Forderungen oder von den Vorschlgen zum Aufbau der Politik abhngt, fr deren Annahme wir uns entschieden haben. Hinter Platons Denition der Gerechtigkeit steht im Grunde sein Verlangen nach einer totalitren Klassenherrschaft und sein Entschlu, sie herbeizufhren. Aber befand er sich nicht in einem anderen Sinne im
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Recht? Entsprach vielleicht seine Idee der Gerechtigkeit der griechischen Verwendungsweise dieses Wortes? Verstanden vielleich die Griechen unter Gerechtigkeit etwas, das sich aufs Ganze erstreckt, wie etwa die Gesundheit des Staates; und ist es nicht uerst unfair und unhistorisch, von Platon eine Vorwegnahme unserer modernen Idee der Gerechtigkeit (Gleichheit der Brger vor dem Gesetz) zu erwarten? Diese Frage ist in der Tat bejaht worden, und es wurde geltend gemacht, da Platons holistische Idee der sozialen Gerechtigkeit fr die traditionelle griechische Einstellung charakteristisch sei, fr den griechischen Genius, der nicht, wie der rmische, spezisch gesetzlich, sondern vielmehr spezisch metaphysisch war 8. Aber diese Behauptung ist unhaltbar. In Wirklichkeit haben nmlich die Griechen das Wort Gerechtigkeit in einer Weise verwendet, die unserem individualistischen und mit der Idee der Gleichheit verknpften Sprachgebrauch berraschend hnlich ist. Zum Beweis dieser Behauptung diene zuerst Platon selbst. Im Dialog Gorgias (der frher entstanden ist als der Staat) sagt er, da die Ansicht, nach der Gerechtigkeit Gleichheit sei, von der groen Masse des Volkes geteilt werde und nicht nur mit der Konvention, sondern mit der Natur selbst bereinstimme. Zweitens kann ich Aristoteles zitieren, einen anderen Widersacher der Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Unter dem Einu von Platons Naturalismus entwickelte er unter anderem die Lehre, da einige Menschen von Natur aus zur
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Sklavenarbeit geboren sind 9. Niemand konnte weniger an der Verbreitung einer Interpretation des Wortes Gerechtigkeit interessiert sein, die individualistisch war und der Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz entsprach. Aber anllich der Errterung der Funktionen des Richters (den er eine Personikation dessen, was gerecht ist, nennt) behauptet Aristoteles, es sei dessen Aufgabe, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Er teilt uns mit, da alle Menschen die Gerechtigkeit fr eine Art Gleichheit halten, eine Gleichheit nmlich, die sich auf Personen erstreckt. Er glaubt sogar (aber hier bendet er sich im Irrtum), da das griechische Wort fr Gerechtigkeit sich aus einer Wurzel herleitet, die soviel wie gleiche Verteilung bedeutet. (Die Ansicht, da Gerechtigkeit eine Art von Gleichheit in der Verteilung von Beutegtern und Ehren an die Brger bedeute, stimmt mit Platons Ansicht in den Gesetzen berein; dort werden zwei Arten von Gleichheit bei der Verteilung von Beutegtern und Ehren unterschieden die numerische oder arithmetische Gleichheit und die Gleichheit dem Verhltnisse nach; die zweite beachtet das Ausma, in dem die fragliche Person Tugend, Bildung und Reichtum besitzt, und es wird gesagt, da diese Gleichheit dem Verhltnisse nach die politische Gerechtigkeit konstituiert.) Und anllich der Diskussion der Grundstze der Demokratie bemerkt Aristoteles, da die demokratische Gerechtigkeit in der Anwendung des Prinzips der arithmetischen Gleichheit (zum Unterschied von der Gleichheit dem Verhltnisse nach) bestehe. All
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dies ist sicher nicht blo sein persnlicher Eindruck von der Bedeutung der Gerechtigkeit gewesen; auch kann es sich nicht blo um eine Beschreibung der Weise handeln, in der das Wort nach Platon unter dem Einu des Gorgias und der Gesetze verwendet wurde; es liegt hier vielmehr der Ausdruck eines allgemeinen, alten und zugleich populren Gebrauchs des Wortes Gerechtigkeit vor 0. Angesichts dieser Zeugnisse mssen wir, wie mir scheint, feststellen, da die holistische und der Gleichheit feindliche Interpretation der Gerechtigkeit im Staate eine Neueinfhrung war, da also Platon seine totalitre Klassenherrschaft als gerecht hinzustellen versuchte, whrend die Menschen unter Gerechtigkeit im allgemeinen das genaue Gegenteil verstanden. Dieses berraschende Ergebnis ernet eine Reihe von Fragen. Warum behauptete Platon im Staat, da Gerechtigkeit Ungleichheit bedeutet, wenn man dem allgemeinen Wortgebrauch nach darunter Gleichheit verstand? Die einzig wahrscheinliche Antwort scheint mir zu sein, da er fr seinen totalitren Staat Propaganda machen wollte, indem er den Menschen einredete, da er der gerechte Staat sei. Lohnte sich aber ein solcher Versuch, wenn man bedenkt, da nicht die Worte von Bedeutung sind, sondern das, was wir mit ihnen meinen? Selbstverstndlich lohnte er sich; wir knnen das aus dem Umstand ersehen, da Platon seinen Lesern bis auf unsere Tage mit vollem Erfolg eingeredet hat, er sei ein aufrichtiger Frsprecher der Gerechtigkeit, das heit derjenigen Gerechtigkeit, nach der
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sie strebten. Und es ist eine Tatsache, da er dadurch Zweifel und Verwirrung unter den Verteidigern der Gleichheit vor dem Gesetz und der Individualitt des Menschen verbreitet hat. Unter dem Druck seiner Autoritt begannen sie sich zu fragen, ob nicht seine Idee der Gerechtigkeit wahrer und besser sei als die ihre. Da das Wort Gerechtigkeit fr uns das Symbol eines so bedeutenden Ziels ist, da so viele Menschen bereit sind, alle Unbill dafr zu ertragen und alles, was in ihrer Macht steht, zu seiner Verwirklichung beizutragen, so war die Anwerbung dieser humanitren Krfte, zumindest aber die Lhmung der Bewegung fr die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz sicher ein Ziel, wert, von einem glubigen Vertreter totalitrer Ideen verfolgt zu werden. Aber wute Platon, da die Gerechtigkeit fr die Menschen so viel bedeutet? Er wute es; denn er schreibt im Staat: Hat ein Mensch Unrecht begangen ist es da nicht so, da sein Mut nicht angefacht werden kann? Glaubt er aber Unrecht zu erleiden, ammt da nicht sogleich sein Eifer und sein Zorn auf? Und ist es nicht in gleicher Weise wahr, da er im Kampf auf Seiten der Sache, die er fr die gerechte hlt, Hunger und Klte und jede Art von Unbill zu ertragen vermag, und hlt er nicht bis zum Siege aus, in seinem erregten Zustand verharrend, bis er entweder sein Ziel erreicht, oder den Tod ndet? Beim Lesen dieser Zeilen bleibt kein Zweifel, da Platon die Macht des Glaubens und vor allem die Macht eines Glaubens an die Gerechtigkeit kannte. Auch ist es klar, da es das Ziel des Staates sein mu, diesen Glauben zu ver198 Platons politisches Programm

drehen und ihn durch sein genaues Gegenteil zu ersetzen. Und im Lichte der verfgbaren Zeugnisse scheint es mir hchst wahrscheinlich, da Platon sehr wohl wute, was er tat. Die Bewegung fr die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz war sein Erzfeind, und er war darauf bedacht, sie zu zerstren; dies ohne Zweifel im ehrlichen Glauben, da sie ein groes bel und eine groe Gefahr darstellte. Aber sein Angri war kein ehrlicher Angri. Platon wagte es nicht, seinem Feind oen ins Angesicht zu schauen. Ich gehe daran, die Beweise zur Untersttzung dieser Behauptung zu erbringen. III Der Staat ist wahrscheinlich die am sorgfltigsten ausgearbeitete Monographie ber die Gerechtigkeit, die je geschrieben wurde. Eine bunte Reihe von Ansichten ber die Gerechtigkeit wird hier untersucht; dies geschieht in einer Weise, die uns glauben macht, da Platon keine der wichtigeren Theorien ausgelassen hat, die ihm bekannt waren. Tatschlich deutet er an 2, da er sich vergeblich bemht habe, die Gerechtigkeit unter den gelugen Ansichten ausndig zu machen, und da daher eine erneute Suche nach ihr notwendig sei. Aber die Ansicht, da die Gerechtigkeit Gleichheit vor dem Gesetz (Isonomie) bedeutet, wird in seinem berblick und in seiner Diskussion der bekannten Theorien berhaupt nicht erwhnt. Fr diese Auslassung knnen nur zwei Grnde angegeben werden. Entweder hat er die Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem
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Gesetz bersehen 3, oder er hat sie absichtlich vermieden. Die erste Mglichkeit ist sehr wenig wahrscheinlich, wenn wir in Betracht ziehen, mit welcher Sorgfalt der Staat aufgebaut ist, und wenn wir bedenken, da es fr Platon notwendig war, die Theorien seiner Opponenten zu analysieren, um seine eigene auf mglichst wirkungsvolle Weise darzustellen. Sie wird aber noch unwahrscheinlicher, wenn wir uns die groe Popularitt der Gleichheitsidee vor Augen fhren. Wir brauchen uns jedoch nicht auf blo wahrscheinliche Argumente zu sttzen; es lt sich nmlich leicht zeigen, da Platon zur Zeit der Abfassung des Staates nicht nur die Idee der Gleichberechtigung aller Menschen gut kannte, sondern auch ihren Einu. Wie wir bereits in diesem Kapitel erwhnten (Abschnitt II), und wie wir spter ausfhrlich zeigen werden (Abschnitt VII), spielt die Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz im frher entstandenen Gorgias eine wichtige Rolle; sie wird dort sogar verteidigt. Und wenn ihre Verdienste und Nachteile auch nirgends im Staate ernsthaft diskutiert werden, so hat doch Platon seine Ansicht in bezug auf ihren Einu nicht gendert; denn der Staat selbst legt Zeugnis von ihrer Popularitt ab. Sie wird hier andeutungsweise als ein sehr populrer demokratischer Glauben erwhnt, aber nur mit Verachtung behandelt; alles, was wir ber sie hren, besteht in einigen hhnischen und nadelspitzen Bemerkungen4, die wohl zu den Scheltworten passen, mit denen er die athenische Demokratie angreift und die an einer Stelle vorkommen, an der die Gerechtigkeit nicht der
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Gegenstand der Diskussion ist. Die Mglichkeit, da Platon die Gleichheitsidee bersehen hat, ist daher auszuschlieen, und dasselbe gilt fr die Annahme, da er eine Diskussion einer einureichen Theorie, die seiner eigenen diametral gegenberstand, nicht fr erforderlich gehalten htte. Der Umstand, da er sein Schweigen im Staate nur durch einige boshafte Witze unterbricht (die er scheinbar fr zu gut hielt, um sie zu unterdrcken5), lt sich nur als eine bewute Weigerung erklren, jene Lehre zu diskutieren. Angesichts all dieser Feststellungen ist es mir nicht klar, wie sich Platons Methode, seinen Lesern einzureden, da alle wichtigen Theorien bereits untersucht worden seien, mit den Grundstzen intellektueller Ehrlichkeit vereinbaren lt; wenngleich wir sein Versagen zweifellos dem Umstand zuschreiben mssen, da er sich einer Sache vollstndig verschrieben hatte, an deren Vortreichkeit er mit aller Kraft glaubte. Um die Bedeutung von Platons praktisch ungebrochenem Schweigen richtig ermessen zu knnen, mssen wir uns zuerst darber im klaren sein, da die Bewegung fr die Gleichberechtigung der Menschen fr Platon all das verkrperte, was er hate, und da seine eigene Theorie im Staat und in allen spteren Werken hauptschlich eine Antwort auf die mchtige Herausforderung der neuen Ideen der Gleichberechtigung und der Humanitt waren. Um dies zu zeigen, werde ich die Hauptprinzipien der humanitren Bewegung besprechen und sie den entsprechenden Prinzipien der totalitren Lehren Platons gegenberstellen.
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Die humanitre Theorie der Gerechtigkeit erhebt hauptschlich drei Forderungen oder Vorschlge, nmlich [a] das Prinzip der Gleichberechtigung, das heit den Vorschlag, natrliche Vorrechte auszuschalten, [b] das allgemeine Prinzip des Individualismus und [c] das Prinzip, da die Aufgabe und der Zweck des Staates im Schutz der Freiheit seiner Brger besteht. Jeder dieser politischen Forderungen entspricht ein genau entgegengesetztes Prinzip des Platonismus, nmlich [a] das Prinzip der natrlichen Vorrechte, [b] das allgemeine Prinzip des Holismus und Kollektivismus und [cl ein Prinzip, das die Aufgabe und den Endzweck des Individuums in der Erhaltung und Verstrkung der Stabilitt des Staates bestimmt. Ich werde diese drei Punkte der Reihe nach diskutieren. Jedem von ihnen widme ich einen der Abschnitte IV, V und VI dieses Kapitels. IV Das Prinzip der Gleichberechtigung ist die Forderung nach unparteiischer Behandlung der Brger des Staates. Es verlangt, da Geburt, Familienbeziehungen oder Reichtum die Hter der Gesetze nicht beeinussen drfen. Mit anderen Worten: Es erkennt keine natrlichen Vorrechte an, obgleich es erlaubt, da die Brger vertrauenswrdigen Personen gewisse Vorrechte bertragen. Dieses Prinzip der Gleichberechtigung hatte Perikles einige Jahre vor der Geburt Platons in bewundernswerter Weise formuliert, in einer Rede, die uns Thukydides erhalten hat6. Wir werden die Rede im 0. Kapitel aus202 Platons politisches Programm

fhrlicher zitieren; zwei ihrer Stze seien aber schon hier wiedergegeben: Unsere Gesetze, so sagt Perikles, gewhren allen auf gleiche Weise das gleiche Recht in ihren privaten Auseinandersetzungen; aber wir bersehen nicht die Ansprche der Vortreichkeit: Wenn sich ein Brger hervortut, dann wird er vorzugsweise zum entlichen Dienst berufen, nicht auf Grund eines Privilegs, sondern zur Belohnung fr seine Verdienste; und seine Armut ist kein Hindernis Diese Stze drcken einige der grundlegenden Ziele der groen Bewegung fr Gleichheit und Freiheit aus, die, wie wir gesehen haben, nicht einmal davor zurckschreckte, die Sklaverei zu kritisieren. In der Generation des Perikles wurde diese Bewegung durch Euripides, Antiphon und Hippias reprsentiert, die alle im letzten Kapitel erwhnt worden sind, sowie auch durch Herodot7. In Platons Generation waren Alkidamas und Lykophron ihre Reprsentanten; auch sie sind weiter oben zitiert worden. Auch Antisthenes, frher einer der engsten Freunde des Sokrates, war ein Anhnger dieser Bewegung. Platons Prinzip der Gerechtigkeit war natrlich all dem direkt entgegengesetzt. Platon verlangte natrliche Vorrechte fr die natrlichen Fhrer. Wie aber hat er das Prinzip der Gleichberechtigung bekmpft? Und wie hat er seine eigenen Forderungen begrndet? Man wird sich vom letzten Kapitel her erinnern, da einige der bestbekannten Formulierungen der Forderung nach gleicher Behandlung der Menschen vor dem Gesetz in der eindrucksvollen, aber fragwrdigen Sprache natrlicher
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Rechte abgefat waren und da einige ihrer Reprsentanten zugunsten dieser Forderungen argumentierten, indem sie auf die natrliche, das heit biologische Gleichheit der Menschen verwiesen. Wir haben gesehen, da dieses Argument belanglos ist die Menschen sind gleich in einigen wichtigen Punkten, ungleich in anderen; und normative Forderungen knnen weder aus dieser Tatsache noch aus irgendwelchen anderen Tatsachen hergeleitet werden. Es ist daher von Interesse, festzustellen, da das naturalistische Element nicht von allen Anhngern der Gleichheitsidee verwendet wurde; Perikles, um nur einen zu erwhnen, spielte nicht einmal darauf an8. Platon hatte schnell heraus, da der Naturalismus ein schwacher Punkt der Gleichheitsidee war, und er machte sich diese Schwche voll zunutze. Wenn man den Menschen mitteilt, da sie alle gleich sind, so hat dies eine gewisse sentimentale Anziehungskraft. Aber der Eekt ist gering im Vergleich zu der Auswirkung einer Propaganda, die sie ihrer berlegenheit und der Inferioritt anderer Menschen versichert. Bist du von Natur aus gleich mit deinen Dienern, deinen Sklaven, mit dem Handwerker, der nicht besser ist als ein Tier? Schon die Frage ist lcherlich! Platon scheint der erste gewesen zu sein, der die Mglichkeiten dieser Reaktion richtig einschtzte und der der Behauptung natrlicher Gleichheit Verachtung, Hohn und spttische Bemerkungen entgegensetzte. Das erklrt auch, warum es ihm daran gelegen war, das naturalistische Argument sogar denjenigen seiner Opponenten unterzuschieben, die
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es nicht verwendet haben; im Menexenos, einer Parodie auf die Rede des Perikles, hebt er daher ausdrcklich die Verbindung zwischen der Forderung nach gleichen Gesetzen und der Behauptung der natrlichen Gleichheit der Menschen hervor: Die Grundlage unserer Verfassung ist die Gleichheit der Geburt, so sagt er ironisch. Wir sind alle Brder und Kinder einer Mutter; und die natrliche Gleichheit der Geburt veranlat uns, nach der Gleichheit vor dem Gesetz zu streben9. Spter, in den Gesetzen, fat Platon seine Antwort auf die Gleichheitsidee in dem Satz zusammen: Gleiche Behandlung Ungleicher mu Ungleichheit zeugen20, der von Aristoteles zu der folgenden Formel weiterentwickelt wurde: Gleichheit fr Gleiche und Ungleichheit fr Ungleiche. Diese Formel deutet einen Einwand gegen die Gleichheitsidee an, der stndig wiederholt wird; dieser Einwand lautet so: Die Gleichheit wre eine ausgezeichnete Sache, wenn nur die Menschen einander gleich wren; sie ist aber klarerweise unmglich, da die Menschen einander weder gleichen noch gleich gemacht werden knnen. Dieser scheinbar sehr realistische Einwand ist nun in Wirklichkeit hchst unrealistisch; denn politische Privilegien wurden niemals auf natrliche Charakterunterschiede gegrndet. Es scheint auch, da Platon bei der Abfassung des Staates zu dem eben erwhnten Einwand nicht viel Vertrauen besa, denn er verwendet ihn hier nur in einem seiner hhnischen Seitenhiebe auf die Demokratie, nmlich anllich der Bemerkung, da sie die Gleichheit in gleicher Weise an
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Gleiche und Ungleiche verteile2. Abgesehen von dieser Bemerkung, zieht er es vor, gegen die Gleichheitsidee nicht zu argumentieren, sondern sie zu vergessen. Zusammenfassend knnen wir sagen, da Platon die Bedeutung der Gleichheitsidee niemals unterschtzt hat, zumal sie von einem Mann wie Perikles untersttzt wurde, da er sie aber im Staat berhaupt nicht behandelte; er gri sie an, aber nicht oen und ehrlich. Wie versuchte er aber seine eigene Lehre, sein Prinzip der natrlichen Vorrechte zu begrnden? Drei verschiedene Argumente fhrt er im Staat an; zwei von ihnen verdienen kaum diesen Namen. Das erste Argument22 besteht in der berraschenden Bemerkung, da bereits alle drei anderen Tugenden des Staates untersucht worden seien; die verbleibende vierte, die Tugend, seiner eigenen Arbeit nachzugehen, msse daher die Gerechtigkeit sein. Ich kann nicht glauben, da diese Bemerkung als ein Argument gedacht war; aber es mu so sein, denn Sokrates, Platons Hauptsprecher, fhrt sie mit der Frage ein: Weit du, wie ich zu diesem Schlu komme? Das zweite Argument ist von grerem Interesse, denn es ist ein Versuch zu zeigen, da sich die Lehre vom natrlichen Vorrecht der Herrscher aus der gewhnlichen Ansicht herleiten lt, nach der die Gerechtigkeit dasselbe ist wie die Unparteilichkeit. Ich fhre diese Stelle in vollem Wortlaut an. Indem Sokrates bemerkt, da die Herrscher des Staates auch seine Richter sein werden, sagt er23: Und wird es nicht das Ziel ihrer Rechtsprechung sein, da keiner sich fremdes Gut anmae,
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noch dessen beraubt werde, was sein Eigentum ist? Ja, antwortet Glaukon, der Gegenredner, das wird ihr Ziel sein. Weil es so gerecht ist? Jawohl. Also wird nach allgemeiner bereinstimmung die Gerechtigkeit dahin bestimmt: Behalten und verrichten, was uns gehrt und unser Eigentum ist. Damit ist festgestellt, da behalten und verrichten, was unser Eigentum ist, im Einklang mit unserer gewhnlichen Rechtsauassung das Prinzip gerechter Rechtsprechung ist. Hier endet das zweite Argument, um dem dritten zu weichen, das wir weiter unten analysieren werden, und das zu dem Schlu fhrt, da es gerecht ist, wenn man seinen Platz beibehlt (seiner eigenen Arbeit nachgeht), nmlich den Platz (oder der Arbeit) innerhalb der Klasse oder Kaste, der man angehrt. Der einzige Zweck des zweiten Argumentes besteht darin, im Leser den Eindruck zu erwecken, da die Gerechtigkeit im blichen Sinn des Wortes von uns verlangt, an unserem eigenen Platze zu verharren; denn wir sollen stets behalten, was uns gehrt. Platon mchte also, da seine Leser den folgenden Schlu ziehen: Es ist gerecht, zu behalten und zu verrichten, was uns gehrt. Mein Platz (oder meine Arbeit) gehrt zu mir, ist mein Eigentum. Daher ist es gerecht fr mich, meinen Platz beizubehalten (oder meine Arbeit zu verrichten). Aber dieses Argument ist ungefhr so vernnftig wie das folgende: Es ist gerecht, zu behalten und zu verrichten, was unser Eigentum ist. Dieser Plan, nach dem ich dein Geld zu stehlen beabsichtige, ist mein Eigentum. Daher ist es gerecht fr mich, meinen
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Plan einzuhalten, ihn in die Praxis umzusetzen und dein Geld zu stehlen. Klarerweise ist der Schlu, den wir auf Wunsch Platons ziehen sollen, nichts anderes als ein grobes Jonglieren mit der Bedeutung der Worte jemandes Eigentum sein oder jemandem gehren. (Denn das Problem besteht in der Frage, ob die Gerechtigkeit verlangt, da alles, was uns in irgendeinem Sinne gehrt oder unser Eigentum ist, etwaunsere eigene Klasse aus diesem Grunde nicht nur als unser Besitz, sondern als unser unveruerlicher Besitz behandelt werden soll. Aber Platon selbst glaubt nicht an ein solches Prinzip; denn es ist ja klar, da es einen bergang zum Kommunismus unmglich machen wrde. Und wie steht es bei ihm mit dem Besitz unserer eigenen Kinder?) Nur durch ein Wortspiel stellt also Platon her, was Adam als einen Zusammenhang zwischen seiner eigenen Ansicht ber die Gerechtigkeit und der volkstmlichen Bedeutung des Wortes beschreibt. Auf diese Weise versucht der grte Philosoph aller Zeiten (denn das war Platon) uns zu berzeugen, da er die wahre Natur der Gerechtigkeit entdeckt hat. Das dritte und letzte Argument ist viel ernster zu nehmen. Es sttzt sich auf das Prinzip des Holismus oder Kollektivismus und ist mit dem Grundsatz verbunden, da es der Zweck des Individuums ist, die Stabilitt des Staates aufrechtzuerhalten. Dieses Argument wird deshalb in den Abschnitten V und VI ausfhrlicher diskutiert werden. Bevor wir aber dazu bergehen, mchte ich auf die Vorrede aufmerksam machen, die Platon seiner Beschreibung
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der Entdeckung vorausschickt, die wir hier untersuchen. Wir mssen sie im Lichte unserer bisherigen Beobachtungen sehen. So betrachtet, erweist sich die weitschweige Vorrede so nennt sie Platon selbst als ein genialer Versuch, den Leser auf die Entdeckung der Gerechtigkeit vorzubereiten, indem sie ihn glauben macht, da argumentiert wird, wo er in Wirklichkeit nur einem Schauspiel, einem hochdramatischen Dialog gegenbersteht, der die Bestimmung hat, seine Fhigkeit zu kritischer Betrachtung einzuschlfern. Nachdem Sokrates gefunden hat, da die Weisheit die den Wchtern und die Tapferkeit die den Hilfstruppen eigentmliche Tugend ist, verkndigt er, da er beabsichtige, eine letzte Anstrengung zur Entdeckung der Gerechtigkeit zu unternehmen. So bleiben denn nur noch zwei Dinge24, so sagt er, die wir im Staate zu entdecken haben: die Enthaltsamkeit und jener andere Gegenstand, um dessentwillen wir das alles untersuchen, nmlich die Gerechtigkeit. Ganz richtig, sagt Glaukon. Sokrates macht nun den Vorschlag, die Enthaltsamkeit auszulassen. Aber Glaukon protestiert und Sokrates gibt nach, indem er sagt: Es wre unehrenhaft, wollte ich mich weigern. Dieser kleine Disput bereitet den Leser auf die Wiedereinfhrung der Gerechtigkeit vor, legt ihm nahe, da Sokrates die Mittel zu ihrer Entdeckung besitzt, und versichert ihm auerdem, da Glaukon Platons intellektuelle Ehrlichkeit bei der Ausfhrung des Arguments sorgfltig berwacht und da der Leser sie daher nicht zu berwachen braucht25.
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Sokrates schickt sich nun an, die Enthaltsamkeit zu errtern, die, wie er entdeckt, die einzige den Arbeitern zustehende Tugend ist. (brigens lt sich die vieldiskutierte Frage, ob Platons Gerechtigkeit von seiner Enthaltsamkeit verschieden sei, leicht beantworten. Gerechtigkeit bedeutet, seinen Platz beibehalten; Enthaltsamkeit bedeutet, zu wissen, was sein Platz ist, und mit ihm zufrieden sein; welche andere Tugend knnte besser auf die Arbeiter passen, die sich den Wanst fllen wie das Vieh?) Nach der Entdeckung der Enthaltsamkeit stellt Sokrates die Frage: Und wie steht es mit dem letzten Prinzip? Oenbar ist es doch die Gerechtigkeit? Oenbar, erwidert Glaukon. Nun, mein lieber Glaukon, so sagt Sokrates, nun mssen wir wie Jger ihr Versteck umstellen und unsere Sinne anspannen, da sie uns ja nicht irgendwie entrinne, verschwinde und nicht mehr zu sehen sei. Denn da sie hier irgendwo versteckt ist, ist ja oenbar. Du wirst also gut daran tun, nachzusehen und den Platz zu durchsuchen. Und wenn du sie als erster siehst, dann zeige es mir durch einen Ruf an! Glaukon ist natrlich, ebenso wie der Leser, unfhig, den Wunsch des Sokrates zu erfllen, und er bittet ihn ehentlich, die Fhrung zu bernehmen. Dann bete mit mir und folge mir, sagt Sokrates. Aber sogar er ndet das Gelnde schwierig zu durchschreiten, denn es ist mit Unterholz bedeckt; es ist dunkel, schwer zu durchforschen Aber, so sagt er, wir mssen fortfahren. Und anstatt einzuwenden: Fortfahren aber womit? Mit unserer Erforschung, das heit mit unserem Argument? Damit haben wir
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ja noch nicht einmal begonnen. Es war kein Funke von Sinn in dem, was du bisher gesagt hast. Statt diesen Einwand zu machen, antwortet Glaukon und mit ihm der naive Leser in aller Bescheidenheit: Jawohl, wir mssen fortfahren. Nun berichtet Sokrates, er habe etwas gesehen (wir nicht), und wird aufgeregt. Hurra!, so ruft er, Glaukon, hier scheint eine Spur zu sein! Ich glaube, nun wird uns die Beute nicht entkommen! Das sind gute Nachrichten, antwortet Glaukon. Auf mein Wort, sagt Sokrates, wir haben uns selbst ganz ungeheuer zum Narren gehalten. Denn, was wir in der Entfernung suchten, lag die ganze Zeit vor unseren Fen! Und doch sahen wir es nicht! Sokrates setzt mit Ausrufen und wiederholten Beteuerungen dieser Art eine gute Weile fort; er wird von Glaukon unterbrochen, der den Gefhlen des Lesers Ausdruck verleiht und Sokrates fragt, was er denn eigentlich gefunden habe. Als aber Sokrates nur antwortet: Wir haben die ganze Zeit von ihr gesprochen, ohne uns klar zu werden, da wir sie in der Tat schon beschrieben haben, wird Glaukon (und auch der Leser) ungeduldig und bemerkt: Diese Vorrede wird ein wenig weitschweig; denke daran, da ich hren mchte, worum es sich dreht. Und erst jetzt geht Platon daran, die zwei Argumente darzulegen, die ich skizziert habe. Glaukons letzte Bemerkung kann als ein Hinweis darauf dienen, da Platon wohl wute, was er in dieser weitschweigen Vorrede tat. Ich kann sein Vorgehen nicht anders deuten denn als einen Versuch einen Versuch, der sich als uerst erfolgreich erwies , die kritischen FhigKapitel 6: Die totalitre Gerechtigkeit 211

keiten des Lesers einzuschlfern und seine Aufmerksamkeit durch die dramatische Schaustellung eines verbalen Feuerwerks von der intellektuellen Armut dieser meisterhaften Dialogstelle abzulenken. Man ist versucht, zu denken, da Platon um ihre Schwchen wute und da er auch die Mittel kannte, sie zu verbergen. V Das Problem des Individualismus und Kollektivismus ist mit dem Problem der Gleichheit und Ungleichheit nahe verwandt. Einige terminologische Bemerkungen scheinen vor der Diskussion notwendig zu sein. Der Ausdruck Individualismus kann in zweifacher Weise verwendet werden: [a] im Gegensatz zum Kollektivismus, [b] im Gegensatz zum Altruismus. Es gibt kein anderes Wort zur Bezeichnung der ersten Bedeutung, es gibt jedoch verschiedene Synonyma fr die zweite, wie zum BeispielEgoismus oder Selbstsucht. Ich werde daher im folgenden das Wort Individualismus ausschlielich im Sinne [a] gebrauchen; Worte wie Egoismus oder Selbstsucht werden verwendet, wenn Bedeutung [b] gemeint ist. Eine kleine Tabelle mag von Nutzen sein: Der Individualismus [a] ist der Gegensatz des Kollektivismus [a] Der Egoismus [b] ist der Gegensatz des Altruismus [b]
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Diese vier Begrie beschreiben nun gewisse Einstellungen, Forderungen oder Vorschlge fr normative Gesetze. Obwohl notwendigerweise vage, lassen sie sich doch leicht durch Beispiele illustrieren und somit mit einer Przision verwenden, die fr unseren gegenwrtigen Zweck ausreicht. Beginnen wir mit dem Kollektivismus 26, da uns diese Haltung aus unserer Diskussion des platonischen Holismus bekannt ist. Im letzten Kapitel haben wir die Forderung Platons durch einige Stellen illustriert, da das Individuum den Interessen des Ganzen dienen solle, sei dieses nun das Universum, die Stadt, der Stamm, die Rasse oder irgendein anderer Kollektivkrper. Wir zitieren nochmals eine dieser Stellen, diesmal jedoch ausfhrlicher27: Der Teil existiert um des Ganzen willen, aber das Ganze existiert nicht um des Teiles willen Du bist um des Ganzen willen geschaffen, nicht aber das Ganze um deinetwillen. Dieses Zitat illustriert nicht nur den Holismus und Kollektivismus, es gibt auch einen Begri davon, wie sehr beide auf die Gefhle wirken. (Platon wute dies, wie man aus der Einleitung zu der zitierten Stelle ersehen kann.) Verschiedene Gefhle sind einbezogen, zum Beispiel die Sehnsucht, einer Gruppe oder einem Stamm anzugehren; der moralische Widerhall des Altruismus und des Appells gegen die Selbstsucht ist ein anderer Faktor. Platon deutet an, da man ein Egoist ist, wenn man seine eigenen Interessen nicht dem Gemeinwohl unterordnen kann. Ein Blick auf unsere kleine Tafel zeigt jedoch, da das nicht der Fall ist. Weder steht der Kollektivismus im GegenKapitel 6: Die totalitre Gerechtigkeit 213

satz zum Egoismus, noch ist er mit dem Altruismus oder der Selbstlosigkeit identisch. Der kollektive oder Gruppenegoismus zum Beispiel der Klassenegoismus ist eine sehr geluge Erscheinung (ein Umstand, den Platon wohl kannte)28, und das zeigt klar genug, da der Kollektivismus als solcher nicht der Gegensatz der Selbstsucht sein kann. Andererseits kann ein Gegner des Kollektivismus, also ein Individualist, zur gleichen Zeit ein Altruist sein; er kann bereit sein, fr andere Opfer zu bringen. Vielleicht eines der besten Beispiele fr diese Haltung ist Charles Dikkens. Es ist schwer zu sagen, was in ihm strker ist seine leidenschaftliche Abscheu vor der Selbstsucht oder sein leidenschaftliches Interesse an den Individuen mit allen ihren menschlichen Schwchen; diese Haltung verbindet sich mit einem Widerwillen nicht nur gegen jene Dinge, die wir nun Kollektivkrper oder Kollektive nennen29, sondern sogar gegen einen echten Altruismus, sobald sich dieser auf anonyme Gruppen und nicht auf konkrete Individuen richtet. (Ich erinnere den Leser an Mrs. Jellyby in Bleak House, eine Dame, die sich entlichen Pichten widmet.) Ich glaube, da diese Illustrationen die Bedeutung unserer vier Begrie hinreichend geklrt haben; sie zeigen, da sich jeder der Begrie unserer Tafel mit jedem der Begrie in der andern Zeile kombinieren lt (das gibt vier mgliche Kombinationen). Es ist nun interessant, da fr Platon und die meisten Platoniker ein altruistischer Individualismus (wie er zum Beispiel von Dickens verkrpert wird) nicht bestehen kann.
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Fr Platon ist der Egoismus die einzige Alternative des Kollektivismus; den Altruismus identiziert er einfach mit dem Kollektivismus, den Individualismus mit dem Egoismus. Das ist nicht nur eine Frage der Terminologie oder bloer Wrter; denn statt der vier mglichen Kombinationen gibt es fr Platon nur zwei. Dadurch hat er bis auf unsere Tage die grte Verwirrung in vielen ethischen Fragen und in ihrer theoretischen Bearbeitung hervorgerufen. Platon identifiziert den Individualismus mit dem Egoismus; das verschafft ihm eine mchtige Wae zur Verteidigung des Kollektivismus, wie auch zum Angri auf den Individualismus; im ersten Fall kann er sich an unsere humanitren Gefhle der Selbstlosigkeit wenden; im zweiten Fall wird es ihm mglich, alle Individualisten als selbstschtige Menschen zu brandmarken, die unfhig sind, sich einer anderen Sache zu widmen als ihrer eigenen Person. Obgleich Platon seinen Angri gegen den Individualismus in unserem Sinn, das heit gegen die Rechte menschlicher Individuen richtet, trifft er natrlich ein ganz anderes Ziel, nmlich den Egoismus. Aber dieser Unterschied wird von Platon und den meisten Platonikern beharrlich bersehen. Warum versucht Platon den Individualismus anzugreifen? Ich glaube, da er wohl wute, was er tat, als er diese Stellung unter Feuer nahm; denn der Individualismus war vielleicht in noch hherem Grade als die Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz ein Bollwerk in der Verteidigung des neuen humanitren BekenntnisKapitel 6: Die totalitre Gerechtigkeit 215

ses. Die Emanzipation des Individuums war in der Tat die groe geistige Revolution, die zum Zusammenbruch der Stammesherrschaft und zum Aufstieg der Demokratie gefhrt hatte. Platons unheimliche soziologische Intuition zeigt sich darin, da er den Feind stets erkannte, wo immer er auf ihn traf. Der Individualismus war ein Teil der alten intuitiven Idee der Gerechtigkeit. Wie man sich erinnern wird, hat Aristoteles darauf aufmerksam gemacht, da die Gerechtigkeit nicht, wie Platon es wollte, die Gesundheit oder Harmonie des Staates, sondern vielmehr eine bestimmte Weise der Behandlung von Individuen ist; er nennt die Gerechtigkeit etwas, das sich auf Personen erstreckt30. Dieses individualistische Element war von der Generation des Perikles hervorgehoben worden. Perikles selbst erklrte, da die Gesetze allen in ihren privaten Auseinandersetzungen in gleicher Weise Gerechtigkeit gewhren mten; aber er ging noch weiter. Wir fhlen uns nicht berufen, so sagte er, unseren Nachbarn auszuschelten, wenn er es vorzieht, seine eigenen Wege zu gehen. (Vergleiche damit die Bemerkung Platons3, der Staat bringe nicht Menschen hervor, um einen jeden nach Belieben handeln und wandeln zu lassen .) Perikles legt Gewicht auf die Verbindung zwischen dieser Art von Individualismus und dem Altruismus: Man hat uns gelehrt nie zu vergessen, da wir die Benachteiligten schtzen mssen. Und seine Rede gipfelt in einer Beschreibung des jungen Atheners, der zu einer glcklichen Vielseitigkeit und zu Selbstvertrauen heranwchst.
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Dieser mit dem Altruismus vereinigte Individualismus ist die Grundlage unserer abendlndischen Zivilisation geworden. Er ist die zentrale Lehre des Christentums. (Liebe deinen Nchsten, sagt die Heilige Schrift, und nicht Liebe deinen Stamm.) Und er ist der Kern aller ethischen Lehren, die aus unserer Zivilisation erwuchsen und sie anregten. Zum Beispiel ist er auch Kants zentrale praktische Lehre. (Handle so, da du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, nie als bloes Mittel gebrauchst.) Kein anderer Gedanke hat in der moralischen Entwicklung des Menschen eine so mchtige Wirksamkeit entfaltet. Platon befand sich vollkommen im Recht, als er in dieser Lehre den Feind seines Kastenstaates sah; und er hate sie mehr als irgendeine andere umstrzlerische Lehre seiner Zeit. Um dies noch deutlicher zu zeigen, werde ich zwei Stellen aus den Gesetzen32 zitieren, deren wahrhaft erstaunliche Feindseligkeit dem Individuum gegenber, meiner Meinung nach, viel zu wenig gewrdigt wird. Die erste ist als ein Hinweis auf den Staat bekannt, dessen Weiber-, Kinder- und Gtergemeinschaft sie diskutiert. Platon nennt hier die Verfassung des Staates die hchste Staatsform. In diesem hchsten Staat, so erzhlt er uns, sind Weiber, Kinder und alles Hab und Gut Gemeinbesitz. Und es ist nichts unversucht geblieben, um berall und auf jede Weise alles aus unserem Leben zu tilgen, das privat und individuell ist. Soweit es mglich ist, hat man es dahin gebracht, da sogar diejenigen Gaben, die die
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Natur selbst den Individuen als Eigentum zugeteilt hat, in gewissem Sinn das gemeinsame Eigentum aller geworden sind. Selbst unsere Augen, Ohren und Hnde scheinen zu sehen, zu hren und zu handeln, als wren sie nicht Teile eines Individuums, sondern der Gemeinschaft. Alle Menschen werden so geformt, da sie Lob und Tadel mit grter Einmtigkeit verleihen; und sie freuen und grmen sich sogar zur gleichen Zeit ber die gleichen Dinge. Und alle Gesetze werden vervollkommnet, um den Staat hchst einheitlich zu machen. Platon setzt fort, indem er sagt, da kein Mensch ein besseres Kriterium der hchsten Vortrelichkeit eines Staates nden kann als die Prinzipien, die wir eben dargestellt haben, und er nennt einen solchen Staat gttlich und das Vorbild oder Muster oder Urbild des Staates, das heit seine Form oder Idee. Das ist Platons eigene Ansicht vom Staat, ausgedrckt zu einer Zeit, in der er die Honung bereits aufgegeben hatte, sein politisches Ideal in all seiner Herrlichkeit zu verwirklichen. Die zweite Stelle, ebenfalls aus den Gesetzen, ist, wenn mglich, noch deutlicher. Es mu betont werden, da diese Stelle hauptschlich militrische Unternehmungen und militrische Disziplin behandelt; Platon lt aber keinen Zweifel darber aufkommen, da die gleichen militaristischen Prinzipien nicht nur im Krieg, sondern auch im Frieden und von der frhesten Kindheit an eingehalten werden sollten. Wie andere totalitre Militaristen und Bewunderer Spartas dringt er darauf, da die berragend wichtigen Erfordernisse der militrischen Disziplin auch im Frieden
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an oberster Stelle zu stehen htten und da sie das ganze Leben aller Brger bestimmen mten. Denn nicht nur die Vollbrger (die alle Soldaten sind) und die Kinder, sondern selbst die Tiere mssen ihr ganzes Leben in einem Zustand dauernder und vollstndiger Mobilisation verbringen33. Das erste Prinzip von allen, so schreibt er, ist dieses: Niemand, weder Mann noch Weib, soll jemals ohne Fhrer sein. Auch soll niemandes Seele sich daran gewhnen, etwas ernsthaft oder auch nur im Scherz auf eigene Hand allein zu tun. Vielmehr soll jeder, im Krieg und auch mitten im Frieden auf seinen Fhrer blicken und ihm glubig folgen. Und auch in den geringsten Dingen soll er unter der Leitung des Fhrers stehen. Zum Beispiel er soll aufstehen, sich bewegen, sich waschen, seine Mahlzeiten einnehmen34 nur, wenn es ihm befohlen wurde Kurz, er soll seine Seele durch lange Gewhnung so in Zucht nehmen, da sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, unabhngig zu handeln und da sie dazu vllig unfhig wird. So werden alle ihr Leben in totaler Gemeinschaft verbringen. Es gibt kein Gesetz, noch wird es je eines geben, das diesem berlegen wre oder das besser und wirksamer wre, um die Errettung und den Sieg im Kriege zu sichern. Das mu denn auch schon im Frieden und von frhester Kindheit auf Gegenstand eifriger bung sein, da man nicht minder lerne, andere zu beherrschen, als von ihnen beherrscht zu werden. Und jede Spur von Anarchie mu nicht nur aus dem Leben aller Menschen, sondern auch aller dem Menschen dienenden Tiere grndlich und bis auf die letzten Spuren ausgerottet werden.
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Das sind schwerwiegende Worte. Niemals war es einem Menschen ernster mit seiner Feindschaft gegen das Individuum. Und dieser Ha ist tief in dem fundamentalen Dualismus der platonischen Philosophie verwurzelt; Platon hate das Individuum und seine Freiheit ebensosehr wie die wechselnden besonderen Erfahrungen und die Vielfalt der vernderlichen Welt wahrnehmbarer Dinge. Auf dem Gebiet der Politik ist das Individuum fr Platon der Bse selbst. Diese antihumanitre und antichristliche Einstellung wurde stndig idealisiert. Sie wurde als menschlich, als selbstlos, als altruistisch und als christlich hingestellt. Zum Beispiel nennt E. B. England35 die erste der beiden zitierten Stellen aus den Gesetzen eine nachdrckliche Rge der Selbstsucht. hnliche Worte gebraucht Barker anllich der Diskussion von Platons Theorie der Gerechtigkeit: Es sei Platons Ziel gewesen, die Selbstsucht und die Uneinigkeit unter den Brgern durch Harmonie zu ersetzen; Barker meint, da die alte Harmonie zwischen den Interessen des Staates und denen des Individuums in den Lehren Platons auf diese Weise wiederhergestellt wird; wiederhergestellt aber auf einer neuen und hheren Ebene, da sie zu einem bewuten Sinn fr Harmonie erhoben wurde. Diese und hnliche Behauptungen lassen sich leicht erklren, wenn wir uns daran erinnern, da Platon den Individualismus mit dem Egoismus identiziert hat; denn alle diese Platoniker halten den Antiindividualismus und die Selbstlosigkeit fr eine und dieselbe Sache. Das illustriert
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meine These, da die von Platon vollzogene Gleichsetzung beider als ein erfolgreicher antihumanitrer Propagandatrick wirkte, der ethische berlegungen bis auf unsere Zeit verwirrte. Aber wir mssen uns auch darber klar werden, da alle Denker, die, durch diese Identikation und durch die hochtrabenden Worte Platons getuscht, seinen Ruf als Sittenlehrer in den Himmel heben und seine Ethik als die nchste Annherung an das Christentum anfhren, die vor Christus erreicht worden sei, da sie alle den totalitren Ideen und insbesondere einer totalitren antichristlichen Interpretation des Christentums den Weg bereiten. Und das ist gefhrlich, denn es gab Zeiten, in denen das Christentum von totalitren Ideen beherrscht war. Es gab eine Inquisition; und sie kann in einer anderen Form wiederkommen. Es ist daher der Mhe wert, einige weitere Grnde dafr anzugeben, warum sich arglose Leute eingeredet haben, da Platon humanitre Absichten hatte. Einer dieser Grnde ist der folgende: Platon bereitet seine kollektivistischen Lehren gewhnlich so vor, da er eine Maxime oder ein Sprichwort (anscheinend pythagoreischen Ursprungs) zitiert: Freunde haben alle Dinge, die sie besitzen, miteinander gemeinsam36. Das ist zweifellos ein selbstloser, hochgesinnter und ausgezeichneter Gedanke. Wer wird wohl vermuten, da ein Argument, das von einer so lobenswerten Annahme ausgeht, mit einem vllig antihumanitren Schlu endet? Ein anderer wichtiger Punkt ist, da in Platons Dialogen viele echt humanitre Gedanken enthalten sind (das gilt insbesondere von den Dialogen, die vor dem
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Staat geschrieben wurden, zu einer Zeit also, in der sich Platon noch unter dem Einu des Sokrates befand). Ich erwhne insbesondere die Lehre des Sokrates im Gorgias, es sei schlimmer, Unrecht zu tun, als es zu erleiden. Diese Lehre ist klarerweise nicht nur altruistisch, sondern auch individualistisch; denn in einer kollektivistischen Theorie der Gerechtigkeit, wie sie etwa im Staat vorgetragen wird, ist die Ungerechtigkeit eine Handlung gegen den Staat, nicht gegen einen Einzelnen; und obgleich ein Einzelner eine ungerechte Handlung begehen kann, kann doch nur das Kollektiv unter ihr leiden. Aber im Gorgias nden wir nichts von dieser Art. Die Theorie der Gerechtigkeit ist vllig normal, und Sokrates (der hier hchstwahrscheinlich viele Zge des wirklichen Sokrates besitzt) gibt fr Ungerechtigkeit Beispiele wie diese: Einen Menschen ohrfeigen, ihn verletzen oder ihn tten. Die Lehre des Sokrates, da es besser sei, solche Handlungen zu erleiden, als sie auszuben, ist in der Tat mit der christlichen Lehre sehr verwandt, und seine Lehre von der Gerechtigkeit ist vllig im Geiste des Perikles. (Im 0. Kapitel wird versucht werden, diesen Umstand zu erklren.) Der Staat entwickelt nun eine neue Auassung der Gerechtigkeit, die mit einem solchen Individualismus nicht nur unvereinbar ist, sondern die ihm auerdem hchst feindlich gegenbersteht. Es ist aber leicht mglich, da ein Leser glaubt, Platon halte sich noch immer an die Lehre des Gorgias. Denn im Staat spielt er hug auf die Lehre an, da es besser sei, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun, obgleich dies vom Stand222 Platons politisches Programm

punkt der kollektivistischen Theorie der Gerechtigkeit aus, die in diesem Werke vorgetragen wird, einfach Unsinn ist. Auerdem hren wir im Staate, da die Widersacher des Sokrates die entgegengesetzte Meinung vertreten; sie nennen es gut und angenehm, Unrecht zuzufgen und schlecht, es zu erleiden. Natrlich wird jeder humanitr gesinnte Mensch von einem solchen Zynismus abgestoen; wenn daher Platon seinen Sokrates sagen lt: Denn ich frchte eine Snde zu begehen, wenn ich derart ble Reden ber die Gerechtigkeit in meiner Gegenwart zulasse und nicht mein uerstes zu ihrer Verteidigung unternehme37 dann ist der gutglubige Leser von den guten Absichten Platons berzeugt und bereit, ihm zu folgen, wohin er auch immer gehen mag. Diese Versicherung Platons folgt unmittelbar auf die zynischen und selbstschtigen Reden38 des Thrasymachos und wird mit ihnen kontrastiert. Ihre Wirkung wird dadurch auerordentlich vergrert. Denn Thrasymachos wird als ein politischer Desperado der schlimmsten Sorte geschildert. Gleichzeitig wird der Leser veranlat, den Individualismus mit den Ansichten des Thrasymachos zu identizieren und zu denken, da Platon bei seinem Kampf gegen ihn alle umstrzlerischen und nihilistischen Tendenzen seiner Zeit aufs Korn nimmt. Wir sollten uns aber nicht von einem individualistischen Schreckgespenst wie Thrasymachos ins Bockshorn jagen lassen (es besteht eine groe hnlichkeit zwischen seinem Portrt und dem modernen kollektivistischen Popanz Bolschewismus)
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und einer anderen, wirksameren und gefhrlicheren, weil weniger oenkundigen Barbarei verfallen. Denn Platon ersetzt die Lehre des Thrasymachos (Recht ist die Macht des Individuums) durch die gleich barbarische Lehre, da Recht ist, was die Stabilitt und die Macht des Staates frdert. Wir fassen zusammen. Wegen seines radikalen Kollektivismus ist Platon an denjenigen Fragen, die die Menschen gewhnlich die Probleme der Gerechtigkeit nennen, das heit am unparteiischen Abwgen der einander widerstreitenden Forderungen der Individuen nicht einmal interessiert. Noch ist es ihm daran gelegen, die Forderungen des Individuums denen des Staates anzupassen. Denn das Individuum ist ein vllig minderwertiges Ding. Ich gebe meine Gesetze im Hinblick auf das, was fr den gesamten Staat das heilsamste ist, sagt Platon, denn ich stelle die Wnsche des Individuums mit Recht auf eine niedrigere Wertstufe39. Nur das kollektive Ganze als solches ist von Interesse, und die Gerechtigkeit besteht fr ihn in nichts anderem als in der Gesundheit, Einheit und Stabilitt des Kollektivkrpers. VI Wir haben bisher gesehen, da eine humanitre Ethik eine Interpretation der Gerechtigkeit erfordert, die auf dem Gleichheitsprinzip aufbaut und die individualistisch ist; wir haben aber, noch nicht die humanitre Auassung vom Staat als solchem dargelegt. Andererseits haben wir den totalitren Charakter der Platonischen Staatstheorie gesehen;
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aber wir haben noch nicht die Anwendung dieser Theorie auf die Ethik des Individuums erklrt. Beide Aufgaben werden wir jetzt in Angri nehmen, die zweite zuerst; und ich werde mit einer Analyse des dritten Arguments beginnen, das Platon anllich seiner Entdeckung der Gerechtigkeit vorfhrt; dieses Argument wurde bisher nur sehr chtig skizziert; hier ist sein voller Wortlaut40: Sieh nun zu, ob du so denkst, wie ich, sagt Sokrates. Angenommen, ein Zimmermann wollte die Arbeiten eines Schusters verrichten oder ein Schuster die eines Zimmermanns meinst du, da dieser Tausch dem Staat groen Schaden bringen wird? Durchaus nicht. Doch wenn einer, der von Natur aus ein Arbeiter ist oder ein Mitglied der geldverdienenden Klasse es fertig brchte, in die Klasse der Krieger zu gelangen; oder wenn ein Krieger Ratsherr oder Wchter wrde, ohne dessen wrdig zu sein; dann wrde doch diese Vernderung und die heimliche Verschwrung, die zu ihr fhrt, das Verderben des Staates bedeuten? Ganz sicher wrde das so sein. Wir haben drei Klassen in unserem Staate, und ich nehme an, da jedes derartige Komplott und jeder derartige Wechsel von einer Klasse in die andere ein groes Verbrechen gegen den Staat ist und mit Recht als die uerste Schandtat bezeichnet werden mu? Mit bestem Recht. Wirst du aber nicht die grte Schandtat gegen den eigenen Staat die Ungerechtigkeit nennen? Ganz gewi. Das also ist die Ungerechtigkeit. Andererseits aber lat uns so sagen: Wenn die Klasse der Gewerbetreibenden, der Hilfstruppen
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und der Wchter jede fr sich ihrer eigenen Arbeit nachgeht, so hat dies als die Gerechtigkeit zu gelten. Wenn wir nun dieses Argument nher in Augenschein nehmen, so nden wir [a] die soziologische Annahme, da jede Lockerung des starren Kastensystems zum Untergang des Staates fhren mu; [b] die stndige Wiederholung des Arguments, da alles, was dem Staate schadet, Ungerechtigkeit ist; und [c] den Schlu, da das Gegenteil die Gerechtigkeit ist. Wir knnen nun Platon die soziologische Annahme [a] zugestehen; es ist ja sein Ideal, der sozialen Bewegung Einhalt zu gebieten, und schdlich ist fr ihn alles, was irgendeine Vernderung nach sich zieht; es trifft wahrscheinlich auch zu, da sich die soziale Vernderung nur durch ein starres Kastensystem aufhalten lt. Und wir knnen schlielich zugeben (Schlu [c]), da die Gerechtigkeit das Gegenteil der Ungerechtigkeit ist. Von grerem Interesse ist hingegen [b]; ein Blick auf Platons Argument zeigt uns, da sein ganzer Gedankengang durch die eine Frage beherrscht wird: Fgt dies dem Staate Schaden zu? Fgt es ihm groen Schaden zu oder geringen Schaden? Er wiederholt bestndig, da alles moralisch verdorben und ungerecht sei, was dem Staate zu schaden droht. Wir sehen hier, da Platon im Grunde nur einen Mastab anerkennt: Das Interesse des Staates. Alles, was dieses Interesse frdert, ist gut, tugendhaft, gerecht; alles, was es bedroht, ist schlecht, verworfen und ungerecht. Handlungen, die dem Staatsinteresse dienen, sind sittlich gut; Handlungen, die es gefhrden, sind schlecht. Mit anderen
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Worten: Platons sittlicher Kodex ist streng utilitaristisch; er ist der Kodex eines kollektivistischen oder politischen Utilitarismus. Das Kriterium der Sittlichkeit ist das Interesse des Staates. Die Sittlichkeit ist nichts als politische Hygiene. Das ist die kollektivistische, die stammesverwurzelte, die totalitre Theorie der Sittlichkeit: Gut ist, was im Interesse meiner Gruppe, meines Stammes, meines Staates liegt. Es ist leicht zu sehen, welche Folgen diese Moral fr internationale Beziehungen hatte: Solange der Staat stark ist, kann er sich mit keiner seiner Handlungen im Unrecht benden; der Staat hat das Recht, nicht nur gegen seine eigenen Brger mit jeder Art von Gewalttaten vorzugehen, falls seine Macht dadurch wchst, sondern auch andere Staaten anzugreifen, falls er es tun kann, ohne sich dabei zu schwchen. (Dieser Schlu die explizite Anerkennung des amoralischen Charakters des Staates und in Folge davon die Verteidigung des moralischen Nihilismus in bezug auf internationale Beziehungen wurde von Hegel gezogen.) Vom Standpunkt einer totalitren Ethik, vom Standpunkt des kollektiven Nutzens aus betrachtet, ist Platons Theorie der Gerechtigkeit vllig in Ordnung. Seinen Platz beizubehalten ist eine Tugend. Es ist jene brgerliche Tugend, die der militrischen Tugend der Disziplin genau entspricht. Und sie spielt genau die Rolle, die der Gerechtigkeit in Platons System der Tugenden zukommt. Denn die Rder im groen Uhrwerk des Staates knnen in zweifacher Weise Tugend zeigen. Erstens mssen sie sich nach Gre, Gestalt, Strke und so fort fr ihre Aufgabe eignen; und
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zweitens mu jedes einzelne sich an der richtigen Stelle benden und diesen Platz beibehalten. Die erste dieser Tugenden, die Eignung fr eine spezische Aufgabe, fhrt je nach der besonderen Aufgabe der Rdchen zu einer Differenziation. Einige Rder werden nur dann tugendhaft, das heit brauchbar sein, wenn sie (von Natur aus) gro sind; andere, wenn sie stark sind; und wieder andere, wenn sie glatt sind. Aber die Bestndigkeit im Einhalten ihres Platzes wird die ihnen allen gemeinsame Tugend sein; und sie wird zugleich eine Tugend des Ganzen sein, nmlich die Tugend des ordentlichen Zusammenpassens, der harmonischen bereinstimmung. Diese universelle Tugend nennt Platon Gerechtigkeit. Das ist ein vom Standpunkt totalitrer Moral vllig konsequentes und voll gerechtfertigtes Verfahren. Wenn das Individuum nichts anderes ist als ein Rdchen, dann besteht die Ethik einzig in Untersuchungen darber, wie es in das Ganze eingefgt werden kann. Ich mchte es klar machen, da ich an die Ehrlichkeit von Platons totalitrer Gesinnung glaube. Seine Forderung nach der unbestrittenen Herrschaft einer Klasse ber den Rest war kompromilos; aber sein Ideal war nicht die grtmgliche Ausbeutung der arbeitenden Klassen durch die Oberklasse, sondern die Stabilitt des Ganzen. Der Grund jedoch, den er fr die Notwendigkeit einer Einschrnkung der Ausbeutung angibt, ist wieder rein utilitaristisch. Er ist das Interesse an der Stabilisierung der Klassenherrschaft. Wenn die Wchter versuchen, zuviel zu bekommen, dann werden sie am Ende nichts in Hnden
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haben. Wenn sie nicht zufrieden sind mit einem Leben, das stabil und gesichert ist, wenn sie, durch ihre Macht verleitet, sich alles, den ganzen Reichtum des Staates mit Gewalt aneignen wollen, dann werden sie wohl einsehen mssen, wie weise Hesiod war, als er sagte, ,die Hlfte ist mehr als das Ganze4. Aber wir mssen uns vor Augen fhren, da selbst diese Tendenz zur Einschrnkung der Ausbeutung von Klassenprivilegien sich in einer totalitren Gesellschaftsordnung ziemlich hug vorndet. Die totalitre Staatsauassung ist nicht einfach amoralisch. Sie ist die Moral der geschlossenen Gesellschaftsordnung der Gruppe, des Stammes, der Horde; sie ist nicht individuelle, sondern kollektive Selbstsucht. Wenn wir nun in Betracht ziehen, da Platons drittes Argument gerade und folgerichtig durchgefhrt ist, dann erhebt sich die Frage, wozu er die weitschweige Vorrede und die beiden vorhergehenden Argumente bentigte. Warum ist es so unsicher? (Platoniker werden wohl antworten, da diese Unsicherheit nur in meiner Einbildung bestehe. Das mag der Fall sein. Aber der irrationale Charakter jener Stellen lt sich kaum hinwegdiskutieren.) Die Antwort auf diese Frage ist, wie ich glaube, da Platons kollektives Uhrwerk seine Leser kaum angesprochen htte, wre es ihnen in seiner ganzen Leere und Sinnlosigkeit prsentiert worden. Platon war unsicher, weil er wute, wie stark die Krfte waren, die er zu brechen versuchte, und weil er ihre moralische Strke kannte und frchtete. Er wagte nicht, sie anzugreifen, sondern er versuchte, sie fr seine eigenen
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Zwecke zu gewinnen. Wir werden nie erfahren, ob Platons Schriften Zeugnis eines zynischen und bewuten Versuchs sind, die mit der neuen humanitren Bewegung verbundenen moralischen Empndungen fr die eigenen Zwecke auszuntzen, oder ob wir die tragischen Bemhungen eines Menschen mit ansehen, der versuchte, sein eigenes besseres Gewissen von den Nachteilen des Individualismus zu berzeugen. Ich persnlich habe den Eindruck, da das letzte zutrifft und da dieser innere Konikt das Hauptgeheimnis des Zaubers darstellt, den Platon auf seine Leser ausbte und noch immer ausbt. Ich glaube, da Platon durch die neuen Ideen, insbesondere durch die Ideen des groen Individualisten Sokrates und durch sein Martyrium, zutiefst ergrien wurde. Und ich glaube, da er gegen den Einu dieser Ideen auf sich selbst und auf andere mit der ganzen Kraft seiner unbertroenen Intelligenz, wenn auch nicht immer oen, zu Felde zog. Dies erklrt es auch, warum wir inmitten all seiner totalitren Ideen von Zeit zu Zeit einige humanitre Ideen nden. Und dies erklrt es auch, warum es den Philosophen mglich war, Platon als einen Vertreter humanitrer Ideen hinzustellen. Ein starkes Argument zugunsten dieser Interpretation ist die Weise, in der Platon die humanitre und rationale Theorie des Staates behandelte, oder eher mihandelte, eine Theorie, die in seiner Generation zum erstenmal entwickelt worden war. In einer klaren Darstellung dieser Theorie sollte man sich der Sprache politischer Forderungen oder politischer
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Vorschlge (vergleiche 5. Kapitel, Abschnitt III) bedienen, das heit, man sollte nicht versuchen, die essentialistische Frage zu beantworten: Was ist der Staat, was ist seine wahre Natur, seine wirkliche Bedeutung? Auch sollte man sich nicht um die Lsung historizistischer Probleme bemhen, wie etwa um die Beantwortung der Frage, wie der Staat entstanden ist, wie der Ursprung politischer Verpichtungen aufzufassen ist usf. Die richtige Fragestellung ist vielmehr diese: Was verlangen wir von einem Staat, was schlagen wir als das legitime Ziel der Ttigkeit des Staates vor? Und wenn wir unsere grundstzlichen politischen Forderungen ausndig machen wollen, so knnen wir fragen: Warum ziehen wir ein Leben in einem wohlgeordneten Staat einem Leben ohne Staat, das heit einem Leben in Anarchie vor? Diese Fragestellung ist rational. Fragen dieser Art mu ein Technologe zu beantworten versuchen, bevor er an die Konstruktion oder Rekonstruktion irgendeiner politischen Institution schreiten kann. Denn nur, wenn er wei, was er will, kann er entscheiden, ob eine gewisse Institution ihrer Funktion wohl angepat ist oder nicht. Wenn wir nun unsere Frage auf diese Weise stellen, dann wird die Antwort des Vertreters humanitrer Prinzipien folgendermaen lauten: Was ich vom Staat verlange, ist Schutz; nicht nur fr mich, sondern auch fr andere. Ich verlange Schutz fr meine Freiheit und fr die Freiheit anderer. Ich mchte nicht einem Menschen ausgeliefert sein, der die greren Fuste oder die besseren Waen besitzt. Mit anderen Worten: Ich wnsche gegen die Angrie anderer
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geschtzt zu werden. Ich wnsche, da der Unterschied zwischen Angri und Verteidigung anerkannt werde und da die organisierten Krfte des Staates die Verteidigung untersttzen. (Verteidigt wird der Status quo, und das vorgeschlagene Prinzip luft auf folgendes hinaus: der Status quo soll nicht gewaltsam, sondern nur auf gesetzmigem Wege, durch einen Kompromi oder eine Entscheidung gendert werden; ausgenommen sind Flle, in denen es keine legale Prozedur zu seiner Vernderung gibt.) Ich bin zu gewissen Einschrnkungen meiner Freiheit durch den Staat vllig bereit, vorausgesetzt, da die mir verbleibende Freiheit durch den Staat geschtzt wird; denn ich wei, da einige Einschrnkungen notwendig sind; so zum Beispiel mu ich meine Freiheit anzugreifen aufgeben, wenn ich wnsche, da der Staat meine Verteidigung gegen Angrie untersttzt. Aber ich verlange, da der fundamentale Zweck des Staates nicht aus dem Auge verloren werde; nmlich der Schutz jener Freiheit, die den anderen Brgern keinen Schaden zufgt. Daher fordere ich, da der Staat die Freiheit der Brger auf mglichst gleiche Weise einschrnke, aber nicht mehr, als ntig ist, um eine gleiche Begrenzung der Freiheit zu erreichen. So oder hnlich wird die Forderung des Vertreters humanitrer Prinzipien, des Anwalts der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, des Individualisten, lauten. Diese Forderung ermglicht es dem Sozialtechniker, politische Probleme rational, das heit vom Standpunkt eines klaren und wohlbestimmten Zieles aus anzupacken.
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Gegen die Behauptung, da sich ein Ziel wie das angefhrte hinreichend klar und bestimmt formulieren lasse, sind zahlreiche Einwnde erhoben worden. Es wurde gesagt, da das Freiheitsprinzip mit der Erkenntnis der Notwendigkeit einer Einschrnkung der Freiheit zusammenbrechen msse, und da sich die Frage, welche Einschrnkungen notwendig und welche willkrlich seien, nicht rational, sondern nur durch Autoritt entscheiden liee. Aber diesem Einwand liegt eine Verwechslung zugrunde. Er verwechselt die Grundfrage, was wir von einem Staate verlangen, mit gewissen wichtigen technologischen Schwierigkeiten bei der Verwirklichung unserer Ziele. Eine genaue Bestimmung des Ausmaes an Freiheit, das den Brgern gewhrt werden kann, ohne diejenige Freiheit zu gefhrden, die der Staat zu beschtzen hat, ist sicher sehr schwierig. Aber die Erfahrung, das heit die Existenz demokratischer Staaten hat erwiesen, da dieses Ausma zumindest annhernd bestimmt werden kann. Tatschlich ist das Verfahren der angenherten Bestimmung der den einzelnen Brgern zu gewhrenden Freiheit eine der Hauptaufgaben der Gesetzgebung in den Demokratien. Das Verfahren ist schwierig; aber diese Schwierigkeiten sind sicher nicht so gro, da sie uns zu einer nderung unserer grundlegenden Forderungen zwingen knnten. Diese verlangen, kurz gesagt, da der Staat als eine Gesellschaft zur Verhtung von Verbrechen, das heit zur Verhtung von Aggression betrachtet werden soll. Der ganze Einwand, da es schwer sei, zu wissen, wo die Freiheit ende und das
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Verbrechen beginne, wird im Prinzip in der berhmten Geschichte vom Radaubruder erledigt, der behauptete, er knne als freier Brger seine Faust in jede beliebige Richtung bewegen; worauf der Richter weise zur Antwort gab: Die Freiheit der Bewegung deiner Fuste ist durch die Lage der Nase deines Nachbarn begrenzt. Die hier skizzierte Auassung vom Staate kann man Protektionismus nennen. Der Ausdruck Protektionismus wurde oft zur Beschreibung von Tendenzen verwendet, die im Gegensatz zur Freiheit stehen. So versteht der Volkswirtschaftler unter Protektionismus eine Politik, die gewisse industrielle Interessen gegen Konkurrenz schtzt; und der Moralist versteht darunter die Forderung nach einer moralischen Bevormundung der Bevlkerung durch Staatsbeamte. Obgleich die politische Theorie, die ich Protektionismus nenne, mit keiner dieser Tendenzen in Verbindung steht, und obgleich sie im Grunde eine liberale Theorie ist, halte ich die Verwendung des angefhrten Namens doch fr gerechtfertigt; er soll andeuten, da diese Theorie trotz ihres liberalen Charakters nichts mit der Politik strikter Nicht-Intervention zu tun hat (die oft, wenn auch nicht ganz korrekt, laissez faire genannt wurde). Der Liberalismus und das Eingreifen des Staates stehen zueinander nicht im Widerspruch. Im Gegenteil: Freiheit jeder Art ist klarerweise unmglich, solange sie nicht durch den Staat gesichert wird42. So zum Beispiel ist in der Erziehung ein gewisses Ausma von Staatskontrolle notwendig, wenn die jungen Menschen vor einer Vernachlssigung bewahrt
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werden sollen, die sie unfhig machen wrde, ihre Freiheit zu verteidigen: der Staat hat zuzusehen, da alle erzieherischen Mglichkeiten fr jeden zugnglich sind. Ein zu groes Ausma an Staatsaufsicht in Angelegenheiten der Erziehung ist jedoch eine verhngnisvolle Gefahr fr die Freiheit, denn es fhrt zum doktrinren Einen gewisser Lehren. Wie wir bereits angedeutet haben, lt sich die bedeutsame und schwierige Frage der Grenzen der Freiheit nicht durch eine handliche Zauberformel lsen. Und die Tatsache, da es immer Grenzflle geben wird, ist nur zu begren; denn ohne den Anreiz politischer Probleme und politischer Kmpfe dieser Art wrde die Bereitschaft der Brger, fr die Freiheit zu kmpfen bald verschwinden und damit die Freiheit selbst. (In diesem Licht gesehen, erweist sich der angebliche Widerstreit zwischen Freiheit und Sicherheit, das heit einer vom Staat garantierten Sicherheit, als eine Chimre. Denn es gibt keine Freiheit, wenn sie nicht vom Staate geschtzt wird; und umgekehrt: nur ein Staat, der von freien Brgern berwacht wird, kann diesen berhaupt ein vernnftiges Ausma an Sicherheit zur Verfgung stellen.) So formuliert, ist die protektionistische Theorie des Staates frei von allen historizistischen und essentialistischen Elementen. Sie behauptet weder, da der Staat als eine Vereinigung von Individuen mit dem Zweck der gegenseitigen Beschtzung entstanden sei, noch da irgendein historischer Staat je bewut diesem Ziel gem regiert wurde. Sie enthlt keine Aussagen ber die wesentliche Natur des
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Staates oder ber ein natrliches Recht auf Freiheit. Wir erfahren auch nichts darber, wie die Staaten tatschlich funktionieren. Die Theorie formuliert eine politische Forderung oder genauer einen Vorschlag zur Annahme eines bestimmten Verfahrens. Ich vermute jedoch, da viele Konventionalisten, die den Staat als eine zum Schutze seiner Mitglieder entstandene Verbindung beschrieben haben, gerade diese Forderung ausdrcken wollten, obgleich sie es in einer schwerflligen und irrefhrenden Sprache in der Sprache des Historizismus taten. Die Behauptung, da die wesentliche Funktion des Staates in der Beschtzung seiner Mitglieder bestehe, ist in hnlicher Weise irrefhrend; dasselbe gilt von der Behauptung, da der Staat als eine Verbindung zu gegenseitigem Schutz zu denieren sei. Alle diese Theorien mssen gleichsam in die Sprache der Forderungen oder Vorschlge fr politische Aktionen bersetzt werden, bevor man sie ernsthaft diskutieren kann. Denn sonst sind endlose Wortgefechte unvermeidlich. Es sei ein Beispiel einer solchen bersetzung angefhrt. Bei Aristoteles43 nden wir eine Kritik dessen, was ich Protektionismus nenne; diese Kritik wurde von Burke und von vielen modernen Platonikern wiederholt. Sie behauptet, da der Protektionismus von der Aufgabe des Staates eine zu geringe Meinung habe. Der Staat mu (um Burkes Worte zu verwenden) mit ganz anderer Verehrung betrachtet werden; denn er ist keine Teilnahme an Dingen, die nur der stumpfen tierischen Existenz einer zeitlichen und vergnglichen Natur dienen. Es wird also mit anderen
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Worten behauptet, da der Staat etwas Hheres und Vornehmeres sei als eine Verbindung, die rationale Zwecke zu erfllen hat; er ist ein Gegenstand der Verehrung. Er hat hhere Aufgaben als den Schutz menschlicher Wesen und ihrer Rechte. Er hat moralische Aufgaben. Auf die Tugend zu achten, ist die Aufgabe eines Staates, der wahrhaft diesen Namen verdient, sagt Aristoteles. Wenn wir nun versuchen, diese Kritik in die Sprache politischer Forderungen zu bersetzen, dann nden wir das Folgende: Die zitierten Kritiker des Protektionismus wollen zweierlei. Zunchst einmal wollen sie den Staat zu einem Gegenstand der Verehrung machen. Von unserem Standpunkt aus lt sich nichts gegen diesen Wunsch einwenden. Er fhrt zu einem religisen Problem; und die Verehrer des Staates mssen selbst eine Lsung dafr nden, wie sie ihr Glaubensbekenntnis mit ihren brigen religisen Ansichten, zum Beispiel mit dem Ersten Gebot, in Einklang bringen knnen. Die zweite Forderung ist politischer Natur. In der Praxis bedeutet diese Forderung einfach, da sich die Beamten des Staates um die sittliche Verfassung der Brger kmmern sollen; sie sollen ihre Macht nicht so sehr zum Schutz der Freiheit der Brger als zur Kontrolle ihres sittlichen Lebens verwenden. Oder: Der Bereich der Legalitt, das heit der Bereich der vom Staate zur Geltung gebrachten Normen, soll auf Kosten der Sittlichkeit im engeren Sinn erweitert werden, das heit auf Kosten der Normen, denen nicht der Staat, sondern unsere eigene sittliche Entscheidung, unser Gewissen Anerkennung verschafft. Eine derartige
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Forderung oder ein derartiger Vorschlag lt sich rational diskutieren; und wir knnen einwenden, da es den Urhebern dieser Forderung scheinbar nicht klar ist, da sie das Ende der moralischen Verantwortlichkeit des Individuums bedeuten wrde, da sie die Sittlichkeit nicht verbessern, sondern zerstren wrde. Sie ersetzt die persnliche Verantwortlichkeit durch Stammestabus und durch die totalitre Unverantwortlichkeit des Individuums. Gegenber einer Haltung wie dieser mu der Individualist darauf verweisen, da die Sittlichkeit des Staates (falls es berhaupt etwas derartiges gibt) die Tendenz hat, betrchtlich niedriger zu sein als die Sittlichkeit des Durchschnittsbrgers; daher ist eine Kontrolle der Sittlichkeit des Staates durch die Brger viel wnschenswerter als das umgekehrte Verfahren. Was wir brauchen und wnschen ist die Versittlichung der Politik und nicht die Politisierung der Sitten. Es sollte erwhnt werden, da die bestehenden demokratischen Staaten, obgleich von der Vollkommenheit weit entfernt, vom Standpunkt des Protektionisten aus betrachtet, eine sehr bedeutende Leistung richtiger Sozialtechnik darstellen. Viele Formen des Verbrechens, des Angries von Individuen auf die Rechte anderer Individuen sind praktisch unterdrckt oder betrchtlich reduziert worden, und die Gerichtshfe handhaben die Gerechtigkeit in schwierigen Interessenskonikten mit einigem Erfolg. Es gibt viele Menschen, die die Ausdehnung dieser Methoden44 auf internationale Verbrechen und internationale Konikte fr einen utopischen Traum halten; aber es ist nicht so lange
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her, da die Institution einer wirkungsvollen Exekutive zur Aufrechterhaltung des zivilen Friedens jenen, die unter den Drohungen von Verbrechern zu leiden hatten, utopisch erschien und das in Lndern, in denen der zivile Frieden gegenwrtig mit einigem Erfolg aufrechterhalten wird. Und ich glaube, da die technischen Probleme der Kontrolle internationaler Verbrechen wirklich nicht so schwierig sind, sobald man sie nur oen und rational ins Auge fat. Wenn die Sache klar dargelegt wird, so wird es sicher nicht schwer sein, Leute zu nden, die der Notwendigkeit protektiver Institutionen (in regionalem und weltweitem Mastab) zustimmen. Lassen wir die Staatsanbeter nur weiter den Staat anbeten; aber fordern wir, da es den institutionellen Technologen gestattet werde, nicht nur die innere Maschinerie des Staates zu verbessern, sondern auch eine Organisation zur Verhtung internationaler Verbrechen aufzubauen. VII Wir kehren nun zu der Geschichte dieser Bewegungen zurck; es scheint, da die protektionistische Theorie des Staates zuerst vom Sophisten Lykophron, einem Schler des Gorgias, aufgestellt wurde. Es ist bereits erwhnt worden, da er (wie auch Alkidamas, ein anderer Schler des Gorgias) als einer der ersten die Theorie der natrlichen Vorrechte angri. Da er diejenige Theorie vertrat, die hier Protektionismus genannt wird, hat Aristoteles festgehalten, der von ihm in einer Weise spricht, die es sehr wahrscheinlich macht, da er als der Begrnder dieser
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Theorie anzusehen ist. Aus derselben Quelle hren wir, da er sie mit einer Klarheit formulierte, die kaum je von einem seiner Nachfolger erreicht wurde. Aristoteles berichtet, da Lykophron das Gesetz des Staates fr einen Vertrag hielt, durch den sich die Menschen gegenseitig der Gerechtigkeit versichern (und er sprach ihm die Macht ab, die Brger gut oder gerecht zu machen). Weiterhin berichtet Aristoteles 45, da Lykophron den Staat als ein Instrument zum Schutze seiner Brger gegen Akte von Ungerechtigkeit betrachtete (und als ein Instrument, das ihnen friedlichen Verkehr, insbesondere Tausch gestattet); er verlangt, der Staat solle eine kooperative Vereinigung zur Verhtung von Verbrechen sein. Interessanterweise ndet sich in der Darstellung des Aristoteles keine Andeutung dafr, da Lykophron seine Theorie in historizistischer Form, das heit als eine Theorie ber den historischen Ursprung des Staates aus einem Gesellschaftsvertrag formuliert hat. Im Gegenteil: Aus dem Zusammenhang ist deutlich zu ersehen, da sich Lykophrons Theorie nur mit dem Zweck des Staates befate; denn Aristoteles macht die Bemerkung, Lykophron habe vergessen, da es der wesentliche Zweck des Staates sei, seine Brger tugendhaft zu machen; das deutet daraufhin, da Lykophron jenen Zweck rational, von einem technologischen Gesichtspunkt aus, beurteilte, indem er die Forderungen der gleichen Behandlung der Brger vor dem Gesetz, des Individualismus und des Protektionismus, zu den seinen machte.
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In dieser Form ist die Theorie Lykophrons vllig vor den Einwnden geschtzt, die sich gegen die traditionelle historizistische Theorie des Staatsvertrages erheben lassen. Es wurde oft gesagt, und Barker wiederholt es46, da der Kontrakttheorie von modernen Denkern Punkt fr Punkt entscheidende Einwnde entgegengehalten worden sind. Das mag wahr sein; aber ein berblick ber die Punkte Barkers zeigt, da die Theorie Lykophrons von jenen Einwnden unberhrt bleibt; (Barker hlt Lykophron [und hier bin ich geneigt, ihm zuzustimmen] fr den wahrscheinlichen Grnder der frhesten Form einer Theorie, die spter Kontrakttheorie genannt worden ist). Barkers Punkte lassen sich auf folgende Weise darstellen: [a] Es hat, historisch gesehen, nie einen Vertrag gegeben; [b] der Staat ist, historisch gesehen, nie errichtet worden; [c] Gesetze sind nicht konventionell, sie entspringen vielmehr der Tradition, berlegener Gewalt, mglicherweise dem Instinkt usf.; sie sind Sitten, bevor sie in die Gesetzbcher Eingang nden; [d] die Strke der Gesetze liegt nicht in den Sanktionen, in der protektiven Macht des Staates, die ihnen Geltung verschafft, sondern in der Bereitschaft des Individuums, ihnen zu gehorchen, das heit im sittlichen Willen des Individuums. Man sieht sogleich, da die Einwnde [a], [b] und [c], die fr sich betrachtet ziemlich korrekt sind (obgleich es einige Vertrge gegeben hat), nur die historizistische Form der Theorie betreen und fr Lykophrons Fassung irrelevant sind. Wir brauchen sie daher berhaupt nicht in Betracht zu
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ziehen. Hingegen verdient Einwand [d] nhere Betrachtung. Was kann mit ihm gemeint sein ? Die angegriene Theorie legt auf den Willen, oder besser auf die Entscheidung des Individuums, greres Gewicht als jede andere Theorie; in der Tat legt das Wort Vertrag eine bereinstimmung aus freiem Willen nahe; es verweist vielleicht mehr als jede andere Theorie auf den Umstand, da die Strke der Gesetze in der Bereitschaft des Individuums besteht, sie anzunehmen und ihnen zu gehorchen. Wie kann dann [d] die Rolle eines Einwandes gegen die Vertragstheorie spielen? Die einzige Erklrung ist wohl die, da Barker glaubt, der Vertrag entspringe nicht dem moralischen Willen des Individuums, sondern eher einem selbstschtigen Willen; und diese Interpretation ist um so wahrscheinlicher, als sie mit Platons Kritik bereinstimmt. Aber man braucht nicht selbstschtig zu sein, um ein Protektionist zu sein. Schutz ist nicht notwendigerweise Selbstschutz; viele Menschen versichern ihr Leben mit dem Ziel, andere und nicht sich selbst zu schtzen. In gleicher Weise ist es mglich, da sie den Schutz des Staates hauptschlich fr andere und in geringerem Grade (oder berhaupt nicht) fr sich selbst fordern. Die Grundidee des Protektionismus ist diese: Schtzt die Schwachen vor der Tyrannei der Starken. Diese Forderung wurde nicht nur von den Schwachen, sondern oft auch von den Starken erhoben. Es ist zumindest irrefhrend, wenn man sie eine selbstschtige oder unmoralische Forderung nennt. Es scheint mir, da Lykophrons Protektionismus keinem dieser Einwnde ausgesetzt ist. Er ist der passendste Aus242 Platons politisches Programm

druck der humanitren und gleichheitlichen Bewegung des Perikleischen Zeitalters. Und doch ist er uns entrissen worden. Er wurde den spteren Generationen nur in entstellter Form berliefert; als die historizistische Theorie vom Ursprung des Staates in einem Gesellschaftsvertrag; oder als eine essentialistische Theorie, die behauptet, da die wahre Natur des Staates die einer Konvention sei; oder als eine Theorie der Selbstsucht, die auf der Annahme beruht, da die Natur des Menschen im Grunde unmoralisch ist. All dies ist dem berwltigenden Einu der Autoritt Piatons zuzuschreiben. VIII Es besteht wenig Zweifel, da Platon die Theorie Lykophrons gut gekannt hat, denn er war aller Wahrscheinlichkeit nach ein jngerer Zeitgenosse Lykophrons. In der Tat lt sich diese Theorie leicht mit einer Theorie identizieren, die zuerst im Gorgias und spter im Staat erwhnt wird. (An keiner der beiden Stellen erwhnt Platon den Autor der Theorie; so ging er oft vor, wenn sich sein Widersacher noch am Leben befand.) Im Gorgias wird die Theorie von Kallikles dargelegt; dieser ist, wie der Thrasymachos des Staates ein ethischer Nihilist. Im Staat gibt Glaukon von ihr Bericht. In keinem der beiden Flle identiziert sich der Sprecher mit der Theorie, die er darstellt. Die beiden Stellen sind in mancher Hinsicht parallel. Beide bringen die Theorie in einer historizistischen Form, das heit als eine Lehre vom Ursprung der Gerechtigkeit.
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Beide stellen sie so dar, als seien ihre logischen Voraussetzungen notwendigerweise selbstschtig und sogar nihilistisch; das heit, als werde die protektionistische Ansicht vom Staate nur von denen untersttzt, die anderen Unrecht zufgen mchten, die aber dazu zu schwach sind, und die aus diesem Grunde wnschen, da auch die Starken nicht so handeln sollen; das ist sicher keine gerechte Darstellung; denn die einzig notwendige Prmisse der Theorie besteht in der Forderung, da Verbrechen oder Ungerechtigkeit unterdrckt werden sollen. So weit laufen die beiden Stellen des Gorgias und des Staates parallel, ein Umstand, der oft kommentiert wurde. Es besteht aber ein groer Unterschied zwischen ihnen, und dieser Unterschied wurde, soweit ich wei, von den Kommentatoren bersehen. Es handelt sich um folgendes: Im Gorgias wird die Theorie von Kallikles als eine Theorie dargestellt, die er bekmpft; und da Kallikles auch dem Sokrates entgegentritt, so wird der Protektionismus hier von Platon nicht angegrien, sondern implizit verteidigt. Eine genauere Analyse zeigt in der Tat, da Sokrates dem Nihilisten Kallikles gegenber einige ihrer Zge vertritt. Im Staat wird aber die gleiche Theorie als eine weiter ausgearbeitete und genau entwickelte Form der Ansichten des Thrasymachos dargestellt, das heit des Nihilisten, der hier die Stelle des Kallikles einnimmt; mit anderen Worten: die Theorie wird hier als nihilistisch dargestellt, und Sokrates ist der Held, der diese teuische Lehre der Selbstsucht siegreich zerstrt.
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Somit enthllen die Stellen, bei deren Vergleich die meisten Kommentatoren eine hnlichkeit zwischen den Tendenzen des Gorgias und des Staates nden, tatschlich einen vlligen Frontwechsel. Trotz der feindlich gesinnten Darstellung des Kallikles ist die Tendenz des Gorgias dem Protektionismus gnstig; aber der Staat wendet sich heftig gegen ihn. Hier ist ein Auszug aus der Rede des Kallikles im Gorgias47: Die Gesetze werden von der groen Masse des Volkes gemacht, und diese besteht hauptschlich aus den Schwachen. Sie schaen die Gesetze um sich und ihre Interessen zu schtzen. So halten sie die Strkeren und alle anderen, die ber sie die Oberhand gewinnen knnten, davon ab, dies zu tun; Und ,Ungerechtigkeit nennen sie es, wenn einer versucht, die Oberhand ber seine Nachbarn zu gewinnen. Und da sie ihrer Unterlegenheit gewahr sind, sind sie, so mchte ich sagen, nur zu froh, wenn sie Gleichheit erhalten knnen. Wenn wir diese Darstellung ins Auge fassen und alles ausschalten, was der oenen Verachtung und Feindschaft des Kallikles zugeschrieben werden mu, dann nden wir hier alle Elemente der Theorie Lykophrons wieder: die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, den Individualismus und den Schutz vor der Ungerechtigkeit. Sogar die Bezugnahme auf die Starken und die Schwachen, die ihrer Unterlegenheit gewahr sind, pat in der Tat sehr gut zur protektionistischen Ansicht, wenn wir ein gewisses Ausma an Entstellung zulassen. berhaupt ist es nicht unwahrscheinlich, da Lykophrons Lehre explizit
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die alles eher als unedle Forderung erhob, da der Staat die Schwachen schtzen solle. (Die Honung, da sich diese Forderung eines Tages erfllen wird, ndet ihren Ausdruck in der christlichen Lehre, in der es heit: Die Sanftmtigen werden das Land besitzen.) Kallikles selbst schtzt den Protektionismus nicht; er ist fr die natrlichen Rechte des Strkeren. Es ist sehr bedeutsam, da Sokrates bei seiner Auseinandersetzung mit Kallikles dem Protektionismus zu Hilfe kommt und da er ihn sogar mit seiner eigenen Lehre identiziert, da es besser sei, Ungerechtigkeit zu erleiden, als auszuben. Zum Beispiel sagt er48: Sind nicht viele Menschen, wie du vorhin sagtest, der Ansicht, da die Gerechtigkeit Gleichheit sei? Und auch, da es schndlicher sei, Unrecht zu tun, als es zu erleiden? Und spter: die Natur selbst und nicht nur die bereinkunft besttigt, da es schndlicher ist, Unrecht zu tun, als es zu erleiden, und da Gerechtigkeit Gleichheit ist. (Trotz dieser individualistischen, gleichheitlichen und protektionistischen Tendenzen nden sich im Gorgias auch stark antidemokratische Zge. Die Erklrung besteht wohl darin, da Platon seine totalitren Lehren zur Zeit der Abfassung dieses Dialogs noch nicht entwickelt hatte; obgleich sich seine Sympathien bereits auf der Seite der Gegner der Demokraten befanden, stand er noch immer unter dem Einu des Sokrates. Es ist mir unverstndlich, wie jemand die Meinung vertreten kann, da der Gorgias wie auch der Staat beide gleichzeitig die Ansichten des Sokrates wahrheitsgem darstellen.)
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Wenden wir uns nun dem Staat zu. Hier fhrt Glaukon den Protektionismus als eine logisch genauere, aber ethisch unvernderte Fassung von Thrasymachos Nihilismus ein. Mein Thema, so sagt Glaukon49, ist der Ursprung der Gerechtigkeit und die Frage, was sie eigentlich ist. Einige behaupten, es sei von Natur aus vortreich, anderen Unrecht zuzufgen, und es sei schlecht, selbst Unrecht zu erleiden. Aber sie sind der Ansicht, da das mit dem erlittenen Unrecht verbundene bel weitaus grer ist als der Vorteil, der fr den entsteht, der es zufgt. Eine Zeitlang werden daher die Menschen einander Unrecht zufgen und es natrlich auch erleiden, und sie werden auf diese Weise einen guten Geschmack fr beides erhalten. Zuletzt aber beschlieen diejenigen, die nicht stark genug sind, sich seiner zu erwehren oder sich an seiner Ausbung zu erfreuen, da es fr sie vortreicher sei, sich in einem Vertrag zusammenzuschlieen und sich wechselseitig zu versichern, da keiner Unrecht zufge oder Unrecht erleide. So wurden die Gesetze eingefhrt und dies ist nach jener Lehre die Natur und die Herkunft der Gerechtigkeit. Wenn wir den rationalen Inhalt dieser Schilderung ins Auge fassen, so liegt hier klarerweise dieselbe Theorie vor wie im Gorgias: auch die Darstellung gleicht der Rede des Kallikles bis in Einzelheiten50. Und doch hat Platon einen vollstndigen Frontwechsel vollzogen. Der Protektionismus wird jetzt nicht mehr gegen die Behauptung verteidigt, da er auf einem zynischen Egoismus beruhe; im Gegenteil: unsere humanitren Gefhle, unsere sittliche Emprung,
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die bereits durch den Nihilismus des Thrasymachos entfacht wurde, werden verwendet, um uns zu Feinden des Protektionismus zu machen. Diese Lehre, deren humanitren Charakter Platon im Gorgias angedeutet hatte, wird nun von ihm so dargestellt, da sie uns antihumanitr erscheint, und da wir sie fr das Ergebnis der abstoenden und sehr wenig berzeugenden Lehre halten, Ungerechtigkeit sei etwas sehr Gutes fr diejenigen, die sie sich zunutze machen knnen. Und er zgert nicht, diesen Punkt einzuhmmern. In einer ziemlich langen Fortsetzung der eben zitierten Stelle arbeitet Glaukon die angeblich notwendigen Annahmen oder Prmissen des Protektionismus im einzelnen aus. Unter ihnen erwhnt er zum Beispiel die Annahme, Unrecht tun sei das Allerbeste5; die Gerechtigkeit werde nur eingefhrt, weil viele Menschen zu schwach sind, um Verbrechen zu begehen; und ein Leben voll Verbrechen sei fr den einzelnen Brger hchst vorteilhaft. Und Sokrates, das heit Platon, brgt ausdrcklich52 fr die Authentizitt der Interpretation Glaukons. Durch diese Methode scheint es Platon gelungen zu sein, die meisten seiner Leser, zumindestens aber alle Platoniker zu berzeugen, da die hier entwickelte protektionistische Theorie mit der rcksichtslosen und zynischen Selbstsucht des Thrasymachos identisch ist53; und, was noch wichtiger ist, da alle Formen des Individualismus auf ein und dasselbe hinauslaufen, nmlich auf die Selbstsucht. Aber er hat nicht nur seine Bewunderer berzeugt; es glckte ihm sogar, seine Widersacher und insbesondere die Anhnger
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der Vertragstheorie zu berreden. Von Karneades54 bis auf Hobbes bernahmen sie nicht nur seine verhngnisvolle historizistische Darstellungsweise, sondern auch seine Versicherungen, da die Grundlage ihrer Theorie ein ethischer Nihilismus sei. Man mu sich nun vergegenwrtigen, da das ganze Argument Platons gegen den Protektionismus einzig im Herausarbeiten seiner angeblich selbstschtigen Basis besteht; und wenn wir in Betracht ziehen, welchen Raum dies einnimmt, dann knnen wir mit Sicherheit annehmen, da nicht seine Zurckhaltung es war, die ihn kein besseres Argument vorfhren lie, sondern der Umstand, da er kein besseres Argument besa. Daher mute er den Protektionismus durch einen Appell an unsere moralischen Empndungen erledigen als eine Beleidigung der Idee der Gerechtigkeit und unseres Gefhls fr Anstndigkeit. So also behandelt Platon eine Theorie, die nicht nur seiner eigenen Lehre als ein gefhrlicher Rivale gegenberstand, sondern die auch ein Reprsentant des neuen humanitren und individualistischen Glaubensbekenntnisses, das heit der Erzfeind all dessen war, was Platon schtzte. Die Methode ist geschickt; das beweist ihr berraschender Erfolg. Aber ich mu oen zugeben, da ich sie fr unehrenhaft halte. Denn die angegriene Theorie bentigt keine Annahme, die unmoralischer wre als die Annahme, da die Ungerechtigkeit schlecht ist, das heit, da sie vermieden und kontrolliert werden sollte. Und Platon wute sehr wohl, da die Theorie nicht auf Selbstsucht beruhte, denn
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im Gorgias hatte er sie nicht mit der nihilistischen Theorie identiziert, aus der sie im Staate hergeleitet wird, sondern sie ihr entgegengesetzt. Zusammenfassend knnen wir sagen, da Platons Theorie der Gerechtigkeit, in der Form, in der sie im Staat und in den spteren Werken vorliegt, ein bewuter Versuch ist, die gleichheitlichen, individualistischen und protektionistischen Tendenzen seiner Zeit zu berwinden und die Forderungen des Stammes durch die Entwicklung einer totalitren Sittenlehre wiederherzustellen. Zur gleichen Zeit war er von der neuen humanitren Sittlichkeit stark beeindruckt; statt aber die Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz mit Argumenten zu bekmpfen, vermied er es, sie berhaupt zu diskutieren. Und es gelang ihm, die humanitren Empndungen, deren Strke er so gut kannte, fr die Sache der totalitren Klassenherrschaft einer von Natur aus berlegenen Herrenrasse zu gewinnen. Diese Klassenvorrechte, so behauptete er, sind notwendig zur Aufrechterhaltung der Stabilitt des Staates. Sie sind daher das Wesen der Gerechtigkeit. Diese Behauptung beruht letzten Endes auf dem Argument, da die Gerechtigkeit fr die Macht, Gesundheit und Stabilitt des Staates von Nutzen sei, auf einem Argument, das der modernen totalitren Denition Recht ist, was der Macht meiner Nation, oder meiner Klasse, oder meiner Partei ntzt nur zu sehr gleicht. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Platons Theorie der Gerechtigkeit betont die Klassenprrogativen;
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dadurch wird die Frage Wer soll herrschen? die zentrale Frage der politischen Theorie. Seine Antwort auf diese Frage lautete: Die Weisesten, die Besten sind zum Herrschen berufen. ndert nicht diese vortreiche Antwort den Charakter seiner Theorie? Siebentes Kapitel: DAS PRINZIP DES FHRERTUMS
Der Weise soll fhren und herrschen und der Unwissende soll ihm folgen. Platon

Gewisse Einwnde gegen meine Deutung des politischen Programms Platons haben mich zur Untersuchung der Rolle gezwungen, die sittliche Ideen, wie die Idee der Gerechtigkeit, die Idee des Guten, die Idee des Schnen, die Weisheit, die Wahrheit und die Glckseligkeit in diesem Programm spielen. Das gegenwrtige Kapitel und die beiden folgenden Kapitel sollen diese Analyse fortsetzen; die Rolle, die die Idee der Weisheit in Platons politischer Philosophie spielt, wird uns zuerst beschftigen. Wir haben gesehen, da Platons Idee der Gerechtigkeit im Grunde verlangt, da der natrliche Herrscher herrschen und der natrliche Sklave fronen solle. Dies ist ein Bestandteil der historizistischen Forderung, da der Staat, um jede Vernderung aufzuhalten, seiner Idee oder seiner wahren Natur mglichst hnlich gemacht werden solle.
Kapitel 7: Das Prinzip des Fhrertrums 251

Diese Theorie der Gerechtigkeit zeigt sehr klar, da das Grundproblem der Politik fr Platon in der folgenden Frage bestand: Wer soll den Staat regieren? Es ist meine berzeugung, da Platon dadurch, da er das Problem der Politik in Form der Frage stellte Wer soll herrschen? oder wessen Wille soll der hchste sein?, die politische Philosophie grndlich verwirrt hat. Dies ist der Verwirrung analog, die seine Identikation des Kollektivismus mit dem Altruismus auf dem Gebiet der Moralphilosophie erzeugte. Denn sobald einmal die Frage Wer soll regieren? gestellt ist, ist es klarerweise schwierig, eine Antwort wie der Beste, oder der Weiseste, oder der geborene Herrscher, oder der, welcher die Kunst des Regierens meistert (oder der allgemeine Wille, die Herrenrasse, die Industriearbeiter, oder das Volk) zu umgehen. Aber so berzeugend eine solche Antwort auch klingen mag denn wer wird wohl die Herrschaft der Schlechtesten, oder des grten Narren, oder des geborenen Sklaven empfehlen? , sie ist, wie ich zu zeigen versuchen werde, vllig nutzlos. Zunchst legt eine solche Antwort die Annahme nahe, da ein fundamentales Problem der politischen Theorie gelst worden ist. Aber wenn wir die Theorie der Politik von einer anderen Seite her angehen, dann nden wir, da wir, weit davon entfernt, auch nur ein Grundproblem gelst zu haben, die Schwierigkeiten durch die Annahme blo bersprangen, da die Frage Wer soll regieren? fundamental ist. Denn sogar jene Philosophen, die Platon in
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dieser Hinsicht folgen, geben zu, da die politischen Fhrer nicht immer hinreichend gut oder weise sind (wir brauchen uns um die genaue Bedeutung dieser Begrie nicht den Kopf zu zerbrechen) und da es nicht leicht ist eine Regierung zu erhalten, auf deren Gte und Weisheit man sich unbedingt verlassen kann. Ist das einmal zugegeben, so erhebt sich die Frage, ob sich das politische Denken nicht von Anfang an mit der Mglichkeit schlechter Regierungen vertraut machen sollte; ob wir nicht gut daran tten, uns auf die schlechtesten Fhrer vorzubereiten und auf die besten zu hoen. Aber das fhrt zu einer neuen Betrachtung des Grundproblems der Politik; denn es zwingt uns, die Frage Wer soll regieren? durch die neue Frage zu ersetzen2: Wie knnen wir politische Institutionen so organisieren, da es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmglich ist, allzugroen Schaden anzurichten? Diejenigen, die die ltere Frage fr fundamental halten, nehmen stillschweigend an, da die politische Macht ihrem Wesen nach keiner Kontrolle unterworfen sei. Sie nehmen an, da irgendwer (ein Individuum oder ein Kollektivkrper, wie etwa eine Klasse) die Macht besitzt und da es dem Besitzer der Macht ziemlich frei steht, zu tun und zu lassen, was er will; insbesondere kann er seine Macht vergrern und sie dadurch mehr und mehr aller Beschrnkungen und Kontrollen entledigen. Sie nehmen an, da die politische Macht ihrem Wesen nach souvern ist. Wenn dies einmal zugestanden wird, dann ist in der Tat die Frage Wer soll der Herrscher sein? die einzig wichtige Frage, die verbleibt.
Kapitel 7: Das Prinzip des Fhrertrums 253

Ich werde die eben charakterisierte Annahme die Theorie der (unkontrollierten) Souvernitt nennen, und ich werde diesen Ausdruck nicht zur Bezeichnung irgendeiner der verschiedenen Theorien der Souvernitt verwenden, wie sie insbesondere Autoren wie Bodin, Rousseau oder Hegel aufgestellt haben, sondern zur Bezeichnung der allgemeineren Annahme, da die politische Macht praktisch keiner Kontrolle unterworfen ist, oder der Forderung, da sie keiner Kontrolle unterworfen werden sollte; und auerdem zur Bezeichnung der daraus folgenden Behauptung, da das verbleibende Hauptproblem darin bestehe, diese Macht in die besten Hnde zu legen. Diese Theorie der Souvernitt wird bei Platon stillschweigend vorausgesetzt, und sie hat seither stets ihre Rolle gespielt. Auch jene modernen Autoren, die das Hauptproblem der Politik in der Frage sehen Wer soll diktieren? die Kapitalisten oder die Arbeiter? , bekennen sich implizit zu dieser Theorie. Ohne mich auf eine detaillierte Kritik einzulassen, mchte ich darauf verweisen, da es schwerwiegende Einwnde gegen eine vorschnelle und unkritische Annahme der Theorie der Souvernitt gibt. Wie gro auch immer ihre spekulativen Verdienste erscheinen mgen sie ist sicher sehr unrealistisch. Keine politische Macht ist jemals ohne alle Kontrolle gewesen, und solange nur die Menschen menschlich bleiben (solange die Brave New World nicht verwirklicht ist), kann es auch keine absolute und uneingeschrnkte politische Macht geben. Solange es einem Menschen nicht mglich ist, gengend physische Macht in
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seinen Hnden anzusammeln, um alle brigen Menschen zu beherrschen, ebensolange mu er von seinen Helfern abhngig bleiben. Sogar der mchtigste Tyrann ist abhngig von seiner Geheimpolizei, von seinen Helfern und von seinen Henkern. Diese Abhngigkeit bedeutet, da seine Macht, so gro sie auch sein mag, nicht aller Einschrnkungen ledig ist, und da er Zugestndnisse machen mu, indem er die eine Gruppe gegen die andere ausspielt. Sie bedeutet, da es auer seiner eigenen Macht auch andere politische Krfte gibt und da er seine Herrschaft nur ausben kann, indem er jene Krfte ausgleicht und sie sich zunutze macht. Sogar die extremen Flle von Souvernitt sind also niemals reine Flle, das heit Flle, in denen derWille oder das Interesse eines Menschen (oder, wenn es etwas derartiges gbe, der Wille oder das Interesse einer Gruppe) sein Ziel auf geradem Wege erreicht, ohne einen Teil seiner selbst zur Anwerbung von Krften preiszugeben, die er nicht erobern kann. Und in einer berwltigenden Anzahl von Fllen geht die Einschrnkung der politischen Macht noch viel weiter. Ich habe diese empirischen Umstnde nicht hervorgehoben, um sie als Argument zu verwenden, sondern einzig deshalb, weil ich Einwnde vermeiden mchte. Meine Behauptung ist, da jede Theorie der Souvernitt einer grundlegenderen Frage aus dem Wege geht der Frage nmlich, ob wir nicht eine institutionelle Kontrolle der Regierenden anstreben sollten, indem wir versuchen, ihrer Macht durch Krfte anderer Art das Gleichgewicht
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zu halten. Diese Theorie der Kontrolle und gegenseitigen Beschrnkung der Krfte im Staat verdient zumindest eine ernsthafte Diskussion. Soweit ich sehen kann, sind die einzigen Einwnde gegen diese Forderung die folgenden: [a] eine solche Kontrolle ist praktisch unmglich oder [b] sie ist ihrem Wesen nach unvorstellbar, da die politische Macht ihrem Wesen nach souvern ist3. Diese beiden dogmatischen Einwnde werden, wie ich glaube, durch die Tatsachen widerlegt; und mit ihnen fllt eine ganze Anzahl anderer einureicher Ansichten in sich zusammen (z. B. die Theorie, da die einzige Alternative zur Diktatur einer Klasse die Diktatur einer anderen Klasse ist). Die Frage nach der institutionellen Kontrolle der Regierenden setzt nicht mehr voraus als die Annahme, da die Regierungen nicht immer gut oder weise sind. Da aber bereits von historischen Tatsachen die Rede war, so glaube ich gestehen zu mssen, da ich geneigt bin, ber diese Annahme ein wenig hinauszugehen. Ich neige zur Ansicht, da Herrscher sich moralisch oder intellektuell selten ber und oft unter dem Durchschnitt befanden. Und ich halte es in der Politik fr ein kluges Prinzip, wenn wir uns, so gut wir knnen, fr das rgste vorbereiten, obschon wir natrlich zur gleichen Zeit versuchen sollten, das Beste zu erreichen. Es scheint mir Wahnsinn, alle unsere politischen Bemhungen auf die schwache Honung zu grnden, da die Auswahl hervorragender oder auch nur kompetenter Herrscher von Erfolg begleitet sein wird. Obgleich mir Dinge dieser Art sehr am Herzen liegen, mu ich doch
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hervorheben, da meine Kritik derTheorie der Souvernitt nicht von diesen mehr persnlichen Ansichten abhngt. Abgesehen von diesen persnlichen Ansichten und abgesehen von den oben erwhnten empirischen Argumenten gegen die allgemeine Theorie der Souvernitt gibt es auch eine Art logischer berlegung, die dazu dienen kann, den widerspruchsvollen Charakter jeder besonderen Form der Theorie der Souvernitt zu zeigen; genauer: Dieses logische Argument lt sich in verschiedenen, jedoch analogen Formen gegen die Theorien anfhren, da der Weiseste regieren solle, da der Beste regieren solle, da das Gesetz oder die Mehrheit usf. regieren solle. Eine besondere Form dieses logischen Argumentes richtet sich gegen eine zu naive Fassung des Liberalismus, der Demokratie und des Prinzips der Herrschaft der Majoritt. Und es hat eine gewisse hnlichkeit mit dem wohlbekannten Paradox der Freiheit, das Platon als erster und mit Erfolg verwendet hat. Anllich seiner Kritik der Demokratie und in seiner Darstellung des Aufstiegs des Tyrannen stellt Platon implizit die folgende Frage: Was tun wir, wenn es der Wille des Volkes ist, nicht selbst zu regieren, sondern statt dessen einen Tyrannen regieren zu lassen? Platon legt die Mglichkeit nahe, da der freie Mensch, seine Freiheit gebrauchend, zuerst den Gesetzen Widerstand leistet, schlielich die Freiheit selbst miachtet und einen Tyrannen verlangt4. Diese Mglichkeit ist nicht an den Haaren herbeigezogen; Flle dieser Art sind oft genug eingetreten. Und immer, wenn sie sich ereigneten, kamen alle jene Demokraten in eine honungslose intellekKapitel 7: Das Prinzip des Fhrertrums 257

tuelle Situation, die das Prinzip der Herrschaft der Mehrheit oder eine hnliche Form des Prinzips der Souvernitt als die Grundlage ihres politischen Glaubensbekenntnisses akzeptieren. Einerseits verlangt das von ihnen akzeptierte Prinzip sich jeder Herrschaft zu widersetzen auer der Herrschaft der Majoritt, also auch der Herrschaft des neuen Tyrannen; andererseits fordert dasselbe Prinzip von ihnen die Anerkennung jeder Entscheidung der Majoritt und damit auch die Anerkennung der Herrschaft des neuen Tyrannen. Es ist natrlich, da der Widerspruch in ihrer Theorie ihre Handlungen lhmen mu5. Diejenigen unter uns Demokraten, die die institutionelle Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten fordern und die insbesondere auf dem Recht bestehen, die Regierung auf Grund eines Majorittsvotums zum Rcktritt zu veranlassen, mssen daher fr diese ihre Forderungen eine bessere Begrndung suchen als eine widerspruchsvolle Theorie der Souvernitt. (Wir werden im nchsten Abschnitt dieses Kapitels kurz zeigen, da eine solche Begrndung mglich ist.) Wie wir sahen, stand Platon nahe vor der Entdeckung des Paradoxons der Freiheit und des Paradoxons der Demokratie. Er und seine Nachfolger bersahen jedoch, da alle anderen Formen der Theorie der Souvernitt zu hnlichen Widersprchen fhren. Alle Theorien der Souvernitt sind paradox. Nehmen wir zum Beispiel an, da wir den Weisesten oder den Besten zum Herrscher whlten. Der Weiseste kann nun in seiner Weisheit nden, da nicht er, sondern der Beste zum Regieren berufen sei,
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und der Beste wird vielleicht in seiner Tugendhaftigkeit entscheiden, da die Mehrheit die Herrschaft antreten solle. Es ist wichtig, darauf zu achten, da sogar jene Form der Theorie der Souvernitt, die fr die Herrschaft des Gesetzes eintritt, demselben Einwand ausgesetzt ist. Dies wurde in der Tat schon sehr frh gesehen, wie der folgende Ausspruch6 Heraklits zeigt: Das Gesetz kann auch verlangen, da dem Willen eines Mannes gehorcht werde. Ich fasse diese kurze Kritik zusammen: Man kann, wie ich glaube, behaupten, da sich die Theorie der Souvernitt empirisch wie auch logisch in einer schwachen Position bendet. Das Geringste, was man fordern kann, ist, da sie nicht ohne sorgfltige Prfung anderer Mglichkeiten angenommen werde. II Und es ist wirklich nicht schwer zu zeigen, da sie eine Theorie demokratischer Kontrolle entwickeln lt, die vom Paradox der Souvernitt frei ist. Die Theorie, die mir vorschwebt, geht gleichsam nicht von einer Lehre der wesentlichen Vortreichkeit oder Rechtschaenheit einer Herrschaft der Mehrheit aus, sondern von der Verworfenheit der Tyrannei; genauer gesagt: sie beruht auf dem Entschlu oder auf der Annahme des Vorschlages, die Tyrannei zu vermeiden oder sich ihr zu widersetzen. Wir knnen nmlich hauptschlich zwei Arten von Regierungen unterscheiden. Zur ersten gehren Regierungen, deren wir uns ohne Blutvergieen, zum Beispiel auf dem
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Wege ber allgemeine Wahlen entledigen knnen; die sozialen Institutionen sehen also Mittel vor, die es den Beherrschten gestatten, die Herrscher abzusetzen, und die sozialen Traditionen7 geben die Sicherheit, da es den augenblicklichen Verwaltern der Macht nicht leicht sein wird, diese Institutionen zu zerstren. Zu der zweiten Art gehren solche Regierungen, die die Beherrschten nur durch eine gewaltsame Revolution loswerden knnen und das heit in den meisten Fllen, berhaupt nicht. Als eine kurze Bezeichnung fr eine Regierungsform der ersten Art schlage ich das Wort Demokratie vor, fr eine Regierungsform der zweiten Art whle ich den Namen Tyrannei oder Diktatur. Ich glaube, da dies der traditionellen Verwendungsweise der angegebenen Worte ziemlich genau entspricht. Ich mchte es aber klarmachen, da keines meiner Argumente von der Wahl dieser Bezeichnungen abhngt; sollte jemand (wie es heutzutage hug geschieht) diese Verwendungsweise der Worte umkehren, dann wrde ich einfach sagen, da ich das bevorzuge, was er Tyrannei nennt, und da ich das ablehne, was er Demokratie nennt; und ich wrde jeden Versuch, herauszunden, was Demokratie wirklich oder ihrem Wesen nach bedeute, als irrelevant ablehnen. Zu solchen Versuchen zhlt auch die Erklrung, die Demokratie sei die Herrschaft des Volkes. (Obgleich nmlich das Volk die Aktionen seiner Herrscher durch Drohung mit Absetzung beeinussen kann, regiert es doch selbst niemals in irgendeinem konkreten praktischen Sinn.)
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Wenn wir nun die zwei Bezeichnungen so verwenden, wie es vorgeschlagen wurde, so knnen wir den Vorschlag, politische Institutionen zur Vermeidung der Tyrannei zu schaen, zu entwickeln und zu schtzen, das Prinzip einer demokratischen Politik nennen. Aus diesem Prinzip folgt nicht, da uns der Aufbau von fehlerfrei und leicht zu handhabenden Institutionen der angegebenen Art jemals gelingen wird, oder da es uns jemals gelingen wird, Institutionen, zu entwickeln, die dafr brgen, da die von einer demokratischen Regierung vertretene Politik richtig, gut oder weise sein wird oder notwendigerweise besser und klger als die Politik eines wohlwollenden Tyrannen. (Da keine derartigen Behauptungen gemacht werden, wird das Paradox der Demokratie vermieden.) Hingegen ist mit der Annahme des demokratischen Prinzips die berzeugung verbunden, da es besser ist, eine schlechte demokratische Politik auszuhalten (solange wir nur auf eine friedliche Umbildung hinarbeiten knnen) als sich einer Tyrannei, sei sie auch noch so weise und wohlwollend, zu unterwerfen. So betrachtet, beruht die Theorie der Demokratie nicht auf dem Prinzip der Herrschaft der Majoritt; die verschiedenen Methoden einer demokratischen Kontrolle die allgemeinen Wahlen, die parlamentarische Regierungsform sind nicht mehr als wohlversuchte und, angesichts eines weitverbreiteten traditionellen Mitrauens der Tyrannei gegenber, ziemlich wirksame institutionelle Sicherungen gegen eine solche; Sicherungen, die stets der Verbesserung oenstehen und die sogar Methoden fr ihre eigene Verbesserung vorsehen.
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Wer das Prinzip der Demokratie in diesem Sinn annimmt, ist also nicht gezwungen, das Resultat einer demokratischen Abstimmung als einen autoritativen Ausdruck dessen anzusehen, was Recht ist. Er wird die Entscheidung der Majoritt annehmen, um den demokratischen Institutionen die Arbeit zu ermglichen. Es steht ihm aber frei, diese Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu bekmpfen und auf ihre Revision hinzuarbeiten. Und sollte er alt genug werden, um den Tag zu erleben, an dem die demokratischen Institutionen durch Mehrheitsbeschlu zerstrt werden, dann wird er aus dieser traurigen Erfahrung nur lernen, da es keine sichere Methode zur Vermeidung der Tyrannei gibt. Aber diese Erfahrung braucht seine Entschlossenheit zum Kampf gegen die Tyrannei nicht zu schwchen; noch wird seine Theorie durch ein solches Ergebnis des Widerspruchs berfhrt. III Wenden wir uns nun wieder Platon zu. Wir sehen, da er die Frage Wer soll herrschen? nachdrcklich hervorhebt; dadurch nimmt er implizit die allgemeine Theorie der Souvernitt an. Die Frage einier institutionellen Kontrolle der Herrscher, das Problem des institutionellen Ausgleichs ihrer Krfte wird damit beseitigt, ohne jemals gestellt worden zu sein. Das Interesse wird von den Institutionen auf Personalfragen verschoben, und die Auswahl der natrlichen Fhrer sowie die Frage ihrer Vorbereitung auf das Fhreramt wird nun zum dringlichsten Problem.
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Einige Interpreten glauben daher, da in Platons Theorie die Wohlfahrt des Staates letzten Endes eine ethische und spirituelle Angelegenheit ist, die von Personen und persnlicher Verantwortung, nicht aber von der Konstruktion unpersnlicher Institutionen abhngt. Diese Deutung des Platonismus ist meiner Ansicht nach oberchlich. Jede langfristige Politik ist institutionell. Dem kann sich nicht einmal Platon entziehen. Das Prinzip des Fhrertums ersetzt nicht institutionelle Probleme durch Personalprobleme, es schafft nur neue institutionelle Probleme. Und wie wir sehen werden, belastet es darber hinaus die Institutionen mit einer Aufgabe, die das Ma der Forderungen bersteigt, die man vernnftigerweise an eine bloe Institution stellen kann, nmlich mit der Aufgabe der Wahl der zuknftigen Fhrer. Es wre daher ein Irrtum, anzunehmen, da der Gegensatz zwischen der Theorie der Machtbeschrnkung und des Machtgleichgewichts auf der einen Seite und der Theorie der Souvernitt auf der anderen dem Gegensatz zwischen dem Institutionalismus und dem Personalismus entspricht. Platons Fhrerprinzip ist von einem reinen Personalismus weit entfernt; es bentigt das Arbeiten von Institutionen; und man kann wirklich sagen, da ein reiner Personalismus unmglich ist. Hinzuzufgen ist allerdings, da sich auch ein reiner Institutionalismus nicht durchfhren lt. Es ist nicht nur so, da die Konstruktion von Institutionen wichtige persnliche Entscheidungen ntig macht: das Funktionieren auch der besten Institutionen (wie der demokratischen Kontrolle der Mchte im Staate und ihres
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Ausgleichs) hngt stets in betrchtlichem Ausmae von den Personen ab, die im Rahmen dieser Institutionen arbeiten. Institutionen sind wie Festungen; sie mssen wohlgeplant und wohlbemannt sein. Diese Unterscheidung zwischen dem menschlichen oder persnlichen und dem institutionellen Element in einer sozialen Situation ist ein Punkt, den die Kritiker der Demokratie oft bersehen. Die meisten von ihnen sind mit den demokratischen Institutionen unzufrieden, weil sie keine Garantie dafr bieten, da die Staatspolitik den wichtigsten moralischen Mastben (wenn schon nicht den hchsten) auch nur einigermaen gerecht wird. Aber diese Kritiker richten ihren Angri aufs falsche Ziel; sie verstehen nicht, was man von demokratischen Institutionen erwarten kann, und sie wissen nicht, wie die Alternative zu demokratischen Institutionen aussehen wrde. Die Demokratie (im oben erluterten Sinn) schafft den institutionellen Rahmen zur Reform politischer Institutionen. Sie ermglicht die gewaltlose Reform von Institutionen und damit den Gebrauch der Vernunft beim Entwurf neuer Institutionen sowie bei der Verbesserung der alten. Sie kann nicht die Vernunft selbst herstellen. Die Frage des intellektuellen und moralischen Standards ihrer Brger ist in weitem Ausma ein Problem von Personen. (Es ist meiner Meinung nach ein Irrtum, wenn man glaubt, da sich dieses Problem durch eine institutionelle Eugenik und eine Kontrolle der Erziehung anpakken lt; Grnde fr diese meine Ansicht werde ich weiter unten geben.) Es ist vllig falsch, wenn man die Demokratie
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wegen der politischen Unzulnglichkeiten eines demokratischen Staates verantwortlich macht. Wir sollten eher uns, das heit die Brger des demokratischen Staates, zur Verantwortung ziehen. In einem nichtdemokratischen Staat fhrt der einzige Weg zu vernnftigen Reformen ber den gewaltttigen Sturz der Regierung und die Errichtung eines demokratischen Rahmens. Die Kritiker der Demokratie, die sich irgendwelcher moralischer Grnde bedienen, haben es versumt, zwischen persnlichen und institutionellen Problemen zu unterscheiden. Es ist unsere Aufgabe, die Verhltnisse zu verbessern. Die demokratischen Institutionen knnen sich nicht selbst verbessern. Das Problem ihrer Verbesserung ist stets ein Problem, das Personen und nicht Institutionen betrifft. Wenn wir aber Verbesserungen durchzufhren wnschen, dann mssen wir klarmachen, welche Institutionen wir verbessern mchten. Es gibt eine zweite Unterscheidung im Gebiet politischer Probleme, die der Unterscheidung zwischen Personen und Institutionen entspricht: Die Unterscheidung zwischen Tagesproblemen und Problemen der Zukunft. Die Tagesprobleme sind zum Groteil persnlicher Natur; der Aufbau der Zukunft mu hingegen institutionell geregelt werden. Wenn wir das politische Problem in die Frage kleiden Wer soll regieren? und wenn wir Platons Fhrerprinzip akzeptieren, das Prinzip also, da der Beste regieren sollte, dann mu das Problem der Zukunft in dieser Form auftreten: Welche Institutionen sind zur Auswahl knftiger Fhrer zu entwerfen?
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Dieses ist eines der wichtigsten Probleme in Platons Theorie der Erziehung. Ich mchte ohne Zgern vorausschicken, da ich glaube, da Platon die Theorie und die Praxis der Erziehung dadurch, da er sie mit seiner Theorie der Fhrerschaft verband, in hchstem Grade verdorben und verwirrt hat. Der angerichtete Schaden ist wenn mglich noch grer als der Schaden, den er der Ethik durch die Identikation von Kollektivismus und Altruismus und der politischen Theorie durch die Einfhrung des Prinzips der Souvernitt zufgte. Platons Annahme, da die Aufgabe der Erziehung (oder genauer der mit der Erziehung betrauten Institutionen) darin bestehen sollte, die zuknftigen Fhrer auszuwhlen und sie fr ihr Fhreramt abzurichten, wird noch immer weithin als gegeben angenommen. Dadurch, da Platon diese Institutionen mit einer Aufgabe belastete, die weit ber den Bereich jeder Institution hinausgreift, ist er fr ihren beklagenswerten Zustand teilweise verantwortlich. Bevor ich aber mit einer allgemeinen Diskussion seiner Ansichten ber die Aufgabe der Erziehung beginne, mchte ich seine Theorie des Fhrertums, das Prinzip des Fhrertums des Weisen in grerer Ausfhrlichkeit entwickeln. IV Ich halte es fr sehr wahrscheinlich, da Platon einige Elemente dieser Theorie dem Einsse des Sokrates verdankt. Einer der fundamentalen Grundstze des Sokrates war, wie ich glaube, sein moralischer Intellektualismus. Darunter
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verstehe ich [a] seine Identikation von Tugend und Weisheit, seine Theorie, da niemand gegen sein besseres Wissen handle und da alle moralischen Irrtmer einem Mangel an Wissen zuzuschreiben seien; [b] seine Theorie, da sich die moralische Vortreichkeit lehren lt und da sie, abgesehen von der allgemeinen menschlichen Intelligenz, keine besonderen moralischen Fhigkeiten erfordert. Sokrates war ein Moralist und ein Enthusiast. Er war der Typus des Menschen, der jede Regierungsform wegen ihrer Fehler kritisiert (und eine solche Kritik ist fr jede Regierung wirklich notwendig und ntzlich, wenn auch nur in einer Demokratie mglich), aber er sah ein, wie wichtig die Loyalitt den Gesetzen des Staates gegenber ist. Zufllig verbrachte er sein Leben zum Groteil unter einer demokratischen Regierung, und als ein guter Demokrat hielt er es fr seine Picht, die Unzulnglichkeit und Windbeutelei einiger demokratischer Fhrer seiner Zeit blozustellen. Zur gleichen Zeit widersetzte er sich jeder Art von Tyrannei; und wenn wir uns sein tapferes Verhalten unter den Dreiig Tyrannen vor Augen fhren, dann bleibt kein Grund zur Annahme, da seine Kritik der demokratischen Fhrer durch irgendwelche antidemokratischen Neigungen inspiriert war8. Es ist nicht unwahrscheinlich, da er gleich Platon die Herrschaft der Besten forderte, und diese wren nach seiner Ansicht die Weisesten gewesen oder diejenigen, die in Dingen der Gerechtigkeit Bescheid wuten. Wir mssen uns aber daran erinnern, da er unter Gerechtigkeit gleiche Verteilung der Rechte und Pichten vor dem Gesetze
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verstand (das folgt aus den Stellen des Gorgias, die wir im vorhergehenden Kapitel zitiert haben) und da er nicht nur ein Anhnger der Gleichheit vor dem Gesetze, sondern auch ein Individualist war, vielleicht der grte Apostel einer individualistischen Ethik, der je gelebt hat. Es ist weiterhin klar, da er unter der Herrschaft der Weisen keine Diktatur der Gelehrten verstanden haben kann; in Wirklichkeit war er professoraler Gelehrsamkeit gegenber sei es nun die Gelehrsamkeit der Philosophen der Vergangenheit oder die der Gelehrten seiner eigenen Generation, der Sophisten skeptisch eingestellt. Eine andere Art von Weisheit schwebt ihm vor: die einfache Einsicht, wie wenig wir eigentlich wissen. Wer diese Einsicht nicht besitzt, so lehrte er, der wei berhaupt nichts. (Das ist der wahrhaft wissenschaftliche Geist. Einige Leute sind noch immer der Ansicht wie auch schon Platon, nachdem er sich als gelehrter pythagoreischer Weiser9 etabliert hatte , da die agnostische Haltung des Sokrates durch den mangelnden Erfolg der Wissenschaft seiner Zeit erklrt werden msse. Das zeigt aber nur, da sie diese Haltung nicht verstehen und da sie noch immer von der vorsokratischen magischen Einstellung zur Wissenschaft und zum Wissenschaftler besessen sind, den sie fr einen erhabenen Schamanen, fr einen Weisen, fr einen Gelehrten, fr einen Eingeweihten halten. Sie beurteilen ihn nach der Menge des Wissens, das sich in seinem Besitz bendet, statt, wie Sokrates, seine Einsicht in sein Nichtwissen zum Mastab seines wissenschaftlichen Niveaus und seiner intellektuellen Ehrlichkeit zu machen.)
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Es ist wichtig, da man sieht, wie entschieden sich dieser sokratische Intellektualismus auf die Seite der Anhnger der Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz stellt. Sokrates glaubte, da jedermann der Belehrung zugnglich sei; im Menon sehen wir, wie er einem jungen Sklaven einen Spezialfall 0 dessen beibringt, was man heute den pythagoreischen Lehrsatz nennt; dies war ein Versuch, zu beweisen, da jeder ungebildete Sklave die Fhigkeit besitzt, auch abstrakte Sachverhalte zu begreifen. Der Intellektualismus des Sokrates ist auch antiautoritr. Eine Technik, zum Beispiel die Rhetorik, lt sich nach Sokrates vielleicht dogmatisch von einem Fachmann lehren; aber wahres Wissen, Weisheit, auch Tugend kann nur durch eine Methode vermittelt werden, die er als eine Form der Geburtshilfe beschreibt. Den Lernbegierigen kann geholfen werden, sich von ihrem Vorurteil zu befreien; auf diese Weise lernen sie Selbstkritik, und sie lernen, da sich die Wahrheit nicht leicht erringen lt; aber sie lernen auch sich zu entscheiden und kritisch auf ihren Entscheidungen und auf ihrer Einsicht aufzubauen. Angesichts solcher Lehren ist es klar, wie sehr sich die sokratische Forderung (wenn er sie je erhob), da der Beste, das heit der intellektuell Ehrliche regieren solle, von der autoritren Forderung nach der Herrschaft des Gelehrtesten oder von der aristokratischen Forderung nach der Herrschaft des Besten, das heit des Vornehmsten, unterscheidet. (Die Ansicht des Sokrates, da sogar der Mut eine Art von Weisheit sei, lt sich, wie ich glaube, als eine direkte
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Kritik der aristokratischen Lehre vom vornehm geborenen Helden auassen.) Aber dieser moralische Intellektualismus des Sokrates ist ein zweischneidiges Schwert. Er hat einen der Gleichheit gnstigen und demokratischen Aspekt; dieser wurde spter von Antisthenes weiterentwickelt. Er besitzt aber auch einen Aspekt, der zu starken antidemokratischen Tendenzen Anla geben kann. Der Nachdruck, mit dem er die Notwendigkeit von Aufklrung und Erziehung hervorhebt, kann leicht als eine Forderung nach autoritren Methoden miverstanden werden. Das hngt mit einer Frage zusammen, die Sokrates groes Kopfzerbrechen bereitet zu haben scheint: Wer nicht hinreichend erzogen ist, wer daher nicht weise genug ist, seine eigenen Unzulnglichkeiten zu erkennen, der ist gerade der Erziehung am dringendsten bedrftig. Allein, die Bereitschaft, zu lernen, zeigt bereits den Besitz von Weisheit an in der Tat den Besitz all der Weisheit, die Sokrates fr sich in Anspruch nahm; denn, wer bereit ist zu lernen, der wei, wie wenig er wei. Der Ungebildete scheint daher einer Autoritt zu bedrfen, die ihn aufweckt, da man von ihm keine Selbstkritik erwarten kann. Aber dieses eine autoritre Element wurde in der Lehre des Sokrates auf wunderbare Weise durch die nachdrckliche Forderung ausgeglichen, da die Autoritt keinen greren Anspruch stellen drfe als diesen. Ein Mensch erweist sich einzig dadurch als wahrer Lehrer, da er die Selbstkritik an den Tag legt, die dem Ungebildeten fehlt. Alle Autoritt, die ich besitze, beruht einzig darauf,
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da ich wei, wie wenig ich wei; auf diese Weise htte Sokrates seine Mission rechtfertigen knnen, seinen Versuch, die Menschen aus ihrem dogmatischen Schlummer aufzuwecken. Diese erzieherische Mission hielt er auch fr eine politische. Er fhlte, da das politische Leben des Staates durch die Erziehung der Brger zur Selbstkritik verbessert werden knnte. In diesem Sinn beanspruchte er, der einzige Politiker seiner Zeit zu sein im Gegensatz zu jenen anderen, die dem Volke schmeichelten, statt seine wahren Interessen zu frdern. Sokrates hat also seine erzieherische Ttigkeit mit seiner politischen Ttigkeit identiziert. Das lie sich leicht in die platonische und aristotelische Forderung verdrehen, da sich der Staat um das moralische Leben seiner Brger kmmern solle. Und ebenso leicht konnte aus jener Identikation ein gefhrlich berzeugender Beweis der Fehlerhaftigkeit jeder Art von demokratischer Kontrolle hergeleitet werden. Denn wie knnen wohl die zur Erziehung Berufenen von den Ungebildeten beurteilt werden? Wie knnen die Besseren von den weniger Guten beaufsichtigt werden? Aber dieses Argument ist natrlich vllig unsokratisch. Es schreibt dem Weisen und dem Gelehrten autoritative Gewalt zu, und es geht weit ber die bescheidene Idee des Sokrates hinaus, nach der die Autoritt des Lehrers einzig auf dem Bewutsein seiner eigenen Grenzen beruht. Tatschlich erreicht die Staatsautoritt in diesen Dingen eher das gerade Gegenteil des Ziels, das Sokrates im Auge hatte. Statt kritischer Unzufriedenheit und an Stelle
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der Begeisterung fr Verbesserungen mu sie dogmatische Selbstzufriedenheit und massive intellektuelle Selbstherrlichkeit erzeugen. Ich halte den Hinweis auf diese Gefahr nicht fr unntig, denn sie wird selten klar genug erkannt. Selbst ein Autor wie Crossman, der, wie ich glaube, den wahren sokratischen Geist verstanden hat, stimmt2 mit Platon in dem berein, was er die dritte Kritik Platons an Athen nennt: Die Erziehung, die eine der Hauptaufgaben des Staates sein sollte, war der Laune Einzelner berlassen worden Hier ist wieder eine Aufgabe, die nur dem Manne anvertraut werden sollte, dessen Rechtschaenheit erwiesen war. Die Zukunft jedes Staates hngt von der jngeren Generation ab; es ist daher Wahnsinn, zuzulassen, da der kindliche Geist von persnlichem Geschmack und durch zufllige Umstnde geformt wird. Gleich verhngnisvoll hatte sich die Laissez-faire-Politik des Staates in bezug auf Lehrer, Schulmeister und sophistische Vortragende erwiesen3. Aber die Laissez-faire-Politik des athenischen Staates, die von Crossman und Platon kritisiert wird, hatte das unschtzbare Ergebnis, da sie gewissen sophistischen Vortragenden und insbesondere dem grten unter ihnen, Sokrates, das Lehren ermglichte. Und als diese Politik spter aufgegeben wurde, war der Tod des Sokrates die Folge. Dies sollte uns darauf aufmerksam machen, da die staatliche Kontrolle derartiger Angelegenheiten eine Gefahr darstellt und da der Ruf nach dem Manne, dessen Rechtschaenheit erwiesen ist, leicht zur Unterdrckung der Besten fhren kann. (Der Versuch, Bertrand Russell am
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Lehren zu hindern, ist ein neuerer Fall dieser Art.) Was aber die Grundprinzipien betrifft, so haben wir hier ein Beispiel des tief eingewurzelten Vorurteils, da die einzige Alternative zum laissez faire in der vlligen Verantwortlichkeit des Staates besteht. Sicher ist der Staat dafr verantwortlich, da seine Brger eine Erziehung erhalten, die es ihnen ermglicht, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen und jede Gelegenheit zur Entwicklung ihrer besonderen Interessen und Gaben auszuntzen; und sicher sollte der Staat (wie Crossman richtig hervorhebt) auch darauf achten, da niemand aus Mangel an Zahlungsfhigkeit vom hheren Unterricht ausgeschlossen werde. Dies gehrt meiner Meinung nach zu den Schutzfunktionen des Staates. Aber der Ausspruch, da die Zukunft des Staates von der jngeren Generation abhngt und da es daher Wahnsinn sei, zuzulassen, da der kindliche Geist von persnlichem Geschmack geformt wird, scheint mir totalitren Methoden Tr und Tor zu nen. Man darf nicht so leichthin das Interesse des Staates zur Rechtfertigung von Manahmen beschwren, die die kostbarste Form der Freiheit, die intellektuelle Freiheit, bedrohen. Und obgleich ich kein Anwalt des laissez faire in bezug auf Lehrer und Schulmeister bin, so glaube ich doch, da diese Politik einer autoritren Politik unendlich berlegen ist, die dem Staatsbeamten die Macht gibt, Seelen zu formen und zu bestimmen, wie die Wissenschaft gelehrt werden soll; die die fragwrdige Autoritt des Fachmannes durch die Gewalt des Staates deckt; die die Wissenschaft durch die (leider bliche) dogKapitel 7: Das Prinzip des Fhrertrums 273

