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SCHNITTSTELLE:

MEDIEN UND KULTURWISSENSCHAFTEN


Mediologie
Band 1
Eine Schriftenreihe des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs
Medien und kulturelle Kommunikation
Herausgegeben von Wilhelm Vokamp
DuMont
Herausgegeben von
Georg Stanitzek und
Wilhelm Vokamp
SCHNITTSTELLE:
MEDIEN UND
KULTURWISSENSCHAFTEN
Erste Auflage 2001
2001 fr die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Kln
Alle Rechte vorbehalten
Ausstattung und Umschlag: Groothuis & Consorten
Gesetzt aus der DTL Documenta und der DIN Mittelschrift
Gedruckt auf surefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Satz: Greiner & Reichel, Kln
Druck und Verarbeitung: B.o.s.s Druck und Medien GmbH, Kleve
Printed in Germany
ISBN 3-7701-5611-0
Diese Publikation ist im Sonderforschungsbereich/Kulturwissenschaftlichen
Forschungskolleg 427 Medien und kulturelle Kommunikation, Kln, entstanden
und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft zur Verfgung gestellten Mittel gedruckt.
I N H A LT S V E R Z E I C H N I S
Wi l hel m Vokamp
Einleitung: Kommunikation Medien Reprsentation Archive 9
I T HE ORI E UND L E KT RE
Ludwi g Jger
Zeichen/Spuren.
Skizze zum Problem der Sprachzeichenmedialitt 17
Georg C. Thol en
Die Zsur der Medien 32
Georg St ani t zek
Kriterien des literaturwissenschaftlichen
Diskurses ber Medien 51
Ansel m Haverkamp
Reprsentation und Rhetorik. Wider das Apriori
der neuen Medialitt 77
Ni kol aus Wegmann
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissen-
schaftliches Problem? Zum Stellenwert der Literatur imFeld
der Medien 85
I I WAHRNE HMUNG
Gert rud Koch
Netzhautsex Sehen als Akt 101
Eri ka Fi scher-Li cht e
Vom Text zur Performance. Der performative turn
in den Kulturwissenschaften 111
El ena Esposi t o
Die Wahrnehmung der Virtualitt. Perzeptionsaspekte
der interaktiven Kommunikation 116
I I I KOMMUNI KAT I ON
Georg St ani t zek
Fama/Musenkette. Zwei klassische Probleme der
Literaturwissenschaft mit den Medien 135
Di rk Baecker
Nach der Rhetorik 151
Horst Wenzel
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis 163
I V T E L E KOMMUNI KAT I ON
Erhard Scht t pel z
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie. Roman Jakobsons
Umschrift der Shannonschen Kommunikation 187
Pet er M. Spangenberg
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens.
ber die technische, gesellschaftliche und psychische
Organisation der Sichtbarkeit 207
Horst Bredekamp
Leviathan und Internet 223
V SPE I CHE R
Bernhard J. Dot zl er
Die Investitur der Medien. ber die Welt der Maschine
als symbolische Welt 235
Wol f gang Ernst
Medien@rchologie (Provokation der Mediengeschichte) 250
Al ei da Assmann
Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedchtnisses 268
9
Wi l hel m Vokamp
K O MMU N I K AT I O N ME D I E N R E P R S E N TAT I O N A R C H I V E
Zu den in der ffentlichkeit heute am meisten diskutierten Problemen gehrt die
sich in den letzten Jahren beschleunigende Entwicklung der Massenmedien, ins-
besondere der elektronischen Medien. Die wachsende Bedeutung der neuen Me-
dien und eine damit verbundene Aufmerksamkeit fr Medientechnologien stel-
len einen Medienwandel dar, der nicht selten zu Irritationen und ngsten fhrt.
Welche Rolle spielen Sprache, Literatur und Kunst im Kontext einer Medientech-
nologie, die die Gefahr einer abbrckelnden historischen Kultur mit sich zu
bringen scheint (Hans Belting)? Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass
etwa von Sprachverfall, Ende der Schriftkultur oder vom Geltungsverlust der Li-
teratur die Rede ist. Solche kulturkonservativen oder kulturkritischen Stimmen
reichen allerdings weder aus, darauf angemessen zu reagieren, noch werden sie
der Problematik insgesamt gerecht.
Fragt man nach einem zentralen Begriff und einer Konzeption, in der sich
die Phnomene der gegenwrtigen Mediengesellschaft konzentrieren, bietet sich
der Begriff der KOMMUNIKATION an, in dem sich unterschiedliche Techniken
und Kompetenzen bndeln. Der Kommunikationsbegriff liefert zugleich diszi-
plinbergreifende Anschlussmglichkeiten im Blick auf die Entwicklung der
Medienevolution selbst. Zugleich stellt er eine grundlegende Kategorie der gesell-
schaftlichen Selbstreflexion im Sinne der viel zitierten Kommunikationsgesell-
schaft dar. Sowohl die Prozesse selbst als auch die Beobachtung solcher Prozesse
lassen sich unter dem Begriff der Kommunikation fassen. Kommunikation ist ein
Konzept, mit dem die Gesellschaft ihre Diskussion ber sich selbst fhrt und mit
dem sie ihre Zukunft entwirft.
MEDIEN sollten als die Wirklichkeit mitkonstituierende Kulturen der
Kommunikation betrachtet werden. Geht man mit Niklas Luhmann davon
aus, da Medien nur an der Kontingenz der Formbildungen erkennbar sind, die
sie ermglichen, lsst sich die gegenwrtig vornehmlich ber die digitalen Me-
dien gefhrte Diskussion auch sprach-, literatur- und kulturgeschichtlich histori-
sieren und die Singularitt der gegenwrtigen Medienrevolution spezifizieren.
In der konkurrierenden Gleichzeitigkeit der ungleichzeitigen Medien (Rede,
Schrift, Buch, Film, Fernsehen, Internet) wird es darauf ankommen, zu einer
Neubestimmung des historischen Ortes und der gesellschaftlichen Funktion un-
terschiedlicher Medien im gegenwrtigen kulturellen Haushalt zu gelangen.
Neue Medien machen alte nicht obsolet, sie weisen ihnen andere Systempltze
10
zu (Friedrich A. Kittler). Die Analyse der aktuellen Medienkonkurrenz verweist
deshalb stets auf die Voraussetzungen des historischen Medienwandels im
Zusammenhang gesamtkultureller Prozessse. Gegenber einer zuweilen einsei-
tig von der Technizitt her bestimmten Mediendiskussion bleibt der historisch
jeweils unterschiedliche soziokulturelle Kontext im Einzelnen zu analysieren.
Dabei drften die Untersuchungen der Symbol- und Zeichensysteme und das
Herausarbeiten der Eigenart von Kultur als einer Illusion des Seins (Ernst Cassi-
rer) oder eines kondensierten Verweisungsberschusses (Niklas Luhmann) von
entscheidender Bedeutung sein.
Wenn die Wirklichkeit selbst zum Ensemble von Fiktionen wird (Odo
Marquard), muss das Problem der REPRSENTATION des Wirklichen zum
zentralen Problem zeichen- und medientheoretischer Diskussionen werden. Was
knnen Medien reprsentieren? Die Wirklichkeit oder eine Fiktion von Wirk-
lichkeit oder blo das Medium selbst? Gegenwrtige Sprach-, Literatur- und Kul-
turwissenschaften sind hier in mehrfacher Weise gefordert. Unter dem Stichwort
Reprsentation stehen die Medien in ihren je unterschiedlichen Operations-
weisen von Realittskonstruktion zur Debatte. Zu fragen ist nach den Beziehun-
gen zwischen verschiedenen Operationsmodi. Inwiefern bilden sich Hybridfor-
men (Montage- und Verknpfungsverfahren) aus; inwiefern ist auf der Basis
medialer Differenzen mit der Differenzierung verschiedener Kulturen der Kom-
munikation zu rechnen, und was geschieht an ihren Grenzen?
Kulturen der Kommunikation setzen stets personale und institutionelle
ARCHI VE voraus. Sie sind der Ort des kulturellen Gedchtnisses, wobei das
griechische Wort arch darauf hinweist, dass es stets um Anfang, Ursprung,
aber auch um Herrschaft und Behrde geht. Archiv als Gedchtnis der Herr-
schaft und Gedchtnis der Historie (Aleida Assmann) sind von Anfang an mit
Schrift und Brokratie verbunden, und mit der Institutionalisierung des Buch-
drucks in der Frhen Neuzeit bekommt die Idee einer mglichst umfassenden
Archivierung des jemals Gedachten und Geschriebenen besonderes Gewicht.
Medien werden nun selbst Gegenstand des Archivs, und mehr und mehr wird die
erforderliche Auswahl (und die damit verbundene Kanonbildung) zum zentralen
Problem. ffnen und Schlieen des Archivs sind deshalb als prozessualer Vor-
gang zu denken und vor allem nach der Einrichtung digitaler Archive ist die
Gefahr des Archivverlustes aufgrund technischer Unzulnglichkeiten der erfor-
derlichen Hardware zu bedenken.
Unter einzelnen Aspekten werden die zuvor skizzierten Schwerpunktberei-
che thematisiert. Die Grundlage bilden fr den Druck erweiterte Beitrge, die
in mndlicher Form zuerst im Rahmen der das Kulturwissenschaftliche For-
Wilhelm Vokamp
11
schungskolleg Medien und kulturelle Kommunikation vorbereitenden inter-
universitren Arbeitsgruppe Sprache, Literatur, Kultur im Wandel ihrer media-
len Bedingungen zur Diskussion gestellt wurden.
Das erste Kapitel, Theorie und Lektre, stellt die Rahmenbedingungen
vor, die heute im Zeichen vernderter Medienbedingungen allgemeine Fragen der
kulturellen Kommunikation betreffen. Ausgangspunkt ist dabei jene Reflexion,
die die Medialitt der Sprachzeichen in den Mittelpunkt rckt und damit das se-
miologische Fundament des Medialittsproblems klrt (Ludwig Jger). Deutlich
wird, dass das Medienproblem nicht erst mit der Entstehung neuer Medien be-
ginnt und dass eine Entgegensetzung von Sprache und Medien unangebracht ist.
Dies gilt auch dann, wenn man die Entwicklung der technischen Medien beob-
achtet und wie Georg C. Tholen hervorhebt im Blick auf den Computer von
der Epochalitt des Technischen spricht, die in der Bndelung von Speichern,
bertragen und Verarbeiten besteht. Auch hier ist Sprache als uneinholbare
Voraussetzung der technischen Medien selbst zu sehen. In Hinsicht auf den phi-
lologischen Blick auf Sprache, Literatur und Kultur ist eine Entgegensetzung ge-
genber den Medien nicht angemessen und damit eine Abwertung des Medien-
begriffs gerade unter Gesichtspunkten philologischer Aufklrung obsolet (Georg
Stanitzek). Literatur kommt keine selbstverstndliche bzw. privilegierte Beob-
achterposition zu, sodass erst im genauen Vergleich von Lektre die Besonder-
heit der Medien zu kennzeichnen ist (Nikolaus Wegmann). Auch die klassische
Wiederholungslektre lsst sich als primr technisches Verfahren bezeichnen
und ist eine der Literatur eigene Form der Wertbauordnung. Dass dies auf
Fragen der rhetorischen Tradition zurckfhren muss, wird dann deutlich, wenn
man das Wechselverhltnis von Rhetorik und Medien im Blick auf den traditio-
nellen Reprsentationsbegriff diskutiert. Anselm Haverkamp macht deutlich,
dass es ohne Rhetorik und die von ihr begrndeten Reprsentationsbegriffe
keinen Medienbegriff gibt.
Dass dies mit der Rolle der Performance konstitutiv verknpft ist, wird
im zweiten Abschnitt zum Thema Wahrnehmung einerseits am Beispiel der
Pornographie konkretisiert und andererseits in dem generellen methodischen
Zusammenhang des gegenwrtig beobachtbaren performative turn diskutiert
(Gertrud Koch; Erika Fischer-Lichte). Die verstrkte Aufmerksamkeit auf das Per-
formative verweist auf die Geschichte unterschiedlicher Modelle (Theater, Spiel,
Ritus und Zeremoniell) zurck. Der seit Nietzsche beobachtbare Performativi-
ttsschub verndert zugleich die Formen der Wahrnehmung, die wiederum ohne
die aktuelle Medienentwicklung nicht verstndlich ist. Elena Esposito beschftigt
sich von daher mit den Arten und Formen des kommunikativen Gebrauchs von
Kommunikation Medien Reprsentation Archive
12
Wahrnehmung und kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung immer un-
wahrscheinlicherer Techniken von Kommunikation mit raffinierteren Formen
der Kolonialisierung von Wahrnehmung korreliert.
Das Thema der Kommunikation wird in zwei Abschnitten behandelt, wobei
im ersten unter dem Stichwort Kommunikation der historische Kontext
angedeutet ist und im zweiten Abschnitt unter dem Begriff Telekommunika-
tion Stadien der technologischen Entwicklung vorgestellt werden. Unter Ge-
sichtspunkten einer explizit kulturwissenschaftlichen Fragestellung ist es wich-
tig, den Zusammenhang von Kommunikation und Kultur aufzuklren. Unter
Wiederanknpfung an Problemstellungen der antiken Rhetorik macht Dirk Bae-
cker deutlich, dass die wechselseitige Wahrnehmung und die Wahrnehmung des
Wahrgenommenwerdens auf das systemtheoretische Konzept der Beobachtung
von Beobachtetem vorausweist. Kultur erffnet im Horizont der Inkommensu-
rabilitt ihrer Symbole Auslegungsalternativen, die stets weniger eindeutig sind
als die gesellschaftliche Realitt. Auch unter diesem Aspekt ist es wichtig zu beto-
nen, dass die Entgegenstellung etwa von Literatur und Medien unsinnig ist
und dass wie Georg Stanitzek betont das eine vielmehr immer schon im ande-
ren stattfindet. An einem historischen Beispiel aus der mittelalterlichen Literatur
macht Horst Wenzel schlielich aufmerksam auf Beispiele der mittelalterlichen
Kommunikationssituation anhand von Herrschaftsdarstellung als medialem Er-
eignis. Literatur kann von daher als Reprsentation der Reprsentation be-
zeichnet werden und als Metaebene, von der aus hfische Reprsentation beob-
achtet und in ihren Mglichkeiten und Grenzen dargestellt (abgebildet) werden
kann.
Unter dem Aspekt der Telekommunikation werden drei Beispiele zu den
neuen Medien gegeben, wobei Erhard Schttpelz auf eine fr den Kommuni-
kationsbegriff wichtige Umschrift der Shannonschen Kommunikation durch
Roman Jakobson aufmerksam macht und die Erfolgsgeschichte des Computers
als dem Allgemeinmodell fr Kommunikation in enger Verbindung zu Model-
len und Anleitungen fr Geheimschrift und Geheimtranskription sieht. Begriffe
wie Code, Kanal, aber auch Schrift veranschaulichen dies. Peter M. Spangenberg
und Horst Bredekamp demonstrieren einerseits am Beispiel des Fernsehens und
andererseits am Internet, dass die Medientechnologie eine technische Umset-
zung von Utopien darstellt, die vor allem auf die Auflsung von Grenzen abzielt.
Fernsehen kann dann als eine von vielen Organisationsformen der medialen
Wahrnehmung und der Kommunikation in der Gesellschaft bezeichnet werden.
Ebenso frappierend wie einsichtig sind auch Parallelen, die Horst Bredekamp
zwischen Thomas Hobbes Leviathan und dem Cyberspace beobachtet. Nicht
Wilhelm Vokamp
13
nur macht das Internet auf die Globalitt aufmerksam, sondern auch auf traditio-
nale Metaphoriken des Leibes und der berwindung des Krperlichen.
Medienarchologie als Gegenstand des Gedchtnisses und Mediengeschich-
te als Gegenstand der Erinnerung verweisen auf jene Archivprozesse, die der
Speicher bedrfen. Deshalb wird im abschlieenden Kapitel die Frage des kultu-
rellen Gedchtnisses im Zusammenhang der neuen Medien prinzipiell disku-
tiert (Aleida Assmann) und zugleich die Frage nach Mglichkeiten einer Me-
dienarchologie (Wolfgang Ernst) und einer Investitur der Medien (Bernhard
J. Dotzler) gestellt. Fr die Medienarchologie ist dabei zentral, dass die Materiali-
tt der Kommunikation betont und die Schnittstelle von symbolischen und
nichtsymbolischen Agenturen des Gedchtnisses beachtet wird. In der Diffe-
renz und Verbindung von Wort, Sprache und Bild einerseits und Zeichen und
Zahlen andererseits verweist Bernhard J. Dotzler zurck auf Fragen der Repr-
sentation heute.
Die Herausgeber dieses Bandes danken Alexander Bhnke und Marcus
Krause fr die Redaktion der Manuskripte und dem Dumont-Verlag, vor allem
Christian Dring, fr die Betreuung des Manuskripts in stets verstndnisvoller
und kooperativer Weise.
Kommunikation Medien Reprsentation Archive
I . T H E O R I E U N D L E K T R E
KOMMUNIKATION MEDIEN REPRSENTATION Archive
Wilhelm Vokamp
17
Ludwi g Jger
Z E I C H E N / S P U R E N
S K I Z Z E Z U M P R O B L E M D E R S P R A C H Z E I C H E N ME D I A L I T T
Die hier vorgelegten berlegungen verfolgen in einer sehr skizzenhaften Form
das Ziel, den Begriff der Medialitt, der als ein bislang weithin impliziter Grund-
begriff des in verschiedenen Disziplinen gefhrten medientheoretischen Diskur-
ses gelten kann, mit den begrifflichen und theoretischen Mitteln eines zeichen-
theoretischen Konzeptes zu errtern, das ich semiologischen Konstruktivismus
nennen mchte.
1
Meine Argumentationsskizze soll dabei deutlich machen, dass
eine angemessene Klrung des Medialittsbegriffes auf die Herausarbeitung der
konstitutiven Bedeutung der Medialitt von Sprachzeichen nicht wird verzichten
knnen und dass fr ein solches explikatives Unternehmen am ehesten der theo-
retische Rahmen eines semiologischen Konstruktivismus geeignet erscheint.
In der Medienkulturforschung wurde bislang weithin die These vertreten,
dass sich in der Geschichte der Medien als einer Geschichte der Technologisie-
rung des Wortes
2
das Problem der Medialitt historisch erst mit dem Prozess
der Literalisierung oraler Kulturen und systematisch jenseits der raum-zeitlichen
Begrenzung direkter sprachlicher Kommunikation gestellt habe. Die Analyse der
Sprach-Medialitt selbst und damit das semiologische Fundament des Media-
littsproblems blieb bislang weithin aus dem Diskurs der Mediendebatte ausge-
schlossen.
3
Gerade in der Analyse der Sprachzeichen-Medialitt lassen sich nun
aber exemplarisch einige der zentralen Aspekte des Medialittsproblems aufhel-
len. Insbesondere kann wie im Folgenden deutlich werden soll in erkenntnis-
theoretischer Perspektive gezeigt werden, dass das die Mediendebatte weithin
beherrschende Modell der Reprsentation, in dem Kommunikation gedacht wird
als das bertragen von Information von einem [] Lebewesen oder Bewusst-
seinssystem auf ein anderes,
4
obsolet und damit fr die angemessene Be-
stimmung des Medialittsbegriffes unbrauchbar geworden ist. Wenn um mit
Luhmann zu reden das laufende Unterscheiden von Selbstreferenz und Frem-
dreferenz in allen Operationen des Bewusstseinssystems [] eine Zeichenstruk-
tur voraus[setzt],
5
sind Prozesse der Medialisierung von Sinn nicht als Prozesse
konzeptualisierbar, die sich im weitesten Sinne dem Paradigma von Darstel-
lung/Abbildung zuordnen lassen. Sie mssen vielmehr als konstruktive Prozesse
derart aufgefasst werden, dass in alle kognitiven Operationen die Spuren von Zei-
chenverwendungen und das heit mediale Spuren konstitutiv eingeschrieben
sind, wobei auch in technologisch fortgeschrittenen Mediengesellschaften die
Zeichen/Spuren
18
Sprache als Archimedium des Medialen berhaupt angesehen werden muss.
6
Der
hier fr den skizzierten Zusammenhang von Zeichen und Kognition verwendete
Begriff der Spur
7
ist nicht zufllig gewhlt. Er scheint vielmehr fr die Entwick-
lung einer konstruktivistisch-semiologischen Rahmentheorie der Medialitt in-
sofern besonders gut geeignet zu sein, als ein zentrales Moment einer solchen
Theorie in der Annahme besteht, dass sowohl die begriffliche Ausdifferenzie-
rung der Welt als auch die Genese des Bewusstseins, das sich auf sie bezieht, nur
ber die mediale Spur mglich ist, auf der das mentale System seine eigene
Zeichenaktivitt im Netzwerk sozialer Sprachspiele liest. Zeichen in ihrer medi-
alen Erscheinung wren also, folgte man Cassirers Vorberlegungen zu einer
Philosophie der symbolischen Formen,
8
die einzig mgliche, adquate Ver-
mittlung und das Medium, durch welches uns irgendwelches geistige Sein fassbar
und verstndlich wird.
9
Medialitt ihrerseits liee sich im Kontext eines semio-
logischen Konstruktivismus als jener externe Modus bestimmen, in dem das
mentale System semiologisch zu erscheinen sich gentigt sieht, um sich im Zuge
seiner Fremd- und Selbst-Lektren zu konstituieren.
Was soll aber nun nherhin unter semiologischem Konstruktivismus ver-
standen werden? Zunchst einmal ist hierunter eine Zeichentheorie zu verste-
hen, die abweichend vom semiotischen Mainstream, aber im Anschluss an de
Saussure
10
und Peirce,
11
Sprachzeichen als Archetypus aller anderen, nichtsprach-
lichen Zeichenarten auffasst. Das Moment des Konstruktivistischen bezieht sich
hier auf die These, dass das Sprachzeichen in systematischer Hinsicht fr das Feld
des Zeichenartigen berhaupt konstitutiv ist.
12
Weiterhin wird unter semiologi-
schem Konstruktivismus eine Zeichentheorie verstanden, in der das Zeichen
nicht lediglich als Reprsentationsinstrument eines sprachunabhngigen menta-
len Systems, sondern vielmehr als Medium der semiologischen (Selbst-)Kon-
struktion des Mentalen konzeptualisiert ist. Das Moment des Konstruktivisti-
schen bezieht sich hier auf den Umstand, dass das Zeichen gerade insofern, als es
materialiter erscheint, konstitutiv fr die Genese des Sinnes ist, den es zum Aus-
druck bringt, sowie fr die Genese des Subjektes, das sich vermittels dieses Sin-
nes kognitiv orientiert.
Die Grundannahmen eines semiologischen Konstruktivismus sollen nun
im Folgenden auf drei Ebenen nher spezifiziert werden: (1) auf einer erkenntnis-
theoretischen Ebene, auf der insbesondere der spur-theoretische Kern skizziert
werden soll, (2) auf einer zeichentheoretischen Ebene, auf der die semantiktheo-
retischen Konsequenzen der Spurtheorie deutlich gemacht werden sollen, und
schlielich (3) auf einer kommunikationstheoretischen Ebene, auf der es um die
rhetorisch-hermeneutischen Implikationen der Spurtheorie gehen wird.
Ludwig Jger
19
S P U R E N L E S E N : D I E E R K E N N T N I S T H E O R E T I S C H E A N N A H ME
Vor dem Hintergrund der neueren evolutionsbiologischen und neurologischen
Forschung darf folgende Annahme als empirisch gut begrndet angesehen
werden:
13
die Sprache spielt eine konstitutive Rolle in der ontogenetischen He-
rausbildung und in der funktionalen Aufrechterhaltung des Mentalen. Sie ist
gleichsam die semiologische Prozessform, durch die in der kognitiven Auseinan-
dersetzung von Ego, Alter und Welt zugleich ein Modell der Wirklichkeit und der
eigenen Identitt konstituiert wird, ein hypothetisches Ich-Welt-Modell, das sich
in der Ontogenese individuell aufbaut und das sich in der zeichenvermittelten
sozialen Interaktion stndig zu bewhren hat. Lebewesen sind wie Kck for-
muliert Interaktionseinheiten, die aufgrund ihrer komplizierten Struktur ge-
zwungen sind, durch permanentes Interagieren mit ihrer Umwelt diese Struktur
stabil zu halten, bzw. fortwhrend zu regenerieren,
14
wobei fr menschliche
Lebewesen gilt, dass sie hinsichtlich dieses interaktiven Prozesses, der sich als die
stndige Unterscheidung von Fremd- und Selbstreferenz vollzieht, auf men-
talitts-externe Zeichenmedialitt angewiesen sind. Fr eine solche Konzeptuali-
sierung von Subjekten als semiologisch prozedierenden Interaktionseinheiten
sprechen viele phylogenetische und ontogenetische Befunde: ebenso wie in der
gattungsgeschichtlichen Entwicklung des Gehirns Kognition und Sprache eng
miteinander verknpft sind,
15
entfalten sich auch in der Individualgeschichte von
Menschen Kognition und Sprache interdependent.
16
Phylogenetisch scheint eine
enge Beziehung nicht nur zwischen hheren prhumanen Formen cross-modaler
Begriffsbildung und den kognitiv-symbolischen Leistungen der Sprache zu beste-
hen,
17
sondern ebenso eine zwischen der ber Handgestik vermittelten Fhigkeit
von Affen, die mentale Perspektive des Alter Ego einzunehmen, und den inter-
aktiv-bewusstseinskonstitutiven Leistungen der Sprache.
18
Das mentale System
des erwachsenen Homo sapiens sapiens stellt also nicht wie etwa der Chomsky-
Kognitivismus annimmt das Ergebnis eines genetisch kodierten, modular
strukturierten Wachstumsprozesses dar; seine Individualgenese muss vielmehr
betrachtet werden als eine schrittweise, aktiv-interaktive Selbstkonstruktion, die
sowohl von der genomischen Ausstattung als auch von der kulturellen Lernum-
gebung des heranwachsenden Menschen bestimmt wird, wobei sich die in der
Ontogenese entfaltende Sprache als zentrales Medium der interaktiven Kon-
struktion des Ichs erweist. Fr diese neueren Befunde der Neuro- und Biowissen-
schaften gibt es eine interessante Schnittstelle zu den Erkenntnisbestnden der
hermeneutisch-sprachphilosophischen Tradition des frhen 19. Jahrhunderts:
man kann nmlich in der Tat die bislang skizzierte Idee der Angewiesenheit des
Zeichen/Spuren
20
mentalen Systems auf mentalitts-externe Zeichenmedialitt, also die Idee des
Subjekts als Interaktionseinheit, in der Sprache Humboldts als die These von
der Untrennbarkeit des menschlichen Bewutseyns und der menschlichen
Sprache
19
formulieren. Den cartesianischen Gedanken, eine nicht medialisierte
Form der Aktivitt des mentalen Systems sei mglich, der auch den neueren Kog-
nitivismus noch beherrscht, hat Humboldt nachdrcklich destruiert: Fr ihn ist
die intellectuelle Thtigkeit als blo innerlich-geistig gedachtes Verfahren ge-
wissermassen spurlos vorbergehend. Deshalb bleibt sie wie Humboldt for-
muliert in sich an die Nothwendigkeit geknpft, eine Verbindung mit dem
Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen,
die Vorstellung nicht zum Begriff werden.
20
Erst dort, wo das Denken sich in
Sprachzeichen auf die Spur seiner eigenen Aktivitt zu richten vermag, entsteht
semantisch distinkter Sinn und damit zugleich auch die Differenz von Selbst-
und Fremdreferenz. Die Formulierung Humboldts macht deutlich, wie eng fr
ihn Mentalitt an Medialitt geknpft ist: die fr die Ausbildung des mentalen
Systems zentrale Voraussetzung der objektivierenden Selbstbegegnung in der
Lektre der eigenen Spur wird nmlich allein durch die semiologische Medialitt
des sinnlich erscheinenden Sprachzeichens gewhrleistet. Das nur scheinbar in-
terne mentale System vermag sich nur ber seine externe Zeichenspur ohne
die es spurlos vorbergehend wre als mentales System zu konstituieren. Das
mentale System muss sich gleichsam in ein mediales System transkribieren, um
sich als mentales zu konstituieren.
21
Das Spurtheorem lsst sich nun in drei Sub-Annahmen ausfalten: (1) Es gibt
keine der sprachlichen Semiose logisch vorausliegende Welt bestimmter Gegen-
stnde und Sachverhalte.
22
Gegenstnde und Sachverhalte existieren als distinkte
Entitten nur insofern, als sie Gegenstnde und Sachverhalte fr ein semiologi-
sches (sprachzeichenvermitteltes) mentales System sind.
23
(2) Gegenstnde und
Sachverhalte existieren fr ein mentales System dadurch als distinkte Entitten,
dass dieses sich ber innere mentale Episoden
24
intentional auf jene zu beziehen
vermag. Das System der inneren Episoden (Begriffe, Gedanken) ist dabei im Zuge
der Ontogenese u. a. durch semiologische Prozesse interaktiv erworben worden.
Auch fr die Elemente dieses Systems gilt: Sie sind keine der sprachlichen Semio-
se logisch vorausliegenden Entitten, wie es z. B. im Kognitivismus die symboli-
schen Reprsentationen der Welt in einer sogenannten Sprache des Denkens
25
sind. Vielmehr werden mentale Episoden erst im Zuge der Selbst- und Fremdlek-
tre von Zeichen/Spuren konstituiert. (3) Es gibt kein der sprachlichen Semiose
vorausliegendes, selbstbewusstes Subjekt mglicher Verstndigung, dessen kom-
munikatives Handeln als bloes Austauschen sprachlich reprsentierter vor-
Ludwig Jger
21
sprachlicher Denkinhalte aus bestimmten (situativen) Anlssen und zu be-
stimmten (situativen) Zwecken gedacht werden knnte. Vielmehr konstituiert
sich das Subjekt mglicher Verstndigung auf der Grundlage einer gattungsallge-
meinen genomischen Ausstattung im Zuge der Ontogenese durch semiologische
Interaktion allererst als selbstbewusstes Individuum.
Der semiologische Konstruktivismus geht also in erkenntnistheoretischer
Hinsicht davon aus, dass sowohl (1) die Gegenstnde und Sachverhalte, insofern
sie distinkte Entitten fr ein mentales System sind, als auch (2) die inneren, men-
talen Episoden, mit denen sich Subjekte intentional auf Gegenstnde und Sach-
verhalte zu richten vermgen, sowie schlielich (3) die Subjekte, die sich als
selbstbewusste Individuen vermittels innerer mentaler Episoden auf Gegenstn-
de und Sachverhalte richten, Elemente eines semiologischen Systemzusammen-
hangs sind, dem sie erst ihre Existenz verdanken. In einer wesentlichen Hinsicht
lsst sich dieser semiologische Systemzusammenhang als ein Prozess der ber
Zeichen/Spuren vermittelten Selbst- und Fremdlektre von Transkripten des
Mentalen rekonstruieren.
S E MA N T I S C H E S M A N D E R N : D I E Z E I C H E N T H E O R E T I S C H E A N N A H ME
In zeichentheoretischer Hinsicht schliet der semiologische Konstruktivismus an
einen von de Saussure entwickelten Gedanken an.
26
Sprachzeichen treten so de
Saussure gleichsam in zwei Aggregatzustnden auf: einmal insofern sie Ele-
mente individueller semiologischer Systeme sind als Sme bzw. Parasme,
27
d. h. als psychische Sedimente von Kommunikationserfahrungen; als solche sind
sie in der deprsenten Netzstruktur des mentalen Systems von Individuen als Pa-
rasemien, d. h. Zeichennetzwerke, aufgehoben. Zum andern erscheinen sie aber
zugleich materialiter in der Prsenz des Diskurses als Aposme, als in sich be-
deutungslose Hllen der Sme bzw. Parasme.
28
Vor allem im Aggregatzustand
der Prsenz wird dabei eine strukturelle Spaltung deutlich, die fr Sprachzeichen
konstitutiv ist: Aposme sind nmlich im Zuge von Verstndigungshandlungen
sowohl Ausdruck der Redeintention des Sprechers, und damit auf dessen al-
lerdings im Redeverlauf keineswegs notwendigerweise unwandelbaren para-
semischen Sinnhorizont bezogen, als auch zugleich Deutungsanlass fr die
Semantisierungsprozedur des Verstehenden, der hierzu seinen parasemischen
Sinnhorizont aktivieren muss.
29
Und obwohl der Redende im Modus der vertrau-
ten Kommunikation
30
hypothetisch unterstellen kann, dass seine uerungen
seine Redeintention mehr oder minder angemessen entfaltet haben und dass der
Zeichen/Spuren
22
Verstehende die geuerte Kette von Aposmen in einer Weise semantisieren
wird, die seiner Redeintention mehr oder weniger entspricht, gibt es fr die Pr-
fung dieser Unterstellung doch keine diskurstranszendente Instanz, kein anderes
Kriterium als den Umstand, dass beide Interaktionspartner die Verwendung, und
das heit die Semantisierung, der Aposme-Ketten in gemeinsamen Sprachspie-
len interaktiv gelernt und dass sie sich u. U. in gemeinsamen Bezugnahmen auf
die Welt bewhrt haben. Das gilt im brigen bereits fr den Sprecher selbst, dem
seine eigene Redeintention in semantischer Bestimmtheit erst im Zuge ihrer apo-
semischen Transkription entgegentritt, die ihrerseits wieder der Semantisierung
bedarf. Tatschlich ist in jeder Redeentfaltung unabhngig davon, dass sie
mglicherweise von einem Adressaten verstanden wird ein Moment des Selbst-
verstehens, der Re-Lektre, eingeschrieben, ohne das die Linearisierung von
Redeintentionen gar nicht mglich wre. Das Zeichen in seiner medialen Erschei-
nungsform (Aposme) ist insofern fr de Saussure eine in sich bedeutungslose
Lautgestalt, von der er sagt, sie sei dpouille de sa signification, ou de significa-
tion,
31
sie sei ein terme en soi nul,
32
ein mot inerte,
33
das als uerungspro-
dukt gleichsam der Wiederbelebung, der Semantisierung bedarf. Wenn man dem
hier vorgeschlagenen zeichentheoretischen Konzept folgt, so liegt die spezifische
Medialitt von Sprachzeichen in ihrer aposemischen Natur, also darin, dass sie den
Interaktionspartnern in der Form in sich bedeutungsloser, materialiter erschei-
nender Ausdrucksgestalten als gemeinsame Projektionsflche von Semantisie-
rungsprozeduren dient, in denen nicht nur die Anschlussfhigkeit des intendier-
ten und des verstandenen Sinns jeweils auf dem Spiel steht, sondern mehr oder
minder auch das Sprachspiel insgesamt, einschlielich der Rollen, die die Spieler
in ihm einnehmen.
Wir haben es also in jeder sprachlichen Interaktion hinsichtlich derselben
uerungsprodukte (Aposme-Ketten) mit jeweils verschiedenen Zeichen-
Konfigurationen zu tun. Whrend das in sich bedeutungslose Aposme, der ca-
davre de sme,
34
fr beide Interaktionspartner mehr oder minder identisch ist,
35
knnen die parasemischen Horizonte, durch die Aposme-Ketten jeweils se-
mantisiert werden, bei aller Vertrautheit geteilter Diskurswelten divergieren.
Im Falle der Divergenz wren also identische Aposme verschiedene Parasme.
Diese Divergenz betrifft keineswegs allein die unterschiedlichen parasemischen
Horizonte der Interaktionspartner, sie kann sich auch auf die Parasemien dessel-
ben Sprechers zu konsekutiven Zeitpunkten beziehen. Die bei Redebeginn noch
nicht medialisierte Intention kann durch ihre Linearisierung, die mit dem fort-
schreitenden Ausschluss von Formulierungsalternativen verknpft ist, eine para-
semisch verschobene Re-Lektre zunchst anders semantisierter Aposme durch
Ludwig Jger
23
den Sprecher erfordern. Es ist aufgrund dieser strukturellen Divergenz prinzipiell
immer mglich, dass dasselbe Aposme in der sprachlichen Interaktion von den
Interaktionspartnern als Hlle jeweils verschiedener Parasme aufgefasst wird.
Dabei ist es keineswegs notwendigerweise so, dass der Diskursverlauf hierber
Aufschluss gibt.
36
Es mag sein, dass die Parasemien nur schwach divergieren oder
dass ein Interaktionspartner keinen Anlass sieht, auf Divergenzen aufmerksam zu
machen oder dass sie von beiden nicht bemerkt werden. Nur wenn Deutungsdif-
ferenzen in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangen, treten die sprachlichen In-
teraktionspartner in jene mit dem Modus der Relevanz verknpfte reflexive Dis-
kursform ein, in der ihre Semantisierungsprozeduren selber thematisch werden.
Die Gesprchspartner greifen dann auf die transkriptive Logik der Sprache zu-
rck, die es als Verfahren der Selbstthematisierung erlaubt, ohne Rekurs auf ein
anderes Medium Redeausschnitte zu erlutern, zu korrigieren bzw. zu paraphra-
sieren kurz: zu transkribieren.
37
Dass hier unternommene Verstndigungsbe-
mhungen gelingen knnen, liegt an der eigentmlichen Doppelstruktur der
umgangssprachlichen Rede, die es erlaubt, auch im Modus der Relevanz also bei
offen zutage tretender Divergenz der Semantisierungs-Prozeduren in seman-
tisch vertraute parasemische Areale auszuweichen. Die Sprache erffnet insofern
die Mglichkeit, temporr unlesbar gewordene Zeichen durch ihre Transkrip-
tion in Zeichen vertrauter und deshalb intersubjektiv zugnglicher Semantik
wieder lesbar zu machen. Wenn also die latente strukturelle Spaltung des Zei-
chens als semantische Befremdung evident wird, kann der Diskurs immer durch
semantisches Mandern Wege durch parasemische Netze suchen, auf denen die
Interaktionspartner keinen Anlass sehen, die hypothetische Unterstellung ge-
teilten Sinnes zu thematisieren.
38
V E R T R A U T H E I T U N D R E L E VA N Z : D I E K O MMU N I K AT I O N S T H E O R E T I S C H E A N N A H ME
Die von de Saussure herausgearbeitete Idee der strukturellen Spaltung des Zei-
chens, die dem jeweils Verstehenden bereits in der mndlichen direkten Interak-
tion (und nicht erst in der zerdehnten Form der literalen Kommunikation)
39
die
Notwendigkeit der stndigen Semantisierung und damit der Sinnkonstitution
auferlegt, ist eine zentrale Annahme des semiologischen Konstruktivismus. Ihre
theoretischen Konsequenzen sind allerdings inkompatibel mit jenem wirkungs-
mchtigen Modell der sprachlichen Kommunikation, in dem diese als ein Prozess
der Informationsbertragung angesehen wird, in dem ein Sender auf einem (un-
gestrten) Kanal einem Empfnger Gedanken (Signifikate) bermittelt, und zwar
Zeichen/Spuren
24
dadurch, dass er aus einem gemeinsamen Zeichenvorrat jene Signifikanten
auswhlt, die gem einer Vereinbarung (Kode) durch die zu bermittelnden Sig-
nifikate belegt sind. Der Empfnger versteht dann die Botschaft unter anderem
deshalb, weil fr ihn die verwendeten Zeichen dieselbe (sprachunabhngige) Be-
deutung haben. Dieses Modell ist fr sprachliche Kommunikation aus verschie-
denen Grnden auerordentlich unangemessen, insbesondere aber deshalb, weil
es die sprachliche Verstndigungshandlung
40
produktiv als Kodierung und re-
zeptiv als Dekodierung auffasst, wobei das Gelingen der Verstndigung durch die
bruchlose Intersubjektivitt eines geteilten Zeichensystems gewhrleistet wird,
in dem die Kommunikanten ihre identischen Weltreprsentationen kodiert ha-
ben. Fr eine konstruktivistische Theorie der Zeichenmedialitt hat dieses Kom-
munikationsmodell zwei inakzeptable Implikationen. Es geht einmal von der Au-
tonomie des Mentalen gegenber dem Medialen aus: kognitive Operationen
mentaler Systeme werden unabhngig von ihren mglichen Reprsentationen in
und bertragungen durch Medien fr mglich gehalten. Mentale Systeme ope-
rieren interaktionsfrei und prmedial. Zum Zweiten kommt medialen Systemen,
insbesondere auch dem Sprachzeichensystem, lediglich der Status eines sekund-
ren Darstellungsmittels zu, durch das die sprachfreie Sprache des Denkens
zumZwecke der bertragung von einem mentalen System auf ein anderes repr-
sentiert werden kann.
Wie wir bislang gesehen haben, spricht allerdings wenig dafr, dass es eine
interaktionsfreie und damit prmediale Aktivitt mentaler Systeme geben knn-
te. Kommunizieren kann nicht als ein Prozess aufgefasst werden, in dem die
Beteiligten als erkenntnisautonome Solitre die mentalen Erzeugnisse ihres ein-
samen Seelenlebens dadurch wechselseitig bertragen, dass sie auf einen inter-
subjektiv geteilten Code zugreifen, in dem diese Kognitionen mit Zeichen-
Signifikanten konventionell verknpft sind. In einem solchen Sprachspiel gbe es
wie Wittgenstein in seiner Kritik des Privatsprachen-Arguments gezeigt hat
kein Kriterium dafr, dass die im bertragungsprozess als identisch bezeichne-
ten Kognitionen irgendetwas miteinander zu tun haben, ja, selbst innerhalb des-
selben mentalen Systems wre es mangels eines Kriteriums nicht mglich zu
entscheiden, ob eine zu zwei Zeitpunkten als identisch angenommene Kognition
tatschlich dieselbe wre. Intersubjektiv (mehr oder minder) geteilter Sinn kann
als solcher nur interaktiv konstruiert werden: er geht der sprachlichen Semiose
nicht voraus, sondern ist ihr Produkt. Insofern wird jede Verstndigungshand-
lung zu einem kommunikativen Ort, an dem die Interaktionspartner in einer spe-
zifischen Weise an der Konstitution des kommunizierten Sinnes beteiligt sind.
Das sprachliche Kommunizieren wird also nicht als Transfer von interaktions-
Ludwig Jger
25
freien, prmedialen Kognitionen vermittels konventionell etablierter, bedeu-
tungstragender Signifikanten verstanden, sondern als eine durch Zeichenaus-
drcke (Aposme) vermittelte Sinngenerierung. Das Wort so formuliert
Humboldt theilt nicht, wie eine Substanz, etwas schon Hervorgebrachtes mit,
enthlt auch nicht einen schon geschlossenen Begriff, sondern regt blo an, die-
sen mit selbstndiger Kraft, nur auf bestimmte Weise zu bilden.
41
Die in vielen
Kommunikationstheorien anzutreffende Possessiv-Metaphorik, nach der Zei-
chen Bedeutung haben, die gleichsam nur von Kommunikant A zu Kommuni-
kant B transportiert zu werden brauche, fhrt gnzlich in die Irre. Verlautbarte,
gebrdete oder geschriebene Sprachzeichen sind fr sich, d. h. unabhngig von
kommunikativen Vollzgen, gnzlich bedeutungslos. Bedeutung kommt ihnen
allein dadurch zu, dass sie wie wir oben gesehen haben im kommunikativen
Vollzug von den sprachlich interagierenden Subjekten semantisiert werden. Das
kommunikationstheoretische Modell der bertragung, des Transportes von Be-
deutung kann also schon deshalb nicht herangezogen werden, weil Bedeutung
nicht als transzendenter Abkmmling einer prsprachlich kognitiven Welt in
irgendeiner ominsen Weise der physikalisch erscheinenden Laut- oder Schrift-
gestalt anhaftet. Die Bedeutung ist wie Wittgenstein formuliert keine geis-
tige Begleiterscheinung des Ausdrucks.
42
Sie ist nicht durch kognitive Transzen-
denz, sondern durch den Gebrauch [] charakterisiert, den wir von dem
Ausdruck machen.
43
Sprachliche Kommunikation besteht also in einer wesentli-
chen Hinsicht in einer produktiven semiologischen Prozedur, die man wie wir
bereits oben gesehen haben als Semantisierung von Aposmen im Lichte je indi-
vidueller sprachlicher Deutungshorizonte, sogenannter Parasemien, bezeichnen
kann. Und obgleich sich die Prozedur der Semantisierung durchaus im Kontext
von sozialen Sprachspielen vollzieht, ist in sie wie de Saussure formuliert ein
subjektives, unbestimmbares Element
44
eingeschrieben, das sich notwendig
aus der strukturellen Gespaltenheit des Aposmes herleitet. Gerade weil die
sprachliche Kommunikation in der Sphre der Intersubjektivitt allein durch apo-
semische Medialitt der Sprachzeichen ermglicht (und begrenzt) wird, kann
Kommunikation nicht als ein Prozess des Austauschs bzw. der bertragung von
Sinn durch bedeutungstragende Zeichen gedacht werden. Auch in jeder gelunge-
nen Verstndigungshandlung tragen die Semantisierungsprozeduren den Keim
nie endender Bestimmbarkeit in sich.
45
Es gibt unabhngig von der Sprachspiel-
praxis und ihren je individuierten und insofern prekren Sedimenten im semio-
logischen Bewusstsein der Sprecher keinen transsubjektiven Geltungsort von
Sinn, weil dieser wie man mit Humboldt formulieren knnte erst im Indivi-
duum seine letzte Bestimmtheit erhlt.
46
Sprache baut zwar so noch einmal
Zeichen/Spuren
26
Humboldt wohl Brcken von einer Individualitt zur andren und vermittelt
gegenseitiges Verstndnis, aber indem sie zugleich im Vollzuge der Verstndi-
gungsarbeit die Differenz der Individualitten sichtbar macht, vergrert sie
eher den Unterschied selbst, da sie durch die Verdeutlichung und Verfeinerung
der Begriffe klarer ins Bewutseyn bringt, wie er [der Unterschied, L. J.] seine
Wurzeln in die ursprngliche Geistesanlage schlgt.
47
Sprache kann also in keiner ihrer Erscheinungsformen auch nicht in der
Form direkter mndlicher Interaktion als ein gleichsam bruchlos intersubjekti-
ves Zeichensystem ihren Verwendern identische Partizipation an einemgeteilten
Sinnkosmos verbrgen. Sie ist kein semiotisches Werkzeug, das seinen Nutzern
bei korrekter Code-Anwendung problemlose Sinntransparenz und vollstndige
Sinnidentitt garantiert. Die Illusion der Sinnidentitt entsteht vielmehr allein
dadurch, dass uns in vielen lebensweltlichen Zusammenhngen und in den je-
weils in diese eingebetteten Sprachspielen jenes semantische Wissen, von dem
her wir beim Kommunizieren die fr sich bedeutungslosen Zeichengestalten
semantisieren um Schtz heranzuziehen , in der Weise des passiven oder au-
tomatischen habituellen Wissens als Routineerfahrung vertraut ist;
48
vertraut
derart, dass wir es als ein mit unseren Kommunikationspartnern geteiltes Wissen
hypothetisch unterstellen drfen. Tatschlich knnen wir uns aber auch hier des
Sinnes, den ein Interaktant im Zuge von Verstndigungshandlungen in uns zu ak-
tivieren intendiert, nur in dem Mae als des von ihm intendierten Sinnes sicher
sein, in dem in unserem gemeinsamen Sprachspiel der habituelle Modus der ge-
teilten Vertrautheit nicht aufgekndigt ist. Selbst unter dieser Voraussetzung sind
aber wir es, die die uerungen des jeweils anderen semantisieren. Beim sprach-
lichen Kommunizieren im Modus der Vertrautheit haben zwar unsere Seman-
tisierungsprozeduren im Hinblick auf die zu deutenden aposemischen ue-
rungsstrukturen wie man sagen knnte die Form von passiven Synthesen der
Rekognition,
49
aber auch passive Synthesen sind Urteile, die wir jeweils als Deu-
tende zu fllen haben, Urteile zumal, die jederzeit vom Modus der Vertrautheit in
den der thematischen Relevanz oder gar in den der auferlegten thematischen
Relevanz
50
berzugehen gentigt sein knnen. Auch hier kann sich, was ver-
traut und deshalb unproblematisch sein sollte, jederzeit als unvertraut
51
erwei-
sen: [] die passive Gegebenheit dieser vollzogenen Urteile kann immer wieder
in Aktivitt, in neuerliche Urteilsvollziehungen umgewandelt werden. An die
passive Habe so fhrt Schtz Husserl zitierend fort an das (normalerweise
in Gewissheit) seinsmig Geltende der Bedeutungsseite knpfen wir an, in frei
erzeugender Aktion erwachsen uns neue kategoriale Meinungsgebilde in eins mit
entsprechenden Zeichen bzw. Worten.
52
Ludwig Jger
27
Das als sprachliches Wissen im semiologischen Bewusstsein der Sprecher
geteilte Wissen wird also in der Regel im Modus der Vertrautheit als geteiltes
Wissen hypothetisch unterstellt, es unterliegt aber wie bereits Schleiermacher
wusste durchaus nicht wirklich dem Prinzip der Identitt: Absolute Identitt
des Wissens kann nur entstehen, wenn der individuelle Faktor ganz eliminiert
wre. Das ist aber nur unter der Voraussetzung einer absolut allgemeinen Sprache
mglich. Dafr, eine solche allgemeine Sprache zustande zu bringen, gibt es aber
wie Schleiermacher mit Blick auf Leibniz betont hat kein Mittel: Denn die
Sprache steht nicht berall unter der Botmigkeit der Konstruktion [].
53
In
der Sprache zeigt sich vielmehr gerade die Relativitt des Wissens.
54
Da es also
letztlich keinen die Identitt des Wissens verbrgenden, sprachtranszendenten
Sinnkosmos gibt, den die Sprache nur zu reprsentieren htte, wird die sprachli-
che Interaktion selber zu dem Ort, an dem in stndigen hypothetischen Semanti-
sierungen von Aposmen die kommunizierenden Subjekte sowohl ihre soziale
Identitt als auch den kommunizierten Sinn der Bewhrung aussetzen. Zwar ist
wie Schleiermacher formuliert das Reden [] die Vermittlung fr die Gemein-
schaftlichkeit des Denkens,
55
doch sind wir im Zuge der Verstndigung bestn-
dig in Probe begriffen,
56
denn alle Mitteilung [] ist bestndiges Fortsetzen der
Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren.
57
T R A N S K R I P T I V I T T
Ich mchte meine skizzenhaften berlegungen zum Medialittsbegriff im Rah-
men eines semiologischen Konstruktivismus abschlieend resmieren und hier-
zu noch einmal auf den Begriff der Transkriptivitt zurckgreifen. Das bislang im
Rahmen unserer berlegungen entwickelte Modell sprachlicher Medialitt ist
letztlich ein Modell der Transkription, wenn man unter Transkription einen
Modus der Subjektkonstitution und einer mit jener verschrnkten Weltkonstitu-
tion versteht, der die Genese und Aufrechterhaltung eines Subjekt-Inneren an das
soziale Auen zeichenvermittelter Interaktion mit anderen Ko-Subjekten bindet.
Transkription meint dabei die kontinuierliche und durch stndige Selbstlektre
gesteuerte Um-Schreibung der Mentalitt in eine mediale Textur: das skizzierte
Modell geht von einem semiologischen Systemzusammenhang aus, der die onto-
genetische Herausbildung des menschlichen mentalen Systems und seines kog-
nitiv organisierten Weltbezugs sowie die funktionale Aufrechterhaltung dieser
Ich-Welt-Beziehung an zeichenvermittelte und damit interaktive Entue-
rungshandlungen, an die aposemische Aktivitt einer subjektiven Innerlichkeit
Zeichen/Spuren
28
bindet, die sich allein durch diese semiologische Um-Schreibung zu konstituieren
vermag. Der Kern der Transkriptions-Hypothese lsst sich so formulieren, dass in
dem Tripel Erkenntnissubjekt Zeichen Erkenntnisobjekt das Zeichen insofern
eine zentrale Rolle spielt, als es eine notwendige Entstehungs- und Bestandsbe-
dingung fr die beiden anderen Konstituenten darstellt. Der wie Humboldt for-
muliert hatte durchaus innerliche und gewissermaen spurlos vorbergehen-
de cartesianisch-kantische Geist vermag nur ber die Zeichen-Spur seiner
eigenen semiologischen Ttigkeit, ber sprachmediale aposemische Transkription
zu sich selber zu kommen; ohne diese vermag weder das Ich seine Erkenntnisin-
halte noch sich selbst als das Bewusstsein, das sie hat, herauszubilden. Erst auf
dem transkriptiven Weg einer semiologisch vermittelten Selbstbegegnung kon-
struiert das Subjekt sich in seiner Erkenntnisbeziehung zur Welt und damit zu-
gleich diese als Bezugswelt mglicher Erkenntnis. Auch Schleiermacher hatte in
der Ethik die Sprache als ein vermittelndes und modifikables Medium
58
angese-
hen, in dem Subjekt und Objekt auseinander treten und in welchem der
Mensch sich ein Ich wird und das Auer ihm eine Mannigfaltigkeit von Gegen-
stnden.
59
Sprachmedialitt erweist sich also fr die hermeneutischen Sprachphiloso-
phen des auslaufenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ebenso wie fr eine
neurowissenschaftlich fundierte Zeichenphilosophie als transzendentale Bedin-
gung der Mglichkeit von Erkenntnis und Transkriptivitt ist die Signatur dieser
semiologischen Erkenntnistheorie, einer Erkenntnistheorie, mit der alle Authen-
tizitt eines medial unvermittelten Weltbezuges des erkenntnisautonomen carte-
sianischen Subjektes ein fr alle Mal verabschiedet ist: Alle unsre Endlichkeit
rhrt daher, da wir uns nicht unmittelbar durch und an uns selbst, sondern nur
in einem Entgegensetzen eines anderen erkennen knnen []. Des Menschen
Wesen aber ist es, sich zu erkennen in einem anderen. [] Dahin aber zu gelangen
ist die Sprache das einzige sinnliche und aus der innersten Menschheit stam-
mend und nur ihr mglich menschliche Mittel [].
60
1 Der hier vorliegende Text stellt die berarbeitete und stark gekrzte Fassung eines Manuskriptes
dar, das ich fr einen am 1.11.1996 an der Universitt Kln gehaltenen Vortrag im Rahmen des
Symposions Medien und Reprsentation der interuniversitren Arbeitsgruppe Sprache, Litera-
tur, Kultur im Wandel ihrer medialen Bedingungen verfasst habe. Eine erste publizierte Fassung
erhielt dieses Manuskript in L. Jger: Die Medialitt der Sprachzeichen. Zur Kritik des Reprsenta-
tionsbegriffes aus der Sicht des semiologischen Konstruktivismus, in: M. Lieber/W. Hirdt (Hg.):
Kunst und Kommunikation. Betrachtungen zum Medium Sprache in der Romania, Tbingen 1997,
S. 199220. Dort findet sich auch eine ausfhrliche Auseinandersetzung mit der einschlgigen me-
dientheoretischen Forschungsliteratur.
2 Vgl. W. J. Ong: Oralitt und Literalitt. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987.
Ludwig Jger
29
3 Vgl. hierzu die verschiedenen Arbeiten, in denen ich versucht habe, das Problemfeld der Sprach-
medialitt auszufalten: L. Jger: Die Sprachvergessenheit der Medientheorie. Ein Pldoyer fr das
Medium Sprache, in: G. Stickel (Hg.): Sprache und neue Medien, Jahrbuch 1999 des Instituts fr
Deutsche Sprache, Berlin/New York 2000; L. Jger: Sprache als Medium. ber die Sprache als audio-
visuelles Dispositiv des Medialen, in: H. Wenzel (Hg.): Audiovisualitt vor und nach Gutenberg, Wien
2000 [erscheint]; L. Jger: Neurosemiologie. Das transdisziplinre Fundament der Saussureschen
Sprachtheorie, in: J. Fehr (Hg.): Saussure und die Interdisziplinaritt. Sonderheft der Cahiers Ferdi-
nand de Saussure (CFS), Genf 2000 [erscheint]; L. Jger: Transkriptivitt. Zur medialen Logik der
kulturellen Semantik, in: L. Jger/G. Stanitzek (Hg.): Transkribieren Medien/Lektre, Mnchen
2001 [erscheint]; L. Jger: Medialitt und Mentalitt. Die Sprache als Medium des Geistes, in: E. K-
nig/S. Krmer (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt 2001 [erscheint].
4 Vgl. N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1997, S. 20.
5 Vgl. ebd., S. 18.
6 Vgl. hierzu Jger: Sprache als Medium (Anm. 3).
7 Vgl. zum Spur-Begriff etwa W. v. Humboldt: Gesammelte Schriften [GS]. Hg. v. der Kniglich
Preuischen Akademie der Wissenschaften (Leitzmann, Gebhardt, Richter), 17 Bde., Berlin, Nach-
druck Berlin 1968, GS IV: S. 431; GS V: S. 427, 433. Sybille Krmer hat jngst den Begriff der Spur in
medientheoretischem Zusammenhang diskutiert, vgl. S. Krmer: Sprache und Schrift oder: Ist
Schrift verschriftete Sprache, in: Zeitschrift fr Sprachwissenschaft 15.1 (1996), S. 92112, hier:
S. 98.
8 Vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Darmstadt 1988.
9 Vgl. E. Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1922/
23), in: E. Cassirer: Wesen und Wirken des Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, S. 169200, hier: S. 176.
10 Vgl. F. de Saussure: Cours de linguistique gnrale, dition critique par Rudolf Engler, Wiesbaden
1974, hier: S. 35 ff. (33063324 = N 15.119); im Folgenden zitiert als EC(N) mit Seitenzahl und Frag-
mentierungsziffer.
11 Vgl. etwa Ch. S. Peirce: Collected Papers, Volume 16, ed. by Ch. Hartshorne and P. Weiss, Harvard
193135.
12 Zwar haben sich gattungsgeschichtlich Sprachzeichen erst entwickelt, als andere Zeichenarten
etwa von subhumanen Primaten bereits verwendet wurden. Allerdings mssen Sprachzeichen als
emergente Fortentwicklungen solcher subsemiologischer Zeichen angesehen werden, die beim
Menschen das gesamte Feld der Zeichen auf emergentem Niveau restrukturieren.
13 Vgl. hierzu ausfhrlich L. Jger: Sprachliche Soziogenese und linguistischer Biologismus, in: D.
Busse (Hg.): Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklrung und Beschreibung
des Sprachwandels, Tbingen 1991, S. 139196; ebenso Jger: Sprache als Medium (Anm. 3).
14 W. K. Kck: Kognition Semantik Kommunikation, in: S. J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des radika-
len Konstruktivismus, Frankfurt 1987, S. 340373, hier: S. 359.
15 Vgl. hierzu grundlegend D. Bickerton: Language and Human Behavior, Washington 1996; T. W. Dea-
con: The Symbolic Species. The Co-evolution of Language and the Brain, New York 1998; vgl. eben-
so Jger: Sprachliche Soziogenese und linguistischer Biologismus (Anm. 13).
16 Vgl. etwa E. Bates et al.: The Emergence of Symbols. Cognition and Communication in Infancy, New
York/San Francisco/London 1979.
17 Vgl. E. G. Jones/T. P. S. Powell: An Anatomical Study of Converging Sensory Pathways within Cere-
bral Cortex of Monkeys, in: Brain 93 (1970), S. 793820; ebenso W. J. Wilkins/J. Wakerfield: Brain
Evolution on Neurolinguistic Preconditions, in: Behavioral and Brain Sciences 18 (1995), S. 161226.
18 Vgl. M. A. Arbib/G. Rizzolatti: Neural Expectations: A Possible Evolutionary Path from Manual Skills
to Language, in: Communication and Cognition 29 (1997), S. 393424; hierzu ausfhrlich Jger:
Sprache als Medium (Anm. 3).
19 Vgl. Humboldt: Gesammelte Schriften (Anm. 7), GS IV: S. 15.
20 Vgl. GS VII: S. 53; vgl. hierzu ausfhrlich L. Jger: ber die Individualitt von Rede und Verstehen.
Aspekte einer hermeneutischen Semiologie bei W. v. Humboldt, in: M. Frank/A. Haverkamp (Hg.):
Individualitt. Poetik und Hermeneutik XIII, Mnchen 1988, S. 7694.
21 Vgl. hierzu ausfhrlich Jger: Transkriptivitt (Anm. 3).
22 Unter Gegenstnden und Sachverhalten verstehe ich mit Kamlah und Lorenzen alles dasjenige,
dem ein Prdikator zugesprochen werden kann oder worauf man durch Eigennamen oder deikti-
sche Handlungen (Kennzeichnungen) in einer fr den Gesprchspartner verstndlichen Weise hin-
zeigen kann (vgl. W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propdeutik, Mannheim 1967, S. 57).
Zeichen/Spuren
30
23 Die Sprache symbolisiert nicht wie Mead expliziert einfach Situationen oder Objekte, die au-
erhalb der gesellschaftlichen Beziehungen, in denen die Symbolisation erfolgt, schon existieren
wrden. Die Sprache symbolisiert nicht einfach Situationen oder Objekte, die schon vorher gegeben
sind; sie macht die Existenz oder das Auftauchen dieser Situationen oder Objekte erst mglich, da
sie Teil jenes Mechanismus ist, durch den diese Situationen oder Objekte geschaffen werden (vgl.
G. H. Mead: Geist, Identitt und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt 1973,
S. 117).
24 Ich verwende den Terminus innere, mentale Episode im Anschluss an den Gebrauch, den Wilfrid
Sellars (W. Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, in: P. Bieri (Hg.): Analytische
Philosophie des Geistes, Meisenheim 1981, S. 184208) von ihm macht; auch den Sellarschen
Grundgedanken, dass der Begriff einer sprachlichen Episode der primre Begriff ist und dass man
den Begriff einer mentalen Episode eines Gedankens als einen theoretischen Begriff verstehen
kann, der in Analogie zu ihm gebildet wird, betrachte ich als Argument fr die oben skizzierte
Sub-Annahme (ebd.: S. 2).
25 Vgl. zum sog. Komputationsreprsentations-Funktionalismus, der fr die Chomsky-Spielart des
Kognitivismus bestimmend ist: N. Block: Introduction: What is Functionalism?, in: N. Block (Hg.):
Readings in the Philosophy of Psychology, Vol. 1, Cambridge 1980; ebenso R. J. Jorna: Wissensre-
prsentation in knstlichen Intelligenzen. Zeichentheorie und Kognitionsforschung, in: Zeitschrift
fr Semiotik, Bd. 12.1/2 (1990), S. 1123.
26 Vgl. Saussure: Cours de linguistique gnrale (Anm. 10), S. 35 ff. (33063324 = N 15.119).
27 Mit Sme bezieht sich de Saussure auf das Zeichen als Einzelzeichen; da Einzelzeichen aber im
strengen Sinne nicht existieren, sind Sme immer zugleich Parasme, d. h. System-Zeichen.
28 Vgl. hierzu ausfhrlich L. Jger: Der saussuresche Begriff des Aposme als Grundlagenbegriff
einer hermeneutischen Semiologie, in: L. Jger/Ch. Stetter (Hg.): Zeichen und Verstehen, Aachen
1986, S. 733.
29 Auf die fr den Verstndigungsvorgang konstitutive Bedeutung der On Line-Syntax kann ich hier
nicht eingehen; vgl. hierzu P. Auer: On line-Syntax Oder: was es bedeuten knnte, die Zeitlichkeit
der mndlichen Sprache ernst zu nehmen, in: L. Jger/L. Springer (Hg.): Die Medialitt der Gespro-
chenen Sprache, Themenheft der Zeitschrift Sprache und Literatur (SuL) 85 (2000), S. 4356.
30 Vgl. zu der Unterscheidung von Vertrautheit und Relevanz A. Schtz: Das Problem der Rele-
vanz, Frankfurt 1971.
31 Vgl. EC(N) (Anm. 10), S. 36, 3310.14.
32 Vgl. ebd., S. 38, 3316.1.
33 Vgl. ebd., S. 38, 3317.6.
34 Vgl. ebd., S. 37, 3314.6.
35 Vgl. ebd., S. 37, 3314.8: () cest simplement le mme aposme, mais cela nentrane pas que ce
soit encore le mme sme.
36 Nur wenn die semantische Divergenz anhand anderer operativer Kriterien im Diskurs deutlich
wird, treten die Kommunikationspartner aus dem Modus der Vertrautheit in den der Relevanz.
37 Vgl. hierzu Jger: Transkriptivitt (Anm. 3) und Jger: Medialitt und Mentalitt (Anm. 3).
38 Insofern ist Bedeutung in natrlichen Sprachen kein lemma-artiger Ort in einer Art Lexikon-
Gedchtnis der Sprecher, sondern deren Paraphrase-Fhigkeit. Die Bedeutung eines Ausdrucks zu
kennen heit Mglichkeiten zu kennen, beim Evident-Werden semantischer Befremdung durch se-
mantisches Mandern (Paraphrasen, Erklrungen, Angabe von Synonymen etc.) wieder auf ver-
trautes Gelnde zu gelangen. Man knnte auch im Sinne meines Transkriptionsbegriffes sagen, Be-
deutung ist die Fhigkeit zu transkribieren (vgl. Jger: Transkriptivitt (Anm. 3)).
39 Vgl. zum Begriff der zerdehnten Kommunikationssituation: K. Ehlich: Text und sprachliches Han-
deln: Die Entstehung von Texten aus dem Bedrfnis nach berlieferung, in: A. Assmann/J. Ass-
mann/ Chr. Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedchtnis, Mnchen 1983, S. 2443.
40 Vgl. zu diesem Begriff Kamlah/Lorenzen: Logische Propdeutik (Anm. 22), S. 57.
41 Vgl. GS VII (Anm. 7), S. 169.
42 Vgl. L. Wittgenstein: Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), Werk-
ausgabe Band 5, Frankfurt 1984, S. 104.
43 Wittgenstein: Das Blaue Buch (Anm. 42), S. 104.
44 Vgl. EC(N) (Anm. 10), S. 243, III C 294, 1762.
45 GS VII (Anm. 7), S. 62.
46 GS VI (Anm. 7), S. 187.
Ludwig Jger
31
47 GS VII (Anm. 7), S. 169.
48 Vgl. Schtz: Das Problem der Relevanz (Anm. 30), S. 54.
49 Vgl. ebd., S. 44.
50 Vgl. ebd., S. 56 ff.
51 Vgl. ebd., S. 55.
52 Vgl. A. Schtz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt 1974, S. 103.
53 Vgl. F. D. E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg. v. M. Frank, Frankfurt 1977, S. 465.
54 Vgl. ebd., S. 461.
55 Vgl. ebd., S. 76.
56 Vgl. ebd., S. 460.
57 Ebd., S. 460; vgl. zu Schleiermacher insgesamt M. Frank: Das Individuelle Allgemeine. Textstruktu-
rierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt 1977; insbesondere in unserem Zu-
sammenhang das Hauptkapitel Hermeneutische Sprachtheorie und Poetik, S. 145 ff.
58 Vgl. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik (Anm. 53), S. 362.
59 Vgl. ebd., S. 372.
60 W. v. Humboldt an Schiller, in: S. Seidel (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und
Wilhelm von Humboldt, 2 Bde., Berlin 1962, Bd. II, S. 208.
Zeichen/Spuren
32
Georg Chri st oph Thol en
D I E Z S U R D E R ME D I E N
1 . ME D I U M O H N E B O T S C H A F T: T R A U MAT I S C H E R R I S S O D E R E V O L U T I V E R B E R G A N G ?
Neue Medien ersetzen oder simulieren die alten. Dank des universellen Prinzips
der Digitalitt werden ehemals medial getrennte Weisen der Speicherung und
bertragung von Daten nunmehr als solche reprsentierbar und technisch imple-
mentierbar. Seit Turings end-loser Bandmaschine, d. h. der dem Prinzip nach uni-
versell anwendbaren binren Codierung entscheidungssicherer und berechen-
barer Vorgnge, ist mit der Eigenart immaterieller Information ein Begriff des
Medialen gegeben, der sich vom diskursiven Horizont der Materie und Energie, in
den unser Verstndnis des Technischen und Maschinellen eingebunden war, los-
zulsen beginnt. Doch ist dieser epistemologische Schnitt noch kaum begriffen:
Digitalitt ist zunchst nur das seltsam unvertraute Zauberwort einer epochalen
Zsur, die wie ich auf Umwegen zeigen mchte mit unseren gewohnten kom-
munikationstheoretisch gefrbten Kategorien der Interaktion mit ntzlichen
Werkzeugen kaum zu fassen ist. Und auch die vorschnelle Idealisierung einer In-
formationsgesellschaft, die nach systemtheoretischem Selbstverstndnis ihre
selbstbezgliche, d. h. intentional bereits vorentschiedene Reproduktion mittels
Informationen und Kommunikationen sichert und erweitert, bleibt dem ge-
wohnten Schema der instrumentalen Verfgbarkeit des Technischen treu.
Doch sosehr diese kategoriale Perspektive im alltglichen Umgang mit
Gerten, Werkzeugen und Maschinen jeder Art und Gestalt ihre im ontologi-
schen Sinne regionale Gltigkeit und Triftigkeit beanspruchen darf, so wenig hilft
uns dieser instrumentale Sachverhalt fr das Begreifen der epochalen Zsur des
Technischen selbst. Denn diese ist definierbar nur, wenn in der oben genannten
Eigenschaft des digitalen Mediums, alle vormaligen Medien der Speicherung und
bertragung reprsentieren und simulieren zu knnen, ein Schnitt bzw. Ein-
schnitt des Technischen als epochale Zsur selbst entdeckt wird. Epochalitt des
Technischen heit hier: Vorbehalt und Vorenthalt der Technik gegenber ihren
eigenen historisch je singulr datierbaren Gestalten und Gestaltungen, welche,
um berhaupt als historisch beschrnkte wahrgenommen und platziert werden
zu knnen, nur in offener Distanz zu sich nmlich als unvollstndiger Spielraum
des Technischen verortet werden knnen.
1
Nichts nmlich wre in pragmati-
scher wie sthetischer Hinsicht gewonnen, wenn das spezifisch Mediale an den
neuen Medien in das vertraute Schema von Mittel und Zweck gleichsam heimge-
Georg Christoph Tholen
33
holt wrde. Denn solch ein immer schon vorentschiedener und historischen
Einschnitten gegenber blinder, teleologischer Rahmen verkennt die Eigenart
technischer Erfindungen wie den sie begleitenden kulturellen Choc, zwei ent-
scheidende Momente also, die wie ungleichzeitig auch immer alltgliche wie
kulturwissenschaftliche Diskurse ber die technischen Medien verschieben und
verndern. Der Kern des teleologischen Arguments in seiner schlechten Unend-
lichkeit, in der sich nach Hegels Reflexionsbestimmung das Schema der Zweck-
Mittel-Rationalitt verfngt, ist eine unbefragte anthropologische Vorausset-
zung: Technische Medien seien ursprnglich dienstbare, ntzliche Werkzeuge
oder Mittel des zwecksetzenden Menschen im Sinne einer unendlich dehnbaren
und prothetischen Erweiterung seiner Sinnesvermgen.
Ich werde gegenber solcher instrumentellen Vorentschiedenheit zu zeigen
versuchen, wie die Medialitt des Medialen als sich selbst entzogene Dazwischen-
kunft medialer Chocs und Einschnitte zu bestimmen ist, anders gesagt: als Inter-
vention eines Unsichtbaren, das nicht blo das Nicht-Sichtbare innerhalb des
Registers des Sehens ist, sondern vielmehr dieses allererst erffnet, indem es sich
als unsichtbarer Rand des je Phnomenalen zurckgezogen haben muss.
2
Eine
solche medienphilosophische Fragestellung nach der Topik des Zwischenraums
medialer bertragungen ist derjenigen Heideggers nach der Technik verwandt.
Von ihr ausgehend
3
gilt es, einen Begriff der epochalen Zsur des Medialen zu fin-
den, der die McLuhansche These, dass die neuen Medien die ihr vorausgehenden
Medien bertragen und implementieren, aufnimmt und sie doch vor ihrem eige-
nen hermeneutischen Kurzschluss, nmlich dass diese mediale Eigenschaft die
Botschaft und der sich offenbarende Sinn der Medien selbst sei, bewahrt. Die hier-
an anknpfende und in den Kultur- und Sozialwissenschaften in den letzten Jah-
ren virulent gewordene Frage, ob sich Epochenschwellen als Initialrume techni-
scher Medien situieren lassen, markiert ein Forschungsfeld jngeren Datums.
Lassen sich diese Schwellen exakt datieren? Gengt die mit Max Weber, Helmut
Schelsky und Niklas Luhmann gelufig gewordene Annahme, dass der Moderne
als Inbegriff der Rationalisierung oder Komplexittsvermehrung ihre Krisen-
haftigkeit als einer innovationsfreudigen Dauerreflexion innewohnt, um das
Epochale des Technischen zu begreifen?
Gewiss gab es auch um die Jahrhundertwende 1900 vergleichbare Krisen-
diskurse, die wie die heutigen angesichts neuer Medien zwischen apokalypti-
schen Untergangsvisionen und euphorischen Szenarien auseinander driften.
Und auch meint das Epitethon neu in den gegenwrtigen Diskursen ber die
kulturprgende Rolle der Informationstechnologien oftmals nicht mehr als die
Unsicherheit gegenber dem vorlufig nur Unvertrauten. Neu scheint mir freilich
Die Zsur der Medien
34
in kulturanthropologischer Hinsicht das Auftauchen eines beinahe epistemi-
schen Bruchs zu sein, der die Kritiker wie Vordenker der neuen Technologien von
der Auflsung menschengerechter Vor-Gegebenheiten sprechen lsst: etwa des
Krpers, des Raums oder der Eigenzeit; oder gar des Verlusts des Prestiges der
Aufklrung als einem an die Schriftkultur des Buches gebundenen Projekts der
Moderne.
4
bersprungen wird aber in allen Stufenmodellen das Epochale der je-
weils unterschiedenen Epoche selbst, d. h. der zeitlich unverfgbare Vorenthalt
und Vorbehalt einer Zsur, die keine wre, wenn sie sich als blo evolutionrer
bergang fixieren liee. Ich komme darauf zurck. Neu allerdings im Sinne eines
paradigmatischen Bruchs im Feld des Wissens ist die Frage nach dem, was epo-
chebildend sei, wenn die in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung
weithin vernachlssigte konstitutive Prgekraft der Informationsmedien selbst,
genauer: ihre Verbreitungstechniken (Luhmann) und Nachrichtenkanle (Kitt-
ler) nunmehr als ein diskursbegrndendes System sozialer Steuerung bzw. tech-
nologischen Machtwissens beschreibbar werden.
So haben exemplarisch in systemtheoretischer wie diskursanalytischer
Perspektive die historischen Fallstudien von Michael Giesecke und Manfred
Schneider ber die Erfindung des Buchdrucks gezeigt: mit der Gutenbergschen
Erfindung der Reproduktionstechnik einer homogenisierten Schrift aus bewegli-
chen Lettern (Charaktere) ist auch der Sozialisationstyp eines innengeleiteten Le-
sers entstanden, d. h. die Diskursfigur einer Innerlichkeit, mittels derer der stille
Leser zum Autor seines Gewissens wurde. Statt uerer Beichte: innere Herzens-
protokolle.
5
Die Sensibilitt fr diese Wechselwirkung von technischen und kul-
turellen Erfindungen ist aber auch eine methodologische, die in ihrer Tragweite
erst zum Problem wurde mit der Dominanz der modernen Informationstechno-
logien.
Warum und wie avanciert nun der Computer als der vielgestaltige Proteus
der Informationsmaschine (Seymour Papert)
6
zu einem Paradigma, das nicht nur
die Desillusionierung der Groen Erzhlungen von der Utopie einer transparen-
ten Gesellschaft beschleunigen half, sondern wie unter anderem Werner Ram-
mert zeigte
7
die Metaphorik der soziologischen Diskurse ber die Technik irri-
tierte und sie nunmehr zu einer Revision ihrer Begriffe aufmuntert? In den
bisherigen Konzeptualisierungen des technischen Fortschritts fehlt es so
Rammerts genaue wissenschaftshistorische Reflexion ber den Geltungsbereich
bisheriger Techniksoziologie an einer soziologischen Theorie des technischen
Wandels, da die blichen einsinnigen Strukturlogiken der Erklrung des tech-
nischen Fortschritts der soziokulturellen Dimension der Technologien nicht ge-
recht werden knnen.
8
Georg Christoph Tholen
35
Schon einer strikt empirisch oder phnomenologisch verfahrenden soziolo-
gischen Analyse des alltglichen Umgangs mit Computern fllt es daher nicht
leicht, im zunehmend fragmentarisierten und generationsspezifisch sich be-
schleunigenden Werte- und Metaphern-Wandel die phantasmatischen Zu-
schreibungen der simulierten Wirklichkeit wie der Wirklichkeit der Simulatio-
nen selbst zu beschreiben
9
: Der Strukturwandel der ffentlichkeit geschieht in
immer krzeren Intervallen im Rahmen einer noch unausgemachten Soziabilitt,
die nicht mehr nur nationalstaatlich sich ausdifferenziert. Diese prekre Lage der
Genesis und Geltung von soziologischen Kategorien angesichts einer genuin im-
materiellen Technologie der Information
10
ist nicht allein dadurch gegeben, dass
die einst durch literarische Medien mitkonstituierte ffentlichkeit in eine partia-
le und plurale zerfllt. Vielmehr sind die kommunizierenden Subjekte in ihrer
immer schon medialen Intersubjektivitt mittels deren nun explizit globalelek-
tronischer Virtualisierung mit der zsurierenden Dimension jeder Mit-Teilung als
dem semiotischen Inbegriff der bedeutungs-tragenden und -verschiebenden He-
teronomie des Zeichens konfrontiert, also mit dem, was dem Mitgeteilten selbst
(der Botschaft oder dem Sinn) konstitutiv vorhergeht und der manipulativen Ver-
fgbarkeit, die sie gleichwohl vielfltig erlaubt, widersteht.
Die Analyse und Kritik der digitalisierten Kommunikationsmittel und
-wege geschieht nur in der Performanz dieser Mittel und Bahnungen selbst.
Ich komme darauf zurck, um zu unterstreichen, dass in berwindung des kul-
turkritischen Gestus gegenber jeder neuen Technologie eben diese a-prsente,
unverfgbare und nicht-intentionale Dimension des Medialen uns die Mglich-
keit der Bedingungen der Kommunikation und gleichzeitig die historischen
Dispositive der medialen Machtbeziehungen zu situieren erlaubt. Die von Jean
Baudrillard als implodierende Selbstreferenzialitt der gewohnten Subjekt-
Objekt-Relation eher negativ bewertete Hypertrophie und Aufspreizung der
imaginren Welt der neuen Medien lsst sich also im Sinne einer unentscheid-
baren Verwendungsoffenheit der Medien nchterner beschreiben: Das Beispiel
des diffus verknpften Internet als eines in seinen multimedialen Gebrauchs-
weisen unbestimmten Ensembles aus militrischer Erfindung, subkultureller
Nutzung und baldiger Kommerzialisierung besttigt diesen beschleunigten
Wandel des sozialen und interaktiven Abstandsgefges (so das schne und pr-
zise Wort von Manfred Fassler), welches die herkmmliche, nahrumliche
11
Intersubjektivitt berlagert. Doch die Zweckoffenheit des Netzes, das man tref-
fend Turinggalaxis (W. Coy, V. Grassmuck) genannt hat, ist nicht nur eine der
sozialen Lebenswelt. Das zeitrumliche Unbehaustsein (M. Faler, P. Virilio)
verweist von sich aus auf eine Nachgiebigkeit der digitalen Medialitt, die sich
Die Zsur der Medien
36
voreingenommener Bewertung durch ein negatives oder positives Vor-Zeichen
entzieht.
Warum so das kulturanthropologische Leitmotiv meiner Fragestellung
ist der vorderhand technische Sachverhalt, dass der Computer wegen seines Ver-
mgens, die Eigenart des Medialen nmlich Speichern, bertragen und Verar-
beiten nicht nur in sich versammeln, sondern zugleich die vormaligen Einzel-
Medien re-prsentieren kann warum ist dieser Sachverhalt nicht nur ein
technischer? Nehmen wir scheinbar willkrlich eine neuere, durchaus instru-
mentell orientierte Definition der digitalen Programmierbarkeit, die uns einer der
wenigen kulturwissenschaftlich orientierten Informatiker gibt und in welcher
die erwhnte semiotische Zweckoffenheit des digitalen Mediums zur Sprache
kommt: Die einschneidende Neuheit der Computer liegt in ihrer programmier-
baren Zweckbestimmung. Herkmmliche Maschinen dienen einem einzigen
Zweck, der sich bestenfalls in die liebenswerte Kombination mehrerer Zwecke
aufspaltet wie beim Englnder, einem verstellbaren Schraubenschlssel, oder
beim Zammer, einer patentierten Kombination von Hammer und Zange. Die
universelle Turing-Maschine und ihre kanonische technische Realisierung als
programmierbarer Computer in einer von Neumann-Archtitektur hat den Zweck
zu rechnen (d. h. Zahlenreihen nach eindeutigen Regeln zu manipulieren). Dies
ist ein umfassender Zweck, weil diese semiotische Maschine im Prinzip alles be-
rechnen kann, was in einem przisen mathematischen Sinne berechenbar ist. In
diesem Sinne sind Computer universell programmierbare Maschinen.
12
Me-
dientheoretisch zugespitzt heit dies: Der Rechner ist nicht, sondern ek-sistiert in
seinen medialen Gestaltungen und Oberflchen, die er zu simulieren gestattet,
d. h., er lsst sie als Bedienungsoberflchen erscheinen. Sein Wesen ist inso-
fern ein nicht-technisches, als der Rechner sich in seinen instrumentierbaren Ge-
staltungen bereits von sich als bloem Rechner unterscheidet, das heit: keine
einfache Identitt besitzt. Nur so macht die Rede von der Mensch-Maschine-
Schnittstelle brigens auch einen nicht nur trivialen Sinn.
Die historische Zsur, die der Maschine universeller Programmierbarkeit zu-
kommt, nmlich sich als sinnfreie bertragung anderer Medien maskieren zu
knnen, macht also, wie ich noch ausfhren werde, den in jedem Wortsinne
meta-phorischen Als ob- oder Ersatz-Charakter des digitalen Mediums aus.
Und es ist eben diese Eigenart des Digitalen, die an sich selbst nun geradezu vor-
bildlich, wie Wolfgang Welsch przisiert hat den konstruktiven, stets mit-
konstituierten Rahmen unserer Wirklichkeitszuschreibungen hervortreten lsst:
Wir verdanken es dem Zur-Kenntnis-Nehmen des medialen Charakters von
Wirklichkeitsreprsentationen, dass jede Auffassung einer vormedialen, ur-
Georg Christoph Tholen
37
sprnglichen oder wiederzugewinnenden und das heit: sinnerfllten Gegen-
wart prekr ist und die Funktion einer Ersatz-Religion
13
annimmt. Die aufklre-
rische Funktion der neuen Medien so Welsch wiederholt Kants Bestimmung
der Welt als einer zsurierten Welt der Erscheinung. Und eben deshalb gibt es
zwar universelle, aber nicht vollstndige Medien.
14
Zuvorderst ist die erwhnte Orientierungskrise kulturwissenschaftlicher
Kategorien eine der Metaphorik des Medialen selbst. In der printmedial gesttig-
ten Informationsflut ber die Informations- und Bilderflut findet man eine Un-
zahl von Metaphern: Hypertext als Rhizom, Algorithmen als Flieband imKopf,
der PCals das denTeddybr ersetzende bergangsobjekt. Der vonMcLuhanselbst
kaumbedachte, aber populre Satz, dass das Mediumdie Botschaft sei, oder auch
dessenkomplexere Fassung: was inMedienerscheint, sindandere Medien, ist eine
Annahme, die den Begriff Medium ungeklrt lsst: Bedeutet er nur Mittel, Mitte
oder Milieu, so bleibt der Status des Medialen in eine uferlose Teleologie von
prothetischen Zweckbestimmungen eingespannt, und die technischen Medien
knnen so problemlos als ntzliche Gerte, Apparaturen oder System-Umwelt-
Differenzen verrechnet werden. Ausgehend von dembasalen Axiomder Negati-
ven Anthropologie,
15
dass nmlich der Mensch im Sinne der Genealogie Nietz-
sches das nicht-festgestellte Tier sei, mchte ich zunchst die unfreiwillige
Nachbarschaft der anthropologischen und instrumentellen Mediendiskurse
nachzeichnen, anschlieend die Loslsbarkeit des digitalen Mediums vom an-
thropologischen Schema, umsodann abschlieend eine Konzeptualisierung der
Medialitt als unverfgbarenRaumder signifikantenbertragung anschreibenzu
knnen: drei Diskursfigurenalso, die inder Grundlegung einer nochnicht ausdif-
ferenzierten Medienwissenschaft derzeit eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
2 . D E R A N T H R O P O L O G I S C H E D I S K U R S B E R D I E ME D I E N
Foucaults Einsicht, dass es weit weniger Aussagen gibt, als wir gemeinhin anneh-
men, trstet zwar nicht unmittelbar. Doch die von ihm gefundene symptomale
Lektre vorgeschriebener und vorschreibender Aussagemuster, die das Feld der
Aussagen diskursverknappend eingrenzen, findet in scheinbar unabzhlbaren
uerungen wenige, aber regulierende Dispositive.
16
Ich mchte nun versuchen,
das spezifisch medienanthropologische zu situieren, welches sich noch in ver-
meintlich entgegengesetzten Diskursen finden lsst. Hier einige Beispiele:
Liest man den 1968 geschriebenen Essay von Jrgen Habermas wieder
Technik und Wissenschaft als Ideologie
17
, so springt ein in der damaligen Rezep-
Die Zsur der Medien
38
tion der von Habermas eingefhrten Opposition von zweckrationalem und
kommunikativem Handeln nebenschlich gebliebenes Schema in die Augen: Un-
ter Rckgriff auf Max Weber, vor allem aber auf Arnold Gehlen, definiert Haber-
mas das Technische als das Projekt der Menschengattung insgesamt und den
Funktionskreis zweckrationalen Handelns als einen, der zunchst am mensch-
lichen Organismus festsitzt
18
und schrittweise auf die Ebene technischer Mittel
projiziert
19
wurde. Gem des Modells funktionaler Entlastung seien zunchst
Hnde und Beine ersetzt und verstrkt worden, sodann Auge, Ohr, Haut und
schlielich das Gehirn als steuerndes Zentrum.
20
Diese anthropologische Konjektur ber das Wesen der Technik als Leibpro-
jektion,
21
die die Technik als Organersatz metaphorisiert, die Logik der bertrag-
barkeit selbst aber unbestimmt lsst, kehrt kaum verndert in den Grundlagen-
texten heutiger Medienanthropologie und -biologie wieder: So seien McLuhan
zufolge technische Medien allesamt seit der Erfindung des griechischen Vokal-
Alphabets (das sich fatalerweise ins Gehirn ebenso unmittelbar eingeprgt habe
wie dieses in jenem) Amputationen und Ausweitungen des Menschen, Exten-
sionen der Gesamtperson.
22
Die Schrift wird in dieser Medienanthropologie als
Abstraktion von konkretem Sprechen und Handeln missverstanden. Missver-
standen, weil, wie seit Saussures und vor allem Lacans paradigmatischer Bestim-
mung der uneinholbaren Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, zwi-
schen Subjekt der Aussage und Subjekt des Aussagens dargelegt worden ist, jeder
anthropologische Diskurs davon ausgehen muss, dass das Sprechen als solches fr
den Menschen das ontologisch unhintergehbare Verwiesensein auf das von jed-
weder unmittelbaren Leiblichkeit losgelste Tauschen von Worten bedeutet.
23
Mit anderen Worten: ohne die von vorneherein in Anspruch genommene Di-
mension des Symbolischen gbe es keinen Umgang mit den Dingen als solchen
und keine Distanz zu ihnen; eine Distanz nmlich, die erst jenen Umgang durch
den Akt der Benennung freisetzt. Doch diese Kluft von Physis und Kultur wird
von McLuhan nur als bedrohliche verortet und ihre berwindung gleichsam hal-
luziniert. Elektromagnetische Wellen seien, so das unverblmte Bekenntnis
McLuhans in seinem Sptwerk, eine biologische und zugleich mystische Entde-
ckung der religisen und zugleich elektronischen Noosphre einer teleprsenten
und videoinstantanen Kultur: ein apokalyptisch vorgesehenes Reich in der End-
phase des Menschen, welcher endlich so die Verkndigung seine alphabeti-
sche, d. h. neurotisch-gespaltene Existenz zugunsten der durch die Schriftkultur
ungebhrlich vergessenen oralen und auralen Unmittelbarkeit elektronischer
Strme zurcknehmen knne. Eine frohe Botschaft, die McLuhan schon 20 Jahre
frher kursieren lie: Im elektrischen Zeitalter, das unser Zentralnervensystem
Georg Christoph Tholen
39
technisch so sehr ausgeweitet hat, da es uns mit der ganzen Menschheit verflicht
und die ganze Menschheit in uns vereinigt, [] ist es nicht mehr mglich, die er-
habene und distanzierte Rolle des alphabetischen westlichen Menschen weiter-
zuspielen.
24
Technische Medien, als Organersatz metaphorisch aufgeladen, werden so
dank des imaginren Schemas von einander hnlichen oder assimilierbaren Polen
zur Universalmetapher des Organischen selbst: der Mensch als symbiotisches
Schaltmoment im Medienverbund (Norbert Bolz). Beim Nachfolger von Mar-
shall McLuhan, Derrick de Kerckhove, verdichtet sich diese neurokulturelle Hal-
luzination dann auch noch zum puren Propagandakitsch fr einen stilisierten und
weil global teleprsenten berzeitlichen Papst als dem herausragenden und
wohlklingenden Ikon planetarischer Menschlichkeit.
25
Aber auch die Phnomenologie Vilm Flussers hlt an dem Schema einer
vorprdikativen Lebenswelt des Leibes fest: Seit der Mensch so Flusser sei-
ne Hand gegen die ihn angehende Lebenswelt ausstreckte, um sie aufzuhalten,
versucht er, auf seinen Umstand Informationen zu drcken.
26
Wodurch als
Abstraktion vom Konkreten die Kultur der Information entstanden sei und nun
im Zeitalter des Computierens zur nachgeschichtlichen Nulldimensionalitt
einschrumpfte. Paradoxerweise vollzieht sich dieser Prozess in Gestalt einer leib-
lichen Geste, die von sich selbst abstrahiert, sich von sich selbst als natrlichem
Dasein entfremdet: Informieren ist eine negative, gegen den Gegenstand gerich-
tete Geste, die Geste eines gegen Objekte vorgehenden Subjekts, das Lcher in die
Gegenstnde grbt.
27
Dieses so vertraute wie fragwrdige Theorem der Entfrem-
dung wiederholt ja nur die Marxsche Aporie, die darin besteht, das je Fremde,
Knstliche vom Eigenen oder Eigentlichen, das jener Fremdheit genealogisch
und teleologisch als Anfang wie Ziel zugrunde liegen soll, herleiten zu mssen,
aber nicht zu knnen. Denn dann wre das Fremde ja nicht als Fremdes oder
Entfremdendes zu denunzieren. Flusser, obschon mit phnomenologischem An-
spruch argumentierend, bersieht die phnomenologische Grundeinsicht, nm-
lich dass der Leib als wahrnehmend-wahrgenommener nur in der Nichtber-
einstimmung mit sich selbst existiert, d. h. in seiner Intersubjektivitt stets schon
fremdgegeben ist.
28
Die Aporie hand-lungstheoretischer Ableitung von Abs-
traktionen wird hier ebenso deutlich wie noch in manchen mathematikhistori-
schen Studien, insofern sie von einer konkreten Lebenswelt als einem origin-
ren Punkt der Referenz ausgehen: Sicher ist, die Zahlen mssen sich abgelst
haben von den Dingen, die gezhlt werden.
29
Hierzu mchte ich (vorgreifend)
anmerken: Die Mglichkeit der abtrennbaren Ablsung selbst ist gerade die sym-
bolische Voraussetzung, dass Dinge als gezhlte platzierbar werden knnen.
Die Zsur der Medien
40
Das zirkelschlssige Schema des anthropologischen Diskurses ist zugleich
ein instrumentales: den ganzheitlich imaginierten Leib kann, da er ja Quell- und
Zielpunkt der technischen Entwicklung zugleich sei, keine Technik stren oder
ersetzen, weil sie ihn nur ersetzen kann als quasi-leibliche Prothese nmlich.
Die Fiktion dieses imaginren Bildes ist die Annahme eines vom Schein des Tech-
nischen loslsbaren, ersatzlosen Eigentums des Menschen bzw. der Menschheit,
das sich als Bestand eines gemeinschaftlichen, d. h. mit sich selbst kommunizie-
renden Wir zu bewahren oder auszudehnen vorgibt. Das Dispositiv in diesen
Diskursen ist die bipolare Gegenberstellung von abstrakt und konkret, wirklich
und fiktiv, echt und simuliert. Ihr Dilemma ist das des Imaginren: Denn wenn
das Fiktive das Wirkliche aufzulsen imstande ist, muss dieser Aussage gem
ebensolcher wirkmchtigen Fiktion ein Wirklichkeitsstatus zugeschrieben wer-
den, der doch andererseits nur der der Fiktion vorhergehenden und opponieren-
den Wirklichkeit eigen sein soll. Wenn also die Botschaft oder die Mitteilung
nach einem bereits vorgegebenen Sender-Empfnger-Modell als Ausdruck des
Leibes ausgerichtet wird, kann die historische Dazwischenkunft von medial je
verschiedenen bertragungen von Botschaften kaum anders als abstraktive Tren-
nung der Botschaft vom Krper des Boten situiert werden. Folgerichtig muss die-
se Abstraktion bewertet werden als Sinnbild der zunehmenden Eliminierung
der sinnlich-krperlichen (Selbst-)Erfahrung unserer alltglichen Lebensbezie-
hungen [].
30
Die nach dem Schema kontinuierlicher Evolution vorentschiedene An-
nahme einer Selbst- oder Bestandserhaltung findet sich auch noch in der system-
theoretischen Bestimmung des Medialen, wenngleich der nchterne Charme
der mittlerweile differenztheoretisch erweiterten Systemtheorie Luhmanns un-
gleich komplexer sich begrndet. Fokussieren mchte ich an dieser Stelle nur ei-
nen Aspekt: Luhmanns kommunikationstheoretische Bestimmung des Medien-
systems in der Schrift Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?
versucht nachzuweisen, dass weder Menschen noch Gehirne kommunizieren,
sondern nur die Kommunikation selbst: Nur die Kommunikation kann kommu-
nizieren
31
als Inbegriff ihrer Selbstreferenz. Hierunter ist ein System operatio-
naler Geschlossenheit vorgestellt, das vllig berschneidungsfrei und doch in
stndiger Kopplung mit dem Bewusstseinssystem mit Hilfe unabschliebarer
Beobachtungen von Auenereignissen Selbst-Referenz generiert und reprodu-
ziert. Sprache und andere Medien sind Medien als materiale Mittel, gesehen nur
von der Formaus, betont Luhmann; der Form der sich selbst erhaltenden autopo-
ietischen Kommunikation nmlich: Das Gesetz von Medium und Form lautet:
dass die rigidere Form sich im weicheren Medium durchsetzt.
32
Die Aporie die-
Georg Christoph Tholen
41
ser Informations- als Kommunikationstheorie liegt, wie mir scheint, in der von
Luhmann bewusst eingefhrten bertragung einer bestimmten biologischen
Metaphorik auf Sozialsysteme, nmlich der der emergenten, autopoietischen
Adaption von Maturana und Varela.
Beachten wir hier nur eine implizite Metapher der quasi-biologischen
Selbsterhaltung, nmlich die des in seinem Sehen ungetrbten Auges, die in den
Theorien der Selbstbeobachtung, des Konstruktivismus usw. eine zentrale Rolle
spielt: Die Grundannahme der Theorie der unterscheidenden Beobachtung (Gre-
gory Bateson, George Spencer Brown) ist bekanntlich folgende: Die Welt ist eine
Welt der Beobachter und jede Beobachtung eine, die beides herstellt: Beobachter
wie Beobachtung. Diese bereits als Stufenfolge intentionaler Akte definierte Un-
terscheidung (Gregory Bateson, George Spencer Brown), die ein Beobachter ver-
wendet, um etwas zu beobachten, ist der blinde Fleck seiner Beobachtung. Er
kann diese Unterscheidung nicht sehen.
33
Nur eine zweite Beobachtung she die
erste Beobachtung und so weiter. Der blinde Fleck liegt meines Erachtens nicht
allein in dem Nicht-Sehen innerhalb des intentional definierten Feld des Sehens,
sondern bereits in diesem abstandslosen und okularen Modell eines selbstbezg-
lichen, bestndigen Fortgangs intentionaler Akte von Unterscheidung zu Unter-
scheidung: Die eigene und die andere Beobachtung sind als Pole wechselseitiger
Anschauung bereits okular fixiert.
34
Sie haben die im Sinne der Phnomenologie
Husserls eingeklammerte Differenz, ohne die ihre operationale Geschlossenheit
gar nicht mglich wre, bereits bersprungen.
Den Abschied von den leib-eigenen Bildern eines sich in technischen Arte-
fakten ausdehnenden Menschen zu ermglichen ist hingegen der vornehmliche
Anspruch der Diskursanalyse der technischen Medien. Ob und wie jedoch ihre
desanthropologisierende Frage nach der Technik immer noch eine nach dem
Horizont zwischen Mensch und Technik bleiben muss, um nicht in eine neue
Ontologie einzumnden, mchte ich nun thesenhaft skizzieren.
3 . D I S K U R S A N A LY S E D E R T E C H N I S C H E N ME D I E N
Die Soziologie entdeckte in ihrer Frage nach den Epochenschwellen der gesell-
schaftlichen Steuerung die Verbreitungstechniken der Kommunikation (Luh-
mann), whrend die Diskursanalyse der Medien (Kittler) anzugeben versucht,
wie die Medientechnologien der Speicherung und bertragung selbst konstitu-
tiv und epochal Macht- und Wissensfelder erffnen.
35
Die Geschichte der ana-
logen Speicher- und bertragungsmedien so ihr pointiertes Grundaxiom en-
Die Zsur der Medien
42
det in einem historischen Moment, in dem es technisch mglich wird, diese Me-
dien im digitalen Medium aufzuheben. Und doch ist diese im Sinne Foucaults
Archologie der nicht mehr nur in Textsystemen niedergeschriebenen Archive
der technischen Medien keine klassische Technik-, Ingenieurs- oder Mathematik-
geschichte. Und zwar deshalb, weil wie die Humanwissenschaften auch die
technisch-mathematischen Diskursregeln oder Dispositive sich nicht einer unge-
brochenen Entwicklung der Ideen und Theorien subsumieren lassen, sondern er-
eignishaft an bestimmten historischen Schwellenpunkten sich verdichten: Der
Computer geht nicht vollstndig in seiner eigenen Vorgeschichte auf. Die Ge-
schichte der Steuermedien von den Walzen und Glockenspielen im 14. Jahrhun-
dert ber die Rechenautomaten von Pascal und Leibniz, die Lochkartenstreifen
der frhkapitalistischen Manufaktur und die volkszhlenden Hollerithmaschi-
nen bis zum Computer ist, wie Friedrich Kittler und Wolfgang Hagen gezeigt
haben,
36
fr die Heraufkunft des digitalen Mediums ebenso magebend wie die
Geschichte der Technisierung der Kalkl- und Logikmaschinen, die von Babbage
ber Boole zu Shannon und Turing fhrt.
37
Erst aber das Zusammentreffen der wissenssoziologisch gesprochen zu-
gleich externen wie internen Steuerung von Informationstheorie und -technik
38
konnte eine singulre Verflechtung von Krieg, Kybernetik und Kryptographie
nachweisen. Mit und seit diesem historischen Einschnitt der universellen diskre-
ten Maschine und ihres Prinzips digitaler Codierung ist eine epistemische Nach-
barschaft zwischen der Welt der Maschinen und der des Symbolischen
39
artiku-
lierbar geworden und mit ihr so Norbert Wiener schon 1948
40
, ein Begriffsfeld
der Information und bertragung, welches nicht-rckfhrbar auf das der Materie
oder Energie ist und den kategorialen Rahmen auch des soziologischen und an-
thropologischen Wissens verschiebt. Fr die gewiss eingeschrnktere Frage
nach dem Verhltnis von Sprache und Medialitt sind hierbei zwei Aspekte
grundlegend:
1. Mit dem Prinzip der strikten Sequenzialitt wurde dank der von John von
Neuman archtitektural vorgegebenen, entscheidungssicheren Funktionslogik des
Computers das bis heute gltige Verfahren, in Zahlen transformierte Daten und
Befehle zu speichern, einschlielich derjenigen Befehle, die diese Operationen
wiederum steuern, technischer Standard,
41
und dadurch auch die universelle Ei-
genschaft des digitalen Mediums, material wie medial unspezifische Zustnde
von berechenbaren Zeichenprozessen zu simulieren. Hiermit ist in Gestalt einer
Verkettung von Netzwerken aus binren Logikmaschinen eine von den vormali-
gen Medien losgelste Funktionslogik gegeben, die zugleich sich selbst und die
ehedem voneinander getrennten, analogen Medien re-prsentieren kann. Der in-
Georg Christoph Tholen
43
terpretationsfreie Symbolgebrauch, der sich der technisierten Aussagenalgebra
verdankt, die ja ihrer Definition nach nicht fr Aussageninhalte, sondern fr for-
malisierbare Platzhalter von Wahrheitsvariablen und ihren Konjunktionen und
Disjunktionen zustndig ist,
42
erlaubt die Bestimmung der Computer so z. B.
Sybille Krmer als Maschinen, die jede beliebige symbolische Maschine imitie-
ren knnen.
43
Diese substitutive Metaphorizitt der Maschine kombiniert sich
mit einer anderen, die die technischen bzw. kryptographischen Probleme der
bertragung und Substituierbarkeit von Nachrichten bzw. Buchstaben betrifft:
2. Die Auflsung des referenziellen Bezuges auf vorgegebene Zweckbestim-
mungen durch die universelle symbolische Maschine verkreuzt sich mit dem,
was in der modernen Sprachwissenschaft mit der berwindung der vorher als
natrlich oder referenziell gedachten Eigenschaft der Zeichen denkbar wurde:
Arbitraritt, Differenzialitt und Substituierbarkeit der verweisenden Zeichen.
