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Intervalle 8

Schriften zur Kulturforschung

Herausgegeben von der


Interdisziplinären Arbeitsgruppe Kulturforschung
Universität Kassel
Der Intellektuelle und der Mandarin
Für Hans Manfred Bock
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Herausgegeben von François Beilecke und Katja Marmetschke
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kassel
university
press
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
vom Deutschen Historischen Institut Paris,
vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel
sowie der IAG Kulturforschung der Universität Kassel.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek


Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar

Intervalle 8
Schriften zur Kulturforschung
Herausgegeben von der
Interdisziplinären Arbeitsgruppe Kulturforschung
der Universität Kassel
Gottschalkstr. 26
34109 Kassel
e-mail: [email protected]
Internet: http://www.uni-kassel.de/iag-kulturforschung/

2005, kassel university press GmbH, Kassel


www.upress.uni-kassel.de

ISBN 3-89958-134-2
URN urn:nbn:de:0002-1343

Umschlag: Bettina Brand Grafikdesign, München


Das Umschlagphoto zeigt André Gide und Bernhard Groethuysen auf Schloß Colpach
(Luxemburg) in den 1920er Jahren. Quelle: Colpach, hg. von Amis de Colpach, 2. Aufl.,
Luxemburg 1978, S. 88.
Druck und Verarbeitung: Unidruckerei der Universität Kassel
Printed in Germany
7

Inhalt

11 Vorwort

Teil 1: Meisterdenker revisited

23 L’Histoire des intellectuels en France:


Nouvelles approches
Michel Trebitsch

49 Netzwerke und Intellektuelle.


Konzeptionelle Überlegungen zur politischen
Rolle eines zivilgesellschaftlichen Akteurs
François Beilecke

67 Pierre Bourdieu –
weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller
Lothar Peter

89 Von innen nach außen.


Über Bourdieus Heidegger-Lektüre
Johannes Weiß

103 Jacques Derrida – oder von der Undenkbarkeit


eines notwendigen intellektuellen Engagements
Johannes Thomas

123 Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas.


Anregungen für eine kritische Intellektualität
zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Ulrich Brand

143 Die école de la régulation: Französische Wirtschaftstheorie


mit Ausstrahlung jenseits des Rheins
Christoph Scherrer

161 Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt:
Anmerkungen zu einer Theorie politischer Kontingenz
Eike Hennig
8 Autor: Kurztitel

185 Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im


Medienzeitalter – Zur sozialen Funktion engagierter Lieder
Dietmar Hüser

199 Dabeisein und Dazugehören


Heinz Bude

209 Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit.


Eine Skizze
Robert Picht

Teil 2: Der Intellektuelle und der Mandarin in seiner Zeit

229 Si Non Flectere Superos…


Das Dilemma des Intellektuellen
am Beispiel der 1968er-Bewegung
Niels Beckenbach

253 Botho Strauß als Kritiker seiner Generation:


Zur intellektuellen Auseinandersetzung mit
der nationalen Identität in der Bundesrepublik
Deutschland der 1990er Jahre
Carla Albrecht

271 Die Behauptung der Steuerungsidee.


Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf
Detlef Sack

295 Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy


Nicole Racine

315 Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)


Pascale Gruson

339 Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus


Jens Flemming

359 „Nur in Deutschland selbst ließ sich das deutsche Geschehen


– wenn überhaupt – begreifen.“ Benno Reifenberg und die
Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus
Dagmar Bussiek
9

379 Zwischen Mystik und Literaturpolitik.


Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts
Klaus Große Kracht

403 Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien


Guido Thiemeyer

431 Jorge Semprún – Das Jahrhundert der Extreme


als Topologie intellektueller Erinnerung
Gerd Steffens

Teil 3: Intellektuelle und Mittler im


deutsch-französischen Spannungsfeld

453 Joseph Rovan (1914-2004)


Hansgerd Schulte

461 Gilbert Ziebura: seine Bedeutung für die deutsche


sozialwissenschaftliche Frankreichforschung und
seine Rolle in den zivilgesellschaftlichen
deutsch-französischen Beziehungen
Adolf Kimmel

481 Raymond Schmittlein (1904-1974),


ein Kulturmittler zwischen Deutschland und Frankreich?
Corine Defrance

503 Zwischen Feindbeobachtung und Verständigungsarbeit:


Edmond Vermeil und die französische Germanistik
in der Zwischenkriegszeit
Katja Marmetschke

527 Eugen Ewig.


Ein rheinisch-katholischer Historiker
zwischen Deutschland und Frankreich
Ulrich Pfeil

553 Theodor Heuss und Frankreich


Guido Müller

577 Jean-Richard Bloch und Deutschland


Wolfgang Asholt
10 Autor: Kurztitel

597 Die Wirkung Frankreichs.


Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“
Michel Grunewald

619 In Paris hatte ich einen sehr geliebten Freund...


Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno
Gilbert Krebs

643 Annäherung in Zeiten der Feindschaft: Die Beziehung


zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse
während des Ersten Weltkrieges
Gilbert Merlio

675 Die Gärten Epikurs in Sanssouci –


Französische Epikureer und Materialisten
am Hofe Friedrichs II. von Preußen
Reinhart Meyer-Kalkus

725 Deutsche und französische Jugendliche


als transnationale Mittler
Eva Sabine Kuntz

747 Sprachvermittlung und Kulturtransfer


in europäischer Zukunft:
Das Lektorenprogramm des DAAD
Joachim Umlauf

767 Bibliographie von Hans Manfred Bock

795 Über die Autorinnen und Autoren


11

Vorwort
12 Vorwort

Das Konzept des Intellektuellen als Sozialfigur hat in Deutschland


seit Anfang der 1990er Jahre verstärkt Eingang gefunden in sozial-
und geisteswissenschaftliche Forschungen. Ein zentraler Bestandteil
dieser Arbeiten, die mit durchaus unterschiedlichen methodischen
und theoretischen Ansätzen operieren, ist die Frage, ob und in wel-
cher Weise Intellektuelle zur Konstituierung kollektiver Verhaltensdis-
positionen und Deutungsmuster beigetragen haben.1 Hans Manfred
Bock, dem die in diesem Band zusammengestellten Aufsätze von
Kolleginnen und Kollegen gewidmet sind, kommt in diesem Kon-
text das nachhaltige Verdienst zu, die Einführung und Entwicklung
einer historisch-soziologisch fundierten und vergleichend angelegten
Intellektuellenforschung vorangetrieben zu haben.2 Ausgehend von
dem Faktum, daß der Intellektuelle eine ıKonstante in den
bürgerlichen Gesellschaften (zumindest) des 19. und 20. Jahrhun-
derts in Europa„3 darstellt, hat er in verschiedenen Studien überzeu-
gend gezeigt, daß eine methodologisch konsolidierte Intellektuel-
lenforschung entscheidende Einsichten in die Konstituierungs- und

1 Vgl. u.a. Gangolf Hübinger, Wolfgang Mommsen (Hg.): Intellektuelle im deutschen


Kaiserreich, Frankfurt/M. 1993; Manfred Gangl, Gérard Raulet (Hg.): Intellektuellen-
diskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frank-
furt/M. 1994; Wolfgang Bialas, Manfred Gangl (Hg.): Intellektuelle in der Weimarer
Republik, Frankfurt/M. u.a. 1996; Alexander Demirovic: Der nonkonformistische In-
tellektuelle: die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frank-
furt/M. 1999; Ulrich Alemann u.a. (Hg.): Intellektuelle und Sozialdemokratie, Opladen
2000; Jutta Schlich (Hg.): Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland, Tübingen
2000; Michel Grunewald (Hg.): Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine
Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern u.a. 2002; François Beilecke: Franzö-
sische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenasso-
ziation 1892-1939, Frankfurt/M. 2003; Ariane Huml, Monika Rappenecker: Jüdische
Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Würzburg 2003; Martin Strickmann: L’Allemagne
nouvelle contre l'Allemagne éternelle: die französischen Intellektuellen und die
deutsch-französische Verständigung 1944-1950. Diskurse, Initiativen, Biografien,
Frankfurt/M. u.a. 2004.
2 Vgl. insb. Hans Manfred Bock: Anmerkungen zur historischen Intellektuellen-For-
schung in Frankreich, in: Lendemains 17 (1992), Nr. 66, S. 16-26 und ders.: Der Intel-
lektuelle und der Mandarin. Zur Rolle des Intellektuellen in Frankreich und Deutsch-
land, in: Frankreich-Jahrbuch 1998, Opladen 1998, S. 35-51.
3 Bock: Der Intellektuelle und der Mandarin, a.a.O., S. 35.
13

Entwicklungsbedingungen nationalspezifischer politischer Kulturen


ermöglicht.
Mustergültige Beispiele für diesen Forschungsansatz stellen Hans
Manfred Bocks akteurszentrierte Arbeiten zu Persönlichkeiten wie
Paul Distelbarth, Pierre Viénot, Pierre Bertaux und Wolfgang
Abendroth dar.4 In Abgrenzung sowohl zu traditionellen ideenhisto-
rischen als auch zu jüngeren gesellschaftsgeschichtlichen Ansätzen
gilt das wissenschaftliche Interesse hier der Erfassung der politisch-
und sozio-kulturellen Sozialisationsinstanzen, die maßgeblich die
politischen Überzeugungen und Deutungsmuster dieser Akteure
sowie die von ihnen gewählten Formen des Engagements geprägt
haben. Dieser Blick auf das ıpolitisch-kulturelle Itinerarium„5 ein-
zelner Akteure steht somit auch nicht in der Tradition des Genres
der Individualbiographie, die in der Regel auf die umfassende (und
dabei häufig rein deskriptive und konzeptlose) Rekonstruktion der
Lebensetappen und Lebensumstände einer Einzelperson abzielt.
Statt dessen rückt in den Arbeiten von Hans Manfred Bock eine sys-
tematische Betrachtungsweise in den Vordergrund, die – in Anleh-
nung an Konzeptualisierungsansätze der neueren französischen In-
tellektuellenforschung – die Erfassung der Rolle von Intellektuellen
in einer bestimmten politikhistorischen Epoche und in spezifischen
nationalkulturellen Kontexten ermöglicht. So werden für die Be-
stimmung der Faktoren, die das politisch-kulturelle Itinerarium eines
Intellektuellen geprägt haben, folgende Analyseebenen herangezo-
gen: 1. die sozialstrukturellen Entwicklungsbedingungen, d.h. vor
allem die Berücksichtigung des sozialmoralischen Herkunftsmilieus

4 Vgl. Hans Manfred Bock: „Connaître l’Allemagne et la reconnaître“. Zu Entstehung


und Zusammenhang der Deutschland-Analyse von Pierre Viénot zwischen 1922 und
1932, in: Lendemains 17 (1992), Nr. 66, S. 27-48. Zu den weiteren Forschungsschwer-
punkten sei auf die Bibliographie von Hans Manfred Bock am Ende dieses Bandes
hingewiesen.
5 S. Bock: Der Intellektuelle und der Mandarin, a.a.O., S. 40.
14 Vorwort

des Intellektuellen sowie die Erfassung der ihn prägenden schuli-


schen und universitären Sozialisationsetappen; 2. die politische Ge-
nerationszugehörigkeit , d.h. die Rekonstruktion der politischen
Schlüsselereignisse, die in paradigmatischer Weise die Kollektiver-
fahrungen einer Alterskohorte von Intellektuellen geprägt haben;
3. die informellen Gruppenbildungen, also z.B. Zeitschriften, Ver-
lagshäuser, Intellektuellenassoziationen, Diskussionszirkel und De-
battier-Klubs, die zu den konstitutiven Elementen von Intellektuel-
len-Milieus und den darin verankerten intellektuellen Teilkulturen
gehören. Dieser methodisch innovative und multidisziplinär ange-
legte Zugriff erlaubt es nicht nur, die geistige Entwicklung von Per-
sönlichkeiten wie Pierre Bertaux oder Wolfgang Abendroth anhand
von objektivierbaren Konstituierungsbedingungen zu rekonstruie-
ren. Er ermöglicht es gleichzeitig, die konkreten Wirkungsbedin-
gungen und Handlungsspielräume zu erfassen, die den Intellektuel-
len für ihr nationales, nicht zuletzt aber auch für ihr transnationales
Engagement zur Verfügung standen. Daß die Form und die Trag-
weite der Einflußnahme des Intellektuellen als Sozialfigur sich dabei
nicht allein auf die öffentlichkeitswirksame Kritik der Mächtigen
(also im Stil des französischen grand intellectuel ) beschränkt, son-
dern auch in der Form des Dieners der Mächtigen (z.B. die Figur
des Mandarin im Wilhelminischen Kaiserreich), des kulturellen
Mittlers zwischen zwei Nationen (z.B. Distelbarth und Bertaux) oder
des politischen Vordenkers und intellektuellen Stichwortgebers (u.a.
Abendroth) auftaucht, belegt die Fruchtbarkeit dieses Forschungs-
ansatzes. Wichtiger noch erscheint jedoch der Umstand, daß mit
der historisch-soziologisch orientierten Betrachtung von einzelnen
Intellektuellen die Möglichkeit besteht, das Verhältnis von national-
spezifischen politischen Kulturen und den darin agierenden Intellek-
tuellen als eine Beziehung wechselseitiger Bedingtheit zu verstehen.
Es eröffnet sich somit die Chance, am Beispiel von repräsentativen
15

Einzelakteuren einerseits die Komponenten und funktionalen Merk-


male politischer Kultur pointiert beschreiben und erklären zu kön-
nen und andererseits den formenden Einfluß eben dieser Akteure
auf ihr politisch-kulturelles Umfeld angemessen zu würdigen.
Die im vorliegenden Band zusammengestellten Beiträge bringen
die soeben angedeutete Bandbreite der Erkenntnismöglichkeiten
zur Geltung, die sich durch die Erforschung der Intellektuellenfigur
eröffnen. Die Herausgeber haben sowohl Nachwuchswissenschaftler
als auch langjährige Kollegen von Hans Manfred Bock gebeten, un-
ter den oben genannten Gesichtspunkten einen Artikel über eine
oder mehrere Persönlichkeiten bzw. eine Intellektuellengruppierung
des 20. Jahrhunderts zu verfassen, die ihrer Ansicht nach aus natio-
naler oder transnationaler Perspektive eine prägende Wirkung auf
wichtige Teilbereiche der deutschen und französischen Gesellschaft
hatten. Auf einschränkende inhaltliche und methodisch-konzeptu-
elle Vorgaben wurde verzichtet, um den Autoren die Möglichkeit
zu geben, sich aus Sicht der von ihnen vertretenen Disziplin oder
der von ihnen als bedeutsam angesehenen Fragestellungen der In-
tellektuellenthematik nähern zu können. Die eingegangenen Manu-
skripte zeigen, daß die in diesem Band vertretenen Geistes- und So-
zialwissenschaftler das Thema vor allem unter drei Gesichtspunkten
aufgegriffen haben.
Die Beiträge, die unter der Überschrift Meisterdenker revisited
versammelt sind, verdeutlichen, daß – ungeachtet des öffentlichen
Lamentierens über das Verschwinden des Großintellektuellen – das
wissenschaftliche Interesse an den maîtres penseur weiterhin sehr
groß ist. Denn gerade an diesen exponierten Vertretern des Intellek-
tuellenmilieus lassen sich die Entstehungs- und Entwicklungsbedin-
gungen sowie die Rolle und Funktion dieses Akteurs anschaulich
rekonstruieren. Eine wichtige Entwicklung, die sich aus der kri-
tischen Auseinandersetzung mit der Figur des Meisterdenkers erge-
16 Vorwort

ben hat, ist die – nicht abgeschlossene – Diskussion über die diszi-
plinären Konturen sowie die theoretisch-konzeptuellen Grundlagen
einer historisch-soziologisch und politikhistorisch orientierten Intel-
lektuellenforschung; bis heute regt diese Diskussion sowohl in
Frankreich als auch in Deutschland die Generierung neuer Frage-
stellungen und Forschungsprojekte an (s. die Beiträge von Michel
Trebitsch6 und François Beilecke). Die Mehrzahl der Beiträge in
dieser Rubrik zeigt, daß in diesem Zusammenhang insbesondere
bedeutende Sozial- und Geisteswissenschaftler die Rolle des Mei-
sterdenkers innehatten und noch heute haben. Die Untersuchungen
zu Persönlichkeiten wie Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Carl
Schmitt, Max Weber, Nicos Poulantzas, aber auch Denkschulen wie
die école de régulation verweisen vielmehr auf die besondere Funk-
tion von Intellektuellen, die als politisch-theoretische Stichwortgeber
und Ideenproduzenten sowohl im Rahmen größerer öffentlicher
Debatten als auch innerhalb intellektueller Teilöffentlichkeiten maß-

6 Es ist den Herausgebern eine besondere Freude, den Beitrag von Michel Trebitsch
über Ansätze und Konzepte in der französischen Intellektuellenforschung in diesem
Band veröffentlichen zu können. Der kürzlich und viel zu früh verstorbene Historiker
gehörte zu den französischen Wissenschaftlern, die in freundschaftlicher Zusammen-
arbeit mit Hans Manfred Bock den deutsch-französischen Wissenschaftsaustausch
entscheidend vorangetrieben haben (s. auch die Nachrufe von Nicole Racine sowie
von Wolfgang Asholt und Hans Manfred Bock, in: Lendemains 29 (2004), Nr. 116,
S. 123-125 und S. 126-129). Michel Trebitsch hat diesen Text, der posthum erscheint
und deshalb nicht übersetzt worden ist, im Rahmen eines von Hans Manfred Bock
veranstalteten internationalen Kolloquiums zum Thema Intellektuelle in Frankreich
und Deutschland. Neue Fragestellungen und Forschungen (Kassel, 12. Juni 1996)
vorgetragen. Obwohl der Autor, der zu den besten Kennern der französischen und in-
ternationalen Intellektuellenforschung zählte, in seinen Beitrag nicht mehr die neue-
sten disziplinären Entwicklungen in der französischen Intellektuellenforschung ein-
arbeiten konnte, bleiben seine Ausführungen über die Entstehungskontexte und die
grundlegenden disziplinären Ausrichtungen der neueren französischen Intellektuel-
lenforschung ebenso aktuell wie die von ihm aufgezeigten Forschungsdesiderata,
insbesondere seine Forderung nach einer verstärkt vergleichenden Perspektive bei der
Untersuchung des Intellektuellenphänomens in Europa. Letzterem Thema hat er sich
(unter Mitarbeit von Hans Manfred Bock) nach 1996 in seinen Forschungen auch ver-
stärkt gewidmet. S. hierzu Michel Trebitsch, Marie-Christine Granjon (Hg.): Pour une
histoire comparée des intellectuels, Brüssel 1998; Andrée Bachoud, Josefina Cuesta,
Michel Trebitsch (Hg.): Les Intellectuels et l’Europe de 1945 à nos jours, Paris 2000.
17

geblich an der Zirkulation und Verbreitung von (Gegen-)Diskursen,


von neuen oder alten Normen, von Gesellschaftskonzeptionen und
politischen Theorien etc. beteiligt sind (s. die Beiträge von Ulrich
Brand, Eike Hennig, Lothar Peter, Christoph Scherrer, Johannes
Thomas und Johannes Weiß). Hierbei stellt sich angesichts neuer
gesellschaftlicher Herausforderungen nicht zuletzt die Frage nach
den Grenzen, aber auch nach den neuen Perspektiven des Intel-
lektuellenengagements. Einerseits spielen populärkulturelle Akteure
in wachsendem Maße eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von
Werten und politischen Wertvorstellungen – ein Aspekt, der in der
Intellektuellenforschung bisher zu wenig berücksichtigt worden ist
(s. den Beitrag von Dietmar Hüser); andererseits zeichnet sich auf-
grund neuerer Entwicklungen im transnationalen, technologischen
und sozialstrukturellen Bereich eine Reihe von moralischen und
politischen Herausforderungen für demokratische Gesellschaften ab,
zu deren Bewältigung gerade bekannte Intellektuelle – sei es als
Krisendiagnostiker oder als Ideenstifter – entscheidende Impulse ge-
ben können (s. die Beiträge von Heinz Bude und Robert Picht).
Unter der Rubrik Der Intellektuelle und der Mandarin in seiner
Zeit sind Beiträge versammelt, die sich in historisierender Perspek-
tive mit den Entwicklungsbedingungen und der politischen Rolle
von ausgewählten Persönlichkeiten und Intellektuellengenerationen
beschäftigen. Allen Autoren in diesem Abschnitt ist gemeinsam,
daß sie die untersuchten Persönlichkeiten als Akteure verstehen, die
in ihrem Denken sowie in ihrer intellektuellen Praxis durch spezifi-
sche nationalkulturelle Kontexte (Schul- und Hochschulsozialisation,
politische Traditionen, Erfahrungs- und Deutungsmuster), durch
existentielle Erfahrungen (Teilnahme am Ersten Weltkrieg, Wider-
stand gegen Faschismus und Nationalsozialismus, Studentenrevolte
von 1968) und durch die aktuellen politikhistorischen Konstellatio-
nen ihrer Epoche geprägt sind. Die Beiträge zeigen hierbei anschau-
18 Vorwort

lich, daß dieser systematische Blick auf die Eingebundenheit dieser


Sozialfigur in ihre Zeit es ermöglicht, die jeweils gegebenen Einfluß-
und Gestaltungsmöglichkeiten des Intellektuellen, aber auch die
Grenzen und die Widersprüche seines Engagements zu analysieren.
Der Blick der ersten vier Artikel ist vor diesem Hintergrund auf
Persönlichkeiten gerichtet, die seit den 1960er Jahren die intellek-
tuellen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland sowie in
Frankreich entscheidend mitbestimmt haben (s. die Beiträge von
Carla Albrecht, Niels Beckenbach, Nicole Racine und Detlef Sack).
Ein besonderes Interesse gilt weiterhin solchen Intellektuellen, de-
ren intellektuelle Biographie von der Epoche der Zwischenkriegszeit
und den Erfahrungen mit Faschismus und Nationalsozialismus
geprägt wurde (s. die Beiträge von Dagmar Bussiek, Jens Flemming,
Klaus Große Kracht, Pascale Gruson, Gerd Steffens und Guido
Thiemeyer).
Die im dritten Teil des Bandes zusammengestellten Texte be-
schäftigen sich mit einem Themengebiet, das Hans Manfred Bock
stets am Herzen gelegen hat. Der Abschnitt Intellektuelle und Mitt-
ler im deutsch-französischen Spannungsfeld bezieht sich dabei auf
ein Forschungsterrain, in dem die Bedeutung von Intellektuellen
bzw. Mittlern als transnational agierende zivilgesellschaftliche Ak-
teure in den Vordergrund tritt. Dabei gerät nicht nur das spezifische
Engagement bedeutender Einzelpersönlichkeiten zugunsten einer
deutsch-französischen Annäherung ins analytische Blickfeld (s. die
Beiträge von Corine Defrance, Adolf Kimmel, Katja Marmetschke,
Guido Müller, Ulrich Pfeil und Hansgerd Schulte). Vielmehr kön-
nen am Beispiel der deutsch-französischen Kulturbeziehungen ei-
nerseits spezifische transnationale Vergesellschaftungsformen heraus-
gearbeitet werden, die konstitutiv auf das Denken und/oder das En-
gagement von Intellektuellen gewirkt haben (s. die Beiträge von
Wolfgang Asholt, Michel Grunewald, Gilbert Krebs, Gilbert Merlio,
19

Reinhart Meyer-Kalkus); andererseits kann nachgewiesen werden,


wie sich die von Intellektuellen bzw. Mittlern vorgedachten und an-
gestoßenen Verständigungsinitiativen nach dem Zweiten Weltkrieg
institutionell verfestigt und verstetigt haben (s. die Beiträge von Eva
Sabine Kuntz und Joachim Umlauf).
Für die Fertigstellung dieses Bandes haben wir von vielen Seiten
Unterstützung erhalten. Ausdrücklich danken wir dem Deutschen
Historischen Institut Paris, insbesondere seinem Direktor, Herrn
Prof. Dr. Werner Paravicini, für die finanzielle Unterstützung unse-
res Projekts. Unser Dank gebührt weiterhin dem Fachbereich Ge-
sellschaftswissenschaften der Universität Kassel sowie der IAG Kul-
turforschung der Universität Kassel (insb. Herrn Prof. Dr. Hans-
Joachim Bieber und Herrn Prof. Dr. Winfried Nöth), die ebenfalls
den vorliegenden Band finanziell gefördert haben. Herrn Prof. Dr.
Hansgerd Schulte möchten wir ganz herzlich für seine Hilfsbe-
reitschaft und Vermittlertätigkeit danken. Großen Dank schulden
wir André Koch und Marc Martin, die gewissenhaft die Manu-
skripte Korrektur gelesen und uns wertvolle Hinweise und Anre-
gungen in sprachlichen und technischen Fragen gegeben haben.

François Beilecke, Katja Marmetschke


Kassel, 2. Juni 2005
Teil 1:

Meisterdenker revisited
23

L’Histoire des intellectuels en France:


Nouvelles approches1
Michel Trebitsch

1 Die Herausgeber danken Nicole Racine für die Aktualisierung der bibliographischen
Angaben.
24 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

JÊai quelque scrupule, en vérité, à proposer un tableau, ou du moins


une esquisse, de lÊhistoriographie française des intellectuels après le
bilan détaillé et toujours valide dressé en 1992 par H.M. Bock dans
un numéro de Lendemains sur ıLa responsabilité des intellectuels„.2
Il est vrai que je mÊétais moi-même essayé naguère à une première
analyse sommaire de ce genre.3 Ce qui mÊa décidé, cÊest peut-être
lÊéchange de correspondance que jÊai eu il y a peu avec un collègue
berlinois, de lÊancien Berlin-Est veux-je dire, à propos de lÊengage-
ment communiste dans les années 1930 de lÊécrivain Jean-Richard
Bloch, sur lequel je suis en train de travailler. La figure de lÊintellec-
tuel communiste, mÊécrivait-il, est ıune composition plus complexe
que les préjugés et les intérêts politiciens de nos jours nÊessaient de le
faire croire„, et de mÊinterroger sur la façon dont la question est
traitée en France, par rapport à ılÊexpérience quotidienne quÊon peut
faire en Allemagne réunifiée„.
Ce collègue, dont le parcours professionnel et idéologique est
caractéristique des universitaires de lÊex-RDA, mÊa fait saisir, plus
fort que jamais, deux données de nature comparative essentielles
pour lÊhistoire des intellectuels. La première, cÊest quÊen se consti-
tuant en champ de recherche dans le contexte idéologique et histo-
riographique des années 1970-1980, lÊhistoire des intellectuels
sÊinscrit dans une interrogation beaucoup plus vaste qui concerne en
bonne part lÊhistoire même du communisme au XXe siècle. La se-
conde, rendue particulièrement sensible par la différence de situa-
tions entre les ıpays de lÊEst„ et les démocraties occidentales, cÊest
son étroite dépendance envers les contextes nationaux, qui fait ten-
danciellement transparaître, à travers lÊhistoire des intellectuels, une

2 Hans Manfred Bock: Zur historischen Intellektuellen-Forschung in Frankreich, in:


Lendemains (1992), n°66, p. 16-26.
3 Michel Trebitsch: Les intellectuels en France dans l’entre-deux-guerres. Tendances
récentes de l’historiographie (1985-1988), in: Sources. Travaux historiques (1988),
n°14, p. 81-90.
25

histoire du national. JÊessaierai donc de faire comprendre ce qui,


dans le grand règlement de comptes avec le communisme, est pro-
prement français, ce qui fait de lÊhistoire des intellectuels ıà la fran-
çaise„ une pièce maîtresse de ce règlement de comptes.
Une telle esquisse des tendances et des institutions de la recher-
che française sur les intellectuels nÊengage que moi. JÊai néanmoins
profité dÊun observatoire privilégié, le Groupe de recherche sur
lÊhistoire des intellectuels depuis 1988 avec Nicole Racine à lÊInstitut
dÊhistoire du temps présent. Se refusant à une posture méthodologi-
que particulière, ce qui est une force comme une faiblesse, il nÊa
cessé dÊêtre pour moi un lieu de rencontre et dÊéchange particuliè-
rement fructueux.

Contexte: la „cérémonie des adieux“ aux


intellectuels
LÊhistoire sereine implique-t-elle la mort de son objet dÊétude? Une
telle conception de lÊhistoire froide va à lÊencontre de tous les ap-
ports récents de lÊhistoire contemporaine, a fortiori de lÊhistoire du
temps présent. Et pourtant, lÊapparition au milieu des années 1980
de ılÊhistoire des intellectuels„ comme champ spécifique de recher-
che ne peut se séparer des grands tournants et des ruptures idéolo-
giques qui se sont opérés à partir des années 1970.
Faut-il ici revenir une nouvelle fois sur lÊantienne de la ıfin des
intellectuels„, ce procès qui ressurgit comme par cycles, de La trahi-
son des clercs de Julien Benda (1927), à LÊopium des intellectuels de
Raymond Aron (1955)? Dans les années 1970, la crise dÊidentité des
intellectuels sÊinscrit dans une remise en cause plus profonde, celle
qui dessine, quinze ans avant la chute du mur de Berlin et
lÊimplosion de lÊURSS, la fin des modèles politiques et théoriques
inspirés du marxisme. Après le choc de LÊArchipel du Goulag de
Soljenitsyne (1974) se mettent en place les rites dÊune lente ıcéré-
26 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

monie des adieux„ aux intellectuels, que scandent, depuis les tristes
funérailles de Sartre (1980), celles dÊAron, de Foucault, voire de
Lacan ou de Braudel. En amont et en aval du débat paradigmatique
sur ıle silence des intellectuel de gauche„ publié dans Le Monde
pendant lÊété 1983, se multiplient les dossiers et numéros spéciaux
dÊhebdomadaires (Le Nouvel Observateur, LÊEvénement du jeudi)
ou de revues (Le Débat, significativement né en 1980) sur la mort,
la fin, le changement des intellectuels, tandis que pullulent les essais
ou pamphlets, depuis Le pouvoir des intellectuels en France de
Régis Debray (1979) jusquÊaux ouvrages dÊAlain Finkielkraut (La
défaite de la pensée, 1987) et de Bernard-Henri Lévy (Eloge des in-
tellectuels, 1987, Les aventures de la liberté, 1991). Le procès des
intellectuels est dÊabord celui des intellectuels engagés, cÊest-à-dire
des intellectuels de gauche. Succédant aux assauts des ınouveaux
philosophes„ contre le credo marxiste des ımaîtres-penseurs„, qui
ouvrent les vannes au libéralisme et à lÊindividualisme triomphants,
se développe une attaque plus puissante et plus complexe contre la
figure sociale de lÊintellectuel. CÊest lÊintellectuel classique lui-même
qui serait en train de disparaître, condamné non seulement par la
fin des utopies révolutionnaires, mais par lÊère des spécialistes, la
domination des médias, lÊinvasion du ıtout culturel„.
Cette période de ıbasses-eaux idéologiques„, selon le mot
dÊEdgar Morin, se double, pour lÊhistorien, dÊune crise, à tout le
moins dÊun tournant épistémologique défini naguère par Marcel
Gauchet comme un ıchangement de paradigme en sciences socia-
les„, essentiellement marqué par une remise en cause de lÊhéritage
des Annales.4 Au lourd, au lent, au gros des structures et des séries
fait place le ımicro„ de la microhistoire, du temps court, de la crise

4 Marcel Gauchet: Changement de paradigme en sciences sociales?, in: Anne Simonin,


Hélène Clastres (dir.): Les idées en France 1945-1988. Une chronologie, Paris 1989,
p. 472-480.
27

éclatée et complexe, du symbole aux multiples significations. Face à


lÊhistoire sociale et quantitative se développe un mouvement général
de retour, retour du récit, de lÊévénement, de la biographie, retour
surtout de lÊhistoire politique. En se plaçant dès sa naissance dans le
champ de lÊhistoire politique, à la fois, contre lÊhistoire sociale peu
attentive à la dimension culturelle et contre lÊhistoire des idées indif-
férente à ses propres conditions de possibilité, lÊhistoire des intellec-
tuels participe de cette nouvelle historiographie où le politique et le
culturel sÊimbriquent étroitement, dans lÊétude des ıpolitiques cultu-
relles„ comme dans lÊinvention du concept de ıculture politique„.
Elle contribue à ce curieux renversement de la triade marxisante
des Annales ıéconomie, société, civilisations„, pour en revenir à la
trinité occidentale où le prêtre (le culturel) est au-dessus du guerrier
(le politique) et du paysan (lÊéconomique).
En même temps, et cÊest ce que je tenterai dÊanalyser à partir de
ses principales tendances, lÊhistoire des intellectuels a dû se définir
par rapport à dÊautres champs historiographiques. Elle ne sÊidentifie
pas à ılÊhistoire culturelle„ qui dÊailleurs, dans la tradition française,
a glissé dÊune histoire des cultures savantes limitée à la ıscience des
textes„ à une histoire des pratiques culturelles, notamment des
cultures populaires, puis à une conception de plus en plus extensive
de la notion même de culture (culture politique, culture
dÊentreprise) qui est au fondement dÊune nouvelle anthropologie
historique. Elle ne sÊidentifie pas non plus à une ıhistoire intellec-
tuelle„ qui, malgré quelques tentatives dÊacclimatation récente, par
exemple à lÊEcole des hautes études en sciences sociales, reste
étrangère aux apports de lÊintellectual history américaine, voire de
la Geistesgeschichte allemande.5 Mais ceci est tout un autre débat,
quÊil nÊest pas possible dÊaborder ici. Je mÊen tiendrai donc à une

5 Roger Chartier: Histoire intellectuelle et histoire des mentalités. Trajectoires et ques-


tions, in: Revue de synthèse (1983), juillet-décembre, p. 277-307.
28 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

présentation des deux ensembles principaux de recherches qui se


sont constitués autour de la démarche historienne de Jean-François
Sirinelli, dÊune part, de la démarche sociologique de Pierre
Bourdieu, dÊautre part, pour envisager ensuite les secteurs adventi-
ces, solutions de compromis ou découvertes de voies nouvelles, et
terminer sur ce qui me paraît fertile dans une approche comparative
de lÊhistoire des intellectuels.

„L’histoire en chantier“ de Sirinelli


CÊest au milieu des années 1980, je lÊai dit, que ılÊhistoire des intel-
lectuels„ reçoit son appellation contrôlée. Son manifeste en serait
lÊarticle de Jean-François Sirinelli, Le hasard ou la nécessité? Une
histoire en chantier: lÊhistoire des intellectuels, publié dans la revue
Vingtième siècle en 1986.6 ıHistoire en chantier„ certes, qui doit ba-
liser son terrain, déterminer ses sources, construire ses concepts,
mais histoire à ambition dÊemblée globale, à la croisée des histoires
politique, sociale, culturelle. Le chantier de Sirinelli va, en lÊespace
dÊune décennie, se décomposer en tous les types de travaux univer-
sitaires possibles: un ouvrage de synthèse avec Pascal Ory sur
lÊhistoire des intellectuels en France au XXe siècle,7 une thèse mo-
numentale sur les ıkhâgneux et normaliens„ (le milieu de lÊEcole
normale supérieure),8 que suivront des approches complémentaires,
sur les manifestes et pétitions dÊintellectuels,9 et un essai, fort érudit,

6 Jean-Francois Sirinelli: Le hasard ou la nécessité ? Une histoire en chantier l’histoire


des intellectuels, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 1986, n°9, p. 97-108.
7 Pascal Ory, Jean-François Sirinelli: Les intellectuels en France, de l’Affaire Dreyfus à
nos jours, Paris 1986.
8 Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et normaliens dans
l’entre-deux-guerres, Paris 1988, rééd. 1995.
9 Jean-François Sirinelli: Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions au
XXe siècle, Paris 1990.
29

sur le duo paradigmatique Sartre et Aron,10 sans parler de la création,


dès 1985, du Groupe de recherche sur lÊhistoire des intellectuels.
On peut dire que ces différents travaux ont été pour Sirinelli au-
tant dÊexercices dÊapplication des outils de recherche, notions plus
que concepts, quÊil propose dÊélaborer pour étudier le milieu intel-
lectuel, ceux de ıgénérations intellectuelles„, de ısociabilités intel-
lectuelles„, dÊıitinéraires„. CÊest surtout dans sa thèse quÊil a dÊabord
mis en fluvre la notion de génération intellectuelle, pour éclairer la
différence entre le pacifisme de la génération de 1905, impliquée
dans le conflit, et les voies divergentes de celle de 1915, qui nÊa pas
partagé les mêmes espoirs de lÊimmédiate après-guerre. Dans une
telle perspective, une génération intellectuelle peut se définir, dÊune
part, par la rencontre avec un ıévénement fondateur„, guerre, révo-
lution, crise nationale ou sociale, dont lÊeffet peut dÊailleurs être dif-
féré, et, dÊautre part, par une ıconscience de génération„, partageant
des aspirations communes, notamment contre la génération précé-
dente, des références intellectuelles et politiques communes, des
maîtres à penser communs: cÊest dÊailleurs à partir de cette recher-
che quÊa été lancée la réflexion collective du Groupe de recherche
sur lÊhistoire des intellectuels.11 Traditionnelle en sociologie, bien
admise en histoire littéraire, la notion de génération, associant le
temps court et lÊévénement, restait assez étrangère aux historiens, et
lÊapport de Sirinelli a contribué à lÊacclimater dans le champ plus
vaste de lÊhistoire politique.12 Elle a eu pour vertu (et peut-être aussi
pour danger) de déstabiliser certaines notions acquises, en particu-
lier de proposer, face à la lecture ıhorizontale„ de lÊopposition
droite-gauche, une lecture ıverticale„ du champ politique.

10 Jean-François Sirinelli: Deux intellectuels dans le siècle, Sartre et Aron, Paris 1995.
11 Jean-François Sirinelli (dir.): Générations intellectuelles, in: Cahiers de l’IHTP (1987),
n°6.
12 Jean-François Sirinelli: Les générations, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire (1989),
n°22.
30 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

Appliquée à lÊanalyse des manifestes et pétitions dÊintellectuels,


la notion de ısociabilité intellectuelle„, quant à elle, emprunte de
manière pragmatique aux travaux de Maurice Agulhon sur les so-
ciabilités politiques villageoises et les cercles bourgeois comme lieux
dÊinnovation et de modernisation politique.13 Mais elle reste éton-
namment ignorante des apports de la sociologie allemande
(Simmel, Max Weber, voire le concept ıdÊespace public„ chez
Habermas) et de la sociologie américaine des networks. Nous avons
tenté dÊenrichir cette démarche par une recherche collective, dans
la diversité des approches méthodologiques.14 Parmi des ılieux„,
ımilieux„ ou ıréseaux„ de sociabilité intellectuelle, salons, cafés lit-
téraires, correspondances, associations, etc., nous avons porté un
effort particulier sur les revues, à la fois comme structures de socia-
bilité et comme lieux dÊinnovation sociale et politique. Ainsi peut-on
esquisser des typologies selon la forme (périodicité, durée, sommai-
res), le mode dÊorganisation (direction, rédaction), le contenu (créa-
tion, critique, rapports avec lÊactualité politique), les liens avec le
public (correspondance de lecteurs, groupes de soutien), qui per-
mettent de distinguer des ırevues-personnes„, des ırevues-familles„
esthétiques ou politiques, des ırevues-institutions„, des ırevues-carre-
four„. Lieux de confrontation et dÊinnovation, en situation hégémo-
nique ou à la conquête de la légitimité, les revues constituent par
ailleurs, au moins jusquÊaux années 1960, un mode dÊapproche pri-
vilégié du ıchamp intellectuel„ et de ses évolutions idéologiques. De
nombreuses recherches ont été consacrées aux revues, depuis le
travail de Michel Winock sur Esprit jusquÊaux thèses récentes sur
Les Temps modernes ou La Nouvelle Critique ou aux livres sur Tel

13 Maurice Agulhon: La République au village, préface à la 2e édition, Paris 1979, et


Maurice Agulhon: Le cercle dans la France bourgeoise, 1810-1848. Etude d’une muta-
tion de sociabilité, Paris 1979.
14 Nicole Racine, Michel Trebitsch (dir.): Sociabilités intellectuelles. Lieux, milieux, ré-
seaux, in: Cahiers de l’IHTP (1992), n°20.
31

Quel, même si de grosses lacunes demeurent, y compris sur les plus


importantes comme la NRF.15 Je reviendrai sur lÊintérêt des revues
pour lÊhistoire comparée des intellectuels, à propos du travail
engagé avec Hans Manfred Bock sur ıles revues européennes de
lÊentre-deux-guerres„, qui permet de dessiner la configuration de
ıréseaux européens„ et de faire émerger un type nouveau dÊintellec-
tuel, lÊıintellectuel européen„.
On pourrait dire que cÊest avec son tout récent essai sur Sartre et
Aron que Sirinelli sÊest essayé à explorer la troisième notion, celle
de trajectoire, ou dÊitinéraire politique. SÊil sÊagit bien de croiser, de
comparer des biographies, nous sommes loin, fort loin dÊune tenta-
tive proprement prosopographique. LÊenjeu, comme lÊécrit lÊauteur,
est de pratiquer ıune sorte de géodésie du clerc en politique„.
Comme le révèle cet essai, qui penche, on sÊen doute, pour Aron
contre Sartre, la position critique détermine les choix méthodologi-
ques ou, plus exactement, le choix dÊune méthodologie ıà géomé-
trie variable„. Derrière lÊaspiration à la globalité, cÊest une lecture
fondamentalement politique de lÊhistoire des intellectuels que nous
propose lÊfluvre de Sirinelli, à la fois parce quÊelle restreint la défini-
tion de lÊintellectuel à son intervention dans le champ politique et
parce quÊelle sÊinscrit dans le courant plus général de renouveau de
lÊhistoire politique, incarné dans le triangle académique formé par
Sciences Po, lÊUniversité de Paris 10 et en partie lÊIHTP.16 Plaidant
pour une histoire idéologiquement neutre et méthodologiquement
ouverte, Sirinelli sÊest imposé comme le principal représentant de
lÊhistoire des intellectuels à la française. Il dirige lui-même, depuis

15 Michel Winock: Histoire politique de la revue „Esprit“ (1930-1950), Paris 1975, rééd. sous
le titre: Esprit, des intellectuels dans la cité, Paris 1996; Anna Boschetti: Sartre et „Les
Temps modernes“: une entreprise intellectuelle, Paris 1985; Philippe Forest: Histoire de
„Tel Quel“, 1960-1982, Paris 1995; Frédérique Matonti: Intellectuels communistes. Essai
sur l’obéissance politique. „La Nouvelle critique“ (1967-1980), Paris 2005.
16 Jean-François Sirinelli: Les intellectuels, in: René Rémond (dir.): Pour une histoire
politique, Paris 1988, p. 199-231.
32 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

lÊInstitut dÊétudes politiques (Paris), de nombreuses thèses, mais on


ne peut pas dire quÊil ait pour autant fondé une école ou formé de
disciples. Il est significatif quÊil se soit lui-même quelque peu éloigné
de lÊhistoire proprement dite des intellectuels au profit dÊune histoire
pleinement politique, notamment en dirigeant une somme sur les
droites et un imposant dictionnaire de la vie politique.17

Le „champ intellectuel“ ou les labours de Bourdieu


Une telle histoire fondamentalement politique des intellectuels, tout
en affirmant son refus dÊune histoire désincarnée des idées, ne pou-
vait quÊêtre confrontée à lÊentreprise sociologique de Pierre
Bourdieu et de son école. Autour de la notion de ıchamp„, Pierre
Bourdieu a construit, on le sait, un modèle dÊanalyse du milieu intel-
lectuel ou ıchamp de production culturelle„, conçu comme un
ıunivers social autonome„ fonctionnant selon ses propres règles,
comme un champ de forces et de tensions, polarisées en fonction
des conditionnements sociaux ou ıhabitus„ et des parts respectives
de ıcapital„ – économique, social, scolaire, culturel, symbolique – et
régies par des stratégies de pouvoir destinées à obtenir la légitima-
tion et la consécration par le milieu lui-même et par le public.18
Peut-être nÊest-il pas nécessaire de pousser plus loin ce rappel de dé-
finitions pour des auditeurs allemands assez familiers avec lÊfluvre
de Bourdieu. Il faut en revanche détailler un peu lÊensemble des
recherches menées sous sa direction, qui donnent à cette entreprise
lÊaspect dÊune multinationale toute-puissante. A la différence de

17 Jean-François Sirinelli (dir.): Histoire des droites en France, 3 vol., Paris 1992; Jean-
François Sirinelli (dir.): Dictionnaire historique de la vie politique française au XXe
siècle, Paris 1995.
18 Entreprise qu’on peut faire remonter à Homo Academicus (Paris 1984) et La noblesse
d’Etat (Paris 1989). Sur la notion de champ littéraire et son autonomie relative, voir
surtout Pierre Bourdieu: Le champ littéraire, in: Actes de la recherche en sciences
sociales (1991), n°89, p. 3-46 et Pierre Bourdieu: Les règles de l’art. Genèse et struc-
ture du champ littéraire, Paris 1992.
33

Sirinelli, qui a lancé un label mais nÊa pas fait école, Bourdieu est
entouré de disciples, et parmi les meilleurs de la recherche actuelle
en histoire des intellectuels.
Le principal de ces disciples, Christophe Charle, a constitué lui-
même, à mesure quÊil construisait son fluvre, un réseau de recher-
che, à lÊInstitut dÊhistoire moderne et contemporaine dÊabord, avec
un séminaire sur lÊhistoire des élites, à lÊUniversité Paris 1 ensuite, où
son enseignement se double de lÊanimation du Groupe de travail sur
les universités européennes. Engageant sa recherche sur la période
même de ınaissance des intellectuels„ à la fin du XIXe siècle, il a
dÊabord renouvelé et consolidé une lecture de lÊaffaire Dreyfus à la
fois comme tournant décisif dans lÊhistoire du champ du pouvoir
contemporain et comme paradigme de toute lÊhistoire de la figure de
lÊintellectuel.19 Ainsi a-t-il contribué de manière décisive à orienter la
recherche dÊune part vers lÊinterprétation des crises littéraires, dÊautre
part vers une plus large prosopographie des élites qui vise à renouve-
ler lÊhistoire sociale elle-même. Le concept dÊintellectuels, signalait-il
dès ses premiers travaux, échappe aux définitions classiques des
groupes sociaux, celui dÊune neutralisation progressive ou au
contraire dÊun ancrage historique daté. Pour saisir ce quÊil a de spéci-
fique, cÊest-à-dire le degré dÊautonomie relative du champ intellectuel,
il faut selon lui, à lÊencontre dÊune lecture trop centrée sur un secteur
restreint et trop tendu vers une perspective dÊhistoire politique, resi-
tuer les intellectuels à lÊintérieur de lÊespace global du champ du
pouvoir et notamment dans leurs rapports avec les autres ensembles
des classes dominantes. Pour mener à bien cette recherche, en
sÊappuyant fidèlement sur la lourde infrastructure des concepts forgés
par Bourdieu, Charle a systématisé lÊétude statistique dÊéchantillons
aussi exhaustifs que possible des catégories étudiées, annuaires
dÊélites, biographies dÊuniversitaires, à partir desquels est mené, grâce

19 Christophe Charle: Naissance des „intellectuels“, 1880-1900, Paris 1990.


34 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

à lÊinformatique, un croisement prosopographique et différentiel des


données. Ainsi sÊexplique lÊélargissement progressif de son interroga-
tion à lÊensemble des ıélites de la République„ et notamment au
milieu universitaire, lui-même de plus en plus étendu à lÊespace
européen.20
Derrière cette première génération dÊélèves de Bourdieu pousse
aujourdÊhui une nouvelle pépinière, qui semble avoir privilégié la
piste des crises du champ intellectuel, dans la foulée des premiers
travaux de Christophe Charle ou de ceux de Jean-Louis Fabiani sur
les philosophes de la République et sur la thématique récurrente de
la ıcrise„ de la philosophie.21 Extrêmement réductrice lorsquÊelle
analyse en purs termes de ıprise de pouvoir„ (celle de Sartre et des
Temps modernes) les formes dÊengagement dÊaprès 1945,22 cette
démarche a déjà produit de passionnants travaux, notamment la
thèse dÊAnne Simonin sur les Éditions de Minuit et celle de Gisèle
Sapiro sur les institutions de la vie littéraire sous lÊOccupation, qui
tentent lÊune et lÊautre, à partir dÊune situation de crise nationale,
dÊanalyser les redistributions des principes de hiérarchisation et de
consécration qui affectent et modifient en profondeur le champ
littéraire, surdéterminé par la politisation extrême de telles
circonstances.23
SÊarticulant sur un réseau dÊinstitutions universitaires (Collège de
France, EHESS), de maisons dÊéditions (Éditions de Minuit avec sa

20 Christophe Charle: Les élites de la République, 1880-1900, Paris 1987; C. Charle: La


République des universitaires, 1870-1940, Paris 1994; C. Charle: Les intellectuels en
Europe au XIXe siècle. Essai d’histoire comparée, Paris 1996. Voir aussi C. Charle,
Edwin Keiner, Jürgen Schriewer (dir.): A la recherche de l’espace universitaire euro-
péen, Berne 1993.
21 Jean-Louis Fabiani: Les philosophes de la République, Paris 1988.
22 Anne Boschetti, op. cit.
23 Anne Simonin: Les Éditions de Minuit 1942-1955. Le devoir d’insoumission, Paris 1995;
Gisèle Sapiro: La Guerre des écrivains, Paris 1999. Voir aussi, dans le dossier
„Littérature et politique“, in: Actes de la recherche en sciences sociales (1996), n°111-
112, les contributions de Gisèle Sapiro: La raison littéraire. Le champ littéraire français
sous l’Occupation (1940-1944), p. 3-35, d’Anne Simonin et de Philippe Olivera.
35

collection ıLe Sens commun„, mais aussi, à un moindre degré, Le


Seuil), de revues et périodiques (Actes de la recherche en sciences
sociales et son supplément international Liber ), il y a un clan
Bourdieu, une entreprise Bourdieu, une machine Bourdieu, qui est
au cflur dÊune bataille idéologique et épistémologique sur le statut
même de la théorie sociologique et par-delà, de plus en plus, dÊune
bataille pour fournir, après Sartre, un modèle alternatif de
lÊintellectuel engagé. On ne saurait réduire le ıchamp historiogra-
phique„ de lÊhistoire des intellectuels à un affrontement entre la
démarche de Bourdieu et celle de Sirinelli. Il nÊest pourtant pas inu-
tile dÊanalyser un peu plus en détail ce qui les oppose fondamenta-
lement. A première vue, il pourrait sÊagir dÊune opposition assez
simple entre une définition ılarge„, sociale et sociologique des intel-
lectuels (producteurs et médiateurs de biens symboliques, selon
Bourdieu), et une définition ıétroite„. Politique, qui limite les intel-
lectuels aux diverses formes dÊengagement dans la cité. Mais on de-
vine à quel point les batailles de définitions, consubstantielles à
lÊhistoire des intellectuels, recèlent dÊautres enjeux, y compris un
enjeu quasiment politique qui, sans opposer terme à terme une
droite et une gauche universitaires, distingue néanmoins un versant
libéral aronien, autour de Sirinelli, et un versant plus nettement en-
gagé dans les combats de la gauche, autour de Bourdieu, lui-même
si impliqué, on sÊen souvient, dans les grèves de novembre 1995.
Insistons surtout sur les enjeux épistémologiques et méthodologi-
ques. Le premier, lÊessentiel sans doute, dépasse de loin lÊhistoire
des intellectuels, et je ne pourrai que lÊeffleurer ici: le tournant épis-
témologique des années 1970-1980 que jÊai évoqué au début, mar-
que une nouvelle étape, au sein des sciences sociales, dans la lon-
gue et ancienne bataille que se livrent lÊhistoire et la sociologie dans
leur aspiration globalisante à lÊhégémonie.24 En construisant un mo-

24 Cf. le numéro programmatique des „Annales“: Histoire et sciences sociales: le tour-


36 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

dèle qui transpose dÊune certaine manière dans lÊanalyse des ısu-
perstructures„ (le champ du pouvoir) lÊappareil conceptuel marxiste
dÊanalyse du marché capitaliste, Bourdieu tient un discours global
sur la fonction et la place de la sociologie dans lÊanalyse du monde
contemporain, qui vise à en faire une science totale évidemment en
butte aux aspirations rivales de lÊhistoire globale. Cette opposition,
fondamentale, se double dÊune rivalité méthodologique: à la posture
de Bourdieu, qui garde sa confiance aux méthodes lourdes, statisti-
ques, prosopographiques, qui hérite au fond des apports principaux
du sériel et du quantitatif, sÊoppose une recherche elle aussi multi-
forme, une revendication dÊempirisme méthodologique. Dans
lÊhistoire sereine et ıà géométrie variable„ revendiquée par Sirinelli,
on tend, il est vrai, souvent à glisser du concept à la métaphore, no-
tamment géographique, étonnante spatialisation de la diachronie.
Charle pointe le doigt avec quelque délectation sur ce quÊil appelle,
visant nommément Sirinelli, ıla simplification couramment pratiqué
par les études fondées sur des exemples partiels ou des crises drama-
tiques„.25

Bricolages
Il faut admettre que, dans leur diversité et dans leurs affrontements,
toutes ces recherches sur lÊhistoire des intellectuels sÊaccordent du
moins sur le principe dÊune autonomie relative du champ intellec-
tuel, sur lÊidée que ce nÊest pas au dehors mais au sein même du
fonctionnement du milieu intellectuel quÊil faut chercher son his-
toire. Il demeure que, quelle que soit la puissance de la machine
Bourdieu, cÊest pourtant cet empirisme méthodologique qui semble
lÊemporter dans les travaux qui se sont multipliés à une cadence ac-
célérée depuis le début des années 1990, comme dÊailleurs au sein

nant critique, (1989), octobre-décembre.


25 Charle: La République des universitaires, op. cit., p. 310-311.
37

des divers séminaires et groupes de recherches qui se sont formés,


notamment à Sciences Po, autour de Michel Winock et dans le ca-
dre du Centre dÊhistoire et dÊétude du vingtième siècle (CHEVS)
dirigé par Serge Berstein et Pierre Milza.
On ne peut quÊêtre frappé, tout dÊabord, par lÊessor dÊune littéra-
ture parascolaire de manuels, dÊouvrages au format de poche, de
dictionnaires. Depuis la synthèse de Pascal Ory et Jean-François
Sirinelli, sont ainsi apparus sur le marché des collections grand pu-
blic les livres dÊAriane Chebel dÊAppollonia sur lÊhistoire politique
des intellectuels en France de 1944 à 1954 ou, tout récemment, de
Christian Delporte, spécialiste de la caricature, sur les intellectuels et
la politique au XXe siècle.26 Longuement retardé par la complexité
de la mise en fluvre, le nombre des collaborateurs, les rivalités im-
plicites ou explicites, lÊambitieux Dictionnaire des intellectuels fran-
çais dirigé par Jacques Julliard et Michel Winock et coordonné par
Christophe Prochasson et une équipe de jeunes historiens, paraît
enfin au Seuil à lÊautomne 1996. Composé de trois parties, ıles per-
sonnes, les lieux, les moments„, il participe de cette vogue des
sommes encyclopédiques qui, du Dictionnaire critique de la Révo-
lution française de François Furet et Mona Ozouf au Dictionnaire
historique de la vie politique française de Sirinelli, manifeste le refus
du dogmatisme aux yeux de lÊécole historique française, en soumet-
tant la lecture globale à lÊinterprétation éclatée que suggère la ıdé-
mocratie de lÊalphabet„. De cette difficulté de la synthèse témoigne
le projet de Dominique Damamme, spécialiste de lÊhistoire cultu-
relle moderne, et Bernard Pudal, auteur dÊune thèse importante sur
les cadres du Parti communiste, qui sont venus expliquer devant
notre Groupe de recherche les problèmes que leur pose la rédac-

26 Ariane Chebel d’Appollonia: Histoire politique des intellectuels en France 1944-1954,


2 vol., Bruxelles 1991; Christian Delporte: Intellectuels et politique, Paris 1995.
38 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

tion dÊun petit livre sur lÊhistoire des intellectuels français pour la
collection ıRepères„ aux éditions de La Découverte.
En second lieu, concernant les recherches de haut niveau
dÊérudition, domine une tendance, non sans résonances néo-positi-
vistes et typologisantes, au compromis méthodologique. Deux thè-
ses publiées en 1993, lÊune de sociologie, lÊautre dÊhistoire, me sem-
blent caractéristique de cette tendance. Tout dÊabord celle de Rémy
Rieffel sur les intellectuels sous la Ve République, lÊun des premiers
travaux dÊensemble à aborder cette période très récente.27 Ce que
Rieffel, qui dirigea de 1994 à 1999 lÊInstitut français de presse à
lÊUniversité Paris 2, sÊattache avant tout à analyser, cÊest la relation
quÊon peut établir entre le désinvestissement récent des intellectuels
envers la politique et les processus de médiatisation et dÊinter-
pénétration du milieu intellectuel par lÊensemble du marché culturel
en expansion. Il distingue trois niveau ou modes dÊinsertion dans la
société intellectuelle: des modes dÊaffiliation, par cooptation ou
agrégation dans les réseaux de sociabilité (salons, tribunes, promo-
tions de grandes écoles, etc.), des modes de légitimation par les
pairs (revues), des modes de consécration par le public (édition,
presse culturelle, télévision). Ce quÊon a reproché à Rieffel, qui
fonde sa démarche sur le concept de configuration sociale em-
prunté à Norbert Elias, cÊest lÊopacité dÊune méthode qui, contour-
nant ou aseptisant les concepts de Bourdieu, tend à réduire les mu-
tations des années 1970 à des mécanismes de ıtribu„. On ne peut
exactement lui comparer lÊapproche de Christophe Prochasson, si-
non dans ce risque de compromis méthodologique qui vire à la
typologie, voire à la cartographie. Dans sa thèse sur les intellectuels
socialistes du début du XXe siècle, comme dans ses deux ouvrages
de synthèse sur les années 1900 et la période de la Première Guerre
mondiale, il focalise son attention sur lÊétude de ce quÊil appelle les

27 Rémy Rieffel: La tribu des clercs. Les intellectuels sous la Ve République, Paris 1993.
39

ılieux, milieux et réseaux„ intellectuels.28 CÊest cette recherche quÊil


poursuit aussi dans le cadre du GREVIC (le Groupe dÊétude sur la
vie intellectuelle contemporaine) et de la revue Mil neuf cent, quÊil
anime avec Jacques Julliard à lÊEHESS. Dans de telles approches
deux risques ne sont pas écartés, celui de réduire le fonctionnement
du monde intellectuel (les fameuses sociabilités intellectuelles) à des
comportements de caste ou de clan, celui inverse, en sÊen tenant à
une histoire des formes du politique (cercles, revues, pétitions etc.),
de faire disparaître le sens même de lÊhistoire politique, tel quÊil se
manifeste dans les grands affrontements idéologiques (droite et gau-
che, conservatisme et libéralisme etc.).
Une troisième caractéristique est lÊinsistance, souvent très polé-
mique, sur les erreurs politiques des intellectuels. Un certain nom-
bre de travaux avaient sans doute, dès les années 1980, mis en
cause la collaboration, voire la simple ıaccommodation„, pour re-
prendre une notion récemment mise à jour par Philippe Burrin, des
intellectuels avec le régime de Vichy sinon même avec lÊoccupant
nazi. Un contre-courant a signifié, sinon le retour en grâce du moins
le regain dÊintérêt pour les intellectuels de droite comme Drieu La
Rochelle ou, après-guerre, le petit des ıHussards„. Mais la vague
déferlante sÊest surtout jetée sur lÊengagement communiste des intel-
lectuels. SÊinspirant de Bourdieu, Jeannine Verdès-Leroux a dÊabord
contribué à approfondir les distinctions entre les divers types de sé-
duction communiste, de lÊintellectuel-de-parti aux diverses formes
de compagnonnage de route.29 Elle vient, il est vrai, de donner tout

28 Christophe Prochasson: Les intellectuels, le socialisme et la guerre 1900-1938, Paris


1993 ; C. Prochasson: Les années électriques 1880-1914, Paris, 1991; C. Prochasson,
Anne Rasmussen: Au nom de la patrie. Les intellectuels et la Première Guerre mon-
diale (1910-1919), Paris 1996. Voir aussi C. Prochasson: Histoire intellectuelle/Histoire
des intellectuels. Le socialisme français au début du XXe siècle, in: Revue d’histoire
moderne et contemporaine (1992), n°39, p. 423-448.
29 Jeannine Verdès-Leroux: Au service du parti. Le parti communiste, les intellectuels
et la culture (1944-1956), Paris 1983; J. Verdès-Leroux: Le réveil des somnambules.
40 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

récemment un coup de barre dans le sens opposé, en se lançant


dans lÊétude des intellectuels dÊextrême-droite.30 Plus étonnant a été
lÊaccueil fait en France à la critique anglo-saxonne, aiguillon classi-
que de lÊécole historique française (Paxton, Sternhell), notamment
aux livres de Tony Judt, ou encore, il y a peu, de Stephen Koch,
qui a eu accès aux archives russes.31 Il sÊagit bien ici de pointer du
doigt lÊirresponsabilité intellectuelle, la rupture chez les intellectuels
communistes avec les valeurs républicaines traditionnellement héri-
tées jusquÊici par la gauche des idées de 1789, la manipulation sys-
tématiquement organisée par lÊappareil moscovite avec la participa-
tion complaisante dÊintellectuels authentiques comme de seconds
couteaux. Au sommet de cette vague, quÊon serait presque tenté de
qualifier de ırévisionniste„, lÊfluvre, sans doute toute lÊfluvre de
François Furet, y compris ses travaux essentiels sur la Révolution
française, apparaît rétrospectivement, à la lumière de son dernier
livre si commenté, Le passé dÊune illusion, comme un long règle-
ment de comptes avec lÊutopie communiste.32

Explorations et comparaisons
Il y a évidemment plus et plus profond dans ce courant, et il ne faut
pas sÊen tenir aux discours dÊescorte, centrés sur la manipulation et
la malléabilité des intellectuels, qui ont accompagné la réception de
ces ouvrages. On pourrait y lire une de ces poussées périodiques

Le parti communiste, les intellectuels et la culture (1956-1985), Paris 1987; J. Verdès-


Leroux: La lune et le caudillo, Paris 1989.
30 Jeannine Verdès-Leroux: Refus et violences. Politique et littérature à l’extrême-droite
des années 30 aux retombées de la Libération, Paris 1996.
31 Tony Judt: Un passé imparfait: les intellectuels en France 1944-1956, trad. franç.,
Paris 1992; Paul Johnson: Le grand mensonge des intellectuels: vices privés et ver-
tus publiques, trad. franç.; Paris 1993; Stephen Koch: La fin de l’innocence: les intel-
lectuels d’Occident et la tentation stalinienne, 30 ans de guerre secrète, trad. franç.,
Paris 1995.
32 François Furet: Le passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle,
Paris 1995.
41

dÊanti-intellectualisme qui affectent le champ intellectuel, anti-intel-


lectualisme où le clerc se définit dÊabord par sa faible emprise sur le
réel, sur la réalité des contraintes économiques, des rapports de
force politiques, de la complexité sociale, et qui fait pendant à lÊanti-
intellectualisme de gauche, enraciné dans le populisme et
lÊouvriérisme, qui surestime le peuple-roi et méprise le frêle intellec-
tuel. Dans cette perspective, lÊhistoire des intellectuels, y compris la
plus universitaire, apparaît non seulement comme un des princi-
paux champs de bataille de lÊhistoire du contemporain, mais
comme un des principaux terrains de redistribution des cartes idéo-
logiques et contribue, à sa manière, à mettre fin à cette singularité
française, cette ıexception française„, cette guerre civile larvée qui
durait depuis la Révolution.
Il y a, il est vrai, dÊautres approches, qui ne se réclament pas di-
rectement de lÊhistoire des intellectuels, mais qui se tournent plutôt,
les unes vers lÊhistoire des pratiques culturelles, les autres vers
lÊhistoire des représentations, et qui tendent à converger dans quel-
ques essais de synthèse, notamment chez Roger Chartier. Du côté
des pratiques, je mÊen tiendrai à mentionner trois séries dÊapports.
Tout dÊabord, lÊessor récent de lÊhistoire de lÊédition, qui doit beau-
coup aux travaux de Chartier sur les ıusages de lÊimprimé„ et qui a
culminé avec lÊouvrage monumental quÊil a dirigé avec Henri-Jean
Martin, mais qui doit aussi énormément à la création de lÊInstitut
Mémoires de lÊédition contemporaine et à son activité de rassem-
blement, de sauvetage et dÊexploitation des archives des éditeurs.33
Avec Chartier, Frédéric Barbier à lÊInstitut dÊhistoire moderne et
contemporaine, Jean-Yves Mollier à lÊUniversité de Saint-Quentin-en-
Yvelines, cÊest toute une école française dÊhistoire de lÊédition qui

33 Roger Chartier, Henri-Jean Martin (dir.): Histoire de l’édition française, t. 4: Le livre


concurrencé, 1900-1950, Paris 1986. L’IMEC publie un bulletin d’information et orga-
nise des colloques.
42 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

sÊest récemment constituée.34 De même voit-on se constituer, selon


une problématique chère par exemple à la Revue de synthèse, une
histoire des disciplines qui ne se confond ni avec lÊhistoire universi-
taire ni avec lÊhistoire des idées, mais qui tente dÊarticuler lÊanalyse de
lÊinstitution et de son contenu scientifique.35 Signalons encore lÊapport
en histoire littéraire, sans doute plus loin de lÊhistoire des intellectuels,
de la ıcritique génétique„ telle quÊelle sÊest développée, dans la
lignée des travaux de Gérard Genette et sous lÊimpulsion de Louis
Hay, à lÊInstitut des textes et manuscrits modernes (ITEM). ıLe texte
nÊexiste pas„: derrière ce mot dÊordre provocateur, il y a une
démarche qui consiste à analyser la relation entre le texte et sa
genèse, son ıavant-texte„, qui fait de la production littéraire une
ıentité organique„ incluant lÊensemble des rapports sociaux et indi-
viduels dans lesquels se situe le producteur. Nous voici déjà, par là, à
la charnière des pratiques et des représentations. QuÊil sÊagisse des
approches suggérées par Pierre Nora, dont les séminaires à lÊEHESS,
depuis près de dix ans et dans la foulée des Lieux de mémoire, ne
cessent de tourner autour de la relation complexe entre les
intellectuels (actuellement le ıgrand écrivain„), la nation, lÊidentité, le
symbolique, ou de lÊinspiration venue de lÊfluvre devenue classique
de Paul Bénichou qui pousse à découper le champ idéologique par
grandes figures symboliques, le mage, le prophète, lÊécrivain.36

34 Jean-Yves Mollier: L’argent et les lettres. Histoire du capitalisme d’édition, 1880-


1920, Paris 1998; Frédéric Barbier: L’Empire du livre, Paris 1995.
35 Voir le dossier „Frontières disciplinaires“, in: Politix (1995), n°29. Citons par exemple,
sur l’histoire de la sociologie aux XIXe et XXe siècles, les numéros spéciaux de la „Re-
vue française de sociologie“ (XX 1979, XXII 1981, XXXII 1991); sur l’histoire des
sciences, l’article programmatique de Dominique Pestre: Pour une histoire sociale et
culturelle des sciences, in: Annales ESC (1995), n°3, p. 487-522; sur les langues
étrangères Michel Espagne: Le paradigme de l’étranger, Paris 1993, et Michel
Espagne et Michael Werner: Histoire des études germaniques en France (1900-1970),
Paris 1994.
36 Paul Bénichou: Le temps des prophètes: doctrines de l’âge romantique, Paris 1977; P.
Bénichou: Le sacre de l’écrivain, 1750-1830: essai sur l’avènement d’un pouvoir spiri-
43

Ce que ces voies de traverse nous suggèrent, cÊest que, pour ten-
ter de dépasser les apories de lÊhistoire des intellectuels, autrement
dit, pour chercher au sein même de lÊactivité intellectuelle, qui est
de produire et de faire circuler des signes et des valeurs, la spécifi-
cité du milieu intellectuel, peut-être faut-il se tourner vers les recher-
ches de Daniel Roche et de Roger Chartier sur la ıRépublique des
lettres„, qui ont profondément renouvelé lÊhistoire culturelle de
lÊépoque moderne.37 Adossé aux travaux de Norbert Elias et de
Jürgen Habermas, Roger Chartier propose de repenser lÊhistoire
culturelle à partir des objets et des pratiques, pour la placer au cflur
des transformations qui marquent la progressive démocratisation
des sociétés. A la ıconfiguration sociale„ de la société de cour suc-
cède progressivement une nouvelle configuration, caractérisée par
la constitution dÊun ıespace public„, celui de la politique moderne,
qui va de pair avec lÊémergence dÊune sphère privée. Dans ce dou-
ble procès dÊextension parallèle du public et du privé se distinguent
des usages sociaux de la culture, quÊil sÊagisse du livre et du texte
comme objets, des pratiques de lecture et dÊécriture, qui placent les
intellectuels au cflur des processus dÊavènement de la modernité,
précisément parce quÊils se définissent par une tension permanente
entre discours esthétique et discours politique, entre production de
valeurs et défense de causes politiques, entre pouvoir spirituel et
pouvoir temporel. Autrement dit, une problématique qui, tout en
tenant compte du tournant indiscutable de lÊaffaire Dreyfus, replace
lÊhistoire des intellectuels dans le temps long, au moins jusquÊau
XVIIIe siècle, et leur attribue comme matrice, sinon comme date de

tuel laïque dans la France moderne, 2e éd., Paris 1985; P. Bénichou: Les images ro-
mantiques, Paris 1988.
37 Roger Chartier: Les origines culturelles de la Révolution française, Paris 1990. Voir
aussi Daniel Roche: Les Républicains des lettres. Gens de culture et Lumières au
XVIIIe siècle, Paris 1988.
44 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

naissance, la Révolution française.38 On connaît le mot fameux de


De Gaulle, refusant de faire arrêter Sartre: ıOn nÊarrête pas
Voltaire„. Il y aurait ainsi, pour comprendre lÊengagement de Sartre,
une autre voie que de le comparer avec Aron, et qui serait de saisir
pourquoi et comment il se prenait pour Zola, ou encore pourquoi et
comment Zola se prenait pour Voltaire.
Ces nouvelles pistes suggérées en histoire des intellectuels consis-
tent donc à opérer des déplacements, des décentrements qui, au
lieu de poursuivre les affrontements infinis sur la définition ou le
rôle des intellectuels, tendent à les aborder de biais, par leurs com-
portements et leurs activités dans lÊespace social. Sans prétendre à la
spécificité, notre propre démarche, dans le cadre du GRHI, a évo-
lué dans des directions identiques. Après un travail déjà cité sur les
Sociabilités intellectuelles, après une mise au point plus hétérogène
sur les Intellectuels engagés,39 cÊest par lÊapproche comparatiste que
nous avons cherché à échapper à un enfermement fondamentale-
ment hexagonal. Si une histoire comparée des intellectuels nous
semble possible, cÊest précisément à partir de cette spécificité de
lÊintellectuel français dont nous croyons quÊil faut tenter de
sÊéloigner pour la repenser ensuite en des termes nouveaux. Il nous
a semblé en effet quÊil y a une relation étroite entre le développe-
ment dÊune histoire des intellectuels ıà la française„ et lÊidée dÊun
rôle spécifique des intellectuels français. La figure de lÊintellectuel
apparaît souvent comme une singularité française, souvent soulignée
par le regard étranger, qui voit dans la France le Zivilisationsliterat,
la ınation littéraire„ par excellence.40 La France est le berceau de la

38 Voir aussi Roger Chartier: Le monde comme représentation, in: Annales ESC (1989),
n°6, p. 1505-1520.
39 Nicole Racine, Michel Trebitsch (dir.): Intellectuels engagés d’une guerre à l’autre,
in: Cahiers de l’IHTP (1994), n°26.
40 Priscilla P. Ferguson: La France nation littéraire, Bruxelles 1991. Cf. Daniel
Lindenberg: L’intellectuel est-il une spécialité française?, in: Pascal Ory: Dernières
questions aux intellectuels, Paris 1990.
45

notion, au moins au sens contemporain; le paradigme du ıpouvoir


intellectuel„ a pris une place déterminante dans son histoire depuis
lÊAffaire Dreyfus, sinon même depuis la Révolution française, par
référence aux valeurs constitutives de la démocratie – la liberté, la
justice, la vérité. Ainsi peut-on mettre en parallèle le discours qui a
érigé la France en démocratie modèle et celui qui a fait de
lÊintellectuel français le modèle universel de lÊintellectuel. Il sÊagissait
donc pour nous, au départ, de tenter une expérience dÊestrangement
à la fois par rapport à lÊhistoire et à lÊhistoriographie des intellectuels
français, en commençant modestement par une tournée bibliographi-
que des recherches menées à lÊétranger, pour viser un premier bilan,
qui a été dressé lors dÊune journée dÊétudes que nous avons orga-
nisons en janvier 1997. Il existe en effet de puissantes traditions his-
toriographiques, nées autour de la problématique de lÊintelligentsia
russe ou constituées dès le début du siècle dans la mouvance
marxiste, par exemple autour des travaux de Karl Mannheim sur
les ıintellectuels sans attaches„ ou de Gramsci sur la notion
ıdÊintellectuel organique„. Dans le monde anglo-saxon, plus tourné
vers lÊhistoire des élites, sÊest développée depuis une quarantaine
dÊannées une recherche sociologique et historique des intellectuels,
elle-même souvent imprégnée de marxisme, autour des notions de
new class et des tendances à lÊacadémisation et à la pro-
fessionnalisation des intellectuels. Il y a plus: cÊest aux Etats-unis et en
Allemagne particulièrement, quÊa été entreprise une approche com-
parative de lÊhistoire des intellectuels, à forte connotation sociologi-
que il est vrai.41

41 Alain G. Gagnon (dir.): Intellectuals in liberal democracies: political influence and


social involvment, New York 1987; Gérald Berthould, Giovanni Busino (dir.): Les in-
tellectuels: déclin ou essor, Genève 1990. Sans parler des recherches connues en Al-
lemagne, notamment de Wolf Lepenies (Les trois cultures, Entre science et littéra-
ture, l’avènement de la sociologie, trad. franç., Paris 1990) et de Hartmut Kaelble (La
recherche européenne en histoire sociale comparative, XIXe-XXe siècles, in: Actes de
la recherche en sciences sociales (1995), n°106-107, p. 67-79).
46 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

La tentation comparatiste nÊest pas elle-même sans danger. Elle


participe du tournant idéologique: bouclier contre les nationalismes
et les particularismes, il est significatif quÊelle apparaisse par exem-
ple dans des périodes dÊespoir européen, comme les années 1920
ou celles que nous vivons. La mode du comparatisme, dans une pé-
riode de remise en cause historiographique, a récemment fleuri sur
un terrain largement inculte, en tout cas en France. Malgré les réfé-
rences récurrentes aux grands textes canoniques de François
Simiand et surtout de Marc Bloch, la démarche comparative nÊa été
que rarement empruntée par les historiens, en particulier de
lÊépoque contemporaine, et elle demeure dÊun usage prudent et
pragmatique.42 Elle commence à être théorisée, notamment dans les
recherches franco-allemandes, en particulier autour des travaux de
Michel Espagne et Michael Werner sur la notion de ıtransferts
culturels„, qui insiste sur les mécanismes de déplacements, de gref-
fes, de métamorphoses quÊon peut voir à lÊfluvre dans le passage et
donc dans la comparaison entre plusieurs entités culturelles, et
dÊautre part, dans la comparaison sur la notion dÊélites, engagée par
Christophe Charle et un collectif international sur ılÊespace universi-
taire européen„.43 Cela dit, le comparatisme comporte des limites
épistémologiques et des difficultés méthodologiques. Soulignées par
Michel Espagne, les limites du comparatisme tiennent à ce quÊil
tend à pétrifier les oppositions entre les unités observées, nationales,
sociales, à définir celles-ci comme des totalités cohérentes et closes,
sans mettre suffisamment lÊaccent sur les processus mêmes de diffé-
renciation, mais aussi dÊinterrelations. Les difficultés résident dans la

42 Hartmut Atsma, André Burguière (dir.): Marc Bloch aujourd’hui. Histoire comparée et
sciences sociales, Paris 1990.
43 Michel Espagne, Michael Werner (dir.): Transferts. Les relations interculturelles dans
l’espace franco-allemand, Paris 1988. Pour Christophe Charle, voir C. Charle, Edwin
Keiner, Jürgen Schriewer (dir.): A la recherche de l’espace universitaire européen, et
C. Charle: Les intellectuels en Europe au XXe siècle, op. cit.
47

nécessité dÊopérer des choix en évitant de définir a priori les sujets


ou phénomènes à expliquer, pour déterminer plutôt en premier lieu
des unités dÊobservation, essentiellement la pertinence du cadre na-
tional, mais aussi des niveaux dÊanalyse qui, en dépassant la seule
alternative des similitudes et des différences, permettent dÊinsister
sur les mécanismes de croisement et les écarts significatifs.44 Notre
propre enquête ne fait que commencer, de manière beaucoup plus
empirique, notamment par la mise en route de recherches thémati-
ques, aussi délimitées que possible, sur ıLes revues européennes„
de lÊentre-deux-guerres (Berlin 1994), puis de lÊaprès-guerre (Paris
1996), sur les ıEncyclopédies et encyclopédistes du XXe siècle„, sur
lÊétude comparée des réactions des intellectuels de plusieurs pays
face à la Guerre du Golfe.
DÊores et déjà, on peut tirer en conclusion de cette démarche
comparative deux séries dÊenseignements. Du moins le fais-je à titre
personnel. Tout dÊabord, sur le plan méthodologique: on veut dis-
tinguer deux manières de concevoir la comparaison. Une manière
que je qualifierai de ıconcrète„, à lÊfluvre dans les recherches sur
les transferts culturels ou, dÊune certaine manière, quand on limite
la comparaison à lÊhistoire européenne. Il sÊagit ici de comparer du
comparable cÊest-à-dire de définir préalablement un espace dÊen-
quête (lÊEurope) suffisamment homogène pour passer en quelque
sorte de la comparaison à la fusion. Une autre manière, que
jÊaimerais personnellement mettre en fluvre, est de considérer le
comparatisme comme une véritable expérimentation, avec tout le
risque dÊabstraction que cela comporte. Il sÊagirait beaucoup plus ici
dÊopérer un déplacement volontaire de concepts dÊune historiogra-
phie à une autre, un ıcroisement de problématiques„, comme lÊécrit
Christophe Charle, en appliquant par exemple à lÊhistoriographie

44 Michel Espagne: Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle, in: Genèses
(1994), n°17, p. 112-121.
48 Michel Trebitsch: L’Histoire des intellectuels en France

française des concepts ıétrangers„ tels que ıacademisation„, ıBil-


dungsbürgertum„, voire ıSonderweg„, pour dégager non seulement
des ressemblances ou des écarts significatifs, mais mettre lÊaccent sur
lÊespèce dÊinconscient national collectif à lÊfluvre dans toute tenta-
tive de théorisation.45 LÊhypothèse principale étant, en ce qui me
concerne, lÊinclusion dans lÊhistoire politique de lÊhistoire des intel-
lectuels, mais dans une histoire du politique et de la représentation,
en référence fondamentale à lÊidentité nationale, notamment au
modèle des Lumières puis au modèle romantique. LÊintellectuel ne
se définit comme tel que parce quÊil intervient dans le champ du
politique, mais dÊune manière fondamentalement symbolique et
ıméta-politique„. En ce sens, on en revient à des considérations as-
sez classiques depuis Sartre: lÊintellectuel, défini par sa fonction cri-
tique, sÊaffirme comme lÊautre, lÊautre de lÊEtat, lÊautre du pouvoir,
lÊautre du sacré, lÊautre de lÊorthodoxie et de toute orthodoxie.

45 Robert Tombs: Was there a French „Sonderweg“?, in: European review of history
1994, n°2, p. 169-178. Voir aussi Christophe Charle: Intellectuels, „Bildungsbürger-
tum“ et „professions“ au XIXe siècle, in: Actes de la recherche en sciences sociales
(1995), n°106-107, p. 85-95.
49

Netzwerke und Intellektuelle.


Konzeptionelle Überlegungen zur politischen
Rolle eines zivilgesellschaftlichen Akteurs
François Beilecke
50 François Beilecke: Netzwerke und Intellektuelle

In einem vor kurzem erschienenen Essay haben Wolfram Burkhardt


und Johan Frederik Hartle eine Topographie des Intellektuellenmi-
lieus vorgeschlagen, welche sich in exemplarischer Weise auf eine
Reihe von Begriffen stützt, die für die Terminologie in der neueren
historisch-sozialwissenschaftlichen Intellektuellenforschung charakte-
ristisch ist: ıDer Raum des Intellektuellen lässt sich als eine Land-
karte von Zentren und Peripherien beschreiben. Als Zentren lassen
sich die jeweils führenden hegemonialen und gegenhegemonialen
Zirkel beschreiben. Diese Zirkel gruppieren sich um verschiedene
politische Institutionen bzw. Bewegungen, um Universitätsinstitute
und Akademien, Verlage und Zeitschriften etc. Intellektuelle Zen-
tren können lange Zeiträume bestehen und rekrutieren in einem
Vorgang ständigen Austausches je nach intellektueller Ausstrah-
lungskraft neue Beteiligte. [...] Die Peripherie des intellektuellen
Raumes bildet jenes ausgebildete Potenzial nachwachsender Kräfte,
welches sich den verschiedenen Netzwerken anschließen kann oder
eigene neue Zentren bildet. Es reproduziert sich auch thematisch
ständig, da der Bedarf an neuen Vermittlern und Vermittlungsfor-
men verschiedener Hegemonialverhältnisse eher wächst als sinkt.
[...] So wird die Bundesrepublik ebenso wie Frankreich, Italien oder
die USA von verschiedenen Intellektuellen-Netzwerken durchzogen,
die in den Zentren selbst, an den Rändern der Zentren und in der
Peripherie auf verschiedene Weise zu unterschiedlichen Zeiten
mehr oder weniger geöffnet oder geschlossen, öffentlich präsent
oder untergründig-versteckt und politisch dynamisch oder undyna-
misch waren oder sind.„1 Berücksichtigt man weiterhin, daß für die
Autoren ınur der Raum des Politischen [...] der Ort des Intellektuel-
len„2 sein kann, und daß sie zudem die ıLegitimität der öffentlichen

1 Wolfram Burkhardt, Johan Frederik Hartle: Über den Typus des streitbaren Intellek-
tuellen, in: Vorgänge 40 (2001), Nr. 156, S. 8f.
2 Ebd., S. 6 (Hervorhebung i. Orig.).
51

Interventionen politischer Intellektueller [...] in ihrer kommunikati-


ven Macht begründet„3 sehen, wird zunächst eines deutlich: Weder
das Ideal des ıKritiker[s] als Held„,4 noch die Vorstellung einer au-
tonomen ıfreischwebenden„ Intelligenz,5 und ebensowenig der von
Lyotard Mitte der 1980er Jahre zu Grabe getragene Meister der
großen Erzählung6 dienen der neueren Intellektuellenforschung als
leitende Konzepte.7
Im Gegenteil: Der moderne Intellektuelle wird nunmehr als fait
social akzeptiert, d.h. als Sozialfigur, die gegen Ende des 19. Jahr-
hunderts in allen Gesellschaften westlicher Prägung in Erscheinung
getreten ist und unter den jeweiligen politisch-kulturellen Bedingun-
gen der verschiedenen Länder die Rolle eines politischen Akteurs
eingenommen hat. So unterscheidet z.B. Hauke Brunkhorst zwi-
schen dem aufklärerisch-intervenierenden französischen intellectuel
und dem konservativ-akademischen deutschen Mandarin, um die
nationalspezifischen Erscheinungsformen dieser neuen Sozialfigur
zu charakterisieren.8
Wie das längere Zitat von Burkhardt und Merle aber auch ver-
deutlicht, hat sich dank dieser neuen Betrachtungsweise des Intel-
lektuellenphänomens vor allem die Erkenntnis durchgesetzt, daß
die spezifischen Vergesellschaftungsformen von Intellektuellen die
Eigenständigkeit dieser neuen Sozialfigur begründen. Unabhängig

3 Ebd., S. 9.
4 So Michael Walzer: Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert,
Frankfurt/Main 1991, S. 25.
5 So Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 1952, S. 134ff. und 213ff.
6 Vgl. Jean-François Lyotard: Tombeau de l’intellectuel et autres papiers, Paris 1984.
7 Zu den Ursachen, die einen entideologisierteren Umgang mit dem Intellektuellenphä-
nomen ermöglicht haben, s. den Beitrag von Michel Trebitsch in diesem Band sowie
Hans Manfred Bock: Anmerkungen zur historischen Intellektuellenforschung in Frank-
reich, in: Lendemains 17 (1992), Nr. 66, S. 16-26.
8 Vgl. Hauke Brunkhorst: Der Intellektuelle im Land der Mandarine, Frankfurt/Main
1987; vgl. kritisch hierzu Hans Manfred Bock: Der Intellektuelle und der Mandarin?
Zur Rolle des Intellektuellen in Deutschland und Frankreich, in: Frankreich-Jahrbuch
1998, Opladen 1998, insb. S. 36-38.
52 François Beilecke: Netzwerke und Intellektuelle

davon, ob Geistes- und Sozialwissenschaftler aus der Perspektive


des feldtheoretischen Ansatzes eines Pierre Bourdieu,9 des politisch-
und historisch-soziologisch fundierten Milieu-Ansatzes eines Jean-
François Sirinelli10 oder des Gramscianischen Konzepts der Zivilge-
sellschaft11 Intellektuellenforschung betreiben, stets wird der Tatsa-
che Rechnung getragen, daß Begegnungsorte und soziokulturelle Ge-
meinschaftsbildungen grundlegend für die Konstituierung von Intel-
lektuellen als gesellschaftliche Gruppe sind. Als Beleg hierfür sei auf
die Vielzahl von Studien über Cafés, Kolloquien, Redaktionskomi-
tees sowie über Zirkel, Schulen, Kreise, Gruppen, Bünde usw. hinge-
wiesen, die auch zu ersten Versuchen angeregt haben, eine allgemei-
nere Typologisierung intellektueller Assoziationen vorzuschlagen.12
Vergegenwärtigt man sich vor diesem Hintergrund nochmals die
von Burkhardt und Hartle vorgeschlagene Bestimmung des Intellek-
tuellen-Raumes, fällt auf, daß sie neben solchen Begriffen wie Zirkel
oder intellektuelle Zentren auch auf das Konzept des Netzwerks zu-
rückgreifen, um die spezifische Form der Intellektuellenvergesell-
schaftung in Europa und den USA zu veranschaulichen. Die Ver-
wendung dieses seit Anfang der achtziger Jahre auch in der deut-
schen Politikwissenschaft, insbesondere in der Politikfeldforschung
gängigen Konzepts13 ist zwar nicht prinzipiell überraschend, da so-

9 S. Anna Boschetti: Sartre et „Les Temps Modernes“. Une entreprise intellectuelle,


Paris 1985.
10 S. François Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel
einer Intellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt/Main 2003.
11 S. Alex Demirovic: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kriti-
schen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt/Main 1999.
12 Vgl. hierzu Nicole Racine, Michel Trebitsch (Hg.): Sociabilités intellectuelles: lieux,
milieux, réseaux, in: Cahier de l’IHTP (1992), Nr. 20; Richard Faber, Christine Holste
(Hg.): Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziatio-
nen, Würzburg 2000.
13 Vgl. hierzu Erik-Hans Klijn: Policy Networks and Network Management: A State of
the Art, in: Walter J.M. Kickert, Erik-Hans Klijn, Joop F.M. Koppenjan (Hg.): Mana-
ging Complex Networks. Strategies for the Public Sector, London u.a. 1997, S. 16-18,
sowie den Literaturüberblick bei Markus Perkmann: Die Welt der Netzwerke, in: PVS
(1998), Nr. 4, S. 870-883; Vgl. als repräsentative Studie Detlef Sack: Lokale Netzwerke
53

wohl in der amerikanischen, der französischen als auch jüngst in der


deutschen Intellektuellenforschung networks, réseaux und Netz-
werke als zentrale Analysekategorien genutzt werden.14 Als grund-
sätzlich problematisch erscheint bei Burkhardt und Hartle allerdings
die verschwommene und bildhafte Verwendung des Netzwerkbe-
griffs: Insbesondere die Erwähnung von Intellektuellen-Netzwerken,
die gar ganze Gesellschaften ıdurchziehen„, vermittelt (sicherlich
unbeabsichtigt) den eher bedrohlichen Eindruck einer untergründig
agierenden Verschworenengemeinschaft.15 Derartige Formulierun-
gen tragen nicht zur Klärung der Frage bei, ob Netzwerke nur eine
weitere Form der Intellektuellenassoziation darstellen, denen man sich
etwa wie einem Verein anschließt, oder ob es sich hier um ein ana-
lytisches Konzept handelt, das z.B. zur Charakterisierung der Struktur
oder Funktionsweise des Intellektuellenmilieus16 verwendet wird.

im Stress. Güterverkehrszentren zwischen Kombiniertem Verkehr und Standortkon-


kurrenz, Berlin 2002.
14 Vorreiter sind amerikanische Kulturanthropologen und Soziologen, die seit Mitte der
fünfziger Jahre das Netzwerkkonzept für behavioristische Studien operationalisiert
haben. Vgl. Elizabeth Bott: Family and Social Network: Roles, Normes, and External
relationships in Ordinary Urban Families, London 1957; S. im Bereich der Intellektu-
ellenforschung u.a. Charles Kadushin: Networks and Circles in the Production of Cul-
ture, in: American Behavioral Scientist 19 (1976), Nr. 6, S. 769-785; Racine, Trebitsch,
a.a.O.; Michel Grunewald (Hg.): Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine
Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern 2002.
15 Manfred Faßler hat etymologisch auf eine pejorative Verwendung des Netzwerkbe-
griffs hingewiesen, die – beruhend auf der Idee des Spinnennetzes – parasitäre bzw.
schädigende Auswirkungen von Vernetzungen auf das Gemeinwesen meint. Vgl. M.
Faßler: Netzwerke. Einführung in die Netzstrukturen, Netzkulturen und verteilte Ge-
sellschaftlichkeit, München 2001, S. 88-91.
16 Im weiteren Textverlauf wird mit dem Begriff „Intellektuellenmilieu“ aus makro-
soziologischer Perspektive das gesamte Intellektuellenfeld eines bestimmten Landes
bezeichnet. Die weiteren Unterteilungen dieser nationalen Intellektuellenmilieus
werden als intellektuelle Milieus bezeichnet, die z.B. sozialmoralischen Milieus im
Sinne von Lepsius oder politischen Teilkulturen zugeordnet werden können. Intellek-
tuellennetzwerke beziehen sich dabei auf die strukturfunktionale Dimension des Mi-
lieubegriffs. Vgl. auch Michel Grunewald, Hans Manfred Bock: Zeitschriften als Spie-
gel intellektueller Milieus. Vorbemerkungen zur Analyse eines ungeklärten Verhält-
nisses, in: Grunewald: Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, a.a.O., S. 28f.
54 François Beilecke: Netzwerke und Intellektuelle

Diese immer wieder monierte Unschärfe bei der sozialwissen-


schaftlichen Verwendung des Netzwerkbegriffs,17 die man selbst so
prominenten Autoren wie Manuel Castells vorgeworfen hat,18 ist ge-
rade mit Blick auf die Intellektuellenthematik bedauerlich. Sie ver-
wässert in unnötiger Weise ein analytisches Konzept, das eigentlich
– so die These dieses Beitrags – dazu beitragen kann, wesentliche
Erkenntnisse über die Interventions- und Einflußmöglichkeiten von
Intellektuellen zu gewinnen. Voraussetzung hierfür ist jedoch eine
Präzisierung dessen, was mit der Kategorie Netzwerk im Rahmen
der Intellektuellenforschung analytisch erfaßt werden soll. Wenig
hilfreich ist hierbei der Versuch, aus der mittlerweile unüberschau-
baren Literatur zur sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung den
einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen herauszuarbeiten, der als
allgemeinverbindlich für die Bestimmung des Netzwerkbegriffs Gel-
tung beanspruchen könnte. Eine derartige Netzwerktheorie liegt
trotz verschiedener Anläufe hierzu bis heute nicht vor,19 was sich
jedoch in keiner Weise hemmend auf die Entwicklung einer trans-
disziplinären Netzwerkforschung ausgewirkt hat. Wie Betina Holl-
stein in ihrer Studie zur Konzeption informeller Beziehungen und
Netzwerke treffend bemerkt hat, beruht die Attraktivität des Begriffs
auf dem intuitiven Verständnis, daß mit dem Konzept des sozialen
Netzwerks ein besseres Verständnis sowohl für die Bedingungen als
auch für die Folgen von Modernisierungsprozessen in den

17 Perkmann spricht sogar von einem „der prominentesten empty signifiers der Politik-
wissenschaft“ (a.a.O., S. 870). Es sei daran erinnert, daß die semantische Karriere des
Netzwerkbegriffs seit den 1960er Jahren von der technologischen Weiterentwicklung
im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung (Computer-Netzwerke und Inter-
net) getragen wird. Vgl. Faßler, a.a.O., S. 88-96.
18 Vgl. Perkmann, a.a.O., S. 874. Dieser spricht hier vom „glitzernden Faszinosum“ der
Castellschen Netzwerkgesellschaft.
19 Am umfassendsten hat dies sicherlich Manuell Castells versucht, vgl. M. Castells:
Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001. Vgl. aber auch Dirk Messner:
Die Netzwerkgesellschaft. Wirtschaftliche Entwicklung und internationale Wettbe-
werbsfähigkeit als Probleme gesellschaftlicher Steuerung, Köln 1995.
55

verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen erzielt werden kann.20


Für die sozialwissenschaftliche Forschung kann als kleinster gemein-
samer Nenner im Umgang mit dem Netzwerkbegriff festgehalten
werden, daß mit diesem Konzept eine spezifische Menge von in-
formellen und relativ stabilen Beziehungen zwischen sozialen Ak-
teuren beschrieben wird, wobei diese Akteure – je nach Disziplin
und Fragestellungen – ganz unterschiedliche soziale Einheiten sein
können, z.B. Regierungs- und private Wirtschaftsorganisationen,
Vereine, Haushalte, Familien oder Individuen. Netzwerke sind da-
bei durch ein Innen und Außen gekennzeichnet und stehen immer
in einem Austauschverhältnis mit anderen Netzwerken, wobei diese
wechselseitige Aufeinanderbezogenheit eher horizontaler denn ver-
tikaler Natur ist.21
Vergleicht man diese Arbeitsdefinition mit den Netzwerkbegrif-
fen, die in der historisch-soziologischen Intellektuellenforschung
Verwendung finden, so kann zunächst grundsätzlich festgestellt
werden, daß die meisten einschlägig arbeitenden Autoren den
Netzwerkbegriff im soeben dargelegten Sinne verwenden, jedoch
mit politisch-soziologischer Akzentuierung. Der Intellektuelle wird
hierbei in der nunmehr als klassisch zu bezeichnenden offenen
Definition von Ory/ Sirinelli als ein sozialer Akteur bestimmt, der als

20 Vgl. Betina Holstein: Grenzen sozialer Integration. Zur Konzeption informeller Bezie-
hungen und Netzwerke, Opladen 2001, insb. S. 43-54. Verwiesen sei u.a. auf neue
Entwicklungen in den Bereichen Technologie (hier nicht zuletzt im Bereich der Wis-
sensvermittlung), Wirtschaft (Unternehmen in vernetzten Märkten, Eigentums- und
Machtverhältnisse etc.), Politik (insb. im Zusammenhang mit Fragen über die Gren-
zen politischer Steuerbarkeit), Soziologie (Erforschung von Freundschaftsverhältnis-
sen, Formen der Solidarität, Konsumentenverhalten etc.) und Kultur (soziokulturelle
und religiöse Gruppenbildungen, z.B. künstlerische Bewegungen, intellektuelle Schulen-
bildung, Sekten etc.).
21 Vgl. die bis heute grundlegende Begriffsbestimmung bei James Clyde Mitchell: The
Concepts and Use of Social Networks, in: ders. (Hg.): Social Networks in Urban Situa-
tions. Analyses of Personal Relationships in Central African Towns, Manchester 1969,
S. 1-50.
56 François Beilecke: Netzwerke und Intellektuelle

ıun homme du culturel mis en situation dÊhomme du politique„22


eigene Interventionsformen und eigene Netzwerke (ıses propres
réseaux„) entwickelt.23 Wenn auch in vielen Studien auf eine
explizite Bestimmung dieser Netzwerkbeziehungen verzichtet wird,
können dennoch grob zwei analytische Anwendungsvarianten
unterschieden werden.
In der einen Variante, die sich quantitativ in den meisten Stu-
dien wiederfinden läßt, dient der Netzwerkbegriff in erster Linie der
Rekonstruktion solcher Beziehungsverhältnisse, die zur Konstituie-
rung des intellektuellen Feldes bzw. Milieus24 beitragen. Zumeist
geht es hierbei um die Rekonstruktion nationaler Milieus bzw. Teil-
milieus. Eine in der neueren französischen und deutschen Intellek-
tuellenforschung bisher unbeachteten Studie von Charles Kadushin
über The American Intellectual Elite25 kann als Prototyp eines For-
schungsansatzes angesehen werden, in welchem die Netzwerkbil-
dung als entscheidendes Merkmal intellektueller Vergesellschaft im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. In seiner bereits 1974 er-
schienenen Arbeit stellen Kreise bzw. Zirkel die konstitutive Formen
intellektueller Netzwerkbildung dar, die insbesondere dadurch cha-
rakterisiert sind, daß sie auf der Grundlage einer informellen und
auf Freiwilligkeit beruhenden Struktur den Austausch von kulturel-
len Produkten ermöglichen, die typischerweise von Intellektuellen

22 Pascal Ory, Jean-François Sirinelli: Les intellectuels en France. De l’Affaire Dreyfus à


nos jours, Paris 1992, S. 10. Diese Bestimmung ist auch von Intellektuellenhistorikern
und -soziologen, die z.T. mit anderen theoretischen Prämissen als Ory und Sirinelli
arbeiten, als Arbeitsgrundlage übernommen worden. Vgl. Rémy Rieffel: Les intellec-
tuels sous la Ve République, Bd. 1, Paris 1993, S. 16-17; allgemeine Hinweise bei
Michel Leymarie: Les intellectuels et la politique en France, Paris 2001, S. 8-12.
23 Vgl. ebd.
24 Die unterschiedlichen Termini, die zur Bezeichnung eines eigenständigen sozialen
Raums des Intellektuellen herangezogen werden, hängen meist von den theoreti-
schen Grundlagen des jeweiligen Analyseinstrumentariums ab, bezeichnen aber den
gleichen Sachverhalt. S. hierzu auch Fußnote 16.
25 Vgl. Charles Kadushin: The Amercian Intellectual Elite, Boston 1974.
57

produziert und konsumiert (bzw. bewertet) werden.26 Kadushin hat


sich bei seiner Untersuchung auf die core -Bereiche intellektueller
Zirkelbildung konzentriert, d.h. auf wichtige politisch-kulturelle Pe-
riodika, die als Orte höchster Verdichtung von intellektuellen Aus-
tauschprozessen das amerikanische Intellektuellenmilieu seit Ende
des Zweiten Weltkriegs bis in die siebziger Jahre strukturierten: The
New York Review, Commentary, HarpyÊs, Atlantic, The New Yorker
und The New York Times Book Review.27 Eines der interessantesten
Ergebnisse seiner Studie ist die besondere Bedeutung der
freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Intellektuellen einer
Alterskohorte, die sich als mindestens so milieustrukturierend erwie-
sen haben wie die inhaltliche Dimension der Debatten (die vor al-
lem durch den Kontext des Kalten Krieges geprägt waren).28
Die hier skizzierte Verwendung des Netzwerkbegriffs findet sich
ein gutes Jahrzehnt später in Forschungsarbeiten solcher Intellektu-
ellenforscher wieder, die sich an den Konzepten Jean-François
Sirinellis orientiert haben. Ohne hier im Detail auf die von ihm vor-
geschlagenen Analyseinstrumente eingehen zu wollen,29 sei jedoch

26 Vgl. hierzu Kadushin: Networks and Circles, a.a.O., S. 773-775. Hier heißt es auch zur
Funktion des Intellektuellen: „Intellectuals [...] produce ideas about values, morals,
politics, and esthetics, not for specialists but for so-called educated laymen and, of
course, for each other.“
27 Vgl. auch die sich u.a. auf Kadushin beziehende Arbeit von Jacoby, der die Situation
bis in die achtziger Jahre untersucht: Russell Jacoby: The Last Intellectuals. Ameri-
can Culture In The Age Of Academe, New York 1987.
28 Kadushin: Networks and Circles, a.a.O., S. 775. Dieser Blick auf die prägende Wir-
kung generationenspezifischer Sozialisations- und Erfahrungsmuster auf die Her-
ausbildung intellektueller Milieus und den damit verbundenen Ideologien und Dis-
kursen gehört auch in der französischen Intellektuellenforschung zu den analytischen
Schlüsselkonzepten. Vgl. die wegweisende Studie von Jean-François Sirinelli: Géné-
ration intellectuelle. Khâgneux et Normaliens dans l’entre-deux-guerres, Paris 1988,
sowie Michel Winock: Les générations intellectuelles, in: Vingtième siècle (1989), Nr.
22, S. 17-38.
29 Die Begriffstrias itinéraire, génération und sociabilité intellectuelle ist an anderer
Stelle bereits kritisch erörtert worden. S. hierzu Bock: Der Intellektuelle und der
Mandarin?, a.a.O., insb. S. 39-41; François Beilecke: „Der Intellektuelle ist tot, es lebe
der Intellektuelle!“ Anmerkungen zur neueren französischen Intellektuellenfor-
schung, in: Vorgänge 40 (2001), Nr. 156, S. 41-49.
58 François Beilecke: Netzwerke und Intellektuelle

auf eine Besonderheit des réseaux de sociabilité -Begriffs hingewie-


sen, die es von der amerikanischen Begriffsbildung unterscheidet.
Sirinelli verwendet dieses Konzept zwar ganz im Sinne Kadushins
als Instrument zur strukturellen Analyse des Beziehungsgef lechts in
und zwischen dauerhaften oder zeitlich begrenzten Gruppierungen,
denen anzugehören man sich entschließt und die nicht nach dem
Grad ihrer Institutionalisierung bestimmt werden;30 er erfaßt mit die-
sem Konzept folglich einen intermediären Bereich sozialer Grup-
penzugehörigkeit, der zwischen der Familie und der Mitgliedschaft
in Partei, Gewerkschaft etc. angesiedelt ist, wobei – hier wiederum
mit einem deutlich breiteren Blickwinkel als Kadushin – Ge-
sprächskreise, Redaktionskomitees politischer Kulturzeitschriften,
Verlagslektorate oder Salons als typische Beispiele intellektueller
Gruppenbildung untersucht werden. Diese bewußt offen gehaltene
Perspektive auf die vielfältigen Formen der Gruppenbildung, die
zur Strukturierung des (französischen) Intellektuellenmilieus beitra-
gen, muß allerdings vor dem Hintergrund seiner kritischen Ausein-
andersetzung mit dem feldtheoretischen Ansatz gesehen werden,
der von einigen Bourdieu-Schülern zur Analyse des Intellektuel-
lenmilieus angewendet worden ist.31 Sirinelli wendet sich insbeson-
dere gegen die Vorstellung, daß die Intellektuellensphäre auf einen
simplen Mechanismus reduziert werden könne, der auf der Durch-
setzung von Machtstrategien beruhe. Seine Kritik wendet sich insbe-
sondere gegen Bourdieus Definition des intellektuellen Feldes als
einen bipolaren sozialen Raum, in welchem bekannte Persönlichkei-
ten aus Wissenschaft und künstlerischem Betrieb mit Hilfe des ih-

30 Vgl. Jean-François Sirinelli: Le hasard ou la nécessité? Une histoire en chantier:


l’Histoire des intellectuels, in: Vingtième siècle (1986), Nr. 9, S. 101.
31 Prominentestes Beispiel ist die Arbeit von Boschetti über Sartre und die Les Temps
Modernes, die Sirinelli scharf kritisiert. Vgl. Boschetti, a.a.O., sowie Jean-François
Sirinelli: Les intellectuels, in: René Rémond (Hg.): Pour une histoire politique, Paris
1988, S. 199-231, insb. S. 216f.
59

nen zur Verfügung stehenden kulturellen Kapitals32 ideologische


Positionen bilden; es entsteht ein Feld, das im Sinne eines Überle-
genheits- und Unterlegenheitsschemas von einem Machtkampf ge-
prägt ist, bei dem ılinke„ und ırechte„ Intellektuelle die von ihnen
vertretenen Normen und Werte als dominierende kulturelle Ord-
nung durchsetzen wollen.33 Im Gegensatz zu diesem deterministi-
schen Modell stellt für Sirinelli das französische Intellektuellenmilieu
eben ein Netzwerk von Intellektuellengruppierungen dar. Diese
sociabilités intellectuelles organisieren sich auf der Basis einer
gemeinsamen ideologischen oder kulturellen Gesinnung sowie dif-
fuseren – aber ebenfalls wirkmächtigen – psychologisch-affektiven
Affinitäten, die sowohl einen gemeinsamen Willen als auch eine
gewählte Art des Zusammenarbeitens begründen.34 Daß eine enge
Auslegung des feldtheoretisch fundierten Ansatzes zur Analyse des
Intellektuellenphänomens auch in anderer Hinsicht auf seine Gren-
zen stößt, zeigen nicht zuletzt die neuesten Arbeiten des Bourdieu-
Schülers Christophe Charle: Für seine Analyse der transnationalen
Beziehungen zwischen deutschen und französischen Intellektuellen
im Hochschulbereich der Zwischenkriegszeit und dem dadurch
beförderten Wissens- und Wissenschaftstransfer greift er signifikan-
ter Weise auf den réseaux-Begriff, und nicht auf den Feldbegriff zu-
rück.35 Allerdings bleibt die Verwendung des Netzwerk-Konzepts

32 Bourdieu unterscheidet das ökonomische, das soziale und das kulturelle Kapital, auf
das soziale Subjekte zurückgreifen, um eine Klassenstruktur durchzusetzen und zu
reproduzieren. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaft-
lichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.
33 Vgl. Pierre Bourdieu: Homo Academicus, Paris 1984, insb. S. 98-104.
34 Vgl. Sirinelli: Les intellectuels, a.a.O., S. 216 -218. Eine Erörterung dieser Dimension
des Netzwerkbegriffs, die sich auf die Identitäts- und Koalitionsbildung der Akteure
im Netzwerk bezieht, muß an dieser Stelle aus Platzgründen ausbleiben. S. jedoch
u.a. Mark S. Granovetter: The Strength of Weak Ties: A Network Theory Revisited,
in: Peter V. Marsden, Nan Lin (Hg.): Social Structure and Network Analysis, Beverly
Hills, CA 1982, S. 105-131.
35 Vgl. Christophe Charle: The Intellectual Networks of Two Leading Universities: Paris
and Berlin 1890-1930, in: Christophe Charle, Jürgen Schriewer, Peter Wagner (Hg.):
60 François Beilecke: Netzwerke und Intellektuelle

hier weitgehend metaphorisch und leuchtet die Anwendbarkeit auf


transnationale Prozesse der intellektuellen Gruppenbildung in kei-
ner Weise aus.
Auch deutsche Geistes- und Sozialwissenschaftler haben – unge-
achtet der soeben skizzierten theoretischen Differenzen – u.a. diese
zwei französischen Hauptströmungen in der neueren Intellektuellen-
forschung mit unterschiedlicher Intensität rezipiert und ihren
Untersuchungen von Intellektuellenmilieus zugrundegelegt.36 Mit
Blick auf das Netzwerk-Konzept seien an dieser Stelle die historisch-
soziologischen Studien hervorgehoben, die im Rahmen einer
deutsch-französischen Kooperation zur Erforschung des deutschen
Intellektuellenmilieus, seiner Presse und seiner Netzwerke seit Ende
des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1950er Jahre vorgelegt worden
sind.37 Intellektuelle Netzwerkbildung wird hier – im Sinne Sirinellis
– als zentrales Konzept eines mikrosoziologischen Ansatzes einge-
führt, das zur Klärung der Frage ınach den soziokulturellen Konsti-
tuierungs- und Funktionsformen von Gruppen, Tendenzen und Be-
wegungen innerhalb der sozialmoralischen Milieus bzw. Teilkultu-
ren [in Deutschland]„38 beisteuern soll. Im Zentrum steht also auch
hier ein Netzwerk-Konzept, das – angepaßt an die spezifischen ge-
sellschaftlichen und politisch-kulturellen Bedingungen in Deutsch-
land – zur Strukturanalyse der nationalen Intellektuellen-Kultur im
genannten Zeitraum herangezogen wird. Während sich bei diesem

Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search


for Cultural Identities, Frankfurt/Main 2004, S. 401-450.
36 S. aus kultursoziologischer Perspektive Klaus Große Kracht: Zwischen Berlin und
Paris: Bernhard Groethuysen (1880-1946), Tübingen 2002, insb. S. 9-13; Aus histo-
risch-soziologischer Perspektive François Beilecke, Hans T. Siepe (Hg.): André Gide
und der NRF-Kreis, in: Lendemains 26 (2001), Nr. 101/102, S. 80-198.
37 Diese von Michel Grunewald (Universität Metz) und Hans Manfred Bock seit den
neunziger Jahren erfolgende Zusammenarbeit hat eine Vielzahl französischer und
deutscher Historiker und Sozialwissenschaftler vereint, die sich in den letzten Jahren
auf die Erforschung deutscher Kulturzeitschriften konzentriert hat. Vgl. z.B. die Ta-
gungsakten in: Grunewald: Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, a.a.O.
38 Grunewald, Bock, a.a.O., S. 29.
61

Forschungsprojekt der Blick vor allem auf die Rolle von Kulturzeit-
schriften bzw. von bedeutenden Publizisten konzentriert, verweisen
andere Veröffentlichungen – unter anderen konzeptuellen Vorausset-
zungen – auf die Bedeutung von Kreisen, Gruppen, Bünde, (so der
George-Kreis, der Postdamer Forte-Kreis, der Max-Weber-Kreis),
aber auch Sozietäten, die als spezifische Form intellektueller Netz-
werkbildung die deutsche Intellektuellenlandschaft geprägt haben.39
Neben dieser dominierenden netzwerkorientierten Forschungs-
variante, die sich vor allem den Entstehungsbedingungen, den mi-
lieubildenden Faktoren sowie den spezifischen (trans-)nationalen
Erscheinungsformen des Intellektuellen als Sozialfigur gewidmet
hat, fallen die Ansätze, die den Netzwerkbegriff zur Ermittlung der
politischen Interventions- und Einflußmöglichkeiten dieses Akteurs
heranziehen, eher gering aus. Dies mag an der Tatsache liegen, daß
die u.a. von Michel Winock vorgeschlagene (und an der offenen
Definition Sirinellis angelehnte) Arbeitsdefinition des öffentlich en-
gagierten Intellektuellen bisher nicht als erweiterungsbedürftig an-
gesehen worden ist. Demnach ist der Intellektuelle ein Akteur, ıder
eine Reputation erworben hat oder anerkannte Kompetenzen im
kognitiven oder kreativen, wissenschaftlichen, literarischen oder
künstlerischen Bereich besitzt und seinen Status dazu benutzt, öf-
fentlich zu Fragen Stellung zu nehmen, die nicht sein Spezialgebiet,
sondern die gesamte politische Gemeinschaft betreffen, der er an-
gehört.„40 Diese auf französische Intellektuelle zugeschnittene Defini-
tion, die aber sicherlich auch für die Analyse des Intellektuellen-

39 Vgl. Faber, Holste, a.a.O., die sich konzeptuell an einer ideen- und gesellschaftshisto-
risch begründeten Soziologie der Intellektuellenvergesellschaftung im Sinne von
Wolfgang Essbach orientieren; S. auch den kommunikations- und gesellschaftshisto-
risch orientierten Ansatz, der u.a. zur Analyse der Vergesellschaftung von Gelehrten
verwendet wird, in: Holger Zaunstöck, Markus Meumann (Hg.): Sozietäten, Netz-
werke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert
der Aufklärung, Tübingen 2003.
40 Michel Winock: Die Intellektuellen in der Geschichte Frankreichs, in: Frankreich-
Jahrbuch 1998, Opladen 1998, S. 53.
62 François Beilecke: Netzwerke und Intellektuelle

phänomens in anderen Ländern den Blick für eine der sichtbarsten


Interventionsmöglichkeiten des Intellektuellen geschärft hat,41 blen-
det jedoch durch ihre strikte Festlegung auf den Intellektuellen als
öffentlichen Protagonisten eine Reihe anderer und wichtiger For-
men politischer Interventionen aus, die diese Sozialfigur nachweis-
lich wahrgenommen hat. Zweifelsohne gehören Manifeste, Petitio-
nen, Protestnoten, die Reden auf Kongressen sowie das Abfassen
von politischen Essays für Zeitungen und Zeitschriften zu den origi-
nären Interventionsformen des politischen Intellektuellen, die in na-
hezu idealtypischerweise am Beispiel der Dreyfus-Affäre nachgewie-
sen werden können.
Doch bereits Anfang der neunziger Jahre hat insbesondere
Christophe Prochasson im Rahmen einer Studie zu sozialistischen
Intellektuellen in der Dritten französischen Republik darauf hinge-
wiesen, daß das Bild des öffentlich und für viele Bürger sichtbar en-
gagierten Intellektuellen, der in einem ıKampf der Manifeste„ um
die Deutungshoheit in politisch-weltanschaulichen Fragen ringt, ge-
rade auch für die Situation in Frankreich nicht das letzte Wort dar-
stellen kann. Eines seiner wichtigsten Ergebnisse, daß nämlich sozia-
listische Intellektuelle in Frankreich sich vor 1914 vor allem durch
die Elaborierung und Verwendung pädagogischer Formen der poli-
tischen Intervention auszeichneten (d.h. in allgemeinbildenden
Schulen, in Arbeiterschulen und Hochschulen sowie auf wissen-
schaftlichen Konferenzen etc. aktiv waren), beruht auf einer konzep-
tionellen Erweiterung des Netzwerkbegriffs, der als charakteristisch
für die zweite Variante der intellektuellen Netzwerkforschung ange-
sehen werden kann. Für Prochasson stellen ıOrte, Milieus, und
Netzwerke den Rahmen für ihre berufliche Aktivität und für ihr po-

41 Vgl. als Beispiel den einleitenden Beitrag von Thomas Hertfelder über Kritik und
Mandat, in: Gangolf Hübinger, Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellek-
tuelle in der deutschen Politik, München u.a. 2000, S. 11-29.
63

litisches Engagement dar„,42 wobei Netzwerkbildungen zwischen


Zeitschriften und Gruppierungen nicht nur zur soziologischen und
politisch-ideologischen Binnenstrukturierung des intellektuellen Rau-
mes beitragen, sondern auch als ıoutils dÊune stratégie politique„,43
d.h. als Instrument politischer Intervention dienen. Die strukturana-
lytische Perspektive wird somit um die Dimension der politischen
Output-Analyse erweitert. Prochasson sowie der politische Soziologe
Rémy Rieffel, der im Rahmen seiner monumentalen Studie zur
Struktur und Funktionsweise des französischen Intellektuellenmi-
lieus in der Fünften französischen Republik auch eine Analyse der
ıMobilisierungsnetzwerke„ vorgenommen hat,44 lenken den Blick
auf einen politikwissenschaftlich außerordentlich interessanten
Sachverhalt: Daß nämlich Intellektuelle – im Sinne der theoretisch-
konzeptuellen Überlegungen z.B. in den Bereichen der Politikfeld-
analyse oder der Erforschung transnationaler Beziehungen – als
Personen oder Organisationen nicht nur Beziehungen zu Gruppen
innerhalb des Intellektuellen-Feldes bzw. -Milieus suchen und un-
terhalten, sondern eben auch zu Personen und Organisationen aus
den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.45 Je nach Anlaß
und Motivation – sei es der advokatorische Einsatz gegen ein kon-
kretes Unrecht oder aber die langfristig angelegte Umsetzung politi-
scher Ideen und Normen – nutzen Intellektuelle die ihnen als Res-
source zur Verfügung stehenden Netzstrukturen, um als politischer

42 Christophe Prochasson: Les intellectuels, le socialisme et la guerre 1900-1938, Paris


1993, S. 18 (Übers. F.B., Hervorh. i. Orig.).
43 Ebd.
44 Er spricht von der „observation des réseaux de mobilisation des clercs“; Rieffel,
a.a.O., S. 14.
45 Vgl. die allgemeinen Vorüberlegungen zur Netzwerkbildung zwischen verschiedenen
politischen Akteuren bei Klaus Schubert: Struktur-, Akteur- und Innovationslogik:
Netwerkkonzeptionen und die Analyse von Politikfeldern, in: Dorothea Jansen, Klaus
Schubert (Hg.): Netzwerke und Politikproduktion. Konzepte, Methoden und Perspek-
tiven, Marburg 1995, S. 223-225; weiterhin die Ausführungen zu Netzwerkakteuren
bei: Margaret E. Keck, Kathryn Sikkink: Activists Beyond Borders. Advocacy Net-
works in International Politics, Ithaca u.a. 1998, S. 1-10.
64 François Beilecke: Netzwerke und Intellektuelle

Akteur das Verhalten von Individuen oder Institutionen zu verän-


dern bzw. auf politische Entscheidungsprozesse Einfluß zu gewin-
nen. Prochasson rekonstruiert auf dieser konzeptuellen Grundlage
die Netzwerkbildungen von sozialistischen Intellektuellen, die von
der Redaktion der Revue socialiste über das linke Hochschul-
lehrermilieu bis in die Ministerialbürokratie reichten und einigen
Intellektuellen sogar kurzzeitig die Möglichkeit gaben, sich auf poli-
tisch-administrativen Positionen für ihre sozialreformerischen Ideen
einzusetzen.46 Ähnliche Beziehungsgeflechte sind auch für das re-
publikanische Intellektuellenmilieu der Dritten französischen Re-
publik sowie für das katholische Intellektuellenmilieu der Weimarer
Republik nachgewiesen worden.47
Die soeben erwähnten Forschungsergebnisse verdeutlichen, daß
diese zweite Variante des Netzwerkbegriffs für die systematische
Erforschung der politischen Interventionen und der politischen Ein-
flußnahme durch Intellektuelle als politikwissenschaftlich ertragreich
und ausbaufähig erscheint. Wenn auch im Rahmen dieses Beitrags
auf weitere klärungs- und vertiefungswürdige Aspekte dieses Kon-
zepts nicht eingegangen werden kann,48 soll jedoch abschließend
noch auf den Interventionsbereich der transnationalen Politik hin-
gewiesen werden, der sich gerade durch den output-orientierten Be-
griff des Intellektuellennetzwerks erschließen und erklären läßt: So
verdeutlichen die von Hans Manfred Bock durchgeführten und an-

46 Prochasson, a.a.O., S. 122-134.


47 Vgl. Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik, a.a.O., S. 146-208;
Michel Grunewald (Hg.): Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine
Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern 2005 (i.E.).
48 Dies wird Gegenstand einer von mir geplanten größeren, Studie sein. Neben der
theoriehistorischen Frage nach konzeptuellen Vorläufern zur Erfassung von Intellek-
tuellennetzwerken u.a. bei Autoren wie Georg Simmel, müßte sicherlich dem Aspekt
der Verwendbarkeit des hier vorgestellten Netzwerkbegriffs für den europäischen
Vergleich größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zudem müßte die Frage nach
der Konstituierung von Beziehungen zwischen Intellektuellennetzwerken und Netz-
werken aus anderen Milieus (z.B. politischen Milieus im engeren Sinne, journalisti-
schen Milieus, gewerkschaftlichen Milieus etc.) konzeptionell vertieft werden.
65

geleiteten Projekte zur Erforschung transnationaler Austausch- und


Verständigungsarbeit im deutsch-französischen Kontext, daß nicht
zuletzt Intellektuelle als zivilgesellschaftliche Akteure ıim Interak-
tionsgeflecht zwischen Politik [...] und Gesellschaft„49 eine wegberei-
tende Rolle bei der Institutionalisierung binationaler Kooperations-
projekte gespielt haben und auch an der Herausbildung grenzüber-
schreitender Netzwerke beteiligt waren.50 Sowohl bei der Gründung
des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg als auch bei der
Entstehung des Deutsch-Französischen Jugendwerks51 waren Intel-
lektuelle in den späten 1940er und in den 1950er Jahre u.a. über das
ıNetz sozio-kultureller Mittlereinrichtungen„ an der Gestaltung die-
ser verständigungspolitischen Einrichtungen beteiligt. Die sich hier
abzeichnende Rolle von Intellektuellen als politische Akteure in
trans- und internationalen Prozessen, die auch Anknüpfungspunkte
mit neuesten Forschungen zur Rolle transnationaler advocacy net-
works anbietet, verdeutlicht erneut die Notwendigkeit, die analyti-
sche Tragweite des Netzwerkbegriffs für die Erforschung eines poli-
tischen Akteurs fruchtbar zu machen, dessen politischen Hand-
lungsspielräume sowohl in historisch als auch in zukunftsorientierter
Perspektive bisher nicht genügend ausgelotet worden sind.

49 Hans Manfred Bock: Einleitung, in: ders. (Hg.): Gesellschaftliche Neubegründung in-
terkulturellen Austauschs. Zur Vorgeschichte und Struktur des Deutsch-Französi-
schen Jugendwerks 1949-1963, in: Lendemains 27 (2002), Nr. 107/108, S. 140.
50 S. den Überblick bei Hans Manfred Bock: Transaction, transfert et constitution de
réseaux. Concepts pour une histoire sociale des relations culturelles transnationales,
in: ders., Gilbert Krebs (Hg.): Echanges culturels et relations diplomatiques. Présences
françaises à Berlin au temps de la République de Weimar, Asnières 2004, S. 7-31.
51 Vgl. Hans Manfred Bock (Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle
der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg,
Opladen 1998; ders. (Hg.): Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürger-
sinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003.
67

Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch


„spezifischer“ Intellektueller
Lothar Peter
68 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

Obwohl Pierre Bourdieu von Beginn seiner wissenschaftlichen Tä-


tigkeit an mit politischen Problemen in Berührung kam – er betrieb
seine ersten soziologischen Forschungen unter dem Vorzeichen ei-
nes Befreiungskrieges, nämlich der algerischen Bevölkerung gegen
ihre französischen Kolonialherren –, hat sein Selbstverständnis als
engagierter Intellektueller, der sich dem Prinzip eines ıkorporativi-
stischen Universalismus„ verpflichtet fühlt, erst im Laufe einer län-
geren Entwicklung seine charakteristischen Konturen gewonnen.
Bourdieu war kein Senkrechtstarter der französischen Intellek-
tuellenszene und er kam, ganz im Gegensatz zu den typischen
Merkmalen einer glanzvollen Intellektuellenkarriere, in einem dop-
pelten Sinn – sowohl der geographischen als auch der sozialen Her-
kunft nach – ıvon unten„.1 Seine Heimat war das Béarn im äußer-
sten Südwesten Frankreichs, am Fuße der Pyrenäen, wo er in einem
Dorf etwa zwanzig Kilometer von Pau entfernt seine Kindheit ver-
brachte. Die Mutter stammte aus einer bäuerlichen Familie, der Va-
ter war ein kleiner Postbeamter. Diese für prominente französische
Intellektuelle ganz ungewöhnlichen Herkunftsbedingungen sind,
solange Bourdieu lebte, auf unterschiedliche und widersprüchliche
Weise in seinem Denken virulent geblieben. Einerseits fühlte er sich
irgendwie immer als Außenseiter, ohne Zugang zum Kreis der
ıAuserwählten„, andererseits versuchte er unablässig diejenigen, die
mit ihm konkurrierten, zu übertreffen und mit ihren eigenen Waffen
zu schlagen. Seine profunden Analysen sind, wie ich sagen möchte,
mit den Kriegszeichen exzellenter klassischer Bildung geschmückt,
als wollte er denen, die er als Gegenspieler empfand, zeigen, dass er
alles nicht nur genau so gut, sondern sogar wesentlich besser könne
als sie. Seine Untersuchungen und mündlichen Äußerungen wim-
meln von gelehrten Anspielungen, Gräzismen, Belegen unerhörter
Belesenheit und einer geradezu stupenden Vertrautheit mit dem

1 Vgl. Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt/Main 2002, S. 95ff.


69

Fundus humanistischer Bildung. Das hätte manchmal sogar etwas Auf-


dringliches, wären da nicht gleichzeitig die inhaltliche Relevanz, die
analytische Schärfe und systematische Stringenz seiner Forschungen.
Auf jeden Fall begann die Konstituierung einer intellektuellen
Identität bei Bourdieu nicht mit einer positiven Selbstdefinition, ei-
ner offensiven Programmatik oder einem ıBekenntnis„, sondern mit
der kritischen Distanzierung vom intellektuellen Feld, seinem eigen-
tümlichen Code, seinen Beziehungsnetzen, Hierarchien, Ritualen,
Ausschlusspraxen und vor allem von seinen Protagonisten und Ga-
lionsfiguren.
Als Bourdieu zwanzig war, wurde die intellektuelle Szene – und
das blieb so bis in die sechziger Jahre – so unangefochten von Jean-
Paul Sartre beherrscht, dass jeder Versuch, sich in dieser Szene zu
verorten, nicht umhin kam, zu Sartre Stellung zu nehmen, sei es
durch Idolatrie, Identifikation, Abscheu oder was immer. Bourdieu
wählte den Weg der soziologischen Auseinandersetzung mit der
Dominanz Sartres über die intellektuelle Welt Frankreichs, weil die-
ser Weg es ihm am ehesten zu erlauben schien, eine eigene intellek-
tuelle Identität aufzubauen und aus dem Schatten Sartres heraustre-
ten zu können.2 Diese Analyse begnügte sich weder damit, Sartre
durch simplifizierende Zuschreibung seiner bürgerlichen Klassen-
zugehörigkeit zu erledigen, wie dies im Umfeld der Kommunisti-
schen Partei (PCF ) nicht selten geschah, noch ihn als ideologischen
Verführer zu ächten. Bourdieus Versuch, das ıPhänomen Sartre„ zu
begreifen und seine Beziehung zum intellektuellen Feld zu erken-
nen, setzte mit einer allgemeineren, wissenschaftskritischen Be-
standsaufnahme dessen ein, was sich nach 1945 auf diesem Feld ab-
spielte. Bourdieu steckte es ab und beschrieb seine Markierungen.

2 Vgl. im folgenden Pierre Bourdieu, Jean-Claude Passeron: Soziologie und Philosophie


in Frankreich seit 1945: Tod und Wiederauferstehung einer Philosophie ohne Subjekt,
in: Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen
und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 3, Frankfurt/Main 1981, S. 496-551.
70 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

Es handelte sich seiner Meinung nach philosophisch um ein Ter-


rain, von dem sich die ıSubjektphilosophie„, sei es im Anschluss an
den Rationalismus eines Léon Brunschwicg oder den Spiritualismus
Henri Bergsons, nicht nur nicht zurückgezogen hatte, sondern auf
dem sie mit dem Existenzialismus sogar eine spektakuläre Renais-
sance erlebte. In diesem ılinken„, sich von Heidegger scharf abhe-
benden Existenzialismus traten neue Elemente hervor: die Rolle der
Arbeiterklasse, die zum Sieg über die deutschen Nazi-Okkupanten
und französischen Vichy-Kollaborateure wesentlich beigetragen
hatte, das Verhältnis von Existenzialismus und Marxismus, die
Frage nach dem Verhältnis von Moral und Politik und nach der
Bedeutung der Authentizität individuellen Handelns. Die führenden
Zeitschriften dieser Zeit, Esprit und Les Temps Modernes, waren
die für die Präsentation der ıgeweihten Worte„ geeigneten Foren
der existentialistisch und subjektivistisch inspirierten Intellektuellen.
Daraus entwickelte sich nach der Beobachtung Bourdieus wie nie
zuvor eine ıvollständige Manifestation der dem intellektuellen Feld
in Frankreich eigenen Logik„, die vor allem darin bestand, dass ihre
Akteure sich zu allem äußerten, zur Politik, Kunst, Philosophie,
Gesellschaft oder Psychoanalyse, um ihre Meinungsbekundungen
häufig mit politischen ıPetitionen„ zu krönen. Daraus resultierte
eine ıstarke Integration des intellektuellen Feldes„, wo jeder über
jedes Thema etwas sagen zu können glaubte. Jean-Paul Sartre hat
diesen Typus des ıtotalen Intellektuellen„, der an mehreren Fronten
gleichzeitig kämpft, am reinsten verkörpert. In ihm sah Bourdieu
den Protagonisten einer Ideologie, in der radikaler Subjektivismus
und eine den Erfordernissen wissenschaftlicher Strenge verächtlich
gegenübertretende philosophische Haltung konvergierten. Vor
allem die Attacken der subjektivistischen Philosophen und
Intellektuellen, kamen sie nun aus den Reihen des katholischen
Personalismus um Esprit oder aus dem Spektrum ihres existentiali-
71

stisch-phänomenologischen Gegenstücks der Temps Modernes, also


der Gruppe um Sartre, Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-
Ponty, auf die Prinzipien und Standards der Sozialwissenschaften
und ihrer scheinbar trockenen, von methodischem Zweifel geleite-
ten Praxis, provozierten den Widerspruch Bourdieus. Gleichzeitig
ging er aber auch zum Hyperszientismus des Strukturalismus und
dem geschichtsindifferenten Denken von Claude Lévi-Strauss auf
Distanz, der seinerseits die spekulativen Ausschweifungen des Sub-
jektivismus mit einem von jeder verändernden menschlichen Praxis
klinisch gereinigten geschichtslosen System invarianter Strukturen
zu überwinden hoffte.3 Damit habe Lévi-Strauss aber den Zusam-
menhang der ıWissenschaft vom Funktionieren sozialer Systeme
mit der Wissenschaft von ihrer historischen Entwicklung„4 verloren.
Die Herstellung eben dieses Zusammenhangs sei die zentrale Lei-
stung Emile Durkheims gewesen, dem sich Bourdieu ebenso ver-
pflichtet fühlte wie der epistemologischen Theorie von Gaston
Bachelard, Georges Canguilhem und Jules Vuillemin oder der Ent-
wicklungspsychologie Jean Piagets, die alle auf ihre Weise versuch-
ten, die Gegensätze zwischen Philosophie und Wissenschaft auszu-
söhnen, ohne sich nach irgendwelchen intellektuellen Moden zu
richten. Hier zeichneten sich schon die ersten Umrisse des späteren
Selbstverständnisses Bourdieus als Intellektueller ab. Das Beharren
auf einer strikten Loyalität gegenüber den Ansprüchen wissen-
schaftlicher Tätigkeit, gegenüber methodischer Strenge, Unvorein-
genommenheit, kritischer Prüfung der eigenen Auffassungen und
Forschungsergebnisse sowie der Achtung vor den Geboten empiri-
scher Sorgfalt, nahm etwas von jenem ıUniversalismus„ des wissen-
schaftlichen Erkenntnisinteresses vorweg, der später, verknüpft mit
einer spezifischen Vorstellung vom beruflichen Ideal eines geistigen

3 Ebd., S. 525ff.
4 Ebd., S. 531.
72 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

ıKorporativismus„, das Intellektuellenbild Bourdieus entscheidend


prägen sollte. Die Auseinandersetzung mit Sartre, dem Titanen des
intellektuellen Feldes in der Zeit von der Befreiung Frankreichs
1944 bis in die Mitte der sechziger Jahre, war aber mit den kriti-
schen Kommentaren zum problematischen Verhältnis von Philoso-
phie und Sozialwissenschaften nicht zu Ende. Viele Jahre später nä-
herte sich Bourdieu erneut Sartre, jetzt in einer eher wissenssoziolo-
gischen Perspektive.5 Wieder bildete der Mythos des omnipotenten
ıtotalen Intellektuellen„, der gleichzeitig als Philosoph, Romancier,
Dramatiker, Publizist und Kunstexperte die öffentliche Bühne be-
tritt, den Ausgangspunkt. Bourdieu sah in der erfolgreichen Kon-
zentration unterschiedlicher Bestandteile kulturellen und symboli-
schen Kapitals in der Person Sartres die entscheidende Differenz zu
anderen prominenten Akteuren der französischen Intellektuellen-
szene. Wie äußerte sich das konkret? Merleau-Ponty war trotz seiner
literaturkritischen Aktivitäten ınur„ Philosoph geblieben; Camus
war gezwungen, den Rückzug aus der Philosophie anzutreten,
nachdem er den gründlich missglückten LÊhomme révolté (Der
Mensch in der Revolte) geschrieben hatte – danach war er ınur„
noch Schriftsteller; Maurice Blanchot musste sich mit dem Status
des Literaturkritikers, Georges Bataille mit dem eines Essayisten und
Raymond Aron, der ıkleine Kamerad„ von der Ecole normale su-
périeure in der Rue dÊUlm, mit dem des Soziologen und Politolo-
gen bescheiden, auch wenn alle Genannten die Grenzen ihres Sta-
tus durch öffentliche oder politische Interventionen zu überschreiten
versuchten. Nur Sartre gelang es aber, die unterschiedlichen intel-
lektuellen Qualifikationen zur Synthese zu bringen und sich vom
Publikum als ıtotaler Intellektueller„ adeln zu lassen. Mit Hilfe der
von ihm entwickelten Kategorien des kulturellen und symbolischen

5 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Erfindung des totalen Intellektuellen, in: Romanistische
Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1981), S. 385-391.
73

Kapitals dekonstruierte Bourdieu so den Mythos des ıtotalen Intel-


lektuellen„ als existentielle Selbstschöpfung, die sich aller Zwänge
und Schranken zu entledigen vermag. Gleichzeitig machte er auf
die besondere politische und ideologische Machtkonfiguration auf-
merksam, ohne die Sartres einzigartige Stellung, unbesehen seiner
außergewöhnlichen Talente, nicht möglich gewesen wäre. Die Kon-
frontation der beiden um nationale Hegemonie ringenden großen
Kulturen, nämlich des bürgerlichen Katholizismus zum einen und
der Kommunistischen Partei zum anderen, boten die historisch
einmalige Chance für Sartre, sich gegen den Katholizismus abzu-
grenzen, ohne seine geistige Unabhängigkeit gegenüber der Kom-
munistischen Partei, mit der er allerdings pathetisch sympathisierte,
jemals aufzugeben. So konnte Sartre, um die treffenden, von Flau-
bert auf sich selbst bezogenen Worte zu verwenden, ıleben wie ein
Bourgeois, aber denken wie ein Halbgott„.6 Bourdieu ging aber in
seiner wissenssoziologischen Analyse noch weiter, indem er die bio-
graphische Kontinuität des Sartreschen Trajektoriums ausleuchtete
und dessen Spuren bis in die Kindheit zurückverfolgte. Als gehät-
scheltes Wunderkind einer bürgerlichen Familie bewegte sich Sartre
im intellektuellen Aufstiegsmilieu der Elitegymnasien und Vorberei-
tungsklassen (Khâgnes) für den Eintritt in die Grandes Ecoles wie
ein ıFisch im Wasser„. Die frühe, ungebremste Verinnerlichung der
Selbstverständlichkeit, zukünftig in der Welt einen privilegierten
Platz einzunehmen, schuf das mentale Substrat für Sartres spätere
Aura, die aber nicht seinem Herkunftsmilieu, sondern aus-
schließlich seiner persönlichen Unvergleichbarkeit und Genialität
zugeschrieben wurde. Nach diesen soziologischen Relativierungen
und ernüchternden Befunden wies Bourdieu dann aber auch auf
den Punkt, an dem das wirkliche und authentische Engagement
Sartres begonnen habe, nämlich auf die unbeirrte ıAblehnung

6 Ebd., S. 389.
74 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

weltlicher Macht und weltlicher Privilegien (und wäre es der Nobel-


Preis)„7 sowie die kompromisslose Verteidigung intellektueller Au-
tonomie gegen alle Versuchungen, Drohungen und Befehle der
ızeitlichen Mächte„. Vor allem auf diesen letzten Aspekt sollte
Bourdieu zurückgreifen, um ihn in seine eigenen Vorstellungen da-
von, was ein Intellektueller sei, später einzubauen.
Bis zu Beginn der achtziger Jahre blieb Bourdieu als engagierter
Intellektueller eher blass, obwohl er schon eine enorme wissen-
schaftliche Reputation besaß. Der Studentenbewegung vom Mai
1968 hatte er skeptisch gegenüber gestanden; denn sie erinnerte ihn
zu sehr an jene privilegierte Verantwortungslosigkeit und Chuzpe
der Sprösslinge aus gutem Hause, mit denen er selbst in Berührung
kam, als er in ihre Domäne höherer Bildung eindrang und ihnen
die kulturelle Konsekration streitig zu machen wagte. Aber auch mit
der Arbeiterbewegung und der Kommunistischen Partei, von der
zahlreiche Intellektuelle sich angezogen fühlten, konnte Bourdieu
nichts anfangen. An einer Identifikation mit der Kommunistischen
Partei oder mit dem Status eines compagnon de route, wie ihn
Sartre zelebriert hatte, hinderte ihn ein wissenschaftliches Bewusst-
sein, das mit allen ideologischen Bindungsangeboten einen ıepi-
stemologischen Bruch„ (Gaston Bachelard) vollziehen und die Kon-
sequenzen dieses Bruches aushalten wollte.
Anfang der achtziger Jahre brachte Bourdieu gewisse Sympa-
thien für die neue gemäßigte Linke auf, die deuxième gauche jen-
seits der sozialistischen und kommunistischen Partei, in der die aus
dem linken Flügel der christlichen Gewerkschaften hervorgegan-
gene Gewerkschaft CFDT eine gewisse Rolle spielte. Vor den Prä-
sidentschaftswahlen 1981, die mit dem Sieg von François Mitterrand
endeten, unterschrieb er aus einer Protesthaltung heraus einen
Wahlaufruf zugunsten des populären Komikers Coluche. Dann

7 Ebd., S. 391.
75

ergriff er im Dezember desselben Jahres die Initiative zu einer


öffentlichen Protesterklärung gegen das Verbot der systemfeindli-
chen politischen Bewegung Solidarnosc im damaligen staats-
sozialistischen Polen. Zu diesem Zweck rief er zuerst Michel
Foucault an, der ohne zu zögern zusagte.8 Das war aber eher ein
spontaner, für Bourdieu bis dahin ungewöhnlicher Schritt, dem
keine gründliche Analyse vorausging und der insofern in Kontrast
zu seiner sonstigen politischen Zurückhaltung stand. Dass er sich an
Foucault wandte, überrascht auf den ersten Blick, und dies aus
mehreren Gründen. Man kannte sich zwar aus der gemeinsamen
Zeit an der Ecole normale supérieure, aber Bourdieu sah in
Foucault zunächst nur den aufstrebenden Repräsentant jener
ıtypisch französischen Helden„,9 wie er 1967 ironisch geschrieben
hatte, die ihr Prestige dem zweifelhaften Umstand verdanken, ıdass
[sie] in jedem Leser den Möchtegern-Intellektuellen ansprechen„.
Außerdem vertrat Foucault mit seiner Idee des ıspezifischen„ und
ılokalen Intellektuellen„ eine Auffassung, der Bourdieu wenig abge-
winnen konnte, auch wenn Foucault mit dem Einsatz der eigenen
Person bewies, dass es sich dabei nicht bloß um ein
Lippenbekenntnis handelte. Was aber hieß es, ein ıspezifischer„
oder ılokaler Intellektueller„ zu sein?10
Für Foucault war die Sartresche Figur des ıtotalen„ und ıuniver-
sellen Intellektuellen„ bereits überholt. In dieser Feststellung spiegel-
ten sich sowohl das Scheitern der hochgeschraubten Erwartungen
der nicht-kommunistischen intellektuellen Linken in die Bewegung
vom Mai 68 als auch ein realer Modernisierungsschub der französi-

8 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Mächte. Rückblick auf unsere Unter-
stützung der Solidarnosc, in: ders.: Interventionen 1961-2001, Hamburg 2003, S. 65.
9 Bourdieu, Passeron, a.a.O., S. 536.
10 Vgl. im folgenden Michel Foucault: Wahrheit und Macht. Interview mit Michel
Foucault von Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino, in: Michel Foucault: Dis-
positive der Macht, Berlin 1978, S. 43-54.
76 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

schen Gesellschaft wider, dessen massive Tendenzen wissenschaft-


lich-technischer Spezialisierung und funktionaler Differenzierung
alle idealtypischen Bilder von der Ganzheitlichkeit und dem Uni-
versalismus des Intellektuellen als obsolet erscheinen ließen.
Foucault nahm die Entwicklung von Modernisierung aufmerksam
wahr, hielt aber im Unterschied zu zahlreichen Modernisierungs-
theoretikern am Fortbestehen einer bis in die Kapillare der persön-
lichen Erfahrungen reichenden Struktur von Macht fest. Das zwang
in seinen Augen die Intellektuellen zu einer Redefinition ihrer eige-
nen Lage und Möglichkeiten. Sie sollten nun, so dachte Foucault, in
ihrer Arbeit nicht mehr nach dem Allgemeinen und für alle
Wahren suchen, sondern sich den spezifischen konkreten Heraus-
forderungen ihrer Lebens- und Arbeitssituation am Wohnort, in den
Kliniken, psychiatrischen Anstalten, Forschungslabors und Uni-
versitäten stellen. Indem der bürgerliche Schriftsteller und mit ihm
die Sakralisierung des Intellektuellen durch die Schrift verschwun-
den seien und sich Intellektualität auf die sachlichen Kompetenzen
qualifizierter intellektueller Arbeit und Professionalität verlagert
habe, veränderten sich Foucault zufolge auch die politischen Auf-
gaben der Intellektuellen. Sie kämpften nun als Experten und Spe-
zialisten, als Pharmakologen, Informatiker, Mediziner und Geneti-
ker auf je spezifischen, begrenzten Feldern gegen die Macht, der sie
ihr spezifisches Wissen entgegensetzten. Dabei ging es Foucault
nicht um Wahrheit ıan sich„, sondern darum, wie Wahrheit als
Macht produziert und diskursiv vergesellschaftet wird. Foucault
nahm seine eigenen Überlegungen ernst. Er initiierte die Gründung
der Groupe dÊinformation sur les prisons (GIP ),11 die sich den Zu-
ständen in den französischen Gefängnissen widmete, einer der ıGe-
heimzonen„ und ıDunkelzellen„ der Gesellschaft, auf die selten ein
Strahl öffentlicher Aufmerksamkeit fiel. Unter anderen unterzeich-

11 Vgl. Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt/Main 1999, S. 318-337.
77

nete auch Pierre Vidal-Naquet, ein Althistoriker, der wegen seines


Protests gegen den Algerienkrieg bekannt geworden ist, und Jean-
Marie Domenach, der damalige Leiter des linkskatholischen Esprit ,
den Gründungsaufruf der GIP. Einige Jahre waren die sich ver-
mehrenden GIP - Gruppen sehr aktiv und Michel Foucault selbst sah
in dieser Bewegung sein wichtigstes Projekt. Es stellte exemplarisch
ein Aktionsfeld für den ıspezifischen„ und ılokalen Intellektuellen„
dar, der die von Foucault geforderte kritische Analyse einer ıMi-
krophysik der Macht„ betrieb. Punktuell engagierte sich Foucault
aber auch bei anderen Anlässen, so etwa – und zwar gemeinsam
mit Jean-Paul Sartre – für die Rechte von Ausländern in Belleville
(Paris) oder einige Jahre später, als er zusammen mit dem Film-
schauspieler Yves Montand, dem Filmregisseur Costa Gavras und
anderen spontan nach Madrid flog, um dort gegen die drohende
(und schrecklicher Weise dann auch vollstreckte) Hinrichtung meh-
rerer, zumeist junger Gegner der Franco-Diktatur zu protestieren.12
Zunächst begegnete Bourdieu, wie schon bemerkt, Michel
Foucault mit unverhohlener Skepsis. Er sah in ihm den Modephilo-
sophen, auf den das Publikum seine Phantasien vom skandalisie-
renden, extravaganten Intellektuellen projiziert, und der seinerseits
durch entsprechende Selektionsrituale vorbereitet wird, den Erwartun-
gen des intellektuellen Feldes und seiner Zuschauer zu schmeicheln.
Wenn im Verlauf der Zeit die Distanz zwischen Bourdieu und
Foucault dennoch abnahm, so stellt sich natürlich die Frage, wie das
möglich wurde. Vielleicht gab es dafür nicht nur einen, sondern
mehrere Gründe. Die Polarisierung der Intellektuellen durch die
Existenz einer großen, das gesellschaftliche Leben weit über die
Sphäre der Politik hinaus beeinflussenden, eine Art kollektiver Ge-
genkultur erzeugenden kommunistischen Massenpartei hatte sich
abgeschwächt, weil deren Anziehungskraft zu schwinden begann.

12 Ebd., S. 376ff.
78 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

Die Erosion des traditionellen proletarischen Milieus, die Entste-


hung eines postfordistischen Arbeitstyps, das Wachstum der Mittel-
schichten und periodisch wiederkehrende Krisenerscheinungen im
Block der staatssozialistischen Länder wirkten – neben weiteren Fak-
toren – beim Bedeutungsverlust der Kommunistischen Partei zu-
sammen. Vielleicht haben diese Bedingungen Bourdieus Bereit-
schaft gefördert, sich öffentlich zu exponieren, weil er jetzt nicht
mehr befürchten musste, zwischen den beiden großen sozialen und
ideologischen Lagern zerrieben zu werden. Wie Foucault schon
früher begann nun auch Bourdieu, sich in die mit Emile Zola und
den dreyfusards begründete Tradition der engagierten linken Intel-
lektuellen einzureihen, indem er immer häufiger öffentlich Partei
ergriff. Auch wissenschaftlich näherten sich Bourdieu und Foucault
in einem spezifischen Punkt an: beide betonten den konstruktivisti-
schen Charakter von Rationalität, wenn sie diesen Charakter auch
aus einer ganz entgegengesetzten Blickrichtung kritisierten. Wäh-
rend Foucault Wahrheit ıan sich„ in einer Art Husserlscher epoché
einklammert, geht Bourdieu durchaus von einem Kritik erst be-
gründenden Wahrheits- und Rationalitätsbegriff aus, der sich histo-
risch entwickelt habe und eine nicht mehr preiszugebende, ständig
zu verteidigende zivilisatorische Errungenschaft darstelle.13 Immer-
hin war die Annäherung zwischen den beiden so weit gediehen,
dass Foucault Anfang des Jahres 1981 die Wahl Bourdieus in das
Collège de France, den Olymp aller wissenschaftlichen Reputation
in Frankreich, unterstützte. Bourdieu legte allerdings Wert darauf,
Stellung und Aufgabe des engagierten Intellektuellen anders zu be-
stimmen als Sartre und Foucault und er insistierte auf diesen Unter-
schieden. War das aber gerechtfertigt? Waren die Unterschiede tat-

13 Vgl. Loïc J.D. Wacquant: Auf dem Wege zu einer Sozialpraxeologie, in: Pierre
Bourdieu, Loïc J.D. Wacquant: Reflexive Anthropologie, Frankfurt/Main 1996, S. 77ff.
79

sächlich so groß wie Bourdieu behauptete? Überwiegen nicht letztlich


trotz eines gegenteiligen Anscheins die Gemeinsamkeiten aller drei?
Der späte Sartre entwickelte einen Begriff des Intellektuellen, der
unverkennbar von marxistischem Denken beeinflusst war und
längst nicht mehr den Schriftsteller zum Idealtyp des ungebunde-
nen, autonomen Anwalts von Freiheit und Menschenwürde stili-
sierte.14 Statt dessen ging Sartre von einer massiven Tendenz fort-
schreitender Arbeitsteilung und Vergesellschaftung von Wissen und
Wissenschaft in der modernen kapitalistischen Gesellschaft aus, die
eine wachsende Zahl von ıTechnikern„ und ıSpezialisten des prak-
tischen Wissens„, also von Ärzten, Ingenieuren, Juristen, Lehrern
und Wissenschaftlern hervorbringt. Unter kapitalistischen Bedin-
gungen ist die Situation der ıTechniker des praktischen Wissens„
doppelt bestimmt: einerseits suchen sie nach dem allgemeinen Nut-
zen eines Objekts oder einer Problemlösung, andererseits aber sind
sie von der Zwecksetzung ihrer Tätigkeit und der Verfügung über
ihre Arbeitsergebnisse ausgeschlossen. Was sie erforscht, analysiert
oder konstruiert haben, wird durch den Profit diktiert. Wenn ein
Arzt sich mit der Analyse des Blutes beschäftigt, so ist es gewisser-
maßen das Blut aller, aber die Resultate dieser Analyse werden ihm
aus den Händen genommen, um als Produkt und privates Eigentum
eines pharmazeutischen Konzerns auf dem Markt gewinnbringend
verkauft zu werden. In der Tätigkeit der ıTechniker des Wissens„
ist also ein Universalitätspotential enthalten, das zu den partikularen,
profitabhängigen Verwendungszwecken der wissenschaftlichen Pra-
xis in Widerspruch tritt. Jeder ıTechniker des Wissens„ ist demzu-
folge ein ıpotentieller Intellektueller„. Zum wirklichen Intellektuel-
len aber wird er erst dann, wenn er sich dieses Widerspruchs be-
wusst wird, seiner bürgerlichen Herkunftsklasse abschwört und sich

14 Vgl. Jean-Paul Sartre: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden
1950-1973, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 90-148.
80 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

selbst als ıTechniker des Allgemeinen„ entwirft. Dieses Allgemeine


ist aber kein fix und fertiges Ding, sondern etwas, das in einem un-
abschließbaren Prozess ständig neu geschaffen werden muss. Wenn
ein solcher Prozess aber wirklich einsetzt, entwickelt sich gleichzeitig
eine Parallelität zwischen den Anstrengungen des zum Intellektuel-
len gewordenen ıTechnikers des Wissens„ und der politischen Be-
wegung des Proletariats, das die gesellschaftliche Zukunft kollektiv
verkörpert und insofern dem Totalisierungsprinzip des ıwahren In-
tellektuellen„ korrespondiert. Dennoch bleibt der Intellektuelle ein-
sam und dieser Einsamkeit kann ihn weder eine unterwürfige Iden-
tifikation mit dem Proletariat noch der Eintritt in die Kommunisti-
sche Partei entreißen.15
War Bourdieus Intellektuellenverständnis sehr weit von dem
Sartres entfernt? Sicherlich, der Bezug auf ein revolutionäres Prole-
tariat spielt für ihn ebenso wenig eine Rolle wie die marxistisch ori-
entierte Unterordnung wissenschaftlicher Arbeit unter die Verwer-
tungsinteressen des Kapitals, die Sartre diagnostiziert. Statt dessen
behauptet Bourdieu einen strikten Gegensatz zwischen der Auto-
nomie des intellektuellen Feldes zum einen und den partikularen
Interessen anderer gesellschaftlicher Felder zum anderen, wie insbe-
sondere der Ökonomie, der Politik und der Medien, die über ihre
eigenen Spielregeln und Codes verfügen. Dem intellektuellen Feld
ist dagegen eine, wie Julien Benda gesagt hätte, von allen ıPassio-
nen der Laienwelt„ freie Logik eingeschrieben.16 Dieser universalisti-
schen Logik und nur ihr sind die dort handelnden Akteure ver-
pflichtet. Dem Künstler geht es Bourdieu zufolge ausschließlich um
Manifestationen, die allein ästhetischen Maßstäben gehorchen und
von allen persönlichen und sozialen, dem ästhetischen Code frem-
den Ambitionen, Vorteilserwägungen und Machtkalkülen gereinigt

15 Ebd., S. 121f.
16 Vgl. Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen, Frankfurt/Main u.a. 1983.
81

sind. Die Wissenschaftler ihrerseits können nur dann Wissenschaft-


ler sein, wenn sie sich ausschließlich von den Gesetzmäßigkeiten
und Eigenschaften ihrer Forschungsgegenstände und Problemstel-
lungen leiten lassen und den Schriftstellern geht es um nichts ande-
res als um die literarisch möglichst vollkommene Gestaltung des
Stoffes. Wenn die Intellektuellen und Kulturproduzenten den Ver-
suchungen nachgeben, die von kommerziellen Motiven oder den
Inszenierungen symbolischer Macht ausgehen, schließen sie sich aus
dem Universalismus aus, der ihr Feld definiert. Zwischen den tat-
sächlichen Kämpfen, Konkurrenzbeziehungen und Machtstrategien
der Akteure des intellektuellen Feldes und dessen eigentlicher uni-
versalistischer Logik, die eine Negation eben dieser Kämpfe um Po-
sitionsgewinn ist, muss also prinzipiell unterschieden werden.
An diesem Punkt gibt es sowohl Berührungspunkte mit Sartre,
der die Potentialität des Allgemeinen in der Praxis der wissenschaft-
lich-technischen Intelligenz als entscheidendes Vermittlungsmoment
zwischen einer bloß arbeitsteiligen Funktionserfüllung und dem
Selbstentwurf als Intellektueller betrachtet, als auch mit Foucault,
bei dem sich die Aktivität des ıspezifischen Intellektuellen„ nicht
positivistisch auf einen eng begrenzten Gegenstandsbereich be-
schränkt, sondern von einem bestimmten Punkt an ebenfalls ins
Allgemeine vorstößt, indem er ıwirkt oder kämpft auf einer allge-
meinen Ebene dieser Ordnung und Wahrheit, die für die Struktur
und das Funktionieren unserer Gesellschaft fundamental ist„.17 Die-
ser Punkt markiert die Schnittstelle zwischen den lokalen Kämpfen
der Intellektuellen und dem ıKampf um Wahrheit„, wobei sich
Foucaults Verständnis von Wahrheit jeder substantialistischen und
ontologisierenden Festlegung widersetzt. Ihm geht es nicht um
ıWahrheit an sich„, sondern um ihre diskursive Erzeugung und Dis-
semination, um ıWahrheitspolitik„, um die Ordnung von Wahrheit.