matisch-autoritre Lehrmethode zugrunde richtet und den wissenschaftlichen Forschergeist zerstrt den Geist des Suchens nach der Wahrheit im Gegensatz zum Geist des Glaubens, die Wahrheit zu besitzen. Ich habe zu zeigen versucht, da der Intellektualismus des Sokrates im Grunde die Gleichberechtigung der Menschen und ihre Individualitt achtete und da autoritre Elemente, soweit sie auftraten, durch seine intellektuelle Bescheidenheit und seine wissenschaftliche Haltung auf ein Minimum reduziert wurden. Der Intellektualismus Platons ist davon sehr verschieden. Der platonische Sokrates des Staates4 ist die Verkrperung eines kompromilosen Autorittsglaubens. (Sogar seine selbstkritischen Bemerkungen beruhen nicht auf dem Gewahrwerden seiner Beschrnkungen, sondern sind eher eine ironische Art, seine berlegenheit zu betonen.) Sein Erziehungsziel ist nicht die Erweckung von Selbstkritik und kritischem Denken im allgemeinen, sondern das doktrinre Aufzwingen einer Lehre, das Formen der Geister und der Seelen, die, um ein Zitat aus den Gesetzen5 zu wiederholen, durch lange Gewohnheit vllig unfhig werden sollen, irgend etwas unabhngig von der Gemeinschaft zu tun. Und die groe befreiende Idee des Sokrates, die Idee, da es mglich sei, mit einem Sklaven eine vernnftige Unterhaltung zu fhren, die Idee, da es eine intellektuelle Verbindung zwischen Mensch und Mensch, ein Medium allgemeinen Verstehens gebe, nmlich die Vernunft, diese Idee wird durch die Forderung nach einem Erziehungsmonopol der
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herrschenden Klasse und durch die strengste Zensur selbst mndlicher Debatten ersetzt. Sokrates hatte hervorgehoben, da er nicht weise sei; da er die Wahrheit nicht besitze, da er aber nach ihr suche, da er sie zu erforschen trachte, da er sie liebe. Dies, so erklrte er, werde durch das Wort Philosoph ausgedrckt; im Gegensatz zum Sophisten, dem beruich Weisen, ist er der Liebhaber der Weisheit, ein Mensch, der die Weisheit sucht. Wenn er je verlangt hat, da die Staatsmnner Philosophen sein sollten, so konnte das nur bedeuten, da sie, mit zustzlicher Verantwortung beladen, Sucher nach der Wahrheit sein sollten, die sich ihrer Beschrnkungen bewut sind. Wie hat Platon diese Lehre umgeformt? Wenn er fordert, da die Herrschaft im Staate den Philosophen bertragen werde, so kann es auf den ersten Blick scheinen, da er sie nicht im geringsten verndert hat, insbesondere da er, wie Sokrates, die Philosophen als Liebhaber der Wahrheit deniert. Aber in Wirklichkeit ist die von Platon eingefhrte Vernderung ungeheuer. Sein Liebhaber ist nicht mehr der bescheidene Sucher, er ist der stolze Besitzer der Wahrheit. Als ein gebter Dialektiker ist er der intellektuellen Intuition fhig, das heit, er ist fhig, die ewigen, die himmlischen Formen oder Ideen zu sehen und mit ihnen in Verbindung zu treten. Hoch ber alle gewhnlichen Menschen gestellt, ist er den Gttern gleich, wenn nicht gttlich6 in seiner Weisheit und in seiner Macht. Platons idealer Philosoph ist fast allwissend und allmchtig.
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Er ist der knigliche Philosoph. Es ist schwer, sich einen greren Gegensatz vorzustellen, als diesen Gegensatz zwischen dem sokratischen und dem platonischen Ideal eines Philosophen. Ein Gegensatz zwischen zwei Welten wird hier oenbar der Gegensatz zwischen der Welt eines bescheidenen rationalen Individualisten und der Welt eines totalitren Halbgottes. Platons Forderung, da der Weise, der Besitzer der Wahrheit, der vollqualizierte Philosoph7 regieren solle, fhrt natrlich zum Problem der Auswahl und Erziehung der Regenten. In einer rein personalistischen Theorie (im Gegensatz zu einer institutionellen Theorie) kann dieses Problem einfach durch die Erklrung gelst werden, da der weise Herrscher in seiner Weisheit schon weise genug sein werde, um den Besten zu seinem Nachfolger auszuwhlen. Diese Behandlung des Problems ist jedoch wenig befriedigend. Zuviel hngt von unkontrollierbaren Umstnden ab; ein Zufall kann die zuknftige Stabilitt des Staates zerstren. Der Versuch aber, die Umstnde zu beherrschen, vorauszusehen, was sich ereignen knnte und dafr Vorsorge zu treen, mu hier wie berall zur Aufgabe der rein personalen Lsung und zu ihrer Ersetzung durch eine institutionelle Lsung fhren. Wie bereits festgestellt, mu der Versuch, die Zukunft zu planen, stets und notwendigerweise zum Institutionalismus fhren. Die Institution, die sich nach Platon um die zuknftigen Fhrer zu kmmern hat, knnte man das Erziehungsdepartement des Staates nennen. Von einem rein politischen
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Gesichtspunkt aus betrachtet, ist sie die bei weitem wichtigste Institution in Platons Gesellschaftsordnung. Sie besitzt die Schlssel zur Macht. Schon aus diesem Grunde sollte es klar sein, da zumindest die hheren Grade der Erziehung von den Regierenden selbst berwacht werden mssen. Es gibt aber noch weitere Grnde dafr. Der bedeutendste ist, da nur der Fachmann und der Mann, dessen Rechtschaenheit erwiesen ist, wie sich Crossman ausdrckt das sind aber nach der Ansicht Platons einzig die allerweisesten Adepten, also die Herrscher selbst da am Ende nur sie mit der Einweihung der zuknftigen Weisen in die hheren Mysterien der Weisheit betraut werden knnen. Das gilt vor allem fr die Dialektik, das heit fr die Kunst der intellektuellen Intuition, die Kunst, sich die gttlichen Urbilder, die Formen oder Ideen vor Augen zu fhren, die Kunst, das groe Mysterium hinter der Alltagswelt der Erscheinungen des gewhnlichen Menschen zu enthllen. Die institutionellen Forderungen, die Platon im Zusammenhang mit dieser hchsten Form der Erziehung erhebt, sind bemerkenswert. Nur diejenigen drfen zugelassen werden, die die Blte ihres Lebens bereits berschritten haben. Wenn die Kraft ihrer Krper nachzulassen beginnt, wenn das Alter ihren Pichten im Staats- und Heeresdienst ein Ende macht, dann und nur dann sollte es ihnen gestattet sein, nach eigenem Belieben das geheiligte Feld zu betreten 8, nmlich das Feld der hchsten dialektischen Studien. Platons Grund fr diese erstaunenswerte Regel ist klar genug. Er frchtet die Macht des Denkens. Alle groen
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Dinge sind gefhrlich9 sagt Platon; dieser Bemerkung folgt das Eingestndnis, da er die Folgen frchtet, die das philosophische Denken fr Menschen haben knnte, die noch nicht am Rande des Greisenalters stehen. (All dies legt er Sokrates in den Mund, der in der Verteidigung seines Rechtes auf freie Diskussion mit der Jugend gestorben war.) Aber nichts anderes haben wir zu erwarten, wenn wir uns daran erinnern, da es Platons fundamentales Ziel ist, der politischen Vernderung Einhalt zu gebieten. In ihrer Jugend sollen die Mitglieder der oberen Klasse kmpfen. Wenn sie zum selbstndigen Denken zu alt sind, dann sollen sie dogmatische Studenten werden, dann soll ihnen Weisheit und Autoritt verliehen werden, dann sollen sie selbst Weise werden und ihre Weisheit, die Lehre vom Kollektivismus und die autoritren Methoden, an zuknftige Generationen weitergeben. Bemerkenswerterweise modiziert Platon seinen Vorschlag an einer spteren und mehr durchgearbeiteten Stelle, an der er die Herrscher im besten Licht darzustellen versucht. Nun20 erlaubt er den zuknftigen Weisen, ihre vorbereitenden dialektischen Studien im Alter von dreiig Jahren zu beginnen, nicht ohne die Notwendigkeit groer Vorsicht und die Gefahren der Insubordination hervorzuheben, die so viele Dialektiker verdirbt; und er verlangt, da man nur disziplinierten und ausgeglichenen Naturen den Gebrauch von Argumenten erlauben drfe. Diese nderung trgt sicher dazu bei, das Bild zu erhellen. Aber die Grundtendenz ist dieselbe. Denn in der
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Fortsetzung dieser Stelle hren wir, da die zuknftigen Fhrer nicht in die hheren philosophischen Studien in die dialektische Vision des Wesens des Guten eingeweiht werden drften, bevor sie eine Reihe von Prfungen und Versuchungen durchgemacht und bevor sie das Alter von fnfzig Jahren erreicht htten. Das ist die Lehre des Staates. Es scheint, da der Dialog Parmenides2 eine hnliche Botschaft enthlt. Denn hier wird Sokrates als ein hervorragender junger Mann vorgefhrt, der sich auf dem Gebiete der reinen Philosophie bereits mit einigem Erfolg umgesehen hat, der aber in ernsthafte Schwierigkeiten gert, sobald er gebeten wird, die subtileren Probleme der Ideenlehre darzulegen. Er wird vom alten Parmenides mit der Ermahnung entlassen, sich grndlich in der Kunst des abstrakten Denkens zu ben, bevor er sich wieder in das hhere Feld philosophischer Studien wage. Es scheint, da wir hier (unter anderen Dingen) Platons Antwort an seine Schler vor uns haben, die ihn um eine Unterweisung bedrngen, die er fr vorzeitig hielt: Sogar ein Sokrates ist einmal fr die Dialektik zu jung gewesen. Warum wnscht Platon nicht, da seine Fhrer Originalitt und Initiative besitzen? Ich glaube, da die Antwort klar ist. Platon hat den Wechsel, und er mchte es nicht wahr haben, da nderungen manchmal doch notwendig sind. Aber diese Erklrung seiner Haltung geht nicht tief genug. Tatschlich treen wir hier auf eine grundlegende Schwierigkeit des Fhrerprinzips. Schon die Idee der Auswahl oder
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der Erziehung der zuknftigen Fhrer enthlt einen Widerspruch. Im Fall krperlicher Vortreichkeit lt sich das Problem vielleicht in gewissem Ausma lsen. Physische Initiative und krperlicher Mut sind unter Umstnden nicht so schwer festzustellen. Das Geheimnis der intellektuellen Vortreichkeit ist aber eine kritische Einstellung und intellektuelle Unabhngigkeit. Und das fhrt zu Schwierigkeiten, an denen alle autoritren Methoden scheitern mssen. Der Vertreter autoritrer Prinzipien wird im allgemeinen die Gehorsamen, die Glubigen zu seinen Nachfolgern machen, Menschen also, die auf seine Ideen eingehen. Aber indem er so handelt, whlt er notwendigerweise mittelmige Geister. Denn wer sich auehnt, wer zweifelt, wer es wagt, sich seinem Einu zu widersetzen, der bleibt ausgeschlossen. Eine Autoritt kann niemals zugeben, da die intellektuell Mutigen, also die Menschen, die ihr zu trotzen wagen, von grtem Werte sein knnten. Die fhrenden Stellen werden natrlich immer berzeugt sein, da sie zur Entdeckung von Selbstndigkeit und Initiative fhig sind. Aber unter Initiative verstehen sie nur das schnelle Erfassen ihrer Absichten. Da hier ein Unterschied vorliegt, werden sie nie begreifen. (Hier gelingt es uns vielleicht, das Geheimnis der besonderen Schwierigkeit der Auswahl fhiger militrischer Fhrer zu lften. Die Forderungen militrischer Disziplin erhhen die diskutierten Schwierigkeiten; und die Methoden militrischer Befrderung schalten gewhnlich gerade jene aus, die selbstndig zu denken wagen. Nichts ist im Fall intellektueller Initiative irriger als die Idee, da wer im
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Gehorchen hervorragt, sich auch im Befehlen auszeichnen werde22. Bei politischen Parteien treen wir auf sehr hnliche Schwierigkeiten: Der Freytag der Partei ist selten ein fhiger Nachfolger des Parteifhrers.) Wir sind hier, wie ich glaube, bei einem einigermaen bedeutsamen Resultat angelangt, das sich verallgemeinern lt. Institutionen zur Auswahl der Vortreichen lassen sich wohl kaum entwerfen. Die institutionelle Auswahl mag zu brauchbaren Resultaten fhren, wenn sie einem Zweck dient, wie ihn Platon vor Augen hatte, nmlich dem Anhalten der Vernderung. Aber sie wird niemals gut arbeiten, wenn wir von ihr mehr verlangen; denn sie wird immer die Tendenz haben, Initiative und Originalitt und, allgemeiner, alle ungewhnlichen und unerwarteten Qualitten auszuschalten. Das ist keine Kritik des politischen Institutionalismus, sondern nur eine Wiederholung dessen, was bereits frher festgestellt wurde: Wir sollten uns immer auf die schlechtesten Fhrer vorbereiten, obwohl wir natrlich versuchen sollten, die besten zu bekommen. Es ist aber eine Kritik der Tendenz, die Institutionen, insbesondere die fr die Erziehung geschaenen Institutionen mit der unmglichen Aufgabe der Auswahl der Besten zu belasten. Dies sollte nie ihre Aufgabe sein. Diese Tendenz macht unser Erziehungssystem zu einer Rennbahn und den Studiengang zu einem Hrdenrennen. Der Student wird nicht ermutigt, sich seinen Studien um des Studierens willen zu widmen, es wird ihm nicht wirkliche Liebe fr seinen Gegenstand und fr die Forschung23 einget; statt dessen treibt man ihn
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zum Studium um seiner persnlichen Karriere willen an; er wird angeleitet, sich nur so viel an Wissen anzueignen, als zur Bewltigung der Hrden, die ihm auf dem Weg zu seiner Befrderung begegnen, unbedingt notwendig ist. Mit anderen Worten: Sogar auf dem Gebiet der Wissenschaft beruhen unsere Auswahlmethoden auf einem Appell an eine ziemlich grobe Form von persnlichem Ehrgeiz. (Eine natrliche Reaktion gegen diesen Appell besteht darin, da der eifrige Student von seinen Kollegen mit Mitrauen betrachtet wird.) Die unmgliche Forderung einer institutionellen Auswahl der intellektuellen Fhrer bedroht den Lebensnerv nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Intelligenz selbst. Der Ausspruch, da Platon die Mittelschulen und die Universitten erfunden habe, ist leider nur zu wahr. Ich kenne kein besseres Argument zugunsten einer optimistischen Ansicht von der Menschheit, keinen besseren Beweis ihrer unzerstrbaren Liebe fr die Wahrheit und die Anstndigkeit, ihrer Originalitt, ihrer Hartnckigkeit und ihrer Gesundheit als die Tatsache, da dieses verheerende Erziehungssystem sie nicht vllig zugrunde gerichtet hat. Trotz des Verrats, den so viele ihrer Fhrer begangen haben, gibt es eine stattliche Anzahl alter und junger Menschen, die anstndig und intelligent sind und die sich ihrer Aufgabe mit Hingebung widmen. Manchmal denke ich darber nach, wie es wohl zu erklren ist, da das angerichtete bel nicht klarer zutage trat, sagt Samuel Butler24, und da die jungen Mnner und Frauen trotz der fast absichtli282 Platons politisches Programm

chen Versuche, ihre Entwicklung aufzuhalten oder auf eine falsche Bahn zu bringen, so vernnftig und gut herangewachsen sind. Einige erlitten zweifellos Schaden, und sie litten darunter bis an ihr Lebensende; aber viele schienen nicht schlechter daran zu sein, und einige sogar besser. Der Grund scheint darin zu liegen, da der natrliche Instinkt der jungen Menschen in den meisten Fllen so unbedingt gegen ihren Unterricht rebellierte, da die Lehrer sie trotz aller Versuche nicht dazu bringen konnten, ihnen aufmerksam zu folgen. Es ist der Erwhnung wert, da sich Platon in der Praxis bei der Auswahl politischer Fhrer nicht allzu erfolgreich erwies. Ich denke dabei nicht so sehr an das enttuschende Ergebnis seines Experiments mit Dionysios dem Jngeren, dem Tyrannen von Syrakus, als an die Teilnahme der Platonischen Akademie an Dions erfolgreicher Expedition gegen Dionysios. Platons berhmter Freund Dion wurde bei diesem Unternehmen von einer Reihe von Mitgliedern der Platonischen Akademie untersttzt. Einer von ihnen war Kalippos, der der vertraute Freund Dions wurde. Nachdem Dion sich selbst zum Tyrannen von Syrakus eingesetzt hatte, ordnete er die Ermordung seines Alliierten (und vielleicht Rivalen) Herakleides an. Kurz nachher wurde er selbst von Kalippos ermordet, der die Herrschaft an sich ri, sie aber nach dreizehn Monaten wieder verlor. (Er wurde seinerseits vom pythagoreischen Philosophen Leptines ermordet.) Dieses Ereignis war aber nicht das einzige seiner Art in Platons Karriere als Lehrer. Klearchos, einer der Schler
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Platons (und Isokrates), posierte zuerst als demokratischer Fhrer und machte sich dann zum Tyrannen von Herakleia. Er wurde von einem Verwandten, Chion, einem weiteren Mitglied der Platonischen Akademie, ermordet. (Wir wissen nicht, wie sich Chion, den einige als Idealisten hinstellen, entwickelt halen wrde denn auch er wurde bald gettet.) Diese und einige hnliche Erfahrungen Platons25 der sich einer Gesamtsumme von zumindest neun Tyrannen unter seinen einstigen Schlern und Gefhrten rhmen konnte werfen ein Licht auf die besonderen Schwierigkeiten, die mit der Auswahl von Menschen verbunden sind, die mit absoluter Macht betraut werden sollen. Es ist schwer, einen Menschen zu nden, dessen Charakter durch sie nicht verdorben wird. Wie Lord Acton sagt Macht fhrt zur Korruption und absolute Macht zur absoluten Korruption. Wir fassen zusammen. Platons politisches Programm war in weit hherem Grade institutionalistisch als personalistisch; er hoffte die politische Vernderung durch die institutionelle Kontrolle der Nachfolge in der Fhrerschaft zum Stillstand zu bringen. Die Kontrolle sollte eine Erziehungskontrolle sein, die auf einer autoritren Ansicht vom Lernproze beruht auf der Autoritt des gelehrten Fachmannes und des Mannes, dessen Rechtschaenheit erwiesen ist. Das machte Platon aus der Forderung des Sokrates, da ein verantwortlicher Politiker ein Liebhaber der Wahrheit und Weisheit, aber kein Fachmann sein solle und da er nur dann weise sei26, wenn er seine Grenzen kenne.
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Achtes Kapitel: DER KNIGLICHE PHILOSOPH


Und der Staat wird Monumente errichten, um ihr Angedenken zu wahren. Und Opfer werden ihnen als Halbgttern dargebracht werden, als Menschen, die durch Gnade geheiligt und den Gttern hnlich sind. Platon

Der Gegensatz zwischen dem Platonischen und dem Sokratischen Glaubensbekenntnis ist noch grer, als ich bisher gezeigt habe. Platon, so sagte ich, folgte Sokrates in seiner Denition des Philosophen. Wer sind die wahren Philosophen? diejenigen, die die Wahrheit lieben, so lesen wir im Staat, Aber Platon selbst spricht nicht die reine Wahrheit, wenn er diese Behauptung aufstellt. Er glaubt nicht wirklich daran, denn an anderen Stellen erklrt er vllig ungeschminkt, eines der kniglichen Privilegien des Herrschers bestehe darin, da er Lge und Tuschung in vollem Ausma verwenden knne: Also kommt es in der Tat den Herrschern des Staates wenn berhaupt jemandem zu, Lgen zu verbreiten und die Feinde sowie die eigenen Brger zum besten des Staates zu tuschen; und kein anderer darf dieses Vorrecht anrhren2. Zum besten des Staates, sagt Platon. Wieder nden wir, da die Berufung auf das Prinzip des Kollektivnutzens als die letzte ethische berlegung hingestellt wird. Die toKapitel 8: Der knigliche Philosoph 285

talitre Moral setzt sich ber alles hinweg, sogar ber die Denition, die Idee des Philosophen. Es braucht wohl kaum erwhnt zu werden, da dasselbe Prinzip der politischen Zweckmigkeit die Beherrschten zur Wahrhaftigkeit zwingt. Wenn der Herrscher irgend jemand anderen bei einer Lge ertappt, dann wird er ihn bestrafen, weil er einen Brauch einfhrte, der den Staat verletzt und in Gefahr bringt 3. Nur in diesem etwas unerwarteten Sinn sind die platonischen Herrscher die kniglichen Philosophen Liebhaber der Wahrheit. I Platon illustriert diese Anwendung seines Prinzips des Kollektivnutzens auf das Problem der Wahrhaftigkeit durch das Beispiel des Arztes. Das Beispiel ist gut gewhlt, denn Platon liebt es, seine politische Mission als die des Heilers oder Retters des kranken Sozialkrpers hinzustellen. Abgesehen davon wirft die Rolle, die er der Medizin zuschreibt, Licht auf den totalitren Charakter des platonischen Staates, in dem das Staatsinteresse das Leben des Brgers von der Paarung seiner Eltern bis zum Grab beherrscht. Platon interpretiert die Medizin als eine Form der Politik, oder wie er sich selbst ausdrckt, er hlt Aeskulap, den Gott der Medizin, fr einen Politiker4. Die Kunst der Medizin, so erklrt er, drfe sich nicht die Verlngerung des Lebens zum Ziel setzen, sondern nur das Interesse des Staates. In allen wohlregierten Gemeinschaften erhlt jedermann seine besondere Arbeit vom Staate vorgeschrieben. Diese hat er
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auszufhren und niemand hat Zeit, sein Leben lang krank zu sein und sich zu kurieren. Dementsprechend hat der Arzt kein Recht, einen Menschen zu behandeln, der nicht imstande ist, seine gewhnlichen Pichten zu erfllen; denn ein solcher Mensch ist nutzlos fr sich selbst und fr den Staat. Dazu kommt die berlegung, da ein solcher Mensch Kinder haben knnte, die aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso krank sein werden und die gleichfalls eine Last fr den Staat bedeuten wrden. (In seinem Greisenalter erwhnt Platon die Medizin in mehr persnlicher Weise, obgleich seine Abneigung gegen Individualismus zugenommen hat. Er beklagt sich ber den Arzt, der sogar freie Brger wie Sklaven behandelt, der seine Anordnungen austeilt wie ein Tyrann, dessen Wille Gesetz ist, und der dann zum nchsten Sklaven-Patienten weitereilt 5, und er pldiert fr grere Sanftmut und Geduld bei dert medizinischen Behandlung zumindest derjenigen, die keine Sklaven sind.) Bezglich des Gebrauchs von Lge und Tuschung betont Platon, da diese nur als eine Medizin von Nutzen seien6; aber der Herrscher des Staates darauf besteht Platon drfe sich nicht wie einer jener gewhnlichen Doktoren betragen, die nicht den Mut zur Verabreichung starker Heilmittel besitzen. Der knigliche Philosoph, als Philosoph ein Liebhaber der Wahrheit, mu, als ein Knig, ein Mann von grerem Mute sein, denn er mu entschlossen sein, zahlreiche Lgen und Tuschungen zu verabreichen zugunsten der Beherrschten, wie Platon eilig hinzufgt. Und das heit, wie wir bereits
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wissen und wie wir hier wieder durch Platons Hinweis auf die Medizin erfahren, zugunsten des Staates. (Kant machte einmal die Bemerkung, da sich der Satz Ehrlichkeit ist die beste Politik als sehr fragwrdig erweisen knne; der Satz Ehrlichkeit ist besser denn alle Politik sei jedoch ber jeden Zweifel erhaben7.) An welche Art von Lge denkt Platon, wenn er seine Herrscher zur Anwendung starker Heilmittel ermahnt? Crossman hebt richtig hervor, da Platon die Propaganda, die Technik, das Verhalten der Masse der beherrschten Majoritt zu lenken im Auge hat8. Sicher dachte Platon zuerst daran; ich kann aber Crossmans Ansicht nicht zustimmen, da die Propagandalgen nur zum Gebrauch fr die Beherrschten bestimmt gewesen seien, whrend die Herrscher eine voll aufgeklrte Intelligenzschicht sein sollten. Platons vlliger Bruch mit allem, was dem Sokratischen Intellektualismus nur irgendwie hnlich war, tritt meiner Ansicht nach nirgends klarer hervor als an den Stellen, an denen er, zweimal, seiner Honung Ausdruck verleiht, da sogar die Herrscher selbst, zumindest nach einigen Generationen, veranlat werden knnten, seine grte Propagandalge zu glauben seine Rassenlehre, seinen Mythos von Blut und Boden, der als der Mythos vom Metall im Menschen und von den Erdenshnen bekannt ist. Wir sehen hier, wie die utilitaristischen und totalitren Prinzipien Platons alle anderen ausstechen, sogar die Privilegien der Herrscher, zu wissen und zu fordern, da ihnen die Wahrheit erzhlt werde. Der Beweggrund fr Platons
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Wunsch, da die Herrscher selbst an die Propagandalge glauben sollten, ist seine Honung, da dadurch ihre heilsame Wirkung die Festigung der Herrschaft der Herrenrasse und schlielich das Anhalten aller politischen Vernderung verstrkt werden knnte. II Platon fhrt seinen Mythos von Blut und Boden mit dem ungeschminkten Zugestndnis ein, da es sich um einen Betrug handle. Wohlan denn, sagt der Sokrates des Staates, knnten wir vielleicht eine jener handlichen Lgen fabrizieren, die wir eben erst erwhnt haben? Mit Hilfe einer einzigen groartigen Lge wird es uns vielleicht, wenn wir Glck haben, gelingen, selbst die Herrscher auf jeden Fall aber den Rest des Staatswesens zu berreden9. Von Interesse ist hier die Verwendungsweise des Wortes berreden. Jemanden dazu berreden, eine Lge zu glauben, bedeutet, genauer gesagt, ihn irrefhren oder zum besten halten; die bersetzung wir knnen, wenn wir Glck haben, vielleicht sogar die Herrscher selbst an der Nase herumfhren wrde daher dem oenen Zynismus der Stelle besser entsprechen. Aber Platon verwendet den Ausdruck berredung sehr hug, und sein Auftreten hier wirft einiges Licht auf andere Stellen. Es kann uns als Warnung dienen, da er vielleicht auch an hnlichen Stellen an Propagandalgen denkt, insbesondere dort, wo er empehlt, da der Staatsmann mit Hilfe von berredung und Gewalt zugleich regieren solle0.
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Nachdem Platon seine groartige Lge angekndigt hat, entwickelt er, anstatt sogleich zur Erzhlung des Mythos berzugehen, zuerst eine weitschweige Vorrede, die in mancher Hinsicht seiner Vorrede zur Entdeckung der Gerechtigkeit gleicht; dies ist, wie ich glaube, eine Andeutung seines Unbehagens. Es scheint, da er beim Leser keine besonders gnstige Aufnahme seines nachfolgenden Vorschlags erwartet. Der Mythos selbst fhrt zwei Ideen ein. Die erste soll die Verteidigung des Vaterlandes festigen: Die Krieger des Staatswesens sind autochthon, aus der Erde ihres Landes geboren, und sie sind bereit, ihr Land, ihre Mutter, zu verteidigen. Diese alte und wohlbekannte Idee ist sicher nicht der Grund fr Platons Zgern (obgleich der Wortlaut des Dialogs dies in kluger Weise nahelegt). Die zweite Idee jedoch, der Rest der Geschichte, ist der Rassenmythos; Gott hat denen, die zum Regententum geschaen sind, Gold beigemischt, Silber den Hilfstruppen und Eisen und Kupfer den Bauern und den brigen produzierenden Klassen. Diese Metalle sind erblich, sie sind rassische Merkmale. An dieser Stelle, an der Platon, zgernd, seine Lehre von den Rassen zum erstenmal einfhrt, lt er noch die Mglichkeit oen, da Kinder geboren werden, die auer dem Metall ihrer Eltern noch ein anderes Metall beigemischt enthalten; und man mu zugeben, da er hier die folgende Regel anfhrt: Wenn in einer der niederen Klassen Kinder geboren werden, die eine Beimischung von Gold und Silber enthalten, dann sollen sie zu Wchtern und zu Mitgliedern der Hilfs290 Platons politisches Programm

truppen ernannt werden. Aber dieses Zugestndnis wird an spteren Stellen des Staates (und auch in den Gesetzen) wieder umgestoen, insbesondere im Mythos vom Sndenfall des Menschen und von der Zahl2, den wir weiter oben, im 5. Kapitel auszugsweise zitiert haben. Hier vernehmen wir, da alle Beimischung eines niederen Metalls aus den hheren Klassen ausgeschlossen werden msse. Die Mglichkeit von Beimischungen und entsprechenden Standesnderungen bedeutet daher nur, da vornehm geborene, aber degenerierte Kinder in einen niedrigeren Stand versetzt, nicht aber, da niedrig geborene in einen hheren Stand erhoben werden knnen. Der Mythos vom Sndenfall des Menschen endet mit einer Beschreibung der Weise, in der die Mischung der Metalle zur Zerstrung fhren mu. Und es wird sich Eisen mit Silber vermengen und Erz mit Gold, und aus dieser Mischung wird Vernderung und absurde Gesetzlosigkeit geboren werden. Und sobald diese geboren sind, werden sie Streit und Feindschaft erzeugen. So also ist die Herkunft und die Entstehung der Zwietracht zu beschreiben, wo immer sie erscheint3. In diesem Licht mssen wir den Umstand betrachten, da der Mythos von den Erdenshnen mit der zynischen Erdichtung einer Weissagung eines ktiven Orakels endet, dem Untergange ist der Staat geweiht, den Eisen oder Erz bewachen 4. Platons Zgern, seine Rassenlehre sogleich in ihrer radikaleren Form vorzutragen, scheint ein Hinweis darauf zu sein, da er wute, wie sehr sie den demokratischen und humanitren Tendenzen seiner Zeit zuwiderlief.
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Wenn wir in Betracht ziehen, da Platon seinen Mythos von Blut und Boden ungeschminkt als eine Propagandalge hinstellt, dann mu uns die Einstellung der Kommentatoren zu diesem Mythos in Erstaunen versetzen. So zum Beispiel schreibt Adam: Ohne ihn wre die vorliegende Skizze eines Staates unvollstndig. Wir bentigen eine Garantie fr das Fortdauern des Staates ; und nichts knnte mit dem vorwiegend moralischen und religisen Geist der platonischen Erziehung mehr in Einklang stehen als der Umstand, da er diese Garantie im Glauben, und nicht so sehr in der Vernunft ndet5. Ich stimme zu (obgleich nicht ganz so, wie es Adam meinte), da nichts Platons totalitrer Moralitt besser entspricht, als seine Empfehlung von Propagandalgen. Ich verstehe aber nicht ganz, wie der religis und idealistisch eingestellte Kommentator erklren kann, da und das folgt aus seiner Erklrung sich Religion und Glauben mit einer opportunistischen Lge auf gleicher Ebene benden. Tatschlich erinnert Adams Kommentar an den Konventionalismus Hobbes, an die Ansicht, da die Grundstze der Religion zwar nicht wahr sind, da sie aber ein hchst zweckmiges und unentbehrliches politisches Werkzeug darstellen. Und diese berlegung zeigt uns, da Platon in hherem Grade Konventionalist war, als man anzunehmen geneigt sein knnte. Er macht nicht einmal davor halt, einen religisen Glauben durch Konvention einzufhren (die Oenheit, mit der er zugegeben hat, da es sich hier nur um eine Erdichtung handelt, mssen wir ihm hoch anrechnen), whrend der vermeintliche Konven292 Platons politisches Programm

tionalist Protagoras zumindest glaubte, da die Gesetze, die unser Werk sind, mit Hilfe gttlicher Eingebung hergestellt wrden. Es ist schwer zu verstehen, warum jene Kommentatoren Platons6, die ihn loben, weil er den gefhrlichen Konventionalismus der Sophisten bekmpfte und weil er einen im Grunde religisen, spirituellen Naturalismus schuf, es unterlassen, ihn dafr zu tadeln, da er die Religion auf eine Konvention oder vielmehr auf eine bewute Erndung zu grnden versuchte. Denn in Wirklichkeit ist Platons Einstellung zur Religion, so wie sie in seiner inspirierten Lge zutage tritt, praktisch identisch mit der Einstellung seines geliebten Onkels Kritias, des hochbegabten Fhrers der Dreiig Tyrannen, der nach dem Peloponnesischen Krieg in Athen eine unrhmliche Blutherrschaft errichtete. Er war ein Dichter, und der erste, der Propagandalgen verherrlichte; ihre Erndung beschrieb er in kraftvollen Versen, die den weisen und schlauen Mann feiern, der die Religion erfand, um das Volk zu berreden, das heit um es zur Unterwrgkeit zu zwingen7. Dann kam, so scheint's, ein schlauer weiser Mann, der erste, der die Gtterfurcht erfand Er spann ein Mrchen, eine kluge Lehre, die Wahrheit unter Lgen fein verbarg; erzhlte von dem Wohnsitz grimmiger Gtter im kreisenden Gewlb, wo Donner brllt und Blitze frchterlich das Auge blenden Und so umkreist die Menschen er mit Furcht,
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umgibt mit Gttern sie in hehrer Wohnung, entmutigt und bezaubert sie mit Sprchen und Ungesetzlichkeit wich Ordnung und Gesetz. Nach der Ansicht des Kritias ist die Religion nichts anderes als die groartige Lge eines groen und geschickten Staatsmannes. Platons Ansichten sind berraschend hnlich, sowohl in der Einfhrung des Mythos im Staat (wo er oen zugibt, da es sich um eine Lge handelt) als auch in den Gesetzen, wo er sagt, da die Einrichtung von Riten und die Einsetzung von Gttern eine Angelegenheit fr einen groen Denker sei8. Aber ist das die ganze Wahrheit ber Platons religise Haltung? War Platon in diesen Dingen nur ein Opportunist, und war der so ganz andere Geist seiner frheren Werke blo sokratisch? Diese Frage lt sich natrlich nicht mit Sicherheit entscheiden, obgleich ich intuitiv fhle, da sogar in den spteren Werken manchmal ein ursprnglicheres religises Gefhl seinen Ausdruck ndet. Ich glaube aber, da berall dort, wo Platon religise Dinge in ihrer Beziehung zur Politik ins Auge fat, sein politischer Opportunismus alle anderen Gefhle zur Seite drngt. So fordert Platon in den Gesetzen auch fr ehrliche und ehrenhafte Leute die strengsten Strafen9, wenn ihre Ansichten ber die Gtter von den vom Staate vertretenen Ansichten abweichen. Ihre Seelen sind von einem nchtlichen Rat von Inquisitoren zu behandeln20; und wenn sie nicht widerrufen, oder wenn sie ihr Vergehen wiederholen, dann bedeutet die Anklage der Gottlosigkeit
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den Tod. Hat Platon vergessen, da Sokrates als ein Opfer gerade dieser Anklage gefallen ist? Da es hauptschlich das Staatsinteresse ist und nicht so sehr das Interesse am religisen Glauben als solchem, das diese Forderung inspiriert, das kann man aus Platons zentraler religiser Lehre ersehen. Die Gtter, so lehrt Platon in den Gesetzen, bestrafen alle die aufs schrfste, die sich im Kampf zwischen Gut und Bse der als der Kampf zwischen dem Kollektivismus und dem Individualismus erlutert wird auf der falschen Seite benden2. Und die Gtter sind nicht bloe Zuschauer, sondern sie haben an den Menschen ein ttiges Interesse. Es ist unmglich, sie zu beruhigen. Weder durch Gebete noch durch Opfer knnen sie von der Bestrafung abgehalten werden22. Das politische Interesse hinter dieser Lehre ist unverkennbar, und es tritt noch klarer zutage, wenn Platon fordert, da der Staat jeden Zweifel an irgendwelchen Teilen dieses politischreligisen Dogmas unterdrcken msse, insbesondere aber den Zweifel an der Lehre, da die Gtter niemals von der Bestrafung abstehen. Der Opportunismus Platons sowie seine Theorie der Lgen erschwert natrlich die Deutung dessen, was er sagt. Inwieweit glaubte er selbst an seine Lehre von der Gerechtigkeit? Inwieweit glaubte er an die Wahrheit der religisen Lehren, die er predigte? War er vielleicht, trotz seiner Forderung, andere (geringere) Atheisten zu bestrafen, selbst ein Atheist? Es besteht keine Honung, auch nur eine dieser Fragen mit Bestimmtheit zu beantworten; dennoch ist es
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meiner Ansicht nach schwierig und methodologisch unsauber, wenn man in einem zweifelhaften Fall wie diesem nicht die fr Platon gnstigere Auslegung annimmt. Und insbesondere lt sich die Ernsthaftigkeit seines Glaubens wohl kaum in Frage stellen, da es notwendig sei, der Vernderung Einhalt zu gebieten. (Im 0. Kapitel komme ich darauf noch zu sprechen.) Andererseits besteht kein Zweifel, da Platon die sokratische Wahrheitsliebe dem grundlegenderen Prinzip unterwirft, da die Herrschaft der Herrenklasse gefestigt werden msse. Interessanterweise ist aber Platons Theorie der Wahrheit nicht ganz so radikal, wie seine Theorie der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit, so sahen wir, wurde praktisch deniert als das, was im Interesse seines totalitren Staates gelegen ist. Eine hnlich utilitaristische und pragmatistische Denition der Wahrheit wre natrlich mglich gewesen. Der Mythos ist wahr, so htte Platon sagen knnen, weil alles, was dem Interesse meines Staates dient, geglaubt und daher wahr genannt werden mu; und ein anderes Kriterium der Wahrheit darf es nicht geben; in der Theorie sind die pragmatistischen Nachfolger Hegels tatschlich auf analoge Weise vorgegangen; in der Praxis haben Hegel selbst und seine rassentheoretischen Anhnger diesen Weg eingeschlagen. Platon aber hatte genug vom Geiste des Sokrates beibehalten, um oen zuzugeben, da er log. Ich glaube, da der Schritt, den die Schule Hegels unternahm, einem Gefhrten des Sokrates nie in den Sinn htte kommen knnen23.
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III Soviel ber die Rolle, die die Idee der Wahrheit in Platons bestem Staate spielt. Aber auer der Gerechtigkeit und der Wahrheit mssen wir noch einige weitere Ideen, wie die Idee des Guten, des Schnen und der Glckseligkeit in Betracht ziehen, wenn wir die Einwnde beseitigen wollen, die im 6. Kapitel gegen unsere Interpretation des politischen Programms Platons erhoben wurden, gegen die Annahme, da dieses Programm rein totalitr ist und auf einer historizistischen Grundlage aufbaut. Wir knnen die Diskussion dieser Ideen und auch der Idee der Weisheit (die im letzten Kapitel teilweise diskutiert worden ist) aufnehmen, indem wir das einigermaen negative Resultat ins Auge fassen, das wir bei unserer Diskussion der Idee der Wahrheit erhielten. Denn dieses Resultat schafft ein neues Problem: Warum mchte Platon die Philosophen zu Knigen oder die Knige zu Philosophen machen, wenn er einerseits den Philosophen als einen Liebhaber der Wahrheit deniert, andererseits aber hervorhebt, da der Knig greren Mut besitzen und zu Lgen greifen msse? Die einzige Antwort auf diese Frage ist natrlich, da Platon bei der Bezeichnung Philosoph in Wirklichkeit an etwas ganz anderes denkt, und in der Tat haben wir im letzten Kapitel gesehen, da sein Philosoph nicht der hingebungsvolle Sucher nach der Wahrheit, sondern ihr stolzer Besitzer ist. Er ist ein Gelehrter, ein Weiser. Was Platon fordert, ist daher die Herrschaft der Gelehrsamkeit die Sophokratie, wenn ich es so nennen darf. Um diese
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Forderung zu verstehen, mssen wir die folgende Frage beantworten: Welche Funktionen machen es wnschenswert, da der Herrscher in Platons Staat ein Besitzer von Wissen ist, ein fertig ausgebildeter Philosoph, wie Platon sagt? Die Funktionen, die wir zu untersuchen haben, knnen in zwei Gruppen eingeteilt werden, nmlich in die Funktionen, die mit der Begrndung des Staates zusammenhngen, und in die Funktionen, die mit seiner Erhaltung zusammenhngen. IV Die erste und bedeutendste Funktion des kniglichen Philosophen ist die des Grnders und des Gesetzgebers des Staatswesens. Es ist klar, warum Platon fr diese Aufgabe einen Philosophen bentigt. Wenn der Staat stabil sein soll, dann mu er eine wahre Kopie der gttlichen Form oder Idee des Staates sein. Aber nur ein Philosoph, der in der hchsten der Wissenschaften, in der Dialektik wohl bewandert ist, besitzt die Fhigkeit, das himmlische Original zu sehen und es nachzubilden. Im Staat, wo Platon seine Argumente zugunsten der Herrschaft der Philosophen entwickelt, wird auf diesen Umstand groes Gewicht gelegt24. Die Philosophen lieben es, die Wahrheit zu sehen; ein wahrer Liebhaber aber mchte stets das Ganze sehen nicht blo die Teile. Daher liebt er nicht, wie die gewhnlichen Menschen, die sinnlich wahrnehmbaren Dinge und ihre schnen Tne, Farben und Gestalten, sondern er wnscht die wahre Natur der Schnheit zu sehen und zu bewun298 Platons politisches Programm

dern das heit die Form oder die Idee der Schnheit. Auf diese Weise gibt Platon dem Ausdruck Philosoph eine neue Bedeutung; der Philosoph ist der Liebhaber und der Seher der gttlichen Welt der Formen und Ideen. Als ein solcher kann er der Begrnder eines tugendhaften Staatswesens werden25: Der Philosoph, der mit dem Gttlichen in Verbindung steht, kann vom Drange, seine himmlischen Visionen des idealen Staatswesens und des idealen Brgers zu verwirklichen berwltigt werden. Er gleicht einem Zeichner oder einem Maler, der das Gttliche zum Vorbild hat. Nur die wahren Philosophen knnen den Grundplan des Staats entwerfen, denn sie allein sind imstande, das Original zu sehen und nachzubilden, indem sie ihre Augen hin- und herwandern lassen, vom Vorbild zum Bild und vom Bild zurck zum Vorbild. Als ein Maler von Konstitutionen26 mu der Philosoph vom Lichte der Tugend und Weisheit untersttzt werden. Ich fge noch einige Bemerkungen ber diese Ideen und ber ihre Bedeutung fr den Philosophen in seiner Funktion als Staatengrnder hinzu. Platons Idee des Guten steht in der Hierarchie der Formen an der hchsten Stelle. Sie ist die Sonne in der gttlichen Welt der Formen oder Ideen, sie ergiet nicht nur ihr Licht ber alle andern Ideen, sondern sie ist auerdem die Quelle ihrer Existenz27. Sie ist auch die Quelle oder die Ursache des Wissens und der Wahrheit28. Die Fhigkeit, das Gute zu sehen, zu schtzen und zu kennen, ist daher fr den Dialektiker unentbehrlich29. Als die Sonne und die
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Lichtquelle in der Welt der Formen befhigt die Idee des Guten den Malerphilosophen, seine Gegenstnde wahrzunehmen. Ihre Funktion ist daher fr den Begrnder des Staatswesens von grter Bedeutung. Aber ber diese rein formale Information hinaus wird uns nichts ber die Idee des Guten mitgeteilt. Platons Idee des Guten spielt nirgends eine unmittelbarere ethische oder politische Rolle; abgesehen vom wohlbekannten kollektivistischen Moralkodex, dessen Vorschriften ohne Bezugnahme auf die Idee des Guten eingefhrt werden, hren wir nichts davon, welche Taten gut sind oder Gutes erzeugen. Bemerkungen, wie, da das Gute das Ziel sei, da jedermann nach ihm strebe30, bereichern unser Wissen nicht. Dieser leere Formalismus tritt im Philebos noch deutlicher hervor; dort wird das Gute mit der Idee des Maes oder des Mittleren identiziert3. Und wenn ich lese, da Platon bei seiner berhmten Vorlesung ber das Gute eine ungebildete Hrerschaft enttuschte, weil er das Gute als die Klasse des Bestimmten, als Einheit betrachtet denierte, dann sind meine Sympathien auf der Seite des Auditoriums. Im Staat sagt Platon frei heraus32, er knne nicht erklren, was unter dem Guten zu verstehen sei. Der einzige praktische Vorschlag ist der zu Beginn des 4. Kapitels erwhnte gut ist, was dauert, schlecht ist, was zu Verfall und Degeneration fhrt. (Aber hier scheint gut nicht die Idee des Guten zu sein, sondern eher eine Eigenschaft der Dinge, die sie den Ideen hnlich macht.) Das Gute ist dementsprechend ein unvernderlicher, ein
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festgehaltener Zustand der Dinge; es ist der Zustand von Dingen, die sich in Ruhe benden. Dies scheint uns nicht sehr weit ber Platons totalitre politische Doktrin hinauszufhren; und die Analyse der Platonischen Idee der Weisheit hat ein gleich enttuschendes Resultat. Die Weisheit, so sahen wir, bedeutet fr Platon weder die sokratische Einsicht in die eigene Beschrnktheit, noch ist sie und das wrden die meisten von uns erwarten ein warmes Interesse an der Menschheit und ein hilfreiches Verstehen menschlicher Angelegenheiten. Die weisen Mnner Platons, sehr beschftigt mit dem Problem einer hheren Welt, haben keine Zeit, auf die Angelegenheit der Menschen herabzublicken auf das Geordnete und auf das Mavolle sehen sie, und an ihm halten sie fest. Es ist die rechte Art des Lernens, die einen Menschen weise macht: Philosophische Naturen sind Liebhaber desjenigen Unterrichts, der ihnen eine ewig bestehende Wirklichkeit enthllt, eine Wirklichkeit, die nicht zwischen Zeugung und Verfall umherirrt. Es scheint nicht, da uns Platons Behandlung der Weisheit ber das Ideal des Festhaltens der Vernderung hinausfhrt. V Die Analyse der Funktionen des Begrnders des Staates hat keine neuen ethischen Elemente in der Lehre Platons enthllt; sie hat aber gezeigt, da es gute Grnde gibt dafr, da er ein Philosoph sein mu. Aber dies rechtfertigt die Forderung nach der dauernden Herrschaft der Philosophen
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nicht zur Gnze. Es erklrt nur, warum der Philosoph der erste Gesetzgeber sein mu; es erklrt nicht, warum er als Regent dauernd notwendig ist, insbesondere, da keiner der spteren Herrscher irgendeine Vernderung einfhren darf. Um die Forderung nach der Herrschaft des Philosophen voll zu rechtfertigen, mssen wir uns also einer Analyse der Aufgaben zuwenden, die mit der Erhaltung des Staatswesens verbunden sind. Aus den soziologischen Theorien Platons wissen wir, da der Staat, sobald er eingerichtet ist, stabil bleiben wird, solange es keine Spaltung in der Einheit der Herrenklasse gibt. Die Erziehung dieser Klasse ist daher die groe erhaltende Funktion des Regenten, und diese Funktion mu fortdauern, solange der Staat besteht. Inwieferne rechtfertigt sie die Forderung nach der Regentschaft des Philosophen? Zur Beantwortung dieser Frage unterscheiden wir innerhalb der erhaltenden Funktion nochmals zwischen zwei verschiedenen Ttigkeiten: zwischen der berwachung der Erziehung und der berwachung der eugenischen Zchtung. Warum soll der Leiter der Erziehung ein Philosoph sein? Warum gengt es nicht, nach der Grndung des Staates und des Erziehungssystems einen erfahrenen General, einen Soldatenknig mit ihrer berwachung zu beauftragen? Die Antwort, da das Erziehungssystem nicht nur Soldaten, sondern auch Philosophen hervorzubringen habe und daher Philosophen und Soldaten zur berwachung bentige, ist klarerweise unbefriedigend; denn wenn wir keine Philosophen als Leiter der Erziehung oder als dauernde
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Herrscher brauchen, dann braucht das Erziehungssystem auch keine neuen Philosophen zu produzieren. Die Anforderungen des Erziehungssystems knnen als solche weder das Bedrfnis fr Philosophen im platonischen Staat noch das Postulat rechtfertigen, da die Herrscher Philosophen sein mten. Die Situation wre natrlich anders, wenn Platons Erziehung auer der Erfllung des Staatsinteresses noch ein anderes, etwa ein individualistisches Ziel htte, zum Beispiel das Ziel, philosophische Fhigkeiten um ihrer selbst willen zu entwickeln. Wenn wir aber (vergleiche das vorhergehende Kapitel) sehen, wie sehr sich Platon vor der Zulassung unabhngigen Denkens frchtete33; wenn wir weiters sehen, da das theoretische Endziel dieser philosophischen Erziehung einzig in einer Kenntnis der Idee des Guten besteht, die keine detaillierte Erklrung dieser Idee zu geben vermag, dann beginnen wir einzusehen, da dies nicht die Erklrung sein kann. Und dieser Eindruck verstrkt sich, wenn wir uns des 4. Kapitels entsinnen, wo wir sahen, da Platon auch Einschrnkungen in der musikalischen Erziehung Athens forderte. Das groe Gewicht, das Platon auf die philosophische Erziehung der Herrscher legt, mu mit anderen Grnden erklrt werden mit Grnden rein politischer Natur. Der Hauptgrund ist, soweit ich sehen kann, das Bedrfnis, die Autoritt der Herrscher bis zum uersten zu steigern. Wenn die Erziehung der Hilfstruppen gut funktioniert, dann gibt es eine groe Zahl guter Soldaten. Hervorragende militrische Fhigkeiten reichen also mglicherweise nicht
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aus, um eine unbestrittene und unbestreitbare Herrschaft zu errichten. Diese mu auf hheren Ansprchen beruhen. Platon grndet sie auf den Anspruch bernatrlicher mystischer Krfte, die er in seinen Fhrern entwickelt. Sie sind nicht wie andere Menschen. Sie gehren einer anderen Welt an, sie stehen mit dem Gttlichen in Verbindung. Der knigliche Philosoph scheint also teilweise ein Abbild des Stammespriesterknigs zu sein, einer Institution, die wir im Zusammenhang mit Heraklit erwhnt haben. (Die Institution des Stammespriesterknigs, des Medizinmanns oder des Schamanen scheint auch die alte pythagoreische Sekte mit ihren erstaunlich naiven Stammestabus beeinut zu haben. Die meisten von ihnen drften schon vor Platon aufgegeben worden sein. Aber der Anspruch der Pythagoreer auf eine bernatrliche Basis ihrer Autoritt verblieb.) Platons philosophische Erziehung hat also eine wohlbestimmte politische Funktion. Sie zeichnet die Herrscher aus und sie errichtet eine Schranke zwischen ihnen und den Beherrschten. (Dies ist bis auf unsere Zeit eine der Hauptfunktionen der sogenannten Hheren Erziehung geblieben.) Die Platonische Weisheit wird hauptschlich erworben, um eine dauerhafte politische Klassenherrschaft aufzubauen. Man kann sie auch eine politische Medizin nennen, die ihren Besitzern, den Medizinmnnern, mystische Krfte verleiht34. Aber das kann nicht die ganze Antwort auf unsere Frage nach den Funktionen des Philosophen im Staate sein. Es bedeutet eher, da die Frage, warum ein Philosoph im Staate
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vonnten ist, verschoben wurde und da wir nunmehr die analoge Frage nach den praktischen politischen Funktionen des Schamanen oder des Medizinmannes zu stellen haben. Platon mu ein wohlbestimmtes Ziel im Auge gehabt haben, als er sein spezialisiertes philosophisches Training einrichtete. Wir mssen uns nach einer dauernden Funktion des Herrschers umsehen, die der vorbergehenden Funktion des Gesetzgebers entspricht. VI Um herauszunden, warum ein Philosoph als dauernder Regent notwendig ist, stellt man am besten die folgende Frage: Was geschieht nach der Meinung Platons mit einem Staat, der nicht dauernd von einem Philosophen regiert wird? Platon hat auf diese Frage eine klare Antwort gegeben. Wenn die Hter des Staates, mag dieser auch noch so vollkommen sein, die tiefgrndige pythagoreische Weisheit und die platonische Zahl nicht kennen, dann mu ihre Rasse und damit der Staat dem Verderben anheimfallen. Die Rassenlehre spielt also in Platons politischem Programm eine grere Rolle, als man auf den ersten Blick vermuten wrde. Ebenso wie die platonische Zahl die Paarungszahl den Rahmen seiner deskriptiven Soziologie bildet, den Rahmen, in den Platons Philosophie der Geschichte gefgt ist (wie es Adam ausdrckt), ebenso bildet sie auch den Rahmen fr Platons politische Forderung nach der Souvernitt der Philosophen. Nach dem, was im 4. Kapitel ber die nomadische Vorgeschichte des
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platonischen Staates gesagt wurde, sind wir vielleicht nicht ganz berrascht, wenn wir nden, da sein Knig ein kniglicher Zchter ist. Aber da sich sein Philosoph als ein philosophischer Zchter erweist, drfte doch manche in Erstaunen versetzen. Die Dringlichkeit einer wissenschaftlichen, mathematisch-dialektischen und philosophischen Zchtung ist eines der Argumente fr die Souvernitt der Philosophen. Das Problem der Aufzucht einer reinen Rasse menschlicher Wachthunde wird in den Anfangskapiteln des Staates hervorgehoben und ausfhrlich behandelt. Davon war im 4. Kapitel die Rede. Aber bis jetzt haben wir noch keinen plausiblen Grund gefunden, warum nur ein echter und voll qualizierter Philosoph ein tchtiger und erfolgreicher politischer Zchter sein sollte. Und doch ist, wie jeder Zchter von Hunden, Pferden oder Vgeln wei, eine rationale Aufzucht ohne ein Schema, ohne ein Ziel, das ihn bei seinen Anstrengungen leitet, ohne ein Ideal, dem er sich durch die Methoden der Paarung und der Auswahl anzunhern trachten wird, unmglich. Ohne einen solchen Mastab knnte er nie entscheiden, welche Nachkommen gut genug sind; er knnte nie von einem Unterschied zwischen guter Nachkommenschaft und schlechter Nachkommenschaft sprechen. Dieser Mastab aber entspricht genau der Platonischen Idee der Rasse, die er zu zchten beabsichtigt. Ebenso wie nur der wahre Philosoph, der Dialektiker, nach Platon das gttliche Urbild des Staatswesens erschauen
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kann, ebenso kann nur der Dialektiker das andere gttliche Urbild, die Form oder Idee des Menschen erfassen. Nur er ist fhig, dieses Modell nachzubilden, es vom Himmel auf die Erde herabzurufen35 und hier zu verwirklichen. Eine knigliche Idee ist sie, diese Idee des Menschen. Sie verkrpert nicht, wie manche Interpreten dachten, das, was allen Menschen gemeinsam ist; sie ist nicht der Universalbegri Mensch, sondern das gttliche Urbild des Menschen, ein unvernderlicher bermensch; sie ist ein bergrieche und ein berherr. Der Philosoph mu versuchen, die Rasse des bestndigsten, mnnlichsten und, innerhalb der Schranken des Mglichen, schnsten Menschen auf der Erde zu realisieren; dieser ist vornehm geboren und von ehrfurchtgebietendem Charakter36. Es soll eine Rasse von Mnnern und Frauen geschaen werden, die gotthnlich wenn nicht gttlich und in vollkommener Schnheit gebildet sind37 ; eine Herrenrasse, die die Natur zum Knigtum und zur Herrschaft bestimmt hat. Wie wir sehen, sind die zwei fundamentalen Funktionen des Philosophen einander analog: er hat das gttliche Urbild des Staates und das gttliche Urbild des Menschen nachzuschaen. Er ist als einziger dazu fhig, und ihn allein drngt es, seine himmlische Vision im Individuum wie auch im Staate zu verwirklichen38. Nun knnen wir verstehen, warum Platon an derselben Stelle, an der er zum ersten Male die Anwendung der Prinzipien der Tierzucht auf die Rasse der Menschen fordert, auch zum ersten Male andeutet, da die Herrscher eine
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mehr als gewhnliche Tchtigkeit aufweisen mten. Bei der Zchtung von Tieren, so sagt er, lassen wir die grte Sorgfalt walten. Wenn du nicht nach diesem Gesichtspunkt zchten wrdest, glaubst Du nicht, da dann die Rasse deiner Vgel und Hunde schnell entarten wrde? Und nachdem Sokrates daraus geschlossen hat, da der Mensch auf gleich sorgfltige Weise gezchtet werden msse, ruft er aus: Lieber Himmel! welch auerordentliche Vortreichkeit werden wir von unseren Herrschern fordern mssen, wenn fr die Rasse der Menschen dieselben Prinzipien gelten!39 Dieser Ausruf ist bedeutsam; er ist eine der ersten Andeutungen dafr, da die Herrscher eine Klasse von auerordentlicher Vortreichkeit mit eigener Stellung und besonderem Training konstituieren; und damit bereitet er uns auf die Forderung vor, da sie Philosophen sein mssen. Aber die Stelle ist noch von weit grerer Tragweite. Denn ihr auf dem Fue folgt Platons Forderung, da es die Picht der Regenten sein msse, als die rzte der Rasse der Menschen Lgen und Tuschungen zu verschreiben. Lgen sind notwendig, so behauptet Platon, wenn die Herde hchste Vollendung erreichen soll; denn dazu sind Anordnungen ntig, die vor allen, mit Ausnahme der Herrscher, geheim gehalten werden mssen, wenn wir die Schar der Wchter wirklich frei von Uneinigkeit halten wollen. In diesem Zusammenhang wird tatschlich der oben zitierte Appell an die Herrscher gerichtet, bei der Verschreibung von Lgen als Medizin greren Mut zu beweisen; er bereitet den Leser auf die nchste Forderung vor, die Platon
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fr besonders wichtig hlt40: Die Herrscher sollten fr die Paarung der jungen Mitglieder der Hilfstruppen ein ausgeklgeltes Zettelsystem einfhren, so da die Enttuschten ihr Migeschick und nicht die Regenten verantwortlich machen, die insgeheim das System in Gang setzen und berwachen. Unmittelbar nach diesem verchtlichen Rat, dem Eingestndnis der Verantwortlichkeit auszuweichen (Platon legt diesen Rat in den Mund des Sokrates; das kommt einer Beschimpfung seines groen Lehrers gleich), macht Sokrates einen Vorschlag4, der von Glaukon sogleich aufgegrien und ausgearbeitet wird und den wir daher das Glaukonische Edikt nennen werden. Ich meine das brutale Gesetz42, das jedermann, gleichgltig welchem Geschlecht er auch angehrt, die Picht auferlegt, sich fr die Dauer eines Krieges den Wnschen der Tapferen zu unterwerfen: Solange der Krieg andauert, kann niemand ,nein zu ihm sagen. Wenn also ein Soldat mit irgendeinem Menschen, ob Mann oder Frau in Liebesbeziehungen zu treten wnscht, so wird ihn dieses Gesetz noch begieriger machen, den Preis seiner Tapferkeit mit sich fortzufhren. Der Staat darauf wird sorgfltig verwiesen erhlt so zwei verschiedene Vorteile: Mehr Helden dank des Anreizes und nochmals mehr Helden, dank der zunehmenden Zahl der Heldenkinder. (Da der zweite Vorteil der vom Standpunkt einer langfristigen Rassenpolitik aus bedeutendste ist, so ist es Sokrates selbst, der ihn darstellt.)

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VII Fr diese Art des Zchtens ist keine besondere philosophische Bildung erforderlich. Aber die philosophische Aufzucht spielt ihre wichtigste Rolle bei der Bekmpfung der Gefahren der Entartung. Zur Bewltigung dieser Gefahren bedarf es eines vollqualizierten Philosophen, das heit eines Philosophen, der in der reinen Mathematik (Geometrie starrer Krper eingeschlossen), in der reinen Astronomie, in der reinen Harmonik und im Hhepunkt aller Lehren, in der Dialektik, wohlbewandert ist. Nur wer das Geheimnis der mathematischen Eugenik, der platonischen Zahl kennt, kann dem Menschen die Glckseligkeit wiederbringen und erhalten, der er sich vor dem Sndenfall erfreute43. All dies mssen wir uns vor Augen fhren, wenn nun nach der Ankndigung des Glaukonischen Edikts (und nach einem Zwischenspiel, das sich mit dem natrlichen Unterschied zwischen Griechen und Barbaren befat, der nach Platons Ansicht dem Unterschied zwischen Herren und Sklaven entspricht) die Lehre ausgesprochen wird, die Platon sorgfltig als seine zentralste und aufsehenerregendste politische Forderung bezeichnet die Lehre von der Souvernitt des kniglichen Philosophen. Diese Forderung allein, so lehrt er, kann den beln des sozialen Lebens ein Ende bereiten; dem in den Staaten wuchernden bel, das heit der politischen Instabilitt, sowie auch seiner verborgeneren Ursache, dem in den Mitgliedern der Menschenrasse wurzelnden bel, der Entartung der Rasse. Hier ist die Stelle44:
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Wohlan, sagt Sokrates, ich bin nun daran, mich in jenes Thema zu strzen, auf das wir vorhin das Bild der ,grten Woge angewendet haben. Aber sprechen mu ich, obgleich ich voraussehe, da meine Rede in einem Schwall von Gelchter untergehen wird. In der Tat, ich sehe schon, wie diese Woge ber meinen Kopf hereinbricht, mit einem Getse von Gelchter und von Schmhungen Heraus mit der Geschichte! sagt Glaukon. Solange, sagt Sokrates, solange die Philosophen nicht Knige in ihren Staaten sind, und solange diejenigen, die jetzt Knige oder Oligarchen heien, nicht echte und voll ausgebildete Philosophen geworden sind; und solange diese beiden Gebiete, politische Macht und Philosophie nicht vereinigt sind (whrend die vielen, die heutzutage ihrer natrlichen Neigung folgen und sich nur fr eines dieser beiden Gebiete bemhen, mit Gewalt unterdrckt werden), solange all dies nicht eintritt, mein lieber Glaukon, wird es keine Ruhe geben; und das bel wird nicht aufhren in den Staaten zu wuchern und, so glaube ich, in der Rasse der Menschen. (Worauf Kant die weise Antwort gab: Da Knige philosophieren, oder Philosophen Knige wrden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wnschen, weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Da aber Knige oder knigliche [sich selbst nach Gleichgesetzen beherrschende] Vlker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern entlich sprechen lassen, ist beiden zur Beleuchtung ihres Geschfts unentbehrlich45.)
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Diese wichtige Platonische Stelle wurde ganz richtig als der Schlssel des ganzen Werkes bezeichnet. Ihre letzten Worte und, so glaube ich, in der Rasse der Menschen sind meiner Meinung nach eine Art von Zusatz, der an dieser Stelle relativ unwichtig ist. Dennoch ist ein Kommentar vonnten, da die allgemein bliche Idealisierung Platons zur Annahme fhrte46, da er hier von der Menschheit redet und da er sein Heilsverfahren ber die Staaten hinaus auf die Menschheit als Ganzes ausdehnt. Es mu in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, da Platon die ethische Kategorie der Menschheit, als etwas die Unterscheidung zwischen Nationen, Rassen und Klassen Transzendierendes, vllig fremd ist. In der Tat haben wir gengend Zeugnisse dafr, da Platon den Vorkmpfern der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz in Feindschaft gegenberstand. Ein Beispiel ist seine Einstellung zu Antisthenes, einem alten Schler und Freunde des Sokrates47. Wie Alkidamas und Lykophron gehrte auch Antisthenes zur Schule des Gorgias, dessen Gleichheitslehren er zur Lehre von der Brderschaft aller Menschen und zur Lehre vom universalen Reich aller Menschen erweitert zu haben scheint48. Platon greift diese Lehre im Staat an; er setzt dort die natrliche Ungleichheit der Griechen und Barbaren in Beziehung zur Ungleichheit der Herren und Sklaven. Und dieser Angri steht unmittelbar vor der Schlsselstelle vom kniglichen Philosophen49, die wir hier betrachten. Aus diesen und anderenGrnden50 erscheint die Annahme naheliegend, da Platon mit seinem Hinweis auf das bel, das
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in der Menschenrasse wuchert, auf eine Theorie anspielt, mit der seine Leser an dieser Stelle gengend vertraut waren; auf seine Theorie nmlich, da die Wohlfahrt des Staates letztlich von der Natur der individuellen Mitglieder der Herrenklasse abhngt und da ihre Natur und die Natur ihrer Rasse oder Nachkommenschaft ihrerseits durch die bel einer individualistischen Erziehung und, was noch wichtiger ist, durch Entartung der Rasse bedroht sei. Platons Bemerkung, sein klarer Hinweis auf den Gegensatz zwischen der gttlichen Ruhe und dem bel des Wechsels und des Verfalls, enthlt einen Hinweis auf den Mythos von der Zahl und vom Sndenfall des Menschen5. Es ist sehr angemessen, da Platon an dieser Schlsselstelle, an der er seine wichtigste politische Forderung ausspricht, auf seine Rassenlehre anspielt. Denn ohne den echten und voll ausgebildeten Philosophen, der in allen Wissenschaften gebt ist, die zur Voraussetzung der Eugenik gehren, ohne ihn ist der Staat verloren. In seiner Erzhlung von der Zahl und vom Sndenfall des Menschen teilt uns Platon mit, da der Verlust des Interesses an der Eugenik, an der berwachung und der berprfung der Reinheit der Rasse eine der ersten und verhngnisvollsten Unterlassungssnden der entarteten Wchter sein wird: Und es werden daher Herrscher ernannt werden, die fr ihre Aufgabe als Wchter gnzlich ungeeignet sind, fr die Aufgabe nmlich, die Metalle in den Rassen (die Hesiods Rassen sind, ebenso wie die euren) zu berwachen und zu berprfen, das Gold, das Silber, das Erz und das Eisen52.
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Die Unkenntnis der mysterisen Paarungszahl ist es also, die zu all diesen beln fhrt. Die Zahl aber war zweifellos Platons eigene Erndung. (Sie setzt die reine Harmonik voraus, und diese wieder beruht auf der Geometrie fester Krper, die zur Zeit der Abfassung des Staates eine neue Wissenschaft war.) Und so sehen wir, da niemand auer Platon selbst das Geheimnis des wahren Wchteramtes kannte und den Schlssel zu ihm besa. Das kann aber nur eines bedeuten: Platon selbst ist der knigliche Philosoph, und der Staat formuliert Platons eigenen Anspruch auf die Knigsherrschaft, auf die Macht, die, wie er glaubte, ihm selbst zukam, ihm, der in einer Person die Ansprche des Philosophen und des Nachkommen und legitimen Erbens Kodros des Mrtyrers vereinigte, der Athens letzter Knig war und der, wie Platon sagt, sich selbst geopfert hatte, um das Knigtum fr seine Kinder zu bewahren. VIII Sobald einmal dieser Schlu gezogen ist, werden viele Dinge zusammenhngend und klar, die sonst ohne Beziehung nebeneinander stehen. Es lt sich zum Beispiel kaum bezweifeln, da Platon mit seinem Werk, das ja von Anspielungen auf zeitgenssische Probleme und Charaktere voll ist, nicht sosehr einen theoretischen Traktat, als ein aktuelles politisches Manifest zu schreiben beabsichtigte. Wir fgen Platon das schwerste Unrecht zu, so sagt A. E. Taylor, wenn wir vergessen, da sein Staat nicht blo eine Sammlung von theoretischen Diskussionen ber Regierung
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ist, sondern ein ernsthaftes Projekt zur politischen Reform darstellt, vorgebracht von einem Athener der, wie Shelly, von der Leidenschaft entammt war, die Welt zu reformieren53. Das ist zweifellos richtig, und daraus allein htten wir schon schlieen knnen, da Platon anllich der Beschreibung seiner kniglichen Philosophen an zeitgenssische Philosophen gedacht haben mu. Zur Zeit der Abfassung des Staates gab es aber in Athen nur drei hervorragende Mnner, die sich htten Philosophen nennen knnen: Antisthenes, Isokrates und Platon selbst. Wenn wir dies bei der Lektre des Staates in Betracht ziehen, dann stoen wir anllich der Diskussion der Merkmale des kniglichen Philosophen sogleich auf eine etwas weitschweige Stelle, deren persnlicher Charakter Platon selbst deutlich macht. Sie setzt54 ein mit einer unverkennbaren Anspielung auf einen populren Zeitgenossen, nmlich auf Alkibiades, und sie endet mit der oenen Erwhnung eines Namens (dem des Theages) und damit, da Sokrates auf sich selbst verweist55. Ihr Ergebnis ist, kurz ausgedrckt, da nur sehr wenige den Namen eines wahren Philosophen verdienen und fr den Posten des kniglichen Philosophen taugen. Der vornehm geborene Alkibiades, der der rechte Mann gewesen wre, verlie die Philosophie trotz der Versuche, die Sokrates zu seiner Rettung unternahm. Verlassen und schutzlos wurde die Philosophie von unwrdigen Werbern in Anspruch genommen. Schlielich verbleibt nur eine Handvoll von Mnnern, die wert sind, mit der Philosophie in Verbindung gebracht zu werden. Von dem Standpunkt
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aus betrachtet, den wir erreicht haben, htten wir zu erwarten, da mit den unwrdigen Werbern Antisthenes, Isokrates und ihre Schler gemeint sind (und da sie die Leute sind, die mit Gewalt unterdrckt werden mssen, wie wir in der Schlsselstelle vom kniglichen Philosophen lesen knnen). Und es gibt wirklich unabhngige Zeugnisse, die diese Erwartung besttigen 56. In hnlicher Weise sollten wir erwarten, da sich Platon und vielleicht einige seiner Freunde (mglicherweise Dion) unter der Handvoll der Wrdigen benden; die Fortsetzung dieser Stelle lt auch nur wenig Zweifel darber, da Platon hier von sich selbst spricht: Wer nun zu dieser kleinen Gruppe gehrt der erkennt deutlich den Wahnsinn der vielen und den allgemeinen Verfall aller entlichen Angelegenheiten. Der Philosoph gleicht einem Menschen, der in einen Kg wilder Tiere geraten ist. Er hat keinen Anteil an der Ungerechtigkeit der vielen, aber seine Macht reicht nicht aus, um, von einer Welt von Wilden umgeben, seinen Kampf allein fortzusetzen. Er wrde gettet werden, bevor er seinem Staate und seinen Freunden Gutes leisten knnte Und wenn er alle diese Punkte nach Gebhr berlegt hat, so wird er sich zurckhalten und seine Bemhungen auf seine eigene Arbeit beschrnken57. Der persnliche Groll, der in diesen bitteren und unsokratischen58 Worten zum Vorschein kommt, macht es klar, da Platon hier selbst spricht. Um aber dieses persnliche Bekenntnis voll einschtzen zu knnen, mu man es mit dem folgenden vergleichen: Es ist wider alle Natur, wenn der gebte Steuermann die Matrosen
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untertnigst ersuchen soll, sich sein Kommando gefallen zu lassen; widernatrlich ist es auch, da der Weise vor den Toren der Reichen warten soll Wahr und natrlich ist es aber, da die Kranken, ob reich, ob arm, zur Pforte des Arztes eilen. Ebenso sollten diejenigen, die der Herrschaft bedrfen, das Tor dessen belagern, der zum Herrschen fhig ist; und ein Herrscher, der etwas wert ist, sollte sie nie bitten, seine Herrschaft anzunehmen. Wer knnte wohl den Ton ungeheuren persnlichen Stolzes berhren, der aus diesen Worten spricht? Hier bin ich, so sagt Platon, ich, euer natrlicher Herrscher, der knigliche Philosoph, der zu herrschen versteht. Wenn ihr mich wnscht, so mt ihr zu mir kommen, und wenn ihr drngt, so werde ich vielleicht euer Herrscher werden. Aber ich werde euch nicht darum bitten. Glaubte er, da sie kommen wrden? Wie in vielen groen Werken der Weltliteratur nden sich auch im Staat Anzeichen dafr, da bei seinem Verfasser berschwengliche und extravagante Honungen59 auf Erfolg mit Perioden der Verzweiung abwechselten. Manchmal zumindest hoffte Platon, da sie kommen wrden; er hoffte, da der Erfolg seines Werkes, der Ruf seiner Weisheit sie zu ihm fhren wrde. Aber dann wieder vermeinte er zu wissen, da sie nur zu heftigen Angrien aufgestachelt werden knnten; und da, was ihm bevorstand, ein Getse von Gelchter und von Schmhungen sein knnte vielleicht sogar der Tod. War Platon ehrgeizig? Er gri nach den Sternen, er strebte nach Gotthnlichkeit. Manchmal kommt es mir vor, da
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ein Teil der Begeisterung fr Platon dem Umstnde zuzuschreiben ist, da er vielen heimlichen Trumen Ausdruck verlieh60. Sogar dort, wo er gegen den Ehrgeiz argumentiert, zwingt sich uns der Gedanke auf, da er von ihm inspiriert ist. Der Philosoph, so versichert er uns6, ist nicht ehrgeizig; obgleich zum Herrschen bestimmt, strebt er doch am wenigsten darnach. Der Grund ist aber da er dafr zu hoch steht. Er, der mit dem Gttlichen verbunden ist, kann wohl von seinen Hhen zu den Sterblichen unter ihm herabsteigen und sich selbst um des Staatsinteresses willen opfern. Es verlangt ihm nicht danach; aber als ein natrlicher Herrscher und Heiland ist er bereit, zu kommen. Die armen Sterblichen brauchen ihn. Ohne ihn mu der Staat zugrunde gehen, denn er allein kennt das Geheimnis seiner Erhaltung, das Geheimnis, das den Verfall aufzuhalten vermag Ich denke, wir mssen der Tatsache ins Auge sehen, da hinter der Idee des kniglichen Philosophen das Streben nach Macht steht. Das schne Portrt des Herrschers ist ein Selbstportrt. Wenn wir uns einmal vom Schock dieser Entdeckung erholt haben, dann knnen wir dieses furchteinende Bild erneut betrachten; und gestrkt mit einer kleinen Dosis sokratischer Ironie, werden wir es vielleicht nicht mehr so furchtbar nden. Wir werden seine menschlichen, seine in der Tat nur allzu menschlichen Zge entdecken. Wir werden sogar ein wenig Mitleid mit Platon empnden, der sich mit der Errichtung des ersten Lehrstuhls der Philosophie zufrieden geben mute, statt
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mit der Errichtung ihres ersten Knigsthrones; der seinen Traum, die knigliche Idee, die er nach seinem eigenen Bild geformt hatte, nie verwirklichen konnte. Gestrkt durch unsere kleine Dosis von Ironie, werden wir in Platons Geschichte vielleicht sogar eine melancholische hnlichkeit mit jener unschuldigen und unbewuten kleinen Satyre auf den Platonismus nden, mit der Geschichte vom hlichen Dachshund Tono, der seine knigliche Idee des Groen Hundes nach seinem eigenen Abbild formte, der aber am Schlu zu seinem Glck entdeckte, da er selbst der Groe Hund war62. Welch ein Monument menschlicher Kleinheit ist diese Idee des kniglichen Philosophen! Welch ein Gegensatz zwischen ihr und der Einfachheit und Menschlichkeit des Sokrates, der den Staatsmann vor der Gefahr warnte, von seiner eigenen Macht, Vortreichkeit und Weisheit geblendet zu werden, und der ihn die wichtige Einsicht zu lehren versucht, da wir doch alle nur schwache, fehlbare Menschen sind. Wie steil ist doch der Abstieg aus dieser Welt der Ironie, der Vernunft, der Wahrhaftigkeit hinab zu Platons Knigtum des Weisen, den seine magischen Krfte hoch ber die gewhnlichen Menschen erheben; wenn auch nicht hoch genug, um auf den Gebrauch von Lgen zu verzichten oder auf das traurige Gewerbe des Schamanen: auf den Verkauf von Zauberformeln, von Zchtungs- oder Paarungszaubern, im Austausch fr Macht ber seine Mitmenschen.
Kapitel 8: Der knigliche Philosoph 319

Neuntes Kapitel: STHETIZISMUS, PERFEKTIONISMUS, UTOPISMUS


Alles mu zertrmmert werden. Auf diese Weise mssen wir beginnen. Unsere ganze verdammte Zivilisation hat zu verschwinden, bevor wir auch nur ein bichen Anstndigkeit in die Welt bringen knnen. Mourlan in Du Gards Les Thibaults

In Platons Programm ndet sich eine Methode der Behandlung politischer Probleme, die ich fr hchst gefhrlich halte. Ihre Analyse ist, vom Standpunkt einer rationalen Sozialtechnik aus betrachtet, von groer praktischer Bedeutung. Die Platonische Methode, an die ich hier denke, kann man die Methode des Planens im groen Stil, die utopische Sozialtechnik, die utopische Technik des Umbaus der Gesellschaftsordnung oder die Technik der Ganzheitsplanung nennen; ihr steht eine andere Art von Sozialtechnik gegenber, die ich fr die einzig rationale halte und die man die von Fall zu Fall angewendete Sozialtechnik, die Sozialtechnik der Einzelprobleme, die Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung oder die Ad-hoc-Technik nennen knnte. Die utopische Technik ist um so gefhrlicher, als es scheinen kann, da sie im klaren Gegensatz zu einem ausgesprochenen Historizismus steht, zu einem radikal historizistischen Vorgehen, das voraussetzt, da wir den Lauf der Geschichte nicht ndern knnen; gleichzeitig scheint
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sie die notwendige Ergnzung eines weniger radikalen Historizismus (wie etwa des Platonischen) darzustellen, der menschliche Einwirkung zult. Die utopische Sozialtechnik kann durch die folgende Argumentation plausibel gemacht werden. Jede rationale Handlung mu ein bestimmtes Ziel haben. Sie ist rational in eben dem Ausma, in dem sie ihr Ziel bewut und konsequent verfolgt und in dem sie ihre Mittel diesem Ziel entsprechend festsetzt. Die Wahl eines Ziels ist also die erste Aufgabe, die wir lsen mssen, wenn wir rational zu handeln wnschen; wir mssen unsere wirklichen und endgltigen Ziele sorgfltig festsetzen, und wir mssen von ihnen jene Teil- oder Zwischenziele klar unterscheiden, die eigentlich nur als Mittel oder als Schritte auf dem Wege zum endgltigen Ziel in Betracht kommen: Wenn wir diese Unterscheidung vergessen, dann vergessen wir auch uns zu fragen, ob es wahrscheinlich ist, da diese Teilziele das letzte Ziel frdern; und damit hren wir auf, rational zu handeln. Auf das Gebiet politischer Ttigkeit angewendet, verlangen die angefhrten Prinzipien die Festlegung unseres endgltigen politischen Ziels oder des idealen Staates, bevor irgendeine praktische Handlung unternommen wird. Nur dann, wenn dieses Ziel zumindest in rohen Umrissen bestimmt ist, wenn wir einen Bauplan der von uns angestrebten Gesellschaftsordnung besitzen, nur dann knnen wir beginnen, uns die besten Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung zu berlegen und einen Plan fr praktisches Handeln aufzustellen. Die angegebenen Vorbereitungen
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sind fr jede praktische politische Handlung notwendig, die die Bezeichnung rational verdient, insbesondere sind sie notwendig fr den sozialen Aufbau selbst. Das ist in kurzen Zgen das methodologische Vorgehen, das ich utopisch nenne. Es ist berzeugend und verfhrerisch. In der Tat fhlen sich vor allem diejenigen Denker davon angezogen, die entweder von historizistischen Vorurteilen unberhrt sind oder die gegen derartige Vorurteile zu Felde ziehen. Das macht die universalistisch-utopische Technik um so gefhrlicher und ihre Kritik um so dringender. Bevor ich diese Kritik im Detail ausfhre, mchte ich einen anderen Weg der Sozialtechnik umreien, den ich die Sozialtechnik der Einzelprobleme nenne oder die Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung. Ihn halte ich methodologisch fr einwandfrei. Ein Politiker, der sich diese Methode zu eigen macht, mag eine Skizze einer Gesellschaftsordnung vor Augen haben; er mag hoffen, da die Menschheit eines Tages einen idealen Staat verwirklichen und Glck und Vollkommenheit auf Erden erreichen wird. Wie dem auch sei er wird auf jeden Fall einsehen, da sich die Vollkommenheit, wenn sie sich berhaupt erreichen lt, in weiter Ferne bendet und da jede Generation von Menschen, also auch die jetzt lebende, ihre Rechte hat; vielleicht nicht so sehr ein Recht auf Glck denn es gibt keine institutionellen Mittel, um einen Menschen glcklich zu machen , aber doch ein Recht, nicht unglcklich gemacht zu werden, soweit sich
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dies durchfhren lt. Den Leidenden steht ein Recht auf alle nur erdenkliche Hilfe zu. Dementsprechend wird sich der Anwalt der Ad-hoc-Technik nach den grten und dringlichsten beln in der Gesellschaft umsehen, und er wird versuchen, sie zu beseitigen; er wird nicht dem grten Gut nachspren und sich fr seine Verwirklichung einsetzen2. Dieser Unterschied ist durchaus nicht blo verbal. Er ist in Wirklichkeit von grter Bedeutung. Es ist der Unterschied zwischen einer vernnftigen Methode zur Verbesserung des Geschicks der Menschheit und einer Methode, die, wenn sie wirklich ausprobiert wird, leicht zu einer unertrglichen Zunahme menschlichen Leidens fhren kann. Es ist der Unterschied zwischen einer Methode, die sich in jedem Augenblick anwenden lt, und einer Methode, deren Befrwortung leicht zu einer stndigen Verschiebung des Handelns auf einen spteren Zeitpunkt fhren kann, wenn die Bedingungen gnstiger sind. Und es ist auch der Unterschied zwischen der einzigen Methode zur Verbesserung der Umstnde, die bisher, zu jeder Zeit und an jedem Ort wirklich erfolgreich gewesen ist (Ruland eingeschlossen, wie wir sehen werden), und einer Methode, die, wo immer sie versucht wurde, nur zum Gebrauch von Gewalt an Stelle von Vernunft und, wenn nicht zu ihrer eigenen Aufgabe, so doch zur Aufgabe des ursprnglichen Zieles gefhrt hat. Der Befrworter einer Ad-hoc-Technik kann seine Methode damit verteidigen, da die systematische Bekmpfung des Leidens und der Ungerechtigkeit und des Krieges viel
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eher die Untersttzung einer groen Zahl von Menschen nden wird als der Kampf fr die Verwirklichung eines Idealstaates. Da es soziale bel gibt, das heit soziale Zustnde, unter denen viele Menschen zu leiden haben, ist etwas, was sich verhltnismig leicht feststellen lt: die, die leiden, knnen aus eigener Erfahrung urteilen, und die andern knnen kaum sagen, da sie gerne mit jenen tauschen wrden. Aber ber einen Idealstaat vernnftig zu diskutieren ist unendlich viel schwieriger. Das soziale Leben ist so kompliziert, da nur wenige Menschen oder berhaupt niemand fhig ist, den Wert eines Bauplans fr soziale Manahmen im groen Mastab richtig einzuschtzen; ob er praktisch ist; ob er zu einer wirklichen Verbesserung fhren kann; welche Leiden aller Wahrscheinlichkeit nach mit ihm verbunden sein werden und welche Mittel zu seiner Verwirklichung fhren. Im Gegensatz dazu sind Plne fr einen schrittweisen Umbau der Gesellschaftsordnung relativ einfach zu beurteilen. Es sind dies ja Plne fr einzelne Institutionen, zum Beispiel fr die Krankenoder Arbeitslosenversicherung, fr Schiedsgerichte, fr Budgetvoranschlge zur Bekmpfung von Depressionen3 oder fr Erziehungsreform. Wenn sie fehlschlagen, dann ist der Schaden nicht allzu gro und eine Wiederherstellung oder Adjustierung nicht allzu schwierig. Derartige Entwrfe sind weniger riskant und gerade aus diesem Grunde weniger umstritten. Wenn sich aber eine Einigung in bezug auf die bestehenden bel und die Mittel zu ihrer Bekmpfung leichter erreichen lt als eine Einigung ber ein ideales Gut
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und ber die Mittel zu seiner Verwirklichung, dann knnen wir auch hoen, da uns die Anwendung der Methode des stckweisen Umbaus ber die allergrte Schwierigkeit jeder vernnftigen politischen Reform hinweghelfen wird, nmlich ber die Frage, wie wir es anstellen sollen, da bei der Durchfhrung des Programms die Vernunft und nicht Leidenschaft und Gewalt zu Worte kommen. Es wird mglich sein, einen vernnftigen Kompromi zu erzielen und dadurch eine Verbesserung mit Hilfe demokratischer Methoden zu erreichen. (Kompromi ist ein hliches Wort; wir sollten aber lernen, es richtig zu gebrauchen. Institutionen sind unvermeidlich das Ergebnis eines Kompromisses mit Umstnden, Interessen usf., obgleich wir als Personen Einssen dieser Art widerstehen sollten.) Im Gegensatz dazu verlangt ein utopischer Versuch der Verwirklichung eines idealen Staates auf Grund eines Entwurfes der Gesellschaftsordnung als ganzer eine streng zentralisierte Herrschaft einiger weniger, und er fhrt daher aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Diktatur4. Ich halte das fr eine entscheidende Kritik des utopischen Vorgehens; denn im Kapitel ber das Prinzip des Fhrertums habe ich zu zeigen versucht, da eine autoritre Herrschaft eine hchst fragwrdige Regierungsform ist. Einige Punkte, die in jenem Kapitel nicht berhrt wurden, liefern uns sogar noch bessere Argumente gegen das Vorgehen der Utopisten. Eine der Schwierigkeiten, denen ein wohlwollender Diktator ins Auge sehen mu, ist die Frage, wie es sich feststellen lt, ob die Ergebnisse seiner ManahKapitel 9: sthetizismus, Perfektionismus, Utopismus 325

men mit seinen guten Absichten bereinstimmen. Die Schwierigkeit kommt daher, da die Brger einer Diktatur das Regime nicht zu kritisieren wagen. Dementsprechend wird der wohlwollende Diktator nicht leicht Klagen ber die Manahmen hren, die er getroen hat. Aber ohne eine Kontrolle wie diese, kann er schwerlich feststellen, ob seine Manahmen das gewnschte wohlwollende Ziel erreichten. Fr den utopischen Sozialtechniker mu sich die Situation noch weiter verschlechtern. Die Rekonstruktion der Gesellschaftsordnung ist ein groes Unternehmen, das vielen Menschen geraume Zeit hindurch beachtenswerte Unannehmlichkeiten bereiten mu. Der utopische Sozialtechniker wird also seine Ohren gegen viele Klagen verschlieen mssen; in der Tat wird seine Aufgabe zum Teil in der Unterdrckung unvernnftiger Einwnde bestehen. Aber damit mu er, unvermeidlich, vernnftige Kritik unterdrcken. Eine andere Schwierigkeit der utopischen Sozialtechnik hngt mit dem Problem des Nachfolgers des Diktators zusammen. Gewisse Aspekte dieses Problems haben wir im 7. Kapitel erwhnt. Die Schwierigkeit, in die die utopische Sozialtechnik hier verwickelt wird, lt sich mit den Problemen eines wohlwollenden Tyrannen vergleichen, der einen gleich wohlwollenden Nachfolger zu nden trachtet5. Sie ist aber noch ernsthafter. Gerade der Umfang eines utopischen Unternehmens macht es unwahrscheinlich, da sein Ziel whrend der Lebenszeit eines Sozialtechnikers oder einer Gruppe von Sozialtechnikern realisiert werden wird. Und wenn die Nachfolger
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nicht dasselbe Ideal anstreben, dann waren vielleicht alle Leiden vergeblich, die das Volk um des Ideals willen auf sich nahm. Eine Verallgemeinerung dieses Arguments fhrt uns zu einer weiteren Kritik des Vorgehens der Utopisten. Die utopische Methode kann klarerweise nur dann von praktischem Wert sein, wenn wir annehmen, da der ursprngliche Entwurf, vielleicht mit gewissen Berichtigungen, bis zu seiner Vollendung die Grundlage der Arbeit bleibt. Aber die Arbeit wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Diese Zeit wird voll sein von politischen und geistigen Revolutionen, neuen Experimenten und neuen Erfahrungen auf dem Gebiet der Politik. Es ist daher zu erwarten, da sich die Ideen und die Ideale ndern werden. Was den Autoren des ursprnglichen Entwurfs als der ideale Staat vorschwebte, wird ihren Nachfolgern vielleicht nicht mehr im gleichen Lichte erscheinen. Aber damit bricht die ganze Methode zusammen: Eine Methode, nach der wir uns zuerst ein endgltiges politisches Ziel setzen und hierauf auf seine Verwirklichung hinarbeiten, wird wertlos, sobald wir zugeben, da sich das Ziel im Verlauf seiner Verwirklichung betrchtlich ndern kann. In jedem Augenblick kann es sich herausstellen, da die bisher unternommenen Manahmen sehr weit von der Realisierung des neuen Ziels wegfhren. Und wenn wir unsere Richtung dem neuen Ziel gem ndern, dann setzen wir uns wieder derselben Gefahr aus. Es ist mglich, da wir trotz aller Opfer keinem der Ziele nherkommen. Diejenigen Sozialtechniker, die einen Schritt
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auf ein fernes Ideal zu der Verwirklichung eines in einem konkreten Fall geschlossenen Kompromisses vorziehen, sollten sich immer folgendes vor Augen halten: Wenn das Ideal sehr weit entfernt ist, dann mag es sogar schwierig sein, festzustellen, ob der unternommene Schritt zu ihm hin oder von ihm wegfhrte. Das trifft besonders dann zu, wenn der Weg in Zick-Zack-Schritten oder, in Hegels Jargon, dialektisch verluft, oder wenn er berhaupt nicht klar geplant ist. (Das hngt mit der alten und etwas kindischen Frage zusammen, inwieweit der Zweck die Mittel heiligt. Abgesehen davon, da meiner Ansicht nach kein Zweck jemals alle Mittel rechtfertigen kann, glaube ich, da ein ziemlich konkretes und realisierbares Ziel vorbergehend Manahmen rechtfertigen kann, die ein ferneres Ideal nie rechtfertigen knnte6.) Wir sehen nun, da sich das Vorgehen der Utopisten nur durch den platonischen Glauben an ein absolutes und unvernderliches Ideal retten lt, zusammen mit zwei weiteren Annahmen, nmlich [a] der Annahme, da es rationale Methoden gibt, die uns ein fr allemal festzustellen gestatten, wie dieses Ideal beschaen ist, und [b] der Annahme, da es rationale Methoden gibt, die uns die besten Mittel zu seiner Verwirklichung lehren. Nur derart weitreichende Annahmen knnten uns davon abhalten, die utopische Methodologie als vllig nutzlos zu verwerfen. Aber sogar Platon selbst und die glhendsten Platoniker werden zugeben, da [a] sicher nicht zutrifft, da es keine rationale Methode gibt, die uns lehrt, wie
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wir das endgltige Ziel aunden knnen, sondern da wir uns, wenn berhaupt, nur auf eine Art von Intuition verlassen knnen. Jede Meinungsverschiedenheit zwischen den utopischen Technikern mu daher in Ermangelung rationaler Methoden zum Gebrauch der Macht an Stelle der Vernunft, das heit zur Gewaltanwendung fhren. Wenn berhaupt irgendein Fortschritt in einer bestimmten Richtung zustande kommt, dann geschieht dies trotz der angenommenen Methoden und nicht weil sie angenommen wurden. Der Erfolg ist dann vielleicht zum Beispiel auf die hervorragenden Eigenschaften der Fhrer zurckzufhren; aber wir drfen nicht vergessen, da hervorragende Fhrer nicht ein Produkt rationaler Methoden sind, sondern ein Produkt glcklicher Umstnde. Es ist wichtig, da diese Kritik in der richtigen Weise verstanden wird; ich kritisiere nicht das Ideal durch den Hinweis auf die Tatsache, da sich ein Ideal niemals realisieren lt, da es immer eine Utopie bleiben mu. Dies wre keine zutreende Kritik, denn vieles, was man einst dogmatisch fr unrealisierbar erklrte, so zum Beispiel die Errichtung von Institutionen zur Sicherung des zivilen Friedens das heit zur Verhinderung von Verbrechen innerhalb des Staates ist realisiert worden; und ich glaube, da zum Beispiel die Errichtung von Institutionen zur Verhinderung internationaler Verbrechen das heit bewaneter Angrie oder bewaneter Erpressung kein allzuschweres Problem ist, obgleich es oft als utopisch gebrandmarkt wird7. Was ich als utopische Sozialtechnik kritisiere, ist der Vorschlag des
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vlligen Neubaus der Gesellschaftsordnung als ganzer, ein Vorschlag, dessen Verwirklichung zu sehr weitgehenden Vernderungen fhren mu und dessen praktische Konsequenzen sich wegen unserer beschrnkten Erfahrung nur schwer abschtzen lassen. Die utopische Sozialtechnik behauptet rational fr die ganze Gesellschaft zu planen, obgleich wir keinesfalls jenes Ausma an Tatsachenwissen besitzen, das notwendig wre, um einen so ambitisen Anspruch auch nur einigermaen zu rechtfertigen. Wir knnen ein solches Wissen nicht besitzen, weil wir in dieser Art des Planens nur ungengende praktische Erfahrung haben und weil sich die Kenntnis von Tatsachen auf die Erfahrung sttzen mu. Das zur Anwendung einer Sozialtechnik im groen Mastab ntige soziologische Wissen existiert einfach nicht. Angesichts einer Kritik, wie sie eben entwickelt wurde, wird der utopische Techniker die Notwendigkeit praktischer Erfahrungen und einer auf sie gegrndeten sozialen Technologie wohl zugeben. Er wird aber einwenden, da wir ber diese Dinge nie mehr wissen werden, wenn wir uns nicht zu utopischen Experimenten entschlieen, die uns allein die notwendige praktische Erfahrung verschaffen knnen. Und er wird hinzufgen, da die utopische Sozialtechnik in nichts anderem als in der Anwendung der experimentellen Methode auf die Gesellschaftsordnung bestehe. Experimente lassen sich nicht ohne weitgehende Vernderungen durchfhren. Wegen des besonderen Charakters der modernen Gesellschaft mit ihren groen Men330 Platons politisches Programm

schenmassen mssen wir sie in groem Mastab anstellen. Ein Sozialexperiment zum Beispiel, das sich auf eine Fabrik, auf ein Dorf oder sogar auf einen Landstrich beschrnkt, verschafft uns nie die Art von realistischer Information, die wir so dringend brauchen. Argumente zugunsten der utopischen Sozialtechnik wie dieses, legen ein Vorurteil blo, das ebenso unhaltbar wie weit verbreitet ist; nmlich das Vorurteil, da realistische soziale Experimente im groen Mastab durchgefhrt werden mssen und da sie die gesamte Gesellschaft einbeziehen mssen. Aber ad-hoc angestellte Sozialexperimente werden doch dauernd ausgefhrt, und unter realistischen Bedingungen, inmitten der ganzen Gesellschaft; und das, obwohl sie oft in sehr kleinem Mastab angestellt werden und die Gesellschaft keineswegs revolutionieren. Die Einfhrung einer neuen Art von Lebensversicherung, einer neuen Art von Besteuerung, einer neuen Strafreform all das sind soziale Experimente, die auf die ganze Gesellschaftsordnung zurckwirken, ohne sie als Ganzes umzuformen. Selbst ein jeder, der einen neuen Laden ernet oder der sich eine Theaterkarte reserviert, fhrt eine Art Sozialexperiment im kleinen Mastab durch: all unser Wissen von sozialen Bedingungen beruht auf den Erfahrungen, die wir beim Anstellen derartiger Experimente gewonnen haben. Der universalistisch-utopische Sozialtechniker, dem wir hier entgegentreten, hat recht, wenn er darauf hinweist, da ein unter Laboratoriumsbedingungen (z. B. in einem isolierten Dorf) durchgefhrtes Sozialexperiment von geKapitel 9: sthetizismus, Perfektionismus, Utopismus 331

ringem Werte ist, da wir ja wissen wollen, was sich unter normalen Bedingungen in einer Gesellschaftsordnung ereignet. Gerade dieses Beispiel zeigt aber, wo das Vorurteil des utopischen Technikers liegt. Er ist berzeugt, da wir bei Experimenten mit der Gesellschaft ihre Gesamtstruktur umformen mssen; und ein bescheideneres Experiment ist fr ihn ein Experiment nur dann, wenn es die Gesamtstruktur einer kleinen Gesellschaft umformt. Jene Art des Experiments aber, von der wir am meisten lernen, ist die jeweilige Vernderung einer einzelnen sozialen Institution. Denn nur so erfahren wir, wie wir Institutionen in den Rahmen anderer Institutionen einpassen sollen und wie wir sie einzurichten haben, wenn sie unseren Absichten gem arbeiten sollen. Und nur so knnen wir Fehler machen und aus unseren Fehlern lernen, ohne Rckschlge von einer Schwere zu riskieren, die den Willen zu zuknftigen Reformen gefhrden mu. Auch mu die utopische Methode zu einem gefhrlichen dogmatischen Festhalten an einem Entwurf fhren, fr den bereits zahllose Opfer gebracht worden sind. Mchtige Interessen sind mit dem Erfolg des Experiments verbunden. All dies trgt nicht zu seiner Vernnftigkeit oder zu seinem wissenschaftlichen Wert bei. Die Ad-hoc-Methode aber lt wiederholte Experimente zu, und sie gestattet schrittweise Verbesserungen. Sie kann vielleicht wirklich zu der glcklichen Situation fhren, da die Politiker auf ihre eigenen Fehler zu achten beginnen, statt zu versuchen, sie hinwegzuerklren oder zu beweisen, da sie immer recht hatten. Dies und nicht
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utopisches Planen oder historisches Prophetentum wrde die Einfhrung wissenschaftlicher Methoden in die Politik bedeuten; denn das ganze Geheimnis der wissenschaftlichen Methode liegt in der Bereitschaft, aus begangenen Fehlern zu lernen8. Diese Ansicht wird, wie ich glaube, durch einen Vergleich der Sozialtechnik mit der mechanischen Technik besttigt. Der utopische Sozialtechniker wird natrlich behaupten, da Ingenieure manchmal sogar sehr komplizierte Maschinen zur Gnze planen und da sich ihre Entwrfe manchmal nicht nur auf gewisse Maschinen, sondern auf ganze Fabriken beziehen, die diese Maschinen produzieren, und da sie sie von Anfang an festlegen. Darauf wrde ich antworten, da ein Mechaniker so vorgehen kann, weil ihm gengend Erfahrung zur Verfgung steht; er sttzt sich dabei auf Theorien, die er im Wechselspiel von Versuch und Irrtum entwickelt hat. Das heit aber, da er planen kann, weil er bereits alle mglichen Irrtmer begangen hat; oder anders ausgedrckt: weil er auf Erfahrungen aufbaut, die er durch die Anwendung von Ad-hoc-Methoden gewonnen hat. Seine neuen Maschinen sind das Resultat zahlreicher kleiner Verbesserungen. Gewhnlich baut er zunchst ein Modell; und nur nach vielen schrittweisen Berichtigungen an den verschiedenen Teilen dieses Modells kommt er so weit, da er daran denken kann, endgltige Plne fr seine Produktion bereitzustellen. In hnlicher Weise enthlt dann sein Plan fr die Herstellung der Maschine eine groe Anzahl von Erfahrungen; er enthlt alle die allmhlichen VerKapitel 9: sthetizismus, Perfektionismus, Utopismus 333

besserungen, die in lteren Fabriken eingefhrt wurden. Die Methode im groen Mastab oder die utopische Methode arbeitet erst dann, wenn uns die Methode schrittweiser Verbesserungen mit einer groen Zahl detaillierter Erfahrungen ausgestattet hat, und auch dann nur im Rahmen dieser Erfahrungen. Nur wenige Fabrikanten wrden sich bereit erklren, eine neue Maschine einzig auf Grund eines Entwurfes zu produzieren, ohne zuerst ein Modell zu bauen und es durch kleine Verbesserungen soweit als mglich zu entwickeln selbst dann nicht, wenn jener Entwurf vom grten Fachmann stammt. Es ist vielleicht ntzlich, wenn wir diese Kritik des Platonischen Idealismus in der Politik mit der Kritik vergleichen, die Marx an dem bt, was er Utopismus nennt. Die Kritik Marx und meine eigene Kritik erheben beide die Forderung nach mehr Realismus. Wir glauben beide, da utopische Plne nie so realisiert werden, wie sie ausgedacht wurden, weil kaum eine soziale Aktion jemals genau das gewnschte Resultat herbeifhrt. (Das vereitelt noch nicht das schrittweise Verfahren, denn hier knnen wir lernen oder vielmehr, hier sollten wir lernen , und wir knnen unsere Ansichten ndern, whrend wir handeln). Aber die Unterschiede zwischen Marx und mir sind gro. Mit seinem Angri auf den Utopismus verdammt Marx in Wirklichkeit jede Art von Sozialtechnik ein Punkt, der nur selten verstanden wird. Den Glauben an die Mglichkeit rationalen Planens sozialer Institutionen stellt er als vllig unrealistisch hin, da die Gesellschaft nach geschichtlichen
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Gesetzen wachsen mu und nicht nach unseren rationalen Plnen. Alles, was wir tun knnen, so behauptet er, ist die Geburtswehen der historischen Prozesse zu vermindern. Mit anderen Worten, er nimmt eine radikal historizistische Haltung ein und steht aller Sozialtechnik feindlich gegenber. Aber es gibt ein Element des Utopismus, das fr das Vorgehen Platons besonders charakteristisch ist und dem sich Marx nicht widersetzt, obgleich es unter den Elementen, die ich als unrealistisch angegrien habe, vielleicht die wichtigste Rolle spielt. Ich meine die groen Perspektiven des Utopismus, sein Versuch, sich mit der Gesellschaft als Ganzes zu beschftigen und keinen Stein auf dem anderen zu lassen; die berzeugung, da man bis zur Wurzel des sozialen bels vordringen msse, da nur die vllige Ausrottung des Ansto erregenden sozialen Systems ein bichen Anstndigkeit in die Welt bringen knne (wie sich du Gard ausdrckt); kurz gesagt, sein kompromiloser Radikalismus. (Der Leser wird bemerken, da ich dieses Wort in seinem ursprnglichen und buchstblichen Sinn verwende, nicht in dem neuen Sinn eines liberalen Progressivismus, sondern zur Charakterisierung einer Haltung, die den Dingen auf den Grund [auf die Wurzel] geht.) Sowohl Platon als auch Marx trumen von der apokalyptischen Revolution, die die ganze soziale Welt radikal umgestalten wird. Diese groen Perspektiven, dieser extreme Radikalismus des platonischen Vorgehens (und in gleicher Weise des Vorgehens Marx) ist, wie ich glaube, mit seinem sthetizismus
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verbunden, das heit mit dem Wunsch, eine Welt zu bauen, die nicht nur ein wenig besser und vernnftiger ist als die unsrige, sondern die von all ihrer Hlichkeit frei ist: Nicht einen aus alten Flecken zusammengesetzten Lufer will er, sondern einen groen, ganz neuen Teppich, eine wirklich schne nagelneue Welt9. Dieser sthetizismus ist eine sehr verstndliche Haltung; in der Tat scheint fast jeder von uns ein wenig an derartigen Vervollkommnungstrumen zu leiden (einige Grnde dafr werden sich, wie ich hoe, aus dem nchsten Kapitel ergeben). Aber diese sthetische Begeisterung ist erst dann von Wert, wenn sie vom Verstand, von einem Gefhl der Verantwortlichkeit und von einem humanitren Drang, zu helfen, gezgelt wird. Sonst ist sie gefhrlich und neigt dazu, sich zu einer Form von Neurose und Hysterie zu entwickeln. Nirgends nden wir diesen sthetizismus strker ausgedrckt als bei Platon. Platon war ein Knstler; und wie viele der besten Knstler versuchte er, sich ein Modell, das gttliche Urbild seines Werkes vor Augen zu fhren und es dann getreulich abzubilden. Ein Groteil der im letzten Kapitel angefhrten Zitate illustriert diesen Punkt. Die reine Dialektik, so wie sie Platon versteht, ist das intellektuelle Erschauen einer Welt von reiner Schnheit. Seine ausgebildeten Philosophen sind Mnner, die die Wahrheit des Schnen, des Gerechten und des Guten gesehen haben0 und die das Gute, die Schnheit, die Gerechtigkeit und die Wahrheit vom Himmel auf die Erde herabbringen knnen. Die Politik ist fr Platon die knigliche Kunst. Sie ist eine
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Kunst nicht in dem metaphorischen Sinn, in dem wir von der Kunst der Menschenbehandlung oder von der Kunst der Erledigung gewisser Dinge sprechen, sondern sie ist Kunst in einem weit buchstblicheren Sinn. Sie ist eine Kunst der Komposition wie die Musik, das Malen oder die Architektur. Der platonische Politiker komponiert Staaten um ihrer Schnheit willen. Hier aber mu ich Einspruch erheben. Ich glaube nicht, da man Menschenleben als Mittel verwenden darf um das Ausdrucksbedrfnis eines Knstlers zu befriedigen. Wir mssen, genau umgekehrt, verlangen, da jedermann das Recht haben soll, sein eigenes Leben zu gestalten, wie er will, solange er dadurch das Leben anderer nicht zu sehr strt. So sympathisch mir der sthetische Trieb auch ist, ich bin dafr, da sich der Knstler zum Ausdruck seiner Ideen ein anderes Material whle. Ich verlange, da die Politik die Prinzipien der Gleichberechtigung und des Individualismus aufrechterhlt. Trume von der Schnheit mssen zurckgestellt werden, bis denen geholfen ist, die Hilfe brauchen und die Unrecht erlitten haben; und bis die notwendigen Einrichtungen aufgebaut sind, die diesen Zwecken dienen. Es ist interessant, die nahe Verwandtschaft zwischen dem ausgesprochenen Radikalismus Platons, zwischen der Forderung nach Manahmen im groen Stil auf der einen Seite und seinem sthetizismus auf der andern festzustellen. Die nachfolgenden Stellen sind hchst charakteristisch. Platon spricht hier vom Philosophen, der mit dem Gttlichen in
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Verbindung steht, und er erwhnt zuerst, da er berwltigt wird vom Drang seine himmlische Vision in den Individuen wie auch im Staate zu realisieren, in einem Staat, der die Glckseligkeit nie kennen wird, solange seine Maler keine Knstler sind, die ihn nach gttlichem Vorbild entwerfen. ber die Einzelheiten ihrer Malkunst befragt, gibt Platons Sokrates die folgende erstaunliche Auskunft: Sie werden als ihre Leinwand einen Staat und die Charaktere von Menschen nehmen; und sie werden zu allererst ihre Leinwand reinwaschen und das ist keinesfalls eine leichte Aufgabe. Aber das ist eben der Punkt, an dem sie sich, wie du weit, von allen anderen unterscheiden. Sie werden mit ihrer Arbeit an einem Staatswesen oder an einem Individuum nicht eher beginnen (noch werden sie Gesetze entwerfen), bevor sie nicht entweder eine reine Leinwand erhalten oder sie selbst gereinigt haben2. Woran Platon denkt, wenn er vom Reinigen der Leinwand spricht, wird etwas spter erklrt. Wie geschieht dies? fragt Glaukon. Darauf antwortet Sokrates: Alle Brger des Staates, die das zehnte Lebensjahr berschritten haben, mssen sie aus der Stadt vertreiben und irgendwohin aufs Land deportieren; und die Kinder, die nunmehr vom Einu der gemeinen Charaktere ihrer Eltern befreit sind, mssen sie bernehmen; die werden dann in der Art der wahren Philosophen erzogen und in bereinstimmung mit den Gesetzen, die wir bereits beschrieben haben. Und in gleichem Geist sagt Platon im Staatsmann von den kniglichen Herrschern, die in bereinstimmung mit der
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kniglichen Wissenschaft, der Kunst des Regierens, das Staatswesen leiten: Ob sie nun nach dem Gesetz oder gesetzlos ber willige oder unwillige Untertanen regieren; Und ob sie den Staat um seines Besten willen reinigen, indem sie einige seiner Brger tten oder deportieren solange sie nach den Regeln der Wissenschaft und der Gerechtigkeit vorgehen, den Staat bewahren und ihn besser machen, als er war, mu diese Regierungsform die einzig richtige genannt werden. So also hat der knstlerische Politiker vorzugehen. Das ist es, was das Reinigen der Leinwand bedeutet. Er mu die bestehenden Institutionen und Traditionen ausrotten. Er mu reinigen, austreiben, deportieren und tten. (Liquidieren ist die abscheuliche moderne Bezeichnung dafr). Platons Darstellung ist in der Tat eine treende Beschreibung der kompromilosen Haltung aller Formen eines schrankenlosen Radikalismus der Weigerung des stheten, einen Kompromi zu schlieen. Die Ansicht, da die Gesellschaft, der Staat, ebenso schn sein solle wie ein Kunstwerk, fhrt nur zu leicht zu gewaltsamen Manahmen. Aber dieser ganze Radikalismus, dieses gewaltttige Vorgehen, ist unrealistisch und unbrauchbar. (Das Beispiel der Entwicklung Rulands hat das gezeigt. Nach dem konomischen Zusammenbruch, zu dem das Leinwandreinigen des sogenannten Kriegskommunismus gefhrt hatte, entwickelte Lenin seine neue Wirtschaftspolitik, eine Art von Ad-hoc-Sozialtechnik, wenn auch ohne bewute Formulierung ihrer Prinzipien oder einer
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Technologie. Er begann die meisten Zge des Bildes wieder herzustellen, das unter so viel menschlichem Leiden ausgetilgt worden war. Geld, Mrkte, Einkommensunterschiede, Privateigentum, eine Zeit hindurch sogar Privatinitiative der Produktion wurden wieder eingefhrt, und erst nach dem Wiederaufbau dieser Grundlage begann eine neue Reformperiode3.) Um die Grundlagen des sthetischen Radikalismus bei Platon zu kritisieren, unterscheiden wir zwei verschiedene Punkte. Der erste ist dieser: Was manchen vorschwebt, die von unserem Sozialsystem und von der Notwendigkeit seiner Ersetzung durch ein anderes System sprechen, ist sehr hnlich einem auf eine Leinwand gemalten Bild, das weggewaschen werden mu, bevor man ein neues malen kann. Zwischen einem solchen Bild und einem sozialen System bestehen aber groe Unterschiede, zum Beispiel der folgende: Der Maler, seine Mitarbeiter sowie die Institutionen, die sein Leben, seine Trume und seine Plne fr eine bessere Welt ermglichen, seine Mastbe fr Anstand und Moral sind alle ein Teil des Sozialsystems, also ein Teil des Bildes, das ausgelscht werden soll. Wenn sie die Leinwand wirklich reinigen wollten, so mten sie also sich selbst und ihre utopischen Plne zerstren. (Das Resultat wre aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das schne Abbild eines platonischen Ideals, sondern Chaos.) Wie Archimedes, so verlangt der politische Knstler nach einem Punkt auerhalb der sozialen Welt, wo er Fu fassen kann,
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um sie aus den Angeln zu heben. Aber ein solcher Punkt existiert nicht; und die soziale Welt mu whrend jedes Umbaus weiterfunktionieren. Das ist der einfache Grund warum wir ihre Institutionen nach und nach reformieren mssen, bis wir ber grere Erfahrungen im sozialen Bauen verfgen. Dies fhrt uns nun zum wichtigeren zweiten Punkt, zu dem Irrationalismus, der im Radikalismus enthalten ist. Wir knnen jederzeit nur durch Versuch und Irrtum lernen, also dadurch, da wir Irrtmer machen und unsere Erfahrungen verbessern; wir knnen uns niemals auf Inspirationen verlassen, obgleich Inspirationen hchst wertvoll sein mgen, solange sie sich an der Erfahrung berprfen lassen. Es ist daher unvernnftig, anzunehmen, da eine vllige Rekonstruktion unserer sozialen Welt sogleich zu einem arbeitsfhigen System fhren wird. Wegen des Mangels an Erfahrungen sollten wir eher erwarten, da sich zahlreiche Irrtmer einstellen werden, die sich nur durch einen langen und arbeitsreichen Proze kleiner Berichtigungen beseitigen lassen, also durch jene rationale Methode schrittweiser Reformen, deren Anwendung wir befrworten. Aber diejenigen, die diese Methode nicht schtzen, weil sie sie fr nicht gengend radikal halten, mten dann ihre frisch konstruierte Gesellschaft wieder auslschen und von neuem mit einer reinen Leinwand beginnen; und da aus demselben Grunde auch der neue Beginn nicht zur Vollkommenheit fhren kann, so sind sie gezwungen, diesen Proze stndig zu wiederholen, ohne
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da jemals irgendein Ergebnis zustande kme. Wer dies zugibt und wer bereit ist, unsere bescheidene Methode schrittweiser Verbesserungen anzunehmen, aber dies erst nach der ersten radikalen Reinigung der Leinwand, der kann kaum der Kritik entgehen, da diese erste Reinigung und die mit ihr verbundenen gewaltsamen Manahmen vllig unntig waren. Der sthetizismus und der Radikalismus mssen uns dazu fhren, die Vernunft ber Bord zu werfen und durch eine verzweifelte Honung auf politische Wunder zu ersetzen. Diese irrationale Einstellung, die sich an Trumen von einer schnen Welt berauscht, nenne ich Romantizismus4. Der Romantizismus mag sein himmlisches Staatswesen in der Vergangenheit oder in der Zukunft suchen; er mag Zurck zur Natur predigen oder Vorwrts zu einer Welt der Liebe und Schnheit; aber er wendet sich immer an unsere Gefhle, und niemals an unsere Vernunft. Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf Erden einzurichten, vermag er diese Welt nur in eine Hlle zu verwandeln eine jener Hllen, die Menschen fr ihre Mitmenschen bereiten.