Zunchst aber findet sich das Problem der Funktion dieses bedeutungs-losen Bo-
ten oder Bedeutungstrgers in dem Informationskonzept Norbert Wieners und
Claude Shannons wieder: Bekanntlich fragt dieses nicht danach, was bertragen
wird, sondern dass bertragen wird. Eingeklammert bleibt in diesem nachrich-
tentechnischen Diskurs das Verhltnis von Botschaft und Interpretation. Indem
so mit der basalen Unterscheidung des syntaktischen Minimums JaNein vom
Rauschen in den Kanlen Information definiert wird als etwas, das zwischen zwei
gleich wahrscheinlichen Alternativen bertragen wird, ist fortan eine nicht auf
ihre materielle Trgergestalt zurckfhrbare Struktur differenzieller Relationen
eingefhrt, die als binrer Maschinencode in Computerarchitektur berfhrbar
wurde: Nur wenn Systemelemente die Chance haben, da oder dort, anwesend
oder abwesend, offen oder geschlossen zu sein, erzeugt das System Information.
Deshalb ist die Kombinatorik auf der Basis von Wrfeln entstanden [] und die
Computertechnologie auf der Basis endlos wiederholter Gatter (vgl. Claude E.
Shannon: A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits, in: Transactions of
the American Institute of Electrical Engineers 57, 1938, S. 713722).
44
Doch ob mit diesem universellen Medium des Symbolischen der Mensch
und seine Sprache abgelst oder gar verabschiedet wird, Medien anstelle von
Knsten treten und wir mithin vom Joch der Subjektivitt befreit werden, wie
Kittler in einigen seiner Texte in Anlehnung an Hegels Geschichtsphilosophie
zu pointieren versucht,
45
ist fraglich und berspringt den negativ-anthropolo-
gischen Horizont der Ordnung des Symbolischen: Denn die Struktur der Aus-
tauschbarkeit und Ersetzbarkeit, die der Sprache zukommt und vorausgeht, ist die
nicht-technische, uneinholbare Voraussetzung der technischen Medien selbst,
das heit: ihres Vermgens, ebendiese sprachliche Struktur der Ersetzbarkeit
Die Zsur der Medien
44
computertechnisch ersetzen zu knnen. Und darber hinaus liee sich die me-
dienhistorisch einschneidende Platzverschiebung zwischen den Medien gar nicht
datieren, gbe es nicht einen dritten Ort, dem wir nun zum Abschluss als dem
Zwischenraum des Symbolischen und Medialen begegnen werden.
4 . D E R Z WI S C H E N R A U M D E S ME D I A L E N
Technische Medien sind also weder Prothesendes Menschen, noch kann dieser als
Prothese technischer Automaten vollstndig verrechnet werden. Der anthropolo-
gische wie neurokulturelle Kurzschluss von Krper und Technik, Menschen und
Programmen ist ein Phantasma, das die differenzielle Kluft der Sprache vergisst
und berdeckt. Gerade aber die List bzw. Techn der Sprache, nmlich als Bote
sich von der Botschaft, die sie bertrgt, distanzieren zu knnen, ist die nicht-
instrumentelle Wendbarkeit oder Dis-ponibilitt des Medialen.
46
Information ist,
so hrten wir, weder Materie noch Energie. Dieser von Norbert Wiener zuerst
formulierte epistemologische Schnitt in der Geschichte des Wissens
47
verweist
auf den Entzug der Zeit und den Zwischenraum im Begriff der Informationsein-
heit: Die kleinste Einheit ein Bit ist nach Gregory Bateson der Unterschied,
der einen Unterschied macht.
48
Doch diese Definition ist ungenau, da die Infor-
mation im ontischen Kontinuum materieller Einheiten keinen Platz einnimmt,
sondern diesen allererst artikuliert, d. h. mit-teilt.
49
Folglich so Bernhard Viefs
wegweisende Studie ist ein Bit nicht einfach, sondern zweifach gegeben. Anders
gesagt: Die Elementarzeichen sind keine Elementarteilchen, sondern immateriel-
le Teiler: Sie sind relativ, nicht absolut, und als Relationen haben sie weder rum-
liche noch zeitliche Ausdehnung, noch besitzen sie irgendwelche anderen physi-
schen Qualitten wie Masse, Geschwindigkeit oder Impuls.
50
Die Sprache als soziales Band ist wie schon Saussure zeigte weder Form
noch Substanz, Laut oder Gedanke, sondern deren sie ermglichende Artikula-
tion. Diese Artikulation prozediert als das ursprungslose Werden von Unter-
scheidungen, die sich unterscheiden dank eines rein differenziellen Stellungs-
spiels, ohne das es keine Stelle gbe, und also keine Identitt eines Zeichens, das
irgendetwas reprsentieren knnte. Diese Bewegung der Differenzialitt ist we-
der anwesend noch abwesend, weder 0 noch 1 als Zustand. Sie macht als reine
Platzverschiebung erst mit-teilbar, dass etwas an seinem Ort sein kann: Der Tren-
nungsstrich des Symbolischen kommt gleichsam dazwischen.
51
Was hat dieser
mediale Ab-Ort des Zeichens mit dem Binrcode der Maschine, d. h. der univer-
sellen Kombinatorik medialer Substitutionen zu tun? Nun: die binre Zeichen-
Georg Christoph Tholen
45
folge 0 und 1 , Anwesenheit und Abwesenheit, ist positionierbar ja erst als Ef-
fekt der sie artikulierenden Alternanz, welche die Pltze von 0 und 1, d. h. ge-
schlossene und offene Tren
52
bzw. Kippschalter in ihrer disjunktiven Konjunk-
tion, zusammentreffen lsst: Was ist eine Botschaft im Inneren einer Maschine?
Das ist das, das durch ffnung oder Nichtffnung vor sich geht, wie eine elektri-
sche Lampe durch An oder Aus. Das ist etwas Artikuliertes, von derselben Ord-
nung wie die grundlegenden Oppositionen des symbolischen Registers.
53
Der
Schalter der Schaltalgebra ist also das dritte Moment: die Artikulation, die selbst
weder offen noch geschlossen ist, sondern die Erffnung dieser rein stellenwerti-
gen Zustnde gestattet. Die strukturelle Funktion des Schalters oder der Tr ist
wie Lacan an der Prinzipschaltung der kybernetischen Maschine darlegte das an
sich selbst undarstellbare Symbol des Verschwindens und Auftauchens selber; et-
was, das an seinem Platz fehlt. Jenseits vitalistischer oder mechanistischer Model-
le ist mit der Theorie und Technik verschiebbarer Pltze ein Denken der Leerstel-
len mglich geworden, das nicht die Leere oder Flle eines vorgegebenen Raumes
meint: Der Wissenschaft dessen, was sich immer am selben Platz wiederfindet,
substituiert sich so die Wissenschaft der Kombination der Pltze als solcher.
54
Dieser weder anthropomorphe noch technomorphe Gestalt annehmen-
de Ab-Ort des Signifikanten ist der Einschnitt, der etwas Sichtbares, Zeigbares,
da oder nicht da sein lsst, eine Ordnung von Einschnitten in einem eminent
technischen Sinne, ber die wir nicht verfgen in einem manipulativen Sinne.
Dieses Meta-Pherein, also ber-tragen der technischen Medien ist also genau der
Bote, insofern er sich in allen bertragungs- oder Sendetechniken (vom Mara-
thonlufer ber die Post bis zum elektronischen Netz) nur mit-teilt, indem er sich
zurckzieht: Bevor sich etwas mit-teilen lsst, mu sich der Mitteilung eine Tei-
lung vorausgeschickt haben, die auf der Ebene des Mitgeteilten nicht Bedeutung
werden kann.
55
Das Medium ist die Botschaft diese These knnte in diesem
Sinne dann heien: Die disponiblen Mittel sind stets medial ver-wendbar, d. h.
als wie immer auch machtwirksame und machtverteilende Gebrauchsvorschrif-
ten zu beschreiben und zugleich als pragmatische, knstlerische und kommuni-
kative Zugnge zu platzieren. Als Ganze sind sie so wenig verfgbar wie das
Soziale oder das ffentliche. Medialitt deplatziert das Phantasma seiner Aneig-
nung, da sie ein weder sinnlicher noch bersinnlicher Ort ist, eher eine Diaspora
oder genauer: eine Chora.
56
Das gelufige Bild des Technischen der Schematismus der Leib-Eigen-
schaft des medienanthropologischen Diskurses reduziert Unbekanntes auf Be-
kanntes: der Hammer verlngert den Arm, der Rundfunk dehnt das Hrverm-
gen aus, das Fernsehen verkrpert die Universalisierung des Auges. Doch der
Die Zsur der Medien
46
unverfgbare Ort des Symbolischen zeigte uns gerade in seiner technisch gewor-
denen Gestalt der binren Schaltkreise der Informationstechnologie, dass die
Techniken den Platz des Leibes als den seiner substituierbaren Imaginationen im-
mer schon verschoben haben. Anders gesagt: die Verschiebbarkeit der begehrten
Objekte bekundet a priori die ablsbaren Begehrensweisen des Leibes, ihre Dis-
tanznahme zu der Funktion der instrumentellen Bedrfnisbefriedigung. Das
Technische berformt nicht das Unmittelbare oder Natrliche, wie bereits Walter
Benjamin und Martin Heidegger angesichts der Reproduktions- und bertra-
gungstechnikenihrer Zeit nachgewiesenhaben. Mit der Technologie der Informa-
tionist folglichkeine Prothese des Menschenvollkommener, wohl aber die imagi-
nre Zuweisung des Technischen als Projektion des Krpers und seiner
Werkzeugfunktionen fragwrdiger geworden; ebenso aber auch die Diskursfigur
vomEnde der Gutenberg-Galaxis wie auch die vomAbschied des Menschen oder
garderGeschichte. DieEinbildungskraft alsProblematisierungsozialerwietechni-
scher Vorschriftenlsst sichdurchdas Erscheinendigitaler Mediennicht ersetzen.
Anders und abschlieend gesagt: Man kann nicht, wie Blanchot insistierte,
in die unerschtterliche Welt der Dinge hineingleiten, weil die rastlose Unruhe
der Sprache der Neigung alles Gesagten, [] definitiv zu werden,
57
zuvor-
kommt.
1 Im nachgerade unbekmmerten Gestus eines puren Werbeversprechens mit kokett antihistori-
scher Pointierung verknden Trendanalysen wie die von Norbert Bolz, Nicolas Negroponte u. v. a.
im diametralen Gegensatz zu jeder historisch-transzendentalen Reflexion des medialen Aprioris
der Informations- und Kommunikationstechnologie die bereits erreichte Ankunft einer multimedial
erfllten Prsenz: Informationsgesellschaft als positive Lebensstimmung einer Cyberwelt, von der
nichts und niemand ausgeschlossen sei. In der zeitgenssischen Debatte um die kulturstiftende
Rolle der neuen Medien ist der lebensphilosophische Diskurs hnlich wie um 1900 wieder virulent
geworden, seine Vorzeichen oszillieren gem seiner imaginren Logik zwischen positivem oder
negativem Pol in unheimlicher Komplementaritt. Denn gleichviel, ob der Kulturzerfall beklagt,
das Ende des Menschen beschworen oder dieses als Ende der Geschichte gefeiert wird, der Kult
des apriorischen Verdachts gegenber den dem Wesen des Menschen fremden oder diesem ab-
trglichen Effekten der Technik und Maschinen ist strukturell der These des neurokulturellen oder
quasibiologischen Kurzschlusses von Mensch und Medien (de Kerckhove, Bolz) verwandt. So
nimmt es kaum wunder, wenn Theoretiker des Wissensdesigns von Hypermedien in der schnellen
Verarbeitungskapazitt der alles Menschenma sprengenden Informationsflut das groe Zivilisa-
tionsproblem des 20. Jahrhunderts sehen. Das Phantasma eines alles Wissen vergleichzeitigenden
visuellen Kommunikationsdesigns wird so etwa bei Norbert Bolz zum selbstgengsamen Ideal-
bild des endgltigen Abschieds von der Gutenberg-Galaxis: Das Hauptproblem in der Datenflut ist
ja, zu wissen, was man wei. Informationsberlastung erscheint heute als Normalfall der Welt-
wahrnehmung. Deshalb stellt die Informationsgesellschaft immer entschiedener von verbaler auf
visuelle Kommunikation um, da man Information in numerischen Bildern viel strker verdichten
kann als in Sprache. (Norbert Bolz: Computer als Medium Eine Einleitung, in: N. Bolz/F. Kittler/
G. C. Tholen (Hg.): Computer als Medium. Literatur- und Medienanalysen, Bd. 4, Mnchen 1994,
S. 15. Vgl. auch N. Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhltnisse,
Mnchen 1993). Solch euphorisches Szenario einer vollstndigen Medienevolution auf der Basis
der universellen Digitalitt, die den Abschied vom Buch, vom Alphabetisch-Literarischen oder gar
Georg Christoph Tholen
47
vom Menschen einzuluten sich nicht scheut, bersieht ihre eigene verborgene geschichtsphiloso-
phische Annahme: nmlich die Suggestion, die unverfgbare Zsur des Vergangenen wie Zuknfti-
gen zugunsten einer ins Absolute aufgespreizten Gegenwart als Paradies ohne Differenz und Man-
gel berspringen zu knnen. Ich komme auf das Dispositiv dieser beinahe halluzinatorischen
Symbiose von Mensch und Medium zurck.
2 Vgl. hierzu auch im Anschluss an die wie immer auch implizit zu nennenden medientheoretischen
Konzeptionen Merleau-Pontys, Derridas und Lacans meinen Beitrag: Der Verlust (in) der Wahrneh-
mung. Zur Topographie des Imaginren, in: texte. psychoanalyse. sthetik. kulturkritik, Heft 3, Wien
1995, S. 4675; sowie grundlegend: Iris Drmann: Tod und Bild. Eine phnomenologische Medien-
geschichte (Phnomenologische Untersuchungen, Bd. 5), Mnchen 1995.
3 Vgl. zur medientheoretischen Relevanz des von Heidegger bereits in seiner Vorlesung Die Frage
nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundstzen (1935/36) entfalteten Be-
griffs der Techn und Axiomatik des Dings als eines unverfgbaren Spielraums des Mathemati-
schen meinen Beitrag: Platzverweis. Unmgliche Zwischenspiele von Mensch und Maschine, in:
Bolz/Kittler/Tholen: Computer als Medium (Anm. 1), S. 125127.
4 Vgl. im berblick Alfred Messerli: Grenzen der Schriftlichkeit, in: Jrg Huber/Alois Martin Mller
(Hg.): Raum und Verfahren, Basel 1993, S. 133 f.
5 Vgl. hierzu Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im
20. Jahrhundert, Mnchen 1986; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frhen Neuzeit. Eine his-
torische Fallstudie ber die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien, Frankfurt/M. 1991; ders.: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vor-
geschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt/M. 1992; Aleida Assmann: Exkarnation.
Gedanken zur Grenze zwischen Krper und Schrift, in: Huber/Mller: Raum und Verfahren (Anm.
4), S. 133156.
6 Vgl. zum mathematisch und technisch przisen Begriff der zweckoffenen Simulation, der allererst
einem kulturwissenschaftlich operationalisierbaren Begriff der Information Raum gibt, u. a. Giu-
seppe O. Longo: Die Simulation bei Mensch und Maschine, in: Valentin Braitenberg/Inga Hosp (Hg.):
Simulation. Computer zwischen Experiment und Theorie, Reinbek 1995, S. 2643.
7 Werner Rammert: Computerwelten. Vollendung der Moderne oder Epochenbruch zur Postmoder-
ne?, in: Soziologische Revue, Heft 1, 1995, S. 3946.
8 Werner Rammert: Wer oder was steuert den technischen Fortschritt? Technischer Wandel zwischen
Steuerung und Evolution, in: Soziale Welt, Heft 1, 1992, S. 7 bzw. 12.
9 Vgl. hierzu u. a.: Manfred Faler: Gestaltlose Technologien?, in: M. Faler/W. Halbach (Hg.): Insze-
nierungen von Informationen. Motive elektronischer Ordnung, Gieen 1992, S. 1252, sowie Dies.:
Cyberspace. Gemeinschaften, Virtuelle Kolonien, ffentlichkeiten, Mnchen 1994, und mit einer
eher sozialpsychologischen Fragestellung Christel Schachtner: Geistmaschine. Faszination und
Provokation am Computer, Frankfurt/M. 1993.
10 Deren ontologischer wie kategorialer Status als einer einer end-losen und paradoxalen Offenheit
des Experimentalen hat Jean-Franois Lyotard bereits 1979 in seinem provokativen Entwurf Das
postmoderne Wissen. Ein Bericht (dt. Fassung zuerst in: Theatro Machinarum, Heft 3/4, Bremen
1982), umrissen und in seinen spteren Untersuchungen wie Die Moderne redigieren und Logos
und Techne, oder: die Telegraphie (beide in: Jean-Franois Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien
ber die Zeit, Wien 1989, S. 5170 bzw. 89106) gegen das kurrente Selbstmissverstndnis einer
historistischen und/oder geschichtsphilosophisch berhhten Definition der Postmoderne als einer
abgeschlossenen oder abschlieenden Epoche przisiert. Vgl. hierzu zusammenfassend: Hans-
Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrche. Stationen offe-
ner Epistemologie, Frankfurt/M. 1991.
11 Vgl. Faler/Halbach: Cyberspace (Anm. 9), S. 11.
12 Wolfgang Coy: Aus der Vorgeschichte des Mediums Computer, in: Bolz/Kittler/Tholen (Hg.): Compu-
ter als Medium (Anm. 1), S. 19. Vgl. auch Wolfgang Coy: Ein post-rationalistischer Entwurf, in: Terry
Winograd/Fernando Flores (Hg.): Erkenntnis Maschinen Verstehen. Zur Neugestaltung von Compu-
tersystemen, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 296314.
13 Das gemeinsam mit Bruce R. Powers erarbeitete Sptwerk Marshal McLuhans The Global Village.
Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert (1989, dt.: Paderborn 1995) ist hierfr eben-
so einschlgig wie das unter dem Titel Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer (Mnchen
1995) ins Deutsche bersetzte Buch des McLuhan-Nachfolgers Derrick de Kerckhove (der Titel der
frz. Originalausgabe lautet La civilisation vido-chrtienne, Paris 1990).
Die Zsur der Medien
48
14 Wolfgang Welsch: Knstliche Paradiese? Betrachtungen zur Welt der elektronischen Medien und
zu anderen Welten, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift fr Historische Anthropologie, Berlin
1995, Bd. 4, Heft 1, S. 255277.
15 Vgl. Ulrich Sonnemann: Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Reinbek
1969.
16 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Mnchen 1974; ders.: Archologie des Wissens,
Frankfurt/M. 1973. Und unter dem Aspekt der topologischen Konzeptualisierung der Verflechtung
von Macht und Wissen: Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt/M. 1987.
17 Jrgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. 1968, S. 48103.
18 Ebd., S. 5657.
19 Ebd., S. 56.
20 Diese Projektion leibunmittelbarer Eigenschaften des Menschen in das Technische bedeute im Zeit-
alter psycho- und gentechnischer Experimente, wie Habermas unter Bezugnahme auf Marcuses
Kritik des eindimensionalen Menschen im Weiteren ausfhrt, die wachsende Gefahr der entfrem-
denden Verdinglichung des technisch-adaptiven Verhaltens.
21 Vgl. grundlegend zum Zirkelschluss dieses anthropologischen Schemas, dem die Sprnge und Z-
suren in der Theorie und Geschichte der Technik entgehen mssen, die umfassenden Analysen von
Hans-Dieter Bahr: Kritik der politischen Technologie. Eine Auseinandersetzung mit Herbert Mar-
cuse und Jrgen Habermas, Frankfurt/M. 1970; ders.: ber den Umgang mit Maschinen, Tbingen
1983; ders.: Machinationen. Fhrtenwechsel zwischen Philosophie und Kunst, Tbingen 1985.
22 Marshall McLuhan: Die magischen Kanle, Dsseldorf/Wien 1968, S. 9 u. 63 (engl.: Understanding
Media, Toronto 1964); ders.: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Dsseldorf/Wien
1968 passim. (engl.: The Gutenberg Galaxy, Toronto 1962).
23 Vgl. exemplarisch: Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psy-
choanalyse, in: ders.: Schriften I, Olten 1973, S. 71170; ders.: Das Drngen des Buchstabens im
Unbewuten oder Die Vernunft seit Freud, in: ders.: Schriften II, Weinheim/Berlin 1986, S. 1555.
24 McLuhan: Die magischen Kanle (Anm. 22), S. 10.
25 Dass diese Implosion von Werbung und Propaganda (Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten, Kap.
Der Papst und das Fernsehen (Anm. 13), S. 121132) nicht nur schlecht bersetzt, sondern unkom-
mentiert in einem serisen, kulturwissenschaftlich bedeutsamen Verlag abgedruckt wurde, ber-
steigt meinen Verstehenshorizont. Wie soll man z. B. Stze wie diese aufnehmen: Der echte
Papst Johannes-Paul II. hat eine groe Ausstrahlung und physische Prsenz und zeichnet sich
durch eine starke Persnlichkeit und ein hohes Ma an Eingebung aus. Das lt seine Person in-
tensiver und im hchsten Mae real wirken [] Im Fernsehen wird er ein bionischer Mensch,
dessen sinnliche Prsenz der Gre des Empfangsgebiets der Sendung entspricht [] Papst
Johannes-Paul II. erkennt die zentralen Probleme der psychologischen Transformation des Fern-
sehzuschauers besser als der Groteil unserer Pdagogen [] Er grte die Masse, als ob er mit
jedem einzelnen kommunizierte [] Der Papst zhlt zu den wenigen Personen, die zu Recht eine
planetarische Identitt fr sich in Anspruch nehmen knnen [] Das vom Fernsehen ber die gan-
ze Welt verbreitete Bild des Papstes ist ein elektronisches Symbol fr eine den gesamten Planeten
umfassende Menschlichkeit. Als solches ist es eine bedeutende Ikone des 20. Jahrhunderts [].
Unterhalb dieser Propagandaschwelle, und sie als Imaginarium bedingend, wuchert das neurobio-
logische Phantasma der Medien als Leibprojektion; auch hierzu nur zwei Beispiele, die das Lekto-
rat bersehen haben muss: Durch den Walkman werden wir zu Veruerungen der Transistoren
(S. 192), oder knapper: Heutzutage sind wir dagegen im Begriff, Halbleiter zu werden. (S. 196)
26 Vilm Flusser: Ins Universum technischer Bilder, Gttingen 1990, S. 19.
27 Vilm Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Gttingen 1990, S. 15.
28 Vgl. hierzu Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, Mnchen 1986.
29 Sybille Krmer: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriss,
Darmstadt 1988, S. 5. Zur handlungstheoretisch irreduziblen Vorgngigkeit des Symbolischen und
Mathematischen vgl. hingegen zusammenfassend: Hans-Joachim Metzger: Play it again, Sam!, in:
Der Wunderblock. Zeitschrift fr Psychoanalyse, Nr. 4, Berlin 1980, S. 334; Dieter Hombach: Katas-
trophentheorie und Psychoanalyse, in: M. O. Scholl/G. C. Tholen (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschbe und
Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 137156.
30 Siegfried Zielinski: Von Nachrichtenkrpern und Krpernachrichten. Ein eiliger Beutezug durch
zwei Jahrtausende Mediengeschichte, in: E. Decker/P. Weibel (Hg.): Vom Verschwinden der Ferne.
Telekommunikation und Kunst, Kln 1990, S. 229230.
Georg Christoph Tholen
49
31 Niklas Luhmann in: H. U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.): Materialitt der Kommunikation, Frank-
furt/M. 1988, S. 884.
32 Niklas Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 892. Vgl. ausfhrlich zum
stets schon vorausgesetzten Ort der Selbstreferenzialitt, die den von ihr entschiedenen Unter-
schied von Selbstreferenz und Fremdreferenz operational konstruiert: Niklas Luhmann: Die Reali-
tt der Massenmedien, Opladen 1996.
33 Vgl. hierzu ausfhrlich: Dirk Baecker: Die Kunst der Unterscheidungen, in: Ars Electronica Linz
(Hg.): Im Netz der Systeme, Berlin 1990, S. 8. Zu dem Selbstverstndnis anti-objektivistischer Ky-
bernetik der zweiten Generation, deren epistemologisches Modell Systemtheorie und radikaler
Konstruktivismus verwenden, vgl. auch resmierend: Ranulph Glanville: Objekte, Berlin 1988.
34 Vgl. hierzu auch meinen Beitrag: Platzverweis. Unmgliche Zwischenspiele von Mensch und Ma-
schine, in: Bolz/Kittler/Tholen (Hg.): Computer als Medium (Anm. 1), S. 120121, sowie zur funda-
mentalen Differenz von Auge und Blick: Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse,
in: ders.: Das Seminar, Buch XI (1964), Olten 1978, S. 73128; Ulrich Sonnemann: Tunnelstiche.
Reden, Aufzeichnungen und Essays, Frankfurt/M. 1987, bes. S. 261321.
35 Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, Mnchen 1989; ders.: Grammophon, Film,
Typewriter, Berlin 1986; ders.: Draculas Vermchtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993.
36 Vgl. u. a. Friedrich Kittler: Die knstliche Intelligenz des Weltkriegs, in: F. Kittler/G. C. Tholen (Hg.):
Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalysen I, Mnchen 1989, S. 187202; Wolfgang Hagen:
Die verlorene Schrift. Skizzen zu einer Theorie der Computer, in: Kittler/Tholen: Arsenale der See-
le, S. 211230.
37 Vgl. hierzu exemplarisch: Andrew Hodges/Alan Turing: Enigma, Berlin 1989; Sybille Krmer: Ope-
rative Schriften als Geistestechnik. Zur Vorgeschichte der Informatik, in: P. Schefe u. a. (Hg.): Infor-
matik und Philosophie, Mannheim 1993, S. 6984; Wolfgang Coy: Reduziertes Denken. Informatik in
der Tradition des formalistischen Forschungsprogramms, in: Schefe: Informatik und Philosophie,
S. 3152.
38 Vgl. Friedrich-Wilhelm Hagemeyer: Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichten-
technik. Eine Fallstudie zur Theoriebildung in der Technik in Industrie- und Kriegsforschung, Ber-
lin 1979 (Inaug.-Diss., FU Berlin, FB Philosophie und Sozialwissenschaften); Friedrich Kittler:
Signal- Rauschen-Abstand, in: Gumbrecht/Pfeiffer (Hg.): Materialitt der Kommunikation (Anm.
31), S. 342359.
39 Vgl. Friedrich Kittler: Die Welt des Symbolischen eine Welt der Maschine, in: ders.: Draculas Ver-
mchtnis. Technische Schriften (Anm. 35), S. 5880.
40 Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenbertragung in Mensch und Maschine,
Reinbek 1968.
41 Vgl. hierzu Hagen: Die verlorene Schrift (Anm. 36), S. 211320.
42 Vgl. hierzu resmierend u. a. Hans Sachse: Einfhrung in die Kybernetik, Braunschweig 1971; Erich
Merkel: Technische Informatik. Grundlagen und Anwendungen Boolescher Maschinen, Braun-
schweig 1973.
43 Krmer: Symbolische Maschinen (Anm. 29), S. 3.
44 Kittler: Signal Rausch Abstand (Anm. 38), S. 344. Vgl. zur historischen und transzendentalen Z-
sur der medialen Verschiebung der Einbildungskraft im Diskurs der Digitalitt und zum Verhltnis
von Subjektivitt, Sprache und Dichtung auch den grundlegenden Beitrag von Jens Schreiber:
Word-Engineering Informationstechnologie und Dichtung, in: Jochen Hrisch/Hubert Winkels
(Hg.): Das schnelle Altern der neuesten Literatur, Dsseldorf 1985, S. 287305.
45 Vgl. u. a. Friedrich Kittler: Fiktion und Simulation, in: Ars Electronica Linz (Hg.): Philosophie der
neuen Technologie, S. 5780; ders.: Geschichte der Kommunikationsmedien, in: Huber/Mller (Hg.):
Raum und Verfahren (Anm. 4), S. 169188.
46 Vgl. hierzu Hans-Dieter Bahr: Medien und Philosophie (Manuskript), erscheint in: Handbuch Me-
dienwissenschaft, Berlin/New York 1996.
47 Vgl. auch unter physikhistorischem Vorzeichen Carl Friedrich von Weizscker: Materie, Energie, In-
formation, in: ders.: Die Einheit der Natur, Mnchen 1971; ders.: Zeit und Wissen, Mnchen/Wien
1992, S. 342.
48 Vgl. hierzu Gregory Bateson: Die Kybernetik des Selbst, in: ders.: kologie des Geistes, Frankfurt/
M. 1985, S. 408 f.
49 Vgl. zu dieser transzendentalen, genauer: undarstellbaren Voraussetzung von Mitteilung, Botschaft
und Kommunikation u. a. Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988; ders.:
Die Zsur der Medien
50
Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des Kommunismus zur Gemeinschaftlichkeit der
Existenz, in: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994,
S. 167204.
50 Bernhard Vief: Die Bits als Elementarzeichen. Vereinfachung, die im Zweifachen endet, in: Paragra-
na. Internationale Zeitschrift fr Historische Anthropologie, Heft 1/92, Berlin 1992, S. 90.
51 Vgl. zur Aufnahme und Verwendung des Saussureschen Zeichenbegriffs in Lacans Konzept des
Symbolischen u. a. meine Zusammenfassung in: Wunsch-Denken. Versuch ber den Diskurs der
Differenz, (Kap. Vom Sinn verschieden: Die unentscheidbare Natur des Zeichens), Kassel 1986,
S. 146198. Die Platzverschiebung artikuliert so auch die Bedingung der Mglichkeit einer strikt
historischen Unterscheidung von Gedchtnisformen und -kulturen, wie Marianne Schuller in ihrer
Relektre der asymmetrischen Beziehungen von Erinnern und Vergessen bei Freud, Warburg und
Benjamin hervorhebt: Das Gedchtnis, welches die neuen Technologien herstellen, ist [] prin-
zipiell ungesttigt. Denn mit der Digitalisierung ist eine berbietung denkbarer Gedchtnisleistun-
gen eingeleitet. Warum? Weil die Digitalisierung 0/1/0/1 zur berfhrung der unterschiedlichen
gedchtnisbildenden Aufzeichnungssysteme wie Rede, Bild und Schrift in einen Universalcode ten-
diert. Damit ist die technische Voraussetzung fr eine Speicherkapazitt erschlossen, die ber das
menschliche Gedchtnis hinausgeht. (Marianne Schuller: Bilder Schrift Gedchtnis, in: Huber/
Mller (Hg.): Raum und Verfahren (Anm. 4), S. 105)
52 Vgl. hierzu Jean Prin: Les Portes/Die Tren, in: Der Wunderblock. Zeitschrift fr Psychoanalyse,
Nr. 17, Berlin 1987, S. 2635.
53 Jacques Lacan: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse (Das Seminar,
Buch II), Olten/Freiburg 1980, S. 117.
54 Ebd., S. 379.
55 Hans-Joachim Lenger: Host Point Poll. Ist Medientheorie ontologisch? (Unverffentlichtes Vor-
tragsmanuskript, Lneburg Juli 1994), S. 5.
56 Vgl. Jacques Derrida: Chra, Wien 1990, sowie unter dem Aspekt der noch ausstehenden Dekon-
struktion des mediatisierten Raums der ffentlichkeit und Politik: ders.: Marx Gespenster, Frank-
furt/M. 1995, S. 87.
57 Maurice Blanchot: Ich bin unglcklich, in: Claudia Gehrke (Hg.): Ich habe einen Krper, Mnchen
1981, S. 295. Zu dieser Unhintergehbarkeit im Verhltnis der Historischen Anthropologie zur Dis-
kursanalyse technischer Medien vgl. auch Dietmar Kamper: Poesie, Prosa, Klartext. Von der Kom-
munion der Krper zur Kommunikation der Maschinen, in: Gumbrecht/Pfeiffer (Hg.): Materialitt
der Kommunikation (Anm. 31), S. 4350. Die Zsur von Sprache, Krper und Medien, an die Kamper
erinnert, bedeutet: Einzig im Medium der Sprache mag Nicht-Sprachliches auftauchen, und damit
das Materielle der Kommunikation. Einzig sprachlich ist [] das Drauen mglich. [] Vollend-
eter Klartext wre wie vollendete Metastase ein Tod ohne Wiedergeburt, ein Tod der Sprache wie ei-
ner des Krpers, der jeglichen Gestaltwandel ausschliet. (Kamper: Poesie, Prosa, Klartext. Von
der Kommunion der Krper zur Kommunikation der Maschinen, S. 44/46)
Georg Christoph Tholen
51
Georg St ani t zek
K R I T E R I E N D E S L I T E R AT U R WI S S E N S C H A F T L I C H E N D I S K U R S E S B E R ME D I E N
Wenn Literatur im Wandel ihrer medialen Bedingungen in den Fokus literatur-
wissenschaftlichen Arbeitens rckt, kann es nicht darum gehen, vertraute
Historisierungs-, Interpretations- und sthetische Wertungsstrategien unter ver-
ndertem Namen wiederaufzulegen. Aber wie soll man sich als Literaturwissen-
schaftlerIn zu Fragen des Medienwandels verhalten? Was sind Medien? Welche
Medien? Wie sind sie zu beschreiben? Was motiviert diese Beschreibung, und ist
eine solche Motivation fr die dann gewhlte Sprache gleichgltig? Was sagt, wer
Literatur im Kontext der modernen Medien
1
sagt? Kann man davon ausgehen,
es hier (nur) mit einem anderen, einem weiteren Kontext zu tun zu haben? Lsst
ein solcher Kontext die vertrauten Texte unverndert, lsst er sie blo in neuem
Licht erscheinen? Illustriert er sie nur? Ist Literatur etwas Vormodernes, das nun
mit modernen Neuerungen konfrontiert wird oder von uns Literaturwissen-
schaftlerInnen mit diesen Neuerungen zu konfrontieren wre? Literatur und
Medien? (Besser schon: Sprache, Literatur, Kultur, im Wandel ihrer medialen
Bedingungen; in diesem Reflexivpronomen scheint mir ein Plus gegenber
dem leicht adversativ zu verstehenden und zu liegen; aber seien wir uns nicht
zu sicher.) Solche Formulierungsfragen sind alles andere als bloe Fragen des Eti-
ketts. Dichtung in der Informationsgesellschaft
2
welche konzeptionellen Vor-
annahmen und -entscheidungen sprechen aus einer solchen Formulierung? Wird
da vielleicht vorschnell etwas abgedichtet?
1 . V O R T H E O R E T I S C H E A B WE H R T H E O R E ME U N D B L I N D E F L E C K E N
( E I N P H R A S E O L O G I S C H E S B E I S P I E L )
Im Folgenden soll eine These unter verschiedenen Aspekten diskutiert werden:
Wer als LiteraturwissenschaftlerIn glaubt, unbefangen an Fragen der Medien und
des Medienwandels herangehen zu knnen, wird zwangslufig eine Reihe grund-
legender Fehler machen. Der vielleicht wichtigste Fehler der uns hier vorrangig
beschftigt liegt in der Wahl eines Ansatzpunktes, den man als kulturkritischen
Abwehrreflex bezeichnen kann. Reflex deshalb, weil besonders jener Fall inter-
essiert, in dem diese Option von den Betreffenden gar nicht intendiert ist, son-
dern sich gewissermaen nolens volens einstellt. Bewusst oder explizit wert-
konservativ ansetzende Positionen stehen also gar nicht im Zentrum dieser
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
52
berlegungen. Die genannte Option ist vielmehr ganz genauso bei AutorInnen
vorzufinden, die sich Richtungen wie der Dekonstruktion oder Empirischen Li-
teraturwissenschaft zurechnen. Sie setzt sich einfach durch, nachdem eine be-
stimmte termino- oder selbst nur phraseologische Programmierung sie auf den
Weg gebracht hat. Um einen Ausweg aus diesem Dilemma gleich vorwegzu-
nehmen (und zugleich einen weiteren, ebenso naheliegenden wie schwerwiegen-
den Fehler zu bezeichnen): Wichtig drfte sein, dass man nicht davon ausgeht zu
wissen, worum es sich bei den Medien eigentlich handelt und das heit auch:
worum es sich bei Literatur in diesem Zusammenhang eigentlich handelt. Nur
unter der Bedingung dieses Aufschubs ist literaturwissenschaftliche Kompetenz
zu entwickeln. Soviel vorweg ,
aber fangen wir mit uns selbst an. Lesen wir noch einmal, wie wir unser
Projekt seinerzeit angekndigt haben.
3
Etwa den Passus: dass ein kulturkriti-
scher anti-technischer Affekt nicht ausreicht, um auf die neuen medientechno-
logischen Herausforderungen auch neue Antworten zu finden.
4
Dieser Satz an-
nonciert die Ausrichtung des Projekts Literatur pp. im Medienwandel. Die
Annonce besagt auf der einen Seite, dass ein hochemotionalisiertes Thema ange-
gangen werden soll, ohne dass man es bei den im kulturkritischen Haushalt der
Literaturwissenschaft blichen Emotionen bewenden lassen will. Auf der ande-
ren Seite schlgt aber in der zitierten Formulierung etwas ganz anderes zu Buche:
Der Projekt-Vorschlag bedient sprachlich das Lexikon derer, die ein solches Pro-
jekt immer schon und immer wieder gestrichen wissen wollen; oder anders ge-
sagt: Das Projekt wird in dieser Form von seiner eigenen Formulierung performa-
tiv gecancelt. Dafr ist insbesondere die Kategorie der Herausforderung
verantwortlich (und dass es sich hierbei keineswegs um einen Ausrutscher han-
delt, macht eine weitere Passage unserer Pressemitteilung klar: Wie knnen sich
Sprache und Literatur in einer medientechnologisch vernderten Gesellschaft be-
haupten?) Herausforderung, Behauptung was meint man, wenn man so re-
det?
5
Zwar scheinen dies gut eingebrgerte Wendungen im Diskurs ber die Me-
dien zu sein.
6
Dennoch bleibt erst einmal zu fragen, um welchen nicht zuletzt:
um wessen Diskurs es sich handelt. Wer oder was artikuliert sich auf diese Wei-
se? Inwiefern ist hier von reflexhafter Abwehr zu sprechen? (Oder wenigstens:
von Halbherzigkeit?) Haarspaltereien?
Nicht umsonst lsst Herausforderung an Bedrohung, genauer: an Duell
und hnliche agonale Muster denken. Was ist aber ihr Sinn im Zusammenhang
der Mediendiskussion? Ist jemand mit dem (Daten-)Handschuh touchiert wor-
den? Die Sache wird klarer, wenn man Ferdinand Krnbergers Sprachanalyse aus
der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts zu Rate zieht; eine Medienanalyse, und
Georg Stanitzek
53
zwar eine Analyse des Journalismus: Die Zeitung folgt einer ihrer wichtigsten
Funktionen, indem sie die Sprache der Aufregung spricht; und das dominante
Quellgebiet dieser Sprache bildet eine vormoderne Phraseologie: Die Zeitungs-
presse ist das echteste Kind des modernen Brgertums und spricht die Sprache
ihres verhatesten Feindes: des feudalen, mittelalterlichen Rittertums!
7
Daher
all jene Wendungen des Feuilletons, die laut Krnberger den Ritterliche[n] Zei-
tungsstil ausmachen: der Fehdehandschuh, das offene Visier und eben auch
unsere Herausforderung. Krnbergers Befund trifft auch am Ende des 20. Jahr-
hunderts ganz ungeschmlert zu.
8
Man kann diese konstante phraseologische
Ausrichtung an den Vorgaben der Feudalsprache geradezu als Indiz dafr lesen,
dass hier innerhalb der Massenmedien eine strukturelle Kopplung vorliegt: Das
Ritter-Genre leistet die Anbindung von Nachrichten, Kommentaren und Berich-
ten an den Unterhaltungssektor.
9
Jedenfalls muss man festhalten, dass es sich bei
unserer Formulierung um eine Anverwandlung dieses Zeitungsstils handelt, eine
Vorwegnahme jener Sprache also, in der man sowieso thematisiert zu werden er-
wartet. hnliches findet sich in Verlautbarungen von Politikern
10
(Presseerkl-
rung: sich der Presse erklren, sich zu diesem Zweck in deren Stil einfhlen, der
sich wiederum auf Einfhlung in Erwartungen von Presserezipienten bezieht);
und sthetik-Journalisten tun es ihnen nach: sthetische Herausforderungen
von Cyberspace (mit kesser subjectivus/objectivus-Schweblage).
11
Nun knnte
man sagen, das sei nur zu legitim, immerhin gilt es ja, sich verstndlich zu ma-
chen und dem geme Mittel (Medien) zu finden.
12
Doch sollte man mehreres bedenken: Erstens handelt es sich bei diesem
journalistischen Stil nur um einen unter mehreren verfgbaren.
13
Und selbst
wenn man auf Aufregung setzen wollte, tut man es wohl mit Herausforde-
rung und Behaupten nicht besonders effektiv, es provoziert nicht wirklich
(weil: zu erwartbar; man bedient mehr diese Sprache, als dass man sich ihrer be-
dient). Zweitens: Wichtig scheint mir jedoch, dass das in dieser Sprache vertre-
tene Anliegen in dieser Sprache nicht mehr dasselbe bleibt. Vielmehr beginnt an
dieser Stelle das Medium die Botschaft zu dominieren. Wenn Elisabeth Noelle-
Neumann titelt: Die Antwort der Zeitung auf das Fernsehen. Geschichte einer
Herausforderung, verhlt es sich anders: Es macht insofern Sinn, als es perfekt zu
Interessen von Auftraggebern stimmt, die tatschlich Grund haben mgen, sich
durch das andere Verbreitungsmedium herausgefordert zu fhlen und die Str-
ke ihrer eigenen agonalen Position vermessen zu lassen.
14
Es macht auch Sinn aus
der Perspektive von Feuilletonautoren, die mit ihren Herausforderungen und so
genannten Kulturkmpfen einen Platz auf der Liste besonders bedrohter und da-
her schtzenswerter Arten anstreben.
15
Prinzipiell anders liegen die Dinge aber,
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
54
wenn Literaturwissenschaftler genau analog titeln: Buch und Bildschirm eine
Herausforderung zum Beispiel. Wohlgemerkt, unter diesem Titel findet man
keine schlechten Texte, im Gegenteil,
16
sondern solche, die durch den Titel um
ihre Effektivitt gebracht werden. Wer fordert hier wen heraus? Unterhaltsam ist
es schon gar nicht, am wichtigsten aber: Was man im Kontext des medienkultur-
kritischen Feuilleton-Journalismus als wenn schon nicht sachlich, so doch strate-
gisch richtig betrachten kann, wird hier, in diesem anderen, in unserem Kontext
sowohl sachlich als auch strategisch grundfalsch.
17
2 . L I T E R AT U R V S . ME D I E N ( WE R T D I C H O T O MI E ) V E R S U S L I T E R AT U R U N D I H R E ME D I E N
Denn: Mit der Rede von der Herausforderung
18
wird eine Opposition aufge-
macht, deren Bedeutung und Geltung allererst zu diskutieren wre. Literatur und
Fernsehen, Literatur und die Medien werden in eine Gegenstellung gebracht
(und liest sich als versus),
19
als handle es sich um einander fremde oder sogar
spinnefeinde Entitten. Mit dieser Prsupposition die hier, wie gesagt, diskursiv
unterluft, ohne direkt intendiert zu sein hat man das Terrain schon aufgegeben,
auf dem allererst zu arbeiten wre. Das hat einen strategischen Aspekt, der sich
mit einem einzigen Satz kennzeichnen lsst: Man entwertet auf diese Weise, kul-
turkritischen Befrchtungen vorauseilend, vorab die eigene Arbeit. Der sachliche
Aspekt wiegt aber schwerer und verdient ausfhrlichere Betrachtung.
In die Literatur/Medien-Opposition gehen Unterstellungen ein, die geeig-
net sind, Wahrnehmung und Reflexion zu blockieren. Wer auf diese Opposition
rekurriert, glaubt nmlich, erstens, zu wissen, was das sei: die Literatur. Als sei
sie mit einem Kanon identisch, als gebe es einen Ort, an dem sie zu identifizieren
sei; als ob sie gerade nicht die Mglichkeit kennzeichnete, ber sich hinauszuge-
hen. (Diese Unterstellung ist vielleicht nicht so schlimm; immerhin gibt es ja ei-
nen Kanon, gibt es ein Wissen um Kanones.) Zweitens aber unterstellt jene Op-
position ein fragloses Wissen darum, was die Medien seien. Und das ist
problematischer insofern, als es hier keinen reflektierten Kanon gibt, der abzuru-
fen oder kritisch zu befragen wre. Die Medien stehen vielmehr geradezu fr das
Andere des Kanons ein, fr einen Bereich, in dem sich die Diffusion des Epheme-
ren und Unzurechnungsfhigen ereignet (ein Kanon von Platituden). Sie werden
als das Andere der Literatur oder Kunst gesetzt so, als fnden diese nicht lngst,
nicht immer schon in Medien statt.
20
Wer auf diese Weise, wer also auf Basis je-
ner Opposition von Medien handelt, verfehlt notwendigerweise seinen Gegen-
stand, bekommt ihn berhaupt nicht ins Gesichtsfeld. Denn anders als im Fall ei-
Georg Stanitzek
55
ner Kanon-Unterstellung (die sich ja negieren, die sich mit anderen Mglichkei-
ten konfrontieren lsst) setzt sich ein solcher Diskurs ber die Medien in den
Stand der Inkorrigibilitt. Und nur deshalb, ist hinzuzufgen, kann dieser Dis-
kurs sich aktuell (als Antwort auf eine aktuelle Herausforderung) geben, obwohl
er seit Adornos frhen Fernseh-Essays nur Variationen immergleicher Topoi pro-
duziert. Tatschlich ist er so absehbar wie nur mglich; nur fr den nicht, der auf
Basis der genannten Opposition operiert.
21
3 . E I N E T Y P I S C H I D E O L O G I S C H E R E P R S E N TAT I O N D E R ME D I E N :
D A S F E R N S E H - U N D B I L D S C H I R MPA R A D I G MA
Statt frohgemut auf Medien als wichtigen neuen (neuen?) Gegenstand der Lite-
raturwissenschaft loszugehen, scheint es mir daher zunchst angebrachter, die ei-
gene diskursive Programmierung ein wenig in Augenschein zu nehmen. Denn,
wie gesagt, die beschriebenen Blockaden stellen sich spontan ein; der bloe gute
Wille reicht nicht aus; man wird vielmehr wie von selbst zum Teil des Problems,
statt zu seiner Lsung beizutragen. Wie sieht er also aus, unser Diskurs ber die
Medien? Ich mchte nicht nur zunchst vermeiden, so etwas wie den objektiven
gegenwrtigen Stand der Medienevolution Leitmedien, Medienhierarchien
usw. zu beschreiben; ich vermute vielmehr darber hinaus, dass die Behaup-
tung eines solchen Wissens nur zu kontraproduktiv wre. Ich gehe also stattdes-
sen davon aus, was LiteraturwissenschaftlerInnen ber die Medien zu wissen
glauben. Mein Ausgangs- und Einsatzpunkt ist der nach wie vor paradigmatische
Diskurs ber das Fernsehen. (Obwohl die Mediendiskussion andernorts lngst
unter Stichworten wie Hypertext und Internet stattfindet und schon seit
einigen Jahren den Verlust des traditionellen Fernsehens antizipiert;
22
in den Gei-
steswissenschaften hngt man hingegen typisch zeitverschoben noch dem Fern-
sehparadigma an.)
23
Wie kommt es, und was heit es zum Beispiel, wenn Litera-
turwissenschaftlerInnen gegen das Fernsehen die Position der Literatur und
damit auch die Rolle des Autors [] verteidigen zu mssen glauben? (Und auch
dieser Verfasser meint nur zum Teil, was er sagt; er versucht sich heftig von einer
zementierten Hierarchie kultureller Wertordnungen abzugrenzen vergeb-
lich).
24
Wenn sich die medien-kulturkritische Semantik nach wie vor aufs Fernse-
hen konzentriert,
25
so figuriert es als Sprach- und Kulturzerstrer, Erfindung des
prinzipiell Ephemeren, nicht Erinnerungswrdigen oder auch nur -fhigen, Insti-
tutionalisierung des Vergessens, flimmerndes Nirwana, Ultra Null (Durs Grn-
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
56
bein, Hans Magnus Enzensberger zusammenfassend).
26
Der metaphorische At-
traktor, um den sich solche Aussagen gruppieren und vervielfltigen, ist der Bild-
schirm. Er symbolisiert das momentanistisch-vorbeihuschende Unbedeutende,
die Ablsung des festen Buchstabens durchs flchtige Bild, das effektive Feed-
back von konomie und schlechtem Massengeschmack. So heit es in einer Zeit-
schrift fr die gebildeten Stnde: Die dritte Revolution hat die Schrift durch das
Bild ersetzt. Der Bildschirm ist alles, was man sofort vergisst, alles, was blendet
und fasziniert, aber keine Spuren hinterlsst. Der Bildschirm transportiert das
Vergessen, er ist das industrialisierte Vergessen.
27
Er beraubt die Literatur ihrer
Leser und wird der Lektre schlechthin entgegengesetzt, Zerstreuung versus
Aura.
28
Zudem gestattet das Schirm-Bild den Einbezug einer gewissermaen
monstrsen Verbindung: zum Computer nmlich, der als Bastard von Literatur
und Bildschirm erscheint, Medium der flexibel vor- oder anti-literarisch Einge-
stellten.
29
Und so weiter. An diesen Diskurs schliet an, wer von Herausforde-
rung und Verteidigung spricht. Wollte man nicht hier anschlieen, msste man
sich mit den so genannten Medien befassen, mit TV (oder Literatur im TV) bei-
spielsweise; das tut man aber nicht, sondern man redet ber Literatur, als wsste
man, worum es sich handelt, im Gegensatz zum Fernsehen etwa. Als wsste
man, worum es sich handelt schon sitzt man in der Falle.
Es geht hier um keine vollstndige Dokumentation dieser Art Rede, sondern
nur darum zu demonstrieren, dass sie in unzutreffenden Prmissen feststeckt
und nur um diesen Preis das Fernsehen, die Medien zum ganz Anderen der eige-
nen Erfahrungen und Operationen stilisieren kann. Man sagt Bildschirm, aber
auf den Schirmen zur Produktion gibt es kaum je ein Bild zu sehen,
30
tatschlich
sieht man vielmehr (viel mehr) Texte, nicht zuletzt werden medienkritische
Pamphlete auf dem Computer geschrieben (und deren krasseste Formen bieten
im brigen wie die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen den Massenmedien
das allerbequemste Futter). Tatschlich erscheinen auch im Fernsehen keines-
wegs nur Bilder, sondern ebenso wohl Texte aller Art; und auch die Bilder selbst
sperren sich keineswegs der Lektre. Rewind slow motion still pause fast
forward stop: Das sind die technischen Mittel (die so genannten features des
Videorecorders), die wir bentigen,
31
wenn wir lesen wollen; nicht umsonst hat
Siegfried Zielinski die LiteraturwissenschaftlerInnen unlngst daran zu erinnern
versucht Blttern/Studieren, kursorisch/statarisch Anders gesagt, liegt mit
Video lngst ein Monitor des Monitors (Avital Ronell) vor.
32
Nur um den Preis
der Verdrngung solcher einfachen empirischen Daten lsst sich die Behauptung
einer prinzipiellen Differenz von traditioneller Lektrewelt und elektronischer
Beliebigkeit aufrechterhalten. Das heit aber auf lngere Sicht: nur um den
Georg Stanitzek
57
Preis der Lcherlichkeit. Schlechtes Fernsehen dem Medium anlasten? (Alberne
E-Mail-Mitteilungen dem Internet?, Datenmll den Hypertextprogrammen?)
Da kann man auch gleich das Verzeichnis lieferbarer Bcher an beliebiger Stelle
aufschlagen, um den Buchdruck fr XXX*
33
verantwortlich zu machen. Das
Verfahren, ganze Mediengenres als die Medien aus dem ernst zu nehmenden
Diskurs ausschlieen und so vergessen zu wollen, fhrt in die Sackgasse.
4 . WA S B E U N R U H I G T WE N A N ME D I E N WA R U M? AT T R I B U T I O N S L O G I S C H E
B E O B A C H T U N G E N Z U R U N Z U R E C H E N B A R K E I T V O N ME D I E N B E O B A C H T U N G E N
Die Frage ist aber, wie es zu Annahmen und Verfahren des beschriebenen Typs
kommen kann (abgesehen von der trivialen Tatsache, dass entsprechende Ideo-
logeme natrlich auf der Strae liegen). Was fhrt zu den entsprechenden Fehl-
einschtzungen und ihremkonstanten Weiterbestand? Meine Hypothese ist, wie
gesagt, dass einschlgige alltags-theoretische bildungs-alltagstheoretische
Vorannahmenauf eine Weise disponieren, dass sie Wahrnehmung und Reflexion
nicht ermglichen, sondern verhindern, dass sie mithin das Weg-Sehen organi-
sieren. Da dies aber in durchaus elaborierten diskursiven Kontexten geschieht,
muss przisiert, muss genauer nach der Mglichkeit der genannten lcherlichen
Verkennung gefragt werden. Wie kommt mander Programmierung dessennher,
was ich als reflexhafte Abwehrhaltung bezeichne? Es kann durchaus weiterhel-
fen, wenn man einmal jene Wissenschaften befragt, die eine gewisse Selbstver-
stndlichkeit imUmgang mit denfr uns offenbar so problematischenKategorien
von Medien und Kommunikation entwickelt haben (Publizistikwissenschaften
die sich heute auch Kommunikationswissenschaften nennen , Designwissen-
schaft, Public-Relations-Forschung). Es gibt hier ein Beobachtungswissen, wel-
ches das traditionelle geisteswissenschaftliche Medien-Ressentiment nchtern
zu analysieren erlaubt. Anders gesagt, es wird lngst beobachtet.
Ein Beobachtungsmodus scheint mir hier von besonderem Interesse. Es ist
die attributionslogisch verfahrende Beobachtung des third-person effect in com-
munication.
34
Dieser Effekt pflegt sich einzustellen, wenn es um die Einscht-
zung von Medienwirkungen und insbesondere die Wirkungen von Massen-
medien geht. Schon in den 1940er Jahren haben sich Kommunikationssoziologen
wie Merton und Lazarsfeld gefragt, was eigentlich wen an der unterstellten
und/oder beobachtbaren Zunahme der Bedeutung dieser Medien so erheblich
beunruhige. Warum, so fragten sie, machen sich insbesondere Eliten ber gesell-
schaftliche Auswirkungen von zum Beispiel Radio und Kino Sorgen; was moti-
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
58
viertdieindiesenKreisenweitverbreitetenAnnahmen, dassdieMassenmedienauf
gefhrliche Weise Macht akkumulierten, dass sie zu politischemKonformismus,
zumVerfall des sthetischen Geschmacks und allgemeiner kultureller Standards
fhrten?(WarumzeigtmansichnichtinvergleichbarerWeiseberdengleichzeiti-
genZuwachs anAutomobilitt und Luftverkehr besorgt?
35
ber Phnomene also,
ber deren gesamtgesellschaftliche Relevanz, imGegensatz zu den eher diffusen
Beunruhigungen ber Medienwirkungen, kaum Zweifel bestehen knnen.)
Die Hypothese zur Beantwortung dieser Frage bestand in der Vermutung,
dass sich die Besorgnisse im Diskurs ber die betreffenden Medien tatschlich gar
nicht auf deren Evolution oder einzelne Produkte richten. Vielmehr liegt ihnen
ein typischer Attributionsfehler zugrunde,
36
dessen allgemeine Beschreibung lau-
tet: People will tend to overestimate the influence that mass communications
have on the attitudes and behavior of others.
37
Die Medienkulturkritiker spre-
chen gar nicht ber sich selbst und insofern auch nicht ber Medien, nicht ber
Medienkonsum und -wirkungen , sondern ber die anderen, ber Dritte, ber
die Ungebildeten, Unterschichten, Barbaren, ber Leute, die ihre Zeit nicht sinn-
voll, nicht mit kulturell wertvollen Hervorbringungen verbringen. (Motto: Man
gibt den Leuten freie Zeit and now they spend it with the Columbia Broadcas-
ting System rather with Columbia University.)
38
Das heit, die medienkritische
Rede konstruiert allererst diese anderen und zugleich mit ihnen dasjenige, was
dann als die (Massen-)Medien figuriert. Im weiteren Lauf der Forschung ist die-
se These schlielich verallgemeinert und pointiert worden zur Annahme einer
paradoxen Verkehrung: Damit beeinflussen die Massenmedien tatschlich das
Handeln der [selbst ernannten, G. S.] gesellschaftlichen Elite mehr als die Masse
der Bevlkerung, aber nur, weil die Elite den Medien flschlicherweise eine gr-
ere Wirkung auf die Masse der Bevlkerung zuschreibt als auf sich selbst.
39
Und damit ist genau jene Verkehrung von Problem und Lsung im Blick, die
wir oben angesprochen haben.
Der beschriebene fundamentale Zurechnungsfehler drfte die Grundlage
einer ganzen Reihe von in geisteswissenschaftlichen Milieus verbreiteten Me-
dienbegriffen bilden. Diese Begriffe wren zuallererst einmal daraufhin zu befra-
gen, worauf sie fokussiert sind, welchen Gegenstand sie eigentlich adressieren.
Richten sie sich nmlich in der beschriebenen Weise auf die anderen Leute (wie
Michael Rutschky in einer Reihe seiner Arbeiten
40
diesen Attributionsbegriff in
den deutschen intellektuellen Diskurs bersetzt hat), ben sie sich also in der
Konstruktion von Medien qua Zurechnung auf Dritte, entsteht jener Kurz-
schluss, der das Wissen ber die Medien inkorrigibel, lcherlich, unzurech-
nungsfhig macht. Unzurechnungsfhig in einem doppelten Sinn: erstens nm-
Georg Stanitzek
59
lich hinsichtlich der Fremdzurechnung auf die anderen, denn es handelt sich da-
bei um nicht mehr als eine fragwrdige oder wenigstens doch als solche zu be-
fragende fictio personae (nach dem Schema der rhetorischen Figur); zweitens
aber im Bezug auf den Konstrukteur dieser fictio selber, denn er gliedert sich ja als
Unbetroffenen aus dem Bereich seiner Konstruktion aus.
Welches Wissen entsteht auf Basis solcher Attributionsverhltnisse? Ein
Wissen um die Gesellschaft zum Beispiel, deren Mitglieder sich zum guten
Teil mit Hilfe der Neuen Medien in eine sanfte Dauernarkose versetzen lassen.
41
(Natrlich, die anderen Leute.) Ein Wissen ber den neuen Medien-User: der
hinlnglich bekannte Warenkonsument.
42
(Ich doch nicht.) Ein Wissen ber das
Kino zum Beispiel, das normativ dessen Idealpublikum ber die Codierung
Kind/Erwachsener definiert, um es gegen die Erwachsenen (Erzieher, Theore-
tiker) [zu] verteidigen.
43
(Drittpersonenkonstruktion als Portrait of the Artist as
a Young Man.) Und so weiter. Ein bisschen Diskursanalyse oder, einfacher noch:
Ideologiekritik wre in dieser Hinsicht schon sehr hilfreich. Und auch Ideologie-
kritiker selber wren von ihr keineswegs auszunehmen, wenigstens sofern sie
uns den betubte[n] Fernsehzuschauer mit den glasigen Augen vorstellen wol-
len, dessen Geist so glatt und so unvoreingenommen rezeptiv ist wie der Bild-
schirm vor ihm.
44
(Klassische third-person attribution, klassisch unzurech-
nungsfhig.) Max Goldt hat vorgefhrt, wie man auch indirekte Formen dieses
Diskurses dieser Ideologie behandeln kann, indem er zur Exekution drasti-
scher Strafen an jugendlichen Sprayern einen Ex-Bundeskanzler vorgeschlagen
hat: Warum gerade Helmut Schmidt? Weil er brutal ist. In einer Folge seiner Ar-
tikelserie fr die Bild-Zeitung hat er geschrieben: Das Fernsehen macht uns
brutal. Wen er wohl mit uns meint?
45
Wnschenswert wre, dass jeder me-
dientheoretische oder gar: -kritische Diskurs von der Maxime ausginge: da
ich mit wir ausschlielich dich, Sie und mich meine, die dies hier schreiben oder
lesen oder vortragen oder anhren, keinesfalls die anderen Leute, die strukturell
hier nicht anwesend sein knnen.
46
Fr die Befolgung dieser Maxime sprechen nicht allein ethische, sondern vor
allem epistemologische Grnde. Denn die unbefragte Konstruktion medialer
Phnomene auf Basis der Konstruktion von anderen, Dritten hat zweifellos gra-
vierende Folgen fr die Verfassung gerade des wissenschaftlichen Wissens ber
Medien. Das klingt sehr simpel. Doch die damit geforderte Vermeidung ist alles
andere als einfach zu leisten. Und dafr bieten ironischerweise Merton und La-
zarsfeld ein sehr lehrreiches Beispiel: Wenn sie nmlich in ihrer oben referierten
Arbeit die gngigen Vermutungen ber die Gefhrlichkeit der Medien als indis-
criminate fear of an abstract bogey kritisierten,
47
lieen sie es sich gleichwohl
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
60
nicht nehmen, im selben Text ihrerseits ein solches UFO zu identifizieren: Es
sind die Frauen, deren Medienkonsum soap operas, all cut to the same dismal
pattern jedes sthetische Niveau unterschreite.
48
Wobei die Autoren mit der
Zurechnung neuer Medien auf Weiblichkeit einen ebenso traditionellen (Lese-
wutdebatte) wie immer noch beliebten Typus von third-person attribution reali-
sieren; man vergleiche neuere Kulturkritiken des Video-Mediums
49
(der sch-
selnde Verwechslungswitz von Medien und Mdchen gehrt auch in diese
Kategorie). Wie also kann man entsprechende Konstruktionsfehler vermeiden,
kann man sie wenigstens minimieren?
5 . K R I T I S C H E ME D I E N T H E O R I E N A C H K I T T L E R : I N T E R Z E P T I O N S E L B E R L E S E N !
Vermutlich heit die Antwort wirklich philologische Aufklrung, anders gesagt,
die Verantwortung nicht auf Common-Sense-Annahmen medialer Normalitt
abschieben, sondern: Selbst Lesen! Jedenfalls zeichnet sichproduktive, aufschluss-
reiche Medientheorie gerade durch die Erfindung entsprechender Vermeidungs-
strategien aus. An erster Stelle lsst sich die Vervielfltigung der Referenzen, wie
sie Marshall McLuhans Understanding Media leistet, in diesem Sinn verstehen.
hnlich eine feministische Medienkritik, die Others Others ins Spiel zu bringen
versucht.
50
Eine vergleichbare Verfahrensweise sieht die Medienarchologie res-
pektive -analyse vor, die sich methodisch selber in die Position des Anderen in
die Position des Parasiten an Medienkanlen zu bringen sucht. Wenn Friedrich
Kittler nmlich die philologische Lektre einzelner Medienprodukte abzulehnen
scheint und insbesondere, wenn er offen gegen Positionen der Aufklrung pole-
misiert,
51
sollte man das nicht fr bare Mnze nehmen. Die Reserve gegenber
eingespielten Techniken individueller Interpretation hat ja ihren Sinn darin,
diese selber als mediales Dispositiv in Distanz zu rcken. Das heit, es geht da-
rum, ihre Erwartbarkeit, ihre eingespielte Rahmenfunktion aufzulsen, um
berraschende Zugriffe zu ermglichen. Diese Operationsweise ist auf den Na-
men Interzeption getauft, eine Kampf- und Militrmetapher: Abfangen den
Hieb eines Arms, einen Feind auf seinem Marsch, eine Nachricht, die ihren Weg
in einem Kommunikationsnetz nimmt.
52
Das Konzept der Interzeption trgt also zwei Bedingungen der Medienbe-
obachtung Rechnung. Einerseits der Tatsache, dass Medien nicht als solche, son-
dern nur an der Kontingenz der Formbildung erkennbar sind, die sie ermgli-
chen.
53
Ein Medium lsst sich also nicht direkt, etwa in seiner Materialitt,
abtasten;
54
seine Beschaffenheit liegt vielmehr darin, welche Botschaften seligiert
Georg Stanitzek
61
und wie sie behandelt werden; die spezifischen Reichweiten des von einem Me-
dium erffneten Kontingenzspielraums sind nur ber die Kenntnisnahme einzel-
ner Formen auszuloten. Andererseits soll das Interzeptions-Konzept eine Ant-
wort auf die Frage gestatten, wie Medien gleichwohl verstanden (oder gelesen)
werden knnen, wenn denn zugleich die McLuhansche These gilt, dass medium
und message tendenziell in eins fallen, wenn nmlich das Medium die Dekodie-
rung jeglicher Botschaft vorab determiniert, sodass the content of any medium
blinds us to the character of the medium.
55
Eine abweichende, eine gegenber
den jeweiligen medialen Rahmenbedingungen nonkonforme Lektre ist also
gefordert. Und natrlich ist sie nur mglich im Kontext einer entsprechenden kri-
tisch kommunizierenden ffentlichkeit.
56
Wenn Kittler in seinem theoretischen
Design daher Kommunikation auf befehlsfrmige Information herunterzurech-
nen beliebt,
57
so verfehlt dies gerade seine eigene Operations-, seine Leseweise.
Nur deshalb macht auch Kittlers Forderung Sinn, dass die Literaturwissenschaf-
ten auf die mit den Neuen Medien gegebene Situation mit einer Wiederbele-
bung produktionsrhetorischer Verfahren zu reagieren htten;
58
die polemische
Formulierung dieser Forderung Schreiben- statt Lesen- (oder Verstehen-) Ler-
nen verdeckt diesen Punkt: Interzeption von Botschaften ist gar nicht denkbar
ohne die Arbeit im Medium einer Schreibweise, welche die interzipierte Informa-
tion in den eigenen Text einzustellen erlaubt und damit kritisch informativ
macht. Selbst Lesen! heit Selbst Schreiben! (McLuhan zum Beispiel schreibt
schlielich The Medium is the Massage; Elfriede Jelinek hat ihn przise auf den
Punkt gebracht: das medium sind wir.)
59
Dass Autoren in der Kittler-Nachfolge
sich gegenlufig dazu in Stilfragen gelegentlich befehlsempfngerisch anstellen,
60
ist nichts Spezifisches allenfalls verweist es darauf, dass virtuell auch die Inter-
zeption nicht davor geschtzt ist, ihrerseits von jenen Instanzen interzipiert zu
werden, denensie entgehenmchte (Institutionengewhnlicher Schulenbildung
etwa); ganz so, wie es schon die Argumente von Derridas skeptischem Parallel-
projekt nahe gelegt haben.
61
Und man kann neuere dekonstruktive Schreibwei-
sen
62
als Reaktionen auf diese Problemlage verstehen.
6 . B E O B A C H T U N G S S C H E MA P H AT I S C H E K O MMU N I K AT I O N ( B A U D R I L L A R D / MA L I N O WS K I )
Doch es geht hier um keine ausfhrliche Reformulierung oder Kritik von Kittlers
Projekt. Die beschriebene Disposition dieser in Sachen Medienforschung avan-
ciertesten Literaturwissenschaft soll hier zunchst nur der Unterstreichung un-
serer These dienen: Wenn es um Medien geht, ist philologische Aufklrung an-
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
62
gezeigt, und das heit nicht zuletzt, dass es auf eigene, auf produktive individuel-
le Lektre(n) ankommt. Unsere These lautet des Weiteren, dass mit der Beobach-
tung von Drittbeobachtung ein entscheidendes Kriterium gegeben ist, mit dem
sich Medienbegriffe und -theorien beurteilen lassen. Das ist keine Selbstver-
stndlichkeit, im Gegenteil, es ist ein ziemlich rigides Selektions- und Sortier-
kriterium. Im Folgenden soll es angewendet werden, um einen in Geisteswissen-
schaften und Bildungswelt besonders dominanten Typ der Betrachtungsweise
und Konzeptualisierung von Medien zu markieren und zu analysieren (letztlich:
ihn auszusortieren, aber zunchst ist er darzustellen). Es geht um jene Abwertung
des Medienbegriffs, wie sie schon in einem gewissen Wortgebrauch, der Rede
von den Medien nmlich, impliziert ist: Die Medien, sie sind blo das Ver-
mittlungs- und Verkehrsgeschehen,
63
sie stellen insignifikante, allenfalls in Kauf
zu nehmende Bedingungen dar, unter denen man es womglich, unwahr-
scheinlicherweise mit Bedeutsamem, mit Wertvollem, mit Literatur zum Bei-
spiel zu tun bekommen kann. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Das Medi-
um sind die anderen.
Dieser Topos beherrscht den medien-kulturkritischen Diskurs in seinen
profiliertesten Ausprgungen, wobei die Rede der anderen als wesentlich insub-
stanzielle charakterisiert wird: als Gerede, als Geschwtz. Die Architektur dieses
Diskurses nimmt blicherweise eine Reihe von metaphorischen Substitutionen
in Anspruch:
64
Das Mediengeschehen ist die elektronische Telekommunikation,
diese ist das Fernsehen, dieses wiederum findet in einem Genre wie der Talk-
show zu seinem adquaten Wesen, und die Talkshow ist Geschwtz. Genau das
ist Enzensbergers Einsatz, wenn er das Fernsehen in Verbalhornung von McLu-
hans These als Nullmedium und die groen Medien pauschal als Blabla und
Gequassel
65
beschreibt. Genau das ist im Kern auch der demokratische Schre-
cken des Botho Strau: man [] kommt nur noch zur Stimmfhlung zusam-
men wie die Enten am Weiher.
66
Es ist das Summen des ewigen Gesprchs;
67
es sind die gesellschaftlichen und kommunikativen Konventionen im Sinne so-
zialen Geruschs, das an der Oberflche bleibt, wie es die Westler lieben;
68
usw., die Belege fr diesen Diskurs (Ideen von 1914) sind Legion, halten wir uns
also an einen prgnanten Fall.
Halten wir uns an Jean Baudrillard, der die genannten Argumente von ihrer
blichen Fixierung aufs Fernsehen lst, um sie, gewissermaen aktualisiert, aufs
Netz schlechthin zu applizieren. Auch er geht von einer zuspitzenden McLu-
han-Interpretation aus: Dessen Diagnose einer Implosion von Medium und
Botschaft sei nicht nur zutreffend, sie sei nunmehr insofern berholt, als diese
Implosion eine zweite nach sich gezogen habe: diejenige von Sender und Emp-
Georg Stanitzek
63
fnger. Beide wrden ununterscheidbar in der Echtzeit einer elektronischen Inter-
aktion, die ohne Botschaft auskomme.
69
Das klassische Schema der Theoreti-
sierung von Kommunikation sc.: Jakobsons Adaption und Erweiterung des
Bhlerschen Organonmodells sei damit hinfllig, genauer gesagt: Es reduziere
sich auf eine einzige der ursprnglich vorgesehenen Funktionen: die bloe Best-
tigung, das schiere Halten des Kontakts, ein berma an Beziehung, in der jede
einzelne Kommunikation immer schon banal sei.
70
Dieser Befund einer Kom-
munikation fr die Kommunikation und damit fr die Katz bietet das bekann-
te, identische Resultat: Die Medienkommunikation ist die Rede der anderen,
Logorrh, Gerede, Geschwtz. (Diese Figuren verdienten im Kontext literatur-
wissenschaftlicher Arbeit zur Medientheorie eine ebenso ausfhrliche historische
Darstellung wie systematische Befragung.
71
Denn, man tusche sich nicht: Gera-
de als deutsche LiteraturwissenschaftlerInnen sind wir von Haus aus in ihnen
befangen.) Baudrillards ganz affirmative Reformulierung dieses kulturkritischen
Diskurses hat den Vorzug, dessen entscheidende sprachtheoretische Referenz
auszuspielen.
Es ist der ursprnglich im ethnologischen Kontext ausgearbeitete Begriff der
phatischen Kommun(ikat)ion a type of speech in which ties of union are created
by a mere exchange of words
72
, der von den genannten Medienkulturkritikern
als der durch die Medien schlechthin promovierte unterstellt wird (exchange
of words almost as an end in itself, chat, gossip, comments on weather).
73
Dass die Kategorie des Phatischen im Zusammenhang von Medientheorie er-
scheint, ist vorderhand nur zu erwartbar, drfte McLuhan selber doch bei seiner
Vorstellung vom Global Village des elektronischen Zeitalters durchaus an Mali-
nowskis Beschreibung der abends ums Feuer versammelten Dorfbewohnerschaft
gedacht haben; und zweifellos ist es legitim, bestimmte Medien auf spezifische
Realisierungsformen des phatischen Kontakts hin zu untersuchen.
74
Bei unseren
kulturkritischen Gewhrsleuten, Baudrillard und den ihm Folgenden, liegt je-
doch etwas anderes vor, nmlich eine Denunziation ganzer (neuer) Mediengenres
auf Basis der genannten Kategorie. (Fernsehen ist das Gerede als permanente
Einrichtung, Dauer-Talk, Diskurs als seine eigene Botschaft.)
75
Die phatische
Kommunikation wird in eine ideologische Opposition eingebracht, um als Rede
ohne Wert den neuesten Stand der Medienevolution berhaupt zu reprsentie-
ren. Und das verdient (mehr ist hier nicht zu machen) wenigstens eine Schnell-
dekonstruktion:
76
Baudrillards Argument sieht vor, sich das Phatische in reiner
Form vor- und gegenberzustellen, gewissermaen konzentriert an einem Ort
(auch wenn dieser Ort selbst durch Verstreuung charakterisiert ist: Diffusion im
telekommunikativen Netz). Das wirkt zunchst nur zu legitim, scheint doch
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
64
auch der Urheber des Begriffs auf genau diese Weise zu verfahren: Das Phatische
wird im Diskurs der anderen entdeckt, bei der Untersuchung von auf Mndlich-
keit beschrnkten primitive languages, die als solche den zivilisierten Sprachen
entgegengesetzt werden. Es scheint sich insofern um einen einfachen Fall der
beschriebenen third-person attribution zu handeln: Es gibt da weit weg, in Neu
Guinea Eingeborene, in magischen Vorstellungen befangene Wilde, die spre-
chen, nicht um Informationen zu geben, sondern um des Sprechens willen, um
ziellos zu schwtzen, Anwesenheit kundzutun, allenfalls zu prahlen (Rapper ge-
wissermaen). Ein Sprechen, das auf weiter nichts hinausluft, als eine gewisse
Verbundenheit mit den brigen, Hrern und Sprechern in ebendiesem Sinn, zu
erzeugen und zu besttigen. ([T]awoulo ovanu; wir paddeln am richtigen
Platz.
77
Schn, dass Sie da sind; bleiben Sie dran.) Die phatische Kommu-
nion erscheint als archaische Gre an den anderen und wird zum Gegenstand
unserer modernen, informativen und informierenden Kommunikation, einer
Kommunikation, wie sie Baudrillard dem Internet oder der Talkshow widmet.
Insoweit scheint es sich also um eine ebenso korrekte Lektre wie plausible
Applikation des Theorems phatischer Kommun(ikat)ion zu handeln. Doch dieser
Eindruck trgt: Liest man Malinowski genauer, wird man rasch gewahr, dass er
die Kategorie des Phatischen zwar aus einer bestimmten Irritation durch die Ein-
geborenensprache heraus gewinnt, dass er sie jedoch keineswegs als deren Spezi-
alitt erkennt. (Nur diese Disposition, so schieben wir ein, ist es auch, welche es
Jakobson sodann erlauben wird, die Kategorie in sein Kombinationsmodell von
Kommunikationsfaktoren contact und Sprachfunktionen phatic func-
tion zu integrieren.)
78
Dem Ethnologen steht es nmlich nicht an, darin liegt
zuletzt gerade der Witz seines Arguments, die an der primitiven Sprache gefun-
denen Verhltnisse an der eigenen wiederzuerkennen. Das geschieht in mehreren
Anstzen, von denen der erste, naheliegendste, zwar tatschlich die beschriebe-
ne third person-Struktur wiederholt: Die archaische Kommunikationsweise ist
hnlich prgnant auch an derjenigen der Unterschichten in den westlichen Zivili-
sationen wiederzufinden.
79
Aber ein weiterer Schritt (auf dem Weg zur allgemei-
nen Hypothese einer in der Grammatik schlechthin objektivierten anthropologi-
schen Struktur) geht darber weit hinaus: Das Phatische findet sich nmlich
gleicherweise in der vom Verfasser selbst verwendeten Sprache, es kennzeichnet
ebenso gewisse Formen und Formeln der wissenschaftlichen Kommunikations-
weise (scientific or literary), die am weitesten von ihr entfernt scheint, es kenn-
zeichnet sie bis in habituelle Vermeidungen des Schwrens, des Fluchens, der
Verwendung obszner Termini hinein.
80
Diese bei Malinowski nur angedeutete
Problematik verdiente eine ausfhrliche Entfaltung und Diskussion. Hier ist nur
Georg Stanitzek
65
festzuhalten: Die phatische Kommun(ikat)ion ist nicht andernorts zu situieren,
sondern immer auch hier, sie ist dem eigenen Sprechen inhrent; und es ist eine
Frage des Beobachters, wo und was man in dieser Hinsicht sieht oder findet. Da-
mit ist nun nicht gesagt, dass man auf die Kategorie und selbst auf die verwand-
te kulturkritische des Geschwtzes einfach verzichten knnte, im Gegenteil.
81
Aber die Antizipation des tu quoque-Arguments markiert einen Unterschied ums
Ganze. Baudrillards Titel, Paradoxe Kommunikation, leistet dies nicht (denn er
zielt einzig darauf: dass man ein Verschwinden der Kommunikation konstatieren
msse gerade in der Epoche ihrer exzessiven Thematisierung).
Wenn man nun nach privilegierten Orten des Vorkommens phatischer
Kommunikation fragt, lsst sich unsere kleine Dekonstruktion leicht abschlie-
en: Innerhalb der Medienkulturkritik ist dies nmlich der Geschwtztopos
selbst. (Nichts ist geschwtziger als seine Wiederauffhrungen.)
82
Er erfllt sehr
genau die Kriterien phatischen Sprechens: Informiert er doch ber kaum mehr als
ber eine gewisse Selbstverortung des Sprechers, markiert er doch nichts weiter
als seine Zugehrigkeit zu einer Gemeinschaft (Kommunion), einer Gemein-
schaft, in der Essayisten sich mit Geschwtz so etwas wie Guten Tag sagen.
Da die Formel ebenso redundant wie konventionell und als solche wenig sach-
haltig ist, entspricht sie obendrein als weiterem Charakteristikum jener Ampli-
fikationsbung (wir paddeln am richtigen Platz), die Malinowski im ethnologi-
schen Feld auffiel: arabeske Prahlerei, paraphrasierende Aemulatio einer nur zu
bekannten Vorlage. Wenn schon nichts Neues, so lassen sich doch und gerade
auf diesem Gebiet des Nicht-Neuen, Redundanten effektiv berraschende For-
mulierungsvarianten bieten. Die Formeln der Geschwtzkritik, die Zurechnung
der phatischen Kommun(ikat)ion auf die anderen Leute dienen ihrerseits als
Medien der Berhrung, Besttigung, Vergewisserung und Kontrolle des Kom-
munikationskanals seitens seiner gebildeten Verchter.
7 . R A D I K A L E R K O N S T R U K T I V I S MU S / S O Z I O L O G I S C H E S Y S T E MT H E O R I E
Als LiteraturwissenschaftlerInnen sollten wir versuchen, uns an einem so orga-
nisierten Diskurs nicht operativ zu beteiligen, sondern ihn auf der Gegenstands-
ebene als eine der mglichen Reaktionsweisen auf befremdende mediale Phno-
mene zu beobachten (zu lesen). Erfordert sind jene Umsicht und Liberalitt, die
Marshall McLuhans Arbeiten im Gebrauch der Kategorien des Unbedeutenden,
Phatischen und, im Zusammenhang damit, der anderen aufweisen.
83
(People
prefer rapport through smoking or drinking together. There is more communica-
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
66
tion there than there ever is by verbal means.)
84
Wenn man dies, wie vorgeschla-
gen, als Kriterium vorsieht, dann scheiden aber nicht allein die bislang genannten
medienkulturkritischen Positionen aus. Vielmehr betrifft dieses Kriterium in
gleicher Weise einen von der Selbstbeschreibung her gerade nicht-konservati-
ven Ansatz wie denjenigen der empirischen Literaturwissenschaft (von Sieg-
fried J. Schmidt u. a.), besteht dessen Pointe doch gerade darin, eigene Interpreta-
tion oder Lektre durch Bezug auf Interpretations- und Lektrekonventionen so
genannter empirischer und als solche objektivierbarer Aktanten prinzipiell aus
dem Haushalt der literaturwissenschaftlichen Operationen entfernen und erset-
zen zu wollen.
85
Das heit, es geht auch hier um die anderen. Entsprechend soll
die Bedeutung der Medien und ihrer Produkte in jenen Konventionen (und den
sie begrndenden und stabilisierenden Machtspielen) liegen, welche nun seitens
der Literatur- oder Medienwissenschaft von auen zu beschreiben und zu begrei-
fen wren. Third person attribution hier also nicht nur als auf die Neuen Medien
beschrnktes, sondern auf Texte, Medien, Kommunikationen schlechthin verall-
gemeinertes hermeneutisches Prinzip!
86
Genauerer berlegung bedarf die Frage, wie in der genannten attribu-
tionslogischen Hinsicht die Begriffe und Verfahrensweisen der soziologischen
Systemtheorie zu bewerten sind (die den Aktanten-Bezug demjenigen auf Kom-
munikation nachordnet). Sicher verdient festgehalten zu werden, dass Niklas
Luhmanns Theorie der Massenmedien der These von deren primr phatischem
Kommunikationscharakter nicht mehr als eine abwehrende Funote zu wid-
men braucht.
87
Und sicher stellen die von Luhmann sowohl im Massenmedien-
wie im Kunst-Kontext vorgetragenen Definitions- und Differenzierungsvor-
schlge Vorgaben dar, an denen sich auch die Literaturwissenschaften mit Ge-
winn abarbeiten werden. Was sie jedoch nicht leisten und innerhalb einer So-
ziologie diesen Typs auch weder wollen noch brauchen , ist das, um was es uns
hier geht: Auf die ziemlich konfuse [sc.: literaturwissenschaftliche, G. S.] Dis-
kussion ber eine am Lesen orientierte Text-Theorie
88
lsst sich diese System-
theorie ebenso wenig ein wie auf die eigenverantwortliche Wahrnehmung und
Diskussion einzelner Texte.
89
Von der Theorieanlage her wird dieser Weg frei-
lich nicht versperrt, sondern eigentlich geradezu gewiesen. Wir erinnern daran,
dass Luhmann zufolge im Ausgang von der Medium-Form-Differenz Medien
allein anhand der in ihnen jeweils erscheinenden kontingenten Formen zu beob-
achten sind,
90
das heit aber: dass ihr Begriff zuletzt immer an der Selektion von
Formen durch einen Beobachter hngt. Nur dass die Systemtheorie und als so-
ziologischer mag man ihr das nachsehen diese Beobachterstelle mit einem ge-
wissen Normal-Medienkonsumenten und dessen Normalbenehmen zu besetzen
Georg Stanitzek
67
pflegt; beide Normalitten verdanken sich jedoch einem Typ von Common sense,
den zu besttigen oder sonst wie zu betreuen wenigstens nicht Aufgabe der Philo-
logien sein kann.
8 . A U T O R I T T S P R O B L E ME I M ME D I E N D I S K U R S
Philologische Aufklrung im hier vorgeschlagenen Sinn hat es anders als die
gngige Entgegensetzung beider Termini will mit dem verantwortlichen Um-
gang mit Autoritt zu tun. Auch und gerade antiautoritre Optionen kommen
ohne einen solchen Autorittsbezug nicht aus. Autoritt ist immer schon da, an-
wesend und mit ihr notwendigerweise Verantwortung. Das scheint weit herge-
holt im Kontext von Medien-Philologie, ist es aber keineswegs. Der Einfachheit
halber kann hier zunchst an ein im Zusammenhang von Gattungstheorie wohl-
vertrautes hermeneutisches Argument erinnert werden: Einzelne Werke sind
nur nach den jeweils gegebenen oder zu unterstellenden Gattungsvorzeichen zu
schtzen; innerhalb der einzelnen Genres sind die jeweils vortrefflichen Werke
magebend, zu orten und aufzusuchen. (Dass die Gattungen selber als hhere
oder niedrigere rangiert werden knnen, ist bei der Wertschtzung einzelner
Texte also einzuklammern.)
92
Und natrlich gilt die Umkehrung: Man wird etwa
die Mglichkeiten des Romans primr nicht an XXX,*
93
sondern an Don Quijote
ff. zu ermessen haben (es sei denn, es treten spezifizierende Problemgesichts-
punkte, unter ihnen die Frage nach dem paradigmatisch Schlechten, hinzu). Of-
fenbar stellt sich bei der medientheoretisch geforderten Relationierung von For-
men auf Medien genau diese umgekehrte aber gerade darin vergleichbare
Aufgabe. Oder etwa nicht?
Anscheinend wenigstens dann nicht, wenn man sich die in den Geistes-
wissenschaften und Philologien wohlverbreiteten medien-kulturkritischen Ar-
gumente vor Augen fhrt. Wir kommen hier zunchst noch einmal auf das
bereits erwhnte Fernseh-Paradigma zurck um sodann eine eigene Lektre im
genannten, das heit: immer auch auf Autoritt rekurrierenden Sinn wenigstens
anzudeuten. An der prinzipiellen Medien- und Fernsehkritik fllt auf, dass in
diesem Kontext die in der philologischen Tradition blichen, auf Autoritt rekur-
rierenden synekdochischen Figuren eine spezifisch inverse Form annehmen:
Statt auf exemplarisch gelungene Phnomene wird auf redundante, lcherliche,
fatale Formen referiert, die als reprsentative das Medium charakterisieren sol-
len. (Rufen wir noch einmal die Form dieser Art Synekdoche in Erinnerung: Fr
die Audiovision steht das Fernsehen, fr das Fernsehen steht die flchtige Kom-
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
68
munikation, fr diese die Live-Sendung, fr diese die Talkshow, fr diese das
sinnlos-indiskrete Palaver usf.) Formen dieser denunziativen Rede wirken nicht
selten als solche der Selbstsetzung oder -ermchtigung; die abwertende Argu-
mentation setzt den Argumentierenden als Quelle des autoritativen Werts und
seiner Entscheidung; ein floskelhafter Einsatz gewisser Namen und Zitate ver-
deckt das nur unzureichend (Auch Goethe hatte keinen Fernseher. Heute
wre Celan zweifelsohne schockiert vom Horizont unserer Medienlandschaft,
von ihrer Skrupellosigkeit.).
94
Wie funktioniert aber ein ernst zu nehmender
Autorittsbezug in der Kritik der Television?
8 . A . E I N K A S U S : G O D A R D L E S E N
Natrlich gibt es in Sachen Audiovision inzwischen magebliche Instanzen, auf
dem Gebiet des Films etwa seit langem. Bei einer Untersuchung zur filmischen
Narration wird man sich nicht an XXX*
95
oder das so genannte Unterhaltungski-
no halten, sondern zum Beispiel an Godard.
96
Und nicht nur in puncto Film,
sondern in Fragen von Intermedialitt allgemein.
97
Ein gutes Beispiel in unse-
rem Zusammenhang auch insofern, als es sicher kein Zufall ist, dass diese Refe-
renz auch von prinzipiellen Kritiken des TV-Mediums in Anspruch genommen
wird. Handelt es sich hier vielleicht um eine kulturkritische Diskursregularitt:
dass neue Mediengenres unter Rekurs auf die Autoritt von lteren abzuwerten
sind bis jeweils wiederum ein neues Medium auftaucht?
98
Wenn nmlich die
Arbeiten Godards als Quellen fr Argumente ber den Film dienen, so sollen sie
in der genannten Logik der Umkehrung zugleich Argumente gegen das Fernse-
hen liefern, ein gerade unter Literaturwissenschaftlern und -kritikern gut einge-
brgertes Verfahren. These: Fernsehbilder sind schlechte Bilder. Beleg: Als ob
ber [] einen Film von Godard oder was sonst dasselbe zu sagen wre wie ber
eine [] Talkshow oder die Tagesschau!
99
These: Im Fernsehen sieht man nur
normierte Bilder. Beleg: Dies drfte auch das Motiv fr die Kritik des Filmre-
gisseurs Jean-Luc Godard am Fernsehen gewesen sein, als er es als ein Medium
bezeichnete, das nichts als Passbilder der Realitt herstellen knne.
100
These: Im
Fernsehen sieht man nicht einmal Bilder. Beleg: Nur ganz wenige, wie etwa im-
mer wieder Godard, behaupten mit mehr oder weniger bitterer Ironie , da das
Fernsehen mit Bildern nichts zu tun hat bzw. nur insofern, als es mit deren Her-
stellung eigentlich Schlu gemacht hat. Das wei man mit Godard, der in dieser
Frage, wie es hier explizit heit, die Autoritt darstellt.
101
So geistert ein Regis-
seur und Autor durch die Anti-TV-Diskurse (die Reihe entsprechender Thesen
Georg Stanitzek
69
und entsprechender Belege liee sich problemlos erweitern). Was das Fernsehen
und was von ihm zu halten ist, das wissen wir durch Godard.
Man kann dem zustimmen mit der kleinen, aber entscheidenden Ein-
schrnkung, dass man sich einmal anschauen sollte Autopsie, philologische
Aufklrung , was in Godards Fernsehkommentaren tatschlich zu lesen ist. Das
lohnte eine ebenso sorgfltige wie geduldige Lektre; wir knnen hier nur wenige
Hinweise geben. Zunchst einmal macht stutzig, dass einer, der seit Le gai savoir
von 1968 immer wieder sowohl fr das Fernsehen
102
als auch mit Video
103
gear-
beitet hat, umstandslos als Zeuge gegen das Medium aufzurufen sein sollte. Und
liest man wirklich seine uerungen ber das Fernsehmedium nach, besttigt
sich dieser Verdacht. Zwar fehlt es nicht an auch prinzipiellen Kritiken, analog
den eben zitierten: Die Television ist das Medium der redundanten Penetranz, der
Technik des Viel-Redens, um wenig zu sagen (aber Godard nimmt sich nicht
aus, er bedient sich selber dieser Technik),
104
lsst das Sehen vergessen (S. 58),
denn an einem Film im Fernsehen sieht man nur, was man sehen will (S. 123).
Verglichen mit dem Kinofilm hat es allenfalls die Qualitt eines Telefonge-
sprchs; dient also der bermittlung von blo rudimentrer Information (aber
in gewissen Momenten ist man froh, wenn man bers Telefon mit jemandem
reden kann).
105
Fernsehfilme sind flach (auch wenn man ber die meisten Ki-
nofilme eigentlich das Gleiche sagen kann).
106
Fnfundzwanzig Postkarten pro
Sekunde.
107
Die Fernsehangestellten werden im Wesentlichen frs Nichtstun
bezahlt (S. 235), fr stumpfsinnige Kamera-Zooms.
108
Abstrahiert man von den
genannten Wenns und Abers, liee sich zusammenfassen, dass Fernsehen ent-
setzlich und jede Kritik daran berechtigt ist.
Es gibt aber auch ganz andere Positionen; nur zu kontrre: Film ist das Herz
des Fernsehens. (S. 100) Ich mache immer nur Stcke, und oft mache ich lieber
was frs Fernsehen, weil da Stcke akzeptiert werden. (S. 64) Deshalb arbeite
ich lieber im Fernsehen, da ist das Fragment akzeptiert in Gestalt der Serien. Tg-
lich sendet man Fragmente. (S. 139) Das Fernsehen bietet Mglichkeiten, dem
Anderthalb-Stunden-Hollywood-Schema auszuweichen. (S. 179 u. 182) Im Fern-
sehen knnte dokumentarische Aufklrung geleistet werden. (S. 140) Fernsehen
oder Video gestattet es, sich noch whrend der Produktion sofort als einen der
ersten Zuschauer zu denken (S. 159). Fernsehen bietet die Chance, ausgehend
vom audiovisuellen Journalismus einen bergang zur Fiktion finden. (S. 109)
Fernsehen ist weder besser noch schlechter, es ist was anderes. (S. 181) Besser ist
es zum Beispiel insofern, als hier der Hass fehlt, den man abweichenden Kino-
produktionen entgegenbringt. (S. 182) Kino und Fernsehen sind zwei Arten zu
arbeiten, die man nicht als unvershnliche Gegenstze hinstellen drfte (S. 266),
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
70
man sollte beides vermischen, sich des Dokumentarischen, des Unmittelbaren,
des Lebens des live, wie es beim Fernsehen heit bediene[n] [], um wirklich
Kino zu machen (S. 265). Insbesondere sollte man mehr ber das Fernsehen dis-
kutieren. (S. 296f.) Godard sagt tatschlich vieles ber das Fernsehen,
109
und
nichts wre verfehlter als anzunehmen, dass es sich dabei um unbedachte Prolife-
ration handelt.
Die zitierten Aussagen sind gar nicht auf einen Nenner zu bringen. Deleuze
hat eine der Fernsehmetaphern McLuhans aufgreifend vermutet, Godards
Fernsehbeitrge zielten auf ein Mosaik von Arbeiten;
110
und das Gleiche lsst
sich von seinen uerungen ber das Medium sagen. Was sie auszeichnet, ist ihr
strikt relationaler Status. Was das Fernsehen ist, ist nur in einer Reihe genauer
Hinsichten unter jeweils spezifischen Problemgesichtspunkten auszumachen. Es
bleibt dabei: Was wir ber das Fernsehen wissen knnen, wissen wir durch Go-
dard. Dem ist nur hinzuzufgen: Aber Godard wei gar nicht, was das Fernse-
hen ist, und gerade darin liegt seine Autoritt. Wenn er jedoch derjenige ist, der
Postkarten ber Postkarten mit unterschiedlichsten Stellungnahmen zu Fragen
der Television abgeschickt
111
und die eine entscheidende Stellungnahme verwei-
gert hat, was hindert dann, diese Postkarten zu lesen?
112
Mehr noch: Wie kann es
dazu kommen, dass Fachleute fr Lektren glauben, hier ber eine ebenso wert-
volle wie selbstverstndliche Beglaubigung ihrer Medienressentiments zu verf-
gen? Bei folgender Quellenlage: Godard has never regarded television as an infe-
rior version of film.
113
Wie kann es da geschehen, dass Godard zu Godard, zu
einer Art Metapher fr etwas ganz anderes (fr was?, Kunstzentrismus?, Dis-
tinktion?) werden kann? Das sind natrlich rhetorische Fragen: Zu solchen Un-
fllen kommt es halt, wenn das eingangs angesprochene problematische geistes-
wissenschaftliche Vor-Wissen (um Literatur im Medienwandel) mit jenem
Aufschub interferiert, den die literarische Autoritt fordert und der von ihr zu
lernen wre.
1 Bericht ber die Planungen eines germanistischen Forschungsinstituts Philologie in der Informa-
tionsgesellschaft, in: Ludwig Jger/Bernd Switalla (Hg.): Beitrge zum Leitthema: Germanistische
Forschungsinstitute: Bestand und Zukunftsperspektiven, in: Mitteilungen des Deutschen Germa-
nisten-Verbandes 39,1 (1992), S. 627, hier: S. 10.
2 Jger/Switalla (Hg.): Beitrge zum Leitthema: Germanistische Forschungsinstitute: Bestand und
Zukunftsperspektiven (Anm. 1), S. 8 ff.
3 Nmlich das Projekt der Interuniversitren Arbeitsgruppe Sprache, Literatur, Kultur im Wandel ih-
rer medialen Bedingungen, das inzwischen mit der Einrichtung des Kulturwissenschaftlichen For-
schungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation erfolgreich abgeschlossen wurde.
4 Pressemitteilung der Interuniversitren Arbeitsgruppe Sprache, Literatur, Kultur im Wandel ihrer
medialen Bedingungen (Kln, 1.6.1995); etwas modifiziert wieder abgedruckt in: Mitteilungen des
Deutschen Germanistenverbandes 42,4 (1995), S. 72.
Georg Stanitzek
71
5 Ein anderes Beispiel: Zu fragen ist, welche Gestalt man dem Poststrukturalismus zuschreibt,
wenn man ihn als eine Herausforderung an die Literaturwissenschaft bestimmt. (Manfred Wein-
berg: Das Gedchtnis der Dekonstruktion, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus He-
rausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1997, S. 2339, hier: S. 23)
6 [A]ngesichts der gegenwrtigen kultur- und medienwissenschaftlichen Herausforderungen der
Muttersprachenphilologie (Jrg Schnert: Germanistik eine Disziplin im Umbruch? Zur diszi-
plinren Entwicklung der Germanistik in den neunziger Jahren (am Beispiel der germanistischen
Literaturwissenschaft), in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbands 40,3 (1993), S. 15 24,
hier: S. 21).
7 Ferdinand Krnberger: Feuilletons. Ausgew. u. eingel. v. Karl Riha, Frankfurt/M. 1967, S. 157.
8 [G]eistige Herausforderung [], welche die mitteleuropischen Intellektuellen fr die eingebten
Rituale darstellen (Frank Schirrmacher, in: FAZ, 23.4.1992) Wissenschaft als Herausforderung:
Das Rechtshistorische Journal sorgt fr Stimmung (Gustav Seibt, in: FAZ, 11.1.1993) Weist
hier nicht hochintellektuelle Formkunst das gutgemeinte Mittelma der deutschen Gegenwartslite-
ratur in die Schranken? (ders., in: FAZ, 8.5.1993) usw.
9 Ich wrde aber vorziehen, es als Entdifferenzierungserscheinung zu kritisieren.
10 Knftige Herausforderungen annehmen und bestehen
11 Florian Rtzer: sthetische Herausforderungen von Cyberspace, in: Jrg Huber/Alois Martin Mller
(Hg.): Raum und Verfahren. Interventionen, Basel/Frankfurt/M. 1993, S. 2942, hier: S. 33.
12 Es gibt einen Druck auf das Fach, seine gesellschaftliche Relevanz und seine wissenschaftliche
Leistungsfhigkeit darzulegen. Die vernderten kulturellen Bedingungen der modernen Medien-
gesellschaft knnen dabei als Herausforderung und als Chance verstanden werden. (Jrg
Schnert: Literaturwissenschaft Kulturwissenschaft Medienkulturwissenschaft: Probleme der
Wissenschaftsentwicklung, in: Renate Glaser/Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft Kul-
turwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, Opladen 1996, S. 192208, hier: S. 194)
13 Krnberger sieht als Alternativen die Sprachen der Abspannung und der Hflichkeit.
14 Ein mchtiges Medium war [seit den 1960er Jahren] neben ihnen [den Zeitungen] in die Alltags-
welt von Fhrungsgruppen und breiter Bevlkerung eingedrungen. [] Welche Herausforderung
es fr die Zeitung darstellte, lt sich noch jetzt, Mitte der achtziger Jahre, ermessen. (Elisabeth
Noelle-Neumann: Die Antwort der Zeitung auf das Fernsehen. Geschichte einer Herausforderung
1986 [= Journalismus, n. F., Bd. 25], S. 7)
15 Kulturkmpfe finden zumindest in den Feuilletons noch statt. Doch auch Feuilletonisten sind in-
zwischen eine schtzenswerte Minderheit geworden, die Massen schalten auf SAT 1. (Rdiger
Suchsland, in: FR, 7.10.1995, Nr. 233, S. 6)
16 Vgl. nur: Joachim Metzner: Echtzeitabenteuer in Parallelwelten. Die Verarbeitung literarischer
Stoffe im Computerspiel, in: Horst Schaller (Hg.): Buch und Bildschirm eine Herausforderung,
Wrzburg 1986, S. 5775; allerdings wiederholt sich mit diesem Aufsatztitel nicht zufllig das ange-
sprochene Problem vgl. dagegen Ulrich Hlzer: Alice im Cyberspace, in: Mitteilungen des Deut-
schen Germanistenverbandes, 42. Jg., September 1995, S. 50 ff.
17 Fragezeichen und Franzsisch machen es nicht besser: Jochen Hrisch: Literatur oder Medien?
Eine Querelle allemande zwischen 68ern und 89ern, in: NZZ, 27.3.1995, Nr. 72, S. 23; Frage an Ernst
Jandl: Sind die Medien, ist die Sprache der Medien etwas, wogegen Sie sich mit Ihrer Literatur be-
haupten wollen, die Sie als Gegner betrachten? Antwort: Generell wrde ich das niemals sagen.
(Ernst Jandl, in: Im Leben ist alles unvollstndig [Interview v. Klaus Nchtern], in: taz, 30.9.1997,
Nr. 5344, S. 15)
18 Und unter Umstnden sogar mit der von der Konkurrenz; vgl. etwa Raimar Zons: Literarische
Bildung in der Medienkonkurrenz, in: Ludwig Jger (Hg.): Germanistik: Disziplinre Identitt und
kulturelle Leistung. Vortrge des deutschen Germanistentages 1994, Weinheim 1995, S. 248261.
19 im Wandel ihrer medialen Bedingungen sucht das auszugleichen; nicht berflssig, darauf
hinzuweisen, dass man damit eine diskursive Operation der 1970er oder: 1968er Jahre wieder-
aufnimmt: Ingeborg Drewitz (Hg.): Die Literatur und ihre Medien. Positionsbestimmungen, Dssel-
dorf/Kln 1972.
20 Vgl. als Option fr den weiteren Medienbegriff: Horst Wenzel: Medialitt von Literatur als Problem
der Literaturwissenschaft, in: Jger (Hg.): Germanistik (Anm. 18), S. 121137, hier: S. 123.
21 Das liegt, unterscheidungsbezogen formuliert, daran: dass Medien hier nicht auf der indizierenden
Seite der Distinktion situiert sind, sondern auf der anderen Seite der Unterscheidung. Sie werden
mithin nicht reflektiert, sondern dienen nur als Reflexionswert, der dem positiven Wert Litera-
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
72
tur oder Kunst Kontur geben soll. Es handelt sich um einen Typ Epideixis des sthetischen, der
seine Argumente einzig dem locus a contrario verdankt (und die Medien tauchen denn auch im
Weiteren in entsprechend kontrrer Stellung auf).
22 Vgl. nur Edgar Reitz: Diesseits der Zukunft Die Filmkunst in Erwartung der digitalen Bilder, in:
ders.: Bilder in Bewegung. Essays. Gesprche zum Kino, Reinbek 1995, S. 223267; Florian Rtzer:
Interaktion das Ende herkmmlicher Massenmedien, in: Rudolf Maresch (Hg.): Medien und f-
fentlichkeit. Positionierungen Symptome Simulationsbrche, Mnchen 1996, S. 119134.