17 Foucault, a.a.O., S. 53.


82 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

Heißt das nun, dass sich Bourdieus Begriff des Universellen mit
dem Sartres und Foucaults im wesentlichen deckt? Es ist vor allem
Bourdieus normative Begründung des Universellen, die hier die dif-
ferentia specifica ausmacht. Es ist die Berufung auf die ıungeschrie-
benen Gesetze eines ethischen und wissenschaftlichen Universalis-
mus„, der den Intellektuellen ebenso legitimiert wie dazu auffordert,
das, was für sein eigenes künstlerisches, literarisches oder wissen-
schaftliches Feld konstitutiv ist, auch für die anderen gesellschaftli-
chen Felder, also das gesamte ıgesellschaftliche Universum„ einzu-
klagen.18 Dieser ıKorporativismus des Universellen„19 erinnert deut-
lich an die Botschaft, die Julien Benda schon 1927 an die Intellektu-
ellen, die clercs, gerichtet hatte, um sie vor den Verlockungen der
(von ihm allerdings gründlich missverstandenen) Lebensphilosophie
Bergsons, der nationalistischen Ideologie eines Maurice Barrès und
Charles Maurras, aber auch vor dem Kommunismus und einem
ımystischen Pazifismus„ zu warnen. Bei Bourdieu taucht die Radi-
kalität Bendas in verwandelter Form wieder auf, wenn er unablässig
und mit gelegentlich bis zur Penetranz sich steigernder Hartnäckig-
keit gegen die ıfalschen Intellektuellen„, die ıDoxosophen„, die
ıMedienintellektuellen„ im Stile eines Bernard-Henri Lévy, André
Glucksmann oder Philippe Sollers polemisiert, die sich um der
symbolischen Macht und der hohen Rendite ihres kulturellen Kapi-
tals willen verkaufen und damit ihre Identität verraten. Der ıKorpo-
rativismus des Universellen„ ist Bourdieus originärer Beitrag zur Be-
stimmung des modernen engagierten Intellektuellen, der aufgrund
seiner ıkorporativen„ feldbezogenen Kompetenz dazu legitimiert ist,
seine Stimme gegen Herrschaft, Entfremdung und soziale Exklusion
zu erheben, wo immer sie auftreten. Diese Legitimation beruht auf

18 Vgl. im folgenden Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht, hg. von Irene
Dölling, Hamburg 1991.
19 Vgl. Pierre Bourdieu: Der Korporativismus des Universellen, in: ders.: Die Intellektu-
ellen und die Macht, a.a.O., S. 41-65.
83

einer normativen Basis, die mit den auf Macht, Erfolg und ökono-
mischen Gewinn ausgelegten Codes des Marktes, des politischen
Systems und anderer gesellschaftlicher Felder absolut inkompatibel
ist und ihnen im ständigen Kampf abgerungen werden muss, um
ihre totale Hegemonie über die Gesellschaft abzuwehren. Im Begriff
des ıKorporativismus„ schwingt noch etwas von der Durkheim-
schen Vorstellung jenes beruflichen Ethos mit, das die unterschied-
lichen Gruppen aufgrund einer intrinsischen und identifikatorischen
Haltung zu ihrem jeweiligen Beruf als arbeitsteiligen Beitrag zur
ıorganischen Solidarität„ der in der Entstehung begriffenen Indu-
striegesellschaft einbringen sollten.20
Aber für Bourdieu bildet der intellektuelle Korporativismus kei-
nen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration, sondern steht zu die-
ser in einem kritischen und radikalen Gegensatz. Ähnlich wie Sartre
schreibt Bourdieu den engagierten Intellektuellen eine Sonderrolle
zu, die sie vor anderen gesellschaftlichen Gruppen auszeichnet und
autorisiert, im Namen universeller Werte auszusprechen, was ande-
ren, die in die Heteronomie und Doxa der alltäglichen Welt ver-
strickt sind, versagt bleiben muss. Verglichen damit ist Foucaults
ıspezifischer Intellektueller„ weniger elitär, denn seine Praxis unter-
scheidet sich im Grunde nicht von der anderer militants an anderen
Orten, wo Herrschaft ausgeübt wird, also in den Fabriken, Gefäng-
nissen oder Kliniken. Er kämpft mit den ihm zur Verfügung stehen-
den Mitteln an den Brennpunkten, an die ihn sein Leben und seine
Arbeit gestellt haben. Er hat kein Monopol auf Universalismus –
darin ist Foucault einerseits ıdemokratischer„ als Sartre und Bour-
dieu, aber es fehlt ihm andererseits der normative Impuls, ohne den
intellektuelles Engagement und Parteinahme substanzlos bleiben.

20 Vgl. Emile Durkheim: Einige Bemerkungen über die Berufsgruppen, in: ders.: Über
soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frank-
furt/Main 1988, S. 41-75.
84 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

Warum sollen Ärzte, Kulturproduzenten oder Angehörige der tech-


nischen Intelligenz die Übergriffe und Manipulationen der Macht
zum Anlass von Konflikten und Kämpfen machen, wenn sie in der
ıkorporativistischen„ Besonderheit ihrer Tätigkeit keinen morali-
schen Antrieb finden? Worin dieser Antrieb bestehen kann, wie der
ıKorporativismus des Universellen„ im historischen Prozess der
Autonomisierung des intellektuellen Feldes entsteht und sich als
oppositionelle politische Praxis organisiert, hat Bourdieu sehr schön
am Beispiel Emile Zolas gezeigt: ıDie Entwicklung des literarischen
Feldes zur Autonomie vollendend, versucht er, genau die Werte der
Unabhängigkeit, die sich im literarischen Feld behaupteten, in der
Politik wirksam werden zu lassen. Was ihm auch gelingt: Anlässlich
der Dreyfus-Affäre bringt er es zustande, in das politische Feld ein
Problem hineinzutragen, das nach den für das intellektuelle Feld
charakteristischen Trennungsprinzipien konstruiert war, und dem
sozialen Universum in seiner Gänze die ungeschriebenen Gesetze
jener besonderen Welt aufzuzwingen, deren Besonderheit indes ge-
rade darin besteht, sich auf das Allgemeine zu berufen.„21
Ebenso wie der ıtotale Intellektuelle„ Sartres und der ıspezifi-
sche Intellektuelle„ Foucaults stellt der ıKorporativismus des Uni-
versellen„ eine besondere Verarbeitungsform des jeweiligen kon-
kret-historischen Spannungsverhältnisses zwischen den Intellektuel-
len und der hegemonialen Ordnung sowie zwischen den kollektiven
Akteuren in den sozialen und politischen Kämpfen in einer be-
stimmten Situation dar. Ohne die Existenz einer kommunistischen
ıGegengesellschaft„, die bis in die HLM - Wohnungen22 von Saint-
Denis und Gennevilliers hineinreichte, und ohne die Perspektive
weltweiter revolutionärer Veränderungen von Russland über Alge-

21 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes,
Frankfurt/Main 1999, S. 210.
22 Habitation à loyer modéré. Abkürzung für Sozialwohnungen, deren Bau in den 1960er
Jahren in Frankreich staatlich gefördert wurde.
85

rien bis nach Cuba wäre der ıtotale Intellektuelle„ Sartres, der ge-
rade aus dieser Perspektive seine optimistische, aggressive Bedin-
gungslosigkeit schöpfte, nicht denkbar gewesen. Demgegenüber
verweist Foucaults Intellektuellenverständnis bereits auf die Zersplit-
terung des totalisierenden revolutionären Projekts in den Jahren
nach 1968. Die Massenstreiks und Fabrikkämpfe der Arbeiter flau-
ten rasch wieder ab, die rebellierenden Studenten gerieten in die
Sackgasse eines Aktionismus, den das herrschende System mühelos
isolieren und leer laufen lassen konnte, viele Vertreter der wissen-
schaftlich-technischen Intelligenz wandten sich der Modernisie-
rungsideologie der Sozialistischen Partei zu und die Befreiungsbe-
wegungen verloren mit der Erreichung ihres Ziels eine über dieses
Ziel hinausgehende Legitimation. Soziale Kämpfe und Arbeitskon-
flikte konnten zwar eine extreme Härte annehmen, wie etwa bei
den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Automobilwerk Talbot
in Poissy 1983/84, aber sie blieben punktuell und disparat.23 Gleich-
sam auf diese Gemengelage reagierte Foucault, wenn er seine Auf-
merksamkeit auf die Begrenztheit lokaler Kämpfe richtete, um dort
die Praxis der Intellektuellen zu situieren.
Mit der Krise der Arbeiterbewegung, der Erosion der Kommu-
nistischen Partei und dem nachlassenden Einfluss marxistischen
Denkens an den Universitäten und in den Schichten der Intelligenz
stieg der gesellschaftliche Druck auf die Autonomie des wissen-
schaftlichen und kulturellen Feldes, auf die Kritik- und Urteilsfähig-
keit der Intellektuellen enorm. Die nun einsetzende globale Ten-
denz, Kultur restlos zu monetarisieren, medial gleichzuschalten und
ihre Bedeutung nur noch nach Kriterien des Marktes zu messen,
zwang die Intellektuellen, die sich dem nouvel esprit des Kapitalis-

23 Vgl. Lothar Peter: Die Affäre Talbot – Skizze eines Klassenkonflikts, in: Johannes M.
Becker (Hg.): Das französische Experiment. Linksregierung in Frankreich 1981 bis
1985, Berlin u.a. 1985, S. 41-52.
86 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

mus nicht anpassen wollten, dazu, ihr eigenes Feld gegen die Impe-
rative ökonomischer Verwertbarkeit und politischer Botmäßigkeit
zu verteidigen. Es ging Bourdieu deshalb zunächst einmal vor allem
um die Aufnahme des Kampfes gegen die Metastasen des Geldes,
die die autonomen Werte der Kultur tödlich bedrohen, wenn sich
kein Widerstand dagegen erhebt. Der allerdings hat nur dann Aus-
sicht auf Erfolg, wenn der ıKorporativismus des Universellen„ nicht
auf sich gestellt bleibt, sondern sich international organisiert, um der
globalen McDonaldisierung der Kultur eine ebenfalls global organi-
sierte Kraft entgegen zu setzen. Bourdieu sprach deshalb von der
Notwendigkeit einer ıInternationalen der Intellektuellen„.24 Tatsäch-
lich unterschied sich aber sein praktisches Engagement relativ wenig
von den Handlungsformen des engagierten Intellektuellen in der
Tradition von Zola über Romain Rolland und André Gide bis zu
Jean-Paul Sartre und Michel Foucault,25 wobei sich allerdings sein
Standpunkt zusehends radikalisierte. Er gab die eher vagen politi-
schen Vorstellungen, die ihn in die Nähe der deuxième gauche ge-
führt hatten, auf und verschärfte den Ton seiner Kritik unüberhör-
bar. Er bezog öffentlich Stellung, ergriff Initiativen zu Protestauf-
rufen und nutzte das Fernsehen, um die Mechanismen symbolischer
Macht mit deren eigenen medialen Mitteln zu entlarven.26 Er tat also
eigentlich im wesentlichen das Gleiche, was auch Sartre und
Foucault getan haben. Das Verhältnis zwischen der überwältigen-
den Mehrheit der systemkonformen Intellektuellen und Bourdieu
wurde immer gespannter. Aber in einigen Fällen gelang es ihm, an-
dere prominente Intellektuelle für öffentliche Stellungnahmen zu
gewinnen, die dem geistigen Mainstream unmissverständlich die

24 Vgl. Pierre Bourdieu: Für eine Internationale der Intellektuellen, in: ders.: Interven-
tionen 1961-2001, a.a.O., S. 41-52.
25 Vgl. zu dieser Tradition Michel Winock: Das Jahrhundert der Intellektuellen, Kon-
stanz 2003.
26 Vgl. Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen, Frankfurt/Main 1998.
87

Gefolgschaft aufkündigten. Das galt beispielsweise für einen Aufruf


zur Unterstützung der Streikenden und der breiten Protestbewegung
im Winter 1995/ 96, die sich gegen eine rigorose Demontage des
Sozialstaats und die politische Arroganz der Macht auflehnte. Ne-
ben Bourdieu setzten auch Jacques Derrida, Etienne Balibar, Luc
Boltanski, Pierre Vidal-Naquet, Régis Debray und zahlreiche andere
ihren Namen unter den von Bourdieu initiierten Appel des intellec-
tuels en soutien aux grévistes (Aufruf der Intellektuellen zur Unter-
stützung der Streikenden),27 während auf der anderen Seite eine Pe-
tition von bekannten Intellektuellen veröffentlicht wurde, die die
Legende von der Nichtfinanzierbarkeit der sozialen Sicherungs-
systeme nachbetete und den Plänen des dann aber gestürzten Pre-
mierministers Juppé eine konstruktive Funktion attestierte. Unter
dieser Petition fanden sich unter anderen die Namen von Alain
Finkielkraut, Claude Lefort, Alfred Grosser, Alain Touraine und
Olivier Mongin, dem Chefredakteur von Esprit.28
Bourdieu war einer der ersten namhaften Intellektuellen, die die
Bedeutung der Anti-Globalisierungsbewegung als neue, die Hege-
monie der global player, internationalen Fondmanager und mit ih-
nen verbündeten Machtapparate in Frage stellenden Sozialbewe-
gung erkannte. Im Kampf dieser Bewegung unter Losungen, dass
ıeine andere Welt möglich„ und die ıWelt keine Ware„ ist, fand er
das wieder, wofür er selbst im Namen des ıKorporativismus des
Universellen„ eintrat: den Kampf gegen die neoliberale Vereinnah-
mung der Welt, den Kampf gegen soziale, ethnische und sexuelle
Exklusion und den Kampf um eine gerechte Teilhabe an einer
nicht entfremdeten Kultur.
Bourdieu hat aber, ungeachtet seiner bewundernswerten wissen-
schaftlichen Leistungen und seines mutigen Engagements an den

27 Vgl. Julien Duval u.a.: Le „décembre“ des intellectuels français, Paris 1998, S. 19.
28 Vgl. ebd., S. 18.
88 Lothar Peter: Pierre Bourdieu – weder „totaler“ noch „spezifischer“ Intellektueller

Brennpunkten sozialer, kultureller und politischer Widersprüche,


das komplizierte Verhältnis zwischen den konkreten Prozessen ge-
sellschaftlicher Herrschaft und der Funktion des kritischen engagier-
ten Intellektuellen theoretisch ebenso wenig überzeugend lösen
können wie Sartre und Foucault.29 Er hat jedoch den Auffassungen
beider ein wesentlich neues Moment hinzugefügt, nämlich die Be-
deutung einer in der wissenschaftlich-kulturellen Tätigkeit substan-
tiell angelegten, durch die interessenfreie Suche nach Wahrheit und
Authentizität bestimmten Normativität, die für die Begründung öf-
fentlicher Interventionen der Intellektuellen unverzichtbar ist. Auf
jeden Fall aber hat er selbst vorbildlich das gelebt, was er von ei-
nem ıwahren Intellektuellen„ forderte: die unter einer immer totaler
werdenden materiellen und symbolischen Gewalt leidenden Welt
nicht aus der bequemen Loge wertneutraler Unberührtheit zu be-
obachten oder in Talkshows durch schicke Medienrhetorik zu ver-
schleiern, sondern dieser Gewalt mit der Waffe des ıKorporativis-
mus des Universellen„ einen unversöhnlichen Kampf anzusagen.

29 Vgl. dazu Lothar Peter: Korporativismus des Universellen? Das Thema der Intellektu-
ellen in der soziologischen Theorie von Pierre Bourdieu, in: Z. Zeitschrift Marxisti-
sche Erneuerung (2000), Nr. 41, S. 107-122.
89

Von innen nach außen.


Über Bourdieus Heidegger-Lektüre
Johannes Weiß
90 Johannes Weiß: Von innen nach außen. Über Bourdieus Heidegger-Lektüre

Prozesse der wechselseitigen ıVermittlung„ zwischen der französi-


schen und der deutschen Kultur, der politischen Kultur zumal, bil-
den das Zentralthema jahrzehntelanger, ebenso intensiver wie er-
tragreicher Forschungen von Hans Manfred Bock. Und dabei be-
deutet Vermittlung: Wahrnehmung, Aneignung und Verknüpfung,
aber durchaus auch Kritik, Entgegen-Setzung und Ablehnung.
Es steht ganz außer Frage, daß es sich hier um einen besonders
interessanten Ausschnitt aus dem sehr großen und sehr vielschichti-
gen, deshalb auch bei weitem nicht zureichend erschlossenem Pro-
blemkomplex der ıinterkulturellen Vermittlung„ handelt. Vielleicht
gibt es keine zwei anderen Nationen, deren geistige und politische
Eliten einander über einen so langen Zeitraum hinweg so fasziniert,
aber auch irritiert beobachtet und sich mit solchem Eifer entweder für
die Auf- und Übernahme oder für die Abwehr der jeweils anderen
Formen der Weltdeutung und der Weltgestaltung eingesetzt hätten.
Das kulturell Andere und Fremdartige aber begegnet nicht auf
breiter Front und anonym, sondern, jedenfalls zunächst und vor al-
lem, in je besonderer, ja individualisierter und personifizierter Form:
in den Denk-, Sprach- und Kunstwerken exzeptioneller Persönlich-
keiten und in diesen Persönlichkeiten selbst. Und auch deren
Wahrnehmung und Deutung, Kritik und Ablehnung vollzieht sich,
anfänglich und in der Hauptsache jedenfalls, über einzelne, intellek-
tuell besonders sensible und produktive Persönlichkeiten, die dann
das Bild und die Bedeutung des kulturell Anderen unter Umstän-
den für lange Zeit und weite Kreise so zu bestimmen und festzule-
gen vermögen, wie dies, um ein sehr bekanntes Beispiel zu nennen,
Madame de Staël mit ihrem Deutschland-Buch getan hat.
Nichts spräche dagegen, daß intellektuelle Grenzgänger gerade
das zu erschließen und im eigenen Land zu vertreten suchten, was
an der anderen Kulturwelt bis dahin als ganz fremdartig galt, sich
bei genauer Betrachtung aber als durchaus zugänglich und an-
91

schlußfähig für das vertraute und gebräuchliche Eigene erweist. Das


wäre möglich und im Sinne einer grenzüberschreitenden Verständi-
gung auch sehr wünschbar, kommt gewiß auch vor, ist aber doch
unüblich. Madame de Staël ist auch darin prototypisch und von
fortwirkender Bedeutung, daß sie die deutsche Literatur und Philo-
sophie ihrer Zeit der französischen betont entgegen setzte und genau
deshalb wenn nicht als Vorbild, so doch als dringend notwendige
Quelle der Inspiration und Erneuerung anempfahl.
Das war nicht nur eine Herausforderung, sondern eine starke
Zumutung für das kulturelle Selbstbewußtsein der politischen und
geistigen Elite Frankreichs und ein Grund für das zeitweise über
Madame de Staël verhängte Aufenthalts- und Publikationsverbot.
Aber auch Heinrich Heine sah sich genötigt, das von Madame
de Staël vermittelte, allzu sehr unter dem romantischen Einfluß Au-
gust von Schlegels stehende und deshalb einseitige und allzu sym-
pathetische Bild zurechtzurücken, indem er – fast eine Generation
später (nämlich 1833) – seine Schrift über die ıromantische Schule„
herausbrachte, und zwar zuerst in französischer Sprache unter dem
Titel: État actuel de la littérature en Allemagne. De lÊAllemagne de-
puis Madame de Staël. Nur ein Jahr später folgte, wiederum zuerst
in französischer Sprache (in der Revue des deux mondes) Zur Ge-
schichte der Religion und Philosophie in Deutschland.
Auch in der französischen Heidegger-Rezeption geht es um die
Auseinandersetzung mit einem Denken, das nicht nur als originell
und neuartig, sondern als sehr fremdartig, also von der eigenen
Denktradition und dem eigenen Denkstil stark abweichend, mehr
noch: als radikal, wild und geradezu ıbarbarisch„ (Sartre) wahrge-
nommen und, weil es sich doch nicht als Unsinn oder Scharlatane-
rie abtun ließ, gerade deshalb als große Irritation und Zumutung
erfahren wurde. Und die Aufnahme dieser Herausforderung, die –
sprachliche und gedankliche – Übersetzung der Heideggerschen
92 Johannes Weiß: Von innen nach außen. Über Bourdieus Heidegger-Lektüre

Philosophie und die Anzettelung einer innerfranzösischen Heideg-


ger-Debatte ist zwar nicht die Sache einer einzelnen Persönlichkeit,
aber auch nicht eines anonymen interkulturellen Diffusionsprozes-
ses: Eine mittlerweile zwar beträchtliche, aber doch überschaubare
Zahl von intellektuell herausragenden und zugleich besonders ei-
genständigen, zudem publizistisch besonders kompetenten und ein-
flußreichen Denkern und Autoren vielmehr hat dieses Vermitt-
lungsgeschehen ermöglicht, immer aufs neue inspiriert und für ein
außergewöhnlich hohes Niveau der Debatten gesorgt – von Jean-Paul
Sartre und Jean Beaufret bis zu Emmanuel Levinas, Alain Finkiel-
kraut, Philippe Lacoue-Labarthe, Joseph Rovan, Pierre Aubenque,
Jean Baudrillard und, last but not least, Jacques Derrida.1
Auch Pierre Bourdieu hat dabei eine sehr wichtige und distinkte
Rolle gespielt – derart, daß diese Debatten ohne seine Beteiligung
in einer präzis bestimmbaren Weise anders verlaufen resp. unter-
komplex und weniger ergiebig geblieben wären. Worin besteht
diese Rolle? Nach meiner Einschätzung genau darin, daß in
Bourdieus Wahrnehmung, Deutung und Kritik Heideggers eine
Denkform zur Geltung und Wirkung gelangt, die in Frankreich eine
ganz andere, intellektuell viel stärkere Tradition und Präsenz besitzt
als in Deutschland und allen übrigen europäischen Gesellschaften –
und daß Bourdieu diese Denkform in besonders eigenständiger,
produktiver und intellektuell brillanter Weise revitalisiert hat.
Bourdieus wichtigste Vorgänger heißen Auguste Comte und Emile
Durkheim, und damit ist zugleich gesagt, um welche Denkform es
hier geht. Wie Comte, der der Soziologie nicht nur den Namen
gegeben, sondern sie als letzte und höchste in das System der
positiven Wissenschaften eingeordnet, und Durkheim, der sie in

1 Zur französischen Heidegger-Debatte vgl. Jörg Altwegg (Hg.): Die Heidegger-Kon-


troverse, Frankfurt/Main 1988, darin vor allem die Beiträge von Jean-Paul Aron und
Jean-Michel Palmier.
93

einer bis heute fortwirkenden Gestalt begründet hat, sieht auch


Bourdieu die Soziologie berufen und befähigt, als Medium der Re-
flexion, also der kritischen Selbstprüfung, und der praktisch-politi-
schen Umsetzung des menschlichen Wissens in seinem ganzen Um-
fange zu dienen. Die Soziologie vermittelt dem Menschen nach die-
ser Auffassung den höchstmöglichen Grad an theoretischer und
praktischer Selbstgewißheit – und nicht mehr die Philosophie, deren
Legitimität sich vielmehr ihrerseits vor dem Forum der Soziologie
ausweisen muß.2
Für die intellektuelle Redlichkeit dieser Einstellung spricht, daß
Bourdieu sie sich im Ausgang von der Philosophie, seiner akademi-
schen Heimatdisziplin, mit Ernst und Anstrengung erarbeitet hat.3
Und ihre Logik und Überzeugungskraft ergeben sich aus der An-
nahme, daß nur die Wissenschaft von der Gesellschaft geeignet zu
sein scheint, eine wissenschaftliche Selbstverständigung des Men-
schen zu ermöglichen, die zugleich streng empirisch, umfassend
und reflexiv, also selbstbegründend und selbstlegitimierend ist. In
der Soziologie gelangt die menschliche Wirklichkeit als gesellschaft-
liche Wirklichkeit zur Selbstdurchsichtigkeit, und zwar deshalb, weil
sie, die Soziologie, sich dabei auch selbst ausschließlich von ihrer
Gesellschaftlichkeit her begreift und begründet. Sie überbietet, wie
auch schon Comte und Durkheim behauptet hatten, die religiösen
oder theologischen ebenso wie die philosophischen Formen der
Selbstthematisierung des Menschen, weil sie, anders als jene, auch

2 So möchte Bourdieu (Méditations pascaliennes, Paris 1997, S. 9, vgl. S. 12) ausdrück-


lich an Kants philosophische Kritik anschließen und diese zugleich soziologisch über-
bieten. Die schärfste Kritik der überschwenglichen intellektuellen und politischen
Ansprüche Bourdieus finden sich im Buch einer ehemaligen Mitarbeiterin: Jeannine
Verdès-Leroux: Le savant et la politique. Essai sur le terrorisme sociologique de
Pierre Bourdieu, Paris 1998.
3 Vgl. Verdès-Leroux, a.a.O., S. 47ff. Bourdieus Beschreibung seiner philosophischen
Lehrjahre, die mit der Entfremdung von der Philosophie endeten.
94 Johannes Weiß: Von innen nach außen. Über Bourdieus Heidegger-Lektüre

ihre gesellschaftlichen Existenz- und Wirkungsbedingungen durch-


schaut und kontrolliert.
Heidegger ist für Bourdieu der Musterfall eines Philosophen,
dessen sehr betonter Anspruch auf denkerische Autonomie und ra-
dikale Selbstbegründung sich aus einer soziologischen Perspektive
als unhaltbare Prätention und als Ideologie zur Verschleierung ihrer
gesellschaftlichen Bedingtheit und Zielsetzung erweist.
Heideggers aktive, obzwar zeitlich und auch thematisch be-
grenzte Sympathie und Parteinahme für die nationalsozialistische
Bewegung und Herrschaft bildet unvermeidlich den Kernpunkt al-
ler Versuche, die sozio-politischen und womöglich ideologischen
Bezüge und Funktionen seiner Philosophie, vor allem seines 1927
erschienenen Hauptwerks Sein und Zeit, aufzuklären, so auch und
gerade in der französischen Debatte.
Dabei werden in der Hauptsache drei Positionen vertreten: Der
– tatsächlich wenig plausibel erscheinenden – Behauptung, daß es
zwischen diesem politischen Engagement und Heideggers Philoso-
phie keinerlei motivationalen oder gar sinnhaften Zusammenhang
gebe, steht die, insbesondere von Victor Farias popularisierte Mei-
nung diametral gegenüber, diese Philosophie sei, im Kern jeden-
falls, überhaupt nur als nazistische oder zumindest proto- resp. quasi-
nazistische Ideologie angemessen zu verstehen. In diesem Sinne
behauptet z.B. Arthur Goldschmidt Heidegger sei ıder Nazidenker
par excellence„.4
Zwischen diesen extremen Positionen bewegen sich unterschied-
liche Versuche, eine sozio-politische Bedingtheit und Zielsetzung
der Daseinsanalytik als bedeutsam zu erweisen und doch an der
denkerischen Originalität und Größe Heideggers festzuhalten. Das

4 Victor Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus. Mit einem Vorwort von Jürgen
Habermas, Frankfurt/Main 1987; das Goldschmidt-Zitat findet sich bei Altwegg,
a.a.O., S. 113.
95

ist auch die Position von Jürgen Habermas, der, insbesondere im


Vorwort zum Buch von Farias, die Affinitäten zwischen Heideggers
Denken und der nazistischen Ideologie sehr stark, vielleicht über-
stark betont, zugleich aber nicht ansteht, Sein und Zeit zum bedeu-
tendsten philosophischen Werk seit Hegels Phänomenologie des
Geistes zu erklären.5
Bourdieu ist mit dieser, insgesamt wohl in der Fachwelt am wei-
testen verbreiteten Einschätzung ebensowenig einverstanden wie mit
den beiden anderen. Deshalb verbindet er seine Heidegger-Deu-
tung auch ausdrücklich mit einer Kritik an Habermas.6 Dessen An-
nahme, dem philosophischen Denken überhaupt und auch dem
Heideggerschen könne und müsse unter Absehung von seinem so-
zio-politischen Entstehungs- und Wirkungskontext Sinn und Bedeu-
tung beigemessen werden (können), wird von Bourdieu ganz
grundsätzlich bestritten. Zwar erscheint ihm, auch im Falle Heideg-
gers, eine kurzschlüssige ideologiekritische Abfertigung unangemes-
sen und falsch. Die ımarxistisch inspirierten Untersuchungen„ etwa
von Lukács, Goldmann, Borkenau und auch Adorno (in dessen
Heidegger-Buch), in denen ıdie Werke auf die Weltsicht oder die
gesellschaftlichen Interessen einer sozialen Klasse„ bezogen und so
ıerklärt„ werden, beruhen nach Bourdieu auf ıäußerst naiven Vor-
aussetzungen„. Sie liefen nämlich ısämtlich auf die Annahme hin-
aus [...], daß eine Gruppe unmittelbar als Wirkursache oder als
Zweckursache (Funktion) auf die Produktion des Werkes einzuwir-
ken„ vermöchte.7
Trotz dieser eindeutigen Kritik an einer ıForm von Reduktion„,
die er als ıKurzschluß-Effekt„ bezeichnet, ist Bourdieu jedoch über-
zeugt, daß die eigentliche Bedeutung und Wahrheit auch philoso-

5 Ähnlich äußert sich Joseph Rovan in: Altwegg, a.a.O., S. 120.


6 Pierre Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt/M. 1976, S. 29f.
7 Pierre Bourdieu, hg. u. mit einem biographischen Essay von Joseph Jurt, Freiburg
2003, S. 135.
96 Johannes Weiß: Von innen nach außen. Über Bourdieus Heidegger-Lektüre

phischer Werke sich nur in einer, allerdings hinreichend komplex


und differenziert verfahrenden soziologischen Analyse eröffne. Ge-
nau zu diesem Zweck hat er nach eigenem Bekunden die ıTheorie
des Feldes„ entwickelt. Sie besagt im gegebenen Falle, daß sozio-
ökonomische oder sozio-politische Interessenlagen sich in philoso-
phischen Werken von einigem Rang nicht unmittelbar zur Geltung
bringen, sondern vermittelt über das hier ins Spiel kommende Feld
– das Feld der professionellen, universitären Philosophie. Dessen
Regeln und Anforderungen habe das Werk, wenn es Eindruck ma-
chen und sich durchsetzen wolle, seiner argumentativen Form und
ıStruktur„ nach zu entsprechen.
In den Vorbemerkungen zu seinem Heidegger-Buch gibt Bour-
dieu einen kurzen Abriß dieses zweistufigen soziologischen Deu-
tungsschemas. Demnach muß sich das – ıim weiteren Sinne„ – ıpo-
litische Interesse„, wenn der erstrebte ımaterielle oder symbolische
Gewinn„ erreicht werden soll, mit geeigneten ıEuphemisierungsstra-
tegien„ verbinden, die das philosophische Produkt in einem gegebe-
nen Feld (hier: dem der akademischen Philosophie) anschlußfähig
und möglichst überzeugend erscheinen lassen. Welche ıEuphemisie-
rungsstrategien„ jeweils geeignet sind, hängt von den besonderen
Gegebenheiten dieses Feldes und des näheren davon ab, welche
ıPosition„ die ıjeweiligen Produzenten [...] innerhalb des Feldes in-
nehaben, d.h. innerhalb der Struktur der Verteilung des Kapitals, das
in dem betreffenden Feld im Spiel ist„: ıDie symbolischen Schöp-
fungen verdanken demnach ihre charakteristischsten Merkmale den
gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion und, genauer, der
Stellung des Produzenten innerhalb des Produktionsfeldes„.8
Zwischen dem politischen ıAusdrucksinteresse„ und der vom
philosophischen Feld erzeugten ıZensur„ hinsichtlich der Aus-
drucksweise besteht nach Bourdieu eine dialektische Beziehung der

8 Bourdieu: Politische Ontologie, a.a.O., S. 7 bzw. S. 9.


97

Art, daß ıim opus operatum Form und Inhalt, das Gesagte und die
Art, wie es gesagt, ja wie es vernommen wird„, nicht zu trennen ist.9
Desungeachtet aber zielt die von Bourdieu geforderte und prakti-
zierte soziologische Analyse vor allem darauf ab, das durch die Eu-
phemisierungsstrategien verschleierte politische Interesse aufzudek-
ken und damit den Autonomieanspruch des philosophischen Den-
kens als Schein zu erweisen. Eine eigenständige und nach eigenen
Kriterien zu prüfende ıSache„ des philosophischen Denkens läßt
sich nicht identifizieren und aus dem zweistufigen gesellschaftlichen
Bedingungskontext herauslösen. Dies um so weniger, als nicht die
gesellschaftliche Abgehobenheit und Autonomie des philosophi-
schen Denkens, sondern auch des philosophischen Feldes über-
haupt nur scheinbar ist. Anders wäre ein Satz wie der, daß eine
ıOppositionsbeziehung zwischen Worten [...] allemal auf eine Op-
positionsbeziehung zwischen gesellschaftlichen Gruppen„ verweise,10
nicht zu verstehen.
Ganz im Sinne dieses axiomatischen Satzes unternimmt es
Bourdieu zu zeigen oder zumindest anzudeuten, daß auch die zen-
tralen Begriffe und Begriffsoppositionen in Heideggers Daseins-
analytik als Transformation und Pseudo-Sakralisierung realer gesell-
schaftlicher Gegebenheiten und Gegensätze zu gelten haben und
daß sie im Kern auf eine philosophische Überhöhung und Absiche-
rung gesellschaftlicher Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse
abzielen. So erkennt er den ıobjektiv„ zu bestimmenden ısozialen
Wert„ der Heideggerschen Unterscheidungen zwischen Ontischem
und Ontologischem, Existentiellem und Existentialem im allgemei-
nen, zwischen Alltäglichkeit (Uneigentlichkeit/Öffentlichkeit/ Man)
und Eigentlichkeit im besonderen genau darin, den ıobjektiven

9 Ebd., S. 9.
10 Ebd., S. 21f.
98 Johannes Weiß: Von innen nach außen. Über Bourdieus Heidegger-Lektüre

Dualismus der gesellschaftlichen Schicksale„11 gleichzeitig zu über-


spielen resp. zu neutralisieren und unangreifbar zu machen.
Im ıVerbalfetischismus„ der Heideggerschen ıphilo-logischen„
Philosophie sieht Bourdieu einen Sonder- und Grenzfall desjenigen
ıuniversitären Logozentrismus„,12 der die Philosophie insgesamt
kennzeichne. Der Sache nach hat Heidegger für Bourdieu nichts
anderes zu sagen als die Repräsentanten der ıkonservativen Revolu-
tion„, und deren Texte stellen, wie auch Heideggers Sein und Zeit,
nur unterschiedliche ıTransformationen„ desselben sozio-politischen
Inhalts wie bei den Nationalsozialisten dar.13 Heideggers spezifische
Transformation dieses einen und selben Inhalts ist, und das meint
Bourdieu mit dem Titel seines Buchs, die ıKonstruktion der Politik
als Ontologie„.14 Sie erklärt sich – nicht auch oder in einer gewissen
Hinsicht, sondern erschöpfend – aus dem besonderen ıHabitus„
dieses Philosophen.15 Die bei der Produktion dieses Habitus zu-
sammenwirkenden sozialstrukturellen Faktoren sind: (a) die (mittel-
ständische) Position ıinnerhalb der Struktur der Klassenverhält-
nisse„, (b) die Position innerhalb der ıuniversitären Fraktion des
Mittelstandes, (c) die Position ıinnerhalb der Struktur des universi-
tären Feldes„, schließlich (d) die Position ıinnerhalb des Feldes der
Philosophie„.16
Die besondere Individualität des Philosophen Heidegger muß
den Philosophen Bourdieu also ebensowenig interessieren wie ein
philosophischer Gehalt, der über das hinausginge, was sich soziolo-
gisch zuordnen und erklären läßt. Man würde Bourdieu gröblich
mißverstehen, wenn man seine Analyse als einen wichtigen, viel-

11 Ebd., S. 25.
12 Ebd., S. 29.
13 Ebd., S. 41, 110f.
14 Ebd., S. 110.
15 Zu diesem Grundbegriff seiner Soziologie will Bourdieu übrigens in einer nicht näher
bestimmten Weise durch Heideggers Daseinsanalytik gebracht worden sein.
16 Bourdieu: Politische Ontologie, a.a.O., S. 97.
99

leicht unverzichtbaren Beitrag zu einer komplexen Deutung des


Heideggerschen Werks einschließlich seines Entstehungs- und Wir-
kungskontexts auffassen wollte. Mit bedingungsloser Entschieden-
heit setzt Bourdieu seine Sichtweise nämlich insbesondere allen
Versuchen entgegen, Heideggers Philosophie in philosophischer
Weise aufzunehmen und kritisch zu erörtern. Jacques Derrida hat
also sehr recht, wenn er (in einem in Libération vom 10. März 1988
veröffentlichten Brief) im Blick auf ein von Bourdieu gegebenes In-
terview bemerkt, dieser habe sich ınie ernsthaft der Prüfung der
,FragenÂ, die Heidegger stellt unterzogen„, und seine ıinterne„ Lek-
türe (wenn eine solche überhaupt erkennbar sei) sei ınoch verkürz-
ter„ als die externe.17
Tatsächlich hat sich Bourdieu die Möglichkeit, sich überhaupt
auf eine interne Lektüre der Heideggerschen Philosophie einzulas-
sen, von vornherein verbaut und verboten – durch die erwähnte
Vorentscheidung, daß die radikalste, umfassendste und allein wahr-
haft reflexive Kritik menschlicher Welt- und Selbsterkenntnis von
der Soziologie zu leisten sei. Diese Vorentscheidung aber ist kei-
neswegs reflexiv in dem Sinne, daß sie sich mit empirisch-soziologi-
schen Denkmitteln zureichend begründen und rechtfertigen ließe.
Dazu bedürfte es nämlich eines prinzipiell unhintergehbaren, also
absoluten Stand- und Ausgangspunkts, über den vielleicht die Theo-
logie, aber nicht (mehr) die Philosophie und ganz gewiß nicht ir-
gendeine Erfahrungswissenschaft, die Soziologie durchaus einge-
schlossen, verfügt.
Nichts spricht dagegen, sondern vieles (auch von Bourdieu Bei-
gebrachtes) dafür, philosophische Denker und Denkwerke einer so-
ziologischen Analyse zu unterziehen, um so zu mancherlei kriti-
schen Einschätzungen zu kommen. Noch viel weniger aber spricht
dagegen, soziologisches Erkennen und Argumentieren auf seine lo-

17 Jacques Derrida, in: Altwegg, a.a.O., S. 163f.


100 Johannes Weiß: Von innen nach außen. Über Bourdieus Heidegger-Lektüre

gischen resp. gnoseologischen Prämissen hin, d.h. in der Form einer


philosophischen Reflexion, aufzuklären, und das a fortiori dann,
wenn mit ihm so extraordinäre, ja monopolistische Ansprüche ver-
knüpft werden wie bei Pierre Bourdieu.18
Aus dem – nicht wortwörtlich, aber der Sache nach – von Durk-
heim stammenden Satz (der kein Axiom, sondern eine fragwürdige
empirische Verallgemeinerung ist) ıDieu, cÊest la société„ schlußfol-
gert Bourdieu, daß alle überhaupt noch diskussionswürdigen letzten
(Sinn-)Probleme des Menschen gesellschaftlich bedingt und also
auch von ıder Gesellschaft„ zu beheben seien. Damit aber rückt die
fürs Gesellschaftliche zuständige Wissenschaft, die Soziologie eben,
an die Stelle der Theologie, sie wird, wie Bourdieu ganz unironisch
bemerkt, ızu einer Art Theologie der letzten Instanz„.19
Daß sich dieser Satz in einem Buch findet, in dem Bourdieu
Blaise Pascal zu einem Medium seiner eigenen Ambitionen macht,
ist nicht paradox, sondern absurd zu nennen.20 Aber wie es eine
bedeutende Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Pascals unter
deutschen Denkern, Heidegger eingeschlossen, gibt, so hatte und
hat ein Großteil der geistvollsten philosophischen Auseinanderset-
zungen mit Heidegger seinen Ort in Frankreich. Warum also sollte
ein bedeutender französischer Gelehrter, der eine spezifisch franzö-
sische Denktradition revitalisiert, nicht zu erkennen geben, daß er
weder diesem deutschen noch jenem französischen Denker gerecht
werden will oder kann? Der Umstand, daß er damit bei deutschen
Soziologinnen und Soziologen mehr Zustimmung findet als im ei-
genen Land, hat im übrigen eine sehr erfreuliche Seite. Er zeigt, daß

18 Wie sich dessen Soziologie aus der Sicht der Heideggerschen Daseinsanalytik dar-
stellt, habe ich an anderer Stelle umrissen: Johannes Weiß: Einleitung, in: ders.
(Hg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die
Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz 2001.
19 Bourdieu: Méditations, a.a.O., S. 288.
20 Vgl. das Nähere in: Johannes Weiß: Méditations pascaliennes?, in: European Journal
of Social Theory, Bd. 2, 3/1999, S. 317-320.
101

auch im Falle soziologischer und philosophischer Gedankensysteme


sich die Wahrnehmungs- und Verständigungschancen einerseits, der
Vermittlungs- und Übersetzungsbedarf andererseits nicht nach na-
tionalstaatlichen Grenzen oder nationalen Denktraditionen richten,
daß man also auch hier nach dem jeweiligen Entstehungskontext
einerseits, dem Rechtfertigungs- resp. Bewährungskontext anderer-
seits unterscheiden kann und muß.
103

Jacques Derrida – oder von der Undenkbarkeit


eines notwendigen intellektuellen Engagements
Johannes Thomas
104 Johannes Thomas: Jacques Derrida

Am 31. Mai 2003 erschienen in mehreren europäischen Zeitungen


Artikel von Intellektuellen, die angesichts der Irak-Politik der USA
einer Erneuerung Europas als Machtfaktor in der Welt das Wort
redeten. Diese einzigartige europäische Intervention verdankte sich
einer Initiative von Jürgen Habermas, der sich Umberto Eco in La
Repubblica, Gianni Vattimo in La Stampa, Fernando Savater in El
País, Adolf Muschg in der Neuen Zürcher Zeitung und Richard
Rorty in der Süddeutschen Zeitung angeschlossen hatten. Jacques
Derrida unterzeichnete den von Jürgen Habermas in der Frankfur-
ter Allgemeinen Zeitung sowie in Libération publizierten Beitrag,
weil er selbst ıaufgrund persönlicher Umstände keinen eigenen
Text schreiben [konnte].„
Der von Habermas verfasste und von Derrida mitunterzeichnete
Aufruf hebt auf den ıburschikose[n] Bruch des Völkerrechts„ durch
die USA und die vielstimmige Kritik am ıvölkerrechtswidrigen
Charakter der einseitigen, präventiven [...] Intervention„ bei den
Völkern Europas ab. In dieser Situation müssten nun die ıkern-
europäischen Mitgliedstaaten„, denn nur sie seien dazu bereit, ıvon
dem in Nizza beschlossenen Mechanismus der ,verstärkten Zusam-
menarbeit Gebrauch machen, um in einem ,Europa der verschie-
denen Geschwindigkeiten mit einer gemeinsamen Außen-, Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen.„
Sieht man einmal davon ab, dass die Autoren dieses Textes viel-
leicht nicht wussten, dass nach dem bis auf weiteres geltenden Ver-
trag von Nizza die Gemeinsame Außenpolitik im Kern Einstimmig-
keit verlangt und die Sicherheits- und Verteidigungspolitik vollstän-
dig von der ıverstärkten Zusammenarbeit„ ausgenommen worden
ist, dass mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Europas Militär-
schläge jenseits des internationalen Rechts, also dessen ıburschiko-
sen Bruch„ im Falle einer Bedrohung Europas durchaus befürwor-
ten, dass Präemptivschläge insbesondere in Frankreich schon vor
105

2003 diskutiert wurden und Eingang in die programmation militaire


gefunden haben, so hat dieser deutsch-französische Aufruf doch das
vielfach beklagte Schweigen der Intellektuellen zu europäischen
Fragen mit einem wahren publizistischen Posaunenstoß beendet,
wenn auch nach falschen Noten.
Aber sind Habermas/ Derrida hier überhaupt als ıkritische Intel-
lektuelle„ oder nicht doch eher als ıakademische Mandarine„ aufge-
treten, nachdem sie die deutsche und französische regierungsamtli-
che Amerikakritik sozusagen philosophisch abgesegnet haben?
Nun, das ist eine politische Frage, wie ich von Hans Manfred Bock
gelernt habe, die für wissenschaftliche Analysen höchstens einen
Anstoß liefern kann, im Falle Derridas insbesondere den Anstoß zu
fragen, ob und wie seine europapolitische Intervention zu verstehen
sei. Denn eine Unterschrift unter einem Text und eben auch unter
einem Text von Habermas ist von Derrida her alles andere als eine
Selbstverständlichkeit. Jede Signatur zeigt an, dass ein Ich in einem
bestimmten Hier und Jetzt eine als eigene bekräftigte Aussage ge-
macht hat. Aber, um als Signatur authentifiziert werden zu können,
muss sie als solche anerkannt werden, sie bedarf also der Gegen-
zeichnung durch jemand anderes oder auch durch den Unterzeich-
ner selbst in einem anderen Hier und Jetzt. Das heißt zugleich: Sie
muss ebenso wie der signierte Text wiederholbar sein. Wiederho-
lung aber schließt schon wegen der notwendigen zeitlich-räumlichen
Verschiebung die Identität des Wiederholten aus. Text und Signa-
tur sind nur als nicht-identische wiederholbar. Die Gegenzeichnung
ist daher nie definitiv abzuschließen,1 der signierte Text für stets
neue Lektüren unbegrenzt offen. Indem Derrida den von Habermas
signierten Text selbst ebenfalls signiert, bestätigt er mithin weder die

1 Jacques Derrida: L’oreille de l’autre, hg. von C. Levesque und C. MacDonald, Mont-
réal 1982, S. 119.
106 Johannes Thomas: Jacques Derrida

Identität seiner Lektüre mit der von Habermas, noch legt er sie für
sich definitiv fest.
Das belegen andere auf Europa bezogene Äußerungen Derridas,
in denen er etwa Europa und die USA auf eine Stufe stellt, und
zwar in zweierlei Hinsicht. Er habe einerseits ıradikale Vorbehalte
gegenüber der amerikanischen, sprich: europäischen Politik„, würde
allerdings, wenn er ıin einer binären Situation dazu gezwungen
wäre, Partei zu ergreifen„, hier: sich zwischen dem ,Westen und Bin
Laden zu entscheiden, ıPartei ergreifen für das Lager, das im Prin-
zip, de jure, der Perfektionierung im Namen des ,PolitischenÂ, der
Demokratie, des internationalen Rechts, der internationalen Institu-
tionen usw. eine Perspektive offen lässt.„2

Aporetisches zu Politik und Moral


Von einer uneingeschränkten Zustimmung Derridas zum ıWesten„
und/oder zu Europa kann demnach keine Rede sein. In seinen Aus-
führungen zu den ıSchurkenstaaten„ klagt er die USA als schlimm-
sten aller Schurkenstaaten an,3 um dann das Prinzip staatlicher Ver-
fasstheit und Souveränität selbst insoweit unter Anklage zu stellen,
als es konstitutiv sei für allen Machtmissbrauch. Das gelte für sämtli-
che Institutionen, einschließlich der UNO, des Sicherheitsrats und
überhaupt aller Staaten, auch der Staaten Europas. Sie alle seien
ıSchurkenstaaten„.4 Die Europäer seien allerdings weniger ısouve-
rän„ in ihren Entscheidungen als die USA und daher auch von
minderer ıSchurkenqualität„.
Er wünscht sich deshalb auch eine wichtigere Rolle für
HabermasÊ Kerneuropa, ıaber ich sehe sie nicht [...]. Vor allem

2 Jürgen Habermas, Jacques Derrida: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gesprä-
che, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, übersetzt von
Ulrich Müller-Schöll, Berlin u.a. 2004, S. 151.
3 Jacques Derrida: Voyous. Deux essais sur la raison, Paris 2003, S. 130ff.
4 Ebd., S. 145.
107

nicht in Bezug auf Europa oder die Europäische Gemeinschaft so,


wie sie existiert oder sich de facto ankündigt [...].„ In welchem
Sinne er sich ein anderes Europa vorstellt, wird dabei nicht präzi-
siert. Dass er im gleichen Kontext auf der Notwendigkeit einer ge-
einten Militärmacht Europa insistiert, die durch massive Interven-
tionen Veränderungen zum Positiven in der Welt bewirken könne,
könnte zwar darauf schließen lassen, dass er sich ein stärker inte-
griertes Europa wünscht,5 aber an wieder anderer Stelle liest man:
Es darf Europa nicht als politische Einheit, als ıvereinheitlichende
Hegemonie„ geben, und zwar eben wegen des unvermeidlichen,
ıschurkischen„ Machtmissbrauchs aller institutionalisierten Macht.
Also wünscht er sich dann Europa vielleicht als heterogenes Kon-
glomerat disparater Kräfte? Keineswegs. Europa darf sich, so
Derrida im gleichen Kontext, nicht unendlich ausdifferenzieren, zer-
fasern und so als Einheit auflösen.6
Wichtigstes Merkmal der europapolitischen Konzepte Derridas
scheint danach deren Uneindeutigkeit zu sein. Eindeutigkeit gibt es
nur bei der Verteidigung bestimmter Werte. So stellt Derrida nir-
gends sein an die Adresse Europas gerichtetes Postulat in Frage,
den ıWiderstand gegen Rassismus, Nationalismus, Fremdenhass„ zu
stärken und ganz allgemein zu tolerieren, ıwas sich nicht der Auto-
rität der Vernunft„ fügt, also etwa den ıGlauben, [...] verschiedene
Glaubensformen„. Das wiederum bedeute nicht eine Hinwendung
zum Unvernünftigen ıoder gar dem Irrationalismus„.7 Doch was in
diesem Kontext eindeutig zu sein scheint, kann diesen Anschein in
anderen Zusammenhängen rasch wieder verlieren. Denn sobald die
genannten und andere Begrifflichkeiten näher analysiert werden,
verlieren sie ihre scheinbare Selbstverständlichkeit. Das gilt etwa für

5 Habermas, Derrida, a.a.O., S. 157f.


6 Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa,
übersetzt von Alexander García Düttman, Frankfurt/Main 1992, S. 35.
7 Ebd., S. 56-58.
108 Johannes Thomas: Jacques Derrida

den hier verwendeten und an anderer Stelle untersuchten Toleranz-


Begriff. Derrida verwirft ihn dort ganz im Gegensatz etwa zu
Habermas, weil er ıauf Seiten der Macht„ stehe, und er verwirft ihn
zugunsten einer ıGastfreundschaft„, die ihrerseits ıkeinerlei rechtli-
chen oder politischen Status„ haben könne und ıpraktisch gesehen
unmöglich lebbar„ sei.8 Er gelangt also von der Forderung, etwas zu
tolerieren, über die Kritik der Toleranz zu einer nur paradox zu be-
stimmenden Alternative.
Als ähnlich aporetisch erweist sich die Bestimmung Europas als
Demokratie, das, was Derrida ıdas – ,ausschließlich – europäische
Erbe der demokratischen Idee„ nennt.9 Denn dieses ıErbe„ verweist
nicht etwa auf eine Vergangenheit oder eine verfügbare Gegenwart,
sondern auf eine ızukünftige Demokratie„, die wiederum keine ist,
die es eines Tages tatsächlich geben könnte. Sie ist vielmehr das
ıUnmögliche„, dem die Demokratie ıihre Verheißung einschreibt„,10
ohne dass sich sagen ließe, was diese ıVerheißung„ bedeutet.
Diesem ıUnmöglichen„, dem, was uns nicht zur Verfügung
steht, scheint Derrida an anderer Stelle allerdings ıMöglichkeiten„
entgegen setzen zu wollen, ıin deren Namen und Dank derer die
abgeleitete Notwendigkeit (die Autorität oder der bestimmte
Glaube) problematisiert, in Frage gestellt, offen gelassen, verworfen
oder kritisiert, oder eben dekonstruiert würde. Man kann sie nicht
verleugnen, d.h. man kann sie höchstens verleugnen.„11
Gibt es also doch inhaltlich bestimmte Urteilskriterien und folg-
lich eine Möglichkeit, der Ambivalenz oder der Widersprüchlich-
keit aller Bestimmungen durch Verankerung des Urteils in einem
ıMöglichen„ zu entkommen? Auch andere Ausführungen Derridas

8 Habermas, Derrida, a.a.O., S. 168-170.


9 Derrida: Das andere Kap, a.a.O., S. 35.
10 Habermas, Derrida, a.a.O., S. 159.
11 Jacques Derrida: Foi et savoir, in: Gianni Vattimo, Jacques Derrida: La Religion, Paris
1996, S. 76-77.
109

scheinen in diese Richtung zu weisen, wenn er etwa meint, dass das,


was auch immer auf uns zu kommen mag, nicht das ı,Was auch
immer sein darf, hinter dem sich die allzu bekannten Gespenster
verbergen, die wiederzuerkennen man gerade üben muss.„12 Und so
plädiert er an dieser Stelle für eine neue Internationale, die er be-
reits in der politischen Realität sich abzeichnen sieht und die eine
nicht-institutionalisierte Gegenverschwörung gegen alle Institutionen
einschließlich des internationalen Rechts betreiben müsse. Das
klingt in der Tat ganz nach der in Aussicht gestellten Kritik am Be-
stehenden im Namen einer ıMöglichkeit„, etwa der Möglichkeit ei-
ner herrschaftsfreien, nicht-institutionalisierten Demokratie.
Andererseits soll sich die Demokratie jedoch, ebenfalls nach
Derrida, als ein Un-mögliches gerade nicht in der Realität schon ab-
zeichnen können. Und selbst, wenn sie eine Möglichkeit im Sinne
Derridas wäre, könnte doch nichts wirklich von dieser Möglichkeit
abgeleitet werden. Verantwortungsvolles Handeln bedeute nicht,
dass man seine Verantwortung an vorgegebene Prinzipien, Normen
und Gesetze delegiere, von denen eigenes Handeln dann schlicht
abzuleiten wäre. Die persönliche Entscheidung wäre sonst bloß eine
ıberechenbare Konsequenz„, und es bliebe ıfür (rechtliche, politi-
sche, ethische usw.) Verantwortung keinerlei Platz mehr„. Wenn es
also schon Normen oder ıMöglichkeiten„ als Urteilsgründe geben
können soll, so sind sie doch keine ıMöglichkeiten„ im Sinn einer
verfügbaren Präsenz. Sie sind jenes ıUn-Mögliche„, das Derida
meint, wenn er ıvon der Heteronomie [...], vom Gesetz, das von
anderem herkam, von der Verantwortung und von der Entschei-
dung des anderen – des anderen in mir, das großer und älter ist als
ich„ spricht. ıEs kündigt sich mir an, es gründet sich auf mich, geht
mir voraus und ergreift mich hier und jetzt, und zwar in nicht virtua-

12 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster, übersetzt von Susanne Lüdemann, Frank-


furt/Main 1996, S. 265.
110 Johannes Thomas: Jacques Derrida

lisierbarer Form, in actu, und nicht potentiell. Es kommt über mich


von oben, in der Form einer Weisung, die nicht am Horizont ab-
wartet, die mich nicht in Frieden lässt und mir nie einen Aufschub
erlaubt.„ Zwar bedient sich Derrida hier einer an die Mystik anklin-
genden Sprache, aber die ıWeisung„ ıvon oben„ kommt nicht aus
einem transzendenten Raum, sondern ist die Anforderung des ıan-
deren in ihm„ selbst, eine Weisung, die ihm keine Norm für seine
Entscheidungen an die Hand gibt, eine Weisung ohne inhaltliche
Festlegung.13 Verantwortungsvoll entscheiden kann er nur unabhän-
gig von ihr, autonom. Der ıImperativ der Autonomie„ gilt ihm ne-
ben dem ıImperativ der Heteronomie„ des Gesetzes als ıgleich
mächtig„.14
Durch die zitierten positiven Bestimmungen zu Europa, durch
kritische Wendungen etwa gegen ıSchurkenstaaten„ und ıRassis-
mus„ ebenso wie durch verheißungsvoll klingende Begriffe wie
eben ıVerheißung„, ıVerantwortung„, ıWeisung„ ıvon oben„, ıGast-
freundschaft„, Anforderungen des ıanderen„ oder ıPartei ergreifen„
für ıDemokratie„ usw. wird dem Leser suggeriert, Derrida könne
philosophisch legitimieren, was politisch derzeit gefordert sei.
Sobald diese (und andere) Begriffe aber thematisiert und analysiert
werden, lösen sie sich in Ambivalenzen und Widersprüche auf, die
seine positiven Setzungen als undenkbar erweisen. Das macht sie
jedoch nicht von Anfang an sinnlos, wie anhand von Derridas zei-
chentheoretischen Analysen näher erläutert werden soll.

13 Habermas, Derrida, a.a.O., S. 176-177.


14 Ebd., S. 174.
111

Von der Notwendigkeit, das Zeichen zu denken und


es als undenkbar zu denken15
Zeichen repräsentieren die Sache, auf die sie verweisen. Sie verbin-
den so die Welt des Intelligiblen, also den Sinn oder das Signifikat,
mit der des Materiellen, also des materiellen Referenten und des
Signifikanten. Die Beziehungen zwischen beidem sind arbiträr und
konventionell. Konstitutives Merkmal des Zeichens ist seine Wie-
derholbarkeit. Bei der Wiederholung bleibt es allerdings nicht mit
sich identisch. Identisches ist nicht wiederholbar. Was es als das-
selbe in der Wiederholung dennoch erkennbar macht, ist seine ma-
terielle Gestalt, seine Funktion als Signifikant. Dennoch ist dasselbe
Zeichen als dasselbe Zeichen nicht allein durch seine Materialität
garantiert. Da jede Wiederholung Veränderungen mit sich bringt
und es eine identische Wiederholung auch des Signifikanten nicht
gibt, kann dasselbe Zeichen als solches nur durch ein ideales Mo-
ment bewahrt werden. Aber auch diese Idealität garantiert nicht die
Möglichkeit der Wiederholung des Selben als des Selben. Sie ist der
Differenz zwischen den Wiederholungen und innerhalb des Systems
ausgesetzt. Dabei handelt es sich um Differenzen zwischen Idealitä-
ten, die nicht sinnlich fassbar sind. Die Identität des Zeichens ist nach
Derrida also weder materiell noch ideell, also gar nicht garantiert.
In eine ebensolche Aporie führen die Bestimmungen des Signi-
fikanten. Jeder Signifikant funktioniert vermöge des Verweises auf
andere Signifikanten. Sinn und Signifikat gibt es nur als Effekte des
Signifikanten. Aber andererseits ist der Signifikant nur Signifikant in
Verbindung mit dem Signifikat, das sich in den Vordergrund und
den Signifikanten in den Hintergrund drängt, weshalb er der Meta-
physik als das Ursprüngliche galt und gilt. So entsteht das metaphy-

15 Bei der zusammenfassenden Darstellung zur Zeichentheorie und zu Husserls Phono-


zentrismus greife ich auf, was in der Literatur zu Derrida weitgehend unstrittig ist.
Deshalb verzichte ich hier auf Literaturnachweise.
112 Johannes Thomas: Jacques Derrida

sische Konzept des Zeichens als eines primär Ideellen. Dagegen


setzt Derrida den Signifikanten, also das metaphysisch Sekundäre,
als Ursprung ein, allerdings als Ursprung, der keiner ist, denn einen
sekundären Ursprung kann es nicht geben.
Der Begriff des Zeichens erweist sich so als unbestimmbar. Kann
man aber den Begriff des Zeichens nicht denken, kann man, da alle
Begriffe Zeichen sind, keinen Begriff denken. Nach Derrida müssen
deshalb alle Fragen des Typs ıwas ist ...?„ unbeantwortet bleiben.
Will man sie dennoch stellen, muss man notwendigerweise auf den
metaphysischen Zeichenbegriff, also auf die metaphysische Tradi-
tion rekurrieren. Gegen sie anschreiben kann Derrida nur, indem er
sich ihrer Begriffe bedient und sich so von Anbeginn an zu ihrem
Komplizen macht.

Was sich hinter Husserls Phonozentrismus verbirgt


Das lässt sich besonders deutlich anhand von Derridas Auseinan-
dersetzung mit dem Husserlschen Logozentrismus und seiner
sprachphilosophischen Begründung der Möglichkeit unmittelbarer
Präsenz demonstrieren. Husserl nimmt an, dass das Subjekt sich
seiner selbst und seiner Gegenstände in der Idealität seiner tran-
szendentalen Erfahrung unmittelbar gewiss werde, also ohne Ver-
mittlung über materielle Zeichen. Er verlagert die Bedeutung, den
Sinn allen Denkens und aller Erfahrung in die ıEinsamkeit der
Seele„, die sich ihrer selbst und ihrer Erfahrungen unmittelbar ver-
gewissert. Solche Vergewisserung und Selbstvergewisserung bedarf
zwar auch der Zeichen, aber diese Zeichen innerhalb der Seele
werden als reiner Ausdruck bestimmt, als dem Bewußtsein unmit-
telbar gegebene Zeichen. Als solche entmaterialisierte, absolut
transparente Zeichen garantieren sie in der von allen empirischen
Beimischungen gereinigten Subjektivität die lebendige Präsenz des
Erlebten und die Idealität der mit sich identischen Bedeutung.
113

Derrida erinnert nun daran, dass die Verweisungsstruktur, die


zwischen Bedeutung und Ausdruck funktioniert, notwendigerweise
eine zeitliche Differenz und Andersheit innerhalb der von Husserl
gedachten totalen Präsenz aufbrechen lässt. Denn auch Husserls
Zeichen der Seele sind Lautgestalten, die das Subjekt erst produzie-
ren, dann deren sinnliche Form wahrnehmen und schließlich deren
Bedeutung erfassen muss. Insofern beinhaltet schon die Husserlsche
Selbstvergewisserung in der transzendentalen, also von allem Empi-
rischen gereinigten Erfahrung den Rekurs auf Empirisches, nämlich
auf die sinnliche Form der Phoneme. Die Wiederholbarkeit der
Zeichen wird, wie oben gezeigt, folglich nicht durch Identität, son-
dern durch die Wiederholung des Selben als Differentes begründet.
Die Bedeutung ist nie unmittelbar präsent, sondern durch das zeitli-
che Gefälle beim Weg über den sinnlichen Ausdruck immer aufge-
schoben.
Husserl hatte diese Schwierigkeit zu verdecken gesucht, indem
er die innere Sprache als ılebendige„ Sprache, als eine Art Hauch
der Seele bestimmte, die als entmaterialisierter Ausdruck die Unmit-
telbarkeit der Selbst- und Fremderfahrung garantieren können
sollte. Die gesprochene Sprache, die Stimme, hört sich danach ohne
jede Vermittlung über Anderes unmittelbar selbst. Stimme, Signifi-
kat und Ausdruck fallen in dieser inneren Erfahrung des mit sich
selbst Sprechenden zusammen.
Aus solchem Phonozentrismus heraus erklärt sich nach Derrida
die in der Tradition der Metaphysik kontinuierlich zu beobachtende
Privilegierung der gesprochenen Sprache zu Lasten der geschriebe-
nen, die als materielles Äußeres lediglich einen Status als sekundä-
res Phänomen beanspruchen kann, das die ursprüngliche Reinheit
der gesprochenen Sprache zu kontaminieren droht. Denn das ist die
Konsequenz dieser Tradition: Das Innere, Intelligible ist primär und
irgendwie höherwertig als das Äußere, Materielle, das als Sekundä-
114 Johannes Thomas: Jacques Derrida

res abgewertet und als Bedrohung des Primären verdammt wird.


Folgt man Derrida, hat diese Tradition der einseitigen Privilegierung
eines Pols innerhalb der von ihr gesetzten binären Gegensätze und
deren Hierarchisierung ihre Legitimation verloren; gleiches gilt
dann auch für alle weiteren auf diese Tradition rückführbaren und
zu -ismen geronnenen Denkmuster, so etwa neben dem am Beispiel
Husserls dekonstruierten ıPhonozentrismus„ für ıPhallozentrismus„,
ıEthnozentrismus„ usw. Als Effekte der metaphysischen Tradition
sind die mit diesen -ismen verknüpften Vorstellungen allerdings
ebenso wenig zu überwinden wie diese Tradition selbst. Sie sind
zwar durch die Derridasche Frage nach dem, was von ihnen ka-
schiert wird, sie aber zugleich begründet, in ihrem Geltungsan-
spruch zu erschüttern, allerdings nur in widersprüchlicher Weise.
Denn ihre Delegitimierung muss sich, wie schon bei Derridas
Husserl-Analyse, eben der Begriffe und Denkmuster bedienen, die
der zu delegitimierenden Tradition entnommen sind.
Eine Überwindung der metaphysischen Tradition ist allerdings
auch noch aus einem anderen Grund undenkbar: Wenn Sinn und
Bedeutung in allen Texten Produkte der von Derrida beschriebe-
nen differenzierend aufschiebenden Prozesse sind, dann sind diese
Prozesse auch in den Texten der Metaphysik am Werke, und zwar
ganz unabhängig vom spezifischen ıdifférance„-Denken Derridas.

Zur „différance“: Ur-Schrift nicht Ursprung


Die ıUr-Schrift„ meint nicht einfach das Geschriebene. Sie ist das,
was sowohl dem Gesprochenen als auch dem Geschriebenen zu-
grunde liegt. Ihre von Derrida ıdifférance„ genannte, nicht begriff-
lich fassbare Bewegung, Energie oder Kraft, die in den Prozessen
der Verweisung, des Differierens, der Repräsentation zwischen der
Bedeutung als Intelligiblem und dem in ihm zur Erscheinung kom-
menden Empirischen, Sinnlichen wirksam ist, ,arbeitet unabhängig
115

vom Subjekt. Dessen Selbstaffektion geht nicht, wie Husserl meinte,


der Schrift voraus, sondern wird erst durch deren Vermittlung her-
vorgebracht. Die ıdifférance„ produziert das Selbst durch den Pro-
zess des Aufschiebens über materielle Zeichen als Beziehung zu sich
in der Differenz mit sich, sie produziert das Selbst als Nicht-Identi-
sches. Dass diese Vorgänge in der Metaphysik, etwa bei Husserl,
kaschiert oder unterschlagen werden können, ist darauf zurückzu-
führen, dass sich die Arbeit der ıdifférance„ und der von ihr bewir-
kte Einbruch des Anderen, Materiellen in das Intelligible verbirgt.
Die ıdifférance„ wird zwar oft als vorgängig, ursprünglich usw.
bezeichnet, sie ist aber nicht als eine Art neuer Ursprung zu verste-
hen. Jedes Ursprungskonzept verdankt sich ebenso wie alle Kon-
zepte überhaupt immer schon der ıdifférance„. Mit diesem Konzept
wird die Saussuresche Idee eines Sprachsystems, dessen einzelne
Elemente durch Differenzbezüge bestimmt sind, in eine dynamische
Beziehung nicht deutlich voneinander abgegrenzter Elemente über-
setzt. Wenn nämlich jedem Zeichen seine Identität nur durch Bezug
und Differenz zu allen anderen Zeichen zukommt, so ist es durch
alle diese anderen, die es nicht ist, markiert und trägt deren ıSpur„.
Statt mit abgegrenzten Elemente haben wir es folglich mit Bündeln
von ıSpuren„ zu tun, die ihrerseits auch nicht auf fest umrissene
Elemente, sondern wiederum nur auf ıSpuren„ zurück verweisen,
nie auf eine Präsenz. Die ıSpuren„ sind also zugleich das Andere
im Selben und dessen Bedingung, indem sie als ıSpuren„ zurücktre-
ten, sich auslöschen.
Auch im Zusammenhang mit diesen Erläuterungen bleibt
Derrida seinem Denken in Ambivalenzen treu. Trotz der Rückfüh-
rung aller Begriffe auf Bündel von (nicht identifizierbaren und nicht
systematisch fixierbaren) ıSpuren„ spricht Derrida durchaus auch
von einer ıgewissen Selbstidentität„ und davon, dass ıWiederhol-
barkeit einen minimalen Rest (ebenso wie ein Minimum an Ideali-
116 Johannes Thomas: Jacques Derrida

sierung) voraussetzt, damit die Identität des Selben wiederholbar


und identifizierbar bleibt„. Dieser als notwendig gedachte ımini-
male Rest„, der als präsenter dem Metaphysikverdikt unterworfen
wäre, wird jedoch sogleich wieder als von Anfang an gespaltenes
ıdifférance„-Produkt und damit als nicht bestimmbar bestimmt.16
Derrida scheint de Saussures Sprachauffassung weiter dadurch
zu radikalisieren, dass er gegen dessen Preisgabe des Referenten
und die Beschränkung der Verweisungsfunktion der Zeichen allein
auf Zeichen die Notwendigkeit einer Beschreibung der Welt setzt.
Wie sonst könnte auch der von ihm eingeforderte und für politische
Urteile unverzichtbare Wahrheitsanspruch eingelöst werden? Wie
sonst wäre etwa eine andere Welt als gerechter denn die bestehende
auszuweisen? Also verlangt schon die von Derrida offenbar emp-
fundene Notwendigkeit ethisch-politischer Urteile das Festhalten am
Referenten als etwas Außersprachlichem.17 So scheint es, aber es
scheint nur so. Auch bei Derrida wird der Referent als dasjenige
bestimmt, auf das die Zeichen verweisen, ja, es gibt ihn nur inner-
halb einer Verweisungsstruktur, als Konsequenz einer ıSpur„ (die
die ıSpur„ einer Abwesenheit ist, wie oben gezeigt). Er ist also auch
bei Derrida nichts rein Außersprachliches, auf das man sich mit
Wahrheitsansprüchen beziehen könnte, um politisch-moralische Ur-
teile zu begründen, sondern er bleibt in seinen jeweiligen sprachli-
chen Verweisungszusammenhang eingebunden. Die Möglichkeit
einer Begründung im außersprachlichen Weltbezug wird zwar ge-
gen de Saussure suggeriert, aber dann eben doch wieder in Ambi-
valenzen aufgelöst.
Im Sinne der grundlegenden Ambivalenz kann der Referent al-
lerdings auch nichts rein Innersprachliches sein. Nach Derridas Kri-

16 Jacques Derrida: Limited Inc a b c ..., in: Glyph, John Hopkins Textual Studies (1977),
Nr. 2, S. 189f.
17 Jacques Derrida: Du droit à la philosophie, Paris 1990, S. 397-438, 461-498.
117

tik an den metaphysisch begründeten binären Gegensätzen kann es


ja gar keinen eindeutigen Gegensatz von Sprache und Welt geben.
Beide, Sprache und Welt, sind gemäß dem ıdifférance„-Konzept
nicht nur selbst keine eindeutigen Begrifflichkeiten, sondern sie ste-
hen auch in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Solche
Ambivalenz von Sprache und Welt spricht etwa auch aus Derridas
Ausführungen zum ıUrsprung„ der Sprache: Wenn der Mensch die
Sprache den Menschen verdankt (was der aristotelischen Vorstel-
lung der Sprache als Konvention oder Setzung zu entsprechen
scheint), so verdankt sie der erste Mensch, wie Derrida allzu simpel
schließt (und hier eher an Platons Auffassung anzuknüpfen scheint),
etwas Nichtmenschlichem, Nichtsprachlichem.18 Derrida nennt es
eine ıSendung„ oder auch die ıGabe„, die ıGabe der Sprachen„.
Ihr muss ich als ıGabe„ (im Doppelsinn von ıgift/Gift„, also ıgiftiger
Gabe„, ein Thema, auf das ich aber hier nicht weiter eingehen
kann) wie einem Gesetz schon bedingungslos zugestimmt haben vor
jeder einzelnen Sprechhandlung und vor jeder Handlung über-
haupt.19 Allerdings ist auch diese metaphysisch oder mystisch20 an-
mutende ıGabe„ kein Ursprung im Sinne einer Ursprungsphiloso-
phie oder Theologie, auch wenn sie vielleicht solche Assoziationen
weckt. Das, was dem Innersprachlichen vorangehen und was jedes
Subjekt immer schon akzeptiert und affirmiert haben muss, ist
nichts Ursprüngliches, sondern das, was sich in jeder sprachlichen
und nicht-sprachlichen Tätigkeit vollzieht und sich ständig in ihr
wiederholt.21 ıUr-Schrift„, ıdifférance„, ıGabe„ sind demnach das,
was ist, und zugleich das, was ermöglicht, dass das, was geschieht,

18 Jacques Derrida: Wie nicht sprechen – Verneinungen, Wien 1989, S. 53f.


19 Jacques Derrida: Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, S. 109ff.
20 Derrida nennt den Grund der Autorität des Rechts selbst „mystisch“. Ders.: Geset-
zeskraft. Der mystische Grund der Autorität, übersetzt von Alexander García
Düttmann, Frankfurt/Main 1991.
21 Jacques Derrida: Ulysses Grammophon. Zwei Deut für Joyce, übersetzt von Elisabeth
Weber, Berlin 1988, S. 100.
118 Johannes Thomas: Jacques Derrida

geschieht. Aber was bleibt dann noch übrig von der Rolle des Sub-
jekts, von seiner politisch-moralischen Verantwortung?

Die Dekonstruktion dekonstruiert Texte – durch


(und ohne) subjektives Eingreifen
Das Subjekt wird als Akteur insofern wieder eingeführt, als es ja des
subjektiven Eingriffs in die Texte zu bedürfen scheint, wenn die
ıdifférance„ in ihnen ihre Wirksamkeit entfalten soll. Jedenfalls ist es
niemand anders als Derrida, der etwa in die Texte von Husserl
oder Rousseau (im Sinne seines neu eingeführten Begriffs der
ıdéconstruction„) destruierend und rekonstruierend eingreift, um
deren präsenzmetaphysische Implikationen offenbar werden zu las-
sen. Er spricht im Zusammenhang seiner dekonstruktiven Arbeit
selbst explizit von ıStrategien„, ıInterventionen„, ıaktivem Eingrei-
fen„22 und mahnt, ıdass Dekonstruktion je individuell sein muß [...].„23
Andererseits ist das Subjekt selbst Produkt der ıdifférance„, und
die ıdifférance„ ist immer schon am Werk, benötigt daher auch
kein subjektives Eingreifen, um sie in Gang zu setzen. Folglich
müsste man auch von der Dekonstruktion sagen, was Derrida selbst
tatsächlich von ihr sagt, dass nämlich der Text sie selbst macht.24
Wenn aber Dekonstruktion und ıdifférance„ ıals Sprache, die sich
selbst spricht„, aufzufassen sind,25 dann müssen auch in den von
ihm dekonstruierten Texten von Husserl und Rousseau die ıdiffé-
rance„ und die Dekonstruktion ganz ohne sein Zutun immer schon
am Werke gewesen sein. Sie sind insoweit keine schlichten Objekte

22 Jacques Derrida: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva u.a., übersetzt
von Dorothea Schmidt, unterstützt von Astrid Wintersberger, Wien 1998, S. 138ff.
23 Jacques Derrida: Philosophie und Literatur. Ein Gespräch mit Jacques Derrida, in:
Arne Ackermann, Harry Raiser, Dirk Uffelmann (Hg.): Orte des Denkens. Neue russi-
sche Philosophie, Wien 1995, S. 138ff.
24 Derrida: Gesetzeskraft, a.a.O., S. 68.
25 Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage, übersetzt von Alexander
García Düttmann, Frankfurt/Main 1992, S. 98.
119

seiner dekonstruierenden Kritik geworden, sondern Derrida hat


sich, wie an anderer Stelle gefordert, einfach nur der dekonstruie-
renden Arbeit des fremden Textes geöffnet.26
Die Widersprüchlichkeit seiner Ausführungen zur Dekonstruk-
tion greift er an wieder anderer Stelle insofern auf, als er seine de-
konstruierenden Eingriffe nicht als ıkriegstreiberische Strategie„ ver-
standen wissen möchte, sondern als paradoxe ıStrategie ohne
Zweckmäßigkeit„, wobei er sich nicht weiter an diesem ıheiteren
Selbstwiderspruch„ stört.27 Denn die Undenkbarkeit seiner Bestim-
mungen macht sie für ihn nicht hinfällig, löscht sie nicht aus. Apo-
rien bezeichnen nach Derrida zwar ungangbare Wege, jedoch sind
sie zugleich die einzigen, die wir gehen können.28
Und das gilt eben auch für den Bereich der Politik. Auch hier
kommt es, wie von Derrida selbst etwa mit der Unterzeichnung des
Europa-Aufrufs von Habermas vorgeführt, auf den Einsatz des ein-
zelnen, insbesondere des Intellektuellen an, während andererseits
die Dekonstruktion immer schon von sich aus arbeitet, denn sie ıhat
nicht darauf gewartet, dass man von ,Dekonstruktion redet; sie ist seit
langem im Gange [...]„,29 ıla déconstruction, cÊest ce qui arrive.„30

Was aber zeichnet das „différance“-/Dekonstruktions


-Denken gegenüber anderem aus?
Wenn das Verhältnis zwischen ıdifférance„ und Dekonstruktion ei-
nerseits und subjektivem intellektuellen Engagement andererseits
durch eine unaufhebbare Ambivalenz charakterisiert ist, wenn es

26 Jacques Derrida: Adieu à Emmanuel Levinas, Paris 1997, S. 133.


27 Jacques Derrida: Punktuierungen. Die Zeit der These, übersetzt von Hans-Dieter
Gondek, in: Hans-Dieter Gondek, Bernhard Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens.
Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt/Main, S. 19-39.
28 Jacques Derrida: Apories, Paris 1996, S. 25-33.
29 Habermas, Derrida, a.a.O., S. 173.
30 Zitiert nach: Jacques Derrida, Catherine Malabou: Jacques Derrida. La Contre-Allée.
La Quinzaine littéraire – Louis Vuitton, 1999, S. 216.
120 Johannes Thomas: Jacques Derrida

Normen gibt und nicht gibt und man sich, wenn es sie gibt, nicht an
ihnen orientieren darf, wie können dann mit Derrida bestimmte Er-
eignisse oder Handlungen gegenüber anderen positiv oder negativ
ausgezeichnet werden? Derrida versucht trotz seines Denkens in
Ambivalenzen und Aporien die moralische Höherwertigkeit seines
ıdifférance„-Denkens dadurch auf ein Fundament zu stellen, dass er
ihm im Vergleich zum metaphysischen Denken eine ımindere Ge-
walt„ zuschreibt. Husserl habe bei seinem Versuch, die Präsenzme-
taphysik zu legitimieren, der ıdifférance„, indem er sie ausschloss
oder verbarg, ıGewalt„ angetan, sie ıgewaltsam„ unterdrückt. Zu-
gleich habe er damit das Andere der unmittelbaren Präsenz, das
Materielle, als sekundäres Produkt des Intelligiblen nach außen ab-
gedrängt, womit eine Tradition der Unterdrückung des anderen
seine philosophische Begründung gefunden habe. Zwar sei auch die
der Sprache innewohnende ıdifférance„ mit ihrem Verschieben
und Aufschieben der Bedeutung, mit dem Auswählen bestimmter
Bedeutungen auf Kosten anderer, die unterdrückt werden usw.
ıgewalttätig„, aber indem sie diese ıGewalt„ wolle und sichtbar ma-
che, sei sie von ıgeringerer Gewalt„.31
Sehen wir einmal von dem merkwürdigen Sprachgebrauch ab,
der sich darin zeigt, dass etwas, was ohnehin und automatisch in der
Sprache geschieht, als ıgewalttätig„ bezeichnet wird, so stellen wir
fest: Derrida zeichnet hier offene gegenüber kaschierter Gewalt in
positiver Weise aus. Eine solche Auszeichnung setzt voraus, dass es
entsprechende Normen gibt, die allgemein akzeptiert sein müssen,
was auch für Derrida nicht der Fall ist. Alle positiven Setzungen,
und dazu würde auch die Bestimmung eines solchen Gegensatzpaa-
res gehören, können mit Derrida, wie gezeigt, nur aporetisch be-
gründet werden, also gar nicht. Derrida führt an anderer Stelle denn

31 Jacques Derrida: Schrift und Differenz, übersetzt von Rodolphe Gasché, Frank-
furt/Main 1976, S. 178.
121

auch aus, dass die ıdifférance„ nicht selbst ethisch irgendwie auszu-
zeichnen sei. Sie gehe vielmehr ıjeder ethischen Wahl„ voraus und
sei ıUrsprung der Moralität wie der Immoralität. Nichtethischer
Anbeginn der Ethik.„32 Die ıdifférance„, die kein Ursprung sein soll,
wie oben belegt, wäre dann doch Ursprung, aber weder selbst ethi-
scher Ursprung, noch Ursprung für Ethik, sondern nur für Moralität
und Immoralität zugleich. Mit solchen Bestimmungen bleibt
Derrida im Reich der Ambivalenzen und Aporien.
Ein Unterschied mit möglicherweise moralischen Implikationen
zwischen Husserls Präsenzmetaphysik und Derridas ıdifférance„-
Denken scheint jedoch trotz der Omnipräsenz der ıdifférance„ be-
stehen zu bleiben. Husserl hatte das Scheitern seines Begründungs-
versuchs nicht erkannt und darauf ein zwingendes Denksystem er-
richtet, während Derrida eingedenk und dank der ıdifférance„ die
Undenkbarkeit seiner zentralen Begriffe ausdrücklich herausstellt.
Damit hat er gegen Husserls unzureichend begründetes, aber des-
halb in der Geschichte der Ideen nicht weniger wirksames Identi-
tätsdenken ein Denken radikaler Offenheit in Gang gesetzt. Das ist
ein nicht geringes Verdienst, auch wenn weiterhin gilt, dass Derri-
das Denken nichts, nicht einmal seine eigene Offenheit, in positiver
Weise auszeichnen kann, ohne sich in Ambivalenzen und Aporien
zu verlieren.
Was gleichwohl Derridas Urteilen und positiven Setzungen ein
plausibles, nicht-ambivalentes Fundament geben könnte, lässt sich
vielleicht an seinen Hinweisen auf Kindheits- und Jugenderfahrun-
gen in Algerien ablesen, die er gegenüber offiziellen französischen
Texten mit größter Selbstverständlichkeit ins Recht setzt. Offiziell
war seine Identität zunächst die eines Franzosen, dann verlor er sie
für ein paar Jahre, weil er offiziell Jude war, dann gewann er sie (mit

32 Jacques Derrida: Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns


Zischler, Frankfurt/Main 1983, S. 243.
122 Johannes Thomas: Jacques Derrida

Verspätung) wieder, während er sich selbst in dieser ganzen Zeit


zugleich als französischer Bewohner Algeriens und als Jude sah,
ohne daraus irgendeine Identität ableiten zu können. So kritisierte
er etwa die offizielle Rede von der Muttersprache unter Hinweis
darauf, dass sie jenseits seines Wohnortes, nämlich im Hexagon ge-
sprochen wurde und insoweit schon nicht ıseine Sprache„ gewesen
sei, so hielt er die offizielle Erklärung für den Verweis von der fran-
zösischen Schule und für den Entzug der französischen Staatsbür-
gerschaft mit der deutschen Besatzung für unglaubwürdig, weil in
seiner erlebten Geschichte deutsche Besatzer nicht vorkamen, son-
dern nur Franzosen und weil die Diskriminierung auch noch Mo-
nate nach dem Sieg über die Deutschen andauerte. Im übrigen hielt
er die Rede von der ıBesatzung„ schon deshalb für nicht glaubhaft,
weil er die Franzosen selbst als Besatzer empfand, nämlich als Besatzer
Algeriens, das er keineswegs als französische Region erlebte usw.33
Was Derridas Dekonstruktion offizieller Diskurse an dieser Stelle
legitimiert, ist nicht deren automatisch sich vollziehende ıdiffé-
rance„, sondern der Rekurs auf einen Text, den man ıpersönliche
Erfahrung„ nennen könnte. Er verdankt seine Plausibilität und sein
Gewicht womöglich jener (wenn auch sprachlich vermittelten) Un-
mittelbarkeit der Erfahrung, gegen deren Denkbarkeit Derrida sein
Leben lang angeschrieben hat.

33 Jacques Derrida: Le monolinguisme de l’autre, Paris 1976, S. 74-94.


123

Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas.


Anregungen für eine kritische Intellektualität
zu Beginn des 21. Jahrhunderts1
Ulrich Brand

1 Dieser Text ist Teil eines derzeit laufenden Habilitationsvorhabens zu einer kriti-
schen Theorie internationaler Politik. Für Anmerkungen danke ich Eva Hartmann,
Miriam Heigl und Joachim Hirsch. Ein früherer Entwurf war Anlass einer intensiven
Diskussion an der Uni Kassel, bei der ich von Stefan Beck, François Beilecke, Jan
Benedix, André Bisevic, Barbara Dickhaus, Eva Hartmann, Christoph Klutsch, Caren
Kunze, Detlef Sack, Christoph Scherrer, Nicola Sekler und Gerd Steffens wichtige
Hinweise bekam.
124 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

Das Wahrheitsregime der Globalisierung scheint in den letzten Jah-


ren Risse bekommen zu haben. Sozialer Protest entsteht von der
lokalen bis zur internationalen Ebene, aus dem Establishment kriti-
sieren Intellektuelle den ıRaubtierkapitalismus„ (Helmut Schmidt)
sowie die ıSchatten der Globalisierung„ (so der ehemalige Chef-
ökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz).2 Dennoch scheinen sich
neoliberale Kräfte weiterhin durchzusetzen, insbesondere das trans-
national agierende Kapital mit seinen Interessen an international
guten Verwertungsmöglichkeiten, Privatisierungen, Flexibilisierung
der Arbeitsverhältnisse, einem am internationalen Wettbewerb
orientierten Staat und in Verbindung mit einer daraus Vorteile zie-
henden Mittelklasse und Kernarbeiterschaft sowie einem Großteil
von Medien und Parteien.
Die Produktion kritischen Wissens, insbesondere theoretischen
Wissens, ist davon nicht unberührt. Die Produktion von Theorie,
Vernunft und Wahrheit ist nämlich selbst eine politische Praxis und
ein materielles Verhältnis, damit ein komplexer, von Machtverhält-
nissen durchdrungener Prozess. Theorien erzeugen spezifische Pro-
blemhorizonte und tragen zu einer Sicht der Dinge bei, die dann
wichtig sind für die Legitimität gesellschaftlicher Praxen.3 Das neoli-
berale Projekt ist gerade durch die Dominanz bestimmter Wissens-
formen über andere, besonders deutlich in den Wirtschaftswissen-
schaften, vorangetrieben worden. Kritisches Denken wurde seit den
1980er Jahren und insbesondere nach 1989/91 breit delegitimiert.4

2 Joseph Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung, Berlin 2002.


3 Vgl. in Anlehnung an Foucault und die ältere Kritische Theorie Alexander Demirovic:
Der nonkonformistische Intellektuelle, Frankfurt/M. 1999, S. 9-41.
4 Bei Fragen der Wissensproduktion geraten die Intellektuellen in den Blick. Auch de-
ren Verhältnis zu „ihren“ Theorien ist ein soziales und damit historisch variables. Die
Gültigkeit der verschiedenen Weltdeutungen wird nicht aufgrund eines rationalen
Wahrheitskriteriums durchgesetzt, sondern in kapillaren institutionellen Praxen, die
spezifischen Wahrheiten eine Materialität geben. Die Frage der Intellektualität
verweist zudem auf die spezifische Sozialfigur des Intellektuellen, auf ideenge-
schichtliche und soziologische Aspekte, Entstehungsbedingungen, Milieus und
125

In diesem Beitrag möchte ich ausloten, inwieweit die Staatstheo-


rie von Poulantzas zu einem kritischen Strukturwissen über aktuelle
Veränderungen beitragen kann. Dazu gehe ich knapp auf sein Le-
ben ein, skizziere die Grundzüge seiner Staatstheorie und verdichte
einige Anregungen für eine Internationale Politische Ökonomie.5
Schließlich versuche ich entlang ausgewählter Aspekte, den Gewinn
einer solchen Perspektive anzudeuten und gehe kurz auf die aktuel-
len Bedingungen der Produktion kritischen Wissens ein.

Der griechisch-französische Intellektuelle


Nicos Poulantzas
Nicos Poulantzas wurde 1936 in Athen geboren, studierte von 1953-
1957 an der Universität von Athen Rechtswissenschaften, v.a. weil
ihm dieses Studium am ehesten die Möglichkeit gab, seinen Interes-
sen an Philosophie und Sozialwissenschaften nachzugehen.6 Er in-
teressierte sich für Marxismus und war u.a. Mitglied einer studenti-
schen Gruppe, die mit der klandestinen kommunistischen Partei
verbunden war. Seit seiner Kindheit lernte er Französisch und war
stark von der französischen Kultur beeinflusst. Anfang der 1960er
Jahre ging er nach Paris, wo er an der Sorbonne lehrte, sich in den
Kreisen um Sartre, de Beauvoir und Merleau-Ponty bewegte und
regelmäßig für Les Temps Modernes schrieb. Er begann mit seinen
staatstheoretischen Studien und wurde stark von Althusser, aber

sozio-kulturelle Gemeinschaftsbildung; vgl. hierzu den Forschungsüberblick von


Hans Manfred Bock: Der Intellektuelle und der Mandarin? Zur Rolle der Intellektuel-
len in Frankreich und Deutschland, in: Frankreich Jahrbuch 1998, Opladen 1998,
S. 35-51.
5 Vgl. Christoph Scherrer: Internationale Politische Ökonomie als Systemkritik, in:
Gunter Hellmann, Klaus D. Wolf, Michael Zürn (Hg.): Die neuen Internationalen Be-
ziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland, Baden-Baden 2003,
S. 465-494.
6 Zum skizzierten Abriss über das Leben von Poulantzas s. Bob Jessop: Nicos
Poulantzas. Marxist Theory and Political Strategy, New York 1985, S. 6-22 sowie
mündliche Auskunft von Joachim Hirsch.
126 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

auch Gramsci beeinflusst. 1968 brach er mit dem stalinistischen Flü-


gel der Kommunistischen Partei Griechenlands und wandte sich
eurokommunistischen Positionen zu. Wenige Tage vor den Ereig-
nissen im Mai 1968 wurde sein Buch Pouvoir politique et classes
sociales publiziert und mehrere tausend Mal verkauft, das ihn,
29jährig, bekannt machte. In dieser Zeit erhielt er eine Soziologie-
Professor an der neu gegründeten ıexperimentellen„ Universität Pa-
ris VIII Vincennes und arbeitete einige Jahre eng mit Althusser zu-
sammen, was Poulantzas – so Jessop – weg vom Existentialismus
und hin zu seinem eigenen Marxismus führte.7 1974 vertrat er an
der Universität Frankfurt/ M. eine Professur, auf die er dann auch
selbst berufen wurde. Dennoch ging er nach einem Semester nach
Paris zurück.
In dieser Zeit entstanden seine Arbeiten zu Faschismus (in Grie-
chenland herrschte von 1967 bis 1974 eine Militärdiktatur),8 zur sich
internationalisierenden kapitalistischen Produktionsweise, der damit
einhergehenden Transformation von Staat und Politik, der Klassen-
zusammensetzung sowie den Formen gesellschaftlicher Auseinan-
dersetzungen, hier insbesondere die Rolle von Parteien und entste-
henden neuen sozialen Bewegungen. Nach und nach entwickelte
Poulantzas seine Staatstheorie, sie an wichtigen Punkten immer wie-
der revidierend. Zudem setzte er sich mit den Arbeiten von
Foucault, sein Kollege in Vincennes und damaliger Star der Pariser
intellektuellen Szene, auseinander. Die Entwicklungen in den real-
sozialistischen Ländern wie auch in orthodoxen kommunistischen
Parteien Westeuropas veranlassten ihn immer wieder zu scharfer
Kritik, insbesondere hinsichtlich der Rolle politischer Freiheiten und
der Intellektuellen, aber auch gegen die denunziatorische Dämoni-

7 Jessop: Nicos Poulantzas, a.a.O., S. 15.


8 Nicos Poulantzas: Die Krise der Diktaturen. Portugal, Griechenland, Spanien, Frank-
furt/M. 1977 (frz. Ausg. 1975).
127

sierung der marxistischen Theorie als Verantwortliche für den Gu-


lag. Er wandte sich gegen ökonomistische Verkürzungen damaliger
kritischer Staats-, Politik- und Demokratietheorien. Ein Übergang
zum Sozialismus müsse demokratisch sein und die Errungenschaf-
ten der bürgerlichen Gesellschaft weiterentwickeln.
Wichtig war für ihn immer das Zusammengehen der Linken,
deshalb war er Ende der 1970er Jahre für eine Kooperation zwi-
schen PS und PCF. Poulantzas vereinigte wichtige Intellektuelle
beider Parteien in dem von ihm herausgegebenen Band La crise de
lÊÉtat, der eine breite Diskussion entfachte.9 Zudem war er eines von
zwölf Mitgliedern in der 1977 gegründeten Intellektuellen-Gruppe
Mélusine, die einen undogmatischen Austausch führte und diesen
in die Gesellschaft sowie in die PS und PCF tragen wollte.10 Seit
Mitte der 70er Jahre orientierte sich Poulantzas stärker an sozialen
Bewegungen.
Seine wichtigsten Werke wurden rasch ins Deutsche übersetzt,
auch in der skandinavischen, lateinamerikanischen, portugiesischen,
spanischen und natürlich griechischen Debatte spielten seine Arbei-
ten eine Rolle. Im angelsächsischen Raum wurde Poulantzas in der
Diskussion mit Ralph Miliband rezipiert.11 Die Arbeiten von Pou-
lantzas wurden in den 80er Jahren vom Poststrukturalismus
Foucaults, Deleuzes oder Guattaris abgeschattet. Gleichzeitig er-
lahmte die staatstheoretische Diskussion insgesamt wie auch die
marxistische.12

9 Nicos Poulantzas (Hg.): La crise de l’État, Paris 1976.


10 Als linker Intellektueller mischte sich Poulantzas immer wieder in aktuelle Diskussio-
nen ein. Interviews, die kurz vor oder nach seinem Freitod 1979 veröffentlicht wurden,
zeigen die Resonanz seiner These eines sich entwickelnden „autoritären Etatismus“.
11 Stanley Aronowitz, Peter Bratsis (Hg.): Paradigm lost. State theory reconsidered,
Minneapolis 2002.
12 Leo Panitch wies darauf hin, dass angesichts der neoliberalen Konterrevolution viele
marxistische Intellektuelle – entgegen ihrer Einsichten – sich auf eine Verteidigung
des Staates eingelassen hätten, anstatt das Projekt einer zeitgemäßen Gesellschafts-
theorie und -kritik voranzutreiben; vgl. Leo Panitch: Die Verarmung der Staats-
128 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

Mit PoulantzasÊ Namen sind zuvorderst entscheidende Innova-


tionen der historisch-materialistischen Staatstheorie verbunden, die
sich in den 70er Jahren von der recht abstrakten ıStaatsableitungs-
debatte„ abhob und neben einer Theoretisierung des Staates auf
einer präzisen Zeitdiagnose, verstanden als Analyse der Bedingun-
gen emanzipativer Kämpfe, insistierte. Bob Jessop wies darauf hin,
dass sich Poulantzas für wichtige blinde Flecken des ıWestlichen
Marxismus„13 interessierte, nämlich für Fragen der Demokratie, von
Nation und Nationalismus, einer gründlichen Analyse des Imperia-
lismus und der realsozialistischen Staaten sowie für Fragen gesell-
schaftstransformierender Strategien.14 Wenngleich viele seiner Ein-
sichten verfeinert, manche überholt sind, kann bis heute konstatiert
werden, dass er wesentliche theoretische Referenzpunkte gesetzt
hat: ıPoulantzas remains the single most important and influential
Marxist theorist of the state in the post-war period.„15 M.E. bietet
seine Staatstheorie heute wichtige Anknüpfungspunkte zeitgemäßer
kritischer Intellektualität.

Grundzüge der Staatstheorie Poulantzas’


Staat ist für Poulantzas kein passives, gar neutrales Werkzeug, son-
dern ein soziales Verhältnis. Politisch und theoretisch argumentiert
er gegen etatistische Politikvorstellungen, insbesondere gegen einen
linken Technokratismus, gegen die instrumentalistische Staatsauffas-
sung des PCF sowie gegen stalinistische und staatsmonopolkapitali-
stische Auffassungen. Scharf kritisiert er die vormals stalinistischen,
dann gewendeten Antimarxisten wie André Glucksmann. Aber
auch die Staatsvorstellung einer absolut gesetzten Autonomie und

theorie, in: Christoph Görg, Roland Roth (Hg.): Kein Staat zu machen. Zur Kritik der
Sozialwissenschaften, Münster 1998, S. 20-37.
13 Perry Anderson: Über den westlichen Marxismus, Frankfurt/M. 1978.
14 Jessop: Nicos Poulantzas, a.a.O., S. 4ff.
15 Ebd., S. 5.
129

als zentral erachteten staatlichen Rationalität, verkörpert von einer


nach klaren Regeln funktionierenden Bürokratie, weist er zurück.
Ihn interessiert eine genauere Einschätzung der Volkskämpfe und
die enorm schwierigen Bedingungen des Übergangs zu einem de-
mokratischen Sozialismus. Insbesondere mit seinem Hauptwerk
Staatstheorie, in gewisser Weise eine Weiterentwicklung und Zu-
sammenfassung früherer Arbeiten, schuf Poulantzas einen unhinter-
gehbaren Bezugspunkt. Das Buch sollte vom Anspruch her eine
zentrale Lücke in der marxistischen Theorie füllen.
Poulantzas erklärt die Entstehung des kapitalistischen Staates aus
der kapitalistischen Arbeitsteilung heraus (und nicht wie andere ma-
terialistische Staatstheorien zuvorderst aus der Warenform oder da-
mit, dass die Bedingungen für die Kapitalakkumulation gesichert
werden müssen). Da nämlich die unmittelbaren Produzenten von
den Produktionsmitteln getrennt werden und die Ware Arbeitskraft
zur Grundlage der Mehrwertproduktion wird, kommt es zu einer
relativen Trennung von Staat und ökonomischem Raum.16
Eine zentrale Aufgabe des Staates – seine ıglobale Ordnungs-
funktion„ – ist die permanent umkämpfte Schaffung von sozialer
Kohäsion bzw. von Konsens in klassengespaltenen und grundlegend
widersprüchlichen Gesellschaften. Daher drückt der Staat offenbar so
etwas wie das gesellschaftliche Allgemeinwohl aus – und ist anschei-
nend klassenneutral bzw. eine Art ıVolksstaat mit Klassencharak-
ter„,17 der seine Legitimität aus der Volkssouveränität bezieht. Gleich-
zeitig liegt eine wesentliche Funktion des Staates darin, die herrschen-
den Klassen zu organisieren und die beherrschten zu desorganisieren.
Die Bourgeoisie steht untereinander in einem Konkurrenzver-
hältnis und kann daher ihre eigenen Interessen langfristig nicht si-

16 Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus,


Hamburg 2002 (frz. Ausg. 1978).
17 Nicos Poulantzas: Klassen im Kapitalismus – heute, Hamburg 1975 (frz. Ausg. 1974),
S. 121.
130 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

chern. Dieses Interesse besteht insbesondere an planbaren Rah-


menbedingungen und rechtsstaatlichen Verhältnissen für dauerhafte
Kapitalverwertung. Demzufolge interessiert sich Poulantzas vor al-
lem für die ıökonomischen Staatsfunktionen„, hat aber auch
ideologische und repressive Funktionen – jene von Althusser fokus-
sierten – im Blick. Die Sicherung der allgemeinen Reproduktions-
bedingungen setzt sich über Konflikte durch, für die der Staat ein
institutionelles Terrain bildet.
Die Bourgeoisie befindet sich zudem im Kampf mit den be-
herrschten Klassen. Kapitalistische Klassenherrschaft kann jedoch
nicht einzig auf direkter Gewalt gründen, die bestimmte Klassen auf
andere ausüben. Dafür verfügt der Staat über das ıMonopol legiti-
mer physischer Gewaltsamkeit„ (Max Weber), er ist also eine
Zwangsgewalt, die sich getrennt von allen sozialen Klassen heraus-
bildet und mit den Interessen des Kapitals bzw. der herrschenden
Klassen in einem durchaus widersprüchlichen Verhältnis steht. Ge-
nau hier liegt ein zentraler Grund für die relative Autonomie des
Staates gegenüber den Partikularinteressen (auch der hegemonialen
Klassenfraktion).
Eine entscheidende Innovation PoulantzasÊ liegt in dem Argu-
ment, dass das kapitalistische Klassenverhältnis dem Staat nicht äu-
ßerlich oder vorgelagert, sondern in die Form des kapitalistischen
Staates eingelassen ist. Die Produktionsverhältnisse, Arbeitsteilung
und ökonomische Struktur stehen also nicht außerhalb der Kämpfe
und Klassen. Die sozialen Klassen gibt es nicht ıan sich„, sondern
sie konstituieren sich überhaupt erst in den Konflikten, wobei der
Staat eine zentrale Rolle spielt. Im Staat werden nicht einseitig die
Interessen des Blocks an der Macht durchgesetzt, der selbst eine
ıkonfliktuelle Bündniseinheit„ darstellt, vielmehr ent- und bestehen
131

instabile Kompromissgleichgewichte.18 Da die Interessen aber kon-


fliktiv sind, erfolgt dies, historisch unterschiedlich, unter der Hege-
monie bestimmter Fraktionen.
Politische Führung und Herrschaft ausüben können die herr-
schenden Klassen nur, wenn ihre Projekte hegemonial sind.19 Hege-
monie wird – in Anlehnung an Gramsci – verstanden als Fähigkeit
der herrschenden Klassen, ihre Interessen dahingehend durchzuset-
zen, daß sie von den subalternen Klassen als Allgemeininteresse an-
gesehen werden und daß es weitgehend geteilte gesellschaftliche
Vorstellungen über die Verhältnisse und ihre Entwicklung gibt. ıDie
Beziehung der Massen zur Macht besitzt in dem, was man ins-
besondere als Konsens bezeichnet, stets ein materielles Substrat. Un-
ter anderem deshalb, weil der Staat in dem Feld eines instabilen
Kompromissgleichgewichts zwischen den herrschenden und den
beherrschten Klassen für die Erhaltung der Klassenhegemonie
agiert.„20 Herrschaft ist also immer ökonomisch, politisch und ideolo-
gisch und entsprechend sind Konsens und Hegemonie nicht nur
innerhalb des Machtblocks, sondern gesamtgesellschaftlich ent-
scheidend.
Poulantzas begriff vor diesem Hintergrund ıden kapitalistischen
Staat als spezifische und materielle Verdichtung eines Kräfte-
verhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen.„21 Mit der
Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse ist nicht gemeint, daß Staat
nur deren Ausdruck ist, sondern daß er diese wiederum stabilisiert
und durch seine bestehende Materialität hindurch verändert. Der

18 Der Block an der Macht verkörpert alle Fraktionen der herrschenden Klassen (also
nicht nur die Bourgeoisie), die selbst unterschiedliche und teilweise widersprüchli-
che Interessen haben. Auch innerhalb des Machtblocks finden daher Kämpfe um He-
gemonie statt; eine oder mehrere Fraktionen setzen sich durch und verallgemeinern
ihre Partikularinteressen zum Allgemeininteresse (vgl. auch Alexander Demirovic:
Nicos Poulantzas. Eine kritische Einführung, Hamburg u.a. 1987, S. 62ff.).
19 Poulantzas: Klassen im Kapitalismus, a.a.O., S. 135ff.
20 Poulantzas: Staatstheorie, a.a.O., S. 60 (Hervorheb. i. Orig.).
21 Ebd., S. 159 (Hervorheb. i. Orig.).
132 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

Staat ist ein soziales Verhältnis und daher das zentrale strategische
Terrain gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, aber in seinen ma-
teriellen Apparaten auch ıAkteur„, der nicht nur bestimmte Politi-
ken formuliert und ausführt, sondern die Interessen der herrschen-
den Klassen organisiert und die der beherrschten desorganisiert.
Natürlich ist Staat nicht das einzige Terrain sozialer Kämpfe. Eine
wesentliche materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse zu-
gunsten der Bourgeoisie findet in den Produktionseinheiten statt.22
Dennoch ist auch dort der Staat präsent. Dies führt zu einer be-
kannten, gleichwohl umstrittenen Zuspitzung: ıWo es Klassenteilung
und daher Kampf und Klassenmacht gibt, gibt es immer schon den
Staat, d.h. die institutionalisierte politische Macht. [...] Der Staat
steckt von Anfang an das Kampffeld ab, das Feld der Produktions-
verhältnisse mit inbegriffen, er organisiert den Markt und die Eigen-
tumsverhältnisse, etabliert die politische Herrschaft und die politisch
herrschende Klasse, er markiert und codifiziert alle Formen der ge-
sellschaftlichen Arbeitsteilung, die gesamte gesellschaftliche Realität
im Bezugsrahmen einer Klassengesellschaft.„23
Obwohl der Staat Garant und Teil von Klassenherrschaft ist, un-
terliegt politische Herrschaft dennoch anderen Modalitäten als etwa
ökonomische Herrschaft. Dabei sind verschiedene Formen politi-
scher Herrschaft möglich.24 Poulantzas differenziert zwischen ver-
schiedenen Staatsformen mit entsprechenden demokratischen Ver-
hältnissen: den liberalen und den interventionistischen Staat vom
autoritären Etatismus, von denen er nochmals die Ausnahmezu-
stände Militärdiktatur, Bonapartismus und Faschismus unterscheidet.

22 Poulantzas: Klassen im Kapitalismus, a.a.O., S. 236.


23 Poulantzas: Staatstheorie, a.a.O., S. 68f. (Hervorheb. U.B.).
24 Die liberale Demokratie ist ja offensichtlich nicht die einzige Herrschaftsform in bür-
gerlich-kapitalistischen Gesellschaften – allen heute vorgenommenen Gleichsetzun-
gen zum Trotz. Liberaldemokratische Verhältnisse, selbst immer das Ergebnis von
Kämpfen, stehen jedoch in einem spannungsgeladenen Verhältnis zu kapitalistischer
Klassenherrschaft.
133

Der Staat besteht aus verschiedenen politischen, ökonomischen


und ideologischen Staatsapparaten im engeren Sinne wie Regierun-
gen und Verwaltungen, Parlamenten, Justiz, Polizei und Armee,
Schule etc. Im Staat materialisieren sich, wie gesagt, Macht- und
Kräfteverhältnisse, die wiederum außerstaatliche Beziehungen und
Entwicklungen entscheidend beeinflussen. Das bedeutet, daß auch
die Interessen der beherrschten Klassen und Fraktionen im Staats-
apparat präsent sind.

Poulantzas heute: Staat und Internationale


Politische Ökonomie
Die Theorie von Poulantzas wurde unter ıspätfordistischen Bedin-
gungen„ und im linken intellektuellen Milieu Frankreichs entwik-
kelt. Kritisiert werden u.a. seine starke Fokussierung von Klassen
und ein gewisser Etatismus.25 Meines Erachtens bietet Poulantzas
dennoch einige spannende, zukünftig noch genauer auszuarbei-
tende Ansatzpunkte für eine Staatstheorie einer historisch-materiali-
stischen IPÖ und Anknüpfungspunkte für eine Debatte um kritische
Intellektualität.
Beitragen könnte eine ıneo-poulantzianische„ Perspektive26 zum
noch unscharfen Forschungsprogramm eines Transnationalen Histo-
rischen Materialismus.27 Sinnvoll scheint mir die Verbindung von
Poulantzas mit der ebenfalls aus Frankreich stammenden und in
Deutschland wie Großbritannien staatstheoretisch weiterentwickel-

25 Vgl. Alexander Demirovic, Joachim Hirsch, Bob Jessop: Einleitung zur Neuauflage von
Poulantzas, in: Poulantzas: Staatstheorie, a.a.O., S. 7-34; Bob Jessop: Globalisierung
und Nationalstaat. Imperialismus und Staat bei Nicos Poulantzas – 25 Jahre später, in:
Joachim Hirsch u.a. (Hg.): Die Zukunft des Staates, Hamburg 2001, S. 84.
26 Ulrich Brand, Christoph Görg: Postfordistische Naturverhältnisse. Konflikte um
genetische Ressourcen und die Internationalisierung des Staates, Münster 2003, 6.
Kapitel.
27 Henk Overbeek: Transnational historical materialism: theories of transnational class
formation and world order, in: Ronen Palan (Hg.): Global Political Economy.
Contemporary Theories, London 2000, S. 168-183.
134 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

ten Regulationstheorie28 und der dort entstandenen These der ıIn-


ternationalisierung des Staates„,29 mit den sog. neo-gramscianischen
Ansätzen30 sowie mit poststrukturalistisch-feministischen Beiträgen
zur IPÖ.31 Im Rahmen dieses Beitrages werde ich nicht darauf
eingehen, sondern lediglich einige Anregungen von Poulantzas
selbst für ein theoretisches Verständnis internationaler Politik bzw.
eines sich internationalisierenden Staates skizzieren.32
Wenngleich Poulantzas in den 70er Jahren noch nicht klar sehen
konnte, was später von der Regulationstheorie als Krise des Fordis-
mus und entstehender Postfordismus charakterisiert wurde, öffnet
sein Insistieren auf den genannten Zusammenhängen wichtige Ana-
lyseperspektiven. Wie gesehen, waren für den griechisch-französi-
schen Theoretiker die historisch-konkreten Formen materieller Re-
produktion, Fragen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Kräftever-
hältnisse sowie damit verbundene Institutionalisierungs-, Macht- und
Herrschaftsverhältnisse zentral. Politik im nationalstaatlichen Rah-
men ist ein entscheidender Bestandteil der internationalen Konkur-
renz. Internationale Verhältnisse und insbesondere die Integration
in die internationale Arbeitsteilung haben wiederum Auswirkungen
auf Entwicklungen in einzelnen fraktionierten Räumen.

28 Joachim Hirsch: Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg 2002;


Josef Esser, Christoph Görg, Joachim Hirsch (Hg.): Politik, Institutionen und Staat.
Zur Kritik der Regulationstheorie, Hamburg 1994.
29 Hirsch, a.a.O.
30 Robert W. Cox: Gramsci, Hegemony and International Relations: An Essay in
Method, in: Stephen Gill (Hg.): Gramsci, Historical Materialism and International
Relations, Cambridge/Mass. 1993, S. 49-66; Christoph Scherrer: Neo-gramscianische
Interpretation Internationaler Beziehungen. Eine Kritik, in: Uwe Hirschfeld (Hg.):
Gramsci-Perspektiven, Berlin u.a. 1998, S. 160-174.
31 Jill Steans: Gender and International Relations. An Introduction, New Brunswick
1998; Spike V. Peterson: A Critical Rewriting of Global Political Economy. Integrating
reproductive, productive and virtual economies, London 2003.
32 Ebenfalls einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben muss eine systematische Aus-
einandersetzung mit Poulantzas’ imperialismustheoretischen Überlegungen.
135

Die nationalen, formell nach dem Ende des Kolonialismus sou-


veränen Staaten organisierten historisch ganz wesentlich die politi-
schen Formen der internationalen Konkurrenz und Kooperation.
Bereits seit dem 2. Weltkrieg, verstärkt aber seit den 80er Jahren
werden Organisierungsleistungen auf internationale politische Insti-
tutionen übertragen.33 Damit wird die bilaterale Ebene nicht un-
wichtiger und erst recht nicht die nationalstaatliche Politikebene, die
für die Politikformulierung und -implementierung zentral bleibt. Ein
neo-poulantzianischer Ansatz würde analysieren, wie politische und
soziale Kräfte zur Strukturierung der internationalen Terrains bei-
tragen, wie sich also (welt-)gesellschaftliche Interessen und Kräfte-
verhältnisse in den Apparaten materiell verdichten. Dies würde
nicht nur, wie im Mainstream der Internationalen Beziehungen, im
Sinne effizienter Problemlösungen untersucht werden, sondern an
sozio-ökonomische Reproduktionsprozesse und soziale – nicht nur
politische – Kämpfe und Konstellationen zurückgebunden. Chris-
toph Görg und ich haben dafür den Begriff der ıVerdichtung mate-
rieller Kräfteverhältnisse zweiten Grades„ vorgeschlagen.
Darüber hinaus versetzt ein Anknüpfen an Poulantzas in die
Lage, die viel diskutierten ıKohärenzprobleme„ internationaler Poli-
tik – etwa zwischen dem WTO-TRIPS-Abkommen und der Kon-
vention über biologische Vielfalt hinsichtlich der grenzüberschrei-
tenden Sicherung geistigen Eigentums – zu entschlüsseln. Weil sich
in den jeweiligen Institutionen je spezifisch Interessen und Kräfte-
konstellationen strukturiert verdichten, kommt es zu divergenten
Problemwahrnehmungen und Bearbeitungsvorschlägen.
Zudem kann die je spezifische Verdichtung samt dahinter ste-
henden Interessen erste Hinweise, denen empirisch nachgegangen

33 Wie z.B. auf formelle Organisationen wie die Welthandelsorganisation und Abkom-
men wie die Klimarahmenkonvention, komplexe Regime wie jenes zu Investitions-
sicherheiten, informelle Netzwerke wie die „Gruppe der 8“.
136 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

werden muss, darauf geben, warum Institutionen wie die WTO un-
gleich bedeutsamer sind als etwa die sog. Rio-Institutionen. Das
spannungsreiche Verhältnis internationaler Institutionen zueinander
wie auch die keineswegs unidirektionale Implementierung interna-
tionaler Regeln auf nationaler Ebene geraten damit in den Blick.
Auch innerhalb der internationalen Institutionen bestehen struktu-
relle Selektivitäten, Prioritätendetermination und Filtrierung von
Maßnahmen, was heute in Bezug auf neoliberale Politiken deutlich
sichtbar ist.
Poulantzas wies auch darauf hin, dass eine wesentliche Funktion
des Staates die ıallgemeine Ordnungsfunktion„ ist. Dies bleibt bis
auf absehbare Zeit eine von Nationalstaaten oder spezifischen
Räumen wie der EU zu sichernde Funktion. Andere Funktionen
sind aber hochgradig relevant für die internationalen Institutionen.
Zum einen gilt das für ökonomische Funktionen wie die Schaffung
von Rechts- und Planungssicherheit für das zunehmend internatio-
nal agierende Kapital. Stephen Gill, dem sog. neo-gramschianischen
Ansatz zuzuordnen, nennt diesen Prozess einen ıneoliberalen Kon-
stitutionalismus„. Zum anderen kann in empirischen Untersuchun-
gen durchaus beobachtet werden, inwieweit die institutionellen
Modi hochgradig selektiv sind und tendenziell dominante Interessen
bevorzugen.
Staaten sind, wie gesehen, die materielle Verdichtung sozialer
Kräfteverhältnisse. In diesem Sinne sind Klassen und Interessen
bzw. deren Organisation und Artikulation wesentlich an die Ebene
gebunden, auf welcher der Staat wirkungsmächtig ist. Über den
Staat stellt sich wesentlich ein von der hegemonialen Klasse formu-
liertes Allgemeininteresse her. Breite nationalstaatliche Klassen-
bündnisse, dies zeigt sich etwa am Wettbewerbskorporatismus der
137

bundesdeutschen Gewerkschaften, stehen im Verhältnis zu jenen in


anderen Staaten.34
Die Verdichtung von Kräfteverhältnissen bestimmt damit auch
das internationale Agieren des Staates. Das bedeutet jedoch nicht,
daß soziale Auseinandersetzungen ausschließlich auf der national-
staatlichen Ebene stattfinden. Soziale Auseinandersetzungen können
sich auch internationalisieren und internationale Klassen- und an-
dere Akteursallianzen entstehen. Es ist sogar plausibel, daß sich mit
der zunehmenden Bedeutung internationaler ökonomischer und
politischer Prozesse auch Konflikte auf dieser Ebene vermehren.
Der sog. neo-gramscianische Ansatz der IPÖ hat diese Perspektive
stark gemacht.35
Eine genauere Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Nicos
Poulantzas kann schließlich den Blick dafür schärfen, Interessen-
gruppen in ihrer Konstitution nicht nur an den gesellschaftlichen
Reproduktionsprozess rückzubinden, sondern Großgruppen selbst
als keineswegs homogen zu betrachten. Es gibt nicht ıdas interna-
tionale Kapital„, sondern es entstehen spezifische ıkonfliktuelle
Bündniseinheiten„ und gegebenenfalls hegemoniale Konstellationen
sowie ein historischer Block.
Andere Sachverhalte müssten stärker beachtet werden. Politische
Akteure wie Unternehmen(slobbies) und NGOs – Kräfte, die mitun-
ter als Zivilgesellschaft bezeichnet werden – agieren um internatio-
nale Institutionen herum, ja entstehen teilweise erst mit diesen. Sie
versuchen, die dort zu verhandelnden Politiken qua agenda setting,
lobbying, bargaining und monitoring zu beeinflussen. Institutionen
schaffen sich mitunter auch aktiv ein entsprechendes Vorfeld mit

34 Rassistische und nationalistische Inklusions- und Exklusionsprozesse sowie die Her-


ausbildung „nationaler Identitäten“ sind Teil dieser Bündnisse (vgl. hierzu Etienne
Balibar: Rasse, Klasse, Nation, Hamburg u.a. 1990).
35 Kees Van der Pijl: Transnational Classes and International Relations, London 1998;
Stephen Gill: Power and Resistance in the New World Order, London 2003.
138 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

der Intention, auf Ressourcen wie Expertise, Legitimität und Ver-


bindungen zu anderen, insbesondere lokalen Politikebenen zurück-
zugreifen.36 Hier wird deutlich, dass ein genauer bestimmter Begriff
von (internationaler) Zivilgesellschaft nötig ist, wobei ein an Gramsci
angelehnter besonders vielversprechend scheint.37 Poulantzas ging
hier etwas schematisch von Klassen aus. Allerdings lässt sich mit
ihm für die verschiedenen Modi der ıDurchlässigkeit„ der Apparate
für bestimmte Interessen sensibilisieren (siehe oben).
Damit wären wir bei der komplizierten Frage, was eigentlich in-
ternationale Herrschaft ausmacht. Die ist allgemein nicht zu beant-
worten, dennoch erfolgen ein paar Hinweise für ein mögliches For-
schungsprogramm. Unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen
ist ein wesentlicher Aspekt die Gewährleistung der erweiterten Ka-
pitalreproduktion und die Sicherung der kapitalistischen Klassen-
verhältnisse, die mit ınational„-staatsbürgerlichen, ethnischen und
geschlechtsbezogenen Verhältnissen spezifisch artikuliert sind.
Von Hegemonie kann gesprochen werden, wenn es bestimmten
Klassenfraktionen gelingt, über Kompromisse und Zugeständnisse
innerhalb der herrschenden Klassen ihre Interessen und Sichtweisen
zu verallgemeinern, also ihre ıkorporativen Interessen„ zu überwin-
den, und dies auch gegenüber den beherrschten Klassen erfolgt.
Dann können sozio-ökonomische und kulturelle Projekte zu breit
akzeptierter staatlicher Politik werden.
Es gehe darum, so Alex Demirovic, ıdie Langfristigkeit einer be-
stimmten Kräftekonstellation herzustellen, die die geregelte Lösung
von ,Konflikten der Kompromissparteien ermöglicht, die Bedin-
gungen möglicher Polarisierungen determiniert und die Definitions-

36 Ulrich Brand u.a. (Hg.): Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des


Staates, Münster 2001; Heike Walk, Achim Brunnengräber: Die Globalisierungswäch-
ter. NGOs und ihre transnationalen Netze im Konfliktfeld Klima, Münster 2000.
37 Vgl. Ulrich Brand: Stichwort „Internationale Zivilgesellschaft“, in: Wolfgang Fritz
Haug (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd.6/II Berlin u.a. 2004.
139

gewalt über das, was sich als Gegnerschaft und Feindschaft gegen-
über dem Kompromissgleichgewicht herausbilden kann, monopoli-
siert; sie besteht darüber hinaus in der Fähigkeit, geregelte Verän-
derungen vornehmen zu können, um neu entstehende gesellschaft-
liche Probleme zu lösen.„38 Angesichts der Internationalisierung po-
litischer, ökonomischer und kultureller Prozesse werden sowohl
Kräftekonstellationen als auch die Inhalte, Modi und Terrains gere-
gelter Konfliktaustragung internationalisiert. Dies bedeutet nicht nur
eine Austragung auf räumlich ıhöherer„ Ebene wie etwa der EU,
sondern vor allem eine ıInteriorisierung„ (Poulantzas) internationa-
ler Interessen, Kräftekonstellationen und Restriktionen in die jeweils
nationalstaatlichen oder lokalen Auseinandersetzungen und Insti-
tutionalisierungsprozesse.

Ausblick: Formen, Inhalte und Kritikpotential


Internationaler Politischer Ökonomie
In den jüngsten Protesten wie auch in den sich in den letzten Jahren
konstituierenden globalen sozialen Bewegungen dominiert bislang
die Option eines (globalen) Keynesianismus (zumindest in den
nordwestlichen Ländern): Der Staat soll regulieren und umverteilen,
gegebenenfalls in Kooperation mit anderen Staaten. Die Nach-
kriegskonstellation wird zum Fluchtpunkt der Kritik.39 In der politi-
schen wie sozialwissenschaftlichen Diskussion um die ıGestaltung
der Globalisierung„, Global Governance u.ä. drohen demgegenüber

38 Demirovic: Nicos Poulantzas, a.a.O., S. 97.


39 Vgl. Ulrich Brand: Das World Wide Web des Anti-Neoliberalismus. Entstehende For-
men postfordistischen Protests und der unmögliche globale Keynesianismus, in:
Albert Scharenberg, Oliver Schmidtke (Hg.): Das Ende der Politik? Globalisierung und
der Strukturwandel des Politischen, Münster 2003; zur Frage der Intellektuellen in
den Bewegungen vgl. Daniel Bensaïd, Ulrich Brand: Intellektuelle und Demokratie in
den neuen sozialen Bewegungen. Eine Diskussion, in: Norbert Fröhler u.a. (Hg.): Wir
können auch anders. Perspektiven von Demokratie und Partizipation, Münster 2004,
S. 57-75.
140 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

das Verhältnis von Politik und Ökonomie sowie die tief verankerte
kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus ausgeblendet zu bleiben.
Robert Cox fasste die dahinter stehenden, in sich heterogenen Posi-
tionen einmal als problem solving theories zusammen, denen er criti-
cal theories gegenüberstellte.40
Ein kritischer Blick auf die gegenwärtigen Veränderungen, auch
dies wird mit dem Staatsverständnis PoulantzasÊ deutlich, kann das
neoliberale Projekt der Gesellschaftstransformation nicht nur als
ökonomisches konzeptualisieren. Die neoliberal transformierten
Kräfteverhältnisse haben zu einer Transformation des Nationalstaa-
tes hin zu einem ıWettbewerbsstaat„ ( Joachim Hirsch) geführt. Also
nicht ıPolitik (potenziell) gegen Ökonomie„, sondern zusammenge-
dacht mit sozialen Kräftekonstellationen als Grundvoraussetzung
neoliberaler Verallgemeinerung. Das gilt auch für die internationale
Politik.
Zudem kommen neben den neoliberalen Projekten die histo-
risch wichtigen emanzipativen Kritiken am paternalistischen, diszi-
plinierenden und um ein weißes-männliches Normalarbeitsverhält-
nis organisierten nationalen Wohlfahrtsstaat in den Blick.41 Dann
müssen, als eine entscheidende Frage, die je spezifischen Muster
gesellschaftlicher Konsensbildung analysiert werden.
Ein reformulierter ıPoulantzas„ kann hier wichtige Anregungen
geben, Theorie zu entwickeln, Zeitdiagnose auf dem aktuellen
Stand zu betreiben und mit praktischer Kritik der Verhältnisse wie-
der stärker zusammenzudenken.
Wenn theoretisch-intellektuelle Arbeit sich in Kräftefeldern be-
wegt und ıWahrheit„ ein materiell-soziales Verhältnis ist, dann geht

40 Robert W. Cox: Social Forces, States and World Orders, in: Robert O. Keohane (Hg.):
Neorealism and its Critics, Princeton/N.J. 1986, S. 208.
41 Diese Perspektive machen Hardt/Negri stark, weswegen sie m.E. derart intensiv in
der gesellschaftlichen Linken diskutiert werden; Michael Hardt, Antonio Negri:
Empire, Harvard 2000.
141

es auch um die Bedingungen von Theorieproduktion. Die Heraus-


bildung einer ıstandortgerechten Dienstleistungshochschule„ (Tor-
sten Bultmann), der enorme Druck auf Lehr- und Forschungstätig-
keiten, die Neuverhandlung wissenschaftlicher Standards und von
dem, was unter Gesellschaftskritik verstanden wird, dies alles muss
reflektiert werden, wenn es um die (Re-)Produktion kritischen Wis-
sens geht.
Als jüngerer Sozialwissenschaftler muss mit verschiedenen Erfah-
rungen umgegangen werden: Eine im Vergleich zu den 70er Jahren
schärfere Konkurrenz innerhalb des Wissenschaftsbetriebes, die na-
türlich auch Inhalte betrifft und kritische Gesellschaftstheorie als
ıüberholt„ oder unwissenschaftlich zu entwerten versucht. Distink-
tionskriterien sind heute Veröffentlichungen in peer reviewed jour-
nals, englischsprachiges Publizieren und die erfolgreiche Einwer-
bung von Drittmitteln, weniger der eigene Beitrag zu intellektuell
spannenden Diskussionen. Diese Konkurrenz ist eingebettet in eine
aufgrund der Unterfinanzierung und hohem ıReform„-Druck sich
zunehmend und notwendig als Management verstehende Wissen-
schaftspolitik an den Hochschulen.42
Geendet werden soll mitnichten mit einem kulturpessimistischen
Verweis darauf, dass ıfrüher„ alles besser gewesen wäre. Ich kenne
dieses Früher kaum, ahne aber aufgrund der Desillusionierung und
wissenschaftlichen Nicht-Kommunikation älterer KollegInnen, dass
sich Vieles im wahrsten Sinne des Wortes erschöpft hat.
Hans-Jürgen Bieling weist darauf hin, dass sozialwissenschaftlich
arbeitende Intellektuelle zunehmend die Bedingungen der sozio-
ökonomischen Reproduktion akzeptiert hätten und demzufolge
Veränderungen nur noch im Staat und/oder in der Zivilgesellschaft
vorgestellt werden können ( Jürgen Habermas ist sicherlich das her-

42 In Gesprächen mit KollegInnen von anderen Universitäten bekomme ich mit, dass es
in Kassel noch relativ gut aussieht.
142 Ulrich Brand: Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

ausragende Beispiel).43 Ein zentrales Stabilitätsmoment des neolibe-


ralen Gesellschaftsprojektes liegt – trotz seiner Widersprüchlichkeit
und immer wieder formulierter Kritik – zudem darin, dass nach
dem Ende staatlichen Steuerungsoptimismus und des Realsozialis-
mus gesellschaftliche Alternativen weitgehend desavouiert sind.
Schließlich, so Bieling, hat das Bedürfnis nach Anerkennung dazu
beigetragen, dass in Zeiten, in denen kritisches Denken nicht en
vogue ist, sich viele Intellektuelle davon verabschiedet haben.
Es soll dennoch der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dass
fundierte und undogmatische Gesellschaftstheorie und -kritik in ei-
ner ıpost-neoliberalen„ Konstellation wieder an Legitimität und Ge-
hör gewinnt. Sozialwissenschaft sollte sich gegen den Imperialismus
der neoklassischen Ökonomik wie auch der neoliberalen Gesell-
schaftstransformation nicht auf die Option einer ıbesseren Regulie-
rung„ verlegen, so wichtig konkrete Vorschläge und alternative ıEr-
zählungen„ sind. Zu guter Letzt scheint mir eine Perspektive von
enormer Aktualität, angesichts der enormen gesellschaftlichen
Komplexität an den Universitäten Menschen zu ınon-konformisti-
schen Intellektuellen„ (Horkheimer) auszubilden, sie also in die
Lage zu versetzen, in ihren konkreten Praxen auch außerhalb der
Universitäten jeweils kritisch reflektierend agieren zu können.
In dem konsequenten Ausloten emanzipativer Potenziale unter
sich dynamisch verändernden Bedingungen eines glokalen, frag-
mentierend-vereinheitlichenden Kapitalismus liegt eine Kraftquelle
kritischer Theorie – auch heute. Hier kann die Theorie von Nicos
Poulantzas wertvolle Anregungen gerade auch für ein neu zu defi-
nierendes Intellektuellen-Engagement geben.

43 Hans-Jürgen Bieling: Dynamiken sozialer Spaltung und Ausgrenzung, Münster 2000,


S. 189-193.
143

Die école de la régulation: Französische


Wirtschaftstheorie mit Ausstrahlung
jenseits des Rheins
Christoph Scherrer
144 Christoph Scherrer: Die école de la régulation

Das deutsche Wirtschaftswunder und später die Dominanz der


deutschen Bundesbank haben lange Zeit in Frankreich für reichlich
Diskussionen gesorgt. Umgekehrt wurde und wird in Deutschland
der französischen Wirtschaft wenig akademische Beachtung ge-
schenkt. Doch die in Paris zu Beginn der 1970er Jahre entwickelte
Regulationstheorie, deren führende Vertreter bald den Status einer
école de la régulation erwarben, wurde in Westdeutschland von
unorthodoxen Marxisten breit rezipiert. Letztere hofften mittels der
Regulationstheorie die strukturalistische Sackgasse des Althusser-
schen Marxismus überwinden zu können, dessen Erbe sie in Frank-
reich angetreten war. Zudem schien sie eine Verbindung zwischen
den beiden in Westdeutschland entlang der Linie ıBasis/ Überbau„
entfremdeten marxistischen Diskussionssträngen, der Staatsablei-
tungsdebatte1 einerseits und der Kritischen Theorie der Frankfurter
Schule andererseits, schlagen zu können. Zu den ıVerführten„ ge-
hörte auch ich. Die Regulationstheorie hat meine Doktorarbeit zu
den weltmarktinduzierten Anpassungsreaktionen der Auto- und
Stahlindustrie in den USA angeleitet.2 Sie inspiriert auch heute noch
interessante Doktorarbeiten.
Was machte die Regulationstheorie so faszinierend, zu welcher
Art von Arbeiten in Deutschland gab sie die zentralen Begriffe und
schließlich wo sind ihre Grenzen? Dies sind einige der Fragen, de-
nen ich an dieser Stelle nachgehen möchte. Doch zunächst möchte
ich das regulationistische Forschungsprogramm und dessen in
Deutschland wahrgenommene Vertreter kurz vorstellen.

1 Joachim Hirsch: Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals, Frankfurt/M. 1974.


2 Christoph Scherrer: Im Bann des Fordismus. Die Auto- und Stahlindustrie der USA im
internationalen Konkurrenzkampf, Berlin 1992.
145

Das regulationstheoretische Programm


Der theoretische Anspruch des Regulationsansatzes war es zunächst,
die grundlegenden Veränderungen des Lohnverhältnisses inklusive
der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen zum Ausgangspunkt
einer Neuinterpretation der historischen Entwicklungsphasen des
Kapitalismus (Akkumulationsregime) zu machen. Zentrales Abgren-
zungskriterium bildete die Art der Mehrwertproduktion (absolut be-
ziehungsweise relativ), wobei Michel Aglietta im grundlegenden
Werk der Regulationstheorie, Régulation et crises du capitalisme:
lÊexpérience des Etats-Unis für letztere die Notwendigkeit umfassen-
der Veränderungen in den Lebensbedingungen der Lohnabhängi-
gen systematisch herausarbeitete.3 Diese theoretisch stringente Ver-
koppelung von Veränderungen in den Produktionsverhältnissen mit
denen der Konsumtionsverhältnisse dürfte einen besonderen intel-
lektuellen Reiz zu einer Zeit ausgeübt haben, als die Kritik am Kapi-
talismus nicht auf materielle Verarmung, sondern auf den Überfluss
der Dinge abhob.
Der Begriff Regulation steht weder für einen Gleichgewichtszu-
stand noch für staatliche Regulierung, sondern bezieht sich auf die
prekäre Reproduktion des Waren- und des Lohnverhältnisses.
Wachstum ginge mit Brüchen in den Produktionsmethoden und
Lebensweisen einher. Vollziehe sich die Kapitalakkumulation den-
noch, dann läge ein Entsprechungsverhältnis zwischen den Verän-
derungen vor. Regulation sei somit Systemveränderung bei Sys-
temerhalt. Dabei ist Regulation aufgrund der diesen Verhältnissen
eingeschriebenen Interessenkonkurrenz nicht Resultat bewusster
Steuerung.4 Mit dieser inhaltlichen Füllung des Begriffs Regulation

3 Michel Aglietta: Régulation et crises du capitalisme: l’expérience des États-Unis,


Paris 1976. Überarb. Neuauflage plus Nachwort, Paris 1997.
4 Zu den Parallelen und Differenzen zum Regimeansatz s. Andreas Missbach: Das
Klima zwischen Nord und Süd. Eine regulations-theoretische Untersuchung des Nord-
Süd-Konflikts in der Klimapolitik der Vereinten Nationen, Münster 1999, S. 42-52;
146 Christoph Scherrer: Die école de la régulation

wurde einerseits ein Instrument zur Kritik des vorherrschenden


neoklassischen Paradigmas in den Wirtschaftswissenschaften ent-
wickelt und andererseits gegenüber dem AlthusserÊschen Struktura-
lismus die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus betont, wie sie am
Ende der langen Nachkriegsprosperität allseits deutlich wurde.
Auch in der rein institutionalistischen Fassung der Regulations-
theorie (s.u.) blieben zwei Konzepte von Marx erhalten. Das erste
ist, dass das Kapital umfassender definiert werden muss. Einerseits
setzt es sich aus Kapitalgütern und aus Geldvermögen zusammen
und andererseits besteht es aus wirtschaftlicher Macht, die die Kapi-
taleigner in die Lage versetzt, die Innovationsgeschwindigkeit und
Veränderungen der Arbeitsorganisationen zu bestimmen. Das zwei-
te Konzept ist, dass Kapitalakkumulation einerseits ein wesentlicher
Wachstumsfaktor ist, insbesondere weil es Veränderungen in den
Produktions- und Konsumweisen bewirkt, anderseits aber unbe-
ständig ist und deshalb oft zu gesellschaftlichen Spannungen führt.5
Anschauungsmaterial war zwar vornehmlich die französische
Wirtschaft, doch Agliettas bahnbrechendes Buch beschäftigte sich
mit der US-amerikanischen Wirtschaft. Dort identifizierte er eine
Prosperitätsphase von Mitte der 1930er bis Anfang der 1970er Jahre,
der er unter Verweis auf Antonio Gramsci den Namen Fordismus
verlieh. Sie zeichnete sich durch eine relativ gleichläufige Entwick-
lung von industrieller Massenproduktion und standardisiertem Mas-
senkonsum der Lohnabhängigen aus. Die Massenproduktion ver-
dankte sich dem tayloristisch-fordistischen Produktionsmodell. Die
Massenkonsumtion basierte auf der Koppelung von Reallöhnen

Ulrich Brand u.a.: Global Governance. Alternative zur neoliberalen Globalisierung?,


Münster 2000.
5 Jean-François Vidal: Birth and Growth of the Regulation School in the French Intel-
lectual Context (1970-1986), in: Agnes Labrousse, Jean-Daniel Weisz: Institutional
Economics in France and Germany: German Ordoliberalism versus the French Regu-
lation School, Berlin 2000, S. 36.
147

und Produktivität, die durch Tarifverträge, Sozialversicherungen,


Oligopolisierung beziehungsweise staatliche Regulierung wichtiger
Märkte und antizyklische Konjunktursteuerung institutionell gesi-
chert wurde. Als Krisenursachen benannte Aglietta vor allem sozio-
technische Grenzen tayloristischer Rationalisierung.6
Im englischsprachigen Raum sind die zentralen Ausführungen
der Regulationisten mittlerweile sehr gut dokumentiert, dank der
Übersetzung ihrer eigenen Einführungstexte,7 eines interessanten
Vergleichs mit der deutschen ordoliberalen Schule8 und insbeson-
dere der von Bob Jessop herausgegebenen fünfbändigen Antholo-
gie mit zentralen Texten auch ihrer internationalen Anhänger.9 Auf
deutsch erschienen mit Ausnahme des eher essayistischen Bands
von Lipietz zum Ende des Kalten Krieges10 nur vereinzelte Aufsätze
der Regulationisten (zur deutschen Rezeption s.u.).

Ökonomische Ingenieure mit


gesellschaftstheoretischem Anspruch
Die Regulationstheorie wird in Deutschland vor allem mit den Na-
men Michel Aglietta (geboren 1940), Robert Boyer (geboren 1943)
und Alain Lipietz (geboren 1947) in Verbindung gebracht. Aglietta
arbeitete in den 1960er Jahren für das französische Wirtschaftsmini-
sterium am Institut National de la Statistique et des Etudes Econo-
miques (INSEE ), Robert Boyer am Centre dÊEtudes des Revenus et
des Coûts (CERC ) und später bei der Direction de la Prévision

6 Michel Aglietta: A Theory of Capitalist Regulation. The US Experience, New York


1979. Neuauflage, London u.a. 1987, S. 119-121.
7 Insbesondere Aglietta: A Theory of Capitalist Regulation, a.a.O.; Robert Boyer: The
Regulation School: A Critical Introduction, New York 1990; Alain Lipietz: Mirage and
Miracles, London 1986.
8 Labrousse, Weisz, a.a.O.
9 Bob Jessop (Hg.): Regulation Theory and the Crisis of Capitalism, 5 Bände, Chelten-
ham 2001.
10 Alain Lipietz: Berlin, Bagdad, Rio. Das 21. Jahrhundert hat begonnen, Münster 1993.
148 Christoph Scherrer: Die école de la régulation

(DP ), und Alain Lipietz war am Centre dÊEtudes Prospectives


dÊEconomie Mathématique Appliquées à la Planification (CEPRE-
MAP ) beschäftigt, das ebenso wie das CERC dem Commissariat
Général au Plan zugeordnet war. Sie waren ıökonomische Inge-
nieure„,11 die an der Ecole Polytechnique ausgebildet worden wa-
ren, und deren Arbeit im wesentlichen darin bestand, quantitative
Methoden der Wirtschaftswissenschaften anzuwenden. Dabei nutz-
ten sie die makroökonomischen Funktionsgleichungen englischspra-
chiger Provenienz und Keynesianischer Prägung.
Am Ende der sechziger Jahre wurde die Relevanz makroöko-
nomischer Modelle zunehmend in Frage gestellt und die Protagoni-
sten der zukünftigen école de la régulation begannen, unter Rück-
griff auf marxistische Theorietraditionen sich die Entwicklung der
französischen Nachkriegsökonomie verständlich zu machen. Aus-
gangspunkt war nicht zuletzt die Kritik an der Philips-Kurve. Die
erste explizit marxistische Arbeit war die bereits erwähnte 1976 ver-
öffentlichte Habilitationsschrift von Aglietta Régulation et crises du
capitalisme und der unter anderem von Boyer und Lipietz ge-
schriebene Sammelband zum Problem der Inflation.12 Der Bezug
zur marxistischen Tradition war sowohl durch die nach dem Mai
1968 entstandene ıoperaistische„ Kritik am strukturalistischen Mar-
xismus à la Louis Althusser als auch durch die französische histori-
sche Annales -Schule gefärbt.13
Nicht zuletzt aufgrund dieser doch sehr unterschiedlichen Ein-
flüsse entwickelten sich in der Folge zwei Forschungsprogramme
heraus. Das erste zielte auf eine Erneuerung des Marxismus unter
Berufung auf die zentralen Einsichten des Regulationsansatzes. Da
Aglietta bald nach Veröffentlichung von Régulation seinen wert-

11 Vidal, a.a.O., S. 14.


12 J.P. Benassy u.a.: Approche de l’inflation. L’exemple français, Paris 1977.
13 Vidal, a.a.O., S. 37-41.
149

theoretischen Anspruch zugunsten einer poststrukturellen Deutung


der Tauschwirtschaft als ıKommunikation von Zeichen„ fallen ließ
und sich verstärkt rein geldtheoretischen Fragestellungen widmete,
wurde Lipietz zum wichtigsten Exponenten dieser werttheoretischen
Richtung. Er unterschied zwischen einer esoterischen Welt der Ar-
beitswerte und einer exoterischen Welt der Einkommen und Preise.
Über die Figur des ıim Entstehen begriffenen Werts„ strebte er eine
Vermittlung dieser beiden ıWelten„ an. Damit sind Formen abstrak-
ter Arbeit gemeint, die noch nicht realisiert worden sind. Diese Werte
werden aber im ınormalen„ Akkumulationsverlauf von den ökono-
mischen Subjekten als ıberufen zur Realisierung„ angesehen, d.h.
ihre gesellschaftliche Anerkennung wird vorweggenommen. Mit der
Sicherheit, mit der die Realisierung der ıim Entstehen begriffenen
Werte„ angenommen wird, nehmen die Unternehmen ihre Kalkula-
tionen vor. Die Einkommen werden somit auf der Annahme begrün-
det und festgesetzt, dass die produzierten Waren realisiert werden.
Diese Annahme ist umso berechtigter, je mehr die Produktion auf-
grund institutioneller Formen (z.B. durch Tarifverträge) im voraus ge-
sellschaftlich anerkannt wird. Damit wachsen die Kohärenz und die
Autonomie der exoterischen Beziehungen, wobei sie sich gleichzeitig
verfestigen. Die ständige ıRevolutionierung der Produktion„ führt je-
doch dazu, dass in den tatsächlichen Tauschakten, die in ihrer syn-
chronen und augenblicklichen Art weiterhin dem Wertgesetz unter-
liegen, die Wertverhältnisse sich ebenso beständig verschieben, so
dass es zu einer krisenauslösenden Auseinanderentwicklung beider
ıWelten„ kommt.14 Mit dieser theoretischen Figur machte Lipietz die
inhärenten Widersprüche kapitalistischer Produktionsverhältnisse
sichtbar.
Der zweite Strang versucht die regulationstheoretischen Kon-
zepte empirisch auf die Verläufe kapitalistischer Ökonomien anzu-

14 Alain Lipietz: The Enchanted World, Inflation, Credit and the World Crisis, London 1985.
150 Christoph Scherrer: Die école de la régulation

wenden, ohne sich notwendigerweise auf Marx zu beziehen. Statt-


dessen wird ein agnostischer Standpunkt gewählt, der davon aus-
geht, dass es nicht notwendig sei, auf eine unsichtbare, der Beob-
achtung entzogene Welt zurückzugreifen, um die reale Welt begreif-
lich zu machen. Zudem wurde die hegelianische und marxistische
Dialektik aufgegeben, nach der Widersprüche durch eine Synthese
immer überwunden werden können: es besteht keine Vorsehung,
die sicherstellt, dass aus einer ernsthaften Krise ein neues, kohären-
tes und besseres Akkumulationsregime entstehen wird.15 Durch
diese agnostische Sichtweise unterscheidet sich die Regulations-
theorie jedoch weiterhin von der neoklassischen Theorie des allge-
meinen Gleichgewichts. Deren Welt ist nämlich ebenfalls eine un-
sichtbare Welt, von der angenommen wird, dass sie besser als die
wirkliche Welt sei.
Im Unterschied zu ihren deutschen Anhängern fanden die Pari-
ser Regulationisten trotz ihres heterodoxen Ansatzes Zugang zu den
wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern. Begünstigt wurde dieser
Umstand durch ihre institutionelle Verankerung in den wirtschafts-
politischen Planungsapparaten, der etatistischen Tradition der Wirt-
schaftspolitik auch im bürgerlichen Lager16 und dem Wahlsieg des
Sozialisten François Mitterrand 1981, wenige Jahre nachdem die
Regulationstheorie wissenschaftlich Anerkennung erhielt. Das Schei-
tern der ersten Mitterandschen Wirtschaftspolitik ist ihnen aber
nicht anzulasten, da sie vor den außenwirtschaftlichen Restriktionen
einer nachfrageorientierten Politik gewarnt hatten. Ende der 1990er
Jahre trafen sich einige der Regulationisten im Beraterlager des so-
zialistischen Ministerpräsidenten Lionel Jospin wieder.

15 Vidal, a.a.O., S. 35f.


16 Agliettas Habilitationsschrift entstand unter der Anleitung von Raymond Barre, dem
Wirtschaftswissenschaftler und späteren Ministerpräsidenten Frankreichs (1976 bis
1981).
151

Heutzutage lehrt Aglietta an der Universität Paris X-Nanterre


und dem Collège de France. Sein Interesse gilt nach wie vor der
Geldwirtschaft, wobei er bis auf die werttheoretische Fundierung
den alten Konzepten treu geblieben ist, z.B. mit seiner Untersu-
chung eines finanzgetriebenen Akkumulationsmodells.17 Am aktiv-
sten vertritt der historisch-institutionell arbeitende Robert Boyer als
ıfils de chef„ das Programm der Regulationisten auf der Suche
nach immer neuen ıpostfordistischen„ Akkumulationspfaden.18
Alain Lipietz öffnete sich vernachlässigten Dimensionen des Regu-
lationsansatzes: der Peripherie und der Umwelt.19 Er war auch kurz-
zeitig Vorsitzender der französischen Grünen Les Verts.

Deutsche Rezeption
Der Bezug auf die fortgeschrittenste kapitalistische Ökonomie dürfte
wohl entscheidend die weltweite Rezeption der Regulationstheorie
begünstigt haben. Mike Davis hat sie 1978 in einem ausführlichen
Besprechungsartikel noch vor Erscheinen der englischen Überset-
zung von Agliettas Régulation im englischsprachigen Sprachraum
bekannt gemacht.20 Und nicht nur in diesem, sondern auch im deut-
schen Sprachraum und in den nordeuropäischen Sprachräumen.21
In Frankfurt und Berlin, den Hauptorten der Rezeption der franzö-
sischen Regulationstheorie in Deutschland, gab es nur wenige, die
die Arbeiten der Regulationisten im Original lasen. Auch ich bil-
dete keine Ausnahme davon.