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Platons politisches Programm

Der zeitgeschichtliche Hintergrund von Platons Angri


Zehntes Kapitel: DIE OFFENE GESELLSCHAFT UND IHRE FEINDE
Er wird unsere ursprngliche Natur wiederherstellen, wird uns heiligen, glcklich und voll Gnade machen. Platon

Noch immer fehlt etwas in unserer Analyse. Die Einwnde, die von mir selbst im 6. Kapitel gegen meine Behauptung erhoben wurden, da Platons politisches Programm ein totalitres sei, fhrten mich dazu, die Rolle der moralischen Ideen bei Platon zu untersuchen, insbesondere die der Gerechtigkeit, der Weisheit, des Wahren und des Schnen. Wir fanden immer dasselbe: jede dieser Ideen war wichtig, aber keine fhrte Platon ber seine totalitre Einstellung und seine Rassenlehre hinaus. Eine dieser Ideen bleibt aber noch immer zu untersuchen: die Idee der Glckseligkeit. Man wird sich erinnern, da ich Crossman im Zusammenhang mit der Ansicht zitierte, Platons politisches Programm sei im Grunde ein Plan zur Errichtung eines vollkommenen Staates, in dem jeder Brger wirklich glcklich ist, und da ich diese Ansicht als ein berbleibsel der Tendenz beschrieb, Platon zu idealisieren. Zur Rechtfertigung
Kapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 343

meiner Ansicht aufgefordert, knnte ich wohl ohne groe Schwierigkeit zeigen, da Platon die Glckseligkeit genau so behandelt wie die Gerechtigkeit und da er die Glckseligkeit darauf grndet, da die Gesellschaft von Natur aus in Klassen oder Kasten zerfllt. Wahre Glckseligkeit wird nur durch Gerechtigkeit erreicht, das heit dadurch, da jeder seinen Platz in der Gesellschaft beibehlt: der Herrscher mu Glckseligkeit im Herrschen nden, der Krieger im Kriegfhren und, wie wir schlieen drfen, der Sklave in der Sklaverei. Abgesehen davon sagt Platon an vielen Stellen, da er weder das Glck des Individuums noch das Glck einer besonderen Klasse des Staates anstrebe, sondern nur die Glckseligkeit des Ganzen; und diese, so argumentiert er, sei nichts anderes als das Resultat der Herrschaft der Gerechtigkeit. Aber der totalitre Charakter dieser Gerechtigkeit wurde bereits aufgezeigt: Da nur diese Gerechtigkeit zu wahrhafter Glckseligkeit fhren knne, ist eine der Hauptthesen des Staates. Angesichts solcher Stellen knnte man wohl sagen, da es eine widerspruchsfreie und kaum widerlegbare Deutung des Materials ist, wenn man behauptet, da Platon ein totalitrer Parteipolitiker war, dem bei seinen unmittelbaren praktischen Unternehmungen der Erfolg versagt blieb, dessen Propaganda fr das Anhalten und den Sturz einer ihm verhaten Zivilisation aber auf die Dauer nur zu erfolgreich war2. Man braucht aber die Dinge nur auf diese ungeschminkte Weise darzustellen, um zu fhlen, da an dieser Interpretation etwas nicht stimmt. Auf jeden Fall
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hatte ich diesen Eindruck, sobald ich sie formuliert hatte. Ich fhlte vielleicht nicht so sehr ihre Unwahrheit als ihre Mangelhaftigkeit. Ich begann mich daher nach Zeugnissen umzusehen, die sie widerlegen wrden3. Mit Ausnahme eines Punktes war jedoch dieser Versuch, meine Deutung zu widerlegen, vllig erfolglos. Das neue Material machte die Identitt zwischen dem Platonismus und den totalitren Lehren nur noch oenkundiger. Der eine Punkt, in dem meine Suche nach einer Selbstwiderlegung erfolgreich zu sein schien, betraf Platons Ha der Tyrannei. Es bestand natrlich immer die Mglichkeit, dies hinwegzuerklren. Es wre ein leichtes gewesen, seine Anklage gegen die Tyrannei als bloe Propaganda zu bezeichnen. Totalitre Richtungen bekennen oft eine Liebe fr die wahre Freiheit, und wenn Platon die Freiheit im Gegensatz zur Tyrannei rhmt, so hrt sich das ziemlich hnlich an. Dennoch fhlte ich, da gewisse seiner Beobachtungen ber die Tyrannei4 (von ihnen werde ich an einer spteren Stelle dieses Kapitels berichten) ernst zu nehmen waren. Tyrannei bedeutete in den Tagen Platons gewhnlich eine Herrschaftsform, die auf der Untersttzung der Massen beruhte; dieser Umstand erleichtert natrlich die Behauptung, da Platons Abscheu vor der Tyrannei mit meiner ursprnglichen Interpretation bereinstimmt. Aber ich fhlte, da damit das Bedrfnis nach einer Abnderung meiner Deutung nicht beseitigt war. Ich fhlte auch, da sich die ntige nderung keinesfalls dadurch erreichen lie, da man Platons Abscheu vor der Tyrannei
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mit allem Nachdruck als ernsthaft hinstellte. Kein noch so starker Nachdruck konnte den allgemeinen Eindruck des Bildes verndern. Ein neues Bild war ntig, das Platons ernsthaften Glauben an seine Mission als Arzt des kranken Sozialkrpers enthalten mute, sowie die Tatsache, da er klarer als irgend jemand vor oder nach ihm gesehen hatte, was in der griechischen Gesellschaft geschah. Aber auch mein Versuch, die Identitt zwischen dem Platonismus und der Lehre vom totalen Staat zu verwerfen, verbesserte das Bild nicht. Ich sah mich daher schlielich gezwungen, meine Deutung der totalitren Ideen selbst abzundern. Anders ausgedrckt: mein Versuch, Platon in Analogie zu den modernen totalitren Lehren zu verstehen, fhrte mich, zu meiner eigenen berraschung, zu einer nderung meiner Ansicht von diesen totalitren Ideen selbst und von ihrer sozialen Funktion. Meine Abscheu vor diesen Ideen blieb dabei zwar unberhrt, aber ich sah schlielich ein, da die Strke der alten sowie der neuen totalitren Bewegungen auf dem Umstand beruhte, da sie den Versuch machten, einem wirklichen Bedrfnis entgegenzukommen, wenn auch dieser Versuch schlecht ausgedacht war. Im Lichte meiner neuen Interpretation scheint Platons Erklrung, da er den Staat und seine Brger glcklich zu machen wnsche, nicht bloe Propaganda zu sein. Ich bin bereit, sein grundstzliches Wohlwollen zuzugeben5. Ich gebe auch zu, da die soziologische Analyse, auf die er sein Versprechen der Glckseligkeit grndete, in einem beschrnkten Ausma richtig ist. Oder genauer: Ich
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glaube, da Platon mit tiefer soziologischer Einsicht fand, da seine Zeitgenossen unter einer schweren Last litten und da diese Last, dieser Druck, eine Folge der sozialen Revolution war, die mit dem Aufstieg der Demokratie und des Individualismus begonnen hatte. Es gelang ihm, die tieiegenden Ursachen ihres Unglcks zu entdecken: den sozialen Wechsel, die soziale Zwietracht; und er tat sein uerstes zur Bekmpfung dieser Ursachen. Es besteht kein Grund zum Zweifel, da eines seiner mchtigsten Motive der Wunsch war, die Brger des Staates glcklich zu machen. Aus Grnden, die ich an einer spteren Stelle dieses Kapitels erlutern werde, halte ich die von ihm vorgeschlagene politisch-medizinische Behandlung, das Anhalten der Vernderung, die Rckkehr zum Stamm, zur primitiven Horde, fr honungslos verfehlt. Aber wenn auch der Vorschlag als Therapie verfehlt ist, so beweist er doch Platons diagnostisches Genie. Er zeigt, da Platon die Krankheit erkannte, da er die Last und das Unglck verstand, unter dem die Menschen litten, wenn er auch mit seiner grundlegenden Behauptung irrte, da die Rckkehr zum Stamm diese Last vermindern und das Glck der Menschen wieder herstellen wrde. Es ist meine Absicht, in diesem Kapitel einen kurzen berblick ber das historische Material zu geben, das mich zu dieser Ansicht veranlate. Einige kritische Bemerkungen zur Methode, deren ich mich dabei bediene, zur Methode der historischen Interpretation, wird man im letzten Kapitel des II. Bandes nden. Es wird daher hier
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gengen, wenn ich sage, da ich dieser Methode keinen wissenschaftlichen Charakter zuschreibe; die Nachprfung einer historischen Interpretation kann nicht so streng sein wie die einer gewhnlichen Hypothese. Die Interpretation ist hauptschlich ein Gesichtspunkt, dessen Wert in seiner Fruchtbarkeit liegt, in seiner Fhigkeit, Licht auf das historische Material zu werfen, uns bei der Aundung neuen Materials anzuleiten und uns bei seinem rationalen Verstndnis und seiner einheitlichen Auassung zu helfen. Meine hier folgenden Ausfhrungen sind daher nicht als dogmatische Behauptungen gedacht, auch wenn ich meine Ansichten mit Schrfe ausspreche. I Unsere abendlndische Zivilisation kommt von den Griechen her. Sie, so scheint es, waren die ersten, die den Schritt von der Stammesmoral zu humanitrer Gesinnung taten. berlegen wir, was das bedeutet. Die frhe griechische Stammesgesellschaft ist in vieler Hinsicht verwandt mit der der Polynesier, zum Beispiel den Stmmen der Maori. Kleine Kriegerbanden, die gewhnlich in befestigten Niederlassungen lebten, die von Stammeshuptlingen oder Knigen oder von aristokratischen Familien regiert wurden, fhrten zu See und zu Land Krieg gegeneinander. Es gab natrlich viele Unterschiede zwischen der griechischen und der polynesischen Lebensweise, denn die Lebensweise in verschiedenen Stmmen ist selbstverstndlich nicht gleichfrmig. Es gibt keine stan348 Der Hintergrund von Platons Angri

dardisierte Stammeslebensart. Es scheint mir aber, da sich gewisse charakteristische Merkmale in einigen, wenn auch nicht in allen dieser Stammesgesellschaften aunden lassen: Ihre magische oder irrationale Einstellung zu den Gebruchen des sozialen Lebens und die entsprechende Starrheit dieser Gebruche. Die magische Einstellung zu den sozialen Gebruchen ist bereits diskutiert worden. Ihr Hauptmerkmal besteht darin, da zwischen den gewhnlichen oder konventionellen Regelmigkeiten des sozialen Lebens und den Regelmigkeiten, die wir in der Natur nden, nicht unterschieden wird; damit ist oft der Glauben verbunden, da uns beide von einem bernatrlichen Willen aufgezwungen sind. Die Starrheit der sozialen Gewohnheiten ist wahrscheinlich in den meisten Fllen nur eine andere Seite dieser Einstellung. (Es gibt Grnde fr die Annahme, da diese Seite noch primitiver ist und da der bernatrliche Glauben eine Art Rationalisierung der Furcht vor dem Wechsel einer Routine darstellt einer Furcht, die wir bei sehr kleinen Kindern nden knnen.) Wenn ich von der Starrheit der stammesbedingten Lebensweise spreche, so meine ich damit nicht, da in den Lebensformen der Stmme keine Vernderungen eintreten knnen. Ich meine vielmehr, da die verhltnismig seltenen nderungen den Charakter religiser Bekehrungen und Umwlzungen haben oder da sie in der Einfhrung neuer magischer Tabus bestehen. Sie beruhen nicht auf einem rationalen Versuch die sozialen Bedingungen zu verbessern. Von diesen seltenen ndeKapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 349

rungen abgesehen, regeln und beherrschen die Tabus in starrer Weise alle Aspekte des Lebens. Sie lassen nicht viele Schlupcher oen. Es gibt in dieser Lebensform nur wenige Probleme und nichts, das einem moralischen Problem entsprche. Ich will nicht sagen, da ein Mitglied des Stammes nicht manchmal viel Heroismus und Ausdauer ntig hat, um in bereinstimmung mit den Tabus zu handeln. Aber er wird sich selten in der Lage benden, zu zweifeln, wie er handeln soll. Der richtige Weg ist stets vorgezeichnet, obgleich es bei seiner Verfolgung Schwierigkeiten zu berwinden gibt. Er ist durch Tabus und magische Stammesinstitutionen bestimmt, die niemals Gegenstand kritischer berlegungen werden knnen. Nicht einmal Heraklit unterscheidet klar zwischen den institutionellen Gesetzen des Stammeslebens und den Naturgesetzen; beiden wird derselbe magische Charakter zugeschrieben. Auf kollektive Stammestradition gegrndet, lassen die Institutionen keinen Raum fr persnliche Verantwortlichkeit. Die Tabus, die eine Art von Gruppenverantwortung herstellen, sind vielleicht die Vorlufer dessen, was wir persnliche Verantwortlichkeit nennen, sie sind aber von ihr grundstzlich verschieden. Sie beruhen nicht auf dem Prinzip, da man vernnftige Antworten geben mu, wenn man fr seine Handlungen verantwortlich gemacht wird, sondern vielmehr auf magischen Ideen, wie etwa auf der Idee, da die Schicksalsmchte besnftigt werden mssen. Es ist wohl bekannt, wieviel davon noch immer lebendig ist. Unsere eigene Lebensweise ist noch immer mit Tabus
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berst: mit Speisetabus, Tabus der Hichkeit und vielen anderen. Und doch gibt es da wichtige Unterschiede. In unserer eigenen Lebensform gibt es zwischen den Gesetzen des Staates auf der einen Seite und den Tabus, die wir gewohnheitsmig beobachten, auf der anderen, ein sich stets erweiterndes Feld persnlicher Entscheidungen mit allen seinen Problemen und Verantwortlichkeiten; und wir kennen die Bedeutung dieses Feldes. Persnliche Entscheidungen knnen zur nderung der Tabus und sogar zur nderung von politischen Gesetzen fhren, die keine Tabus mehr sind. Der groe Unterschied besteht in der Mglichkeit einer rationalen Betrachtung dieser Dinge. Rationale berlegungen beginnen in gewisser Hinsicht bereits bei Heraklit6. Bei Alkmaion, Phaleas und Hippodamos, bei Herodot und den Sophisten nimmt die Forderung nach der besten Verfassung nach und nach den Charakter eines Problems an, das sich rational diskutieren lt. Und in unserer eigenen Zeit treen viele von uns Entscheidungen, die die Erwnschtheit oder Unerwnschtheit neuer Gesetze und anderer institutioneller Vernderungen betreen, das heit Entscheidungen, die auf einer Abschtzung mglicher Konsequenzen und auf einer bewuten Bevorzugung einiger von ihnen beruhen. Wir wissen, da es eine rationale persnliche Verantwortlichkeit gibt. Im folgenden wird die magische, stammesgebundene oder kollektivistische Gesellschaft auch die geschlossene Gesellschaft genannt werden; die Gesellschaftsordnung aber,
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in der sich die Individuen persnlichen Entscheidungen gegenbersehen, nennen wir die oene Gesellschaft. Eine geschlossene Gesellschaft in ihren besten Formen kann ganz gut mit einem Organismus verglichen werden. Die sogenannte organische oder biologische Theorie des Staates ist auf sie in betrchtlichem Ausmae anwendbar. Eine geschlossene Gesellschaftsordnung hnelt immer einer Herde oder einem Stamm; sie ist eine halborganische Einheit, deren Mitglieder durch halbbiologische Bande, durch Verwandtschaft, Zusammenleben, durch die Teilnahme an gemeinsamen Anstrengungen, gemeinsamen Gefahren, gemeinsamen Freuden und gemeinsamem Unglck zusammengehalten werden. Sie ist noch immer eine konkrete Gruppe konkreter Individuen, die nicht blo durch abstrakte soziale Beziehungen, wie Arbeitsteilung, Gteraustausch, sondern durch konkrete physische Beziehungen, wie Berhrung, Geruch, Sicht, miteinander verbunden sind. Eine solche Gesellschaftsordnung kann auf Sklaverei beruhen; die Gegenwart der Sklaven braucht jedoch kein Problem zu schaen, das von dem Problem domestizierter Tiere verschieden wre. Daher fehlen gerade jene Zge, die, wie wir sehen werden, eine erfolgreiche Anwendung der organischen Theorie auf die oene Gesellschaft vereiteln. Die Zge, an die ich denke, sind mit der Tatsache verbunden, da viele Mitglieder einer oenen Gesellschaft sozial emporzukommen versuchen, da sie versuchen, die Stellen anderer Mitglieder einzunehmen. Dies kann zum Beispiel zu einem so wichtigen sozialen Phnomen wie
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zum Klassenkampf fhren. In einem Organismus nden wir nichts, das einem Klassenkampf nur irgendwie hnlich wre; die Zellen oder die Gewebe eines Organismus, von denen man manchmal sagt, da sie den Gliedern des Staates entsprechen, bekmpfen sich vielleicht um Nahrung; aber die Beine zeigen keine Bestrebungen, zum Gehirn zu werden, noch streben andere Glieder des Krpers darnach, die Funktion des Magens zu bernehmen. Nichts im Organismus entspricht einem der wichtigsten Kennzeichen der oenen Gesellschaft, dem Wettstreit ihrer Mitglieder um die Stellung, die sie in ihr einnehmen sollen; damit ist aber gezeigt, da die sogenannte organische Theorie des Staates auf einer falschen Analogie beruht. In der geschlossenen Gesellschaft jedoch gibt es kaum solche Bestrebungen. Ihre Institutionen, die Kasten eingeschlossen, sind sakrosankt tabu. Die organische Theorie pat hier nicht so schlecht. Es ist daher nicht berraschend, wenn wir nden, da die meisten Versuche zur Anwendung der organischen Theorie auf unsere Gesellschaftsordnung verkappte Formen einer Propaganda sind, die die Rckkehr zur geschlossenen Gesellschaft, zur Stammesgesellschaft, predigt7. Eine Folge des Verlustes des organischen Charakters ist diese: Eine oene Gesellschaft kann sich allmhlich in eine sogenannte abstrakte Gesellschaft verwandeln, wie ich mich ausdrcken mchte. Sie kann den Charakter einer konkreten Gruppe von Menschen oder eines Systems solcher Gruppen in betrchtlichem Ausma verlieren. Das ist kaum je richtig verstanden worden. Wir erklren es
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mit Hilfe einer bertreibung: Man kann sich eine Gesellschaftsordnung vorstellen, in der sich die Menschen praktisch niemals von Angesicht zu Angesicht sehen, in der alle Geschfte von isolierten Individuen ausgefhrt werden, die sich durch maschinengeschriebene Briefe oder durch Telegramme verstndigen und die sich in geschlossenen Kraftfahrzeugen umherbewegen. (Knstliche Befruchtung wrde sogar die Fortpanzung ohne persnlichen Kontakt ermglichen.) Eine solche ktive Gesellschaftsform knnte man eine vollstndig abstrakte oder entpersnlichte Gesellschaft nennen. Der interessante Umstand ist nun der, da unsere moderne Gesellschaft einer solchen vllig abstrakten Gesellschaft in vieler Hinsicht hnelt. Obgleich wir nicht stndig allein in geschlossenen Fahrzeugen umherfahren (sondern Tausende Menschen auf der Strae von Angesicht zu Angesicht sehen), ist doch das Ergebnis nahezu dasselbe, als wenn wir uns so verhielten; denn in der Regel treten wir zu unseren Mit-Fugngern in keinerlei persnliche Beziehung. In gleicher Weise braucht die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft nicht mehr zu bedeuten als den Besitz einer Mitgliedskarte und die Bezahlung eines Beitrages an einen unbekannten Sekretr. In der modernen Gesellschaft leben viele Menschen, die keine oder nur sehr wenig enge persnliche Beziehungen haben, die in Anonymitt und Isoliertheit leben und die in Folge davon unglcklich sind. Denn obgleich die Gesellschaftsform abstrakt geworden ist, hat sich doch die biologische Struktur des Menschen nicht sehr verndert; die Menschen haben
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soziale Bedrfnisse, die sie in einer abstrakten Gesellschaft nicht befriedigen knnen. Unser Bild ist natrlich sogar in dieser Form stark bertrieben. Eine vllig abstrakte oder sogar eine vorwiegend abstrakte Gesellschaft wird und kann es niemals geben, ebensowenig wie eine vllig rationale oder sogar eine vorwiegend rationale Gesellschaftsform. Noch immer bilden die Menschen konkrete Gruppen und kommen auf verschiedene Weise konkret miteinander in Berhrung; sie versuchen, ihre emotionalen sozialen Bedrfnisse zu befriedigen, so gut sie knnen. Aber die meisten konkreten sozialen Gruppen einer modernen oenen Gesellschaftsordnung (mit der Ausnahme einiger glcklicher Familien) sind armselige Ersatzmittel, denn sie schaen nicht den Rahmen fr ein gemeinsames Leben. Viele von ihnen haben berhaupt keine Funktion innerhalb der greren gesellschaftlichen Zusammenhnge. Ein anderes Element der bertreibung des Bildes liegt darin, da es bis jetzt nirgends einen Gewinn zeigt, sondern nur die Verluste. Es gibt aber Gewinne. Persnliche Beziehungen einer neuen Art knnen dort entstehen, wo sie frei eingegangen werden knnen, ohne durch die Zuflle der Geburt festgelegt zu sein; damit entsteht ein neuer Individualismus. In hnlicher Weise knnen geistige Bande dort eine grere Rolle spielen, wo die biologischen oder die physischen Bande zurcktreten usf. Wie dem auch sei unser Beispiel wird, wie ich hoe, klargemacht haben, was mit einer mehr abstrakten Gesellschaftsform im Gegensatz
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zu einer mehr konkreten Sozialgruppe gemeint ist; und es wird auch klargemacht haben, da unsere modernen oenen Gesellschaftsformen zum Groteil auf dem Weg ber abstrakte Relationen, wie Austausch oder Arbeitsteilung, funktionieren. (Die moderne Sozialtheorie, wie etwa die Volkswirtschaftslehre, befat sich hauptschlich mit der Analyse dieser abstrakten Beziehungen. Das wurde von vielen Soziologen nicht verstanden, zum Beispiel nicht von Durkheim, der niemals den dogmatischen Glauben aufgegeben hat, eine jede Gesellschaft msse sich als ein Verband von konkreten sozialen Gruppen analysieren lassen.) Im Lichte des bisher Gesagten ist es klar, da der bergang von der geschlossenen zur oenen Gesellschaft eine der grten Revolutionen genannt werden kann, die die Menschheit durchgemacht hat. Infolge dessen, was wir als den organischen Charakter der geschlossenen Gesellschaft beschrieben haben, mu dieser bergang zutiefst empfunden werden. Wenn wir daher sagen, da unsere abendlndische Zivilisation von den Griechen herkommt, so sollten wir uns vergegenwrtigen, was das bedeutet. Es bedeutet, da die Griechen fr uns jene groe Revolution begonnen haben, die sich, wie es scheint, noch immer im Anfangsstadium bendet, den bergang von der geschlossenen zur oenen Gesellschaftsordnung. II Diese Revolution wurde natrlich nicht bewut herbeigefhrt. Der Zusammenbruch der Stammesformen, der
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geschlossenen Gesellschaftsordnungen Griechenlands, lt sich bis auf die Zeit zurckverfolgen, in der das Wachstum der Bevlkerung sich in der herrschenden Klasse der Grundbesitzer fhlbar machte. Dies bedeutete das Ende der organischen Gebundenheit an den Stamm. Denn damit entstanden soziale Spannungen innerhalb der geschlossenen Gesellschaft der herrschenden Klasse. Zuerst schien es eine gewissermaen organische Lsung dieses Problems zu geben, nmlich durch die Grndung von Tochterstdten. (Der organische Charakter dieser Lsung wird durch die magischen Prozeduren unterstrichen, die man bei der Aussendung der Kolonisten einhielt.) Aber dieses Ritual der Kolonisation konnte den Zusammenbruch nur hinausschieben. Es schuf sogar neue Gefahrenzonen, berall dort, wo es zur Berhrung mit fremden Kulturen fhrte. Denn dort entstand die vielleicht grte Gefahr fr die geschlossene Gesellschaft, der Handel, sowie eine neue Klasse, die sich mit Handel und Schiahrt beschftigte. Im sechsten Jahrhundert v. Chr. hatte diese Entwicklung zur teilweisen Ausung der alten Lebensformen und sogar zu einer Reihe politischer Revolutionen und Reaktionen gefhrt. Und sie hatte nicht nur, wie in Sparta, zu Versuchen Anla gegeben, die alte Stammesform zu retten und die begonnene Entwicklung gewaltsam zum Stillstand zu bringen, sondern auch zu jener groen geistigen Revolution, zur Erndung der kritischen Diskussion und damit zu einem Denken, das frei war von der Starrheit magischer Zwangsvorstellungen. Zur gleichen Zeit nden wir die
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ersten Symptome eines neuen Unbehagens. Die Last der Anforderungen der Zivilisation begann fhlbar zu werden. Diese Last, dieses Unbehagen, ist eine Folge des Zusammenbruchs der geschlossenen Gesellschaftsordnung. Sie wird auch heute noch gefhlt (und in Deutschland gerne mit dem Hegelianisch-sentimentalen Namen Selbstentfremdung des Menschen belegt). Es ist eine Last, die von allen getragen werden mu, die in einer oenen und teilweise abstrakten Gesellschaft leben und die sich bemhen mssen, vernnftig zu handeln, zumindest einige ihrer emotionalen und natrlichen sozialen Bedrfnisse unbefriedigt zu lassen und fr sich und fr andere verantwortlich zu sein. Wir mssen, glaube ich, die Last auf uns nehmen, als einen Preis, den wir zahlen mssen fr jede neue Erkenntnis, fr jeden weiteren Schritt zur Vernunft, zur Zusammenarbeit, zur gegenseitigen Hilfe; fr jede Verlngerung des durchschnittlichen Lebensalters; und fr jeden Bevlkerungszuwachs. Es ist der Preis fr die Humanitt. Diese Last ist eng verbunden mit dem Problem der Spannung zwischen den Klassen, das sich zum erstenmal mit dem Zusammenbruch der geschlossenen Gesellschaftsordnung erhebt. Die geschlossene Gesellschaft selbst kennt dieses Problem nicht. Zumindest fr ihre Herrscher sind Sklaverei, Kasten- und Klassenherrschaft natrlich, in dem Sinn, da sie nicht in Frage gestellt werden knnen. Aber mit dem Zusammenbruch der geschlossenen Gesellschaft verschwindet diese Gewiheit und damit jegliches Gefhl
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der Sicherheit. Die Stammesgemeinschaft (und spter die Stadt) ist der Ort der Sicherheit fr die Mitglieder des Stammes. Von Feinden umgeben und von gefhrlichen oder sogar bsartigen magischen Krften, erleben sie die Stammesgemeinschaft, wie ein Kind die Familie und das Heim erlebt, in dem es seine wohlbestimmte Rolle einnimmt; eine Rolle, die es gut kennt und gut spielt. Der Zusammenbruch der geschlossenen Gesellschaft, der, wie wir sahen, die Klassenprobleme und andere Probleme des sozialen Status schafft, mu auf den Brger dieselbe Wirkung gehabt haben, die ein ernsthafter Familienstreit und die Ausung des Familienheimes in den meisten Fllen auf die Kinder der Familie haben wird8. Natrlich wurde diese Ausung von den privilegierten Klassen nun, wo sie bedroht waren, mehr gefhlt als von den ehemals Unterdrckten; aber sogar diese fhlten sich unbehaglich. Auch sie waren entsetzt ber den Zusammenbruch ihrer natrlichen Welt. Und obgleich sie ihren Kampf fortsetzten, widerstrebte es ihnen oft, ihre Siege ber den Klassenfeind auszuntzen, der durch die Tradition, den Status quo, durch ein hheres Niveau der Erziehung und ein Gefhl natrlicher Autoritt untersttzt wurde. In diesem Lichte mssen wir versuchen, die Geschichte Spartas zu verstehen, das diese Entwicklungen mit Erfolg aufzuhalten trachtete, und auch die Geschichte Athens, der fhrenden Demokratie. Vielleicht die wirkungsvollste Ursache des Zusammenbruchs der geschlossenen Gesellschaft war die EntwickKapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 359

lung von Seeverbindungen und des berseehandels. Ein enger Kontakt mit fremden Stmmen hat die Tendenz, das Gefhl der Unausweichlichkeit zu untergraben, mit dem die Stammesinstitutionen gewhnlich betrachtet werden; und der Handel, die kommerzielle Initiative, scheint eines der wenigen Dinge zu sein, in denen sich die individuelle Initiative9 und die individuelle Unabhngigkeit sogar in einer Gesellschaft behaupten kann, die noch vorwiegend stammesgebunden ist. Beides, Seefahrt und Handel, wurden Hauptmerkmale des athenischen Imperialismus, so wie er sich im fnften Jahrhundert v. Chr. entwickelte. In der Tat hielten die Oligarchen, die Mitglieder der privilegierten oder vormals privilegierten Klassen Athens, die Seefahrt und den Handel fr die gefhrlichsten Neubildungen. Fr sie war es klar, da der Handel Athens, seine Geldwirtschaft, seine Seepolitik, seine demokratischen Tendenzen Teile einer einzigen Bewegung darstellten und da die Demokratie unbesiegbar war, solange die beiden Grundbel, die Seepolitik und das Reich, unzerstrt dastanden. Aber die Seepolitik Athens beruhte auf seinen Hfen, insbesondere auf dem Pirus, dem Zentrum des Handels und dem Bollwerk der demokratischen Partei; ihr strategischer Rckhalt waren die Mauern, die Athen befestigten, und spter die langen Mauern, die es mit den Hfen des Pirus und von Phaleron verbanden. So nden wir, da fr mehr als ein Jahrhundert die Flotte, der Hafen und die Mauern von den oligarchischen Parteien Athens als Symbole der Demokratie und als Quellen ihrer Strke
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gehat wurden; und da sie hofften, sie eines Tages zu zerstren. In Thukydides Geschichte des Peloponnesischen Krieges (oder vielmehr der zwei groen Kriege von 4342 und 49403 v.Chr.) zwischen der athenischen Demokratie und der versteinerten oligarchischen Stammesgesellschaft Spartas ndet man zahlreiche Zeugnisse fr diese Entwicklung. Wenn wir Thukydides lesen, so drfen wir nie vergessen, da sein Verfasser nicht auf der Seite Athens, seiner Geburtsstadt, stand. Obgleich er nicht zum extremen Flgel der oligarchischen Gruppen Athens gehrte, die whrend des ganzen Krieges mit dem Feind konspirierten, so war er doch ein Mitglied der Partei der Oligarchen und weder ein Freund des athenischen Volkes, des Demos, das ihn ins Exil getrieben hatte, noch ein Vertreter seiner imperialistischen Politik. (Ich habe nicht die Absicht, Thukydidesvielleicht der grte Historiker, der je lebte herabzusetzen. Aber wie erfolgreich er auch immer die Tatsachen nachprfte, die er verzeichnete, und wie ernsthaft auch seine Versuche waren, unparteilich zu sein, so stellen seine Kommentare und seine moralischen Urteile doch eine Interpretation, einen Gesichtspunkt dar; und in diesem brauchen wir mit ihm nicht einer Meinung zu sein.) Ich zitiere zunchst eine Stelle, die die Politik des Themistokles im Jahre 482, ein halbes Jahrhundert vor dem Peloponnesischen Krieg beschreibt: Themistokles berredete auch die Athener, den Pirus zu vollenden Da sich die Athener nun dem Meer zugewendet hatten, so glaubte er, da sie eine GelegenKapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 361

heit zum Aufbau eines Reiches htten. Er war der erste, der zu sagen wagte, sie sollten das Meer zu ihrer Domne machen 0. Fnfundzwanzig Jahre spter begannen die Athener ihre Langen Mauern zur See hin zu bauen, eine zum Hafen von Phaleron, die andere zum Pirus. Aber dieses Mal, sechsundzwanzig Jahre vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, war die oligarchische Partei der Bedeutung dieser Entwicklung voll gewahr. Wir hren von Thukydides, da die Oligarchen nicht einmal vor einem oenen Verrat zurckschreckten. Wie es eben manchmal so ist mit Oligarchen ihr Klasseninteresse drngte ihren Patriotismus zur Seite. Eine Gelegenheit bot sich in der Form eines feindlichen spartanischen Expeditionsheeres, das im Norden von Athen operierte, und sie beschlossen, mit Sparta gegen ihr eigenes Land zu konspirieren. Thukydides schreibt: Gewisse Athener machten ihnen (d. h. den Spartanern) private Vorschlge, in der Honung, sie knnten der Demokratie und dem Bau der Langen Mauern ein Ende bereiten. Aber die anderen Athener entdeckten ihren Anschlag gegen die Demokratie. Die loyalen athenischen Brger zogen daher den Spartanern entgegen, wurden aber geschlagen. Es scheint jedoch, da sie den Feind gengend geschwcht hatten, um ihn an der Vereinigung seiner Streitkrfte mit der Fnften Kolonne ihrer eigenen Stadt zu hindern. Einige Monate spter wurden die Langen Mauern beendet, und die Demokratie konnte sich ihrer Sicherheit erfreuen, solange sie ihre Vormacht zur See aufrechterhielt.
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Dieser Zwischenfall wirft ein Licht auf die Spannung zwischen den Klassen in Athen, schon sechsundzwanzig Jahre vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges; whrend dieses Krieges verschlechterte sich die Lage zusehends. Der Zwischenfall wirft auch Licht auf die Methoden, die die subversive, prospartanische oligarchische Partei angewendet hat. Es ist festzustellen, da Thukydides ihre Verrterei nur im Vorbergehen erwhnt und sie berhaupt nicht kritisiert, obgleich er sich an anderen Stellen aufs heftigste gegen den Klassenkampf und den Parteigeist wendet. Die nchsten Stellen, die wir zitieren, wurden als eine allgemeine Betrachtung ber die Korkyrische Revolution von 427 v. Chr. geschrieben und sind von groem Interesse; erstens als ein ausgezeichnetes Bild der Klassensituation; zweitens als eine Illustration der starken Worte, die Thukydides zur Verfgung standen, wenn er Verratstendenzen auf der Seite der Demokraten von Korkyra beschreiben wollte. (Um diesen Mangel an Unparteilichkeit richtig einzuschtzen, mssen wir uns daran erinnern, da Korkyra zu Beginn des Krieges einer der demokratischen Alliierten Athens gewesen war und da die Oligarchen die Revolte in Gang gesetzt hatten.) Auerdem ist die Stelle ein ausgezeichneter Ausdruck des Gefhls eines allgemeinen sozialen Zusammenbruchs: Fast die ganze hellenische Welt, so schreibt Thukydides, war in Bewegung. In jeder Stadt bemhten sich die Fhrer der demokratischen und der oligarchischen Parteien die einen, um die Athener, die anderen, um die Lakedmonier herbeizubringen Die Bande der
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Partei waren strker als die Bande des Blutes Auf beiden Seiten bentzten die Fhrer blendende Phrasen die eine Partei gab vor, die verfassungsgeme Gleichberechtigung der vielen zu vertreten, die andere die Weisheit des Adels; in Wirklichkeit traten sie das entliche Interesse mit Fen, whrend sie natrlich ihre Ergebenheit ihm gegenber betonten. Sie bentzten jedes vorstellbare Mittel, um einander zu berlisten, und begingen die abscheulichsten Verbrechen Diese Revolution brachte in Hellas jede Art von Schlechtigkeit hervor berall herrschte perde Treulosigkeit. Kein Wort war bindend genug, kein Eid schrecklich genug, um die Feinde zu vershnen. Jeder wute nur eines sicher: da nichts mehr sicher war2. Die volle Bedeutung der Versuche der athenischen Oligarchen, die Hilfe Spartas anzurufen, um die Fortsetzung des Baus der Langen Mauern zu verhindern, knnen wir ermessen, wenn wir uns vergegenwrtigen, da sich diese verrterische Haltung mehr als ein Jahrhundert spter, als Aristoteles seine Politik schrieb, nicht gendert hatte. Wir hren hier von einem oligarchischen Eid, der, wie Aristoteles sagt, nunmehr in Mode ist. Er lautet so: Ich gelobe, ein Feind des Volkes zu sein und mein Bestes zu tun, ihm schlechten Rat zu erteilen3. Es ist klar, da wir diese Periode nicht verstehen knnen, wenn wir uns diesen Ha nicht vor Augen halten. Ich erwhnte weiter oben, da Thukydides selbst ein Feind der Demokraten war. Das wird klar, wenn wir seine Beschreibung des athenischen Kolonialreiches lesen und
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wenn wir dort hren, wie sehr es von den verschiedenen griechischen Staaten gehat wurde. Man fhlte, so erzhlt er uns, da Athens Herrschaft ber sein Reich nicht besser sei als eine Tyrannei, und alle griechischen Stmme frchteten sich vor Athen. In seiner Beschreibung der entlichen Meinung beim Ausbruch des Krieges kritisiert er Sparta ein wenig; aber fr den athenischen Imperialismus hat er eine scharfe Kritik zur Hand. Das allgemeine Gefhl des Volkes neigte sich stark nach der Seite der Lakedmonier; denn sie behaupteten, sie seien die Befreier Griechenlands. Stdte und Individuen waren begierig, ihnen zu helfen und die allgemeine Verstimmung gegen die Athener war ungeheuer. Einige wnschten von der Herrschaft Athens befreit zu werden, andere frchteten, unter seine Herrschaft zu fallen4. Es ist hchst interessant, da dieses Urteil ber das athenische Empire mehr oder weniger zum oziellen Urteil der Geschichte geworden ist, das heit zum Urteil der meisten Historiker. Ebenso, wie es die Philosophen schwer nden, sich vom Standpunkt Platons freizumachen, ebenso sind die Historiker an die Einstellung des Thukydides gebunden. Als Beispiel zitiere ich Meyer (die beste deutsche Autoritt dieses Zeitraumes), der einfach Thukydides wiederholt, wenn er sagt: Die Sympathien der gebildeten griechischen Welt waren von Athen abgewandt5. Solche Behauptungen sind aber nur ein Ausdruck des antidemokratischen Standpunktes. Viele der von Thukydides aufgezeichneten Tatsachen zum Beispiel die
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zitierte Stelle, in der die Haltung der demokratischen und oligarchischen Parteifhrer beschrieben wird zeigt, da Sparta nicht unter den Vlkern Griechenlands, sondern nur unter den Oligarchen populr war, unter den Gebildeten, wie Meyer so hbsch sagt. Sogar Meyer gibt zu, da die demokratisch gesinnten Massen vielerorts auf seinen Sieg hofften6, das heit auf den Sieg Athens; und die Darstellung des Thukydides enthlt viele Stellen, die die Popularitt Athens unter den Demokraten und den Unterdrckten zeigen. Aber wer kmmert sich schon um die Meinung der ungebildeten Massen? Wenn Thukydides und die Gebildeten behaupten, da Athen ein Tyrann war, dann war Athen eben ein Tyrann. Es ist hchst interessant, da dieselben Historiker, die Rom wegen seiner Leistung der Begrndung eines Universalreiches preisen, Athens groen Versuch verdammen, etwas Besseres zu erreichen. Die Tatsache, da Rom erfolgreich war, wo Athen scheiterte, ist keine hinreichende Erklrung fr diese Haltung. Sie kritisieren Athen nicht wirklich wegen seines Scheiterns, denn sie betrachten die bloe Mglichkeit eines Erfolges dieses Versuches mit Abneigung. Athen, so glauben sie, war eine unbarmherzige Demokratie, ein Platz, an dem Ungebildete herrschten, die die Gebildeten unterdrckten und dafr gehat wurden. Aber diese Ansicht der Mythos der kulturellen Unduldsamkeit des demokratischen Athen pat nicht zu den Tatsachen, wie zum Beispiel zu der berraschenden geistigen Produktivitt Athens in diesem besonderen Zeitraum.
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Sogar Meyer mu diese Produktivitt zugeben. Was das eine Athen in dem Jahrzehnt des Archidamischen Krieges erzeugt hat, sagt er mit charakteristischer Bescheidenheit, stellt sich in seiner Totalitt ebenbrtig dem gewaltigen Jahrzehnt der deutschen Literatur an die Seite7. (Gemeint ist das Jahrzehnt des Gtz, Werther, Nathan usw. und der Kritik der reinen Vernunft.) Perikles, der demokratische Fhrer Athens in dieser Zeit, war mehr als gerechtfertigt, wenn er Athen die Schule Griechenlands nannte. Ich bin weit davon entfernt, alle Manahmen zu verteidigen, die Athen beim Aufbau seines Reiches ergri, und ich habe sicher nicht die Absicht, unprovozierte Angrie (falls solche vorkamen) oder brutale Handlungen zu rechtfertigen; auch vergesse ich nicht, da die athenische Demokratie noch immer auf der Sklaverei beruhte8. Es ist aber meiner Ansicht nach notwendig, einzusehen, da die stammesgebundene Exklusivitt und Selbstgengsamkeit nur durch eine Art von Imperialismus berwunden werden konnte. Und man mu sagen, da gewisse der von Athen eingefhrten imperialistischen Manahmen ziemlich liberal waren. Ein sehr interessantes Beispiel ist der Umstand, da Athen im Jahre 405 v. Chr. seinem Bundesgenossen, der ionischen Insel Samos, den Antrag machte, da die Samier fortan Athener seien und beide Gemeinden nur einen Staat bilden sollten; dabei sollten die Samier ihre inneren Verhltnisse nach eigenem Ermessen ordnen und ihr bisheriges Recht behalten9. Ein anderes Beispiel ist die Weise, wie Athen sein Reich besteuerte. ber diese SteuKapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 367

ern oder Tribute ist viel gesagt und geschrieben worden; man nannte sie ungerechterweise, wie ich glaube eine schamlose und tyrannische Ausbeutung der kleineren Stdte. Wenn wir versuchen, die Bedeutung dieser Steuern abzuschtzen, so mssen wir sie natrlich mit dem Handelsvolumen vergleichen, das dafr von der athenischen Flotte beschtzt wurde. Die notwendige Information erhalten wir von Thukydides; er berichtet, da die Athener im Jahre 43 v. Chr. an Stelle des Tributs eine Steuerpicht von fnf Prozent auf alle Dinge auferlegten, die auf dem Seewege importiert und exportiert wurden; und sie dachten, dies wrde mehr abwerfen20. Diese Manahme, die mitten whrend des schweren Krieges eingefhrt wurde, sticht, wie ich glaube, vorteilhaft von den rmischen Methoden der Zentralisation ab. Die Athener wurden durch diese Methode der Besteuerung an der Entwicklung des alliierten Handels und damit an der Initiative und Unabhngigkeit der verschiedenen Glieder ihres Reiches interessiert. Ursprnglich hatte sich das athenische Reich aus einer Liga von Gleichberechtigten entwickelt. Trotz der zeitweiligen Vorherrschaft Athens sie wurde von einigen seiner Brger entlich kritisiert (vergleiche Lysistrata des Aristophanes) sieht es aus, als ob das Interesse Athens an der Entwicklung des Handels zu einer Art fderativer Konstitution gefhrt haben wrde. Zumindest ist im Fall Athens nichts von einer bertragung kultureller Besitzungen vom Reich zur Hauptstadt, das heit von Plnderungen, bekannt (wie das in Rom der Fall war). Und was man auch immer
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gegen eine Plutokratie sagen mag einer Herrschaft von Plnderern ist sie vorzuziehen2. Diese gnstige Einschtzung des athenischen Imperialismus ndet Untersttzung, wenn wir ihn mit der Methode vergleichen, die die Spartaner der Handhabung auswrtiger Angelegenheiten zugrunde legten. Sie war bestimmt durch das Endziel, das die spartanische Politik beherrschte, durch die Honung Spartas, jegliche Vernderung zum Stillstand zu bringen und zur ursprnglichen Stammesherrschaft zurckzukehren. (Das ist unmglich, wie ich etwas spter behaupten werde. Einmal verlorene Unschuld lt sich nicht wiedergewinnen, und eine knstlich festgehaltene geschlossene Gesellschaft oder eine gewollte Stammesgemeinschaft ist sehr verschieden von einem primitiven Stamm.) Die Prinzipien der spartanischen Politik waren die folgenden: [] Schutz seiner erstarrten Stammesgemeinschaft: Schliet alle fremden Einsse aus, die die Starrheit der Stammestabus gefhrden knnten. [2] Das antihumanitre Prinzip: Schliet insbesondere alle gleichheitlichen, demokratischen, individualistischen Ideologien aus. [3] Autarkie: Seid unabhngig vom Handel. [4] Antiuniversalismus oder Partikularismus: Haltet am Unterschied zwischen eurem Stamm und allen brigen fest; mischt euch nicht mit den Minderwertigen. [5] Herrschaftsgelste: Beherrscht und versklavt eure Nachbarn. [6] Aber werdet nicht zu gro, die Stadt soll nur so lange wachsen, als sie dies tun kann, ohne ihre Einheit zu gefhrden22, und insbesondere, ohne die Einfhrung
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universalistischer Tendenzen zu riskieren. Beim Vergleich dieser sechs Haupttendenzen mit den Tendenzen moderner totalitrer Bestrebungen sehen wir, da im Grunde, mit der einzigen Ausnahme des letzten Punktes, bereinstimmung herrscht. Man kann den Unterschied beschreiben, indem man sagt, da die modernen totalitren Ideologien imperialistische Tendenzen aufzuweisen scheinen. Dieser Imperialismus hat aber mit einem toleranten Universalismus nichts gemeinsam; die weltweiten Ambitionen der modernen Verteidiger totalitrer Lehren sind diesen gleichsam wider Willen auferlegt worden. Zwei Faktoren sind dafr zur Verantwortung zu ziehen. Der erste ist die allgemeine Tendenz aller Tyranneien, ihre Existenz dadurch zu rechtfertigen, da sie den Staat (oder das Volk) vor seinen Feinden retten eine Tendenz, die nach der erfolgreichen Unterwerfung der alten Feinde stets zur Schaung oder Erndung neuer Feinde fhren mu. Der zweite Faktor ist der Versuch, den eng verwandten Punkten [2] und [5] des totalitren Programms zur Wirksamkeit zu verhelfen. Die humanitre Gesinnung, die nach Punkt [2] auszuschalten ist, ist heute so allgemein verbreitet, da man sie auf der ganzen Welt zerstren mu, wenn man sie zu Hause erfolgreich bekmpfen will. Unsere Welt ist aber so klein geworden, da jedermann ein Nachbar ist; und daher ist gem Punkt [5] jedermann zu unterwerfen und zu versklaven. Aber in alten Zeiten konnte denen, die einem Partikularismus huldigten, wie dem spartanischen, nichts gefhrlicher erscheinen als der athenische Imperialismus
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mit seiner Tendenz, sich zu einem Commonwealth griechischer Stdte und vielleicht sogar zu einem Universalreich aller Menschen zu entwickeln. Wenn wir unsere bisherige Analyse zusammenfassen, so knnen wir sagen, da die politische und spirituelle Revolution, die mit dem Zusammenbruch des griechischen Stammesknigtums begonnen hatte, im 5. Jahrhundert, mit dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges ihren Hhepunkt erreichte. Sie hatte sich zu einem heftigen Klassenkampf und zu gleicher Zeit zu einem Krieg zwischen den beiden fhrenden Stdten Griechenlands entwickelt. III Wie ist es aber zu verstehen, da sich hervorragende Athener wie Thukydides auf der Seite der Reaktion gegen diese neue Entwicklung befanden? Das Klasseninteresse ist meiner Meinung nach eine ungengende Erklrung; denn was wir zu erklren haben, ist die Tatsache, da zwar viele ehrgeizige junge Adelige aktive, wenn auch nicht immer verlliche Mitglieder der demokratischen Partei wurden, da aber einige der Nachdenklichsten und Begabtesten ihrer Anziehungskraft widerstanden. Die Hauptsache scheint dies zu sein: Obgleich die oene Gesellschaft bereits existierte, obgleich sie in der Praxis neue Werte, neue gleichheitliche Lebensmastbe zu entwickeln begonnen hatte, fehlte insbesondere fr die Gebildeten noch immer etwas. Der neue Glaube an die oene Gesellschaft, ihr einzig mglicher Glaube, der
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humanitre Glauben, begann sich geltend zu machen, aber er war noch nicht formuliert. Zur Zeit war nichts sichtbar als der Klassenkampf, die Furcht der Demokraten vor der oligarchischen Reaktion und die Drohung weiterer revolutionrer Entwicklungen. Die Reaktion gegen alles das hatte daher viel auf ihrer Seite die Tradition, den Ruf nach der Verteidigung alter Tugenden, und die alte Religion. Diese Ideen wirkten stark auf die Gefhle vieler, und ihre Popularitt fhrte zu einer Bewegung, der, obgleich sie von den Spartanern und ihren oligarchischen Freunden fr ihre eigenen Zwecke benutzt wurde, sogar in Athen viele aufrechte Mnner angehrt haben mssen. Aus dem Schlagwort der Bewegung Zurck zum Staate unserer Vorvter oder Zurck zum alten Vaterstaat leitet sich die Bezeichnung Patriot her. Es ist kaum ntig, festzustellen, da die unter den Freunden dieser patriotischen Bewegung populren berzeugungen von gewissen Oligarchen grob verdreht wurden, die in der Honung, Hilfe gegen die Demokraten zu erhalten, nicht einmal vor der bergabe ihrer eigenen Stadt an die Feinde zurckschreckten. Thukydides war einer der reprsentativen Fhrer der Bewegung fr den Vaterstaat23, und obgleich er wahrscheinlich die verrterischen Akte der extremen Antidemokraten nicht untersttzte, konnte er doch seine Sympathie mit ihrem Hauptziel nicht verbergen dem Ziel, der sozialen Vernderung Einhalt zu gebieten und den die Menschen verbindenden Imperialismus der athenischen Demokratie sowie die Instrumente und Symbole
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ihrer Macht, die Flotte, die Mauern und den Handel zu bekmpfen. (Angesichts von Platons Theorien ber den Handel ist es interessant, festzustellen, wie gro die Furcht vor den Symbolen des Handels war. Als der spartanische Knig Lysander nach seinem Siege ber Athen im Jahre 404 v. Chr. mit groer Beute zurckkehrte, versuchten die spartanischen Patrioten, das heit die Mitglieder der Bewegung fr den Vaterstaat, die Einfuhr von Gold zu verhindern; und als es schlielich zugelassen wurde, wurde es nur dem Staat erlaubt, Geld zu besitzen, und jeder Brger, der im Besitze kostbarer Metalle gefunden wurde, hatte die Todesstrafe zu gewrtigen. In Platons Gesetzen werden sehr hnliche Manahmen empfohlen24.) Obgleich also die patriotische Bewegung teilweise der Ausdruck des Verlangens war, zu stabileren Lebensformen, zu Religion, Anstand, Gesetz und Ordnung zurckzukehren, war sie doch selbst moralisch angefault. Ihr alter Glauben war verloren; er wurde zum Groteil durch eine heuchlerische und sogar zynische Ausbeutung religiser Gefhle ersetzt25. Wenn man irgendwo den Nihilismus nden konnte, den Platon in seinen Bildern des Kallikles und des Thrasymachos darstellt, dann unter den jungen patriotischen Aristokraten, die demokratische Parteifhrer wurden, sobald sich nur irgendeine Gelegenheit bot. Der klarste Exponent dieses Nihilismus war vielleicht Platons Onkel Kritias, der Fhrer der Dreiig Tyrannen; einer jener oligarchischen Fhrer, die halfen, Athen den Todessto zu versetzen.
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Aber gerade zu dieser Zeit, in derselben Generation, der Thukydides angehrte, entstand ein neuer Glauben an die Vernunft, an die Freiheit und an die Brderlichkeit aller Menschen der neue und, wie ich glaube, einzig mgliche Glaube der oenen Gesellschaft. IV Diese Generation, die einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit bedeutet, mchte ich die Groe Generation nennen. Sie ist die Generation, die in Athen unmittelbar vor und whrend des Peloponnesischen Krieges lebte27. Ihr gehrten groe Konservative an, wie Sophokles und Thukydides. Ihr gehrten Mnner an, die die bergangszeit reprsentierten; die schwankten, wie Euripides, oder die skeptisch waren, wie Aristophanes. Aber da war auch der groe Fhrer der Demokratie, Perikles, der das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und des politischen Individualismus formulierte, und Herodot, der in der Stadt des Perikles als der Verfasser eines Werkes strmisch willkommen geheien wurde, das diese Prinzipien verherrlichte. Protagoras, geboren in Abdera, der in Athen groen Einu gewann, und sein Landsmann Demokrit mssen auch zur groen Generation gerechnet werden. Sie formulierten die Lehre, da die menschlichen Institutionen der Sprache, Sitte und des Gesetzes nicht den magischen Charakter von Tabus haben, sondern da sie vom Menschen geschaen, nicht natrlich, sondern konventionell sind, wobei sie zur gleichen Zeit hervorhoben,
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da wir fr sie verantwortlich sind. Dann war da die Schule des Gorgias Alkidamas, Lykophron und Antisthenes, die die fundamentalen Grundstze eines rationalen Protektionismus und Antinationalismus, das heit die Grundstze eines universalen Reiches der Menschen entwickelten und der Sklaverei den Kampf ansagten. Und da war Sokrates vielleicht der grte unter ihnen, der lehrte, da wir der menschlichen Vernunft vertrauen, uns aber zur gleichen Zeit vor dem Dogmatismus hten mssen; da wir uns in gleicher Weise von der Misologie28, dem Mitrauen an der Theorie und der Vernunft, und von der magischen Haltung derer fernzuhalten haben, die aus der Weisheit ein Idol zu machen trachten; der mit anderen Worten lehrte, da der Geist der Wissenschaft in der Kritik besteht. Soweit habe ich nicht viel ber Perikles und berhaupt nichts ber Demokrit gesagt; ich lasse sie daher selbst sprechen, um den neuen Glauben zu illustrieren. Zuerst Demokrit: Nicht aus Furcht, sondern aus einem Gefhl fr das, was recht ist, sollten wir uns des Unrechttuns enthalten Die Tugend beruht zuallererst darauf, da man den anderen respektiert Jeder Mensch ist eine kleine Welt fr sich selbst Wir sollten unser uerstes tun, um denen zu helfen, die Unrecht erlitten haben Gut sein, heit, nicht Unrecht tun; auch nicht wnschen, Unrecht zu tun Gute Taten zhlen, nicht Worte Die Armut einer Demokratie ist besser als die Wohlhabenheit, die angeblich mit der Aristokratie oder der Monarchie verbunden ist, ebenso, wie die Freiheit besser ist als die Sklaverei Der Weise gehrt allen Lndern an,
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denn die Heimat der groen Seele ist die ganze Welt. Auf ihn geht auch diese Bemerkung zurck, die den wahren Wissenschaftler zeigt: Ich wrde lieber ein einziges Kausalgesetz nden, als der Knig von Persien sein!29 Mit ihrem humanistischen und universalistischen Nachdruck klingen einige dieser Fragmente Demokrits, obgleich sie lter als Platon sind, als seien sie gegen Platon gerichtet. Derselbe Eindruck, nur noch strker, wird durch die berhmte Grabrede des Perikles vermittelt, die zumindest ein halbes Jahrhundert vor der Abfassung des Staates gehalten wurde. Ich habe im 6. Kapitel, anllich der Diskussion der Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz30 zwei Stze aus dieser Rede zitiert; einige Stellen seien aber hier ausfhrlicher wiedergegeben, um einen deutlicheren Eindruck des Geistes dieser Rede zu geben. Unser politisches System will nicht Institutionen verdrngen, die anderswo in Kraft sind. Wir ahmen nicht unsere Nachbarn nach, sondern versuchen ein Beispiel zu sein. Unsere Verwaltung begnstigt die vielen und nicht die wenigen: daher wird sie eine Demokratie genannt. Die Gesetze gewhren allen in gleicher Weise Gerechtigkeit, in ihren privaten Auseinandersetzungen, aber wir ignorieren nicht die Ansprche der Vortreichkeit. Wenn ein Brger sich hervortut, dann wird er vor anderen gerufen werden, um dem Staat zu dienen, nicht auf Grund eines Privilegs, sondern als Belohnung fr sein Verdienst; und seine Armut ist kein Hindernis Die Freiheit, der wir uns erfreuen, erstreckt sich auch auf das gewhnliche Leben; wir verdch376 Der Hintergrund von Platons Angri

tigen einander nicht, und wir nrgeln nicht an unserem Nachbarn herum, wenn er es vorzieht, seinen eigenen Weg zu gehen Aber diese Freiheit macht uns nicht gesetzlos. Wir werden gelehrt, die mter und die Gesetze zu achten und nie zu vergessen, die zu schtzen, die unter Unrecht leiden. Und wir werden auch gelehrt, jene ungeschriebenen Gesetze zu beachten, deren Schutz einzig in dem allgemeinen Gefhl dessen liegt, was recht ist Unsere Stadt steht der Welt oen; wir vertreiben nie einen Fremdling Wir sind frei, genau so zu leben, wie es uns gefllt, und doch sind wir immer bereit, jeglicher Gefahr ins Auge zu sehen Wir lieben die Schnheit, ohne uns Trumereien hinzugeben, und obgleich wir versuchen, unseren Verstand zu strken, so schwchen wir doch nicht dadurch unseren Willen Seine Armut zuzugeben bedeutet fr uns keine Schande; wir halten es aber fr schndlich, keine Anstrengung zu unternehmen, um sie zu vermeiden. Ein athenischer Brger vernachlssigt die entlichen Angelegenheiten nicht, wenn er seinen privaten Geschften nachgeht Wir betrachten einen Menschen, der am Staate kein Interesse hat, nicht als harmlos, sondern als nutzlos; und obgleich nur wenige eine politische Konzeption entwerfen und durchfhren knnen, so sind wir doch alle fhig, sie zu beurteilen. Wir halten die Diskussion nicht fr einen Stein des Anstoes auf dem Wege der politischen Aktion, sondern fr eine unentbehrliche Vorbereitung zum weisen Handeln Wir halten das Glck fr die Frucht der Freiheit und die Freiheit fr die Frucht der Tapferkeit, und wir schrecken
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nicht vor der Gefahr des Krieges zurck Alles in allem ich behaupte, da Athen die Schule Griechenlands ist und da der einzelne Athener heranwchst, um eine glckliche Vielseitigkeit zu entwickeln: um in allen Nten bereit zu sein und sich auf sich selbst verlassen zu knnen3. Diese Worte sind nicht blo eine Lobrede auf Athen; sie drcken den wahren Geist der groen Generation aus. Sie formulieren das politische Programm eines Kmpfers fr die Gleichheit, eines Individualisten, eines Demokraten, der wohl wei, da sich die Demokratie durch das sinnlose Prinzip das Volk soll regieren nicht erschpfen lt, sondern da sie auf einen Glauben an die Vernunft und an humanitre Prinzipien gegrndet werden mu. Sie sind zur gleichen Zeit der Ausdruck eines wahrhaftigen Patriotismus, der Ausdruck eines gerechten Stolzes auf ein Staatswesen, das sich die Aufgabe gestellt hat, beispielgebend zu sein; und das, wie wir wissen, nicht nur die Schule Griechenlands wurde, sondern die der Menschheit; fr Jahrtausende die vergangen sind und die noch kommen mgen. Die Rede des Perikles ist nicht nur ein Programm. Sie ist auch eine Verteidigung und vielleicht sogar ein Angri. Sie liest sich, wie ich bereits angedeutet habe, wie ein direkter Angri auf Platon. Und sie war ohne Zweifel nicht nur gegen das erstarrte Stammesknigtum Spartas gerichtet, sondern auch gegen den totalitren Ring oder Bund zu Hause; gegen die Bewegung fr den Vaterstaat, die athenische Gesellschaft, Lakonerfreunde (wie sie Th. Gomperz im Jahre 902 nannte32). Die Ansprache ist die frheste33
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und zur gleichen Zeit vielleicht strkste Stellungnahme, die je gegen diese Bewegung gemacht wurde. Platon hat ihre Bedeutung gefhlt; er karikierte die Rede des Perikles ein halbes Jahrhundert spter an denjenigen Stellen des Staates34, an denen er die Demokratie angreift, und ebenso in jener unverhllten Parodie, dem Dialog, der Menexenos oder die Grabrede35 heit. Aber die Feinde Lakoniens, die Perikles angri, antworteten lange vor Platon. Nur fnf oder sechs Jahre nach der Rede des Perikles wurde von einem unbekannten Autor, der jetzt gewhnlich derAlte Oligarch genannt wird (mglicherweise von Kritias), ein Pamphlet ber die Verfassung Athens36 verentlicht. Dieses geniale Pamphlet, die lteste existierende Abhandlung ber politische Theorie, ist zur gleichen Zeit vielleicht das lteste Beweisstck dafr, wie sehr die Menschheit von ihren intellektuellen Fhrern im Stich gelassen wurde. Ein unbarmherziger Angri wird hier auf Athen gefhrt, ein Angri, dessen Verfasser ohne Zweifel einer der besten Kpfe dieser Stadt gewesen ist. Seine Hauptidee, eine Idee, die mit Thukydides und Platon zum Glaubensartikel wurde, ist die enge Verbindung zwischen Schiahrt, Imperialismus und Demokratie. Und es wird versucht zu zeigen, da es in einem Konikt zwischen zwei Welten37, der Welt der Demokratie und der Welt der Oligarchie, keinen Kompromi geben knne. Da nur die unbarmherzige Anwendung von Gewalt, von totalitren Manahmen, die Intervention Alliierter von auen (der Spartaner) eingeschlossen, der verruchten Herrschaft der Freiheit ein Ende bereiten knKapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 379

ne. Diese bemerkenswerte Schrift wurde die erste in einer praktisch unendlichen Reihe von Werken ber politische Philosophie, die bis auf unsere Tage, mehr oder weniger oen oder verhllt, dasselbe Thema wiederholen. Abgeneigt und unfhig, der Menschheit auf ihrem schwierigen Weg in eine unbekannte und erst zu schaende Zukunft zu helfen, versuchten einige der Gebildeten, sie zur Rckkehr in die Vergangenheit zu veranlassen. Unfhig, sie auf einen neuen Weg zu fhren, konnten sie sich nur zu Fhrern des ewigen Aufstandes gegen die Freiheit aufschwingen. Es war fr sie um so ntiger, ihre Superioritt durch einen Kampf gegen die Idee der Gleichheit vor dem Gesetze zu betonen, als sie (in sokratischer Ausdrucksweise) Misanthropen und Misologen waren: es fehlte ihnen jene einfache und alltgliche Groherzigkeit, die den Mut gibt zum Glauben an die Mitmenschen, an die menschliche Vernunft und an die menschliche Freiheit. Dieses Urteil klingt vielleicht hart, aber es ist, frchte ich, gerecht, wenn es auf jene intellektuellen Fhrer des Aufstandes gegen die Freiheit angewendet wird, die zeitlich auf die groe Generation und auf Sokrates folgten. Wir mssen nun versuchen, sie gegen den Hintergrund unserer historischen Interpretation zu sehen. Die Entstehung der Philosophie selbst und ihr Aufstieg lt sich, wie ich glaube, als eine Auswirkung des Zusammenbruchs der geschlossenen Gesellschaft und ihrer magischen Glaubensgrundlagen deuten. Sie ist ein Versuch, den verlorenen magischen Glauben durch einen rationalen Glauben zu ersetzen; sie modiziert die Tradition des Weitergebens einer
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Theorie oder eines Mythos, indem sie eine neue Tradition begrndet die Tradition, Theorien und Mythen anzuzweifeln und sie kritisch zu diskutieren38. (Von Bedeutung ist, da dieser Versuch mit der Ausbreitung der sogenannten orphischen Sekten zusammenfllt, deren Mitglieder das verlorene Gefhl der Einheit durch eine mystische Religion ersetzen wollten.) Es scheint, da die frhesten Philosophen, die drei groen Ionier und Pythagoras, sich der Situation nicht bewut waren, auf die sie reagierten. Sie waren sowohl die Reprsentanten als auch die unbewuten Gegenspieler einer sozialen Revolution. Gerade der Umstand, da sie Schulen oder Sekten oder Orden grndeten, also neue soziale Institutionen oder eher konkrete Gruppen mit einem gemeinschaftlichen Leben, mit gemeinschaftlichen Funktionen, die hauptschlich denen eines idealisierten Stammes nachgebildet waren, dieser Umstand beweist, da sie Sozialreformer waren und da sie daher auf gewisse soziale Bedrfnisse reagierten. Da sie auf diese Bedrfnisse und auf ihr eigenes Gefhl des Dahintreibens, der Unsicherheit, nicht mit einer Nachahmung Hesiods reagierten, mit der Erndung eines historischen Schicksals- und Verfallsmythos39, sondern mit der Errichtung einer der Tradition der kritischen Diskussion und damit mit der Erndung der Kunst des kritischen Denkens, das ist eine jener unerklrten Tatsachen, die am Beginn unserer Zivilisation stehen. Aber sogar diese Rationalisten verhielten sich dem Verlust der Stammeseinheit gegenber zum grten Teil emotional. Ihr Denken verrt ein Gefhl des Dahintreibens, es verrt den Druck, die Last einer EntKapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 381

wicklung, die daran war, unsere individualistische Zivilisation zu schaen. Einer der ersten, der dem Gefhl dieser Last Ausdruck verlieh, war Anaximander40, der zweite der ionischen Philosophen. Die individuelle Existenz erschien ihm als hybris, als ein gottloser und unrechter Akt, als der Akt eines gesetzlosen Usurpators, fr den das Individuum leiden und Bue tun mu. Der erste, dem die soziale Revolution und der Klassenkampf zum Bewutsein kam, war Heraklit. Im zweiten Kapitel dieses Buches haben wir beschrieben, wie er sein Gefhl der Unsicherheit durch die Entwicklung der ersten antidemokratischen Ideologie und der ersten historizistischen Vernderungs- und Schicksalsphilosophie rationalisierte. Heraklit war der erste bewute Feind der oenen Gesellschaft. Fast alle diese frhen Denker litten unter einer tragischen und niederdrckenden Last4; die einzige Ausnahme ist vielleicht der Monotheist Xenophanes42, der mutig seine Brde trug. Wir knnen diese Denker nicht in derselben Weise fr ihre feindselige Einstellung der neuen Entwicklung gegenber tadeln, wie ihre Nachfolger. Der neue Glauben der oenen Gesellschaft, der Glauben an den Menschen, an die Gleichheit vor dem Gesetz, an die menschliche Vernunft, begann erst Gestalt anzunehmen, aber er war noch nicht formuliert. V Den grten Beitrag zu diesem Glauben sollte Sokrates leisten, der fr ihn starb. Sokrates war nicht, wie Perikles, ein
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Fhrer der athenischen Demokratie, und er war nicht, wie Protagoras, ein Theoretiker der oenen Gesellschaft. Er war vielmehr ein Kritiker Athens und seiner demokratischen Institutionen, und insoferne mag er eine oberchliche hnlichkeit mit einigen der Fhrer der Reaktion gegen die oene Gesellschaft besitzen. Es ist aber nicht notwendig, da ein Mann, der die Demokratie und die demokratischen Institutionen kritisiert, ihr Feind ist; obgleich die Demokraten, die er kritisiert, wie auch seine totalitren Zeitgenossen, die hoen, aus jeder Uneinigkeit im demokratischen Lager Gewinn zu ziehen, wahrscheinlich versuchen werden, ihn als einen Feind der Demokratie hinzustellen. Aber es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen einer demokratischen und einer totalitren Kritik an der Demokratie. Die Kritik des Sokrates war demokratisch; in der Tat, sie war eine Kritik von jener Art, die notwendig ist fr den Weiterbestand der Demokratie. (Demokraten, die nicht den Unterschied zwischen einer freundschaftlichen und einer feindseligen Kritik der Demokratie sehen, sind selbst in totalitrem Geiste befangen. Ein totalitres Regime kann natrlich berhaupt keine Kritik als freundschaftlich ansehen, denn jede Kritik einer Autoritt mu das Autorittsprinzip selbst in Frage stellen.) Ich habe bereits einige Zge der Lehren des Sokrates erwhnt: Seinen Intellektualismus, das heit seine Theorie, da die menschliche Vernunft ein universelles Medium der Verstndigung darstellt; den Nachdruck, den er auf intellektuelle Ehrlichkeit und auf Selbstkritik legt; seine die
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Gleichberechtigung betonende Theorie der Gerechtigkeit und seine Lehre, da es besser sei, Unrecht zu erleiden, als es anderen zuzufgen. Ich denke, da uns diese letzte Lehre am besten helfen kann, den Kern seiner Ideen zu verstehen, sein Credo des Individualismus, seinen Glauben, da das menschliche Individuum ein Selbstzweck ist. Die geschlossene Gesellschaft war zusammengebrochen und mit ihr der Glaube, da der Stamm alles sei und das Individuum nichts. Die individuelle Initiative und die Selbstbehauptung war eine Tatsache geworden. Das Interesse am menschlichen Individuum als Individuum und nicht nur als Stammesheld und Retter war geweckt worden43. Eine Philosophie aber, die den Menschen zum Zentrum ihres Interesses machte, begann erst mit Protagoras. Und der Glaube, da nichts in unserem Leben wichtiger ist als die anderen individuellen Menschen, der Appell an die Menschen, sich selbst und die anderen Menschen zu achten, scheint auf Sokrates zurckzugehen. Burnet hat hervorgehoben44, da es Sokrates war, der den Begri der Seele schuf, einen Begri, der einen so ungeheuren Einu auf unsere Zivilisation hatte. Diese Ansicht hat meiner Meinung nach viel fr sich, aber ich habe das Gefhl, da ihre Formulierung, insbesondere die Verwendung des Begries Seele zu Irrtmern Anla geben kann; denn Sokrates scheint sich von metaphysischen Theorien ferngehalten zu haben, so gut er konnte. Sein Appell war ein moralischer, und seine Lehre von der Individualitt (oder von der Seele, wenn dieses Wort vorgezogen wird) ist, wie
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ich glaube, eine moralische und nicht eine metaphysische Lehre. Mit Hilfe dieser Lehre kmpfte er, wie immer, gegen Anmaung und Selbstzufriedenheit. Der Individualismus sollte nicht blo die Ausung der Bindung an den Stamm sein, das Individuum sollte sich seiner Befreiung auch wrdig erweisen. Deshalb bestand er darauf, da der Mensch nicht nur ein Stck Fleisch ein Krper sei. Es ist mehr im Menschen, ein gttlicher Funke, die Vernunft; und Liebe zur Wahrheit, Freundlichkeit, Menschlichkeit, Liebe fr Schnheit und Tugend. Diese sind es, die das Leben eines Menschen lebenswert machen. Wenn ich aber nicht blo ein Krper bin was bin ich dann? Du bist vor allem Vernunft, war die Antwort des Sokrates. Deine Vernunft ist es, die dich zum Menschen macht; die dich befhigt, mehr zu sein als ein bloes Bndel von Begierden und Wnschen; die dich zu einem selbstgengsamen Individuum macht und dich zu dem Anspruch ermchtigt, deinen Zweck in dir selbst zu tragen. Der Ausspruch des Sokrates sorgt fr eure Seelen, ist vor allem ein Aufruf zu intellektueller Ehrlichkeit, ebenso wie der Ausspruch erkenne dich selbst von ihm verwendet wurde, um uns an unsere intellektuellen Schranken zu erinnern. Das, so hebt Sokrates hervor, sind die wirklich wichtigen Dinge. Und was er an der Demokratie und den demokratischen Staatsfhrern kritisierte, war die unzureichende Weise, in der sie diese Dinge verwirklichten. Mit Recht kritisierte er ihren Mangel an intellektueller Ehrlichkeit, ihre enge, beschrnkte Machtpolitik45. Er legte das HauptKapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 385

gewicht auf die menschliche Seite des politischen Problems; daher konnte er an der institutionellen Reform kein groes Interesse nehmen. Es war der unmittelbare persnliche Aspekt der oenen Gesellschaft, der ihn interessierte. Er tuschte sich, wenn er sich fr einen Politiker hielt; er war ein Lehrer. Wenn aber Sokrates im Grunde der Verteidiger der oenen Gesellschaft war und ein Freund der Demokratie, warum, so kann man fragen, verkehrte er dann mit Gegnern der Demokratie? Denn wir wissen, da nicht nur Alkibiades sich unter seinen Gefhrten befand, der fr einige Zeit auf Spartas Seite berging, sondern auch zwei der Onkel Platons, Kritias, spter der unbarmherzige Fhrer der Dreiig Tyrannen, und Charmides, sein Unterfhrer. Auf diese Frage gibt es mehr als eine Antwort. Zunchst erzhlt uns Platon, da Sokrates Angri auf die demokratischen Politiker seiner Zeit teilweise mit dem Zweck ausgefhrt wurde, die Selbstsucht und die Machtgier der heuchlerischen Schmeichler des Volkes aufzudecken, insbesondere aber jener jungen Aristokraten, die sich als Demokraten aufspielten, die aber wohl im Volke nur ein Mittel sahen, zur Macht zu gelangen46. Diese Ttigkeit machte ihn einerseits fr einige der oenen Feinde der Demokratie interessant; andererseits brachte sie ihn mit ambitisen Aristokraten gerade dieser Art in Verbindung. Und hier setzt eine zweite berlegung ein. Sokrates, der Moralist und Individualist, kann diese Leute nie blo angreifen. Er mu vielmehr wirkliches Interesse an ihnen nehmen, und
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er wird sie kaum ohne einen ernsthaften Versuch zu ihrer Bekehrung aufgeben. In den Platonischen Dialogen gibt es viele Anspielungen auf derartige Versuche. Wir haben allen Grund, zu glauben, und das ist eine dritte berlegung, da Sokrates, der Lehrer-Politiker, sich oft dafr interessierte, junge Mnner heranzuziehen und Einu auf sie zu gewinnen, insbesondere, wenn er glaubte, da sie der Bekehrung zugnglich seien, und wenn er annehmen mute, da sie eines Tages verantwortliche Stellen in ihrer Stadt einnehmen wrden. Das hervorstechendste Beispiel ist natrlich Alkibiades, der schon von seiner Kindheit an als der groe zuknftige Fhrer des athenischen Reiches ausersehen war. Und die Brillanz, der Ehrgeiz, der Mut des Kritias, machten ihn zu einem der wenigen vermutlichen Konkurrenten des Alkibiades. (Kritias arbeitete fr einige Zeit mit Alkibiades zusammen, wandte sich aber spter gegen ihn. Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, da diese zeitweilige Zusammenarbeit dem Einsse des Sokrates zuzuschreiben ist.) Nach allem, was wir von Platons eigenen frheren und spteren politischen Bestrebungen wissen, ist es mehr als wahrscheinlich, da seine Beziehungen zu Sokrates von derselben Art waren47. Sokrates war einer der fhrenden Geister der oenen Gesellschaft; er war aber kein Parteimann. Er war bereit, in jedem Kreis zu wirken, in dem seine Arbeit seiner Stadt Nutzen bringen konnte. Wenn er sich fr einen begabten jungen Menschen interessierte, so wurde er von oligarchischen Familienverbindungen nicht abgeschreckt.
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Aber diese Verbindungen sollten seinen Tod herbeifhren. Als der groe Krieg verloren war, wurde Sokrates beschuldigt, da er der Erzieher jener jungen Leute war, die die Demokratie verraten und mit dem Feinde konspiriert hatten, um den Zusammenbruch Athens herbeizufhren. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges und der Fall Athens wird unter dem Einflu der Autoritt des Thukydides noch immer so erzhlt, da die Niederlage Athens als endgltiger Beweis der moralischen Schwche des demokratischen Systems erscheint. Aber diese Ansicht ist blo eine tendenzise Entstellung, und die wohlbekannten Tatsachen erzhlen eine ganz andere Geschichte. Die Hauptverantwortung fr den verlorenen Krieg liegt bei den verrterischen Oligarchen, die fortwhrend mit Sparta konspirierten. Unter ihnen stachen drei frhere Anhnger des Sokrates hervor, Alkibiades, Kritias und Charmides. Nach dem Fall Athens im Jahre 404 v. Chr. wurden die beiden letzteren die Fhrer der Dreiig Tyrannen, die nicht mehr waren als eine von Sparta eingesetzte Marionettenregierung. Der Fall Athens und die Zerstrung der Mauern werden oft als das Endergebnis des groen Krieges hingestellt, der im Jahre 43 v. Chr. begonnen hatte. Aber darin liegt gerade die Entstellung in den blichen Schilderungen ; denn die Demokraten fochten weiter. Zuerst nur siebzig Mann stark, bereiteten sie, unter der Fhrung des Thrasybulos und Anytos, die Befreiung der Stadt vor, in der Kritias inzwischen die Brger in Mengen ttete; whrend der acht Monate seiner Schreckensherrschaft
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enthielt die Verlustliste eine grere Zahl von Athenern, als die Peloponnesier whrend der letzten zehn Jahre des Krieges gettet hatten48. Nach acht Monaten aber, im Jahre 403 v. Chr., wurden Kritias und die spartanische Garnison von den Demokraten, die sich im Pirus gesammelt hatten, angegrien und geschlagen; beide Onkel Platons verloren in der Schlacht ihr Leben. Ihre oligarchischen Nachfolger setzten die Schreckensherrschaft in der Stadt Athen selbst eine Zeitlang fort, aber ihre Streitkrfte befanden sich in einem Zustand der Verwirrung und Ausung. Nachdem sie sich als zur Herrschaft unfhig erwiesen hatten, wurden sie schlielich von ihren spartanischen Beschtzern aufgegeben, und die Spartaner schlossen einen Friedensvertrag mit den athenischen Demokraten ab, der die Demokratie in Athen wiederherstellte. Damit hatte die demokratische Regierungsform unter den schwersten Schicksalsschlgen ihre berlegene Strke bewiesen, und sogar ihre Feinde begannen, sie fr unbesiegbar zu halten. (Neun Jahre spter, nach der Schlacht von Knidos, konnten die Athener ihre Mauern wieder aufbauen. Die Niederlage der Demokratie hatte sich in einen Sieg verwandelt.) Sobald die wiederhergestellte Demokratie normale gesetzliche Bedingungen geschaen hatte49, wurde gegen Sokrates eine Anklage erhoben. Ihre Bedeutung war klar genug; er wurde angeklagt, seine Hand in der Erziehung der verderblichsten Feinde des Staates, des Alkibiades, des Kritias und des Charmides, im Spiel gehabt zu haben. Gewisse Schwierigkeiten fr die Anklage wurden durch eine
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Amnestie geschaen, die alle politischen Verbrechen vor der Wiederherstellung der Demokratie betraf. Die Anklage konnte sich daher nicht oen auf diese berchtigten Flle beziehen. Und die Anklger versuchten wahrscheinlich nicht so sehr, Sokrates fr die unglcklichen politischen Ereignisse der Vergangenheit zu bestrafen, die sich, wie sie wohl wuten, gegen seine Absicht zugetragen hatten; ihr Ziel war es vielmehr, ihn an der Fortsetzung seiner Lehrttigkeit zu hindern, die sie angesichts ihrer Wirkungen kaum fr anders als gefhrlich fr den Staat halten konnten. Aus allen diesen Grnden erhielt die Anklage die vage und ziemlich bedeutungslose Form, da Sokrates die Jugend verderbe, da er gottlos sei und da er versuche, neue religise Gebruche in den Staat einzufhren. (Die beiden letzten Anklagen drckten zweifellos, wenn auch etwas unbeholfen, das richtige Gefhl aus, da Sokrates ein Revolutionr auf ethisch-religisem Gebiet war.) Wegen der Amnestie war es nicht mglich, die verdorbene Jugend genauer zu bezeichnen, aber jedermann wute natrlich, wer gemeint war50. In seiner Verteidigung wies Sokrates daraufhin, da er mit der Politik der Dreiig nie sympathisiert hatte und da er sogar sein Leben aufs Spiel setzte, als er ihrem Versuch trotzte, ihn zum Mitschuldigen eines ihrer Verbrechen zu machen. Und er erinnerte das Gericht daran, da sich unter seinen engsten Gefhrten und begeistertsten Schlern zumindest ein berzeugter Demokrat befand, Chairephon, der gegen die Dreiig kmpfte (und der, wie es scheint, in der Schlacht im Pirus gefallen war)5.
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Es wird heute wohl allgemein zugegeben, da Anytos, der demokratische Fhrer und Anklger im Proze, aus Sokrates keinen Mrtyrer machen wollte. Sein Ziel war es, ihn des Landes zu verweisen. Aber dieser Plan wurde durch die Weigerung des Sokrates zunichte gemacht, sich ber Prinzipien auf einen Kompromi einzulassen. Ich glaube nicht, da Sokrates zu sterben wnschte, oder da er sich an der Rolle des Mrtyrers erfreute52. Er kmpfte einfach fr das, was er fr richtig hielt, und fr sein Lebenswerk. Er hatte nie beabsichtigt, die Demokratie zu unterminieren, sondern hatte versucht, ihr den Glauben zu geben, den sie ntig hatte. Dies war die Arbeit seines Lebens gewesen. Er fhlte, da sie ernsthaft bedroht war. Der Verrat seiner frheren Gefhrten lie ihn und sein Werk in einem Lichte erscheinen, das ihn aufs tiefste beunruhigte. Vielleicht hat er den Proze sogar als eine Mglichkeit willkommen geheien, um seine Loyalitt dem Staat gegenber zu beweisen. Sokrates erklrte diese Haltung aufs deutlichste, als er eine Gelegenheit zur Flucht erhielt. Htte er diese Gelegenheit benutzt und wre er ins Exil gegangen, so htte ihn jeder fr einen Widersacher der Demokratie gehalten. So blieb er und gab seine Grnde an. Diese Erklrung, seinen letzten Willen, nden wir in Platons Kriton53. Sie ist einfach. Wenn ich iehe, so sagte Sokrates, verletze ich die Gesetze des Staates. Eine solche Handlung wrde mich in einen Gegensatz zu den Gesetzen bringen und meine Gegnerschaft beweisen. Sie wrde dem Staate schaden.
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Nur wenn ich bleibe, kann ich meine Treue zum Staat und zur Demokratie auer Zweifel stellen und beweisen, da ich nie ihr Feind gewesen bin. Es kann keinen besseren Beweis fr meine Loyalitt geben als meine Bereitschaft, fr die Gesetze zu sterben. Der Tod des Sokrates ist der letzte Beweis seiner Aufrichtigkeit. Sein Mut, seine Einfachheit, seine Bescheidenheit, seine Selbstironie und sein Humor verlieen ihn nie. Ich bin die Stechiege, die Gott in diese Stadt gesetzt hat, so sagt er in seiner Apologie, und den ganzen Tag lang und an allen Stellen hefte ich mich an euch und wecke euch auf; berrede euch und mache euch Vorwrfe. Ihr werdet nicht so bald einen anderen nden, wie mich, und daher rate ich euch, mich zu schonen Wenn ihr nach mir schlagt, wie euch Anytos rt, und mich vorschnell ttet, dann werdet ihr fr den Rest eures Lebens schlafen, auer wenn Gott in seiner Weisheit euch eine andere Stechiege schickt54. Er zeigte, da ein Mensch nicht nur fr Schicksal, Ruhm und hnliche grandiose Dinge sterben kann, sondern auch fr die Freiheit des kritischen Denkens und fr eine Selbstachtung, die weder mit Wichtigtuerei noch mit Sentimentalitt verwandt ist. VI Sokrates hatte nur einen wrdigen Nachfolger, seinen alten Freund Antisthenes, den letzten der Groen Generation. Platon, sein genialster Schler, sollte sich bald als der treuloseste erweisen. Er verriet Sokrates, wie ihn seine Onkel
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verraten hatten. Diese hatten Sokrates nicht nur verraten, sie hatten auch versucht, ihn fr ihre terroristischen Handlungen mitverantwortlich zu machen; ohne Erfolg jedoch, da Sokrates sich ihnen widersetzte. Platon tat sein mglichstes, um Sokrates in seinen groartigen Versuch zu verwickeln, eine Theorie der erstarrten Gesellschaft zu konstruieren; und er war erfolgreich, denn Sokrates war tot. Ich wei natrlich, da dieses Urteil auch den Kritikern Platons beraus hart erscheinen wird55. Wenn wir aber einen Blick auf die Apologie und den Kriton werfen, die den letzten Willen des Sokrates enthalten, und wenn wir dieses Testament seines Alters mit Platons Testament, mit den Gesetzen vergleichen, dann ist es schwer, anders zu urteilen. Sokrates war verurteilt worden, aber seine Anklger hatten seinen Tod nicht beabsichtigt. Platons Gesetze helfen diesem Mangel an Absicht ab. Khl und klar wird hier die Theorie der Inquisition entwickelt. Freies Denken, Kritik politischer Institutionen, die Mitteilung neuer Ideen an die junge Generation, Versuche, neue religise Praktiken oder gar neue Glaubensansichten einzufhren, all das wird hier als todeswrdiges Verbrechen erklrt. In Platons Staat htte Sokrates nie die Gelegenheit gehabt, sich entlich zu verteidigen: man htte ihn der geheimen nchtlichen Fehme zur Behandlung und schlielich zur Bestrafung seiner kranken Seele bergeben. Ich kann nicht an der Tatsache des Verrats Platons zweifeln, noch daran, da seine Verwendung von Sokrates als Hauptsprecher des Staates ein erfolgreicher Versuch war,
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ihn fr diesen Verrat mitverantwortlich zu machen. Es ist aber eine andere Frage, ob er sich dessen, was er tat, bewut war. Um Platon zu verstehen, mssen wir uns die ganze zeitgenssische Situation vor Augen fhren. Nach dem Peloponnesischen Krieg wurde die Last der Zivilisation so schwer wie nie zuvor. Die alten oligarchischen Honungen waren noch immer lebendig, und die Niederlage Athens trug sogar dazu bei, sie zu ermutigen. Der Klassenkampf dauerte weiter an. Doch der Versuch des Kritias, die Demokratie zu zerstren und das Programm des alten Oligarchen durchzufhren, war fehlgeschlagen. Nicht aus Mangel an Entschiedenheit. Der rcksichtslose Gebrauch von Gewalt hatte sich als erfolglos erwiesen, trotz gnstiger Umstnde in Gestalt einer mchtigen Untersttzung von seiten des siegreichen Sparta. Platon fhlte die Notwendigkeit einer vlligen Rekonstruktion des Programmes. Die Dreiig waren auf dem Gebiet der Machtpolitik hauptschlich deshalb gescheitert, weil sie den Gerechtigkeitssinn der Brger beleidigt hatten. Ihre Niederlage war vor allem eine moralische Niederlage gewesen. Der Glauben an die groe Generation hatte seine Strke bewiesen. Die Dreiig hatten nichts hnliches zu bieten sie waren moralische Nihilisten. Das Programm des alten Oligarchen, das fhlte Platon, konnte nicht belebt werden, wenn man es nicht auf einen anderen Glauben grndete, auf einen Glauben, der die alten Stammeswerte wieder herstellte und sie dem Glauben an die oene Gesellschaft entgegensetzte. Die Menschen mssen
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gelehrt werden, da Gerechtigkeit Ungleichheit ist und da der Stamm, das Kollektiv, hher steht, als das Individuum56. Da aber der Glauben des Sokrates fr eine oene Kampfansage zu stark war, so wurde Platon gezwungen, ihn als einen Glauben an die geschlossene Gesellschaft zu reinterpretieren. Das war schwierig, aber nicht unmglich. Denn war nicht Sokrates von der Demokratie gettet worden? Hatte nicht die Demokratie jedes Recht verloren, ihn fr sich zu beanspruchen? Und hatte nicht Sokrates stets die anonyme Menge und ihre Fhrer wegen ihres Mangels an Weisheit kritisiert? Auerdem war es nicht zu schwer, Sokrates als einen Befrworter der Herrschaft der Gebildeten, der gelehrten Philosophen zu interpretieren. Zu dieser Interpretation war Platon sehr ermutigt, als er fand, da sie ein wesentlicher Teil des pythagoreischen Glaubensbekenntnisses gewesen war; und vor allem, als er in Archytas von Tarent einen pythagoreischen Weisen entdeckte, der zugleich ein groer und erfolgreicher Staatsmann war. Hier, so fhlt er, lag die Lsung des Rtsels. Hatte nicht Sokrates selbst seine Schler ermutigt, an der Politik teilzunehmen? Und bedeutete das nicht, da er wnschte, da der Aufgeklrte, der Weise herrschen solle? Welch ein Unterschied bestand doch zwischen der Roheit des Pbels, der in Athen regierte, und der Wrde eines Archytas! Sicher hatte Sokrates, der nie seine Lsung des Verfassungsproblems dargelegt hatte, an den Pythagoreismus gedacht. Auf diese Weise mag Platon gefunden haben, da es mglich war, den Lehren des einureichsten Mitgliedes
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der groen Generation Schritt fr Schritt einen neuen Sinn zu geben und sich selbst zu berreden, da dieser Gegner, dessen bermchtige Kraft er nie direkt anzugreifen gewagt htte, eigentlich ein Bundesgenosse war. Dies ist, wie ich glaube, die einfachste Erklrung fr die Tatsache, da Platon Sokrates als seinen Hauptsprecher beibehielt und das selbst dann noch, als er so weit von seinen Lehren abgewichen war, da er sich selbst nicht lnger ber seine Abweichung tuschen konnte57. Aber das ist nicht alles. Es scheint, da Platon in der Tiefe seiner Seele fhlte, wie sehr sich die Lehre des Sokrates von seiner eigenen Darstellung unterschied und da er Sokrates verriet. Und ich glaube, da Platons jahrzehntelanges Bemhen, einen Sokrates darzustellen der im Begrie ist, seine eigene Lehre umzudeuten, gleichzeitig Platons Bemhen darstellt, sich vor seinem eigenen Gewissen zu rechtfertigen. Indem er immer wieder zu zeigen versuchte, da seine Lehre nur die logische Fortentwicklung der wahren sokratischen Lehre war, versuchte er sich selbst zu berzeugen, da er kein Verrter sei. Wenn wir Platon lesen, so sind wir, fhle ich, Zeugen eines inneren Konfliktes, eines wahrhaft gigantischen Kampfes in Platons Seele. Sogar seine berhmte vornehme Zurckhaltung, die Unterdrckung seiner eigenen Persnlichkeit58, oder vielmehr, die versuchte Unterdrckung denn es ist gar nicht schwer, zwischen den Zeilen zu lesen ist ein Ausdruck dieses Kampfes. Und ich glaube, da sich der Einu Platons zum Teil durch das Interesse erklren lt, das dieser Kampf zwischen zwei Welten in
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einer Seele erweckt, ein Kampf, dessen mchtige Rckwirkungen auf Platon man unter der Oberche jener vornehmen Zurckhaltung spren kann. Dieser Kampf rhrt an unsere Gefhle, denn er dauert auch in uns selbst noch an. Platon war das Kind einer Zeit, die noch immer die unsere ist. (Wir drfen schlielich nicht vergessen, da nur ein Jahrhundert seit der Beseitigung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten vergangen ist und weniger noch seit der Beseitigung der Leibeigenschaft in Zentraleuropa.) Nirgends enthllt sich dieser innere Kampf so deutlich wie in Platons Theorie der Seele. Da sich Platon, trotz seines Verlangens nach Einheit und Harmonie, die Struktur der menschlichen Seele analog der Struktur einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft vorstellte, zeigt, wie schwer er gelitten haben mu59. Platons grter Konikt entsteht aus dem tiefen Eindruck, den das Beispiel des Sokrates bei ihm hinterlassen hatte; seine eigenen oligarchischen Neigungen kmpfen aber nur zu erfolgreich dagegen an. Auf dem Gebiet rationaler Argumente wird der Kampf gefhrt, indem er die Argumente der Sokratischen Humanittslehre gegen diese selbst verwendet. Es scheint, da das frheste Beispiel dieser Art im Euthyphron60 vorkommt. Ich will nicht ein Euthyphron sein, so sagt Platon zu sich selbst; ich werde es nie auf mich nehmen, meinen eigenen Vater, meine eigenen verehrten Vorfahren, anzuklagen, da sie gegen ein Gesetz und gegen eine humanitre Moral sndigten, die sich auf der Ebene vulgrer Frmmigkeit bewegt. Auch wenn sie Menschen
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das Leben nahmen, so war es schlielich nur das Leben ihrer eigenen Sklaven, die nicht besser sind als Verbrecher; und es ist nicht meine Aufgabe, sie zu richten. Zeigte nicht Sokrates, wie schwer es ist, zu wissen, was recht ist und was unrecht, was fromm und was gottlos? Und wurde er nicht selbst von jenen sogenannten Menschenfreunden wegen Gottlosigkeit verfolgt? Andere Spuren des Kampfes Platons ndet man, wie ich glaube, an fast jeder Stelle, an der er sich gegen die humanitren Ideen wendet, insbesondere im Staat. Sein Ausweichen, seine Anwendung von Hohn und Verachtung, wenn es gilt, die Lehre zu bekmpfen, da die Gerechtigkeit die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz fordert; seine zgernde Vorrede zu seiner Verteidigung des Lgens, zu seiner Einfhrung der Rassenlehre und zu seiner Denition der Gerechtigkeit, all das ist in den vorhergehenden Kapiteln erwhnt worden. Vielleicht den deutlichsten Ausdruck des Koniktes nden wir aber im Menexenos, seiner ironischen Antwort auf die Grabrede des Perikles. Hier ndet sich ein unbewutes Gestndnis Platons. Obgleich er versucht, seine Gefhle hinter Ironie und Verachtung zu verbergen, mu er dennoch zeigen, wie tief er durch die Empndungen des Perikles beeindruckt war. Den Eindruck, den die Rede des Perikles auf ihn machte, beschreibt sein Sokrates boshaft auf die folgende Weise: Ein Gefhl begeisterter Entrckung verharrte in mir fr mehr als drei Tage; nicht vor dem vierten oder fnften Tag und nicht ohne Anstrengung kam ich wieder zu Sinnen und entdeckte, wo ich war6. Wer kann wohl zweifeln, da
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Platon hier enthllt, wie sehr er vom Glaubensbekenntnis der oenen Gesellschaft beeindruckt war und wie schwer er zu kmpfen hatte, um wieder zu Sinnen zu kommen und zu entdecken, wo er war nmlich, im Lager ihrer Feinde. VII Platons strkstes Argument in diesem Kampf war, wie ich glaube, ein ehrliches Argument: Nach dem humanitren Credo, so fhrt er aus, sollen wir bereit sein, unseren Nachbarn zu helfen. Die Menschen brauchen dringend Hilfe, sie sind unglcklich, sie leiden unter einer schweren Last, unter einem Gefhl des Dahintreibens. Es gibt keine Gewiheit, keine Sicherheit62 im Leben, wenn alles sich im Flu bendet. Ich bin bereit, meinen Mitbrgern zu helfen. Aber ich kann sie nicht glcklich machen, ohne dem bel auf den Grund zu gehen. Er entdeckte die Wurzel des bels: Es ist der Sndenfall des Menschen, der Zusammenbruch der geschlossenen Gesellschaftsordnung. Diese Entdeckung berzeugte ihn, da der alte Oligarch und seine Nachfolger im Grunde recht gehabt hatten, als sie Sparta gegen Athen untersttzten, und das spartanische Programm des Anhaltens jedes Wechsels bernahmen. Aber sie waren nicht weit genug gegangen; ihre Analyse war nicht hinreichend grndlich gewesen. Sie hatten die Tatsache nicht bemerkt, oder sie hatten sich nicht um sie gekmmert, da sogar Sparta trotz seiner heroischen Anstrengungen, allen Wechsel aufzuhalten, Zeichen des Verfalls zeigte. Sogar Sparta war
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bei seinen Versuchen, die Aufzucht zu berwachen, um damit die Ursachen des Verfalls, die Variationen und Unregelmigkeiten in der Zahl sowie der Qualitt der herrschenden Rasse zu beseitigen, nicht ernsthaft genug vorgegangen63. (Platon erkannte, da der Bevlkerungszuwachs eine der Ursachen des Sndenfalls gewesen war.) Auch hatten der alte Oligarch und seine Nachfolger in ihrer Oberchlichkeit gedacht, sie seien fhig, die guten alten Tage mit Hilfe einer Tyrannei, wie der Tyrannei der Dreiig, wiederherzustellen. Platon wute es besser. Der groe Soziologe sah klar, da diese Tyranneien vom modernen revolutionren Geist untersttzt wurden und da sie ihn ihrerseits anfachten; da sie gezwungen waren, Zugestndnisse an das Volk zu machen, das Gleichberechtigung verlangte; und da sie tatschlich beim Zusammenbruch der Stammesherrschaft eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Platon hate die Tyrannei. Nur der Ha kann so scharf sehen wie Platon in seiner berhmten Beschreibung des Tyrannen. Nur ein echter Feind der Tyrannei konnte sagen, da die Tyrannen einen Krieg nach dem anderen anzetteln mssen, um das Volk das Bedrfnis nach einem General fhlen zu lassen, nach einem Retter aus uerster Gefahr. Weder die Tyrannei noch eine der gewhnlichen Oligarchien war die Lsung. Obgleich es absolut notwendig ist, das Volk in seinem Platz zu halten, so ist seine Unterdrckung kein Selbstzweck. Das Endziel mu die vllige Rckkehr zur Natur sein, eine vllige Reinigung der Leinwand.
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Der Unterschied zwischen der Theorie Platons auf der einen Seite und der des alten Oligarchen und der Dreiig auf der anderen ist auf den Einu der groen Generation zurckzufhren. Der Individualismus, die Lehre von der Gleichheit der Menschen, der Glaube an die Vernunft und die Liebe fr die Freiheit waren neue, mchtige und vom Standpunkt der Feinde der oenen Gesellschaft aus betrachtet, gefhrliche Gedanken, die bekmpft werden muten. Platon hatte selbst ihren Einu gefhlt, und er hatte sie in sich selbst bekmpft. Seine Antworten an die groe Generation war eine wahrhaft groe Bemhung. Es war der Versuch, das Tor wieder zu schlieen, das genet worden war, und die Gesellschaftsordnung dadurch zum Erstarren zu bringen, da man auf sie den Zauber einer verlockenden Philosophie warf, die an Tiefe und Reichtum nicht ihresgleichen hatte. Auf politischem Gebiet fgte er dem alten oligarchischen Programm, gegen das einst Perikles argumentiert hatte, nur wenig hinzu64. Aber er entdeckte, vielleicht unbewut, das groe Geheimnis des Aufstandes gegen die Freiheit, das Pareto in unseren Tagen so formuliert hat65: Gefhle soll man ausntzen, statt seine Energie in fruchtlosen Versuchen zu verschwenden, sie auszumerzen. Statt seine Feindschaft der Vernunft gegenber zu zeigen, bezauberte Platon alle Intellektuellen mit seinem Tiefsinn, und er schmeichelte ihnen und begeisterte sie mit seiner Forderung, da die Weisen herrschen sollen. Obgleich er gegen die Gerechtigkeit zu Felde zog, berzeugte er doch
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alle Rechtschaenen, da er ihr Anwalt war. Nicht einmal sich selbst gestand er vllig ein, da er die Gedankenfreiheit bekmpfte, fr die Sokrates gestorben war; und indem er Sokrates zu seinem Verteidiger machte, berzeugte er jedermann, da er fr sie kmpfe. Platon wurde damit unbewut der Pionier der vielen Propagandisten, die, oft in gutem Glauben, die Kunst entwickelten, moralische und humanitre Gefhle fr unmoralische und unmenschliche Zwecke zu verwenden. Und er hatte damit die berraschende Wirkung, da er sogar groe humanitre Denker davon berzeugte, da ihr Glaube eigentlich selbstschtig war66. Und ich zweie nicht, da es ihm gelang, sich selbst vllig zu berzeugen. Es gelang ihm, seinen Ha gegen die individuelle Initiative und seinen Wunsch, aller Vernderung Einhalt zu tun, zur Liebe der Gerechtigkeit, des Mahaltens und eines himmlischen Staatswesens umzugestalten, in dem jedermann zufrieden und glcklich ist und in dem niedrige Geldgier67 durch Gesetze der Gromut und Freundschaft ersetzt ist. Dieser Traum von Einheit, Schnheit, Vervollkommnung, dieser sthetizismus, Holismus und Kollektivismus, ist Wirkung und Symptom des verlorenen Gruppengeistes des Stammes68. Er drckt die Gefhle und Hoffnungen aller Menschen aus, die unter der Last der Zivilisation leiden, und er appelliert an diese Gefhle. (Es gehrt zu dieser Last, da wir uns der Unvollkommenheiten unseres Lebens, der persnlichen wie auch der institutionellen Unvollkommenheiten, immer mehr und immer schmerzlicher bewut werden; da
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wir vermeidbares Leiden, Verschwendung und unntige Hlichkeit in immer grerem Ausmae bemerken; und da wir zur gleichen Zeit erkennen, da es uns nicht unmglich ist, etwas zur Verbesserung beizutragen; da aber solche Verbesserungen ebensoschwer zu erreichen sind, als sie wichtig sind. Diese Gewiheit vergrert die Last der persnlichen Verantwortung: wir tragen das Kreuz dafr, da wir menschlich sind.) VIII Sokrates hatte sich geweigert, seine persnliche Integritt durch ein Kompromi preiszugeben. Platon wurde mit all seinem kompromilosen Leinwandreinigen einen Weg entlanggefhrt, auf dem er seine Integritt mit jedem Schritt, den er tat, durch Kompromisse mehr und mehr einbte. Er wurde gezwungen, die Gedankenfreiheit und das Suchen nach der Wahrheit zu bekmpfen. Er wurde gezwungen, Lgen, politische Wunder, tabuistischen Aberglauben, die Unterdrckung der Wahrheit und schlielich die brutale Gewalt zu verteidigen. Obgleich Sokrates vor Misanthropie und Misologie gewarnt hatte, mitraute Platon schlielich dem Menschen und frchtete die Philosophie. Obwohl er selbst die Tyrannei hate, mute er sich bei einem Tyrannen um Hilfe umsehen und hchst tyrannische Manahmen verteidigen. Die innere Logik seines antihumanitren Ziels, die innere Logik der Macht, fhrte ihn unbemerkt an die gleiche Stelle, an der einst die Dreiig angekommen waren und wo spter sein Freund Dion und andere der vielen
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Tyrannen unter seinen Schlern landeten69. Es glckte ihm nicht, die soziale Vernderung aufzuhalten. (Erst viel spter, im Mittelalter, wurde sie durch den magischen Zauber der platonisch-aristoteleischen Wesenslehre zum Stillstand gebracht.) Statt dessen gelang es ihm, sich durch seinen eigenen Zauber an bse Krfte zu binden, die er einst gehat hatte. Was wir von Platon lernen sollten, ist somit das genaue Gegenteil der Lehre, die er uns vortrgt. Es ist eine Lektion, die nicht vergessen werden darf. So ausgezeichnet Platons soziologische Diagnose auch war, seine eigene Entwicklung beweist, da die Therapie, die er empfahl, schlechter ist als das bel, das er zu bekmpfen versuchte. Das Anhalten der politischen Vernderung ist kein Heilmittel; es kann kein Glck bringen. Wir knnen niemals zur angeblichen Unschuld und Schnheit der geschlossenen Gesellschaft zurckkehren. Unser Traum vom Himmel lt sich auf Erden nicht verwirklichen. Sobald wir beginnen, uns auf unsere Vernunft zu verlassen, sobald wir beginnen, unsere kritischen Fhigkeiten zu ben, sobald wir den Appell persnlicher Verantwortung fhlen und damit die Verantwortung, beim Fortschritt des Wissens zu helfen, in diesem Augenblick knnen wir nicht mehr zu einem Zustand der Unterwerfung unter die Stammesmagie zurckkehren. Fr die, die vom Baume der Erkenntnis gekostet haben, ist das Paradies verloren70. Je mehr wir versuchen, zum heroischen Zeitalter der Stammesgemeinschaft zurckzukehren, desto sicherer landen wir bei Inquisition, Geheimpolizei und
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einem romantisierten Gangstertum. Wenn wir erst mit der Unterdrckung von Vernunft und Wahrheit beginnen, dann mssen wir mit der brutalsten und heftigsten Zerstrung alles dessen enden das menschlich ist7. Es gibt keine Rckkehr in einen harmonischen Naturzustand. Wenn wir uns zurckwenden, dann mssen wir den ganzen Weg gehen wir mssen zu Bestien werden. Wir stehen hier vor einer Frage die wir klar beantworten mssen, so schwer dies fr uns auch sein mag. Wenn wir von einer Rckkehr zu unserer Kindheit trumen, wenn wir versucht sind, uns auf andere zu verlassen und auf diese Weise glcklich zu sein, wenn wir vor der Aufgabe zurckschrecken, unser Kreuz zu tragen, das Kreuz der Menschlichkeit, der Vernunft und der Verantwortlichkeit, wenn wir den Mut verlieren und der Last des Kreuzes mde sind, dann mssen wir uns mit einem klaren Verstndnis der einfachen Entscheidung zu strken suchen, die vor uns liegt. Wir knnen wieder zu Bestien werden. Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die oene Gesellschaft. Wir mssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir es eben knnen, fr beides zu planen: nicht nur fr Sicherheit, sondern zugleich auch fr Freiheit.

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ANMERKUNGEN
ALLGEMEINE BEMERKUNGEN Der Text dieses Bandes ist in sich abgeschlossen und kann ohne diese Anmerkungen gelesen werden. Man wird hier jedoch umfangreiches Material nden, das alle Leser des Werkes interessieren drfte, wie auch Hinweise auf Streitfragen von vielleicht mehr speziellem Interesse. Leser, die die Anmerkungen wegen dieses Materials zu Rate zu ziehen wnschen, werden es vielleicht bequemer nden, wenn sie den Text eines Kapitels zuerst ohne Unterbrechung lesen und sich erst dann den Anmerkungen zuwenden. Anmerkungen, in denen ich Material herangezogen habe, das mir zur Zeit der Abfassung des Manuskripts der ersten Auage nicht zugnglich war (und auch andere Anmerkungen, die ich als nach 943 zum Buche hinzugefgt kennzeichnen mchte), sind in Sterne eingeschlossen * *; es wurden jedoch nicht alle neuen Anmerkungen auf diese Weise gekennzeichnet. Anmerkungen des bersetzers sind durch Kreuze + + gekennzeichnet. Von den Verweiszahlen bezieht sich die erste auf die entsprechende Seite dieses Buches (dem eBook angepat! Anm. eBooker), die zweite auf die dortige Anmerkungszier. Zu den bibliographischen Angaben: Rmische Ziern bezeichnen Bnde, arabische Ziern in dieser Reihenfolge: Jahreszahl, Seite, Zeile.
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ZUR EINLEITUNG Kants Motto: vgl.Kant, Werke, hg. von Cassirer IX 56 sowie Kap. 24, Anm. 4 und die dazugehrige Textstelle. Die Begrie oene Gesellschaft und geschlossene Gesellschaft wurden meines Wissens nach zuerst von H. Bergson in Les deux sources de la Morale et de la Religion verwendet. Trotz des betrchtlichen Unterschieds zwischen der Verwendungsweise dieser Ausdrcke bei Bergson und bei mir (dieser Unterschied geht zurck auf eine verschiedene Einstellung zu fast jedem philosophischen Problem) besteht zweifellos auch eine gewisse hnlichkeit, die ich anerkennen mchte. (Vgl. Bergsons Kennzeichnung der geschlossenen Gesellschaft a.a.O. 68 als eine menschliche Gesellschaftsform, die frisch aus der Hand der Natur kommt.) Der wichtigste Unterschied ist jedoch dieser. Meine Begrie verweisen gleichsam auf eine rationalistische Unterscheidung; die geschlossene Gesellschaft wird durch den Glauben an magische Tabus gekennzeichnet, whrend es die Menschen der oenen Gesellschaft gelernt haben, in gewissem Ausma den Tabus kritisch gegenberzustehen und die Entscheidungen (nach einer Diskussion) auf die Autoritt ihrer eigenen Intelligenz zu grnden. Hingegen hat Bergson eine Art religisen Unterschieds vor Augen. Darum kann er seine oene Gesellschaftsform als das Produkt einer mystischen Intuition ansehen, whrend ich der Ansicht bin (Kap. 0 und 24), da sich der Mystizismus als der Ausdruck des Verlangens nach der verlorenen Einheit
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der geschlossenen Gesellschaft deuten lt und damit als eine Reaktion gegen den Rationalismus der oenen Gesellschaft. Aus der Art, wie ich meinen Begri die oene Gesellschaft im 0. Kapitel verwende, wird man sehen, da hier eine gewisse hnlichkeit zu Graham Wallas Groer Gesellschaftsordnung (The Great Society) vorliegt; aber mein Begri ist auch auf eine kleine Gesellschaftsform anwendbar, etwa auf das Athen des Perikles, whrend man sich wohl vorstellen kann, da eine groe Gesellschaftsform erstarrt und damit geschlossen wird. Es besteht auch eine hnlichkeit zwischen meiner oenen Gesellschaft und der Good Society, von der W. Lippmann in seinem gleichnamigen Buch (937) spricht. Vgl. auch Anm. 59 [2] zu Kap. 0, sowie Anm. 29, 32, 58 zu Kap. 24, sowie die zugehrigen Textstellen.