23 Dazu Wolfgang Gast: Deutschunterricht und mediale Bildung, in: Jger (Hg.): Germanistik (Anm.
18), S. 274284, hier: S. 179 f.
24 Manfred Durzak: Der Schriftsteller und das Fernsehen. Anmerkungen zu einem belasteten Thema,
in: ders.: Literatur auf dem Bildschirm. Analysen und Gesprche mit Leopold Ahlsen, Rainer Erler,
Dieter Forte, Walter Kempowski, Heinar Kipphardt, Wolfdietrich Schurre u. Dieter Wellershoff, T-
bingen 1989, S. 128, hier: S. 8.
25 Ein nach wie vor brauchbares Register der entsprechenden Topoi bietet: Gerhard Maletzke: Kultur-
verfall durch Fernsehen?, Berlin 1988.
26 Durs Grnbein: Ultra Null, in: ders.: Von der blen Seite. Gedichte 19851991, Frankfurt/M. 1994,
S. 220.
27 Paul Virilio im Interview [v. Iris Radisch], in: Die Zeit, 15.4.1994, Nr. 16, S. 5354, hier: S. 53.
28 Solche Topoi unterlaufen selbst einem medientheoretisch so reflektierten Autor wie Samuel Weber:
Zur Sprache des Fernsehens: Versuch, einem Medium nher zu kommen, in: Jean-Pierre Dubost
(Hg.): Bildstrung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig 1994, S. 7288.
29 George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho
Strau, a. d. Engl. v. Jrg Trobitius, Mnchen/Wien 1990, S. 155. Karl Heinz Bohrer auf die Frage
nach seinen Textverarbeitungsgewohnheiten: Arbeiten mit Video ist mir fremd.
30 Harun Farocki: Wie man sieht, in: Die Republik, Nr. 7678, 9.9.1986, S. 33106, hier: S. 103. Zur er-
reichten und erwartbaren Bedeutung von elektronischen bzw. Bildschirm-Medien fr die wissen-
schaftliche Produktion aktuell: Rainer Kuhlen: Zur Virtualisierung von Bibliotheken und Bchern,
in: Dirk Matejovski/Friedrich Kittler (Hg.): Literatur im Informationszeitalter, Frankfurt/M./New
York 1996, S. 112142.
31 Siegfried Zielinski: Auslegung von elektronischen Texten. Jean-Luc Godards Mini-Serie Histoi-
re(s) du cinma, in: Helmut Brackert/Jrn Stckrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs,
Reinbek 1992, S. 237249, hier: S. 244. Und das nicht erst seit gestern; vgl. die aufschlussreiche his-
torische Darstellung: Siegfried Zielinski: Zur Geschichte des Videorecorders, Berlin 1986.
32 Zit. n. Tom Holert: Zirkulation, in: Texte zur Kunst, 5. Jg., Nr. 19 (August 1995), S. 184190, hier:
S. 188.
33 *Komplettieren Sie selbst! Vgl. Patrick Bahners: Das Zappen nach der verlorenen Zeit. Walter
Kempowski guckt in die Rhre, in: FAZ, 2.12.1997, Nr. 280, S. L3.
34 W. Phillips Davison: The Third-Person Effect in Communication, in: Public Opinion Quarterly 47
(1983), S. 115.
35 Ein brigens auch aus der Perspektive von Wahrnehmungsmedien alles andere als weit hergehol-
ter Vergleich; siehe nur: Joachim Paech: Das Sehen von Filmen und filmisches Sehen. Anmerkun-
gen zur Geschichte der filmischen Wahrnehmung im 20. Jahrhundert, in: Christa Blmlinger (Hg.):
Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wien 1990,
S. 3350, hier: S. 45 f.
36 Paul F. Lazarsfeld/Robert K. Merton: Mass Communication, Popular Taste and Organized Social Ac-
tion [1948], in: Lyman Bryson (Hg.): The Communication of Ideas. A series of addresses, New York
1964, S. 95118.
37 Davison: The Third-Person Effect (Anm. 34), S. 3 (meine Hervorhebung). More specifically, indivi-
duals who are members of an audience that is exposed to a persuasive communication (whether or
not this communication is intended to be persuasive) will expect the communication to have greater
effect on others than on themselves. And whether or not these individuals are among the ostensi-
ble audience for the message, the impact that they expect this communication to have on others
may lead them to take some action.
38 Lazarsfeld/Merton: Mass Communication (Anm. 36), S. 100.
39 Winfried Schulz: Mangel an Makrotheorien der Medienwirkungen? Ein Diskussionsbeitrag, in: Gn-
ter Bentele/Manfred Rhl (Hg.): Theorien ffentlicher Kommunikation. Problemfelder, Positionen,
Perspektiven, Mnchen 1993, S. 241245, hier: S. 244. Weiter zuspitzend, kann man vermuten,
Georg Stanitzek
73
dass die strkste Medienwirkung auf die in ihrer Erforschung Engagierten erfolgt (Herbert J. Ganz:
Reopening the Black Box: Toward a Limited Effects Theory, in: Mark R. Levy/Michael Gurevitch (Hg.):
Defining Media Studies. Reflections on the Future of the Field, New York/Oxford 1994, S. 271277,
hier: S. 276).
40 Von den Geisteswissenschaften weitgehend unbemerkt: Michael Rutschky: Erinnerungen an die
Gesellschaftskritik, in: Merkur 38 (1984), S. 2838, hier: S. 37; ders.: Die Gesellschaft, in: ders.: Was
man zum Leben wissen mu. Ein Vademecum mit 25 Zeichnungen von F. W. Bernstein, Zrich 1987,
S. 7182, hier: S. 79.
41 Jrgen Jacobs: Rainer Gruenter als Literaturhistoriker und wissenschaftlicher Essayist, in: Eupho-
rion 88 (1994), S. 123133, hier: S. 126.
42 Rudolf Maresch: Mediatisierte ffentlichkeiten, in: Leviathan. Zeitschrift fr Sozialwissenschaft 23
(1995), S. 394416, hier: S. 411 (u. passim, eine echte Fundgrube, dieser Text).
43 Kurt Scheel, in: taz, 23.11.1995, Nr. 4781, S. 16. Hierzu Rembert Hser: 08/15, in: Die Neue Gesell-
schaft. Frankfurter Hefte 42 (1995), S. 10131017.
44 Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einfhrung, a. d. Engl. bers. v. Anja Tippner, Stuttgart/Weimar 1993,
S. 49.
45 Leute, die ich kenne, kann er nicht meinen. Die sind trotz mancher vorm TV verjuxter Stunde
berwiegend mild und sachte. Dann meint er wohl sich und seine Frau. Wer htte das gedacht: Hel-
mut und Loki Schmidt verroht durch stumpfsinnige Serien. Schlagen alles kurz und klein, ver-
breiten Angst und Schrecken. (Max Goldt: Die brutale Welt des Helmut Schmidt [Mai 1993], in:
ders.: Die Kugeln in unseren Kpfen. Kolumnen, Zrich 1995, S. 4351, hier: S. 50 f.; vgl. BILD-
Zeitung, 1.4.1993, S. 5)
46 Michael Rutschky: Die Rache, in: manuskripte, Nr. 98, 1987, S. 5457, hier: S. 54.
47 Lazarsfeld/Merton: Mass Communication (Anm. 36), S. 97.
48 Ebd., S. 108 f. Dass er also beide Seiten, die Aufklrung wie das Vorurteil selbst, bediene, habe
den Text wohl zum Klassiker disponiert, diagnostiziert etwas zynisch: Schulz: Mangel an Makrothe-
orien der Medienwirkungen? (Anm. 39), S. 245.
49 Joachim Paech: Eine Dame verschwindet. Zur dispositiven Struktur apparativen Erscheinens, in:
Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrche. Si-
tuationen offener Epistemologie, Frankfurt/M. 1991, S. 773790, hier: S. 787 f. [N]iemand rede von
political correctness, wenn sich [] ein signifikantes bergewicht von Frauenthemen und franzsi-
scher Videophilosophie abzeichnet. (Gustav Seibt, in: FAZ, 7.4.1993, Nr. 82, S. 33)
50 Irit Rogoff: Others Others Die Anderen des Anderen, in: Michael Wetzel/Herta Wolf (Hg.): Der
Entzug der Bilder. Visuelle Realitten, Mnchen 1994, S. 355370.
51 Vgl. nur seine Stellungnahmen zur Kritischen Theorie: Friedrich A. Kittler: Geschichte der Kommu-
nikationsmedien, in: Huber/Mller (Hg.): Raum und Verfahren (Anm. 11), S. 169188, hier: S. 178 f.,
oder ders.: Copyright 1944 by Social Studies Association, Inc., in: Sigrid Weigel (Hg.): Flaschenpost
und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus,
Kln/Weimar/Wien 1995, S. 185193.
52 Friedrich Kittler: Am Ende der Schriftkultur, in: Gisela Smolka-Koerdt et al. (Hg.): Der Ursprung von
Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, Mnchen 1988,
S. 289300, hier: S. 290. Siehe auch Bernhard J. Dotzler: Voyeur, Saboteur entmachteter Zuschau-
er, in: Maresch (Hg.): Medien und ffentlichkeit (Anm. 22), S. 149165; (Lesezeichen:) seine Torheit
auszuspielen, heit wahrlich den Medien mit ihren eigenen Waffen kommen. (Dotzler: Voyeur, Sa-
boteur, S. 161)
53 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, S. 168.
54 Peter M. Spangenberg: Elektronisches Sehen. Das Beispiel des Fernsehens. ber die technische,
gesellschaftliche und psychische Organisation der Sichtbarkeit, in: Nummer 2 (1994), S. 2936, hier:
S. 30.
55 Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man [1964], Cambridge, MA/London
1994, S. 9.
56 Anders Dotzler: Voyeur, Saboteur (Anm. 52), und die Mehrzahl der in: Medien und ffentlichkeit
(Anm. 22) versammelten Stellungnahmen.
57 Kittler: Geschichte der Kommunikationsmedien (Anm. 51), S. 170.
58 Friedrich A. Kittler: Den Ri zwischen Lesen und Schreiben berwinden. Im Computerzeitalter ste-
hen die Geisteswissenschaften unter Reformdruck, in: FR, 12.1.1993, Nr. 9, S. 16; dazu: Helmut
Schanze: Zwei Rhetoriken? Zu Friedrich Kittlers und Joachim Dycks Kontroverse ber die Aufgaben
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
74
der Germanistik, in: Thomas Mller/Johannes G. Pankau/Gert Ueding (Hg.): Nicht allein mit den
Worten. Festschrift fr Joachim Dyck zum 60. Geburtstag, Stuttgart/Bad Cannstadt 1995,
S. 258265.
59 Elfriede Jelinek: Wir stecken einander unter der Haut. konzept einer television des innen raums, in:
Protokolle 70, S. 129134, hier: S. 132.
60 Vgl. Matthias Bickenbach: Release it! Geschicke der Literatur in der Kittler-Schule. Ein Brief, in:
Hagen 1 (1995), S. 1620.
61 Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis Freud und jenseits, bers. v. Hans-Joachim Metz-
ger, Bd. 1, Berlin 1982, S. 84 f.
62 Siehe etwa Avital Ronell: The Telephone Book. Technology Schizophrenia Electric Speech, Lin-
coln/London 1989.
63 Terminologiegeschichtlich gesehen, beerbt der Medienbegriff ja den des Verkehrsmittels (Manfred
Rhl: Kommunikation und ffentlichkeit. Schlsselbegriffe zur kommunikationswissenschaftlichen
Rekonstruktion der Publizistik, in: Gnter Bentele/Manfred Rhl (Hg.): Theorien ffentlicher Kom-
munikation. Problemfelder, Positionen, Perspektiven, Mnchen 1993, S. 77102, hier: S. 79).
64 Vgl. als Versuch, zentrale Elemente dieser Architektur zu beschreiben: Georg Stanitzek: Talk-
showEssayFeuilletonPhilologie, in: Weimarer Beitrge 38,4 (1992), S. 506528.
65 Hans Magnus Enzensberger: Mittelma und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt/M. 1988,
S. 89 ff. u. 59 f.
66 Botho Strau: Sig, in: ders.: Fragmente der Undeutlichkeit, Mnchen 1989, S. 3365, hier: S. 46.
67 Karl Heinz Bohrer: Die sthetik des Staates, in: ders.: Nach der Natur. ber Politik und sthetik,
Mnchen 1988, S. 930, hier: S. 29.
68 Tilman Krause: Innerlichkeit und Weltferne. ber die deutsche Sehnsucht nach Metaphysik, in:
Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hg.): Die selbstbewute Nation. Anschwellender Bocksgesang
und weitere Beitrge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt/M./Berlin 1994, S. 134141, hier: S. 140.
69 Jean Baudrillard: Paradoxe Kommunikation, bers. v. Dieter W. Portmann, Bern 1989, S. 14 ff.
70 Baudrillard: Paradoxe Kommunikation (Anm. 69), S. 21 f. Im Interface der Kommunikation sind
die Gesprchspartner aneinander angeschlossen wie ein Stecker an eine elektrische Steckdose,
beide unmittelbar freinander da, ohne Hoffnung auf eine Verzgerung oder Rckkehr. Es kom-
muniziert, wie man so schn sagt: es ist eine Art einziges, unpersnliches Verfahren, ein einziger
Schaltkreis, eine undifferenzierte Operation, wo weder Zeit noch Raum da ist, damit die Differen-
zierung der Subjekte stattfinden kann. (Ebd., S. 22 f.)
71 Vgl. als wichtige Anstze: Avital Ronell: Street-Talk, in: Studies in Twentieth Century Literature 11,1
(Fall 1986), S. 105131; Peter Fenves: Chatter. Language and History in Kierkegaard, Stanford,
Cal. 1993.
72 Bronislaw Malinowski: The Problem of Meaning in Primitive Languages, in: C. K. Ogden/I. A. Ri-
chards: The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of the
Science of Symbolism, New York o. J. [1. Aufl. 1923], S. 296336, hier: S. 315.
73 Ebd., S. 312 f.
74 Vgl. etwa frs Fernsehen: Hans J. Wulff: Phatische Gemeinschaft/Phatische Funktion: Leitkonzepte
einer pragmatischen Theorie des Fernsehens, in: montage/av. Zeitschrift fr Theorie & Geschichte
audiovisueller Medien 2,1 (1993), S. 142163.
75 Klaus Kreimeier: Lob des Fernsehens, Mnchen 1995, S. 166 u. 168; oder: [D]ie goldene Kette der
sozialvertrglichen Plauderei, der Balsam des Geredes. (Ebd., S. 179)
76 Anathema: Ich habe keine groe Lust, ber die Dekonstruktion zu sprechen. (Jean Baudrillard im
Interview [v. Carlos Oliveira], in: FR, 10.4.1993, S. ZB3)
77 Bronislaw Malinowski: Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen, in: C. K. Ogden/I. A. Ri-
chards: Die Bedeutung der Bedeutung (The Meaning of Meaning). Eine Untersuchung ber den Ein-
fluss der Sprache auf das Denken und ber die Wissenschaft des Symbolismus, Frankfurt/M. 1974,
S. 323384, hier: S. 329.
78 Roman Jakobson: Closing Statement: Linguistics and Poetics, in: Thomas A. Sebeok (Hg.): Style in
Language, Cambridge, MA 1960, S. 350377, hier: S. 353 u. 357.
79 Malinowski: The Problem of Meaning (Anm. 72), S. 314. Das entspricht einer in gewissen geistes-
wissenschaftlichen Milieus beliebten Figur der Medienkulturkritik, die sich auch durch empirische
Argumente wie das folgende kaum entkrften lassen wird: Entgegen den Vorurteilen gegen-
ber dem Medium Video und den Videokonsumenten wird dieses Medium nicht von besonders ar-
men oder unausgebildeten Personenkreisen genutzt. (Charlotta Pawlowsky-Flodell: Wenn Video-
Georg Stanitzek
75
nutzer fremdgehen. Die Videotheknutzer am Beispiel der Stadtbibliothek Bielefeld, in: Buch und Bi-
bliothek 43,8 (1991), S. 652659, hier: S. 652)
80 Malinowski: The Problem of Meaning (Anm. 72), S. 322.
81 Vgl. Stanley Fish: Theres No Such Thing as Free Speech, and its a Good Thing, Too, New
York/Oxford 1994, S. 106 f.
82 Insofern luft Dekonstruktion hier auf gutes alteuropisches Wissen hinaus: Geschwtz kenn-
zeichnet den Pbel; und: am schlimmsten ist der Gegen-Pbel (vgl. Baltasar Gracin: Criticn
oder ber die allgemeinen Laster des Menschen, bers. v. Hanns Studniczka, Hamburg 1957,
S. 104, sowie ders.: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D.
Vincencio Juan de Lastanosa u. aus dem spanischen Original treu und sorgfltig bers. v. Arthur
Schopenhauer, hg. v. Arthur Hbscher, Stuttgart 1990, N 206, S. 103).
83 Insofern ist es nicht korrekt, eine kontinuierliche Traditionslinie McLuhanBaudrillard zu ziehen;
vgl. Andreas Huyssen: In the Shadow of McLuhan: Baudrillards Theory of Simulation, in: ders.: Twi-
light Memories. Marking Time in a Culture of Amnesia, New York/London 1995, S. 175190.
84 Marshall McLuhan/Gerald Emanuel Stearn: A Dialogue: Q. & A., in: Gerald Emanuel Stearn (Hg.):
McLuhan: Hot & Cool. A Primer for the Understanding of & a Critical Symposium with a Rebuttal by
McLuhan, New York 1969, S. 259292, hier: S. 283. McLuhans Haltung verdankt sich wohl nicht zu-
letzt dem Umstand, dass er nicht von selbstverstndlicher Gegebenheit, sondern von Unwahr-
scheinlichkeit der Kommunikation (wenn sie Punkt-zu-Punkt-Verstehen implizieren soll) ausgeht:
Communication, in the conventional sense, is difficult under any conditions. [] We can share en-
vironments, we can share weather, we can share all sorts of cultural factors together but commu-
nication takes place only inadequately and is very seldom understood. For anybody to complain ab-
out lack of communication seems a bit nave. Its actually very rare in human affairs. (McLuhan/
Stearn: A Dialogue, S. 283)
85 Vgl. als Versuch einer systematischen Kritik dieses Ansatzes: Georg Stanitzek: Rez.: Siegfried J.
Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M.
1989, in: Internationales Archiv fr Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17,2 (1992), S. 181191.
86 Insofern konsequent, nmlich ohne eigene Lektre, Interpretation resp. Kommunikatbildung von
Medienprodukten auskommend: Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientie-
rung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Me-
dien und Kultur, Frankfurt/M. 1994 oder doch jedenfalls mit einem Minimum (vgl. ebd., S. 200 f.).
87 Es gibt keine nicht-informative Kommunikation (Niklas Luhmann: Die Realitt der Massenmedien,
Opladen 1995 [Vortrge der Nordrhein-Westflischen Akademie der Wissenschaften: Geisteswis-
senschaften; G 333], S. 18, Anm. 29; 2. Aufl.: 1996, S. 38 f., Anm. 9). Vgl. dagegen Formulierungen
wie: Es ist ein ungeheures Schwatzen in der Welt, in das die Massenmedien ein besonderes
Schwatzen einschreiben, das durch Steigerungsinteressen definiert ist. (Peter Fuchs: Es ist ein
Schwatzen in der Welt. Mysterienspiele Olympische Inszenierungen von Krpern, Feuern und Ur-
einwohnern, in: FR, 21.9.2000, Nr. 220, S. 25)
88 Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 53), S. 68; vgl. Georg Stanitzek: Im Rahmen? Zu Niklas
Luhmanns Kunst-Buch, in: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik,
Tbingen/Basel 1997, S. 1130.
89 Der Textbegriff ist hier im allgemeinen Sinn zu verstehen; vgl. Jacques Derrida: Postface. Vers une
thique de la discussion, in: ders.: Limited Inc. Prsentation et traduction par Elisabeth Weber, Pa-
ris 1990, S. 199285, hier: S. 273.
90 Vgl. oben, im Kontext des Interzeptionstheorems, u. Anm. 52.
91 Vgl. nur Michel de Montaigne: Essais I,37: Du jeune Caton, in: ders.: uvres compltes, hg. v. Al-
bert Thibaudet u. Maurice Rat, Paris 1985, S. 228.
92 *Komplettieren Sie selbst!
93 Goethe: Frank Schirrmacher, in: FAZ, 15.9.1993, Nr. 214, S. 33; Celan: Gisela Krone, in: taz,
23.11.1995, Nr. 4781, S. 16.
94 *Komplettieren Sie selbst!
95 Manfred Schneider: ENTROPIE tricolore. Die Logik der Bilder in Godards Weekend, in: Wetzel/
Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder (Anm. 50), S. 235248, Zitat: S. 245.
96 Vgl. Volker Roloff: Der Ort des Fernsehens in der Zeit der Nouvelle Vague: Anmerkungen zur Theo-
rie und Praxis intermedialer Analyse, in: Helmut Kreuzer/Helmut Schanze (Hg.): Bausteine III. Bei-
trge zur sthetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien. Arbeitshefte Bildschirmme-
dien 50, 1994, Universitt-GH Siegen, S. 133140.
Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses ber Medien
76
97 Nicht in terms of Autoritt, sondern von Autorschaft hie es noch zu Anfang des 20. Jahrhun-
derts: Doch wer fragt bei Kinostcken nach Autoren? (Robert Walser: Das Kind (II), in: ders.:
Trumen. Prosa aus der Bieler Zeit 19131920, Zrich/Frankfurt/M. 1985 [= Robert Walser: Smtli-
che Werke in Einzelausgaben, hg. v. Jochen Greven, Bd. 16], S. 172175, hier: S. 173)
98 Thomas Meyer: Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik.
Essay-Montage, Frankfurt/M. 1992, S. 45.
99 Spangenberg: Elektronisches Sehen (Anm. 54), S. 34.
100 Godard, dem immerhin eine gewisse Autoritt in Sachen Bildern, praktisch wie theoretisch, nicht
abgesprochen werden kann (Weber: Zur Sprache des Fernsehens (Anm. 28), S. 79).
101 Vgl. etwa France Tour Detour Deux Enfants. Fernsehserie in zwlf Teilen von Jean-Luc Godard und
Anne-Marie Miville, in: Filmkritik, Nr. 279, Mrz 1980, S. 116141, oder Deux fois cinquante ans de
cinma franais (Anne-Marie Miville/Jean-Luc Godard), 1995.
102 Vgl. Jean-Luc Godard: Die Videotechnik im Dienste der Film-Produktion und der Kommunikation,
bers. v. Hanns Zischler, in: Filmkritik, Nr. 159, Juli 1978, S. 358369.
103 Jean-Luc Godard: Einfhrung in eine wahre Geschichte des Kinos, a. d. Frz. v. Frieda Grafe u. Enno
Patalas, Frankfurt/M. 1984, S. 39, 58, 123. Zitate aus der Einfhrung im Folgenden als Seitenzahlen
in Klammern.
104 Gesprch zwischen Walter Ruggle und Jean-Luc Godard, in: Filmbulletin 1990, H. 6, S. 4650, hier:
S. 50.
105 Jean-Luc Godard in: Ellen Oumano: Filmemacher bei der Arbeit, bers. v. Manfred Ohl u. Hans Sar-
torius, Frankfurt/M. 1989, S. 171.
106 Aber auch hier liegt kein wesentlicher Unterschied zum Kino: Faire du cinma ou de la tlvision,
techniquement, cest envoyer vingt-cinq cartes postales par seconde des millions de gens, soit
dans le temps, soit dans lespace, ce qui ne peut tre quirrel. (Godard par Godard. Des annes
Mao aux annes 80, Paris 1991, S. 151)
107 Jean-Luc Godard: Liebe Arbeit Kino. Rette sich wer kann (Das Leben), a. d. Frz. bers. v. Lothar
Kurzawa u. Volker Schfer, Berlin 1981, S. 60 f.
108 1978 hat er gesagt, dass er gern Direktor eines kleinen, eines Dorf-Fernsehsenders wre (Godard
sagt vieles. Interview mit Jean-Luc Godard, bers. v. Brigitte Kramer, in: Filmfaust, Nr. 11, Dezem-
ber 1978, S. 650, hier: S. 45); spter hat er gesagt, dass er am Posten des Programmchefs im na-
tionalen franzsischen Fernsehen interessiert wre
109 Gilles Deleuze: Drei Fragen zu six fois deux (Godard), in: ders.: Unterhandlungen 19721990, bers.
v. Gustav Roler, Frankfurt/M. 1993, S. 5769, hier: S. 63 f.
110 Richard Dienst: Sending Postcards in TV Land, in: Peter Brunette/David Wills (Hg.): Deconstruction
and the Visual Arts. Art, Media, Architecture, Cambridge 1994, S. 296307. Als verknappte Version
der Godardschen Geste siehe auch: Marguerite Duras: Der Fernseher, in: Dies.: Die grnen Augen.
Texte zum Kino, a. d. Frz. v. Sigrid Vagt, Mnchen/Wien 1987, S. 47 f.
111 Oder sich ihre Bildseite anzuschauen, wie es Zielinski: Auslegung von elektronischen Texten
(Anm. 31) tut.
112 Colin MacCabe. Godard: Images, Sounds, Politics, Bloomington 1980, S. 138.
Georg Stanitzek
77
Ansel m Haverkamp
RE PRSE NTAT I ON UND RHE T ORI K. WI DE R DAS APRI ORI DE R NE UE N ME DI AL I T T
Lassen Sie mich, bevor ich anfange mit meinem Vortrag, mit der Vertauschung
der Pltze anfangen, den mein Titel, der Reprsentation und Rhetorik lautet, im
Titel Ihrer Tagung vornimmt, die Medien und Reprsentation heit. Die Verkeh-
rung der Reihe, in der Reprsentation auftritt, wie auch die Ersetzung der allfl-
ligen, ubiquitren Medien durch Rhetorik ist, ganz wie die von Ihnen vorge-
schlagene Konstellation von Medien und Reprsentation, programmatisch: ohne
Rhetorik und den von ihr begrndeten Reprsentationsbegriff gibt es keinen Me-
dienbegriff, haben wir keinen und sind wir auerstande, uns einen auch nur zu
machen. Der Akzent liegt bei mir auf dem Begriff der Rhetorik einschlielich des-
sen, dass die Rhetorik einen anderen Typ von Begriffen hat und einen anderen
Gebrauch von Begriffen macht, als es die herrschenden Dogmen- oder Begriffs-
geschichten der Geisteswissenschaften vorsehen. Das ist fr das Funktionieren
von Reprsentation und vollends die Wirkung der Medien entscheidend. Da-
rber, dass Rhetorik nicht das ist, als was sie rudimentr auftritt in unseren kul-
turkritischen Diskursen, kann ich hier nicht ausfhrlich genug handeln. Ich be-
schrnke mich auf die Konsequenz, die der Ausfall der Rhetorik im Verhltnis
von Medien und Reprsentation hat.
Indem ich Rhetorik an die Stelle setze, an der in Ihrem Programm Medien
steht jener Fetisch, der allen Fortschritt als Sollwert verblassen lsst und als
Joker alle kulturtheoretischen Patiencen lst lokalisiere ich die Medialitt der
Mittel anders, als es der allgemeine Fortschritt der Medien unterstellt und kultur-
wissenschaftlich dringlich macht. Ich widerspreche damit unter anderem dem
uneingeschrnkten Technik-Apriori, dem diese Entwicklung in unseren Medien-
diskussionen unterworfen wird; die Rede im Namen Ihrer Arbeitsgruppe von
den medialen Bedingungen gibt davon einen Begriff. Sinnvoll wre ein solches
Apriori aber allenfalls wenn man an einer Apriorisierung von Mediengeschichte
berhaupt interessiert sein wollte als eins der rhetorischen techne aufzufassen.
Denn der Begriff dieser techne ist es, welcher die technische Seite der Reprsen-
tation bestimmt, wie diese in die Technikgeschichte der Neuzeit verwickelt ist.
Und es ist Teil dieser Verwicklung, dass gerade die Technik keine Entwicklung
des offenkundigen Funktionierens oder Nichtfunktionierens aufweist, sondern
rhetorisch, wie sie ist die Geschichte eines weitgehend verdeckten Funktionie-
rens unterschiedlich expliziter Funktionen darstellt.
Ich tendiere deshalb dazu, die Mittelhaftigkeit der Medien von der Technizi-
Reprsentation und Rhetorik
78
tt dessen abhngig zu machen, was in der Halbierung des Rhetorikbegriffs auf
persuasive Kommunikation und Anwendung verloren gegangen, in der epis-
temologischen Depotenzierung von Rhetorik an Technik und Kunstverstand
vergessen oder verdrngt worden ist. Selbst ganz im Banne dieses technisch hal-
bierten Rhetorikverstndnisses, drngen sich die so genannten Medien mittels
unvermittelter Evidenz auf, berzeugen sie von sich selbst durch eine Unmittel-
barkeit, die ihre Mittel per se und sponte sua zum Ziel bringt: perfekte, vollendete
Rhetorik.
Das rhetorische Axiom, das in der technischen Halbierung der Rhetorik ver-
deckt liegt, besteht in nichts anderem nicht mehr und nicht weniger denn der
prinzipiellen Verdecktheit der Mittel aller Rhetorik oder, genauer, dem dialekti-
schen Wechselspiel von Verdeckung und Aufdeckung in der Mittelbarkeit rhe-
torischer man knnte hier noch schlicht sagen sprachlicher Mittel. Ovid, des-
sen ironische Feier der aura aetas ich eben in ihrer rhetorischen Pointe zitiert habe
nur im goldenen Zeitalter funktionierten die Medien sponte sua hat die Dia-
lektik von Sein und Schein auf die Formel des ars est caelare artem gebracht.
Genauer expliziert Ovid diesen Gemeinplatz anlsslich der Geschichte Pygma-
lions: ars adeo latet arte sua, besteht die Kunst darin, die ihr eigene Technik zu
verbergen; sie funktioniert aus der Latenz oder eben: mittels Latenz. Whrend
Ovid dieses Funktionieren aus der Latenz im Zusammenhang der Pygmalion-
Geschichte bereits als ein sthetisches zu erkennen gibt, liegt die Pointe in pro-
portionaler Wieder-Holung des vorgefhrten Effekts nicht (allein) im Ergebnis
der tatschlichen Belebung des toten Marmors, die in ihrer Scheinhaftigkeit den
Mythos in einem dar-stellt und de-couvriert, sondern in der Benennung und der
Beschreibung der Verbergung als Latenz, der medialen Wirkung als Technik, die
den Ursprung und Antrieb des sponte sua dezidiert arte sua, aus der Verdecktheit
der Mittel heraus, bedroht.
Was latet meint: dass es ein Es in der sthetisch perfekten, untergrndig
unheimlichen Belebung der Phantasmen droht, die Ovid in ihrer mythischen Ge-
nealogie vorberziehen lsst, macht die rhetorische Pointe aus, die verdeckt wie
der Freudsche Witz der Mediendebatte einzuzeichnen ist. Stehen die Medien,
zumal in Hinsicht der durch sie oder ber sie verun-mittelten, nmlich durch Un-
mittelbarkeit vermittelten Reprsentationen fr die Latenz von Reprsentation?
Ich schlage vor, anstelle der Medien an der Stelle im genauen Sinnes dessen, wo-
fr sie stehen, und dass sie berhaupt fr etwas auer ihnen selbst, ihres sponte
sua, stehen Latenz als Grundbegriff von Kulturwissenschaft zu diskutierten,
von Kulturwissenschaft in einem Medienzeitalter, in dem der verflossene Geist
der Geisteswissenschaften die Medien heimsucht wie das Gespenst des alten
Anselm Haverkamp
79
Hamlet, das ja selbst ein Gespenst von Geschichte ist, die Bhne Shakespeares.
Welches ist die Bhne der Medien, welches Gespenst sucht sie heim?
Als verblasstes Standphoto des objektiven Geistes, das Hegels Phnomeno-
logie zuwege brachte, hatten die Geisteswissenschaften festgehalten, fixiert und
sistiert, was an Geschichte absehbar, schien. Die Ironie der Geschichte, eine emi-
nent rhetorische Kategorie, wird einsehbar, und die Latenz der Kunst, technisches
Differenzial derselben Rhetorik, wird ausschpfbar im Objektiv des absoluten
Geistes mit diesem Geist, einem Geist wie diesem, rechnet die Mediendebatte;
sie setzt ihn voraus wie Totem und Tabu die Allmacht der Gedanken. Reprsenta-
tionslogisch sind die neuen Medien keine epochale Neuheit, aber eine radikale
Neuerfllung alter Medialitt. Ob diese, und inwiefern diese neue Erfllungsge-
stalt radikaler ist als ltere, radikaler als Shakespeares Bhne zum Beispiel, ist eine
andere Frage. Alte Probleme fallen nicht dadurch leichter, dass man sie rundum
zu neuen erklrt; man verliert im Rundum nur das spezifische Profil. Die Fuge,
die Epoche, welche die Geschichte ist und nicht erst die Zsur, die in sie ein-
greift , ist selbst rhetorisch profiliert, und die neuen Medien mgen eines dieser
Profile sein. Dass sie lauthals Neues signalisieren, ist nichts Neues, spricht aber fr
eine Dringlichkeit der Latenz, ein Insistieren. Von was? und worauf? sind Fragen,
die erst entwickelt und lokalisiert werden mssen.
Der Reprsentationsbegriff bietet sich an als der neuere Inbegriff solcher
Profile.
1
Wie ihr rhetorischer Vorgnger, die Allegorie, bindet Reprsentation die
Variationsschemata und nderungskategorien der Rhetorik an spezifische zei-
chentheoretische Unterstellungen. Als Abbildung oder Ausdruck impliziert Dar-
stellung, was sie darstellt, als einen ihr selbst vorgngigen Ursprung, den sie in
der Falte dem pli dieser Implikation verbirgt, um ihn als solchen offenbar und
effektiv machen zu knnen. Heidegger, dessen nachphnomenologischer Intui-
tion wir Foucaults Ausarbeitung des Reprsentationssyndroms verdanken, hatte
dessen neuzeitliche Logik: das Zusammenspiel des in der Reprsentation Offen-
barten mit der ihm ursprnglichen Verborgenheit, aus der es stammt, nicht ohne
Anlass, Grund und Witz nachgerade als Langzeitwirkung, nmlich als epoch der
Seinsvergessenheit interpretiert und damit der von der Philosophie grndlich
und ursprnglich verdrngten Rhetorik eine in der Tat ganz unheimliche Wir-
kungsmchtigkeit zugetraut; sie als Wiederkehr eines Verdrngten aufgefasst, das
die Mechanismen der Verdrngung in sich selbst trgt, sie in sich selbst verdop-
pelt.
In Verlngerung dieses Zutrauens, das Heidegger bekanntlich als Gelassen-
heit empfahl, liee sich die All-Macht der Mediendiskussion (samt ihrer All-
machtsfantasien) als spezifisch bundesrepublikanisches Nachkriegsereignis le-
Reprsentation und Rhetorik
80
sen, in dem Heideggers eigener Agenda konform die Unfhigkeit zu trauern in
einer epochalen Unfhigkeit zu lesen einem umfassenderen Verblendungszu-
sammenhang als dem Adornos vorstrukturiert wre.
2
berwltigt von der
Macht nicht mehr der Musik, sondern der sie zum Gesamtkunstwerk ausweiten-
den medialen Konstruktion des heideggerschen Gestells knnten wir uns der
totalen Vernetzungen nicht mehr erwehren, versnke die Welt von Prosperos
Books im medialen Meer der in ihnen gebannten Bilder selbst wieder nur eine,
die neueste Bcherfantasie. Seit deutsche Philologen wieder einmal des Bcherle-
sens berdrssig geworden sind und sich, getreu dem in diesen Bchern aufbe-
wahrten Wesen und Sonderweg, an eine neue Zeit- und Welterklrung machen,
mussten sie zwangslufig auf dieses letzte Nachbild ihrer selbst stoen. Interes-
sant daran ist, wenn auch nur im Vorbergehen, wie das Phantasma des medialen
Welten-Raums in den Lndern des nachreformatorischen Literalsinns (nicht zu-
letzt in Deutschland, das in diesem Punkt von der verfrhten zur verspteten Na-
tion wurde) die undurchschaute, rhetorische Hypostase des lteren, protestan-
tischen Schriftprinzips mediengerecht transponiert und unter Fortschreibung
der Hypostase und Ausweitung der generierten Phantasmen einer post-theo-
logischen Spielwelt voller religiser Versatzstcke und Appellwerte Raum gibt:
einer wild fortwuchernden continuatio allegorischer Phantasmagorien cyber-
space als paradise regained, das ist ganz und gar kein Gedanke neueren Datums.
Zurck zum Verhltnis von Reprsentation und Allegorie, vor dem die neue
Medialitt sich abheben lassen msste: die sie hinter sich lassen oder aufheben
msste. Man mag dieses Verhltnis mit Foucault als Transkriptionsgeschichte
auffassen und diese von Fortschritt und Gewinn oder Verlust und Verfall gezeich-
net sehen. Scheint der Verlust der ternren Markierung am binren Zeichen spur-
los zu bleiben, so bleibt er doch nicht folgenlos fr die Reprsentation. Fr sich
genommen, nimmt sich die Beschreibung ternrer Zeichen wie die verallgemei-
nernde Projektion des in der Binaritt der Zeichen eingeklammerten Raums ver-
lorener Verweise aus. Dieser Raum wird zur synchronen Oberflche, deren dia-
chrone Konstitution dagegen zum hidden file. Nicht dass diese Flche keine
Projektion von Raum mehr tragen knnte im Gegenteil; aber es ist ein anderer,
perspektivisch verkrzter, in der Verkrzung aber angedeuteter Raum, der, in-
dem er verkrzt abbildet, dem um diese Verkrzung zu ergnzenden Raum in
seiner Gnze als solchem aus der Verborgenheit zur Offenbarheit dessen ver-
hilft, was phnomenal und nicht blo rhetorisch evident ist. Die Evidenz ist sche-
matisch suggestiv; das heit, sie ist aus dem Schema Perspektive heraus und
nicht aus sich selbst einsichtig. Aber sie hngt an einem foregrounding, das selbst
mitansichtig ist. Reprsentation neigt zur Verdoppelung, zeigt Foucault, zu un-
Anselm Haverkamp
81
merklicher sur-reflexion, wie Merleau-Ponty sagt.
3
Whrend sich die alte Allego-
rie abgrndig in sich selbst verlaufen und verrtselt hatte.
Bloe Rhetorik macht evident, was Rhetoriktilgung an sich und aus sich
selbst darstellt.
4
Reprsentation ist der Name und das Indiz fr diese verdoppelte
Leistung, in der sich Rhetorik als doppelte performance spiegelt und in der Spie-
gelung, hinter der sie sich zurckzieht, auch zeigt. Wie schon die erste perfor-
mance der so genannten bloen Persuasion die Rhetorizitt der Mittel berschat-
tet und modelliert hatte, um zum (eben blo rhetorischen) Erfolg zu kommen,
tut es die zweite, kunstvoll reduzierte, durch die phnomenologische Reduktion
gegangene Performanz der Reprsentation erst recht, indem sie das Verbergungs-
verhltnis der angewandten Tropen, kurz die ratio der alten Allegorie qua figura
cryptica, als Mastab der Darstellung und ihrer Wahrscheinlichkeit bernimmt
undsie der Doppelungder ReprsentationvonReprsentationwieder einschreibt.
Gewiss, diese Rationalisierung der Tropen, die der Entwicklung der neuen Re-
prsentationsleistung analog luft von Ramus bis Baumgarten, hat die Eigendy-
namik der Rhetoriktilgung qua Reprsentation nicht auffangen knnen; aber es
wre eine terminologische Sackgasse, wollte man die Tilgung lterer Termini
technici mit dem um- und neu besetzten Konstrukt gleichsetzen. Der Punkt ist,
dass Rhetorik sich in Reprsentation verdoppelt und in die Verdoppelung der Re-
prsentation neu einschreibt als das, was die Verdoppelung zum Verschwinden
bringt. In der Dialektik von Sein und Schein, Sein qua Schein, heit das, dass ent-
weder die figura cryptica der Ironie als antithesis zu dem, was ist, hervortritt: das
begrndet die sthetik. Oder aber es folgt umgekehrt, dass der Literalsinn dessen,
was sein soll und angeblich ist, hervortritt: das modelliert begrndet aber nicht
etwa die Diskurse der Deskription und verlegt die crypsis der Figur bei Ramus
noch crypsis of method, methodische Verdecktheit der figuralen Relation in die
Hyper-Reflexion dessen, was jetzt Reprsentation heit und das in der Substitu-
tion Re-prsentierte aus der scheinhaften Auslschung seiner selbst zur Geltung
bringt.
5
Die erreichte Transparenz der Mittel geht brigens schon hier, sage ich im
Blick auf die sptere, systematisch versptete Mediendiskussion so weit, dass
sie, sozusagen durch-sichtig, den ehedem bloen Schein als fadenscheinig hinter
sich lsst. Das Nichts dieser Durchsichtigkeit ist es, was sich in der sthetik als es
selbst, das als ein Es aber kein Selbst hat, sondern ein Nichts ist, darbieten wird. Es
zeigt sich wird Wittgenstein sagen, nein zeigen aber es zeigt sich eben nicht
als es selbst, sondern als etwas an sich, das gerade nicht es selbst ist: als die ffnung
des Fliegenglases etwa, die vom Glas der Flasche nicht zu unterscheiden, nicht als
strukturell unterschieden wahrzunehmen ist, weil sie durchsichtig ist wie das
Reprsentation und Rhetorik
82
Glas, das sie nicht ist; das vielmehr umgekehrt diese ffnung in ihm, und was sie
durchblicken lsst, mimt.
6
Nur durch Verunklrung des Glases, durch die Mar-
kierung der medialen Differenz als einer solchen tritt sie, die ffnung dieses
Nichts in diesem Beispiel ein durch und durch literales Nichts hervor. Witt-
gensteins Zeige-Metapher ironisiert in der Buchstblichkeit dieses Nichts den os-
tentativen Charakter von Deskription als buchstblich bildlich abbildender,
pikturaler Reprsentation. Entsprechend karikiert Paul de Mans Lese-Metapher
den rezeptionssthetischen Phnomenalismus der literarischen Fiktion; das ne-
gative Wissen literaler Unlesbarkeit ironisiert die Positivitt des qua Reprsen-
tation Vorzeigbaren.
7
In der Reprsentation zeigt sich: prsentiert, nicht repr-
sentiert sich das Nichts des Undarstellbaren und Unsagbaren als es selbst, das ist:
als ein Nichts an Reprsentation. Ein an im doppelten Sinne der Verdoppelung,
welche die Reprsentation ist, nmlich an sich ist; des Nichtses, das in der Ver-
doppelung an ihr haftet, klebt und nicht mehr von ihr zu lsen ist. Es ist die Im-
plikation, die Einfaltung in der keinesfalls einfltigen Verdoppelung, in der die
Hyper-Reflexion der Reprsentation ihre rhetorische Struktur oder sagen wir
nur: Vorstruktur zu erkennen gibt: sie im Zeigen zu lesen gibt und sie im Lesen
zeigt.
Es hat lange gedauert, bis die glckliche Kombination von Phnomenologie
und Strukturalismus der historische Kompromiss, von dessen Tragweite wir
heute noch mitgetragen werden die Pointe der verdoppelten Reprsentation
entdeckt hat; lnger noch, bis man sie ber die Evidenz der Selbst-Thematisierung
der Reprsentation von Reprsentation in Reprsentation hinausgetrieben hat.
8
Denn diese Pointe ist keine der bloen Selbst-Spiegelung, sondern des Spiegels,
dessen Reflexion in das Reflektierte eingezeichnet, in die Struktur der Reprsen-
tation als jene Implikation eingetragen ist, um die sich die scheinbare Selbst-
Thematisierung der Verdoppelung als scheinbar bloer Verdoppelung dreht. Seit
Foucaults phnomenologischer Zuspitzung der Zuspitzung Merleau-Pontys,
aber auch Heideggers ist die Frage offen geblieben, inwieweit die Phnomenolo-
gie der Reprsentation mitsamt der phnomenalen Pointe der surreflexion im
Zeichenbegriff einen Kompromiss gefunden hat, der ber einen bloen Phno-
menalismus hinausfhrt; ob sie Sprache nicht als ein letztlich unspezifisches
Ausdrucksmaterial unterschtzt, und zwar schon materialiter unterschtzt.
9
Denn so berzeugend sich der Sachverhalt der Hyper-Reflexion an der Phnome-
nalitt des Visuellen darbietet, so unerkennbar verdeckt muss er im pur Sprachli-
chen bleiben was die Prioritt des Visuellen indirekt sttzen wrde, lieferte
nicht eben diese Verdecktheit in ein und demselben Zug Derridas Entzug die
Probe aufs Exempel und bewiese sich in ihr Rhetorik nicht als das verborgene Re-
Anselm Haverkamp
83
lais sprachlicher, ber Sprache laufender Hyper-Reflexion; bewiese sie sich in die-
ser ihrer alten Rolle nicht als eben die Struktur-Vorgabe an und fr Reflexion, als
die sie in Heideggers Rede von der sprachlichen Erschlossenheit des Daseins ins
Auge gefasst ist.
10
Wieder sehr verkrzt, verlngere ich, was ich als Vermutung schon kurz an-
gedeutet habe, dass nmlich Reprsentation der Name und Ort, kurz der Topos
ist, unter dem, an dem und auf dem diese Vorgabe spielt; der Spielraum, in dem
diese zur Selbst-Darstellung kommt. Und ich fge hinzu, dass es sich um ein tr-
gerisches Spiel handelt, in dem wie knnte es anders sein Rhetorik gar nicht
selbst, geschweige denn als sie selbst auftritt, sondern an ihrer Stelle Reprsenta-
tion als wahre berwindung ihrer, der Rhetorik selbst, fr sich selbst zum Auf-
tritt bringt. Insofern ist Reprsentation Metapher, translatio von Rhetorik, und
zwar in Gestalt einer Hypotypose, in welcher Rhetorik die enargeia aufbringt,
deren verbildlichende Energie in der Reprsentation weiterwirkt.
Theatralitt, Bhne und Rahmen, Apparate und Maschinen, sttzen diesen
Auftritt, der das Auftreten der Rhetorik in der Maske der Reprsentation ist; sie
verdienen deshalb die erneute Aufmerksamkeit, die man ihnen schenkt, bis in je-
des technische Detail. Die Literalisierung der Metaphern und Figuren jedoch, die
sie ingenis, mit Hilfe von Ingenieuren, ins Werk setzen und als Katachresen,
Prothesen ohne Ursprung, taufrisch auf Dauer stellen, ist aber eben nur dies: eine
Verbuchstblichung, die Buch und Skript in der Falte verdoppelter Reprsenta-
tion versteckt hlt keine Epiphanie dessen, was in Bchern dieser Art schon
ewig verkndet und beschworen oder vermisst und betrauert wurde. Sptes Sup-
plement eines fiktiven Ursprungs, widerlegt und durchkreuzt sie nicht nur die-
sen, indem sie ihn berflutet, ffnet sie vielmehr und das ist viel mehr, als je war
die Schleusen der Latenz. Nicht: alles ist mglich, sondern alles beweist in die-
ser Art von Mglichkeit die Unwirklichkeit der mglichen Verwirklichung. In
Wirklichkeit ist diese Flut des Mglichen die Flut nichtverwirklichter Nachbilder,
postmoderner Bildersaal moderner Phantasmen, der Phantasmen von Moderne,
in deren Rcken die Wirklichkeit anders wirklich wird.
1 Mageblich Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris 1966; Franois Wahl: La philosophie ent-
re lavant et laprs du structuralisme, in: ders. (Hg.): Quest-ce que le structuralisme?, Paris 1968.
2 Im Einzelnen Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967; Dieter
Thom: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Frankfurt/M. 1990.
3 Mageblich Maurice Merleau-Ponty: Le visible et linvisible, Paris 1964; Rodolphe Gasch: Decon-
struction as Criticism, in: Glyph 6 (1978).
4 Exemplarisch Rdiger Campe: Affekt und Ausdruck, Tbingen 1991.
5 Exemplarisch Louis Marin: Dtruire la peinture, Paris 1977; Svetlana Alpers: The Art of Describing,
Chicago 1983.
Reprsentation und Rhetorik
84
6 Exemplarisch Hans Blumenberg: Hhlenausgnge, Frankfurt/M. 1989.
7 Exemplarisch Paul de Man: The Resistance to Theory, Minneapolis 1985; Christoph Menke (Hg.): Die
Ideologie des sthetischen, Frankfurt/M. 1992.
8 Exemplarisch Niklas Luhmann: Selbst-Thematisierung, in: Soziologische Aufklrung II, Opladen
1975.
9 Mageblich Jacques Derrida: Lcriture et la diffrence, Paris 1967; Rodolphe Gasch: The Tain of
the Mirror, Cambridge 1985.
10 Exemplarisch Jacques Derrida: La mythologie blanche, in: ders.: Marges, Paris 1972; ders.: Le re-
trait de la mtaphore, in: ders.: Psych, Paris 1989.
Anselm Haverkamp
85
Ni kol aus Wegmann
L I T E R A R I S C H E A U T O R I T T:
C O MMO N S E N S E O D E R L I T E R AT U R WI S S E N S C H A F T L I C H E S P R O B L E M?
Z U M S T E L L E N WE R T D E R L I T E R AT U R I M F E L D D E R ME D I E N
Reflexionsgruppen, vor allem, wenn sie sich zum ersten Mal treffen, tendieren
zur Ankndigungspolitik. Es wird versprochen, verheien, anvisiert. Es ist die
Stunde des Projektmachens. Zu dieser Kunst gehrt insbesondere der Nachweis
der Durchfhrbarkeit, der Machbarkeit solcher Vorhaben. Der gute Wille, oder,
nher zur real organisierten Forschung, Zeit und Geld, reichen da nicht. Entschei-
dend ist, etwas zu wissen und zwar jetzt, zu diesem Zeitpunkt, am Beginn ,
was man noch nicht wei. Wie soll man sonst den Weg zu den erwnschten, aber
eben noch-nicht-gewussten Ergebnissen finden?
All das ist wissenschaftlicher Alltag und also gibt es hierfr bereits eine be-
whrte Antwort: Das Projekt, zunchst nur Titel und Versprechen, muss in ein
Problem umgeschrieben werden.
I .
Wie also aus der Literarischen Autoritt ein Problem, genauer: ein literatur-
wissenschaftliches Problem machen? Zunchst scheint das leicht. Allzu leicht.
Autoritt ist, nicht nur im bundesrepublikanischen Kontext, bereits selber ein
Problem, weil verstrickt in Konfliktlinien. Autoritt, heit es, ist konservatives
Gedankengut, ist bei den Rechten zu Hause. Whrend die Linken, man wei es,
auf das Anti-Autoritre setzen. Und schon ist man mittendrin, nicht in der Pro-
blemformulierung, sondern in der Kulturkritik. Das Thema ist besetzt. In der For-
schung ist das gut zu sehen, z. B. bei Johannes Anderegg und seiner nicht 1968,
sondern 1992 publizierten Sicht auf das Phnomen. Da heit es, dass die Spra-
che in Politik und Wirtschaft, eigentlich aber jeder normale Sprachgebrauch, au-
toritren Charakters sei, whrend dagegen der literarische Text, so Anderegg,
quer zu jener Art von Ordnung und Begriffen liegt.
1
Doch diese einfache Auf-
teilung der Text-Welt in die Schlechten und die Guten, in die Autoritren und die
Anti-Autoritren, bersieht, dass dieses Sympathieschema die Literarische Auto-
ritt nur an der Oberflche behandelt: Der als Anti-Autoritt ausformulierte Wert
der Literatur ist nur eine Einkleidung, eine inhaltliche Fixierung eines Sondersta-
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?
86
tus, den es schon lngst vor dieser konkreten Wertung gab und der solche empha-
tischen Hochschtzungen erst ermglicht respektive ihnen Plausibilitt gibt.
2
Im
Folgenden dagegen interessiert jene der Literatur zugeschriebene Sonderrealitt
selber. Also jene textuelle und soziale Tatsache, nach der man der Literatur typi-
scherweise eine berlegenheit zuerkennt, ihr eine positive und legitime Autoritt
zubilligt und sie unter diesen essenziellen Voraussetzungen in der Gesellschaft
zirkulieren lsst.
ber die Klarstellung eines Missverstndnisses hinaus ist damit nur gesagt,
wie tief im Folgenden angesetzt werden soll. Fr eine voll ausformulierte Pro-
blemstellung aber braucht es mehr. Braucht es, das vor allem, Theorie. Schlielich
ist die Formulierung eines Problems, so heit es, ihre eigentliche Leistung.
3
Doch
Theorie kommt heute immer im Plural, stellt unvermeidlicherweise das Aus-
wahlproblem. Und dies umso mehr, wenn nach den medialen Bedingungen
gefragt wird, unter denen die Literatur und so auch die Literarische Autoritt
gegenwrtig steht. So ist nicht nur die Wahl von z. B. soziologischer und literatur-
wissenschaftlicher Theorie in ihren folgenreichen Alternativen zu bedenken. Der
explizite Bezug zu den Medien verschrft noch diese heikle Grundsatzfrage nach
der Leitkompetenz. Inzwischen ist jedermann klar, dass die Medien sich in einer
rasanten Entwicklung befinden und schon allein deshalb fr die Philologen, die
lieber abwarten, bis die Dinge sich gesetzt haben, unangenehme Phnomene sind.
Zugleich, und das ist Teil ihrer Dynamik, sind die Massenmedien derart gro und
mchtig geworden, dass sie lngst ihre eigene Theorieproduktion ausgelst ha-
ben. Und fr die ist nicht mehr ausgemacht, ob die Aufmerksamkeit noch fr die
Literatur reicht oder ob sie diese nicht als ein Phnomen von gestern dem Mu-
seum berlsst.
Was tun? In dieser Situation halte ich es mit der Taktik des Zgerns, schiebe
den Moment, wo man sich fr eine Theoriereferenz entscheidet, auf und orientie-
re mich erst einmal nicht bei der Theorie, sondern beim Nchstliegenden,
beim Common Sense. Schlielich knnen auch aus der Irritation des tglichen
Lebens, so Niklas Luhmann, Probleme hervorgehen und eine Wissensproduk-
tion in Gang gesetzt werden.
I I .
Als Common Sense lassen sich wohl kaum die eigenen Irritationen anfhren im
Umgang mit den Medien und angesichts deren, wie man sagt, bermchtiger
Konkurrenz. Der gemeine Sinn, mit Clifford Geertz als zwingend selbstver-
Nikolaus Wegmann
87
stndliche Realitt
4
verstanden, braucht andere Referenzen, andere Autoritten
wie etwa Newt Gingrich, ehedem republikanischer Sprecher des US-Re-
prsentantenhauses (und noch immer ein einflussreicher Politiker in USA).
5
Gingrichs Einlassung zum Thema kommt live aus einer Highschool in
einem so genannten Problemviertel Chicagos. Und auch hier wieder ist sich Ging-
rich sicher, dass man ihn drauen im Lande verstehen wird, dass er nur sagt, was
alle wissen. Und das meint hier nicht die republikanischen Whler, sondern das
Volk der Medienbenutzer. Gingrich spricht vor Ort, aus der Schule, und kom-
mentiert das, was er sieht, mit einem finanziellen Angebot: Jeder Schler erhlt
von ihm persnlich $
3
fr jedes Buch, das ganz gelesen worden sei. Natrlich
ist das ein Spektakel, aber es verdient einen Kommentar. Das ausgelobte Geld gibt
es demnach nicht, wie man, zumal von einem Wertkonservativen, erwarten
knnte, fr die Lektre eines bestimmten Buchs, eines aus dem Kanon, am besten
gleich eines aus dem mit den richtigen Werten und Normen, sondern fr das
Buch-Lesen selber. Ziel ist bereits das bloe Bettigen eines bestimmten Medi-
ums, nennen wir es vorlufig: das Gute Buch. Bedingung ist nur, dass dieser Me-
diengebrauch richtig gemacht, beziehungsweise regelgerecht durchgefhrt wird.
Geld gibt es nicht fr das einfache Rumblttern, das Anlesen oder Aufs-Gerate-
wohl-Aufschlagen, sondern allein fr das von Anfang-bis-Ende-Lesen. Fr das
Ein-Gutes-Buch-Durch-Lesen. Soll man das ernst nehmen? Macht das berhaupt
Sinn? Auch in dieser Sache ist Gingrich nicht zu unterschtzen. Immerhin scheint
er mit seinem Vorschlag, den Buch-Umgang, die Leseweise selber zu prmieren,
weiter als ein groer Teil unserer Disziplin. Denn dort begreift man den literari-
schen Wert von einer gegenstndlich-konkreten, eminenten Bedeutung der Lite-
ratur her und sucht, gleichsam im Reflex, die Quellen der literarischen Autoritt
mit Vorliebe bei den Groen Autoren und ihren Meisterwerken.
I I I .
Um das allgemeine Wissen fr die gesuchte literaturwissenschaftliche Problem-
stellung nutzen zu knnen, sei eine zweite, wiederum etwas abseits liegende Re-
ferenz gewhlt. Auch sie gleicht einem Common Sense, allerdings ist es mehr
eine Grundplausibilitt aus den Sprach- und Literaturwissenschaften. Entspre-
chend elaborierter ist ihre Form, manchmal auch ihr Wissen, und kann daher im
Folgenden aufgerufen werden als Mytho-Geschichte der literarischen Autoritt.
Ihren Anfang hat sie, wie anders, in einem mythischen Ursprung: in der Urszene
Babel. Das ist bekanntlich jener Stichtag, von wo an die Sprache als grundstz-
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?
88
lich prekr gilt. War die Verstndigung bis dahin problemlos, weil die eine Spra-
che, die man nur brauchte, fest und zuverlssig mit dem, was sie bezeichnete, ver-
bunden war, so ist Babel nichts weniger als die Vertreibung aus dem Sprach-
Paradies.
Natrlich ist das bloer Mythos. Doch die Sprachunsicherheit und Sprach-
skepsis sind noch immer Teil unseres Verhltnisses zur Sprache und ihren
kommunikativen Mglichkeiten. Denn dieser Verlust, darauf kommt es an, wie-
derholt sich immer wieder. Nur Form und Kontext ndern sich. Eine dieser perio-
dischen Wieder-Erinnerungen ist mit dem Namen Saussure und damit einem der
Klassiker unseres Fachs verbunden: Seine Sprachlehre hat die prinzipielle Nicht-
Identitt zwischen der Sprache und einer ihr vorausliegenden Realitt in eine sol-
che Form gebracht Stichwort: Arbitraritt des Zeichens , dass sie auch Litera-
turwissenschaftler wahrnehmen, mehr noch: sie als semiologisches Paradigma
anerkennen.
6
Seit Saussure kann man also wissen, dass es, wie Roland Barthes
dieses zeichentheoretische Grundaxiom kommentiert, keinen Gold-Standard,
keine Bedeutungssicherheit gewhrende Deckung in der Sprache gibt.
7
Aber wie
in der Whrungspolitik, so gibt es auch in unserem Verhltnis zur Sprache immer
wieder Versuche, zu einer irgendwie doch tragfhigeren Form, zu einer einfache-
ren Regelung zu kommen. Gold, das stimmt immer, fasziniert. Und also wird
leicht vergessen, dass auch und gerade Wertbehauptungen insofern sie davon
abhngen, dass sie (berhaupt) geltend gemacht werden knnen durch das Na-
delhr der Sprache mssen. Doch inzwischen gibt es eine weitere Fassung, einen
neuerlichen Angriff so sehen es zumindest all jene, die zurck zu festen Wh-
rungskursen wollen oder solche auch nur fr mglich halten. Diesmal ist es nicht
ein Angriff auf dem Feld der Linguistik oder Semiologie, sondern auf dem der Me-
dien, genauer: es sind die Massenmedien selber, die einmal mehr das mythische
Babel assoziieren lassen. Man muss dazu nur an unser Verhltnis zu ihnen erin-
nern: So wissen und schtzen wir zwar sehr wohl, dass wir noch nie so ausfhr-
lich ber die Welt informiert worden sind. Zugleich jedoch ist uns ebenso klar,
dass wir eigentlich schlecht informiert sind.
8
Diese vertrackte Gegenlufigkeit ist
kein Expertenwissen; sie zhlt inzwischen, so der Medien-Historiker Jrg Requa-
te, zum Kanon der gesellschaftlichen Gewiheiten.
9
Volles Gewicht hat dieses
allgemeine Wissen dort, wo man nicht lnger daran glaubt, andere, sprich:
wahrere und bessere Medien haben zu knnen. Wahrer, weil nicht lnger von
Drahtziehern und Agenten gelenkt, und besser, weil befreit von Sex und Crime.
Beunruhigend ist dieses Misstrauen, weil auch noch so riskante Anleihen bei zen-
tralen Wertkomplexen wie Natur, Anthropologie oder Geschichte diese Glaub-
wrdigkeitslcke nicht stopfen knnen. Sie ist nmlich nicht Folge eines irgend-
Nikolaus Wegmann
89
wie abstellbaren Missbrauchs dieser Einrichtungen. Sie ist vielmehr ein Effekt der
normalen Operationen dieser Medien.
10
I V.
Bei alldem mag man stellenweise etwas anders gewichten. Fr die gegenwrtige
Mediensituation kann diese Darstellung gleichwohl als plausibel gelten, jeden-
falls unter dem Gesichtspunkt der Glaubwrdigkeit und den Folgen, die das
Misstrauen gegen die massenmedial vermittelte Version der Welt fr die Wert-
schtzung der Medien erwarten lsst. Damit ist zugleich auch die Literatur aufge-
rufen: Ist sie Teil dieser Frustration? Oder kann sie von ihr umgekehrt profitie-
ren? Und was meint die Rede vom Literaturverfall?
11
Dass die Literatur keine
Aufmerksamkeit mehr findet? Oder, gravierender, dass die Literatur in dieser Si-
tuation keinen Unterschied mehr machen kann?
Wenn die Literatur denn der Trumpf ist, der hier stechen soll, dann will sie
gut ausgespielt sein. So reicht es nicht, eine wahre Wahrheit der Literatur gegen
eine allgemeine Mediendekadenz zu setzen. Oder einmal mehr die Medien ob ih-
rer Unfhigkeit, Qualitten unterscheiden zu knnen, pauschal fr die gegenwr-
tige Sprachskepsis verantwortlich zu machen und noch einmal unter dem Topos
der Amerikanisierung Medienkritik zu betreiben. Etwa so wie George Steiner.
Hier nur ein Zitat, zu dem es viele Parallelstellen gibt: Die Demarkationslinien
zwischen dem Akademischen und dem Journalistischen, zwischen Zeitlosigkeit
und dem Alltglichen, zwischen auctoritas, die von der Souvernitt des im Ka-
non festgeschriebenen Vorangegangenen kndet, und dem Experimentellen und
Ephemeren sind verwischt.
12
Doch eine solche dubiose Zwei-Welten-Konstellation unterschtzt die Fra-
ge nach dem Stellen-Wert der Literatur. Sie gibt sie unter Wert ab. Weder versteht
sich diese Frage von selbst, noch ist sie durch den Verweis auf die angeblich offen-
sichtlichen Leistungen der Literatur bei der Kommunikation von Werten und
Normen immer schon beantwortet. Michel Leiris formuliert unsere Frage un-
gleich radikaler: Wenn alles Bedeutende seine Autoritt einbt mit welcher
Autoritt spricht dann Literatur?
13
Bereits die Fragestellung schliet demnach
das aus, was man typischerweise der Literatur so gerne so hoch anrechnet: dass
sie bei der Selektion dessen, was sie sagt, sich nicht korrumpieren lsst. Dass sie
sich an das hlt, was sich an Werten und Normen bewhrt hat oder das eigentlich
Wnschbare ist. Dieser einfache Mechanismus ist pass, ist out, um einen Ter-
minus aus der Medienwelt zu nehmen. Gleichfalls pass sind solche Verhltnisse,
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?
90
in denen man der Literatur eine privilegierte Beobachterposition eingerumt hat
und entsprechend das von dieser Stelle aus Gesagte immer schon mit einem
Bonus rechnen konnte. Einen solchen Blankoscheck gibt es nicht (mehr) lnger.
Diese Quellen fr die Autoritt der Literatur sind inzwischen versiegt.
V.
Bleibt zu sehen, ob das eigene Vorgehen der Frage von Leiris gengt. Dazu zwei
Skizzen, vielleicht auch nur Andeutungen zu dem, was hier gesucht und versucht
wird. Einmal, und das versteht sich fast schon durch die bloe Evidenz der Wort-
geschichte von Autoritt, muss der Autor interessieren. Das verlangt nach einer
Geschichte des Autors, von auctor und auctoritas.
14
Klarzustellen ist dabei vorab,
dass es allenfalls am Rande um einen Autor geht, der sich als Vertreter, als Repr-
sentant einer andernorts dogmatisch vorformulierten Welt begreift. Eine so ge-
sttzte Autoritt der Literatur wre dann immer nur eine geliehene, wenn nicht
gar eine kulturpolitisch verordnete. Sie msste dann auch konsequenterweise in
einer Art Wert(e)-Soziologie bearbeitet werden. Nach ihrer Logik wird der Son-
derstatus der Literatur zurckverlegt in bestimmte soziale Wertekonstellationen
zwischen Schichten, Klassen und Gruppen einerseits und dem, was an Wertaus-
sagen bei den Autoren oder deren Werken andererseits lokalisiert werden kann.
15
Was hier interessiert, das sind vielmehr die Behauptungsstrategien des literari-
schen Autors selber. Er wird also nicht thematisiert als Angehriger einer Werte-
gemeinschaft, sondern primr verstanden als ein Schreiber und Textproduzent,
der seinen Schriften Aufmerksamkeit, Anerkennung und Langlebigkeit sichern
will. Wie und wie nicht man das macht, das ist Thema der Autorpoetik. Sie
genauer: die Poetikvorlesung oder Preisrede ist der privilegierte Ort, wo die Fra-
ge nach der positiven Sonderrealitt der Literatur typischerweise unter der Leit-
frage WarumSchreiben? reflektiert und am Laufen gehalten wird. Krzer, und mit
einem dazu einschlgigen Buchtitel von Robert Gernhardt: Es geht um die Wege
zum Ruhm.
Der Wege sind viele. Erleichtern soll ihre Kartographierung der mediale
Kontext. So interessiert weniger, was geschrieben werden muss, damit das Pro-
dukt sich als Literatur qualifizieren knnen soll. Im Zentrum steht vielmehr jenes
mit den Namen Mallarm, Barthes oder Foucault verbundene Selbstverstndnis
des literarischen Schreibens, wonach es das Schreiben selbst, das Schreiben im
Intransitiv ist, an dem sich die behauptete Besonderheit der Literatur entscheiden
muss. Diese Schreib-Ausknfte der Autoren sind zu sichten nach ihren Strate-
Nikolaus Wegmann
91
gien und Taktiken, mittels derer sie sich von anderen Schreibweisen absetzen
oder konkurrierende Schreibmodi fr die eigenen Ziele nutzen. Insbesondere in-
teressieren jene Flle, wo die eigene Basisoperation Schreiben im Hinblick auf
das reflektiert wird, was andere Medien und deren Autoren tun oder nicht tun.
Konkreter, direkter: Inwiefern, falls berhaupt, schreibt ein literarischer Autor
anders als ein Journalist?
V I .
Vom Autor zum Leser, vom Schreiben zum Lesen diese gewohnte Direktverbin-
dung soll auch eine zweite Richtung der Arbeit organisieren. Und auch hier ist es
die eine Leitfrage, die die Richtung gibt: Was ist bei der Literatur anders? Wieso
ist man bereit, ihr weiterhin einen Sonderstatus zu besttigen? Ihren guten Na-
men zu schtzen? Doch eine Untersuchung, die parallel zur ersten vorgehen will,
sieht sich vor der Schwierigkeit, nicht hnlich zielgenau auf einen reprsentativen
Leser zugreifen zu knnen. Wie also vorgehen?
Auch hier stehen zunchst bewhrte, allerdings wiederum meist soziologi-
sierende Anleitungen bereit. So liee sich die Frage nach dem Sonderstatus der
Literatur als eine Untersuchung zu ihrem primren Publikum bearbeiten. Man
versucht dann z. B. eine aktuelle Bestandsaufnahme des Bildungsbrgertums,
mit Trends und Wanderbewegungen, um so zu klren, ob und wie weit diese
Schicht der Literatur noch Halt geben kann. Flankierend dazu liee sich denken
eine Studie ber die Literaturkritik. Genauer: zu jener Kritik, die Wert-Engage-
ments fordert, um dann eine Literatur, die ihr diese bietet, entsprechend auszu-
zeichnen. All dies scheint fr das Phnomen der Literarischen Autoritt zu wenig
sensibel, weil zu weit weg von den sprachlichen bzw. textuellen Realitten der
Literatur. Nur zu oft wird ihre Glaubwrdigkeit im womglich geteilten! Wer-
tekosmos eines auf Gutheit und Perfektion bezogenen Wirklichkeitsbegriffs
behandelt.
16
Mglicherweise lassen sich diese Probleme umgehen, wenn man sich er-
innert, dass die Sonderrealitt der Literatur nicht nur eine Sach- und Sozial-
dimension hat, sondern auch eine temporale. In der Tat ist die Literatur als eigene
Autoritt auch und gerade im Medium der Zeit plausibel. Die Sonderrealitt der Li-
teratur ist immer (auch) ein besonderer Zeitwert, ein besonderes Verhltnis zur
Zeit. Literatur qualifiziert sich durch ihre Zeitresistenz, ihre Widerstandskraft
gegen den Zeitstrudel. Dabei entgeht sie nicht nur dem Abgrund der Zeit. Sie
wird, so der Topos, mit fortdauernder Zeit sogar immer besser. Dass man dies
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?
92
glaubt, dafr braucht es weder elaborierte Argumente noch eine strenge Dogma-
tik. Es gengt die Sofortplausibilitt, die der Hinweis auf einen Dante, einen
Goethe noch immer hat.
17
Diese so einfach sichtbare Qualitt der Dauer wird,
rckgekoppelt auf die Wahrnehmung der laufenden Produktion, zum Beweis fr
den aktuell gltigen wie auch knftigen Sonderstatus der Literatur: Wer kann
schon die Zeit manipulieren? Und dazu noch zum eigenen Vorteil?
Gut mglich, dass man hier, im Medium der Zeit, auf eine der besonders
krftig sprudelnden Quellen der literarischen Autoritt stoen wird. Indizien gibt
es. Einmal ist zu sehen, dass die temporale Besonderheit der Literatur eine Form
der Auszeichnung ist, die weitgehend unangefochten anerkannt wird, also nur in-
direkt von einzelnen Gruppen und Schichten und deren Wertekanones abhngig
ist. Weiter fllt auf, dass gegenwrtig Zeitdiagnosen eine riesige Konjunktur ha-
ben. Die Beschreibung der Gesellschaft und erst recht ihre Selbst-Transformation
durch die Massenmedien wird heute auch und gerade als Kritik an den do-
minanten Zeitverhltnissen formuliert. Man denke nur an die wertende Un-
terscheidung von ungebremster Beschleunigung und der dagegen gesetzten
Verlangsamung. Inzwischen gibt es sogar die programmatische Rede von einer
Rckfhrung und Rckbau versprechenden Entschleunigung. Und dieser Neo-
logismus reicht bereits bis in Planungsbrokratien hinein.
18
V I I .
Kann man diese Anomalie in der Zeit aber auch analysieren? Oder nur bestaunen?
Nur rhmen? Worauf will man setzen, wenn die Dauer der Literatur nicht ein-
fach Folge ihrer ewigen Gehalte sein soll? Nicht ein Resultat ihrer eigenen, durch
alle Widrigkeiten der Zeiten hindurchgehenden idealen Wesensnatur sein soll?
Auch hier soll die aktuelle Mediendiskussion den Kontext geben. Gegen-
wrtig werden die elektronischen Medien typischerweise auch als die neuen
Medien bezeichnet: Indem man dies tut, wird die Literatur umgekehrt als ein al-
tes, auch als ein veraltetes?, klassifiziert. Das stellt die Frage nach dem Zeit-Wert
der Literatur.
19
Ist die Literatur als ein Medium unter anderen noch auf der Hhe
der Zeit? Oder ist ihr guter Ruf nur Nostalgie, ihre Autoritt nur ein Nimbus und
die aktuelle Literatur nur noch eine Charge?
20
Diese Zuspitzung des Problems auf
die These einer vielleicht: spezifischen Form der Rckstndigkeit der Literatur
(was heit eigentlich Rckstndigkeit?
21
) soll Ansto sein fr eine vergleichen-
de Perspektive. Wie und stets auch: wie nicht unterscheiden sich die neuen
Medien vom alten Medium Literatur speziell in ihren temporalen Strukturen?
Nikolaus Wegmann
93
Antworten gibt es zuhauf. Zunchst einmal das Dogma: Das eine sind, auf
die Betonung kommt es an, die Massenmedien. Das andere dagegen ist Kunst
und fr die gilt schon immer: ars longa, vita brevis. Weiter wird verwiesen auf die
unterschiedliche Nhe der beiden Phnomene zur konomie, zum Markt, zum
schnellen Geld. Markterfolg und Dauer werden als unvereinbar begriffen. Anders
dagegen der Common Sense der Medienbenutzer. Hier wei man, dass das, was
die neuen Massenmedien ins Haus bringen, schnell veraltet: Wer will schon
Nachrichten von gestern? Und die Samstagabendshow auch gleich an den folgen-
den Wochenenden sehen? Die Produkte der Literatur dagegen kann man sich im-
mer wieder vornehmen. Die Literatur ist wiederholungsfest.
Geht das zu schnell? Sind Literatur und Massenmedien berhaupt ver-
gleichbar? Ein Einwand, der alt und Rckstndigkeit als Ehrentitel versteht
und von daher den Sonderstatus des Phnomens nur als Unvergleichbarkeit (oder
Hohe Kunst) denken will, verlangt eine ausfhrliche Diskussion. An dieser Stelle
jedoch muss eine einfache Analogie gengen. Knnte es nicht sein, dass fr viele
die Literatur etwas in der Art der Muttersprache ist? Etwas, das man allzu ge-
wohnt ist, das als Teil der eigenen kulturellen Sozialisation allzu selbstverstnd-
lich ist? Das man intuitiv benutzt, ohne sich fr die komplizierten Operationen
zu interessieren, die dabei immer schon ablaufen? Auffllig anders dagegen das
neue Medium Internet. Der ausgewiesene Grad an Technizitt ist hier enorm. Er
schreckt die einen ab, zieht die anderen an, fhrt letztlich jedoch, zumindest bei
den Benutzern, zu einer breiten Diskussion darber, wie dieses Medium eigent-
lich funktioniert und wie man es bettigen muss, um seine Mglichkeiten frei-
zusetzen.
Das lsst sich, so meine ich, durchaus bertragen. Vergleichende Medien-
analysen mssen zunchst die Literatur entselbstverstndlichen, und das meint
stets auch: Abstand gewinnen zu einer Optik, die sie vorschnell unter dem As-
pekt der Bedeutung sieht. Nur so wird die Sicht frei auf jene spezifischen Opera-
tionen, in denen die Literatur ihre Realitt hat und die berhaupt erst der Rede
von einer Medienkonkurrenz Sinn geben.
22
Allerdings liegt eine solche medien-
technische Reformulierung der Literatur noch nicht vor. Nach wie vor wird der li-
terarische Text typischerweise als Kunstwerk gesehen und damit meist auch der
philosophischen sthetik unterstellt. Ihn als ein Lesewerk zu begreifen, das seine
Mglichkeiten bzw. deren Realisierung den jeweiligen Bettigungen verdankt,
hat dagegen noch immer den Geruch des Illegitimen. Es muss hier demnach bei
einem punktuellen, auf eine Aktivierungsform beschrnkten Einsatz bleiben: Ge-
sucht wird diejenige Operation, in der sich die Literatur jene Zeitverhltnisse
schafft, in denen man typischerweise ihren Sonderstatus erkennt.
23
Denn die
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?
94
Literatur, wie auch, hat keine eigene Zeit. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie in
einer eigenen Welt existiert oder auf die Zeit selber direkt zugreifen knnte.
Wenn sie gleichwohl kein Verfallsdatum hat, nicht wie andere Texte und andere
Medien in konsumeristischem Verbrauch oder Unterhaltung endet und also ver-
gessen wird, dann ist dies ein Ergebnis einer besonderen Form des Umgangs mit
der Zeit. Ihr temporaler Sonderstatus ist Teil man kann auch sagen: selbstgene-
rierter Teil ihrer operativen Realitt. Zustndig speziell fr diese Zeit der Dauer
ist eine eigene Lektre. Ihr Profil wird deutlicher durch eine erste, generelle ber-
legung: Soll dieses Leseverfahren tatschlich das leisten, was hier behauptet wird,
dann muss es ebenso unspezifisch wie einfach sein, da andernfalls das berdau-
ern der Literatur allein auf die Lektrekompetenz von Spezialisten angewiesen
wre.
24
Genau dies trifft zu auf die Wiederholungslektre. Als ein allgemein zu-
gnglicher und gleichzeitig von Experten in hchste Raffinements steigerbarer Le-
semechanismus ist sie die zeitbindende Operation. Auch hier ist klarzustellen, dass
Zeit nicht gebunden werden kann. Vielmehr gilt nur die Umkehrung. Zeit kann
binden, etwa zwei (oder mehr) Ereignisse, in diesem Fall: zwei oder mehr Lekt-
ren. Ohne die Intervention der Wiederholung verschwnden solche Ereignisse
genauso schnell, wie sie entstanden sind. Genau diese Anbindungs-Leistung
steht im Kern der Wiederholungslektre. Sie bindet je einzelne Textlektren in
ein festes Muster, in die Struktur einer Wiederholung. An die Stelle der eigentlich
wahrscheinlichen Beliebigkeit, der beziehungslosen Vereinzelung von Lektre-
ereignissen, schliet jetzt, kraft dieser Selektionsstruktur, eine Lektre an die an-
dere an, sodass schlielich in der Reihe der aufeinander verweisenden Lektren
jene Dauer entsteht, die wir mit der Literatur verbinden.
Dauer aus Wiederholung produziert dabei zustzliche Effekte, gleichsam
sachliche und soziale Nebenwirkungen. So ist die Wiederholung eine Struktur,
die iterativ, im Immer-wieder-darauf-Zurckkommen, bezeichnet und sich in
dieser Form der Bedeutungsproduktion von der bloen Sukzession als einfacher
Ereignisabfolge qualitativ unterscheidet.
Indem die nchste Lektre sowohl nicht einfach etwas ganz anderes sagt
dann wre sie ja keine Wiederholung mehr als auch nicht nur mechanisch redu-
pliziert dann htte man es mit einer bloen Repetition zu tun , gewinnt das
derart Bezeichnete an Gewissheit und Glaubwrdigkeit. Anders gesagt: Dadurch,
dass die in der Struktur der Wiederholung organisierte Lektre immer wieder zu
einem Selbigen zurckkehrt, leistet sie eine Entarbitrarisierung (Peter Fuchs)
textueller Aussagen. Das, was heute gilt, galt auch schon gestern und wird aller
Voraussicht nach warum sollte die Kette der Wiederholungen, die schon so lan-
ge gehalten hat, abbrechen? auch morgen gelten: An die Stelle des illusionr ge-
Nikolaus Wegmann
95
wordenen Goldstandards tritt die Wiederholungslektre als ein ungleich weniger
voraussetzungsreiches, weil primr technisches Verfahren.
Hinzu kommt und das ist ein weiterer Effekt , dass ein Text, der mittels
der Operation der Wiederholung bettigt wird, auch in sachlicher Hinsicht hin-
zugewinnt. Denn eine zweite Lektre liest nicht einfach dasselbe noch einmal,
schlielich findet sie immer schon in einer im Vergleich zur ersten verschiedenen
Situation statt. Eine zweite Lektre liest das Lesen der ersten. Und indem sie liest,
was und wie zuvor gelesen wurde, bringt sie Redundanz und Variett zusammen:
Sie produziert Abweichung, aber nur so viel, dass die Identitt des in der Lektre
stehenden Textes nicht aufgekndigt wird. Der zu wiederholende Text muss sich
in jeder Wiederholung als dasselbe erkennen lassen z. B. in neuen Kontexten be-
sttigt werden oder Sinnverweisungen entwickeln. Kurz: im Zuge dieses per
Wiederholungslektre Durch-die-Zeit-Gehens produziert der Text Sinnreich-
tum. Und auch das ist eine Qualitt, die nicht nur fr Vergangenheit und Gegen-
wart, sondern ebenso fr die Zukunft gilt: Aus der Reihe der bis jetzt gefhrten
Lektren ergibt sich die sichere Vermutung, dass ein derart bettigtes Lesewerk
auch weiterhin Sinn, und das meint stets auch: bis jetzt nicht bekannten Sinn,
freigeben wird. Demnach wird der Text erst im Verlauf dieses Leseverfahrens mit
dem angereichert, was man ihm typischerweise als inhrente Qualitt, als Werte
und Normen, zubilligt. Es besteht also eine direkte, eine technisch-operative Ver-
bindung zwischen Wiederholungslektre und literarischem Wert, genauer: die
Wiederholungs-Lektre ist eine der Literatur eigene Form der Wertbehauptung.
Was, wie sich gleich zeigen wird, der Ingenieur Paul Valry schon frher ge-
wusst hat: Die ausschlielichen Liebhaber des Neuen knnen sich gar nicht den-
ken, was es heit, da etwas wiederholt werden kann, wiedergehrt, wiederge-
dacht, wiedergesehen und sie ahnen nichts vom Wieder-Wert der Werke. Dabei
ist es gerade dies, wodurch ein Werk funktional wird zur Formwird ; wenn es
einmal ber die Schwelle des bloen Staunens hinaus ist.
25
V I I I .
Ob noch Zeit ist, auf die entsprechenden Verhltnisse in den Massenmedien ein-
zugehen? Zumindest Fragen zu stellen? Vielleicht gibt es ja schon Antworten.
Hierzulande wei man, dass nichts so alt ist wie die Zeitung von gestern. In
den USA wird die auflagenstrkste Tageszeitung USA Today von ihren Konsu-
menten direkt und genau: McPaper genannt. Schnelle Lektre gilt als Einmal-
Lektre. Luhmann, der den operativen Code der Massenmedien in der Unter-
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?
96
scheidung von Information/Nicht-Information sieht, sagt im Klartext (was der
Common Sense schon lange wei): Informationen lassen sich nicht wiederho-
len. (S. 19) Und wenn doch, dann sind sie eben keine Nachrichten mehr, weil
schon lngst bekannt. Es scheint, als haben diese Medien ein zur Literatur gerade-
zu gegenlufiges Zeitverhltnis. Statt sich auch eine Zeit der Dauer zu schaffen,
zumindest als Zusatzmglichkeit, als Variante oder Alternative, veralten sich
die Massenmedien selber. Genau in diese Konstellation weist auch Boris Groys
mit seiner Frage an die Propagandisten der allerneuesten Medien: Wie stirbt
man in einer virtuellen Stadt?
26
Oder, mit etwas weniger Verblffungseffekt for-
muliert: Wie knnen bestimmte Abschnitte im Internet, das wir bislang nur als
einen unaufhrlichen Datenverkehr, als fortwhrende unbeschrnkte Bewegung
kennen, auf jene Dauerhaftigkeit gestellt werden, die das Medium Literatur mit-
tels der Wiederholungslektre seinen Benutzern ermglicht und deren positive
Effekte wir vielleicht noch gar nicht alle kennen?
Natrlich bietet diese medientechnische Recherche zu den Quellen der lite-
rarischen Autoritt jetzt noch die Gelegenheit, das Loblied auf die Wiederho-
lungslektre fortzuschreiben. Pldoyers zu halten fr die wunderbaren Dinge, die
mit dieser Steigerungsform des Lesens mglich werden, und also auch fr die
Weitergabe dieser Spezialkompetenz zu werben. Also doch wieder bei der Kul-
turkritik enden?
1 Johannes Anderegg: Literatur und Literaturwissenschaft Offenheit und Autoritt, in: Ralph
Kray/K. Ludwig Pfeiffer/Thomas Studer (Hg.): Autoritt. Spektren harter Kommunikation, Opladen
1992, S. 121133, hier: S. 124.
2 Dieser Sonderstatus bleibt meist verdeckt durch seine stets wechselnden, zudem noch umstritte-
nen inhaltlichen Festlegungen.
3 Zum Verhltnis von Forschungsdesign und Problemformulierung vgl. Niklas Luhmann: Die Wis-
senschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 419 ff.
4 Clifford Geertz: Common sense als kulturelles System. Zum Problem des ethnologischen Verste-
hens (1975), in: ders.: Dichte Beschreibung. Beitrge zum Verstehen kultureller Systeme, Frank-
furt/M. 1987, S. 261188.
5 Gingrich hat zwei sehr unterschiedliche PR-Statements zu unserem Thema verbreiten lassen. Ein-
mal tritt er auf als Lobbyist und Propagandist einer Medien- und Kommunikationsrevolution und
scheint sich dabei vollends als Banause zu besttigen. Wer noch nicht an das neue Zeitalter glaubt,
wird als schlichtweg anachronistisch im polemischen Sinn von ewig-gestrig kritisiert: Zu viele
hngen noch am Buch, seien noch immer too textbound und too book-oriented. Zugleich aber,
und das interessiert hier allein, stimmt Gingrich auf eine technisch-pragmatische Weise in das Lob
des Guten Buchs ein.
6 Also jenes Axiom, wonach zwischen Lautkrper und Bedeutung nur eine willkrliche (oder konven-
tionelle) Verbindung besteht.
7 Roland Barthes: Saussure, das Zeichen und die Demokratie, in: ders.: Das semiologische Abenteu-
er, Frankfurt/M. 1988, S. 159164.
8 Die Topoi: man wei nicht, was wichtig und was nebenschlich ist. Der Zusammenhang der Dinge
bleibt unklar, und ungeklrt ist, wozu diese Informationsmasse bermittelt wird.
Nikolaus Wegmann
97
9 Jrg Requate: Von der Gewissheit, falsch informiert zu werden, in: Michael Jeismann (Hg.): Obses-
sionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt/M. 1995, S. 272292,
hier: S. 272.
10 Nachzulesen u. a. bei Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 2, Frankfurt/M. 1983,
S. 559575 (= Informationszynismus); Niklas Luhmann: Die Realitt der Massenmedien (= Nord-
rhein-Westflische Akademie der Wissenschaften, G 33), Opladen 1995, S. 17 f. Ein Effekt, der ge-
rade weil er in jeder neuen Sendung, in jedem neuen Medienprodukt immer wieder mitreproduziert
wird auch nicht mit Tugend und Moral-Appellen zu kompensieren ist.
11 Zeitschrift fr Literaturwissenschaft und Linguistik 87/88, Themenheft: Literaturverfall im Medien-
zeitalter?, hg. v. Helmut Kreuzer, Gttingen 1993.
12 George Steiner: Von realer Gegenwart, Mnchen 1990, S. 51.
13 So Leiris in seinem letzten Buch: Langage Tangage (1985). Das Zitat findet sich, bersetzt und kom-
mentiert, bei Gert Mattenklott: Botschaften aus Retrograd. Aspekte der intellektuellen Situation, in:
Martin Meyer (Hg.): Intellektuellendmmerung. Beitrge zur neuesten Zeit des Geistes, Mnchen
1992, S. 96109.
14 Mehr als nur eine Fundgrube fr diese Geschichte: L. Calboli Montefusco (u. a.): Auctoritas, in: Gert
Ueding (Hg.): Historisches Wrterbuch der Rhetorik. Bd. 1, Tbingen 1992, Sp. 11771188.
15 So etwa das Modell, das Terry Eagleton der Literaturwissenschaft empfiehlt. Vgl. Terry Eagleton:
Einfhrung in die Literaturtheorie [1983], Stuttgart 1992, S. 118.
16 Wertengagements fordert z. Z. und das wohl sehr viel folgenreicher als bewegte Feuilletons vor
allem eine weiter reformierende Schul- und Kultusbrokratie. Eine Fallgeschichte sind die Diskus-
sionen um die neuen Lehrplne fr das Land Schleswig Holstein.
17 An dieser Prmisse hngt viel. Inwieweit oder ob berhaupt sie z. B. (noch) fr die Gesellschaft(en)
der Vereinigten Staaten zutrifft, ist fraglich. Was dann?
18 Schon der Neologismus selber zeigt die Virulenz der Zeit-Frage an. Von dieser Brisanz her gewinnt
die berkommene Zeitresistenz als Indikator fr eine Sonderrealitt der Literatur erneut und erst
recht an Aufmerksamkeit.
19 Die Frage der Zeit-Dauer ist demnach nicht zu beschrnken auf den Ruhm eines bestimmten Wer-
kes oder Autors. Sie ist auch eine medientechnische Fragestellung.
20 Diese Frage ist unvermeidlich. Schlielich, so schon Paul Valry, knnte die Literatur (der Vers)
heute nicht mehr erfunden werden. In der Tradition dieses Gedankens auch: Heinz Schlaffer: Poe-
sie und Wissen, Frankfurt/M. 1990, bes. S. 91 f.
21 Das Thema ist (noch) ein Desiderat. Zuletzt, und ohne den blichen bias: Niklas Luhmann: Kausali-
tt im Sden, in: Zeitschrift fr Systemtheorie Jg. 1(1) 1995, S. 728.
22 Und also kme es darauf an, aus dem kulturkritischen Topos der Medienkonkurrenz ein literatur-
wissenschaftliches Forschungsprogramm zu machen.
23 Dass eine (einzige) Operation dazu reicht, ist allerdings wenig wahrscheinlich.
24 Nicht wenige Genres der Literatur sind bereits museale Realitt. Auch das eine Form des Literatur-
verfalls. Andererseits gibt es auch den Gegentrend, man denke an neue Genres und/oder Inszenie-
rungsformen wie Slam-Poetry, Hip-Hop oder hypertextuelle Formen des Schreibens und nicht-
lineare Modi des Lesens.
25 Paul Valry: Cahiers Bd. 6, S. 58 (Eintrag von 1929).
26 B. Groys: Vortrag mit gleichem Titel gehalten auf der Tagung: Telepolis. Stadt am Netz (Karlsruhe
1995).
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?
Nikolaus Wegmann
I I . WA H R N E H MU N G
Literarische Autoritt: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?
Nikolaus Wegmann
101
Gert rud Koch
N E T Z H A U T S E X S E H E N A L S A K T
Am 9.12.1927 verffentlichte Walter Benjamin in Die literarische Welt eine po-
lemische Glosse, mit der er auf das Konfiszieren von staatlicher Seite verwies, das
einer Kette von Publikationen widerfuhr, die fr Benjamin nicht nur eine Zierde
der Zeitungskioske Barcelonas gewesen war, sondern auch bedeutende Schrift-
steller zu den Autoren zhlte. Dem Verdikt verfallen waren die zartgetnten
spanischen Heftchen trotz der prominenten Autoren wegen ihres pornogra-
phischen Charakters.
1
Dieser Umstand verleitet Benjamin zu einer Spekulation
ber die Sprache der Pornographie. Denn: In einem sind pornographische B-
cher wie alle andern: darin nmlich, dass sie auf Schrift und Sprache gegrndet
sind. Htte die Sprache in ihrem Wortschatz nicht Stcke, die von Haus aus
obszn angelegt sind, das pornographische Schrifttum wre seiner besten Mittel
beraubt. Woher kommen nun solche Wrter?
2
Benjamin bemht zur Beantwortung dieser Frage die gngige Unterschei-
dung in Sprechakte und expressive Sprache auf der einen Seite und Mitteilungs-
sprache auf der anderen. Denn es sind die Schimpfworte und Kosenamen, die
Heiligsprechungen und die Verwnschungen, die Schwre und Obsznitten,
die auf eigensinnige Weise suggestiv sind, sodass man in diesen befremden-
den Sprachfragmenten Splitter vom Urgranit des sprachlichen Massivs erkennt.
3
Es ist also durchaus die Sprache selbst, die im Pornographischen von ihren eige-
nen Mglichkeiten zu uns spricht, und nicht deren Missbrauch, der von Staats
wegen geahndet werden soll. Aus diesem Umstand entwickelt Benjamin einen
utopisch-parodistischen Entwurf, wenn er vorschlgt, dass stattdessen der Staat
sein Monopol auf Pornographie statt ber Verbote durch Stipendien durchsetzen
solle, mit deren Hilfe bedeutende Schriftsteller exklusive Pornographie verfassen
sollten, was einerseits die Pornographie verbessern, andererseits die Schriftsteller
ins Brot bringen knnte: Er wird als Sachkenner dem Amateur berlegen sein
und dem unleidlichen Dilettantismus entgegentreten, der auf diesem Gebiet
herrscht. Auch wird er, je lnger je weniger, seine Arbeit verachten. Er ist nicht
Kanalrumer, sondern Rohrleger in einem neuen komfortablen Babel.
4
Sieht man einmal vom ebenso utopischen wie satirischen Schlussappell ab,
so kann man Benjamins Thesen zur Pornographie auf eine spezifisch Benjamin-
sche Formel bringen, die der profanen Erleuchtung. Nicht nur weil er die Porno-
graphie und deren expressiven Charakter direkt in Verbindung mit dem Heiligen
bringt als dem anderen Extrem des Wnschens und Stimulierens, er redet ganz
Netzhautsex Sehen als Akt
102
wortwrtlich bereits vom natrlichen um nicht zu sagen profanen Prozesse im
Sprachleben.
5
Nun wurde gegen diese hier von Benjamin lediglich zugespitzt formulier-
te Position eines immanenten pornographischen Gehalts jedes expressiven
Sprachsystems immer wieder der Einwand erhoben, dass der romantische Uto-
pismus eines freien Ausdrucksgebarens den Anteil an symbolischer Politik, realer
Machtausbung, an Verdinglichung zur Warenform und Festschreibung der Ge-
schlechter unbercksichtigt lasse. Die Annahme eines zeitlosen Reiches des Por-
nographischen, das mit der sexuellen Fantasiettigkeit der Menschen zwar nicht
unabhngig von seiner historischen Konkretisierung, aber doch als unvermeidli-
che Begleiterscheinung menschlicher Sexualorganisation gegeben sei, fiel mit den
vernderten sexualpolitischen Paradigmen der Ablehnung anheim. In deren Zen-
trum rckte aber nicht mehr die geschriebene Pornographie, sondern die in den
visuellen Medien produzierte.
Das wirft natrlichdieFrageauf, obsichauer dembloenReflexauf diekul-
turkonservativeAblehnungdermassenmedialenAspekteauchdieBenjaminschen
Fragennocheinmal stellenoder ob sie einfr allemal erledigt sind. Was Benjamin
fr die Sprache annimmt, ihr Ausdrucksmoment, scheint imBereich der Bilder,
speziell der technischvermittelten, alsoder medialen, zueinemdoppeltenzuwer-
den. Die Empfehlung, so wie der Niagara Kraftwerke speist, so diesen Sturz und
Abfall der Sprache ins Zotige und Gemeine als gewaltige Energiequelle zu benut-
zen, lsst sich auf Film und andere technische Medien nicht ganz so eindeutig
bertragen.
6
Warum? Hat nicht jede Person bestimmte erotische Fantasien, die
sich als szenische abspielen und vor deminneren Auge entstehen knnen, ohne
dass viel dazugetan werden muss? Haftet also dem bildlichen Fantasieren nicht
ebenso ein expressiv sexuelles Moment an, das nichts anderes ist als das Pendant
zumSprachlichen?Natrlichlsst sichdieseFragepositivbeantworten. Wennaber
Charakteristikumdes Zotigen ist, dass es adressiert ist, dass es wie direktes Spre-
chenwirkt, hat es also nicht nur expressivenCharakter inBezug auf den, der diese
uerung oder dementsprechend jene Bildvorstellung hervorbringt, sondern
auch in seiner Wirkmchtigkeit auf den, der Adressat des expressiven Aktes ist.
Es gibt einen offen zutage liegenden Zusammenhang zwischen dergleichen
somatischen Reaktionen und der Wahrnehmung bewegter Bilder: Im Kino wird
gelacht, geweint, geschaudert und erregt, Zwerchfell, Trnendrse, Gnse-
haut sind noch die gngigen metaphorisch gebruchlichen Organsynonyme fr
diese Adressierung. Stumm wird es allenfalls beim sprichwrtlich letzten Glied
der Kette, wenn die Genitalien erregt werden, dann wird die somatische Reak-
tion, deren wir bei Komdie, Melodrama und Horrorfilm noch selbstverstndlich
Gertrud Koch
103
nachgeben, zu einem normativen Problem, das im Sexuellen selbst liegt. Unge-
lste normative Probleme zeichnen sich gerade durch ihre semantischen Undeut-
lichkeiten aus, die sprachliche Verregelung wird erschwert, das Umschreiben,
peinliches Schweigen tritt ein, die Adressierung wird ausgegrenzt, die ebenjene
somatische Reaktion begnstigt hat, deren man gerne verlustig gehen mchte.
Die Diskussion um die Pornographie, die zyklisch immer wieder gefhrt wird,
enthlt selber jenes Moment einer zyklisch-zeitlosen Wiederkehr, das man gerne
ihrer Nummerndramaturgie anlastet. Die von Susan Sontag vor geraumer Zeit
und auch damals nicht zum ersten Mal getroffene Unterteilung der Diskurse ber
Pornographie scheint noch immer zu greifen:
Wer ber Pornographie reden will, der sollte zuvor einrumen, da es zu-
mindest drei Arten von Pornographie gibt; [] Viel ist bereits gewonnen
durch eine strikte Trennung von Pornographie als Gegenstand der Sozial-
geschichte und von Pornographie als psychologisches Phnomen. []
Weit mehr noch verspricht indes die Unterscheidung der beiden genann-
ten von einer dritten Art einer zwar weniger verbreiteten, aber hochin-
teressanten Modalitt oder Konvention innerhalb der Kunst.
7
bersetzt man Susan Sontag, so knnte man sagen, dass die drei Diskurse die fol-
genden sind: Machtdiskurs, Subjektivittsdiskurs und sthetikdiskurs. Dabei
legt Sontag ihr Interesse auf den sthetikdiskurs, womit sie den Benjaminschen
Fragen folgt. Nun ist aber der sthetikdiskurs selber zunehmend in Abhngigkeit
von den beiden anderen geraten, und die AntiporNo-Bewegung der 1980er und
1990er Jahre im Anschluss an Andrea Dworkin und Catharine McKinnon lehnt
ihn schlielich ganz ab als ideologische Fragestellung, da es keinen machtfreien
Raum des sthetischen gbe. Diese Position halte ich fr unhaltbar, da sie von ei-
ner Definition von Pornographie ausgeht, die zwar zu Recht auf deren somati-
schen Gehalt verweist, aber aus diesem einen direkten sozialen Handlungszu-
sammenhang konstruieren mchte, der meiner Ansicht nach alle drei mglichen
Diskurse zur Pornographie verfehlt: Der Machtdiskurs wird einseitig als Ver-
rechtlichungsproblematik zurckgespielt, der psychologische ziemlich krude ge-
schlechtsgeteilt, der sthetische wird kaum zugelassen. Zugespitzt wird diese Po-
sition formuliert von Susanne Kappeler, die in ihrem Buch The Pornography of
Representation zu dem wrtlichen Schluss gelangt:
If anything is to be done about pornography, if a cultural shift in con-
sciousness [] will eventually move away from pornographic structures
Netzhautsex Sehen als Akt
104
of perception and thought, then the arts themselves will necessarily also
have to change, Art will have to go.
8
Die Verabschiedung des sthetischen Diskurses zieht gleich die Aufhebung in der
richtigen politischen Praxis nach sich, und so soll dann natrlich auch die Sexuali-
tt selbst politisch korrigiert werden. Die Nhe zur Position der Zensur ist un-
berhrbar, auch wenn es diesmal der revolutionre Weltgeist selber ist, der die
rgernisse der Kunst, der Pornographie und des Sexuellen verwehen soll. Das
Misstrauen gegen die Reprsentation, die radikalisierte Ideologiekritik an ihrem
Herrschaftsmoment will in der Tradition des Bildersturms gleich deren Abschaf-
fung in die Wege leiten.
Damit sind die Eingangsvoraussetzungen bereits verspielt. Ich mchte mich
im Folgenden aber weder auf die liberale noch auf die restriktive Debatte um die
Rechtsfrmigkeit der Pornographie einlassen, sondern anhand einiger filmtheo-
retischer Texte das Verhltnis genauer bestimmen, das Vorstellung, Somatik und
Handlung zueinander eingehen knnen. Das tue ich nicht, weil ich den Rechts-
diskurs fr berflssig halte, sondern weil ich der Ansicht bin, dass auch der
Rechtsdiskurs um eine Definition von Pornographie nicht herumkommt und in-
sofern der bernahme ungeklrter Voraussetzungen zum Verhltnis von fanta-
siertem und sozialem Handeln aufzusitzen droht, wenn er sich dem entzieht.
Der suggestive Titel des Buches von MacKinnon heit Only Words (Nur
Worte) und legt schon vom Titel her nahe, dass Worte selber zu Taten werden
knnen:
Was einst Worte und Bilder waren, wird durch Masturbation selbst Sexu-
alitt. Whrend sich die Industrie ausbreitet, wird dies mehr und mehr
die Erfahrung von Sexualitt an sich, die Frau in Pornographie mehr und
mehr zum lebenden Archetypus der Frau in der Erfahrung von Mnnern,
daher der von Frauen. [] whrend Bilder und Worte zu der Form des Be-
sitzes und des Gebrauchs werden. In Pornographie sind Bilder und Worte
Sexualitt. Zur gleichen Zeit, in der Welt, die Pornographie erschafft, ist
Sexualitt Bilder und Worte. So wie Sexualitt Rede wird, wird Rede zur
Sexualitt.
9
In der Tat ist MacKinnon zuzustimmen, wenn sie davon ausgeht, dass in der Por-
nographie Bilder und Worte Sexualitt sind. Und es ist auch richtig, davon aus-
zugehen, dass dies mit der somatischen Adressierung der Pornographie zu tun
hat. Fragwrdig wird MacKinnons Argument erst, wenn sie aus dem masturba-
Gertrud Koch
105
torischen Charakter der Pornographie die kulturkritische Reduktion ableiten
mchte, dass sich Bilder und Worte usurpatorisch im Dienste der Industrie an
die Stelle der Sexualitt setzen und vor allem wenn sie die Masturbation als se-
xuellen Akt dafr haftbar machen mchte. In solchen uerungen geht MacKin-
non auf substanzielle und nicht mehr nur formale Definitionen der Pornographie
ein und verlsst damit das legitime Feld formaljuristischer Diskurse.