17 Michel Aglietta: Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem


Prüfstand, Hamburg 2000.
18 Robert Boyer: Is a Finance-led Growth Regime a Viable Alternative to Fordism? A
Preliminary Analysis, in: Economy and Society 29 (2000), Nr. 1, S. 111-145.
19 Zur Peripherie s. Lipietz: Mirage, a.a.O.; zur Umwelt s. Alain Lipietz: Towards a New
Economic Order. Postfordism, Ecology and Democracy, New York 1992.
20 Mike Davis: „Fordism“ in Crisis: A Review of Michel Aglietta’s Régulation et crises:
L’expérience des Etats-Unis, in: Review II (1978), Nr. 2, S. 207-269.
21 René Bugge Bertramsen, Jens Peter Frølund Thomsen, Jacob Torfing: State, Econo-
my and Society, London 1991.
152 Christoph Scherrer: Die école de la régulation

In den USA selbst fiel die Rezeption kühler aus, wohl weil einer-
seits die Regulationstheorie als Konkurrenz zur eigenen, bodenstän-
digeren radical economics gesehen wurde22 und andererseits die
fremde, Detailkenntnisse ermangelnde Sicht auf die eigene Ge-
schichte als Herausforderung angesehen wurde. Die schärfste, auch
empirisch unterfütterte Kritik stammt von Robert Brenner und Mark
Glick, die die Bedeutungszuschreibung für Institutionen prinzipiell
hinterfragten.23
In Westdeutschland erfolgte eine erste Rezeption der Regula-
tionstheorie 1979 durch Deubner et al.24 Sie erläuterten zwar den
Begriff ıFordismus„ und einige der zentralen Kategorien der Theo-
rie der Régulation, doch konzentrierten sie sich auf den Strang fran-
zösischer marxistischer Internationalisierungstheorien außerhalb der
Pariser Regulationsschule. Entsprechend blieb der Band von
Deubner et al. für die späteren Theoriebildungsprozesse ohne grö-
ßeren Einfluss. Bedeutsamer erwies sich die Rezeption von Joachim
Hirsch, der die struktur- und entwicklungstheoretischen Dimensio-
nen der Regulationstheorie für seine staats- und akkumulationstheo-
retisch angeleitete Untersuchung der konkreten Entwicklungsten-
denzen der westdeutschen Gesellschaft zu nutzen wusste.25 Dieser
und seinen späteren mit Roland Roth gemeinsam verfassten Arbei-

22 Samuel Bowles, David M. Gordon, Thomas E. Weisskopf: Power and Profits: The So-
cial Structure of Accumulation and the Profitability of the Postwar U.S. Economy, in:
Review of Radical Political Economics 18 (1986), S. 132-167; zur Kritik s. Christoph
Scherrer: Die „Social Structure of Accumulation“: Ein Interpretationsmodell für Auf-
stieg und Niedergang der US-Ökonomie, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozial-
wissenschaft 18 (1988), Heft 73, S. 131-148.
23 Robert Brenner, Mark Glick: The Regulation Approach: Theory and History, in: New
Left Review 188 (1991), Nr. 7, S. 45-119; s. auch Klaus Dräger: Baustelle Neomarxis-
mus. Die Regulationsschule und Robert Brenner zu den Turbulenzen in der Weltwirt-
schaft, in: PROKLA 123 (2001), S. 177-202.
24 Christian Deubner u.a.: Die Internationalisierung des Kapitals: neue Theorien in der
internationalen Diskussion, Frankfurt/M. 1979.
25 Joachim Hirsch: Der Sicherheitsstaat. Das „Modell Deutschland“, seine Krisen und
die „neuen sozialen Bewegungen“, Frankfurt 1980.
153

ten26 kommt das Verdienst zu, die ökonomistische Verkürzung der


Regulationstheorie zugunsten einer gesamtgesellschaftlichen Ana-
lyse überwunden zu haben.
Allerdings hat Kurt Hübner nicht ganz Unrecht mit seiner Be-
hauptung, dass durch Hirsch die Regulationstheorie wesentlich ıauf
das Konzept des Fordismus verdünnt wurde„.27 Zudem hätte Hirsch
nur einige wenige Kategorien aus dem multidimensionalen Theo-
riekonzept selektiv aufgenommen und diese mit Kategorien kombi-
niert, die von Gramsci und Poulantzas entlehnt sind. Hübner selbst
ging in seiner Dissertation, Theorie der Regulation, bewusst zurück
zum ökonomietheoretischen Ausgangspunkt der Regulationisten
und setzte sich für deren werttheoretischen Strang ein. Damit lie-
ferte er zwar die nach wie vor im deutschen Sprachraum den Arbei-
ten der Regulationisten angemessenste Einführung in die Regula-
tionstheorie, doch trug er so wenig zu ihrer Anwendung auf kon-
krete Entwicklungen bzw. zu ihrer Weiterentwicklung bei. Auch
sollte sein Beitrag einer der wenigen bleiben, die von volkswirt-
schaftlich geschulten Autoren verfasst wurden. Zu diesen gehörte
insbesondere der entwicklungspolitische Beitrag von Thomas
Hurtienne, meine eigene Arbeit zur weltmarktinduzierten Trans-
formation des Akkumulationsregimes der US-Auto- und Stahlindu-
strie und Joachim Beckers raumtheoretische Rekonstruktion der
Regulationstheorie.28
Dominant blieb der gesellschaftstheoretische Zugang zur Regula-
tionstheorie. Dies ist insofern etwas verwunderlich, als sehr früh die

26 Z.B. Joachim Hirsch, Roland Roth: Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordis-
mus zum Post-Fordismus, Hamburg 1986.
27 Kurt Hübner: Theorie der Regulation. Eine kritische Rekonstruktion eines neuen An-
satzes der Politischen Ökonomie, Berlin 1989, S. 14.
28 Thomas Hurtienne: Entwicklungen und Verwicklungen – methodische und entwick-
lungstheoretische Probleme des Regulationsansatzes, in: Birgit Mahnkopf (Hg.): Der
gewendete Kapitalismus, Münster 1988, S. 182-224; Scherrer: Im Bann des Fordis-
mus, a.a.O.; Joachim Becker: Akkumulation, Regulation, Territorium: Zur kritischen
Rekonstruktion der französischen Regulationstheorie, Marburg 2002.
154 Christoph Scherrer: Die école de la régulation

handlungstheoretischen Defizite dieser Theorie konstatiert wurden.29


Angesichts der Schließung der deutschen Wirtschaftswissenschaften
gegenüber jeglichen Ansätzen jenseits der Neoklassik, einschließlich
des Keynesianismus, ist die geringe Rezeption unter Ökonomen
wiederum auch verständlich. Entsprechend waren die deutschen
Regulationisten längst nicht so wie ihre französischen Vorbilder in
die staatlichen Institutionen der Wirtschaftsplanung eingebunden.
Horte der Rezeption waren somit gesellschaftswissenschaftliche
Fakultäten mit marxistischer Theorietradition, insbesondere Frank-
furt und Berlin. Inzwischen hat sich in räumlicher Hinsicht die Ar-
beit mit der Regulationstheorie pluralisiert. In Kassel beschäftigte
sich Stefan Böckler mit einer ıTheorie fordistischer Modernisie-
rung„, bei deren Entwicklung er sich ausführlich mit dem Fordis-
muskonzept der Frankfurter Hirsch und Roth auseinander setzte. So
wies er auf das ungelöste Spannungsverhältnis zwischen ıhinter dem
Rücken der Akteure gesetzten Strukturen„ und dem Prozess des
Klassenhandelns hin.30 Heute knüpft Ulrich Brand positiv an den
Frankfurtern an und versucht, deren Einsichten auf die internatio-
nale Ebene zu heben.31 Frank Klobes machte den Ansatz jüngst für
seine Dissertation über die grenzüberschreitenden Restrukturierun-
gen des VW-Konzerns fruchtbar.32
Im Vordergrund des Interesse der französischen als auch deut-
schen Regulationisten steht nach wie vor die Suche nach Anzeichen
für ein stabiles Akkumulationsregime nach der für die 1970er und
1980er Jahre diagnostizierten Krise des Fordismus. Während aber in

29 Birgit Mahnkopf: Soziale Grenzen „fordistischer“ Regulation, in: dies. (Hg.): Der ge-
wendete Kapitalismus, Münster 1988, S. 99-143.
30 Stefan Böckler: Kapitalismus und Moderne. Zur Theorie fordistischer Modernisierung,
Opladen 1991, S. 206f.
31 Ulrich Brand, Werner Raza (Hg.): Fit für den Postfordismus? Theoretisch-politische
Perspektiven des Regulationsansatzes, Münster 2003.
32 Frank Klobes: Produktionsstrategien und Organisationsmodi. Internationale Arbeits-
teilung am Beispiel von zwei Standorten der Volkswagen AG, Hamburg 2005.
155

Paris kleinteiliger mittels Kompatibilitätsprüfungen der beobachtbaren


oder denkbaren Veränderungen in den Regulationsformen die Trag-
fähigkeit jeweiliger Krisenbewältigungsstrategien ausgelotet wird,33
dreht sich die deutsche Debatte seit Jahren um die Frage, inwieweit
sich eine hegemonial unterfütterte neue Gesellschaftsformation
herausgebildet hat. Einige sehen bereits deutliche Konturen einer
neuen, neo-liberalen Gesellschaftsformation,34 andere können weder
eine Stabilität der ökonomischen Austauschbeziehungen noch eine
gefestigte Hegemonie erkennen und bleiben deshalb bei der
Kennzeichnung auch der Zeit nach der Jahrtausendwende als
Postfordismus.35 Entsprechend ist die Kritik an der Entfernung der
französischen Vorbilder von Marx noch nicht verstummt.36
Jenseits der Debatte um die Zukunft des Fordismus weitete sich
das Themenspektrum der deutschen Regulationisten kontinuierlich
aus. So führte die Forschergruppe um Frieder Naschold am Wissen-
schaftszentrum Berlin regulationstheoretische Einsichten in das Feld
der Arbeitspolitik ein, Margit Mayer und Christian Schmid in die
Stadtforschung, Christoph Görg in die Analyse des Umweltverhält-
nisses, Sabah Alnasseri in die Analyse von Entwicklungsstrategien in
der Peripherie, Lars Kohlmorgen in die Sozialstrukturanalyse, um
nur einige der neueren Arbeiten zu benennen.37

33 Z.B. Boyer: The Regulation School, a.a.O.


34 Mario Candeias: Neoliberalismus. Hochtechnologie. Hegemonie. Grundrisse einer
transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik, Ham-
burg 2004.
35 Brand, Raza, a.a.O.
36 Bernd Röttger: Verlassene Gräber und neue Pilger an der Grabesstätte. Eine neo-
regulationistische Perspektive, in: Brand, Raza, a.a.O., S. 18-42.
37 Frieder Naschold (Hg.): Arbeit und Politik: Gesellschaftliche Regulierung der Arbeit
und der sozialen Sicherung, Frankfurt 1985; Margit Mayer: Das Potenzial des Regulati-
onsansatzes für die Analyse städtischer Entwicklungen am Beispiel territorialer Anti-
Armutspolitik, in: Brand, Raza, a.a.O., S. 265-281; Christian Schmid: Raum und Regula-
tion. Henri Lefebre und der Regulationsansatz, in: ebd., S. 217-242; Christoph Görg:
Regulation der Naturverhältnisse: Zu einer kritischen Theorie der ökologischen Krise,
Münster 2003; Sabah Alnasseri: Periphere Regulation. Regulationstheoretische Kon-
zepte zur Analyse von Entwicklungsstrategien im arabischen Raum, Münster 2004;
156 Christoph Scherrer: Die école de la régulation

Defizite der Regulationstheorie


Gerade die obige Auflistung jüngerer Arbeiten weist auf die fortbe-
stehende Attraktivität des Regulationsansatzes hin. Doch begleitet
ihre Rezeption und Anwendung seit jeher auch eine Unzufrieden-
heit über eklatante Defizite des Ansatzes. Einige wurden im Laufe
der Zeit teilweise behoben (z.B. Fokus auf Nationalstaaten), andere
erwiesen sich bisher gegenüber Lösungsversuchen resistent (z.B. die
Struktur-Handlung-Dichotomie). Ich möchte mich hier auf diese
beiden Beispiele beschränken.
Jenseits zahlreicher Vergleiche nationaler Fordismus-zum-Post-
fordismus-Pfade38 blieb die Weltmarktdimension unterbelichtet.
Alain Lipietz untersuchte ansatzweise das Artikulationsverhältnis des
peripheren Fordismus in den Entwicklungsländern zum Welt-
markt.39 Theoretisch expliziter entwickelte Jaques Mistral ein
ırégime international„ aus drei Elementen, wobei ein nationales
Akkumulationsregime international als Modell dient und die jeweils
nationalen Akkumulationsregime in eine komplementäre Beziehung
treten.40 Die zentrale Stellung des nach wie vor nationalstaatlich ver-
fassten Lohnverhältnisses erweist sich als eine immanente Barriere
für eine Analyse der Kapitalakkumulation auf Weltebene.41 Auch
neuere Arbeiten zum ıfinanzmarkt-getriebenen„ Wachstumsmo-
dell42 bleiben dem nationalen Fokus verhaftet, gleichwohl den Auto-
ren die internationale Dimension der Finanzmärkte bewusst ist.

Lars Kohlmorgen: Regulation, Klasse, Geschlecht. Die Konstituierung der Sozialstruktur


im Fordismus und Postfordismus, Münster 2004.
38 Boyer: The Regulation School, a.a.O.; Lipietz: Towards a New Economic Order, a.a.O.
39 Lipietz: Miracles, a.a.O.; vgl. hierzu Hurtienne, a.a.O.
40 Jaques Mistral: Régime international et trajectoires nationales, in: Robert Boyer (Hg.):
Capitalismes fin de siècle, Paris 1986, S. 167-202.
41 S. Alfredo C. Robles Jr.: French Theories of Regulation and Conceptions of the Inter-
national Divisions of Labor, New York 1994; Karin Waringo: Die Internationalisierung
der Produktion in der französischen Regulationstheorie, Frankfurt 1998.
42 Boyer: Finance-led Growth Regime, a.a.O.; Aglietta: Ein neues Akkumulationsre-
gime, a.a.O.
157

Fast so bekannt wie die regulationstheoretische Deutung des


goldenen Zeitalters des Kapitalismus als ıFordismus„ dürfte mittler-
weile das Defizit der Regulationstheorie, ihre mangelnde handlungs-
und staatstheoretische Fundierung, sein.43 Obgleich die École de la
Régulation beansprucht, Prosperitätsphasen und Krisen kapitalisti-
scher Entwicklung als Produkte gesellschaftlicher Auseinanderset-
zungen und gerade nicht als Folgen angeblich objektiver ökonomi-
scher Gesetzmäßigkeiten zu erklären, schreibt sie bisher in ihren
Analysen den gesellschaftlichen Akteuren nur zu Beginn eines Ak-
kumulationsregimes (=Phase der stabilen Kapitalreproduktion)
Handlungsmacht zu. Formen staatlicher Vergesellschaftung werden
zumeist allein auf ihre funktionale Rolle im Akkumulationsprozess
untersucht.
Vor allem findet sich innerhalb der Regulationstheorie die Ten-
denz, sich auf die interne Logik eines geschlossenen begrifflichen
Modells zu berufen und dann dieses Modell zum (begrifflichen)
Wesen des Realen zu transformieren. In mehr oder minder starkem
Maße werden innerhalb der Regulationsliteratur abstrakte Katego-
rien, wie z.B. Akkumulationsregime, als Realobjekte verwendet und
in einigen Fällen sogar noch als Subjekte (ıDer Fordismus„ oder
heute ıDer Postfordismus„)44 beseelt. Zwar wurde im Zuge des regu-
lationstheoretischen Diskurses deutlich, dass außerhalb der USA
und Frankreichs die jeweiligen Akkumulationsregime der Nach-
kriegszeit nicht dem Idealtypus Fordismus entsprachen. Diese Ab-
weichung wurden aber zumeist einfach nur klassifiziert, um sie dann
im weiteren als jeweils nationalspezifische Idealtypen zu behandeln.45

43 Vgl. Mahnkopf, a.a.O.; Bertramsen u.a., a.a.O.; Josef Esser, Joachim Hirsch, Chris-
toph Görg (Hg.): Politik, Institutionen und Staat. Zur Kritik der Regulationstheorie,
Hamburg 1994.
44 S. Brand, Raza, a.a.O.
45 Vgl. Hirsch, Roth, a.a.O.; Robert Boyer: Neue Richtungen von Managementpraktiken
und Arbeitsorganisation. Allgemeine Prinzipien und nationale Entwicklungspfade,
158 Christoph Scherrer: Die école de la régulation

Deshalb stellt sich die Frage, ob nicht die Denkfigur von distink-
tiven, chronologisch durch Krisen markierten Akkumulationsregi-
men aufgegeben werden sollte. Mit Ernesto Laclau und Chantal
Mouffe ließe sich argumentieren, dass ein Akkumulationsregime
keine Totalität darstellt, dessen Strukturen geschlossen sind. Die
Strukturen eines Akkumulationsregimes sind vielmehr ständigen
Brüchen ausgesetzt, die die in Subjektpositionen eingebundenen
Individuen partiell als Subjekte ıfreisetzen„. Der Zusammenhalt ei-
nes Akkumulationsregimes ist daher auch von den Diskursen dieser
Subjekte abhängig. Daraus folgt, dass der Lebenszeitzyklus eines
Akkumulationsregimes nicht durch die Entfaltung seiner inhärenten
Widersprüche vorgegeben ist. Die Entwicklungsrichtung eines Ak-
kumulationsregimes ist jederzeit latent offen.
Umgekehrt stellen Krisen des Akkumulationsregimes keine offe-
nen Situationen dar. Die betroffenen Individuen bleiben vergesell-
schaftet, also in Strukturen ıeingebettet„, da der die Krise kenn-
zeichnende Strukturbruch nicht total ist, d.h. nicht alle gesellschaftli-
chen Strukturen erfasst. Sowohl diese nicht affizierten Strukturen als
auch das dem jeweiligen Akkumulationsregime Äußere wird auf
den Krisenbewältigungsdiskurs der Subjekte einwirken. Handeln
bleibt somit nicht auf die Krise beschränkt, aber auch in dieser löst
es sich nicht von Strukturen. Die Vorstellung von Handlungskorri-
doren, ıderen Bestimmung sich aus unterschiedlichen, aber in Ein-
klang balancierten Handlungs- und Rationalisierungslogiken kapita-
listischer Totalität ergibt,„ wie sie jüngst Bernd Röttger vorgeschla-
gen hat,46 ist damit allerdings nicht gemeint, denn die hier entwickel-
ten Überlegungen stellen das Konzept einer als Totalität gedachten
Gesellschaft generell in Frage.47

in: Axel Demirovic, Hans-Peter Krebs, Thomas Sablowski (Hg.): Hegemonie und
Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozess, Münster 1992, S. 55-103.
46 Röttger, a.a.O., S. 38.
47 Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 1991.
159

Die kurzen Ausführungen haben hoffentlich deutlich gemacht,


welch lebhaftes Echo die Pariser Regulationisten in Deutschland ge-
funden haben. Das Echo hallt allerdings mit eigener Stimmlage, die
gegenüber dem ursprünglichen Ton deutlich gesellschaftstheoreti-
scher ausfällt. Gleich dem Echo im wörtlichen Sinne verhallt es je-
doch zumeist unbeachtet, zumindest am Ursprung in Paris. Findet
sich noch im Vorwort des die école de la régulation begründenden
Werkes von Aglietta ein Hinweis auf Joachim Hirsch,48 fehlen solche
Bezüge in den späteren Texten der Pariser fast vollständig. Liegt es
an der Sprache des Echos oder daran, dass die deutsche gesell-
schaftstheoretische Stimmlage asynchron zum ursprünglichen
wirtschaftstheoretischen Anliegen tönt?

48 Aglietta: A Theory of Capitalist Regulation, a.a.O., S 28.


161

Der Begriff der Politik bei Max Weber


und Carl Schmitt: Anmerkungen zu
einer Theorie politischer Kontingenz
Eike Hennig
162 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

Eine Welt von Bildern. (Carl Schmitt, 1919)


Kannst Du den Leviathan fangen mit der Angel... Meinst Du, er
wird einen Bund mit Dir schließen, daß Du ihn für immer zum
Knecht bekommst? Lege Deine Hand an ihn! An den Kampf
wirst Du denken und es nicht wieder tun!... Auf seinem Nacken
wohnt die Stärke, und vor ihm her tanzt die Angst... (Hiob)
Politik wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiß nicht nur mit
dem Kopf gemacht.„ – ıDie Politik bedeutet ein starkes lang-
sames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Au-
genmaß. (Max Weber, 1919)

Der Gang dieser Anmerkungen ergibt sich aus der Bedeutung von
Politik (i.e. das Handlungsfeld mit Themen, Regeln, Institutionen,
Organisationen) und mehr noch dem Politischen (d.h. dem Modus
des Handelns, dem Habitus und der abstrakten Thematisierung von
Politik) für eine von Selbstbestimmung und Aufklärung ausgehende
prozessuale Moderne. Moderne Politik wird als kontingentes Han-
deln verstanden.1 Seit Machiavellis Fürst (1532) bemüht sich eine po-
litische Handlungstheorie um ein solches Verständnis der Politik und
des Politischen, immer wieder wird dies unterbrochen von Gegen-
tendenzen, die sich um politische Institutionen und geordnete Statik
bemühen. Knapp soll dies angedeutet werden als ein Ringen um Kon-
tingenz oder Telos, um Handeln und um Struktur bzw. Institution.
Eine Antwort auf die Frage nach Politik angesichts von Kontin-
genz gibt Max Weber; Carl Schmitts Begriff des Politischen mit der
viel zitierten Freund-Feind-Dezision wird in Gegnerschaft zu Weber
betrachtet. Schmitt stellt nach Weber ein antikontingentes, antilibe-
rales und antipluralistisches Politikverständnis vor. (Mit Hermann
Heller und Hans Kelsen ließe sich zeigen, daß auch in der Zwi-
schenkriegszeit mit ihren verrohten Konfliktformen anders gedacht

1 Dies ist eine normative Annahme, die jedoch empirisch haltbar sein dürfte. Empiri-
sche Analysen von Politik weisen erhebliche Restvarianzen auf, werden somit mit
größerer Restvarianz eher schwächer determiniert. Diese statistische Kontingenz
verweist durchaus – was weiter zu beweisen wäre – auf theoretische Kontingenz.
163

worden ist.) Schmitt betont als ıpolitischen Mehrwert„ die überle-


gale Prämie auf den legalen Machtbesitz, dieses extreme Machtmit-
tel soll gegen die Ausnahme wie den Bürgerkrieg eingesetzt werden.
Schließlich: Für Weber und Schmitt ist Politik als ıKampf„ bzw.
ıEntscheidung„ zutiefst mit Vorstellungen über Männlichkeit in ei-
ner kalten, schuld- und fehlerhaften, leidvollen, größtenteils auch ir-
rationalen modernen Welt verflochten. Bilder der Moderne, Askese,
Politik und Männlichkeit fließen ineinander. Ein Bild des unverdient
leidenden und dennoch agierenden Mannes ist vor allem für Weber
konstitutiv, wenn er über kontingente Politik nachdenkt. Die Politik
erwächst einer Männlichkeit gegenüber einer unsicheren, un-
erbittlichen und auch diabolischen Welt. Diese Geschlechtsbestim-
mung prägt die Auffassung der Politik, d.h. vor allem das Politische,
verbleibt aber ungeklärt, wenngleich vor allem Weber viele Bilder be-
müht, um diese Korrespondenz von Politik und Mann anzudeuten.
Laut Christian Meier entsteht das Politische bei den Griechen im
Athen des 5. Jahrhunderts vor Christi.2 Im Gegensatz zum Privaten,
dem Haushalt und den Notwendigkeiten, aber auch zum Mythos
bildet sich zwischen den Bürgern die gesellschaftliche Welt heraus.
Es geht um die Teilhabe an der Polis, d.h. um die Gestaltung all-
gemeiner Aufgaben im begrenzten Gemeinwesen und zu einer be-
stimmten Zeit. Dieses irdische und soziale Verständnis von Politik
geht im Mittelalter für lange Zeit wieder verloren. Die Erde wird
zum Vorfeld des ewigen Lebens, das Reich Gottes ist das Ziel, in
diesem Durchgang findet Politik im irdischen Jammertal keinen
rechten Raum.
Eine oft gestellt Frage ist die nach Beginn und Sinn der Mo-
derne, deren Politikverständnis wiederum von der Gestaltung der
allgemeinen Ordnung und der bürgerschaftlichen Gemeingüter
ausgeht. Zentral werden ebenfalls die Fragen nach dem Raum des

2 Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980.
164 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

Einzelnen und der Gemeinschaft (liberaler Besitzindividualismus


und Republik geben diesbezüglich unterschiedliche Antworten),
nach der Relation von Abstraktion, Universalismus und Einzel- bzw.
Sonderfällen sowie nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft
bzw. von Politik und Ökonomie. Moderne Politik wird auf das
Diesseits der gesellschaftlichen Welt der Bürger bezogen; dazu ge-
hören Vorstellungen, Regeln und Institutionen, die dem ıguten Le-
ben„ der Bürger und der ıguten Regierung„ des Gemeinwesens,
des Staates bzw. der Republik, verpflichtet sind. Über die Geltung
dieser normativen Ziele gegenüber der kontingenten Offenheit und
Jeweiligkeit kommt es zu Konflikten, die grundlegend in Politik an-
gelegt sind. Staat und Gesellschaft treten auseinander, weil sich die
bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft (ebensowenig wie Individuum
und Familie) nicht im Gleichgewicht befindet, vielmehr ist sie zerris-
sen (Hegel), dagegen wird Politik zum Schicksal, mindestens aber
zum Notbehelf. Liberale Ansichten sind weniger politisch, begren-
zen sich auf das Verhältnis der Individuen und zum Staat. Gegen-
über der dynamischen, konfliktreichen Gesellschaft und den kon-
kurrierenden, freien und besonderen Individuen im allgemeinen
Verständnis der Bürger als freie und gleiche Menschen vertritt der
Staat als bestimmende politische Institution die Statik mit einem
Monopol für Gewalt ( power ) und Sanktion. Aus Gesellschaft und
Bürgerschaft sollen rohe Gewalt (violence), Schutzlosigkeit, Angst,
Selbstjustiz und Vertragslosigkeit durch staatlich verwaltete und ver-
rechtlichte Rationalität gebannt werden.
Dieses moderne Denken und Handeln im Diesseits, jene vielfäl-
tige Entzauberung mit Wissenschaft3 und Industrie sowie unter dem

3 Wissenschaft beseitigt Geheimnisse. Moderne Wissenschaft entzaubert die Welt und


wird in der Zweiten Moderne selbst entzaubert. Nach der Geltung von Mythen, Ta-
bus, Zauber und Religion wird die Welt durch Wissenschaft banal, alltäglich, bekannt
und beherrschbar. Dies vergrößert den Raum von Kontingenz, beflügelt aber eben-
falls antimoderne Rigorismen, Fundamentalismen und Totalitarismen. Die Moderne
165

Primat der öffentlichen wie privaten Aufklärung soll in westeuropäi-


schen Gesellschaften zu Beginn des 17. Jahrhunderts, verdichtet
1618 bzw. 1624 in Arbeiten von Descartes und Martin Opitz, maß-
geblich geworden sein.4 Am Anfang, heißt es jetzt, steht die takt-
rhythmische Wahrnehmung der Zeit als quasi naturgegebene und
somit allgemeingültige und abstrakte Form; diese gleichmäßige Be-
wegung im Takt findet ähnlich abstrakte Entsprechungen im Hand-
lungszusammenhang markt- und geldwirtschaftlicher Beziehungen
und im modernen wissenschaftlichen Denken. Wissenschaft, empi-
risch, analytisch und kausal, entsteht, um die für die Moderne
grundlegenden Abstraktionen von der Substanz zu begründen und
qua Erkenntnis bzw. Naturgesetz beherrschbar zu machen. Die
Quellen, Ursachen und Prinzipien des ıVolkswohlstandes„ gelten
seit den englischen Klassikern der Nationalökonomie, seit dem frü-
hen 18. Jahrhundert, wissenschaftlich als zugänglich. Die Staatstätig-
keit erhält entsprechende Ratschläge (i.d.R. sich zurückzuhalten).
Politik tritt neben die freien Bürger, deren Ökonomie den Reichtum
des Volkes produziert, als Medium einer aufgeklärten Regelung so-
zialer Verhältnisse wird Politik (z.B. als ein ısoziales Kaisertum„ ge-
genüber der ısozialen Frage„ und der ısozialen Bewegung„) jedoch
weniger verstanden. Es dominiert Herrschaft gegenüber Integration,
politische Reproduktion wird eher kurzfristig repressiv verstanden
denn längerfristig. Der wichtigste politische Mehrwert liegt in der
exekutiven Macht. Von Anfang an aber, folgt man der von
Marshall beschriebenen Entwicklung,5 gibt es einen politischen
Überschuß, der seit dem 17. Jahrhundert vom Individuum über po-

und die Wissenschaft sind schwer auszuhalten und wecken Sehnsüchte nach einer
neuen, künstlichen Einfachheit.
4 Eske Bockelmann: Im Takt des Geldes, Springe 2004.
5 Thomas H. Marshall: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, 1949, abgedr. in: ders.:
Bürgerrechte und soziale Klassen, Frankfurt u.a. 1992, S. 33-94; vgl. Gerald Stourzh:
Wege zur Grundrechtsdemokratie, Wien u.a. 1989, S. 335-361.
166 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

litische Freiheitsrechte am Ende des 19. Jahrhunderts auf soziale


Bürgerrechte verweist. Der politischen und sozioökonomischen
Dynamik eignet gegenüber den bürgerlichen Individuen und der
kapitalistischen Gesellschaft bzw. der politischen Ökonomie die
Tendenz, von politischer Freiheit und Selbstbestimmung zur Rege-
lung der ungleichen Arbeits- und Güterordnung voranzuschreiten.6
Dies klingt nach einem Entwicklungs- und Bauplan, nach einem
Telos mit Ziel und Sinn. Tatsächlich aber setzt mit dem modernen
Denken und gerade mit moderner Politik eine radikale Ausdifferen-
zierung und Pluralisierung ein. Neben die Zuversicht, den Himmel
(nach Gottes Tod und dem Ende des Priestertrugs) auf die Erde zu
holen, neben beglückende Utopien, tritt die soziale Frage mit ihren
vielen Bewegungen von Maschinensturm, Armut, Auswanderung,
Revolution, Terror, Ausweisung zu Fürsorge oder in die Kommune.
Das moderne Projekt an sich wird für sich sofort vielgestaltig, es ist
umkämpft und eben kontingent, mehrdeutig, entscheidungsoffen. Es
gibt ein breites Spektrum verschiedener moderner wie auf der
Höhe moderner Probleme antimoderner Politiken zur sozialen, kul-
turellen und ökonomischen Dynamik. Dies läßt sich veranschauli-
chen mittels des Kontrasts der perspektivistischen Klarheit, die 1510
Raffaels Bild der Schule von Athen bestimmt, gegenüber der post-
modernen Auflösung in Serien, Kürzel, Zitate und tastende Bemü-
hung. Letzteres prägt 1960/61 Cy Twomblys erneute Sicht auf die-
selbe Akademie.
Die Bestimmtheit des frühen 17. Jahrhunderts – es ist die schein-
bare Klarheit am Anfang – einerseits mit dem Siegeszug des Kla-
viers bei der globalen Angleichung von Musik,7 mit dem Welt-
markt, dem Anspruch auf irdisches Glück, den universellen und

6 Hermann Heller: Rechtsstaat oder Diktatur?, Tübingen 1930, abgedr. in: ders.: Ge-
sammelte Schriften, 2. Bd., Leiden 1971, S. 443ff.
7 Dazu Christoph Braun: Max Webers „Musiksoziologie“, Laaber 1992.
167

unveräußerlichen Menschenrechten und einer von Raum und Zeit


abstrahierenden Wissenschaft umfaßt andererseits auch Ausdiffe-
renzierungen von Politik, Ökonomie und Kultur. Die abstrakte
Klarheit des Aufstiegs aus selbst- und fremdverschuldeter Unmün-
digkeit schwindet, sofern nur ein substantieller Aufklärungsschritt
unternommen wird. Gerade die Politik und das Politische öffnen
sich allen Spielarten der modernen und/oder reaktionären Ausein-
andersetzung um Ziele und Unübersichtlichkeit. Mit der eigenstän-
digen Qualifikation der Politik, gleich ob als Struktur oder Hand-
lung bzw. übergreifender Sinn oder Sonderweg, setzt die strittige
Ausgestaltung ein. Politik ist durch und durch kontingent, d.h. eine
politische Lösung etc. kann per se und vor allem in ihrer Zeitlichkeit
und Kontextanbindung immer auch ganz anders gedacht und ge-
macht werden. Analytisch und hermeneutisch dürfte es unmöglich
sein, die Möglichkeiten der Perspektiven oder auch nur alle diesbe-
züglichen Diskurse aufzuspüren. Nie gibt es nur eine Festlegung,
Politik muß deshalb deliberativ offen bleiben. Spätestens die fol-
gende Generation sollte ıes„ anders machen können. Politik ist
leidvoll offen und unbestimmbar. Ihre Mittel, Gegenstände, Ansich-
ten, Subjekte bzw. Akteure, ihre Themen wie Thematisierungen
ändern sich zwischen den Generationen, aber auch zwischen Indi-
viduen, Geschlechtern, Gruppen, Kulturen und Klassen.
Der Antagonismus verfeindeter Klassen im Klassenkampf
und/oder die Unterscheidung von Freund und Feind zur Beendi-
gung von Bürgerkriegen sind unzureichende – weil inkontingente –
Bemühungen, um die vielfältigen Grautöne kategorial von den Ex-
trempunkten her zu verstehen. Dies ist eine Perspektive, die Kon-
tingenz nicht zulassen will. Es sind Vereinfachungen, die sich gegen
Liberalität, Pluralität und nicht-teleologische Offenheit wenden –
Vereinfachung, die in der Gefahr der Totalisierung, Technokratie
und der ıMacher„ stehen. Dagegen lautet der Ausgang dieser
168 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

Skizze, Politik sei ein Kontingenzspiel nach Maßgabe allgemeiner


Regeln, gleicher Chancen und freier Optionen. In diesem Sinne
wird Kari Palonen gefolgt: ıWeber ist der erste Denker, der die
Kontingenz aus einem Restbegriff in ein zentrales operatives In-
strument im Verständnis des Handelns im allgemeinen und der Po-
litik im besonderen verwandelt hat. Damit hat er zugleich die Sehn-
sucht nach guter Ordnung verabschiedet und Politik als Kontin-
genzspiel an ihrer Stelle gesetzt.„8
Ausgehend von ıMachiavellis Moment„ der besonderen Kon-
frontation von Zeit, Kontext, Instabilität bzw. Zufall und einer ange-
strebten Stabilität im Gegensatz zur obwaltenden Barbarei9 öffnet
diese Sicht auf Max Weber einen breiten Bogen kontingenter Poli-
tikvorstellungen vom Bemühen, Kontingenz durch Wissen, Kühn-
heit und eventuelle A-Moral zu begrenzen (Machiavelli) bis zum
spielerischen Einbezug von Kontingenz in Politik (Weber). Durch
die Gegenüberstellung von Handlung und Institution bzw. Ordnung
sowie vor allem von Max Weber und Carl Schmitt soll um Ver-
ständnis für politische Kontingenz geworben werden.10 Die beson-
dere Pointe besteht darin, daß Weber diese Sicht auf Politik, Leid,
Unklarheit und Handlungsoffenheit mit dem Typ eines asketischen,
verbitterten Mannes und den Widrigkeiten einer zutiefst unfreundli-
chen Welt verbindet. Diese Verbindung erscheint ihm logisch zwin-
gend, nur dieser bestimmte Mann kann dieser modernen Welt trot-
zen. Muß dies sein? Kann man der für Weber unausweichlichen
männlich-kalten Falle entkommen? Dies wären Fragen u.a. an einen

8 Kari Palonen: Politik statt Ordnung: Figuren der Kontingenz bei Max Weber, in: Hans
J. Lietzmann (Hg.): Moderne Politik, Opladen 2001, hier S. 9.
9 So John G.A. Pococks gleichnamige Studie (1975). Dazu Kari Palonen: Das „Weber-
sche Moment“, Opladen 1998, hier bes. S. 9ff.
10 Keine Sichtweise ist frei von privater Vermittlung, zwei Frauen möchte ich erwäh-
nen. Die Perspektive Weber – Schmitt und der maskuline Typ verdanke ich 2002 Ge-
sprächen mit R.K. Über Kontingenz nachzudenken, beeinflußt sehr U.B. 2003/04, denn
diese Beziehung war durch und durch kontingent.
169

radikalen und intelligenten Feminismus, der Webers ironischem


Hinweis auf die ıPolitik einer klugen Frau, die ihren Mann zu len-
ken trachtet„,11 nachgehen könnte. Möglicherweise könnte weibliche
Politik Luthers ausweglosem Ernst auf dem Wormser Reichstag
(1521) entgehen, so daß mehr Kontingenzspiel in einer radikalde-
mokratischen Politik (Fraser) läge.
Mit den durch und durch ıwirren„ Ver- und Entmischungen
jedweder ıDinge„ wie ıProzesse„ im Zeichen solcher ıDriftings„ wie
u.a. – alphabetisch geordnet – ıDekonstruktion„, ıDifferenz„, ıDis-
kurs„, ıEnttraditionalisierung„, ıGlobalisierung„ und ıPost-Mo-
derne„ erhalten Fragen nach Politik höchstes Gewicht.12 Können die
fließenden unübersichtlichen Änderungen solcher lieben, vertrauten
Gewohnheiten wie derjenigen, die Welt nach den Grenzen der
Staatsgebiete, -völker und -gewalten einzuteilen, politisch gestaltet
werden? Wird Politik wichtiger? Ist sie für die Zustände der Ent-
grenzung zu deren Gestaltung und Regulierung neu zu erfinden?
Oder: Dämmert das Ende der Politik angesichts einer über Globali-
sierung und den Weltmarkt vermittelten Alternativlosigkeit?13 Wel-
che Rolle spielen z.B. politische Akteure, ıMachtmenschen„ und
ıBerufspolitiker„? Unterstellt dies insgeheim auch eine bestimmte
männliche Sichtweise?
Solche Fragen tauchen auf, wenn ein erneuter ıFunktionswandel
der Politik„ und ıStrukturwandel des Politischen„ konstatiert wird.
In solchen Tagen der Unübersichtlichkeit und des Entscheidungs-
stresses bietet sich der Griff zu den Drogen ıGeschichte„ und

11 Max Weber: Politik als Beruf, 1919; zit. n. ders.: Gesammelte politische Schriften, hg.
von Johannes Winckelmann, Tübingen 1958, S. 493-548, vgl. S. 493 und zu Luther S.
547. Dazu Kari Palonen: Eine Lobrede für Politiker, Opladen 2002.
12 Zur Vielfalt vgl. Ulrich Beck, Christoph Lau (Hg.): Entgrenzung und Entscheidung,
Frankfurt 2004.
13 Zur letztgenannten Position vgl. Albert Scharenberg, Oliver Schmidtke (Hg.): Das Ende
der Politik?, Münster 2003; die Erfindung der Politik betont bes. Ulrich Beck in: Die
Erfindung des Politischen, Frankfurt 1993. Allgemein zu Politik und dem Politischen
und neuen Akzenten vgl. Ernst Vollrath: Was ist das Politische?, Würzburg 2003.
170 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

ıTheorie„ an. Läßt sich so einiges entwirren und besser fassen? Ein
solcher Weg soll gesucht werden. Einer Politik der Institutionen und
Strukturen wird eine politische Handlungstheorie gegenübergestellt.
Theorien des politischen Machtgebrauchs und der Gestaltung, z.B.
der Beendigung von ıBarbarei„ (Machiavelli) oder des Erhalts be-
drohter freiheitlich-individueller Chancen (Max Weber), werden in
den Vordergrund gestellt. Solche Theorien stehen im Zeichen von
Kontingenz, sind offen, auch anders zu analysieren und zu ent-
scheiden. Dezision gehört zur kontingenten Politik, die ja nicht als
Zwangsgrübelei bzw. Nicht-Politik aufgefaßt wird. Wie hält der Poli-
tiker dies aus, oder wie reduziert man(n) Kontingenz und Unüber-
sichtlichkeit? Welche psychischen und sachlichen Fähigkeiten
braucht ein Politiker, der Widrigkeiten hinnimmt, ohne dies beson-
ders zu legitimieren, der – so Weber – einfach feststellt, es war eben
zu viel?
Die Entdeckung des Handelns für ein Ganzes, die Polis und Re-
publik, nämlich für die Ordnung des Renaissance-Italiens, steht mit
Machiavelli am Anfang moderner Politik. Machiavelli entwickelt ein
Verständnis, daß bei Wahrnehmung der passenden Gelegenheit
(occasione) mit dem Einsatz von Vernunft (ragione) und Fähigkei-
ten (virtú ) das wankelmütige Glück (fortuna) besiegt werden kann.
Kontingenz bleibt – bei aller Vernunft und Kraft – ein unbestimm-
ter Zufall, auch wenn man seinen Verstand und die Fähigkeiten
schult, kann man das Glück zwar nicht erzwingen, aber dessen
Wahrscheinlichkeit vergrößert sich. Max Weber radikalisiert diese
frühe Sichtweise über die Begriffe Chance, Möglichkeit und nicht-
intentionale Handlungsfolgen zum Kontingenzspiel, zur offenen po-
litischen Vermeidung von Nicht-Politik. Mit der Wende zur Institu-
tionalisierung (Hobbes) der zunächst mit großen Männern verbun-
denen Politik tritt die Analyse von Handlungsbedingungen wie
-möglichkeiten in den Hintergrund. Die großen Erzählungen der
171

Aufklärung und des philosophischen Idealismus zerbrechen die


Handlungslehren, wobei Machiavelli irdische Bedingungen unter-
sucht und politisches Handeln von Tugend und Moral trennt. Die
teleologisch-aufklärerischen Ausblicke auf ein erfülltes Ende der
menschlichen Gattungsgeschichte, z.B. durch Hegel und Marx/
Engels, zeichnen differenzblinde Entwicklungslinien, die aus sich
selbst wirken. Bestenfalls gibt es welthistorische Individuen wie
Napoleon oder andere Helden,14 die die Geschichte durch ihr Wir-
ken sprunghaft nach vorn bringen. Oder es gibt rapide Wandlun-
gen wie die bürgerliche Revolution, die weltumfassend einen Struk-
turschub herbeiführen. All diesen Zielgewißheiten ist gemeinsam,
daß sie keinen Begriff der Politik entfalten. Die von Machiavelli zu
Beginn der Moderne entdeckte Offenheit des politischen Handelns
im Spektrum von ıGlück„, ıKönnen„ und ıNotwendigkeit„ geht
verloren.
Die erste, einfache Moderne widmet sich – so Ulrich Beck15 –
der ıRationalisierung der Tradition„ (die Folgen selbst sind noch
kein Problem). Das Feld der Institution und des Sozial-/
Staatsvertrags (Hobbes), der vernünftigen Prinzipien (Schiller,
Hegel) und Strukturen (Marx) mit einer implizit treibenden Dyna-
mik hin zur großen Transformation, zum Telos der Freiheit und zur
Selbstbestimmung vernünftiger Weltbürger, wird nicht überschrit-
ten. Handeln verkümmert innerhalb der opportunity structures, füllt
bestenfalls das framing des Telos aus, paßt sich somit ein in Struk-
tur- und Zielbestimmung. Handeln und Politik bestimmen weder
das Thema noch die Aufmerksamkeitshaltung. Der Übergang z.B.
der Klasse an sich zur Klasse für sich bleibt bei Marx eine Episode,

14 Ein letzter Nachklang des Helden findet sich im Western: Josef Früchtl: Das unver-
schämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt 2004.
15 Ulrich Beck: Der Konflikt der zwei Modernen, in: ders.: Politik in der Risikogesell-
schaft, Frankfurt 1991, S. 180. Die „Rationalisierung der Rationalisierung“ ist das
Thema der zweiten, reflexiven Modernisierung.
172 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

die in der kategorialen Analyse von Akkumulation, Kapital und


Arbeit keinen Stellenwert hat. Dagegen verbindet Max Weber ge-
rade die Asymmetrie schwergewichtiger korporativer Akteure ge-
genüber den Individuen mit einem politischen Handlungsauftrag
und der männlichen Rolle des politischen Akteurs, der die schwa-
che Position des Individuums gegenüber den Großstrukturen der
Ökonomie und Rationalität zu vertreten hat.
Staat, Kapital, Proletariat, Bürgertum, Freiheit, Gleichheit und
Vernunft sind Themen jener großen Erzählungen, die ohne Akteur
und Aktion auskommen. Politik verbleibt in der Kohärenz von
Telos, Struktur und Prinzipien, sie muß weder erfunden noch be-
schrieben werden, im Muster solcher Theorien wird sie noch nicht
einmal vergessen. Machiavelli gerät in Vergessenheit oder wird als
skrupelloser Machiavellist verteufelt. Einen ıäußeren Staat„, ıNot-
und Verstandesstaat„ (Hegel) oder ıNotstaat„ (Schiller) bzw. ıun-
vollkommene Staat„ (Marx) avisieren solche Theorien nur am
Rande,16 womit der Raum politischer Handlung und Entscheidung
ausgeblendet bleibt. Machiavelli dagegen lebt in einer Übergangs-
zeit voller Turbulenz und malt die Handlungsregeln und -möglich-
keiten politischer Akteure aus. Il Principe ist ein Buch, das empi-
risch dem Verhalten politischer Akteure nachspürt. Allgemein soll
ja die Besonderheit der Renaissance in den Leistungen einzelner
liegen, ıdie historische Entwicklung [soll] durch eine Reihe heraus-
ragender Talente„ angetrieben worden sein.17
In einer Phase religiöser Bürgerkriege mit dem noch nicht konsti-
tuierten staatlichen Gewaltmonopol setzt Hobbes auf den Staat als
ısterblichen Gott„, auf den Leviathan, vor dem die Angst tanzt. Die-
ser Staat ist legitimer Feind der Todesangst und Rechtsgarant des
Eigentums, er konzentriert durch einen Vertrag die Gewalt der

16 Vgl. § 183 von Hegels „Rechtsphilosophie“ (1821) - Ausg. Hamburg 1962.


17 Paul Johnson: Die Renaissance, Berlin 2002, S. 31; zu Machiavelli vgl. S. 56f.
173

Menschen als institutionelle Ordnungsmacht. Bodin beschreibt


diese Souveränität, nach den Wirren des 30jährigen Krieges gründet
Samuel von Pufendorf auf dem souveränen Staat die friedensstif-
tende zwischenstaatliche Rechtsordnung. Wiederum in einer Um-
bruchsphase konzipiert Marx das Zusammenspiel großer Strukturen
und Wandlungsprozesse entlang immanenter Widersprüche, an de-
nen sich kollektive Subjekte ausbilden (organisatorisch führt dies
Stein Rokkans cleavage -Konzept weiter aus). Hinter solchen Per-
spektiven der Institutionen, Struktur und kollektiven Subjekte, d.h.
hinter Bourgeoisie und Proletariat, Strukturkategorien wie Arbeit,
Kapital und (Mehr-)Wert, übergeordneten Beziehungen wie Produk-
tionsverhältnissen und Produktivkräften, wird Politik bzw. das Spiel
von Struktur, Situation, Akteur und Handeln zum Ausfluß fixer In-
teressenkonstellationen. Eine Geschichte im Selbstlauf benötigt we-
der Handlung noch Interaktion und Kommunikation. Die Sachen
und Eigendynamiken selbst werden bestimmend, stellen die Welt
vom Kopf auf die Füße, bringen die Verhältnisse zum Tanzen. Poli-
tisches Handeln mit offenem Ausgang ist nicht vorgesehen: Die Ge-
schichte läuft ab, per se wirkt die Formierung.
Erste skeptischere Erzählungen entdecken zwar Machthemm-
nisse (Tocqueville) oder den Willen zur Macht (Nietzsche), nähern
sich somit Max Webers Verständnis von Politik als Kampf um
Macht an, aber auch diese Skeptiker kommen ohne Politik als be-
sonderen Bereich für ıMachtverteilungs-, Machterhaltungs- oder
Machtverschiebungsinteressen„18 aus.
Vor allem Nietzsche träumt vom neuen musisch-gebildeten, star-
ken, egoistischen, selbstbewußten Menschen jenseits von Dekadenz
und Mitleid. Nietzsches Skepsis in der Moderne artikuliert sich kul-
turell und psychologisch. Die a-politische Seite der Individualisie-
rung und des postmodernen, nicht-politischen Pluralismus klingen

18 Weber: Politik als Beruf, a.a.O., S. 494.


174 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

bei Nietzsche an und verweisen auf eine andere, nicht politische


Handlungsmöglichkeit. Gegenüber den Unübersichtlichkeiten der
Moderne ist Politik eine Reaktionsform, Individualisierung, Kultur
und Gruppenstil sind andere.19 Erst wenn die Moderne politisch in
Frage gestellt wird, kann Politik neu bzw. erneut entdeckt werden.
Max Weber thematisiert vor dem Hintergrund der gefährdeten
freien Person die Politik als Gegenmaßnahme. Seine radikale Welt-
lichkeit und Entzauberung werden ebenso wie die mit Politik ver-
bundene Askese von Nietzsche angeregt. Weber reformuliert wich-
tige Erfahrungen Machiavellis, wenn er ıgute Zwecke„ mit ıgefähr-
lichen Mitteln„ verknüpft und als naiv zurückweist, ıdaß aus Gutem
nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne„.20 Auch Webers
Todsünden des Politikers Eitelkeit, Unsachlichkeit und Verantwor-
tungslosigkeit lassen sich in einen Bezug zu Machiavelli stellen.
Politik ist nicht notwendig, wenn ıdie Dinge„ aus ihrem inneren
Antrieb, einem Prinzip, zu ihrem Telos streben, wenn Strukturen
(oder Systeme) den Akteuren letztlich die Handlungen bestenfalls
ıfür sich„ belassen, ıan sich„ aber den Gang ıder Dinge„ determi-
nieren. Große Erzählungen, je positiver sie als zwanghafte Heilsge-
schichte vorgetragen werden, kennen bestenfalls das welthistorische
Individuum als Inkorporation einer List der Vernunft, die so Ent-
wicklungsräume im Atem der Geschichte und zu einem Ereignis
zusammenzieht, aber politische Akteure spielen keine Rolle. Theo-
retisch eröffnen diese Erzählungen keine Pluralität der Handlungs-
spielräume, Möglichkeiten und Machtchancen. Ihnen fehlt eine tie-
fere (mit Max Weber einsetzende) Einsicht in die mögliche Ambiva-
lenz und Disharmonie von Absicht und Übersicht, von Ziel und
Folge bzw. von intendierter und/oder nicht beabsichtigter Intention

19 Zu Weber und Nietzsche vgl. Duncan Kelly: The State of the Political, Oxford 2003,
S. 37ff.
20 Weber: Politik als Beruf, a.a.O., S. 540, 542.
175

und Neben- bzw. Folgewirkungen und -kosten; damit entbehren


solche Theorien z.B. der Universalgeschichte (Schiller), des Staates
als ıWirklichkeit der sittlichen Idee„ sowie der ıWeltgeschichte„ als
ıVerwirklichung des allgemeinen Geistes„ (Hegel),21 der Durchkapi-
talisierung und Weltrevolution (Marx) sowie des nicht politischen
neuen Menschen (Nietzsche) eines theoretischen Raumes für soziale
und politische Handlungen und Handelnde.
Wo Strukturen herrschen, Institutionen gelten, verschwindet Poli-
tik; Klassen und Individuen sind Getriebene, verhaftet im Gehäuse
der Hörigkeit und der strukturellen, universellen und zielgerichteten
Prozesse. Insbesondere der Einzelne im Mittelmaß und Alltag, zählt
nichts, wenn schon sind Helden der Arbeit und andere Heroen ge-
fragt. Diese Politikferne wird von Max Weber von 1905 bis 191922
aufgehoben. Die erste Rationalisierung der Moderne folgt struktu-
rellen wie prinzipiellen Antrieben, sie findet auf Erden statt, wird
aber noch zu wenig als das Werk bewußt und in Maßen offen und
unsicher, entscheidungsorientierter und Folgen kalkulierender Men-
schen begriffen. ıDo policies matter?„ Diese Frage der 1970er Poli-
tikwissenschaft stellt sich nicht.
Es gibt politische Theorien, die keine Handlungsmöglichkeiten,
keine Opportunity Structures aufzeigen. Dies sind Theorien, die
kein Zusammenspiel von Makro-Mikro, von Struktur-Individuum-
Gruppe, von Bedingungen, Rahmen und Handlungen, Wahlmöglich-
keiten (Rational Choice) kennen: Solche Theorien können sehr wohl
Theorien der Politik sein (Hegel, Marx), es sind aber keine Theorien
des Politischen, die Individuen wie Kollektive in das Risiko des
Handelns in der Ambivalenz von Eigennutz und Gemeinwohl-

21 Hegel, a.a.O., Vorrede: S. 15 und §§ 257, 342.


22 Vgl. schon die nationalstaatlich orientierte Freiburger Antrittsvorlesung: Der Natio-
nalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, 1895.
176 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

orientierung sowie vor allem des Handelns in der Unsicherheit über


die Risiken von Entscheidungen entlassen.
Theorien des politischen Handelns malen Bilder von Hand-
lungsräumen und Akteuren im Widerstreit, allgemeiner: von Aus-
einandersetzung mit Strukturen, intentionalen Handlungen wie
nicht-intendierten Folgekosten und anderen Akteuren mit der Ab-
sicht, sich selbst und Teilen der Gattung Mensch einen begrenzten
Sinn, eben kein Telos, zu erschließen.23 In dieser Konstellation ha-
ben Theorien von Politik mit vieldimensionalen Räumen, Chancen
und Hemmnissen zu tun. Carl Schmitts Begriff des Politischen
(1927, 1932, 1933) trägt dem einerseits Rechnung; alles kann poli-
tisch (politisiert) werden und löst dann elementare, tendenziell inzi-
vile, gewaltsame Konflikte aus. Andererseits wird diese beliebige
Menge kaum zu fassender und zu kalkulierender Risiken von
Schmitt zurückgenommen.24 Mit seiner Kritik des Liberalismus und
der politischen Ökonomie überschreitet Schmitt Max Weber.25 In-
dem er Ökonomie und Technik als ıZentralgebiet„ bestimmt, muß
Schmitts Politik der Technik einen Sinn zuweisen und die Freund-
Feindgruppierungen im Bereich der Ökonomie vornehmen.
Schmitts Begriff des Politischen beseitigt die grundlegend offene
Entscheidungsproblematik, die Max Weber einem männlich-asketi-
schen Habitus in der irdisch-menschlichen Unvollkommenheit der
Moderne überantwortet. Ein ıHunger nach Ganzheit„ wird mit
Schmitt verbunden, gemeint ist ein Syndrom gegen die Moderne
mit Gottlosigkeit, Städten, Juden, Wertverlust und für Gemeinschaft,
Volk und Reich.26 Schmitt verknüpft diese Einstellung mit dem aus

23 Historisch-begrifflich vgl. Kari Palonen: Politik als Handlungsbegriff, Helsinki 1985.


24 Zu Schmitts „Begriff des Politischen“ sei auf einen Kommentar verwiesen: Reinhard
Mehring (Hg.): Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen, Berlin 2003.
25 Schmitts antiliberale und antiökonomische Wende gegen Weber betont Gary L. Ul-
men: Politischer Mehrwert, Weinheim 1991.
177

Stärke totalen Staat, der die Freund-Feind-Unterscheidungen vor-


nimmt, anders als der via Liberalismus und Pluralismus aus Schwä-
che totale, vergesellschaftete Staat.
Schmitt reduziert die politische Offenheit und Komplexität, in-
dem er sie essentiell vom liberalen und pluralen bargaining und
muddling through abspaltet und als das Entweder-Oder der Freund-
Feind-Dezision in die Konsequenz von Leben oder Tod stellt. In
dieser definitiven Entscheidung lösen sich Kontingenz und Ent-
scheidungsstreß auf. Eine ızivilgesellschaftliche„ oder ıregelgelei-
tete„ Einbettung der politischen Pluralität und Gegensätze faßt
Schmitt nicht ins Auge, weil die existentielle Letztentscheidung sol-
che Formelkompromisse und offenen Politiken nicht zuläßt. Weber
reformuliert – nach Machiavelli – politische Kontingenz als offenes
Macht- und Chancenspiel, Schmitt weicht zurück in das bipolare
Konstrukt Freund oder Feind, das dem HobbesÊschen Pathos des
allein regelnden Staats als der souveränen, antipluralistischen Ord-
nungsmacht über der Gesellschaft und den Einzelnen verpflichtet
ist. Neben Hobbes schließt Schmitt auch an die antiplurale und an-
tikomplexe Homogenität Rousseaus an.
Die Offenheit des Politischen reduziert sich vor diesem konstru-
ierten Entscheidungspunkt Carl Schmitts (Freund = Leben, Feind =
Tod),27 den er über Hobbes und das Zeitalter der europäischen
Bürgerkriege archetypisch legitimiert, zum Gegeneinander zweier
Kollektive, der Freunde oder Feinde, tertium non datur, Differenzen
sind auszumerzen, womit Schmitts Begriff des Politischen eine plu-
rale Theorie der Politik und politischer Möglichkeiten und Unsi-

26 Peter Gay: Die Republik der Außenseiter, Frankfurt 1970; dazu Rolf Wakenhaus: To-
talität als Anpassungskategorie, in: Alfons Söllner u.a. (Hg.): Totalitarismus, Berlin
1997, S. 77-104.
27 Im Glossarium findet sich 1947 die Gleichung: „Staat = Souveränität = Dezision =
Beendigung des Bürgerkriegs innerhalb des eben dadurch erst entstehenden Staa-
tes“. Carl Schmitt: Glossarium, Berlin 1991, S. 3.
178 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

cherheiten erstickt. Insofern Schmitt zudem antiliberal ist, beraubt


er selbst das Individuum seiner Freiheiten und Schutzrechte, dies-
bezüglich überschreitet er sogar Hobbes. Schmitt ist ein Antipode
der Politik der Anerkennung, auf die Weber hinarbeitet, indem er
an Ambiguität ansetzt, Entscheidungen im Kontingenzspiel fordert
und dennoch Intrazeption nicht verteufelt. Weber verbindet Kon-
tingenz und Politik mit der Askese verantwortungsbewußter und
nicht eitler Führer und Helden. Solche Innerlichkeit und Handeln,
Pluralität und Kontingenz sind Schmitt zuwider.28 Schmitt nimmt
Zuflucht zu handgreiflicher Direktheit, die der Kontingenz ihre
Spitze nimmt. Als Katholik sind ihm ferner das protestantische Pa-
thos Webers und Nietzsches Askese als Bausteine einer männlichen
Politik im Spiel von Kontingenz fremd. Schmitt wird die ıkalte Konse-
quenz„ der Lageberichte und des Ordnungsdenkens zugesprochen.29
Max Webers Anbindung der Politik an Macht entgeht dieser Bi-
polarität. Macht kennt eine Spannweite, Macht läßt sich in Grenzen
regeln (ohne in Nur-Deliberation zu verschwimmen), Macht steht
jener ıPolarnacht von eisiger Finsternis und Härte„30 gegenüber,
verfällt also keiner ımystische(n) Weltflucht„31 in Form der Pseudo-
Klarheit der Freund-Feind-Dezision. Die Komplexität der politi-

28 Das Bild des „coolen“ Dezisionisten Carl Schmitt – in kontingenten Situationen muß
man entscheiden, wobei an der Entscheidung etwas analytisch Unauflösbares hän-
gen bleibt – wird erschüttert durch peinliche, larmoyante und selbstgerechte Töne,
die sich seit „Ex Captivitate Salus“ im „Glossarium“ der Jahre 1947 bis 1951 finden,
vgl. auch Ernst Hüsmert (Hg.): Carl Schmitt Tagebücher. Oktober 1912 bis Februar
1915, Berlin 2003. Zu diesem Zusammenhang vgl. Teresa Orozco: Männlichkeitskon-
struktionen in der Carl-Schmitt-Rezeption, in: Das Argument 45 (2003), Nr. 250,
S. 234-252; Alfred Schöpf: Freund und Feind, in: Psyche 58 (2004), S. 516-532.
29 Ulrich K. Preuß in Rüdiger Voigt (Hg.): Mythos Staat, Baden-Baden 2001, S. 147. Hier
setzt die neutrale, politisch breite Schmitt-Rezeption an. Vergessen wird Schmitts
Antisemitismus (Raphael Gross: Carl Schmitt und die Juden, Frankfurt 2000), abstra-
hiert wird von seiner totalitären Anpassung. Schmitt unterstützt die Bedeutung von
Politik zur Entscheidung in bipolar reduzierten Konstellationen. Vgl. Chantal Mouffe:
The Return of the Political, London u.a. 1993.
30 Weber: Politik als Beruf, a.a.O., S. 547.
31 Ebd., S. 548.
179

schen Macht, wie Weber sie mit den Begriffen ıChance„ und ıob-
jektive Möglichkeit„ verbindet, läßt sich im Sinne Schmitts oder ei-
nes Spät-HobbesÊ nicht auf Bürgerkrieg, Ausnahme und Freund
oder Feind zuspitzen. Dafür oder dagegen: über beidem stehen der
Zwischenraum und die Vermittlung. Politische Unsicherheit läßt
sich nicht grundlegend reduzieren. Nach Weber muß man dies
ımännlich [...] und herb [...]„,32 sachlich, ritterlich und würdevoll
aushalten, ohne das ıOpfer des Intellekts„ als den Rückfall in Reli-
gion oder Mythen bzw. in die Überhöhung von Opfergeschichten
zu bringen. Ist man(n) schwach, geht es nicht mehr, was es durchaus
gibt, dann – so Weber – muß man(n) eben aussteigen, um anderen
Männern das Bohren im harten Brett der Politik zu überlassen.
Weber öffnet ıSpielraum für ein genuin politisches Handeln und
Entscheiden„, seine Betrachtungen von Politik (und Wissenschaft,
der es um die Abschätzung von Nebenfolgen sowie das Kalkulieren
und die Risikoabwägung von Handeln geht) kreisen um ıden kon-
tingenten Charakter des Politischen in einer entzauberten Welt„.33
Aus diesem Wagnis in der Unsicherheit, Kälte und Vereinzelung
flüchtet Schmitt in den ıFundamentalismus„ des strikten Gegensat-
zes von Freund oder Feind. Dies zerstört den Ort der Politik, indem
die Konsequenz34 verabsolutiert wird. Schmitt geißelt alle zivilen
Zwischentöne, pluralen Schwebezustände und liberale Refugien als
dilatorische Formelkompromisse, politische Romantik und/oder ent-
scheidungsvergessene parlamentarische Diskussion, die letztlich der

32 Ebd., S. 537.
33 Lesenswert vgl. Klaus Lichtblau: Die Renaissance des Politischen, in: Soziologische
Revue 23 (2000), S. 425-430, hier S. 429, vgl. bes. S. 429f.
34 Solche letzten Punkte auszuzeichnen, um aus ihnen das absolute Wissen des nun-
mehr inhaltsleeren bzw. allgemein-offenen Telos abzuleiten, ist die Logik der
Schmitt’schen Lageberichte. Damit weisen sie vom absoluten Wissen um eine logi-
sche Folgerichtigkeit auf die absolute Freiheit der Entscheidung hin; Hegel verbindet
mit dieser Freiheit den Terreur der jakobinisch-unbestechlich zugespitzten Diktatur
Robespierres.
180 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

Letztentscheidung doch nicht ausweichen können.35 (Dabei vergißt


Schmitt noch die Zwangsgrübelsucht, vor der auch Freud warnt.)
Max Weber ist – in der Folge Nietzsches (der kein Gegenaufklä-
rer ist) – ein skeptischer Anhänger und moderner Kritiker der Mo-
derne. Diese Kritik schlägt sich in seinen Bemerkungen zur Politik
nieder, diesbezüglich folgt er nicht der Verbitterung und Weltflucht
Nietzsches, die dessen Kritik der Moderne nicht in eine modern-
skeptische Theorie der Politik einmünden läßt. Weber holt Machia-
velli ins Gedächtnis, wenn ıLeidenschaft und kühles Augenmaß„
mit Politik verbunden werden.36 Politik ist eine letzte Möglichkeit,
um individuelle Räume der Freiheit zu verteidigen gegen die un-
umgängliche Entzauberung der Welt und gegen Rationalität und
Bürokratie – Tendenzen, die Weber auf dem Vormarsch sieht,
Tendenzen, gegen die er das Dennoch des politischen Handelns
stellt. Anders als Tocqueville geht Weber (wie Nietzsche) vom Ein-
zelnen aus.
Webers moderne Skepsis sieht die Welt anders verstrickt als
Nietzsche. Insofern entwirft er einen politischen Beitrag und betont
die Eigenständigkeit des Politischen durch Macht und Möglichkeit.
Weber schafft damit den Raum eines modernen Politikverständnis-
ses: Politik ist die Chance des Handelns, ist Wissenschaft und Praxis
des Möglichkeitshandelns, d.h. der Entdeckung, Erforschung und
Ausfüllung von opportunity structures und frames durch Handeln.
Das Abschätzen von Folgen bestimmt die Qualität solcher Politik.
Politisches Handeln kann Spielräume erhalten – bei aller Skepsis
sogar öffnen – gegenüber der unumgänglichen Bürokratisierung
und Rationalisierung im Gefolge der Moderne und ihrer permanen-
ten Modernisierung.

35 Hegel läßt (gegen Kant) diese Perspektive des Naturzustandes für die Außenpolitik
gelten (Rechtsphilosophie, § 333); Schmitt geht vom pluralistischen Staatszerfall im
Inneren aus.
36 Weber: Politik als Beruf, a.a.O., S. 534; direkt zu Machiavelli vgl. S. 543.
181

Politik ist in diesem Sinne für Weber das Kind einer skeptischen
Moderne, die – wie bei Nietzsche – in der Morgendämmerung ei-
ner Post-Moderne steht. Die politische Wende Webers ist als letzter,
zögerlicher Versuch einer Freiheitserzählung für selbstbestimmte,
aber gefährdete Individualität zu verstehen. In dieser Kritik und Be-
jahung der Moderne nimmt Politik einen zentralen Platz ein.
Weber verbindet zwangsläufig und fraglos diese Politik (und
Wissenschaft) mit dem Ideal des an der Welt leidenden Mannes,37
der um die Grenzen seines Handlungs- und Erklärungsvermögens
weiß, diese Grenzen aber nicht mystisch durch gute Gesinnung
überspringt, sondern sie verantwortlich selbstquälerisch, asketisch
und einsam aushält und, so weit möglich, heroisch und einsam ge-
stalten möchte. Die Psychologie des leidenschaftlichen, gleichwohl
aber asketischen und intellektuell gebremsten Mannes ist wesentli-
cher Teil des Raumes für Politik. Dieser politische (und wissen-
schaftlich-analytische) Mann kennt Sinnfragen, stellt sie aber als un-
beantwortbar zurück und konzentriert sich auf die zu erkennenden
Folgen von Handeln. Selbstverständlich ist Weber, daß es Männer
mit einer gebändigten Seele sind, die sich dieser Eiseskälte der Fra-
gen, Anforderungen und den nur geringen Möglichkeiten verant-

37 Implizit dazu Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte


1800-1950, Tübingen 2001, S. 539ff.; Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um
die Jahrhundertwende, Frankfurt 1996, S. 280ff. Birgit Sauer (Die Asche des Souve-
räns, Frankfurt u.a. 2001) spricht die männliche Politik Webers an, von „Maskulinis-
mus“ als politischer Form ist die Rede. Weber (S. 70ff.) wird geprüft, ob er für „eine
feministische Staatsanalyse brauchbar“ ist. Dabei vertritt er, so Sauer (S. 73), „das di-
chotome Geschlechtermuster“ und leitet „eine Modernisierung von Männerbezie-
hungen ein“ (S. 75), für feministische Kritik ist er nützlich, „unverblümt (stellt er) das
maskulinistische Erbe zur Schau“ (S. 76). Das ist oberflächlich; Sauer geht auf
Webers Beziehung vom politischen Handeln und Moderne nicht ein. Die mit Männ-
lichkeit bzw. dem Machtmenschen als dem Machtmann verbundene Haltung und
Handlungsfähigkeit wird von Sauer nicht gesehen. Das Abstrakte dieser Haltung
(das Weber als männliches Vermögen verdinglicht) prüft Sauer nicht. Hier entgeht
Sauer die kulturelle Vorgeschichte des asketisch-dezisionistischen Männlichkeits-
ideals bei Nietzsche, so daß auch diesbezüglich die politische Wende bei Weber zu
wenig abstrakt betrachtet wird.
182 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

wortungsethisch und folgenbewußt stellen. Es wird gar nicht geprüft,


wie sich Frauen verhalten, ob sie solchen Qualen zwischen großen
Fragen und kleinen Entscheidungen von Natur aus ausweichen: Po-
litik, politische Ethik, das Leiden am Handeln und an der Welt sind
borniert und a priori männlich, bezeichnen für den Mann in der
Welt das Leiden an der Politik als eine Aufgabe.
Leidenschaft, Augenmaß, Verantwortung, intellektuelles Vermö-
gen zur Folgeabschätzung und psychologische Fähigkeiten wie die
uneitle Nehmerqualität des Helden in der Kälte sind Eigenschaften,
die ein Politiker aufweisen sollte; denn ihm stellt sich die Frage:
ıwas für ein Mensch man sein muß, um seine Hand in die Speichen
des Rades der Geschichte legen zu dürfen„.38 Nur wer sich sicher
ist, nicht zu zerbrechen, wenn die Welt seinen Ansichten wider-
spricht, sollte Politiker werden. Gute Absichten und ein edler Cha-
rakter reichen nicht aus. Vergleichsweise grob unterscheidet Weber
zwei Handlungsmaximen, die Gesinnungs- und die Verantwor-
tungsethik, und bezieht sie auf die Frage nach den Folgen von
Handeln39 und auf den Umgang mit der ıethische[n] Irrationalität
der Welt„.40 Verkürzt: Gesinnungsethiker fragen nicht nach den
Folgen und sind der Irrationalität psychologisch und intellektuell
nicht gewachsen.
Politik betreiben heißt – so Weber41 – sich einzulassen ımit den
diabolischen Mächten [...], die in jeder Gewaltsamkeit lauern.„ Dies
kann nur von einem Mann, der sich auf Machbares begrenzt und
offen ist für Unsicherheit, ausgehalten werden. Gefragt ist ıdie ge-
schulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens,
und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu

38 Weber: Politik als Beruf, a.a.O., S. 533.


39 Ebd., S. 539.
40 Ebd., S. 451.
41 Ebd., S. 545.
183

sein.„42 An dieser Offenheit und Unsicherheit ıversagt„ Carl


Schmitt. Die grundlegende Unübersichtlichkeit und streßhafte Ent-
scheidungslage wird auf einen polaren Gegensatz reduziert, das
Leid weicht der Dezision über Leben und Tod. Der souveräne,
antiplurale und antiliberale Staat wird als machtvolle (ıtotal starke„)
Institution wiederbelebt, um den Offenheiten der Moderne und der
Machtpolitik insbesondere zu entgehen. Die Dezision überspielt die
Kontingenz und beseitigt mit ihrer Letztkonsequenz des Todes die
Offenheit der Politik, der Deliberation und der Freiheit auf Erden.
Für Schmitt ist Gott eben nicht tot, Politik hat dem Antichrist
machtvoll zu widerstehen.
Männlichkeit bei Carl Schmitt ist, wie seine Tagebuchnotizen
und sein Glossar zeigen, ıchauvinistisch„, selbstgerecht, eitel, lar-
moyant und weinerlich, sie taugt nicht als Ausweg und Haltung (für
Webers Politik). Schmitt fällt hinter Weber (und Nietzsche) zurück
und engt politisch den Raum der Politik wieder ein. Ambiguität und
Kontingenz der Moderne sind es, vor denen er politisch dergestalt
kapituliert, indem er ıtotalitär„ und/oder politisch-katholisch, immer
aber autoritär-institutionell reagiert. Es sind die moderne Kontin-
genz und der Entscheidungsstreß, den das Politische Schmitts ab-
spaltet und als Feind verdinglicht. Schmitts Anerkennungskämpfe
münden in Vernichtungskriege und Homogenisierung, eigentlich
gibt es für seine Politik keine Anerkennung von Differenz, keine
Koexistenz in geregelten, universellen, offenen Prozeduren. Haber-
masÊ Deliberation und Webers politischer Machtmensch sind dieje-
nigen Öffnungen und Unübersichtlichkeiten, die Schmitt nicht aus-
halten will. Aus Schmitts Sicht des Politischen sind beides Konzepte
der Institution (Habermas) oder des Akteurs (Weber), die seiner
letzten Klarheit und Norm im Zeichen eines sterbenden Staates ra-
dikal gegenüberstehen. Schmitt ist und wird deshalb attraktiv, wann

42 Ebd., S. 546.
184 Eike Hennig: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt

und wenn immer es (ılinks„ wie ırechts„) um einen Schlußstrich


gegen die neuen wie alten Unübersichtlichkeiten der modernen
Welt und Politik geht. Seine Verdinglichung und Abspaltung der
vielen Stör- und Restgrößen, des Unbekannten und Unsicheren als
Feind, als Gegenprinzip und Antityp, macht die heterogene Welt
wieder homogen, begreifbar und suggeriert jene Gestaltbarkeit ei-
ner absoluten Lösung der Beseitigung des Problems. Das Wagnis
der Kontingenz wird zurückgewiesen. Schmitt gibt sich als ıMacho„,
versagt aber gegenüber den Erfordernissen der Moderne. Weber
zeigt einen anderen, modernen, steinigen Weg auf.
185

Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-


Intellektuelle im Medienzeitalter – Zur
sozialen Funktion engagierter Lieder
Dietmar Hüser
186 Dietmar Hüser: Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter

Frankreich in den achtziger und neunziger Jahren bildet die Kulisse


für den Auftritt französischer Rap-Musik auf der Bühne populärer
wie politischer Kultur. Rap, eine Stilrichtung, die sich Ende der
siebziger Jahre in New York herausgebildet hat, in den frühen acht-
ziger Jahren Einzug in Frankreich hielt und dort zunehmend Eigen-
ständigkeit gewann, entwickelte sich seit Beginn der neunziger Jahre
zu einem jugendkulturellen Massenphänomen. Es verbindet rhyth-
mische Musik mit gereimten Texten, typisch sind skandierte Sprech-
gesänge und Wortsalven. Rap reiht sich ein in die weite Welt des
Hip-Hop, Sammelbegriff für unterschiedliche künstlerische Stilrich-
tungen der Straße, die sich um drei Pole gruppieren, einen tänzeri-
schen, einen zeichnerischen und einen musikalisch-verbalen. Eng
verbunden, in Selbsteinschätzung und Fremdwahrnehmung, bleibt
das textlastige Genre mit sozialen Brennpunkten vorstädtischer
Großwohnanlagen, obschon das jugendliche Auditorium über das
Ursprungsmilieu hinausweist, wohnräumlich wie nach gesell-
schaftlicher Lage. Anknüpfen kann Rap in Frankreich an eine lange
Tradition zugleich poetischer, populärer und politischer Lieder, die
bestehende Verhältnisse nicht bloß beklagen, sondern verändern
wollen.1
Rapper erzählen Geschichten. Oftmals in der ersten Person vor-
getragen, steckt das Präsentierte voller Andeutungen und Codes,
die manchmal nur für Eingeweihte verständlich sind. Zugleich ent-
hält es Mitteilungen und Speerspitzen, die sich an alle wenden. An-
gestrebt wird, in einen produktiven Dialog einzutreten und ein
machtvolles Medium zu etablieren, das milieuverhaftete wie
-überschreitende Kommunikation ermöglicht und öffentliche Debat-

1 Vgl. zu Rap in Frankreich Hugues Bazin: La culture hip-hop, Paris 1995; Manuel
Boucher: Rap – Expression des lascars. Significations et enjeux du rap dans la so-
ciété, Paris 1999; Christian Béthune: Le rap. Une esthétique hors la loi, Paris 1999;
Dietmar Hüser: RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populä-
rer Musik und politischer Kultur, Köln 2004.
187

ten entfacht. Rap meint interaktives Straßentheater, steht für call


and response, für Fragen und Antworten, die Bälle ins Rollen brin-
gen, Kettenreaktionen auslösen, neue Fragen und neue Antworten
nach sich ziehen. Zuhörer dürfen nicht still und stumm bleiben, sol-
len und müssen auf das Gesagte reagieren und sich positionieren.
Häufig geht es um gesellschaftlich oder politisch Brisantes, einen
Gesetzesentwurf zur Neufassung des Einbürgerungsrechtes oder
massenmediale Selbstzensur gegenüber Rap-Stücken, die manche
Geschichte vom Rande nicht ins Zentrum öffentlicher Aufmerk-
samkeit und Erörterung rücken läßt.2
Rap-Stars erfüllen soziale Funktionen innerhalb wie außerhalb
der Banlieue, verstehen sich als Mittler durch Musik im Zentrum
wie an der Peripherie. Dort wollen sie als Vor-Ort-Intellektuelle die
grandes causes benennen, Bewußtsein schaffen, Scheinheiligkeiten
des Establishments offenlegen, Gegenöffentlichkeit ausbilden, zur
Kritikfähigkeit anregen. Rap soll Wege aus dem Teufelskreis Haß-
Gewalt-Repression weisen, Hip-Hop-Werte als Erfolgsrezept anprei-
sen. Hilfe zur Selbsthilfe lautet die Losung: Akteure mit Ortskennt-
nis vermitteln Orientierung, versuchen andere dazu zu bewegen,
Akteure des eigenen Schicksals und der eigenen Integration zu
werden. Zugleich halten Rapper als ıProvinz-Notabeln„ im Zentrum
der Gesamtgesellschaft den Spiegel vor, legen die Kluft dar zwi-
schen sozialer Realität und politischem Diskurs, schildern Kon-
fliktzonen des ıSystems„ – Xenophobie, Polizei, Justiz, Medien –
samt Ursachen und Wirkungen. Allen Franzosen, besonders aber
den Eliten des Landes gegenüber, verleihen sie denen eine Stimme,
die bislang nicht die Mittel haben, zu sprechen, und die andere zu

2 Vgl. die Konzeptplatten „11’30 contre les lois racistes“, Cercle rouge, 1997; „16’30
contre la censure“, Cercle rouge, 1999; „Freestyle Censure Connexion – 30 rappeurs
contre la censure“, Plug It Records, 1999.
188 Dietmar Hüser: Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter

hören fürchten. Dies spiegele den wahren Empörungscharakter wi-


der und mache Hip-Hop zu einer mündigen Kunstform, heißt es.3

Provinz-Notabeln
Rapper nehmen in Anspruch, Chronisten und Sprecher der Cité zu
sein, Lehrer und Antreiber, Vorbilder an der Peripherie und Bot-
schafter für das Zentrum. Manche Parallele läßt sich ziehen zum
Idealtypus eines Provinz-Député um die Jahrhundertwende.4 Gewiß,
verglichen mit einem Protagonisten der Rap-Szene besitzt der Ab-
geordnete eine andere Form der Legitimation, als Sprachrohr zu
fungieren, wird er doch vom Volk gewählt, genauer durch die
wahlberechtigten männlichen Bürger in einem noch überwiegend
ländlich geprägten Frankreich. Er agiert innerhalb des politischen
Systems, bestimmt sich über die Politik im engeren Sinne, während
der Rapper seine Rolle über das Politische definiert, sich außerhalb
etablierter Strukturen einbringt. Doch sind gewisse Analogien auf-
schlußreich und sinnfällig, besonders was soziale Funktionen anbe-
langt, die sie im Herkunfts- wie im Ankunftsmilieu des beruflichen
Aufstiegs erfüllen.
Auch ein Provinz-Notabler im Pariser Parlament verstand sich als
Vermittler, als Mentor und Mandatar, auch sein Status entsprang
einem produktiven Spannungsverhältnis von Zentrum und Periphe-
rie. Am Beginn des politischen Aufstiegs stand nicht die Ochsentour
durch Partei-Instanzen, sondern lokales Engagement und Verwur-
zeltsein als dem Ankerpunkt seiner Legitimität.5 Wie ein erfolgrei-

3 „Le rap [...] est la parole donnée à ceux qui jusqu’alors n’avaient pas trouvé de
moyen de la prendre, ceux que certains ont peur d’entendre: là se trouve la vraie
rébellion, celle qui fait du HIP-HOP une culture majeure.“ – Suprême NTM, Booklet-
„Präambel“ zum Album „J’appuie sur la gâchette“, 1993.
4 Vgl. Pierre Guiral, Guy Thuillier: La vie quotidienne des députés en France de 1871 à
1914, Paris 1980, S. 47ff., 116ff. u. 195-203.
5 Vgl. Marc Abélès: Jours tranquilles en 89. Ethnologie politique d’un département
français, Paris 1989, S. 353.
189

cher Rapper, der zunächst Notorietät im Underground zu gewinnen


hat, mußte er vor Ort in die Lehre gehen. Maßgeblich war, sich
nach und nach als ein Wortführer zu etablieren, über den Arrondis-
sement- oder Generalrat ein Netzwerk von Kontakten aufzubauen,
ein Bürgermeisteramt zu bekleiden, die damals fast unumgängliche
Etappe auf dem cursus honorum zur Deputation nach Paris.
Formal waren die Abgeordneten Vertreter der ganzen Nation,
der einen und unteilbaren Republik. Faktisch verkörperten sie da-
neben territoriale Zugehörigkeiten,6 konkret die Einerwahlkreise, in
denen die männlichen Bürger sie nach absolutem Mehrheitswahl-
recht bestimmten. Nicht anders als bei Rappern, die zu Stars ge-
worden sind, hingen Ansehen und Glaubwürdigkeit der Provinz-
Notabeln, die sich nach Paris hochgearbeitet hatten, weiterhin von
der lokalen Verankerung ab. Deren Pflege war ein Muß für jeden,
der nicht seine Chancen auf eine Wiederwahl verspielen wollte. Be-
trächtliche Zeit opferten die Abgeordneten heimischen Wählern,
die sich mit den verschiedensten Begehren an sie wandten. Tagtäg-
lich waren Briefe zu beantworten, Fürsprachen einzulegen, Maß-
nahmen im Interesse und zum Vorteil der Schreibenden auf den
Weg zu bringen: Hier ging es um Straßen und Schulen in Wahl-
kreiskommunen, dort um persönliche Anliegen, die Befreiung vom
Militärdienst beispielsweise oder die Anstellung im Staatsdienst.7
Spätestens bei der wochenendlichen Rückkehr in den Heimat-
wahlkreis – weder samstags noch montags hielt die Kammer Plenar-
sitzungen ab – schlug die Stunde der Wahrheit. Nun galt es nach-
zuweisen, daß der potentielle Einfluß in Paris nicht auf Kosten pro-
vinzieller Bodenhaftung ging. In der Hauptstadt einer neben ande-

6 Dazu René Rémond: Les réformes électorales en France au XIXe et XXe siècles, in:
Serge Noiret (Hg.): Political strategies and electoral reforms: Origins of voting sys-
tems in Europe, Baden-Baden 1990, S. 108-117, hier S. 111.
7 Dazu nun Christian Windler: „Une République des fiefs“? Lokalismus und Zentralis-
mus in Frankreich, in: Francia 27/3 (2000), S. 119-134, hier S. 122f.
190 Dietmar Hüser: Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter

ren, durfte sich der Deputierte daheim als einflußreiche Respekts-


person fühlen, als erster Mann seines Arrondissements. Reden hal-
ten, Ausstellungen eröffnen, Bankette besuchen, Feste feiern,
Märkte abklappern und Preise verleihen waren Tagesgeschäft, Ehre
und Pflicht zugleich. Kein öffentlicher Auftritt, den die Menschen
nicht kritisch beäugten. Schlicht und familiär mußte er sich geben,
ansprechbar sein und vertraut mit dem, was die Leute bewegte,
nicht zu abgehoben und überlegen daherkommen oder seinen Be-
sitz zur Schau stellen.
Ganz selbstverständlich blieb der erste Wohnsitz im Wahlkreis,
wie auch die nationalen Rap-Größen zumeist noch in der heimi-
schen Cité leben. Daß immer wieder beteuert wird, trotz gewaltiger
kommerzieller Erfolge ıweiter bei den Eltern, weiter in seiner Cité
in Creil„8 im Departement Oise zu wohnen, veranschaulicht den
Rechtfertigungsdruck, den das Herkunftsmilieu an der Peripherie
ausübt.9 Wer ihm den Rücken kehrt, wer seinen Lebens- und Schaf-
fensmittelpunkt ins Zentrum verlagert, als Banlieue-Botschafter
heute oder als Provinz-Parlamentarier vor einem Jahrhundert, ver-
spielt rasch das über Jahre angehäufte Vertrauenskapital. Gemut-
maßt wird in beiden Fällen ein unweigerlicher Verlust milieuverhaf-
teter Inspiration und Authentizität, verurteilt der Verrat an der Sa-
che und den Menschen, in deren Namen er ein musikalisches oder
politisches Mandat, allemal eine soziale Verantwortung, innehat.
Nur wer versteht, auf beiden Klavieren zu spielen, dem an der Peri-
pherie und dem im Zentrum, winkte und winkt eine Karriere ohne
Glaubwürdigkeitslücke. Gefordert waren Persönlichkeiten, die ihren

8 Vgl. K-Mel im Gespräch mit DJ Wish: L’Alliance contre-attaque, in: R.A.P. – Rimes
Anticonformistes Positives (März 1999), Nr. 9, S. 16.
9 Zum Glaubwürdigkeitsverlust eines Mc Solaar oder Doc Gynéco bei Szene-Insidern
vgl. Gérard Bar-David: Mc Solaar – Positive Black Seul, in: Groove (Januar 1997), Nr.
1, S. 66-69, hier S. 68; Marie-Dominique Lelièvre: Doc Gynéco – Le prince des lascars,
in: Libération, 25.3.1998.
191

Mann hier wie dort standen, ıDoppelmenschen„ eben, die – wie die
breite Mehrheit der Deputierten und Senatoren der Dritten Repu-
blik – das erfolgreiche Austarieren zwischen Paris und Provinz als
Schlüssel der politischen Karriere betrachteten.10
Von Ausnahmen abgesehen blieben republikanische Provinz-
notabeln um die Jahrhundertwende individualistischen Repräsenta-
tionsvorstellungen zutiefst verhaftet, wie sie Rousseau, später Sieyès,
geprägt hatten. Ausdruck fanden sie im Argwohn gegenüber jeder
Form intermediärer Organe, nicht zuletzt in einer profunden Aver-
sion gegen straff geführte, bürokratisierte und disziplinierte Par-
teien.11 In Rap und Hip-Hop äußern sie sich in ähnlich gelagerten
Affekten, auch in der Skepsis, mit der kollektiven Formen gesell-
schaftlicher Integration begegnet wird, wie die Elterngeneration sie
in den sechziger und siebziger Jahren vielfach erlebte. Die allumfas-
sende Gegenkultur kommunistischer Massenorganisationen, die im
Zeichen der Vollbeschäftigung parteipolitisch wie gewerkschaftlich
als wirksame Sprachrohre der Arbeiterklasse fungierten, üben kaum
mehr Anziehungskraft aus. Mit Nachdruck verweisen Rap und Hip-
Hop auf die veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ko-
ordinaten der achtziger und neunziger Jahre, als vielen selbst die
ıChance„, ausgebeutet zu werden, verwehrt blieb, und deshalb
auch die Gelegenheit, gemeinsam mit anderen Betroffenen und der
Rückendeckung von Betriebsräten wie Arbeitnehmerzusammen-
schlüssen dagegen vorzugehen. Beruflicher Einstieg und sozialer Auf-
stieg, heißt es, seien heute keine Frage einer ıkollektiven Revolution„,
vielmehr das Ergebnis einer ıindividuellen Lebensgeschichte.„12

10 Vgl. Jocelyne George: Paris – Province. De la Révolution à la mondialisation, Paris


1998, S. 155f.
11 Dazu Pierre Lévêque: Histoire des forces politiques en France, Bd. 1: 1789-1880, Paris
1992, S. 353f.
12 Zum Begriffspaar révolution collective vs. cheminement personnel vgl. Rocca im Ge-
spräch mit Philippe Roizès: La Cliqua – La preuve par trois, in: R.E.R. – Rap & Ragga
(März 1999), Nr. 27, S. 34-37.
192 Dietmar Hüser: Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter

Vor-Ort-Intellektuelle
Provinz-Notabeln einerseits, lassen sich engagierte Rap-Stars ande-
rerseits als Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter beschreiben.13
Ständig taucht der Begriff des militant auf,14 permanent geht es um
die grandes causes à majuscules: Gerechtigkeit, Menschenrechte,
Nation, Republik. Dabei sehen sie sich nicht nur künstlerisch in die-
ser Rolle gefordert. Denn niemand glaubt mehr ernsthaft daran,
kulturelle Praktiken, egal welcher Machart, könnten soziale oder
politische Lösungen ersetzen und schlagartig die Welt verbessern.
Selbst die poetischen Vorbilder wären schließlich daran gescheitert,
selbst ein Jacques Prévert: ıWenn du einmal hörst, was er in diesem
Text sagt und dann die jetzige Situation anschaust, so deckt sich
das. [...] Ich mache Rap im Jahr 1999, und ich erkenne mich in die-
sem Text wieder, der vierzig Jahre alt ist und erzählt, wie damals
Ausländer angesehen wurden, die zum Arbeiten nach Frankreich
kamen. Die Situation ist immer noch die gleiche, und wir zahlen
heute den Preis, daß wir dem Typen nicht zuzuhören wußten. Was
ich nicht kapiere ist, daß es Typen gab, die über die Situation nach-
gedacht haben, die kluge Dinge dazu gesagt haben wie dieses Ge-
dicht, und daß keiner sie gehört hat. Dieser Text, das ist eine ver-
dammte Alarmglocke und offenbar pfiffen nur alle darauf, denn
nichts hat sich ja geändert. Wieviele Jacques Prévert werden wir
brauchen, bevor sich die Dinge verändern? Wieviele?„15
Häufig fühlen sich deshalb selbst die Protagonisten in die Pflicht
genommen, soziale Regsamkeit nicht auf Benefizkonzerte zu be-

13 Zur Sozialfigur des Intellektuellen im „audio-visuellen Zeitalter“ vgl. Jean-François


Sirinelli: Intellectuel, in: ders. (Hg.): Dictionnaire historique de la vie politique fran-
çaise au XXe siècle, Paris 1995, S. 524-527, hier S. 526.
14 Vgl. z.B. Daddy Lord C., zit. nach Pier Lotty, David Keita: L’univers des lascars – Aux
grands mots les grands remèdes, in: Radikal – Le magazine du mouvement hip-hop
(März 1999), Nr. 28, S. 12-17, hier S. 16.
15 Faf Larage im Interview mit Fred Guilledoux: Faf Larage – La ligne des seize maîtres,
in: Groove, Hors-série „Marseille“, Juli/August 1999, S. 66-69 (Übersetzung D.H.).
193

schränken, wo Grenzen zwischen Engagement und Eigenwerbung


ohnehin verwischen. Möglichkeiten, bodenständiger und zupacken-
der zu Werke zu gehen, bietet etwa der persönliche Einsatz für be-
rufliche Ausbildungsangebote vor Ort, für Breakdance-, Graffiti-
und Rap-Lehrgänge oder für andere lebenspraktische Aktivitäten.
Denn selbst den Schreib-Ateliers dient das Hip-Hop-Prestige in vor-
städtischen Großwohnanlagen als Köder: Rap als Anreiz für den
Umgang mit Sprache, für verbesserte Ausdrucksfähigkeit und er-
höhte Arbeitsmarktchancen unter benachteiligten Jugendlichen.16
Andere setzen auf konkretes Mitarbeiten im Netzwerk lokaler Ver-
eine und Interessengruppen, Zebda zum Beispiel, seit Jahr und Tag
sozial- wie kulturpolitisch im linksalternativen Milieu der Toulouser
Nordviertel aktiv, und dies mit gleichem Einsatz auch noch nach
dem Massenerfolg.17
Die meisten Texter sind bestrebt, mit Wörtern als Waffen au-
thentische Straßenliteratur vorzulegen. Wenn Rap auch Poesie ist,
dann in diesem Sinne. Denn Wortschatz und Ausdrucksweise be-
reichern, Stil und Sprache vervollkommnen, sind weder Anzeichen
für einen Hang zu Schöngeisterei, noch sind sie Selbstzweck. Das
Ziel permanenten Perfektionierens ist weniger ein ästhetisches als
ein funktionales, besteht nicht primär darin, möglichst schöne Sätze
und Reime zu produzieren, sondern möglichst gut verstanden zu
werden von denen, die erreicht werden sollen. Besonders wichtig
sind Aktualitätsbezüge. Nur wer sich am Zahn der Zeit bewegt,
kommt seinen Chronistenpflichten angemessen nach, nutzt die

16 Die Sprache sei explodiert, die Jungen, die Schwarzen, die Araber, die Strolche, sie
interessierten sich für Reim, Syntax und Etymologie, erläutert Lionel Fornini, Mitglied
von Da Mayor, zit. nach Laurent Rigoulet: Le hip-hop à bon port, in: Libération,
26.1.1999: „La langue a explosé, les jeunes, les Noirs, les Arabes, les crapuleux, ils
s’intéressent tous à la rime, à la syntaxe, à l’étymologie.“
17 Dazu Véronique Mortaigne: Zebda, groupe musical multiculturel, in: Le Monde –
Supplément „Toulouse“, 10.3.1999; aufschlußreich die TV-Dokumentation „Zebda,
acte II“, Yasmina Yahiaoui: Saga-Cités, France 3, 8.2.2000.
194 Dietmar Hüser: Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter

Chance, wahrgenommene Mißstände umgehend breitenwirksam


aufzugreifen und zu kommentieren. Rap-Texte verfassen meint im-
mer auch, mit hoher Dringlichkeit auf einen inneren Notstand zu
reagieren. Nicht von ungefähr gelten Begriffe als ıVokalkugeln„ aus
berufenem Munde. Wo es darum geht, diesen Durchschlagskraft zu
verleihen zu entfachen, zählen elaborierte Wortspiele, diszipliniertes
Schreiben und fortwährendes Feilen zum Alltagsgeschäft.
Auch das Geschichtenerzählen als solches, erst recht musikalisch
untermalt und altersspezifisch ausgerichtet, kann ein Medium und
Katalysator massenhafter Mobilisierung sein, gerade dort, wo Ju-
gendliche in bester französischer Tradition politische Anliegen mit
festiven Protestformen zu koppeln wissen.18 Bei aller Skepsis gegen-
über direkten politischen Einflußchancen der eigenen Stücke, wis-
sen Rapper um deren potentielle Wirkung im angestammten Milieu
und unter denen, für die sie stimmgewaltig das Wort ergreifen.
Ganz wie organische Intellektuelle nach Gramsci sind sie dort Auf-
klärer und Lehrer, deren Botschaften auf offene Ohren treffen, viel-
leicht dem einzelnen mehr Selbstvertrauen, Willenskraft und Poli-
tikbewußtsein einhauchen: Vor-Ort-Intellektuelle eben. Daß indivi-
duelle Verhaltensänderungen eine hohe Dynamik entfalten, in kol-
lektives Handeln und politischen Protest umschlagen, auf Wahr-
nehmungsweisen in Zivilgesellschaft und Politelite rückwirken kön-
nen, läßt sich zumindest nicht ausschließen. Rap und Hip-Hop er-
wiesen sich damit als potentielle Agenten politischen und gesell-
schaftlichen Wandels, deren anerkannte Vertreter als zusätzlicher
Idealtyp innerhalb einer ıélite des acteurs sociaux„ 19 mit hohem
wohnräumlichen und sozialen Herkunftsbewußtsein, mit wortfüh-

18 Zur Demonstration als mode de sociabilité und émotion populaire vgl. Danielle Tarta-
kowsky: Les manifestations de rue en France 1918-1968, Paris 1997, S. 796ff., 801f.
19 Zur „Elite sozialer Akteure“ vgl. Martine Barthélémy: Le militantisme associatif, in:
Pascal Perrineau (Hg.): L’engagement politique. Déclin ou mutation?, Paris 1994,
S. 87-114, hier S. 111.
195

render, meinungsbildender, sing- wie sinngebender Funktion auf


der Basis geteilter Erfahrungen wie Zukunftsbilder zwischen Musi-
ker und Zuhörer.20
Rap-Lieder verstehen sich über die Brandmarkung alltäglicher
Problemlagen hinaus als handlungsorientierte politische Chansons.
Damit erscheinen sie auf der einen Seite als eine autonome Aus-
drucksmöglichkeit der Vorstadtjugend, akkumulierte Benachteili-
gungen kreativ zu kanalisieren und positiv zu wenden. Gleichzeitig
bietet das Umfeld die Chance auf Notorietät, Sozialprestige und
Erfolg, dient als Aufstiegs- und Integrationsstrategie weit über die
eigene Cité hinaus. Bei aller Anhänglichkeit gegenüber dem Viertel
und allen Bleibezwängen, die es ausübt, erweist sich Rap damit für
viele als eines der wenigen denkbaren Mittel, der Banlieue und dem
Ursprungsmilieu zu entfliehen.21 Um solche Perspektiven zu eröff-
nen, bedarf es harter Arbeit und eisernem Willen, alle sind sich
darüber einig: ıDie Hoffnung liegt in dieser kämpferischen Grund-
haltung: du willst, daß sich dein Leben ändert, also mußt du es
selbst in die Hand nehmen. [...] Du kannst erreichen, was immer du
dir vornimmst, nur mußt du dafür arbeiten.„22
Republikanismus läßt sich als Modell schrittweisen sozialen Auf-
stiegs à la Condorcet ohne Volontarismus des Einzelnen kaum den-
ken, als Modell sozialer Gerechtigkeit und staatsbürgerlicher Erzie-
hung nicht ohne die obligatorische gebührenfreie und laizistische
Volksschule à la Ferry.23 Ähnlich untrennbar verknüpft sind Hip-

20 Angelehnt an die instruktiven Hinweise zum Akteursverständnis in sozialen Bewe-


gungen bei Carol McClurg Mueller: Building social movement theory, in: Aldon D.
Morris, Carol McClurg Mueller (Hg.): Frontiers in social movement theory, New
Haven/London 1992, S. 3-25, hier S. 7.
21 Schon Georges Lapassade, Philippe Rousselot: Le rap ou la fureur de dire. Essai, 2.
Aufl., Paris 1991, S. 109.
22 Doc K. von der Gruppe La Brigade, Interview von Arnaud Fraisse: La Brigade – Soldats
du Hip-Hop, in: Groove (Juni 1999), Nr. 28, S. 34-40, hier S. 38f. (Übersetzung D.H.).
23 Vgl. Sudhir Hazareesingh: Political traditions in modern France, Oxford 1994, S. 83ff.;
Yves Déloye: Ecole et citoyenneté. L’individualisme républicain de Jules Ferry à
196 Dietmar Hüser: Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter

Hop und Rap mit Erfolgsstreben, Selbstdisziplin und Erziehungsan-


spruch. Auch was erzieherisches Sendungsbewußtsein anbelangt,
stehen sie republikanischen Idealen, wie sie sich verstärkt im Re-
formwerk seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts widerspie-
gelten, in nichts nach. Das gilt nicht weniger für den Stellenwert von
Bildung überhaupt, sei sie nun klassisch schulvermittelt24 oder ange-
sichts schlechter persönlicher Erfahrungen mit den staatlichen Lehr-
anstalten selbständig angeeignet.25 Gerade weil es noch niemand aus
Reihen der Vor-Ort-Intellektuellen zum Minister in Paris gebracht
hat.26

Musik-Politiker
Während in den Vereinigten Staaten andere Spielarten den aufklä-
rerisch-kämpferischen im Laufe der achtziger und neunziger Jahre
reichlich Wasser abgegraben haben und auch anderswo die gesell-
schaftskritischen Triebfedern im Zuge lokaler Aneignung globaler
Musikströme mehr oder weniger auf der Strecke geblieben sind,
stellt sich Frankreichs Rap-Szene weiterhin vergleichsweise engagiert
und politisiert dar. Die Gretchenfrage, was Kunst in einem Am-
biente des Elends bewirkt, ob sie über jede Demütigung hinweg-
tröstet oder aber Kraft zur Gegenwehr einflößt, findet eine klare
Antwort. Kaum ein Künstler verzichtet darauf, als Vor-Ort-Intellek-
tueller in sozialen Brennpunkten vorstädtischer Großwohnanlagen
engagiert mit Musik-Petitionen zur Selbstaktivierung aufzurufen und

Vichy: controverses, Paris 1994, S. 139f.; Marc Sadoun: Le citoyen en République, in:
Bertrand Badie, Pascal Perrineau (Hg.): Le citoyen. Mélanges offerts à Alain Lancelot,
Paris 2000, S. 115-129, hier S. 121f.
24 Unter Bezugaufnahme auf Jules Ferry und das Schulgesetz von 1881 Jean-Pierre
Thorn: Banlieue-Filmer, im Gespräch mit Magali Jauffret, Les utopies du mouvement
hip-hop, in: L’Humanité, 12.3.1997.
25 Vgl. Aktivist: Nouvelle expérience (Le Flow – The Definitive Hip-Hop Compilation 1998).
26 Fingerzeig von Expression D., Interview von John Mitko: Expression D. – La roue
tourne!, in: Radikal – Le magazine du mouvement hip-hop (Juni 1997), Nr. 11, S. 12.
197

als Provinz-Notabler in der nationalen Polit-Arena die Interessen der


dort gesellschaftlich Zukurzgekommenen zu vertreten, deren Leiden
und Anliegen zu artikulieren.
Generell meint Kultur etwas fundamental Demokratisches: als
mitbestimmendes Element für politisches Verhalten zum Beispiel,
im Fördern einer reflektierten Öffentlichkeit, im brisanten Aushan-
deln von Margen künstlerischer Freiheit oder auch im ewigen
Kämpfen um Definitions- und Deutungsmacht auf dem Konfliktfeld
ıKultur„.27 Selbst Jugend- und Musikkulturen, denen es hier und da
noch an diskursiver Gestalt mangelt, sind auch als politische Be-
kundungen einzuschätzen. Bis hin zu hedonistischen Lifestyle-Visio-
nen und den ıWallfahrten„ erlebnishungriger Jugendlicher,28 die
sich damit verbinden, bergen solche Artikulations- und Aktionsfel-
der unterschwellige Potentiale für Gesellschaftskritik, von ausdrück-
licheren Spielarten wie Rap ganz zu schweigen. Sparten populärer
Kultur speisen politische Diskurse, formen politische Sprache, bele-
ben politische Symbole, stiften politische Bedeutung. Sie prägen die
Art und Weise, wie Menschen die ıGroße Politik„ in ıkleine„ Hori-
zontausschnitte des eigenen Lebensalltags übersetzen, und struktu-
rieren damit politische Teilhabe wie gesellschaftliche Kon-
fliktaustragung.29
Letztlich steckt hinter einem ausdruckskräftigen Genre wie Rap
nicht ein leidenschaftliches Ringen um gesellschaftliche Anerken-
nung mittels Kultur. Auch um eine Eintrittspforte zu Politik
schlechthin, wobei die Wahl der Mittel gerade deshalb auf Vokal-
kugeln statt auf Parteipolitik oder ähnlich institutionalisierte Hand-

27 Vgl. Murray Edelman: From art to politics. How artistic creations shape political con-
ceptions, Chicago/London 1995, S. 2f., 52ff., 143-146.
28 Begriff bei Horst W. Opaschowski: Kathedralen des 21. Jahrhunderts. Erlebniswelten
im Zeitalter der Eventkultur, Hamburg 2000, S. 93.
29 Vgl. Richard M. Merelman: Partial visions. Culture and politics in Britain, Canada and
the United States, Madison 1991, S. 8, 36f.
198 Dietmar Hüser: Pop-Stars: Provinz-Notabeln und Vor-Ort-Intellektuelle im Medienzeitalter

lungsformen fällt, weil andere als die Bühnenwege noch steiniger


erscheinen oder schlicht verschlossen sind.30 Eindrucksvoll belegt
wird die soziale Funktion engagierter Lieder, und dies nicht nur für
Debatten über die Integration von Jugendlichen aus Migrationskon-
texten, sondern zugleich für eine französische politische Kultur, die
sich seit den achtziger Jahren einen akzeptablen Weg zu bahnen
versucht zwischen dem unvermeidlichen Aufbruch der Tradition
und den kultivierten Grenzen des Wandels. Zumindest gilt dies
dann, wenn ıPolitische Kultur„ endlich Anerkennung findet als ein
integratives Konzept, das es weniger allein vom Politischen als
gleichberechtigt vom Kulturellen her aufzuschlüsseln gilt und das
politische Handlungen als (populär-)kulturelle Praktiken und Er-
scheinungen als politikrelevante Akte in den Blick nimmt.31

30 Kultur als traditionell einziges Tor zu mainstream politics afro-amerikanischer Min-


derheiten in den Vereinigten Staaten betonen Glenn Jordan, Chris Weedon: Cultural
politics. Class, gender, race and the postmodern world, Oxford 1995, S. 4ff.; Angela
McRobbie: In the culture society. Art, fashion and popular music, London/New York
1999, S. 112f.
31 Ausführlicher dazu Hüser, a.a.O., S. 29-42.
199

Dabeisein und Dazugehören


Heinz Bude
200 Heinz Bude: Dabeisein und Dazugehören

Ein wesentlicher Aspekt der weltgesellschaftlichen Prozesse, die


man in den 90er Jahren unter den Begriff der Globalisierung gefasst
hat,1 besteht in dem Umstand, dass in unserer Gegenwartsgesell-
schaft immer mehr dabei sind als dazugehören. Damit ist nicht die
Ansammlung von Personen auf einem Territorium gemeint, son-
dern eine unübersehbare Menge von zuschaltbaren, durchfahren-
den und vernetzten Kommunikationspartnern, die über die funktio-
nal differenzierten Systeme der Weltgesellschaft in unsere ıkleinen
Lebenswelten„ (Benita Luckmann)2 hineinspielen.3 Wir erleben auf
der einen Seite die Ausweitung von Bereichen kommunikativer Er-
reichbarkeit und interaktiver Rückwirkbarkeit durch den Touris-
mus, durch die Massenmedien oder durch das Internet, und wir
konstatieren auf der anderen Seite, was sich in den neuartigen Tat-
beständen des transnationalen Nationalismus,4 des kulturalisierten
Rassismus5 und der wohlfahrtsstaatlichen Schließungen6 zeigt, die
Verengung von Zonen gefühlter Selbstähnlichkeit und empfunde-
ner Wesensgleichheit. Man kommt unablässig mit unbekannten, un-
sichtbaren oder unbestimmten Anderen in Kontakt und hält sich
daher an denen fest, die man kennt, denen man vertraut und auf
die man baut. Der Erweiterung der Horizonte steht also die Ver-
schärfung der Differenzen entgegen. Viele sind da und werden be-
rücksichtigt, aber nur wenige sollen beteiligt sein und dazugehören.
Während die einen sich Prozeduren der Registrierung gefallen las-

1 S. etwa Ulrich Beck: Was ist Globalisierung?, Frankfurt/Main 1997.


2 Benita Luckmann: The small life-worlds of modern man, in: Thomas Luckmann (Hg.):
Phenomenology and Sociology, Harmondsworth 1978, S. 275-290.
3 So schon Niklas Luhmann: Die Weltgesellschaft, in: ders.: Soziologische Aufklärung,
Bd. 1, Opladen 1970.
4 Mary Kaldor: Neue und alte Kriege, Frankfurt/Main 2000.
5 Ulrich Bielefeld: Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland
und Frankreich, Hamburg 2003, S. 358ff.
6 Jürgen Mackert: Kampf um Zugehörigkeit, Opladen 1999.
201

sen müssen, um dabei sein zu können,7 beanspruchen die anderen


das Privileg des Erinnerns, um dazuzugehören.8
Aber vielleicht haben Gesellschaften immer schon solche Art
von Grenzen gezogen: Die Barbaren, die nicht Griechisch sprechen,
die Unreinen, von denen man sich fernhalten sollte, das Ungeziefer
der Untermenschen, das man vernichten darf. Die Soziologie hat
sich in letzter Zeit auf das Begriffspaar von Inklusion und Exklusion
geeinigt, um diese am Ende mörderischen Verhältnisse der Verge-
meinschaftung durch Ausschließung zu erfassen. Das Eigene defi-
niert sich vom Fremden, das Zivilisierte vom Barbarischen und das
Menschliche vom Unmenschlichen.9
Aber wie ist das heute bei uns? Die erregte Rede von der Exklu-
sion bezieht sich auf die Gefahren, die von Restpopulationen aus-
gehen, die zurückschlagen, oder von solchen, an denen unsere her-
gebrachten sozialstaatlichen Mittel der Befriedung scheitern. Im er-
sten Fall sind die Terroristen eines fundamentalen Heilsverlangens
gemeint, die als gefährliche Reste einer hegemonialen Verwestli-
chung ihr Unwesen treiben,10 im zweiten zum Beispiel die entvölker-
ten und schrumpfenden Zonen Ostdeutschlands, die als problemati-
sche Reste einer dynamischen Deindustrialisierung die Ressourcen
des Wohlfahrtsstaats erschöpfen.11 Aber weil die Exklusion sich in
diesen Fällen so dramatisch darstellt, liegt die Rationalisierung einer
abwehrenden Inklusion sehr nahe. Anders verhält es sich um Reste
der Gesellschaft, die man nur manchmal sieht, die aber immer prä-
sent sind. Es soll daher der Blick gelenkt werden auf Menschen wie

7 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frank-
furt/Main 1977.
8 Jan Assmann: Erinnern, um dazuzugehören, in: Kristin Platt, Mihran Dabag (Hg.):
Generation und Gedächtnis, Opladen 1995, S. 51-75.
9 S. die Beiträge von Claus Offe und Niklas Luhmann in: Max Miller, Hans-Georg
Soeffner (Hg.): Moderne oder Barbarei? Frankfurt/Main 1996.
10 Heinz Bude: Die Rache der „Überflüssigen“, in: Ronald Hitzler, Jo Reichertz (Hg.): Irri-
tierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror, Konstanz 2003, S. 95-101.
11 Philipp Oswalt (Hg.): Schrumpfende Städte, Ostfildern-Ruit 2004.
202 Heinz Bude: Dabeisein und Dazugehören

du und ich, die plötzlich dadurch auffallen, dass sie keinen Platz in
unserer Welt haben, weshalb sich an unserer Welt auch nichts än-
dern würde, wenn sie einfach nicht mehr da wären.
Es handelt sich um eine im Alltag sich zeigende Paria, an der
sich der Unterschied zwischen Anwesenheitsbestätigung und Aner-
kennungsverpflichtung beweist. Denn es besteht ein grundlegender
Unterschied zwischen der Operierung nach einem Code kommuni-
kativer Berücksichtigung und der zwischenmenschlichen Bezug-
nahme auf einen Anderen als einen Spiegel meiner selbst. Dieser
Unterschied bricht im Augenblick einer Begegnung mit jemandem
auf, der uns aufgrund seiner bloßen Anwesenheit, wie Jacques
Derrida sagen würde, adressiert. Dann wird der anonyme und au-
tomatische Andere zu einem Mitmenschen, der uns stellt.
Die Exkludierten des Alltags bilden keine Gruppe unter einer
Sozialkategorie oder mit einem Wir-Gefühl, also keine Versor-
gungsklassen mit konkurrierenden Anrechten,12 auch keine ıgefähr-
lichen Klassen„ in den Randbezirken unserer Großstädte,13 sondern
eine Population ohne einen bestimmten sozialen Ursprung. Weil für
sie ein Begriff fehlt, wollen wir uns dem Rest der Exkludierten phä-
nomenologisch nähern. Wir wollen mithin nicht den Paradoxien
von Begriffsbildungen nachgehen, sondern bestimmte Situationen
erhellen, in denen die, die dabei sind, auffallen, und an uns die
Frage stellen, ob sie dazugehören.
Die phänomenologische Forschung hat für den Phänomenbegriff
drei konstitutive Merkmale herausgearbeitet:14 Zuerst ist ein Phäno-
men dadurch charakterisiert, dass es uns trifft. Es handelt sich um

12 David Lockwood: Staatsbürgerliche Integration und Klassenbildung, in: Jürgen


Mackert, Hans-Peter Müller (Hg.): Citizenship – Soziologie der Staatsbürgerschaft,
Opladen 2000, S. 157-180.
13 Francois Dubet, Didier Lapeyronnie: Im Aus der Vorstädte, Stuttgart 1994.
14 S. Max Herzog, Carl F. Graumann (Hg.): Sinn und Erfahrung. Phänomenologische
Methoden in den Sozialwissenschaften, Heidelberg 1991.
203

eine bestimmte Art der Fatalität, der der Beobachter nicht auswei-
chen kann. Sodann verweist dieser Bruch in unserer Erfahrung auf
eine Totalität eigener Art, die eine Differenz zwischen unserer Welt
und der Welt des Anderen entstehen lässt. Schließlich enthält die
Realisierung eines Phänomens einen bestimmten reflexiven Effekt.
Im Blick auf den Anderen oder das Andere, der oder das uns als
Phänomen begegnet, werden wir auf uns selbst verwiesen in der
Frage, wie wir uns im Verhältnis zu dem Phänomen selbst bestim-
men. Insofern wirft jede phänomenologische Begegnung die Frage
nach der Verantwortung und der Verschuldung dem Anderen ge-
genüber auf. Wie stellen wir uns zu dem ıRest„ der Gesellschaft,
auf den wir im Alltag treffen? Worin trifft uns die Andersheit dieses
Anderen? Was sagen die, die einfach nur dabei sind, über die, die
dazugehören wollen?
Fragen wir also, wo und wie wir diejenigen treffen, die uns als
Rest der Gesellschaft deutlich werden und den Unterschied zwi-
schen der bloßen Anwesenheit und der anerkannten Zugehörigkeit
vor Augen führen. Es soll im Folgenden um Leute gehen, die ein-
fach durch merkwürdiges Verhalten auffallen, die als wehrlose Op-
fer von Übergriffen erscheinen oder die dadurch aus unserer Welt
fallen, dass sie nur noch Körper ohne Geist sind.
Das erste Phänomen betrifft die überflüssigen Kunden des ıBau-
hauses„. Die Angestellten dieser Tätigkeitszentren unserer Freizeit-
kultur kennen sie als Leute, die gerne am Ende des Verkaufstages
auftauchen und dadurch auffallen, dass sie stundenlang die Ange-
bote inspizieren, sich eingehend nach den Vor- und Nachteilen ein-
zelner Waren erkundigen, oder Dinge kaufen, die sie nach zwei
oder drei Tagen wieder zurückbringen. Es handelt sich vornehmlich
um ältere Männer, die von ihrem Aussehen her keine Anzeichen
von Exklusion tragen. Sie erscheinen im hellen Freizeitdress und
erweisen sich im Bedarfsfall als durchaus hilfsbereit. Sie beweisen
204 Heinz Bude: Dabeisein und Dazugehören

sogar ihre Zahlungsfähigkeit, nur kaufen sie am Ende nichts. Sie


fragen, vergleichen, beobachten, mischen sich ein, vollenden aber
den Kaufakt nicht. Es ist die viele Zeit, die sie an den Tag legen, die
sie von der normalen Kundschaft unterscheidet. Durch dieses merk-
würdige Verhalten machen sie den Nicht-Ort des ıBauhauses„ zu
ihrem Ort.15 Offensichtlich gehört der periodische Besuch dieser
Konsumwelt zum Bestand ihres alltäglichen Überlebens. Sie werden
als ıMenschen„ auffällig, weil sie als ıKunden„ nicht durchgehen.
Woher rührt die Bedrücktheit durch diese Simulanten des Kon-
sums? Sie verhalten sich so, wie man sich in der Sphäre der Wirt-
schaft verhalten soll, sie sind zivilisiert, sogar rücksichtsvoll, aber sie
passen auf merkwürdige Weise nicht mehr in unsere Welt. Man
kann sie als die einsamen Männer der Arbeitsgesellschaft bezeich-
nen, die übriggeblieben sind von einer Welt, an die wir alle glauben
sollen. Wen die Arbeit verlassen hat, der soll in Haus und Hof tätig
werden. Das heimische Werkeln soll die Beschäftigung im Betrieb
ersetzen. Aber die überflüssigen Kunden des ıBauhauses„ haben
nichts mehr zu tun. Sie sind in Rente oder Frührente und fliehen
die von den Frauen besorgten Beschäftigungen des Hauses. Sie su-
chen Beteiligung und hoffen auf Berücksichtigung. Was uns an ih-
nen berührt, ist die Tatsache, dass sie den Regeln unserer eigenen
Welt folgen, die ihre Geltung längst eingebüßt haben.
Das zweite Beispiel handelt von einer Frau, die bestohlen wird,
aber sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, dass die Polizei
gerufen wird. Es handelt sich um keine der sichtbaren Illegalen, die
sich als Straßenhändlerin oder Prostituierte durchschlagen, sondern
um eine Frau mit gültigen Papieren und gepflegten Umgangsfor-
men. Man hat gesehen, wie ihr die Tasche entrissen worden ist, und
kann nicht verstehen, warum sie nicht die Polizei ruft, damit ihr

15 Zu den Metaphern von Ort und Nicht-Ort Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüber-
legungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/Main 1994.
205

Recht geschieht. Sie entpuppt sich als Repräsentantin eines neuen


Typs europäischer Migranten, die weder hier noch dort ihren Platz
behaupten. Sie erzählt, in Polen ihre Heimat zu haben, obwohl sie
die meiste Zeit ihres Alltags in Deutschland verbringt. Sie geht einer
informell entlohnten Beschäftigung als Haushaltshilfe bei drei deut-
schen Familien aus akademischem Milieu mit jeweils drei Kindern
nach. Sie ist in der Tat keine Migrantin, die ihr Herkunftsland ver-
lassen will, sondern sie beharrt auf ihrem imaginären Aufenthalt zu
Hause, obwohl ihr Lebensmittelpunkt in der Fremde ist. Sie bleibt
allein, weil sie sich im permanenten Transit befindet. Die Migranten
diesen Typs praktizieren nicht, wie ihre klassischen Vorgänger, eth-
nisches ıcommunity-building„, um dadurch Integration durch Se-
gregation zu erreichen,16 sondern sie verbleiben in ihrem Heimat-
land und verdingen sich im Ausland. Sie sind da nicht mehr richtig
zu Hause und hier nicht richtig fremd. Deshalb fehlt ihnen der
Rückhalt eines mafiösen Migrantennetzwerks ebenso wie das Ver-
trauen in die Rechtsinstitutionen der Aufenthaltsgesellschaft. Es ist
diese Plurilokalität,17 die sie zu wehrlosen Opfern macht, die auf ihr
– wie Hannah Arendt klassisch formuliert hat – Recht, Rechte zu
haben, verzichten.
Was haben wir mit denen zu tun? Diese Migranten ohne Migra-
tion stellen den Vorgriff auf eine Welt dar, die uns überall gepredigt
wird. Sie sind die Nomaden der Transnationalität, die ihr Glück da
suchen, wo es Chancen gibt, und sich nicht auf ihre Anrechte ver-
lassen. Sie verhalten sich absolut modern und genau dadurch fallen
sie aus unserer Welt.
Das dritte Beispiel eines Phänomens der Exklusion bezieht sich
auf die Altersverwirrten, die nur noch als Körper anwesend sind,

16 So das Grundtheorem der Chicagoer Schule in der Soziologie.


17 Der Begriff stammt von Ludger Pries: Transnationale soziale Räume, in: Ulrich Beck
(Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 1998, S. 55-86.
206 Heinz Bude: Dabeisein und Dazugehören

aber mit ihrem Geist nicht mehr dazugehören. ıAlzheimer„ ist hier
die Metapher der Angst. Wohin hat sich Ronald Reagan zehn Jahre
vor seinem Tod zurückgezogen? Mit einem letzten Fernsehauftritt
hatte er sich von dieser Welt verabschiedet, um in eine Welt der
kommunikativen Unerreichbarkeit einzugehen. Schon ist die beäng-
stigende Nachricht von Plänen in den Niederlanden zu hören, dass
der fortgeschrittene Zustand einer Alzheimer-Erkrankung ein legiti-
mer Grund für aktive Sterbehilfe sein kann. Die Dissoziierung von
Körper und Geist scheint eine Extremform sozialer Exklusion dar-
zustellen, die eliminatorische Reaktionen in bester Absicht herauf-
beschwört. In den Senioren- und Siechenheimen unserer Gegen-
wartsgesellschaft sind diese Formen bloßen Daseins als institutionel-
ler Alltag zu besichtigen: Unter den Geräuschen des laufenden
Fernsehens essen, stieren und schlafen schreckhafte, erschöpfte und
lebenshungrige alte Körper. Inwiefern gehören diese verwirrten Al-
ten noch zu uns? Sie geben Geräusche von sich, aber wir verstehen
sie nicht. Sie blicken uns an, aber wir können ihren Blick nicht fo-
kussieren. Sie berühren uns, aber wir können ihre Gefühle nicht er-
widern. Aber fernhalten können wir diese Anderen von uns selbst
nicht. Altersverwirrtheit ist keine Krankheit, vor der wir uns nach
den Cholera- oder dem Pockenmodell schützen könnten, sondern
ein normaler menschlicher Zustand hochbetagter Menschen. Die
Dementen sind nur angekommen in einer Welt, die uns allen noch
bevorsteht. Wir wünschen uns natürlich alle ein langes Leben ohne
schwerwiegende Behinderungen und unerträgliche Schmerzen, aber
vor allem einen plötzlichen und schnellen Tod. Trotz aller Optimie-
rung des Alterns durch ıanti-aging„-Kuren gibt es gegen das Alter
keine Prävention. Die Frage von Verantwortung und Verschuldung
folgt in diesem Fall einer Bedrohung für uns selbst: Die verwirrten
hochbetagten Alten stellen eine möglichen Unmenschlichkeit unse-
rer Menschlichkeit dar. Sie stellen uns einen Zustand bloßen Da-
207

seins ohne Zugehörigkeit in Aussicht. Und zwar nicht als vereinzel-


tes Phänomen, sondern als berechenbare soziale Wahrscheinlichkeit.
Diese Verhältnisse des Lebens stellen den sozialwissenschaftli-
chen Intellektuellen vor ganz neue Herausforderungen. Nicht die
Hoffnung auf eine Auferstehung der Natur, sondern der Friede mit
der Endlichkeit des Lebens gäbe die Richtschnur für das Bedenken
der normativen Probleme einer nicht mehr heilenden, sondern nur
lindernden Medizin, einer helfenden, aber nicht verhelfenden Kunst
des Sterbens und für die Pflege des ıMenschenparks„ einer altern-
den Gesellschaft. So kehrt in diesem Rest das Ganze wieder, dem
wir nicht entgehen können.
209

Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit.


Eine Skizze
Robert Picht
210 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

Persönliche Vorbemerkung
Ich hatte das Privileg, auf zwei Stufen meines Wirkens eng mit Hans
Manfred Bock zusammenzuarbeiten. Beide lagen an Wendepunkten
in der Veränderung der realen und der akademischen deutsch-fran-
zösischen Beziehungen. Was wir gemeinsam taten, waren Schritte
auf dem Weg, den dieser Beitrag skizziert. Sein Horizont führt über
das deutsch-französische Verhältnis hinaus in die sich rasch entwik-
kelnde erweiterte Europäische Union. Die folgenden Überlegungen
sind deshalb nicht historisch, sondern prospektiv; sie suchen nach Ka-
tegorien und Handlungsorientierungen zur Selbstfindung Europas.
Hans Manfred Bock ist den anderen Weg gegangen, den der
geduldigen historischen Analyse der geistigen und damit in beson-
derer Weise der politischen Beziehungen zwischen Frankreich und
Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert. Er offenbarte damit Kon-
tinuitäten und Verflechtungen, die zeigen, wie fiktiv manche Perio-
disierungen und Einordnungen der offiziellen Nachkriegsgeschichte
sind. Die Durchleuchtung von Geistesgeschichte im bilateralen
Verhältnis zweier europäischer Kernländer erschließt dabei ähnli-
che Konstellationen und Problemlagen, wie sie sich auch heute auf
europäischer Ebene stellen.
Ausgangspunkt war für uns beide die gemeinsame Erfahrung mit
Versuchen aktiver Neuorientierung der gegenseitigen Wahrneh-
mung Deutschlands und Frankreichs. Ende der sechziger Jahre be-
teiligten wir uns als Pariser DAAD-Lektoren intensiv an der Wende
der französischen Deutschlandstudien, die für die Germanistik mit
dem Namen Pierre Bertaux verbunden ist, sich aber auch in ande-
ren Studiengängen und Fächern insbesondere an den Grandes
Ecoles entwickelte. Die französische Germanistik wollte ihre vor
allem geistesgeschichtlich-mythologische Tradition überwinden und
weiterhin führend an der Deutung der deutschen Dinge und an der
Zusammenarbeit mit dem immer näher rückenden Partner Bundes-
211

republik Deutschland beteiligt sein. Die wirtschaftliche und politi-


sche Ausbildung der französischen Eliten musste ein breiteres Ver-
ständnis von Deutschland entwickeln als es technokratische Ein-
engung oder auch der weithin von Germanisten beherrschte tradi-
tionelle Deutschunterricht vermochten.
Die Aufgabe, wie Deutschlandstudien in einem sich verflechten-
den Europa zu gestalten seien, war also in einem präzisen Sinne in-
terdisziplinär. Es galt Themen, Fragestellungen und Methoden mit-
einander zu verknüpfen, die von den traditionellen Disziplinen
bestenfalls in einen vagen Kontext zum ıEigentlichen„ des Faches
verbannt worden waren. Wir brachen in enger Zusammenarbeit mit
französischen Kollegen auf, Deutschland neu zu entdecken und
lernten dabei viel – sowohl über die Unterschiedlichkeit und histori-
sche Bedingtheit der jeweiligen Perspektiven als auch über unser
eigenes Land, also über uns selbst.
Die enge Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock war dabei
wegweisend. Politikwissenschaftliche Präzision, ılinkes„ Ethos und
ein sensibles, stets neugieriges Einfühlungsvermögen in ganz anders
gelagerte ıbildungsbürgerliche„ Milieus und Traditionen setzten
Maßstäbe für die gemeinsame Arbeit an Lehrmaterialien für Lekto-
ren und für einen durch die Zusammenarbeit mit dem DAAD
wachsenden internationalen Kreis der German Studies Bewegung.1
Nach der Rückkehr nach Deutschland lag es in den frühen sieb-
ziger Jahren nahe, diese Erfahrungen auf die deutsche Beschäfti-
gung mit Frankreich zu übertragen. Aber die Ausgangsvoraus-
setzungen waren anders. War die französische Germanistik auf ihre
Weise immer auch politisch und historisch gewesen, hatte sich die
deutsche Romanistik nach 1945 infolge schlimmer, von Bock histo-
risch aufgearbeiteter Erfahrungen in den Elfenbeinturm einer sich

1 Am umfassendsten dokumentiert in Robert Picht (Hg.): Deutschlandstudien I und II,


Deutscher Akademischer Austauschdienst 1978 und 1975.
212 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

rein geistesgeschichtlich gerierenden Linguistik und Literaturwissen-


schaft zurückgezogen. Die zeitgemäßen Bemühungen um deutsch-
französische Versöhnung und Verständigung, die vor allem die
Deutschen gerne als Freundschaft bezeichneten, liefen auf anderen,
kaum akademischen Ebenen. Nur die Berliner Politikwissenschaft
im Kreis um Gilbert Ziebura setzte sich systematisch mit den eben-
falls hochgradig mythologisierten deutsch-französischen Beziehun-
gen auseinander.2 Im Übrigen gab es an deutschen Hochschulen
nur extrem zersplitterte monodisziplinäre Frankreichanalysen.
Deutschland war auf die immer engere Verflechtung mit Frankreich
noch weniger vorbereitet als Frankreich auf die mit Deutschland.
Es galt also, den Themenzusammenhang Frankreichstudien in
Deutschland durch einen interdisziplinären Kooperationsverbund
neu zu konstituieren. Unter maßgeblicher Beteiligung von Hans
Manfred Bock bildete sich am Deutsch-Französischen Institut Lud-
wigsburg3 der ıArbeitskreis sozialwissenschaftliche deutsche Frank-
reichforschung„, der seit 1987 das Frankreich-Jahrbuch herausgibt.4
Bock selbst begründete an der Gesamthochschule (heute Universi-
tät) Kassel den dortigen Schwerpunkt für Frankreichstudien und
deutsch-französische Beziehungen.
Die enge partnerschaftliche Zusammenarbeit und der freund-
schaftlich kritische Dialog über Bedeutung und Entwicklung
deutsch-französischer Verflechtungen und Wechselbeziehungen
ging in diesem Rahmen weiter. Über den unmittelbaren Anlass hin-
aus betraf er die ständige Reflektion über und das aktive Einwirken
auf die Entwicklung deutsch-französischer Beziehungen in einer sich

2 Wegweisend hierfür Gilbert Ziebura: Die deutsch-französischen Beziehungen seit


1945. Mythen und Realitäten, 2. Aufl., Stuttgart 1997.
3 Zur Entwicklung des Instituts s. Hans Manfred Bock (Hg.): Projekt deutsch-französi-
sche Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Franzö-
sischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998.
4 Lothar Albertin u.a. (Hg.): Frankreich-Jahrbuch, Opladen seit 1987 jährlich.
213

immer enger verflechtenden Europäischen Union. Bock forderte


neue Fragestellungen anhand von Begriffen wie ıtransnationale Ver-
flechtung„ und ıZivilgesellschaft„. Als Dank und kleinen Beitrag
hierzu die folgenden skizzenhaften europäischen Meditationen.

Europäische Öffentlichkeit – ein virtueller Raum


Jeder Schritt zu mehr oder anderer Information und Interaktion
zwischen Angehörigen verschiedener europäischer Länder schafft
ein Stück europäische Öffentlichkeit: Chancen transnationaler Be-
gegnung über die Grenzen hinaus und Veränderung des Horizon-
tes, an dem sich Bewusstsein und Verhalten orientieren. Wachsende
internationale und europäische Verflechtung bewirkt also einen
ıStrukturwandel der Öffentlichkeit„, dessen Tragweite jedoch bisher
kaum wahrgenommen wird.
Dies ergibt sich aus der Komplexität noch ungewohnter Phäno-
mene, die mit den Begriffen ıGlobalisierung„ und ıEuropäisierung„
höchst ungenau benannt, aber keineswegs beschrieben sind. Die
Blindheit für die real bestehende Multidimensionalität europäischer
Öffentlichkeit ist aber zum Teil auch dadurch bedingt, dass dieser
Begriff weithin durch eine normativ denkende politische Philoso-
phie und Politikwissenschaft besetzt ist.
Bis vor kurzem galt es als ausgemachtes Dogma, dass es eine
ıeuropäische Öffentlichkeit„ solange nicht geben kann, wie es we-
der einen normengerechten europäischen ıDemos„ noch eine aus
diesem Demos erwachsende originär europäische Demokratie gibt.
Mangels eines hinreichend klaren staatsähnlichen und demokrati-
schen Bezugsrahmens kann sich auch die auf einen solchen bezo-
gene europäische Diskursrationalität nicht entfalten. Es gibt nicht
das, was ıÖffentlichkeit„ im emphatisch normativen Sinne ermögli-
chen könnte. Wie soll man also erfassen, was es den eigenen
Grundannahmen nach in Europa, wie es heute ist, nicht geben kann?
214 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

Langsam allerdings versuchen Politikwissenschaftler wie Christine


Landfried aus diesem dogmatischen Zirkel auszubrechen. In einem
Diskussionsbeitrag The emergence of a European public sphere 5
zeigt sie, wie anlässlich der Debatten im Europäischen Verfassungs-
konvent sich in wichtigen nationalen Zeitungen eine Art der Bericht-
erstattung entwickelte, die nicht mehr national zentriert, sondern
europäisch orientiert war. Eine solche Europäisierung der natio-
nalen Diskurse kann folgenreicher sein als die nur kümmerliche
Entwicklung transnationaler europäischer Medien, die immer wie-
der an der Prädominanz nationaler Märkte und Wahrnehmungs-
muster scheitert.
Aber auch Christine Landfried beharrt auf einem normativen,
auf institutionalisierte europäische policy -bezogenen Ansatz: ıFor a
continuous interactive process between the general publics and the
political institutions it is important to have, on the one hand, general
publics that are open to actors representing a great variety of ideas
and interests and, on the other, European institutions in which deci-
sions are prepared by democratic communication. Political actors in
institutions will listen to the arguments coming from citizens in gene-
ral publics like media, political parties or organisations of civil so-
ciety only if the institutions possess democratic and communicative
structures.„6
Ähnlich argumentiert auch Jürgen Habermas in seinem Plädoyer
für eine europäische Verfassung.7 Sein gemeinsam mit Jacques
Derrida aus Anlass des Irak-Krieges veröffentlichter Aufruf europäi-

5 Christine Landfried: The emergence of a European public sphere, Paper presented at


the Arena Workshop „One EU – Many Publics”, bisher unveröffentlicht. Der theoreti-
sche Grundansatz ausführlicher in Christine Landfried: Das politische Europa. Diffe-
renz als Potential der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden 2004.
6 Landfried: European public sphere, a.a.O., S. 3.
7 Jürgen Habermas: Why Europe needs a Constitution, in: Erik Oddvar Eriksen, John
Erik Fossum, Agustín José Menéndez (Hg.): The Chartering of Europe, Baden-Baden
2003, S. 266f.
215

scher Intellektueller,8 der mit Artikeln ähnlich prominenter Autoren


in La Repubblica, der Neuen Züricher Zeitung, der Süddeutschen
Zeitung, in El País und La Stampa verbunden war, ist dagegen sehr
viel direkter. Sein Appell spricht unmittelbar das an, was Christine
Landfried als ein spezifisches ıgeneral public„ bezeichnet.9 Europäi-
sche Identität soll aus europäischer Wertegemeinschaft in Abgren-
zung von den USA entstehen. Angesichts der Zersplitterung der Eu-
ropäischen Union gerade in dieser Frage und damit des Fehlens
konkret greifbarer Ansprechpartner ging allerdings auch der Appell
der Intellektuellen zumindest zunächst scheinbar ins Leere.
Auf einer anderen Ebene ist es symptomatisch, dass internatio-
nale angelsächsische Zeitungen wie Financial Times und Internatio-
nal Herald Tribune, die auf global orientierte Zielgruppen ausge-
richtet sind, mehr und einflussreicher über Brüsseler Vorgänge be-
richten als die Korrespondenten original europäischer Länder.
Bestätigt dies, dass es mangels befriedigend strukturierter euro-
päischer Demokratie auch keine relevante europäische Öffentlich-
keit gibt? Gerade der Irak-Krieg hat gezeigt, dass angesichts ge-
meinsamer internationaler Herausforderungen nationale Öffentlich-
keiten Emotionen und Reaktionen entwickeln können, die in den
verschiedenen europäischen Ländern ähnlich gelagert sind, auch
wenn sie im Rahmen der Europäischen Union zu durchaus kontro-
versen Einstellungen führen. Die Haltungen Englands und Polens,
Deutschlands und Frankreichs und der Wechsel in Spanien sind
Teil einer europäischen Auseinandersetzung zwischen Regierungen
und Nationen und innerhalb derselben unter teilweise dramatischer
Beziehung auf das Ganze. Auch wenn es nur in noch schwacher
Form eine policy-orientierte Handhabe für integrierte europäische
Außen- und Sicherheitspolitik gibt, nimmt doch das Bewusstsein für

8 Jacques Derrida, Jürgen Habermas: Unsere Erneuerung, in: Die Zeit, 31.5.2003, S. 33.
9 Landfried: European public sphere, a.a.O., S. 9.
216 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

Interdependenz zu. Die Ukraine geht alle an, das Weltbild in den
Köpfen verändert sich und hat Auswirkungen auf gesellschaftliches
und politisches Verhalten.
Es empfiehlt sich deshalb, die Frage nach europäischer Öffent-
lichkeit aus der zu engen Bindung an normative und demokratie-
theoretische Fixierungen zu befreien. Geschichte lehrt, dass es Öf-
fentlichkeit durchaus auch ohne klare demokratische Bezugspunkte
geben kann. Dies gilt insbesondere für so multidimensionale Räume
wie das sich ständig verändernde Europa.
Einen radikalen Angriff auf die an nationalstaatlichen Mustern
orientierten Paradigmata gängiger Europaanalyse führt in diesem
Sinne Ulrich Beck in einer ganzen Serie von neuen Publikationen.10
Am drastischsten kritisiert er sein eigenes, für unsere Fragestellung
wichtiges Fach, die Soziologie. Besonders auffällig ist das Versagen
der Soziologie gegenüber Europa. Sie hat ihr Instrumentarium aus
der Analyse nationaler Gesellschaften entwickelt, und da es in die-
ser Form zur Analyse der europäischen Gesellschaft wenig geeignet
ist, zieht sie den Schluss, dass es offenbar überhaupt keine europäi-
sche Gesellschaft gibt, die der Rede wert ist. Die neuen Formen
transnationaler Verflechtung können in Gewicht und Bedeutung
nicht wahrgenommen werden: ıDer methodologische Nationalismus
der Sozialwissenschaften wird erstens historisch falsch, und zweitens
blendet er die komplexen Wirklichkeiten und Interaktionsräume
Europas aus. Mit einem Wort: Er ist und macht europablind.„11
Beck entwickelt ein neues Paradigma und analysiert Europa als
ıkosmopolitisches Empire„. Kosmopolitismus der kommunikativen

10 Ulrich Beck, Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa, Frankfurt 2004; Ulrich Beck:
Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt 2004; Ulrich Beck und
Christoph Lau: Entgrenzung und Entscheidung, Frankfurt 2004. Siehe dazu auch
Robert Picht: Europa – ein kosmopolitisches Empire? Ulrich Becks reflexive Moderni-
sierung schreitet voran, in: Merkur (2005), Nr. 669, S. 59ff.
11 Beck, Grande, a.a.O., S. 34.
217

Öffnung, des Annehmens von Interdependenzen in einer sich an


den gemeinsamen Interessen orientierenden Einbeziehung des
Fremden ist für Beck und Grande etwas anderes als Multikultura-
lismus oder postmoderne Unverbindlichkeit. Obwohl dieser euro-
päische Kosmopolitismus ısich auf ein Gerüst von verbindenden
und für alle verbindliche Normen„ stützen muss, ımit deren Hilfe
ein Abgleiten in einen postmodernen Partikularismus verhindert
werden soll„,12 ist er doch nicht einfach universalistisch. Er sucht für
die Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Staaten das für
Europa so entscheidende Sowohl-als-Auch. ıWährend Universalis-
mus und Nationalismus (aber auch der vormoderne, essentialisti-
sche Partikularismus) auf dem Prinzip des Entweder-Oder basieren,
beruht der Kosmopolitismus auf dem Prinzip des Sowohl-als-Auch.
Das Fremde wird nicht als bedrohlich, desintegrierend, fragmentie-
rend, sondern als bereichernd erfahren und bewertet.„13
Für ein Gebilde wie Europa ist ein solcher zugleich reflexiver
und aktiver Umgang mit der Vielfalt der Kulturen, Traditionen und
Interessen in der Verflechtung der Nationalstaaten lebenswichtig. Er
schafft Vertrauenskapital. ıKosmopolitismus [⁄] heisst nicht Altru-
ismus, nicht Idealismus, sondern Realismus, genauer: reflektiertes
Eigeninteresse von Transnationalstaaten. Dieses kann wiederum als
ein Beispiel für die innere Kosmopolitisierung des Nationalen gele-
sen werden.„14
Im Prozess der Integration verspricht ein solcher Kosmopolitis-
mus für Europa wie für seine Nationen Machtgewinn, interaktive
Zwänge und Kontrollen und, ganz entscheidend, transnationale
Lernprozesse, in denen sich die gemeinsamen Interessen heraus-
schälen. An einer Fülle von Beispielen zeigen Beck und Grande wie

12 Ebd., S. 28f.
13 Ebd., S. 27f.
14 Ebd., S. 130.
218 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

mächtig de facto das scheinbar institutionell so schwache Europa ist,


Empire sui generis. Seine Ausstrahlung und Attraktivität beruhen in
erheblichem Maße auf einer kulturelle Vielfalt umfassenden und
nach außen offenen Wertegemeinschaft.
Auch Ulrich Beck setzt in seiner multiformen Europaanalyse auf
konstitutionelle Elemente gemeinsamer Normen und Regeln. Diese
sind aber mehr in den neuen Formen kultureller, sozusagen hori-
zontaler Interaktion zwischen den europäischen Nationalgesellschaf-
ten zu suchen als in der Fixierung auf eindeutige europäische Insti-
tutionen. ıErstens werden die nationalen Besonderheiten nicht an-
nuliert, sondern anerkannt; mehr noch, sie stiften europäische Iden-
tität. Zweitens aber setzt dieses Prinzip der Duldung und gegenseiti-
gen Anerkennung nationaler Besonderheiten die Verständigung auf
einen Grundbestand an gemeinsamen prozeduralen und substantiel-
len Normen voraus, durch den sichergestellt wird, dass die nationa-
len Eigenheiten ,europaverträglich sind.„15
Damit verändern sich in einer Fülle von Interaktionsprozessen
diese Besonderheiten im europäischen Verbund und führen zu ei-
ner Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender beabsichtigter und un-
beabsichtigter Transformationen der europäischen Gesellschaften,
also in ihrem Verbund zu einer komplexen europäischen Gesellschaft
mit der ihr eigenen Form von multidimensionaler Öffentlichkeit.
Auch wenn es fraglich ist, inwieweit man – bei aller Zustimmung
zu den Werten der Verständigungsbereitschaft und Solidarität – den
BeckÊschen Optimismus einer zweiten Aufklärung teilen kann, wird
durch seinen radikalen Versuch, Europa neu zu denken, für unser
Thema eines deutlich. Europäische Öffentlichkeit gibt es nicht ein-
fach, sie entsteht immer dann, wenn Einzelne oder Gruppen bereit
sind, über ihre Grenzen hinauszugehen und sich auf bisher anderes
oder Fremdes einzulassen. Europäische Öffentlichkeit hat insofern

15 Ebd., S. 137.
219

einen ausgesprochen aktiven Charakter und vollzieht sich in einer


Vielzahl von Interaktionen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Sie
ist in ihrer Entwicklung ein genutztes oder ungenutztes, aber ständig
wachsendes Potential. Sie ist ihrem Wesen nach virtuell und muss
überall dort gesucht werden, wo Europäer aufeinander treffen oder
sich in der Begegnung mit außereuropäischen Partnern und Gege-
benheiten ihrer vertrackten europäischen Identität bewusst werden.
Ist dies neu?

Lateinisches Mittelalter, République des Lettres


und die Beziehungen zwischen Nationalstaaten –
europäische Öffentlichkeit vor der EU
Es wäre zu einfach und würde den Begriff der europäischen Öffent-
lichkeit zur Bedeutungslosigkeit aufweichen, wenn man ihn einfach
mit europäischer Kultur gleichsetzen wollte. Die Grundlagen von
Öffentlichkeit, die schließlich auch von politischer Bedeutung sein
können, entwickeln sich dann, wenn das entsteht, was Talcott
Parsons einst als shared meaning bezeichnet hatte. Wenn sich dieses
zu einem konsistenten core system verdichtet, sind die Vorausset-
zungen zu einer tragfähigen menschlichen Gemeinschaft geschaffen.
Dieses shared meaning gemeinsamer Orientierung bis hin zu
Elementen von Wertegemeinschaft und geteilter Identität entsteht
nicht nur durch direkt auf policy bezogenen Diskurs, sondern über-
all dort, wo durch Religion, Kultur, Austausch von Waren und
Menschen, durch gemeinsame Erfahrung von Bedrohung und In-
teresse das entsteht, was die Angelsachsen mit einem weisen Begriff
common ground nennen. Shared meaning ist also keineswegs ab-
hängig von der Existenz eines gemeinsamen politischen, idealiter
demokratischen Systems, sondern ist die Voraussetzung dafür, dass
ein solches entstehen kann. Revolutionen sind kulturell, bevor sie
politisch werden können. Common ground kann auch innerhalb
220 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

und zwischen Gesellschaften bestehen, die keineswegs im moder-


nen Sinne demokratisch sind.
So gesehen beruht das, was wir heute unter europäischer Öffent-
lichkeit verstehen sollten, auf der langen Geschichte Europas in
vornationaler Zeit. Aus der Sicht der longue durée bilden Europas
Nationalstaaten und ihre gegenseitige Abschottung und erneute
Öffnung eine relativ kurze Periode einer langen Entwicklung. Der
Boden transnationaler Verständigung in Europa ist nicht der Natio-
nalstaat mit seiner auf das Nationale hin stilisierten Geschichte. Er
ist viel älter und enthält gemeinsame Elemente, auf die sich die na-
tionalen Traditionen in unterschiedlicher Weise beziehen. Das alte
Europa ist umfassender und stärker als es die nationalstaatliche
Verengung des Horizonts wahrhaben will. Seine Spurenelemente
sind auch dann wirksam, wenn sie halb vergessen sind, oder man es
aus Unsicherheit und politischer Korrektheit nicht mehr wagt, sich
auf die gemeinsame Geschichte zu berufen.
Shared meaning bedeutet keineswegs konforme Übereinstim-
mung. Die Geistesgeschichte Europas ist vielmehr eine Abfolge
ständiger Infragestellung. Geistige, unternehmerische und politische
Unruhe ist geradezu ein Kennzeichen europäischer Identität. Eu-
ropa ist gewachsen durch seine Konflikte, die gerade auch im Eklat
shared meaning als gemeinsame Erfahrung erzeugen. Wenn Europa
zu einer gewissen Einheit zusammenfand, hatte diese immer einen
geistigen Horizont.
In seinem Versuch, die Langzeitentwicklung Europas als ganze
zu erfassen, macht Krzystof Pomian diese dialektische Bewegung
zwischen Einigung und Spaltung geradezu zum Bewegungsprinzip
europäischer Geschichte: ıDie Geschichte Europas ist die Ge-
schichte seiner Grenzen. Und seiner Inhalte, die ihm durch Taten
und Worte aufgezwungen wurden. Es ist auch die Geschichte der-
jenigen Kräfte, die – bewußt oder unbewußt – auf die Vereinigung
221

eines ursprünglich zerstückelten Raums hingearbeitet haben; wie


auch derer, die in die Gegenrichtung wirkend, zerstörten, was jene
geschaffen hatten. Es ist also eine Geschichte der Konflikte.„16
Für Pomian sind die Phasen europäischer Einigung primär kultu-
rell, Perioden also, wo der gemeinsame Horizont europäischen
Denkens und europäischer Spiritualität überwog. Pomian sieht die
erste europäische Einheit im lateinischen Mittelalter mit seiner Er-
neuerung der Kultur der Eliten, die zugleich eine gemeinsame
Rückkehr zu den Quellen des Glaubens ermöglichte.17 Nach den
Wirren der Reformation und der Religionskriege sieht er die zweite
europäische Einigung in der République des lettres, jener Kommu-
nikationsgemeinschaft der Intellektuellen und Höfe, die die Aufklä-
rung vorantrieb.18 Pomian lässt im 1990 geschriebenen Nachwort
seines Buches offen, ob wir bereits tatsächlich eine dritte tragfähige
Vereinigung Europas erreichen. ıWelche Lektionen Europa zu ler-
nen hat, ist klar: Sein schlimmster Feind ist der nationale, staatliche
und ideologische Partikularismus, das heißt die selbstgewählte Aut-
arkie oder der Hegemonialanspruch wie immer er gerechtfertigt
werden mag.„19
Betrachtet man Europa in der Epoche der Nationalstaaten und
ihrer gegenseitigen Beziehungen, sollte man bei aller Präzision in
der Analyse bilateraler Wechselverhältnisse nicht aus dem Auge
verlieren, dass gerade bei den Eliten und den Intellektuellen die
Horizonte der früheren Vereinigungen Europas fortbestehen. Auch
in Zeiten extremer Glaubensspaltung gab es immer einen gemein-
samen theologischen und philosophischen Bezugsrahmen, auf den
sich die Auseinandersetzungen bezogen. Auch der schärfste Skepti-
zismus bezog sich auf das, was er in Frage stellte.

16 Krzystof Pomian: Europa und seine Nationen, Berlin 1990, S. 7.


17 Ebd., S. 32ff.
18 Ebd., S. 51ff.
19 Ebd., S. 144.
222 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

Jede Geistesgeschichte Europas zeigt, dass der geistige Austausch


selbst in Konstellationen schroffen politischen Konflikts weiterging.
Die deutsch-französischen Beziehungen sind hierfür ein schönes
Beispiel. Nicht ohne Grund war Kant der offizielle Philosoph der
Dritten Republik und übersetzte George Mallarmé. Allerdings ist es
irreführend, die Analyse solcher Wechselbeziehungen auf den bila-
teralen Austausch zwischen Nationen zu begrenzen. In allen Biblio-
theken standen auch englische, russische und italienische Bücher.
Griechisch, Latein und die Naturwissenschaften waren common
ground des gebildeten Europa. Im kulturellen Austausch und in der
intellektuellen Auseinandersetzung gab es auch in den Zeiten des
Nationalstaats und nationalistischer Konfrontation eine europäische
Öffentlichkeit der Eliten. Es gab, wie Karl Deutsch gezeigt hat, ei-
nen regen Austausch von Waren und Informationen.20 Eng war die
Kommunikation zwischen den Fürstenhäusern und Führungseliten
der europäischen Staaten. Die Selbstzerstörung Europas im Ersten
Weltkrieg konnte sie allerdings nicht verhindern.21
So waren ıDeutsches„ und ıFranzösisches„ jeweils Teil eines
persönlichen, gesellschaftlichen und auch nationalen kulturellen
Universums, aus dem die Aufmerksamkeit für bestimmte Themen
und Aspekte ihren Sinn bezog. Der jeweils eigene Horizont konnte
den ursprünglichen Sinngehalt der aus der anderen Kultur über-
nommenen Elemente erheblich verändern. Dies schuf unterschied-
liche Rezeptions- und Verarbeitungsbedingungen für kulturelle Ein-
flüsse, die eine der Ursachen für die bis heute so überraschende
Ungleichzeitigkeit intellektueller Strömungen und Moden in den
verschiedenen Ländern Europas bildet.

20 Karl W. Deutsch: Transnational communications and the international system, Berlin


1978.
21 Beeindruckend dargestellt in Barbara Tuchman: Der stolze Turm: ein Porträt der
Welt vor dem Ersten Weltkrieg 1890-1914, München 1969 und dies.: August 1914,
Bern 1964.
223

Paradoxerweise waren und sind es gerade die Bildungssysteme,


die durch Kanonbildung, durch die Einübung bestimmter Denk-
und Darstellungsformen und durch die, wie Pierre Bourdieu immer
wieder gezeigt hat,22 bildungsgesteuerte Reproduktion von sozialen
Hierarchien, Prestigeformen und Beziehungssystemen die kulturelle
Unterschiedlichkeit europäischer Nationen herausgebildet und ver-
festigt haben. Gerade die Bildungssysteme haben erhebliches dazu
beigetragen, das Bild anderer Länder und die Einschätzung ihrer
Kulturen zu verformen.23 In nationalistischer Verkrampfung werden
diese geradezu zu Vexierspiegeln, die einem im deformierten
Fremden doch nur die Karikatur des angeblich Eigenen entgegen-
halten.
Europäische Öffentlichkeit im Sinne der aktiven Interaktion zwi-
schen Ländern und Kulturen hat es also immer selbst in der verzerr-
testen Form gegeben. Wieweit sich daraus allerdings shared mea-
ning, geschweige denn ein tragfähiges core system gemeinsamer
Orientierungen ergeben konnte, muss jeweils genau im Systemzu-
sammenhang des Weltbildes von Individuen und Gruppen unter-
sucht werden. Auch heute im Europa gewollter kultureller Vielfalt
ist das Kaleidoskop der Wechselspiegelungen zwischen Teilkulturen
die unweigerlich komplexe Form europäischer Öffentlichkeit.

22 Am theoretisch und für den internationalen Vergleich prägnantesten in Pierre


Bourdieu, Jean Claude Passeron: Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchun-
gen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart 1971.
23 Zur Anwendung dieser Fragestellung auf die französische Germanistik siehe Robert
Picht: Französische Germanistikstudenten, in: Hannelore Gerstein: Stipendiaten aus
Frankreich, DAAD-Forum 4, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 135ff.
224 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

Gesellschaftliche und kulturelle Interaktionen im


erweiterten Europa – auf dem Weg zur dritten
Vereinigung?
Die Schaffung und Erweiterung der Europäischen Union im Kon-
text rascher Globalisierung hat zu einer früher undenkbaren Ver-
mehrung der Informations- und Kontaktmöglichkeiten und des rea-
len Austauschs zwischen europäischen Ländern geführt. Mit überra-
schender Geschwindigkeit gliedern sich die ehemals kommunisti-
schen Länder Mittel- und Osteuropas in diesen Verbund ein. Ver-
flechtung, Interdependenz und folgenreiche gegenseitige Bindungen
wie der Euro haben eine Interessengemeinschaft geschaffen, deren
Tragweite noch kaum begriffen wird. Aus der Wirtschaftsgemein-
schaft ist auch dann eine Sozialgemeinschaft geworden, wenn unter
dem Vorwand der Subsidiarität das Soziale weitgehend den Natio-
nalstaaten vorbehalten bleiben soll.24
Aus der Fülle der Wechselbeziehungen entsteht also eine Vielfalt
von Teilöffentlichkeiten, die sich intensiv mit spezifischen Aspekten
europäischer Interdependenz beschäftigen und transnational mit-
einander kommunizieren. Auch kleine und mittlere Betriebe müs-
sen lernen, europäisch und international zu agieren. Das Europa der
Interessenverbände und Lobbyisten ist höchst lebendig und trägt
erheblich zur nationalen und europäischen Meinungsbildung bei.
Trotz aller Schwäche führen die europäischen Institutionen und
insbesondere das Europäische Parlament zu intensiver Interaktion
zwischen Politikern, Beamten und Experten aller Nationen. Euro-
päische Institutionen sind vor allem anderen eine Schule, die Be-
wusstsein und Verhaltensformen aller Beteiligten verändert. Glei-

24 Siehe dazu Robert Picht: Jenseits des Wohlfahrtsstaats: Brauchen wir einen europäi-
schen Gesellschaftsvertrag? Sozialpolitische Dilemmata der Europäischen Union, in:
Internationale Politik 60 (2005), Nr. 2, S. 108-114.
225

ches gilt für Protestbewegungen, die über die Grenzen gehen müs-
sen, um europäisch und global wirksam zu werden.25
Dieses Mosaik europäischer Teilöffentlichkeiten ist höchst dispa-
rat und in sich inkonsistenter und widersprüchlicher als traditionelle
nationale Öffentlichkeiten, da es mangels institutioneller Kohärenz
weniger zur permanenten Abgleichung der verschiedenen Perspek-
tiven und Interessen nötigt als der nationale Verbund. Diese Inko-
härenz wirkt aber auch auf die nationalen politischen Systeme zu-
rück, die in erheblichem Ausmaß ihre Autonomie verloren haben
und in ständig wachsendem Maß kaum begriffene europäische
Entwicklungen widerspiegeln, als dass sie selbstständig zu agieren
vermögen. Man könnte geradezu sagen, dass die auf Souveränität
bezogenen nationalen Öffentlichkeiten immer mehr zur Fiktion
werden. Auf nationaler wie auf europäischer Ebene verlangt das
vertrackte Verhältnis zwischen meinungsorientierter Öffentlichkeit
und europäisch verflochtener Realität unter sich rasch verändern-
den Verhältnissen eine kontinuierliche Anstrengung: die sich per-
manent erneuernde Aktion der Bewusstseinsbildung durch einen
Grenzen und Institutionen übergreifenden Dialog.
Gleiches gilt auch dort, wo im Bildungswesen durch Programme
wie ERASMUS für einen noch immer zu geringen Teil der Studen-
ten Gelegenheit zur persönlichen Erfahrung mit mehreren europäi-
schen Bildungssystemen gegeben wird. ERASMUS hat Europa
mehr verändert als viele politische Deklarationen zur europäischen
Identität. Evaluationen der Austauschprogramme zeigen aber auch,
dass die Kenntnis der besuchten Länder und das Verständnis für
die tieferen Dimensionen kultureller Unterschiede oft oberflächlich
bleibt.26 Veränderung der Denkmuster und die Fähigkeit zu interak-

25 S. hierzu beispielsweise die Studie von Eddy Fougier: Altermondialisme, le nouveau


mouvement d’émancipation?, Paris 2004.
26 S. Ulrich Teichler: Erasmus in the Socrates Programme: Findings of an Evaluation
Study, Bonn 2002.
226 Robert Picht: Aktionsfeld europäische Öffentlichkeit

tiver europäischer Öffentlichkeit entstehen erst dann, wenn die Ver-


gleichsfähigkeit aktiviert und an konkreten gemeinsamen Projekten
erprobt wird.
Die ıGeneration Erasmus„27 hat zwar durch Erfahrung gelernt
zwischen der Europe réelle und den Vexierbildern einer aus der
Ferne gesehenen Europe imaginaire zu unterscheiden; sie ist aber
oft nicht hinreichend geschult, um Perspektivenvielfalt und die ihr
zugrunde liegenden kulturellen Paradigmata zu durchschauen und
verhandelbar zu machen. Das Eigene vergleichend am Fremden zu
messen und weiterentwickeln zu lernen, ist seit den Scholaren des
Mittelalters, den Reisenden der Renaissance und den Philosophen
der Aufklärung zentrales Movens europäischer Kultur. Die aktive
Erschließung europäischer Öffentlichkeit ist wie eh und je ein Bil-
dungsprojekt.

27 S. dazu Robert Picht: Generation Erasmus. Zum Europabild junger Europäer, in:
Merkur (2004), Nr. 660, S. 306-315.
Teil 2:

Der Intellektuelle und der Mandarin in seiner Zeit


229

Si Non Flectere Superos…


Das Dilemma des Intellektuellen
am Beispiel der 1968er-Bewegung
Niels Beckenbach
230 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

Parabel
Freud hat in dem Sinnspruch Si non flectere superos Acheronta
movebo (kann ich die Götter nicht zwingen, überschreite ich den
Achero) eine Gefühlsspannung benannt, die in Tabubruch mündet.
Verweigern die Götter den Dienst, erweisen sich die Idealbildungen
als illusorisch, so sucht das gekränkte Selbst das Heil bei den Höl-
lenkräften. Die tiefen Wünsche lösen dort, wo sie in der Realität auf
unüberwindliche Grenzen stoßen, ıinfernalische„ Gefühle aus. Grö-
ßenphantasien und Erzwingungswünsche, wie sie z.B. in politischen
Utopien enthalten sein können, schlagen im Falle einer enttäu-
schenden Wirklichkeit um in ohnmächtige Wut, die wiederum ihre
destruktiven Ventile sucht. Wenn wir den Intellektuellen in der poli-
tischen und ästhetischen Kultur Europas als eine Schlüsselfigur an-
sehen – Michael Winock spricht von dem 20. Jahrhundert als dem
Jahrhundert der Intellektuellen – so gilt die hier angedeutete Dyna-
mik des Höllensturzes für keine andere Sozialfigur der Moderne so
sehr wie für ihn.
Allerdings ist der Intellektuelle auch ein Meister der Camou-
flage. Nach dem Scheitern der sozialistischen Utopie am Ende des
20. Jahrhunderts hat er an öffentlicher Glaubwürdigkeit und Über-
zeugungskraft verloren. Andere Auguren stehen bereit.