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Zum I. Kapitel: DER HISTORIZISMUS UND DER SCHICKSALSMYTHOS Zu Perikles Motto vgl. Kap. 0, Anm. 3 und Text, 238. Platons Motto wird in Anm. 33 und 34 zu Kap. 6 und in den entsprechenden Textstellen einigermaen ausfhrlich diskutiert. 42 : . Die Bezeichnung Kollektivismus verwende ich nur fr eine Lehre, die die Bedeutung eines Kollektivs oder einer Gruppe wie des Staats (oder eines bestimmten Staates; einer Nation; einer Klasse) der Bedeutung des Individuums gegenber hervorhebt. Der Gegensatz zwischen dem Kollektivismus und dem Individualismus wird im 6. Kapitel ausfhrlicher zu besprechen sein; vgl. insbesondere Kap. 6, Anm. 26, 28 und Text. Zur Gesellschaftsform der Stmme und der Idee einer Stammeslebensform, d. h. zur Einstellung, die am Stamm, an der Horde und an ihren Lebensformen festhlt, vgl. Kap. 0, insbesondere Anm. 38 (Liste der pythagoreischen Stammestabus). 42 : 2. Das bedeutet, da die Interpretation keine empirische Information verschafft, wie in meiner Logik der Forschung, 935, gezeigt wird. 42 : 3. Die Lehren vom auserwhlten Volk, der auserwhlAnmerkungen zu Kapitel 1 409

ten Rasse und der auserwhlten Klasse haben folgendes gemeinsam: Sie alle entstanden als Reaktion gegen irgendeine Unterdrckung und gewannen auf diese Weise an Bedeutung. Die Lehre vom auserwhlten Volk erhielt ihre Bedeutung zur Zeit der Grndung der jdischen Kirche, d. h. whrend der Babylonischen Gefangenschaft; Graf Gobineaus Theorie von der arischen Herrenrasse war eine Reaktion des aristokratischen Emigranten auf die Behauptung, die Franzsische Revolution habe die teutonischen Herren mit Erfolg vertrieben. Marx Prophezeiung vom Sieg des Proletariats ist die Antwort auf eine der dstersten Perioden der Unterdrckung und Ausbeutung in der modernen Geschichte. Vgl. damit Kap. 0, insbesondere Anm. 39, Kap. 7, insbesondere Anm. 35, und die entsprechenden Textstellen. 43 : 4. Eine der krzesten und besten Zusammenfassungen der historizistischen Glaubensgrundstze ndet sich in einer radikal historizistischen Schrift, aus der am Ende der Anm. 2 zu Kap. 9 ausfhrlicher zitiert werden wird. Ihr Titel lautet Christians in the Class Struggle, ihr Verfasser ist Gilbert Cope, das Vorwort schrieb der Bischof von Bradford (Magnicat, Publikation Nr. , publiziert vom Council of Clergy and Ministers for Common Ownership 942, 28, Maypole Lane, Birmingham 4). Wir lesen hier p. 5/6: Allen diesen Ansichten gemeinsam ist eine gewisse Qualitt von ,Unvermeidbarkeit plus Freiheit. Die biologische Entwicklung, die Aufeinanderfolge der
410 Anmerkungen zu Kapitel 1

durch den Klassenkonikt hervorgerufenen Stadien, das Wirken des Heiligen Geistes all das ist durch eine wohlbestimmte Bewegung auf ein Ziel zu gekennzeichnet. Diese Bewegung mag fr eine gewisse Zeit durch vorstzliches Handeln verhindert oder abgelenkt werden, es ist aber nicht mglich, ihre zunehmende Wucht zu zerstren; und obgleich das Ende nur dunkel erfat wird [so besteht doch die Mglichkeit] den Proze genau genug zu kennen, um seinen unvermeidlichen Verlauf zu frdern oder zu verzgern. Mit anderen Worten: Die Menschen verstehen die natrlichen Gesetze des als Fortschritt beobachteten Ablaufs in hinreichendem Ausmae, so da sie versuchen knnen den Hauptstrom entweder anzuhalten oder abzulenken; solche Versuche knnen eine gewisse Zeit hindurch den Anschein des Erfolgs haben; in Wirklichkeit sind sie aber von vorneherein zum Scheitern verurteilt. 44 : 5. *Hegel sagte, da er in seiner Logik die gesamte Heraklitische Philosophie aufgehoben (im Sinne von aufbewahrt) habe. Er bemerkte auch, da er Platon alles verdanke. Es ist vielleicht der Erwhnung wert, da Ferdinand von Lassalle, einer der Begrnder der deutschen sozialdemokratischen Bewegung (und, wie Marx, ein Hegelianer) zwei Bnde ber Heraklit geschrieben hat.*

Anmerkungen zu Kapitel 1

411

Zum 2. Kapitel: HERAKLIT 45 : . Die Frage Woraus besteht die Welt? wird mehr oder weniger allgemein fr das Grundproblem der frhen ionischen Naturphilosophen gehalten. Wenn wir annehmen, da sich diese Philosophen die Welt als ein Gebude vorstellten, dann entsteht die Frage nach dem Grundplan der Welt als Ergnzung zu der Frage nach ihrem Bausto. Und in der Tat hren wir, da Thales nicht nur an der Frage des Baustos der Welt, sondern auch an deskriptiver Astronomie und Geographie interessiert war und da Anaximander als erster einen Grundplan, d. h. eine Karte der Erde entworfen hat. Weitere Bemerkungen ber die ionische Schule und insbesondere ber Anaximander als den Vorgnger Heraklits im 0. Kapitel; vgl. die Anm. 3840 zu diesem Kapitel, insbesondere Anm. 39. *Nach R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt 693, lt sich das Gefhl des Schicksals bei Homer (moira) auf den orientalischen Astralmystizismus zurckverfolgen, der Raum, Zeit und das Schicksal vergttlicht. Nach demselben Autor (Revue de Synthse Historique XLI app. 6 f.) stammte Hesiods Vater aus Kleinasien und sind die Quellen seiner Idee eines Goldenen Zeitalters sowie seine Idee vom Metall in den Menschen orientalischen Ursprungs (vgl. dazu Eislers postume Studie ber
412 Anmerkungen zu Kapitel 2

Platon, Oxford 950). Eisler zeigt auch (Jesus Basileus II 68 f.), da der Gedanke der Welt als einer Gesamtheit von Dingen (Kosmos) auf die politische Theorie der Babylonier zurckgeht. Die Auassung der Welt als ein Gebude (als ein Haus oder ein Zelt) wird in seinem Weltenmantel besprochen.* 46 : 2. Vgl. Diels, Die Vorsokratiker, 5. Ausgabe 934 (abgekrzt als D), Fragment 24; vgl. auch D II 423,2 f. (Die eingeschobene Negation erscheint mir methodologisch ebenso unhaltbar wie der Versuch gewisser Autoren, das Fragment berhaupt fallenzulassen; abgesehen davon folge ich Rstows Emendation.) Bezglich der beiden anderen Zitate dieses Absatzes vgl. Platon, Kratylos 40 d, 402 a/b. Meine Interpretation der Lehren Heraklits weicht vielleicht von der gegenwrtig allgemein angenommenen Interpretation, z. B. von der Burnets ab. Leser, die Zweifel haben, ob sie berhaupt vertretbar ist, mchte ich auf meine Anmerkungen hinweisen, insbesondere auf die gegenwrtige Anmerkung und auf Anm. 6, 7 und , wo ich mich mit der Naturphilosophie Heraklits befasse, whrend ich mich im Text auf eine Darstellung der historizistischen Aspekte der Lehren Heraklits sowie auf seine Sozialphilosophie beschrnke. Ich verweise auerdem auf das 4., das 9. und insbesondere auf das 0. Kapitel, in dessen Licht die Philosophie des Heraklit, so, wie ich sie sehe, als eine einigermaen charakteristische Reaktion auf die soziale Revolution erscheint, deren Zeuge Heraklit
Anmerkungen zu Kapitel 2 413

war. Vgl. auch Anm. 39 und 59 zum 0. Kapitel (und Text) sowie die allgemeine Kritik der Methoden von Burnet und Taylor in Anm. 56 zu jenem Kapitel. Wie ich im Text angedeutet habe, bin ich (wie auch andere Autoren, z. B. Zeller und Grote) der Ansicht, da die Lehre von der in Flu bendlichen Welt die zentrale Lehre Heraklits ist. Im Gegensatz dazu behauptet Burnet (Early GreekPhilosophy 2, Au. 63), sie sei kaum der zentrale Punkt im System Heraklits. Aber eine nhere Betrachtung seiner Argumente (58 f.) konnte mich nicht im mindesten davon berzeugen, da die grundlegende Entdeckung Heraklits in der abstrakten metaphysischen Lehre besteht, die Weisheit sei nicht das Wissen von vielen Dingen, sondern das Gewahr werden der grundstzlichen Einheit widerstreitender Gegenstze, wie Burnet es ausdrckt. Die Einheit der Gegenstze ist sicher ein wichtiger Teil der Lehren Heraklits; sie lt sich aber aus der konkreteren und intuitiv eher einsichtigen Lehre des allgemeinen Flieens herleiten (soweit sich solche Dinge berhaupt herleiten lassen; vgl. Anm. zu diesem Kapitel und Text); dasselbe gilt von Heraklits Lehre vom Feuer (vgl. Anm. 7 dieses Kapitels). Autoren, die wie Burnet behaupten, da die Lehre vom allgemeinen Flu nicht neu war und da die frhen Ionier sie vorweggenommen hatten, sind unbewute Zeugen der Originalitt Heraklits; denn sie knnen auch jetzt, 2 400 Jahre nach Heraklits Tod, noch immer nicht verstehen, worauf es diesem Philosophen eigentlich ankam. Sie
414 Anmerkungen zu Kapitel 2

sehen nicht den Unterschied zwischen einer Strmung oder einer kreisenden Bewegung innerhalb eines Gefes, eines Gebudes oder eines kosmischen Rahmens, d. h. innerhalb einer Gesamtheit von Dingen (ein Teil der Lehre Heraklits lt sich wohl auf diese Weise verstehen; das gilt aber nur fr seine weniger originellen uerungen; siehe weiter unten) und einer universellen Bewegung, Vernderung, einem universellen Flu, der alles, sogar das Gef, den Rahmen selbst, umfat (vgl.Lukian in DI 90) und den Heraklit beschreibt, wenn er die Existenz auch nur eines festen Dinges leugnet. (In gewisser Hinsicht hatte Anaximander mit der Ausung des Rahmens begonnen, aber zur Lehre vom universellen Flu war der Weg noch weit. Vgl. auch Anm. 5 [4] zu Kap. 3.) Die Lehre von der im Flu bendlichen Welt zwingt Heraklit, die scheinbare Stabilitt der Dinge dieser Welt (und andere typische Regelmigkeiten) zu erklren. Dieser Versuch fhrt ihn dazu, gewisse weitere Theorien zu konzipieren, so insbesondere seine Lehre vom Feuer (vgl. Anm. 7 dieses Kapitels) und seine Lehre von den Naturgesetzen (Anm. 6.) In diesen Erklrungen der scheinbaren Stabilitt der Welt zieht er oft die Theorien seiner Vorgnger heran; zum Beispiel ihre Lehre von der Verdnnung und Verdichtung und ihre Lehre vom Kreislauf des Himmels wird zu einer allgemeinen Theorie der Zirkulation der Materie und periodischer Ablufe weiter fortentwickelt. Aber dieser Teil seiner Lehren spielt meiner Ansicht nach keine zentrale Rolle,
Anmerkungen zu Kapitel 2 415

sondern ist der Lehre vom Flu untergeordnet. Er ist gewissermaen apologetisch, denn er versucht die neue und revolutionre Idee vom universellen Flu mit der allgemeinen Erfahrung wie auch mit den Lehren seiner Vorgnger in Einklang zu bringen. Ich halte Heraklit daher nicht fr einen mechanischen Materialisten, der so etwas wie die Erhaltung und den Kreislauf der Materie und der Energie lehrte; diese Mglichkeit scheint mir durch seine magische Einstellung zu den Naturgesetzen ausgeschlossen zu sein sowie durch seine Theorie von der Einheit der Gegenstze, die seinen Mystizismus noch unterstreicht. Meine Behauptung, da der allgemeine Flu die zentrale Lehre Heraklits darstellt, wird, wie ich glaube, von Platon besttigt. Die berwltigende Mehrzahl seiner ausdrcklichen Hinweise auf Heraklit (Kratylos 40 d, 402 a/ b, 4, 437 ., 440; Theait. 53 c/d, 60d, 77 c, I79 d f., 82 a ., 83a ., vgl. auch Gastmahl 207 d, Phil. 43 a; vgl. auch Aristoteles, Metaphysik 987 a, 33, 00a 3, 078 b 3) zeugen von dem auerordentlichen Eindruck, den diese seine zentrale Lehre auf die Denker jener Epoche machte. Diese geraden und klaren Zeugnisse sind viel strker als eine zugestandenermaen interessante Stelle (Soph. 242 d f., die bereits von berweg und Zeller in Zusammenhang mit Heraklit zitiert wurde), die den Namen Heraklits nicht erwhnt und auf die Burnet seine Interpretation zu grnden sucht. (Sein zweiter Zeuge, Philon Judaeus, kommt im Vergleich mit der Zeugenschaft Platons und
416 Anmerkungen zu Kapitel 2

Aristoteles kaum in Betracht.) Aber sogar diese Stelle aus dem Sophisten stimmt mit unserer Interpretation vllig berein. (Zu Burnets einigermaen schwankendem Urteil ber den Wert dieser Stelle vgl. Kap. 0, Anm. 56 [7].) Die Entdeckung Heraklits, da die Welt nicht die Gesamtheit der Dinge, sondern der Ereignisse oder Vorgnge (oder Tatsachen) ist, ist keineswegs trivial; man kann dies vielleicht daraus ermessen, da Wittgenstein es jngst fr notwendig befunden hat, diesen Umstand wieder zu betonen: Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge (vgl. Tractatus Logico-Philosophicus, 92/22, Satz ,; Hervorhebungen von mir). Ich fasse zusammen. Ich halte die Lehre von der in Flu bendlichen Welt fr fundamental, und ich glaube, da sie aus Heraklits sozialen Erfahrungen hervorwuchs. Alle anderen von Heraklit vertretenen Theorien sind ihr in gewisser Hinsicht untergeordnet. Die Lehre vom Feuer (vgl. Aristoteles, Metaphysik 984 a 7, 067 a 2; auch 989 a 2, 996 a 9, 00 a 5; Physik 205 a 3) ist meiner Ansicht nach seine wichtigste Lehre auf dem Gebiet der Naturphilosophie; sie stellt einen Versuch dar, die Lehre vom Flu mit unserer Erfahrung stabiler Dinge vereinbar zu machen, sie stellt ein Bindeglied mit den lteren Kreislauftheorien dar, und sie fhrt zu einer Theorie der Gesetze. Die Lehre von der Einheit der Gegenstze halte ich dem gegenber fr weniger zentral und fr abstrakter; sie ist ein Vorlufer einer Art Logik oder Methodologie (und inspirierte als solche Aristoteles, seinen Satz vom WiderAnmerkungen zu Kapitel 2 417

spruch zu formulieren), und sie steht in Verbindung mit seinem Mystizismus. 47 : 3. W. Nestle, Die Vorsokratiker, 905, 355. 48 : 4. Von den acht in diesem Absatz zitierten Stellen stammt [] und [2] aus dem Fragment D 2. Die brigen aus den Fragmenten: [3]: D 29 (vgl. Platons Staat 586 a/b) [4]: D 04 [5]: D 39 (vgl. D I 65, Bias, ) [6]: D 7 [7]: D 33 [8]: D 44. +Bei der bersetzung aus dem Englischen wurde Nestle a.a.O. soweit als mglich verglichen.+ 49 : 5. Die drei Stellen dieses Absatzes stammen aus den folgenden Fragmenten: [] und [2]: vgl. D 9; in bezug auf [] vgl. auch Anm. 2 zu diesem Kapitel. [3]: D74. 5 : 6. Die beiden Stellen sind D 3 und D 90. 5 : 7. ber Heraklits Mae (oder Gesetze, oder Perioden) vgl. D 30, 3, 94 (D 3 verbindet Ma und Gesetz [logos]). Die fnf weiter unten in diesem Absatz zitierten Stellen entstammen den folgenden Fragmenten: []: DI 4,0 (vgl. Diog. Laert. IX 7). [2]: D 94 (vgl. Anm. 2, Kap. 5) [3]: D 00 [4]: D 30 [5] D 66. [] Die Idee des Gesetzes entspricht der Idee der Vernderung oder des Flusses, da nur Gesetze oder Regelmigkei418 Anmerkungen zu Kapitel 2

ten innerhalb des Flusses die scheinbare Stabilitt der Welt zu erklren vermgen. Die auallendsten Regelmigkeiten innerhalb der wechselnden Welt, die dem Menschen bekannt sind, sind die natrlichen Perioden: der Tag, der Mondmonat, das Jahr (die Jahreszeiten). Heraklits Lehre von den Gesetzen ist meiner Ansicht nach ein logisches Zwischending zwischen der vergleichsweise neuen Ansicht von kausalen Gesetzen (die spter von Leukippos und insbesondere von Demokrit vertreten wurde) und Anaximanders dunklen Schicksalsmchten. Heraklits Gesetze sind noch immer magisch, d. h., er hat noch nicht zwischen abstrakten, kausalen Regelmigkeiten und solchen Gesetzen unterschieden, die, wie die Tabus, durch Sanktionen durchgesetzt werden. (In bezug auf diesen Punkt vgl. Anm. 2 zu Kap. 5.) Es scheint, da diese Lehre vom Schicksal mit der Theorie eines Groen Jahres oder eines Groen Kreislaufs von 8 000 oder 36 000 gewhnlichen Jahren verbunden war. (Vgl.z. B. J. Adams Ausgabe von Platons Staat, The Republic of Plato II 303.) Es wre meiner Ansicht nach sicher unzutreend, wenn wir aus dieser Lehre schlieen wollten, da Heraklit nicht wirklich an einen allgemeinen Flu, eine allgemeine Bewegung glaubte, sondern nur an verschiedene Zirkulationen, die stndig die Stabilitt des Rahmens wiederherstellten; ich halte es aber fr mglich, da es ihm schwierig war, sich ein Gesetz der Vernderung oder sogar ein Schicksalsgesetz vorzustellen, das nicht in einem gewissen Ausma periodisch war (vgl. auch Anm. 6 zu Kap. 3).
Anmerkungen zu Kapitel 2 419

[2] Das Feuer spielt in Heraklits Naturphilosophie eine zentrale Rolle. (Es ist mglich, da sich hier die Spuren persischen Einusses bemerkbar machen.) Die Flamme ist das oenkundige Symbol eines Flusses oder eines Prozesses, der in vieler Hinsicht als ein Ding erscheint. Sie erklrt damit die Erfahrung stabiler Dinge und bringt diese Erfahrung mit der Lehre vom Flu in Einklang. Diese Idee lt sich leicht auf lebende Krper ausdehnen, die den Flammen gleichen, aber langsamer brennen. Heraklit lehrte, da sich alle Dinge in Flu benden und da alle dem Feuer gleichen; nur hat ihr Flu verschiedene Mae oder Bewegungsgesetze. Die Schale oder das Gef, in dem das Feuer brennt, verndert sich viel langsamer als das Feuer, sie ist aber nichtsdestoweniger der Vernderung unterworfen. Sie bewegt sich, sie hat ihr Gesetz und ihr Schicksal: sie wird am Ende vom Feuer verbrannt und aufgezehrt, auch wenn die Erfllung ihres Geschicks lngere Zeit in Anspruch nimmt. Daher wird das Feuer, wenn es hereinbricht, alles richten und ergreifen (D 66). Das Feuer ist somit gleichzeitig das Symbol und die Erklrung der scheinbaren Ruhe der Dinge, trotz der Tatsache, da ihr Zustand in Wirklichkeit ein Zustand des Flieens ist. Es ist aber auch das Symbol der Verwandlung der Materie aus einem Stadium (Brennsto) in ein anderes (Rauch). Es ist daher das Bindeglied zwischen Heraklits intuitiver Weltanschauung auf der einen Seite und den Verdnnungs- und Verdichtungstheorien
420 Anmerkungen zu Kapitel 2

seiner Vorgnger auf der anderen. Gleichzeitig ist aber das Auammen und das Verlschen des Feuers, das in bereinstimmung mit dem Ma des vorhandenen Brennstoes geschieht, ein Beispiel eines Gesetzes. Verbinden wir dies mit einer Art von Periodizitt, so erhalten wir eine Erklrung der Regelmigkeiten natrlicher Perioden, wie der Periode des Tages oder des Jahres. (Dieser Gedankengang spricht gegen Burnets Zweifel an den traditionellen Berichten, nach denen Heraklit an die periodische Wiederkehr eines Groen Feuers glaubte: dieses periodische Groe Feuer war aller Wahrscheinlichkeit nach mit seinem Groen Jahr verbunden; vgl.Aristoteles, Physik 205 a3 und D 66.) 52 : 8. Die dreizehn in diesem Absatz zitierten Stellen stammen aus den folgenden Fragmenten: []: D 23. [2]: D 93. [3]: D 40. [4]: D 73. [5]: D 89. Zu [4] und [5] vgl. Platons Staat, 476 c f. und 520 c. [6]: D 9. [7]: D 34. [8]: D 4. [9]: D 2. [0]: D 3. []: D 0. [2]: D 32. [3]: D 64. 54 : 9. Folgerichtiger als die meisten historizistischen Ethiker ist Heraklit ein Positivist in moralischer und juridischer Hinsicht (zum Problem des ethischen Positivismus und des Rechtspositivismus vgl. 5. Kapitel): Den Gttern ist alles schn und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angenommen (D 02; vgl. Stelle [8] in Anm. ). Da Heraklit der erste Rechtspositivist war, wird von Platon bezeugt
Anmerkungen zu Kapitel 2 421

(Theait. 77 c/d). ber den moralischen und juridischen Positivismus im allgemeinen vgl. Kap. 5 und Kap. 22. +Daneben hebt er die Dynamik des positiven Rechts hervor, den Umstand, da Recht entsteht und vergeht. Nach Platon (Kratylos 43 ag) setzt er die Gerechtigkeit dem Feuer gleich. Damit wird auch die Rechtsordnung ein Teil der einzigen, alle Wesen gleichmig umfassenden Ordnung. Verdro-Droberg (Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, Wien 946, 3 .) verweist darauf, da diese Auassung gegenber Hesiod einen Rckschritt darstellt. Er macht (a.a.O. 7) geltend, da Hesiod als erster zwischen der Welt des naturgesetzlichen Seins und der des sittlich-rechtlichen Sollens unterschieden habe, und er zitiert zur Besttigung die folgende Stelle (Werke und Tage, Vers 274 .): Perses, o mchtest du dies im Herzen bewahren, Hre immer aufs Recht und niemals be Gewalttat, Denn diesen Nomos erteilte Kronion den Menschen. Bestien zwar und Fische und gelspannende Vgel Mgen einander verschlingen, denn sie ermangeln des Rechts. Aber den Menschen verlieh er das Recht, Das hchste der Gter. Heraklit aber kennt kein selbstndiges Reich der Dike, sondern das Recht selbst ist Streit, wie er mit einer deutlichen Spitze gegen Hesiod betont (Verdro422 Anmerkungen zu Kapitel 2

Droberg a.a.O. 3). (Vgl. aber Anm. 3, Kap.5.) Fragment 4 (nhren sich doch alle menschlichen Nomoi von dem einen gttlichen) wird allgemein als zur Auassung Heraklits als eines Rechtspositivisten im Gegensatz stehend angenommen. Verdro a.a.O. verweist aber (a) darauf, da an der fraglichen Stelle das Wort ernhren erscheint, und (b) darauf, da eine solche Interpretation nicht den Zusammenhang beachtet, an dem der Satz auftritt. Beachtet man diesen, so ergibt sich, da nicht von einem gttlichen normativen Gesetz die Rede ist (zu dieser Bezeichnung vgl. Kap. 5), das die Geltung der menschlichen Nomoi begrndet, sondern von einem Nomos des Kampfes, der den menschlichen Nomoi die Kraft gibt, sich durchzusetzen. So ist zwar nicht der Inhalt des Rechts kosmisch verankert, wohl aber sein Wesen, da es als Streit dem allgemeinen Gesetze des Kampfes unterworfen ist (a.a.O. 32). Die Ansicht, da Recht entsteht und vergeht, fhrt Heraklit zum Relativismus. Zur Kritik dieser Verbindung vgl. Kap. 5.+ 54 : 0. Die zwei in diesem Absatz zitierten Stellen stammen aus: []: D 53. [2]: D 80. 55 : . Die neun in diesem Absatz zitierten Stellen sind: []: D 26. [2]: D . [3]: D 88. [4]: D 5. [5]: D 8. [6]: D 60. [7]: D 59. [8]: D 02 (vgl. Anm. 9). [9]: D 58. (Vgl. Aristoteles, Physik 85 b20.) Flu, Wechsel oder Vernderung mu der bergang
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von einem Zustand oder einer Eigenschaft oder einer Lage in einen anderen Zustand (Eigenschaft oder Lage) sein. Insofern als der Flu etwas voraussetzt, das sich verndert, mu dieses Etwas identisch dasselbe bleiben, wenn es auch einen entgegengesetzten Zustand, eine entgegengesetzte Eigenschaft oder eine entgegengesetzte Lage annimmt. Dies verbindet die Lehre vom Flu mit der Lehre von der Einheit der Gegenstze (vgl. Aristoteles, Metaphysik 005 b 25, 024 a 24 und 34, 062 a 32, 063 a 25) sowie auch mit der Lehre von der Einheit aller Dinge: alle Dinge sind nur verschiedene Phasen oder Erscheinungsformen ein und desselben wechselnden Etwas (des Feuers). Ob der Weg nach oben und der Weg nach unten ursprnglich als gewhnliche Wege vorzustellen waren, die einen Berg hinan- und dann wieder hinabfhren (oder etwa: die nach oben fhren vom Standpunkt dessen, der sich unten bendet, und hinunter vom Standpunkt dessen, der sich oben bendet), und ob diese Metapher erst spter auf die Kreisprozesse Anwendung fand, auf den Weg, der von der Erde aus ber das Wasser (vielleicht den ssigen Brennsto in einer Schale?) zum Feuer und wieder zurck vom Feuer durch das Wasser (Regen?) zur Erde fhrt; oder ob Heraklits Weg nach oben und nach unten von ihm von Anfang an auf diesen Kreisproze der Materie angewendet wurde, das lt sich natrlich nicht entscheiden. (Ich halte aber angesichts der groen Zahl hnlicher Ideen in den Fragmenten Heraklits die erste
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Alternative fr die wahrscheinlichere; vgl. dazu den Text dieses Kapitels.) 56 : 2. Die vier zitierten Stellen sind: []: D 24. [2]: D 25 (eine bessere bersetzung, die Heraklits Wortspiel mehr oder weniger beibehlt, wrde lauten: Grrer Tod gewinnt grres Los; vgl. Platons Gesetze 903 d/e; man stelle dies dem Staat 67 d/e gegenber). [3]: D 29 (ein Teil der Fortsetzung ist weiter oben zitiert; vgl. Stelle [3] in Anm.4). [4]: D 49. 57 : 3. Es ist sehr wahrscheinlich (vgl. Meyers Geschichte des Altertums, insbesondere Bd. I), da so charakteristische Lehren wie die Lehre vom auserwhlten Volk in diesem Zeitraum entstanden sind und da sie auer der jdischen auch verschiedene andere Erlsungsreligionen hervorgebracht haben. 57 : 4. Comte, der in Frankreich eine historizistische Philosophie entwickelte, die sich von der preuischen Version Hegels nicht sehr unterscheidet, versuchte wie dieser der revolutionren Flut entgegenzutreten. (Vgl. F. A. v. Hayek, The Counter-Revolution of Science, Economica N. S. VIII 94 9 ., 28 .) Bezglich Lassalles Interesse an Heraklit siehe Anm. 4 zu Kap. . Der Parallelismus zwischen der Geschichte der historizistischen Ideen und der Geschichte der Entwicklungsideen ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Die letzteren gehen auf
Anmerkungen zu Kapitel 2 425

den Halbherakliteianer Empedokles zurck (Platons Fassung wird in Anm. zu Kap. beschrieben); und sie wurden in England, wie auch in Frankreich, zur Zeit der Franzsischen Revolution wiederbelebt.

426

Anmerkungen zu Kapitel 2

Zum 3. Kapitel: PLATONS IDEENLEHRE 58 : . Zu dieser Erklrung des Ausdrucks Oligarchie vgl. auch das Ende der Anm. 44 und 57, Kap. 8. 58 : 2. Vgl. insbesondere Anm. 48, Kap. 0. 59 : 3. Vgl. Kap. 7, Ende, insbesondere Anm. 25, sowie Kap. 0, insbesondere Anm. 69. 59 : 4. Vgl. Diogenes Laertius III . Zu Platons Familienverbindungen, insbesondere zur Sage der Abstammung der Familie seines Vaters von Kodros und sogar vom Gotte Poseidon selbst, vgl. Grote, Plato and other Companions of Socrates I 875 4. (Vgl. jedoch die hnliche Bemerkung ber die Familie des Kritias, d. h. die Familie der Mutter Platons in E.Meyer, Geschichte des Altertums V 922 66.) Von Kodros sagt Platon im Gastmahl (204.6): Nehmt ihr an, da Alkestis, oder Achilles, oder da euer eigener Kodros den Tod gesucht htte um das Knigtum fr seine Kinder zu retten htten sie nicht alle fr ihre Tapferkeit den unsterblichen Nachruhm erwartet, den wir ihnen ja auch gewhrt haben? Platon rhmt die Familie des Kritias (d. h. seiner Mutter) im frhen Charmides (57 e .) und im spten Timaios (20 e), wo die Familie auf den
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athenischen Archonten Dropides, den Freund Solons, zurckverfolgt wird. 59 : 5. Die zwei autobiographischen Zitate, die in diesem Absatz folgen, sind dem siebenten Brief (325) entnommen. Platons Autorenschaft der Briefe ist von einigen bedeutenden Gelehrten bezweifelt worden. (Dies vielleicht ohne gengende Grundlage; ich halte Fields Behandlung dieses Problems fr sehr berzeugend; vgl. Anm. 59, Kap. 0; andrerseits erscheint mir sogar der siebente Brief einigermaen verdchtig er wiederholt zu viel Dinge, die wir bereits aus der Apologie kennen, und sagt zu viel, was die Situation erfordert und trivial ist.) Ich habe mich daher bemht, meine Interpretation des Platonismus hauptschlich auf die wichtigsten der Dialoge zu grnden; sie steht aber auch in guter bereinstimmung mit den Briefen. Zur Bequemlichkeit des Lesers folgt hier eine Liste der im Text hug erwhnten platonischen Dialoge in ihrer wahrscheinlich historischen Reihenfolge (vgl. Anm. 56 [8], Kap. 0): Kriton/Apologie/Euthyphron; Protagoras/Menon/Gorgias; Kratylos/ Menexenos/Phaidon; Staat; Parmenides/Theaitetos; Sophistes/Staatsmann (oder Politiker)/Philebos; Timaios/Kritias; Gesetze. 6 : 6. [] Platon hat nirgends klar behauptet, da historische Entwicklungen zyklischen Charakter haben. Er spielt jedoch in mindestens vier Dialogen auf diese Annahme an, nmlich im Phaidon, im Staat, im Staatsmann und
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in den Gesetzen. An allen diesen Stellen spielt Platons Theorie mglicherweise auf das Groe Jahr Heraklits an (vgl. Anm. 6, Kap. 2). Es mag aber sein, da sich die Anspielung nicht direkt auf Heraklit bezieht, sondern auf Empedokles, dessen Lehre (vgl. auch Aristot., Metaphys. 000 a 25 f.) Platon blo fr eine mildere Fassung der Herakliteischen Theorie der Einheit allen Flusses hielt. Er sagt dies in einer berhmten Stelle des Sophisten (242 e f.). Nach dieser Stelle und nach Aristoteles (De Gen. Corr. B 6 334 a 6) gibt es einen historischen Kreislauf, der eine Periode der Herrschaft der Liebe und eine Periode der Herrschaft des Herakliteischen Streites umfat, und Aristoteles teilt uns mit, da die gegenwrtige Periode nach Empedokles nunmehr ebenso eine Periode der Herrschaft des Streites sei, wie sie frher eine Periode der Herrschaft der Liebe war. Diese Behauptung, da der Flu unserer eigenen kosmischen Periode eine Art Kampf und damit schlecht ist, stimmt genau sowohl mit den Theorien als auch den Erfahrungen Platons ber ein. Die Lnge des Groen Jahres ist wahrscheinlich identisch mit dem Zeitraum, nach dem alle himmlischen Krper wieder in dieselbe relative Lage zurckkehren, in der sie sich am Ausgangspunkt der Periode befanden. (Damit wre diese Periode das kleinste gemeinschaftliche Vielfache der Umlaufzeiten der sieben Planeten.) [2] Die unter [] erwhnte Stelle des Phaidon spielt zuerst auf Heraklits Theorie der Vernderung an, nach der ein Zustand zu einem entgegengesetzten Zustand
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fhrt und ein Gegensatz in den anderen bergeht: Was geringer wird, mu grer gewesen sein (70 e/7 a). Hierauf wird ein zyklisches Entwicklungsgesetz angedeutet: Gibt es nicht zwei Prozesse, die fr immer fortdauern und die von einem Extrem zu seinem Gegensatz fhren und wieder zurck ? (a.a.O.). Und ein wenig spter (72 a/b) lautet das Argument so: Wenn die Bewegung nur in einer Geraden fortschritte, und wenn es in der Natur keinen Ausgleich, also keinen Kreislauf gbe dann mten am Ende alle Dinge dieselben Eigenschaften annehmen und es fnde keine weitere Entwicklung statt. Es scheint, da die allgemeine Tendenz des Phaidon optimistischer ist als die der spteren Dialoge (und auch mehr Glauben an den Menschen und an die menschliche Vernunft zeigt); jedoch wird in diesem Dialog nicht direkt auf die menschlich-historische Entwicklung Bezug genommen. [3] Das geschieht aber im Staat; dieser Dialog enthlt (im VIII. und IX. Buch) eine ausfhrliche Beschreibung des historischen Verfalls; wir werden sie im 4. Kapitel besprechen. Diese Beschreibung wird durch Platons Mythos von der Zahl und vom Sndenfall des Menschen eingeleitet, der im 5. und im 8. Kapitel ausfhrlicher behandelt werden wird. J. Adam nennt in seiner Ausgabe des Staates, The Republic of Plato (902, 92) diesen Mythos mit Recht den Rahmen, in den Platons ,Geschichtsphilosophie gefgt ist (II 20). Der Mythos enthlt keine ausdrckliche Behauptung ber den zyklischen Charakter
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der Geschichte, sondern nur einige ziemlich mysterise Winke, die sich nach Aristoteles (und Adams) interessanter, aber unsicherer Interpretation mglicherweise als Anspielungen auf das Groe Jahr Heraklits, d. h, auf die zyklische Entwicklung, deuten lassen. (Vgl. Anm. 6, Kap. 2, und Adam a.a.O. II 303; die dort ber Empedokles gemachte Bemerkung [303 f.] bedarf der Korrektur; vgl. [] dieser Anm.) [4] Weiter ist der Mythos des Staatsmannes (268 e274 c) zu erwhnen. Nach diesem Mythos steuert Gott whrend eines halben Kreislaufs der groen Weltperiode die Welt selbst. Sobald er das Steuer loslt, beginnt die Welt, die sich bisher vorwrts bewegt hat, wieder zurckzurollen. Wir haben also zwei Halbperioden oder Halbkreise innerhalb des vollen Zyklus anzunehmen: eine Bewegung nach vorne, in der Gott fhrt, die gute Periode ohne Krieg und Streit, und eine rckschreitende Bewegung, wenn Gott die Welt verlt, die eine Periode zunehmender Unordnung und zunehmenden Streites ist. Dies ist natrlich die Periode, in der wir leben. Schlielich verderben die Dinge so sehr, da Gott das Steuer wieder in die Hand nimmt und die Bewegung umkehrt, um so die Welt vor der vlligen Zerstrung zu retten. Dieser Mythos zeigt eine groe hnlichkeit mit dem oben unter [] erwhnten Mythos des Empedokles und wahrscheinlich auch mit dem Groen Jahr Heraklits. Adam (a.a.O. II 296 f.) macht auch auf hnlichkeiten mit Hesiods Mythos aufmerksam. *Einer der Punkte, die
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eine Anspielung auf Hesiod enthalten, ist der Hinweis auf ein Goldenes Zeitalter des Kronos; es ist wichtig, zu bemerken, da die Menschen dieses Zeitalters der Erde entsprossen sind. Dies schafft einen Berhrungspunkt mit dem Mythos der Erdgeborenen und der Metalle im Menschen, der im Staat (44 b . und 546 e f.) eine Rolle spielt; vgl.unten Kap. 8. Eine Anspielung auf den Mythos der Erdgeborenen ndet sich auch im Gastmahl (9 b); diese Anspielung bezieht sich mglicherweise auf die populre Behauptung, da die Athener autochthon (erdgeboren) sind wie die Heuschrecken. (Vgl. Kap. 4, Anm. 32 []e sowie Kap. 8, Anm. [2].)* Spter jedoch, im Staatsmann (9 b), wo die sechs unvollkommenen Regierungsformen dem Grad ihrer Unvollkommenheit entsprechend angeordnet werden, ist jede Andeutung einer zyklischen Theorie der Geschichte verschwunden. Vielmehr erscheinen hier die sechs Formen, die entarteten Nachbilder des vollkommenen oder besten Staates (vgl. Staatsmann 293 d/e; 297 c; 303 b) allesamt als Stufen im Verfallsproze; d. h. sobald es zu konkreteren historischen Problemen kommt, beschrnkt sich Platon hier wie auch im Staat auf denjenigen Teil des Kreises, der zum Verfall fhrt. *[5] hnliches gilt fr die Gesetze. Im III. Buch, 676 b/c677 b wird eine Art Kreislauftheorie skizziert, und Platon untersucht auch den Beginn eines der Zyklen mit grerer Ausfhrlichkeit; und in 678 e und 679 c erweist sich dieser Beginn als ein Goldenes Zeitalter, so da der
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darauolgende Bericht wieder nur von Entartung spricht. Es sei erwhnt, da Platons Lehre von der gttlichen Natur der Planeten sowie seine Lehre, da die Gtter das Leben der Menschen beeinussen (und auch sein Glauben an das Wirken kosmischer Krfte in der Geschichte), bei den astrologischen Spekulationen der Neuplatoniker eine wichtige Rolle spielten. Alle drei Theorien kann man in den Gesetzen nden. (Vgl. z. B. 82 bd und 899 b; 899 d905 d; 677 a ., vgl. auch die Epinomis.) Man mu sich vergegenwrtigen, da die Astrologie den Glauben an ein vorherbestimmtes und vorhersagbares Schicksal mit dem Historizismus teilt; weiter teilt sie mit einigen wichtigen Spielarten des Historizismus (insbesondere mit dem Platonismus und dem Marxismus) die Ansicht, da wir trotz der Mglichkeit, die Zukunft vorauszusagen, dennoch einen gewissen Einu auf sie haben knnen, und das insbesondere dann, wenn wir wissen, was geschehen wird.* [6] Abgesehen von diesen drftigen Anspielungen gibt es kaum einen Hinweis, der uns zeigen wrde, da Platon den aufsteigenden oder vorwrtsschreitenden Teil des Kreises ernst genommen hat. Wir kennen aber neben der detaillierten Beschreibung des Staates und neben der in [5] zitierten Darstellung zahlreiche Bemerkungen, die beweisen, da er sehr ernsthaft an die abwrts gerichtete Bewegung, an den Verfall der Geschichte geglaubt haben mu. Hier sind vor allem der Timaios und die Gesetze heranzuziehen.
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[7] Im Timaios (42 b f., 90 e ., und insbesondere 9 d f.; vgl. auch Phaidros 248 d f.) fhrt Platon eine Theorie ein, die man eine Theorie des Ursprungs der Arten durch Degeneration nennen knnte (vgl. Text zu Anm. 4, Kap. 4, sowie Anm. zu Kap. des zweiten Bandes): Mnner entarten, werden zu Weibern und weiterhin zu niederen Tieren. [8] Im dritten Buch der Gesetze (vgl. auch Buch IV 73 a .; siehe jedoch die kurze Anspielung auf einen Kreislauf, die wir oben erwhnt haben) nden wir eine ziemlich ausfhrliche Theorie des historischen Verfalls, die der des Staates zum Groteil analog ist. Vgl. auch das nchste Kapitel, insbesondere Anm. 3, 6, 7, 27, 3, 44. 63 : 7. G. C. Field, Plato and His Contemporaries, 930 9, drckt eine hnliche Meinung von den politischen Zielen Platons aus. Er schreibt: Man kann das Hauptziel der Philosophie Platons in der Wiedererrichtung von Mastben des Denkens und Verhaltens fr eine Zivilisation sehen, die knapp vor ihrer Ausung zu stehen schien. +hnlicher Ansicht ist Verdro-Droberg (Grundlinien 73) ber das, was Platon unter ,Philosophie versteht. Es ist keine Theorie der reinen Erkenntnis, sondern praktische Philosophie. (Hervorhebung im Original.)+ Vgl. auch Kap. 6, Anm. 3 sowie Text. 65 : 8. Im Gegensatz zu John Burnet und A. E. Taylor glaube ich, da die Lehre von den Formen und Ideen, obgleich sie Platon in den Mund seines Hauptsprechers Sokrates
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legt, fast zur Gnze Platon selbst zuzuschreiben ist. Ich folge dabei der Mehrzahl der lteren und einer guten Zahl zeitgenssischer Autoritten (z. B. G. C. Field, F. M. Cornford, A. K. Rogers). Obwohl die platonischen Dialoge die einzige Quelle sind, die uns aus erster Hand von den Lehren des Sokrates berichten, so scheint es mir doch, da man in ihnen zwischen sokratischen, das heit historisch wahren, und Platonischen Zgen des Hauptsprechers Platons, Sokrates, unterscheiden kann. Das sogenannte sokratische Problem wird in den Kapiteln 6, 7, 8 und 0 weiter diskutiert werden; vgl. insbesondere Kap. 0, Anm. 56. 65 : 9. Den Ausdruck Sozialtechnik oder Technik des sozialen Auf- und Umbaus (social engineering) scheint zuerst Roscoe Pound in seiner Introduction to the Philosophy of Law 922 99 verwendet zu haben. Er verwendet ihn im Sinne einer Technik von Einzelproblemen. Eine andere Verwendungsweise ndet sich bei M. Eastman, Marxism: is it Science? 940. Ich las Eastmans Buch erst, nachdem der Text meines eigenen Buches fertiggestellt war; mein Ausdruck Sozialtechnik (Technik des sozialen Aufbaus) wird daher ohne jede Absicht verwendet, auf die Terminologie Eastmans anzuspielen. Soweit ich sehen kann, empehlt Eastman ein Vorgehen, das ich im 9. Kapitel als Technik der Ganzheitsplanung oder utopistische Technik kritisieren werde; vgl. Kap. 9, Anm. . Vgl. auch Kap. 5, Anm. 8 [3]. Der erste Sozialtechniker
Anmerkungen zu Kapitel 3 435

scheint der Stadtplaner Hippodamos von Milet gewesen zu sein. (Vgl. Aristoteles, Politik 276b 22, und R.Eisler, Jesus Basileus II 754.) Der Ausdruck Soziale Technologie wurde mir von Professor C. G. F. Simkin vorgeschlagen. Ich mchte es klarstellen, da ich bei der Diskussion der Methodenfragen den Nachdruck hauptschlich auf das Gewinnen praktischer, institutioneller Erfahrung lege. Vgl. Kap.9, insbesondere Text zu Anm. 8 dieses Kapitels. Eine ausfhrlichere Analyse der mit der Sozialtechnik und der Sozialtechnologie verbundenen Methodenprobleme wird im zweiten Teil meines Aufsatzes Poverty of Historicism in Economica 944/45 gegeben. 68 : 0. Die zitierte Stelle stammt aus meinem Aufsatz Poverty of Historicism, Teil II, vgl. Economica N.S.XI944 22. Die unbeabsichtigten Resultate menschlicher Handlungen werden weiter unten im 4. Kapitel ausfhrlicher diskutiert; vgl. insbesondere Anm. und die dazugehrige Textstelle. 68 : . Ich glaube an einen Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen (oder Forderungen), an einen Dualismus des Seins und des Sollens; mit anderen Worten: Ich glaube an die Unmglichkeit einer Reduktion von Entscheidungen oder Forderungen auf Tatsachen, obgleich ich natrlich zugebe, da sich Entscheidungen als Tatsachen behandeln lassen. ber diesen Punkt wird in
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den Kapiteln 5, 22 und 24 mehr zu sagen sein. 7 : 2. Beweisgrnde zur Untersttzung dieser Deutung der Theorie Platons vom besten Staat werden in den nchsten drei Kapiteln erbracht werden; hier sei nur auf den Staatsmann 293 d/e; 297 c; Gesetze 73 b/c; 739 d/e; Timaios 22 d ., insbesondere 25 e und 26 d verwiesen. 73 : 3. Vergleiche den berhmten Bericht des Aristoteles, den wir auszugsweise an einer spteren Stelle dieses Kapitels zitieren werden (siehe Anm. 25 und Text). 73 : 4. Dies wird in Grotes Plato III, Anm. u. Seite 267 f. gezeigt. 74 : 5. Die Zitate stammen aus dem Timaios 50 c/d und 5 e52 b. Das Gleichnis, in dem die Formen oder Ideen als die Vter, der Raum als die Mutter der sinnlich wahrnehmbaren Dinge beschrieben werden, ist wichtig und hat weitreichende Verbindungen. Vgl. auch Anm. 7 und 9, Kap. 3, Anm. 59, Kap. 0. [] Es hnelt dem Chaosmythos des Hesiod, der ghnenden Leere (Raum; Receptaculum), die der Mutter zuzuordnen ist, und dem Gott Eros, der dem Vater oder den Ideen entspricht. Das Chaos ist der Ursprung, und die Frage der kausalen Erklrung (Chaos = Ursache) verbleibt fr lange Zeit eine Frage nach dem Ursprung (arche) oder der Geburt oder der Zeugung.
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[2] Die Mutter oder der Raum entspricht dem Unbestimmten oder Grenzenlosen des Anaximander und der Pythagoreer. Die Idee, die mnnlich ist, mu daher dem Bestimmten (oder Begrenzten) der Pythagoreer zugeordnet sein. Denn das Bestimmte (der Gegensatz des Unbestimmten), das Mnnliche (der Gegensatz des Weiblichen), das Licht (der Gegensatz der Dunkelheit), das Gute (der Gegensatz des Bsen), alle diese Ideen gehren auf dieselbe Seite der Pythagoreischen Tafel der Gegenstze. (Vgl. Aristoteles, Metaphysik 986 a 22 f.) Wir drfen daher auch erwarten, da wir die Ideen mit dem Licht und dem Guten verbunden nden werden. (Vgl. das Ende von Anm. 32 zu Kap. 8.) [3] Die Ideen sind Grenzsetzungen oder Endpunkte, sie sind im Gegensatz zum unbestimmten Raum bestimmt, und sie prgen sich dem rumlich Ausgedehnten wie Stempel oder, noch besser, wie Guformen auf (das rumlich Ausgedehnte ist nicht nur Raum, sondern zur gleichen Zeit die ungeformte Materie Anaximanders ein Stoff ohne Eigenschaften) und schaffen so die sinnlich wahrnehmbaren Dinge. (Vgl. Anm. 7 [2] zu diesem Kapitel.) *J. D. Mabbott hat freundlicherweise meine Aufmerksamkeit auf den Umstand gelenkt, da nach Platon die Formen oder Ideen sich dem Raum nicht von selbst aufprgen, da sie ihm vielmehr durch den Demiurgen aufgeprgt werden. Spuren der Theorie, da die Formen die Ursachen sowohl des Seins als auch der Erzeugung (oder des Werdens) sind, nden sich bereits
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im Phaidon (00 d), wie Aristoteles in der Metaphysik (080 a 2) andeutet.* [4] Der Raum, d. h. das Receptaculum, beginnt infolge des Zeugungsaktes zu kreien und zu leiden, so da alle Dinge in Bewegung gesetzt werden; sie treten in einen Heraklitischen oder Empedokleischen Flu ein, der wahrhaft universell ist, da er sich sogar auf den Rahmen, d. h. auf den grenzenlosen Raum selbst erstreckt. (Zur spten Heraklitischen Idee eines Receptaculums vgl. Kratylos 42 d.) [5] Diese Beschreibung erinnert auch an den Weg trgerischer Meinung des Parmenides, auf dem die Welt der Erfahrung und des Flusses durch Vermischung zweier Gegenstze, des Lichten (oder des Heien oder des Feuers) und des Dunklen (oder des Kalten oder der Erde) geschaen wird. Die Formen Platons entsprechen klarerweise dem ersten, der Raum oder das Grenzenlose dem letzten der Gegensatzpaare; diese Beziehung wird besonders deutlich, wenn wir in Betracht ziehen, da der reine Raum Platons der unbestimmten Materie nahe verwandt ist. [6] Der Gegensatz zwischen dem Bestimmten und dem Unbestimmten scheint auch, vor allem nach der sehr wichtigen Entdeckung der Irrationalitt der Quadratwurzel aus zwei, dem Gegensatz zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen zu entsprechen. Da aber Parmenides das Rationale mit dem Seienden identiziert, so wrde dies zu einer Deutung des Raums oder des IrAnmerkungen zu Kapitel 3 439

rationalen als eines Nichtseienden fhren. Mit anderen Worten: Die pythagoreische Tafel der Gegenstze mu so erweitert werden, da sie Rationalitt (im Gegensatz zu Irrationalitt) und Sein (im Gegensatz zu Nichtsein) einschliet. (Dies stimmt mit Metaphysik 004 b 27 berein), wo Aristoteles sagt, da sich alle Gegenstze auf Sein und Nichtsein reduzieren lassen; mit 072 a 3, wo die eine Seite der Tafel die des Seins als der Gegenstand des [rationalen] Denkens beschrieben wird; und mit 093 b 3, wo die Potenzen gewisser Zahlen wahrscheinlich im Gegensatz zu ihren Wurzeln dieser Seite hinzugefgt werden. Dies wrde weiterhin die Bemerkung Aristoteles in Metaphysik 986 b 27 erklren; und die [von M. F. Cornford in seinem ausgezeichneten Artikel Parmenides Two Ways, Class. Quart. XVII 933 08, gemachte] Annahme, da Parmenides fr. 8 53/54 von Aristoteles und Theophrast mideutet wurde, wre dann vielleicht berssig; denn wenn wir die Tafel der Gegenstze auf diese Weise ausdehnen, dann wird die sehr berzeugende Interpretation, die Cornford von der entscheidenden Stelle in fr. 8 gibt, mit der Bemerkung Aristoteles vereinbar.) [7] Cornford hat (a.a.O. 00) erklrt, da bei Parmenides drei Wege zu unterscheiden seien, der Weg der Wahrheit, der Weg des Nichtseienden und der Weg des Scheins (oder, wenn ich ihn so nennen darf, der Weg der trgerischen Meinung). Er zeigt (0), da sie drei im Staate diskutierten Bereichen entsprechen, der vllig
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realen und rationalen Welt der Ideen, dem vllig Unwirklichen, und der Welt der Meinung (die sich auf die Wahrnehmung der in Bewegung bendlichen Dinge grndet). Er hat auch gezeigt (02), da Platon im Sophisten seine Position modiziert. Dazu lassen sich vom Standpunkt der im Text zu dieser Funote zitierten Stellen aus dem Timaios die folgenden Bemerkungen machen. [8] Der Hauptunterschied zwischen den Formen oder Ideen des Staates und denen des Timaios besteht darin, da die ersten (und auch Gott; vgl. Staat 380 d) gleichsam versteinert sind, whrend die letzten vergttlicht sind. Im Staat sind die Ideen dem parmenideischen Einen viel hnlicher (vgl. Adams Anmerkungen Staat 38od28, 3) als im Timaios. Diese Entwicklung fhrt zu den Gesetzen, wo die Ideen zum Groteil durch Seelen ersetzt werden. Der entscheidende Unterschied ist der, da die Ideen mehr und mehr zu Ausgangspunkten der Bewegung und zu Ursachen der Zeugung werden oder, wie im Timaios, zu den Vtern der sich bewegenden Dinge. Vielleicht der grte Unterschied besteht zwischen Phaidon 79 e: Die Seele ist dem Wandlungslosen unendlich nher; sogar der Dmmste kann das nicht leugnen (vgl. auch Staat 585 c, 609 b f.) und Gesetze 895 e/896 a (vgl. Phaidros 245 c .): Wie lautet die Denition dessen, das wir ,Seele nennen? Knnen wir uns irgendeine andere Denition vorstellen, als ,Die Bewegung, die sich selbst bewegt? Der bergang zwischen diesen beiden Positionen ist vielleicht der Sophist (der eine Form oder Idee der Bewegung
Anmerkungen zu Kapitel 3 441

selbst einfhrt) und der Timaios, 35 a, der die gttlichen und unvernderlichen Formen und die wechselnden und vergnglichen Krper beschreibt. Dies scheint zu erklren, warum die Bewegung der Seele in den Gesetzen (vgl. 894 d/e) die erste an Ursprung und Macht heit und warum Platon die Seele das lteste und gttlichste aller Dinge nennt, dessen Bewegung eine immerieende Quelle wirklicher Existenz darstellt (966 e). (Nach Platon haben alle lebenden Dinge Seelen; daher ist die Behauptung mglich, da er die Gegenwart eines zumindest teilweise formalen Prinzips in den Dingen zugegeben hat; dieser Standpunkt wre dem Aristotelismus nahe verwandt, insbesondere angesichts des primitiven und weitverbreiteten Glaubens an die Belebtheit aller Dinge.) (Vgl. auch Anm. 7, Kap. 4.) [9] In dieser Entwicklung des platonischen Denkens, einer Entwicklung, die von dem Wunsche inspiriert ist, die in Flu bendliche Welt mit Hilfe der Ideen zu erklren, d. h. den Bruch zwischen der Welt der Vernunft und der Welt der Meinung zumindest verstndlich zu machen (wenn es schon nicht gelingt, ihn zu berbrcken), scheint der Sophist eine entscheidende Rolle zu spielen. Abgesehen davon, da er, wie Cornford erwhnt (a.a.O. 02), fr die Vielheit der Ideen Raum schafft, stellt er sie anllich eines Arguments gegen die frhere Position Platons (248 a .): (a) als aktive Ursachen dar, die z. B. mit der Seele oder mit dem Geist in Wechselwirkung treten knnen; (b) als dennoch unvernderlich, obgleich es nun eine Idee
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der Bewegung gibt, an der alle sich bewegenden Dinge teilhaben und die nicht ruht; (c) als einer wechselseitigen Vermischung fhig. Er fhrt weiterhin das Nichtsein ein, das dann im Timaios mit dem Rume identiziert wird (vgl. Cornford, Platos Theory of Knowledge, 935, Anm. zu 247) und ermglicht es auf diese Weise den Ideen, sich mit ihm zu vermischen, (vgl. auch Philolaus, fr. 2, 3, 5, Diels 5) und die im Flu bendliche Welt in ihrer charakteristischen Zwischenstellung zwischen dem Sein der Ideen und dem Nichtsein des Raums oder der Materie hervorzubringen. [0] Schlielich noch ein Wort zur Verteidigung der von mir im Text aufgestellten Behauptung, da die Ideen sich nicht nur auerhalb des Raumes, sondern auch auerhalb der Zeit benden, obgleich sie im Beginn der Zeit die Welt berhrten; diese Annahme macht es meiner Ansicht nach leichter verstndlich, wie sie wirken knnen, ohne sich zu bewegen; denn die Bewegung und der Flu laufen beide im Raum und in der Zeit ab. Wie Ich glaube nimmt Platon an, da die Zeit einen Anfang besitzt. Dies scheint die am wenigsten knstliche Deutung der folgenden Stelle (Gesetze, 72 c) zu sein: Die Rasse der Menschen wurde mit der Zeit zugleich geboren, wenn wir die zahlreichen Andeutungen in Betracht ziehen aus denen folgt, da Platon glaubte, da der Mensch als eines der ersten Geschpfe geschaen wurde, (In diesem Punkt weiche ich ein wenig von Cornford, Platos Cosmology 937, 45 und 26 . ab.)
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[] Zusammenfassend knnen wir also sagen: Die Ideen sind frher und besser als ihre sich bewegenden und vergnglichen Kopien; und sie sind selbst nicht in Bewegung. (Vgl. auch Anm. 3, Kap. 4.) 75 : 6. Vgl. Anm. 4 zu diesem Kapitel. 75 : 7. [] Die Rolle der Gtter in Timaios ist hnlich der im Text beschriebenen. Ebenso, wie die Ideen die Dinge ausprgen, ebenso formen auch die Gtter die Krper der Menschen. Nur die menschliche Seele wird vom Demiurgen selbst geschaen, der auch die Welt und die Gtter erzeugt. (Eine weitere Andeutung dafr, da die Gtter Patriarchen sind, ndet sich in den Gesetzen 73 c/d.) Die Menschen, die schwachen, degenerierten Kinder der Gtter neigen dann zu weiterer Entartung; vgl. Anm. 6 [7] zu diesem Kapitel und Anm. 374 zu Kapitel 5. [2] An einer interessanten Stelle der Gesetze (68 b; vgl. auch Anm. 32 [ a], Kap. 4) ndet sich eine weitere Anspielung auf den Parallelismus zwischen der Beziehung IdeenDinge und der Beziehung ElternKinder. Hier wird der Ursprung der Gesetze durch den Einu der Tradition erklrt, genauer durch die berlieferung einer starren Ordnung von den Eltern auf die Kinder; und wir nden die folgende Bemerkung: Und sie (die Eltern) prgen unfehlbar ihren Kindern, und den Kindern ihrer Kinder, ihre eigene Geisteshaltung auf.
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75 : 8. Vgl. Anm. 49, insbesondere [3] zu Kap. 8. 76 : 9. Vgl. Timaios 3 a, Der Ausdruck, den ich frei durch das bergeordnete (oder hhere) Ding, das ihr Urbild ist bersetzt habe, wird von Aristoteles hug im Sinn von universeller oder generischer Begri verwendet. Er bedeutet soviel wie Ding, das allgemein ist oder hher oder umfassend; und ich vermute, da er ursprnglich umfassend oder bedeckend bedeutete, in demselben Sinne, in dem man von einer Form sagen knnte, da sie ihren Inhalt umfat oder bedeckt. 76 : 20. Vgl. Staat 597 c. Siehe auch 596 a (und Adams zweite Bemerkung zu 596 a 5): Du wirst dich ja entsinnen, da wir gewohnt sind, Formen oder Ideen anzunehmen und zwar je eine fr jede Gruppe von vielen besonderen Dingen, die wir mit demselben Namen benennen. 77 : 2. Dafr gibt es bei Platon zahlreiche Stellen; ich erwhne nur Phaidon (z. B. 79a), Staat 544 a, Theaitetos (24,9 b/c), Timaios (28 b/c, 29 c/d, 5d f.). Aristoteles erwhnt diesen Punkt z. B. in der Metaphysik 987 a 32; 999 a 25999 b 0; 00 a 65; 078 b 5; vgl. auch Anm. 23 und 25 zu diesem Kapitel. 78 : 22. Parmenides lehrte, wie sich Burnet ausdrckt (Early Greek Philosophy 2. Au., 208), da das Seiende endlich, kugelfrmig, bewegungslos, krperlich sei, d. h.
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da die Welt eine volle Kugel sei, ein Ganzes ohne Teile und da es auer ihr nichts gebe. Ich zitiere Burnet (a) weil seine Beschreibung sehr gut ist und (b) weil sie seine eigene Interpretation (E. G. P., 2082) der Meinung der Sterblichen (oder des Wegs der trgerischen Meinung), wie sich Parmenides ausdrckte, zerstrt. Denn Burnet lehnt dort alle Deutungen des Aristoteles, Theophrast, Simplicius, Gomperz und Meyer als Anachronismen und sogar als oenkundige Anachronismen ab; nun ist die von Burnet abgelehnte Interpretation mit der hier im Text vorgeschlagenen praktisch identisch, nach der Parmenides an eine reale Welt hinter der Welt der Erscheinungen glaubte. Es ist dieser Dualismus das Zugestndnis, da die parmenideische Beschreibung der Welt der Erscheinungen wenigstens einigermaen adquat ist , der von Burnet als honungslos anachronistisch zurckgewiesen wird. Meiner Meinung nach wre nun Parmenides wirklich verrckt gewesen (wie Empedokles andeutet), htte er nur an seine unbewegliche Welt und berhaupt nicht an diese Welt des Wechsels und des Scheins geglaubt. In der Tat gibt es aber eine Andeutung fr einen hnlichen Dualismus schon bei Xenophanes (Fragm. 23 26 verglichen mit Fragment 34 insbesondere aber alle mgen ihre besonderen Meinungen haben) so da wohl kaum von einem Anachronismus die Rede sein kann. Wie ich in Anm. 5 [6][7] angedeutet habe, folge ich Cornford der Deutung des Parmenides. (Vgl. auch Anm. 4 zu Kap. 0.)
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80 : 23. Vgl. Aristoteles, Metaphysik 078 b 23; das nchste Zitat stammt aus Met. 078 b 9. 80 : 24. Dieser wertvolle Vergleich stammt von G. C. Field, Plato and His Contemporaries 2 . 8 : 25. Das vorhergehende Zitat ist aus Aristoteles, Metaphysik 078 b5; das nchste aus Met. 987 b7. 8 : 26. In Aristoteles Analyse (Met. 987a 30b 8) der Argumente, die zur Ideenlehre fhrten (vgl. auch Anm. 56 [6], Kap. 0), knnen wir die folgenden Schritte unterscheiden: (a) Der Flu Heraklits, (b) die Unmglichkeit wahren Wissens von ieenden Dingen, (c) der Einu der ethischen Wesenheiten die Sokrates einfhrt, (d) die Ideen als Gegenstnde wahrhaften Wissens, (e) der Einu der Pythagoreer, (f) die mathematischen Gegenstnde als Zwischengegenstnde. ([e] und [f] sind im Text nicht erwhnt worden; doch habe ich statt dessen auf [g], den Einu des Parmenides, verwiesen.) Der Versuch, die erwhnten Schritte an denjenigen Stellen des platonischen Werkes nachzuweisen, an denen Platon selbst seine Ideenlehre darlegt, ist lohnenswert; ich denke dabei vor allem an den Phaidon, den Staat, den Theaitetos, den Sophistes und den Timaios. [] Im Phaidon nden wir Andeutungen fr alle Punkte bis (e), diesen Punkt eingeschlossen. In 65 a66 a treten besonders die Schritte (d) und (e) hervor und es ist da
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auch eine Anspielung auf (b). In 70 e erscheint Schritt (a), die Theorie des Heraklit, kombiniert mit einem Element des Pythagoreismus, (e). Das fhrt zu 74 a . und zu einer Formulierung von (d). 9900 stellt eine Annherung an (d) durch (c) hindurch dar usw. Fr (a) bis (d) vgl. auch Kratylos 439 c . Im Staat stimmt natrlich vor allem Buch VI nahe mit dem Bericht des Aristoteles berein, (a) Zu Beginn von Buch VI, 485 a/b (vgl. 527 a/b), wird der Flu Heraklits erwhnt (und mit der unvernderlichen Welt der Formen kontrastiert). Platon spricht hier von einer Wirklichkeit, die fr immer besteht und frei von Zeugung und Verfall ist. (Vgl. Anm. 2 [2] und 3, Kap. 4; Anm. 33, Kap. 8, und die dazugehrige Textstelle.) Die Schritte (b), (d) und insbesondere (f) spielen eine ziemlich oenkundige Rolle in dem berhmten Gleichnis von der Linie (Staat 509 c5 e; vgl. Adams Anmerkungen und seinen Anhang I zu Buch VII); auf den ethischen Einu des Sokrates, d. h. auf Schritt (c) wird natrlich berall im Staat angespielt. Dieser Einu spielt im Gleichnis von der Linie eine wichtige Rolle, vor allem aber unmittelbar vorher, d. h. in 508 b ., wo die Rolle des Guten nachdrcklich hervorgehoben wird; siehe insbesondere 508 b/c: Und in bezug auf die Nachkommenschaft des Guten behaupte ich dieses. Was das Gute nach seinem eigenen Bilde erzeugt hat ist, in der intelligiblen Welt, mit der Vernunft (und ihren Gegenstnden) verwandt, ebenso, wie in der sichtbaren Welt die Dinge die von der Sonne erzeugt sind
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dem Auge (und seinen Gegenstnden) verwandt sind. Schritt (e) ist in (f) implizit enthalten, wird aber im VII. Buch, im berhmten Curriculum (vgl. insbesondere 523 a527 c), das zum Groteil auf dem Gleichnis von der Linie aus Buch VI beruht, ausfhrlicher entwickelt. [2] Im Theaitetos nden die Punkte (a) und (b) eingehende Behandlung; (c) wird in 74 b und 75 c erwhnt. Im Sophistes kommen alle Schritte vor, (g) eingeschlossen; einzig (e) und (f) wird ausgelassen; siehe insbesondere 247 a (Schritt [b]); 253 d/e (Schritt [d]). Im Philebos nden sich Andeutungen fr alle Schritte, (f) vielleicht ausgenommen, (a) bis (d) nden sich vor allem in 59 ac. [3] Im Timaios sind Andeutungen vorhanden fr alle von Aristoteles erwhnten Schritte, ausgenommen vielleicht (c); auf diesen Punkt wird in der einfhrenden Wiederholung des Inhalts des Staates und in 29 d nur indirekt verwiesen. Punkt (e) spielt berall eine Rolle, denn Timaios ist ja ein abendlndischer Philosoph und als solcher vom Pythagoreismus stark beeinut. Die anderen Schritte erscheinen zweimal in einer Form, die der Darstellung des Aristoteles fast vllig entspricht; zuerst nur kurz in 28 a29 d und spter, ausfhrlicher, in 48 e55 c. Unmittelbar nach (a) d. h, einer Herakliteischen Beschreibung (49 a .; vgl. Cornford, Platos Cosmology, 78) der in Flu bendlichen Welt wird Argument (b) in der folgenden Form eingefhrt (5 ce): Wenn wir mit Recht zwischen der Vernunft (oder dem wahren Wissen) und der bloen Meinung unterscheiden, dann mssen
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wir die Existenz der unvernderlichen Formen zugeben; hierauf erscheinen diese (in 5 e f.) in bereinstimmung mit Schritt (d). Dann kommt wieder der Herakliteische Flu (als der kreiende Raum), aber diesmal wird er als eine Folge des Zeugungsaktes der Ideen erklrt. Der nchste Schritt ist (f), in 53 c. (Ich nehme an, da die Linien und Ebenen und festen Krper, die Aristoteles in der Metaphysik 992 b 3 erwhnt, sich auf 53 c . beziehen; siehe auch Anm. 9 zum Kap. 6.) [4] Dieser Parallelismus zwischen dem Timaios und dem Bericht des Aristoteles scheint bis jetzt noch nicht gengend beachtet worden zu sein; zumindest wird er von G. C. Field in seiner ausgezeichneten und berzeugenden Analyse des aristotelischen Berichtes (Plato and His Contemporaries, 202 f.) nicht verwendet. Aber er htte den Argumenten Fields (die berzeugend sind und die daher kaum einer Verstrkung bedrfen) gegen die Ansichten Burnets und Taylors die beide die Ideenlehre fr sokratisch halten (vgl. Anm. 56, Kap. 0) eine noch grere Schlagkraft verliehen. Denn im Timaios legt ja Platon seine Theorie nicht in den Mund des Sokrates; dieser Umstand sollte nach Burnets und Taylors eigenen Prinzipien beweisen, da sie nicht die Theorie des Sokrates war. (Diesen Schlu vermeiden sie indem sie behaupten, Timaios sei ein Pythagoreer und er entwickle nicht die Philosophie Platons, sondern seine eigene. Aber Aristoteles kannte Platon persnlich durch etwa 20 Jahre, und er sollte zu einem Urteil in diesen Dingen wohl fhig sein;
450 Anmerkungen zu Kapitel 3

auerdem schrieb er seine Metaphysik zu einer Zeit, zu der die Mitglieder der Akademie seiner Darstellung des Platonismus htten widersprechen knnen.) [5] Burnet schreibt in Greek Philosophy I 55 (vgl. auch p. XLIV seiner Ausgabe des Phaidon, 9): Die Lehre von den Formen in dem Sinn, in dem sie im Phaidon und im Staat vorgetragen wird ist in jenen Dialogen, die wir ausgesprochen platonisch nennen knnen, in den Dialogen also, in denen Sokrates nicht mehr als der Hauptsprecher auftritt, berhaupt nicht anzutreen. In diesem Sinne wird sie in keinem Dialog, der spter ist, als der Parmenides, auch nur erwhnt mit der alleinigen Ausnahme des Timaios (5 c) wo der Sprecher ein Pythagoreer ist. Aber wenn im Timaios dieselbe Form der Ideenlehre vertreten wird, wie im Staat, dann ist diese Form sicher auch im Sophistes vorhanden (253 d/e), sowie im Staatsmann (269 c/d; 286 a; 297 b/c und c/d; 30 a und e; und 303 b), im Philebos (5 a, f., 59 ad) und in den Gesetzen 73 b, 739 d/e, 962 c f., 963 c ., sowie, hchst wichtig, 965 c (vgl. Philebos 6 d), 965 d, 966 a; vgl. auch die nchste Anmerkung. (Burnet glaubt an die Echtheit der Briefe, insbesondere des siebenten; aber hier wird auch, in 324 ., die Ideenlehre vorgetragen; vgl. Anm. 56 [5 d], Kap. 0.) 84 : 27. Vgl. Gesetze 895 de. Ich stimme nicht mit Englands Anmerkung berein (vgl. seine Ausgabe der Gesetze II 47 2), da das Wort Wesen uns nicht helfen wird.
Kapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 451

Zugegeben: Wenn wir unter dem Wesen eines wahrnehmbaren Dinges einen wichtigen wahrnehmbaren Teil verstehen (der vielleicht durch eine Art Destillation gereinigt und hervorgebracht werden knnte), dann ist dieses Wort wirklich irrefhrend. Aber die Worte essentiell, wesentlich werden weithin in einer Weise verwendet, die wirklich sehr gut das trifft, was wir hier ausdrcken wollen: Ein Etwas, das den zuflligen, oder unbedeutenden oder wechselnden empirischen Aspekten des Dinges gegenbersteht, ob wir uns nun vorstellen, da dieses Etwas im Dinge selbst wohnt, oder ob wir es einer metaphysischen Ideenwelt zuweisen. Ich verwende den Ausdruck Essentialismus oder Wesenslehre als Gegensatz von Nominalismus um so den irrefhrenden traditionellen Ausdruck Realismus berall dort, wo er (nicht zum Idealismus, sondern) zum Nominalismus im Gegensatz steht zu vermeiden und zu ersetzen. (Vgl. auch Anm. 26 . zu Kap. , sowie Text und insbesondere Anm. 38 zu Kap. .) Platons Anwendung seiner essentialistischen Methode, z. B., wie im Text erwhnt, auf die Lehre von der Seele ndet man in den Gesetzen 895 e f.; die Stelle wird in Anm. 5 [8] zu diesem Kapitel zitiert. Vgl. Kap. 5, insbesondere Anm. 23. Vgl. auch z. B. Menon 86 d/e, Gastmahl 99 c/d. 85 : 28. Zur Theorie der Kausalerklrung vgl. meine Logik der Forschung, insbesondere Abschnitt 2, 26 . Siehe auch Kap. 25, Anm. 6.
452 Der Hintergrund von Platons Angri

85 : 29. Die hier angedeutete Sprachtheorie ist die der Semantik, so wie sie insbesondere von A. Tarski und im Anschlu an ihn von R. Carnap entwickelt worden ist. Vgl. Carnap, Introduction to Semantics, 942, sowie Kap. 8, Anm. 23. 86 : 30. Die Theorie, da sich zwar die physikalischen Wissenschaften auf einen methodologischen Nominalismus grnden, da aber in den Sozialwissenschaften essentialistische (realistische) Methoden angewendet werden mten, wurde mir im Jahre 925 von K. Polanyi klargemacht; Polanyi hat damals darauf verwiesen, da sich durch Aufgabe dieser Theorie mglicherweise eine Reform der Methodologie der Sozialwissenschaften erreichen liee. Die Theorie wird in gewissem Ausmae von den meisten Soziologen vertreten, insbesondere von J. St. Mill (z. B. in seiner Logik VI, Kap. VI, 2; vgl. auch seine historizistischen Formulierungen, z. B. in VI, Kap. IX, 2, letzter Absatz: Das Grundproblem der Sozialwissenschaft besteht in der Aundung von Gesetzen, nach denen jeder Zustand der Gesellschaftsordnung einen ihm nachfolgenden Zustand hervorbringt ), K. Marx (siehe unten), Max Weber (vgl. z. B. seine Denitionen am Beginn der Methodischen Grundlagen der Soziologie, in Wirtschaft und Gesellschaft I, und in den Gesammelten Aufstzen zur Wissenschaftslehre), G. Simmel, A. Vierkandt, R. M. MacIver und vielen anderen. Der philosophische Ausdruck all dieser Tendenzen ndet sich
Kapitel 10: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde 453

in Husserls Phnomenologie, die eine systematische Wiederbelebung des platonischen und aristotelischen methodologischen Essentialismus ist. (Vgl. auch Kap. , insbesondere Anm. 44.) Im Gegensatz dazu lt sich die nominalistische Haltung in der Soziologie meiner Ansicht nach nur in Form einer technologischen Theorie sozialer Institutionen entwickeln. Es sei mir bei diesem Zusammenhang erlaubt, zu erwhnen, wie ich dazu kam, den Historizismus bis auf Platon und Heraklit zurckzuverfolgen. Bei der Analyse des Historizismus fand ich, da er einen methodologischen Essentialismus voraussetzt, wie ich diese Einstellung nun nenne; d. h. ich sah, da die typischen Argumente zugunsten des Essentialismus mit dem Historizismus eng verbunden sind (vgl. meinen Aufsatz Poverty of Historicism). Das fhrte mich zur Betrachtung der Geschichte des Essentialismus. Ich war betroen von der hnlichkeit zwischen dem Bericht des Aristoteles und der Analyse, die ich ursprnglich ohne jede Bezugnahme auf den Platonismus durchgefhrt hatte. Auf diese Weise wurde ich auf die Rolle aufmerksam, die sowohl Heraklit als auch Platon in dieser Entwicklung spielen. 88 : 3. R. H. S. Crossmans Plato To-day, 937 war (abgesehen von Grotes Plato) das erste Buch, in dem ich eine politische Interpretation Platons fand, die teilweise mit meiner eigenen bereinstimmte. Vgl. auch Anm. 23 zu
454 Der Hintergrund von Platons Angri

Kap. 6 sowie die entsprechenden Textstellen. *Ich habe seither gefunden, da auch andere zeitgenssische Autoren hnliche Ansichten in bezug auf Platon ausgedrckt haben. C. M. Bowra (Ancient Greek Literature, 933) war vielleicht der erste; seine kurze, aber grndliche Kritik Platons als Schriftsteller und Philosoph (8690) scheint mir ebenso fair, wie tiefdringend. Andere Autoren sind W. Fite (The Platonic Legend, 934); B. Farrington (Science and Politics in the Ancient World, 939; ein Buch, mit dem ich jedoch in vielen grundlegenden Punkten nicht bereinstimme); A. D. Winspear (The Genesis of Platos Thought, 940); und H.Kelsen (Platonic Love in The American Imago III 942).*

Anmerkungen zu Kapitel 4

455

Zum 4. Kapitel: RUHE UND VERNDERUNG 90 : . Vgl. Staat 608 e. Siehe auch Anm. 2 [2] zu diesem Kapitel. 90 : 2. In den Gesetzen wird die Seele das lteste und gttlichste aller in Bewegung bendlichen Dinge (966 c) als der Ausgangspunkt aller Bewegung beschrieben (895 b). [] Diese Theorie Platons konfrontiert Aristoteles mit seiner eigenen, nach der das Gute nicht der Ausgangspunkt, sondern vielmehr das Ende, oder das Ziel, der Bewegung ist; denn gut bedeutet etwas, auf das man hinstrebt; das Gute ist daher die nale Ursache der Vernderung. Daher stimmen nach seiner Aussage die Platoniker, d. h. die Philosophen, die an Formen glauben mit Empedokles insofern berein (sie reden auf dieselbe Weise wie Empedokles), als sie nicht reden, als ob sich irgend etwas um ihretwillen (d. h. um der guten Dinge willen) in Bewegung setzte, sondern, als ob alle Bewegung mit ihnen begnne. Und er verweist darauf, da gut fr die Platoniker daher nicht eine Ursache die wesentlich gut ist bezeichnet, d. h. ein Ziel, sondern da es nur akzidentell etwas Gutes ist. Vgl. Metaphysik 988 a 35 und b 8 ., sowie 075 a, 34/35. Diese Kritik liest sich, als htte Aristoteles manchmal Ansichten vertreten, die denen des Speusippos hnelten; und das ist in der Tat die
456 Anmerkungen zu Kapitel 4

Meinung Zellers. Vgl. Anm. zu Kap. von Die falschen Propheten, Die oene Gesellschaft und ihre Feinde II. [2] Wenn wir die Bewegung auf den Verfall oder Untergang zu (von der im Text zu dieser Funote die Rede ist) sowie ihre allgemeine Bedeutung in der Philosophie Platons in Betracht ziehen wollen, dann mssen wir den allgemeinen Gegensatz zwischen der Welt der unwandelbaren Dinge oder der Ideen und der vernderlichen Welt der wahrnehmbaren Dinge im Gedchtnis behalten. Platon drckt diesen Gegensatz oft als einen Gegensatz zwischen der Welt des Unvernderlichen und der Welt der dem Verfall oder dem Vergehen ausgesetzten Dinge aus, oder auch als den Gegensatz zwischen Dingen, die unerzeugt sind auf der einen Seite und Dingen, die erzeugt wurden und zum Untergang verdammt sind auf der anderen Seite. Vgl. z. B. Staat 485 a/b, zitiert in Anm. 26 [] zu Kap. 3 sowie im Text zu Anm. 33, Kap. 8; Staat 508 de; 527 a/b; und Staat 546 a, zit. im Text zu Anm. 37, Kap.5: Alles Erschaene mu untergehen (oder verfallen). Dieses Problem der Zeugung und des Verfalls der Welt der in Bewegung bendlichen Dinge war ein wichtiger Teil der platonischen Schultradition; wir knnen das aus dem Umstand erschlieen, da Aristoteles ihm eine besondere Abhandlung gewidmet hat. Eine andere interessante Andeutung dafr ist die Art und Weise, in der sich Aristoteles in der Einfhrung zu seiner Politik ber diese Dinge uert (diese Einfhrung ist in den Schlustzen der Nikomachischen Ethik, 8
Anmerkungen zu Kapitel 4 457

b/5 enthalten): Wir werden zu entdecken versuchen was die Staaten erhlt oder verdirbt Diese Stelle ist wichtig aus zwei Grnden: erstens enthlt sie eine allgemeine Formulierung des Problems, das Aristoteles fr das Hauptproblem seiner Politik hlt; zweitens ist sie einer wichtigen Stelle in den Gesetzen, nmlich 676 a und 676 b/c (zitiert im Text zu Anm. 6 und 25 dieses Kapitels) berraschend hnlich. (Vgl. auch Anm. , 3 und 24/25 zu diesem Kap.; siehe Anm. 32 zu Kap. 8 und die in Anm. 59, Kap. 8 zitierte Stelle aus den Gesetzen.) 9 : 3. Dieses Zitat stammt aus dem Staatsmann 269 d. (Siehe auch Anm. 23 zu diesem Kapitel.) Zur Hierarchie der Bewegungen vgl. Gesetze, 893 c895 b. Zur Theorie, da vollkommene Dinge (gttliche Naturen; vgl. das nchste Kapitel) durch Vernderung nur weniger vollkommen werden knnen, vgl. insbesondere Staat 380 e38 c; diese Stelle luft in vieler Hinsicht (vgl. die in 380 e verwendeten Beispiele) mit Gesetze 797 d parallel. Die Zitate aus Aristoteles sind Metaphysik 988 b 3 und De Gen. et Corr. 335 b 4. Die letzten vier Zitate in diesem Absatz stammen aus Platons Gesetzen 904 c f., und 797 d. Vgl. auch Bern. 24 zu diesem Kapitel und Text. (Man kann die Bemerkung ber die schlechten Dinge als eine andere Anspielung auf eine Kreisbewegung auassen, wie sie in Anm. 6 zu Kap. 2 diskutiert worden ist d. h. als eine Anspielung auf die Ansicht, da sich der Gang der Entwicklung einmal umkehren msse, da die Dinge
458 Anmerkungen zu Kapitel 4

sich wieder verbessern mssen, wenn einmal die Welt die uerste Tiefe der Verderbnis erreicht hat. *Da meine Interpretation der platonischen Theorie der Vernderung und der Stellen aus den Gesetzen angegrien worden ist, so mchte ich einige weitere Bemerkungen hinzufgen; diese Bemerkungen beziehen sich hauptschlich auf [] Gesetze 904 c, f. und [2] 797 d. [] Die Stelle Gesetze 904 c desto unbedeutender ist der beginnende Niedergang in ihrer Rangordnung lautet buchstblicher bersetzt etwa so: desto unbedeutender ist die beginnende Bewegung hinunter in der Rangordnung (Ebene des Ranges). Aus dem Zusammenhange scheint es mir sicher zu sein, da hinunter in der Rangordnung und nicht was die Rangordnung betrifft gemeint ist (obwohl das klarerweise auch eine mgliche bersetzung ist). Mein Grund ist nicht nur der gesamte dramatische Zusammenhang (mit 904 a beginnend) sondern insbesondere die Reihe kata kata kato, die, an einer Stelle zunehmender Wucht, auf den Sinn zumindestens des zweiten kata abfrben mu. Das Wort, das ich mit Ebene bersetze, kann zugestandenermaen nicht nur Flche, sondern auch Oberche bedeuten; und das Wort, das ich mit Rang bersetze, kann auch Raum bedeuten; doch scheint mir Burys bersetzung je geringer die nderung des Charakters, desto geringer ist auch die Bewegung ber die Oberche im Raume in diesem Zusammenhang kaum sehr sinnvoll zu sein.)
Anmerkungen zu Kapitel 4 459

[2] Die Fortsetzung dieser Stelle (Gesetze 789) ist hchst charakteristisch. Sie fordert, da der Gesetzgeber mit allen ihm zur Verfgung stehenden Mitteln (auf Biegen oder Brechen, wie Bury sehr gut bersetzt) eine Methode ausndig machen mu, die es seinem Staate garantiert, da sich jeder seiner Brger mit ganzer Seele, aus Verehrung und aus Furcht, jedem Versuch widersetzt, die altehrwrdigen Dinge zu ndern. (Platon schliet ausdrcklich auch Dinge ein, die andere Gesetzgeber fr bloe Fragen des Spiels halten wie z. B. nderungen in den Spielen der Kinder.) [3] Allgemein gesprochen nden sich die wichtigsten Beweisgrnde fr meine Interpretation der platonischen Theorie der Vernderung und Bewegung abgesehen von der groen Zahl weniger wichtiger Stellen, auf die in den verschiedenen Anmerkungen zu diesem und dem vorausgehenden Kapitel Bezug genommen wird natrlich in den der historischen Entwicklung und der Entwicklung im allgemeinen gewidmeten Stellen aller Dialoge, in denen diese Probleme diskutiert werden, insbesondere im Staat (der Abstieg und Untergang des Staates aus seinem nahezu vollkommenen oder Goldenen Zeitalter in den Bchern VIII und IX) im Staatsmann (die Theorie des Goldenen Zeitalters und seines Verfalls), in den Gesetzen (die Erzhlung vom primitiven Patriarchat und von der dorischen Eroberung, sowie die Darstellung des Abstiegs und des schlielichen Untergangs des Persischen Reiches) im Timaios (die Darstellung der Entwicklung
460 Anmerkungen zu Kapitel 4

durch Degeneration, die hier zweimal auftritt, und die Geschichte des Goldenen Zeitalters in Athen, die im Kritias fortgesetzt wird). Diesen Zeugnissen ist Platons huge Bezugnahme auf Hesiod hinzuzufgen sowie die Tatsache, da Platons synthetischer Geist nicht weniger geneigt war, als der des Empedokles (dessen Periode des Streits die eine jetzt herrschende ist; vgl. Aristoteles, De Gen. et Corr. 334 a, b) die menschlichen Ereignisse in einen kosmischen Rahmen eingefgt zu sehen (Staatsmann, Timaios). [4] Es sei mir schlielich erlaubt, einige allgemeine psychologische berlegungen anzufhren. Die Furcht vor Neuerungen (sie wird durch zahlreiche Stellen in den Gesetzen z. B. 758 c/d illustriert) und die Idealisierung der Vergangenheit (wir nden sie auch bei Hesiod und in der Geschichte vom verlorenen Paradies) sind huge und in die Augen fallende Phnomene. Die Verbindung des letzten Phnomens, oder sogar beider mit der Idealisierung der eigenen Kindheit der Heimsttte, der Eltern, mit dem sehnschtigen Wunsch, in diese frhen Stadien des Lebens, des eigenen Ursprungs zurckzukehren ist vielleicht gar nicht so gesucht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. An vielen Stellen setzte es Platon als selbstverstndlich voraus, da der ursprngliche Zustand, die ursprngliche Natur ein Zustand der Seligkeit sei. Ich verweise da nur auf die Rede des Aristophanes im Gastmahl; es galt hier als selbstverstndlich, da der Drang und die Leiden leidenschaftlicher Liebe gengend
Anmerkungen zu Kapitel 4 461

erklrt sind, wenn man gezeigt hat, da sich beide aus diesem Heimweh herleiten; in hnlicher Weise scheint es dort selbstverstndlich zu sein, da die Gefhle sexueller Befriedigung vllig erklrt sind, wenn sie als Gefhle eines befriedigten Heimwehs diagnostiziert werden knnen. So sagt Platon ber den Eros (Gastmahl 93 d): Er wird unsere ursprngliche Natur wiederherstellen (vgl. auch 9 d), und er wird uns so heilen, und uns glcklich machen und segnen. Derselbe Gedanke liegt auch zahlreichen anderen Bemerkungen zugrunde, wie etwa der folgenden (Philebos 6 c): Die Menschen der alten Zeiten waren besser, als wir es jetzt sind; und sie lebten in grerer Nhe der Gtter. All das deutet auf die folgende Ansicht: Unser unglcklicher und unseliger Zustand ist das Ergebnis eines (Snden-) Falls: einer Entwicklung, die uns unserer ursprnglichen Natur unserer Idee entfremdet. Diese Entwicklung fhrt von einem Zustand der Tugend und Glckseligkeit zu einem Zustand verlorener Tugend und verlorener Glckseligkeit, sie fhrt in die Richtung zunehmenden Verfalls. Platons Theorie der anamnesis die Lehre, da das Wissen im Wiedererkennen oder im Wiederaunden der Kenntnisse besteht, die wir vor unserer Geburt besaen, verrt dieselbe Idee: In der Vergangenheit wohnt nicht nur das Gute, das Vornehme, das Schne, sondern auch alle Weisheit. Sogar eine alte oder ursprngliche Vernderung und Bewegung ist besser, als eine sekundre Bewegung. Denn in den Gesetzen ist die Seele (895 b)
462 Anmerkungen zu Kapitel 4

der Ausgangspunkt aller Bewegung, das erste, das sich in den ruhenden Dingen erhebt, die lteste und mchtigste Bewegung und (966 c) das lteste und gttlichste aller Dinge. (Vgl. Anm. 5 [8] zu Kap. 3.) Wie wir vorhin angedeutet haben, scheint die Lehre einer historischen und kosmischen Tendenz zum Verfall bei Platon mit einer Lehre eines historischen oder kosmischen Kreislaufs verbunden zu sein. Die Periode des Verfalls ist wahrscheinlich ein Teil dieses Kreislaufs. (Vgl. insbesondere Anm. 6 zu Kap. 3.)* 94 : 4. Vgl. Timaios 9 d92 b/c. Siehe auch Anm. 6 [7] zu Kap. 3 sowie Anm. zu Kap. . 94 : 5. Vgl. den Beginn des zweiten Kapitels sowie Kap. 3, Anm. 6 []. Es ist natrlich kein bloer Zufall, da Platon anllich der Diskussion seiner eigenen Lehre vom historischen Verfall auf die Erzhlung Hesiods von den Metallen hinweist (Staat 546 e/547 a insbesondere Anm. 39 und 40 zu Kap. 5); er deutet damit an, wie gut sich seine Theorie mit der des Hesiod vertrgt und wie gut sie diese erklrt. 97 : 6. Der historische Teil der Gesetze ist im dritten und vierten Buch enthalten (vgl. Anm. 6 [5] und [8] zu Kap. 3). Die beiden Zitate im Text nden sich am Beginn dieses Teiles, d. h. Gesetze 676 a. Bezglich der erwhnten Parallelstellen, siehe Staat 369 b, f. (Die Geburt eines
Anmerkungen zu Kapitel 4 463

Staates ) und 545 d (auf welche Weise kann sich unser Staat ndern ). Es wird oft behauptet, da die Gesetze (und der Staatsmann) der Demokratie gegenber weniger feindlich seien, als der Staat; und es mu in der Tat zugegeben werden, da der Ton Platons hier im allgemeinen weniger feindlich ist (das ist vielleicht auf die wachsende innere Strke der Demokratie zurckzufhren; vgl. Kap. 0 und den Beginn von Kap. des zweiten Bandes). Aber das einzige praktische Zugestndnis, das der Demokratie in den Gesetzen gemacht wird, besteht darin, da politische Beamte von den Mitgliedern der herrschenden (d. h. der Krieger-) Klasse gewhlt werden. Aber da ohnehin alle bedeutenden Vernderungen in den Gesetzen des Staates verboten sind (vgl. z. B. die Zitate in Anm. 3 zu diesem Kap.) so besagt das nicht sehr viel. Die Grundtendenz verbleibt prospartanisch; und diese Tendenz war, wie man aus der Politik des Aristoteles ersehen kann (, 6, 7 [265 b]) auch mit einer sogenannten gemischten Konstitution vertrglich. Tatschlich steht Platon in den Gesetzen dem Geist der Demokratie, d. h. der Freiheit des Individuums, wenn berhaupt, noch feindseliger gegenber, als im Staate; vgl. insbesondere die Textstellen zu Anm. 32 und 33, Kap. 6 (d. i. Gesetze 739 c, ., und 942 , f.), sowie zu Anm. 922, Kap. 8 (d. i. Gesetze 903 c909 a). Siehe auch die nchste Anmerkung. +Auch VerdroDroberg (Grundlinien 94; 05, 07 Anm.) kann der Deutung nicht beipichten, nach der die ,Nomoi
464 Anmerkungen zu Kapitel 4

als ein Abfall von der ,Politeia angesehen werden ein Abfall, natrlich im Sinne Platons selbst. + 98 : 7. Es ist wahrscheinlich, da diese Schwierigkeiten der Erklrung der ersten Vernderung (oder des Sndenfalls der Menschen) zu der in Anm. 5 [8], Kap. 3 erwhnten Umwandlung gefhrt hat; d. h. zur Umwandlung der Ideen in Ursachen und aktive Krfte, die die Fhigkeit besitzen, sich mit einigen anderen Ideen zu vermischen (vgl. Sophist 252 e .), zur Verwerfung der restlichen Ideen (Sophist 223 c), damit aber zur Verwandlung der Ideen in gotthnliche Wesen, im Gegensatz zum Staat, in dem sogar die Gtter (vgl. 380 d) zu unbeweglichen und unbewegten parmenideischen Wesen erstarrt sind. Es scheint, da der Sophist einen bedeutsamen Wendepunkt darstellt (248 e249 c). (Man achte insbesondere darauf, da sich die Idee der Vernderung hier nicht in Ruhe bendet.) Diese Transformation der Ideenlehre scheint zur gleichen Zeit die Schwierigkeit des sogenannten dritten Menschen zu lsen; wenn nmlich die Formen Vter sind, wie im Timaios (formale Ursachen werden von Aristoteles immer mit Vtern verglichen), dann ist kein dritter Mensch notwendig, um ihre hnlichkeit mit ihrer Nachkommenschaft zu erklren. Betrachten wir nun die Beziehung des Staates zum Staatsmann und den Gesetzen, so scheint mir der Versuch Platons, den Ursprung der menschlichen Gesellschaft in den beiden letzten Dialogen weiter und weiter zurckAnmerkungen zu Kapitel 4 465

zuverfolgen in hnlicher Weise mit den Schwierigkeiten verbunden zu sein, die dem Problem der ersten Vernderung innewohnen. Im Staat treen wir auf die klare Behauptung, da es schwierig sei, sich vorzustellen, wie in einem vollkommenen Staat je eine Vernderung eintreten knne (Staat 546 a); im nchsten Kapitel wird gezeigt werden, wie Platon diese Schwierigkeit im Staat zu lsen versuchte; und wir werden diesen Versuch auch diskutieren (vgl. Kap. 5, Text zu Anm. 3740). Im Staatsmann greift Platon zur Theorie einer kosmischen Katastrophe, die zur Umwandlung des (empedokleischen) Halbzyklus der Liebe in die gegenwrtige Periode, in den Halbkreis des Streits fhrt. Diese Idee scheint er im Timaios aufgegeben und durch eine (auch in den Gesetzen beibehaltene) Theorie geringerer und begrenzter Katastrophen, wie berutungen, ersetzt zu haben; die berutungen knnen zwar ganze Zivilisationen zerstren, den Lauf des Universums beeinussen sie aber scheinbar nicht. (Es ist mglich, da Platon durch ein Erdbeben und eine berschwemmung die im Jahre 373372 vor Christus die alte Stadt Helikon zerstrten, zu dieser Lsung gefhrt wurde.) Die ursprngliche Gesellschaftsform, die im Staat nur einen einzigen Schritt hinter dem noch immer bestehenden spartanischen Staate liegt, wird in eine mehr und mehr entfernte Vergangenheit zurckgeschoben. Platon ist zwar weiterhin der Ansicht, da die erste Niederlassung der beste Staat gewesen sein msse; doch diskutiert er nunmehr Gesellschaftsformen, die
466 Anmerkungen zu Kapitel 4

der ersten Niederlassung vorangehen, d. h. Nomadengesellschaften, Berghirten (vgl. insbesondere Anm. 32 zu diesem Kapitel). 98 : 8. Das Zitat stammt aus Marx/Engels, Das kommunistische Manifest. 98 : 9. Das Zitat stammt aus Adams Kommentaren zu Buch VIII des Staates; siehe seine Ausgabe II 98, Anm. zu 544 a 3. 99 : 0. Vgl. Staat 544 c. 99 : . [] Im Gegensatz zu meiner Behauptung, da Platon, wie so viele moderne Soziologen seit Comte, die typischen Stadien der sozialen Entwicklung darzustellen versuchte, fassen die meisten Kommentatoren seine Ausfhrungen blo als eine Dramatisierung einer rein logischen Klassikation von Institutionen auf. Dies widerspricht aber nicht nur Platons eigenen Worten (vgl. Adams Anmerkung zu Staat 544 c 9 a.a.O. II 99), sondern auch dem ganzen Geiste der platonischen Logik, nach der das Wesen eines Dinges aus seiner ursprnglichen Natur, d. h. aus seinem historischen Ursprung zu verstehen ist. Und wir drfen nicht vergessen, da Platon dasselbe Wort genos verwendet, um eine Klasse im logischen Sinne und eine Rasse im biologischen Sinne zu bezeichnen: der logische genus ist hier noch mit der Rasse im Sinne der NachkommenAnmerkungen zu Kapitel 4 467

schaft derselben Eltern identisch. (Dazu vgl. Anm. 520 zu Kap. 3 und Text sowie auch Anm. 2324 zu Kap. 5 und Text, wo die Gleichung Natur = Ursprung = Rasse diskutiert wird.) Wir haben somit jeden Grund, die Aussagen Platons buchstblich aufzufassen; denn selbst wenn Adam sich mit seiner Behauptung im Recht befnde (a.a.O.) da Platon eine logische Ordnung geben wollte, so wrde doch diese Ordnung fr ihn gleichzeitig die Reihenfolge der Stadien in einer typisch genetisch-historischen Entwicklung sein. Adams Bemerkung (a.a.O.), da die Ordnung vor allem durch psychologische und nicht durch historische berlegungen bestimmt sei, lt sich meiner Ansicht nach gegen ihn selbst anwenden. Denn er verweist darauf (z. B. a.a.O. II. Band, 95, Bemerkungen zu 543 a .) da Platon durchwegs die Analogie zwischen der Seele und dem Staate beibehlt. Nach Platons politischer Theorie der Seele (die im nchsten Kapitel diskutiert werden wird), mu die psychologische Geschichte der Sozialgeschichte parallel gehen; und damit verschwindet der angebliche Gegensatz zwischen psychologischen und historischen berlegungen und Adams Theorie wird zu einem weiteren Argument zugunsten unserer Interpretation. [2] Genau dieselbe Antwort kann gegeben werden, wenn jemand versuchte zu argumentieren, da Platons Anordnung von Verfassungen im Grunde nicht eine logische, sondern eine ethische Ordnung sei; denn die ethische Ordnung (ebenso wie auch die sthetische Ordnung) ist in der Philosophie Platons von der historischen Ordnung
468 Anmerkungen zu Kapitel 4

nicht zu unterscheiden. Es sei in diesem Zusammenhang bemerkt, da diese historizistische Ansicht Platon einen theoretischen Hintergrund fr den Eudmonismus des Sokrates verschafft, d. h. fr die Theorie der Identitt von Tugend und Glckseligkeit. Diese Theorie wird im Staat (vgl. insbesondere 580 b) in Form der Lehre entwickelt, da Tugend und Glckseligkeit, oder Verworfenheit und Unglck einander proportional seien; und das mu auch der Fall sein, wenn der Grad der Tugendhaftigkeit sowie auch der Glckseligkeit eines Menschen durch den Grad seiner hnlichkeit mit unserer ursprnglichen, glckseligen Natur der vollkommenen Idee des Menschen gemessen werden soll, (Der Umstand, da die Theorie Platons hier zu einer theoretischen Rechtfertigung einer scheinbar paradoxen sokratischen Lehre fhrte mag Platon wohl in dem Glauben bestrkt haben, da er nur die wahre sokratische Lehre darlegte; siehe Kap. 0, Text zu Anmerkung 56/57.) [3] Rousseau bernahm Platons Klassikation der Institutionen (Contrat Social II 7; III 3 ., vgl. auch 0). Seine Wiederbelebung der platonischen Idee einer primitiven Gesellschaft scheint jedoch von Platon nicht direkt beeinut zu sein (vgl. aber Anm. zu Kap. 6 und Anm. 4 zu Kap. 9); ein direkter Nachkomme der platonischen Renaissance in Italien war jedoch Sanazzaros hchst einureiches Werk Arcadia, das die platonische Idee einer glckseligen primitiven Gesellschaftsordnung griechischer (dorischer) Berghirten wiederbelebte. (Zu
Anmerkungen zu Kapitel 4 469

dieser Idee Platons vgl. dieses Kap., Text zu Anm.32.) Der Romantizismus (vgl. auch Kap.9) ist also, historisch gesehen, in der Tat ein Abkmmling des Platonismus. [4] Es ist sehr schwer zu sagen, inwieweit der moderne Historizismus Comtes, Mills, Hegels und Marx durch den theistischen Historizismus der Nuova Sciencia (725) des Giambattista Vico beeinut ist: Vico selbst war zweifellos von Platon sowie auch von der Civitas Dei Augustins und von Machiavellis Discorsi sulla prima deca di Tito Livio beeinut. Gleich Platon (vgl. Kap. 5) identiziert Vico die Natur eines Dinges mit seinem Ursprung (vgl. Opere, Ferraris 2. Ausgabe 85254 V 99); und er glaubte, da alle Nationen nach einem allgemeinen Gesetz dieselbe Entwicklung durchschreiten mten. Seine Nationen scheinen also (wie auch die Hegels) eines der Zwischenglieder zwischen Platons Staaten und Toynbees Zivilisationen zu sein. 0 : 2. Vgl. Staat 549 c/d; das nchste Zitat aus a.a.O. 550 d e und spter a.a.O. 55 a/b. 02 : 3. Vgl. a.a.O. 556 e. (Man sollte diese Stelle mit der in Thukydides III, 8284 vergleichen, die in Kap. 0, Text zu Anm. 2.zitiert ist.) Das nchste Zitat ist a.a.O. 02 : 4. Perikles demokratisches Programm wird im Text zu Anm. 3, Kap. 0, sowie in Kap. 6 Anm. 7 und Kap. 0, Anm. 34 dargestellt und erlutert.
470 Anmerkungen zu Kapitel 4

03 : 5. Adam, in seiner Ausgabe The Republic of Plato II 240, Anm.zu 559 d 22. (Die Hervorhebungen im zweiten Zitat stammen von mir.) Adam gibt zu, da das Bild zweifellos etwas bertrieben ist; aber er lt wenig Zweifel darber aufkommen, da er es im Grunde als fr alle Zeiten gltig hlt. 03 : 6. Adam a.a.O. 04 : 7. Dieses Zitat aus Staat 560 d; die nchsten beiden Zitate aus demselben Werk 563 ab und d. (Vgl. auch Adams Anmerkung zu 563 d 25.) Es ist von Bedeutung, da sich Platon hier auf die Institution des Privateigentums beruft, als sei sie ein selbstverstndliches Prinzip der Gerechtigkeit (an anderen Stellen des Staates wird diese Institution heftig angegrien): Ein Appell an das gesetzliche Recht des Kufers erscheint ihm als angemessen, sobald das gekaufte Eigentum ein Sklave ist. Ein anderer Angri auf die Demokratie lautet, da sie das Erziehungsprinzip niemand kann ein guter Mensch werden, dessen Jugend nicht vornehmen Spielen gewidmet war (Staat 558 b; vgl. Lindsays bersetzung; vgl. Kap. 0, Anm. 68), mit Fen tritt. Vgl. auch die Angrie auf die Lehre von der Gleichberechtigung der Menschen, die in Anm. 4 zu Kap. 6 zitiert werden. *Bezglich der Haltung des Sokrates seinen jungen Gefhrten gegenber vgl. die meisten der frhen Dialoge, aber auch Phaidon, wo die frhliche, freundliche und
Anmerkungen zu Kapitel 4 471

respektvolle Weise beschrieben wird, in der Sokrates der Kritik der jungen Mnner lauschte. Bezglich Platons ganz anderer Haltung vgl. Kap. 7, Text zu Anm. 92; siehe auch die ausgezeichneten Vorlesungen von H. Cherniss, The Riddle of the Early Academy, 945:, insbesondere 70 und 79 (ber Parmenides 35 cd); vgl. auch Anm. 82 zu Kap. 7 und Text.* 05 : 8. Die Sklaverei (siehe die vorhergehende Anmerkung) und die athenische Freiheitsbewegung wird in den Kapiteln 5 (Anm. 3 und Text) 0 und weiter diskutiert werden. Vgl. auch Anm. 29 zum vorliegenden Kapitel. Ebenso wie Platon ist auch Aristoteles (z. B. in Pol. 33b, 39 b 20; und in seiner Athenischen Verfassung 59, 5) ein unbewuter Zeuge fr die Liberalitt Athens den Sklaven gegenber; und dasselbe gilt fr Pseudo-Xenophon (vgl. seine Athenische Verfassung 0f.). 05 : 9. Vgl.Staat 577 a f.; vgl. Adams Anmerkungen zu 577 a 5 und b2 (a.a.O. Bd. II 332 f.). 05 : 20. Staat 566 e; vgl. Anm. 63 zu Kap. 0. 06 : 2. Vgl. Staatsmann 30 c/d. Obgleich Platon hier 6 verschiedene Arten von degenerierten Staatswesen unterscheidet, fhrt er keine neuen Bezeichnungen ein; die Namen Monarchie (oder Knigsherrschaft), und Aristokratie werden im Staate (445 d) auf den besten
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Staat selbst angewendet, nicht aber auf die relativ besten Formen der degenerierten Staaten, wie das im Staatsmann geschieht. 06 : 22. Vgl. Staat 544 d. 06 : 23. Vgl. Staatsmann, 297 c/d: Wenn die Regierungsform, die ich erwhnt habe, das einzig wahre Original oder Urbild ist, dann mssen die anderen (die nur die Abbilder davon sind; vgl. 297 b/c) ihre Gesetze verwenden und sie niederschreiben; das ist die einzige Art, in der sie erhalten werden knnen. (Vgl. dieses Kap., Anm. 3, Kap. 7, Anm. 8.) Und jede Verletzung der Gesetze sollte mit dem Tode und mit den schwersten Strafen bestraft werden; und das ist sehr gerecht und gut, obgleich, natrlich, nur das Zweitbeste. (Zum Ursprung der Gesetze vgl. Anm. 32 [, a] dieses Kapitels, sowie Anm. 7 [2], Kap. 3.) Und in 300 e/30 a, f., lesen wir: Diese weniger guten Regierungsformen knnen sich der wahren Regierungsform dadurch am meisten nhern da sie diesen geschriebenen Gesetzen und Sitten folgen Wenn die Reichen regieren und die wahre Form nachahmen, dann wird die Regierung eine Aristokratie genannt; wenn sie die (alten) Gesetze nicht beachten, Oligarchie, usw. Die Bemerkung ist wichtig, da nicht eine Gesetzlichkeit oder Gesetzlosigkeit in abstracto, sondern die Erhaltung der alten Institutionen des ursprnglichen oder vollkommenen Staates das Kriterium der Klassikation
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ist. (Dies im Gegensatz zur Politik des Aristoteles, 292 a, wo der Hauptunterschied darin besteht, ob das Gesetz das hchste ist oder z. B. der Pbel.) 07 : 24. Gesetze 709 e74 a enthlt verschiedene Anspielungen auf den Staatsmann; z. B. 70 de, wo nach Herodot III 8082 die Zahl der Herrscher als das Prinzip der Klassikation eingefhrt wird; die Aufzhlung der Regierungsformen in 72 c und d; und 73 b ., d. h. den Mythos vom vollkommenen Staate in den Tagen Kronos, den die besten Staaten der Gegenwart nachahmen. Angesichts dieser Anspielungen besteht fr mich wenig Zweifel, da Platon seine Theorie der Eignung einer Tyrannei fr utopische Experimente als eine Art Fortsetzung der Darstellung des Staatsmannes verstanden sehen wollte (und damit auch als eine Fortsetzung des Staats). Die Zitate in diesem Absatz sind: Gesetze 709 e 70 c/d; die oben zitierte Bemerkung aus den Gesetzen ist 797 d, zitiert im Text zu Anm. 3 dieses Kapitels. (Ich stimme mit der Anmerkung Englands zu dieser Stelle berein [vgl. seine Ausgabe der Gesetze, The Laws of Plato 92 II 258], in der er sagt, da nach den Grundstzen Platons die Vernderung der inneren Kraft jedes Dinges zum Schaden gereicht, daher sogar auch der inneren Kraft des Bsen; aber ich kann ihm nicht zugeben, da die Bewegung vom Bsen weg d. h. auf das Gute hin zu selbstverstndlich ist, um als eine Ausnahme erwhnt zu werden; sie ist vom Standpunkt der Lehre Platons
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aus betrachtet [Schdlichkeit jeder Vernderung] nicht selbstverstndlich. [Aristoteles wrde wohl auch sonst seinen teleologisch-progressiven Standpunkt niemals als Neuerung empfunden haben.]) Vgl. auch die nchste Anmerkung. 08 : 25. Vgl. Gesetze 676 b/c (vgl. 676 a, zitiert im Text zu Anm. 6). Obgleich Platon lehrt, da die Vernderung zum Schaden gereicht (vgl. das Ende der letzten Anmerkung) gibt E. B. England dieser Stelle von Vernderungen und Umstrzen eine optimistische oder progressive Deutung. Er nimmt an, da Platon einem Geheimnis nachsprt, das wir ,das Geheimnis der politischen Vitalitt nennen knnten (vgl. a.a.O. I 344). Und er deutet diese Stelle, an der Platon den wahren Grund der (schdlichen) Vernderung aufzunden trachtet als die Suche nach der Ursache und der Natur der wahren Entwicklung eines Staates, d. h. seiner Entwicklung auf die Vollkommenheit zu (Unterstreichungen von England; vgl. 345). Diese Interpretation kann nicht richtig sein, denn die Stelle ist die Einfhrung zu einer Darstellung, die von politischem Verfall berichtet; sie zeigt aber, wie sehr die Tendenz, Platon zu idealisieren und als einen Progressivisten hinzustellen auch einen so hervorragenden Kommentator wie England seiner eigenen Entdeckung gegenber (da Platon die Vernderung fr nachteilig hielt) blind macht.
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08 : 26. Vgl. Staat 545 d (siehe auch die Parallelstelle 465 b). Das nchste Zitat stammt aus den Gesetzen 683 c. (Adam bezieht sich in seiner Ausgabe des Staates II 203, Anm. zu 545 d 2 auf diese Stelle der Gesetze.) England erwhnt in seiner Ausgabe der Gesetze I 360 f., Anm. zu 683 e5 zwar den Staat 609 a, aber weder 545 d, noch 465 b; und er spricht die Vermutung aus, da hier auf eine frhere Diskussion, oder auf eine Diskussion, die in einem verlorenen Dialog niedergelegt wurde Bezug genommen wird. Ich sehe nicht ein, warum sich Platon nicht auf den Staat beziehen sollte unter der ktiven Annahme, da einige seiner Gedanken von den gegenwrtigen Zwischenrednern diskutiert worden sind. Cornford bemerkt, da es in Platons letzter Dialoggruppe keinen Beweggrund gibt, der die Illusion aufrechterhalten knnte, die Unterhaltungen htten tatschlich stattgefunden; und vollkommen richtig sagt er, da Platon nicht der Sklave seiner eigenen Erdichtungen war. (Vgl. Cornford, Platos Cosmology, 5 und 4.) Platons Gesetz der Revolutionen wurde, ohne Bezugnahme auf Platon, von V. Pareto wiederentdeckt; vgl. sein Trattato di Sociologia Generale 2054, 2057, 2o58. (Am Ende von 2055 nden wir auch eine Theorie des Anhaltens der Geschichte.) Auch Rousseau hat dieses Gesetz wiederentdeckt (Contrat Social III 0). 09 : 27. [] Es ist der Beachtung wert, da die absichtlich nichthistorischen Zge in Platons bestem Staat, insbesondere die Herrschaft der Philosophen, von Platon in seiner
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Zusammenfassung am Beginn des Timaios nicht mehr erwhnt werden, und da er im VIII. Buch des Staates annimmt, da die Herrscher des besten Staates im pythagoreischen Zahlenmystizismus nicht bewandert sind; vgl. Staat 546 c/d, wo es heit, da die Herrscher dieser Dinge unkundig sind. (Vgl. auch die Bemerkung, Staat 543 d / 544 a, nach welcher der beste Staat des VIII. Buches noch immer bertroen werden kann, nmlich, wie Adam sagt, durch den Staat der Bcher VVII durch die Idee der Stadt im Himmel.) In seinem Buch Platos Cosmology, 6 ., rekonstruiert Cornford die Umrisse und den Inhalt der unvollendeten Trilogie Platons, Timaios/Kritias/ Hermokrates und zeigt, in welcher Beziehung diese Dialoge zu den historischen Teilen der Gesetze stehen (Buch III). Ich halte diese Rekonstruktion fr eine wertvolle Besttigung meiner These, da Platons Weltbild im Grunde historisch war und da sein Interesse an der Frage wie sie [= die Welt] entstanden ist (und wie sie verfllt) mit seiner Ideenlehre verbunden und in der Tat auf sie gegrndet ist. Aber wenn das zutrifft, dann besteht kein Grund zu der Annahme, da die spteren Bcher des Staates von der Frage ausgingen, wie er (d. h. der Staat) in der Zukunft verwirklicht werden knnte, und da sie seinen mglichen Abstieg auf dem Wege ber niedere Formen der Politik skizzierten (Cornford a.a.O. 6; Hervorhebungen von mir); statt dessen sollten wir die Bcher VIII und IX des Staates angesichts ihrer engen Beziehung zum
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dritten Buch der Gesetze als eine vereinfachte historische Darstellung des tatschlichen Verfalls des idealen Staates der Vergangenheit sowie als eine Erklrung des Ursprungs der bestehenden Staaten auassen, und als analog zu der greren Aufgabe, die sich Platon im Timaios, in der unvollendeten Trilogie und in den Gesetzen stellte. [2] Zu meiner Bemerkung (spter in diesem Absatz) da Platon sicher wute, da er nicht die notwendigen Daten besa vgl.z. B. Gesetze 683 d und Englands Bemerkung zu 683 d 2. [3] Meiner Bemerkung (noch weiter unten in diesem Absatz), da Platon in der kretischen und spartanischen Gesellschaftsordnung versteinerte oder zum Stillstand gebrachte Formen erkannte (sowie meiner Bemerkung im nchsten Absatz, da der beste Staat Platons nicht nur ein Klassenstaat, sondern auch ein Kastenstaat ist) seien die folgenden Ausfhrungen angeschlossen. (Vgl. auch Anm. 20 zu diesem Kap., sowie Anm. 24 zu Kap. 0.) In den Gesetzen 797 d (in der Einfhrung zu dem bedeutenden Ausspruch, wie ihn England nennt wir zitieren ihn im Text zu Anm. 3 dieses Kapitels) macht es Platon vllig klar, da seine kretischen und spartanischen Zwischenredner von dem versteinerten Charakter ihrer sozialen Institutionen wissen: Kleinias, der Kreter, betont, da er jeder Verteidigung des archaischen Charakters eines Staates mit begieriger Aufmerksamkeit folgen werde. Etwas spter (799 a) wird im gleichen Zusammenhang direkt auf die Methode Bezug genommen, die die gypter
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verwenden, um die Entwicklung von Institutionen zum Stillstand zu bringen; und das ist sicher ein klarer Hinweis darauf, da Platon in Kreta und Sparta eine Tendenz entdeckte, die in gypten ein Parallelstck fand, die Tendenz nmlich, alle soziale Bewegung zu verhindern. In diesem Zusammenhang scheint eine Stelle im Timaios (siehe insbesondere 24 ab) von Bedeutung zu sein. Hier sucht Platon folgendes zu zeigen: (a) Sehr frh in der Vorgeschichte Athens gab es in dieser Stadt eine Klassenteilung die der im Staate errterten sehr hnlich war; (b) diese Institutionen waren dem Kastensystem gyptens nahe verwandt (wobei er annimmt, da diese zum Stillstand gebrachten Kasteninstitutionen aus den Institutionen seines alten athenischen Staates hergeleitet sind). Damit gibt Platon indirekt zu, da der ideale, alte und vollkommene Staat (des Staates) ein Kastenstaat ist. Interessanter weise berichtet uns Krantor, der den ersten Kommentar zum Timaios nur zwei Generationen nach Platon verfate, man htte Platon vorgeworfen, da er der heimischen Tradition untreu und ein Schler der gypter geworden sei. (Vgl. Gomperz, Griechische Denker II 476.) Krantor spielt vielleicht auf die Busiris des Isokrates an (vgl. Busiris 8, zitiert in Kap. 3, Anm. 3). Zum Problem der Kasten im Staate vgl.auch dieses Kap., Anm. 3 und 32 [, d], Kap. 6, Anm. 40, und Kap. 8, Anm. 4. A. E. Taylor, Plato: The Man and His Work, 269 f., bekmpft mit Nachdruck die Ansicht, da Platon einen Kastenstaat begnstigt habe.
Anmerkungen zu Kapitel 4 479

: 28. Vgl. Staat 46 a. Das Problem wird im Text zu Anm. 35 dieses Kapitels ausfhrlicher behandelt werden. (Zum Kastenproblem, wie es auch im nchsten Absatz erwhnt wird, vgl. Anm. 27 [3] und 3 zu diesem Kapitel.) 2 : 29. Zu Platons Rat, dem gemeinen Volke mit ihren ordinren Marktstreitigkeiten keine Gesetze zu geben usw., vgl. Staat 425 b427 a/b; insbesondere 425 de und 427 a. Diese Stellen greifen natrlich die athenische Demokratie und jede Art schrittweiser oder stckweiser Gesetzgebung im Sinne des 9. Kapitels an. *Auch Cornford hat dies gesehen; denn er schreibt (The Republic of Plato 94) in einer Anmerkung zu einer Stelle, an der Platon utopische Manahmen empehlt (Staat 500 d, f., die Anempfehlung des Reinigens der Leinwand und eines romantischen Radikalismus; vgl. Kap. 9, Anm. 2 und Text): Man vergleiche damit das stckweise Herumicken an Reformen, das in 425 e lcherlich gemacht wird Cornford scheint stckweise Reformen nicht zu lieben, und man gewinnt den Eindruck, da er die Methoden Platons bevorzugt; aber seine Deutung der Absichten Platons und meine eigene Deutung dieser Absichten scheinen identisch zu sein.* Die vier weiter unten angefhrten Zitate stammen aus dem Staat 37 d/e; 463 ab (Helfer und Beschftigte); 549 a; 47 b/c. Adam kommentiert (a.a.O. 97, Anm. zu 37 e 32): Platon lt in seinem Staate keine Sklavenarbeit zu, auer vielleicht, wenn sie von Barbaren verrichtet wird.
480 Anmerkungen zu Kapitel 4

Ich gebe zu, da Platon sich im Staat (469 bc) gegen die Versklavung griechischer Kriegsgefangener wendet; aber gleich darauf (47 bc) ermuntert er zur Versklavung der Barbaren durch die Griechen, und insbesondere durch die Brger seines besten Staates. (Das scheint auch die Ansicht von Tarn zu sein; vgl. Anm. 3 [2] zu Kap. 5.) Und er wendet sich heftig gegen die athenische Freiheitsbewegung gegen die Sklaverei und besteht auf den gesetzlichen Eigentumsrechten, falls das Eigentum ein Sklave ist (vgl. Text zu Anm. 7 und 8 dieses Kap.). Wie auch das dritte Zitat dieses Textabsatzes zeigt (Staat 548 e/549 a), hat er die Sklaverei in seinem besten Staat nicht abgeschafft. (Siehe auch Staat 590 c/d, wo er die Forderung verteidigt, der Grobe und Gemeine solle der Sklave des Besten sein.) A. E. Taylor bendet sich daher im Unrecht, wenn er (in seinem Plato 908 und 94, 97 und 8) zweimal behauptet, aus Platons Darstellung folge, da es in der Gemeinschaft keine Klasse von Sklaven gibt. hnliche Ansichten nden sich in Taylors Plato: The Man and his Work (926); vgl. dazu das Ende von Anm. 27 zu diesem Kapitel. Die Art, in der Platon das Problem der Sklaverei im Staatsmann behandelt, wirft meiner Ansicht nach viel Licht auf seine Haltung im Staat. Denn auch hier spricht er nicht viel ber die Sklaven, obgleich er oenkundig die Existenz von Sklaven in seinem Staate voraussetzt. (Vgl. seine charakteristische Bemerkung, 289 b/c, da das gesamte Eigentum an Haustieren, Sklaven ausAnmerkungen zu Kapitel 4 481

genommen, bereits behandelt worden sei; und eine hnlich charakteristische Bemerkung, 309 a, da das wahre Knigtum Sklaven aus denen macht, die sich in Unwissenheit und abscheulicher Niedrigkeit wlzen.) Warum Platon ber die Sklaven nicht sehr viel sagt, wird aus 289 c, ., insbesondere aus 289 d/e deutlich. Fr ihn besteht kein groer Unterschied zwischen Sklaven und anderen Bediensteten wie Arbeitern, Hndlern, Kaufleuten (d. h. allen banausischen Personen, die Geld verdienen; vgl. Anm. 4 zum . Kapitel); Sklaven werden von ihnen nur als durch Kauf erworbene Bedienstete unterschieden. Mit anderen Worten: Platon steht so hoch ber den niedrig Geborenen, da es ihm kaum der Mhe wert erscheint, sich ber subtile Unterscheidungen den Kopf zu zerbrechen. All dies ist dem Staat sehr hnlich, nur ein wenig ausdrcklicher formuliert. (Vgl. auch Anm. 57 [2] zu Kap. 8.) Zu Platons Behandlung der Sklaverei in den Gesetzen vgl. insbesondere G. R. Morrow, Plato and Greek Slavery (Mind, N. S. XLVIII 8620; siehe auch 402); dieser Artikel bietet einen ausgezeichneten und kritischen berblick ber den Gegenstand und kommt zu sehr richtigen Schlssen, obgleich der Verfasser meiner Ansicht nach noch immer ein wenig zugunsten Platons voreingenommen ist. (Der Artikel hebt vielleicht den Umstand nicht zur Genge hervor, da in den Tagen Platons eine Bewegung gegen die Sklaverei bereits im Vordringen war; vgl. Anm. 3, Kap. 5.)
482 Anmerkungen zu Kapitel 4

5 : 30. Das Zitat stammt aus der Zusammenfassung des Staates im Timaios (8 c/d). Zur Bemerkung, da die vorgeschlagene Gemeinschaft von Frauen und Kindern keine Neuigkeit war vgl. Adams Ausgabe des Staates, The Republic of Plato I 292 (Anmerkung zu 457 b .) und 308 (Anmerkung zu 463 c 7) sowie 345355, insbesondere 354; zum pythagoreischen Element im Kommunismus Platons vgl. a.a.O. 99, Anm. zu 46 d 22. (Bezglich der kostbaren Metalle siehe Anm. 24 zu Kap. 0, bezglich der gemeinsamen Mahlzeiten Anm. 34 zum 6. Kapitel; und bezglich des kommunistischen Prinzips bei Platon und seinen Nachfolgern vgl. Anm. 29 [2] zu Kap. 5 sowie die dort erwhnten Stellen.) 6 : 3. Die zitierte Stelle ist Staat 434 b/c. Platon zgert lange Zeit, bevor er mit seiner Forderung nach einem Kastenstaat herausrckt. Und das ganz unabhngig von der weitschweigen Vorrede zur fraglichen Stelle (die in Kap. 6 diskutiert werden wird; vgl. Anm. 24 und 40 zu diesem Kapitel); bei der ersten Errterung dieser Dinge, in 45 a, scheint es nmlich, da ein Aufstieg von den niederen in die hheren Klassen mglich ist, vorausgesetzt, da in den niederen Klassen Kinder geboren werden, die eine Beimischung von Gold und Silber (54 ) d. h. des Blutes und der Tugend der oberen Klassen enthalten. Aber dieses Zugestndnis wird in 434 bd und, noch ausdrcklicher, in 547 a zurckgezogen; denn in 547 a wird jede Vermischung der Metalle als eine Verunreinigung
Anmerkungen zu Kapitel 4 483

bezeichnet, die sich fr den Staat verhngnisvoll auswirken msse. Vgl. auch Kap. 8, Text zu Anm. 4, sowie Anm. 27 [3] zum vorliegenden Kapitel. 8 : 32. Vgl. Staatsmann 27 e. Die Stellen ber die primitiven nomadischen Berghirten und ihre Patriarchen stammen aus den Gesetzen, 677 e680 e. Zitiert ist Gesetze 680 e. Die hierauf zitierte Stelle stammt aus dem Mythos der Erdgeborenen, Staat 45 d/e. Die abschlieende Stelle dieses Absatzes ist aus dem Staat 440 d. Es ist vielleicht notwendig, da ich einige Bemerkungen im Text, zu dem diese Anmerkung gehrt, weiter ausfhre. [] Im Text wird behauptet, da keine sehr klare Erklrung ber das Zustandekommen der Niederlassung vorliegt. Sowohl in den Gesetzen wie auch im Staat hren wir zuerst (vgl. a) und c) weiter unten) von einer Art bereinkunft oder einem Sozialvertrag (vgl. dazu Anm. 29, Kap. 5, Anm. 4354 zu Kap. 6 sowie Text) und spter (siehe b) und c) weiter unten) von einer gewaltsamen Unterwerfung. a) In den Gesetzen verbinden sich die verschiedenen Scharen von Berghirten zuerst zu greren Kriegerbanden (die Gesetze dieser Banden kommen durch bereinkunft oder durch Vertrge zustande, die von Bevollmchtigten geschlossen werden, die mit kniglicher Gewalt ausgestattet sind); hierauf lassen sie sich im ebenen Lande nieder. (68 b und c/d; zu dem in 68 b beschriebenen Ursprung der Gesetze vgl. Anm. 7 [2] zu Kap. 3.) Aber
484 Anmerkungen zu Kapitel 4

an dieser Stelle wird Platon unklar und ausweichend. Statt zu beschreiben, wie sich diese Banden in Griechenland niederlassen und wie die griechischen Stdte gegrndet werden, geht er zu Homers Bericht von der Grndung Trojas und auf den Trojanischen Krieg ber. Von hier, sagt Platon, kehrten die Achaier unter dem Namen der Dorer zurck und der Rest der Erzhlung ist ein Teil der spartanischen Geschichte (682 e), denn wir haben die Grndung der staatlichen Einrichtung von Lakedmon erreicht (682 e/683 a). Soweit haben wir nicht erfahren, wie diese Grndung vor sich ging, und es folgt auch sogleich eine weitere Abschweifung (Platon selbst spricht vom verschlungenen Zug des Arguments), bis wir schlielich (in 683 c/d) den im Text erwhnten Wink erhalten; siehe b). b) Im Text haben wir auf eine Andeutung verwiesen, aus der hervorgeht, da die dorische Niederlassung im Peloponnes in Wirklichkeit eine gewaltsame Unterwerfung war. Dieser Hinweis bezog sich auf Gesetze (683 c/d), wo Platon einige Bemerkungen macht, die in Wirklichkeit seine ersten historischen Angaben ber Sparta sind. Er sagt, da er mit der Zeit beginne, zu der der ganze Peloponnes von den Dorern praktisch unterworfen gewesen sei. Im Menexenos (dessen Echtheit sich schwerlich bezweifeln lt; vgl. Anm. 35 zu Kap. 0) gibt es in 245 c eine Anspielung auf die Tatsache, da die Peloponnesier Einwanderer aus der Fremde waren (wie es Grote ausdrckt; vgl. seinen Plato III 5).
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c) Im Staat (369 b) wird der Stadtstaat von Arbeitern gegrndet, die dabei die Vorteile der Arbeitsteilung und der Zusammenarbeit im Auge haben was mit der Vertragstheorie bereinstimmt. d) Aber spter (Staat 45 d/e; vgl. das Zitat im Text dieses Absatzes) erhalten wir eine Beschreibung der triumphierenden Invasion einer Kriegerklasse von etwas mysterisem Ursprung der Erdgeborenen. In der entscheidenden Stelle dieser Beschreibung wird behauptet, da die Erdgeborenen nach der gnstigsten Stelle fr ihr Lager Umschau halten mten, um (buchstblich) die innen Wohnenden im Zaume zu halten, d. h. um diejenigen im Zaume zu halten, die bereits in der Stadt leben, also, um die Einwohner im Zaume zu halten. e) Im Staatsmann (27 a, f.) werden diese Erdgeborenen mit den sehr frhen nomadischen Berghirten der Periode vor der Niederlassung identiziert. Vgl. auch die Anspielung auf die autochthonen Heuschrecken im Gastmahl 9 b; vgl. Anm, 6 [4] zu Kap. 3 und [2] zu Kap. 8. f) Ich fasse zusammen: Es scheint, da Platon von der dorischen Eroberung eine ziemlich deutliche Vorstellung besa; aus klaren Grnden zog er es vor, sie in Dunkel zu hllen. Es scheint auch eine Tradition bestanden zu haben, nach der die erobernden Kriegerhorden nomadischen Ursprungs waren. [2] An einer spteren Stelle dieses Absatzes spreche ich von Platons oftmals wiederholter Behauptung, da
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Regieren dasselbe sei, wie das Hten von Schafen; dazu vgl. zum Beispiel die folgenden Stellen: Staat 343 b, wo die Idee eingefhrt wird; 345 c, wo sie in der Form des Gleichnisses vom Guten Hirten einer der Hauptgegenstnde der Untersuchung wird; 375 a376 b, 404 a, 440 d, 45 be, 459 a5460 c, sowie 466 cd (zitiert in Anm. 30 zum 5. Kapitel), wo die Hilfstruppen (oder Helfer) mit Schferhunden verglichen werden und wo sich entsprechende Bemerkungen ber ihre Aufzucht und Erziehung nden; 46 a, wo das Problem der Wlfe auerhalb und innerhalb des Staates eingefhrt wird; vgl. auerdem den Staatsmann, der die Idee ber viele Seiten hinweg fortsetzt, insbesondere 26 d276 d. In den Gesetzen sagt Platon (694 c) von Kyros, er habe fr seine Shne Rinder und Schafe und viele Herden von Menschen und anderen Tieren erworben. (Vgl. auch Gesetze 735 und Theaitetos 74 d.) [3] Vgl. zu all dem auch A. J. Toynbee, A Study of History, insbesondere III 32 (Anm. ), wo A. H. Lybyer, The Government of the Ottoman Empire usw. zitiert wird, 33 (Anm. 2), 5000; siehe insbesondere seine Bemerkung ber die erobernden Nomaden (22), die sich mit Menschen befassen, und ber Platons menschliche Wachhunde (94, Anm. 2). Ich habe von Toynbees brillanten Ideen viel Anregung empfangen, und ich wurde von zahlreichen seiner Bemerkungen sehr ermutigt; in ihnen sehe ich eine Besttigung meiner Deutung, die ich um so hher einschtzen kann, je klarer es ist, da ToynAnmerkungen zu Kapitel 4 487

bees und meine Grundansichten vllig verschieden sind. Ich verdanke Toynbee auch eine Anzahl von Ausdrcken, die ich im Text verwende, insbesondere menschliches Herdenvieh, menschliche Herde und menschlicher Wachthund. Toynbees Study of History ist, von meinem Standpunkt aus betrachtet, geradezu ein Musterbeispiel dessen, was ich Historizismus nenne. Ich brauche nicht viel mehr zu sagen, um auszudrcken, da ich dem Werk grundstzlich ablehnend gegenberstehe. Eine Zahl spezieller Punkte, ber die unsere Ansichten auseinandergehen, wird an verschiedenen Stellen diskutiert werden (vgl. Anm, 43 und 45 [2] zu diesem Kap., Anm. 7 und 8 zu Kap. 0, sowie Kap. 4 des zweiten Bandes; vgl. auch meine Kritik an Toynbee in Kap. 4 des zweiten Bandes sowie in meinem Aufsatz The Poverty of Historicism, Economica N.S. XII 945 70 .). Aber Toynbees Studie enthlt eine Flle interessanter und anregender Ideen. In bezug auf Platon kann ich ihm in mehr als einer Hinsicht zustimmen; das gilt insbesondere fr seine Behauptung, da Platons bester Staat durch seine Erfahrungen sozialer Revolutionen inspiriert ist, durch seinen Wunsch, die Vernderung vllig zum Stillstand zu bringen, und da dieser Staat eine Art versteinertes Sparta ist (das auch selbst schon versteinert war). Trotz dieser Berhrungspunkte besteht sogar in der Interpretation Platons ein grundlegender Unterschied zwischen der Ansicht Toynbees und meiner eigenen. Fr Toynbee ist der platonische Staat eine typische (reaktionre) Uto488 Anmerkungen zu Kapitel 4

pie ein Zukunftstraum. Hingegen deute ich ihn, sowie auch Platons Theorie der Vernderung (so, wie ich sie auasse), zum Groteil als einen Versuch, eine primitive Gesellschaftsform zu rekonstruieren. Auch glaube ich nicht, da Toynbee mit der Deutung bereinstimmen wrde, die ich der platonischen Schilderung der Epoche vor der Niederlassung und der Niederlassung selbst gebe, und die in dieser Anmerkung sowie im Text kurz umrissen wird; denn Toynbee sagt ausdrcklich (a.a. O III 80), da die spartanische Gesellschaftsordnung nicht nomadischen Ursprungs war. Toynbee hebt (a.a.O. III 50 .) den eigentmlichen Charakter der spartanischen Gesellschaftsordnung mit Nachdruck hervor; dank einer bermenschlichen Anstrengung, das menschliche Herdenvieh (human cattle) niederzuhalten, sei die Entwicklung dieser Staatsform zum Stillstand gebracht worden. Ich glaube aber, da diese Betonung der Eigentmlichkeiten Spartas das Verstndnis der hnlichkeit zwischen den spartanischen und den kretischen Institutionen erschwert, die Platon so berraschend fand (Staat 544 c; Gesetze 683 a). Die kretischen Institutionen lassen sich meiner Ansicht nach nur als versteinerte Formen sehr alter Stammesinstitutionen erklren, die betrchtlich lter gewesen sein mssen als die Bemhungen der Spartaner im Zweiten Messenischen Krieg (etwa 650620 vor Chr.; vgl. Toynbee a.a.O. III 53). Da die Bedingungen des berlebens dieser Institutionen an den beiden Stellen so sehr verschieden waren, so ist ihre hnlichkeit ein starkes
Anmerkungen zu Kapitel 4 489

