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Der Fluch der Unterbrechung

Wir alle wissen und erfahren es täglich, wie stark die modernen Informations- und Kommuni-
kationstechnologien in den letzten Jahrzehnten sowohl die Arbeitswelt als auch unser privates
Leben verändert haben. Das Handy mit seinen vielfältigen Funktionen ist aus dem Alltag der
meisten Menschen nicht mehr wegzudenken, der Computer ist zu einem unverzichtbaren Be-
5 standteil aller Wirtschaftszweige und fast aller beruflichen Tätigkeiten geworden.
Mit den neuen Kommunikationsmedien verbinden wir besonders eine enorme Erhöhung der
Informationsmenge und eine ebenso starke zeitliche Verkürzung der Kommunikationsprozes-
se, und das völlig unabhängig von der räumlichen Entfernung. In Sekunden kann man mit
allen Kommunikationspartnern auf der Welt in Kontakt treten. Im Wirtschaftsleben bedeutet
10 das eine erheblich höhere Effektivität der Arbeitsprozesse.
Daher scheint es erstaunlich zu sein, was Untersuchungen amerikanischer Wissenschaftler in
den letzten Jahren ergeben haben: Die neuen Technologien haben auch eine negative Seite
gerade im Arbeitsprozess, sie richten sogar einen großen volkswirtschaftlichen Schaden an,
behaupten die Wissenschaftler. Wie aber kommt es dazu?
15 Die vielfältigen elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten wie vor allem Telefon, Handy
oder E-Mail sorgen dafür, dass ein Mensch im privaten, aber auch im beruflichen Bereich
ständig erreichbar ist. Dies hat dazu geführt, dass auch Arbeitskräfte im Büro ständig sehr
viele Informationen bzw. Anfragen erhalten. Sei es eine Mail, ein Anruf, eine SMS, eine Mit-
teilung auf der Mailbox usw. Durch die Tatsache, jederzeit erreichbar zu sein, entsteht jedoch
20 jedes Mal eine Unterbrechung des laufenden Arbeitsprozesses. „Wir kommen zu nichts
mehr“, stöhnen viele Angestellte in Unternehmen.
Dieses Phänomen der permanenten Unterbrechung wurde in den USA wissenschaftlich unter-
sucht, dort hat sich bereits eine neue Forschungsrichtung entwickelt: die „Unterbrechungsfor-
schung“. Sie kommt auf folgende Weise zu ihren Ergebnissen: Die Wissenschaftler beobach-
25 ten über mehrere Tage lückenlos die Arbeitsprozesse in Unternehmen, vom Manager bis zum
einfachen Sachbearbeiter. Besonders bekannt wurde die Untersuchung der Wissenschaftlerin
und Unternehmensberaterin Gloria Mark in einem kalifornischen Hi-Tech-Unternehmen. Sie
kam dabei zu folgenden Ergebnissen:
Die Testpersonen hatten einen besonderen Arbeitsrhythmus: Sie konnten sich durchschnittlich
30 nur 11 Minuten mit ihrer wesentlichen Aufgabe beschäftigen, dann folgten 25 Minuten Ar-
beitsunterbrechung durch E-Mails, Telefonate, aber auch Bürogespräche. Häufig sind es
gleich mehrere Unterbrechungen hintereinander. Erst nach ca. 25 Minuten konnten sie zu ih-
rem ursprünglichen Arbeitsprojekt bzw. Thema zurückkehren. Das bedeutet auch: Die Ange-
stellten des Unternehmens waren immer mit mehreren Arbeitsprojekten parallel beschäftigt,
35 im Durchschnitt waren es sogar 12. Für diese parallele Erledigung mehrerer Aufgaben zur
gleichen Zeit gibt es im Englischen den Ausdruck „Multitasking“. Das Ganze sieht dann etwa
so aus: Man ist gerade dabei, eine oder mehrere eingegangene E-Mails zu beantworten, da
klingelt das Büro-Telefon. Jetzt spricht man, unterbricht aber kurz danach, weil das daneben