Ich will im vorliegenden Zusammenhang der Frage nachgehen,


wieweit innerhalb der 1968er-Bewegung tatsächlich eine Grenzlinie
zwischen emanzipatorischer Aufbruchsbewegung und dem ıdunk-
len Kontinent„ des Macht- und Größenwahns erreicht und tenden-
ziell überschritten wurde. Die Rolle der Intellektuellen in der
1968er-Bewegung und ebenso die Bedeutung dieser Bewegung für
die politische Kultur der Bundesrepublik sind vielleicht auch aus
diesem Grunde heute umstritten. Hatte sich in der bürgerschaftli-
chen Bewegung der achtziger Jahre zunächst ein positives Bild von
231

der damaligen Revolte durchgesetzt,1 so lässt sich neuerdings ein


Deutungswandel wahrnehmen. Es mehren sich die Anzeichen da-
für, dass dabei die Generationen-Variable an Einfluss gewinnt. Die
derzeitige Jugendgeneration steht beschäftigungsstrategisch gesehen
ante portas und sie trifft derzeit auf eine Generation ıim Sattel„, die
noch lange nicht weichen will. Es sieht ganz danach aus, als ob der
vormals existierende Sympathie-Konsens bezüglich der 1968er-
Bewegung heute tendenziell nur noch für diejenigen gilt, die diese
Bewegung vor etwa 30 Jahren initiiert und getragen haben. Die
gesellschaftliche Basis der intellektuellen Kultur erscheint heute
pluraler, weniger weltanschaulich gespalten und manichäisch, zu-
gleich aber auch beliebiger. Die Plethora der medialen Bilder bietet
für jeden das Programm seiner oder ihrer Wahl. Der intellektuelle
Gegenwartsdiskurs ist ıkaleidoskopisch„ zerstreut. Talk show und
Feuilleton ersetzen heute die stringente Zeitdiagnose. Aber ohne die
1968er-Revolte wäre der bürgerschaftliche Wandel in den achtziger
Jahren nicht denkbar gewesen. Deutschland hat in den letzten drei
Jahrzehnten als politische Kultur die Dämonen der ıWagneriani-
schen„ Zerquältheit, des Selbstmitleids und der autoritären Folgebe-
reitschaft in der Tendenz überwunden.
Eine angemessene Einschätzung der 1968er-Bewegung ist heute
eher eine Frage des Wissens als eine Weltanschauungsfrage. Blickt
man zurück auf die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse nach dem
Abschluss der Wiederaufbauphase in der Mitte der sechziger Jahre
– die sozial-liberale Entspannungspolitik, die Aussöhnung mit dem
westlichen Nachbarland Frankreich, die Pop-Revolution oder die
Modernisierungen in Wirtschaft und Bildung –, so steht die 1968er-
Revolte neben diesen Ereignissen als ein Element von Liberalisie-

1 S. etwa: Alain Touraine: Soziale Bewegungen: Spezialgebiet oder zentrales Problem


soziologischer Analyse? in: Joachim Matthes (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft?
Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt/M.
u.a. 1983.
232 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

rung und Emanzipation. Die bürgerschaftliche Kultur der siebziger


und achtziger Jahre, die Öffnung der mentalen Horizonte in Rich-
tung Toleranz und Pluralisierung, die Neugierde gegenüber dem
Nachbarlichen und eine tendenziell wachsende Einsicht in Schuld
und Verstrickung – die ıFähigkeit zu Trauern„ – verweisen insofern
auf komplexe Entwicklungspfade. Nur in zweierlei Hinsicht – näm-
lich bei der Überwindung des affirmativen Konsenses und der
Schweigespirale über die jüngere Vergangenheit und die Verwick-
lung der Kriegsgeneration in die Verbrechen des NS-Regimes sowie
bei der Kritik des amerikanischen Vietnam-Krieges hatte – und be-
hält – die 1968er-Bewegung wider alle reservationes der Nachgebo-
renen eine originär emanzipatorische Funktion. In der historischen
Rückschau behalten nahezu immer die Skeptiker Recht. Aber ohne
die leidenschaftlichen Wagnisse und die notwendigen Überspitzun-
gen des Demokratisierungsprozesses nach 1966 wäre die Bundesre-
publik heute nicht die lebbare Gesellschaft, als die sie von den
Nachbarn in Ost und West geschätzt wird.
Ich will im vorliegenden Zusammenhang schwerpunktmäßig ei-
ner anderen Frage nachgehen. Ebenso wichtig wie eine Wertung
der 1968er-Ereignisse erscheint mir heute ein adäquates Verständnis
für die mentalen Strukturen und Prozesse innerhalb der 1968er-Be-
wegung. Mich interessiert die Rolle des Intellektuellen als charisma-
tischer ıAkteur„ (Alain Touraine) in der politischen Kultur des ıro-
ten Jahrzehnts„ (Gerd Koenen). Auch diejenigen, die wie ich die
1968er-Bewegung als positives Schwellenphänomen für die politi-
sche Kultur der Bundesrepublik werten, müssen der Tatsache einer
latenten Gewalt in dieser Bewegung Rechnung tragen. Was in der
zweiten Hälfte der sechziger Jahre als anti-autoritäre Revolte und als
Aufbruch in ein freieres und selbstbestimmteres Leben begann, trug
nicht einmal ein halbes Jahrzehnt später bereits die Merkmale des
politischen Scheiterns: Fraktionierung und Dogmatismus, Dereali-
233

sierung und Größenwahn. Vor allem aber zog sich von der Brand-
stiftung der Gruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin im
April 1968 bis zu den suizidalen Aktionen in der Nacht vom 17./18.
Oktober 1977 und von dort noch anderthalb Jahrzehnte weiter eine
Spur der mörderischen Gewalt durch die Bundesrepublik, deren
Ursachen und Begleitumstände m.E. nicht zu trennen sind von der
1968er-Bewegung. Hier liegt meine Fragestellung. Wie und wodurch
konnte dieser Umschlag vom Aufbruch in die destrudo geschehen
und welche Rolle weisen dabei die 1968er-Intellektuellen als legiti-
mierte Sprecher der Bewegung auf? Ich beschränke mich im fol-
genden auf wenige zentrale Thesen.

Der Intellektuelle als marginal figure der deutschen


Nachkriegskultur
In der Parole des sous les pavées, cÊest la plage aus dem französi-
schen Mai von 1968 (damals von anonymer Hand auf eine Häuser-
wand geschrieben) ist das Rousseausche Ideal evoziert vom nicht-
entfremdeten Subjekt, vom Menschen als Akteur in dem nach-
drücklichen Sinn des Wortes. Als sociabilité 2 hatte Denis Diderot in
der Encyclopédie eine Vision vom vergesellschafteten Menschen
skizziert, charakterisiert durch die Befreiung von Herrschaft und die
Entfaltung von Bildung und Gemeinsinn.3 Diderot und dÊAlembert
hatten das von ihnen vorgelegte Werk bezeichnet als Ouvrage
dÊune société des gens de lettres.4 Die Enzyklopädisten des 18. Jahr-
hunderts waren Vorläufer der Intellektuellen. In der Reaktualisie-

2 Art. Sociétée und socialité in: Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): En-
cyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Bd. VIII,
Paris 1751, S. 250ff.
3 Ebd. Im Einzelnen definiert Diderot Sozialität durch die Eigenschaften von Wechsel-
seitigkeit (Reziprozität), Universalität, Gemeinsinn und „relationale“ Gleichheit (Gleich-
heit der sozial Ähnlichen).
4 Ebd., S. I.
234 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

rung dieser aufklärerischen Motive unter anti -institutionellem Vor-


zeichen – gegen den Staatsapparat, gegen die Maschinerie von Ver-
waltung und Konsum, gegen den Kapitalismus und den Kolo-
nialismus – wurde das Ideal der socialité in der zweiten Hälfte der
sechziger Jahre unter utopischem Vorzeichen wieder aufgenommen.
Ausgehend von der Kritik des entfremdeten Menschen und der die-
sen Menschen prägenden gesellschaftlichen Verhältnisse sollte das
gesellschaftliche Individuum aus seiner konsumtiven Erstarrung er-
weckt und durch Agitation und Aufklärung dem Zustand der Mün-
digkeit auf der Höhe der Zeit ızugeführt„ werden.
Allerdings lag, wie wir heute wissen, diesem menschen-bildneri-
schen Projekt eine Mehrdeutigkeit zugrunde. Mit der Pflasterstrand-
Allegorie wird einerseits der Zustand einer originären sociabilité
evoziert, verborgen unter dem Beton des Bestehenden und freizule-
gen durch die zu entwickelnde alternative Praxis. Die Anthropolo-
gie des jungen Marx wirkte hier inspirierend. Herbert Marcuse
zielte mit dem mythologischen Bild des Orpheus auf eine Synthese
zwischen der Entwicklung industrieller Produktivkräfte und einer
den neuen Bildungsschichten zugeschriebenen hedonistischen Mo-
ral.5 Der Wandel von der war generation zu der 1968er-Generation
erschien als aussichtsreich für diese Vision vom ıallseitig„ entwickel-
ten – in der französischen Diktion: vom ıpolyvalenten„ – Indivi-
duum der erwarteten Dienstleistungsgesellschaft. Blickt man ande-
rerseits auf die Situation des europäischen Intellektuellen in den
fünfziger Jahren, so ergibt sich noch eine zweite Realitätsschicht.
Sous les pavées, unterhalb dem dünnen Firnis der Nachkriegszivili-
sation ılauerten„ die Ungeheuer der Tiefe, den Ungeheuern in der
Hobbesschen Bildersprache vergleichbar. Die Intellektuellen hatten
sich auseinander zu setzen mit dem neuen Leviathan (Pierre

5 Herbert Marcuse: Eros and Civilization. A Philosophical Enquiry into Freud, New
York 1955, S. 144ff.
235

Naville), der entstanden war durch die Deformation des Sozialismus


unter Lenin und Stalin. Die Spaltung der Welt in zwei feindselig
entfremdete Blöcke ließ das apokalyptische Szenario eines dritten
Weltkrieges entstehen. Und der Konservatismus in der westlichen
Führungsnation, den USA, ließ für visionäre Projekte jenseits der
etablierten Konsumkultur nur wenig Raum. Im geteilten Deutschland
dominierte ähnlich wie in den USA das Schwarz-Weiß-Denken des
Kalten Krieges. Eine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit hatte
weder in der Bundesrepublik noch in der DDR stattgefunden.
Anders als in Frankreich, wo der Barrikadenbau im Mai 1968
die revolutionären Traditionen von 1789 und 1831, von 1848 und
1871 wieder wachrief und wo die Intellektuellen durch die Dreyfus-
Affäre gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Säule des republi-
kanischen Konsenses geworden waren, standen die Intellektuellen
im geteilten Nachkriegs-Deutschland vor den Trümmern des ıZwei-
ten dreißigjährigen Krieges„.6 Eine durch Liberalität und Dis-
kurskompetenz gekennzeichnete Öffentlichkeit wie im Falle Frank-
reichs hatte im Nachkriegs-Deutschland keine Tradition und sie
blieb im Zwiespalt zwischen verdrängter Vergangenheit und wirt-
schaftlicher Tüchtigkeit sozusagen auf halbem Wege stecken. Die
Wirtschaftsgesellschaft der Bundesrepublik hatte für utopische Ent-
würfe keine Zeit. Die Kulturanalysen von Jost Hermand7 oder von
Hermann Glaser8 zeigen, dass die Intellektuellen in der Bundesre-
publik in dem common sense der eher als ırobust„ zu bezeichnen-
den Wirtschaftsmentalität ein schmales Inseldasein fristeten – an
Rundfunkhäusern, im Feuilleton der großen Tageszeitungen oder in
der politischen Publizistik. Die ıaußerparlamentarische Opposition„

6 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4. Bd., München 2003; s.a.


ders.: Der zweite dreißigjährige Krieg, in: Der Spiegel 8/2004.
7 Jost Hermand: Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945-1965,
München 1986, S. 200ff.
8 Hermann Glaser: Deutsche Kultur 1945-2000, München u.a. 1997.
236 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

benötigte Idole. Die Anthropologie des jungen Marx, die hedonisti-


schen Ideen Marcuses und der kritische Diskurs der ıFrankfurter
Schule„ erschienen als theoretische Fundamente der 1968er-Revolte
geeignet. Aber sie allein konnten den charismatischen Zündfunken
nicht liefern. Und hier kommt das Problem der Gewalt in den Blick.
Ich diskutiere diesen Punkt zunächst anhand eines Vergleichs der
Intellektuellen in der DDR und der Bundesrepublik.

Intellectuel oder Intelligentsia


Zum 20. Jahrestag der Gründung der DDR im Oktober 1969 wurde
im Staatsverlag Dietz ein Geschenkband herausgegeben, der dann
in einem Festakt beim Staatsrat an die Staatsführung übergeben
wurde. In diesem sorgfältig aufgemachten Band war zu lesen, dass
in der DDR ein neues Zeitalter angebrochen sei.9 Die Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen sei für alle Zeiten beendet. Die
Arbeiterklasse und ihre Lenkerin, die Partei, seien nun auf dem
Weg, eine friedliche und glückliche Zukunft aufzubauen. Beim Le-
sen dieser Zeilen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Au-
toren dieser DDR-Festschrift ernsthaft davon überzeugt waren, dass
das goldene Zeitalter des Sozialismus unmittelbar bevorstehe. Als
ich nach dem Zusammenbruch der DDR Intellektuelle – die offi-
zielle Berufsbezeichnung lautete ıwerktätige Intelligenz„ – danach
befragte,10 wodurch diese wohl auch für die damalige Zeit bereits un-
realistische Feststimmung begründet gewesen sein dürfte, schilderte
mir mein Gesprächspartner – er gehörte einem von Manfred Lötsch
geleiteten Forschungskollektiv über ıIntelligenz und Arbeiterklasse„

9 Staatsrat der DDR (Hg.): Die Deutsche Demokratische Republik. Festgabe zum 20jäh-
rigen Bestehen, Berlin 1969.
10 Es handelte sich dabei um Soziologen und Philosophen, die als Lehrende für das an
allen Universitäten obligatorische Studienfach Marxismus-Leninismus tätig waren.
Der im folgenden zitierte Gesprächspartner hatte eine Professur für marxistische
Philosophie an der Technischen Hochschule in Ilmenau inne.
237

an – das intellektuelle Milieu, in dem er aufwuchs und in welchem


er gleichsam ıherangezüchtet„ wurde.
Als Kind ıklassenfester„ Eltern sei er bereits im Alter von 12 Jah-
ren in eine Elite-Institution gekommen und dort zum marxistischen
Kader ausgebildet worden. Die ıZucht„ sei dort streng und die An-
forderungen seien in jeder Hinsicht – fachlich, disziplinär und auch
moralisch – extrem hoch gewesen. Stets habe man sich gegenüber
den Lehrerinnen und Lehrern für seine ıPrivilegien„ gegenüber
dem Rest der Bevölkerung rechtfertigen müssen. Kleinste Verstöße
gegen die strengen Regeln seien unnachsichtig und häufig auch
grausam bestraft worden. Als besonders belastend habe er den pe-
netrant moralisierenden und anklagenden Ton der Lehrerschaft
empfunden. Dahinter, soviel zeigte sich in den Gesprächen immer
wieder, stand das ıinquisitorische„ Misstrauen der Parteifunktionäre,
dass die geforderte Linientreue sowieso nie erreicht werde. Ständig
sei die Rede gewesen von der hohen Verpflichtung gegenüber dem
Kollektiv und der Partei. Als nichtswürdig und verdammenswert
habe die eigene Meinung gegolten, sofern diese auch nur ein Jota
von der Parteilinie abwich. Vor allem aber wurde er wie auch die
anderen Kandidaten der kommunistischen Elite mit einem durch-
dringenden Feinddenken ıgeimpft„ gegenüber allem, was sich jen-
seits der ıStaatsgrenze West„ befand. Es war eine Erziehung zum
Hass. Mehrere seiner Mitschüler hätten dem Druck nicht standge-
halten. Es habe auch einen Selbstmord eines Beteiligten gegeben.
Er selbst sei später als Hochschullehrer an der Peripherie im thürin-
gischen Ilmenau vergleichsweise wenig überwacht worden. Doch
immer dann, wenn die Veröffentlichungen der Forschungsgruppe
unter Manfred Lötsch nicht der Parteilinie entsprochen hätte, habe
die politische Reglementierung gegriffen. Dies sei etwa über die Pa-
pierzuteilung geschehen. Unliebsame Forschungsberichte, aufgelegt
in minimaler Stückzahl, seien in der Regel in den Bildungsinstitu-
238 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

tionen der DDR versickert. Allerdings sei von Seiten der For-
schungsgruppe eine wie auch immer geartete Kritik gegenüber dem
Machtzentrum der Partei niemals geäußert worden.
Die sozialistische Disziplin – perinde ad cadaver – war tief verin-
nerlicht. Sie war zu einer ızweiten Haut„ angewachsen. Das Modell
der sozialistischen intelligentsia hatte sich unter Lenin, Stalin und
seinen Nachfolgern ıentpuppt„ als ein Drachenhaupt der auf sich
selbst zentrierten Macht, nach unten hin abgepuffert durch ideologi-
sche Indoktrination, durch engmaschige Überwachung und vor al-
lem durch drakonische Abstrafung auch der geringsten Abwei-
chung von der proklamierten Norm. Nicht alle von mir befragten
DDR-Intellektuellen sind derart ıspartanisch„ diszipliniert und in-
doktriniert worden wie der hier erwähnte Hochschullehrer. Inge-
nieure aus der Automobilproduktion in Eisenach berichteten mir
von Inkompetenz und Verantwortungsdelegation nach oben bis in
den Bereich des zuständigen Fachministeriums. Und dort habe man
im Zweifel auf die Vereinbarungen innerhalb des Comecon und die
Führungsautorität der Sowjetunion verwiesen. Die Bürgerrechtlerin
Freya Klier empfand rückblickend die Atmosphäre in dem DDR-
Regieinstitut, wo sie in den siebziger Jahren studierte, als vergleichs-
weise offen und liberal. Hinter vorgehaltener Hand wurde ihr
souffliert, man brauche eben auch das unangepasste Denken. Ein
ehemaliger Sicherheitsfachmann in den Leuna-Werken, der wegen
ıantisowjetischer Hetze„ mit dem für DDR-Verhältnisse exorbitant
milden Urteil von neun Monaten Straflager davongekommen war,
berichtet in einem Gespräch von einer fürsorglichen Warnung eines
höher gestellten Schichtleiters an seine Adresse in einem Gespräch
ıunter vier Augen„. Ähnlich äußerte sich mir gegenüber der
jüdische Kommunist Jürgen Kuczynski. Niemals, so sagte er mir in
einem filmischen Dokument, habe er seine Meinung offen geäußert
– außer in der eigenen Familie oder in der Situation ıunter vier Au-
239

gen„. Aber in allen Fällen setzte die dreifache Autorität der Partei
als moralische Oberhoheit, als Kontrollzentrum und – gegebenen-
falls – als strafende Instanz jeder auch nur denkbaren Variante von
eigenständigem Denken oder Handeln enge Grenzen. Die Angehö-
rigen der ıwerktätigen Intelligenz„ in der DDR waren willfährige
Dienstleister der Machtelite. Sie funktionierten – wie auch immer
mit innerlichem Vorbehalt – als Teil des zentralistischen Räder-
werks. Sie verbargen ihre Individualität so gut es ging in den Ni-
schen des Systems.
Die Intellektuellen in der Bundesrepublik suchten nach dem
Ende des konservativen Kompromisses gegen Ende der sechziger
Jahre ihre Position irgendwo zwischen kritischem Diskurs und
Avant-Garde. Avant-Garde bedeutet soviel wie die Vorhut einer
Bewegung auf der Suche nach dem Neuen. Die Avant-Garde lebt
von der Absetzung vom Massengeschmack. Der Unterschied zwi-
schen Avant-Garde und intellektuellem Wiedertäufertum liegt in der
Fähigkeit zur Symbolisierung. Die politische Avant-Garde in der
Bundesrepublik war nicht der ideologische Überbau einer herr-
schenden Partei. Während der antiautoritären Phase gegen Ende
der sechziger Jahre verbanden sich die Strömungen der Pop-Kultur,
der Hippie- und Antikriegsbewegung und des Existentialismus mit
den eher asketisch orientierten Theorie- und Schulungsbewegungen
aus dem universitären Milieu zu einer offenen Protestbewegung. Im
Innern der Bewegung herrschte gegen Ende 1968 eine ıfröhliche
Anarchie„. Allerdings war damit die Konfrontation zur Bevölke-
rungsmehrheit quasi vorprogrammiert. In der Bundesrepublik fehlte
die Selbstverständlichkeit des kritischen Diskurses. In dem autoritä-
ren Konsens der Adenauer-Ära wurden abweichende Meinungen
und Verhaltensweisen schnell mit den Stereotypen belegt, welche
die Gründergeneration der Bundesrepublik aus der NS-Ära über-
nommen hatte.
240 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

Wo lag in der 1968er-Bewegung der Rubikon zwischen bürger-


rechtlichem Diskurs, sozialistischer Utopie und subkulturell-selbstge-
regelten Lebensformen auf der einen und dem furor der Hassgewalt
auf der anderen Seite? Häufig wird diese Frage so gestellt, als habe
im wesentlichen ein reaktives Verhalten der 1968er-Bewegung der-
art vorgelegen, dass auf die Übergriffe des Staatsapparates und die
Hasstiraden der Springer-Zeitungen nur mit legitimer Gegengewalt
zu begegnen sei. Eine solche Argumentation ist punktuell be-
rechtigt, aber sie bleibt vordergründig und sie hat meistens eine ent-
lastende Funktion. Ich möchte im vorliegenden Zusammenhang
eine andere These entwickeln. Es lässt sich zeigen, dass die imagi-
nären Strukturen in Argumentation und Programmatik der 1968er-
Bewegung neben den emanzipatorischen Elementen bereits früh-
zeitig eine zweite Linie enthielten.
Die Avant-Garde innerhalb der Bewegung profilierte sich vor al-
lem durch Radikalität. Dies bedeutete gesteigerte und immer wieder
gesteigerte ıRevolutionierung„ in Wort und Tat. Mit der Transfor-
mation der Kritik von den symbolischen Orten des Diskurses und
der provokativen Inszenierung hinein in die reale Politik mutierte
das 1968er-Projekt von der experimentellen Praxis zur Konfronta-
tion. Jenseits der Linie einer fröhlichen Anarchie lag das ebenso fas-
zinierende wie unvertraute Terrain des Kampfes um die politische
Macht. Und in dieser Aura blühten alsbald die Phantasmen. Die
russische intelligentsia um Lenin und Trotzki hatte diese Linie über-
schritten durch Propagierung des militärischen Aufstands. Lenin
hatte den Avant-Garde Begriff von der Kunst auf die Politik über-
tragen. Die von ihm und seinen Mitstreitern gegründete ıPartei
neuen Typs„ konstituierte sich als politischer Orden – allumfassend
und unfehlbar für die Anhänger, tödlich für ıKlassenfeinde„ und
Dissidenten. Die Partei-Intellektuellen in der DDR oder die Anhän-
ger von DKP und SEW bzw. deren Ableger in der Friedensbewe-
241

gung waren bis zum 9.11.1989 eingeschworen auf die Führungsrolle


der kommunistischen Partei unter Führung der Sowjetunion. Hier,
in dem von den Sprechern der 1968er-Bewegung eher erahnten als
wirklich durchschauten Übergang von der utopischen Rhetorik zur
ıTat-Logik„, lag nach meiner Vermutung nachweisbar die Scheide-
linie, der Acheron zwischen dem intellectuel nach französischem
Vorbild und der Intelligentsia des kommunistischen Typs. Die
Sprecher der 1968er-Bewegung haben mit dem furor dieser Tat-
Gewalt leichtfertig gespielt. Die Gruppe um Andreas Baader,
Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof hat mit diesem Tat-Phantasma
Ernst gemacht und den Acheron der Gewalt überschritten.

Der Marsch in die Destruktion


Von Gramsci11 stammt die These, dass der Intellektuelle ıorga-
nisch„ mit dem jeweiligen sozialen Substrat verbunden sei, dem er
durch Herkunft oder berufliche Tätigkeit angehört. Die Intellektuel-
len seien die Träger und Gestalter des Denkens und des Vorstellens
innerhalb des jeweiligen Sektors von gesellschaftlicher Reproduk-
tion – Produktion und Werbung, Medien und Unterhaltung, Ver-
bände und Politik. Je nach vorherrschender Tendenz (ıHegemonia-
lität„) seien dabei eher system-stabilisierende oder kritisch-verän-
dernde Praxen möglich. Gramsci vertritt hier eine Gegenposition zu
der Lehre von Karl Mannheim von der ıfreischwebenden„ Intelli-
genz und in einem gewissen Sinn auch gegenüber der ıSeismogra-
phen„-These von Lenin.
Bezogen auf die Akteure der 1968er-Bewegung drückt die Theo-
rie Gramscis die damalige Wunschhaltung aus. Mannheims These
von der ıfreischwebenden„, also sozial ungebundenen Intelligenz
dagegen eignet sich präzise zur Charakterisierung der damaligen

11 Antonio Gramsci: Gefängnishefte 1, Berlin 1991, S. 387.


242 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

Situation. Ich möchte dies in aller Kürze am Modellfall Berlin ex-


emplifizieren. Die Intellektuellen in der 1968er-Bewegung ıschweb-
ten„ als eine mit der Bevölkerung nicht verbundene und von den
Machtträgern in Parteien und Verbänden mit Misstrauen und Aver-
sion beobachtete Gruppierung gleichsam über den politischen
Stimmungen in der Stadt. Sie erschienen den Berlinern als die
Gruppe, die nach dem Ende des Kalten Krieges nun eine neue Ära
des Bürgerkrieges anzufachen begann. Die Mentalität der Berliner
war geprägt durch zwei Jahrzehnte der leidvollen Erfahrung mit
dem kommunistischen Regime in der die Stadt ıumzingelnden„
DDR. Hinzu kommt die mentale Last einer verdrängten und ver-
leugneten Gewalt-Erbschaft aus der Zeit des NS-Regimes, deren
Implikationen durch Alexander und Margarete Mitscherlich trans-
parent gemacht worden sind. War es möglich, dass sich die Unfä-
higkeit zu trauern auch auf die Sprecher der Protestbewegung über-
tragen hatte? Hatten sich in den Werten der 1968er-Akteure unter-
gründige Motive von Rache, Vergeltung und Opfer eingeschlichen?
Und noch weitergehend: War es vorstellbar, dass die latente Ge-
waltsamkeit der Kriegsgeneration wie ein maligner Infekt in die Be-
wegung ıübersprang„ als Gewaltpotential unter antiimperialisti-
schem Vorzeichen?
Die hier angerissenen Fragen lassen sich im Zusammenhang die-
ses kurzen Essays nicht zureichend beantworten. Ich möchte im vor-
liegenden Zusammenhang verschiedene Quellen und unterschiedli-
che Linien in der Debatte über mögliche Potentiale von destruktiver
Gewalt im 1968er-Projekt unterscheiden. Ich bediene mich dabei
einer ısystemischen„ Argumentation. Es geht darum, wieweit ein
übergeordnetes politisch-kulturelles System externe Anstöße, seien
diese nun diskursiver oder protestativ-provokativer Art, aufnehmen
und in produktiver Weise, z.B. durch Binnendifferenzierung oder
durch kulturelle ıCodierung„, als Erweiterung des mentalen
243

Raumes und der kulturellen Überlieferung zu wenden vermag oder


ob diese Impulse kontrastiv abgedrängt werden im Sinne von
Tabuisierung oder Kriminalisierung mit der Konsequenz einer
Rigidisierung oder ıVersteinerung„ des übergeordneten Systems. In
der Gegenrichtung betrachtet stellt sich die komplementäre Frage,
wieweit – und falls ja, um welchen Preis – die Protest-Kultur das
Spannungsverhältnis zwischen Identitätsbehauptung und emanzi-
pativer Einwirkung auf das umgebende System aufrecht erhalten
kann oder nicht. Eine ıdissimilative„ Lösung bzw. eine tendenzielle
Autarkie der Oppositionskultur bedeutet in diesem Sinne eine
Tendenz der Dissoziation mit dem Effekt, dass aus dem Binnenkreis
der ıVerschworenen„ entweder ein gewaltsamer Umsturz der
umgebenden Ordnung versucht bzw. wie im Falle der russischen
Revolution von 1917 herbeigeführt wird oder dass die Gruppe an
der nach innen durchschlagenden destrudo zerbrechen muss.
Wendet man diese Modellbetrachtung an auf die damalige
Wirklichkeit, so zeigt sich in der West-Ost-Differenzierung wiede-
rum die Unterschiedlichkeit von kultureller Geltung, die ich oben
bereits anhand der Unterscheidung von intellectuel und Intelligent-
sia andeutete. Im Falle der französischen Entwicklung hatte sich
durch den langen historischen Vorlauf einer tendenziell ıdissentie-
renden„ Gruppe eine Meinungsführerschaft herausgebildet, deren
kritischer, aber durchaus nicht destruktiver Geist z.B. auch in den
künstlerischen Avant-Garden der zwanziger und dreißiger Jahren
wieder auflebte. Der Deutschland-Beobachter Pierre Viénot hat in
den zwanziger Jahren die Situation in der Weimarer Republik mit
dem Terminus incertitudes allemandes umschrieben.12 Viénot mein-
te damit eine Tendenz zu mentaler Ortlosigkeit und Desorientie-
rung, hin und her schwankend zwischen Harmonie- und Verge-

12 Pierre Viénot: Ungewisses Deutschland. Zur Krise seiner bürgerlichen Kultur. Neu
herausgegeben und eingeleitet von Hans Manfred Bock, Bonn 1999.
244 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

meinschaftungs-Sehnsucht, Selbstmitleid und Modernitätsangst, zwi-


schen Ressentiment und Erlösungshoffnung. Sous les pavées, gut
verborgen unterhalb der zivilisatorisch eingeübten Verhaltensmuster
im geteilten Nachkriegsdeutschland könnte sich, so lautet die hypo-
thetische Überlegung, ein Moment dieser kollektiven ıUnruhe„ er-
halten haben, welches durch die Avant-Garden der 1968er-Bewgung
wieder aktiviert wurde.
Die Hassreligion der Nationalsozialisten war möglich, sie wurde
bis zu einem gewissen Sinne sogar herausgefordert durch eine er-
wartungsvolle Stimmung innerhalb der deutschen Bevölkerung ge-
gen die Moderne, gegen den Westen und gegen die Juden als dem
vermeintlichen Sündenbock für die ıÜbel„ der Zivilisation. Dage-
gen speiste sich der kommunistische Leviathan aus einem weit ver-
breiteten Ressentiment gegen die Individualisierung, dem die Partei
und die von ihr gelenkten Führungsorgane ein grausames Regime
zumaßen. Aus den Wirren der Nachkriegsordnung hatte sich noch
eine dritte Gewaltströmung entwickelt. Mit den Volkserhebungen in
der nach-kolonialen Weltordnung nach dem Ende des 2. Welt-
krieges erschienen die nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika,
Asien und Lateinamerika in einem leuchtenden Licht. Die Vision
einer befreiten Gesellschaft schien durch die emanzipatorischen
Zielsetzungen legitimiert zu sein. Durch die Protestaktionen war bei
den Medien und den jugendlichen Anhängern gleichermaßen ein
hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit sichergestellt. Aber das
politische Charisma, die ideologischen Leitbilder und der ıideale„
Fluchtpunkt der Bewegung und ihrer Avant-Garde bedurfte einer
Idolisierung. Keine soziale Bewegung kann ohne ein utopisches
Motiv die Massen ergreifen.
Und genau diese Funktion erfüllte der Revolutionsmythos. Mit
ihm ließen sich die drei Desiderate – die Avant-Garde-Funktion der
Führung, die charismatische Bindung der Bewegung nach innen
245

und der ideologische Angriffsschwung nach außen – legitimieren.


Die protestative Bewegung, mit den aus der amerikanischen free
speech-Bewegung übernommenen Parolen zunächst bürgerrechtlich
orientiert, gewann mit dem Paradigma von der antikolonialen Revo-
lution ein Charisma, welches die politische Klasse erschreckte und
in den Medien für Aufmerksamkeit gegenüber den 1968ern sorgte.
Soweit waren die Bedingungen gegeben für eine Form von Avant-
gardismus, wo ähnlich wie in der Kunst des beginnenden 20. Jahr-
hunderts eine Idee die andere ıgejagt„ hatte bis schließlich ein all-
gemeiner ennui und die in der modernen Gesellschaft konstitutive
Kommerzialisierung zu einer ıNivellierung„ des vorher Unerhörten
geführt hatte. Aber es kam diesmal anders. Zwei Ursachen können
angeführt werden dafür, dass sich aus einer Bewegung des bürger-
schaftlichen Aufbruchs eine Spirale der Leidenschaften und der
Gewalt mit einer am Ende bürgerkriegsartigen Zuspitzung entwik-
kelte. So bewegte sich die politische Kultur der Bundesrepublik –
zunächst unter konservativem Vorzeichen und dann mehr und
mehr einvernehmlich zwischen den demokratischen Parteien –
westwärts im Sinne einer Ausdehnung individueller Freiheitsrechte
und Gestaltungsoptionen. Hierzu kontrastiv ıwanderte„ das politi-
sche Denken innerhalb der 1968er-Bewegungen in dem Maße ost-
wärts, wie die Aktionsbasis der Bewegung verbreitert und pro-
grammatisch vertieft wurde. So standen sich ıEntideologisierung„
und ıRe-Ideologisierung„ diametral gegenüber. Die ansteigende
Binnen-Solidarität innerhalb der 1968er-Bewegung hatte den politi-
schen Preis einer wachsenden Fundamentalspannung gegenüber der
umgebenden Kultur der Mehrheitsbevölkerung.
Eine Verschärfung dieser Systemspannung resultierte noch dar-
aus, dass es um die Chancen für diskursive Muster der Auseinan-
dersetzung zwischen Protestkultur und Bevölkerungsmehrheit denk-
246 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

bar schlecht bestellt war. Helmut Schelsky und seine Mitarbeiter13


hatten in ihren Untersuchungen über Sozialstruktur und Mentalität
der westdeutschen Bevölkerung in den fünfziger Jahren eine
Tendenz zur Nivellierung auf kleinbürgerlicher Basis ermittelt. An-
dere Autoren wie etwa Erich Kuby, Friedrich Sieburg oder Carl G.
Schmidt-Freytag ergänzten diesen Befund mit der These, dass sich
die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik an einen eng
auf wirtschaftliche Fragen begrenzten Konsens klammerte und jegli-
chen geistigen Höhenflügen offen ablehnend gegenüberstand. Je
mehr sich die zunächst reformerisch oder antiautoritär ausgerichtete
1968er-Bewegung unter dem Einfluss der Vietnam-Kampagnen in
Richtung einer anti-imperialistischen Avant-Garde radikalisierte,
umso mehr verhärteten sich die Fronten. Der Zwang zur Avant-
Garde innerhalb der 1968er, die fehlende Tradition im Umgang mit
Konflikt und Dissens innerhalb der Öffentlichkeit (die allerdings in
diesen Jahren auf eine harte Probe gestellt wurde) und die Spirale
des politischen Aktionismus wuchsen sich speziell in der Front-Stadt
Berlin aus zu einer politischen Aufladung mit verhängnisvollen
Konsequenzen. Hier lebte eine ausreichend große Zahl von Schul-
und Studienabbrechern, Wehrdienstverweigerern und jugendlichen
Trebegängern, sensibilisiert für die politische Szene, gleichzeitig im
Gefühlserleben mobilisiert und intellektuell desorganisiert – incerti-
tudes berlinoises in der Epoche der so faszinierenden aber auch so
anomie-geladenen ıSechziger„.14 In keiner Stadt der Bundesrepublik
war innerhalb der Bevölkerung die Aversion gegen den Kommunis-
mus derart scharf und kompromisslos ausgeprägt wie in West-Berlin.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wieso der Revolu-
tionsmythos gewissermaßen ınach hinten„ zünden musste. Die ab-

13 Helmut Schelsky: Wandlungen in der deutschen Familie der Gegenwart, Tübingen 1967.
14 Möglicherweise liegt hier ein Moment der Kontinuität etwa im Vergleich zur Zeit der
Weimarer Republik. S. Lionel Richard (Hg.): Berlin 1919-1933. Gigantisme, crise
sociale et avant-garde: l’incarnation extrême de la modernité, Paris 1993.
247

strakte und dezisionistische Vision Dutschkes und Krahls von der


bewaffneten Guerilla in den urbanen Zentren des ıimperialisti-
schen„ Westens lieferte eine Art von Bühne für die politische Insze-
nierung. An der Spitze der 1968er-Bewegung formierte sich ein
imaginäres Tribunal, flankiert durch agitatorische Rhetorik und öf-
fentlich in Szene gesetzt durch Straßendemonstrationen und Kon-
gresse, durch Flugschriften, politische Büchertische und illegale Pla-
kataktionen. Es war eine Szenerie, die an die revolutionären Ban-
kette aus der Zeit der Französischen Revolution erinnerte. So ent-
stand in relativ kurzer Zeit eine Gegenöffentlichkeit, die den utopi-
schen Traum von einer befreiten Gesellschaft schlagartig in den Be-
reich des scheinbar Möglichen rückte. Es existierten prinzipiell drei
verschiedene Möglichkeiten, dieses Projekt einer alternativen Kultur
in die Wirklichkeit umzusetzen: Das westeuropäische Modell der
intellectuels, der Californian dream einer locker mit der ıStamm„-
Gesellschaft verbundenen Hippie-Lebenswelt im Sinne Marcuses
sowie das Stellvertreter-Modell des revolutionären Partisanen, der
vom Untergrund her den Kampf führt gegen die ıBesatzer„. Es war
Jean-Paul Sartre, der das Partisanenmodell auf die Wirklichkeit des
antikolonialen Kriegs übertrug und dieses damit auch für die Pro-
testszene ıhoffähig„ machte.15 Sartre beschwört in diesem Zusam-
menhang im Rückgriff auf Engels und Fanon die Gewalt als ıGe-
burtshelferin der Geschichte„.16
Die Wortführer der 1968er-Bewegung hatten Fanons Brandrede
gegen den ıkolonialisierten„ Menschen gelesen. Sie rezipierten be-
reits in den Jahren 1966 und 1967 die Protestaktionen gegen den
Vietnam-Krieg nicht mehr in einem bürgerrechtlichen Horizont,
sondern als Fanal einer weltweit gedachten ıEinkreisung„ der Me-

15 S. dazu sein Vorwort in Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M.
1966 (frz. Erstausgabe 1961).
16 Ebd., S. 12
248 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

tropolen des Westens durch ein ıexternes„ Proletariat, als dessen


Vorkämpfer wiederum imaginäre Idealgestalten wie Che Guevara,
Mao Tse Tung oder Ho Chi Minh identifiziert wurden. Stand der
erste bundesweite (von mehr als 2000 Teilnehmern besuchte) Anti-
Vietnam-Kongress in Frankfurt/ M. im Sommer 1966 noch im Zei-
chen eines kritischen Diskurses, so hatte sich ein gutes Jahr später
die Situation völlig verändert.17 Unter dem Diktum, dass die Masse
der Bevölkerung einem hermetisch abgedichteten System der Ma-
nipulation unterläge, wurde nun von den beiden charismatischen
Sprechern Rudi Dutschke (Berlin) und Hans Jürgen Krahl (Frank-
furt/ Main) die Vision einer Stadt-Guerilla vorgetragen.18 Der interna-
tionale Vietnam-Kongress am 17./18. Februar 1968 stand ganz im
Zeichen der Idee von der ıantikolonialen Guerilla„.19
Dennoch wäre es verkürzt, wollte man die revolutionäre Imago-
logie einfach für die Sache selbst nehmen. Tief unter der Metropo-
len-Gesellschaft und im permanenten Kampf gegen die manipulativ
abgedichtete Verblendungsmaschinerie sollte durch das Fanal der
ıTat„ der Geist des revolutionären Aufbruchs angefacht, durch die
weniger integrierten Gruppen ( Jugendliche, Außenseiter, Intellektu-
elle) aufgegriffen und anschließend daran in eine autonome Le-
benspraxis umgesetzt werden. Dutschke, Krahl und ihre Gefolgs-
leute im SDS verstanden sich als Kultur-Revolutionäre und nicht
etwa im Leninschen Sinn als Stoßtrupp einer militärisch operieren-
den Umsturzbewegung. Andere Akteure aus dem antiautoritären
Lager wie Dieter Kunzelmann gingen einen Schritt weiter. Sie be-
suchten im Anschluss an ein Sommer-Camp in der Nähe von Bam-

17 S. dazu Siegward Lönnendonker, Bernd Rabehl, Jochen Staadt: Die antiautoritäre


Revolte, Bd. 1, Köln 2002, S. 380ff.
18 Ich danke Siegward Lönnendonker für die Überlassung des Redemanuskripts aus der
Frankfurter Studentenzeitung diskus Heft 1/2, Februar 1980.
19 SDS Westberlin und Internationales Nachrichten- und Forschungsinstitut (INFI) (Hg.):
Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus,
Berlin 1968. Ich danke Siegward Lönnendonker für die Überlassung des Textes.
249

berg ein militärisches Lager der Al Fatah -Guerilla in Jordanien.20


Später hat Dieter Kunzelmann selbstkritisch eingestanden, dass seine
Verhaftung ihn davor bewahrte, dem damals grassierenden Sog der
Gewalt nachzugeben, den er anders als seine Mitstreiter in der
ıKommune I„ in voller Überzeugung zu bahnen mitgeholfen hatte.
Es ist von heute her nicht präzise zu beurteilen, ob ein Rudi
Dutschke ohne die verheerenden Folgen des Attentats wirklich in
den revolutionären Untergrund gegangen wäre. Aus meiner persön-
lichen Kenntnis neige ich dazu, diese Frage zu verneinen. Aber
seine Sprache lässt auch die gegenteilige Schlussfolgerung zu. Die
Formel von der Stadtguerilla, einmal in die Welt gesetzt, entwickelte
ihre destruktive Eigendynamik. Das Randgruppenmilieu, die relativ
niedrige Schwelle der Gewalt in der ıFrontstadt„ Berlin und die in-
nere Unruhe der Bewegung stifteten eine Gewalt-Latenz. Wie ein
Magnet zog das Berliner Randgruppen-Milieu gegen Ende der
sechziger Jahre einen Typus von anomischen Jugendlichen an. Ähn-
lich wie die Vaganten im Mittelalter waren sie unwillig zur Einglie-
derung in den Reproduktionsprozess;21 gleichermaßen aber nicht
bereit – oder nicht in der Lage – zu jener symbolischen Distanz ge-
genüber dem Bestehenden, die den Intellektuellen oder den Künst-
ler ausmacht. Die Randgruppen der 1968er-Bewegung bewegten
sich auf dem schmalen Grat zwischen imaginärer Revolutions-
Szenerie und physisch-moralischer Verwahrlosung. Es bedurfte jetzt
nur noch der ıVerschwörung„ einer Gruppe von Individuen, bereit,
den ıBallast„ der theoretischen Beschäftigung abzuwerfen, jedem
Bemühen um eine treffende empirische Analyse der gegebenen Si-
tuation eine Absage zu erteilen; schließlich aber – und dies ist ent-

20 Dieter Kunzelmann: Leisten Sie keinen Widerstand. Bilder aus meinem Leben, Berlin
2002, S. 119ff.
21 S. dazu Michael „Bommi“ Baumann: Wie alles begann, Berlin 1974, S. 18.
250 Niels Beckenbach: Das Dilemma des Intellektuellen am Beispiel der 1968er-Bewegung

scheidend – entschlossen zum Zerbrechen des zivilisatorischen Ta-


bus: Bereit zum Mord im Namen der ıguten Sache„.
Die Sprecher der 1968er-Bewegung in Berlin oder in Frank-
furt/ Main waren nicht in einer ursächlichen Bedeutung die Urheber
des ıbewaffneten Kampfes„. Aber das anti-imperialistische Pathos
war mehrdeutig und es erwies sich missbrauchbar für solche Indivi-
duen und Gruppen, die in Ermangelung einer intellektuellen Kultur
ihren Hass auf das ıSystem„ lebten und den destruktiven furor in
die Tat umsetzten. Ulrike Meinhof, als streitbare Journalistin Teil
der 1968er-Bewegung, zerschnitt die intellektuellen und auch die
persönlichen Bindungen mit dem Sprung in den terroristischen Un-
tergrund. Andreas Baader hat niemals auch nur einen Funken
Sympathie – oder einen Funken Verständnis – besessen für die sen-
sible Übergangzone zwischen Diskurs und Phantasma auf der einen
und Fanatismus auf der anderen Seite. Baader hat mit einem zyni-
schem Lachen den Weg in den Untergang eingeschlagen. Er war
letztlich kein homo politicus. Er verkörperte den nihilistischen Geist
schlechthin. Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe, die ihre persönli-
che Utopie verloren hatten, ließen sich, jeder auf seine Weise, ver-
führen und identifizierten sich mit Baaders brutalem Charisma.
Immer wieder höre ich von Personen im Umkreis der ehemaligen
RAF bzw. der Bewegung 2. Juni, wie sehr innerhalb dieser Grup-
pierungen die ıunheimliche Konsequenz„ von Andreas Baader be-
wundert und als Führungseigenschaft anerkennt wurde. In dem zu
Ende gedachten Nihilismus der RAF verkörperten Andreas Baader
und seine Mitverschworenen zugleich das antipodische Element der
Utopie von 1968.
Jeder von uns Ehemaligen trägt ein Stück Mitverantwortung an
dieser destruktiven Infektion einer im Ansatz emanzipatorischen
Idee. Es gehört zu den Paradoxien meiner Generation, dass dieses
251

Verschwimmen der Gegensätze innerhalb der damaligen Bewegung


bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist.
253

Botho Strauß als Kritiker seiner Generation:


Zur intellektuellen Auseinandersetzung mit der
nationalen Identität in der Bundesrepublik
Deutschland der 1990er Jahre
Carla Albrecht
254 Carla Albrecht: Botho Strauß als Kritiker seiner Generation

Anläßlich des 60. Geburtstags von Botho Strauß am 2. Dezember


2004 charakterisierten Freunde und Kritiker den Dramatiker und
Schriftsteller in den überregionalen Zeitungen übereinstimmend als
ıSeher„1 und ıSeismograph„,2 als ıübergenau hinschauenden Beob-
achter„,3 ja mehr noch: als ıBeobachter von gesellschaftlichen Fluk-
tuationen, Wandlungen und Stagnationen, die bis ins Nervliche des
Menschen hineinwirken.„4 Botho Strauß beschreibe mit Feingefühl
die Psyche des Menschen in der modernen Gesellschaft, welche er-
schüttert ist von persönlichen Niederlagen und zwischenmenschli-
chen Enttäuschungen, aber auch beeinflußt von gesellschaftlichen
und nicht zuletzt politischen Ereignissen. Im Vordergrund seiner
Theaterstücke, Romane und Essays stehe zwar die Psychologie des
Individuums, nichtsdestotrotz wirke Strauß immer auch als Gesell-
schaftskritiker. Diesem Umstand ist es denn auch zuzurechnen, daß
Botho Strauß in der deutschen Öffentlichkeit als Autor gilt, der ge-
legentlich gern ein ıöffentliches Ärgernis„ ist, ınie in Gesellschaft
geht, aber dauernd in Gesellschaft wirkt, keine öffentlichen Reden
hält, aber dauernd öffentlich spricht, keine Premieren besucht, aber
jede seiner Premieren zum großen, lange zuvor umraunten Ereignis
werden läßt, der keine Literaturpreise entgegennimmt, aber alle
wichtigen Literaturpreise erhalten hat, überall dabei ist, ohne dabei-
zusein.„5
Entsprechend dieser Beschreibung nimmt Botho Strauß in ex-
emplarischer Form die Funktion des Intellektuellen ein, verstanden
als eine Person, die – kraft ihrer auf dem Gebiet der Literatur,

1 Gerhard Stadelmaier: Zum Sechzigsten. Botho Strauß – Orpheus in der Bundesrepu-


blik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.12.2004, S. 35.
2 Das schönere Nichtmehr. Auf wilder Jagd: Botho Strauß aktiviert das Präteritum-Gen,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.2004, S. 44.
3 Thomas Steinfeld: Fortschritt ist Wiederholung. Wiederholung ist Fortschritt. Veräch-
ter hat dieser Mann genug, dabei besitzt er eine große Zukunft: Eine Huldigung an
Botho Strauß, in: Süddeutsche Zeitung, 2.12.2004.
4 Luc Bondy: Alle Jahreszeiten an einem Tag, in: Die Zeit, Nr. 49, 2004.
5 Stadelmaier, a.a.O.
255

Kunst oder Wissenschaft erworbenen Reputation – kritisch und öf-


fentlich interveniert und gehört wird.6 Obwohl Botho Strauß die Öf-
fentlichkeit und ebenso die politische Intervention als solche scheut,
hat er öffentlich interveniert und zu gesellschaftlichen Entwicklun-
gen nicht nur mit seinem Werk, sondern auch punktuell mit Zei-
tungs- und Zeitschriftenartikeln Stellung genommen.
Außerordentlich öffentlichkeitswirksam hat sich Botho Strauß
mit der Veröffentlichung seines Artikels Der anschwellende Bocks-
gesang im Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Februar 1993 zu
Wort gemeldet. In diesem hat Strauß insbesondere die von der
ıNachkriegs-Intelligenz„ maßgeblich geformte und dominierende
links-liberale (politische) Kultur der Bundesrepublik diagnostiziert
und die negative nationale Identität der Deutschen kritisiert. Aus
dem Anschwellenden Bocksgesang wurde eine lange und in den
Feuilletons der überregionalen Zeitungen heftig geführte Bocksge-
sang -Debatte:7 Sein Artikel hatte zunächst Empörung und Ver-
ständnislosigkeit ausgelöst. Alsbald wurden Vorwürfe erhoben, die
Botho Strauß in Faschismusverdacht brachten. Man sah in seinem

6 Hans Manfred Bock: Zur historischen Intellektuellen-Forschung, in: Lendemains 17


(1992), Nr. 66, S. 16-26; ders.: Intellektuelle, in: Fremde Freunde, Deutsche und
Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München u.a. 1997, S. 72-78; François Beilecke:
„Der Intellektuelle ist tot, es lebe der Intellektuelle!“ Anmerkungen zur neueren fran-
zösischen Intellektuellenforschung, in: Vorgänge (2001), Nr. 156, S. 41-49; Jean-
François Sirinelli, Pascal Ory: Les intellectuels en France, de l’Affaire Dreyfus à nos
jours, Paris 1986.
7 In den letzten Jahren ist die Bocksgesang-Debatte Gegenstand zahlreicher wissen-
schaftlicher Untersuchungen geworden. S. insbesondere Nadja Thomas: „Der Auf-
stand gegen die sekundäre Welt“ – Botho Strauß und die „Konservative Revolution“,
Würzburg 2004; Günter Sautter: Politische Entropie: Denken zwischen Mauerfall und
dem 11. September 2001 (Botho Strauß, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser,
Peter Sloterdijk), Paderborn 2002; Oliver Essenberg: Kulturpessimismus und Elite-
bewußtsein. Zu Texten von Peter Handke, Heiner Müller und Botho Strauß, Marburg
2004; Michael Wiesberg: Botho Strauß. Dichter der Gegen-Aufklärung, Dresden 2002;
Stefan Willer: Botho Strauß zur Einführung, Hamburg 2000; Martin Tauss: Rhetorik
des Rechten. Botho Strauß’ konservative Kulturkritik im „Anschwellenden Bocksge-
sang”, Diplomarbeit, Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1999,
einsehbar unter der Internetadresse: http://www.univie.ac.at/Germanistik/texte/
wiss_arbeiten/tauss.rtf, zuletzt eingesehen am 22.12.2004.
256 Carla Albrecht: Botho Strauß als Kritiker seiner Generation

Artikel eine rechte Gefahr und interpretierte ihn als Angriff auf die
Demokratie. Man bezeichnete ihn als ıKonservativen Revolutionär„
in der Tradition eines Oswald Spengler oder als ıfundamenta-
listischen Ästheten„ in der Art von Stefan George.8 Das Bild, das
man bislang von Botho Strauß hatte, schien nicht mehr mit dem
Autor des Anschwellenden Bocksgesangs überein zu stimmen. Als
sachbezogener und zeitgenössischer Kritiker wurde er in dieser Zeit
von den wenigsten Lesern wahrgenommen, vielmehr wurde ihm
ıdas Etikett ,umstritten„ angelegt.9
Die Veröffentlichung des Anschwellenden Bocksgesangs gilt da-
her unter Kritikern als Wendepunkt im Leben und Wirken des Bo-
tho Strauß. Weniger war es jedoch eine thematische Wende – wie
auch die Literaturwissenschaftler im Zuge einer kritischen und zum
Teil nun stark verurteilenden Neuinterpretation des StraußÊschen
Werkes feststellten –, die er vollzogen hatte. Neu war vielmehr die
direkte Form seiner Intervention, in welcher er erstens das Kern-
thema intellektueller Auseinandersetzung in Deutschland, nämlich
die Frage nationaler Identität, berührte und sich zweitens in der
Funktion des Intellektuellen als Kritiker der ıNachkriegs-Intelligenz„
betätigte. Botho Strauß wurde erst mit dem Anschwellenden Bocks-
gesang zur exemplarischen Intellektuellenfigur. Unter diesem Ge-
sichtspunkt soll im folgenden die Biographie Botho StraußÊ gelesen
und insbesondere seine Auseinandersetzung mit der deutschen
Identität in seinem Werk herausgearbeitet werden. Anhand seines
Wirkens können darüber hinaus einige soziologische Rahmenbe-
dingungen der intellektuellen Auseinandersetzung in der Bundesre-
publik aufgezeigt werden. Die Koordinaten dieses intellektuellenso-
ziologischen Feldes haben sich mit dem Anschwellenden Bocksge-

8 Siehe zu diesen intellektuellensoziologischen Strömungen Stefan Breuer: Anatomie


der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993; ders.: Ästhetischer Fundamentalis-
mus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1996.
9 Stadelmaier, a.a.O.
257

sang, so die These, die im dritten Teil belegt werden soll, grundsätz-
lich gewandelt.

Vom Theaterkritiker zu einem der angesehensten


deutschen Dramaturgen
Botho Strauß begann seine Karriere in den späten 1960er und frü-
hen 1970er Jahren als linker, revolutionärer Theaterkritiker für die
Stuttgarter Zeitung und vor allem für Theater heute. 1968 waren die
ersten Beiträge des damals 24jährigen Botho Strauß, wie dies für
einen Studenten der Germanistik, Soziologie und Theatergeschichte
in seiner Generation nichts ungewöhnliches war, von dem Wirken
Theodor W. Adornos stark geprägt.10 Sie zeichneten sich durch ihre
essayistische Form sowie ihre theoretische Fundierung aus und
brachten Strauß erste öffentliche Anerkennung. Botho Strauß war
damit in der Theaterwelt aufgenommen.
Aus dem Kreis um die Zeitschrift Theater heute gelang Strauß
1970 der Sprung von der theoretischen in die praktische Theater-
welt. Als Peter Stein die künstlerische Leitung an der Berliner
Schaubühne am Halleschen Ufer übernahm, wurde Botho Strauß
dort Dramaturg und arbeitete mit bedeutenden Schauspielern wie
Bruno Ganz, Jutta Lampe und Otto Sander zusammen. Die Berliner
Schaubühne erfuhr in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit
sehr bald starke Beachtung und Botho Strauß wurde als junger und
hochbegabter Dramaturg gefeiert. 1972 verfaßte er sein erstes, ei-
gens für diese Bühne geschriebenes Theaterstück: Die Hypochon-
der. Es folgte Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle im Jahre 1974.
Botho Strauß richtete seinen Blick auf die seelische Verfassung
des Menschen und belegte von dort aus den Einfluß der modernen
Gesellschaftsverhältnisse auf das Individuum. Die Trilogie des Wie-

10 Stadelmaier, a.a.O.
258 Carla Albrecht: Botho Strauß als Kritiker seiner Generation

dersehens, Botho StraußÊ drittes Theaterstück aus dem Jahre 1976,


seine viel beachtete Erzählung Die Widmung (1977), der Roman
Rumor und seine Erzählungen Paare und Passanten (1981) gehen
diesen Weg der psychologischen Studien weiter. In ihnen be-
schreibt Strauß das Scheitern der Kommunikation und der Bezie-
hungen, die Flüchtigkeit der Begegnung, die Geschwindigkeit des
Lebens und die unerfüllte Glücksuche. Auf die Spitze werden diese
Studien im Theaterstück Kalldewey Farce (1981) getrieben, in dem
Strauß zeitgemäß die Frage der Intimität unter anderem in den
Raum der psychoanalytischen Gruppentherapie verlegt.
Indem Botho Strauß sich auf das Private konzentrierte, grenzte
er sich deutlich von jener Literaturbewegung der 1960er und 1970er
Jahre ab, die gesellschaftskritische und politisch orientierte Prosa-
texte, Gedichte, Theaterstücke, Hör- und Fernsehspiele verfaßte,
welche auf historische Dokumente und wissenschaftliche oder selbst
erhobene Fakten zurückgriffen. Botho Strauß entschied sich somit
gegen diese Literatur des politischen Aktionismus, zu der u.a. Peter
WeissÊ Theaterstück über die Auschwitz-Prozesse Die Ermittlung
oder Erika Runges Bottroper Protokolle sowie Günter Wallraffs Der
Aufmacher oder Ganz unten zählen. Denn indem sich diese Auto-
ren in möglichst objektiver Form mit den aktuellen und vergange-
nen Mißständen der Gesellschaft beschäftigten, blendeten sie nicht
nur die für Strauß so bedeutsame subjektive Perspektive des Indivi-
duums aus, sondern vernachlässigten bewußt den für alle Gesell-
schaftsmitglieder grundsätzlich zur Verfügung stehenden nationalen
Identifikationskontext. Botho Strauß hingegen geht es um eine Lite-
ratur, die sich genau zwischen diesen beiden Polen bewegt, wobei
in den 1970er Jahren der Aspekt des Privaten überwog und Strauß
diese Perspektive in seinen seit den 1980er Jahre verfaßten Werken
immer häufiger mit dem Thema der deutschen Identität verbunden
hat. Eine thematische Verbindung, die die Literaturtheorie rückwir-
259

kend mit den Schlagworten ıNeue Innerlichkeit„, ıNeue Subjekti-


vität„ und ıNeuer Konservatismus„ belegen sollte.11
In diesem Zeitraum und mit den genannten Werken avancierte
Botho Strauß zu einem hoch angesehenen Dramaturgen und
Schriftsteller der Bundesrepublik und wurde mit einer Reihe von
Literaturpreisen ausgezeichnet: 1977 erhielt er die Fördergabe des
Baden-Württembergischen Schiller-Preises, 1981 den Literaturpreis
der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1982 den
Mühlheimer Dramatikerpreis und 1987 den Jean-Paul-Preis des
Bayrischen Kultusministeriums. 1989 schließlich erhielt Strauß den
Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Dichtung und
Sprache. Die Akademie erkannte folglich StraußÊ künstlerisches
Wirken an und bestätigte dies öffentlich durch die Vergabe der
höchstmöglichen Literaturauszeichnung der Bundesrepublik.

Botho Strauß und seine Auseinandersetzung mit der


nationalen Identität der Deutschen
Die Protagonisten der StraußÊschen Werke sind laut Luc Bondy
ıMenschen, die, geboren nach zwei Kriegen, aus Resten (Ruinen,
Gerettetem und Wunden), aus einer Art Zwischenlandhumus ge-
macht sind.„12 Diese Aussage spiegelt nicht zuletzt auch die Position
StraußÊ in der Bundesrepublik wider und läßt die grundlegenden
autobiographischen Beweggründe seines Schaffens klarer hervortre-
ten. Eindringlich läßt sich die Auslegung Luc Bondys, der viele
Stücke StraußÊ uraufgeführt hat, in StraußÊ 1984 erschienenem Ro-
man Der junge Mann nachvollziehen. In der darin enthaltenen Er-
zählung Die Terrasse beschreibt Strauß den Tod des letzten Königs
von Babylonien Belsazar derart, daß ein Vergleich mit Hitler und

11 Bengt Algot Sorensen: Geschichte der deutschen Literatur, Band II: Vom 19. Jahr-
hundert bis zur Gegenwart, München 1997, S. 390f.
12 Bondy, a.a.O.
260 Carla Albrecht: Botho Strauß als Kritiker seiner Generation

dem Zusammenbruch des Dritten Reiches unausweichlich ist. Nach


dem Tod des Königs wird dieser für sein Volk, die ıberauschte
Gemeinde„, plötzlich als ıMörder„ und ıUnheilstifter„ erkennbar.
Durch den Zusammenbruch ihrer bisherigen Wertmaßstäbe sind
die Überlebenden und Nachkommen der Geschichte beraubt, sind
ıbenommen„ und weiterhin von dem ıTod [des Königs, C.A.] um-
schlungen„.13 Eine Gruppe von etwa sieben Gleichaltrigen, ınach
dem Krieg Geborene alle„ trifft sich immer wieder auf der Terrasse,
auf die die Menschen nach dem Tod des Königs ehemals geströmt
waren, dem Ort des Ursprungs der ıjüngeren„ Geschichte. Sie ver-
suchen zu erzählen und der Zeit zu gedenken und werden sich ge-
wahr, daß es keinem Deutschen gelingen könne, ısich endlich aus
der deutschen Betäubung zu lösen und jenen Bannkreis zu durch-
brechen, innerhalb dessen das zerfallende Böse über Generationen
hin die Gemüter bestrahlte.„14
Die Menschen aus ıZwischenlandhumus„ scheinen für Botho
Strauß in einem Dilemma zu stecken: Die nach dem Krieg Gebore-
nen verfügen einerseits über keine persönlichen Erinnerungen an
den 2. Weltkrieg und die NS-Verbrechen. Als sie geboren wurden,
waren die Würfel schon gefallen. Andererseits wollen sie den Ver-
brechen doch gedenken, nicht zuletzt auch, um zu verstehen und
um die eigene Identität zu klären. In diesem Sinne erscheint die
deutsche Identität in StraußÊ Werk immer als etwas Dunkles, Un-
durchdringbares und Betäubendes. Die Auseinandersetzung mit der
deutschen Identität, der Versuch, sie zu verstehen und zu klären,
durchzieht, wenn auch nicht immer in einer direkten Form, das ge-
samte Werk Botho StraußÊ – und dies bereits lange vor 1993.
Botho Strauß setzte sich in seinen Werken auf einer zweiten
Ebene mit der deutschen Identität auseinander. StraußÊ Interesse gilt

13 Botho Strauß: Der junge Mann, 5. Aufl., München 2003, S. 177, 181.
14 Ebd., S. 182.
261

auf einer ganz konkreten und gegenwartsbezogenen Ebene der


deutschen Einheit und im besonderen zwei Fragestellungen: Ei-
nerseits derjenigen nach dem Einfluß der 40 Jahre währenden Exi-
stenz von zwei Teilen Deutschlands auf die Identität der Deutschen
und andererseits derjenigen, ob sich nach dem 9. November 1989
eine Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschen vollzieht. Letz-
tere Frage beantwortet Strauß schließlich negativ. So beschreibt
Botho Strauß in seinen Werken das Nebeneinander, den Versuch
und letztendlich das Scheitern des Miteinanders von Ost und West.
Die Fremdheit zwischen den beiden Teilen Deutschlands greift er
mehrfach auf und sie findet ihre Analogie in StraußÊ fortwährendem
Thema der Beschreibung der Ferne zwischen den Menschen in der
modernen Gesellschaft. Das Scheitern von Kommunikation findet
sich in StraußÊ Werken auf individueller wie auch auf kollektiver
Ebene.
Bereits 1988 läßt Botho Strauß in seinem Theaterstück Besucher
einen Mann auftreten, der mit großen Erwartungen als Schauspieler
aus der DDR in den Westen gekommen ist, dort an den Gegeben-
heiten scheitert und sich schließlich im Alkohol verliert. In einem
anderen Theaterstück thematisiert Strauß ganz konkret das Ereignis
des Falls der Mauer. Schlußchor aus dem Jahre 1991 erzählt ein-
zelne Geschichten in drei Akten. Jeweils tritt unerwartet eine Person
auf, die ıDeutschland„ ruft und den Bezug zur deutschen Ge-
schichte erahnen läßt. Erst im letzten Akt wird der Bezug zum
9. November 1989 deutlich. Der Rufer spricht: ıDeutschland! Das
ist Geschichte, sage ich, hier und heute, sage ich, Valmy, sage ich,
Goethe! Und diesmal sind wir dabei gewesen. Die Grenzen sind
geöffnet! Die Mauer bricht! der Osten ... der Osten ist frei!„ Das
Theaterstück von Strauß stellt trotz dieser enthusiastischen Ausrufe
den Fall der Mauer nicht als Triumph dar: vielmehr treffen sich die
Protagonisten eher zufällig als gewollt in einem Berliner Lokal, wo
262 Carla Albrecht: Botho Strauß als Kritiker seiner Generation

sie von dem Fall der Mauer hören, darüber hinaus hindert das Er-
eignis sie teilweise nicht daran, sich weiterhin mit der eigenen Bio-
graphie zu quälen.
Der lange Weg zur deutschen Einheit ist in dieser Perspektive
nicht durch den Akt einer eigenen Entscheidung des deutschen
Volkes vollbracht worden. Aus der Sicht Botho StraußÊ ist die Deut-
sche Einheit, wie er in seinem sich eng an Homers Odyssee anleh-
nenden Theaterstück Ithaka andeutet, von oben beschlossen wor-
den. Pallas Athene befiehlt hier am Ende des Stückes den Frieden
und verkündet: ıDa nun wiedervereint ist das Paar, tritt durch sie
beide die heilige Ordnung wieder in Kraft.„15 In Ithaka bleibt noch
offen, ob die Wiedervereinigung als geglückt oder mißglückt be-
trachtet werden kann. Die Fremdheit zwischen Ost und West je-
doch, so analysiert Strauß in seinen Werken weiterhin, bleibt auch
nach der Deutschen Einheit bestehen. Die StraußÊschen Protagoni-
sten behalten sowohl in Ost als auch in West ihre alten Ansichten
und verhindern so die wechselseitige Annäherung. Und so resü-
miert Strauß in einem weiteren Essay, den er im Jahr 2000 veröffent-
licht: ıDiese Deutschen haben sich Rücken an Rücken vereinigt.„16
Die Deutsche Einheit schien für Botho Strauß vor dem Hinter-
grund seiner Auseinandersetzung mit der deutschen nationalen
Identität mit Erwartungen verbunden gewesen zu sein. Seiner An-
sicht nach ist, so kann geschlossen werden, eine Klärung der Ver-
gangenheit, die Anknüpfung an die positiven Elemente der deut-
schen Kultur und damit eine positivere gegenwärtige Deutung der
nationalen Identität ausgeblieben. Diese Bedingungen und der äu-
ßere Anlaß, eine Welle von fremdenfeindlichen Übergriffen auf
Asylbewerber Anfang der 1990er Jahre, dürften Botho Strauß we-

15 Botho Strauß: Ithaka, in: ders: Theaterstücke 1993-1999, München 2000, S. 103.
16 Botho Strauß: Wollt Ihr das totale Engineering?, in: Die Zeit, Nr. 52, 2000.
263

sentlich veranlaßt haben, ıim Banne des Vorgefühls„17 kritisch zu


intervenieren und den Anschwellenden Bocksgesang 1993 zu publi-
zieren. Der zeitliche Kontext vermag mitunter auch die Heftigkeit
der StraußÊschen Intervention zu erklären. Anfang der 1990er Jahre
schien für Strauß die politische und gesellschaftliche Situation ein
für ihn unerträgliches Ausmaß angenommen zu haben. Nicht mehr
die wechselseitige Fremdheit der Menschen und ihre Suche nach
einem Mindestmaß an einem Miteinander, sondern die Unmöglich-
keit des Zusammenlebens trat deutlich hervor.
Aus der einstigen glücklosen Suche des Miteinanders wurde der
Verlust des Gleichgewichts in der Bundesrepublik, und die Ursa-
chen suchte Strauß im Anschwellenden Bocksgesang, ähnlich wie in
früheren Werken, auf vielfältigen Ebenen: In der Massengesell-
schaft, im Infotainment, in der mangelnden autoritären Erziehung,
im egoistischen Heidentum und in der politisierten Gesellschaft. Die
Hauptursache aber identifizierte Botho Strauß nun gerade heraus
im ıverklemmten deutschen Selbsthaß„, der von der Nachkriegs-
Intelligenz, im wesentlichen von der 68er-Generation geformt wor-
den sei. So kritisiert er: ıNach Dezennien der kulturellen Gesamt-
veranstaltung Jugendlichkeit findet man nun vor eine ziemlich auf-
gezehrte Substanz von Jugend, die letzte Progenitur der Nachkriegs-
zeit, deren Überlieferungs- und Stimmungsgeschichte eine der Ne-
gation und des Vaterhasses ist, häßliche Frucht aus der Vereinigung
eines verordneten mit einem libertären bis psychopathischen Antifa-
schismus.„18 Die Nichtthematisierung der eigenen nationalen Identi-
tät und ihren Ersatz durch einen allzu ıaufgeklärten Liberalismus„,
so kritisiert Strauß im Anschwellenden Bocksgesang, erreiche nun
ihre Grenzen. Derzeitige und zukünftige Konflikte, die nach dem

17 Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang, Nachdruck in: Heimo Schwilk, Ulrich


Schacht (Hg.): Die selbstbewußte Nation, Berlin 1994, S. 36.
18 Ebd., S. 26.
264 Carla Albrecht: Botho Strauß als Kritiker seiner Generation

Zusammenbruch der Weltordnung jenseits der rationalen Maßstäbe


lägen, könne Deutschland vor diesem Hintergrund nicht mehr be-
wältigen.

Das intellektuellensoziologische Feld


der Bundesrepublik nach dem
Anschwellenden Bocksgesang
Botho StraußÊ Aussagen im Anschwellenden Bocksgesang fielen in
eine Zeit, die Debatten geradezu herausforderte: Das Ende des Kal-
ten Krieges markierte den Zerfall der bipolaren Weltordnung. Die
freie Marktwirtschaft stellte sich als der Gewinner dar, aber ver-
mochte keine neue Orientierung zu geben, und die Überwindung
der deutschen Teilung gab Anlaß, die bisherige nationale Identität
der Deutschen zu hinterfragen. Genau dies unternahm Strauß mit
seinem Anschwellenden Bocksgesang. Darüber hinaus jedoch pro-
vozierte er, indem er sich unmittelbar gegen die 68er-Generation
wandte und seinen Artikel provokativ in dem Band Die selbstbe-
wußte Nation veröffentlichte, d.h. in einem Buch, das dezidiert
rechte Autoren versammelt. Botho Strauß ging damit einen schma-
len Grad zwischen einer offensiven Opposition gegenüber seiner
eigenen Generation und dem Risiko, rechtsextremen Akteuren eine
argumentative Vorlage zu liefern. Einmal mehr entschied sich Botho
Strauß dafür, einen Weg zu gehen, der abseits der Hauptströmung
verlief.
Wie schmal der Grad war, auf dem er sich befand, bekam
Strauß bereits durch die Reaktionen auf seinen Spiegel -Essay zu
spüren. Die Publikation des Anschwellenden Bocksgesangs führte
zu einer harschen Kritik an Botho Strauß in den deutschen Feuille-
tons, in der er von der überwiegenden Mehrheit der Autoren als
gefährlich rechts eingeordnet wurde. Anfang 1994 schließlich lebte
die Debatte erneut auf, als Botho Strauß dem Abdruck des An-
265

schwellenden Bocksgesang im Sammelband Die selbstbewußte Na-


tion zustimmte und sich damit unmittelbar in den Zusammenhang
neurechten Denkens brachte. Ignatz Bubis veranlaßte dies zur Be-
hauptung, der Anschwellende Bocksgesang sei ein Phänomen des
intellektuellen Rechtsradikalismus. Aufgrund heftiger Kritik milderte
er in einem späteren Interview seine Behauptung ab und differen-
zierte, daß Botho Strauß zu der intellektuellen Gesellschaft gehöre,
auf die sich aktive Rechtsradikale beriefen. Botho Strauß kommen-
tierte die Debatte später selbst mit der Kritik, daß ıRede und Ge-
genrede„ in der Bundesrepublik nicht mehr möglich sei und kriti-
sierte damit erneut die ıkonformistische Gesellschaft„, wie er es be-
reits in seinem Anschwellenden Bocksgesang formulierte.19 Dieser
StraußÊschen Kritik zum Trotz: die Bocksgesang-Debatte spaltete das
intellektuellensoziologische Feld und ermöglichte erst außerhalb der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung die so deutliche Formulie-
rung, daß Identitäten konstruiert und Konstruktionen hinterfragt
werden können. Strauß formulierte erstmals als angesehener deut-
scher Schriftsteller seinen offenen Widerspruch zu den durch Kon-
sens getragenen Konventionen des deutschen Umgangs mit der NS-
Vergangenheit. Er stellte dabei mit seinem Artikel nicht die NS-
Vergangenheit infrage, sondern kritisierte in diesem Kontext den
Einfluß seiner eigenen Generation auf die deutsche Gesellschaft.
Welches Ausmaß an spaltender Wirkung der Spiegel-Beitrag an-
nahm, zeigte sich auch im offenen Bruch zwischen Botho Strauß
und den Kreisen um Theater heute. Ein privater Briefwechsel zwi-
schen der Redaktion und Strauß wurde gegen den Willen des letz-
teren in der Zeitschrift Theater heute veröffentlicht und sinngemäß
mit den Worten kommentiert: Botho Strauß säße im ıbraunen
Sumpf„ und man müsse warten, ob er sich aus diesem auch wieder

19 Botho Strauß: Postscriptum, in: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkun-
gen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München u.a. 1999.
266 Carla Albrecht: Botho Strauß als Kritiker seiner Generation

selbst emporziehe. Einstweilen und bis dahin gelte es, von ihm Ab-
schied zu nehmen. In diesem Sinne publizierten weitere Intellektu-
elle aus dem Umfeld der Zeitschrift offene Briefe zum ıAbschied
von Botho Strauß„ und nahmen Abstand von seinem rechts ver-
ordneten Gedankengut.20
Mit dem Anschwellenden Bocksgesang durchbrach Botho
StraußÊ eine Grenze, die kein Intellektueller der Bundesrepublik
bisher gewagt hatte so deutlich zu überschreiten. Er bereitete damit,
wie im Rückblick erkennbar wird, den Weg für weitere in den
1990er Jahren öffentlich geführte Diskussionen. Ebenfalls im Nach-
richtenmagazin Der Spiegel erschien noch im selben Jahr der Arti-
kel Ausblicke auf den Bürgerkrieg von Hans Magnus Enzensberger,
in dem dieser die Ablösung der bipolaren Weltordnung durch die
Neue Weltunordnung als Bürgerkrieg deutet. Laut Enzensberger
werde diese Gefahr nicht nur im ehemaligen Jugoslawien, sondern
auch in unserem Alltag durch Individualismus und durch den Ver-
lust von Grenzen genährt. Zum Ende des Jahrzehnts schließlich ver-
faßte Martin Walser 1998 die Rede Erfahrungen beim Verfassen
einer Sonntagsrede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises
des deutschen Buchhandels trat für die Neubewertung der national-
sozialistischen Vergangenheit als Staatsräson ein. Und schließlich
hielt Peter Sloterdijk 1999 einen Vortrag mit dem Titel Regeln für
den Menschenpark, in dem er Fragen zwischen Ethik und Genetik
und zwischen Humanismus und Massengesellschaft aufwarf.21
Es ist nicht verwunderlich, daß sich in den 1990er Jahren ausge-
rechnet diejenigen Autoren wieder zu Wort meldeten, die ähnlich
wie Strauß schon zu einem früheren Zeitpunkt in ihren Werken
nach Orientierungsmaßstäben gesucht hatten. Bereits 1978 sprach
Hans Magnus Enzensberger in dem Essay Zwei Randbemerkungen

20 Wiesberg, a.a.O., S. 13.


21 Zur ideengeschichtlichen Analyse dieser Texte vgl. Sautter, a.a.O.
267

zum Weltuntergang von Orientierungslosigkeit und Unsicherheit;


1983 thematisierte der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner Kritik der
zynischen Vernunft die Desorientierung in Folge der Über-Aufklä-
rung. Auch Martin Walser war bereits vor der Wende für seine Be-
schäftigung mit der nationalen Identität der Deutschen bekannt.
Diese Autoren verbindet ihr Interesse für kollektive Identitäten und
deren Einfluß auf die individuelle Identität bzw. die private Biogra-
phie, ebenso ihr Unbehagen mit Phänomenen der modernen Ge-
sellschaft. Die 1990er Jahre haben diesen Intellektuellen Deutungs-
macht verliehen, da ihre Themen deutlich ins Zentrum des öffentli-
chen Interesses gerückt sind.

Im heutigen Rückblick werden die einstigen Wogen, die der Bocks-


gesang aufgeworfen hatte, als geglättet wahrgenommen. Die dama-
ligen Reaktionen auf den Artikel von Strauß werden als Zumutun-
gen beschrieben, die Botho Strauß arg zugesetzt hatten und die in
ihrer Heftigkeit aus heutiger Sicht nicht mehr verstanden werden
können.22 Die Debatten der 1990er Jahre, aber auch die veränderte
innenpolitische Situation durch den Regierungswechsel 1998 und
nicht zuletzt die Veränderungen in der Weltpolitik, ausgelöst durch
den 11. September 2001, haben zu dieser neuen Sicht in der Bewer-
tung der StraußÊschen Intervention beigetragen. Die Koordinaten
der intellektuellen Auseinandersetzung in der Bundesrepublik ha-
ben sich mit dem Anschwellenden Bocksgesang verändert. Botho
Strauß hat mit seiner Intervention erstmals die Themen nationale
Identität und NS-Vergangenheit im Zusammenhang mit einer Kritik
an der 1968er Generation formuliert. Darüber hinaus hat Strauß
nachhaltig den Weg für Themen in der deutschen Öffentlichkeit
bereitet, die bis dahin als Tabu galten: dazu können Themen ge-

22 Bruno Ganz: Ein Stück Welt wird sichtbar. Die Schauspieler Jutta Lampe und Bruno
Ganz zum 60. Geburtstag von Botho Strauß, in: Die Welt, 2.12.2004.
268 Carla Albrecht: Botho Strauß als Kritiker seiner Generation

zählt werden wie die nationale Identität oder das nationale Inter-
esse, aber auch der Ruf nach einer neuen Elite oder die Diskussion
über die Integration von Einwanderern in die Bundesrepublik.
Die starke öffentliche Reaktion, die Botho Strauß mit seinem
Anschwellenden Bocksgesang seinerzeit auslöste, zeigt einmal mehr
die enge Verbindung zwischen intellektueller Intervention und na-
tionaler Identität in der Bundesrepublik. Intellektuelle in der Bun-
desrepublik haben sich für die Aufklärung der NS-Verbrechen en-
gagiert und den Umgang mit der NS-Vergangenheit geprägt. Botho
StraußÊ wesentliches Anliegen scheint es zu sein, Deutschland als
positive Konnotation in Erinnerung zu rufen und als positives Ele-
ment der individuellen Identität verfügbar zu machen. Er setzt den
Mythos gegen die moderne Gesellschaft und mahnt provokativ den
Verlust von deutscher Kultur an. In Beginnlosigkeit schreibt er:
ı Jemand hat gesagt: das Volk ist das Höchste und das Niedrigste.
Das mag in einem geschichtlichen, mehr noch in einem mythischen
Sinn zutreffend sein. Heute aber bildet das Volk der Deutschen
keinen geheimen Schatz in der Seele des einzelnen mehr, aus dem
er Kraft schöpfen könnte. Es ist nicht mehr als ein launiger, beque-
mer Mehrheits-Potentat. Ein Auslöscher jeder, aber auch jeder ide-
ellen Kraft. Er spricht nur noch aus Faulheit deutsch, die meisten
seiner Regungen und Interessen sind besser auf amerikanisch aus-
zudrücken. Der Widerstand gegen die moderne Gesellschaft ist zu-
letzt kein Widerstand gegen das Kollektiv, sondern gegen einen
Mangel an kollektiver Substanz.„23
Die Erinnerung spielt für Botho Strauß in diesem Kontext eine
herausragende Rolle: ıBraucht man aber nicht die Erinnerung zur
Gesundheit des ganzen Organismus, wie man auch im Schlaf den
Traum nötig braucht? Lebt man nicht auch, um die Erinnerung ste-

23 Botho Strauß: Beginnlosigkeit, München 1992, S. 122.


269

tig zu ergänzen?„,24 läßt er in Paare, Passanten fragen. In diesem


Sinne sucht Strauß, wie er dies in seinem Bocksgesang formuliert
hat, ıdas Rechte des gegenrevolutionären Typus von Novalis bis
Rudolf Borchardt„25 und den ıWiederanschluß an die lange Zeit„.26
In der Funktion des Intellektuellen hat Botho Strauß auch die von
ihm geforderte Aufgabe des Erinnerns oder der Mehrung von
Erinnerung übernommen. Der Bocksgesang und die Kritik, die der
Text in der Öffentlichkeit hervorrief, ist als Intellektuellendebatte
aus dem jüngeren Gedächtnis der Bundesrepublik nicht mehr
fortzudenken.

24 Botho Strauß: Paare, Passanten, München 1984, S. 179.


25 Strauß: Postscriptum, a.a.O.
26 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, a.a.O., S. 25.
271

Die Behauptung der Steuerungsidee.


Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf
Detlef Sack
272 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

Der Preis ist Niklas Luhmann gewidmet. Und dieser ist zumindest
eines unverdächtig: politischer Steuerung und politischer Wissen-
schaft Relevanz zuzusprechen. Dementsprechend äußert einer der
Geehrten seine Verwunderung: Sie seien nicht als ıLuhmannianer„
bekannt, ja ıwir zählen nicht einmal zum weiteren Feld sozialwis-
senschaftlicher Systemtheoretiker.„1 Im weiteren Verlauf der Rede
behaupten die Geehrten ihre Position: Sie haben bei ihren ıempiri-
schen und theoretischen Arbeiten immer vorausgesetzt, dass eine
im Sinne ihrer Ziele erfolgreiche Einwirkung der Politik auf gesell-
schaftliche Strukturen und Prozesse zwar schwierig, aber nicht
grundsätzlich ausgeschlossen und unter bestimmten Bedingungen
durchaus möglich ist.„2 Gleichwohl sollte man nicht einem einfa-
chen Verständnis von Steuerung folgen, sondern sich an der Meta-
pher einer ıSegelregatta„ orientieren, ıbei der unterschiedlich aus-
gerüstete Boote mit unsicherem Kompaß und bei wechselnden
Wind- und Wetterlagen einen ungefähren Kurs zu halten versu-
chen.„3 Die beiden gehen ein Stück weiter: Gegenüber der Schlie-
ßung gesellschaftlicher Teilsysteme Luhmannscher Diktion betonen
sie mit Blick auf Globalisierungsprozesse, dass gerade durch die
Kommunikation zwischen den Teilsystem der Wirtschaftswissen-
schaften und Politik eine ıPolitik der Liberalisierung, Deregulierung
und Privatisierung„4 durchgesetzt wurde. Der Paradigmenwechsel
zum Neoliberalismus hatte ıunmittelbaren Einfluß auf die Situa-
tionsdeutung im politischen System.„5
Luhmann hat die wechselseitige Beeinflussung selbstreferentieller
gesellschaftlicher Teilsysteme durch explizite Kommunikation (nicht

1 Renate Mayntz, Fritz Scharpf: Politische Steuerung – Heute? Festvortrag anlässlich


der Verleihung des Bielefelder Wissenschaftspreises, 2.12.2004, Bielefeld, in: http://
www.mpi-fg-koeln.mpg.de/ak/doks/Festvortrag_Scharpf_Mayntz.pdf, S. 1.
2 Ebd., S. 2.
3 Ebd., S. 9.
4 Ebd., S. 14.
5 Ebd., S. 13.
273

durch Irritationen!) bestritten. Damit ist eine allgemeine Normen-


allokation unmöglich. Diese aber hat wiederum die Politikwissen-
schaft – das ist ihre verbliebene Eigentümlichkeit innerhalb der So-
zialwissenschaften – zum Gegenstand erkoren. Allein um sich als
Disziplin zu erhalten, muss sie sich gegen den generellen sys-
temtheoretischen Angriff wehren. Die Namen Renate Mayntz und
Fritz Scharpf stehen für eine der differenzierteren Varianten, an der
Eigentümlichkeit der Politikwissenschaften festzuhalten. Sie haben
das Prinzip der Steuerungsfähigkeit von Politik und öffentlicher
Verwaltung jedoch nicht allein für die Disziplin behauptet. Es ist
ihnen im außergewöhnlichen Maße gelungen, ihren Ansatz auch
innerhalb der Disziplin zu verankern.
Für die Durchsetzung ihrer spezifischen Lesart und Forschungs-
perspektive einer aufgeklärten Regierungslehre war neben ihrer Be-
hauptung des Gegenstandes der Politikwissenschaft im (fach-)öffent-
lichen Diskurs zum einen eine spezifische Wissenschaftspolitik dien-
lich, d.h. die Bildung von Netzwerken und die Mobilisierung von
Ressourcen durch Politikberatung wie Institutsgründung. Zum an-
deren passten R. Mayntz und F. Scharpf ihre Grundgedanken an
die historisch-spezifischen institutionellen Strukturprinzipien an: Im
Planungsoptimismus der späten 1960er Jahre und der sozialliberalen
Koalition ging es um die ıplanende Demokratie„.6 Nach dem Schei-
tern von planender Politik und den Verfassungsänderungen zu
Gemeinschaftsaufgaben und Steuerverteilung zwischen Bund und
Ländern 1969 trat das Thema der ıPolitikverflechtung„ im Ver-
bundföderalismus auf die wissenschaftliche Tagesordnung.7 Diese
Gedanke wurde in der folgenden Dekade – nun vergegenwärtigen
wir das Ende der ıEurosklerosis„ der 1970er Jahre und den Weg

6 Fritz Scharpf: Planung als politischer Prozeß. Aufsätze zur Theorie der planenden
Demokratie, Frankfurt/Main 1973.
7 Vgl. Fritz Scharpf, Bernd Reissert, Fritz Schnabel: Politikverflechtung. Theorie und Em-
pirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg/Taunus 1976.
274 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

der Delors-Kommission zur Einheitlichen Europäischen Akte 1986 –


auf die Entscheidungsfindung in der Europäischen Gemeinschaft
übertragen.8 Dann die deutsche Einheit: Sie ist nicht gedacht wor-
den, ihr Verlauf – beispielsweise die Transformation des Wissen-
schaftssystems – wurde anders prognostiziert, R. Mayntz beschrieb
die ıhistorische Überraschung„.9 In den späten 1990er Jahren der
ıDenationalisierung„ und einhergehender Entgrenzungen dekli-
nierte F. Scharpf Steuerungsprinzipien für diejenigen Aufgabenfel-
der, in denen standortbezogene Regulierungen und klassische Redi-
stributionen obsolet geworden sind.10 Als dann in der ersten Hälfte
der laufende Dekade zumindest die legitimatorische Basis kruder
neoliberaler Konkurrenzbeziehungen schwand und unter dem Be-
griff der Governance Kooperation und Netzwerkbildung als Steue-
rungsprinzipien diskutiert wurde, resümierte R. Mayntz die Grenzen
der Debatte.11
R. Mayntz und F. Scharpf reagierten auf Zeitfragen. Zu keinem
Zeitpunkt ihrer wissenschaftlichen Vita seit den späten 1960er Jahre
frönten sie eines tumben Steuerungsoptimismus, der ihnen von Kri-
tikern mitunter unterstellt wird. Reflexiv verfestigten sie Schritt um
Schritt eine empirisch-analytische, institutionalistische und pragmati-
sche Perspektive. Sie fungierten und fungieren sowohl – und vor
allem – als sozialwissenschaftliche Expert/innen, aber auch – deut-
lich eingeschränkter – als öffentliche Intellektuelle. Nur sind sie

8 Vgl. Fritz Scharpf: Die Politikverflechtungs-Falle. Europäische Integration und deut-


scher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), Nr. 4,
S. 323-356.
9 Renate Mayntz: Historische Überraschungen und das Erklärungspotential der So-
zialwissenschaft, in: Heidelberger Universitätsreden (Hg.): Ruprecht-Karls-Universi-
tät Heidelberg, Bd. 9, Heidelberg 1995.
10 Vgl. Fritz Scharpf: Die Problemlösungsfähigkeit der Mehrebenenpolitik in Europa, in:
Beate Kohler-Koch (Hg.): Regieren in entgrenzten Räumen, Politische Vierteljahres-
schrift, Sonderheft, Opladen u.a. 1998, S. 121-144.
11 Vgl. Renate Mayntz: Governance im modernen Staat, in: Arthur Benz (Hg.): Go-
vernance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung, Wiesbaden
2004, S. 65-76.
275

dann – der Schluss könnte angesichts des Alters der beiden ja nahe
liegen – keinesfalls Intellektuelle der 1968er Generation, sondern
eher Mandarine der Finanzverfassungsreform des Mai 1969.

Momente der Geltung


Dementsprechend unterscheiden sich die Relevanzzuschreibungen
in Einführungen und Überblicken der Politikwissenschaft. Generell
wird R. Mayntz, die sich selbst im ıFächerspagat„12 verortet, auf-
grund ihrer soziologischen Orientierung entsprechend weniger häu-
fig aufgeführt. In Herfried Münklers Grundkurs Politikwissenschaft
findet sich nur F. Scharpf mit vier Nennungen im Personenregister.13
In Jürgen Hartmanns Geschichte der Politikwissenschaft ist F.
Scharpf sechsmal gelistet, Renate Mayntz wiederum nicht.14 In Wil-
helm Bleeks Geschichte der Politikwissenschaft werden F. Scharpf
sechsmal, nun auch R. Mayntz viermal genannt.15 Im Personenregi-
ster des New Handbook of Political Science bringen es F. Scharpf
(vierzehn) und R. Mayntz (zwei) auf insgesamt sechszehn Nennun-
gen, besonders diskutiert wird Scharpfs Beitrag zur Institutionenana-
lyse.16 In Arno Waschkuhns Grundlegung der Politikwissenschaft
dann sind R. Mayntz nur einmal und Fritz Scharpf zweimal ge-
nannt.17 In diesem Fall aber an durchaus prominenter Stelle: Im

12 Renate Mayntz: Eine sozialwissenschaftliche Karriere im Fächerspagat, in: Karl-Martin


Bolte, Friedhelm Neidhard (Hg.): Soziologie als Beruf. Erinnerungen westdeutscher
Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration, Baden-Baden 1998, S. 285-293.
13 Vgl. Herfried Münkler (Hg.): Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 2003, S. 729.
14 Vgl. Jürgen Hartmann: Geschichte der Politikwissenschaft. Grundzüge der Fachent-
wicklung in den USA und in Europa, Opladen 2003, S. 295ff.
15 Vgl. Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München
2001, S. 529f.
16 Vgl. Robert E. Goodin, Hans-Dieter Klingemann (Hg.): A New Handbook of Political
Science, Oxford 1996, S. 157ff. Zum Vergleich: Claus Offe wird dreizehnmal, Max
Kaase neunmal und Wolfgang Streeck dreimal im entsprechenden Personenregister
gelistet; ebd., S. 829-845.
17 Vgl. Arno Waschkuhn: Grundlegung der Politikwissenschaft. Zur Theorie und Praxis
einer kritisch-reflexiven Orientierungswissenschaft, München 2002, S. 494f.
276 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

Kapitel über ıModerne sozialwissenschaftliche Konzeptionen„ sind


dem ıAkteurzentrierten Institutionalismus„ – direkt nach der Dar-
stellung von Luhmanns Systemtheorie – fünf Seiten gewidmet.18
Die Wertschätzung ist nicht durchgängig. Wer R. Mayntz und F.
Scharpf für ausschlaggebende Politikwissenschaftler/innen und in
diesem Rahmen für interessante Intellektuelle hält, muss zumindest
drei Voraussetzungen mitbringen: eine eher empirisch-analytische
Orientierung, ein Interesse an Steuerung und Institutionen sowie
eine Akzeptanz pragmatischer Denkweisen als intellektuelle Be-
schäftigung.

Wissenschaftsbiografische Ähnlichkeiten
Die Bedeutung der beiden ist aufs Engste mit einer steuerungstheo-
retischen Perspektive verbunden, welche – trotz aller systemischen
Restriktionen – behauptet, dass Steuerungsversuche und die Gestal-
tung von Institutionen einen Unterschied machen. Die falsche
Grammatik verweist auf die gemeinsame wissenschaftliche Sozialisa-
tion, die maßgeblichen Erfahrungen an US-amerikanischen Univer-
sitäten. Im Rückblick ist es nicht ungewöhnlich, die Namen Mayntz
und Scharpf in einem Atemzug zu nennen. Die eingangs erwähnte
Ehrung verdeutlicht das. Es ist aber durchaus auch erklärungsbe-
dürftig, schließlich kommen die beiden aus unterschiedlichen Jahr-
gängen – R. Mayntz (geb. 1929) und F. Scharpf (geb. 1935) –, auch
sind ihre Forschungsthemen durchaus unterschiedlich: Sie widmet
sich der sozialwissenschaftlichen Makrotheorie, der vergleichenden
Gesellschafts- und Politikforschung, der Organisations- und Verwal-
tungssoziologie sowie der sozialwissenschaftlichen Technikfor-
schung; er der Föderalismus- und Europaforschung, der Spieltheo-
rie, der vergleichenden Analyse der Wohlfahrtsstaaten sowie den

18 Vgl. ebd., S. 116-120.


277

Organisationsproblemen in Ministerialverwaltungen. Diese Nen-


nungen kommen gleichermaßen umfassend wie dürr daher, markie-
ren aber zunächst keine Ähnlichkeiten.
Es handelt sich jedoch nicht um Differenzen, sondern um Ar-
beitsteilung. Ausgangspunkt der sozialen Konvention, Mayntz und
Scharpf in einem Atemzug zu nennen, ist sicherlich die gemeinsame
Zeit als Gründungsdirektor/innen am Max-Planck-Institut für Gesell-
schaftsforschung (MPIfG). Was aber verbindet die beiden Personen
darüber hinaus? Wofür stehen sie innerhalb der deutschen Politik-
wissenschaft?
In ihrer Biografie sticht – nach dem Studium in Deutschland –
die prägende wissenschaftliche Sozialisation an renommierten Uni-
versitäten in den Vereinigten Staaten und die enge Bezugnahme auf
die entsprechende Forschung hervor, in der Organisationssoziologie
bei R. Mayntz, in der Verwaltungs- und Rechtswissenschaft bei F.
Scharpf. Beide sehen sich als Grenzgänger/innen zwischen den Dis-
ziplinen: R. Mayntz versteht sich explizit als Sozialwissenschaftlerin,
das Studium der Soziologie an der Freien Universität Berlin be-
zeichnet sie ıeher als biographischen Zufall„.19 Eine entsprechende
Selbstdarstellung titelt sie als ıKarriere im Fächerspagat„.20 Sie sieht
sich – beispielhaft – sowohl den Verbänden der Soziologie wie de-
nen der Politikwissenschaft verbunden. F. Scharpf studierte Recht
und Politik in Tübingen und Freiburg, absolvierte das Zweite
Staatsexamen, promovierte bei Arnold Bergstraesser und Horst
Ehmke,21 lehrte Verfassungsrecht, um sich dann explizit der Politik-
wissenschaft, später der politischen Ökonomie zuzuwenden.

19 Mayntz: Eine sozialwissenschaftliche Karriere, a.a.O., S. 287.


20 Ebd., S. 286.
21 Beide waren ihrerseits Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik: Horst
Ehmke als späterer Kanzleramtsminister unter Willy Brandt, Arnold Bergstraesser als
Mitbegründer der „Stiftung Wissenschaft und Politik“; Winand Gellner: Ideenagen-
turen für Politik und Öffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland,
Opladen 1995, S. 169f.
278 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

Beide haben vor ihrer Zeit am Max-Planck-Institut namhafte Pro-


fessuren inne gehabt. An R. MayntzÊ Zeit als Ordinarius für Sozio-
logie an der Freien Universität Berlin (1965-1971) schlossen sich
Lehrtätigkeiten an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in
Speyer (1971-1973) und an der Universität zu Köln (1973-1985) an.
F. Scharpf baute als Professor seit 1968 an der neu gegründeten
Universität Konstanz einen sozialwissenschaftlich-orientierten verwal-
tungswissenschaftlichen Studiengang auf. Er war dann von 1973-
1984 als Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialfor-
schung tätig;22 schloss dieser Zeit dann aber eine zweijährige Periode
als Forschungsprofessor an.
Hier zeigt sich die nächste Gemeinsamkeit, die R. Mayntz in al-
ler wünschenswerten Klarheit äußert: ıMein zentrales Interesse galt
immer der Forschung. [...] Insofern bestand zwischen meiner Lehr-
und meiner Forschungstätigkeit als Hochschullehrer primär eine
Beziehung der Konkurrenz um die knappe Ressource Zeit.„23 Diese
Forschungsorientierung kann für beide genauer beschrieben wer-
den, insbesondere in Abgrenzung zu dem gemeinhin dominieren-
den Bild der kritischen 1968er Intellektuellen. Beide verfolgten em-
pirische Forschungsprogramme, die sich – nicht ohne normative Be-
stimmungen, hier akzentuierte sich F. Scharpf mit seiner Demokra-
tietheorie jedoch kenntlicher – im Meadschen Sinne auch als prag-
matisch verstanden, d.h. als problemlösungsorientiert. Mit dieser
Auffassung gingen – hier liegt die weitere inhaltliche Schnittstelle –
die Beforschung administrativer Organisationen ebenso einher wie
politikberatende Tätigkeiten. Diese wurden in weithin bekannten
Forschungsverbünden durchgeführt. Gemeinsame Kooperationen in

22 Das 1969 gegründete WZB wurde nicht zuletzt durch die tätige Mithilfe von Horst
Ehmke bis Mitte der 1970er Jahre zu einem „Parade Think Tank der sozialliberalen
Planungseuphorie“; Gellner: Ideenagenturen, a.a.O., S. 189. Kurskorrekturen am WZB
wurden 1983 vom nunmehrigen Berliner CDU-Senat in die Wege geleitet; ebd.
23 Mayntz: Eine sozialwissenschaftliche Karriere, a.a.O., S. 288.
279

weit größeren Forschungsverbünden erfolgten in der Projektgruppe


Regierungs- und Verwaltungsreform (1966-1975), dann ab 1976 in
einem Verbund zur Implementationsforschung und später in einem
Verbund zur sozialwissenschaftlichen Technikforschung.24
Dazu kommt in beiden Fällen eine ausgesprochen aktive Mitar-
beit in den wissenschaftlichen Gremien – seien es beispielsweise das
Executive Committee des ECPR (1972-1976), die DFG-Senatskom-
mission für empirische Sozialforschung (1975-1980) oder das Re-
search Council am Europäischen Hochschulinstitut Florenz (1995-
2000) bei F. Scharpf, seien es der Deutsche Bildungsrat (1966-1970)
und der Senat der DFG (1974-1980) bei R. Mayntz – und den
Boards renommierter sozialwissenschaftlicher Fachzeitschriften. In
der Beteiligung an wissenschaftlicher Gremienarbeit, insbesondere
mit dem Schwerpunkt der – für Sozialwissenschaftler/innen seiner-
zeit nicht üblichen – Verbundforschung wird die spezifische Netz-
werkarbeit deutlich, die – neben den Ressourcen aus den politikbe-
ratenden Forschungen – maßgeblich zur Erklärung der Geltung des
steuerungstheoretischen Ansatzes beiträgt.

Die Projektgruppe Regierungs- und


Verwaltungsreform
Eingangs habe ich vorgeschlagen, R. Mayntz und F. Scharpf als
Verteidiger/innen einer Disziplin zu verstehen; die beiden wiederum
sind mit dieser gewachsen. Erinnern wir uns an die – zumindest
quantitative – Expansion der deutschen Politikwissenschaft seit den
späten 1960er Jahren. Wie ist diese zu erklären? Zunächst sehen wir
eine allgemeine Ausweitung von Wissenschaftseinrichtungen. Zu
denken ist kursorisch an das bildungspolitische Reformprogramm
der sozialliberalen Koalition, die artikulierten Ansprüche jener er-

24 Vgl. ebd., S. 289.


280 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

sten Kohorte von Kindern und Jugendlichen aus Arbeiterfamilien,


die historisch erstmalig einen Reallohnanstieg zu verzeichnen hat-
ten, der Druck zu technologischen Innovationen in deutschen Un-
ternehmen und schließlich die Interessen der Länder, durch die
Gemeinschaftsaufgaben zum Hochschulbau auch schnöde Struktur-
politik zu realisieren. Warum aber Politikwissenschaft? Dies mag
zum einen mit der Artikulationsfähigkeit einer Protestgeneration der
1968er zusammenhängen, die einen neuen, auch politisch aufgeklär-
ten, kritischen Bildungsbegriff reklamierten – kritische Bildung um
ihrer selbst oder um der gesellschaftlichen Veränderung willen,
oder um in die Schulen zu gehen. Zum anderen war die Idee der
politischen Planung und der Reformierung der trägen Ministerial-
bürokratien der Adenauer-Ära insofern ein bestimmender Faktor,
als dass sie mit der zumindest deklamatorischen Nachfrage nach
sozialwissenschaftlich aufgeklärter Politikberatung seitens öffentli-
cher Einrichtungen verbunden war. Die Expansion der Disziplin –
von 1965 über 1975 bis 1985 stieg die Zahl westdeutscher Professo-
ren der Politikwissenschaft von 51 über 133 auf 278 an25 – erklärt
sich mithin nicht allein aus der Artikulation der 1968er Generation,26
sondern auch aus einem sozialwissenschaftlich orientierten Pla-
nungsoptimismus dieser Jahre. R. Mayntz und F. Scharpf standen
und stehen als besonders hervorgehobene Personen für eine Poli-
tikwissenschaft, die nicht auf den Protest gegen Notstandverfassung,
Vietnam-Krieg und gegen autoritäre Strukturen reagiert, auch nicht
auf die Entspannungspolitik, sondern auf die Finanzverfassungsre-

25 Vgl. Cord Arendes, Hubertus Buchstein: Politikwissenschaft als Universitätslauf-


bahn. Eine Kollektivbiographie politikwissenschaftlicher Hochschullehrer/-innen in
Deutschland 1949-1999, in: Politische Vierteljahresschrift 45 (2004), Nr. 1, S. 9-31.
26 Interessanterweise sieht sich R. Mayntz selber als Teil einer „Kohorte“, nicht einer
wie auch immer gearteten 68er Generation; vgl. dies.: Eine sozialwissenschaftliche
Karriere, a.a.O., S. 293.
281

form des Mai 1969, die zu einem Ausbau der Hochschulen ebenso
führte wie zu einer Expansion des kooperativen Föderalismus.
Der Aufstieg sozialwissenschaftlicher Politikberatung, politikwis-
senschaftlicher Verwaltungsforschung und schließlich – im Beson-
deren – des Ansatzes des akteurzentrierten Institutionalismus ist
schlechterdings nicht erklärbar ohne den Bezug auf diesen histori-
schen Kontext des Planungsoptimismus und der Verwissenschaftli-
chung von Politik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre in der
damaligen BRD.27 (Nicht nur) für unsere Protagonist/innen war die
Tätigkeit der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform
(1966-1975) maßgeblich. Deren Spezifikum war nun nicht die gene-
relle Beratung hinsichtlich bestimmter materieller Sachprobleme,
sondern – angelegt an der Schnittstelle zwischen Verwaltungs- und
Sozialwissenschaften – die generelle Analyse und Reform der all-
gemeinen Organisation ministerieller Tätigkeit, d.h. die gesamte
Bundesregierung und -verwaltung sollte reformiert werden. W. Süß
hat Struktur, Arbeit und Wirkung der Projektgruppe und ihrer Vor-
läufer dargestellt.28 Dreierlei Expertengruppen haben deren Tätig-
keit geprägt: Zum einen Beratungsinstitute, die – wie Kienbaum
Consultants und McKinsey & Co – auf das pragmatische Organisa-
tionsmanagement und -restrukturierung spezialisiert waren. Rund 20
Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler – unter ihnen z.B.
Roman Herzog – haben Gutachten zu Einzelaspekten der Reform
vorgelegt. Schließlich arbeitete eine Gruppe von Sozialwissenschaft-
ler/innen – unter ihnen z.B. Heiner Flohr und Klaus Lompe – in der
Projektgruppe, aus der ab Ende 1969 eine kleinere Gruppe – beste-
hend aus F. Scharpf, R. Mayntz und Frieder Naschold – hervorging,

27 Vgl. Bleek: a.a.O., S. 384, 394.


28 Vgl. Winfried Süß: „Rationale Politik“ durch sozialwissenschaftliche Beratung? Die
Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform 1966-1975, in: Stefan Frisch,
Winfried Rudloff (Hg): Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in ge-
schichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 329-348.
282 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

die die Projektgruppe bei ihrer Arbeit berieten und, so W. Süß,


ıeine Art informellen Beirat„ bildeten.29
Die Wirkungen dieser Politikberatung hat W. Süß eher skeptisch
eingeschätzt, Hindernisse waren die Logik politischer Koalitionsbil-
dungen und -absprachen, sprachliche Differenzen zwischen Wissen-
schaftler/innen und Ministerialbeamten sowie schließlich die man-
gelnde politische Außenwirkung von Verwaltungsreformen. Diese
mobilisieren nur dann öffentlich, wenn sie unterbleiben; ihre eigent-
liche Realisierung ist kaum ein wahlbestimmendes Thema. Bereits
im März 1971 erfahren die Mitglieder der Projektgruppe, dass sie
politisch nicht mehr besonders unterstützt werden, das Interesse an
ihrer Tätigkeit war perdu.30
W. Süß zitiert R. Mayntz und F. Scharpf nun mit den Worten
vom ıschalen Geschmack einer enttäuschten Hoffnung„,31 und er
vermutet, dass die weiteren steuerungstheoretischen Konzepte diese
eher enttäuschenden Erfahrungen widerspiegeln.32 Nun haben aber
unsere Protagonisten bereits in dem zitierten Vorwort im unmittel-
bar folgenden Satz von einem ırealen Kern„ gesprochen und hin-
gewiesen auf ıdie Bereitschaft der politisch-administrativen Praxis,
Ergebnisse der Wissenschaft in den eigenen Entscheidungen zu ver-
arbeiten und sogar für die Verbesserung der Entscheidungsstruktu-
ren wissenschaftlichen Rat zu suchen.„33 Zudem verweist R. Mayntz
rund 25 Jahre später auf einen anderen Nutzen ihrer politikberaten-
den Tätigkeit: Deren Grenzen ıhaben mich nicht besonders fru-
striert. Der Wissensgewinn, durch den ich durch die offizielle Bera-
tungsfunktion privilegiert Zugang erhielt, schien mir ein ausreichen-

29 Ebd., S. 340.
30 Vgl. ebd., S. 345.
31 Ebd.
32 Vgl. ebd., S. 348, Fußnote 90.
33 Renate Mayntz, Fritz Scharpf (Hg.): Planungsorganisation. Die Diskussion um die
Reform von Regierung und Verwaltung des Bundes, München 1973, S. 7.
283

der Grund, um mich auf die – höchst zeitraubende – Nebentätigkeit


einzulassen.„34
Ambivalenzen sind durchaus erkennbar. Aber W. Süß wechselt
in seiner Betrachtung der Wirkungsweise – und das ist für meine
These relevant – die Perspektive: Vielleicht hatte sozialwissenschaft-
liche Beratung keine Auswirkungen auf Politik, dafür aber auf die
Politikwissenschaft? Die Antwort fällt eindeutig aus. Er verweist auf
die Umfrage, die Christine Landfried im Frühjahr 1986 unter Mit-
gliedern der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und
der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft durchführte.35
Auf die Frage: ıWer zählt zu den wichtigsten Vertretern der Poli-
tikwissenschaft, wenn man ihre Bedeutung in der Politikberatung
betrachtet?„, werden weit vor allen anderen F. Scharpf (81) und T.
Ellwein (78) genannt, Karl Kaiser folgt mit 31 Nennungen, Renate
Mayntz (als Nicht-Politologin!) weist 25 auf.36 Nun sind Bedeutung in
der Politikberatung und in der Politikwissenschaft nicht deckungs-
gleich, besonders normativ-ontologisch und kritisch-dialektische Po-
litikwissenschaftler/innen, beispielsweise aus der Marburger Abend-
roth-Schule, verfolgten eine gänzliche andere disziplinäre Ausrich-
tung. Oben wurde aber bereits auf eine andere ıRelevanzmessung„
verwiesen.
Mit Blick auf die Wirkungen innerhalb der Politikwissenschaft ist
der ıschale Geschmack enttäuschter Hoffnungen„ doch erheblich
zu relativieren, denn die Politikberatung im damaligen Planungs-
optimismus trug nicht unerheblich zur Karriere und Prominenz un-
serer Protagonist/innen bei. Ad personam: Mit dem Namen Horst
Ehmke ist der damalige Planungsanspruch verbunden, durch die

34 Mayntz: Eine sozialwissenschaftliche Karriere, a.a.O., S. 291.


35 N=203 Politologen, Arendes/Buchstein zählen für 1985 278 Politolog/innen.
36 Vgl. Christine Landfried: Politikwissenschaft und Politikberatung, in: Klaus von
Beyme (Hg.): Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungs-
probleme einer Disziplin, Opladen 1986, S. 104f.
284 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

innere Reorganisation von Regierungsapparat und Verwaltung


ıKabinett und Kanzler in die Lage zu versetzen, sich frühzeitig mit
dem Gesamtprogramm und mit den Grundsatzfragen großer Vor-
haben zu beschäftigen, statt nur zum Schluß die zwischen den Res-
sorts noch offenen Streitfragen zu entscheiden.„37 Die Planung schei-
tert an den ıRessortseparatisten„,38 die Politikberatung findet keine
ausführlichere Erwähnung, die Namen Ellwein, Naschold, Mayntz
und Scharpf sind im Personenregister seiner Biografie nicht gelistet.
Das ist im Falle F. Scharpfs besonders erstaunlich, insofern dieser
ein Schüler des früheren Staatsrechtslehrers aus Freiburg ist und H.
Ehmke seinerseits den – noch nicht habilitierten – Scharpf in einem
Schreiben ausdrücklich für denjenigen Lehrstuhl empfahl, den er
1968 antrat.39 Scharpf nutzte seine Chance und baute dort einen
Studiengang auf. Auch diese Anekdote macht eines deutlich: Poli-
tikberatung und wissenschaftliche Steuerungstheorien scheinen in
der Rückblende für die politischen Akteure irrelevant, nicht jedoch
für die Wissenschaftler/innen, deren Karrieremuster auf die Gele-
genheiten und Ressourcen reagieren, die durch staatliche Nachfrage
geschaffen werden.

Das Institut
Die Bedeutung von R. Mayntz und F. Scharpf sowie die Geltung
ihres Ansatzes sind sodann nicht erklärbar ohne die Gründung ei-
nes eigenen Forschungsinstituts. Die Erforschung der Geschichte
des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (MPIfG) steht
aus.40 Nachdem 1984 das Max-Planck-Institut für Sozialforschung

37 Horst Ehmke: Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin
1994, S. 114f.
38 Ebd., S. 116.
39 Vgl. Süß, a.a.O., Fußnoten 3 und 16.
40 Im Sachregister seiner Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland listet W.
Bleek zwar die Marburger Schule, die Kasseler Gesamthochschule und die Universität
285

geschlossen worden war, wurde 1985 in Köln das MPIfG errichtet,


Gründungsdirektorin war Renate Mayntz, ein Jahr später wurde
Fritz Scharpf Ko-Direktor. Zielsetzung des Instituts war ılangfristig
ausgerichtete, anwendungsoffene sozialwissenschaftliche Grundlagen-
forschung„, die durchaus auch ıWissen für die Politik„ zur Verfü-
gung stellen sollte. Entwickelt wurde das ıInstrumentarium des
akteurzentrierten Institutionalismus„. Einem ersten Forschungs-
programm, in dem Design und Optik der steuerungstheoretischen
Perspektive entwickelt wurden und das auf ıstaatsnahe Sektoren„
fokussiert wurde, folgte ab 1996 ein zweites, das stärker auf die
international vergleichende Analyse von Regulierungssystemen, auf
Mehrebenenregieren und auf Globalisierungsprozesse abzielte. Das
MPIfG wies im Jahr 2000 einen von der Max-Plank-Gesellschaft
finanzierten Haushalt von 6,5 Mio. DM auf, zusätzliche Finanz-
quellen erlaubten, dass im gleichen Jahr 36 Wissenschaftler/innen
tätig waren. Am MPIfG wird keine Auftragsforschung betrieben, es
geht um Grundlagenforschung. ıWer stellt die Forschungsfragen?„
Auf diese selbst gestellte – und für die hiesige Beschreibung der
Rolle von R. Mayntz und F. Scharpf bedeutsame – Frage ist die
Antwort eindeutig: Die Definition liegt bei den Direktoren, die ıbei
der Auswahl und Verwirklichung ihrer Forschungsvorhaben frei
und unabhängig„41 sind. Damit ist zunächst einmal die institutionell
starke Stellung der Direktor/innen markiert, die – durchaus in
wechselseitiger Kommunikation – maßgeblichen Einfluss auf die
Studien von über 30 Sozialwissenschaftler/innen haben.
In einem weiteren Schritt wäre hinsichtlich der Wirkungsge-
schichte des MPIfG zu fragen, wie diese Wissenschaftler/innen in
ihren weiteren Karrierewegen den steuerungstheoretischen Ansatz

Konstanz, nicht aber das Institut auf. Seine entsprechenden Informationen stammen
dann auch weitgehend von der Internetseite des Instituts; vgl. ders., a.a.O., S. 398.
41 www.mpi-fg-köln.mpg.de, 22.12.2004.
286 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

weiter verbreiten. Auch hier steht meines Wissens die empirische


Netzwerkanalyse aus. Der lediglich kursorische Überblick über den
Verbleib von langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen zeigt
eine gewisse Konzentration der Aktivitäten (Studium, Disserta-
tion/Habilitation, Professuren) im Dreieck MPIfG, Universität Kon-
stanz und Fernuniversität Hagen, aber auf keinen Fall eine entspre-
chende Begrenzung. Langjährige MPIfG-Mitarbeiter/innen besetzen
auch Lehrstühle in München, Berlin, Bremen, Osnabrück etc. Diese
ersten Hinweise zu institutioneller Verfestigung und zu Vernet-
zungspraktiken innerhalb der deutschen Politikwissenschaften kön-
nen somit ein weiteres Argument plausibilisieren: Innerhalb der
Disziplin haben sich R. Mayntz und F. Scharpf mit dem MPIfG eine
institutionelle Bastion der aufgeklärten Regierungslehre geschaffen,
durch die sie ihren Geltungsanspruch untermauern, ihre Konzeptua-
lisierungen zu einer ıSchule„ entwickeln und von ihnen sozialisierte
Wissenschaftler/innen platzieren.

Das Streitgespräch
Die Behauptung des Ansatzes innerhalb der Disziplin ging wie-
derum mit deren Behauptung gegen grundsätzliche Irrelevanzerklä-
rungen seitens der Soziologie einher. In geradezu idealtypischer
Weise wurde der Stellenwert der Politikwissenschaft und darin ins-
besondere der Stellenwert der Steuerungstheorie im Rahmen eines
Streitgespräches zwischen N. Luhmann und Fritz Scharpf auf dem
DVPW-Kongress im September 1988 verteidigt. Die ıhistorische
Überraschung„ (Mayntz 1995) des Jahres 1989 stand noch aus, die
ıalte„ Bundesrepublik richtete sich allmählich für den Europäischen
Binnenmarkt ein, Globalisierungsthemen dräuten.
287

Luhmann verdeutlichte, dass Handlungstheorie – ısie mag im


einzelnen noch so ,scharpfsinnigÂ[!] entwickelt werden„42 – nicht zur
Theorie gesellschaftlicher oder politischer Steuerung beitragen
kann.43 Scharpf widersprach ihm vehement, und zwar – das ist das
Entscheidende für die Behauptung der Politikwissenschaft als eige-
ner Disziplin – nicht durch Deskription und nicht durch eine herr-
schaftskritische Begründung, sondern durch eine akteurzentrierte,
steuerungstheoretische Argumentation. Luhmann wird unterstellt,
Akteurstheorien als ınicht satisfaktionfähig„ für die ıFundierung ei-
ner universellen Gesellschaftstheorie„ zu erachten.44 Scharpf betont
– spieltheoretisch angeleitet – die Relevanz von Konstellationen kol-
lektiver und korporativer Akteure. Er stellt die ımultilinguale Kom-
munikationskompetenz„ von Organisationen und Individuen gegen
die ısystematische Überschätzung der wechselseitigen Intransparenz
der Teilsysteme.„45 Er zeiht die Luhmannschen Steuerungs-
überlegungen der fehlenden Komplexität. Er pointiert, dass es kei-
nen Grund gäbe, Steuerungsschwierigkeiten ıals theoretische Un-
möglichkeit zu stilisieren„. Zwar seien Steuerungschancen nicht ge-
sichert, aber ıes gibt keinen theoretischen Grund, die Möglichkeit
einer absichtsvollen und im Sinne der eigenen Ziele erfolgreichen
Intervention [...] von vornherein auszuschließen.„ Damit ist es dann
gerettet gegen den systemtheoretischen Angriff: das ıGeschäft der
institutionalistischen Politikwissenschaft.„46 F. Scharpf hat sich in die
Bresche geworfen, Luhmann ist abgewehrt, das entscheidende Ba-
taillon wurde vom Kölner MPIfG gestellt, der Kongress geht weiter.

42 Niklas Luhmann: Politische Steuerung. Ein Diskussionsbeitrag, in: Politische Vier-


teljahresschrift 30 (1989), Nr.1, S. 8.
43 Ebd.
44 Fritz Scharpf: Politische Steuerung und Politische Institutionen, in: Politische Vier-
teljahresschrift 30 (1989), Nr. 1, S. 13.
45 Ebd., S. 15.
46 Ebd., S. 14.
288 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

Die Forschungsheuristik
Der Reigen akteurs- und institutionalistisch orientierter politikwis-
senschaftlicher Studien aus dem MPIfG setzt sich in folgenden Jahre
fort, die Publikationen sind Legion, die deutsche Optik findet ihre
Entsprechung in dem Aufschwung neo-institutionalistischer Ansätze
in der internationalen politikwissenschaftlichen Diskussion. 1995 –
die Emeritierung von Renate Mayntz im Jahr 1997 deutet sich an –
erscheint jener Sammelband, der nach zehnjähriger Forschungstä-
tigkeit am Institut durchaus als eine Zwischenbilanz gelesen werden
kann und auch entsprechend rezipiert wird. Als zentrale Gemein-
samkeiten der Studien des MPIfG werden von R. Mayntz und F.
Scharpf die ıSteuerung und Selbstorganisation in staatsnahen Sekto-
ren„ dar-, vor allem aber wird der Ansatz des ıakteurzentrierten In-
stitutionalismus„ vorgestellt. In diesem werden Institutionen erklä-
rende, jedoch keine determinierenden Wirkungen zugesprochen;
die Konstellationen von und Interaktionen zwischen korporativen
Akteuren rücken in den Vordergrund. Das ausdifferenzierte For-
schungsdesign wird von beiden Autoren als ıkomplexes analyti-
sches Raster„ beschrieben. Dementsprechend befassen sich die ein-
zelnen Studien mit jeweils einzelnen Aspekten. Die konzeptionelle
Klammer liefern die beiden Direktor/innen. Sie bleiben bescheiden:
Der akteurzentrierte Institutionalismus bietet ıkein Erklärungsmo-
dell, sondern bestenfalls eine Forschungsheuristik, indem er die wis-
senschaftliche Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Wirk-
lichkeit lenkt.„47 Ja, mehr noch, das Forschungsdesign, das aufgrund
der Integration instititutionalistischer und handlungstheoretischer
Ansätze überkomplex zu werden droht, ließe sich letztlich als
ıanalytische Hierarchisierung„ verstehen, der ıinstitutionelle Ansatz

47 Renate Mayntz, Fritz Scharpf: Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus,


in: Renate Mayntz, Fritz Scharpf: Gesellschaftliche Selbstregelung und politische
Steuerung, Frankfurt/Main 1995, S. 39.
289

[reduziert] den Informationsbedarf für befriedigende Erklärungen


erheblich.„48 Wenn Institutionen nicht hinreichende Erklärungen
liefern, dann müsse man sich den Interaktionskonstellationen und
Handlungen zuwenden.
Man gewinnt den Eindruck eines analytischen Werkzeugkastens
aufgeklärter Regierungslehre, die eine gewisse Ambivalenz offen-
bart. Der Behauptung handlungstheoretischer Konzepte gegen die
systemtheoretische Perspektive Luhmanns wird nun ein zwar kon-
zeptionell komplexes, aber im Theorieanspruch doch bescheidenes
Design beigestellt. Der Vergewisserung folgt mithin die Beschei-
dung: die fast schon lehrbuchartige Summierung von Faktoren, die
Steuerungsversuche und -wirkungen erklären; mithin geht es um
eine schnöde Forschungspragmatik.

Die Reichweite
Diese Pragmatik, die institutionalistische Orientierung des For-
schungsansatzes und die politikberatende Tätigkeit seiner Vertre-
ter/innen haben das Argument begründet, dass sich im Umfeld des
MPIfG eine unkritische Forschung etabliert hat. Durchaus findet
man mitunter mechanistisch anmutende und langweilig zu lesende
Studien braver Adepten, welche dieses Argument stützen. Es er-
scheint mir aber zu kurz gegriffen: Gerade in den Momenten der
Bescheidung wird deutlich, dass sich R. Mayntz und F. Scharpf stets
als reflexive Vertreter/innen eines Steuerungsansatzes erwiesen ha-
ben. Sie waren – das wurde z.B. bereits in den planungstheoreti-
schen Arbeiten zu Beginn der 1970er Jahre deutlich – eines tumben
Steuerungsoptimismus stets abhold. In besonderer Weise hat R.
Mayntz in den letzten Jahren über die Reichweite des eingeschlage-
nen Forschungsweges fachöffentlich nachgedacht. Im erneuten Um-

48 Ebd., S. 66.
290 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

schwung der Terminologie – nun heißt es nicht mehr Planung oder


Steuerung, sondern zeitgemäß Governance – wurde der Problemlö-
sungsbias der gewählten pragmatischen Forschungsperspektive
thematisiert. So wie R. Mayntz sich als Weberianische Forscherin
verortete,49 so weist sie nun wiederholt auf die spezifischen Auslas-
sungen jener Perspektive hin, die sie jahrelang vertreten hat: Sie
bemängelt, dass der Maßstab der Untersuchung von Steuerung ıdie
Problemlösungsfähigkeit der gefundenen Entscheidungen bzw. Lö-
sungen gewesen„ sei. Damit werde nur ein Aspekt der Wirklichkeit
erfasst. Das ımachtpolitische Kalkül„, und dass es in der Politik ıoft
in erster Linie um Gewinn und Erhalt politischer Macht„50 gehe,
werde in dem steuerungstheoretischen Paradigma nicht erfasst. Die
späte Bescheidenheit nach der Emeritierung? In der Eindeutigkeit
vielleicht, aber nicht, wenn im Rückblick die reflexive Differenziert-
heit des Forschungsansatzes betrachtet wird, der maßgeblich von R.
Mayntz und F. Scharpf entwickelt wurde. Diese haben die Reich-
weite und Auslassungen seit Ende der 1960er Jahre stets eigenstän-
dig thematisiert.

Zwei Intellektuelle?
Wenn man also erklären möchte, warum R. Mayntz und F. Scharpf
als sozialwissenschaftliche Experten aufgeklärter Regierungslehre zu
ihrem Status innerhalb der Politikwissenschaft der (ıalten„) Bundes-
republik gelangt sind, dann sind zwei Momente der Behauptung
hervorzuheben: Einerseits die Abwehr des systemtheoretischen An-
griff Luhmannscher Perspektive und die Betonung einer aufgeklär-
ten Steuerungsperspektive, die einer allgemeinen Normenallokation
durch spezifische Institutionen Geltung zuspricht. Damit haben sie
prominent den Charakter einer Disziplin verteidigt, dieser zugleich

49 Vgl. Mayntz: Eine sozialwissenschaftliche Karriere, a.a.O.


50 Mayntz: Governance im modernen Staat, a.a.O., S. 75.
291

jedoch ihren spezifischen Stempel aufgedrückt: Ihre steuerungstheo-


retische und pragmatische Lesart von politischer Analyse ist gegen-
über beispielsweise marxistisch-herrschaftskritischen zu einer domi-
nanten innerhalb der Disziplin geworden. 1968 formulierte Jörg
Kammler in einer Einführung in die Politikwissenschaft beispielhaft
die Sichtweise der Marburger Abendroth-Schule. Diese markierte
einen zweiten – im Ausgang der ökonomistisch-konservativen Pe-
riode der alten BRD durchaus relevanten – Strang der Politikwis-
senschaft, der mit der Zeit – besonders seit den späten 1980er Jah-
ren – letztlich an Bedeutung einbüßte. Mit Bezug auf die Kritische
Theorie Max Horkheimers pointierte J. Kammler die Aufgabe der
Politikwissenschaft als ıdie Analyse der Bedingungen politischer
Macht, ihrer konkreten Erscheinungsformen und der in ihnen wirk-
samen Entwicklungstendenzen. [...] Als kritisch-praktische Wissen-
schaft von den politischen Strukturen und Prozessen der Gesell-
schaft gewinnt politische Wissenschaft ihr Selbstverständnis und die
Einheit ihres Gegenstandes im Bezug auf Gesellschaft als historisch
sich entwickelnde Totalität, in der Herrschaftsstrukturen, Bewußt-
seinsformen und Strukturen gesellschaftlicher Reproduktion nicht
beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern als Ausdrucksformen
menschlicher Praxis notwendig zusammenhängen und sich im hi-
storischen Prozeß bedingen.„51
Darum war es Renate Mayntz und Fritz Scharpf nicht zu tun. Sie
thematisierten nicht die herrschaftsförmig organisierte ıTotalität„
von Gesellschaft, sondern spezifische Ausschnitte. Sie wollten ande-
res – nicht zuletzt aufgrund ihrer positiven wissenschaftlichen Sozia-
lisation in den USA –, und es ist ihnen gelungen, ihren Ansatz in-
nerhalb der Disziplin zu einem dominanten zu entwickeln. Diese
Position ist durch spezifische Formen der Ressourcenmobilisierung

51 Jörg Kammler: Gegenstand und Methode der politischen Wissenschaft, in: Wolfgang
Abendroth, Kurt Lenk: Einführung in die politische Wissenschaft, Bern 1968, S. 9-11.
292 Detlef Sack: Die Behauptung der Steuerungsidee. Zu Renate Mayntz und Fritz Scharpf

und Institutionalisierung erarbeitet worden. Das Geschäft der Poli-


tikberatung hat die Autoren mit internen Informationen administra-
tiver und politischer Prozesse ebenso versorgt wie mit Forschungs-
mitteln, die es erlaubt haben, junge Politikwissenschaftler/innen ein-
zustellen und zu sozialisieren. Schließlich steht zu vermuten, dass
die Entstehung des MPIfG ohne die Kontakte der Gründungsdirek-
torin nicht möglich gewesen wäre. Die Forschung in Projektverbün-
den und die Tätigkeit in wissenschaftlichen Gremien taten ein Übri-
ges. Prägend war mithin ein stetes, umfassendes wie kluges Netz-
werkmanagement, das empirischen Studien und theoretischen Über-
legungen zu Beachtung verhalf.
Gleichwohl erklären organisatorische Ressourcenmobilisierung
und Institutionalisierung, gute Empirie, die ständige Thematisierung
zeitgeschichtlicher institutioneller Strukturprinzipien und die theore-
tische Behauptung der disziplinären Eigentümlichkeit nur teilweise
die Geltung unserer beiden Protagonist/innen. Hinzu kommt ein
Moment der Bescheidenheit, das Ausdruck dauernder intellektuel-
ler Beschäftigung, aber zugleich der begrenzten Rolle als Intellek-
tuelle ist. Der Pathos des großen sozialwissenschaftlichen Entwurfes
war ihnen fremd. In der steten Aktualisierung ihres Konzeptes über
die begrifflichen Stufen der Planung, Steuerung, Koordination und
Governance haben sie nicht nur unterschiedliche Kohorten von Po-
litikwissenschaftler/innen und an Beratung interessierten Pragmati-
ker/innen in den Verwaltungen mit entsprechenden Überlegungen
konfrontiert, sondern ständig die Begrenzungen von Steuerung und
der Rationalität von Interventionen thematisiert. Damit blieben sie
disziplinär stets anschlussfähig, sie genossen und genießen fachöf-
fentlich hohe Wertschätzung, aber es fehlte ihnen das Moment der
öffentlichen Behauptung. Nun werden Intellektuelle der Finanzver-
fassungsreform vom Mai 1969 qua Thema nur begrenzt nachge-
fragt. Die verschlungenen Pfade beispielsweise des (nicht blockier-
293

ten!) Föderalismus ziehen nur dann mediales Interesse auf sich,


wenn in Presse und Fernsehen ıPolitiker-Bashing„ betrieben werden
kann. R. Mayntz und F. Scharpf haben sich aber ihrerseits auch in
einer öffentlichen Rolle stets selbst begrenzt. Sie sind nicht mit jenen
empirisch ungedeckten Aussagen, mit jenen ıgroßen Würfen„ und
zeitgeschichtlichen Interventionen an die Öffentlichkeit gegangen,
die zugleich ermunternd wie ıwindig„ daherkommen. Sie blieben
im guten Sinne solide, herausfordernd, kritisierbar und anregend.
Bei aller Unterschiedlichkeit der wissenschaftlichen Sozialisation,
theoretischen Verortung und Forschungspraxis: In diesen Momen-
ten scheint mir eine zentrale Ähnlichkeit zu dem mit dieser Fest-
schrift geehrten Wissenschaftler zu liegen.
295

Anne Heurgon-Desjardins und


die Dekaden von Cerisy1
Nicole Racine

1 Der vorliegende Text (Übersetzung von F.B. und K.M.) beruht in Teilen und mit eini-
gen Erweiterungen auf meinem Vortrag Porträt von Anne Heurgon-Desjardins, den
ich anläßlich der Dekade SIECLE im August 2002 vorbereitet habe; s. S.I.E.C.L.E.
Colloque de Cerisy. 100 ans de rencontres intellectuelles de Pontigny à Cerisy. Paris
(Collection Inventaires de l’IMEC) 2005. Die im vorliegenden Beitrag zitierten unver-
öffentlichten Briefe und Dokumente sind dem Archiv der Dekaden von Cerisy ent-
nommen, die Catherine Peyrou und Edith Heurgon dem Institut Mémoires de
l’édition contemporaine (IMEC ) in der Abbaye d’Ardenne überlassen haben.
296 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

Wollte man Anne Heurgon-Desjardins mit einer Frau aus dem fran-
zösischen Geistesleben vergleichen, so würde man selbstverständ-
lich an die Gastgeberin eines Salons denken. Aber das Vorbild, an
dem sie sich orientierte, waren nicht die aristokratischen Gesellig-
keitsformen vergangener Jahrhunderte, sondern dasjenige, das Va-
ter Paul Desjardins ihr über das Beispiel der Dekaden von Pontigny
vermacht hatte. Sie blieb dem Prinzip dieser Treffen treu: Es ging
darum, die aufgeschlossensten Geistesgrößen der Zeit an einem ab-
gelegenen Ort zusammenzubringen, um die Konfrontation der
Ideen in einer freien Diskussionsatmosphäre zu begünstigen.2 Sie
behielt den abwechselnden Turnus von literarischen, philosphisch-
künstlerischen und ökonomisch-sozialen Dekaden bei. Allerdings
war ıAnne Heurgon-Desjardins eine zu eigenständige Persönlich-
keit, um als bloße Nachlaßverwalterin zu agieren„,3 wie Maurice de
Gandillac bei der Darstellung ihres entscheidenden Beitrags zum
Erfolg der Dekaden von Cerisy geschrieben hat. Sie wurde zur In-
itiatorin einer intellektuellen Unternehmung, der sie sich mit Ener-
gie und Ehrgeiz widmete, nämlich die am Modell von Pontigny ori-
entierten Dekaden im Schloß von Cerisy-la-Salle, die sie im Alter
von 53 Jahren wieder aufnahm, nachdem sie dafür in der Abtei von
Royaumont von 1947 bis 1951 einen ıProbelauf„ gemacht hatte.
Zunächst werde ich die in Pontigny entstandenen literarischen
Freundschaften darlegen, die Anne Heurgon-DesjardinsÊ Persön-

2 Anne Heurgon-Desjardins (Hg.): Paul Desjardins et les décades de Pontigny. Etudes,


témoignages et documents inédits. Préface d’André Maurois, Paris 1964. Es sei auch
auf zwei jüngere, qualitativ hochwertige Studien hingewiesen: François Chaubet:
Paul Desjardins et les décades de Pontigny, Villeneuve d’Ascq 1999; François
Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer In-
tellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt/Main 2003.
3 Maurice de Gandillac: Anne Heurgon-Desjardins, in: Encyclopaedia Universalis;
ders.: Anne Heurgon-Desjardins 1899-1977, in: Bulletin des amis d’André Gide, Nr.
36. In Le siècle traversé. Souvenirs de neuf décennies (Paris 1998, S. 168) beschreibt
Maurice de Gandillac den Anteil, den Anne und Jacques Heurgon an den Diskussio-
nen von Pontigny hatten.
297

lichkeit, Lebensideal und ihre Vorstellungen von geistigem Aus-


tausch geformt haben. Anschließend werde ich sie als eine reprä-
sentative Persönlichkeit des Jahrhunderts porträtieren, wobei ich zu-
nächst ihre Rolle in Cerisy von den frühen fünfziger bis zu den spä-
ten sechziger Jahren darstellen werde, um mich dann den politi-
schen Dekaden zuzuwenden, die ihr persönliches Engagement be-
sonders deutlich hervortreten lassen.

Die literarischen Freundschaften von Anne


Heurgon-Desjardins
Bereits von Kindesbeinen an war Anne Heurgon-Desjardins daran
gewöhnt, mit den Autoren der Nouvelle Revue Française (NRF ) zu
verkehren, die sie als Familienmitglieder empfand und deren Nähe
sie stets gesucht hat. Es war ihr ein Herzenswunsch, den Geist der
NRF-Gruppe weiterzugeben, der in ihren Augen stets das Ideal ei-
ner offenen und liberalen literarischen Gruppe verkörperte. Wie
man den Aufzeichnungen, die sie gegen Ende ihres Lebens verfaßt
hat, entnehmen kann, stellte sie dieses Ideal den ıständigen Ver-
drängungskämpfen [entgegen], die danach in den surrealistischen
Gruppen, den Gruppen der Zeitschriften ,Tel Quel und ,ChangeÂ
existierten.„4
Zu ihren ältesten Freunden und Briefpartnern gehörten Charles
Du Bos (sie kommt immer wieder auf den ıZwist„ von 1929 zu
sprechen, der durch die Veröffentlichung des Dialogue avec André
Gide ausgelöst worden war) und André Maurois. Weitere mit Pon-
tigny verbundene Schriftsteller, die in Heugon-DesjardinsÊ Leben
gegenwärtig blieben, waren André Gide, Roger Martin du Gard
und François Mauriac, die jedoch nicht immer in der von Anne
Heurgon-Desjardins gewünschten Weise ihre Freundschaft erwider-

4 Anne Heurgon-Desjardins: Notes pour mes Mémoires 1971, Privatarchiv Cerisy.


298 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

ten. Ihre Verehrung für Gide stammte aus der Zeit der Kriegsjahre
in Algier, wo Jacques Heurgon als Hochschulprofessor tätig war
und wo das Ehepaar ihn für siebzehn Monate, von Juni 1943 bis
April 1945, beherbergte. Anne Heurgon-Desjardins empfing regel-
mäßig bei sich die Freunde, die Gide besuchen kamen, darunter
Jean Amrouche und Antoine de Saint-Exupéry.5 Bei zahlreichen
Gelegenheiten hat sie die Qualitäten Gides, sein Interesse an Men-
schen, seine Großzügigkeit erwähnt.6 Sie hat ihm jedoch vorgewor-
fen, sich wie ein Chamäleon an seine Umwelt angepaßt zu haben.
Dementsprechend führte sie seinen Gaullismus auf den Einfluß von
Jean Amrouche, seinen Skeptizismus auf den Einfluß der Petite
Dame, Madame Van Rysselberghe, und ihres Umfeldes zurück.
Aufgrund dieser Nähe aus der Zeit in Algier gelangte sie zu der
Überzeugung, daß der wahre Gide derjenige gewesen sei, den sie
bei sich zu Hause erlebt hatte und der somit den schlechten Einflüs-
sen des Vaneau entzogen gewesen war.7 Sie wußte jedoch, daß es
den äußeren Umständen zu verdanken war, daß sie in der Nähe
von Gide leben dürfte.8 In den Entretiens avec André Gide spricht
sie von ihrer Rückkehr zur Religion, die sie auf den indirekten Ein-
fluß des Schriftstellers zurückführt. Erzogen im Geist eines vom
christlichen Spiritualismus geprägten Humanismus, getauft, aber
nicht praktizierend, war es ihr 1948 außerordentlich wichtig, den
Schriftsteller darüber zu informieren, bat ihn jedoch (ımit Blick auf

5 Max-Pol Fouchet, Gründer der Zeitschrift Fontaine, hat die Anziehungskraft bestä-
tigt, die die Anwesenheit Gides dem Haushalt der Heurgons verlieh. Eine bissige
Darstellung des Schriftstellers hat er in seinem Beitrag für die Ausgabe Gide à Alger
des Magazine littéraire (Mai 1967) geliefert.
6 Anne Heurgon-Desjardins: Introduction „Gide à Alger“, in: Marcel Arland, Jean
Mouton (Hg.): Entretiens sur André Gide, Paris u.a. 1967, S. 1-12.
7 Vaneau ist der feststehende Begriff für die Pariser Wohnung André Gides in der Rue
Vaneau, wo sich wichtige Persönlichkeiten aus dem NRF-Kreis regelmäßig trafen.
8 Anne Heurgon-Desjardins: Grandeur et misère de Charles Du Bos. Le dialogue avec
André Gide, in: Georges Poulet, Michèle Leleu, Jean Mouton (Hg.): Permanence de
Charles Du Bos, Paris 1976, S. 221.
299

die Spötteleien des Vaneau), ihren Brief zu verbrennen – einem


Wunsch, dem er auch nachgekommen ist. Später löste sie sich wie-
der von der religiösen Praxis, verlor jedoch nie das Interesse an re-
ligiösen Problemstellungen, und es ist ihr zu verdanken, daß Geistli-
che wie Jean Daniélou, Stanislas Breton und Michel de Certeau in
Cerisy anzutreffen waren.
Nach dem Tod André Gides hat sie mit Empörung auf das Por-
trät reagiert, daß Roger Martin du Gard in A la recherche dÊAndré
Gide gezeichnet hat.9 Sie blieb stets in enger Verbindung mit den
Schriftstellern, die sie geliebt hatte, indem sie die Briefe von Gide,
Roger Martin du Gard und Mauriac wiederlas und sich mit Leiden-
schaft in die erschienenen Briefwechsel von NRF-Autoren vertiefte,
vor allem in den Briefwechsel Gide-Claudel und in die Journaux
von Charles Du Bos. Im Briefwechsel mit Ernst Robert Curtius, der
ihre erzählerischen Fähigkeiten, ihre Treue zu den Freunden von
Pontigny und die von ihr geplante Studie über Charles Du Bos
wertschätzte, ist oft von den Ehemaligen von Pontigny die Rede.10
Ihr war bewußt, daß ihr Leben ıeine Schnittstelle zwischen Ver-
gangenheit und Zukunft bildete, hinter ihr die verschwundene Ge-
neration, vor ihr die kommende.„11 Sie fühlte sich für die Weiter-
gabe der von ihr gelebten Geschichte verantwortlich, einer Ge-
schichte von Freunden und Freundschaften, die auch ein Kapitel
der französischen Literaturgeschichte darstellte.12 Bei ihren Vorbe-
reitungen für eine Dekade zu Ehren André Gides im Jahre 1964 litt
sie unter dem relativen Desinteresse, das Gide und seinen NRF -

9 Anne Heurgon-Desjardins, unveröffentlichtes Manuskript über Roger Martin du Gard,


Archiv Cerisy.
10 Briefe von Ernst Robert Curtius an Anne Heurgon-Desjardins, 27. April 1948, 28. Fe-
bruar 1950, Archiv Cerisy. In den Cerisy-Archiven befinden sich die Kopien des
Briefwechsels zwischen Curtius und Anne Heurgon-Desjardins. Die Originale hat die
Familie der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet in Paris überlassen.
11 Anne Heurgon-Desjardins: Mémoires IV, 29. Januar 1956, Archiv Cerisy.
12 Anne Heurgon-Desjardins an Jean Delay, 06.01.1964, „André Gide“-Dekade, IMEC-
Archiv.
300 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

Freunden entgegengebracht wurde. Sie war hocherfreut über die


Teilnahme eines jungen Hochschulforschers, Claude Martin, und
schlug eine Dekade über die jungen Autoren des nouveau roman vor.
Obwohl sie so gut über die Schriftsteller, die sie kannte, zu er-
zählen wußte,13 konnte sie sich nie ihren Traum erfüllen, selbst eine
echte Schriftstellerin zu werden. Sie arbeitete an ihren Memoiren
und sammelte Notizen für die Abfassung eines Romans, in welchem
sich einer der Erzählstränge um ihre gescheiterte Ehe mit Jacques
Heurgon drehen sollte.
Als große Leserin hielt sie sich stets über die neuesten zeitgenös-
sischen Romane auf dem Laufenden, sehr zum Erstaunen ihres
Freundes Curtius, der sich über ihre Jugend im Geiste freute.14
Als Lyrikliebhaberin15 begrüßte sie es, wenn in Cerisy Dekaden
veranstaltet wurden, bei denen lebende Dichter wie Raymond
Queneau oder Giuseppe Ungaretti im Mittelpunkt standen. Der Er-
folg des nouveau roman16 hingegen irritierte sie, da sie selbst die
klassische Form des Romans bevorzugte. Nichtsdestominder ver-
traute sie 1963 (auf Empfehlung von Roland Barthes, dessen Origi-
nalität sie erkannte) den jungen Autoren und Theoretikern von Tel
Quel, Philippe Sollers und Marcelin Pleynet, die Gestaltung einer
Dekade zum Thema Une nouvelle littérature an. Sie lehnte aller-
dings die literarischen Exkommunizierungen und die Exklusivitäts-
ansprüche von Tel Quel ab, wie sie es Marcelin Pleynet auch mitge-
teilt hat.17 1966 stimmte sie einer Dekade über den Surrealismus so-

13 Siehe z.B. Anne Heurgon-Desjardins: Les décades de Pontigny et de Cerisy: de Gide


à Queneau, in: L’art des confins, Mélanges Gandillac, Paris 1985.
14 Ernst Robert Curtius an Anne Heurgon-Desjardins, 1949.
15 Anne Heurgon-Desjardins an Jean Tardieu, Royaumont, Briefwechsel 1951, IMEC-
Archiv.
16 Anne Heurgon-Desjardins an Nathalie Sarraute, 19.05.1963, „Une nouvelle littéra-
ture“-Dekade, IMEC-Archiv.
17 Brief von Anne Heurgon-Desjardins an Marcelin Pleynet, 06.08.1963, „Une nouvelle
littérature“-Dekade, IMEC-Archiv.
301

wie einer weiteren über die Tendances actuelles de la critique zu,


an der sich viele Schriftsteller und Hochschulprofessoren beteiligten.