Argument zugunsten ihrer Primitivitt und gegen eine Erklrung durch einen Faktor, der nur in der einen von ihnen auftritt. *Bezglich der Probleme der dorischen Niederlassung vgl. auch R. Eisler in Caucasia V 928, insbesondere 3, Anm. 84, wo der Ausdruck Hellenen durch Ansiedler und Griechen (Grazier) durch Viehzchter d. h. Viehzchter oder Nomaden bersetzt wird. Derselbe Autor hat gezeigt (Orphisch-Dionysische Mysteriengedanken 925 58, Anm. 2), da die Idee des Gott-Hirten orphischen Ursprungs ist. An der gleichen Stelle werden auch die Wachhunde oder Schferhunde Gottes (Domini Canes) erwhnt.* 20 : 33. Enthusiastische Erzieher haben Platon die Idee einer von nanziellen Mitteln unabhngigen und klassenlosen Erziehung zugeschrieben; sie haben dabei bersehen, da die Erziehung in Platons Staat ein Klassenvorrecht ist; sie haben bersehen, da das Klassenvorrecht als solches das bel ist und da es demgegenber vergleichsweise unwichtig ist, ob sich dieses Vorrecht auf den Besitz von Geld oder auf irgendein anderes Kriterium grndet, auf dem die Mitgliedschaft in der regierenden Klasse beruht. Vgl. Kap. 7, Anm. 2 und 3 sowie Text dazu. Zum Tragen von Waen vgl. auch Gesetze 753 b. 2 : 34. Staat 460 c (vgl. auch Anm. 3 zu diesem Kap.). Zu Platons Befrwortung des Kindesmordes vgl. Adam
490 Anmerkungen zu Kapitel 4

a.a.O. I 299, Anm. zu 460 c 8 und pp. 357 . Obgleich Adam mit Recht hervorhebt, da Platon den Kindesmord begnstigte und obgleich er alle Versuche, Platon von der Befrwortung einer so frchterlichen Praxis freizusprechen, als irrelevant zurckweist, versucht er doch, Platon durch den Hinweis zu entschuldigen, da die Praxis im alten Griechenland weit verbreitet gewesen sei. Das gilt aber nicht fr Athen. Platon zieht eben berall die alte spartanische Barbarei und Rassenverehrung der Aufklrung des perikleischen Athen vor; und fr diese Vorliebe kann man ihn wohl verantwortlich machen. Eine Hypothese zur Erklrung der spartanischen Praxis wird in Anm. 7 zu Kap. 0 gegeben (siehe auch die dort erwhnten Hinweise). Die Zitate weiter unten im Text, die die Anwendung der Prinzipien der Aufzucht von Tieren auf den Menschen empfehlen, stammen aus Staat 459 b (vgl. Anm. 39 zu Kap. 8 und Text); die Stellen ber die Analogie zwischen Hunden und Kriegern usw. aus Staat 404 a; 375 a; 375 a/b und 376 b. Vgl. auch Anm. 40 [2] zu Kap. 5 und die hier folgende Anmerkung. 22 : 35. Die zwei Zitate vor der Anmerkung stammen beide aus Staat 375 b. Die folgende Stelle ist aus 46 a (vgl. Anm. 28 zu diesem Kap.); die brigen aus 375 ce. Das Problem der Vermischung entgegengesetzter Naturen (oder sogar Formen; vgl. Anm. 820 und 40 [2] zu Kap. 5 sowie Text, und Anm. 39 zu Kap. 8) ist einer der
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Lieblingsgegenstnde Platons. (Im Staatsmann 283 e f. und spter bei Aristoteles geht dieses Problem in die Lehre vom Mittleren [oder vom Mittel] ber.) 23 : 36. Zitiert wird aus Staat 40 c; 40 d; 40 e; 4 e/42 a und 42 b. 24 : 37. In den Gesetzen (680 b .) behandelt sogar Platon Kreta wegen seiner barbarischen Unkenntnis der Literatur mit einiger Ironie. Diese Unkenntnis erstreckt sich sogar auf Homer, den der kretische Zwischenredner nicht kennt und von dem er sagt: Auslndische Poeten werden von Kretern sehr wenig gelesen. (Aber sie werden in Sparta gelesen, versetzt der spartanische Sprecher.) Zu Platons Vorliebe fr spartanische Sitten vgl. Anm. 34 zu Kap. 6 sowie die dazugehrigen Textstellen. 24 : 38. Zu Platons Ansicht ber die spartanische Behandlung des menschlichen Herdenviehs vgl. Anm. 29 zu diesem Kap., Staat 548 e/549 a, wo der timokratische Mensch mit Platons Bruder Glaukon verglichen wird: Er wrde aber hrter sein (als Glaukon) und weniger musikalisch; die Fortsetzung dieser Stelle wird im Text zu Anm. 29 zitiert. Thukydides berichtet (IV, 80) die verrterische Ermordung der 2000 Heloten; die besten der Heloten waren fr den Tod durch ein Freiheitsversprechen ausgewhlt worden. Es ist fast gewi, da Platon die Schrift des Thukydides sehr gut kannte; und
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wir knnen sicher sein, da ihm auerdem direktere Informationsquellen zur Verfgung standen. Platons Ansicht ber die lssige Behandlung der Sklaven durch Athen wird in Anm. 8 zu diesem Kap. besprochen. 25 : 39. Wenn man die entschieden antiathenische und antiliterarische Tendenz des Staates in Betracht zieht, so ist es ein wenig schwierig, den Enthusiasmus so vieler Erzieher ber die Erziehungstheorien Platons zu erklren. Einzig drei Erklrungen erscheinen mir plausibel: Entweder verstehen sie den Staat nicht, trotz seiner hchst oenkundigen Feindseligkeit gegen die damals in Athen bliche literarische Erziehung; oder sie fhlen sich einfach geschmeichelt, weil Platon auf die politische Macht der Erziehung so groes Gewicht legt. Das drfte auch auf viele Philosophen und sogar auf einige Musiker zutreen (vgl. Text zu Anm. 42). Oder beides ist der Fall. Es ist auch schwer zu verstehen, wie Liebhaber der griechischen Kunst und Literatur bei Platon Ermunterung nden knnen; denn Platon greift insbesondere in Staat X alle Dichter und Dramatiker, insbesondere aber Homer (und sogar Hesiod), aufs heftigste an. Vgl. Staat 600 a, wo Homer sogar noch niedriger gestellt wird als ein guter Techniker oder Mechaniker, (die Platon im allgemeinen als banausisch und verdorben verachtet; vgl. Staat 495 e, 590 c und Anm. 4 zu Kap. ); Staat 600 c, wo Homer niedriger gestellt wird als die Sophisten Protagoras und
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Prodikos (vgl. auch Th. Gomperz, Griechische Denker II 40); und Staat 605 a/b, wo es den Dichtern kurzerhand verboten wird, einen wohlgeordneten Stadtstaat zu betreten. Die Kommentatoren gehen ber diese klaren Anzeichen der Haltung Platons gewhnlich stillschweigend hinweg; sie verweilen aber bei Bemerkungen wie der, die Platon bei der Vorbereitung seines Angris auf Homer macht ( obgleich mir die Liebe und die Bewunderung fr Homer kaum erlaubt zu sagen, was ich zu sagen habe; Staat 595b). Adam bemerkt dazu (Anm. zu 595 b ), da Platon mit wahrer Empndung spricht; es scheint mir aber, da Platons Bemerkung nur eine Methode illustriert, die im Staate ziemlich allgemein angewendet wird: Es wird zunchst auf die Gefhle des Lesers eingegangen (vgl. Kap. 0, insbesondere Text zu Anm. 65), und dann erst wird der Hauptangri gegen die humanitren Ideen gefhrt. 25 : 40. Zur strengen, auf die Klassendisziplin abzielenden Zensur vgl. Staat 377 e . und insbesondere 378 c: Unsere jungen Staatsmnner sollten es fr das schndlichste aller Verbrechen halten, leichthin miteinander zu streiten. Es ist von Interesse, da Platon dieses politische Prinzip nicht sogleich bei der Einfhrung seiner Theorie der Zensur in 376 c . aufstellt, sondern da er zunchst nur von Wahrheit, Schnheit usw. spricht. Die Zensur wird weiter verschrft in 595 a, ., insbesondere in 605 a/b (siehe auch
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die vorhergehende Anmerkung sowie Anm. 822 zu Kap. 7 und Text). Zur Rolle der Zensur in den Gesetzen vgl. diese, 80 c/d. Vgl. auch die nchste Anmerkung. Zu Platons Vergelichkeit in bezug auf sein Prinzip (Staat, 40 c42 b; vgl. Anm. 36 zu diesem Kap.), da die Musik das sanfte Element im Menschen (im Gegensatz zum wilden Element) zu strken habe vgl. insbesondere 399 a f., wo Tonarten gefordert werden, die die Menschen nicht besnftigen, sondern die zu Mnnern passen, die Krieger sind. Vgl. auch die nchste Anmerkung, [2]. Es ist hervorzuheben, da Platon nicht ein vorher angekndigtes Prinzip vergessen hat, sondern nur das Prinzip, auf das seine Diskussion hinfhren soll. 25 : 4. [] Zu Platons Haltung gegenber der Musik, insbesondere der Musik im eigentlichen Sinn, vgl. z. B. Staat 397 b, .; 398 c, .; 400 a, .; 40 b, 424 b, f.; 546 d. Gesetze 657 c, .; 673 a, 700 b, ., 798 d, ., 80 d, ., 802 b, ., 86 c. Seine Haltung ist im Grunde die folgende: Man mu sich hten, eine neue Tonart einzufhren; eine solche Neutnerei gefhrdet alles, da jeder Wechsel im Stil der Musik immer zu einer nderung der wichtigsten Institutionen des gesamten Staates fhrt. So sagt Dmon, und ich glaube ihm (Staat 424 c). Platon folgt hier wie blich, dem Beispiel Spartas. Adam (a.a.O. I 26, Anm. zu 424 c 20; Kursivdruck von mir; vgl. auch seine Hinweise) sagt, da der Zusammenhang zwischen musikalischen und politischen Vernderungen allgemein in ganz
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Griechenland, und insbesondere in Sparta erkannt wurde, wo man Timotheus Leier konszierte, weil er vier neue Saiten aufgespannt hatte. Es kann nicht bezweifelt werden, da Platon durch das spartanische Vorgehen angeregt worden ist; es ist aber hchst unwahrscheinlich, da in ganz Griechenland und insbesondere im Athen des Perikles hnliche Sitten herrschten. (Vgl. [2] zu dieser Anm.) [2] Im Text nannte ich Platons Einstellung zur Musik (vgl. insbesondere Staat, 398 e .) aberglubisch und zurckgeblieben im Vergleich mit einer mehr aufgeklrten zeitgenssischen Kritik. Ich dachte dabei an die Kritik eines anonymen Schriftstellers (wahrscheinlich eines Musikers des fnften oder frhen vierten Jahrhunderts), der eine (mglicherweise olympische) Rede verfate, die nunmehr als Nummer vierzehn in Grenfells und Hunts The Hibeh Papyri (906 45 .) bekannt ist. Der Schriftsteller ist mglicherweise identisch mit einem der verschiedenen Musiker, die Sokrates (d. h. den Sokrates des Platonischen Staates) kritisieren; diese Musiker werden von Aristoteles (an der ebenso aberglubischen Stelle seiner Politik 342 b, wo ein Groteil der Argumente Platons wiederholt wird) erwhnt. Aber die Kritik des anonymen Autors geht viel weiter, als es Aristoteles andeutet. Platon (und Aristoteles) waren der Ansicht, da gewisse Tonarten, z. B. die lauen ionischen und lydischen Tonarten, die Zuhrer weich und weibisch machen, whrend andere, insbesondere die dorische Tonart, ihre Tapferkeit
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angeblich steigerten. Diese Annahme greift der anonyme Autor an. Sie sagen, so schreibt er, da gewisse Tonarten gemigte und da andere Tonarten gerechte Menschen hervorbringen; andere aber wieder Helden und andere wieder Feiglinge. Er zeigt in ausgezeichneter Weise, wie tricht diese Ansicht ist, indem er darauf verweist, da einige der kriegerischesten Stmme Griechenlands Tonarten verwenden, die angeblich Feiglinge hervorbringen, whrend gewisse professionelle (Opern-) Snger gewhnlich in der heroischenTonart singen, ohne jedoch dadurch zu Helden zu werden. Diese Kritik kann sehr wohl gegen den athenischen Musiker Damon gerichtet gewesen sein (den Platon oft als eine Autoritt anfhrt), einen Freund des Perikles (der liberal genug war, im Felde literarischer Kritik eine prospartanische Haltung zu dulden). Aber auch Platon selbst knnte wohl das Ziel jener Kritik gewesen sein. Zu Damon vgl. Diels; bezglich einer Hypothese ber den anonymen Autor ebendort II 334, Anm. [3] Angesichts der Tatsache, da ich hier eine reaktionre Einstellung zur Musik verurteile, mag es vielleicht der Erwhnung wert sein, da mein Angri in keiner Weise durch eine persnliche Sympathie fr den Fortschritt in der Musik inspiriert ist. Tatschlich liebe ich die alte Musik (je lter, desto besser) und ich kann die moderne Musik nicht ausstehen (insbesondere die meisten Dinge, die geschrieben wurden, seit Wagner zu komponieren begann). berhaupt bin ich gegen jede Art
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von Futurismus, gegen den artistischen Futurismus ebenso wie gegen den Futurismus auf dem Gebiet der Moral (vgl. Kap. 22 und Anm. 9 zu Kap. 25.). Aber ich bin noch mehr dagegen, da man seine eigenen Vorlieben und Abneigungen anderen aufzwingt, und insbesondere bin ich gegen jede Zensur in derartigen Dingen. Wir knnen insbesondere in der Kunst hassen und lieben, ohne staatliche Manahmen zur Unterdrckung der verhaten oder zur Kanonisierung der geliebten Kunst zu verlangen. 26 : 42. Vgl. Staat 537 a; und 466 e467e Die Charakterisierung der modernen totalitren Erziehung verdanke ich Aurel Kolnais groem Buch, The War against the West 938 38. 27 : 43. Die bemerkenswerte Platonische Theorie, da der Staat, d. h, die zentralisierte und organisierte politische Macht, durch eine Eroberung entsteht (durch die Unterwerfung einer sehaften ackerbauenden Bevlkerung durch Nomaden oder Jger), wurde meines Wissens nach zuerst von Hume anllich seiner Kritik der historischen Version der Kontrakttheorie wiederentdeckt (wenn wir von einigen Bemerkungen bei Machiavelli absehen); siehe Hume, Essays, Moral Political and Literary 752, Essay XII Of the Original Contract: Fast alle Regierungen, so schreibt Hume, die gegenwrtig existieren oder von denen wir durch die Geschichte etwas wissen, wurden
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ursprnglich entweder durch Usurpation oder durch Eroberung eingesetzt, oder durch beides Und er verweist darauf, da es fr einen schlauen und khnen Menschen oft ein leichtes sei bald durch Gewalt, bald durch falsche Vorspiegelungen eine Alleinherrschaft ber hundertmal mehr Leute zu errichten, als die Zahl seiner unmittelbaren Anhnger betrgt . Durch solche schlauen Knie wurden viele Staatsregierungen errichtet; und nur das ist der ganze ursprngliche Vertrag, von dem sie so gerne reden. Renan (Was ist eine Nation? 882) und Nietzsche (Genealogie der Moral 887) haben als nchste diese Lehre wiederentdeckt. Nietzsche schreibt (ohne Bezugnahme auf Hume) vom Ursprung des Staates: Irgendein Rudel blonder Raubtiere, eine Eroberer- und Herrenrasse, welche, kriegerisch organisiert unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer berlegene Bevlkerung legt. Dergestalt beginnt ja der Staat auf Erden: Ich denke, jene Schwrmerei ist abgetan, welche ihn mit einem ,Vertrage beginnen lie. Diese Theorie gefllt Nietzsche, denn er ist ein Liebhaber von solchen blonden Bestien. Sie wurde in jngerer Zeit auch von F. Oppenheimer (Der Staat 94); von dem Marxisten K. Kautsky (in seinem Buch ber Die materialistische Geschichtsauassung); von W.C.Macleod (The Origin and History of Politics 93) + und von H. Freyer (Pallas Athene 8)+ vertreten. Ich halte es fr sehr wahrscheinlich, da Vorgnge, wie sie Platon, Hume und Nietzsche beschrieben haben, in den meisten,
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wenn auch nicht in allen Fllen stattgefunden haben. Ich spreche dabei nur von Staaten im Sinne organisierter und zentralisierter politischer Macht. Es sei erwhnt, da Toynbee eine ganz andere Theorie vertritt. Bevor ich sie diskutiere, mchte ich aber eines klarstellen: Die Frage ist von einem antihistorizistischen Standpunkt aus betrachtet nicht sehr wichtig. Zwar mag es an und fr sich von Interesse sein, wenn man sich berlegt, wie wohl Staaten entstanden sind. Aber Untersuchungen dieser Art haben berhaupt keinen Einu auf die Soziologie der Staaten, wie ich sie verstehe, d. h. auf die politische Technologie (vgl. Kap. 3, 9 und Kap. 5 des zweiten Bandes). Die Theorie Toynbees beschrnkt sich nicht auf Staaten im Sinne organisierter und zentralisierter politischer Macht. Toynbee diskutiert vielmehr den Ursprung der Zivilisationen. Aber hier beginnt schon die Schwierigkeit; denn einige seiner Zivilisationen sind Staaten (im hier beschriebenen Sinn), einige sind Gruppen von Staaten oder Folgen von Staaten, und einige sind Gesellschaftsordnungen, wie die der Eskimo, also keine Staaten; und wenn es schon fraglich ist, ob die Staaten nach einem einzigen Schema entstehen, dann mu es noch viel mehr fraglich sein, ob eine Klasse so verschiedenartiger sozialer Phnomene, wie die frhen gyptischen und mesopotamischen Staaten und ihre Institutionen und ihre Technik auf der einen Seite, und die Lebensweise der Eskimo auf der anderen auf dieselbe Weise entstanden sind.
500 Anmerkungen zu Kapitel 4

Wir knnen uns aber auf die Beschreibung einschrnken, die Toynbee (A Study of History I 305 ff.) vom Ursprung der gyptischen und mesopotamischen Zivilisationen gibt. Seine Theorie lautet hier etwa so: Eine schwierige Dschungelumgebung fordert ingenise und unternehmungslustige Fhrer zu einer Stellungnahme (response) heraus; sie fhren ihre Anhnger in die Tler, kultivieren diese und grnden Staaten. Diese (Hegelsche oder Bergsonsche) Theorie, nach der das schpferische Genie als kultureller und politischer Fhrer fungiert, scheint mir im hchsten Grade romantisch. Nehmen wir z. B. gypten; in diesem Fall mssen wir uns vor allen anderen Dingen nach dem Ursprung des Kastensystems umsehen. Dieses ist hchstwahrscheinlich das Ergebnis von Eroberungen, ebenso wie auch in Indien jede neue Welle von Eroberern den alten Kasten eine neue, hhere Kaste aufbrdete. Aber es gibt noch andere Argumente. Toynbee selbst vertritt die wahrscheinlich richtige Theorie, da das Zchten und Abrichten von Haustieren ein spteres, weiter fortgeschrittenes und schwierigeres Entwicklungsstadium ist als der reine Ackerbau, und da die Steppennomaden diesen weiteren Schritt tun. Aber in gypten nden wir sowohl Ackerbau als auch Viehzucht, und dasselbe gilt fr die meisten frhen Staaten (wenn auch nicht fr alle amerikanischen Staaten, wie mir scheint). Das ist wohl ein Zeichen dafr, da diese Staaten ein nomadisches Element enthalten; und es ist nur natrlich, wenn wir die Hypothese wagen, da dieses EleAnmerkungen zu Kapitel 4 501

ment auf nomadische Eindringlinge zurckgeht, die der ursprnglichen Ackerbaubevlkerung ihre Herrschaft, eine Kastenherrschaft, aufzwangen. Diese meine Theorie widerspricht der Behauptung Toynbees (a.a.O. III 23 f.), da die von Nomaden errichteten Staaten im allgemeinen sehr schnell absterben. Aber die Tatsache, da zahlreiche der frhen Kastenstaaten sich mit Viehzucht beschftigten, mu irgendwie erklrt werden. Die Idee, da Nomaden oder sogar Jger die ursprngliche Oberschicht bildeten, wird durch die uralte und noch immer lebendige Klassentradition besttigt, nach der Krieg, Jagd und Pferde die Symbole der herrschenden Klassen sind; diese Tradition ist die Grundlage der aristotelischen Ethik und Politik; und sie ist, wie Veblen (The Theory of the Leisure Class) und Toynbee gezeigt haben, noch immer lebendig. Diesen Zeugnissen knnen wir vielleicht noch den Glauben der Viehzchter an die Rassenlehre und insbesondere an die rassische berlegenheit der Oberklasse hinzufgen, der in Kastenstaaten, wie wir es ja auch bei Platon und Aristoteles sehen, so stark hervortritt; Toynbee hlt ihn fr eine der Snden unseres modernen Zeitalters und fr etwas dem hellenischen Genius Fremdes (a.a.O. III 93). Obwohl aber viele griechische Denker anscheinend ber die Rassenverherrlichung hinausgekommen waren, scheinen doch die Lehren Platons und Aristoteles auf alten Traditionen zu beruhen. Das wird auch insbesondere durch die Tatsache untersttzt, da die Rassenlehre in Sparta eine groe Rolle spielte.
502 Anmerkungen zu Kapitel 4

29 : 44. Vgl. Gesetze 694 a698 a. 29 : 45. [] Spenglers Untergang des Abendlandes ist meiner Ansicht nach nicht ernst zu nehmen. Aber es ist ein Symptom: es ist das Werk eines Menschen, der an eine Oberschicht glaubt, die vor ihrer Niederlage steht. Ebenso wie Platon versucht auch Spengler zu zeigen, da die Welt und ein allgemeines Gesetz des Abstiegs und des Untergangs dafr verantwortlich gemacht werden msse. Und wie Platon fordert er (in seinem nchsten Werk, Preuentum und Sozialismus) eine neue Ordnung: ein verzweifeltes Experiment, den Gewalten der Geschichte entgegenzuarbeiten, eine Wiederherstellung der preuischen Herrscherklasse durch die Annahme eines Sozialismus oder eines Kommunismus und durch konomische Enthaltsamkeit. Bezglich Spengler stimme ich ganz mit Leonard Nelson berein, der seine Kritik mit dem folgenden ironischen Titel versah: Spuk. Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagekunst Oswald Spenglers und sonnenklarer Beweis der Unwiderleglichkeit seiner Weissagungen nebst Beitrgen zur Physiognomik des Zeitgeistes. Eine Pngstgabe fr alle Adepten des metaphysischen Schauens, Leipzig 92. Diese Charakterisierung Spenglers scheint mir vllig gerecht zu sein. Nelson, das sei noch bemerkt, trat als einer der ersten gegen den Historizismus auf. (Er folgt hier der Kritik, die Kant an Herder gebt hatte; vgl. Kap. 2, Anm.56.)
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[2] Meine Bemerkung, da Spengler nicht der letzte Verfasser eines Abstiegs- und Untergangsmythos ist, spielt insbesondere auf Toynbee an. Toynbees Werk ist dem Spenglers so sehr berlegen, da ich zgere, es im gleichen Zusammenhang zu erwhnen; die berlegenheit ist aber hauptschlich auf den Ideenreichtum Toynbees sowie auf sein berlegenes Wissen zurckzufhren (das sich auch in der Tatsache kundtut, da er nicht, wie Spengler, alles unter der Sonne zur gleichen Zeit behandelt). Aber Ziel und Methode der Untersuchung sind hnlich: Sie sind entschieden historizistisch. (Vgl. meine Kritik in The Poverty of Historicism, Economica, N.S. XII 70 .) Und sie sind im Grunde Hegelianisch (obgleich Toynbee diesen Umstand nicht bemerkt zu haben scheint). Sein Kriterium des Wachstums von Zivilisationen, das im Fortschritt auf die Selbstbestimmung hin besteht, zeigt dies klar genug; denn Hegels Gesetz vom Fortschritt auf das Selbstbewutsein und die Freiheit ist nur zu leicht zu erkennen. (Toynbees Hegelianismus scheint durch Bradley vermittelt zu sein; das sehen wir z. B. aus seiner Bemerkung ber Relationen a.a.O. III 223: Schon der Begriff von ,Relationen zwischen ,Dingen oder ,Wesenheiten involviert einen ,logischen Widerspruch Wie lt sich dieser Widerspruch berwinden? (Ich kann hier nicht auf eine Diskussion des Problems der Relationen eingehen. Es sei mir aber die dogmatische Bemerkung gestattet, da sich alle Probleme, die Relationen betreen, durch gewisse einfache Methoden
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der modernen Logik auf Probleme von Eigenschaften oder Klassen zurckfhren lassen; mit anderen Worten: Besondere philosophische Schwierigkeiten in bezug auf Relationen gibt es nicht. Die erwhnte Methode geht auf N. Wiener und K. Kuratowski zurck; vgl. z. B. Quine, A System of Logistic 934 6 .) Nun glaube ich nicht, da die Klassikation eines Werkes als einer bestimmten Schule zugehrig schon seine Erledigung bedeutet; im Falle des Hegelschen Historizismus scheint mir aber dieses Vorgehen erlaubt zu sein; die Grnde dafr werden im zweiten Band dieses Werkes diskutiert werden. Was nun den Historizismus Toynbees betrifft, so mchte ich ausdrcklich hervorheben, da ich sehr bezweie, ob Zivilisationen geboren werden, wachsen, zusammenbrechen und sterben. Dieser Hinweis ist notwendig, da ich selbst einige der von Toynbee verwendeten Bezeichnungen anwende (etwa dann, wenn ich vom Zusammenbruch oder vom Anhalten von Gesellschaftsordnungen spreche). Aber die Bezeichnung Zusammenbruch, wie ich sie verwende, bezieht sich nicht auf alle Arten von Zivilisationen, sondern auf ein ganz bestimmtes Phnomen auf das Gefhl der Verwirrung, das mit der Ausung der magischen oder tribalistischen geschlossenen Gesellschaftsordnung verbunden ist. Dementsprechend glaube ich auch nicht, wie Toynbee, da die griechische Gesellschaft ihren Zusammenbruch zur Zeit des Peloponnesischen Krieges erlitt; ich nde die Anzeichen des Zusammenbruches, den Toynbee beschreibt, schon viel
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frher. (Vgl. dazu Anm.6 und 8 zum 0. Kapitel sowie Text.) Den Ausdruck aufgehaltene, versteinerte, zum Stillstand gebrachte usw. Gesellschaft verwende ich aber ausschlielich entweder zur Bezeichnung einer magisch-tabuistischen Gesellschaftsordnung, die durch gewaltsamen Abschlu nach auen den Einu einer oenen Gesellschaftsordnung abzuhalten versucht, oder einer Gesellschaftsordnung, die in den Kg des Stammes oder der Horde zurckzukehren versucht. Ich glaube auch nicht, da unsere westliche Zivilisation einfach als ein Element einer Klasse von Zivilisationen zu betrachten ist. Es gibt wohl viele geschlossene Gesellschaftsordnungen (deren Schicksal sehr verschieden sein mag); aber eine oene Gesellschaft wie die unsere kann sich meiner Ansicht nach nur fortentwickeln oder aufgehalten und mit Gewalt in den Kg, d. h. ins Stadium der Bestien zurckgeschafft werden. (Vgl. auch Kap. 0, insbesondere die letzte Anmerkung.) [3] Schlielich mchte ich bemerken, da fast alle historischen Darlegungen, die von einem Untergang und Verfall der Kulturen (oder Zivilisationen) sprechen, von der Bemerkung des Heraklit (sie fllen sich den Wanst wie das Vieh) und von der platonischen Theorie der niederen tierischen Instinkte beeinut sind. Damit meine ich folgendes: Alle diese Darlegungen versuchen den Verfall darauf zurckzufhren, da die herrschende Klasse niedrigere Anforderungen zu stellen beginnt, Anforderungen, die angeblich nur auf die arbeitenden
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Klassen passen. Anders und grob ausgedrckt, besagt also diese Theorie, da Zivilisationen wie die des Persischen Reiches oder des Rmischen Reiches an Wohlleben zugrunde gehen. (Vgl. Anm. 9 zu Kap. 0.)

Anmerkungen zu Kapitel 4

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Zum 5. Kapitel: NATUR UND KONVENTION 3 : . Der Zauberkreis ist ein Zitat aus Burnet, Greek Philosophy I 06, wo hnliche Probleme behandelt werden. Ich gebe aber Burnet nicht zu, da die Regelmigkeiten des menschlichen Lebens in frhen Tagen weit klarer erfat wurden als der glatte Verlauf der Natur. Dies setzt die Errichtung einer Unterscheidung voraus, die meiner Ansicht nach erst fr eine sptere Periode charakteristisch ist, d. h. fr die Periode der Ausung des Zauberkreises von Gesetz und Sitte. Weiterhin ist anzunehmen, da natrliche Perioden (die Jahreszeiten usw., vgl. Anm. 6 zu Kap. 2 und Platon [?], Epinomis 978 d .) schon sehr frh erfat wurden. Zur Unterscheidung zwischen natrlichen und normativen Gesetzen vgl. insbesondere Anm. 8 [4] zu diesem Kapitel. 36 : 2, *Vgl.R.Eisler, The Royal Art of Astrology. Eisler sagt, da die Besonderheiten der Bewegung der Planeten von den babylonischen Keilschriftlern, die die Bibliothek des Assurbanipal schufen (a.a.O. 288), als Diktate der ,Gesetze oder ,Entscheidungen gedeutet wurden, die ,Himmel und Erde regieren (pirisht sham u irsiti) und die der Schpfergott zu Beginn ausgesprochen hat (ebendort 232 f.). Und er verweist darauf (ebendort 288), da die Idee universeller Gesetze (der Natur) in diesem
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mythologischen Begri der Schiedssprche des Himmels und der Erde ihren Ursprung hat.* Zur Stelle aus Heraklit vgl, D 5 und Anm. 7 [2] zum 2. Kapitel; vgl. auch Anm. 6 sowie Text. Burnet a.a.O. gibt eine andere Deutung; er glaubt, da, als man begann, den regelmigen Verlauf der Natur zu beobachten, sich fr ihn kein besserer Name fand als der des Rechts oder der Gerechtigkeit der eigentlich die unvernderliche Sitte bedeutete, die das menschliche Leben lenkt. Ich glaube nicht, da der Begri zuerst etwas Soziales bedeutet hat und spter ausgedehnt wurde; vielmehr waren meiner Ansicht nach sowohl die sozialen als auch die natrlichen Regelmigkeiten (Ordnungen) ursprnglich nicht dierenziert; und beide wurden auf magische Weise interpretiert. 38 : 3. Der Gegensatz wird manchmal als der Gegensatz zwischen Natur und Gesetz (oder Norm oder Konvention), dann wieder als der Gegensatz zwischen der Natur und dem Setzen oder Niederlegen (nmlich normativer Gesetze) und schlielich als der Gegensatz zwischen Natur und Kunst oder zwischen natrlich und knstlich beschrieben. Es heit oft (auf Grund der Autoritt des Diogenes Laertius II 6 und 4; Doxogr. 564 b), da die Unterscheidung zwischen Natur und Konvention von Archelaos eingefhrt wurde, der der Lehrer des Sokrates gewesen sein soll. Meiner Ansicht nach macht es aber Platon in den
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Gesetzen 690 b deutlich genug, da er den thebanischen Poeten Pindar fr den Entdecker dieses Gegensatzes hlt. (Vgl. Anm. 0 und 28 zu diesem Kapitel.) Abgesehen von den Fragmenten des Pindar (die von Platon zitiert werden; vgl. auch Herodot III 38) und einigen Bemerkungen Herodots (a.a.O.) sind die frhesten erhaltenen Quellen die Fragmente ber die Wahrheit des Sophisten Antiphon (vgl. Anm. und 2 zu diesem Kap.). Nach Platons Protagoras scheint der Sophist Hippias ein Vorkmpfer fr hnliche Ansichten gewesen zu sein (vgl. Anm. 3 zu diesem Kap.). Aber die einureichste frhe Behandlung dieses Problems drfte von Protagoras selbst stammen, obgleich es mglich ist, da er eine andere Terminologie gebrauchte. (Es sei erwhnt, da Demokrit sich mit der Antithese beschftigte und da er sie auch auf soziale Institutionen wie etwa auf die Sprache anwandte; und Platon ging im Kratylos auf hnliche Weise vor, z. B. an der Stelle 384 c.) +Zur Geschichte der Antithese vgl. noch Kap. 2, Anm. 9.+ 39 :4. Ein sehr hnlicher Standpunkt ndet sich in Bertrand Russells Aufsatz A free Mans Worship (in Mysticism and Logic) sowie im letzten Kapitel von Sherringtons Man on His Nature. 45 : 5. [] Positivisten haben natrlich die Antwort bereit, da sich Normen deshalb nicht aus Stzen ber Tatsachen herleiten lassen, weil sie sinnlos sind; das zeigt aber nur,
510 Anmerkungen zu Kapitel 5

da sie (in Anlehnung an den Tractatus Wittgensteins) Sinn willkrlich auf solche Weise denieren, da nur Stze ber Tatsachen sinnvoll genannt werden knnen. (Vgl. dazu meine Logik der Forschung, Abschnitte 4 und 0.) Andrerseits werden die Anhnger des Psychologismus versuchen, Imperative als Ausdrcke von Emotionen, Normen als Verhaltensweisen und ethische Mastbe als bloe Betrachtungsweisen zu erklren. Obgleich aber die Gewohnheit, nicht zu stehlen, sicher eine psychologische Tatsache ist, ist es doch notwendig, wie im Text erklrt wird, zwischen ihr und der zugeordneten Norm zu unterscheiden. Bezglich der Frage einer Logik der Normen stimme ich vllig berein mit den meisten Ansichten, die K. Menger in seinem Buch Moral, Wille und Weltgestaltung uert. Ich glaube, da er als einer der ersten die Grundlagen einer Logik der Normen entwickelt hat. Es sei mir erlaubt, hier auch kurz der Meinung Ausdruck zu geben, da eine der Hauptquellen der intellektuellen Schwche (und auch anderer Schwchen) der fortschrittlicheren Kreise unserer Zeit darauf zurckzufhren ist, da die Wichtigkeit und die Irreduzibilitt der Normen nicht zugegeben wird. [2] Zu meiner Behauptung, da es unmglich ist, einen Satz, der eine Norm oder eine Entscheidung ausdrckt, aus einem Satz ber Tatsachen abzuleiten, lt sich folgendes ergnzend bemerken: Wenn wir die Beziehungen zwischen Stzen und Tatsachen analysieren, dann bewegen wir uns in einem Untersuchungsgebiet, das Tarski
Anmerkungen zu Kapitel 5 511

Semantik genannt hat. (Vgl. Anm. 29 zu Kap. 3 sowie Anm, 23 zu Kap. 8.) Der wichtigste Begri der Semantik ist der Begri der Wahrheit. Wie Tarski gezeigt hat, ist es (innerhalb eines sogenannten semantischen Systems die Bezeichnung stammt von Carnap) mglich, einen deskriptiven Satz wie Napoleon starb auf St. Helena aus der Konjunktion des Satzes Herr A sagt, da Napoleon auf St. Helena starb und eines zweiten Satzes, der feststellt, da die Aussage des Herrn A wahr ist, abzuleiten. (Wenn wir den Begri Tatsache in einem so weiten Sinn verwenden, da es nicht nur mglich ist, von der durch einen Satz beschriebenen Tatsache zu sprechen, sondern auch von der Tatsache, da dieser Satz wahr ist, dann knnen wir sogar sagen, da sich der Satz Napoleon starb auf St. Helena aus den zwei Tatsachen herleiten lt, da Herr A diesen Ausspruch tat und da er die Wahrheit sprach.) Es besteht nun kein Grund, warum wir auf dem Gebiet der Normen nicht auf genau analoge Weise vorgehen sollten. Wir knnten dann analog zu dem Begri der Wahrheit den Begri der Gltigkeit oder Richtigkeit (Rechtmigkeit) einer Norm einfhren. Das wrde bedeuten, da sich eine bestimmte Norm N (in einer Art Semantik von Normen) aus einem Satz herleiten lt, der behauptet, da N gltig oder richtig (rechtmig) ist; mit anderen Worten: Die Norm oder das Gebot Du sollst nicht stehlen wrde dann mit dem Satz Die Norm ,Du sollst nicht stehlen ist gltig quivalent sein. (Und wenn wir wieder den Begri Tatsache in einem so wei512 Anmerkungen zu Kapitel 5

ten Sinn verwenden, da wir von der Tatsache sprechen knnen, da eine Norm gltig oder richtig ist, dann wre es sogar mglich, Normen aus Tatsachen herzuleiten. Dies beeintrchtigt jedoch nicht die Korrektheit unserer im Text angestellten berlegungen; denn diese befassen sich einzig mit der Unmglichkeit einer Herleitung von Normen aus psychologischen oder soziologischen oder hnlichen nichtsemantischen Tatsachen.) [3] *Als ich diese Probleme zuerst diskutierte, sprach ich von Normen oder Entscheidungen, aber nie von Vorschlgen. Die Anregung, an Stelle jener Ausdrcke die Formulierung Vorschlge (proposals) zu verwenden, stammt von L. J. Russell; vgl. seinen Aufsatz Propositions and Proposals in Library of the Tenth International Congress of Philosophy (Amsterdam, .8. August 948), Bd. I, Proceedings of the Congress. In diesem wichtigen Aufsatz werden Tatsachenfeststellungen oder Stze von Vorschlgen zur Annahme einer bestimmten Verhaltensweise (einer bestimmten Verfahrensweise, gewisser Normen, gewisser Ziele und Zwecke) unterschieden; die letzten werden Vorschlge genannt. Der groe Vorteil dieser Terminologie liegt in folgendem: Wie jedermann wei, kann man einen Vorschlag diskutieren; hingegen ist es nicht so klar, ob und in welchem Sinn man eine Entscheidung oder eine Norm diskutieren kann; wenn man von Normen oder Entscheidungen spricht, so untersttzt man also aller Wahrscheinlichkeit nach die Ansicht, da diese Dinge jenseits aller Diskussion stehen
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(entweder ber ihr, wie einige dogmatische Theologen und Metaphysiker sagen, oder als Unsinn unter ihr, wie es die Meinung einiger Positivisten ist). In der Terminologie L. J. Russells knnen wir also sagen, da ein Satz ausgesagt (asserted) oder behauptet (stated) werden kann (eine Hypothese wird angenommen oder akzeptiert), whrend ein Vorschlag unterbreitet bzw. angenommen (adopted) wird. Und wir werden die Tatsache seiner Annahme von dem Vorschlag, der angenommen wurde, unterscheiden. Unsere dualistische These wird damit zur These, da sich Vorschlge nicht auf Tatsachen reduzieren lassen (oder auf Stze, d. h. auf die Feststellung von Tatsachen), obgleich sie sich auf Tatsachen beziehen.* 46 : 6. Vgl. auch Anm. 70 zu Kap. 0. Obgleich es mir scheint, da meine Ansicht im Text klar genug zum Ausdruck kommt, mchte ich doch die meiner Meinung nach wichtigsten Prinzipien einer humanitren Ethik, die die Gleichberechtigung der Menschen anerkennen, formulieren: [] Toleranz gegenber allen, die nicht intolerant sind und die nicht die Intoleranz propagieren (zu dieser Ausnahme vgl. Anm. 4 und 6 zum 7. Kapitel). Dieses Prinzip hat insbesondere zur Folge, da man die moralischen Entscheidungen anderer mit Achtung behandeln soll, solange diese Entscheidungen nicht selbst dem Toleranzprinzip widersprechen.
514 Anmerkungen zu Kapitel 5

[2] Die Anerkennung der Tatsache, da die sittliche Dringlichkeit ihre Grundlage in der Dringlichkeit des Leidens oder des Schmerzes ndet. Aus diesem Grunde wrde ich vorschlagen, die utilitaristische Formel vermehre die Glckseligkeit, so sehr du nur kannst (maximize happiness) durch die Formel vermindere das Leiden, sosehr du nur kannst (minimize suering) zu ersetzen. Ich halte es fr mglich, da eine so einfache Formel zu einem der Grundprinzipien (zugestandenermaen nicht dem einzigen) der entlichen Politik gemacht werden kann. (Im Gegensatz dazu scheint es so zu sein, da das Prinzip vermehre die Glckseligkeit, sosehr du nur kannst die Tendenz hat, zu einer sehr gefhrlichen Art von wohlwollender Diktatur zu fhren.) Wir sollten einsehen, da Leiden und Glckseligkeit vom moralischen Standpunkt aus nicht als symmetrisch behandelt werden drfen; d. h., die Forderung nach Glckseligkeit ist auf jeden Fall viel weniger dringlich als die Hilfe fr die Leidenden und der Versuch, das Leiden zu verhindern. (Die letzte Aufgabe hat wenig mit Geschmacksfragen zu tun, die erste viel.) Vgl. auch Anm. 2 zu Kap. 9. [3] Der Kampf gegen die Tyrannei; mit anderen Worten der Versuch, die anderen Prinzipien nicht durch das Wohlwollen der an der Macht bendlichen Personen, sondern durch die institutionellen Mittel einer Gesetzgebung zu sichern. (Vgl. Abschnitt II zu Kap. 7.)
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48 : 7. Vgl.Burnet, Greek Philosophy I 7. Die Lehre des Protagoras, auf die in diesem Absatz verwiesen wird, ndet sich im Protagoras Platons 322 a .; vgl. auch Theaitetos insbesondere 72 b (siehe auch Anm. 27 zu diesem Kapitel). Der Unterschied zwischen dem Platonismus und dem Protagoreismus lt sich vielleicht auf folgende Weise kurz beschreiben: (Platonismus.) In der Welt besteht eine inhrente natrliche Gerechtigkeit und Ordnung, d. h. die ursprngliche oder die erste Ordnung, in der die Natur geschaen wurde. Daher ist das Vergangene gut und jede Entwicklung, die zu neuen Normen fhrt, schlecht. (Protagoreismus.) Der Mensch ist das sittliche Wesen in dieser Welt. Die Natur ist weder sittlich noch unsittlich. Daher ist es dem Menschen mglich, auch die Dinge zu verbessern. Es ist nicht unwahrscheinlich, da Protagoras von Xenophanes beeinut wurde, der als einer der ersten die Haltung der oenen Gesellschaft ausdrckte und den historischen Pessimismus Hesiods kritisierte: Nicht gleich zu Anfang zeigten die Gtter den Sterblichen alles, sondern sie nden das Bessere suchend im Laufe der Zeiten. (Vgl. Diels 8.) Platons Nee und Nachfolger Speusippos scheint zu dieser fortschrittlichen Ansicht zurckgekehrt zu sein. (Vgl. Aristoteles, Metaphysik 072 b 30 und Anm. zu Kap. ), und es scheint, da mit ihm die Akademie eine liberalere Haltung auch auf dem Gebiete der Politik angenommen hat.
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Was nun die Beziehung der Lehre des Protagoras zu den Lehren der Religion betrifft, so sei darauf verwiesen, da er der Ansicht war, da Gott durch den Menschen wirkt. Vgl. damit z. B. die Feststellung von K.Barth (Credo, 936, 88): Die Bibel ist ein menschliches Dokument (d. h. der Mensch ist das Werkzeug Gottes). 49 : 8. Sokrates Lehre von der Autonomie der Ethik (die nahe verwandt ist mit seiner Behauptung von der Unwichtigkeit der Probleme der Natur) ndet besonders Ausdruck in seinem Glauben an die Selbstgengsamkeit oder Autarkie des tugendhaften Individuums. Dieser Glauben steht in schroem Gegensatz zur Ansicht Platons; das wird spter zu zeigen sein; vgl. insbesondere Anm. 25 zu Kap. 6 und Text. (Vgl. auch Anm. 56 zu Kap. 0.) 5 : 9. So ist es z.B. unmglich, Institutionen zu konstruieren, die unabhngig davon arbeiten, wie sie bemannt werden. Zu diesem Problem vgl.Kap. 7 (Text zu Anm.78, 2223) und insbesondere Kap. 9. 53 : 0. Zu Platons Diskussion des Naturalismus Pindars vgl. Gorgias 484 b; 488 b; Gesetze 690 b (weiter unten in diesem Kapitel zitiert; vgl. Anm. 28); 74 e/75 a; vgl. auch 890 a/b. (Siehe auch Adams Anmerkung zu Staat 359 c 20.)
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54 : . Antiphon verwendet einen Ausdruck, den ich in Verbindung mit Parmenides und Platon weiter oben mit trgerische Meinung bersetzt habe (vgl. Anm. 5 zu Kap. 3); und er setzt diese in gleicher Weise der Wahrheit entgegen. Vgl. auch Barkers bersetzung in Greek Political Theory I, Plato and His Predecessors 98 83. 55 : 2. Siehe Antiphon, ber die Wahrheit; vgl. Barker a.a.O. 8385. Siehe auch die nchste Anmerkung, [2]. 55 : 3. Hippias wird von Platon in seinem Protagoras 337 c zitiert. Was die nchsten vier Zitate betrifft vgl. () Euripides Ion 854 .; und (2) desselben Phoenissai 538; vgl. auch Gomperz, Griechische Denker 325, sowie Barker a.a.O. 75; vgl. auch Platons scharfen Angri auf Euripides im Staat 568 ad. Weiterhin Alkidamas in Schol. to Arist. Rhet. I 3 373 b 8. (4) Lykophron in Aristoteles Fragmenten (Ausgabe Rose) 9 (vgl. auch den Pseudo-Plutarch, De Nobil. 8.2). Weitere Bemerkungen zur athenischen Bewegung gegen die Sklaverei in Kap. 4, Text zu Anm. 8 sowie Anm. 29, wo sich weitere Hinweise nden; vgl. auch Anm. 8 zu Kap. 0. [] Es verdient bemerkt zu werden, da die meisten Platoniker mit dieser Bewegung fr die Gleichberechtigung der Menschen nicht sympathisieren. Barker z. B. diskutiert sie unter der berschrift Allgemeiner Ikonoklasmus; vgl. auch a.a.O. 75. (Siehe auch das zweite Zitat aus Fields Plato, das in Kap. 6, Text zu Anm. 3, angefhrt
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wird.) Dieser Mangel an Sympathie geht zweifellos auf platonische Einsse zurck. [2] Zur Tatsache, da Platon und Aristoteles der Lehre von der Gleichberechtigung der Menschen feindlich gegenberstehen, vgl. insbesondere Anm. 49 zu Kap. 8 und Text sowie auch Anm. 34 (Text) zu Kap. . Diese Einstellung der beiden Philosophen und ihre verheerenden Auswirkungen wurde von W. W. Tarn in seinem ausgezeichneten Aufsatz Alexander the Great and the Unity of Mankind (Proc. of the Brit. Acad. XI 933 23 .) klar beschrieben. Tarn gibt zu, da im fnften Jahrhundert eine Bewegung existiert haben mag, die etwas Besseres als jene oberchliche Einteilung in Griechen und Barbaren anstrebte; aber, so setzt er fort, dies hatte keine Bedeutung fr die Geschichte, denn all dies wurde von den idealistischen Philosophien im Keime erstickt. Platon und Aristoteles lieen keine Unklarheiten ber ihre Ansichten aufkommen. Platon sagte, da alle Barbaren von Natur aus Feinde seien; es war angemessen, gegen sie Krieg zu fhren, und sogar, sie zu versklaven. Aristoteles behauptete, alle Barbaren seien von Natur aus Sklaven (24, Hervorhebung von mir). Ich stimme mit dem Urteil Tarns ber den verderblichen und antihumanitren Einu der idealistischen Philosophen, d. h. Platons und Aristoteles, vllig berein. Ich billige auch den Nachdruck, den Tarn auf die ungeheure Bedeutung der Gleichberechtigungsidee sowie der Idee der Einheit der Menschheit legt (vgl,
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a.a.O. 47). Einzig in der Einschtzung der Bewegung fr die Gleichberechtigung des fnften Jahrhunderts und der frhen Kyniker kann ich ihm nicht zur Gnze folgen. Ich halte seine Behauptung fr mglicherweise richtig, da der historische Einu dieser Bewegungen klein war im Vergleich mit dem Einu Alexanders. Aber ich glaube, da er sie hher bewertet htte, htte er nur den Parallelismus zwischen dem Weltbrgertum und der Bewegung gegen die Sklaverei zu Ende verfolgt. Der Parallelismus zwischen den Beziehungen GriechenBarbaren und freie Menschen-Sklaven wird von Tarn an der hier zitierten Stelle deutlich genug gezeigt; und wenn wir die fraglose Strke der Bewegung gegen die Sklaverei in Betracht ziehen (siehe insbesondere Anm. 8 zuKap. 4), dann gewinnen die verstreuten Bemerkungen (z. B. Demokrits) gegen die Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren sehr an Bedeutung. Vgl. auch Aristoteles, Politik III 5, 7 (278 a); IV 4,6 (39 b); und III 2,2 (275 b). Siehe auch Anm. 48 zu Kap. 8. 57 : 4. Zum Thema Rckkehr zu den Bestien vgl. Kap. 0, Anm. 70 und Text. 6 : 5. Nhere Ausfhrungen zu Sokrates Lehre von der Seele nden sich im Kap. 0, Text zu Anm. 44. 6 : 6. Der Ausdruck natrliches Recht, in einem gleichheitlichen Sinne verwendet, kam durch die Stoiker nach
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Rom (hier ist der Einu des Antisthenes in Betracht zu ziehen; vgl. Anm. 48 zu Kap. 8) und wurde durch das rmische Recht popularisiert (vgl. Institutiones II ,2; I 2,2). Er wird auch vom heiligen Thomas verwendet (Summa II 9,2). Die verwirrende Verwendung des Ausdrucks natural law oder natrliches Gesetz an Stelle von natrliches Recht durch moderne Thomisten ist zu bedauern, desgleichen der Umstand, da sie auf die Gleichberechtigungsidee so geringes Gewicht legen. 62 : 7. Die monistische Tendenz, die zuerst zum Versuch fhrte, die Normen als Naturgesetze zu deuten, fhrt neuerdings in die entgegengesetzte Richtung: Naturgesetze werden als Konventionen interpretiert. Dieser (physikalische) Typus des Konventionalismus wurde von Poincare auf die Erkenntnis des verbalen oder konventionellen Charakters der Denitionen gegrndet. Poincare und nach ihm Eddington verweisen darauf, da wir natrliche Gegenstnde durch die Gesetze denieren, denen sie gehorchen. Daraus wird der Schlu gezogen, da diese Gesetze, also die Naturgesetze, Denitionen sind, d. h. verbale Konventionen. Vgl. Eddingtons Brief in Nature, CIIL 94 4: Die Elemente (der physikalischen Theorie) lassen . . . sich nur . . durch die Gesetze denieren, denen sie gehorchen; so da wir schlielich vor der Tatsache stehen, da wir in einem rein formalen System im Kreise herumlaufen und unseren eigenen Schwanz zu fangen suchen. Eine Analyse und Kritik
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dieser Form des Konventionalismus ndet sich in meiner Logik der Forschung, insbesondere 40 . 62 : 8. [] Die Honung, ein Argument oder eine Theorie zu nden, die uns helfen kann, unsere Verantwortung zu tragen, ist meiner Ansicht nach eines der Grundmotive der sogenannten wissenschaftlichen Ethik. Die wissenschaftliche Ethik ist in ihrer absoluten Unfruchtbarkeit eines der erstaunlichsten sozialen Phnomene, Was hat sie vor? Will sie uns sagen, was wir zu tun haben, d. h., will sie einen Kodex von Normen auf wissenschaftlicher Grundlage errichten, so da wir nur im Inhaltsverzeichnis nachzusehen brauchen, wenn wir vor einer schwierigen moralischen Entscheidung stehen? Das wre sicher ein absurdes Unterfangen ganz abgesehen von der Tatsache, da sein Gelingen die persnliche Verantwortlichkeit und damit die Ethik selbst zerstren mte. Oder will sie wissenschaftliche Kriterien fr die Wahrheit oder Falschheit sittlicher Urteile, d. h. fr die Wahrheit oder Falschheit von Urteilen, geben, die Ausdrcke wie gut und schlecht involvieren? Aber es ist ja klar, da sittliche Urteile vllig irrelevant sind. Nur ein Liebhaber von Skandalgeschichten ist daran interessiert, die Menschen oder ihre Handlungen zu beurteilen; urteile nicht das ist fr einige von uns eines der grundlegenden und viel zuwenig beachteten Gesetze einer humanitren Ethik. (Es kann wohl geschehen, da wir einen Verbrecher entwanen und einsperren mssen, um ihn an der
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Wiederholung seiner Verbrechen zu hindern; aber ein Zuviel an moralischer Beurteilung und insbesondere an moralischer Indignation ist immer ein Zeichen von Heuchelei und Pharisertum.) Somit wre eine Ethik moralischer Beurteilungen nicht nur irrelevant, sondern sogar unmoralisch. Die berragende Bedeutung moralischer Probleme beruht natrlich auf der Tatsache, da wir mit verstndiger Voraussicht zu handeln vermgen und da wir uns selbst fragen knnen, wie unsere Ziele beschaen sein sollen, d. h. wie wir handeln sollen. Fast alle Moralphilosophen, die das Problem, wie wir handeln sollen, zu dem ihren gemacht haben, haben mit der mglichen Ausnahme Kants die gestellte Frage entweder durch Bezugnahme auf die menschliche Natur beantwortet (sogar Kant schlug diesen Weg ein, als er sich auf die menschliche Vernunft bezog) oder dadurch, da sie auf die Natur des Guten verwiesen. Der erste dieser Wege fhrt zu nichts, denn alle uns mglichen Handlungen beruhen auf der menschlichen Natur; somit lt sich das Problem der Ethik auch so formulieren: Welchen Elementen der menschlichen Natur soll ich folgen, welche soll ich entwickeln, welche soll ich unterdrcken oder beherrschen? Aber auch der zweite Weg fhrt zu keiner Lsung; denn nehmen wir an, da eine Analyse des Guten sich in einem Satz wie diesem darstellen lt: Das Gute ist das und das (oder das und das ist gut), dann mssen wir doch stets die Frage stellen: Was folgt daraus? Warum sollte ich mich damit beschftigen? Nur wenn das
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Wort gut in einem ethischen Sinn verwendet wird, d. h., nur wenn es so verwendet wird, da es dasselbe bedeutet wie das, was ich tun soll, nur dann kann ich aus der Information x ist gut den Schlu ziehen, da ich x tun soll. Mit anderen Worten soll das Wort gut berhaupt einen ethischen Sinn haben, dann mu es als das, was ich (oder wir) tun (oder durchfhren) sollen, deniert werden. Wenn es aber so deniert wird, dann wird sein Sinn durch den denierenden Ausdruck bereits erschpft, und es lt sich in jedem Zusammenhang durch diesen Ausdruck ersetzen, kann also selbst nicht mehr inhaltlich zu unserem Problem beitragen. (Vgl. auch Anm.49 [3] zu Kap. des zweiten Bandes.) Alle Diskussionen ber die Denition des Guten oder ber die Mglichkeit, es zu denieren, sind daher vllig unntz. Sie zeigen nur, wie wenig die wissenschaftliche Ethik mit den drngenden Problemen des sittlichen Lebens zu tun hat. Und sie zeigen dadurch, da die wissenschaftliche Ethik eine Form des Ausweichens ist, eine Flucht vor den Realitten des sittlichen Lebens, d. h. vor unseren sittlichen Verantwortlichkeiten. (Angesichts dieser berlegungen ist es nicht berraschend, wenn wir nden, da der Beginn der wissenschaftlichen Ethik in der Form eines ethischen Naturalismus zeitlich mit dem zusammenfllt, was man die Entdeckung der persnlichen Verantwortlichkeit nennen knnte. Vgl., was in Kap. 0, Text zu Anm. 2728 und 5557 ber die oene Gesellschaft und die Groe Generation gesagt wird.)
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[2] Es ist vielleicht passend, wenn wir in diesem Zusammenhang auf eine Form des Ausweichens vor der Verantwortung verweisen, die besonders im juridischen Positivismus der Hegelschen Schule wie auch in einem nahe verwandten spiritualistischen Naturalismus auftritt. Da das Problem noch immer relevant ist, lt sich aus dem Umstand ersehen, da ein Autor von den hervorragenden Eigenschaften eines Catlin in diesem wichtigen Punkt (wie auch in einer Zahl anderer Punkte) von Hegel abhngig bleibt; meine Analyse wird daher die Form einer Kritik der Argumente annehmen, die Catlin zugunsten des spirituellen Naturalismus und gegen die Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und normativen Gesetzen anfhrt. (Vgl. G. E. G. Catlin, A Study of the Principles of Politics 930 9699.) Catlin beginnt mit einer klaren Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und Gesetzen die menschliche Gesetzgeber verfertigten; und er gibt zu, da es auf den ersten Blick oenkundig unwissenschaftlich zu sein scheint, wenn man den Ausdruck Naturgesetze auf Normen anwendet, da es eine solche Verwendungsweise versumt, zwischen dem menschlichen Gesetz, das Mittel zu seiner Durchsetzung erfordert, auf der einen Seite und den physikalischen Gesetzen, denen man nicht zuwiderhandeln kann, auf der andern zu unterscheiden. Aber dann versucht er zu zeigen, da dies nur so zu sein scheint und da unsere Kritik der angegebenen Verwendungsweise des Worts Naturgesetz zu voreilig war. Dem
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folgt eine klare Darlegung des spirituellen Naturalismus, d. h. eine Unterscheidung zwischen dem vernnftigen Gesetz, das der Natur entspricht, und Gesetzen anderer Art: Das vernnftige Gesetz involviert also eine Formulierung menschlicher Tendenzen, oder kurz gesagt, es ist eine Nachbildung des ,natrlichen Gesetzes, das von der politischen Wissenschaft ,aufzunden ist. Das vernnftige Gesetz wird in diesem Sinne entdeckt, wie nachdrcklich gesagt werden mu, und nicht verfertigt. Es ist ein Abbild des natrlichen sozialen Gesetzes (d. h. ein Abbild von Gesetzen, die ich soziologische Gesetze genannt habe; vgl. Text zu Anmerkung 8 in diesem Kapitel). Catlin schliet, indem er hervorhebt, da, insoferne das Gesetzessystem mehr und mehr rational wird, seine Regeln den Charakter willkrlicher Gebote verlieren und bloe Deduktionen werden, die man aus den primren sozialen Gesetzen zieht (d. h. aus dem, was ich soziologische Gesetze genannt habe). [3] Wir haben hier eine sehr nachdrckliche Formulierung des spirituellen Naturalismus. Die Kritik der Form, in der er sich bei Catlin ndet, ist um so wichtiger, als Catlin seine Lehre mit einer Theorie der sozialen Technik verbindet, die auf den ersten Blick der hier vorgetragenen hnlich zu sein scheint (vgl. Kap, 3, Text zu Anm, 3, sowie Kap. 9, Text zu Anm. 8). Bevor ich mit der Diskussion beginne, mchte ich erklren, warum ich glaube, da Catlins Ansicht vom Positivismus Hegels abhngt. Eine solche Erklrung ist notwendig, denn Cat526 Anmerkungen zu Kapitel 5

lin verwendet seinen Naturalismus, um vernnftige von anders gearteten Gesetzen zu trennen; er verwendet ihn, mit anderen Worten, um zwischen dem gerechten und dem ungerechten Gesetz zu unterscheiden; und diese Unterscheidung steht scheinbar in keinerlei Zusammenhang mit dem Positivismus, d. h. mit der Anerkennung des bestehenden Gesetzes als des allein gltigen Mastabs der Gerechtigkeit. Dennoch glaube ich, da die Ansichten Catlins dem Positivismus sehr nahe stehen; und als Grund dafr kann ich anfhren, da er nur die vernnftigen Gesetze fr wirksam und insoferne fr in genau Hegelschem Sinne bestehendhlt. Denn wir lesen, da unser Statut ein Stck Papier bleibt, solange unser Recht nicht vernnftig ist, d. h. solange es sich nicht in bereinstimmung mit den Gesetzen der menschlichen Natur bendet. Diese Behauptung ist reinster Positivismus; sie erlaubt uns nmlich aus der Tatsache, da ein bestimmter Kodex nicht nur ein Stck Papier ist, da er vielmehr erfolgreich durchgesetzt wird, seinen vernnftigen Charakter zu erschlieen; anders ausgedrckt: Jede Gesetzgebung und jede Despotie, die sich als nicht nur auf dem Papier stehend erweist, ist ein Abbild der menschlichen Natur und damit gerecht. [4] Als nchstes gebe ich eine kurze Kritik der Argumente Catlins gegen die Unterscheidung zwischen (a) Naturgesetzen, die nicht durchbrochen werden knnen, und (b) normativen Gesetzen, die vom Menschen geschaen und mit Hilfe von Sanktionen durchgesetzt werden; eine
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Unterscheidung, die Catlin zunchst selbst sehr klar zieht. Die Beweisfhrung Catlins besteht aus zwei Teilen. Er zeigt, (a ) da die Naturgesetze in einem gewissen Sinn vom Menschen geschaen sind und da sie in einem gewissen Sinn auch durchbrochen wer den knnen; und (b ), da normative Gesetze in einem gewissen Sinn nicht durchbrochen werden knnen. Ich beginne mit (a ): Die Naturgesetze des Physikers, so schreibt Catlin, sind nicht grobe Tatsachen, sie sind Rationalisierungen der physikalischen Welt, seien sie nun vom Menschen dieser Welt auferlegt, oder gerechtfertigt, weil die Welt im Grunde rational und geordnet ist. Er versucht weiterhin zu zeigen, da Naturgesetze annulliert werden knnen, wenn neue Tatsachen uns zu ihrer Umformung zwingen. Meine Antwort auf dieses Argument: Ein Satz, der mit der Absicht aufgestellt wird, ein Naturgesetz zu formulieren, ist sicher vom Menschen geschaen. Wir machen die Hypothese, da es eine gewisse unvernderliche Regelmigkeit gibt, d. h., wir beschreiben die vermutete Regelmigkeit mit Hilfe eines Satzes, des Naturgesetzes. Aber als Wissenschaftler sind wir bereit, von der Natur zu lernen, da wir uns geirrt haben; wir sind bereit, das Gesetz umzuformen, wenn neue Tatsachen, die unserer Hypothese widersprechen, uns zeigen, da unser vermutetes Gesetz gar kein Gesetz war, eben weil es durchbrochen wurde. Mit anderen Worten: Indem der Wissenschaftler die Annullierung durch die Natur zur Kenntnis nimmt, zeigt er, da er eine Hypothese nur so lange akzeptiert, als
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sie noch nicht falsiziert worden ist; was darauf hinausluft, da er ein echtes Naturgesetz als eine Regel ansieht, die nicht durchbrochen werden kann, da er ja die Durchbrechung seiner Regel als einen Beweis dafr nimmt, da sie kein Naturgesetz darstellte. Weiter: Obgleich die Hypothese vom Menschen geschaen ist, kann es sich herausstellen, da wir unfhig sind, ihre Falsikation zu verhindern. Dies zeigt, da wir mit der Aufstellung der Hypothese nicht zugleich die Regelmigkeit geschaen haben, die sie zu beschreiben beabsichtigt (obgleich wir eine neue Reihe von Problemen schufen und obgleich es der Fall sein kann, da wir zu neuen Beobachtungen und Interpretationen angeregt haben), (b ) Es ist nicht wahr, sagt Catlin, da der Verbrecher bei der Durchfhrung der verbotenen Handlung das Gesetz ,bricht Das Gesetz sagt nicht: ,Du kannst nicht Es sagt: ,Du sollst nicht, oder: ,Diese Strafe wird dir auferlegt werden Als Gebot, so setzt Catlin fort, kann es gebrochen werden, aber als Gesetz wird es in einem sehr wirklichen Sinn nur dann gebrochen, wenn die Bestrafung nicht verhngt wird Insoferne das Gesetz erfllt und seine Sanktionen durchgefhrt werden nhert es sich dem physikalischen Gesetz. Die Antwort darauf ist einfach. In welchem Sinn auch immer wir davon sprechen, da ein Gesetz durchbrochen wird das juridische Gesetz kann durchbrochen werden; keine verbale Verbesserung kann daran etwas ndern. Nehmen wir einmal mit Catlin an, da ein Verbrecher das Gesetz nicht brechen
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kann, da das Gesetz nur durchbrochen wird, wenn er nicht die von ihm vorgeschriebene Strafe empfngt. Selbst unter diesen Umstnden ist eine Durchbrechung des Gesetzes mglich. Das geschieht z. B. dann, wenn die Beamten des Staates sich weigern, den Verbrecher zu bestrafen. Und auch in einem Staate, in dem tatschlich alle Sanktionen durchgefhrt werden, knnten die Beamten anders entscheiden, sie knnten eine solche Durchfhrung verhindern und damit das Gesetz im Sinne Catlins durchbrechen. (Dabei wrden sie das Gesetz auch im blichen Sinne brechen, d. h., sie wrden sich eines Verbrechens schuldig machen und am Ende vielleicht bestraft werden; aber das ist eine ganz andere Frage.) Anders ausgedrckt: Ein normatives Gesetz wird stets von Menschen und ihren Sanktionen durchgesetzt, und es ist daher von einer Hypothese grundstzlich verschieden. Mit Gesetzen knnen wir die Unterdrckung von Mord oder von Akten der Freundlichkeit, von Wahrheit oder von Falschheit, von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit erzwingen. Aber wir knnen nicht die Sonne zwingen, ihren Lauf zu ndern. Kein noch so langes Argument kann diesen Abgrund berbrcken. 63 : 9. Auf die Natur des Glcks und des Elends nimmt der Theaitetos Bezug (75 c). Zur engen Beziehung zwischen Natur und Form oder Idee vgl. insbesondere Staat 597 ad, wo Platon zuerst die Form oder Idee eines Bettes diskutiert, um sie dann das Bett, das von Natur
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aus existiert, und das von Gott geschaen wurde, zu nennen (597 b). An der gleichen Stelle unterscheidet er in entsprechender Weise zwischen dem Knstlichen (oder dem hergestellten Ding, das eine Nachahmung ist) und der Wahrheit, Vgl. auch Adams Bemerkung zum Staat 597 b 0 (mit dem Zitat von Burnet) und die Anmerkungen zu Staat 476 b 3, 50 b 9, 525 c 5; weiter Theaitetos 74 b (und Cornfords Anmerkung zu p. 85 in seinem Buch Platos Theory of Knowledge). Vgl. auch Aristoteles, Metaphysik 05 a 4. 64 : 20. Zu Platons Angri auf die Kunst vgl. das letzte Buch des Staats und insbesondere die in Anm. 39 zu Kap. 4 erwhnten Stellen aus Staat 600 a605 b. 64 : 2. Vgl. Anm. , 2, 3 zu diesem Kap. und Text. Meine Behauptung, da Platon mit den naturalistischen Theorien Antiphons zumindest teilweise bereinstimmt (obgleich er sich natrlich nicht zum Gleichheitsprinzip Antiphons bekennt), wird vielen, insbesondere aber den Lesern von Barkers Werk, merkwrdig erscheinen. Und es wird sie vielleicht noch mehr berraschen, zu hren, da Platon und Antiphon nicht so sehr in theoretischen Fragen als in Fragen der moralischen Praxis voneinander abweichen und da Antiphon und nicht Platon in der praktischen Streitfrage des Gleichberechtigungsprinzips moralisch im Recht war. (Platon stimmte mit dem Prinzip des Antiphon berein, da die Natur wahr und recht sei;
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das wird in diesem Kapitel, Text zu Anm. 23 und 28 sowie Anm. 30, vgl. unten ausgefhrt.) 64 : 22. Diese Stellen stammen aus dem Sophisten 266b und 265 e. Sie enthalten aber auch (265 c) eine (den Gesetzen hnliche vgl. Text zu Anm. 23 und 30 dieses Kap.). Kritik einer Theorie, die man eine materialistische Interpretation des Naturalismus nennen knnte und die vielleicht von Antiphon vertreten wurde; ich meine die Lehre, da die Natur ohne Verstand zeugt. 65 : 23. Vgl. Gesetze 892 a und c. Bezglich der Lehre von der Verwandtschaft der Seele mit den Ideen siehe auch Anm. 5 [8] zu Kap. 3. Zur Verwandtschaft der Naturen und Seelen siehe Aristoteles, Metaphysik 05 a 4 und vgl. diese Stelle mit den zitierten Stellen aus den Gesetzen und mit 896 d/e: Die Seele wohnt in allen Dingen, die sich bewegen Vgl. weiterhin die folgenden Stellen, in denen die Ausdrcke Naturen und Seelen in klar synonymer Weise verwendet werden: Staat 485 a/b, 485 e/486 a und d, 486 b (Natur); 486 b und d (Seele), 490 e/49 a (beide), 49 b (beide) und viele andere Stellen (vgl. auch Adams Bemerkung zu 370 a 7). Die Verwandtschaft wird in 490 b (0) direkt behauptet. Bezglich der Verwandtschaft zwischen Natur, Seele und Rasse, vgl. 50 e, wo die Wendung philosophische Naturen oder Seelen, die sich in analogen Stellen ndet, durch Rasse der Philosophen
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ersetzt wird. Es gibt auch eine Verwandtschaft zwischen der Seele oder Natur und der sozialen Klasse oder Kaste; siehe z. B. Staat 435 b. Die Verbindung zwischen der Rasse und der Kaste ist fundamental, denn die Kaste wird von Anfang an (45 a) mit der Rasse identiziert. Natur wird im Sinne von Talent oder Bedingung der Seele in Gesetze 648 d, 650 b, 655 e, 70 b, 766 a, 875 c verwendet. Die Prioritt oder Superioritt der Natur ber die Kunst wird in den Gesetzen 889 a . behauptet. Bezglich natrlich im Sinne von recht oder wahr siehe Gesetze 686 d und 88 e. 66 : 24. Vgl. die in Anm. 32 [] (a) und (c) zu Kap. 4 angefhrten Stellen. 67 : 25. Die sokratische Lehre von der Autarkie wird in Staat 387 d/e erwhnt. (Vgl. Apologie 4 c ., und Adams Anm. zu Staat 387 d 25.) Dies ist nur eine der wenigen verstreuten Stellen, die an die Lehren des Sokrates erinnern; sie steht aber in direktem Widerspruch zur Hauptlehre des Staats, so, wie sie im Text dargestellt wird (siehe auch Anm. 36 zu Kap. 6 sowie Text); man sieht das, wenn man die zitierte Stelle 369 c . und vielen hnlichen Stellen gegenberstellt. 67 : 26. Vgl. z. B. die im Text zu Anm. 29, Kap. 4, zitierte Stelle. Zu den seltenen und ungemeinen Naturen vgl. Staat 49 a/b und viele andere Stellen, z. B. Timaios 5 e:
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An der Vernunft haben die Gtter und nur sehr wenige Menschen Anteil. Zum sozialen Standort vgl.49 d (und Kap. 3 des zweiten Bandes). Whrend Platon (und Aristoteles vgl. Anm. 4 zu Kap. des zweiten Bandes sowie Text) manuelle Arbeit als entwrdigend bezeichnete, scheint Sokrates eine ganz andere Haltung eingenommen zu haben. (Vgl. Xenophon, Memorabilia II 7; 70; Xenophons Darstellung wird in gewissem Ausmae durch die Einstellung des Antisthenes und des Diogenes der manuellen Arbeit gegenber besttigt; vgl. auch Anm. 56 zu Kap. 0.) 69 : 27. Vgl. insbesondere Theaitetos 72 b (vgl. auch Cornfords Bemerkungen zu dieser Stelle in Platos Theory of Knowledge). Siehe auch Anm. 7 zu diesem Kap. Einige Zeitgenossen Platons, die noch immer die Schriften des Protagoras besaen, behaupteten, der Staat sei diesen hnlich; dieser Umstand wird vielleicht dadurch erklrt, da die Lehren Platons konventionalistische Elemente enthielten. (Vgl. dazu Diog. Laert. III 37.) Zur Kontrakttheorie Lykophrons vgl. Anm. 4354 zu Kap. 6 (insbesondere Anmerkung 46) sowie die dazugehrigen Textstellen. 69 : 28. Vgl. Gesetze 690 b/c; vgl. Anm. 0 zu diesem Kapitel. Platon erwhnt den Naturalismus Pindars auch in Gorgias 484 b, 488 b; Gesetze 74 c, 890 a. Zum Gegensatz zwischen uerem Zwang auf der einen Seite und (a)
534 Anmerkungen zu Kapitel 5

freier Handlung, (b) Natur auf der anderen vgl. Staat 603 c und Timaios 64 d. (Vgl. auch Staat 466 cd, zitiert in Anm. 30 zu diesem Kapitel.) 70 : 29. Vgl. Staat 369 bc. Dies ist ein Teil der Vertragstheorie. Die nchste Stelle, das erste Auftreten des naturalistischen Prinzips im vollkommenen Staat, ist 370 a/bc. (Der Naturalismus wird im Staat zuerst von Glaukon in 358 e . erwhnt; aber natrlich ist dies nicht Platons eigene naturalistische Lehre.) [] Zur weiteren Entwicklung des naturalistischen Prinzips der Arbeitsteilung und zur Rolle, die dieses Prinzip in Platons Theorie der Gerechtigkeit spielt, vgl. insbesondere Kap.6, Text zu Anm.6, 23, 40. [2] Eine moderne radikale Version des naturalistischen Prinzips bei Marx: Jeder nach seinen Fhigkeiten, jedem nach seinen Bedrfnissen (zitiert bei Lenin, Staat und Revolution, Berlin 98, 89), Vgl. auch Anm. 8 zu Kap. 3 des zweiten Bandes, Anm. 3 zu Kap.3 des zweiten Bandes, Anm. 48 zu Kap. 4 des zweiten Bandes sowie Text. Zur historischen Wurzel dieses Prinzips des Kommunismus vgl.Platons Maxime Freunde haben alle Dinge, die sie besitzen, miteinander gemeinsam (vgl. Anm. 36 zu Kap. 6 und die dazugehrige Textstelle; zu Platons Kommunismus vgl. auch Anm. 34 zu Kap. 6, Anm. 30 zu Kap. 4 sowie die dazugehrigen Textstellen); vgl. auch diese Stellen mit der Apostelgeschichte: Alle Glubigen hielten eng zusammen und hatten alles gemeinsam. Sie
Anmerkungen zu Kapitel 5 535

verkauften ihr Hab und Gut und verteilten den Erls an alle Bedrftigen (2, 4445). Auch gab es unter ihnen keinen Bedrftigen Denn einem jeden wurde nach seinem Bedarf zugeteilt (4, 3435). 7 : 30. Vgl. Anm. 23 und Text. Die Zitate im gegenwrtigen Absatz sind alle aus den Gesetzen: () 889 ad (vgl. die sehr hnliche Stelle im Theaitetos 72 b); (2) 896 ce: (3) 8906/89 a. Zum nchsten Absatz (d. h. zu meiner Behauptung, da der Naturalismus Platons unfhig ist, praktische Probleme zu lsen) diene folgendes als Illustration: Viele Naturalisten haben die Behauptung aufgestellt, da Mnner und Frauen von Natur aus sowohl geistig als auch krperlich voneinander verschieden seien und da man ihnen daher im Sozialleben verschiedene Funktionen zuteilen sollte. Platon verwendet jedoch dasselbe naturalistische Argument, um das glatte Gegenteil zu beweisen; denn, so argumentiert er, sind nicht Hunde beider Geschlechter zum Jagen und Wachen gleich ntzlich? Stimmst du mir nicht zu, so fragt er (Staat 466 cd), da die Weiber mit den Mnnern an der Wacht wie am Jagen teilnehmen mssen, genau so, wie es bei den Hunden der Fall ist; und da sie auf diese Weise ganz richtig handeln werden? Denn dies widerspricht der Natur nicht, sondern es stimmt gut mit den natrlichen Beziehungen der Geschlechter berein. (Vgl. auch den Text zu Anm. 28 dieses Kapitels; zum Hund als idealem
536 Anmerkungen zu Kapitel 5

Wchter vgl. Kap. 4, insbesondere Anm. 32 [2] und den dazugehrigen Text.) 73 : 3. Eine kurze Kritik der biologischen Theorie des Staates wird in Anm. 7 zu Kap. 0 und im zugehrigen Text gegeben. *Zum orientalischen Ursprung der Theorie vgl. R. Eisler, Revue de Synthese Historique XLI 5.* 73 : 32. Einige Anwendungen der politischen Seelenlehre Platons sowie einige Schlsse, die aus ihr gezogen werden, nden sich in Anm. 5859 zu Kap. 0 sowie im Text. Die fundamentale methodische Analogie zwischen dem Staate und dem Individuum wird in Staat 368 e, 445 c, 577 c behandelt. Zu Alkmaions politischer Theorie des menschlichen Individuums oder der menschlichen Physiologie vgl. Anm. 3 zu Kap. 6. 74 : 33. Vgl. Staat 423 b und d. 74 : 34. Dieses Zitat wie auch das nchste stammen aus G.Grote, Platon and the Other Companions of Socrates III 875 24. Die Hauptstellen im Staat sind 439 c f. (die Erzhlung des Leontius); 57 c f. (der tierische Teil im Widerstreit mit dem vernnftigen Teil); 588 c (das apokalyptische Monstrum; vgl. das Untier, das eine platonische Zahl besitzt, in der Oenbarung des Johannes 3,78); 603 d und 604 b (der Mensch im Kampfe mit sich selbst). Vgl. auch Gesetze 689 ab und Anmerkungen 5859 zu Kap. 0.
Anmerkungen zu Kapitel 5 537

75 : 35, Vgl. Staat 59 e f. (vgl. auch Anm. 0 zu Kap. 8); die nchsten zwei Stellen stammen aus Gesetze 903 c. (Ich habe sie umgestellt.) Es sei erwhnt, da das Ganze, auf das in diesen zwei Stellen angespielt wird, (pan und holon) nicht der Staat ist, sondern die Welt; dennoch besteht kein Zweifel, da diesem kosmologischen Holismus ein politischer Holismus entspricht; vgl. Gesetze 903 de (wo der Arzt und der Handwerker dem Staatsmann zugeordnet werden) und den Umstand, da Platon das Wort holon (insbesondere in der Mehrzahl) oft derart verwendet, da es Staat wie auch Welt bedeutet. Weiterhin ist die erste dieser beiden Stellen (in der Ordnung, in der sie bei mir zitiert wurden) eine krzere Version von Staat 420b, 42 c; die zweite von Staat 520 b . (Wir haben dich um des Staates willen, wie auch um deiner selbst willen geschaen.) Weitere Stellen zum Holismus und Kollektivismus sind: Staat 424 a, 449 e, 462 a f., Gesetze 75 b, 739 c, 875 a f., 903 b, 923 b, 942 a f. (Vgl. auch Anm. 3/32 zu Kap. 6.) Zur Bemerkung, da Platon den Staat als einen Organismus bezeichnete, vgl. Staat 462 c und Gesetze 964 c, wo der Staat sogar mit dem menschlichen Krper verglichen wird. 77 : 36. Vgl. Adam in seiner Ausgabe des Staates II 303; vgl. auch Anm. 3 zu Kap. 4 und die entsprechende Textstelle. 77 : 37. Diesen Punkt hebt Adam a.a.O., Anm. zu 546 a, und 238 und 307 hervor. Das nchste Zitat in diesem Absatz
538 Anmerkungen zu Kapitel 5

ist Staat 546 a; vgl. Staat 485 a/b, zitiert in Anm. 26 [] zu Kap. 3 und Text zu Anm. 33, Kap. 8. 78 : 38. Hier ist ein Hauptpunkt in dem ich von der Interpretation Adams abweichen mu. Meiner Ansicht nach deutet Platon an, da der knigliche Philosoph der Bcher VI und VII, dessen ganzes Interesse auf die nicht gezeugten und unvergnglichen Formen gerichtet ist (Staat 485 b; vgl. die vorhergehende Anmerkung und die in ihr angefhrten Stellen), durch seine mathematische und dialektische Ausbildung die Kenntnis der platonischen Zahl erhlt, und damit die Mittel zum Anhalten des sozialen Verfalls, und daher des Verfalls des Staates. Vgl. insbesondere Text zu Anm. 39. Die in diesem Absatz folgenden Stellen sind: Die Rasse der Wchter rein halten; vgl. Staat 460 c und Kap.4, Text zu Anm. 34. Eine so gebaute Stadt usw.: 546 a. Der Hinweis auf die Unterscheidung, die Platon auf dem Gebiete der Mathematik, Akustik und Astronomie trifft, zwischen dem rationalen Wissen und der auf Erfahrung oder Wahrnehmung gegrndeten trgerischen Meinung bezieht sich auf Staat 523 a ., 525 a . (dort wird die Berechnung diskutiert; vgl. insbesondere 526 a); 527 d ., 529 b f., 53 a . (bis zu 534 a und 537d); vgl. auch 509 d5 e. 79 : 39. *Ich bin getadelt worden, weil ich die Worte in Ermanglung einer rein rationellen Methode (die ich nie
Anmerkungen zu Kapitel 5 539

in Anfhrungszeichen setzte) hinzugefgt habe; aber angesichts Staat 523 a bis 537 d scheint es mir klar zu sein, da Platons Bezugnahme auf die Wahrnehmung gerade diesen Gegensatz impliziert.* Die Stellen in diesem Absatz stammen aus Staat 546 b . Bei meiner Deutung der Lehre vom Sndenfall und der Zahl habe ich sorgfltig die schwierige, unentschiedene und vielleicht unentscheidbare Frage der Berechnung der Zahl selbst vermieden. (Sie ist vielleicht unentscheidbar, da Platon vielleicht sein Geheimnis nicht voll enthllt hat.) Ich beschrnke meine Interpretation vllig auf die Stellen unmittelbar vor und nach der Beschreibung der Zahl selbst; diese Stellen sind meiner Ansicht nach klar genug. Dennoch weicht meine Deutung, soweit mir bekannt ist, von allen lteren Deutungsversuchen ab. [] Die entscheidende Behauptung, auf die ich meine Deutung grnde, ist (a), da die Wchter mit Hilfe von auf Wahrnehmung gesttzter Berechnung arbeiten. Als nchstes verwende ich die Feststellung (b), da sie nicht zufllig auf die richtige Methode treen werden, guten Nachwuchs zu erzeugen; da sie Fehler begehen und Kinder nach falscher Art zeugen werden; (d) da sie in diesen Dingen (und insbesondere in der Berechnung der Zahl) unwissend sind. Was nun (a) betrifft, so sollte es jedem, der Platon sorgfltig gelesen hat, klar sein, da eine derartige Bezugnahme auf die Wahrnehmung als eine Kritik der fraglichen Methode beabsichtigt ist. Diese Deutung der Stelle
540 Anmerkungen zu Kapitel 5

(546 a f.) wird durch die Tatsache untersttzt, da sie so bald auf die Stelle 523 a 537 d folgt (siehe das Ende der letzten Anmerkung), deren eines Hauptthema der Gegensatz zwischen dem rein rationalen Wissen und der auf Wahrnehmung gegrndeten Meinung ist und wo insbesondere der Ausdruck Berechnung in einem Zusammenhang vorkommt, der den Gegensatz zwischen dem rationalen Wissen und der Erfahrung hervorhebt, whrend der Ausdruck Wahrnehmung (siehe auch 5 c/d) einen wohlbestimmten technischen und abflligen Sinn erhlt. (Vgl. auch z. B. Plutarchs Formulierung in seiner Diskussion dieses Gegensatzes: in seinem Lehen des Marcellus 306.) Ich bin daher der Ansicht (und diese Ansicht wird durch den Zusammenhang, insbesondere durch [b], [c], [d] noch verstrkt), da aus Platons Bemerkung (a) folgt: (a) da die auf Wahrnehmung gegrndete Berechnung eine falsche Methode ist, und (b), da es bessere Methoden gibt, nmlich die Methoden der Mathematik und Dialektik, die rein rationales Wissen ergeben. Was ich hier zu zeigen versuche, ist klar genug. Und ich habe mich nur darum mit diesem Punkt beschftigt, weil ihn Adam verfehlt zu haben scheint. In seiner Anmerkung zu 546 a, b 7 interpretiert er Berechnung als einen Hinweis auf die Aufgabe der Regenten, die Zahl der zulssigen Ehen zu bestimmen, und Wahrnehmung als die Mittel, mit deren Hilfe sie entscheiden, welche Paare zu vereinigen, welche Kinder zu erziehen sind usw.. d. h., da Adam die Bemerkung
Anmerkungen zu Kapitel 5 541

Platons als eine einfache Beschreibung und nicht als eine Polemik gegen die Schwche der empirischen Methode auat. Dementsprechend bringt er weder (c), da die Regenten Fehler machen werden, noch die Bemerkung (d), da sie unwissend sind, mit dem Umstand in Beziehung, da sie empirische Methoden verwenden. (Die Bemerkung [b], da sie die richtige Methode nicht zuflligerweise treen werden, mte man einfach unbersetzt lassen, wollte man den Vorschlag Adams konsequent durchfhren.) Bei der Deutung unserer Stelle mssen wir uns daran erinnern, da Platon im VIII. Buch unmittelbar vor der fraglichen Stelle zur Frage des ersten Staatswesens zurckkehrt, die im II., III. und IV. Buch behandelt worden ist. (Vgl. Adams Bemerkungen zu 449 a . und 543 a .) Aber die Wchter dieses Staates sind weder Mathematiker noch Dialektiker. Daher haben sie keine Ahnung von den rein rationalen Methoden, die im VIII.Buch, 525 534, so sehr hervorgehoben werden. In diesem Zusammenhang kann der Sinn der Bemerkungen ber die Wahrnehmung, das heit ber die Drftigkeit, der empirischen Methoden und ber die daraus entspringende Unwissenheit der Wchter nicht verfehlt werden. Die Behauptung (b), da die Herrscher nicht zufllig die richtige Methode treen werden, guten Nachwuchs zu erzeugen, ist in meiner Interpretation vllig klar. Die Herrscher haben nur empirische Methoden zu ihrer Verfgung; daher wre es ein glcklicher Zufall, wenn sie auf
542 Anmerkungen zu Kapitel 5

eine Methode verelen, deren Bestimmung auf mathematische und rationale Berechnung gegrndet ist. Adam schlgt (Anm. zu 546 a, b 7) die folgende bersetzung vor: doch werden sie durch Kalkulation und Wahrnehmung zusammen gute Nachkommenschaft erhalten; und nur in Klammern fgt er hinzu: wrtlich: ,auf das Erhalten von treen (hit the obtaining of). Seine Unfhigkeit, dem treen irgendeinen Sinn abzugewinnen, ist, wie mir scheint, eine Folge des Umstandes, da er die Bedeutung von (a) nicht gesehen hat. Die hier vorgeschlagene Interpretation macht auch (c) und (d) vllig verstndlich; und die Bemerkung Platons, da seine Zahl der Herr ber bessere und schlechtere Geburten sei, pat ausgezeichnet dazu. Es sei bemerkt, da Adam zu (d), das heit zur Unwissenheit, keine Bemerkung macht, obgleich eine solche Bemerkung angesichts seiner Theorie (Anm. zu 546 d 22), da die Zahl keine Hochzeitszahl ist und keine technischeugenische Bedeutung hat, hchst notwendig wre. Die technisch-eugenische Bedeutung der Zahl erhellt meiner Ansicht nach aus dem Umstand, da die Stelle, in der von ihr die Rede ist, von anderen Stellen umgeben ist, in denen auf eugenisches Wissen (oder vielmehr auf den Mangel an eugenischem Wissjn) Bezug genommen wird. Unmittelbar vor der Zahl treen wir auf (a), (b) und (c), unmittelbar nachher auf (d) sowie auf die Schilderung von Braut, Brutigam und ihren entarteten Nachkommen. Auerdem sind (c) vor der Zahl und (d) nach der
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Zahl aufeinander bezogen; denn (c), der Fehler, ist mit einer Bezugnahme auf das auf falsche Weise Begatten verbunden; und (d), die Unwissenheit, steht mit einer genau analogen Stelle in Verbindung, nmlich mit dem Hinweis, da die Wchter Braut und Brautgemahl auf unrichtige Weise vereinigen werden. (Vgl. auch die nchste Anmerkung.) Der letzte Punkt, in dem ich meine Interpretation verteidigen mu, ist die Behauptung, da diejenigen, die die Zahl kennen, dadurch einen Einu auf bessere und schlechtere Geburten zu erlangen vermgen. Das folgt natrlich nicht aus der Feststellung Platons, da die Zahl selbst eine solche Kraft besitzt; denn wenn die Interpretation Adams die richtige ist, dann regelt die Zahl die Geburten dadurch, da sie eine unvernderliche Periode bestimmt, nach welcher die Degeneration einsetzen mu. Aber ich behaupte, da der Hinweis Platons auf die Wahrnehmung, auf Fehler und Unwissenheit als die unmittelbaren Ursachen eugenischer Irrtmer nur dann sinnvoll ist, wenn er besagt, da die Wchter, die mit einem adquaten Wissen von geeigneten mathematischen und rein rationalen Methoden ausgestattet sind, keine Fehler htten begehen mssen. Dann aber ist der Schlu unausweichlich, da die Zahl eine technische eugenische Bedeutung hat und da ihre Kenntnis die Macht verschafft, der Degeneration Einhalt zu gebieten. (Dieser Schlu scheint mir auch als einziger mit all dem vertrglich zu sein, was wir sonst ber diese Art von
544 Anmerkungen zu Kapitel 5

Aberglauben kennen; so z. B. enthlt die Astrologie die scheinbar kontradiktorische Annahme, da die Kenntnis unseres Schicksals uns helfen kann, dieses Schicksal zu beeinussen.) Ich glaube, da die Versuche, der Zahl alle mglichen Deutungen zu geben, nur nicht die Deutung als geheimes Zuchttabu, ihren Ursprung in dem Widerstreben haben, Platon so rohe Ideen zuzuschreiben auch dann, wenn er sie deutlich ausdrckt. Kurz diese Versuche entspringen der Tendenz, Platon zu idealisieren. [2] In diesem Zusammenhang mu ich auf einen Artikel von A. E. Taylor, The Decline and Fall of the State in Republic, VIII (Mind N.S. IIL 939 23 .) verweisen. In diesem Artikel greift Taylor Adam (meiner Meinung nach ungerechtfertigt) an und fhrt gegen ihn aus: Es ist natrlich wahr, da der Verfall des idealen Staates nach der ausdrcklichen Aussage von 546 b damit beginnt, da die herrschende Klasse ,Kinder auerhalb der rechten Jahreszeit zeugt Aber das braucht nicht zu bedeuten, und das bedeutet meiner Meinung nach auch nicht, da sich Platon hier mit Problemen der Hygiene der Reproduktion beschftigt. Der Hauptgedanke ist einfach der, da, wenn der Staat, wie alles andere vom Menschen Geschaene, den Keim seiner eigenen Ausung enthlt, da dann die, die die grte Macht in Hnden haben, frher oder spter minderwertiger sein werden als ihre Vorgnger (25 .). Diese Deutung erscheint mir nun angesichts der ziemlich bestimmten Behauptungen Platons nicht nur unhaltbar,
Anmerkungen zu Kapitel 5 545

sondern auch ein typisches Beispiel des Versuchs zu sein, aus Platons Schriften alle Elemente auszuschalten, die, wie die Rassenlehre oder der eugenische Aberglaube, geeignet sind, die Verehrer des gttlichen Philosophen in Verlegenheit zu bringen. Adam begann, indem er der Zahl eine technisch-eugenische Bedeutung absprach und behauptete, sie sei keine Hochzeitszahl, sondern nur eine kosmologische PeriodeTaylor setzt nun fort, indem er Platons Interesse an Problemen der Hygiene und Reproduktion berhaupt in Abrede stellt. Aber die angegebene Stelle ist voll von Anspielungen auf derartige Probleme, und Taylor gibt zwei Seiten vor der zitierten Stelle (2 3) selbst zu, es werde nirgends nahegelegt, da die Zahl etwas anderes bestimme als ,bessere oder schlechtere Geburten. Auerdem nden wir, da nicht nur an der fraglichen Stelle, sondern berall im Staat (und hnlich im Staatsmann, insbesondere 30b, 30 e) der grte Nachdruck auf die Probleme der Hygiene der Reproduktion gelegt wird. Taylors Theorie, nach der Platon unter dem menschlichen Wesen (oder, wie es Taylor ausdrckt, dem Ding menschlicher Herkunft) den Staat versteht und nach der er auf den Umstand anspielen will, da der Staat die Schpfung eines menschlichen Gesetzgebers ist, scheint mir von Platons Text in keiner Weise untersttzt zu werden. Die Stelle beginnt mit einer Bezugnahme auf die Dinge der sinnlich wahrnehmbaren und in Flu bendlichen Welt, auf die Dinge, die gezeugt werden und vergehen (siehe Anm. 37 und 38 zu diesem Kapitel), insbesondere
546 Anmerkungen zu Kapitel 5

auf lebende Dinge, Panzen wie auch Tiere, und ihre rassischen Probleme. Auerdem wrde die Wendung ein vom Menschen hergestelltes Ding in einem solchen Zusammenhang fr Platon ein knstliches Ding bedeuten, ein Ding also, das von der Wirklichkeit zweifach entfernt ist und daher einen weit niedrigeren Rang einnimmt. (Vgl. das vorliegende Kapitel, Text zu Anm. 20 bis 23, und das gesamte zehnte Buch des Staates bis zum Ende von 608 b.) Platon wrde niemals erwarten, da jemand die Wendung ein vorn Menschen geschaenes Ding so interpretiert, da sie den vollkommenen, den natrlichen Staat bedeutet; vielmehr wrde er annehmen, da jedermann sogleich an etwas viel tiefer Stehendes denkt (z. B. an die Dichtung; vgl. Anm. 39 zu Kap.4), Die Wendung, die Taylor als Ding von menschlicher Erzeugung bersetzt, wird gewhnlich einfach als menschliches Geschpf bersetzt, und das beseitigt alle Schwierigkeiten. [3] Unter der Annahme der Richtigkeit meiner Interpretation der fraglichen Stelle lt sich ein Vorschlag machen, der Platons Glauben an die Bedeutung der rassischen Degeneration mit seinem wiederholten Rat verbindet, die Zahl der Mitglieder der herrschenden Klasse konstant zu halten (ein Rat, der uns zeigt, wie gut der Soziologe Platon den beunruhigenden Eekt des Bevlkerungszuwachses kannte). Platons Denkweise, die am Ende des vorliegenden Kapitels beschrieben wird (vgl. Text zu Anm. 45 sowie Anm. 37 zu Kap. 8), besonders die Weise, in der er den Einen Monarchen,
Anmerkungen zu Kapitel 5 547

die Wenigen Timokraten den Vielen gegenberstellt, die nichts als eine wertlose Menge sind, mag es ihm nahegelegt haben, da ein Zuwachs der Zahl mit einer Abnahme der Qualitt verbunden ist. (Etwas Derartiges nden wir tatschlich in den Gesetzen 70 d.) Wenn diese Annahme richtig ist, dann mag er wohl den Schlu gezogen haben, da ein Zuwachs an Bevlkerung mit rassischer Degeneration verbunden oder sogar durch sie hervorgerufen sei. Da nun der Zuwachs der Bevlkerung tatschlich die Hauptursache der Instabilitt und der Ausung der frhen griechischen Stammesgesellschaften war (vgl. Anm. 6, 7 und 63 zu Kap. 0 und den dazugehrigen Text), so wrde diese Annahme auch erklren, warum Platon die rassische Entartung fr den wirklichen Grund hielt (und das in bereinstimmung mit seinen allgemeinen Lehren ber die Natur und die Vernderung). 80 : 40. [] Oder zur unrichtigen Zeit. Adam bemerkt nachdrcklich (Anm. zu 546 d 22), da nicht zur unrechten Zeit, sondern unpassend bersetzt werden msse. Meine Interpretation ist von dieser Frage vllig unabhngig; sie stimmt mit unpassend wie auch mit falsch oder zur falschen Zeit oder auerhalb der passenden Jahreszeit berein. (Die Wendung bedeutet ursprnglich etwa dem passenden Mae widersprechend; gewhnlich bedeutet sie zur unrechten Zeit.) [2] *Zu Platons Bemerkung ber das Vermischen
548 Anmerkungen zu Kapitel 5

oder die Mischung sei festgestellt, da Platon eine primitive, aber populre Erbtheorie vertreten zu haben scheint (die scheinbar von den Zchtern von Rennpferden noch immer vertreten wird), nach der jeder Nachkmmling eine gleich teilige Mischung der Charaktere oder Naturen seiner beiden Eltern ist und nach der die Charaktere, Naturen oder Tugenden (Ausdauer, Geschwindigkeit usw. oder wenn wir den Staat, den Staatsmann und die Gesetze in Betracht ziehen Sanftmut, Wildheit, Khnheit, Selbstbeherrschung usw.) der Eltern in ihm im Verhltnis der Zahl jener Vorfahren (Groeltern, Urgroeltern usw.) gemischt auftreten, die diese Charakterzge besaen. Dementsprechend besteht die Kunst des Zchtens im klugen und wissenschaftlichen mathematischen oder harmonischen Komponieren von Naturen. Siehe insbesondere den Staatsmann, wo die knigliche Kunst der Staatsmann- oder Hirtenschaft mit der Kunst des Webens verglichen wird und wo der knigliche Weber Khnheit mit Selbstbeherrschung verweben mu. (Vgl. auch Staat 375 ce, 40 c ., Gesetze 73 b und Anmerkung 345 zu Kap. 4 und 3, Anm. 39 zu Kap. 8 sowie den dazugehrigen Text.)* 8 : 4. Zu Platons Gesetz sozialer Revolutionen siehe insbesondere Anm. 26 zu Kap. 4 und Text. 8 : 42. Der Ausdruck Metabiologie wird von G. B. Shaw in diesem Sinne, d. h. als Bezeichnung fr eine Art von
Anmerkungen zu Kapitel 5 549

Religion, verwendet. (Vgl. die Vorrede zu Back to Methuselah; vgl. auch Anm. 66 zu Kap. 2 des zweiten Bandes.) 8 : 43. Vgl. Adams Anm. zu Staat 547 a3. 83 : 44. Eine Kritik dessen, was ich den Psychologismus in der soziologischen Methode nenne, ndet sich in Kap. 3 des zweiten Bandes, Text zu Anm. 9, sowie in Kap. 4 des zweiten Bandes, wo Mills noch immer populrer methodologischer Psychologismus diskutiert wird. 83 : 45. Es ist oft bemerkt worden, da Platons Denken nicht in ein System gepret werden drfe; meine Versuche in diesem Absatz (und nicht nur in diesem Absatz), die systematische Einheit in Platons Denken aufzuzeigen (das oenkundig auf der pythagoreischen Tafel der Gegenstze beruht), werden also wahrscheinlich die Kritik herausfordern. Aber ich glaube, da die Prfung jeder Interpretation notwendigerweise zu einer solchen Systematisierung fhrt. Wer meint, er habe eine Interpretation nicht ntig, er kenne eben den Philosophen oder sein Werk und knne ihn so, wie er war, und sein Werk so, wie es war, verstehen, der bendet sich im Irrtum. Er kann doch nicht umhin, den Menschen wie auch sein Werk zu interpretieren; und da er diesen Umstand nicht bemerkt (da er nicht bemerkt, da seine Ansicht von Tradition,Temperament, Vorliebe usf. vielfltig gefrbt ist), so wird seine Interpretation notwendigerweise naiv
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und unkritisch ausfallen. (Vgl. auch Kap. 0, Anm. 5; 56; sowie Kap. 5 des zweiten Bandes.) Eine kritische Interpretation mu aber die Form einer rationalen Rekonstruktion annehmen, und sie mu systematisch sein; sie mu versuchen, das Denken des Philosophen in der Form eines zusammenhngenden und widerspruchsfreien Lehrgebudes zu rekonstruieren. Vgl. dazu A.C.Ewings Bemerkungen zu Kant in A Short Commentary on Kants Critique of Pure Reason 938 4): wir sollten von der Annahme ausgehen, da ein groer Philosoph sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht fortwhrend widersprechen wird; liegen daher zwei Interpretationen Kants vor, von denen die eine widerspruchsfrei und die andere widerspruchsvoll ist, dann sollten wir, wenn es nur sonst mglich ist, die erste Deutung der letzten vorziehen. Das gilt sicher fr Platon und sogar fr Interpretationen im allgemeinen.

Anmerkungen zu Kapitel 5

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Zum 6. Kapitel: DIE TOTALITRE GERECHTIGKEIT 85 : . Vgl. Anm. 3 zu Kap. 4 und Text, insbesondere das Ende des Absatzes, sowie Anm. 2 [2] zu jenem Kapitel. Zur Formel Zurck zur Natur ist zu bemerken, da Rousseau von Platon stark beeinut war. In der Tat enthllt ein Blick in den Gesellschaftsvertrag eine Flle von Analogien insbesondere mit den Platonischen Stellen ber den Naturalismus, die im letzten Kapitel kommentiert wurden. Vgl. vor allem Anm. 4 zu Kap. 9. Es besteht auch eine interessante hnlichkeit zwischen Staat 59 a . (und Gorgias 472 e ., wo eine hnliche Idee in einem individualistischen Zusammenhang auftritt) und Rousseaus (und Hegels) bekannter Theorie des Strafrechts. (Barker, Greek Political Theory I 388 ., hebt Platons Einu auf Rousseau mit vollem Recht hervor. Aber er bersieht, wie sehr Platon ein Romantiker war; und es wird auch nicht allgemein in Betracht gezogen, da der Romantizismus des Schferspiels, der sowohl Frankreich wie auch das England Shakespeares durch das Medium von Sanazzaros Arcadia beeinute, auf Platons dorische Berghirten zurckgeht; vgl. Anm. [3], 26 und 32 zu Kap. 4 sowie Anm. 4 zu Kap. 9.) 88 : 2. Vgl. R. H. S. Crossman, Plato To-Day 937 32; das nchste Zitat . Dieses interessante Buch hat mich (ebenso
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wie die Werke von Grote und Th. Gomperz) sehr ermutigt, meine ziemlich unorthodoxen Ansichten ber Platon zu entwickeln und ihnen bis zu ihren unerfreulichsten Schlufolgerungen nachzugehen. Zum Zitat aus Joad vgl. sein Guide of the Philosophy of Morals and Politics 938 66 und 660. Es sei mir auch gestattet, auf die sehr interessanten Bemerkungen zu verweisen, die C. L. Stevenson zu Platons Ansichten von der Gerechtigkeit macht. (Persuasive Denitions, Mind, N. S. IIIL 938 33 .) 88 : 3. Vgl. Crossman a.a.O. 32 f. Die nchsten beiden Stellen sind Field, Plato usw. 9 entnommen; vgl. hnliche Bemerkungen bei Barker, Greek Political Theory usw. (vgl. Anm. 3 zu Kap. 5). Die Idealisierung Platons spielte bei den Debatten ber die Echtheit der verschiedenen unter seinem Namen berlieferten Werke eine wichtige Rolle. Viele dieser Werke wurden von manchen Kommentatoren einfach deshalb zurckgewiesen, weil sie nicht zu ihrem idealisierten Platonbild passen wollten. In ziemlich naiver, wenn auch typischer Form nden wir diese Haltung bei Davis und Vaughan (Introductory Notice zur Golden Treasury-Ausgabe des Staats, VI): Herr Grote, voll von Eifer, Platon von seinem bermenschlichen Piedestal herabzuholen, mag wohl zu sehr bereit sein, ihm auch Schriften zuzuschreiben, die als eines so gttlichen Philosophen unwrdig erachtet wurden. Es scheint den Verfassern nicht einzugehen, da ihre Beurteilung
Anmerkungen zu Kapitel 6 553

Platons von dem abhngen sollte, was er geschrieben hat, und nicht umgekehrt; und wenn es sich herausstellt, da diese Schriftstcke echt und unwrdig sind, dann war Platon vielleicht kein ganz so gttlicher Philosoph. 9 : 4. Die Formulierung im Text hat eine Formulierung Kants zum Vorbild, in der eine gerechte Verfassung beschrieben wird als eine Verfassung von der grten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen: da jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammenbestehen kann (Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe Kehrbach 276); vgl. auch seine Rechtslehre (Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, C), wo es heit: Eine Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkr eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann. Kant hielt das fr das Ziel, das Platon im Staat verfolgte; woraus wir sehen, da Kant einer der vielen Philosophen war, die entweder von Platon getuscht wurden oder die ihn idealisierten, indem sie ihm ihre eigenen humanitren Ideen zuschrieben. Ich mchte in diesem Zusammenhang bemerken, da Kants brennender Liberalismus in englischen und amerikanischen Schriften zur politischen Philosophie nur sehr wenig gewrdigt wird (und das trotz Hasties Kants Principles of Politics). Nur zu oft mchte man ihn zu einem Vorlufer Hegels machen; aber angesichts der Tatsache, da er den Romantizismus eines Herder wie auch eines Fichte als eine seinem ganzen Denken diametral entgegengesetzte Lehre
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ablehnte, mu diese Behauptung als hchst ungerecht betrachtet werden, und es kann kein Zweifel bestehen, da Kant selbst sie sehr ungnstig aufgenommen htte. Die weite Verbreitung dieser vllig ungerechtfertigten Ansicht ist auf den ungeheuren Einu der Hegelschen Philosophie zurckzufhren. 92 : 5. Vgl. Text zu Anm. 32/33, Kap. 5. 92 : 6. Vgl. Text zu Anm. 2528, Kap. 5. Die Zitate in diesem Absatz sind: () Staat 433 a; (2) Staat 434 a/b; (3) Staat 44 d. Zu Platons Satz im ersten Zitat wir haben immer und immer wiederholt, vgl. auch insbesondere Staat 397 e, wo die Theorie der Gerechtigkeit sorgfltig vorbereitet wird, und natrlich Staat 369 bc, eine Stelle, die wir bereits im Text zu Anm. 29, Kap. 5, zitiert haben. Vgl. auch Anm. 23 und 40 zu Kap. 6. 93 :7. Wie wir im vierten Kapitel zeigten (Anm. 8 und Text sowie Anm. 29), sagt Platon ber die Sklaven im Staat nicht sehr viel, obgleich das wenige, was er sagt, bedeutsam genug ist; aber die Gesetze zerstreuen jeden Zweifel ber seine Einstellung (vgl. insbesondere G. R. Morrows Artikel in Mind, auf den in Anm. 29 zu Kap. 4 Bezug genommen wird). 95 : 8. Die Zitate sind aus Barker, Greek Political Theory (I 80). Barker behauptet (76 f.), da die platonische
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Gerechtigkeit soziale Gerechtigkeit bedeute, und er betont mit Recht ihren holistischen Charakter. Er erwhnt (78 f.) den mglichen Einwand, da diese Formel nicht das Wesen dessen trifft, was die Menschen im allgemeinen unter ,Gerechtigkeit verstehen nmlich ein Prinzip des Ausgleichs aufeinanderprallender Willensrichtungen, d. h., da die Formel Platons nicht das Wesen der sich auf Iridividuen beziehenden Gerechtigkeit trifft. Er ist aber der Auassung, da ein solcher Einwand am Kern der Sache vorbeigeht und da Platons Idee nicht eine rechtliche Angelegenheit, sondern ein Begri aus dem Bereich der sozialen Moral sei (79); und er behauptet weiterhin, da diese Auassung in gewisser Hinsicht den gelugen griechischen Ideen von der Gerechtigkeit entspreche: Auch war Platon, als er die Gerechtigkeit auf diese Weise auate, von den in Griechenland blichen Ideen nicht sehr weit entfernt. Er erwhnt aber nicht, da es Zeugnisse gibt, die das Gegenteil beweisen; vgl. dazu die nchsten Anmerkungen sowie die dazugehrigen Textstellen. 96 : 9. Vgl. Gorgias 488 e .; die Stelle wird in Abschnitt VIII weiter unten ausfhrlicher zitiert und diskutiert (vgl. Anm. 48 zu diesem Kap. und Text). Bezglich Aristoteles Theorie der Sklaverei vgl. Anm. 3 zu Kap. des zweiten Bandes und Text. Die in diesem Absatz zitierten Aristotelesstellen sind () und (2): Nikom. Ethik V 4,7 und 8; (3) Politik III 2, (282 b; vgl. auch Anm. 20 und
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30 zu diesem Kap.; die Stelle enthlt eine Bezugnahme auf die Nikom. Ethik); (4) Nikom. Ethik V 4, 9; (5) Politik IV (VI) 2, (37 b). In der Nikomachischen Ethik V 3, 7 (vgl. auch Politik III 9,; 280a) erwhnt Aristoteles auch, da sich der Sinn des Ausdrucks Gerechtigkeit in demokratischen, oligarchischen und aristokratischen Staaten entsprechend der verschiedenen Auassungen vom Verdienst abwandelt, die in diesen Staatsformen besteht. *Zu Platons Ansichten (in den Gesetzen) ber die politische Gerechtigkeit und Gleichheit siehe insbesondere die Stelle ber die zwei Arten von Gleichheit (Gesetze 757 bd) (die weiter unten unter [] zitiert wird). Zu der im Text erwhnten Tatsache, da nicht nur die Tugend und die Erziehung, sondern auch der Reichtum (und sogar Gre und gutes Aussehen) bei der Verteilung von Ehre und Beute zhlen sollte, vgl. Gesetze 744c, zitiert in Anm. 20 [] zum gegenwrtigen Kapitel, wo auch die anderen relevanten Stellen diskutiert werden. [] In den Gesetzen 757 bd diskutiert Platon zwei Arten von Gleichheit. Die eine von ihnen ist die Gleichheit des Maes, des Gewichts oder der Zahl (d. h. die numerische oder arithmetische Gleichheit); aber die wahrste und beste Gleichheit. .. gibt dem Greren mehr, dem Kleineren weniger, gibt jedem sein ihm zustehendes Ma in bereinstimmung mit der Natur Den an Tugend berlegenen gewhrt sie die greren Ehren, den an Tugend und Erziehung minder Vortreichen die geringere
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Ehre; und damit teilt sie jedem das zu, was nach diesem Prinzip der rationalen Proportionen angemessen ist. Und genau das werden wir ,apolitische Gerechtigkeit nennen. Und wer immer auch einen Staat grndet, mu dies zum einzigen Ziel seiner Gesetzgebung machen : Diese Gerechtigkeit allein, die, so wie sie dargestellt wurde, die natrliche Gleichheit ist und die, wie es die Situation erfordert, an Ungleiche verteilt wird. Diese zweite Art von Gleichheit, die das konstituiert, was Platon hier die politische Gerechtigkeit nennt (Aristoteles gebraucht dafr die Bezeichnung distributive Gerechtigkeit), und der Platon (und auch Aristoteles) die Bezeichnung Gleichheit dem Verhltnisse nach zuteilt die wahrhaftigste, beste und natrlichste Art der Gleichheit wurde spter (z. B. von Plutarch, Moralia 79 b f.) im Gegensatz zur ersten, niederen und demokratischen arithmetischen Gleichheit die geometrische Gleichheit genannt. Auf diese Identikation werden die Bemerkungen in [2] vielleicht einiges Licht werfen. [2] Der Tradition gem (vgl. Comm. in Arist. Graeca, pars XV, Berlin 897 7,29 und pars XVIII, Berlin 900 8,8) lautete eine Inschrift ber dem Tore der Akademie Platons: Kein der Geometrie Unkundiger betrete mein Haus! Ich glaube, da diese Inschrift nicht nur die Bedeutung mathematischer Studien im allgemeinen hervorheben soll, sondern da wir ihr den folgenden Sinn zuschreiben mssen: Die Arithmetik (oder genauer die pythagoreische Zahlenlehre) gengt nicht; was
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wir brauchen, ist die Geometrie! Und ich werde nun versuchen, die Grnde anzugeben, warum ich diese Formulierung als eine Darstellung eines der wichtigsten Beitrge vorschlage, den Platon zur griechischen Wissenschaft geleistet hat. (+Ergnzend zum Folgenden vgl. K. R. Popper, The Nature of Philosophical Problems and their Roots in Science; British Journal for the Philosophy of Science III 34.+) Wir knnen davon ausgehen, da die frhere pythagoreische Behandlung der Geometrie sich einer Methode bediente, die derjenigen hnlich war, die man heute Arithmetisierung nennt. Die Geometrie wurde als ein Teil der Theorie der ganzen Zahlen (oder der natrlichen Zahlen, d. h. der Zahlen, die aus Monaden oder unteilbaren Einheiten zusammengesetzt waren; vgl. Staat 525 e) und ihrer logoi, d. h. ihrer rationalen Proportionen behandelt. So waren z. B. die Pythagoreischen Dreiecke solche rechtwinklige Dreiecke, deren Seiten sich rational zueinander verhielten. Beispiele sind die Dreiecke mit den Seitenverhltnissen 3 : 4 : 5; oder 5 : 2 : 3. Eine allgemeine Formel, die Pythagoras zugeschrieben wurde, lautet: 2n + : 2n(n + ) : 2n (n + )+ . Aber diese Formel, die sich aus dem gnomon herleitet, ist nicht allgemein genug, wie das Beispiel 8 : 5 : 7 zeigt. Eine allgemeine Formel, aus der sich die pythagoreische (fr m = n + ) herleitet, lautet: m2 n2 : 2mn : m2 + n2 (wobei m>n). Diese Formel lt sich aus dem sogenannten pythagoreischen Lehrsatz ableiten (wenn man jene Art von Algebra zur
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Verfgung hat, die den frhen Pythagoreern bekannt gewesen zu sein scheint); da sie aber anscheinend weder den Pythagoreern noch Platon bekannt war (der nach Proklus eine andere, nicht ganz allgemeine Formel vorschlug), so ist anzunehmen, da weder Pythagoras noch Platon den Lehrsatz des Pythagoras in seiner allgemeinen Form gekannt haben. (Weniger radikal drckt sich T. Heath, A History of Greek Mathematics 92 I 8082 ber diese Dinge aus. Die Formel, die ich die allgemeine genannt habe, ist im Grunde die Formel Euklids; sie lt sich aus Heaths unntig komplizierter Formel [82] herleiten, indem man zuerst die drei Seiten des Dreiecks berechnet, die mit 2/mn multipliziert und im Resultat p und q durch m und n ersetzt.) Die Entdeckung der Irrationalitt der Quadratwurzel aus der Zahl zwei (auf die Platon im Groen Hippias und im Menon anspielt; vgl. Anm. 0 zu Kap. 8; siehe auch Aristoteles, Anal. Prior. 4 a 26 f.) zerstrte das pythagoreische Programm der Arithmetisierung der Geometrie und damit, wie es scheint, die Lebenskraft des pythagoreischen Ordens selbst. Die Tradition, nach der die Entdekkung geheimgehalten wurde, scheint dadurch gesttzt zu werden, da Platon das Irrationale zunchst noch immer arrhtos, d. h. das Verborgene, das unaussprechliche Geheimnis, nennt; vgl. den Groen Hippias 303 b/c; Staat 546 c. (Ein spterer Ausdruck ist das Inkommensurable; vgl. Theaitetos 47 c und Gesetze 820 c.) Der Ausdruck alogos scheint zuerst bei Demokrit vorzukommen, der
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ein Werk in zwei Bchern ber die irrationalen Linien und die Atome (oder ber die vernunftlosen Linien und die vollen Krper) geschrieben hatte; sie sind beide verloren. Platon kannte den Ausdruck, wie aus der einigermaen respektlosen Anspielung auf den Titel des Demokrit in Staat 534 d hervorgeht, verwendete ihn aber niemals als ein Synonym fr arrhtos. Die erste vorhandene und unbezweifelbare Verwendung in diesem Sinn ndet sich in der Anal. Post. des Aristoteles, 76 b 9. (Vgl. auch T. Heath, a.a.O. I 84 f. und 56 f.) Es scheint, da der Zusammenbruch des pythagoreischen Programms (d. h. der arithmetischen Methode in der Geometrie) zur Entwicklung der axiomatischen Methode des Euklid fhrte, das heit zu einer neuen Methode, die auf der einen Seite retten sollte, was zu retten war (die Methode des rationalen Beweisens eingeschlossen), und die auf der anderen Seite die Irreduzibilitt der Geometrie auf die Arithmetik anerkannte. Wenn man diese Deutung akzeptiert, dann wird es sehr wahrscheinlich, da Platon beim bergang von der lteren pythagoreischen Methode zu der des Euklid eine uerst wichtige Rolle spielte: Er war einer der ersten, der eine spezisch geometrische Methode postulierte, die es sich zum Ziel setzte, die Verluste des Zusammenbruchs des Pythagoreismus abzuschreiben und aus diesem Zusammenbruch zu retten, was sich retten lie. Diese Bemerkungen sind in hohem Grade hypothetisch; aber eine gewisse Besttigung ndet sich bei Aristoteles, Anal. Post. 76 b 9 (die
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Stelle wurde weiter oben erwhnt), insbesondere, wenn man diese Stelle mit den Gesetzen 88 c, 895 e (gerade und ungerade) und 89 e/820 a, 820 c (inkommensurabel) vergleicht. Die Stelle lautet: Die Arithmetik geht vom Sinn von ,gerade und ,ungerade aus, die Geometrie vom Sinn des Wortes ,irrational (Oder inkommensurabel; vgl. Anal. Prior. 4 a 26 f., 50 a 37. Siehe auch Metaphysik 983 a 20, 06 b 3, wo das Problem der Irrationalitt so behandelt wird, als sei es die eigentliche Aufgabe der Geometrie, und 089 a, wo sich, wie in Anal. Post. 76 b 40 eine Anspielung auf die Quadratfu-Methode des Theaitetos 47 d ndet.) Da Platon am Problem der Irrationalitt hchst interessiert war, zeigen insbesondere die beiden oben erwhnten Stellen, Theaitetos 47 c bis 48 a und Gesetze 89 d822 d, wo er erklrt, er schme sich der Griechen, weil sie fr das wichtige Problem der inkommensurablen Gren kein Interesse empfnden. Ich nehme nun an, da die Theorie der Primrkrper (im Timaios 53 c bis 62 c und vielleicht sogar bis 64 a; vgl. auch Staat 528 bd) einen Teil der Lsung darstellt, die Platon in dieser Krise vorschlug. Sie bewahrt auf der einen Seite den atomistischen Charakter des Pythagoreismus die unteilbaren Einheiten (Monaden), die auch in der Schule der Atomisten eine Rolle spielen , und sie fhrt auf der anderen Seite jene irrationalen Gren (die Quadratwurzel aus zwei und drei) ein, deren Einfhrung in die Welt unvermeidlich geworden war. Dies geschieht, indem zwei der problematischen rechtwinkligen Dreiecke
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ein Halbquadrat, das die Quadratwurzel aus zwei enthlt, sowie die Hlfte eines gleichseitigen Dreiecks, das die Quadratwurzel aus drei enthlt als die Einheiten aufgefat werden, aus denen sich alles zusammensetzt. Und in der Tat: Die Lehre, da diese beiden irrationalen Dreiecke die Grenzen (peras; vgl. Menon 75 d76 a) oder Formen aller elementaren physikalischen Krper sind, nimmt im Timaios eine durchaus zentrale Stelle ein. Damit ist nahegelegt, da die Warnung an die der Geometrie Unkundigen (eine Anspielung darauf ndet sich vielleicht in Timaios 54 a) vielleicht den eben angegebenen hchst aktuellen Sinn hatte: da sie mit dem Glauben verbunden war, die Geometrie sei von hherer Bedeutung als die Arithmetik (vgl. Timaios 3 c). Und dieser Umstand wrde seinerseits erklren, warum die proportionale Gleichheit Platons, die er selbst fr etwas Vornehmeres hielt als die demokratische arithmetische oder numerische Gleichheit, spter mit der geometrischen Gleichheit identiziert wurde, die Platon im Gorgias 508 a (vgl. Anm.48 zu diesem Kap. ) erwhnt hatte; und auch, warum manche (z. B.Plutarch a.a.O.) die Arithmetik und die Geometrie beziehungsweise zur Demokratie und zur spartanischen Aristokratie in Beziehung setzten. (Und das trotz der zur Zeit Plutarchs anscheinend bereits vergessenen Tatsache, da die Pythagoreer ebenso aristokratisch gesinnt waren wie Platon selbst, und da doch ihr Programm die Arithmetisierung hervorgehoben hatte, und da geometrisch in ihrer Sprache wie ja auch heute
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noch ein Name fr eine bestimmte numerische [d. h. arithmetische] Proportion war.) [3] Platon verwendet im Timaios zur Konstruktion der Primrkrper ein Elementarquadrat und ein elementares gleichseitiges Dreieck. Diese beiden sind ihrerseits aus zwei verschiedenen Arten von subelementaren Dreiecken zusammengesetzt; aus dem Halbquadrat, das die Wurzel aus 2 enthlt, und aus dem halben gleichseitigen Dreieck, das die Wurzel aus drei enthlt. Die Frage wurde oft diskutiert, warum Platon gerade diese subelementaren Dreiecke einfhrte, an Stelle des Quadrats und des gleichseitigen Dreiecks selbst. Eine hnliche zweite Frage (vgl. weiter unten unter[4]) ist, warum Platon seine Elementarquadrate aus vier subelementaren Halbquadraten (anstatt aus zweien) und das Elementardreieck aus sechs subelementaren halbgleichseitigen Dreiecken (anstatt aus zweien) aufbaut. (Siehe dazu die ersten zwei der drei Figuren.) Was nun die erste Frage betrifft, so scheint man allgemein bersehen zu haben, da Platon, der am Problem der Irrationalitt brennend interessiert war, die beiden Irrationalzahlen 2 und 3 (die er in 54 b ausdrcklich erwhnt) nicht eingefhrt htte, wre es ihm nicht daran gelegen gewesen, genau sie als irreduzible Elemente in seine Welt aufzunehmen. (Cornford, Platos Cosmology 24 und 23 ., diskutiert die beiden eben erwhnten Fragen ausfhrlich; aber die Lsung, die er fr beide zugleich vorschlgt, seine Hypothese, wie er sie [234] nennt,
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scheint mir vllig unakzeptabel; htte Platon die Absicht gehabt, eine Abstufung wie die von Cornford diskutierte zu erreichen man bemerke, da es bei Platon keine Andeutung fr die Existenz von Dingen gibt, die kleiner sind als die Stufe B Cornfords , so htte es gengt, die Seiten der elementaren Vierecke und gleichseitigen Dreiecke der Stufe B zu halbieren und auf diese Weise jede von ihnen aus vier elementaren Figuren aufzubauen, die keine Irrationalzahlen enthalten.) Wenn aber Platon gerade diese Irrationalitt in die Welt einzufhren wnschte, und zwar als die Seiten der subelementaren Dreiecke, aus denen sich alles brige zusammensetzt, dann mu er angenommen haben, da er auf diese Weise ein Problem lsen konnte; und dieses Problem ist, wie ich vorschlagen mchte, das Problem der Natur des (Kommensurablen und des) Inkommensurablen (Gesetze 820 c). In einer Kosmologie, die auf atomistischen Ideen oder dergleichen aufbaute, war dieses Problem klar erweise nur sehr schwer zu lsen; denn irrationale Gren sind nicht Vielfache irgendeiner Einheit, die zur Messung rationaler Gren dient. Aber wenn die Maeinheiten selbst Seiten in irrationalem Verhltnisse enthalten, dann ist eine Lsung des groen Paradoxons vielleicht nicht unmglich; denn diese Maeinheiten knnen zur Messung von Gren beider Art dienen, und damit ist die Existenz der Irrationalzahlen nicht lnger unbegreiich oder irrational. Platon wute nun, da es mehr irrationale Gren gibt als 2 und 3; denn er erwhnt im Theaitetos die
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Entdeckung einer unendlichen Reihe von irrationalen Quadratwurzeln (er spricht auch, in 48 c, von hnlichen berlegungen, die sich auf feste Krper beziehen dies aber ist nicht notwendigerweise eine Anspielung auf die Kubikwurzel; es knnte sich ebensogut um die Kubikdiagonale, d. h. um 3 handeln); und im Groen Hippias (303 bc; vgl.Heath a.a.O. 304) erwhnt er auch den Umstand, da sich durch Addition (oder andere Zusammensetzung) von irrationalen Zahlen weitere Irrationalzahlen herstellen lassen (aber auch rationale Zahlen mglicherweise eine Anspielung auf die Tatsache, da z. B. 2-2 irrational ist; diese Zahl gibt zusammen mit 2 natrlich eine rationale Zahl). Angesichts dieser Umstnde scheint es, da Platon die Herstellung aller Irrationalzahlen (oder zumindest ihrer Vielfachen) durch Addition von (a) Einheiten; (b) 2; und (c) 3 und ihrer Vielfachen fr mglich gehalten haben mu (denn er wnschte ja das Problem der Irrationalitt mit Hilfe seiner Elementardreiecke zu lsen). Eine derartige Annahme wre natrlich ein Irrtum gewesen; wir haben aber jeden Grund zu glauben, da zu seiner Zeit kein Beweis ihrer Unrichtigkeit existierte; andrerseits hat der Satz, da es nur zwei Grundarten irrationaler Gren gibt die Diagonalen der Quadrate und der Kuben und da alle brigen irrationalen Gren den Summen aus (a) Einheiten, (b) 2 und (c) 3 kommensurabel sind, ein gewisses Ma von Plausibilitt, wenn wir den relativen Charakter der irrationalen Gren
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in Betracht ziehen. (Damit meine ich die Tatsache, da wir die Diagonale eines Quadrates von der Seitenlnge eins irrational ist, whrend umgekehrt die Seite eines Quadrates von der Diagonallnge eins irrational ist. Wir mssen uns auch daran erinnern, da Euklid X [Def. 2] alle inkommensurablen Quadratwurzeln noch immer kommensurabel in bezug auf ihre Quadrate nennt.) Somit ist es wohl mglich, da Platon an die Wahrheit dieses Satzes glaubte, wenn er auch natrlich nicht im Besitze eines gltigen Beweises seiner Vermutung sein konnte. (Ihre Unrichtigkeit wurde scheinbar zuerst von Euklid bewiesen.) Nun wird aber gerade an der Stelle des Timaios, an der Platon die Grnde fr die Auswahl seiner subelementaren Dreiecke angibt, auf eine unbewiesene Vermutung angespielt; Platon schreibt (Timaios 53 c/ d): Alle Dreiecke leiten sich von zweien her, deren jedes einen rechten Winkel besitzt ; was diese beiden Dreiecke betrifft, so hat eines (das Halbquadrat) auf jeder Seite die Hlfte eines rechten Winkels und gleiche Seiten; das andere hat ungleiche Seiten. Diese beiden nehmen wir als die ersten Prinzipien an.. . und das auf Grund einer Berechnung, die Plausibilitt (oder plausible Vermutungen) mit Notwendigkeit (das heit mit strengen Beweisen) kombiniert. Der Himmel aber und Menschen, die der Himmel begnstigt kennt Prinzipien, die noch tiefer liegen als diese. Und an einer spteren Stelle erklrt Platon zunchst, da es eine unendlich groe Anzahl ungleichseitiger Dreiecke gebe, aus denen die
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besten ausgewhlt werden mten; hierauf, da er das halbgleichseitige als dieses beste von diesen auswhle; dann heit es (Timaios 54 a/b; Cornford mute die Stelle emendieren, um sie seiner Interpretation anzupassen; vgl. seine Anm. 3 zu Seite 24): Der Grund fr diese Wahl ist eine allzulange Geschichte; wenn aber jemand diese Dinge einer Prfung unterwirft und beweisen kann, da es diese Eigenschaft besitzt, dann sei ihm der Preis zuteil mit unseren besten Glckwnschen. Platon sagt nicht klar, was diese Eigenschaft bedeutet; es mu sich um eine beweisbare (oder widerlegbare) mathematische Eigenschaft handeln, die es rechtfertigt, da die Wahl des Dreiecks, das die y3 enthlt, die beste ist, nachdem vorher das Dreieck gewhlt wurde, das die Wurzel aus 2 enthlt. Angesichts der vorhergehenden berlegungen glaube ich nun, da die fragliche Eigenschaft die vermutete relative Rationalitt der anderen Irrationalzahlen darstellte (d. h. ihre Rationalitt relativ zur Einheit, der Quadratwurzel aus zwei und der Quadratwurzel aus drei). [4] Ein weiterer Grund fr unsere Interpretation, fr den ich allerdings keinerlei weitere Evidenz im Texte Platons nden konnte, ergibt sich vielleicht aus der folgenden berlegung. Es ist ein merkwrdiger Umstand, da 2 + 3 sehr nache gleich ist. (Professor W. Marinelli hat in einem anderen Zusammenhang meine Aufmerksamkeit auf diesen Umstand gelenkt.) Der Exze ist weniger als 0,0047, d. h. weniger als /2 Promille von und wir haben allen Grund anzunehmen, da zu Platons Zeit
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die Existenz einer besseren oberen Grenze fr nicht bekannt war. Eine Art Erklrung dieser merkwrdigen Tatsache ist der Umstand, da das arithmetische Mittel der Flche des umschriebenen Sechsecks und des eingeschriebenen Achtecks eine gute Annherung an die Flche des Kreises darstellt. Es scheint nun einerseits, da Bryson mit umschriebenen und eingeschriebenen Polygonen arbeitete (vgl. Heath a.a.O. 224); andrerseits wissen wir (aus dem greren Hippias), da Platon an der Addition von Irrationalzahlen sehr interessiert war, so da er auch 2 + 3 addiert haben mu. Auf zweifache Weise kann also Platon die ungefhre Gleichung 2 + 3 gefunden haben und der zweite Weg erscheint mir fast unvermeidlich. Also ist die Annahme plausibel, da Platon diese Gleichung kannte, da es ihm aber unmglich war, zu beweisen, ob es sich hier um eine strenge Gleichheit oder nur um eine Approximation handelte. Aber wenn das zutrifft, dann knnen wir vielleicht die weiter oben unter [3] erwhnte zweite Frage beantworten, die Frage also, warum Platon sein elementares Quadrat aus vier subelementaren Dreiecken (Halbquadraten) und nicht aus zweien, sowie sein elementares gleichseitiges Dreieck aus sechs subelementaren Halbgjeichseitern, statt aus zweien komponierte. Ein Blick auf die erste der beiden Figuren belehrt uns, da diese Konstruktion das Zentrum des umschriebenen und des eingeschriebenen Kreises hervorhebt sowie in beiden Fllen die Radien des umschriebenen Kreises. (Im Falle des gleichseitigen
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Dreiecks tritt auch der Radius des eingeschriebenen Kreises auf; es scheint aber, da Platon an den Radius des umschriebenen Kreises dachte, denn er erwhnt ihn bei der Beschreibung der Methode des Auf baus des gleichseitigen Dreiecks als die Diagonale; vgl. Timaios 54 a/e; vgl. auch 54b.) Wenn wir nun die beiden umschriebenen Kreise zeichnen, genauer, wenn wir das Elementarquadrat und das elementare gleichseitige Dreieck einem Kreis mit dem Radius r einschreiben, dann nden wir, da die Summe der Seiten dieser beiden Figuren ungefhr ausmachen; mit anderen Worten: eine der einfachsten angenherten Lsungen der Quadratur des Zirkels wird durch Platons

Platons Elementarquadrat, aus vier subelementaren, gleichschenkligen, rechtwinkligen Dreiecken zusammengesetzt.