Der Affekt gegen die Pornographie ist in seinem Kern ein Affekt gegen das
Somatische der Sexualitt selber, und es erscheint mir nicht zufllig, dass die
Panik vor den Angriffen der Pornographie fast wrtlich identisch ist mit den
Affekten, die seit seiner Entstehung das Kino ausgelst hat. Jenes Kino, das zum
Lachen, zum Weinen und Schaudern gefhrt hat, das im Dunkeln und in der
Anonymitt den Krper des Publikums zu einer anderen Leinwand macht, zu ei-
ner Landkarte der somatischen Affekte, auf denen die Pornographie, die visuelle
Zote, von Anfang an einen festen Platz hatte. Das Sehen selber wird im Kino se-
xualisiert und als Schaulust genossen. Dabei spielen ganz sicher Faktoren eine
Rolle, die sich nicht alleine auf die anthropologische Annahme einer expressiven
Komponente der sexuellen Imagination beziehen lassen, sondern die kulturelle
Evolution der Sinnesttigkeiten ins Spiel bringen.
Die Schaulust ist selbst nicht Letztes, Ursprngliches, sondern im Prgungs-
prozess der Entstehung einer hochrationalisierten und -organisierten Gesell-
schaft entwickelt und geformt worden. Der Erfolg des Pornokinos in seiner der-
zeitigen Gestalt ist Ausdruck dieser kulturhistorischen Prgung wohl mehr als
einer ursprnglichen Lust.
So lsst sich im Zeitalter der Einfhrung des Taylorismus im viktorianischen
England ein sprunghaftes Ansteigen des Interesses an Pornographie feststellen,
und es wird noch zu zeigen sein, dass dieses Interesse gerade nicht aus dem vik-
torianischen Tabu ber der Sexualitt resultiert, sondern in einem internen Zu-
sammenhang mit Modernisierungsschben steht. Dem Training des Auges, der
Anpassung des Gesichtssinns an die Rationalisierungs- und Modernisierungs-
strategien entspricht das Ausweiten der Schaulust, die Ausrichtung der Sexuali-
tt auf diese Entwicklung. Die Verbindung von Macht, Herrschaft und Sexualitt
lsst sich nur ber die Vernderungen in der Sexualitt selbst herstellen, und die
Pornographie ist vielleicht eine jener osmotischen Nahtstellen, durch die die
Macht ins Innere der Sexualitt eindringt und durch die andererseits Sexualitt
nach auen dringt, selbst Teil der Macht wird. Im ersten Band seiner Geschichte
der Sexualitt analysiert Michel Foucault die unaufhebbare Verzahnung von
Macht und Sexualitt, die sich wechselseitig definieren und in ihren Grenzen be-
stimmen:
Netzhautsex Sehen als Akt
106
Die Einpflanzung vielfltiger Perversionen ist nicht die hmische Rache
der Sexualitt an der Macht, die ihr ein Gesetz aufzwingt, das den Exzess
unterdrckt. [] Die Einpflanzung von Perversionen ist ein Instrument-
Effekt: durchdie Isolierung, Intensivierung undVerfestigung der periphe-
renSexualittenverstelnundvermehrensichdie Beziehungender Macht
zum Sex und zur Lust, durchmessen den Krper und durchdringen das
Verhalten. Undmit demVordringender Mchte fixierensichdie verstreu-
tenSexualittenundheftensichaneinAlter, einenOrt, einenGeschmack,
einen Typ von Praktiken. Fortpflanzung der Sexualitten durch Ausdeh-
nung der Macht; Steigerung der Macht, der jede dieser regionalenSexuali-
tten eine Angriffsflche liefert; seit dem19. Jahrhundert wird diese Ver-
kettung vonunabsehbarenkonomischenProfitengesichert, die dank der
VermittlungvonMedizin, Psychiatrie, ProstitutionundPornographiesich
gleichzeitig aus der analytischen Vermehrung der Lust und einer Steige-
rungder sie kontrollierendenMacht ableitenlassen. Lust undMacht heben
sich nicht auf, noch wenden sie sich gegeneinander, sondern bergreifen
einander, verfolgen und treiben sich an. Sie verketten sich vermge kom-
plexer undpositiver MechanismenvonAufreizung undAnreizung.
10
Fr Foucault ist die Geschichte der Sexualitt geprgt durch den Willen zum
Wissen, der Macht bedeutet. Pornographie wre dann nichts anderes als Wille
zum Wissen, sozusagen die Volkshochschule der Sexualwissenschaft, wo mit-
tels der Schaulust als Erkenntnistrieb der Diskurs der Macht begonnen hat. In der
Tat belegen etliche Untersuchungen ber die Sozialgeschichte der Pornographie,
dass diese sich immer schon gerne als Beitrag zur Erforschung der Sexualitt und
ihrer Formen verstanden wissen wollte. Schlielich begann auch die Pornowelle
mit Filmen, die vor allem Aufklrung auf ihre Fahnen schrieben, wie die Serien
des Oswald Kolle oder Helga, die sich verstanden als praktische Lebenshilfen, als
Wissensvermittlung. Das Rubrizierende und Klassifizierende formalen Wissens
haftet noch den unendlichen Reports an, die nach Berufssparten sortiert Sexual-
verhalten zum Besten geben, und schlielich hatten schon die frhen Pornofilme
einen Zug ins Lexikalische, der ihren Augenzeugen nicht entgangen ist:
Eine besondere Wrze des unzchtigen Films bildet die mit mglichster
Lebensechtheit inszenierte Darstellung aller denkbaren Perversitten.
Bietet das Leben selbst sehr hufig dem Kenner die Anschauung des sim-
plen Lasters, so ist doch die Gelegenheit, die veritable Perversitt als Zu-
schauer zu genieen, weit seltener, und diesem Mangel sucht der Film in
Gertrud Koch
107
diesem Falle abzuhelfen. Es gibt Filme dieser Gattung, die mit Krafft-
Ebings Psychopathia sexualis in der Hand inszeniert zu sein scheinen, die
eine Musterkarte der abnormen sexuellen Funktionen des Kulturmen-
schen bilden.
11
Der Wille zumWissen aktiviert das Auge, Schaulust als Erkenntnisinstrument,
Erkenntnis als Schaulust, die Pornographie findet ihren Platz in der Gesellschaft.
DiepsychoanalytischeTheorieuntersttzt dieVorstellungeines Zusammenhangs
vonNeugier, ErkenntnisinteresseundVoyeurismus inder Entwicklungsgeschich-
te jedes einzelnen Menschen noch bevor die Pornographie zu einemsignifikan-
ten und typischen Produkt unserer Gesellschaft geworden ist und diesen Zusam-
menhang endgltig offen legt. Vomwachsamen Auge des Jgers bis zumgroen
Auge des Staates (Foucault) hat die optische Organisationder Welt ihre Inbesitz-
nahme eingeschlossen. Soschreibt Jean-Paul Sartre inDas Seinund das Nichts:
Zudem ist in der Idee der Entdeckung, der Enthllung, auch die Idee des
aneignenden Genusses enthalten. Das Sehen ist Genuss, sehen heit de-
florieren.[]
brigens ist die Erkenntnis eine Jagd. Bacon nennt sie die Jagd Pans. Der
Forscher ist der Jger, der eine weie Nacktheit berrascht und mit sei-
nem Blick vergewaltigt. Das Insgesamt solcher Bilder enthllt uns somit
etwas, das wir den Akton-Komplex nennen wollen. []: denn man jagt,
um zu essen. Beim Tier entspringt die Neugier stets der Sexualitt oder
der Nahrungssuche. Erkennen heit, mit den Augen essen.[]
Die Erkenntnis ist Eindringen und zugleich oberflchliche Liebkosung.
Verdauung und distanzierte Betrachtung eines nicht zu verformenden
Gegenstands.
12
In diesen Zitaten von Sartre steckt neben der martialischen Metaphorik der Ver-
gewaltigung und berwltigung ein Kern Sexualtheorie, der kaum von der Hand
zu weisen ist und von der Psychoanalyse untersttzt wird: der Zusammenhang
nmlich von Aggression und Sexualitt. Das Moment von Direktheit, in dem der
Blick der Kamera die Dinge fngt und festhlt, lsst sich damit formulieren. Das
fhrt mich zurck auf den anfnglich hervorgehobenen Zusammenhang von
Kino und Pornographie im somatischen Moment der Filmwahrnehmung wie im
Blick der Kamera. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Siegfried Kracauer in
seiner Theorie des Films hingewiesen, wenn er darin hnlich wie der eingangs zi-
tierte Benjamin auf die Materialitt des filmischen Bildes verweist:
Netzhautsex Sehen als Akt
108
Naturkatastrophen, die Greuel des Krieges, Gewalttaten und Terrorakte,
hemmungsloses erotisches Triebleben und der Tod sind Ereignisse, die
das menschliche Bewutsein zu berwltigen drohen. Jedenfalls rufen
sie Erregungszustnde und ngste hervor, die sachlich abgelste Beob-
achtung erschweren. Kein Zeuge solcher Ereignisse und erst recht kein
aktiv an ihnen Beteiligter wird deshalb zuverlssig ber sie berichten kn-
nen. Da aber diese Manifestationen roher menschlicher oder auer-
menschlicher Natur in den Bereich physischer Wirklichkeit fallen, ge-
hren sie um so mehr zu den spezifisch filmischen Gegenstnden. Nur
die Kamera vermag sie unverzerrt darzustellen. [] Das Kino zielt also
darauf ab, den innerlich aufgewhlten Zeugen in einen bewuten Beob-
achter umzuwandeln. Nichts knnte legitimer sein als sein Mangel an
Hemmungen bei der Darstellung von Vorgngen, die uns auer Fassung
bringen. Denn so bewahrt es uns davor, unsere Augen vor dem blinden
Treiben der Dinge zu schlieen.
13
Nun wre Kracauer sicher der Letzte, der aus seiner Theorie zur Errettung der
physischen Wirklichkeit eine Apologie des Pornokinos herleiten wrde zumal
ja sexuelle Motive im Gegensatz zu den Bildern aus der Naturkatastrophe meist
gespielte Szenen sind, die in ihrer Artifizialitt unbersehbar den Codes der Spra-
che verbunden sind aber so wie Benjamin in der Sprache selber ein expressives,
an den Naturlaut gemahnendes Moment hervorhebt, beansprucht Kracauer die
Bewahrung des Ausdruckscharakters der phnomenalen Welt.
14
Der hermetische Zug der neueren psychoanalytisch ausgerichteten Film-
theorie, der einikonoklastischer Zugnicht fremdist unddie sehr starkvonder ide-
ologiekritischen Tradition des Freudo-Marxismus geprgt ist, kamvor allemdort
zumTragen, wo die Engfhrung des in beiden Theorien grundlegenden Fetisch-
Begriffs zumAgenteneines radikalenBilderverdachts verstrkt wurde.
Im Anschluss an den phnomenologischen Gestus von Kracauer und Bazin
hat in jngster Zeit Steven Shaviro das Kino noch einmal ber seinen sensuellen
Charakter definiert:
The experience of watching a film remains stubbornly concrete, imma-
nent, and prereflective: it is devoid of depth and interiority. Sitting in the
dark, watching the play of images across a screen, any detachment from
raw phenomena, from the immediacy of sensation or from the speeds
and delays of temporal duration, is radically impossible. Cinema invites
me, forces me, to stay within the orbit of the senses. I am confronted and
Gertrud Koch
109
assaulted by a flux of sensations that I can neither attach to physical pre-
sences nor translate into systematized abstractions.
15
Die radikalisierte Position eines rein sensuellen Kinos, die Shaviro aufmacht,
muss man sicher so nicht teilen, es lassen sich durchaus Filmsthetiken nennen,
die mit diesen Bedingungen brechen. Aber es bleibt doch bemerkenswert, dass
das Kino die Ebene der Affekte und Sensationen einnehmen kann und keines-
wegs verlassen muss. Kracauer hat das in seiner Theorie des Films festgehalten:
Ich gehe von der Annahme aus, da Filmbilder ungleich anderen Arten
von Bildern vorwiegend die Sinne des Zuschauers affizieren und ihn so
zunchst physiologisch beanspruchen, bevor er in der Lage ist, seinen In-
tellekt einzusetzen.[]
Bewegung ist das A und O des Mediums. Nun scheint ihr Anblick einen
Resonanz-Effekt zu haben, der im Zuschauer kinsthetische Reaktionen
wie zum Beispiel Muskelreflexe, motorische Impulse und hnliches aus-
lst.
16
Angenommen, die These Kracauers und Shaviros stimmt, und es ist tatschlich
so, dass das Kino in spezifischer Weise auf den psychophysischen Haushalt der
Betrachter einwirkt, eben auf Zwerchfell, Trnendrsen und Geschlechtsor-
gane, dann haben die Kulturkritiker und nach Regulierungen rufenden Kassan-
dren insoweit einen Grund, als es tatschlich so ist, dass Pornographie in den Me-
dien unmittelbare physische Auswirkungen hat, insofern sie nicht nur Sexualitt
zeigt, sondern ein Teil von dieser ist. Allerdings verkompliziert sich die Situation
noch dadurch, dass diese Wirkungen generell angenommen werden mssen, das
Kino also der Apparat wre, der direkte Macht ber unser Muskelsystem auf unser
Nerven- und Denksystem ausben kann. Aber die Innervationen des Kinos und
seine masturbatorischen und imaginativen Reize sind deswegen noch lange keine
Handlungsanweisungen. Es ist absurd anzunehmen, dass die Interaktion, die in
pornographischen und den sensuellen Aspekten des Kinos nachgebenden Filmen
zwischen Leinwand und Betrachter stattfindet, einseitig auflsbar und zu erset-
zen wre. Selbst die Masturbation vor der Leinwand oder dem Videoschirm ist als
Interaktion zu verstehen, in die Dritte so wenig Einlass haben, wie ein Musikh-
render das Mitpfeifen eines Mithrers ersehnen mag, um die Musik praktisch ver-
lebendigt zu bekommen.
Aber ich gebe gerne zu, dass der letzte Vergleich polemischer Natur ist, weil
er wieder zurckfhrt auf die Frage, inwieweit sthetischer und sinnlicher Ge-
Netzhautsex Sehen als Akt
110
nuss ganz voneinander zu trennen sind. Das Imaginre der Pornographie liegt ge-
rade in jenem Reich der Wnsche, die mehr gewnscht als gelebt werden wollen.
Darber sollte der Naturalismus der Bilder nicht hinwegtuschen. Der Nacktba-
destrand mag manchen Personen als Realitt ein Alptraum sein, ein Dfil nack-
ter Krper auf der Leinwand aber anziehend gerade in der Unnahbarkeit. Die Zwi-
schenstellung der Pornographie gerade in den photographischen Medien verweist
auf die merkwrdige Aktivitt des Blicks selber zurck, der gleichzeitig beobach-
tet und festhlt und doch immateriell und nicht zu fassen ist. Die Doppeldeutig-
keit des Blicks belehrt uns aber auch ber die dnne Grenze, die das menschliche
Wesen in seiner erschtternden Fragilitt immer wieder zu berschreiten ver-
sucht jene transparente Leinwand, die uns als sprach- und vernunftbegabte We-
sen von jener unmittelbaren Welt der Dinge und Krper trennt, die wir zur glei-
chen Zeit auch sind. Die transparente Leinwand, auf der wir uns als Krper
betrachten, ist dem Menschen als anthropologischem Mngelwesen inhrent. Im
Kino treten unsere Schatten uns nicht entfremdeter entgegen als wir uns selbst.
1 Walter Benjamin: Staatsmonopol fr Pornographie, in: ders.: Gesammelte Schriften IV.1, Frank-
furt/M. 1981, S. 456.
2 Ebd., S. 457.
3 Ebd., S. 457.
4 Ebd., S. 458.
5 Ebd., S. 458.
6 Ebd., S. 458.
7 Susan Sontag: Die pornographische Phantasie [1967], in: dies.: Kunst und Antikunst. Essays, Mn-
chen 1980, S. 39.
8 Suanne Kappeler: The Pornography of Representation, Cambridge 1986, S. 118.
9 Catharine A. MacKinnon: Nur Worte, Frankfurt/M. 1994, S. 26 f.
10 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Sexualitt und Wahrheit, Erster Band, Frankfurt/M. 1979,
S. 64 f.
11 Curt Moreck: Sittengeschichte des Kinos, Dresden 1926, S. 182.
12 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phnomenologischen Ontologie, Reinbek
1976, S. 726728.
13 Siegfried Kracauer: Theorie des Films, Frankfurt/M. 1964, S. 91 f.
14 Zu den komplexen Thesen Kracauers vgl. auch mein Buch: Gertrud Koch: Kracauer, Hamburg 1996.
15 Steven Shaviro: The Cinematic Body, in: Volume 2, Minneapolis 1993, S. 32.
16 Kracauer: Theorie des Films (Anm. 13), S. 216.
Gertrud Koch
111
Eri ka Fi scher-Li cht e
V O M T E X T Z U R P E R F O R MA N C E
D E R P E R F O R MAT I V E T U R N I N D E N K U LT U R WI S S E N S C H A F T E N
In den 1970er Jahren machte der so genannte linguistic turn Furore in den Geis-
teswissenschaften. Er versprach ihre Verwissenschaftlichung, indem er die
Aufmerksamkeit auf die Struktur der Signifikanten lenkte nicht nur der Sprache
im engeren Sinne, sondern aller kulturellen Systeme, die sich als Sprache im Sin-
ne eines Zeichensystems begreifen und definieren lassen. Im Zuge des linguistic
turn bildete sich ein Verstndnis von Kultur heraus, wie es in der Erklrungsme-
tapher Kultur als Text zum Ausdruck kommt. Einzelne kulturelle Phnomene
ebenso wie ganze Kulturen wurden als ein strukturierter Zusammenhang von
Zeichen begriffen. Die verschiedensten Versuche zur Beschreibung, Analyse und
Deutung von Kultur wurden entsprechend als Textanalysen bzw. als Lektren
durchgefhrt. Die Aufgabe der Kulturwissenschaften (d. h. der Geistes- und So-
zialwissenschaften) bestand nach diesem Verstndnis darin, Texte, die zum Teil
in fremden, fast unverstndlichen Sprachen verfasst sind, auf ihre Struktur hin zu
analysieren, zu entziffern, zu deuten und vor allem seit den 1980er Jahren be-
kannte Texte auf mgliche Subtexte hin zu lesen und sie im Lektreprozess zu de-
konstruieren. Als anerkannte Leitwissenschaften galten entsprechend die Text-
wissenschaften.
In den 1990er Jahren bahnte sich ein Wechsel der Forschungsperspektiven
an. Das Interesse verlagerte sich nun strker auf die Ttigkeiten des Herstellens,
Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Vernde-
rungenundDynamiken, durchdie bestehende Strukturensichauflsenundneue
herausbilden. Zugleich rckten Materialitt, Medialitt und interaktive Prozess-
haftigkeit kultureller Prozesse in das Blickfeld. Damit verlor die Metapher Kultur
als Text betrchtlich an Erklrungswert, und die Metapher Kultur als Perfor-
mance begann ihren Aufstieg. Mit ihr trat eine Begrifflichkeit in den Vorder-
grund, die dem Theater entliehen ist Inszenierung, Spiel, Maskerade, Spektakel.
Der Wechsel der Forschungsperspektiven vom Text-Modell zum Perfor-
mance-Modell ging bzw. geht allerdings nicht als nahtlose Ablsung des einen
Modells durch das andere vonstatten. Vielmehr fhrte er zu einer verstrkten
Aufmerksamkeit fr die Beziehungen und Spannungsverhltnisse zwischen bei-
den Ordnungen. Niemand wird bestreiten, dass kulturelle Handlungen und
Ereignisse immer im Hinblick auf bestimmte Bedeutungen interpretiert werden
knnen. Auf sie hat sich die bisherige Forschung vor allem konzentriert. Die
Vom Text zur Performance
112
stets auch beteiligten performativen Zge dagegen hat sie weitgehend vernach-
lssigt. Dabei ist es allgemein bekannt, dass diese performativen Zge durchaus
die Funktion und Bedeutung der referenziellen Anteile kommentieren, modifi-
zieren, strken oder auch schwchen knnen. Der lngst etablierten Erforschung
von Bedeutungen sollte daher eine erhhte Fokussierung auf das Performative
zur Seite gestellt werden. Denn es ist gerade das je besondere Austausch-,
Spannungs- und Oszillationsverhltnis zwischen beiden Modellen, das von he-
rausragendem Interesse ist.
Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, als wre das Performa-
tive erst in den 1990er Jahren entdeckt worden. Sptestens seit Nietzsche wird
die Bedeutung performativer Prozesse in der europischen Kultur immer wieder
zur Sprache gebracht. Eine systematische Forschung entwickelte sich dennoch
nicht. Das mag unterschiedliche Grnde haben. Einer ist zweifellos in den ber-
lieferten Vorstellungen von Wissenschaft zu suchen. Denn das Performative ent-
zieht sich hartnckig wissenschaftlichen Ansprchen auf systematische Analyse,
berprfbarkeit, Wiederholbarkeit und Konstanz. Es wirft in seiner Flchtigkeit
schier unlsbare methodische Probleme auf. Wenn heute das performative Aus-
handeln und Herstellen von Kultur in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen
Interesses rckt, so zeugt dies nicht nur von einem grundlegend gewandelten
Verstndnis von Kultur, sondern zeigt auch entsprechend eine modifizierte Auf-
fassung von der Verfasstheit und den Zielen kulturwissenschaftlicher Forschung
an. In diesem Sinne lsst sich von einem performative turn in den Kulturwissen-
schaften sprechen.
Besondere Bedeutung erhielten nun Konzepte, wie sie in einzelnen Wissen-
schaften bereits seit den 1950er Jahren ausgearbeitet wurden: John L. Austins aufs
Performative der Sprache gerichtete Sprachphilosophie, die er in How To Do
Things With Words entwickelte und die John Searle mit seiner Sprechakttheorie
weiterfhrte; das Konzept der cultural performance, das der Ethnologe Milton
Singer ausarbeitete, um die konkreteste beobachtbare Einheit einer kulturellen
Struktur bestimmen zu knnen; Foucaults Vorstellungen von der Mikrophysik
der Macht, mit der er Felder, Wirkungen und Strategien der Macht meinte, die als
Krfteverhltnisse und performative Formationen alle Bereiche des mensch-
lichen Lebens durchdringen; und vor allem die in der Theaterwissenschaft
gefhrte Debatte um Theatralitt, die auf theatrale Aspekte, Konfigurationen,
Situationen u. a. weniger in als auerhalb des Theaters in unterschiedlichen kul-
turellen Bereichen zielt.
Der mit dem Performance-Modell eingeleitete Wechsel der Forschungs-
gegenstnde und -perspektiven bringt auch eine Vernderung der Forschungs-
Erika Fischer-Lichte
113
strategien mit sich. Denn die Erforschung performativer Prozesse sprengt die
Grenzen der etablierten Disziplinen, die unterschiedlichen Arten von Texten und
Artefakten zugeordnet sind. Die Untersuchungen von Ritualen, Zeremonien,
Festen, Spielen, Sportwettkmpfen, politischen Versammlungen u. . erfordert
neue Formen einer interdisziplinren Zusammenarbeit; fr sie stellen die oben
genannten Konzepte ein wichtiges Instrumentarium bereit. Wenn angesichts
dieser Verhltnisse berhaupt noch von einer Leitwissenschaft die Rede sein
kann, so fllt diese Rolle am ehesten der Theaterwissenschaft und der Ethnologie
zu. Denn beide sehen sich seit ihren Anfngen permanent mit dem Problem kon-
frontiert, wie mit der Flchtigkeit von Auffhrungen wissenschaftlich umge-
gangen werden kann; beide haben Konzepte entwickelt, die sich in anderen Dis-
ziplinen produktiv auf diese Problematik anwenden lassen.
Der performative turn markiert eine grundstzliche Wende nicht nur in den
Kulturwissenschaften, sondern auch im Selbstverstndnis der europischen Kul-
tur. Zwar war es seit langem weitgehender Konsens der Forschung, dass sich das
Selbstverstndnis von Kulturen auerhalb Europas und Nordamerikas vorran-
gig in performativen Prozessen formuliert. In Ritualen, Zeremonien, Festen,
Spielen, Tnzen, Wettkmpfen u. . stellt eine Kultur ihr Selbstverstndnis und
Selbstbild vor ihren Mitgliedern und Fremden dar und aus. In den europischen
bzw. westlichen Kulturen dagegen wird nach der lange Zeit in den Kulturwissen-
schaften vorherrschenden Meinung diese Funktion von Texten und Monumen-
ten erfllt, die daher auch den privilegierten, wenn nicht gar einzigen Gegen-
stand ihrer Forschung bildeten. Diese berzeugung ist heute durch neuere
Entwicklungen in den Kulturwissenschaften ebenso wie in unserer zeitgens-
sischen Kultur erschttert. ber die wichtige Bedeutung von performativen
Prozessen auch fr die westlichen Kulturen kann kein Zweifel mehr bestehen.
Einzelne kulturwissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre zu Festen,
politischen Zeremonien, Straf- und Begrbnisritualen, Spielen, Balladenvortr-
gen, Geschichtenerzhlern, Konzerten u. a. in der europischen Kulturgeschichte
haben eindrucksvoll nachgewiesen, dass sie im jeweiligen Einzelfall eine hnlich
wichtige Funktion zu erfllen hatten, wie Ethnologen sie fr orale Kulturen er-
mittelt haben. Es ist in diesen Fllen gerade die je besondere Spannung zwischen
Textualitt und Performativitt, die von Interesse ist.
In den postindustriellen Gesellschaften lsst sich in auffallend vielen kultu-
rellen Bereichen eine Entwicklung beobachten, die man geradezu als Performati-
vierungsschub bezeichnen knnte. So berwiegt in den Knsten seit den 1960er
Jahren der Auffhrungscharakter immer mehr den Artefaktcharakter. In der Lite-
ratur zeigt sich dies u. a. in den Selbstinszenierungen der AutorInnen ebenso wie
Vom Text zur Performance
114
in der stndig wachsenden Zahl von Dichterlesungen und hnlichen Veranstal-
tungen. In der Neuen Musik, in der es das Erklingen von Musik ist, welches Raum
und Zeit allererst erschafft, oder in John Cages Events, um nur zwei besonders
prgnante Beispiele zu nennen, wird unberhrbar der Vorgang der Performance
(Hervorbringen und Hren von Musik) fokussiert. In der bildenden Kunst tritt
bei Action Painting, Body Art, Land Art, in Lichtskulpturen und Videoinstallatio-
nen ebenso wie in vielen Ausstellungen der Auffhrungscharakter strker in den
Vordergrund als der Artefaktcharakter. Entweder prsentiert sich der Knstler
selbst als Darsteller vor einem Publikum oder der Zuschauer ist aufgefordert, sich
um die Exponate herumzubewegen und mit ihnen zu interagieren, whrend an-
dere zuschauen. Dies gilt in besonderem Mae fr Aktionen bildender Knstler
wie Joseph Beuys, Wolf Vostell, Rebecca Horn, der Wiener Aktionisten oder der
FLUXUS-Gruppe. Sie haben in den 1960er Jahren zur Herausbildung eines neuen
Genres gefhrt der Performance-Kunst. Theater hat die ihm eigene und es seit
je als Auffhrungskunst konstituierende Performativitt noch erheblich in-
tensiviert vor allem, indem es den Krper des Schauspielers fokussiert und
der Sprache neue Funktionen zuweist. Die bergnge zwischen Theater und
Performance-Kunst oder auch zwischen Theater und den bildenden Knsten
werden immer flieender.
Derartige Performativierungsschbe gelten nicht nur fr die Knste. Es
fllt auf, dass die seit der Jahrhundertwende neu entwickelten bzw. wiederbeleb-
ten Gattungen von cultural performances wie Fest, Spiel, Sportwettkampf, Zere-
monie, Ritual sich in den postindustriellen Gesellschaften erheblich ausgebreitet
haben. So sind zum Beispiel seit den 1970er Jahren Bedeutung, Verbreitung und
Vielfalt von Bewegungsspielen (wie Inline Skating, Streetball, Stadtmarathon
etc.) stndig gewachsen. Daneben lassen sich eine Rckkehr bzw. Wiederentde-
ckung von Ritualen bis hin zur ritualisierten Verwendung von Sprache sowie
Prozesse von Ritualisierungen in wesentlichen gesellschaftlichen Institutionen
beobachten. Diese Rckkehr bzw. Wiederentdeckung hat bisher noch kaum die
ihr gebhrende Beachtung gefunden. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass im
Unterschied zu oralen und in diesem Sinne exemplarischen performativen
Kulturen der Spielraum fr die bernahme und Ablehnung, Vernderung und
Neuschpfung von Ritualen und Ritualisierungen heute erheblich grer ist. Da
es sich bei Bewegungsspielen, bei Sportwettkmpfen und vor allem bei Ritualen
um Gattungen von Auffhrungen handelt, denen eine eminent gemeinschafts-
stiftende bzw. -erhaltende Funktion zukommt, ist davon auszugehen, dass
grundlegende Vergesellschaftungsprozesse in unserer Kultur von ihnen geleistet
werden. Das Soziale wird in einem erheblichen Ausma in und mit Hilfe von
Erika Fischer-Lichte
115
Spielen, Sportwettkmpfen und Ritualen erzeugt; d. h. es konstituiert sich im
Verlauf von performativen Prozessen und durch sie.
Der performative turn gilt also nicht nur fr die Kulturwissenschaften, son-
dern auch fr unsere zeitgenssische Kultur. Die Annahme liegt nahe, dass er mit
der Entstehung und Verbreitung der neuen Medien in Zusammenhang steht. Man
sollte sich allerdings davor hten, ihn im Sinne einer kausalen und linearen
Geschichtskonstruktion zu verstehen. Es ist keineswegs so, als wenn mit der Er-
findung des Buchdrucks die performativen Kulturen des Mittelalters und der
Frhen Neuzeit durch textuelle Kulturen abgelst wurden, whrend im 20. Jahr-
hundert ein gegenlufiger Prozess dazu fhrte, dass im Zuge der Erfindung der
neuen Medien die Vorherrschaft der textuellen Kultur gebrochen wurde und eine
neue performative Kultur sich etablierte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass in
der Frhen Neuzeit einer Textualisierung der Kultur mit neuen Formationen
des Performativen begegnet wurde (wie in der commedia dellarte, der Oper oder
auch im elisabethanischen Theater), ebenso wie sich heute vllig neue Formen
von Textualitt herausbilden. Es handelt sich also eher um Dominantenverschie-
bungen, mit denen sich jeweils ein neues, je spezifisches Spannungsverhltnis
zwischen Performativitt und Textualitt herstellt. Die Kulturwissenschaften ha-
ben ihr Augenmerk bisher berwiegend auf den Pol Textualitt gerichtet. Ihr
performative turn war daher lngst berfllig.
1
1 Diese Einsicht lag der Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen
an der Freien Universitt Berlin zugrunde, der am 1.1.1999 seine Arbeit aufgenommen hat. Er un-
tersucht das Verhltnis von Performativitt und Textualitt sowie die Funktionen und Bedeutungen
des Performativen in den groen europischen Kommunikationsumbrchen vom Mittelalter zur
Frhen Neuzeit und in der Moderne. An ihm sind Kunstwissenschaften (Theater-, Musik-, Litera-
turwissenschaften und Kunstgeschichte), Philologien (Germanistik, Anglistik, Romanistik), Histori-
sche Anthropologie, Kulturwissenschaft, Linguistik und Philosophie beteiligt.
Vom Text zur Performance
116
El ena Esposi t o
D I E WA H R N E H MU N G D E R V I R T U A L I T T .
P E R Z E P T I O N S A S P E K T E D E R I N T E R A K T I V E N K O MMU N I K AT I O N
1 . R E A L I S MU S D E R D A R S T E L L U N G U N D K O L O N I S I E R U N G D E R WA H R N E H MU N G
Bei der Betrachtung der Auswirkungen neuer Kommunikationstechnologien auf
die Wahrnehmung beabsichtige ich den Bezug auf das einzelne Individuum und
auf seine Fhigkeiten ganz aufzugeben. Geht es um Medien als Erweiterungen
der Sinne
1
, verliert man meinem Eindruck nach den aus soziologischer Sicht
interessantesten Aspekt der telematischen Phnomene aus den Augen. Die Evo-
lution der Medien verndert das Verhltnis von Kommunikation und Wahrneh-
mung, whrend die Wahrnehmungswelt der einzelnen Individuen nur mittelbar
von diesem Wandel betroffen ist. Arten und Formen des kommunikativen Ge-
brauchs von Wahrnehmung sind also mein Thema.
Meine im Folgenden darzulegende Hypothese ist, dass die Entwicklung
immer unwahrscheinlicherer Techniken der Verbreitung und Darstellung von
Kommunikation mit immer raffinierteren Formen der Kolonisierung von
Wahrnehmung korreliert. Je realistischer die Formen der Darstellung sind, je
zugespitzter die Selbstreferenz der Kommunikation und ihre Autonomie gegen-
ber Umwelt-Daten und -Phnomenen, umso kolonisierter ist die Wahrneh-
mung. Die Zunahme des Realismus der Darstellung ist paradoxerweise mit einer
Steigerung der Knstlichkeit und nicht mit ihrer Abnahme verbunden. Die
Evolution der Medien markiert gerade aufeinander folgende Schritte in diese
Richtung.
Nur dieser Ansatz ermglicht es meines Erachtens, die Rolle der Wahrneh-
mung in den Massenmedien bis hin zum viel diskutierten, aber immer noch mys-
terisen Phnomen der so genannten virtuellen Wirklichkeit
2
angemessen zu
verstehen. Obwohl es sich um das einzige Wahrnehmungsphnomen handelt,
das der Telematik wirklich eigentmlich ist, scheint mir seine Wurzel kommuni-
kativer und nicht direkt perzeptiver Natur zu sein: Es geht nicht so sehr um eine
neue immersive Involvierung der Sinne (die nichts anderes als ein weiterer
Schritt auf einem Weg wre, auf dem die Filmkommunikation schon sehr fortge-
schritten ist) oder um die neue, besonders unklare Parole der Multimedialitt
(bereits illustrierte Bcher kombinieren zwei getrennte Kommunikationsmoda-
litten Schrift und Bilder , um die Fernsehbertragung von bewegten Bil-
dern mit synchronisiertem Ton nicht zu erwhnen). Auf dieser Ebene knnen
Elena Esposito
117
Fortschritte beobachtet werden, aber nicht notwendigerweise ein qualitativer
Sprung, der dazu fhren wrde, von einem neuen, radikal anderen Medium zu
sprechen. Die echte Neuerung muss meines Erachtens in einer kommunikativen
Tatsache gesehen werden, also im Phnomen der Interaktivitt, die eine Interven-
tion der Empfnger in der Fernkommunikation erlaubt.
3
Aus dieser Innovation
kann mglicherweise eine radikale Vernderung des Verhltnisses von Kommu-
nikation und Wahrnehmung folgen, bis hin zur Infragestellung des laufenden
(modernen) Kommunikationsmodells. Dieses Modell und seine Voraussetzun-
gen werden Gegenstand der folgenden Abschnitte sein.
2 . K O MMU N I K AT I V E R G E B R A U C H D E R WA H R N E H MU N G
Die unmittelbare Wahrnehmung von Objekten der Welt ist als solche kein sozio-
logisches Phnomen. Sie betrifft das psychische System der Individuen und seine
Art und Weise, das Verhltnis von Selbst- und Fremdreferenz zu verarbeiten.
4
Diesbezglich existiert das Individuum sicherlich nicht isoliert: die Formen der
Verarbeitung der Wahrnehmung sind von sozialen Faktoren und Einflssen ab-
hngig.
5
Es handelt sich jedoch um externe Einflsse auf das einzelne Bewusst-
sein und nicht direkt um soziale Ereignisse. Aus der Sicht der Gesellschaft bleibt
die Wahrnehmung ein Umweltfaktor.
Forschungsobjekt des Soziologen ist immer die Kommunikation, aber es
kann auch die Art des Gebrauchs von Wahrnehmung zu kommunikativen Zwe-
cken einschlieen: eine uerst eigentmliche Art der Verarbeitung von Wahr-
nehmung, mit eigenen Voraussetzungen und eigenen Folgen. Wahrnehmung ist
an sich nicht notwendigerweise Kommunikation: Man sieht sich um, stellt Laute,
Formen, Gerche fest und gewinnt daraus Informationen, die blo psychische
Ereignisse bleiben. Die Wahrnehmung von Lauten und Bildern kann jedoch
kommunikative Relevanz gewinnen, wenn ein besonderer abweichender Ge-
brauch der Wahrnehmung ins Spiel kommt,
6
nmlich die so erhaltene Informa-
tion von der Kommunikationsabsicht einer Person abhngig ist.
7
Das bildet den
Unterschied zwischen bloer Wahrnehmung von Lauten und Sprachverstehen
und daher ist es etwas anderes, schwarze Zeichen auf Papier zu sehen oder eine
Schrift zu lesen. Die Bewegungen einer Person anzuschauen, heit noch nicht
kommunizieren. Wahrnehmung wird zur Kommunikation, wenn man meint,
dass diese Gesten einen Inhalt (z. B. einen Gru) mitteilen wollen. Die Folgen
dieser Wahrnehmung sind entsprechend anders: Man antwortet mit einem wei-
teren Gru. Nur im zweiten Fall wenn also die Unterscheidung von Informa-
Die Wahrnehmung der Virtualitt
118
tion und Mitteilung ins Spiel kommt wird die Wahrnehmung zu kommunikati-
ven Zwecken benutzt. Dann gestaltet sich die Wahrnehmungswelt der Beobach-
ter sehr viel komplexer: ber die einfache Wahrnehmung von Objekten hinaus,
die das sind, was sie sind, werden besondere Gegenstnde wahrgenommen, die
fr etwas anderes stehen.
8
In diesem zweiten Fall kann man von abweichen-
dem Gebrauch der Wahrnehmung oder vom Anfang der Kolonisierung der
Wahrnehmung durch die Formen der Kommunikation sprechen.
Diese innere Verdoppelung der Wahrnehmungswelt in Bezug auf die Un-
terscheidung von Information und Mitteilung kann sich in unterschiedlichen
Formen verwirklichen. Die Notwendigkeit, etwas auf etwas anderes zu beziehen,
kann zunchst durch die besondere Knstlichkeit bestimmter Objekte markiert
werden, wie zum Beispiel durch die eigentmlichen Laute der Sprache mit ihrer
besondereninnerenOrganisation, Modulation, Sequenzialitt. IndiesemFall, wie
im Fall aller so genannten arbitrren Zeichen,
9
verweist die Verarbeitung der
Wahrnehmung auf einen Inhalt, der keine Homologie zum wahrgenommenen
Objekt aufweist: Das Wort Pferd zeigt keine hnlichkeit mit dem Bezugsobjekt.
Die kommunikative Information ist scharf von der Wahrnehmungsinformation
getrennt.
Die Fhigkeit, an sprachlicher Kommunikation teilzunehmen, und die F-
higkeit, Wahrnehmung zu kommunikativen Zwecken zu nutzen, setzen beide
diese Unterscheidung von Worten und Dingen voraus. Vermutlich spielt die Ar-
bitraritt der linguistischen Zeichen eine wesentliche Rolle in der Markierung der
Trennung zwischen unmittelbarer und abweichender Wahrnehmung. Sie ist
wahrscheinlich notwendig, um der Kommunikation die Autonomie zu sichern,
welche die laufende Reproduktion der Kommunikation aufgrund frherer Kom-
munikationen erlaubt das, was heute Autopoiesis eines spezifischen Systems
(des sozialen Systems) genannt wird.
10
Man muss mit einer ununterbrochenen
Produktion von Zeichen in Bezug auf andere Zeichen also mit einer ziemlich
unwahrscheinlichenVerarbeitungder unmittelbarenWahrnehmungswelt rech-
nen knnen.
Wenn diese ich wiederhole es: sehr unwahrscheinliche Modalitt bereits
gesichert ist, kann der kommunikative Gebrauch der Wahrnehmung auch nicht-
arbitrre Zeichen benutzen, wie Illustrationen oder Bilder, die den Bezugsobjek-
ten hnlich sind und einige ihrer formalen Eigenschaften wiedergeben. Es kn-
nen also auch Darstellungen benutzt werden, welche immer noch Zeichen sind,
die fr andere Objekte stehen, aber eine formale Korrelation mit ihren Referen-
ten bewahren. Es handelt sich scheinbar um natrlichere Zeichen, weil sie in ir-
gendeiner Weise den dargestellten Objekten hnlich sind. Hingegen korreliert,
Elena Esposito
119
wie zu zeigen sein wird, der Realismus der Darstellung mit einer immer schrfe-
ren Trennung zwischen kommunikativer Welt und Wahrnehmungswelt, mit
einem immer abweichenderen und unwahrscheinlicheren Gebrauch der Wahr-
nehmung.
3 . D I E WE LT D E R W R T E R U N D D I E WE LT D E R D I N G E
Jede Kommunikation auch die weniger voraussetzungsreiche erfordert, dass
unmittelbare Wahrnehmung und abweichende Wahrnehmung oder: die ein-
fache Wahrnehmung und die zu kommunikativen Zwecken verwendete Wahr-
nehmung voneinander unterschieden werden. Diese Unterscheidung kann
auch ohne jegliches reflexives Bewusstsein der Trennung zwischen Wahrneh-
mungs- und Kommunikationswelt praktiziert werden also ohne bewusste Un-
terscheidung zwischen Wrtern und Dingen. Dies war anscheinend der Fall in
der Vormoderne. Laut Michel Foucault wurde die Beobachtung der Welt bis zum
spten 16. Jahrhundert von einem Netz der hnlichkeiten und Homologien,
SympathienundOppositionengeleitet.
11
DieseBeziehungenwurdendurchsicht-
bare Zeichen dargestellt, die unsichtbare Formen offenbarten. In Formen der Ob-
jekte oder in anderen wahrnehmbaren Eigenschaften konnten solche Zeichen
vorgefunden werden es konnte sich auch um Wrter handeln, die Objekte be-
zeichneten. Eine Differenzierung zwischen Gegenstnden und Wrtern entstand
nicht, es gab noch kein Bewusstsein von der Arbitraritt von linguistischen Zei-
chen. Auch die Sprache gehrte zur Welt und fiel in ihr einheitliches Signifika-
tionssystem. Bis zum 16. Jahrhundert schloss die epistemologische Einstellung
der Magie oder der Naturforschung Sprachforschung mit ein.
Diese Haltung drckt das Fehlen einer klaren Unterscheidung von Wahr-
nehmung und Kommunikation, von Gegebenem und Dargestelltem aus die un-
ter anderem dem semantischen Apparat der Rhetorik entsprach, welche unkri-
tisch an der (zunchst mnemonischen) Aneignung von Texten orientiert war.
12
Es
konnte vermutlich nicht anders sein, solange das vorherrschende Kommu-
nikationsmodell mndlich blieb also dem Modell der Interaktion unter An-
wesenden, die denselben rumlichen und zeitlichen Kontext teilen, entsprach.
Eine interaktive Kommunikation ist voller Wahrnehmungsmomente, die not-
wendigerweise das Gesagte ergnzen zum Beispiel implizites Wissen ber
die Platzierung der Sprecher in Raum und Zeit, Intonation, mit der Haltung,
mit dem Aussehen oder mit der Person des Partners verbundene Informationen
und vieles mehr. Die mndliche Kommunikation ist nicht unabhngig von Wahr-
Die Wahrnehmung der Virtualitt
120
nehmung; sie kann ohne den Beitrag vieler kontextueller Faktoren nicht verstan-
den werden.
In einem oralen Kommunikationsmodell werden unmittelbare und kom-
munikative Wahrnehmung nicht deutlich voneinander unterschieden, und ihre
Formen entsprechen diesem Umstand. Im ganzen 16. Jahrhundert besteht mehr
oder weniger offen ein Vertrauen in die wirksame Kraft der Wrter oder umge-
kehrt in die Anwesenheit von Bedeutungstrgern in Gegebenheiten der Natur
fort, das in der Weiterfhrung magischer oder alchemistischer Praktiken neben
der partiellen Durchsetzung der experimentellen Wissenschaft beobachtet wer-
den kann.
13
Das gilt auch fr die Formen der Darstellung, die bis zur Renaissance
fr unsere Augen unrealistisch erscheinen. Dieser Irrealismus ist der mangeln-
den Unabhngigkeit einer Darstellung geschuldet, die, um bedeutsam zu erschei-
nen, den aktiven Beitrag des Beobachters und eine Integration durch diesen erfor-
derte. Man sieht dies am deutlichsten in der antiken gyptischen Malerei, welche
die unterschiedlichen Details der wiederzugebenden Objekte voneinander ge-
trennt aufzeichnet. Diese praktisch flachen Details werden unabhngig von ihrer
relativen Orientierung im Raum einzeln auf die Bildflche gemalt, indem man
z. B. einen Kopf im Profil mit einem frontalen Bild des Auges kombiniert. Das re-
sultierende Bild zeigt sich nicht als autonomer Raum, es gewinnt seine Kohrenz
nur durch die Einbeziehung des Beobachters, der die Details kombiniert und bis
zum Erhalt eines einheitlichen Bildes ergnzt.
14
Die Darstellung schuf auf diese
Weise keinen autonomen Wahrnehmungsbereich als Alternative zum unmittel-
baren, sondern bot Elemente an, die mit den externen Elementen bis zur Entste-
hung einer weiteren wahrnehmbaren Form innerhalb der einzigen realen Welt
kombiniert werden mussten.
Was als Realismusmangel der Darstellung erscheint, ist gerade mit dieser
Nicht-Unabhngigkeit von der aktiven Rolle des Beobachters, also vom Kontext,
verbunden: eine Nicht-Unabhngigkeit, die auch jene Bilder kennzeichnet, in die
perspektivische Elemente eingefhrt werden, wie es in Griechenland nach dem
6. Jahrhundert v. Chr., in der ganzen griechisch-rmischen Zeit und auch in eini-
gen byzantinischen und mittelalterlichen Darstellungen der Fall ist. Es handelt
sich in jedem Fall um nicht-systematische, grundstzlich subjektive Formen ohne
ein die Darstellung fhrendes Leitprinzip;
15
laut Seneca gehrte der Grundsatz
der Perspektive zu den Dingen, mit denen man sich nicht beschftigen sollte, weil
sie nicht erkennbar sind.
16
Warum diese Unerkennbarkeit? Mir scheint, dass die Ursache in der Stel-
lung des Beobachters gesucht werden kann. Alle diese Darstellungen sehen fr
uns unrealistisch aus, weil sie keinen Ausschluss des Beobachters voraussetzen:
Elena Esposito
121
die notwendige Voraussetzung, um einen Darstellungsraum mit seiner Unab-
hngigkeit aufzubauen. Die vormodernen Formen nehmen nie einen festen Be-
obachtungsstandort an, wie es mit der Einfhrung der Zentralperspektive in der
Renaissance der Fall ist. Die unrealistische Darstellung ist aus kommunikativer
Sicht in Wirklichkeit viel natrlicher (im Sinne von weniger unwahrscheinlich),
gerade weil sie nicht vom Beobachter verlangt, seine unmittelbare, reale Wahr-
nehmungswelt von der fiktionalen Welt der Darstellung zu unterscheiden. Alles
wird in einen einzigen Kontext integriert, verbunden durch die aktive Rolle des
Beobachters, der die notwendigen kontextuellen Elemente fr die Interpre-
tation der Darstellung einfhrt. Das Universum der Darstellung bleibt so von
Untersttzung und Integration durch die unmittelbare Wahrnehmungswelt ab-
hngig, und dadurch verknpfen und ergnzen sich Wahrnehmung und ihre
Darstellung gegenseitig.
4 . D E R A U S S C H L U S S D E S B E O B A C H T E R S I N D E R R E A L I S T I S C H E N F I K T I O N
Die Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance kann als Symbol ei-
ner neuen Beziehung zwischen Kommunikations- und Wahrnehmungsraum ge-
sehen werden, welche die Formen der Darstellung, aber auch die Formen der
sprachlichen Kommunikation betrifft. Im 14. und 15. Jahrhundert tendiert die
Malerei zunehmend zur Kontrolle der Genese von dreidimensionalen Rumen.
Es handelt sich jedoch immer noch um heterogene Rume, die nicht auf der An-
nahme einer einzelnen Perspektive beruhen. Das Ergebnis z. B. in Cimabues
Fresken ist keine realistische Darstellung, sondern eine Art Externalisierung der
Vorstellungen des Beobachters.
17
Mit der Theoretisierung der knstlichen Per-
spektive durch Alberti gegen Mitte des 15. Jahrhunderts findet dagegen eine schar-
fe Trennung zwischen dem unmittelbaren Wahrnehmungsraum und der Rum-
lichkeit der malerischen Darstellung statt,
18
die mit der Tradition bricht und ein
Moment von Konventionalitt sowie ein Bewusstsein von Kommunikation ein-
fhrt, die nicht selbstverstndlich waren. Filarete behauptet noch dreiig Jahre
spter, dass die Perspektive trgerisch sei, weil sie Dinge zeige, die nicht existier-
ten: keine wahren Dinge, sondern blo Zeugnisse der Autorintention.
19
Gerade
deshalb wird die Darstellung endlich realistisch (also uerst knstlich): weil sie
wirklichkeitsgetreu eine Welt zeigt, die von der realen externen Welt vllig abge-
trennt ist. Diese Darstellungswelt hat nunmehr ihre Unabhngigkeit und ein Sys-
tem von Koordinaten, das ganz auf internen Kriterien beruht, ohne jeglicher kon-
textueller Untersttzung zu bedrfen. Die Darstellung wird dadurch vllig
Die Wahrnehmung der Virtualitt
122
realistisch unter der Bedingung, dass man akzeptieren kann, dass sie blo die
kommunikative Welt darstellt, in einer Art von Wahrnehmung, die sich von der
unmittelbaren unterscheidet.
Dieselbe Unabhngigkeit der Kommunikation kann, ausgehend von Don
Quijote bis zum modernen Roman (novel) in England im 18. Jahrhundert,
20
auch
in den Formen der Narrativitt festgestellt werden. Whrend die romance vllig
phantastisch (scheinbar unrealistisch) war und auf die Einbeziehung des Beob-
achters abzielte, ist die novel ernsthaft und realistisch gerade weil sie verlangt,
dass der Leser eine kritische Distanz zu den erzhlten Ereignissen annimmt (also
dass er ber das Wissen verfgt, dass sie nicht real sind). Man sieht dies in den
paradoxalen Einleitungen, wie etwa Defoes Einleitung zu Moll Flanders: die
Fiktion ist berechtigt, weil der Autor an das Bewusstsein eines Lesers appelliert,
der die reale Wirklichkeit vom Universum der Fiktion unterscheiden kann und
gerade deswegen dem Roman eine Lehre entnehmen und sie fr die Bereicherung
seiner Erfahrung zu nutzen vermag. Die novel kann realistisch sein, weil sie mit
dem Wissen der Leser um die Fiktionalitt rechnet, also von einem ausschlielich
kommunikativen Phnomen ausgeht.
Sowohl in der Darstellungsfiktion als auch in der Romanfiktion beruht die
Trennung zwischen Wahrnehmungs- und Kommunikationswelt auf der Hypos-
tasierung eines einzigenGesichtspunktes: der Zentralperspektive oder des allwis-
senden undindiskreten Erzhlerstandpunktes. Dieser formale Zug unterschei-
det diese neuenFormenvonfrherenFiktionen; er erfordert die Fhigkeit, die in
der Kommunikation generierte Welt von der an sich existierenden Welt zu tren-
nen. DiesedargestellteWelt kommt mit der Mitteilungder Kommunikationdurch
jemandenzustande, demdie Struktur unddie Notwendigkeit der Darstellung zu-
geschrieben werden.
21
Die Darstellung gewinnt daher Freiheit und Unabhngig-
keit, die es ermglichen, eine realistische, auf eigenen Kriterien beruhende auto-
nome Welt zu konstruieren: weil es klar ist, dass diese Welt auerhalb der Kpfe
derjenigen, die kommunizieren, nicht existiert wer diese Welt beobachtet, beob-
achtet nicht die Wirklichkeit sondern nur die Beobachtung der Beobachter.
Diese distanzierte Haltung und die Autonomie vom Kontext entsprechen
nicht mehr dem Modell der mndlichen Kommunikation, innerhalb derer der
Teilnehmer weder die Zeit noch die Notwendigkeit oder die ntige Abstraktions-
fhigkeit besitzt, seine Perspektive von der Perspektive der Kommunikation zu
unterscheiden. Dagegen entsprechen sie den Formen der schriftlichen Kommu-
nikation, in welcher der Kontext des Mitteilenden in Raum und Zeit vom Kontext
der Leser getrennt ist und die Kommunikationspartner einander meistens vllig
unbekannt und freinander intransparent sind. Also keine Teilung des Kontextes
Elena Esposito
123
und notwendigerweise Isolierung aller Wahrnehmungselemente, die den Teil-
nehmern nicht gemeinsam sind und nicht dazu beitragen knnen, den Sinn der
Kommunikation zu bestimmen. Mit dem bergang zur Moderne findet auch die
Transition vom Primat eines mndlichen Kommunikationsmodells (dem der
rhetorischen Tradition) zu einem Modell der Fernkommunikation statt (das aus-
gehend vom Buchdruck zur Ausdifferenzierung eines autonomen Systems der
Massenmedien fhren wird)
22
ein bergang, dem eine erstmalige scharfe und
bewusste Trennung von Wahrnehmung und Kommunikation, von Beobachtung
erster und Beobachtung zweiter Ordnung entspricht.
23
Nur wer diese Bereiche
unterscheiden kann, vermag ohne Zweideutigkeiten den einzigen von der mo-
dernen Fiktion geforderten Standpunkt einzunehmen, welcher in der Tat dem
Ausschluss des Beobachters aus der beobachteten Welt entspricht. Die abwei-
chende Wahrnehmung, aus der die Kommunikation entsteht, generiert nun-
mehr ihre Welten und Referenzen mit solcher Freiheit, dass sich die Fiktion sogar
auf die Formen der unmittelbaren Beziehung zu dem Realen auswirken kann (ein
seit Madame Bovary nie aufgegebenes Thema). Aber der Einfluss der Fiktion auf
die Realitt ist nicht mehr derjenige eines gegenseitigen Abtauschs zwischen
Abschnitten derselben Welt.
5 . I N T E R A K T I V I T T U N D D I E WA H R N E H MU N G D E R K O MMU N I K AT I O N
Die oben geschilderte Haltung bleibt fr die gesamte Entwicklung der Massen-
medien bis hin zum Fernsehen erhalten. Mit beweglichen Bildern und Tonsyn-
chronisation wird anscheinend eine immer realistischere Darstellung produziert,
die aber mit extremem Raffinement die Formen und Eigenschaften der vom
Buchdruck eingefhrten Fernkommunikation beibehlt. Auch im Fernsehen
bleibt die Zentralperspektive, also die Voraussetzung eines festen privilegierten
Standpunktes, das, wovon der Anschein von Realitt der Darstellung abhngt.
Die Darstellung sieht nur fr denjenigen realistisch aus, der diesen Gesichtspunkt
annimmt, auerhalb dessen die Bilder (ohne stereoskopische Sicht und ohne Jus-
tierungen) verzerrt und unplausibel erscheinen. Das passiert aber dem Zuschauer
nicht, da fr ihn die Annahme der Zentralperspektive derart selbstverstndlich
ist, dass er notwendige Korrekturen selbst vornimmt und so den Eindruck einer
wirklichkeitsgetreuen Darstellung der Welt
24
und deren Unabhngigkeit vom Be-
obachter bewahrt. Konventionalitt und Knstlichkeit von Zuschreibungen eines
Wahrnehmungssegments zu kommunikativen Zwecken sind derart abstrakt und
verbreitet geworden, dass sie unbemerkt geschehen: Der Manipulationsverdacht
Die Wahrnehmung der Virtualitt
124
trifft die vermuteten Absichten der Mitteilenden und nicht die uerst unwahr-
scheinliche Kolonisierung der Wahrnehmung durch eine immer raffiniertere
und unabhngigere Kommunikation.
Die Knstlichkeit der ganzen Konstruktion hngt von einem grundstzli-
chen Erfordernis der Fernkommunikation ab, das zugleich ihre Autonomie seit
der Verbreitung des Buchdrucks begrndet: ihrer Einseitigkeit, d. h. dem Fehlen
eines Kreislaufs von Austausch, Korrekturen, gegenseitigen Anpassungen zwi-
schen Mitteilendem und Empfnger (wie er in der Interaktion unter Anwesenden
blich ist). Dieser Mangel ist eine unvermeidliche Folge des Ausschlusses von
Wahrnehmungskomponenten aus der Kommunikation. Solange die (mndliche)
Kommunikation zweigleisig auf der Ebene sprachlicher Mitteilungen und der sie
begleitenden Wahrnehmungsergnzungen weiterluft, impliziert das auch einen
dauernden Feedback-Fluss zwischen der Perspektive des Adressaten und der des
Mitteilenden der seine Kommunikation aufgrund der aus dem Verhalten seiner
Partner gewonnenen (expliziten oder impliziten) Informationen erstellt, korri-
giert, umgestaltet. In der Fernkommunikation dagegen sind die Partner stumm
und undurchsichtig so undurchdringlich, wie der Mitteilende fr Zweifel oder
Fragen der Leser ist. Nur dadurch gewinnt die Kommunikation jene Autonomie,
die ihr erlaubt, ihre eigentmlichen Formen von Realismus zu entwickeln. Zu-
gleich hngt sie aber vom Ausschluss des Beobachters ab, der durch die Hyposta-
sierung eines privilegierten Gesichtspunktes ausgedrckt wird. Das Privileg einer
besonderen Perspektive und der Ausschluss des Beobachters sind blo zwei un-
terschiedliche Aspekte derselben kommunikativen Lage.
Ist es mglich, das Abstraktionsniveau der Fernkommunikation (auf dem
unter anderem die moderne wissenschaftliche Forschung und die Semantik aller
Funktionsbereiche beruhen) zu erhalten, aber dabei darauf zu verzichten, eine
privilegierte Beobachtungsperspektive zu postulieren? Ist es mglich, die Orien-
tierung an Kontingenz (welche direkt mit der Unabhngigkeit der Kommunika-
tion verbunden ist: die reale Welt zeigt blo faktische Notwendigkeiten) und die
Fhigkeit zur Modalisierung zu bewahren aber dabei den Einfluss des Beobach-
ters auf die beobachteten Daten (also die Relevanz des Kontextes) zuzulassen?
Und welche Auswirkungen htte diese vernderte Haltung auf die Beziehung von
Kommunikation und Wahrnehmung (die immer unvermeidlich kontextuell ist)?
Heute bietet die Evolution der Kommunikationstechnologien die techni-
schen Voraussetzungen, um diese Art Fragen sinnvoll erscheinen zu lassen. Die
Telematik erlaubt es, interaktive Kommunikation zu realisieren d. h. eine Form
von Fernkommunikation, die vom Adressaten personalisiert werden kann. Der
Benutzer von Internet oder anderen computervermittelten Kommunikationsfor-
Elena Esposito
125
men kann heit es , die Kommunikation nach seinen Bedrfnissen und seinen
Interessen gestalten, kann ber Tempo, Sequenz, Schnitt entscheiden und weite-
re Informationen oder Ergnzungen verlangen. Er kann in einigen Fllen auf den
Lauf der Ereignisse Einfluss nehmen, indem er Personen Ratschlge gibt oder sei-
ne Optionen fr die weitere Ereignisfolge uert. Man spricht allgemein von im-
mersiver Einbeziehung der Benutzer,
25
die ihren Hhepunkt in den Projekten
der virtuellen Realitt erreicht.
Der besondere Einwicklungseinfluss auf den Benutzer der laut man-
cher Prognosen dazu fhren soll, die Unterscheidung zwischen realer und fiktio-
naler Realitt durcheinander zu bringen hngt meines Erachtens vor allem von
einem kommunikativen Aspekt ab, und zwar von der Verdrehung der inzwischen
klassischen Unterscheidung von Kommunikation und Wahrnehmung. Auf das,
was real wahrnehmbar ist, kann man zurckkommen: man kann es anfassen,
handhaben, verndern usw. Die kommunikativen Darstellungen (wie die Bilder
im Kino oder im Fernsehen) knnen dagegen gerade infolge des Ausschlusses
des Beobachters keineswegs verndert werden: Die fiktionale Welt steht fest,
ist fr alle gleich und der Interaktion mit dem Zuschauer vllig unzugng-
lich. Jetzt stellen uns die neuen Technologien eine fiktionale Welt zur Verfgung,
welche die Bedingungen der Fiktion nicht respektiert: Sie kann wie die reale, der
unmittelbaren Wahrnehmung zugngliche Welt manipuliert und bestimmt wer-
den (oder sogar mehr als diese) und erhlt eine Gestalt, die gerade vom Beitrag
(statt der Ablehnung) des Zuschauer-Benutzers abhngt. Die so genannte vir-
tuelle Realitt existiert nur in der Interaktion mit demBeobachter und durch sie,
hat keine autonome Existenz (wie die Einzelbilder eines Films oder die Tafel einer
Malerei).
Nicht zufllig bezieht sich das Wort virtuell, das aus der Optik stammt, auf
in einem Spiegel reflektierte Bilder (anders als die realen Bilder, die im Kino pro-
jiziert werden). Diese Bilder sind offensichtlich nicht real (sie entsprechen kei-
nem wirklichen Objekt), aber sie sind auch keine erfundenen Gegenstnde wie
diejenigen der Fiktion (die irgendeiner Absicht zugeschrieben werden). Das Spie-
gelbild entsteht nur in Anwesenheit eines Objekts, von dem es die Reflexion ist,
d. h. in der Interaktion mit dem Objekt also in Abhngigkeit von kontextuellen
Faktoren. Deshalb ist es weder real noch im eigentlichen Sinne fiktional; es ist
eben virtuell. Dasselbe passiert mit der elektronisch produzierten virtuellen
Wirklichkeit: Die Welt, mit der es der Benutzer zu tun hat, ist nicht eigentlich fik-
tional weil sie der Interaktion bedarf und nicht ganz auf die kommunikative Ab-
sicht desjenigen zurckgefhrt werden kann, der die Maschine geplant hat. We-
gen des interaktiven (kontextuellen) Moments kann die dadurch generierte
Die Wahrnehmung der Virtualitt
126
virtuelle Welt vom Entwerfer nicht vorausgesehen (und noch weniger bestimmt)
werden. Es handelt sich jedoch auch sicher nicht um eine reale Welt obwohl die
Objekte eigentmliche Analogien zu den unmittelbar wahrnehmbaren Objekten
zeigen. Sie sind keine Zeichen, die auf eine andere Realitt verweisen (wie die
kommunikativen Zeichen und wie alle Objekte, die eine abweichende Wahrneh-
mung erfordern). Sie sind unmittelbar das, was sie sind, und mssen auch so di-
rekt wahrgenommen werden: es sind nicht falsche (simulierte) reale Objekte,
sondern wahre virtuelle Gegenstnde. Aber gleichwohl Objekte, die nicht exis-
tieren. Es kann dann nicht berraschen, wenn dieser neue Bereich von Wahr-
nehmungserfahrung paradoxerweise als real und virtuell zugleich bezeichnet
wird. Gerade diese Ambiguitt entspricht dem mehrdeutigen ontologischen Sta-
tus eines Bereichs von fiktionalen Objekten, die direkt wahrgenommen werden
mssen und dadurch die Trennung zwischen direkter Wahrnehmung des Re-
alen und abweichender Wahrnehmung der Fiktion umstoen, die der uns bis
heute vertrauten Kommunikationsform zugrunde liegt.
Die Virtualitt verwirft
26
die Unterscheidung Realitt/Fiktion und mit ihr
die Konventionalitt der Fernkommunikation selbst. Scheinbar bringt sie also
eine tendenzielle Rckkehr zur berlappung von privater und kommunikativer
Wahrnehmung wie sie in der Magie der vormodernen Welt auftritt und wie
man sie mit der Entzauberung der Neuzeit fr endgltig berwunden hielt. Tat-
schlich weisen viele Formen des Cyberspace Eigenschaften der alten konkreten
Kultur auf, welche auf der Voraussetzung einer transzendenten Ordnung gegrn-
det war einer Ordnung, die ber Korrespondenzen und Homologien zwischen
den unterschiedlichen Aspekten der sichtbaren und unsichtbaren Welt regierte.
Auch die telematische Kultur entdeckt den Wert des Kontextes wieder, der als
Ressource aufgewertet und nicht als Strfaktor neutralisiert werden muss. Das
war der Fehler, der zum Scheitern der Projekte ber knstliche Intelligenz in den
1980er Jahren gefhrt hat: Sie zielten darauf ab, in der Maschine genug Informa-
tion zu sammeln, um sich mit allen mglichen Umstnden auseinander setzen zu
knnen. Heute neigt man hingegen dazu, den Wert des in der Welt Seins
27
und
die Wirksamkeit des punktuellen Augenblicks wiederzuentdecken in einer Ein-
stellung, die eher an den alten Begriff von Kairos als an die abstrakte Neutralitt
der modernen Chronologie erinnert.
28
Der Cyberspace ist wie die antike Welt
vom Bewusstsein einer unabhngigen Ordnung erfllt, die seine Gestaltung lei-
tet und die unterschiedliche Handlungen und Interventionen in den verschiede-
nen Teilen des Netzwerks koordiniert, welche alle zur allgemeinen Einstellung
und zum Informationsvorrat des Web beitragen. Es handelt sich offensichtlich
um eine Ordnung, die nichts Transzendentes mehr hat, aber gleichwohl dazu
Elena Esposito
127
zwingt, den Anspruch auf Neutralitt und die Illusion von Beobachterunabhn-
gigkeit aufzugeben.
Diese Entwicklung kann jedoch sicher nicht zur Rckkehr zu den konkreten
Formen der Kommunikation und der Semantik der vormodernen Welt fhren
wie sie die Verweise auf das globale Dorf und das Nachholen einer Dimension
von Gemeinschaft und Transparenz der Kommunikation zu empfehlen schei-
nen.
29
Rejection in Gnthers Sinne ist und kann nicht die Vernichtung einer
Unterscheidung sein, um auf die frheren Formen zurckzugreifen, sondern nur
deren berwindung mit Hilfe einer komplexeren und leistungsfhigeren Unter-
scheidung, die die verworfene Unterscheidung als interne Gliederung ein-
schliet. Es findet eine Abstraktionszunahme statt, und kein Verzicht auf Abs-
traktion.
30
Dies ist auch in den eigentmlichen Modalitten des Nachholens von Kon-
text und in der Wahrnehmungskomponente der telematischen Kommunikation
zu beobachten. Trotz der Analogien mit konkreten Formen der oralen Kulturen
handelt es sich eigentlich um eine grundstzlich andere Lage, welche die ganze
Abstraktion und Komplexitt der Fernkommunikation aufbewahrt. Die Vorstel-
lung einer Rckkehr zu transparenteren und sogar steuerbaren Kommunikations-
formen wird vom Aspekt der Interaktivitt suggeriert, also von Synchronizitt,
auf der die berlagerung von direkter und kommunikativer Wahrnehmung be-
ruht. Die Kommunikation wird als ein weiteres Objekt in der Welt des Adressa-
ten gesehen, das wie andere Objekte seines Wahrnehmungsfeldes gehandhabt
und verndert werden kann. Tatschlich vernichtet jedoch diese neue Modalitt
der Kommunikation die Unterscheidung von Kommunikation in Anwesenheit
und Kommunikation in Abwesenheit auf keinen Fall, sondern fgt eine neue Ar-
tikulation in sie ein, die mit der Rolle der Maschine in der Gestaltung von Kom-
munikation zusammenhngt. Mitteilender und Adressat bleiben getrennt und
freinander unzugnglich wie in allen Formen der Fernkommunikation. Die
mit Sicherheit existente Interaktivitt betrifft die Interaktion zwischen den Part-
nern nicht, sondern blo die neue Beziehung, die jeder Benutzer mit der Maschi-
ne eingeht. Man interagiert mit dem Computer, nicht mit dem Kommunikations-
partner. Es entsteht eine neue Form von Prsenz (der Maschine) innerhalb einer
Kommunikation, die in Abwesenheit stattfindet.
Diese Tatsache macht den Unterschied zwischen mndlicher Kommunika-
tion und telematischer Interaktivitt aus, er begrndet die Komplexitt der Letzte-
ren. Der Computer wirkt in die Kommunikation ein, aber weder kommuniziert
er, noch produziert er Bedeutungen. Es hat auch keinen Sinn, ihm Absichten zu-
zuschreiben. Es handelt sich vielmehr um eine uerst raffinierte Form der pri-
Die Wahrnehmung der Virtualitt
128
vaten Verarbeitung der eigenen Perspektive durch den Benutzer um eine tech-
nologische Untersttzung, die (wie der private Gebrauch der Schrift) ihm die
Mglichkeit bietet, die eigene Beobachtung in einer frher unmglichen Form zu
beobachten. Die Schrift hat einen neuen privaten Gebrauch der Zeit und eine Ob-
jektivierung der Inhalte eingefhrt, die u. a. das Bewusstsein der individuellen
Perspektive hervorbrachte, das die Moderne kennzeichnet.
31
Die Verarbeitung
der Inhalte bedient sich mit dem Computer technologischer Verfahren, die nicht
kontrolliert werden knnen. Man knnte vermuten, dass dies aufgrund des
selbstreferenziellen Bewusstseins zu einer neuen Relativierung der individuellen
Perspektive fhren kann: Der Beobachter beobachtet nicht nur, dass es mehrere
Perspektiven der Welt gegenber geben kann und dass seine Perspektive beson-
ders und einmalig ist, sondern auch, dass diese Perspektiven ihrerseits Objekte
sind, die verarbeitet werden knnen sogar von einer Maschine. Die Beobach-
tungsperspektive (seine wie die der anderen) ist selbst eine Gegebenheit der Welt,
mit seiner besonderen Empirizitt, die nicht ausschlielich von der Innerlichkeit
des Individuums abhngig ist. Auf Grundlage dieser Empirie operiert der Com-
puter ohne Innerlichkeit und ohne jeglichen Bezug auf Innerlichkeit.
Etwas konkreter knnte die telematische Kommunikation ein Beispiel lie-
fern. Auch der Internetbenutzer muss in der Lage sein, Kommunikation einem
Partner zuzuschreiben, wenn diese Zuschreibung fr den Sinn der Kommunika-
tion relevant ist wie bei der E-Mail, in der Suche nach Informationen oder in
Diskussionsgruppen. Nicht immer ist das Benutzerinteresse auf die Kommunika-
tion mit dem Partner gerichtet: Der Beitrag eines Teilnehmers kann blo als Ge-
nese einer Unterscheidung benutzt werden, aus der weitere Unterscheidungen
whrend des im Grunde privaten Gebrauchs der Kommunikation folgen. In ech-
ten Formen der Interaktivitt, wo der Benutzer-Zuschauer selbst entscheidet, wie
die Ereignisse weiterlaufen oder wie eine Sendung gestaltet werden muss, ist es
nebenschlich, eine fremde Beobachtung zu beobachten (weil der Sinn der resul-
tierenden Kommunikation nicht der Perspektive des Partners zugeschrieben wer-
den kann), es geht darum, Unterscheidungen zu verarbeiten. Deshalb interessiert
auch nicht, ob die Ereignisse wahr oder falsch sind; dass man im Bereich des
Virtuellen operiert, ist unwesentlich.
Die hermeneutische Obsession der Modernitt untersttzt von einem zu-
gespitzten kritischen Sinn und schlielich von einer berbewertung der Indivi-
dualitt sah diese Art von Verarbeitung der Kommunikation nicht vor: auch
dem privaten Verarbeiten von Kommunikation (nach dem Modell des offenen
Werks)
32
musste eine Grenze in der Mglichkeit gesetzt werden, zwischen legi-
timen und falschen Interpretationen zu unterscheiden.
33
Aber die Verarbeitung
Elena Esposito
129
der Inhalte durch den Computer (eine Maschine, die Bedeutungen nicht kennt
und sich nicht an Bedeutungen orientieren kann) hat nichts Hermeneutisches
und kann mit dem Modell der Interpretation nicht erfasst werden. Es handelt sich
vielmehr um eine private Verarbeitung wie diejenige der Wahrnehmung mit
dem Unterschied, dass diese neue Wahrnehmung der Kommunikation alle Un-
terscheidungen in sich voraussetzt, die Wrter von Dingen, Bilder von Objekten
trennen. Eine Art direkter Wahrnehmung der Unterscheidung von direkter und
abweichender Wahrnehmung entsteht.
Offen bleibt folgende Frage: Kann man immer noch von Kommunikation
oder zumindest von Kommunikation im fr uns gelufigen Sinne reden? Die
Kommunikation wie distanziert und anonym auch immer musste jemandem
zugeschrieben werden. Auf dieser Zuschreibung beruhte der Eindruck, sich
gegenseitig zu verstehen sowie die Sinneinheit des Textes, von der die Mg-
lichkeit der Weiterfhrung von Kommunikation abzuhngen schien. Die com-
putervermittelte Kommunikation kann nicht mehr eigentlich jemandem zu-
geschrieben werden, sie hat keinen endgltigen Sinn. Ihre Selektion hngt zum
grten Teil von den inneren Kriterien der Softwareprogramme ab deshalb ist
sie aber nicht zufllig. Die abstrakte Form der telematischen Interaktivitt scheint
jetzt komplexere Deutungskategorien zu verlangen und sicher sind Formeln
wie elektronische agor oder Dialog aller mit allen nicht ausreichend.
1 Die Bezugstexte sind natrlich Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typogra-
phic Man, Toronto 1962, und Understanding Media, New York 1964 aber z. B. auch Joshua Meyro-
witz: No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behavior, New York 1985, oder
Derrick de Kerkkhove: Brainframes. Technology, Mind and Business, Utrecht 1991.
2 Siehe etwa Toms Maldonado: Reale e virtuale, Milano 1992 ; Jean Luis Weissberg : Le compact
rel/ virtuel, in: Les chemins du virtuel. Simulation informatique et cration industrielle, Cahiers du
CCI, ditions du Centre Pompidou, Paris 1989, S. 727; ders.: Un nouveau rgime de visibilit, in :
Les chemins du virtuel. Simulation informatique et cration industrielle, Cahiers du CCI, Paris 1989,
S. 9698; Elena Esposito: Illusion und Virtualitt. Kommunikative Vernderung der Fiktion, in: W.
Rammert (Hg.): Soziologie und knstliche Intelligenz, Frankfurt/M. 1995, S. 187216; dies.: Der
Spiegel der Massenmedien und die generalisierte Kommunikation, in: Christoph Hubig (Hg.): Cog-
nitio humana Dynamik des Wissens und der Werte, Akten des XVII. Deutschen Kongresses fr
Philosophie, Berlin 1998, S. 323338.
3 Dieser Punkt ist in Elena Esposito: Interaktion, Interaktivitt und die Personalisierung der Massen-
medien, in: Soziale Systeme, I, 2 (1996), S. 225260 ausfhrlicher behandelt worden.
4 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984,
S. 560 ff.
5 Vgl. z. B. Bruners Forschung, etwa Jerome Bruner: Childs Talk. Learning to use language, London
1983.
6 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, 1/3, 1/4; Elena Esposito: Code
und Form, in: J. Fohrmann/H. Mller (Hg.): Systemtheorie der Literatur, Mnchen 1996, S. 5681.
7 Luhmanns Kommunikationsbegriff: vgl. etwa Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 4), S. 191 ff.
8 Peirces klassische Definition des Zeichens: vgl. Charles Sanders Peirce: Collected Papers, Cam-
bridge, MA 19311935, S. 228.
Die Wahrnehmung der Virtualitt
130
9 Vgl. Ferdinand de Saussure : Cours de linguistique gnrale, Paris 1972; Emile Benveniste: Nature
du signe linguistique, in: ders.: Problmes de linguistique gnrale, Paris 1966, S. 4955; Umberto
Eco: Trattato di semiotica generale, Milano 1975, S. 246 f.
10 Vgl. etwa Niklas Luhmann: The Autopoiesis of Social Systems, in: Felix Geyer: Johannes van der
Zouwen (Hg.): Sociocybernetic Paradoxes: Observation, Control and Evolution of Self-Steering Sys-
tems, London 1986, S. 172192.
11 Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris 1966, Kap.II. Die von Foucault diskutierten Zge
sind innerhalb der esoterischen Tradition erhalten worden, welche bekanntlich gerade die uer-
lichkeit der Darstellung im Namen einer verborgenen Weisheit verwirft, welche mit tieferen und
motivierteren Signifikationsformen verbunden ist. Vgl. Antoine Faivre: Lsotrisme, Paris 1991;
Jean-Paul Corsetti: Histoire de lsotrisme et des sciences occultes, Larousse 1992.
12 Vgl. z. B. Mary J. Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambrid-
ge 1990.
13 Ein viel untersuchtes Thema: siehe u. a. Paolo Rossi: Francesco Bacone e leredit della magia, in:
Cesare Vasoli (Hg.): Magia e scienza nella civilt umanistica, Bologna 1976, S. 269287; Wayne Shu-
maker: La magia naturale come forma premoderna della scienza, in: Cesare Vasoli (Hg.): Magia
e scienza nella civilt umanistica, S. 109210; Frances A. Yates: Magia e scienza nel Rinascimento,
in: Cesare Vasoli (Hg.): Magia e scienza nella civilt umanistica, S. 215237; ders.: The Occult Philo-
sophy in the Elizabethian Age, London 1979.
14 Vgl. M. H. Pirenne: Optics, Painting and Photography, Cambridge 1970.
15 Mit der Entdeckung der Perspektive findet eine (mit Panofskys bekanntem Ausdruck) Objektivie-
rung der Subjektivitt statt: vgl. Erwin Panofsky: Die Perspektive als symbolische Form, Vortr-
ge der Bibliothek Warburg 1924 1925, Leipzig/Berlin 1927.
16 Zitiert in E. R. Dodds: The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951.
17 Vgl. Jean-Philippe Antoine: Memory, Places, and Spatial Invention, in: ANY Magazine, N.15 (1996),
Memory. Inc, S. 1821.
18 Vgl. u. a. Francesca Salvemini: La visione e il suo doppio. La prospettiva tra arte e scienza,
Roma/Bari 1990; Robert Klein: La forme et lintelligible, Paris 1970, Kap. X; Hubert Damisch:
Lorigine de la perspective, Paris 1987 (it. bers.: Lorigine della prospettiva, Napoli 1992).
19 Antonio Averlino, Filarete genannt: Trattato di architettura, 1464 zitiert in: Damisch: Lorigine de la
perspective (Anm. 18), S. 160 der italienischen Ausgabe. Auch Gombrich behauptet, dass die artifi-
zielle Perspektive nicht vor der Renaissance eingefhrt werden konnte, eben weil sie die Annahme
eines fixen Gesichtspunktes erfordert (in: E. H. Gombrich: Art and Illusion, Princeton, NJ 1960).
20 Vgl. Ian Watt: The Rise of the Novel, 1957; Gianni Celati: Finzioni occidentali [1975], Torino 1986.
21 Laut Umberto Eco: I limiti dellinterpretazione, Milano 1990, Kap. 3.5, ist es der konstante Bezug auf
die Perspektive des Erzhlers, der die intensiv diskutierte narrative Notwendigkeit errichtet,
welche schlielich mit der Projektion einer mglichen Welt verbunden ist.
22 Im Sinne von Niklas Luhmann: Die Realitt der Massenmedien, Opladen 1995. Vgl. auch Elena Es-
posito: Der Spiegel der Massenmedien und die generalisierte Kommunikation (Anm. 2). Die Entde-
ckung der Druckmaschine wird in dieser Perspektive nicht als Ursache des bergangs von ei-
nem mndlichen Kommunikationsmodell zu einem Modell der schriftlichen Kommunikation
angesehen, sondern blo als eines der Elemente, die zu dieser Vernderung beitragen. Auf dieser
Linie argumentiert auch Mary J. Carruthers: The Book of Memory (Anm. 12).
23 Die Unterscheidung zwischen Beobachtung erster und Beobachtung zweiter Ordnung existiert na-
trlich, seitdem Kommunikation existiert; das neue, mit der Moderne ins Spiel kommende Element
ist nur das reflexive Bewusstsein der Unterscheidung. Dasselbe gilt fr die Unterscheidung zwi-
schen direkter Wahrnehmung und zu kommunikativen Zwecken benutzter Wahrnehmung, oder
zwischen Wrtern und Dingen.
24 Vgl. M. H. Pirenne: Optics, Painting and Photography (Anm. 14), S. 96 ff.
25 Vgl. Kevin Kelly und Gary Wolf: Push Media, in: Wired, 5.03 (1997), S. 1223. Ihrer Behauptung nach
ist heute eine Wende in den kommunikativen Modalitten mit dem bergang von archivistischen
Medien zu immersiven Medien im Gange. Die Folge sollte eine neue Pervasivitt und Verbreitung
der Medien in der bisher fr nicht-kommunikativ gehaltenen Umwelt, d. h. dem unmittelbaren
Wahrnehmungskontext, sein.
26 Im Sinne von Gotthard Gnthers rejection: vgl. z. B. Gotthard Gnther: Beitrge zur Grundlegung
einer operationsfhigen Dialektik, Bd. 2, Hamburg 1979, S. 321 ff.
27 Mit oft ungenauen Verweisen auf heideggersche oder phnomenologische Kategorien.
Elena Esposito
131
28 Zum Begriff des wirksamen Zeitpunktes vgl. Monique Trd: KAIROS. La-propos et loccasion. Le
mot et la notion dHomre la fin du IVe sicle avant J.-C., o. O. (Klincksieck) 1992 ; zu dem New-
tonschen Begriff von Zeit vgl. etwa Donald T. Wilcox: The Measure of Times Past. Pre-newtonian
Chronologies and The Rhetoric of Relative Time, Chicago/London 1987.
29 McLuhan ist sogar der erklrte patron saint einer informierten und intelligenten Zeitschrift wie
Wired.
30 Was sich mit Gnthers Worten als bergang zu einer hheren Zahl von logischen Werten berset-
zen lsst.
31 Vgl. Niklas Luhmann/Raffaele De Giorni: Teoria della societ, Milano 1992, 2.4; Niklas Luhmann:
Individuum, Individualitt, Individualismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien
zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/M.1989, S. 149258; ders.: Die
Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997.
32 Vgl. Umberto Eco: Opera aperta, Milano 1962.
33 Ecos sptere Arbeit handelt in der Tat gerade von den Grenzen der Interpretation, siehe Umberto
Eco: I limiti dellinterpretazione (Anm. 21). Diese Fragen sind ausfhrlicher in Elena Esposito: Ob-
serving Interpretation: a Sociological View on Hermeneutics, MLN, vol. 111, n. 3 (1996), S. 593619
behandelt worden.
Die Wahrnehmung der Virtualitt
Elena Esposito
I I I . K O MMU N I K AT I O N
Die Wahrnehmung der Virtualitt
Elena Esposito
135
Georg St ani t zek
FA MA / MU S E N K E T T E . Z WE I K L A S S I S C H E P R O B L E ME
D E R L I T E R AT U R WI S S E N S C H A F T MI T D E N ME D I E N
Eigentlichist es selbstverstndlich: die Literaturwissenschaften, die Philologien
wer sonst?stellendieExpertenundExpertinnen, wennes umFragender Medien,
wennes umFragender Kommunikationgeht. Wosonst wre das einschlgige his-
torische Wisseninentsprechendkompakter Formgebndelt undversammelt? So
knntemansagen, sosolltemanvermuten. Selbstverstndlichist es geradenicht.
Tatschlich scheinen nach wie vor sowohl der Medien- als auch der Kommunika-
tionsbegriff Fremdkrper imArsenal des philologischen Wissens zu bilden. Tat-
schlich muss man auf Seiten der Philologien sehr ausgeprgte Ressentiments be-
obachten: Statt von poetischer Kommunikation zu handeln, wird Poesie etwa
immer noch geradewegs imGegensatz zu Kommunikation verstanden; statt lite-
rarische Formen als Formen in Medien zu betrachten, glaubt man Literatur den
Medien berhaupt entgegensetzenzuknnen. Die Medien, die Medienkultur,
so hat es Heinz Schlaffer prgnant auf den Punkt gebracht, sie sind der Feind.
1
ber solche Aussagen kann man sich rgern, man kann sie als anachronis-
tisch, ngstlich, kulturkonservativ oder was auch immer abtun. Man begegnet
ihnen auf diese Weise allerdings nicht effektiv. Gerade wenn man sich als Litera-
turwissenschaftler fr Medienund fr Kommunikationeninteressiert, sollte man
vielmehr ernsthaft der Fragenachgehen, warumdiePhilologiensichsoschwer mit
diesen Dingen tun. Warumlaufen Einstze, die auf den Medien- und Kommuni-
kationsbegriff abzielen, soleicht Gefahr, sichals Spezialforschungenabseits des ei-
gentlich Philologischen wiederzufinden? (Selbst wenn es sich um so elaborierte
Anstze handelt wie den von Friedrich Kittler oder von Aleida und Jan Assmann.)
Was motiviert die Vorbehalte und Ressentiments? Welche Selektionsschemata
steuerndie Wahrnehmung vonMedien- undKommunikationsphnomenenvor?
Ich mchte im Folgenden auf einen (in der Regel blo:) impliziten Medien-
begriff der Philologien hinweisen, von dem man sich distanzieren und den man
gerade deshalb zunchst bedenken sollte. Zu diesem Zweck werde ich zwei Denk-
modelle vorstellen, die fr unsere die philologische Operationsweise von er-
heblicher Bedeutung sind.
2
Beide Modelle sind der lteren Semantik entlehnt,
aber ohne weiteres auf aktuelle Problemkreise der Mediendiskussion zu beziehen.
Modell 1 betrifft Probleme mit der Medien-Kommunikation im Allgemeinen
(fr die paradigmatisch die Television steht). Und im Lichte von Modell 2 sollen
sodann Probleme der Binaritt, Probleme mit digital operierenden Medien und
Fama/Musenkette
136
insbesondere: mit zweiwertig codierten Kommunikationsmedien diskutiert wer-
den. Es wird darum gehen, mit Ovid/Plato Fernsehen ein- und auszuschalten.
MO D E L L 1 : F E R N S E H E N , FA MA
Wenn ich mit dem Fernsehen als Modell 1 beginne, so aus einem einfachen
Grund. Weil nmlich was immer man fr den tatschlichen Stand der Medien-
evolution halten mag , der kulturkritische literaturwissenschaftliche Diskurs
sich nach wie vor um das Fernsehen zentriert. (Wohlgemerkt: Ich handle von die-
sem Diskurs, und solche Diskurse bilden nicht einfach und sei es: mangelhaft
und unvollstndig Realitt ab; sie bilden vielmehr ihre eigene Realitt aus.)
3
Seien wir aber genauer denn eigentlich sehen wir in diesem Diskurs gar nicht
fern (es fehlt uns der Anschluss, wir mssen uns behelfen) , was wir stattdessen
sehen, das ist der Bildschirm. Er ist es nmlich, auf den sich der Diskurs ber
und gegen die Medien richtet, um den er sich dreht. Beobachten lassen sich
verschiedene Schichten von Reprsentation: Die Medien sieht man in den au-
diovisuellen Medien reprsentiert, besonders in der Television, und das Fernse-
hen im Bildschirm. Dieses Schirm-Bild fungiert als Zentralmetapher; es symbo-
lisiert die Medien, und im Bezug auf dieses Symbol organisiert sich weitgehend
der Diskurs ber sie. Was sieht man, wenn man es so sieht? Wir wissen es: das
Irrelevante, Redundante, das sich als Sensation aufspielt, das Ephemere, massen-
haft und unbersichtlich Vorberhuschende, Unzurechnungsfhige und den-
noch Aufmerksamkeit Heischende, den schlechten, den Massengeschmack usw.,
fassen wir zusammen: den Untergang der Literatur in den Bildern, den Feind.
[Trailer 1: Einmal geschah es, wie es so ist, wenn man mde wird, da ich
nach 11 Uhr allein sitzen blieb, und da kam im Fernsehen irgendeine schau-
erliche Geschichte von einem Flugzeug, das ber ein Schiff fliegt, und dann
geht beides in die Luft, und schlielich landet das Flugzeug doch noch auf
dem Schiff, irgend so etwas. Jedenfalls passierte es mir, da ich allein sa
und vor einer unlsbaren Aufgabe stand. Wie stellt man einen solchen Ap-
parat nur ab, wie bringt man das Ding zum Schweigen? Ich habe alle mg-
lichen Knpfe gedrckt es hat gar keine Wirkung getan.]
4
Was sieht man da, was sieht man damit, im literaturwissenschaftlichen, im phi-
lologischen Diskurs? Was man sieht, so meine These, ist ein antikes Mytholo-
gem. Auf den Monitor holt man sich Fama, Modell 1. Dieses Modell bezeichnet
Georg Stanitzek
137
eine Funktionsstelle, die im Lauf der Zeit unterschiedliche Besetzungen erfahren
hat. Schon ursprnglich mit dem mndlichen Diskurs assoziiert eine Assozia-
tion, die noch die neuzeitliche, und besonders die deutsche, Konversations- und
Salon-Kritik kennzeichnet , wird diese Stelle im 19. und frhen 20. Jahrhundert
dann mit der Zeitung, mit Journalismus besetzt, heute sind es die im Fernsehen
symbolisierten Medien, schon sehr bald wird es vielleicht der Hypertext im In-
ternet sein oder was auch immer. An der systematischen Funktion selbst ndert
sich aber mit diesen unterschiedlichen historischen Besetzungen nicht viel, und
sie soll uns hier interessieren. Fama also um was handelt es sich? Ovids Meta-
morphosen geben folgende Beschreibung:
Mitten im Erdkreis ist zwischen Land und Meer und des Himmels/Zonen
ein Ort, den Teilen der Dreiwelt allen benachbart./Alles, wo es geschehe,
wie weit es entfernt sei, von dort er-/spht mans; ein jeder Laut dringt
hin zum Hohl seiner Ohren./Fama bewohnt ihn; sie whlte zum Sitze
sich die oberste Stelle,/tausend Zugnge gab sie dem Haus und unzhlige
Luken,/keine der Schwellen schlo sie mit Tren; bei Nacht und bei
Tage/steht es offen, ist ganz aus klingendem Erz, und das Ganze/tnt,
gibt wieder die Stimmen und, was es hrt, wiederholt es./Nirgends ist
Ruhe darin und nirgends Schweigen im Hause./[]/Scharen erfllen die
Halle; da kommen und gehn, ein leichtes/Volk, und schwirren und
schweifen, mit Wahrem vermengt, des Gerchtes/tausend Erfindungen
und verbreiten ihr wirres Gerede [confusa verba].
5
Die erste Konserve. Ein Resonanzkrper, der sich selbststndig gemacht hat. Ich
wrde sagen: was man hier, mit dieser informationsverarbeitenden Maschine
Fama sieht, das ist die Kommunikation, das ist auch das, was einem nicht gefllt
an der Kommunikation, was einem bestimmten Typ Philologie nicht gefllt. Da
ist an erster Stelle die Vielzahl der aufeinander reagierenden Stimmen in vielen
Kanlen, die ebenso vielen Programmen folgen. Eine Kommunikation kommt
nicht allein, sie ist nur Moment in einer unberschaubaren Kette; sie ist Moment
von Kommunikationsprozessen. Da ist sodann ihre selbstbezgliche Organisa-
tion: Was man in sie eingibt, oder umgekehrt: was Fama beobachtet, wird von ihr
nach eigenen, nicht vorsteuerbaren Kriterien aufgenommen und weiterverarbei-
tet, sie operiert selbstreferenziell. (Und in der Art eines sich selbst verstrkenden
Prozesses; im Gehen gewinnt sie Krfte hinzu, sagt Vergil.)
6
Die selbstreferen-
zielle Schlieung muss jede Art von Vorstellung entmutigen, dass man dieses Ge-
bilde irgendwelchen ueren Zwecken unterordnen knnte; es handelt sich viel-
Fama/Musenkette
138
mehr um ein Gegenbild zu jeglicher hierarchischer Ordnung. Fama lsst sich in-
sofern als frhe Allegorie der Autonomie von Kommunikation lesen.
Es ist ein beunruhigendes Bild. Und es muss insbesondere Philologinnen
und Philologen beunruhigen. Denn die Operationsweise der in diesem Bild be-
schriebenen Kommunikation ist zugleich ein Gegenbild zu allen philologischen
Idealen (von Wrtlichkeit, Buchstblichkeit, Autopsie, von exakter Treue zur au-
torisierten Quelle usw.). Sie steht ja fr das Wissen vom Hrensagen, fr stille
Post, Volksetymologie, kurz: fr das Gercht. Der von Fama bewerkstelligte
kommunikative Transport ist mit typischen Dissimulationen verbunden; es han-
delt sich um ein Medium, das jede Botschaft verzerrt. Dies deshalb, weil Rezep-
tion hier immer nur um den Preis gleichzeitiger Produktion zu haben ist. Keine
Mitteilung, keine Information, kein Verstehen bleibt hiervon unbetroffen, keine
bleibt als solche erhalten, jede ist dem fortlaufend-weiterspinnenden Prozess
berantwortet. Das gilt nicht nur fr den einzelnen Mitteilungswortlaut und den
Sinn der einzelnen Information, es gilt berdies fr die Selektionskriterien, fr
Relevanzannahmen des Verstehens, die sich permanent verschieben. (Und es
scheint eher wahrscheinlich, dass sie sich zum Schlechteren hin verschieben
Fama, hat Gracin bemerkt, prmiert das sensationelle, das monstrse Ereignis.)
7
Intentionen zhlen nicht. Selbst wie etwas gemeint gewesen sein knnte, wird
unentrinnbar Gegenstand der vermutenden Erfindung. Ja, Intention als solche
wird zweideutig: Hat Herakles mit seinen Taten wirklich Zeus im Blick, oder will
er nur wie es in den Rmischen Elegien heit Fama beeindrucken, das heit
ins Fernsehen kommen?
8
Man wei es nicht, und das ist skandals.
Etwas besonders Krnkendes liegt darin, dass sich Fama mit ihrer beunru-
higend unbeeinflussbaren Autonomie nun nicht einfach ignorieren lsst, dass
man sie nicht einfach beiseite lassen kann. Es gibt Grnde dafr, dass sie nun ein-
mal auch eine Gottheit, sui generis, ist; man wird den Fernseher nicht los, indem
man ihn ausschaltet.
9
Fama ist nicht nur das irrelevante Gercht; in ihr mischen
sich vielmehr Falsches und Wahres. Und dieser letztere Aspekt ist von ihr gar
nicht zu trennen: Sie ist unverzichtbare Informationsquelle.
10
Nolens volens hat
man sich an ihr zu orientieren. Sie kann nicht nur als Medium des Monstrsen ab-
getan, sondern sie muss auch als Medium des wahren Ruhmes
11
verstanden und
bercksichtigt werden. Die Krnkung hat zwei Aspekte. Zum einen: Die eigene
Kommunikation, das eigene Interesse, sie erscheinen im Kontext von Fama im-
mer schon relativiert, sie erscheinen unendlich verkleinert.
12
Zum anderen: Was
wir ber unsere Gesellschaft, ja ber die Welt, in der wir leben, wissen, wissen
wir durch die Massenmedien, sagt der moderne Soziologe,
13
wissen wir durch
Fama, sagt Ovid:
Georg Stanitzek
139
Tricht Vertrauen ist da, da ist voreiliger Wahn, ist/eitle Freude, da sind
die sinnverwirrenden ngste,/pltzlicher Aufruhr und Gezischel aus
fraglichem Ursprung [dubio auctore]./Aber sie selbst, sie sieht, was im
Himmel, zur See und auf Erden/alles geschieht und durchforscht in der
ganzen Weite das Weltrund [videt totumque inquirit in orbem].
14
Das heit, so unzuverlssig diese Kommunikationsprozesse auch sein mgen
man ist doch auf ihre Nachrichtengebung angewiesen. Im Aggregat wirrer und
flchtiger Gerchte ist gleichwohl das Organ des Wissens um den Stand der
Dinge, die Mglichkeit einer visio (Tele-Vision) der Tatschlichkeit gegeben. Es
bleibt nichts brig, als diese fragwrdige Instanz auf die eine oder andere Weise
zu befragen und zu fttern.
15
Doppelte Krnkung. Und nun nehme man noch
hinzu: Literatur im Fernsehen, Klassiker, basiert auf Einschaltquoten dreifache
Krnkung fr die Philologen. Man kann sie schon verstehen. (Dass sie nicht kom-
munizieren wollen, wenn das Kommunikation ist. Dass sie den Begriff am liebs-
ten zusammen mit der Sache selbst loswerden mchten. Dass sie ausschalten und
sich ausklinken wollen; und ihre Wut darber, dass das unmglich ist )
Es gibt aber traditionell eine elaboriertere Antwort auf die genannte Pro-
blemlage. Und das fhrt zum zweiten Modell, das ich vorstellen mchte; dabei
handelt es sich um ein Gegenmodell zu dieser erschreckenden Kommunikation,
wie sie im Fama-Mythologem oder den televisionren Massenmedien veran-
schaulicht wird. Nachdem also der vorangegangene Abschnitt unter dem Titel
Fernsehen, Fama stand, stelle ich das Folgende unter die berschrift:
MO D E L L 2 : K E I N F E R N S E H E N , MU S E N K E T T E
Modell 2 soll eine andere Ordnung der Kommunikation begrnden, eine andere
Ordnung des Wissens: eine besondere, exklusive Domne der Literatur, der Poe-
sie. Wenn im Kontext der Fama, im Kontext der Massenmedien jeweils und
nach je unterschiedlichen Programmen entschieden wird, was eine Information
und was keine ist, wie diese Information zu bewerten ist usw., wenn in diesem
Kontext also digitale Informationsverarbeitung betrieben wird, so beinhaltet die-
ses Gegenmodell einen analogen bertragungsvorgang. Wenn es also im Kontext
der Massenmedien oder der Fama um ein Prozessieren von Differenzen geht, im
Zuge dessen der Gegenstand auf bestimmte Weise verschoben und dissimu-
liert wird, so soll Modell 2 die Weitergabe und das Durchhalten von individuell-
identischem Sinn garantieren, reibungslos und ohne Verluste. Auch hierbei han-
Fama/Musenkette
140
delt es sich um ein ziemlich altes, ein klassisches Modell, es entstammt dem
frhen platonischen Dialog Ion und ist ein Dauerbrenner des philologisch-her-
meneutischen Diskurses.
16
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass das, was der medienskeptisch-kulturkri-
tische Geisteswissenschaftler in der platonischen Tradition den Medien entge-
genhlt, zweifellos selbst ein Medium darstellt. Es ist aber typisch anders gebaut,
es ist als Spezialmedium gedacht (so speziell, dass es normalerweise nicht einmal
unter dem Medienbegriff verhandelt wird). Ich zitiere Platos Ion Sokrates klrt
den Philologen ber die Beschaffenheit seines Wissens auf: Es ist
eine gttliche Kraft, welche dich bewegt, wie in dem Steine, der vom Eu-
ripides der Magnet [] genannt wird. Denn auch dieser Stein zieht nicht
nur selbst die eisernen Ringe, sondern er teilt auch den Ringen die Kraft
mit, da sie eben dieses tun knnen wie der Stein selbst, nmlich andere
Ringe ziehen, so da bisweilen eine ganz lange Reihe von eisernen Rin-
gen aneinander hngt; allen diesen aber ist ihre Kraft von jenem Steine
angehngt. Ebenso auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an
diesen hngt eine ganze Reihe anderer, durch sie sich Begeisternder.
Denn alle rechten Dichter sprechen nicht durch Kunst [techn, Fachwis-
sen], sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schnen Gedichte,
und ebenso die rechten Liederdichter.
17
Der Gott aber zieht durch alle
diese die Seelen der Menschen, wohin er will, indem er der einen Kraft an
den andern anhngt.
18
Da hngen sie also aneinander und bilden eine Reihe: Gott Muse Dichter
Rhapsoden (oder: Philologen) Regisseure Regieassistenten usw. Zuhrer.
Das ist die platonische Musenkette, im Medium dieser Kette bertrgt sich, oder
besser: fliet der poetische Geist, die begeisternde Kraft.
Man darf sich nicht tuschen: Das Modell ist von Haus aus alles andere als
freundlich gemeint (auch wenn es spter so interpretiert worden ist). Die Beson-
derheit dieser Art Wissensproduktion und -rezeption liegt nmlich darin, dass es
sich um kein Fachwissen handelt. Es ist kein technisches oder epistemisches
Wissen, das hier weitervermittelt wird. Was unterscheidet nmlich dieses Medi-
um von Medien normalen Wissens? Was gibt ihm gegenber diesen anderen
sein besonderes Profil? Es ist die Art der Aufmerksamkeit (und das wird oft zu-
gunsten des Enthusiasmus- und Inspirationsgesichtspunkts bersehen). Was den
Transport von Sinn im Medium der Musenkette auszeichnet, ist die Tatsache,
dass hier keine differenzgesteuerte Informationsverarbeitung vorliegt.
19
Die an-
Georg Stanitzek
141
deren, die demgegenber regulren Formen von Wissen gehorchen nmlich je-
weils einem Binarismus; sie kommen als Wissen in Betracht, weil sie unter einer
Leitdifferenz einen Bereich von Operationsmglichkeiten erffnen. Ob es ums
Rechnen geht, um Wagenlenken, Medizin, Schreinerei, Kriegsfhrung oder K-
hehten immer ist das jeweilige Wissen so verfasst, dass einem Ja die Refle-
xion auf ein mgliches Nein zur Seite steht, jeder 0 ihre 1, jeder 1 ihre 0;
darin ist es handhabbares, regulr weitervermittelbares Wissen. [I]m allgemei-
nen, kann man zusammenfassend mit Sokrates-Plato sagen,
da allemal, wo ber denselben Gegenstand viele sprechen, einer und
derselbe den erkennen wird, der gut spricht, und den, der schlecht
[spricht]. Oder wenn jemand nicht den schlecht Redenden erkennt, dann
offenbar auch nicht den gut Redenden von derselben Sache.
20
Dieses normale Wissen ist bedingt dadurch, dass dem positiven Wert ein ne-
gativer zugeordnet ist; Einheit ist es nur als Einheit dieser Differenz.