Die Dekaden
Nachdem Anne Heurgon-Desjardins sich entschieden hatte, die De-
kaden in Royaumont (1947-1952) wiederaufleben zu lassen, wandte
sie sich zunächst an die älteren Freunde von Pontigny, d.h. Jean
Schlumberger und Marcel Arland, sowie an die jüngeren, u.a. an
Maurice de Gandillac, Raymond Aron, Vladimir Jankélévitch und
Jacques Madaule. 1952 wagte sie den Sprung und eröffnete den
Centre culturel von Cerisy, gründete den Verein der Freunde von
Cerisy-Pontigny, der bis 1964 von Marcel Arland und seitdem von
Maurice de Gandillac geleitet wird. Bereits 1948 versuchte sie, al-
lerdings erfolglos, Ernst Robert Curtius zu den ersten Dekaden ein-
zuladen, da er in ihren Augen die deutsch-französische Tradition
von Pontigny verkörperte.18 Dieser lobte zwar das Engagement sei-
ner Freundin, machte sich jedoch gleichzeitig Sorgen um sie:19 ıWie
viele Sorgen und wie viele Dinge haben Sie sich da bloß aufgebür-
det!„ Und irritiert fragte er sie: ıSind die ,Freundschaften von Pon-
tigny erneuerbar?„20
Anne Heurgon-DesjardinsÊ Briefwechsel belegt, daß sie sich bei
der Organisation der Dekaden stark engagiert hat. Ihre Briefe (von
denen sie stets eine Durchschrift behielt) zeigen die Energie, die
Herzenswärme, gelegentlich aber auch die Schärfe in ihrem Um-
gang mit Menschen, aber auch ihre Konzeption des geistigen Aus-
tauschs: ıIch lege darauf Wert, daß sich jeder in Cerisy zu Hause
fühlt, daß die Vertreter der verschiedenen Länder, Religionen und

18 Brief von Curtius an Anne Heurgon-Desjardins, 27.04.1948.


19 Anne Heurgon-Desjardins an Pater Avril, 27.03.1955, „La Résistance a-t-elle encore
un rôle à jouer?“-Dekade, 1955, IMEC-Archiv.
20 Brief von Curtius an Anne Heurgon-Desjardins, [06.06.] und 12.08.1952.
302 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

Philosophien einander kennen und schätzen lernen, was durch das


enge Zusammenleben erleichtert wird.„21
Aus ihren Erfahrungen in Pontigny hatte sie gelernt, daß die
ıDiskussionen zwischen kultivierten Geistern„ das eigentlich interes-
sante waren, daß die Anzahl der Vorträge nicht zu groß sein durfte
und daß die Diskussionsthemen sich auf natürliche Weise ergeben
sollten.22
Mit dem wachsenden Erfolg der Dekaden entwickelte sich deren
Finanzierung zunehmend zu einer Belastung für Anne Heurgon-
Desjardins. Sie scheute keine Mühen, um regelmäßige Zuschüsse
von den Kulturabteilungen in den Ministerien zu erhalten. Malraux,
der zu den Ehemaligen von Pontigny gehörte, dort auch Mitglied
des Verwaltungsrates gewesen war und in der V. Republik das ihm
angetragene Amt des Kulturministers angenommen hatte, lehnte
zwar stets Einladungen nach Cerisy ab, bewies jedoch seine Treue,
indem er das Centre culturel finanziell unterstützte. In den Archiven
von Cerisy findet man Belege für die zahlreichen Anfragen Anne
Heurgon-DesjardinsÊ an Gaëtan Picon, Leiter des Ministerialkabi-
netts von Malraux, sowie an Basdevant, der die Kulturabteilung im
Außenministerium leitete. Nicht nur zu Malraux, sondern auch zu
anderen gaullistischen Persönlichkeiten – so zu Robert Bordaz und
Louis Joxe, die sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützt ha-
ben – hat sie stets gute Beziehungen unterhalten.
Anne Heurgon-Desjardins hat eine entscheidende Rolle bei der
Themenauswahl für die Dekaden sowie bei der Benennung des je-
weiligen Dekaden-Verantwortlichen gespielt. So verpflichtete sie
Jacques Madaule für die Dekaden über Israel (1954-1955), Maurice
de Gandillac für die philosophischen Dekaden und Raymond Aron

21 Anne Heurgon-Desjardins an Pater Avril, a.a.O.


22 Anne Heurgon-Desjardins an Professor Reinhard Kuhn, 18.08.1964, „André Gide“-
Dekade, IMEC-Archiv.
303

für die historischen Dekaden, von denen die über Arnold Toynbee
(LÊHistoire et ses interprétations, 1958) besonders hervorzuheben ist.
Auch gelang es ihr, jüngere Schriftsteller für die Leitung der literari-
schen Dekaden zu gewinnen, u.a. Francis Ponge, Jean Lescure,
Gaëtan Picon, Jean Follain, Georges-Emmanuel Clancier (die bei-
den letztgenannten leiteten 1960 die Queneau-Dekade) und André
Pieyre de Mandiargues, der 1960 für die Ungaretti-Dekade verant-
wortlich war. Dank ihrer geistigen Offenheit war es ihr möglich, der
Durchführung von Dekaden zuzustimmen, die sich mit ihr wenig
vertrauten Themen beschäftigten, so mit der Psychoanalyse oder
mit den Naturwissenschaften. Zudem stand sie gesellschaftlichen
Fragestellungen aufgeschlossen gegenüber (Avenir du planning fa-
milial en France, 1961).
Unterstützt von Jean Ricardou wurde ihre Tochter Edith, die
sich für die Probleme der Avantgarde und der disziplinären Öff-
nung der Sozialwissenschaften interessierte, arbeitsteilig in die orga-
nisatorische Arbeit eingebunden; Anne Heurgon-Desjardins dage-
gen befaßte sich mehr mit den Fragen, die das Erbe Pontignys be-
rührten. So leitete sie 1959 persönlich die Dekade Souvenirs de
Pontigny, die anläßlich des hundertsten Geburtstags ihres Vaters
Paul Desjardins veranstaltet wurde. Und von ihr stammte auch die
Idee, den Autoren der Nouvelle Revue Française mehrere Dekaden
zu widmen – darunter Paul Valéry (1965), Charles Du Bos (1972),
Jacques Rivière (1974) –, wobei ihr die Dekade über André Gide
(1964) besonders am Herzen lag und zu einem großen Erfolg
wurde. Selbst gegen Ende ihres Lebens, also zu einer Zeit, in der sie
bereits die Verantwortung an ihre Töchter übergeben hatte, schlug
sie Themen vor, u.a. eine Dekade über Solschenizyn (1972) sowie
eine Georges Lerminier und seiner Tochter anvertraute Dekade
304 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

über Ionesco (1974), und sie regte eine Dekade über Gabriel
Marcel als Philosophen an.23
Als sie Anfang der 70er Jahre auf 20 Jahre Begegnungsarbeit zu-
rückblicken konnte und über ihre Nachfolge nachdachte, erläuterte
sie Edith ihre Philosophie: ıIch würde sagen, daß – wie alle regel-
mäßigen Teilnehmer es auch bestätigen – der einzigartige Erfolg
des Cerisy-Milieus der Zusammenarbeit überaus verschiedener
Menschen und der von mir eingebrachten Leidenschaft und mei-
nem Sinn für Menschen zu verdanken ist [...]. Wie ich es Dir ge-
schrieben habe, denke ich, daß die Heranführung neuer Kräfte
günstig wäre, insbesondere durch die Einbindung junger Persön-
lichkeiten in die Organisation von Kolloquien, die einerseits auf de-
ren Interessen zugeschnitten wären und sich andererseits auf die Er-
fahrungen der Älteren beziehen würden. Einschränkende Festle-
gungen sollten so weit wie möglich ausgeschlossen werden, und es
sollte möglichst keinen Anlaß dazu geben, daß man mit Cerisy
bricht, wie man etwa mit ,Tel Quel bricht.„24 Gelegentlich war sie
erschüttert von der ıtheoretischen Unnachgiebigkeit„ und der intel-
lektuellen Heftigkeit, welche die Debatten der siebziger Jahre kenn-
zeichneten.25 Oft zitierte sie Saint-Exupéry, den sie aus ihrer Zeit in
Algier kannte und der gesagt hatte, daß man darauf hinarbeiten
müsse, ıdie Menschen zu einen.„

23 Anne Heurgon-Desjardins an Edith Heurgon, 29.09.1972, Archiv Edith Heurgon.


24 Anne Heurgon-Desjardins an Edith Heurgon, 26.11.1971, Archiv Edith Heurgon.
25 Françoise Gaillard, in: En souvenir d’Anne Heurgon-Desjardins. Texte présenté à
l’Assemblée générale de l’Association des Amis de Pontigny-Cerisy, à l’Ecole nor-
male supérieure, le 20 février 1978.
305

Die politisch und historisch ausgerichteten Dekaden


ıIch habe von meiner Familie die Schwäche geerbt, durch ein lei-
denschaftliches Interesse an Politik viel Zeit zu verlieren.„26 Diesen
Satz hat sie in vielen Briefen wiederholt. Gemäß der Familientradi-
tion stand sie einer gemäßigten, humanistischen und nicht-kommu-
nistischen Linken nahe, die in sozialen Fragen reformorientiert war
und den Europagedanken befürwortete. Sie selbst konnte einer so-
zialistischen Linken zugeordnet werden, der auch viele Christen an-
gehörten.
Sie schlug mehrere Themen für politisch-soziale Dekaden vor
und bemühte sich gleichzeitig darum, daß diese nicht zum Aus-
bruch von Konflikten führten. 1955 plante sie, eine Dekade zu dem
von ihr bewunderten Pierre Mendès France zu veranstalten, verzich-
tete aber nach dem Sturz der Regierung Mendès France auf dieses
Vorhaben, da sie befürchtete, daß die Diskussionen zu kontrovers
verlaufen könnten. Aus dem gleichen Grund fragte sie sich, ob die
von Daniel Mayer vorgeschlagene Dekade zum Thema Peut-on en-
core se grouper autour de lÊidée de Résistance? 27 wirklich ange-
bracht sei. Sie gab später jedoch zu, daß ihr Zögern unberechtigt
gewesen war und blieb in enger Verbindung mit dem Sozialisten
Daniel Mayer, dem Linksgaullisten Alban Vistel und dem Parti So-
cialiste nahestehenden Historiker Henri Michel, die diese Dekade
gemeinsam organisiert hatten.28 Auch anderen politisch ausgerichte-
ten Dekaden schenkte sie größte Aufmerksamkeit. Sie unterstützte
die Idee für zwei Kolloquien über Israel, die der ihr nahestehende
Jacques Madaule, seit 1948 Präsident der Organisation Amitiés

26 Anne Heurgon-Desjardins an Jean d’Ormesson, 01.05.1969, Briefwechsel 1969, IMEC-


Archiv.
27 Anne Heurgon-Desjardins an Jean-Marie Soutou, [Mai 1955], „La Résistance a-t-elle
encore un rôle à jouer?“-Dekade, IMEC-Archiv.
28 Anne Heurgon-Desjardins an Daniel Mayer, 31.05.1955, „La Résistance a-t-elle encore
un rôle à jouer?“-Dekade, IMEC-Archiv.
306 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

judéo-chrétiennes, im Sommer 1954 (LÊEtat dÊIsraël, son rôle et sa


mission) und im Sommer 1955 (La mission historique dÊIsraël ) ver-
anstaltet hatte. In dieser Zeit freundete sie sich auch mit Léon und
Germaine Poliakov an.
In der Geschichte von Cerisy stellt jedoch insbesondere die phi-
losophische Dekade im Sommer 1955 ein einschneidendes und um-
strittenes Ereignis dar. Dominique Janicaud hat den Stellenwert die-
ser Dekade für die französische Rezeption des Heideggerschen
Denkens gut nachgezeichnet.29 Hier soll es darum gehen, die
Gründe zu ermitteln, die Anne Heurgon-Desjardins dazu brachten,
mit Begeisterung den Vorschlag von Jean Beaufret aufzugreifen,
Heidegger zur philosophischen Dekade des Sommers 1955 einzula-
den. Diese Dekade (27. August bis 4. September 1955) wurde zu
einem Erfolg für die Initiatorin der neubelebten Dekaden: für Jean-
Paul Aron war dies eine ıMeisterleistung„, die er in seinem Buch
Les Modernes mit ironischem Unterton beschrieben hat.30 Die mit
QuÊest-ce que la Philosophie? betitelte Dekade erschien einigen
Zeitgenossen aufgrund der Teilnahme von Heidegger als bedenk-
lich. Eine Reihe von Cerisy-Freunden verwiesen beunruhigt auf das
Problem hin, daß der Philosoph 1933 das Nazi-Regime unterstützt
hatte. Durch Zufall wollte es, daß zudem im gleichen Sommer ( Juli
1955) die Dekade zur Résistance -Thematik vorgesehen war. Daniel
Mayer war einer der ersten, der seinem Unbehagen Ausdruck ver-
lieh: ıAufgrund des angegebenen Titels ist nicht klar erkennbar, ob
Heidegger kommen wird oder nicht. Diesbezüglich möchte ich Ih-
nen meine Verwirrung nicht verheimlichen.„31 Zu diesem Zeitpunkt
(25. Juni 1955) stellte Daniel Mayer zwar seine Teilnahme an der
Juli-Dekade zur Résistance -Thematik nicht in Frage, aber er stellte

29 Dominique Janicaud: Heidegger en France, Paris 2001.


30 Jean-Paul Aron: Les Modernes, Paris 1984, S. 99ff.
31 Daniel Mayer an Anne Heurgon-Desjardins, 25.06.1955, „La Résistance a-t-elle encore
un rôle à jouer?“-Dekade, IMEC-Archiv.
307

unmißverständlich klar: ıDie Empfindungen Ihrer engsten Freunde


können Ihnen nicht völlig gleichgültig sein. Dabei ist es offensicht-
lich, daß die Teilnahme von Heidegger eine große Zahl französi-
scher Patrioten schockiert, darunter nicht nur ehemalige Wider-
standskämpfer.„32 Als Vladimir Jankélévitch erfuhr, daß Heidegger
tatsächlich in Cerisy anwesend war, sandte er am 29. August 1955,
also zwei Tage nach der Eröffnung der Dekade, einen Brief an
Anne Heurgon-Desjardins, in dem er seinen Austritt aus dem Ver-
ein der Freunde von Pontigny-Cerisy mitteilte. Er schrieb ihr, daß er
bis zur letzten Minute auf eine Absage des Eingeladenen selbst ge-
wartet hätte, um einer schmerzvollen Entscheidung doch noch ent-
gehen zu können; gleichzeitig erwähnte er ıseine Verbundenheit
mit den vielen gemeinsamen und unauslöschlichen Erinnerungen
aus unserer Jugendzeit„ und versicherte ihr, daß er ıdem Geist von
Pontigny unverändert treu bleibe.„33
Es scheint, daß diese feindseligen Reaktionen Anne Heurgon-
Desjardins vor allem deswegen überraschten und verärgerten, weil
sie dieser Tagung zugestimmt hatte, um die in Pontigny gepflegte
Tradition deutsch-französischer Begegnungen neu zu beleben:
ıMehr als jemals zuvor stellt dies für mich die Möglichkeit dar,
meine Verbindungen mit Deutschland wieder aufzunehmen.„34 Sie
selbst stützte sich auf das von Beaufret und Axelos erstellte Dossier,
um den von ihr als ıignorante Verleumdungen„ bezeichneten An-
griffen entgegenzutreten. Nach dieser Dekade erhielt sie eine Viel-
zahl von Briefen, die sie darin bestärkten, daß es richtig gewesen

32 Ebd.
33 Vladimir Jankélévitch an Anne Heurgon-Desjardins, 29.08.1955, „Qu’est-ce que la
philosophie? Autour de Martin Heidegger“-Dekade, IMEC-Archiv. S. die Antwort der
Gastgeberin vom darauffolgenden Tag, 30.08.1955, ebd.
34 Anne Heurgon-Desjardins an Jacques Madaule, o.J. [1955], „La Mission historique
d’Israël“-Dekade, IMEC-Archiv. Bei dieser Gelegenheit kritisiert sie die Rolle bestimmter
Persönlichkeiten in der französischen Besatzungszone, so die des Germanisten Pierre
Grappin, und bezieht sich dabei auf „die besten Deutschen“ wie Curtius, ebd.
308 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

war, an dieser Veranstaltung festzuhalten, und sie war Gabriel


Marcel dankbar dafür, daß er das Schlußwort zu dieser Dekade ge-
sprochen hatte. Diejenigen indessen, die wie Vladimir Jankélévitch,
Daniel Mayer oder Alexandre Koyré ihre Ablehnung zum Aus-
druck gebracht hatten, fielen bei ihr in Mißgunst.35
Die Kritik berührte nicht nur ihren Stolz als Organisatorin, sie
stellte auch ihre Vorstellungen über die Beziehungen mit Deutsch-
land und ihre moralischen Überzeugungen in Frage. Bereits zu Be-
ginn der Heidegger-Affäre Ende Mai 1955 versicherte sie Daniel
Mayer, daß sie stets den Antisemitismus abgelehnt habe.36 Dement-
sprechend betroffen war sie von dem Brief, den ihr Jean Cassou,
der als Teilnehmer an den Israel-Dekaden bisher nicht aktiv an der
Debatte teilgenommen hatte, 1956 zusandte. Er schrieb ihr, daß
nach Auschwitz ısolche Worte wie ,VergessenÂ, ,VerzeihenÂ,
,Annäherung usw. als absolut sinnentleert erschienen.„37 Als Ant-
wort auf diesen Brief hat sie vermutlich ein Schreiben verfaßt, in
welchem sie sich dagegen verwahrte, von der Tragödie der natio-
nalsozialistischen Verfolgungen unbeeindruckt zu sein.38 Die Begeg-
nung mit Martin Heidegger verstand sie als einen Beitrag zur Be-
kämpfung des Hasses. Zur Untermauerung dieser Sichtweise berief
sie sich erneut auf Gabriel Marcel, der den Wunsch geäußert hatte,
daß diese Begegnung das gegenseitige Verständnis der Jugend bei-
der Länder befördern möge.

35 „Liebe Freundin, aufgrund unserer bereits langjährigen Freundschaft und aufgrund


meiner noch älteren Verbundenheit mit Pontigny erlaube ich mir Ihnen mitzuteilen,
wie sehr es mich geschmerzt hat, als ich erfuhr, daß ein Nazi – ich spreche von
Martin Heidegger – nach Cerisy eingeladen und dort empfangen worden ist.“
Alexandre Koyré an Anne Heurgon-Desjardins, o.J. [1955], IMEC-Archiv.
36 Anne Heurgon-Desjardins an Daniel Mayer, 31.05.1955, „La Résistance a-t-elle encore
un rôle à jouer?“-Dekade, IMEC-Archiv.
37 Jean Cassou an Anne Heurgon-Desjardins, 01.02.[1956], „Qu’est-ce que la Philoso-
phie?“-Dekade, IMEC-Archiv.
38 Originalkopie eines maschinengeschrieben Briefes von Anne Heurgon-Desjardins,
o.J. und ohne Anschriftsangaben, IMEC-Archiv.
309

Die Politik, De Gaulle, Algerien und der Mai 1968


Bei der Auswahl der Themen für die Dekaden sowie deren Leitung
vertraute Anne Heurgon-Desjardins zumeist solchen Persönlichkei-
ten, die ihrer Meinung nach kompetenter waren als sie selbst. Da-
gegen hielt sie mit ihren politischen Überzeugungen nicht hinter
dem Berg und verteidigte sie mit der ihr eigenen Leidenschaft. Ihre
Überzeugungen hatten nicht unbedingt Einfluß auf den Ablauf der
Dekaden, aber sie sollen im Rahmen eines Porträts der Cerisy-Initia-
torin, deren ganze Persönlichkeit sowohl in ihrer Begeisterungsfä-
higkeit als auch in ihren Abneigungen zum Ausdruck kam, nicht
verschwiegen werden. Dieser Rückblick auf die Politik muß mit den
Kriegsjahren in Algier beginnen, wo sie als Gegnerin des Vichy-Re-
gimes und als Befürworterin der angelsächsischen Alliierten eine
klar antigaullistische Haltung entwickelte und der autoritären Per-
sönlichkeit des General de Gaulles mit Antipathie begegnete. Hat-
ten ihr alter Freund André Maurois,39 der 1943 in Algier eingetrof-
fen war, und Antoine de Saint-Exupéry, den sie bewunderte und
immer empfing, wenn er André Gide besuchte, sie in ihrer antigaul-
listischen Haltung beeinflußt? In ihrem näheren Umfeld waren nur
André Gide und Jean Amrouche gaullistisch eingestellt. In der IV.
und dann in der V. Republik teilte sie selbstverständlich den Anti-
gaullismus, der in den linksgerichteten Intellektuellenmilieus sowie
in den Parteien und Verbänden und dann in der antikolonialisti-
schen Linken dominierte. In den Reihen der letzteren war auch ihr
Sohn engagiert. Obwohl sie im Unterschied zu Jacques Heurgon
niemals ein französisches Algerien befürwortet hat, unterhielt sie
trotz ihres AntigaullismusÊ gute Beziehungen mit Alfred Fabre-Luce,
einem treuen Pontigny-Anhänger. Gleichzeitig war sie der Meinung,

39 André Maurois: Mémoires, Paris 1970, S. 367.


310 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

daß de Gaulle ıals einziger eine Lösung der (seit 1942 unausweich-
lichen) Algerienkrise herbeiführen konnte.„40
Im Mai 1968 verfolgte sie leidenschaftlich das politische Gesche-
hen. Mit ihren Kindern begeisterte sie sich für den Elan der studen-
tischen Protestbewegung und stimmte ganz mit ihrem Sohn Marc
überein, der als Sekretär des Parti socialiste unifié auch für die stu-
dentische Abteilung dieser Partei verantwortlich war. Raymond
Arons Kritik an der Ideologie linksradikaler Gruppierungen, die er
in seinem Buch La Révolution introuvable 41 formuliert hatte, beun-
ruhigte sie. Seit der Dekade über Arnold Toynbee im Jahre 1958,
deren Erfolg maßgeblich Raymond Aron zu verdanken war, hatte
dieser sich von Cerisy distanziert, zum einen wegen seiner zahlrei-
chen universitären Verpflichtungen, zum anderen aus ideologischen
Beweggründen. Seine Kritik revolutionärer Mythen sowie seine
Überlegungen zum Totalitarismus hatten ihn im Milieu der französi-
schen Intelligentsia isoliert, die vom Fortschrittsdenken geprägt war.
Man kann behaupten, daß er bei den Treffen von Cerisy nicht
mehr die freiheitliche Atmosphäre vorfand, die in seinen Augen
Pontigny ausgezeichnet hatte. Seine Haltung hatte ihm in der Phase
des Algerienkonflikts zwar noch eine Zeitlang die Sympathie der
linksintellektuellen Milieus eingebracht, doch es ist bekannt, daß
bestimmte Kreise der ENS - Elite und einige Intellektuelle ihn regel-
recht verfemten.42 Nach den 68er-Revolten scheint Anne Heurgon-
Desjardins sich nicht ganz mit Raymond Arons Feindseligkeit ge-
genüber der 68er-Bewegung abgefunden zu haben. Zwar stand man
in Cerisy den Studentenprotesten allgemein wohlgesonnen gegen-

40 Anne Heurgon-Desjardins an Alfred Fabre-Luce, 05.01.1963, IMEC-Archiv.


41 Raymond Aron: La Révolution introuvable, réflexions sur la révolution de mai (en
réponse à des questions posées par Alain Duhamel), Paris 1968.
42 Dies veranschaulicht ein Brief von François Wahl an Anne Heurgon-Desjardins,
31.01.1967, den er anläßlich der Vorbereitungen für die Dekade zum „Centenaire du
,Capital‘“ geschrieben hat, IMEC-Archiv.
311

über, was sich durch die Teilnahme von Professoren aus Nanterre,
u.a. von Alain Touraine, und von Akteuren der Studentenbewe-
gung belegen läßt. Allerdings wurde diese Haltung nicht von allen
Cerisy-Anhängern geteilt; einige aus diesem Kreis, darunter der
Slawist Georges Nivat (zukünftiger Veranstalter der Solschenizyn-
Dekade im Jahr 1973) brachten ihre kritische Haltung deutlich zum
Ausdruck, was jedoch keine nennenswerte Reaktion zur Folge
hatte.43 Dennoch unternahm Anne Heurgon-Desjardins auf Anre-
gung von Jeanne Hersch – einer Raymond Aron nahestehenden
Philosophin, die vier Jahre zuvor eine Dekade über Le Temps ver-
anstaltet hatte – im Herbst 1968 den Versuch, Raymond Aron als
Teilnehmer an der September-Dekade über Les Droits de lÊhomme
zu gewinnen. Der Brief, den sie ihm zu diesem Zwecke zusandte,
wurde von Raymond Aron aufgrund einer Anspielung auf einen
privaten Unglücksfall als ungeschickt und grob empfunden und
veranlaßte ihn zum sofortigen Austritt aus dem Verein der Freunde
von Pontigny-Cerisy. Einige Monate später, 1969, versuchte Anne
Heurgon-Desjardins nochmals, mit ihm Kontakt aufzunehmen, je-
doch vergeblich.44

Der Algerienkrieg
Anne Heurgon-DesjardinsÊ Interesse für Politik trat bei keinem Er-
eignis so deutlich zutage wie beim Algerienkrieg. Auf Wunsch von
Jean Amrouche lud sie 1956 den von der Polizei gesuchten al-
gerischen Schriftsteller Kateb Yacine ein, der gerade an seinem
Buch Nedjma schrieb. Im Zusammenhang mit ihrem Engagement
gegen die Folter trat sie dem Komitee Maurice Audin bei, benannt
nach einem Mathematiker, der 1957 von Fallschirmspringereinhei-

43 Georges Nivat an Anne Heurgon-Desjardins, Briefwechsel 1969, IMEC-Archiv.


44 Anne Heurgon-Desjardins an Raymond Aron, 13.09.1968, 01.05.1969, Archiv des
Centre de recherches politiques Raymond Aron in der EHESS.
312 Nicole Racine: Anne Heurgon-Desjardins und die Dekaden von Cerisy

ten festgenommen, gefoltert und als vermißt gemeldet wurde.45 Der


junge Algerier Djamal Amrani – älterer Bruder von Malika
Boumendjel, Gattin des Anwalts Ali Boumendjel, der im Februar
1957 von Fallschirmspringern festgenommen wurde und seitdem
nicht wieder aufgetaucht ist – wurde auf Empfehlung von Germaine
Tillion über ein Jahr lang von Anne Heurgon-Desjardins in ihrer
Pariser Wohnung (rue de Boulainvilliers) beherbergt und moralisch
unterstützt. Es ist der Gastfreundschaft von Anne Heurgon-
Desjardins zu verdanken, daß der junge Djamal Amrani wieder ein
normales Leben führen und mit 22 Jahren gemeinsam mit Edith
sein Abitur im Schuljahr 1957-58 ablegen konnte. 1960 veröffent-
lichte er bei den Éditions de Minuit unter dem Titel Le Témoin ein
kleines Buch, in welchem er von der ergreifenden Geschichte seiner
Familie und von seinem ermordeten Vater erzählt, der Kriegsvete-
ran gewesen war und die französische Staatsbürgerschaft ange-
nommen hatte. Djamal Amrani wurde Grundschullehrer in der
Nähe von Paris und kehrte über Marokko nach Algerien zurück, als
beide Länder ihre Unabhängigkeit erlangt hatten. ıIch möchte Ih-
nen sagen, daß es Menschen wie Sie sind, die die Größe Ihres Lan-
des ausmachen. Wir werden selbst nach unserer nationalen Befrei-
ung weiterhin Freunde bleiben„, schrieb der damals in Marokko
tätige Grundschullehrer in seiner Neujahrskarte von 1961 an Anne
Heurgon-Desjardins.46 1958, also mitten im Algerienkrieg, übertrug
sie ihrem Sohn Marc, damals Gymnasiallehrer für Geschichte, die
Verantwortung für eine Dekade über die Entkolonialisierung. 1959
plante sie eine Dekade über den Islam, die unter der Leitung von
Jacques Berque und der Ehrenpräsidentschaft von Louis Massignon
stehen sollte. Sie ließ diese Idee jedoch fallen, weil sie befürchtete,

45 Briefwechsel 1961, IMEC-Archiv.


46 Djamal Amrani an Anne Heurgon-Desjardins, 01.01.1961, Briefwechsel 1961, IMEC-
Archiv.
313

daß diese Dekade zu heftige Auseinandersetzungen hervorrufen


könnte. Sie blieb damit ihrer Konzeption des geistigen Austauschs
treu, für die sie stets eingetreten war.

Am Ende ihres Lebens war sie von der enormen Belastung er-
schöpft, die die Organisation der Dekaden für sie bedeutet hatte.
Nachdem sie die Restaurierung des Schlosses zum Abschluß ge-
bracht und die Verantwortung an ihre Töchter übergeben hatte,
verfiel sie in Depressionen und Angstzustände. Daß sie sich im
Spätsommer 1977 das Leben nahm, deutet darauf hin, wie sehr sie
sich für ihr Lebenswerk verausgabt hatte. Dennoch ist es ihr gelun-
gen, die Pontigny-Tradition fortzusetzen und zu erneuern, indem sie
Geselligkeitsriten der Treffen zeitgemäß umformte, indem sie auf
das Prinzip der Nichtveröffentlichung der Debatten verzichtete und
indem sie die Dekaden für andere, z.B. naturwissenschaftliche und
zukunftsorientierte Disziplinen öffnete. Die Dekaden von Cerisy un-
terlagen gelegentlich auch den Moden des Zeitgeistes, blieben je-
doch stets dem Gedanken der Pluralität verpflichtet, auch im Ver-
lauf solcher Dekaden, die Anlaß zur Kritik gaben und heute noch
geben. Es bleibt die Frage, ob Anne Heurgon-Desjardins nur eine
gute Gastgeberin war, die – wie es einige ihrer Zeitgenossen sahen –
ein großartiges Erbe fruchtbar fortgeführt hatte.47 Sollte man nicht
vielmehr anerkennen, daß sie zu einer Zeit, in der die Anwesenheit
von Frauen im kulturellen Bereich kaum wahrgenommen wurde, in
mutiger Weise ein Projekt geleitet hat, das im Laufe der Jahre – und
vielleicht gegen ihren Willen – zu einem Ort universitärer Legitima-
tion geworden ist, aber auch zu einem internationalen Kulturzen-
trum, in welchem die Erprobung von neuen Ideen und das Nach-
denken über gesellschaftliche Probleme koexistieren?

47 Francis Ponge, in: En souvenir d’Anne Heurgon-Desjardins, a.a.O.


315

Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)1


Pascale Gruson

1 Übersetzung von F.B. und K.M.


316 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

Im Jahre 1890 veröffentlichte Lucien Lévy-Bruhl sein Buch LÊAlle-


magne depuis Leibniz. Essai sur le développement de la conscience
nationale en Allemagne, 1700-1848.2 Das Werk ist dem Gesamtzu-
sammenhang von Forschungen zuzurechnen, in dem sich französi-
sche Hochschulprofessoren – u.a. Renan, Taine, Boutroux, Lavisse,
Durkheim3 – kurz nach 1870 mit dem politischen Deutschland zu
befassen begannen, diesem a priori unfaßbaren und dennoch exi-
stierenden Deutschland. Derartige (Pionier-)Arbeiten häuften sich
um die Jahrhundertwende. Auf der Grundlage dieser vornehmlich
ideen-, mentalitäts- und institutionenhistorischen Studien sind bis
zum Zweiten Weltkrieg viele weitere Arbeiten entstanden. Die mei-
sten unter ihnen haben dabei versucht, auf ıobjektive Weise„ die
kulturellen Unterschiede zu begründen, die Frankreich in einen
Gegensatz zu Deutschland bringen konnten.
Als Lucien Lévy-Bruhl sein Buch veröffentlichte, war er noch ein
junger und brillanter Philosophielehrer für die khâgne am Pariser
Gymnasium Louis le Grand. Auf Bitten von Emile Boutmy4 hatte er

2 Vgl. Lucien Lévy-Bruhl: L’Allemagne depuis Leibniz. Essai sur le développement de


la conscience nationale en Allemagne, 1700-1848, Paris 1890.
3 Ernest Renan (1823-1892) und Hyppolite Taine (1828-1893) hatten nach 1870 die
Aufmerksamkeit der Franzosen auf die Leistungsfähigkeit deutscher Universitäten
gelenkt. Beide Historiker gingen davon aus, daß hier die eigentlichen Gründe für den
politischen und militärischen Erfolg Deutschlands lagen. Sie betonten die dringende
Notwendigkeit einer Reform der französischen Universität. Emile Boutroux (1845-
1921) hat zahlreiche Arbeiten über die deutsche Philosophie veröffentlicht. Als Pro-
fessor an der Ecole Normale Supérieure (u.a. von Lucien Lévy-Bruhl, Henri Bergson
und Jean Jaurès) und danach an der Sorbonne hat er wesentlich zur Formulierung
des Problems der Beziehung zwischen positiven Wissenschaften und Philosophie
beigetragen. Der Historiker Ernest Lavisse (1842-1922) hat zahlreiche Artikel über
das zeitgenössische Deutschland geschrieben. Er zählte auch zu den bedeutenden
Reformern des französischen Hochschulwesens zu Beginn der Dritten Republik.
Emile Durkheim (1858-1917) hat die Soziologie als universitäre Disziplin in Frankreich
begründet und gehörte zu den engagiertesten Universitätsreformern. Er hat einen
Überblick über die Entwicklungen in der deutschen Philosophie verfaßt.
4 Emile Boutmy (1835-1906) hat 1872 die Ecole libre des Sciences politiques in Paris
gegründet. Aufgrund seines Interesses an den bereits von Lucien Lévy-Bruhl
veröffentlichten Artikeln hat er ihm die finanziellen Mittel für eine Studienreise nach
Deutschland bereitgestellt.
317

gerade eine Lehrveranstaltung zum Thema seiner Publikation an


der Ecole libre des Sciences politiques abgehalten. Das Buch war
nicht seine erste Arbeit über Deutschland, über das er bereits einige
Artikel verfaßt hatte. Später veröffentlichte er noch eine Vielzahl
weiterer Beiträge, unter anderem über Hegel und Jacobi, sowie eine
Denkschrift über den Ersten Weltkrieg5 (die viel ausgewogener als
viele ähnliche Schriften seiner französischen Universitätskollegen
ausfiel). Die darin entwickelten Ansichten sind überaus charakteri-
stisch für die Fragestellungen der damaligen Zeit. Es ging darum zu
verstehen, wie das lange Zeit geteilte, dabei vielfältige und geistig
herausragende, zur Gesamtschau aber unfähige Deutschland zu der
politischen Nation geworden ist, die unter der Führung – der Fuch-
tel – Preußens nunmehr Frankreich gegenüberstand. Stellte diese
Situation eine Hoffnung oder, im Gegenteil, eine Bedrohung dar?
Die Überlegungen hierzu stützten sich vor allem auf die Ideenge-
schichte: Ohne die Weiterentwicklung einer intellektuellen Debatte,
in der seit Leibniz die Philosophie und die Literatur einen entschei-
denden Platz einnahmen, wären die Deutschen niemals in der Lage
gewesen, Gemeinsamkeiten zu finden und sich politisch zu einen.
Das Buch beginnt also mit der Darstellung von LeibnizÊ Bemü-
hungen, seine Mitbürger für ein Projekt der politischen Einheit
Deutschlands zu mobilisieren – ein zunächst vergebliches Unterfan-
gen, das jedoch aufgrund der vorgestellten Argumente über ein ho-
hes Durchsetzungspotential verfügte. Es endet mit der Darlegung
der Hoffnungen, die mit den Revolutionen von 1848 verbunden
waren sowie deren möglicher Bedeutung für die gegenwärtige Situa-
tion. Diese einzuschätzen hält der Autor jedoch für recht schwierig.

5 S. die Werkbibliographie von Lucien Lévy-Bruhl, die von Dominique Merllié für die
Phase 1881-1939 erstellt worden ist, in: Revue philosophique de la France et de
l’Etranger (1989), Nr. 4. Dieses Heft ist anläßlich seines 50. Todestages in Gänze
Lévy-Bruhl gewidmet worden.
318 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

Warum wird Leibniz an den Anfang dieser Überlegungen ge-


stellt? Die Antwort auf diese Frage ist insofern bezeichnend, als daß
sie recht ıfranzösisch„ und am Nationalinteresse ausgerichtet ist. In
der Tat bestand zu LeibnizÊ Lebzeiten das vormals glanzvolle Hei-
lige Römische Reich deutscher Nation nur noch aus einer Ansamm-
lung kleiner zerstörter Fürstentümer. Der Dreißigjährige Krieg stellte
somit die Vollendung der desaströsen Konsequenzen desjenigen
Ereignisses dar, das laut Lévy-Bruhl den eigentlichen Auslöser für
den Untergang und die wachsende politische Schwächung Deutsch-
lands darstellte, nämlich die lutherische Reformation. Diese be-
kenntnishafte Feststellung ist vor allem deshalb emphatischer Natur,
weil sie sich beim Nachweis und Beleg für ihre Gültigkeit lediglich
auf das verwendete Vokabular stützt: ıEs war zunächst die Refor-
mation, die die moralische Einheit Deutschlands zerbrochen hatte:
es waren vor allem die aus der Reformation hervorgegangenen
Kriege, die dieses Land in die Verarmung, die Depression, ja fast in
die Barbarei trieben. Der Niedergang war schnell, beständig, fürch-
terlich. Nicht nur, daß die Bevölkerung ein Viertel, ein Sechstel, ein
Zehntel dessen betrug, was sie gewesen war; auch die Industrie war
zugrunde gerichtet, der Handel auf das strikt Notwendigste be-
grenzt; die Sitten des Volkes waren grob, brutal und zynisch, die
des Adels lasterhaft.„6 Die Argumentation wird durch Anachronis-
men verstärkt (so durch die Auswahl von zeitgenössisch geprägten
Beispielen, in diesem Fall die in der Dritten Republik eingeleiteten
Reformen der Grund- und Hochschulen): ıAuf dem Lande gab es
keine Grundschulausbildung mehr, da auch der Klerus nicht in der
Lage war, den Mangel an Lehrern auszugleichen. Die stark herun-
tergekommenen und wenig besuchten Universitäten litten unter
enormen Mißständen und die ,Bestialität der Studierenden paarte
sich mit der Mittelmäßigkeit und der Kleinkrämerei der Lehren-

6 Lévy-Bruhl: L’Allemagne depuis Leibniz, a.a.O., S. 7.


319

den.„7 Die Kritik an einer Veränderung der deutschen Sprache, die


zu ihrer Verarmung beigetragen hätte – eine Kritik, die in der Fol-
gezeit von den französischen Germanisten weitgehend übernom-
men wurde und die darin eine der verheerenden Folgen von
Luthers Bibelübersetzung sahen – erfolgt schonungslos (und ohne
den hierfür in der Tat schwierigen Beweis zu erbringen): ıDie deut-
sche Sprache wurde nur vom Volk und vom Hauspersonal verwen-
det: die Gelehrten schrieben in Latein, die gehobenen Klassen spra-
chen nur französisch. [...] Dieser politische und ökonomische, vor
allem aber geistige und moralische Niedergang barg das Risiko ei-
nes Verschwindens des Nationalbewußtseins. [...] Der orthodoxe
Klerus kümmerte sich sehr wenig um das Volk [...]. Die Predigten
spiegelten in selbstverständlicher Weise die Grobschlächtigkeit der
Gläubigen und der Priester wider.„8
Durch die Wahl dieser Perspektive, die offenbar keinerlei Ana-
lyse der Reformation selbst und ihrer theologischen Zielsetzung zur
Voraussetzung hatte, wird ein großer rhetorischer Effekt erzielt: Wie
ist es möglich, aus einer dem Fortschritt derart abträglichen Si-
tuation herauszukommen? Lévy-Bruhl zieht hier alle Register. Aus
dem Durcheinander der Reformation sei eine Spaltung der deutsch-
sprachigen Länder hervorgegangen, welche sie faktisch jedweder
Möglichkeit zur sozialen Weiterentwicklung beraube. Da es keine
Johanna von Orléans gegeben habe, um das Heilige Römische
Reich oder einfach nur das Nationalbewußtsein wiederherzustellen,
wurden diese schwachen und zerstückelten Kleinstaaten folglich
vollständig abhängig von ihren Nachbarn, denen sie allzu leicht
zum Opfer fielen. Wie konnte man aus diesem vom Autor sugge-
rierten Abgrund herauskommen? Natürlich konnten von Lévy-Bruhl
in diesem Zusammenhang weder Melanchton noch das Augsburger

7 Ebd., S. 7.
8 Ebd., S. 30f.
320 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

Bekenntnis erwähnt werden, die beide zu eng mit der lutherani-


schen Bewegung verbunden waren. In diesem unheilvollen Kontext
schien ihm allein die pietistische Bewegung eine Ausnahme und
damit einen Hoffnungsschimmer darzustellen. Die Bemühungen
von Spener stellten sicherlich einen ersten Schritt zur Wiederherstel-
lung der Ordnung dar, da sie der Festigung hierarchischer Bezie-
hungen den Weg bereiteten, in diesem Fall durch die Rücker-
oberung der klerikalen Autorität gegenüber den Gläubigen. Trotz
einiger sinnvoller Verbesserungen, u.a. auch im Bereich der Bil-
dung, reichte dies als Grundlage allerdings nicht aus, um entschei-
dende Neuerungen anzustoßen. Erst später traten Persönlichkeiten
in Erscheinung, denen Lévy-Bruhl zufolge größere Aufmerksamkeit
gebührte. Leibniz zählte hierbei zu den wichtigsten unter ihnen.
Das Interesse, das Lévy-Bruhl Leibniz entgegenbrachte, war zu-
tiefst pädagogisch begründet. In der Tat hatte der Philosoph, der
französisch sprach, aus seiner Bewunderung für Frankreich und für
Ludwig XIV. niemals einen Hehl gemacht. Er wurde gelegentlich
sogar als Berater des Königs angesehen. Einige waren sogar ver-
sucht, ihn eher auf die Seite Frankreichs als auf die Seite Deutsch-
lands zu stellen. Analysiert man jedoch die Ratschläge, die Leibniz
dem Herrscher gab, fällt deutlich auf, daß diese darauf abzielten,
diesen von seinen Plänen zur Eroberung der deutschen Fürstentü-
mer abzubringen. Tatsächlich war es so, daß Leibniz aufgrund sei-
ner Bewunderung für die Staatskonzeption von Ludwig XIV. die
Schwächen Deutschlands erkannt hatte und deren politische Schick-
salhaftigkeit ablehnte. Von diesem Zeitpunkt an ging es ihm neben
vielen anderen Aufgaben darum, das Nationalbewußtsein seiner
Landsleute zu wecken. Er wurde nicht wirklich gehört. Aber weil er
die Situation richtig erfaßt hatte, gelang es ihm in bemerkenswerter
Weise, diejenigen Gedankengänge anzustoßen, die das Fundament
für die Veränderung und die politische Zukunft Deutschlands legten.
321

Das Kernstück des Essays bildet die Analyse der Schriften solcher
Autoren – Philosophen und Schriftsteller – die laut Lévy-Bruhl maß-
geblich zur Herausbildung eines echten deutschen Nationalbewußt-
seins beigetragen haben. Allerdings bleibt das erreichte Gleichge-
wicht, wie es sich nach dem Scheitern der Revolutionen von 1848
und der Vereinigung durch Preußen abzeichnete, in den Augen des
Autors zerbrechlich. Entsprechen die Inhalte des deutschen Natio-
nalbewußtseins den gleichen Tugenden, dem gleichen Anspruch
auf Universalität, wie sie dem französischen Nationalbewußtsein in
seiner republikanischen Ausrichtung innewohnen? Aufgrund der
Rolle, die Preußen spiele, sei Wachsamkeit angeraten, da jederzeit
das Risiko fragwürdiger Entscheidungen, wenn nicht gar der Rück-
kehr ins Chaos bestünde: ıSo hat Preußen von dem Werk profitiert,
das von dieser Generation von Schriftstellern, Denkern und Philo-
sophen vollbracht wurde, deren Gedankengänge wir nachvollzogen
haben. Hat es vielleicht zu sehr davon profitiert? Im neuen Deutsch-
land, das es nach seinen Vorstellungen geformt hat, ist es ihm bloß
gelungen, die Patrioten der ersten Stunde sowie deren – in Wirk-
lichkeit etwas unfreiwilligen – Vorläufer und Mitstreiter als mehr
oder minder begeisterte, gefügige oder resignierte Handlanger zu
instrumentalisieren. Aber vielleicht hält ihnen die Zukunft eine akti-
vere Rolle bereit? Alles weist darauf hin, daß die innere Entwick-
lung Deutschlands nicht abgeschlossen ist und daß das Werk, das
kurzzeitig abgeschlossen erschien, nur andauern kann, indem es
sich wandelt.„9
Die von Lévy-Bruhl behandelten Themen (mit zahlreichen bi-
bliographischen Belegen zum Bereich Philosophie, aber mit viel zu
wenigen und mehr als ungesicherten Quellenangaben zum Zeitalter

9 Ebd., S. 490.
322 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

der Reformation)10 entsprachen denen, die die französische Germa-


nistik – eine Disziplin, die sich damals innerhalb des modernisierten
Hochschulwesens zu formieren begann – bevorzugte und die sie bis
zum Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Bereichen ununterbrochen
weiterentwickelte. Die allgemeine Akzeptanz der hier vertretenen
Thesen war ohne Zweifel der Grund dafür, daß die Gründerväter
der modernen Germanistik im heutigen Sinne – insbes. Charles
Andler, Henri Lichtenberger, Ernest Tonnelat, Edmond Vermeil11 –
sich weitgehend an ihnen orientiert haben, um die grundlegenden
Orientierungen dieses im Aufbau befindlichen Wissensgebiets zu
untermauern. Sie haben sich vor allem ihrer bedient, um ihre zivili-
sationstheoretischen Hypothesen zu begründen, die es – nach ihrer
Ansicht auf objektive Weise – ermöglichten, wesentliche Unter-
schiede zwischen Deutschland und Frankreich zu ermitteln. Diese
auf der Mentalitäts- und Ideengeschichte beruhenden Hypothesen
dienten der französischen Germanistik lange Zeit als ıwissenschaftli-
che„ Legitimation und als Kompetenzausweis zur Ausbildung von
Führungseliten. Die Gewißheiten, die diese Hypothesen zu generie-
ren vermochten, waren der Grund dafür, daß diesem pluridiszipli-
nären Wissensgebiet eine Wächter-Rolle zugewiesen wurde (derzu-
folge die Germanistik aufmerksam die potentiellen Gefahren beob-
achten sollte, die von Deutschland, einem als politisch unreif einge-
schätzten Land, ausgingen.)

10 Die einzigen zitierten Werke zur langen Geschichte Deutschlands sind das von Karl
Biedermann: Deutschland im XVIII. Jahrhundert (o.O. und o.J., vermutlich 1857) so-
wie das von Johannes Huber: Das Verhältnis der deutschen Philosophie zur natio-
nalen Erhebung, Berlin 1871.
11 Charles Andler (1866-1933) gründete die moderne Germanistik und entwickelte sie
zu einem pluridisziplinären Wissensgebiet. Henri Lichtenberger (1869-1941) verfaßte
zahlreiche Studien zur Ideengeschichte sowie zu wirtschaftlichen Transformations-
prozessen in Deutschland. Ernest Tonnelat (1877-1948) war Spezialist der deutschen
Sprache vor und nach Luther. Edmond Vermeil (1878-1964) hat, neben anderen
Schwerpunkten, sehr viel über die Auswirkungen der Reformation in Deutschland
gearbeitet.
323

Aber Lévy-Bruhl war niemals ein Germanist im engeren Sinne.


Vielmehr wird sein Name mit verschiedenen, sich überschneiden-
den Disziplinen in Zusammenhang gebracht.12 Doch selbst bei ei-
nem oberflächlichen Blick auf seine vielfältigen Tätigkeiten tritt
deutlich hervor, daß er den Entwicklungen in der französischen
Germanistik stets Aufmerksamkeit geschenkt hat und ohne zu zö-
gern tatkräftig an Projekten mitgearbeitet hat, wenn Andler oder
Lichtenberger ihn darum baten. Die Ausstrahlung dieses bedeuten-
den Hochschulprofessors, den viele Zeitgenossen als unauffällige
Persönlichkeit beschrieben, die sich jedoch durch eine starke Inner-
lichkeit und einen sehr britischen Humor auszeichnete, war sehr
groß. Und er war ein Mensch, der anderen sehr viel Aufmerksam-
keit entgegentrachte.

Die vielfältigen Arbeitsgebiete von Lucien Lévy-Bruhl


Die bekanntesten Fachgebiete, die Lucien Lévy-Bruhl vertreten hat,
sind natürlich die Ethnologie und die Anthropologie. In diesen sehr
nah beieinander liegenden Bereichen gilt sein Werk als klassische
Standardliteratur, die häufig zitiert wird. Dabei hat der Autor von
La morale et la science des mflurs (1903), Fonctions mentales dans
les Sociétés inférieures (1910), La mentalité primitive (1922) sowie
von LÊexpérience mystique et les symboles chez les primitifs (1938)13
de facto die Ethnologie von der Anthropologie losgelöst, um sie als
ein eigenständiges Gebiet zur Erforschung der von ihm als ıprimi-
tiv„ bezeichneten Gesellschaften (im Gegensatz zu den entwickelten

12 Vgl. Merllié, a.a.O. Und auch Michel Espagne, der in Lévy-Bruhl den Vordenker des
Konzepts der Kulturräume sieht, das in der heutigen Forschung bewußt den Begriff
civilisation ersetzt hat. Michel Espagne: Lucien Lévy-Bruhl et les études germani-
ques, in: Peter Schöttler, Patrice Veit (Hg.): Plurales Deutschland – Allemagne plu-
rielle. Festschrift für Etienne François – Mélanges Etienne François, Göttingen 2000,
S. 258-267.
13 Ab 1903 sind alle Bücher von Lévy-Bruhl beim Pariser Verlag Alcan erschienen. Sie
wurden alle sehr zügig ins Deutsche, Englische, gelegentlich ins Spanische übersetzt.
324 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

westlichen Gesellschaften) zu konstituieren. In diesem Gebiet hatte


er nachweislich eine Vielzahl von Schülern. Marcel Mauss gehörte
hierbei zu den ersten und wurde schnell zu seinem überschäumen-
den alter ego.14 Danach folgten viele andere, darunter Georges
Devereux, Denise Paulme, André Leroi-Gourhan, Ignace Meyerson
und natürlich Claude Lévi-Strauss. Alle haben in meisterlicher
Weise die Pionierarbeiten ihres Lehrers in zukunftsträchtigen For-
schungsgebieten fortgesetzt – so in der Ethnopsychatrie, der Ethno-
graphie, der Psychologie, der Urgeschichte, der strukturellen An-
thropologie. Es ist bemerkenswert, daß Lévy-Bruhl jedem von ihnen
nicht Gewißheiten, sondern wichtige Fragestellungen vermittelte,
die gleichzeitig Forschungspisten darstellten. Durch sie alle gelangte
die französische Schule der Ethnologie international zu großem wis-
senschaftlichen Einfluß.
Allerdings traten im Verlauf der ethnologischen Arbeiten von
Lévy-Bruhl, die auf die Begründung der Disziplin als positive Wis-
senschaft abzielten und zur Klassifizierung verschiedenster Gesell-
schaften auf der Basis klarer und endgültiger Kriterien befähigen
sollten, zunehmend Schwierigkeiten auf. So hatte er zunächst ange-
nommen, daß sich primitive Gesellschaften aufgrund ihrer anders
gearteten Denkweisen fundamental von entwickelten Gesellschaften
unterschieden. Aber die ausgewählten Kriterien, vor allem diejeni-
gen, die er auf das logische Prinzip der Widerspruchsfreiheit zu-
rückführte (die Anerkennung dieses Prinzips galt als Bedingung für
die Herausbildung der Wissenschaften und der damit verbundenen
Fortschritte) erlaubten es ihm nicht, sein Projekt zu beenden. Be-
nutzte er dieses Prinzip in wirklich angemessener Weise? Wendete
er es nicht gelegentlich außerhalb seines Anwendungsbereiches an?

14 Marcel Mauss (1872-1950) war der Neffe Emil Durkheims, der ihn zu seinem geisti-
gen Erben machen wollte. Aber Mauss blieb unabhängig und wurde zum heute
wohlbekannten großen Ethnologen, u.a. als Autor des Essai sur le Don.
325

Häufig war es ihm nahezu unmöglich, einige Merkmale der von


ihm als primitiv bezeichneten Gesellschaften zu erklären, obwohl
diese regelmäßig beobachtet werden konnten. Außerdem gelang es
ihm nicht immer, den erhofften Beweis für die absolute Unter-
schiedlichkeit von sogenannten primitiven und entwickelten Gesell-
schaften zu finden. Er hörte nie auf, diesen Beweis zu suchen, weil
dieser die von ihm (gegen Durkheim) vertretene These bestätigen
sollte, wonach primitive Gesellschaften sich niemals gemäß den
Normen westlicher Gesellschaften entwickeln könnten. Diese
Tatsache hätte für ihn kein Werturteil dargestellt. Sie hätte einfach
dazu beigetragen, die Komplexität des Sozialen besser zu erfassen.
Aber er mußte sich häufig den Tatsachen beugen: die Beobachtung
dämpfte seine Hoffnungen. Konnten – entgegen allen Erwartungen
– prälogisches Denken und logisches Denken nebeneinander
existieren? Bisher als gewiß geltende Ergebnisse generierten
nunmehr neue Fragen, die er durch die erneute Durchsicht und die
Erweiterung seiner Informationsquellen zu beantworten versuchte.
Die meisten dieser Fragen waren aufgrund der zu allgemeinen
Form, in der er sie gestellt hatte, wohl unlösbar. Hierauf hat er in
seinem letzten Werk, den Carnets,15 die einige Jahre nach seinem
Tod auf Initiative von Maurice Leenhardt veröffentlicht wurden,
schmerzlich hingewiesen. Seinen Schülern fiel folglich die Aufgabe
zu, sein Pionierwerk weiterzuentwickeln, das sich durch zahlreiche
Beschreibungen und Informationen auszeichnete.16
Der Inhalt von mentalen Dispositionen bildete eine der Varia-
blen, die es dem Ethnologen erlaubten, die von ihm beobachteten
Gesellschaften zu klassifizieren. Allerdings hielten diese Variablen
nur schwer dem strengen Prinzip der Widerspruchsfreiheit stand.

15 Lucien Lévy-Bruhl: Carnets, Paris 1947.


16 Claude Lévi-Strauss hat dies, wie zu erwarten, in meisterhafter Weise getan. Vgl. u.a.
die Buchtitel L’anthropologie structurale, La pensée sauvage usw.
326 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

Entwicklungsgeschichtlich konnten westliche Gesellschaften beispiels-


weise ein vorlogisches Stadium durchlaufen haben. Aber wie sollte
man dies genau erfassen? Auf jeden Fall handelte es sich hierbei um
ein Untersuchungsfeld, dem Lévy-Bruhl zwingend seine Aufmerk-
samkeit schenken mußte.
Besonders aufschlußreich sind daher die Beziehungen, die er zu
den Gründern der Annales-Schule aufgebaut hat. Diese Historiker
betrachteten Lévy-Bruhl als entscheidenden Impulsgeber für ihre
Studien über die ılange Dauer in der Geschichte„, die in einem en-
gen Zusammenhang mit jenen Beharrungskräften steht, die von der
Mentalitätsgeschichte herausgearbeitet werden können.
1929 hat übrigens Lucien Febvre, der gerade mit Marc Bloch die
Gründung der Zeitschrift Annales vorbereitete, Lévy-Bruhl darum
gebeten, dem wissenschaftlichen Beirat dieses Periodikums beizutre-
ten (er scheint jedoch an keiner Sitzung dieses Gremiums teilge-
nommen zu haben). Betrachtet man darüber hinaus die Arbeiten
von Febvre über Luther,17 so wird die Ähnlichkeit ihrer Herange-
hensweise augenfällig. Die starken Akzentsetzungen des Lehrers
können in den Ausführungen des Historikers über die Reformation
in Deutschland wiedergefunden werden, die dieser als Katastrophe
für das politische Deutschland einschätzte. Dies belegte er mit nur
wenig mehr bibliographischen Angaben als sein Lehrer, abgesehen
von denen, die sich auf die Nietzscheanischen Tiraden gegen das
Luthertum bezogen.
Eine weitere bemerkenswerte Tätigkeit Lévy-Bruhls stellte sein
Engagement an der Spitze der Revue philosophique de la France et
de lÊEtranger dar, die 1876 von Théodule Ribot18 gegründet worden

17 Lucien Febvre: Un destin, Martin Luther, Straßburg 1927.


18 Der Philosoph Théodule Ribot (1839-1916) war Professor am Collège de France. Er
setzte sich dafür ein, die Psychologie zu einer experimentellen Wissenschaft zu ma-
chen, um das Problem der Person auf rein objektiven Kausalverkettungen begründen
zu können. Die von ihm gegründete Revue philosophique de la France et de l’Etran-
327

war. Kurz nach dessen Tod übernahm er im Jahre 1917 die Leitung
der Zeitschrift. Obwohl man von ihm erwartete, daß er die dezidiert
positivistische Orientierung der Zeitschrift weiterverfolgen würde,
gelang es ihm, aus dieser Zeitschrift ein Forum für ernstzuneh-
mende philosophische Debatten zu machen, in der auch die Unge-
wißheiten des Positivismus thematisiert wurden. Ein Blick in die
reichhaltigen Inhaltsverzeichnisse offenbart eine beeindruckende
Themenvielfalt, in der aktuellen Arbeiten, und hier insbesondere
jenen Freuds, große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ebenso be-
eindruckend ist das breite Spektrum, aus dem die zahlreichen Auto-
ren stammen. Lévy-Bruhl hat vor allem solche Persönlichkeiten zu
Wort kommen lassen, die nicht in das französische Universitäts-
system gelangen konnten, sei es, weil sie als Emigranten nicht über
die in Frankreich notwendigen Diplome zur Ausübung einer Lehr-
tätigkeit verfügten, sei es, weil sie die wissenschaftlichen Einstel-
lungskriterien vermeintlich nicht erfüllten und von der Universität
ferngehalten wurden. Obwohl er mit ihren Ansichten nicht immer
einverstanden war, erkannte ihre Bedeutung an. So veröffentlichte
er in den dreißiger Jahren Texte von Léon Chestov, Alexandre
Koyré, Rachel Bespaloff, Jean Wahl, Benjamin Fondane und vielen
anderen bemerkenswerten Persönlichkeiten, die ihm zu der Einsicht
verhalfen, daß das Prinzip der logischen Widerspruchsfreiheit nicht
notwendigerweise ein Werkzeug zur Identifizierung von Gesellschaf-
ten darstellte. Sie haben sein Verständnis dafür geschärft, daß das
Ziel der Philosophie und der sich von ihr losgelösten Sozialwissen-

ger hat zahlreiche Beiträge zum Fortschritt der experimentellen Wissenschaften, u.a.
in der Biologie, der Psychologie und der Sprachwissenschaft, veröffentlicht. Xavier
Léon initiierte ein wissenschaftliches Streitgespräch mit Ribot, indem er die Revue
de Métaphysique et Morale gründete und regelmäßig Autoren wie Bergson zu Wort
kommen ließ. Nachdem Lévy-Bruhl die Nachfolge Ribots angetreten hatte, veröffent-
lichte er weiterhin Artikel über Fortschritte in der Wissenschaft, räumte aber Bei-
trägen zur Phänomenologie und zu den damit verbundenen Debatten großen Platz in
der Zeitschrift ein.
328 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

schaften nicht zwangsläufig im Erarbeiten unmöglicher Klarheiten


besteht, sondern vielmehr im Erkennen von Widersprüchen. Sie
haben ihm geholfen zu verstehen, daß soziale Probleme nicht im-
mer auf Kausalzusammenhänge zurückzuführen sind, daß das Wis-
sen nicht immer Wissenschaft ist...19 Alle haben in herzlicher Weise
auf die freundschaftlichen Beziehungen hingewiesen, die Lévy-Bruhl
mit ihnen unterhielt. Bei seiner Tätigkeit als Redaktionsleiter ist es
dieser Persönlichkeit gelungen, den Blick auf die Alterität zu rich-
ten, welches vor allem für eine dynamische Entwicklung der For-
schung von großem Nutzen war. Denn der bemerkenswerte Auf-
schwung der Philosophie und der Sozialwissenschaften, der nach
dem Zweiten Weltkrieg an französischen Universitäten zu beob-
achten war, ist vor allem denjenigen zu verdanken, die bei Lévy-
Bruhl ein offenes Ohr gefunden hatten und die durch ihn öffentlich
zu Worte kamen.
Lévy-Bruhl hat seine universitären Aktivitäten auch in nicht-aka-
demischen Kreisen zur Geltung gebracht. Seit den Anfängen der
Dritten Republik hatte sich der junge Student an der Ecole Normale
Supérieure (ENS ) gemeinsam mit seinem Freund Jean Jaurès für
den Sozialismus begeistert. Er blieb Jaurès stets in enger und treuer
Freundschaft verbunden, was einige seiner Kollegen durchaus irri-
tierte.20 Denn diese sprachen Jaurès jeglichen wissenschaftlichen

19 So schreibt Benjamin Fondane in Form einer Grabrede in den Cahiers du Sud: „Lévy-
Bruhl hat uns verlassen. Die Tagespresse hat weitgehend die wichtigsten Ereignisse
in seinem Leben hervorgehoben [...]. Aber es ist möglich, daß die Zukunft Überra-
schungen für uns bereithält. Es ist möglich, daß der höchste Ruhmestitel von Lévy-
Bruhl – ich spreche von seinen Studien über die mentalen Funktionen der primitiven
Völker – eines Tages, [...] entgegen den Vorstellungen des Autors selbst, zum Aus-
gangspunkt für eine philosophische Unternehmung wird, die weder mit dem Denken
von Comte, noch mit dem rationalistischen Humanismus und noch mit der Durkheim-
Schule etwas gemeinsam hat.“ In: Cahiers du Sud XVIII (1939), S. 603.
20 In einem Brief vom 04.11.1916 schreibt Durkheim an seinen Neffen Marcel Mauss:
„Der Nachruf auf Jaurès im Jahrbuch der Ecole (Normale Supérieure) wurde von LB
verfaßt. Ich habe ihn gerade erhalten und gelesen. Er ist erstaunlich trocken, mager,
wenn auch lang geworden [...]. Das Thema war schwierig, aber schön. Er wollte in
329

Sachverstand ab, da er sich aufgrund seiner Entscheidung, Politiker


zu werden, von ihrer Sache abgewandt hatte. Ungeachtet seiner
zahlreichen Arbeiten zur Philosophie und zur Ideengeschichte (u.a.
zum deutschen Sozialismus) war er in ihren Augen kein Wissen-
schaftler mehr. Aber Lévy-Bruhl blieb davon unbeeindruckt. Auf-
grund seines geringen Interesses für wirtschaftliche Fachfragen rea-
gierte er ohne Zweifel weniger empfänglich als Jaurès auf jene Pro-
bleme, die sich aus der rasanten industriellen Dynamik für die eu-
ropäischen Nationen ergaben. Zweifelsohne schenkte er den ge-
meinsamen Problemen, die sich zwei jungen Industrienationen wie
damals Deutschland und Frankreich gleichermaßen stellten, weni-
ger Aufmerksamkeit. Und er war auch nicht im politischen Kampf
erprobt. Allerdings teilte er mit Jaurès eine Vielzahl grundlegender
Überzeugungen. So war es ganz selbstverständlich, daß er bei der
Gründung der sozialistischen Zeitung LÊHumanité an der Seite von
Jaurès stand.21 Innerhalb der sozialistischen Bewegung war er auch
eng mit Albert Thomas befreundet, dessen Lehrer er am Gymna-
sium Louis le Grand gewesen war – eine Freundschaft, die soweit
ging, daß er während des Ersten Weltkriegs sogar Albert ThomasÊ
Mitarbeiter im Rüstungsministerium wurde.
Seine ausgesprochene Nähe zum Sozialismus brachte ihn 1925
auf Anfrage des damaligen Kolonialministers Edouard Daladier22
dazu, gemeinsam mit Marcel Mauss und dem Arzt Paul Rivet die
Leitung des gerade gegründeten Instituts für Ethnologie an der Pari-
ser Universität zu übernehmen. Der Ethnologe Lévy-Bruhl verfolgte
bereits seit längerer Zeit aufmerksam die französische Kolonialpoli-

Jaurès einen Denker wiederfinden, der niemals existiert hat, und er hat mir nichts
Neues über den Menschen beigebracht.“ In: Emile Durkheim: Lettres à Marcel
Mauss, hg. von Philippe Besnard und Marcel Fournier, Paris 1998, S. 521.
21 Lucien Lévy-Bruhl hat auch in materieller Hinsicht diese Zeitung stark unterstützt.
Aufgrund seiner Heirat mit Alice Bruhl gelangte er in der Tat zu relativem Wohlstand.
22 Edouard Daladier (1884-1970), berühmter Abgeordneter, Minister und Mitglied der
Radikalsozialisten in der Dritten Republik.
330 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

tik, die seiner Meinung nach aber langfristig ausgerichtet sein


mußte. Der Kolonialpolitik mußten die hierfür notwendigen Mittel
bereitgestellt werden, zu denen ein sicherer Umgang mit dem Ob-
jekt gehörte, d.h. wissenschaftliche Kenntnisse über die Kulturen
und Denkweisen der jeweiligen kolonialisierten Gesellschaften.
Zunächst war es der Wunsch der Kolonialverwaltung gewesen,
die Kolonialgebiete in die französische Gesellschaft zu assimilieren,
um deren Entwicklung zu fördern. Hierbei wurden jedoch oft ab-
surde Entscheidungen getroffen (z.B. wurde Schülern im Senegal
oder in Dahomey ein Geschichtsunterricht aufgezwungen, der mit
dem Kapitel ıUnsere Vorfahren, die Gallier„ begann). Auf der
Grundlage einer etwas offeneren politischen Sichtweise gründete
dann einer der Gouverneure von Französisch-Westafrika 1913 ein
seiner Verwaltung unterstehendes Institut für Ethnographie. In die-
ser Einrichtung sollten Informationen zusammengetragen werden,
die anstelle der als schwierig betrachteten Assimilation der Kolonien
zumindest eine gute Assoziierung derselben an Frankreich ermögli-
chen sollte. Der akademischen Freiheit waren an diesem Institut
(das später zur Ecole de formation des administrateurs coloniaux
wurde) freilich Grenzen gesetzt. Das universitäre Umfeld des Insti-
tuts für Ethnologie bot in dieser Hinsicht bessere Garantien für ein
gesichertes wissenschaftliches Arbeiten. Auch in dieser Leitungspo-
sition stellte Lévy-Bruhl erneut seine intellektuelle Offenheit und
sein Interesse an Fragen der Alterität unter Beweis.
Lucien Lévy-Bruhl war selbstverständlich auch in der Dreyfus-Af-
färe sehr engagiert. Dies galt ebenso für die Krise des Modernismus.
Aufgrund seines Interesses sowohl für die Bibelexegese als auch für
eine kritische Kirchengeschichte brachte er den Opfern dieser Krise
viel Aufmerksamkeit entgegen. Weiterhin bemühte er sich, die
Rahmenbedingungen für eine fruchtbare Debatte zu schaffen. In
der Tat war er einerseits bestrebt, denjenigen praktisch zu helfen,
331

die sich als Vertreter modernistischer Thesen in einer prekären be-


ruflichen Situation befanden. Andererseits weigerte er sich niemals,
solchen Studenten zuzuhören, die einer mehr spiritualistischen
Ideenwelt anhingen (insbesondere Etienne Gilson und Jacques
Maritain), mit ihnen zu diskutieren und ihnen geduldig seine eige-
nen kartesianischen Argumente vorzutragen. Er nahm auch an den
Diskussionsveranstaltungen der 1905 von Paul Desjardins (der zum
gleichen Abschlußjahrgang der ENS wie Lévy-Bruhl gehörte) ge-
gründeten Union pour la Vérité teil. Folglich war es naheliegend,
daß er an den Dekaden von Pontigny beteiligt war (dort traf er
Germanisten wie Henri Lichtenberger und Félix Bertaux; Philoso-
phen, die weniger positivistisch als er selbst eingestellt waren – Nico-
las Berdiaeff, Léon Chestov, Gabriel Marcel – und fast alle bedeu-
tenden Intellektuellen dieser Zeit). Viele von ihnen wurden auf sei-
nen Wunsch hin aktive Mitarbeiter der Revue philosophique.
Schließlich sollte am Ende dieser langen Aufzählung auf keinen
Fall vergessen werden, daß Lévy-Bruhl als unermüdlicher Botschaf-
ter der Alliance française23 weltweit tätig war. Er gründete zahlreiche
Büros, vor allem in Lateinamerika, und bemühte sich darum, die
vielen, in der ganzen Welt verteilten Zweigstellen zu besuchen. Ab
1907 wurde er regelmäßig an die Harvard-Universität eingeladen
und gehörte zu denjenigen, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Ent-
stehung fruchtbarer Hochschulbeziehungen (insbesondere in der
Germanistik und in der Soziologie) zwischen Frankreich und den
USA beitrugen. Als Mitglied der Rockefeller-Stiftung sorgte er in
den dreißiger Jahren (und durch die Vermittlung von Célestin

23 Die Alliance française ist eine 1883 gegründete Vereinigung zur Verbreitung der
französischen Sprache und Kultur, die von Paul Cambon geleitet wurde. Die Büros
dieser Vereinigung sind heute in mehr als 90 Ländern vertreten. Ihre Funktion und
ihre Angebote sind mit denen der Goethe-Institute vergleichbar.
332 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

Bouglé,24 damals Direktor der ENS ) dafür, daß französische Studen-


ten ein Auslandsstipendium für die USA erhalten konnten (zu ihnen
gehörte u.a. Claude Lévi-Strauss).
Bei solch vielen Verantwortlichkeiten und unterschiedlichen Ak-
tivitäten fällt es schwer, auch nur ein Gebiet besonders hervorzuhe-
ben, und sei es nur das der Ethnologie, in welchem der größte Teil
seiner Buchpublikationen angesiedelt ist. War er nicht auch Sozio-
loge? Viele Vertreter dieser Disziplin, darunter so unterschiedliche
Persönlichkeiten wie Georges Gurvitch,25 Jean Cazeneuve26 und vor
allem Pierre Bourdieu,27 haben ihn stets als Soziologen angesehen.
Allgemein kann festgestellt werden, daß er einen engen und großen
Freundeskreis hatte und dieser den Ausgangspunkt für einen inten-
siven Gedankenaustausch darstellte. Man könnte noch seine Bezie-
hungen zu Henri Bergson (seinem Studienfreund an der ENS ) nen-
nen, der sich zwar in angrenzenden Forschungsgebieten engagiert
hat, aber eine ganz andere Herangehensweise wählte.28 Man müßte
auch seine herzlichen Kontakte mit einer Vielzahl ehemaliger Schü-
ler in den ENS -Vorbereitungsklassen des Gymnasiums Louis le

24 Célestin Bouglé (1870-1940), Absolvent der Ecole normale supérieure und agrégé de
philosophie, übernahm 1920 den Lehrstuhl für Histoire de l’Economie sociale an der
Sorbonne und war von 1927-1940 Direktor der Ecole normale supérieure, wo er das
Centre de Documentation Sociale gründete. Dieses Zentrum wurde finanziell unter-
stützt durch die Rockefeller-Stiftung, die in der Zwischenkriegszeit vielen französi-
schen Elite-Studenten einen Studienaufenthalt in den USA ermöglichte. Bouglé stand
in engem, aber auch von kritischer Distanz geprägtem Kontakt zum Milieu um den
französischen Soziologen Emile Durkheim. Er hat zahlreiche soziologische und mo-
ralphilosophische Schriften veröffentlicht sowie das Gesamtwerk von Proudhon
herausgegeben.
25 Georges Gurvitch hat 1957 in einem ersten Sonderheft der Revue philosophique zu
Ehren von Lévy-Bruhl, das anläßlich seines 100. Geburtstags erschienen ist, einen
Artikel geschrieben.
26 Jean Cazeneuve war der Nachfolger von Georges Gurvitch auf dem Lehrstuhl für
Soziologie an der Sorbonne. Er ist der Autor der bisher einzigen Biographie über
Lévy-Bruhl. Jean Cazeneuve: Lucien Lévy-Bruhl, sa vie, son œuvre, avec un exposé
de sa philosophie, Paris 1963.
27 Vgl. Pierre Bourdieu: Travail et travailleurs en Algérie, Paris 1962.
28 Henri Bergson (1859-1941). Man denke an eines der Hauptwerke des großen Philoso-
phen: Les deux sources de la Morale et de la Religion, Paris 1933.
333

Grand ansprechen, so mit dem bereits erwähnten Albert Thomas,


mit Elie Halévy, François Simiand, Paul Mantoux. In den khâgne-
Kursen dieser Schule ließ er sie an seiner Begeisterung für neue
Entdeckungen teilhaben (viele haben sich an seine Lektürezusam-
menfassungen des Rameau dÊOr erinnert).29 Er hat sie später an vie-
len seiner Aktivitäten beteiligen wollen. Man müßte schließlich
auch auf die Freundschaften eingehen, die er gegen Ende seines
Lebens schloß, u.a. mit Emmanuel Levinas.30
Was stellt aber nun die Kohärenz eines derart vielfältigen, an
Begegnungen und Freundschaften reichen und für andere kaum
denkbaren Lebenswegs dar – eines publizistisch höchst fruchtbaren
Lebenswegs, der zudem von vielen Ehrungen gesäumt war (er
wurde als Nachfolger von Victor Delbos 1917 zum Mitglied der
Académie des Sciences morales gewählt)?

Der rote Faden eines bemerkenswerten Lebens


Lévy-Bruhl, der Germanist hätte werden können und schließlich
aufgrund seines großen Interesses für die Soziologie Durkheims
Ethnologe wurde, hat sich laut eigenem Bekunden vor allem als Phi-
losoph und Logiker verstanden. Sein hauptsächliches Anliegen war
die Erarbeitung kohärenter Argumentationsmuster sowie objektiver
Wissensbestände innerhalb der gerade entstehenden modernen
Universität. Der eigensinnige, mehr idealistische als realistische Posi-
tivist wurde auf dieser Grundlage – und auf Kosten seiner Seelen-

29 Zu deutsch Der Goldene Zweig; Das 1890 veröffentlichte Buch des englischen Eth-
nologen James George Frazer stellte für Lévy-Bruhl eine Offenbarung dar. Er hat sich
in seinen späteren Werken stets darauf bezogen.
30 Der Philosoph und Husserl-Spezialist Emmanuel Levinas (1905-1995) wurde in Li-
tauen geboren. Er absolvierte sein Studium in Straßburg und in den dreißiger Jahren
in Paris, wo er Brunschvicg, Bergson und Lévy-Bruhl begegnete. Seine wichtigsten
Arbeiten befassen sich mit Fragen der Ethik, die sich aus der Begegnung mit dem
Anderen in seiner ganzen Unterschiedlichkeit. Nach 1968 war Levinas Professor an
der Sorbonne. Er hat zahlreiche Veranstaltungen über den Talmudismus angeboten.
334 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

ruhe – im engeren Rahmen seiner akademischen Tätigkeiten zu ei-


ner Schlüsselfigur der Universitätsreformen, die zu Beginn der Drit-
ten Republik in Frankreich in Angriff genommen wurden. Wie an-
deren, ebenfalls philosophisch ausgebildeten Reformern dieser Zeit
war es auch für ihn selbstverständlich, an mehreren Fronten gleich-
zeitig zu agieren und schlichtend in Debatten einzugreifen. Wie für
diese Reformer entsprang auch für ihn die eingeleitete Hochschulre-
form einem Fortschrittsdenken, dessen Objektivität den Weg zum
Universellen eröffnete und vorzeichnete. Die grundsätzliche Rich-
tung dieses Entwicklungsprozesses hatte ihm das Werk von Auguste
Comte vermittelt. Doch was ihn unmittelbar geprägt hatte, war das
Wissenschaftsverständnis von Descartes, der die Physik, indem er
sie von der Metaphysik löste, zu einem rein wissenschaftlichen
Forschungsbereich, d.h. zu einer vollkommen objektiven Wissen-
schaft gemacht hatte. Er selbst wollte in dieser Richtung weiterarbei-
ten und strebte die Abspaltung weiterer Wissenschaften von der
Metaphysik an, insbesondere der Sozialwissenschaften (der Soziolo-
gie, der Psychologie, der Geschichte), denen er die Mittel für eine
wirkliche Objektivität zur Verfügung stellen wollte. Eine derartige
Objektivität sollte es dann ermöglichen, klare Verhaltensrichtlinien
auf der Grundlage unveräußerlicher Werte und Normen zu definie-
ren. Sie sollte auch dazu befähigen, jedes soziale Problem auf objek-
tive Prinzipien zurückzuführen, d.h. auch solche Probleme, mit de-
nen sich u.a. die Germanisten befaßten.
Lucien Lévy-Bruhl kam 1857 in Paris zur Welt und wuchs in ei-
ner einfachen Handwerkerfamilie lothringischen Ursprungs auf. Er
war ein brillanter Gymnasiast und bestand 1876 als zweitbester den
Wettbewerb zum Eintritt in die ENS. Er bereitete sich in der Klasse
von Emile Boutroux auf die Abschlußprüfung in Philosophie vor
und beendete sein Studium 1879 als Jahrgangsbester. Er und seine
Studienkameraden, darunter Salomon Reinach, Gustave Lanson,
335

Paul Desjardins, Henri Bergson, Camille Jullian, Jean Jaurès, Emil


Durkheim, traten in das akademische Berufsleben zu einer Zeit ein,
die von großem intellektuellen Aufruhr und weitreichenden institu-
tionellen Veränderungen geprägt war, insbesondere im Bereich der
Hochschullehre, in dem sie selbst tätig wurden.
Tatsache ist, daß sich die Lehre an den französischen Universitä-
ten im Unterschied zu Deutschland und England bis zum Zweiten
Kaiserreich kaum weiterentwickelt hatte. Im Ersten Kaiserreich und
danach in der restaurierten Monarchie unterlag sie einer engen
Kontrolle, die lange durch das Innenministerium selbst ausgeübt
wurde. Offenbar befürchtete man, daß ein zu freier und zu kriti-
scher Gebrauch von Wissen eine destabilisierende Wirkung auf das
herrschende System haben könnte. Alle Hebel der Hochschulbil-
dung, die Prüfungsinhalte eingeschlossen, wurden in jeder Hinsicht
stärker vom Staat als von den Universitäten kontrolliert. Das Hoch-
schulsystem selbst setzte sich dabei aus den im wesentlichen wissen-
schaftlich orientierten (und folglich für Objektivität empfänglichen)
Grandes Ecoles und der Université de France zusammen, wobei
letztere die Fakultäten für Recht, Medizin, Geistes- und Naturwis-
senschaften umfaßte. Zu den Aufgaben der Universität zählte die
Durchführung von Wettbewerben, die (durch die agrégation und
die Promotion) den Zugang zum Lehrberuf an Gymnasien und Eli-
teschulen ermöglichten, nicht jedoch die inhaltliche Gestaltung die-
ser concours. Nach dem Krieg von 1870 konnte diese Situation, die
im Hinblick auf die Qualität der Lehrerausbildung seit langem als
äußerst fragwürdig angesehen wurde, nicht länger aufrechterhalten
werden. Die wiedergeborene französische Republik setzte sich zum
Ziel, die Nation nach deutschem Vorbild mit echten Universitäten
auszustatten und diese auf eine noch besser abgesicherte Grundlage
zu stellen. Diese Aufgabe wurde von den Hochschulvertretern selbst
in die Hand genommen, insbesondere von Philosophen und Histo-
336 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

rikern, deren Disziplinen gerade einem tiefgreifenden Wandel un-


terworfen waren. Erklärtes Ziel bei der Neugestaltung der Hoch-
schullehre war es, die Gebiete der objektiven Wissenschaften ver-
stärkt zu berücksichtigen, u.a. die Soziologie und Psychologie. Die
vorangegangene Generation reformorientierter Philosophen, zu der
Auguste Comte, Théodule Ribot, Emile Boutroux und Charles
Renouvier gehörten, hatten bereits die für dieses Projekt notwendi-
gen Ideen und Pläne entwickelt. Am Ende des 19. Jahrhunderts war
die Universität der französischen Republik schon in der Lage, sich
als moderne Einrichtung zu präsentieren, die ihre Bildungsangebote
diversifiziert sowie den Rahmen ihrer Autonomie abgesteckt hatte
und mit deutschen Universitäten im wissenschaftlichen Austausch
stand. Und sie war in der Lage, ihre Fähigkeit (und ihren Willen) zur
Herausarbeitung wahrhaft universeller Werte unter Beweis zu stellen.
Diese Universitätsreform sowie die dadurch ermöglichte Neuaus-
richtung der Forschung in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten
ist in entscheidender Weise mit der Person Emil Durkheim verbun-
den.31 Indem Durkheim den fait social definierte, stellte er die be-
grifflichen Mittel zur Verfügung, mit denen ein gegebenes soziales
Ensemble identifiziert werden konnte: Dies umfaßte die systemati-
sche Erfassung der Funktionsweise und der Entwicklungsmöglich-
keiten eines Ensembles, seiner Institutionen und deren Rolle im In-
tegrationsprozeß, d.h. (die Erfassung) der Bedingungen für deren
normative Wirksamkeit usw. Derartige Annahmen eröffneten die
Möglichkeit, kohärente Ensembles zu identifizieren, sie zu klassifi-
zieren, sie voneinander zu unterscheiden und die ihnen innewoh-

31 Unter den vielen Fachkenntnissen Durkheims ist vor allem sein herausragendes Wis-
sen über die Geschichte der Bildungssysteme in Frankreich und im benachbarten
Ausland zu nennen. Besondere Bedeutung maß er der sozialen Integrationsfähigkeit
von Bildungssystemen bei. Vgl. Emile Durkheim: L’évolution pédagogique, Paris
1938. Es handelt sich um den Text einer Vorlesung, die er 1904 an der Sorbonne ge-
halten hat.
337

nenden Schwierigkeiten zu erfassen. Ethnologen, Historiker und


Germanisten haben diese Annahmen vielfach verwendet. Und
wenn sich auch ihre jeweiligen Untersuchungsfelder deutlich von-
einander unterschieden, bezogen sich doch alle auf das zentrale
Konzept der Zivilisation, um Unterschiede herauszuarbeiten, um
Vergleichsmöglichkeiten herzustellen und als wesentlich betrachtete
Probleme zu erkennen.
Dieser unvollkommene Überblick über die im französischen Bil-
dungssystem eingetretenen Veränderungen sollte verdeutlichen, daß
der wissenschaftliche Fortschritt in den Augen der Hochschulrefor-
mer notwendigerweise mit dem Projekt verbunden war, die wesent-
lichen Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung in einer perfekten
und logisch begründeten Klarheit darlegen zu können. Daher war
es auch völlig legitim, daß ein Historiker, ein Philosoph und ein
Ethnologe die Ansichten eines Germanisten bestätigten und umge-
kehrt. Dies stellte sogar eine Verpflichtung dar.
Lucien Lévy-Bruhls Lebensweg stand jedenfalls ganz im Zeichen
dieser Logik. Die soziologischen Annahmen Durkheims bildeten
die Grundlage dafür, daß er Ethnologe wurde und gleichzeitig Phi-
losoph blieb. Anders formuliert: Es war sein Wunsch, ausgehend
von den ihm zur Verfügung stehenden Informationen (Reisebe-
richte, Erfahrungsberichte über den Kolonialisierungsprozeß oder
aber die Berichte Edouard ChavannesÊ über den faszinierenden
chinesischen Kontinent) die Vielfalt vergangener und zeitgenössi-
scher Gesellschaften systematisch zu ergründen. War diese konsta-
tierte Vielfalt das Ergebnis eines gemeinsamen, nur zeitlich ver-
schobenen Entwicklungsprozesses, oder war sie der Beleg für natur-
gegebene Unterschiede? Die erste Antwort, die er darauf gab, war
kaum nuanciert und stimmte nicht mit den theoretischen Positionen
Durkheims überein: die primitiven Gesellschaften stellten im Ver-
hältnis zu den westlichen Gesellschaften das radikal Andere dar.
338 Pascale Gruson: Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)

Lévy-Bruhl hoffte, diese These durch unwiderlegbare Kausalitäten


belegen zu können, stieß aber in seiner Forschung auf viele Hin-
dernisse. Er bemühte sich stets, diese zu überwinden, indem er sein
Lektürepensum erhöhte und aufmerksam jene Forschungen in
Frankreich und im Ausland verfolgte, die ihn voranbringen konn-
ten. Er mußte sich der Erkenntnis beugen, daß sein ursprüngliches
Ziel unerreichbar war, und er überantwortete ohne Einschränkung
dieses vielfältige und -gestaltige Feld der universitären Forschung.
Das Konzept der Alterität wurde hierdurch bereichert.
Die Schwierigkeiten, denen Lévy-Bruhl bei seiner ideen- und
mentalitätshistorisch begründeten Suche nach logisch-kausalen Klas-
sifizierungskriterien im Bereich der Ethnologie begegnete, stellten
sich ebenfalls den französischen Germanisten in ihrem Gebiet, das
sie einheitlich gestalten wollten. Der von ihnen verwendete zivilisa-
tionstheoretische Ansatz war natürlich besonders brüchig. Unter-
schied sich Deutschland wirklich so sehr von Frankreich? Stellte die
Erforschung von zivilisatorischen Unterschieden ein wirklich essen-
tielles Thema dar? Zwar haben diese Wissenschaftler ähnlich wie
Lévy-Bruhl niemals aufgehört, ihre Untersuchungen fortzusetzen
und haben auf diese Weise zur Konstituierung großer Wissensbe-
stände beigetragen. Doch trotz dieses nicht zu leugnenden Reich-
tums der zusammengetragenen Informationen haben sie, zumindest
bis zum Zweiten Weltkrieg, bei der Interpretation ihrer Ergebnisse
weit weniger Offenheit bewiesen als ihr Lehrer bei seiner Annähe-
rung an das Phänomen der Alterität.
339

Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus


Jens Flemming
340 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

Der Jude als Typ ist dem Deutschen noch immer eine Mär-
chenfigur, und wie die märchendichtende Phantasie des Volkes
heute zur Schauerromaniade degradiert ist, ist auch er eine Fi-
gur des Schauerromans geworden, wie ,der Freimaurer der ka-
tholischen und ,der Jesuit der protestantischen Volksphantasie:
unbekannt, abgesondert, geheimnisvoll und schnell verdächtig.
Das klingt nach Mittelalter? Wir leben mitten in ihm, seitdem
der große Krieg das bisschen Neuzeit, das wir der Aufklärung
verdanken, mit dem Ärmel der Uniform weggewischt hat.
(Arnold Zweig: Die Summe, in: Jüdische Rundschau, Nr. 97
vom 20.11.1923)

Er habe ıan der sogenannten Kunstwartdebatte nicht einmal lesend


teilgenommen, weder aus Trägheit noch aus Ostentation.„ Denn
schließlich wisse er um die Aussichtslosigkeit, ıNichtjuden jüdische
Probleme auch nur begreiflich zu machen„, solange das Judentum
zur ıSelbstbesinnung„ noch nicht wirklich vorgestoßen sei. Das wa-
ren 1913 die Worte eines jungen, empfänglichen und aufstrebenden
Mannes: damals noch Student der Philologie, der sich – dem elterli-
chen Bedürfnis nach Sicherheit entsprechend – auf das höhere
Lehramt vorbereitete, tatsächlich aber kein ,BrotgelehrterÂ, sondern
ein ambitionierter Schriftsteller, der sich im literarischen Betrieb mit
lyrischen, erzählerischen, essayistischen und dramatischen Produk-
tionen schon einen gewissen Respekt verschafft hatte. Er kam aus
relativ kleinen Verhältnissen, Sohn einer Handwerkerfamilie im
Schlesischen, Jahrgang 1887, ein Angehöriger der postemanzipatori-
schen Generation, die vom atemberaubenden Aufstieg der Väter
und Vorväter in die Bürgerlichkeit profitierte, gleichwohl oder ge-
rade deshalb unter gesellschaftlichen Ressentiments und verweiger-
ter Anerkennung litt, auf der Suche nach Identität neue Pfade ab-
steckte und zu beschreiten sich anschickte. Das Thema, das er auf
wenigen Seiten abhandelte, war kein Geringeres als das ıProblem
des jüdischen Dichters in Deutschland„, ein Beitrag in einer soeben
gegründeten Zeitschrift, die sich Freistatt nannte, nach eigenem Be-
341

kunden ein Forum für die ıVerinnerlichung und die Stärkung der
westlichen Jüdischkeit„, eine weitere Stimme im Chor jener, die in
der Epoche um 1900 gegen Assimilation als Königsweg opponier-
ten, für Besinnung auf spezifisch jüdische Werte und Traditionen
warben.1
Gleichgültig, ob unser Autor Arnold Zweig, und von ihm ist hier
die Rede, im Kunstwart geblättert hatte oder nicht: Kaum anzu-
nehmen ist, daß die vielen Erörterungen, die um die Rolle der Ju-
den in Kultur, Politik, Handel und Wandel kreisten, spurlos an ihm
vorübergerauscht sind. Im März 1912 hatte Moritz Goldstein, ein
promovierter Germanist und Kritiker, die Gefilde der deutsch-jüdi-
schen Dichtkunst einer kritischen Musterung unterzogen, dabei ei-
nen Satz zu schreiben gewagt, der für Aufregung, ja für Empörung
sorgte: ıWir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das
uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht.„2 1907 hatte
der Arzt Julius Moses Repräsentanten des gebildeten Bürgertums
nach ihrer Meinung zur Lösung der Judenfrage gefragt,3 einige
Jahre später erschien eine Sammlung von Äußerungen über Ju-
dentaufen,4 1911 sorgten Werner Sombarts weit ausgreifende The-
sen über die ı Juden und das Wirtschaftsleben„ für Aufmerksam-
keit, ein Gegenentwurf zu der von Max Weber gestifteten Verbin-
dung von ıprotestantischer Ethik„ und ıGeist des Kapitalismus„,
dem kurz darauf ein schmales Bändchen mit dem verheißungsvol-

1 Arnold Zweig: Zum Problem des jüdischen Dichters in Deutschland, in: Die Freistatt.
Alljüdische Revue 1 (1913/14), S. 375-381, hier S. 381. Zur Biographie vgl. u.a. Wilhelm
von Sternburg: Arnold Zweig, Meisenheim 1990. Zum Selbstverständnis der Zeitschrift
vgl. das Editorial im ersten Heft: Zum Programm der Freistatt, S. 3ff., Zitat auf S. 5.
2 Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Parnaß, in: Der Kunstwart 25/II, S. 281-294, Zitat S.
283, neu, auch mit der sich anschließenden Debatte ediert in: Menora 13 (2002).
Ebenfalls 1912 veröffentlichte Goldstein eine der Thematik des Kunstwart-Aufsatzes
kongruente Schrift: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur, Berlin 1912.
3 Julius Moses: Die Lösung der Judenfrage. Eine Rundfrage, Berlin-Leipzig 1907.
4 Judentaufen, München 1912 (es äußerten sich u.a. Werner Sombart, Frank Wedekind,
Heinrich Mann, Friedrich Naumann, Richard Dehmel).
342 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

len Titel Die Zukunft der Juden nachgeschoben wurde.5 1904 hatte
Arthur Ruppin eine ısozialwissenschaftliche Studie„ publiziert, de-
ren Tenor bereits die Überschrift des ersten Kapitels verriet: ıDie
Assimilation als ständige Bedrohung der Judenheit in der
Diaspora.„6 Parallel zur zweiten, gründlich überarbeiteten Auflage
kam 1911 eine ıvolkswirtschaftliche„ Analyse des Mediziners Felix
A. Theilhaber auf den Markt, der – mit detaillierten Statistiken un-
terfüttert – den Untergang der deutschen Juden an die Wand malte.
ıKeine Kulturrasse„, erschreckte er seine Leser, stehe ıso deutlich
vor dem Verfall„ wie ıdie jüdische in Deutschland„: eine Konse-
quenz aus den Anforderungen und Auswüchsen des modernen
Lebens, aus Glaubensflucht, Mischehen und künstlicher Geburten-
beschränkung.7 Allenthalben also schlugen dem aufmerksamen
Zeitgenossen die Wogen einer Diskussion entgegen, in denen Juden
sich ihres Charakters, ihrer Herkunft zu vergewissern, das Gespräch,
auch die Kontroverse nach innen und nach außen suchten.
Ein Intellektueller wie Arnold Zweig jedenfalls konnte sich dem
schwerlich entziehen, steckte vielmehr mitten drin im Pro und Con-
tra der Argumente, beteiligte sich 1913 an einem ıSammelbuch„,8
mit dem der ıVerein jüdischer Hochschüler Bar Kochba„ in Prag
dem Zionismus eine ıneue Wendung„ geben wollte: ıAus einer
Partei mit einem politisch-wirtschaftlichen Ziel, das auf die Lösung
der gegenwärtigen Not der jüdischen Massen in Osteuropa gerichtet

5 Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911. Vgl. als Reaktion
darauf Julius Guttmann, der bei Sombart in Breslau studiert hatte: Die Juden und das
Wirtschaftsleben, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 36 (1913), S. 149-
212 sowie Felix Rachfahl: Das Judentum und die Genesis des modernen Kapitalis-
mus, in: Preußische Jahrbücher 147 (1912), S. 13-86. Vgl. ferner Werner Sombart: Die
Zukunft der Juden, Leipzig 1912.
6 Arthur Ruppin: Die Juden der Gegenwart. Eine sozialwissenschaftliche Studie, 2.
Aufl., Köln u.a. 1911 (1. Aufl. 1904), S. 3.
7 Felix A. Theilhaber: Der Untergang der deutschen Juden. Eine volkswirtschaftliche
Studie, München 1911, S. 3.
8 Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag (Hg.): Vom Judentum. Ein Sammel-
buch, Leipzig 1913 (1914 bereits in 4. Aufl.).
343

war„, erinnerte sich einer der Beteiligten, ıwurde eine geistige Be-
wegung, die sich in den Prozeß der jüdischen Geschichte und in
das Bett der allgemeinen Kulturentwicklung einstellte.„9 Zweigs Auf-
satz darin war der ıDemokratie„ und der ıSeele des Juden„ gewid-
met, zwei, wie er zu wissen wähnte, gegensätzliche Pole. Die Demo-
kratie, und das meinte die liberale Demokratie, die Garantin des
Rechtsstaats, der Emanzipation und der Bürgerrechte, die Demokra-
tie mithin ıverkehre im Juden das Wertgefühl„, entfremde ihn sei-
ner Herkunft, seiner Tradition, beeinträchtige das Heute ebenso wie
das Morgen. So leugne sie zum Beispiel die ızutiefst im Wesen be-
gründete Verschiedenheit von Mann und Weib„, gefährde damit
Substanz und ıDauer des Volks„, die Frau beginne sich zu organi-
sieren, verlange ıEinfluß, Mitbestimmung„, werde ein ıpolitischer
Faktor„, strebe fort vom ıhäuslichen Leben„. Man ılasse sie„, pro-
gnostiziert der Autor, ıdie primitiven Triebe durch Intellektualisie-
rung und falsche Bildung geschwächt, mit Erziehungstheorien und
-zwecken beladen, die ernsthafteste Zeit der Jugend ihrer Kinder
überwachen, man entferne sie, sowie diese Kinder erwachsener
sind, von ihnen durch irgendeinen Beruf: und die Widerstandskraft
der Juden, die lediglich auf der Betreuung des jungen Nachwuchses
durch die Mutter beruht, nimmt ab wie ein Wasser, dessen Quelle
abgegraben wird.„ Kurzum – die Demokratie lege ıihre zerfasern-
den Hände an die letzte Wurzel der Judenheit„, minimiere die Fa-
milie, indem sie, befangen in der Doktrin des Individualismus, das
ıverantwortungslose Recht der Kinder auf sich selbst„ verkünde.
Gewiß, als politische Bewegung sei sie ıweder zu hemmen noch zu
brechen„, man müsse sie aber ıüberwinden„, müsse auf ihrer ıPlatt-
form„ den Frauen zubilligen, was ihnen der Zionismus ıin sicherem
Instinkt„ sofort gewährt habe, freie Betätigung nämlich, die ıalte

9 Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Versuch über Religion und
Politik, Hellerau 1930, S. 148f.
344 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

unveränderliche Rangordnung„ aber wiederherstellen, ıauf deren


oberster Stufe das unsterbliche Symbol der Mutter mit dem Kinde„
throne.
Von kulturpessimistischen, zivilisationskritischen Topoi ist der
Essay auch sonst bevölkert: Gemeinschaft steht gegen Gesellschaft,
den ıjüdischen Geist„ überwältige die Epoche mit der verführeri-
schen Aussicht, ıdas Leichte für das Schwere„, das ıModerne für
das Ewige, das Surrogat für die Echtheit, das Ventil für den rechten
Ausweg„ zu nehmen. Auf diese Weise jedoch ıvergeude„ er sich,
statt sich zu ıbewahren„, vergesse ıdas Eigene„, um einer ıunechten
Menschheit unecht zu dienen.„ Die einzige Alternative, die Zweig
gelten lässt, ist die von Martin Buber entworfene Perspektive: Um-
kehr, Erneuerung, lauten die Schlagworte, ıwesentlich werden„,
nicht mehr ı Jude aufs Geradewohl„ sein, sondern Jude aus Über-
zeugung werden. Sich selber ruft er zum ıVorposten„ aus, über-
zeugt, daß dereinst ıaus den vielen das Volk„ werde: nicht im mes-
sianischen Sinne ıam Ende der Zeit, sondern in der Zeit.„10 Das war
geschrieben an die Adresse der assimilierten Glaubengenossen, er-
klärte die Hoffnungen und Erwartungen des 19. Jahrhunderts für
Illusion und Irrtum, setzte die Demokratie gleich mit ,EntjudungÂ,
mit dem Verlust des Eigenen und der Adaption des Fremden. Für
ıdie Idee des liberalen Menschen„,11 für die Ideale des Liberalismus
und der bürgerlichen Demokratie war in diesem Gebäude kein
Platz; Zweig hat sie nie, auch nicht in der Weimarer Republik, ver-
fochten, sie blieben seinem Denken und Empfinden fremd, was frei-
lich nicht ausschloß, daß er in seinen Romanen einige ihrer Vertre-
ter mit Achtung und dichterischer Imagination gestaltet hat: den al-
ten Osann, den jüdischen Kriegsgerichtsrat Posnanski, den Bankier

10 Arnold Zweig: Die Demokratie und die Seele des Juden, in: Verein jüdischer Hoch-
schüler Bar Kochba in Prag (Hg.): Vom Judentum. Ein Sammelbuch, Leipzig 1913, S.
210-235, hier – in der Reihenfolge der Zitate: S. 225, 222ff., 225, 231ff. und 235.
11 Zweig: Zum Problem des jüdischen Dichters, a.a.O., S. 381.
345

Markus Wahl, aber die eigentliche, wiewohl nicht immer vorbehalt-


lose Sympathie ging woanders hin: zur Generation der jungen kul-
turell avancierten Zionisten, zu den Juden Osteuropas, dann mehr
und mehr zu den Sozialisten, nicht zu denen, die im Schoß der SPD
verharrten, sondern zu denen, die ihr, gewitzt durch die Lehren des
Krieges, in kühler Distanz begegneten.

Der Krieg veränderte, fast möchte man sagen: alles. Er war eine
tiefe, später immer wieder und stets von neuem diskutierte und aus-
gedeutete Zäsur. Die Erfahrungen, die er dem Schriftsteller auf-
drängte, die Einsichten, die er erzwang, prägten die weitere Existenz
und bestimmten das dichterische Werk, ließen Zweig bis zum
Schluß, auch nach 1948, der Rückkehr aus dem Exil, nicht mehr
los, und es war kein Zufall, daß er mit diesem seinen Lebensthema,
der Verarbeitung, Vergegenwärtigung und Ablösung des Kriegser-
lebnisses seit Mitte der 20er Jahre seinen Ruhm als einer der großen
jüdisch-deutschen Romanautoren begründete. Zunächst aber hatte
der Krieg ihn, den feinsinnigen Ästheten, wie andere Intellektuelle
auch, in den Bann geschlagen, mit einem rauschhaften Beglük-
kungs- und Erweckungserlebnis überwältigt. Ende August 1914
schwärmte er von der ıPracht und Macht der Gegenwart„, dem
ıZwang der Zeit„, der persönliche Unbill gefaßt und heiter ertragen
lasse. Mit einem ıwahrhaft heißen Glück„ habe er, gleichsam ıüber
Nacht„, aus ıeinem Volke ichsüchtiger Krämer und patriotisch-poli-
tischer Phrasendrescher das große tüchtige deutsche Volk erwach-
sen„ sehen: ıDer fette Bürger, unser Antagonist, lernt plötzlich wie-
der sich einordnen, opfern, echt fühlen – er verliert seine morali-
sche Hässlichkeit, er wird schön!„ Ein ıjauchzendes, tollkühnes Ent-
zücken„ vibriere in ihm, die ıklare ungeheuer geniale Kälte der
Kantischen Intuition und das Feuer Beethovenscher Allegretti und
Scherzi„ präge das Tun der Generäle wie das des gemeinen Man-
346 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

nes. Geradezu ıüberfallen„ habe ihn die Aussicht auf eine Herkunft
und Konfession überwölbende, in gegenseitigem Respekt veran-
kerte ıKulturgemeinschaft„ zwischen Juden und Deutschen: ıIch
nehme meinen leidenschaftlichen Anteil an unseres Deutschlands
Geschick als Jude„, schreibt er einer Freundin, ıauf meine mir ein-
geborene jüdische Art mache ich die deutsche Sache zu meiner Sa-
che; ich höre nicht auf, Jude zu sein, sondern ich bin es immer
mehr, je wilder ich mich freue, je tiefer ich empfinde, je heftiger ich
nach Aktivität dränge.„12
Vom Kriegsdienst, zu dem freiwillig sich zu melden er erwogen
hatte, wurde er wegen einer Sehschwäche zurückgestellt. Stattdessen
publizierte er im Münchener Albert Langen Verlag ein schmales
Heftchen mit rasch gefertigten Erzählungen, darunter ıDie Bestie„,
ein blutrünstiges Stück, das die Ermordung deutscher Soldaten
durch einen belgischen Bauern schildert.13 1915 doch zu den Fah-
nen gerufen, verbrachte er die folgenden Jahre als ıSchipper„, als
Bausoldat an der Front, dann in den Büros der Etappe, in der Pres-
seabteilung von Ober-Ost. Er gehe, notiert er 1915, als Jude in den
Krieg, ıbejahe Deutschland„, ohne die ıFlecken„, die dem deut-
schen Charakter anhafteten, darüber zu vergessen: ıAber dieser
Krieg ist ein Geschick und eine Naturerscheinung, sinnvoll-sinnlos,
schrecklich und erhaben, er macht die Gegenwart wieder edel und
lebenswert.„14 Der idealistische Überschwang hielt der Realität aller-
dings nicht lange stand, schon bald stellte sich Ernüchterung ein,
verflogen die Euphorien des Beginns: ıMan raubt uns raffiniert jede
freie Minute„, berichtet er im April 1917 von der Westfront, ıwir

12 Arnold Zweig an Helene Weyl, 27.8.1914, in: Ilse Lange (Hg.): Arnold Zweig. Beatrice
Zweig. Helene Weyl. Komm her wir lieben Dich. Briefe einer ungewöhnlichen
Freundschaft zu dritt, Berlin 1996, S. 77f.
13 Arnold Zweig: Die Bestie. Erzählungen (Langens Kriegsbücher. Geschichten aus
Deutschlands Kämpfen 1914, Drittes Bändchen), München 1914.
14 Zweig an Weyl, 31.5.1915, in: Lange, a.a.O., S. 102.
347

leben wie Rekruten in den Pausen„; die für den November 1916 in
den Regimentern anberaumte ı Judenzählung„, von den Betroffenen
als ıinfame Diskriminierung„ gewertet,15 baute antisemitische Res-
sentiments nicht ab, sondern auf, verlieh ihnen neue Schwungkraft,
war ein Abgesang auf Burgfrieden und konfessionelle Eintracht.
Zweig war darüber hell empört, verfaßte für die Schaubühne ein
ıBild„, keinen ıEssay„, vielmehr eine Novelle, in welcher der Prota-
gonist einen Zählappell der gefallenen Juden träumt. Wenn es in
der Armee keinen Antisemitismus gäbe, ıdie unerträgliche
,Dienstpflicht wäre fast leicht„, vertraut er dem bewunderten Martin
Buber an, so aber fühle er sich als ıZivilgefangene[r] und staatenlo-
se[r] Ausländer.„16 Er sei ıausgelaugt„, klagt er, ıfast verzweifelt„,
nach ı28 Monaten„ Einsatz, unterbrochen nur von 14 Tagen Ur-
laub, am Ende seiner Kraft. Die Hoffnungen richteten sich zuneh-
mend intensiver auf ein Überspringen der russischen Revolution.
Das ıganze Heer, von der hintersten Etappe bis zum vordersten
Graben„, diagnostizierte er, sei ıvon den giftigsten und niedrigsten
moralischen Fäulnisstoffen durchseucht„, er selber, den man aus
seinem ıbis dahin reinen und zurückgezogenen Leben in diese
Kloake gezerrt„ habe, werde ıeines Tages mit einem vielleicht ruch-
losen und unerhörten Buche die Wahrheit gestalten.„17
Er habe ıvoluminöse Werke, wilde Werke, große ausgeformte
schicksalhaltende Werke im Schädel„, kündigt er im April 1919 an:
ıIch will dichten! Romane und Tragödien sollen erstehen. Alles,
was ich bis jetzt gemacht habe, ist eine Vorhalle gewesen.„18 Bis da-
hin allerdings sollte es dauern. Zweig war reizbar, depressiv. Als er

15 Egmont Zechlin und Hans-Joachim Bieber: Die deutsche Politik und die Juden im
Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, S. 532.
16 Zweig an Martin Buber, 15.2.1917, in: Wenzel, a.a.O., S. 74. Der Text der Novelle
(„Judenzählung vor Verdun“) ebd., S. 555-557.
17 Zweig an Agnes Hesse, 23.8.1917, in: Wenzel, a.a.O., S. 78.
18 Zweig an Helene Weyl, 19.4.1919, in: Lange, a.a.O., S. 150.
348 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

die Uniform wieder gegen den Anzug getauscht hatte, zeigte sich,
daß der Weg in die zivile Existenz als Schriftsteller sich nicht würde
bruchlos bewältigen lassen, der Krieg arbeitete weiter, ıwühlte und
brodelte, stieß und schrillte.„19 Erst mit Hilfe einer psychoanalyti-
schen Behandlung gewann er um die Mitte der 20er Jahre seine
schöpferischen Kräfte zurück. Klar aber war, daß ein Dasein als ge-
sellschaftlich abstinentes ıKulturwesen„20 in den Bahnen der Vor-
kriegsepoche nicht gut möglich sein, daß nicht mehr die ästhetische,
sondern die politische Erziehung des Menschengeschlechts im Vor-
dergrund stehen würde, daß man die Politik nicht allein denen
überantworten dürfe, die einen Beruf daraus machten, den Partei-
funktionären und Parlamentariern. Seinen Ausdruck fand diese Per-
spektive zunächst in breit gefächerten publizistischen Aktivitäten.
Zweig lieferte Beiträge für die Weltbühne, für Martin Bubers Jude,
für Sammelbände. Anfang 1919 räsonnierte er in einer Broschüre
der ıZentrale für Heimatdienst„, die den ıGeist der neuen Volks-
gemeinschaft„ ausrief, über die Rolle des Theaters, ein Versuch, die
Richtung künftiger Arbeiten zu bestimmen. Die Bühne könne, nein
müsse die ıallgemeine Erkenntnis„ befördern, wie ıübermäßig der
wilhelminische Deutsche„ aus seiner Mentalität heraus mit der
ıVerursachung des Krieges„ belastet sei. Nur so werde man wieder
Anschluß gewinnen an die ıWerte und Ideen der klassischen und
romantischen Zeit.„ In scharfen Formulierungen geißelt Zweig das
Bürgertum, das, als militärisch die Dinge gut standen, nach An-
nexionen geschrieen, jeder ıVergewaltigung, Ausbeutung und di-
plomatischen Lüge„ zugejubelt habe und sich nun nicht herausre-

19 So die Formulierungen Lenore Bertins, der Frau von Werner Bertin, dem alter ego
Zweigs, im Epilog von: Erziehung vor Verdun, Amsterdam 1935, S. 624.
20 Zweig an Helene Weyl, 19.4.1919, in: Lange, a.a.O., S. 149. Zweig hat der Vorkriegs-
epoche im Exil ein merkwürdig nostalgisches, anrührendes Werk gewidmet, ein, wie
er im Nachwort (S. 221) sagt, „historisches Dokument“: Versunkene Tage. Roman
aus dem Jahre 1908, Amsterdam 1938.
349

den dürfe, belogen worden zu sein. Gewiß, so Zweig, es ist belogen


worden, aber nicht gegen seinen Willen: ıEs hat den gewalttätigen
Frieden von Brest und Bukarest gebilligt und war mit jedem Miss-
brauch lebendiger Ideale (Selbstbestimmungsrecht der Völker) zu
verschleierten Gewaltzwecken herzlich einverstanden, und es de-
nunziert als Vaterlandsfeind noch heute jeden, der an seine Schuld
zu rühren wagt und sein Schuldbekenntnis fordert, als Ententisten
und wirklichkeitsfremden Ideologen.„ Die ıdeutsche Wiedergeburt„
– das sei die ıAufgabe der deutschen Dichter und Künstler„, als
Maxime habe dabei zu gelten: ıSelbstgericht der Nation, Einkehr,
Umkehr und Erneuerung des deutschen Wesens.„21
Dahinter verbarg sich eine an Martin Buber angelehnte Philoso-
phie, die das Heil nicht von kollektiven Mächten und strukturellem
Wandel erwartete, sondern von der individuellen Fähigkeit der
Menschen zur Einsicht und ihrer Bereitschaft, entsprechend zu han-
deln. Die Arbeit des Schriftstellers, hob Zweig 1934 in einem pro-
grammatischen Aufsatz für Klaus Manns Sammlung hervor, sei ıka-
thartisch, lösend, abführend„, insofern sittigend und zivilisierend. Zu
ihrer Funktion gehöre, heißt es in Anlehnung an Sigmund Freud,
dem intellektuellen Leitstern der späten 20er und der 30er Jahre,
ıdas Verdrängte zu sagen, das Träge aufzustacheln, das Gewissen
zu schärfen„, das ıUnterbewusste ins Helle„ zu heben.22 Das war
über alle Brüche hinweg die Konstante, das Muster in Zweigs Den-
ken, war der Schlüssel zur Interpretation eines vielgestaltigen, weit-
gefächerten Schaffens. Das Thema, das ihn umtrieb, war das von
Schuld und Sühne, war der Versuch, nicht nur der Gesellschaft auf

21 Arnold Zweig: Das Theater im Volkstaate, in: Der Geist der neuen Volksgemein-
schaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, hg. von der Reichszentrale für Hei-
matdienst, Berlin 1919, S. 127-139, hier S. 136-139. Vgl. auch mit zum Teil wörtlich
wiederholten Formulierungen Zweigs Essay: Epoche und Theater, in: Max Krell
(Hg.): Das deutsche Theater der Gegenwart, München u.a. 1923, S. 13-24.
22 Arnold Zweig: Der Krieg und der Schriftsteller, in: Die Sammlung 1 (1934), S. 621-628,
hier S. 626.
350 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

die Spur zu kommen, sondern auch und zuvorderst sich selbst. Kein
Zufall war es daher, daß die Schlüsselfigur seines Romanzyklus
über den Großen Krieg der Weißen Männer,23 der junge, vom Le-
ben noch nicht gebeutelte Werner Bertin stark autobiographische
Züge trägt. In ihm vergegenwärtigt Zweig das eigene Schicksal,
nicht eins zu eins, aber doch im Kern, jeweils eingebettet in eine
umfassende Rekonstruktion der gesellschaftlichen Kräfteverhält-
nisse. Mit einer langen und schmerzhaften Aventiure büßt Bertin
seine schuldhaften Verstrickungen, die anfängliche Begeisterung für
den Krieg, als frisch gebackener Rekrut die Vergewaltigung und
Schwängerung seiner Freundin und späteren Frau Lenore, ein
Symbol für die Verbiegung der Männer durch Militär und Milita-
rismus, sodann die Abneigung gegen die Ostfront, gespeist aus dem
Wunsch, nicht den dortigen Glaubensgenossen, den nicht assimilier-
ten, westlichen Augen unangenehmen Juden begegnen zu müssen.
Der Krieg ist ein unerbittlicher Erzieher, der Kriegsroman zugleich
ein Zeitroman, der den Lesern einen Spiegel vorhält. Schon das er-
ste Stück aus dem vierbändigen, in einem Produktionsprozeß von
zehn Jahren gefertigten Epos, der Streit um den Sergeanten Grischa,
vorabgedruckt in der Frankfurter Zeitung, war ein unerwarteter Er-
folg, katapultierte den Autor im literarischen Betrieb auf die vorde-
ren Stühle, bezeugte den Prozeß der Selbstreflexion und Politisie-
rung, den Zweig durchlaufen hatte, stieß bei Freund und Feind auf
mächtige Resonanz, wurde auf der Linken gelobt und auf der Rech-
ten angerempelt, war der Auftakt eines Großprojekts, das Zweig am
Ende als ıSchattenriß des Weltkriegs„ charakterisierte, ıseiner mora-

23 Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa, Potsdam 1928; Junge Frau von
1914, Berlin 1931; Erziehung vor Verdun, Amsterdam 1935; Einsetzung eines Königs,
Amsterdam 1937. Zur Interpretation des Grischa-Romans immer noch wegweisend
Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer
Republik, Stuttgart 1986, S. 104-186 sowie für das Gesamtwerk bis 1948 David R.
Midgley: Arnold Zweig. Zu Werk und Wandlung 1927-1948, Königstein/Ts. 1980.
351

lischen Bewegungsketten und seiner Folgen„, deren eine nicht zu-


letzt der Aufstieg und das Regime des Nationalsozialismus war.24

Er sei, schrieb er im Juli 1913, an eine begehrte, aber erotisch nicht


erreichte Freundin, mit leidenschaftlichem ıGlück„ ein Jude, ein
solcher zumal, den man ıunter den Führern der jüdischen Neuge-
burt„ beginne ıhinzuzuzählen„.25 Gemeint war damit nicht zuletzt
Martin Buber, das andächtig verehrte Vorbild der frühen Jahre,
dem er sich ein paar Monate zuvor brieflich vorgestellt hatte. Er
habe es bis dahin, heißt es da, nicht gewagt mit leeren Händen,
ıgewissermaßen„ aus dem literarischen ıNichtsein„ daherzukom-
men, aber er wolle ihm, Buber, doch sagen, daß er durch dessen
Bücher ımit der ganzen Intensität geistiger Erlebnisse den jüdischen
Problemen zugeworfen„ worden sei, ınachdem der hoffnungslos
verfraste Ton der Zionisten wie der anderen Parteien, das grenzen-
los widerliche Zanken um Personen und alle jene Erörterungen, die
von den wesentlichen Sachen so fern wie möglich„ gewesen seien,
ihn ıganz in allgemein künstlerische und geistige Sphären gejagt„
hätten.26 Seine Position präzisierte er dann in seinem erwähnten Bei-
trag für den Sammelband, den 1913 die Prager Studentenvereini-
gung Bar Kochba veranstaltete. 1925 gefragt, welche Bedeutung das
Jüdische in seinem ıWesen und Schaffen„ habe, antwortete Zweig
in dem für ihn typischen Modus pathetischer Überbietungen. Er
denke in deutscher Sprache, sei ıdurchädert„ von ıdeutschem Ele-
ment„, unterhalb dieser ıhell beleuchteten appollinischen Schicht„
aber ıdurchwalte„ ihn das Jüdische: ıgrandios und entstellt, diony-
sisch tief und mit der vollen Realität und auch Gewöhnlichkeit des

24 Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs, Amsterdam 1937, S. 547.


25 Zweig an Helene Joseph, die später verheiratete Weyl, 7.7.1913, in: Lange, a.a.O., S. 55.
26 Zweig an Buber, 16.12.1913, in: Wenzel, a.a.O., S. 47.
352 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

Wirklichen, ein Reichtum der Beheimatung, eine Zugehörigkeit


zum mediterranen Klima und zum nordischen.„27
Der Krieg spielte auch in diesem Feld die Rolle eines Katalysa-
tors, Verstärkers, konfrontierte Zweig mit dem osteuropäischen Ju-
dentum, mit autochthonen jüdischen Gemeinschaften, traditioneller
Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Eine Frucht dieser Erfahrungen
war 1920 der Essay Das ostjüdische Antlitz, ein Hymnus ebenso wie
das 1925 publizierte Neue Kanaan,28 ein, wie er sagt, ıBuch der
Sehnsucht„, ein ıSelbstgespräch zu Bildern„, das mehr aus der
ıSeele und dem Geiste„ denn aus ıWelt und Sättigung der Sinne„
entspringe. Es ist, um ein Wort der Literaturwissenschaftlerin Sigrid
Thielking zu bemühen, eine ıpoetische Hoffnungslandschaft„,29 es
ist Palästina, nicht ein reales, vielmehr ein imaginiertes, das viel
über den Autor verrät, über seine Träume, Projektionen, Bedürf-
nisse, wenig indes über das Land, das er besingt. Die Einwanderung
dort ist ihm ıMediterranisierung„ des Juden, ist die Rückkehr zu
den topographischen und kulturellen Ursprüngen, ist ein Weg in die
Freiheit. Gemeint ist damit nicht so sehr die politische, eher schon
die ıFreiheit vom Gesetz„, von der Thoragläubigkeit der Ortho-
doxie, ıFreiheit vom Staat und der Gesellschaft„, nicht zuletzt Be-
freiung von den eigenen sexuellen Hemmungen, Anerkennung des
Eros als einer alle Bezirke des Seins durchdringenden ıMacht„. Der
ıProtest des Leibes gegen den überzüchteten Kopf„ ist die eine
Seite der Medaille, die andere ein antikapitalistisches Geflecht um-
fassender Hilfe in den Bahnen eines genossenschaftlichen, klein-
räumigen Sozialismus, in dem durch ıtätige Selbstüberwindung die

27 Arnold Zweig: Das Jüdische in meinem Wesen und Schaffen, in: ders.: Jüdischer
Ausdruckswille. Publizistik aus vier Jahrzehnten, Berlin 1991, S. 21f.
28 Arnold Zweig: Das Neue Kanaan (1925), in: ders.: Herkunft und Zukunft. Zwei Es-
says zum Schicksal eines Volkes, Wien 1929 (wenn nicht anders vermerkt die folgen-
den Zitate auf S. 166, 183, 190f., 201, 208 und 217).
29 Sigrid Thielking: Auf dem Irrweg ins „Neue Kanaan“? Palästina und der Zionismus
im Werk Arnold Zweigs vor dem Exil, Frankfurt 1990, S. 84.
353

privat-egoistische Komponente„ im Menschen aufgehoben werden


soll. Allerdings: Der Auf- und Ausbau einer jüdischen Heimstätte in
Palästina werde nur möglich sein mit der Zustimmung der Araber.
Nicht um eine ıenteignende„, nicht um eine ıimperialistische Kolo-
nisation erobernden Kapitals„ handele es sich, sondern um eine
ıschöpferische und revolutionäre„.30 Das Ideal, das Zweig verficht,
ist das seines Mentors Buber, ein binationales, bikulturelles Gebilde,
das im Blick auf die zu generierende friedliche Kooperation zwi-
schen den muslimischen Eingesessenen und den jüdischen Immi-
granten Modellcharakter für das Zusammenwirken der Völker und
die Zukunft der Völkergemeinschaft erhalte. Gemeinsam solle, hofft
Zweig, ıherzlich und aufrichtig„ an der Kultivierung des Landes ge-
arbeitet werden, so daß sich ıjüdischer und arabischer Lebenskreis
einheitlich in einen politischen Rahmen„ füge.31
ıIn wenigen Jahren„, so Zweig im Januar 1919, könne man ihn
und seine Frau ıin Palästina besuchen kommen.„32 Das war – selbst
wenn es noch Jahre dauern sollte, ehe diese Ankündigung eingelöst
wurde – unmittelbar nach dem Ende des Krieges ein Ausdruck für
die Unbehaustheit des heimgekehrten Soldaten, für die Suche nach
Fundament und Sinn der Existenz. Mit aller Konsequenz die Zelte
in Deutschland abbrechen mochte Zweig allerdings nicht. Während
die dichterische Produktion stockte, flossen Essayistik und Tages-
schriftstellerei um so reicher. Was ihn in jüdischen Dingen umtrieb,
war das, was er im Dezember 1923 die ıKrise der Emanzipation„
nannte. Die Epoche, die sich damit verbinde, sei dahin. Habe sich
der Antisemitismus 1914 bis 1918 unter der ıWucht„ der Kriegs-
ereignisse ımehr im geheimen„ geäußert, so sei er gegenwärtig zum
ıerfrischenden Bestandteil der öffentlichen bürgerlichen Atmo-

30 Arnold Zweig: Ansprache vor einem Palästina-Film, in: Jüdische Rundschau, Nr. 102
vom 7.12.1923.
31 Arnold Zweig: Heutiger Zionismus, in: Die Weltbühne 21/I (1925), S. 125.
32 Zweig an Helene Weyl, 2.1.1919, in: Lange, a.a.O., S. 147.
354 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

sphäre„ avanciert. Besonders die ıheranwachsende Jugend„ sei ihm


ıfast ohne Gegenwirkung ausgeliefert„. Wer Jude sei, habe ıwieder
eine empfindliche Stelle„. Damit sei ıdie Emanzipation für das Ge-
fühl des deutschen Juden aufgehoben„, gleichgültig, ob die dafür
maßgeblichen ıTatsachen„ allgemein oder in einzelnen Bezirken
nur vorübergehend gültig seien.33 Zweig bezog gegen diese Strö-
mungen entschieden Position: als freier Autor wie kurzzeitig zwi-
schen September 1923 und Mai 1925 auch als Redakteur der Jüdi-
schen Rundschau, der Zeitung der ıZionistischen Vereinigung„. In
mehreren Abhandlungen suchte er das Wesen des Antisemitismus
zu ergründen, das er psychologisierend auf Zentralitäts- und Diffe-
renzaffekte zurückführte, auf das Bedürfnis, die Identität der eige-
nen Gruppe durch Abstoßung des Fremden herzustellen und zu
stabilisieren.34 Am Vorabend der Maiwahlen von 1924 rief er zur
Stimmabgabe für die Sozialdemokratie auf: trotz mancher ıFehler,
Schwächen, Irrtümer und Feigheiten„ die einzige Partei, die sich
noch stets ıvon den großen ideellen Forderungen des gleichen
Rechts und der befreienden Humanität„ habe leiten lassen.35
Scharfe Kritik richtete er gegen den ıVerband nationaldeutscher
Juden„, nicht zuletzt gegen die Indolenz der jüdischen Bourgeoisie
bei der Behandlung der eingewanderten Ostjuden, die man als Be-
drohung, nicht jedoch als willkommene, zu schützende Glaubens-
genossen sehe.36

33 Arnold Zweig: Die Krise der Emanzipation, in: Jüdische Rundschau, Nr. 106/107 vom
21.12.1923.
34 Seine in Bubers Zeitschrift Der Jude publizierten Aufsätze hat Zweig 1927 zusam-
mengefaßt als: Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen
Gruppenleidenschaften, dargetan am Antisemitismus, Potsdam 1927. Kluge Interpre-
tation bei David Midgley: „Eine Frage dritten Ranges“. Zur Darstellung des Antise-
mitismus in Arnold Zweigs Caliban, in: Julia Bernhard und Joachim Schlör (Hg.):
Deutscher Jude, Europäer im 20. Jahrhundert. Arnold Zweig und das Judentum, Bern
2004, S. 149-162.
35 Arnold Zweig: Wahlmerkzettel, in: Jüdische Rundschau, Nr. 34 vom 29.4.1924.
36 Vgl. Arnold Zweig: Deutschnational, nationaldeutsch, in: Jüdische Rundschau, Nr. 29
vom 11.4.1924 sowie Treudeutsche Mosaisten, in: Jüdische Rundschau, Nr. 5 vom
355

Die Juden seien, war Zweig überzeugt, ıeiner beständigen, nach


biologischen Gesetzen vorgehenden Vermischung, Entjudung und
Eineuropäisierung oder Amerikanisierung ausgesetzt.„ Dadurch
würde früher oder später ıjedes produktive Eigenleben„ verschüttet.
Dieser Prozeß werde allerdings gebremst: durch den Außendruck
einer antisemitischen Umwelt, vor allem jedoch von den ıKräften
der Selbstbewahrung und Selbstgestaltung„. Das sei, fügte er hinzu,
der ıganze jüdische Nationalismus„, der Wunsch, sich, den Kindern
und Enkelkindern eine Zukunft ıals Juden„ zu sichern.37 Daß er ir-
gendwann nach Palästina übersiedele, liege ınicht mehr außerhalb
der Möglichkeiten„, hatte schon 1922 Moritz Goldstein orakelt. Um
zu einem Dichter jüdischer Wirklichkeit zu werden, müsse er frei-
lich den Habitus des ıKulturliteraten„ abstreifen.38 Das gelang späte-
stens mit dem Grischa-Roman und der Jungen Frau von 1914. Eine
Entscheidung für Palästina implizierte das jedoch nicht. Denn mit
fortschreitender Zeit wurde Zweig gewahr, daß seine mediterranen
Träumereien der Wirklichkeit nicht standhielten. 1929 räumte er im
Nachwort einer Neuauflage des Kanaan-Hymnus ein, er sei ıauf
gewisse Weise enttäuschter und skeptischer„ geworden.39 Die Di-
stanz vertiefte sich, als er Anfang 1932 für mehrere Wochen zu einer
Palästinareise aufbrach. Deren Ergebnis war der binnen kurzem
herunterdiktierte De Vriendt,40 ein Roman der Desillusionierung,
wie immer bei Zweig als Kriminalgeschichte angelegt, um die sich
herum die ıGeschichte„ mit einem Ensemble differenzierter Figuren
und Konstellationen gruppiert. Geschildert wird der Mord an einem

18.1.1924. Vgl. auch Zweigs Aufsatz: Schweigen, in: Freie zionistische Blätter 1
(1921), S. 56-64.
37 Arnold Zweig: Zur Erkenntnis der Juden, in: Die Weltbühne 24/I (1928), S. 945.
38 Moritz Goldstein: Arnold Zweig, in: Gustav Krojanker (Hg.): Juden in der deutschen
Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller, Berlin 1922, S. 241-250, hier S.
250.
39 Arnold Zweig: Herkunft und Zukunft, a.a.O., S. 226.
40 Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim, Berlin 1932.
356 Jens Flemming: Arnold Zweig: Krieg, Demokratie, Zionismus

Holländer, einem orthodoxen Juden, nicht durch Araber, sondern


durch einen radikalen, eben erst eingewanderten Zionisten, eine
Entdeckung, die den Autor ıfurchtbar„ traf.41 Der binationalen
Perspektive wird zwar nicht abgeschworen, aber sie wird relativiert,
abgeschwächt, verknüpft mit unüberhörbarer Kritik an den Spielar-
ten eines integralen, die arabische Bevölkerung verdrängenden Na-
tionalismus. Der ıAuftrag„, von dem er sich beim Schreiben habe
leiten lassen, sei gewesen, verteidigte sich Zweig gegen die Kritik
aus dem eigenen Lager: ıKritik des modernen Nationalismus am
jüdischen Nationalismus, Kritik der Nachkriegswelt an unserer jüdi-
schen Nachkriegswelt, Aufhellung der Ideenkämpfe„ in der gegen-
wärtigen Epoche, ıReinigung der Leidenschaften„ und ıLäuterung
durch Erkenntnis und Selbsterkenntnis„, keine Schonung ınationa-
ler Eitelkeiten„.42
Diese, wenn man will, Ankunft in einer vielschichtigen Realität,
bescherte ihm unter den Zionisten wenig Freunde: weder in
Deutschland noch in Palästina, was seine Resonanz und seinen Ra-
dius dort, wo er im Dezember 1933 auf seiner Flucht vor den Na-
tionalsozialisten nach einem Zwischenstop in Frankreich eintraf, er-
heblich beeinträchtigte. In der Bilanz der deutschen Judenheit, die
Zweig 1933 zog, fällte er ein vorsichtig ambivalentes Urteil. Der
Zionismus verkörpere den legitimen ıSelbsterhaltungs-Instinkt der
Juden„, zugleich aber stehe er ıim Kampf um sein eigenes klares
Gesicht„, im Kampf gegen eine Anpassung an den ıimperialisti-
schen„ Nationalismus, der vor allem in den Milieus der russisch-jü-
dischen Immigranten zu Hause sei.43 Seiner Sekretärin und Gelieb-
ten Lily Offenstadt vertraute er an, er gehe ıvoller Elan„, nur richte

41 Zweig an Freud, 29.5.1932, in: Ernst L. Freud (Hg.): Sigmund Freud. Arnold Zweig.
Briefwechsel, Frankfurt 1968, S. 53.
42 Arnold Zweig: Modell, Dokument und Dichtung, in: Jüdische Rundschau, Nr. 94 vom
25.11.1932.
43 Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit. Ein Versuch, Amsterdam 1934, S. 307.
357

sich dieser ıauf den Aufbau einer wagfähigen Gesellschaft und


nicht auf den eines selbstbegeisterten Volkstums.„44 Längst schon
hatte er, wie er an Freud schrieb, seine zionistischen ıIllusionen„
verloren, aus dem ıLande der Väter„ mache er sich nichts mehr,
fühle sich hier wie zuvor in Frankreich als Emigrant: ıIch betrachte
die Notwendigkeit, hier unter Juden zu leben, ohne Enthusiasmus,
ohne Verschönerungen.„45 Bald gesellte sich dazu das Eingeständ-
nis, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Er durchlaufe
ımannigfache Krisen„, so ein Resümee im September 1935, müsse
ıohne Affekt„ feststellen, daß er nicht hierher gehöre. Das sei ınach
zwanzig Jahren Zionismus natürlich schwer zu glauben„, aber ıal-
les„, was ihn ıhierher„ gebracht habe, sei ıirrig„ gewesen:46 Das war
ein Abgesang auf alte Überzeugungen, zugleich das Abbild einer
Geschichte, die von der schleichenden Zermürbung zionistischer
Ideale erzählt, am Ende vom Scheitern einer vor langen Jahren
hoffnungsfroh, aber realitätsfremd, am Schreibtisch gedachten und
besungenen Beziehung.

44 Zweig an Lily Offenstadt, 9.11.1933, zit. nach Hans-Harald Müller: Arnold Zweig und
der Zionismus, in: Text und Kritik (Oktober 1989), Nr. 104, S. 15.
45 Zweig an Freud, 21.1.1934, in: Freud, a.a.O., S. 68f.
46 Zweig an Freud, 1.9.1935, in: ebd., S. 119.
359

„Nur in Deutschland selbst ließ sich das deutsche


Geschehen – wenn überhaupt – begreifen.“1
Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung
im Nationalsozialismus
Dagmar Bussiek

1 Benno Reifenberg: Die zehn Jahre/1933-1943, in: Ein Jahrhundert Frankfurter Zei-
tung. Sonderheft der „Gegenwart“, 1956, S. 40-54, hier S. 41.
360 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

Als sich Benno Reifenberg, politischer Redakteur der Frankfurter


Zeitung, am Spätvormittag des 30. Januar 1933 nach einer unge-
wöhnlich langen Redaktionskonferenz in sein Büro zurückzieht, um
den Leitartikel für den nächsten Tag zu verfassen, hält er sich nicht
lange mit politischer Analyse auf. Die Nationalsozialistische Deut-
sche Arbeiterpartei, deren ıFührer„ Adolf Hitler soeben von
Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Kanzler des Deutschen
Reiches ernannt worden ist, ist ihm lediglich einen kurzen Hinweis
auf die Grenzen ihres Totalitätsanspruchs wert, die Reifenberg in
der deutschen Arbeiterschaft sowie im Katholizismus erblickt. Mit
Abscheu erinnert er sich an die nationalsozialistischen Wahlveran-
staltungen des Jahres 1932, bei denen ıRohheit und politische Ge-
wissenlosigkeit [...] sich mit politischem Dilettantismus die Waage
[hielten]„,2 und führt die Wahlerfolge der NSDAP zurück auf die
Anfälligkeit eines scheinbar ausweglos in sein Elend verstrickten
Volkes für die ıbedenkenloseste Demagogie, die man jemals in
Deutschland erlebt hat.„3 Scharf verurteilt er den Antisemitismus als
den ıgemeinsten und kleinlichsten aller Instinkte„.4 Dann aber
kommt er zu dem, was ihm in dieser Stunde das Eigentliche zu sein
scheint: dem ıgrundsätzliche[n] Zweifel an der Person Adolf
Hitlers„.5 ıDer Zweifel„ – so lautet denn auch der Titel, den Reifen-
berg seinem Beitrag voranstellt.
Wenn sich, so die Argumentation, der Autoritätsanspruch Hitlers
aus dem Führerprinzip ableite, d.h. aus der Tatsache, ıdaß hier Mil-
lionen Menschen, fasziniert und beinahe willenlos, dem geliebten
Führer folgen„, so stelle sich die Frage nach Hitlers Persönlichkeit,
seiner Vita, seinen Leistungen und Talenten. Wer ist der Mensch
Adolf Hitler? Die Antwort lautet: Er ist ein begabter ıTrommler„ –

2 Der Zweifel, in: Frankfurter Zeitung (FZ), Nr. 83, Zweites Morgenblatt, 31.1.1933.
3 Ebd.
4 Ebd.
5 Ebd.
361

nicht mehr. ıWas aber darüber hinaus eine politische Leistung


Herrn Hitlers wäre, ist nicht zu sehen. Wir versprechen uns nichts,
weil es uns unmöglich ist, den Politiker vom Menschen zu trennen.
Wir haben in diesem Augenblick, in dem Herrn Hitler die Kanzler-
schaft des Deutschen Reiches übertragen worden ist, offen auszu-
sprechen, daß er bis zur Stunde den Beweis menschlicher Qualifika-
tion für dieses hohe Amt der Nation schuldig geblieben ist.„6
Dieser individualisierende, die Person in den Mittelpunkt der Be-
trachtung rückende Zugang ist typisch für Reifenberg, der, nach Tä-
tigkeiten als Feuilletonist und Pariser Korrespondent des Frankfurter
Weltblattes, in jenen dramatischen Januartagen 1933 erst seit einem
Jahr in der politischen Redaktion tätig ist. Die Überzeugung, ıdass
nur im Individuum das geistige Prinzip sich auf Erden zu verkör-
pern vermag„,7 wie er an anderer Stelle schreibt, durchzieht seine
Arbeiten, von der Bildbesprechung bis zum politischen Kommen-
tar, wie ein roter Faden. Vergeblich sucht man in seinem Werk ab-
strakte politische Analyse oder Theorie; soziologische Kategorien
lassen ihn kalt; er empfängt und schildert sinnliche Eindrücke, und
indem er die Protagonisten der Weltgeschichte in erster Linie als
Menschen betrachtet, macht er sich und anderen deutlich, welchem
Geist ihre Handlungen und Entscheidungen entspringen. Sein
Freund Wilhelm Hausenstein kommt gar zu dem Schluss, dass
Reifenberg ıdas eigentlich Politische„ gefehlt habe: ıIch habe die
Empfindung, Reifenberg betrachte das Politische einigermaßen so,
wie er eine Landschaft betrachtet„.8 Vielleicht ist es gerade jene ıei-
gentümliche Unberührtheit„9 von primär politischen Fragen in Ver-

6 Ebd.
7 Manet. Text von Benno Reifenberg, Bern 1947, S. 25f.
8 Wilhelm Hausenstein: Impressionen und Analysen. Letzte Aufzeichnungen, Eintra-
gung vom 25.10.1955, München 1969, S. 82.
9 Günther Gillessen: Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich,
2. überarb. Aufl., Berlin 1987, S. 66.
362 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

bindung mit einem weiten geistigen Horizont und einer gewinnen-


den persönlichen Art, die Reifenberg über Jahrzehnte zu einer Inte-
grationsfigur für einen weitläufigen Kreis von Journalisten, Schrift-
stellern, Künstlern und Denkern macht, der seinen Ursprung bei
der Frankfurter Zeitung der Weimarer Zeit findet und noch die
junge Bundesrepublik bis in ihr zweites Jahrzehnt intellektuell prägt.
Benno Carl Reifenberg, Jahrgang 1892, Sohn eines jüdischen
Agnostikers aus dem Westfälischen und einer auf der indonesischen
Insel Java aufgewachsenen katholischen Holländerin, geboren in
der Nähe von Bonn, jedoch seit früher Kindheit in Frankfurt am
Main verwurzelt, ein ıabgebrochener Student„ der Kunstgeschichte,
Artillerieleutnant des Ersten Weltkrieges, seit 1919 Mitarbeiter der
FZ und der Kollegin Margret Boveri zufolge ihre ıSeele„,10 ein lei-
denschaftlicher Feuilletonist, Goethe-Kenner und Freund der klassi-
schen wie der modernen Malerei, steht im Januar 1933 vor der
schwierigsten Aufgabe seines Lebens: Zehn Jahre lang wird er maß-
geblich an dem Versuch beteiligt sein, in der gleichgeschalteten
Presselandschaft der totalitären Diktatur einen Hauch von unange-
passtem, originellem Journalismus zu erhalten. Die bereits im Fe-
bruar 1933 getroffene Entscheidung der Redaktion für ein Verblei-
ben im NS-Staat und damit gegen die ıtaube Sprache„11 der Emi-
gration, wie Reifenberg schreibt, ist der Auftakt zu einer in der Er-
innerung oft verklärten ıAbenteuergeschichte„,12 die ı[f]ür alle, die
dabei waren, [...] die größte Geschichte ihres Lebens [blieb]. Sie
versuchten, als eine politische Gemeinschaft in der Diktatur zu über-
leben, und nicht nur in dem gewöhnlichen physischen Sinne: Sie
wollten sich nicht ausliefern und aufgeben, weil sie glaubten, auch

10 Margret Boveri an Winfried Martini, 16.1.1950, Nachlass Boveri, zitiert nach Gilles-
sen: Frankfurter Zeitung, a.a.O., S. 67.
11 Reifenberg: Zehn Jahre, a.a.O., S. 41.
12 Gillessen: Frankfurter Zeitung, a.a.O., S. 7.
363

in der Diktatur noch eine jenseits dieser Herrschaft begründete Mis-


sion zu haben.„13
Rund achtzig Jahre lang zählte die Frankfurter Zeitung zu den
einflussreichsten Organen des deutschen Liberalismus. In der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts profilierte sich das 1856 als ıGe-
schäftsbericht„ des jüdischen Frankfurter Bankiers Leopold Sonne-
mann gegründete Blatt ıals eine wachsam-kritische Begleiterin der
deutschen Politik, zurückhaltend in der Sprache, doch entschieden
im Urteil.„14 Sonnemann war 1848 als Anhänger der radikalen Re-
publikaner in Erscheinung getreten und gehörte von 1871 bis 1884
als Mitglied der Demokratischen Partei dem Reichstag an. Unter
seiner Ägide warb die FZ für die Liberalisierung des Kapitalver-
kehrs, stärkte dem Zentrum im Kulturkampf den Rücken, stritt mit
Ferdinand Lassalle über Notwendigkeit und Nutzen einer Arbeiter-
partei und kämpfte später mit den Sozialdemokraten gegen das So-
zialistengesetz. Sie kritisierte das ıpersönliche Regiment„ Wilhelms
II., unterstützte 1917 die Friedensresolution des Reichstages und
plädierte nach der Niederlage für die Unterzeichnung des Versailler
Vertrages, dessen Inhalt gleichwohl Gegenstand schärfster Kritik
war. In den zwanziger und dreißiger Jahren füllten nachmalig be-
rühmte Namen die Spalten: Friedrich Sieburg, Siegfried Kracauer,
Dolf Sternberger, Walter Dirks und Erich Welter – um nur einige zu
nennen – schrieben für die FZ. Politisch stand die Zeitung in den
Weimarer Jahren der DDP bzw. ab 1930 der Staatspartei nahe. Man
vertrat das gebildete, liberale Bürgertum und damit die Schicht, aus
der auch Benno Reifenberg stammte.

13 Ebd., S. 7f.
14 Ebd., S. 17.
364 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

Reifenbergs autobiographische Aufzeichnungen15 – freilich in


fortgeschrittenem Alter in der Absicht der Veröffentlichung zu Pa-
pier gebracht – vermitteln das Bild einer behüteten Kindheit in dem
geistig anregenden Umfeld eines bildungsbürgerlichen Elternhauses
der Jahrhundertwende: Die Mutter erzieht die vier Kinder zweispra-
chig; der Vater, Autodidakt und Aufsteiger, verdient den Lebensun-
terhalt im Holzwarenhandel und teilt seine Leidenschaft für das
Klavierspiel mit seinem Freund Heinrich Simon, dem Enkel
Leopold Sonnemanns und Inhaber der Frankfurter Zeitung, der
dem jungen Benno am Ende des Ersten Weltkrieges den Weg in die
Redaktion des Weltblattes ebnet. ıFast bis zum Abitur ein im Un-
bewussten träumendes, kaum erregtes Dasein„16 führend, reagiert
der künstlerisch begabte Gymnasiast mit Desinteresse, ja sogar
Scheu auf politisch-gesellschaftliche Fragen. Die katholische Erzie-
hung der Mutter ist in erster Linie sinnliche Erfahrung, wird als lok-
kendes Dunkel des Domes, als Brausen der Orgel erinnert, ohne
tiefere Spuren im Geistigen zu hinterlassen. Während der Pubertät
von Glaubenszweifeln erfasst, bleibt Reifenberg ızeitlebens ohne zu
praktizieren in den Vorhöfen jeder Offenbarungs-Religion stehen.
[...] Die etwa in den Bünden des ıWandervogel„ oder in den stu-
dentischen Korporationen erstrebte Programmatik der Lebensfüh-
rung konnte er niemals für sich auch konzipieren, wie sehr die Al-
tersgenossen ihn dazu einladen mochten. Er war drei tage [sic!] Gast
eines angesehenen Heidelberger Corps und fuhr danach stehenden
Fusses [sic!] nach Genf in der entschiedenen Überzeugung, sich die
absolute Freiheit der privaten Sphäre zu erhalten.„17

15 Das Manuskript unter dem Titel „Beginn der Autobiographie“ umfasst 30 maschi-
nenschriftliche Seiten und entstand in den Jahren 1963, 1966 und 1967. Deutsches Li-
teraturarchiv Marbach (DLA), Nachlass (NL) Benno Reifenberg (BR), 79.12333.
16 „Summa vitae meae“ – unter diesem Titel findet sich im Nachlass Reifenbergs eine
sechsseitige biographische bzw. autobiographische Skizze vom 11.9.1945, die in der
dritten Person formuliert ist. DLA, NL BR 79.12334, S. 1.
17 Ebd., S. 2.
365

In Genf verbringt Reifenberg nach dem Abitur im Frühjahr 1912


sein erstes Universitätssemester mit Studien der französischen Spra-
che und Literatur und entscheidet sich schließlich zum Wechsel an
die Münchener Universität, wo er drei Semester Kunstgeschichte
studiert. Als der kollektive Rausch des sog. Augusterlebnisses ihn
gefangen nimmt, ist der 22jährige seit wenigen Monaten an der
Universität Berlin immatrikuliert und hat soeben sein architektoni-
sches Interesse entdeckt. Noch 1963 erinnert er sich an die ıEmp-
findung [...] unserer Generation: wir fühlten uns von einer Welt an-
gegriffen. So konnte es keinen Zweifel geben„.18
Als Kriegsfreiwilliger rückt der ungediente Student Benno Rei-
fenberg am 2. September 1914 nach Frankreich aus. Die patrioti-
sche Begeisterung der deutschen Bevölkerung teilt er – seinen nach-
träglichen Aufzeichnungen zufolge – unreflektiert: ıSo betrachtet
kam er an diesen 1. August 1914 gewissermaßen geistig waffenlos
als ein durchaus unpolitischer Mensch, ohne ein kritisches Vermö-
gen, heran und handelte, aus der bis dahin wie selbstverständlich
verlaufenden Bahn geworfen, mit einer Fraglosigkeit, die in jenem
Augenblick seine ganze Generation bestimmt hat. [...] Als er am 12.
Dezember 1918 unverwundet zurückkehrte, hatte er alle Stadien des
Militärischen von einem einfachen Fahrer bei der Feldartillerie bis
zum Ordonanzoffizier im Stab VII. Armee durchlaufen. Das ein-
stige Selbstverständliche einer rein privaten, im Individuellen wur-
zelnden Existenz war ins Problematische zersplittert.„19
Den Kampf in der Champagne und ıdie ungeheuren Ereig-
nisse„20 an der Westfront verarbeitet Reifenberg auf eine ıleicht

18 Erinnerungen an ein Gymnasium, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Nr. 201,
31.8.1963.
19 Reifenberg: Summa vitae meae, a.a.O., S. 2.
20 Offenbares Geheimnis. Eine Ansprache, in: Freundesgabe für Friedrich T. Gubler
zum sechzigsten Geburtstag am 1. Juli 1960, Winterthur 1960, nachgedruckt in:
Benno Reifenberg: Offenbares Geheimnis, Ausgewählte Schriften. Mit Handzeich-
nungen des Autors, Frankfurt/Main 1992, S. 23-28, hier S. 23.
366 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

überhöhende [...] Weise„21 in seinen Prosastücken. Er kehrt ıinner-


lich ungebrochen zurück, nicht verzweifelt wie Erich Maria
Remarque, nicht idealistisch-abgehärtet wie Ernst Jünger. Auch
nicht angebrochen wie Friedrich Sieburg.„ Losgelassen hat ihn das
Erlebte gleichwohl nie. Es schwingt mit, als er während des Zweiten
Weltkrieges im Feuilleton der FZ eine zarte, leise, traurige Stimme
gegen das Grauen des Krieges erhebt – in jenem eigentümlich un-
politischen Duktus, der viele seiner politischen Betrachtungen aus-
zeichnet.
Als der Erste Weltkrieg zu Ende geht, kehrt Reifenberg nach
Frankfurt zurück. Mit seiner polnischen Frau Maryla, die er im
Sommer 1918 geheiratet hat, findet er Aufnahme in dem großen,
gastlichen Haus Heinrich Simons am Untermainkai, wo auch der
von Reifenberg verehrte Künstler Max Beckmann Quartier bezieht.
Neben dem wieder aufgenommenen Studium der Kunstgeschichte
schreibt er Rezensionen über Kunstausstellungen und Theaterauf-
führungen für die FZ und wird bald fester Mitarbeiter des Feuille-
tons, das seit 1907 von dem ebenso passionierten wie konventionel-
len Theaterkritiker Rudolf Geck geleitet wird. Als Geck sich 1924
von der Leitung des Feuilletons zurückzieht, wird Reifenberg, ge-
rade 32 Jahre alt, sein Nachfolger.
In den kulturell bewegten Blütejahren der Weimarer Republik
setzt das Feuilleton der FZ Akzente. Friedrich Sieburg, der wie
Wilhelm Hausenstein, Julius Meier-Graefe, Annette Kolb, Theodor
Heuss, Joseph Roth u.a. zu den ständigen Mitarbeitern zählt, urteilt
im Rückblick über Reifenberg: ıKaum ein Autor, kaum ein literari-
sches Werk der Epoche, die nicht von ihm der Öffentlichkeit prä-
sentiert wurden. Er war nicht gebunden außer durch sein Qualitäts-

21 Günther Gillessen: Der Zweifel, in: FAZ, Nr. 24, 29.1.2004. Hier auch das folgende
Zitat. – Der ehemalige FAZ-Redakteur Gillessen zählte in den 60er Jahren zum enge-
ren beruflichen Umfeld Reifenbergs.
367

gefühl und durch seinen Optimismus. Dahinrauschende Erzähler-


temperamente, geniale Melancholiker, geistesstarke Haarspalter, die
in der dünnen Luft der damaligen Soziologie ihr kniffliges Hand-
werk betrieben, Gläubige und Zweifler, Spötter und Enthusiasten,
sie alle wurden in den Dienst eines Feuilletons gestellt, das in
Wahrheit ein Panorama der Zeit war.„22
Ein Gegner der ıDolchstoßlüge„23 wie des Versailler Vertrages,
intellektuell offen und in keiner Weise ideologisch festgelegt, bleibt
Reifenberg in politischen Debatten lange Zeit zurückhaltend, was
keineswegs selbstverständlich ist, da in der Redaktion der FZ alle
Mitarbeiter, zumal in leitenden Positionen, aufgefordert sind, res-
sortübergreifend zu den Themen der Zeit Stellung zu beziehen. Die
politische Redaktion betrachtet er als ıformalistisch und wirklich-
keitsfremd„ und steht ihr ınachlässig„, ja sogar ıherablassend„ 24
gegenüber. Tieferen Zugang zur Politik findet er erst in den Jahren
1930/31, als er im Zuge einer umfassenden Umstrukturierung der
Redaktion als Nachfolger Sieburgs die Position des Pariser Kor-
respondenten einnimmt. Mit zunehmendem Pessimismus beobach-
tet er die Vorgänge in Deutschland und notiert im Sommer 1930:
ıIch glaube jetzt, daß wir in Deutschland eine Diktatur bekommen
werden. Nichts zu machen, die Geschichte ist arg verpfuscht.„25
Nach dem Erdrutschsieg der Nationalsozialisten bei der Septem-
berwahl 1930 empfindet er ıAngst und Abscheu vor Deutschland„,
und im Dezember 1930 klagt er über ıdie Gewalt, mit der die gei-
stige Dummheit in Deutschland regiert„.26 In solchen und ähnlichen
Sätzen schwingt die ganze Verachtung des liberalen deutschen Bil-

22 Friedrich Sieburg, zitiert nach Franz Taucher in dessen Vorwort zu: Benno Reifen-
berg: Landschaften und Gesichter, Wien 1973, S. 10.
23 Schluß damit!, in: FZ, Nr. 182, Zweites Morgenblatt, 8.3.1932.
24 Reifenberg: Summa vitae meae, a.a.O., S. 4.
25 Reifenberg zitiert nach Helga Hummerich: Wahrheit zwischen den Zeilen. Erinne-
rungen an Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung, Freiburg 1984, S. 23.
26 Ebd.
368 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

dungsbürgers für den Parvenü Hitler, seine bäuerlich-proletarischen


Schlägertruppen und seine kleinbürgerliche Wählerklientel mit –
eine Verachtung, die sich im politischen Alltag als fatale Unterschät-
zung der nationalsozialistischen Bewegung und ihrer Mobilisie-
rungsmöglichkeiten äußert.
Ende 1931 wird Reifenberg, der ursprünglich fünf Jahre in
Frankreich bleiben sollte, nach Frankfurt zurückgerufen. Er tauscht
sein elegantes Büro am Pariser Place du Panthéon gegen einen be-
scheidenen Arbeitsraum in der Eschenheimer Gasse, hört sich
Wahlreden an und schreibt seine ersten innenpolitischen Beiträge.
Für seinen Leitartikel vom 8. März 1932, der den unmissverständli-
chen Titel ıSchluß damit!„27 trägt, bekommt die Redaktion zahlrei-
che Dank- und Anerkennungsschreiben. Erfüllt von unverhohlener
Abscheu berichtet Reifenberg über einen Auftritt Hitlers und
Görings in Frankfurt: ıSie faseln von dem entehrten Deutschland.
Wir haben Deutschland niemals für entehrt gehalten, weil es den
Krieg gegen eine Welt verloren hat. [...] Wir haben niemals ge-
glaubt, den Kopf senken zu müssen, weil diese unsere Republik mit
Revolutionstagen begonnen hat. [...] Wir debattieren nicht mit Be-
sessenen über Patriotismus.[...] Wir sind an diesem Abend nur ein
einziges Mal wirklich erregt gewesen, und die Schamröte lief uns
über den Nacken. Als man nämlich verkündete, zu dieser Hitlerver-
sammlung seien auch Korrespondenten rumänischer und amerika-
nischer Zeitungen erschienen.„28
Haben die Nationalsozialisten ı[e]ine Ahnung auch nur von den
Aufgaben, die ihrer harren, wenn sie an die Reihen kommen?„29
Diese Frage wirft die FZ im Laufe des Jahres 1932 immer wieder
auf. Nein, behauptet Reifenberg: ıNichts davon.„30 Unter seiner Re-

27 Reifenberg: Schluß damit!, a.a.O.


28 Ebd.
29 Ebd.
30 Ebd.
369

gie ändert die FZ im Spätsommer 1932 vorübergehend ihre bishe-


rige Taktik der Abgrenzung und plädiert für eine Regierungsbeteili-
gung der NSDAP. Leserproteste sind die Folge. Zwar verteidigt
Reifenberg seine Strategie, die NSDAP durch die Einbindung in die
politische Verantwortung ıaus dem Weltanschauungsdunst an die
Realität der Politik heranzuführen„, aber schon im Oktober findet
die FZ zu ihrem alten Kurs zurück; das Zähmungskonzept bleibt
Episode. Im Herbst 1932 schreibt Reifenberg an Simon, man habe
in der Redaktion ıalle Zweifel an unserer demokratischen Gesin-
nung„ in Kauf genommen, ıweil der Nationalsozialismus besiegt
werden mußte. Ich glaube, unsere Grundhaltung rechtfertigt sich:
das Dritte Reich liegt in Trümmern.„31
ıDa man an Hitler nichts Positives entdecken konnte, räumte
man ihm keine Erfolgsaussichten ein.„32 Mit diesen einfachen, aber
treffenden Worten fasst Gillessen die Haltung der Redaktion zu-
sammen. Bis zum Reichstagswahlkampf 1930 sieht die FZ in den
Deutschnationalen eine weitaus größere Gefahr als in den National-
sozialisten. Erst nach den Septemberwahlen rückt die Auseinander-
setzung mit der NSDAP in den Mittelpunkt. Um das Risiko von
Wahlen zu vermeiden, gibt das Blatt seinen prinzipiellen Wider-
spruch gegen die Präsidialkabinette auf und unterstützt die Kanzler-
schaften Brünings und Schleichers als ıNotbehelfe„. Unter Reifen-
bergs Ägide wirbt die Zeitung vor der Reichspräsidentenwahl 1932
für Hindenburg und vor den Reichstagswahlen vom 6. November
desselben Jahres für eine ıNotgemeinschaft„ der demokratischen
Parteien SPD, Zentrum und Staatspartei mit dem Ziel, den Reichs-
präsidenten zur Entlassung des Kabinetts von Papen zu zwingen.

31 Reifenberg an Simon, Herbst 1932, vermutlich nach den Novemberwahlen, zitiert


nach: Gillessen: Frankfurter Zeitung, a.a.O., S. 90.
32 Gillessen: Frankfurter Zeitung, a.a.O., S. 76.
370 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

Reifenberg gehört zu dem knappen Prozent deutscher Wähler, die


ihre Stimme in diesen letzten freien Wahlen der Staatspartei geben.33
Bleiben oder gehen? Nur einen kurzen Augenblick erwägt die
Redaktion nach der Machtergreifung ein Ausweichen ins Ausland,
nach Basel, aber schon Mitte Februar 1933 werden diese Gedan-
kenspiele von taktischen Überlegungen abgelöst, wie man der Re-
gierung in innenpolitischen Fragen widersprechen und sich gleich-
zeitig außenpolitisch unentbehrlich machen könne. Die FZ hat 1933
die höchste Auslandsauflage unter allen deutschen Zeitungen und
wird in den maßgeblichen Außenministerien gelesen. Von dieser
Position verspricht man sich Schutz und eine gewisse Selbständig-
keit, obwohl man weiß, dass die FZ mit ihrem traditionell hohen
Anteil jüdischer Mitarbeiter zu den beliebtesten Hassobjekten des
ıFührers„ zählt. Reifenberg erklärt in einem 1945 verfassten, jedoch
erst elf Jahre später veröffentlichten Rückblick auf die Geschichte
der FZ im Dritten Reich, dass es für Verlag und Redaktion letztlich
undenkbar gewesen sei, außerhalb der deutschen Grenzen ıden
Sorgen Deutschlands Ausdruck zu geben und solcherart der Nation
zu nützen„,34 und fügt apodiktisch hinzu: ıNur in Deutschland selbst
ließ sich das deutsche Geschehen – wenn überhaupt – begreifen.„35
Fortan nimmt die FZ – so zumindest die offiziöse Nachkriegsversion
– die schwere Aufgabe auf sich, für die ıgeistigen Menschen„ im
NS-Staat ein Stück ıGegenposition„36 zu verkörpern. Pathetisch for-
muliert Reifenberg: ıAls die ,Frankfurter Zeitung in Deutschland
eingestellt wurde, war es, als würde in einem halbdunklen Raum
die letzte Kerze ausgeblasen.„37

33 Angabe in einem handschriftlich ausgefüllten Fragebogen des US Military Govern-


ment of Germany, 1945, DLA, NL BR 79.3554.
34 Reifenberg: Zehn Jahre, a.a.O., S. 41.
35 Ebd.
36 Reifenberg an W. Bretscher, 26.5.1947, in: Erich Achterberg: Albert Oeser. Aus sei-
nem Leben und hinterlassenen Schriften, Frankfurt/Main 1978, S. 152f., hier S. 153.
37 Ebd.
371

Durch Regierungstreue in außenpolitischen Fragen erhofft sich


die Redaktion der FZ Spielräume für innenpolitische Opposition.
Tatsächlich gehen die zuständigen Berliner Parteistellen und das
Propagandaministerium gegen andere oppositionelle Zeitungen viel
energischer vor als gegen die FZ, die es sich u.a. ıherausnehmen„
kann, im Rahmen der Berichterstattung über das Ermächtigungsge-
setz die Rede des Sozialdemokraten Otto Wels im Wortlaut abzu-
drucken, einen mit den Deutschen Christen sympathisierenden Kol-
legen im Frühjahr 1934 zu entlassen und im Feuilleton die kulturel-
len Werte des von Reifenberg oft zitierten ıAbendlandes„ mitsamt
seiner antiken und christlichen Denktraditionen hoch zu halten;
antisemitische Stimmen finden nie einen Platz in den Spalten des
Blattes. Doch diese kleinen Freiheiten sind teuer erkauft. Im politi-
schen Teil und insbesondere in den Leitartikeln des Berlin-Kor-
respondenten Rudolf Kircher, der seit Ende 1933 als Hauptschrift-
leiter fungiert, unterscheidet sich die FZ häufig nur noch in Sprache
und Tonfall von den übrigen deutschen Presseorganen. Der Exodus
der jüdischen Kollegen aus der Redaktion wird hingenommen.
Zweifellos birgt die Entscheidung, mit der Zeitung in Deutsch-
land zu bleiben, ein Gefahrenpotenzial. Reifenbergs Frankfurter
Wohnung wird von der Gestapo durchsucht, wobei nur durch einen
glücklichen Zufall eine Rolle sowjetischer Plakate, die eine Freundin
des Hauses – ıeine junge Modejournalistin, alles andere als Kom-
munistin„38 – von einer Russlandreise mitgebracht hatte, unentdeckt
bleibt. Auf die immer stärkere Bedrängnis durch das Regime rea-
giert Reifenberg, indem er sich, wie sein Freund Franz Taucher
formuliert hat, auf den ıKern seines Wesens„39 zurückzieht: ıZuwei-
len schien uns, die wir damals in seiner Nähe waren, als sei er, so
verletzlich er im Inneren auch sein mochte, im Grunde unver-

38 Hummerich, a.a.O., S. 54f.


39 Taucher, a.a.O., S. 16.
372 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

wundbar, als schrecke der Despotismus [...] vor der Macht seiner
Erscheinung zurück. Die Aura, die ihn umgab, verscheuchte die
plumpe Anbiederung genauso wie die anmaßende Arroganz. [...]
Was er dachte und schrieb, geschah stets in Übereinstimmung mit
seiner Person. Hier waltete Harmonie.„40
Ende 1937 wird Reifenberg auf brutale Weise klar gemacht, dass
er alles andere als unverwundbar ist. ı[W]ie eine Vergewaltigung„41
empfindet er die kurzzeitige Verhaftung durch die Gestapo, die auf
eine positive Besprechung des soeben aus der Frankfurter Kunst-
sammlung, dem ıStädel„, entfernten ıBildnis Dr. Gachet„42 folgt,
jenem Porträt aus dem Jahre 1890, mit dem Vincent van Gogh sei-
nem Nervenarzt wenige Wochen vor seinem Freitod ein künstleri-
sches Denkmal gesetzt hat. ıWer in der Ferne an das Bildnis des Dr.
Gachet denkt und damit an das Museum Städels, dem das Werk
van Goghs teuerster Besitz geworden ist, wer an das Gesicht dieses
Arztes sich erinnert, der ist getröstet.„43
Mit diesen Worten beginnt der kleine Artikel, der am 9. Dezem-
ber 1937 nicht im Feuilleton, sondern auf der dritten Seite der Poli-
tik erscheint. Reifenberg zitiert van Gogh, der über seinen Arzt ge-
sagt hatte, sein Gesicht habe ıden schmerzlichen Ausdruck unserer
Zeit„, und fügt beziehungsreich hinzu, dass ıaus den Schmerzen
von einst [...] die Nachfahren dankbar Linderung auch für eigene
Wirren finden [können].„44
Eine Nacht verbringt Reifenberg nach dieser Veröffentlichung
im Untersuchungsgefängnis der Gestapo in der Frankfurter Ham-
melsgasse – in ıSchutzhaft„, wie die zynische Sprachregelung lautet.
Die Kollegen müssen ihre gesamten Verbindungen spielen lassen,

40 Ebd.
41 Reifenberg zitiert nach: Hummerich, a.a.O., S. 71.
42 Bildnis Dr. Gachet, in: FZ, Nr. 626-627, Reichsausgabe, 9.12.1937.
43 Ebd.
44 Ebd.
373

um seine Freilassung zu erreichen. Vom Gefängnis geht er direkt in


die Redaktion, wo er seine Tätigkeit äußerlich unbewegt fortsetzt.
Doch der Schock wirkt nach. Nach vielen Monaten der Verdrän-
gung erfolgt ein gesundheitlicher Zusammenbruch: ıAn einem
Augusttag 1938 hatte Reifenberg den Artikel auf der ersten Seite
übernommen, der dann unter dem Titel ,Von St. Lorenz bis zum
Rhein erschien. Roosevelt hatte in einer kanadischen Universität
das Land seines Beistands versichert und vor allem den Beistand
Amerikas für das demokratische Europa betont. Die Sprachrege-
lung darauf aus Berlin muß sehr scharf gewesen sein, im Grunde
wäre ein Schweigen der Zeitung der einzige Ausweg gewesen. Es
gab ihn nicht mehr. Die Worte, die gefunden werden mußten, wur-
den für den Schreibenden zur Qual. Er spürte die Grenze, fühlte
sich gefangen, unentrinnbarer als in der Haft. Nachdem er fertig
war, fuhr er zum Baden. Der vorzügliche Schwimmer ging plötzlich
unter. Sein Freund zog ihn ohnmächtig an Land.„45
Danach ist Reifenberg fast ein Jahr krank. Unter Herzbeschwer-
den leidend, zieht er sich zu einem engen Freund, dem Arzt und
Schriftsteller Max Picard, in die Schweiz zurück. Spielt er nun doch
mit dem Gedanken ans Exil? Denkt er an Rudolf Geck, seinen ver-
ehrten journalistischen Lehrer, der ihn 1936 auf dem Sterbebett ge-
beten hatte, Deutschland zu verlassen? Schmerzt ihn die zerbro-
chene Freundschaft mit Joseph Roth, der sich im Pariser Exil mit
herben Worten von ihm losgesagt hat: ıSeit wann ist es so, daß ein
Schriftsteller sagen darf: ich muß lügen, weil meine Frau leben und
Hüte tragen muß?„46 Vielleicht gibt es tatsächlich private Gründe,
die für ein Verbleiben in Deutschland sprechen, denn anders als
Roth hat Reifenberg Familie; sein Sohn Jan ist fünfzehn Jahre alt.