Platons elementares, gleichseitiges Dreieck, aus sechs subelementaren ungleichseitigen, rechtwinkligen Dreiecken zusammengesetzt.

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Das Rechteck ABCD hat eine Flche, die die Flche des Kreises um weniger als /2 Promille bersteigt.

Konstruktion nahegelegt, wie aus unseren drei Figuren ersichtlich wird. Angesichts all dieser Umstnde ist es wohl mglich, da Platons Vermutung und seine Aussetzung eines Preises mit unseren besten Glckwnschen, die wir oben im Punkt [3] zitiert haben, sich nicht nur auf das allgemeine Problem der Kommensurabilitt der Irrationalzahlen, sondern auch auf die mehr spezielle Frage bezog, ob 2 + 3 die Quadratur des Einheitskreises darstellt. Ich mu nochmals hervorheben, da mir keine direkten Hinweise bekannt sind, die zeigen knnten, da dies Platons Gedankengang gewesen ist; wenn wir aber die hier angefhrten indirekten berlegungen in Betracht ziehen, dann erscheint die Hypothese vielleicht nicht allzusehr an den Haaren herbeigezogen; und wenn sie wahr ist, so erhalten wir eine bessere Erklrung der relevanten Textstellen.
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[5] Wenn unsere Behauptung (vgl. Abschnitt [2] dieser Anmerkung), da die Inschrift Platons als Die Arithmetik gengt nicht; was wir brauchen, ist die Geometrie, zu deuten ist und die weitere Behauptung, da dieses Hervorheben der Geometrie mit der Entdeckung der Irrationalitt der Quadratwurzeln von zwei und drei verbunden war, einen wahren Kern enthlt, dann fllt von hier aus einiges Licht auf die Ideenlehre und auf die viel debattierten Berichte des Aristoteles. Unsere Behauptung wrde erklren, warum die pythagoreische Lehre, da die Dinge (Formen, Gestalten) Zahlen sind und die moralischen Ideen Verhltnisse von Zahlen, angesichts dieser Entdeckung zusammenbricht und wie im Timaios durch die Lehre ersetzt werden mute, da die elementaren Formen oder Grenzen (peras; vgl. die Stelle aus dem Menon 75 d76 a, auf die oben Bezug genommen wurde) oder Gestalten oder Ideen der Dinge Dreiecke sind. Sie wrde aber auch erklren, wieso die Akademie eine Generation spter zur pythagoreischen Lehre zurckkehren konnte. Sobald der Schock der Entdeckung der Irrationalitt abgeklungen war, begannen sich die Mathematiker an die Idee zu gewhnen, da auch die Irrationalzahlen Zahlen sein mssen, da sie ja, trotz allem, in der elementaren Grer-Kleiner-Beziehung zu anderen (rationalen) Zahlen stehen. Und sobald dieses Stadium erreicht war, verschwanden die Grnde gegen den Pythagoreismus, obgleich die Lehre, da Gestalten Zahlen oder Verhltnisse von Zahlen sind, nach Einfhrung der Irrationalzahlen natrlich etwas anderes bedeutete als vorher
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(ein Umstand, der mglicherweise von den Anhngern der neuen Theorie nicht gengend beachtet wurde).* 97 : 0. Die wohlbekannte Darstellung der Themis (verbundene Augen, das heit die soziale Stellung des Bittstellers nicht beachtend; mit der Waage, das heit Gleichheit austeilend oder die Ansprche und Interessen der streitenden Individuen ausgleichend) ist eine symbolische Reprsentation der Gleichberechtigungstheorie der Gerechtigkeit. Diese Darstellung lt sich hier jedoch nicht als ein Argument zugunsten der Annahme verwenden, da diese Idee zur Zeit Platons gelug war; denn sie stammt aus der Renaissance, wie mir Prof. E. H. Gombrich freundlicherweise mitteilt; und sie wurde durch eine Stelle aus Plutarchs De Iside et Osiride angeregt, und nicht durch die klassische Zeit Griechenlands. *Andererseits ist die Darstellung der Dik mit den Waagschalen klassisch: Eine derartige Darstellung ndet sich bei Timochares, in der ersten Generation nach Platon (vgl. dazu R. Eisler, The Royal Art of Astrology 946 00, 266 und Tafel V). Sie geht wahrscheinlich zurck auf Hesiods Identikation des Sternbilds der Jungfrau mit Dike (angesichts der benachbarten Waage). Und auf Grund der anderen Zeugnisse, die hier angefhrt werden, um die Verbindung der Gerechtigkeit oder Dike mit der distributiven Gleichheit zu zeigen, ist es auch hchstwahrscheinlich, da die Waage dasselbe bedeutet wie im Falle der Themis.*
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98 : . Staat 440 cd. Die Stelle schliet mit einer charakteristischen Hunde-Metapher: Oder bis er wie der Hund vom Hirten von der Stimme seiner Vernunft zurckgerufen und besnftigt wird? Vgl. Anm. 32 [2] zu Kap. 4. 99 : 2. Platon deutet das in der Tat an; denn sein Sokrates ist zweimal ziemlich im Zweifel darber, wo er nun nach der Gerechtigkeit Ausschau halten solle. (Vgl. 368b ., 432b .) 200 : 3. Adam bersieht in seiner Anmerkung zu Staat 33 e . oenbar (unter dem Einu Platons) die Gleichberechtigungsidee; in dieser Anmerkung sagt er, vielleicht mit Recht, da die Ansicht, nach der Gerechtigkeit darin bestehe, den Freunden Gutes und den Feinden Bses zuzufgen, eine treue Widerspiegelung der vorherrschenden griechischen Moral darstellt. Aber er hat unrecht, wenn er fortfhrt, da dies eine ganz allgemein anerkannte Ansicht sei; denn er vergit sein eigenes Zeugnis (Anmerkung zu 56 e 28), nach dem die Gleichheit vor den Gesetzen (die Isonomie) die stolze Forderung der Demokratie war. Vgl. auch Anm. 4 und 7 zu diesem Kap. Eine der ltesten Erwhnungen (wenn nicht die lteste) der Isonomie ndet sich in einem Fragment Alkmaions des Arztes (frhes fnftes Jahrhundert; vgl, Diels, Fragm.4); er nennt die Isonomie eine Bedingung der Ge574 Anmerkungen zu Kapitel 6

sundheit und stellt sie der Monarchie der Herrschaft eines Elements ber viele gegenber. Hier liegt, hnlich wie bei Platon, eine politische Theorie des Menschen (des menschlichen Krpers oder, genauer, der menschlichen Physiologie) vor. Vgl. auch Anm. 32 zu Kap. 5 und Anm. 59 zu Kap. 0. 200 : 4. Die Gleichheit wird in Glaukons Rede im Staat vorbergehend erwhnt, (hnlich auch Gorgias 483 c/d; siehe auch weiter unten in dieser Anmerkung sowie Anm. 47 zu diesem Kapitel; aber die Frage wird nicht weiter diskutiert. (Zu dieser Stelle vgl. Anm. 50 zum vorliegenden Kap. ) Anllich seines von Schmhungen strotzenden Angris auf die Demokratie (vgl. Kap. 4, Text zu Anm. 4 8) nimmt Platon dreimal in verchtlichscherzhafter Weise auf die Gleichberechtigungsidee Bezug. Zuerst in einer Bemerkung, da die Demokratie die Gleichheit an Gleiche und Ungleiche in gleicher Weise verteile (358 c; vgl. Adams Anm. zu 558 c 6 sowie Anm. 2 zu diesem Kapitel); dies ist als eine ironische Kritik gedacht. (Die Gleichberechtigung wurde schon vorher, anllich der Beschreibung der demokratischen Revolution, mit der Demokratie verbunden; vgl. Staat 557 a; die Stelle wurde im 4. Kapitel, Text zu Anm. 3, zitiert.) Zweitens wird der demokratische Mensch als ein Mensch charakterisiert, der alle seine Wnsche, seien sie nun gut oder schlecht, in gleicher Weise befriedigt. Er sei daher ein GleichAnmerkungen zu Kapitel 6 575

heitler (Isonomist), eine spttische Anspielung auf die Idee der gleichen Gesetze fr alle oder der Gleichheit vor dem Gesetze (Isonomie; vgl. Anm. 3 und 7 zu diesem Kap. ). Dieses Wortspiel ndet sich Staat 56 e. Der Weg ist ihm wohl geebnet, denn das Wort gleich ist bereits dreimal verwendet worden (Staat 56 b und c), um die Einstellung eines Menschen zu kennzeichnen, fr den alle Wnsche und Launen gleich sind. Der dritte dieser billigen Witze ist ein Appell an die Vorstellungskraft des Lesers, der sogar heute noch fr diese Art von Propaganda typisch ist: Ich verga fast, die groe Rolle zu erwhnen, die jene berhmten ,gleichen Gesetze und jene berhmte ,Freiheit in den Beziehungen zwischen Mnnern und Weibern spielen (Staat 563 b). Auer den hier erwhnten Zeugnissen fr die Bedeutung der Gleichberechtigungsidee mssen wir insbesondere Platons eigene Zeugenschaft in Betracht ziehen. Ich denke dabei () an Gorgias, wo er schreibt (488 e/489 a; vgl. auch Anm. 47, 48 und 50 zum vorliegenden Kap. ): Ist nicht die Menge (d. h. hier: die Majoritt der Menschen) der Ansicht, da Gerechtigkeit Gleichheit sei?, (2) an den Menexenos) 238 e239 a; vgl. Anm. 9 zu diesem Kap. und die dazugehrige Textstelle). Die Stellen der Gesetze, die die Gleichheit betreen, sind nach dem Staat entstanden und lassen sich nicht als Beweis dafr verwenden, da sich Platon der Situation im Augenblick der Abfassung des Staates bewut war; siehe jedoch den Text zu Anm. 9,20 und 2 im vorliegenden Kap.
576 Anmerkungen zu Kapitel 6

20 : 5. Platon selbst sagt im Zusammenhang mit der dritten Bemerkung (563 b; vgl. die letzte Anmerkung): Sollen wir reden, wie es uns gerade in den Mund kommt?; womit er scheinbar anzudeuten wnscht, da er keinen Grund sieht, seinen Scherz zu unterdrcken. 202 : 6. Ich glaube, da man die Fassung, die uns Thukydides (II, 37 .) von der Rede des Perikles berliefert hat, als praktisch authentisch ansehen kann. Thukydides war aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Rede selbst anwesend; und er hat sie auf jeden Fall so getreu als mglich rekonstruiert. Es bestehen zahlreiche Grnde fr die Annahme, da es in jener Zeit nicht ungewhnlich war, wenn jemand die Rede eines anderen sogar auswendig lernte (vgl. Platons Phaidros); und eine getreue Rekonstruktion einer Rede dieser Art ist wirklich keine so schwierige Aufgabe, wie man glauben mchte. Platon kannte die Rede; er bediente sich entweder der Version des Thukydides oder einer anderen Quelle, die ihr sehr hnlich gewesen sein mu. Vgl. auch Anm. 3 und 34/35 zu Kap. 0. (Es sei an dieser Stelle erwhnt, da Perikles zu einem frheren Zeitpunkt seiner Karriere den populren Stammesinstinkten und dem gleichermaen populren Gruppenegoismus verschiedener Leute ziemlich zweifelhafte Zugestndnisse gemacht hatte; ich denke an die Gesetzgebung ber das Brgerrecht [Heimatrecht] vom Jahre 45 vor Chr. Spter aber revidierte er, mglicherweise unter dem Einu von Mnnern wie Protagoras, seine Einstellung zu diesen Dingen.)
Anmerkungen zu Kapitel 6 577

203 : 7. Vgl. Herodot III 80, insbesondere die Lobrede auf die Isonomie, d. h. auf die Gleichheit vor dem Gesetze (III 80, 6); vgl. auch Anm. 3 und 4 zu diesem Kap. Die Stelle aus Herodot, die Platon auch auf andere Weise beeinut hat (vgl. Anm. 24 zu Kap. 4), wird von Platon im Staat ebenso lcherlich gemacht wie die Rede des Perikles; vgl. Anm. 4 zu Kap. 4, Anm. 34 zu Kap. 0. 204 : 8. Sogar der Naturalist Aristoteles bezieht sich nicht immer auf diese naturalistische Fassung der Gleichberechtigungsidee; so ist z. B. seine Formulierung der Prinzipien der Demokratie in Politik 37 b (vgl. Anm. 9 zu diesem Kapitel sowie die dazugehrige Textstelle) von ihr ganz unabhngig. Aber von vielleicht noch grerem Interesse ist der Umstand, da Platon im Gorgias, wo der Gegensatz zwischen Natur und Konvention eine so wichtige Rolle spielt, die Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz darstellt, ohne ihr die sehr zweifelhafte Lehre von der natrlichen Gleichheit aller Menschen aufzubrden (siehe 488 e/489 a, zitiert in Anm. 4 zu diesem Kapitel, sowie 483 d, 484 a, 508 a). 205 : 9. Vgl. Menexenos 238 e239 a. Unmittelbar nach dieser Stelle folgt eine klare Anspielung auf die Rede des Perikles (nmlich auf den zweiten Satz der Textstelle zu Anm. 7 dieses Kapitels). Es ist nicht unwahrscheinlich, da die oftmalige Wiederholung des Ausdrucks gleiche Geburt, auf die wir hier treen, eine vercht578 Anmerkungen zu Kapitel 6

liche Anspielung auf die niedere Herkunft der beiden Shne des Perikles und der Aspasia sein soll. (Beide wurden erst durch eine spezielle Gesetzgebung im Jahre 429 zu athenischen Brgern gemacht; vgl. E.Meyer, Geschichte des Altertums IV 4, Anm. zu Nr. 392 sowie 323, Nr.58). Es ist (sogar von Grote, vgl. seinen Plato III ) behauptet worden, da Platon im Menexenos in seiner eigenen rhetorischen Darlegung.. . den ironischen Ton fallen lt, d. h., da der mittlere Teil des Menexenos, aus dem das im Text angefhrte Zitat stammt, nicht ironisch gemeint war. Aber diese Ansicht erscheint mir unhaltbar, wenn ich den zitierten Text ber die Gleichberechtigung dem oenen Hohn an die Seite stelle, mit dem Platon im Staat diese Fragen behandelt (vgl. Anm. 4 zu diesem Kap. ). Gleich unmglich scheint mir, den ironischen Charakter jener Stelle zu bezweifeln, die unmittelbar vor der im Text zitierten Stelle steht und an der sich Platon ber Athen auf die folgende Weise uert (vgl. 238 c/d): In jener Zeit sowie auch heutzutage ist unsere Regierung immer eine Aristokratie gewesen ; wenn sie auch manchmal eine Demokratie genannt wurde, so war sie doch in Wirklichkeit stets eine Aristokratie eine Herrschaft der Besten, wenn auch mit Zustimmung der Vielen Angesichts der Abscheu Platons vor der Demokratie bedarf diese Stelle keines weiteren Kommentars. *Eine weitere, zweifellos ironisch gemeinte Stelle ist 245 cd (vgl. Anm. 48 zu Kap. 8); hier
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rhmt Sokrates Athen wegen seiner kompromilosen Ablehnung von Auslndern und Barbaren. Da Platon Athen an einer anderen Stelle (Staat 526 e f., zit. in Anm. 48 zu Kap. 8) anllich eines Angris auf die Demokratie und das bedeutet die athenische Demokratie wegen der liberalen Behandlung von Fremden grob verspottet, so kann sein Lob im Menexenos nur ironisch gemeint sein; wieder einmal wird der Liberalismus Athens von einem spartafreundlichen Parteignger lcherlich gemacht. (Nach einem Gesetz des Lykurg war es einem Fremden verboten, in Sparta zu wohnen; vgl. die Vgel des Aristophanes, 02.) In diesem Zusammenhang ist folgendes von Interesse: Im Menexenos sagt Platon von Sokrates, der hier Athen als ein Redner angreift, er wre ein Schler eines bekannten oligarchischen Parteifhrers gewesen, nmlich des Redners Antiphon (aus Rhamnos nicht zu verwechseln mit dem Sophisten Antiphon, der aus Athen stammte); die Bemerkung ist deshalb wichtig, weil Sokrates hier eine Rede parodiert, die Thukydides aufgezeichnet hatte, und weil Thukydides in der Tat selbst ein Schler Antiphons gewesen zu sein scheint, den er sehr bewunderte.* Zur Echtheit des Menexenos vgl. Kap. 0, Anm. 35. 205 : 20. Gesetze 757 a; vgl. die ganze Stelle, 757 ae, deren Hauptstcke weiter oben, in Anm. 9 [] zum gegenwrtigen Kapitel zitiert wurden. [] Zu dem stndig wiederholten Haupteinwand
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gegen die Gleichberechtigungsidee vgl. auch Gesetze 744 b . Es wre wunderbar, knnte jeder alle Dinge in gleichem Ausmae besitzen; aber da dies unmglich ist usw. Die Stelle ist besonders interessant angesichts der Tatsache, da Platon von vielen Autoren, die ihn einzig nach dem Staat beurteilen, ein Feind der Plutokratie gekannt wurde. Aber an dieser wichtigen Stelle der Gesetze (d. h. 744 b f.) verlangt Platon, da die politischen mter, Beitrge, aber auch die Verteilungen von Beute und Gewinn proportional dem Wert des Vermgens eines Brgers sein sollen. Und sie sollen nicht nur von seiner Tugend oder von der Tugend seiner Vorfahren abhngen, oder von der Gre seines Krpers und von seiner Schnheit, sondern auch von seinem Reichtum oder von seinef Armut. Auf diese Weise wird ein Mensch Ehren und mter so gerecht wie nur mglich empfangen, d. h. im richtigen Verhltnis zu seinem Reichtum, wenn auch nach einem Prinzip ungleicher Verteilung. *Die Lehre von der (ungleichen) Verteilung von Ehren und Beutegtern im Verhltnis zu Reichtum und krperlicher Gre und Schnheit ist wohl ein berbleibsel aus einem heroischen Eroberungszeitalter. Die Reichen, die schwer und teuer bewanet sind, und die Starken tragen mehr zum Siege bei als die brigen Mitglieder des Staatswesens. (Das Prinzip war in der Zeit Homers in Geltung, und es ndet sich, wie mir R. Eisler versichert, bei fast allen erobernden Kriegerhorden, die uns bekannt geworden sind.)* Die Grundidee dieser Einstellung d. h. die Annahme, da
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es ungerecht sei, Ungleiche gleich zu behandeln, lt sich bereits in Protagoras 337 a nachweisen, wenn auch nur in einer nebenher geuerten Bemerkung. (Siehe auch Grogias 508 a f.; die Stelle wurde in Anm. 9 und 48 zu diesem Kapitel erwhnt.) Aber bevor Platon die Gesetze schrieb, wandte er diese Idee kaum ernstlich an. [2] Was Aristoteles aus diesen Ideen machte, erhellt insbesondere aus seiner Politik III 9, 280 a (vgl. auch 282 b284 b und 20 b 29), wo er schreibt: Alle Menschen klammern sich an irgendeine Art von Gerechtigkeit; ihre Auassungen sind daher unvollkommen und umfassen nicht die ganze Idee. So z. B. halten die Demokraten die Gerechtigkeit fr die Gleichheit; und das ist sie auch in der Tat, wenn auch nicht Gleichheit fr alle, sondern nur fr die Gleichen. Und die Oligarchen wieder halten die Gerechtigkeit fr die Ungleichheit; und das ist sie auch in der Tat, wenn auch nicht Ungleichheit fr alle, sondern nur fr die Ungleichen; vgl. auch seine Nikomachische Ethik 3 b 27, 58 b 30 . [3] Gegenber allen diesen Lehren von ungleichen Rechten halte ich mit Kant das Prinzip, da kein Mensch sich selbst hher einschtzen sollte als einen anderen, fr einen notwendigen Grundsatz aller Moral. Und angesichts der wohlbekannten Unfhigkeit der Menschen, sich selbst richtig einzuschtzen und unparteiisch zu beurteilen, halte ich dieses Prinzip fr das einzig annehmbare. Es ist mir daher unmglich, die folgende Bemerkung eines so hervorragenden Autors wie Catlin zu verstehen
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(Principles 34): Es steckt eine tieiegende Unmoral in der Sittenlehre Kants, die sich bemht, alle persnlichen Unterschiede auszuschalten und die den aristotelischen Ratschlag miachtet, Gleichen Gleiches und Ungleichen Ungleiches zuzuteilen. Sozial gesehen hat der eine Mensch eben nicht dasselbe Recht wie der andere Der Verfasser dieser Zeilen ist keinesfalls bereit abzustreiten, da in der Lehre vom ,Blut etwas Wichtiges steckt. Nun frage ich: Wenn tatschlich etwas Wichtiges in der Lehre vom Blut und der Ungleichheit von Talenten stecken wrde; und selbst wenn es der Mhe wert wre, seine Zeit damit zu vergeuden, diese Unterschiede abzuschtzen (falls es mglich wre, sie abzuschtzen): warum sollte man diese Unterschiede zur Grundlage grerer Rechte machen und nicht zur Grundlage grerer Pichten? (Vgl. Kap. 4, Text zu Anm. 3/32.) Ich kann die tieiegende Unmoral der Gleichheitslehre Kants nicht sehen. Und mir ist es auch nicht einsichtig, worauf Catlin seine moralischen Urteile grndet, da er doch die Moral fr eine Geschmacksfrage hlt. Warum sollte wohl der Geschmack Kants so tief unmoralisch sein? (Es ist derselbe wie der christliche Geschmack.) Die einzige Antwort, die ich mir zu dieser Frage denken kann, lautet, da Catlin von seinem positivistischen Standpunkt aus (vgl. Anm. 8 [2] zu Kap. 5) die christliche und die kantische Moral fr unmoralisch hlt, weil sie den positiv durchgesetzten sittlichen Bewertungen unserer gegenwrtigen Gesellschaft widersprechen. [4] Eine der besten Antworten, die je all diesen Feinden
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und Widersachern der Gleichberechtigungsidee gegeben wurde, stammt von Rousseau. Ich sage dies, obgleich ich der Ansicht bin, da sein Romantizismus (vgl. Anm. zu diesem Kap. ) zu den verderblichsten Einssen in der Geschichte der Sozialphilosophie zhlt. Aber Rousseau war auch einer der wenigen wirklich hervorragenden Schriftsteller auf diesem Gebiet. Ich zitiere eine seiner ausgezeichneten Bemerkungen aus dem Kapitel Der Ursprung der Ungleichheit (Contrat Social, Kap. 25; der Kursivdruck ist von mir); und ich mchte die Aufmerksamkeit des Lesers auf die schne Formulierung des letzten Satzes lenken. Ich stelle mir vor, da es zwei Arten von Ungleichheit unter den Menschen gibt; die eine nenne ich die natrliche oder die physische Ungleichheit, da sie von der Natur eingerichtet wurde; sie besteht in unterschiedlicher Gesundheit, unterschiedlichem Alter, in Unterschieden der Krperstrke und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele; die zweite knnte man die moralische oder politische Ungleichheit nennen, da sie von einer Art Konvention abhngt und durch die bereinstimmung der Meinungen der Menschen errichtet oder zumindest autorisiert wird. Diese letztere besteht in den verschiedenen Vorrechten, deren sich manche Menschen erfreuen ; z. B. dem greren Reichtum, dem greren Ansehen oder der greren Macht Es ist zwecklos, nach der Quelle der natrlichen Ungleichheit zu forschen, da ja diese Frage durch eine einfache Verbaldenition beantwortet ist. Es ist womglich noch
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zweckloser, zu untersuchen, ob eine wesentliche Abhngigkeit zwischen den beiden Arten von Ungleichheit besteht; denn das wrde nur auf die Frage hinauslaufen, ob die Befehlenden notwendigerweise besser sind als die Gehorchenden; und ob Krperkraft, Geisteskraft, Weisheit und Tugend immer im Verhltnis zur Macht oder zum Reichtum eines Menschen vorzunden sind. Das ist aber eine Frage, die vielleicht passend von Sklaven in Hrweite ihrer Herren diskutiert wird, nicht aber von vernnftigen und freien Menschen, die nach Wahrheit suchen. 206 : 2. Staat 558 c; vgl. Anm. 4 zu diesem Kap. (die erste Stelle des Angris auf die Demokratie). 206 : 22. Staat 433 b. Adam erkennt gleichfalls, da die Stelle als ein Argument gedacht ist, und er versucht dieses Argument zu rekonstruieren (Anm. zu 433 b ); aber er bekennt, da Platon selten in seinen Argumenten so vieles oen lt. 206 : 23. Staat 433 e /434 a. Die Fortsetzung dieser Stelle ndet sich im Text zu Anm. 40 dieses Kap.; was ihre Vorbereitung an frheren Stellen des Staates betrifft, vgl. Anm. 6 zu diesem Kap. Zu der Stelle, die ich das zweite Argument nenne, macht Adam die folgende Bemerkung (Anm. zu 433 e 35): Platon sieht sich nach einem Berhrungspunkt zwischen seiner eigenen Ansicht von der Gerechtigkeit und der populren rechtlichen Bedeutung
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des Wortes um (Vgl. die Stelle, die im nchsten Absatz der zu dieser Anmerkung gehrigen Textstelle zitiert wird.) Adam versucht die Argumente Platons gegen einen Kritiker (Krohn) zu verteidigen, der sah, wenn auch nicht allzu klar, da hier etwas nicht stimmte. 209 : 24. Die Zitate in diesem Absatz stammen aus Staat 430 d . 209 : 25. Dieses Verfahren scheint sogar bei einem so scharfen Kritiker wie Th. Gomperz Erfolg gehabt zu haben; Gomperz sagt in seiner kurzen Kritik (Griechische Denker II 378/379) nichts ber die Schwche des Arguments; und in einer Bemerkung ber die beiden ersten Bcher lesen wir bei ihm (a.a.O. 368): Es folgt eine Darstellung, die ein Wunder an Klarheit, Schrfe, echtester Wissenschaftlichkeit heien darf , und weiterhin, da die Mitunterredner Platons, Glaukon und Adeimantos, von glhendstem Eifer beseelt jede oberchliche Lsung verpnen und vereiteln. Zu meiner Bemerkung ber die Enthaltsamkeit (im nchsten Absatz des Textes) vgl. die folgende Stelle aus Davies und Vaughans Analyse (vgl. die Golden Treasury Edition des Staates p. XVIII; Kursivdruck von mir): Das Wesen der Enthaltsamkeit ist die Selbstbeherrschung. Das Wesen der politischen Enthaltsamkeit liegt darin, da das Recht der regierenden Krperschaft auf die Ergebenheit und den Gehorsam der Regierten anerkannt wird. Meine
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Deutung der platonischen Idee der Enthaltsamkeit wird also von Anhngern Platons geteilt (wenn auch in etwas anderer Ausdrucksweise). Es sei hinzugefgt, da die Enthaltsamkeit, d. h. die Zufriedenheit mit dem Platz, an dem man sich bendet, eine Tugend ist, an der alle drei Klassen in gleichem Ausmae teilhaben, obgleich sie die einzige den Arbeitern zugngliche Tugend ist. Somit ist Enthaltsamkeit die Tugend, die die Arbeiter und die Hndler erlangen knnen; die Enthaltsamkeit und der Mut sind die den Kriegern zugnglichen Tugenden; und Enthaltsamkeit, Mut und Weisheit sind die Tugenden, die die Wchter erlangen knnen. Die weitschweige Vorrede, die auch im nchsten Absatz zitiert wird, stammt aus Staat 43 2 b . 23 : 26. Eine terminologische Bemerkung zum Ausdruck Kollektivismus ist hier am Platze.Was H. G. Wells Kollektivismus nennt, hat nichts mit der Sache zu tun, die ich so nenne. Wells ist ein Individualist (in meinem Sinn des Wortes); das zeigt sich insbesondere in seinen Rights oj Men und The Common Sense of War and Peace; beide Werke enthalten sehr annehmbare Formulierungen der Forderungen, die ein die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz anerkennender Individualismus zu stellen htte; aber er glaubt auch, vllig richtig, an das rationale Planen politischer Institutionen mit dem Ziel, die Freiheit und die Wohlfahrt menschlicher Individuen zu frdern. Das nennt er Kollektivismus; zur Bezeichnung dessen,
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was ihm meiner Ansicht nach vorschwebt, wrde ich einen Ausdruck verwenden, wie rationales institutionelles Planen fr die Freiheit. Dieser Ausdruck ist vielleicht lang und schwerfllig, aber er vermeidet eine Gefahr; denn das Wort Kollektivismus knnte in dem antiindividualistischen Sinne interpretiert werden, in dem es oft und nicht nur in diesem Buche verwendet wird. 23 : 27. Gesetze 903 c; vgl. Kap. 5 Text zu Anm. 35. Die im Text erwhnte Einleitung (Aber er bedarf einiger Worte .. . der Belehrung, die einen Zauber auf ihn ausben) ist Gesetze 903 b. 24 : 28. Im Staat und in den Gesetzen gibt es zahllose Stellen, an denen Platon vor einem ungezgelten Gruppenegoismus warnt; vgl. z. B. Staat 59 e sowie die Stellen, auf die in Anm. 4 zu diesem Kap. verwiesen wird. Bezglich der so oft behaupteten Identitt zwischen Kollektivismus und Altruismus sei in diesem Zusammenhang auf die sehr treende Frage Sherringtons verwiesen (Man on His Nature 388): Besitzt der Schwarm oder die Herde Altruismus? Ist der Schwarm oder die Herde selbstlos? 24 : 29. Zu Dickens falsch verstandener Verachtung des Parlaments vgl. auch Anm. 23 zu Kap. 7. 26 : 30. Aristoteles, Politik III 2, (282 b); vgl. dieses
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Kap. Text zu Anm, 9 und 20. (Vgl. auch Aristoteles Bemerkung in Pol. III 8, 3, 280 a aus der folgt, da sich die Gerechtigkeit auf Personen wie auch auf Dinge bezieht.) Mit dem Zitat aus der Rede des Perikles spter in diesem Absatz vgl. dieses Kap., Text zu Anm. 6, sowie Kap. 0, Text zu Anm. 3. 26 : 3. Diese Bemerkung ist einer Stelle entnommen (Staat 59 e f.), die in Kap. 5, Text zu Anm. 3, zitiert wird. 27 : 32. Die wichtigen Stellen aus den Gesetzen, die [] im gegenwrtigen und [2] im nchsten Absatz zitiert werden, sind: [] Gesetze 730 c . Platon nimmt hier auf den Staat Bezug und scheinbar insbesondere auf Staat 462 a ., 424 a und 449 e. (Eine Liste von Stellen zum Kollektivismus und Holismus ndet sich in Anm. 35 zu Kap. 5. Zu Platons Kommunismus vgl. Anm. 29. [2] zu Kap. 5 und die dort erwhnten Stellen.) Die hier zitierte Stelle beginnt charakteristischerweise mit der Pythagoreischen Maxime Freunde haben alles gemeinsam, was sie besitzen. Vgl. Anm. 36 und Text, sowie die gemeinsamen Mahlzeiten, die in Anm. 34 erwhnt werden. [2] Gesetze 942 a f.; siehe die nchste Anmerkung. Beide Stellen werden von Gomperz (a.a.O. II 406) als antiindividualistisch beschrieben. 29 : 33. Vgl. Anm. 42, Kap. 4 und die zugehrige Textstelle.
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Das im vorliegenden Absatz folgende Zitat ist Gesetze 942 a f. entnommen (vgl. die letzte Anmerkung). Wir drfen nicht vergessen, da die militrische Erziehung in den Gesetzen (wie auch im Staat) Picht ist fr alle, denen das Tragen von Waen erlaubt ist, d. h. fr alle Brger fr alle Menschen, die so etwas wie brgerliche Rechte besitzen (vgl. Gesetze 753 b). Die brigen Mitglieder des Staates sind banausisch oder Sklaven (vgl. Gesetze 74 e und 743 d sowie Anm. 4 zu Kap. des zweiten Bandes). Interessanterweise hlt Barker, der den Militarismus verabscheut, Platon fr einen Vertreter hnlicher antimilitaristischer Ansichten (Greek Political Theory 29830). Es ist wahr, da Platon den Krieg nicht verherrlicht hat und da er sich sogar gegen ihn wandte. Aber viele Militaristen haben Frieden gepredigt und Krieg gefhrt; und der Staat Platons wird von der militrischen Kaste, d. h. von weisen Ex-Soldaten, regiert. Das gilt fr die Gesetze ebenso wie fr den Staat. (Vgl. Gesetze 753 b). 29 : 34. Strengste Gesetzgebung ber Mahlzeiten insbesondere gemeinsame Mahlzeiten und auch fr das Verhalten beim Trinken spielt bei Platon eine bedeutende Rolle; vgl. z. B. Staat 46 e, 458 c, 547 d/e; Gesetze 625 e, 633 a (wo bemerkt wird, da die obligatorischen gemeinsamen Mahlzeiten im Hinblick auf Kriege eingerichtet wurden), 762 b, 780783, 806 c f., 839 c, 842 b. Platon hebt stndig die Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten
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hervor, ganz in bereinstimmung mit kretischen und spartanischen Gebruchen. Es ist auch interessant, da sich Platons Onkel Kritias mit diesen Dingen besonders ausfhrlich beschftigt hat. (Vgl. Diels 2. Au., Kritias Fragment 33.) Zur Anspielung auf die Anarchie der Tiere am Ende des vorliegenden Zitats vgl. auch Staat 563 c. 220 : 35. Vgl. Englands Ausgabe der Gesetze I 54, Anm. zu 739 b 8 . Die Zitate aus Barker, a.a.O., sind: 49 und 48. In den Schriften der meisten Platoniker nden sich zahllose hnliche Stellen. Siehe jedoch Sherringtons Bemerkung (vgl. Anm. 28 zu diesem Kapitel), da man kaum einem Schwarm oder einer Herde altruistische Gesinnung zuschreiben kann. Herdeninstinkte, Stammesegoismus sowie der Appell an diese Instinkte sollten nicht mit Selbstlosigkeit verwechselt werden. 22 : 36. Vgl. Staat 424 a, 449 c; Phaidros 279 c; Gesetze 739 c; siehe Anm. 32 []. (Vgl. auch Lysis 207 c, und Euripides, Orest. 725.) Zur Mglichkeit eines Zusammenhanges zwischen diesem Platonischen Prinzip und dem frhen christlichen und dem Marxistischen Kommunismus vgl. Anm. 29 [2] zu Kap. 5. Zur individualistischen Theorie der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit des Gorgias vgl. z. B. die Gorgias 468 b ., 508 d/e gegebenen Beispiele. Diese Stellen zeigen aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer sokratischen
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Einu (vgl. Anm. 56 zu Kap. 0). Der Individualismus des Sokrates ist beraus klar in seiner berhmten Lehre von der Selbstgengsamkeit des guten Menschen ausgedrckt; diese Lehre wird von Platon im Staat (387 d/e) erwhnt, obgleich sie einer der Hauptthesen des Staates glatt widerspricht der Annahme nmlich, da der Staat allein selbstgengsam sein kann. (Vgl. Anm. 25 [Kap. 5] und die Textstellen zu dieser und den folgenden Anmerkungen.) 223 : 37. Staat 368 b/c. 223 : 38. Vgl. insbesondere Staat 344 a . 224 : 39. Vgl. Gesetze 923 b. 225 : 40. Staat 434 ac. (Vgl. auch Text zu Anm. 6 und 23 dieses Kapitels, sowie Anm. 27 [3] und 3 zu Kap. 4.) 229 : 4. Staat 466 b/c. VgL auch Gesetze 75 b/c und viele andere Stellen gegen den dem Ganzen gefhrlichen Mibrauch der Klassenvorrechte. Siehe auch Anm. 28 zu diesem Kap. und Anm. 25 [4] zu Kap. 7. 234 : 42. Das Problem, auf das hier angespielt wird, ist das Problem des Paradoxons der Freiheit; vgl. Anm. 4 zu Kap. 7. Zum Problem der Staatskontrolle in der Erziehung siehe Anm. 3 zu Kap. 7.
592 Anmerkungen zu Kapitel 6

236 : 43. Vgl. die Politik des Aristoteles III 9, 6 . (280 a). Vgl. Burke French Revolution (ed. 85 V 84; die Stelle wird von Jowett in seinen Anmerkungen zu den Stellen des Aristoteles passend zitiert; siehe seine Ausgabe der Politik des Aristoteles II 26). Die Zitate aus Aristoteles, spter in diesem Absatz, sind Politik III 9, 8 (280 b). Field z. B. gibt eine hnliche Kritik (in seinem Buch Plato and His Contemporaries 7): Es wird nicht die Frage gestellt, ob der Staat und seine Gesetze irgendeinen erzieherischen Einu auf den sittlichen Charakter der Brger ausben. Green hat jedoch klar gezeigt (in seinen Lectures on Political Obligation), da es dem Staat nicht mglich ist, die Sittlichkeit durch ein Gesetz zu erzwingen. Er wrde sicher der Formel zugestimmt haben Wir wnschen die Politik zu versittlichen, nicht die Sitten zu politisieren (siehe Ende dieses Absatzes im Text). Greens Ansicht wird von Spinoza vorweggenommen (Tract. Theol. Pol., Kap. 20): Wer alles durch Gesetz zu regeln wnscht, wird aller Wahrscheinlichkeit nach Verbrechen eher erzeugen als ihre Beseitigung erwirken. 238 : 44. Diese Analogie zwischen dem zivilen Frieden und dem internationalen Frieden, zwischen gewhnlichen Verbrechen und internationalen Verbrechen ist meiner Ansicht nach von grundlegender Bedeutung fr jeden Versuch, internationale Verbrechen zu kontrollieren. Zu dieser Analogie, ihren Grenzen sowie auch zur UnbrauchAnmerkungen zu Kapitel 6 593

barkeit der historizistischen Methode bei der Behandlung derartiger Probleme vgl. Kap. 9, Anm. 7. *H.Morgenthau sei als das Beispiel eines Denkers erwhnt, der rationale Methoden zur Errichtung internationalen Friedens fr einen utopischen Traum hlt. (Vgl. sein Buch Scientic Man Versus Power Politics, Englische Ausgabe 947.) Morgenthaus Position ist die eines enttuschten Historizisten. Er sieht ein, da historizistische Vorhersagen unmglich sind; da er aber (ebenso wie die Marxisten) annimmt, da der Bereich der Anwendbarkeit der Vernunft (oder der wissenschaftlichen Methoden) auf den Bereich der Vorhersagbarkeit eingeschrnkt ist, so schliet er von der Unvorhersagbarkeit historischer Ereignisse auf die Unanwendbarkeit der Vernunft auf das internationale Geschehen. Aber dieses Argument ist nicht schlssig, da eine wissenschaftliche Vorhersage und eine Vorhersage im Sinne historischer Prophezeiung nicht ein und dasselbe Ding sind. (Keine der Naturwissenschaften mit praktisch der einzigen Ausnahme der Theorie des Sonnensystems versucht etwas, das einer historischen Prophezeiung nur entfernt hnlich wre.) Die Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht nicht in der Vorhersage von, Zgen oder Tendenzen der Entwicklung, noch ist dies die Aufgabe der Naturwissenschaften. Die sogenannten ,sozialen Gesetze knnen bestenfalls dasselbe leisten wie die sogenannten ,Naturgesetze, nmlich, sie knnen gewisse Zge andeuten Weder die Naturwissenschaften noch
594 Anmerkungen zu Kapitel 6

die Sozialwissenschaften knnen vorhersagen, welche Bedingungen tatschlich eintreten werden, um einem bestimmten Zug zum Dasein zu verhelfen. Noch sind beide fhig mit mehr als hoher Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, da in der Gegenwart gewisser Bedingungen ein bestimmter Zug hervortreten wird, schreibt Morgenthau (20 ., Hervorhebungen von mir). Aber die Naturwissenschaften versuchen nicht die Vorhersage von Tendenzen oder Entwicklungszgen, und nur Historizisten glauben, da ihnen und den Sozialwissenschaften eine solche Aufgabe zukomme. Dementsprechend wird die Einsicht, da sich diese Ziele nicht verwirklichen lassen auch nur den Historizisten enttuschen. Zahlreiche politische Wissenschafter erheben jedoch den Anspruch, da sie tatschlich soziale Ereignisse mit groem Sicherheitsgrad vorhersagen knnen. In Wirklichkeit sind sie die Opfer von Tuschungen, schreibt Morgenthau. Ich stimme vllig zu; das zeigt jedoch nur, da der Historizismus zu verwerfen ist. Die Annahme aber, da die Ablehnung des Historizismus auch die Ablehnung des Rationalismus in der Politik bedeutet, deckt ein grundlegendes Vorurteil des Historizismus auf nmlich, da die historische Prophezeiung die Basis jeder rationalen Politik darstellt. (Ich habe zu Beginn des ersten Kapitels erwhnt, da diese Ansicht fr den Historizismus charakteristisch ist.) Morgenthau verspottet alle Versuche, die Macht durch die Vernunft zu kontrollieren und den Krieg zu unterAnmerkungen zu Kapitel 6 595

drcken; er glaubt, da alle derartigen Versuche einem Rationalismus und einer berschtzung der Wissenschaft entspringen, die beide auf die Gesellschaft ihrem Wesen nach nicht angewendet werden knnen. Es ist jedoch klar, da er zu viel beweist. In vielen Gesellschaften ist der zivile Frieden hergestellt worden; und das trotz der wesentlichen Begierde nach der Macht, die ihn nach Morgenthaus Theorie htte verhindern sollen. Er gibt natrlich diese Tatsache zu, sieht aber nicht, da sie die theoretische Basis seiner romantischen Behauptungen zerstrt.* 240 : 45. Das Zitat stammt aus der Politik des Aristoteles (III 9, 8; 280). [] Ich sage im Text weiterhin, weil ich glaube, da die Stellen, auf die im Text angespielt wird, nmlich Politik III 9, 6 und III 9, 2, aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Ansicht Lykophrons darstellen. Meine Grnde fr diese Annahme sind die folgenden. Von III 9, 6 bis III 9, 2 beschftigt sich Aristoteles mit der Kritik einer Lehre, die ich Protektionismus genannt habe. In III 9, 8, der im Text zitierten Stelle, schreibt er dem Lykophron direkt eine knappe und vllig klare Formulierung dieser Lehre zu. Aus seinen brigen Hinweisen auf Lykophron (siehe [2] in dieser Anmerkung) wird es wahrscheinlich, da dieser, seinem Alter nach zu schlieen, einer der ersten, wenn nicht der erste, gewesen sein mu, der den Protektionismus formulierte. Somit erscheint die An596 Anmerkungen zu Kapitel 6

nahme vernnftig (wenn auch alles eher als sicher), da sich der ganze Angri auf den Protektionismus direkt gegen Lykophron richtet und da die verschiedenen, aber miteinander quivalenten Formulierungen jener Lehre alle von ihm stammen. (Es sei auch erwhnt, da Platon den Protektionismus eine allgemein verbreitete Ansicht nennt; Staat 358 c.) Die Einwnde des Aristoteles zielen alle darauf ab, zu zeigen, da es der protektionistischen Theorie unmglich ist, Grnde fr die rumliche wie auch fr die innere Einheit des Staates anzugeben. Seiner Ansicht nach bersieht diese Theorie (III 9, 6) den Umstand, da der Staat um des guten Lebens willen existiert, an dem weder Tiere noch Sklaven Anteil haben knnen (d. h. um des guten Lebens der tugendhaften Landeigentmer willen denn wer Geld verdient, den hindert seine banausische Ttigkeit an der Ausbung der Brgerrechte). Sie bersieht auch die Stammeseinheit des wahren Staates, der (III 9, 2) eine Gemeinschaft des Wohlseins in Familien und eine Ansammlung von Familien um eines vollstndigen und unabhngigen Lebens willen ist; diese Gemeinschaft wird unter Menschen errichtet, die an derselben Stelle leben und die untereinander heiraten. [2] Zu Lykophrons Gleichheitsprinzip vgl.Anm. 3 zu Kap. 5. Jowett nennt (in Aristotles Politics II 26) Lykophron einen obskuren Rhetoren; aber Aristoteles mu anderer Ansicht gewesen sein, denn er erwhnt Lykophron in seinen erhaltenen Schriften zumindest
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sechsmal (in Politik, Rhetorik, Fragmente, Metaphysik, Physik, Sophistische Widerlegungen). Es ist unwahrscheinlich, da Lykophron viel jnger war als Alkidamas, sein Kollege an der Schule des Gorgias, da seine Gleichheitslehre kaum soviel Aufmerksamkeit erregt htte, wre sie erst bekannt geworden, nachdem Alkidamas Gorgias als das Haupt der Schule nachgefolgt war. Lykophrons erkenntnistheoretische Interessen (die von Aristoteles in Metaphysik 045 b 9 und Physik 85 b 27 erwhnt werden) sind hier ebenfalls heranzuziehen, denn sie machen es wahrscheinlich, da er schon ein Schler des Gorgias war, bevor sich dieser fast ausschlielich auf die Rhetorik beschrnkte. Natrlich mu jede Meinung ber Lykophron wegen der sprlichen Information, die wir besitzen, in hohem Grade spekulativ sein. 24 : 46. Barker, Greek Political Theory I 60. Zu Humes Kritik an der historischen Version der Vertragstheorie vgl. Anm. 43 zu Kap. 4. Barker behauptet auch (6), da die Gerechtigkeit Platons im Gegensatz zur Gerechtigkeit der Vertragstheorie nicht etwas ueres, sondern vielmehr etwas Inneres, in der menschlichen Seele Ruhendes ist; hier aber mu ich den Leser daran erinnern, da Platon zur Herbeifhrung der Gerechtigkeit wiederholt hchst strenge Sanktionen empehlt; er empehlt stets die Anwendung von berredung und Gewalt (vgl.Anm. 5, 0, 8 zu Kap. 8). Andrerseits haben einige moderne demokratische Staaten gezeigt, da es mglich ist, eine liberale
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und milde Haltung einzunehmen, ohne da dadurch die Kriminalitt gesteigert wrde. Zu meiner Bemerkung, da Barker in Lykophron (wie auch ich) den Urheber der Vertragstheorie sieht, vgl. Barker a.a.O. 63: Protagoras hat dem Sophisten Lykophron die Begrndung der Vertragstheorie nicht vorweggenommen. (Vgl. dazu Kap. 5, Text zu Anm. 27.) 245 : 47. Vgl. Gorgias 483 b f. 246 : 48. Vgl. Gorgias 488 e . Die Weise, in der Sokrates hier dem Kallikles antwortet, macht es wahrscheinlich, da der historische Sokrates gegen einen biologischen Naturalismus, wie ihn Pindar vertrat, auf die folgende Weise argumentiert hat: Wenn es natrlich ist, da der Strkere herrschen soll, dann ist auch die Forderung nach der Herrschaft der Gleichheit natrlich, da die Mehrheit, die ihre Strke durch die Tatsache beweist, da sie herrscht, nach der Gleichheit verlangt. Mit anderen Worten: Sokrates knnte den leeren, zweideutigen Charakter der naturalistischen Forderung aufgezeigt haben. Und sein Erfolg hat vielleicht Platon zu seiner eigenen Fassung des Naturalismus angeregt. Ich sehe berhaupt keinen Grund, warum die sptere Bemerkung des Sokrates ber die geometrische Gleichheit (508 a) notwendigerweise so interpretiert werden mu, da sie dem Prinzip der Gleichberechtigung widerspricht, d. h., warum sie dasselbe meinen mu wie
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die Gleichheit dem Verhltnisse nach, die wir aus den Gesetzen 744 b . und 757 ae (vgl. Anm. 9 und 20 [] zu diesem Kapitel) kennen. Das nimmt Adam in seiner zweiten Bemerkung zum Staat 558 c 5 an. Es ist aber mglich, da sein Vorschlag einen wahren Kern enthlt; denn die geometrische Gleichheit des Gorgias 508 a scheint auf pythagoreischen Einu zu verweisen und mag wohl eine Anspielung auf geometrische Proportionen sein (vgl. Anm. 56 [6] zu Kap. 0; siehe auch die Bemerkungen ber den Kratylos in dieser Anmerkung). 247 : 49. Staat 358 e. Glaukon lehnt in 358 c die Urheberschaft ab. Bei der Lektre dieser Stelle wird die Aufmerksamkeit des Lesers leicht durch die Streitfrage Natur oder Konvention abgelenkt, die hier, wie auch in der Ansprache des Kallikles im Gorgias5 eine grere Rolle spielt. Die Hauptaufgabe, die sich Platon an dieser Stelle im Staate stellt, ist aber nicht die Widerlegung des Konventionalismus, sondern der Nachweis, da das rationale, protektionistische Vorgehen selbstschtig ist. (Da die konventionalistische Vertragstheorie nicht der Hauptfeind Platons war, folgt aus Anm. 2728 zu Kap. 5 und aus den dazugehrigen Textstellen.) 247 : 50. Wenn wir die Darstellung des Protektionismus im Staate mit seiner Darstellung im Gorgias vergleichen, dann nden wir, da es sich in beiden Fllen um dieselbe Theorie handelt, obgleich im Staat auf die Gleichheit viel
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weniger Nachdruck gelegt wird. Aber sie wird, wenn auch nur vorbergehend, Staat 359 c erwhnt: Die Natur wird durch das konventionelle Gesetz verzerrt und gewaltsam gezwungen, der Gleichheit Ehre zu erweisen. Diese Bemerkung verstrkt die hnlichkeit mit der Rede des Kallikles. (Siehe Gorgias5 insbesondere 483 c/d.) Aber im Gegensatz zum Gorgias lt Platon die Gleichheit sofort fallen (oder vielmehr er nimmt die Frage nicht einmal auf) und kehrt nicht mehr zu ihr zurck; und das macht es nur noch klarer, da er das Problem zu vermeiden wnschte. Statt dessen verweilt er mit Wohlgefallen bei der Beschreibung des zynischen Egoismus, den er als die einzige Quelle des Protektionismus hinstellt. (Was sein Schweigen ber die Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz betrifft, vgl. insbesondere Anm. 4 zu diesem Kapitel und Text.) Bei A.E. Taylor, Plato, The Man and His Work 926 268, ndet sich die Behauptung, da Kallikles von der Natur, Glaukon hingegen von der Konvention ausgehe. 248 : 5. Vgl. Staat 359 a; die weiteren Anspielungen im Text beziehen sich auf 359 b, 360 d .; vgl. auch 358 c. Zum Einhmmern vgl. 359 a362 c und die weiteren Ausfhrungen bis 367 c. Platons Beschreibung der nihilistischen Tendenzen des Protektionismus fllt +(in Preisendanz bersetzung)+ fast Seiten; eine Andeutung dafr, wie wichtig dieser Punkt fr Platon war. (Es gibt auch eine Parallelstelle Gesetze 890 a f.)
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248 : 52. Nachdem Glaukon seine Schilderung beendet hat, nimmt Adeimantos seine Stelle ein (mit einer sehr interessanten und hchst relevanten Auorderung an Sokrates, den Utilitarismus zu kritisieren); aber nicht, bevor Sokrates erklrt hat, da er die Darstellung des Glaukon glnzend nde (362 d). Adeimantos Rede ist eine Verbesserung der Rede Glaukons, und auch er behauptet, da die Lehre, die wir Protektionismus nannten, sich vom Nihilismus des Thrasymachos herleite (siehe insbesondere 367a .). Nach Adeimantos ergreift Sokrates selbst das Wort, voll Bewunderung fr Glaukon und Adeimantos, die die Sache der Ungerechtigkeit (d. h. die Theorie, da es gut ist, Unrecht zuzufgen, solange man sich den Folgen entziehen kann) auf so hervorragende Weise dargestellt htten, deren Glauben an die Gerechtigkeit aber gleichwohl unerschttert sei. Indem Sokrates (d. h. Platon) die Vortreichkeit der von Glaukon und Adeimantos gebrauchten Argumente herausstreicht, erweckt er den Eindruck, da beide eine faire Darstellung der diskutierten Ansichten gegeben haben; schlielich fhrt er seine eigene Theorie vor, nicht, um zu zeigen, da die Darstellung Glaukons einer Verbesserung bedarf, sondern, wie er selbst betont, um zu zeigen, da die Gerechtigkeit im Gegensatz zur Ansicht des Protektionisten gut und die Ungerechtigkeit schlecht ist. (Es darf dabei nicht vergessen werden vgl. Anm. 49 zu diesem Kap. , da Platon nicht die Vertragstheorie, sondern einzig den Protektionismus angreift; denn die Vertragstheorie wird bald [Staat 369 bc; vgl. Text zu Anm. 29, Kap. 5] von Pla602 Anmerkungen zu Kapitel 6

ton selbst wenigstens zum Teil akzeptiert; einschlielich der Lehre, da sich die Menschen in Niederlassungen zusammenscharen, weil jeder auf diese Weise seine eigenen Interessen zu fordern hofft.) Es mu auch erwhnt werden, da die Stelle in der eindrucksvollen Bemerkung des Sokrates gipfelt, die im Text zu Anm. 37 dieses Kapitels zitiert wird. Was zeigt, da Platon den Protektionismus nur dadurch bekmpft, da er ihn als eine unmoralische und sogar gottlose Form des Egoismus hinstellt. Wenn wir uns ein Urteil ber das Vorgehen Platons bilden wollen, so drfen wir schlielich nicht vergessen, da Platon gerne gegen Rhetorik und Sophisterei zu Felde zieht; und da er es gewesen ist, der durch seine Angrie auf die Sophisten diesem Wort seinen schlechten Beigeschmack gegeben hat. Wir haben daher, wie mir scheint, allen Grund, ihn selbst zu tadeln, wenn er an Stelle von Argumenten Rhetorik und Sophisterei verwendet. 248 : 53. Adam und Barker knnen als die Reprsentanten der hier erwhnten Platonisten gelten. Nach Adam (Anm. zu 358 a .) erweckt Glaukon die Theorie des Thrasymachos wieder zum Leben, und diese Theorie ist fr ihn dieselbe Lehre, die spter (358 e .) von Glaukon dargestellt wird. Barker schreibt, da die Lehre, die ich Protektionismus nenne und fr die er die Bezeichnung Pragmatismus verwendet, im Geiste des Thrasymachos abgefat sei (a.a.O. 59).
Anmerkungen zu Kapitel 6 603

249 : 54, Da der groe Skeptiker Karneades durch die Darstellung Platons stark beeinut war, folgt aus Cicero (De Republica III 8, 3; 23), wo Glaukons Version praktisch ohne nderung als die Theorie des Karneades vorgefhrt wird. (Vgl. auch Text zu Anm. 65 und 66 sowie Anm. 56 zu Kap. 0.) Man kann wohl einigen Trost aus der Tatsache schpfen, da es die Feinde einer humanitren Gesinnung stets fr ntig fanden, an unsere humanitren Gefhle zu appellieren; und sogar aus der Tatsache, da es ihnen hug gelungen ist, uns von ihrer Redlichkeit zu berzeugen. Sie wissen wohl, wie tief derartige Gefhle in den meisten von uns verwurzelt sind, und sie wissen auch, da die verachteten Vielen eher zu gut, zu aufrichtig und zu arglos als zu schlecht sind. Die Vielen lassen sich ja sogar gerne von den oft skrupellosen Besseren erzhlen, da sie unwrdige und materialistisch gesinnte Egoisten seien, deren einziger Wunsch darin bestehe, sich den Wanst zu fllen wie das Vieh.

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Anmerkungen zu Kapitel 6

Zum 7. Kapitel: DAS PRINZIP DES FHRERTUMS Das Motto zu diesem Kapitel stammt aus Gesetze 690b (vgl. Anm. 28 zu Kap. 5). 25 : . Vgl. Text zu Anm. 2/3, Kap. 6. 253 : 2. hnliche Ideen nden sich bei J. St. Mill; er schreibt in seiner Logik (. Au. 557 f.): Obgleich die Handlungen der Herrscher durch ihre selbstschtigen Interessen keinesfalls zur Gnze bestimmt sind, so werden doch konstitutionelle Kontrollmittel zur Sicherung gegenber gerade diesen Interessen bentigt. In hnlicher Weise heit es in Mills The Subjection of Women (25 der Everyman-Ausgabe; Hervorhebungen von mir): Wer zweifelt wohl daran, da es unter der absoluten Herrschaft eines guten Menschen viel Tugend, viel Glck und viel Zuneigung geben kann? Inzwischen aber ist es notwendig, da unsere Gesetze und Institutionen nicht mit guten, sondern mit schlechten Menschen (als mglichen Herrschern) rechnen. Sosehr ich auch mit dem kursiv gedruckten Satze bereinstimme, so wenig halte ich das im ersten Satz ausgedrckte Zugestndnis fr begrndet. (Vgl. insbesondere Anm. 25 [3] zu diesem Kap. ) Ein hnliches Zugestndnis ndet sich an einer hervorragenden Stelle seines Representative Government (86; vgl. insbesondere
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49), wo Mill das platonische Ideal des kniglichen Philosophen bekmpft, weil seine Herrschaft, insbesondere wenn sie wohlwollend ist, die Abdankung des Willens und der Fhigkeit des gewhnlichen Brgers bedeutet, die Politik zu beurteilen. Es sei bemerkt, da dieses Zugestndnis J. St. Mills der Teil eines Versuches war, den Konikt zwischen James Mills Essay on Government und Macaulays berhmtem Angri (wie ihn J. St. Mill nennt; vgl. seine Autobiography V, One Stage Onward; rst edition 873, 576; Macaulays Kritik wurde zuerst im Edinbourgh Review, Mrz 829, Juni 829, Oktober 829 publiziert) auf dieses Werk zu lsen. Dieser Konikt spielte in der Entwicklung J. St. Mills eine groe Rolle; denn der Versuch, ihn zu lsen, bestimmte das Ziel und den Charakter seiner Logik (die Hauptkapitel der Abhandlung, die ich spter ber die Logik der moralischen Wissenschaft publizierte), wie wir in seiner Autobiographie lesen. Die Lsung, die J. St. Mill fr den Konikt zwischen seinem Vater und Macaulay vorschlgt, ist die folgende: Sein Vater befand sich im Recht, als er glaubte, da die Politik eine deduktive Wissenschaft sei, er befand sich im Unrecht, als er annahm, die Art der Deduktion sei die der reinen Geometrie; Macaulay befand sich im Recht mit der Annahme, die Methode der Politik sei in hherem Grade experimentell; er befand sich im Unrecht, als er meinte, sie sei wie die rein experimentelle Methode der Chemie beschaen. Die wahre Lsung besteht nach
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J. St. Mill darin, da die geeignete Methode der Politik deduktiv ist wie die Dynamik; und deren Methode ist nach Ansicht J. St. Mills durch die Summation von Wirkungen nach Art des Prinzips des Parallelogramms der Krfte gekennzeichnet. Ich glaube nicht, da diese Analyse (die u.a. auf einer Mideutung der Dynamik und der Chemie beruht) viel Aufschlureiches enthlt. Was mir daran haltbar zu sein scheint, ist folgendes: James Mill versuchte, wie viele vor ihm, die Wissenschaft von der Regierung aus den Prinzipien der menschlichen Natur zu deduzieren, wie sich Macaulay (gegen Ende seines ersten Aufsatzes) ausdrckt; fr Macaulay war dieser Versuch vllig unmglich und ich glaube, da ihm hierin recht zu geben ist. Seine eigene Methode hatte einen mehr empirischen Charakter, insofern sie sich die historischen Tatsachen zum Zwecke der Widerlegung der dogmatischen Lehren J. Mills voll zunutze machte. Aber mit der Methode der Chemie oder mit jenen Regeln, die J. St. Mill fr die Regeln der Chemie hielt (aber auch mit der induktiven Methode Bacons, die Macaulay, durch die Syllogismen Mills verwirrt, mit Lob berschttete), hatte sie nicht das geringste zu tun. Sie bestand einfach darin, da er ungltige logische Beweisverfahren in einem Gebiet, in dem sich nichts Interessantes logisch beweisen lt, ablehnte und da er Theorien und mgliche Situationen im Lichte alternativer Theorien, alternativer Mglichkeiten und tatschlich vorhandener historischer
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Zeugnisse diskutierte. Eine der wichtigsten Streitfragen war die folgende: J. Mill glaubte bewiesen zu haben, da die Monarchie und die Aristokratie mit Notwendigkeit zu einer Schreckensherrschaft fhren mten. Aber das lie sich durch historische Beispiele leicht widerlegen. Die beiden Stellen aus den Schriften J. St. Mills, die wir zu Beginn dieser Anmerkung zitiert haben, zeigen den Einu dieser Widerlegung. Macaulay hat stets hervorgehoben, da er nur die Beweise Mills widerlegen, nicht aber sich ber die Wahrheit der Falschheit seiner Konklusionen aussprechen wollte. Dies allein schon htte es klarmachen sollen, da er in Wirklichkeit gar nicht versuchte, die von ihm so sehr gelobte induktive Methode auf diesen Fall anzuwenden. 256 : 3. Vgl. z. B. die Bemerkung E.Meyers (Geschichte des Altertums V 4), nach der die Macht ihrem Wesen nach unteilbar ist. 257 : 4. Vgl. Staat 562 b565 e. Im Text beziehe ich mich insbesondere auf 562 c: Bringt nicht der berschu (an Freiheit) die Menschen in einen solchen Zustand, da sie nach einer Tyrannei verlangen? Vgl. weiterhin 563 d/e: Und am Ende nehmen sie, wie du ja weit, von den (geschriebenen und ungeschriebenen) Gesetzen berhaupt keine Notiz, da sie keinen Despoten irgendwelcher Art ber sich sehen wollen. Dies ist dann der Ursprung der Tyrannei. (Zum Beginn dieser Stelle vgl. Anm. 9 zu Kap. 4.)
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Weitere Bemerkungen Platons zum Paradox der Freiheit und der Demokratie lauten, Staat 564 a: Daher zeigt die allzu groe Freiheit die Tendenz, sich in nichts anderes als in allzu groe Sklaverei zu verwandeln, und das sowohl im Individuum als auch im Staate Es ist daher vernnftig, wenn wir annehmen, da die Tyrannei durch keine andere Regierungsform als durch die Demokratie in ihre Macht eingesetzt wird. Aus dem grtmglichen berschu an Freiheit entspringt so die hrteste und furchtbarste Form der Sklaverei. Vgl. auch Staat 565 c/d: Und ernennt nicht in der Regel das gemeine Volk einen Menschen zu seinem Verteidiger und Parteifhrer, dessen Position sie dann in jeder Weise strken und ihn gro machen? Das pegen sie zu tun. Dann scheint es doch klar zu sein, da wir berall dort, wo eine Tyrannei gro wird, diese demokratische Parteifhrerschaft fr die Quelle halten mssen, aus der sie entspringt. Das sogenannte Paradox der Freiheit besteht in dem Argument, da die Freiheit im Sinne der Abwesenheit aller einschrnkenden Kontrollen zu sehr groer Einschrnkung fhren mu, da sie es dem Gangster ermglicht, die Friedfertigen zu versklaven. Dieser Gedanke ndet sich, in einer etwas anderen Form, und mit einer ganz anderen Tendenz, bei Platon klar ausgedrckt. Weniger bekannt ist das Paradox der Toleranz: Uneingeschrnkte Toleranz fhrt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschrnkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn
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wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angrie der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. Damit wnsche ich nicht zu sagen, da wir z. B. intolerante Philosophien auf jeden Fall gewaltsam unterdrcken sollten; solange wir ihnen durch rationale Argumente beikommen knnen und solange wir sie durch die entliche Meinung in Schranken halten knnen, wre ihre Unterdrckung sicher hchst unvernnftig. Aber wir sollten fr uns das Recht in Anspruch nehmen, sie, wenn ntig, mit Gewalt zu unterdrcken; denn es kann sich leicht herausstellen, da ihre Vertreter nicht bereit sind, mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreen, und beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen; sie knnen ihren Anhngern verbieten, auf rationale Argumente die sie ein Tuschungsmanver nennen zu hren, und sie werden ihnen vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fusten und Pistolen zu beantworten. Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht fr uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, da sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, auerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Auorderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Auorderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinfhrung des Sklavenhandels. Ein weiteres, weniger bekanntes Paradoxon ist das Paradox der Demokratie, genauer, der Herrschaft der
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Mehrheit, d. h. die Mglichkeit, da sich die Mehrheit zur Herrschaft eines Tyrannen entschlieen kann. Da sich die Kritik Platons an der Demokratie in der hier gegebenen Weise deuten lt und da das Prinzip der Herrschaft der Majoritt zu einem Selbstwiderspruch fhren kann, wurde meines Wissens nach zuerst von Leonhard Nelson (vgl. Anm. 25 [2] zu diesem Kapitel) bemerkt. Ich glaube jedoch nicht, da Nelson, der trotz seiner leidenschaftlich humanitren Gesinnung und trotz seines glhenden Kampfes fr die Freiheit vieles aus den politischen Theorien Platons bernommen hat (vor allem bernahm er das platonische Prinzip des Fhrertums), den Umstand bemerkte, da sich genau analoge Einwnde gegen alle besonderen Formen der Theorie der Souvernitt oder des Fhrertums erheben lassen. Alle diese Paradoxien lassen sich leicht vermeiden, wenn wir unsere politischen Forderungen so oder hnlich ausbilden, wie es in Abschnitt II dieses Kap. vorgeschlagen worden ist; wir fordern eine Regierung, die nach den Prinzipien der Gleichberechtigung und des Protektionismus regiert; die alle Menschen, die zur Zusammenarbeit bereit sind, das heit alle toleranten Menschen, toleriert; die durch die entlichkeit kontrolliert wird und die ihr gegenber verantwortlich ist. Und wir knnen hinzufgen, da eine Art Majorittsvotum mit Institutionen zur Information der entlichkeit das beste, wenn auch keineswegs ein unfehlbares Mittel zur Kontrolle einer solchen Regierung ist. (Unfehlbare Mittel gibt es nicht.)
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Vgl. auch Kap. 6, die letzten vier Abstze im Text vor Anm. 42; Text zu Anm. 20, Kap. 7; Anm. 7 [4] zu Kap. 24 sowie Anm. 6 zum vorliegenden Kapitel. 258 : 5. Weitere Ausfhrungen zu diesem Punkt nden sich in Kap. 9 des zweiten Bandes. 259 : 6. Vgl. [7] in Anm. 4, Kap. 2. Die folgenden Bemerkungen zum Paradox der Freiheit und zum Paradox der Souvernitt werden vielleicht den Eindruck erwecken, da wir unser Argument zu weit treiben; da aber die im Text diskutierten Argumente einen einigermaen formalen Charakter besitzen, so knnen wir sie ebensogut etwas stichfester machen, obgleich wir uns dabei der Haarspalterei zu nhern scheinen. Auerdem lt mich meine Erfahrung in Debatten der angegebenen Art erwarten, da die Verteidiger des Fhrerprinzips, das heit die Verteidiger des Prinzips der Herrschaft des Besten oder Weisesten, das folgende Gegenargument verwenden: (a) wenn der Weiseste entscheidet, da die Majoritt herrschen solle, dann war er nicht wirklich weise. Dieses Argument kann durch die Behauptung (b) untersttzt werden, da ein weiser Herrscher niemals einen Grundsatz aufstellen wrde, der, wie das Prinzip der Herrschaft der Majoritt, zu einem Widerspruch fhren kann. Meine Antwort auf (b) lautet, da wir diese Entscheidung des Weisesten nur so abzundern brauchen, da der Widerspruch verschwindet.
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(So knnte sich z. B. der Weiseste zugunsten einer Regierungsform entscheiden, die nach dem Prinzip der Gleichberechtigung und des Protektionismus herrschen mu und die durch Mehrheitsbeschlu kontrolliert wird. Diese Entscheidung des Weisen wrde das Prinzip der Souvernitt aufgeben. Und da sie von Widersprchen frei ist, so knnte sie von einem Weisen gefllt werden. Aber dieses Vorgehen wrde natrlich das Prinzip, da der Weiseste regieren solle, nicht von seinem Widerspruch befreien!) Das erste Argument, nmlich (a), ist eine andere Sache. Dieser Ausweg kommt dem Wunsch gefhrlich nahe, die Weisheit oder die Gte eines Politikers so zu denieren, da er nur dann weise oder gut ist, wenn er entschlossen ist, seine Macht nicht aufzugeben. Und tatschlich ist die einzige von Widersprchen freie Form der Theorie der Souvernitt eine Form, die verlangt, da nur derjenige regieren solle, der entschlossen ist, seine Macht unter keinen Umstnden aufzugeben. Die Anhnger des Prinzips von Fhrertum sollten dieser logischen Konsequenz ihres Bekenntnisses oen ins Auge sehen: Von seinen Widersprchen befreit, verlangt es nicht die Herrschaft des Besten oder des Weisesten, sondern die Herrschaft des Machthungrigen. (Vgl. auch Anm. 7 zu Kap. 4 des zweiten Bandes.) 260 : 7. *Vgl. meinen Vortrag Towards a Rational Theory of Tradition (zuerst verentlicht im Rationalist Yearbook 949); hier versuche ich zu zeigen, da Traditionen eine
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Art Zwischenrolle zwischen Personen (und persnlichen Entscheidungen) und Institutionen spielen. Siehe jetzt auch meinen Vortrag Die entliche Meinung im Lichte der Prinzipien des Liberalismus, Ordo-Jahrbuch VIII 956.* 267 : 8. Zum Verhalten des Sokrates unter den Dreiig vgl. Apologie 320. Die Dreiig versuchten Sokrates in ihre Verbrechen zu verwickeln. Sokrates leistete aber Widerstand. Dies htte fr ihn den Tod bedeutet, htte die Herrschaft der Dreiig nur ein wenig lnger angedauert. Vgl. auch Anm. 53 und 56 zu Kap. 0. Zur Behauptung (spter in diesem Absatz), da fr Sokrates Weisheit in der Kenntnis der Grenzen des eigenen Wissens besteht, vgl. Charmides 67a, 70 a, wo der Sinn des Erkenne dich selbst auf diese Weise erklrt wird; die Apologie (vgl. insbesondere 23 ab) zeigt eine hnliche Tendenz (von der sich Timaios 72 a noch immer ein Echo ndet). Im Philebos kommt es zu einer wichtigen Modikation der Deutung des Erkenne dich selbst; vgl. dazu Anm. 26 zu diesem Kapitel (sowie Anm. 5 zu Kap. 8). 268 : 9. Vgl. Phaidon 9699. Der Phaidon ist meiner Ansicht nach noch immer zum Teil sokratisch, aber zum Groteil platonisch. Die Darstellung, die der Sokrates des Phaidon von seiner philosophischen Entwicklung gibt, hat zu zahlreichen Diskussionen Anla gegeben. Meiner Ansicht nach handelt es sich hier weder um eine authen614 Anmerkungen zu Kapitel 7

tische Selbstbiographie des Sokrates noch um eine solche Platons. Ich nehme an, da hier einfach Platons Deutung der Entwicklung des Sokrates vorliegt. Die Einstellung des Sokrates zur Wissenschaft (sie verband das strkste Interesse an rationalen Argumenten mit einer Art von bescheidenem Agnostizismus) war Platon unbegreiich. Er versuchte sie zu erklren, indem er auf den im Vergleich mit dem Pythagoreismus zurckgebliebenen Zustand der athenischen Wissenschaft in den Tagen des Sokrates verwies. Platon stellt also diese agnostische Einstellung so dar, als sei sie im Lichte seines neu errungenen pythagoreischen Ansatzes nicht mehr zu rechtfertigen. (Und er versucht zu zeigen, wie sehr die neuen metaphysischen Lehren von der Seele dem brennenden Interesse des Sokrates am Individuum entgegengekommen wren; vgl. Anm. 44 und 56 zu Kap. 0 und Anm. 58 zu Kap. 8.) 269 : 0. Nmlich die Fassung, die die Quadratwurzel aus 2 und das Problem der Irrationalitt involviert, also gerade das Problem, das die Ausung des Pythagoreismus beschleunigte. So wurde die pythagoreische Arithmetisierung der Geometrie widerlegt, und so kam es zur Entwicklung jener spezisch deduktiv-geometrischen Methoden, die wir aus Euklid kennen. (Vgl. Anm. 9 [2] zu Kap. 6.) In einigen Teilen des Menon zeigt sich eine Tendenz, die Vertrautheit des Autors (kaum Sokrates) mit den jngsten philosophischen Entwicklungen und Methoden im besten Lichte erscheinen zu lassen;
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das drfte auch der Grund dafr sein, da das erwhnte Problem im Menon zur Sprache kommt. 27 : . Gorgias 52 d f. 272 : 2. Vgl. Crossman, Plato To-Day 8: Angesichts dieser drei Kardinalfehler der athenischen Demokratie Wie gut Crossman Sokrates verstanden hat, sieht man aus a.a.O. 93: Alles Gute und Wertvolle unserer abendlndischen Kultur ist aus diesem Geiste entsprungen, ob er sich nun in Wissenschaftern, Priestern, Politikern oder in ganz gewhnlichen Mnnern und Frauen ndet, die sich weigerten, die politische Falschheit der einfachen Wahrheit vorzuziehen.. . schlielich ist ihr Beispiel die einzige Kraft, die die Diktatur der Gewalt und der Gier zu brechen vermag Sokrates zeigte, da die Philosophie nichts anderes ist als der bewute Widerstand gegen Vorurteil und Unvernunft. 272 : 3. Vgl. Crossman a.a.O. 7 f. (Erste Gruppe von Unterstreichungen von mir.) Crossman scheint fr den Augenblick vergessen zu haben, da die Erziehung im Staate Platons ein Klassenmonopol ist. Zugegeben: Der Besitz von Geld ist im Staat nicht der Schlssel zu einer hheren Erziehung. Aber das ist vllig bedeutungslos. Denn nur die Mitglieder der herrschenden Klasse werden erzogen. (Vgl. Anm. 33 zu Kap. 4.) Auerdem war Platon, zumindest zu einem spteren Zeitpunkt seines
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Lebens, alles eher denn ein Gegner der Plutokratie, die er einer klassenlosen oder einer auf den Prinzipien der Gleichberechtigung aufgebauten Gesellschaftsordnung bei weitem vorzog. Vgl. Gesetze 744 b ., zitiert in Anm. 20 [] zu Kap. 6. Zum Problem der Staatskontrolle in der Erziehung vgl. auch Anm. 42 zu diesem Kapitel sowie Anm. 394 zu Kap. 4. 274 : 4. Burnet hlt (Greek Philosophy I 78) den Staat fr rein sokratisch (oder sogar vorsokratisch eine Ansicht, die der Wahrheit vielleicht nherkommt; vgl. insbesondere A.D. Winspear, The Genesis of Platos Thought 940). Er unternimmt aber nicht einmal den ernsthaften Versuch, diese Ansicht mit einer wichtigen Feststellung in Einklang zu bringen, die er aus dem Siebenten Brief Platons (den er fr echt hlt) zitiert (326 a; vgl. Greek Philosophy I 28). Vgl. Anm. 56 [5 d] zu Kap. 0. 274 : 5. Gesetze 942, ausfhrlicher zitiert in Kap. 6, Text zu Anm.33. 275 : 6. Staat 540 c. 276 : 7. Vgl. die Zitate aus Staat 473 ce, zitiert im Text zu Anm. 44, Kap. 8. 277 : 8. Staat 498 b/c. Vgl. Gesetze 634 d/e; hier preist Platon das dorische Gesetz, das es jedem jungen MenAnmerkungen zu Kapitel 7 617

schen verbietet, zu fragen, welches der Gesetze richtig und welches falsch sei, und das sie veranlat, einmtig die Vortreichkeit aller Gesetze zu proklamieren. Nur ein alter Mann darf ein Gesetz kritisieren, so fgt der greise Schreiber hinzu; und auch ihm ist die Kritik nur dann erlaubt, wenn ihn kein Jngling hren kann. Vgl. auch Text zu Anm. 2 in diesem Kap. sowie Anm. 7, 23 und 40 zu Kap. 4. 278 : 9. Staat 497 d. 278 : 20. A.a.O. 537 c. Die nchsten Zitate stammen aus 537 de und 539 d. Die Fortsetzung dieser Stelle ist 540 bc. Eine andere hchst interessante Bemerkung ndet sich in 536 cd; hier sagt Platon, da die (in der vorhergehenden Stelle) fr dialektische Studien ausgewhlten Personen zum Erlernen neuer Dinge entschieden zu alt seien. 279 : 2. *Vgl. H. Cherniss, The Riddle ofthe Early Academy 79; sowie Parmenides 35 cd.* Grote, der groe Demokrat, hat zu diesem Punkt (d. h. zu den besseren Stellen des Staates 537 c540) ein krftiges Wort zu sagen: Das Diktum, das dialektische Debatten mit der Jugend verbietet ist entschieden antisokratisch Es ist in der Tat ein Teil der Anklage, die Meletos und Anytos gegen Sokrates vorbrachten Es ist identisch mit ihrem Vorwurf, da er die Jugend verderbe Und wenn wir nden, da er (= Platon) jede
618 Anmerkungen zu Kapitel 7

derartige Diskussion vor dem 30.Lebensjahr verbietet, dann bemerken wir und dieses Zusammentreen ist wirklich einzigartig , da Kritias und Charikles Sokrates selbst whrend der kurzlebigen Herrschaft der dreiig Oligarchien in Athen genau dieses Verbot auferlegt hatten. (Grote, Plato and the Other Companions of Socrates, ed. 875 III 239.) 28 : 22. Die im Text bekmpfte Idee, da die im Gehorchen Vortreichen auch im Befehlen ihren Mann stellen werden, ist platonisch. Vgl. Gesetze 762 e. Toynbee hat in bewundernswerter Weise gezeigt, wie erfolgreich ein platonisches System der Erziehung von Herrschern arbeiten kann in einer versteinerten Gesellschaft; vgl. A Study of History III, insbesondere 33 .; vgl. auch Anm. 32 [3] und 45 [2] zu Kap. 4. 28 : 23. Es mag sich vielleicht die Frage erheben, wie wohl ein Individualist verlangen kann, da man sich irgendeiner Sache, insbesondere aber etwas so Abstraktem wie der wissenschaftlichen Forschung, verschreibe. Aber eine solche Frage zeigt wieder nur den alten Irrtum (den wir im vorhergehenden Kapitel diskutiert haben), nmlich die Identikation des Individualismus mit dem Egoismus. Ein Individualist kann selbstlos sein, und er kann sich nicht nur der Untersttzung von Individuen, sondern auch der Entwicklung institutioneller Mittel zur Untersttzung anderer Menschen widmen. (Abgesehen
Anmerkungen zu Kapitel 7 619

davon glaube ich, da man die Ergebenheit einer Sache oder einer Idee gegenber nicht fordern, sondern nur frdern sollte.) Ich glaube, da man sich im Rahmen des Individualismus sehr wohl gewissen Institutionen (z. B. den Institutionen einer Demokratie) und sogar gewissen Traditionen verschreiben kann, vorausgesetzt natrlich, da man ihre humanitren Ziele nicht aus dem Auge verliert. Der Individualismus darf nicht mit einem antiinstitutionellen Personalismus identiziert werden. Das ist ein Irrtum, den Individualisten hug begehen. Sie haben recht, den Kollektivismus abzulehnen; aber sie halten Institutionen irrtmlich fr Kollektive (die den Anspruch erheben, selbstndige Ziele zu sein), und sie werden daher antiinstitutionelle Personalisten; damit kommen sie aber in gefhrliche Nhe des Fhrerprinzips. (Das scheint mir z. T. Dickens feindliche Haltung dem Parlament gegenber zu erklren.) Zu meiner Terminologie (Individualismus und Kollektivismus) vgl. Kap. 6, Text zu Anm. 2629. 282 : 24. Vgl. Samuel Butler, Erewhon 872 35 (EverymanAusgabe). 284 : 25. Zu diesen Ereignissen vgl. Meyer, Geschichte des Altertums V 522 bis 525 und 488 .; vgl. auch Kap. 0, Anm. 69. Die Akademie war berchtigt dafr, da Tyrannen aus ihr hervorgingen. Unter den Schlern Platons befanden sich Chairon, der sptere Tyrann von Pellene; Eurastos
620 Anmerkungen zu Kapitel 7

und Choriskos, die Tyrannen von Skepsis (nahe Atarneos); und Hermias, der sptere Tyrann von Atarneos und Assos. (Vgl. Athen XI 508 und Strabo XIII 60.) Hermias war nach einigen Quellen ein direkter Schler Platons; nach dem sogenannten sechsten Platonischen Brief dessen Authentizitt in Frage steht, ist er vielleicht nur ein Bewunderer Platons gewesen, der seinem Rat gerne folgte. Hermias wurde ein Gnner des Aristoteles und des dritten Vorstands der Akademie, des Platonschlers Xenokrates. Zu Perdikkas III. und seinen Beziehungen zum Platonschler Euphakos siehe Athen XI 508 ., dort wird auch Kallippos als ein Schler Platons angefhrt. [] Da Platon als Erzieher einen derart geringen Erfolg hatte, ist weiter nicht berraschend, wenn wir einen Blick auf die Prinzipien der Erziehung und Auswahl werfen, die Gesetze I (637 d650 b) entwickelt werden (vgl. insbesondere 643 a: La mich nun die Natur und die Bedeutung der Erziehung denieren). Denn diese lange Stelle zeigt, da es ein wunderbares Instrument der Erziehung oder vielmehr der Auswahl des Vertrauenswrdigen gibt: Den Wein, die Trunkenheit, die seine Zunge lst und zeigt, wie er wirklich beschaen ist. Was ist wohl passender als die Anwendung des Weines? Zuerst, um den Charakter eines Menschen zu prfen, und hierauf, um ihn zu ben? Was ist wohl billiger und weniger Einwnden ausgesetzt? (649 d/e). Bis jetzt ist mir noch kein von Platon begeisterter Erzieher begegnet, der diese
Anmerkungen zu Kapitel 7 621

Methode des Trinkens diskutiert htte. Was merkwrdig ist, denn die Methode wird noch immer weithin verwendet, insbesondere an den Universitten, obwohl sie nicht mehr ganz so billig ist. [2] Um dem Fhrerprinzip Gerechtigkeit zu erweisen, mu jedoch zugegeben werden, da andere in ihrer Auswahl erfolgreicher gewesen sind als Platon. Leonard Nelson (vgl. Anm. 4 zu diesem Kapitel) z. B., der an dieses Prinzip glaubte, scheint eine einzigartige Fhigkeit besessen zu haben, Mnner und Frauen heranzuziehen und auszuwhlen, die unter den grten Gefahren und Versuchungen ihrer Sache treu geblieben sind. Aber ihre Sache war besser als die Platons: Es war die humanitre Idee von Freiheit und die Idee einer Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit vor dem Gesetz. *(Einige Aufstze Nelsons wurden in englischer bersetzung von der Yale University Press unter dem Titel Socratic Method and Critical Philosophy 949 publiziert. Die sehr interessante Einfhrung stammt von Julius Kraft.)* [3] Aber die fundamentale Schwche der Theorie des wohlwollenden Diktators (die sogar unter einigen Demokraten noch immer blht) verbleibt: Ich denke an die Lehre von der Fhrerpersnlichkeit, die von den besten Absichten beseelt ist und der man Vertrauen schenken kann. Selbst wenn diese Theorie in Ordnung wre; selbst wenn wir glauben knnten, da ein Mensch ohne jegliche berprfung und Kontrolle in einer solchen Haltung verharren wird: Wie knnen wir wohl
622 Anmerkungen zu Kapitel 7

die Annahme rechtfertigen, da er einen Nachfolger von gleich seltenen und hervorragenden Eigenschaften nden wird? (Vgl. auch Anm. 3 und 4 zu Kap. 9 sowie Anm. 69 zu Kap. 0.) [4] Es ist von Interesse, wenn wir Gorgias 525 e f. mit Staat 6 d f. in bezug auf das Problem der Macht vergleichen. Beide Stellen sind nahe verwandt. Aber im Gorgias sind die grten Verbrecher immer Menschen, die aus der machtbesitzenden Klasse kommen; Privatpersonen, so heit es, mgen vielleicht schlecht sein, sie sind aber nicht unheilbar. Im Staat fehlt diese klare Warnung vor dem verderblichen Einu der Macht. Noch immer sind die meisten der groen Snder Tyrannen; aber es heit, da es auch einige Privatpersonen unter ihnen gibt. (Im Staat verlt sich Platon auf das Selbstinteresse, und er vertraut darauf, da diese die Wchter vor dem Mibrauch ihrer Gewalt bewahren wird; vgl.Staat. 466 b/c; die Stelle wird im Text zu Anm. 4, Kap. 6, zitiert. Es ist nicht ganz klar, warum das Selbstinteresse einen so gnstigen Einu auf die Wchter, nicht aber auf die Tyrannen besitzen sollte.) 284 : 26. *In den frhen (Sokratischen) Dialogen (z. B. in der Apologie und im Charmides; vgl. Anm. 8 zu diesem Kap. , Anm. 5 zu Kap. 8 und Anm. 56 [5] zu Kap. 0) wird der Ausspruch Erkenne dich selbst als Wisse, wie wenig du weit gedeutet. Der spte (Platonische) Dialog Philebos fhrt jedoch eine subtile, aber hchst
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bedeutsame Vernderung ein. Zunchst (48 c/ d f.) wird hier der Ausspruch implizit auf die gleiche Weise interpretiert; denn von den vielen, die sich selbst nicht kennen, heit es, da sie den Anspruch stellen und lgend behaupten, weise zu sein. Aber diese Deutung wird jetzt folgendermaen weiter entwickelt. Platon teilt die Menschen in zwei Klassen ein, in die Klasse der Schwachen und in die Klasse der Mchtigen. Die Unwissenheit und die Narrheit der Schwachen nennt er lcherlich, whrend ihm die Unwissenheit der Starken passend als ,bse und ,hassenswert gilt. Aber daraus wird die Platonische Lehre abgeleitet, da derjenige, der die Macht ausbt, nicht unwissend, sondern vielmehr weise sein sollte (oder da nur der Weise Macht ausben sollte); whrend doch die ursprngliche Sokratische Lehre behauptete, da (jedermann, insbesondere aber) derjenige, der die Macht besitzt, sich seiner Unwissenheit bewut sein sollte. (Es gibt natrlich im Philebos keine Andeutung dafr, da die Weisheit ihrerseits als Gewahrwerden der eigenen Beschrnkungen zu deuten ist; ganz im Gegenteil: Die Weisheit involviert hier ein Fachwissen, die Kenntnis der pythagoreischen Lehre und der platonischen Formenlehre, so, wie sie im Sophisten entwickelt wird.)*

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Anmerkungen zu Kapitel 7

Zum 8. Kapitel: DER KNIGLICHE PHILOSOPH Das Motto zu diesem Kapitel stammt aus dem Staat 540 cd; vgl. dazu Anm. 37 zu diesem Kapitel sowie Anm. 2 zu Kap. 9, wo die Stelle ausfhrlicher zitiert wird. 285 : . Staat 475 e; vgl. z. B. auch 485 b f., 50 c. 285 : 2. A.a.O. 389 b f. 286 : 3. A.a.O. 389 c/d; vgl. auch Gesetze 730 b . 286 : 4. Dazu und zu den drei folgenden Zitaten vgl. Staat 407 c und 406 c. Siehe auch Staatsmann 293 a f., 295 b296 c usw. 287 : 5. Vgl. Gesetze 720 c Interessanterweise dient die Stelle (78 c722 b) dazu, die Idee einzufhren, da der Staatsmann berredung zusammen mit Gewalt verwenden sollte (722 b); und da Platon unter der berredung der Massen zum Groteil Lgenpropaganda versteht vgl. Anm. 9 und 0 zu diesem Kapitel und das Zitat aus Staat 44 b /c, das dort im Text zitiert wird , so stellt sich also heraus, da Platons Denken an unserer Stelle aus den Gesetzen trotz dieser neuartigen Vornehmheit noch immer von den alten Ideen durchsetzt ist, von der Idee des poliAnmerkungen zu Kapitel 8 625

tischen Arztes, der Lgen verschreibt. Spter (Gesetze 857 c/d) beklagt sich Platon ber rzte der entgegengesetzten Art, ber rzte nmlich, die mit ihren Patienten zuviel philosophieren, statt sich auf die Kur zu beschrnken. Es ist sehr wahrscheinlich, da Platon hier von eigenen Erfahrungen spricht, die er anllich seiner Erkrankung zur Zeit der Abfassung der Gesetze machte. 287 : 6. Staat 389 b. Zu den folgenden kurzen Zitaten vgl. Staat 459 c. 288 : 7. Vgl. Kant, Zum Ewigen Frieden, Anhang (Werke, Ausg. Cassirer 94 VI 457). 288 : 8. Vgl. Crossman, Plato To-Day 937 30 sowie die unmittelbar vorhergehenden Seiten. Crossman scheint noch immer zu glauben, da die Lgenpropaganda nur zum Gebrauch fr die Beherrschten bestimmt war und da Platon die Regenten zum vollen Einsatz ihrer kritischen Fhigkeiten erziehen wollte; denn ich nde nun (Listener XXVII 750), da er sich auf die folgende Weise uerte: Platon glaubte an Redefreiheit und freie Diskussion nur fr die auserwhlten Wenigen. Tatsache ist jedoch, da Platon berhaupt nicht an sie glaubte. Sowohl im Staat als auch in den Gesetzen (vgl. die Stellen, die in den Anm. 82 zu Kap. 7 und im dazugehrigen Text zitiert werden) ist er ngstlich darauf bedacht, da niemand, der sich noch nicht am Rande des Greisenalters
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bendet, frei denke oder rede und dadurch die Starre der festgehaltenen Doktrin sowie die Versteinerung der zum Stehen gebrachten Gesellschaftsordnung gefhrde. Vgl. auch die beiden nchsten Anmerkungen. 289 : 9. Staat 44 b/c. In 44 d betont Platon noch einmal, er hoe auch die Regenten selbst, die Klasse der Krieger und dann den Rest des Staates von der Wahrheit seiner Lge zu berzeugen. Spter scheint er seine Oenheit bereut zu haben; denn im Staatsmann 269 b. . (vgl. insbesondere 27 b sowie auch Anm. 6 [4] zu Kap. 3) spricht er, als glaube er selbst an die Wahrheit des Mythos von den Erdenshnen, den er im Staat nur zgernd als eine groartige Lge eingefhrt hatte. (Vgl. Anm. zu diesem Kap. ) *Die Wendung, die ich mit groartige Lge bersetze, wird gewhnlich als vornehme Lge oder vornehme Falschheit oder sogar als geistreiche Erndung bersetzt. +Preisendanz bersetzt eine recht edle Fabelei aus der Klasse unserer ,erlaubten Lgen.* Die wrtliche bersetzung des Wortes gennaios, das ich nunmehr mit groartig bersetze, lautet hochgeboren oder von vornehmer Abkunft. Somit ist die bersetzung groartige Lge (lordly lie) zumindest ebenso wrtlich wie edle Lge (noble lie) sie vermeidet aber die Assoziationen, die der Ausdruck edle Lge nahelegt und die durch die Situation in keiner Weise gerechtfertigt sind die Annahme nmlich, da es sich hier um eine Lge handelt, durch die ein Mensch in
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edler Weise etwas auf sich nimmt, das ihn gefhrdet (wie die Lge Tom Sawyers, durch die er die Schuld Beckys auf sich nimmt und die der Richter Thatcher [Kap. 35] eine vornehme, eine gromtige, eine groherzige Lge nennt). Es gibt keinen Grund, die groartige Lge Platons in diesem Lichte zu sehen; daher ist die bersetzung edle Lge gerade einer der typischen Versuche, Platon zu idealisieren. Cornford bersetzt ein khner Streich der Erndergabe und wendet sich in einer Funote gegen die bersetzung edle Lge; er verweist auf Stellen, an denen gennaios soviel bedeutet wie in grozgiger Weise; und in der Tat wre grozgige Lge oder glnzende Lge eine vollkommen passende bersetzung. Aber zur gleichen Zeit wendet sich Cornford gegen die Verwendung des Ausdrucks Lge; er nennt den Mythos Platons harmlose Allegorie und verurteilt die Ansicht, da Platon Lgen, die zum Groteil wenig edel sind und die man jetzt Propaganda nennt, untersttzenwrde; und in der nchsten Funote lesen wir: Beachten wir, da die Wchter selbst, wenn mglich, diese Allegorie annehmen sollen. Es handelt sich nicht um ,Propaganda, die den Massen von den Herrschern aufgeschwtzt wird. Aber alle diese Versuche zur Idealisierung schlagen fehl. Platon selbst macht es vllig klar, da diese Lge eine ist, deren man sich schmen sollte; vgl. das letzte Zitat in Anm. , weiter unten. (In der ersten Ausgabe dieses Buches bersetzte ich inspirierte Lge und spielte damit auf ihre hohe Abkunft an; als Alter628 Anmerkungen zu Kapitel 8

native schlug ich ingenise Lge vor; das wurde von einigen meiner platonischen Freunde sowohl zu frei als auch zu tendenzis genannt und entsprechend kritisiert. Aber Cornfords khner Gedankenug fat gennaios in genau demselben Sinn auf. Siehe auch Anm. 0 und 8 zu diesem Kap.* + In der Einschtzung der heiligen Lge, wie er bersetzt, stimmt Verdro-Droberg (Grundlinien 4) mit der hier vorgetragenen Auassung berein. Er verweist auf Nietzsche (Der Wille zur Macht 428, auch 4), nach dem Platon verschiedene Thesen als absolute Wahrheiten gelehrt wissen wollte, was nicht einmal ihm bedingt als Wahrheit galt. Zu diesem Zweck, so setzt VerdroDroberg fort, gengt es, auf die Fabeln hinzuweisen, die Platon der Jugend als Wahrheit vorzutuschen vorschreibt, um sie bei der Stange zu halten. Allerdings hat Platon diese infantilen Lgen deren Verwendung VerdroDroberg aufs heftigste verurteilt nur gebraucht, um seine Grundlehren leichter durchsetzen zu knnen. Diese aber haben ihm unerschtterlich festgestanden, was im Lichte des weiter oben Gesagten zu bezweifeln ist und auch die Sachlage nicht verbessert, sondern noch deutlicher den doktrinren Charakter dieser Lehren zeigt, die Tatsache, da alle Mittel, nur nicht rationale Diskussion, verwendet werden, um sie durchzusetzen. + 289 : 0. Vgl. Staat 59ef., zitiert im Text zu Anm. 35, Kap. 5; zu berredung und Gewalt vgl. auch Staat 366 d; diese
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Stelle wird sowohl weiter unten in der vorliegenden Anmerkung als auch an den Stellen diskutiert, auf die in den Anmerkungen 5 und 8 zu diesem Kapitel verwiesen wird. Das griechische Wort (peith; seine Personikation ist eine verfhrerische Gottheit, eine Dienerin der Aphrodite), das gewhnlich mitberredung bersetzt wird, kann bedeuten (a) berzeugung mit fairen Mitteln und (b) berreden mit schlechten Mitteln, d. h. Einreden (siehe weiter unten [D], d. i. Staat, 44 c). Und manchmal heit es sogar berredung durch Geschenke, d. h. Bestechung (siehe unten unter [D], d. i. Staat 390 e). Insbesondere in der Wendung berredung und Gewalt wird der Ausdruck berredung oft im Sinne (a) interpretiert, und die Wendung wird oft (und manchmal auch passend) durch mit fairen oder blen Mitteln bersetzt (vgl. Davies und Vaughans bersetzung by fair means or foul der Stelle [C], Staat 365 d, die wir weiter unten zitieren werden). Ich bin jedoch der Ansicht, da Platon anllich seiner Empfehlung von berredung und Gewalt als Instrumente politischer Technik das Wort in einem mehr buchstblichen Sinn verwendet, d. h., da er den Gebrauch von rhetorischer Propaganda und von Gewalt befrwortet (vgl. Gesetze 753 a). Die folgenden Stellen sind von Bedeutung zum Verstndnis der Weise, in der Platon die Bezeichnung berredung im Sinne (b), insbesondere in Verbindung mit politischer Propaganda, verwendet. (A) Gorgias 453
630 Anmerkungen zu Kapitel 8

a bis 466 a, insbesondere 45 b455 a; Phaidros 260 b .; Theaitetos 20 a; Sophistes 222c; Staatsmann 296 b ., 3o4 c/d; Philebos 58 a. An allen diesen Stellen wird die berredung (die Kunst der berredung im Gegensatz zur Kunst der Mitteilung des wahren Wissens) mit Rhetorik, Spiegelfechterei und Propaganda verbunden. Im Staat verdient 364 b f., insbesondere 364 e bis 365 d (vgl. Gesetze 909 b), Beachtung. (B) In 364 c (sie berreden, d. h. mileiten zum Glauben nicht nur Individuen, sondern ganze Staaten) wird der Ausdruck zum Groteil im gleichen Sinn verwendet wie in 44 b/c (die Stelle wird im Text zu Anm.9 dieses Kapitels zitiert), der Stelle von der groartigen Lge. (C) 365 d ist von Interesse, weil hier ein Ausdruck vorkommt, den Lindsay sehr passend durch schwindeln als eine Art Paraphrase von berreden bersetzt. (Um nicht gefangen zu werden stehen uns die Meister der berredung zur Verfgung; auf diese Weise werden wir der Bestrafung durch berredung und Gewalt entrinnen. Aber, so knnte man einwenden, die Gtter lassen sich nicht tuschen oder zwingen ) Auerdem wird (D) im Staat 390 e f. der Ausdruck berredung im Sinne von Bestechung verwendet. (Dies mu eine alte Verwendungsweise sein; man nimmt an, da die Stelle ein Zitat aus Hesiod ist. Es ist von Interesse, da Platon, der so oft gegen die Idee argumentiert, da die Menschen die Gtter berreden oder bestechen knnen, ihr dennoch an der nchsten Stelle, 399 a/b, einige Zugestndnisse macht.) Hierauf kommen wir zu 44 b/c,
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der Stelle von der groartigen Lge; unmittelbar nachher, in 44 c (vgl. auch die nchste Anmerkung), macht Sokrates die zynische Bemerkung (E): Es wrde wohl einiger berredung bedrfen, um irgend jemand diese Geschichte glauben zu machen. Schlielich seien (F) Staat 5 d und 533 e erwhnt, wo Platon die berredung oder den Glauben (die Wurzel des griechischen Wortes fr berredung ist dieselbe wie die des Wortes des, das heit Glaube), eine niedere Erkenntnisfhigkeit der Seele nennt, die der Bildung (trgerischer) Meinung ber die im Flu bendlichen Dinge entspricht (vgl. Anm. 2 zu Kap. 3 und insbesondere die Verwendung von berredung in Timaios 5 e) und der das rationale Wissen von den unvernderlichen Formen entgegenzustellen ist. Zum Problem der moralischen berredung vgl. auch Kap. 6, insbesondere Anm. 52/54 und die zugehrigen Textstellen sowie Kap. 0, insbesondere Text zu Anm. 56 und 65 und Anm. 69. 290 : . Staat 45 a. Das nchste Zitat ist 45 c. (Vgl. auch Kratylos 398 a.) Vgl. die Anmerkungen 24 zum vorliegenden Kapitel und die dazugehrigen Textstellen sowie Anm. 27 [3] und 3 zu Kap. 4. [] Zu meiner Bemerkung ber Platons Unbehagen (vorliegender Absatz des Textes) vgl. Staat 44 c und die letzte Anmerkung, (E): Es wrde wohl einiger berredung bedrfen, um irgend jemand diese Geschichte glauben zu machen, sagt Sokrates. Du scheinst sie nicht gerne zu
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erzhlen, antwortet Glaukon. Du wirst mein Zgern verstehen, erwidert Sokrates, wenn ich sie erzhlt habe. Sprich und frchte dich nicht, sagt Glaukon. Dieser Dialog fhrt einen Gedanken ein, den ich die erste Idee des Mythos nenne (sie wird im Staatsmann als eine wahre Geschichte hingestellt; vgl. Anm.9 dieses Kapitels; siehe auch Gesetze 740 a). Wie im Text erwhnt, lt uns Platon vermuten, da diese erste Idee der Grund seines Zgerns ist, denn Glaukon antwortet, nachdem er sie vernommen hat: Nicht ohne Grund schmtest du dich so lange, uns deine Lge vorzusetzen. Hierauf erzhlt Sokrates den Rest der Geschichte, d. h. den Rassenmythos. Ihm folgt keine derartige rhetorische Bemerkung. *[2] Was nun die autochthonen Krieger betrifft, so mssen wir uns daran erinnern, da der athenische Adel (im Gegensatz zum dorischen) den Anspruch erhob, im eigenen Lande und wie Heuschrecken aus der Erde geboren zu sein (so drckt sich Platon im Gastmahl 9 b aus; vgl. auch das Ende zu Anm. 52 des vorliegenden Kapitels). Ein gut gesinnter Kritiker hat die Bemerkung gemacht, da die Unsicherheit des Sokrates sowie die Bemerkung Glaukons, Sokrates habe allen Grund, sich zu schmen (beides haben wir unter [] erwhnt), als eine ironische Anspielung Platons auf die Athener zu verstehen sei, die trotz ihres Anspruchs auf die autochthone Abkunft ihr Land nicht so verteidigt htten, wie sie ihre Mutter verteidigen wrden. Aber dieser geistreiche Vorschlag scheint mir nicht haltbar zu sein. Bei seiner oenen Vorliebe fr
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Sparta htte Platon die Athener wohl kaum des Mangels an Patriotismus beschuldigt; auerdem wre eine solche Anklage nicht gerecht gewesen, denn die athenischen Demokraten haben Sparta gegenber nie nachgegeben (wie wir in Kap. 0 zeigen werden); wohl aber hat Platons eigener Onkel Kritias nachgegeben, und er wurde der Fhrer einer Marionettenregierung unter dem Schutz Spartas. Htte Platon beabsichtigt, in ironischer Weise auf die unzureichende Verteidigung Athens anzuspielen, dann htte sich diese Anspielung nur auf den Peloponnesischen Krieg beziehen knnen und wre damit zu einer Kritik an Kritias geworden; dieser war aber der letzte, den Platon in der angegebenen Weise kritisiert htte. [3] Platon nennt seinen Mythos eine phnizische Lge. Ein Vorschlag zur Erklrung dieser Benennung geht auf R. Eisler zurck. Er verweist darauf, da die thiopier, Griechen (die Silberminen), Sudaneser und Syrer (Damaskus) im Orient beziehungsweise als die goldenen, silbernen und sthlernen Rassen genannt wurden und da diese Bezeichnungen in gypten fr politische Propaganda ausgentzt wurden (vgl. auch Daniel II 3); und er nimmt an, da die Geschichte dieser vier Rassen in der Zeit Hesiods von den Phniziern (wie wir erwarten sollten) nach Griechenland gebracht wurde und da Platon dieser Umstand bekannt war.* 29 : 2. Die Stelle stammt aus Staat 546 a ., vgl. Kap. 5, Text zu Anm. 36 bis 40. Die Vermischung der Klassen wird
634 Anmerkungen zu Kapitel 8

auch in 435 c klar verboten; vgl. Anm. 27 [3], 3 und 34 zu Kap. 4 sowie Anm. 40 zu Kap. 6. Die Stelle aus den Gesetzen (930 de) enthlt das Prinzip, da das Kind einer Mischehe die Kaste des geringeren Elternteils erbt. 29 : 3. Staat 547 a. (Zur Mischtheorie der Vererbung vgl. auch Kap. 5, Text zu Anm. 3940, insbesondere Anm. 40 [2] sowie Text zu Anm. 3943 und 52 dieses Kapitels. 29 : 4. A.a.O. 45c. 292 : 5. Vgl. Adams Anmerkung zu Staat 44 b ., Unterstreichungen von mir. Die groe Ausnahme ist Grote (Plato and the Other Companions of Socrates, London 875 III 240), der den Geist des Staates sowie den Gegensatz zwischen ihm und dem Geist der Apologie auf die folgende Weise zusammenfassend beschreibt: In der Apologie sehen wir, wie Sokrates seine eigene Unwissenheit bekennt Aber der Staat stellt ihn auf eine neue Weise dar Er ist selbst auf dem Thron des Knigs Nomos: Er ist die unfehlbare zeitliche und auch geistige Autoritt, aus der die entliche Meinung entspringt und durch die die Orthodoxie bestimmt ist Er erwartet nun, da jedes Individuum sich an seinen Platz begebe und die von der Autoritt vorgeschriebenen Meinungen annehme; und unter diesen Meinungen sind vorstzliche ethische und politische Fiktionen eingeschlossen, wie etwa die Fiktion der Erdgeborenen .. . Weder der Sokrates
Anmerkungen zu Kapitel 8 635