Anders nun aber die Poesie, anders der sie auslegende Philologe, sofern er in
der humanistischen Tradition den von Plato vorgestellten Rhapsoden zum Vor-
bild hat. Das Schne ist hier das Eine das in sich Mannigfaltige, aber der Akzent
liegt auf dessen Einheit ,
21
und die Musenkette soll das Medium bilden, in dem
sich diese Einheit ungeschmlert fortpflanzt und erhlt. Das ist ja das Eigentmli-
che des Ionschen Wissens: Ion ist Spezial-Philologe (und wenn man Platos Dia-
log ernst nimmt, dann gibt es nur Spezialphilologien), er ist spezialisiert auf Ho-
mer, aber er unterscheidet Homer nicht. Weder kann er ihn zum Beispiel von
Hesiod unterscheiden (den nimmt er berhaupt nicht wahr; bekommt er es mit
einem nicht-homerischen Text zu tun, nimmt er vielmehr unwillkrlich eine
Auszeit, er schlft einfach ein);
22
noch verfgt er ber irgendeine andere Unter-
scheidung, die ber Homer hinausginge.
23
Und das ist sein Vorteil, wenn es
nmlich darum gehen soll, das Musenkettenmedium als prinzipielles Gegen- und
Abwehrmodell zur so zweifelhaften Medien-, zur Fama-Kommunikation zu be-
haupten. Ich fasse einige Aspekte dieses Vorteils zusammen:
gegen die Auflsung ins Digitale steht hier das Beisichbleiben im Analogen; ge-
gen das Diskrete die Kontinuitt; und das heit:
gegeneine Rezeption, die ihrenGegenstandineine Vielzahl vonHinsichtenauf-
lst, steht die Konzentrationauf denschneneinenGegenstandals Ganzes;
24
gegendie Riskanzendes Vergleichs die Treue zumIndividuellen; gegendie Kon-
tingenz der kritischen Entscheidung die notwendige Anlehnung an die Autoritt;
Fama/Musenkette
142
gegen die Produktivitt der eigenen Lektre die Mglichkeit einer Stilisierung
zur unverbrchlichen Wiedergabe der Tradition;
gegen die mediale Relativierung der eigenen Position ihre Behauptung als die ei-
nes natrlich privilegierten Beobachters und Kommunikators der Texte;
gegen unbersichtliche Verzweigungen der Kommunikation ihre fraglose Ein-
bindung in eine Hierarchie; usw.,
der Katalog wre fortzusetzen
Aber es ist Zeit, auf die Nachteile dieses Modells zu sprechen zu kommen. Der
entscheidende Nachteil liegt wohl darin, dass es dumm macht; die auerordentli-
che Qualitt einer entsprechenden Poesie und ihres entsprechenden Auslegers ist
mit Scheuklappen erkauft (die Erfindung des wegdmmernden Ion spricht Bn-
de). Genau in diesem Sinn hat Goethe darauf bestanden, dass es sich beim mit Ion
vorgestellten Rhapsoden um einen uerst beschrnkten Menschen, einen
Tropf von unglaubliche[r] Dummheit, ein[en] Naturalist[en] und bloe[n]
Empiriker handle;
25
und entsprechend energisch hat er davor gewarnt, diesen
Text berhaupt ernst zu nehmen, er knne nur ironisch gemeint sein. Denn an-
dernfalls liege blo d. h. unter Platons Niveau eine billige Denunziation des
poetischen Wissens vor. Goethe hat auch nicht gezgert, den von Sokrates mit
und an Ion demonstrierten besonderen Defekt der poetischen Kommunikation
zu bestreiten. Dieser angebliche Defekt, der im Fehlen einer das Wissen organi-
sierenden Leitdifferenz liegt, er lasse sich leicht reparieren; man msse gegen
die Beschrnktheit dieses Rhapsoden nur an folgendes erinnern:
Htte Jon nur einen Schimmer Kenntnis der Poesie gehabt, so wrde er
auf die alberne Frage des Sokrates: wer den Homer, wenn er von Wagen-
lenken spricht, besser verstehe, der Wagenfhrer oder der Rhapsode?
keck geantwortet haben: gewiss der Rhapsode: denn der Wagenlenker
wei nur, ob Homer richtig spricht; der einsichtsvolle Rhapsode wei, ob
er gehrig spricht, ob er als Dichter, nicht als Beschreiber eines Wettlaufs
seine Pflicht erfllt.
26
Das ist natrlich ein Machtwort; es legt einen dogmatisch-radikalen Wider-
spruch jenes Typs ein, zu dem man sich auch provoziert fhlen kann, wenn man
es mit der gelufigen bornierten Kritik der Medien, des Fernsehens, des Digi-
talen usw. zu tun bekommt. Gleichwohl ist es wie gesagt mit einfachen Ent-
scheidungen diesen Typs nicht getan. Und dafr ist Goethes Vorschlag, das
Know-how des Poeten (und des ihn auslegenden Rhapsoden) sei halt durch die
Georg Stanitzek
143
Unterscheidung gehrig/ungehrig strukturiert zu denken, selber ein gutes Bei-
spiel. Denn man erkennt leicht, dass es sich dabei um einen Beitrag zur neuerlich
von Niklas Luhmann wieder angestoenen Diskussion ber binre Strukturen in
Kunst und Literatur handelt: Ist Kunst codierbar?
27
(Genau gesagt, leitet Platos
Ion die Geschichte dieser Problemstellung ein.) Betrachtet man die an Luh-
manns Frage anschlieende und laufende literaturwissenschaftliche Diskus-
sion, erscheint es kaum als Zufall, dass sich auch Goethes Vorschlag von 1796 kei-
neswegs durchgesetzt hat. Um eine neuere Fassung des platonischen Theorems
zu zitieren, Rainald Goetz 1985: Es gibt keine andere vernnftige Weise, ber
Pop zu reden, als hingerissen auf das Hinreiende zu zeigen, hey, super.
28
[Trailer 2: Norbert Hummelts sprechender Kopf spricht im Folgenden als
Bild-Untertitel wiedergegeben Ach, das kranke Bild, ein Gedicht auf Ba-
sis von Gottfried Benns Ach, das ferne Land, das synchron als Untertitel
zu lesen ist eine Erfindung:]
29
Fama/Musenkette
ach, das kranke bild, / wo das rippenzerquetschende /
oder sitzflche rheumatisch/ auf weicher matratze /
144
Georg Stanitzek
aufputscht, / auch der rcken/
verspannten fleischs / halb nerv, halb muskel /
so manisch abdreht // den liebespart der nacht /
145
Fama/Musenkette
ach, das kranke bild, / wo vom flash der boxen/
die mgen flau sind, / zum beispiel underground, wo X. wohnt, /
alle beide, vom roxy schleppt' sie das taxi heim, /
146
Georg Stanitzek
auch nicht die fittesten, gaben zeichen, /
als sie station passierten // dort hautkontakte /
hautabzge, / ohne verweisungen auf krankes, /
147
Fama/Musenkette
weie schokolade, / liebesfragmente /
in die rauche luft / ein paar lights im jackett , /
bis der schmerz den kopf erreicht, / so fliegen die nchte, /
148
Kein Fernsehen? Doch! Das mchte ich zeigen und super sagen. Sicher kann
(und muss) man das dieses Zeigen (mein Zeigen) dann ex post interpretieren:
als unterscheidungsgeleitete Selektion, als indication gewissermaen, die nur
innerhalb einer Distinktion mglich ist. Aber dieser Kommunikationsmodus
hingerissen aufs Hinreiende zeigen und damit in der Musenkette agieren , hat
einfach sein Recht,
30
auch wenn es nur ein Anfang ist, auch wenn es dann ins Bi-
nre und Diskursive zu bersetzen ist und bleibt.
Was ist daraus zu lernen? Was ist die Moral? Einerseits kann man unter die-
sen Voraussetzungen wohl besser verstehen, wie es zu den traditionellen hartn-
ckigen Vorurteilen gegenber dem Binren oder Digitalen und all jenen me-
dialen Erscheinungen, die auf ihm basieren kommt. Offenbar macht es aus
sachlichen Grnden keinen Sinn, die traditionelle Privilegierung des Analogen,
Individuell-Identischen schlicht umzukehren und an Binarismen orientierte, dif-
ferenzgesteuerte Informationsverarbeitung zuprmieren. Andererseits kannman
den genannten Vorurteilen adquater weniger naiv begegnen: Man kann da-
rauf hinweisen, dass weder das eine noch das andere, weder das Analoge noch das
Digitale in reiner Form, gewissermaen isoliert fr sich in Erscheinung tritt,
dass man es vielmehr immer mit Mischungs-, genauer gesagt: bersetzungsver-
hltnissen zu tun hat.
31
Dass es sich um eine Differenz handelt, in der das eine
zum Medium des anderen wird. Man kann, mit anderen Worten, zeigen, dass die
Musenkette immer schon im Medium der Fama verluft. Dass es insofern gar kei-
nen Sinn macht, von Herausforderung der Literatur oder Poesie durch die
Massen- und Neuen Medien, durch den Bildschirm, Fernsehen und Computer,
durch Medien berhaupt zu reden; dass es hier auch nichts zu verteidigen gibt.
Dass das eine vielmehr immer schon im anderen stattfindet. Dass es nur einer ge-
wissen Neugierde bedarf, um das wahrzunehmen, um es zu zeigen.
Georg Stanitzek
dem die augen ausgehn/ nach langem blick.
149
1 Nicht ohne die Frage zu stellen, ob es sich da berhaupt um Kultur handle: Heinz Schlaffer: Die
eingebildete Kranke. Lesen ist mhsam: Die klassische Literatur ist ins Exil geraten, in: FAZ,
7.9.1994, Nr. 208, S. N6.
2 Man knnte sie zwar auch als Metaphern bezeichnen, sollte dies aber nicht bereits fr ein Argu-
ment gegen die Relevanz des Folgenden halten. Denn Medientheorien organisieren sich um prg-
nante Metaphern (vgl. Joshua Meyrowitz: Images of Media: Hidden Ferment and Harmony in the
Field, in: Mark R. Levy/Michael Gurevitch (Hg.): Defining Media Studies. Reflections on the Future of
the Field, New York/Oxford 1994, S. 6374); und auch Medium selbst ist zunchst kaum mehr als
eine Metapher fr kaum begriffene Phnomene wenigstens dann, wenn man konzediert, dass die
Kategorie des Mittels zur Definition nicht ausreicht, da zu Medien gehrt, dass sie allererst erzeu-
gen, was sie mediieren (vgl. Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage
des Mythos, Frankfurt/M. 1986, S. 55; Georg Christoph Tholen: Zwischen den Bildern. Zur Topik und
Zsur der Medien, in: Hannelore Pfeil/Hans-Peter Jck (Hg.): Eingriffe im Zeitalter der Medien,
Rostock/Bornheim-Roisdorf 1995 [= Politiken des Anderen, Bd. 1], S. 123143).
3 Andere Beobachter sehen anderes, sie sehen das Fernsehen seit geraumer Zeit verschwinden
(zum Beispiel Edgar Reitz: Diesseits der Zukunft Die Filmkunst in Erwartung der digitalen Bilder,
in: ders.: Bilder in Bewegung. Essays. Gesprche zum Kino, Reinbek 1995, S. 223267); sie sehen
die Zukunft der Medien-Kulturkritik so: Gut denkbar, dass wir noch eine Kritik des dann neuesten
Mediums mitbekommen, irgendeiner raffinierten Computer-Wandelschrift, die das gute alte Privat-
fernsehen und seine gemeinschaftsbildende Wirkung dagegen aufruft. (Michael Rutschky: Warum
ist Frau B. unglcklich? ber mediale Machtphantasien, in: Merkur 47 (1993), S. 854863, hier:
S. 857)
4 Hans-Georg Gadamer: Kultur und Medien, in: Axel Honneth et al. (Hg.): Zwischenbetrachtungen. Im
Proze der Aufklrung. Jrgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1989, S. 713732, hier:
S. 713. Dies ist nur ein Platzhalter; an dieser Stelle wre ein Film mit Fernsehbildern vorzufh-
ren. Nach meinem Eindruck liee sich das Niveau der literaturwissenschaftlichen Mediendiskus-
sion insgesamt verbessern, wenn Philologen jeweils zeigen wrden, was sie meinen, wenn sie
ber die Medien sprechen.
5 Ovid: Metamorphosen XII, 39 ff. (bers. v. Erich Rsch).
6 Vergil: Aeneis IV, 174; das ist die eigentliche Vorgeschichte dessen, was in den Publizistikwissen-
schaften heute unter agenda setting oder Schweigespirale diskutiert wird.
7 Baltasar Gracin: Handorakel, N 10 (bers. v. Arthur Schopenhauer).
8 Goethe: Rmische Elegien XIX.
9 Hesiod: Werke und Tage 764.
10 Klatsch, der fr sich noch vor allen technischen Reproduktionsmitteln als ein originres Medi-
um der Massenkommunikation betrachtet werden kann. (Jrg R. Bergmann: Klatsch. Zur Sozial-
form der diskreten Indiskretion, Berlin/New York 1989, S. V. Vgl. Jean-Nol Kapferer: Gerchte. Das
lteste Massenmedium der Welt, a. d. Frz. v. Ulrich Kunzmann, Leipzig 1996). In Gestalt des be-
schriebenen Resonanzkrpers trumt das Fama-Mythologem noch von jener Reproduktions-
maschine, die heute gemeinhin als Abgrenzungskriterium der Massen- von anderen Medien fun-
giert Zu media gossip siehe auch Jack Levin/Arnold Arluke: Gossip. The Inside Scoop, New
York/London 1987.
11 Gracin: Handorakel (Anm. 7), N 97; ders.: Der kluge Weltmann (El Discreto), N 20 (bers. v. Se-
bastian Neumeister).
12 Das eigene Interesse an Lyrik zum Beispiel sieht sich dem Fernsehen als gigantische[r] lyri-
sche[r] Veranstaltung gegenber (Helmut Schanze: An alle Fernsprechteilnehmer. Anmerkungen
zum Problem Medien und Lyrik im Zusammenhang mit Gedichten von Hans Magnus Enzensberger,
Peter Handke und Friederike Roth, in: Dieter Breuer (Hg.): Deutsche Lyrik nach 1954, Frankfurt/M.
1988, S. 241260, hier: S. 252).
13 Niklas Luhmann: Die Realitt der Massenmedien, Opladen 1995 (= Vortrge der Nordrhein-West-
flischen Akademie der Wissenschaften: Geisteswissenschaften; G 333), S. 5.
14 Ovid: Metamorphosen XII, 5963.
15 Avital Ronell: Street-Talk, in: Studies in Twentieth Century Literature 11,1 (Fall 1986), S. 105131
(what does it mean for a Heidegger to tell the truth in a newspaper?) (ebd., S. 106).
16 Vgl. Friedrich Schleiermacher: ber den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeu-
tungen und Asts Lehrbuch [1829], in: ders.: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphi-
losophischer Texte Schleiermachers hg. u. eingel. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977, S. 309346,
Fama/Musenkette
150
hier: S. 319; Hans Fromm: Von der Verantwortung des Philologen, in: DVjs 55 (1981), S. 543566,
hier: S. 560.
17 Plato: Ion 533d-e (bers. v. Friedrich Schleiermacher).
18 Plato: Ion 536a-b.
19 Noch einmal zur Frage der Metapher: Streng genommen kann man die Vorstellung, es existierten
analoge Medien berhaupt, aus technologischer Perspektive als hinfllig abtun (vgl. Wolfgang Ha-
gen: Hren und Vergessen. ber Nicht-Analoges Sprechen im Radio, in: Friedrich A. Kittler/Georg
Christoph Tholen: Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalyse seit 1870, Mnchen 1989,
S. 139149, hier: S. 140); gleichwohl bedarf es doch wohl dieser Vorstellung, und sei es nur, um
ber einen Begriff von Digitalitt zu verfgen. Zur Annahme eines Primats analoger vor digitaler
Kommunikation im Kontext des sthetischen: Rolf Breuer: Literatur. Entwurf einer kommunika-
tionsorientierten Theorie des sprachlichen Kunstwerks, Heidelberg 1984, S. 14 u. passim; die Insis-
tenz auf dem Analogen liee sich aber auch allgemeiner als Einwand der Kultur gegen den Aus-
schluss dritter Werte verstehen: Dirk Baecker: Der Einwand der Kultur, in: Berliner Journal fr
Soziologie 6,1 (1996), S. 514.
20 Plato: Ion 531e532a.
21 Arbogast Schmitt: Klassische und platonische Schnheit. Anmerkungen zu Ausgangsform und wir-
kungsgeschichtlichem Wandel des Kanons klassischer Schnheit, in: Wilhelm Vokamp (Hg.):
Klassik im Vergleich. Normativitt und Historizitt europischer Klassiken. DFG-Symposion 1990,
Stuttgart/Weimar 1993, S. 403428.
22 Ein wichtiges Charakteristikum analog operierender Computer: there is no true zero (at zero the
machine is off). All the quantities involved are positive; there are no minus quantities. (Anthony
Wilden: Analog and Digital Communication. On Negation, Signification, and Meaning, in: ders..: Sys-
tem and Structure. Essays in Communication and Exchange, London 1972, S. 155201, hier: S. 161)
23 Dass genau hierin, in der bernahme einer idiosynkratisch-individuellen Autor-Perspektive der fr
Plato mit dem Poetischen gegebene Skandal liegt, vermutet Nickolas Pappas: Platos Ion: The
Problem of the Author, in: Philosophy. The Journal of the Royal Institute of Philosophy 64 (1989),
S. 381389.
24 Gegen den Text die Intention: Muse, sag an, warum denn schrieb seine Werke der Dichter?
(Vergil-Vita des Foca 67, bers. v. Karl Bayer).
25 Johann Wolfgang Goethe: Plato, als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung [Im Jahre 1796
durch eine bersetzung veranlasst], in: ders.: Smtliche Werke nach Epochen seines Schaffens.
Mnchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter, Bd. 4,2, Mnchen 1986, S. 4752, hier: S. 49 f.
26 Ebd., S. 50 (meine Hervorhebung).
27 Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar?, in: ders.: Soziologische Aufklrung 3: Soziales System, Ge-
sellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 245266.
28 Rainald Goetz: Und Blut, in: ders.: Hirn, Frankfurt/M. 1986, S. 177194, hier: S. 188.
29 Faustschnauze oder: Die Saboteure der Sprachmaschine, Film von Ulrich Stoll, Redaktion: Chris-
thart Burgmann/Imke Wallefeld, West 3, Sendung 29.9.1991. Vgl. Norbert Hummelt: Ach, das
kranke Bild, in: ders.: maisprhdose/Ingo Jacobs: geknautschte zone, Neundorf 1991, S. 31, sowie
Gottfried Benn: Ach, das ferne Land, in: ders.: Gesammelte Werke in acht Bnden, hg. v. Dieter Wel-
lershoff, Mnchen 1975, Bd. 1, S. 183 f.
30 Knnte man darber hinaus sagen, dass dieses Recht sich hinterrcks noch in den medientheore-
tischen Texten der Traditionslinie McLuhanKittler zur Geltung bringt insofern darin nun der Me-
dialitt selbst die Stelle des Identisch-Einen zukme? Nimmt die Musen- hier die Form einer Me-
dienkette an? (Kommen in der Streichung der Differenz von Medium und Botschaft oder Medium
und Form neuere Medientheorien zum Unisono mit kulturkritischen Diskursen?)
31 Hier wre an John von Neumann selbst zu erinnern und zwar weniger als den Erfinder des Digi-
talrechners, sondern an seine Reflexionen ber Digital and Analog Parts in the Nervous System
(John von Neumann: The Computer and the Brain, New Haven 1958, S. 68 ff.). Diese Beschreibung
des Wechsels digitaler und analoger Zustnde hat eine ganze Reihe jener Forschungen inspiriert,
die sich schlielich unter dem Namen Second Order Cybernetics etabliert haben: Heinz von
Foerster, Paul Watzlawick, Gotthard Gnther, schlielich Ranulph Glanville und Niklas Luhmann
auf dem Gebiet der Literaturtheorie insbesondere, und schon ziemlich frh: Anthony Wilden: Sys-
tem and Structure (Anm. 22).
Georg Stanitzek
151
Di rk Baecker
N A C H D E R R H E T O R I K
Die antike Rhetorik hatte bereits einen Begriff von Kommunikation, der auf der
Ebene der Beobachtung von Beobachtern angesiedelt ist. Damit entspricht sie Er-
wartungen, die man mit neueren soziologischen Theorieentwicklungen an den
Begriff der Kommunikation richten wrde. Aber dieser antike Begriff der Kom-
munikation wurde nicht tradiert. Die folgenden berlegungen erinnern zunchst
an das antike Verstndnis und ziehen dann einige Linien der Wiederentdeckung
weniger des Begriffs als vielmehr der Problemstellung nach. Dabei zeigt sich unter
anderem, dass heute unter den durchaus unklaren Problemtiteln der Kommuni-
kation und Kultur Konzepte zu finden sind, die man wieder zusammenfhren
muss, um das Problembewusstsein der antiken Rhetorik wieder zu erreichen. Ich
beschrnke mich im Folgenden auf einen Problemaufriss, der nur die Anschluss-
stellen fr eine ausfhrlichere Rekonstruktion bezeichnen kann.
I .
Anakoinosis oder communicatio ist eine Redefigur, die seitens des Redners deut-
lich macht, dass er mit Zuhrern rechnet, die sich unabhngig und abhngig von
dem, was er sagt und wie er es sagt, ihren eigenen Reim auf die Dinge und auf ihn
machen.
1
Die Redefigur der communicatio wendet sich an den Zuhrer und be-
zieht ihn in die Auswahl der Argumente, des Tonfalls der Rede und der Konse-
quenzen fr mgliche Handlungen mit ein. Sie ist den Figuren der dubitatio, also
des Um-Rat-Fragens, und der permissio, also der Anheimstellung eines eigenen
Urteils, verwandt. Vermutlich kann sie ohne dubitatio und permissio gar nicht
funktionieren. Communicatio ist demnach diejenige Redefigur, die die wechsel-
seitige Wahrnehmung einschlielich der Wahrnehmung des Wahrgenommen-
werdens von Redner und Zuhrer explizit in Rechnung stellt.
Entscheidend ist dann jedoch darber hinaus, dass die Zurechnung auf com-
municatio damit rechnet, dass die Auswahl der Redeweise mit Blick auf diese
wechselseitige Wahrnehmung erfolgt. Das erst macht die communicatio zu ei-
nem Konzept der Beobachtung von Beobachtern. Einerseits rechnet dieses Kon-
zept damit, dass der Redner seine Zuhrer beobachtet und dabei mitbeobachtet,
dass er von diesen beobachtet wird, die wiederum mitbeobachten, dass sie von
ihm beobachtet werden. Und andererseits formuliert das Konzept ein Wissen,
Fama/Musenkette
152
das aus dieser Beobachtung von Beobachtern resultiert und selbst das Wissen
eines Beobachters ist, des Rhetorikers, der damit eigene Beobachtungen oder
eigene Erfahrungen auf den Punkt bringt.
Das Kommunikationsverstndnis der Rhetorik wird lange Zeit nicht ber-
boten, allenfalls kontinuiert, meist jedoch vergessen. Es fand im theologischen
Denken des Mittelalters unter jenen Schriftgelehrten eine Fortsetzung, die sich
die Offenbarung Gottes als kommentarbedrftige Kommunikation vorstellten,
2
konnte jedoch auch dort nicht systematisch gefasst werden, weil sich Kommuni-
kationen mit Gott ebenso wie Kommunikationen ber Gott schlecht beobachten
lassen, ohne Rckschlsse nahe zu legen, die am Glauben zweifeln lassen. Die
Kommunikation mit und ber Gott konnte schon deswegen nicht problemati-
siert, also als Kommunikation beobachtet werden, weil dies bedeutet htte, Gott
zu unterscheiden.
3
Gott in seinem Unterschied nicht zu unterscheiden, war
jedoch das Gebot eines Glaubens, der die Kommunikation dann nur noch empha-
tisch als communio fassen konnte.
Das Symmetrieverstndnis von Kommunikation in der Rhetorik wird theo-
logisch umgearbeitet zu einem Verstndnis asymmetrischer Kommunikation, in
dem es nur noch auf Mitteilungen ankommt, deren Selektivitt nicht mehr unter
dem Gesichtspunkt der Inrechnungstellung wechselseitigen Wahrnehmens,
sondern unter dem Gesichtspunkt der Auswahl sich als wrdig erweisender Zu-
hrer beobachtet wird. Communicatio zielt nicht mehr auf die Kontingenz einer
sozial strukturierten Situation, sondern auf gemeinschaftsbildende Effekte.
Das Wissen um Kommunikation wird zu einem Arkanum der politischen
Klugheitslehre und dort als ein zu dissimulierendes Wissen formuliert.
4
Das
ndert sich erst, als ein neues Phnomen auf den Plan tritt, dessen Effekte nicht
anders denn als Kommunikation formuliert werden knnen, weil es sich um eine
Kommunikationsmaschine handelt: der Buchdruck. Wie schon die Schrift un-
ter den Griechen,
5
so lst auch der Buchdruck in Europa (anders als in China und
Korea) Geheimnisse auf und macht sie durch Verffentlichung ffentlich. Aller-
dings schien das Verfahren mehr zu beeindrucken als die Bedingung seiner Mg-
lichkeit. Zur Beschreibung der Kommunikationsmaschine Buchdruck greift man
nicht auf das Wissen der Rhetorik ber Kommunikation zurck, das inzwischen
viel von seinem Kurswert verloren hatte, sondern auf das Beispiel der Be-
wsserungswirtschaft.
6
Im einen Fall ging es um Wissen, im anderen Fall um
Wasser, in jedem Fall um Verteilung. Kommunikation fiel zusammen mit der
Verbreitung von Information und Wissen. Rckkopplungsprobleme wurden als
Darstellungsprobleme gesehen, die von Autoren gelst werden. Die Leser sind
Empfnger.
Dirk Baecker
153
Diese Auffassung, die vor allem die katholische Kirche in groem Stil aus-
nutzte, lie sich erst dann nicht mehr halten, als auffiel, dass Leser Freiheitsgrade
bei der Auswahl von Bchern haben, die sie nicht nur wahrnehmen knnen,
sondern die sie dazu bringen, ber den eigenen Beitrag zur Kommunikation neu
nachzudenken. Martin Luther verwendete dieses neue Wissen gegen die Kirche.
Sein protestantisches Modell der Kommunikation, wie es von Michael Giesecke
beschrieben wird,
7
setzt unter dem Schutz des Umstands, dass es nur eine Heilige
Schrift gibt, auf Selberlesen und auf eine vorherige Unterweisung, wie dies zu tun
ist. Thomas Mntzer und andere wollten dieses Prinzip zum Selberschreiben er-
weitern, stieen damit jedoch auf den Widerstand Luthers. Bis heute fllt es ge-
sellschaftlich wesentlich leichter, Selberlesen als Selberschreiben zu konzedieren.
Beobachtungen der Kommunikation als Kommunikation finden nicht mehr
statt. Stattdessen geht es entlang der Metapher der Bewsserungswirtschaft ei-
nerseits um das Verkehrswesen der Nachrichten und andererseits um Mglich-
keiten der Abgrenzung gegenber diesem Verkehrswesen und der selektiven
Nutzung seiner Mglichkeiten, die dann unter den Stichworten der Politik und
der konomie, der Religion und der Erziehung, der Wissenschaft und des Rechts
diskutiert werden.
8
Bis in die Gegenwart hinein und mit besonderer Vorliebe
im 18. und 19. Jahrhundert wird der Kommunikationsbegriff nur noch zur Be-
schreibung aller Arten von Verkehrsverhltnissen der Verbindung, Vermittlung
und Verstndigung sowie deren Optimierung und selektiven Ausdifferenzierung
weiterverwendet.
I I .
Erst in dem Moment, in dem Claude Shannon und andere aus diesem Verkehrsbe-
griff der Kommunikation die Konsequenz ziehen, das bereits sei Kommunika-
tion, und gegenber der Frage der Optimierung durch selektive Codierung knne
man Fragen der Semantik, also des Sinnberschusses, vernachlssigen,
9
rhrt
sich Widerstand in den Sozialwissenschaften. Dieser Widerstand nimmt zu-
nchst nicht die Form des Widerspruchs an. Im Gegenteil. Man zeigt sich nicht
nur durch die Aufwertung des Kommunikationsbegriffs, sondern auch durch
dessen przise Bestimmung mit Hilfe des Konzepts der berechenbaren Wahr-
scheinlichkeit der Auswahl einer Nachricht aus einem umrissenen Mglichkei-
tenraum fasziniert. Denn damit schien man einer rekursiven Programmierung
der Gesellschaft durch sich selbst auf die Spur kommen zu knnen, fr die man
sonst des Begriffs entbehrte.
Nach der Rhetorik
154
Kaum etwas interessierte die Sozialwissenschaften zu dem Zeitpunkt, als
Shannons Theorie erschien, mehr als die Frage der Konstitution und Reproduk-
tion von Sachverhalten aller Art durch die sie definierenden Einschrnkungen,
die wahlweise unter Gesichtspunkten der Kybernetik oder des Strukturalismus
diskutiert werden konnten. Erst nach und nach fiel auf, dass die Auswahl von
Nachrichten etwas mit der Wahrnehmung von Alternativen zu tun hat und dass
ber diese Hintertr die gerade noch ausgeschlossenen Probleme der Semantik,
verstanden als Probleme des Umgangs mit Sinnberschssen, wieder Zugang zur
Problemstellung der Kommunikation finden. Das war die Stunde der Kybernetik
zweiter Ordnung, der Semiotik und des Poststrukturalismus,
10
die parallel zur
Frage der Programmierung der Gesellschaft durch sich selbst auch die Frage stel-
len konnten, ob und wie die Gesellschaft ihre eigenen Programme unterlaufen
und sich mit Blick auf wahrnehmbare Problemlagen innerhalb und auerhalb der
Gesellschaft reprogrammieren kann.
Der Kommunikationsbegriff blieb jedoch in diesen Jahren und Jahrzehnten
in den Sozialwissenschaften eigentmlich unbestimmt. Man frchtete das infor-
mationstheoretische Missverstndnis der Kommunikation, von dem man sich
selbst noch nicht ganz befreit hatte, und entwickelte stattdessen Theorien des
Sozialen oder der Gesellschaft, die irgendwann, so hoffte man vielleicht, ent-
scheidbar machen wrden, ob und wie man die informationstheoretische He-
rausforderung der Ingenieure beantworten konnte.
Zwei Angebote, mit dem Kommunikationsbegriff wieder an die Problem-
stellung anzuschlieen, die die Rhetorik mit ihrer Figur der communicatio vor
Augen gehabt hatte, blieben in dieser Situation ungenutzt. Beide Angebote, auch
das ist bezeichnend, fanden zunchst nur in der psychoanalytischen beziehungs-
weise familientherapeutischen Psychologiekritik Anklang. Claude Lvi-Strauss,
11
um mit ihm zu beginnen, versteht in seiner Einleitung in seine Zusammenstel-
lung einiger Arbeiten von Marcel Mauss unter Kommunikation jenen Aspekt
einer totalen sozialen Tatsache, die mich (objektivierendes Ich) mit mir (sub-
jektives Ich) und mich (objektives Ich) mit einem anderen (subjektivierter
Anderer) zusammentreffen lsst und die zugleich die Spur dieses Zusammentref-
fens in der Struktur des menschlichen Geistes und in der Geschichte der Indivi-
duen und Gruppen ist. Die Radikalitt von Marcel Mauss, so Lvi-Strauss weiter,
bestehe darin, dass er das Unbewusste und das Kollektive miteinander identifi-
ziere und als den Trger dieser Kommunikation ausmache.
Das zweite Angebot stammt von Jrgen Ruesch und Gregory Bateson,
12
die
die Herausforderung der Ingenieurmathematik der Kommunikation damit be-
antworten, dass sie eine allgemeine, organische, psychische und soziale Vorgnge
Dirk Baecker
155
umgreifende Theorie der Kommunikation formulieren, die immer dann von
Kommunikation spricht, wenn (1) Ausdrucksverhalten, (2) die Wahrnehmung
von Ausdrucksverhalten und (3) die Wahrnehmung dieser Wahrnehmung durch
andere vorliegen. Das empirische Prfkriterium fr das Vorliegen von Kommuni-
kation liegt in der Mglichkeit der Fehlerkorrektur, denn diese setzt ihrerseits
voraus, worauf es ankommt: wechselseitige Wahrnehmung, Selektivitt und
Rckkopplung. Fehlerkorrektur tritt im Fall der Interaktion instantan und in den
beiden Fllen der Kommunikation mit sich selbst und der Massenkommunika-
tion verzgert auf.
Ihre Prgnanz gewinnen diese beiden Angebote daraus, dass sie die Defini-
tionWarrenWeavers,
13
Kommunikationschliee all of the procedures by which
one mind may affect another ein, aufnehmen und zugleich auch nicht aufneh-
men. In der Form der Frage nach dem Einfluss des einen Individuums auf ein
anderes nehmensie die Frage auf. Dochder Einfluss selbst wirdnicht, wie bei We-
aver und Shannon, auf demUmweg ber Nachrichten, ihre Codierung, bertra-
gung und Decodierung durch Sender und Empfnger, beantwortet, sondern,
leicht, aber folgenreich verschoben, auf demUmweg ber ein drittes Element, auf
das die Selektion von Nachrichten, die Mglichkeit der bertragung, die Codie-
rung und die Decodierung gleichermaen zugerechnet werden. Dieses dritte Ele-
ment ist die Kommunikation. Nicht inder Nachricht erfllt sichdanachder Begriff
der Kommunikation, sonderninder Mglichkeit der SelektionvonNachrichten.
Aber was verstehen Lvi-Strauss, Ruesch und Bateson unter Kommunika-
tion? Offensichtlich verstehen sie darunter etwas, das auffllt, wenn man Kom-
munikation beobachtet. Man muss also Kommunikation beobachten, wenn man
Kommunikation verstehen will. Was jedoch auffllt, wenn Kommunikation be-
obachtet wird, ist im strukturalistischen ebenso wie im kybernetischen Konzept
eine Grenzberschreitung, ein Kontakt zwischen mir und mir und oder zwischen
mir und einem anderen beziehungsweise eine berschreitung der Grenzen orga-
nischer, psychischer und sozialer Systemgrenzen.
Lvi-Strauss hat keinen Begriff fr diese Grenze, legt aber mit Marcel Mauss
groen Wert auf die Feststellung, dass die psychologische Referenz sozialwissen-
schaftlichen Denkens zugunsten einer Unterscheidung physiologischer, psycho-
logischer und sozialer Referenzen aufgegeben wird und das Soziale als die Realitt
definiert wird, die das Psychische nur bezeichnet, um sich selbst, das Soziale, im
Unterschied zum Psychischen zu verifizieren.
14
RueschundBatesonhabeneinenBegriff fr diese Grenze, formulierenihren
Kommunikationsbegriff jedoch bewusst fr alle Systemtypen und knnen sich
Kommunikation sowohl innerhalb eines Systems als auch zwischen Systemen
Nach der Rhetorik
156
vorstellen. Das liegt, nebenbei bemerkt, auf der Linie des Denkens vonTalcott Par-
sons,
15
demes ebenfalls ferngelegenhtte, sichvorzustellen, dass Systeme unter-
schiedlichen Operationsmodus nicht miteinander kommunizieren knnten.
Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt: Kommunikation, communi-
catio, ist das, was stattfindet, wenn ein Beobachter beobachtet, dass ber Grenzen
hinweg kommuniziert wird. Was der Beobachter dabei beobachtet, sind Kontakte
zwischen selektionsfhigen Komplexen, fr die die Kontakte einen Unterschied
machen, wie man am Anschlussverhalten, das sich ndert oder nicht ndert, se-
hen kann. nderungen wie Nicht-nderungen sind auf die Kontakte zuzurech-
nen. Die Urszene fr dieses Kommunikationsverstndnis ist die von Heinz von
Foerster
16
hufig berichtete Beobachtung einer familientherapeutischen Sitzung
durch eine Einwegscheibe bei abgeschaltetem Ton: Man hrt zwar nichts, sieht
aber, dass kommuniziert wird, und sieht, wie sich, obwohl nur gesprochen
wird, Verhalten ndert (die Personen verkrampfen sich, regen sich auf, entspan-
nen sich). Kommunikation ist Zustandsnderung unter der Bedingung des Kon-
taktes zwischen selektionsfhigen Komplexen.
Scheinbar haben wir uns weit von ausgearbeiteten Kommunikationstheo-
rien, wie etwa jenen von Jrgen Habermas
17
oder Niklas Luhmann,
18
entfernt.
Tatschlich aber, so mchte ich behaupten, bewegen wir uns auf sie zu. Denn so-
wohl Lvi-Strauss als auch Ruesch und Bateson bleiben bei der Beschreibung des
Faktums der Kontakte und der Beeinflussung unter Bedingungen der wechselsei-
tigen Wahrnehmung nicht stehen. Lvi-Strauss spricht mit Durkheim und Mauss
von der totalen sozialen Tatsache, und Ruesch und Bateson sprechen von der
sozialen Matrix, um eine Realitt zu bezeichnen, in die alle menschlichen Ak-
tivitten eingebettet sind. Diese Realitt wird beobachtet, wenn Kommunikation
beobachtet wird. Ich glaube nicht, dass man zuviel sagt, wenn man vermutet, dass
diese Realitt durchaus auch in den Termini zu beschreiben ist, in denen Lacan
19
beschreibt, was er im Unterschied zum Imaginren und Symbolischen als Reales
bezeichnet.
20
I I I .
In seiner Einleitung in das Werk von Marcel Mauss erinnert Lvi-Strauss
21
an das
Ereignis der Entstehung der Sprache: Welches auch der Augenblick und die Um-
stnde ihres Erscheinens auf der Stufe des animalischen Lebens gewesen sein
mgen die Sprache hat nur auf einen Schlag entstehen knnen. Die Dinge haben
nicht allmhlich beginnen knnen, etwas zu bedeuten. Lvi-Strauss setzt dieses
Dirk Baecker
157
Ereignis gleich mit der Entstehung von Symbolen. Die Brisanz dieser Beschrei-
bung liegt darin, dass sie es unmglich macht, Symbole auch dafr in Anspruch
zu nehmen, die Dinge zu bezeichnen. In den Symbolen bedeuten die Dinge et-
was. Sie zu bezeichnen, ist jedoch nur mglich, wenn man auf ein Imaginres
Bezug nimmt, das die Unzugnglichkeit des Realen verkennt beziehungsweise,
positiv formuliert, den Beobachter zu erkennen gibt, der glaubt, so und nicht an-
ders Dinge bezeichnen zu knnen.
Diese Redeweise vom Symbolischen und Imaginren
22
erschliet sich nur
ber ein Verstndnis des Sozialen als Reales, wie es im Vorstehenden als Kon-
sequenz einer Beobachtung von Kommunikation skizziert wurde. Im Symboli-
schen wird dieses Soziale zu einem bedeutungsvollen Ereignis, im Imaginren
wird daraus der Schluss gezogen, ber diese Bedeutung verfgen zu knnen. Die
Einheit der Differenz von Symbolischem und Imaginrem ist die Kultur. In der
Kultur erleben wir das Ereignis der Bedeutung als Mglichkeit, aus dieser Bedeu-
tung andere Schlsse ziehen zu knnen. In diesem Sinne sprechen sowohl Lvi-
Strauss als auch Parsons von den Symbolsystemen der Kultur wobei der Titel
System hier wohl als Index des Imaginren zu lesen ist. Man hat dann die Wahl,
Kultur eher auf die unberschreitbare Inkommensurabilitt der Symbole gegen-
ber dem Realen hin auszulegen
23
oder auf Generalisierungsleistungen der Sym-
bole zuzurechnen, die ber die Grenzen von Situationen hinweg in verschiede-
nen Situationen greifbar sind und daher auf eine bestimmte Definitionsmacht des
Imaginren gegenber dem Realen verweisen.
24
Diese Wahl ist grundstzlich nur zu entscheiden, wenn man einen Beobach-
ter einfhrt, der sie fr sich entscheidet. Man wei dann zwar nichts Neues ber
die Kultur, aber immerhin etwas ber den Beobachter. Lvi-Strauss und Parsons
verfgen nicht ber einen Begriff des Beobachters. Ich wei nicht, wie ihn Par-
sons in seinem System verortet htte. Er hatte keinen Bedarf fr den Begriff, da er
von vorneherein einen analytischen Systembegriff vertrat, der die Differenz der
Beobachterperspektiven konzedierte, jedoch nicht fruchtbar machte. Im Fall von
Lvi-Strauss habe ich den Verdacht, dass er den Beobachter wie das mana bei
Mauss als symbolischen Nullwert interpretiert htte, also als Supplement, das
sich der Abwesenheit einer Bezeichnung oder Erklrung entgegensetzt.
25
Ich will
nicht ausschlieen, dass sich die neuere Erkenntnistheorie
26
bei all ihrer Insistenz
auf der kognitiven Empirie des Beobachters dieser Einschtzung anschlieen
knnte. Denn wenn man sagt, dass die Wahl zwischen Symbolischem und Ima-
ginrem nur von einem Beobachter fr sich zu entscheiden ist, sagt man zugleich
auch, dass sie prinzipiell nicht zu entscheiden ist. Das erst sichert dem Beobachter
seinen Spielraum.
Nach der Rhetorik
158
Jede Kulturtheorie partizipiert an dieser Erfahrung einer nicht zur Ver-
fgung stehenden Bedeutung.
27
Es werden Titel wie Recht, Kunst, Wirt-
schaft, Politik und Wissenschaft
28
oder Sprache, Heiratsregeln, Reli-
gion und wiederum konomie, Kunst, Wissenschaft
29
vergeben, um die
im Kulturellen formulierte Differenz zwischen dem Realen und seiner Bedeu-
tung festzuhalten. Parsons
30
zog daraus die Konsequenz, die Leistung der Kultur
in der Orientierung am Realen, aber wohl auch fr das Reale zu sehen. Damit
wird, wenn man diese sehr verschiedenen Begriffstraditionen so zusammenzie-
hen darf, die Differenz von Imaginrem und Symbolischem zum Orientierungs-
wert fr das Reale aufgewertet. Das kann man nur verstehen, wenn man unter
dem Realen Kommunikation versteht, wie dies oben vorgeschlagen worden ist.
Man hat dann einen Blick fr die Differenz von Kultur und Kommunikation und
fr das, was diese Differenz organisiert.
I V.
Ich lasse es bei diesen Andeutungen zum Begriffsfeld des Kulturellen und zur da-
hinterstehenden Diskussion bewenden und wechsle von der Lektre der Begriffe
zu einem Begriffsvorschlag, der am genannten Problem einer Kultur, die sich von
der Kommunikation unterscheidet und in diesem Unterschied fr die Kommuni-
kation Orientierungswert hat, ansetzt. Ich werde mich dabei nicht weit von der
Begrifflichkeit von Lvi-Strauss oder Parsons entfernen, also meine Lektre nicht
wirklich aufgeben, aber eine andere Ressource einfhren, die die Diskussion viel-
leicht ein Stck weiterbringt.
Diese Ressource ist der Formenkalkl von G. Spencer Brown.
31
Ich fhre sie
ein, um ein Symbolverstndnis zu entwickeln, das geeignet ist, die Differenz von
Kommunikation und Kultur zu erhellen. Spencer Brown kommt in seinem Kal-
kl mit einem einzigen Operator aus, weil er in der Lage ist, diesen Operator auch
als Operand einzusetzen. Dieser Operator/Operand hat alle Eigenschaften eines
Symbols. Dieses Symbol makes a distinction and is itself the distinction that it
refers to in the process of making that distinction.
32
Ich mchte vorschlagen, die-
ses Verstndnis der Unterscheidung als Operator und Operand fr die Beschrei-
bung der Symbole zu verwenden, von denen im Zusammenhang der Kultursys-
teme die Rede ist.
Das Symbol, so wird man dann sagen knnen, ist eine Unterscheidung, die
den Unterschied bezeichnet, den sie trifft. Es ist damit einerseits die Unterschei-
dung, die es ist, und es bezeichnet andererseits die Unterscheidung, die es ist. Al-
Dirk Baecker
159
les, was es braucht, enthlt es selbst, und dennoch kme es nicht zustande, wrde
es nicht einen Unterschied gegenber anderem machen. Die Bezeichnung der
Unterscheidung ist eine Bezeichnung der Form der Unterscheidung, das heit
der Anschlsse bietenden Innenseite der Unterscheidung zusammen mit der
operativ unzugnglichen Auenseite. Das Symbol, so knnte man sagen, zwingt
das Zeichen zur Aufklrung ber sich selbst und damit zum Eingestndnis der
Differenz gegenber dem Realen, das es bezeichnet. Weit davon entfernt, seine
Referenz zu verlieren, betreut es diese Referenz aus einem operativ reichhaltigen
Differenzverstndnis heraus.
Nun ist mit dieser Unterscheidung zwischen einer Unterscheidung, die ge-
troffen wird, und einer Unterscheidung, die sich selbst bezeichnet, und mit der
Behauptung, dass das Symbol die sich selbst bezeichnende und sich selber tref-
fende Unterscheidung ist, nicht viel gewonnen, wenn man nicht eine Unterschei-
dung zwischen dem Treffen einer Unterscheidung und dem Bezeichnen einer
Unterscheidung machen kann. Ein Symbol kann erst dann als Treffen und Be-
zeichnen zugleich definiert werden, wenn man wei, worin sich Treffen und Be-
zeichnen unterscheiden.
Um diesen Unterschied zwischen Treffen und Bezeichnen geht es im For-
menkalkl von Spencer Brown. Eine Unterscheidung, die getroffen wird, ist
nichts anderes als eine Operation, die vollzogen wird und die, indem sie vollzo-
gen wird, eine Markierung vornimmt. Wenn eine Unterscheidung getroffen
wird, wei man, dass das eine und nicht etwas anderes fr Anschlussoperationen
in Anspruch genommen werden kann. Der Gast schiebt die nicht ganz gar ge-
kochte Kartoffel an den Rand des Tellers so ein von Luhmann
33
verwendetes
und von Stanitzek
34
wieder aufgegriffenes Beispiel. Der Gast trifft damit die Un-
terscheidung, diese Kartoffel nicht essen zu wollen. Sie wird als nicht anschluss-
fhig markiert. Kommunikation wird daraus erst in dem Moment, in dem dieses
Ereignis in Abhngigkeit von wechselseitiger Wahrnehmung Zustandsvernde-
rungen in den beteiligten selektionsfhigen Komplexen, dem Gast und der Haus-
frau, auslst.
Einem Beobachter, dem Gast, der Hausfrau oder einem Dritten, fllt auf,
dass die Kartoffel derart, etwa besonders dezent, an den Rand des Tellers gescho-
ben wurde, dass die Hausfrau es merkt und nicht umhin kann, zu merken, dass sie
es merken soll. Fr diesen Beobachter findet Kommunikation statt. Das Reale der
Kommunikation liegt jedoch nicht darin, dass die Kommunikation einem Beob-
achter auffllt (also nicht darin, dass sie unterschieden wird). Sondern das Reale
der Kommunikation liegt in den vom Verschieben der Kartoffel ausgelsten Zu-
standsvernderungen der beteiligten Komplexe. Dieses Reale ist unzugnglich.
Nach der Rhetorik
160
Und es ist nicht etwa unzugnglich, weil die Psychen von Gast und Hausfrau
unzugnglich wren. Sondern es ist unzugnglich, weil die Auslsung der Zu-
standsvernderungen unzugnglich ist und weil diese Zustandsvernderungen,
wenn sie in der Situation auffallen, gleichsam selbst wieder eine an den Rand des
Tellers, also auffllig gemachte, Kartoffel darstellen. Das Reale ist unzugnglich,
weil in dem Moment, in dem eine Unterscheidung getroffen wird, die Innenseite
der Unterscheidung (das, was sie bezeichnet) die Unterscheidung selber (die
Operation) bis zur Unsichtbarkeit berlagert.
Aber genau das ist das Problem: Wie kann man die Unterscheidung selbst
beobachten? Wie kann man von der Nachricht absehen und sich stattdessen fr
den Auswahlbereich aus der Flle mglicher Nachrichten interessieren? Wie
kann man verhindern, dass man abgelenkt wird von der Bezeichnung, die die Un-
terscheidung trifft, also vom Imaginren? Nur so, so lautet die Antwort, indem
man eine Unterscheidung zwischen Bezeichnung (Imaginrem) und zugrunde
liegender Unterscheidung (Realem) trifft. Wie macht man aus der Kartoffel ein
Symbol? Die Antwort auf diese Frage ist die Geburtsstunde der Kultur. Und die
These, die damit verbunden ist, lautet: Es gibt keine Kommunikation ohne Kul-
tur. Aber wie lautet die Antwort?
Die Antwort lautet, dass es gar nicht zu vermeiden ist. Wer eine Kartoffel an
den Rand des Tellers schiebt, ruft damit Orientierungen innerhalb der Situation
und Evaluierungen der Situation auerhalb der Situation auf, deren mgliche
Flle nur durch die tatschliche Geschichte der Situationen-in-Gesellschaft ein-
geschrnkt wird. Aus der Kartoffel wird ein Symbol, indem es mit einem Schlag
etwas bedeutet, dass sie an den Rand des Tellers verschoben wird. Aber wie kann
etwas, das gerade noch nur eine Unterscheidung und eine von der Unterschei-
dung ausgelste Kommunikation war, etwas bedeuten? Mit Spencer Brown lsst
sich auf diese Frage die Antwort geben, dass etwas dann etwas bedeuten kann,
wenn offen bleibt, wie man darauf reagiert. Die Bedeutung lebt von einer Unbe-
stimmtheit, Unentschiedenheit, ja, Unentscheidbarkeit.
Im Umgang mit Unterscheidungen wird diese Unbestimmtheit und Unent-
scheidbarkeit eingefhrt, indem nicht mehr nur Anschluss an eine Unterschei-
dung gesucht wird, sie besttigend (confirmation) oder aufhebend (cancellation),
sondern diese Unterscheidung auf ihre Form hin beobachtet wird. Die Form der
Unterscheidung besteht aus ihren beiden Seiten, der Innenseite (marked state)
und der Auenseite (unmarked state).
35
Beobachtet man eine Unterscheidung auf
ihre Form hin, fallen nicht nur diese beiden Seiten auf, sondern auch die von der
Unterscheidung selbst gezogene Trennlinie zwischen den beiden Seiten. Das
ermglicht es, die Unterscheidung, die getroffen wird, auf die Ununterscheidbar-
Dirk Baecker
161
keit zurckzuprojizieren, in der und aus der heraus sie getroffen wird.
36
Die Un-
terscheidung wird, mit anderen Worten, im Hinblick auf whlbare Kontexte kon-
tingent. Sie bedeutet, und man wei nicht was. Sie bedeutet sich selbst und sie be-
deutet ausschreibbare Kontexte, eine social matrix
37
oder unwritten crosses,
38
innerhalb derer sie getroffen wurde und die bislang nicht eigens thematisiert wur-
den.
Ein Symbol ist dieser Verweis auf eine von der Unterscheidung selbst auf-
gelste, das heit entschiedene, Paradoxie der Ununterscheidbarkeit und Unent-
scheidbarkeit. Kndigt die an den Rand geschobene Kartoffel die Regeln des Tak-
tes auf? Akzeptiert sie diese Regeln, indem immerhin nicht ausgesprochen
wurde, dass die Kartoffel nicht gar ist? Signalisiert sie Einverstndnis zwischen
Gast und Hausfrau, weil man glaubt, sich eine solche Geste leisten zu knnen?
Eine Kultur stellt diese Fragen nicht, sondern erlaubt es, sie zu beantworten.
Eine Kultur der Gastfreundschaft etwa stellt Mglichkeiten taktvollen Beisei-
teschiebens und Nicht-Aussprechens bereit. Die Realitt der Kommunikation
konfrontiert unausweichlich mit Unentscheidbarkeiten. Die Kultur liefert Ant-
worten. Aber sie tut dies auf eine Art und Weise, die den Status der Unterschei-
dungen, ihre Unbestimmtheit, reproduziert. Sie lebt vom nicht selbst erzeugten,
aber selbst reproduzierten Bedarf an Umgangsformen mit Unentscheidbarkeiten.
Darum ist nie auszumachen, ob Kultur dem Imaginren oder dem Symbolischen
angehrt. Es ist nicht einmal klar, ob die Unterscheidung zwischen Imaginrem
oder Symbolischem imaginr oder symbolisch ist. Deutlich sollte nur geworden
sein, dass sie wie die Kommunikation real ist in jenem durch die Beobachtung der
Form der Unterscheidung zugnglich gemachten Sinne der Unzugnglichkeit.
1 Georg Stanitzek: Kommunikation (Apostrophe & Communicatio einbegriffen), in: Jrgen Fohrmann/
Harro Mller (Hg.): Literaturwissenschaft, Mnchen 1995, S. 1330.
2 Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religise Kategorien im Judentum, in: ders.: ber
einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/M. 1970, S. 90120.
3 Niklas Luhmann: Die Unterscheidung Gottes, in: ders.: Soziologische Aufklrung 4. Beitrge zur
funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 236253.
4 Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: ber die Verstellung und die ersten Primores des Hroe von
Gracin, in: Romanische Forschungen 91 (1979), S. 411430.
5 Jean-Pierre Vernant: Die Entstehung des griechischen Denkens. bers. a. d. Frz. von Edmund Jaco-
by, Frankfurt/M. 1982.
6 Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frhen Neuzeit. Eine historische Fallstudie ber die Durch-
setzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/M. 1991, S. 157 ff.
7 Ebd., S. 162 ff.
8 Hans Pohl (Hg.): Die Bedeutung der Kommunikation fr Wirtschaft und Gesellschaft. Vierteljahres-
hefte fr Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 87, Stuttgart 1989.
9 Claude E. Shannon/Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication [1949], Urbana, IL
1963.
10 Anthony Wilden: System and Structure: Essays in Communication and Exchange, London 1972.
Nach der Rhetorik
162
11 Claude Lvi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Marcel Mauss: Soziologie und
Anthropologie, Bd. I. bers. a. d. Frz. von Henning Ritter, Frankfurt/M. 1978, S. 741, hier: S. 25.
12 Jrgen Ruesch/Gregory Bateson: Communication: The Social Matrix of Psychiatry [1951], New York
1987 (Reprint).
13 Shannon/Weaver: The Mathematical Theory of Communication (Anm. 9), S. 3.
14 Lvi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss (Anm. 11), S. 20 ff.
15 Talcott Parsons: A Paradigm of the Human Condition, in: ders..: Action Theory and the Human Con-
dition, New York 1978, S. 352433.
16 Zum Beispiel: Heinz von Foerster: KybernEthik, Berlin 1993, S. 78 f.
17 Jrgen Habermas: Die Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981.
18 Niklas Luhmann: Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984.
19 Jacques Lacan: Psychoanalyse et cyberntique, ou de la nature du langage, in: Le Sminaire de
Jacques Lacan. Texte tabli par Jacques-Alain Miller, Livre II: Le moi dans la thorie de Freud et
dans la technique de la psychoanalyse, 19541955, Paris 1978, S. 339354.
20 Siehe auch: Slavoj Zizek: Grimassen des Realen: Jacques Lacan oder die Monstrositt des Realen.
Hg. und mit einem Nachwort von Michael Wetzel, Kln 1993.
21 Lvi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss (Anm. 11), S. 38.
22 Vgl. Lacan: Psychoanalyse et cyberntique, ou de la nature du langage (Anm. 19).
23 Vgl. Lvi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss (Anm. 11).
24 Talcott Parsons u. a.: Some Fundamental Categories of the Theory of Action: A General Statement,
in: Talcott Parsons/Edward A. Shils (Hg.): Toward a General Theory of Action, Cambridge, MA 1951,
S. 329.
25 Lvi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss (Anm. 11), S. 40.
26 Niklas Luhmann/Humberto Maturana/Mikio Namiki/Volker Redder/Francisco Varela: Beobachter.
Konvergenz der Erkenntnistheorie?, Mnchen 1990.
27 Dean MacCannell/Juliet Flower MacCannell: The Time of the Sign: A Semiotic Interpretation of Mo-
dern Culture, Bloomington 1982.
28 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften: Versuch einer Grundlegung fr das Stu-
dium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band, 5. unvernd. Aufl., Gesammelte Schriften 1,
Stuttgart 1959, S. 49 ff.
29 Lvi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss (Anm. 11).
30 Parsons: Some Fundamental Categories of the Theory of Action (Anm. 24).
31 George Spencer Brown: Laws of Form, New York 1972.
32 Louis H. Kauffman: A Mathematicians Glossary of Terms for Non-Mathematicians, in: Semiotica
195 (1995), S. 157167, hier: S. 160.
33 Niklas Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jrgen Habermas/Niklas Luhmann: The-
orie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie Was leistet die Systemforschung, Frankfurt/M. 1971,
S. 25100, hier: S. 43.
34 Georg Stanitzek: Was ist Kommunikation?, in: Jrgen Fohrmann/Harro Mller (Hg.): Systemtheorie
der Literatur, Mnchen 1996, S. 2155.
35 Spencer Brown: Laws of Form (Anm. 31), S. 6.
36 Niklas Luhmann: Die Paradoxie der Form, in: Dirk Baecker (Hg.): Kalkl der Form, Frankfurt/M.
1993, S. 197212.
37 Ruesch/Bateson: Communication (Anm. 12).
38 Spencer Brown: Laws of Form (Anm. 31), S. 7.
Dirk Baecker
163
Horst Wenzel
DI E MI T T E L A LT E RL I C HE HE RRS C HA F T S DA RS T E L L UNG A L S ME DI A L E S E RE I GNI S
Das gesprochene oder gesungene Wort, zu-
sammen mit dem visuellen Bild des Spre-
chers oder Sngers ist [] auf dem besten
Wege, durch die Elektrotechnik seine alte
Bedeutung wiederzugewinnen.
1
Marshal McLuhan
I . ME T H O D O L O G I S C H E V O R B E ME R K U N G E N
Das Motto dieses Beitrags stammt von Marshall McLuhan, der sein Buch Die
Gutenberg-Galaxis einleitend als Ergnzung der Studien von Lord und Parry be-
zeichnet.
2
Milman Parry und Albert B. Lord haben grundlegende Untersuchun-
gen ber die mndliche Epik durchgefhrt, ber die spezifischen Formen der
Auffhrung und Weitergabe oraler Dichtung unter den Bedingungen einer kr-
pergebundenen Memorialkultur.
3
McLuhan bezieht sich kontinuierlich auf ihre
Forschungen, vergleicht immer wieder das Zeitalter nach dem Buchdruck mit
dem Zeitalter vor dem Buchdruck, die Audiovisualitt der technisch vermittelten
Bilder und Tne mit der Audiovisualitt der krpergebundenen Auffhrungs-
kultur (performance culture), die sekundre Oralitt der neuen Kommunika-
tionsmedien mit der primren Oralitt der Face-to-Face-Kommunikation, den
sekundren Analphabetismus der elektronischen Welt mit dem primren Anal-
phabetismus nicht-alphabetischer Kulturen.
4
Er gibt damit den Auftakt fr eine
Forschung, die das semi-orale Mittelalter und die Neuzeit unter medienge-
schichtlicher Perspektive aufeinander bezieht, die technisch vermittelten Bilder
seines global village mit den Selbstdarstellungen einer local community, die
sich ihrer selbst in den multisensorischen Inszenierungen von Ritualen und Ze-
remonien vergewissert.
5
Dieser Ansto ist in der kulturwissenschaftlichen De-
batte vielfach aufgenommen worden. Prononciert heit es bei Vilm Flusser: Die
gegenwrtige Kommunikationsrevolution ist im Grunde nichts anderes als die
Rckkehr zu einer ursprnglichen Situation, welche durch den Buchdruck und
die allgemeine Alphabetisierung durchbrochen und unterbrochen wurde. Wir
sind dabei, zu einem Normalzustand zurckzukehren, welcher nur 400 Jahre
lang durch den Ausnahmezustand, genannt Neuzeit, unterbrochen war. Diese
Rckkehr ins Mittelalter wre demnach das Charakteristische an den gewaltigen
Vernderungen in unseren Kommunikationsstrukturen.
6
Flusser selbst gesteht
Nach der Rhetorik
164
zu, dass seine These von der Medivalisierung der neuzeitlichen Kommunika-
tionsstrukturen verfeinert werden muss; entscheidender ist hier, dass sich auch in
seinen berlegungen die mediengeschichtliche Debatte nicht nur auf die elektro-
nischen Medien bezieht, sondern auf einen umfassenderen Medienbegriff, der
auch das Buch, die Handschrift und den menschlichen Krper als Trger der
Kommunikation im Raum der wechselseitigen Wahrnehmung einbegreift.
7
Die
bertragung nachrichtentechnischer Modelle auf die hochkomplexe menschli-
che Kommunikation ist gewiss nicht unproblematisch, aber fr viele Fragestel-
lungen besonders produktiv.
Aus der Perspektive eines erweiterten Medienbegriffs sind auch die Formen
der krperlichen Mitteilung bertragungsmodi und Memorialtechniken, die sich
in sozial eingebten Haltungen, Gesten und Gebrden verfestigen. Die Ausstat-
tung und die Choreographie der Krper ist fr die Darstellung und die Vergegen-
wrtigung von Sinnbestnden am Hof und in der mittelalterlichen Kirche von
zentraler Bedeutung.
8
In einer Gesellschaft, in der es noch keinen Ausweis gibt,
muss der Mensch sich ausweisen durch die Darstellung dessen, was er ist oder zu
sein beansprucht. Das gilt vor allem fr die hohen Wrdentrger im geistlichen
und weltlichen Bereich, die am eigenen Krper und in der Anordnung und Aus-
stattung ihrer Entourage die gesellschaftliche Selbstdeutung erfahrbar werden
lassen. Dieses Verfahren bezeichnen wir als Reprsentation, als Vergegenwrti-
gung oder Verkrperung von gltigen Standards und Werten.
9
In diesem Sinne beschreibt Thomasin von Zerclaere im Wlschen Gast
(1215), der ersten volkssprachlichen Lebenslehre, seine Forderungen an den vor-
bildlichen Herrscher:
wir mezen sehen durch den tac
an iu herren waz man sol
tuon. ist daz ir tuot wol,
wir volgen harte gern daz guot.
ob aver ir unrehte tuot,
wirn wizzen waz wir suln volgen,
und varn irre nahts unz an den morgen.
tuot ir unreht, ir st diu naht
diu uns nimt des liehtes kraft.
wir suln uns gar an iu schouwen:
ir st der spiegel, wir die vrouwen.
ist der spiegel ungelche,
man siht sich selben wunderlche:
Horst WenzelHorst Wenzel
165
man dunkt ze kurz sich od ze lanc,
ode ze breit, ode ze kranc []
ist der spiegel lieht als er sol,
ganz, sinwel, man siht sich wol.
(W. G. 1752 ff.)
10
(Wir mssen an euch Herren den ganzen Tag hindurch erkennen, was
man tun soll. Wenn ihr das Rechte tut, dann folgen wir euch gerne nach.
Wenn ihr aber Unrecht handelt, wissen wir nicht, wonach wir uns rich-
ten sollen und gehen stndig in die Irre, in der Nacht bis an den Morgen.
Tut ihr Unrecht, seid ihr die Nacht, die uns die Kraft des Lichtes nimmt.
Wir sollen uns ganz an euch erkennen: Ihr seid die Spiegel, wir die Frau-
en. Ist der Spiegel uneben, sieht man sich selbst verzerrt, man hlt sich fr
zu klein oder zu gro, zu breit oder zu unscheinbar []. Ist der Spiegel
hell, wie es sich gehrt/erforderlich ist, ganz und rund, dann sieht/er-
kennt man sich gut.)
Danach ist der Herr ein ffentliches Medium, ein allen zugnglicher Bildschirm,
der sich verdunkeln kann und damit seine Orientierungskraft verliert, der aber
grundstzlich auf die Betrachter die Sicherheit ihres eigenen Selbstbildes zurck-
spiegelt wie ein Schminkspiegel den Frauen. Ist der Spiegel hell und klar, kennt
man sich auch selber angemessen. Ist der Spiegel aber fehlerhaft, sieht man sich
selber nur verzerrt, zu kurz, zu lang, zu breit oder zu schmal.
Wenn der Status jedes Statustrgers und die sie verbindenden Statusrelatio-
nen durch permanente Reprsentation immer wieder neu bewhrt und gewhr-
leistet werden mssen, agieren exponierte Krper im ffentlichen Raum als
Medium, als personale Zeichentrger, die zu bedeutenden Konfigurationen zu-
sammentreten oder im Schauraum von Schrift und Bild vermittelt werden. Die
Literatur als Reprsentation der Reprsentation fungiert dabei zugleich als Me-
taebene, von der aus hfische Reprsentation beobachtet und in ihren Mglich-
keiten und Grenzen dargestellt (abgebildet) werden kann. Diese literarisch
diagnostizierbare Distanz macht einsichtig, dass die Muster reprsentativer Sta-
tusdemonstration zumindest von einer schmalen Gruppe Intellektueller in ihrer
Zeichenhaftigkeit erkannt und im Bewusstsein dieser Zeichenhaftigkeit artis-
tisch verwendet werden.
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
166
I I . S TAT U S D E MO N S T R AT I O N U N D H E R R S C H A F T.
D I E K O N S T R U K T I O N V O N H E R R S C H A F T L I C H E R V O R - B I L D H A F T I G K E I T
Im Erec des Hartmann von Aue, dem ersten volkssprachigen Artusroman der
deutschen Hofkultur, wird thematisiert, dass vorbildliche Herrschaft die mediale
Prsenz des Herrscherkrpers fordert, dessen Bestimmung als Bild und Spiegel
darauf abzielt, den Zusammenhang der allgemeinen Ordnungsidee und ihrer ak-
tuellen Realisierung in der sinnlich wahrnehmbaren Darstellung seines Status f-
fentlich erfahrbar vorzufhren.
11
Die erzhlte Handlung verluft in einem doppelten Kursus.
12
In der ersten
Abenteuerkette bewhrt sich Erec als junger, ehrenhafter Ritter, und diese
Bewhrung wird durch ein groes Fest am Artushof besttigt, bei dem Erec und
Enite ehelich verbunden werden. In der zweiten Abenteuerkette wird der Status-
verlust des Paares demonstriert und durch eine progressive Reihe von Bewh-
rungstaten berwunden. Die Schilderung des Artusfestes bildet die Mittelachse
des Geschehens und zieht sich ber mehr als tausend Verse. Sie verbindet die Ini-
tiation des jungen Knigs mit der Darstellung des Artushofes und fhrt die Son-
derstellung von Knig Artus als Zentralherrscher sinnfllig vor Augen.
1 . D I E I N S Z E N I E R U N G D E R A R T U S H E R R S C H A F T
DieZentralfunktiondesHerrschersmanifestiertsichinderMachtderRaumdurch-
dringung, und so zeigt die Schilderung zunchst die Reichweite der Artusherr-
schaft (Er. 1893 ff.). DemAufzug der Gste kannder Hrer/Leser entnehmen, dass
selbst vondenhchstenBergenundvondenwunderbarstenInseln, Grafen, Herz-
ge undKnige herbeistrmen. Insgesamt zehnKnige findensichein, fnf junge
und fnf alte, darunter der Knig vonSchottland, aber auchder Zwergenknig Bi-
lei. DiejungenKnigereitenschwarzePferdeundtrageneinheitlicheKleidungaus
Samt undZiklat, gefttert mit verschiedenfarbigenPelzen. DiealtenKnigesitzen
auf weienPferdenundsindebenfalls mit einheitlicher Kleidungversehen. Sietra-
genbestenenglischenBrunat mit grauemPelzfutter, Zobelkragenund Zobelmt-
zen, auf ihren Kleidern leuchten aufgesetzte Goldbleche. Die jungen Frsten fh-
ren Jagdfalken auf der rechten Hand, die alten Frsten Habichte, das Zaumzeug
ihrer Pferde leuchtet von Gold und Silber, die Sattelriemen sind bunt bestickt.
Die Ausstattung der einreitenden Herren macht ihren hohen Status sicht-
bar, zeigt aber auch die Gleichheit ihres Ranges gegenber der Sonderstellung des
Zentralherrschers. Der Charakter der sinnflligen Inszenierung, der ffentlich-
Horst Wenzel
167
keitswirksamen Auffhrung (performance), wird dem Leser/Hrer unmittelbar
einsichtig. Das Bild, das sich vor dem inneren Auge aufbaut, ist ein Schaubild h-
fischer Pracht und Schnheit. Im Vergleich mit dem Werk von Chrtien konsta-
tiert bereits Wandhoff fr die Eingangsszenen des Erec: Alle entscheidenden
Handlungen werden bei Hartmann visualisiert.
13
Verbunden wird diese litera-
risch vermittelte Visualisierung aristokratischer Macht mit detaillierten Nach-
richten ber die Herkunft der frstlichen Ausstattung: der beste brnt aus Eng-
land (Er. 1986f.), Pelzfutter, wie man es besser weder in Russland noch in Polen
finden knnte (Er. 1988f.), der beste Zobel des Sultans aus Connelant (Er. 2000f.).
Alles das sind Luxusgter, fr deren Qualitt der Name ihrer Herkunft steht, alles
Herkunftslnder, die der Zentralstellung des Artushofes Ausdruck geben. Die
Rede ber die Herkunft der gezeigten Pracht verstrkt die Aura des Gesehenen.
Hrensagen und Sichtbarwerden gehren zusammen, um dem Anspruch herr-
scherlicher Reprsentation zu entsprechen und eine multisensorische Wahrneh-
mung von krpergebundenem Status zu gewhrleisten.
Die Macht und die Grozgigkeit von Knig Artus, der alle diese Herren an
seinen Hof geladen hat, zeigen sich nicht zuletzt an seiner milte, an der Freigiebig-
keit gegenber dem fahrenden Volk. Dreiig Mark in Gold werden an jeden der
Spielleute verteilt: der was d zehant/driu tsent unde mre (2161 f.). Das wren re-
alistisch gerechnet 90.000 Mark in Gold allein fr die Spielleute. Das reichlich
ausgeteilte Gold wird ergnzt um die Geschenke an Kleidung und Pferden, und
dieses Schenken, so heit es, hrte nicht mehr auf, bis das Fest nach 14 Tagen
endete. Die Spielleute fungieren hinfort als Propagandisten des Knigs: die
sprchen alle mit gelchem schalle/ wol den hchzten(Er. 2200ff.). Im Hinblick auf
die Bedeutung des schalles und des schallens wird die reiche Dotierung der Spiel-
leute verstndlich. Sie sind Lautsprecher und Weitsprecher des Knigs, die die
Nachricht von dem Fest und von der Grozgigkeit des Gastgebers (wirtes) in alle
Lande tragen: Ihre Zufriedenheit garantiert, dass sich die fama darber bis an die
Grenzen des Erdkreises verbreitet. Insofern ist die milte nicht nur Freigiebigkeit,
sondern Reprsentation von Herrschaft, Herrschaftsmanifestation im Sinne ei-
ner medialen Sicherung des Zentralhofes.
2 . D I E I N S Z E N I E R U N G D E S J U N G E N K N I G S
Zur Unterhaltung und zum Vergngen der Herren soll drei Wochen nach dem ei-
gentlichen Fest ein groes Turnier ausgetragen werden.
14
Es ist das erste Turnier,
an dem Erec teilnehmen wird. Deshalb sorgt er sich um eine standesgeme Aus-
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
168
stattung als Bedingung fr einen guten Ruf, fr einen anerkannten namen: rec
fil de roi Lac/ maneger gedanke phlac,/ wie er dar s kaeme/ als snem namen gezae-
me (Er. 2248ff.).
Erec ist sich dessen sehr bewusst, dass er Lob oder Tadel gewinnen kann, die
beide lange an ihm haften werden. Deshalb berlegt er sorgfltig, wie er seinen
ffentlichen Auftritt vorbereiten soll. Selbstbeobachtung und Selbstentwurf er-
weisen sich als Charakteristikum des jungen Knigs. Die Fhigkeit zur Antizipa-
tion, zur kalkulierten Inszenierung einer weiterwirkenden, gedchtniswrdigen
performance im Rahmen des Turniers drckt ein Anspruchsniveau aus, das ber
seine textinterne Bedeutung hinausweist:
vil dicke gedhte er dar an,
in swelchem werde ein junger man
in den rsten jren stt,
daz er daz immer gerne ht.
er vorhte den langen itewz.
deste groezeren vlz
gben sne raete
wie erz d wol getaete.
(Er. 2254ff.)
(Er dachte hufig daran, da man den Ruf, den man als junger Mann in
den ersten Jahren erwirbt, leicht fr immer behlt. Daher frchtete er den
langwhrenden Tadel. Desto sorgfltiger waren seine berlegungen, wie
er dort ambesten auftrte.)
Starke Selbstberwacher sind Taktiker. Sie richten ihr Verhalten pragmatisch und
flexibel auf unterschiedliche situative Anforderungen aus. Erec mchte in erster
Linie das Publikum fr sich einnehmen, das Publikum beeinflussen. Die Planung
des Turniers erweist sich deshalb auch als kalkulierte Vorbereitung zur Begrn-
dung seines Ruhms, zur Erwerbung eines Namens. Wie er sich darstellt und sich
ins Gesprch bringt, wird ber seinen Ruf entscheiden. Da er nicht gengend
Mittel bei sich hat, um seinem Anspruch gem aufzutreten, wendet er sich an
den Knig, und Artus stattet ihn mit all der Pracht aus, die sein anspruchsvoller
Gast aus eigenen Mitteln nicht bestreiten kann. So werden die Untersttzung des
Knigs und die Auszeichnung des jungen Erec gleichzeitig hervorgehoben.
Vor diesem Hintergrund erweist sich die Planung des Turniers und die Aus-
stattung des jungen Knigs als aufschlussreicher Einblick in das Instrumentarium
Horst Wenzel
169
herrscherlicher Reprsentation. Allein die Schilde, die Erec bereitstellt, sind von
aufsehenerregender Pracht, einer silberglnzend wie ein Spiegel, der zweite
leuchtend rot, der dritte auen und innen von Gold, mit einem darauf aufgehefte-
ten rmel aus Zobel als Schildzeichen, der Schildriemen bestickt mit kostbaren
Steinen (Er. 2285 ff.). Die Schilderung ist darauf angelegt, die Vorstellungskraft
der innerliterarischen und auerliterarischen Beobachter zu stimulieren, und
wird so zu einer Kunstbeschreibung hfischer Waffenpracht. Zaumzeug und
Fahnen entsprechen den Schilden, dazu kommen Pferde aus Spanien, Helme aus
Potiers, Halsberge aus Schamliers, Beinschienen aus Glenis, Lanzen von Lofanige,
ein Helm mit kostbarer Helmzier in der Form eines Engels, Waffenrock und Scha-
bracke aus grnem Samt und kostbarer Seide. Diese Ausstattung zeigt Erec im As-
soziationsraum aristokratischer Wunschvorstellungen, nennt die Topographie
der waffentechnischen Avantgarde und signalisiert die Reichweite der Macht von
Artus als Zentralknig, die sich auf Erec bertrgt.
Erecs Erscheinung ist aber nicht nur die Reprsentation von kniglicher
Macht, ist nicht nur Anspruch und Verheiung von zuknftigem Ruhm, sondern
auch Verpflichtung und Bekenntnis zu Enite, seiner Knigin. Helmzeichen und
Minnermel, Schildbemalung und Wahl seiner Farben stellen einen deutlichen
Bezug zu Enite als seiner Minnedame her. Die Ausstattung ist ein Programm, das
nun danach verlangt, im Minnedienst ostentativ erfllt zu werden. Erec wei,
dass das uere Erscheinungsbild die Grundlage des ritterlichen Rufes ausmacht,
dass er mit seiner Ausstattung einen Anspruch sichtbar macht, an dem er gemes-
sen wird.
Mit dem Aufbruch zum Turnier trennt sich Erec von Enite, um am Ort des
Turniergeschehens mit den anderen Kmpfern, mit Knig Artus und seinem Ge-
sinde zusammenzutreffen: an der sambeztages naht/ kam mit aller sner maht/ der
knec Arts dar./ er brhte sn massene gar (Er. 2368ff.). Die Gegenwart des K-
nigs und der ganzen massene schafft den Rahmen dafr, dass die Darstellung Er-
ecs sich in einem ffentlichen Schauraum vollziehen kann, der eine hohe Ver-
bindlichkeit des Urteils garantiert. Zunchst hlt Erec sich jedoch zurck, er
mischt sich nicht in die lautstarke Selbstdarstellung der Akteure ein (deheines
schalles er began, Er. 2380) und verzichtet auch darauf, seine Mittel hnlich gro-
zgig zu verschwenden wie viele andere (er lebete [] ungiudeclchen, Er. 2381 f.).
Seine Zurckhaltung resultiert aus der Knappheit seiner Mittel, ist aber auch klu-
ge Bescheidenheit, mit der er sich absetzt von den blichen Verhaltensmustern,
und zugleich der Beginn seiner kalkulierten Selbstinszenierung, denn am nchs-
ten Morgen legt er vor allen anderen seine Rstung an, um seine erste Tjost zu rei-
ten. Als sich das Turnierfeld fllt, ist Erec bereits wieder abgezogen, und nur fnf
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
170
ledige Pferde auf dem Plan legen Zeugnis davon ab, dass er fnf Gegner besiegt
hat. Erecs agonales Kalkl
15
geht auf, die unerwartete Abwesenheit des Siegers
steigert die Wunderbarkeit seines Erfolges und bringt seinen Namen verstrkt ins
Gesprch: vil wol wart er geprset d (Er. 2452). Beim Lanzenstechen und im
Schwertkampf zeichnet Erec sich erneut aus, sodass er ins Zentrum der allgemei-
nen Aufmerksamkeit rckt: si nmen alle sn ein war (Er. 2470). Die Zentralstel-
lung, die sich Erec in der ffentlichen Wahrnehmung erkmpft hat, besttigt sich
dadurch, dass er auch wrtlich als der beste aller Ritter eingestuft wird (Er.
2479ff.). Seine eigene Partei und die Partei der Turniergegner rhmen ihn in
gleicher Weise. Erec hat sich ins Gesprch gebracht und seine strahlende Erschei-
nung in das Gedchtnis der Turniergesellschaft.
Am zweiten Tag des Wettbewerbs besttigen sich die Erfolge Erecs. Wh-
rend die meisten anderen Ritter noch schlafen, ist er wieder heimlich auf dem
Feld, und diesmal versticht er seine Lanzen sogar ohne Rstung. Auch diese Ak-
tion ist Dienst fr die Ausbreitung seines Ruhms, und fr diesen Dienst wird Erec
nach Auskunft der Dichtung in der Weise belohnt, dass vrou melde (Er. 2516)
selbst, die personificatio der fama, fr die Ausbreitung seines Namens sorgt. Aber
auch Erecs eigene Vorbereitung erweist sich als hchst effizient. Im Massenkampf
sticht er in seiner prchtigen Ausrstung so deutlich hervor, dass ihn niemand aus
den Augen verliert: wpenroc und krne/ machete in z schne/ unde s daz d ze-
hant/ dehein ritter was s verre erkant (Er. 2568ff.). Aber Ausstattung und Ruf al-
leine machen keinen Knig. Disposition und Behauptung des Status mssen sich
ergnzen. Erec erweist sich als der beste Ritter auf dem Feld, er allein rettet seine
Mannschaft vor einer drohenden Niederlage, und er bertrifft sogar Gawan, den
hfischen Musterritter, durch seine glanzvollen Taten. Das Turnier endet folge-
richtig mit dem Lobpreis Erecs, der den hchsten Ruhm erworben hat:
den prs hete er d bejaget,
und den s volleclchen
daz man begunde gelchen
sn wsheit Salomne,
sn schoene Absolne,
an sterke Samsnes genz.
sn milte dhte si s grz,
diu gemzete in niemen ander
wan dem milten Alexander.
sn schilt was zerbrochen,
mit spern s zerstochen,
Horst Wenzel
171
man hete viuste d durch geschoben.
sus verdiente rec sn loben.
(Er. 2813 ff.)
(Er hatte Ruhm erworben, und das in so hohem Mae, da man seine
Weisheit der Salomons verglich, seine Schnheit der Absaloms und an
Strke stellt man ihn Samson gleich. Seine Freigiebigkeit schien ihnen so
grenzenlos, da sie ihn keinem andern als dem freigiebigen Alexander
vergleichbar machte. Sein Schild war zersplittert und so von Lanzen
durchstochen, da man Fuste htte hindurchstecken knnen. So hatte
Erec seinen Ruhm verdient.)
Die Aufzhlung von Erecs Tugenden ist keine bloe Rhetorik. Seine Weisheit
(Salomon) hat er in der klugen Vorbereitung und in der kalkulierten Teilnahme
am Turnier bewiesen, seine Schnheit und seine Strke (Absalom) werden durch
seine Ausrstung und seine Kampfesfhrung deutlich, seine milte (Alexander)
zeigt sich im Verzicht auf Beute, und so zieht er berechtigt den Preis kniglicher
vuore auf sich.
Die Zuteilung von re und prs im Turnier hat eine hnliche Resonanz wie
die Begabung oder Dotierung der Spielleute. Der Ruhm des Erfolgreichen wird
von den eigenen Parteigngern, aber auch von den Gegnern weit im Land verbrei-
tet. Es ist eine Ausbreitung des Namens, die den Spielregeln des Turniers folgt
und doch eine symbolische Territorialisierung darstellt, die als gesellschaftliche
Anerkennung (re) definiert wird. Das Fest als Schauraum hfischer Reprsenta-
tion ist angewiesen auf die bersetzung des dort Gesehenen in Erzhlungen und
Berichten. Das Sehen als bevorzugtes Medium sozialer Kommunikation wird
durch das Hren ergnzt und erweitert sowohl in rumlicher wie zeitlicher Hin-
sicht: Als maere finden die Ereignisse nicht nur im ganzen Land Verbreitung,
sondern werden ebenso fr eine gewisse Dauer konserviert.
16
Mit Artus gemeinsam reitet Erec zurck an den Hof des Knigs. Dort trifft er
auf Enite, mit der er sich alsbald von Artus verabschiedet, um in das Land seines
Vaters zu ziehen, wo er die Herrschaft bernehmen soll. Sein Anspruch auf einen
namen hat sich dahingehend erfllt, dass er aus der Sicht des Zentralhofs als vor-
bildlicher Artusritter gelten kann, als vorbildlicher Minneritter fr Enite und als
qualifizierter Nachfolger im Knigreich seines Vaters.
Erecs berlegenheit liegt fr den literarischen Beobachter darin, dass er sei-
ne mgliche Wirkung in der ffentlichkeit bereits vor dem Turnier berdenkt
und seinen Auftritt kalkulierend vorbereitet, dass er sich schon vor dem Turnier
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
172
antizipatorisch mit den Augen der anderen wahrnimmt. Hartmann demonstriert
an seinem Protagonisten ein beachtliches Verstndnis fr die Mechanismen der
Reprsentation, fr den Zusammenhang zwischen den sichtbaren Zeichen und
deren artistischer Verwendung. Deshalb kann er Erec darstellen als kompetenten
Selbstinszenierer, der sich einerseits als Subjekt der hfischen Reprsentation
versteht und andererseits mit den Augen der hfischen ffentlichkeit wahr-
nimmt. Diese Spaltung demonstriert ein Bewusstsein von kalkulierter Herr-
schaftsdemonstration, die auf das spte Mittelalter vorausdeutet. berschaut
man die umfangreiche Festschilderung insgesamt, so lassen sich resmierend
verschiedene Gesichtspunkte hervorheben:
Das Fest dient der Demonstration und der Besttigung von Status, in die-
semFall zuallererst demRang von Knig Artus. Er ist der rche Knig, der an sei-
nemHof die hchste Macht verkrpert. Deshalbist auchdie Reichweite (wte) sei-
ner Einladungen signifikant, ebenso signifikant wie der hohe Status seiner Gste.
Das Fest dient dem Gewinn von Ansehen, und Ansehen meint dabei ein
ffentliches Angesehenwerden, das sich mit Anerkennung verbindet und im Ge-
dchtnis bewahrt wird (re). Das gilt grundstzlich fr den Knig und den hohen
Adel, hier aber vor allem fr den jungen, bisher namenlosen Erec. Der Erwerb von
Ansehen resultiert aus der Besonderheit des Festes als einem auerordentlichen
hfischen Ereignis, aus der Prsenz des vorbildlichen Herrschers, aus der Ausstat-
tung der Gste, der Sichtbarkeit und Hrbarkeit ffentlich ausgestellter Macht
und Herrschaft. Eine besondere Funktion hat dabei die reiche Begabung der
Spielleute, weil sie als Trger der fama die Bedeutung dieses Festes fr all jene er-
fahrbar machen, die nicht selbst daran teilnehmen knnen.
Fr Erec schlielich hat dieses Fest den Rang der Initiation, es dient der
Einfhrung in die Gesellschaft des Artuskreises, der Begrndung seiner fama als
Bedingung dafr, selbst Knig zu werden und als Minneritter seine Knigin zu
ehren. Die tatschliche bernahme der Knigsherrschaft wird vergleichsweise
lapidar abgehandelt, sehr viel breiteren Raum besitzt die Begrndung dieser Herr-
schaft, die einer Adoption durch Artus und dem Gewinn eines eigenen Namens
(Rufes) gleichkommt. Erecs Knigtum erscheint danach als eine Sprossherrschaft
in Anbindung an und in symbolischer Abhngigkeit von der Zentralgewalt des
Artushofes.
Die Literatur als Medium der Reprsentation (Reprsentation der Reprsen-
tation) bezieht sich bei der Vergegenwrtigung des Festes noch nicht auf sich
selbst, sie fungiert vielmehr als Medium der Beobachtung von krpergebundener
Darstellung. Die Zeichnung der Personen geschieht durch ihre Vor-Stellung,
durch die Beschreibung von Habitus und Ausstattung und die Choreographie der
Horst Wenzel
173
Krper. Hier kommt sehr klar zum Ausdruck, dass die Zugehrigkeit zum Adel
und die Wahrnehmung von Herrschaftspositionen stndig dadurch befestigt
werden muss, dass die Herren sich in ihrer statusadquaten Vor-Bildlichkeit f-
fentlich sehen lassen und damit ihren Herrschaftsanspruch darstellen. Sie sind
gehalten, sich mglichst oft zu zeigen und nachhaltig ins Gesprch zu bringen,
also fortwhrend Nachrichten ber ihren Krper, ihre Kampfkraft, ihre Taten,
ihre Sippe und ihren Hof zu produzieren und in Umlauf zu bringen, damit man
sie innerhalb wie auerhalb ihrer Gemeinschaft eindeutig erkennt und sie dem
von ihnen beanspruchten Status entsprechend behandelt. Adelsherrschaft be-
ruht zu einem Groteil auf geschickter Informationspolitik, denn sie muss im-
mer wieder ber die Sinne und durch die Rede im Gedchtnis der Menschen ver-
ankert werden. Gemessen daran zeigt der Erec, zeigen die hfischen Romane eine
Frhform der Mediendiskussion und der Medienkritik, die auf den Herrscher als
den ffentlichen Reprsentanten allgemeiner Werte und Standards fokussiert ist.
Das wird im zweiten Teil des Erec zum zentralen Thema, in dem der Herrscher als
Medium ffentlicher Orientierung und aristokratischen Selbstgefhls versagt,
aber auch mit einer artistischen Inszenierungskunst auf dieses Versagen reagiert,
sodass es ihm gelingt, seine Defizite vor der ffentlichkeit zu verschleiern.
I I I .
1 . S TAT U S V E R L U S T: D I E E I N T R B U N G D E S S P I E G E L S
Mit der bergabe der Herrschaft an Erec und Enite durch den alten Knig Lac (Er.
2919ff.) scheint der Roman bereits an seinem Zielpunkt angelangt. Das vermeint-
liche Happy End schlgt jedoch um in seine Negation, weil sich der junge Herr-
scher primr der Intimitt mit seiner Frau und nicht dem ffentlichen Raum des
Hofes zuwendet. Das schne Bild einer gelungenen Herrschaftsreprsentation
wird so mit dem Scheitern des jungen Knigspaares kontrastiert. Hartmann von
Aue schildert dieses Versagen anschaulich und erkennbar ironisch:
des morgens er nider lac,
daz er sn wp trte
unz daz man messe lte.
s stuonden si f gelche
vil unmezeclche.
ze handen si sich viengen,
zer kappeln si giengen:
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
174
d was ir tweln als lanc
unz daz man messe gesanc.
diz was sn meistiu arbeit:
s was der imbz bereit.
swie schiere man die tische f zch,
mit snem wbe er d vlch
ze bette von den liuten.
d huop sich aber triuten.
von danne enkam er aber nie
unz er ze naht ze tische gie.
(Er. 2937 ff.)
(Morgens legte er sich nieder, um seine Frau zu lieben, bis man zur Messe
lutete. Dann standen sie beide eilig auf. Sie nahmen sich bei der Hand
und gingen zur Kapelle; dort blieben sie gerade so lange, wie man die Mes-
se sang. Das war seine grte Mhe (sn meistiu arbeit); dann war schon
das Essen fertig. Sobald man die Tische hochgezogen hatte, eilte er mit
seiner Frau von den Leuten weg ins Bett. Da ging die Liebe von Neuem an.
Von dort kam er nicht mehr weg, bis er zum Abendessen ging.)
Erec war rechtschaffen, ritterlich und gut, so konzediert der Erzhler, bevor er sei-
ne Frau genommen hatte. Nachdem er jedoch seine Herrschaft angetreten hat,
wendet er alle seine Gedanken an die Liebe zu Enite. Sein Verstand richtet sich
nicht mehr auf die Sicherung des Namens, sondern nur noch darauf, wie er alles
zu seiner Bequemlichkeit einrichten knne. Er ndert seine Gewohnheiten (sn
site er wandeln began) und verbringt den Tag, als sei er nie ein Mann geworden
(als er nie wrde der man; Er. 2934f.). Zwar rumt der Dichter ein, dass Erec sei-
nen Rittern immerhin die Mittel gibt, eigene Turnierfahrten zu unternehmen,
aber er hebt gleichzeitig hervor, dass Erec sich der arebeit (Mhe), seine ritterliche
Vorbildlichkeit ffentlich zu demonstrieren, nicht mehr selber unterzieht:
rec wente snen lp
grzes gemaches durch sn wp.
die minnete er s sre
daz er aller re
durch si einen verphlac,
unz daz er sich s gar verlac
daz niemen dehein ahte
Horst Wenzel
175
f in gehaben mahte.
des begunde mit rehte
ritter unde knehte
d ze hove betrgen.
die vor der vreude phlgen,
die verdrz vil sre d
unde rmten imz s:
wan ez enhte wp noch man
deheinen zwvel dar an,
er enmeste sn verdorben:
den lop hete er erworben.
ein wandelunge an im geschach:
daz man im s wol sprach,
daz verkrte sich ze schanden
wider die die in erkanden:
(Er. 2966ff.)
(Erec gewhnte sich um seiner Frau willen an groe Bequemlichkeit. Er
liebte sie sosehr, dass ihmalles Ansehen(re) alleinihretwegengleichgl-
tig wurde, bis er sich so sehr verlegen hatte, da niemand mehr Achtung
vor ihmempfand. Das verdromit Recht Ritter undKnappenamHof. Die
vordemfrohgewesenwaren(der vreude phlgen), die verdroes dort, und
sie zogen weg. Denn kein Mensch zweifelte, da er ganz verdorben sei;
diesen Ruf hatte er bekommen. Eine Vernderung ging mit ihmvor. Sein
frherer Ruhm verkehrte sich in Schande bei denen, die ihn kannten.)
Erec verliert seine Ehre, das gesellschaftliche Ansehen, das aus der sichtbaren
Vorbildlichkeit des Herrschers resultiert, die in ihrer Vermittlung als fama auch in
fremde Lnder ausstrahlt. Dem Rckzug Erecs in die Intimitt der Kemenate (ver-
ligen) entspricht darum das Lautwerden kritischer Stimmen in der ffentlichkeit
und der Verlust seiner Ausstrahlung:
in schalt diu welt gar.
sn hof wart aller vreuden bar
unde stuont nch schanden:
in endorfte z vremden landen
durch vreude niemen suochen.
des begunden vluochen
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
176
die in ane wunden
und im guotes gunden.
(Er. 2988f.)
(Alle Welt schalt ihn. Sein Hof wurde trbselig und schndlich: aus frem-
den Lndern brauchte ihn niemand aufzusuchen, um Vergngen zu fin-
den. Da fluchten die, die ihm zugehrten und ihm wohlgesinnt waren.
Sie sprachen alle: Verflucht sei die Stunde, da wir unsere Herrin kennen-
lernten. Durch sie gert unser Herr ins Verderben.)
Erec und Enite widmen sich so ausschlielich ihrer nichtffentlichen Zweisam-
keit, dass sie vor dem Anspruch hfischer Reprsentation versagen. Als Garant
der hfischen vreude hat der Herrscher nicht allein die allgemeine Ordnung zu
verantworten, er muss auch selbst fr alle machtvoll in Erscheinung treten, muss
sinnlich wahrnehmbar das Land und die Idee vorbildlicher Herrschaft an sich
selbst vergegenwrtigen. Caput-Reprsentation erschpft sich gerade nicht in der
pragmatischen Sicherung von Ordnungsstrukturen, sondern verlangt nach der
Epiphanie des Herrscherkrpers. Daher reicht es auch nicht aus, wenn Erec als
Landesherr seinen Leuten Geld und Ausrstung bereitstellt, damit sie auf Turnie-
re ziehen knnen, sich selbst jedoch von jeder ritterlichen Tat beurlaubt. Er des-
truiert die Wechselseitigkeit der Spiegelung, aus der das Hochgefhl der vreude
resultiert, undEnite teilt diese Haltung aus der selbstschtigenSorge, Erec zuver-
lieren: recke engetorste siz niht klagen:/ si vorhte in d verliesen mite. (Er. 3011 f.)
Im Erec werden so die Grundlagen der hfischen Reprsentationskultur,
wird der Zusammenhalt des Gesellschaftskrpers durch die A-Sozialitt des
Herrscherpaares selbst gefhrdet. Mit dem Rckzug Erecs in den nichtffentli-
chen Raum der Kemenate verliert die Caput-Reprsentation ihr Zentrum, wird
der Hof im metaphorischen Sinne kopflos, die Glieder orientierungslos und bin-
dungslos. Das Defizit an schnen Bildern und harmonischen Klngen, das aus
dem Rckzug des Herrschers resultiert, gibt dem schelten und dem vluochen der
desorientierten Stimmen Raum. Die Anziehungskraft des Hofes wird durch die
Abwanderung der re gernden Ritter zu anderen Festen und Turnieren abgelst.
So wird eindringlich demonstriert, dass der Herr das adlig-ritterliche Wert- und
Ordnungsgefge an sich selbst zur Darstellung bringen muss, um damit eine
Integrations- und Stabilisierungsleistung fr einen gesellschaftlichen Zusam-
menhang zu erbringen, der grundstzlich durch Desintegration und Labilitt cha-
rakterisiert ist. Die Literatur macht diesen Anspruch deutlich und bringt ihn in
berhhter Form zur Darstellung.
Horst Wenzel
177
2 . D I E I N S Z E N I E R U N G D E S R E P R S E N TAT I V E N S C H E I N S
Als Enite mehr unwillentlich als willentlich preisgegeben hat, dass sich das har-
monischeBilddes Hofes inAuflsungbefindet, reagiert Erec beschmt.
17
Er stellt
sich jedoch keiner ffentlichen Auseinandersetzung, sondern reagiert mit der un-
mittelbaren, hchst artistischinszeniertenTrennung vonseinemfreudlosenHof:
als er vernam diu maere
waz diu rede waere,
er sprach: der ist genuoc getn.
zehant hiez er si f stn,
daz si sich wol kleite
unde ane leite
daz beste gewaete
daz si iender haete.
snen knaben er seite
daz man im sn ros bereite
und ir phert vrouwen Enten.
er jach er wolde rten
z kurzwlen.
des begunden si d len.
d wpente er sich verholne
unde truoc verstolne
under der wt sn sengewant.
snen helm er f bant
berz houbet als blz.
sn vlz was ze helne grz:
er tete alsam der karge sol.
er sprach: mn helm enist niht wol.
mirst liep daz ichz hn ersehen:
und waere mir sn nt geschehen,
s waere ich gar geirret.
ich sage iu waz im wirret:
man sol in baz riemen.
d enwas aber niemen
der sich des mohte verstn
wie sn gemete was getn.
(Er. 3050ff.)
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
178
(Als er erzhlt bekommen hatte, worum es sich handelte, sprach er: Es ist
genug. Sogleich befahl er ihr aufzustehen, sich sorgfltig anzukleiden
und das beste Gewand anzuziehen, das sie berhaupt besitze. Seinen
Knappen befahl er, man solle ihm sein Pferd bereitstellen und Enite das
ihre. Er gab vor, spazieren reiten zu wollen. Alle beeilten sich. Er aber leg-
te heimlich (verholne) die Rstung an und trug verborgen (verstolne) un-
ter dem Gewand seinen Harnisch. Er setzte seinen Helm ohne Kopf-
schutz auf. Er gab sich groe Mhe, seine Absicht zu verbergen; er verhielt
sich, wie ein Kluger tut. Er sprach: Mein Helm ist nicht in Ordnung. Es ist
gut, da ich das bemerkt habe, denn wenn ich ihn gebraucht htte, wre
ich in einer schlimmen Lage gewesen. Ich will euch sagen, was ihm fehlt:
man mu sein Riemenzeug ausbessern. Es gab jedoch niemanden, der
htte bemerken knnen, wie ihm zu Sinn war.)
Erec und Enite teilen das ffentliche Urteil, den allgemeinen Wert- und Nor-
menstandard. Das Versagen des jungen Herrscherpaares gegenber dem An-
spruch ffentlicher Reprsentation fhrt deshalb zu keiner ffentlichen Blostel-
lung des Knigs. Erec entzieht sich diesem Risiko durch eine Doppelstrategie, die
das ffentliche Bild des Herrschers und das nichtffentliche Herrschaftshandeln
voneinander trennt und zugleich aufeinander abstimmt. Er hat vor, den Hof zu
verlassen, ist aber hchst interessiert daran, dass niemand seine tatschliche Be-
schmung erfhrt. Er lsst Enite ihr bestes Kleid anziehen und simuliert einen ge-
meinsamen Spazierritt. Er legt seine Rstung an, verbirgt sie aber unter dem
Obergewand. Er verwendet sogar das Manver, ohne Helmschutz auszureiten,
weil das Riemenzeug noch auszubessern sei. Schlielich lsst er den Kchen be-
stellen, das Essen fr die Rckkehr anzurichten. Er arrangiert so fr die Augen
und die Ohren der ffentlichkeit eine Form des Abschiedes, die als herrscherli-
cher Zeitvertreib erscheint. Das eigentliche Motiv seines Aufbruchs und seine da-
mit verbundenen Absichten bleiben der ffentlichkeit des Hofes verborgen: er
will sich der Mhe (arebeit) und dem Risiko aussetzen, mit Enite erneut die Be-
whrung als Ritter und Herr zu suchen. Es geht um den realen Beweis von ritter-
licher Gesinnung, den Erec mit seiner Frau so vollstndig erbringen will, wie er es
ohne sie getan hat: er wp genaeme (Er. 2926). An seinem Hof soll dies Bemhen
um Bewhrung jedoch nicht bekannt werden.
Nach dem Zeugnis des Textes setzt Erec Wort und Gebrde, Waffen und
Ausrstung so vorausschauend zu einer Strategie der Tuschung ein, alsam der
karge sol, wie die Klugheit es gebietet.
18
Die Klugheit des Herrschers liegt fr
Hartmann dergestalt ganz ausdrcklich darin, einen reprsentativen Schein zu
Horst Wenzel
179
inszenieren, der fr die mediale Sicherung von Herrschaft unverzichtbar ist. Erec
hat vor dieser Aufgabe zunchst versagt, aber sein Abschied vom Hofe demons-
triert anschaulich, dass er dies Versagen korrigiert, dass er mit seiner Tuschungs-
strategie das ffentliche Bild des Herrschers so beeinflusst, dass er unbehelligt
ausreiten und zugleich die Voraussetzung fr seine erfolgreiche Rckkehr schaf-
fen kann.
19
Was Hartmann hier nur andeutet, fasst Machiavelli im spten Mittel-
alter (1513) theoretisch in Il Principe, in einer Frstenlehre also, die mit dem Erec
das Thema der Herrschaftsinzenierung gemeinsam hat:
A uno principe, adunque, non e necessario avere in fatto tutte le sopras-
critte qualit ma bene necessario parere di averle. Anzi ardir di dire
questo, che avendole e osservandole sempre, sono dannose; e parendo di
averle, sono utili; come parere pietoso, fedele, umano, intero, religioso, ed
essere; ma stare in modo edificato con lanimo, che, bisognando non esse-
re, tu possa e sappi mutare el contrario.
20
(Es ist also nicht ntig, da ein Frst alle aufgezhlten Tugenden besitzt,
wohl aber, da er sie zu besitzen scheint. Ja, ich wage zu behaupten, da
sie schdlich sind, wenn man sie besitzt und stets ausbt, und ntzlich,
wenn man sie zur Schau trgt. So mu der Frst Milde, Treue, Mensch-
lichkeit, Redlichkeit und Frmmigkeit zur Schau tragen und besitzen,
aber wenn es ntig ist, imstande sein, sie in ihr Gegenteil zu verkehren.)
Die historische Perspektive liee sich ber die Gutenberg-ra bis in die Gegen-
wart verlngern. Auch in der Mediendemokratie werden Politik und ihre ffentli-
che Darstellung voneinander abgekoppelt. Viele Sachverhalte sind zu komplex,
um sie in einprgsamen Bildern darzustellen. Letztendlich belohnt der Whler
mit seiner Stimme nicht die beste Politik, sondern den besten Inszenierer. Den
grten Effekt beim jeweiligen Publikum erzielt der Akteur, der sich am ge-
schicktesten in Szene setzt.
Im Rckblick auf das hohe Mittelalter erscheint der Erec als eine Erzhlung,
in der die Gefhrdung des herrscherlichen Image, der Verlust der ffentlichen Re-
putation vorgefhrt wird. Ich fasse diesen Kasus noch einmal zusammen: Das
Ansehen (re) des Herrschers ist gestrt durch den a-sozialen Primat der eheli-
chen Intimitt gegenber den Ansprchen ffentlicher Reprsentation. Der f-
fentliche Krper des Knigs soll jedoch den Vorrang vor allen Bedrfnissen seines
natrlichen Kpers erhalten. Diesem Anspruch gegenber versagen Erec und
Enite gemeinsam. Damit ist nicht das Faktum der Knigsherrschaft selbst, aber
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
180
die Qualitt der Knigsherrschaft und die Harmonie des kniglichen Hofes in
Frage gestellt. Die freudige Akklamation, die aus der harmonischen bereinstim-
mung von corpus und caput resultiert, aus der ffentlichen Erscheinung des vor-
bildlichen Herrscherkrpers, hat nun keinen Ort mehr, bis der Knig wieder-
kehrt.