45 Hummerich, a.a.O., S. 74.


46 Roth an René Schickele, 1933 oder 1934, zitiert nach David Bronsen: Joseph Roth.
Eine Biographie, Köln 1974, S. 425.
374 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

Ohne Zweifel ist die Situation quälend – ıAngst vor Wahnsinn„47


lautet Reifenbergs Tagebuchnotiz am 26. November 1938. Im Juli
1939 steht die Entscheidung fest: Mit einem Bericht über die Prado-
Ausstellung in Genf meldet sich Reifenberg in der FZ zurück.48 Von
Genf fährt er weiter nach Frankreich und schildert in mehreren Ar-
tikeln unter dem Titel ıAbende in Caen„49 seine Eindrücke. Er
empfindet die Franzosen in einem ıgeistigen Mobilmachungszu-
stand, sie lehnen jede Argumentation ab und sind vollkommen in-
nerlich einig, den Krieg zu machen.„50 Über Nancy, Straßburg und
Kehl kehrt er nach Frankfurt zurück: ıIch nahm Abschied.„51 Es
scheint, als ziehe er sich jetzt erst wirklich in die innere Emigration
zurück.
Während des Krieges tritt Reifenberg in der Redaktion in den
Hintergrund. Er erscheint nicht mehr zu den Konferenzen und pu-
bliziert seine Beiträge nur noch im Feuilleton, wobei er nicht sein
gewohntes Signum BR, sondern die Chiffre ı-den„ benutzt, die auf
den niederländischen Mädchennamen seiner Mutter ıvan Delden„
zurück geht. Unter den Titeln ıIn Kriegszeiten„ und ıLandschaften
und Gesichter„ veröffentlicht er ab November 1939 mehr als hun-
dert kleine Betrachtungen, ıdie allein schon in ihrem Einfallsreich-
tum bewundernswert waren. Kein Tagebuch im eigentlichen Sinn
und doch Aufzeichnungen von Gedanken, die dem Schreibenden
durch den Kopf gingen, Dingen, die er wahrnahm, Ereignissen, de-
ren er sich erinnerte, Eindrücken, denen er nachhing. Er beschrieb
Landschaften und Blumen, Musikerlebnisse, Theatergänge, Men-
schen aus vielen Lebenszeiten und Schichten. [...] Scheinbar waren

47 Tagebuch, 26.11.1938, DLA, NL BR 79.12340.


48 Vgl. FZ, Nr. 383, Abendblatt/Erstes Morgenblatt, 30.7.1939.
49 Abende in Caen, in: FZ, Nr. 390, Abendblatt/Erstes Morgenblatt, 3.8.1939, Nr. 396,
Abendblatt/Erstes Morgenblatt, 6.8.1939, Nr. 403, Abendblatt/Erstes Morgenblatt,
10.8.1939, Nr. 409, Abendblatt/Erstes Morgenblatt, 13.8.1939.
50 Reifenberg zitiert nach Hummerich, a.a.O., S. 76.
51 O Straßburg, in: Reifenberg: Landschaften und Gesichter, a.a.O., S. 86-88, hier S. 88.
375

diese Stücke völlig unpolitisch [...]. Eine leise Schwermut durchzog sie,
wie ein Windhauch, der über Gräser streicht und sie niederbeugt.„52
Breiten Raum nehmen Reifenbergs Erinnerungen an seine Sol-
datenzeit im Ersten Weltkrieg ein: Frankreich, die Westfront, der
kreidige Boden der Champagne, die von Geschossen aufgewühlte
Erde, Pferdehufe im Schlamm, das Tal der Dormoise, vor allem
aber: die Menschen. So erzählt er von seinem Schulfreund
Reinhard S., mit dem er im Winter 1914/15 in Champagne kämpft,
ıohne ihm – aufgrund seines verschlossenen Wesens – jemals wirk-
lich nahe gekommen zu sein; er meldete sich später bei den Flie-
gern und fiel.„53 Mit großer Sensibilität beschreibt Reifenberg den
Soldaten Otto Bolz, im Zivilleben ıEckensteher in Dortmund„,54 wie
er sich selber vorstellt, einen, der niemals Feldpost erhält und des-
sen unerfüllbare Lebensträume sich in ıfeine[n] Krawatte[n]„ und
ıdicke[n] Zigarren„55 erschöpfen; Otto Bolz hat nichts und weiß we-
nig, aber er steht morgens als erster auf, um für die Kameraden
Feuer zu machen und Kaffee zu kochen, und einmal, als Reifenberg
ihm dabei Gesellschaft leistet, wünscht er sich den Tod: ıEr sagte es
ganz einfach, man konnte ihm auch nicht widersprechen.„56 Weiter
heißt es: ıIch weiß nicht, wo Otto Bolz hingeraten ist, ob sich erfüllt
hat, was er damals an dem Champagne-Morgen für das beste hielt.
Er verschwand ins Unbekannte, wie er aus dem Unbekannten
unter uns aufgetaucht war. Er war einer von den vielen, die ihr
Schicksal nicht verstehen, die es nur aushalten; mit sich allein und
aus ihrer Zartheit des Herzens, die Mütze verdellt und schief auf
dem Schädel.„57

52 Hummerich, a.a.O., S. 81f.


53 Verschlossenes Tor, in: FZ, Nr. 415-416, Reichsausgabe, 16.8.1942.
54 Otto Bolz, in: FZ, Nr. 222-223, Reichsausgabe, 2./3.5.1942.
55 Ebd.
56 Ebd.
57 Ebd.
376 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

Diese Soldaten, die Reifenbergs ıKriegszeiten„ durchwandern,


sind Menschen, die mitunter Heldenmut zeigen, aber sie sind keine
Helden. Dem stahlharten Kämpfer der nationalsozialistischen Pro-
paganda, der sein Leben freudig für Führer, Volk und Vaterland
opfert, mitleidlos gegen sich und andere, setzt er das Individuum im
Krieg entgegen: hungrig, frierend, müde und erschöpft, aber auch
erleichtert, glücklich, stolz oder verliebt, bezaubert vom Anblick ei-
nes hübschen Mädchens oder gerührt von der jungen Mutter, die
im überfüllten Eisenbahnwaggon ihrem Kind ein Wiegenlied
summt. Ob das Mädchen, das der Soldat verstohlen beobachtet,
aus Deutschland oder Frankreich stammt, erfährt der Leser nicht,
denn es spielt ebenso wenig eine Rolle wie Nationalität und
ıRasse„, große Ideen und abstrakte Überzeugungen. In einem na-
hezu politikfreien Raum agieren Individuen, in denen sich niemals
ein grundsätzlicher Zweifel am Sinn des Krieges zu erheben scheint,
obwohl sie das Leid des Krieges erfahren; sie denken nicht ans De-
sertieren, aber sie kennen das Heimweh.
Im Mai 1943, wenige Monate vor dem schließlich doch verhäng-
ten Verbot des Blattes, müssen die in der Redaktion verbliebenen
ıHalbjuden„ Benno Reifenberg und Erich Lasswitz sowie die mit
Jüdinnen verheirateten Redakteure Dolf Sternberger, Wilhelm
Hausenstein und Otto Suhr auf Befehl des Propagandaministeriums
die FZ verlassen. Durch Vermittlung der Schriftstellerin Marie Luise
von Kaschnitz findet Reifenberg eine Beschäftigung als wissenschaft-
licher Hilfsarbeiter am Gehirnphysiologischen Institut von Prof. Dr.
Oskar Vogt in Neustadt im Schwarzwald, wo er das Kriegsende er-
lebt. Die Monate nach der Kapitulation sind geprägt von Bemühun-
gen, ıChancen für eine Restituierung der FZ auszuloten und deren
in alle Winde zerstreuten Redakteure wieder zusammenzubrin-
377

gen„,58 ein Unternehmen, das u.a. an den US-Militärbehörden schei-


tert, die in der FZ weniger ıHumanität, Widerständigkeit und in-
nere Emigration„ als vielmehr ıfragwürdige Anpassung, Kollabora-
tion und Verstrickung„59 sehen und sich zudem grundsätzlich wei-
gern, ein Blatt unter altem Namen zu lizensieren. Schon in dieser
Zeit profiliert sich Reifenberg in seiner selbst gewählten Rolle als
ıGralshüter der FZ-Tradition„,60 beseelt von dem Gedanken, das
Blatt in seiner alten Form wieder zu begründen. Am 24. Dezember
1945 tritt er mit der ersten Ausgabe der Halbmonatsschrift ıDie Ge-
genwart„ an die Öffentlichkeit, deren 1950 veröffentlichte Leitlinien
eine sozialliberale Tradition erkennen lassen; sie wird zu einem Auf-
fangbecken für ehemalige FZ-Redakteure und bleibt ıein Proviso-
rium, das sich allerdings erstaunlich lange, bis zum Jahresende 1958,
zu behaupten vermochte.„61
Als die Gegenwart zur Jahreswende 1958/59 in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung aufgeht und Reifenberg in das Herausge-
berkollegium der auflagenstarken Tageszeitung aufgenommen wird,
ist dieser Schritt für ihn von einem Gefühl tiefer Resignation beglei-
tet, denn erst jetzt legt er den Gedanken an eine Wiedergeburt der
FZ endgültig ad acta. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte
ıseiner„ Zeitung beschäftigt ihn bis zu seinem Tod 1970. Nie hat er
seine Entscheidung gegen das Exil öffentlich in Zweifel gezogen;
auch eine deutsche Kollektivschuld gibt es für ihn nicht, denn
Schuld ist in seinen Augen eine individuelle Bürde und ihre Bewäl-
tigung folglich ein individueller Vorgang. Mitunter drängt sich bei
der Lektüre seiner Schriften der Eindruck auf, dass dieser herausra-

58 Jens Flemming: „Neues Bauen am gegebenen Ort.“ Deutschland, Europa und „Die
Gegenwart“, in: Michel Grunewald, Hans Manfred Bock (Hg.): Der Europadiskurs in
den deutschen Zeitschriften (1945-1955), Bern u.a. 2001, S. 187-218, hier S. 192.
59 Ebd.
60 Ebd., S. 210.
61 Ebd., S. 194.
378 Dagmar Bussiek: Benno Reifenberg und die Frankfurter Zeitung im Nationalsozialismus

gende Journalist des 20. Jahrhunderts im Kern seines Wesens dem


bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts verhaftet gewesen
ist. Sein Freund Franz Taucher schreibt: ıDas Individuelle, die Frei-
heit der Person, blieb für ihn die ,Nährflamme des europäischen
Geistes.„62

62 Taucher, a.a.O., S. 12.


379

Zwischen Mystik und Literaturpolitik.


Bernhard Groethuysen auf den Spuren
Meister Eckharts
Klaus Große Kracht
380 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

Der Philosoph, Historiker und Literaturkritiker Bernhard Groethuysen


(1880-1946) gehört zu den herausragenden, wenngleich nicht immer
leicht einzuordnenden Gestalten des deutsch-französischen Kultur-
transfers der Zwischenkriegszeit. Seine langjährige Bekannte, die
deutsch-jüdische Philosophin Margarete Susman präsentiert ihn in
einem Nachruf aus dem Jahr 1948 mit Worten, die den geistigen
Schwebezustand seiner Existenz zwischen den Disziplinen und Na-
tionen deutlich hervortreten lassen: ıIn Deutschland geboren, von
der Seite des Vaters deutscher, von der Mutter russischer Abkunft,
früh mit Frankreich verbunden, zwischen den beiden Weltkriegen
bis zum Anbruch des Hitler-Regimes die eine Hälfte des Jahres an
der Universität Berlin, die andere in Paris lehrend und wirkend, war
Bernhard Groethuysen schon seiner äußeren Lebensform nach eine
in seiner Zeit einzigartige Erscheinung. Aber auch seine Philosophie
steht in ihr abseits; sie ist nicht nur ohne jede nationale Prägung; sie
läßt sich auch dadurch in keinen bestehenden Zusammenhang ein-
reihen, daß sie sich an keinem bestimmten Denkergebnis aufzeigen
läßt, ja, daß sie ihrem Wesen nach jedes in fester Form niederge-
legte Denkergebnis als dem eigentlichen Philosophieren inadäquat
ablehnt. Es ist eine Philosophie, der das Ziel nichts, der Weg, die
Wanderschaft durch die Welt alles ist [...].„1
Geboren wurde Bernhard – oder, wie er sich später in Frank-
reich nannte: Bernard – Groethuysen am 9. Januar 1880 in Berlin,
wo er zunächst in einer wohlhabenden bildungsbürgerlichen Um-
gebung aufwuchs.2 Als sein Vater, ein vom Niederrhein stammen-
der Mediziner, wenige Jahre später psychisch erkrankte, zog die
Familie nach Baden-Baden, wo Bernhard das Gymnasium besuchte
und 1898 das Abitur bestand. Anschließend ging er nach Wien, um

1 Margarete Susman: In memoriam Bernhard Groethuysen, in: Zeitschrift für Religions-


und Geistesgeschichte 1 (1948), S. 79-85, hier S. 79.
2 Zur Biographie vgl. Klaus Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groet-
huysen (1880-1946). Eine intellektuelle Biographie, Tübingen 2002.
381

Philosophie, Nationalökonomie und Kunstgeschichte zu studieren,


später wechselte er an die Universitäten von München und Berlin.
Hier, in Berlin, schloß er 1903 sein Studium mit einer psycholo-
gisch-philosophischen Dissertation über die Theorie der Emotionen
– genauer: Das Mitgefühl – ab.3
Nach der Promotion begann Groethuysen eine philosophiege-
schichtliche Habilitationsschrift bei Wilhelm Dilthey über Natur-
rechtskonzeptionen zu Beginn der Französischen Revolution. Mit
dieser Arbeit wurde er 1907 habilitiert und zum Privatdozenten für
Philosophie an der Berliner Universität ernannt.4 Seine Forschungen
zu den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Französischen
Revolution setzte er jedoch auch nach der Habilitation weiter fort
und begann, ein mehrbändiges Werk über die französische Geistes-
geschichte des Ancien Régime zu schreiben. Seine Studien auf die-
sem Gebiet mündeten schließlich, zwanzig Jahre später, in die Veröf-
fentlichung seines zweibändigen Hauptwerkes Die Entstehung der
bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich.5 Dieses
Werk gilt heute zu Recht als ein geheimer Klassiker der modernen
Kultur- und Mentalitätsgeschichtsschreibung.6 Denn Groethuysen in-
teressiert sich in seiner Untersuchung weniger für die Ideen und die
begrifflich ausgearbeiteten Doktrinen der philosophischen Vorläufer

3 Bernhard Groethuysen: Das Mitgefühl, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie
der Sinnesorgane 34 (1904), S. 161-270.
4 Vgl. Bernhard Groethuysen: Philosophie der Französischen Revolution, Neuwied/
Berlin 1971. Dieses erstmals 1956 posthum veröffentlichte Manuskript geht in Teilen
vermutlich auf Groethuysens erste Vorlesung an der Berliner Universität im Jahr
1907 zurück.
5 Bernhard Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschau-
ung in Frankreich, Bd. 1: Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung (1927),
Bd. 2: Die Soziallehren der katholischen Kirche und das Bürgertum (1930), Neudruck:
Frankfurt/Main 1978. Im Jahr 1927 erschien ebenfalls eine einbändige, von Groethuy-
sen selbst verfaßte französische Ausgabe unter dem Titel: Origines de l’esprit bour-
geois en France, I: L’Eglise et la Bourgeoisie (Neudruck Paris 1977).
6 Vgl. dazu Michael Ermarth: Intellectual History as Philosophical Anthropology:
Bernard Groethuysen’s Transformation of Traditional ,Geistesgeschichte‘, in: Journal
of Modern History 65 (1993), S. 673-705.
382 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

der Französischen Revolution (Voltaire, Montesquieu, Rousseau...)


als vielmehr für die Veränderungen in der Bewußtseinslage der
breiten Masse, für die, wie er schreibt, ıunmittelbar erlebte Weltan-
schauung vor aller Reflexion„.7 Er betreibt also nicht Ideenge-
schichte im traditionellen Sinn, sondern wagt, wie er selbst im Vor-
wort sagt, den Versuch ıeiner Art anonymer Geistesgeschichte des
Bürgertums„.8 Was ihn interessiert, ist die Herausbildung des bür-
gerlichen Alltagsverstandes, der sich immer mehr von den Vorga-
ben der christlichen Soziallehre der Vormoderne löst und den in-
nerweltlichen Berufserfolg an die Stelle christlicher Erlösungshoff-
nung setzt. Groethuysens 1927 und 1930 vorgelegte Bände zur Ent-
stehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung können so-
mit auch als ein Versuch gedeutet werden, die Untersuchungen
Max Webers über den protestantischen Ursprung des Geistes des
Kapitalismus auf das katholische Frankreich zu übertragen.
Seine Aussagen über die Veränderungen der Mentalität des
französischen Bürgertums des Ancien Régime stützt Groethuysen
dabei auf Material, das er zum Großteil bereits in den Jahren vor
dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen französischen Bibliotheken
gefunden hatte. Noch am Tag der Kriegserklärung Österreich-Un-
garns an Serbien plante Groethuysen, der sich zu dieser Zeit zu Ar-
chivstudien in Paris aufhielt, in den nächsten Wochen zu einer wei-
teren Bibliotheksrecherche nach Rouen aufzubrechen.9 Zu dieser
Reise wird es jedoch nicht mehr gekommen sein, da die französi-
sche Regierung ab dem 1. August 1914 die Aufenthaltskontrollen
für Ausländer drastisch verschärfte. Diese Maßnahmen mündeten
schließlich in die Internierung sämtlicher deutschen Staatsangehöri-
gen, die sich nach den ersten Kriegswochen noch in Frankreich be-

7 Groethuysen: Entstehung, Bd. 1, a.a.O., S. 7.


8 Ebd., S. 15.
9 Vgl. dazu den Brief Bernhard Groethuysens an Margarete Susman, 28.7.1914 (Deut-
sches Literaturarchiv Marbach, A: Susman 32).
383

fanden. Auch Groethuysen hatte sich diesen Maßnahmen zu beu-


gen und verbrachte die vier Kriegsjahre unter polizeilicher Kon-
trolle in der kleinen Stadt Châteauroux (Indre), die ihm als Aufent-
haltsort von den französischen Behörden zugewiesen worden war.10
Trotz dieses erzwungenen Aufenthaltes in der französischen Pro-
vinz und des Ressentiments, das ihm von seiten der französischen
Bevölkerung in diesen Jahren entgegengeschlagen war, kehrte
Groethuysen nach dem Krieg Frankreich keinesfalls den Rücken,
sondern wählte Anfang der zwanziger Jahre Paris zu seinem Le-
bensmittelpunkt. Hier lebte er zusammen mit seiner Lebensgefähr-
tin, der in Belgien geborenen Reformpädagogin und überzeugten
Kommunistin Alix Guillain, in einem Künstleratelier in der Rue
Campagne Première.11 In Berlin hielt er sich hingegen nur noch
während der wenigen Monate des Sommersemesters auf, um seine
Vorlesung an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu halten und sei-
nen weiteren wissenschaftlichen Verpflichtungen – wie der Heraus-
gabe der gesammelten Schriften seines Lehrers Wilhelm Dilthey –
nachzukommen.12
Anfang der zwanziger Jahre lernte Groethuysen in Paris Jean
Paulhan kennen, den späteren langjährigen Herausgeber der Nou-
velle Revue Française (NRF ), der damals das benachbarte Atelier
bewohnte. Über ihn und den französischen Literaturkritiker Charles
Du Bos, den er bereits vor dem Krieg in Berlin kennengelernt hatte,
kam Groethuysen in Kontakt mit dem literarischen Kreis um André
Gide und die NRF. Seit 1920 veröffentlichte er in der Zeitschrift re-

10 Vgl. Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris, a.a.O., S. 73ff.


11 Ebd., S. 67ff., 90ff.
12 Im Rahmen der Gesammelten Schriften Diltheys gab Groethuysen 1922 die Einlei-
tung in die Geisteswissenschaften (Bd. 1), 1927 den Aufbau der geschichtlichen Welt
in den Geisteswissenschaften (Bd. 7) sowie 1931 die Schriften zur Weltanschauungs-
lehre (Bd. 8) heraus.
384 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

gelmäßig eigene Chroniken und Literaturkritiken.13 Darüber hinaus


engagierte er sich seit 1927 zusammen mit Paulhan als Lektor für
den Verlag der Zeitschrift, die Éditions Gallimard. Groethuysen
nutzte seine Präsenz im Zentrum des ıintellektuellen Feldes„ (Pierre
Bourdieu) in Frankreich, um auf deutschsprachige Literatur auf-
merksam zu machen. So warb er für Musil und Kafka und über-
setzte Hölderlin und Büchner-Texte ins Französische.14
Neben seinem literarischen Engagement in der NRF und den
Éditions Gallimard – aber auch in kleineren Zeitschriftenprojekten
wie der von Paul Valéry herausgegebenen Zeitschrift Commerce
oder der von ihm selbst zusammen mit einigen Freunden gegründe-
ten Literaturrevue Mesures – war Groethuysen in der Zwischen-
kriegszeit einer der wichtigsten Beteiligten im Hintergrund der in-
ternationalen Sommergespräche von Pontigny, die der französische
Publizist und Literaturprofessor Paul Desjardins seit 1906 in einer
ehemaligen Zisterzienser-Abtei abhielt.15 Nach der Unterbrechung
des Krieges nahm Desjardins Anfang der 20er Jahre die Idee der
sommerlichen Treffen wieder auf und machte die Décades de Pon-
tigny zu einem wahren ıLocarno des Geistes„: Noch bevor über-
haupt an eine offizielle deutsch-französische Wiederannäherung zu
denken war, hatte Desjardins verständigungsorientierte deutsche In-
tellektuelle wie Heinrich Mann, Ernst Robert Curtius oder Max
Scheler zu den zehntägigen Entretiens dÊété nach Pontigny eingela-

13 Vgl. Klaus Große Kracht: Briefe aus Deutschland. Bernhard Groethuysens Beiträge
zur „Nouvelle Revue Française“ in den frühen zwanziger Jahren, in: Lendemains 26
(2001), Heft 101/102, S. 119-132.
14 Seine wichtigsten literarischen Arbeiten finden sich in: Bernard Groethuysen: Unter
den Brücken der Metaphysik. Mythen und Porträts, Stuttgart 1968; Bernard Groet-
huysen: Autres portraits, hg. v. Philippe Delpuech, Paris 1995. Eine Bibliographie der
Schriften Groethuysens findet sich bei Hannes Böhringer: Bernhard Groethuysen.
Vom Zusammenhang seiner Schriften, Berlin 1978, S. 210-224.
15 Vgl. François Chaubet: Paul Desjardins et les Décades de Pontigny, Paris 2000; zu
Desjardins und seinem intellektuellen Kontext vgl.: François Beilecke: Französische
Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation
1892-1939, Frankfurt/Main 2003.
385

den.16 Groethuysen war bei den Sommergesprächen seit 1924 re-


gelmäßig präsent und beteiligte sich zumindest teilweise an ihrer
Vorbereitung. Für viele der jüngeren Teilnehmer erschien Groethuy-
sen geradezu als der ıVizehausvater„ von Pontigny.17 So schreibt
der junge Geschichtsstudent Max Clauss, der auf Fürsprache von
Curtius 1925 nach Pontigny eingeladen worden war: ıWenn er
[Groethuysen, K.G.K.] [...] in die Debatte eingriff, tat er es mit leiser
Stimme und mit tausend gemurmelten Entschuldigungen. Den Zi-
garettenstummel immer zwischen den Zähnen hinter dem rötlich-
grauen Bart, verhedderte er sich immer mehr, bis er mit beiden
hochgehobenen Armen die Konfusion der Welt beklagte und mit
einem Aschenregen auf die behäbig gewölbte Weste endete. Selt-
samerweise war man dann immer ein gutes Stück weiter und dem
strittigen Gegenstand erheblich näher gekommen.„18
Bereits während seines ersten Aufenthaltes in Pontigny im Som-
mer 1924 scheint Groethuysen das rege Interesse der anderen Gäste
auf sich gezogen zu haben: ıIch habe im ganzen 4 Vorträge gehal-
ten„, so berichtet er in einem Brief an seine Mutter, ıund im allge-
meinen hatte ich keine Zeit, mich darauf vorzubereiten, da sich die
Themen erst aus dem Laufe der Unterhaltung selbst ergaben.„19 Die
Diskussionen und Vorträge der literarischen Gespräche standen im
August 1924 unter dem Thema ıLa muse et la grâce„ und widme-

16 Vgl. Hans Manfred Bock: Europa als republikanisches Projekt. Die Libres Entretiens in
der Rue Visconti/Paris und die Décades von Pontigny als Orte französisch-deutscher
Debatte und Begegnung, in: Lendemains 20 (1995), Heft 78/79, S. 122-156; Klaus Große
Kracht: „Ein Europa im kleinen“. Die Sommergespräche von Pontigny und die deutsch-
französische Intellektuellenverständigung in der Zwischenkriegszeit, in: Internationa-
les Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 27 (2002), S. 144-169.
17 Klara Marie Faßbinder: Der versunkene Garten. Begegnungen mit dem geistigen
Frankreich des Entre-deux-guerres, 1919-1939 – Wiederbegegnungen nach dem
Zweiten Weltkrieg, Heidelberg 1968, S. 166.
18 Max W. Clauss: Sehenden Auges. Internationale Erinnerungen (Institut für Zeitge-
schichte, München, Ms. 553).
19 Bernhard Groethuysen an Olga Groethuysen, 16.9.1924 (Nachlaß O. Groethuysen,
Privatbesitz, München).
386 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

ten sich der Frage, ob sich innerhalb der verschiedenen religiösen


und mystischen Traditionen der Weltreligionen eine gemeinsame
metaphysische Tradition des Geistes ausmachen lasse oder nicht: ısi
la vie de lÊEsprit, en sa profondeur, en son principe, est ou nÊest pas
une„.20 Groethuysen sprach in Pontigny vor allem über die Mystik
Meister Eckharts, die ihn auch in den folgenden Jahren noch inten-
siv beschäftigen sollte.21
Die Fragestellung der literarischen Sommergespräche von Pon-
tigny des Jahres 1924, die Frage nach Mystik und Inspiration, spiegelt
die religiöse Lage der gebildeten Schichten Europas zu Beginn des
20. Jahrhunderts wider, die von einer deutlichen Zunahme außer-
kirchlicher Religiosität geprägt war.22 Intellektuell schlug sich diese
neue, ıvagierende„ Religiosität in einem verstärkten Interesse an der
anthropologisch-phänomenologischen Vermessung des religiösen
Grundgefühls – des ıNuminosen„, des ıtremendum et fascinans„ –
nieder, das man insbesondere in der Tradition der Mystik zu finden
glaubte.23 Meister Eckhart, der große mystische Autor des deutschen
Mittelalters, erlebte im Zuge dieser subjektiven, überkonfessionellen
Wendung bildungsbürgerlicher Religiosität in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts eine ungeahnte Renaissance.
Lange war der Dominikaner-Mönch, der es um die Wende vom
13. zum 14. Jahrhundert bis zum Magister der Pariser Universität
geschafft hatte (daher der Titel ıMeister„), in der europäischen Gei-
stesgeschichte vergessen. Erst die Vertreter des Idealismus – na-

20 Entretiens d’Eté de Pontigny, VIIe année, Août-Septembre 1924, Paris 1924 (Pro-
grammheft, Nachlaß L. Chomette, Privatbesitz, Paris).
21 Mitschrift von Liliane Chomette (Nachlaß L. Chomette, Privatbesitz, Paris).
22 Vgl. dazu die mittlerweile klassischen Ausführungen von Thomas Nipperdey: Deut-
sche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, 2. Aufl., München
1990, S. 521ff.
23 Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein
Verhältnis zum Rationalen (1917), München 1991; siehe zum weiteren Kontext: Hans
G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und
Moderne, München 1997, S. 245ff.
387

mentlich Hegel und Franz von Baader – entdeckten die Schriften


des Mystikers wieder und sahen in dessen Philosophie des ıInne-
werdens„ einen Vorläufer ihrer eigenen dialektisch-idealistischen
Entwürfe. Dies galt insbesondere für Eckharts Lehre von der ıGe-
burt Gottes im individuellen Seelengrund„ des Menschen, wodurch
der traditionelle Dualismus zwischen Geschöpf und Schöpfer zu-
gunsten ihrer mystischen Einheit, ihrer unio mystica, aufgehoben
wurde. Aber auch bei Hegels Widersacher Arthur Schopenhauer
finden sich positive Eckhartbezüge, und vor allem Schopenhauers
Einfluß wird es zu verdanken sein, daß Eckhart über Nietzsche und
Paul de Lagarde zu Anfang des 20. Jahrhunderts Eingang in die
Neuromantik fand. 24
Zur Popularisierung Eckharts um die Jahrhundertwende wird
vor allem jedoch die programmatische Verlagspolitik des Jenaer
Verlegers Eugen Diederichs beigetragen haben, der sich selbst zum
Vorreiter eines neuen ıschöpferischen„ Verlegertums stilisierte und
sich die Schaffung einer freien und konfessionell ungebundenen re-
ligiösen Kultur in Deutschland auf die Fahne schrieb.25 Eckhart, der
die persönliche Gottesschau an die Stelle kirchlicher Verlautba-
rungstheologie setzte, kam dem Weltanschauungsverleger dabei ge-
rade recht: Im Jahr 1903 erschien in seinem Verlag der erste Band
der großen Eckhart-Übertragung von Herman Büttner, die sich vor
allem an religiösen Sinn suchende Laien wandte und die insbeson-
dere nach dem Ersten Weltkrieg zu einem regelrechten Bestseller
wurde.26 Wie diese Ausgabe, die die mittelhochdeutsche Sprache
Eckharts sehr frei in das ästhetische Empfinden der Jahrhundert-

24 Vgl. hierzu im einzelnen: Ingeborg Degenhardt: Studien zum Wandel des Eckhartbil-
des, Leiden 1967.
25 Vgl. Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diede-
richs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996.
26 Herman Büttner: Meister Eckharts Schriften und Predigten, 2 Bde., Jena 1903; vgl.
Degenhardt: Studien zum Wandel des Eckhartbildes, a.a.O., S. 233ff.
388 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

wende übersetzte, auf das zeitgenössische, sinnsuchende Lesepubli-


kum gewirkt haben mag, zeigt eine Rezension aus dem Jahr 1904, in
der der Autor schreibt, daß er nur ımit bebenden Händen„ das
Buch aus der Hand legen konnte, ıaus dem uns der Quell eines fast
überirdischen, verklärten ,Wissens entgegensprudelt„.27
Ein Echo dieser religiös-verzauberten Eckhart-Euphorie findet
sich auch bei Groethuysen, der 1925 in einem kurzen, sehr poeti-
schen und einfühlsam gehaltenen Essay für die Pariser Literaturzeit-
schrift Commerce schreibt, daß in Eckharts Schriften ıSeele„ und
ıGott„ nach langem Suchen endlich zueinander gefunden hätten, in
einer ıGottheit ohne Namen„, in einer ıGottheit ohne Gott„: ıAlles
war, aber nichts existierte. Nichts war geschaffen und alles war
ewiglich da. Wie tief war dieses Nichts! Reglos ruhten wir in den
Wüsten.„28 Nach einer kurzen einleitenden Passage folgten Überset-
zungen aus Eckharts Schriften, die Groethuysen selbst angefertigt
hatte.29 Auch in späteren Jahren sollte Groethuysen immer wieder
zu den Werken des Meisters zurückfinden, die für ihn keineswegs
nur Inspirationsquelle individueller lebensphilosophischer Reflexion
waren, sondern zugleich auch Denkangebote zu einer dialogischen,
kommunikativen philosophischen Praxis, wie sie nicht zuletzt auch
in den Sommergesprächen von Pontigny bewußt gepflegt werden
sollte. Dies zeigt insbesondere seine spätere gemeinsame Überset-
zungsarbeit mit Aline Mayrisch, die ebenfalls zum engeren Kreis
der regelmäßigen Gäste von Pontigny zählte und hier 1924 vermut-
lich auch Groethuysens Eckhart-Vortrag hörte.

27 Zit. nach Degenhardt, a.a.O., S. 238.


28 Bernhard Groethuysen: Meister Eckhart, in: ders.: Unter den Brücken, a.a.O., S. 29-
33, hier S. 30, 33.
29 Bernard Groethuysen: Maître Eckhart. Fragments mystiques traduits et précédés
d’un portrait, in: Commerce 4 (1925), S. 148-173.
389

Aline Mayrisch-de Saint-Hubert war die Ehefrau des Luxembur-


ger Stahlbarons Emile Mayrisch.30 Bereits 1917 hatten die Mayrischs
das in Luxemburg gelegene Anwesen Colpach erworben, das in
den folgenden Jahren eine Vielzahl bedeutender Geister von beiden
Seiten des Rheins beherbergen sollte.31 Im Sommer 1920 trafen sich
hier beispielsweise Walther Rathenau, mit dem Emile Mayrisch
damals in geschäftlichen Beziehungen stand, und André Gide, mit
dem Aline Mayrisch bereits seit langen Jahren persönlichen Kontakt
pflegte. Während diese Begegnung – zumindest für Gide – eher ent-
täuschend verlief, markierte ein weiteres Treffen in Colpach, das ein
Jahr später zwischen Gide und dem deutschen Romanisten Ernst
Robert Curtius stattfand – über dessen Werk Aline Mayrisch zuvor
in der NRF berichtet hatte – hingegen den Beginn einer lebenslan-
gen Freundschaft.32
Mit ihren unterschiedlichen Interessen und Wirkungsgebieten
entspann sich zwischen den Eheleuten Mayrisch in den folgenden
Jahren gewissermaßen eine für beide Seiten gewinnbringende Ar-
beitsteilung: Während Emile sich nicht zuletzt über das von ihm
1926 gegründete ıDeutsch-Französische Studienkomitee„ – das so-
genannte ıMayrisch-Komitee„ – für die politisch-wirtschaftliche Ver-
ständigung zwischen Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaa-
ten engagierte, nutzte Aline ihre persönlichen Verbindungen in den
Kreis um die NRF, um dem in der Zeitschrift bereits recht früh be-
kundeten Willen zur deutsch-französischen Verständigung ein in-
formelles Forum zu bieten. In der 1922 von Emile Mayrisch erwor-

30 Vgl. Cornel Meder: Aline Mayrisch (1874-1947). Approches, Luxemburg 1997; Hans
Manfred Bock: Emile Mayrisch und die Anfänge des Deutsch-Französischen Studien-
komitees, in: Galerie. Revue culturelle et pédagogique 4 (1992), S. 560-585.
31 Vgl. Germaine Goetzinger: Colpach – ein Ort deutsch-französischer Begegnung zur
Zeit der Weimarer Republik, Oldenburg 2004; sowie den Ausstellungskatalog: Hôtes
de Colpach/Colpacher Gäste, hg. v. Germaine Goetzinger, Gast Mannes u. Frank
Wilhelm, Mersch 1997.
32 Vgl. Claude Foucart: Ernst Robert Curtius et André Gide: Les débuts d’une amitié
(1920-1923), in: Revue de littérature comparée 58 (1984), S. 317-339.
390 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

benen Luxemburger Zeitung fanden diese Bestrebungen eine ge-


meinsame publizistische Plattform: Ernst Robert Curtius, der sich
später auch im ıMayrisch-Komitee„ engagierte, und Jacques
Rivière, der damalige Herausgeber der NRF, wechselten sich hier –
in den wenigen Jahren des Bestehens der Zeitung – in ihren Leitar-
tikeln ab.33
Die Bemühungen Emile Mayrischs, unter dessen Federführung
1926 die ıInternationale Rohstahlgemeinschaft„ in Brüssel zustande
gekommen war, fanden mit einem tödlichen Verkehrsunfall im Jahr
1928 ein jähes Ende. Für Aline Mayrisch war der Verlust ihres Gat-
ten ein schwerer Schicksalsschlag, der nicht nur ihre bereits ange-
schlagene Gesundheit nachhaltig belastete, sondern auch ihren Hang
zur Schwermut befördert haben mag. Trost fand sie in ausgedehnten
Reisen, aber auch in der Hinwendung zur christlichen Mystik des
europäischen Mittelalters, nicht zuletzt in den Schriften Meister
Eckharts, mit denen sie sich zum Teil wochenlang in Colpach, aber
auch auf ihrem Anwesen im südfranzösischen Cabris, beschäftigte
und von denen sie zahlreiche ins Französische übertrug.34
Unterstützung bei ihren Eckhart-Studien fand Aline Mayrisch
Mitte der 1930er Jahre bei Bernhard Groethuysen, der ihr 1936 eine
erste Publikationsmöglichkeit für ihre Eckhart-Übersetzungen in der
Pariser Literaturzeitschrift Mesures anbot, die er selbst zusammen
mit Jean Paulhan und einigen befreundeten Schriftstellern im Jahr
zuvor gegründet hatte.35 Die gemeinsame Arbeit an den Eckhart-

33 Vgl. Ernst Robert Curtius: Goethe, Thomas Mann und Italien. Beiträge in der
„Luxemburger Zeitung“ (1922-1925), hg. v. Romain Kitt, Bonn 1988; Lionel Richard:
Les éditoriaux de Rivière dans la Luxemburger Zeitung, in: Jacques Rivière
l’Européen (Bulletin des amis de Jacques Rivière et d’Alain-Fournier, Heft 87/88), Pa-
ris 1998, S. 83-96.
34 Vgl. die posthume Edition der nachgelassenen Übersetzungen: Maître Eckhart: Telle
était Sœur Katrei… Traité & sermons, trad. par A. Mayrisch [de] Saint-Hubert, Pa-
ris/Neuchâtel 1954.
35 Vgl. Maître Eckhart: Trois sermons, trad. par [A.] Mayrisch [de] St. Hubert, in:
Mesures 2 (1936), Heft 3, S. 7-54.
391

Texten mündete dann ein Jahr später in die von Groethuysen ge-
meinsam mit Aline Mayrisch zusammengestellte Sondernummer
der belgischen Literaturzeitschrift Hermès, die ausschließlich dem
Werk Eckharts gewidmet war. Das Heft im Umfang von immerhin
über hundert Seiten bestand zur Hälfte aus Übersetzungen von Tex-
ten Eckharts, die Aline Mayrisch angefertigt hatte. Hinzu kamen
Auszüge aus dem lateinischen Werk des Mystikers sowie einige wei-
tere Dokumente aus dem zeitlichen Kontext seines Wirkens. Abge-
rundet wurde das Heft mit einem biographischen Porträt Eckharts
aus der Feder Aline Mayrischs sowie einem kurzen Vorwort von
Bernhard Groethuysen.36
Mit der Interpretation der von ihnen ausgewählten Texte hielten
sich beide jedoch zurück. So schreibt Groethuysen im Vorwort, daß
Eckhart noch immer ein großer Unbekannter sei und auch die Her-
ausgeber den Mythos, der ihn umgebe, nicht auflösen wollten:
ıNous ne prétendons pas le connaître. Encore moins chercherons-
nous à connaître son ,systèmeÂ.„37 Denn das Denken in ıSystemen„
war Groethuysen bereits seit langem verhaßt. Statt dessen kam es
ihm, wie er in seiner 1926 veröffentlichten Introduction à la pensée
philosophique allemande geschrieben hatte, auf die Bewegung des
Gedankens, auf seine Dynamik, auf das ıphilosophische Denken„
an sich an, das sich nicht feststellen und in philosophischen Syste-
men gefangen halten lasse.38 Und genau diese Bewegung des Ge-
dankens ist es, die ihn an Meister Eckhart fasziniert: ıChez Maître
Eckehart, négation et affirmation forment à elles deux la vérité. [...]
Il faut donc lire les sermons de Maître Eckehart dialectiquement.

36 Vgl. Hermès. Mystique – poésie – philosophie 2 (1937), Heft 4.


37 Bernard Groethuysen: Avant-propos, in: ebd., S. 5f.
38 Bernard Groethuysen: Introduction à la pensée philosophique allemande depuis
Nietzsche, Paris 1926 (wiederveröffentlicht in: ders.: Philosophie et histoire, hg. v.
Bernard Dandois, Paris 1995, S. 91-143); vgl. dazu Große Kracht: Zwischen Berlin und
Paris, a.a.O., S. 163ff.
392 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

Rien nÊest vrai isolément; rien nÊest vrai ,ici et maintenantÂ. Tout
nÊest vrai que dÊune vérité de mouvement.„39
Groethuysen liest Meister Eckhart gewissermaßen als Vertreter
der europäischen ıLebensphilosophie„, so wie er sie bei seinen
Lehrern Wilhelm Dilthey und Georg Simmel in Berlin sowie in
Frankreich bei Henri Bergson kennengelernt hatte.40 Denn so wie
diesen schien es auch Eckhart – diesem ıLebemeister„, wie er häu-
fig genannt wurde – um die dialektische Bewegung des Gedankens,
die ıvérité de mouvement„ zu gehen, so wie Bergson es in seiner
Introduction à la métaphysique gefordert hatte: Die Philosophie, so
heißt es hier, sei nur dann ganz sie selbst, wenn ısie sich von den
starren und fertigen Begriffen befreit, um Begriffe zu bilden, die
ganz verschieden sind von denen, die wir gewöhnlich handhaben,
ich meine geschmeidige, bewegliche, fast flüssige Vorstellungen, die
immer bereit sind, sich den flüchtigen Formen der Intuition anzu-
bilden„.41 Bergson wollte das Denken aus den Systemgrenzen einer
instrumentellen Logik lösen und es als Bewegung in der Zeit, als
ıinnere Dauer„, wie er sagt, kenntlich machen.
Genau diese philosophische Haltung scheint Groethuysen nun in
den Schriften Meister Eckharts wiedergefunden zu haben, für den
die mystische Erfüllung letztlich im Eintauchen in das ewige Schöp-
fungsgeschehen Gottes besteht. Denn die Einheit zwischen Seele
und Gott wird von Eckhart nicht als statische Substanz, sondern als
eine Art ewige Bewegung gedacht, und genau das macht den deut-
schen Mystiker so interessant für Groethuysen, der hier deutliche
Berührungspunkte zur Philosophie Bergsons entdeckt. So schreibt er
in einem unveröffentlichten Brief an Aline Mayrisch im Dezember
1943, daß das Denken Meister Eckharts im Grunde als ein bestän-

39 Groethuysen: Avant-propos, a.a.O., S. 5.


40 Vgl. Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris, a.a.O., S. 53-66.
41 Henri Bergson: Einführung in die Metaphysik, 2. Aufl., Jena 1912, S. 13.
393

diger Kampf mit der Zeit zu verstehen sei, und zwar mit der Zeit
nicht bloß als reiner Anschauungsform wie bei Kant, sondern als
einer Bewegung, als ıinnerer Dauer„ ganz im Sinne Bergsons:
ıToute mystique nÊest elle en somme autre chose quÊune lutte avec
le temps? En ce sens, peut-être le mystique serait-il plus proche de
Kant que de Bergson. Mais en même temps, le mystique éprouve le
temps comme une réalité, la réalité qui sÊinterpose entre lui et Dieu.
CÊest peut-être ce qui pourrait le rapprocher de Bergson, avec la dif-
férence toutefois que ce qui pour Bergson représente quelque chose
de positif, devient pour le mystique une donnée négative quÊil faut
combattre. Tout cela nÊest en somme quÊun ensemble de problèmes
très humains, une spéculation sur notre pauvre condition humaine.
Comment nous réconcilier avec le temps? Comment lÊaccepter et
comment le refuser? CÊest peut-être le mystère dÊun chacun. Et cha-
cun devra trouver la réponse lui-même.„42
Groethuysen liest Eckhart somit vor allem als einen anthropolo-
gischen Autor, der in seinen mystischen Gedankengängen eine
Antwort auf die ıcondition humaine„ zu geben versuchte, auf die
menschliche Existenz in der Zeit, und zwar im Sinne der ıinneren
Dauer„ Bergsons, einer inneren Dynamik, die das Denken nicht zur
Ruhe kommen läßt und gerade daher das Erreichen der Wahrheit
immer wieder in die Zukunft verschiebt.
Dieses Denken hat sich für Groethuysen nun im Laufe des okzi-
dentalen Rationalisierungsprozesses immer weiter verflüchtigt, so daß
die mystische Exaltation, in der Eckhart gelebt habe, dem modernen
Subjekt völlig fremd geworden sei. Diese Entzauberung der Meta-
physik verdankt sich nach Groethuysen jedoch keinerlei innerer Te-
leologie, sondern letztlich einem durchaus kontingenten sozial- und
mentalitätsgeschichtlichen Umwertungsprozeß, in dem der ıBürger„,

42 Bernhard Groethuysen an Aline Mayrisch, 20.12.1943 (Archives Nationales du Grand-


Duché de Luxembourg, fonds A. Mayrisch-de Saint-Hubert).
394 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

wie Groethuysen den modernen Menschen nennt, seine eigene Ge-


fühlswelt als allgemeinverbindlich durchgesetzt habe.43
Wie sehr sich das religiöse Empfinden des Mystikers von demje-
nigen des modernen, bürgerlichen Menschen der Neuzeit unter-
scheidet, schildert Groethuysen in seiner oben bereits zitierten
Eckhart-Betrachtung aus dem Jahr 1925 auf sehr anschauliche
Weise: ıSeit die Seelen Gott nicht mehr lieben, bringen sie ihm Re-
spekt entgegen. Sie sprechen von ihm wie von einer offiziellen Per-
sönlichkeit, die man nicht kennt, deren Titel man aber weiß. So sa-
gen sie, wenn sie ihn anreden: ,Hochzuverehrender Herr und ver-
wenden Höflichkeitsfloskeln wie: ,Dürfte ich es wagen? oder ,Ge-
statten Sie...? (Sie bedienen sich auch des Possessivpronomens und
sagen: ,mein GottÂ, aber ungefähr so, wie man sagt ,mein sehr ver-
ehrter HerrÂ.)„44
Damit aber, so Groethuysen, sei das intime Band zwischen Seele
und Gott, das den Mystiker umgeben habe, unwiderruflich aufge-
löst worden und an die Stelle der Liebe eine Art Rechtszustand zwi-
schen Gott und den Menschen getreten. Dies aber war für Groet-
huysen eine mentalitätsgeschichtliche Umwälzung, deren Bedeutung
er in seiner Untersuchung über die Entstehung der bürgerlichen
Welt- und Lebensanschauung gar nicht hoch genug veranschlagen
konnte. Denn bevor der ıBürger„ seine Rechte gegenüber seinem
weltlichen Herrn in der Französischen Revolution einklagte, so
heißt es hier, ıhat er sie Gott gegenüber erhoben„: ıMan könnte
beinahe behaupten, daß, bevor die Franzosen die Beziehungen zwi-
schen sich und ihrem König verfassungsmäßig geregelt wissen woll-
ten, die Katholiken von ihrem Gott eine Art Verfassung gefordert
haben.„45 In der Zeit Eckharts wäre dies unvorstellbar gewesen.

43 Vgl. dazu den Brief Groethuysens an Aline Mayrisch vom 19.12.1937 (ebd.).
44 Groethuysen: Meister Eckhart, a.a.O., S. 29.
45 Groethuysen: Entstehung, Bd. 1, a.a.O., S. 159, 164.
395

Die gemeinsame Arbeit von Bernhard Groethuysen und Aline


Mayrisch blieb nicht auf das gemeinsam verantwortete Hermès-Heft
von 1937 beschränkt. Auch nach dessen Erscheinen setzten sie ihre
Eckhart-Studien zusammen fort und dachten noch bis weit in die
vierziger Jahre hinein über weitere Editionsvorhaben nach.46 Mit
dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und dem deutschen Besat-
zungsregime verschlechterten sich die Editionsmöglichkeiten jedoch
dramatisch und setzten dem literarischen Markt auch außerhalb
Deutschlands enge Grenzen. Bereits unmittelbar nach dem Ein-
marsch deutscher Truppen in Paris wurde der französische Buch-
markt über verschiedene Zensurverordnungen unter die Kontrolle
der deutschen Besatzungsbehörden gebracht, welche versuchten,
die Verleger und Autoren zur aktiven Kollaboration zu bewegen.
Sofern sich die Verlage und Zeitschriftenredaktionen weigerten, auf
einen prodeutschen Kurs einzuschwenken, setzten die Besatzungs-
autoritäten neue Herausgeber ein oder veränderten die Eigentums-
verhältnisse der Verlage zu ihren Gunsten. So wurde die Schrift-
leitung der Nouvelle Revue Française, für die seit 1925 Jean
Paulhan verantwortlich zeichnete, von den neuen Machthabern
noch im Herbst 1940 auf den profaschistischen Autor Pierre Drieu
La Rochelle übertragen und ihr Verleger, Gaston Gallimard, mit
der Androhung, seinen Verlag zu 51% zu enteignen, zur Einhaltung
der convention de censure genötigt, die den französischen Verle-
gern eine aktive Selbstzensur und die Förderung NS-genehmer Lite-
ratur auferlegte.47
Groethuysen, der seit 1927 im Lektorat der Éditions Gallimard
tätig war, wird bei der Gestaltung des Verlagsprogramms während

46 Vgl. den Brief von Bernhard Groethuysen an Aline Mayrisch vom 16.6.1943 (Archives
Nationales du Grand-Duché de Luxembourg, fonds A. Mayrisch-de Saint-Hubert).
47 Vgl. Pierre Assouline: Gaston Gallimard. Un demi-siècle d’édition française, Paris
1984, S. 283-390; Pierre Hebey: La Nouvelle Revue Française des années sombres,
1940-1941, Paris 1992.
396 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

der deutschen Besatzungszeit sein Wort mitzusprechen gehabt ha-


ben. So berichtet Jean Grenier in seinem Tagebuch, daß Groethuy-
sen gerade zu dieser Zeit dem Verlag wichtige Dienste erwiesen
habe: ıEn ce moment, il est occupé pour le compte de celles-ci
[Éditions Gallimard, K.G.K.] à écrire aux autorités allemandes des
lettres quÊil fallait faire longues et dÊun style ampoulé.„48 Welchen
literarischen, aber auch politischen Maßstäben er während der Zeit
der Occupation hinsichtlich der Aufnahme deutscher Titel ins Ver-
lagsprogramm folgte, läßt sich einer späteren Stellungnahme ent-
nehmen, die Groethuysen nach dem Krieg zugunsten von Gaston
Gallimard abgab: ıIl sÊagissait dÊempêcher la publication dÊouvrages
qui pouvaient servir à la propagande allemande, ce qui souvent
était difficile, étant donné les circonstances et la pression quÊexer-
çaient les autorités allemandes. Pourtant, en nous bornant exclusive-
ment à des textes classiques et littéraires, nous avons pu écarter le
danger qui nous menaçait dÊaider lÊennemi.„49
In der Tat finden sich im Verlagsprogramm von Gallimard wäh-
rend der Besatzungszeit kaum politisch-propagandistische Titel. Ne-
ben Ernst Jünger, dessen Publikationsrechte der Verlag im August
1941 erwarb, bestritten vor allem klassische Autoren von Goethe bis
Fontane das Kontingent an deutscher Literatur im Titelregister, in
dem sich interessanterweise auch eine Ausgabe mit Predigten und
Abhandlungen von Meister Eckhart finden läßt.50 Gerade diese
Veröffentlichung ist dabei ein gutes Beispiel für die doppelte Ver-
lagsstrategie der Éditions Gallimard, zum einen die Vorgaben der
Besatzungsmacht zu erfüllen, zum anderen aber der politisch-ideo-
logischen Indienstnahme durch die neuen Machthaber zu entgehen.

48 Jean Grenier: Sous l’Occupation, Paris 1997, S. 173.


49 Bernhard Groethuysen an Gaston Gallimard, 2.11.1945, Abschrift (Archives Nationales,
F 12/9641: Comité national interprofessionnel d’épuration: dossier Gallimard).
50 Vgl. Assouline: Gaston Gallimard, a.a.O., S. 308ff.; Œuvres de Maître Eckart. Ser-
mons-Traités, trad. par P. Petit, Paris 1942.
397

Veröffentlichungen von und über Meister Eckhart erwiesen sich


in dieser Hinsicht als ein besonders heikles Terrain, denn die Na-
tionalsozialisten hatten die Schriften des Mystikers bereits früh für
sich zu vereinnahmen versucht. So hatte der Parteiphilosoph Alfred
Rosenberg bereits 1930 in seiner antisemitischen Hetzschrift Der
Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts Eckhart als ıgrößten Apostel
des nordischen Abendlandes„ gefeiert, der der ırömischjüdischen
Kirchenlehre„ den Kampf angesagt und eine neue Religion der
ırassegebundenen„, ınordisch-abendländischen Seele„ verkündet
habe.51 Das eigentlich Erschreckende an diesem Pamphlet war nicht
nur sein abstruser Inhalt, sondern mindestens ebensosehr die mas-
senhafte Verbreitung der Schrift, die im ıDritten Reich„ in über
800.000 Exemplaren über den Ladentisch ging.52 Auch die wissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit Eckhart blieb davon nicht ver-
schont: Selbst innerhalb der protestantischen Theologie fanden sich
Stimmen, die der neuheidnischen Religionslehre Rosenbergs
durchaus etwas abgewinnen konnten, wie beispielsweise der Berli-
ner Theologe Erich Seeberg, der sich mit der finanziellen Unterstüt-
zung der Deutschen Forschungsgemeinschaft an eine umfassende
Gesamtausgabe der Schriften Eckharts machte.53
Die von Seeberg und anderen initiierte Gesamtausgabe, die so-
wohl die deutschen als auch die lateinischen Texte Eckharts umfas-
sen sollte, war als direktes Konkurrenzunternehmen zu der bereits
seit 1932 von Raymond Klibansky im Auftrag der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften unternommenen Ausgabe der latei-
nischen Schriften Eckharts angelegt. Für den Heidelberger Philoso-

51 Vgl. Degenhardt, a.a.O., S. 262ff.


52 Vgl. ebd., S. 266.
53 Zu Seeberg vgl. Thomas Kaufmann: „Anpassung“ als historiographisches Konzept
und als theologiepolitisches Programm. Der Kirchenhistoriker Erich Seeberg in der
Zeit der Weimarer Republik und des ‚Dritten Reiches‘, in: ders./Harry Oelke (Hg.):
Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘, Gütersloh 2002, S. 122-272.
398 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

phiehistoriker waren die lateinischen Traktate vor allem deshalb


von Interesse, weil in ihnen, wie er rückblickend schreibt, deutlicher
als in den deutschen Schriften die Abhängigkeit Eckharts von ande-
ren Autoren, insbesondere arabischer und jüdischer Herkunft, her-
vortrete. Ihre Edition hätte insofern ein probates Mittel gegen die
nationalsozialistische Verzerrung des Eckhart-Bildes abgegeben,
denn, so Klibansky, daß der Mann, der von Rosenberg zum Be-
gründer der ıarischen„ Philosophie erklärt wurde, ıin der Schuld
des Maimonides stand, galt natürlich als Häresie„.54
Seeberg, der selbst ein überzeugter Nationalsozialist war, lehnte
die Zusammenarbeit mit dem Heidelberger Gelehrten jüdischer
Herkunft jedoch entschieden ab und ließ die Herausgabe von Ma-
terialien, die Klibansky für sein Editionsprojekt bereits gesammelt
hatte, schließlich polizeilich erzwingen. Klibansky selbst hatte zu
dieser Zeit Deutschland bereits verlassen und führte in Oxford seine
Studien in enger Zusammenarbeit mit französischen und italieni-
schen Kollegen weiter, was ihn in den Augen Seebergs immer ver-
haßter machte. Noch 1937 hetzte der Berliner Theologe in den von
Alfred Rosenberg herausgegebenen Nationalsozialistischen Monats-
heften gegen den ıemigrierten Juden„, diese, wie er schrieb,
ıKreuzspinne„, die im Ausland gegen die deutsche Gesamtedition
Stimmung mache.55
Groethuysen wird dieser Sachverhalt, als er sich zusammen mit
Aline Mayrisch in den dreißiger und vierziger Jahren an die Über-
setzung der deutschen Eckharttexte machte, nicht unbekannt gewe-
sen sein, war für ihn doch Klibansky – wie aus den Briefen Groet-
huysens an Aline Mayrisch hervorgeht – ein wichtiger Ratgeber,

54 Raymond Klibansky: Erinnerung an ein Jahrhundert. Gespräche mit Georges Leroux,


Frankfurt/Main 2001, S. 86.
55 Erich Seeberg: Zur Geschichte der Meister Eckhart-Ausgabe, in: Nationalsozialisti-
sche Monatshefte 8 (1937), S. 386-397, hier S. 386, 396.
399

wenn es um die Prüfung philologischer Details ging.56 In Klibanskys


Lebenserinnerungen wird Groethuysen sogar ein ılieber Freund„
genannt, der zu den wenigen gehört habe, ıdie Hitler so wenig
schätzten, daß sie freiwillig ins Exil gingen, obgleich sie nicht zur
Kategorie der Bedrohten zählten„.57 So verwundert es auch nicht,
daß Groethuysen zu den Autoren der von Klibansky und H.J. Paton
herausgegebenen Festschrift für Ernst Cassirer gehörte, mit der
Freunde und Kollegen dem aus Deutschland vertriebenen Phi-
losophen 1936 von England aus ihre Reverenz erwiesen.58
Die 1942 bei Gallimard erschienene Eckhart-Ausgabe vermeidet
zwar eine offene Positionierung im Streit zwischen Klibansky und
Seeberg, doch zumindest im namentlich nicht gekennzeichneten
Vorwort wird die Klibansky-Ausgabe ausdrücklich erwähnt, und
der anonyme Autor drückt sein Bedauern aus, daß diese Edition
angesichts der deutschen Gesamtausgabe nicht weiter fortgesetzt
werden konnte.59 Ein noch deutlicheres Indiz, mit welcher politi-
schen Seite der Verlag sympathisierte, gibt schließlich der Name
des Übersetzers: Paul Petit. Der 1893 geborene Schriftsteller und
Diplomat war nach langjähriger Tätigkeit in verschiedenen französi-
schen Botschaften 1940 aus dem Staatsdienst ausgeschieden und
hatte sich der Résistance angeschlossen. Zusammen mit einigen
Freunden gründete er 1941 die Untergrundzeitschrift La France con-
tinue, bevor er im Februar 1942 der Gestapo in die Hände fiel und
nach Deutschland verbracht wurde, wo er im August 1944 hinge-
richtet wurde.60

56 Vgl. etwa den Brief von B. Groethuysen an A. Mayrisch vom 21.2.1936 (Archives Na-
tionales Du Grand-Duché de Luxembourg, fonds A. Mayrisch-de Saint-Hubert).
57 Klibansky, a.a.O., S. 110.
58 Vgl. Bernhard Groethuysen: Towards an Anthropological Philosophy, in: Philosophy
& History. Essays presented to Ernst Cassirer, hg. v. R. Klibansky u. H. J. Paton, 2.
Aufl., New York 1963, S. 77-89.
59 Œuvres de Maître Eckhart, Avant-propos, a.a.O., S. 9ff.
60 Vgl. Joël Pottier: Un aspect des relations entre les intellectuels catholiques français
et allemands dans les années trente: Gertrud von le Fort et Paul Petit, in: Hans
400 Klaus Große Kracht: Bernhard Groethuysen auf den Spuren Meister Eckharts

Während seiner Zeit in der Résistance hatte sich Petit finanziell


u.a. mit der Eckhart-Übersetzung für Gallimard über Wasser gehal-
ten. Wenn man bedenkt, daß Jean Paulhan selbst eine zentrale Fi-
gur des intellektuellen Widerstandes war,61 so wird man das Beispiel
der Eckhart-Ausgabe kaum für einen Einzelfall halten. Eine ähnliche
Doppelstrategie von Erfüllung kulturpolitischer Vorgaben der Be-
satzungsmacht einerseits und finanzieller Absicherung klandestiner
Tätigkeiten andererseits läßt sich ebenso für die französische Aus-
gabe der Goethe-Dramen zeigen, die unter der Ägide Groethuysens
entstand und 1942 bei Gallimard erschien.62 Auch in diesem Unter-
nehmen fanden überzeugte ıAntifaschisten„ wie Henri Thomas,
Jean Tardieu oder Jacques Decour finanzielle Überlebensmöglich-
keiten während der Besatzungszeit. Decour, Mitbegründer des Front
national des écrivains, der wichtigsten intellektuellen Widerstands-
organisation während der deutschen Besatzungszeit, ereilte das glei-
che Schicksal wie Petit: Zusammen mit zwei Mitkämpfern wurde er
am 30. Mai 1942 von der Gestapo erschossen.63
Groethuysen selbst hat sich anders als sein Freund Paulhan an li-
terarischen Untergrundveröffentlichungen zumindest als Autor – soweit
bekannt – nicht beteiligt. Die Zeit der deutschen Besatzung durch-
lebte er, nachdem er Anfang 1938 die französische Staatsbürgerschaft
erhalten hatte, anscheinend ohne größere persönliche Schwie-
rigkeiten in Paris. Nach der Befreiung der Stadt und dem Ende des
Zweiten Weltkriegs machten sich bei ihm jedoch ernste Anzeichen
einer tiefen gesundheitlichen Erschöpfung bemerkbar. Ein bereits
fortgeschrittener Tumor wurde von dem behandelnden Arzt jedoch

Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (Hg.): Entre Locarno et


Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Bd. 1, Paris
1993, S. 253-267.
61 Vgl. Frédéric Badré: Paulhan le juste, Paris 1996, S. 183ff.
62 Johann Wolfgang von Goethe: Théâtre complet, Paris 1942; vgl. Große Kracht: Zwi-
schen Berlin und Paris, a.a.O., S. 280f.
63 Vgl. Pierre Favre: Jacques Decour. L’oublié des Lettres françaises 1910-1942, Tours 2002.
401

nicht rechtzeitig erkannt, der Groethuysen lediglich einen Er-


holungsaufenthalt verordnete. In seine alte Heimat, die er seit 1932
nicht wiedergesehen hatte, zog es den Wahlpariser auch nach dem
Ende des Naziterrors nicht zurück. Statt dessen besuchte er ein
letztes Mal seine alte Freundin Aline Mayrisch, die nach dem Krieg
aus Südfrankreich nach Colpach zurückgekehrt war. Hier, in Lu-
xemburg starb Groethuysen am 17. September 1946 im Alter von
66 Jahren.64 Seine sterblichen Überreste ruhen heute auf dem Lu-
xemburger Liebfrauenfriedhof, an einem Ort, der – als symboli-
scher Topos gedeutet – für Groethuysens Leben insgesamt stehen
kann: Zwischen Berlin und Paris, zwischen Frankreich und
Deutschland – ein Leben in intellektueller Bewegung.

64 Vgl. die ebenso drastische wie einfühlsame Schilderung bei Jean Paulhan: Groethuy-
sens Tod in Luxemburg, in: Akzente 46 (1999), S. 546-573.
403

Benedetto Croce und die intellektuelle


Resistenza in Italien
Guido Thiemeyer
404 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

Benedetto Croce galt in der Nachkriegszeit als einer der bedeutend-


sten Intellektuellen Italiens, als geistige Integrationsfigur des Landes,
als eine Art ıGedächtnisort„1 für die Erste italienische Republik. Das
hat vor allem zwei Gründe: Zum einen war Benedetto Croce einer
der wichtigsten Intellektuellen Italiens in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Es gibt keine wichtige öffentliche Diskussion in Italien
zu dieser Zeit, zu der Croce nicht einen wesentlichen Beitrag gelie-
fert hat. Beschäftigt man sich also mit italienischer Kulturgeschichte
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kommt man um Croce
gar nicht herum, ja er rückt sogar unwillkürlich in das Zentrum der
Darstellung. Zweitens – und wohl noch wichtiger – repräsentierte
Croce eine geistig-politische Tradition in der italienischen Ge-
schichte, die für den Gründungsmythos der Ersten Republik nach
1945 von großer Bedeutung werden sollte: Die liberale Tradition
des Risorgimento, wie die Gründungsphase des ersten italienischen
Nationalstaates von der Französischen Revolution bis 1861 nach wie
vor genannt wird. 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
und dem Zusammenbruch des italienischen Faschismus, suchte die
italienische Gesellschaft nach Integrationselementen, die die Ver-
werfungen der faschistischen Ära und des nachfolgenden Bürger-
kriegs überwinden sollte. Man fand sie personifiziert in Benedetto
Croce, seinem der liberalen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ver-
pflichteten Weltbild und seiner hieraus abgeleiteten Interpretation
des Faschismus. Eben darum soll es im Folgenden gehen: Wie in-
terpretierte Croce den Faschismus in Italien und welche Bedeutung
hatte diese Interpretation für die italienische Nachkriegsgeschichte?
Wenn diese Fragen geklärt sind, soll ein erweiterter Blickwinkel die

1 Zu diesem Begriff und dem Ansatz: Pierre Nora: Comment écrire l’histoire de
France?, in: ders. (Hg.): Les Lieux de Mémoire, III: Les France. 1. Conflits et Parta-
ges, Paris 1992, S. 11-32. Das Konzept nehmen Etienne François und Hagen Schulze
für Deutschland auf: Dies.: Einleitung, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.):
Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München, 4. Aufl. 2002, S. 11-24.
405

politische Kultur Italiens in der Nachkriegszeit bis zum Beginn der


neunziger Jahre erfassen.
Der Aufsatz geht in drei Schritten vor: Im ersten wird eine
knappe, holzschnittartige intellektuelle Biographie Croces2 im Sinne
eines itinéraire intellectuelle ( Jean-François Sirinelli)3 nachgezeich-
net werden. Hierbei geht es nicht darum, eine vollständige Biogra-
phie Croces zu erzählen, das Augenmerk wird vielmehr alleine auf
die politisch-gesellschaftlichen Sozialisationsinstanzen gelegt, die für
Croces intellektuelle Entwicklung von Bedeutung waren. Hierbei
muss berücksichtigt werden, dass Croce nicht nur als Individuum
agierte, sondern einer Generation von Intellektuellen und Politikern
angehörte, die durch die gleichen politischen Erfahrungen geprägt
wurden. Trotz dieser gemeinsamen Prägung zogen sie aber nicht
notwendigerweise die gleichen Schlüsse aus dem Erlebten, auch
dies soll zumindest ansatzweise diskutiert werden. In einem zweiten
Schritt wird nach Croces Interpretation des italienischen Faschismus
gefragt. Diese entstand in Auseinandersetzung mit der italienischen
Geschichte und der von Croce hieraus entwickelten Geschichtsphi-
losophie, die ebenfalls in ihren Grundzügen dargestellt werden soll.
Schließlich wird in einem dritten Schritt zu erörtern sein, wie und
warum die Gedanken Croces zum Faschismus nach 1945 eine so
hohe Bedeutung in der italienischen Öffentlichkeit erlangen konn-
ten. Was unterschied Croce von anderen italienischen Intellektuellen,
worin bestand die Besonderheit seiner Interpretation des Faschismus?

2 Hans Manfred Bock: Der Intellektuelle und der Mandarin? Zur Rolle des Intellektuel-
len in Frankreich und Deutschland, in: Frankreich-Jahrbuch 1998, Opladen 1998,
S. 35-51.
3 Jean-François Sirinelli: Le hasard ou la nécessité? Une histoire en chantier: l’Histoire
des intellectuels, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 9 (1986), S. 97-108; Ders.
(Hg.): Générations intellectuelles. Effets d’âges et phénomène de génération dans le
milieu intellectuel français, Paris 1987.
406 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

Der intellektuelle Werdegang Benedetto Croces


Gemeinsam mit Giovanni Gentile und Antonio Gramsci gilt Bene-
detto Croce als einer der herausragenden Intellektuellen Italiens in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und als Begründer des italie-
nischen Neoidealismus.4 Wesentliche Bedeutung erlangte nicht nur
seine Konzeption der Geschichtswissenschaft, sondern auch seine
Literatur- und Kunstkritik. Geboren wurde er am 25. Februar 1866
in Pescaseroli in der Nähe von LÊAquila (Abruzzen). Entscheidend
auch für den intellektuellen Werdegang Croces wurde, dass er seine
Familie während eines Urlaubs in Casamicciola auf der Insel Ischia
am 28. Juli 1883 durch die Folgen eines Erdbebens verlor.5 Die
Vormundschaft für den Siebzehnjährigen übernahm nun der Cou-
sin seines Vaters, Silvio Spaventa, einer der führenden liberalen ita-
lienischen Politiker der Epoche. Croce wurde von Spaventa in Rom
aufgenommen und schrieb sich bald als Student der Rechtswissen-
schaften an der dortigen Universität La Sapienza ein, die er aller-
dings kaum besuchte, statt dessen aber vor allem Eigenstudien in
verschiedenen Bibliotheken betrieb. Durch die Gebrüder Spaventa
wurde Croce in das rechtshegelianisch-liberale, der Tradition des
italienischen Risorgimento in konservativ-liberaler Weise verpflich-
tete gesellschaftliche Milieu eingeführt, das für sein Denken ein Le-
ben lang Bedeutung haben würde. Dieses Milieu hatte sein geistiges
Zentrum in Croces Heimatstadt Neapel, das in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ein wesentliches philosophisches Zentrum in
Europa war.6 Das neapolitanische Universitätsmilieu war in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Konfrontation zweier

4 P. Craveri, Karl Egon Lönne, G. Patrizi: Benedetto Croce, in: Dizionario Biografico
degli Italiani, vol. 31, Roma 1985, S. 181-205.
5 Giuseppe Casale: Benedetto Croce between Naples and Europe, New York u.a. 1994,
S. 11.
6 Ausführlich hierzu: Karl Egon Lönne: Benedetto Croce als Kritiker seiner Zeit, Tübin-
gen 1967, S. 15-47.
407

philosophischer Weltanschauungen geprägt, die sich unversöhnlich


gegenüber standen: Der Positivismus und der Idealismus. Ersterer
fand Unterstützung vor allem in den naturwissenschaftlichen Diszi-
plinen der Universität,7 deren Vertreter wie Salvatore Tommasi, Ar-
naldo Cantani oder Luigi Palmieri sich im Kern auf Auguste Comte
beriefen.8 Sie strebten unter dem Einfluss des schubartigen techni-
schen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts ihrer Epo-
che die Erklärung aller Realitätsbereiche mit Hilfe naturwissen-
schaftlichen Denkens an. Das galt auch für die Geschichtswissen-
schaft und die im Entstehen begriffene Soziologie, deren Kenntnisse
nur für die Ableitung höherer Erkenntnisse genutzt werden könn-
ten. Die Individualität historischer Persönlichkeiten oder Epochen
waren diesem Denken fremd. Dem hielten die Idealisten um den
Philosophen Bertrando Spaventa, dem Onkel Croces, das hegeliani-
sche Weltbild entgegen. Die Geschichte war hierin der einzige Aus-
druck des objektiven Geistes, der sich in einem dialektischen Pro-
zess zu sich selbst entwickelt. Der objektive Geist war der imma-
nente Gott allen Seins, ihn zu erkennen war daher das Ziel des Stu-
diums der Geschichte. Eine andere Konfliktlinie zwischen den ita-
lienischen Intellektuellen dieser Zeit resultierte aus den Grundposi-
tionen des Risorgimento: Sie betraf die für die italienische Identität
entscheidende Frage, welche geistige Position der neue National-
staat in Europa einnehmen sollte: Während die einen für einen en-
gen Anschluss an Frankreich plädierten, von wo aus die revolutio-
nären und modernen Ideen der Zeit stammten und welches folglich
auch eine Vorreiterrolle in der romanischen Welt einnahm (die
Tradition von Giuseppe Mazzini), plädierten andere für den Primat
der Italiener auf der Basis der italienischen Kultur (Vincenzo Gio-

7 Vgl. Luigi Russo: Francesco de Sanctis e la Cultura Napoletana (1860-1885), Venezia


1928, S. 210-232.
8 Auguste Comte: Discours sur l’esprit positif, Hamburg 1956.
408 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

berti). Der neapolitanische Kreis hingegen wurde sehr stark vom


deutschen kulturellen Einfluss, insbesondere der deutschen idealisti-
schen Philosophie geprägt. Es ist dieser Kreis, in dem Croce seine
intellektuelle Sozialisation erfährt, die für sein ganzes weiteres Den-
ken, auch für seine Interpretation des Faschismus, von Bedeutung
werden sollte.
1886 zog Croce nach Neapel, das fortan bis zu seinem Tod sein
Lebensmittelpunkt bleiben sollte. Hier widmete er sich unter dem
Einfluss von Antonio Labriola ausführlichen Marxismus-Studien,
unternahm Bildungsreisen durch Europa. Entscheidend für seine
Weltsicht blieb aber die Philosophie Hegels, die er keineswegs kri-
tiklos übernahm, sondern insbesondere in Auseinandersetzung mit
Karl Marx in entscheidenden Punkten weiterführte.9 Gerade die
Marxismus-Studien in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des
19. Jahrhunderts bestätigten Croce in seiner Interpretation der Ge-
schichte und führen zu einer scharfen Ablehnung des historischen
Materialismus und der mit diesem verbundenen Geschichtsphiloso-
phie.10 Auch das wird für seine spätere Interpretation insbesondere
der Sowjetunion von Bedeutung werden.
Ab Januar 1903 publizierte Croce federführend zusammen mit
Giovanni Gentile die Zeitschrift La Critica, die bis 1944 sein wich-
tigstes Publikationsorgan sein sollte.11 So wie Croce war auch
Gentile ein Schüler Bertrando Spaventas. Beide bemühten sich, die

9 Ciò che è vivo e ciò che è morto della filosofia di Hegel. Studio critico seguito da un
saggio di bibliografia hegeliana, Bari 1907. Vgl. hierzu auch Lönne, a.a.O., S. 81-97.
Zur ersten Marxismus-Kritik: Benedetto Croce: Sulla storiografia socialistica. Il com-
munismo di Tommaso Campanella, in: Materialismo storico ed economia marxistica,
Bari 1951, S. 177-217.
10 Vgl. Benedetto Croce: Sulla forma scientifica del materialismo storico, in: Materia-
lismo storico ed economia marxistica, Bari 1951, S. 1-20. Wiederabgedruckt in: La Cri-
tica XXXVI (1938), S. 109ff. Ausführlich hierzu: Giuseppe Galasso: Croce e lo spirito
del suo tempo, Milano 1990, S. 124-140.
11 La Critica. Rivista di filosofia, storia e letteratura, Vol. I-XLII. Diretta da Benedetto
Croce, Bari 1903-1944.
409

italienische Kultur des frühen 19. Jahrhunderts mit der deutschen


idealistischen Philosophie Kants und Hegels zu verbinden. Interes-
santerweise trennten sich die Wege der beiden Freunde zu Beginn
der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als Gentile sich für die
Unterstützung Mussolinis entschied und dann zum Vordenker des
Faschismus aufstieg.12 Mit dieser Zeitschrift, so erläuterte Croce in
einem Brief an den deutschen Romanisten Karl Vossler, verfolge er
zwei Ziele: ı1) Articoli retrospettivi su ciò che si è fatto in Italia nel
campo letterario, storico, critico filosofico, etc. negli ultimi
quarant`anni, per preparare una storia filosofica e letteraria della
nuova Italia; 2) articoli critici su libri della letteratura del giorno,
italiana e straniera, ma solo sui libri significativi dÊindirizzi buoni o
cattivi. Come la rivista sarà scritta, almeno nei primi tempi, in
massima parte da me, per darle un indirizzo determinato, io mi
occuperò dei libri che mi interessano. Ci sono tante riviste estensive,
che informano su tutti i libri del giorno, che credo sia bene tentarne
una intensiva, che si occupi di pochi libri, ma in fondo.„13
Croce beanspruchte mit der Gründung dieser Zeitschrift, in das
politische und literarische Leben Italiens einzugreifen, ihm ıeine be-
stimmte Richtung„ zu geben. Entscheidend hierfür war die Bekannt-
schaft zu dem jungen Verleger aus Bari, Giovanni Laterza, der seine
Vorstellungen teilte. Hier schuf sich Croce nun das Forum, in wel-
chem er seine Ideen verbreiten und politische Stellungnahmen pu-
blizieren konnte. Diese Zeitschrift, so hat es auch Eugenio Garin ge-
sehen, war wichtiger für die politische Wirkung Croces als sein di-
rektes politisches Engagement in der Neapolitaner Lokalpolitik oder

12 Vgl. Genaro Sasso: Giovanni Gentile, in: Dizionario Biografico degli Italiani, vol. 53,
Roma 1999, S. 196-212. Von Gentile stammt auch der von Mussolini gezeichnete
programmatische Artikel „Fascismo“ in der Enciclopedia Italiana: Benito Mussolini:
Fascismo, in: Enciclopedia Italiana di Scienze, Lettere ed Arti, vol. XIV, pubblicato nel
1932, Roma 1951, S. 847-884 (Neudruck der Ausg. von 1932).
13 Benedetto Croce an Karl Vossler, 28.7.1902. Carteggio Croce Vossler 1899-1949 a cura
di Emanuele Cutinelli Rèndina, Neapel ohne Jahr, Nr. XXI, S. 34 (Hervorheb. i. Orig.).
410 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

später im Römischen Senat.14 Mit La Critica kämpfte Croce, zu Be-


ginn noch gemeinsam mit Giovanni Gentile, später alleine, für ein
humanistisches, einiges Italien. Insgesamt stellte sich Croce damit
endgültig in die konservativ-liberale Tradition des italienischen Ri-
sorgimento, die die nationale Eigenständigkeit des jungen Staates in
kultureller und politischer Hinsicht betonte, zugleich aber auch
seine Einbindung nach Europa anstrebte. In den folgenden Jahren
entstanden auch die zentralen Werke Croces über Philosophie und
Literaturkritik sowie eine Einführung in die Ästhetik, die auch weite
Verbreitung an höheren Schulen fand.15
Als die Debatte um die Frage des italienischen Kriegseintritts
1914 die Intellektuellen des Landes spaltete, war Croce auf der Seite
der Neutralisten, unterstützte die italienischen Kriegsziele nach dem
Eintritt auf Seiten der Entente aber trotzdem, auch wenn dies zu
vorübergehenden Irritationen mit seinem deutschen Freund Karl
Vossler führte. Die überwiegende Mehrheit der italienischen Intel-
lektuellen plädierte für den Eintritt des Landes in den Krieg, ihre
Motive unterschieden sich jedoch erheblich.16 Die nationalistisch
orientierte Gruppe um Francesco Coppola und Alfredo Rocco sah
im Krieg die Möglichkeit, die schon lange schwelenden Irredente,
insbesondere gegen Österreich zu lösen. Hierzu gehörte Triest, aber
auch die dalmatinische Küste.17 Insgesamt erschien der Krieg dieser
Gruppe als gewöhnliche Fortsetzung des Kampfes der Nationen um
Macht und Einfluss. Ganz anders hingegen sahen die einflussrei-
chen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti und Giovanni
Papini um die Zeitschrift Lacerba das Kriegsereignis. Für sie ver-

14 Vgl. Eugenio Garin: Intellettuali del XX Secolo, Roma 1974, S. 3f.


15 Benedetto Croce: Estetica come Scienza dell’Espressione e Linguistica Generale, Bari
1902.
16 Hierfür und für das folgende: Vgl. David Roberts: Croce and beyond. Italian Intellec-
tuals and the First World War, in: The International History Review III (April 1981),
S. 201-235.
17 Vgl. Francesco Coppola: La Crisi Italiana MCMXIV-MCMXXV, Roma 1916.
411

sprach der Weltkrieg die europäische Katharsis zu werden, ein rei-


nigendes Feuer, welches die passatistische Welt des 19. Jahrhunderts
wegfegen würde. Eine dritte große Gruppe schließlich nahm die
weitverbreiteten antideutschen und anti-militaristischen Strömungen
auf. Hier versammelte sich um die Zeitschrift Nuova Antologia ein
breites Spektrum von revolutionären Syndikalisten bis hin zu mode-
raten Demokraten. Sie interpretierten den Krieg als Auseinanderset-
zung der romanisch geprägten Welt mit dem preußisch-deutschen
Militarismus. Ideologisch unterstützt wurde diese Denkrichtung bei-
spielsweise von dem Historiker Gugliemo Ferrero, der in seinen
Werken den scharfen Kontrast zwischen der lateinischen und der
deutschen Kultur zu beweisen versuchte. Insbesondere Croce und
seine Bewunderung für die deutsche idealistische Philosophie sah
Ferrero als seinen intellektuellen Widerpart in Italien. Der Krieg
wurde aus dieser Perspektive nicht nur zwischen den Staaten ausge-
tragen, sondern auch zwischen den Kulturen.
Croce stand quer zu allen diesen Interpretationen. Grundsätzlich
war er gegen eine italienische Intervention in den Krieg gewesen,
gleich auf welcher Seite. Nach der italienischen Kriegserklärung an
Österreich-Ungarn unterstützte er sein Land, allerdings eher indi-
rekt, indem er keine offene Kritik mehr äußerte. Grundsätzlich
blieb er gegen den Krieg eingestellt, er sah den militärischen Kon-
flikt und die durch diesen ausgelösten irrationalen politischen Reak-
tionen als Elemente der Zerstörung für die Kultur. Seine Zeitschrift
La Critica publizierte auch in den Jahren 1914 und 1915 keine Arti-
kel mit unmittelbar politischem Inhalt, sondern widmete sich der
Kultur- und Kunstkritik. Die Politik, so sah es Croce, sollte die Kul-
tur nicht vergiften, er wollte mit seiner Zeitschrift die Kultur vor
dem schädlichen Einfluss der Politik schützen. Kunst und Wissen-
schaft, so schrieb er, waren zwei Formen, in denen der menschliche
412 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

Geist sich fortentwickle, sie stünden daher über den politischen


Auseinandersetzungen des Alltags.18
Nach dem Krieg wurde Croce für kurze Zeit Erziehungsminister
in der letzten Regierung von Giovanni Giolitti, legte aber nach der
Ernennung Benito Mussolinis zum Ministerpräsidenten alle politi-
schen Ämter nieder. Dieser Schritt entsprang zu diesem Zeitpunkt
weniger einer grundsätzlichen Opposition gegen den Faschismus als
vielmehr einer skeptisch-toleranten Einstellung gegenüber der neu-
en Regierung. Erst nach der Matteotti-Krise im Juni 1924 vollzog er
die Wende zur Opposition gegen das sich jetzt stabilisierende fa-
schistische Regime. Croce wurde in den dreißiger und vierziger
Jahren zum wichtigsten intellektuellen Gegner des faschistischen
Regimes, in dieser Zeit entstanden auch seine beiden wichtigsten
historischen Werke, die Storia dÊItalia und die Storia dÊEuropa nell
secolo decimonono (1932). Letztere widmete er dem deutschen
Schriftsteller Thomas Mann, mit dem er ebenso Kontakt hatte wie
mit zahlreichen anderen antifaschistischen Intellektuellen in ganz
Europa. Sein unermüdlicher publizistischer Kampf gegen das Re-
gime Mussolinis machte Croce im Nachkriegsitalien zu einer hohen
moralischen Autorität, er wurde im Range eines Ministers in das
erste demokratische Nachkriegskabinett von Ivanoe Bonomi beru-
fen und war auch Abgeordneter in der verfassungsgebenden Ver-
sammlung. Zugleich war er für kurze Zeit noch Vorsitzender der
liberalen Partei in Italien. Benedetto Croce starb am 20. November
1952 in Neapel im Alter von 86 Jahren.
Insgesamt war Croce der führende Vertreter jener Generation
italienischer Intellektueller, die in der rechtshegelianischen Tradi-
tion des italienischen Risorgimento nach dem Höhepunkt dieser
Bewegung in der Vollendung der italienischen Nationalstaatsgrün-
dung 1871 sozialisiert wurde, zugleich aber auch den Niedergang

18 Casale, a.a.O., S. 74.


413

und die Krise des liberalen Systems nach dem Ersten Weltkrieg er-
leben musste. So wie Camillo di Cavour war er überzeugt davon,
dass Italien aufgrund seiner politischen und kulturellen Größe einen
Platz unter den großen europäischen Kulturnationen erkämpfen
und behaupten müsse. Im Gegensatz zur auf Giuseppe Mazzini zu-
rückgehenden linksrepublikanischen Tradition des Risorgimento
und der liberal-katholischen Denkweise Vicenzo Giobertis lehnte er
aber einen Führungsanspruch Italiens in Europa ab.

Der Bruch mit dem Faschismus:


Il Manifesto degli Intellettuali antifascisti
Dies wird nicht zuletzt deutlich in der Auseinandersetzung Croces
mit dem italienischen Faschismus. Croce war, wie bereits erwähnt,
nicht von Beginn an in der Opposition gegen Mussolini. Im Gegen-
teil, er begrüßte seine Ernennung zum Ministerpräsidenten, auch
wenn er von der militärisch-martialischen Selbstdarstellung abgesto-
ßen wurde. Entscheidend aber war für ihn, dass die chaotische in-
nenpolitische Lage Italiens nach dem Ersten Weltkrieg mit Hilfe ei-
ner autoritären Regierung überwunden werden könnte. Der Fa-
schismus, so erläuterte Croce in einem Interview mit der Zeitung
Giornale dÊItalia,19 könne keine neue Staatsform schaffen. Der Fa-
schismus wurde von Croce als eine Brücke gesehen zwischen dem
aus dem Risorgimento hervorgegangenen liberalen Nationalstaat
und einer wie auch immer gearteten Fortsetzung. Mussolini kam aus
dieser Sicht nur die Aufgabe einer vorübergehenden Stabilisierung
des Staates zu, danach würden sich die liberalen Kräfte des Risor-
gimento wieder durchsetzen. In dieser Überzeugung votierte Croce
im Senat auch für die Acerbo-Wahlgesetze vom 14. November
1923, die dadurch, dass sie der Partei, welche auf nationaler Ebene

19 Vgl. Benedetto Croce: Liberalismo e fascismo, in: Pagine Sparse, vol. 2, Bari 1960,
S. 475-478.
414 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

eine relative Mehrheit von 25% der Stimmen erreichte, zwei Drittel
der Parlamentssitze sicherten, das faschistische Regime entschei-
dend stabilisierten. Die Toleranz Croces gegenüber dem Faschis-
mus war also begründet in der Auffassung, dass dieser nicht die
Substanz habe, die Tradition des liberalen Italien zu brechen und
abzulösen. Hier hinter stand die Auffassung, dass die italienische
Geschichte unaufhaltbar vorangetrieben wurde vom Geist des libe-
ralen Risorgimento, der gegen alle Anfechtungen erhaben über den
Zufälligkeiten der einzelnen Ereignisse steht, dass selbst ein autoritä-
res Regime allenfalls für kurze Zeit die italienische Geschichte be-
stimmen konnte.
Der Mord an dem sozialistischen Abgeordneten Giacomo
Matteotti durch faschistische Schlägertrupps am 10. Juni 1924, für
den Mussolini ein halbes Jahr später öffentlich die Verantwortung
übernahm, indem er in pathetischer Rede ankündigte, dass von nun
an alle Gegner des Faschismus unbarmherzig bekämpft werden
würden, leitete bei Benedetto Croce einen scharfen Kurswechsel
gegenüber dem faschistischen Regime ein. Vor allem durch die nun
von Mussolini vollzogene Hinwendung zur offenen Diktatur, die
Ausschaltung der politischen Opposition, die Zensur der Presse und
der Ausbau von Miliz und Polizei zu Instrumenten staatlichen Ter-
rors machten Croce zu einem unerbittlichen Gegner des Faschis-
mus. Diese Wende wurde erstmals deutlich in dem von ihm selbst
verfassten, schließlich von 169 Intellektuellen unterschriebenen anti-
faschistischen Manifest, das am 1. März 1925 in der von Giovanni
Amendola herausgegebenen Zeitschrift Il Mondo und im gleichen
Jahr auch in La Critica erschien.20 Es war die Reaktion auf das zuvor
von faschistischen Intellektuellen unter der Leitung von Giovanni
Gentile verfassten Manifestes an die Intellektuellen der Welt. Das
von Croce nun entworfene Gegenmanifest markierte den Bruch

20 Il Manifesto degli intellettuali antifascisti, in: La Critica XXIII (1925), S. 310-312.


415

zwischen den ehemaligen Verbündeten. Die italienischen Intellek-


tuellen, so begann Croce, hätten die moralische Verpflichtung mit
den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Kunst und der Li-
teratur als Vertreter einer höheren geistigen Sphäre gegen die aktu-
ellen Zustände in Italien zu kämpfen. ı[...] contaminare politica e
letteratura, politica e scienza, è un errore, che, quando poi si faccia,
come in questo caso, per patrocinare deplorevoli violenze e
prepotenze e la soppressione della libertà di stampa, non può dirsi
neppure un errore generoso.„21 Erneut wird hier wie schon im Er-
sten Weltkrieg das Bestreben Croces deutlich, die Kultur von politi-
schen Einflüssen frei zu halten. Indem das faschistische Regime die
Pressefreiheit einschränkte, griff es massiv in die Meinungsfreiheit
des Landes und damit in die Kultur ein. Damit habe der Faschis-
mus, obwohl er das Gegenteil behaupte, die italienische Tradition
politischen Denkens verlassen, die durch das Risorgimento vorge-
geben sei. Hier wird zum ersten Mal bei Croce der für seine späte-
ren Interpretationen des Faschismus bedeutsame Gedanke angedeu-
tet, dass der Faschismus nicht Bestandteil der italienischen Ge-
schichte sei, die von der Tradition des Risorgimento vorgegeben
worden war. Die wahren Intellektuellen, so meinte Croce, waren
die geistigen Träger dieser Tradition, Vertreter einer Geistesströ-
mung, die Croce in seinem Manifest zum ersten Mal als ıReligion„
bezeichnete. Croce polemisierte nun scharf gegen diesen Gebrauch
des Begriffes der Religion im Manifest der faschistischen Intellek-
tuellen, der Glaube könne, so argumentierte er, nicht auf Hass und
Tod basieren. Was hier in gewiss pathetischer Weise beschworen
wurde, war das Bild einer über den Einzelereignissen stehenden,
allem Geschehen zu Grunde liegenden geistigen Kraft, die für
Croce tatsächlich die Geschichte ausmachte. Der Faschismus war
nach den Ereignissen der Jahre 1924/25 nicht mehr mit den Grund-

21 Ebd., S. 310.
416 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

prinzipien dieser geistigen Kraft des Risorgimento vereinbar, deren


Charakteristika der Glaube an die Wahrheit und Gerechtigkeit, an
Menschlichkeit und staatsbürgerliches Empfinden sowie die Freiheit
als Sinn und Ziel menschlicher Existenz war. Der Faschismus, so
schrieb Croce weiter, habe die Tradition des Risorgimento zerstört
und korrumpiert, außerhalb dieser Tradition aber könne es keine
italienische Geschichte geben. Aus diesem Grunde erklärte er sich
nun zum Gegner des faschistischen Regimes, welches er vorüberge-
hend als notwendiges Instrument gegen den drohenden Anarchis-
mus toleriert hatte.
Das antifaschistische Manifest machte Croce schnell zu einem
der prominentesten Vertreter des intellektuellen Widerstandes in
Italien. Mussolini selbst erklärte trotzig in aller Öffentlichkeit, dass er
die Schriften Croces nicht gelesen habe und dies auch nicht tun
werde, hob den Neapolitaner Philosophen aber gerade hierdurch in
besonderer Weise hervor.22 Faschistische Schlägertrupps zerstörten
Croces Wohnung und bedrohten ihn. Seine Einführung in die
Ästhetik, die zu den Standardwerken des Philosophieunterrichtes an
höheren Schulen gezählt hatte, wurde verboten. Er dachte gleich-
wohl nicht an Emigration, weil er auch diese als Verrat an den Idea-
len des Risorgimento empfunden hätte. Mit dem Manifest der anti-
faschistischen Intellektuellen war das für die folgenden Jahre gültige
Grundmuster von Croces Faschismus-Deutung gegeben, welches nun
weiter differenziert und ausgebaut wurde. Die anarchischen Zu-
stände in Italien unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, so sah es
Croce nun, ließen den Faschismus als eine vorübergehende wohltä-
tige Krise erscheinen. Nun aber habe diese Krise zu einer Krankheit
geführt, die es zu überwinden gelte.

22 Benedetto Croce: Una risposta all’on presidente del consiglio, in: La Critica XXIII
(1925), S. 313.
417

Croces Geschichtswerke als Instrumente des


Widerstandes gegen den Faschismus
Entscheidende Bedeutung für Croces Auseinandersetzung mit dem
Faschismus erlangte nun seine Geschichtsschreibung. In den Jahren
zwischen 1925 und 1941 entstanden nicht weniger als sechs größere
historische Werke: Eine Geschichte des Königreichs Neapel (1925),23
eine Geschichte Italiens von 1871-1915 (1928),24 eine Geschichte
Italiens im Zeitalter des Barock (1929),25 die Geschichte Europas im
19. Jahrhundert (1932)26 sowie zwei geschichtstheoretische Bücher
über Die Geschichte als Gedanke und Tat (1938)27 und Il carattere
della filosofia moderna (1941).28 Vor allem die Geschichte Europas
im 19. Jahrhundert erlangte große Beachtung, sie wurde in alle
bedeutenden Sprachen der Welt übersetzt und hatte erhebliche
Bedeutung für die historiographische Debatte in Italien. Obwohl
das Werk vom 19. Jahrhundert handelt und mit dem Beginn des
Ersten Weltkriegs endet, ist es zugleich auch ein Buch über den ita-
lienischen Faschismus und in gewisser Weise das geschichtstheoreti-
sche Hauptwerk Croces. Hierin entwickelt er zum ersten Mal syste-
matisch jene Geschichtstheorie, die sich im Manifest der antifaschi-
stischen Intellektuellen bereits angedeutet hatte.
Dem Werk ist ein kurzes Kapitel vorangestellt, welches Croce
mit ıDie Religion der Freiheit„ überschrieb, in welchem er den Ge-
danken entwickelt, dass die Geschichte nichts anderes sei als die
Geschichte der Freiheit. Die Geschichte Europas sei die Geschichte
des Freiheitsgedankens, der sich seit der Antike bis ins 19. Jahrhun-

23 Benedetto Croce: Storia del regno di Napoli, 5. Aufl., Bari 1958.


24 Benedetto Croce: Storia d’Italia dal 1871 al 1915, 12. Aufl., Bari 1959. Vgl. hierzu
Gennaro Sasso: La Storia d’Italia quarant’anni doppo, Napoli 1979.
25 Benedetto Croce: Storia dell’età barocca in Italia. Pensiero – poesia e letteratura –
vita morale, 4. Aufl., Bari 1957.
26 Benedetto Croce: Storia d’Europa nel secolo decimonono, 4. Aufl., Bari 1981.
27 Benedetto Croce: La storia come pensiero e come azione, 6. Aufl., Bari 1954.
28 Benedetto Croce: Il carattere della filosofia moderna, 2. Aufl., Bari 1945.
418 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

dert in unterschiedlicher Weise geäußert habe.29 Croce fasst hier die


Geschichte Europas im 19. Jahrhundert in ein idealistisches Ge-
samtkonzept ein. Geschichte wird so zur Meistererzählung davon,
wie der Geist der Freiheit sich im Bewusstsein der Menschen durch-
setzt, wie er sich gegen immer wiederkehrende Widerstände be-
hauptet, um schließlich doch zur Realität zu werden. Der sich selbst
bewusst werdende Geist der Freiheit wurde damit zur Substanz und
zum Ziel von Geschichte überhaupt. Doch er schilderte auch die
der Freiheit feindlichen, die, wie er es nannte, ıgegnerischen Reli-
gionen„. Dies war zum einen der Katholizismus, der für Croce das
ıUrbild und Vorbild aller übrigen Gegner des freiheitlichen Ge-
dankens„30 war. Entgegen dem Liberalismus, der den Sinn des Le-
bens in diesem selbst sehe, verlagere der Katholizismus den Sinn
des Lebens ins Jenseits und erkläre die diesseitige Existenz zur blo-
ßen Vorbereitung auf das Eigentliche. Jenseits dieser religiös-philo-
sophischen Begründung spielte für Croce aber zweifellos auch der
Konflikt zwischen dem italienischen Nationalstaat und dem Kir-
chenstaat, dessen Legitimation er nicht anerkannte, eine wesentliche
Rolle. In diesem Konflikt hatte sich der Nationalstaat 1871 durchge-
setzt, was Croce folgendermaßen kommentiert: ıDie Geschichte, die
nichts anderes ist als die Geschichte der Freiheit, hat sich stärker
erwiesen als die kirchliche Lehre und ihr Programm, hat sie ge-
schlagen und in Widersprüche mit den Tatsachen und mit sich
selbst getrieben.„31
Die zweite der Freiheit entgegengesetzte Religion, so Croce, sei
der Absolutismus. In seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts wurde
der Spätabsolutismus von Metternich repräsentiert, der ein außen-
und innenpolitisch wirksames System zur Abwehr liberaler Gedan-

29 Vgl. Croce: Storia d’Europa, a.a.O., S. 9.


30 „la più diretta e logica negazione dell’idea liberale“, ebd., S. 22.
31 „La storia, che è storia della libertà, si comprova più forte di quella sua dottrina o di
quel programma, e lo sconfigge e lo sforza a contradirsi nel campe dei fatti.“ Ebd., S. 23.
419

ken errichtete, das in Italien durch das Risorgimento überwunden


worden sei. Der dritte Gegner der Religion des Liberalismus sei der
Kommunismus, und zwar, wie Croce argumentierte, wegen der Un-
verträglichkeit von Spiritualismus und Materialismus. Der Grund-
gedanke des Kommunismus sei die Auffassung von der Wirtschaft
als Fundament aller anderen Lebensformen, die nichts als Derivate
dieses Grundprinzips seien. ıIm lebendigen System des Geistes er-
hebt sich die wirtschaftliche Tätigkeit aus den anderen Tätigkeits-
formen und mündet in sie zurück und ist in diesem Zusammenhang
zweifellos auch eine geistige Tätigkeit – reißt man sie aber heraus,
isoliert man sie und macht sie zur Grundlage von allem, so erstarrt
sie zur Materie, und auf diesem trockenen Steinboden kann keine
Moral, keine Religion, keine Poesie, keine Philosophie, ja nicht
einmal die Wirtschaft mehr wachsen und blühen, denn auch sie
braucht warmes Leben, behenden Verstand und Leidenschaft.„32
Die letzte gegnerische Religion in Konkurrenz zur Freiheit ist für
Croce die Demokratie. Auch wenn der Liberalismus oftmals Bereit-
schaft zur Kooperation mit diesem Konzept gezeigt habe, seien
beide wesensverschieden: ıDas politische Ideal der Demokraten
fußte auf einer Vergötterung der Quantität, Mechanik, rechnenden
Vernunft oder der Natur, auf dem Glauben des 18. Jahrhunderts,
das liberale Ideal auf einer Religion der Qualität, Tätigkeit und Gei-
stigkeit, das heißt auf dem Glauben des beginnenden 19. Jahrhun-
derts. [...] In der aktiven Politik hatte sich der Liberalismus völlig
losgesagt von den Demokraten, denn diese betrieben in ihrer ex-
tremsten Richtung als Jakobiner wütend und blind ihr abstraktes
Programm, zerschnitten das lebendige Gewebe des sozialen Orga-
nismus und verwechselten obendrein das Volk mit einem Teil, ja
mit dem Gebaren des Volkes, und zwar dem unkultiviertesten, mit

32 Ebd., S. 37 (Übersetzung von G.T.).


420 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

der lärmenden, ungeordneten gärenden Masse.„33 Auch diese geg-


nerischen Religionen, wie Croce sie nannte, hatten aber ihren
Zweck im Gesamtentwurf: Sie zwangen den Liberalismus in einem
dialektischen Prozess, sich immer neu zu definieren, neu zu formie-
ren und auf diese Weise sein geschichtsmächtiges Werk fortzusetzen.
Diese offenkundig von Hegels Geschichtsphilosophie inspirierte
Konzeption der Geschichte war natürlich nicht grundsätzlich neu.
Geschichtsphilosophie verstanden als universale Sinndeutung des
Geschehens gibt es seit den frühen christlichen Denkern.34 Alle
diese Konzeptionen basieren auf drei Kernaussagen. Erstens: Die
Weltgeschichte verläuft zielgerichtet. Sie ist kein ewiger Kreislauf,
wie die vorplatonische Antike dachte, sondern Geschichte hat einen
Anfang und ein Ende. Die Realisierung des Ziels ist damit auch der
Sinn der Weltgeschichte. Zweitens: Es gibt einen Motor der Ge-
schichte, also etwas, das den Prozess notwendigerweise seinem Ziel
entgegentreibt. Bei Croce ist dies der menschliche Drang nach Frei-
heit und Unabhängigkeit, das Bestreben nach Selbstbestimmung, sei
es das der Nationen oder der Individuen. Aus diesem Grunde
konnte Croce in der Einleitung seiner Geschichte Europas im 19.
Jahrhundert auch das Streben nach Freiheit als sittliches Handeln
bezeichnen. Sittliches, d.h. moralisches Handeln wird dadurch mo-
ralisch, dass es geschichtlich notwendig ist; sittliches Handeln ist der
Motor der Geschichte schlechthin. Und auch die Gegner der Frei-
heit, die sich dem Prozess entgegenstellen, erhalten hier ihren Sinn:
Sie spornen die nach Freiheit kämpfenden Menschen immer wieder
an und verhelfen damit dem Prinzip zum Durchbruch. Es ist das
Konzept der Dialektik, welches Croce von Hegel übernimmt. Drit-
tens: Es gibt ein – zumindest ideelles – Ziel der Geschichte, einen
Zustand, den der sich selbst bewusst werdende Geist der Freiheit

33 Ebd., S. 32 (Übersetzung von G.T.).


34 Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 2004 (1. Aufl. 1953).
421

anstrebt. Dieser jedoch bleibt bei Croce unbestimmt. Er beschreibt


das Ziel der Geschichte als ıneues Menschheitsbewusstsein„, als
ıeine erweiterte und erhellte Ansicht des Lebens.„
Dieser universalhistorisch-metaphysische Entwurf der Geschichte
der Freiheit hat wesentliche Konsequenzen für den Begriff der Ge-
schichte selbst: Geschichte sind nur diejenigen Ereignisse in der un-
endlichen Fülle vergangenen Geschehens, die zur Realisierung des
Prinzips der Freiheit beitragen. Alles übrige Geschehen ist sinnlos,
überflüssig und zufällig, weil für die Freiheit und ihre Durchsetzung
irrelevant. Dieser sehr reduktionistische Geschichtsbegriff steht in
scharfem Kontrast zu jenem der deutschen (vor allem von Leopold
von Ranke repräsentierten) historistischen Tradition, demgemäß je-
de Epoche und jedes Ereignis seinen eigenen historischen Wert und
seine individuelle Bedeutung haben. Croces Entwurf ist in diesem
Punkt vielmehr der ımonumentalischen Geschichte„ Friedrich
Nietzsches verwandt, der die Bedeutung historischer Ereignisse aus-
schließlich in ihrer Wirkung auf die Gegenwart sah.35
Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der für die Geschichts-
schreibung von Bedeutung ist: Menschen, Ereignisse und die von
diesen hinterlassenen Quellen werden nur hinsichtlich der Funktion
betrachtet, die sie für den unterstellten Gesamtprozess haben. Das
wird deutlich an dem berühmten Zitat Hegels, der Napoleon in
Jena einreiten sah, und diesen nicht als französischen Kaiser oder
Eroberer Preußens betrachtete, sondern als den ıWeltgeist zu
Pferde„. Napoleon hatte im Hegelschen Konzept eine genau be-
schriebene Funktion, nämlich den Weltgeist im Prozess seiner
Selbstbewusstwerdung voranzubringen. Bei Croce ist der Ge-
schichtsbegriff ähnlich konstruiert: Personen und Ereignisse werden

35 Vgl. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.
Zweite unzeitgemäße Betrachtung, in: Giorgio Coli, Mazzino Montinari (Hg.): Fried-
rich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, 2. Aufl., München 1988, S. 259ff.
422 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

nur dann als geschichtlich anerkannt, wenn sie eine Funktion für
den dem Einzelnen übergeordneten Gesamtprozess haben, also das
Prinzip der Freiheit. Die von Croce vorgenommene Sinnkonstruk-
tion bestimmt damit den Begriff der Geschichte.
Schließlich sei noch auf eine letzte Konsequenz dieser Konstruk-
tion von Geschichte hingewiesen, die Croce als Storia Contempora-
nea, also als Zeitgeschichte bezeichnet. Dieser Begriff der Zeitge-
schichte hat nichts zu tun mit dem von Hans Rothfels im deutschen
Sprachraum geprägten Begriff. Croce definierte Storia Contem-
poranea folgendermaßen: ıDas praktische Bedürfnis, auf das sich
jedes geschichtliche Urteil gründet, verleiht der Geschichte die Ei-
genschaft Storia Contemporanea zu sein, weil sie in Wirklichkeit –
wie fern auch chronologisch die Tatsachen in der tiefsten Vergan-
genheit ruhen mögen – immer auf ein gegenwärtiges Bedürfnis, eine
gegenwärtige Lage bezogen ist, in der die Tatsachen mitschwin-
gen.„36 Geschichte diente also Croce immer auch als Legitimation
für sein Handeln in der Gegenwart, und daher konnte er sie als
Storia Contemporanea bezeichnen. Geschichte wurde damit ein In-
strument zur Rechtfertigung der eigenen Gegenwart.
Insgesamt entwickelte Benedetto Croce in den Jahren zwischen
1925 und 1943 eine Geschichtsphilosophie, die die Vergangenheit
als Geschichte der Durchsetzung des Prinzips der Freiheit deutet.
Damit lieferte er implizit, aber sehr bewusst, eine Deutung des Fa-
schismus in Italien, war dieser doch gerade nicht mit den Prinzipien
der Freiheit, so wie sie Croce definierte, vereinbar. Im Gegenteil,
sein Konzept war vielmehr der Gegenentwurf zum Faschismus, ja
mehr noch, er entzog dem Faschismus alle Legitimation, indem er
ihn aus seinem Begriff von Geschichte ausklammerte. Wenn man

36 Benedetto Croce: Die Geschichte als Gedanke und Tat, Bern 1938, zit. nach: Lutz
Klinkhammer: Novecento statt Storia contemporanea?, in: Alexander Nützenadel,
Wolfgang Schieder (Hg.): Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Per-
spektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, S. 107-127, hier S. 110.
423

mit Croce die Geschichte als den Weg der Durchsetzung des Prin-
zips der Freiheit in der Welt versteht, dann bedeutet das für die ita-
lienische Geschichte, dass diese seit der Französischen Revolution
geprägt wurde vom Risorgimento und dem liberalen Nationalstaat.
Der Faschismus fiel aus diesem Begriff heraus, er war, wie Croce
selbst formulierte, nicht mehr als eine Parenthese in der italieni-
schen Geschichte, ein für die Entwicklung der Freiheit irrelevantes
Zwischenspiel.37 Der Faschismus war aus dieser Sicht nicht Bestand-
teil der italienischen Geschichte. Die Geschichtsschreibung Croces
war also zu einem wesentlichen Teil ein Produkt seiner Auseinan-
dersetzung mit dem Faschismus, den er, der Geschichte verpflichtet,
bekämpfen musste. Folgerichtig endete seine Geschichte Europas
im 19. Jahrhundert auch mit einem Aufruf an seine Leser: ı,Arbeitet
nach der Linie, die euch hier vorgezeichnet ist, arbeitet daran unter
Einsatz eurer ganzen Persönlichkeit und auch in der kleinsten eurer
Handlungen, lasst keinen Tag und keine Stunde vergehen! Und
vertraut auf eine göttliche Fügung, die mehr davon versteht als wir
Menschen, die mit uns, in uns und über uns waltet. Das sind
Worte, wie wir sie in unserer Jugend gehört und in unserem
christlichen Leben ausgesprochen haben; mit vielen ähnlichen
Aussprüchen gehören sie der ,Religion der Freiheit an.„38 Das war
unter den Bedingungen in Italien des Jahres 1931 ein Aufruf zum
Widerstand, der legitimiert wurde durch die Geschichte selbst, so
wie Benedetto Croce sie entworfen hatte. Und damit wird noch
einmal deutlich, was Croce als Storia Conemporanea bezeichnete:
Sie war zeitgenössische Geschichte insofern, als sie dem gegenwärtig
Handelnden als Rechtfertigung diente; die Gegenwart erhielt ihre
Legitimation durch die Geschichte. Der Faschismus aber hatte in

37 Giuseppe Galasso: Croce, la crisi europea e il fascismo, in: Nuova Storia Contempo-
ranea VIII (2004), Nr. 5, S. 5-20.
38 Croce: Storia d’Europa, a.a.O., S. 316 (Übersetzung von G.T.).
424 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

der Geschichte der Freiheit keinen Platz, und deswegen hatte er


keine Legitimität.

Croces Bedeutung in der italienischen


Auseinandersetzung mit dem Faschismus nach 1945
Unter diesen Umständen war es kaum verwunderlich, dass Croce
nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes 1943 und in
der Gründungsphase der italienischen Republik nach 1945 zu ei-
nem der wichtigsten intellektuellen Bezugspunkte der öffentlichen
Diskussion wurde. Sein unnachgiebiger Widerstand gegen das Re-
gime Mussolinis verlieh ihm nun eine moralische Autorität, er
wurde zu einem der wichtigsten Repräsentanten des nichtfaschisti-
schen Italien und der liberalen Tradition des Landes. 1946 trug man
ihm das Amt des Staatspräsidenten an, das er ablehnte, er wurde
Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung und für kurze Zeit
bis November 1947 Vorsitzender der liberalen Partei. Der wichtigste
Grund für diese öffentliche Verehrung war, dass Croce – wohl
mehr unbewusst als absichtlich – den Gründungsmythos der italie-
nischen Republik nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte. In ge-
wisser Analogie zu Frankreich, aber im Gegensatz etwa zur Situa-
tion in Deutschland, entstand in Italien nach dem Zweiten Welt-
krieg der Mythos, dass nun die wahre Geschichte Italiens, die des
Risorgimento und des liberalen Nationalstaates, wieder aufgenom-
men werde, die Jahre des Faschismus, immerhin von 1922 bis 1943,
hingegen ein ungerechtfertigtes Zwischenspiel waren. Die italieni-
sche Politik und die Gesellschaft der Nachkriegszeit definierte sich
vor allem über ihre Bedeutung für den Widerstand gegen Faschis-
mus und Nationalsozialismus, es entstand der Mythos der Resi-
stenza.39 Diese wurde zum secondo risorgimento stilisiert, zur Selbst-

39 Hierzu Lutz Klinkhammer: Der Resistenza-Mythos und Italiens faschistische Ver-


gangenheit, in: Holger Afflerbach, Christoph Cornelissen (Hg.): Sieger und Besiegte.
425

befreiung Italiens vom Regime Mussolinis und der nationalsoziali-


stischen Besatzung. Der berühmte Kirchenhistoriker und Chefredak-
teur der Tageszeitung La Stampa, Luigi Salvatorelli, bezeichnete
den Faschismus als ıAnti-Risorgimento„, um zu verdeutlichen, dass
dieser nicht zur eigentlichen italienischen Geschichte gehörte.40
Diese wurde nun vielmehr durch die Resistenza repräsentiert:
Schon im Herbst 1945 wurde in Turin eine Ausstellung eröffnet, die
unter dem französischen Titel ıLÊunique front dans lÊunique ba-
taille„ später auch in verschiedenen französischen Städten zu sehen
war und die Widerstandsbewegungen beider Länder, Frankreichs
und Italiens, als von gemeinsamen Zielen beherrscht darstellte. Im
lebensbedrohlichen Abwehrkampf, so der Tenor der Präsentation,
hätten sich die beiden Länder von der Herrschaft der deutschen
Wehrmacht befreit.41 1945 drehte Roberto Rosselini den berühmten
Film Roma, Città aperta, in dem gezeigt wird, dass der bewaffnete
Widerstand gemeinsam mit allen Schichten des Volkes, Christ-
demokraten und Kommunisten, die Befreiung des Landes erkämpft
hätte. Insgesamt entstand in jener Zeit eine kanonisierte Deutung
des Widerstandes, die bis in die achtziger Jahre hinein zum
wichtigsten Gründungsmythos der ıErsten Republik„ gehörte: Ita-
lien habe sich selbst vom Faschismus befreit, die Resistenza sei ein
zweites Risorgimento gewesen, das folgerichtig zur Gründung des
neuen Nationalstaates geführt habe. Die Repubblica di Salò und
ihre Protagonisten hingegen wurden weitgehend aus der italie-
nischen Geschichte ausgeklammert und marginalisiert.
Damit soll freilich nicht behauptet werden, dass die Resistenza
insgesamt ein Mythos war, im Gegenteil, zwischen 1943 und 1945

Materielle und ideelle Neuorientierungen nach 1945, Tübingen u.a. 1997, S. 119-140;
Pierluca Azzaro: Italien. Der Kampf der Erinnerungen, in: Monika Flacke (Hg.): My-
then der Nationen: 1945 - Arena der Erinnerungen, Bd.1, Berlin 2004, S. 343-372.
40 Vgl. Luigi Salvatorelli: Pensiero e Azione del Risorgimento, Torino 1943.
41 Azzaro, a.a.O., S. 346.
426 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

war in Italien ein Widerstandspotential vorhanden, das sich nicht


nur in erheblichem militärischen Widerstand vor allem im Norden
des Landes entlud, sondern auch in zahllosen zivilen Protestformen,
einer umfangreichen illegalen Presse, Sabotageakten und vor allem
dem größten Proteststreik gegen die nationalsozialistische Besatzung
in Europa insgesamt (März 1944).42 Es war tatsächlich so, dass einige
der großen oberitalienischen Städte am 25. April 1945 von Partisa-
nen unter dem großen Jubel der Bevölkerung befreit wurden. Es
verfestigte sich allerdings ungerechtfertigterweise der Eindruck, dies
sei aus eigener Kraft geschehen. Viel bedeutender als die Kampf-
kraft der Partisanen allerdings waren die von Süden vorrückenden
alliierten Truppen, die die Wehrmacht zum Rückzug zwangen.
ıGerade diese militärischen Ereignisse wurden in der Nachkriegszeit
in vielfacher Form erinnert und in ihrer Bedeutung übersteigert.
Dass sich die Partisanenbewegung im Laufe der Besatzungszeit erst
langsam aus kleinen Anfängen heraus entwickelte, dass es sich bei
vielen Partisanen anfänglich um Wehr- oder Arbeitsdienstverweige-
rer handelte, dass sich ein Großteil der Einberufenen versteckte und
auf das baldige Kriegsende hoffte, all dies wurde hinter den Zahlen
der Aufständischen vom April 1945 allzuleicht vergessen.„43 Was
blieb, war der Eindruck, dass sich Italien selbst vom Faschismus be-
freit habe, ja mehr noch, dass das eigentliche Italien mit dem Fa-
schismus gar nichts zu tun hatte, sondern in der Resistenza über-
lebte, an die es nun, nach dem Krieg, anzuknüpfen gelte. Selbst die
Neofaschisten des MSI bemächtigten sich dieses MythosÊ und trie-
ben ihn gewissermaßen auf die Spitze, indem sie behaupteten, dass
auch Mussolini, der von 1943 bis 1945 Staatsoberhaupt der Re-
pubblica Sociale Italiana (einer Marionettenregierung von Hitlers

42 Vgl. Klinkhammer: Der Resistenza-Mythos, a.a.O., S. 123f.; ders.: Zwischen Bündnis


und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò
1943-1945, Tübingen 1993.
43 Klinkhammer: Der Resistenza-Mythos, a.a.O., S. 126.
427

Gnaden) war, diese geführt habe, um die schlimmsten Konsequen-


zen der deutschen Besatzung ab 1943 zu mildern. Mussolini selbst
wurde damit in einen Widerstandskämpfer verwandelt, die Einheit
der Nation durch den vermeintlichen Widerstand gegen den Natio-
nalsozialismus wieder hergestellt und die Jahre des Faschismus aus-
geklammert. Die politische Kultur Italiens der Nachkriegszeit wurde
bis in die achtziger Jahre hinein von dieser kanonisierten Deutung
des Widerstandes geprägt. Die Besatzungs- und Kollaborationsjahre
wurden primär unter dem Oberbegriff der Guerra di liberazione
nazionale gesehen. Mit dem schon zeitgenössischen Begriff des Be-
freiungskrieges gegen Nationalsozialismus und Faschismus verband
sich nach Kriegsende eine Deutung der Resistenza als eines Wider-
standes, der zwar nur von einer Gruppe von Aktivisten in militäri-
scher Form geführt worden sei, aber nahezu die gesamte Bevölke-
rung hinter sich gehabt habe, ein gigantisches Plebiszit gegen den
Faschismus. In diesem Kontext fielen Widerstand und Gesellschaft
zusammen.
Unter diesen Bedingungen war die Deutung des italienischen Fa-
schismus, wie sie Benedetto Croce geliefert hatte, selbstverständlich
hochwillkommen. Italien war immerhin das erste Land in Europa,
in dem eine faschistische Regierung an die Macht gelangt war, und
die Herrschaft Mussolinis hatte sich fast doppelt so lange behauptet
wie die Diktatur Hitlers. Dennoch wurde der Faschismus als Paren-
these in der italienischen Geschichte gesehen, das eigentliche Ita-
lien, die liberale Tradition aus dem Risorgimento hatte im Wider-
stand überlebt und die Nation gerettet.44 Croces Konzept, welches
Geschichte nur als den Prozess des Bewusstwerdens des Geistes der
Freiheit bezeichnete und die Jahre des Faschismus damit aus der

44 Vgl. Benedetto Croce: Il fascismo come pericolo mondiale, Capri, 14 ottobre 1943, in:
ders.: Per la nuova vita dell’Italia. Scritti e discorsi 1943-1944, Seconda Edizione, Bari
1972, S. 7-16.
428 Guido Thiemeyer: Benedetto Croce und die intellektuelle Resistenza in Italien

Geschichte insgesamt eliminierte, konnte nun als Legitimationsbasis


für den neuen Staat gelten. Croce selbst hat zur Popularisierung die-
ses Konzeptes nicht aktiv beigetragen. Zwar empfand auch er die
Absetzung Mussolinis im September 1943 als Selbstbefreiung des
italienischen Volkes.45 Er engagierte sich politisch zunächst im links-
liberal-republikanischen Partito dÊAzione und wurde später der
Vorsitzende des Partito Librale Italiano (PLI ) , der 1943 gegründet
worden war. Aber hier geriet er in Konflikt mit den konservativen,
zum Teil neofaschistischen Tendenzen in dieser Partei und zog sich
im November 1947 ganz aus der Politik zurück.
Es war also gerade die von Benedetto Croce seit 1925 schritt-
weise entwickelte und in der Storia dÊEuropa nell secolo decimo-
nono 1932 ausformulierte Geschichtsphilosophie, die die intellek-
tuelle Basis für die bedeutsamste Interpretation des Faschismus in
der Ersten Republik wurde. Europäische Geschichte, so hatte Croce
postuliert, sei die Bewusstwerdung des Geistes der Freiheit. Die
Freiheit, so zeigte er sich überzeugt, werde sich am Ende der Ge-
schichte durchsetzen als alles durchdringende und bestimmende,
quasi göttliche Kraft. Der italienische Faschismus aber hatte zu die-
ser Entwicklung nichts beigetragen, im Gegenteil, er hatte sie verzö-
gert und sabotiert, mithin gehörte er nicht zur Geschichte im Sinne
Croces. Auch wenn die philosophische Dimension von Croces Kon-
zept gewiss den wenigsten bekannt und zugänglich war, entwickelte
die Konsequenz dieses Denkens eine beachtliche Bedeutung, weil
es den Faschismus aus der italienischen Geschichte eliminierte und
diese auf die Tradition des Risorgimento und seiner vermeintlichen
Fortsetzung in der Resistenza reduzierte. Ohne dies zu beabsich-
tigen, lieferte Croce damit einen wesentlichen intellektuellen Beitrag
zur Legitimation des neuen Nationalstaates, der erst Ende der acht-

45 Ebd.
429

ziger Jahre mit der Aufdeckung der massiven Korruptionsaffairen


und dem Ende des Kalten Krieges an Bedeutung verlor.
431

Jorge Semprún – Das Jahrhundert der Extreme


als Topologie intellektueller Erinnerung
Gerd Steffens
432 Gerd Steffens: Jorge Semprún

Im Sommer 1965 erschien in Paris, damals als Metropole der spani-


schen Opposition gegen das Franco-Regime eine Art Schatten-
hauptstadt Spaniens, das erste Heft einer neuen Zeitschrift. Unter-
zeichnet von José Martínez und Jorge Semprún entwirft die Presen-
tación der Cuadernos de Ruedo ibérico 1 in knappen Strichen ein
Projekt, das sich seine Legitimität und seinen Platz in der spanischen
Emigrations-Szene durch die Präzision seiner Ortsbestimmung erst
sichern muss. Als ein ıintellektuelles Unternehmen„, ein Projekt der
theoretischen, nicht der politischen Praxis soll die Zeitschrift sich
ıan zwei Hauptachsen„ entfalten: die Wirklichkeiten Spaniens und
der Welt empirisch zu erfassen und zur Selbstverständigung eines
sozialistischen Pluralismus beizutragen, der der Notwendigkeit einer
globalen sozialistischen Transformation der Gesellschaft verpflichtet
bleibt. Autonomía y vigor, Autonomie und Genauigkeit, Strenge
des Denkens sind die Leitbegriffe, unter denen die Zeitschrift dog-
matischem Denken und versteinerter Orthodoxie entgegentreten
und gestaltlosem Eklektizismus entgehen will. Eine freie und zu-
gleich rigorose Auseinandersetzung ıinnerhalb der methodologi-
schen Normen des wissenschaftlichen Pluralismus„ verspricht die
Zeitschrift, und sie löst das Versprechen nüchterner Analyse und
theorieorientierter Debatte nicht nur im ersten Heft und den fol-
genden ein (im ersten Heft findet sich etwa eine Studie des jungen
Manuel Castells unter dem Pseudonym Jordi Blanc über die asturi-
schen Bergarbeiter und die Comisiones Obreras oder ein Gespräch
mit Tierno Galván, dem 1965 amtsenthobenem linkskatholischen
Philosophieprofessor der Madrider Universität und weithin respek-
tierten Sprecher der innerspanischen intellektuellen Opposition),
sondern insbesondere auch in einem zweibändigen Supplement von
1966, dessen Beiträge unter dem Titel horizonte español eine so

1 Proyecto filosófico en español: Cuadernos de Ruedo ibérico, Paris junio-julio 1965;


www.filosofía.org.
433

umfassende sozioökonomische, politische und soziokulturelle Ana-


lyse Spaniens bieten, wie sie sonst kaum für ein anderes europäi-
sches Land dieser Zeit vorliegt. Die ıfundamentale These„ der Ana-
lyse sei, so das von Jorge Semprún gezeichnete Vorwort, dass die
Durchsetzung der Demokratie in Spanien weniger vom Bürgertum
als von einer Arbeiterbewegung abhänge, die Demokratie und So-
zialismus als ıgeschwisterliche Perspektiven„ begreife.2
Von heute aus mag diese Aussage als trivial erscheinen, aber
eben nur deswegen, weil sie sich als eine – in einem allgemeinen
Sinn – treffende Formel der spanischen Entwicklung erwiesen hat.
1966 war sie, wie Semprún schrieb, nur ıprogrammatisch„, und sie
bedurfte, ınicht allein einer minutiösen und konkreten theoretischen
Ausarbeitung„ – dieser Aufgabe unterzogen sich die Cuadernos
und horizonte español – , ısondern wenigstens des Anfangs einer
praktischen Anwendung„.3 Dass es schließlich der PSOE (Partido
Socialista Obrero Español ), die damals schwache Sozialdemokratie
Spaniens, war, der aus der historischen Realisierung der General-
formel den Hauptgewinn zog und seit dem Wahlsieg von Felipe
González 1982 das eine der beiden politischen Lager Spaniens or-
ganisiert, war auch aus der Perspektive von 1966 kaum zu erwarten.
ıEn aquella época sólo podías ser comunista, no había otra cosa! En
el PSOE sólo había cuatro gatos„, erinnerte sich kürzlich einer der
Militanten von damals.4 Daher ist auch in Semprúns dichter, gram-
scianisch verfahrender Analyse der Konzepte, Kräfteverhältnisse
und Entwicklungspotentiale der antifaschistischen Opposition der
PSOE nichts als eine quantité négligeable.5 Als hegemoniale Kandi-
daten zeichnen sich in den Augen Semprúns der Partido Comunista

2 Horizonte español 1966, Cuadernos de Ruedo ibérico, supl. (1966), t. I, presentación.


3 Ebd.
4 Antonio Gamero: El communismo me hizo persona, in: El País, 22.8.2004.
5 Vgl. Jorge Semprún: La oposición política en España: 1956-1960, in: horizonte espa-
ñol (1966), t. II, S. 39-55.
434 Gerd Steffens: Jorge Semprún

Español (PCE ) und die Democracia Cristiana ab, und die Ausein-
andersetzung auf der Linken stellt sich ihm als eine komplexe stra-
tegische Debatte unter Kommunisten in der Perspektive einer revo-
lutionären Transformation der Gesellschaft dar. Springende Punkte
sind dabei, wie weit sich die kommunistische Partei der autonomen
politischen Bewegung, dem movimiento comunista, zu öffnen und
der kritischen Intellektualität autonomen und strengen Denkens sich
zu stellen vermag.
Noch ganz marxistischer Intellektueller, aber unabhängig von
der kommunistischen Partei, doch auf ihrem Feld und noch in ei-
nem als gemeinsam empfundenen Horizont argumentierend, aber
vor allem Intellektueller: das ist die lebensgeschichtliche Antwort
Semprúns Mitte der sechziger Jahre auf den Ausschluss aus dem
Exekutivkomitee des PCE im März, dann der Partei selbst im No-
vember 1964. Und auf den Kommentar, mit dem die Ikone des
spanischen Kommunismus und des Bürgerkriegs, Dolores Ibárruri,
Semprúns Ausschluss (und den von Fernando Claudín) kommen-
tiert hatte: ıIntelectuales con cabeza de chorlito„.6 ıEs ist besser,
sich mit der Partei zu irren, als außerhalb von ihr recht zu haben„,
hatte ihm Santiago Carrillo, der Generalsekretär des PCE, während
der Sitzung, die zum Ausschluss aus dem Zentralkomitee führte, zu-
gerufen und damit als letzte Waffe den Glauben an die geschichts-
teleologische Unverbrüchlichkeit der durch die Partei geführten pro-
letarischen Revolution ins Feld geführt. Semprún ıhätte fast vor La-
chen gebrüllt„.7

Autobiographie als Diskurs


Aber nicht nur im Rollenwechsel vom leitenden Parteifunktionär
zum Intellektuellen, nicht nur im Namenswechsel von Federico

6 Jorge Semprún: Schreiben oder Leben, Frankfurt 1995, S. 318.


7 Jorge Semprún: Was für ein schöner Sonntag!, Frankfurt 1981, S. 76.
435

Sánchez – sein nom de guerre als clandestiner Leiter der illegalen


Parteiorganisation in Spanien – zu Jorge Semprún, dessen politische
Analysen nun öffentlich und persönlich verantwortet sind, schlägt
sich Semprúns Lebenswende Mitte der sechziger Jahre nieder.
Semprúns Leben wird jetzt in eigentümlicher und unvergleichlicher
Intensität erzähltes und erzählend reflektiertes Leben.
Beginnend mit Le grand voyage, 1963 (dt. Die große Reise 1981)
– die Deportation des jungen Semprún nach Buchenwald – bis hin
zu Veinte años y un día (2003) hat Semprún seitdem eine ganze
Reihe von Romanen vorgelegt, deren Bau- und Erzählprinzip gera-
dezu ihre Realitätsdurchlässigkeit ist und in denen die Person
Semprún als Fluchtpunkt des Erzählens und der Reflexion immer
sichtbar ist und sichtbar bleiben soll. Zu ihnen gehören insbeson-
dere Autobiografía de Federico Sánchez (1977, dt. 1978), die der
clandestinen Tätigkeit Semprúns in Spanien gilt; Quel beau diman-
che (1980, dt. 1981), eine Darstellung der eigentümlichen Gesell-
schaft des Lagers Buchenwald im zeitlichen Fokus eines Lagersonn-
tags; Federico Sánchez vous salue bien (1993, dt. 1994) mit dem
thematischen Schwerpunkt auf Semprúns Tätigkeit als spanischem
Kulturminister 1988-1991; LÊécriture et la vie (1994, dt. 1995), der
lebensbestimmenden Präsenz des Lagers nach dem Lager gewid-
met; dann Adieu, vive clarté... (1998, dt. 1999) als Sozialisationsge-
schichte des politischen Intellektuellen und schließlich Le mort,
quÊil faut (2001, dt. 2002), den historischen Reflexionsraum des letz-
ten Jahrhunderts an einer Episode aus Buchenwald abschreitend.
Das eigene Leben als permanenter Gegenstand des Erzählens?
Das wäre kaum tragfähig, ginge es nicht um ein Leben von außer-
ordentlichem Verknüpfungsreichtum und – so wird man sagen dür-
fen – von markanter Signifikanz. Und bestünde nicht die bemer-
kenswerte Leistung der Romane Semprúns darin, die autobiogra-
phische Selbstthematisierung und das eigene Gedächtnis als öffent-
436 Gerd Steffens: Jorge Semprún

lich zugänglichen Raum der Vergegenwärtigung europäischer Ge-


schichte des letzten Jahrhunderts anzulegen. Die Elemente der
historischen, autobiographischen Erzählung sind deshalb immer Do-
kumente und Artefakte zugleich, sind, auch wo sie fiktiv sind, doch
Teile eines Diskurses über historische und politische Realität.
ıWenn man die Wahrheit nicht ein bisschen erfindet„, so heißt es in
Was für ein schöner Sonntag, ıgeht man quer durch die Geschichte
hindurch, vor allem durch die, die man selbst erlebt hat, wie
Fabrice durch die Geschichte von Waterloo.„8 Fabricio, der Held
Stendhals in der Kartause von Parma, stolpert bekanntlich ohne
jede Welterfahrung, d.h. ohne Deutungsrahmen für die Verhält-
nisse, auf die er trifft, also als Verleiblichung des Missverstehens,
über die Schlachtfelder von Waterloo, und es sind nur seine schö-
nen Augen, die ihn retten, weil sie ihm eine Marketenderin als Reali-
tätsagentin gewogen machen.
Aber erzählen, d.h. historisch verstehen ließe sich Waterloo auch
aus der Perspektive eines abgefeimten Realitätssinns nicht – ebenso
wenig die Welt der Lager. ıEs war verworren, konfus, weitschwei-
fig„, heißt es bei Semprún einmal über die Berichte eines Häftlings
aus Mauthausen, ıblieb in den Einzelheiten stecken, es gab keine
Gesamtübersicht, alles stand in derselben Beleuchtung. Kurz, es war
eine Zeugenaussage im Rohzustand: ungeordnete Bilder. Ein Wust
von Fakten, Eindrücken, überflüssigen Kommentaren.„9 ıHat man
wirklich etwas erlebt„, fragt der Erzähler in Was für ein schöner
Sonntag, ıwenn es einem nicht gelingt, gut davon zu erzählen, we-
nigstens ein Körnchen Wahrheit bedeutungsvoll zu rekonstruieren –
indem man es dadurch mitteilbar macht?„10 Und als – nicht ganz
uneitle – Antwort einige Seiten weiter: ıAber ich bin nicht so naiv,

8 Semprún: Schöner Sonntag, a.a.O., S. 362.


9 Semprún: Schreiben oder Leben, a.a.O., S. 284.
10 Semprún: Schöner Sonntag, a.a.O., S. 59.
437

so spontan aufrichtig, also verworren [...]. Meine Erzählung von


Russland würde, wenn ich jetzt Lust dazu hätte, nicht daneben ge-
hen [...]. Ich würde also wie ein Magnet, der alle Feilspäne sekundä-
rer Episoden anzieht, einen Festabend in den Mittelpunkt meiner
Erzählung stellen. Die Kulisse würde eines der Erholungsheime bil-
den, die unser Wohngebäude in Foros umgaben, zu dem der Zutritt
durch Stacheldraht und bewaffnete Soldaten der Sicherheitskräfte
gewöhnlichen Sterblichen verwehrt wurde. Ein Tanzabend zum
Beispiel.„11
Keine Frage, er hat Lust, diesen Tanzabend zu erzählen, und im
langsamen Übergang vom Konditionalis zum Indikativ entfaltet sich
eine Szene, die ebenso körperlich ist wie die Bewegungen der Tan-
zenden einen Reflexionsraum öffnen. Der Beobachter des Tanzes,
der um die Verstelltheiten der Körperbeziehung im realen Sozialis-
mus weiß, dessen mittlere Nomenklatura sich – im Juli 1960 – vor
ihm in einer Art von Menuett dreht, sieht mit ironisch geschärftem
Blick durch die Fassade unbeholfener Körperdezenz, von Ancien
Régime und Viktorianismus hindurch nicht nur den ıgewisserma-
ßen institutionalisierten Ehebruch„,12 den diese Art kollektiver Fe-
rienorganisation, weil an die jeweiligen Betriebseinheiten gebunden,
bildet: ıPlötzlich war es mir so, als durchschaute ich alles.„13 Das
unverkennbare Glück, eine geradezu historische Selbstzufriedenheit,
welche über ıdiesen Schräubchen und Rädchen des Großen Me-
chanismus„14 beim Tanzen liegt, ist das Glück des pragmatischen
Einverständnisses, gegen immer neue Klassenfeinde in immer neue
Kämpfe zu ziehen, deren innere Widersprüchlichkeit durch das
ırichtige Denken„15 aufgehoben wird, eine um die Selbstbeobach-

11 Ebd., S. 68.
12 Ebd., S. 69.
13 Ebd.
14 Ebd., S. 71.
15 Ebd., S. 70.
438 Gerd Steffens: Jorge Semprún

tung gekappte, also tote Dialektik. ıAuf einmal hatte ich den Ein-
druck, einem Totentanz beizuwohnen.„16
Die Verknüpfungen von realem, autobiographischem Erleben,
imaginativem kombinatorischem Spiel und historisch-politischer Re-
flexion stellt einen Raum des Erzählens her, in dem sich die Chro-
nologie der Ereignisse in eine Topologie eines Gedächtnisses wan-
delt, welches Ereignisse, Erinnerungs- und Reflexionsstücke nicht
historisch, sondern als sich thematisch wendende Assoziationen ent-
lang einer Verknüpfungskette von Empfindung, Erinnerung und
Bedeutung vorzeigt und die Indikatoren der Chronologie als eine
Art Vergewisserungsangebot mitführt. So entsteht ein Horizont von
kommunikativer Objektivität, der nicht nur für die Stimmigkeit des
internen Erzählraums des Romans bürgt, sondern auch für Plausibi-
lität und Erklärungskraft der Erzählung als Beitrag zu den Diskursen
europäischer historischer Selbstverständigung, den die in immer
neuen Varianten reflexiv erzählte Autobiographie eines signifikan-
ten intellektuellen Lebens leistet. Der Erzähler Semprún ist dabei
immer auf einen doppelten Legitimitätsgewinn aus: einen narrativen
und einen diskursiven; dieses interne Regulationssystem des Erzäh-
lens verhindert nicht nur eine erratische, also nicht narrative, vor-
geblich authentische Präsentation von Erinnerungsfragmenten, son-
dern auch ein Überwuchern des Fiktionalen und Kombinatorisch-
Imaginativen ins Manieristische, weil das Erzählen sich immer am
öffentlich schon präsenten Rahmen diskursiver und historischer
Plausibilität messen lassen muss.

16 Ebd., S. 71.
439

Von Geschichte imprägniert: Lebensdaten und


Lebensumstände
Im Rückblick scheint es, als habe sich dieses Leben nahezu von An-
fang an in einem Rahmen von historischer Objektivität, als eine
gleichsam umstandslose Konversion von persönlichem Erleben in
historische Signifikanz vollzogen. ıDer spanische Bürgerkrieg war
über meine Kindheit hereingebrochen. Er hatte scheinbar alle
meine Probleme auf einen Schlag gelöst, die ich sonst allein hätte
lösen müssen. Er hatte die Lager im grellen Licht großer histori-
scher Krisen abgegrenzt. Die Geschichte, mit ihrer List und Gewalt,
hatte meine Probleme auf sich genommen und sie vorübergehend
gelöst. Die Krise der Geschichte hatte mir die Jugendkrisen erspart,
wie sie hingegen später, nämlich 1956, die Krise des Mannesalters
zum Ausbruch kommen lassen sollte.„17 Schon eine nüchterne, nur
knapp kommentierende Zusammenstellung der Lebensdaten und
Lebensumstände vermittelt die Anwesenheit von Geschichte: 1923
wird Semprún in eine Madrider großbürgerliche Familie mit tradi-
tioneller Nähe zur politischen Macht hineingeboren – der Großvater
mütterlicherseits, Antonio Maura, war mehrfach Premierminister
des Königs Alfons XIII. Das Ende der Monarchie, die Republik
1931 und der Bürgerkrieg prägen die Umstände seiner Kindheit
derart, dass auch die familiären Fragmente der Erinnerung immer
mit politischem Sinn imprägniert bleiben. Als etwa die Familie
Semprún-Maura die Ausrufung der Republik mit dem Hissen der
republikanischen Fahne begrüßt, werden in der großbürgerlichen
Nachbarschaft die Fensterläden vernehmlich zugeschlagen, was
Semprún als eine der ıUrszenen„ seiner politischen Sozialisation
erinnert.18

17 Ebd., S. 46f.
18 Vgl. Jorge Semprún: Der Tote mit meinem Namen, Frankfurt 2002, S. 173f.
440 Gerd Steffens: Jorge Semprún

In der Republik ist der Onkel Innenminister, der Vater, Jurist


und Literat, zunächst Zivilgouverneur von Toledo, dann, während
des Bürgerkriegs, 1936-39, Botschafter der Republik im Haag. Der
Vater, José María Semprún Gurrea, selbst ein begabter Lyriker, för-
dert nicht nur die sprachliche Sensibilität der sieben Kinder; seine
Verbindungen zu intellektuellen und literarischen Diskursen, u.a.
zum linkskatholischen Kreis um die französische Zeitschrift Esprit,
für die er Aufsätze über Spanien schreibt, öffnen Wege der intellek-
tuellen Welterschließung. Auf ihnen eignet Jorge Semprún sich seit
1939, als Sechzehnjähriger, über die republikanische Niederlage
deprimiert, doch in seinen politischen Grundüberzeugungen bereits
begründungsstark gefestigt, ıRoter Spanier für immer und ewig„,19
neugierig und sprachbegabt, mehr oder weniger auf sich gestellt,
Paris als Ort seines Exils an. Als Interner des Elitegymnasiums
Henri IV macht er innerhalb kurzer Zeit das Französische zur von
nun an gewählten Muttersprache (ıneues Vaterland ohne die
Schrecken des Patriotismus; Verwurzelung im Universellen und
nicht auf irgendeiner Scholle„20), und wird ein begieriger Leser von
Malraux, Nizan, Sartre, auch von Giraudoux, Guilloux, Joseph
Kessel, vor allem von Gide, in der Philosophieklasse auch von Kant
und Hegel, Husserl und Heidegger. Er liest marxistische Literatur,
darunter ıdas Buch, das mich von allen am meisten beeindruckt
hat„, ıGeschichte und Klassenbewusstsein„ von Lukács,21 und arbei-
tet von 1941 an in der kommunistischen Résistance mit, ab 1942 als
Mitglied in der spanischen kommunistischen Partei. Nach der Ent-
scheidung, ıdie Waffen der Kritik gegen die Kritik der Waffen ein-
zutauschen„,22 Partisanentätigkeit, bald Gefangennahme durch die
Gestapo, Deportation nach Buchenwald, zwei Jahre im Konzentra-

19 Jorge Semprún: Unsere allzu kurzen Sommer, Frankfurt 1999, S. 77.


20 Ebd., S. 133.
21 Semprún: Der Tote, a.a.O., S. 98.
22 Ebd., S. 96.
441

tionslager Buchenwald, die als ıErfahrung einer unerhörten Teil-


habe„23 zum Lebensthema werden. Nach dem Aufstand der Häft-
linge und der Befreiung kehrt Semprún nach Paris zurück und
durchlebt im intellektuellen und künstlerischen Nachkriegsmilieu24
eine Phase der emotionalen und intellektuellen Reorganisation und
Reorientierung, in der ein Versuch der literarischen Darstellung der
Lagererfahrung am noch unauflöslichen Widerspruch von Schrei-
ben und Leben scheitert. Die Rückkehr ins Leben ist, so begriff er,
nur als Eintauchen ins Vergessen zu haben. ıDas Leben hatte die-
sen Preis. Ein vorsätzliches, systematisches Vergessen der Lager-
erfahrung.„25 Bis 1952 arbeitet Semprún einige Jahre als Übersetzer
bei der UNESCO, dann wird er Berufsrevolutionär, Parteifunktionär
des PCE 26 und leitet von 1954 bis 1962 die illegale Arbeit des PC in
Spanien. Diese Tätigkeit bringt ihn nicht nur mit den illegalen Ka-
dern der Partei- und Betriebsorganisationen vor Ort zusammen,
sondern auch mit den oppositionellen Milieus einer bürgerlichen
Gesellschaft, die sich unter der in der Franco-Diktatur erstarrten
Oberfläche verändert27 sowie – als Mitglied der Leitungsorgane des
PCE – außerhalb Spaniens mit der Nomenklatura auch der ıBru-
derparteien„.28 Es ist insbesondere diese letztere Ebene seiner Tätig-
keit, die ihn in einen sich verstärkenden Selbstkonflikt bringt, in
welchem, ausgehend von Chruschtschows Bericht über die Stalin-
schen Verbrechen 1956, womit ıendlich [...] die Geschichte ihre Ra-
tionalität wiedergewinnt„,29 eine sich steigernde Folge von Zweifel
und Auseinandersetzung entfaltet, die ihn in immer größere, im

23 Semprún: Kurze Sommer, a.a.O., S. 88.


24 Vgl. Semprún: Schöner Sonntag, a.a.O., S. 220ff.
25 Semprún: Schreiben oder Leben, a.a.O., S. 233.
26 Vgl. Semprún: Schöner Sonntag, a.a.O., S.232ff.
27 Vgl. Semprún: Veinte años y un día, Barcelona 2003 (dt.: Zwanzig Jahre und ein Tag,
Frankfurt 2005).
28 Vgl. Semprún: Schöner Sonntag, a.a.O., S. 62ff.
29 Ebd., S. 323.
442 Gerd Steffens: Jorge Semprún

Kern erkenntniskritische Distanz zu Denkstil und Kurs der Partei


bringen. Es folgen die Entbindung von seinen Leitungsaufgaben in
Spanien 1962, der Ausschluss aus dem Exekutivkomitee im März
1964, schließlich, im November 1964, aus der Partei.
Im selben Zeitabschnitt und nahezu im selben Rhythmus wird
aus dem Parteifunktionär Sánchez der Schriftsteller und gesell-
schaftskritische, marxistische Intellektuelle Semprún. Noch in einer
konspirativen Wohnung in Madrid hat er in wenigen Wochen Die
große Reise geschrieben,30 erhält dafür 1964 den Prix Formentor,
gründet 1965 die Cuadernos de Ruedo ibérico (s.o.) und macht sich
als Drehbuchautor einen Namen (Der Krieg ist aus von Alain
Resnais 1966 und Z von Costas Gavras 1968). Die Berichte und Er-
zählungen aus dem Archipel Gulag – 1963 hat er Solschenizyns Ein
Tag im Leben des Iwan Demirowitsch gelesen,31 1969 liest er
Kolyma – Insel im Archipel von Schalamow32 – beschleunigen das
Abrücken von der marxistischen Verknüpfung von Geschichtsphi-
losophie und Revolutionstheorie, den Abschied von Proletariat und
Kommunismus, tauchen aber auch den archimedischen Punkt des
eigenen Lebens – Buchenwald als Hölle des Lagers und Himmel
der Solidarität unter Genossen – in ein neues Licht. Brachte nicht
die Entdeckung, dass es auch von eigenen Genossen eingerichtete
Lager gab, den historischen und lebensgeschichtlichen Legitimi-
tätsüberschuss von Buchenwald zum Verschwinden? Lässt sich die
Erfahrung von Buchenwald, dass die Brüderlichkeit einer ıkosmo-
politischen Gemeinschaft„33 selbst unter den Bedingungen systemi-
scher Unmenschlichkeit einen nicht nur utopischen, sondern präsen-
ten Entwurf selbstgestalteter Gesellschaftlichkeit bilden kann, wei-
terhin halten?

30 Vgl. Semprún: Schreiben oder Leben, a.a.O., S. 207.


31 Vgl. Semprún.: Schöner Sonntag, a.a.O., S. 137.
32 Vgl. ebd., S. 119ff.
33 Semprún: Der Tote, a.a.O., S. 72.
443

Als Schlüsselfragen des Verständnisses nicht nur der eigenen


Lebensgeschichte, sondern auch der europäischen Geschichte des
20. Jahrhunderts ebenso wie gegenwartsbezogener politischer
Selbstverständigung bilden in den folgenden Jahrzehnten diese Fra-
gen den Hintergrund immer neuer Konstellierungen des histori-
schen Gedächtnisraums um die Zentralerfahrung Buchenwald, ins-
besondere in Was für ein schöner Sonntag 1980, Schreiben oder
Leben 1994 und Der Tote mit meinem Namen 2001.
Weiterhin in Paris lebend, bleibt er doch in Spanien politisch zu
Hause. Der sozialistische Ministerpräsident Felipe González beruft
ihn 1988 zum spanischen Kulturminister, ein Amt, das ihn lebensge-
schichtlich in die Ministertradition der eigenen Familie und zugleich
an die Seite des verehrten André Malraux rückt, ihm aber auch des-
illusionierende Einblicke in die Zerfallsprozesse von Moral und
Macht eben jener politischen Klasse bietet, deren Herausbildung in
den Gruppen und Bewegungen der antifrankistischen Opposition
Semprún als aktiver und leitender Kommunist Federico Sánchez,
dann als kritischer Intellektueller begleitet hatte. Unter dem doppel-
deutig-ironischen Titel Federico Sánchez verabschiedet sich erinnert
er nicht nur an die Autobiografía de Federico Sánchez und die
darin erzählten Jahre einer illegalen, aber gleichwohl starken kom-
munistischen Oppositionsbewegung gegen die Franco-Diktatur,
sondern auch daran, dass eben diese Bewegung einen der wichtig-
sten Sozialisationsräume für die nachfrankistische spanische Demo-
kratie gebildet hat. Die Berufung zum Minister galt deshalb, so ver-
steht es Semprún, nicht allein Semprún, sondern auch Federico
Sánchez, und es ist, in einer ironischen Brechung des Selbst, dieser,
der sich als politische Akteursgestalt verabschiedet. Umso intensiver
wendet sich Semprún nun der spanischen Gesellschaft und ihrer
Geschichte zu. Unsere allzu kurzen Sommer (1999) rekonstruiert vor
dem Hintergrund des Untergangs der spanischen Republik und der
444 Gerd Steffens: Jorge Semprún

Kapitulationen des demokratischen Europa vor dem Siegeszug des


Faschismus 1936-1939 die Geschichte der eigenen politischen Sozia-
lisation, als deren ıunverbrüchlichen Kern„ er eine ıMoral des Wi-
derstands„ sieht,34 die auf der Überzeugung beruhe, dass nicht der
Friede oder das nackte Leben an und für sich das höchste Gut
seien, sondern Autonomie und Würde des Menschen.35 Einen wei-
teren Schritt der gleichsam intellektuellen Repatriierung stellt Veinte
años y un día 2003, dar, die erste wieder auf Spanisch geschriebene
Erzählung, die die subkutanen Wandlungsprozesse des spanischen
Bürgertums während der 50er Jahre thematisiert.
Seit der weltpolitischen Wende 1989/90 rückt Semprún zudem
immer deutlicher in die Rolle eines europäischen Intellektuellen,
dem zugeschrieben wird, lebensgeschichtlich in seiner Person die
autonome und selbstkorrektive, daher antitotalitäre Kraft europäi-
schen Denkens bezeugen zu können. Zu den Ehrungen, die seinen
Rang als ein für das ausgehende Jahrhundert geradezu repräsentati-
ver Intellektueller unterstreichen sollen, gehören der Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels 1994, der Weimar-Preis 1995, die Wahl
in die Akademie Goncourt 1996, der Jerusalem-Preis 1997, die
Goethe-Medaille 2003 und die Einladung zur Rede vor dem Bun-
destag anlässlich der jährlichen Gedenkfeier zur Befreiung von
Auschwitz am 27.1.2003.