der Apologie noch seine negative Dialektik wren im Staate Platons zugelassen worden. (Hervorhebungen von mir; siehe auch Grote a.a.O. 88.) Es zeigt sich, da die Lehre, Religion sei Opium frs Volk, wenn auch nicht in dieser speziellen Formulierung, einer der Grundstze Platons und der Platonischen Schule war. (Vgl. auch Anm. 7 und Text sowie insbesondere Anm. 8 zu diesem Kap. ) Sie scheint eine der mehr esoterischen Lehren der Schule zu sein, d. h., sie darf nur von denjenigen Mitgliedern der Oberklasse diskutiert werden, die dafr alt genug sind. (Vgl. Anm. 8 zu Kap. 7.) Aber wer die Katze aus dem Sack lt, wird entsprechend Platons Vorschrift von den Idealisten als Atheist verfolgt. 293 : 6. z. B. Adam, Barker, Field. 293 : 7. Vgl. Diels, Vorsokratiker, Kritias, Fragment 25. (Ich habe elf charakteristische Zeilen aus mehr als vierzig ausgewhlt.) Es sei erwhnt, da die Stelle mit einer kurzen Darstellung des Gesellschaftsvertrags einsetzt (die sogar der Gleichberechtigungsidee des Lykophron einigermaen hnlich ist; vgl. Anm. 45 zu Kap. 6). Zu Kritias vgl. insbesondere Anm. 48 zu Kap. 0. Burnet hat vorgeschlagen, die unter dem Namen des Kritias bekannten poetischen und dramatischen Fragmente dem Grovater von Platons Onkel, dem Fhrer der Dreiig, zuzuschreiben; darauf mu erwidert werden, da Platon im Charmides (57 e) seinem Onkel Kritias poetische
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Gaben zuschreibt; und in 62 d spielt er sogar auf den Umstand an, da Kritias ein Dramatiker war. (Vgl. auch die Memorabilien Xenophons I IV 8.) 294 : 8. Vgl. Gesetze 909 e. Es scheint, da die Ansicht des Kritias spter sogar ein Teil der platonischen Schultradition wurde; das wird in der folgenden Stelle aus der Metaphysik des Aristoteles angedeutet (074 b 3), (die zur gleichen Zeit ein weiteres Beispiel fr die Verwendung des Wortes berredung zur Bezeichnung von Propaganda ist vgl. Anm. 5 und 0 zu diesem Kapitel). Der Rest wurde in der Form eines Mythos hinzugefgt, und das, um die Masse zu berreden sowie auch der gesetzlichen und allgemeinen (politischen) Zweckmigkeit willen Vgl. auch Platons Versuch im Staatsmann (27 a f.), wo er zugunsten der Wahrheit eines Mythos argumentiert, an den er, wie wir vom Staat wissen, sicher nicht glaubte. (Vgl. Anm. 9 und 5 zu diesem Kapitel.) 294 : 9. Gesetze 908 b. 294 : 20. A.a.O. 909 a. 295 : 2. Zum Konikt zwischen gut und bse siehe a.a.O. 904906. Siehe insbesondere 906 a/b (Gerechtigkeit gegen Ungerechtigkeit; Gerechtigkeit bedeutet hier noch immer die kollektivistische Gerechtigkeit des Staates). Die Stelle 903 c geht unmittelbar voraus; sie wurde weiter oben (Text
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zu Anm. 35 des 5. Kapitels und zu Anm. 27 des 6. Kapitels) zitiert. Siehe auch Anm. 32 zum vorliegenden Kapitel. 295 : 22. A.a.O. 905 d907 b. 296 : 23. Der Absatz, dem diese Anmerkung beigefgt ist, zeigt, da ich Anhnger einer absolutistischen Wahrheitstheorie bin, die mit der allgemeinen Idee bereinstimmt, da ein Satz dann, und nur dann, wahr ist, wenn er mit den Tatsachen bereinstimmt, die er beschreibt. Diese absolute oder Korrespondenztheorie der Wahrheit (die auf Aristoteles zurckgeht) wurde zuerst von A. Tarski (Der Wahrheitsbegri in den formatierten Sprachen, polnische Ausgabe 933, deutsche bersetzung 935) klar entwickelt und ist die Grundlage einer logischen Theorie, die von ihm Semantik genannt worden ist (vgl. Anm. 29 zu Kap. 3 sowie Anm. 5 [2] zu Kap. 5); siehe auch R. Carnaps Introduction to Semantics 942, wo Tarskis Theorie der Wahrheit im Detail entwickelt wird. Ich zitiere von Seite 28: Es ist besonders hervorzuheben, da der Begri der Wahrheit, wie er eben erklrt wurde wir knnen ihn den semantischen Begri der Wahrheit nennen , von Begrien wie ,geglaubt, ,veriziert, ,in hohem Grade veriziert usw. grundstzlich verschieden ist. Eine hnliche, wenn auch unentwickelte Ansicht ndet sich in meiner Logik der Forschung, Kap. 84, ber Wahrheit und Bewhrung (203 .); dieses Buch wurde geschrieben, bevor ich die Semantik Tarskis kennenlernte; daher
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ist meine Theorie dort sehr rudimentr. Die pragmatische Theorie der Wahrheit (die sich vom Hegelianismus herleitet) wurde von Russell vom Standpunkt einer absolutistischen Wahrheitstheorie aus bereits im Jahre 907 kritisiert; und jngst hat er den Zusammenhang zwischen einer relativistischen Wahrheitstheorie und dem Glaubensbekenntnis des Faschismus aufgezeigt. Vgl. Russell, Let People Think 77 und 79. 298 : 24. Ich meine insbesondere Staat 474 c502 d. Das folgende Zitat stammt aus a.a.O. 475 e. 299 : 25. Bezglich der sieben in diesem Absatz folgenden Zitate siehe () und (2) Staat 476b; (3), (4) und (5) a.a.O. 500 de; (6) und (7) a.a.O. 50 a/b; zu (7) vgl. auch die Parallelstelle a.a.O. 484 c. Siehe auch Sophistes 253 d/e; Gesetze 964 a966 a (insbesondere 965 b/c). 299 : 26. Vgl. a.a.O. 50 c. 299 : 27. Vgl. insbesondere Staat 509 a f. Siehe 509 b: Die Sonne regt die wahrnehmbaren Dinge zur Zeugung an (obgleich sie selbst nicht im Proze der Zeugung involviert ist); in hnlicher Weise gilt von den Gegenstnden des rationalen Wissens, da sie nicht nur ihre Erkennbarkeit, sonder auch ihre Wirklichkeit und sogar ihr Wesen dem Guten verdanken; obgleich das Gute nicht selbst ein Wesen ist, sondern selbst die Wesenheiten an Wrde und
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Macht bersteigt. (Zu 5:09 b vgl. Aristoteles, De Generatione et Corruptione 336 a 5, 3 und Physik 94 b 3.) In 50 b wird das Gute als der absolute Ursprung beschrieben (und nicht nur gefordert oder angenommen), und in 5 b heit es der erste Ursprung jedes Dinges. 299 : 28. Vgl. insbesondere Staat 508 b . Siehe 508 b/c: Was das Gute nach seinem eigenen Bilde zeugte (nmlich die Wahrheit), ist in der vernnftigen Welt das Bindeglied zwischen der Vernunft und ihren Gegenstnden (d. h. den Ideen), ebenso wie jenes Ding (nmlich das Licht, der Abkmmling der Sonne) in der sichtbaren Welt das Bindeglied zwischen dem Sehen und seinen Gegenstnden (nmlich den sinnlich wahrnehmbaren Dingen) darstellt. 299 : 29. Vgl. a.a.O. 505 a und 534 b . 300 : 30. Vgl. a.a.O. 505 d. 300 : 3. Philebos 66 a. 300 : 32. Staat 506 d . und 5095. Die hier zitierte Denition des Guten (die Klasse des Bestimmten [oder Endlichen oder Begrenzten] als eine Einheit aufgefat) ist meiner Ansicht nach nicht so schwer zu verstehen; sie steht auch in voller bereinstimmung mit den anderen Bemerkungen Platons. Die
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Klasse des Bestimmten ist die Klasse der Formen oder Ideen, die im Gegensatz zum weiblichen unbegrenzten oder unbestimmten Raum als die mnnlichen Prinzipien oder Ahnherrn aufgefat werden. (Vgl. Anm. 5 [2] zu Kap. 3.) Insoferne als diese Formen oder Ahnherrn alte und unwandelbare Originale sind und insoferne jede von ihnen den vielen sinnlich wahrnehmbaren Dingen entgegengesetzt ist, die es erzeugt, sind die Formen natrlich gut. Wenn wir nun die Klasse oder Rasse der Ahnherrn unter dem Gesichtspunkt der Vielheit betrachten, dann sind sie nicht absolut gut; somit lt sich das absolut Gute sichtbar vor Augen fhren, wenn wir die Formen als eine Einheit auassen, als das Eine, als den Einen Ahnherrn. (Vgl. auch Aristoteles, Metaphysik 988 a 0.) Die platonische Idee des Guten ist praktisch leer. Sie gibt uns keinen Hinweis darauf, was im moralischen Sinn gut ist, d. h., was wir tun sollen. Wie insbesondere aus den Anm. 27 und 28 zu diesem Kapitel zu ersehen ist, bekommen wir nur zu hren, da das Gute in der Welt der Formen oder Ideen zuhchst steht, da es eine Art beridee ist, aus der die Ideen entspringen und aus der sie ihr Dasein erhalten. Das einzige, das sich aus dieser Bemerkung herleiten lt, ist, da das Gute sich nicht verndert, da es als das Ursprngliche den anderen Ideen vorausgeht und daher alt (vgl. Anm. 3 zu Kap. 4) und ein Ganzes ist; da daher die unvernderlichen Dinge an ihm Anteil haben, d. h., da das Gute das Bewahrende ist (vgl. Anm. 2 und 3 zu Kap. 4), das Alte, insbesondere die
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alten Gesetze (vgl. Anm. 2 3 zu Kap. 4; den Absatz ber den Platonismus in Anm. 7 zu Kap. 5; und Anm. 8 zu Kap. 7); und da der Holismus gut ist (vgl. Anm. 2 zum vorliegenden Kap. ). Damit werden wir aber praktisch wieder auf die totalitre Moral zurckgeworfen (vgl. Kap. 6, Text zu Anm. 40/4). Wenn der siebente Brief echt ist, dann liegt hier (34 b/c) eine weitere Behauptung des Inhalts vor, da sich die Lehre vom Guten nicht formulieren lt; denn Platon sagt von ihr: Sie lt sich nicht wie andere Objekte des Studiums in Worten ausdrcken. (Vgl. auch Anm. 57 zu Kap. 0.) Wieder war es Grote, der die Leerheit der platonischen Idee oder Form des Guten klar sah und kritisierte. Er fragt zuerst, was dieses Gute eigentlich sei und stellt hierauf fest (Plato III 24 f.): Diese Frage wird gestellt Aber leider bleibt sie unbeantwortet Mit der Beschreibung des Bewutseinszustandes anderer sie ahnen ein wirklich Gutes tun alles, um es zu erhalten, aber verwirren sich selbst vergeblich beim Versuch, es zu ergreifen und seinen Charakter zu bestimmen hat er (Platon) unbewut seinen eigenen Geisteszustand beschrieben. Es ist berraschend, wie wenig moderne Autoren Grotes hervorragende Platonkritik zur Kenntnis genommen haben. Zu den Zitaten im nchsten Textabsatz vgl. (): Staat 500 bc; (2): a.a.O. 485 a/b. Diese Stelle ist von groem Interesse. Hier werden die Ausdrcke Zeugung und Verfall
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zum erstenmal in diesem halb-fachtechnischen Sinn verwendet (wie Adam in seiner Anmerkung zu 485 b 9 besttigt). Die Stelle bezieht sich auf den allgemeinen Flu der Dinge dieser Welt und auf die unvernderlichen Entitten des Parmenides. Sie fhrt auch das Hauptargument zugunsten der Herrschaft der Philosophen ein. (Vgl. Anm. 26 [] zu Kap. 3 und Anm. 2 [2] zu Kap. 4.) An der Stelle in den Gesetzen (689 cd), in der Platon schildert, wie es durch schlimmste Unwissenheit zum Verfall (688 c) des dorischen Knigreiches kam (nmlich durch Unwissenheit darber, wie denen zu gehorchen sei, die von Natur aus zum Herrschen geboren sind; vgl. 689 b), erlutert er, was er unter Weisheit versteht: Nur diejenige Weisheit, die auf grte Einheit oder Einstimmigkeit (Eintnigkeit) abzielt, ermchtigt einen Menschen zur Herrschaft. Und der Ausdruck Eintnigkeit oder Einstimmigkeit wird Staat 59 b und d als die Harmonie der Ideen der Gerechtigkeit (d. h. des an seinem Platz Verharrens) und der Enthaltsamkeit (der Zufriedenheit mit diesem Platz) erklrt. Und damit sind wir wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt. 303 : 33. *Ein Kritiker dieser Stelle bemerkte, er knne bei Platon auch nicht die geringste Spur einer Furcht vor unabhngigem Denken entdecken. Aber wir sollten uns daran erinnern, da Platon auf der Zensur bestand (vgl. Anm. 40 und 4 zu Kap. 4), da er im Staat hhere dialektische Studien fr jedermann unterhalb von 50 Jahren verbot
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(vgl. Anm. 9 bis 2 zu Kap. 7), ganz zu schweigen von den Gesetzen (vgl. Anm. 8, Kap. 7 und viele andere Stellen).* 304 : 34. Zum Problem der Priesterkaste vgl. Timaios 24 a. An einer Stelle, die deutlich auf den besten oder ltesten Staat des Staates anspielt, nimmt die Priesterkaste die Stelle der Rasse der Philosophen des Staates ein. Vgl. auch die Angrie auf die Priester (und sogar auf die gyptischen Priester), Magier und Schahmanen Staatsmann 290 c f.; vgl. weiter Anm. 57 zu Kap. 8 und Anm. 29 zu Kap. 4. Adams Bemerkung, die im Text des bernchsten Absatzes zitiert wird, stammt aus seiner Anmerkung zu Staat 547 a 3 (die weiter oben im Text zu Anm.43, Kap. 5 gebracht wurde). 307 : 35. Vgl. z. B. Staat 484 c, 500 e . 307 : 36. Staat 535 a/b. Alles, was Adam (vgl. seine Anm. zu 535 b 8) zudem Ausdruck sagt, den ich mit furchteinend bersetzt habe, untersttzt die geluge Ansicht, da er soviel wie grimmig, schrecklich, und das insbesondere im Sinn von furchteinend bedeutet. Adam schlgt mnnlich oder robust als bersetzung vor (masculine oder virile). Hier folgt er der allgemeinen Tendenz, die Aussagen Platons abzudmpfen. Lindsay bersetzt: von.. . robusten Sitten (of sturdy morals).
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307 : 37. A.a.O. 540 c; vgl. auch 500 cd: Der Philosoph selbst wird den Gttern gleich, und Anm. 2 zu Kap. 9, wo 540 c f. ausfhrlicher zitiert wird. Es ist hchst interessant zu sehen, wie Platon im Verlauf seiner Argumente das parmenideische Eine zugunsten einer aristokratischen Hierarchie transformiert. Der Gegensatz EinerViele wird nicht beibehalten, sondern fhrt zu einer Gradabstufung: Die eine Idee die wenigen, die ihr nahestehen die einigen, mehreren, die ihre Helfer sind die vielen, d. h. der Mob. (Diese Einteilung ist grundlegend fr den Staatsmann.) Im Gegensatz dazu bewahrt der Monotheismus des Antisthenes den ursprnglichen eleatischen Gegensatz zwischen dem Einen (Gott) und den Vielen (die er aller Wahrscheinlichkeit nach wegen ihres gleichen Abstandes von Gott als Brder betrachtete). Antisthenes war, auf dem Wege ber Zenons Einu auf Gorgias, durch Parmenides beeinut. Wahrscheinlich war er auch von Demokrit beeinut, der gelehrt hatte: Der Weise gehrt allen Lndern an, denn die Heimat einer groen Seele ist die ganze Welt. 307 : 38. Staat 500 d. 308 : 39. Die Zitate stammen aus Staat 459 b .; vgl. auch Anm. 34 f. zu Kap. 4, insbesondere 40 [2] zu Kap. 5. Vgl. ferner die drei Gleichnisse des Staatsmannes, in denen der Herrscher . mit dem Hirten, 2. dem Arzt und schlielich 3. dem Weber verglichen wird, dessen Funktionen als die
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eines Mannes erklrt werden, der die Charaktere durch geschicktes Zchten mischt und aufeinander abstimmt (30 b f.). 309 : 40. A.a.O. 460 a. Meine Behauptung, da Platon dieses Gesetz fr sehr wichtig hlt, beruht auf der Tatsache, da er es in der kurzen Zusammenfassung des Staates erwhnt, die er dem Timaios voranschickt (Tim. 8 d/e). 309 : 4. A.a.O. 460 b. Der Vorschlag wird sogleich aufgenommen, nmlich in 468 c. Vgl. den Text zur nchsten Anm. 309 : 42. A.a.O. 468 c. 30 : 43. Zur Lehre von der platonischen Zahl und vom Sndenfall vgl. Anm. 3 und 52 zu diesem Kap. und Anm. 39/40 zu Kap. 5 und den Text. 30 : 44. Staat 473 ce. Man beachte den Gegensatz zwischen der (gttlichen) Ruhe und dem bel, d. h. der Vernderung in Form des Verfalls oder des Niedergangs. Zu dem hier als Oligarchen bersetzten Ausdruck vgl. das Ende von Anm. 57. Dieser Ausdruck bedeutet dasselbe wie erbliche Aristokraten. Die Wendung, die ich aus stilistischen Grnden eingeklammert habe, ist von Bedeutung, denn in ihr verlangt Platon die Unterdrckung aller reinen Philosophen (und
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unphilosophischen Politiker). Eine mehr buchstbliche bersetzung wrde lauten: Whrend die vielen (die) Naturen (besitzen), die gegenwrtig nur zu einem von diesen beiden (Geschften) hinneigen (oder hintreiben), mit Gewalt ausgeschlossen werden. Adam gibt zu, da der Sinn dieser Wendung besagt, da Platon sich weigert, die Beschftigung mit dem reinen Wissen um des Wissens willen zu sanktionieren; aber sein Vorschlag, den Sinn der letzten Worte durch eine bersetzung wie mit Gewalt daran gehindert werden, sich ausschlielich einem der beiden zu widmen (Unterstreichungen von Adam; vgl. seine Anm. zu 473 d 24, Bd. I 330 seiner Ausgabe des Staates) zu mildern, ndet keine Sttze im Original, sondern nur in seiner Tendenz, Platon zu idealisieren. Dasselbe gilt fr Lindsays bersetzung (werden mit Gewalt an diesem Benehmen gehindert). Wer ist es wohl, den Platon unterdrcken will? Ich bin der Ansicht, da die vielen, deren begrenzte oder unvollkommene Fhigkeiten oder Naturen Platon hier verdammt (soweit es sich um Philosophen handelt), mit den vielen identisch sind, deren Naturen der Vollkommenheit ermangeln (sie werden in Staat 495 d erwhnt), und auch mit den vielen (professionellen Philosophen), deren Verderb unvermeidlich ist (diese werden in 489 c erwhnt, vgl. auch 490 e/49 a); vgl. Anm. 47, 56, 59 zu diesem Kap. (und Anm. 23 zu Kap. 5). Der Angri richtet sich daher einerseits gegen die ungebildeten demokratischen Politiker, anderseits hchstwahrscheinlich
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gegen den Halb-Thrakier Antisthenes, den ungebildeten Bastard, den Philosophen der Gleichheit; vgl. unten Anm. 47. 3 : 45. Kant, Zum Ewigen Frieden, zweiter Anhang (Werke hg. von Cassirer 94 VI 456). Hervorhebungen von mir. 32 : 46. Vgl. z. B. Gomperz, Griechische Denker II 382, oder Lindsays bersetzung des Staates. (Eine Kritik dieser Interpretationen ndet sich unten Anm. p.) 32 : 47. Es mu zugegeben werden, da Platons Einstellung zu Antisthenes ein in hohem Mae spekulatives Problem darstellt; dies ist natrlich mit dem Umstand eng verbunden, da nur sehr wenige erstklassige Quellen ber Antisthenes vorliegen. Sogar die alte stoische Tradition, nach der sich die kynische Schule (oder die kynische Bewegung) auf Antisthenes zurckverfolgen lt, wird gegenwrtig oft in Frage gestellt (vgl. z. B. G. C. Fields Plato 930 oder D. R. Dudley, A History of Cynicism 937), wenn auch vielleicht aus nicht ganz ausreichenden Grnden (vgl. von Fritz Besprechung des zuletzt erwhnten Buches in Mind XLVII 390). Angesichts dessen, was wir, insbesondere von Aristoteles, ber Antisthenes wissen, erscheint es mir in hohem Grade wahrscheinlich, da in Platons Schriften oft auf ihn angespielt wird. Antisthenes
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war, abgesehen von Platon selbst, der einzige Teilnehmer an den Gesprchen des inneren sokratischen Kreises, der spter in Athen Philosophie lehrte. Diese Tatsache allein wrde es schon rechtfertigen, in Platons Werken nach Anspielungen auf Antisthenes zu suchen. Nun scheint es mir ziemlich wahrscheinlich, da eine Reihe von Angrien in den Schriften Platons, auf die zuerst Dmmler aufmerksam gemacht hat (insbesondere Staat 495 d/e die Stelle wird weiter unten in Anm. 56 zu diesem Kap. erwhnt; Staat 535 e f., Sophistes 25 be), solche Anspielungen sind. Es besteht eine unverkennbare hnlichkeit zwischen diesen Stellen und Aristoteles sprlichen Angrien auf Antisthenes zumindest erscheint es mir so. Aristoteles, der den Namen des Antisthenes erwhnt, schildert ihn als einen Einfaltspinsel, und er redet von solchen ungebildeten Leuten wie die Antistheneier (vgl. Anm. 54 zu Kap. des zweiten Bandes). Platon uert sich an den erwhnten Stellen in hnlicher Weise, aber schrfer. Die erste Stelle, an die ich denke, stammt aus Sophistes 25 b f., und sie stimmt mit der ersten, Stelle des Aristoteles sehr nahe berein. Wenn wir die zwei Stellen im Staat in Betracht ziehen, so mssen wir daran denken, da Antisthenes der Tradition gem ein Bastard war (seine Mutter stammte aus dem barbarischen Thrakien) und da er in dem fr Bastarden reservierten athenischen Gymnasium lehrte. Nun ndet sich in Staat 535 e f. (vgl. das Ende der Anm. 52 zu diesem Kap. ) eine Bemerkung, die so spezische Zge
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trgt, da sie gegen eine individuelle Person gerichtet sein mu. Platon spricht von Leuten, die in der Philosophie herumpfuschen, ohne da sie ein Gefhl ihrer eigenen Minderwertigkeit daran hindern wrde, und er fordert, da die Niedriggeborenen von solcher Ttigkeit abgehalten werden sollten. Er nennt sie unausgeglichen (oder schief oder hinkend) in ihrer Liebe zur Arbeit und in ihrer Einstellung zur Erholung. Und noch persnlicher werdend, spielt er auf einen Menschen mit verkrppelter Seele an, der zwar die Wahrheit liebt (wie ein Sokratiker), der sie aber nie erringen kann, da er sich in niedriger Unwissenheit wlzt (wahrscheinlich deshalb, weil er die Formenlehre nicht annimmt); und er warnt die Stadt, diesem hinkenden Bastard und hnlichen Leuten zu vertrauen. Ich halte es fr sehr wahrscheinlich, da Antisthenes das Objekt dieses zweifellos persnlichen Angries ist. Das Zugestndnis, da der Feind die Wahrheit liebe, scheint mir ein starkes Argument zu sein, da es ja in einem Angri von hchster Schrfe auftritt. Wenn sich aber diese Stelle auf Antisthenes bezieht, dann ist es sehr wahrscheinlich, da eine sehr hnliche Stelle sich gleichfalls auf ihn bezieht; ich denke an Staat 495 d/e, wo Platon sein Opfer wieder als an Seele und Krper entstellt und als verkrppelt beschreibt. Er unterstreicht hier, da dieser Gegenstand seiner Verachtung, trotz seines Bestrebens, ein Philosoph zu sein, so verdorben sei, da er sich nicht einmal schme, niedrige (banausische; vgl. Anm. 4 zu Kap. des zweiten Bandes) manuelle Arbeit zu verrichten.
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Nun wissen wir von Antisthenes, da er manuelle Arbeit empfahl, sie hoch einschtzte (zur Haltung des Sokrates vgl. Xenophon, Memorabilien II 7, 0) und da er selbst seine Lehren in der Tat befolgte: ein weiteres starkes Argument dafr, da der Mann mit der verkrppelten Seele Antisthenes ist. An der gleichen Stelle (Staat 495 d) ndet sich auch eine Bemerkung ber die vielen, deren Naturen unvollkommen sind und die dennoch nach der Philosophie verlangen. Diese Bemerkung scheint sich auf dieselbe Gruppe (die Antistheneier des Aristoteles) der vielen Naturen zu beziehen, deren Unterdrckung in Staat 473 ce verlangt wird (die Stelle wird in Anm. 44 zu diesem Kap. diskutiert). Vgl. auch Staat 489 c. Die Stelle wird in Anm. 59 und 56 zu diesem Kap. erwhnt werden. 32 : 48. Wir wissen (von Cicero, De Natura Deorum, und Philodem, De Pietate), da Antisthenes ein Monotheist war; und die Weise, in der er seinem Monotheismus Ausdruck verlieh (Der Natur gem, d. h. in Wahrheit gibt es nur einen Gott, obgleich der bereinkunft nach viele Gtter existieren), zeigt, da er an den Gegensatz Naturbereinkunft dachte, der sich, im Denken eines frheren Mitglieds der Schule des Gorgias und eines Zeitgenossen des Alkidamas und Lykophron (vgl. Anm. 3 zu Kap. 55), mit der Gleichberechtigungslehre verbunden haben mu. Dies allein rechtfertigt natrlich noch nicht den Schlu, da der Halbbarbar Antisthenes die Brderlichkeit der
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Griechen und der Barbaren lehrte. Doch scheint es mir sehr wahrscheinlich, da er es tat. W. W. Tarn (Alexander the Great and the Unity of Mankind; vgl. Anm. 3 [2] zu Kap. 5) hat wie ich glaube, mit Erfolg zu zeigen versucht, da sich die Idee von der Einheit der Menschen zumindest bis auf Alexander den Groen zurckverfolgen lt. Es scheint mir, da wir sie mit hnlichen Argumenten noch weiter zurckverfolgen knnen bis auf Diogenes, Antisthenes, und sogar bis auf Sokrates und die Groe Generation des perikleischen Zeitalters (vgl. Anm. 27 zu Kap. 0 und Text). Dies ist auch ohne Betrachtung von Details wahrscheinlich genug; denn man kann wohl erwarten, da eine kosmopolitische Idee als ein Korollar von imperialistischen Tendenzen auftritt, wie es die Tendenzen des perikleischen Zeitalters waren (vgl. Staat 494c/d, erwhnt in Anm. 50 [5] zu diesem Kapitel, und der Erste Alkibiades 05 b .; siehe auch Text zu Anm. 922, 36, 47 zu Kap. 0). Und dies ist besonders wahrscheinlich, wenn es gleichzeitig auch andere gleichheitliche Strmungen gibt. Ich habe nicht die Absicht, die Bedeutung der Taten Alexanders zu verkleinern; seine Ideen scheinen mir aber in gewisser Weise eine Renaissance einiger der besten Ideen des athenischen Imperialismus des 5. Jahrhunderts zu sein. Zu den Details bergehend sei zuerst erwhnt, da es gute Grnde fr die Annahme gibt, da das Problem der Gleichberechtigung zumindest in der Zeit Platons (und Aristoteles) klar in Verbindung mit zwei vllig
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analogen Unterscheidungen gesehen wurde mit der Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren auf der einen Seite und mit der Unterscheidung zwischen Herren (oder Freien) und Sklaven auf der anderen; vgl. dazu Anm. 3 zu Kap. 5. Wir besitzen nun sehr gute Grnde fr die Annahme, da die Athenische Bewegung gegen die Sklaverei im 5. Jahrhundert nicht auf wenige Intellektuelle, wie etwa Euripides, Alkidamas, Lykophron, Antiphon, Hippias usw. beschrnkt war, sondern da sie einen betrchtlichen praktischen Erfolg hatte. Die Grnde fr diese Annahme nden wir in dem einmtigen Bericht der Feinde der athenischen Demokratie (insbesondere im Alten Oligarchen, bei Platon, Aristoteles; vgl. Anm.7, 8 und 29 zu Kap. 4 sowie 36 zu Kap. 0). Wenn wir nun die zugegebenermaen sprlichen Zeugnisse fr die Existenz des Kosmopolitismus in diesem Licht betrachten, so erscheinen sie meiner Meinung nach beweiskrftig genug vorausgesetzt, da wir die Angrie der Feinde dieser Bewegung unter die Zeugnisse einschlieen. Mit anderen Worten: Wir mssen die Angrie des alten Oligarchen, die Angrie Platons und die Angrie des Aristoteles gegen die humanitre Bewegung voll ausntzen, wenn wir die wirkliche Bedeutung dieser Bewegung richtig einschtzen wollen. So greift der alte Oligarch (2,7) Athen wegen seiner eklektischen kosmopolitischen Lebensweise an. Platons Angrie auf kosmopolitische und verwandte Tendenzen sind zwar nicht sehr zahlreich, aber dennoch von besonderem Wert. (Ich denke an Stellen wie
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Staat 562 e/,563a die eingesessenen Brger, die angesessenen Fremden und die zugereisten Fremden aus anderen Lndern alle sind sie einander gleich , eine Stelle, die mit der ironischen Beschreibung im Menexenos 245 cd zu vergleichen ist, wo Platon Athen wegen seiner kompromilosen Abscheu vor den Barbaren in sarkastischer Weise lobt; Staat 494 c/d und natrlich Staat 469 b47 c sind in diesem Zusammenhang ebenfalls in Betracht zu ziehen. Siehe auch das Ende von Anm. 9 zu Kap. 6.) Sosehr ich die Analyse Tarns bewundere, so glaube ich doch nicht, da er den verschiedenen berlieferten Aussagen ber diese Bewegung des 5. Jahrhunderts vllig gerecht wird. Ich erinnere z. B. an Antiphon (vgl. Anm. 6, Seite 49 von Tarns Aufsatz) oder an Euripides, Hippias oder Demokrit (vgl. Anm. 29 zu Kap. 0); oder an Diogenes (50, Anm. 2) und Antisthenes. Ich glaube nicht, da Antiphon nur die biologische Verwandtschaft zwischen den Menschen hervorheben wollte, denn er war zweifellos ein Sozialreformer, und von Natur aus bedeutete fr ihn soviel wie in Wahrheit. Es scheint mir daher praktisch festzustehen, da er die Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren als ktiv angegrien hat. Tarn bemerkt zu einem Fragment des Euripides, in dem zu lesen steht, da ein edler Mensch die Welt durchstreifen kann wie ein Adler die Lfte, er htte gewut, da ein Adler eine dauernde Heimsttte im Gebirge besitzt; aber diese Bemerkung wird dem Fragment nicht vllig gerecht; denn um ein Weltbrger zu sein, braucht man seine dauernde
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Wohnsttte nicht aufzugeben. Im Lichte all dieser Zeugnisse sehe ich nicht ein, warum es rein negativ gemeint gewesen sein sollte, wenn Diogenes auf die Frage woher stammst du zur Antwort gab, er sei ein Kosmopolit, ein Brger der ganzen Welt insbesondere, wenn wir in Betracht ziehen, da dem Sokrates eine hnliche Antwort zugeschrieben wird (Ich bin ein Mann der Welt) und da wir dasselbe bei Demokrit lesen (Der Weise gehrt allen Lndern an, denn die Heimat einer groen Seele ist die ganze Welt; vgl. Diels fr. 247; Echtheit wird von Tarn und Diels in Frage gestellt). Der Monotheismus des Antisthenes mu gleichfalls in diesem Zusammenhang gesehen werden. Es besteht kein Zweifel, da er nicht von der jdischen (d. h. stammesgebundenen und ausschlielichen) Art war. (Wenn die Erzhlung des Diog. Laert. VI 3 wahr ist, nach der Antisthenes im Kynosarges, dem Gymnasium fr Bastards oder Mischlinge, lehrte, dann mu er seine eigene barbarische Herkunft absichtlich betont haben.) Tarn bendet sich sicher im Recht, wenn er darauf verweist (45), da der Monotheismus Alexanders mit seiner Idee von der Einheit der Menschheit verbunden war. Aber dasselbe gilt von den kynischen Ideen, die, wie mir scheint. (vgl. Anm. 47), von Antisthenes und auf diese Weise von Sokrates beeinut gewesen sind. (Vgl. insbesondere das Zeugnis des Cicero, Tuscul. V 37, und des Epiktet, I 9, mit D. L., VI 2, 637; weiter Gorgias 492 e mit D.L. VI 05. Siehe auch Epiktet III 22 und 24.)
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Angesichts all dessen scheint es nicht sehr unwahrscheinlich, da Alexander (der, wie Tarn andeutet, von seinem Lehrer Aristoteles nicht besonders beeindruckt war) von den Ideen des Diogenes stark beeindruckt und angeregt wurde (wie ja auch die Tradition zu berichten wei); und die Ideen, die ihn beeindruckten, werden dem Geist und der Tradition der Gleichberechtigungsidee entsprochen haben. 32 : 49. Vgl. Staat 469 b47, insbesondere 470bd und 469 b/c. Hier nden wir in der Tat die Spur einer Art Einfhrung eines neuen ethischen Ganzen, das umfassender ist als der Stadtstaat nmlich der Einheit der hellenischen berlegenheit. Wie zu erwarten (vgl. die nchste Anmerkung [] [b]), uert sich Platon ber diesen Punkt mit gewisser Ausfhrlichkeit. (Cornford gibt den Sinn dieser Stelle treich wieder, wenn er sie dahin zusammenfat, da Platon keinerlei humanitre Sympathien hegt, die sich ber die Grenzen von Hellas hinaus erstrecken; vgl. The Republic of Plato 94 65. 32 : 50. In dieser Anmerkung werden weitere Argumente zur Interpretation von Staat 473 e und zum Problem der humanitren Haltung Platons im Zusammenhang vorgetragen. Ich mchte hier meinem Kollegen Prof. H. D. Broadhead danken, dessen Kritik mir bei der Vervollstndigung und Klrung meines Arguments sehr von Nutzen war. [] Der Gegensatz und der Vergleich zwischen dem
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Individuum und dem Ganzen ist ein Gegenstand, der von Platon immer wieder behandelt wird, (Vgl. die methodologischen Bemerkungen Staat 368 e, 445 c, 577 c und Anm. 32 zu Kap. 5.) Die Einfhrung eines neuen Ganzen, das sogar umfassender ist als der Staat nmlich die Menschheit wre fr einen Holisten ein hchst wichtiger Schritt; ein solcher Schritt wre (a) einer Vorbereitung bedrftig und (b) einer weiteren Entwicklung. Aber (a) statt einer Vorbereitung nden wir die oben erwhnte Stelle ber den Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren (Staat 469 b47 c); und (b) statt einer weiteren Entwicklung nden wir nur, da der sowieso mehrdeutige Ausdruck Rasse der Menschen ausdrcklich zurckgezogen wird. Erstens steht unmittelbar nach der hier betrachteten Schlsselstelle, d. h. der Stelle vom kniglichen Philosophen (Staat 473 d/e), eine Paraphrase des zweifelhaften Ausdrucks, die die Form einer Zusammenfassung oder einer abschlieenden Bemerkung zur ganzen Rede hat; und in dieser Paraphrase ersetzt Platons Grundgegensatz der Gegensatz zwischen dem Staat und dem Individuum den Gegensatz zwischen dem Staat und der menschlichen Rasse. Die Paraphrase lautet folgendermaen: Und keine andere Verfassung kann einen Zustand der Glckseligkeit herbeifhren, weder in privaten Dingen noch in denen des Staates. Zweitens nden wir ein hnliches Resultat, wenn wir die sechs Wiederholungen oder Variationen dieser Schlsselstelle (nmlich 487 c, 499 b, 500 e, 50 e, 536 ab sie
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werden in Anm. 52 nher diskutiert werden und die Zusammenfassung 540 d/e mit dem Zusatz von 54 b) analysieren. In zweien von ihnen (487 e, 500 e) wird nur der Staat erwhnt; in allen brigen ersetzt Platons Grundgegensatz zwischen dem Staat und dem Individuum wieder den Gegensatz zwischen dem Staat und der Rasse der Menschen. Nirgends wird weiter auf die angeblich platonische Idee angespielt, da nur die Herrschaft der Weisen, die Sophokratie, zur Rettung der leidenden Staaten und darber hinaus zur Rettung der gesamten leidenden Menschheit geeignet sei. Daraus scheint mir nun klar hervorzugehen, da Platon an allen erwhnten Stellen nur seinen Grundgegensatz im Sinn hatte (ohne da er jedoch den Wunsch gehegt htte, ihm in diesem Zusammenhang irgendeine besonders hervorragende Funktion zuzuschreiben); und dies wahrscheinlich in dem Sinn, da nur die Sophokratie zur Festigkeit und zum Glck fhren kann: zur gttlichen Ruhe des Staates sowie auch aller seiner individuellen Brger und ihrer Nachkommenschaft (in der sonst das bel heranwachsen mu das bel der Degeneration). [2] Der Ausdruck menschlich (anthropinos) wird von Platon in der Regel entweder im Gegensatz zu gttlich (und, dementsprechend, manchmal in einem leicht herabsetzenden Sinn besonders wenn die Beschrnkung des menschlichen Wissens oder der menschlichen Kunst hervorgehoben werden soll; vgl. Timaios 29 c/d; 77 a, oder Sophistes 266 c, 268 d, oder
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Gesetze 69 e f., 854 a) oder in einem zoologischen Sinn gebraucht, im Gegensatz, oder unter Bezugnahme auf Tiere, z. B. Adler. Auer in den frhen sokratischen Dialogen (bezglich einer weiteren Ausnahme siehe diese Anmerkung, [6]) konnte ich nirgends einen humanitren Sinn dieses Ausdrucks (oder des Ausdrucks Mensch) feststellen, d. h. einen Sinn, der etwa die Unterschiede zwischen Nationen, Rassen oder Klassen bersteigendes andeuten wrde. Selbst ein geistiger Sinn des Ausdrucks menschlich ist selten. (Ich denke hier an Stellen wie Gesetze 737 b: eine schon kaum mehr menschenmgliche Dummheit.) Die extrem nationalistischen und antihumanitren Ansichten von Fichte und Spengler (vgl. Kap. 2 des zweiten Bandes, Text zu Anm. 79) grnden sich blo auf den platonischen Sprachgebrauch, der das Wort menschlich als eine zoologische Kategorie verwendet und nicht als eine moralische Kategorie. Hier ist eine Anzahl von Stellen, an denen das Wort so oder hnlich verwendet wird: Staat 365 d; 486 a; 459 b/c; 54 b; 522 c; 606 e f. (wo Homer als ein Erklrer von menschlichen Geschehnissen dem Snger von Hymnen an die Gtter gegenbergestellt wird); 620b. Phaidon 82 . Kratylos 392 b. Parmenides 34 e, Theaitetos 07 b, Kriton 46 e, Protagoras 344 c, Staatsmann 274 d (der Hirte der menschlichen Herde, der ein Gott ist, nicht ein Mensch), Gesetze 673 d; 688 d; 737 b (890 ist vielleicht ein anderes Beispiel einer herabsetzenden Verwendungsweise die Menschen
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scheint hier eine hnliche Bedeutung zu haben wie sonst die Vielen). [3] Es ist natrlich wahr, da Platon eine Form oder Idee des Menschen annimmt; es ist aber ein Irrtum, wenn man glaubt, da diese Idee das allen Menschen Gemeinsame reprsentiert; sie ist vielmehr das aristokratische Ideal eines stolzen bergriechen; und darauf beruht der Glauben nicht an die Brderlichkeit der Menschen sondern an eine Hierarchie der aristokratischen und der sklavischen Naturen, deren Rangordnung von ihrer greren oder geringeren hnlichkeit mit dem Original bedingt ist, mit dem Urvater der menschlichen Rasse. (Die Griechen sind ihm hnlicher als irgendeine andere Rasse.) Daher haben nur sehr wenige Menschen an der Weisheit der Gtter Anteil (Tim. 5 a; vgl. Aristoteles, im Text zu Anm. 3, Kap. des zweiten Bandes). [4] Die Stadt am Himmel (Staat 592 b) und ihre Brger sind, wie Adam mit Recht festgestellt hat, nicht griechisch; daraus folgt jedoch nicht, da sie, wie er denkt (Anm. zu 470 e 30 und andere Stellen), der Menschheit angehren; im Gegenteil: sie sind superexklusiv, supergriechisch (sie stehen ber dem griechischen Staat von 470 e .) von den Barbaren mehr denn je entfernt. (Diese Bemerkung schliet nicht aus, da die Idee der himmlischen Stadt wie die Ideen des himmlischen Lwen und anderer Sternbilder vielleicht orientalischen Ursprungs ist.) [5] Es sei schlielich erwhnt, da die Stelle 499 c/d den Unterschied zwischen Griechen und Barbaren
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keineswegs aufhebt, ebensowenig wie den Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Platon versucht hier nur, eine raumzeitliche Verallgemeinerung mit drastischen Mitteln auszudrcken; er will nicht mehr sagen als: Wenn sich zu einer beliebigen Zeit oder an einer beliebigen Stelle (wir knnen hinzufgen: sogar an einem so uerst unwahrscheinlichen Ort wie in einem barbarischen Land) so etwas ereignen wrde, dann Die Bemerkung in Staat 494 c/d drckt ein hnliches, wenn auch strkeres Gefhl aus: Das Gefhl, einem Gedanken zu begegnen, der sich der Absurditt nhert, ein Gefhl, das hier durch die Honung des Alkibiades auf ein Universalreich von Griechen und Fremden erweckt wird. (Ich stimme hier mit den Ansichten von Field [Plato and His Contemporaries 30, Anm. ] und von Tarn berein; vgl. Anm. 3 [2] zu Kap. 5.) Ich fasse zusammen: Ich kann nichts nden als Feindseligkeit gegen die humanitre Idee einer Einheit der Menschheit, die Rassen und Klassen transzendiert; und ich glaube, da die Interpreten, die zu dem entgegengesetzten Ergebnis kommen, Platon idealisieren (vgl. Anm. 3 zu Kap. 6 und die entsprechende Textstelle) und das Bindeglied zwischen seiner aristokratischen und antihumanitren Exklusivitt und seiner Ideenlehre bersehen. Vgl. auch dieses Kapitel, Anm. 5, 52, 57. * [6] Meines Wissens nach gibt es nur eine einzige echte Ausnahme, eine Stelle, die in oenkundigem Gegensatz zu all dem steht. An einer Stelle (Theaitetos 74 e f.), die
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bestimmt ist, die Weitherzigkeit und die universalistische Einstellung des Philosophen zu illustrieren, lesen wir: Jeder Mensch hat zahllose Vorfahren, und unter ihnen sind auf alle Flle Reiche und Arme, Knige und Sklaven, Barbaren und Griechen. Es ist mir nicht klar, wie diese ganz vereinzelte, aber hochinteressante und zweifellos humanitre Stelle der Nachdruck, der hier auf den Parallelismus HerrSklave, GriecheBarbar gelegt wird, erinnert an all die Theorien, die Platon sonst bekmpft mit den brigen Ansichten Platons in bereinstimmung gebracht werden kann. Vielleicht ist die Stelle sokratisch wie so viele Stellen im Gorgias; und vielleicht ist der Theaitetos5 im Gegensatz zur blichen Annahme, frher anzusetzen als der Staat.* 33 : 5. Die Anspielung bezieht sich, wie ich glaube, auf zwei Stellen des Mythos von der Zahl, wo sich Platon (durch den Ausdruck eure Rasse) auf die Rasse der Menschen bezieht: Was eure eigene Rasse betrifft (546 a/b; vgl. Anm. 39 zu Kap. 5 und Text) und berprfen der Metalle in euren Rassen (546 d/e f.; vgl. Anm. 39 und 40 zu Kap. 5 und die nchste Stelle). Vgl. auch die Argumente in Anm. 52 zu diesem Kap. , die eine Brcke zwischen den zwei Stellen, der Schlsselstelle vom kniglichen Philosophen und dem Mythos von der Zahl betreen.

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Anmerkungen zu Kapitel 8

33 : 52. Staat 546 d/e f. Die hier zitierte Stelle ist ein Teil des Mythos von der Zahl und vom Sndenfall der Menschen, 546 a 547 a, der im Text zu Anm. 39/40 von Kap. 5 zitiert wird; vgl. auch Anm. 3 und 43 zum vorliegenden Kapitel. Meine Behauptung (vgl. den Text zur vorhergehenden Anmerkung), da sich in der Bemerkung der Schlsselstelle vom kniglichen Philosophen, Staat 473 e (vgl. Anm. 44 und 50 zu diesem Kap. ), der Mythos von der Zahl ankndigt, wird durch die Beobachtung bekrftigt, da es zwischen den beiden Stellen gleichsam eine Brcke gibt. Der Mythos von der Zahl wirft in Staat 536 a/b zweifellos seinen Schatten voraus; andrerseits ist diese Stelle gewissermaen die Umkehrung (und damit eine Variation) der Stelle vom kniglichen Philosophen; denn im Grunde wird hier behauptet, da sich das Schlimmste ereignen msse, wenn die unrichtigen Leute zum Herrschen auserwhlt werden; gegen das Ende treen wir sogar auf eine direkte Reminiszenz an die Flut des Gelchters: Wenn wir Menschen anderer Art auswhlen dann werden wir die Philosophie wiederum einer Flut von Hohngelchter aussetzen. Diese klare Reminiszenz ist, wie ich glaube, eine Andeutung dafr, da Platon sich des Charakters der Stelle bewut war (die gleichsam vom Ende der Stelle 473 ce auf ihren Beginn zu fortschreitet): Sie zeigt, was sich ereignen mu, wenn der Rat vernachlssigt wird, den Platon in der Schlsselstelle vom kniglichen Philosophen erteilt. Nun lt sich diese Umkehrung (536 a/b) als eine Brcke zwischen der Schlsselstelle (473 e) und der
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Stelle von der Zahl (546 a .) beschreiben, denn sie enthlt mehrere unzweideutige Hinweise auf die Rassenlehre und kndigt damit jene Wendung in der Stelle von der Zahl an, der diese Anmerkung angefgt ist. (Das kann als ein zustzlicher Beweis dafr aufgefat werden, da Platon bei der Niederschrift der Schlsselstelle vom kniglichen Philosophen an die Rassenlehre dachte und auch auf sie anspielte.) Ich zitiere nun den Beginn der Umkehrung (536 a/b): Wir mssen sorgfltig zwischen dem Echtgeborenen und dem Bastard unterscheiden. Denn wenn ein Individuum oder eine Stadt nicht wei, wie sie sich zu solchen Dingen zu verhalten hat, dann wird sie in aller Unschuld die Dienste der unausgeglichenen (oder der hinkenden) Bastarde in jeder Form annehmen und sie vielleicht als Freunde begren oder sogar als Herrscher. (Vgl. auch Anm. 47 zu diesem Kap. ) Einen Versuch, zu erklren, warum sich Platon so sehr fr die Probleme des rassischen Verfalls und der rassischen Aufzucht interessierte, ndet man im Text zu Anm.6, 7, 63, Kap. 0; vgl. auch Anm. 39 [3] und 40 [2] zu Kap. 5. *Zur Stelle ber Kodros, den Mrtyrer, die im nchsten Absatz des Textes zitiert wird, vgl. Gastmahl 208 d (diese Stelle wird in Anm. 4 zu Kap. 3 ausfhrlicher zitiert). R.Eisler (Caucasia V 928 29, Anm. 237) meint, da Kodros ein vorhellenisches Wort fr Knig sei. Das wrde die Tradition vom autochthonen Charakter des athenischen Adels untersttzen. (Vgl. Anm. [2] zu diesem Kapitel.)*
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35 : 53. A. E. Taylor, Plato (908, 94) 22 f. Ich stimme mit dieser interessanten Stelle berein, soweit sie im Text zitiert ist. Ich habe jedoch hinter dem Wort Athener das Wort Patriot ausgelassen, da ich diese Charakterisierung Platons in dem Sinne, in dem sie Taylor versteht, nicht fr ganz richtig halte. Zu Platons Patriotismus vgl. den Text zu Anm. 48 in Kap. 4. Zum Ausdruck Patriotismus und Vaterstaat vgl. Anm. 23 bis 26 und 45 zu Kap. 0. 35 : 54. Staat 494 b: Aber wird sich nicht ein Mensch dieser Art in allen Dingen als der Beste erweisen von Kindheit an? 35 : 55. A.a.O. 496 c: Von meinen eigenen geistigen dmonischen Stimmen mchte ich nicht sprechen. 36 : 56. Vgl. damit, was Adam in seiner Ausgabe des Staates (Anm. zu 495 d 23 und 495 e 3) sagt, sowie meine Anm. 47 zum vorliegenden Kapitel. (Vgl. auch Anm. 59 zu diesem Kapitel.) 36 : 57. Staat 496 cd; vgl. Siebenter Brief 325 d. (Zur zitierten Stelle bemerkt Barker, Greek Political Theory I 07, Anm. 2, es sei mglich, da Platon an die Kyniker denkt. Ich halte diese Vermutung fr nicht sehr glcklich. Die Stelle bezieht sich sicher nicht auf Antisthenes; und Diogenes, den Barker wohl im Auge hat, war wohl
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kaum berhmt, zu der Zeit, zu der sie geschrieben wurde; ganz abgesehen davon, da sich Platon auf ihn kaum in dieser Weise bezogen htte.) [] Dieselbe Stelle des Staates enthlt etwas frher eine andere Bemerkung, die vielleicht auf Platon selbst hinweist. Platon spricht von der kleinen Gruppe der Wrdigen und von denen, die ihr angehren; dabei erwhnt er einen vornehm Geborenen und wohlgebildeten Charakter, der durch Flucht gerettet wurde (oder durch Verbannung; gerettet, das heit vom Schicksal des Alkibiades, der, durch Schmeicheleien verleitet, der sokratischen Philosophie untreu wurde). Adam ist der Ansicht (Anm. zu 496 b 9), da Platon wohl kaum verbannt worden sei; aber die Flucht nach Megara, zusammen mit anderen Schlern des Sokrates nach dem Tod ihres Meisters mag als einer der Wendepunkte seines Lebens wohl einen hervorragenden Platz in Platons Gedchtnis eingenommen haben. Die Stelle kann sich kaum auf Dion beziehen, denn dieser war etwa 40 Jahre, als er ins Exil ging, und hatte damit das kritische jugendliche Alter schon weit berschritten; auerdem bestand in seinem Fall nicht, wie im Falle Platons, eine Parallele zu dem Gefhrten des Sokrates, Alkibiades (ganz abgesehen davon, da Platon sich der Verbannung Dions widersetzt hatte und da er versucht hatte, ihre Aufhebung herbeizufhren). Wenn wir aber die Stelle als einen Hinweis auf Platon selbst deuten, dann mssen wir dasselbe auch von 502 a annehmen: Wer
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wird wohl an der Mglichkeit zweifeln, da Knige und Aristokraten einen Abkmmling haben knnen, der ein geborener Philosoph ist?; denn die Fortsetzung jener Stelle ist der vorhergehenden so hnlich, da es scheint, da sich beide auf denselben vornehmen Charakter beziehen. Diese Deutung von 502 a ist auch an und fr sich wahrscheinlich, denn wir mssen uns daran erinnern, da Platon seinen Familienstolz immer oen einbekannte, so etwa in der Eulogie auf seinen Vater und auf seine Brder, die er gttlich nennt. (Staat 368 a; Adam hlt dies fr eine ironische Bemerkung; ich kann dem nicht zustimmen; vgl. auch die Bemerkung ber Platons vorgeblichen Vorfahren Kodros im Gastmahl 208 d, zusammen mit seiner vermuteten Abkunft von den Stammesknigen Attikas.) Wenn man diese Deutung annimmt, dann mu man auch den Hinweis (499 bc) auf Herrscher, Knige oder ihre Shne, der ausgezeichnet auf Platon selbst pat (er war nicht nur ein Kodride, sondern auch ein Abkmmling des Herrschers Dropides), im gleichen Licht betrachten, d. h. als eine Vorbereitung auf 502 a. Dies wrde aber noch ein ganz anderes Rtsel lsen. Ich denke an 499 b und 502 a. Eine Deutung dieser Stellen als Versuche, dem jngeren Dionysios zu schmeicheln, ist schwer vertretbar, wenn nicht unmglich; denn eine solche Deutung liee sich mit der unverhllten Heftigkeit und dem zugestandenermaen (576 a) persnlichen Hintergrund der Angrie Platons (572580) auf Dionysios den lteren kaum
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vereinbaren. Es ist wichtig festzustellen, da Platon an allein drei Stellen (473 d, 499 b, 502 a) von erblichen Knigreichen (die er den Tyranneien so entschieden entgegenstellt) spricht sowie von Dynastien; aber wir wissen aus der Politik des Aristoteles, 292 b 2 (vgl. Meyer, Geschichte des Altertums V 56) und 293 a , da Dynastien erbliche oligarchische Familien sind, also nicht so sehr die Familien eines Tyrannen, wie etwa des Dionysios, als vielmehr Familien, die wir heutzutage aristokratische nennen, wie etwa Platons eigene Familie, Die Darstellung des Aristoteles wird von Thukydides (IV 78) und Xenophon, Hellenica V 4, 46 besttigt. (Diese Argumente richten sich gegen die zweite Bemerkung Adams zu Staat 499 b 3.) Vgl. auch Anm. 4 zu Kap. 3. *[2] Eine andere wichtige Stelle, die einen aufschlureichen Selbsthinweis enthlt, findet sich im Staatsmann. Hier wird angenommen, da das Wissen oder die Wissenschaft das wesentliche Merkmal des kniglichen Staatsmannes sei (258 b, 292 c), was wieder zu einer Verteidigung der Sophokratie fhrt: Die einzig wahre Regierung ist die, in der die Herrscher gelernte Wissenschaftler sind (293 c). Und Platon beweist dann, da ein Mann, der die knigliche Wissenschaft besitzt, ganz gleich, ob er nun regiert oder nicht, als kniglich anerkannt werden msse, wie unsere Darlegung zeigt (292 c/ 293 a). Aber Platon hat bestimmt den Besitz der kniglichen Wissenschaft fr sich in Anspruch genommen; dementsprechend hat diese Stelle unzweideutig zur Folge, da er
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sich fr einen Mann hielt, der als kniglich anerkannt werden mu. Diese aufschlureiche Stelle darf bei keinem Versuch einer Deutung des Staates vernachlssigt werden, (Die knigliche Wissenschaft ist natrlich wieder die Wissenschaft des romantischen Erziehers und Zchters einer Herrenklasse, die das Gewebe schaen mu, das die brigen Klassen die Sklaven, die Arbeiter, Beamten usw. (289 c ) zusammenhlt. Die Aufgabe der kniglichen Wissenschaft besteht somit darin, die Charaktere besonnener und tapferer Mnner, sobald sie einmal versammelt sind, durch knigliche Kunst zu einem Gemeinschaftsleben voll Einmtigkeit und Freundschaft zu verweben. Vgl. auch Anm. 40 [2] zu Kap. 5; 29 zu Kap. 4; 34 zu Kap. 8.)* 36 : 58. An einer berhmten Stelle des Phaidon (89 d) warnt Sokrates vor der Misanthropie oder dem Menschenha (den er mit der Misologie oder dem Ha rationaler Argumente vergleicht). Vgl. auch Anm. 28 und 56 zu Kap. 0 und Anm. 9 zu Kap. 7. Das nchste Zitat in diesem Absatz ist Staat 489 b/c entnommen. Die Verbindung mit den vorhergehenden Stellen ist klarer, wenn die ganze Stelle von 488 bis 489 in Betracht gezogen wird, insbesondere der Angri (in 489 e) auf die vielen Philosophen, deren Verderb unvermeidlich ist, d. h. auf dieselben vielen und unvollkommenen Naturen, deren Unterdrckung in Anm. 44 und 47 zu diesem Kapitel diskutiert wird.
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Eine Andeutung dafr, da Platon einmal davon getrumt hatte, der Philosophenknig und der Retter Athens zu werden, lt sich, wie ich glaube, in Gesetze 704 a707 c nden, wo Platon die moralischen Gefahren der See, der Seefahrt, des Handels und des Imperialismus zu zeigen versucht. (Vgl. Aristoteles, Pol. 326 b327 a und meine Anm. 922 und 36 zu Kap. 0 und Text.) Vgl. insbesondere Gesetze 704 d: Sollte die Stadt an der Kste liegen und mit natrlichen Hfen wohl versehen sein , dann braucht sie einen mchtigen Retter und, in der Tat, einen bermenschlichen Gesetzgeber, um der Vernderlichkeit und der Entartung zu entrinnen. Liest sich diese Stelle nicht so, als htte Platon zeigen wollen, da sein Versagen in Athen den bermenschlichen Schwierigkeiten zuzuschreiben war, die sich aus der Geographie des Ortes ergaben? (Aber allen diesen Enttuschungen zum Trotz vgl. Anm. 25 zu Kap. 7 glaubt Platon noch immer an die Methode, einen Tyrannen fr seine Sache zu gewinnen; vgl. Gesetze 70 c/d; diese Stelle wird im Text zu Anm. 24 zu Kap. 4 zitiert.) 37 : 59. Es gibt eine Stelle (sie beginnt Staat 498 d/e; vgl. Anm. 2 zu Kap. 9), an der Platon sogar seiner Honung Ausdruck gibt, da die Vielen ihren Sinn ndern und die Philosophen als Herrscher anerkennen wrden, sobald sie nur (vielleicht aus dem Staat?) gelernt htten, zwischen dem echten und dem Pseudophilosophen zu unterscheiden.
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Zu den beiden letzten Zeilen des Textabsatzes vgl. Staat 473 e474 a und 57 a/b. 38 : 60. Manchmal sind solche Trume sogar oen eingestanden worden. F.Nietzsche, Der Wille zur Macht (Ausgabe des Verlags Krner, Leipzig 9 IV, Aphorismus 958; die Stelle bezieht sich auf Theages 25 e/26a) schreibt: Im Theages Platos steht geschrieben ,Jeder von uns mchte Herr womglich aller Menschen sein, am liebsten Gott. Diese Gesinnung mu wieder da sein. ber Nietzsches politische Ansichten brauche ich wohl nichts zu sagen; aber es gibt andere Philosophen Platoniker , die in naiver Weise andeuteten, da, wenn so ein Platoniker sich durch einen glcklichen Zufall im Besitze der Macht in einem modernen Staat nden sollte, er dem platonischen Ideal zustreben wrde und so die Dinge zumindest der Vollkommenheit nher bringen knnte. Mnner, die in eine ,Oligarchie oder ,Demokratie hineingeboren wurden, so lesen wir (ich habe den schwarzen Verdacht, da es sich hier um eine Anspielung auf England im Jahre 939 handelt), die mit den Idealen der platonischen Philosophie erfllt sind und sie sich, durch einen glcklichen Zufall im Besitze der hchsten politischen Macht nden, wrden sicher versuchen, den platonischen Staat zu verwirklichen; und selbst wenn sie nicht vllig erfolgreich sein sollten (aber warum sollten sie es nicht sein?) so wrden sie doch zumindest ihren Staat diesem idealen Vorbild nherbringen nher jedenfalls, als sie
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ihn vorfanden. (Zitiert aus A.E.Taylor, The Decline and Fall of the State in Republic VIII, Mind N. S. XLVIII 939 3.) Das Argument im nchsten Kapitel richtet sich zum Teil gegen solche romantische und phantastische Trume. *Eine eingehende Analyse von Platons Machtgier und seines Machttraumes ndet sich in H. Kelsens vorzglichem Artikel Viatonic Love (The American Imago III 942 .).* 38 : 6. A.a. O. 520 a52 c. Das Zitat stammt aus 520 d. 39 : 62. Vgl. G. B. Stern, The Ugly Dachshund 938.

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Zum 9. Kapitel: STHETIZISMUS, PERFEKTIONISMUS, UTOPISMUS Das Motto stammt aus Les Thibaults von Roger Martin du Gard (Sommer 94). 322 : . Meine Beschreibung der universalistisch-utopischen Sozialtechnik scheint die Art von Sozialtechnik zu treffen, die M. Eastman in Marxism: Is it Science? empehlt; vgl. instesondere 22 . Ich habe den Eindruck, da bei Eastman das Pendel vom Historizismus zur utopistischen Sozialtechnik umschlgt. Es ist aber auch mglich, da ich mich irre und da Eastman in Wirklichkeit an jenes Vorgehen denkt, das ich die Sozialtechnik der Einzelprobleme nenne. Roscoe Pounds Auassung der Sozialtechnik ist klarerweise in diesem letzteren Sinn zu interpretieren; vgl. Anm.9 zu Kap. 3. Siehe auch Anm. 8 [3] zu Kap. 5. 323 : 2. Ich glaube, da vom ethischen Standpunkt aus betrachtet keine Symmetrie zwischen Freuden und Leiden oder zwischen Lust und Schmerz besteht. Sowohl das Prinzip der maximalen Glckseligkeit, das die Utilitarier verwenden, als auch Kants Prinzip frdere das Glck der anderen scheint mir zumindest in diesen Formulierungen , was diesen Punkt betrifft, grundfalsch zu sein, ein Umstand, der jedoch kaum rational diskutiert zu werden braucht. (Zum irrationalen Aspekt ethischer
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Glaubensansichten vgl. Anm. zu Kap. 9; zum rationalen Aspekt vgl. Abschnitt II und insbesondere III von Kap. 4 des zweiten Bandes.) Meiner Ansicht nach (vgl. Anm. 6 [2] zu Kap. 5) enthlt das menschliche Leiden einen direkten moralischen Appell, nmlich den Appell zu helfen, whrend keine hnliche Ntigung besteht, das Glck oder die Freuden eines Menschen zu vermehren, dem es ohnehin gut geht. (Eine weitere Kritik der utilitaristischen Formel schae grtmgliche Glckseligkeit geht davon aus, da die Formel im Prinzip eine Art von kontinuierlicher Glckseligkeitsskala annimmt, die es uns gestattet, den Schmerz als negative Glckseligkeit aufzufassen, die durch positive Glckseligkeit aufgewogen werden kann. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, lt sich aber Schmerz nicht durch Glckseligkeit aufwiegen, insbesondere nicht der Schmerz des einen Menschen durch die Glckseligkeit eines anderen. Statt der grten Glckseligkeit fr die grte Zahl sollte man etwas bescheidener das kleinste Ma an vermeidbarem Leid fr alle fordern; und man sollte weiterhin verlangen, da unvermeidbares Leid wie Hunger in Zeiten eines unvermeidlichen Mangels an Nahrungsmitteln mglichst gleichmig verteilt werde.) Ich nde, da eine gewisse Analogie besteht zwischen dieser Betrachtungsweise der Ethik und der Auassung von der wissenschaftlichen Methodologie, die ich in meiner Logik der Forschung befrwortet habe. Es trgt zur Klarheit auf dem Gebiet der Ethik wesentlich bei, wenn wir unsere Forderungen
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negativ formulieren, d. h. wenn wir die Beseitigung des Leides, nicht aber die Frderung des Glcks verlangen. In hnlicher Weise ist es von Vorteil, die Aufgabe der wissenschaftlichen Methode so zu formulieren, da ihr Ziel die Elimination der falschen Theorien ist (von den verschiedenen, versuchsweise angebotenen Theorien), nicht aber die Aufstellung voll begrndeter Wahrheiten. 324 : 3. Ein sehr gutes Beispiel fr diese Art einer auf einzelne Flle angewandten Sozialtechnik oder fr die entsprechende Technologie ndet sich in C. G. F. Simkins zwei Artikeln ber Budgetary Reform in der australischen Zeitschrift Economic Record (94 92 . und 942 6 .). Ich freue mich, auf diese beiden Artikel verweisen zu knnen, denn sie wenden die von mir befrworteten methodologischen Prinzipien bewut an; sie zeigen damit, da diese Prinzipien in der Praxis technologischer Untersuchung von Nutzen sind. Ich behaupte nicht, da die Ad-hoc-Technik nicht auch khn sein kann oder da sie sich auf kleinliche Probleme beschrnken mu. Aber ich glaube, da der Grad der Komplikation, den wir meistern knnen, durch das Ausma an Erfahrung bestimmt ist, die wir durch die bewute und systematische Behandlung von Einzelproblemen gewonnen haben. 325 : 4. Diese Ansicht wurde neulich von F. A.Hayek in verschiedenen interessanten Abhandlungen betont (vgl. z. B.
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Freedom and the Economic System, Public Political Pamphlets, Chicago 939). Was ich utopische Sozialtechnik nenne, entspricht zum Groteil Hayeks zentralisiertem oder kollektivistischem Planen. Hayek selbst empehlt eine Methode, die er als ein Planen fr die Freiheit bezeichnet. Er wrde, wie ich glaube, damit einverstanden sein, da dieses Planen fr die Freiheit die Form einer schrittweise vorgehenden Sozialtechnik annimmt. Es scheint mir, da man Hayeks Einwendungen gegen das kollektivistische Planen etwa auf die folgende Weise formulieren kann: Wenn wir versuchen, eine Gesellschaft nach einem vorgefaten Entwurf herzustellen, dann ist es wohl unmglich, die individuelle Freiheit in unseren Entwurf aufzunehmen; nehmen wir sie aber auf, dann knnen wir den Entwurf nicht realisieren. Der Grund fr diese Erscheinung liegt darin, da das zentralisierte konomische Planen eine der wichtigsten Funktionen des Individuums aus dem konomischen Leben eliminiert, nmlich seine Funktion des freien Konsumenten, der die Produkte auswhlt. Mit anderen Worten: Hayeks Kritik gehrt dem Bereich der Sozialtechnologie an. Er demonstriert eine bestimmte technologische Unmglichkeit, die Unmglichkeit, einen Plan fr eine Gesellschaft zu entwerfen, die gleichzeitig konomisch zentralisiert und individualistisch ist. *Leser von Hayeks The Road to Serfdom (944; deutsch Der Weg zur Knechtschaft) werden diese Bemerkungen vielleicht rtselhaft nden; denn Hayeks Einstellung in diesem Buch ist so deutlich, da fr die einigermaen
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vagen Bemerkungen in meiner Funote wohl kein Platz verbleibt. Aber meine Anmerkung wurde vor der Publikation dieses Werkes gedruckt; und obgleich sich viele seiner Hauptideen in Hayeks frheren Schriften ankndigten, waren sie doch nicht so ausdrcklich formuliert wie im Weg zur Knechtschaft. Andrerseits waren mir viele der Ideen, die wir nunmehr ganz selbstverstndlich mit dem Namen Hayeks verbinden, bei der Abfassung meiner Arbeit unbekannt. Im Lichte meiner gegenwrtigen Kenntnis der Position Hayeks scheint mir meine Zusammenfassung zwar nicht irrig, aber zweifellos etwas schwach zu sein. Die folgenden Modikationen werden die Dinge vielleicht besser darstellen. [a] Hayek selbst wrde das Wort Sozialtechnik fr keine politische Aktivitt verwenden, die zu befrworten er bereit wre. Er wendet gegen diesen Ausdruck ein, da er mit einer allgemeinen Tendenz verbunden ist, die er Scientism (Wissenschaftswahn) genannt hat mit dem naiven Glauben, da die Methoden der Naturwissenschaften (oder vielmehr das, was viele Menschen fr die Methoden der Naturwissenschaften halten) auf sozialem Gebiet zu hnlich eindrucksvollen Resultaten fhren mssen. (Vgl. Hayeks zwei Artikelreihen, Scientism and the Study of Society, Economica IXXI 942 bis 944 sowie The Counter-revolution of Science, op.cit. VIII 94.) Wenn wir unter dem Szientismus eine Tendenz verstehen, die angeblichen Methoden der NaturwissenschafAnmerkungen zu Kapitel 9 677

ten innerhalb der Sozialwissenschaften nachzuen, dann lt sich der Historizismus als eine Form des Szientismus beschreiben. Ein typisches und einureiches szientistisches Argument zugunsten des Historizismus lautet in Krze so: Wir knnen Sonnennsternisse vorhersagen; warum sollte es uns nicht mglich sein, Revolutionen vorherzusagen?; oder, in mehr durchdachter Form: Die Aufgabe der Wissenschaft besteht im Vorhersagen; daher mu es die Aufgabe der Sozialwissenschaften sein, soziale, d. h. historische Vorhersagen zu machen. Ich habe versucht, diese Art von Argumenten zu widerlegen (vgl. meinen Aufsatz Poverty of Historicism, Economica 94445, insbesondere Teil III 945 sowie Prediction and Prophecy and Their Signicance for Social Theory, Library of The Xth International Congress of Philosophy, Amsterdam 948); und in diesem Sinn bin ich ein Gegner des Szientismus. Wenn wir aber unter Szientismus die Ansicht verstehen sollen, da die Methoden der Sozialwissenschaften in betrchtlichem Ausma dieselben sind wie die der Naturwissenschaften, dann mte ich mich wohl der Anhngerschaft des Szientismus schuldig bekennen. Ja ich glaube sogar, da sich die hnlichkeit zwischen den Sozialwissenschaften und den Naturwissenschaften dazu verwenden lt, irrige Ideen ber die Naturwissenschaften aufzuzeigen durch den Hinweis, da sie den Sozialwissenschaften weitaus hnlicher sind, als allgemein angenommen wird.
678 Anmerkungen zu Kapitel 9

Aus diesem Grund habe ich Roscoe Pounds Ausdruck Sozialtechnik (social engineering) weiterhin in der von ihm gebrauchten Weise verwendet, die, soweit ich sehen kann, frei ist von jenem Szientismus, der meiner Meinung nach abgelehnt werden mu. Wenn wir terminologische Fragen ausschalten, bin ich noch immer der Ansicht, da sich Hayeks Ideen so deuten lassen, da sie jenem Vorgehen positiv gegenberstehen, das ich die Sozialtechnik der Einzelprobleme genannt habe. Andrerseits hat Hayek seine Position viel klarer formuliert, als meine alte Skizze vermuten lt. Jene seiner Forderungen, die in meinem Sinn (oder im Sinne von Pound) zur Sozialtechnik gehren, kulminieren in seiner Bemerkung, da in einer freien Gesellschaft ein dringendes Bedrfnis besteht, den gesetzlichen Rahmen, wie er es nennt (legal framework ist Hayeks Ausdruck), zu reformieren.* 326 : 5. Vgl. Anm. 25 zu Kap. 7. 328 : 6. Das Problem, ob ein guter Zweck schlechte Mittel rechtfertigt oder nicht, scheint Situationen zu entspringen wie den folgenden: Soll man einen kranken Menschen belgen, um ihn zu beruhigen? Soll man die Menschen in Unwissenheit halten, um sie glcklich zu machen? Soll man einen langen und blutigen Krieg beginnen, um eine Welt des Friedens und der Schnheit herbeizufhren? In allen diesen Fllen soll die betrachtete Handlung
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zunchst ein mehr unmittelbares Ergebnis (die sogenannten Mittel) herbeifhren, das man fr ein bel hlt, das aber zur Herbeifhrung eines weiteren Ergebnisses (des sogenannten Zwecks) notwendig ist und dieses Ergebnis gilt als gut. Ich glaube, da in allen diesen Fllen drei verschiedene Arten von Fragen entstehen. [a] Inwieferne sind wir zur Annahme berechtigt, da die Mittel wirklich zum erwarteten Zweck fhren werden? Die Mittel sind das unmittelbare Ergebnis. Daher werden sie der betrachteten Handlung in den meisten Fllen mit grerer Sicherheit folgen als das mehr entlegene Ziel. Die eben gestellte Frage ist eine Tatsachenfrage und keine Frage sittlicher Bewertungen. Es ist die Frage, ob man sich auf Grund tatschlicher Verhltnisse auf die angenommene Kausalverbindung zwischen den Mitteln und dem Zweck verlassen kann; wenn diese Kausalverbindung nicht besteht, so knnte man sagen, dann handelt der vorliegende Fall nicht von Mitteln und Zwecken und sollte daher auch nicht unter dieser berschrift abgehandelt werden. Dies mag wahr sein. Aber in der Praxis steckt hier wohl eines der wichtigsten sittlichen Probleme. Denn obgleich die Frage, ob die in Erwgung gezogenen Mittel den betrachteten Zweck herbeifhren werden oder nicht, eine Tatsachenfrage ist, so fhrt doch unsere Einstellung zu ihr zu einem der grundlegendsten sittlichen Probleme: zum Problem, ob wir uns in solchen Fllen auf unser Wissen
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verlassen sollen, da eine derartige Kausalverknpfung besteht, oder ob es ratsamer ist, unserem Wissen gegenber eine skeptische Haltung einzunehmen und das insbesondere in jenen Fllen, in denen das unmittelbare Ergebnis unserer Handlungen als an sich schlecht gilt. Diese Frage ist vielleicht im ersten unserer drei Beispiele nicht so bedeutsam, wohl aber in den beiden anderen. Manche Leute sind vielleicht sehr fest berzeugt, da die in diesen beiden Fllen angenommenen kausalen Verknpfungen bestehen; aber die Verknpfung kann eine sehr fragwrdige sein; und die emotionale Sicherheit ihres Glaubens selbst knnte das Ergebnis eines Versuchs sein, alle Zweifel zu unterdrcken. (Es handelt sich hier also um eine Auseinandersetzung zwischen dem Fanatiker und dem Rationalisten im sokratischen Sinn dem Mann, der seine intellektuellen Grenzen zu erkennen trachtet.) Die Streitfrage wird um so wichtiger sein, je schlechter die Mittel sind. Wie dem auch immer sei eine der wichtigsten moralischen Pichten besteht zweifellos darin, sich zu einer skeptischen Haltung den eigenen Kausaltheorien gegenber zu erziehen sowie zu intellektueller Bescheidenheit. Aber nehmen wir nun an, da die vorausgesetzte Kausalverknpfung tatschlich besteht, da also eine Situation vorliegt, in der man mit Recht von Mitteln und Zwecken sprechen kann. Dann mssen wir zwischen zwei weiteren Fragen, [b] und [c], unterscheiden. [b] Unter der Annahme, da die Kausalverknpfung
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gilt und da wir dieses Umstandes, nach allem, was wir wissen, sicher sein knnen, wird das Problem der Hauptsache nach zum Problem der Auswahl des geringeren der beiden folgenden bel der in Betracht gezogenen Manahmen und des bels, das entstehen mu, wenn diese Manahmen nicht ergrien werden. Mit anderen Warten: Die besten Zwecke rechtfertigen nicht als solche schlechte Mittel, wohl aber kann der Versuch, gewisse sehr schlechte Resultate zu vermeiden, Handlungen rechtfertigen, die selbst zweifellos schlechte Ergebnisse produzieren. (Die meisten von uns zweifeln nicht daran, da es recht ist, einem Menschen ein Bein zu amputieren, um sein Leben zu retten.) In diesem Zusammenhang kann nun der Umstand groe Bedeutung erlangen, da wir manchmal nicht imstande sind, die in Frage stehenden bel richtig abzuschtzen. So z. B. glauben einige Marxisten (vgl. Anm. 9 zu Kap. 9 des zweiten Bandes), da eine gewaltsame soziale Revolution weit weniger Leiden im Gefolge haben wrde als die chronischen bel, die mit ihrem Kapitalismus verbunden sind. Aber angenommen, da diese Revolution zu einem besseren Zustand fhrt wie knnen sie das Ausma des Leidens in dem einen und dem anderen Zustand abschtzen und vergleichen? Es ist also wieder eine Tatsachenfrage, die sich erhebt, und wieder ist es unsere Picht, unser Tatsachenwissen nicht zu hoch einzuschtzen. berdies mu man fragen selbst wenn wir zugeben sollten, da die hier erwogenen Mittel im
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groen und ganzen die Situation verbessern wrden , ob wir denn sicher sein knnen, da andere Mittel nicht ein besseres Ergebnis erzielen knnen und um den Preis weniger groer Opfer? Dasselbe Beispiel fhrt nun auch zu einer anderen, sehr wichtigen Frage. Nehmen wir wiederum an, da das Gesamtausma des Leidens unter dem Kapitalismus wenn es fr mehrere Generationen andauert grer ist als das Leiden, das der Brgerkrieg verursacht: drfen wir dann eine Generation dazu verdammen, die Leiden jener spteren Generationen auf sich zu nehmen? (Es ist ein groer Unterschied, ob man sich selbst fr andere opfert, oder ob man andere oder vielleicht sich selbst und andere einem solchen Ziel zum Opfer bringt.) [c] Der dritte wichtige Punkt ist der folgende: Wir mssen uns vor der Annahme hten, da der sogenannte Endzweck, weil es ein Schluergebnis ist, das Zwischenergebnis die sogenannten Mittel an Wichtigkeit bertrifft. Diese Idee, die durch Sprichwrter wie Ende gut, alles gut nahegelegt wird, ist in hchstem Grade irrefhrend. Denn erstens ist der sogenannte Endzweck kaum je das Ende der Angelegenheit. Zweitens sind die Mittel nicht berwunden, sobald der Zweck erreicht ist. So z. B. knnen schlechte Mittel, wie etwa eine neue mchtige Wae, die im Krieg um des Sieges willen verwendet wird, nach Erreichung dieses Zweckes zu weiteren Schwierigkeiten fhren. Das heit: Selbst wenn sich irgendeine Sache als Mittel fr einen Zweck
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beschreiben lt, so ist sie doch sehr oft viel mehr als das. Sie hat neben dem fraglichen Zweck noch andere Folgen; es gengt also nicht, wenn wir die (vergangenen oder gegenwrtigen) Mittel mit den (zuknftigen) Zielen oder Zwecken vergleichen. Was wir vergleichen mten, ist vielmehr das Gesamtergebnis eines Handlungsverlaufs und eines anderen, soweit sie sich eben vorhersehen lassen. Ein solches Gesamtergebnis dehnt sich ber einen weiten Zeitraum hin aus und schliet viele Zwischenergebnisse ein; und das in Betracht gezogene Ziel oder der Zweck wird bei weitem nicht das letzte Ergebnis sein, auf das wir zu achten haben. 329 : 7. [] Ich glaube, da der Parallelismus zwischen dem institutionellen Problem des inneren oder zivilen Friedens und dem Problem des internationalen Friedens von grter Wichtigkeit ist. Eine internationale Organisation, die ber gesetzgebende, administrative und richterliche Institutionen wie auch ber eine bewanete und zum Handeln bereite Exekutive verfgt, knnte wohl ebenso erfolgreich den internationalen Frieden aufrechterhalten wie die analogen Institutionen innerhalb eines Staates. Es scheint mir aber wichtig zu sein, da man von einer solchen Organisation nicht mehr erwarten darf. Verbrechen innerhalb eines Staates haben wir auf ein relativ unbedeutendes Ausma zu reduzieren verstanden; aber wir haben die Verbrechen nicht vllig verhindern knnen. Daher werden wir noch fr lange Zeit eine Polizei
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brauchen, die bereit ist zu handeln, und die manchmal auch handelt. In hnlicher Weise mssen wir darauf vorbereitet sein, da es uns wahrscheinlich nicht gelingen wird, internationale Verbrechen vllig zu verhindern. Wenn wir unser Ziel darin bestimmen, da der Krieg ein fr allemal unmglich gemacht werden soll, dann nehmen wir uns wohl zuviel vor, was das verhngnisvolle Ergebnis zeitigen mu, da wir ber keine bewanete Macht verfgen, sobald sich unsere Honungen einmal als trgerisch erweisen. (Das Versumnis des Vlkerbundes, gegen die Angreifer vorzugehen, beruhte, zumindest im Fall des Angris auf Mandschukno, hauptschlich auf dem allgemeinen Gefhl, da der Vlkerbund geschaen worden war, um alle Kriege zu beenden; nicht aber um Kriege zu fhren. Das zeigt, da eine Propaganda zur Beendigung aller Kriege ihr Ziel verfehlen mu. Wenn wir die internationale Anarchie beenden wollen, so mssen wir bereit sein, gegen internationale Verbrechen Krieg zu fhren. Vgl. insbesondere H.Mannheim, War and Crime 94 sowie A. D. Lindsay, War to End War in Background and Issues 940.) Es ist aber auch wichtig, da man nach dem schwachen Punkt in der Analogie zwischen dem zivilen und dem internationalen Frieden sucht nach dem Punkt, an dem diese Analogie zusammenbricht. Im Fall des zivilen Friedens, der vom Staate aufrechterhalten wird, ist es der individuelle Brger, der vom Staat beschtzt werden soll. Der Brger ist gleichsam eine natrliche Einheit,
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ein Atom (obgleich in den Bedingungen, von denen die Staatsbrgerschaft abhngt, ein konventionelles Element verborgen liegt). Andrerseits werden die Glieder oder Einheiten oder Atome unserer internationalen Ordnung Staaten sein. Aber ein Staat kann nie, wie ein Brger, eine natrliche Einheit sein; ein Staat hat keine natrlichen Grenzen. Die Grenzen eines Staates verndern sich und knnen sich nur durch Anwendung des Prinzips eines Status quo, denieren lassen; und da sich jeder Status quo auf ein willkrlich gewhltes Datum beziehen mu, so ist die Bestimmung der Grenzen eines Staates eine rein konventionelle Angelegenheit. Der Versuch, natrliche Grenzen fr einen Staat zu nden und den Staat dementsprechend als eine natrliche Einheit zu betrachten, fhrt zum Prinzip des Nationalstaates und zu den romantischen Fiktionen des Nationalismus, der Rassenlehre und dem Stammesmythos. Aber das Prinzip des Nationalstaates ist nicht natrlich und die Idee, da es natrliche Einheiten gibt, wie Nationen, oder sprachliche oder rassisch einheitliche Gruppen, ist vllig ktiv. Hier, wenn berhaupt, sollten wir von der Geschichte lernen; denn seit dem Beginn der Geschichte haben sich die Menschen stndig gemischt, vereinigt, getrennt und wieder gemischt; und das kann nicht ungeschehen gemacht werden selbst wenn es wnschenswert wre. Die Analogie zwischen dem zivilen und dem internationalen Frieden bricht auch noch an einer zweiten Stelle
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zusammen. Der Staat hat die Aufgabe, die individuellen Brger, seine Einheiten oder Atome, zu beschtzen; aber die internationale Organisation mu in letzter Linie gleichfalls menschliche Individuen beschtzen nicht aber ihre Einheiten oder Atome, d. h. die Staaten oder Nationen. Die vllige Aufgabe des Prinzips vom Nationalstaat (ein Prinzip, das seine Popularitt nur dem Umstnde verdankt, da es die Stammesinstinkte anspricht und da es die billigste und sicherste Methode ist, mit der ein Politiker, der nichts Besseres zu bieten hat, seinen Weg machen kann) und die Einsicht in die notwendigerweise konventionellen Grenzen aller Staaten sowie die weitere Einsicht, da auch internationale Organisationen nicht auf Staaten und Nationen, sondern letztlich doch wieder auf menschliche Individuen zu achten haben, wird uns helfen, die Schwierigkeiten zu erkennen und zu berwinden, die sich aus dem Zusammenbrechen unserer fundamentalen Analogie ergeben. (Vgl. auch Kap. 2 des zweiten Bandes, Anm. 5 64 Und die zugehrigen Textstellen sowie Anm. 2 zu Kap. 3 des zweiten Bandes.) [2] Die Bemerkung, da menschliche Individuen als die letzten Zwecke nicht nur internationaler Organisationen anzusehen sind, sondern aller Politik der internationalen wie auch der nationalen oder der lokalen , scheint mir wichtige Anwendungen zu haben. Wir mssen uns vergegenwrtigen, da eine gerechte Behandlung von Individuen selbst dann mglich ist, wenn wir uns entschlieen,
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die Machtorganisation eines aggressiven Staates oder der Nation zu zerbrechen, der diese Individuen angehren. Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, da die Zerstrung und Kontrolle der militrischen, politischen und sogar wirtschaftlichen Macht eines Staates oder einer Nation fr seine individuellen Brger Unterdrckung und Elend zur Folge hat. Aber dieses Vorurteil ist ebenso ungerechtfertigt wie gefhrlich. Es ist ungerechtfertigt unter der Voraussetzung, da eine internationale Organisation die Brger des so geschwchten Staates vor der Ausbeutung ihrer militrischen und politischen Schwche schtzt. Die einzige Einbue, die der individuelle Brger erleidet und die sich nicht vermeiden lt, ist eine Einbue an Nationalstolz; aber wenn wir annehmen, da er der Brger eines angreifenden Staates war, dann wird diese Einbue auf jeden Fall unvermeidlich sein, vorausgesetzt, da der Angri abgewehrt wurde. Das Vorurteil, da wir zwischen der Behandlung eines Staates und der Behandlung seiner individuellen Brger nicht unterscheiden knnen, ist auch sehr gefhrlich; sobald es nmlich zur Frage der Behandlung des Angreiferstaates kommt, bilden sich in den Siegerstaaten notwendigerweise zwei Parteien, nmlich eine Partei, deren Mitglieder eine strenge Bestrafung fordern und eine Partei, die eine milde Behandlung befrwortet. In der Regel bersehen beide Parteien die Mglichkeit, da man den Staat hart behandeln kann, gleichzeitig aber seine Brger milde.
688 Anmerkungen zu Kapitel 9

Wenn aber diese Mglichkeit bersehen wird, dann tritt aller Wahrscheinlichkeit nach folgendes ein: Unmittelbar nach dem Sieg werden sowohl der Angreiferstaat als auch seine Brger relativ hart behandelt. Aber der Staat, die Machtorganisation als solche, wird hchstwahrscheinlich keine so harte Behandlung erfahren, als es vielleicht vernnftig wre, weil man zgert, unschuldige Individuen hart anzufassen, d. h. weil der Einu der Partei der Milde fhlbar ist. Trotz dieses Zgerns werden die Individuen wahrscheinlich mehr leiden, als sie verdienen. Nach einer gewissen Zeit wird sich daher in den siegreichen Lndern aller Voraussicht nach eine Reaktion einstellen. Es ist wahrscheinlich, da gleichheitlich und humanitr gesinnte Tendenzen die Partei der Milde verstrken, bis schlielich eine Wende in der Politik der Hrte erfolgt. Aber diese Entwicklung gibt nicht nur dem Angreiferstaat eine Gelegenheit zu neuem Angri; sie versieht ihn auch mit der Wae der moralischen Indignation dessen, der zu Unrecht schlecht behandelt wurde; andrerseits werden viele in den siegreichen Lndern an sich selbst zu zweifeln beginnen im Gefhl, da sie vielleicht ein Unrecht begangen haben. Diese hchst unerwnschte Entwicklung mu schlielich zu neuen Agressionen fhren. Sie lt sich dann nur dann vermeiden, wenn man von Beginn an zwischen dem Angreiferstaat (einschlielich jener, die fr ihn verantwortlich sind) auf der einen Seite und seinen Brgern auf der anderen klar unterscheidet. Hrte gegen den AngreiAnmerkungen zu Kapitel 9 689

ferstaat als solchen und sogar die radikale Zerstrung seines Machtapparates wird nicht diese moralische Reaktion humanitrer Gefhle in den Siegerstaaten hervorrufen, wenn sie mit einer Politik der Anstndigkeit und Fairne den individuellen Brgern gegenber verbunden ist. Ist es aber mglich, die politische Macht eines Staates zu zerbrechen, ohne seinen Brgern Leid zuzufgen? Um die Mglichkeit eines derartigen Vorgehens zu beweisen, habe ich ein Beispiel einer Politik konstruiert, die die politische und die militrische Macht eines Angreiferstaates zerstrt, ohne die Interessen seiner individuellen Brger zu verletzen. Der Grenzstreifen des angreifenden Landes, seine Seekste und die wichtigsten (aber nicht alle) Quellen seiner Macht zur See, Kohle und Stahl, werden vom Staat getrennt und als ein internationales Territorium behandelt, das nie wieder zum Lande zurckkehrt. Die Hfen wie auch das Rohmaterial werden den Brgern des Staates zum Zweck der Durchfhrung ihrer legitimen konomischen Ttigkeit zugnglich gemacht, ohne ihnen konomische Nachteile aufzuerlegen, vorausgesetzt allerdings, da sie eine internationale Kommission zur Kontrolle der richtigen Verwendung dieser Gter einladen. Jede Verwendung, die zum Aufbau eines neuen Kriegspotentials dienen knnte, ist verboten; und wenn Verdachtsgrnde bestehen, da die internationalisierten Hfen, Industrien, Rohmaterialien sowie andere wirtschaftlich wichtige Gelegenheiten vielleicht so verwendet
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werden, dann ist ihre Verwendung sofort einzustellen. Es liegt dann bei der verdchtigten Partei, zu einer grndlichen Untersuchung aufzufordern, diese zu ermglichen und gengende Garantien fr die richtige Verwendung der ihr zur Verfgung gestellten Hilfsmittel zu bieten. Ein solches Vorgehen beseitigt nicht die Mglichkeit eines neuen Angris aber es zwingt den Angreiferstaat, die internationalen Territorien anzugreifen, bevor er noch ein neues Kriegspotential entwickeln konnte. Ein solcher Angri wre also honungslos, vorausgesetzt, da die brigen Staaten ihr Kriegspotential beibehalten und weiterentwickelt haben. Angesichts dieser Situation knnte der frhere Angreiferstaat kaum anders handeln, als seine Haltung radikal zu ndern und eine Zusammenarbeit mit den anderen Staaten anzustreben. Die Lage selbst wrde ihn dazu fhren, um eine internationale Kontrolle seiner Industrie selbst anzusuchen und die Untersuchung durch die internationale Kontrollautoritt zu erleichtern (statt ihr Schwierigkeiten entgegenzusetzen); denn nur eine solche Haltung wrde es ihm ermglichen, die von seiner Industrie bentigten Gter zu verwenden; und diese Entwicklung wrde hchstwahrscheinlich ohne Einmischung irgendwelcher Art in die Innenpolitik des Staates vor sich gehen. Der Gefahr einer Verwendung der Internationalisierung der Gebrauchsgter und der Hfen, der Industrie eines geschlagenen Landes zum Zweck der Ausbeutung oder der Erniedrigung seiner Bevlkerung knnte man
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durch internationale gesetzliche Manahmen (die auch Berufungsgerichtshfe vorsehen) begegnen. Dieses Beispiel zeigt, da es nicht unmglich ist, einen Staat hart und seine Brger milde zu behandeln. *(Ich habe Teil [] und [2] dieser Anmerkung genau so gelassen, wie sie im Jahre 942 geschrieben wurden. Nur in Teil [3], der nicht aktuell ist, habe ich nach den ersten beiden Abstzen eine Einschiebung gemacht.)* [3] Aber ist eine solche sozialtechnische Einstellung zum Problem des Friedens auch wissenschaftlich? Sicher werden viele behaupten, da einewirklich wissenschaftliche Einstellung zu den Problemen von Krieg und Frieden anders aussehen msse. Sie werden sagen, da wir zuerst die Ursachen der Kriege studieren sollten. Wir mssen die Krfte studieren, die zu einem Krieg fhren und auch die Krfte, die zum Frieden fhren. So z. B. wurde jngst festgestellt, da es nur dann zu einem dauernden Frieden kommen knne, wenn wir die zugrunde liegenden dynamischen Krfte in der Gesellschaft grndlich studieren, die zu Krieg oder Frieden fhren. Um diese Krfte ausndig zu machen, mssen wir natrlich Geschichte studieren. Wir mssen, mit anderen Worten, das Problem des Friedens mit Hilfe einer historizistischen Methode und nicht mit Hilfe einer technologischen Methode anpacken. Dies, so wird behauptet, ist das einzige wissenschaftlich mgliche Vorgehen. Der Historizist wird vielleicht mit Hilfe der Geschichte zeigen, da die Ursachen des Krieges in dem Aufeinan692 Anmerkungen zu Kapitel 9

derprallen konomischer Interessen liegen; oder in dem Aufeinanderprallen von Klassen, von Ideologien (zum Beispiel: Freiheit gegen Tyrannei), von Nationen, von Imperialismen, von militrischen Systemen; oder er wird im Ha, in der Furcht, im Neid, im Wunsch nach Rache oder in allen diesen Dingen zusammen mit unzhligen anderen die Ursachen des Krieges sehen. Er zeigt damit, da die Aufgabe der Entfernung dieser Ursachen uerst schwierig ist. Er wird auch zeigen, da es keinen Sinn hat, eine internationale Organisation zu konstruieren, solange wir nicht die Ursachen der Kriege, z. B. die konomischen Ursachen, beseitigt haben. In hnlicher Weise kann der Psychologismus die Ursachen der Kriege in die menschliche Natur, genauer in ihre Aggressivitt verlegen, und er wird vielleicht den Weg zum Frieden darin sehen, da man fr die Aggressivitt andere Bettigungsmglichkeiten erndet. (Die Lektre von Kriminalromanen ist allen Ernstes empfohlen worden und das trotz der Tatsache, da einige unserer jngsten Diktatoren sie eifrig lasen.) Ich glaube nicht, da diese Methoden der Behandlung unseres wichtigen Problems viel Aussicht auf Erfolg haben. Insbesondere glaube ich nicht an das plausible Argument, da wir die Ursache oder die Ursachen des Krieges feststellen mten, um den Frieden herbeizufhren. Zugestanden es gibt Flle, in denen die Suche nach den Ursachen eines bels und ihre Entfernung von Erfolg begleitet sein kann. Wenn ich einen Schmerz an
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meinem Fu empnde, dann kann ich u.U. nden, da er durch einen Kieselstein verursacht wurde und diesen entfernen. Aber wir drfen nicht verallgemeinern. Die Methode der Entfernung von Kieselsteinen umfat nicht einmal alle Flle von Fuschmerz. In manchen Fllen ist es mir vielleicht unmglich, die Ursache zu nden; und in anderen Fllen bin ich vielleicht nicht imstande, sie zu entfernen. Die Methode der Entfernung der Ursachen eines unerwnschten Ereignisses ist im allgemeinen nur dann anwendbar, wenn wir eine kurze Liste notwendiger Bedingungen kennen (d. h. eine Liste von Bedingungen der Art, da das fragliche Ereignis nie eintritt, auer wenn zumindestens eine der Bedingungen der Liste erfllt ist) und wenn sich alle diese Bedingungen beherrschen oder, genauer gesagt, verhindern lassen. (Es sei hier angemerkt, da notwendige Bedingungen kaum das sind, was man mit dem vagen Ausdruck Ursachen beschreibt; blicherweise fhrt man sie als Nebenursachen an; wenn wir von Ursachen sprechen, so meinen wir in der Regel gewisse hinreichende Bedingungen.) Ich glaube aber nicht, da sich eine solche Liste notwendiger Bedingungen des Krieges konstruieren lt. Kriege sind unter den verschiedensten Umstnden ausgebrochen, Kriege sind keine einfachen Phnomene, wie z. B. Ungewitter. Es gibt keinen Grund fr die Annahme, da uns die gemeinsame Benennung einer Reihe hchst verschiedener Phnomene als Krieg es sicherstellt, da
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alle diese Phnomene auf dieselbe Weise verursacht worden sind. Diese Erwgungen weisen darauf hin, da das anscheinend vorurteilslose und wissenschaftliche Vorgehen das Studium der Ursachen des Krieges in Wirklichkeit nicht nur voll von Vorurteilen ist, sondern da es uns auerdem den Weg zu einer vernnftigen Lsung versperren kann; dieses Vorgehen ist in Wirklichkeit nur pseudowissenschaftlich. Wie weit wrden wir wohl kommen, wenn wir, statt Gesetze einzufhren und eine Polizei aufzustellen, das Problem des Verbrechertumswissenschaftlich behandeln wollten, d. h. wenn wir versuchen wollten, die Ursachen des Verbrechens zu entdecken? Ich behaupte durchaus nicht, da wir nicht hie und da wichtige Faktoren entdecken knnen, die zum Verbrechen oder zum Krieg beitragen und da uns diese Entdeckungen helfen knnen, viel Unheil zu vermeiden; aber dies kann erst geschehen, nachdem wir das Verbrechen unter unsere Kontrolle gebracht haben, d. h. nach Einfhrung einer Polizei. Andrerseits wrde uns das reine Studium der konomischen, psychologischen, erblichen, sittlichen usw. Ursachen des Verbrechens und der Versuch, diese Ursachen zu entfernen, kaum zur Einsicht verholfen haben, da wir mit Hilfe einer Polizei (die die Ursachen nicht beseitigt) das Verbrechen unter ihre Kontrolle zu bringen vermag. Ganz abgesehen von der Vagheit von Wendungen wie Die Ursache des Krieges, ist das
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erwhnte Vorgehen alles andere als wissenschaftlich. Es ist, als bestnde jemand hartnckig darauf, da es unwissenschaftlich sei, bei kaltem Wetter einen berzieher zu tragen; und da man vielmehr die Ursachen des kalten Wetters studieren und beseitigen sollte. Oder da das Schmieren von Rdern unwissenschaftlich sei, da man vielmehr die Ursachen der Reibung aufsuchen und sie beseitigen sollte. Dieses letzte Beispiel zeigt, so glaube ich, die Absurditt der scheinbar wissenschaftlichen Kritik; denn ebenso, wie die Schmierung sicher die Ursachen der Reibung vermindert, ebenso knnte auch eine internationale Polizei (oder eine andere bewanete Krperschaft dieser Art) eine wichtige Ursache des Krieges vermindern, nmlich die Honung, auf leichte Weise davonzukommen. 333 : 8. Dies habe ich in meiner Logik der Forschung zu zeigen versucht. Ich glaube, in bereinstimmung mit der skizzierten Methodologie, da eine systematische Sozialtechnik von Einzelproblemen uns bei der Errichtung einer empirischen Sozialtechnologie zu helfen vermag, die nach der trial-and-error-Methode aufgebaut wurde. Es ist meine berzeugung, da wir nur so mit dem Aufbau einer empirischen Sozialwissenschaft beginnen knnen. Der Umstand, da eine derartige Sozialwissenschaft bis jetzt noch kaum existiert und da die historizistische Methode unfhig ist, sie merklich zu frdern, ist eines der strksten Argumente gegen die Mglichkeit einer universalistisch696 Anmerkungen zu Kapitel 9

utopistischen Sozialtechnik. Vgl. auch meinen Aufsatz The Poverty of Historicism (Economica 94445; in Buchform auch italienisch und franzsisch). 336 : 9. Eine sehr hnliche Formulierung ndet sich in John Carruthers Ansprache Socialism and Radicalism (publiziert als Flugschrift durch die Hammersmith Socialist Society, London 894). In typischer Weise argumentiert er gegen eine schrittweise Reform: Jede lindernde Manahme fhrt ihr eigenes bel mit sich, und dieses bel ist im allgemeinen grer als jenes, zu dessen Linderung oder Heilung es dienen sollte, Solange wir uns nicht entschlieen ein vllig neues Kleid anzulegen, mssen wir darauf gefat sein, da wir in Lumpen gehen denn Flicken werden das alte nicht verbessern. (Man mu darauf achten, da das Wort Radikalismus, so wie es Carruthers im Titel seiner Vorlesung verwendet, ungefhr das Gegenteil dessen bezeichnet, was wir hier meinen. Carruthers empehlt ein kompromiloses Programm des Tafelabwaschens und greift den Radikalismus an, d. h. das Programm progressiver Reformen, das die Radikalliberalen vorgeschlagen haben. Diese Verwendung des Ausdrucks radikal ist in England natrlich gebruchlicher als die meine; nichtsdestoweniger meint der Ausdruck ursprnglich soviel wie der Wurzel z.B, des bels auf den Grund gehen oder das bel mit der Wurzel ausrotten; und hierfr gibt es im Englischen kein besseres Synonym.)
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Zu den Zitaten im nchsten Absatz des Textes (das gttliche Original, das der politische Knstler kopieren mu) vgl. Staat 500 e/50 a. Vgl. auch Anm. 25 und 26 zu Kap. 8. Ich glaube, da es in Platons Ideenlehre Elemente gibt, die zum Verstndnis der Kunst und ihrer Theorie von groer Bedeutung sind. Dieser Aspekt des Platonismus wird von J. A. Stewart in seinem Buch Platos Doctrine of ideas 909 28 . behandelt. Ich glaube jedoch, da Stewart den Gegenstand der reinen Kontemplation (im Gegensatz zu der Struktur, die der Knstler nicht nur vorstellt, sondern die er auf seiner Leinwand reproduziern mchte) zu sehr hervorhebt. 336 : 0. Staat, 520 c. ber die knigliche Kunst vgl. insbesondere den Staatsmann und Anm. 57 [2] zu Kap. 8. 337 : . Die Ethik wurde oft als ein Teil der sthetik aufgefat unter der Annahme, da ethische Fragen letztlich Geschmacksfragen seien. (Vgl. z. B. G. E. G. Catlin, The Science and Method of Politics 35 .) Wenn damit nicht mehr gemeint wird, als da wir ethische Probleme nicht mit Hilfe der rationalen Methoden der Wissenschaft lsen knnen, dann stimme ich zu. Aber wir drfen nicht den gewaltigen Unterschied zwischen moralischen Geschmacksproblemen und den Geschmacksproblemen der sthetik bersehen. Wenn ich einen Roman, ein Musikstck oder ein Bild nicht leiden kann, dann
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brauche ich es nicht zu lesen, anzuhren oder anzusehen. sthetische Probleme (vielleicht mit Ausnahme der Architektur) sind zum Groteil privaten Charakters, aber ethische Probleme betreen Menschen und ihr Leben. In dieser Hinsicht besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Gebieten. 338 : 2. Zu diesem und den vorhergehenden Zitaten vgl. Staat 500 d50 a (Hervorhebungen von mir); vgl. auch Anm. 29 (Ende) zu Kap. 4 und 25, 26, 37, 38 (insbes. 25 und 38) zu Kap. 8. Die zwei Zitate des nchsten Absatzes sind Staat 54 a und Staatsmann 293 ce. Es ist interessant zu sehen (weil es, wie ich glaube, fr die Hysterie des romantischen Radikalismus und seine hybris seine arrogante Einbildung der Gotthnlichkeit charakteristisch ist), da den beiden Stellen des Staates dem Leinwandreinigen, 500 d ., und der Suberung von 54 a ein Hinweis auf die Gotthnlichkeit der Philosophen vorausgeht; vgl. 500 cd, der Philosoph wird selbst gttlich, und 540 cd (vgl. Anm. 37 zu Kap. 8 und Text), Und der Staat wird auf entliche Kosten Denkmler errichten, um ihr Andenken zu bewahren; und Opfer werden ihnen dargebracht werden wie Halbgttern oder zumindest wie Menschen, die durch Gnade geheiligt und den Gttern hnlich sind. Es ist auch (aus denselben Grnden) interessant, da der ersten dieser Stellen eine Stelle vorausgeht (498 d/e
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f.; vgl. Anm. 59 zu Kap. 8), an der Platon seiner Honung Ausdruck verleiht, da die Philosophen als Herrscher sogar den Vielen annehmbar werden knnten. Zum Ausdruck liquidieren sei der folgende Ausbruch eines modernen Radikalismus zitiert: Ist es nicht klar, da wir, wenn wir Sozialismus einen wirklichen und bleibenden Sozialismus haben wollen, alle grundstzliche Opposition ,liquidieren (d. h. durch Absprechung des Wahlrechtsund, wenn ntig, durch Einkerkerung politisch unwirksam machen) mssen? Diese bemerkenswerte rhetorische Frage steht auf Seite 8 des noch bemerkenswerteren Pamphlets Christians in the Class Struggle von Gilbert Cope, mit einem Vorwort des anglikanischen Bischofs von Bradford (942; zum Historizismus dieses Pamphlets vgl. Anm. 4, Kap. ). Der Bischof prangert in seinemVorwort unser gegenwrtiges konomisches System als unsittlich und unchristlich an und sagt, da es fr einen Diener der Kirche unentschuldbar sei, wenn er nicht sein mglichstes tut, eine Gesellschaftsordnung zu zerstren, die so oenkundig das Werk des Teufels ist. Dementsprechend empehlt er auch das Pamphlet als eine blendende und tiefschrfende Analyse Noch einige Stze aus dem Pamphlet mgen hier zitiert werden: Zwei Parteien knnen eine teilweise Demokratie sicherstellen, aber eine volle Demokratie lt sich nur mit Hilfe einer einzigen Partei errichten (7). In der bergangszeit mssen die Arbeiter von einer einzigen Partei gefhrt und organisiert werden, die die Existenz
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keiner anderen ihr im Grunde entgegengesetzten Partei duldet (9). Freiheit im sozialistischen Staat bedeutet, da es niemand erlaubt ist, das Prinzip des gemeinsamen Eigentums anzugreifen, doch wird jedermann ermuntert, sich fr seine wirksamere Verwirklichung und seine grere Wirksamkeit einzusetzen Die Beantwortung der wichtigen Frage, wie die Opposition vernichtet werden soll, hngt von den Methoden ab, die von der Opposition selbst verwendet werden (8). Am interessantesten ist vielleicht das folgende Argument (das man gleichfalls auf Seite 8 ndet), das es verdient, sorgfltig gelesen zu werden: Wie ist es denn aber mglich, eine sozialistische Partei in einem kapitalistischen Lande zu haben, wenn es nicht mglich ist, eine kapitalistische Partei in einem sozialistischen Staat zu haben? Die Antwort ist einfach: Die eine Partei ist eine Bewegung, die alle Produktivkrfte einer groen Majoritt gegen eine kleinere Minoritt einsetzt, whrend die andere der Versuch einer Minoritt ist, ihre Machtposition und ihr Privileg durch erneute Ausbeutung der Majoritt herzustellen. Mit anderen Worten: Eine herrschende kleine Minoritt kann es sich leisten, tolerant zu sein, whrend eine groe Majoritt es sich nicht leisten kann, eine kleine Minoritt zu dulden. Diese einfache Antwort ist in der Tat ein Beispiel einer blendenden und tiefschrfenden Analyse, wie sich der Bischof ausdrckt.
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340 : 3. Vgl. zu dieser Entwicklung auch Kap. 3 des zweiten Bandes, insbesondere Anm. 7 und Text. 342 : 4. Es scheint, da sich der Romantizismus in der Literatur wie auch in der Philosophie bis auf Platon zurckverfolgen lt. Es ist wohlbekannt, da Rousseau von Platon direkt beeinut wurde (vgl. Anm. zu Kap. 6). Rousseau kannte auch Platons Staatsmann (vgl. Contrat Social II, Kap. VII, und III, Kap. VI) mit seiner Verherrlichung der primitiven Berghirten. Aber abgesehen von diesem direkten Einu ist es wahrscheinlich, da Rousseau seinen pastoralen Romantizismus und seine Liebe fr die Primitivitt auch indirekt von Platon bezog; denn sicher war er von der italienischen Renaissance beeinut, die Platon, vor allem seinen Naturalismus und seine Trume von einer vollkommenen Gesellschaft primitiver Hirten wieder entdeckt hatte (vgl. Anm. [3] und 32 zu Kap. 4, sowie Anm. zu Kap. 6). Es ist interessant, wie schnell Voltaire die Gefahren von Rousseaus romantischem Obskurantismus erkannte. Ebenso wurde auch Kant durch seine Bewunderung fr Rousseau nicht daran gehindert, diese Gefahr zu erkennen, als sie ihm in Herders Ideen vor Augen trat. (Vgl. auch Anm. 56 zu Kap. 2 des zweiten Bandes und Text.)

702

Anmerkungen zu Kapitel 9

Zu Kapitel 0: DIE OFFENE GESELLSCHAFT UND IHRE FEINDE Das Motto zu diesem Kapitel ist Gastmahl 93 d entnommen. 344 : . Vgl. Staat 49 a ., 42b, 465 c . und 59 e; siehe auch Kap. 6 insbesondere Abschnitt II und IV. 344 : 2. Ich denke nicht nur an die mittelalterlichen Versuche, die Gesellschaftsordnung zum Erstarren zu bringen, Versuche, die auf der platonischen Theorie beruhten, da die Herrscher fr die Seelen und die geistige Wohlfahrt der Beherrschten verantwortlich seien (und auf vielen praktischen Hinweisen, die Platon im Staat und in den Gesetzen entwickelt hatte), sondern ich denke auch an viele sptere Entwicklungen. 345 : 3. Ich habe also versucht, die in meiner Logik der Forschung beschriebene Methode soweit als mglich anzuwenden. 345 : 4. Vgl. insbesondere Staat 566 e; vgl. auch Anm. 63 zu diesem Kapitel. 346 : 5. In meiner Darstellung sollte es keine Bsewichte geben; Verbrechen sind uninteressant Was die MenAnmerkungen zu Kapitel 10 703

schen in ihren besten Momenten tun und mit den besten Absichten, das kann unser Interesse beanspruchen. Ich habe soweit als mglich versucht, dieses methodologische Prinzip bei meiner Interpretation Platons anzuwenden. (Die Formulierung des Prinzips, die eben zitiert wurde, entnehme ich G.B.Shaws Vorrede zu St. Joan; vgl. die ersten Stze im Abschnitt Tragedy, not Melodrama.) 352 : 6. Zu Heraklit vgl. Kap. 2. Zu Alkmaions und Herodots Theorien der Isonomie vgl. Anm. 3, 4 und 7 zu Kap. 6. Zur konomischen Gleichheitslehre des Phaleas von Chalkedon vgl. die Politik des Aristoteles 266a und Diels Kap. 39 (auch ber Hippodamos). Zu Hippodamos von Milet vgl. Aristoteles Politik 267 b 22 und Anm. 9 zu Kap. 3. Zu den ersten politischen Theoretikern mssen wir natrlich auch die Sophisten Protagoras, Antiphon, Hippias, Alkidamas, Lykophron zhlen; ebenso Kritias(vgl. Diels fr. 6, 3038 und Anm. 7 zu Kap. 8), den Alten Oligarchen (wenn es sich hier um zwei Personen handelt) und Demokrit. Die Ausdrcke geschlossene Gesellschaft und oene Gesellschaft werden von Bergson in einem einigermaen hnlichen Sinn verwendet. Vgl. dazu die Anmerkung zur Einleitung. Ich charakterisiere die geschlossene Gesellschaft als magisch und die oene Gesellschaft als rational und kritisch; das macht es natrlich unmglich, diese Ausdrcke anzuwenden, ohne die in Frage stehende Gesellschaft zu idealisieren. Die magische Haltung ist
704 Anmerkungen zu Kapitel 10

aus unserem Leben keineswegs verschwunden nicht einmal in den bis jetzt oensten Gesellschaften und ich halte es fr unwahrscheinlich, da sie jemals wird vllig verschwinden knnen. Dennoch scheint es mglich, ein ntzliches Kriterium fr den bergang von der geschlossenen zur oenen Gesellschaft anzugeben. Der bergang ndet statt, sobald soziale Institutionen bewut als Menschenwerk erkannt werden und sobald man ihre bewute nderung diskutiert, indem man ihre Eignung fr die Erreichung menschlicher Zwecke oder Ziele untersucht. Oder, um etwas weniger abstrakt zu sein, die geschlossene Gesellschaft bricht zusammen, sobald die bernatrliche Ehrfurcht, mit der die soziale Ordnung betrachtet wird, einer aktiven Einwirkung und dem bewuten Verfolgen von persnlichen Interessen oder Gruppeninteressen weicht. Es ist klar, da der durch die Zivilisation vermittelte kulturelle Kontakt zu einem solchen Zusammenbruch fhren kann; und hnliche Wirkungen knnen durch die Entwicklung eines verarmten, d. h. landlosen Teils der Herrscherklasse herbeigefhrt werden. Es sei hier erwhnt, da ich nicht gerne von einem sozialen Zusammenbruch im allgemeinen spreche. Ich glaube, da der Zusammenbruch einer geschlossenen Gesellschaft, so, wie er hier beschrieben wird, eine ziemlich klare Sache ist aber im allgemeinen scheint mir der Ausdruck sozialer Zusammenbruch kaum mehr zu enthalten als den Hinweis, da der Beobachter die von
Anmerkungen zu Kapitel 10 705

ihm beschriebene Entwicklung nicht liebt. Ich glaube, da der Ausdruck sehr oft mibraucht wird. Ich gebe aber zu, da ein Mitglied einer bestimmten Gesellschaftsordnung ob mit Grnden oder ohne Grnde das Gefhl haben mag, da alles in Trmmer geht. Man kann wohl kaum zweifeln, da vielen Mitgliedern des ancien rgime oder des russischen Adels die Franzsische oder die Russische Revolution als ein vollstndiger sozialer Zusammenbruch erschien; aber den neuen Herrschern erschienen diese Ereignisse in einem etwas anderen Licht. Fr Toynbee (A Study of History V 2325 338) ist das Erscheinen einer Spaltung im Sozialkrper das Kriterium einer Gesellschaft, die zusammengebrochen ist. Da es in der Form der Klassenspaltung in der griechischen Gesellschaft zweifellos schon lange vor dem Peloponnesischen Krieg eine Spaltung gab, so ist es nicht ganz klar, warum Toynbee diesen Krieg (und nicht etwa den Zusammenbruch der Stammeslebensweise) als den Zusammenbruch der hellenischen Zivilisation beschreibt. (Vgl. auch Anm. 45 [2] zu Kap. 4 und Anm. 8 zum vorliegenden Kapitel.) Zur hnlichkeit zwischen Griechen und Maoris nden sich einige Bemerkungen in Burnets Early Greek Philosophy, 2. Au., insbesondere 2 und 9. 353 : 7. Diese Kritik der organischen Theorie des Staates sowie auch viele andere Hinweise verdanke ich J. Popper-Lynkeus; er schreibt (Die allgemeine Nhrpicht,
706 Anmerkungen zu Kapitel 10