I V. D I E WI E D E R K E H R D E S K N I G S O D E R D I E R E S TA U R AT I O N D E S S P I E G E L S
Wie geht die Geschichte aus? Als einfacher Ritter, ohne Tisch und Bett mit Enite
zu teilen, setzt Erec sich den Aventiuren aus, die auf ihn zukommen. Die Reihe
der Bewhrungsabenteuer findet ihren Hhepunkt am fernen Hof in Brandigan
(Er. 8869ff.), wo Erec und Enite ihrem Gegenbild begegnen, dem jungen Mabo-
nagrin, der sich mit seiner Minnedame von der Gesellschaft isoliert hat. Den Park,
in dem er sich auf das Gebot seiner Geliebten eingerichtet hat, vermag niemand
zu betreten, ohne das Leben aufs Spiel zu setzen. Achtzig Ritter haben den
Versuch, den Park zu ffnen, bereits mit dem Leben bezahlt, und der Hof von
Brandigan, der vom Klang hfischer Festlichkeit erklingen sollte, ist erfllt mit
den Klagen der hinterbliebenen Frauen. Die tdlichen Konsequenzen einer Lie-
beshandlung, die sich dem politischen Raum und der ffentlichen Zustimmung
entzieht, wird hier in hchster Steigerung bildhaft einsichtig gemacht.
Erec wagt den Kampf mit Untersttzung von Enite. Sie agiert nicht mehr
ausschlielich als Liebende, sondern als weiblicher Part eines Herrscherpaares,
das sich gemeinsam den Verpflichtungen des ffentlichen Lebens unterwirft.
Erec hlt dem berwundenen Gegner seine eigene, endgltig befestigte Erfah-
rung vor: wan b den liuten ist s gout (Er. 9438), in der Gesellschaft, bei den
Leuten ist es gut zu sein. Die spiegelnde Funktion des Brandigan-Abenteuers fr
das verligen von Erec und Enite, die berwindung der Minneisolation durch die
Zuwendung zu den liuten, wird hier ganz besonders deutlich: Erec gibt dem Hof
von Brandigan die vreude wieder. Die fama seines Sieges verbreitet sich im
ganzen Lande, er trgt der ren krne (Er. 9891), und Knig Artus selbst spricht
seine Anerkennung aus (Er. 9944ff.). Die Rehabilitation am Hof des Zentral-
knigs bereitet Erec endgltig den Weg fr die Rckkehr in sein eigenes Land
(Er. 10002 ff.).
21
Die Wiederkehr des Knigs fhrt corpus und caput so zusammen, dass die
Anschauung des harmonischen Ganzen im literarischen Schaubild als Selbst-
inszenierung des Hofes lesbar wird, die in ihrer Pracht und ihrem Aufwand alle
Sinne einbindet in einen Akt der multimedialen Wahrnehmung. Mehr als sechs-
Horst Wenzel
181
tausend Adlige reiten aus zum Empfang ihres Herrn. Die Pferde tragen farben-
prchtige Schabracken, die Ritter halten prchtige Banner in den Hnden, die den
Schabracken gleichen und kostbar mit kunstvollen Figuren benht sind. Das Ge-
filde erscheint rot, wei, gelb und grasgrn gefrbt von der bunten Flle an seide-
nen Kleidern, den besten, die es in der Welt gibt. Der Auftritt des Herrschers, der
in seiner Person das Land verkrpert, und die Hinordnung des Landes auf die Pr-
senz des Herrschers, auf die das Reprsentationsprinzip abzielt, wird in der litera-
rischen Vermittlung bildkrftig ausgearbeitet. Die neu gewonnene Dignitt des
Landes ist an der neu gewonnenen Aura des Herrschers selbst ablesbar. Niemand
erfhrt eine grere Ehrung:
an snem lobe daz stt
daz er genant waere
rec der wunderaere.
ez was et s umbe in gewant
daz wten ber elliu lant
was sn wesen und sn schn.
sprechet ir wie daz mohte sn?
von diu, schein der lp n d,
s was sn lop andersw.
als was sn diu werlt vol:
man ensprach et niemen d s wol.
(Er. 10043 ff.)
(Es gehrte zu seinem Ruhm, da er Erec der Erstaunliche genannt wur-
de. Es stand so um ihn, da er weithin in allen Lndern gegenwrtig war.
Sagt ihr, wie das zugehen konnte? Der Grund war, wenn er in Person an-
wesend war, dann war sein Ruhm anderswo. So war die Welt von ihm er-
fllt; von keinem sprach man so viel Gutes.)
Die zwei Krper des Knigs, der natrliche und der symbolische Krper, werden
hier ganz explizit benannt: Die natrliche Person ist an einen bestimmten Ort ge-
bunden; der schn, der splendor Erecs jedoch wird als fama ausgebreitet. Sein lop
reicht in die wte, erfllt das Land mit der Prsenz des vorbildlichen Herrschers,
der als Spiegel ffentlicher Selbstwahrnehmung die vreude und die re des ganzen
Territoriums zeigt. Erec empfngt die Krone des Landes, die sein Vater, der Knig
Lac, vorher getragen hatte.
22
Er gibt seinem Land vorbildliche Gesetze und hlt
auch Enite, seine Ehefrau, wie es ihm selbst und seinem Reiche angemessen ist:
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
182
der knec selbe huoter
ir willen sw er mohte,
und doch als im tohte,
niht sam er phlac,
d er sich durch si verlac,
wan er nch ren lebete
und s daz im got gebete
mit veterlchem lne
nch der werlde krne,
im und snem wbe,
mit dem wigem lbe.
(Er. 10119ff.)
(Der Knig selbst erfllte aufmerksamihrenWillen, wo er konnte, jedoch
nur, wie es gut fr ihnwar, und nicht wie frher, da er sichumihretwillen
verlegen hatte, denn er lebte nach demGebot der Ehre, und so, da Gott
mit vterlicher Huld nach der weltlichen Krone ihmund seiner Frau die
Krone des ewigenLebens schenkte.)
Nehmen wir den Text hier nur in seiner Funktion als Frstenspiegel, scheint die
Botschaft klar. Die Erzhlung demonstriert, dass der Knig zwar einen natr-
lichen Krper hat, der fr die Liebe empfnglich ist, dass aber die ffentliche Re-
prsentation von Herrschaft im Zusammenspiel von Knig und Knigin so zu in-
szenieren ist, dass das Land die generellen Standards und Ordnungsideen durch
die Person des Herrschers besttigt findet. Das Herrscherpaar ist Medium ffent-
licher Selbstdeutung, ein Spiegel, an dem der Zustand eines ganzen Landes abge-
lesen werden kann. Die ffentliche Inszenierung des Herrschers ist deshalb not-
wendige Konsequenz der Herrschaftssicherung und sie muss alle fnf Sinne
bedienen, vorrangig aber Augen und Ohren, Hren und Sehen.
Der uns vertrauten Audiovisualitt der technisch vermittelten Bilder und Tne
entspricht im Zeitalter vor Gutenberg die Audiovisualitt der krpergebundenen
Auffhrungskultur (performance culture). Im Spannungsverhltnis von Mnd-
lichkeit und Schriftlichkeit zeigt sich das Spezifikum der hfischen Manuskript-
kultur darin, dass sie die Auffhrungskultur der Hfe beobachtet und abbildet
und somit den Schauraum der hfischen Reprsentation im Schauraum der Lite-
ratur fortsetzt und berhht.
Whrend die Augenzeugen eines festlichen Geschehens immer nur die f-
Horst Wenzel
183
fentlich inszenierten Interaktionen zu Gesicht bekommen, kann die Erzhlung
darber hinaus schildern, wie diese Ereignisse wechselseitiger Sichtbarkeit in die
Welt eingebettet sind.
23
Sie zeigt das Spannungsverhltnis von heimlichem und
ffentlichem Handeln und die Strategien der Inszenierung selbst. Die volks-
sprachliche Reprsentationsliteratur ist durch das Spannungsverhltnis von f-
fentlichen und nicht ffentlichen Schaurumen charakterisiert, durch den Wech-
sel zwischen beobachteter und darstellender Perspektive. Die Poetik der
volkssprachlichen Texte ist deshalb auch nicht allein durch die Wahrnehmung
der narrativen Sequenzen fassbar, sondern erfordert eine Poetik der Sichtbarkeit,
eine Poetik der Ikonizitt, die das Zeitalter vor Gutenberg mit dem Zeitalter nach
Gutenberg verbindet.
1 Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy, Toronto 1962; dt.: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des
Buchzeitalters, Dsseldorf/Wien 1968, S. 6.
2 McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis (Anm.1), S. 5.
3 Albert B. Lord: The Singer of Tales, Harvard 1960; dt.: Der Snger erzhlt, Mnchen 1965; Milman
Parry: The Making of Homeric Verse. The Collected Papers of Milman Parry, Oxford 1971; vgl. John
Miles Foley: The Singer of Tales in Performance, Bloomington/Indianapolis 1995.
4 McLuhan verweist immer wieder auf diesen Zusammenhang: Das Ziel dieses Buches ist es, in
erster Linie die Buchdruckphase der alphabetischen Kultur zu studieren. Die Buchdruckphase
sieht sich heute nun den neuen organischen und biologischen Formen der elektronischen Welt ge-
genber. Das heit, sie wird heute am uersten Punkt ihrer mechanistischen Entwicklung, wie
Teilhard de Chardin erklrte, vom Elektrobiologischen durchdrungen. Und es ist gerade diese Um-
kehrung des Formcharakters, die unser Zeitalter gewissermaen mit den nicht-alphabetischen
Kulturen wesensverwandt macht. Es fllt uns nicht mehr schwer, die Erfahrungen und Empfin-
dungen von Eingeborenen oder Nicht-Alphabeten zu verstehen, einfach weil wir diese innerhalb
unserer eigenen Kultur mittels der Elektronik von neuem hervorgerufen haben. Der Nachalphabe-
tismus ist jedoch eine vom Vor-Alphabetismus vllig verschiedene Form der Interdependenz. Wenn
ich deshalb so lange bei den frheren Phasen der alphabetischen Technik verweilt habe, so ist dies
fr ein richtiges Verstndnis der Gutenberg-ra nicht belanglos. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis
(Anm. 1), S. 66 f. Zum Verhltnis von primrer und sekundrer Oralitt heit es bei Walter Ong: Die
Unterschiede zwischen elektronischen Medien und Druck haben uns fr den frheren Kontrast zwi-
schen Schreiben und Oralitt sensibilisiert. Das elektronische Zeitalter ist auch eine Periode der
sekundren Oralitt, der Oralitt von Telefonen, des Radios und des Fernsehens, die es ohne die
Schrift und den Druck nicht geben wrde. Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of
the Word, London 1982; dt.: Oralitt und Literalitt. Die Technologisierung des Wortes, Opladen
1987, S. 10. Zum sekundren Analpabetismus vgl. Hans Magnus Enzensberger: Lob des Analpha-
beten, in: ders.: ber die schwarze Kunst, Nrdlingen 1985.
5 Mary Douglas: Ritual, Tabu und Krpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriege-
sellschaft und Stammeskultur, Frankfurt/M. 1981; Victor Turner: From Ritual to Theatre. The Human
Seriousness of Play, New York 1982; dt.: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen
Spiels. Frankfurt/M./New York 1989; Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur (Konzepte der
Sprach- und Literaturwissenschaft 53), Tbingen 1996.
6 Vilm Flusser: Kommunikologie, hg. v. Stefan Bolmann und Edith Flusser, Frankfurt/M. 1998, S. 53.
7 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, Mnchen 1985; Friedrich Kittler: Grammo-
phon, Film, Typewriter, Berlin 1986; Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialitt
der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frank-
furt/M. 1997.
8 Horst Wenzel: Hren und Sehen Schrift und Bild. Kultur und Gedchtnis im Mittelalter, Mnchen
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
184
1995; vgl. Haiko Wandhoff: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur hfischen Lite-
ratur (Philologische Studien und Quellen: H. 41), Berlin 1996.
9 Ernst H. Kantorowicz: The Kings Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, Princeton 1957;
dt.: Die zwei Krper des Knigs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Mnchen
1990; Hasso Hofmann: Reprsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis
ins 19. Jahrhundert (Schriften zur Verfassungsgeschichte 22), Berlin 1974. Grundlegend neuer-
dings Karl-Siegbert Rehberg: Die ffentlichkeit der Institutionen. Grundbegriffliche berlegungen
im Rahmen der Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard Ghler (Hg.): ffent-
lichkeit der Macht Macht der ffentlichkeit, Baden-Baden 1995, S. 181211; vgl. dazu Rdiger
Brandt: das ain gro gelchter ward. Wenn Reprsentation scheitert. Mit einem Exkurs zum Stel-
lenwert literarischer Reprsentation, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hg.): Hfische Reprsenta-
tion. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tbingen 1990, S. 171208.
10 Zit. nach Thomasin von Zerclaere: Der Wlsche Gast, hg. v. Heinrich Rckert, mit einer Einleitung
und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965.
11 Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und bertragung von Thomas Cramer, Frank-
furt/M. 1972. Hartmanns Erec ist weitgehend an dem Roman Erec et Enide von Chrtien de Troyes
orientiert, berliefert ist der deutsche Text von etwa 1180 nur in der Ambraser Handschrift aus dem
frhen 16. Jahrhundert und in den Wolfenbtteler Fragmenten aus dem 13. und 14. Jahrhundert.
Vgl. Christoph Cormeau /Wilhelm Strmer: Hartmann von Aue: Epoche Werk Wirkung, Mnchen
1985.
12 Hugo Kuhn: Erec, in: ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, 2. Aufl. 1969,
S. 133150. Vgl. Cormeau/Strmer: Hartmann von Aue (Anm. 11), S. 174 f.
13 Wandhoff: Der epische Blick (Anm. 8), S. 207.
14 Diese Turnierbeschreibung im Erec ist die erste in der deutschen Literatur berhaupt und sehr viel
elaborierter als die entsprechenden Passagen bei Chrtiens. Vgl. W. H. Jackson: Chivalry in
Twelfth-Century Germany. The Works of Hartmann von Aue, Cambridge 1994, S. 236; vgl. auch Ha-
rald Haferland: Hfische Interaktion. Interpretationen zur hfischen Epik und Didaktik um 1200,
Mnchen 1988, S. 102.
15 Haferland: Hfische Interaktion (Anm. 14), S. 102.
16 Wandhoff: Der epische Blick (Anm. 8), S. 203.
17 Julio Caro Baroja: Honour and Shame. A Historical Account of Several Conflicts, in: J. G. Peristiany
(Hg.): Honour and Shame. The Values of Mediterranean Society, London 1965, S. 81137; Josef Sz-
verffy: Artuswelt and Gralwelt: Shame Culture and Guilt Culture in Parzival, in: ders.: Gesam-
melte Schriften, Leyden 1977, S. 3346.
18 Hier zeigt sich im Sinne von Rdiger Brandt, da auch im Mittelalter das Offene und das Heimliche
moralisch variable Gren sind, die keine a priori-Qualitt besitzen, sondern die ihre Berechtigung
oder Nichtberechtigung stets erst in konkreten Situationen erweisen. (S. 80) So wie man ent-
deckt, da ffentlichkeit nicht in jedem Fall positive Qualitt besitzt, so bemerkt man umgekehrt,
da Heimlichkeit nicht nur negative Aspekte hat. (S. 83) So wie das Geheimnis einerseits die so-
ziale Ordnung und den sozialen Frieden gefhrden kann, so kann es Ordnung und Frieden scht-
zen, wenn es genau diesen Bruch in der Gesellschaft [] kaschiert. (S. 84). Rdiger Brandt: his
stupris incumbere non pertimescit publice. Heimlichkeit zum Schutz sozialer Konformitt im Mit-
telalter, in: Schleier und Schwelle. Archologie der literarischen Kommunikation V. Bd. 1: Geheim-
nis und ffentlichkeit, hg. v. Aleida und Jan Assmann in Verbindung mit Alois Hahn und Hans-
Jrgen Lsebrink, Mnchen 1997, S. 7188.
19 Von solcher Klugheit war bereits die Rede, als Erec sich auf das Turnier am Hof des Knigs vorbe-
reitete (Er. 2381).
20 Niccol Machiavelli: Il Principe. Der Frst, bers. und hg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 138.
21 Zu hren und sehen vgl. Haiko Wandhoff: Gefhrliche Blicke und rettende Stimmen. Eine audiovi-
suelle Choreographie von Minne und Ehe in Hartmanns Erec, in: Jan-Dirk Mller (Hg.): Auffh-
rung und Schrift in Mittelalter und Frher Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1996, S. 141148.
22 Uwe Ruberg: Die Knigskrnung Erecs bei Chrtien und Hartmann im Kontext arthurischer Erzhl-
schlsse, in: Lili 99 (1955), S. 6982.
23 Wandhoff: Der epische Blick (Anm. 8), S. 169 ff., bes. S. 204; Horst Wenzel: Augenzeugenschaft und
episches Erzhlen. Visualisierungsstrategien im Nibelungenlied (im Druck).
Horst Wenzel
I V. T E L E K O MMU N I K AT I O N
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
Horst Wenzel
187
Erhard Scht t pel z
Q U E L L E , R A U S C H E N U N D S E N K E D E R P O E S I E
R O MA N J A K O B S O N S U MS C H R I F T D E R S H A N N O N S C H E N K O MMU N I K AT I O N
It is not by chance that in the epoch when borders between utopia and reality are
being effaced, the question of the ideology of the folk tale begins to come sharply
into focus. The epoch of revolutionary storms inspired one of the most whimsical
Russian poets, Velimir Khlebnikov, to revise the traditional images of the folk
tale. The Russian fairy tale knows the magic carpet called Self-Flyer (samolet), and
a magic tablecloth that lays itself to feed the hero is named Self-Victualler (samo-
branka). The name Self-Flyer was borrowed by modern Russia for the aeroplane.
Self-Flyer, writes Khlebnikov in a poem, walks through the sky. But where is
Tablecloth, Self-Victualler, wife of Self-Flyer? Is she by accident delayed, or
thrown into prison? I credit the fairy tales; they were just fairy tales, they will
become truth.
1
Im Folgenden geht es um eine einzige historische Transkription und ihren
philologischen Nachvollzug. Auf dem Spiel steht der Begriff der Kommunikation,
Poesie findet ihre Definition, und es geht um eine Theorie der Transkription.
Allerdings kann ich in der Darstellung keine solche Theorie voraussetzen, weil
ich in diesem Fall bei der umgekehrten Frage bleiben muss, wo und wofr Trans-
kription bereits ein Modell war und ist. Die Modelle fr Transkription sind auch
deshalb in unserer Gesellschaft so durchgreifend, weil Umschrift, und zwar ge-
nauer: alphanumerische Verschlsselung, ein Modell ist. Wofr? Der mathemati-
sche Modell-Begriff besagt, dass diese Frage prinzipiell offen bleibt alles, was
die Axiome eines Modells erfllt, alles, was ein bestimmtes Set von Axiomen er-
fllt, ist eines seiner Modelle.
2
So ist alphanumerische Transkription in einer be-
stimmten historischen Situation, im 2. Weltkrieg und kurz danach, nicht nur
zum Modell fr Kryptographie, also fr Geheimkommunikation geworden, son-
dern die Theorie der Bedingungen dieser Transkription wurde aufgrund der er-
folgreichen Mathematisierung ihrer Technik zum Modell und zur Theorie der
Kommunikation berhaupt ein Vorgang, der trotz seines Erfolgs bis heute strit-
tig geblieben ist, sich aber auch aufgrund der mit ihm eng verknpften Erfolgsge-
schichte des Computers oder eher: der Computerisierung seitdem stetig wieder-
holt. Es ist Zeit, einen Schritt zurckzutreten und das einfache und rtselhafte
Faktum zu konstatieren, dass das dem Anspruch nach universalste, das allge-
meinste Modell fr Kommunikation nicht nur aus den Bedingungen fr Geheim-
kommunikation entstanden ist, sondern aus Modellen und Anleitungen fr
Die mittelalterliche Herrschaftsdarstellung als mediales Ereignis
188
Geheimschrift, aus Geheimtranskription, und dass eine dieser Anleitungen das
Modell fr Kommunikation geworden und geblieben ist. Geheim- und Uni-
versalsprache schlagen in diesem Modell und seiner Geschichte ineinander um,
und nicht nur hier. Der Linguist Allessandro Bausani hat die unergrndete These
aufgestellt, dass Geheim- und Universalsprachen regelmig ineinander um-
schlagen, dass es sich um eine einzige Gruppe von Sprachphnomenen handelt.
3
Worauf beruht dieses Ineinander-Umschlagen von Geheim- und Universalspra-
chen? Bausani gibt zwei Antworten, eine exoterische: es beruht in der Knstlich-
keit der beiden konomischen Sprachprojekte,
4
und eine esoterische: es beruht
in der Suche nach wahren Namen, nach den wahren oder quivalenten Na-
men der Dinge.
5
Man kann diese doppelte Antwort allerdings fr die euroame-
rikanischen Projekte von Geheim- und Universalsprachen przisieren: die Ge-
meinsamkeit bestand dort in der beiden gemeinsamen Fragestellung einer
semiotischen Verknappung, durch eine universale oder quivalente Umschrift,
durch einen schriftlichen Code. Was David Kahns Worte ins Gedchtnis ruft:
The historical record suggests that secret writing arises in any culture as soon as
writing becomes widely enough used to be more than a secret communication it-
self.
6
Wenn eine Schrift kein geheimer Kanal mehr ist, wird sie es anders: durch
Transkription. Wie sich zeigt, sind alle Wrter, die man fr das Gemeinsame von
Geheim- und Universalsprachen finden knnte, bereits zirkulr und transkriptiv
vorbelastet: Code, universal, quivalent, Kanal, aber auch Schrift.
Alle fnf Wrter werden historisch weiterhin ihre zirkulre Rolle spielen.
Mich interessiert im Folgenden ein bestimmter Moment von 1958, und zwar einer
der voraussetzungs- und folgenreicheren Momente im Projekt einer Einheit von
Sprach- und Literaturwissenschaft, mit dem Wort von Roman Jakobsons Grab-
stein: im Projekt des Russischen Philologen. Jakobsons Abschlussansprache auf
einer Tagung zum Thema Style in Language, sein Closing Statement: Linguis-
tics and Poetics, war dem eigenen Anspruch nach seine persnliche Summa. Sie
beginnt mit der disziplinren Selbstverortung, die Poetik nehme in der Litera-
turwissenschaft eine fhrende Rolle ein, und die Linguistik behandele die Poe-
tik als einen integralen Bestandteil ihres Forschungsgebiets.
7
Zugleich rckt Ja-
kobson die Poesie ins Zentrum der sprachlichen Kommunikation. Man kann
daher fr diesen glcklichen, sprachtheoretischen und weltliterarischen Moment
von 1958 sagen: die linguistische Poetik nahm in der Literaturwissenschaft eine
fhrende und die weltweit gedachte Poesie in der sprachlichen Kommunikation
eine alles integrierende Rolle ein. Sie war der Abschlussbegriff im Closing State-
ment. Man kann die Folgen von Jakobsons Statement kaum unterschtzen, nicht
nur im russischen und im franzsischen Strukturalismus, sondern auch in der an-
Erhard Schttpelz
189
gelschsischen Literaturtheorie und in der weltweiten Linguistik: das Statement
stellte fr eine Zeit ein sehr erfolgreiches Modell der sprachlichen Funktionen
auf, und innerhalb der Funktionen eine rtselhafte, aber oft zitierte Definition der
poetischen Funktion und der Poesie. Und das Modell Jakobsons mit seiner Defi-
nition der Poesie wird aus dem Kommunikationsmodell Shannons entwickelt,
8
also aus einer ebenso schriftlichen wie bildlichen, einer ikonographischen Um-
schrift, und zwar aus der Umschrift eines Modells fr Umschrift, historisch und
sachlich gesehen: fr Kryptographie und Kryptoanalyse.
9
Die Frage ist daher ganz einfach wenn eine solche Zirkularitt jemals ver-
einfacht werden kann: Was geschah von: Modell zu: Modell, das heit in der Ver-
schickung und Umschrift des Modells von Shannon zu Jakobson, vom Modell fr
Geheimkommunikation zum Modell fr Kommunikation berhaupt und dann
zum Modell fr sprachliche und poetische Kommunikation? Die Antwort bedarf
einer eingehenderen Lektre, als ich sie hier leisten kann, und sie bedarf an be-
stimmten Stellen einer kryptoanalytischen Lektre, die ich hier nur beginnen
kann, ohne sie zu beenden. Ich ffne den Text, das Closing Statement, indem ich
erst einmal prophylaktisch drei der Modelle, um die es geht, nebeneinander halte:
Jakobsons Diagramm der konstitutiven Faktoren sprachlicher Kommunikation,
die er bestimmten Funktionen zuordnete, und Shannons und dann Weavers
vereinfachtes Diagramm fr ein Kommunikationssystem (Abb. 1).
Diese Gegenberstellung fhrt direkt in eine der zentralen Schwierigkeiten
von Jakobsons Umschrift, kann aber auf den zweiten Blick vielleicht ein be-
stimmtes Rtsel seines Textes lsen. Jakobson stellte aufgrund seiner sechs Fakto-
ren Quelle, Rauschen und Senke/Source, Noise und Destination des Ausgangs-
modells gehen zumindest dem ersten Anschein nach leer aus sechs Funktionen
auf. Die Botschaft richtet sich hierbei auf Sender, Empfnger, Kontext diese
Gre bezieht Jakobson nicht von Shannon oder Weaver, ist bei Letzterem aber
als Handlungsdruck der Kommunikation vorausgesetzt , auf Kanal und auf
Code. Und wie bei Funktionalisten oft zu beobachten, wird als Abschlussbegriff
der Funktionen eine Selbstgerichtetheit oder Zweckfreiheit eingesetzt, in der Ja-
kobson die Botschaft sich selbst zuordnet und diese Selbstzuordnung eine sthe-
tische Botschaft sein lsst. Das Modell soll sich schlieen, indem ihre Botschaft
sich auf nichts anderes mehr richtet als sich selbst, sich adressiert. Die Botschaft
der Botschaft:
The set (Einstellung) toward the MESSAGE as such, focus on the message
for its own sake, is the POETIC function of language.
10
Man kann sehr lange rt-
seln, was eine message as such oder eine message for its own sake ist ich zu-
mindest wsste keine Antwort , man kann sich auerdem fragen, was aus dem
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
190
Abstand von Signal und Botschaft geworden ist, der bei Shannon und in Wea-
vers Popularisierung berall vorausgesetzt ist. Vielleicht ist es dabei hilfreich, sich
das Diagramm von Shannon und dann das von Weaver vor Augen zu halten,
denn bei Weaver im Scientific American von 1949 hat das Wort message einen
ganz bestimmten Ort bekommen: es befindet sich zwischen receiver und des-
tination, mit den deutschen Termini: zwischen Rckwandler und Senke.
Das heit vereinfacht gesprochen: das Signal ist schon empfangen und im Falle
der Sprache schon gehrt, ist schon message geworden, wird aber noch deco-
diert oder schon recodiert, entschlsselt oder auch rckverschlsselt.
11
Diese
Erhard Schttpelz
Abb. 1
Kommunikationsdiagramme von Shannon,
Weaver und Jakobson
191
Ansiedlung hat bei Weaver einen guten kybernetischen Sinn oder eine messa-
ge: die Botschaft ist nicht das, was von einem Signal programmiert und ver-
schickt werden kann, sondern das, was von ihm kontrollierbar am Ziel ankommt
und nichts sonst. Hier wre daher in der Popularisierung (in der Ankunft) des
Ausgangsmodells der Ort, zwischen Empfang und Senke, wo sich eine Botschaft
auf sich selbst beziehen knnte; und ich glaube, dass auch Jakobson die Botschaft
hier angesiedelt hat. Die poetische Botschaft findet in Jakobsons Darstellung
durchaus in der Verarbeitung eines Empfangs statt, aber es handelt sich auch
dort um eine Selbstausrichtung der Botschaft, und nicht um die eines Senders
oder eines Empfngers. Diese implizite Verortung einer Eigenmchtigkeit der
Botschaft (und wenn man so will, des Textes) im Empfang (oder im Lesen) ist
es vielleicht, was Jakobsons Modell fr verschiedene literaturtheoretische Schu-
len so attraktiv und so folgenreich machte.
Wie man sieht, war die Umschrift des zugrunde gelegten Kommunikations-
modells alles andere als bruchlos. Ohnehin handelt es sich in Jakobsons Dia-
gramm um eine Hybride aus Shannon/Weaver und Bhlers Organonmodell.
12
Ich will daher das Rtsel der poetischen Funktion noch einmal zuspitzen, um
diese Umschrift weiter auszuloten. Jakobson definiert die Poesie oder die poe-
tische Funktion als eine Selbstgerichtetheit der Botschaft, im Text heit sie sp-
ter einmal eine self-focused message,
13
aber zur Definition ihrer Beschaffenheit
verwendet er die zentrale logische Eigenschaft eines Codes, nmlich die quiva-
lenzbeziehung.
14
Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der quivalenz
von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Die quivalenz wird
zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben.
15
Wie gehen diese beiden
Definitionen zusammen, die eine, die von der Ausrichtung auf die Botschaft um
ihrer selbst willen spricht, und die andere, die behauptet, dass sich die quiva-
lenz der Codeeinheiten in der Botschaft abbildet und zwar durch Parallelismen
jeder Art? Wenn man davon ausgeht, dass Jakobson zwischen ihnen keinen Wi-
derspruch gesehen hat, kann man Botschaft und Code Jakobsons wie folgt ver-
mitteln: Die Herstellung einer Botschaft ist im zugrunde gelegten Modell, also
einem ursprnglich kryptographischen Modell, ihre Encodierung mit Hilfe ei-
nes Codes, der Sender und Empfnger gemeinsam ist (was Jakobson wiederholt
betont). Die Herstellung einer Botschaft um ihrer selbst willen, also eine Enco-
dierung, die sich auf sich selbst richtet, wre zu denken als eine Encodierung, die
sich als Encodierung, d. h. in fortlaufenden Gleichungen in der Sequenz nie-
derschlgt und genau das ist es, was Jakobson vorzufhren versucht: In der
Dichtung wird eine Silbe einer anderen Silbe derselben Sequenz angeglichen;
Wortakzent gleicht Wortakzent, das Fehlen des Akzentes gleicht seinem Fehlen;
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
192
prosodische Lnge gleicht Lnge, Krze gleicht Krze; Wortgrenze gleicht Wort-
grenze,
16
usw. Die beiden Definitionen stimmen daher als Teile einer einzigen
Definition berein: die quivalenzen der Encodierung richten sich auf sich
selbst, sie formen die Sequenz zu bereinander gelagerten und interferierenden
Gleichungen: in der Dichtung [] dient die Gleichung zum Bau einer Se-
quenz,
17
und da sie als (ihre eigene) Encodierung zu erkennen sein soll, steht
sie unter der Forderung maximaler Artikulation.
18
Die Sache der Poesie scheint, wenn man sich in Jakobsons Text, und sei es
nur in seinen Anfang, versenkt, immer selbstbezglicher zu werden: Botschaft
und Code, Quelle und Senke sollen ineinander in einer einzigen Selbstgerich-
tetheit aufgehen: in quivalenz. Ein Wille zur Ausrichtung, eine konzeptuelle
Ausrichtung der Ausrichtungen der Sprache Sprache sei zielgerichtet
19
spie-
gelt sich im Entwurf einer Sprache, die sich auf nichts als sich selbst richtet, die
sich in ihrer Selbstausrichtung abschliet: Poesie. Geht dieser Entwurf auf, hlt
die Durchfhrung das, was er verspricht? Wenn man Jakobsons Text weiterliest,
dann findet man erst einmal eine detaillierte Durchfhrung seines Programms:
quivalenz richtet sich auf quivalenz, Gleichungen besttigen sich in Gleichun-
gen. Der Text scheint sich in einem Katalog und einer Phnomenologie aller Ver-
fahren der Parallelisierung aufzugliedern und zu erschpfen. Doch hinterrcks
schleicht sich in diesen Text etwas ein, das der Definition der quivalenz, die
zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben wurde, nicht mehr gehorcht
und ihr dann offen widerspricht. Poesie ist dann auf einmal keine Sprache der
quivalenz mehr, eher das Gegenteil: eine Sprache, in der kein Teil sich selbst
quivalent sein wird und sein kann. Es ist mglich, diesen Umschlagpunkt mit ei-
nem Terminus zu bezeichnen, wie dies Jakobson dann auch offen tut: es handelt
sich um die untilgbare Ambiguitt der poetischen Texte.
20
Aufschlussreicher
und zugleich rtselhafter wird die Sache allerdings, wenn man den Ort der Am-
biguitt im Modell Jakobsons und in seinem Text sucht. Zusammenfassend kann
man sagen, dass die Ambiguitt schon berall dort lauerte, wo die quivalenz
sich ihrer Nicht-quivalenz stellen musste. Es gibt auch poetische Gleichungen
um der Ungleichheit willen,
21
und daher gibt es auch eine Zweideutigkeit zwi-
schen den Gleichungen, die auf quivalenz und die auf Nicht-quivalenz hi-
nauslaufen. Auerdem knnen verschiedene Gleichungen so interferieren, dass
man sich entscheiden muss und nicht immer kann , welcher man folgen soll. In
dieser Zweideutigkeit liegt der erste Auftrittsort der Ambiguitt im Closing
Statement.
22
Von dieser irreduziblen Unsicherheit der quivalenz ausgehend,
greift die Ambiguitt dann auf die gesamte poetische Welt ber, und zwar mit fol-
genden Worten:
Erhard Schttpelz
193
In der Dichtung tendiert nicht nur die phonologische Sequenz, sondern
berhaupt jede Sequenz semantischer Einheiten dahin, eine Gleichung zu bauen.
hnlichkeit wird auf Kontiguitt berlagert und verleiht der Dichtung ihr durch
und durch symbolisches, vielfltiges und polysemantisches Wesen, das Goethe
im herrlichen Vers anklingen lsst: Alles Vergngliche ist nur ein Gleichnis.
Technischer ausgedrckt: Jede Sequenz ist ein Simile. In der Dichtung, wo die
hnlichkeit die Kontiguitt berlagert, ist jede Metonymie leicht metaphorisch
und jede Metapher leicht metonymisch.
Mehrdeutigkeit ist eine unabdingbare, unveruerliche Folge jeder selbstge-
richteten Mitteilung (self-focused message), kurz eine Grundeigenschaft der
Dichtung. Wie Empson sagt: Die Mechanik der Mehrdeutigkeit gehrt zum We-
sen der Dichtung. Nicht nur die sprachliche Botschaft selbst, auch Sender und
Empfnger werden mehrdeutig. Neben Autor und Leser gibt es ein Ich des lyri-
schen Helden oder fiktiven Erzhlers und das Du oder Ihr des angesprochenen
Empfngers dramatischer Monologe, Frbitten und Episteln. [] Jede poetische
Mitteilung ist eigentlich zitierte Rede mit all den eigentmlichen und verwickel-
ten Problemen, welche die Rede innerhalb der Rede dem Linguisten auferlegt.
[] Die doppeldeutige Botschaft findet ihre Entsprechung in einem geteilten
Sender, einem geteilten Empfnger und weiter in einer geteilten Referenz, was
besonders in der Erffnung der Mrchen bei den verschiedensten Vlkern hervor-
sticht, zum Beispiel in der blichen Erffnung der Erzhler auf Mallorca: Aixo era
y no era (es war und es war nicht).
23
Es gbe hier einiges zu kommentieren, ich will nur kurz darauf hinweisen,
dass Jakobsons Text an genau dieser Stelle, an der er das Prinzip der Ambiguitt
verkndet, selbst mehrdeutig oder widersprchlich wird. Bei seiner Einleitung in
die sprachlichen Funktionen unterscheidet Jakobson Poesie der Message zu-
geordnet von Metasprache dem Code zugeordnet folgendermaen: in der
Metasprache dient die Sequenz zur Aufstellung einer Gleichung, in der Dichtung
hingegen dient die Gleichung zum Bau einer Sequenz.
24
In der technischen
bersetzung Goethes fllt dieser Unterschied aber wieder aus: Jede Sequenz ist
ein Simile, dient zur Aufstellung einer Gleichung. Poesie ist hier von Meta-
sprache zumindest dem Kriterium Jakobsons nach nicht mehr zu unterschei-
den.
25
Und in der Poesie werden alle Faktoren der Kommunikation Sender,
Empfnger, Kanal, Kontext, Botschaft und Code mehrdeutig, sich selbst nicht-
quivalent, teilen sich, im Englischen: split.
Wie vertrgt sich dieser Verlauf der Darstellung mit den Ausgangsdefinitio-
nen Jakobsons? Was ist aus der Projektion der quivalenz und der Selbstgerich-
tetheit der Botschaft geworden, wenn unauflslich mehrdeutig und unausricht-
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
194
bar wird, welche Botschaft sich auf sich richten soll? Und warum schlgt hier in
Jakobsons Modell Poesie in Metasprache und quivalenz in Ambiguitt um?
Ich werde es mit zwei Antworten versuchen, die erste fhrt tiefer in Jakobsons
Denken der sprachlichen Selbstbezglichkeit, und die zweite bringt seinen Text
zurck in die Modelle Shannons und Weavers. Im Closing Statement gibt es
weder eine Theorie der sprachlichen Selbstgerichtetheit, die den Fall der poeti-
schen erlutern wrde, noch eine solche Theorie der Ambiguitt. Alles, was man
in Linguistik und Poetik zur Erklrung der Beziehung von quivalenz und Ambi-
guitt findet, ist der Verlauf der Darstellung, den man wie folgt zusammenfassen
kann: quivalenz, die sich auf sich selbst richtet sprachliche Parallelisierung je-
der Art stt in den Gleichungen zwischen Klang und Sinn auf quivalenz und
Nicht-quivalenz, also auf den Vorrang einer Unberechenbarkeit der Beziehun-
gen zwischen Klang, Syntax und Sinn: the metrical parallelism of lines, or the
phonic equivalence of rhyming words prompts the question of semantic similari-
ty and contrast.
26
Die Sinnbeziehungen werden durch diese Frage mehrdeutig
und ohne Vorentscheidung, und jede Ambiguitt der Gleichung oder Ab- und
Ungleichung stellt die Frage nach ihrem Code, wird hierdurch von Metaspra-
che ununterscheidbar: Jede Sequenz ist eine Gleichung, um der Gleichheit oder
um der Ungleichheit willen. So weit zusammengefasst die Darstellung in Lin-
guistik und Poetik.
Die von mir zitierte Stelle des Umschlagens von quivalenz in rckhaltlose
Ambiguitt verndert sich allerdings grundlegend, wenn man Jakobsons eigene
Theorie der sprachlichen Selbstbezglichkeit hinzuzieht, die er 1956 in seinem
Aufsatz zu Shifters und dem russischen Verb verffentlicht hatte.
27
Es handelt
sich dem Anspruch nach um eine Theorie der innersprachlichen Referenz ber-
haupt, und sie wird ganz axiomatisch im Modell der 1950er Jahre aufgestellt:
durch die Unterscheidung von Message (M) und Code (C) ergeben sich vier mg-
liche Kombinationen des innersprachlichen Bezugs (/). Sie sind:
C/M: Code kann sich auf Message beziehen: das sind die Shifters, also
Ausdrcke wie hier, jetzt, ich und du, die sich auf die Redesituation und
die an ihr Beteiligten beziehen, sozusagen die Selbstreferenz der Redesituation
und ihre Relativitt.
M/M: Message kann sich auf Message beziehen: das ist die berichtete oder
zitierte Rede, zu der Jakobson Volosinov zitiert und Rede in Botschaft ber-
setzt: Reported Speech is speech within speech, a message within a message and
at the same time it is also speech about speech, a message about a message,
28
zitierte Rede und ihre Kommentierung sind unlslich verbunden.
Erhard Schttpelz
195
M/C: Message bezieht sich auf Code: das ist die Metasprache bzw. ihr Re-
demodus: die Autonymie eines Ausdrucks, das Wort zweisilbig ist ein dreisil-
biges Wort, dreisilbig ebenso.
Und schlielich findet Jakobson und das ist zweifelsohne der eigenartigste Teil
dieses axiomatischen Set eine Selbstbezglichkeit des Codes: Code bezieht sich
auf Code (C/C), im Eigennamen. The circularity is obvious: the name means
anyone to whom this name is assigned.
29
Die Bezge von Code auf Code und
Message auf Message nennt Jakobson Zirkularitten, die anderen beiden blo
berschneidungen, diese Unterscheidung bleibt allerdings ganz an der Ober-
flche der Abkrzungen, denn gerade der autonyme Modus schafft eine Zirku-
laritt der Sprache oder der Metasprache das Wort der Autonymie besagt
nichts anderes , und er schafft sogar Selbstprdikationen wie dreisilbig; und
die Shifters sind zirkulr auf die Redesituation bezogen ich oder ich bin ist
der, der gerade diese uerung macht , die Shifters sind, wie gesagt, die
Selbstreferenz der Rede als Teil ihrer Situation.
So weit Jakobsons Theorie der Bezglich- und Selbstbezglichkeit von Bot-
schaft und Code. Und jetzt kommt die vielleicht etwas detektivische Auflsung:
Gerade an der Stelle, an der Jakobson die Poesie noch einmal als self-focused
message, als selbstgerichtete Botschaft anspricht, genau an dieser Stelle werden
alle vier Message/Code-Bezge ins Spiel gebracht und ziehen das gesamte Kom-
munikationsmodell in Mitleidenschaft, fr Poesie, aber auch fr Sprache insge-
samt, zumindest fr Sprache in ihrer poetischen Funktion.
C/M: Die Shifters, allen voran die Personalpronomina der Sender und
Empfnger, aber auch jede Referenz relativ zur Rede, also auch hier und jetzt
und Tempus und Modus, teilen sich (they split), sie gehen in eine von keinem
Code mehr vorzuschreibende Teilbarkeit ber, und teilen oder zersplittern da-
mit auch die Bezge des Codes der Shifters immer noch eine sehr viel interes-
santere Theorie der Fiktion, als sie das Wort Fiktion das Jakobson hier be-
wusst verdeckt meistens hergibt.
30
M/M: Zitat: Jede poetische Mitteilung ist eigentlich zitierte Rede, auf eng-
lisch: Virtually any poetic message is a quasi-quoted discourse; man versteht
zumindest in der Rede in der Rede jetzt vielleicht besser warum. Ein Zitat ist
eine selbstgerichtete Rede, die sich auf eine fremde uerung bezieht, eine poe-
tische self-focused message hingegen richtet sich auf keine andere, ist aber
ebenfalls selbstbezogen M/M, und damit quasi, virtually, eigentlich Selbst-
zitat. Eine Mglichkeit, die Jakobson 1956 ausdrcklich einrumt.
31
Allerdings
lsst Jakobsons Andeutung offen, in welcher Hinsicht die poetische Mitteilung als
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
196
zitierte Rede zu verstehen ist. Man knnte etwa vermuten, und die Spaltung der
Sender- und Empfngerattributionen (C/M) wrde dem entgegenkommen, dass
sie den Weg einer Aneignung fremder Rede in umgekehrter Richtung beschreitet
(was an der Unlslichkeit der Rede in der Rede von ihrer Rede ber die Rede
nichts ndert).
M/C: Durch die mgliche Ambiguitt aller Teile wird wie Jakobson
voraussetzt ein Bezug auf den Code notwendig, jeder fragliche und mehrdeuti-
ge Bezug, auch der von C/M und M/M, stellt eine Frage nach dem Code der Mes-
sage, also eine Frage M/C?. Poesie wird wie es die technische Goethe-ber-
setzung besagt Metasprache oder von ihr ununterscheidbar: jede Sequenz ist
eine Gleichung,
32
und sie enthlt an den fraglichen Stellen Autonymie.
33
Wenn man die Serie dieser wie sich zeigt, in ein ganzes Terrain offener
Fragen fhrenden Permutationen zu Ende schreibt C/M, M/M, M/C: C//
/C , und wenn man die betroffenen sprachlichen Kategorien weiterdenkt
(etwa: wie verbinden sich Personalpronomina und zitierte Rede? wann wird eine
Berichtete Rede autonym und umgekehrt?), stellt sich auch die Frage nach einem,
und sei es indirekten, Bezug von C auf C, von Code auf Code, mit dem anderen
Wort oder Namen, den Jakobson diesem Bezug gab: nach dem Eigennamen.
Und hier msste man jetzt den ganzen Text von Linguistics and Poetics noch ein-
mal lesen: die Poesie ist in Jakobsons Text durchaus und durchgngig eine Sprache
der Eigennamen. Das beginnt schon mit den ersten Beispielen Jakobsons fr die
poetische Funktion: sie handeln allesamt von Eigennamen, Zuneigung und Ab-
neigung, von der Liebe zum Namen:
Why do you always say Joan and Margery, yet never Margery and Joan? Do
you prefer Joan to her twin sister? Not at all, it just sounds smoother. [] A girl
used to talk about the horrible Harry. Why horrible? [] Without realizing it,
she clung to the poetic device of paronomasia. The political slogan I like Ike []
(aus dem Prsidentschaftswahlkampf fr Eisenhower = Ike).
34
Und nachdem die Referenten im Closing Statement mehrdeutig und teilbar
geworden sind split , wird Jakobsons Analyse poetischer Texte unaufhaltsam
von Eigennamen heimgesucht diese Einheit von Poesie und Name heit bei ihm
durchweg Paronomasie. Sie spielt die versteckte Hauptrolle im Kurzrundgang
durch den Kanon der angelschsischen Literatur, von Shakespeare jene Apos-
trophe mit ihrer mrderischen Paronomasie Brutus-brutish
35
bis Poe On the
pallid bust of Pallas
36
und Stevens New Haven/for Heaven.
37
Bis im Fina-
le des Textes der Name ins Zentrum gestellt wird, so heit es dort auf einmal auch
nicht mehr Wort, sondern Name: In poetry the internal form of a name, that
is, the semantic load of its constituents, regains its pertinence.
38
Jakobsons Bei-
Erhard Schttpelz
197
spiel ist Cocktail, und zwar nicht die Tatsache, dass Cocktails Namen tragen,
sondern der Name Cocktail.
(You missed the point completely, Julia: /There were no tigers. That was
the point. Im Wiederabdruck des Closing Statement alias Linguistics and Poetics
in den Selected Writings finden sich mehrere Passagen, interwoven with sinister
zoological motifs,
39
die bei der Verffentlichung von 1960 (und in der deutschen
bersetzung) fehlen ihre Datierung bleibt unklar. Insbesondere der Cocktail
40
fhrt zu einem lngeren Zitat aus T. S. Eliots The Cocktail Party, das 1960 fehlt,
und zu einer britischen Kolonialanekdote, in der sich der Cocktail als eine Vari-
ante viktorianischer Totem- und Tabugeschichten entpuppt: The majority of the
tribes are heathen:/They hold these monkeys in peculiar veneration/Some of the
tribes are Christian converts,/They trap the monkeys. And they eat them. As to
the heathens, instead of eating monkeys,/They are eating Christians./Julia: Who
have eaten Monkeys. Woraufhin Julia ausruft: Somebody must have walked
over my grave:/Im feeling so chilly. Give me some gin./Not a cocktail. Im free-
zing in July!
41
)
Und so zeigt diese Theorie Jakobsons vielleicht erst ganz am anekdotischen
Ende, auf den letzten Metern, ihr wahres Gesicht, und zwar in einer russischen
Diskussion von Eigennamen. Als 1919 im Moskauer Linguistischen Kreis ber
die Frage diskutiert wurde, wie die epitheta ornantia definiert und abgegrenzt
werden sollten, wies uns der Dichter Majakovskij zurecht und sagte, da fr ihn
jedes Adjektiv schon dadurch ein poetisches Attribut sei, da es in Dichtung ste-
he; das gelte sogar fr gro in groer Br oder gro und klein in Moskauer
Straennamen, wie Bolshaja Presnja und Malaja Presnja. Mit anderen Worten:
die Poetizitt wird nicht als rhetorischer Schmuck der Rede beigefgt, sie besteht
vielmehr in einer vollstndigen Neubewertung der Rede und aller ihrer Teile,
welcher Art sie auch immer seien.
Ein Missionar warf seiner afrikanischen Herde vor, ohne Kleider zu gehen.
Und wie steht es mit dir? Man zeigte auf sein Gesicht. Bist du nicht auch irgend-
wo nackt? Ja, aber das ist mein Gesicht. Bei uns, gaben die Eingeborenen zu-
rck, ist berall Gesicht. So wird in der Dichtung jedes sprachliche Element in
eine Figur dichterischen Sprechens verwandelt.
42
The Savage Hits Back: jedes
poetische Wort ist Beiname, ist Teil eines Namens, darauf stt man, wo der
Text nackt oder paronomastisch entblt wird, und dort ist er Gesicht, berall
Gesicht und Gesichtersehen.
Ich habe versucht, in aller Krze Jakobsons implizite Theorie der Selbstbe-
zglichkeit zu rekonstruieren, sie sieht deutlich anders aus als das, was dann in
den Lehrbchern und auch in seinen eigenen spteren Zusammenfassungen er-
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
198
scheint, hat aber den Vorzug, mit Jakobsons linguistischen Spekulationen und
Gedichtanalysen und mit seiner formalistischen Herkunft, der Lehre vom Selbst-
wertigen Wort (samovitye slova), die gerade dieses Finale beschwrt, kompatibel
zu sein. In Kurzform fr einen kybernetischen Beobachter kann diese Theo-
rie lauten: Quelle der Poesie ist die quivalenz, die sich auf sich selbst richtet,
ihre Botschaft wird nicht nur mehrdeutig, sondern maximale Ambiguitt,
und die Senke oder Rckverschlsselung
43
dieses Vorgangs findet sich in Na-
men oder in Paronomasie. Von der Grammatik zur Anagrammatik. Von der Me-
tersprache, der Sprache des Metrums, ber ihre Ununterschiedenheit von Meta-
sprache zu einer Sprache, in der kein Element mehr mit sich quivalent ist oder
sein muss oder sein kann; von der quivalenz zur uncodierten Teilbarkeit von
Referenz und Bedeutung und Code in Homonymie, und dann zur regellosen
von Jakobson semantisch verstandenen, aber paronomastisch und autonym aus-
laufenden Teilbarkeit aller Teile.
44
In immer kleinere Mnze. Man kann dieses
Orakel jetzt lesen wie man will, man kann es verwerfen oder anwenden, man
kann es als eine reductio ad absurdum der Poetik Jakobsons oder jeder linguisti-
schen Poetik verstehen, oder als Entwurf einer futuristischen Sprache, die unter
den Bedingungen einer Philologie im Informationszeitalter
45
nicht anders sagbar
werden konnte und die ohnehin nicht mehr anders sagbar sein wird das will ich
der Entscheidung des Lesers berlassen. Alles, was ich jetzt noch unternehmen
kann, ist die vielleicht unwahrscheinlich anmutende Verortung dieser Theorie
(Quelle, Rauschen und Senke) und ihrer sinistren zoologischen Motive (Pferd,
Rabe und Affen) im Kommunikationsmodell Shannons, und zwar mit Hilfe jener
Theorie der poetischen Ambiguitt, die in Linguistik und Poetik noch fehlte oder
zu fehlen schien.
Im Jahr der Publikation des Closing Statement, 1960, sprach Jakobson auf ei-
ner Konferenz zur Mathematisierung der Linguistik noch einmal zu dem For-
schungsgebiet, das ihn die ganzen 1950er Jahre beschftigt hatte: Linguistik und
Kommunikationstheorie, und Kommunikationstheorie heit bei Jakobson
ganz einfach die Modellierung Shannons (und Weavers). Und nur bei dieser Gele-
genheit findet sich eine kurze Theorie der poetischen Ambiguitt, die vielleicht
auch (theoriegeschichtlich) erklrt, womit Jakobson 1960 zu kmpfen hatte und
womit er so scheint es mir zumindest nicht fertig werden konnte. Im Termi-
nus des zugrunde gelegten Modells abgekrzt: es geht um noise. Der sprachliche
Empfnger versucht, signal in message zurckzuverwandeln, stt dabei auf
Schwierigkeiten, die als Mehrdeutigkeit, mit dem technischen und rhetorischen
Terminus und ihrer beider quivokation: als quivokation, equivocation, zu
kennzeichnen sind.
46
Weavers Zusammenfassung besagt: If there were no noise,
Erhard Schttpelz
199
then there would be no uncertainty concerning the message if the signal is
known. If the information source has any residual uncertainty after the signal is
known, then this must be undesirable uncertainty due to noise.
47
Und was kann
sprachliche Ambiguitt im Modell Shannons und Weavers anderes sein als
eine solche uncertainty due to noise? Das Rauschen, die zweite Quelle. Jakob-
sons Stellungnahme zu diesem Aspekt stellt sich in den Rahmen ihrer Grund-
konzeption: for the speaker homonymy does not exist. When saying /sn/, he
knows beforehand whether sun or son is meant, while the listener depends on
the conditional probabilities of the context. For the receiver, the message presents
many ambiguities which were unequivocal for the sender. The amibiguities of
pun and poetry utilize this input property for the output.
48
Man kann dieser
Auffassung einfach widersprechen: ein Sprecher, so behauptet Jakobson, kennt
keine Homonymie und er verschickt auch keine Ambiguitt, das steht hier ganz
dogmatisch fest; trotzdem gibt es absichtliche poetische und wortspielerische
Ambiguitt. Aber Jakobson bleibt hier ganz stringent: auch die poetische Ambi-
guitt kann nicht mehr dem Sender zugeschrieben werden, sondern nur noch
der message selbst, oder einer self-focused message. Sobald ein Sender absicht-
lich Ambiguitt verschickt, wird sie ihm als Sender entzogen und muss der
message und ihrem Empfang zugeschrieben werden; man kann Ambiguitt sen-
den, aber die Botschaft einer Ambiguitt lsst sich vom Sender nicht mehr durch
eine Selbstkorrektur kontrollieren (sein Protest ist zwecklos: das habe ich nicht
gesagt! oder: das habe ich doch gesagt!) das wre nicht nur probabilistisch rich-
tig, sondern auch im Einklang mit Linguistik und Poetik.
Erst durch diese kurze Notiz gewinnt man, so meine Konjektur, einen Ein-
blick in die vollstndige Zirkularitt oder in das vollstndige Feedback der poe-
tischen Sprache, das Jakobson vorschwebte. Die poetische Ambiguitt nutzt eine
Eigenschaft des input, also des Empfangs, fr den output, also fr das ver-
schickte Signal und seine Encodierung. Das heit, die Unsicherheit, aber auch die
maximale Reichhaltigkeit der noise des Input wird zum Output gemacht, in
den Output eingespeist das ist die eine Zirkularitt. Und das Komplement die-
ser Zirkularitt ich denke jetzt einmal so axiomatisch-kombinatorisch, wie Ja-
kobson dies in den 1950ern so gerne tat wre genau das, was in Linguistik und
Poetik im Vordergrund steht: eine Eigenschaft des Output, nmlich die quiva-
lenzbeziehung der (En-)Codierung, kurz: die quivalenz, wird zur Strukturie-
rung des Input verwendet, also in der empfangenen Signal-Botschaft-Relation
wirksam das ist die bereits erwhnte Projektion der quivalenz von der Ebene
der Selektion auf die Ebene der Kombination in der message. Und diese bei-
den Teilzirkel schlieen sich im Empfang zusammen: in der Mehrdeutigkeit des
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
200
Empfangenen und in der Rckfrage nach dem gesendeten Code. Erst beide kom-
plementren Hlften zusammen ergeben eine Gesamtzirkularitt, die Schwin-
del auslsen kann: den Vorgang des Input in den Output einspeisen, den Vorgang
des Output in den Input, die Quadratur der Kreise von Message zu Message und
von Code zu Code kein Wunder, dass Jakobson diese Theorie, also eine wahr-
haft futuristische und kybernetische Theorie der Poesie und der Sprache, die alle
von mir herbeizitierten Zirkularitten vereint und weniger eine selbstgerichtete
Botschaft als eine selbstgerichtete und selbstentlassene Kommunikation be-
schrieben htte, nie geschrieben hat, und niemand sie je schreiben wird. Es war
und es war nicht.
Man versteht diese virtuelle Theorie der Poesie besser, wenn man ihr
Ausgangs- und Zielmodell im Auge behlt: das Modell Shannons und Weavers.
Denn genau dort sind ja ebendiese beiden Enden mit ihrer Spannung, einer ge-
radezu antinomischen Spannung so betont, dass Jakobson sie bercksichtigen
musste, solange er seine Arbeit im Rahmen dieses Modells halten wollte: die
quivalenz der Code-Beziehungen und der Encodierung, und die mgliche
Ambiguitt oder quivokation des Empfangs und der Decodierung. Schon
Warren Weavers populre Zusammenfassung der mathematischen Kommunika-
tionstheorie enthlt den Ort fr eine solche Ambiguitt, wie sie Jakobson skiz-
ziert hat, und zwar unter dem prophylaktischen Label eines Semantic Noise.
This would represent distortions of meaning introduced by the information
source, such as a speaker, which are not intentional but nevertheless affect the
destination, or listener. And the problem of semantic decoding must take this
semantic noise into account. It is also possible to think of a treatment or adjust-
ment of the original message that would make the sum of message plus semantic
noise equal to the desired total message meaning at the destination.
49
Mit ande-
ren Worten: es lie sich eine Encodierung und Decodierung denken, deren er-
wnschtes Ziel semantic noise ist. Eigentlich handelt es sich hier dennoch um
ein zerstrerisches oder die Entschlsselung strendes Ziel; erst in der Variante
der poetischen Ambiguitt Jakobsons geht es auch auf Seiten des Hrers um ein
erwnschtes Resultat oder eine erwnschte Senke, z. B. eines pun oder einer
Paronomasie. Denn die Herkunft dieses semantic noise, also einer Strung, die
zum Ziel der Kommunikation kodiert wird, ist eigentlich das kryptographische
Ziel gewesen, den Interzeptor einer geheimen Nachricht ber den verwendeten
Code im Unklaren zu lassen. Wie Shannon in seiner Communication Theory of
Secrecy Systems schreibt, ist es mglich, Geheimsprachen zu schaffen, in denen
die quivokation im Empfang niemals gegen null geht, egal wie viel Zeit der
Feind hat. In this case, no matter how much material is intercepted, the enemy
Erhard Schttpelz
201
still does not obtain a unique solution to the cipher but is left with many alternati-
ves, all of reasonable probability. Such systems we call ideal systems.
50
Codie-
rung und noise vollstndige quivokation und Nicht-quivalenz fallen
dann fr den Interzeptor, also im Empfang durch den Feind zusammen.
51
Jakob-
sons Version der Ambiguitt und der vollstndigen Nicht-quivalenz der poeti-
schen Botschaft beerbt damit vermutlich ohne dass dies in Jakobsons Absicht
lag ber den Umweg von Weavers semantic noise das Ziel jeder Geheimkom-
munikation, nmlich die Verhinderung des Verstehens einer message und wer-
tet sie um: zur maximalen und erwnschten Kommunikation der Botschaft um
ihrer selbst willen, der Botschaft als solcher und zwar durch eine bei Shannon
und Weaver nicht vorgesehene, aber auch nicht ausgeschlossene Umwertung der
quivokation.
Diese Umschrift von der geheimen zur universalisierten und zur sprachli-
chen und poetischen Kommunikation, von der Feindschaft zur Entblung ent-
hlt ein letztes Paradox. Roman Jakobson versuchte in allen seinen Schriften der
1950er Jahre, die geheimdienstliche Herkunft des Kommunikationsmodells, die
ihm bestens bekannt war, durch eine bestimmte Beschwrungsformel zu ban-
nen.
52
Der Linguist und damit auch der linguistische Leser von poetischen Tex-
ten msse vom Kryptoanalytiker zum semantischen Teilnehmer der jeweiligen
sprachlichen Kommunikation werden: if the linguist is familiar with the code
[], then it becomes superfluous for him to play Sherlock Holmes.
53
Wo Gram-
matik war, soll Semantik werden. Auch der Text von Linguistics and Poetics ver-
sucht diesem Imperativ zu gehorchen: er entschlsselt zuerst den grammatischen
Code der Poesie die Parallelismen, die quivalenzbeziehungen und widmet
sich dann der Semantisierung, der Teilnahme. Allerdings ist das Resultat mehr als
zweideutig, und Jakobsons Quelle, Rauschen und Senke lassen erkennen,
warum. Gerade in dem Moment und in allen folgenden Momenten , in denen
Jakobson vom Kryptoanalytiker einer Grammatik der Poesie zu ihrem semanti-
schen Teilnehmer werden mchte, schlgt die Analyse noch einmal in Krypto-
graphie und Kryptoanalyse, mit dem Wort der Einheit beider: in Rckverschls-
selung
54
um. Und zwar in eine Rckverschlsselung, die sich und ihre Botschaft
nicht nur der Intention des jeweiligen Autors entzieht Jakobson zitiert hier sp-
ter aus Saussures Anagrammstudien, das Anagramm geschehe, ob es der Emp-
fnger oder der Sender wolle oder nicht: Que le critique dune part, et que le ver-
sificateur dautre part, le veuille ou non
55
, sondern die sich auch der Vorstellung
entzieht, es ginge um einen zu decodierenden Code. Jakobson schreibt hier:
Lanagramme potique franchit les deux lois fondamentales du mot humain
proclames par Saussure, celle du lien codifi entre le signifiant et son signifi, et
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
202
celle de la linarit des signifiants.
56
Das Anagramm bersteigt das Gesetz und
die Einstellung, die Zeichenbeziehung der Sprache sei codiert. Es gibt Umschrif-
ten und was sind Anagramme anderes als Umschriften? , die sich weder Zufall
noch Absicht und weder einer gemeinsamen noch einer geheim gehaltenen Spra-
che verdanken, die es zur Illusion werden lassen, sie verdankten sich der symme-
trischen Ver- und Entschlsselung eines Codes. Und es gibt eine Senke von Ei-
gennamen so Saussures Anagrammerfahrung , die es fraglich machen, ob sie
berhaupt einer Quelle entspringen,
57
und zwar deshalb, weil, eine Codierung je-
der Botschaft vorausgesetzt, dann eine jegliche betroffene Botschaft und sei sie
immer dieselbe, i. e. derselbe Name eine andere Codierung verlangte, lauter Co-
dierungen ohne mgliche Metrisierung.
58
La raison peut avoir t purement
potique: du mme ordre que celle qui prside ailleurs aux rimes, aux assonances,
etc. Ainsi de suite. De sorte que la prtention de vouloir dire aucune poque
pourquoi la chose existe va au-del du fait.
59
(Saussure) Das Modell einer Se-
quenz ist nur die Sequenz ihrer Modelle. Technischer ausgedrckt: Jedes Gleich-
nis ist vergnglich. Give me some gin.
Fr analytische und kryptanalytische Lehren im Laufe der Jahre danke ich
Andreas Michaelis (Berlin) und Thomas Schestag (Frankfurt/M).
1 Roman Jakobson: Commentary, in: Aleksandr Afansev: Russian Fairy Tales, New York 1945,
S. 629651, hier: S. 650.
2 Zum hier verwendeten Modellbegriff und seiner Spannung vgl. Mary B. Hesse: Models and Analogy
in Science, in: Paul Edwards (Hg.): The Encyclopedia of Philosophy Vol. 5, New York 1967,
S. 354359.
3 Vgl. Allessandro Bausani: Geheim- und Universalsprachen, Stuttgart 1970.
4 Ebd., S. 7.
5 Ebd., S. 12 f. Eine weitere Theorie der Beziehung von Geheim- und Universalsprachen knnte pos-
tulieren: sie sind schon darin logisch aufeinander bezogen, dass es in der Geheimkommunikation
immer um zweierlei geht: eine Geheimkommunikation durchfhren zu knnen, bevor ihr Geheim-
nis vom Feind zerstrt wird, und jedes Geheimnis des Feindes zerstren zu knnen, es zu ent-
schlsseln oder zu zerbrechen (code-breaking), und d. h. auch: alles publik machen zu knnen
(worin auch ein Imperativ der wissenschaftlichen Freiheit besteht, der im Fall der mathematischen
Verschlsselungstechniken eben darin mit den Normen des Geheimdienstes in Konflikt gert) (vgl.
David Kahn: The Code-Breakers, New York 1967). Eine andere Theorie der Beziehung von Geheim-
und Universalsprachen knnte sagen: Es geht in beiden um die Ankunft an einem abgeschlossenen
Ort. Diese Aussagen haben nicht einfach Recht oder Unrecht; es stellt sich vielmehr die Frage, ob
es eine Theorie der Beziehung von Geheim- und Universalsprachen geben kann, solange sie davon
ausgeht, dass dies das theoretische Ziel ist: ein Geheimnis dieser Beziehung zu zerstren oder sie
zu einer universalen Gemeinsamkeit zu machen. Bausanis Darstellung verfllt diesem Ziel nicht,
und sie geht ber jede euroamerikanische Eingrenzung des Themas hinaus.
6 David Kahn: Cryptology, in: International Encyclopedia of Communications Vol. 1, Oxon. 1989,
S. 428430, hier: S. 429.
7 Roman Jakobson: Poetik, Frankfurt/M. 1979, S. 84.
8 Vgl. Claude E. Shannon/Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication [1949], Urba-
na, IL 1962.
Erhard Schttpelz
203
9 Eine andere Perspektive gewinnt man, wenn man die Geschichte der Kommunikationsmodelle aus
den rhetorischen Peristasen beginnen lsst (vgl. Henk Prakke: Die Lasswell-Formel und ihre rhe-
torischen Ahnen, in: Publizistik 10/1965, S. 285291), denn dann ergibt sich fr diesen Fall ein an-
ders gelagerter historischer Zirkel: von der Rede (oratio) zu den technischen Modellen und zur
Sprache und Rede (Jakobson: discourse) zurck. Ich verfolge (oder umrande) diesen historischen
Zirkel nur in einigen Anmerkungen und konzentriere mich im obigen Text auf den Zirkel in entge-
gengesetzter Richtung: die Umschrift eines Modells fr Umschrift, insbesondere auf die Elemente,
die nicht aus den rhetorischen Peristasen ableitbar sind, und auf die Frage, was terminologisch
aus der informationstheoretischen Modellierung in Jakobsons Sprache und Rede eingeht. In die
Geschichte dieses Zirkels gehrt auch Jakobsons (u. a. in Zusammenarbeit mit Colin Cherry entwi-
ckelte) Reduktion der Phoneme auf distinctive features, die er so binarisieren wollte, dass sie den
bits des Computers entsprachen (Roman Jakobson: Selected Writings II: Word and Language, Pa-
ris 1971, S. 571). Allerdings spielt diese ebenfalls zwischen 1950 und 1960 erfolgte Digitalisierung
der Lautebene in Linguistics and Poetics keine organisierende Rolle, denn die Darstellung der
poetischen Sprache und das htte Jakobson stutzig machen knnen beginnt dort mit einer aus-
fhrlichen Errterung der Silbenkonstitution, und alle Fragen poetischer Phoneme bleiben an de-
ren Silbigkeit gebunden.
10 Jakobson: Closing Statement: Linguistics and Poetics, in: Thomas A. Sebeok (Hg.): Style in Langua-
ge, Cambridge, MA 1960, S. 350370, hier: S. 356.
11 Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9), S. 278.
12 Karl Bhler: Sprachtheorie, Leipzig 1934.
13 Jakobson: Closing Statement (Anm. 10), S. 370 f.
14 Eine quivalenzbeziehung ist ihrer logischen Definition nach eine Beziehung, die transitiv und
symmetrisch und daher auch reflexiv ist (wenn a = b, dann b = a, und wenn a = b und b = c, dann a
= c, daher auch a = a). (Gleichheit ist logisch auch immer ein Sich-selbst-Gleichsein.) Die Gleich-
heit von Zeichen, z. B. von verschlsselten und entschlsselten Codezeichen, kann von einem logi-
schen Standpunkt aus nur als eine solche quivalenzbeziehung behandelt werden; daher ist die
quivalenz einer Codierung die 1:1-Beziehung das, was logisch als Zeichengleichheit zu
erkennen und zu praktizieren ist. Dass Jakobsons Verwendung des Wortes quivalenz zwischen
1950 und 1960 diese logische Definition voraussetzt, lsst sich aus seinen Schriften belegen, u. a.
durch einen Verweis auf Shannon (Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9), S. 578). Zudem hegte
Jakobson in den 1950ern die Hoffnung, die linguistische Semantik liee sich durch einen Kern von
Synonymiepropositionen aufbauen, also durch Gleichungen, die dann ebenfalls logisch als quiva-
lenz zu bestimmen (und zu schreiben) gewesen wren, reversible propositions as hermaphrodi-
tes are individuals combining the sex organs of both male and female individuals combining the
sex organs of both male and female are hermaphrodites, or such pairs as centaurs are individu-
als combining the human head, arms, and trunk with the body and legs of a horse are centaurs
[]. (Jakobson: Selected Writings VII: Contributions to Comparative Mythology. Studies in Linguis-
tics and Philology, 19721982, Berlin/New York/Amsterdam 1985, S. 119) Dieser zentaurische
Wunsch lief damals allerdings sowohl kontrr zu einer im amerikanischen Strukturalismus ver-
wurzelten Semantikphobie von Linguisten als auch zur sprachanalytischen Demontage der Mg-
lichkeit von Synonymie (alias analytischer Urteile) durch Quine, Goodman u. a.
15 Jakobson: Poetik (Anm. 7), S. 94.
16 Ebd., S. 94.
17 Ebd., S. 95.
18 Dieser Aspekt von Jakobsons Theorie ist von Friedrich Kittler knapp und zutreffend als berset-
zung europischer Poesienormen in einen maximalen Signal-Rausch-Abstand interpretiert wor-
den (Friedrich A. Kittler: Signal-Rausch-Abstand [1988], in: ders.: Draculas Vermchtnis. Techni-
sche Schriften, Leipzig 1993, S. 161181, hier: S. 170).
19 Jakobson: Poetik (Anm. 7), S. 85.
20 Ambiguitt, lat.-engl. ambiguity. Auf Deutsch bevorzugte Jakobson in den 1950ern die griechisch-
aristotelische Homonymie. Vgl. Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9), S. 277.
21 Jakobson: Poetik (Anm. 7), S. 108.
22 Jakobson: Closing Statement (Anm. 10), S. 366.
23 Jakobson: Poetik (Anm. 7), S. 110 f., bersetzung leicht verndert.
24 Ebd., S. 95.
25 Es ist ein Pferd, das die Umstlpung der poetisch konzentrierten Kommunikation herbeifhrt: als
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
204
Jakobson Poesie von Metasprache trennt, schreibt er: metalanguage also makes a sequential use
of equivalent units when combining synonymic expressions into an equational sentence: A = A
(Mare is the female of the horse). [] in metalanguage the sequence is used to build an equation,
whereas in poetry the equation is used to build a sequence. (Jakobson: Closing Statement (Anm.
10), S. 358.) Doch spter erscheint aus russischen Hochzeitsliedern ein Recke mit seinem Pferd,
das Teil und nicht Teil von ihm ist: the fierce horse [] figures simultaneously as a likeness to
and as a representative possession of this fellow, properly speaking pars pro toto for the horseman
[] in the wedding songs and other varieties of Russian erotic lore, the masculine retiv kon beco-
mes a latent or even patent phallic symbol [] the horse of the love songs remains a virility symbol
not only when the maid is asked by the lad to feed his steed but even when being saddled or put into
the stable or attached to a tree. In poetry not only the phonological sequence but in the same way
[sic] any sequence of semantic units strives to build an equation. (Jakobson: Closing Statement,
S. 370) Der Teil/Vergleich, aus dem Poesie in Metasprache umschlgt und Metapher in Metonymie,
Kontiguitt in hnlichkeit, Sequenz in Simile, d. h. alle Grunddichotomien Jakobsons (Jakobson:
Selected Writings II (Anm. 9), S. 239259) ineinander bergehen, ist ein Pferd. (Oder eine Herme.)
Kein Zufall, dass Jakobson zwischen A = A und inalienable [] split [] split [] split (Jakob-
son: Closing Statement, S. 370 f.) aus Robert Frosts The Figure A Poem Makes zitiert: The figure
is the same as for love. (Jakobson: Closing Statement, S. 363) (Von solchen Figuren handelt die
Philippologie.)
26 Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9), S. 259.
27 Ebd., S. 130147.
28 Ebd., S. 130.
29 Ebd., S. 131.
30 Jakobson: Selected Writings VII (Anm. 14), S. 119.
31 Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9), S. 130.
32 Und daher wre selbstverstndlich auch das Pendant mglich: dass ein Verfahren der Metaspra-
che poetisch agiert und funktioniert was Jakobson an anderer Stelle zwar explizit darstellt, aber
auch dort nur indirekt poetisch zu nennen wagt (Jakobson: Selected Writings VII, S. 120) (zu russ.
kon und konki).
33 Was Jakobson in Linguistics and Poetics nicht ausspricht, aber bereits 1949 in Language in Ope-
ration (Roman Jakobson: Selected Writings III: Poetry of Grammar and Grammar of Poetry,
Paris/New York 1981, S. 7/17), einer fundamentalen Analyse zu E. A. Poes The Raven und den
technischen Bedingungen sprachlicher Kommunikation, explizit machte. Es handelt sich um das
Einleitungskapitel seines spter nach vielen Anlufen verworfenen Buches Sound and Meaning,
das im Krieg durch seine Six leons sur le son et le sens vorbereitet war und in der Reihe Studies
in Communication htte verffentlicht werden sollen, in der u. a. Colin Cherrys informationstheore-
tisches Lehrbuch On Human Communication und W. V. O. Quines Word and Object erschienen.
Language in Operation erschien erst 1964 nach Fallenlassen des Buchplans und Closing State-
ment. Dort schreibt Jakobson: when I mentioned a young lady I met on a train, the word lady was
used simply to signal the thing meant; but in the sentence Lady is a disyllabic noun the same word
is employed to signal itself. The poetic function entangles the word in both of these uses at once.
(Jakobson: Selected Writings III, S. 17) Die poetische Funktion unterluft die logische Unterschei-
dung von Gebrauch und Erwhnung, Bezeichnung und Autonymie, so Jakobson. (Und nicht nur
die poetische, E. Sch.)
34 Jakobson: Closing Statement (Anm. 10), S. 356 f. Der Slogan I like Ike erschien bei Jakobson mit
analoger (poetischer und prsidialer) Funktion zuerst 1956 in der Presidential Address at the An-
nual Meeting of the Linguistic Society of America: Metalanguage as a Linguistic Problem, aus der
die gesamte Passage der Funktionen in das Closing Statement bernommen wurde. (Jakobson:
Selected Writings VII (Anm. 14), S. 113121) (Zwischenzeitlich verschwunden ist allerdings das Na-
menbeispiel French Fries, Jakobson: Selected Writings VII, S. 116.)
35 Jakobson: Poetik (Anm. 7), S. 117.
36 Ebd., S. 112.
37 Ebd., S. 118.
38 Jakobson: Closing Statement (Anm.10), S. 376.
39 Jakobson: Selected Writings III (Anm. 33), S. 49.
40 Etymologisch: cocktail [] cock-tailed horse, i. e. one with the tail docked and so sticking up like
a cocks tail. (Onions, Oxford Etymological Dictionary: Cocktail)
Erhard Schttpelz
205
41 Jakobson: Selected Writings III (Anm. 33), S. 49.
42 Jakobson: Poetik (Anm. 7), S. 118 f. Offensichtlich wendet Jakobson hier die Erwhnung des or-
natus facilis bereitet dies in seinem Text vor (Jakobson: Poetik (Anm. 7), S. 115) die Metapher des
rhetorischen ornatus gegen sich selbst, Rhetorik gegen Rhetorik: die Negation der ornatus-
Metapher durch eine Nacktheit ohne Scham, durch die Gesellschaft einer paradiesischen Nackt-
heit der Rede. Doch diese anti/rhetorische Wendung der Nacktheit ist nur eine sozusagen missio-
narische Adressierung dieses Finales.
43 Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9), S. 278.
44 Sehr viel unverblmter wird diese Sicht der Poesie ich nenne sie die -nymie fr und mit Poe
freigelegt, im orpheischen Einleitungskapitel des nie geschriebenen Buches (Nevermore), hier nur
eine Chrestomathie: For talking birds [] vocalization is primarily a means of getting their human
partner to continue communication with them and give in fact no sign of parting [] alienation of
ones own speech and its attribution to an alter [] The utterance is inhuman [] The noun raven is
simply an inversion of the sinister never [] an anomalous communication about the severance of
all communication [] His skilled employment in verse and his linguistic examination of the refrain
Nevermore are especially pertinent, for it is here that the sense of identity is directly challenged,
both as to sound and meaning. [] Moreover, the same word can function as a proper name [] It
fuses end with endlessness. [] the poem breaks up the unit nevermore into its grammatical cons-
tituents by separating more, ever, and no [] Nameless here for evermore [] Further, the unit
more is susceptible of dissociation into root and suffix [] The components we obtain by dissecting
all these units into smaller fractions are themselves devoid of meaning. These components of the
sound texture are laid bare through the equality and diversity of the phonemes [] the same word
is employed to signal itself [] we have attempted an exploratory sally into the very core of verbal
communication. For this purpose it seems most appropriate to choose a specimen like The Raven,
which approaches this process in all its amazing complexity and nakedness. (Jakobson: Selected
Writings III (Anm. 33), 717)
45 Jakobson: Selected Writings II, S. 570.
46 quivokation ist eine weitere Fundstelle fr die Umsetzung rhetorischer in technische, tchni-
scher in technische Kategorien, und in ein zweideutiges Zurck. Diese wechselseitige Umsetzung
war Jakobson mehr als anderen bewusst; so diskutiert er etwa die Mehrdeutigkeit des Begriffs der
Redundanz aus seiner rhetorischen Vorgeschichte (Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9),
S. 571). Analog gelagert ist, wie bereits erwhnt, die Modellierung der Peristasen; auerdem soll-
te nicht vergessen werden, dass Jakobsons Definition der poetischen Funktion ihrer Absicht nach
die traditionelle rhetorisch-poetische Definition der Poesie als oratio ligata, gebundene Rede,
linguistisch beerbt. Der Leser wird jetzt vermutlich die Frage stellen: Handelt es sich in der qui-
vokation von quivokation (rhetorischer Terminus technicus) und quivokation (Shannons Ter-
minus), die ich hier fr Jakobson konjiziere, um ein Missverstndnis? Es bleibt eine Frage der Per-
spektive, unter der man die Geschichte der euroamerikanischen Manipulation von Eindeutigkeit
und Mehrdeutigkeit, von Codierung und Homonymie (ihrer rhetorischen, philosophischen und
logischen Geschichte, z. B. der Sophistischen Widerlegungen) betrachten will, und noch betrach-
ten wird.
47 Shannon/Weaver: Mathematical Theory of Communication (Anm. 8), S. 110.
48 Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9), S. 575 f.
49 Warren Weaver: The Mathematics of Communication [1949], in: Alfred G. Smith (Hg.): Communica-
tion and Culture. Readings in the Codes of Human Interaction, New York 1966, S. 1524, hier: S. 23.
50 Claude E. Shannon: Communication Theory of Secrecy Systems, in: Bell System Technical Journal
28 (1949), S. 656715, hier: S. 660.
51 Und sie fallen laut Shannon auch dadurch zusammen, dass der geheime Code (bzw. der geheime
Schlssel zum gemeinsamen Code von Sender und Empfnger) ungetrennt von der zu entschls-
selnden Botschaft verschickt wird (Jeremy Campbell: Grammatical Man. Information, Entropy,
Language, and Life, New York 1982, S. 77); in dieser Zielsetzung (der Code soll fr den Interzeptor
Strung sein; er wird es durch die gemeinsame und ungetrennte Verschickung von Code und Bot-
schaft) liegt eine logische Gleichsetzung oder quivalenz von Codierung und Noise, die in alle Ab-
grnde der Kommunikationstheorie fhrt (into the very core) und Shannons Zeitgenossen termi-
nologisch verwirrte (vgl. Kahn: The Code-Breakers (Anm. 5), S. 751 f.). Und ist es nicht genau das,
was Jakobson fr Poesie und die poetische Funktion der Sprache vorfhrt? Dass Codierung und
Botschaft in der verschickten Botschaft untrennbar und unauflslich ambig bleiben werden (mit
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
206
Weaver gesprochen: dass die uncertainty concerning the message if the signal is known kein
Ende finden wird).
52 Jakobson: Selected Writings II (Anm. 9), S. 224, 277, 560, 575 u. a.
53 Jakobson: Selected Writings II, S. 575. Der Detektivvergleich geht anscheinend auf eine Stelle in
Norbert Wiener: The Human Use of Human Beings, London 1989 (nach der 2. Aufl. von 1954), S. 189
zurck, die Jakobson persnlich erwhnt. Wiener wendet sich hier gegen eine kryptographische
Auffassung von Wissenschaft: eine recht verstandene Naturwissenschaft (also auch eine zur Na-
turwissenschaft gewordene Linguistik) und ein rechtes Verstndnis der Entropie seien mit ihr nicht
vereinbar.
54 Jakobson: Selected Writings II, S. 278.
55 Jakobson: Selected Writings VII (Anm. 14), S. 245.
56 Ebd., S. 247.
57 Die Welt der deutschen bersetzung informationstheoretischer Peristasen (Source wurde dt. zur
Quelle, Destination dt. zur Senke man knnte fast denken, Noise als dt. Rauschen verdan-
ke sich einer zweiten Quelle) ist vermutlich dem onomasiologischen Umstand geschuldet, dass es
sich um die Elemente eines Flussdiagramms handelt. Wie soll man es sagen? In poetry the inter-
nal form of a name, that is, the semantic load of its constituents, regains its pertinence. Die tech-
nische Terminologie trgt die Last der Metapher (der Metapher) aus.
58 Perfect secrecy is possible but requires, if the number of messages is finite, the same number of
possible keys, so Shannon: Communication Theory of Secrecy Systems (Anm. 49), S. 659.
59 Jakobson: Selected Writings VII (Anm. 14), S. 246.
Erhard Schttpelz
207
Pet er M. Spangenberg
E L E K T R O N I S C H E S S E H E N D A S B E I S P I E L D E S F E R N S E H E N S . B E R D I E
T E C H N I S C H E , G E S E L L S C H A F T L I C H E U N D P S Y C H I S C H E O R G A N I S AT I O N D E R
S I C H T B A R K E I T
La tlvision en direct est une vritable mise
en demeure. On ne discute pas une image en
direct, on la subit.
Paul Virilio
1
Jegliche Medientechnologie ist eine technische Umsetzung von Utopien, die nur
vordergrndig etwas mit kommunikationspragmatischen Zielen zu tun hat, son-
dernvor allemauf die Auflsung vonGrenzenabzielt. Je effektiver Medientechni-
ken fest verankerte Erfahrungs- und Kommunikationsgrundlagen erschttern,
umso grer ist der thrill die Angstlust, die angstgesttigte Faszination
2
, den
sie auslsen, wie es etwa die Diskussionen ber Computer, Cyberspace und die
Teleprsenz des High-Definition-TVbelegen. FaszinationundFurcht vermischen
sich bei der Vorstellung einer kommunikativen Verfgbarkeit ber die Mitwelt,
der eigentlich nur noch jene Transparenz des fremden Bewusstseins fehlt, umdas
elektronische Sehen zu einer perfekten Gottesmaschine weiterzuentwickeln.
Denndass MedienmaschinenzugleichGottesmaschine sind, wirddeutlich, wenn
man sich vor Augen fhrt, dass Allgegenwart, Gleichzeitigkeit der Wahrneh-
mung und der Eindruck von Transparenz stets Ausweitungen des menschlichen
Bewusstseins durch die Technik also durch die Gesellschaft sind. Derartige
berschreitungen der Lebensweltgrenzen menschlicher Erfahrung psychischer
Systeme verheien eine externe und somit authentische Beobachtung der Welt
und knnen nur einemGott oder aber einer Gesellschaft zugeschrieben werden,
deren Kommunikationstechnologie die Funktionsstelle Gottes eingenommen
hat. Noch deutlicher wird die Verbindung von Naturbeherrschung, Sichtbarkeit
undMacht,
3
wenndie Transparenz des technischenSehens wie imKrieg der Ka-
meras, Strsender und Sensoren gegen Saddam Hussein nur der einen Seite
mglich ist und der anderen gezielt verwehrt werden kann.
Ubiquit satellitaire, instantanit des tlcommunications militaires,
cette guerre surexpose se pare des attributs traditionnels du divin, au
point qu ct de lintgrisme mystique et des appels la guerre sainte
dun Saddam Hussein, il faut entrevoir, du ct allis cette fois, une sorte
dintgrisme technique, appel la guerre pure, laide de matriels
Quelle, Rauschen und Senke der Poesie
208
sophistiqus (Cruise-missiles, munitions intelligentes, etc.) qui permet-
traient daffronter lennemi presque sans y toucher, comme par miracle en
somme
4
Kommt zu der technisierten, distanzierten und somit allmchtigen Wahrneh-
mung ein ebenso distanziertes wie distanzierendes Handeln hinzu, so ist die
Selbstinszenierung der Gotthnlichkeit der High-Tech-Gesellschaft perfekt. Der
Zusammenhang von Command, Control and Communication,
5
also die Verbin-
dung zwischen dem Krieg und der Genese neuer Kommunikationstechnologien,
die die neueren Medientheorien nachweisen,
6
fhrt zu der Frage, wie das techni-
sche und hier vor allem das elektronische Sehen organisiert ist. Die Faszination,
die von der immer weiter getriebenen Aufhebung der Differenz zwischen inter-
aktiven und audiovisuell vermittelten Wirklichkeiten ausgeht,
7
ist dabei immer
schon verknpft mit der Frage nach den Wahrnehmungs-, Kommunikations-
und Handlungsmglichkeiten der modernen Gesellschaft. Eine unhinterfragte
Prmisse derartiger Beschreibungen ber die Mglichkeiten und Folgen von
Kommunikationstechnologien
8
ist allerdings die Vorstellung, technisch vermit-
teltes Sehen knne eine objektive, subjektfreie Abbildung der Welt leisten und sogar
noch erweitern. So machen die vielfltigen Diskussionen ber Manipulation und
Desinformation durch audiovisuelle Massenmedien nur dann Sinn, wenn man
unterstellt, dass der visuelle Eindruck immer im Sinne einer Referenz auf objekti-
ve Strukturen der Auenwelt verarbeitet wird, und zwar selbst dann, wenn es
sich um deutlich markierte Akte des Fingierens handelt.
9
Aus der Sicht neurophysiologischer Erkenntnisse und ebenso aus der Sicht ei-
ner konstruktivistischen Erkenntnistheorie erweist sich jedoch gerade die Kon-
zeption des Sehens, die den meisten Theorien der audiovisuellen Massenkom-
munikation zugrunde liegt, als kaum haltbar. Vor allem die Vorstellung vom
subjektfreien technischen Sehen ist zu korrigieren und stattdessen zu untersu-
chen, welche reflexiven Konzepte des Sehens durch den Einsatz von Medien in
der Gesellschaft erzeugt werden. Da das Sehen hnlich wie der Geruchssinn oder
die Schmerzempfindung nicht selbstreflexiv organisiert ist und wir uns wohl
sprechen hren, nicht aber beim Sehen sehen knnen, sind die Erfahrungen des
Sehens nicht eindimensional biologisch determiniert, sondern werden entschei-
dend kulturell
10
und das heit durch die Gesellschaft und ihre Medien der
Sichtbarkeit beeinflusst.
Peter M. Spangenberg
209
D I E E ME R G E N Z V O N K O MMU N I K AT I O N : K O N S T R U K T I O N S TAT T B E R T R A G U N G
Die These, die hier anhand von einigen Beobachtungen vertreten werden soll,
lautet also, dass der Evolutionsstand der Kommunikationstechnologien
11
als ein
wichtiger Aspekt in die Wirklichkeitskonstruktion der Gesellschaft eingeht und
dass im Falle der audiovisuellen Medien sich dies an sozialen Operationen der
Wahrnehmung, die normalerweise alleindenpsychischenSystemenzugerechnet
werden, beobachtenlsst. Es geht alsonicht sosehr umdieFrage, was wahrgenom-
men wird, sondern wie dies geschieht. Nochmals akzentuieren lsst sich unsere
Hypothese durch die Aussage, dass nicht eine objektiv wahrnehmbare Wirklich-
keit durch technische Kommunikationsmittel immer perfekter und vollstndiger
abgebildet wird, sondern dass vielmehr technische Sichtbarkeit whrend einer
Evolutionsphaseder Gesellschaft immer strker zumSynonymvonRealitt wurde
undwir derzeit vor der Schwierigkeit stehen, dass diese Verknpfungnunvonden
technischenMedienselbst unterlaufenwird.
12
Subjektive Subsinnwelten, d. h. ab-
weichende Wirklichkeiten, sindzwar inBereichenwie Kunst oder Geschmackzu-
gelassen und sogar erwnscht, sie setzen jedoch immer noch den Hintergrund ei-
ner gemeinsamenEinheitswirklichkeit voraus, dievoneiner Einheitswissenschaft
erforscht, erkannt und reprsentiert werden kann. In der Alltagswelt ist diese ge-
meinsame Wirklichkeitsebene, so unsere Annahme, mittlerweile durch eine spe-
zielle Form der Sichtbarkeit ausgezeichnet. Technische Visualisierung erscheint
uns deshalb vornehmlich als eine Einheitsperspektive, die die funktionale Diffe-
renzierung der Gesellschaft insofernunterluft, als sie nicht auf symbolischgene-
ralisierte Kommunikationsmedien
13
zurckgreift, sondern bereits bei der Emer-
genz von Wahrnehmung ansetzt. Bevor diese Thesen im Hinblick auf das
Fernsehen nher erlutert werden knnen, mssen zumindest mit ein paar Stich-
worten die erkenntnistheoretischen Vorgaben angerissen werden, die zu einem
derartigenPerspektivenwechsel fhrenknnen. Die Bezugspunkte hierfr liefern
die Theorieentwrfe der biologischen Kognitionstheorie Francisco Varelas und
HumbertoMaturanas sowie der soziologischenSystemtheorie Niklas Luhmanns.
Beginnen wir mit der biologischen Beschreibung von Kognition. Die kon-
struktivistisch orientierte neuropysiologische Forschung geht davon aus, dass das
Gehirn als ein informational bzw. semantisch geschlossenes System betrachtet
werden muss, dem fr die Verarbeitung aller Auenkontakte nur die Form der
neuronalen Aktivitt zur Verfgung steht.
14
Kognition und in unserem Falle
Wahrnehmung lsst sich deshalb nicht als die bertragung (Sender = Ohr/Auge)
eines semantisch kodierten Signals (Empfnger = Gehirn) durch die Sinnesorgane
verstehen.
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens
210
Energetische und materielle Offenheit hat aber mit informationaler bzw.
semantischer Offenheit berhaupt nichts zu tun. Offenheit im informa-
tionalen/semantischen Sinne wrde heien, da das Gehirn als Wahr-
nehmungssystem aus der Umwelt Signale empfngt, die als solche, d. h.
unabhngig vom Gehirn, eine bestimmte Bedeutung/Information, d. h.
Wirkung besitzen.
15
Stattdessen ist Wahrnehmung zu beschreiben als ein aktiver Prozess des Gehirns,
das aufbauend auf den semantisch-neutralen Stimuli des Auges einen Wahrneh-
mungseindruck erzeugt, an dem, verglichen mit den Ausgangsstimuli des Sin-
nesorgans, ein Vielfaches an neuronaler Aktivitt im Gehirn beteiligt ist. Die neu-
ronale Basis dieses Wahrnehmungskonstruktes ist nicht bewusstseinsfhig, und
die Bedeutungsproduktion des Gehirns, die zu einem gestalthaften visuellen
Eindruck fhrt, operiert in der ihr eigenen Zeitlichkeit, die auch dann nicht un-
terlaufen werden kann, wenn man bereits wei, dass der visuelle Eindruck falsch
oder ambivalent ist.
16
Die signaltechnische Beschreibung von Kommunikation als einem Vorgang,
den man als die bertragung von Signalen von einem Sender vermittels eines
Kanals und eines Trgermediums zu einem Empfnger beschreiben kann, ist fr
neuronale Systeme nur auf der Ebene der Ausbreitung neuronaler Stimuli zu
bernehmen. Diese Stimuli sind jedoch, es sei nochmals betont, semantisch un-
determiniert, d. h. die neuronalen Signale der Sehnerven weisen keinen qualita-
tiven Unterschied gegenber etwa den Signalen jener Nerven auf, die fr die
sensomotorische Steuerung zustndig sind. Die Bedeutung, die der jeweiligen
neuronalen Aktivitt im Gehirn zugewiesen wird, entsteht dort konstruktiv und vor
allem durch Relationierung mit vorgngigen Bedeutungen,
17
wobei Wahrneh-
mung, Erinnerung und Lernen funktional miteinander verknpft sind.
Aufgrund der operationalen Geschlossenheit psychischer Systeme lehnt
auch die soziologische Systemtheorie Vorstellungen von Intersubjektivitt be-
grndet auf Informationsbertragung aus der Auenwelt ab. Stattdessen wird
Kommunikation als ein Emergenzphnomen auf der Ebene sozialer Systeme be-
schriebenundals eine dreistellige SelektionvonInformation, Mitteilung undVer-
stehen definiert. Die Systemtheorie kann Kommunikation nicht allein mit Hilfe
des Informationsbegriffs a difference that makes a difference beschreiben, weil
im Prozess der Entstehung von Kommunikation nicht von vornherein klar ist,
was an einem Wahrnehmungskonstrukt, das als Kommunikation beobachtet
wird, als Information und was als Mitteilungsabsicht und -handlung zu behan-
deln ist. Kommunikation ist also kein in der Auenwelt vorhandener Gegen-
Peter M. Spangenberg
211
stand
18
oder ein dort vorzufindender inhrenter Sinnzusammenhang, den man
nur zu transportieren braucht, sondern eine Selektionsleistung, die immer nur fr
und durch einen Beobachter entsteht. Kommunikationsangebote knnen imRah-
men verschiedener Kulturen, fr verschiedene Personen oder in verschiedenen
Medienzu sehr unterschiedlichenSelektionsleistungenfhren, die angenommen
oder abgelehnt werden knnen. An der Emergenz von Kommunikation sind also
psychische und soziale Systeme, das operative kulturelle Gedchtnis und die ver-
wendeten Kommunikationstechnologien beteiligt, wobei es uns vor allemdarauf
ankommt zubelegen, dass die Bedeutung vonTechnologienber die Funktionder
Speicherung und Verbreitung von Kommunikationsangeboten hinausgeht und
die realisierbarenBandbreitender Bedeutungsproduktionerffnet und eingrenzt.
Zu diesem Zweck muss eine neuartige Definition des Medienbegriffs einge-
fhrt werden, die auf der Unterscheidung zwischen locker und rigide gekoppel-
ten Elementen beruht.
19
Diese Differenz zwischen lose gekoppelten Elementen
Medium und darauf aufbauenden Einheiten rigider Kopplung Form bezeich-
net nicht nur eine Innen/Auen-Differenz, sondern zugleich auch eine hierar-
chische Ordnung, da sich die rigiden Formen gegenber dem weicheren Medium
durchsetzen. Als Beispiele lassen sich das Licht als Medium fr Wahrnehmung
oder der Sand als Medium fr die Wahrnehmung der Form eines Fuabdrucks
anfhren. Das Medium bestimmt somit die Mglichkeiten und die Prgnanz der
Formbildung.
Unterscheidet man in dieser Weise Medium und Form, so verflchtigt
sich gewissermaen das klassische Problem der Referenz. Es wird als
Problem ersetzt. An die Stelle der Frage, was (wenn berhaupt etwas) Ge-
danken intendieren oder Stze bezeichnen, tritt die Frage, durch welche
Formen sich etwas als Medium der Realisierung von Form konstituieren
lsst. [] Die Wiederentdeckung des Mediums in den Dingen stellt das
Medium in Differenz zur Form wieder her und erffnet neue Mglichkei-
ten, Formen einzuprgen, und mit Wahrheit wird das diesen Bedingun-
gen gengende Gelingen bezeichnet. Nur so wird auch der gewaltige Ef-
fekt der modernen Technik verstndlich. Es handelt sich nicht um die
Folgen der Entdeckung von bisher unbekannten Naturgesetzen, sondern
um einen konstruktiven Aufbau immer neuer Relationen von Medium
und Form.
20
Mit Hilfe dieser Unterscheidung wird deutlich, mit welchen Problemen alle Ver-
suche behaftet sind, etwa die Materialitt der Kommunikation,
21
also die Bedeu-
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens
212
tung des Mediums fr Formen der Kommunikation zu beschreiben, weil sich Me-
dien immer nur in Bezug auf realisierte Formen beobachten lassen, ohne die das
Medium unsichtbar bleibt. Aufbauend auf dieser Unterscheidung von Medium
und Form lsst sich nun die Aktivitt neuronaler Systeme als das unsichtbar blei-
bende Medium von Kognitionsleistungen beschreiben, von denen audiovisuell
vermittelte Wahrnehmungen eine Mglichkeit der Formbildung darstellen. Un-
sere These zum elektronischen Sehen lautet nun, dass audiovisuelle Wahrneh-
mungen zu einem quantitativ wie qualitativ bedeutsamen Medium fr soziale
Kommunikation werden. Dies betrifft zwar auch die Verbreitung von Informa-
tionen und Mitteilungshandlungen, die mit der Absicht verbreitet werden, als
Kommunikation verstanden zu werden, besonders jedoch die lose gekoppelten
Elemente des Mediums, die die sozial verbindliche Basis der Weltwahrnehmung
bilden und weniger kommunikative als emotionale Aktivitten bei psychischen
Systemen anstoen. Als neuronale Konstrukte laufen nun technische Wahrneh-
mungen als auferlegte Fremdreferenz (Welt), die nur bedingt abgewiesen werden
knnen, parallel zu anderen Bewusstseinsaktivitten mit, und ihnen kommt eine
hohe Relevanz bei der Konstruktion von Wirklichkeit zu. Somit erscheint sowohl
fr neuronale Systeme als auch fr soziale Systeme Wahrnehmung als das Medi-
um, in dem sich die Formen der Wirklichkeitskonstruktion einprgen, und diese
Formen sind immer schon semantisch besetzt.
D I E O R G A N I S AT I O N S L E I S T U N G E N D E S E L E K T R O N I S C H E N S E H E N S
Neuronale und soziale Systeme erfahren ihre eigenen Konstrukte als Reprsenta-
tionen von Bedeutungsstrukturen, die sie der Auenwelt zuschreiben. Die Un-
terscheidung von Individuum und Gesellschaft, von psychischen und sozialen
Systemen wird durch die im Medium der technischen Wahrnehmung realisier-
ten Formen ein weiteres Mal auf der Ebene der Wahrnehmung und nicht erst
durch die Unterscheidung von Gedanken und Kommunikation eingefhrt. Sozi-
al vermittelte Formen der Wahrnehmung sind zunchst nichts Neues, jedoch da-
durch, dass die technischen Wahrnehmungen in Analogie zu psychischen For-
men der Wahrnehmung organisiert sind bzw. so erfahren werden, entsteht auf
Seiten der psychischen Systeme ein immenses Irritationspotenzial jener thrill,
von dem bereits die Rede war und auf Seiten der sozialen Systeme die Illusion,
die Wahrnehmungswirklichkeit psychischer Systeme das Medium psychischer
Wirklichkeitskonstruktion nun systemintern, also auch auf Seiten der Gesell-
schaft zur Verfgung zu haben.
Peter M. Spangenberg
213
Die Durchdringung von psychischen und sozialen Systemen
22
erfolgt somit
schon auf der Ebene der zunehmend auch fr psychische Systeme sozial ver-
pflichtend anzusehenden, technischen Wahrnehmungen. Oder anders gewen-
det: Psychische Systeme knnen ihre Wahrnehmungsweisen nur noch dann so-
zial geltend machen, wenn sie sich der technischen Medien bedienen, wodurch
jedoch die prinzipielle Differenz zwischen individueller Erfahrung und Kommu-
nikation nicht aufgehoben wird. Ein Zuschauer kann medial vermittelte Wahr-
nehmungen im Hinblick auf eine Mitteilungsabsicht also als Kommunikation be-
obachten. Er kann dazu jedoch eher durch eine berzeugende Realisierung einer
Form im Medium des technischen Sehens veranlasst werden als durch die sprach-
liche Mitteilung einer Mitteilungsabsicht.
Technologisch organisierte Wahrnehmungen bilden also das Medium fr
die Emergenz von interaktionsfreien Kommunikationen, die als bewusst gewor-
dene Formen den Bildern selbst zugeschrieben werden. Technische Medien er-
zeugen somit im sozialen System der Gesellschaft einen systeminternen Wahr-
nehmungshorizont, der sich als Abbildung der Auenwelt versteht und zugleich
um seine mediale Vermittlung wei. Operativ erzeugt dieser Wahrnehmungsho-
rizont durch das zugrunde liegende Medium einen einheitlichen Zugriff auf das,
was er selbst als Welt konstituiert, und er ist trotz aller Kritiken und Klagen, die
gerade im Fernsehen ber die Kommunikationsstrukturen des Fernsehens arti-
kuliert werden, nicht zu unterlaufen.
Dem Kreislauf der Bilder ist nicht zu entkommen, denn ein Bild kann nur
durch ein anderes Bild verdrngt werden. Das Medium operiert selbstreflexiv,
d. h. es wird in seinen Formen sichtbar und funktioniert doch so weiter, wie es
funktioniert, weil keine anderen Elemente zur Verfgung stehen. Eine effiziente
Lsung wre ein Wechsel des Mediums etwa lineare Schriftlichkeit , was dann
allerdings intern den strukturgleichen Zwngen und Beschrnkungen unterlge.
Man behilft sich stattdessen mit dem Glauben daran, dass potenziell alle sozial
relevanten Themen zum Gegenstand der technisierten Wahrnehmung werden
knnen. Im Falle des elektronischen Sehens, also besonders des Fernsehens, be-
deutet dies jedoch, dass alles kommunikativ Bedeutsame in Sichtbarkeit ber-
fhrt werden muss. Wenn jedoch Sichtbarkeit als Medium zum dominanten Kri-
terium von Wirklichkeit wird, dann bestimmt dies wiederum die mglichen
symbolischen Formen, die einer Gesellschaft fr ihre Konstruktionsleistungen
zur Verfgung stehen, und die Katze beit sich in den Schwanz.