„Niemand kann deinen Platz einnehmen“ – ein


Intellektueller der Erinnerung?
Wie Semprún selbst mit dieser zugefallenen – oder erworbenen –
Rolle eines repräsentativen Intellektuellen, eines ıZeugen des Jahr-

34 Semprún: Kurze Sommer, a.a.O., S. 28.


35 Vgl. ebd., S. 26f.
445

hunderts„,36 umgeht, zeigt ein Interview von 2001.37 ıYo soy un de-
portado de Buchenwald„, habe er, so berichtet Semprún hier, ei-
nem Freund auf die Frage geantwortet, welche der vielen Identitä-
ten seines gelebten und dargestellten Lebens denn die echte sei.
Diese spontane Antwort sei aus drei Gründen richtig: Die Erfahrung
Buchenwald sei nicht nur die ıradikalste„ seines Lebens überhaupt,
sondern sei zudem in die prägsamsten und aufnahmebereitesten
Jahre seines Lebens gefallen und zugleich in den historischen Mo-
ment eines säkularen weltpolitischen Umbruchs. Mit anderen Wor-
ten: die Schlüsselerfahrung seines Lebens, so die Selbstdeutung
Semprúns, fällt mit einem historischen Moment zusammen, aus
dem sich die weitere Geschichte des Jahrhunderts wie aus einer pri-
vilegierten Perspektive erschließt. Allerdings unter zwei entschei-
denden Bedingungen, aus deren Kombination sich eine dritte er-
gibt: dem Glück, überlebt zu haben und dem Unglück, als Intellek-
tueller überlebt zu haben, also die Last des Erzählens und Reflek-
tierens für die anderen mit zu tragen und gegen die Versuchung
anleben zu müssen, mit der Last der Erinnerung die Last des Le-
bens abzuwerfen, wie Primo Levi oder Jean Améry dies so aus-
drücklich getan haben. Intellektueller zu sein ist eben nicht nur un-
ter den Bedingungen des Lagers, sondern auch unter deren lebens-
geschichtlicher Fortwirkung eine Frage auf Leben und Tod, wie
eine bleibende Eigenschaft des Lebens selbst. ıNiemand kann dei-
nen Platz einnehmen, dachte ich, sich deinen Platz auch nur vorstel-
len, deine Verwurzelung im Nichts, dein Leichentuch im Himmel,
deine tödliche Singularität.„38

36 Wolfram Schütte: Brüderlichkeit. Jorge Semprún, Zeuge des Jahrhunderts, wird 75,
in: Frankfurter Rundschau, 10.12.1998.
37 Vgl. María Luisa Blanco: Jorge Semprún „Soy un deportado de Buchenwald“, in: El
País, Babelia, 19.5.2001.
38 Semprún: Schreiben oder Leben, a.a.O., S. 273.
446 Gerd Steffens: Jorge Semprún

Wie ein Leitmotiv durchzieht die – gleichsam durch die Ge-


schichte selbst – existenziell gewendete Frage nach der Rolle des Intel-
lektuellen und ihren Konsequenzen die im Interview mit Maria L.
Blanco provozierten lebensresumierenden Äußerungen Semprúns.
So lebensrettend einerseits die Verwandlung des ıPhilosophie-
studenten„ in einen ıElektriker„ (an anderer Stelle in einen ıStuk-
kateur„)39 durch das fürsorgliche Missverstehen des kommuni-
stischen Häftlings in der Lagerverwaltung, der Semprún damit eine
der SS einsichtige Nützlichkeit zuschrieb, so lebensrettend anderer-
seits die Fähigkeit, durch die erinnerte, auswendig memorierte Lite-
ratur, Gedichte zumal, unter Lebensumständen völliger Ausge-
setztheit und schutzloser Transparenz, einen Innenraum vermittelten
Selbstbezugs zu schaffen. Und lebensrettend gleichermaßen eine
ıNeugier„, ıdie dieser anormalen Gesellschaft„ und ihren sozialen
Strukturen galt, die sich aus der Perspektive der clandestinen kom-
munistischen Sektion und ihrer Tätigkeitsfelder entschlüsseln und in
kluger Dosierung beeinflussen ließen. Lebensrettend, die quälende
Präsenz der Erinnerung übertönend, schließlich die Fortführung
dieser Perspektive in militanten Handlungsfeldern des kommunisti-
schen Gegenentwurfs gegen die frankistische Diktatur, bis diese Per-
spektive am Dementi ihrer Voraussetzungen sich brach: Die Infor-
mationen über stalinistische Praxen der Lager und der Massenver-
nichtung entzogen der Vereinbarkeit von kommunistischer politi-
scher Arbeit und intellektueller Integrität in dem Maß den Boden,
in dem auch der PCE, dessen Leitung Semprún angehörte, an einer
erkenntnistheoretischen Einstellung festhielt, die Erkenntnis an die
Ontologie von Klassen band und Dialektik als Freistellung von
Konsistenz handhabte.
Es sind, wie die autobiographischen Romane Semprúns auswei-
sen, in der Tat diese erkenntniskritischen Motive, die die Lebens-

39 Ebd., S. 351.
447

wende bewirkten, von der eingangs die Rede war, und auf die sich
der kritische Impetus der intellektuellen Reorientierung bezog. In
Was für ein schöner Sonntag gestaltet Semprún im synchronen
autobiographischen Gedächtnisraum eine Szene, die zeigt, wie die
triviale soziale Stereotypisierung des bürgerlichen Alltagsbewusst-
seins in der ebenso trivialen klassenontologischen Wahrnehmungs-
weise des kommunistischen Dogmatismus wiederkehrt. Wie Gérard,
das autobiographische Ich dieses Romans, unter den Blicken kon-
trollierender deutscher Offiziere, sei es der Besatzung, sei es des La-
gers, einen lebensrettenden Surplus an Glaubwürdigkeit erzielen
kann, wenn er beiläufig seine großbürgerliche Herkunft ins Spiel
bringt, so wird umgekehrt dieselbe Herkunft zu einer Quelle des
Misstrauens, wenn Gérard oder Federico Sánchez gegenüber der
kommunistischen Lagerleitung oder spanischen Partei ungedeckte
Gedanken äußert: ıHeute ist es Hauptsturmführer Schwartz, der
nicht begreift, warum ich hier bin, obwohl ich aus so guter Familie
stamme [...]. Neulich war es der sentenzenreiche Seifert, der mir er-
klärte, wie außerordentlich freundlich es sei, mich trotz meiner
Herkunft in die Arbeitsstatistik aufzunehmen. Einen Philosophiestu-
denten aus gutbürgerlicher Familie, mein Gott [...]. Später, während
meiner ganzen politischen Laufbahn, ist es das gleiche gewesen.
Meine Klassenherkunft lauerte im Dunkeln, um mich beim gering-
sten abweichenden Gedanken anzuspringen.„40 ıIch hörte, wie
meine Genossen, die sich im März 1964 an einem langen Tisch in
einem alten Schloss der Könige von Böhmen als Gericht aufspielten
[...]. Ich betrachtete sie, diese neuen Puritaner, die aus der Arbeiter-
klasse stammten, wie die guten Familien von Boston von der
Mayflower abstammen oder der Affe vom Baum, [...]. Ich wusste
genau, was diese Söhne des Volkes, zumindest die meisten von ih-
nen, geworden waren: übermäßig gewissenhafte und ausgekochte

40 Semprún: Schöner Sonntag, a.a.O., S. 186.


448 Gerd Steffens: Jorge Semprún

Funktionäre, die sich nach dem Wind drehen [...]. Sie saßen an die-
sem langen Tisch, wo sie über mein Schicksal entschieden, wie
strenge, aber gerechte Apostel: Ein Feuer züngelte auf ihren Schä-
deln, der Heilige Geist hatte sich auf ihren Glatzköpfen niedergelas-
sen, denn sie stammten aus der Arbeiterklasse„.41
Hatte die Marxsche Idee, die Analyse der sozialen Konstellatio-
nen und ihrer Entwicklungen an die Erkenntnisperspektive einer
Klasse zu binden, die ınichts zu verlieren hatte als ihre Ketten„, ge-
rade ein durch Herkünfte und Besitzstände nicht verstelltes, radika-
les, emanzipatorisches Denken freisetzen wollen, so ist daraus unter
der Bedingung der Herrschaftssicherung der Parteiapparate ein Me-
chanismus der Selbstbestätigung und der Ausschließung von Irrita-
tion geworden, dessen Beobachtung die Satire hervortreibt. Was, so
spitzt Semprún zu, das Politbüro des PCE 1964 ebenso wenig ver-
standen hat wie der Hauptsturmführer Schwartz 1944, ist der Um-
stand, dass es gerade der Bruch mit der Herkunft, der Klassenverrat
also ist, der Freiheit und Radikalität des Denkens bedingt; wie ja
auch in der ursprünglichen Denkfigur MarxÊ die Erkenntnisposition
des Proletariats nur insofern ausgezeichnet war, als aus ihr das Be-
freiungsinteresse der Menschheit als ganzer am deutlichsten wahr-
zunehmen war. ıIch bin ein Verräter an meiner Klasse, weil ich [...]
die Fähigkeit [...] gehabt habe, mit meiner Klasse alle Klassen, die
Klassengesellschaft als Ganzes zu verraten [...] weil meine Rolle als
kommunistischer Intellektueller gerade darin besteht, die Klassen an
sich, die Klassengesellschaft in jeglicher Form [...] zu verneinen [...].
Wenn ich nicht verdächtig bin, also ein besessener Handlanger des
Verneinungsgeistes, ein ständiger Kritiker sämtlicher gesellschaftli-
cher Verhältnisse, dann bin ich nichts. Weder Intellektueller, noch
Kommunist, noch ich selbst.„42

41 Ebd., S. 187.
42 Ebd., S. 188.
449

Würde Semprún dieses Selbstkonzept, formuliert 1980 für den


Semprún von 1964, also den der Lebenswende vom Parteiarbeiter
zum Intellektuellen, für sich auch heute noch gelten lassen? Gewiss
würde er sich nicht mehr als kommunistischen oder marxistischen
Intellektuellen bezeichnen; doch hat er mit seiner scharfen Kritik
des Bolschewismus und seiner marxistischen Quellen43 eben jenen
Anspruch ja noch gestärkt, den er für sich als Intellektuellen erho-
ben hat: Gegen partikulare Interessen Gesichtspunkte des Allge-
meinen, gegen Herrschaft die Rigorosität des Denkens ins Spiel zu
bringen. ıIch denke wie früher„, sagt er im Interview von 2001.
ıDas einzige, was aus meinem Lebensprojekt verschwunden ist, ist
die revolutionäre Methode, die frontale Attacke, die ich für not-
wendig hielt und die sich als Fehlschlag erwiesen hat. Aber das be-
deutet keineswegs, dass ich die heutige Gesellschaft für gerecht
halte.„44 Doch glaube er nicht mehr, ıauch wenn es mir gefallen
würde, dass mir jemand theoretisch zeigen kann, dass es einen revo-
lutionären Weg der gesellschaftlichen Veränderung gibt.„45 Nicht
nur die Einsicht, dass der Intellektuelle ıseinem Wesen nach anti-
manichäisch„ ist, wie er an einer Stelle Malraux sagen lässt,46 hat
Semprún daran gehindert, zum Typus des antikommunistischen
Renegaten zu werden, sondern auch ein ausgeprägtes Verständnis
der Geschichtlichkeit des eigenen Lebens: Der Irrtum erledigt nicht
die Motive, aus denen er begangen wurde und die Erfahrungen des
eigenen Lebens werden nicht durch Entwicklungen a posteriori
entwertet, die im Moment der Erfahrung nicht in deren Horizont
lagen und liegen konnten. Auch wenn die Lebensmomente mit fort-
schreitender Entwicklung in anderer Perspektive und anderer Be-
leuchtung, selbst scharfer Kritik oder bitterer Abwendung, erschei-

43 Vgl. ebd., S. 150ff.


44 Blanco, a.a.O.
45 Ebd.
46 Semprún: Schöner Sonntag, a.a.O., S. 146.
450 Gerd Steffens: Jorge Semprún

nen, so erledigen sie sich weder als Material der Geschichte noch
der Reflexion eines Lebens, dessen Gedächtnisraum immer beleb-
ter und beziehungsreicher wird, doch seine eigentümliche Luzidität
nie verliert.

P.S. Der Beziehungsreichtum des Semprúnschen Gedächtnisraumes


gibt, schaut man genau hin, auch Fundstücke wie dieses preis:
Artigas, Protagonist von Algarabía oder Die neuen Geheimnisse
von Paris, Condottiere einer erfolgreichen Studentenbewegung von
Paris, der es in den 1970er Jahren gelungen ist, eine erneuerte
Commune de Paris zu errichten, studiert. Was studiert er? Der Er-
zähler, der sich ständig einmischt, beteuert, ıdie Treue zu den Fak-
ten„ zwinge ihn, ıdarauf hinzuweisen, daß Artigas, während die
junge Deutsche ihr Bad nahm, wieder angefangen hatte, ein Werk
von Hans Manfred Bock, Syndicalismus und Linkskommunismus
von 1918-1923, durchzuarbeiten, das eben jene Karin ihm unlängst
besorgt hatte.„47

47 Jorge Semprún: Algarabía oder Die neuen Geheimnisse von Paris, Frankfurt 1985,
S. 29f.
Teil 3:

Intellektuelle und Mittler im


deutsch-französischen Spannungsfeld
453

Joseph Rovan (1914-2004)


Hansgerd Schulte
454 Hansgerd Schulte: Joseph Rovan (1914-2004)

Am 25. Juli 2004 feierte Joseph Rovan seinen 86. Geburtstag in dem
altehrwürdigen Bauernhaus in seiner Wahlheimat, der Auvergne.
Am 27. Juli unterbrach er seine Arbeit an der Geschichte Frank-
reichs für Deutsche (Arbeitstitel), um sich – wie gewohnt – in dem
nahegelegenen See durch ein Bad zu erfrischen. Dort ertrank er an
den Folgen eines Herzversagens, wie sich später herausstellen sollte.
Wir haben ihn, wie er es wünschte, in dem kleinen Dorffriedhof ne-
ben seinen Eltern zu Grabe getragen.
Es ist hier nicht meine Absicht, Joseph Rovans Lebensgeschichte
nachzuzeichnen. Das hat er selber in seinen Erinnerungen eines
Franzosen, der einmal Deutscher war 1 auf vorbildliche und ausführ-
liche Weise getan. Für schnelle Leser verweise ich auch auf meine
Kurzbiographie, veröffentlicht aus Anlaß seines 70. Geburtstags.2
Mein Anliegen in der Festschrift zu Ehren meines Freundes und
Kollegen Hans Manfred Bock ist es, eine Bilanz der Mittler-Funk-
tion von Joseph Rovan im deutsch-französischen und europäischen
Kontext zu versuchen.
Das Exil in Frankreich, seit April 1934, dann der Kampf gegen
Hitler in der Widerstandsbewegung, der im Konzentrationslager
Dachau enden sollte, sind zweifellos das existentielle Grunderlebnis
seines späteren Lebenswerkes im Dienste der deutsch-französischen
Aussöhnung und der europäischen Einigung. Mit nahezu propheti-
scher Weitsicht hat er seine politische Vision in dem berühmten,
vielzitierten und bisweilen auch überinterpretierten Artikel vom 1.
Oktober 1945(!) LÊAllemagne de nos mérites dokumentiert (veröf-
fentlicht in der linkskatholischen Zeitschrift Esprit von Emmannuel
Mounier). Bereits dort spricht er von einer deutsch-französischen
Schicksalsgemeinschaft für Europa: ıNoublions pas que lÊAllemagne

1 Erschienen im Carl Hanser Verlag, München u.a. 2000.


2 Hansgerd Schulte: Le Messager – Joseph Rovan: Essai d’une biographie franco-
allemande, in: Sept Décennies de relations franco-allemandes 1918-1988. Hommages
à Joseph Rovan, Paris 1989.
455

a précipité lÊEurope avec elle dans sa ruine [...]. DÊune preuve écla-
tante et décisive, lÊAllemagne nous a prouvé la solidarité de nos des-
tins.„3 Daraus leitet sich für Frankreich die Verpflichtung ab: ıla
France a charge de lÊAllemagne„. Und daher auch das Titel-Thema:
ıLÊAllemagne de demain sera la mesure de nos mérites!„
Die deutsch-französische Kooperation im Dienste Europas, diese
Forderung wird zum Leitmotiv in Joseph Rovans Lebenswerk, ein
Generalthema mit Varianten, das er im wesentlichen in einem drei-
fachen Kontrapunkt durchspielt: handelnd, schreibend und lehrend.
Als Handelnder in seiner politischen und organisatorischen Aktivi-
tät; als Kommentator in seiner journalistischen und schriftstelleri-
schen Tätigkeit und als Hochschulprofessor in Lehre und For-
schung. Dabei lassen sich Dominanten ausmachen, die seine vielfäl-
tigen Wirkungsbereiche wie ein roter Faden durchziehen.
Ein Hauptanliegen von Joseph Rovan während seines gesamten
Lebens war die Volks- und Erwachsenenbildung als Vorraussetzung
für das Funktionieren von Demokratie und als unverzichtbare
Grundlage einer europäischen Bewußtseinsbildung. Er hat diese
Zielvorstellung einmal mit einer prägnanten Formulierung bedacht:
ıRendre la culture au peuple, et le peuple à la culture.„ Als kurz
nach dem Krieg der Armee-Minister Edmond Michelet, dessen Be-
kanntschaft er in Dachau gemacht hatte, Rovan mit der Betreuung
von rund einer Million deutscher Kriegsgefangener in Frankreich
beauftragte mit der Maßgabe, ıdie französischen Gefangenenlager
nicht zu einer Reihe kleiner Dachaus„ werden zu lassen, entwickelte
er in der heiklen und schwierigen Frage der ıUmerziehung„ zur
Demokratie ein originelles Konzept, das er der Pädagogik der Er-
wachsenenbildung entnahm. Die Gefangenen sollten sich selber
umerziehen, ohne dirigistische Einmischung von außen. So entstan-
den in den Lagern – Saint-Denis war das bekannteste – kleine

3 Joseph Rovan: L’Allemagne de nos mérites, in: Esprit (1945), Nr. 115, S. 534.
456 Hansgerd Schulte: Joseph Rovan (1914-2004)

Universitäten für Erwachsene, in denen Führungseliten ausgebildet


wurden, die später in dem politischen, wirtschaftlichen und kulturel-
len Leben der Bundesrepublik eine nicht unbedeutende Rolle spie-
len sollten. Die Initiativen für die Lehrveranstaltungen gingen je-
weils von den Gefangenen selbst aus, Rovans Intervention be-
schränkte sich darauf, dafür die notwendigen materiellen und per-
sonellen Voraussetzungen zu schaffen.
Im institutionellen Bereich hat er wesentlich die französischen
Organisationen für Erwachsenenbildung mitgeprägt: Peuple et Cul-
ture, der er als Generalsekretär von 1944 bis 1978 vorstand. Seine
Gedanken zu dem Thema hat er, wie sooft, in einem Buch nieder-
gelegt Une idée neuve, la Démocratie, das 1961 in Paris beim Ver-
lag Seuil erschien und wieder in einer griffigen Formel gipfelte:
ırendre la démocratie au peuple, et le peuple à la démocratie.„ Und
so war es nur folgerichtig, daß er 1947 in der Kulturverwaltung der
französischen Besatzungszone in Baden-Baden die Abteilung für
Volksbildung übernahm. In dieser Funktion eröffnete er wieder die
deutschen Volkshochschulen, die die Nazis geschlossen hatten. Es
kam zu einer erfolgreichen Kooperation und einer lebenslangen
Freundschaft zum einen mit Helmuth Becker, Sohn des preußischen
Kultusministers C.H. Becker, und dem späteren Präsidenten des
Volkshochschulverbandes sowie Gründer des Max-Planck-Institutes
für Bildungsforschung in Berlin und zum anderen mit Klaus von
Bismarck, dem späteren Intendanten des WDR und Präsidenten des
Goethe-Institutes. Während seines italienischen Intermezzos im Auf-
trag der UNESCO (1951-1958) ging es wieder um die Erwachsenen-
bildung: er setzte das Fernsehen als pädagogisches Instrument im
Kampf gegen den Analphabetismus ein. Und schließlich begann er
seine Hochschullehrerkarriere 1968 in der Universität Paris VIII-
Vincennes, die als Modellversuch unter anderem auch eine Hoch-
457

schule für Erwachsene und Arbeiter ohne Abitur sein sollte. Rovan
hat dafür das pädagogische Konzept entwickelt.
Als natürliches Korrelat zur Erwachsenenbildung war die Ju-
gendpolitik sein besonderes Anliegen, nach dem Motto: ıQui tient
la jeunesse tient lÊavenir.„ Es galt durch adäquate Maßnahmen die
jungen Menschen sowohl für die deutsch-französische Kooperation
als auch für den europäischen Einigungsprozeß zu gewinnen. Rovan
darf im Vorfeld der Verhandlungen als einer der Väter des
Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) gelten und gehörte
dann auch dem ersten Verwaltungsrat an, der die Grundorientie-
rung der DFJW-Politik mitbestimmt hat. Rovan setzte sich unter
anderem für eine flexible Interpretation der Altersgrenze ein und
für eine weitgehende Programmdelegierung an bestehende Institu-
tionen, um deren Kompetenz zu nutzen und den Verwaltungsauf-
wand so gering wie möglich zu halten. (Dieses Gebot der Vernunft
wird von Institutionen und Regierungen heute nur selten befolgt, da
die Politiker und Kulturmanager stets danach gieren, sich mit Neu-
gründungen zu profilieren.) Mit einem Austauschvolumen von jetzt
über sieben Millionen Jugendlichen hielt Rovan somit zurecht das
DFJW für die Institution, die die größte Völkerwanderung zu Frie-
denszeiten eingeleitet hat. Allerdings ist kritisch anzumerken, daß
das DFJW heute nicht mehr dieselbe politische Priorität besitzt wie
bei seiner Gründung durch de Gaulle und Adenauer. Es verfügt
nur noch über 35% der Kaufkraft des Budgets von 1963. Trotz aller
deutsch-französischen Rhetorik ist diese bedrohliche Regression in
vielen Bereichen zu beobachten. Die Diskrepanz zwischen politi-
scher Fiktion und der Programmrealität wird immer größer, mit de-
saströsen Folgen bei den Kulturinstitutionen, im Hochschulbereich
und vor allem bei der Sprachpolitik. Das Deutsche in Frankreich
und das Französische in Deutschland drohen auf das Niveau von
toten Sprachen herabzusinken. Statt des vielbeschworenen und un-
458 Hansgerd Schulte: Joseph Rovan (1914-2004)

erläßlichen Plurilinguismus steuern wir auf ein sprachloses Europa


zu, wovor uns allein eine voluntaristische Politik retten könnte. Dür-
fen wir unsere Regierenden daran erinnern, daß es neben Ost- und
Mitteleuropa auch noch Westeuropa gibt? Ein kulturpolitischer
Sonderweg wäre für Europa fatal.
1978 übernimmt Joseph Rovan das Präsidentenamt von BILD
(Bureau International de Liaison et de Documentation), eine Institu-
tion, die 1945 als damals wohl die erste und wichtigste deutsch-fran-
zösische Austauschorganisation von dem Jesuitenpater Jean du
Rivau in Offenburg gegründet wurde. Das Hauptanliegen war,
junge Deutsche und Franzosen zusammenzuführen, damit sie sich
kennen und verstehen lernen. Dieses Ziel verfolgt BILD bis heute in
zahlreichen und erfolgreichen Programmen. Zur gleichen Zeit
gründete du Rivau die Zeitschrift Documents, die auf hohem Ni-
veau und in ausgewogener Form über Deutschland informieren
sollte: über Politik, Wirtschaft, Kultur, Literatur und religiöse Fra-
gen. Rovan übernahm auch die Herausgeberschaft von Documents,
in der er beiden, sowohl der Zeitschrift als auch den Aktivitäten von
BILD, eine ausgesprochen europäische Orientierung gab. Für ihn
wurde in zunehmendem Maße das Deutsch-Französische ein Mittel
zur Förderung der europäischen Einigung. ıLe franco-allemand est
dépassé, ce qui est actuel cÊest lÊaction commune de la France et de
lÊAllemagne pour lÊEurope„.4
Buchstäblich bis zu seinem letzten Lebenstag kämpfte Rovan für
dieses Ideal in seinen Artikeln, in Documents, Le Monde, La Croix,
im Mannheimer Morgen, im Bayrischen Rundfunk; in seinen Bü-
chern,5 in seinen Vorlesungen und Seminaren an der ENA, an der
Universität Paris-Vincennes (1968-81) und schließlich ab 1981 bis zu
seiner Emeritierung 1986 bei uns in Asnières, am Institut

4 Äußerung in einem Gespräch mit dem Verfasser.


5 Joseph Rovan: L’Europe, Paris 1966; Ders.: Zwei Völker, eine Zukunft, München 1986.
459

dÊAllemand der Sorbonne Nouvelle, wo auch Hans Manfred Bock


seine akademische und wissenschaftliche Karriere begonnen hat.
Dort konnte der Europa-Gedanke auf besonders fruchtbaren Boden
fallen. Eine seiner letzten institutionellen Gründungen war Cassi-
dore, eine lockere Vereinigung von einflußreichen Persönlichkeiten,
die in ihrem jeweiligen Kompetenzbereich eine europäische Über-
zeugungsstrategie entwickeln sollten mit dem Ziel, Einfluß auf die
politischen Entscheidungsgremien zu nehmen, um den Europa-Ge-
danken zu fördern. Joseph Rovan hatte ein besonderes Talent, sich
ein Netz von bedeutenden Persönlichkeiten zu Freunden zu ma-
chen, die er dann wie eine ıVerschwörerbande„ – so pflegte er sie
zu nennen – für seine politischen Ziele zu gewinnen vermochte. Die
Freundschaft zu Jacques Delors und Helmut Kohl sowie seine in-
formelle Beraterfunktion im Bundeskanzleramt sind nicht unwich-
tige Teile dieser Europa-Strategie.
Am 27. September fand in der Kirche Saint François-Xavier in
Paris die letzte cérémonie des adieux für Joseph Rovan statt. Helmut
Kohl, der eigens aus Deutschland angereist war, Jacques Delors und
Alfred Grosser haben den Freund und großen Europäer geehrt.
461

Gilbert Ziebura: seine Bedeutung für die deutsche


sozialwissenschaftliche Frankreichforschung und
seine Rolle in den zivilgesellschaftlichen deutsch-
französischen Beziehungen
Adolf Kimmel
462 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

Der Name Gilbert Ziebura ist einer breiteren Öffentlichkeit in


Deutschland wie in Frankreich unbekannt. Selbst in der politikwis-
senschaftlichen Zunft dürfte er in der jüngeren Generation nicht
(mehr) jedem etwas sagen. Gleichwohl hat er in der Bundesrepublik
die sozialwissenschaftliche Frankreichforschung (mit)begründet und
auf ihre Entwicklung maßgeblichen Einfluss genommen. Dadurch
hat er das deutsche Frankreichbild mitgeprägt und er hat, jedenfalls
zeitweise, in den zivilgesellschaftlichen deutsch-französischen Bezie-
hungen eine genau zwar kaum zu bestimmende, aber nicht zu un-
terschätzende Rolle gespielt.

(Um)Wege zu einer sozialwissenschaftlichen


Frankreichforschung1
Noch im Alter von 21 Jahren, am Kriegsende 1945, dachte Ziebura
nicht daran, sich einmal intensiv, vor allem wissenschaftlich, mit
Frankreich zu beschäftigen. ıEs gab weder familiäre noch sonstige
Affinitäten zu Frankreich.„2 Noch 1947 hegte er Frankreich gegen-
über Vorurteile, wenn nicht sogar Abneigung. Im Rückblick schil-
dert er seine Reaktion auf die Mitteilung des katholischen Studen-
tenpfarrers der Linden- (späteren Humboldt-)Universität in Berlin, er
werde ihn und seinen Freund demnächst mit einem jungen Franzo-
sen bekannt machen, folgendermaßen: ıAusgerechnet ein Franzose,
dachten wir, ein Vertreter der Besatzungsmacht, mit der wir am
wenigsten im Sinn hatten! Wir betrachteten sie als Pseudo-Sieger-
macht, als politischen Gernegroß, der verlorener Größe nachtrauert.

1 So hat er selbst seinen Rückblick überschrieben. Gilbert Ziebura: (Um)Wege zu einer


sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung, in: ders.: Frankreich: Geschichte, Ge-
sellschaft, Politik. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Adolf Kimmel, Opladen 2003, S. 9-
22. Der Beitrag knüpft insgesamt an und greift teilweise zurück auf: Hans Manfred
Bock, Adolf Kimmel, Henrik Uterwedde: Vom politischen System zur bürgerlichen
Gesellschaftsformation. Gilbert Zieburas Beitrag zur Konstituierung der sozialwis-
senschaftlichen Frankreichforschung in der Bundesrepublik, in: ebd., S. 325-338.
2 Gilbert Ziebura in einem unveröffentlichten Interview mit Robert Picht, 1991.
463

Die verheerende, allgemein bejubelte Niederlage vom Juni 1940


beherrschte noch immer unser Gedächtnis. Ansonsten war Frank-
reich für uns eine terra incognita, überwuchert vom Gestrüpp der
Vorurteile und Klischees, die uns unter dem Stichwort ,ErbfeindÂ
eingetrichtert worden waren.„3
Bevor auf diese, für die (Um)Wege zu Zieburas Beschäftigung
mit Frankreich entscheidende Begegnung näher eingegangen wird,
muss ein wenn auch nur kursorischer Blick auf sein Leben bis 1945
geworfen werden.4
Gilbert Ziebura wurde 1924 in Hannover geboren. Sein Vater
diente in der Reichswehr (Unteroffizierslaufbahn), zu der er sich
1913 für 12 Jahre verpflichtet hatte. Nach seinem Ausscheiden 1925
wurde er Verwaltungsbeamter. 1931 zog die Familie infolge einer
beruflichen Versetzung des Vaters nach Berlin. Ziebura wuchs in
einer ursprünglich aus Schlesien stammenden katholischen Familie
auf. Während er seine Mutter als ıvöllig unpolitisch„ bezeichnet,
war der Vater ein treuer Wähler des Zentrums und ein eifriger Le-
ser der Zentrumszeitung Germania, aber gleichzeitig ein Verehrer
Hindenburgs. Diese für einen Katholiken nicht selbstverständliche
Verbindung erklärt sich zum einen aus seiner Anhänglichkeit an
Kaiser und Reich, einer Anhänglichkeit, die er auf Hindenburg als
ıErsatzkaiser„ übertrug, zum anderen aus seinem zeitweiligen
Dienst im Wachbataillon Hindenburgs. Da die Sympathien von
Zieburas Vater eher dem ständisch-monarchistischen Zentrumsflü-
gel gehörten als dem demokratisch-republikanischen, bestand eine
gewisse Distanz zur Weimarer Republik. Auf der anderen Seite be-
deutete der Katholizismus zwar auch ıeine gewisse Distanz zum NS-

3 Gilbert Ziebura: Anfänge deutsch-französischer Begegnungen 1947-1951, in: Frank-


reich Jahrbuch 2003, hg. vom Deutsch-Französischen Institut, Opladen 2003, S. 153-
165, hier S. 153.
4 Die Angaben dazu beruhen, sofern nicht anders vermerkt, auf Gesprächen mit
Gilbert Ziebura.
464 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

Regime„, doch wurde sie aufgehoben durch die erfolgreiche groß-


deutsche Politik Hitlers, die insbesondere bei der (ehemaligen)
Grenzbevölkerung auf Zustimmung stieß. Auf Anweisung des Va-
ters, für den als Beamter der Eintritt in die NSDAP ein Muss war,
wurde Ziebura 1936 als Schüler eines Realgymnasiums HJ-Mitglied.
Obwohl – oder weil – Ziebura in der katholischen Jugend seiner
Pfarrei aktiv und Mitglied des ıNeuen Deutschland„ (ND), einer
Organisation katholischer Oberschüler war, begünstigte ıdiese aus
der Tradition der Jugendbewegung genährte Alltagserfahrung die
dann erfolgende nationalsozialistische ,Sozialisation erheblich„, be-
wirkte, dass ıder Übergang von der katholischen Jugendbewegung
zur Hitler-Jugend [⁄] eher sanft, jedenfalls ohne Bruch„ verlief.5
Das sozialmoralische Herkunftsmilieu und die Zugehörigkeit zu
einer Generation, die in ihren entscheidenden Sozialisationsetappen
vom Nationalsozialismus geprägt wurde und für die es keine alter-
native Erfahrung gab (es sei denn, man gehörte einem proletari-
schen, fest in einer sozialistischen oder kommunistischen Tradition
verwurzelten Milieu an), führten dazu, dass auch Ziebura weder den
Charakter des Regimes durchschaute, noch sich Gedanken machte
über den Krieg und seine Begründung bzw. Berechtigung. Er teilt
das Schicksal einer schuldlos verblendeten, in die Irre geführten
und im Krieg geopferten Generation. Das Nachdenken setzte erst
ein, als er nach einer schweren Verwundung – erst seit einigen Ta-
gen an der Front, wurde ihm im November 1943 in der Schlacht
um Smolensk der rechte Arm amputiert – in einem Schwerbehin-
dertenlehrgang in Cottbus das Abitur nachholte (im Februar 1945).
Im gleichen Haus war ein Lazarett untergebracht und die hier mas-
siv zutage tretende Zerstörung des Menschen durch den Krieg so-
wie die Gespräche mit den oft schon desillusionierten anderen
Lehrgangsteilnehmern begannen ihm die Augen zu öffnen.

5 Interview Picht, a.a.O.


465

Nach dem Kriegsende war Ziebura zunächst, nach einer vierwö-


chigen Schnellausbildung, Volksschullehrer. Zum Wintersemester
1946/47 nahm er an der inzwischen wieder geöffneten Linden-Uni-
versität im sowjetisch besetzten Teil Berlins das Studium der Ge-
schichte, Philosophie und Romanistik auf. Frankreich lag aber wei-
terhin außerhalb seines Gesichtskreises (er lebte im amerikanischen
Sektor Berlins) und auch seiner Interessen. Zwar hatte er im Real-
gymnasium Französisch als erste Fremdsprache gelernt, aber er war
in diesem Fach ıimmer furchtbar schlecht„. Der Unterricht, ıaka-
demisch-abstrakt-literarisch„, hatte ıkeinen wirklichen Bezug zur
Realität [⁄]. Von Frankreich jedenfalls [⁄], von seiner Geschichte
und Kultur, verstanden wir nichts.„6 Die Motivation für sein Ge-
schichtsstudium blieb, durchaus verständlich, ja nahe liegend, na-
tional begrenzt: Wie und warum ist es zur ıDeutschen Katastrophe„
(Friedrich Meinecke) gekommen? Welche (Fehl)Entwicklungen der
preußisch-deutschen Geschichte haben dazu geführt? Es bedurfte
eines glücklichen Zufalls, um Ziebura auf sein ıLebensthema„, Ge-
schichte und Politik Frankreichs und die deutsch-französischen Be-
ziehungen, zu lenken.

Begegnungen und Erfahrungen mit Frankreich und


Franzosen
Der ıZufall„ war das erwähnte, vom Studentenpfarrer arrangierte
Zusammentreffen mit einem jungen Franzosen. Der Ziebura sofort
sympathische junge Mann war Mitglied in einer deutsch-französi-
schen ıEquipe„ in der französischen Besatzungszone, die, unter Lei-
tung eines französischen Jesuitenpaters, das Ziel verfolgte, junge
Deutsche und Franzosen einander näher zu bringen. Seine konkrete
Aufgabe bestand darin, für ein Treffen französischer und deutscher

6 Interview Picht, a.a.O.


466 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

Studenten zu werben, das schon im September 1947 in Überlingen


stattfinden sollte. Dieses Treffen wurde für Ziebura, der daran teil-
nahm (er war in der katholischen Studentengemeinde aktiv und
konnte leidlich Französisch), so etwas wie ein Damaskus-Erlebnis.7
Ziebura war von diesem Projekt von Anfang an ıfasziniert„: ıWäh-
rend die Besatzer, die Franzosen eingeschlossen, von rééducation
sprachen, war hier plötzlich von Aussöhnung die Rede.„8 Die Dis-
kussionen verliefen zunächst ıin einem außerordentlich gereizten
Klima„. Man stritt ıüber die Vergangenheit, über den Faschismus,
über die deutsche Schuld am Ausbruch des Krieges, aber auch
über ganz konkrete Erfahrungen, etwa in deutscher bzw. französi-
scher Kriegsgefangenschaft.„ Ein Scheitern des Treffens schien be-
vorzustehen, aber ıdank der glücklichen Hand des französischen
Studentenpfarrers [⁄] konnten die Wogen geglättet werden.„9 ıAn
die Stelle gegenseitiger Anklage trat der Wille zu sachlicher, kühler
Analyse. Immer stärker setzte sich die Erkenntnis durch, dass wir
verurteilt waren, eine gemeinsame Zukunft zu bauen, ohne die un-
terschiedlichen Positionen und Erfahrungen zu vertuschen.„10 Dieses
Treffen, das er als ıeinen gewaltigen Schock„ empfand, bildete für
Ziebura einen ıWendepunkt„, hat seine ıganze weitere Entwicklung
bestimmt„: ıEinmal war ich entschlossen, mich für eine Verbesse-
rung der deutsch-französischen Beziehungen einzusetzen, nicht auf
der Ebene der großen Politik, sondern über persönliche Begegnun-
gen [⁄]. Zum anderen verschärfte sich die kritische Auseinanderset-
zung mit der deutschen Geschichte im Rahmen meines Studiums
[⁄]. Schließlich zeigten sich erste Umrisse einer Vision Europas als

7 Von ihm eingehend und anschaulich geschildert in Ziebura: Anfänge, a.a.O. Diese
Schilderung liegt den folgenden Ausführungen zugrunde. Auch die Zitate sind
daraus oder dem Interview Picht entnommen.
8 Ebd., S. 154.
9 Interview Picht, a.a.O.
10 Ziebura: Anfänge, a.a.O., S. 155.
467

gemeinsames Ziel beider Völker.„11 ıDas wichtigste Ergebnis des


Treffens bestand darin, dass sich Freundschaften bildeten, die viele
Jahre hielten„.12 Es entstand ein ıNetzwerk„, das in den folgenden
Treffen (1949 wieder in Überlingen, 1950 und 1951 in Berlin, von
Ziebura selbst organisiert) erweitert und fester geknüpft wurde. In
einem wenn auch eng umgrenzten Kreis bildeten sich erste zivilge-
sellschaftliche Beziehungen.
Aufgrund der Blockade konnte Ziebura am Treffen 1948 nicht
teilnehmen. Aber es wurde ihm von französischer Seite die Gele-
genheit geboten, ıim Flugzeug des Generals König [⁄] nach Baden-
Baden ausgeflogen zu werden„ und nach Paris weiterzureisen.13
Auch wenn er diese Reise nicht mehr vollständig rekonstruieren
kann, hat sie bleibende und prägende Eindrücke bei ihm hinterlas-
sen. Durch die Begegnung mit Arbeiterpriestern, die ihn ıam stärk-
sten bewegt, ja erschüttert hat„,14 lernte er das proletarische Frank-
reich kennen, eine für ihn völlig neue Erfahrung.
Diese Erfahrungen, die während seines Studienaufenthaltes in
Paris 1950 bis 1952 noch wesentlich vertieft wurden, haben Zieburas
ıpolitisches Weltbild entscheidend geprägt„: Durch ıdie unter-
schiedliche, ja teilweise entgegengesetzte Art, wie in Frankreich und
Deutschland der nun voll ausbrechende Ost-West-Konflikt wahrge-
nommen wurde [⁄] begriff ich, dass meine Berliner Weltschau ein-
seitig und oberflächlich war.„15 ıVöllig neu„ war für ihn auch, dass
es in Frankreich eine derart starke Linke gab und dass soziale und
politische Konflikte mit derartiger Härte ausgetragen wurden. Insge-
samt rückte Ziebura, der sich bisher im katholisch-kleinbürgerlichen

11 Interview Picht, a.a.O.


12 Ziebura: Anfänge, a.a.O., S. 156.
13 Ebd., S. 158.
14 Ebd., S. 160.
15 Interview Picht, a.a.O.
468 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

Spektrum bewegte,16 mit seinen politischen Auffassungen deutlich


nach links. Als er 1952 aus Paris nach Berlin zurückkehrte, vertrat er
ıin allen anfallenden Grundsatzdebatten Minderheitenpositionen„:17
Er wurde ıein leidenschaftlicher Gegner der Wiederbewaffnung„,
kritisierte die Entwicklung der FU, an die er nach deren Gründung
gewechselt hatte und die er mit aufgebaut hatte, zur Ordinarien-
universität, geriet ıin Widerspruch zu den restaurativen Tendenzen
des Adenauer-Staates.„18
Seit dem Überlinger Studententreffen von 1947 hatte sich Ziebu-
ras Interesse für Frankreich stetig gesteigert. Aus Vorurteilen war
Faszination geworden. Er war entschlossen, ıdiese Erfahrungen auf-
zuarbeiten. So entstand das Thema meiner Dissertation.„19 Aber:
ıSchnell wurde mir klar, dass zwischen gutem Willen und solider
Kenntnis des Nachbarlandes eine große Kluft bestand. Da kam mir
ein glücklicher Zufall zu Hilfe.„20

Wissenschaftliche Beschäftigung mit Frankreich


ıVom Herbst 1950 ab verbrachte ich mit einer kleinen Gruppe
deutscher Studenten, die als erste von einem französischen Staats-
stipendium profitierte, ein Studienjahr in Paris.„21
Diesen Aufenthalt konnte er mit einem Stipendium der Studien-
stiftung um ein weiteres Jahr verlängern. Diese beiden Jahre ıbe-
deuteten nicht nur die Chance des Kennenlernens der Realität
Frankreich„,22 die er bisher nur in kleinen Ausschnitten und jeweils
nur für kurze Zeit erfahren hatte, sondern auch und vor allem den

16 Er war 1945 der CDU beigetreten, zu der er aber schon bald auf Distanz ging.
17 Interview Picht, a.a.O.
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Ziebura: (Um)Wege, a.a.O., S. 10.
21 Ebd.
22 Interview Picht, a.a.O.
469

Beginn einer intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit seiner


Geschichte, Gesellschaft und Politik.
Beim Dissertationsthema ging es zwar schon um die deutsch-
französischen Beziehungen, aber die starke politische Motivation
zielte vor allem auf eine kritische Auseinandersetzung mit der deut-
schen Geschichte. Es ging ihm um die Frage, ıob die Revanche-
Idee für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges in dem Maße mit-
verantwortlich gewesen war, wie es die deutsche Geschichtsschrei-
bung behauptet hatte.„ Damit stellte er sich gegen den ıDrang zur
Apologie deutscher Politik und die dahinterstehende Absicht, das
nationale Selbstbewußtsein unbefleckt zu erhalten.„23 Wie stark
diese Tendenz in der deutschen Geschichtswissenschaft Mitte der
50er Jahre noch war, verrät das sich distanzierende Vorwort der
Herausgeber der Reihe, namhafte Professoren des Friedrich-
Meinecke-Instituts der FU Berlin.24
In Paris wandte sich Ziebura auf Empfehlung seines Lehrers
Hans Herzfeld an Pierre Renouvin, dem in Frankreich führenden
Historiker der Internationalen Beziehungen. Zu ihm gewann er ein
außerordentlich gutes Verhältnis, das über eine normale Lehrer-
Schüler-Beziehung hinausging und das auch nach dem Ende von
Zieburas Paris-Aufenthalt fortbestand. Die besondere Sympathie,
die der bedeutende und vielbeschäftigte Sorbonne-Professor dem
jungen deutschen Doktoranden entgegenbrachte, beruhte auf ihrem
gemeinsamen Schicksal als Schwerverwundete der Kriege (Renou-
vin hatte im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren): ein schönes Bei-
spiel für eine frühe Versöhnung ehemaliger Feinde.
Obwohl das Geschichtsstudium in Berlin noch in traditionellen
Bahnen verlief, dem Primat der Außenpolitik verpflichtet blieb und

23 Gilbert Ziebura: Die deutsche Frage in der öffentlichen Meinung Frankreichs von
1911-1914, Berlin 1955, Persönliches Vorwort, S. 8.
24 Ebd., S. 6f.
470 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

das Wirken ıgroßer Männer„ privilegierte, während innergesell-


schaftliche Machtverhältnisse vernachlässigt wurden, geht Zieburas
Dissertation über eine herkömmliche Ereignisgeschichte hinaus. Un-
ter dem Einfluss Renouvins untersucht er mit einem ideologiekriti-
schen Ansatz die öffentliche Meinung, eine der forces profondes,
die Renouvin einige Zeit später zu einem neuen Konzept der Ge-
schichte der internationalen Beziehungen entwickeln sollte. Auch
wenn, wie Ziebura selbstkritisch bemerkt, die Arbeit ıkeine gesell-
schaftliche Tiefenwirkung„25 erreicht, so thematisiert sie doch die
von der deutschen Geschichtswissenschaft bis dato kaum berück-
sichtigte Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenpolitik.
Diese Problematik sollte, durch soziale und ökonomische Faktoren
ergänzt, Ziebura immer wieder beschäftigen.
Nach der Promotion erhielt Ziebura die Chance, an der wieder
gegründeten Deutschen Hochschule für Politik in Berlin tätig zu
sein, zunächst als Lehrbeauftragter, dann als wissenschaftlicher Assis-
tent am Lehrstuhl von Ernst Fraenkel, der ihn ıin den Bann seiner
starken, den Lehrkörper dominierenden Persönlichkeit zog.„26
Ziebura wandte sich also der Politikwissenschaft zu, was für ihn aber
keinen ıgroßen Sprung„ bedeutete. Dabei fragte er noch nicht nach
der ıVerbindung von ökonomischer Entwicklung und gesellschaftli-
chen Machtstrukturen„, analysierte noch nicht politische Macht als
Ausdruck ökonomischer Machtverhältnisse, wie es die ihn beein-
druckenden Persönlichkeiten Hans Rosenbergs und Franz L. Neu-
manns während ihrer Gastprofessuren in Berlin lehrten, sondern
verfolgte, unter dem Einfluss Fraenkels, eine institutionell-normative
Sichtweise des Politischen. Es ging um ıein Ensemble von Institu-
tionen (wozu auch Parteien und Interessenverbände gehörten), de-
ren möglichst optimales Funktionieren als ,Regierungssystem im

25 Ziebura: (Um)Wege, a.a.O., S. 11.


26 Ebd., S. 12.
471

Mittelpunkt des Interesses stand [⁄]. Hauptgegenstand der For-


schung war mithin der politische Entscheidungsprozeß.„27
Die Quellenbücher zur IV. und V. französischen Republik,
1956/57 und 1960 erschienen, sind ein Ergebnis dieser Schaffens-
periode und dem Fraenkelschen Ansatz verpflichtet. Sie erschließen
zuverlässig und quellengesättigt ein Regierungssystem, über das in
der Bundesrepublik damals eher Vorurteile als solide Kenntnisse
verbreitet waren. Sie legten das Fundament für die in den 60er Jah-
ren dann einsetzende deutsche sozialwissenschaftliche Frankreich-
forschung.
In der zweiten Hälfte der 50er Jahre entstand auch Zieburas Ha-
bilitationsschrift über den französischen Sozialisten und Ministerprä-
sidenten der Volksfrontregierung 1936/37, Léon Blum.28 Schon wäh-
rend seines Pariser Doktorandenstudiums hatte ihn diese ebenso
sympathische wie komplexe Persönlichkeit fasziniert. Ziebura ver-
knüpft in seiner Darstellung die Person Léon Blums mit dessen
ıIdeal„ der sozialistischen Doktrin, der ıWirklichkeit der Partei„
und der ıWirklichkeit des parlamentarischen Regierungssystems„ zu
einer Strukturanalyse, die freilich von jeglichem Determinismus und
Schematismus weit entfernt ist. Ziebura hat die erste, wenn auch
unvollendete,29 wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biogra-
phie dieses Politikers geschrieben. Es spricht für ihre Qualität, dass
sie – wohl als erste deutschsprachige politikwissenschaftliche Habili-
tationsschrift überhaupt – ins Französische übersetzt wurde. Das
Buch fand in der Fachwelt große Beachtung und Ziebura war nun
in der Bundesrepublik endgültig der führende Mann für französi-
sche Politik und Zeitgeschichte geworden.

27 Ebd.
28 Gilbert Ziebura: Léon Blum. Theorie und Praxis einer sozialistischen Politik, Bd. 1:
1872-1934, Berlin 1963.
29 Der zweite Band, der die „Wirklichkeit der Macht“, also vor allem die Volksfront-
regierung und ihre Politik darstellen sollte, wurde nicht geschrieben.
472 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

Bereits 1964 wurde Ziebura auf einen politikwissenschaftlichen


Lehrstuhl mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Be-
ziehungen an seine Heimatuniversität, die FU Berlin berufen. So
berechtigt die darin zum Ausdruck kommende Anerkennung seines
wissenschaftlichen fiuvres ist, so anregend Ziebura für das Teilge-
biet Internationale Beziehungen wurde und so erfreulich natürlich
für ihn persönlich die Berufung war – für die Frankreichforschung
war sie wohl eher bedauerlich, denn, so Ziebura selbst, ıvon da an
war Frankreich nur ein Strang meiner wissenschaftlichen Bemühun-
gen.„30 In den Vordergrund seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, für
die in den unruhigen Berliner Jahren ohnehin zu wenig Zeit blieb,
traten unvermeidlich die internationalen Beziehungen, der er sich
auch in Konstanz, wohin er 1974 gewechselt war, fast ausschließlich
widmete. Erst mit dem Wechsel nach Braunschweig (1978) wandte
er sich wieder verstärkt Frankreich zu. Immerhin erschienen noch
zu Beginn der 70er Jahre wichtige Aufsätze31 sowie vor allem sein
wohl am weitesten verbreitetes, auch am meisten Anstoß erregendes
Buch über die deutsch-französischen Beziehungen, die erste
deutschsprachige Gesamtdarstellung der Thematik.32 Diese zuge-
spitzt kritische Analyse passte gar nicht in die bei jedem Gipfeltref-
fen wiederholten wechselseitigen Freundschaftsbeteuerungen, wurde
gar als eine Art Nestbeschmutzung empfunden. Gerade weil Ziebura
an die ihm besonders am Herzen liegenden deutsch-französischen
Beziehungen einen besonders hohen Anspruch stellt, fallen seine

30 Interview Picht, a.a.O.


31 Vor allem „Interne Faktoren des französischen Hochimperialismus 1871-1914. Ver-
such einer gesamtgesellschaftlichen Analyse“ (mehrfach nachgedruckt) und „Frank-
reich. Theorie und Praxis der V. Republik“, beide wieder abgedruckt in: Ziebura:
Ausgewählte Aufsätze, a.a.O.
32 Gilbert Ziebura: Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Rea-
litäten, Pfullingen 1970. Eine bis in die 90er Jahre fortgeschriebene Neuauflage er-
schien 1997.
473

Urteile mitunter allzu schroff aus. Wohl nicht zuletzt deshalb kam eine
ursprünglich geplante französische Ausgabe nicht zustande.
Die Studentenbewegung, die er am Otto-Suhr-Institut der FU
hautnah miterlebte und für deren ıgrundsätzliche Motive„ er Ver-
ständnis hatte, deren dogmatischen Marxismus er aber ablehnte,33
führte Ziebura, unter Rückbesinnung auf die Fragestellungen Hans
Rosenbergs und Franz L. Neumanns und unter dem Einfluss Eckart
Kehrs zu einer Neuorientierung seiner Arbeiten. Er wandte sich nun
entschieden von der klassischen Regierungslehre mit ihrer Vernach-
lässigung sozioökonomischer Zusammenhänge ab und stellte nun
die ıgesamtgesellschaftliche Analyse„ in das Zentrum seiner For-
schungen. Bereits die umfangreiche, 1971 erschienene empirische
Untersuchung über den französischen Hochimperialismus, die im
Untertitel als ein ıVersuch„ des neuen Ansatzes vorgestellt wird, ist
ein Beleg für Zieburas sozioökonomische ıWende„.34 In Fortführung
dieses Ansatzes und in Anlehnung an die französische Annales-
Schule35 mit ihrem Zentralbegriff einer histoire totale versucht
Ziebura, Frankreichs Geschichte seit der Großen Revolution als die
einer ıbürgerlichen Gesellschaftsformation„ zu beschreiben.36
Zieburas Eingeständnis, dass das Buch den ıhochgespannten theo-
retischen Erörterungen [⁄] nur annäherungsweise gerecht„37 wurde,
war einer der Gründe, warum die im Vorwort angekündigten bei-
den Folgebände nicht geschrieben wurden. Das Aufgeben seines

33 Interview Picht, a.a.O.


34 Vgl. Anm. 31.
35 Der freilich wenig rezipierte Reader, den Ziebura zusammen mit Heinz-Gerhart Haupt
herausgegeben hat, stellt Arbeiten dieser Richtung in deutscher Übersetzung vor:
Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich seit 1789, Köln 1975.
36 Gilbert Ziebura: Frankreich 1789-1870. Entstehung einer bürgerlichen Gesellschafts-
formation, Frankfurt/Main 1979. Ursprünglich geschrieben als Beitrag in: Theodor
Schieder (Hg.): Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981.
37 Ziebura: (Um)Wege, a.a.O., S. 16. Mehrere Aufsätze in diesem Band stellen weitere
Versuche dar, den theoretischen Anspruch in Anwendung auf die gegenwärtige Si-
tuation Frankreichs empirisch einzulösen.
474 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

ehrgeizigen Projekts verweist auf die kaum zu lösenden Probleme


bei der Realisierung eines derartigen theoretischen und methodi-
schen Anspruchs. So ist es auch kein Zufall, dass dieser von Ziebura
mit besonders hohen Ansprüchen und Erwartungen verknüpfte ıge-
samtgesellschaftliche Ansatz„ von der Frankreichforschung nicht
aufgegriffen wurde.

Einfluss und Wirkung


Einfluss und Wirkung einer Person, insbesondere eines Intellektuel-
len, sind präzise sicher nicht zu bestimmen, aber einige mehr oder
weniger plausible Erörterungen sind möglich. Dabei gilt es, ver-
schiedene Formen und Bereiche zu unterscheiden.
Wie eingangs bereits erwähnt, ist Gilbert Ziebura einer breiteren
Öffentlichkeit nicht bekannt. Eine Wirkung etwa wie Alfred Grosser
hat er nicht erzielt, weder diesseits noch jenseits des Rheins, konnte
und wollte er nicht. Er hat nur relativ selten in Zeitungen geschrie-
ben und, etwa im Vorwärts, keineswegs immer über französische
Themen. Ein Fernseh-Professor war er nie. Gleichwohl hat er über
den Universitätsbereich oder kleine Intellektuellenzirkel hinaus
durchaus gewirkt und Einfluss ausgeübt.
Bereits bei den ersten deutsch-französischen Studententreffen
bildete sich ein ıNetzwerk„, das über das 1948 gegründete Bureau
International de Liaison et de Documentation (B.I.L.D.) in Paris so-
wie die Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit in Köln die
Zeitschriften Documents und Dokumente herausgab, die für die In-
formation über das jeweilige Nachbarland und den deutsch-franzö-
sischen Dialog eine herausragende Bedeutung gewannen. Ziebura
war mit beiden, zeitweise auflagenstarken und im deutsch-französi-
schen ıMilieu„ meinungsbildenden Publikationen ıbis Anfang der
siebziger Jahre eng verbunden, als Autor in den Zeitschriften, zeit-
475

weise als Vorstandsmitglied.„38 Er hat, insbesondere in Dokumente,


bis Mitte der 70er Jahre zahlreiche Rezensionen und Artikel ge-
schrieben. Mit seiner Hinwendung zur Forschung über die Interna-
tionalen Beziehungen allgemein und seiner zunehmend kritischen
Einstellung zur Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses
hat er sich aus diesem ıNetzwerk„ weitgehend zurückgezogen und
für die beiden Zeitschriften nicht mehr publiziert, wurde auch nicht
mehr dazu aufgefordert. Seine allzu scharfen, weil an hohe Ansprü-
che angelegten Urteile wie seine Neigung zum Pessimismus mach-
ten ihn, der ohnehin seit Anfang seiner akademischen Karriere
durch ıein starkes Gefühl der Unabhängigkeit„ zum ıEinzelgänger„
wurde,39 mehr und mehr zum Außenseiter. Aus beruflichen wie
persönlich-politischen Gründen hat er zu einem Zeitpunkt, als seine
ıAutorität„ als Frankreich-Experte einen Höhepunkt erreicht hatte,
Einfluss und Wirkung teilweise zurückgenommen.
Auch dem Deutsch-Französischen Jugendwerk hat Ziebura sein
Wissen, seine Erfahrung, seinen Rat zur Verfügung gestellt. Auch
hier war natürlich sein Rat mit Kritik, aber auch Reformvorschlägen
verbunden. Insbesondere im Zusammenhang mit der 68er Studen-
tenbewegung, als auch das DFJW in eine turbulente Phase geriet,
hat er sich in die Diskussionen eingeschaltet und für eine stärkere
Politisierung des Austausches plädiert.40
Berücksichtigt man noch, dass Ziebura seit den 50er Jahren eine
ausgedehnte Vortragstätigkeit in Volkshochschulen und bei den
verschiedensten deutsch-französischen Begegnungen eine Art
außeruniversitäre Praxis ıabsolviert„ hat, so wird deutlich, dass er
im zivilgesellschaftlichen Bereich der deutsch-französischen Bezie-

38 Ziebura: Anfänge, a.a.O., S. 157.


39 Ziebura: Ausgewählte Aufsätze, a.a.O., S. 337.
40 Vgl. seine kritische Analyse und seine Vorschläge sowie die zusammenfassenden
Empfehlungen des DFJW selbst in: Ziebura: Die deutsch-französischen Beziehungen,
a.a.O., Ausgabe 1997, S. 509-516.
476 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

hungen bis Mitte der 70er Jahre, teilweise darüber hinaus eine be-
achtliche Rolle gespielt hat.
Ein zweiter, einem Professor für Politikwissenschaft sich anbie-
tender Wirkungsbereich ist die Politikberatung. Ziebura hat diese
Chance, die für jeden, der über Politik ınur„ am Schreibtisch nach-
denkt oder in den Archiven forscht, reizvoll ist, wahrgenommen, als
sie sich ihm bot. Von 1966 bis 1969 war er Mitglied im Planungs-
stab des Bundeskanzleramtes unter Kurt Georg Kiesinger, obwohl
er der CDU inzwischen sehr fern stand und viele ihrer politischen
Positionen ablehnte. Das Motiv der Regierenden, ihn um Mitarbeit
in diesem Gremium zu bitten, ist sicher darin zu suchen, dass er in
der Bundesrepublik als der beste Kenner der französischen Politik
ausgewiesen war und man sich von seiner Expertise eine Verbesse-
rung der deutsch-französischen Beziehungen erhoffte, die sich trotz
des Abschlusses des Elysée-Vertrages unter Kanzler Erhard äußerst
unbefriedigend entwickelt hatten. Ob und inwiefern Zieburas Wis-
sen und Rat zur Verbesserung dieser Beziehungen, die unter der
Kanzlerschaft Kiesingers tatsächlich eintrat, beigetragen hat, ist
schwer zu sagen. Nur kurze Zeit und in Einzelfällen hat Ziebura
noch als Berater Egon Bahrs und Georg Lebers (in seiner Funktion
als Verteidigungsminister) gewirkt.
Insgesamt nimmt die Politikberatung in Zieburas, sich über in-
zwischen ein halbes Jahrhundert erstreckende Tätigkeit, nur einen
marginalen Platz ein. Auch hier dürfte seine ıkantige und undiplo-
matische„ Persönlichkeit, sein ıSchwimmen gegen den Strom„,41 die
zunehmende Radikalität seiner Stellungnahmen, ımit einer mehr
beißenden als lächelnden Ironie vorgetragen„,42 einem weiterge-
henden Engagement im Wege gestanden haben.

41 Hartmut Elsenhans u.a.: Vorwort, in: dies. (Hg.): Frankreich – Europa – Weltpolitik.
Festschrift für Gilbert Ziebura zum 65. Geburtstag, Opladen 1989, S. 12, 15.
42 Alfred Grosser: Gilbert Ziebura, in: Festschrift Ziebura, a.a.O., S. 17f.
477

Der einem Universitätsprofessor naturgemäße Einfluss- und Wir-


kungsbereich ist die Wissenschaft, deren Fortgang er durch eigene
Publikationen und als Lehrer durch die Ausbildung von Schülern
beeinflussen, vielleicht maßgeblich prägen kann. Doktorarbeiten
und Habilitationsschriften finden in aller Regel nur einen eng be-
grenzten Leserkreis von Fachleuten. Gilbert Ziebura macht davon
keine Ausnahme, doch hat sein Léon Blum-Buch nicht nur viel
Aufmerksamkeit in der Fachwelt hervorgerufen,43 sondern ihm
auch, insbesondere durch eine französische Ausgabe in einer sehr
renommierten Reihe, eine breitere Leserschaft gebracht. Die Quel-
lenbände über die IV. und die V. Republik waren primär für die
Studentenschaft bestimmt und sicher auch darauf beschränkt, aber
gerade deshalb sollte ihre Wirkung nicht unterschätzt werden. Es
wurde schon darauf hingewiesen, dass das Buch über die deutsch-
französischen Beziehungen (Ausgabe 1970) Zieburas am weitesten
verbreitetes Buch ist. Ein Teil der Auflage wurde von der Bundes-
zentrale für politische Bildung an Interessenten kostenlos abgege-
ben. Es wurde nicht nur in Fachzeitschriften, sondern auch in Ta-
geszeitungen besprochen. Die Verbreitung eines Buches sagt zwar
noch nicht viel über seine Wirkung, aber es spricht einiges für die
Annahme, dass Zieburas Darstellung und Interpretation einen be-
achtlichen Einfluss auf die Fachöffentlichkeit und darüber hinaus
gehabt hat.
Am stärksten hat Ziebura nach Einschätzung des Verfassers als
Hochschullehrer und Doktorvater gewirkt. Zwar lag dem, wie er
selbst sagt, ıfrei schwebenden„ Intellektuellen, der sich ınie, bis
heute, irgendeiner Denkschule zugehörig oder auch nur verpflichtet
gefühlt„ hat,44 der zum ıEinzelgänger außerhalb aller Schulbildun-

43 Nach Auskunft von Ziebura sind in Fachzeitschriften 75 Besprechungen erschienen,


eine ungewöhnlich hohe Zahl.
44 Interview Picht, a.a.O.
478 Adolf Kimmel: Gilbert Ziebura

gen„45 wurde, nichts ferner als selbst eine Schule zu bilden und
durch eine entsprechende Lobbytätigkeit seine Schüler in wichtigen
Positionen unterzubringen, aber es kommt ihm doch – und sei es
ımalgré lui„– eine Art wissenschaftlicher ıVaterschaft„ über die sich
seit den 60er Jahren entwickelnde sozialwissenschaftliche Frank-
reichforschung in der Bundesrepublik zu. Die nur sechs Doktoran-
den, die mit frankreichbezogenen Themen bei ihm promovierten,46
bilden allein noch keinen Gradmesser. Zieburas Konzentration auf
die Internationalen Beziehungen allgemein, nach seiner Berufung
auf einen einschlägigen Lehrstuhl in Berlin 1964, war der entschei-
dende Grund dafür, dass sich die Mehrzahl seiner Doktoranden mit
Themen aus diesem Teilgebiet befasst hat.
Die ıVaterschaft„ Zieburas für die deutsche sozialwissenschaftli-
che Frankreichforschung wurde offenkundig, als 1985 am Deutsch-
Französischen Institut in Ludwigsburg ein ıArbeitskreis Sozialwis-
senschaftliche Frankreichforschung„ gebildet wurde. ıDie Mehrzahl
der Teilnehmer [hatte] bei Ziebura studiert oder wenigstens unter
seinem Einfluß gestanden.„47 Bei der Gründung des Frankreich Jahr-
buchs, dem inzwischen etablierten Diskussionsforum der Frankreich-
forschung, wirkte er maßgeblich mit und förderte dieses Unternehmen
mit seiner wissenschaftlichen Autorität und seinen Anregungen.
Es ist nicht übertrieben, Gilbert Ziebura als den ıNestor, Mentor
und Inspirator der sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung in
der Bundesrepublik„48 zu bezeichnen. Er hat sie begründet und ihre
Entwicklung durch seine eigenen Arbeiten, seine Fragestellungen
und Anregungen, durch seine Schüler (und Enkel) entscheidend
beeinflusst; nicht zuletzt, das wird ihm gewiss nicht missfallen, durch
eine fortdauernde kritische Auseinandersetzung mit seinen nicht sel-

45 Ziebura: Ausgewählte Aufsätze, a.a.O., S. 337.


46 Vgl. das Verzeichnis in der Festschrift Ziebura, a.a.O., S. 576ff.
47 Alfred Grosser: Gilbert Ziebura, in: Festschrift Ziebura, a.a.O., S. 18.
48 Hartmut Elsenhans u.a.: Vorwort, in: Festschrift Ziebura, a.a.O., S. 15.
479

ten provozierenden Thesen. Er hat dadurch das deutsche Frank-


reichbild mitgeprägt und durch seine verschiedenen ıaußerwissen-
schaftlichen„ Aktivitäten in der zivilgesellschaftlichen Dimension der
deutsch-französischen Beziehungen eine in der breiten Öffentlich-
keit zwar kaum wahrgenommene, aber dennoch beachtliche Rolle
gespielt.
481

Raymond Schmittlein (1904-1974),


ein Kulturmittler zwischen Deutschland
und Frankreich?
Corine Defrance
482 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

Im Rückblick auf seine erste Begegnung mit Raymond Schmittlein


im Jahre 1947 schrieb der damalige Mainzer Theologie-Student
Peter Manns: ıWir mußten uns viele Geschichten anhören, die uns
den großen Manitou Schmittlein als eine Art Kultur-Goebbels der
französischen Besatzungszone furchterregend darstellen. [⁄] Unser
Rapport führte vielmehr zu einer wirklichen Begegnung, die
ihrerseits zu einer Freundschaft heranreifte, von deren Früchten für
die Studentenschaft, die einzelnen Fakultäten, das Seminar und die
gesamte Alma mater [Mainz] gleich zu reden ist.„1
Dass die deutschen Zeitgenossen in dem ıKulturgeneral„ schon
bald einen Helfer und Brückenbauer sahen, bestätigte seine Ehren-
promotion an der Mainzer Universität im Jahre 1947.2 Dieses im all-
gemeinen positive Bild von Schmittlein fordert auf Grundlage des
aktuellen Forschungsstandes zum Status von Mittlern3 zum einen die
Frage heraus, ob er überhaupt die Kriterien für einen Mittler erfüllt,
zum anderen ob er als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich
gelten kann. Mittler werden üblicherweise durch ihre Verankerung in
der Zivilgesellschaft4 ihres Herkunftslandes gekennzeichnet und entfal-
ten ihre Aktivitäten als Gründer, Organisator und /oder Multiplikator:
ıEn général, ils exercent les fonctions de créateurs, en formulant des

1 Peter Manns: Höchst persönliche Erinnerungen an einen großen Franzosen und die
bewegten Jahre der Wiederbegründung einer alten Universität. In Memoriam
Raymond Schmittlein, Mainz 1978, S. 75-82.
2 Ehrenpromotion Schmittlein, Universitätsarchiv/Mainz, Bestand 13/220; vgl. Corine
Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974), Leben und Werk eines französischen
Gründungsvaters der Universität Mainz, in: Michael Kissener, Helmuth Mathy (Hg.):
Ut homnes unum sint, Teil 1: Gründungspersönlichkeiten der Johannes Gutenberg-
Universität, Stuttgart 2005, S. 11-30.
3 Vgl. Hans Manfred Bock: Vom Beruf des kulturellen Übersetzens zwischen Deutsch-
land und Frankreich, oder Verzagen die Mittler?, in: Lendemains 22 (1997), Nr. 86/87,
S. 8-19; Katja Marmetschke: Mittlerpersönlichkeiten. Neuere biographische Arbeiten
zur Mittlerfunktion zwischen Frankreich und Deutschland, in: Lendemains 25 (2000),
Nr. 98/99, S. 239-257.
4 Vgl. Hans Manfred Bock: Das Deutsch-Französische Institut in der Geschichte des
zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich, in: ders.
(Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am
Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, S. 14f.
483

schémas dÊinterprétation de lÊautre nation, dÊorganisateurs, en favori-


sant la rencontre de représentants des deux nations, et enfin celle de
vulgarisateurs, en cherchant à diffuser et imposer leur interprétation à
un grand public par la voie de lÊenseignement, de la presse, de confé-
rences, dÊémissions à la radio ou à la télévision etc. Les médiateurs
franco-allemands du XXe siècle ont été (et sont toujours) simul-
tanément ou successivement des créateurs, des organisateurs et des
vulgarisateurs.„5
Dieser Beitrag wird sich nicht nur auf jenen Zeitabschnitt be-
grenzen, als Schmittlein Leiter der Kulturabteilung der französi-
schen Militärregierung bzw. der Hohen Kommission (1945-1951)
war, sondern möchte darüber hinaus ermitteln, welches transnatio-
nale gesellschaftliche Engagement er vor und nach seinen Jahren in
Deutschland an den Tag legte. Die hier gesammelten Erfahrungen
sollen im Zusammenhang mit seinem vorherigen Werdegang be-
leuchtet werden, um schließlich zu erklären, welche Interdependen-
zen zwischen diesen Aktionsfeldern und seinem Wirken als gaullisti-
scher Parlamentarier bestanden.

Raymond Schmittlein und Deutschland:


familiäres Milieu und Studium
Schon das familiäre Milieu Raymond Schmittleins vermittelt einen
ersten Eindruck seiner ıprédispositions subjectives„ und ıimpulsions
décisives„6 in Bezug auf Deutschland, die sowohl von familiärer
Verflechtung als auch von mentaler Distanz dominiert waren.
Raymonds Großmutter väterlicherseits kam aus Mainz und heiratete
einen Elsässer, der 1870 im deutsch-französischen Krieg als Soldat

5 Hans Manfred Bock: Créateurs, organisateurs et vulgarisateurs. Biographies de


médiateurs socio-culturels entre la France et l’Allemagne au XXe siècle, in: Revue
d’Allemagne et des pays de langue allemande 33 (2001), Nr. 4, S. 453-467, hier S. 455.
6 Ebd.
484 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

der französischen Armee fiel. Sie kehrte daraufhin mit ihrem Sohn
Charles nach Mainz zurück,7 der sich nach einer Ausbildung in
Deutschland und Russland 1883 als Textilingenieur im Départe-
ment de la Meuse niederließ. Charles heiratete die Elsässerin Louise
Scherer und entschloss sich – vermutlich aus beruflichen Gründen –
nach Roubaix zu gehen. In dieser großen Textilindustriestadt im
Norden Frankreichs wurde Raymond Schmittlein am 19. Juni 1904
als fünftes von sechs Kindern geboren. Ob er mit seinen Eltern bzw.
einem seiner Elternteile Deutsch sprach, entzieht sich leider unserer
Kenntnis.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war Raymond Schmittlein
noch zu jung, um persönlich die Erfahrung des kämpfenden Solda-
ten zu machen, doch bestimmten die direkten und indirekten Wir-
kungen des Krieges auch seinen Werdegang: seine älteren Brüder
hatten als Soldaten gegen Deutschland gekämpft, und ab 1915 war
Roubaix von deutschen Truppen besetzt gewesen. Zudem waren in
gleichem Jahr seine Eltern erkrankt und gestorben, so dass das Wai-
senkind von seiner älteren Schwester aufgezogen wurde. Während
sich Altersgenossen seiner Generation nach dem Trauma des Ersten
Weltkrieges dem Pazifismus verschrieben und für die deutsch-fran-
zösische Annäherung engagierten,8 ließ sich bei Raymond Schmitt-
lein zu dieser Zeit kein nennenswertes Interesse für Deutschland
nachweisen. Vielmehr übte nach seinem Abitur im Jahre 1924 das
Militär eine permanente Faszination auf ihn aus. Aus diesem Grund
meldete er sich freiwillig und diente von Mai bis November 1924
als Zuave bei der Rheinarmee, um sich nach dieser Erfahrung in

7 Vgl. Robert Marquant: Raymond Schmittlein 19 juin 1904-29 septembre 1974, in:
Manfred Heinemann (Hg.): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwe-
sens in Westdeutschland 1945-1952. Die französische Zone, Hildesheim 1991, S. 21f.
8 Vgl. Bock: Beruf des kulturellen Übersetzens, a.a.O., S. 9; vgl. Ilde Gorguet, Les mou-
vements pacifistes et la réconciliation franco-allemande dans les années vingt (1919-
1931), Bern 1999.
485

die École des Officiers de Réserve in Saint-Cyr einzuschreiben. Im


Anschluss wurde er zu dem in Marokko stationierten Régiment de
Tirailleurs Nord-Africains delegiert, wo er die von Abd-El-Krim ge-
leitete Revolte (guerre du Rif ) erlebte. Doch schon im November
1925 wurde er schwer verletzt und musste endgültig auf eine Offi-
zierskarriere verzichten.9
Dank eines Stipendiums konnte er daraufhin ein Theologiestu-
dium aufnehmen, doch entschied er sich bereits 1926 für ein Medi-
zinstudium und war gleichzeitig in Slawistik (Russisch) an der École
des Langues Orientales eingeschrieben. Wann er sein Germani-
stikstudium aufnahm, ist noch ungeklärt, doch erwarb er 1931 die
Licence dÊallemand an der Sorbonne und beschloss im folgenden
Jahr, die Agrégation dÊallemand in Berlin vorzubereiten, die er 1932
bestand.10 Während seines Aufenthalts in der deutschen Hauptstadt
lernte er seine zukünftige Frau – Gerta Eichholz – kennen, über die
sich in der Folge auch seine familiäre Bindung nach Deutschland
wieder verstärkte. Nach ihrer Heirat im März 1932 kehrte das Ehe-
paar nach Frankreich zurück, und Raymond Schmittlein arbeitete
als Deutschlehrer am Gymnasium in Chartres. Neben seiner Lehrer-
tätigkeit beschäftigte ihn nun auch Deutschland; so wurde er u.a.
1932/33 in die Vorbereitung der großen Goethe-Ausstellung in der
Pariser Bibliothèque Nationale eingebunden.11 Diese ıExperten-
funktion„ erlebte jedoch ein schnelles Ende, als er sich entschied,
ins Baltikum zu gehen, wo er die Jahre bis zum Zweiten Weltkrieg
verbrachte.

9 „État des services“, Service Historique de l’Armée de Terre, Paris/Vincennes [SHAT],


Personalakte Raymond Schmittlein; Militärdienstbescheinigungen, Privatunterlagen
Raymond Schmittlein.
10 Vgl. Defrance: Schmittlein Leben und Werk, a.a.O.
11 Vgl. Marquant, a.a.O., S. 22.
486 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

Die Erfahrung des zivilgesellschaftlichen


Engagements: die baltischen Jahre
Die sich anschließenden Aktivitäten von Schmittlein in Kaunas (Li-
tauen) und Riga (Lettland) müssen im damaligen internationalen
Kontext betrachtet werden. Nachdem sich das französische Inter-
esse seit Anfang der 1920er Jahre auf Estland und Lettland konzen-
triert hatte, richtete sich der Blick der Regierung in Paris erst später
auf Litauen. Frankreich hatte nach dem Versailler Vertrag enge Be-
ziehungen zu Polen unterhalten und legte sich in den ständigen
polnisch-litauischen Spannungen während der 1920er Jahre eine zu-
rückhaltende Position auf. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde
der erste französische Lektor erst 1934/35 an die Universität Kaunas
entsandt, während französische Lektoren an den Universitäten in
Lettland und Estland schon seit 1927/28 lehrten.12 Sie gehörten ne-
ben den Instituts Français zu den Vorposten der französischen Kul-
turpolitik der 1920er und 1930er Jahre, die in Ost- und Nord-
Europa ein Gegengewicht zum deutschen Einfluss schaffen wollte.13
Nachdem die nationalsozialistische ıMachtergreifung„ im Jahre
1933 die steigende Angst vor Deutschland in Litauen weiter verfe-
stigt hatte, war eine sich verstärkende Frankophilie in Litauen zu
beobachten. Paris durfte die Erwartungen nicht enttäuschen, da sich
die litauische Regierung immer auch die Möglichkeit offen hielt, die
britische Karte zu spielen.
Neben seiner Tätigkeit als Lektor an der Universität, in der er
die universitären Beziehungen zwischen beiden Ländern intensi-

12 Vgl Julien Gueslin: La France et les petits États baltes: réalités baltes, perceptions
françaises et ordre européen (1920-1932), phil. Diss., Université de Paris I, 2004.
13 Vgl. Dominique Bosquelle: L’Allemagne au cœur de la politique culturelle de la
France en Europe centrale et nordique dans l’entre-deux-guerres, phil. Diss., Univer-
sité d’Aix-Marseille I, 2001; Hans Manfred Bock: Initiatives socio-culturelles et con-
traintes politiques dans les relations universitaires entre la France et l’Allemagne
dans l’entre-deux-guerres, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande
34 (2002), Nr. 3, S. 297-310, hier S. 299f.
487

vierte14 (diese berufliche Verankerung im akademischen Milieu ist


die typische Basis einer Mittleraktivität15), spielte Schmittlein als pri-
vater Akteur eine wichtige Rolle für die französisch-litauische Ver-
ständigung. Hier begann sein zivilgesellschaftliches Engagement.
Während dieser Zeit wurde er ein ıMittler„ zwischen Litauen – und
später auch Lettland – und Frankreich. Er gründete zwar keine
neuen Strukturen und Vereine,16 da sie schon Jahre zuvor von litau-
ischen Persönlichkeiten ins Leben gerufen worden waren: in Kaunas
existierten eine litauisch-französische Gesellschaft (seit 1923), eine
französische Buchhandlung (seit 1930) und ein litauisch-französi-
scher Kindergarten (1931).17 Vielmehr engagierte sich Schmittlein
insbesondere für die Verbreitung der französischen Sprache und
die Ausbildung der Französischlehrer. Er schrieb Französisch-Lehr-
bücher für Schüler: die mehrbändigen Douce France und Sans Fa-
mille wurden in Kaunas zwischen 1935 und 1938 veröffentlicht. Er
lehrte zudem freiwillig an der Société Lituano-Française, zu deren
Generalsekretär er ernannt wurde, und hielt Vorträge über ver-
schiedene Themen.18 1937 hatte Schmittlein erheblichen Anteil an
der Organisation einer großen Ausstellung in Kaunas anlässlich des
125. Jahrestages des Durchzuges Napoleons durch Litauen.19 1936/

14 Brief von Dulong, französischer Gesandter in Kaunas an Außenminister Pierre Laval,


23.10.1935, Ministère des Affaires étrangères/Paris [MAE/Paris], Bestand 1918/40, Li-
tuanie, Nr. 92. Aufzeichnung des Erziehungsministers für das Außenministerium,
27.4.1935, MAE/Nantes, Bestand SOFE [Service des œuvres françaises à l’étranger],
1932/1940, Nr. 292.
15 Vgl. Marmetschke, a.a.O., S. 244.
16 „In der Regel können Mittler kaum auf funktionierende Strukturen zurückgreifen,
sondern müssen selbst die gesamte Aufbauarbeit in die Wege leiten,“ schreibt Katja
Marmetschke, a.a.O., S. 243.
17 MAE/Nantes, SOFE, Bd. 71, Brief von G. Padovani, französischer Gesandter in Li-
tauen, an Außenminister Raymond Poincaré, 26.10.1923.
18 Brief von Ristelhueber, französischer Gesandter in Kaunas, an das Außenministe-
rium, 11.3.1935 und an Laval, 15.5.1935, MAE/Nantes, SOFE, Bd. 547.
19 Schmittleins Engagement für die Organisation dieser Ausstellung wurde in dem po-
pulären französischen Magazin L’Illustration gewürdigt, L’Illustration, 19.6.1937, Ar-
tikel von Jean Mauclère.
488 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

1937 war er an den Vorbereitungen (insbesondere hinsichtlich der


Bibliotheksausstattung und Bücherauswahl) zur Gründung des
Institut Français in Kaunas beteiligt, dessen Direktor er aber zu sei-
nem Leidwesen nicht wurde. Nach vier Jahren in Kaunas musste
Schmittlein im Sommer 1938 Litauen verlassen. Von litauischer
Seite wurde ihm vorgeworfen, aufgrund seiner elsässischen Her-
kunft, seines Berufes als Deutschlehrer und aufgrund seiner Ehe mit
einer Deutschen zu deutschlandfreundlich zu sein. Er konnte sich
jedoch weiterhin der Unterstützung durch die französischen Behör-
den sicher sein und wurde Leiter des 1930 eröffneten französischen
Gymnasiums in Riga und des dort schon 1921 gegründeten Institut
Français.20
Ihm blieb nur wenig Zeit als ıKulturattaché„ in Lettland, denn
schon am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Um-
gehend wurde er als Militärattaché und Chef des französischen
Nachrichtendienstes für die baltischen Länder mobilisiert. Nunmehr
besaßen die kulturellen Aktivitäten für ihn keine Priorität mehr. Im
Anschluss an eine Sabotageaktion im Hafen von Riga wurde
Schmittlein bereits am 13. Dezember 1939 festgenommen und in-
haftiert,21 doch Ende Dezember mit der Auflage entlassen, das Ge-
biet auf dem schnellsten Wege zu verlassen, so dass er sich am
4. Januar 1940 nach Stockholm einschiffte.22 So dürfte er sich das
Ende seines Engagements für die französisch-baltische Verständi-
gung und Annäherung nicht vorgestellt haben!

20 Vgl. Defrance: Schmittlein Leben und Werk, a.a.O.


21 Vgl. Henri Navarre: Le service de renseignements, 1871-1944, Paris 1978, S. 175. Zum
Vorfall mit dem Schiff Sierra Cordoba und die Verwicklung Schmittleins siehe Jean de
Beausse: Carnets d’un diplomate français en Lettonie 1939-1940, Riga 1997, Notizen
vom 9.-22.12.1939, S. 147-150.
22 Privatunterlagen Raymond Schmittlein. Bei dieser übereilten Flucht verlor er seine
minutiös hergestellten Karteien von litauischen Ortsnamen und seine Notizen, wel-
che die Grundlage seiner Doktorarbeit bildeten. Erst acht Jahre später veröffentlichte
er eine Studie über sein Forschungsthema (Études sur la nationalité des Aestii, tome
1, Toponymie lituanienne, Bade 1948, S. 15f.).
489

Wenn wir das zivilgesellschaftliche Engagement Schmittleins in


diesen Jahren rückblickend betrachten, dann ist in erster Linie sein
wissenschaftliches Interesse an den baltischen Staaten zu nennen,
das sich nach 1934 entwickelt hatte: Im Anschluss an die agrégation
hatte er mit dem Gedanken gespielt, eine Doktorarbeit zu schrei-
ben, und sich in dieser Frage an Ernest Tonnelat gewandt. Dieser
Sorbonne-Germanist war Spezialist auf dem Gebiet der Mediävistik
und Linguistik, doch zugleich ein Vertreter der ıgermanistique de la
méfiance„.23 Ernest Tonnelat und Émile Benveniste, Professor am
Collège de France, bestärkten Schmittleins Entschluss, eine linguisti-
sche Arbeit über Orts- und Personennamen in Litauen zu verfas-
sen.24 Diese intellektuellen Wanderungen zwischen der Germanistik
und der Slawistik mit einem ausgeprägten Interesse für Randgebiete
waren keine Ausnahme, sondern charakteristisch für bestimmte
Germanistenkreise während der Zwischenkriegszeit.25 Mit diesem
Forschungsprojekt bewarb er sich gleichzeitig bei der Kulturabtei-
lung des Quai dÊOrsay um eine Stelle als französischer Lektor.
Ob und inwieweit die Themenwahl seiner Doktorarbeit und die
damit eng verbundene Bewerbung für ein Lektorat im Baltikum
auch politisch motiviert waren, muss offen bleiben; es liegt aber auf
der Hand, dass ein so kluger Geist wie Schmittlein die politischen
Hintergründe seiner kulturellen Mission nicht ignorieren konnte.
Die deutsch-französische Rivalität um den Einfluss im Baltikum war

23 Vgl. Michel Espagne, Michael Werner (Hg.): Les études germaniques en France
(1900-1970), Paris 1994, S. 8f.
24 Vgl. Schmittleins Widmung für Ernest Tonnelat in seinem Buch: Études sur la natio-
nalité des Aestii, Bd. 1, Toponymie lituanienne, Bade 1948, und das Vorwort dieses
Werkes.
25 Vgl. Michel Espagne: Le train de Saint-Pétersbourg. Les relations culturelles franco-
germano-russes après 1870, in: Katia Dmitrieva, Michel Espagne (Hg.): Philologiques
IV. Transferts culturels triangulaires France–Allemagne–Russie, Paris 1996, S. 311-
335, hier S. 319; Michel Espagne: Les germanistes français et l’école normale, in:
Michel Espagne (Hg.): L’École Normale Supérieure et l’Allemagne, Leipzig 1995,
S. 201-218, hier S. 213f.
490 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

ihm bewusst, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sein


Engagement für die litauisch-französische Verständigung auch eine
anti-deutsche Komponente hatte.
Wir hatten gesehen, dass sein Interesse für Deutschland nicht in
ein aktives Engagement für die deutsch-französische Annäherung
mündete und er nie jenen Privatorganisationen angehörte, die wäh-
rend der ıLocarno Ära„ entstanden waren.26 Als tief überzeugter
Patriot, der eine militärische Karriere angestrebt hatte, sah Schmitt-
lein in dem östlichen Nachbarn eine potentielle Gefahr, ohne aber
die Deutschen als ıErbfeinde„ zu hassen, wie aus seinen familiären
Bindungen deutlich wird. Während seiner Jahre in Kaunas und
Riga sah er sich jedoch mit dem expansionistischen Machtstreben
des nationalsozialistischen Deutschlands konfrontiert, das er in Me-
mel beobachtete und für die französische Nachrichtenagentur
Havas analysierte. Sehr frühzeitig erkannte er die Natur des Natio-
nalsozialismus und warnte vor seinen Gefahren. Nach dem Aus-
bruch des Zweiten Weltkriegs förderten die während seiner ıbalti-
schen„ Jahre gemachten Erfahrungen zweifellos sein unmittelbares
politisches Engagement für die France-Libre.27
Schmittleins Aktivitäten in Kaunas und Riga werfen eine zweite
Frage auf: Verband sich sein sozio-kulturelles Engagement mit der
Funktion eines transnationalen Mittlers? Wenn man Mittler als
ıÜbersetzer„ einer fremden Kultur und Nation in seinem eigenen
Land definiert,28 dann erfüllte Schmittlein diese Kritierien nur un-
vollständig. Vielmehr scheint es, dass er sich in diesen Jahren mit
einer ihm fremden Kultur vor Ort vertraut machte und sich in sie

26 Vgl. Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (Hg.): Entre
Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930,
Paris 1993.
27 Vgl. Corine Defrance: Raymond Schmittlein: un itinéraire dans la France Libre, entre
activités militaires et diplomatiques, in: Relations Internationales 108 (2001), S. 487-
501, hier S. 489.
28 Vgl. Bock: Beruf des kulturellen Übersetzens, a.a.O., S. 9.
491

hineinzufühlen begann. Er war gleichzeitig ein sehr wichtiger und


besonders gutwilliger Ansprechpartner für die litauischen Mittler,
welche die schon funktionierenden Verständigungsstrukturen und
Vereine gegründet hatten. Darüber hinaus ergriff er selbst Initiative,
um das dortige Interesse für Frankreich zu erweitern (Sprachkurse,
Schulbücher; Konferenzen, Aufsätze, Ausstellungen, Bücher usw.) und
die intellektuellen und universitären Netzwerke weiter auszubauen,
die er nach dem Krieg teilweise wieder aktivierte. Dagegen gibt es
keine Hinweise darauf, dass er sich in diesen Jahren um eine breitere
Rezeption der baltischen Kultur in Frankreich selbst bemühte.

Das politische Engagement für das Freie Frankreich


gegen das nationalsozialistische Deutschland
Bereits Anfang Juli 1940 schloss sich Schmittlein von Schweden aus
dem nach London emigrierten de Gaulle an. Sein politisches Enga-
gement im gaullistischen Widerstand kann hier nicht thematisiert
werden, doch soll daran erinnert werden, dass er während der
Kriegsjahre politische und existentielle Erfahrungen sammelte, die
für seinen weiteren Lebensweg bestimmend waren: Anfang 1941
war Schmittlein an der Errichtung des Radiosenders des ıFreien
Frankreich„ in Haifa beteiligt29 und arbeitete mit jüdischen Organi-
sationen (Hagana) in Palästina bei der technischen Installation von
Radio France Libre zusammen. Diese Erfahrungen begründeten
maßgeblich seine Sympathie und sein späteres Engagement für
Israel. Von Frühjahr 1942 bis November 1943 hielt sich Schmittlein
als Nummer 2 der Délégation de la France libre unter Leitung von
René Garreau in Kouïbychev auf. Am 26. August 1943 erhielt
Schmittlein dann direkt von Molotow die vollständige Anerkennung

29 Vgl. Charles de Gaulle: Mémoires, Paris 2000; François Coulet: Vertu des temps diffi-
ciles, Paris 1967, S. 95-106.
492 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

des Comité français de la Libération nationale 30 und damit die Un-


terstützung der France-Libre durch Moskau. Obwohl Schmittlein
keinerlei Sympathie für die kommunistische Ideologie empfand,
vergaß er nie diese Unterstützung von sowjetischer Seite. Auch nach
dem Krieg blieb er ein treuer Freund Moskaus und – ganz wie der
von ihm bewunderte de Gaulle – ein permanenter Kritiker der Ver-
einigten Staaten.

Schmittlein in Deutschland: Besatzer oder Mittler?


Ab Juli 1944 nahm Schmittlein an verschiedenen Militäraktionen
zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus teil (Feldzug in Ita-
lien, Landung in Saint-Tropez, Befreiung von Belfort usw.). Er drang
mit den Truppen von General Jean-Pierre de Lattre de Tassigny in
Deutschland ein, war für einige Tage Gouverneur von Germers-
heim und erlebte die Einnahme von Karlsruhe als Soldat. Am Tag
der Kapitulation des ıDritten Reiches„ befand er sich somit auf
deutschem Boden.31 Einige Wochen später wurde er von René
Capitant, dem französischen Ministre de lÊÉducation Nationale, zum
Leiter der Direction de lÊÉducation Publique der französischen Mili-
tärregierung ernannt. Diese Phase in Schmittleins Leben dürfte all-
gemein bekannt sein,32 so dass auf den nächsten Seiten weniger die
Grundzüge seiner Politik im Mittelpunkt stehen als vielmehr die
Frage, ob er als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich anzu-
sehen ist.
In seinem Aufsatz über die kulturelle Vermittlung schreibt Hans
Manfred Bock: ıEine andere Ursache der Einbuße an Glaubwür-
digkeit der Mittler ist gegeben, wenn sie ihre zivilgesellschaftliche

30 Vgl. Defrance: Schmittlein itinéraire, a.a.O., S. 496.


31 Vgl. ebd., S. 499.
32 Vgl. Stefan Zauner: Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in
Deutschland 1945-1949, München 1994; Corine Defrance: La politique culturelle de la
France sur la rive gauche du Rhin (1945-1955), Straßburg 1994.
493

Bodenhaftung verlieren; d.h. wenn sie sich gouvernemental verein-


nahmen und instrumentalisieren lassen.„33 Da Raymond Schmittlein
von 1945 bis 1951 als Vertreter der Französischen Republik und
damit einer Besatzungsmacht in Deutschland diente, stellt sich die
Frage, ob er in dieser Funktion, d.h. als Vertreter einer staatlichen
Kulturpolitik, überhaupt als Mittler in Frage kommt.34
Ohne diese prinzipielle Frage schon vorab zu beantworten, soll
vorerst das Wirkungsfeld von Mittlern beleuchtet werden, um dar-
auf zu antworten, ob Schmittlein die transnationale Verständigung
und Annäherung gefördert hat. Unzweifelhaft musste es unmittelbar
nach der bedingungslosen Kapitulation des ıDritten Reiches„ die
erste Aufgabe von Besatzungsoffizieren wie Schmittlein sein, dem
Sicherheitsbedürfnis des eigenen Landes zu genügen.35 So war dann
auch die Hauptaufgabe der französischen Kulturpolitik im besetzten
Deutschland die sogenannte Umerziehung (rééducation) des deut-
schen Volkes, die zwei eng miteinander verbundene Aspekte um-
fasste: zum einen Entnazifizierung und ıEntpreußifizierung„ als ıre-
pressive„ Komponente, zum anderen die ıDemokratisierung„ der
deutschen Gesellschaft als ıkonstruktive„ Komponente. Erstere war
verständlicherweise keine geeignete Basis für die transnationale Ver-
ständigung und wurde auch von der deutschen Bevölkerung insge-
samt als sehr hart empfunden, so dass Ressentiments gegen die Be-
satzungsmacht sehr verbreitet waren und das jeweilige Bild vom
anderen in jenen Jahren durch vergangene und gegenwärtige Erfah-
rungen belastet war.36 Doch interessanterweise sahen gerade die

33 Bock: Beruf des kulturellen Übersetzens, a.a.O., S. 10.


34 Vgl. Marmetschke, a.a.O., S. 250.
35 Vgl. Rainer Hudemann: Kulturpolitik im Spannungsfeld der Deutschlandpolitik, in:
Franz Knipping, Jacques Le Rider (Hg.): Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland
1945-1950, Tübingen 1987, S. 15-34, hier S. 21.
36 Vgl. Dietmar Hüser: Frankreich, Deutschland und die französische Öffentlichkeit 1944-
1950: Innenpolitische Aspekte deutschlandpolitischer Maximalpositionen, in: Stefan
Martens (Hg.): Vom „Erbfeind“ zum „Erneuerer“. Aspekte und Motive der französischen
Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, Sigmaringen 1993, S. 19-64, hier S. 27;
494 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

schärfsten Kritiker der harten französischen Besatzungspolitik (ıAus-


beutungskolonie„) in der Kulturpolitik eine ıAusgleichspolitik„,37
was zunächst dazu führte, dass sich die ersten wissenschaftlichen
Studien die These von der ıKehrseite der Medaille„ zu eigen mach-
ten.38 Diese musste im Anschluss an die Öffnung der Archive im
Jahre 1986 jedoch schon bald revidiert werden, da die wirtschaft-
lichen und politischen Maßnahmen einer nuancierteren wissen-
schaftlichen Betrachtung unterzogen wurden und sich auch die Kul-
turpolitik als potentiell konfliktauslösend erwies. Über die Jahre und
die verschiedenen Interpretationen hinweg verblieb die von Schmitt-
lein angeleitete Kulturpolitik jedoch immer in einem günstigen Licht
und wird auch heute noch als positiv bewertet.
Welche Inhalte verfolgte Schmittlein nun im Rahmen seiner Kul-
turpolitik und wie waren die Reaktionen auf deutscher Seite? Zu
einem permanenten Konfliktfeld entwickelte sich 1946/47 die Schul-
reform, mit der der Leiter der Direction de lÊÉducation Publique
(DEP) die Gründung von Simultan- bzw. Gemeinschaftsschulen
durchsetzen wollte, die im Gegensatz zu Bekenntnisschulen über-
konfessionell organisiert waren. Darüber hinaus begünstigte er das
Französische zu Lasten des Latein und gedachte das französische
Notensystem sowie das Zentralabitur nach französischem Vorbild
einzuführen, was von der deutschen Bevölkerung abgelehnt wurde.
In den ersten Jahren versuchte er nicht, mit den Deutschen – auch
nicht mit den unbelasteten Deutschen – zusammenzuarbeiten, denn
er war von ihrer Unfähigkeit überzeugt, ihre eigenen Landsleute

Edgar Wolfrum: Die Besatzungsherrschaft der Franzosen 1945 bis 1949 in der Erin-
nerung der Deutschen, in: GWU 46 (1995), Nr. 10, S. 567-582, hier S. 571.
37 Theodor Eschenburg: Jahre der Besatzung, 1945-1949 (Geschichte der Bundesrepu-
blik, Bd. 1), Stuttgart 1983, S. 97.
38 Angelika Ruge-Schatz: Le revers de la médaille. Contradictions et limites de l’apport
culturel du gouvernement militaire français en Allemagne, in: Jérôme Vaillant (Hg.):
La dénazification par les vainqueurs, Lille 1981, S. 105-120.
495

umzuerziehen.39 Zwar baute Schmittlein sein Netz deutscher An-


sprechpartner aus,40 aber die Reziprozität des Austausches kam für
ihn unter den Bedingungen der Militärbesatzung nie in Frage.
Unter solchen Umständen ist es ausgeschlossen, Schmittlein in
den unmittelbaren Nachkriegsjahren als ıoffiziellen Mittler„ zu be-
zeichnen, obwohl er zweifelsohne wichtige Grundstrukturen der
Verständigung und der Annäherung begründet hatte. Die schon im
Herbst 1945 entstandene Initiative, eine neue Universität in Mainz
zu eröffnen – die Gründung einer Hochschule durch eine Besat-
zungsmacht für die ihr unterstellte Bevölkerung erscheint in der hi-
storischen Rückschau einmalig – wurde von den Betroffenen hoch
gewürdigt.41 Die Verleihung der Ehrenpromotion an den Directeur
de lÊÉducation Publique war außerordentlich bedeutend, denn sie
war zum damaligen Zeitpunkt eines der wenigen Zeichen für die
überwundene Kluft zwischen Besatzer und Besetzten. Sie war eine
Geste, deren Symbolik auch für das Bild der französischen Besat-
zungsmacht nicht unerheblich war. Die Gründung der beiden
Hochschulen in Germersheim und Speyer, auch wenn letztgenannte
anfangs heftig angefeindet wurde, war ein wichtiger Teil einer kon-
struktiven Hochschulpolitik, die darauf abzielte, die zukünftigen
deutschen Eliten zu Demokraten zu erziehen. In diesem Umer-
ziehungsprozess war es Schmittlein besonders wichtig, die ıAllema-
gne nouvelle„ mit verständigungsbereiten Kräften wie Emmanuel
Mounier und Alfred Grosser und deren Comité français dÊéchanges
avec lÊAllemagne nouvelle in Kontakt zu bringen,42 um auf diese

39 Vgl. Corine Defrance: Les alliés occidentaux et les universités allemandes, 1945-1949,
Paris 2000, S. 325.
40 Vgl. über die Rolle der Partner Bock: Beruf des kulturellen Übersetzens, a.a.O., S. 9,
und Marmetschke, a.a.O., S. 242.
41 Vgl. Anm. 2.
42 Vgl. Carla Albrecht: Das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle als
Wegbereiter des Deutsch-Französischen Jugendwerks, in: Lendemains 27 (2002), Nr.
107/108, S. 177-189; Alfred Grosser: Une vie de Français. Mémoires, Paris 1997.
496 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

Weise die Verständigungsarbeit zwischen beiden Ländern auf eine


tragfähige Grundlage zu stellen.
In den Jahren 1949/50 war Schmittlein in Zusammenarbeit mit
deutschen Intellektuellen und Wissenschaftlern maßgeblich an der
Gründung des Instituts für Europäische Geschichte43 und der Aka-
demie der Literatur und der Wissenschaften in Mainz beteiligt,44 die
beide mit verschiedenen Akzenten die Aussöhnung zwischen den
ıErbfeinden„ und die westeuropäische Integration fördern sollten.
Außerdem zeigte sich der Leiter der DEP beim Wiederaufbau der
deutschen kulturellen Institutionen großzügig: Als Mäzen und ıFör-
derer„ war Schmittlein an entscheidender Stelle für den (Wieder-)
Aufbau von Mainzer Museen und Kirchen sowie dem Südwestfunk
in Baden-Baden verantwortlich.45
Von Anfang an war es ein weiteres Ziel Schmittleins, die Isolie-
rung Deutschlands nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur
zu durchbrechen. So konzipierte er die Öffnung der deutschen Ge-
sellschaft gegenüber dem Ausland und die Wiederanbahnung von
Kontakten als Teile der Umerziehungs- und Demokratisierungspoli-
tik. In diesem Rahmen haben Jugendbegegnungen und berufliche
Zusammentreffen eine erhebliche Rolle gespielt, um den deutsch-
französischen Gesellschaftsbeziehungen in allen sozio-kulturellen
und sozio-professionellen Kategorien Impulse zu geben.46 Auch

43 Vgl. Winfried Schulze, Corine Defrance: Die Gründung des Instituts für Europäische
Geschichte Mainz, Mainz 1992.
44 Corine Defrance : Les autorités françaises d’occupation face à la création de
l’Académie des Sciences et des Lettres de Mayence, 1949-1955, in: Joseph Jurt (Hg.):
Von der Besatzungszeit zur deutsch-französischen Kooperation/De la période
d’occupation à la coopération franco-allemande, Freiburg 1993, S. 169-188.
45 Vgl. Corine Defrance: Éléments d’une analyse de la politique culturelle française en
Allemagne à travers son financement, 1945-1955, in: Revue d’Allemagne et des pays
de langue allemande 23 (1991), Nr. 4, S. 504-507; dies.: Mainz in der französischen
Kulturpolitik, 1945-1951, in: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für ar-
chäologie, Kunst und Geschichte 98 (2003), S. 73-84.
46 Vgl. Hans Manfred Bock: Wiederbeginn und Neuanfang in den deutsch-französi-
schen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen 1949 bis 1955, in: Lendemains 21
497

wenn Schmittlein diese Begegnungen selten selbst organisierte, so


sorgte er doch dafür, dass es innerhalb der von ihm geleiteten DEP
eine Abteilung für Jugend und Sport sowie das Büro Éducation
populaire gab. Für diese Aufgaben, die den Boden für Annäherung
und Versöhnung bereiteten, versammelte Schmittlein Experten um
sich, die über Erfahrungen mit der Éducation populaire sowie mit
kultureller und transnationaler Vermittlung verfügten, und dafür sor-
gten, dass private Akteure allmählich diese Aufgabe übernahmen.47
Nicht nur der Fall von Schmittlein, sondern auch das Beispiel
des französischen Hochkommissars André François-Poncet (auf
deutscher Seite wäre Wilhelm Hausenstein zu nennen, der erste di-
plomatische Vertreter der Bundesrepublik in Paris) weisen auf Per-
sönlichkeiten hin, die nach 1945 ıaus dem zivilgesellschaftlichen in
den gouvernementalen Bereich„ übertraten und sich angespornt
vom ıpolitischen Konsens der deutsch-französischen Beziehungen„
während der Ära Adenauer zu Mittlern entwickelten.48 Ein frühes
Beispiel aus der unmittelbaren Nachkriegszeit war Joseph Rovan,
der wie andere ıhommes de bonne volonté„ nicht zögerte, den
Umweg über die Militärregierung im besetzten Deutschland zu be-
schreiten und in dieser Erfahrung eine wichtige Etappe vor seiner
Rückkehr in die zivilgesellschaftliche Arbeit sah. Das vorüberge-
hende Engagement Rovans für die offizielle Kulturarbeit unter-
streicht, dass es unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen
gerechtfertigt oder sogar notwendig erschien, innerhalb der offiziel-
len staatlichen Strukturen mitzuarbeiten, um auf zivilgesellschaftli-

(1996), Nr. 84, S. 58-66; ders.: Gesellschaftliche Neubegründung des interkulturellen


Austauschs. Zur Vorgeschichte und Struktur des Deutsch-Französischen Jugend-
werks 1949-1963, in: Lendemains 27 (2002), Nr. 107/108, S. 139-145.
47 Vgl. Jacqueline Plum: Das Europäische Jugendtreffen auf der Loreley im Sommer
1951: Ein jugendpolitischer Einigungsversuch, in: Lendemains 27 (2002), Nr. 107/108,
S. 190-201; dies.: Französische Kulturpolitik in Deutschland 1945-1955. Das Beispiel
der Jugendbewegungen und privaten Organisationen, phil. Diss., Bonn, 2004.
48 Bock: Beruf des kulturellen Übersetzens, a.a.O., S. 12.
498 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

cher Ebene wirken zu können.49 Etwas anders verlief der Weg des
Jesuitenpaters Jean du Rivau,50 der sich neben seiner offiziellen Tä-
tigkeit als Besatzungsoffizier für die deutsch-französische Annähe-
rung engagierte.

„Nach Deutschland“ oder das „Primat des


politischen Engagements“ bei Schmittlein
Doch kommen wir zu Schmittlein zurück, dessen Tätigkeiten im
Anschluss an die Besatzungszeit nur schwerlich als Mittlerarbeit be-
zeichnet werden können. Seine Erfahrung in der offiziellen Kul-
turarbeit war für ihn nicht der ıGründungsakt„ eines zivilgesell-
schaftlichen Engagements im Dienste der deutsch-französischen
Verständigung.51 Vielmehr war für ihn das ıidentitätsstiftende
Schlüsselerlebnis„ die Erfahrung der Résistance und das totale
Engagement an der Seite de Gaulles, dem er sich sehr verbunden
fühlte. So verließ er auf Wunsch de Gaulles 1951 Deutschland, um
eine politische Karriere als député du territoire de Belfort zu beginnen.
In dieser Funktion blieb er Zeit seines Lebens ein Außenseiter in
der deutschen Frage. Seine Aktivitäten seit den 1950er Jahren deu-
ten nicht nur auf sein spannungsgeladenes Verhältnis zur Bundesre-
publik hin, sondern zugleich auf sein Desinteresse für die Entwick-
lung der Bonner Republik. Zwar begrüßte er im Januar 1963 die
Unterzeichnung des Elysée-Vertrages, verpasste aber in der Folge
keine Gelegenheit, die enge transatlantische Bindung der Bundesre-
publik zu kritisieren und die Bonner Politik als verantwortlich für

49 Vgl. Joseph Rovan: L’Allemagne de nos mérites, in: Esprit 11 (1945), S. 529-540; ders.:
Les relations franco-allemandes dans le domaine de la jeunesse et de la culture
populaire (1945-1971), in: Revue d’Allemagne 4 (1972), Nr. 3, S. 675-704; ders.: Mémoi-
res d’un Français qui se souvient d’avoir été Allemand, Paris 1999.
50 Vgl. Michel Gurvel: Le fondateur Jean du Rivau, in: Documents (1990), Nr. 1, S. 125-131.
51 Vgl. Marmetschke, a.a.O., S. 243.
499

die andauernde deutsche Teilung zu verurteilen.52 Es war Aus-


druck seiner unvoreingenommenen Haltung in der deutschen
Frage, dass er Mitglied (anscheinend nicht sehr aktiv!) der Ende
der 1950er Jahre gegründeten Freundschaftsgesellschaft Frankreich-
DDR (Échanges franco-allemands/EFA, später Association France-
RDA) wurde und sich wiederholt für die Anerkennung der DDR
aussprach. Die um die Aufrechterhaltung ihres Alleinvertretungsan-
spruchs besorgte Regierung in Bonn intervenierte in solchen Fällen
umgehend bei der Regierung in Paris und protestierte, als Schmitt-
lein in seiner Funktion als Fraktionsvorsitzende der gaullistischen
Union pour la Nouvelle République verschiedene Male in die DDR
reiste und 1961/62 Äußerungen fallen ließ, welche die ostdeutschen
Stellen als Bestätigung für ihre Anerkennungspolitik und ıZwei-Staa-
ten-Theorie„ präsentieren konnten.53
Als Zeichen für sein Desinteresse an der westdeutsch-französi-
schen Zusammenarbeit und an den Geschehnissen in der Bundes-
republik kann auch sein beträchtliches Engagement für andere
transnationale Beziehungen interpretiert werden. Seit Juni 1957 ge-
hörte er dem Präsidium von France-URSS an, und als Parlamenta-
rier führte er zudem die Freundschaftsgesellschaft France-Israël.54
Vergessen wir auch nicht, dass er anti-sowjetischen Flüchtlingen aus
dem Baltikum, die er noch teilweise von seinem Aufenthalt in
Kaunas und Riga kannte, in Deutschland nach dem Zweiten Welt-
krieg zu helfen versuchte. Diese zahlreichen Engagements ergeben
ein schwer zu deutendes Bild, nicht zuletzt, weil sie auf den ersten
Blick auch untereinander kaum zu vereinen waren.55 Er war kein

52 Vgl. Le Courrier de Belfort et du Territoire, Nr. 434, 25.01.1963; Nr. 592, 01.04.1966.
53 Vgl. Ulrich Pfeil: Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und
Frankreich 1949-1990, Köln 2004, S. 284-288.
54 Vgl. Defrance: Schmittlein Leben und Werk, a.a.O. und dies.: Schmittlein itinéraire, a.a.O.
55 Schmittlein war in Kontakt mit Vyriausias Lietuvos ialaisvinimo Komitetas, dem
Obersten Komitee für die Befreiung Litauens, einer nationalistischen und antikom-
500 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

Kommunist, sondern ein überzeugter Gaullist, zählte sich zur


ıFreien Welt„, gehörte mit seinem karikaturistischen Antiamerika-
nismus aber zugleich zu den schärfsten Kritikern der USA, wie die
von ihm herausgegebene Zeitung Le Courrier de Belfort et du Ter-
ritoire zeigt!56 Lässt sich in diese oberflächlichen Widersprüchlich-
keiten vielleicht doch noch ein ıroter Faden„ bringen? Es scheint
erstens wenig übertrieben, dass Schmittlein ähnlich wie der von ihm
so verehrte General unfähig war (oder sich weigerte), in den binä-
ren Kategorien des Kalten Krieges zu denken. So erscheint neben
seinem Engagement für die France libre die Privataudienz bei
Molotow am 26. August 1943, bei der er die Anerkennung des
Comité Français de la Libération Nationale erreichte, als konstituti-
ves Erlebnis für sein zukünftiges politisches Denken. Seit diesem
Tag empfand er eine Art ewiger Dankbarkeit und Treue gegenüber
der Sowjetunion, die untrennbar von seinen sich in diesen Jahren
sedimentierenden Ressentiments gegen die Vereinigten Staaten zu
sehen ist.
Auch sein Verhalten in der deutschen Frage orientierte sich
nicht entlang der Denkmuster des Kalten Krieges. In der Gründung
der beiden deutschen Staaten und im Eisernen Vorhang, der sich
ab Ende der 1940er Jahre immer undurchlässiger über Deutschland
senkte, sah Schmittlein nichts anderes als die Instrumente der bei-
den antagonistischen Supermächte. Da er aber nicht nur als Politi-
ker handelte, sondern auch als privater Akteur für verschiedene
Verständigungsorganisationen (insbesondere für France-URSS, in
der er sich für eine breitere Rezeption der UdSSR in Frankreich
einsetzte), erscheint das zivilgesellschaftliche Nicht-Engagement für
die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht nur als eine Form

munistischen Organisation; vgl. Tom Bower: The Red WebMI6 and the KGB Master
Coup, London 1989, S. 41f., 58, 94, 122; Defrance: Schmittlein itinéraire, a.a.O.
56 Vgl. Le Courrier de Belfort et du Territoire, Nr. 600, 3.6.1966.
501

der Distanzierung, sondern in Anbetracht der bis dahin geleisteten


Kulturarbeit als ein Rückzug. In seinem Werdegang sind die ıdeut-
schen Jahre„ daher eher in der Kontinuität der ıVorgeschichte„ als
in der Kontinuität der ıNachgeschichte„ zu sehen. Das Jahr 1951 als
Zeitpunkt seiner Rückkehr in die Politik tritt damit als Zäsur in
Schmittleins Verhältnis zu Deutschland immer deutlicher zutage.

Nach diesen Betrachtungen fällt es schwer, Schmittlein als einen


ıklassischen„ deutsch-französischen Mittler zu charakterisieren. Vor
dem Zweiten Weltkrieg gehörte er nicht zu den Kreisen der
deutsch-französischen Annäherung, nach 1951 tat er nicht mehr viel
für diese bilaterale Verständigung und Zusammenarbeit. Es bleiben
die außergewöhnlich wichtigen Jahre der unmittelbaren Nach-
kriegszeit, als die alliierte Besatzung in Deutschland jede traditio-
nelle Form der Vermittlung verhinderte. Zwar hat Schmittlein als
offizieller Vertreter der Besatzungsmacht die französische Kulturpo-
litik in der Zone geleitet, doch setzte er sich weder für die Reziprozi-
tät des Austausches noch für die Information über das ıNeue
Deutschland„ in Frankreich sonderlich ein. Genausowenig war er
Vertreter und Akteur der französischen Zivilgesellschaft, sondern
ein serviteur de lÊÉtat, doch hat er in dieser Funktion zweifelsohne
Brücken zwischen den beiden Staaten und Völkern gebaut: Er war
entscheidend an der Gründung der neuen ıdeutschen„ Kultur-, Bil-
dungs- und Wissenschaftsinstitutionen in der französischen Besat-
zungszone beteiligt und kann angesichts dieser Leistungen als
ıWiederaufbauer„ bezeichnet werden. Indem er zudem die ersten
internationalen und deutsch-französischen Begegnungen der Nach-
kriegszeit in die Wege leitete, erwies er sich als ein sozio-kultureller
ıÖffner„, der in die deutsch-französischen Beziehungen neue
Kommunikationskanäle quer zum Flussbett des Rheins einzog.
Ohne diese unerlässliche Arbeit hätten die privaten Akteure kaum
502 Corine Defrance: Raymond Schmittlein (1904-1974)

ihre Aufgabe als transnationale Mittler beginnen können, eine Auf-


gabe und eine Rolle, die ihm nach seinen Erfahrungen in den balti-
schen Ländern nicht fremd waren. Wenn man sich auf die von
Hans Manfred Bock definierte Typologie deutsch-französischer Mitt-
ler bezieht, ist festzustellen, dass Schmittlein kein ıcréateur„, son-
dern ein ıorganisateur„ sowie ein ıvulgarisateur„ war.57 Vielleicht ist
der Begriff ıTeilengagement„58 geeignet, Schmittleins Verhalten den
Deutschen gegenüber zu erfassen: In den wenigen Jahren seines
Wirkens in Deutschland als offizieller Vertreter der französischen
Regierung konnte er sich nur partiell den Rang eines transnationa-
len Vermittlers erwerben. Wie schon zuvor im Baltikum empfand er
nie das Bedürfnis, sich gegenüber seinen Landsleuten als ıÜberset-
zer„ der deutschen Kultur und Gesellschaft zu betätigen. Schmittlein
blieb immer ein politisch denkender und handelnder Mensch, wor-
auf auch seine Aktivitäten in France-URSS hindeuten. Zwar waren
sie nicht frei von transnationaler Vermittlung, doch dominierte stets
das politische Moment im Dienste seiner strategischen und interna-
tionalen Pläne. Der ıPrimat des Politischen„ und sein daraus abge-
leitetes Engagement unterscheidet ihn von Mittlern wie Grosser und
Rovan,59 so dass sich heute ein merkwürdiges Paradox konstatieren
lässt: Schmittlein blieb in der kollektiven Erinnerung der ıKulturof-
fizier„, der für die Stadt Mainz und das Land Rheinland-Pfalz so viel
getan hatte, während er als gaullistischer Parlamentarier und franzö-
sischer Politiker fast vollständig in Vergessenheit geraten ist!60

57 Vgl. Bock: Créateurs, a.a.O., S. 455f.


58 Vgl. Marmetschke, a.a.O., S. 249.
59 „Im Gegensatz zu den offiziellen Entscheidungsträgern, die als Vertreter staatlicher
Interessen handeln, kann man den zivilgesellschaftlichen Akteuren wohl kaum ein
interesse- und machtpolitisches Kalkül unterstellen. Ihr Engagement ist vor dem Hin-
tergrund einer auf Annäherung und Zusammenarbeit zielenden Vision zu verste-
hen“, schreibt Katja Marmetschke, a.a.O., S. 239), so daß es auch fraglich erscheint,
ob sein Engagement für die Sowjetunion zivilgesellschaftlicher Natur war.
60 Vgl. Defrance: Schmittlein Leben und Werk, a.a.O. sowie dies.: Schmittlein itinéraire,
a.a.O., S. 488.
503

Zwischen Feindbeobachtung und


Verständigungsarbeit:
Edmond Vermeil und die französische
Germanistik in der Zwischenkriegszeit
Katja Marmetschke
504 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

Vorbemerkungen zu den Wirkungs- und


Konstituierungsbedingungen sowie
Funktionen von Mittlern und Intellektuellen
Als mit Beginn des letzten Irak-Krieges die Medien händeringend
unter Wissenschaftlern, Journalisten und ehemaligen Botschaftern
nach Nah-Ost-Spezialisten suchten, die über die Vorgänge im Irak
befragt werden konnten, bestätigte dies einmal mehr die Interpreta-
tionshoheit, die vor allem in Krisen- und Kriegszeiten Länderexper-
ten zugesprochen wird. Aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz, ihrer
länderspezifischen Kenntnisse und ihrer beruflichen Tätigkeit sollen
sie Hintergrundinformationen liefern und das innen- oder außenpo-
litische Verhalten eines Staates schlüssig erklären. In den deutsch-
französischen Beziehungen gibt es eine ganze Reihe von Persön-
lichkeiten, die als Interpreten und Erklärer des jeweiligen Nachbar-
landes ein hohes Maß an Notorietät erlangt und in der Öffentlich-
keit eine Stichwortgeberfunktion für die Deutung des Nachbarlan-
des übernommen haben. Ein Musterbeispiel für diesen Typus eines
Mittlers und Länderexperten ist der 1925 geborene Germanist und
Politikwissenschaftler Alfred Grosser, dessen Mittlertätigkeit ein wei-
tes Spektrum umfaßt: Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg
setzte er sich als junger Generalsekretär des Comité français
dÊéchanges avec lÊAllemagne nouvelle praktisch und organisatorisch
für die deutsch-französische Wiederannäherung ein1 und verfaßte
später als Hochschullehrer und einflußreicher Publizist zahlreiche
Bücher und Artikel über Deutschland. Sein unermüdliches Enga-
gement für die deutsch-französische Verständigung, für das er 1975
mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde,
verschaffte ihm auch Aufmerksamkeit bei den politischen Entschei-

1 Vgl. Carla Albrecht: Das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle als
Wegbereiter des Deutsch-Französischen Jugendwerks, in: Lendemains 27 (2002), Nr.
107/108, S. 177-189.
505

dungsträgern beider Länder, zu denen er gleichwohl eine kritische


Distanz wahrt.2
Die hier am Beispiel von Alfred Grosser skizzenhaft umrissenen
Aufgaben und Tätigkeiten eines Mittlers verdeutlichen, daß man
diesen Akteur in vielerlei Hinsicht mit der Sozialfigur des Intellek-
tuellen vergleichen kann.3 Soziologisch betrachtet gehören Mittler
und Intellektuelle zu Vertretern einer kulturellen Elite, die – einer
Definition Jean-François Sirinellis folgend – sich aus der Gruppe der
Kulturschaffenden (wie Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller)
und Kulturvermittler ( Journalisten, Lehrer, Verleger etc.) zusam-
mensetzt.4 Die Vertreter dieser Berufsgruppen verfügen als ıpoten-
tielle Intellektuelle„ über die strukturellen Voraussetzungen, um zu
einem bestimmten Zeitpunkt, in einem bestimmten Kontext und aus
einer individuellen Motivation heraus zu ıaktuellen Intellektuellen„
zu werden.5 Ähnlich wie Intellektuelle stellen Mittler dann ihr er-
worbenes kulturelles Kapital in den Dienst eines politischen Enga-
gements: Während Intellektuelle sich dabei häufig auf ihren Be-
kanntheitsgrad und ihren ıgroßen Namen„ berufen können, dienen
Mittlern vor allem ihre intellektuellen, organisatorischen und publi-

2 Vgl. Alfred Grosser: Mein Deutschland, Hamburg 1993 und ders.: Une vie de Français,
Paris 1997.
3 Vgl. für diese Überschneidungen zwischen Mittlern und Intellektuellen auch Hans
Manfred Bock: Vom Beruf des kulturellen Übersetzens zwischen Deutschland und
Frankreich, oder: Verzagen die Mittler?, in: Lendemains 22 (1997), Nr. 86/87, S. 8-19,
v.a. S. 9f. sowie Katja Marmetschke: Mittlerpersönlichkeiten. Neuere biographische
Arbeiten zur Mittlerfunktion zwischen Frankreich und Deutschland, in: Lendemains
25 (2000), Nr. 98/99, S. 239-257, v.a. S. 243ff.
4 Vgl. Jean-François Sirinelli: Les élites culturelles, in: Jean-Pierre Rioux, ders. (Hg.):
Pour une histoire culturelle, Paris 1997, S. 275-296, hier S. 277. Mit dieser Definition
bezieht sich Sirinelli explizit auf Seymour Martin Lipset, der „als Intellektuelle alle
diejenigen betrachtet, die Kultur, d.h. die symbolische Welt des Menschen, ein-
schließlich Kunst, Wissenschaft und Religion, schaffen, verteilen und anwenden.“
Vgl. Jean-François Sirinelli: Les intellectuels, in: René Rémond (Hg.): Pour une his-
toire politique, Paris 1996, S. 210.
5 Vgl. zur Unterscheidung zwischen „potentiellen“ und „aktuellen“ Intellektuellen:
Mario Rainer Lepsius: Kritik als Beruf. Zur Soziologie des Intellektuellen, in: ders.: In-
teressen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270-285, hier S. 283f.
506 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

zistischen Fähigkeiten als Grundlage für die transnationale Verstän-


digungsarbeit. Wichtigster Adressat und Resonanzboden der Mitt-
lertätigkeit ist die Zivilgesellschaft. In ihr müssen Mittler – und dies
ist eine weitere Parallele zu den Wirkungsbedingungen von Intellek-
tuellen – auf Gehör stoßen und darüber hinaus Anschluß an sozio-
kulturelle Milieus finden, die bereit sind, aktiv an der Umsetzung
ihrer Verständigungsideen mitzuwirken. Da eine Aussöhnung aber
nie uni-, sondern immer nur bilateral erfolgen kann, muß der Mitt-
ler bzw. die Mittlerorganisation auch Ansprechpartner im jeweiligen
Nachbarland finden, um so die Dauerhaftigkeit und den Erfolg der
Verständigungsbemühungen zu gewährleisten. Diese Eingebunden-
heit in bestimmte sozio-kulturelle Milieus und das Prinzip der Re-
sponsivität bilden damit zwei strukturelle Bedingungen, die für den
Erfolg einer Mittlertätigkeit von entscheidender Bedeutung sind.
Eine weitere Parallele zwischen Intellektuellen und Mittlern besteht
schließlich in der Gefahr der Instrumentalisierung ihres Engage-
ments. Bei beiden Akteuren kann die politiknahe oder politikbera-
tende Tätigkeit zu einem schwierigen Balanceakt werden: Einerseits
erlaubt die Einflußnahme auf politische Entscheidungsträger (bzw.
deren wohlwollende Unterstützung) eine Ausweitung ihres Wir-
kungskreises. Gerade Mittler sind – u.a. aufgrund der materiellen
und finanziellen Ressourcen, die sie für ihre Verständigungsarbeit
benötigen – teilweise auf eine solche Förderung von staatlich-offiziel-
ler Seite angewiesen. Andererseits droht bei einer zu großen Nähe
zu politisch-parteigebundenen Kreisen auch die Gefahr der politi-
schen Vereinnahmung. Neben diesen strukturell-objektiven Berüh-
rungspunkten zwischen Mittlern und Intellektuellen, die sich vor
allem hinsichtlich ihrer spezifischen Wirkungsbedingungen feststel-
len lassen, spielen bei beiden Sozialfiguren aber auch individuell-
subjektive Momente eine große Rolle: Ohne eine genaue Betrach-
tung der politischen Sozialisation eines Akteurs, seiner generationel-
507

len Zugehörigkeit und seines individuell-biographischen Lebenswe-


ges können keine hinreichenden Gründe dafür gefunden werden,
weshalb ein Vertreter der kulturellen Elite zu einem bestimmten
Zeitpunkt von einem ıpotentiellen„ zu einem ıaktuellen„ Intellek-
tuellen (respektive Mittler) wurde. Erst das Zusammenspiel von
struktureller Voraussetzung und individueller Motivation legt den
Grundstein für das politische Engagement.6
Die gerade aufgezeigten Parallelen zwischen Mittlern und Intel-
lektuellen lassen sich nicht nur auf die Wirkungs-, sondern auch auf
die Konstituierungsbedingungen beider Akteure ausweiten. Die
ıGeburtsstunde des Intellektuellen„7 war in Frankreich die Dreyfus-
Affäre, als bekannte Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler öf-
fentlich gegen die Verurteilung des unschuldigen Hauptmanns
Dreyfus protestierten. Kraft ihrer in einem bestimmten Gebiet er-
worbenen Reputation verschafften sich hier erstmals Vertreter der
kulturellen Elite Gehör und forderten ihr politisches Mitsprache-
recht ein. Für die Genese des Mittlers gibt es kein vergleichbares
historisches Ereignis, obwohl die Entstehung dieser Sozialfigur in
den gleichen Zeitraum fällt, nämlich das Ende des 19. Jahrhunderts.
Erst die ab diesem Zeitpunkt einsetzende Konsolidierung der Na-
tionalstaaten und das damit einhergehende Denken und Handeln in
nationalstaatlichen Kategorien schuf überhaupt erst einen Bedarf an
Personen, die statt der vermeintlich trennenden Gegensätze zwi-
schen zwei Nationen auf verbindende transnationale Elemente hin-
wiesen und die Notwendigkeit der bilateralen Zusammenarbeit in
den Vordergrund rückten. Ähnlich wie bei den Intellektuellen wa-
ren es auch hier vornehmlich Vertreter der kulturellen Elite, die
über ihre Kritik am status quo und durch ihr transnationales Enga-
gement versuchten, über nationalstaatliche Grenzen hinweg Brük-

6 Vgl. Lepsius, a.a.O., S. 283.


7 Vgl. Christophe Charle: Naissance des „intellectuels“ (1880-1900), Paris 1990.
508 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

ken zu schlagen. Während Intellektuelle ihr kulturelles Kapital häu-


fig in die Waagschale werfen, um öffentlich auf Mißstände außer-
halb ihres eigentlichen Betätigungsfeldes aufmerksam zu machen,
läßt sich bei Mittlern diese bewußte Überschreitung von Zuständig-
keiten in einer etwas anderen Form beobachten. Mittler berufen
sich in ihrer Funktion als Länderexperten explizit auf ihre spezifi-
schen Fachkenntnisse, um ihre Autorität in allen ihr Spezialgebiet
betreffenden Fragen zu untermauern, aber sie überschreiten mit ih-
rem vornehmlich in die Zivilgesellschaft hineinwirkenden Engage-
ment eindeutig den eigentlichen Rahmen ihrer beruflichen Auf-
gabe: Sie suchen innerhalb der kulturellen Elite, in der Bevölke-
rung, aber auch in der politischen und wirtschaftlichen Sphäre nach
Ansprech- und Kooperationspartnern für ihre Verständigungsideen,
leisten durch ihre Vorträge und Veröffentlichungen öffentliche Auf-
klärungsarbeit und bemühen sich durch die Gründung von Zeit-
schriften und Verständigungskomitees teilweise sogar selbst um die
aktive Förderung des bilateralen Dialogs. Während bei einigen In-
tellektuellen allein schon der ıgroße Name„ die Aufmerksamkeit
der Öffentlichkeit garantiert, bildet bei Mittlern die kleinschrittige,
oft mühsame Mobilisierungsarbeit das Kernstück ihres Engage-
ments, durch das sie einen Resonanzraum für ihr Anliegen schaffen.
Die praktisch-organisatorische Arbeit ist damit ein wichtiger Be-
standteil der Mittlertätigkeit und stellt – mit einigen Abstrichen –
durchaus eine funktionale Überschneidung zwischen Mittler- und
Intellektuellenrolle dar. Sucht man nach weiteren diesbezüglichen
Berührungspunkten, dann fällt im Aufgabenspektrum der beiden
Sozialfiguren eine weitere Gemeinsamkeit ins Auge: Wenn man der
– in der neueren sozialwissenschaftlichen Forschung weithin akzep-
tierten8 – Annahme zustimmt, daß Intellektuelle eine wichtige

8 Vgl. z.B. Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsen-
zeit, Frankfurt/M. 1993 und Anthony D. Smith: National Identity, Reno 1991.
509

Stichwortgeberfunktion im Prozeß der nationalen Identitätsausbil-


dung haben, dann läßt sich begründet folgern, daß Länderexperten
und Mittler genau diese Rolle für den Prozeß der fremd nationalen
Identitätsausprägung übernehmen. Als Konstrukteure fremdnationa-
ler Identitäten formulieren sie autoritative Deutungsmuster über
eine andere Nation, die gerade in Krisen- und Kriegszeiten der Öf-
fentlichkeit als Orientierungspunkte dienen. Dabei spielt die Frage
nach dem ırichtig„ oder ıfalsch„ der jeweils vorgebrachten Deutun-
gen nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist vielmehr die
Frage, welche Akteure bzw. welche Gruppen zu einem bestimmten
Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext autoritative Deutungen
des Nachbarlandes formulieren und über welche Kanäle diese ver-
breitet werden. Nachfolgend soll am Beispiel des französischen
Germanisten Edmond Vermeil (1878 -1964) erläutert werden, mit
welchen Zielsetzungen und Prämissen Mittler und Länderexperten
unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ihre Rolle als Deuter und
Erklärer des deutschen Nachbarn im Milieu der französischen
Hochschulgermanistik ausfüllten.

Die französische Hochschulgermanistik in Straßburg


nach dem Ersten Weltkrieg
Um die Besonderheiten der französischen Hochschulgermanistik
und ihren Aufstieg zur science de lÊAllemagne in der Zwischen-
kriegszeit zu verstehen, muß man sich die Gründungsgeschichte der
Disziplin vor Augen halten,9 die auf einem zweigleisigen Entwick-
lungsprozeß beruht. Zum einen ist die Entstehung der Germanistik
als eigenständiges akademisches Fach das Resultat der Ausdifferen-
zierung und Spezialisierung der sprachphilologischen Lehrstühle,
die im französischen Universitätssystem gegen Ende des 19. Jahr-

9 S. als Überblick die Beiträge in Michel Espagne, Michael Werner (Hg.): Les études
germaniques en France (1900-1970), Paris 1994.
510 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

hunderts stattfand.10 Zum anderen spiegelt die Etablierung des


Faches das Bemühen wider, das im letzten Drittel des 19. Jahrhun-
derts in zahlreichen Disziplinen rege Forschungsinteresse an
Deutschland im Rahmen eines akademischen Faches zusammenzu-
führen und in ihm mit einer gebündelten Kompetenz das wissen-
schaftliche Deutungsmonopol über das Nachbarland zu sichern.
Dieser Entstehungshintergrund öffnete das Fach für innovative, plu-
ridisziplinäre Fragestellungen, die weit über die klassischen Kern-
themen der Sprach- und Literaturwissenschaft hinausreichten. Diese
Stärkung des civilisation- Schwerpunktes neben dem klassischen Be-
reich langue et littérature hatten sich vor allem die Gründerväter
der Germanistik Charles Andler (1866 -1933) und Henri Lichtenber-
ger (1864 -1941) auf ihre Fahnen geschrieben, die das Nachbarland
in allen Aspekten seines politischen, kulturellen, gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Lebens analysieren wollten. Ihren umfassenden
Deutungs- und Kompetenzanspruch in allen Deutschland betreffen-
den Fragen konnten die Germanisten erstmals während des Ersten
Weltkrieges demonstrieren. Charles Andler sowie ein Großteil sei-
ner Schüler zögerten keine Minute, ihr publizistisches Engagement
in den Dienst des Vaterlandes zu stellen. Wie viele andere universi-
taires fühlten sie sich geradezu in der patriotischen Pflicht, ihre Na-
tion im Kampf gegen die ıBarbaren„ zu unterstützen und schlüssige
Erklärungsmuster für die als bedrohlich empfundene Kriegslust
Deutschlands zu liefern.11 Schon vor 1914 galten Deutschland und
Frankreich als Musterbeispiel für zwei verschiedene Zivilisations-

10 Vgl. Michel Espagne: Le paradigme de l’étranger. Les chaires de la littérature


étrangère au XIXe siècle, Paris 1993.
11 Andler veröffentlichte z.B. eine umfangreiche Dokumentation über die Entstehung
des Pangermanismus (Collection de documents sur le pangermanisme, 4 Bde, Paris
1915-1917). Vgl. zu den französischen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg Martha
Hanna: The Mobilization of Intellect. French Scholars and Writers during the Great
War, Cambridge/Mass. 1996 und Christophe Prochasson, Anne Rasmussen: Au nom
de la patrie. Les intellectuels et la Première guerre mondiale (1910-1919), Paris 1996.
511

modelle in Europa, und der Erste Weltkrieg, in dem dieser Gegen-


satz in die Formel ıKultur versus Zivilisation„ gepreßt wurde, er-
schien vielen Germanisten nun wie eine leidvolle Bestätigung ihrer
Überlegungen. Die aktive Präsenz der Germanisten im Ersten Welt-
krieg und der Sieg über Deutschland stärkten aber vor allem das
Ansehen der Disziplin in politischen Kreisen und in der Öffentlich-
keit. Angesichts der gerade ausgestandenen Bedrohung herrschte
breiter Konsens darüber, daß eine wissenschaftlich fundierte und
vor allem gegenwartsbezogene Befassung mit Deutschland unab-
dingbar sei, um rechtzeitig möglichen Gefahren aus dem Nachbar-
land entgegenwirken zu können. Diese Doppelfunktion der Germa-
nisten, die auf der einen Seite weiterhin als akademische Fachwis-
senschaftler, auf der anderen aber auch als offizielle Deutschland-
experten wirkten, bedeutete das Heraustreten der Disziplinvertreter
aus dem rein universitären in den öffentlich-politischen Raum. Mit
wieviel Brio die Germanisten die ihnen zugewiesene Beobachter-
und Expertenrolle ausfüllten, läßt sich besonders gut am Beispiel
der germanistischen Fakultät an der wiedereröffneten Straßburger
Universität verdeutlichen.12 Die 1872 gegründete Kaiser-Wilhelm-
Universität genoß aufgrund ihrer sehr guten Ausstattung, ihrer se-
minaristischen Arbeitsweise und ihres renommierten wissenschaftli-
chen Personals einen ausgezeichneten Ruf in der Wissenschaftswelt,
den es – nun freilich unter dem Vorzeichen republikanischer Bil-
dungsideale – zu verteidigen, wenn nicht gar zu verbessern galt.
Darüber hinaus bot sich Straßburg aufgrund seiner geographischen
Lage als idealer Standort an, um aus unmittelbarer Nähe die Vor-
gänge im Nachbarland zu beobachten. Zur Neueröffnung der ger-
manistischen Fakultät schickte man deshalb eine junge Gruppe her-

12 S. zur Geschichte der Straßburger Universität John E. Craig: Scholarship and Nation
Building. The Universities of Strasbourg and Alsatian Society (1870-1939), Chicago
u.a. 1984 sowie Charles-Oliver Carbonell, Georges Livet (Hg.): Au berceau des An-
nales. Le milieu strasbourgeois, Toulouse 1983.
512 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

vorragend ausgebildeter Germanisten an die Straßburger Universi-


tät, die unter der Ägide ihres Mentors Charles Andler ihre Arbeit
aufnahmen.13 Zu ihnen gehörte auch Edmond Vermeil (1878 -1964),
der von 1901-1904 bei Andler an der Pariser Sorbonne studiert und
kurz vor dem Ersten Weltkrieg seine Dissertation vorgelegt hatte.14
Während des Krieges hatte er wie die meisten seiner jungen Kolle-
gen an der Front gekämpft, war dann aber aufgrund einer Verlet-
zung in die militärische Aufklärungsabteilung des französischen Ge-
neralhauptquartiers versetzt worden. Seine ersten Universitätsvorle-
sungen hielt Vermeil als chargé de cours noch in Militäruniform ab,
bevor er 1920 seine Stelle als professeur dÊhistoire de la civilisation
allemande antrat. Vermeil selbst hat die halbmilitärische Wachpo-
stenfunktion der Straßburger Germanistik treffend auf den Punkt
gebracht: ıIls [les professeurs de lÊInstitut germanique, K.M.] dé-
fendent à Strasbourg, avec tenacité et modestie, une cause qui leur
est chère. Ils aident de leur mieux leur pays à mieux comprendre
les idées et la civilisation dÊoutre-Rhin. Et ils croient, de ce fait, ac-
complir fluvre éminemment utile à la France.„15 Die Hochschule als
Ort der Lehre und Forschung bot allerdings nur begrenzt Hand-
lungsräume zur Erfüllung dieser patriotischen Mission, weshalb die
Straßburger Germanisten – allen voran Edmond Vermeil – auch
nach Anschlußmöglichkeiten und Resonanzböden für ihr Engage-
ment außerhalb der universitären Sphäre suchten. Ein eindrucksvol-
les Beispiel hierfür ist die aktive Mitarbeit der Germanisten am

13 Zur Straßburger Germanistik in der Zwischenkriegszeit vgl. Monique Mombert: La


germanistique en bleu horizon, in: Revue d’Allemagne 34 (2002), Nr. 3, S. 311-326
sowie dies.: Les études allemandes en France entre les deux guerres: l’exemple de
Strasbourg, in: Lendemains 26 (2001), Nr. 103/104, S. 30-41.
14 Vgl. zur Vita Vermeils Pascale Gruson: Edmond Vermeil (1878-1964), in: Michel
Espagne, Michael Werner (Hg.): Les études germaniques en France (1900-1970), Pa-
ris 1994, S. 171-193 sowie den entsprechenden Beitrag in Christoph König (Hg.): In-
ternationales Germanistenlexikon 1800-1950, Berlin u.a. 2003, S. 1935ff.
15 Edmond Vermeil: L’Institut germanique de l’Université de Strasbourg, in: L’Alsace
française, 19.11.1927, Nr. 47, S. 943f., hier S. 944.
513

Centre dÊEtudes Germaniques, das 1921 in Mainz auf die Initiative


des französischen Hochkomissars für das besetzte Rheinland, Paul
Tirard, hin gegründet wurde.16 In enger Zusammenarbeit mit der
germanistischen Fakultät der Universität Straßburg schuf das Hoch-
kommissariat eine in dieser Form einmalige Ausbildungseinrich-
tung, die Beamten der Besatzungsverwaltung, Offizieren der rheini-
schen Armee sowie Studierenden französischer Universitäten offen-
stand und sowohl allgemein anerkannte Hochschulabschlüsse als
auch ein spezielles Diplom für Verwaltungsfunktionen anbot. Zwar
hatte das CEG auch die Funktion eines Observierungspostens, aber
sein wesentliches Ziel bestand darin, einer französischen Elite (teil-
weise für den unmittelbaren beruflichen Gebrauch) die Möglichkeit
zu verschaffen, vor Ort ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und
Kultur zu vertiefen.17 Dementsprechend lag neben der Sprachver-
mittlung der inhaltliche Schwerpunkt der Kurse auf dem Deutsch-
land der Gegenwart, und zwar ganz besonders in den Veranstaltun-
gen von Edmond Vermeil, der in Mainz regelmäßig Vorlesungen
über die Weimarer Verfassung hielt. Als universitäre französische
Bildungseinrichtung auf besetztem deutschen Gebiet entwickelte
sich das CEG aber auch bald zu einem Ort, der – trotz aller
deutsch-französischen Gegensätze auf der offiziell-politischen Ebene
– einen unvoreingenommenen Kontakt junger französischer Studie-
render mit dem ehemaligen Kriegsgegner förderte. So konnten dort

16 Vgl. zum CEG Corine Defrance: Le Centre d’Etudes Germaniques: Mayence, Stras-
bourg, Clermont-Ferrand, 1921-1939, in: Revue d’Allemagne 29 (1997), Nr. 1, S. 113-
132 sowie das Sonderheft „Un regard français sur l’Allemagne. Le cas du Centre
d’Etudes Germaniques“ der Revue d’Allemagne 34 (2002), Nr. 3.
17 Da sich das CEG ausschließlich an ein französisches Publikum wandte, unterschied es
sich grundsätzlich von anderen institutionellen Neugründungen, die im Rahmen der
französischen Kulturpolitik im Rheinland erfolgten. Diese wandten sich an die deutsche
Bevölkerung im besetzten Gebiet, in der Hoffnung, daß man durch kulturpolitische
Aktivitäten diese für die französischen Belange am Rhein gewinnen könnte. Vgl.
Gerhard Brunn: Französische Kulturpolitik am Rhein nach 1918 und die Wiesbadener
Kunstausstellung des Jahres 1921, in: Peter Hüttenberger, Hansgeorg Molitor (Hg.):
Franzosen und Deutsche am Rhein 1789-1918-1945, Essen 1989, S. 219-241.
514 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

Studenten französischer Universitäten einen (Pflicht-)Auslandsauf-


enthalt in Deutschland verbringen, als die offizielle Einschreibung
französischer Studierender an deutschen Universitäten noch un-
denkbar war. Untergebracht waren diese Studierenden häufig in
deutschen Gastfamilien, und neben dem Kursprogramm wurden für
die Freizeit Theater- und Museumsbesuche organisiert, die teilweise
sogar in Städte außerhalb der okkupierten rheinischen Zone führ-
ten.18 Um diesen Aspekt der Kulturvermittlung bemühte sich auch
Edmond Vermeil, dessen Vorträge über Bach, Beethoven und
Wagner sogar mit musikalischer Begleitung stattfanden.
Aber auch in Straßburg selbst versuchte Edmond Vermeil, sei-
nen Wirkungsradius zu erweitern und bei einem größeren Publi-
kum das Interesse für die Vorgänge im Nachbarland zu wecken.
Dies gelang ihm durch seine Mitarbeit an einer Zeitschrift, dem
Bulletin de lÊinformation allemande, einer (anfänglich sogar fast täg-
lich) in Straßburg erscheinenden Zusammenfassung deutscher Pres-
seartikel, deren Gründung in engem Zusammenhang mit der be-
sonderen politischen Situation stand, in der sich das Elsaß nach
1918 befand.19 In der Tat sollte die Straßburger Universität nicht nur
als Wachposten dienen, sondern auch eine Vorreiterrolle für die Re-
patriierung des Elsaß in das französische Staatsgebiet übernehmen.
Ganz besonders Charles Andler, der selbst aus dem Elsaß stammte,
setzte sich durch die Gründung der Ligue républicaine dÊAlsace et
de Lorraine samt der (kurzlebigen) Zeitschrift Alsace républicaine

18 Vgl. die zweiseitige Werbebroschüre Centre d’Etudes Germaniques des Haut Com-
missariat de la République Française dans les Provinces du Rhin, o.D., Archiv des
CEG in Straßburg, Ordner: „Dossiers 1921-1930“. Ich danke Frau Falbisaner-Weeda
für die Einsichtnahme in das Archiv.
19 Vgl. Stefan Fisch: Der Übergang des Elsass vom Deutschen Reich an Frankreich
1918/19, in: Michael Erbe (Hg.): Das Elsass: historische Landschaft im Wandel der
Zeiten, Stuttgart 2002, S. 147-152.
515

für diese Mission ein,20 die unmittelbar nach dem Krieg zu einem
wahren Überschwang jakobinischer Assimilierungsbemühungen im
Elsaß führte. Die Verbindung zwischen der neu eröffneten Universi-
tät und der elsässischen Bevölkerung sollte über zwei, organisato-
risch an die Hochschule angeschlossene Bindeglieder erfolgen: Zum
einen über die Société des Amis de lÊUniversité de Strasbourg, zum
anderen über das Comité Alsacien dÊEtudes et dÊInformations. Ini-
tiator beider Organisationen war der einflußreiche Mediziner und
Zeitungsherausgeber Pierre Bucher (1869-1921), ein Elsässer, der
sich die Verbreitung der französischen Kultur im Elsaß auf die Fah-
nen geschrieben hatte.21 1914 hatte er sich sofort der französischen
Armee angeschlossen und während des Krieges die große Spiona-
gestelle in Réchésy bei Belfort geleitet. Als er nach seiner Rückkehr
in das Elsaß dann im März 1920 das Bulletin de lÊinformation alle-
mande gründete, stellte dies sowohl für ihn als auch für Edmond
Vermeil, den er als Chefredakteur für sein Projekt gewinnen
konnte, zunächst eine Art Fortsetzung der nachrichtendienstlichen
Aufgaben dar, mit denen beide während des Krieges betraut gewe-
sen waren.22 In der Tat war der wichtigste Adressat und finanzielle
Förderer der Pressezusammenstellung, die anfangs noch den Ver-
merk ıvertraulich„ im Titel trug, das Commissariat Général de la
République im Elsaß, in dem Bucher als graue Eminenz und als
enger Vertreter von Kommissar Alexandre Millerand über hervor-

20 Vgl. Ernest Tonnelat: Charles Andler, sa vie et son œuvre, Paris 1937, S. 189-197 so-
wie Charles Andler: La vie de Lucien Herr (1864-1926), hg. von Justinien Raymond,
Paris 1977, S. 293-313.
21 S. zu Pierre Bucher den Gedenkband: Pierre Bucher 1869-1921. Etudes – souvenirs –
témoignages, Paris 1922 sowie als Gegenentwurf aus deutscher Sicht Gustav Hilger:
Pierre Bucher. Der „Apostel“ französischer Propaganda im deutschen Elsaß 1897-
1918. Eine Lebensskizze nach französischen Quellen, Freiburg/Breisgau 1926. Vgl.
auch Gisèle Loth: Un rêve de France. Pierre Bucher, une passion française au cœur de
l’Alsace allemande 1869-1921, Straßburg 2000.
22 Ganz in diesem Sinne äußert sich auch Edmond Vermeil: L’information allemande à
Strasbourg, in: Revue de Genève 11 (1925), S. 917-926, v.a. S. 922f.
516 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

ragende Kontakte verfügte. Nach dem frühen Tod Buchers im Jahr


1921 übernahm Vermeil dann vollständig die Leitung der Zeit-
schrift, die – nach der Auflösung der Propagandaabteilung im
Commissariat Général – nunmehr vom französischen Außenmini-
sterium subventioniert wurde und unter der Ägide des Comité Al-
sacien dÊEtudes et dÊInformations erschien.23 Diese Vereinigung, der
zahlreiche Straßburger Professoren angehörten, verstand sich als
eine Organisation, die über das Elsaß als Mittlerinstanz den franzö-
sischen Interessen im Ausland dienen wollte und zu diesem Zwecke
sogar Delegationen in die Nachbarländer und vor allem in die mit-
teleuropäischen Staaten schickte. Um die internationalen Kontakte
des Elsaß und damit Frankreichs zu verbessern, lud man aber auch
ausländische Universitätsprofessoren oder Wirtschaftsvertreter zu
Aufenthalten und Vorträgen in das Elsaß ein.24 Die vom Comité
verfolgten Absichten deckten sich in Teilen also durchaus mit dem
Ziel der patriotischen Pflichterfüllung, das sich Vermeil für seine
Tätigkeit als Germanist gesetzt hatte. Mehr noch als die Universität
bot ihm die Arbeit für das Bulletin die Möglichkeit, politische Ent-
scheidungsträger bzw. einen interessierten Personenkreis tagesak-
tuell über Deutschland zu informieren. Die im Bulletin angestrebte
Verbindung von journalistischer Arbeitweise und akademischer
Kompetenz zu einer ıscience du présent„ bildete für Vermeil den
Königsweg in der Beobachtung des Nachbarn, die nicht mehr nur
in militärischen Kreisen stattfinden sollte.25

23 Vgl. zu diesem Comité Françoise Olivier-Utard: Propagande et information. Le cas


des universitaires strasbourgeois dans l’entre-deux-guerres, in: Didier Georgakakis,
Jean-Michel Utard (Hg.): Science des médias. Jalons pour une histoire politique, Paris
2001, S. 61-75.
24 Vgl. die vom Comité herausgegebenen Tätigkeitsberichte Comité Alsacien d’Etudes
et d’Informations 1922-1928, Strasbourg 1928 und L’Alsace depuis son retour à la
France 1932-1937, Straßburg 1937.
25 Vgl. Vermeil: Information allemande, a.a.O., S. 922f.
517

Betrachtet man die gerade genannten Aktivitäten Vermeils am


CEG in Mainz und im Comité Alsacien in Straßburg, so fällt ins
Auge, daß sie primär nicht auf dem Gedanken der Völkerverstän-
digung beruhten, sondern die Antwort auf einen patriotisch moti-
vierten Informationsbedarf im Zeichen der Feindbeobachtung dar-
stellten. Die Straßburger Germanistik war – in einem viel stärkeren
Ausmaß als die Sorbonne-Germanistik unter Henri Lichtenberger 26
– in ihrer Anfangsphase eine ıGermanistik des Mißtrauens„.27 Den-
noch bedeutete die von den Germanisten eingenommene halbmili-
tärische Beobachterfunktion nicht, daß alle Vertreter des Faches
bedingungslose Anhänger der offiziellen außenpolitischen Linie wa-
ren, die der bloc national gegenüber Deutschland eingeschlagen
hatte: Vielmehr übte die Mehrzahl der Germanisten harsche Kritik
an Poincarés Ruhrbesetzung, die sie als eine zu große Härte gegen-
über Deutschland und als ungeeignetes Mittel zur friedlichen Lö-
sung der Reparationsfrage betrachteten.28 Die zunächst mißtrauische
Haltung der Germanisten gegenüber Deutschland bedeutete eben-
sowenig, daß die Germanisten jeden Versuch der zivilgesellschaftli-
chen Kontaktaufnahme mit dem ehemaligen Kriegsgegner ablehn-
ten, im Gegenteil. Trotz aller Skepsis, die sie Deutschland entge-
genbrachten, standen die Schüler Andlers und Lichtenbergers in
engem Kontakt zu jenen Kreisen, die sich für eine frühzeitige Wie-
deraufnahme des deutsch-französischen Dialogs aussprachen, wie
z.B. das Umfeld der Nouvelle Revue Française, die Intellektuellen-
vereinigung Union pour la Vérité oder der Kreis um den Straßbur-

26 Vgl. Craig, a.a.O., S. 239f.


27 Vgl. für diese Bezeichnung die Einleitung in Werner, Espagne, a.a.O., S. 8.
28 Auch Edmond Vermeil verurteilte die Ruhrbesetzung, von der er sich auf einer im
Juni 1923 unternommenen Reise einen persönlichen Eindruck verschaffen konnte.
Edmond Vermeil: Une visite dans la Ruhr, in: Bulletin de la Presse allemande, Teil 1:
2.7.1923, Nr. 149, S. 595-598, Teil 2: 4.7.1923, Nr. 151, S. 603-606.
518 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

ger Katholiken Jean de Pange.29 Die Notwendigkeit einer Kontakt-


aufnahme und eines Dialogs mit Deutschland ergab sich für
Edmond Vermeil und seine Kollegen vor allem aus der Erkenntnis
heraus, daß nur eine positive politische, wirtschaftliche und gesell-
schaftliche Entwicklung die Garantie für eine friedliche Koexistenz
beider Nationen geben könne und es darüber hinaus auch in
Frankreichs Verantwortung lag, eine ebensolche Entwicklung
Deutschlands zu fördern. Daß die Germanisten genau diese Schluß-
folgerung aus den von Mißtrauen geprägten Anfängen ihrer Diszi-
plin zogen und sie sich schon vor der Locarno-Ära für die deutsch-
französische Annäherung einsetzten, war alles andere als selbstver-
ständlich und stellte auch eine klare politische Stellungnahme dar.
Vor allem in rechtsrepublikanischen und nationalistischen Kreisen
gab es nämlich zahlreiche Deutschlandkenner, denen das Nachbar-
land während der gesamten Zwischenkriegszeit lediglich als Nega-
tiv-Folie diente, um die Überlegenheit der französischen Nation zu
demonstrieren.30

Edmond Vermeils Blick auf Deutschland:


zwischen Hoffnung und Skepsis
Wenn man versucht, sich auf der Grundlage von Vermeils Publika-
tionen der frühen Zwischenkriegszeit einen Überblick über die
Schwerpunkte seiner Deutschland-Befassung zu verschaffen, dann

29 Vgl. zu diesen deutsch-französischen Verständigungsaktivitäten, die vor allem wäh-


rend der Locarno-Ära eine Blüte erlebten, im Überblick: Hans Manfred Bock, Michel
Trebitsch, Reinhart Meyer-Kalkus (Hg.): Entre Locarno et Vichy. Les relations cultu-
relles franco-allemandes dans les années 1930, 2 Bde, Paris 1993.
30 Beispiele hierfür sind z.B. die Deutschlandpublikationen des Action Française -An-
hängers und Schriftstellers Pierre Lasserre (1867-1930), des Germanisten Louis
Reynaud (geb. 1876) und des Populärhistorikers Jacques Bainville (1879-1936), des-
sen in der Zwischenkriegszeit äußerst erfolgreiche Bücher bis in die jüngste Zeit neu
aufgelegt wurden. Vgl. Jacques Bainville: Les conséquences politiques de la paix,
Paris 1996 (1. Aufl. 1920); ders.: Histoire de deux peuples continuée jusqu’à Hitler,
Paris 1995 (1. Aufl. 1933).
519

tritt zwar deutlich der Gegenwartsbezug seiner Arbeiten hervor,


aber insgesamt ergibt sich ein etwas disparates Bild: Das erste grö-
ßere Werk, das Vermeil nach dem Krieg publizierte, war eine aus-
führliche Studie der Religionsphilosophie Ernst Troeltschs (La
pensée religieuse de Troeltsch, 1922), ein Jahr später folgte eine Un-
tersuchung der Weimarer Verfassung (La constitution de Weimar et
le principe de la démocratie allemande, 1923) und schließlich eine
Überblicksdarstellung über das zeitgenössische Deutschland
(LÊAllemagne contemporaine (1919-1924), sa structure et son évolu-
tion politiques, économiques et sociales, 1925). Bei genauerem Hin-
sehen spiegeln diese Titel aber in ganz bezeichnender Weise eine
einerseits von individuellen Interessen und andererseits von inner-
und extradisziplinären Erwartungshaltungen geleitete Beschäftigung
mit dem Nachbarland wider. Ein Beispiel für ersteren Aspekt ist
Vermeils Troeltsch-Studie. Vermeil war – im Gegensatz zu seinen
Kollegen, die in der Mehrzahl aus dem Elsaß stammten – in einem
kleinen Dorf in den Cévennes-Languedoc aufgewachsen, einer
Hochburg des französischen Protestantismus. Diese lebensweltliche
Konfrontation mit verschiedenen protestantischen Glaubensrichtun-
gen lenkte schon früh das Interesse Vermeils auf Fragen, die das
Spannungsverhältnis zwischen Christentum und moderner Zivilisa-
tion betrafen.31 Genau dieses Thema stand auch im Zentrum von
Troeltschs Werk, das für Vermeil eine Art Schlüssellektüre dar-
stellte, um die Vielschichtigkeit des deutschen Protestantismus und
seine politisch-gesellschaftliche Prägekraft besser zu verstehen. Aber
Vermeil schätzte Troeltsch nicht nur als Religionsphilosophen und

31 Diese Fragestellung hatte er bereits in seiner Dissertationsschrift über Johann Adam


Möhler und die Katholische Tübinger Schule aufgegriffen. Im Schlußkapitel dieser
Studie versucht Vermeil sogar, die Gemeinsamkeiten im Reformprojekt der Tübinger
Theologen und der französischen Modernisten herauszuarbeiten. Vgl. Edmond
Vermeil: Jean-Adam Möhler et l’école catholique de Tubingue (1815-1840). Etude sur
la théologie romantique en Wurtemberg et les origines germaniques du modernisme,
Paris 1913.
520 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

Autor der Soziallehren, sondern auch als politischen Denker in der


Weimarer Republik. Troeltschs vielbeachteter Vortrag ıNaturrecht
und Humanität in der Weltpolitik„ aus dem Jahr 1922 faßte in
Vermeils Augen mustergültig die Besonderheiten des französischen
und des deutschen Weges der nationalstaatlichen Entwicklung zu-
sammen.32 Beide Zivilisationsmodelle nahmen in seinen Augen aber
– hier schloß er sich ganz der Argumentation Troeltschs an – einen
gleichberechtigten Platz in Europa ein und konnten sich wechselsei-
tig befruchten.33 Der Verweis auf Troeltsch, der wie ein roter Faden
das Werk des Germanisten durchzieht, macht Vermeil auch zu ei-
nem Pionier der Troeltsch-Rezeption in Frankreich, die erst in den
1990er Jahren in breiterem Umfang einsetzte.34
Während die Auseinandersetzung mit dem deutschen Reli-
gionsphilosophen also eine individuelle (und originelle) Schwer-
punktsetzung in Vermeils Befassung mit Deutschland ist, fügen sich
die beiden anderen genannten Publikationen schon eher in den
Kanon der Germanistik der Zwischenkriegszeit ein. Dies trifft ganz
besonders auf das 1925 erschienene Buch LÊAllemagne contem-
poraine zu, die erste von drei großen Überblicksdarstellungen, die
Vermeil im Laufe seiner Karriere über Deutschland veröffent-
lichte.35 Diesem Werk liegt eine methodische Prämisse zugrunde,
die fast alle Germanisten an den Ausgangspunkt ihrer intellektuellen

32 S. dazu Kritische Gesamtausgabe Ernst Troeltsch, Bd. 15: Schriften zur Politik und zur
Kulturphilosophie (1918-1923), hg. von Gangolf Hübinger, Berlin u.a. 2002, S. 477-512.
33 Besonders deutlich wird der Troeltsch-Bezug z.B. in Edmond Vermeil: Démocratie
française et démocratie allemande, Bulletin de la Dotation Carnegie pour la paix in-
ternationale 1930, Nr. 6, S. 55-107.
34 In der Tat blieb bis zu diesem Zeitpunkt Vermeils Studie aus dem Jahr 1922 (die 1990
neu aufgelegt wurde) die einzige größere und zusammenhängende Darstellung über
Troeltschs Denken, die in französischer Sprache verfügbar war. Vgl. Hartmut
Ruddies: Introduction, in Edmond Vermeil: La pensée religieuse de Troeltsch, hg.
von Hartmut Ruddies, Genf 1990, S. 7-19
35 Später folgten Edmond Vermeil: Allemagne. Essai d’explication, Paris, 1. Aufl. 1940
und Neuaufl. 1945; ders.: L’Allemagne contemporaine sociale, politique et culturelle,
1890-1950, 2 Bde, Paris 1952-1953.
521

Auseinandersetzung mit dem Nachbarland legten: Es ging ihnen


nicht – wie ihren von Diltheys Geistesgeschichte beeinflußten deut-
schen Kollegen36 – darum, verstehend-nachvollziehend ein Teilge-
biet deutscher Literatur zu erkunden, sondern ihr Ziel war es, durch
ein exaktes, faktenbasiertes und alle Bereiche der deutschen Ge-
schichte, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft umfassendes Studium
diejenigen Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten, die entscheidenden
Einfluß auf die Entwicklungen im Nachbarland ausübten.37 Dieses
positivistisch geprägte Wissenschaftsverständnis bildete – verstärkt
noch durch den Wunsch nach Vulgarisierung des gesammelten
germanistischen Fachwissens – jedoch für viele Germanisten auch
eine Art Freibrief zur Konstruktion weitreichender, im Detail teil-
weise widersprüchlicher Erklärungszusammenhänge. Einerseits sind
damit die großen Deutschlandsynthesen der Germanisten ein be-
eindruckendes Zeugnis ihrer umfassenden und zugleich exakten
Kenntnis des Nachbarlandes – andererseits sind sie ein Beispiel da-
für, wie auf der Suche nach möglichen Entwicklungsgesetzen und
nach schlüssigen Erklärungen vorschnell einseitige Verbindungen
gezogen werden können. Ganz besonders verdeutlicht dies Edmond
Vermeils bekanntestes Werk, das 1940 erstmals erschienene und
nach dem Verbot 1945 wieder neu aufgelegte Buch Allemagne.
Essai dÊexplication, in dem Vermeil die deutsche Geschichte als ei-
nen tragischen Irrweg darstellt, der fast zwangsläufig von Luther
über Bismarck zu Hitler führte.38 Der verengte, ganz auf Elemente
der Kontinuität ausgerichtete Blick in die deutsche Vergangenheit

36 Vgl. dazu im Überblick Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissen-


schaft und Geistesgeschichte 1910-1925, Frankfurt/M. 1993.
37 Vgl. zu den methodischen Prämissen der Germanistik der Zwischenkriegszeit Katja
Marmetschke: Expliquer ou comprendre l’Allemagne? Edmond Vermeils und Robert
Minders Befassung mit Deutschland im Vergleich, in: Albrecht Betz, Richard Faber
(Hg.): Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich. Zum 100.
Geburtstag von Robert Minder, Würzburg 2004, S. 77-93, hier S. 86ff.
38 Vgl. Marcel Tambarin: Edmond Vermeil: L’Allemagne. Essai d’explication, in: Chro-
niques allemandes (2001/2002), Nr. 9, S. 89-102.
522 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

mag angesichts des akuten Erklärungsnotstandes nachvollziehbar


sein, in dem sich die Germanisten nach 1933 befanden – während
der Weimarer Republik hingegen bot sich Edmond Vermeil und
seinen Kollegen noch die Möglichkeit, unter einem etwas offeneren
Blickwinkel die neuesten politischen Entwicklungen und das intel-
lektuelle Leben in der jungen Republik zu beobachten. Zwar inter-
essierten sie sich auch in dieser Zeit für Elemente, die als ıtypisch„
für die deutsche Kultur galten und ihre These von der deutsch-fran-
zösischen Gegensätzlichkeit zu unterstreichen schienen, aber mit
gleichem Interesse richteten die Germanisten ihren Blick auch auf
all jene politischen Akteure, deren Argumentation sich gerade nicht
in die festgelegten Interpretationsschemata einordnen ließ und neue
Perspektiven aufzeigte. Die große Aufmerksamkeit, die Vermeil den
Schriften Troeltschs entgegenbrachte, ist ein Beleg dafür. Auch
Vermeils Interesse für die Weimarer Verfassung leuchtet vor diesem
Hintergrund ein: Der neu ausgearbeitete rechtliche Rahmen sollte
die Grundlage für die demokratische und friedliche Entwicklung
Deutschlands bilden, und als aufmerksamem Beobachter des Nach-
barlandes drängte sich Edmond Vermeil nun die Frage auf, ob die-
ses Gerüst wirklich eine tragfähige Basis für den gewünschten Neu-
beginn bot. Als Quellenkorpus seiner Untersuchung dienten ihm
die 1920 veröffentlichten stenographischen Verhandlungsberichte
der verfassungsgebenden Nationalversammlung, anhand derer er
die wechselvolle Entstehungsgeschichte der Verfassung anschaulich
nachzeichnen konnte. Sein spürbares Wohlwollen galt dabei dem
Entwurf des linksliberalen Staatsrechtlers Hugo Preuß, der die
Schaffung eines unitarischen Staates unter Aufteilung Preußen sowie
eine territoriale Neuordnung der Einzelstaaten vorsah. Im zweiten
Teil seines Buches untersucht Vermeil dann den gefundenen Ver-
fassungskompromiß hinsichtlich seiner Akzeptanz innerhalb der
Parteien, seiner Bedeutung im Kontext der politischen Entwicklung
523

Deutschlands und seiner Vergleichbarkeit mit Verfassungen anderer


westlicher Demokratien. Nach den ersten drei Jahren der Weimarer
Republik zeigt sich der Germanist in seinem Schlußwort allerdings
skeptisch, ob die Verfassung einen ausreichenden Schutz gegen die
Zersetzungs- und Auflösungstendenzen bietet, die er in politischen,
ökonomischen und sozialen Bereichen in Deutschland beobachtet.39
Trotz aller Bedenken betrachtet er die Verfassung aber als eine
ausbaufähige Grundlage für die demokratische Entwicklung des
Nachbarlandes: ıLÊintérêt de la France, ce nÊest pas de démembrer
lÊAllemagne [...]. LÊintérêt de la France, cÊest dÊaider lÊAllemagne à
éviter la réaction et dÊy favoriser lÊévolution démocratique. QuÊon
en dise, la Constitution de Weimar a ouvert, toutes larges, les ave-
nues qui conduisent vers diverses solutions du problème politique
allemand. Il nÊest pas dit, malgré tout ce qui sépare les deux na-
tions, que la France ne puisse pas pousser sa voisine dans la bonne
voie et lui montrer le choix à faire, le chemin à suivre.„40 Auch hier
taucht wieder der Gedanke auf, daß die demokratische Entwicklung
Deutschlands auch in Frankreichs Verantwortung liegt. Trotz aller
Feindbeobachtungs- und Wachsamkeitsrhetorik bildete damit das
konstruktive Interesse am Nachbarland den Ausgangspunkt für
Vermeils wissenschaftliche Befassung mit Deutschland. Mit Erstau-
nen wird dies auch von einem deutschen Rezensenten bemerkt, der
Vermeil zu jenen französischen Stimmen zählt, ıdie ehrlichen Wil-
lens sind, sich in die deutschen Verhältnisse einzuleben und ihren
Landsleuten [...] bessere Kenntnis des deutschen Wesens und We-

39 In diesem Zusammenhang bildete für ihn das angespannte Verhältnis von Preußen
zum Reich eines der Kernprobleme. Vor allem das Problem des Föderalismus und die
Prädominanz Preußens im Reich schufen, so Vermeil, ein gefährliches machtpoliti-
sches Ungleichgewicht in der jungen Weimarer Republik, das die Entstehung eines
demokratischen und stärker unitarisch organisierten Staates verhindere. Vgl.
Edmond Vermeil: La constitution de Weimar et le principe de la démocratie alle-
mande, Straßburg 1923, S. 412-455.
40 Ebd., S. 454f.
524 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

bens zu vermitteln.„41 Vermeils Buch über Troeltsch traf in der


deutschen Kritik auf ein ähnlich positives Echo: Vermeil habe ıden
bedeutenden Gegenstand mit einer für einen Franzosen ganz unge-
wöhnlichen Unparteilichkeit durchdrungen„ und fast schon ver-
wundert stellt der Rezensent fest, daß in der ganzen Schrift ıüber
Troeltsch kein einziges kränkendes Urteil steht.„42
Gerade diese Urteile aus deutscher Sicht zeigen, daß Vermeil in
seiner Rolle als Mittler und Länderexperte offensichtlich eine Grat-
wanderung gelungen war: Auf der einen Seite verfaßte er in elsässi-
schen Presseorganen kämpferische, manchmal fast schon tenden-
ziöse Artikel über Deutschland, so daß manche seiner Universitäts-
kollegen in ihm eher einen Journalisten als einen Wissenschaftler
sahen.43 Auf der anderen Seite zeugt seine wissenschaftliche Ausein-
andersetzung mit dem Nachbarland von einem Sachverstand und
einem Bemühen um Unvoreingenommenheit, dem sogar deutsche
Kollegen ihren Respekt zollten.44 Daß diese Trennlinie zwischen öf-
fentlichem Wirken und wissenschaftlicher Tätigkeit nicht immer in
dieser Form aufrecht zu erhalten war, belegt Vermeils fast schon
kausal angelegte Geschichtsinterpretation in Allemagne. Essai dÊex-
plication. Dieses Buch ist gekennzeichnet von der Verbindung der
universitären Tradition des gelehrten Germanisten mit einer po-

41 Leo Wittmayer: Edmond Vermeil: La constitution de Weimar et le principe de la


démocratie allemande (Rezension), in: Archiv des öffentlichen Rechts 7 (1924), S. 109-
111, hier S. 110. Wittmayer selbst hatte 1922 ein Standardwerk zur Weimarer Verfas-
sung vorgelegt, auf das sich Vermeil auch in seiner Studie bezieht.
42 Karl Bornhausen: E. Vermeil. La pensée religieuse de Troeltsch (Rezension), in: Zeit-
schrift für Kirchengeschichte 92 (1923), S. 158.
43 So lautete zumindest das Urteil, das die Straßburger Kollegen Marc Bloch und Lucien
Febvre über Vermeil fällten. Vgl. Mombert: Germanistique en bleu horizon, a.a.O.,
S. 320.
44 Diese Meinung teilten freilich nicht alle deutschen Kritiker. Der Romanist Ernst
Robert Curtius etwa betrachtete Vermeils Studien als Musterbeispiel für eine völlig
fehlgeleitete Deutschland-Interpretation. Vgl. Katja Marmetschke: Vernunft oder In-
tuition? Der Streit zwischen Edmond Vermeil und Ernst Robert Curtius in der Revue
de Genève, in: Lendemains 26 (2001), Nr. 103/104, S. 42-55.
525

litischen Intervention, die darauf abzielt, den Feind zu bekämpfen,


der gleichzeitig Gegenstand der Untersuchung ist.45 Die hier erfol-
gende Verquickung von wissenschaftlicher Analyse mit politischem
Kampf war angesichts der damaligen Bedrohungssituation nachvoll-
ziehbar, sie verweist aber darüber hinaus auf einen strukturellen Un-
terschied zwischen den Wirkungsbedingungen von Mittlern und In-
tellektuellen. Beide Sozialfiguren agieren vornehmlich im Kontext
der Krise, in dem ihnen eine wichtige Deutungs- und Stichwortge-
berfunktion zugesprochen wird. Bei Länderexperten ist es jedoch
fast immer – und dies macht einen Unterschied zum Engagement
Intellektueller aus – der durch eine bestimmte außenpolitische Kon-
flikt-Konstellation hervorgerufene Informationsbedarf, der ihnen in
der Öffentlichkeit Gehör verschafft und sie fast unter Zugzwang
setzt, möglichst überzeugende Deutungen der anderen Nation zu
formulieren. Unter anderen Vorzeichen steht die Mittlertätigkeit
hingegen, wenn der außenpolitische Beziehungsmodus zwischen
zwei Ländern von ıKonflikt„ auf ıKooperation„ umschwenkt und
kein krisenbedingter Vermittlungs- und Informationsbedarf mehr
vorherrscht, sondern bilaterale Annäherung und transnationale Zu-
sammenarbeit einen Zielpunkt der offiziellen außenpolitischen
Agenda bilden. Ein sehr gutes Beispiel für die in diesem Zusam-
menhang feststellbare Professionalisierung und Institutionalisierung
der Mittlertätigkeit ist das Deutsch-Französische Jugendwerk, das
breitenwirksame Austausch- und Begegnungsprogramme fördert.
Auch die Prämissen der französischen Germanistik haben sich an-
gesichts der veränderten politischen Rahmenbedingungen gewan-
delt: Während Edmond Vermeil und seine Kollegen von der Idee
eines tiefliegenden deutsch-französischen Gegensatzes ausgingen
und das Alteritäts-Prinzip an den Ausgangspunkt ihrer Untersu-

45 Vgl. Pierre-André Taguieff: Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Dou-
ble, Hamburg 2000, S. 129.
526 Katja Marmetschke: Edmond Vermeil und die französische Germanistik

chungen legten, richtet der seit Mitte der 1980er Jahre in der Ger-
manistik dominierende Ansatz des transferts culturel bzw. der his-
toire croisée sein Augenmerk auf die kultursoziologischen und -ge-
schichtlichen Gemeinsamkeiten, die sich im Laufe einer verflochte-
nen, durch wechselseitige Transfer- und Rezeptionsprozesse ge-
kennzeichneten Geschichte zwischen beiden Ländern herausgebil-
det haben.46 Allerdings läßt sich weder über politische Willensbe-
kundungen noch über die wissenschaftliche Erforschung deutsch-
französischer Gemeinsamkeiten automatisch eine von echter Neu-
gier und von Interesse getragene Befassung mit dem Nachbarland
innerhalb der Zivilgesellschaft erreichen. Insofern haben Mittler –
gerade in einer Zeit, in der auf politischer Ebene gewisse Ermü-
dungserscheinungen in den deutsch-französischen Beziehungen zu
erkennen sind und der Abbau über Jahrzehnte hinweg erfolgreich
agierender Mittler- und Austauschinstanzen seinen Lauf nimmt –
weiterhin eine wichtige Rolle in der Herstellung und (Wieder-)Bele-
bung transnationaler Austausch- und Kommunikationsstrukturen
zwischen Frankreich und Deutschland.