liegende Handy klingelt und ein weiteres Gespräch hereinkommt. Wenn das erledigt ist, kehrt
40 man zum Gesprächspartner am Büro-Telefon zurück. Bei alledem tippt man „ganz nebenbei“
an seiner Mail-Antwort weiter.
In dem von Gloria Mark untersuchten Unternehmen betrug die dadurch entstandene Unter-
brechung der eigentlichen Arbeit täglich etwa 2 Stunden, das sind 28% des Arbeitstages.
Ein solcher Umfang an Arbeitsunterbrechungen durch das eben beschriebene „Multitasking“
45 bedeutet für die Unternehmen eine hohe Kostenbelastung. Der für die US-Wirtschaft insge-
samt hochgerechnete finanzielle Verlust soll sogar 588 Milliarden Dollar betragen.
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Der Grund für die hohen Verluste liegt dabei nicht allein darin, dass durch die Unterbrechun-
gen wertvolle Arbeitszeit verloren geht. Außerdem ist die damit verbundene unregelmäßige
Arbeitsweise eine häufige Ursache für Fehler bei der Bearbeitung von Vorgängen. Denn
50 selbstverständlich führt die ständige Ablenkung von den wesentlichen Aufgaben eines Ange-
stellten zu einer Erhöhung von Stress und zu einer Verringerung der Konzentrationsfähigkeit.
Nun könnte man vermuten, dass der durch Multitasking erzeugte Stress bei den Mitarbeitern
dazu führt, dass sie sich nach einer ruhigeren, gleichmäßigeren Arbeitsweise sehnen, bei der
sie ihre Aufgaben, geordnet nach Prioritäten, nacheinander erledigen können. Erstaunlicher-
55 weise ist das aber nicht bei allen der Fall. Ein Teil von ihnen klagt tatsächlich darüber, durch
die dauernden Unterbrechungen nicht zum Arbeiten zu kommen. Bei anderen jedoch wirkt
das ständige Reagieren auf Unterbrechungen fast schon wie eine Droge. Ein Manager äußerte
dazu Folgendes: „Ich bin abhängig von Unterbrechungen. Wenn ich nicht unterbrochen wer-
de, weiß ich nicht, was ich als Nächstes machen soll.“ Ein anderer beschrieb seine Unfähig-
60 keit, nicht sofort auf eine E-Mail oder einen Anruf zu reagieren. Er sagte: „Es ist wie mit
Schokolade oder Kartoffelchips. Ich weiß, dass es nicht gesund ist, aber mir fehlt die Wil-
lenskraft.“ Wie aber beurteilen die Wissenschaftler solche oder ähnliche Reaktionen von füh-
renden Mitarbeitern eines Unternehmens? Die Wissenschaftler sehen diese Abhängigkeit von
Unterbrechungen als ein bedrohliches Zeichen. Denn diese Menschen verlieren allmählich die
65 Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken und sich intensiv über einen längeren Zeitraum mit
einer Sache zu beschäftigen. Genau das aber ist für eine erfolgreiche Arbeit in einem Unter-
nehmen besonders wichtig.
Daher, so behaupten die Wissenschaftler, ist es auch im besonderen Interesse der Unterneh-
men, ihre Angestellten vor der „Droge“ des Multitasking zu schützen. Sie müssen Grenzen
70 ziehen und ihren Mitarbeitern wieder Zeit zum Nachdenken geben. Dieses „langsamere“, ru-
higere und dadurch konzentrierte Arbeiten erhöht am Ende die Effektivität und hat gegenüber
dem hektischen Multitasking daher auch wirtschaftlichen Nutzen für ein Unternehmen.

Textumfang: ca. 6115 Zeichen (mit Leerzeichen)

Quellen: 1) Artikel von Ulli Kulke: „In den Klauen der Zeitfresser“ in „Die Welt – Magazin“ vom 13.12.2006
2) Artikel von Jürgen von Rutenberg: „Der Fluch der Unterbrechung“ in „Die Zeit“ Nr. 46 vom
09.11.2006

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