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens
214
D A S F E R N S E H E N A L S S Y S T E MI N T E R N E U MWE LT D E R G E S E L L S C H A F T
Die Klage ber die Oberflchlichkeit des Fernsehens oder die Abstraktheit der
politischen und administrativen Sprache zeigt, dass die semantischen Formen
von den Medien abhngen, in denen sie realisiert werden. Die Erzeugung von
systeminternen, semantisierten Umwelten beschrnkt sich natrlich nicht auf
die Medien der technischen Wahrnehmung. Auch jenes soziale Konstrukt, das
als ffentliche Meinung bezeichnet wird, erfllt ebenso jene paradoxe Funk-
tion der Abbildung der Welt in der Welt der Gesellschaft, und zwar durch ihre
Reduktion auf relevante Themen und Beitrge.
23
Die systeminterne Umwelt auf
der Basis der technisierten Wahrnehmung muss gegenber den sprachlich er-
zeugten Umwelten jedoch wesentlich allgemeiner ausfallen, schon weil sich
Wahrnehmungen nicht von vornherein auf Beobachtungsperspektiven festlegen
lassen.
24
Das Fernsehen ist nun als eine ideale Institution fr die Erzeugung einer
derartigen systeminternen Wahrnehmungswelt anzusehen, weil alles, was mit
der Videotechnologie sichtbar gemacht werden kann, im Fernsehgert erscheinen
kann.
Beim gegenwrtigen Evolutionsstand des elektronischen Sehens ist das
Fernsehen zu charakterisieren als eine von vielen Organisationsformen der medi-
alen Wahrnehmung und der Kommunikation in der Gesellschaft. Seine Rolle als
gesellschaftliches Leitmedium der Wirklichkeitsprsentation hat sich gewandelt,
da schon aufgrund der inflationren Steigerung des Programmangebots nicht
mehr davon ausgegangen werden kann, dass die ffentlichkeit derart vom Fern-
sehen fasziniert ist und von ihm beherrscht wird wie in den ersten Jahrzehnten
der Nachkriegszeit. Damals versuchte man es als politisches Erziehungsinstru-
ment durch die bertragung der Debatten des Bundestages und zugleich
durch das Fernsehspiel als neue Kunstform zu etablieren,
25
whrend es heute vor
allem als Unterhaltungsmedium und Aktualittsmedium betrachtet wird.
26
Jede
dieser Beobachtungsprferenzen muss eine Vielzahl von Nutzungsaspekten des
Fernsehens als systeminterner Umwelt ausklammern. Diese ist zu einem norma-
len und austauschbaren Geschehen geworden, das der Gesellschaft seine Zeit-
und Themenstrukturen nicht mehr als vordringlich aufoktroyieren kann, dafr
aber im Alltag berall und erwartbar prsent ist. Auch sitzt das Publikum nicht
mehr gebannt vor dem Gert, sondern es streunt mit Hilfe der Fernbedienung
mehr oder weniger gelangweilt oder interessiert durch die audiovisuellen Ange-
bote der Kanle
27
wie durch die Seiten eines Versandhauskatalogs, dessen Ange-
bote sich zwar in einem hektischen Rhythmus ndern, der jedoch keine struktu-
rellen Innovationen mehr zu bieten hat. Die Beilufigkeit und Normalitt, mit der
Peter M. Spangenberg
215
Fernsehen zu einem Element der Wirklichkeitskonstruktion geworden ist, macht
jedoch derzeit seinen Stellenwert aus.
Die system- und technikinterne Umwelt dieser Art von Kommunikation,
also die Welt, der sie zugehrt und die sie mit erzeugt, ist nicht die Realitt und
deren vermeintliche Abbildung, sondern es sind zunchst einmal andere techni-
sche Bilder. Mittlerweile existieren sie in gengender Menge und ber einen his-
torisch ausreichenden Zeitraum hinweg, sodass das Fernsehen primr auf sich
selbst Bezug nehmen kann. Die Informationen, die Mitteilungen und die media-
le, audiovisuelle Qualitt dieser Bilder bildet einen autopoietischen Organisa-
tionszusammenhang, der sich ber seine operative Einheit also durch die tech-
nische Organisation und nicht durch die Referenz dieses Sehens reproduziert.
Dies geschieht inhaltlich und, was wesentlicher ist, strukturell durch ein ausge-
feiltes Set von Gattungen, die man als Sehanweisungen und -erwartungen (so-
ziologisch gesprochen: Programme) verstehen kann, bei deren Umsetzung die
Unterscheidung zwischen subjektiv individuellem und sozial vermitteltem, tech-
nischem Sehen operationalisiert und gleichzeitig invisibilisiert wird.
28
Die Funk-
tion dieses medialen Sehens ist die Gestaltung der Gesellschaft in der Form der
Sichtbarkeit. Das ist, wie schon erwhnt, nicht mit Abbildung der Welt zu ver-
wechseln, sondernwennes berhaupt umAudiovisionenmit Referenzanspruch
geht, eher als eine Abtastung und damit als Transformation der Umwelt zum
Zweck der technischen Sichtbarkeit zu verstehen.
Irritationen knnen dabei nicht so sehr dadurch entstehen, dass groe Teile
der Welt nur noch in dieser Form ins Bewusstsein kommen, denn das gilt ebenso
fr die interaktionsfreie Kommunikation in anderen Medien. So scheint es etwa
die Rezipienten von historischen Romanen oder von Historiographie nicht zu
stren, dass ihr Wissen nur angelesen ist. Die grundlegenden Vernderungen, die
durch das elektronische Sehen entstehen, beziehen sich auf die Art und Weise, in
der Individuen psychische Systeme nun das Sehen selbst erfahren. Von einem
natrlichen, wirklichkeitsadquaten, realistischen Sehen kann auch nach der Ein-
fhrung und Verbreitung der systeminternen, technischen Wahrnehmungswelt
nicht gesprochen werden, weil Wahrnehmungen immer schon gesellschaftlich
normiert und bewertet wurden.
29
Die Wahrnehmungsorganisation muss aller-
dings in Relation zum jeweiligen Bezugssystem der Wahrnehmung gesetzt wer-
den: psychische Systeme oder Gesellschaft. Genau diese Unterscheidung wird je-
doch durch das technische Sehen revolutioniert.
Die Auszeichnung des Erlebnisstils der tglich und fraglos gegebenen Le-
benswelt und der Bewusstseinsspannung der hellen Wachheit mit demRealitts-
akzent der wirklichen Wirklichkeit erweist sich somit ein weiteres Mal als eine ge-
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens
216
sellschaftliche Konstruktion. Da sich Individuen beim Sehen nicht selbst sehen
knnen, werden die jeweiligen Formen des sozial vermittelten kontrollierten,
normierten und organisierten Sehens nur so lange als natrlich erfahren, wie sie
nicht inKonkurrenz mit anderenWahrnehmungsformentreten. Sei es das mittel-
alterliche narrativ aufgebaute Simultanbild,
30
das gerade jene Tiefenstrukturen
der transzendentalenWirklichkeit vermittelnwollte, die sichhinter denAkziden-
tiender oberflchlichenWahrnehmungverbergen, oder sei esdieraumerzeugende
Zentralperspektive der Renaissance,
31
die mit Hilfe selbstbezglicher harmoni-
scher Beziehungen ganz imSinne der modernen Chaostheorie ihre Wahrneh-
mungenstrukturierte, oder seienes die subjektivistischenSichtweisendes Kinos,
sie alle sindals historisch-soziale Formeneines sichselbst bewusst werdendenSe-
hens zu verstehen, wobei die jeweils dominierende Formzumeist als die hchste
Entwicklungsstufe oder schlicht als die Wirklichkeit angesehen wird.
bersehen wird dabei vom Zuschauer, dass natrlich auch das technische
Sehen seinen eigenen Gestaltungsleistungen nicht entkommen kann: die Gestal-
tung dessen, was vor der Kamera geschieht und was fr die Kamera erzeugt wird,
die Gestaltung des Sehens durch die Kamera und was mit diesen Bildern durch
den Zuschauer geschieht. Das Fernsehen muss daher sowohl aus der Perspektive
der Organisation von Kommunikationsleistungen fr andere Systeme beobachtet
werden, aber vor allem aus der Perspektive einer historisch spezifischen Art des
Sehens, und das bedeutet zugleich einer spezifischen Form der Umwandlung der
Welt in ihre soziale Sichtbarkeit. Walter Benjamin paraphrasierend, knnte man
von der Wirklichkeit im Zeitalter ihrer technischen Visualisierbarkeit sprechen.
Solange man jedoch dabei weiterhin von der Vorstellung des Abbilds eines Origi-
nals ausgeht, wre eine solche Sichtweise verkrzend, weil es sich beim technisch
vermittelten Sehen nicht um Reproduktion, sondern um eine Konstruktion der
Welt ihrer Selbst- und Fremdreferenz, Gesellschaft und ihre Umwelten in der
Form der Sichtbarkeit handelt.
32
T E C H N I S C H E S I C H T B A R K E I T A L S WE LT F O R M
Das Fernsehen gehrt zum Alltag der interaktionsfreien Kommunikation wie das
Radio und die Zeitung. Die gesellschaftsinternen Umwelten der elektronischen
Wahrnehmung und Kommunikation sind mittlerweile wesentlich mehr durch
die technische Organisation des Sehens, durch seine interne Geschwindigkeit,
durch seine kollabierenden Rume und seine Prsentationsweisen bestimmt als
durch Themen und Beitrge. Die Fernseher, berwachungsmonitore und Com-
Peter M. Spangenberg
217
puterbildschirme, auf denen die ernsthaften Programme der Computer erschei-
nen, und die neben den Spielprogrammen mittlerweile digitalisiert auf CD-
ROM erhltlichen Lexika, Fahrplne, historischen Ton- und Bilddokumente ver-
krpern die eigentliche strukturelle Innovation, die darin besteht, dass nur noch
dasjenige, was auf ihnen zu sehen ist, einen Wirklichkeitsanspruch erheben
kann. Diese Schnittstellen zu den neuronalen Systemen der Zuschauer sind da-
rauf ausgerichtet, ein Signal zu erzeugen, an das die symbolischen Ordnungen
des Alltags angepasst werden mssen. Bombardieren diese Monitore
33
den Be-
trachter mit realistischenBildern und Tnen, erzwingen sie also deren Produktion
in den Gehirnen, so stellt sich beim Betrachter der Eindruck einer Anwesenheit
ein, dessen Konstrukte zugleich als etwas Abwesendes gewusst, aber nicht so er-
fahren werden. Auf Bilder reagieren neuronale Systeme eben wie auf Bilder und
nicht wie auf Worte. Die audiovisuelle Anwesenheit des Abwesenden verwischt
fr den Betrachter die gestalthafte Unterscheidung von Realitt und Reprsenta-
tion. An der technischen Neutralisierung dieser Grenze in der elektronischen In-
szenierung eines Fort-Da-Spiels mit Hilfe des Bildschirms und der Fernbe-
dienung findet der Betrachter elektronischer Realbilder zwar weiterhin Gefallen,
jedoch mittlerweile wie ein Kind, das die Regeln dieses Spiels virtuos zu hand-
haben wei, ohne sich ihrer bewusst zu werden. Um in diesem Spiel nicht zu
unterliegen, bentigt man eine intensive Mediensozialisation und das durch sie
erworbene Gattungswissen, um Erwartungen bilden zu knnen, die dem Be-
wusstsein erlauben, die technischen Wahrnehmungen schneller zu strukturie-
ren, als sie ablaufen. Nur ein trainierter Zuschauer kann den Wettlauf mit den
technischen Bildern noch gewinnen.
Der Informationsreichtum der medialen Bilder dabei liegt gerade darin,
dass sie nicht auf eine Kommunikationsabsicht oder berhaupt auf Kommuni-
kation festgelegt werden knnen und sich nur bedingt fr semantisch-abstrakte
Informationsvermittlung eignen. Aufgrund ihrer semantisch unspezifischen Or-
ganisation bei gleichzeitiger hoher Informationsdichte ermglichen technische
Wahrnehmungen die Erfahrung von Horizonten der Welterfahrung, die dem
Zuschauer zuvor zwar als verbale Kommunikation, aber nicht in der Qualitt au-
diovisueller Inszenierungen zugnglich waren.
34
Die technischen Bilder operie-
ren also direkt aus dem assoziativ organisierten Unbewussten psychischer Syste-
me, also dem Imaginren heraus, und sie gehren trotzdem zugleich zum Bereich
der Gesellschaft, die sich mit diesen Bildern den Bereich eines kollektiven Unbe-
wussten
35
erzeugt. Damit gewinnen sie als eine Weltform an Bedeutung, auf die
die funktionalen Teilsysteme reagieren mssen. Die Beispiele hierfr sind dem
jeweiligen Fernsehalltag zu entnehmen. So konnte die Aufmerksamkeit der Ka-
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens
218
meras whrend der Berliner Kundgebung gegen Auslnderfeindlichkeit im No-
vember 1992 nicht von den Reden der Politiker gefesselt werden, sondern richtete
sich zwanghaft auf jene Kundgebungsteilnehmer, die statistisch zwar in der Un-
terzahl waren, aber durch ihre Rangeleien und Eierwrfe fr bewegte Bilder sorg-
ten.
Die Qualitt der technischen Organisation von Sichtbarkeit tendierte zu-
nchst in Richtung der Imitation von Sinneswahrnehmungen: Gestalt, Bewe-
gung, Farbe werden erzeugt und perfektioniert. Nachdem die Wiedererkennbar-
keit erreicht ist, werden Steigerungen intendiert, um in der Konkurrenz um die
Aufmerksamkeit mit andern Bildwelten bestehen zu knnen. Die Breitwandlein-
wnde der Kinos werden, so verspricht uns die Industrie, demnchst durch das
HDTV in das Wohnzimmer Einzug halten. Ob sich damit die Wohnzimmer wie
in den zweiten Anfangstagen des deutschen Fernsehens wieder am Modell des
Kinos
36
ausrichten, ist zumindest fraglich. Die Vorfhrungen der HDTV-Qua-
litt hinterlassen jedenfalls den Eindruck einer neuen optischen Dimension der
Sichtbarkeit, die mit dem Begriff der Teleprsenz
37
umschrieben wird. Auf dem
technischen Niveau des High-Definition-TV werden wir die Sendungen des
Fernsehens ganz gleich um welche Themen und Beitrge es sich handelt in der
Oberflchenqualitt jener Geldstcke vorgefhrt bekommen, die nicht fr den
Gebrauch bestimmt sind, sondern direkt in die Archive der Sammler wandern.
Fernsehen im Finish der hochglanzpolierten Platte wird uns alle seine Prsenta-
tionen auf einem einheitlichen hohen optischen Standard vermitteln, sodass in
Zukunft wie schon beim Film das hchste Lob gegenber der interaktiven Er-
fahrung darin bestehen kann, zu sagen, es sei wie im Fernsehen gewesen. Die
Wirklichkeitskonstrukte der technischen Sichtbarkeit werden sich dann viel-
leicht gerade durch ihre Vorzugsqualitt Erlebnisklasse A von den interaktiven
Welten unterscheiden lassen, die nur in Extrembereichen Bungee-Sprnge
noch mit der Intensitt technisierter, sozialer Wahrnehmung konkurrieren kn-
nen.
Die Prsentationen des Fernsehens sind unter dem Gesichtspunkt der Simu-
lation jedoch nur unzureichend zu beschreiben, wenn man sich damit begngt,
damit Verflschungen und Verschiebungen oder sogar die Auflsung von Sinn-
haftigkeit zu beobachten.
38
Auch wenn sich der Eindruck von Kontingenz im
Hinblick auf habitualisierte Schemata der Sinnbildungsleistungen anderer Me-
dien einstellen mag, so schliet dies noch lange nicht jegliche Strukturbildung
aus. Eine Normalform der technischen Sichtbarkeit besteht in der Produktion von
stereotypen, konventionalisierten Verknpfungen von Bildern, Tnen, Schrift
und Geruschen, deren gestalthafte Einheit auf Wiedererkennbarkeit hin opti-
Peter M. Spangenberg
219
miert ist. Auch wenn oft kaum eine logische Abfolge oder Verknpfung zwischen
den Bildern besteht, sind sie doch durch das sozial vermittelte Training des Se-
hens sehr einfach zu lesen und auf standardisierte Referenzebenen der Sichtbar-
keit abgestimmt. Man kann sogar umgekehrt behaupten, dass sich die Technolo-
gien der Sichtbarkeit verzweifelt um Kontingenz bemhen, die ihnen weder in
den surrealistischen Filmen noch in den Videoclips der Popmusik gelingt. Die so-
ziale und die psychische Bedeutungsproduktion lsst sich nicht abschalten, auch
wenn sie nicht zu einer die einzelnen Bilder verbindenden Kohrenzerfahrung
fhrt.
Wenn sich das Fernsehen etwa in Nachrichtensendungen, Features oder in
Serienproduktionen an die jeweiligen Stereotypen
39
hlt, dann produziert es sei-
ne eigene Form der Alltagswelt durch die technischen imagines, welche die Vor-
stellungskraft unterlaufen und direkt auf der Ebene des bildhaften Imaginren
psychischer Systeme operieren. Erst im Nachhinein muss und kann auf diese Bil-
der reagiert werden, und die Erwartung einer derartigen auferlegten Reaktion
kann zu einer prventiven Abwehr der technischen Bilder fhren. Man lsst sie
nicht so direkt an sich heran wie die fiktionalen Bilder im Kino, die in diesem fest
umrissenen Dispositiv gefahrloser mit der Aufhebung der Grenze von sozialer
und psychischer Realitt spielen drfen.
Jenes imitative Fernsehen jedoch, dass sich selbst in der Weise einer Abbil-
dung von Wirklichkeit inszeniert und an diese Inszenierung glaubt, liefert trotz
aller technischen Tricks und Finessen ein Sehen, dessen Kohrenz sich selbst be-
sttigt, indem es an keine andere Realitt als die so erzeugte Sichtbarkeit mehr
glaubt. ber die Auswahl der Bilder und ber die Kommentare, die sie begleiten,
kann gestritten, also in blicher Weise kommuniziert werden, jedoch nicht ber
den Realittsakzent der Bilder selbst. In Abwandlung eines Werbeslogans fr
Computerprogramme des Bereichs Desktop Publishing, der diese Wirklichkeits-
sicht aufgreift und umsetzt, kann man sagen: (Only) What you see is what is real.
Wenn diese Wirklichkeitssicht erst einmal als stillschweigende Prmisse ak-
zeptiert ist, so knnen nur andere, aktuellere, bessere, intensivere, realere Bilder
unser Bild der Welt erschttern. Dieser anscheinend unberwindliche Realitts-
glaube gegenber den Fernsehbildern
40
erzeugt eine Normierung der Wirklich-
keit, die nur aus der Sicht anderer Medien zu beobachten und aufzubrechen ist.
Dies drfte auch das Motiv fr die Kritik des Filmregisseurs Jean-Luc Go-
dard
41
am Fernsehen gewesen sein, als er es als ein Medium bezeichnete, das
nichts als Passbilder der Realitt herstellen knne. In dem Sinne wie ein Pass-
bild, das fr die Polizei oder die Behrden zur Bestimmung einer auf Wiederer-
kennbarkeit abzielenden also vormodernen Identitt einer Person ausreichen
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens
220
mag, knnten auch die Fernsehbilder als real betrachtet werden. Die abgebildete
Person empfindet beim Anblick ihres Passbilds dagegen stets ein gewisses Un-
behagen, weil es bestenfalls einen Ausschnitt der eigenen individuellen Wirk-
lichkeit zu prsentieren vermag. Damit ist die ganze Bandbreite der derzeitigen
Mediendiskussion abgesteckt. Sie reicht von der Beschwrung des Zusammen-
bruchs jeglicher sinnhafter Erfahrung als Effekt der technischen Sichtbarkeitsme-
dien bis zur Beschreibung des Fernsehens als einem Produzenten automatisierter
Bildchen.
1 Paul Virilio: Lcran du dsert. Chroniques de guerre, Paris 1991, S. 87.
2 Das lustvolle Erleben von Gefahren, denen man sich selbst aussetzt, bezeichnet Michael Balint:
Angstlust und Regression, Stuttgart 1991, S. 1748, als Philobaten.
3 Also eine Naturbeherrschung durch Kommunikation und Wahrnehmung statt durch Werkzeuge.
Vgl. Friedrich Kittler: Fiktion und Simulation, in: K. Barck et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung
heute oder Perspektiven einer anderen sthetik, Leipzig 1990, S. 196213.
4 Virilio : Lcran du dsert (Anm. 1), S. 77 f.
5 Dieser heiligen Dreifaltigkeit des modernen Krieges schlagen die Militrs noch den Nachrichten-
dienst hinzu. Vgl. fr den Golfkrieg: Stan Morse (Hg.): Gulf Air War Debrief, London/Westport, CT
1991, S. 40 f. und 78 f.
6 Vgl. Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986; sowie Paul Virilio: Krieg und
Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt/M. 1989; und bezglich des Fernsehens: Thomas Ml-
ler/Peter M. Spangenberg: Fern-Sehen Radar Krieg, in: Martin Stingelin/Wolfgang Scherer
(Hg.): HardWar/SoftWar. Krieg und Medien 1914 bis 1945, Mnchen 1991, S. 275302.
7 Wobei die Zuschauer ihre Virtuositt damit unter Beweis stellen knnen, dass sie diese Unterschei-
dung gegenber der technischen Raffinesse der medialen Wirklichkeitsimitationen doch noch zu
handhaben wissen. Vgl. Waldemar Vogelgesang: Jugendliche Video-Cliquen. Action- und Horrorvi-
deos als Kristallisationspunkte einer neuen Fankultur, Opladen 1991, S. 235241. Der Zusammen-
bruch dieser Differenz wrde jegliche Beobachtungsmglichkeiten unterlaufen.
8 Vgl. zur bersicht: Max Kaase/Winfried Schulz (Hg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden,
Befunde (=Klner Zeitschrift fr Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 30, 1989), und aus
kulturtheoretischer Sicht: Norbert Krenzlin (Hg.): Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien
der Massenkultur seit Nietzsche, Berlin 1992.
9 Zur Beziehung des Fiktiven zum Realen und Imaginren vgl. Wolfang Iser: Das Fiktive und das Ima-
ginre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1991, S. 1823.
10 Hierzu sind ebenso die konomischen, institutionellen und infrastrukturellen Voraussetzungen, die
Nutzungsgewohnheiten und die Angebote von Kommunikationsmitteln zu rechnen. Die Medienkul-
tur einer Gesellschaft kann dann als die Ebene der Anschliebarkeit von Kommunikation jenseits
der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft betrachtet werden. Vgl. Siegfried J. Schmidt:
Medien, Kultur: Medienkultur. Ein konstruktivistisches Gesprchsangebot, in: ders. (Hg.): Kogni-
tion und Gesellschaft. Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt/M. 1992,
S. 380450.
11 Im Sinne eines nicht erwartbaren, aber irreversiblen Prozesses. Vgl. Niklas Luhmann: Das Prob-
lem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer
(Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie,
Frankfurt/M. 1985, S. 1133, hier: S. 19 ff.
12 Zum Entwicklungsstand der technischen Verknpfung verschiedener Bildquellen vgl. die Artikel
zum Themenschwerpunkt: Desktop Video in: ct 10, 1992, S. 100125.
13 Im Rahmen eines komplexeren Beschreibungsansatzes msste auf die unterschiedliche Form der
Anschliebarkeit von Kommunikation durch technische Medien und durch symbolisch generalisier-
te Kommunikationsmedien eingegangen werden. Vgl. Niklas Luhmann: Symbiotische Mechanis-
Peter M. Spangenberg
221
men, in: ders.: Soziologische Aufklrung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen
1981, S. 228244; sowie ders.: Einfhrende Bermerkungen zu einer Theorie symbolisch generali-
sierter Kommunikationsmedien, in: ders.: Soziologische Aufklrung 2. Aufstze zur Theorie der
Gesellschaft, Opladen 1975, S. 170192.
14 Zum Verhltnis von Gehirn und Kognition vgl. Gerhard Roth: Autopoiese und Kognition: Die Theorie
H. R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der
Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1987, S. 256286; sowie Gerhard Roth: Das
konstruktive Gehirn: Neurobiologische Grundlagen von Wahrnehmung und Erkenntnis, in: Siegfried
J. Schmidt (Hg.): Kognition und Gesellschaft (Anm. 10), S. 277336.
15 Gerhard Roth: Die Konstitution von Bedeutung im Gehirn, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Gedchtnis.
Probleme und Perspektiven der interdisziplinren Gedchtnisforschung, Frankfurt/M. 1991,
S. 360370, hier: S. 360.
16 Bekannt sind jene Kippbilder, um deren Gestaltambivalenzen man wissen, die man jedoch nur suk-
zessiv in einem Abstand von 2,5 bis 3 Sek. und nicht in Gleichzeitigkeit sehen kann. Vgl. Ernst
Pppel: Grenzen des Bewutseins. ber Wirklichkeit und Welterfahrung, Mnchen 1987, S. 54 f.
17 Das Gedchtnis ist ebenfalls nicht im Sinne eines Speichermediums zu beschreiben, dem man Re-
prsentationen der Umwelt wie aus einem Behlter bei Bedarf entnehmen kann. Vgl. Siegfried J.
Schmidt: Gedchtnisforschungen: Positionen, Probleme, Perspektiven, in: ders. (Hg.): Gedchtnis
(Anm. 15), S. 955.
18 Insofern ist Kommunikation und die Anschliebarkeit ihrer Selektionen als ein Phnomen sozial
stabilisierter Unwahrscheinlichkeit zu betrachten. Vgl. Niklas Luhmann, Was ist Kommunikation?,
in: Information Philosophie 1, 1987, S. 416.
19 Vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990, S. 398 ff.
20 Ebd., S. 183 f.
21 Dabei geht es vor allem um die Semantiken und die historischen Funktionen der Materialitt von
Kommunikation. Vgl. K. Ludwig Pfeiffer: Materialitt von Kommunikation?, in: Hans Ulrich Gum-
brecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialitt der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, S. 1528.
22 Zum Problem des Zugriffs auf die Komplexitt des jeweils anderen Systemtyps vgl. Niklas Luh-
mann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 286345.
23 ffentliche Meinung ist als soziales Phnomen anzusehen und nicht davon abhngig, dass sich alle
psychischen Systeme mit ihren Themen beschftigen. Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftliche
Komplexitt und ffentliche Meinung, in: ders.: Soziologische Aufklrung 5. Konstruktivistische
Perspektiven, Opladen 1990, S. 95130, hier: S. 95 ff.
24 Zur Funktion der Wahrnehmung vgl. Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 22), S. 560568.
25 Zur Durchsetzung des Dispositivs Fernsehen in den 1950er Jahren vgl. Monika Elsner/Thomas Ml-
ler/Peter M. Spangenberg: Zur Entstehungsgeschichte des Dispositivs Fernsehen in der Bundesre-
publik Deutschland der fnfziger Jahre, in: Knut Hickethier (Hg.): Grundlagen und Voraussetzungen
der Fernsehprogrammgeschichte, Mnchen 1993.
26 Zu den Anfngen und den aktuellen Formen der Fernsehunterhaltung vgl. Manfred Schneider (Hg.):
Fernsehshows. Theorie einer neuen Spielwut, Mnchen 1991.
27 Zum Zapping vgl. Hartmut Winkler: Switching Zapping. Ein Text zum Thema und ein parallellau-
fendes Unterhaltungsprogramm, Darmstadt 1991.
28 Dieses Gattungswissen erreicht je nach Interessenlage eine groe Unterscheidungstiefe. Vgl. Sieg-
fried J. Schmidt: Skizze einer konstruktivistischen Mediengattungstheorie, in: Siegener Periodicum
zur internationalen empirischen Literaturwissenschaft 6, 1987, S. 163205.
29 In diesem Sinne sind auch die Tuschungsmglichkeiten von Medien begrenzt und selbstreflexiv
organisiert. Vgl. Peter Klier: Warum man die ffentlichkeit so schlecht belgen kann. (De incorrup-
ta rei publicae fide pudoris causa), in: Peter Klier/Jean-Luc Evard (Hg.): Mediendmmerung. Zur
Archologie der Medien, Berlin 1989, S. 4051, hier: S. 49 ff.
30 Zu den narrativen Strukturen mittelalterlicher Bilder vgl. Horst Wenzel: Visibile parlare. Zur Repr-
sentation der audiovisuellen Wahrnehmung in Schrift und Bild, in: Ludwig Jger/Bernd Zwitalla
(Hg.): Germanistik 2000, Mnchen 1992.
31 Vgl. Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahr-
hunderts, Frankfurt/M. 1980, S. 41138.
32 Die Geschichte der neuzeitlichen Inszenierung von Sichtbarkeit durch das elektrische Licht be-
schreibt Wolfgang Schivelbusch: Licht, Schein und Wahn. Auftritte der elektrischen Beleuchtung im
20. Jahrhundert, Berlin 1992.
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens
222
33 Monitor ist unter anderem der Name eines Typs von Kampfschiffen, der zuerst im amerikanischen
Brgerkrieg eingesetzt und spter im Krimkrieg und im Ersten Weltkrieg vor allem als schwim-
mende Batterie zur Beschieung feindlicher Stellungen an Land verwendet wurde.
34 Vgl. die Thesen von Joshua Meyrowitz: Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identitt im Me-
dienzeitalter, Weinheim/Basel 1987 zur Vernderung der geschlechtsspezifischen und sozialen
Rollenerfahrung durch das Fernsehen.
35 Die Konkurrenz zwischen den operativen Wirklichkeitskonstrukten der Sprache und den Bildern
betont Wlad Godzich: Vom Paradox der Sprache zur Dissonanz des Bildes, in: Hans Ulrich Gum-
brecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrche. Situationen offener
Epistemologie, Frankfurt/M. 1991, S. 747758.
36 In den Programmzeitschriften der 1950er Jahre wurde eine intensive Debatte darber gefhrt, ob
und wie viel Licht beim Fernsehen das Zimmer erhellen sollte und wo diese Lichtquellen positio-
niert werden sollten.
37 Vor dem Hintergrund dieser neuen optischen Qualitt und der sich anbahnenden Vernetzung der
audiovisuellen Kommunikationstechnologien betrachtet Siegfried Zielinski: Audiovisionen. Kino
und Fernsehen als Zwischenspiele der Geschichte, Reinbek 1989, die gegenwrtige Form des Fern-
sehens als eine historisch bereits berholte Evolutionsstufe zwischen dem Kino und der kommen-
den Audiovision.
38 Die bekannte Simulationstheorie Baudrillards schwankt zwischen der Feststellung apokalyptischer
Auflsung und der Beobachtung der Organisationsformen der Hyperrealitt. Vgl. Jean Baudrillard:
Simulacres et simulation. Paris 1981, S. 121141; sowie ders.: Der symbolische Tausch und der Tod,
Mnchen 1982, S. 112119.
39 Der Begriff ist nicht abwertend gemeint, sondern wird im Kontext der Bildsemiotik eingefhrt, um
Konventionalisierungen auf der Ebene der Gestalterkennung zu beschreiben, fr die sich der Zei-
chenbegriff als zu rigide erweist. Vgl. Hartmut Winkler: Bilder, Stereotypen und Zeichen, in: Beitr-
ge zur Film- und Fernsehwissenschaft 41, 1991, S. 142169.
40 Dies gilt vor allem fr Nachrichtensendungen. Vgl. A. Celsing: Seeing is Believing, in: J. Vidal-
Beneyto/P. Dahlgren (Hg.): The Focused Screen, Strasbourg 1987, S. 93138.
41 In einer 1992 vom WDR ausgestrahlten Dokumentation zur Entstehung des Tonfilms.
Peter M. Spangenberg
223
Horst Bredekamp
L E V I AT H A N U N D I N T E R N E T *
Thomas Hobbes Leviathan von 1651, dieses Bild eines menschgeschaffenen
Staatsmonstrum, beherrscht das politische Denken bis heute, weil der Behe-
moth, gegen den er errichtet wurde, niemals ganz besiegt werden konnte. Im Na-
turzustand regiert Hobbes zufolge allein das Luststreben des Einzelnen, das sich
bedenkenlos zu entfalten trachtet. Da er jedoch durch die Macht des jeweiligen
Gegenbers gebremst wird, besteht das Leben aus dem Wechselspiel von Vor-
teilsnahme und Gegenwehr: also einem unablssigen Brgerkrieg. Die Abwesen-
heit allgemeiner Regeln bringt mit der Freiheit den frhen Tod. Aus der berle-
gung, dass man lter als zwanzig werden muss, um ein Mindestma an Glck zu
verwirklichen, erfindet Hobbes den Staat als ein Schrecken erregendes Monster,
den Leviathan, dem die Machtwnsche aller Individuen bertragen werden.
1
In
dieser gemeinsamen Vertragsbindung, auf das unmittelbare Interesse zu verzich-
ten und alle Gewalt auf den Staat und dessen Reprsentanten zu bertragen, liegt
mehr als nur die Summe der individuellen Kompetenzansprche: Dies ist mehr
als bereinstimmung oder Eintracht; es ist eine wirkliche Einheit Aller in ein und
derselben Person, die durch Vertrag eines jeden Menschen mit einem jeden Men-
Elektronisches Sehen Das Beispiel des Fernsehens
Abb. 1
Leviathan. Frontispiz zu
Thomas Hobbes, Levia-
than, London 1651
224
schen geschieht []. Dies ist die Erzeugung des groenLEVIATHAN oder, um es
ehrfurchtsvoller zu sagen, jenes Sterblichen Gottes, dem wir unter dem Unsterbli-
chen Gott Frieden und Schutz verdanken.
2
Der Lohn fr die bertragung der in-
dividuellen Gewalt auf einen knstlichen Gott ist ein langes Leben und, im Schat-
ten des Souverns, die Entfaltung der brgerlichen Individualitt.
Dass Hobbes seinen Leviathan als Uhrwerk begreift, ist immer wieder gese-
hen und errtert worden, aber dass er ihm im kryptisch formulierten Beginn des
Werkes die Zge eines biomechanischen Automaten verleiht, dessen Gliedma-
en und Organe durch Menschen gebildet werden, die wie ein Schuppenpanzer
die Haut ersetzen und sich offenbar auch in die Tiefe erstrecken, und der, in
schroffem Gegensatz zu Descartes Automatentheorie, mit hherer Vernunft und
Seele versehen ist, hat immer wieder Verwunderung und auch Befremden her-
vorgerufen: Durch Kunst wird jener groe LEVIATHAN geschaffen, der GE-
MEINWESEN oder STAAT (auf lateinisch CI VI TAS) genannt wird und der
nichts anderes ist als ein knstlicher Mensch, wenn auch von grerer Statur und
Strke als der natrliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen wurde,
und in dem die Souvernitt eine knstliche Seele ist, da sie dem ganzen Krper
Leben und Bewegung gibt.
3
Dennoch ist es gerade diese Leibmetaphorik, die in den letzten Jahren ge-
zielt aufgegriffen wurde: als Zeichen des Global Capitalism
4
und seines kommu-
nikationstechnischen Pendants, dem Cyberspace mit dem Internet. Allein eine
Anfrage an eine der bekannteren Suchmaschinen wie dem Netguide wirft 1402
Programme, Texte und Bilder aus, die den Leviathan im Titel fhren, um sich mit
dessen Macht und Ausdehnung zu vergleichen. Offenbar sind der Hobbessche Le-
viathan und das Internet nicht nur darin verwandt, dass sie beide als menschge-
schaffene Gebilde neue Gemeinschaften erzeugen, sondern dass sie hnliche Pro-
bleme aufwerfen: wie und aus welchen Grnden entsteht Gemeinschaft, welcher
Preis ist fr diese Civitas zu zahlen, und welchen Nutzen bringt sie?
5
Augenscheinlicherfllt das Internet darindie Grundbestimmungdes Staats-
automaten, dass es sich um ein knstliches Wesen handelt, das mit dem Men-
schen scheinbar wie mit einem Gegenber zu kommunizieren vermag. Seiner
Gre und seinem Wachstum nach ist es derart exponenziell jedwedem Erfah-
rungshorizont des Menschen enthoben, dass es gleichfalls divinale Zge ge-
winnt; wenn der Leviathan ein sterblicher Gott ist, dann ist das Netz die bildlose
Form des alter deus. Die Wucht, mit der es in weniger als drei Jahren in die
Bros, Labors und Haushalte von bis zu 60 Millionen Nutzern drang, ist in der
Rhetorik der Propagandisten daher immer wieder mit berirdischen Zgen ver-
sehen worden.
Horst Bredekamp
Metatechnisch angefeuerte Autoren wie die Verfasser der Magna Charta des
Zeitalters des Wissens von 1994 beschreiben das Internet, dem Hobbesschen arti-
ficial animal gem, als ein knstliches Wesen, eine bioelektronische Umwelt,
die eher ein kosystem denn eine Maschine genannt werden kann.
6
Der Begriff
environment verdeutlicht, warum sich der Leviathan nicht etwa einer verti-
kalen Metaphorik bedient wie es Hobbes Leviathan tat. Getreu der unhierar-
chischen Mentalitt unserer Tage berragt dieses Wesen den Menschen nicht wie
ein Riese, sondern begibt sich in weltumspannender Horizontale auf dessen
Ebene. Es ist bildlos, aber ein extraterrestrischer Blick knnte vom Leuchten der
nchtlichen Knotenpunkte des Lichtes vermutlich deckungsgleich auf die Ver-
knpfungen des Internet schlieen (Abb. 2). Es umschmeichelt ihn, umhllt ihn
aber mchtiger, als es jede Autoritt vermochte, gegenber der er sich definieren
und gegebenenfalls auch wehren konnte.
Bei aller hnlichkeit verkrpern Leviathan und Internet daher die denkbar
weitest entfernten Extreme. Whrend der Leviathan in der Konkretisierung im
Bild und in der Handlung seine Bestimmung findet, erfllt sich das Internet zu-
mindest in der Rhetorik seiner Apologeten in der berwindung alles Krperli-
chen. Die Magna Charta beginnt mit dem gnoseologischen Satz: Das zentrale Er-
225
Leviathan und Internet
Abb. 2
Montage von Satellitenaufnahmen der nchtlichen
Erde
226
eignis des 20. Jahrhunderts ist der Sturz der Materie,
7
und spter: berall ge-
winnen die Krfte des Geistes die berhand ber die rohe Macht der Dinge.
8
In-
dem das Internet, wie in einem Gegenbild zum Leviathan, angeblich die Fesseln
der Materialitt abstreift, tilgt es auch die Regeln und Gesetze, insofern diese nur
so weit existieren, als sie sich in Krpern verwirklichen.
Seit seiner ffnung wurde das Internet denn auch mit einem emphatischen
Freiheitsbegriff begleitet, der sich dem hypostasierten Urzustand der Regellosig-
keit nhert: Wir treten in ein neues Territorium ein, in dem es bislang ebenso
wenig Regeln gibt, wie es im Jahre 1620 auf dem amerikanischen Kontinent oder
auch im Jahre 1787 im Nordwestlichen Territorium Regeln gab.
9
Die Rolle des
bewaffneten, sich selbst das Gesetz seienden Settlers hat nun der Hacker ber-
nommen, der zum umschwrmten Heros einer neuen Regelfreiheit aufgestiegen
ist; die Free Speech Campaign, die im Anklang an die Speakers Corner des
Hyde-Park die freie Rede propagiert, in Wahrheit aber die Freiheit des Sehens
vertritt, also eher Free View Campaign genannt werden sollte, bekmpft eifer-
schtig jeden Versuch, in das Internet Zensoren einzuschleusen. Der Kampf ge-
gen das Copyright fhrt zum Beispiel eben zu jenem Vorgang, dass man sich den
Leviathan von Hobbes selbst ausdrucken und zudem noch allen Fhigkeiten der
Textverarbeitung zufhren kann.
Die Benutzer verharren in der Vereinzelung. Sie sind durch die Netzstruktur
verbunden, wie die Personen auf und im Leib des Leviathan, aber sie richten sich
nicht aus. Sie sind frei und regellos und werden, zumindest nach den Hoffnungen
der Autoren der Magna Charta, nach diesem Prinzip in das Reich der Krper
zurckkehren und den Tod des zentralen institutionellen Paradigmas des mo-
dernen Lebens, der brokratischen Organisation [bewirken]. (Regierungen, ein-
geschlossen die amerikanische Regierung, sind die letzte groe Bastion brokra-
tischer Macht auf dem Gesicht des Planeten, und fr sie wird der kommende
Wechsel tiefgreifend und wahrscheinlich traumatisch sein.)
10
In der Zone der
biomechanischen Welt der elektronischen Kommunikation basteln Millionen
von Menschen an der Restitution des vorstaatlichen Naturzustandes, in dem die
Regellosigkeit die Regel war. Das Internet stellt konomisch, sozialpsychologisch
und politisch eine unerhrte, quasi erhabene Macht dar, aber seine Physis des vor-
geblich Immateriellen wird zumindest bislang allein dazu eingesetzt, jenen Na-
turzustand herbeizufhren, gegenber dessen Vorlufer Hobbes den Leviathan
errichtet sehen wollte.
An diesem Anti-Leviathan, dem Behemoth des Internet, htte Hobbes seine
analytische Freude gehabt, denn in seiner knstlichen Naturfreiheit lsst dieses
bereits die Anzeichen eines virtuellen Kampfes aller gegen alle erkennen. Wer
Horst Bredekamp
227
sich in seine Fangnetze begibt, dem ist der Informationsfluss nur der Vorwand, in
eine Arena einzutreten, in welcher sich der Kampf aller gegen alle als eine Gegen-
welt zur mden Tagtglichkeit, aber auch als Bedrohung ereignet. Das Leben im
Internet hat dieselben Eigenschaften, die Hobbes den Personae im wlfischen
Naturzustand zuschrieb: es ist solitary, poor, nasty, brutish, and short.
11
Jedes Anklicken wird von der Furcht begleitet, dass der Zugang zu den Ve-
nen des Datenflusses durch drngelnde Mitbewerber verstopft sein knnte, was
wertvolle Warte- und Lebenszeit kostet oder gar den Absturz bewirken kann. Je-
des Neustarten verstrkt das Gefhl des Sich-Auslieferns an die Bereitschaft der
Netze, die eigenen Signale zu empfangen und weiterzuleiten. Zu dieser Unsicher-
heit gehrt auch die Erkenntnis, dass viele angeklickte Nester leer sind, sodass
man sich fragt, ob die Vgel abgeschossen wurden oder ob sie freiwillig in sonni-
gere Gefilde geschwrmt sind. Manche Areale lassen auch an ausgebombte Hu-
ser und an Fassaden denken, hinter denen die Rume abgerutscht sind. Das Inter-
net ist in weiten Bezirken eine Ruinenlandschaft.
Auf weiterem Plateau kommt die Angst hinzu, das genutzte Programm kn-
ne eines Tages aus dem Verkehr gezogen und durch bessere Alternativen ersetzt
werden: jeder User wei, dass seine eigene Lebenserwartung im Netz nur uerst
gering ist, falls er sich nicht hutet, um von seiner vermeintlichen Freiflche auf
andere, von den agilsten und mchtigsten Telekommunikationskonzernen gestif-
tete Spielwiesen wechseln zu knnen.
Diese Urngste entladen sich immer wieder in Verschwrungstheorien,
denen zufolge die Netze nicht etwa die Hngematten der Freiheit, sondern die
Knoten der Gngelung sind. Sie uern sich in der Vorstellung, dass das Internet
als ein Geschpf des Militrs durch die Geheimdienste genhrt worden sei, die
nun jedweden Computer unerkannterweise betrachten und kontrollieren kn-
nen. Pltzchen (cookies) der entlegensten Server werden schon heute den lern-
und sehwilligen Computern zum Verzehr angeboten, um diese in ihren Bewe-
gungen und ihrer Abfragefrequenz zu erfassen. Falls vergiftete cookies differen-
zierte Abfrageprogramme (maliciant agents) verbergen, werden sie, sensiblen
Heftpflastern gleich, zu Seismographen des Innenlebens. Es wird nicht lange dau-
ern, bis sich Psychiater derartiger Sonden zu bedienen versuchen, um ber die Be-
wegungen der Tasten und Muse das Unterbewusstsein der Benutzer analysieren
zu knnen. Alte Vorstellungen, dass hinter jeder Spitze der Sehpyramide das
Auge Gottes lauert, das auf dem Sehstrahl des Menschen in dessen Inneres
zu gleiten vermag,
12
mgen hier ebenso Urstnde feiern wie Nietzsches Bild vom
Mahlstrom, der umso strker den Betrachter anzublicken beginnt, je intensiver
dieser in ihn hineinsieht.
Leviathan und Internet
228
In dieser Urangst wird der eigentliche thrill der Benutzer unzhliger Porno-
graphieprogramme liegen, die natrlich ahnen, dass sie ihrerseits beim Tun von
etwas Anrchigem beobachtet werden knnten. Hier ist tatschlich einmal der
Begriff des Voyeurs angebracht, der den besonderen Kick dadurch erfhrt, dass er
nicht wei, inwieweit er selbst beobachtet wird. Hinter dem Kampf gegen den
Begriff und Gehalt der Datenautobahn steckt so gesehen auch der Trieb, den
Sumpf nicht trockenzulegen und damit einen Teil jener primrnatrlichen Anla-
ge des Menschen, in der sich eine ungeahnte Weite der Freiheit mit tiefen Verlust-
ngsten paart, bewahren zu knnen.
Neben der Spannung von Freiheit und Angst gehrt zum knstlichen Na-
turzustand des Internet auch seine innere Selbstzerstrung. Auf nachhaltige Wei-
se ist es die visuelle Erotik selbst, die als ein erster Schritt auf dem Weg zum
Cyber-Civil War zu einem Verdrngungsprozess fhrt. Der visuell abstrahierte
Geschlechtstrieb beginnt schon jetzt, die anderen Bewohner des Netzes nachhal-
tig zu stren. Denn sein Objekt, die unzensierten Bilder aller Arten von Obses-
sionen, kosten, wie alle Hochglanzbilder, eine derart gigantische Masse an Bytere-
servoir und bertragungszeit, dass sich alle anderen Vorgnge bereits heute von
der Licht- in die Schneckengeschwindigkeit verlangsamen. Entgegen allen Ver-
lautbarungen ist die Kapazitt lngst am Ende, das Reich der Freiheit bereits ein
Konzentrationsfeld. Neue Mitglieder werden auf Wartelisten geschoben, bis im
Jahre 2000 die durch neunstellige Nummern bezeichneten Aufenthaltsgeneh-
migungen neu vergeben werden. Die Freiheit kostet jeden Tag eine Flle an po-
tenziellen virtuellen Existenzen und hierin erfllt sich Hobbes Erfahrung des
Naturzustandes im Internet auf seine drastischste Weise. Das nicht gerade Aus-
Leben, aber doch Aus-Sehen der visuellen Lustbefriedigung verdrngt die Nach-
kommen: Die Augenlust treibt zunehmend neue Netzbewohner ab.
Im Zustand der vorzivilisatorischen Freiheit ist das Internet auch ein
Spielort permanenter Auseinandersetzungen. Wer die Suchworte Internet und
War eingibt, dem schtten sich Berge von Metaphern des Brgerkrieges entge-
gen. Der Kampf zwischen Kapital und Politik, Anarchie und Ordnung, Prrie und
Autobahn wird so lange toben, bis sich beide umgebracht haben und die Netze
aus unkontrollierbarem Wachstum und nicht steuerbaren Verdrngungskmpfen
zusammenbrechen. Dann werden sich die Betreiber weltweit zu einem Vertrag
zusammenschlieen, der selbst noch die Illusion tilgen wird, die User htten sich
einstmals im Stand der Anarchie befunden. Fangnetze werden Kontrollen aus-
ben und alles Wlfische und Subversive einfangen.
Schon jetzt schickt der Leviathan seine Kampftruppen in die Smpfe des
vorgeblich Perversen: durch zahllose Suchhunde, die vor allem Sexprogramme
Horst Bredekamp
229
auffinden und wenn nicht tilgen, so doch sperren. Nicht besonders fantasievoll,
aber doch als Symbol besonders schlagend ist das auf einer hokusaischen Welle
reitende Riesenschloss als metallische Version des in der unteren Zeile angegebe-
nenwatchdog, der alles, wasnachPornographieaussieht, verbellt. DieSS-Runen
des Schlosses versprechen im Anklang zum Safer Sex den Safe Surf: einen
Wellenritt ber die Netzwogen, ohne dass die Gefahr bestnde, dass man sich
nass macht (Abb. 3).
Das Sexuelle gehrt zu den mchtigsten Bereichen des Internet, ist zugleich
aber sein subversivster innerer Feind. Denn wie Venus, die als einzige Person der
Gtterwelt in der Lage ist, Mars zu besiegen, macht die visuelle Sexualitt auf-
grund ihrer exorbitanten Bandbreite die Netze schwach, und die moralischen
ngste erzeugen Wachhunde und Schlsser, die als Vorhut einer Neuen Ordnung
zu sehen sind.
Insofern sich im knstlichen Naturzustand des Internet mit der Freiheit
auch die Hrte des Wolfslebens abzeichnet, wird sich nach dem Gegenentwurf zu
Hobbes Leviathan das Gesetz dieses Staatsautomaten wiederholen. Mchtige po-
litische Krfte, an deren Spitze der amerikanische Vizeprsident steht, werden
neue Zugangs- und Verteilungs- sowie Kontrollmechanismen schaffen und da-
mit die Geschwindigkeit, aber auch die cleanness der information highways garan-
tieren. Hobbes Leviathan wird auf ganzer Linie den Behemoth besiegen.
Leviathan und Internet
Abb. 3
Titelseite von
SafeSurf
230
Damit aber wird derselbe Prozess, den Hobbes, gegen den Brgerkrieg an-
denkend, nicht bersehen konnte, von Neuem beginnen: die nun entstandene
Ordnung wird einen ohnmchtigen Zorn und permanente Whlarbeit hervorru-
fen, der die Vertrge der Neuen Ordnung und deren Wachinstanzen unterlaufen
wird. Und damit wird das Wechselspiel von Ordnung und Anarchie weitertrei-
ben, das Wolfgang Sofsky seinem groen Essay ber die Gewalt mit Blick auf den
Leviathan vorangestellt hat: Stets ist die Gewalt das Prius. Die Ordnung ist
nichts anderes als dessen Systematisierung.
13
* Der vorliegende Text, der in anderen Fassungen bereits publiziert wurde, reprsentiert berlegun-
gen von 1995/96. Angesichts der Entwicklungsgeschwindigkeit des Internet werden sie in manchen
Punkten berholt, in anderen mglicherweise bekrftigt sein. Dass im Internet ein knstlich ge-
schaffener Naturzustand gesehen werden kann, gehrt zu den Punkten, die an Aktualitt nicht
verloren haben.
1 The only way to erect such a Common Power [] is, to conferre all their power and strength upon
one Man, or upon one Assembly of men, that may reduce all their Wills, by plurality of voices, unto
one Will. (Thomas Hobbes: Leviathan, hg. v. Richard Tuck, Cambridge 1991, S. 120)
2 This is the Generation of that great LEVIATHAN, or rather (to speak more reverently) of that Mortall
God, to which we owe under the Immortal God, our peace and defence. (Ebd., S. 120)
3 By Art is created that great LEVIATHAN called a COMMON-WEALTH, or STATE (in latine CIVITAS)
which is but an Artificiall Man; thougt of greater stature and strength than the Naturall, for whose
protection and defence it was intended; and in which, the Soveraignty is an Artificiall Soul, as giving
life and motion to the whole body. (Ebd., S. 9)
4 Robert J. S.Ross und Kent C. Trachte, zwei amerikanische konomen, haben Ende der 1980er Jahre
in mehreren Publikationen zu begrnden versucht, dass es erstmals, seitdem Hobbes die Idee des
Staates auf der Angst aufgebaut habe, real eine Macht gbe, die auf demselben Prinzip basiere: der
global agierende Kapitalismus: Der charakteristische Terror des Alten Leviathan war die Polizei-
macht des Staates. Der charakteristische Terror des Neuen Leviathan ist Arbeitslosigkeit, Lohn-
krzung, die Furcht, dass das Trachten [] einer Gemeinschaft fr kologische oder konomische
Verbesserungen die Agenten des Neuen Leviathan veranlassen knnte, ihre Investitionen an einem
anderen Ort vorzunehmen, wo die arbeitenden Menschen gegenber den Forderungen ihrer Auf-
traggeber eher nachgeben mssen. (Robert J. S.Ross/Kent C. Trachte: Global Capitalism. The New
Leviathan, New York 1990, S. 3) So problematisch es scheinen mag, den beschriebenen Vorgang mit
dem Begriff des alten Leviathan zu belegen und damit als einen Willensakt aller Beteiligten zu
bestimmen dass er stattfindet, ist tglich aus den Nachrichten und der Presse zu entnehmen. Die
Autoren konnten das Wegfallen der politischen Blcke nicht ahnen, und daher hat sich, was sie als
Symptom diagnostizierten, noch erheblich verstrkt: dass die konomisch bedingte Angst selbst in
bestbehtete Areale wie Skandinavien oder in unsere eigenen Breiten eingekehrt ist und das Han-
deln bestimmt.
5 Richard Clark MacKinnon: Searching for the Leviathan in Usenet. A Thesis presented to the Faculty
of the Department of Political Science San Jose State University, December 1992 (gopher://act-
lab.rtf.utexas.edu/00/art and tech/rft/papers/leviathan).
6 a bioelectronic environment [] more ecosystem than machine (Esther Dyson/George Gilder/
George Keyworth/Alvin Toffler u. a.: Cyberspace and the American Dream: A Magna Carta for the
Age of Knowledge, Release 1.2, August 22, 1994, verffentlicht als elektronischer Artikel im Inter-
net: http://www.townhall.com/pff/position.html, S. 2). Vgl. hierzu Friedrich Kittler: Der Kopf
schrumpf t. Herren und Knechte im Cyberspace, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.9.1995, und
Horst Bredekamp: Politische Theorien des Cyberspace, in: Hans Belting/Siegfried Gohr (Hg.): Die
Frage nach dem Kunstwerk unter den heutigen Bildern, Stuttgart 1996, S. 3149 (zuerst erschienen
in: FAZ, Nr. 29, 3.2.1996, Beilage Bilder und Zeiten).
Horst Bredekamp
231
7 The central event of the 20th century is the overthrow of matter. (Dyson/Gilder/Keyworth/Toffler
u. a.: Cyberspace and the American Dream (Anm. 6), S. 1.)
8 The powers of mind are everywhere ascendant over the brute force of things. (Ebd., S. 1.)
9 We are entering new territory, where there are as yet no rules just as there were no rules on the
American continent in 1620, or in the Northwest Territory in 1787. (Ebd., S. 7.)
10 Cyberspace spells the death of the central institutional paradigm of modern life, the bureaucratic
organization. (Governments, including the American government, are the last great redoubt of bu-
reaucratic power on the face of the planet, and for them the coming change will be profound and
probably traumatic). (Ebd., S. 3.)
11 Hobbes: Leviathan (Anm. 1), S. 89; vgl. MacKinnon: Searching for the Leviathan in Usenet (Anm. 5),
S.iv.
12 Alexander Perrig: Masaccios Trinit und der Sinn der Zentralperspektive, in: Marburger Jahr-
buch fr Kunstwissenschaft, Bd. 21 (1986), S. 1143, hier: 18 f., 27.
13 Wolfgang Sofsky: Traktat ber die Gewalt, Frankfurt/M. 1996, S. 7 ff., hier: S. 25.
Leviathan und Internet
Horst Bredekamp
V. S P E I C H E R
Leviathan und Internet
Horst Bredekamp
235
Bernhard J. Dot zl er
D I E I N V E S T I T U R D E R ME D I E N
B E R D I E WE LT D E R MA S C H I N E A L S S Y MB O L I S C H E WE LT
I .
1 . D A S S T R I P - T E A S E
Die Lust des Voyeurs mag zweifelhaft sein, unbezweifelbar ist sie doch: Deshalb
ist das Strip-tease langsam: es mte so schnell wie mglich ablaufen, wenn sein
Zweck die rituelle Entblung wre, aber es ist langsam, weil es Diskurs, Zei-
chenkonstruktion [] ist.
1
So, wie man wei, hat Baudrillard vor nunmehr zwei
Jahrzehnten seine Ausrufung des Simulationszeitalters am glamoursen Anblick,
an der Illusorik des Strip-tease in eins mit dem offenbaren oder nackten Ge-
heimnis seiner Funktionsweise zu verdeutlichen unternommen. Das Strip-tease
ist ein Tanz: vielleicht der originellste der heutigen westlichen Welt. Sein Ge-
heimnis liegt darin, dass eine Frau ihren eigenen Krper in einem autoerotischen
Ritual zelebriert und er dadurch begehrenswert wird
2
das ist die Seite der Fas-
zination. Es ist also kein Spiel, bei dem die Zeichen einer sexuellen Tiefe wegen
abgelegt werden, es ist im Gegenteil ein sich steigerndes Spiel mit der Konstruk-
tion von Zeichen
3
das ist die Seite seiner (wie damit ihrer, dieser Fasziniertheit)
semiotisch-medialen (Hyper)Realitt: seiner Tauglichkeit, die ra der Simula-
tion
4
zu exemplifizieren, zu reprsentieren.
Fllt heute das Stichwort Simulation, assoziiert man sogleich die Sugges-
tionskraft elektronischer Bildtechniken
5
, die rapide Entwicklung [] auf dem
weiten Gebiet der Computergraphik, die allgemeine Anerkennung und Verbrei-
tung computerisierter Bilder.
6
Dagegen vor zwanzig Jahren? Sicher, da gab es
zwar bereits jede Menge Fernsehen wie lngst das Reflektieren ber Fotografie
und Film seit Benjamin um das Understanding Media nach McLuhan ergnzt wor-
den war.
7
Aber, bleibt zu erinnern, die Kunst des Imaging stand noch weit avant
la lettre; die Pop Art der Computer dominierten typographierte Rasterportrts
(Abb. 1); noch hatten die Fraktale ihren Siegeszug kaum begonnen Kurzum:
Zwischen der Macht der Computer als der der Binaritt, der Digitalitt
8
und der
Macht der Bilder herrschte noch bei weitem nicht jene Solidaritt, wie man sie
heute leicht fr gegeben annimmt.
Darum das Strip-tease oder jedenfalls seine Verwendung als populr-
popularisierender Blickfang fr die Simulationstheorie. Wie so oft hat Baudrillard
sicherlich auch hiermit ein Beispiel gewhlt, das vorab durch seine spektakulre
Leviathan und Internet
236
Darbietung zu bestechen versucht. Das Strip-tease, keine Frage, offeriert sich als
reine Augenweide. Gerade als solche aber beschrnkt es sich keineswegs auf die
Funktion, mit den Mitteln des Varits ein bisschen Farbe ins Grau der Theorie zu
bringen, um vielmehr als Metapher zu fungieren, d. h. als Markierung einer theo-
retischen Verlegenheit
9
von ebenso systematischem wie historischem Belang.
Denn die Lust des Voyeurs mag unbezweifelbar sein; zweifelhaft bleibt sie
gleichwohl, und das nicht aus Grnden des guten oder schlechten Geschmacks
(umvongutenoder schlechtenSittengar nicht zureden), sondernder Irrtmlich-
keit, die der Inszenierung des Strip-tease wesentlich eignet. Auf die heie und
Bernhard J. Dotzler
Abb. 1:
Rasterportrt
Brigitte Bardots
237
phantasmatische Phase folgt die radikale Ernchterung, das coole undkyberne-
tische Stadium
10
, lautet dazu die abstrakte Diagnose, die in concreto einfach nur
heit, dass (wie, wiederum zwanzig Jahre zuvor, bereits Roland Barthes res-
mierte) das ganze Strip-tease innerhalb der Natur der Ausgangsbekleidung
bleibt: Es gibt beimStrip-tease eine ganze Serie von Einkleidungen, die sich in
demMae umdenKrper der Fraulegen, indemsie vorgibt, ihnzuentkleiden.
11
Der Voyeur, kurz gesagt, wird betrogen und das macht ihn zum Reprsen-
tanten des Zuschauers, Betrachters, Beobachters an der Spitze gegenwrtiger
Bild- als Simulationstechnologie. Es herrscht eine Bilderlust im Simulationszeit-
alter. Aber es ist immer ein Trug dabei. Durch dieselben Gesten, die ihn entklei-
den, wird der Krper zugleich stndig verdeckt und verschleiert
12
: So operiert
das Strip-tease. Und so tuscht jedes Computerbild: Wenn man berhaupt
sagen kann, dass diese Bilder etwas bezeichnen oder sich auf etwas beziehen,
dann wohl auf Millionen Bits elektronischer mathematischer Daten.
13
Deshalb
mag der universale Voyeur, der berall zuschauen, als Betrachter dabei sein kann,
zwar den Mythos oder die Reklame unserer Medienwelt charakterisieren. ber-
gangen wird dabei nur, dass es auf den blichen elektronischen Bildschirmen
auf dem Echtzeit-Bildschirm ein Bild im traditionellen Sinn gar nicht mehr
gibt!
14
Stattdessen visualisiert das Display reinen (mathematischen) Code
15
, egal
was oder ob berhaupt etwas dieser Code wiederum ab- oder vorbilden soll.
Pixel fr Pixel entspricht einem Segment binrer Zahlen (Bildpunktkoordinaten,
Chrominanz, Luminanz), die im Medium Computer gespeichert, bertragen und
verrechnet werden: Multimedia bedeutet nichts anderes als diese strikte Homoge-
nitt von Codierung und Reprsentation. Und Baudrillards Diagnose geht durch-
aus schon in diese Richtung. Die Gegenwart der Simulation, schreibt er an einer
Stelle ja auch (und in aller Direktheit), wird definiert durch ein Band, das gelesen,
codiert und decodiert wird, ein Magnetband der Zeichen
16
ganz eines Sinnes
mit Herbert A. Simons klassisch gewordenem Grundlagenbuch zu den fortan
gltigen Sciences of the Artificial. Jede knstliche Welt, liest man da (auch virtual
reality war noch nicht in Mode), reduziert sich in erster und letzter Instanz auf
Prozesse, die ber Symbolstrukturen operieren Prozesse, die Symbole erzeu-
gen, verndern, kopieren und zerstren.
17
Ebendies erklrt die Mglichkeit, das gekonnte Strip-tease als Simulations-
ereignis zu zelebrieren wenn anders es, wie zitiert, als Diskurs, als Zei-
chenkonstruktion operiert. Ebendies lsst aber zugleich die Kluft nur umso
deutlicher ins Auge springen, die das gewhlte Beispiel und die anvisierte hoch-
technologische Basis des Simulationszeitalters voneinander trennt, beider Inho-
Die Investitur der Medien
238
mogenitt, beider mediale Differenz. Bei aller semiologischen Aufgeklrtheit be-
wegt sich die Strip-tease-Analyse ob ihres Sujets ja noch ganz im Lichthof jener
sehr traditionellen Fantastik, die mit einer Formulierung Prousts durch Be-
leuchtung und Kostm
18
erzeugt wird. Das Strip-tease als Metapher gehrt in
etwa dem gleichen medientechnischen Niveau an wie die wiederum noch bei
Proust verwendete Metapher einer wissenschaftlichen Laterna magica
19
. Ja,
gerade darum ist es fr hier Metapher im Wortsinn und stellt als solche vor die
Frage, wie die Kluft, die solche Metaphorizitt oder berbrckungsfunktionen
erzwang, gleichwohl im Medium Computer, das inzwischen auch unsere Bild-
welt regiert, in sich zusammenfallen konnte.
2 . D E R WE B S T U H L
Anders gesagt, wenn sogar die Entkleidung indirekt Einkleidung ist, liegt es nahe,
Letztere gleich direkt in den Blick zu rcken. So, in der Tat, haben es Baudrillard,
Barthes und, noch einmal, Proust nicht umsonst auch vorgefhrt: am Beispiel der
Toiletten von heute alias Mode.
20
Aber auch bei Goethe schon, in den Wilhelm
Meister-Romanen, kehrt die Phantasie der auratisierten, weiblichen Gestalt, die
ihr Kleid ablegt, ebenso immer wieder, wie ihr die Frage nach der Investitur als
der Bekleidung des Krpers durch Zeichen korrespondiert.
21
Zugleich hat Goethe
mit den Wanderjahren noch eine andere, doch nicht weniger einschlgige Spur
gelegt, konzipiert seit 1810, konkretisiert ab 1820, wie der Tagebucheintrag vom
13. November desselben Jahres verrt. Von Goethes optischer Theorie, der Far-
benlehre, ist darin die Rede; sodann von einem Schema des Manns von 50 Jah-
ren mit dem an diesen erteilten Verjngungs Hauptrath
22
; ferner vom Berli-
ner Theater; und schlielich von einem Decours des Spinnens und Webens.
Statt der Mode also als der Konstruktion feiner Unterschiede im Medium
der Textilien die Textilindustrie als solche, der Bedarf an rohen Stoffen fr die
Fabrikation
23
, wie Heinrich Meyer es formulierte. Dieser lieferte bekanntlich
jene Beschreibung der Baumwollen Manufactur, die Goethe dann wrtlich als
Lenardos Tagebuch in die zweite Fassung der Wanderjahre eingearbeitet hat, in
eins mit einem eigens dazu erfundenen knstliche[n], werkttigen Schelm, der,
wenn er, unsere einfacheren Werkzeuge vernachlssigend, zusammengesetztere
sich bauen wollte, uns zu Grunde richten knnte.
24
Seitdem hat die Literaturwissenschaft sich umfnglich mit diesem und wei-
teren Zeugnissen des alles mitreienden technisch-industriellen Geschichts-
prozesses
25
von Heine bis Hauptmann beschftigt. Nur jener Schelm blieb da-
Bernhard J. Dotzler
239
rber so gut wie unkommentiert. Als ob er als reine Romanfigur ebenso rein der
Fiktion angehren sollte und nicht, wie immer, das Gespinst der Fiktion gerade
an solchen scheinbar losen Enden mit dem Realen verknpft wre. Das heit
nicht, dass mglichst ein bzw. das reale Vorbild fr besagten Geschirrfasser er-
mittelt werden sollte, so wie die Maschinenstrme der Literatur nach Goethe
ihre realen Vorbilder in den berhmten Weberaufstnden der vierziger Jahre
26
hatten. Es hiee das einmal mehr, der Literatur oder allgemein: Medien als Ab-
bild oder Widerspiegelung habhaft werden zu wollen. Whrend das Beispiel des
namenlosen Maschinenkonstrukteurs wie die Verwebungsstruktur
27
der
Wanderjahre ja berhaupt vielmehr fr Netzwerkeffekte steht.
In keiner Weise Vorbild des fraglichen Schelms, und doch in seiner Person
oder Maske zur Schau gestellt, ist nmlich Joseph Marie Jacquard. 1752 in Lyon als
Sohn eines Webers geboren, ruinierte er zunchst das Unternehmen, mit dem er
in die Fustapfen seines Vaters getreten war, um am Ende gleichwohl als ebenso
erfolgreicher wie berhmter Mann zu sterben. Beider, des finanziellen Erfolgs wie
der Verewigung seines Namens, Grundlage war die Erfindung einer nach ihm be-
nannten Maschine, des Jacquard-Webstuhls. 1805 entwickelte Jacquard den Pro-
totyp. 1812 waren allein in Frankreich schon um die 18000 solcher Websthle in
Betrieb; 1834, im Todesjahr Jacquards, waren es ber 30000. Und ein jeder er-
setzte alle manpower um ein Vielfaches. Denn nicht nur reduzierte sich die Zahl
der pro Webstuhl ntigen Arbeitskrfte auf die Hlfte (wo vormals Weber und
Ziehjunge notwendig waren, bedurfte es des Letzteren nun nicht mehr), sondern
jeder Arbeiter konnte zudem in einer Stunde dieselbe Arbeit verrichten [],
welche bei dem alten Verfahren mehrere Stunden erforderte
28
.
Dabei ist weder das Kernstck dieser maschinellen Rationalisierung die
Lochkarte, um die es im Folgenden gehen wird noch die Maschinenkonstruk-
tion insgesamt allein Jacquards Verdienst. Vor ihm war da bereits ein gewisser
Vaucanson, Jacques de Vaucanson (17091782), derselbe, den die Literaturge-
schichte oft genug als Urbild so vieler Automatengeschichten erinnert hat und
den die Technikgeschichte eben auerdem feiert wie folgt: Berhmt geworden
ist seine Maschine zum Weben von Mustern, die unter Ausschaltung von jegli-
cher menschlichen Geschicklichkeit und Intelligenz arbeitete. Die Idee, die dem
Bau dieser Maschine zugrunde lag, wurde spter von Jacquard glcklich verwer-
tet.
29
Nur war ein glcklicher Verwerter einer Vorgngeridee dabei schon Vau-
canson selber. Ihm zuvorgekommen war nmlich Jean Baptiste Falcon, und so
wei die Technikgeschichte des Weiteren zu berichten: Der franzsische Me-
chaniker Falcon baute im Jahr 1728 als erster einen Webstuhl, der von Holzbrett-
chen mit Lochkombinationen automatisch gesteuert wurde. Diese Holzbrettchen
Die Investitur der Medien
240
bilden die Urformunserer heutigen Lochkarten, wie sie in der elektronischen Da-
tenverarbeitung verwendet werden.
30
Unversehens findet man sich damit, vielleicht nicht am heutigen Tag, aber
doch in Baudrillards Gegenwart wieder. Darum, also allein schon umdieser Vor-
wrtsgewandtheit der skizziertenGenealogie willen, kannes derselbennicht etwa
umeine Rckverfolgung von Priorittsansprchen gehen. Von Interesse ist viel-
mehr das genaue Gegenteil von Originalitt, der Informationsfluss, der und den
die Erfindung regiert denn information processing geriet sogleich, und keines-
wegs erst mit Anbruch der IBM-ra, zu Ziel und Zweck der Lochkartenverwen-
dung. So war Jacquard just 1804 ans Conservatoire des Arts et des Mtiers berufen
worden, umdaselbst die Apparatur von Vaucanson zu restaurieren: zur direkten
Instruktion fr die im Folgejahr prsentierte eigene Konstruktion. Und so hatte
ein Charles Babbage damals gerade bekannt geworden als der Spezialist fr alles
Maschinen- und Fabrikenwesen
31
nicht umsonst jenes in Seide gewobene und
derart seinen Nachruhm durch Reproduzierbarkeit sichernde Bildnis Jacquards
immerwhrend vor Augen (hanging up in my drawing-room
32
), das dadurch
ihn, Babbage, denhierananknpfendenEinfall unmglichwieder vergessenlie:
Man hat Stoffe gewoben, fr die mehrere Tausend Lochkarten erforderlich
waren. In meinem Besitz befindet sich ein solcher [Abb. 2], der mithilfe von mehr
als zwanzigtausend Karten hergestellt wurde, und es gibt keinen Grund, weshalb
man in einer Analytical Engine nicht, wenn ntig, eine gleiche Anzahl von Loch-
karten fr mathematische Vorhaben einsetzen sollte. (BRA 411)
33
3 . D I E MAT H E MAT I K
Eine Maschine, Analytical Engine genannt Lochkarten mathematische Vorha-
ben: Man liegt nicht falsch, wenn man wiederum sogleich moderne Rechnertech-
nologie assoziiert. Die Analytical Engine, wie Babbage sie dann wirklich zu kon-
struieren unternahm, hat ihm denn auch wiederholt seine Ernennung zum
Computerpionier eingetragen. Ihre erste Zeichnung [] datiert vom Septem-
ber 1834, und ihr Zweck lt sich in Krze so umreien: Sie ist eine Maschine
zur Errechnung des Zahlenwerts oder der Zahlenwerte jeder Formel oder Funk-
tion, fr die der Mathematiker die Lsungsmethode angeben kann. (BRA 398)
Seiendie technischenDetails, wie sie dies htte leistensollen, fr hier dahin-
gestellt. Wichtig an dieser Stelle ist allein ihre Ausstattung mit Lochkarten. Denn
wie umdas hierfr entscheidende Vorbild fr immer festzuhalten, prgten schon
die Zeitgenossen den seither berhmten Slogan, da die Analytical Engine alge-
Bernhard J. Dotzler
241
braische Muster webt, gerade so wie der Jacquard-Webstuhl Bltter und Blten
(BRA335), undwieumihrer Zukunft vorauszueilen, wurdeauerdemangemerkt:
Tatschlich kann die Maschine als materieller Ausdruck jeder beliebigen
unbestimmten Funktion von beliebiger Allgemeinheit und Komplexitt
beschrieben werden, wie zum Beispiel:
F(x,y,z, logx, siny, x
p
usw.),
was, wie man bemerken wird, eine Funktion aller anderen mglichen
Funktionen mit beliebig vielen Gren ist.
Die Investitur der Medien
Abb. 2:
Ein aus Seide gewobenes
Portrt Jacquards
242
In diesem [] neutralen oder Nullzustand ist die Maschine bereit, jeder-
zeit den Eindruck einer speziellen Funktion [] zu erhalten, und zwar
ber die Karten, die einen Teil ihres Mechanismus bilden (und nach dem
Prinzip der im Jacquard-Webstuhl benutzten Karten angewandt werden).
(BRA 329)
34
Neuerlich findet man so die (im brigen von smtlichen Quellen solchermaen
betonte) Anlehnung an Jacquard erwhnt. Dazu handelt es sich hier um die
zugleich prgnanteste wie (und weil) in hchster Zuspitzung abstrakte Formu-
lierung dessen, was die Maschine dank ihrer Lochkartenadaption htte sein sol-
len: Universalmaschine. Das ist oder war die Sensation. Dass eine Apparatur
fr sich alles und nichts bezweckt, um aus diesem neutralen Zustand heraus
ineine spezielle, zweckgerichtete Maschine fallweise erst verwandelt zu werden
nie zuvor hatte es eine solche Erfindung gegeben. Dass darum die ganze Mathe-
matik als Funktion aller anderen mglichen Funktionen in einer Maschine ih-
ren materiellen Ausdruck finden knne erst mit den Computern unserer Tage
scheint diese Botschaft wirklich an ihr Ziel gekommen zu sein. So heit es bei
Simon:
In der Vergangenheit waren wir mehr daran gewhnt, uns die Symbol-
strukturen der Mathematik und der Logik abstrakt und krperlos vorzu-
stellen wenn man von Papier, Bleistift und Verstand absieht, die not-
wendig waren, um sie ins Leben zu rufen [zu beleben, aktivieren]. Die
Computer haben die Symbolsysteme aus dem platonischen Reich der
Ideen in die empirische Welt aktualer Prozesse verlagert, die in Maschi-
nen oder Gehirnen oder in einer Verbindung beider ablaufen.
35
Babbages Analytical Engine steht damit wie ein Brckenglied da, das Goethezeit
und Gegenwart miteinander verbindet. Auf der einen Seite Novalis um eine
weitere, bedeutende Anspielung auf die Textilindustrie nicht zu bergehen: Die
Mathematik, notierte er, ist ein schriftliches Instrument []. Websthle in Zei-
chen.
36
Und auf der anderen Seite Turing als derjenige, der definitiv die Dis-
krete Universale Maschine erfand: Rechnungen, notierte auch er, werden fr
gewhnlich in der Weise ausgefhrt, da bestimmte Symbole auf ein Stck
Papier geschrieben werden.
37
Darum kann man, so Turing weiter, ebenso den
Papiermaschine getauften Verbund eines Mensch[en], ausgestattet mit Pa-
pier, Bleistift und Radiergummi, zur Universalmaschine erklren
38
wie um-
gekehrt direkt eine solche Maschine konstruieren, die die Arbeit dieses Rech-
Bernhard J. Dotzler
243
nenden tut
39
. Die Turing-Maschine, als das Grundmodell aller Computer, liest
und schreibt bekanntlich selbst.
Seitdem, knnte man sagen, operieren die Symbole in Eigenregie. Das be-
rhmte Menetekel: we should have to expect the machines to take control
40
, in
der Weise, wie Zeichen nun Zeichen regieren, ist es lngst wahr geworden. Si-
mons Verlagerung der Symbolsysteme in die empirische Welt aktualer Prozes-
se hat sich nun realisiert. Ebenso Baudrillards Travelling der Zeichen.
41
Ja, so-
gar die berchtigte Das-Medium-ist-die-Botschaft-Gleichung McLuhans findet
hier ihre wohl elementarste Anwendbarkeit, ergo Besttigung. Nicht umsonst gilt
der Stiftungsurkunde des Computerzeitalters jeder Rekurs auf einen Geisteszu-
stand vermeidbar, um lieber von Zustandsformeln zu reden, die ganz in ihrer
uerlichkeit als schriftliche Notiz aufgehen.
42
So werden Spekulationen auf
mgliche Bedeutungsberschsse Inhalte oder Botschaften eben von vorn-
herein gegenstandslos. Die Turing-Maschine liest ein Zeichen, um ein anderes
Zeichen zu schreiben, um dieses wiederum zu lesen, und so immer weiter : Die
Turing-Maschine adressiert durchweg sich selbst. Reprsentation und Exekution
geschehen in ein und demselben Medium.
Dem entspricht, dass Turing seine Maschine selber noch als reine Mathe-
matik, reine Papiermaschine ausformulierte so wie die seither tatschlich rea-
lisierten Maschinen alle Mathematik gnzlich papierlos, rein in zuerst elektro-
mechanischen, dann elektronischen Schaltkreisen prozessieren. Denn, um eine
komplizierte Geschichte mglichst einfach zusammenzufassen, wenn auch
Claude Shannon seine im Jahr darauf verffentlichte Magisterarbeit A Symbolic
Analysis of Relay and Switching Circuits nannte, lieferte er damit im Effekt doch
den inversen Nachweis, dass Relaisschaltungen fr die symbolischen Anschriebe
von Algebra und Logik eintreten knnen. In the control and protective circuits of
complex electrical systems it is frequently necessary to make intricate intercon-
nections of relay contacts and switches. [] In this paper a mathematical analysis
of certain of the properties of such networks will be made, lauten daher zwar die
ersten Stze der Einleitung. Aber nur, um gleich im folgenden Abschnitt einen
Formalismus in eins mit der lapidaren Bemerkung, die Wahl der hierzu gewhl-
ten Symbole mache die Manipulation von Schaltgliedern very similar to ordina-
ry numerical algebra, und im Weiteren die Umkehrung zu prsentieren, die be-
sagte Schaltglieder an die erste, ihre logische Interpretation an die zweite Stelle
rcken lsst (Abb. 3).
43
So begann nach Turing unsere im Prinzip papierlose Zeit, in der die Zei-
chen, Symbolsysteme, Maschinen sich selbst in die Hand genommen, weil ge-
lernt haben, mit ihren eigenen Flgeln zu fliegen.
44
Bei Babbage dagegen ereig-
Die Investitur der Medien
244
nete sich das genaue Gegenteil. Die Maschine die nmlich nie gebaut wurde
blieb Leerstelle, und diese Leerstelle fllten so gut wie ausschlielich Papiere: For-
melanschriebe, Konstruktionsentwrfe, Notate und Notizen. An ihnen ist ables-
bar, wie anders geartet Babbages Bemhen noch war, und mindestens im selben
Ma, in dem man die Analytical Engine als Brckenglied zwischen Novalis Auto-
maten in Symbolen und Turings Symbolautomatik ansprechen kann, steht sie fr
das Problem einer solchen Brcke. Auf einer historisch frheren Stufe und in
technologisch anderem Gewand kommt man damit zurck auf die Ausgangsfrage
nach der Ermchtigung der Maschine zur Universalmaschine als Ursache und
Wirkung ihrer Medialitt.
I I . U N D I H R E V E R K R P E R U N G
It may be helpful at this stage to realize that the
primary form of
mathematical communication is not
description, but injunction.
George Spencer-Brown
Auch Babbage, noch einmal, laborierte daran, seine Maschine zur Deckungs-
gleichheit mit der Welt der Zeichen zu bringen. Sein Plan, wei die wichtigste
zeitgenssische Publikation darber, ging auf ein mechanisches System, des-
sen Operationen von eben solcher Allgemeinheit wie die der algebraischen Nota-
tion sein sollten. Deshalb gab er ihm den Namen Analytical Engine. Deshalb
verfiel er darauf, Lochkarten zu verwenden als lediglich eine bersetzung alge-
braischer Formeln oder, besser gesagt, eine andere Form der analytischen Nota-
tion (BRA 313, 326). Insoweit ging sein Bemhen einerseits konform mit der
Bernhard J. Dotzler
Abb. 3:
Shannons
Schemata
245
im 19. Jahrhundert allgemein zu beobachtenden Anstrengung, die Datenflsse
durch neue Medien oder Fazilitten der Kommunikation (Goethe an Zelter,
6.6.1825), vorrangig die Telegraphie, zu revolutionieren und dadurch das Netz,
wie es heute in aller Munde ist, technisch-real auf den Weg zu bringen.
45
Babbage,
in dieser Hinsicht, subsumiert sich dem Beginn der Entwicklung technischer Me-
dien, die fortan die Informationsverarbeitung, ihren Transport, ihre Speicherung
bernehmen.
Andererseits jedoch arbeitete Babbage im Gegenzug auch daran, Zeichen fr
Maschinen zu entwickeln. Also nicht nur Zeichen in Maschinen einzulesen, son-
dern Maschinen aus Zeichenkombinationen hervorzubringen. Und das nicht in
der Unmittelbarkeit la Turing und Shannon, nicht im Medium elektrischer oder
elektronischer Schaltkreise, sondern gem den Vorgaben einer Zeit, in der Ma-
schinen noch aus Zahnrdern, Hebeln, Radwellen und dergleichen bestanden.
Fr solche Bauelemente sann Babbage On a method of Expressing by signs the Ac-
tion of Machinery oder kurz und terminologisch: eine Mechanical Notation.
Diese Mechanical Notation manches spricht dafr, dass Babbage sie zuletzt
als die wichtigste seiner Erfindungen zu hinterlassen glaubte. Jedenfalls leistete
sie ihm den entscheidenden Dienst unter all den o. g. Papieren, der ihm zu konsta-
tieren erlaubte: Mithilfe der Mechanical Notation wurde die Analytical Engine
Wirklichkeit (BRA 237), und das nicht trotz, sondern wegen des Scheiterns aller
Versuche, selbige Maschine tatschlich zu bauen. Einmal mehr behauptet sich da-
mit eine Deckungsgleichheit zwischen Maschinenkrper und Zeichenkrper.
Nur jetzt von der anderen Seite her, von Seiten der Zeichen fr Maschinen, und es
ist entscheidend, hier die Konvergenz zweier komplementrer Projekte zu erken-
nen, deren Zusammenschluss erst geleistet werden musste. Post festum, mit und
nach Alan Turing, fllt es nicht schwer zu behaupten: Die symbolische Welt, das
ist die Welt der Maschine.
46
Hier, in den Schwierigkeiten, mit denen Babbage zu
tun hatte, sieht man erst einmal das umgekehrte Problem sich stellen, dass die
Welt der Maschine die symbolische Welt fr sich erobern musste.
Dabei war die Mechanical Notation keineswegs die Einzige ihrer Art. Das
19. Jahrhundert auch das belegt die Not, die erst noch zu berwinden war
kennt mehrere solcher Symbolsprachen fr mechanische Systeme.
47
Doch Babbage
als Einziger ging an die Synthese, in Anwendung seiner Zeichensprache zur Aus-
fhrung von Maschinen eine Maschine zur Ausfhrung von Zeichenoperationen
auszufhren. Rein fr sich betrachtet, scheint die Mechanical Notation kaum
mehr des Aufhebens wert. Sie sollte eben, wie nicht anders zu erwarten, die
Funktionsweise einer beliebigen Maschine ins Reich gleichsam algebraischer
Anschreibbarkeit berfhren; sollte full information bermitteln ber die kon-
Die Investitur der Medien
246
krete Form und relative Position aller Teile, die Chronologie aller Ablufe und
die konkrete Verbindung eines jeden beweglichen Teils der Maschine mit jedem
anderen, auf das es einwirkt (BRA 201 f.). So hoffte Babbage, der Komplexitt sei-
ner Analytical Engine nicht nur selbst Herr geworden, sondern auch, selbst ohne
sie darber hinaus zu verwirklichen, ihrer berlieferung sicher zu sein. Aber wie
ihm deshalb die Analytical Engine vornehmlich als durch die Mechanical Nota-
tion schon vollgltig realisiert heien konnte (und musste), darf (und muss) um-
gekehrt auch die Mechanical Notation als von der Analytical Engine her konzi-
piert begriffen werden.
Auf die Frage nmlich der Wiedergabe von Aktion durch Zeichen antwortete
Babbage mit einer Agentivierung der Zeichen selber. Der spezielle Entwurf einer
Maschinennotation geht einher mit berlegungen On Notation berhaupt. In
einem Lexikonartikel hat Babbage sie zusammengefasst und dazu einleitend defi-
niert: NOTATION, (in mathematics) the art of adapting arbitrary symbols to the re-
presentation of quantities, and the operations to be performed on them.
48
Das klingt beraus klassisch zunchst, und verlagert doch sogleich den
Akzent auf das prozedurale, das operative Moment. Und wie nun zu zeigen wre
aber wieder sollen die technischen Details an dieser Stelle nicht aufhalten , ar-
tikuliert Babbages Zeichentheorie allgemein eine Verschiebung von Reprsenta-
tion auf Performanz.
49
Symbolsprachen, postuliert er mehrfach, knnen und sol-
len erstens das Gedchtnis untersttzen; zweitens den Mit- oder Nachvollzug der
durch sie angezeigten Prozesse erleichtern; wodurch sie drittens zugleich Spitzen-
leistungen in puncto Informationsbertragung erbringen.
Babbage bringt alsodie Macht der Zeichen the bearings of the notation
50

auf die drei Grundfunktionen, die Medien als Medien definieren: Speichern,
Rechnen, bertragen. Dies ist oder war seine Methode, eine Homogenisierung
von Codierung und Reprsentation, eine Durchdringung von Reprsentation
und Exekution zu erreichen. Um die Lcke zu schlieen zwischen der Konstruk-
tion einer Maschine fr Zeichen und der Notierbarkeit von Zeichen fr Maschi-
nen, laborierte Babbage an der medialen Konfigurierung der Zeichen selber. Des-
halb und nur deshalb hat Babbage seine Maschine zwar nie gebaut, aber dennoch
verwirklicht. Und nur weil die Abstraktion, in und mit der dies geschah, der
Anekdotensucht allen Kommunizierens jenseits seiner Formalisierung nicht ge-
ngt, ist es vielleicht nicht mig, ausblickend zu erinnern, welches Vor- und
welches Nachspiel zu dieser Realisierung gehrt.
Bernhard J. Dotzler
247
I I I .
Die Literaturwissenschaft, in ihrer Zustndigkeit fr Wort, Sprache und Bild,
zu der Goethe sich einmal in ausdrcklicher Abgrenzung gegen jede Verstndi-
gung durch Zeichen und Zahlen bekannte (an Naumann, 24.1.1826), whrend
Babbage (sein Aufsatz On a method of expressing by signs the action of machinery
erschien just ebenfalls 1826) gerade nur durch Letztere, gerade nicht mithilfe von
Zeichnungen (BRA 205) oder Bildern und fast ganz ohne die Hilfe von Wr-
tern (BRA 201) kommunizierbar zu machen gedachte die Literaturwissen-
schaft also hat sich wieder und wieder mit der Verzauberung beschftigt, die das
Puppenspiel ihm, Goethe, selbst wie seinem Wilhelm Meister als das Initial seiner
poetischen Einbildungskraft angetan haben soll.
51
Eine Parallelgeschichte dazu,
als das Initial seiner technischen Einbildungskraft, berichtet aber auch Babbage:
Einst an der Hand seiner Mutter, erblickte er/in einem hell erleuchteten Haus am
Hanover Squareeinen Automaten von Vaucanson (Die metallische Tnzerin [Sil-
ver Lady]),/und das Rderwerk setzte sich in Bewegung.
52
So weit die Vorge-
schichte.
Ihr Nachspiel beginnt 1834. Im selben Jahr reifen in Babbage die Plne fr die
Analytical Engine und begegnet er dem Objekt seiner early admiration wieder
(BRA 39f.).
53
Sogleich, denn das Wiedersehen ereignet sich bei Gelegenheit ihrer
Versteigerung, erwirbt Babbage die Silver Lady, und es dauert nicht lange, da ver-
fallen er und die Damen seines Zirkels auf das Spiel, sich mit der Garderobe ihres
neuen Spielzeugs zu befassen. Seine Schwestern, die er ihre Puppen aus- und
einkleiden sah, erregten in ihm den Gedanken, seinen Helden auch bewegliche
Kleider nach und nach zu verschaffen, erzhlt Goethe von Wilhelm Meister. Und
Babbage widerfuhr es kaum anders.
Zuvor allerdings berwog doch das hauptberufliche Interesse des Erfinders
festzustellen, wie das Automat konstruiert worden war. Das Ergebnis dieser
Untersuchung ist so vernichtend wie fr Babbages eigenes Schaffen erhebend
zugleich. Die Silver Lady, so Babbage, wurde schlechterdings nicht konstruiert:
Tatschlich schien so gut wie sicher, da keinerlei Konstruktionszeichnungen
fr das Automat angefertigt worden sein konnten, sondern da das wundersch-
ne Produkt vielmehr nach einem System fortwhrenden Ausprobierens entstan-
den war. Anders die Maschine(n) von Babbage. Die gesamte Mechanik der letz-
teren lag in Form von Konstruktionszeichnungen auf Papier vor, bevor auch nur
ein Teil davon zusammengesetzt wurde.
Um aber diesen Unterschied feststellen zu knnen, musste Babbage die Sil-
ver Lady freilich eher aus- als anziehen. Ich erwarb die Silberfigur und machte
Die Investitur der Medien
248
mich nun daran, den ganzen Mechanismus in seine Teile zu zerlegen. Auch
wenn daher die Geschichte im Ganzen vom Aus- und Einkleiden handelt, mach-
te doch das Strip-tease, wenn man so will, den Anfang.
1 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod [1976], Mnchen 1982, S. 170 hier und im
Folgenden zit. unter Angleichung des Genus (das Strip-tease) an einen frheren Text gleicher The-
matik von Roland Barthes (Mythen des Alltags [1957], Frankfurt/M. 1964, S. 6872), wo es vorweg-
nehmend heit: Einzig die Dauer der Entkleidung macht aus dem Publikum den Voyeur [].
2 Baudrillard: Der symbolische Tausch (Anm. 1), S. 167.
3 Ebd., S. 169.
4 Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 9.
5 Gottfried Boehm: Die Bilderfrage, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, Mnchen 1994, S. 325343, hier:
S. 325.
6 Jonathan Crary: Techniken des Betrachters [1990], Dresden/Basel 1996, S. 11.
7 Vgl. Baudrillard: Der symbolische Tausch (Anm. 1), S. 98 ff.
8 Ebd., S. 115. Vgl. dazu auch Grard Raulet: Die neue Utopie. Die soziologische und philosophische
Bedeutung der neuen Kommunikationstechnologien, in: Manfred Frank/Grard Raulet/Willem van
Reijen (Hg.): Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 283316.
9 Wenn auch nicht einer unbehebbaren wie das die Definition der absoluten Metapher fordert:
Vgl. zuletzt Hans Blumenberg: Hhlenausgnge, Frankfurt/M. 1989, S. 808.
10 Baudrillard: Der symbolische Tausch (Anm. 1), S. 117
11 Barthes: Mythen des Alltags (Anm. 1), S. 68 f.
12 Baudrillard: Der symbolische Tausch (Anm. 1), S. 168.
13 Crary: Techniken des Betrachters (Anm. 6), S. 12.
14 So das Ergebnis bei Lev Manovich: Eine Archologie des Computerbildschirms, in: Kunstforum 132
(1996), S. 124135, hier: S. 127, mit der nheren Begrndung: Nur aus Gewohnheit bezeichnen wir
das, was wir auf dem Echtzeit-Bildschirm sehen, noch als Bilder. Nur weil das Scannen schnell
genug geschieht und weil der Referent manchmal statisch ist, sehen wir etwas, das wie ein Bild
aussieht. Aber ein solches Bild ist nicht mehr die Norm, sondern die Ausnahme einer allgemeine-
ren, neuen Reprsentation, fr die wir noch keinen Begriff haben.
15 In diesem Sinn etwa gestand Mandelbrot einmal, er knne gar nicht programmieren, und trotzdem
oder deshalb seien die Computergraphiken sein Mittel, Fehler in Computerprogrammen zu fin-
den. Vgl. John Briggs/F. David Peat: Die Entdeckung des Chaos, Mnchen 1990, S. 128.
16 Baudrillard: Der symbolische Tausch (Anm. 1), S. 118.
17 Herbert A. Simon: Die Wissenschaften vom Knstlichen [1969/1981), Berlin 1990, S. 20.
18 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ausgabe in zehn Bnden, Frankfurt/M.
1979, S. 3262.
19 Ebd., S. 3265.
20 Ebd., S. 2792. Ferner: Roland Barthes: Die Sprache der Mode [1967], Frankfurt/M. 1985, und Bau-
drillard: Der symbolische Tausch (Anm. 1), Kap. III: Die Mode oder die Zauberwelt des Codes.
21 Gerhard Neumann: Ich bin gebildet genug, um zu lieben und zu trauern. Die Erziehung zur Liebe
in Goethes Wilhelm Meister, in: Titus Heydenreich (Hg.): Liebesroman Liebe im Roman, Erlan-
gen 1987, S. 4182, hier: S. 51).
22 Letzterer Eintrag, um genau zu sein, entstammt dem erwhnten Schema selbst, hier nach dem An-
hang zu: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, hg. v. G. Neumann u. H.-G. De-
witz, Frankfurt/M. 1989 (= Smtliche Werke, Briefe, Tagebcher und Gesprche. I. Abteilung: Smt-
liche Werke, Bd. 10), S. 818.
23 Heinrich Meyer: Baumwollen Manufactur (1810), zit. nach Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meis-
ters Wanderjahre, S. 887; vgl. Wanderjahre (Anm. 22), S. 702.
24 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre (Anm. 22), S. 713, 719 u. 715.
25 Wolfgang Hdecke: Poeten und Maschinen. Deutsche Dichter als Zeugen der Industrialisierung,
Mnchen/Wien 1993, S. 264. Fr ein jngstes literarisch-dramatisches Beispiel solcher Zeugnis-
se vgl. Bernard Umbrecht: Tisseur de mmoire. Weber der Erinnerung, in: Bernhard J. Dotzler/Hel-
Bernhard J. Dotzler
249
mar Schramm (Hg.): Cachaa. Fragmente zur Geschichte von Poesie und Imagination, Berlin 1996,
S. 273301.
26 Ebd., S. 264.
27 Hans Staub: Der Weber und sein Text, in: G. Buhr/F. A. Kittler/H. Turk (Hg.): Das Subjekt der Dich-
tung. Festschrift fr Gerhard Kaiser, Wrzburg 1990, S. 533553, hier: S. 541.
28 So die Originalbeschreibung, zit. nach Conrad Matscho (Hg.): Mnner der Technik, Berlin 1925,
S. 130. Fr die brigen Angaben vgl. Jerry M. Rosenberg: The Computer Prophets, London 1969,
S. 108 f., sowie Brigitte Tietzel: Geschichte der Webkunst, Kln 1988, S. 21 f. u. 197.
29 Matscho: Mnner der Technik (Anm. 28), S. 281.
30 Edgar P. Vorndran: Entwicklungsgeschichte des Computers, Berlin/Offenbach 1982, S. 57. Selbst bei
Falcon hat indes die Suche nach Vorlufern noch nicht ihr Ende. Denn Falcon wiederum arbeitete
mit einem gewissen Basile Bouchon zusammen, und so wird auch diesem das Verdienst zuge-
schrieben, erstmals nmlich bereits 1725 auf die Idee gekommen zu sein, Lochstreifen fr die
Webstuhlsteuerung einzusetzen. Vgl. Brian Randell (Hg.): The Origins of Digital Computers. Selec-
ted Papers, Berlin/Heidelberg/New York 1982, S. 5.
31 Vgl. Charles Babbage: On the Economy of Machinery and Manufactures, London 1832 (1. und 2., erw.
Auflage), 1833 (3., erw. Aufl.) und 1835 (4., erw. Aufl.); bersetzt in zahlreiche Sprachen, so auch ins
Deutsche: Ueber Maschinen- und Fabrikenwesen, Berlin 1833.
32 Charles Babbage: Passages from the Life of a Philosopher, London 1864, S. 169; vgl. die ebd. fol-
gende Anekdote von der Vorfhrung des Portrts, das der Betrachter gerade nicht als Seidengewe-
be erkennt, um es vielmehr fr einen Stich oder eine Lithographie zu halten.
33 Belege mit der Sigle BRA verweisen hier und im Folgendem auf: Bernhard J. Dotzler (Hg.): Babba-
ges Rechen-Automate. Ausgewhlte Schriften, Wien/New York 1996.
34 Vgl. auch Babbages eigene Beschreibung: Die Analytical Engine ist mithin eine Maschine allge-
meinster Natur. Gleichgltig, welche Formel man von ihr entwickelt haben will, es mu ihr deren
Entwicklungsgesetz mit Hilfe zweier Sets von Lochkarten mitgeteilt werden. Sobald diese eingege-
ben wurden, handelt es sich um eine Spezialmaschine fr diese besondere Formel. (BRA 241)
35 Simon: Die Wissenschaften vom Knstlichen (Anm. 17), S. 20.
36 Novalis: Aufzeichnungen aus dem Sommer und Herbst 1800, HKA III, 684.
37 Turing: ber berechenbare Zahlen[1937], in: ders.: Intelligence Service. Schriften, Berlin 1987,
S. 40.
38 Turing: Intelligente Maschinen [1948] (Anm. 37), S. 91.
39 Turing: ber berechenbare Zahlen, S. 43.
40 Turing: Intelligente Maschinen, eine hretische Theorie [1951], S. 15; engl. in: Sara Turing: Alan M.
Turing, Cambridge 1959, S. 128134, hier: S. 134; meine Hervorh.
41 Baudrillard: Der symbolische Tausch (Anm. 1), S. 118.
42 Turing: ber berechenbare Zahlen (Anm. 37), S. 46.
43 Claude E. Shannon: A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits [1938], in: ders.: Collected
Papers, New York 1993, S. 471495, hier: S. 471 f. u. 475.
44 Jacques Lacan: Das Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanaly-
se [1978], Weinheim/Berlin 1991, S. 381.
45 Vgl. Patrice Flichy: Tele. Geschichte der modernen Kommunikation, Frankfurt/M./New York 1994,
S. 5459 (= Kap. Die Erfindung des Netzes).
46 Lacan: Seminar II (Anm. 44), S. 64.
47 Vgl. Otto Mayr: Symbolsprachen fr mechanische Systeme im 19. Jahrhundert, in: Technikgeschich-
te 35 (1968), S. 223240.
48 The Edinburgh Encyclopaedia, Bd. XV, S. 394.
49 Dies versucht ausfhrlicher nachzuweisen mein Aufsatz: Technotation. Babbage und die Macht der
Zeichen, in: Weimarer Beitrge 43 (1997), S. 99109.
50 Charles Babbage: Observations on the Notation employed in the Calculus of Functions, in: Trans-
actions of the Cambridge Philosophical Society 1/1822, S. 6376, hier: S. 64.
51 Wilhelm Meisters theatralische Sendung I.8; Lehrjahre I.6; Dichtung und Wahrheit I.1 und 2.
52 So die Nacherzhlung von Hans Magnus Enzensberger: Mausoleum. Siebenunddreiig Balladen
aus der Geschichte des Fortschritts, Frankfurt/M. 1975, S. 62. Vgl. Babbage: Passages (Anm. 32),
S. 17 f., bzw. BRA 39.
53 Fr die vollstndige Geschichte, in BRA nur in Auszgen bersetzt, vgl. Babbage: Passages,
S. 365 f.
Die Investitur der Medien
250
Wol f gang Ernst
ME D I E N @R C H O L O G I E
( P R O V O K AT I O N D E R ME D I E N G E S C H I C H T E )
Der Beitrag der Medienarchologie zur Kommunikationswissenschaft ist von
den Nachrichtentechniken der Signalbertragung einmal abgesehen das Wis-
sen vom Speicher(n). Die sowjetische Kultursemiotik hat zur Voraussetzung ih-
rer Analysen gemacht, dass Kommunikation zwischen Personen nur mglich ist
aufgrund eines Mindestmaes an gemeinsamem Gedchtnis.
1
Gewiss lsst sich
das Imaginre nicht auf die technischen Voraussetzungen der symbolischen Spei-
chermedien reduzieren vielleicht aber ist die Vergangenheit (der Medien) jen-
seits des Mediums der historischen Imagination (der Erzhlung also) von ihren
Speicheragenturen her denkbar, als vergangene Zukunft des kulturellen Gedcht-
nisses im Wandel seiner medialen Bedingungen. Das also knnte eine Deutung
des Neologismus Medienarchologie sein:
2
die Wissenschaft von Gedchtnisfor-
men als Funktionen des Speicherns, Verarbeitens und bertragens, eine Mnemo-
kybernetik. Archologie und Archiv verbindet dabei mehr als eine blo etymolo-
gische Assoziation (und die Affinitt der akademischen Disziplin Archologie zur
diskreten Datenverarbeitung), seitdem Speicher und Befehl (arch) in der von-
Neumann-Architektur des Computers als programmierte Algorithmen zusam-
menfallen. Auch dieser Text sucht die Artefakte, auf die er referiert, nicht zur
Grundlage einer Metaargumentation zu machen, sondern sie auszustellen, sie
transitiv zu moderieren (das Archiv schreibend). Aus diesem Grunde handelt je-
der Diskurs immer ebenso sehr ber den Diskurs selbst wie ber die Gegenstn-
de, die sein Thema bilden.
3
G O E T H E S P E I C H E R N : D A S A R C H I V A L S ME D I U M D E R L I T E R AT U R
Was Medienarchologie von der Literatur- und Kulturwissenschaft unterschei-
det, ist ihre Hinwendung zu nicht-diskursiven Agenturen des unscharf so be-
nannten kollektiven Gedchtnisses, also zu eher infra- denn poststrukturalen Dis-
positiven der Kommunikation. Im Medium ihrer Archivierung kommt Literatur
selbst an die Grenzen ihrer Diskursivitt. Wilhelm Dilthey pldierte 1889 nach
dem Vorbild der politischen Archive fr die Einrichtung von Literaturarchiven als
materialem Gesetz des berlebens von Schriften, denn Geist erinnert sich nur in
den Launen seiner Hardware. Frher oder spter wird das nationale Gefhl diese
Bernhard J. Dotzler
251
Forderung durchsetzen:
4
Die Nation als Interpretant delirierender Zeichenket-
ten (ver-)sammelt die disiecta membra ihres symbolischen Gedchtnisses, nach-
dem sie bis 1870/71 selbst noch virtuelle Option gewesen war. Zur gleichen Zeit,
als Preuen sein Staatsarchivwesen neu organisiert und der Reformer Freiherr
vom Stein die Quellenedition Monumenta Germaniae historica initiiert, um das
Imaginre der Geschichte im Sinne des nation building nicht minder zu mobilisie-
ren als kurz zuvor die Truppen im Kampf gegen Napoleon,
5
fasst Goethe im Mai
1822 eine neue Gesamtausgabe seiner Werke ins Auge und wei um die Notwen-
digkeit eines archivischen Dispositivs als Bedingung aller auktorialer posthistoire,
die verlustfreie Erfassung des vorhandenen Materials: Die Hauptsache war eine
reinlich ordnungsgeme Zusammenstellung aller Papiere [], wobei nichts ver-
nachlssigt noch unwrdig geachtet werden sollte.