2. Au., 923, 7 f.): Menenius Agrippa berredete die Aufstndischen, [nach Rom] zurckzukehren durch das Gleichnis von Gliedern, die dem Magen den Dienst verweigern Hat denn nicht ein (einziger von ihnen die Geistesgegenwart gehabt, Agrippa zuzurufen: ,Gut, Agrippa! Wenn es durchaus einen Magen geben mu, so wollen wir Plebejer von nun an Magen sein und ihr bernehmt die Rolle der Glieder! (Zu diesem Gleichnis vgl. Livius II 32 und Shakespeares Coriolanus, . Akt, . Szene.) Es ist vielleicht von Interesse, da eine moderne und scheinbar fortschrittliche Bewegung wie die MassObservation fr die organische Theorie der Gesellschaft Propaganda macht (auf dem Einband ihrer Schrift First Years Work 93738). Vgl. auch Anm. 3 zu Kap. 5. Andrerseits mu zugegeben werden, da die geschlossene Gesellschaft des Stammes einen gewissermaen organischen Charakter besitzt und das gerade wegen der Abwesenheit sozialer Spannungen. Der Umstand, da eine solche Gesellschaft auf Sklaverei beruhen kann (wie das bei den Griechen der Fall war), schafft aus sich heraus noch keine soziale Spannung, weil die Sklaven manchmal nicht mehr zur Gesellschaft gehren als das Vieh; ihre Wnsche und Probleme fhren nicht notwendigerweise zu einer Situation, die von den Herrschern als ein Problem innerhalb der Gesellschaft empfunden wird. Aber der Bevlkerungszuwachs fhrt zu einem solchen Problem. Er zwang Sparta, das keine Kolonien aussandte, zuerst zur Unterwerfung der Nachbarstmme, um ihr
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Territorium zu gewinnen; und spter zu einem bewuten Versuch, jede Art von Vernderung zum Stillstand zu bringen, durch Manahmen, die die Kontrolle des Bevlkerungszuwachses durch die drei Institutionen des Kindsmordes, der Geburtenkontrolle und der Homosexualitt einschlossen. Platon hat das alles klar gesehen; immer wieder verwies er (vielleicht unter dem Einu des Hippodamos) auf die Notwendigkeit einer festen Maximalzahl von Brgern; und in den Gesetzen empfahl er Kolonisation, Geburtenkontrolle und Homosexualitt (die auf die gleiche Weise erklrt wird wie in der Politik des Aristoteles, 272 a 23) als Mittel, die Bevlkerung konstant zu halten; siehe Gesetze 740 d74 a sowie 838 c. (Zur Empfehlung des Kindsmordes im Staat und zu hnlichen Problemen vgl. insbesondere Anm. 34 zu Kap. 4; weiterhin Anm. 22 und 63 zu Kap. 0 und Anm. 39 [3] zu Kap. 5.) Es ist natrlich unmglich, alle diese Verfahren auf rationale Weise vollstndig zu erklren; insbesondere die dorische Homosexualitt ist eng verbunden mit der Praxis des Krieges und mit den Versuchen, im Leben einer Kriegerhorde jene emotionale Befriedigung wieder zu gewinnen, die durch den Zusammenbruch des Stammeslebens weitgehend zerstrt worden war; vgl. die von Platon in Gastmahl 78 e verherrlichte aus Liebhabern zusammengesetzte Kriegshorde. In den Gesetzen 636 b f., 836 b/c wendet sich Platon gegen die Homosexualitt (vgl. aber 838 e).
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359 : 8. Ich nehme an, da das, was ich die Last der Zivilisation nenne, dem Phnomen hnlich ist, das Freud vorschwebte, als er Das Unbehagen in der Kultur schrieb. Toynbee spricht von einer Empndung des Dahintreibens (A Study of History V 42 .), aber er beschrnkt es auf Perioden der Ausung, whrend ich das, was ich meine, sehr klar bei Heraklit ausgedrckt nde (Spuren nden sich bereits bei Hesiod); und das lange vor der Zeit, zu der sich das, was Toynbee die hellenische Gesellschaftsordnung nennt, aufzulsen beginnt. Meyer spricht vom Verschwinden der Geburtsstnde, welche jedem Menschen seine Lebensstellung, seine brgerlichen und sozialen Rechte und Pichten und mit dem ererbten Beruf zugleich einen sicheren Erwerb unabnderlich zuwiesen (Geschichte des Altertums, . Auage, 90 III 542). Diese Stelle gibt eine gute Beschreibung der Spannung in der griechischen Gesellschaftsordnung des fnften vorchristlichen Jahrhunderts. 360 : 9. Ein anderer Beruf dieser Art, der zu relativer intellektueller Unabhngigkeit fhrte, war der des wandernden Barden. Ich denke hier vor allem an Xenophanes, den Fortschrittler; vgl. den Absatz ber den Protagoreanismus in Anm. 7 zu Kap. 5. (Homer gehrt vielleicht gleichfalls hierher.) Es ist klar, da dieser Beruf nur sehr wenigen Menschen zugnglich war. Ich habe zufllig kein persnliches Interesse an Handel mit Waren oder Geld, und ich kenne nur wenige MenAnmerkungen zu Kapitel 10 709

schen, die kommerziell eingestellt sind. Aber der Einu der kommerziellen Initiative auf die Umwandlung der Gesellschaft scheint mir beraus wichtig zu sein. Es ist wohl kaum ein Zufall, da die lteste bekannte Zivilisation, die der Sumerer, soweit wir wissen, eine Handelszivilisation mit stark demokratischen Zgen war; und da die Knste des Schreibens und der Arithmetik sowie die Anfnge der Wissenschaft sehr eng mit ihrem kommerziellen Leben verbunden waren. (Vgl. auch die Textstelle zu Anm. 24 dieses Kapitels.) 362 : 0. Thukydides I 93. Zur Parteilichkeit des Thukydides vgl. Anm. 5 [] zu diesem Kapitel. 362 : . Fr dieses und das nchste Zitat vgl. a.a.O. I 07. Die Darstellung, die Thukydides von Verrat der Oligarchen gibt, ist in Meyers apologetischer Fassung (Geschichte des Altertums HL 594) kaum wiederzuerkennen, was um so schlimmer ist, als ihm keine besseren Quellen zur Verfgung standen: sie wird einfach bis zur Unkenntlichkeit entstellt. (Zur Parteilichkeit Meyers vgl. Anm. 5 [2] zum vorliegenden Kap. ) Ein hnlicher Verrat (im Jahre 479 vor Christus, am Vorabend der Schlacht von Plat) wird bei Plutarch, Aristides 3, geschildert. 364 : 2. Thukydides III 8284. Der folgende Abschlu der Stelle ist ein charakteristischer Ausdruck fr den Individualismus und die humanitre Gesinnung des Thuky710 Anmerkungen zu Kapitel 10

dides, der eben ein Zeitgenosse der Groen Generation war (siehe weiter unten sowie Anm. 27 zu diesem Kapitel) und, wie oben erwhnt, ein gemigter Parteignger der Aristokratie: Menschen, die Rache nehmen, sind ohne alle Rcksicht; sie denken nicht an die Zukunft und sie vernichten blindlings jene Gesetze der Menschlichkeit, von denen allein ein jeder Mensch seine Rettung erhoen kann, wenn er in Bedrngnis kommt. Sie vergessen, da sie in den Stunden ihres eigenen Unglcks vergeblich auf Menschlichkeit hoen werden. Weitere Bemerkungen ber die menschliche, aber parteiliche Haltung des Thukydides nden sich in Anm. 5 [] zu diesem Kapitel. 364 : 3. Aristoteles Politik VIII (V) 9, 0/; 30 a. Aristoteles ist mit dieser oenen Feindseligkeit nicht einverstanden; er hlt es fr vernnftiger, wenn die wahren Oligarchen vorgeben, da sie Vertreter der Sache des Volkes sind; und er ist eifrig bemht, ihnen einen guten Rat zu erteilen: Sie sollten umgekehrt vorgehen, oder sie sollten zumindest vorgeben, da sie ganz anders handeln werden; und sie sollten in ihren Eid das Gelbnis einschlieen: Ich werde dem Volke keinen Schaden zufgen. 365 : 4. Thukydides II 9. 365 : 5. Vgl. E.Meyer, Geschichte des Altertums IV(90) 368. [] Um die behauptete Unparteilichkeit des Thukydides
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oder vielmehr seine unbewute und ungewollte Parteilichkeit richtig einzuschtzen, mu man vergleichen, wie er einerseits die hchst wichtige Are von Plat beschreibt, die zum Ausbruch des ersten Teils des Peloponnesischen Krieges fhrte (Meyer, der hierin Lysias folgt, nennt diesen Teil den Archidamischen Krieg; vgl. Meyer, Geschichte des Altertums IV 307 und V p.VII) und wie er andererseits die Are von Melos behandelt, die erste aggressive Handlung Athens, die zum zweiten Teil (dem Krieg des Alkibiades) fhrte. Der Archidamische Krieg begann mit einem berfall auf das demokratische Plat mit einem Blitzkrieg Thebens, eines Partners des totalitren Sparta, schlagartig und ohne Kriegserklrung. Die Freunde Spartas, die oligarchische Fnfte Kolonne, hatten dem Feinde nachts die Tore der Stadt genet. Obgleich dieser berfall als der unmittelbare Kriegsgrund von grter Bedeutung ist, ist der Bericht des Thukydides (II 7) ber ihn verhltnismig kurz; er uert sich berhaupt nicht ber den moralischen Aspekt mit Ausnahme einer Bemerkung, da die Are von Plat eine oenkundige Verletzung des Dreiigjhrigen Waenstillstands war. Aber er kritisiert (II 5) die Demokraten von Plat, weil sie die Eindringlinge hart behandelten; und er drckt sogar seinen Zweifel aus, ob sie nicht einen Eid gebrochen htten. Diese Art der Darstellung steht in strkstem Gegensatz zu dem berhmten, sorgfltig ausgearbeiteten (obgleich natrlich ktiven) Melischen Dialog (Thuk. V 853), in dem Thukydides
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den athenischen Imperialismus zu brandmarken versucht. Wie verwerich die Melische Are auch gewesen sein mag (es ist mglich, da Alkibiades die Verantwortung trug; vgl. Plutarch, Alc. 6), die Athener grien nicht ohne vorherige Warnung an; und sie versuchten zu verhandeln, bevor sie Gewalt anwandten. Recht charakteristisch fr die Haltung des Thukydides ist auch seine Lobrede (VIII 68) auf den oligarchischen Parteifhrer, den Redner Antiphon (der in Platons Menexenos 236 a als ein Lehrer des Sokrates erwhnt wird; vgl. das Ende der Anm. 9 zu Kap. 6). [2] E. Meyer ist, unumstritten, eine der grten modernen Autoritten fr diese Zeitspanne. Um aber seinen Standpunkt richtig einzuschtzen, mu man die folgenden verchtlichen Bemerkungen ber die demokratischen Regierungen lesen (es gibt eine groe Anzahl von Stellen dieser Art): Viel wichtiger war es, das lustige Spiel des Parteihaders fortzusetzen und die unumschrnkte Freiheit zu sichern, wie jeder nach seinen Interessen sie verstand (V 902, 6). Aber ist es, so frage ich, mehr als eine Interpretation, wie jeder nach seinen Interessen sie versteht, wenn Meyer schreibt: die herrliche demokratische Freiheit und ihre Fhrer hatten ihre Unfhigkeit oenkundig erwiesen (V 69). Von den athenischen demokratischen Fhrern, die sich im Jahre 403 weigerten, vor Sparta zu kapitulieren (und deren Weigerung, sich zu unterwerfen, spter sogar durch den Erfolg gerechtfertigt wurde obgleich eine solche Rechtfertigung gar nicht
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notwendig ist), sagt Meyer: Manche mgen ehrliche Fanatiker gewesen sein, denen die Taten des Perserkrieges und die Parteiphrasen jedes gesunde Urteil so vollstndig erstickt hatten, da sie wirklich glaubten, Athen drfe niemals kapitulieren (IV 659). Meyer kritisiert andere Historiker in schrfster Weise wegen ihrer Parteilichkeit. (Vgl. z. B. die Anmerkungen in V 89 und 02, wo er den lteren Tyrannen Dionysius gegen angeblich voreingenommene Angrie verteidigt, sowie 3 Ende bis 4 Beginn, wo er gleichfalls gegen einige antidionysianische nachsprechende Historiker polemisiert.) So nennt er zum Beispiel Grote einen der Fhrer der englischen Radikalen und sein Werk nicht eine Geschichte, sondern eine Apologie Athens, und er stellt sich selbst stolz solchen Mnnern gegenber, indem er schreibt: da wir in politischen Fragen unparteiischer geworden und dadurch zu einem richtigeren und umfassenderen historischen Urteil gelangt sind, wird schwerlich in Abrede gestellt werden knnen. (All dies ndet sich III 293.) Hinter Meyers Standpunkt steht Hegel. Das erklrt alles (was, wie ich hoe, den Lesern von Kap. 2 des zweiten Bandes klarwerden wird). Meyers Hegelianismus wird in der folgenden Bemerkung oenkundig, die eine unbewute, aber nahezu wrtliche Wiedergabe Hegels ist; in III 256 spricht Meyer von einer achen, moralisierenden Beurteilung, welche an die groen politischen Aktionen den unzulnglichen Mastab der brgerlichen Moral anlegt, weil sie die tieferen, wahrhaft sittlichen Faktoren des
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Staats und der sittlichen Verantwortung ignoriert. (Dies entspricht genau den Stellen bei Hegel, die wir in II, Kap. 2 zitieren werden; vgl. Anm. 75 zu II, Kap. 2.) Ich mchte nochmals die Gelegenheit wahrnehmen, um ausdrcklich klarzumachen, da ich nicht vorgebe, unparteiische historische Urteile zu fllen. Natrlich bemhe ich mich, die relevanten Tatsachen objektiv festzustellen. Ich bin mir aber wohl bewut, da meine Bewertungen (wie die Bewertungen eines jeden anderen Menschen) weitgehend von meinem moralischen Standpunkt abhngen mssen. Aber obgleich ich dies zugebe, bin ich doch von der Richtigkeit meines Standpunktes (und daher auch meiner Bewertungen) fest berzeugt. 366 : 6. Vgl. Meyer a.a.O. IV 367. 367 : 7. Vgl. Meyer a.a.O. IV 464. 367 : 8. Man mu sich allerdings daran erinnern, da die Sklaverei in Athen knapp vor der Ausung stand worber sich die Reaktionre beklagten. Vgl. die in Anm. 7, 8 und 29 zu Kap. 4 erwhnten Zeugnisse; weiterhin Anm. 3 zu Kap. 5, 48 zu Kap. 8 sowie 2737 zu Kap. 0. 367 : 9. Vgl. Meyer a.a.O. IV 659. Meyer bemerkt zu dieser wichtigen politischen Entwicklung der athenischen Demokraten: Jetzt, da es zu spt war, nahm man einen Anlauf zu der politischen
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Gestaltung, durch die spter Rom den Grund zu seiner Gre gelegt hat. Mit anderen Worten: Statt den Athenern eine konstitutionelle Erndung ersten Ranges gutzuschreiben, tadelt er sie; und die Ehre der Erndung geht auf Rom ber, dessen Konservativismus mehr nach Meyers Geschmack ist. Der Vorfall der rmischen Geschichte, auf den Meyer anspielt, ist die Allianz oder Fderation von Rom mit Gabii. Aber unmittelbar vorher und auf derselben Seite, auf der Meyer diese Fderation beschreibt (V 35), knnen wir auch lesen: All diese Orte verloren mit der Einverleibung in Rom ihre Existenz ohne auch nur eine politische Organisation nach Art der Demen Attikas zu erhalten. Ein wenig spter, in V 47, wird wieder auf Gabii Bezug genommen und wieder wird Rom und seine gromtige Liberalitt der Politik Athens gegenbergestellt; aber am Ende derselben Seite sowie am Beginn der nchsten berichtet Meyer ohne ein Wort der Kritik von der Plnderung und Vernichtung der groen Stadt Veji durch Rom. Die Zerstrung Karthago? ist die vielleicht schlimmste von all diesen rmischen Zerstrungen. Sie fand statt, da Karthago keine Gefahr mehr fr Rom bedeutete, und sie beraubte Rom und uns des beraus wichtigen Beitrages, den Karthago zur abendlndischen Kultur htte leisten knnen. Ich erwhne nur die groen Schtze geographischer Information, die vernichtet wurden. (Die Geschichte des Untergangs Karthagos ist nicht unhnlich der Geschichte des Falls Athens im Jahre 404, die spter
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in diesem Kapitel diskutiert werden wird; vgl. Anm. 48. Die Oligarchen Karthagos zogen den Untergang ihrer Stadt dem Siege der Demokratie vor.) Spter, unter dem Einu des Stoizismus, der sich indirekt von Antisthenes (und damit von Sokrates) herleitete, begannen sich in Rom sehr liberale und humanitre Ansichten zu entwickeln. Den Hhepunkt erreichte diese Entwicklung in den Jahrhunderten des Augustinischen Friedens (vgl. z. B. Toynbee, A Study of History V 343346); aber gerade hierin sehen manche romantische Historiker den Beginn des Verfalls von Rom. Was nun diesen Verfall selbst betrifft, so ist es ebenso kindisch wie romantisch, anzunehmen (aber diese Annahme hat zahlreiche Vertreter), da er auf die durch den langen Frieden verursachte Degeneration oder Demoralisierung oder auf die berlegenheit der jngeren barbarischen Vlker usw. zurckzufhren war auf berftterung, auf zu gutes Essen, um kurz zu sein (vgl. Anm. 45 [3] zu Kap. 4). Das verheerende Resultat heftiger Epidemien (vgl. H.Zinsser, Rats Lice and History 937, 3 .) sowie die unkontrollierte und fortschreitende Erschpfung des Bodens und damit der Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Basis des rmischen Wirtschaftssystems (vgl. V. G. Simkhovitch, Hay and History sowie Romes Fall Reconsidered in Towards the Understanding of Jesus 927) scheinen einige der hauptschlichsten Grnde gewesen zu sein. Vgl. auch W. Hegemann, Entlarvte Geschichte 934.
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368 : 20. Thukydides VII 28; vgl. Meyer a.a.O. IV 535. Die wichtige Bemerkung, da dies mehr ergeben wrde, gestattet uns natrlich, eine angenherte obere Grenze fr das Verhltnis zwischen den vorher auferlegten Steuern und dem Handelsvolumen festzulegen. 369 : 2. Dies ist eine Anspielung auf einen grimmigen Scherz, den ich P.Milford verdanke A Plutocracy is preferable to a Lootocracy (Eine Plutokratie ist besser als eine Diebsherrschaft). 369 : 22. Platon, Staat 423 b. Zum Problem der Konstanthaltung der Bevlkerungszahl vgl. Anm.7. 372 : 23. Vgl. Meyer, Geschichte des Altertums IV 577. 373 : 24. a.a.O. V 27. Vgl. auch Anm. 9 zu diesem Kap. sowie Text zu Anm. 30, Kap. 4. *Zur Stelle aus den Gesetzen siehe 742 ac. Platon fhrt hier die spartanische Einstellung weiter aus. Er legt ein Gesetz fest, das es privaten Brgern verbietet, Gold oder Silber zu besitzen Unseren Brgern sollte nur der Gebrauch solcher Mnzen gestattet sein, die zwar bei uns als gesetzliche Zahlungsmittel gelten, die aber anderswo wertlos sind. (Platon war also der wirkliche Ernder des Papiergeldes.) Es ist aber notwendig, da der Staat fr Streitkrfte im Ausland, fr ozielle Besuche im Ausland sowie fr Gesandschaften oder andere notwendige Missionen immer ber hellenisches Geld
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(das heit ber Goldmnzen) verfge. Und wenn ein Privatmann gezwungen sein sollte, sich ins Ausland zu begeben, so mge ihm das gestattet werden, vorausgesetzt, da er auf die vorgeschriebene Weise um die Erlaubnis der Behrden ansucht. Und sollte er bei seiner Rckkehr ber auslndisches Geld verfgen, dann mu er es dem Staat abliefern und gegen die entsprechende Summe heimischen Geldes umtauschen. Stellt es sich aber heraus, da er es fr sich behalten hat, so soll es vom Staate konsziert werden, und neben dem eigentlich Schuldigen soll auch der, der um diese Einfhrung des Geldes gewut und sie nicht angezeigt hat, mit Fluch und Schande belegt werden und zudem mit einer Bue, die nicht geringer sein darf als der Betrag des ungesetzlich eingefhrten Geldes. Bei der Lektre dieser Stelle scheint es, da man Platon Unrecht tut, wenn man ihn einen Reaktionr nennt, der die Gesetze des totalitren Stadtstaates von Sparta kopierte; denn hier nimmt er um mehr als zweitausend Jahre Prinzipien und Praktiken vorweg, die heutzutage fast berall und bei den meisten fortschrittlichen westeuropischen demokratischen Regierungen als vernnftige Politik akzeptiert sind (die, wie Platon, hoen, da irgendeine andere Regierung sich um die allgemeine hellenische Goldwhrung kmmern werde). Eine sptere Stelle (Gesetze 950 d) klingt jedoch weniger westlich und noch weniger liberal: Erstens soll niemand unter 40 Jahren Erlaubnis erhalten, sich ins Ausland zu begeben, ganz gleich, um welchen Ort es sich auch handAnmerkungen zu Kapitel 10 719

le. Zweitens soll es niemandem mglich sein, eine solche Erlaubnis fr private Zwecke zu erhalten. Fr entliche Zwecke werde ferner die Erlaubnis nur Herolden, Gesandten oder Missionen gestattet, die ausgesendet werden, um Beobachtungen zu machen Und diese Mnner sollen nach ihrer Heimkehr die Jugend lehren, da die politischen Institutionen aller anderen Lnder den heimischen weit unterlegen sind. hnlich strenge Gesetze werden fr den Empfang von Fremden aufgestellt. Denn wechselseitiger Austausch zwischen Staaten hat notwendigerweise eine Vermischung der Charaktere zur Folge sowie eine Einfhrung von neuen Sitten; und dies mu einen Staat auf das schwerste schdigen, wenn er sich der richtigen Gesetze erfreut (949 e/950 a).* 373 : 25. Das wird von Meyer zugegeben (a.a.O. IV 433 f.), der an einer sehr interessanten Stelle von den Parteien sagt, sie gben beide vor ,die von den Vtern bernommene Staatsordnung zu vertreten, whrend die Gegner von dem modernen Geist der Selbstsucht und des Umsturzes inziert seien. In Wirklichkeit sind es beide in gleicher Weise Die berlieferten Formen und die Religion wurzeln fester in der demokratischen Partei; die aristokratischen Gegner, die die Herstellung des Alten auf ihre Fahnen geschrieben haben, sind bereits vollkommen modernisiert. Vgl. auch a.a.O. V 4 f., 4 und die nchste Anmerkung.
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??? : 26. Aus der Athenischen Verfassung des Aristoteles, Kap. 34, 3, entnehmen wir, da sich die Dreiig Tyrannen zuerst zu einem wie Aristoteles meint gemigten Programm bekannten, d. h. zum Programm des Vaterstaates. Zum Nihilismus und der modernen Einstellung des Kritias vgl. seine Theorie der Religion, die in Kap. 8 diskutiert wurde (vgl. insbesondere Anm. 7 zu jenem Kap. ) sowie Anm, 48 zum vorliegenden Kap. 374 : 27. Es ist von grtem Interesse, wenn man die Einstellung des Sophokles zu dem neuen Glauben mit der des Euripides vergleicht. Sophokles klagt (vgl. Meyer a.a.O. IV ): Es ist arg da es den Gottlosen und schlechtem Reis Entstammenden gut geht, whrend die Braven und edel Geborenen im Unglck leben. Euripides antwortet darauf (wie auch Antiphon vgl. Anm. 3 zu Kap. 5), da die Unterscheidung zwischen den adelig und den niedrig Geborenen (insbesondere den Sklaven) eine rein verbale ist: Der Name (, Sklave) allein ist es, der dem Sklaven Schande bringt. Zum humanitren Element in Thukydides vgl. das Zitat in Anm. 2 zu diesem Kap. Zur Frage, inwieferne die Groe Generation mit kosmopolitischen Tendenzen verbunden war, vergleiche die in Anm. 48 zu Kap. 8 zusammengestellten Beweisgrnde und insbesondere jene Zeugnisse, die von den Gegnern stammen, z. B. vom Alten Oligarchen, von Platon und von Aristoteles.
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375 : 28: Misologen oder Hasser des rationalen Argumentierens werden von Sokrates mit den Misanthropen, den Menschenhassern, verglichen; vgl. Phaidon 89 c. Im Gegensatz dazu vergleiche die misanthropische Bemerkung Platons in Staat 496 cd (vgl. Anm. 57 und 58, Kap. 8). 376 : 29. Die Zitate in diesem Absatz stammen aus den Fragmenten des Demokrit: Diels, Fragm. 4, 79, 34, 26, 62, 55, 25, 247 (Echtheit wird von Diels und Tarn bezweifelt vgl. Anm. 48 zu Kap. 8); 8. 376 : 30. Vgl. Text zu Anm. 6, Kap. 6. 378 : 3. Vgl. Thukydides II 374. Vgl. auch die Bemerkungen in Anm. 6 zu Kap. 6. 378 : 32. Vgl.Gomperz, Griechische Denker II 407. 378 : 33. Das Werk Herodots mit seiner pro-demokratischen Tendenz (vgl. etwa III 80) erschien etwa ein oder zwei Jahre nach der Rede des Perikles (vgl. Meyer IV 369). 379 : 34. Darauf hat z. B. Th. Gomperz a.a.O. II 406 f. verwiesen; die Stellen des Staates, die er angibt, sind 557 d, 56 c . Die hnlichkeit ist zweifellos beabsichtigt. Vgl. auch Adams Ausgabe des Staates II 235, Anm. zu 557 d 26. Siehe auch Gesetze 699 d/e . und 704 d707 d. Eine
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hnliche Feststellung, Herodot(III 80) betreend, kommt in Anm. 7 zu Kap. 6 zur Sprache. 379 : 35. Manche halten den Menexenos fr unecht; aber das bezeugt meiner Ansicht nach nur ihre Tendenz, Platon zu idealisieren. Fr den Menexenos brgt Aristoteles, der eine Bemerkung aus diesem Dialog zitiert und sie dem Sokrates des Bestattungsdialoges zuschreibt (Rhetorik I 9, 30 = 367 b 8; und III 4, = 45 b 60). Vgl. insbesondere auch das Ende von Anm. 9 zu Kap. 6, Anm. 48 zu Kap. 8 und Anm. 5 [] und 6 zum vorliegenden Kap. 379 : 36. Die Verfassung von Athen des Alten Oligarchen (oder des Pseudo-Xenophon) wurde 424 vor Beginn unserer Zeitrechnung publiziert (dies nach Kirchho, zitiert nach Gomperz 477). Betres ihrer Zuweisung an Kritias vgl. J. E. Sandys, Aristotles Constitution of Athens, Introduction IX, insbesondere Anm. 3. Vgl. auch Anm. 8 und 48 zu diesem Kapitel. Der Einu dieses Werkes auf Thukydides kann in den Anm. 0 und zu diesem Kap. zitierten Stellen bemerkt werden. Zu seinem Einu auf Platon vgl. insbesondere Anm. 59 zu Kap. 8 sowie Gesetze 705707 d. (VgL Aristoteles, Politik 326 b327 a; Cicero, De Republica II 3 und 4.) 379 : 37. Das ist eine Anspielung auf den Titel des Buches No Compromise The Conict between Two Worlds (939) von
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M. M. Rader eine ausgezeichnete Kritik der Ideologie des Faschismus. Zur Anspielung auf die Warnung des Sokrates gegen Misanthropie (an spterer Stelle im vorliegenden Absatz) und Misologie vgl. Anm. 28. 382 : 38. *[] Zu meiner Theorie, nach der jene Entwicklung, die man die Erndung des kritischen Denkens nennen knnte, in der Begrndung einer neuen Tradition besteht der Tradition, die traditionellen Mythen und Theorien kritisch zu diskutieren , vgl. jetzt meine Ansprache Towards a Rational Theory of Tradition, Rationalist Annual 949. (Nur eine solche neue Tradition vermag den Umstand zu erklren, da die ersten drei Generationen der ionischen Schule drei verschiedene Philosophien hervorbrachten.)* [2] Schulen (insbesondere Universitten) haben seit jeher gewisse Aspekte des Stammeslebens beibehalten. Wir mssen dabei nicht nur an Universitten mit ihren Verbindungen, tabuistischen Abzeichen usw., denken, mit allen ihren sozialen Implikationen (Klassen, Rassen, Kasten usw.), sondern vor allem an den patriarchalischen oder autoritren Charakter so vieler Schulen. Es war kein Zufall, da Platon, als sein Versuch zur Wiedereinstellung der Lebensformen des Stammes, der Horde fehlschlug, statt dessen eine Schule grndete; es ist auch kein Zufall, da die Schulen so oft eine Bastion der Reaktion und da viele Schullehrer und Professoren Diktatoren im Taschen724 Anmerkungen zu Kapitel 10

format sind. Um den Charakter dieser frhen Schulen und die hnlichkeit mit tabuistischen Stammesinstitutionen zu illustrieren, gebe ich hier eine Liste einiger Tabus der frhen Pythagoreer. (Die Liste stammt aus Burnets Early Greek Philosophy 2. Au. 06. Burnet hat sie von Diels bernommen; vgl. Diels I 97 .; aber vgl. auch das Zeugnis des Aristoxenos a.a.O. 0.) Burnet spricht von echten Tabus eines vllig primitiven Typus. Hier ist die Liste: Keine Bohnen essen. Nichts aufheben, was zu Boden gefallen ist. Keinen weien Hahn berhren. Kein Brot brechen. Nicht ber einen Kreuzstock steigen. Das Feuer nicht mit Eisen aufrhren. Nicht von einem ganzen Laib Brot essen. Keinen Kranz pkken. Nicht auf einem Viertelma sitzen. Nicht das Herz essen. Nicht auf Hauptstraen wandern. Keine Schwalben aufs Dach lassen. Nicht den Eindruck eines eben vom Feuer entfernten Kochtopfs in der Asche zurcklassen, sondern die Asche aufrhren. Nicht Seite an Seite mit einem Licht in einen Spiegel blicken. Nach dem Aufstehen die Bettcher zusammenrollen und die vom Krper verursachten Eindrcke ausgltten. 38 : 39. Eine interessante Parallele zu dieser Entwicklung ist die Zerstrung des Stammeslebens durch die persischen Eroberungen. Diese Sozialrevolution fhrte, wie Meyer andeutet (a.a.O. III 67 .), zum Auftauchen einer Reihe von prophetischen, d. h. in unserer Terminologie, historizistischen Religionen des Schicksals, Untergangs und
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der Errettung darunter der Religion des auserwhlten Volkes, der Juden (vgl. Kap. ). Einige dieser Religionen enthielten auch die Lehre, da die Erschaung der Welt noch nicht vollendet sei, sondern weiter fortschreite. Dies mu verglichen werden mit der frhgriechischen Auassung der Welt als eines Gebudes und mit der Zerstrung dieser Auassung durch Heraklit, die im zweiten Kapitel beschrieben wurde (vgl. Anm. zu diesem Kap. ). Es sei hier erwhnt, da sich sogar Anaximander nicht ganz wohl befand in seinem Gebude. Er hob den grenzenlosen, unbestimmten oder unbestimmbaren Charakter des Baumaterials hervor; was ein Ausdruck des Gefhls gewesen sein mag, da das Gebude mglicherweise keinen festen Rahmen besitzt und da es sich im Flu bendet (vgl. die nchste Anm.). Die Entwicklung der dionysischen und der orphischen Mysterien in Griechenland hngt wahrscheinlich eng mit der religisen Entwicklung des Ostens zusammen (vgl. Herodot II 8). Der Pythagoreismus hatte, wie wohl bekannt ist, mit den orphischen Lehren viel gemeinsam insbesondere was seine Lehre von der Seele betrifft (vgl. auch unten Anm. 44). Aber er besa auch einen deutlich aristokratischen Beigeschmack, im Gegensatz zu den orphischen Lehren, die gleichsam eine proletarische Fassung dieser Bewegung waren. Meyer (a.a.O. III 428, 246) hat wahrscheinlich recht, wenn er den Beginn der Philosophie als eine rationale Gegenstrmung gegen die Mysterien beschreibt; vgl. damit auch Heraklits
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Haltung in diesen Dingen (Fragm.5, 4, 5; sowie 40, 29, Diels; 2429; sowie 67 Bywater). Heraklit hate die Mysterien und Pythagoras; der vom Pythagoreismus beeinute Platon verachtete die Mysterien. (Staat 364 c f.; vgl. aber Adams Anhang IV zu Buch IX des Staates II 378 . seiner Ausgabe.) 382 : 40. Zu Anaximander (vgl. die vorhergehende Anmerkung) siehe Diels Fragm.9: Der Ursprung der Dinge ist das Unbegrenzte, das Formlose. Woraus die Dinge entstehen, darin mssen sie auch vergehn, mit schicksalshafter Notwendigkeit. Denn sie leisten einander Bue und Shne fr ihr Unrecht, nach der Ordnung der Zeit. Gomperz nahm an, da die individuelle Existenz dem Anaximander als Unrecht erschien (Griechische Denker I 46; die hnlichkeit zu Platons Theorie der Gerechtigkeit ist bemerkenswert). Aber diese Deutung ist scharf kritisiert worden. 382 : 4. Parmenides war der erste, der sich vor dieser Last zu retten versuchte, indem er seinen Traum einer zum Stillstand gebrachten Welt als die Enthllung der wahren Wirklichkeit deutete und die sich verndernde Welt, in der er lebte, als einen Traum. Das wirklich Seiende ist unteilbar. Es ist immer ein vollstndiges Ganzes, das sich nie aus seiner Ordnung lst; es zerstreut sich niemals und braucht sich daher nicht wieder zu vereinigen (Diels, Fragm. 2). Zu Parmenides vgl. auch Anm. 22 zu Kap. 2 sowie Text.
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382 : 42. Vgl. Anm. 9 zum vorliegenden Kapitel (und Anm. 7 zu Kap. 5). 384 : 43. Vgl. Meyer, Geschichte des Altertums III 443 und IV 20 f. 384 : 44. J. Burnet, The Socratic Doctrine of theSoul, Proceedings of the British Academy VIII 95/6 235 . Es liegt mir sehr daran, diese teilweisen bereinstimmungen hervorzuheben, und dies um so mehr, als ich den hochinteressanten Theorien Burnets meistens nicht zustimmen kann, insbesondere nicht seiner Theorie der Beziehung zwischen Sokrates und Platon; nach Burnet ist Sokrates in politischer Hinsicht der grere Reaktionr von beiden (Greek Philosophy I 2 0) eine Ansicht, die mir vllig unhaltbar zu sein scheint. Vgl. Anm. 56 zum vorliegenden Kap. Was nun die sokratische Seelenlehre betrifft, so ist, wie ich glaube, Burnet recht zu geben, wenn er am sokratischen Charakter des Ausspruchs sorgt fr eure Seelen festhlt: Denn dieser Ausspruch ist ein Ausdruck der moralischen Interessen des Sokrates. Ich halte es aber fr hchst unwahrscheinlich, da Sokrates sich zu irgendeiner metaphysischen Seelenlehre bekannt hat. Die Theorien des Phaidon, des Staates usw. scheinen pythagoreisch zu sein. (Zur orphisch-pythagoreischen Lehre, nach der der Leib das Grab der Seele ist, vgl. Adam, Anhang IV zu Staat IX; vgl. auch Anm. 39 zu diesem Kap. ) Und angesichts der klaren Behauptung des Sokrates in Apologie
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9 c, er habe mit derartigen Dingen nicht das geringste zu tun gehabt (d. h. mit Spekulationen ber die Natur, einschlielich die Natur der Seele; vgl. Anm. 56 [5] zu diesem Kap.), mu ich der Ansicht Burnets entschieden widersprechen, nach der Sokrates ein Pythagoreer gewesen sein soll; und dasselbe gilt fr Burnets Annahme, da Sokrates eine metaphysische Lehre von der Natur der Seele vertreten habe. Ich glaube, da der Ausspruch des Sokrates sorgt fr eure Seelen ein Ausdruck seines moralischen (und intellektuellen) Individualismus ist. Nur wenige seiner Lehren scheinen so gut bezeugt zu sein wie seine individualistische Lehre von der Selbstgengsamkeit des tugendhaften Menschen. (Siehe die in Anm. 25 zu Kap. 5 und 36 zu Kap. 6 erwhnten Belege.) Aber diese Lehre ist aufs engste mit der Idee verbunden, die im Satz sorgt fr eure Seelen ausgedrckt wird. Wenn Sokrates die Selbstgengsamkeit so nachdrcklich hervorhebt, so wollte er sagen: Euer Leib kann zerstrt werden, nicht aber eure sittliche Integritt. Niemand kann euch etwas anhaben, wenn ihr euch hauptschlich um diese sorgt. Als Platon die metaphysische Seelenlehre der Pythagoreer kennenlernte, scheint er gefhlt zu haben, da die moralische Haltung des Sokrates einer metaphysischen Grundlage bedrftig sei, insbesondere einer Unsterblichkeitslehre. Er ersetzte daher das niemand kann eure sittliche Integritt zerstren durch die Lehre von der Unzerstrbarkeit der Seele (vgl. auch Anm. 9 f. zu Kap. 7).
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Metaphysiker wie auch Positivisten knnen gegen meine Deutung einwenden, da eine moralische, aber nichtmetaphysische Seelenlehre, so wie ich sie dem Sokrates zuschreibe, nicht mglich sei, da jede Rede ber die Seele metaphysisch sein msse. Ich glaube nicht, da viel Honung besteht, platonische Metaphysiker zu berzeugen; ich werde aber versuchen den Positivisten (oder Materialisten) zu zeigen, da auch sie in einem Sinn der dem sehr hnlich ist, den ich Sokrates zuschreibe an eine Seele glauben und da die meisten von ihnen diese Seele hher einschtzen als den Leib. Erstens knnen sogar Positivisten zugeben, da eine vllig empirische und sinnvolle, wenn auch etwas ungenaue Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Erkrankungen mglich ist. Diese Unterscheidung ist fr die Organisation von Krankenhusern usw. von betrchtlicher praktischer Bedeutung. (Es ist wohl mglich, da sie eines Tages durch etwas Genaueres berholt werden wird aber das ist eine andere Frage.) Nun wrden die meisten von uns, sogar die Positivisten, vor eine Wahl gestellt, eine leichte physische Erkrankung einer leichten Geisteskrankheit vorzuziehen. Sogar Positivisten wrden auerdem eine lange und schlielich unheilbare physische Krankheit (vorausgesetzt, da sie nicht zu schmerzhaft ist) einem gleich langen Zeitraum unheilbarer Geisteskrankheit vorziehen und vielleicht sogar einem Zeitraum heilbarer Geisteskrankheit. Auf diese Weise knnen wir, wie mir
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scheint, ohne Verwendung metaphysischer Ausdrcke sagen, da ihnen an ihrer Seele mehr gelegen ist, als an ihrem Leib. (Vgl. Phaidon 82 d: Sie sorgen sich um ihre Seele und sind nicht die Knechte ihres Leibes; vgl. auch Apologie, 29 d30 b.) Und diese Sprechweise wre ganz unabhngig von jeder Theorie ber die Seele, zu der sie sich vielleicht bekennen; unsere Schlufolgerung wre selbst dann noch gltig, wenn sich herausstellte, da sie die Seele in letzter Analyse fr einen Teil des Krpers und jede Art psychischer Krankheit fr eine physische Erkrankung halten. (Sie wrde dann etwa darauf hinauslaufen, da sie ihr Gehirn hher einschtzen als andere Teile ihres Leibes.) Wir knnen nun in hnlicher Weise zu einer Auassung von der Seele bergehen, die der sokratischen Idee noch nher steht. Viele von uns sind bereit, betrchtliche physische Hrten um rein intellektueller Ziele willen auf sich zu nehmen. Wir sind z. B. bereit, zu leiden, um die wissenschaftliche Erkenntnis zu frdern; wir sind auch bereit zu leiden, um Weisheit zu erlangen, d. h. um unsere eigne intellektuelle Entwicklung zu frdern. (Zum Intellektualismus des Sokrates vgl. etwa den Kriton 44 d/e sowie 47 b.) hnliches lt sich von der Frderung moralischer Ziele, z. B. der Gerechtigkeit im Sinne der Gleichberechtigung, des Friedens usw. sagen. (Vgl. Kriton 47 e/48 a, wo Sokrates erklrt, da er unter der Seele denjenigen Teil von uns versteht, der durch Gerechtigkeit verbessert und durch Ungerechtigkeit verdorben wird.) Und viele
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von uns wrden mit Sokrates sagen, da diese Dinge fr uns wichtiger sind als die Gesundheit, obwohl wir uns auch gerne guter Gesundheit erfreuen. Und viele mgen sogar darin mit Sokrates bereinstimmen, da uns die Mglichkeit einer solchen Einstellung stolz daraufmacht, da wir Menschen sind und keine Tiere. All das lt sich, wie ich glaube, ohne jede Bezugnahme auf eine metaphysische Theorie von der Natur der Seele sagen. Und ich sehe keinen Grund, warum wir Sokrates eine solche Theorie zuschreiben sollen, da er doch klar genug sagte, da er mit derartigen Spekulationen nichts zu schaen habe. 385 : 45. Im Gorgias, der, wie ich glaube, teilweise sokratisch ist (obgleich die schon von Gomperz bemerkten pythagoreischen Elemente zeigen, da er zum greren Teil als platonisch angesprochen werden mu; vgl. Anm. 56 zu diesem Kap.), legt Platon dem Sokrates einen Angri auf die Hfen, Schiswerften und Mauern Athens und auf die den Allierten auferlegten Tribute und Taxen in den Mund. So wie sie hier stehen, sind diese Angrie sicher platonisch und das erklrt vielleicht auch, warum sie den Angrien der Oligarchen so hnlich sind. Aber ich halte es durchaus fr mglich, da Sokrates in seinem Eifer, diejenigen Dinge hervorzuheben, die seiner Ansicht nach von grter Wichtigkeit waren, hnliche Bemerkungen gemacht hat. Er htte aber die Idee verabscheut, da es mglich sein wrde, seine moralische Kritik zu
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einer verrterischen oligarchischen Propaganda gegen die oene Gesellschaft und insbesondere gegen ihren Reprsentanten, Athen, zu verdrehen. (Zur Frage der Loyalitt des Sokrates vgl. insbesondere Anm. 53 zu Kap. 0 und die entsprechenden Textstellen.) 386 : 46. In Platons Werk sind Kallikles und Thrasymachos die typischen Gestalten. Historisch stehen ihnen vielleicht Theramenes und Kritias am nchsten und vielleicht auch Alkibiades, dessen Charakter und Taten sich jedoch nur schwer beurteilen lassen. 387 : 47. Die folgenden Bemerkungen sind in hohem Mae spekulativ und haben mit meinen Argumenten nichts zu tun. Ich halte es fr mglich, da Platons eigene Bekehrung durch Sokrates die Grundlage des Ersten Alkibiades ist. Platon hat vielleicht in diesem Dialog die Maske des Alkibiades gewhlt, um sich selbst zu verbergen. Er mag gute Grnde gehabt haben, die Geschichte seiner Bekehrung zu erzhlen; denn als Sokrates angeklagt wurde, fr die Missetaten des Alkibiades, Kritias und Charmides (siehe spter) mit verantwortlich zu sein, da verwies er in seiner Verteidigung vor dem Gerichtshof auf Platon als ein lebendes Beispiel und als einen Zeugen seines wahren erzieherischen Einusses. Es ist nicht unwahrscheinlich, da Platon in seinem Drang nach literarischer Zeugenschaft fhlte, er msse von den Beziehungen zwischen
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sich und Sokrates berichten, was er im Gerichtshof nicht konnte (vgl. Taylor, Sokrates, Anm. zu 05). Indem er den Namen des Alkibiades und die besonderen Umstnde verwendete, die diesen umgaben (z. B. seine ehrgeizigen politischen Trume, die denen Platons vor seiner Bemehrung wohl hnlich gewesen sein mgen), hoffte er, seinen apologetischen Zweck durch den Nachweis zu erreichen, da der sittliche Einu des Sokrates im allgemeinen und auf Alkibiades im besonderen ganz anders beschaen war, als seine Anklger behaupteten (vgl. Text zu Anm. 4950). Ich halte es fr nicht unwahrscheinlich, da auch der Charmides zum Groteil ein Selbstportrt ist. (Die Feststellung ist nicht ohne Interesse, da Platon es selbst unternahm, andere zu bekehren, aber, soweit wir beurteilen knnen, mit ganz anderen Mitteln; nicht sosehr durch einen direkten persnlichen moralischen Appell als vielmehr durch einen institutionellen Unterricht in der pythagoreischen Mathematik, die er fr die Vorbedingung der dialektischen Intuition des Guten hielt. Vgl. Anm. 9 zum 6.Kap. und die Geschichte seiner versuchten Bekehrung des jngeren Dionysios.) Zum Ersten Alkibiades und den damit zusammenhngenden Problemen vgl. auch Grote, Plato I, insbesondere 35355. 389 : 48. Vgl. Meyer, Geschichte des Altertums V 3 8 (sowie Xenophons Hellenica II 4, 22). Im gleichen Band auf Seiten 923 und 3644 (vgl. insbesondere Seite 36) nden sich alle Beweisgrnde, die zur Rechtfertigung der im
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Text gegebenen Interpretation ntig sind. Die Cambridge Ancient History (927 V; vgl. insbesondere 369 .) deutet die Ereignisse in hnlicher Weise. Es sei noch erwhnt, da die Zahl der Vollbrger, die von den Dreiig in den acht Monaten ihrer Schreckensherrschaft gettet wurden, ungefhr 500 betrug das ist, soweit wir wissen, nicht viel weniger als ein Zehntel (wahrscheinlich ungefhr 8 %) der Gesamtzahl der nach dem Kriege verbliebenen Vollbrger oder Prozent pro Monat, eine Leistung, die sogar in den Schreckensherrschaften unserer Tage kaum bertroen worden ist. Taylor schreibt ber die Dreiig (Socrates, Short Biographies 937 00, Anm. ): Es ist nur gerecht, wenn wir uns daran erinnern, da diese Mnner den Versuchungen ihrer Lage unterlegen sind und wahrscheinlich ,den Kopf verloren. Kritias war vorher als ein Mann von hoher Bildung bekannt, dessen Neigungen entschieden demokratisch waren. Ich glaube, da dieser Versuch zur Bagatellisierung der Verantwortlichkeit der Marionettenregierung und insbesondere der Verantwortlichkeit von Platons geliebtem Onkel zum Fehlschlagen verurteilt ist. Wir wissen zur Genge, was wir von den kurzlebigen demokratischen Gefhlen zu halten haben, die die jungen Aristokraten in jenen Tagen bei passender Gelegenheit an den Tag legten. Auerdem hatte der Vater des Kritias (vgl. Meyer IV 579 und Lys. 2, 43 und 2, 66) und wahrscheinlich auch Kritias selbst der Oligarchie der Vierhundert angehrt; und die noch vorhandenen
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Schriften des Kritias zeigen seine verrterischen prospartanischen Neigungen, seine oligarchische Einstellung (vgl. z. B. Diels 45), seinen oenen Nihilismus (vgl. Anm. 7 zu Kap. 8) und seinen Ehrgeiz (vgl. Diels 5; vgl. auch die Memorabilia des Xenophon, I 2, 24; sowie seine Hellenica II 3, 36 und 4). Der entscheidende Punkt ist aber, da er einfach das Programm des Alten Oligarchen, des Autors der Pseudo-Xenophontischen Verfassung von Athen (vgl. Anm. 36 zum vorliegenden Kapitel), konsequent in die Tat umzusetzen versuchte: die Ausrottung der Demokratie, mit spartanischer Hilfe, im Falle einer Niederlage Athens. Das eingesetzte Ausma an Gewalt ist die logische Folge dieses Programms. Es weist nicht daraufhin, da Kritias seinen Kopf verlor, sondern nur, da er die Schwierigkeiten und Gegenkrfte, d. h. die immer betrchtliche Widerstandskraft der Demokraten, wohl bemerkte. Meyer, dessen groe Sympathie fr Dionysius I beweist, da er zumindest nicht gegen Tyrannen voreingenommen ist, sagt von Kritias (a.a.O. V 7) nach einer Skizze seiner erstaunlich opportunistischen Karriere, er sei ebenso skrupellos gewesen wie Lysander, der spartanische Eroberer, und daher das geeignete Haupt der Marionettenregierung des Lysander. Es scheint mir, da eine auallende hnlichkeit besteht zwischen dem Charakter des Kritias, des Soldaten, stheten, Dichters und skeptischen Gefhrten des Sokrates und dem Charakter Friedrichs II. von Preuen, der der Groe
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genannt wurde; auch dieser war ein Soldat, ein sthet, ein Musiker, ein Dichter, ein skeptischer Schler Voltaires und zugleich einer der schlimmsten Tyrannen und rcksichtslosesten Unterdrcker in der modernen Geschichte. (Zu Friedrich vgl. W, Hegemann, Entlarvte Geschichte 934, besonders 90, wo seine Einstellung zur Religion die an die des Kritias erinnert geschildert wird.) 389 : 49. Dies wird von Taylor, Socrates (Short Biographies) 937, 03 sehr gut erklrt. Taylor folgt hierbei Burnets Anmerkung zum Eutyphron Platons 4 c, 4. Der einzige Punkt, an dem ich geneigt bin, von der ausgezeichneten Darstellung etwas abzuweichen, die Taylor dem Proze des Sokrates zuteil werden lt (a.a.O. 03, 20), ist die Interpretation der Tendenz der Anklage, insbesondere der Anklage betres der Einfhrung neuer religiser Bruche (a.a.O. 09 und f.). 390 : 50. Beweismaterial dafr ndet sich in Taylors Sokrates 3; vgl. insbesondere 5, Anm. , wo Aeschines I 73 zitiert wird: Ihr verurteilt Sokrates, den Sophisten, zu Tode, weil gezeigt wurde, da er den Kritias erzogen hat. 390 : 5. Es gehrte zur Politik der Dreiig, soviel Leute als nur mglich in ihre Terrorhandlungen zu verwickeln; vgl. die treenden Bemerkungen Taylors in Socrates 0 f. (insbesondere Anm. 3 zu 0). Zu Chairephon siehe Anm. 56 ([5] e 6) zum vorliegenden Kapitel.
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39 : 52. Wie es Crossman und andere tun; vgl. Crossman, Plato To-Day, 9/92. In diesem Punkt stimme ich mit Taylor, Socrates I 6, berein; vgl. auch seine Anm. und 2 zu dieser Seite. Da es nicht die Absicht der Anklage war, aus Sokrates einen Mrtyrer zu machen und da die Verhandlung vermieden oder anders htte durchgefhrt werden knnen, wre Sokrates nur bereit gewesen, einen Kompromi einzugehen, d. h. Athen zu verlassen oder zu versprechen, sich ruhig zu verhalten all dies scheint angesichts der Anspielungen Platons (oder Sokrates) in der Apologie wie auch im Kriton ziemlich klar zu sein. (VgL Kriton 45 e, insbesondere 52 b/c, wo Sokrates sagt, die Auswanderung wre ihm gestattet worden, htte er sie dem Gerichtshof angeboten,) 39 : 53. Vgl. insbesondere Kriton 53 b/c, wo Sokrates erklrt, er wrde die Meinung der Richter ber seine Einstellung als berechtigt erweisen, nhme er die Gelegenheit zur Flucht wahr; denn wer das Gesetz verdirbt, der verdirbt auch, in aller Wahrscheinlichkeit, die Jugend. Die Apologie und der Kriton wurden wahrscheinlich nicht lange nach dem Tode Sokrates verfat. Der Kriton (der mglicherweise der ltere Dialog ist) wurde vielleicht auf Wunsch des Sokrates geschrieben, um zu erklren, warum er nicht geohen war. Ein solcher Wunsch ist vielleicht der Anla und die erste Inspiration fr die sokratischen Dialoge gewesen. Th. Gomperz (Griechische Denker II
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358) hlt den Kriton fr ein spteres Werk und erklrt seine Tendenz durch die Annahme, da es Platon ist, der hier seine Loyalitt zeigen will. Wir kennen nicht den Anla, so schreibt Gomperz, dem das kleine Gesprch entsprossen ist; aber man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, da es Platon hier ganz eigentlich darum zu tun war, den Verdacht revolutionrer Gesinnung von sich und den Seinigen abzuwehren. Obgleich die Annahme Gomperz mit meiner allgemeinen Interpretation der Ansichten Platons sehr gut bereinstimmen wrde, habe ich doch das Gefhl, da der Kriton viel wahrscheinlicher die Verteidigung des Sokrates als die Verteidigung Platons ist. Ich stimme aber mit der Deutung berein, die Gomperz seinem Inhalt und seiner Tendenz gibt. Sokrates hatte sicher das grte Interesse, sich gegen einen Verdacht zu verteidigen, der die Arbeit seines Lebens bedrohte. Was diese Interpretation des Inhalts des Kriton betrifft stimme ich wieder mit Taylor (Socrates 24 f.) voll berein. Aber die Loyalitt des Kriton und ihr Gegensatz zur klaren Verrterei des Staates, der sich ganz oen gegen Athen auf die Seite Spartas stellt, scheint die Ansicht Burnets und Taylors zu widerlegen, da der Staat sokratisch ist und da Sokrates ein grerer Gegner der Demokratie war als Platon. (Vgl. Anm. 56 zu diesem Kap. ) Sokrates hat seine Loyalitt der Demokratie gegenber wiederholt betont; dazu vgl. insbesondere die folgenden Stellen des Kriton: 5 d/e, wo der demokratische Charakter der Gesetze hervorgehoben wird, d. h. die Mglichkeit,
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da der Brger die Gesetze ohne Gewaltsanwendung durch rationales Argumentieren ndern kann (oder, wie es Sokrates darstellt er kann versuchen, die Gesetze zu berzeugen); 52 b f., wo Sokrates betont, da er gegen die athenische Verfassung nichts einzuwenden habe; 53 c/d wo er nicht nur Tugend und Gerechtigkeit, sondern insbesondere Institutionen und Gesetze (die von Athen) die besten Dinge auf Erden nennt; 54 c, wo er sagt, er sei mglicherweise ein Opfer der Menschen, keinesfalls aber ein Opfer der Gesetze. Angesichts all dieser Stellen (und insbesondere angesichts der Stelle der Apologie 32 c; vgl. Anm. 8 zu Kap. 7) mssen wir, wie mir scheint, die einzige Stelle, die ein ganz anderes Aussehen hat (52 e, wo Sokrates indirekt die Verfassung von Sparta und Kreta lobt), mit Vorsicht aufnehmen. Insbesondere, wenn man 52 b/c heranzieht, wo Sokrates sagt, er habe kein Interesse, andere Staaten oder ihre Gesetze kennenzulernen, ist man versucht, anzunehmen, da die Bemerkung ber Sparta und Kreta in 52 e eine Einschiebung darstellt, durch die der Kriton mit spteren Schriften, insbesondere mit dem Staat, in Einklang gebracht werden sollte. Ob nun dies zutrifft, oder ob die Stelle eine platonische Zutat ist auf jeden Fall ist es uerst unwahrscheinlich, da sie von Sokrates selbst stammt. Man braucht sich nur der ngstlichen Sorgfalt zu entsinnen, mit der Sokrates alle uerungen und Handlungen vermied, die als pro-spartanisch htten aufgefat werden knnen wir wissen von ihr durch
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Xenophons Anabasis III , 5. Hier lesen wir: Sokrates frchtete, er (d. h. sein Freund, der junge Xenophon, ein anderes junges schwarzes Schaf) knnte des Verrates beschuldigt werden; denn von Kyros wute man, da er den Spartanern im Krieg gegen Athen Beistand leistete. (Diese Stelle ist sicher viel weniger verdchtig als die Memorabilien; hier ndet sich kein platonischer Einu, und Xenophon klagt sich indirekt selbst an, da er seine Pichten seinem Land gegenber auf die leichte Schulter genommen habe und somit verdienterweise verbannt worden sei; vgl. a.a.O. V 3, 7 und VII 7, 57.) 392 : 54. Apologie 30 e/3 a. 393 : 55. Es ist zu erwarten, da alle Platoniker Taylor zustimmen werden, der seinen Sokrates mit dem Satz beschliet: Sokrates hatte nur einen ,Nachfolger Platon. Nur Grote scheint manchmal Ansichten vertreten zu haben, die den hier im Text angefhrten hnlich sind; so z. B. kann man seine in Anm. 2 zu Kap. 7 zitierte uerung (vgl. auch Anm. 5 zu Kap. 9) zumindest als einen Ausdruck des Zweifels darber auassen, ob Platon Sokrates nicht verraten hat. Grote hat es vllig klargestellt, da der Staat (und nicht nur die Gesetze) eine hinreichende theoretische Basis fr die Verurteilung des Sokrates, wie er in der Apologie erscheint, enthlt und da man diesen Sokrates in Platons bestem Staat nie geduldet htte. Und er verweist sogar auf die bereinstimmung zwischen der
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praktischen Behandlung, die Sokrates unter den Dreiig erfuhr, und der Theorie Platons. +Platon scheint vergessen zu haben, da auch sein Meister Sokrates das Opfer eines Ketzergerichts geworden ist, schreibt ein neuerer Autor, Verdro-Droberg (Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie 4), dessen Auassungen auch sonst den hier vorgetragenen nahe verwandt sind: Zum positiven Aufbau der neuen Staatslehre hat Sokrates kaum etwas beigetragen. Den strksten Einu darauf hat wohl Pythagoras ausgebt (a.a.O. 2). Und was die Gesetze betrifft, so fgt Verdro-Droberg seiner eben angefhrten Bemerkung eine uerung W. Solowjows (Das Lebensdrama Platons 926 90) hinzu, der in diesen geradezu eine Absage an Sokrates und die Philosophie erblickt. + (Ein Beispiel, welches zeigt, da die Verdrehung der Lehren eines Meisters durch einen Schler selbst dann von Erfolg begleitet sein kann, wenn sich der Meister noch immer am Leben bendet, berhmt ist und entlich protestiert ein solches Beispiel ndet sich in Anm. 58 zu Kap. 2 des zweiten Bandes.) Zu den spter in diesem Absatz ber die Gesetze gemachten Bemerkungen vgl. insbesondere die Stellen der Gesetze, auf die in den Anmerkungen 923 zu Kap. 8 Bezug genommen wird. Sogar Taylor, dessen Ansichten in diesen Fragen den hier vertretenen diametral entgegengesetzt sind (vgl. auch die nchste Anmerkung), gibt zu: Der erste, der vorschlug, falsche Ansichten in der Theologie als eine Beleidigung des Staates aufzufassen,
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war Platon selbst, im zehnten Buch der Gesetze (Taylor a.a.O. 08, Anm. ). Im Text vergleiche ich vor allem Platons Apologie und Kriton mit seinen Gesetzen. Der Grund fr diese Auswahl ist der folgende: Fast jedermann, selbst Burnet und Taylor (siehe die nchste Anmerkung), wrde zugeben, da die Apologie und der Kriton die sokratische Lehre vortragen und da man die Gesetze als platonisch beschreiben kann. Es ist fr mich daher sehr schwer, zu verstehen, wie Burnet und Taylor je ihre Ansicht verteidigen knnen, Sokrates sei ein grerer Feind der Demokratie gewesen als Platon. (Diese Ansicht ndet sich in Burnets Greek Philosophy I 209 f. sowie in Taylor, Sokrates 50 f. und 70 f.) Einen Versuch zur Verteidigung der geschilderten Deutung der Handlungen des Sokrates, der fr die Freiheit kmpfte (vgl. insbesondere Anm. 53 zu diesem Kap. ) und fr sie starb, und der Handlungen Platons, der die Gesetze schrieb, einen solchen Versuch konnte ich nirgends nden. Burnet und Taylor vertreten diese seltsame Ansicht, weil sie die Theorie lancieren, da der Staat sokratisch und nicht platonisch sei; und weil man sagen kann, da der Staat in gewissem Sinn weniger antidemokratisch ist als der Staatsmann und die Gesetze. Aber die Unterschiede zwischen dem Staat und dem Staatsmann, wie auch den Gesetzen, sind in Wirklichkeit nur sehr gering, insbesondere, wenn man nicht nur die ersten Bcher der Gesetze heranzieht, sondern auch das letzte;
Anmerkungen zu Kapitel 10 743

in Wirklichkeit ist die bereinstimmung in der Lehre viel grer, als man bei zwei Bchern erwarten sollte, die mindestens ein Jahrzehnt, wahrscheinlich aber drei oder mehr Jahrzehnte, auseinanderliegen und die dem Stil und dem Temperament nach voneinander hchst verschieden sind (vgl. Anm. 6 zu Kap. 4 und viele andere Stellen dieses Werkes, wo die hnlichkeit, wenn nicht Identitt, zwischen den Lehren der Gesetze und denen des Staates gezeigt wird). Es besteht nicht die geringste Schwierigkeit fr die Annahme, da sowohl der Staat als auch die Gesetze platonisch sind. Hingegen zeigt das Zugestndnis Burnets und Taylors, da nach ihrer Theorie Sokrates nicht nur ein Feind der Demokratie war, sondern sogar ein noch schlimmerer Feind als Platon, die Schwierigkeit, wenn nicht Absurditt ihrer Ansicht, da nicht nur die Apologie und der Kriton, sondern auch der Staat sokratisch ist. (Zu all diesen Fragen vgl. auch die nchste Anmerkung.) 395 : 56. Ich brauche wohl kaum zu sagen, da dieser Satz ein Versuch ist, meine Deutung der historischen Rolle von Platons Theorie der Gerechtigkeit zusammenzufassen (zum moralischen Fehlschlagen der Dreiig vgl. Xenophons Hellenica II 4, 4042); und insbesondere meine Deutung der wichtigsten politischen Lehren des Staates; eine Deutung, die die Ursache des Widerspruchs zwischen den frhen Dialogen, vor allem zwischen dem Gorgias und dem Staat in dem grundlegenden Unter744 Anmerkungen zu Kapitel 10

schied zwischen den Lehren des Sokrates und den Lehren des spteren Platon sieht. Die groe Bedeutung dieser Frage, die man gewhnlich das sokratische Problem nennt, drfte es rechtfertigen, wenn ich hier auf eine Reihe von lngeren und teilweise methodologischen Errterungen eingehe. [] Die ltere Lsung des sokratischen Problems nahm an, da eine Gruppe der platonischen Dialoge, insbesondere die Apologie und der Kriton, sokratisch (d. h. der Hauptsache nach, und mit Absicht, historisch korrekt) ist, whrend die Mehrzahl, unter ihnen viele, in denen Sokrates als der Hauptsprecher auftritt (wie z. B. der Thaidon und der Staat), platonisch sind. Die lteren Autoritten rechtfertigten diese Lsung oft auf die folgende Weise: Sie zogen Xenophon als unabhngigen Zeugen heran und verwiesen einerseits auf die hnlichkeit zwischen dem Sokrates des Xenophon und dem Sokrates der sokratischen Gruppe der Dialoge, andrerseits auf die Unterschiede zwischen dem xenophontischen Sokrates und dem Sokrates der platonischen Gruppe. Insbesondere wurde die metaphysische Lehre von den Formen oder Ideen gewhnlich fr platonisch gehalten. [2] Diese Ansicht wurde von Burnet angegrien, der hierbei von A.E. Taylor untersttzt wurde. Burnet nannte das Argument, auf dem die ltere Lsung (wie ich sie nenne) beruht, zirkulr, und er sprach ihm jede berzeugungskraft ab. Seiner Ansicht nach ist es unhaltbar, eine Gruppe von Dialogen nur deshalb auszuwhlen, weil
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die Lehre von den Formen in ihnen weniger hervortritt, sie sokratisch zu nennen und dann zu sagen, die Formenlehre sei nicht die Erndung des Sokrates, sondern die Erndung Platons. Es sei ferner unhaltbar, den Xenophon als einen unabhngigen Zeugen anzufhren, denn erstens haben wir berhaupt keinen Grund, an seine Unabhngigkeit zu glauben, zweitens bestehen gute Grnde fr die Annahme, da er eine Reihe von platonischen Dialogen kannte, als er mit der Abfassung der Memorabilien begann. Burnet stellte nun die methodologische Forderung auf, man sollte von der Annahme ausgehen, da Platon wirklich meinte, was er sagte; wenn er also Sokrates eine bestimmte Lehre vortragen lie, dann glaubte er, da diese Lehre fr Sokrates charakteristisch sei; und er wnschte, da seine Leser dasselbe glaubten. [3] Obwohl mir Burnets Auassung des sokratischen Problems unhaltbar zu sein scheint, so halte ich sie doch fr hchst wertvoll und anregend. Eine khne Theorie bedeutet immer einen Fortschritt, auch dann, wenn sie falsch ist; und die Bcher Burnets sind voll von khnen und hchst unkonventionellen Ansichten ber seinen Gegenstand. Dies ist um so hher zu schtzen, als historische Gegenstnde leicht fade und abgestanden werden. Aber sosehr ich auch Burnet um seiner brillanten und khnen Theorien willen bewundere und sosehr ich ihren heilsamen Eekt schtze, so wenig kann ich bei Betrachtung der mir zur Verfgung stehenden Belege ihre Haltbarkeit zugeben. In seinem unschtzbaren Enthusiasmus fehlte es
746 Anmerkungen zu Kapitel 10

Burnet, wie mir scheint, seinen eigenen Ideen gegenber an Selbstkritik. Das ist der Grund, warum andere heute diese Ideen kritisieren mssen. Was nun das sokratische Problem betrifft, so bin ich, wie auch viele andere, der Ansicht, da die ltere Lsung, wie ich sie nannte, im Grunde richtig ist. Sie ist jngst mit guten Argumenten gegenber Burnet und Taylor verteidigt worden besonders von C. G. Field (Plato and His Contemporaries 930) und A. K. Rogers (The Socratic Problem 933); und viele andere Gelehrte scheinen zu ihren Anhngern zu zhlen. Obgleich mir die bis jetzt vorgebrachten Argumente berzeugend zu sein scheinen, mchte ich doch unter Verwendung einiger Ergebnisse des vorliegenden Werkes einige zustzliche Bemerkungen machen. Bevor ich aber mit der Kritik Burnets beginne, mchte ich noch feststellen, da es Burnet ist, dem wir unsere Einsicht in das folgende methodologische Prinzip verdanken. Platons Zeugenschaft ist die einzige erstrangige Zeugenschaft, die uns zur Verfgung steht; alle anderen Zeugnisse sind sekundr. (Burnet hat dieses Prinzip auf Xenophon angewendet; aber wir mssen es auch auf Aristophanes anwenden, dessen Zeugenschaft von Sokrates selbst [in der Apologie vgl. [5] weiter unten] abgelehnt wurde.) [4] Nach Burnet beruht seine Methode auf der Annahme, da Platon wirklich meinte, was er sagte. Diesem methodologischen Prinzip zufolge war der platonische Sokrates als ein Portrt des historischen Sokrates beabsichAnmerkungen zu Kapitel 10 747

tigt gewesen. (Vgl. Greek Philosophy I 28, 22 f., und Anm. auf Seite 349/50; vgl. Taylor Socrates 4 f., 32 f., 53.) Ich gebe zu, da Burnets methodologisches Prinzip ein brauchbarer Ausgangspunkt ist. Aber ich werde (Abschnitt [5] dieser Funote) zu zeigen versuchen, da die Tatsachen bald jedermann, Burnet und Taylor eingeschlossen, dazu zwingen, es aufzugeben. Wie alle anderen werden auch sie gezwungen, die Darlegungen Platons nicht einfach zu akzeptieren, sondern zu interpretieren. Whrend sich jedoch andere Gelehrte dieses Umstandes bewut waren und daher bei ihrer Interpretation Sorgfalt und Kritik walten lieen, ist es unvermeidlich, da Autoren, die glauben, da sie Platon nicht interpretieren, sondern einfach akzeptieren, was er sagte, sich den Weg zu einer kritischen Untersuchung ihrer eigenen Interpretation verstellen. [5] Die Tatsachen, die die Anwendung der Methodologie Burnets vereiteln und die ihn und alle anderen zwingen, die Darstellung Platons zu interpretieren, sind die inneren Widersprche in Platons angeblichem Portrt des Sokrates. Selbst wenn wir das Prinzip annehmen, da wir ber keine besseren Zeugnisse verfgen als ber die Platons, so werden wir durch die inneren Widersprche seiner Schriften doch gezwungen, ihn nicht beim Wort zu nehmen und die Annahme aufzugeben, da er wirklich meinte, was er sagte. Wenn sich ein Zeuge in Widersprche verwickelt, dann knnen wir sein Zeugnis nicht akzeptieren, ohne es zu deuten und wre er auch der beste
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Zeuge, der uns zur Verfgung steht. Ich gebe zunchst nur drei Beispiele fr solche inneren Widersprche. a) Der Sokrates der Apologie wiederholt dreimal sehr eindrucksvoll (8 bc; 9 cd; 23 d), da er nicht an der Philosophie der Natur interessiert (und daher kein Pythagoreer) sei: Ich wei nichts weder viel noch wenig ber derlei Dinge, sagt er (9 c); Ich, ihr Mnner von Athen, habe berhaupt nichts mit derlei Dingen zu tun (d. h. mit Spekulationen ber die Natur). Sokrates sagt auch, da sich unter den Anwesenden viele benden, die die Wahrheit dieser Feststellung erhrten knnten; viele htten ihn sprechen gehrt aber keiner hrte ihn jemals ber naturphilosophische Dinge sprechen, weder in wenigen Worten noch in vielen (Ap. 9 cd). Andrerseits besitzen wir (a) den Phaidon (vgl. insbesondere 08 d f., mit den angefhrten Stellen der Apologie) und den Staat. In diesen Dialogen erscheint Sokrates als ein pythagoreischer Natur-Philosoph; und das in einem solchen Ausma, da sowohl Burnet als auch Taylor sagen konnten, er sei in Wirklichkeit ein fhrendes Mitglied des pythagoreischen Ordens gewesen. (Vgl. Aristoteles, der ber die Pythagoreer sagt, ihre Diskussionen seien alle ber die Natur: Metaphysik, Ende von 989 b.) Nun behaupte ich, da (a) und (a) einander glatt widersprechen; diese Situation wird verschlechtert durch die Tatsache, da das dramatische Datum des Staates vor dem der Apologie liegt, das des Phaidon aber nachher. Das macht es unmglich, (a) mit (a) durch die Annahme zu
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vereinen, da Sokrates entweder den Pythagoreismus in seinen letzten Lebensjahren aufgab (zwischen dem Staat und der Apologie) oder da er im letzten Monat seines Lebens (zwischen der Apologie und dem Phaidon) zum Pythagoreismus bekehrt wurde. Ich will nicht behaupten, da es keine Mglichkeit gibt, diesen Widerspruch durch Annahmen oder durch Interpretationen aufzulsen. Vielleicht besitzen Burnet und Taylor Grnde (vielleicht sogar gute Grnde) dafr, da sie dem Phaidon und dem Staat mehr trauen als der Apologie. (Sie sollten sich aber vergegenwrtigen, da, unter Voraussetzung der Korrektheit des platonischen Portrts, jeder Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Sokrates in der Apologie ihn zu einem Menschen macht, der lgt, um seine Haut zu retten.) Mit solchen Fragen habe ich mich aber im Augenblick nicht zu beschftigen. Fr mich ist vielmehr hier nur das folgende wichtig: Wenn Burnet und Taylor (a) annehmen und (a) ablehnen, so sind sie gezwungen, ihre grundlegende methodologische Annahme aufzugeben, da Platon wirklich meinte, was er sagte; sie mssen ihn deuten, interpretieren. Aber Deutungen, die gemacht werden, ohne da man sich dessen bewut ist, sind notwendigerweise unkritisch; als Illustration kann die Art und Weise dienen, in der Burnet und Taylor das Zeugnis des Aristophanes verwenden. Sie behaupten, da die Scherze des Aristophanes sinnlos wren, wenn Sokrates sich nicht eingehend mit naturphilosophischen Fragen befat htte. Aber zuflligerweise
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sah Sokrates (ich nehme immer, wie auch Burnet und Taylor an, da die Apologie historisch ist) gerade dieses Argument voraus. In seiner Verteidigungsrede warnte er seine Richter vor gerade dieser Deutung des Aristophanes; und er bestand in hchstem Ernst darauf (Ap. 9c .; vgl. auch 20 ce), da er weder wenig noch viel, sondern berhaupt nichts mit Naturphilosophie zu tun gehabt htte. Sokrates fhlte, da er hier in einem Kampf gegen Schatten verwickelt war gegen die Schatten der Vergangenheit (Ap. 8 de); aber wir knnen nun sagen, da er auch die Schatten der Zukunft bekmpfte. Denn als er jene seiner Mitbrger auorderte, vorzutreten, die an Aristophanes glaubten, und die es wagten, Sokrates einen Lgner zu nennen, da erhob sich niemand. Erst nach 2 300 Jahren entschlossen sich die Platoniker Burnet und Taylor, dieser Auorderung Folge zu leisten. Es sei in diesem Zusammenhang erwhnt, da Aristophanes, ein gemigter Antidemokrat, Sokrates als einen Sophisten angri, und da die meisten Sophisten Demokraten waren. b) In der Apologie (40 c .) nimmt Sokrates dem Problem der Unsterblichkeit gegenber eine agnostische Haltung ein; (b) der Phaidon besteht der Hauptsache nach aus sorgfltig ausgearbeiteten Beweisen fr die Unsterblichkeit der Seele. Diese Schwierigkeit wird von Burnet (in seiner Ausgabe des Phaidon 9 p. XLVIII.) in einer Weise diskutiert, die mich keinesfalls zu berzeugen vermag. (Vgl. die Anm.9 zu Kap. 7 und 44 zum
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vorliegenden Kap.) Aber ob er nun recht hat oder nicht seine eigene Diskussion beweist, da er zur Aufgabe seiner methodologischen Maxime und zur Interpretation der Aussagen Platons gezwungen ist. c) Der Sokrates der Apologie vertritt die Ansicht, da die Weisheit auch des weisesten Menschen in der Einsicht bestehe, wie wenig er wei, und da daher der delphische Spruch erkenne dich selbst als erkenne deine Beschrnkung interpretiert werden msse; und aus seinen Worten folgt, da die Herrscher, mehr als andere Menschen, ihre Grenzen kennen sollten. hnliche Ansichten nden sich in anderen frhen Dialogen. Aber die Hauptsprecher des Staatsmannes und der Gesetze tragen die Lehre vor, da die Machthaber weise sein sollen; und unter Weisheit verstehen sie nicht mehr die Einsicht in die eigene Beschrnktheit, sondern vielmehr die Einweihung in die tieferen Mysterien der dialektischen Philosophie die Wesensschau der Welt der Formen oder Ideen und die Einweihung in die kniglichen Wissenschaften der Politik. Dieselbe Lehre taucht im Philebos auf, und hier sogar als Teil einer Diskussion des delphischen Spruches. (Vgl. Anm. 26 zu Kap. 7.) d) Abgesehen von diesen drei oenkundigen Widersprchen mchte ich zwei weitere Widersprche erwhnen, die bergangen werden knnen von denen, die nicht an die Echtheit des Siebenten Briefes glauben, die mir aber fr Burnet (der den Siebenten Brief fr authentisch hlt) verhngnisvoll zu sein scheinen. Der Ansicht Burnets (die
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auch dann unhaltbar ist, wenn wir diesen Brief vernachlssigen; vgl. zur ganzen Frage Anm, 26 [5] zu Kap. 3), da Sokrates, nicht aber Platon die Formenlehre vertrat, widerspricht nmlich 342 a . dieses Briefes; und seiner Ansicht, da insbesondere der Staat sokratisch sei, 326 a (vgl. Anm. 4 zu Kap. 7). Es ist klar, da sich alle diese Schwierigkeiten beseitigen lassen aber nur durch eine Interpretation. e) Es gibt eine Reihe hnlicher und zugleich mehr subtiler und wichtiger Widersprche; sie wurden in gewisser Ausfhrlichkeit in den vorhergehenden Kapiteln diskutiert, insbesondere in Kapitel 6, 7 und 8. Es sei mir gestattet, die wichtigsten von ihnen hier zusammenzustellen. e ) Die Einstellung zu Menschen, insbesondere zu jungen Menschen, ndert sich im platonischen Portrt in einer Weise, die nicht der Entwicklung des Sokrates entsprochen haben kann. Sokrates starb fr das Recht zur Jugend, die er liebte, frei zu sprechen. Aber im Staat verhlt er sich herablassend und mitrauisch, und seine Haltung hnelt dem mrrischen Gebaren des athenischen Fremden (zugestandenermaen Platon selbst) in den Gesetzen und dem allgemeinen Mitrauen gegen die Menschheit, das sich in diesem Werk so oft zeigt. (Vgl. Text zu Anm. 78 zu Kap. 4; 82 zu Kap. 7; 5758 zu Kap. 8.) e 2) Dasselbe lt sich ber Sokrates5 Einstellung zur Wahrheit und zur Redefreiheit sagen. Fr sie ist er gestorben. Aber im Staat empehlt Sokrates das Lgen;
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in dem zugestandenermaen platonischen Staatsmann wird, was im Staat als Lge bezeichnet wird, als Wahrheit ausgegeben; und in den Gesetzen wird das freie Denken durch die Einrichtung einer Inquisition unterdrckt. (Vgl. dieselben Stellen wie vorhin sowie Anm. 23 und 404 zu Kap. 8; Anm. 55 zum vorliegenden Kapitel.) e 3) Der Sokrates der Apologie und einiger anderer Dialoge ist intellektuell bescheiden; im Phaidon verwandelt er sich in einen Menschen, der der Wahrheit seiner metaphysischen Spekulationen sicher ist. Im Staat ist er ein Dogmatiker;. er nimmt hier eine Haltung an, die von der versteinerten autoritren Gesinnung des Staatsmannes und der Gesetze nicht sehr weit entfernt ist. (Vgl. Text zu Anm. 84 und 26 in Kap. 7; 5 und 33 zu Kap. 8; sowie [c] der vorliegenden Anmerkung.) e 4) Der Sokrates der Apologie ist ein Individualist; er glaubt an die Selbstgengsamkeit des menschlichen Individuums. Im Gorgias ist er noch immer ein Individualist. Im Staat ist er ein radikaler Kollektivist (der Staat ist nun selbstgengsam), und seine Stellung ist der Platons in den Gesetzen sehr hnlich. (Vgl. Anm. 25 und 35 zu Kap. 5; Text zu Anm. 26, 32, 36, 4854 zu Kap. 6 und Anm. 45 zu diesem Kap. ) e 5) hnliches knnen wir ber die Einstellung des Sokrates zur Lehre von der Gleichberechtigung sagen. Im Menon gesteht er zu, da ein Sklave der allgemeinen Intelligenz aller menschlichen Wesen teilhaftig sei und da er sogar reine Mathematik verstehen knne; im
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Gorgias verteidigt er die Gleichberechtigungstheorie der Gerechtigkeit. Aber im Staat verachtet er Arbeiter und Sklaven und steht der Gleichberechtigung ebenso feindselig gegenber wie der Platon des Timaios und der Gesetze. (Vgl. die unter e 4 erwhnten Stellen sowie Anm. 8 und 29 zu Kap. 4; Anm. 0 zu Kap. 7 und Anm. 50 [3] zu Kap. 8, wo Timaios 5 e zitiert wird.) e 6) Der Sokrates der Apologie und des Kriton hlt loyal zur athenischen Demokratie. Im Menon und im Gorgias (vgl. Anm. 45 zu Kap. 0) nden sich Andeutungen einer feindseligen Kritik; im Staat (und, wie mir scheint, im Menexenos) ist er ein oener Feind der Demokratie; und obgleich sich Platon im Staatsmann und zu Beginn der Gesetze vorsichtiger ausdrckt, sind doch seine politischen Tendenzen in den spteren Teilen der Gesetze zugestandenermaen (vgl. Text zu Anm. 32, Kap. 6) identisch mit denen des Sokrates des Staates. (Vgl. Anm. 53 und 55 zu diesem Kapitel sowie Anm. 7 und 48 zu Kap. 4.) Der letzte Punkt ndet vielleicht in der folgenden berlegung weitere Untersttzung. Es scheint, da Sokrates in der Apologie nicht blo der athenischen Demokratie gegenber loyal ist, sondern da er sich direkt an die demokratische Partei wendet, indem er darauf verweist, da Chairephon, einer seiner eifrigsten Schler, ihren Reihen angehre. Chairephon spielt in der Apologie eine entscheidende Rolle; er ist es, der das Orakel befragt und der damit den Sokrates dazu bringt,
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seine Mission im Leben zu erkennen; und er trgt damit schlielich zur Weigerung des Sokrates bei, mit dem Demos einen Kompromi zu schlieen. Sokrates fhrt diese wichtige Person ein, indem er hervorhebt (Apol. 20 e/ 2 a), da Chairephon nicht nur sein Freund, sondern auch ein Freund des Volkes gewesen sei, mit dem er in die Verbannung ging und mit dem er zurckkehrte (vermutlich nahm er am Kampf gegen die Dreiig teil und el in der Schlacht im Pirus; d. h.: Sokrates whlt als den Hauptzeugen fr seine Verteidigung einen glhenden Demokraten. (Es gibt auch unabhngige Zeugnisse fr die Sympathien des Chairephon, so z. B. in den Wolken des Aristophanes [04, 50 .]; Chairephons Auftreten im Charmides dient vielleicht dazu, eine Art Gleichgewicht zu schaen; die Prominenz des Kritias und des Charmides wrden sonst den Eindruck eines Manifests fr die Dreiig erwecken.) Warum hebt Sokrates seine Verbundenheit mit einem Mitglied der demokratischen Partei hervor, das im Kampf fr seine berzeugungen eingetreten war? Wir knnen nicht annehmen, da es sich hier um einen Versuch des Angeklagten handelte, die Richter zu grerer Milde zu bewegen: Der Geist der ganzen Verteidigungsrede macht diese Annahme unmglich. Die wahrscheinlichste Hypothese ist, da Sokrates durch seinen Hinweis darauf, da er auch Schler im demokratischen Lager besa, beabsichtigte, indirekt die Anklage zurckzuweisen (die auch nur in indirekter Weise gemacht wurde), da er ein Anhnger
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der aristokratischen Partei und ein Erzieher von Tyrannen gewesen sei. Der Geist der Apologie schliet es aus, da Sokrates in seiner Verteidigung die Freundschaft mit einem demokratischen Fhrer anfhrte, ohne selbst der demokratischen Sache wirklich sympathisch gegenberzustehen. Und derselbe Schlu mu aus der Stelle (Apol. 32 bd) gezogen werden, an der er seinen Glauben an die demokratische Gesetzlichkeit hervorhebt und die Dreiig in unzweideutiger Weise brandmarkt. [6] Es ist also einfach die innere Evidenz der platonischen Dialoge, die uns zu der Annahme zwingt, da sie nicht vllig historisch sind. Wir mssen daher versuchen, diese Evidenz zu interpretieren, indem wir Theorien aufstellen, die sich mit ihr kritisch vergleichen lassen, und so die Methode von Versuch und Irrtum anwenden. Wir haben nun sehr starke Grnde fr die Annahme, da die Apologie der Hauptsache nach historisch ist denn sie ist der einzige Dialog, der ein entliches Ereignis von betrchtlicher Bedeutung beschreibt, und ein Ereignis, das einer groen Zahl von Leuten wohlbekannt war. Andrerseits wissen wir, da die Gesetze das spteste Werk Platons darstellen (wenn wir von dem zweifelhaften Epinomis absehen) und da\ sie in aller Oenheit platonisch sind. Die einfachste Annahme ist daher die folgende: Die Dialoge sind historisch richtig, oder sokratisch, insoferne sie mit den Tendenzen der Apologie bereinstimmen; und sie sind pla tonisch, insoferne sie diesen Tendenzen widersprechen, (Diese Annahme fhrt uns praktisch zu der
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Position zurck, die ich weiter oben die ltere Lsung des sokratischen Problems genannt habe.) Wenn wir die Tendenzen in Betracht ziehen, die oben unter e ) bis e 6) erwhnt wurden, dann knnen wir die wichtigsten der Dialoge leicht auf solche Weise anordnen, da fr jede einzelne dieser Tendenzen die hnlichkeit mit der sokratischen Apologie ab- und mit den platonischen Gesetzen zu nimmt. Die Reihe ist die folgende: Apologie und Kriton Menon Gorgias Phaidon Staat Staatsmann Timaios Gesetze. Nun ist die Tatsache, da diese Reihe die wichtigsten Dialoge nach allen unter e ) bis e 6) erwhnten Tendenzen ordnet, selbst schon eine gewisse Besttigung der Theorie, da wir hier eine Entwicklung in Platons Denken vor uns haben. Aber wir besitzen auch unabhngige Zeugnisse. Stilometrische Untersuchungen zeigen, da unsere Reihe mit der chronologischen Ordnung bereinstimmt, in der Platon die Dialoge schrieb. Schlielich zeigt die Reihe, zumindest bis zum Timaios, auch ein allmhlich ansteigendes Interesse am Pythagoreismus (und an den eleatischen Lehren). Dies mu also eine weitere Tendenz in der Entwicklung von Platons Denken sein. Ein davon vllig verschiedenes Argument ist dieses. Aus Platons eigener Zeugenschaft im Phaidon wissen wir, da Antisthenes einer der engsten Freunde des Sokrates war; und wir wissen auch, da Antisthenes den Anspruch erhob, die echte sokratische Lehre zu bewahren. Es ist schwer zu glauben, das Antisthenes ein Freund des So758 Anmerkungen zu Kapitel 10

krates des Staates gewesen wre. Wir mssen daher einen Ausgangspunkt nden, der den Lehren Platons und den Lehren des Antisthenes gemeinsam ist; diesen gemeinsamen Ausgangspunkt nden wir eben im Sokrates der Apologie und des Kriton und in einigen der Lehren, die in den Mund des Sokrates des Menon, Gorgias und des Phaidon gelegt werden. Diese Argumente sind vllig unabhngig von jenen Werken Platons, deren Echtheit bezweifelt worden ist (das gilt vom Alkibiades I, vom Theages oder den Briefen). Sie sind auch von der Zeugenschaft des Xenophon unabhngig. Sie beruhen einzig auf der inneren Evidenz einiger der berhmtesten platonischen Dialoge. Sie stimmen jedoch auch mit diesem sekundren Beweismaterial berein, insbesondere mit dem Siebenten Brief, in dem sich Platon, in einer Skizze seiner eigenen geistigen Entwicklung (325 f.) sogar unmiverstndlich auf die Schlsselstelle des Staates als seine eigene zentrale Entdeckung bezieht: Ich mute feststellen, da das Menschengeschlecht niemals aus seiner Not gerettet werden wird, solange nicht entweder die Rasse der echten und wahren Philosophen politische Macht gewinnt oder die herrschenden Mnner in den Stdten durch die Gnade Gottes echte Philosophen werden. (326 a; vgl. Anm. 4 zu Kap. 7 sowie [d] weiter oben in dieser Anmerkung.) Es ist mir nicht einsichtig, wie man wie Burnet diesen Brief als echt annehmen kann ohne zuzugeben, da die zentrale Lehre des Staates platonisch und nicht sokratisch
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ist; d. h. ohne die Fiktion aufzugeben, da Platons Portrt des Sokrates im Staate historisch richtig ist. (Fr weitere sekundre Zeugnisse vgl. z. B. Aristoteles, Sophistische Widerlegungen 83 b 7: Sokrates stellte Fragen, gab aber keine Antworten; denn er bekannte, da er nichts wisse. Das stimmt mit der Apologie berein, aber kaum mit dem Gorgias und sicherlich nicht mit dem Phaidon oder dem Staat. Siehe weiterhin den berhmten Bericht, den Aristoteles von der Geschichte der Ideenlehre gibt; er wird von Field a.a.O. in bewundernswrdiger Weise diskutiert; vgl. auch Anm. 26 zu Kap. 3.) [7] Gegen Beweisgrnde dieser Art knnen jene, die von Burnet und Taylor verwendet werden, nur wenig ausrichten. Das folgende ist ein Beispiel: Als Beweis fr seine Ansicht, da Platon politisch gemigter war als Sokrates und da Platons Familie ziemlich whiggisch war (d. h., da sie der liberalen und nicht der konservativen Partei nahestand) verwendet Burnet das Argument, da ein Mitglied der Familie Platons Demos hie (vgl. Gorgias 48 e, 53 b). Es ist jedoch nicht einmal sicher (obgleich wahrscheinlich), da des Demos Vater Pyrilampes, der hier erwhnt wird, mit dem in Charm. 58 a und Parmen. 26 b erwhnten Onkel und Stiefvater Platons identisch ist, d. h. da Demos ein Verwandter des Platon war. Welches Gewicht, so frage ich, kann so ein Argument im Vergleich mit der historischen Tatsache haben, da die Onkeln Platons zu den Dreiig gehrten; im Vergleich mit den uns vorliegenden politischen
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Fragmenten des Kritias (die in der Familie auch dann verbleiben, wenn Burnet was wohl kaum der Fall sein drfte mit ihrer Zuschreibung an den Grovater des Kritias recht haben sollte; vgl. Greek Phil. I 338, Anm. , mit Charmides 57 und 62 d, wo auf die poetischen Gaben Kritias des Tyrannen angespielt wird); im Vergleich mit der Tatsache, da der Vater des Kritas der Oligarchie der Vierhundert angehrt hatte (Lys. 2, 66); und im Vergleich mit Platons eigenen Schriften, die Familienstolz mit nicht nur antidemokratischen, sondern sogar antiathenischen Tendenzen verbinden? (Vgl. im Timaios 20 a die Lobrede auf einen Feind Athens, wie Hermokrates von Sizilien, Schwiegervater des lteren Dionysios.) Hinter diesem Argument steht natrlich die Absicht, die Theorie vom sokratischen Charakter des Staates zu sttzen. Ein anderes Beispiel fehlerhafter Methodologie nden wir bei Taylor, der (Socrates, Anm. 2, 48 f.; vgl. auch 62) Argumente zugunsten der Ansicht anzufhren versucht, da der Phaidon sokratisch sei (vgl. meine Anm. 9 zu Kap. 7): Im Phaidon sagt Simmias [dies mu so etwas wie ein Schreibfehler Taylors sein, denn der Sprecher ist Kebes] von der Lehre, da ,Lernen nichts als Wiedererkennen sei, ausdrcklich, indem er sich an Sokrates wendet, sie sei ,die Lehre, die du fortwhrend wiederholst. Solange wir nicht bereit sind, den Phaidon als einen gigantischen und unverzeihlichen Schwindel zu betrachten, scheint mir dies ein Beweis dafr zu sein, da jene Lehre wirklich Sokrates zuzuschreiben ist. (Ein hnliches Argument nAnmerkungen zu Kapitel 10 761

det sich in Burnets Ausgabe des Phaidon p. XII, Ende von Kap. II.) Dazu mchte ich die folgenden Bemerkungen machen: (a) Es wird hier angenommen, da sich Platon bei der Abfassung dieser Stelle als einen Historiker betrachtete, sonst wre ja seine Feststellung kein gigantischer und unverzeihlicher Schwindel; mit anderen Worten: Der fragwrdigste und wichtigste Punkt der Theorie wird als wahr angenommen, (b) Selbst dann aber, wenn Platon sich als einen Historiker befrachtet htte (ich glaube nicht, da er das getan hat) scheint der Ausdruck ein gigantischer usf. zu stark zu sein. Es ist Taylor und nicht Platon, der das Wort du unterstreicht. Platon wollte vielleicht nur andeuten, da er die Bekanntschaft der Leser des Dialogs mit dieser Lehre annimmt. Oder er hatte vielleicht die Absicht, auf den Menon und damit auf sich selbst zu verweisen. Diese Erklrung erscheint mir (angesichts Phaidon 73 a f., mit der Anspielung auf die Diagramme) von allen die annehmbarste zu sein. Oder er machte aus dem einen oder dem anderen Grund so etwas wie einen Schreibfehler. Solchen Dingen sind selbst die besten Historiker ausgesetzt. Burnet z. B. hielt sich sicher fr einen Historiker, als er in seiner Griechischen Philosophie I 64 ber Xenophanes schrieb: Die Erzhlung, da er die eleatische Schule grndete, scheint sich von einer spielerischen Bemerkung Platons herzuleiten, die auch beweisen wrde, da Homer ein Herakliteer gewesen sei. Dem fgt Burnet die Funote hinzu: Platon, Sophistes 242 d, siehe E. Gr. Ph. 2 40. Nun scheint mir, da diese
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Behauptung eines Historikers klarerweise dreierlei impliziert: () da die Stelle, an der sich Platon auf Xenophanes bezieht, scherzhaft ist und keineswegs ernst gemeint, (2) da sich diese Scherzhaftigkeit in der Bezugnahme auf Homer ausdrckt, d. h. (3) in der Bemerkung, Homer sei ein Herakliteer gewesen, was natrlich sehr scherzhaft gewesen wre, da Homer lange vor Heraklit lebte. Aber keine dieser drei Folgen lt sich aufrechterhalten. Denn wir nden (), da die Stelle in Sophist 242 d, die sich auf Xenophanes bezieht, nicht scherzhaft ist, da sie vielmehr von Burnet selbst im methodologischen Anhang seiner Early Greek Philosophy als wichtig und voll von wertvoller historischer Information empfohlen wird; (2) da in ihr berhaupt nicht von Homer die Rede ist und da (3) eine andere Stelle, die diese Anspielung enthlt (Theait. 79e) und die Burnet in Greek Philosophy I irrtmlich mit Sophist. 242 d identizierte (der Irrtum ndet sich nicht in seiner Early Greek Philosophy 2. Au.), gar nicht von Xenophanes spricht; auch wird hier Homer nicht ein Herakliteer genannt, vielmehr wird das gerade Gegenteil gesagt, nmlich, da einige der Ideen des Heraklit so alt sind wie Homer (was natrlich viel weniger scherzhaft ist). Diese Flle von Miverstndnissen, Mideutungen und Fehlzitaten ndet sich in einer einzigen historischen Bemerkung eines so hervorragenden Berufshistorikers wie Burnet. Wir mssen daraus lernen, da Dinge wie diese geschehen und da sie sogar den besten Historikern zustoen: Irren ist menschlich. (Ein ernsthafteres Beispiel
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eines menschlichen Irrtums dieser Art wurde in Anm. 26 [5] zu Kap. 3 diskutiert.) Aber wenn so etwas vorkommt, kann es dann, so frage ich, richtig sein, wenn man die Mglichkeit eines vergleichsweise geringfgigen Fehlers in einer von Platon gemachten Behauptung von der Hand weist (Platon hatte sicher nicht die leiseste Ahnung, da seine dramatischen Dialoge jemals als historische Evidenz herangezogen werden wrden) oder wenn man einen solchen Irrtum einen gigantischen und unverzeihlichen Schwindel nennt? Eine solche einseitige Advokatur ist kaum eine gute historische Methode. [8] Es wird hier angenommen, da die chronologische Ordnung der platonischen Dialoge, die in diesen Argumenten eine Rolle spielen, nahezu dieselbe ist wie die Ordnung in der stylometrischen Liste von Lutoslawski (The Origin and Growth of Platos Logic, 897). Eine Liste aller Dialoge, die im Text dieses Buches eine grere Rolle spielen, ndet sich in Anm. 5 zu Kap, 3. Sie ist so angeordnet, da die Unsicherheit der Datierung innerhalb jeder Gruppe grer ist als zwischen den Gruppen. Die Position des Eutyphron bedeutet eine geringe Abweichung von der stylometrischen Liste: Aus Grnden des Inhalts (die Grnde werden im Text zu Anm. 60 dieses Kapitels diskutiert) scheint es mir wahrscheinlich, da er spter anzusetzen ist als der Kriton; aber dies ist von geringer Bedeutung. (Vgl. auch Anm. 47 zu diesem Kap. ) 262: 57. Im zweiten Brief ndet sich eine berhmte und ziemlich rtselhafte Stelle (34 c): Es gibt keine Schriften
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Platons und es wird auch nie welche geben. Was unter diesem Namen luft gehrt in Wirklichkeit dem Sokrates an, aber einem Sokrates, der jung und schn geworden ist. Die wahrscheinlichste Lsung dieses Rtsels ist wohl die, da die Stelle, wenn nicht der ganze Brief, als unecht zu betrachten ist. (Vgl. Field, Plato and His Contemporaries 200 f., wo sich eine bewundernswerte Zusammenfassung der Grnde ndet, die den Brief verdchtig erscheinen lassen, insbesondere aber die Stellen 32 d33 c und mglicherweise bis zu 34 c; was 34 c betrifft, so ist ein zustzlicher Grund vielleicht der, da der Flscher die Absicht hatte, auf eine einigermaen hnliche Bemerkung im Siebenten Brief [34 b/c, zitiert in Anm. 32 zu Kap. 8] anzuspielen, oder sie auf seine Weise zu deuten.) Wenn wir aber mit Burnet (Greek Philosophy I 22) fr einen Augenblick annehmen, da die Stelle echt ist, dann fhrt die Bemerkung der jung und schn geworden ist sicher zu einem Problem, insbesondere, weil sie nicht wrtlich genommen werden kann; denn Sokrates wird in allen platonischen Dialogen als alt und hlich dargestellt (die einzige Ausnahme ist der Parmenides, wo er zwar noch immer jung, aber wohl kaum schn ist). Wenn diese rtselhafte Stelle echt ist, dann wrde sie bedeuten, da Platon mit voller Absicht ein idealisiertes und nicht ein historisches Bild des Sokrates gab; und sie wrde bedeuten, da er sich darber im klaren war, da er Sokrates in einen jungen und schnen Aristokraten verwandelt hatte (der natrlich niemand anderer ist als Platon selbst);
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und dies stimmt mit unserer Interpretation gut berein. (Vgl. Anm. [2] zu Kap. 4, Anm. 20 [] zu Kap. 6 und Anm.5o[3] zu Kap. 8.) 396 : 58. Ich zitiere aus dem ersten Absatz der Einfhrung, die Davies und Vaughan ihrer bersetzung des Staates vorausschicken. Vgl. Crossmann, Plato To-Day 96. 397 : 59. [] Die Teilung oder Spaltung in der Seele Platons ist einer der hervorstechendsten Zge seines Werkes und insbesondere des Staates. Nur ein Mensch, der schwer zu kmpfen hatte, um seine Selbstbeherrschung oder die Herrschaft des Verstandes ber seine Triebe aufrechtzuerhalten, konnte diesen Punkt so hervorheben wie Platon; vgl. die in Anm. 34 zu Kap. 5 angefhrten Stellen, insbesondere die Stelle von der Bestie im Menschen in Staat 588 c (eine Lehre, die wahrscheinlich orphischen Ursprungs ist) sowie Anm. 5 [][4], 7 und 9 zu Kap. 3; die Stellen, auf die in diesen Anmerkungen verwiesen wird, zeigen nicht nur eine berraschende hnlichkeit mit psychoanalytischen Lehren, sondern man knnte sie geradezu als den Ausdruck starker Verdrngungen ansprechen. (Vgl. auch den Beginn von IX 57 d und 575 a, der sich wie eine Vorlesung ber die Lehre vom dipuskomplex anhrt.) Staat 548 e549 d wirft vielleicht einiges Licht auf Platons Beziehung zu seiner Mutter insbesondere angesichts der Tatsache, da in 548 e sein Bruder Glaukon mit dem fraglichen Sohn identiziert wird. *Eine hervorragende
766 Anmerkungen zu Kapitel 10

Darstellung der Konikte in Platon und ein Versuch einer psychologischen Analyse seines Machttriebes gibt H.Kelsen im American Imago II 942, 0, sowie Werner Fite in The Platonic Legend 939.* Platoniker, die nicht zugeben wollen, da wir aus Platons Verlangen nach Einheit, Harmonie und Einstimmigkeit auf seine eigene Uneinigkeit und mangelnde Ausgeglichenheit schlieen knnen, seien daran erinnert, da Platon selbst diese Art zu argumentieren erfunden hat. (Vgl. Gastmahl 200 a f., wo Sokrates auseinandersetzt, da es ein notwendiger und nicht blo ein wahrscheinlicher Schlu ist, wenn wir sagen, da jemand, der liebt oder begehrt, den geliebten oder begehrten Gegenstand nicht besitzt.) Platons politische Theorie der Seele (vgl. auch Text zu Anm. 32 zu Kap. 5), d. h. die Spaltung der Seele analog zu der in Klassen gespaltenen Gesellschaft, ist fr lange Zeit die Grundlage der Psychologie geblieben, einschlielich der Psychoanalyse. Nach der Freudschen Lehre versuchen dir Seelenteile, die Platon die herrschenden genannt hat, ihre Herrschaft durch eine Zensur aufrechtzuerhalten, whrend die rebellischen proletarischen Triebe, die der sozialen Unterwelt entsprechen, in Wirklichkeit eine verborgene Diktatur ausben; denn sie bestimmen die Politik des scheinbaren Herrschers seit Heraklits Flu und Krieg hat der Bereich der sozialen Erfahrung die Theorien, Metaphern und Symbole aufs strkste beeinut, mit deren Hilfe wir uns die physische Welt um uns und uns
Anmerkungen zu Kapitel 10 767

selbst verstndlich machen. Ich erwhne nur, da Darwin die Lehre vom sozialen Wettstreit unter dem Einu von Malthus angenommen hat. [2] Es folgt eine Bemerkung zum Mystizismus in seinem Verhltnis zur geschlossenen und zur oenen Gesellschaft, sowie zur Last der Zivil isat Ion. Wie McTaggart in seiner hervorragenden Studie Mysticism (vgl. Philosophical Studies, hg. von S. V. Keeling 934, insbes. 47 .) gezeigt hat, sind zwei Ideen fr den Mystizismus grundlegend: (a) die Lehre von der mystischen Einheit, d. h. die Behauptung, da es in der Welt der wirklichen Dinge eine grere Einheit gibt als die, die wir in der Welt der Alltagserfahrung erkennen und (b) die Lehre von der mystischen Intuition, d. h. die Behauptung da es eine Schau gibt, eine Erkenntnisweise, die den Erkennenden in eine Beziehung zu dem Erkannten bringt, die nher ist und unmittelbar als die Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und den erkannten Objekt in der Erfahrung des Alltags. McTaggart behauptet mit Recht (48), da die mystische Einheit das grundlegendere von diesen beiden Merkmalen ist; denn die mystische Schau ist ein Beispiel der mystischen Einheit. Wir knnen hinzufgen, da ein drittes und noch weniger grundlegendes Merkmal in der (c) mystischen Liebe besteht (in der amor intellectualis), die ein Beispiel mystischer Einheit und der mystischen Schau ist. Es ist nun bemerkenswert (und das hat McTaggart nicht gesehen), da die Lehre von der mystischen Einheit
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in der Geschichte der griechischen Philosophie zuerst von Parmenides in seiner holistischen Theorie des Einen klar behauptet worden ist (vgl. Anm.4 zu diesem Kap. ); hierauf von Platon, der eine wohldurchdachte Lehre der mystischen Intuition upd der Gemeinschaft mit dem Gttlichen hinzufgte (vgl. Kap. 8; von dieser Lehre nden sich bei Parmenides nur die allerersten Anfnge); dann von Aristoteles, z. B. in De Anima 425 b 30 f.: Das aktuale Hren und der aktuale Ton verieen in Eins; 430 a 20 und 43 a : Das aktuale Wissen fllt mit seinem Gegenstand zusammen (vgl. auch De Anima 404 b 6 und Metaphysik 072 b 20 und 075 a 2 sowie Platons Timaios 45 bc, 47ad; Menon 8 a .; Phaidon 79 d); ihm folgen die Neuplatoniker, die die Lehre von der mystischen Liebe weiter ausarbeiten, die bei Platon nur in den allerersten Anfngen vorhanden ist (z. B. im Gastmahl, und in seiner Lehre, Staat 475 ., da der Philosoph die Wahrheit liebt; dies ist eng mit der Lehre des Holismus und der Teilhabe des Philosophen an der gttlichen Wahrheit verbunden). Angesichts dieser Tatsachen und auf Grund unserer historischen Analyse werden wir dazu gefhrt, den Mystizismus als eine der typischen Reaktionen auf den Zusammenbruch der geschlossenen Gesellschaft zu deuten; eine Reaktion, die von Anfang an gegen die oene Gesellschaft gerichtet war und die man ein Entrinnen in den Traum eines utopischen Paradieses nennen knnte, in dem sich die verlorene Stammeseinheit als die unverAnmerkungen zu Kapitel 10 769

nderliche Wirklichkeit oenbart. Diese Deutung steht in direktem Widerspruch zu Bergsons Deutung in seinem Buch Les deux sources, etc.; denn Bergson ist der Ansicht, da es der Mystizismus ist, der den Sprung von der geschlossenen in die oene Gesellschaft ermglicht. *Es mu aber natrlich zugegeben werden (wie Prof. Jakob Viner freundlicherweise in einem Brief angedeutet hat), da der Mystizismus hinreichend unbestimmt ist, um in jeder politischen Richtung zu arbeiten; sogar unter den Aposteln der oenen Gesellschaft hat die Mystik und der Mystizismus seine Reprsentanten. Die mystische Inspiration einer besseren, einer weniger gespaltenen Welt ist es zweifellos gewesen, die nicht nur Platon, sondern auch Sokrates inspirierte.* Es sei festgestellt, da wir im 9. Jahrhundert, insbesondere bei Hegel und Bergson, einen evolutionistischen Mystizismus nden, der mit seinem Loblied auf die Vernderung in direktem Widerspruch zu Platons und Parmenides Abscheu vor der Vernderung zu stehen scheint. Und doch scheint diesen beiden Formen des Mystizismus dieselbe Erfahrung zugrunde zu liegen, was durch die Tatsache nahegelegt wird, da in beiden die Vernderung das Hauptthema ist. Beide sind eine Reaktion auf die erschreckende Erfahrung der sozialen Vernderung: Die eine ist mit der Honung verbunden, da es mglich sein werde, die Vernderung zum Stillstand zu bringen; die andere mit einer etwas hysterischen (und zweifellos
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ambivalenten) Bejahung der Vernderung als wirklich, wesentlich und willkommen. Vgl. auch die Anm. 3233 zu Kap. des zweiten Bandes, 36 zu Kap. 2 des zweiten Bandes und 4, 6, 29 zu Kap. 4 des zweiten Bandes. 397 : 60. Der Euthyphron, ein frher Dialog, wird gewhnlich als ein erfolgloser Versuch des Sokrates aufgefat, die Frmmigkeit zu denieren. Der Mann Eutyphron selbst ist eine Karikatur des volkstmlichen Pietisten der genau wei, was die Gtter wollen. Auf die Frage des Sokrates Was ist Frmmigkeit und was Unfrmmigkeit? gibt er zur Antwort: Frmmigkeit ist, so zu handeln wie ich! Das heit, jedermann anklagen und verfolgen, der des Mordes, des Kirchenraubes oder irgendeines hnlichen Verbrechens schuldig ist, sei er auch dein eigener Vater oder deine eigene Mutter ; sie aber nicht zu verfolgen, das ist Gotteslsterung (5 d/e). Eutyphron klagt, wie uns der Dialog mitteilt, seinen Vater an, weil er einen seiner Sklaven gettet hat. (Nach den bei Grote zitierten Zeugnissen Plato I, Anm. zu 32 war jeder Brger durch attisches Gesetz verpichtet, in solchen Fllen die gerichtliche Verfolgung einzuleiten.) 398 : 6. Menexenos 235 b. Vgl. Anm. 35 zu diesem Kapitel und das Ende der Anm. 9 zu Kap. 6. 399 : 62. Die Behauptung, da, wer Sicherheit wnscht, die Freiheit aufgeben mu, ist eine der Hauptsttzen der RevolAnmerkungen zu Kapitel 10 771

te gegen die Freiheit geworden. Aber diese Behauptung ist falsch. Es gibt natrlich im Leben keine absolute Sicherheit. Aber welche Sicherheit sich erreichen lt, das hngt von unserer eigenen Wachsamkeit ab, wenn sie durch Institutionen verstrkt wird, die uns helfen, wachsam zu sein d. h. yon demokratischen Institutionen, die ersonnen sind, um (in platonischer Sprache) der Herde die Beaufsichtigung und Beurteilung ihrer Wachhunde zu ermglichen. 400 : 63. Zu den Variationenund Unregelmigkeiten vgl. Staat 547 a, zitiert im Text zu Anm. 39 und 40 zu Kap. 5. Platon war vom Problem der Fortpanzung und Geburtenkontrolle fasziniert; das lt sich vielleicht teilweise dadurch erklren, da er sich ber die Folgen des Bevlkerungswachstums klar war. In der Tat (vgl. Anm. 7 zu diesem Kap. ) wird der Sndenfall, der Verlust des Stammesparadieses gleichsam durch einen natrlichen oder ursprnglichen Fehler des Menschen verursacht durch eine schlechte Anpassung seiner natrlichen Geburtenrate. Vgl. auch Anm. 39 [3] zu Kap. 5 sowie 34 zu Kap. 4. Zum nchsten Zitat in die sem Absatz vgl. Staat 566 e und Text zu Anm. 20, Kap. 4. Crossmann, der die Periode der Tyrannis in der griechischen Geschichte sehr gut darstellt (vgl. Plato To-Day 2730), schreibt: Die Tyrannen waren es also, die wirklich den griechischen Staat geschaen haben. Sie zerbrachen die alte Stammesorganisation der primitiven Aristokratie (a.a.O. 29). Das erklrt auch, warum Platon die Tyrannis
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vielleicht noch mehr hate als die Freiheit: Vgl. Staat 577 c. (Vgl. jedoch Anm. 69 zu diesem Kapitel.) Die Stellen ber die Tyrannis, insbesondere 565568, sind eine hervorragende soziologische Analyse konsequenter Machtpolitik. Ich mchte sie den ersten Versuch einer Logik der Macht nennen. (Ich whle diese Bezeichnung in Analogie zu F. A. Hayeks Anwendung der Bezeichnung Logik der Wahl in der reinen Volkswirtschaftslehre.) Die Logik der Macht ist ziemlich einfach und wurde oftmals meisterhaft angewendet. Die umgekehrte Politik ist weitaus schwieriger; und dies z.T. auch deshalb, weil die Logik der gegen die Macht gerichteten Politik, d. h. die Logik der Freiheit noch kaum verstanden ist. 40 : 64. Es ist wohlbekannt, da die meisten politischen Vorschlge Platons, einschlielich des Vorschlags von der Frauen- und Kindergemeinschaft, in der Perikleischen Periode in der Luft lagen. Vgl.die ausgezeichnete Zusammenfassung in Adams Ausgabe des Staates I 354 f.* sowie A. D. Winspear, The Genesis of Platos Thought 940*. 40 : 65. Vgl. V.Pareto, Trattato della Sociologia Generale 843; vgl. Anm. zu Kap. 3 des zweiten Bandes, wo die Stelle ausfhrlicher zitiert wird. 402 : 66. Vgl. wie sich Glaukons Darlegung der Theorie des Lykophron auf Karneades (vgl. Anm. 54 zu Kap. 6) und
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spter auf Hobbes auswirkte. Auch die betonte Amoralitt so vieler Marxisten gehrt hierher: die radikale Linke glaubt hug an ihre eigene Amoralitt. (Dies ist, obgleich nicht sehr relevant, manchmal bescheidener und erfreulicher als die dogmatische Selbstherrlichkeit vieler reaktionrer Moralisten.) 402 : 67. Das Geld ist eines der Symbole sowie auch eines der ernsten Probleme der oenen Gesellschaft. (Vgl. Anm. 24 zum gegenwrtigen Kapitel.) Es besteht kein Zweifel, da wir die rationale Beherrschung seines Gebrauchs noch nicht meistern; sein grter Mibrauch ist, da man mit ihm politische Macht kaufen kann. (Die direkteste und primitivste Form dieses Mibrauchs ist die Institution des Sklavenmarktes; aber gerade diese Institution wird in Staat 563 b verteidigt; vgl. Anm. 7 zu Kap. 4; und in den Gesetzen hat Platon nichts gegen den politischen Einu des Reichtums einzuwenden; vgl. Anm. 20 [] zu Kap. 6.) Vom Standpunkt einer individualistischen Gesellschaft aus betrachtet, ist das Geld sehr wichtig. Es ist ein Teil der Institution des (teilweise) freien Marktes, der dem Konsumenten ein gewisses Ausma an Kontrolle ber die Produktion gibt. Ohne eine solche Institution kann der Produzent den Markt so sehr beherrschen, da er aufhrt, um der Konsumption willen zu produzieren, whrend der Konsument zum Groteil um der Produktion willen konsumiert. Der manchmal arge Mibrauch des Geldes hat uns in diesem Punkt ziemlich empndlich
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gemacht, und Platons Gegenberstellung von Geld und Freundschaft ist nur einer der ersten von vielen bewuten und unbewuten Versuchen, diese Gefhle zum Zweck der politischen Propaganda auszuntzen. 402 : 68. Der Kollektivgeist des Stammes ist natrlich nicht vllig verlorengegangen. Er manifestiert sich z. B. in den hchst wertvollen Gefhlen der Freundschaft und Kameradschaft, in jugendlichen Bewegungen wie den Pfadndern (oder in der deutschen Jungenbewegung) sowie in gewissen Klubs und Vereinigungen Erwachsener, wie sie z. B. von Sinclair Lewis in Babbit beschrieben werden. Die Bedeutung dieser vielleicht universellsten aller emotionalen und sthetischen Erfahrungen darf nicht unterschtzt werden. Fast alle sozialen Bewegungen, totalitre wie auch humanitre, werden von ihr beeinut. Sie spielt im Krieg eine wichtige Rolle, und sie ist eine der mchtigsten Waen des Aufstandes gegen die Freiheit; es ist zuzugeben, da ihr auch im Frieden und im Kampfe gegen die Tyrannei eine wichtige Rolle zukommt, aber in diesen Fllen wird ihr humanitrer Charakter oft durch ihre romantischen Tendenzen bedroht. Ein bewuter und nicht erfolgloser Versuch sie zum Zweck des Festhaltens der Gesellschaft und der Fortsetzung der Klassenherrschaft wieder zu beleben scheint das Englische Public School System gewesen zu sein. (Niemand kann aufwachsen und ein guter Mensch sein, dessen Kinderjahre nicht den edlen Wettspielen
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gewidmet waren ist ihr Motto und dieses Motto stammt aus Staat 558 b.) Ein anderes Produkt und Symptom des Verlustes des Gruppengeistes der Horde oder des Stammes ist natrlich der Nachdruck, den Platon auf die Analogie zwischen der Politik und der Medizin (vgl. Kap. 8, insbesondere Anm.4) legt; darin drckt sich das Gefhl aus, da der Gesellschaftskrper krank ist, d. h. das Gefhl der Last und des Dahintreibens. Von der Zeit Platons an scheinen die Gedanken der politischen Philosophen immer wieder zu diesem Vergleich zwischen der Medizin und der Politik zurckgekehrt zu sein sagt G.E.G.Catlin (A Study of the Principles of Politics 930, Anm. zu 458, wo Thomas von Aquin, G. Santayana und Dean Inge zur Untersttzung dieser Behauptung zitiert werden; vgl. auch die Zitate aus Mills Logic a.a.O. Anm.zu 37); Catlin spricht auch in hchst charakteristischer Weise (a.a.O. 459) von Harmonie und vom Wunsch nach Schutz, sei er nun durch die Mutter oder durch die Gesellschaft sichergestellt. (Vgl. auch Anm. 8 zu Kap. 5.) 404 : 69. Vgl. Kap. 7 (Anm. 24 und Text; siehe Athen. XI 508); dort werden die Namen von neun solchen Schlern Platons (der jngere Dionysius und Dion eingeschlossen) angegeben. Ich nehme an, da Platons oft wiederholter Hinweis, nicht nur Gewalt, sondern berredung und Gewalt zu brauchen (vgl. Gesetze 722 b und Anm.5, 0, 8 zu Kap. 8), als eine Kritik der Taktik der Dreiig
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gedacht war, deren Propaganda wirklich primitiv war. Daraus wrde aber folgen, da Platon das Rezept Paretos, die Gefhle auszuntzen, statt sie zu bekmpfen, gut verstand. Da Platons Freund Dion (vgl. Anm. 25 zu Kap. 7) Syrakus als ein Tyrann regierte, wird sogar von Meyer zugegeben, in einer Verteidigung Dions, dessen Tragik Meyer, trotz seiner Bewunderung fr Platon als Politiker, durch einen Hinweis auf den Abgrund zwischen (der platonischen) Theorie und der Erfahrung (a.a.O. V 508) erklrt. Meyer sagt von Dion (a.a.O.): Der ideale Knig war, uerlich, vom verchtlichen Tyrannen ununter scheidbar geworden. Aber er glaubt, da Dion innerlich ein Idealist blieb und da er tief litt, als ihm die politische Notwendigkeit zum Mord (insbesondere zum Mord an seinem Alliierten Herakleides) und zu hnlichen Manahmen zwang. Es scheint mir aber, da Dion genau nach Platons Lehre handelte; nach einer Lehre, die Platon, von der Logik der Macht bezwungen, in den Gesetzen sogar so weit entwickelte, da er die Treichkeit der Tyrannei zugab (709 e .; an derselben Stelle ndet sich vielleicht auch ein Hinweis, da das Unglck der Dreiig auf ihre groe Zahl zurckzufhren war: Kritias allein wre schon in Ordnung gewesen). 404 : 70. Das Stammesparadies ist natrlich ein Mythos (wenn auch einige primitive Vlker, vor allem die Eskimos, glcklich genug zu leben scheinen). Es ist mglich, da es in der geschlossenen Gesellschaft kein Gefhl des
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Dahintreibens gab, es gibt aber zahlreiche Beweise fr andere Formen der Angst und der Furcht vor den dmonischen Krften hinter der Natur. Der Versuch, diese Angst wieder zu beleben und gegen die Intellektuellen, die Wissenschaftler usw. einzusetzen, charakterisiert viele spte Manifestationen der Revolte gegen die Freiheit. Es ist Platon, dem Schler des Sokrates, gutzuschreiben, da es ihm niemals einel, seine Feinde als Kinder des Teufels darzustellen. In diesem Punkt blieb er aufgeklrt. Er hatte wenig Neigung, das Bse zu idealisieren, das fr ihn einfach das herabgekommene, entartete oder verarmte Gute war. (Nur an einer Stelle in Gesetz 896 e und 898 c ndet sich mglicherweise sie etwas wie eine abstrakte Idealisierung des Bsen.) 405 : 7. Meiner Bemerkung ber die Rckkehr zu den Bestien sei eine abschlieende Funote angefgt. Seit dem Einbruch des Darwinismus in das Gebiet menschlicher und sozialer Probleme (ein Ereignis, das man nicht Darwin in die Schuhe schieben sollte) haben unzhlige Kulturzoologen immer wieder bewiesen, da die Rasse der Menschen unweigerlich physisch zugrunde gehen msse, da der ungengende physische Wettstreit und die Mglichkeit, einen schwachen Krper durch geistige Krfte vor der natrlichen Zuchtwahl zu schtzen, deren Einwirkung auf unseren Krper verhindern mu. Der erste, der diese Idee formulierte (nicht, da er daran geglaubt htte!), war Samuel Butler; er schrieb: Die einzige
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ernsthafte Gefahr, die dieser Autor (ein Erewhonianer) frchtete, war die, da die Maschinen (und, so knnen wir hinzufgen, die Zivilisation im allgemeinen) die Hrte des Kampfes ums Dasein so sehr vermindern knnten, da viele Menschen von untergeordneter physischer Konstitution der Ausmerzung entgehen und so ihre Minderwertigkeit auf ihre Nachkommen bertragen wrden. (Erewhon 872; vgl. Everyman-Ausgabe 6.) Der erste, der meines Wissens nach ein dickes Buch ber dieses Thema schrieb, war W. Schallmayr (vgl, Anm. 65 zu Kap. 2 des zweiten Bandes), einer der Begnder der modernen Rassenlehre. In der Tat ist Butlers Theorie andauernd wiederentdeckt worden (insbesondere von biologischen Naturalistenim Sinn von Kap. 5). Nach Auassung einiger moderner von Darwin und Nietzsche beeinuter Autoren (siehe z. B. G. H. Eastbrooks, Man: The Mechanical Mist 94) beging der Mensch den entscheidenden Fehler, als er sich zivilisierte; und insbesondere, als er begann, den Schwachen zu helfen; vor diesem Fehler war er eine fast vollkommene menschliche Bestie; aber die Zivilisation mit ihren knstlichen Methoden des Schutzes der Schwachen fhrte zur Degeneration und mu sich daher letztlich selbst zerstren. In der Beantwortung solcher Argumente sollten wir zunchst einmal zugeben, da der Mensch aller Wahrscheinlichkeit nach eines Tages von der Oberche der Erde verschwinden wird; aber wir sollten hinzufgen, da dies sogar fr die vollkommensten Tiere gilt, ganz zu schweigen von
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denen, die nur fast vollkommen sind. Die Theorie, da das Menschengeschlecht ein wenig lnger leben wrde, htte es nicht jenen schicksalsschweren Fehler begangen und begonnen, den Schwachen zu helfen, ist etwas fragwrdig; aber selbst, wenn sie wahr wre ist denn die bloe Lnge des berlebens das einzige, was wir wollen? Oder ist die fast vollkommene menschliche (vermutlich blonde) Bestie so ungeheuer wertvoll, da wir eine Verlngerung ihrer Existenz (sie hat ja auf jeden Fall ziemlich lange existiert) unserem Experiment vorziehen sollen, den Schwachen zu helfen? Es scheint mir, da bis jetzt die Menschheit gar nicht so schlecht gefahren ist. Trotz des Verrats einiger ihrer intellektuellen Fhrer, trotz der verdummenden Wirkung der platonischen Methoden in der Erziehung und trotz der verheerenden Folgen der Propaganda hat es doch einige berraschende Erfolge gegeben. Vielen Schwachen ist geholfen worden und die Sklaverei ist seit fast hundert Jahren praktisch abgeschafft (zumindest im Abendlande). Ob sie vielleicht bald wieder eingefhrt werden wird? Ich bin hier optimistisch. Schlielich wird es ja von uns selbst abhngen, von mir und von dir: Aber selbst dann, wenn all dies verlorengehen sollte, selbst dann, wenn wir wieder zu fast vollkommenen menschlichen Bestien werden sollten, selbst dann wird an der Tatsache nicht zu rtteln sein, da einmal wenn auch nur fr kurze Zeit die Sklaverei vom Angesicht der Erde fast ganz verschwunden war. Diese groe Errungenschaft, und die Erinnerung an sie, wird
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wohl fr einige von uns viele unserer Mngel (krperliche Mngel und andere) aufwiegen; und sie wird wohl manche fr den schicksalsschwangeren Fehler entschdigen, den unsere Vorvter begingen, als sie jene wunderbare Gelegenheit verpaten, alle Vernderung zum Stillstand zu bringen und in den Kg einer geschlossenen Gesellschaft zurckzukehren in ein vielleicht ewiges Paradies eines vollkommenen Zoos, besiedelt von einer goldenen Horde fast vollkommener Aen.

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INHALTSVERZEICHNIS
Einfhrung zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Vorwort zur ersten englischen Ausgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Vorwort zur amerikanischen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Immanuel Kant: Der Philosoph der Aufklrung . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Der Mythos vom Ursprung und Schicksal . Kapitel: Der Historizismus und der Schicksalsmythos . . 39 2. Kapitel: Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Kapitel: Platons Ideenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Platons deskriptive Soziologie 4. Kapitel: Ruhe und Vernderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5. Kapitel: Natur und Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Platons politisches Programm Kapitel: Die totalitre Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel: Das Prinzip des Fhrertums.. . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel: Der knigliche Philosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel: sthetizismus, Perfektionismus, Utopismus. . .

6. 7. 8. 9.

85 25 285 320

Der zeitgeschichtliche Hintergrund von Platons Angri 0. Kapitel: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde . . . . . . 343 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

Ende eBook: Popper - Die oene Gesellschaft und ihre Feinde I

Kindlers Neues Literaturlexikon: Popper, Karl Raimund DIE OFFENE GESELLSCHAFT UND IHRE FEINDE THE OPEN SOCIETY AND ITS ENEMIES (engl.; : Die oene Gesellschaft und ihre Feinde). Sozialphilosophisches Werk von Karl R. Popper, entstanden in den Jahren 938943 in Christchurch/Neuseeland, wohin der Autor 937 an die Universitt berufen worden war, erschienen 945. Das Buch zhlt zu den meistdiskutierten sozialwissenschaftlichen Schriften unserer Zeit. An ihm wird ersichtlich, wie Popper aufgrund der weltpolitischen Situation in den dreiiger und vierziger Jahren sich auf einen bestimmten Themenkreis zu konzentrieren veranlat sah: Vieles, was in diesem Werk enthalten ist, nahm zu einem frheren Zeitpunkt Gestalt an: aber den Entschlu zur Niederschrift fate ich im Mrz 938, als mich die Nachricht von der Invasion sterreichs erreichte. Aus der Auseinandersetzung mit der historizistischen Geschichtsphilosophie entwickelte Popper in den dreiiger Jahren die These, da die Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit Aberglaube sei. In The Poverty of Historicism (zuerst in Economica, 944/45) bemhte er sich um die Klarlegung der Zusammenhnge zwischen der historizistischen und der utopischen Einstellung, und verband damit eine Kritik der utopischen Idee der Planung und

der Zentralplanwirtschaft. Der utopischen Technik stellte er sein piecemeal social engineering (Sozialtechnik der Einzelprobleme) gegenber, die der naturbearbeitenden Technik insofern hnelt, als sie wie diese die Endziele als auerhalb des Bereichs der Technik liegend sieht, whrend der Historizismus die Endziele menschlichen Tuns als von geschichtlichen Krften abhngig und daher in seinem Gebiet liegend betrachtet. Wie der Verfasser in der Einleitung darlegt, soll das Werk zum Verstndnis des modernen Totalitarismus und des jahrhundertealten Kampfes gegen diesen beitragen. Im Totalitarismus sieht er den Hauptfeind unserer oenen, d. h. rationalen, mobilen Gesellschaft, die sich noch nicht voll erholt hat vom Schreck ihrer Geburt aus der geschlossenen oder stammesmig bedingten Gesellschaft mit ihrer Bindung an magische Krfte. Mit dem Begri oene Gesellschaft lehnt sich der Verfasser an H. Bergson an. Von den zwei Hauptteilen des Werks widmet Popper den ersten den antiken Vorgngern des modernen Historizismus: Heraklit und seiner bermigen Betonung der Vernderung, Platon und seinem Glauben an den idealen Staat und seinem methodologischen Essentialismus, wonach es das Ziel der Wissenschaft sei, Wesenheiten zu enthllen. Popper wendet sich ebenso gegen die auf dem unhaltbaren Gesetz der historischen Entwicklung, dem Gesetz vom allgemeinen Niedergang und Verfall beruhende Gesellschaftslehre Platons wie gegen dessen politisches Programm mit der Theorie der totalitren Gerechtigkeit, dem Prinzip

des Fhrertums, der utopischen Sozialtechnik und der Methode des Planens im groen Stil. In Kap. 0 entwirft er den zeitgeschichtlichen Hintergrund, vor dem Platon zu sehen ist. Er schildert die magischen Stammesgebruche der kollektivistischen Gesellschaft mit ihrem organischen Charakter und stellt ihr die oene Gesellschaft gegenber, deren Anfnge auf die Griechen zurckgehen und ihren ersten Hhepunkt im athenischen Imperium und seiner groen Generation erreichen, einer Generation, die einen neuen Glauben an die Vernunft, an die Freiheit und an die Brderlichkeit vertrat. Vielleicht der Grte dieser Generation war Sokrates, die Rede des Perikles (Thukydides II, 3546) nennt Popper das Glaubensbekenntnis der oenen Gesellschaft. Ihre Gegner aber sind die Oligarchen und alle diejenigen, die die Rckkehr zur Stammesmagie, zum harmonischen Naturzustand propagierten. Unter ihnen war Platon, der Sokrates verriet, indem er ihn nach seiner Auassung umdeutete. Im zweiten Band des Werks, der wie der erste in sich abgeschlossen ist, zeigt der Verfasser die aristotelischen Wurzeln des Hegelianismus auf. In der Fassung des wenig originellen Aristoteles beeinute der platonische Essentialismus den Historizismus von Hegel und damit auch von Marx. Die eigentmliche Kunst des Wortemachens, die sich im Geiste Hegels mit dem Historizismus vereinigte, erzeugte jene giftgeschwngerte intellektuelle Geisteskrankheit, die ich die orakelnde Philosophie nenne. Der Verfasser deutet den Einu Hegels aus der historischen Situation der Re-

stauration in Preuen; mit der Renaissance der Ideologie der Horde wurde Hegel das Bindeglied zwischen Platon und den modernen Formen des totalitren Gedankenguts. Popper zeigt die Verbindungen von der Lehre Hegels zum Faschismus und der dahinter stehenden Philosophie sowie zum Marxismus als der reinsten Form des Historizismus. Bei Marx hebt er wohl den humanitren Ansatz hervor, kritisiert aber seinen vom franzsischen Materialismus beeinuten soziologischen Determinismus und seinen konomischen Historizismus, der zwar einen hchst wertvollen Beitrag darstelle, die Dinge vor ihrem konomischen Hintergrund zu betrachten, aber die Macht des Reiches der Freiheit unterschtze und in der Hierarchie der Gewalten der politischen nur eine dritte Stelle einrume. Die Gesetze, die der marxistischen Prophezeiung von der zunehmenden Verelendung und ihren Folgen zugrundeliegen, werden als ungltig nachgewiesen. Die Werttheorie von Marx ist nach Popper eine essentialistische oder metaphysische Theorie. Marx sah nicht den demokratischen Interventionismus voraus. Der Einu des Staates nahm aufgrund des Interventionismus zu, whrend Marx glaubte, da sich der Einu des Staats vermindern wrde. Zu den Folgen der von Hegel und Marx bestimmten Entwicklung gehrt die Wissenssoziologie (Soziologismus), wie sie vor allem von M. Scheler und K. Mannheim vertreten wurde, d. h. die Theorie der sozialen Determination wissenschaftlicher Erkenntnisse. Der Soziologismus, die Selbstanalyse gengt indessen nicht. Eine Sozialtechnik ist vonnten, de-

ren Resultate durch schrittweises soziales Bauen berprft werden knnen. Zu den Folgen gehrt auch der Aufstand des orakelnden Irrationalismus gegen die Vernunft, d. h. gegen eine Einstellung, die bereit ist, auf kritische Argumente zu hren und von der Erfahrung zu lernen. Den irrationalistischen und mystischen Intellektualismus hlt Popper fr die subtile intellektuelle Krankheit unserer Zeit. Zu ihren Vertretern zhlt er u. a. auch Toynbee. Das Werk schliet mit der Feststellung, da die Weltgeschichte keinen Sinn habe, da es eine Geschichte in dem Sinn, in dem die meisten Menschen davon sprechen, einfach nicht gebe, sondern eine unbegrenzte Anzahl von Geschichten, die alle mglichen Aspekte des menschlichen Lebens betreen. Aber es ist mglich, da man die Geschichte der Machtpolitik vom Standpunkt des Kampfes fr eine oene Gesellschaft deutet. Poppers Auassungen wurden sowohl von der in der dialektischen Tradition verharrenden Frankfurter Schule der Soziologie als auch von den orthodoxen Marxisten scharf angegrien. In die Kontroverse zwischen Popper und Th. W. Adorno grien insbesondere Jrgen Habermas und Hans Albert ein. Whrend nach Habermas die an den Naturwissenschaften orientierten Sozialwissenschaften mit ihrer Betonung der Wertfreiheit nicht mehr in der Lage sind, normative Gesichtspunkte und Vorstellungen fr die praktische Orientierung zu bieten, wirft Albert der geisteswissenschaftlichen Richtung vor, ihre Rechtfertigung des praktischen Handelns aus dem Sinn der Geschichte

und ihre Anlehnung an den Hegelschen Essentialismus fhre zu einer Fetischisierung von Begrien wie Totalitt, dialektisch und Geschichte. Aus russischer, betont marxistischer Sicht setzte sich F. S. Kon mit Popper auseinander. H.Ke.-G.An. Prof. Dr. Hermann Kellenbenz/Dr. Gunnar Andersson AUSGABEN: Ldn. 945, 2 Bde. Princeton/N.J. 950. Ldn. 957, 2 Bde. Princeton/N.J. 963, 2 Bde. BERSETZUNG: Die oene Gesellschaft und ihre Feinde, P. K. Feyerabend, 2 Bde., Bern 957/58 (Bd. : Der Zauber Platons, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx u. die Folgen; 2970. Dass., ders., Mchn./Bern 6980). LITERATUR: G. J. de Vries, Antisthenes redivivus. P.s Attack on Plato, Amsterdam 952. R. Jordan, The Revolt against Philosophy. The Spell of P. (in The Return to Reason. Essays in Realistic Philosophy, Hg. J. Wild, Chicago 953, S. 252292). A. Bausola, Storia e societ nel pensiero di K. P. (in Rivista di Filosoa Neo-Scolastica, 0, 958, S. 3869). H. Albert, Der kritische Rationalismus K. R. P.s (in Archiv f. Rechts- u. Sozialphil., 46, 960, S. 3945). J. C. Harsanyi, P.s Improbability, Criterion for the Choice of Scientic Hypotheses (in Philosophy, 35, 960, S. 332340). L. E. Palmieri, Prof. P.s Refutation of Historicism (in Theoria, 27, 96, S. 9294). E. Topitsch, Sozialphilosophie zwischen

Ideologie u. Wissenschaft, Neuwied/Bln. 96; 2966. K. R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften (in Klner Zs. f. Soziologie, 4, 962, S. 233248; vgl. dazu Th. W. Adorno, ebd., S. 249263). Ch. Watrin, Zur Grundlegung einer rationalen Gesellschaftspolitik (in Ordo, 3, 962, S. 8705). K. R. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientic Knowledge, Ldn. 963. I. S. Kon, Die Geschichtsphilosophie des 20. Jh.s. Kritischer Abri, 2 Bde., Bln. 964. H. Albert, Dialektische Ansprche im Lichte undialektischer Kritik (in Klner Zs. f. Soziologie, 6, 964). J. Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus (ebd.). Logik der Sozialwissenschaften, Hg. E. Topitsch, Kln/Bln. 965; 4967. H. Albert, Im Rcken des Positivismus? Dialektische Umwege in kritischer Beleuchtung (in Klner Zs. f. Soziologie, 7, 965, S. 879908). D. Antiseri, K. R. P. La societ aperta, il cristianesimo e la battaglia contro il pensiero utopico (in Humanitas, 36, 98, S. 570585). G. Cotroneo, P. e la societ aperta, Mailand 98. F. Kreuzer, Oene Gesellschaft oenes Universum: F. K. im Gesprch mit K. R. P.. Aus Anla des 80. Geburtstags des groen sterreichischen Philosophen, Wien 982 [auch Mchn. 986]. Die oene Gesellschaft u. ihre Utopien, Hg. A. F. Utz, Bonn 986. Aus: Kindlers neues Literaturlexikon CD-ROM 999 Systhema Verlag GmbH, Buchausgabe Kindler Verlag GmbH

ber: Popper, Sir (seit 964) Karl R. (Raimund), britischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker sterreichischer Herkunft, * Wien 28.7. 902, London 7. 9. 994; ab 922 Studium der Mathematik und Physik in Wien, dann Tischlerlehre. Popper war anschlieend als Lehrer ttig, 937-45 in Neuseeland, 946 wurde er Professor fr Logik und Wissenschaftstheorie an der London School of Economics, die unter seiner Leitung zu einem Zentrum der Wissenschaftstheorie von Weltgeltung wurde. Popper gilt als Begrnder des kritischen Rationalismus: Gegen zentrale Positionen des logischen Empirismus stellt er in Logik der Forschung (935) gegenber der induktionslogischen Grundlegung der Wissenschaft eine sich partiell an I. Kant anschlieende, auf der Festsetzung methodologischer Regeln nach Zweckmigkeitserwgungen beruhende, deduktionslogische Theorie der Erfahrung, v. a. in der Auseinandersetzung mit dem Wiener Kreis. Die aus der ursprnglichen Fassung des empiristischen Sinnkriteriums abgeleitete Forderung, nur solche Stze als wissenschaftlich legitim zuzulassen, die sich auf elementare Erfahrungsstze logisch zurckfhren lassen, scheitert am Induktionsproblem. Da jeder Versuch, den Schluss von besonderen Stzen auf allgemeine Stze (mangels eines Induktionsprinzips) selbst noch durch Erfahrung zu rechtfertigen, in einen inniten Regress fhre, mssten die Naturgesetze als sinnlose Stze betrachtet werden.

Unter Verzicht auf die Entscheidbarkeit der Wahrheit empirischer Aussagen schlug Popper als Ausweg eine auf der Asymmetrie zwischen Verizierbarkeit und Falsizierbarkeit basierende deduktive Methodik vor. Danach soll ein allgemeiner Satz als falsiziert aus dem System vorlug besttigter wissenschaftlicher Stze gestrichen werden, wenn ihm ein Beobachtungssatz besonderer Art widerspricht. Moralphilosophisch kritisiert Popper am Beispiel von Platon, G. W. F. Hegel und K. Marx den naturalistischen Determinismus des Historizismus. Die zuknftige gesellschaftliche Entwicklung sei nicht durch Gesetze erklrbar noch voraussagbar, da sie entscheidend durch den Umfang des nicht voraussagbaren wissenschaftlichen Wissens beeinusst werde. Gesellschaftliche Vernderung ist fr Popper die punktuelle Reform sozialer Missstnde. In seinem Werk The open society and its enemies (945; deutsch Die oene Gesellschaft und ihre Feinde) kritisierte Popper unter dem Eindruck des Einmarschs der Nationalsozialisten in sterreich autoritre Theorien der politischen Herrschaft, wie er sie u. a. bei Platon (Politeia) und bei Marx zu nden glaubte. Die Stellungnahme Poppers zugunsten liberaler Prinzipien fhrte zu heftiger Kritik durch die Studentenbewegung der 960er-Jahre. Das mit dem Neurophysiologen J. C. Eccles verfasste Buch The self and its brain (977; deutsch Das Ich und sein Gehirn) enthlt Anklnge an die evolutionre Erkenntnistheorie (Objective knowledge, 972; deutsch Objektive

Erkenntnis) und betont erneut den hypothetischen Charakter der objektiven Erkenntnis. Poppers kritischer Rationalismus blieb bis zum Aufkommen der Ideen T. S. Kuhns die dominierende Strmung in der westlichen Wissenschaftstheorie. Weitere Werke: The poverty of historicism (957; deutsch Das Elend des Historizismus); Conjectures and refutations (963; deutsch Vermutungen und Widerlegungen, 2 Bnde).

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