6
Dem technischen Speicher
sind im Unterschied zu Hegels Begriff der Erinnerung alle Daten gleich. Goe-
the verwendet darauf den Begriff Archiv nicht metaphorisch, sondern mit Fach-
termini wie Repertorium und Repositur im Sinne der zeitgleich sich endgltig
formulierenden Archivwissenschaft fr eine Gesamtheit von Papieren, worber
schlielich ein Verzeichnis nach allgemeinen und besonderen Rubriken, Buch-
staben und Nummern aller Art gefertigt, vor mir liegt.
7
Zwischen Goethe als
Prosopopoi endlicher und diskreter Papiermengen
8
und dem Archiv aber steht
ein Aufschreibesystem namens Sekretr: Friedrich Theodor Kruter, der ein (von
ihm so benanntes) Repertorium ber die Goethesche Repositur geschaffen hat.
Goethe selbst nannte diese Maschine ein bibliothekarisch-archivarisches Ver-
zeichnis;
9
noch ist der Verbund beider Speichermedien nicht epistemologisch
endgltig ausdifferenziert. Das Kriterium der Signaturen ist kein abstraktes, son-
dern ein an die reale Ordnung des Speichers und an die Materialitt der Speicher-
pltze (Variablen) gebundenes System: In dem [] Verzeichnis bedeuten die []
in der ersten Spalte eingefgten Buchstaben und rmischen Zahlen [] offenbar
die Einteilung des Archivschrankes nach Abteilungen und Fchern.
10
Im Unterschied zur Epoche des Alten Reiches bercksichtigt die Institution Ar-
chiv nun nicht mehr allein die Rechtsverhltnisse des Staates, sondern auch das
Historische als Eigenwert wobei diese Geschichte nicht vorliegt, um schlicht
abgespeichert zu werden, sondern im Medium des Archivs erst hergestellt wird.
11
Dementsprechend verwendet Goethe Archiv und Historie geradezu synonym
und im Zusammenhang mit historischen Forschungen gern die Worte archiva-
risch und archivalisch, beide gleichbedeutend.
12
Er organisiert mit seinem Nach-
lass die vergangene Zukunft seiner Gegenwart, ganz wie zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts eine Reihe von Zeitschriften den Titel Archiv fhrt, etwa Friedrich
Medien@rchologie
252
Ludwig Wilhelm Meyers Berlinische[s] Archiv der Zeit und ihres Geschmacks. Da-
mit ist die Nachricht von der Gegenwart bereits archivisch strukturiert, und der
Speicher nicht im emphatischen geschichtsphilosophischen Sinn, sondern sys-
temtheoretisch als Subuniversum definiert ein Ort der Sicherheitsverwahrung,
als Arbeitsspeicher und Datenbank der Gegenwart, so etwa zur Deposition von
Goethes Privatbriefen im Weimarer Archiv fr die Dauer seiner Rom-Reise 1786.
Wenn Wissenschaft in erster Linie eine Operation des Trennen und Abson-
derns ist, sei es ratsam, das einmal Abgetrennte und Gesonderte in Lehrb-
chern gleichsam wie in Archiven stehen zu lassen.
13
Im als Archiv gesteuer-
ten Nachlass schlielich findet die Transsubstanziation von physischem Krper
und literarischem Korpus statt, analog zum von der deutschen Archivkunde ent-
wickelten Begriff des Archivkrpers.
14
Der Speicher wird damit zu einem
auto(r)referenziellen Medium, buchstblich: Dieses ganze bei ihm liegende, auf
sein Leben, besonders sein schriftstellerisches Leben, bezogene Schriftgut war
von ihm aus- und bei ihm eingegangenes, also organisch gewachsenes Schrift-
gut.
15
Das Gedchtnis aber ist kein organischer Krper, sondern ein Apparat
weshalb zu seiner Analyse auch besser Medienarchologie denn eine selbst er-
nannte Medienanthropologie zustndig ist. Der Paroxysmus des literarischen Ar-
chivs als Begrndung der Ausgabe letzter Hand ist es, im Unterschied zur Litera-
tur selbst ohne den Autor operabel zu sein (was Goethe auch dadurch sichert,
dass er die Oberaufsicht darber dem Staatskanzler von Mller bertrgt); und
so mchte der Klarheit und Sicherheit wohl nichts im Wege stehn (am 4. 4.1825
an Sulpiz Boissere). Es liegt in der medialen Logik dieser Form von berliefe-
rung, dass der berufenste Adressat und Kommentator solcher Stze Willy Flach
ist, seinerseits Staatsarchivar in Weimar: Die Sicherung von Goethes literari-
schem Nachlass ist also gelungen, seine Werke knnen spter auch ohne seine ei-
gene Mitwirkung bestehen und verffentlicht werden.
16
Goethe koppelte sein Archiv an ein zeitlich dynamisches Betriebsprogramm: sei-
ne Tag- und Jahreshefte als Chronik, welche die Lcken [] einigermaen aus-
fllet []; sie dient schon in ihrer jetzigen Gestalt zur Norm, wie meine smmtli-
chen Papiere, besonders der Briefwechsel, der einst verstndig benutzt und in das
Gewebe von Lebensereignissen mit verschlungen werden knnte.
17
Aus sol-
chem Stoff also ist die Archi(v)textur der Geschichte gewebt. Der symbolisch me-
chanisierte Schriftenspeicher transformiert drohende Datenentropie in sinnvoll
adressierbare Ordnung als Bedingung von berlieferung (sprich: Tradition), so-
dass eins wie das andere, aus der Staubwolke einer leidenschaftlichen Empirie, in
den reineren Kreis historischen Lichtes tritt.
18
Diese Belichtung kommt nicht
Wolfgang Ernst
253
aus dem Dunkel des Speichers selbst, sondern ist eine Zndung namens histori-
sche Imagination. Das Objekt von Medienarchologie heit dementsprechend
Gedchtnis, das von Mediengeschichte Erinnerung. Es bedarf des Begriffs der Er-
innerung zur Benennung eines operierenden Energiezustands, um latente Spei-
cher berhaupt erst zu aktivieren; so knnen die an sich leblosen Gedchtnisob-
jekte elektronischer Informationssysteme durch die formende Hereinnahme in
die persnliche Situation energetisch aufgeladen und in Erinnerungsmedien ver-
wandelt werden.
19
Dieses Gedchtnis bewirkt einen Aufschub, ein katechon ge-
genber der Kontingenz kurzfristiger politischer und konomischer Prozesse.
Retardierende Zeichen, die an solchen Haltestellen aufgespeichert sind, struktu-
rieren als Informationsmuster die Wahrnehmung der Gegenwart; Sinn ent-
steht dabei erst, wenn ein heterogenes Kontinuum von Daten durch Mechanis-
men der Selektion und Kombination strukturiert wird. Formuliert in der
Metaphorik des Gedchtnisses heit das: in einem bestimmten Zusammenspiel
aus Vergessen und Erinnern.
20
ME D I E N ( K U LT U R ) G E D C H T N I S , K U LT U R T E C H N I S C H
Medienarchologie konzentriert sich dabei auf den Raum zwischen Monument
und Dokument, auf die Schnittstelle von diskursiven und non-symbolischen
Agenturen des Gedchtnisses, etwa auf das Verhltnis von Nationaldenkmlern
einerseits zu Archiven und Bibliotheken andererseits, von Bismarck- zu Wasser-
trmen,
21
allgemein auf das Verhltnis von Gedchtnisorten zu Infrastrukturen
der Speicherung als kultursemiotisches Dispositiv. Denn Kultur ist ihrem ei-
gentlichen Wesen nach gegen das Vergessen gerichtet. Sie berwindet es, indem
sie das Vergessen in einen Mechanismus des Gedchtnisses verwandelt.
22
Genau
an dieser Stelle interveniert das Archiv als Gesetz dessen, was spter gesagt (weil
gespeichert) werden kann. Eine Kultur nmlich ist erst gegeben, wenn sie ber
Orte der Remanenz verfgt; sie etwa unter dem Stichwort ISDN infrastrukturell
zu denken heit die Forderung einer weniger hermeneutisch denn buchstblich
informierten Medienwissenschaft: Das Wort Aufschreibesystem [] kann auch
das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichnen, die einer gegebenen
Kultur die Entnahme, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlau-
ben.
23
Archivsthetisch formuliert bedeutet das fr Medienwissenschaft den
Schritt von der Mimesis an den Gegenstand zu dessen Indizierung. Prziser als
Maurice Halbwachs es mit seinem nebuls sozialromantischen Entwurf einer
mmoire collective vermag, definieren Jurij Lotman und Boris Uspenskij Kultur
Medien@rchologie
254
als nicht-erblich vermitteltes Gedchtnis eines menschlichen Kollektivs, das in
einem bestimmten System von Verboten und Vorschriften zum Ausdruck
kommt.
24
Hinzuzufgen wre das Telekommunikationssystem der Tradition.
Ohne die Codierung der griechischen Philosophie auf transparenten Schriftrol-
len htten die Postsachen, die wir die Tradition nennen, niemals aufgegeben wer-
den knnen;
25
somit ist Tradition, medial, als Kulturtechnik des bertragens
und Speicherns benannt. Damit tritt die Differenz von Hermeneutik und Medi-
um auf den Plan: Was sind die nicht-historischen Bedingungen der berliefe-
rung? Die medienwissenschaftlichen Klassiker der Toronto-Schule (Harold In-
nis, Eric Havelock, Marshall McLuhan) definieren Kulturen durch die Kapazitt
ihrer Medien, d. h. ihrer Aufzeichnungs-, Speicherungs- und bertragungstech-
nologien und fassen sie als Funktion jeweiliger Hardware damit prziser, als es der
(Software-fixierte) Begriff der Kommunikation vermag. Die Pointe und Pro-
vokation dieser Richtung besteht darin, da sie aus der Literaturwissenschaft
eine Ingenieurwissenschaft macht.
26
Vielleicht ist ein solches Wissen weiter
mglich, wenn der Begriff von Literatur prosaischer, nmlich archivtechnischer
gefasst ist:
Ein sehr wichtiger Einsatzbereich des Computers liegt in der Archivie-
rung; darunter versteht man die methodische Sammlung von Daten, ins-
besondere auch von Texten, die Verwaltung und den systematisierten
Zugriff auf dieses Datenmaterial. Texte, Daten, Tabellen und Abbildun-
gen usw. fallen unter den Sammelbegriff Literatur (oder auch Dokumen-
te), und daraus ist nun die elektronische Literatur geworden.
27
Macht und Kultur sind sich an dieser Stelle einig: Beide stehen im Verbund mit
Speichern. Medienarchologie zielt auf jene Zustnde, die sich nicht erzhlen,
also im Modus der Historie darstellen lassen; sie sucht Systeme als Systeme, also
von auen und nicht blo in interpretatorischer Immanenz zu beschreiben. Me-
dienarchologie rekonstruiert jene Speicherschaltungen, nach denen die faktisch
ergangenen Diskurse einer Epoche organisiert werden mussten, um als Gedcht-
nis zu Kultur zu werden. Michel Foucaults Begriff vom Archiv in seiner For-
schungspraxis, wenn auch nicht in seiner Theorie deckungsgleich mit einer Bi-
bliothek bezeichnet in diesem Sinne das Apriori von Schriftstzen:
Weshalb diskursanalytische Arbeiten Nte immer erst mit Zeiten hatten,
deren Datenverarbeitung das alphabetische Speicher- und bertragungs-
monopol, diese Machtbasis Alteuropas, sprengte. Um 1850 endeten die
Wolfgang Ernst
255
historischen Untersuchungen Foucaults. Nun sind zwar alle Bibliotheken
Aufschreibesysteme, aber nicht alle Aufschreibesysteme Bcher. Sptes-
tens seit der zweiten industriellen Revolution mit ihrer Automatisierung
von Informationsflssen erschpft eine Analyse nur von Diskursen die
Macht- und Wissensformen noch nicht. Archologien der Gegenwart
mssen auch Datenspeicherung, -bertragung und -berechnung in tech-
nischen Medien zur Kenntnis nehmen,
28
mithin also, im kritischen Anschluss an Foucault, eine Medienarchologie des
Wissens praktizieren.
29
Eine so gewendete Diskursanalyse vollzieht Medienana-
lyse als Archologie und Theorie. Erst wenn der Schrift, mithin der Literatur in
der Speicherung serieller und kultureller Daten andere Medien Konkurrenz ma-
chen, kommt der materielle Charakter der Wrter und damit Medienspezifi-
sches in den Blick.
30
Word im digitalen Raum ist die schlichte Bezeichnung ei-
ner Speichereinheit.
C O MP U T E R ME MO R Y
In der ersten Computergeneration existierten noch alternative Bezeichnungen fr
Speicher; erst dann setzte sich die Metaphorisierung von schaltelektronischen La-
tenzzustnden unter dem Begriff memory durch. Medienarchologie hat es die
folgenden Anfhrungszeichen verraten es nicht mit kultureller Poetologie, son-
dern mit zentralen Recheneinheiten zu tun:
A computing machine, capable of solving problems must possess a me-
mory or, less poetically [sic], an information storage unit. The recent
history of improvement in computing machines has been largely a history
of improving memory devices. [] When we speak of the memory of a
machine, we are using the term in a rather different sense from the usual
one involving human mental activity. In a computer the component labe-
led memory serves the functions of storing instructions, data put into
the machine and results of computations which are held until they are
needed for successive operations.
31
Wo an die Stelle des homogenisierenden Begriffs Gedchtnis die Vektorisierung
von Speichern tritt, heit dies im Sinne der Kybernetik jenseits emphatischer Ge-
schichtsphilosophie: There is memory no more. Vielmehr haben wir es mit der
Medien@rchologie
256
Aktualisierung von Feedbackschleifen zu tun.
32
Schon das klassische Archiv ver-
krpert die Synchronizitt des Zuhandenen, definiert durch den Zugriff, nicht
durch die Zeit: Es ist notwendig, eine ganze Reihe von diskontinuierlichen Mo-
menten zu sammeln und zumindest potentiell in ein und derselben Prsenz
zu halten.
33
Nicht statisches Gedchtnis, sondern prozessualer Verzug bildete
Zwischenspeicher in Computern, die nicht erinnerten, sondern zhlten; Zeit
wird so nur als materialer, hardwarebasierter Aufschub der Synchronisations-
schleifen gefasst, als dynamisches Archiv:
Designers turned to the idea of storing information in a delay tank of mer-
cury, where the information is cycled in the form of ultrasonic sound wa-
ves. The electrical pulses representing information bits are converted by
crystals to sound waves, which travel so much slower than electricity of
light that a given length of path can hold a vastly greater amount of infor-
mation. [] The pulses are amplified and recirculated through the tank
repeatedly.
34
Medienarchologie bringt Wissen von Gedchtnis als Technik so nicht nur zum
Klingen, sondern weckt es aus seinem anthropozentrischen Schlaf: We must
therefore compare the computer memory devices not with the functions of the
human brain, but rather with the physical information-storage devices used by
men the scratchpad, notebooks and other current records, books and other per-
manent references.
35
Wenn Gedchtnis als Form und nicht als Sprache ange-
schrieben wird, ist es von historischer Semantik. Eine neue Mikrogeschichtszeit
wird anhand des magnetic core memory diskutiert: The cores remember their
magnetic history, while the ferro-electric crystal remembers its electric history.
36
Ridenours Ausfhrung, die sich heute schon als Nachricht aus der Antike des
Computers liest, findet ihrerseits zu einer (medien)archologischen Metapher:
Twomillennia agohumanbeings hadjust the same difficulties withscrolls
[]. Shortly after the tougher parchment was introduced, the book form
was invented[]. Calledthe codex, it was originatedprimarily for lawco-
des, so that pages could be removed or added as statutes changed. Reels of
magnetic tape are the scroll stage in the history of computing machines. It
remains for someone to invent the machines analogue of the codex.
37
Auch auf Tierhaut als Schrifttrger im Mittelalter war Speicherplatz verknappt;
die logische Folge heit Palimpsest. Wenn der Inhalt der Schrift bereits anderswo
Wolfgang Ernst
257
verarbeitet oder fr die damaligen Zeiten veraltet war (Juridica), wurde der Text
entfernt.
38
Das griechische Wort sagt wieder abgeschabt; die bliche lateinische
Bezeichnung ist Codex rescriptus. Als digitale Lesbarmachung abradierter Per-
gamenttexte wird Medien- als Abfallarchologie (memory of waste)
39
aktiv; der
Prozess des Einscannens verwandelt dabei unter der Hand von Photoshop den
Text zum Bild respektive zur Graphik. Medienarchologie betrifft also nicht allein
die Medien als Objekt, sondern auch als Subjekt, ihre sichtende Ttigkeit: Es ist
tatschlich so, da die Fotografie oft mehr aus dem Original herausholen kann,
als mit dem bloen Auge zu erkennen ist.
40
Read Only Memory meint jene Form des nichtflchtigen Computerspeichers, der
im Unterschied zum Random Access Memory von Programmen nur gelesen,
nicht aber ber- oder umgeschrieben werden darf ganz wie die Edikte antiker
Imperatoren und katholischer Ppste in Rom. Fungiert doch der Bibeltext als
software, die von der hardware kirchlicher Institutionen in einem dogmatischen
Festwertspeicher (Read Only Memory) festgeschrieben und im exegetischen
Netz der Kompilationen und Kommentare eines bertragenen vierfachen Schrift-
sinnes lesbar gemacht wird.
41
Inwiefern entspricht die gedchtnisadministrative
Institution klassischer Machtsysteme, also Registratur und Archiv als Arkanwis-
sen des Staates, der Architektur von Computermemory? Das ROM der Historie
ist ihr Betriebssystem: Standards historischer Kritik, ihre Methoden, Apparate.
Ihr Gedchtnis schreibt sich in Anmerkungsteilen. Das Archiv dient als RAM, Ar-
chivwissenschaft jedoch als Betriebsmodus im protected mode eine Perspektive,
die im strengen Sinne dem System immanent ist.
42
De(nk)blockaden von ROMs
sind die Aufgabe einer kritischen Medienarchologie.
ME D I E N A R C H O L O G I E , A U S D R C K L I C H
Das 20. Jahrhundert war das erste, das sein Gedchtnis nicht mehr primr schrift-
und aktenbasiert, sondern audiovisuell berlieferte. Die Quellenkritik der Histo-
rie kommt mit dieser neuer Archivlage noch nicht zurecht; so verfasst Jacques
Perriault 1981 seine Mmoires de lombre et du son denn auch nicht als Geschichte,
sondern ausdrcklich im Untertitel als Une archologie de laudiovisuel. Audiovi-
sionen in Deutschland schlieen an:
In der hegemonialen Kultur gibt es eine schon modisch gewordene Suche
nach archaischem Material, das mit der Patina der Geschichte belegt ist:
Medien@rchologie
258
Sehnsucht nach opulenten Zeugnissen des Texte- und Bilderstellens, des
Imaginierens, des anregenden und hufig auch delirierenden Denkens
zwischen Wort und Ikon. Mein Archologie-Konzept [] ist sicher nicht
frei von solch frhromantischer Besetzung []. Ihre leitenden Motivatio-
nen und Ideen kommen jedoch eher aus einem tiefen Mitrauen in die
Geschichte, besser: die Geschichtsschreibung.
43
Einer narrativen Mediengeschichte, die in ihrem Hang zur Kontextualitt immer
schon die sthetik der Kontinuitt privilegiert, setzt Medienarchologie das He-
rausprparieren monumentaler Inseln der Nicht-Diskursivitt entgegen, die so
diskontinuierlich in Raum und Zeit sind wie die Techniken, als deren Effekt sie
lesbar sind:
Archologie (der Medien, der Audiovision) wre in diesem Sinne die
Methode, in der weitgehend linear und chrono-logisch konstruierten Ge-
schichte die widerstndigen lokalen Diskursivitten und Ausdruckspra-
xen des Wissens und des Konzeptionierens technisch basierter Weltbil-
der und Bilderwelten herauszuarbeiten.
44
Doch indem sich Zielinski auf die Suche nach unterirdischen, noch nicht freige-
legten Verbindungen und im Sinne von Deleuze/Guattari nach Gefge. Rhi-
zom. Filigranes Wurzelwerk. Unkraut begibt,
45
wird wie zuweilen auch bei
Foucault die Archologie in ihrem Wortgebrauch zur Metapher, als die sie im
Sinne von arch als Gestell, als technologisches Dispositiv der Diskurse gerade
nicht gemeint war. Das Schwierigste aber ist, den Verfhrungen der Vergangen-
heit als Erzhlung, jenem sthetischen Effekt okzidentaler Geschichtskultur, zu
widerstehen: Wie vermeidet man beim ReKonstruieren [sic] historischer Ph-
nomene die Gefahr, die eruierten Manifestationen des Lebendigen durch das Er-
stellen linear-stringenter Ordnungen erneut zu tten?
46
Das heit konkret etwa,
das ganze Phylum von optischen Werk- und Spielzeugen, die zahlreichen Arte-
fakte fr die Her- und Zurschaustellung visueller Reproduktionen,
47
wie sie seit
der Renaissance bis ins spte 19. Jahrhundert im Zusammenspiel von Kunst und
Ingenieurswissenschaften generiert wurde, nicht schlicht als Vorgeschichte des
Kinos zu perspektivieren, sondern als deren medienarchologische Alternativen
zu erinnern ein den Prhistorikern vertrautes Oszillieren zwischen Geschichte
und Archologie. Der Begriff einer mediengeschichtlichen Archologie
48
bleibt
somit ein Oxymoron; Medienarchologie als genuine Methode ist nur um den
Preis einer Aufgabe des historischen Modells der Organisation von Daten ber-
Wolfgang Ernst
259
kommener Vergangenheit zu haben, indem das, was medial der Fall ist, mit dem
kalten Blick der Archologie statt mit warmer historischer Imagination (im Sinne
McLuhans) adressiert wird. Max Picard leistete dies noch ganz unter dem Ein-
druck des Zweiten Weltkriegs mit dem lapidaren Satz: Das Radio ist nicht etwas,
das vom Menschen gemacht ist.
49
Eine Anmerkung rckt diese Proposition zu-
recht:
Es ist klar, da in der physikalischen Kausalitt das Radio vom Menschen
abhngig ist. Aber klar ist auch, da die physikalische Kausalitt nur der
indifferente Boden ist fr das, was sich auf ihr abspielt. Gegenber der
Macht, die das Radio ber den Menschen hat, ist es gleichgltig, ob das
Radio durch den Menschen in Betrieb gesetzt wird. Das Wesen eines Ph-
nomens wird niemals in der materiellen Kausalitt deutlich, weil sie nur
angeben kann, wo ein Ding herkommt, und nicht, was ein Ding ist [], es
macht den Menschen []. Der Mensch ist nur noch ein Anhngsel des
Radiogerusches, das Radio lebt ihm das Gerusch vor und der Mensch
macht die Bewegung des Gerusches nach, das ist sein Leben.
50
Rauschen ist das, was keine Muse der Geschichte mehr zu schreiben, zu registrie-
ren vermag; der Begriff des Lebens hat sich damit umgeschrieben.
51
Die episte-
mologische Diskontinuitt liegt in der Ruptur von Datenverarbeitung im Medi-
um des Symbolischen (Schrift) und der dem Realen verpflichteten Messung und
Berechnung (computing). Das wre meine archologische und diskursgeschicht-
liche Frage: woher kommt dieses wundersame System der modernen Mathema-
tik mit ihren reellen Zahlen? [] es ist singulr in der Geschichte der Menschheit,
da eine Kultur berhaupt versucht hat, mit reellen Zahlen die Welt zu berech-
nen und zu beherrschen.
52
Die dem zugrunde liegende Asymmetrie ist durch
keine Historie berbrckbar. Pldieren wir vielmehr fr eine Archologie im Sin-
ne Foucaults:
Die Formel hebt bekanntlich gerade nicht auf den Wortsinn von Archo-
logie ab, sondern auf das Moment der Kontextlosigkeit der von der Ver-
gangenheit hinterlassenen Monumente, zwischen denen nun aber nicht
durch Wiederauffllung der Lcken und Zwischenrume ein Sinnzusam-
menhang rekonstruiert werden soll, der sie von innen heraus belebt. Als
reine Beschreibung der diskursiven Ereignisse sucht die Archologie
nicht die Kontinuitt eines anderen Diskurses und wehrt sich dagegen, al-
legorisch oder berhaupt eine interpretative Disziplin zu sein.
53
Medien@rchologie
260
Doch hinter dem Begriff der Medienarchologie verbirgt sich mehr als ein mit den
Buchtiteln Foucaults kokettierendes Wortspiel. Medienarchologie statt Medien-
geschichte praktiziert auch die berfhrung des modernen, dem kognitiven Me-
dium der Narration verhafteten Geschichtsbegriffs in eine archologische Form
der funktionalen Wissensverarbeitung, d. h. diskrete, modulare Prozessualisie-
rung und Darstellung des kulturellen Text- und Bildgedchtnisses in Baustei-
nen.
54
Die Taktik von Medienarchologie nicht als Genealogie des Gewesenen,
sondern als Wissenschaft des (noch) tatschlich Vorliegenden (Prsenz des Ar-
chivs) heit DesImagination: Austreibung der Phantome des Lebendigen aus
dem, was Einsicht in eine Folge von Signalen und Algorithmen ist. Archologie
definiert hier einen Aussagemodus ber Vergangenheit, dessen Perspektive das
synchrone Zuhandensein von (Video-)Material im Archiv ist, ein Moment der
disconnectedness implizierend (Verlust, Distanz).
Medienarchologie heit die Absage an eine Hermeneutik, die den Stellenwert
von Buchstaben auf Sinn hin befragt; vielmehr benennt sie Texte als Energiespei-
cher (enargea), bedingt im Medium: Whrend der Geist Europas in Bchern
hauste, deren einziges Tun es war, etwas zu bedeuten, ist Software Information
eine von der Hardware ablsbare Syntax, die nach Shannons klassischer Defini-
tion Bedeutung weder haben soll noch darf.
55
Die Botschaft der Medien liegt also
in der Virtualitt der Kombination von Signalen, basierend auf der Verknpfung
einer endlichen Anzahl von Befehlen, was, wie Foucault im archologischen Sin-
ne anhand der Tastatur von Schreibmaschinen festhlt, eine Existenzfunktion
darstellt.
56
Hier hat eine Archologie der Medien anzusetzen, die [] nicht den
metaphorisch-bildlichen Assoziationen von Vermittlung, Ausdruck und
Botschaft leichtfig folgt, sondern die Funktionsweise, die Spezifitt
und die Konstitutionsleistung technischer Apparaturen der Speicherung,
bertragung und Berechnung von Daten beschreiben will. Deren Ur-
sprung liegt aber um 1800 und ist markiert durch die Erosion der abend-
lndischen Wissenstechnik, der Bibliothek.
57
Medienarchologie hat also zur Konsequenz, mit Diskontinuitten rechnen zu
lernen. Momentan vollzieht sich die Abkopplung der elektronischen Schaltkreise
von den klassischen, monumentalen, beharrenden, mithin: katechontischen
Speichern (Archiv, Lager, Depot, Bibliothek, Museum). Es gilt, die Schnittstellen
beider Systeme zu diagnostizieren und im Sinne von J.-F. Lyotards Konzept dis-
Wolfgang Ernst
261
kursiver bergnge zu vermitteln, ihrerseits also zu mediatisieren was Lyotard
mit der Metapher einer Handelsschifffahrt zwischen diskreten Inseln eines Ar-
chipels formulierte, also anders beschreibbar denn als historische Linearitt. Me-
dienarchologie verfhrt differenzierter und setzt an die Stelle der Ablsung ein
Modell der Umschichtung;
58
neue Medien machen alte nicht obsolet, sondern
weisen ihnen andere (Speicher-)Pltze zu Kybernetik des Archivs als Dispositiv
aller historischen Redeweisen. Der entscheidende Faktor fr den computerarch-
ologisch neuen Schritt der Zusammenfhrung von Kybernetikern, Mathema-
tikern und Neurologen war der Krieg;
59
Medienarchologie erffnet einen
militrischen Horizont, aller massenmedialen Amnesie ber die Herknfte exis-
tierender Medientechniken zum Trotz.
60
Gemeint ist damit etwa die Automati-
sierung der Kryptologie im Zweiten Weltkrieg als Geburtshelfer des digitalen
Computers im englischen Bletchley Park.
61
An Medienarchologie gekoppelt ist
hier nicht lnger nur das Archiv: Einer Archologie dieser Gegenwart (dem Un-
mglichen also) mag es dienen, Turings verstreute Papiere erstmals zu sammeln.
[] Die Ausgewhlten Schriften drucken alle Aufstze, die ohne mathematische
Aufrstung lesbar sind, und den einen, dessen Unlesbarkeit mittlerweile mit der
Wirklichkeit zusammengefallen ist.
62
In der Tat: Mein Versuch, in der Media-
thek der Kunsthochschule fr Medien in Kln die 5-Zoll-Diskette als Anlage zur
Publikation von Alan Turing, Intelligence Service, einzulesen, scheiterte am Impe-
rium von Macintosh und an der Unmglichkeit, unter den wenigen, in der Ver-
waltung verbliebenen PCs noch Maschinen mit entsprechenden Laufwerken zu
finden. So wird die Geschichte der Ursprnge des Computers auf demselben un-
lesbar. Die Archive der Zukunft werden ihre Hardware gleich mitspeichern ms-
sen. Medienarchologie fragt daher nach den nicht-historischen Bedingungen der
berlieferung von Geschichte und pldiert fr eine Sondierung von berliefe-
rungstechniken; die Geschichte aber terminiert ihrerseits im Archiv.
63
Kon-
kret mndet das in der Forderung nach einem dpt lgal, einer Pflichtabgabe von
jeweiligen Hardwareprodukten an zentrale Sammlungen als Bedingung kulturel-
ler bertragung. Sonst wird das Herz des Computers, der Mikrochip, fr knftige
Generationen vom Subjekt dereinst zum rtselhaften Objekt einer Medienarch-
ologie, wie es der Nachbau westlicher Computerchips durch die Ingenieure der
DDR als subtile Entsedimentierung, als Abtragung ihrer Schichten in einem an-
deren Kontext (als Feindwissenschaft nmlich) praktizierte: Reverse Engineering
ist Medienarchologie buchstblich.
64
Die Lage von heute erfordert darber hinaus eine andere Medienarchologistik,
wenn die Kopplungen von Computerentwicklung an Auftraggeber aufgedeckt
Medien@rchologie
262
werden wollen. So verlieren selbst Geheimakten an Macht, wenn die realen Da-
tenstrme unter Umgehung von Schrift und Schreiberschaft nur noch als unles-
bare Zahlenreihen zwischen vernetzten Computern zirkulieren.
65
Bleibt fr den
Chronisten also nur Nachtrglichkeit oder eine andere Schriftkompetenz namens
Informatik; diese findet lngst nicht mehr im Medium der Historie, der Erzh-
lung, statt. Wenn Archographie im Unterschied zur Geschichtsschreibung Pro-
grammieren heit (arch verweist auf den Befehlsmodus) und die Archive der
Zukunft nicht mehr Akten, sondern Algorithmen speichern, heit das fr die
Retrospektive, an den Blaupausen und Schaltplnen selber, ob sie nun Buch-
druckerpressen oder Elektronenrechner befehligen, historische Figuren [] ab-
zulesen.
66
Von Geschichtskrpern gibt es immer nur das, was Medien speichern
und weitergeben knnen.
A N T I Q U A R I K I M I N T E R N E T: A R C H O L O G I E D E R K O MMU N I K AT I O N ?
Medienarchologie entziffert am Artefakt die Information, nicht die story. Sie
steht also auf Seiten der Datenverarbeitung; jenseits der historischen Imagination
hlt sich machine reasoning an das Vorgefundene.
67
Diese Archologie ist keine
Kunstgeschichte mehr im Sinne Johann Joachim Winckelmanns, sondern eine
exakte Wissenschaft, mathesis: Archaeology, relieved of the passion for objects
(from antiquities and works of art to museum pieces) needs to seek, record, con-
sult, process, reconstruct the truncated and distorted information.
68
Unter den
Bedingungen elektronifizierter Kybernetik schlielich konvergiert die klassische
Opposition Dokument versus Monument im Informationsbegriff:
La rivoluzione documentaria tende [] a promuovere una nuova unit
dinformazione: al posto del fatto che conduce allavvenimento e una sto-
ria lineare, a una memoria progressiva, essa privilegia il dato, che porta
alla serie e a una storia discontinua. Diventano necessari nuovi archivi in
cui il primo posto occupato dal corpus, il nastro magnetico. [] Il nuovo
documento viene immagazzinato e maneggiato nelle banche dei dati.
69
In der Tradition antiquarischer Wissensvernetzungstechniken des 16. bis 18. Jahr-
hunderts (Datenreisen, Inventar, Deregulierung der Mnemotechnik) ist das
Internet, per technischer Definition hypertextuell konfiguriert, nun selbst als
Subjekt und als Objekt von Texten, Tnen und Bildern zitierfhig geworden. In-
telligente Agenten (knowbots) beim Informationsretrieval lassen uns wissen,
Wolfgang Ernst
263
dass Gedchtnis selbst nur noch Rckbersetzung elektronischer Verhltnisse in
die Begriffswelt historischer Semantik ist. Im Internet erzhlt sich der Computer
nicht mehr als Simulation von Historie; was zhlt, ist, dass hier ein Medium seine
eigene Genese als Hard- und Software zu emulieren vermag. Das Pldoyer fr
eine solche Medienarchologie des Rechners deckt sich also mit dem, was Wis-
senschaftshistoriker als Projekt einer Geschichte des Computers in seinem eige-
nen Medium fordern.
70
Unter der Adresse http://www.applemuseum.seas-
tar.net/sections/gui.html ist diese Option Wirklichkeit geworden, als Anamnese
des PC-Bildschirms auf demselben: In 1973, the Xerox Alto was born at Xerox
Palo Alto Research Center (PARC).
Das Internet in seiner Doppelfunktion als Archiv und Server bedeutet nur schein-
bar die anachronistische Rckkehr der musealen Kunst- und Wunderkammern in
Renaissance und Barock als heilloses Durcheinander, vor dem es klassische Ar-
chivare und die Direktoren von Kunstsammlungen grausen mag []. Verheit
doch das digitale Tohuwabohu die Wiederkehr einer verschollenen Zeit, in der
das Denken mit den Augen noch nicht verachtet war.
71
Die Epoche der Aufkl-
rung beerbte uns mit systematischen Enzyklopdien und folglich Spezialmuseen,
wo Ausstellung und Administration des Wissens auseinanderfielen: There was
no museum that did not address, archive, and catalogue; and also no museum that
kept its visitors from accessing these technologies.
72
Doch schon die scheinbare
Arbitraritt im Bestand der Kunst- und Wunderkammern war eingebettet in ein
Schriftregime, das die Objekte verzeichnete, registrierte, als Teile einer gttlichen
Kosmologie studierte und in Karteiksten auswies. Der Kurzschluss von postmo-
derner, virtueller Bildspeicherung und vormodernem Kuriosittenkabinett ver-
heimlicht die differenten Schaltplne, die beiden zugrunde liegen. Das Veto ge-
genber der Verfhrung zur historischen Analogie heit Medienarchologie. Das
Internet nmlich bildet kein Archiv aus, sondern Oberflchen; eine Medienarchi-
vologie muss dem unverzglich Rechnung tragen. Digitale Archologie ist kein
Fall fr zuknftige Generationen, denn im Zeitalter der Digitalisierbarkeit und
damit der Speicherbarkeit aller Informationen zeigt sich ein paradoxes Phno-
men: Der Cyberspace hat kein Gedchtnis.
73
Die Unbersetzbarkeit von realen
Archiven (Textverteilung im Raum) in digitale Topographien luft auf den Zwi-
schenspeicher hinaus; an die Stelle finaler Gedchtnisorte tritt die Latenz von In-
formation:
Der grte Teil des Wissens imCyberspace ist nur sehr kurzfristig exis-
tent: In einem Telefondraht oder auf einer elektromagnetischen Welle
Medien@rchologie
264
wandert die Stimme mit Lichtgeschwindigkeit durchdenRaumzumOhr
des Zuhrers und ist dannfr immer verschwunden. Dochinzunehmen-
demMae bauen die Menschen Cyberspace-Lagerhuser fr Daten, Wis-
sen InformationundFalschinformation indigitaler Form, zerlegt indie
Einsen und Nullen des binren Computercodes. Diese Lagerhuser haben
eine bestimmte uere Form(Disketten, Bnder, CD-ROMs), aber ihr In-
halt ist nur denen zugnglich, die [] den richtigen Schlssel besitzen.
Der Schlssel ist die Software.
74
Die Zugriffszeiten sind dabei extrem minimiert; so wird eine Forderung Turings,
des prinzipiellen Erfinders des Computers selbst wahr: Man braucht irgendeine
Form von Speicher, bei der jeder gewnschte Eintrag kurzfristig erreichbar ist,
whrend die in den Bchern enthaltene Information wegen der Zeit, welche die
mechanische Bewegung ihrer Suche und Lektre bentigt, unter den Bedingun-
gen von Datenverarbeitung in Hochgeschwindigkeit relativ unzugnglich blie-
be.
75
Archiv und Archologie beruhen mehr auf Organisation denn auf Fundla-
gen, im Unterschied zur Nachtrglichkeit der historiographischen Bearbeitung
des Daten-Monuments als Dokument. Was dabei zhlt, ist nicht die Benutzung,
sondern der Zugang. Bill Gates Bildbank Corbis im World Wide Web ruft vor der
Zurverfgungstellung der Bilder und Dateien die Zustimmung des Users zu den
Copyright-Bedingungen ab; das Anklicken des I agree registriert zugleich den
Benutzer im Netz. So setzt Archivierung als Registrierung von Gegenwart ein. An
die Stelle von Fragen nach Geschichte und Sinn tritt die Notwendigkeit, Archive
nicht lnger als Vergangenheit zu konfrontieren.
Am Ende stellt sich die Frage, in welchem Verhltnis Speicher- und bertra-
gungsmedien zu ihren diskursiven Effekten namens Kommunikation stehen.
Medienarchologie erinnert an den Kriegshorizont der Geburt des Internet ge-
genber einer gngigen Soziologenweisheit, dass Medien aus einem steigenden
Bedrfnis nach besserer Kommunikation geboren wrden.
76
Wenn Medien-
archologie Kulturen der Kommunikation zum Gegenstand macht, beschftigt sie
sich im Sinne einer wohldefinierten Wissenschaft viel mehr mit den non-
diskursiven Materialitten und den davon induzierten Kurzschlssen zur Seman-
tik. Nur aus der Perspektive unverdrossener Geisteswissenschaften schiebt sich
die diffuse Kopplung von Kultur und Kommunikation an die Stelle der Verschal-
tung von Speichermedien und Kybernetik. Przise hat dies das in der mathemati-
schen Informationstheorie gngige Kommunikationsmodell unter Begriffen wie
Sender, Empfnger, Kanal, Nachricht (Botschaft), Codes und Zeichenvorrat we-
Wolfgang Ernst
265
niger semiotisch denn signaltechnisch zu fassen gesucht. Diese Auffassung von
Kommunikation als Lehre von der messbaren Nachricht verrt ihren Ursprung in
den Versuchen, Nachrichtenverluste im Rauschen langer Telefonleitungen kal-
kulierbar zu machen.
77
Mit den Worten Call before you dig mahnt ein Warnschild
in der Nhe der Princeton University, New Jersey, Bauarbeiter an Glasfaserkabel
unter der Erde. Wenn das nicht Medienarchologie* ist (*oder ihre Verhinde-
rung ).
78
1 Siehe Andreas Schelske: Wie wirkt die Syntaktik von bildhaften Zeichen kommunikativ?, in: Klaus
Sachs-Hombach/Klaus Rehkmper (Hg.): Bildgrammatik, Magdeburg 1998, S. 145154, hier S. 153.
2 Der Begriff wurde mageblich vom Medienwissenschaftler und Grndungsrektor der Klner Kunst-
hochschule fr Medien, Siegfried Zielinski, entwickelt und institutionalisiert. Siehe etwa seinen
Aufsatz: Medienarchologie. In der Suchbewegung nach den unterschiedlichen Ordnungen des Vi-
sionierens, in: Eikon. Internationale Zeitschrift fr Photographie & Medienkunst, Heft 9 (1994),
S. 3235. Ferner Siegfried Zielinski: Towards an Archaeology of the Audiovisual, in: Balkanmedia IV,
1/1995, S. 3037.
3 Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des histo-
rischen Diskurses, Stuttgart 1986, S. 11 f.
4 Wilhelm Dilthey: Archive der Literatur in ihrer Bedeutung fr das Studium der Geschichte der Phi-
losophie, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie, II. Band 3. Heft, Berlin 1889, S. 343367, S. 366 f.
5 Dazu Wolfgang Ernst: Im Namen der Geschichte: Sammeln Speichern (Er)Zhlen. Infrastruktu-
relle Konfigurationen des deutschen Gedchtnisses (1806 bis an die Grenzen zur mechanischen
Datenverarbeitung), Habilitationsschrift Humboldt-Universitt Berlin (Typoskript)
6 Goethes Werke, hg. i. A. d. Groherzogin Sophie v. Sachsen in 4 Abteilungen, Weimar 18871918,
Abt. I: Werke, Bd. 41 II, 25 ff., zitiert nach: Willy Flach: Goethes literarisches Archiv, in: Archivar und
Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft, zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto
Meisner hg. v. d. Staatlichen Archivverwaltung im Staatssekretariat f. Innere Angelegenheiten, Ber-
lin 1956, S. 4571.
7 Zitiert nach: Flach: Goethes literarisches Archiv (Anm. 6), S. 64.
8 Vgl. Wolfgang Ernst: Texten ein Gesicht geben: Die Prosopopie des Archivs im Namen Ernst Kan-
torowicz, in: sthetik und Kommunikation, Heft 94/95, Jg. 25, Dezember 1996 (Themenheft Medi-
um Gesicht. Die faciale Gesellschaft), S. 175182.
9 W I/41 II (Sophien-Ausgabe) (Anm. 6), S. 28.
10 Flach: Goethes literarisches Archiv (Anm. 6), S. 67, Anm. 81.
11 Ebd., S. 47, unter Bezug auf den Eintrag Archiv in der Allgemeinen Encyclopdie der Wissen-
schaften und Knste von Johann Samuel Esch u. Johann Gottfried Gruber (5. Teil 1820).
12 Ebd., S. 53.
13 1789: W II/13 (Sophien-Ausgabe), S. 431, zitiert nach: Flach: Goethes literarisches Archiv (Anm. 6),
S. 58.
14 ber den Archivkrper als Organismus siehe Adolf Brennecke: Archivkunde. Ein Beitrag zur The-
orie und Geschichte des europischen Archivwesens, bearbeitet nach Vorlesungsnachschriften und
Nachlapapieren [Nachlass hier als Subjekt und Objekt der Archivlehre, W. E.] und ergnzt von
Wolfgang Leesch, Leipzig 1953, S. 85 ff.
15 Flach: Goethes literarisches Archiv (Anm. 6), S. 66.
16 Ebd., S. 69, unter Bezug auf Goethes Brief an Boissere: W IV/39 (wie Anm. 6), S. 171.
17 W IV/38, S. 20, an Johann Friedrich von Cotta, 14. Januar 1824, zitiert nach: Flach: Goethes literari-
sches Archiv (Anm. 6), S. 70.
18 Ebd., S. 70.
19 Peter Matussek: Durch die Maschen. Die Vernetzung des kulturellen Gedchtnisses und ihre Erin-
nerungslcken (Typoskript), ungekrzte Fassung des auf der Inferface III in Hamburg am 1.11.1995
vorgetragenen Textes, S. 20.
20 Wolfgang Struck: Soziale Funktion und kultureller Status literarischer Texte oder: Autonomie als
Medien@rchologie
266
Heteronomie, in: Miltos Pechlivanos/Stefan Rieger/Wolfgang Struck/Michael Weitz (Hg.): Einfh-
rung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1995, S. 182199, hier: S. 196.
21 Siehe Wolfgang Ernst: Wassertrme: Imperative von Infrastruktur, in: Katalog Medienkunst im
Wasserturm, hg. v. der Bildo Akademie fr Kunst und Medien, Berlin 1994, S. 6375.
22 Jurij M. Lotman/B. A. Uspenskij: Zum semiotischen Mechanismus der Kultur, in: Semiotica Sovieti-
ca 2, hg. v. K. Eimermacher, Aachen 1986, S. 853880, hier: S. 859.
23 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, Nachwort zur 2. erw. u. korr. Auflage, Mnchen
1987, S. 429. Siehe auch Heiko Idensen: Schreiben/Lesen als Netzwerk-Aktivitt. Die Rache des
(Hyper-)Textes an den Bildmedien, in: Martin Klepper/Ruth Mayer/Ernst-Peter Schneck (Hg.): Hy-
perkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters, BerlinNew York 1996, S. 81107, hier: S. 83.
24 Lotman/Uspenskij: Zum semiotischen Mechanismus der Kultur (Anm. 22), S. 856.
25 Peter Sloterdijk: Regeln fr den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief ber den Huma-
nismus die Elmauer Rede, in der vom Autor autorisierten Version, in: Die Zeit, 16.9.1999, S. 15.
26 Aleida Assmann: Exkurs: Archologie der literarischen Kommunikation, in: Pechlivanos/Rieger/
Struck/Weitz (Hg.): Einfhrung in die Literaturwissenschaft (Anm. 20), S. 200206, hier: S. 201.
27 Wolfgang Limper: OCR und Archivierung: Texterkennung, Dokumentation, Textrecherche, Mnchen
1993, S. 29.
28 Kittler: Aufschreibesysteme (Anm. 23), S. 429, unter Bezug auf Harold Innis: Empire and Communi-
cations, Oxford 1950.
29 Siehe Wolfgang Ernst: M/edium F/oucault. Weimarer Vorlesungen ber Archive, Archologie, Mon-
umente und Medien, Weimar 2001.
30 Heiko Reisch: Das Archiv und die Erfahrung: Walter Benjamins Essay im medientheoretischen Kon-
text, Wrzburg 1992, S. 17.
31 Louis N. Ridenour: Computer Memories, in: Scientific American, vol. 192, no. 6 (June 1955),
S. 92100, hier: S. 92.
32 Siehe Hartmut Winkler: Medien Speicher Gedchtnis, Vortrag an der Hochschule fr angewand-
te Kunst, Synema, Wien 15.3.1994; Internet: url: www.uni-paderborn.de/~Winkler/gedacht.html.
33 Jean-Franois Lyotard: Zeit heute, in: ders. Das Inhumane. Plaudereien ber die Zeit, Wien 1989,
S. 107139.
34 Ridenour: Computer Memories (Anm. 31), S. 95.
35 Ebd., S. 92 f.
36 Ebd., S. 96.
37 Ebd., S. 96.
38 Siehe P. R. Kgel: Die neue Palimpsestphotographie, in: Photographische Korrespondenz, Juli 1915,
Nr. 658, S. 1.
39 Siehe Claude Dionne/Silvestra Mariniello/Walter Moser (Hg.): Recyclages. conomies de lappropri-
ation culturelle, Montral 1996; demnchst: Wolfgang Ernst: There is no Memory, in: Claude Dionne/
Brian Neville/Johanne Villeneuve (Hg.): Memory of Waste. Objects and Images in the Economy of
the Past, Duke University Press 1996.
40 Helmut Koch: Original und Kopie, in: Archivarbeit und Geschichtsforschung, hg. v. d. Hauptabt. Ar-
chivwesen im Ministerium des Innern der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik,
Berlin 1952, S. 120132, hier S. 132.
41 Michael Wetzel: Die Enden des Buches und die Wiederkehr der Schrift, Weinheim 1991, S. 21. Dazu
auch J. Hrisch: Der eine Geist und die vielen Buchstaben, in: ders.: Die Wut des Verstehens. Zur
Kritik der Hermeneutik, Frankfurt/M. 1988, S. 32 ff. Zum Wortspiel von ROM und RAM ferner Wolf-
gang Ernst: Ist die Stadt ein Museum? Rom zum Beispiel, in: Dirk Rller (Hg.): Stadt und Mensch.
Zwischen Chaos und Ordnung, Frankfurt/M. 1996, S. 263286.
42 Dazu Thomas Little: Das PC-Buch: die Hardware und ihre Programmierung, Mnchen 1990,
S. 97107; ferner Friedrich Kittler: Protected Mode, in: Manfred Faler/Wulf Halbach (Hg.): Insze-
nierungen von Information. Motive elektronischer Ordnung (= Parabel. Schriftenreihe des Evangeli-
schen Studienwerks Villigst Bd. 15), Gieen 1992, 8292
43 Zielinski: Medienarchologie (Anm. 2), S. 32.
44 Ebd., S. 32.
45 Ebd., S. 32.
46 Ebd., S. 33.
47 Siegfried Zielinski: Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Rein-
bek 1989, S. 42.
Wolfgang Ernst
267
48 Zielinski: Audiovisionen, S. 38.
49 Max Picard: Die Welt des Schweigens, Erlenbach/Zrich 1948, S. 207.
50 Ebd., S. 207.
51 Wilhelm Dilthey konzedierte eine unerzhlbare, allein durch technische (messende, experimentel-
le) Medien zu registrierende Arbeit des Realen, die den narrativen Aufschreibemglichkeiten der
Historie (und damit der Geschichte) entgeht: Schlachtenlrm zum Beispiel, non-diskursiver Tumult.
In: Die Abgrenzung der Geisteswissenschaften. Zweite Fassung, in: Gesammelte Schriften VII,
Stuttgart/Gttingen 1992, S. 311.
52 Friedrich A. Kittler: Die Maschinen und die Schuld, Interview (Gerburg Treusch-Dieter) in: Freitag
Nr. 52/1, 24.12.1993.
53 Wolfgang Hbner, in: Norbert Bolz (Hg.): Wer hat Angst vor der Philosophie?, Paderborn 1982,
S. 159.
54 Zielinski: Audiovisionen (Anm. 47), S. 16.
55 Friedrich Kittler: Der Kopf schrumpft. Herren und Knechte im Cyberspace, in: FAZ, 9.9.1995.
56 Michael Wetzel: Von der Einbildungskraft zur Nachrichtentechnik, in: Peter Klier/Jean-Luc Evard
(Hg.): Mediendmmerung. Zur Archologie der Medien, Berlin 1989, S. 1139, hier: S. 20.
57 Wetzel: Von der Einbildungskraft zur Nachrichtentechnik, S. 16 f.
58 Stefan Rieger in: Pechlivanos/Rieger/Struck/Weitz (Hg.): Einfhrung in die Literaturwissenschaft
(Anm. 20), S. 411.
59 Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenbertragung im Lebewesen und in der Ma-
schine, Dsseldorf 1992, S. 28.
60 Bernhard Siegert (Rez.): Erst der Telegraph macht die Republik mglich, zu: Klaus Beyrer/Birgit
Susann-Mathis (Hg.): So weit das Auge reicht. Die Geschichte der optischen Telegraphie, Karls-
ruhe 1995, in: FAZ, 2.8.1995.
61 Siehe Andrew Hodges: Alan Turing. Enigma, Berlin 1989.
62 Alan M. Turing: Intelligence Service. Schriften, Berlin 1987, Vorwort d. Hg. Bernhard Dotzler u. Frie-
drich Kittler, S. 5.
63 Bernhard Dotzler: Galileis Teleskop. Zur Wahrnehmung der Geschichte der Wahrnehmung, in:
Bernhard Dotzler/Ernst Mller (Hg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur aisthesis
materialis, Berlin 1995, S. 926, hier: S. 11.
64 Dazu Friedrich Kittler: Infowar. Notizen zur Theoriegeschichte, in: Gerfried Stocker/Christine Schpf
(Hg.): INFOWAR. Information.macht.krieg (Ars Electronica 98), Wien/New York 1998, S. 3941.
65 Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 3 f.
66 Ebd., S. 5.
67 M. J. Doran: Archaeological reasoning and machine reasoning, in: J.-C. Gardin (Hg.): Archologie et
Calculateurs, Paris 1970, S. 5769.
68 F. Djindjian: Introduction, in: F.Djindjian/H. Ducasse (Hg.): Data Processing and Mathematics App-
lied to Archaeology (= Pact 16/1987, Council of Europe), S. 11.
69 Jacques Le Goff: Storia e memoria, Turin 1982, Kapitel III Documento/monumento, S. 443455,
hier: S. 449.
70 Siehe etwa Werner Knzel/Peter Bexte: Allwissen und Absturz. Der Ursprung des Computers,
Frankfurt/M./Leipzig 1993, Einleitung.
71 Dworschak, in: Knzel/Bexte: Allwissen und Absturz. Siehe etwa die CD-ROM: Eyewitness Encyclo-
pedia of Science, Dorling Kindersley Multimedia, New York 1995.
72 Friedrich Kittler: Museums on the Digital Frontier, in: Thomas Keenan (Hg.):The End(s) of the Mu-
seum, Barcelona 1996, S. 6789, hier: S. 68.
73 Christoph Drsser. Ein verhngnisvolles Erbe, in: Die Zeit, 23.6.1995, S. 66.
74 Cyberspace und der amerikanische Traum (Magna Charta fr den Cyberspace), in: FAZ, 26.8.1995;
ferner John Perry Barlow: Unabhngigkeitserklrung des Cyberspace (http://www.eff.org/~barlow/
Declaration-Final.html).
75 Alan M. Turing: The State of the Art [1947], in: ders.: Intelligence Service. Schriften, hg. v. Friedrich
A. Kittler/Bernhard Dotzler, Berlin 1987, S. 186 f.
76 Gtz Warnke, zitiert von Siegert: Erst der Telegraph macht die Republik mglich (Anm. 60).
77 Jrgen Trabant: Zeichen des Menschen. Elemente der Semiotik, Frankfurt/M. 1989, S. 69, unter Be-
zug auf Georg Klaus.
78 Postkartalisch Axel Domann, New York 23.10.1995.
Medien@rchologie
268
Al ei da Assmann
D A S A R C H I V U N D D I E N E U E N ME D I E N D E S K U LT U R E L L E N G E D C H T N I S S E S
B E G R I F F S B E S T I MMU N G E N
Das Wort Archiv geht auf das griechische Wort arch zurck, das neben An-
fang, Ursprung und Herrschaft auch Behrde und Amtsstelle heit.
1
Das
Archiv ist von Anfang an mit Schrift, Brokratie, Akten und Verwaltung verbun-
den.
2
In den frhen Hochkulturen des Vorderen Orients wurde die Schrift vor-
nehmlich zu Wirtschafts- und Verwaltungszwecken eingesetzt; der Schreiber
war der Beamte par excellence, der die Herrschaft des Knigs durch Verwaltung,
Registratur und Kanzleiwesen absicherte. Durch die Sttze der Schrift konnte in
gypten ein komplexes System der Redistributionswirtschaft aufgebaut werden:
die erwirtschafteten Ertrge mussten an den Staat abgegeben werden, und dieser
verteilte sie wiederum als zentrale Versorgungsinstanz. Mit der Organisations-
sttze der Schrift lie sich ein grorumiges und weitrumiges Speichersystem
aufbauen. Da Schriftdokumente nicht mit den Naturalien verfallen, bilden sie da-
rber hinaus einen Restbestand, der eigens gesammelt und aufbewahrt werden
kann. So entsteht aus dem Archiv als Gedchtnis der Verwaltung und Wirtschaft
das Archiv als Zeugnis der Vergangenheit.
Eng verbunden mit dem Archiv als Gedchtnis der Verwaltung und
Vergangenheit ist das Archiv als Gedchtnis der Herrschaft. Dieses besteht aus
Legaten und Testaten, aus Urkunden, die Beweischarakter haben fr Ansprche
auf Macht, Besitz und Abstammung. In den Archiven der Frsten, Klster, Kir-
chen und Stdte wurden im Mittelalter jene Dokumente aufbewahrt, die zur Be-
glaubigung von Institutionen und Gruppen dienten. Nach einem Herrschafts-
wechsel verschiebt sich auch das legitimierende Gedchtnis und somit der
Bestand des Archivs. Eine andere Legitimationsstruktur wird aufgebaut; was vor-
mals geheim war wie die Stasi-Akten, wird nun ffentlich zugnglich. Der tief-
greifendste Strukturwandel des Archivs war mit der Franzsischen Revolution
verbunden. Durch den gewaltsamen Bruch mit der feudalen Vergangenheit wur-
den die vormaligen Rechts- und Verwaltungsstrukturen entwertet und mit
ihnen das Schrifttum, das diese Ordnung beglaubigt hatte.
3
Die Dokumente, die
rechtlich entwertet waren, gewannen einen neuen, nunmehr historischen Be-
weiswert. Nachdem sie ihre Legitimierungsfunktion verloren hatten, erhielten
sie einen Quellenwert fr Historiker. Ob das Archiv eine demokratische oder re-
269
pressive Institution ist, zeigt sich an seiner Zugnglichkeit. In antiliberalen und
totalitren Staaten sind die Bestnde geheim, in demokratischen sind sie ein f-
fentlicher Gemeinbesitz, der individuell genutzt und gedeutet werden kann.
Ein weiterer Strukturwandel des Archivs ist mit dem Phnomen des Mas-
senschrifttums verbunden. Nachdem zunchst das Aufheben und Konservieren
im Mittelpunkt des Archivs gestanden hatte, wurde seit dem 19. Jahrhundert das
Ausmisten und Wegwerfen zu einer nicht weniger wichtigen Ttigkeit der Archi-
vare. Die Speicherkapazitt der Archive, die nach Regalmetern gemessen wird,
betrgt zwischen 3 und mehr als 55 Kilometern.
4
Der Prozentsatz des Aufhebens-
werten sinkt in dem Mae, wie die Schriftgutlawine anschwillt. Er ist mittlerwei-
le auf circa 1 % zurckgegangen.
5
Fr die Kassation, wie die Vernichtung von
Archivbestnden in der Fachsprache heit, gibt es in jeder Epoche gewisse Aus-
sonderungsprinzipien und Wertmastbe, die aber nicht unbedingt von spteren
Generationen geteilt werden. Was der einen Epoche Abfall ist, ist der anderen
kostbare Information. Deshalb sind Archive nicht nur Orte der Informationsbe-
stnde, sondern ebenso sehr Orte der Informationslcken, die keineswegs nur auf
Katastrophen- und Kriegsverluste zurckgehen, sondern zu einem wesentlichen,
strukturell nicht zu eliminierenden Teil auf eine aus spterer Sicht verfehlte Kas-
sation.
6
Fr das Wort Archiv gibt es mehrere Definitionen und etymologische Ab-
leitungen. Foucault hat die folgende Definition vorgeschlagen, die ber die Insti-
tution materialer Bestandssicherung von Dokumenten der Vergangenheit weit
hinausgeht:
Mit diesem Ausdruck [i. e. Archiv, A. A.] meine ich nicht die Summe aller
Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder
als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identitt bewahrt hat; ich verstehe darun-
ter auch nicht die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft ge-
statten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren, die man im Ge-
dchtnis und zur freien Verfgung behalten will.
Nach diesen Negativbestimmungen, mit denen er die landlufigen Definitionen
von Archiv erfasst hat, kommt Foucault zu seiner eigenen Definition:
Das Archiv ist zunchst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das
System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse be-
herrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, da all diese gesagten
Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhufen,
Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedchtnisses
270
auch nicht allein schon bei zuflligen ueren Umstnden verschwinden.
[] Das Archiv [] ist das, was an der Wurzel der Aussage selbst als Er-
eignis und in dem Krper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System
ihrer Aussagbarkeit definiert.
7
Eine materiale Definition von Archiv reicht fr Foucault nicht aus, der das Archiv
als eine diskurstheoretische Bedingung fassen mchte. Denn nur so kann er em-
phatisch auf die in dieser Institution verankerte Machtstruktur aufmerksam ma-
chen. Das Archiv ist fr ihn nicht abtrennbar von gegenwrtigen Ereignissen und
Artikulationen, vielmehr bestimmt es diese, indem es deren Mglichkeit und
Grenzen definiert. Als Gesetz dessen, was gesagt werden kann, wird das Archiv
von einem inerten Gedchtnis der Kultur zu einer generativen Grammatik kultu-
reller Aussagen aufgewertet. Gleichzeitig ist diese Definition recht unspezifisch,
denn als das Gesetz dessen, was gesagt werden kann lsst sich ebenso gut der
Diskurs definieren. Mit seinem transmedialen und entmaterialisierten Diskurs-
begriff kann sich Foucault auch ber die Materialitt des Archivs hinwegsetzen.
Boris Groys, der vom kulturellen Archiv als einer Bezugsgre fr das
Neue spricht, hat diese Bedenken angemeldet und Foucaults Definition des
Archivs als zu immateriell kritisiert. Er schlgt demgegenber vor, das Archiv als
real existierend zu verstehen und in diesem Sinne auch durch die Zerstrung
bedroht und deswegen endlich, exklusiv, begrenzt, so da nicht alle mglichen
Aussagen in ihm vorformuliert gefunden werden knnen.
8
In seinem Entwurf
einer Kulturkonomie hat er das Archiv (das er mit Museum und kulturellem
Gedchtnis, aber nicht mit Bibliothek gleichsetzt) als den Sammlungsort dessen
definiert, was in der Kultur zu einem gegebenen Zeitpunkt einmal als neu be-
wertet worden ist. Das Alte und das Neue sind fr ihn dialektisch miteinander
verbunden, denn die Innovation ist der einzige Weg, der ins Archiv fhrt.
Jedes Ereignis des Neuen ist im Grund der Vollzug eines neuen Vergleichs
von etwas, das bis dahin noch nicht verglichen wurde, weil niemandem
dieser Vergleich frher in den Sinn kam. Das kulturelle Gedchtnis ist die
Erinnerung an diese Vergleiche, und das Neue findet nur dann Eingang
ins kulturelle Gedchtnis, wenn es seinerseits ein neuer derartiger Ver-
gleich ist.
9
Groys interessiert sich eher fr die konomie der Kunst als fr die des kulturellen
Gedchtnisses. Auch fr ihn spielt gegenber der Grenze des Archivs mit ihrer
Logik des Einlassens und Ausschlieens die Materialitt des Archivs, also das
Aleida Assmann
271
Problem der Konservierung der Reste vergangener Epochen, keine wirkliche Rol-
le. hnlich wie Foucault hat Jacques Derrida den irreduziblen Doppelsinn des
Wortes arch betont und mit Anfang und Befehl, commencement und com-
mandment wiedergegeben. Zum Archiv gehren darber hinaus die Bedeu-
tungskomponenten von Substrat und Residenz sowie die Institution von
Wchtern, die das Gesetz hten, es in Erinnerung rufen und auslegen. Derrida
behandelt Archiv als eine grundstzlich politische Kategorie:
The question will never be determined as one political question among
others. It runs through the whole of the field and in truth determines politics
from top to bottom as res publica. There is no political power without control of
the archive, if not of memory.
10
Seine These ist, dass das Archiv nicht nur ein Ort ist, wo Dokumente aus der
Vergangenheit aufbewahrt werden, sondern dass das Archiv auch ein Ort ist, wo
Vergangenheit konstruiert, produziert wird. Diese Konstruktion, auch darauf
weist er hin, ist nicht unabhngig von den gngigen Kommunikationsmedien und
Aufzeichnungstechniken. Das Archiv steht und fllt mit der materiell fixierten
Schrift. Es beruht im Wesentlichen auf druck- und handschriftlichen Dokumen-
ten. Das E-Mail-Zeitalter wird neue Formen des Archivierens erfinden mssen
oder das Archiv selbst als obsolet gewordenes Denkmal archivieren.
D A U E R , V E R FA L L , R E S T Z U R K O L O G I E D E R K U LT U R
Ein uralter und nicht erst abendlndischer Topos machte die Schrift zum sichers-
ten Garanten fr Dauer. Whrend dreidimensionale Objekte mutwillig zerstrt
oder vom Zahn der Zeit allmhlich erodiert werden, hielt man die Schrift solchen
Zerfallsprozessen gegenber fr immun. Der kulturelle Traum vom Fortbestehen
von Personen nach dem Tod in Gestalt von namhaften Werken und Taten ver-
band sich in besonderer Weise mit der Schrift. Man kann vielleicht gar den Drang
nach Selbstverewigung, le dur dsir de durer (Paul Eluard) als einen schriftindu-
zierten Kultur-Traum bezeichnen. Schrift sttzte das Gedchtnis nicht nur als Er-
innerungshilfe und Erweiterung des Denkraums, sondern auch als Medium der
Fama und Verewigungsinstrument. Diese Allianz von Schrift und Gedchtnis
bzw. Schrift und Dauer hatte allerdings eine wichtige Voraussetzung: Man ber-
sah die materielle Seite, die als fraglos gesichert galt, und konzentrierte sich ganz
auf die in Buchstaben gespeicherte geistige Energie. Denkt man bei Schrift an
Geist, dann ist sie unzerstrbar, denn Geist ist immateriell und ein Synonym fr
Leben. Denkt man bei Schrift jedoch an materielle Trger, an in Stein gravierte In-
Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedchtnisses
272
schriften, Papyrusrollen, Bcher und Manuskripte, dann ist sie ebenso zerstrbar
wie andere Gegenstnde auch. Die naive Zuversicht in die Langzeitstabilitt der
Datentrger gibt es heute nicht mehr. Diese Umperspektivierung von der Imma-
terialitt auf die Materialitt der Schrift hat erhebliche Konsequenzen fr das Ver-
hltnis von Schrift und Gedchtnis.
In einer Kultur des Konsums und einer konomie, die zusammen mit einer
permanenten Steigerungsrate in der Produktion materieller Gter immer krzere
Zyklen des Erneuerns und Wegwerfens diktiert, wird die Ansammlung des aus-
rangierten Bestandes zu einem Problem, ja, angesichts der Menge schdlicher,
nicht abbaubarer Rckstnde zu einem kologischen berlebensproblem. Seither
haben Worte wie Zerfall und Abbau einen positiven Klang angenommen. Ein
wachsendes kologisches Bewusstsein dringt darauf, die Materialitt der Pro-
dukte gleich so zu gestalten, dass sie nach ihrer Gebrauchsphase nicht mehr
als Relikte strrisch persistieren, sondern sich in den Kreislauf, wenn nicht des
organischen Vergehens und Werdens, so doch des technischen Zerfalls und der
Erneuerung eingliedern. Mit derselben Intensitt, mit der auf dem Felde der Kul-
tur der Traum von der unbefristeten Bestndigkeit der Produkte getrumt wird,
sehnt man sich auf dem Felde des Mlls nach der spurenlosen Vergnglichkeit der
Produkte. Dem kulturellen Wert der Dauer, dem dur dsir de durer (Paul Elu-
ard), korrespondiert in ironischer Spiegelung ein kologischer Wert des Verfalls.
Der technische Ausdruck fr solchen Verfall heit biodegradable. Damit ist der
mikrobiologische Prozess gemeint, der organische Materie zersetzt: A pollutant
that is subject to decomposition by microorganisms is termed biodegradable.
11
Die Vergnglichkeit und Kompostierbarkeit technischer Serienprodukte ist un-
wahrscheinlich und gilt deshalb als ein besonderes Prdikat. Die Dauerhaftigkeit
kultureller Unikate ist ebenso unwahrscheinlich und gilt deshalb ebenfalls als ein
besonderes Prdikat. Was im einen Feld ein Skandalon ist, die physische Persis-
tenz des (u. U. hochgiftigen) Materials, das ist auf dem anderen Feld das erklrte
Ziel knstlerischer Produktion. Wir knnten auch sagen: das rhetorische Ewig-
keitsversprechen der Kunst hat seine ungewollte Realisierung im nuklearen Ab-
fall gefunden. Schadstoff und Kulturstoff stehen zueinander in einer perversen
strukturellen Homologie.
Diese Homologie wird noch konkreter, wenn wir uns die Lagerungsbedin-
gungen von hchstwertigem Kulturstoff und strahlendem Schadstoff ansehen.
Im einen Falle geht es um Konservierung und die Sicherung von Daten fr die
Nachwelt, im anderen um eine Entsorgung, die fr die Nachwelt mglichst un-
schdlich ist. Die Geologen sind damit befasst, die Gesteinsarten und die Lage-
rungstiefe fr die umweltbedrohenden Industrieabflle zu bestimmen. Zum Ver-
Aleida Assmann
273
wechseln hnlich sieht die Aufbewahrung des kulturellen Erbes der Nation aus,
das im stillgelegten Stollen eines Silberbergwerks in Oberried bei Freiburg unter
der hchsten Sicherheitsstufe eingelagert ist.
Tief im Berg unter der schtzenden Schicht von einigen hundert Metern
hartem Granit lagern strahlengeschtzt und atomsicher verbunkert 750 Millio-
nen Mikrofilmaufnahmen, die im Katastrophenfall Zeugnis ber das Leben, Den-
ken und Wirken unserer Zivilisation ablegen sollen. Sicherheitsverfilmung
nennt man das im Jargon des Kulturgutschutzes. Der Oberrieder Stollen fungiert
als zentraler Bergungsort fr die Bundesrepublik Deutschland, sein Siche-
rungstrakt heit das Endlager, und im Bonner Bundesamt fr Zivilschutz
spricht man stolz von der Schatzkammer der Nation.
12
Die katastrophensichere Schatzkammer birgt in verplombten und 16fach
verschraubten Edelstahlcontainern einen reprsentativen Querschnitt von Kul-
turgtern in mediencodierter Form. Bauwerke, Denkmler, Kunstwerke, Manus-
kripte, Bcher und andere Objekte von knstlerischem, archologischem oder
historischem Interesse sind auf Filmrollen platzsparend verstaut. Die Container
erhalten eine Flaschenpost fr diejenigen, die von unserer Welt durch eine Katas-
trophe abgeschnitten sind und auf kontinuierlichem Wege keine Anschauung
mehr haben. Wenn die Originale und Objekte untergegangen sein werden, wer-
den ihre Schattenbilder auf Mikrofilm noch lange fortbestehen. Im Bunker kann
sich das entmaterialisierte kulturelle Gedchtnis selbst berleben. Es ist gerstet
fr seinen Auftritt im zweiten Futur.
Jacques Derrida, der sich seit langem mit den Fragen des Bestehens und Zer-
fallens, des Verlustes und des Rests beschftigt hat, hat sich auch zur Materialitt
der Datentrger und zum Archiv geuert.
13
Um die Jahreswende 1988/1989, als
er seine Stellungnahme zum Fall Paul de Man formulierte, hat er damit eine
grundstzliche Reflexion ber das Problem des Dauerns und Vergehens verbun-
den. Diesen Fall hat er in der Frage zusammengefasst: was kann es bedeuten, ei-
nen Toten nochmals umzubringen?
14
Daran anschlieend hat er die Grundfrage
des kulturellen Archivs reformuliert: What will remain of all this in a few years,
in ten years, in twenty years? How will the archive be filtered? Which texts will
be reread?
15
In diesem Zusammenhang spielt fr ihn der abfalltechnische Begriff
biodegradable eine besondere Rolle, der, wenn man so will, eine gewisse Affini-
tt zum Begriff und Verfahren der Dekonstruktion hat. Geht es doch hier wie dort
um Zerfallen und Zerschreiben, um Prozesse der Auflsung und Neuzusammen-
setzung, sowie um die unterschwellige Auflsung der Grenze zwischen Erinnern
und Vergessen. Das knstlerische Werk, das in einer Rhetorik organischer Ganz-
heit als lebendig, absolut, identisch und ewig gepriesen wird, erscheint in Derri-
Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedchtnisses
274
das Perspektive als ein Wrack, das untergegangen und in den Meeresboden einge-
rammt ist, kaum mehr sichtbar und unkenntlich in seiner ehemaligen Gestalt,
ber und ber mit Algen bedeckt.
DieFokussierungauf diephysischeSeitedes Werks macht auf seineFragilitt
und Zerstrbarkeit aufmerksam. Das Kunstwerk, das gesellschaftlich in den Zy-
klen der Konjunktur bzw. der Ehrung, chtung oder Vernachlssigung existiert,
hat in seiner Physis teil amBiozyklus, wo nicht des Werdens, so doch des Verge-
hens. Wird Kunst damit rckfhrbar auf Natur, Kultur auf Agrikultur? Derrida,
der der organischenRhetorikinjeglicher ihrer Erscheinungsformenmisstraut, be-
zweifelt dies und warnt, in diesemZusammenhang die alte Dichotomie von Kul-
tur und Natur wieder aufzunehmen. Die Frage nach dem, was einen Text zerstr-
bar und unzerstrbar macht, fhrt er zurck auf die Ebene seiner intrinsischen
Qualitt. Diese Qualitt ist insichwidersprchlich: Einerseits muss das Werkauf-
lsbar, verwertbar, assimilierbar sein, umsodenkulturellenNhrbodender Tradi-
tion anzureichern, andererseits muss es seine Identitt, seine einmalige Signatur
bewahren. Das Kunstwerk existiert somit imberschneidungsfeld zweier ko-
nomien; der konomie der Agrikultur, die auf Anverwandlung und Verfall be-
ruht, und der konomie der Kultur, die diesemVerfall etwas entgegensetzt. Von
der Metaphysik der Dauer geht jedochaucheinDerrida nicht ab, der ander Unzer-
strbarkeit groer Werke festhlt. Fr ihn sind es zwei Eigenschaften, die einen
Text vor Zerfall schtzen: die Signatur des Eigennamens und die Resistenz.
Fr Derrida bedroht bereits der Akt des Verstehens einen Text in seiner Inte-
gritt, insofern als er ihn rekomponiert und im bertragenen Sinne kompos-
tiert. Deshalb setzt er Dauer mit einer Resistenz gegen Lesbarkeit gleich. Diesen
Gedanken entwickelt er mit Hilfe des Leitbegriffs der biodegradability:
In the most general and novel sense of this terms, a text must be (bio)de-
gradable in order to nourish the living culture, memory, tradition. []
And yet, to enrich the organic soil of the said culture, it must also resist
it, contest it, question and criticize it enough (dare I say deconstruct it?)
and thus it must not be assimilable ((bio)degradable, if you like). Or at
least, it must be assimilated as inassimilable, kept in reserve, unforgetta-
ble because irreceivable, capable of inducing meaning without being ex-
hausted by meaning, incomprehensibly elliptical, secret. [] it is proper
to nothing and to no one, reappropriable by nothing and by no one, not
even by the presumed bearer. It is this singular impropriety that permits it
to resist degradation never forever, but for a long time. Enigmatic kin-
ship between waste, for example nuclear waste, and the masterpiece.
16
Aleida Assmann
275
Im kulturellen Archiv sind solche Texte zur Dauer bestimmt, die die erratisch un-
verwechselbare Qualitt eines Eigennamens haben und in ihrer Struktur wider-
stndig sind. Persistenz und Resistenz, Bestndigkeit und Widerstndigkeit ge-
hren fr Derrida wie fr Harold Bloom zusammen, fr den Fremdheit
(strangeness) die wichtigste Qualitt kanonischer Texte ist.
17
Ausgespart bleibt
die Frage, wer den Texten in welchen institutionellen Kontexten solche Prdikate
zuspricht. Ausgespart bleibt auch die Frage der materiellen Medien. Derrida war
sich hier einer Lcke bewusst und notierte sich das Desiderat, gelegentlich auf die
Materialitt der Texte zurckzukommen:
But it is also necessary to take into consideration the supports, the sub-
jectiles of the signifier the paper, for example, but this example is more
and more insufficient. There is the diskette, and so on. [] Official insti-
tutions are calculating the choices to be made in the destruction of non-
storable copies or the salvaging of works whose paper is deteriorating: dis-
placement, restructuring of the archive, and so on.
18
Tatschlich sind die pragmatischen Probleme, die heute und morgen in der Sph-
re der materiellen Datentrger und ihrer Speicherbedingungen anfallen, so kom-
plex, dass man sie am liebsten wie Derrida mit einem und so weiter bergehen
mchte. Mit diesen Problemen der Konservierung und Auswahl des kulturellen
Gedchtnisses sind die Archivare als professionelle Bewahrer betraut. Werfen wir
deshalb zum Schluss noch einen Blick auf die praktische Seite der Bestandserhal-
tung von Kulturzeugnissen, um festzustellen, wie sich hier das Verhltnis von
Dauer und Verfall, Aufzeichnung und Konservierung unter den Bedingungen der
neuen elektronischen Speichermedien gestaltet.
ME MO R Y O F T H E WO R L D Z U R E L E K T R O N I S C H E N WE N D E I N D E N A R C H I V E N
Im Gegensatz zu polizeilichen, politischen und militrischen Archiven, die ge-
speicherte Daten kurzfristig abrufbar halten , um sie in Handlungen umzusetzen,
werden im kulturellen Archiv Daten langfristig und unabhngig von der Frage ei-
ner unmittelbaren Nutzung gespeichert. Die Sicherung der Daten, die im strategi-
schen Archiv durch Geheimhaltung gewhrleistet wird, wird im kulturellen Ar-
chiv durch Konservierungstechniken gewhrleistet. Auf dem Gebiet der
Konservierung kommen, wie die Archivare versichern, jedoch ganz neue Proble-
me auf uns zu. In ihrer Sicht stellt sich das Archiv bald nicht als ein sicherer Spei-
Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedchtnisses
276
cher, sondern eher als ein gigantischer Vergessensmechanismus dar. Das mit der
Schrift erfundene Pathos von der Ewigkeit der Mitteilung auf unvergnglichen
Datentrgern ist am Ende des Buchzeitalters der Dauersorge um die Konservie-
rung des kulturellen Archivs gewichen. Haltbarkeit war einst eine Frage der Be-
schaffenheit des Materials und seiner klimatischen Bedingungen. Auf Papyrus
geschriebene Dokumente sind aus der Antike nur in Ausnahmefllen berliefert,
z. B. wenn sich das Material in Grbern und Hhlen im trockenen Wstengebiet
erhalten hat. Auch Papier ist heute in seiner Langzeitstabilitt in Frage gestellt.
Noch sehr viel dramatischer stellt sich die Konservierungsfrage im Falle der au-
diovisuellen Medien, die inzwischen neben Kunstgegenstnden, Baudenkmlern
und Bchern als unverzichtbare historische und kulturelle Zeugnisse betrachtet
werden. Diese Dokumente knnen nicht mehr dadurch gesichert werden, dass
man sie einfach nur aufhebt; sie unterliegen einem schleichenden, aber absehba-
ren Erosionsprozess, der anschaulich als ein alexandrinischer Schwelbrand be-
schrieben worden ist.
19
Ein Feuerleger ist heute gar nicht mehr ntig, um das kul-
turelle Gedchtnis zu lschen, die Datentrger verglhen ganz von allein.
Gerade im Bereich der audiovisuellen Medien wiederholt sich damit ein
akutes Problem. Oralkulturen waren bekanntlich von den Mglichkeiten einer
Archivierung so gut wie ausgeschlossen gewesen, solange die Verschriftlichung
der einzige Weg einer Aufzeichnung war. Erheblich weniger reduktiv verfahren
demgegenber die analogen audiovisuellen Medien, die auch Tanz und Musik
festhalten und damit etwas von der sinnlichen Vielfalt oralkultureller Perfor-
mances bewahren. Doch ebendiese Datentrger, die den herkmmlichen Archi-
vierungskanal umgingen und einzigartige ethnographische Dokumente sowie
wichtige Materialien fr eine Geschichte von unten sichern, sind jetzt einem
drastischen Alterungs- und Verfallsprozess ausgesetzt. Wenn dieser Prozess fort-
schreitet, wrde das bedeuten, dass die Oralkulturen nach einem knappen Auf-
schub im Archiv noch einmal untergehen, diesmal im Medium ihrer vergngli-
chen Datentrger.
Weit radikaler als die Printmedien machen die Analogmedien wie Fotogra-
fie, Tonband, Schallplatte und Film das Problem der archivarischen Konservie-
rung deutlich. Sowohl in ihrer strukturellen Organisation geringere Redundanz
und hohe Datendichte als auch in ihrer materiellen Beschaffenheit chemische
Vernderungen affizieren mechanische Eigenschaften erfordern sie ganz andere
Erhaltungsmanahmen. In diesem Zusammenhang zeichnet sich ein Paradig-
menwechsel der Archivierung ab. Die Suche nach dem dauerhaften Datentrger,
der einen ewigen Fortbestand garantiert, wird aufgegeben zugunsten einer Praxis
der Umschreibung der Informationen in eine digitale Domne. Das Fortkopieren
Aleida Assmann
277
der Inhalte auf immer neue Trger ist freilich mit dem Verlust des authentischen
Trgermaterials verbunden. Damit erffnet sich eine neue Zukunftsperspektive
fr das kulturelle Archiv:
Ein derartiges System ist vorstellbar als Massenspeicher mit hoher Kapa-
zitt, in dem auf jeden gespeicherten Datensatz vollautomatisch zugegrif-
fen werden kann. In Zeiten der geringeren Auslastung prfen derartige
Systeme nach vorgegebenen Kriterien (Alter bzw. Benutzungsfrequenz
der Datentrger) die Integritt der Daten und berspielen innerhalb der
vollen Fehlerkorrektur-Kapazitt vollautomatisch Datentrger mit er-
hhter Fehlerrate auf neue Trger, bevor Interpolationen, also Fehlerver-
deckungen, auftreten. Wird ein derartiges System nach vielleicht zehn
Jahren als solches obsolet, weil neue Massenspeichersysteme leistungsf-
higer und konomischer zu betreiben sind, dann kann die Transmigration
der Daten, also die berfhrung in ein neues System, ebenfalls vollauto-
matisch erfolgen.
20
Dieser Paradigmenwechsel in der Archivierungstechnologie bedeutet einen tief-
greifenden Strukturwandel des kulturellen Gedchtnisses. An die Stelle des Ar-
chivs als Datenspeicher, in dem Dokumente von Kustoden aufbewahrt, konser-
viert und geordnet wurden, tritt ein vollautomatisches Gedchtnis, das sich selber
reguliert, indem es darauf programmiert wird, wieder zu erinnern, was es perma-
nent vergisst. Das stabile Fortbestehen weicht einer dynamischen Reorganisation
von Daten. Ein vollautomatisches Archiv, das selbst vergessen und sich erinnern
kann, funktioniert wie ein Megahirn. In seiner technischen Konstruktion kommt
es der neuronalen Struktur des menschlichen Gedchtnisses erstaunlich nahe.
Das kulturelle Gedchtnis hat sich damit nicht nur aus menschlichen Kpfen und
Krpern, sondern auch aus menschlicher Wartung und Betreuung zurckgezo-
gen und ganz in die Technik verlagert. Diese Technik wird sich im Zeichen kom-
merzieller Entwicklungen immer weiter verndern, sowohl durch Obsoleszenz
der Hardware wie durch den Wechsel der Speicherformate. Es ist zu einem selbst-
regulierenden, d. h. sich selbst lesenden und schreibenden Gedchtnis geworden.
Je mehr es sich menschlicher Organisation entzieht, desto verfgbarer wird es.
Durch vollautomatischen Zugriff auf alle Informationen lsst sich die Datenmen-
ge, die als Schrift, Bild oder Ton in die digitale Domne hineingewandert ist, auf
neuartige Weise organisieren und vernetzen. Multimedia-Formen, die ber
Breitbandnetzwerke und Daten-Highways Informationen mit Informationen zu-
sammenschlieen, lsen die Grenzen der Archive auf und laden ein zu freien Na-
Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedchtnisses
278
vigationsmglichkeiten. Die digitalen Massenspeicher versprechen, das Wissen
von seiner Gebundenheit an Raum und Materie zu befreien und ubiquitr verfg-
bar zu machen. In diesem Szenario, das als eine absehbare Zukunftsperspektive
beschrieben wird, lst sich das Bild vom Archiv als einem kulturellen Gedcht-
nis-Ort des Bewahrens in rumlicher Abgeschiedenheit auf.
Neben dem Konservierungsproblem hat auch das Selektionsproblem mit
den Mglichkeiten neuer Aufzeichnungstechnologien eine neue Qualitt gewon-
nen. Den Archivaren fllt dabei die Verantwortung fr das kulturelle Gedchtnis
zu. Sie machen sich derzeit darber Gedanken, wie gro der weltweite Speicher-
bedarf eigentlich ist, der fr die Bewahrung der bisherigen Bestnde sowie
fr das Funktionieren des kommenden Informationszeitalters unerllich ist.
21
Whrend die einen die technische Seite der weltweiten Kapazittsberechnung
bedenken, sind die anderen unter den Bedingungen der kommerziellen Streuung
und des permanenten materiellen Schwunds kultureller Medien-Artefakte mit
der Sichtung und Sicherung des nationalkulturellen Erbes beschftigt. In diesem
Zusammenhang ist das Projekt Memory of the World der UNESCO zu erwh-
nen, das sich auf Dokumente und Kulturzeugnisse aller Art bezieht und eine in-
ternationale Archivierung und Vernetzung digital gespeicherter Daten anzielt.
22
Ein Beispiel fr solch ein nationales Archivierungsprojekt ist die Initiative der
australischen Nationalbibliothek, die mit dem Film- und Ton-Archiv verbunden
ist. Sie hat empfohlen, eine Pflichtabgabe (legal deposit) zum Zwecke zentraler
Archivierung einzufhren: Legal deposit is essential if Australia is to safeguard
its published cultural heritage material through its collecting institutions.
23
Die-
se Initiative zur Bestandssicherung kultureller Materialien steht vor dem Hinter-
grund akuter Verlusterfahrung, auf die in der Empfehlung auch ausdrcklich ein-
gegangen wird:
The loss of much of Australias audio-visual heritage demonstrates the
vulnerability of cultural materials unprotected by legal deposit require-
ments. Only 5 % of Australias silent film heritage survives. Much early te-
levision and radio material, including almost all of the famous serial Blue
Hills, has been lost.
24
Der Satz, der hier anschliet, ist besonders bemerkenswert: The past six months
have already seen the appearance and disappearance of electronic journals on the
internet. Ja, wo kommen wir da hin? Wie soll das alles gespeichert werden, was
ber den flssigen ther flimmert? Ist ein konservatives Archivierungsdenken
im Zeitalter der Internet-Kultur, die dem Prinzip eines permanenten Stirb und
Aleida Assmann
279
Werde huldigt, nicht grundstzlich obsolet geworden? Wo hrt das notwendige
Einsammeln auf und wo fngt das legitime Vergessen an? Solche Fragen sind auf
Anhieb nicht zu beantworten, sie stehen derzeit zur Diskussion an. Mit Sicher-
heit wirft die Frage nach der Auswahl der zu archivierenden Bestnde erhebliche
Probleme auf. Die skularen demokratischen Staaten, die sich von zentralisti-
schen Zensur-Instanzen gelst haben und die Regulation der kulturellen Gter
weitgehend dem Gesetz des Marktes berlieen, sehen sich vor eine neue Aufga-
be und Verantwortung gestellt. Ihnen kommt die Pflicht zur Konservierung, je-
doch nicht unbedingt die der Auswahl zu. Deshalb mssen ffentliche Diskus-
sionen diesen Prozess begleiten und dabei die Reprsentation einer zunehmend
multikulturellen Gesellschaft im Auge behalten. Es ist deutlich, dass sich tradi-
tionelle Formeln wie kulturelles Erbe und nationales Gedchtnis gegenwrtig
mit einer neuen, pragmatischen Aktualitt fllen. Die Motivation fr den staatli-
chen Archivierungsauftrag wird von den professionellen Bewahrern nicht vor-
dringlich aus einem identittspolitischen Funktionsgedchtnis abgeleitet; viel-
mehr soll der Archivbestand der Nation vor allem die Bedingung zuknftiger
Kreativitt sicherstellen. Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Erneue-
rung werden dabei eng aufeinander bezogen: Ein reichhaltiges materiales Spei-
chergedchtnis wird zur Voraussetzung fr knstlerische Innovation.
Im Rckblick lassen sich von hier aus einige epochale Wandlungen im Ver-
hltnis von Medientechnologie und kulturellem Gedchtnis erfassen. Das Archiv
entsteht mit der Schrift. Schriftlose Gesellschaften produzieren keine Restbe-
stnde und brauchen also auch keine Archive. Dort differenziert sich das kulturel-
le Gedchtnis nicht in das Alte und das Neue, das Aktuelle und das Vergangene,
in den Vordergrund eines Funktionsgedchtnisses und den Hintergrund eines
Speichergedchtnisses. Mit dem Aufzeichnungsmedium der Schrift erweitert
sich dagegen nicht nur die Reichweite der politischen Herrschaft, der wirtschaft-
lichen Organisation und der gesellschaftlichen Kommunikation, es sedimentie-
ren sich auch Reste sprachlicher Zeugnisse, die weggeworfen oder aufbewahrt
werden knnen und von spteren Generationen mit unterschiedlichen Zwecken
verwaltet werden. Mit der Erfindung der Schrift ist auch die menschliche Sehn-
sucht nach einer skularen Ewigkeit, einem zweiten Leben im Gedchtnis der
Nachwelt entstanden. Fr dieses Gedchtnis der Nachwelt bietet das Archiv einen
Zwischenspeicher, aus dem niedergelegte Zeichen als Botschaften wieder abgeru-
fen werden knnen. Dieser Zwischenspeicher ist mit jeder neuen Entwicklungs-
stufe in der Technologie der Aufzeichnungsmedien sprunghaft angewachsen.
Das gilt fr die gedruckten Bcher, die die Bibliotheken anschwellen lieen,
ebenso wie fr das Lumpenpapier und die Fotografie, die die Archive anschwellen
Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedchtnisses
280
lieen. Im Zuge dieser Entwicklung bedeutete die Aufnahme von Film- und Ton-
trgern eine weitere Ausdehnung des archivischen Zwischenspeichers. Noch ent-
scheidender jedoch als die materiale Ausdehnung des kulturellen Archivs durch
neue Medien ist die Reorganisation des Archivs durch das neue Medium der digi-
talen Speichersysteme. Mit der Umschreibung der materiellen Dokumente in die
Schrift elektronischer Impulse haben Schrift und Archiv eine andere Qualitt ge-
wonnen. Schrift und Archiv sind nicht mehr als ein stabiler Datenspeicher fass-
bar, sie sind zu einem dynamischen System der Selbstorganisation flssiger Daten
geworden. Damit ist auch der Traum von der Schrift als immanenter Transzen-
denz, als einem Raum der individuellen Unsterblichkeit, der seit den frhen
Hochkulturen getrumt wurde, ausgetrumt.
1 Dieser Text ist der leicht verbesserte Wiederabdruck eines Kapitels meines Buches: Erinnerungs-
rume, Mnchen 1999.
2 Eckhart G. Franz: Einfhrung in die Archivkunde, Darmstadt 1974.
3 Vgl. Ernst Schuling: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit, in: Moritz Csky/Peter
Stachel (Hg.): Speicher des Gedchtnisses, Wien 2000, S. 2339.
4 Franz: Archivkunde (Anm. 2), S. 37.
5 Ebd., S. 75.
6 Ebd., S. 120.
7 Michel Foucault: Die Archologie des Wissens, Frankfurt/M. 1973, S. 186188.
8 Boris Groys: ber das Neue. Versuch einer Kulturkonomie, Mnchen 1992, S. 179.
9 Ebd., S. 49.
8 Jacques Derrida: Archive Fever. A Freudian Impression, in: Diacritics, 25.2 (1995), S. 963; hier:
S. 1011. Derridas Aufsatz geht zurck auf einen Besuch des Freud-Museums in London und be-
schftigt sich vorrangig mit der Geschichte Freuds und der Psychoanalyse.
9 Jay Benforado/Robert K. Bastian: Natural Waste Treatment. McGraw-Hill Yearbook of Science and
Technology 1985, New York 1985, S. 38.
10 Stephan Krass: Alexandria London und zurck. Via Oberried, Bukarest, Paris. Kleine Exkursion
fr Bibliothekare, Brandstifter und Bunkerspezialisten, in: Kunstforum 127 (September 1994),
S. 126133; hier: S. 127 f.
11 Jacques Derrida : Biodegradables. Seven Diary Fragments, in: Critical Inquiry 15 (1988/89),
S. 812873, und ders.: Archive Fever (Anm. 8). Ich danke Rembert Hser fr Hinweise, die ich aus
Gesprchen und seinem Aufsatz Art ratlos (in: Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur,
Mnchen 1997) empfangen habe.
12 Diese meine Reduktion des Problems tut natrlich den Windungen derridistischer Prosa Gewalt an.
Deshalb dazu eine Probe des Wortlauts: Yes, to condemn the dead man to death: they would like
him not to be dead yet so they could put him to death. To put him to death this time without remain-
der. Since that is difficult, they would want him to be already dead without remainder, so that they
can put him to death without remainder. Derrida: Biodegradables (Anm. 11), S. 861.
13 Ebd., S. 816.
14 Ebd., S. 845.
15 Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the Ages, New York 1994, S. 4 ff.
16 Derrida: Biodegradables (Anm. 11), S. 865.
17 Dietrich Schller: Materialien und Reflexionen, in: Das Audiovisuelle Archiv, Informationsblatt der
Arbeitsgemeinschaft audiovisueller Archive sterreichs, Heft 27/28 (1990/91), S. 1734, hier: S. 30.
Ich danke Herrn Hofrat Dr. Schller fr Anregungen und Informationen.
18 Dietrich Schller: Von der Bewahrung des Trgers zur Bewahrung des Inhalts. Paradigmenwechsel
bei der Archivierung von Ton- und Videotrgern, in: Medium, 4 (1994), 24. Jahrg., S. 2832, hier: S. 31.
Aleida Assmann
281
19 Dietrich Schller: Jenseits von Petabyte zum weltweiten Speicherbedarf fr Audio- und Videotr-
ger, in: 18. Tonmeistertagung Karlsruhe 1994, Mnchen 1995, S. 859.
20 Dietrich Schller, in: Das Audiovisuelle Archiv, 33/34 (1993/94), S. 45.
21 National Film and Sound Archive, National Library of Australia: Submission to the Copyright Law
Review Committee on Legal Deposit, August 1995, S. 2.
22 Ebd., S. 7.
Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedchtnisses
282
B I L D N A C H WE I S E
H O R S T B R E D E K A MP : L E V I AT H A N U N D I N T E R N E T
Abb. 1 Leviathan. Frontispiz zu Thomas Hobbes: Leviathan, London 1651
Abb. 2 Michael Serres: Die Legende der Engel, Frankfurt/M./Leipzig 1995,
S. 60f.
Abb. 3 Startseite von http://www.safesurf.com/
B E R N H A R D J . D O T Z L E R : D I E I N V E S T I T U R D E R ME D I E N
Abb. 1 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, Mnchen
1982, S. 157.
Abb. 2 Bernhard J. Dotzler (Hg.): Babbages Rechen-Automate. Ausgewhlte
Schriften, Wien/New York 1996, S. 366.
Abb. 3 Claude E. Shannon: Collected Papers, New York 1993, S. 472.
E R H A R D S C H T T P E L Z : Q U E L L E , R A U S C H E N U N D S E N K E I N D E R P O E S I E
Abb. 1 Schematic diagram of a communication system
Claude E. Shannon/Warren Weaver: Mathematical Theory of Com-
munication, Urbana, Illinois 1962, S. 5.
Figure 1. A communication system may be reduced to these funda-
mental elements.
WarrenWeaver: The Mathematics of Communication, in: Alfred G.
Smith: Communication and Culture. Readings in the Codes of
Human Interaction, New York 1966, S. 17.
All these factors inalienably involved in verbal communication may
be schematized as follows:
Roman Jakobson: Selected Writings III: Poetry of Grammar and
Grammar of Poetry, Paris/NewYork1981, S. 22 bzw. RomanJakobson:
Closing Statement: Linguistics and Poetics, in: Thomas A. Sebeok
(Hg.): Style in Language, Cambridge, Mass. 1960, S. 353.
[(H1F)]
Sachbcher bei DuMont
Di e Adresse des Medi ums
Mediologie. Band 2
Von Stefan Andriopoulos, Gabriele Schabacher und Eckhard Schumacher (Hg.)
282 Seiten mit Abbildungen, broschiert, 2001
Von Medien sprechen wir alle: Kommunikationsmedien oder Massenmedien,
Wahrnehmungs- und Speichermedien, Analog- und Digitalmedien, technische
Medien oder Medien der berlieferung. Wie aber lassen sie sich beschreiben?
Wie lassen sie sich verorten? Wie sprechen sie uns an? Internet, E-Mail und
andere elektronische Medien lsen rumlich bestimmbare Adressen im Informa-
tionsraum des global village auf. Gleichzeitig entsteht jedoch eine neue elektro-
nische Adressenordnung. Di e Adresse des Medi ums diskutiert Medien als
Effekte und Bedingungen von Adressierbarkeit in kulturwissenschaftlicher,
historischer und kulturvergleichender Hinsicht. Aus der Perspektive unter-
schiedlicher Disziplinen beleuchten die Beitrge die technischen und die sozio-
kulturellen Vernderungen und bndeln die medientheoretischen Debatten der
letzten Jahre.
Sachbcher bei DuMont
Weltwi ssen Wi ssenswelt
Das Globale Netz von Text und Bi ld
Von Christa Maar, Hans-Ulrich Obrist und Ernst Pppel (Hg.)
392 Seiten mit Abbildungen, broschiert, 2000
Wissen ist die Ressource und der Produktionsfaktor des neuen Jahrtausends und
lngst schon Brennstoff der sich beschleunigenden Globalisierung.
Wie erwerben und sortieren, vermitteln und nutzen wir Wissen, und wie hat die
digitale Revolution den traditionellen Wissenserwerb verndert? Wie hat diese
Visualisierung des Wissens unsere Gesellschaft umgestaltet, und wie sehen die
neuen Schnittstellen zwischen Wissen und Handeln, zwischen Mensch und
Computer aus?
Zu diesen Fragen hat die Akademie zum Dritten Jahrtausend, Think Tank des
Burda Verlags, 1999 in Mnchen einen internationalen Kongress veranstaltet.
Vertreter aus Hirnforschung, Neurobiologie, Knstlicher Intelligenz-Forschung,
Sozial-, Sprach- und Computerwissenschaft, Informationsdesign, Medientech-
nologie und Wirtschaftsmanagement diskutierten whrend eines Symposiums
und in anwenderorientierten Workshops, die begleitet waren von einer Soft-
ware- und Design-Ausstellung.
Weltwi ssen Wi ssenswelt. Das Globale Netz von Text und Bi ld ist die
erweiterte Dokumentation dieser Bestandsaufnahme am Beginn des neuen
Jahrtausends.
Sachbcher bei DuMont
Deutsch Global
Neue Medi en Herausforderungen fr di e deutsche Sprache
Von Hilmar Hoffmann (Hg.)
320 Seiten, broschiert, 2000
Englisch ist zur Weltsprache geworden und die Anglisierung des Wortschatzes
und ganzer Sprachbereiche eine Alltagserfahrung. Ist die deutsche Kultur- und
Geisteswissenschaft bereits im Internet verschollen? Sind die Versuche von
Politikern, der deutschen Sprache wenigstens einen Platz an europischen
Konferenztischen zurckzugewinnen, nur Rckzugsgefechte? Oder ermglichen
die neuen Medien durch den unmittelbaren Zugang auch auf deutschsprachige
Quellen eine Renaissance der deutschen Sprache? Welche Rolle kann und soll
dabei die Auswrtige Kulturpolitik bernehmen?
Die Herausforderung der deutschen Sprache durch die anglisierte Monokultur in
den Neuen Medien untersuchen die Beitrger dieses Diskussionsbandes: Kultur-
und Sprachwissenschaftler, aber auch praxisbezogene Journalisten, Pdagogen
und Medienreferenten der Goethe-Institute.
Sachbcher bei DuMont
Darwi n und di e Ansti fter
Di e neuen Bi owi ssenschaften
Von Thomas P. Weber
270 Seiten, gebunden, 2000
Keine wissenschaftliche Lehre hat das Selbstverstndnis des Menschen in einem
Ausma erschttert wie Charles Darwins Theorie von den Ursachen der biologi-
schen Vielfalt. Darwi n und di e Ansti fter beschreibt, wie der Begrnder der
Evolutionslehre die Geschichte des Lebens entzauberte.
Abseits der Biologie, wo der Darwinismus weitgehend akzeptiert ist, tobt seitdem
ein Kampf um Deutungen. Darwins komplexe Persnlichkeit und seine revolu-
tionre Theorie bieten dabei einen idealen Nhrboden fr die Ausbildung von
Mythen.
Thomas P. Weber stellt Darwin in seinem Umfeld vor: Die Vorlufer bis zu
Goethe und Kant, die Widerstnde, gegen die sich sein Weltbild behaupten
musste, die Folgerungen seiner berlegungen bis hin zu den gefhrlichen Erben
und der modernen Evolutionslehre, die im Lichte molekularbiologischer
Forschung sicheres Wissen in Frage stellt und neues, scheinbar sicheres Wissen
erzeugt.
Literatur bei DuMont
Null. Li teratur i m Netz
Von Thomas Hettche und Jana Hensel (Hg.)
406 Seiten, broschiert, 2000
Gibt es Literatur im Internet? Als Thomas Hettche und Jana Hensel Anfang 1999
fnfunddreiig der wichtigsten jungen Autoren einluden, ein Jahr lang bei Null
zu schreiben, wurde die Online-Anthologie schnell zum lebendigen Ort deutsch-
sprachiger Literatur im Internet. Unter www.dumontverlag.de/null sammelten
sich auf der Homepage des DuMont Verlags literarische Ansichten zur Millen-
niums-Hysterie ebenso wie zum Kosovo-Krieg. Woche fr Woche fgten sich
weitere Beitrge zu einem literarischen Netz unter Autoren, deren Bandbreite so
verblffend ist wie die jngere Literatur selbst. Die Presse begleitete das Projekt
begeistert: von der ZEIT, die Thomas Hettche zum Reformer krte, ber den
Focus das ambitionierteste Literaturprojekt im Internet bis zum Ausruf der
Hamburger Morgenpost: www.wirklich.gut: Dichter am Netz.
Die Anthologie Null dokumentiert dieses work in progress und liefert ein einma-
liges Abbild des letzten Jahrtausendjahres.
Im Internet heit die Literatur jetzt Null. Ber l i ner Zei tung

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