46 Vgl. Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemand, Paris 1999 sowie
Michael Werner, Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der An-
satz der „histoire croisée“ und die Herausforderung des Transnationalen, in: Ge-
schichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607-636 sowie dies. (Hg.): De la comparaison à
l’histoire croisée, Paris 2004.
527

Eugen Ewig.
Ein rheinisch-katholischer Historiker
zwischen Deutschland und Frankreich
Ulrich Pfeil
528 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

Eugen Ewig, ehemaliger Direktor des Deutschen Historischen Insti-


tuts Paris (1958-1966), gehört nach Meinung seines Schülers und
heutigen Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica (MGH),
Rudolf Schieffer, im Bereich der frühmittelalterlichen Geschichte zu
denjenigen, die das ıneue Bild entscheidend mitgestaltet [haben],
das sich seit 1945 durchgesetzt hat und die gemeinsamen Wurzeln
der europäischen Völker in den Vordergrund treten läßt.„1 Ewig
wäre nicht der einzige Historiker, so zeigen es neuere Forschungen
zum Verhalten deutscher Historiker in der unmittelbaren Nach-
kriegszeit,2 der die europäische Zusammenarbeit nach 1945 neu
entdeckte und auch zur Grundlage seines wissenschaftlichen Arbei-
tens machte. Nicht wenige hatten dabei eine kapitale Kehrtwendung
vollzogen, nachdem sie sich in den vorangegangenen Jahren z.T.
dem historiographischen Grenz- und Abwehrkampf verschrieben
hatten.3 So wird auch für Ewig neben dem prägenden sozio-kulturel-
len Kontext herauszuarbeiten sein, welches Wissenschaftsverständ-
nis seiner Arbeit als Historiker vor dem Hintergrund sich wandeln-
der politischer Herausforderungen zugrunde lag.4
Die Kontinuitäten und Brüche über die verschiedenen politi-
schen Systeme hinweg im Lebensweg von Eugen Ewig sind neben
seinem Wirken als Historiker gerade nach 1945 auch von einem
Handeln als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich bzw. den
Geschichtswissenschaften beider Länder geprägt. Beide Tätigkeiten

1 Rudolf Schieffer (Hg.): Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum: Referate
beim wissenschaftlichen Colloquium zum 75. Geburtstage von Eugen Ewig am
28. Mai 1988, Sigmaringen 1990, S. 5.
2 Vgl. Sebastian Conrad, Christoph Conrad (Hg.): Die Nation schreiben. Geschichts-
wissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 112-136.
3 Vgl. Peter Schöttler: Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volks-
geschichte oder Die „unüberhörbare Stimme des Blutes“, in: Winfried Schulze, Otto
Gerhard Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1999,
S. 89-113.
4 Ich danke Herrn Prof. Eugen Ewig für die Bereitschaft, mich am 14.1.2005 zu einem
Gespräch empfangen zu haben. Seine Auskünfte sind in diesen Beitrag eingeflossen.
529

lassen sich weder in Theorie noch in Praxis voneinander trennen,


bildeten die in der oben zitierten Eloge erwähnten wissenschaftli-
chen Leistungen doch erst das kulturelle Kapital, das zu den typi-
schen Wesensbedingungen von Mittlern gehört und sie soziologisch
in die Nähe von Intellektuellen bringt. Nach Hans Manfred Bock
kommt dabei Mittlern die Aufgabe zu, ıden Mitbürgern des eige-
nen Landes die besonderen Denk- und Sichtweisen des Nachbar-
landes zu erklären und dort Verständnis für sein Herkunftsland zu
wecken.„5 In ihrer transnationalen Schrittmacherrolle zeichnen sich
diese nationalkulturellen Übersetzungsarbeiter durch die Fähigkeit
zu übernationalem Denken, Fühlen und Handeln aus, die sie unter-
halb der offiziell-staatlichen Handlungsebene zum Einsatz bringen.
Durch eine ıPolitik der kleinen Schritte„ arbeiten diese zivilgesell-
schaftlichen Akteure in ihrem Wirkungsfeld ıauf eine dauerhafte
und gesellschaftlich verankerte Verständigung und Annäherung
zwischen zwei Völkern„ hin, wie Katja Marmetschke schreibt.6 Wel-
chen Beitrag Eugen Ewig während seiner akademischen Karriere
für die deutsch-französische Annäherung nach 1945 und damit für
politische Zwecke leistete, soll im Mittelpunkt dieses Beitrages ste-
hen, der darüber hinaus nach den Konstituierungs- und Wirkungs-
bedingungen einer von der Forschung bislang wenig beachteten
Mittlerperson fragen will.

5 Hans Manfred Bock: Vom Beruf des kulturellen Übersetzens zwischen Deutschland
und Frankreich, oder Verzagen die Mittler?, in: Lendemains 22 (1997), Nr. 86/87, S. 8-
19, hier S. 9.
6 Katja Marmetschke: Mittlerpersönlichkeiten. Neuere biographische Arbeiten zur
Mittlerfunktion zwischen Frankreich und Deutschland, in: Lendemains 25 (2000),
Nr. 98/99, S. 239-257, hier S. 239.
530 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

Intellektuelle und akademische Prägungen eines


jungen Mediävisten
Der am 18. Mai 1913 in Bonn geborene und in einem katholischen
Elternhaus aufgewachsene Eugen Ewig erwarb im Jahre 1931 seine
Hochschulreife am humanistischen Beethoven-Gymnasium seiner
Geburtsstadt. Er schrieb sich daraufhin an der Alma mater seiner
Heimatstadt ein und begann in bewegter Zeit sein Studium der Fä-
cher Geschichte, Deutsch und Französisch.7 Gleich zu Anfang
wurde er Zeuge, wie seine Universität von nationalsozialistischen
Ideen heimgesucht wurde, die jedoch unter den Studenten weit
mehr Anklang fanden als unter den Hochschullehrern. Schon 1932
warnte sein Lehrer Ernst Robert Curtius (1886-1956) in ıDeutscher
Geist in Gefahr„ vor dem ıvulgären Zerrbild„ des Nationalsozialis-
mus.8 Während der große Bonner Romanist aber nach 1933 trotz
aller Kritik in der NS-Presse von den verschiedenen ıSäuberungs-
wellen„ verschont blieb, mußte der damals 20jährige Ewig mitanse-
hen, wie sein ehemaliger Gymnasiallehrer Hermann Platz (1880-
1945), dem Curtius 1924 eine Honorarprofessur verschafft hatte,
sein Amt verlor.9
Für Ewigs geschichtswissenschaftlichen Lehrer Wilhelm Levison
(1876-1947) wurde der Rassenwahn der Nationalsozialisten schnell
zu einer lebensgefährlichen Bedrohung. Zwar erfreute sich dieser
renommierte Experte des frühen Mittelalters jüdischen Glaubens
noch im Sommersemester 1933 ungebrochener studentischer Zuhö-

7 Vgl. Ruth Baron: Professor Dr. Eugen Ewig, in: Staats-Zeitung 14 (1963), 52, S. 5.
8 Vgl. Hans Manfred Bock: Die Politik des „Unpolitischen“. Zu Ernst Robert Curtius’
Ort im politisch-intellektuellen Leben der Weimarer Republik, in: Lendemains 15
(1990), Nr. 59, S. 16-62.
9 Vgl. Hans Manfred Bock: Les intellectuels allemands à la recherche de l’Europe et
d’une „Allemagne européenne“ de 1945 à 1949, in: Andrée Bachoud u.a. (Hg.): Les
Intellectuels et l’Europe de 1945 à nos jours, Paris 2000, S. 91-102, hier S. 93.
531

rerschaft10 und der Solidarität seiner Kollegen, so daß der Arierpa-


ragraph gegen ihn nicht in Anwendung gebracht wurde, doch traf
auch ihn schließlich der Bann der akademischen Ausgrenzung. Im
Jahre 1935 wurde er im Alter von 59 Jahren trotz seiner ıüberzeugt
nationalen Gesinnung„ und gegen den Widerstand der Bonner Fa-
kultät in den Ruhestand versetzt.11 Im folgenden Jahr, als die
Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland einmarschierte, pro-
movierte Ewig bei Max Braubach, der auf einem Lehrstuhl saß, der
seit einer Kabinettsorder von 1853 einem Katholiken zustand. Das
Hauptgutachten der Dissertation stammte aber ıselbstverständlich
aus Levisons Feder„,12 wie sich Ewig aus Anlaß des 60. Geburtstages
von Braubach erinnerte: ıAls mein Lehrer haben Sie meinen Studi-
engang kaum weniger geleitet als W. Levison, für den Sie ja auch
bei meiner Dissertation einsprangen [...].13 Ewig wie u.a. auch die
Levison-Schüler Paul Egon Hübinger und Theodor Schieffer hielten
in diesen Jahren den privaten Kontakt zu ihrem akademischen Leh-
rer, dem sie das 1935 erschienene Werk des später im Krieg umge-
kommenen Carl Erdmann Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens
ıdedizierten„.14 Im Anschluß an seine Doktorarbeit blieb Ewig als
Hilfsassistent am Historischen Seminar der Universität Bonn und
legte dort 1938 sein Staatsexamen ab.

10 Vgl. Max Braubach: Kleine Geschichte der Universität Bonn 1818-1968, Bonn 1967,
S. 45; Dietrich Höroldt (Hg.): Bonn. Von einer französischen Bezirksstadt zur Bundes-
hauptstadt 1794-1989, Bd. 4, Bonn 1989, S. 526.
11 Verschleppung und Ermordung kam er zuvor, weil er gemeinsam mit seiner Frau im
April 1939 in die britische Universitätsstadt Durham emigrierte; vgl. Jürgen
Petersohn: Deutschsprachige Mediävistik in der Emigration. Wirkungen und Folgen
des Aderlasses der NS-Zeit (Geschichtswissenschaft – Rechtsgeschichte – Humanis-
musforschung,), in: HZ 277 (2003), 1, S. 1-60.
12 Karl Ferdinand Werner: Zum Geleit, in: Eugen Ewig, Spätantikes und Fränkisches
Gallien. Gesammelte Schriften (1952-1973), hg. von Hartmut Atsma, 1. Bd., München
1976, S. IX-XII.
13 Eugen Ewig an Max Braubach, 11.4.1959, UA Bonn, NL Braubach, Bd. 199.
14 Vgl. Wilhelm Levison an Paul Egon Hübinger, 14.5.1945, UA Bonn, NL Hübinger,
Bd. 77.
532 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

Bei der Entscheidungsfindung über seinen zukünftigen Weg


spielten weniger wissenschaftliche als vielmehr politische Kriterien
eine wichtige Rolle. Wissenschaft im ıDritten Reich„ sah sich all-
gemein dem Druck ausgesetzt, die NS-Weltanschauung als Grund-
lage ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit zu übernehmen. Gleichzeitig
wurden vor allem Nachwuchswissenschaftler bei Stellenbesetzungen
politisch überprüft, was überdurchschnittlich viele Vertreter des
akademischen Nachwuchses zu politischen Zugeständnissen veran-
laßte, um die Aufstiegschancen zu wahren und das Ordinariat als
Krönung einer jeden wissenschaftlichen Karriere doch noch zu er-
reichen.15 In dieser Situation entschlossen sich auch Ewigs Wegge-
fährten und Altersgenossen Theodor Schieffer (1910-1992),16
Heinrich Büttner (1908-1970)17 und Stephan Skalweit (1914-2003)18
zur Parteimitgliedschaft, während er selber und Paul Egon
Hübinger (1911-1987) um sie herumkamen19 bzw. dieser Versu-
chung widerstanden, dafür aber mit negativen Folgen für ihr aka-
demisches Fortkommen zu rechnen hatten.
Infolge ihrer bekannten Verwurzelung in der katholischen Welt
des Rheinlandes erwies sich jedoch auch der Parteieintritt zu kei-
nem Freifahrtsschein für eine akademische Laufbahn, so daß sich
alle hier genannten Historiker in der zweiten Hälfte der 1930er

15 Michael Grüttner: Wissenschaft, in: Wolfgang Benz u.a. (Hg.): Enzyklopädie des Na-
tionalsozialismus, München 1997, S. 135-153, hier S. 144.
16 Er hatte seine Aufnahme am 4.10.1939 beantragt und war mit Wirkung vom
1.12.1939 Mitglied der NSDAP geworden (Mitgliedsnummer: 7 280 318), BArchB
(ehem. BDC) NSDAP-Gaukartei, Schieffer, Theodor.
17 Nachdem die Mitgliedersperre der NSDAP am 1.5.1937 vorübergehend aufgehoben
worden war, beantragte Büttner am 20.5. die NSDAP-Mitgliedschaft und wurde
rückwirkend zum 1.5. mit der Mitgliedsnummer 4 715 393 aufgenommen, BArchB, R3
(ehem. BDC) NSDAP-Gaukartei, Büttner, Heinrich.
18 Vgl. Stephan Skalweit an Paul Egon Hübinger, 23.11.1945, UA Bonn, NL Hübinger, Bd. 1.
19 Ernst Zipfel, seit 1936 als Nachfolger von Albert Brackmann Direktor des Reichs-
archivs und Direktor der Preußischen Staatsarchive, forderte Ewig während der Ar-
chivarausbildung dazu auf, beim „nächsten Zusammentreffen“ die NSDAP-Mitglied-
schaft vorweisen zu können, so daß dieser auch einen Aufnahmeantrag stellte, der
jedoch folgenlos blieb.
533

Jahre mit Blick auf die unsichere berufliche Zukunft entschlossen,


am Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche
Fortbildung in Berlin-Dahlem den dreisemestrigen Ausbildungsgang
für den Archivdienst zu durchlaufen. Das anschließende Referenda-
riat führte Ewig an das Staatsarchiv Breslau (1940/41), wo der be-
kennende Rheinländer jedoch nicht heimisch wurde, so daß er sich
an den im Archivschutz in Luxemburg tätigen Oberarchivrat a.D.
Dr. Wilhelm Kisky, ein ehemaliges Mitglied der Zentrumspartei,
wandte, auf dessen Vermittlung hin er schließlich eine Archivasses-
sorenstelle am Staatsarchiv in Metz erhielt.20 Dort wurde er stellver-
tretender Leiter und im Oktober 1942 nach dem Rückzug des bis-
herigen Direktors infolge von ıReibungen mit der Zivilverwaltung
in Lothringen„21 mit der kommissarischen Leitung beauftragt, bevor
Heinrich Büttner am 1. August 1943 zum Nachfolger ernannt
wurde, dieses Amt aber nie antrat, weil er zur Wehrmacht eingezo-
gen wurde.22
In diese Zeit fielen Forschungsaktivitäten der Gauleitung West-
mark zur romanisch-germanischen Sprachgrenze in Lothringen, wie
Wolfgang Freund jetzt in seiner wichtigen und sorgfältig aus den
Quellen erarbeiteten Studie aufzeigen konnte: ıSie vermutete eine
vorsätzliche Ansiedlung von Romanen durch die französische
Krone und verdächtigte Ludwig XIV., das Deutschtum an der
Sprachgrenze bewußt völkisch unterminiert zu haben [...]. Gegen-
über den Lothringern sollten historische Ansprüche des deutschen

20 Vgl. Wolfgang Freund: Volk, Reich und Westgrenze: Deutschtumswissenschaften


und Politik in der Pfalz, im Saarland und im annektierten Lothringen 1925-1945, phil.
Diss., Saarbrücken 2001, S. 367.
21 Vgl. Wolfgang Hans Stein (Hg.): Inventar von Quellen zur deutschen Geschichte in
Pariser Archiven und Bibliotheken (bearbeitet von einer Arbeitsgruppe unter Leitung
von Georg Schnath), Koblenz 1986, S. XXXI.
22 Theodor Mayer an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbil-
dung, 10.9.1943; Archiv der Monumenta Germaniae Historica B 537, Bl. 4; Freund,
a.a.O., S. 314.
534 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

Volkes auf die Moselle bewiesen werden.„23 Damit schlug die


ıStunde der Experten„, zu denen auch Eugen Ewig gehörte, der
sich nunmehr zwischen dem wissenschaftlichen Ideal der akademi-
schen Selbstbehauptung und dem totalitären Anspruch des NS-
Regimes befand, Wissenschaft nach ihrem Nutzen für die ıVolks-
gemeinschaft„ zu beurteilen.
Im Staatsarchiv Nancy stieß Ewig auf die Landbeschreibung des
Herzogtums Lothringen vom Jahre 1585/ 86 und machte sich im
Sommer 1943 an ihre Auswertung. Zwar konnte er nachweisen, daß
sich Frankreich seit etwa 1663 mit der Wiederbesiedlung des ent-
völkerten Landes beschäftigte, doch deutete nichts darauf hin, daß
Ludwig XIV. ıirgendeine Form von ethnischer Politik„ aus ınatio-
nalen Gesichtspunkten„ betrieb, die ıStaatsmännern der Zeit im all-
gemeinen fern gelegen„ habe, wie er in seiner Anfang 1944 nieder-
geschriebenen Abhandlung über Die Verschiebung der Sprach-
grenze in Lothringen während des 17. Jahrhunderts gegen den
Strom einer expansionspolitischen Geschichtsschreibung feststellte.
Nicht nur weil Ewig mit seiner These auf wenig Gegenliebe bei sei-
nen Vorgesetzten stieß, bescheinigt ihm Wolfgang Freund ıge-
schichtswissenschaftliche Integrität„ und führt sein Verhalten als
Nachweis dafür an, ıdaß ein Historiker im Nationalsozialismus seine
fachliche Arbeit politischen Vorgaben nicht beugen mußte.„24
Noch in den Räumen seines Archivs, das in der Präfektur unter-
gebracht war, erlebte Ewig schließlich am 19. November 1944 den
Beginn der Entscheidungsschlacht um Metz. Als die Amerikaner
die Stadt am 22. November befreiten,25 verhandelte Ewig die Über-
gabe der Präfektur und wurde im Anschluß als deutscher Zivilist
von den Amerikanern interniert, jedoch auf Bestreben lothringi-

23 Freund, a.a.O., S. 365f.


24 Vgl. die Einzelheiten und die Zitate bei Freund, a.a.O., S. 366ff.
25 Vgl. Francis Petitdemange, Jean-François Genet: Nos Libérateurs. Lorraine 1944,
Nancy 2004, S. 160ff.
535

scher Freunde, zu denen u.a. auch der spätere französische Au-


ßenminister Robert Schuman gehörte,26 am 1. Januar 1945 frühzeitig
wieder entlassen.

Milieuverbundenheit im katholischem Abend- und


Rheinland
Wenn wir uns im folgenden ausgedehnter mit dem oben bereits
kurz angesprochenen Hermann Platz beschäftigen, so tun wir dieses
erstens, weil er in Bonn regelmäßig Jugendliche und Studenten um
sich versammelte27 und auch Eugen Ewig mit den Ideen des Abend-
landes und der französischen Kultur in Verbindung brachte. Dieser
Romanist und Theologe gehört zu den vergessenen Mittlerpersön-
lichkeiten der Zwischenkriegszeit, obwohl sich der Zentrumsideo-
loge mit seinen Abhandlungen28 und der von ihm ab 1925 heraus-
gegebenen Zeitschrift Abendland zum Vordenker für das rheinisch-
katholische Milieu entwickelt hatte.29 Zweitens erschließt sich uns
ohne das Wissen über seinen intellektuellen Einfluß im sozio-kultu-
rellen Spannungsfeld seiner Zeit weder das gesellschaftliche Han-
deln noch der akademische Weg von Eugen Ewig. Der Umweg
über Hermann Platz verspricht somit wichtige Hinweise auf Milieu-

26 Walter Lipgens hatte über den belgischen Historiker Henri Bernard erfahren, daß
Ewig während des Krieges in enger Verbindung zu Robert Schuman gestanden habe
(Walter Lipgens an Eugen Ewig, 7.5.1964, BAK, B 250, Bd. 3), was dieser bestätigte:
„Ich habe Robert Schuman zwar nahegestanden, besitze aber keinerlei politische Do-
kumente, da ich selbst kein Politiker bin“ (Eugen Ewig an Walter Lipgens, 7.9.1964;
ebd., Bd. 5).
27 Vgl. Vincent Berning: Hermann Platz, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin
2001, S. 519ff.
28 Hermann Platz: Deutschland und Frankreich. Versuch einer geistesgeschichtlichen
Grundlegung der Probleme, Frankfurt/M. 1930.
29 Vgl. Heinrich Lutz: Deutschland und die Idee des Abendlandes. Bemerkungen zum
kulturellen und politischen Engagement von Hermann Platz vor und nach dem Ersten
Weltkrieg, in: Vincent Berning (Hg.): Hermann Platz (1880-1945). Eine Gedenkschrift,
Düsseldorf 1980, S. 47-64; Hans Manfred Bock: Beruf des kulturellen Übersetzens,
a.a.O., S. 10; Dagmar Pöpping: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie
der Antimoderne 1900-1945, Berlin 2002, S. 100ff.
536 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

eingebundenheit und intellektuelle Prägungen. Darüber hinaus nä-


hern wir uns über seine Person politisch, ideengeschichtlich und so-
ziologisch einem Beziehungsgeflecht, das den jüngeren Ewig Mitte
der 1940er Jahre in die Nähe von Konrad Adenauer (1876-1967)
und Robert Schuman (1886-1963) brachte.
Hermann Platz hatte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg für die
Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland eingesetzt30 und
nach 1918 an der geistig-moralischen und geographischen Neu-
vermessung des nationalen Koordinatensystems beteiligt,31 indem er
zugleich gegen den preußisch-deutschen und den französischen
Nationalismus wetterte.32 Religiöse Rückbesinnung auf die mittel-
alterliche Einheit des Abendlandes als gemeinsamer intellektueller
Raum für Deutsche und Franzosen blieb auch jetzt für Platz die
Garantie für die Zukunft Europas,33 in das ein ıneues„ Deutschland
sein christliches Erbe einzubringen habe. Das Abendland war für ihn
eine geschichtspolitische und kulturphilosophische Chiffre auf der
Suche nach geistiger Substanz und Tradition, die er in ostentativem
Widerspruch zu Aufklärung, Säkularisierung und zu den Ideen der
Französischen Revolution in dem idealisierten Bild des ıabend-
ländischen„ Mittelalters suchte: ıDas ferne Symbol ist die Krone
Karls des Großen.„34 Dem Rheinland schrieb er auf dem Weg
dorthin eine Schlüsselstellung zu: ıUnser Sitz ist die Mitte. Die Mitte
Europas, das ist klar. Aber auch die Mitte Deutschlands. Wir fühlen

30 Vgl. Paul Colonge: „Hochland“ face à l’Europe (1918-1933), in: Michel Grunewald,
Hans Manfred Bock (Hg.): Le discours européen dans les revues allemandes (1918-
1933), Bern 1997, S. 133-148, hier S. 139.
31 Hermann Platz: Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes. Flugschrif-
ten der Rheinischen Zentrumspartei, II. Folge (1924), Heft 2, S. 15ff.
32 Vgl. Richard Faber: Abendland. Ein politischer Kampfbegriff, Berlin u.a. 2002, S. 141.
33 Vgl. Hermann Platz: Das Ringen um die abendländische Idee, in: Hochland 20 (1923),
2, S. 308-318.
34 Hermann Platz: Um Rhein und Abendland, Burg Rothenfels a.R. 1924, S. 62.
537

uns gar nicht als deutsches Grenzland, obwohl wir auch Rand-
funktionen ausüben. Wir fühlen uns als Ausgangspunkt, als Kern.„35
Es mag neben dem Einfluß von Wilhelm Levison, dem ıNestor
der rheinischen und fränkischen Geschichtsforschung„,36 auf das
Wirken von Hermann Platz zurückzuführen sein, daß sich das spe-
zielle Interesse des jungen Mediävisten Ewig auch auf den lothringi-
schen Raum bzw. die rheinischen Lande konzentrierte. In seiner
Dissertation über den Theologen und Mystiker Dionysius von
Roermond37 befaßte er sich mit einem Spätscholastiker im Gelder-
schen (dem heutigen Limburg) aus der Zeit des Baseler Konzils
(1431-1449), der auf seine Zeitgenossen durch seine theologischen
und philosophischen Abhandlungen großen Einfluß ausgeübt hatte.
Seinen ersten längeren wissenschaftlichen Aufsatz veröffentlichte er
1939 in den Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein,38
die von den Nationalsozialisten als ıklerikales Organ„39 mit Miß-
trauen beobachtet und 1944 verboten wurden. Dagegen publizierte
er seinen zweiten längeren Artikel 1943 in einem der einschlägigen
Fachblätter der historischen ıWestforschung„,40 die sich besonders
mit dem deutschen ıVolkstum„ in den Grenzgebieten beschäftigte.
Hatte sich auch Ewig mittlerweile der ıgroßdeutschen Sache„ ange-
nommen bzw. zu einem Wissenschaftler fortentwickelt, der, wie so
viele Vertreter seiner Zunft, die nationalsozialistische Expansionspo-
litik mit seiner geisteswissenschaftlichen Forschung legitimierte?

35 Ebd., S. 19.
36 Rheinische Historiker tagten, in: Aachener Volkszeitung, 22.6.1946.
37 Vgl. Eugen Ewig: Die Anschauungen des Kartäusers Dionysius von Roermond über
den christlichen Ordo in Staat und Kirche, Bonn 1936.
38 Eugen Ewig: Die Wahl des Kurfürsten Joseph Clemens von Cöln zum Fürstbischof
von Lüttich 1694, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 135
(1939), S. 41-79, hier S. 41.
39 Paul Egon Hübinger an Wilhelm Levison, 10.1.1947; UA Bonn, NL Hübinger, Bd. 4.
40 Vgl. Eugen Ewig: Die Deutschordenskommende Saarburg, in: Elsaß-Lothringisches
Jahrbuch, hg. vom Wissenschaftlichen Institut der Elsaß-Lothringer im Reich an der
Universität Frankfurt/Main, XXI (1943), S. 81-126.
538 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

Ließ sich etwa nun auch bei ihm ıintellektuelle Konkordanz zwi-
schen Forschung, Propaganda und Annexionsmaßnahmen„41 fest-
stellen?
Daß Ewig nicht dem rassischen turn der ıVolksgeschichte„ nach
1933 folgte bzw. den geschichtspolitischen Bestrebungen einer
Germanisierung Lothringens das Wort redete, legen die Forschun-
gen von Wolfgang Freund nahe, der auf den Aufsatz Metz und das
Reich im Mittelalter gestoßen ist, den Ewig im Juni 1943 für die Lo-
kalbeilage zur NSZ Westmark, den Metzer Heimatbrief, eingereicht
hatte. Als er wenige Tage später die Zeitung aufschlug, ıtraute er
seinen Augen nicht„, wie Freund kommentiert. Die Redaktion hatte
sich als Zensor betätigt und alles entfernt, ıwas der nationalsozialisti-
schen Geschichtsschreibung und der Germanisierungspolitik in
Lothringen widersprach [...]. Lothringische Eigenständigkeit und
Freiheitsliebe, Metzer Autonomie und Sonderstellung sollten der
Vergessenheit anheimfallen.„ Infolge dieser inhaltlichen Deformie-
rungen und Sinnentstellungen lehnte Ewig jegliche Verantwortung
für den veröffentlichten Artikel ab.42 Er weigerte sich weiterhin, den
deutschen Kulturraum mit einem harmonisierten ıdeutschen Volks-
körper„ gleichzusetzen, auch wenn er als Vertreter eines landesge-
schichtlichen Ansatzes bisweilen eine ıorganische Einheit„ von
Land und Volk postulierte und einem ıNexus von Raum und Be-
völkerung„ zuredete. Sein landsmannschaftlich-stammliches Zuge-
hörigkeitsgefühl zum rheinischen Raum bewahrte ihn aber neben

41 Peter Schöttler: Die historische „Westforschung“ zwischen „Abwehrkampf“ und ter-


ritorialer Offensiven, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissen-
schaft 1918-1945, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1999, S. 204-261, hier: S. 215.
42 Vgl. die Einzelheiten dieses Hergangs und die zitierten Passagen in: Freund, a.a.O.,
S. 370.
539

seiner abendländischen Gesinnung vor deutschtümelnd-ethnozen-


tristischen Orientierungen.43

Aufbau von Dialogstrukturen über die nationalen


Grenzen
Daß Ewig zu allererst Rheinländer war, zeigte sich in ganzer Deut-
lichkeit nach dem Zusammenbruch des ıDritten Reiches„, als er
sich frei in Frankreich bewegte, ıwo er zu den eifrigsten Befürwor-
tern eines Rheinstaates gehört,„ wie sein Freund Hübinger im Ja-
nuar 1946 zu berichten wußte.44 Dieser bekleidete zu jener Zeit eine
exponierte Stellung als persönlicher Referent des Oberpräsidenten
der Nord-Rheinprovinz in Düsseldorf, was Ewig bewog, sich als Mit-
telsmann zwischen der rheinischen Metropole und der französi-
schen Hauptstadt anzubieten, wo er dem Milieu der katholischen
Linkspresse um die Zeitung Temps Présent und dem christdemo-
kratisch-linkskatholischen Mouvement républicain populaire (MRP )
nahestand. Über dieses Sammelbecken der Résistance catholique,
das Georges Bidault, Maurice Schumann, Robert Schuman u.a. zu
seinen Vertretern zählte45 und sich zur damaligen Zeit bereits gegen
die breite öffentliche Meinung in Frankreich für eine deutsch-fran-
zösische Aussöhnung aussprach, verfügte er über Kontakte zum
französischen Außenministerium: ıIch habe also die Möglichkeit,
Denkschriften beim Quai dÊOrsay einzureichen und Artikel in der
katholischen Presse zu veröffentlichen.„46 In dieser Zeit bat ihn auch
Robert Schuman, den Kontakt zu Konrad Adenauer herzustellen,

43 Zitate in: Willi Oberkrome: Entwicklungen und Varianten der deutschen Volksge-
schichte (1900-1960), in: Manfred Hettling (Hg.): Volksgeschichten im Europa der
Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 65-95.
44 Paul Egon Hübinger an Heinrich Büttner, 5.1.1946, UA Bonn, NL Hübinger, Bd. 1.
45 Vgl. Michel Winock: Le siècle des intellectuels, Paris 1999, S. 525ff.; ders.: La France
politique XIXe-XXe siècle, Paris 1999, S. 439f.
46 Paul Egon Hübinger an Wilhelm Levison, 27.3.1947, UA Bonn, NL Hübinger, Bd. 4.
540 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

so daß sich Ewig in der Folge als ıPostillon„ zwischen den beiden
Politikern betätigte.47
Sein rheinischer Separatismus stieß dabei bei seinen französi-
schen Gesprächspartnern nicht immer auf Gegenliebe, wie er in ei-
nem Brief an Hübinger bekannte: ıIn der Annahme, daß die Un-
abhängigkeit der Rheinlande dem Interesse unserer Heimat am be-
sten entspreche, habe ich in Frankreich den Unterschied zwischen
dem deutschen Westen und den innerdeutschen Provinzen aufs
schärfste betont. Ohne mich auf eine bestimmte Lösung festzulegen
(deutsche Confoederation, niederländische Confoederation, volle
Unabhängigkeit), habe ich den Plan propagiert, aus unserer Heimat
eine Art rheinisches Österreich zu machen. Weit entfernt, dabei all-
gemeinen Beifall zu finden, hatte ich vielmehr gegen starke Skepsis
und politische Bedenken zu kämpfen. Man fürchtet, daß ein selb-
ständiger Rheinstaat sich allzu schnell erholen werde und daß ein
katholisch-demokratischer Nachbar auf Elsaß-Lothringen eine be-
sondere Anziehungskraft ausüben könnte.
Nach meiner Meinung gibt uns der Föderalismus die Möglich-
keit, ein gesundes Staatswesen aufzubauen, indem wir uns von den
ewig unruhigen und militaristischen Elementen der altpreußischen
und zentraldeutschen Provinzen trennen. Diese Trennung würde
unsere Wiedereingliederung in die zivilisierte Welt wesentlich er-
leichtern. Vom volkhaften Standpunkt aus gesehen wäre Separatis-
mus heute nicht Verrat. Wir könnten die wirklichen Grundlagen
rheinischer Volkskultur stärken und die Bande mit den abgesplitter-
ten Brücken im Westen neu knüpfen – ohne Gefahr eines Revan-
chekrieges. Die rheinische Freiheit würde endlich zu einer wichtigen
Vorstufe zur europäischen Föderation, wenn man sie nicht als
Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck auffaßte. Die Aufrecht-
erhaltung des preußischen Zentralismus drohte dagegen unsere

47 Ich danke Herrn Prof. Dr. Vincent Berning für diese Information vom 27.11.2004.
541

rheinische Eigenart im Kern zu treffen und alle Brücken nach We-


sten definitiv abzuschneiden. Die Ansiedlung von 12 Millionen
Preußen in West- und Süddeutschland wäre die endgültige Kata-
strophe für uns alle. Ihre volkspolitischen Auswirkungen wären
noch erheblich verhängnisvoller als ihre wirtschaftlichen Konse-
quenzen.„48
In dieser pessimistischen Schlußfolgerung kommt zweifellos der
über viele Jahrzehnte für Deutschland so typische konfessionelle
Gegensatz zum Ausdruck, in dem die Katholiken seit der Reichs-
einigung stärker noch als zuvor aus einer Minderheitenposition
agiert hatten. Der von Ewig erstrebte Rheinstaat war somit auch als
Bollwerk gegen ein wiederum vom preußischen Protestantismus
dominierten Deutschland gedacht. Aus dieser Aversion gegen einen
Zentralstaat heraus wollte er allerhöchstens einen ıdeutschen Föde-
rativstaat mit weitgehender Freiheit der Gliedstaaten„ akzeptieren;
bei einer Rückkehr zur Weimarer Republik gedachte er jedoch,
sich in Österreich oder Frankreich ınaturalisieren„ zu lassen.
Neben den Gedankenspielen über eine freie schriftstellerische
Tätigkeit verlor er auch die Habilitation nicht aus dem Auge, um
ıspäter an eine österreichische Universität zu gehen„,49 doch blieb er
schließlich dem Rheinland treu. Auf Vermittlung des französischen
Germanisten Robert Minder unterrichtete er von Januar 1946 bis
1949 als Lektor an der Universität Nancy und berichtete Hübinger
im März 1946, daß die Französische Militärregierung in Baden-
Baden, die zu dieser Zeit noch nicht die Pläne zur Abtrennung des
Rheinlandes aufgegeben hatte, ihn beauftragt habe, ein provisori-
sches historisches Schulbuch für die nordfranzösische Zone zu ver-
fassen – ırein landesgeschichtlich (Rheinland, Rheinhessen, Pfalz)„.

48 Eugen Ewig an Paul Egon Hübinger, 27.8.1945, UA Bonn, NL Hübinger, Bd. 92. Hier
auch die folgenden Zitate.
49 Eugen Ewig an Paul Egon Hübinger, 27.7.1945, UA Bonn, NL Hübinger, Bd. 92.
542 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

Nachdem die auf französische Initiative am 22. Mai 1946 neuge-


gründete Universität Mainz eröffnet worden war, übernahm er eine
Oberassistentenstelle an ihrem Historischen Seminar. Seine engen
Beziehungen zu Vertretern der Militärregierung hatten ihm zudem
bei der Stellenbesetzung an der neuen Hochschule maßgeblichen
Einfluß verliehen, wie ein Brief an Hübinger dokumentiert: ıIch
habe Dich, Büttner und Schieffer für eine ordentliche Professur vor-
geschlagen. Man hat mich gebeten, die Verbindung mit Euch auf-
zunehmen [⁄]. Falls Du Dich für Mainz interessierst, kannst Du
Dich an mich oder auch direkt nach Baden-Baden wenden (Direc-
tion de lÊÉducation Publique, Hôtel Stéphanie). Dasselbe gilt für
Schieffer. Ich würde mich unbändig freuen, wenn wir dort zusam-
men arbeiten könnten. Directeur de lÊÉducation Publique est le
général Schmittlein. Du kannst Dich an ihn oder über ihn an Ma-
gnifizenz wenden mit Berufung auf die Unterredung, die ich mit
Magnifizenz gehabt habe. Schmittlein ist ein Freund von Jean de
Pange, dem ich diese Beziehung verdanke.„50
Es war also nicht das von Heinrich Appelt bemühte ıSchicksal„,
das Schieffer wie auch Büttner als außerplanmäßige Professoren
nach Mainz führte,51 sondern die ıweiche„ Struktur eines früh ange-
legten Netzwerk, über das deren Mitglieder nun bei der Stellenver-
gabe ihren Einfluß geltend machen konnten.52 Durch ihre Verbun-
denheit zum Rheinland bzw. zu Bonn, ihre gemeinsamen Erfahrun-
gen in den Archiven bzw. ihre Verwendung im ıKriegseinsatz„ der
Deutschen Geisteswissenschaften hatten sie sich nie aus den Augen
verloren, so daß das Netzwerk nach Kriegsende schnell wieder ver-

50 Eugen Ewig an Paul Egon Hübinger, 1.3.1946, UA Bonn, NL Hübinger, Bd. 2.


51 Heinrich Appelt: Theodor Schieffer, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittel-
alters 48 (1992), S. 417-419.
52 Vgl. Felicitas Becker: Netzwerke vs. Gesamtgesellschaft: ein Gegensatz? Anregun-
gen zur Verflechtungsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), Nr. 2,
S. 314-324.
543

dichtet und das Historische Seminar der Universität Mainz zu einer


Hochburg katholisch-abendländischer Historiker werden konnte.
Während an den traditionellen deutschen Hochschulen nur wenig
personelle Veränderungen zu beobachten gewesen waren, bot die
Universität in Mainz gerade der Privatdozentengeneration deutlich
bessere Einstiegsmöglichkeiten und entwickelte sich für diese zu ei-
nem Karrieresprungbrett. Büttner erhielt bereits 1949 eine ordentli-
che Professur in Marburg; genauso wie Schieffer 1951 in Mainz, be-
vor er 1954 einem Ruf nach Köln folgte, so daß Ewig, der sich 1952
mit einer Studie über ıTrier im Merowingerreich„ habilitiert hatte,53
im Jahre 1954 sein Nachfolger als Ordinarius für mittelalterliche
Geschichte und historische Hilfswissenschaften an der Universität
Mainz wurde.
Die ıfranzösische„ Universität Mainz erlaubte es ihm darüber
hinaus, die Beziehungen zu seinen Freunden in Frankreich weiter zu
pflegen und auszubauen. Durch seine Teilnahme an den von
Raymond Schmittlein initiierten Internationalen Historikertreffen in
Speyer zwischen 1948 und 1950 engagierte er sich darüber hinaus
für die Rückkehr der (west-)deutschen Historiker in den Kreis der
internationalen Historikerzunft.54 Diese ıInstitution von eigenartig
privatem oder zumindest nur unauffällig offiziellem Charakter„ ver-
folgte das Ziel, die nationalen Geschichtsschreibungen und Schul-
geschichtsbücher einer intensiven Überprüfung zu unterziehen, um
die unterschiedlichen Geschichtsbilder einander anzugleichen und
über diesen Weg einen vielschichtigen Umerziehungs- und Annähe-
rungsprozeß zwischen ehemaligen Kriegsgegnern auf zivilgesell-

53 Vgl. Eugen Ewig: Trier im Merowingerreich. Civitas, Stadt, Bistum, Trier 1954.
54 Ewigs Teilnahme am I. (wie u.a. Ritter, Schnabel und Ramackers) und III. Inter-
nationalen Historikertreffen in Speyer (wie u.a. Büttner, Heimpel, Hübinger, Schieffer,
Tellenbach) ist in den Quellen belegt; vgl. MAE/Colmar, AC 262 (1) und 275 (1).
544 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

schaftlicher Ebene einzuleiten.55 Ewig gehörte damit zu den Mitbe-


gründern des sogenannten ıEsprit de Spire„, mit dem der ıGeist
internationaler und insbesondere deutsch-französischer Verständi-
gung auf dem Grunde der Gemeinsamkeit wissenschaftlicher Ge-
sinnung„ beschworen wurde.56 Als Mitarbeiter von Schulgeschichts-
büchern beteiligte er sich im folgenden daran, diesem ıEsprit„
Dauerhaftigkeit zu verleihen.57
Institutionalisierte Dialogstrukturen wie die Treffen in Speyer
förderten zum einen die Neukonfiguration der Netzwerke des Wis-
sens und der Wissenschaft im europäischen Kontext; zum anderen
leisteten sie über ıdie Koordinierung des abendländischen Ge-
schichtsbildes„58 einen Beitrag zu der Imaginierung eines neuen ge-
meinsamen Raumes bzw. zu einem Prozeß, den Karl Schlögel als
ıRemapping„ bezeichnet.59 Durch die Infragestellung einer Vielzahl
von Werten und Einstellungen, aber auch von bisher vertrauten
Räumen begannen sich genauso die ıKarten in den Köpfen„ zu
wandeln. An diesen mentalen Transformationsprozessen beteiligten
sich auch die Historiker auf unterschiedliche Weise und mit ver-
schiedenen Inhalten.60 Es kann als Kontinuität im Denken von
Eugen Ewig gewertet werden, daß er bei der Suche nach dem al-
ternativen Ort der deutschen Nation über die nationalen Grenzen
hinausschaute und mit einer kulturell-weltanschaulichen Argumen-
tation eine historiographische Westverschiebung des preußenlasti-

55 Vgl. Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im


20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, S. 470ff.
56 H.W. Erbe: Internationales Historikertreffen in Speyer, in: GWU 1 (1950), S. 301f.
57 In der Serie „Erbe des Abendlandes“ übernahm Ewig gemeinsam mit dem Gymna-
siallehrer Robert Frohn einen Band, der vom „Sacrum Imperium des Abendlandes“
bis zum „Zeitalter des Absolutismus“ reichte; Erbe des Abendlandes. Lehrbuch der
Geschichte für höhere Schulen, Teil II: Das Abendland, Düsseldorf 1954.
58 Dritter Internationaler Historikerkongreß vom 17.-20. Oktober 1949, in: GWU 1 (1950),
1, S. 52.
59 Vgl. Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts, München 2002, S. 248ff.
60 Sebastian Conrad: Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung
in Westdeutschland und Japan 1945-1960, Göttingen 1999, S. 360.
545

gen Deutschlandbildes einforderte. In Anlehnung an Hermann Platz


und aus einem weiterhin bestehenden antipreußischen Affekt her-
aus formulierte er eine rheinische ıKernlandtheorie„, indem er die
europäischen Gemeinsamkeiten in die karolingische Vergangenheit
zurückprojizierte und für das Rheinland eine geschichtlich wichtige,
schicksalhafte Aufgabe reklamierte: ıNicht zufällig ist der Schwer-
punkt unseres Lebens gerade in einer Zeit, die zur europäischen
Einheit strebt, wieder an den Rhein gerückt. Damit ist eine wichtige
Voraussetzung für die Sendung des rheinischen Deutschland gege-
ben.„61 Den kontingenten Begriff ıEuropa„ füllte er mit ıAbend-
land„ und ordnete auf diese Weise den Nationsbegriff in die christ-
lich-abendländische Wertegemeinschaft ein, um Deutschland den
Sprung in einen übergreifenden Kulturraum zu ermöglichen.
So entstand in dieser Zeit ein dialektisches Verhältnis von histo-
risch unterlegten Raumdiskursen und politischer Neuorientierung,
das die Adenauersche Politik der Westintegration und die deutsch-
französische Verständigung historisch flankierte. Thesenartig kann
hier formuliert werden, daß der Kanzler das räumliche Konstrukt
des Okzidents bzw. des Westens ebenso brauchte wie der von
Eugen Ewig u.a geführte Diskurs über die Geschichte des Abend-
landes ohne die Westintegration der Bundesrepublik nicht zu den-
ken ist. In diesem Zustand gegenseitiger Mobilisierbarkeit standen
Wissenschaft und Politik in einer permanenten Interdependenz, die
bundesdeutschen Historikern in den 1950er Jahren die Möglichkeit
bot, die politische und gesellschaftliche Öffnung ihres Staates nach
Westen für die Mobilisierung von Ressourcen bzw. die Institutiona-
lisierung neuer Forschungsausrichtungen zu nutzen, wie wir am Bei-
spiel der Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Paris auf
den nächsten Seiten verfolgen können.

61 Eugen Ewig: Landschaft und Stamm in der deutschen Geschichte, in: GWU 1 (1950),
S. 154-168.
546 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

Mittler zwischen deutscher und französischer Historie


Als Adenauer Anfang 1954 gegenüber ıeinige[n] zufällig ausge-
wählte[n]„62 Historikern verlauten ließ, aus dem seiner Bewirtschaf-
tung vorbehaltenen Teil des Forschungsfonds geschichtswissenschaft-
liche Vorhaben finanziell unterstützen zu wollen, blieb die Reaktion
nicht aus. Neben drei weiteren Historikern ließ auch Heinrich
Büttner ıauf Anregung und nach Rücksprache mit Herrn Ewig„
ıVorschläge über historische Forschungsaufgaben„ dem Kanzleramt
zukommen, die sich aus sechs Unterprojekten zusammensetzten.
Die Themenwahl war nicht nur wissenschaftlich begründet, sondern
entsprach zugleich jenen abendländischen Tendenzen, die so
typisch für die erste Hälfte der Ära Adenauer waren: ıDas Reich
der Karolinger ist für West- wie Ostfranken, für französische wie
deutsche Geschichte, die gemeinsame Ausgangsbasis. Die geistigen
und religiösen Strömungen, die verfassungsmäßigen Einrichtungen
und die wirtschaftlichen Entwicklungen können in ihren letzten
Zusammenhängen nur durch eine überregionale Betrachtung
zutiefst erfaßt werden. Die Beziehungen und Spannungsfelder der
romanisch-germanischen Welt spielen dabei eine wichtige Rolle.„63
Büttner hatte den einzelnen Projekten bereits verschiedene Na-
men von Historikern (Ewig, Heimpel, Hübinger, Schieffer,
Steinbach, Tellenbach) zugeordnet, deren Ruf nicht nur fachliche
Qualität, sondern auch weltanschauliche Lauterkeit verbürgen
sollte: ıDie genannten Forscher beschäftigen sich nicht erst ad hoc
mit jenen Problemen, die letztlich auf die gemeinsame Grundlage
der abendländischen Kultur ausgerichtet sind, sondern wurden
durch ihre wissenschaftliche Entwicklung sozusagen von selbst dar-
auf gewiesen, einen möglichst weiten historischen Bereich in ihr Ar-

62 Gerd Tellenbach an Friedrich Baethgen, 13.12.1954, ADHIP, Bd. 634.


63 Vorschläge über historische Forschungsaufgaben [Februar 1954], BAK, B 136,
Bd. 912, Bl. 261.
547

beitsfeld einzubeziehen. Daß sich die genannten Herren persönlich


der gemeinsamen christlichen Grundlage verpflichtet fühlen, ist
wohl kein Zufall.„64
Als im Kanzleramt die eingegangenen Projektanträge im De-
zember 1954 zwischen Ministerialbeamten und Historikern disku-
tiert wurden,65 herrschte Einigkeit unter den Teilnehmern, die vom
Bundeskanzler in Aussicht gestellten Mittel nicht für die eingereich-
ten Projekte zu verwenden, sondern eher einen ılang gehegten
Wunsch der deutschen Historiker„66 zu erfüllen: eine Deutsche Hi-
storische Forschungsstation in Paris.67 ıDie geistige Leitung, die Auf-
sicht über die Verwaltung, die Vertretung nach außen und die Ver-
antwortung gegenüber dem Kostenträger„ sollte ein namhafter deut-
scher Historiker übernehmen. Ewigs vielfältige Kontakte nach
Frankreich bewogen seinen langjährigen Weggefährten Hübinger,
seit dem 1. März 1954 Leiter der Abteilung III ıKulturelle Angele-
genheiten des Bundes„,68 bereits am 22. Dezember Fühlung zu ihm
aufzunehmen. Schon am nächsten Tag informierte Hübinger das
Bundeskanzleramt, daß der Mainzer Mediävist für diese Aufgabe
zur Verfügung stehe: ıDa das ganze Vorhaben darauf abgestellt ist,
zunächst in einem ungezwungenen, fast privaten Stil anzulaufen,
halte ich gerade Professor Ewig für besonders qualifiziert, um als
Protektor tätig zu sein, da er wie kein anderer der sachlich in Frage
kommenden Herren über das hohe Maß an persönlichen Bezie-
hungen zu maßgebenden wissenschaftlichen und politischen Krei-

64 Heinrich Büttner an Paul Martini, 21.2.1954, BAK, B 136, Bd. 912, Bl. 260.
65 Vgl. Zusammenstellung der historischen Forschungsvorhaben mit Themen und Ver-
fassern, für die Zuschüsse beantragt worden sind [13.11.1954], ADHIP, Bd. 634.
66 Gerd Tellenbach an Wilhelm Grau, 27.12.1954, BAK, B 136, Bd. 912, Bl. 271.
67 Vorlage des Referates 9 für den Staatssekretär, 27.12.1954, BAK, B 136, Bd. 912,
Bl. 265ff.
68 BMI an Hübinger 16.3.1954, UA Bonn, NL Hübinger, Bd. 184.
548 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

sen Frankreichs verfügt, das es ihm ermöglichen wird, so unoffiziell


wie möglich und doch mit entsprechender Autorität aufzutreten.„69
Der Freiburger Historiker Gerd Tellenbach, der selbst auch ıei-
nen günstigen Eindruck von Persönlichkeit und Leistungsfähigkeit„
Ewigs besaß, hielt Rücksprache mit Hermann Aubin, dem Vorsit-
zenden des Verbandes Deutscher Historiker, und Friedrich
Baethgen, dem Präsidenten der MGH. Aubin gab zu bedenken,
daß Ewig im 2. Weltkrieg am Staatsarchiv in Metz gearbeitet habe.
Zudem sprach in dieser Sondierungsphase sein junges Alter gegen
ihn und die damit begründete mangelnde wissenschaftliche Notorie-
tät sowie die fehlende Tradition der Universität Mainz, die ıin wis-
senschaftlichen Kreisen noch nicht das gleiche Ansehen genieße wie
andere deutsche Universitäten.„70 Es war nicht unerheblich, daß sich
Max Braubach für Ewig einsetzte und ıauf Grund einer sehr ge-
nauen Kenntnis der menschlichen und wissenschaftlichen Persön-
lichkeit von Herrn Ewig„ sein Unverständnis über die teilweise an-
zutreffenden Vorbehalte zum Ausdruck brachte.71 Anfang Februar
1955 wischte Hübinger die Einwände gegen Ewig endgültig vom
Tisch: ıDieser habe bei seiner Tätigkeit in dem Metzer Archiv nicht
gegen französische Interessen gearbeitet; im Gegenteil habe er dort
für den späteren Ministerpräsidenten R. Schuman Archivmaterial
sichergestellt.„ In seiner doppelten Rolle als Leiter der Kulturabtei-
lung im BMI und Historiker bot sich Hübinger nun an, die Errich-
tung der Forschungsstation gemeinsam mit Ewig vorzubereiten.72
Die so verheißungsvoll angelaufenen Planungen gerieten jedoch
durch den negativen Bescheid der Diplomatischen Vertretung in

69 Paul Egon Hübinger an Wilhelm Grau, 23.12.1954, BAK, B 136, Bd. 912, Bl. 262.
70 Vgl. Gerd Tellenbach an Wilhelm Grau, 27.12.1954, BAK, B 136, Bd. 912, Bl. 271ff.;
Vorlage des Referates 9 (Wilhelm Grau) „Betr.: Historische Forschungsstation in Pa-
ris“, März 1955; ebenda, Bl. 282ff.
71 Max Braubach an Wilhelm Grau, 31.12.1954, BAK, B 136, Bd. 912, Bl. 275.
72 Vgl. Vorlage des Referates 9 (Wilhelm Grau), a.a.O., Bl. 282ff.
549

Paris vom 16. März 1955 ins Stocken. Sie fürchtete, ıdaß die Eröff-
nung eines ausschließlich deutschen Forschungszwecken dienenden
historischen Instituts in Paris sicher nicht die ungeteilte Zustimmung
aller an kulturellen Fragen interessierten Kreise finden und darüber
hinaus innerhalb der konservativen französischen Kreise mögli-
cherweise negative Kritik hervorrufen würde.„73
Bei einer neuerlichen Beratung im Kanzleramt schlug Hübinger
dabei Mitte Januar 1956 vor, in privaten Besprechungen zwischen
bundesdeutschen und französischen Historikern die praktischen
Schritte zur Verwirklichung dieses Projektes zu erörtern. Er regte
ferner an, Eugen Ewig für eine Reise nach Paris zu gewinnen, ıum
diese erste vorsichtige Fühlungnahme aufzunehmen.„74 Dieser wil-
ligte umgehend ein und reiste mit Mitteln des Bundeskanzleramtes
vom 26. Februar bis 17. März 1956 in die französische Hauptstadt,75
wo er mit dreißig führenden Persönlichkeiten des kulturellen und
universitären Lebens sowie darüber hinaus mit Robert Schuman
und André François-Poncet (1887-1978) zusammentraf. ıKein Ge-
sprächspartner hat irgendeinen Einwand gegen die Errichtung einer
deutschen Forschungsstelle erhoben„, so Ewigs erste Schlußfolge-
rung, doch formulierten die französischen Historiker vor dem Hin-
tergrund der Erfahrungen mit dem ıDeutschen Institut„ während
der Occupation76 eine Grundbedingung: sie ısur base universitaire„

73 Bericht der Diplomatischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland zum Plan


einer deutschen geschichtswissenschaftlichen Station in Paris, 16.3.1955, BAK,
B 136, Bd. 912, Bl. 287-291.
74 Vermerk über eine Besprechung im Bundeskanzleramt vom 17.1.1956, 11.00 Uhr zum
Plan einer deutschen geschichtswissenschaftlichen Station in Paris, 20.1.1956,
PA/AA, B 94, Bd. 615.
75 Eugen Ewig an das Bundeskanzleramt, 30.1.1956, BAK, B 136, Bd. 912, Bl. 336.
76 Vgl. Eckard Michels: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944. Ein Beitrag zu den
deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des
Dritten Reiches, Stuttgart 1993; Frank-Rutger Hausmann: „Auch im Krieg schweigen
die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg,
Göttingen 2001.
550 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

einzurichten.77 Ewig wußte, daß es bei seiner Reise nicht allein um


die Eröffnung einer wissenschaftlichen Einrichtung ging, sondern
genauso um die deutsch-französische Verständigung: ıSie [die Aus-
sagen der französischen Historiker, U.P.] zeigen aber auch, daß die
Forschungsstelle eine Brücke zu den französischen Kreisen werden
kann, die Deutschland bis heute noch reserviert gegenüberstehen.„
Da nun auch die Bonner Diplomaten keine Einwände mehr hatten,
war der Durchbruch geschafft.
Den wissenschaftlichen bzw. zivilgesellschaftlichen Charakter der
Forschungsstelle sicherten Gerd Tellenbach, Max Braubach und
Eugen Ewig, indem sie am 2. April 1957 in Mainz die ıWissen-
schaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der
deutsch-französischen Beziehungen„ als Gesellschaft des Bürgerli-
chen Rechts gründeten, zu der 1959 Paul Egon Hübinger nach sei-
nem Ausscheiden aus dem BMI stieß.78 Die ehrenamtlichen Mit-
glieder wählten Eugen Ewig zum Geschäftsführer, der in den fol-
genden Monaten die Institutionalisierung in Verhandlungen mit den
offiziellen Instanzen und besonders mit dem Bundesinnenministe-
rium auf den Weg brachte, das die Forschungsstelle bis zu ihrer
Umwandlung in ein Bundesinstitut im Jahre 1964 vollständig finan-
zierte. Mit Unterstützung durch Schuman und Adenauer79 konnte
schließlich das Centre Allemand de Recherches Historiques am
21. November 1958 offiziell eröffnet werden und seine Tätigkeit un-
ter maßgeblichem Zutun der beiden ersten Mitarbeiter, Hermann
Weber und Rolf Sprandel, aufnehmen.
Zu den ersten Bemühungen des Centre, sich als Mittlerinstitution
zwischen deutschen und französischen Historikern zu profilieren,

77 Bericht über meine Sondierung in Paris zwecks Errichtung einer deutschen For-
schungsstelle, März 1956, BAK, B 136, Bd. 912, Bl. 353ff.
78 Vgl. Eugen Ewig: Paul Egon Hübinger (1911-1987), in: Francia 15 (1987), S. 1143-1147.
79 Robert Schuman an Konrad Adenauer, 5.6.1958; Konrad Adenauer an Robert Schu-
man, 24.6.1958, BAK, B 136, Bd. 3036.
551

gehörte die Organisation von deutsch-französischen Historikertref-


fen, dessen erstes 1961 in Saarbrücken stattfand und zu einem
Markstein für das weitere Verhältnis der Historiker beider Länder
werden sollte, wie aus dem von Ewig verfaßten Tagungsbericht her-
vorgeht: ıIn seinem Schlußwort betonte Prof. [Fernand] Braudel als
Sprecher der französischen Delegation, daß die seit 1914 unterbro-
chenen Beziehungen zwischen der deutschen und der französischen
Geschichtswissenschaft erst auf dieser Tagung wieder neu geknüpft
worden seien, daß das Colloquium in jeder Hinsicht einen Neuan-
fang bedeute.„80

Fazit
Frühe räumliche und intellektuelle Prägungen im katholisch-abend-
ländischen Milieu des Rheinlandes hatten den Blick von Eugen
Ewig bereits während seiner Jugend in Richtung Frankreich gerich-
tet, das ihm im Gegensatz zu nicht wenigen Vertretern der deut-
schen Historikerzunft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht
zu dem immer wieder beschworenen ıErbfeind„ geworden war.
Während diese mit ihren Forschungen maßgeblich zur Verbreitung
dieses Bildes beigetragen hatten, erlag Ewig selbst während des
ıDritten Reichs„ nicht dem Anpassungsdruck. Vielmehr entwickelte
er in dieser Zeit eine transnationale Sensibilität, auf deren Grund-
lage er nach 1945 Brücken über den Rhein baute und ıverständi-
gungspolitische Partner„ (Hans Manfred Bock) aufspürte, die ihm
im eigenen Land Glaubwürdigkeit verliehen und es ihm erlaubten,
zuweilen zwischen Politik und Wissenschaft, aber zumeist auf dem
zivilgesellschaftlichen Feld der deutsch-französischen Historikerbe-
ziehungen die Verständigung zu fördern. Diese für eine Mittlertätig-
keit zwingend notwendige ıdoppelte Responsivität„ konnte er nun

80 Tagungsbericht von Eugen Ewig, 2.6.1961, BAK, B 250, Bd. 7.


552 Ulrich Pfeil: Eugen Ewig

in einer Dialektik von wissenschaftlicher Kompetenz und zivilgesell-


schaftlichem Engagement in die sich entwickelnden transnationalen
Dialogsstrukturen zwischen beiden Ländern einbringen. Als ıcréa-
teur„ und ıacteur„81 bei der Gründung und Institutionalisierung ei-
ner neuen wissenschaftlichen Mittlerinstitution, dem Deutschen Hi-
storischen Institut Paris, leistete er auf organisatorischem Gebiet ei-
nen wesentlichen Beitrag zur Verdichtung des bilateralen Netzwer-
kes zwischen deutschen und französischen Historikern, über das er
aber seine Aktivitäten hinaus nicht ausdehnte. Sie blieben damit auf
einen kleinen elitären Kreis beschränkt. Er gehört folglich zu jener
ırelativ breite[n] Generation von Mittlern„,82 die im deutsch-franzö-
sischen Kontext ab Ende der 1950er Jahre innerhalb der gesell-
schaftlichen bzw. wissenschaftlichen Austauschinstitutionen heran-
wuchsen. Die bislang nur unzureichenden Informationen über Le-
benswege und identitätsstiftende Schlüsselerlebnisse sollte für die
Forschung Grund genug sein, sich ihrer in Zukunft verstärkt anzu-
nehmen.

81 Vgl. Hans Manfred Bock: Créateurs, organisateurs et vulgarisateurs. Biographies de


médiateurs socio-culturels entre la France et l’Allemagne au XXe siècle, in: Revue
d’Allemagne et des Pays de langue allemande 33 (2001), Nr. 1, S. 453-467.
82 Bock: Beruf des kulturellen Übersetzens, a.a.O., S. 13.
553

Theodor Heuss und Frankreich


Guido Müller
554 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

Den ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss in der


Reihe der deutsch-französischen Mittler zu finden, das wird sicher
zunächst Erstaunen hervorrufen. Sollte da eine Facette der Biogra-
phie bisher gänzlich übersehen worden sein? In welchen Kontexten
ereignete sich denn ein öffentlich ıunbemerkt„ gebliebenes Mittler-
werk im Schatten Adenauers oder der Weimarer Republik? Ist dies
nicht ein Widerspruch: ein öffentlich und historiographisch unbe-
kannt gebliebenes Mittlerwerk eines prominenten deutschen Politi-
kers? Nun soll es hier nicht darum gehen, Heuss zur unentdeckten
großen Mittlergestalt zu stilisieren, nach dem großen Liberalen, dem
großen Demokraten, dem Widerstandskämpfer im ıDritten Reich„
und dem Staatsmann nun sozusagen den deutsch-französischen
Mittler zu entdecken. Sicher gibt es wichtige Aspekte seines Wir-
kens als Bundespräsident und bereits vorher, die stark im Schatten
Adenauers standen. In ihnen wird deutlich, daß Heuss aktiv an der
deutsch-französischen Aussöhnung nach 1945 beteiligt war und in
den Zielen der Westintegration mit Adenauer vollkommen überein-
stimmte.1 Damit stellt sich die interessante, bisher kaum breiter un-
tersuchte Forschungsfrage, welche Personen und Netzwerke im Um-
feld der ersten bundesdeutschen ıKanzlerdemokratie„ eigentlich
maßgeblich an der Herstellung guter Beziehungen zu Frankreich
beteiligt waren: auf der politischen, wirtschaftlichen, und kulturellen
Ebene – kurz im ganzen Feld der deutsch-französischen Gesell-
schaftsbeziehungen seit 1947/49.2

1 Guido Müller: Theodor Heuss, die deutsch-französischen Beziehungen und die euro-
päische Einigung, in: Mareike König, Matthias Schulz (Hg.): Die Bundesrepublik
Deutschland und die europäische Einigung 1949-2000. Politische Akteure, gesell-
schaftliche Kräfte und internationale Erfahrungen, Stuttgart 2004, S. 61-84.
2 Das umfangreiche und detaillierte staatsorientierte Werk von Ulrich Lappenküper
gibt leider kaum Hinweise zu den nichtstaatlichen Beziehungen, allerdings
zahlreiche zum Bundespräsidenten: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949-
1963: von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, München 2001, vgl. zu
den Kulturbeziehungen aufschlußreich ders.: Der Literat als Diplomat: Wilhelm
Hausenstein in Paris 1950-1955, in: Dokumente 52 (1996), S. 323-326; ders.:
555

Bundespräsident Theodor Heuss wies in seiner Neujahrsanspra-


che am 31.12.1953 nachdrücklich auf die Bedeutung des deutsch-
französischen Ausgleichs für ein neues europäisches Bewußtsein
hin: ıIch persönlich halte dafür, daß die anständige und einsichtige
Regelung der deutsch-französischen Beziehungen die Kernfrage ist,
um ein europäisches Bewußtsein mit seinen religiösen und geistigen
Kräften neu zu entwickeln – das ist nicht die Aussage eines zeitge-
bundenen Zwecks, sondern altes Bekenntnis.„3 Aus diesem persön-
lichen Betonen eines alten Bekenntnisses stellt sich die Frage, seit
wann und mit welchen Wandlungen sich bei Heuss dieses ıalte Be-
kenntnis„ zur deutsch-französischen Kooperation nachweisen läßt.4
Es gab bei Theodor Heuss bereits sehr frühe, in die Zeit vor 1914
zurückreichende Konstanten sowohl eines primär kulturellen wie
eines sekundär auch politischen Interesses an Frankreich, das als
große Kulturnation mit alten demokratischen Traditionen und Insti-
tutionen wahrgenommen wurde. Nach 1945 wurde diese anfänglich
noch stark kulturell fundierte, vor allem gefühls- und werteorien-
tierte Anziehung deutlicher moralisch, politisch und rechtlich akzen-
tuiert und in die Problemstellung der Bildung eines neuen europäi-
schen Bewußtseins eingebettet. Hier gewann Theodor Heuss von

„Sprachlose Freundschaft?“ Zur Genese des deutsch-französischen Kulturabkom-


mens vom 23. Oktober 1954, in: Lendemains 21 (1996), Nr. 84, S. 67-82; ders.: Stätte
der Begegnung, Heimstatt der Versöhnung und der Eintracht zwischen den Völkern:
Die Gründung des Deutschen Hauses in der Cité Universitaire de Paris (1950-1956),
in: Martin Raether (Hg.): 1956-1996 Maison Heinrich Heine Paris. Quarante ans de
présence culturelle, Bonn u.a. 1998, S. 131-157; Hinweise bei Hans Manfred Bock
(Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am
Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998.
3 Theodor Heuss: Geduld und Zuversicht. Neujahrsansprache vom 31.12.1953, in:
ders.: Die großen Reden. Der Staatsmann, Tübingen 1965, S. 239-246, hier S. 243. Er
fährt fort: „In meiner Jugend war das nicht so – es wurde viel Blut neu vergossen,
um ererbte Zwangsvorstellungen zu überdecken. Meine Hoffnung ist in diesen Fra-
gen auch die französische Jugend.“
4 Jürgen C. Heß, „Machtlos inmitten des Mächtespiels der anderen...“. Theodor Heuss
und die deutsche Frage 1945-1949, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 33 (1985),
S. 88-135, hier vor allem S. 97, S. 127-130.
556 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

1947 bis 1949 (und damit bereits einige Jahre vor seiner Zusam-
menarbeit mit Adenauer) ein eigenes internationales Profil. In einer
realistischen Einschätzung der machtpolitischen Schwächen der
deutschen Nation bekannte Heuss sich nach 1945 zur gebotenen
Zusammenarbeit mit den westlichen Besatzungsmächten und dabei
insbesondere zur Kooperation mit Frankreich.5
Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, nicht nur das eigene Gewicht
des Politikers und Bundespräsidenten Theodor Heuss nach 1945 als
einen der führenden Fürsprecher der Eingliederung der deutschen
Nation in die westliche Welt durch die Verständigung mit Frank-
reich zu verdeutlichen, sondern HeussÊ Engagement vor allem und
auch aus frühen kulturellen Bindungen heraus zu erklären. Höchste
Priorität lag für den Bundespräsidenten – gerade aus seinem Selbst-
verständnis einer demokratisch in Freiheit geeinten und rechtstaat-
lich verfaßten deutschen Nation, die sich in freiem Geist und poli-
tisch selbstverantwortlich gestaltet – auf der Verständigung mit der
großen republikanischen Nachbarnation Frankreich. In ihr und in
der Abstimmung mit den anglo-amerikanischen Alliierten sah Heuss
die Grundlage für die europäische Integration der Bundesrepublik.6
In den Fragen internationaler Politik und der Westintegration war
Heuss vor allem der behutsame Umgang mit kulturellen Differen-
zen wichtig.7

5 Heß: Machtlos, a.a.O., S. 88-135. Damit korrigierte Jürgen C. Heß die Darstellung von
Eberhard Pikart, nach der Heuss sich nach 1945 erst im Laufe der Zeit auf Adenauers
Kurs der Westorientierung eingestellt habe und sich so lediglich im Fahrwasser der
Politik des Bundeskanzlers bewegt habe. (Eberhard Pikart: Theodor Heuss und
Konrad Adenauer. Die Rolle des Bundespräsidenten in der Kanzlerdemokratie, Stutt-
gart u.a. 1976, S. 50f.).
6 Theodor Heuss, Vor dem Kongreß Washington am 5.6.1958, in: ders.: Die großen
Reden. Der Staatsmann, Tübingen 1965, S. 263-272, hier S. 268. Für die Stellung von
Heuss zur Entwicklung der deutschen Frage 1945-1949 vgl. Heß: Machtlos, a.a.O.,
S. 88-135.
7 Mit dem Außenminister Heinrich von Brentano, der Heuss auf seinen Staatsbesuchen
begleitete, verstand sich der Bundespräsident persönlich besser als mit Adenauer:
„Mit Brentano kann ich. Er ist behutsamer, als Adenauer war.“ (Theodor Heuss: Ta-
557

Die Beziehungen von Heuss zu Frankreich bis 19458


Die Mutter von Theodor Heuss, Elisabeth Gümbel, stammte aus
der Pfalz und brachte dem Heranwachsenden die französische Kul-
tur, Sprache und Lebensweise bereits im Heilbronner Elternhaus
nahe. Auch der Vater mit dem französischen Vornamen Louis war
daran beteiligt. Klassische und zeitgenössische französische Autoren
gehörten zur Lektüre des heranwachsenden Heuss. In der Ent-
scheidung für die Studienfächer erwog der junge Heuss daher sogar
die Romanistik. Bald danach pflegte an seiner Seite die in Straßburg
geborene, aufgewachsene und mit französischer Sprache und Kultur
intim vertraute Ehefrau Elly Heuss-Knapp diesen Kontakt zur fran-
zösischen Kultur.9
Bereits mit Anfang Zwanzig unternahm Heuss seine erste Aus-
landsreise nach Paris als Mitarbeiter Friedrich Naumanns in der
Redaktion der Zeitschrift Die Hilfe. Auf der Rückreise besuchte er

gebuchbriefe 1955-1963. Eine Auswahl aus Tagebuchbriefen an Toni Stolper, hg. von
Eberhard Pikart, Tübingen 1970, S. 223). Vgl. wegweisend Hans-Christof Kraus:
Heinrich von Brentano und die deutsch-französischen Beziehungen in der Ära
Adenauer, in: Roland Koch (Hg.): Heinrich von Brentano. Ein Wegbereiter der euro-
päischen Integration, München 2004, S. 183-203.
8 Vgl. zur Biographie von Heuss bis 1949 zuletzt Guido Müller: Theodor Heuss: deut-
scher Bildungsbürger und ethischer Liberalismus. Probleme und Aufgaben einer
Heuss-Biographie in der Spannung zwischen politisch-gesellschaftlichen Strukturen
und selbstverantworteter Individualität (1884-1963), in: Jahrbuch für Liberalismus-
forschung 15 (2003), S. 199-214; Jürgen C. Heß, „Die Nazis haben gewusst, daß wir
ihre Feinde gewesen und geblieben sind.“ Theodor Heuss und der Widerstand gegen
den Nationalsozialismus, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 14 (2002), S. 143-
195; Ulrich Baumgärtner: Reden nach Hitler. Theodor Heuss – Die Auseinanderset-
zung mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2001 (dort umfangreiche Bibliographie
der bis 2000 publizierten Heuss-Forschung); Thomas Hertfelder: Das symbolische
Kapital der Bildung: Theodor Heuss, in: ders., Gangolf Hübinger (Hg.): Kritik und
Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 93-113, Reiner
Burger: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen
deutscher Geschichte, Münster 1999; Thomas Hertfelder: Theodor Heuss (1884-
1963), in: Torsten Oppelland (Hg.): Deutsche Politiker 1949-1969, Bd. 1: 17 biographi-
sche Skizzen aus Ost und West, Darmstadt 1999, S. 35-47.
9 Vgl. Elly Heuss-Knapp: Ausblick vom Münsterturm. Erinnerungen, Tübingen 1934 (2.
überarb. Aufl. 1954).
558 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

seine Braut Elly Knapp in Straßburg.10 Der Besuch in Paris war für
den Feuilleton-Redakteur und Augenmenschen vorwiegend durch
die kulturelle Attraktivität der Hauptstadt motiviert und galt in erster
Linie den klassischen französischen Bau- und Kunstwerken. Heuss
suchte daneben aber auch den politischen Anschauungsunterricht. In
seinen Artikeln für die Hilfe zeigte er sich vom parlamentarischen
Leben und von einzelnen Politikern beeindruckt. Ihn interessierte
besonders die Kooperation zwischen linksliberalen ıRadikalen„ und
Sozialisten und deren sozialpolitische Reformen.11 So vermittelte der
junge Heuss seine Kenntnisse über das französische Linksbündnis an
die süddeutschen Demokraten und Linksliberalen, obwohl die
Außenpolitik in der Redaktion der Hilfe damals noch nicht zum
Ressort von Heuss gehörte. In seinen 1963 publizierten Erinnerungen
konstatierte Heuss folglich bescheiden, daß er sich in diesem
politischen Feld kaum betätigt habe: ıWas ich 1906 nach einem
mehrwöchigen Aufenthalt in Paris darüber anzubieten hatte, war
wenig anderes als Reflex von Zeitungslektüre und Gesprächen.„12
Was ihn wirklich beeindruckte schrieb Heuss damals seiner lite-
rarisch tätigen Brieffreundin Lulu von Strauß und Thorney: ıWas
ich in den drei Wochen getrieben und gelernt habe, ist vornehmlich
französische Kunstgeschichte. [...] Daneben habe ich mich den Ein-
drücken des Lebens, der Landschaft, der Architektur ausgesetzt und
habe mich von all dem kräftig durchleuchten und erleuchten las-
sen.„13 Das besondere Licht und die Architektur von Paris mußten

10 Vgl. vor allem die anschaulichen Berichte unter dem Überschrift „Frühe Reisen“ in
Theodor Heuss: Erinnerungen 1905-1933, Tübingen 1963, S. 130-164.
11 Theodor Heuss: Jaurès und Clemenceau, in: Die Hilfe 12 (1906), Nr. 26, 30.6.1906, S.
3f.; ders.: Clemenceaus Programm, in: Die Hilfe 12 (1906), Nr. 46, S. 4f. 1906 schlug
Arthur Salz in der Hilfe eine deutsch-französische Zentralstelle und deutsch-französi-
sche Bank für die kommerziellen Beziehungen zwischen beiden Ländern vor: Arthur
Salz: Frankreich und Deutschland, in: Die Hilfe 12 (1906), Nr. 49, S. 3f.
12 Heuss: Erinnerungen, a.a.O., S. 66.
13 Heuss an Lulu von Strauß und Thorney am 26.7.1906, in: Theodor Heuss, Lulu von
Strauß und Thorney: Ein Briefwechsel, Düsseldorf u.a. 1965, S. 97.
559

den Augenmenschen und Zeichner Heuss stark beeindrucken. Zu-


gleich ließ er sich im doppelten Sinne des französischen Wortes
ıAufklärung„ ıerleuchten„. Der vormalige Münchener Studien-
Freund und Kunsthistoriker Wilhelm Hausenstein führte ihn damals
durch Paris.14 Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland
sollte Hausenstein mit Protektion von Heuss von 1950-1955 der er-
ste deutsche Gesandte in Paris werden.15 Heuss blieb ihm ein Leben
lang verbunden. In diesem biographischen Detail der Freundschaft
zwischen Heuss und Hausenstein zeigt sich deutlich die Kontinuität
der kulturell Frankophilen aus dem westdeutschen Bürgertum, für
das hier Heuss und Hausenstein ebenso wie Brentano und Ade-
nauer stehen.
Auch das europäische Bewußtsein von Heuss blieb zeit seines
Lebens stark in der Welt vor 1914 verwurzelt und die persönlichen
und emotionalen Erinnerungen an das Paris von 1906 überdeckten
später auch die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit. So erinnerte
Heuss nicht nur immer wieder in seinen Reden als Bundespräsi-
dent, sondern auch während seiner letzten Paris-Reise 1960 als Alt-
Bundespräsident an diese ersten Frankreich-Eindrücke.16
Der Besuch von Heuss in Paris ist über die persönlichen Erfah-
rungen hinaus auch im größeren Kontext der liberalen Verständi-
gungsversuche mit dem Westen zu sehen. Demokratische Politiker
wie Friedrich Naumann und Conrad Haussmann unternahmen
diese am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Rahmen der ıInter-

14 Theodor Heuss: Lieber Hausenstein! in: Festgabe für Wilhelm Hausenstein zum 70.
Geburtstag 17. Juni 1952, München 1952, S. 7-12; Wilhelm Hausenstein, in: Hans
Bott, Hermann Leins (Hg.): Begegnungen mit Theodor Heuss, Tübingen 1954, S. 265-
271; Heuss: Erinnerungen, a.a.O., S. 130-132.
15 Ulrich Lappenküper: Wilhelm Hausenstein – Adenauers erster Missionschef in Paris,
in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995), S. 635-678. Vgl. ihren Briefwechsel
in den Nachlässen von Hausenstein und Heuss im Deutschen Literaturarchiv (DLA)
Marbach.
16 Theodor Heuss: Einträge vom 2.3., 4.3., 6.3.1960, in: ders.: Tagebuchbriefe, a.a.O.,
S. 471-472.
560 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

parlamentarischen Union„ und pazifistischer Treffen mit britischen


und französischen Kollegen aus der politischen Mitte und der Lin-
ken wie Jean Jaurès.17
In der Biographie, die Theodor Heuss 1937 über Friedrich
Naumann publizierte, sprach er in Hinblick auf die NS-Zensur der
parteiamtlichen Prüfungsstelle mit Vorsicht von Naumanns ıach-
tungsvolle[r] und doch etwas nachsichtige[r] Sympathie„ für Frank-
reich, die er auch noch im August 1914 gehegt habe: ıDie volle
Aussöhnung mit dem Nachbarn war der Grundgedanke seiner er-
sten außenpolitischen Äußerungen.„18 Dies war sicher auch die Ein-
stellung von Heuss zu dem Nachbarland, das im Hilfe - Kreis von
Paul Rohrbach und Friedrich Naumann in erster Linie als ıKultur-
macht„, nicht aber als politisch ebenbürtig wahrgenommen wurde.19
Diese meist kulturell dominierte frankophile Wahrnehmung war in
diesen süd- und westdeutschen liberalen Kreisen generell vorherr-
schend. Heuss resümierte in seinen Erinnerungen, daß Naumanns
ıaußenpolitisches Programm, wenn man für jene Zeit von einem
solchen sprechen kann, [...] der Versöhnung mit dem westlichen

17 Theodor Heuss: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart 1949 (2.
Aufl.), S. 303f.; Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik.
Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860-1919), Baden-Baden 1983;
Ralph Uhlig: Die Interparlamentarische Union: 1889-1914. Friedenssicherungsbemü-
hungen im Zeitalter des Imperialismus, Stuttgart 1988; Karin Rabenstein-Kiermaier:
Conrad Haussmann (1857-1922). Leben und Werk eines schwäbischen Liberalen,
Frankfurt/M. 1993.
18 Heuss: Naumann, Mann, Werk, Zeit, a.a.O., S. 425 (mit Bezug auf Friedrich
Naumann: Deutschland und Frankreich, Stuttgart u.a. 1914). Vgl. die Ausgabe von
1949, S. 322. Dort sind die Stellen mit der Nachsicht und die volle Aussöhnung gestri-
chen. Vgl. allgemein zu Naumanns außenpolitischen Äußerungen Theiner, a.a.O.;
Philippe Alexandre: Friedrich Naumann, la revue „Die Hilfe“, la Russie et les rela-
tions franco-allemandes avant 1914, in: Ilja Mieck , Pierre Guillen (Hg.): Deutschland
– Frankreich – Rußland. Begegnungen und Konfrontationen, München 2000, S. 125-
145; ders.: „Unser Wunsch ist eine befreundetes Frankreich.“ Friedrich Naumann
und die deutsch-französischen Beziehungen; in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich
Naumann in seiner Zeit, Berlin u.a. 2000, S. 209-244.
19 Vgl. Paul Rohrbach: Deutschland und Frankreich als Kulturmächte, in: Die Hilfe
(1914), Nr. 49 (3.12.1914), S. 792f.; Friedrich Naumann: Im Lande der Gotik. Nordfran-
zösische Wanderungen, Berlin 1915.
561

Nachbarn [galt], und dem folgte ich vom Menschlichen her sehr
gerne, nachdem mich die erste größere Auslandsreise 1906 für ei-
nige Wochen nach Paris geführt hatte.„20
Die zweite Reise von Heuss nach Frankreich fand dann erst im
August 1925 unter gänzlich veränderten internationalen Rahmen-
bedingungen statt. Anlaß war die Internationale Kunstgewerbeaus-
stellung in Paris, die Arts Décoratifs.21 Die kulturelle Anziehungs-
kraft von Paris war in den zwanziger Jahren zwar ähnlich ungebro-
chen wie zur Zeit der Jahrhundertwende, aber sie ging nach 1918
nicht mit einer politischen Anziehungskraft der ıDritten Republik„
einher, auch nicht bei Linksliberalen wie Heuss. Frankreich wurde
auch von ihnen in erster Linie als Siegermacht des Systems von
Versailles wahrgenommen und kritisiert. Vom deutsch-französisch
inspirierten ıVölkerfrühling„ des Locarno-Jahres 1925 blieb Heuss
unberührt.
Auf der Internationalen Kunstgewerbe-Ausstellung zeigte Heuss
sich besonders fasziniert von dem ıÖsterreichischen Haus„ Josef
Hofmanns. Leitend waren hierbei sicher zunächst künstlerisch-ästhe-
tische Gesichtspunkte. Doch konnte für den Anhänger des groß-
deutschen Gedankens eine solche kulturpolitische Wahl nicht ıun-
politisch„ sein, zumal sein Pariser Reisebegleiter der ıalte Wiener
Gönner„ Hofrat Rudolf Vetter war. Außerdem besuchte Heuss auf
dieser Reise die Kathedralen von Chartres und Amiens. Die Erin-
nerungen an die auf den Schlachtfeldern der Somme und während
der Offensiven von 1918 gefallenen angelsächsischen Kriegssoldaten
in der Kathedrale von Amiens hinterließen bei Heuss damals eine

20 Heuss: Erinnerungen, a.a.O., S. 69.


21 Ebd., S. 306. (Theodor Heuss: Die Kathedrale von Amiens, in: Berliner Tageblatt,
1.10.1925. Abdruck in ders.: Von Ort zu Ort. Wanderungen mit Stift und Feder, hg.
von Friedrich Kaufmann und Hermann Leins, Tübingen 1959, S. 242-245, hier S. 245).
562 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

ıetwas verwirrte Empfindung„.22 Dies war kaum verwunderlich in


Anbetracht der heftigen antifranzösischen und antibelgischen
Kriegspropaganda, die Heuss 1914/15 in einem ıSoldatenbuch„ ge-
übt hatte. In seinen für die Frontsoldaten verfaßten Beschreibungen
der kunsthistorischen Schätze Nordfrankreichs hatte er die Greuel
von Löwen, Reims und an der Westfront verharmlost und sogar die
militärisch eventuell notwendige Zerstörung von Paris befürwortet.23
In seiner Bibliographie von 1954 verschwieg Heuss dann dieses
propagandistische Machwerk.
Nach 1919 setzte Heuss sich – zusammen mit den politischen
Freunden Gustav Stolper aus Wien und Bernhard Wilhelm von
Bülow vom Auswärtigen Amt in Berlin – im ıDienstagskreis„ und in
mehreren Publikationen für die wirtschaftliche Integration Mitteleu-
ropas unter deutscher Leitung ein. Er unterstützte den Zusammen-
schluß Deutschlands mit Deutsch-Österreich in einem großdeut-
schen Nationalstaat, wie ihn sich die Liberalen und Demokraten
1848 erträumt hatten.24 Dies war ein europäisches Gegenmodell zu
den ıpaneuropäischen„ Europaplänen des Richard Coudenhove-
Kalergi und des französischen Außenministers Aristide Briand. Die
Paneuropa-Idee lehnte Heuss in mehreren Artikeln scharf als ıblut-
leere und mißverstandene Begriffskopie„ und als ıpazifistischen
Abklatsch des imperialistischen Panamerika„ ab.25 Auch im ıDritten
Reich„ blieb die Vorstellungswelt von Theodor Heuss bis zum
Sommer 1939 sowohl vom großdeutschen Gedanken und dem ge-
schlossenen deutschen Siedlungsraum wie von der ıMitteleuropa„-

22 Vgl. das Kapitel „Nation unter Nationen“ in Jürgen C. Heß: Theodor Heuss vor 1933.
Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Denkens in Deutschland, Stuttgart
1973, S. 141-176.
23 Theodor Heuss: Städtebilder aus Belgien und Frankreich, in: Das deutsche Soldaten-
buch, hg. vom Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Berlin 1914, S. 71-86.
24 Theodor Heuss: Friedrich Naumann, in: ders: Führer aus deutscher Not. Fünf politi-
sche Porträts, Berlin 1927, S. 42.
25 Theodor Heuss: Aufbruch nach Paneuropa?, in: Beobachter, 28.9.1929; vgl. ders.: Die
Pan-Europäer, in: Deutscher Volkswirt, 8.10.1926. Vgl. Burger, a.a.O., S. 257f.
563

Konzeption beherrscht.26 Gleichzeitig stellte Heuss in seiner


Naumann-Biographie von 1937 heraus, daß für seinen Lehrer und
Meister die ıvolle Aussöhnung„ mit Frankreich der ıGrundgedanke
seiner ersten außenpolitischen Äußerungen„ gewesen sei.27 Somit
hat sich Heuss – wesentlich durch die Pflege der Gedankenwelt und
der Erinnerung an den 1919 verstorbenen Friedrich Naumann – die
Leitidee der notwendigen Verständigung mit Frankreich über das
ıDritte Reich„ hinweg bewahrt.

Wandel und Kontinuität in Heuss’ Einstellung zu


den deutsch-französischen Beziehungen 1945-194928
Angesichts der außenpolitischen Ohnmachtsituation Deutschlands
nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte für Heuss die Regelung der
deutsch-französischen Beziehungen die höchste Bedeutung. Dies
galt sowohl für eine dauerhafte europäische Friedensordnung wie
für die innere und äußere Struktur Deutschlands. Die geistig-morali-
sche Erneuerung der deutschen Nation in abendländischer Tradi-
tion bildete nach 1945 für ihn den entscheidenden Bezugspunkt.29
Deshalb wirkte Theodor Heuss seit dem Frühjahr 1949 auch im
Deutschen Rat der ıEuropäischen Bewegung„ mit, zusammen mit
seiner Frau und Rats-Vizepräsidentin Elly Heuss-Knapp.30 Von be-

26 Ein Analyse der außenpolitischen Artikel von Heuss in der Publizistik (vor allem in
der Hilfe) und in den Briefen zu Auslandsthemen zwischen 1933 und 1944 kann hier
nicht geleistet werden. Vgl. Burger, a.a.O., S. 339-349. Er spricht von einem „Rückzug
ins Außenpolitische“ und betont die Zustimmung zu den Erfolgen der NS-Außenpoli-
tik bis zum Anschluß Österreichs 1938 und der Besetzung des Sudetenlandes 1939.
27 Heuss: Naumann, Mann, Werk, Zeit, a.a.O., S. 425.
28 Dieser Teil stützt sich wesentlich auf Heß: Machtlos, a.a.O., S. 88-135.
29 Ebd., S. 103f.
30 Im Juni 1949 nahm Th. Heuss zusammen mit seiner Frau Elly Heuss-Knapp, Vizeprä-
sidentin des Deutschen Rates der „Europäischen Bewegung“ (mit Sitz in Straßburg),
an der Tagung dieser Bewegung in Wiesbaden teil. (Brief von Elly Heuss-Knapp an
Toni Stolper am 27.6.1949, in: Margarete Vater (Hg.): Bürgerin zweier Welten. Elly
Heuss-Knapp. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, Tübingen 1961, S. 332); vgl.
auch BA Koblenz Bundespräsidialamt Heuss B 122, Europäische Bewegung, Nr. 580.
564 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

sonderer Bedeutung für das europäische Engagement von Theodor


Heuss war seine Teilnahme an den ersten Jahreskonferenzen der
Liberalen Weltunion im April 1947 in Oxford und im Mai 1948 in
Zürich, wo er mit französischen Kollegen zahlreiche Gespräche
über die Möglichkeiten deutsch-französischer Begegnung führte.31
Damit zählte Heuss zu den wenigen führenden FDP-Politikern, die
sich bereits sehr früh auch nach außen hin für die deutsch-französi-
sche Aussöhnung im europäischem Rahmen engagierten.32 So war
er 1948/49 zusammen mit seiner Frau und mit Carlo Schmid (SPD)
auch federführend an der Gründung des Deutsch-Französischen
Instituts in Ludwigsburg beteiligt.33
Im Februar 1949 betonte Heuss sehr deutlich – dabei anknüp-
fend an Überlegungen aus dem Naumann-Kreis – die unbedingte
Priorität der sachlichen und loyalen Regelung deutsch-französischer
Fragen (etwa der Saarfrage oder Wirtschafts- und Sicherheitsfragen)
vor vagen europäischen Einigungsideen: ıWir halten nicht all zu
viel von Europa-Bekenntnissen, bevor nicht die deutsch-französische
Beziehung in ihr rechtes Maß gebracht ist, und wir wissen dabei,
daß dies sowohl des guten Willens wie der Geduld bedarf und zwar
auf beiden Seiten.„34

Das genaue Beitrittsdatum von Theodor Heuss und der konkrete Beweggrund für
sein schließliches Engagement in der Europabewegung sind bisher aus dem Nachlaß
nicht festzustellen, da die älteste Mitgliedsliste aus dem Jahr 1949 stammt.
Möglicherweise liegt der Grund darin, wie Elly Heuss-Knapp schreibt, daß die
„Europäische Bewegung“ ihren Sitz in deren Heimatstadt Straßburg hatte und sie
sich deshalb im Juni 1949 zur Mitwirkung bereit erklärt habe.
31 Theodor Heuss: Das Gespräch mit dem Westen, in: Rhein-Neckarzeitung, 18.12.1948;
bei Heß: Machtlos, a.a.O., S. 128.
32 Theodor Heuss: Liberale Weltbegegnung in Oxford, in: Rhein-Neckarzeitung,
26.4.1947; ders.: Liberales Weltgespräch, in: Rhein-Neckarzeitung, 1.6.1948; Brief
von Heuss an H. A. Kluthe vom 5.3.1948 in NL Heuss 221, Nr. 58.
33 An der Gründungssitzung am 12.2.1949 nahm Elly Heuss-Knapp teil (Elly Heuss-
Knapp an Toni Stolper am 14.2.1949, in: Vater, a.a.O., S. 328); Briefwechsel und Ein-
ladungen zum Deutsch-Französischen Institut 1949-1959, in: Bundesarchiv Koblenz
Bundespräsidialamt Heuss B 122, Nr. 454 und 457; vgl. zur Geschichte des DFI Bock,
a.a.O.
34 Theodor Heuss: Das Europa-Gespräch, in: Rhein-Neckarzeitung, Nr. 21, 5.2.1949, S. 2.
565

Die Rolle des Bundespräsidenten in den


Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland
zu Frankreich 1949-1959
Als Bundespräsident demonstrierte Heuss seine Aufgeschlossenheit
für die europäischen Bewegungen und Europaorganisationen.35 Da-
bei blieb der Vorrang der deutsch-französischen Beziehungen unbe-
stritten. Mit den Staatsbesuchen ab 1955 suchte der Bundespräsi-
dent seine Wirkung in das Ausland zu erweitern. Den Staatsbesuch
in den USA 1958 nutzte Heuss nicht nur, um die deutsch-amerikani-
schen Beziehungen zu verbessern, sondern zu den wichtigen Bot-
schaften von Heuss an die Amerikaner gehörte auch die Betonung
der herausragenden Rolle der deutsch-französischen Beziehungen:
ıDie deutsch-französische Verständigung [ist] die Voraussetzung der
Festigung eines europäischen Gesamtbewußtseins.„ 36
In den fünfziger Jahren kam es zum großen Bedauern von Heuss
nicht mehr zu einem Staatsbesuch des Bundespräsidenten in Frank-
reich, obwohl er sich seit der Wiedererlangung der Souveränität der
Bundesrepublik 1955 sehr eine Einladung aus Frankreich gewünscht
hatte. Im September 1955 schrieb Heuss an Toni Stolper: ıWir
möchten, aus politischen Gründen, daß die Franzosen den Anfang
machen. Und dann wohl einmal USA.„37
Das schwierige Terrain der deutsch-französischen Aussöhnung
nach dem Zweiten Weltkrieg ließ für Heuss bis zum Ende seiner
Amtszeit aber nur Kontakte auf deutschem Boden zu, obwohl ihm
sein französischer Kollege, der Staatspräsident René Coty, im Früh-
jahr 1958 durch den Botschafter ausrichten ließ, daß er ihn gerne

35 Im Frühjahr 1950 empfing der Bundespräsident Duncan Sandys, den Geschäftsführer


der Internationalen Parlamentarischen Gruppe des „European Movement“. (Brief von
Duncan Sandys vom 29.6.1950 an Bundespräsident, in: BA Koblenz Bundes-
präsidialamt Heuss B 122, Nr. 580).
36 Heuss: Vor dem Kongreß, a.a.O., S. 268f.
37 Heuss: Tagebuchbriefe, a.a.O., S. 62.
566 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

Ende 1958 ıbei sich sehen wolle.„38 Mit dem Amtsantritt de Gaulles
als neuer Ministerpräsident am 1. Juni 1958 und als Staatspräsident
ab Januar 1959 sowie mit dem Übergang von der 4. zur 5. Republik
ließ sich dieser Wunsch aber nicht mehr realisieren.39
Heuss war 1956 stolz auf die Versicherung eines französischen
Besuchers, daß er ıder in Frankreich populärste Deutsche„ sei.40
Der deutsche Botschafter in Paris, Vollrath von Maltzan, hatte be-
reits seit 1956 vorsichtig an der Frage eines Besuches von Heuss in
Frankreich gearbeitet. Maltzan bestätigte Heuss, daß man ihn ıdort
als Typ schätze, weil das (sogenannte) ,Kulturelle im französischen
Bewußtsein auch politisch eine größere Rolle spiele, als er bisher
gewußt [habe].„41 Auch hier wird wieder das Gewicht des Kulturel-
len in den deutsch-französischen Beziehungen deutlich, für die der
süddeutsche demokratische Professor Heuss hervorragend einstand
– und der damit auch einen positiven Kontrast zum rheinischen Ka-
tholiken Adenauer bildete. Mit dieser Bevorzugung kultureller Fra-
gen und Beziehungen vermochte Heuss gerade in Frankreich einen
positiven Eindruck sowohl von seiner Person und Amtsführung wie
von der Bundesrepublik zu schaffen.
Der Bundespräsident unterstützte Adenauer in seiner Frankreich-
Politik vom Schuman-Plan über die Saarfrage bis hin zur Politik mit
de Gaulle. Im März 1951 betonte Heuss in klarer Erkenntnis der
hohen politischen Bedeutung des Schuman-Plans für einen deutsch-

38 Ebd., S. 330.
39 Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen, a.a.O., Bd. II, S. 1353.
40 Heuss: Tagebuchbriefe, a.a.O., S. 190, Eintrag vom 23.9.1956: „Der franz. Professor
(auf Heidelberger Politikwissenschaftlicher Tagung) versicherte mir, ich sei der in
Frankreich populärste Deutsche, er wolle mir aber nicht schmeicheln. Aber sie laden
mich doch nicht [ein], so sinnvoll das wäre!“
41 Ebd., S. 195, Eintrag vom 4.10.1956: „Bonns Botschafter Vollrath von Maltzan arbeitet
vorsichtig an der Frage eines Besuches von mir in Paris, bestätigt, daß man mich dort
als Typ schätze, weil das (sogenannte) ,Kulturelle‘ im französischen Bewußtsein auch
politisch eine größere Rolle spiele, als er bisher gewußt. [...] Er hält Juni 57 nicht für
unmöglich – wir sagten, daß vorher USA klar geworden sein muß. Paris ist ja politisch
das Sinnvollste.“
567

französischen und europäischen Neuanfang im Gespräch mit Ade-


nauer, daß er ıimmer den Standpunkt vertreten„ habe, ıder politi-
sche Schaden eines Scheiterns des Schuman-Plans könne schwer
verantwortet werden, da dieser Plan die erste Verwirklichung auf
dem Gebiet der europäischen Bestrebungen bedeute. Der materi-
elle Inhalt des Abkommens trete vor dieser politischen Bedeutung
zurück.„42 Nach den Verhandlungen über den Schuman-Plan
dankte Heuss am 24.4.1951 Adenauer persönlich ıfür seine Arbeit
in Paris„. Er ıbegrüßt[e] die erreichten Erfolge.„ Als ıbesonders er-
freulich„ bezeichnete er die ıAbrede über die Auflösung der Ruhr-
behörde nach Inkrafttreten des Schuman-Plans„ und die ıTatsache,
daß die Gewerkschaften sich im Gegensatz zur SPD von der
Zweckmäßigkeit der Unterzeichnung des Schuman-Plans offenbar
überzeugt hätten.„43
Auch in den schwierigen Pariser Verhandlungen vom Oktober
1954 und in der Saarfrage 1955 befand sich Heuss ganz auf der
Seite Adenauers.44 Auf Bitten des Bundeskanzlers versuchte der
Bundespräsident sogar den Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfrak-
tion und Koalitionspartner der CDU Thomas Dehler von seiner ab-
lehnenden Haltung zum Saarstatut abzubringen. Führende FDP-Po-
litiker wandten sich vor allem gegen eine Volksabstimmung der
Saarbevölkerung über das provisorische Saarstatut, das eine Wäh-
rungs- und Zollunion mit Frankreich und einen europäischen
Kommissar vorsah. Einige FDP-Vertreter wollten auch wegen in-

42 Hans Peter Mensing (Bearb.): Unter vier Augen. Gespräche aus den Gründerjahren
1949-1959 Adenauer – Heuss, Berlin 1997, 2.3.1951, S. 55.
43 Ebd., S. 58f.: Gespräch Adenauer-Heuss am 24.4.1951. „Nach dem Eindruck über
Generalkonsul Hausenstein befragt, erklärt der Bundeskanzler, er sei von seiner Tä-
tigkeit und seinem Auftreten in Paris recht befriedigt.“
44 Heuss an Adenauer am 24.10.1954, in: Mensing, a.a.O., S. 194: Meine „Gedanken,
Sorgen und Wünsche [waren] immer auch bei Ihnen und Ihrer Arbeit in Paris – nun
möchte ich, nach der Heimkehr, Ihnen den Dank aussprechen für die zähe und zu-
gleich elastische Unverdrossenheit, mit der Sie halfen, das deutsche Schicksal ein
großes Stück weiter aus dem Elend von 1945 hinauszuführen.“
568 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

nenpolitischer Fragen einen Bruch der Koalition herbeiführen, zu


dem es schließlich auch 1956 zum Bedauern von Heuss kommen
sollte.45 Nachdem die Saarfrage mit der Niederlage des Saar-Refe-
rendums im Oktober 1955 eine andere Wendung genommen hatte,
als ursprünglich von Adenauer mit seiner europäischen Lösung ge-
wünscht, und schließlich zur Wiedereingliederung des Saarlandes
am 1.1.1957 in die Bundesrepublik führte, war damit der letzte
schwere Streitfall der deutsch-französischen Beziehungen beseitigt.
In Frankreich wurde dies als eine politische Niederlage und ein ter-
ritorialer Verlust empfunden, so daß das französische Außenmini-
sterium ausdrücklich darum bat, die Festveranstaltungen zur Ein-
gliederung des Saarlandes nicht zu jubelhaft und zu betont zu ge-
stalten. Heuss stimmte dem nachdrücklich zu. In einem Brief und ei-
ner Niederschrift an Adenauer warnte Heuss davor, die Feierlich-
keiten in ıBalladen-Politik„ ausufern zu lassen.46 Den ıMassenauf-
marsch der bundesrepublikanischen politischen Prominenz„ hielt er
für ıeine falsche Geste, die durchaus Nazi-Stil„ habe und ıdurchaus
als Besitzergreifung„ wirke: ıNach meiner politischen Meinung muß
die Übernahme würdig, doch ohne Getöse vollzogen werden. Wir
betrachten doch das Saarabkommen als Ausgangspunkt für die Eb-
nung einer deutsch-französischen Verständigung – welcher Wider-
sinn, dann mit nicht ausbleibenden Triumphtiraden Gefühlshem-
mungen auf der Gegenseite aufzuscheuchen.„47 Heuss gewann zu
seiner Erleichterung aus der Presse den Eindruck, daß der Tag gut
verlaufen sei.48

45 Vgl. Heuss an Dehler am 24.2.1955, in: Theodor Heuss: Lieber Dehler! Briefwechsel
mit Thomas Dehler, hg. von Friedrich Henning, München 1983, S. 108-110.
46 Heuss an Adenauer am 3.12.1956 und Heuss-Aufzeichnung „Zur Feier der Rückglie-
derung des Saarlandes“ in: Mensing, a.a.O., S. 267f.
47 Ebd.
48 Heuss an Adenauer am 2.1.1957, in: ebd., S. 270.
569

Besondere Aufmerksamkeit brachte weiterhin der Bundespräsi-


dent den deutsch-französischen Begegnungen entgegen, die der
Deutsche Rat der Europäischen Bewegung veranstaltete. Auf der
zweiten Deutsch-Französischen Konferenz am 14.10.1955 in Bad
Neuenahr hielt er die Eröffnungsansprache zum Thema ıDeutsch-
land – Frankreich – Europa„.49 Der Bundespräsident sah sich ge-
genüber der Welt vor 1914 in einer ıneuen unheimlichen Gegen-
wart [...] mit neuen Maßstäben, neuen politischen Gewichtslagen,
neuen geistigen Wertungen„. In dieser neuen Situation müßten die
ıVölker Europas einen neuen Standpunkt suchen„. Und daran
knüpfte er seine Botschaft: ıIch glaube, daß der einzelne, zumal je-
ner, der bereit, ja vielleicht berufen ist eine breitere Verantwortung
im öffentlichen Leben auf sich zu nehmen, mit diesem Suchen nach
dem neuen Standpunkt beginnen muß.„50
Heuss wies auf die Bedeutung eines ıeinheitlichen Sehen[s] des
romanisch-germanischen Geschichtsrhythmus„ hin.51 Das freie Eu-
ropa stellte für Heuss in erster Linie eine ıgeistige Macht„ dar, die
ihre ımoralisch-kulturelle Verantwortung nicht eingebüßt habe„. Er
wünschte sich die Fähigkeit des Gegenseitig-Danken-Könnens. So
sollten etwa die Franzosen den Nachbarn für die deutsche Musik
dankbar sein und die Deutschen für die französische Malerei. Der
Bundespräsident forderte, ıdiesen geistigen Dingen ihren Rang zu-
zuerkennen„ – auch wenn die Fachleute der Hohen Kommission in
Luxemburg, die Verkehrspolitiker und Handelsexperten, die Offi-

49 BA Koblenz NL 221 Heuss Nr. 15: Reden 1.7.1955-31.12.1955.


50 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (1955), Nr. 198, S.
1654.
51 Ebd. Dem Thema der Revision der deutschen und französischen Geschichtslehrbü-
cher hatte sich der Bundespräsident bereits in seinem Vortrag vor dem „Institut für
Europäische Geschichte“ in Mainz am 17.1.1953 gewidmet. Vgl. BA Koblenz Bundes-
präsidialamt Heuss B 122, Nr. 620, Bd. 6. Mit besonderer persönlicher Anteilnahme
verfolgte Heuss daher die Zusammenkünfte deutscher und französischer Historiker.
Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (1955), Nr. 198,
S. 1654.
570 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

ziere in der NATO bei ihren Zusammenkünften wenig davon rede-


ten. Doch Männer wie François-Poncet und Hausenstein wüßten um
den Rang dieser Fragen. Die geistigen und kulturellen ıImpondera-
bilien„, die zwischen den Völkern ıgespürt und gedeutet„ werden,
sollten ıponderabel, d.h. wägbar„ gemacht werden. Dies, so Heuss,
sei ıauch Politik, und zwar eine gute Politik: man will sich in ihr nie
übervorteilen, sondern sie bedient sich der generösen Geste, daß
man dem anderen etwas schenkt.„ Und der Bundespräsident schloß
mit einem Appell im Sinn der geistigen und kulturellen Gleichbe-
rechtigung: ıIch glaube, Völker können sich nie genug schenken.„52
Auf der dritten Deutsch-Französischen Konferenz, die Anfang
Oktober 1956 in Bad Neuenahr stattfand, kam Heuss die offene
deutsch-französische Gesprächsatmosphäre nach der Lösung der
Saarfrage besonders entgegen. Auch dort hielt er eine große An-
sprache und betonte sein ıHerzensbedürfnis, bei solchen Veranstal-
tungen, die den deutsch-französischen Beziehungen dienen sollen,
einen positiven Akzent zu geben, ihnen einfach durch [sein] Dasein
eine gewisse moralische Stütze [...] zu verleihen.„53 Nach der Lösung
der Saarfrage und den damit verbundenen praktischen Problemen
sah Heuss nun die ıVerdichtung der deutsch-französischen Koope-
ration„ in den kommenden Besprechungen um den freien Markt
und Euratom als zentrale Aufgabe. Das war für Heuss eine ıselt-
same, neue und große Aufgabe: die Weiträumigkeit, in der die freie
Wirtschaft eines wachsenden Volkswohlstandes atmen kann, zu ge-
winnen, und die ökonomisch-technischen Abreden zu sichern in
einem Bewußtsein der erneuerten europäischen Eigenständigkeit„. 54
In diesen behutsamen Äußerungen wird deutlich, wie Heuss den

52 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (1955), Nr. 198, S. 1654.
53 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (1956), Nr. 190, S. 1805.
54 Ebd.
571

neuen Vorgang der europäischen Integration als Wagnis begriff, in-


dem er ihn als ıseltsame, neue und große Aufgabe„ bezeichnete.
André François-Poncet hielt auf der gleichen Konferenz eine
bemerkenswerte Rede auf Heuss.55 Der französische Hochkommis-
sar und Botschafter stand in einem besonders guten Verhältnis zu
Heuss. Dies lag nicht zuletzt an den gemeinsamen Interessen für
kulturelle und speziell für literarische Fragen. In ihrer besonderen
Verbundenheit äußerte sich sowohl der hohe Rang der deutsch-
französischen Beziehungen für Heuss als auch das Gewicht der kul-
turellen und geschichtlichen Beziehungen und Verflechtungen, das
in ihrem eigenen Erleben bis in die Zeit vor 1914 zurückreichte.
François-Poncet, 1887 geboren, gehörte derselben Generation an
wie Heuss. Er war studierter Germanist, in der Wirtschaft ausgebil-
det, politisch liberal-konservativ und 1931 bis 1938 bereits als Bot-
schafter in Berlin. So gab es manche geistigen und menschlichen
Berührungspunkte, und dementsprechend bekundete François-
Poncet 1954 die Verbundenheit von Heuss mit Frankreich in der
Festschrift zu dessen 70. Geburtstag. Dort findet sich der Beitrag des
Franzosen als einziger eines Nicht-Deutschen.56
François-Poncet würdigte 1954 Heuss als ıhumanistischen De-
mokraten„ und ıDeutschen mit einer weiten Kultur„, den ıAlle-
mand à vaste culture„. Damit verlieh er sicher auch der in Frank-
reich vorherrschenden Sicht auf den Bundespräsidenten Ausdruck.
Heuss sei vor allem ein Künstler mit Geschmack, Fantasie, Humor
und Ironie, fern von Pedanterie und Eigenliebe; Heuss verführe im
Gespräch. Politisch hob François-Poncet die ethische Fundierung
des liberalen Demokraten besonders hervor. Aus tiefem Respekt
vor der menschlichen Person und ihrer Würde sei Heuss liberal
und demokratisch. Für Heuss sei Politik Ethik in Aktion: ıPour lui,

55 Heuss: Tagebuchbriefe, a.a.O., S. 195.


56 André François-Poncet, in: Bott, Leins, a.a.O., S. 224-227.
572 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

la politique ne se sépare pas de l'éthique. Il y a une éthique de la


politique.„57 Der französische Botschafter erkannte in Heuss den
glühenden Patrioten an, der zwar durchdrungen von der Größe, der
ıgrandeur„, seines Landes sei, aber auch Vorbehalte gegen die
deutsche ıWeltpolitik„ vor dem Ersten Weltkrieg gehabt habe.58 Der
französische Botschafter betonte aber auch über das Kulturelle hin-
aus, daß für Heuss die wahre Stärke Deutschlands in der Wirtschaft
liege, in dem großen Austauschplatz in der Mitte Europas, im
Schoß des Friedens – und nicht im Willen der Herrschaft durch mi-
litärische Übermacht. Für Heuss sei die wahre Weisheit der deut-
schen Position das Maßhalten, die Bescheidenheit und das Halten
des Gleichgewichts. Schließlich hob François-Poncet hervor, daß
Heuss durch seine mutigen Reden zur nationalsozialistischen Ver-
gangenheit, statt sie zu beschweigen, dem Ansehen des neuen
Deutschland im Ausland besonders gedient habe. Heuss habe die
Bürde übernommen, Staatschef einer Republik ohne republikani-
sche Tradition zu sein, die belastet von der Erinnerung an Weimar,
aus der Niederlage geboren und auf einem besetzten Territorium
gegründet wurde. Diese Leistung würdigte der Franzose ganz be-
sonders, indem er in Heuss einen wahren Demokraten und wirkli-
chen Humanisten zu ehren suchte.59

57 „De la personne humaine et de sa dignité, Théodor Heuss a une notion vivante, un


respect profond et quasi religieux. C’est pourquoi, sans doute, il est libéral et démo-
crate dans ses fibres les plus intimes.“ (Ebd., S. 225).
58 François-Poncet sieht den Heuss vor 1914 näher bei Friedrich Naumann als bei dem
Flottenpropagandisten und Imperialisten Paul Rohrbach (Ebd., S. 226: „Patriote ar-
dent, pénétré de la grandeur de son pays. [...] Je le vois plus près de son maître
Friedrich Naumann que de son ami Paul Rohrbach.“)
59 Ebd., S. 227: „un véritable démocrate et un humaniste authentique“.
573

Heuss in Frankreich 1960: Symbol seines Einsatzes


für die deutsch-französische Vermittlung
Der Wunsch des Bundespräsidenten, seinen letzten symbolträchti-
gen Staatsbesuch Frankreich abzustatten, hatte sich wegen des staat-
lichen und politischen Umbruchs von der Vierten zur Fünften Re-
publik nicht mehr realisieren lassen. Anläßlich des Ausscheidens
von Heuss aus dem Amt hatte der französische Botschafter François
Seydoux den Bundespräsidenten als ıconciliateur„ gepriesen, als
Mann der Verständigung und Versöhnung, der den Deutschen ein
neues ziviles Bewußtsein gegeben habe. Er bezeichnete ihn als ei-
nen der großen Schöpfer der Wiederherstellung des moralischen
Ansehens Deutschland in der Welt: ılÊun des grands artisans du ré-
tablissement du prestige moral de lÊAllemagne„.60
Im März 1960 führte den Alt-Bundespräsidenten Theodor Heuss
dann endlich seine erste Auslandsreise nach Paris. Das Comité
Francais d'Echanges avec l'Allemagne nouvelle lud Heuss zu einem
Vortrag an der Sorbonne ein. Alfred Grosser, der 1933 aus
Deutschland nach Frankreich geflüchtete Politikwissenschaftler,
hatte den Besuch initiiert.61 Auf eigenen Wunsch hielt Heuss statt
eines aktualitätsbezogenen einen akademischen Vortrag über ein
Thema, das seiner Biographie nahelag: ıFriedrich Naumann und
die deutsche Demokratie„. Er erinnerte nicht nur an seine eigenen
ersten Eindrücke in Paris 1906, sondern auch an Friedrich Nau-
manns Bemühungen um eine Annäherung an die westlichen Natio-
nen vor dem Kriegsausbruch 1914 – vor allem an dessen Begeg-
nung mit Jaurès. Heuss ordnete sich 1960 in die demokratische
Tradition dieser Persönlichkeiten und in deren Hoffnung auf eine

60 Seydoux an Couve de Murville, 18.9.1959, zitiert nach Lappenküper: Die deutsch-


französischen Beziehungen, a.a.O., Bd. I, S. 60.
61 BA Koblenz NL Heuss BN 221, Nr. 458 (Städtereisen Bd. 2: März 1960 Paris) und Nr.
627 (Schriftwechsel mit Alfred Grosser); Heuss: Tagebuchbriefe, a.a.O., S. 473.
574 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

deutsch-französische Annäherung durch Beseitigung der geschichtli-


chen Irrtümer ein.62 Der Alt-Bundespräsident Heuss wollte sich
allerdings nicht für Adenauers außenpolitische Ziele instrumentali-
sieren lassen. Heuss war deshalb der ıakademische Aspekt„ seiner
Rede wichtiger als alle tagespolitischen Geschäfte. In diesem Sinne
schrieb er auch an Toni Stolper: ıDas andere, als Untermaurer der
Begeisterung von Adenauer für de Gaulle zu wirken, ist mir zu
banal und zu fragwürdig.„63
Die französische Regierung würdigte die Bedeutung des Alt-
Bundespräsidenten, indem Heuss von Präsident de Gaulle zum
dreiviertelstündigen Gespräch eingeladen wurde. De Gaulle nutzte
damit zugleich die Gelegenheit, sich über die Stimmung in Deutsch-
land unterrichten zu lassen. Das Jahr 1960 markierte den Gipfel der
deutsch-französischen Annäherung im Zeichen der persönlichen
Begegnungen zwischen de Gaulle und Adenauer. So kam das Ge-
spräch auch auf vertrauliche politische Themen.64 Theodor Heuss
erläuterte dem Präsidenten de Gaulle, daß das deutsche Volk ızu
Amerika und Frankreich [...] Vertrauen„ habe.65 Ein Nachgeben des
Westens gegenüber der Sowjetunion etwa in der Berlin-Frage würde
dem Vertrauen der Deutschen in die Zuverlässigkeit der Verbünde-
ten einen ısehr schweren Schlag„ versetzen.66 Bundeskanzler
Adenauer beglückwünschte Heuss nach der Rückkehr aus Paris
zum Erfolg seines Besuchs. Er dankte ihm ısehr für die mit ihm
verbundene Förderung unserer Politik„.67

62 Theodor Heuss: Friedrich Naumann und die deutsche Demokratie, Wiesbaden 1960.
63 Heuss: Tagebuchbriefe, a.a.O., S. 467.
64 Documents Diplomatiques Français 1954-1962, Bd. 19/1 (1960), Paris 1995, S. 243-245.
65 Mensing , a.a.O., S. 345.
66 Blankenhorn, Notiz, zitiert nach Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehun-
gen, a.a.O., Bd. II, S. 1353; vgl. Documents Diplomatiques Français 1960, Bd. 1, S. 243-
245; Heuss: Tagebuchbriefe, a.a.O., S. 474.
67 Mensing, a.a.O., S. 300.
575

Die weiteren Pariser Begegnungen zeigen die persönlichen Kon-


takte und gesellschaftlichen Kreise, in denen der Alt-Bundespräsi-
dent verkehrte. Er traf sich mit dem früheren Außenminister und
Botschafter in Bonn Maurice Couve de Murville. Im Elysée fand zu
Ehren von Heuss ein Diner mit Ministern, Diplomaten und Germa-
nistikprofessoren statt. Er begegnete dem Pastor Marc Boegener,
der Führungsfigur des französischen Protestantismus, und dem Je-
suitenpater Jean du Rivau, der Heuss schon früher nach Frankreich
eingeladen hatte. Außerdem besuchte Heuss die UNESCO. Zu ei-
nem öffentlichen Zusammentreffen mit André François-Poncet und
über hundert Studenten kam es in dem 1956 eröffneten deutschen
Haus der Cité Universitaire.68
Im Rahmen privater Mittagessen im kleinen Kreis begegnete
Heuss dem vormaligen Staatspräsidenten René Coty, Pierre
Maillard, dem Berater de Gaulles, und dem früheren Ministerpräsi-
denten Paul Reynaud. Bei einem Diner mit ıkatholisch-aristokrati-
schem Einschlag„ (Heuss) traf er auf Robert Schuman.69 Die Paris-
reise des Alt-Bundespräsidenten verdeutlicht noch einmal die be-
sondere Rolle und das Gewicht von Theodor Heuss in der Anbin-
dung der Bundesrepublik an den Westen durch seinen Einsatz für
eine Annäherung an Frankreich.

Abschließend kann festgehalten werden, daß Heuss in besonderem


Maße seit 1949 die Funktion einer moralischen Stütze der deutschen
Außenpolitik innehatte. In enger Wechselbeziehung mit dem Bun-
deskanzler Adenauer sorgte der Bundespräsident sich um eine
glaubwürdige und auf breitem Konsens auch in der deutschen Be-
völkerung begründete Politik der Westintegration der Bundesrepu-
blik. Er machte sich persönlich und mit dem Gewicht seines Amtes

68 Heuss: Tagebuchbriefe, a.a.O., S. 472.


69 Ebd.
576 Guido Müller: Theodor Heuss und Frankreich

bewußt zum Symbol für die Versöhnung zwischen Deutschland und


Frankreich als Grundlage einer europäischen Zusammenarbeit.
Über die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit den
westlichen Nationen hinaus waren Heuss die kulturellen, geistigen
und wissenschaftlichen Beziehungen, der Austausch, die Kommuni-
kation und die Transfers sowohl in historischer Tiefenperspektive
wie mit dem Bewußtsein eines Neuanfangs ein zentrales persönli-
ches Anliegen. Damit konnte er an eigene tiefgehende Gefühlser-
lebnisse, die er mit Frankreich verband, ebenso wie an die politi-
schen Einstellungen des Naumann-Kreises anknüpfen, die er selbst
im Jahrzehnt vor 1914 mit vertreten und mit formuliert hatte.
Theodor Heuss wies gerne darauf hin, daß die deutsche Kultur
und Wissenschaft der Welt wichtige Leistungen gegeben hatte und
gab, aber in gleichem Maße die Deutschen viel von anderen Natio-
nen, vor allem von den westlichen Nachbarn lernen konnten. Dies
galt aus seiner Sicht nicht nur im kulturellen Bereich, sondern auch
für die politischen und gesellschaftlichen Formen des mitmenschli-
chen und gesellschaftlichen Umgangs, der Gestaltung von Politik
und Demokratie ebenso wie für Fragen politischen Stils und politi-
scher Kultur – etwa der Fairneß – und im Aufbau demokratischer
und liberaler Traditionen.
Der liberale Gedanke der Freiwilligkeit und Dankbarkeit in
Form von gegenseitigen kulturellen und geistigen Geschenken bzw.
Befruchtungen erschien Theodor Heuss als eine besonders ad-
äquate Form der transnationalen Begegnungen – ganz im Sinne sei-
nes Appells auf der Deutsch-Französischen Konferenz 1955 in Bad
Neuenahr, wonach Völker sich ınie genug schenken„ könnten.70

70 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (1955), Nr. 198, S. 1654.
577

Jean-Richard Bloch und Deutschland


Wolfgang Asholt
578 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

Seit den Arbeiten von Hans Manfred Bock oder Michel Trebitsch
wissen wir, welche Bedeutung die ıdeutschen Ungewißheiten„ für
die französischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit gehabt ha-
ben. Wenn Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts die neue Sozialfigur des Intellektuellen entstanden ist,
die der Ausdifferenzierung des kulturellen Feldes dieser Epoche
entspricht und auf sie einwirkt,1 so ist der vielleicht wichtigste Be-
zugspunkt außerhalb des nationalen Rahmens die deutsche Kultur,
und sei es, um sich von ihr als Gegenmodell abzusetzen. Der viel zu
früh verstorbene Michel Trebitsch, mit dem Hans Manfred Bock
seit Beginn der 1990er Jahre zusammengearbeitet hat, hat für diesen
neuen Typus des Intellektuellen gemeinsam mit Nicole Racine das
Konzept der sociabilités intellectuelles entwickelt,2 das seitdem in
Deutschland insbesondere in den Arbeiten von Hans Manfred Bock
seine Fruchtbarkeit und Produktivität unter Beweis gestellt hat. Ne-
ben den Intellektuellen-Netzwerken spielt für die konkrete Intellek-
tuellen-Biographie jedoch stets das nicht nur symbolische Erzie-
hungskapital eine entscheidende Rolle, wie die große Untersuchung
von Jean-François Sirinelli zu den Khâgneux und Normaliens in der
Zwischenkriegszeit gezeigt hat.3 Dabei wird trotz dieser Orientierung
der Intellektuellenforschung zuweilen unterschätzt, welche Rolle der
Mythos der Literatur, wie er in etwa gleichzeitig mit der Sozialfigur
des Intellektuellen entstand, für diese gespielt hat. Das, was Alain
Vaillant jüngst ıLe sacre moderne de la littérature„ genannt hat,
nämlich die Konsakrierung der Literatur als symbolisch wertvollstes
objet culturel, das durch das Erziehungssystem der Dritten Republik

1 S. dazu Hans Manfred Bock: Zur historischen Intellektuellen-Forschung in Frankreich,


in: Lendemains 17 (1992), Nr. 66, S. 16-26.
2 Nicole Racine, Michel Trebitsch (Hg.): Sociabilités intellectuelles. Lieux, milieux, ré-
seaux. Les Cahiers de l’IHTP, Paris 1992.
3 Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et normaliens dans
l’entre-deux-guerres, Paris 1988.
579

propagiert und vermittelt wird, verschafft seinen privilegierten Besit-


zern, etwa den von Sirinelli untersuchten Gruppen, immer auch
eine entsprechende soziale Konsekration. Wie Vaillant überzeugend
dargelegt hat, handelt es sich aus heutiger Perspektive um eine
ıconstruction fragile, historiquement datée, où lÊaction conjointe de
lÊEcole, des élites et du marché culturel ont permis la perpétuation
dÊune certaine représentation de la littérature – dÊune littérature faite
de livres à lire, de textes à commenter.„4
Diese Konzeption der Literatur sollte ihren Wert für die sociabili-
tés intellectuelles bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
bewahren und einen zentralen Bestandteil des Selbstverständnisses
eines Großteils der französischen Intellektuellen bilden. Wenn die-
ses Selbstverständnis in eine Krise geraten ist, so auch, weil wir un-
übersehbar in der Epoche einer immer stärker mediatisierten und
d.h. visualisierten Welt leben, in der der Text die Funktion als zen-
trales objet culturel verliert.
Die Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und
insbesondere die erste Generation, der dieses literarische Erzie-
hungsideal durch Schule, Universität und vor allem Grandes Ecoles
vermittelt wird, also die in den 1880er Jahren Geborenen, verinner-
lichen diesen ısacre moderne de la littérature„ und tragen zu seiner
Festigung bei. Zu dieser Generation zählt der Schriftsteller und In-
tellektuelle, von dem im folgenden die Rede sein wird: Jean-
Richard Bloch (1884-1947). Er gehört zur Generation der Georges
Duhamel (geb. 1884), Jean Giraudoux (1882), Roger Martin du
Gard (1881) oder Jules Romains (1885). Für sie alle ist es selbstver-
ständlich, ihre Selbstprojektierung als Intellektuelle mit einem litera-
rischen Projekt zu verbinden oder vielmehr das Intellektuellen-Pro-

4 Alain Vaillant: Le sacre moderne de la littérature: retour sur un mythe fondateur du


XXe siècle, in: Alain Corbin u.a. (Hg.): L’Invention du XIXe siècle, Bd. 2: Le XIXe siècle
au miroir du XXe, Paris 2002, S. 87-95, hier S. 95.
580 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

jekt auf das literarische zu gründen. Blochs literarisch-intellektuelle


Soziabilität ist vielleicht deshalb besonders signifikant, weil er von
Beginn seiner literarisch-intellektuellen Karriere beide Projekte par-
allel führen will, und damit notwendigerweise auf signifikante
Schwierigkeiten stoßen sollte.

Die Korrespondenz als Intellektuellennetzwerk


Zu diesem Doppelprojekt zählen nicht nur die literarischen Werke
im engeren Sinne, angefangen mit einem von André Antoine am
Odéon aufgeführten Stück (LÊInquiète, 1910) und zwei 1911 in der
Nouvelle Revue Française (NRF ) veröffentlichten Novellen, sowie
die Mitarbeit, Gründung und Mit-Herausgabe von Zeitschriften, an-
gefangen mit dem von ihm gegründeten, herausgegebenen und re-
daktionell betreuten LÊEffort (später LÊEffort libre) zwischen 1910
und 1914. Hierzu zählt insbesondere auch ein Netzwerk von Korre-
spondenzen, das noch immer seiner umfassenden Aufarbeitung
harrt und dessen Dimension jeder erahnt, der den Fonds Jean-
Richard Bloch der Bibliothèque nationale de France mit seinen
zahlreichen Korrespondenzbänden konsultiert hat. Michel Trebitsch
hat im Anhang seines Beitrags zum Bibliothèque Nationale -Kollo-
quium des Jahres 1997 eine Liste der schon veröffentlichten 26 Ein-
zelkorrespondenzen, von Antonin Artaud bis Vacher de Lapouge,
zusammengestellt; leider sind darin von den deutschsprachigen
Briefpartnern nur Wilhelm Friedmann (dank dessen von Claudine
Delphis herausgegebener Korrespondenz5) und der Briefwechsel
mit Rudolf Leonhard, den Stefan Wirth im Rahmen seiner Disserta-
tion veröffentlicht hat,6 vertreten. Michel Trebitsch bezeichnet die

5 Claudine Delphis (Hg.): Wilhelm Friedmann (1884-1942). Le destin d’un francophile.


Correspondance avec Georges Duhamel, Jean-Richard Bloch et Marcel Raymond,
Leipzig 1999.
6 Stefan Wirth: Robinsonade und Utopie im kreativen und kritischen Werk von Jean-
Richard Bloch, Diss. Berlin, Humboldt-Universität Berlin 1990.
581

Blochsche Korrespondenz zurecht als ıcorrespondance-laboratoire,


qui détermine une relation entre deux intellectuels de même posi-
tion, souvent de même génération, liés par des préoccupations litté-
raires ou idéologiques communes, souvent engagés dans un projet
parallèle de création„.7 Ich würde hinzufügen, daß die Korrespon-
denzen umso aufschlußreicher sind, je weniger eine gleiche Position
im literarisch-kulturellen Feld eingenommen wird oder wenn es von
einer ähnlichen Positionierung ausgehend bei einem oder beiden
der Briefpartner zu gegensätzlichen Positionswechseln kommt; die
beiden von mir bearbeiteten Korrespondenzen mit Jacques Copeau
und Georges Duhamel, aber auch jene mit Marcel Martinet, bezeu-
gen dies überdeutlich.8 Deutschland und deutsche Briefpartner spie-
len in der Bloch-Korrespondenz vor allem in der Zwischenkriegszeit
eine Rolle, sei es zur Zeit der Weimarer Republik oder während
des Exils deutscher (und später auch österreichischer) Schriftsteller
und Intellektueller; hier zählt Bloch zweifelsohne zu den französi-
schen Schriftstellern, die sich am energischsten für ihre deutschspra-
chigen Kolleginnen und Kollegen eingesetzt haben. Bloch ist schon
vor dem Ersten Weltkrieg mehrfach nach Deutschland gereist und
die deutsche, wie auch andere ausländische Literaturen haben für
sein literarisches Projekt von Beginn an eine gewisse Bedeutung. Ein
konkretes persönliches Interesse entwickelt sich jedoch erst während
der späten 1920er und der frühen 1930er Jahre der Weimarer Re-
publik und im Zusammenhang mit dem antifaschistischen Exil ab
1933. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg ist Bloch 1913/14 am

7 Michel Trebitsch: Les réseaux épistolaires de Jean-Richard Bloch, in: Annie


Angremy, Michel Trebitsch (Hg.): Jean-Richard Bloch ou l’écriture en action, Paris
2002, S. 301-309, hier S. 304.
8 Wolfgang Asholt (Hg.): Correspondance Jean-Richard Bloch – Jacques Copeau. 1912-
1941, Revue d’histoire du théâtre (1992), Nr. 175; Ders. und Arlette Lafay: Jean-
Richard Bloch – Georges Duhamel. Correspondance 1911-1946, Cahiers de l’Abbaye
de Créteil (1996), Heft 17; Haruo Takahashi (Hg.): Correspondance Jean-Richard
Bloch – Marcel Martinet, Tokyo 1994.
582 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

Institut Français in Florenz tätig und richtet sein besonderes Au-


genmerk auf Italien, aus dieser Zeit stammt auch sein Briefwechsel
mit Mussolini.9

Die Vorkriegszeitschrift L’Effort und die


Rezeption anderer Kulturen
Auch in seiner Zeitschrift LÊEffort richtet sich sein Blick auf das eu-
ropäische Ausland, selbst wenn die innerfranzösische Szene im Zen-
trum steht, nicht nur weil der junge agrégé dÊhistoire mit allen ihm
zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, sich innerhalb des hete-
rogenen und in den avantgardistischen Umbruch eintretenden Feldes
zu etablieren. Aber der Effort versucht zumindest, das Ausland zu
einer Zeit wahrzunehmen, zu der Paris (zurecht oder zu Unrecht)
auch nach Ende des 19. Jahrhunderts von fast allen Franzosen als die
kulturelle Hauptstadt Europas betrachtet wird. Umso wichtiger ist die
Aufmerksamkeit, die Italien und dem deutschsprachigen Ausland
entgegengebracht wird. Der Effort veröffentlicht in seinen ersten
Ausgaben im September und Oktober 1910 Beiträge von Ardengo
Soffici und Giovanni Papini zur italienischen Gegenwartsliteratur,
und Ende 1913 publiziert Bloch eine der ersten seriösen Analysen
des italienischen Futurismus, die in Frankreich erscheinen: Les
raisons dÊun futuriste et les nôtres. So sehr er hier den künstlerischen
Futurismus als einen ıart révolutionnaire„ begrüßt und sich mit dem
(avantgardistischen) Ziel eines ıart ainsi ,fondé en vie moderne [qui]
doit se nourrir de tout ce que celle-ci offre„ einverstanden erklärt,10 so
deutlich distanziert er sich von der politischen Position des
Futurismus, d.h. seinem extremen (und verspäteten) Nationalismus.

9 Michel Trebitsch: Six lettres de Mussolini à Jean-Richard Bloch, in: Revue d’histoire
moderne et contemporaine (1987), Nr. 2, S. 305-316.
10 Jean-Richard Bloch: Les raison d’un futuriste et les nôtres, jetzt in: Jean-Richard
Bloch: Carnaval est mort. Premiers essais pour mieux comprendre mon temps, Paris
1920, S. 102-113, hier S. 103.
583

Das besondere Interesse gilt jedoch der deutschen Kultur. Fünf


Hefte des zweiten Jahrgangs der Zeitschrift sind von Februar bis
April 1911 der deutschen Literatur gewidmet. Innerhalb dieses
Deutschlandschwerpunktes erscheinen zwei Artikel, die besonderes
Interesse beanspruchen können und die belegen, in wie kurzer Zeit,
und trotz der Publikation des Effort im provinziellen Poitiers, Jean-
Richard Bloch ein literarisch-kulturelles Netzwerk hat aufbauen
können: LÊAllemagne en face de la Culture française von Julius
Meier-Graefe11 und La Nouvelle Allemagne et la Culture Française
von Félix Bertaux12, weniger als Antwort denn als Koreferat. Wäh-
rend Meier-Graefe13 den französischen Einfluß in/auf Deutschland
nüchtern bilanziert, praktiziert Bertaux einen erstaunlich national
geprägten interkulturellen Vergleich, der vielleicht nicht unrepräsen-
tativ für den französischen Blick auf das Land der Ungewißheiten
ist.14 Meier-Graefes Einschätzung läßt sich wie folgt zusammenfas-
sen: Trotz der Warnungen Nietzsches wächst unter dem Einfluß des
wilhelminischen Imperialismus die Distanz zwischen der deutschen

11 L’Effort, 01.04.1911.
12 L’Effort, 01.07.1911.
13 Die Publikation des Artikels von Meier-Graefe (1867-1935), dem Herausgeber des Pan
und wegen seiner 1904 erstmals erschienenen Entwicklungsgeschichte der moder-
nen Kunst eine der wichtigen Figuren der Kunst- und Literaturszene der ersten drei
Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, spricht für eine gute Kenntnis der deutschen
Verhältnisse. Zu dem Paris-Aufenthalt von Meier-Graefe um die Jahrhundertwende
und zu seiner Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschriften Dekorative Kunst und L’Art
décoratif siehe Catherine Krahmer: Meier-Graefe et les arts décoratifs. Un rédacteur
à deux têtes, in: Alexandre Kostka, Françoise Lucbert (Hg): Distanz und Aneignung
(Relations artistiques entre la France et l’Allemagne 1870-1945/Kunstbeziehungen
zwischen Deutschland und Frankreich 1870-1945), Berlin 2004, S. 231-249.
14 Félix Bertaux (1881-1948) hatte als Normalien von 1903 bis 1905 in Berlin studiert. Er
veröffentlicht seinen ersten Artikel über die deutsche Gegenwartskultur in L’Effort,
um ab 1912 und bis zum Ende der 1930er Jahre für die NRF zu arbeiten. Bertaux
publiziert 1912 gemeinsam mit Emile Lepointe ein Deutschunterrichtswerk: Für’s
Leben, ein praktisches illustriertes Lehrbuch, Paris 1912, und in der Zwischen-
kriegszeit wichtige Werke zur deutschen Literatur und Kultur, u.a. sein Panorama de
la littérature allemande contemporaine, Paris 1931; aber auch zur französischen Lite-
ratur in Deutschland, etwa gemeinsam mit Hermann Kesten: Neue französische Er-
zähler, Berlin 1930.
584 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

und der französischen Kultur, ınous nous éloignons toujours de


plus en plus des vieilles traditions allemandes et de la culture
française pour nous rapprocher de lÊindustrialisme américain.„15
Zwar gibt es eine Rezeption französischer Kunst und Literatur, al-
lein der Impressionismus wird explizit erwähnt, doch bleibt diese
oberflächlich und angeblich an ein jüdisches Milieu gebunden.
Bertaux teilt diese Gesamteinschätzung, erblickt für sie jedoch
grundsätzlichere Voraussetzungen. Für ihn, der sich ebenfalls auf
Nietzsche und zusätzlich auf Goethe beruft, bleibt Deutschland ein
kulturelles Entwicklungsland: ıil nÊexistait [nach 1870, W.A.] point
de culture allemande originale douée de force génératrice„, denn:
ıLa tradition européenne de la culture, qui avait passé de Grèce en
Italie, cÊest la France qui en demeurait aujourdÊhui la dépositaire.„
Diese Idee einer deutschen (Un-)Kultur, die des zivilisatorischen
Einflusses der französischen Kultur bedürfe, nimmt teilweise eine
für Bertaux erstaunlich stereotype Form an, etwa wenn er der deut-
schen Philosophie ıintuitions philosophiques„ attestiert, ıquÊon
prend pour de la profondeur et qui ramène la culture au niveau du
rêve [! W.A.]„, oder von dem ılaisser-aller féminin aux impulsions
de la demi-animalité„ spricht, um zu bilanzieren: ıen un mot, les
bouillonnements barbares dÊune âme chaotique et indomptée,
impuissante à réduire la multiplicité des impressions à des
phénomènes de conscience„ usw. Auch von Bertaux werden keine
Tendenzen der deutschen Gegenwartskultur namentlich erwähnt,
mit der Ausnahme des George-Kreises, der sich durch seine
Affinität zur französischen Kultur auszeichne.
Umso überraschender wirkt dann freilich die Bertauxsche
Schlußwertung: ıon ne saurait guère nier que nous nÊassistons à une
interpénétration du Nord et du Midi„, und er spricht abschließend
gar von der ıeuropéanisation de la culture dont lÊaxe se déplacerait

15 L’Effort, 01.04.1911, S. 73.


585

vers lÊEst„, auch wenn die ıromanisation du Nord„ eine ıcondition


préalable„16 dafür sei, daß der Wind der Geschichte in diese Rich-
tung wehe. Ein Jahrhundert nach Mme de Staël illustriert die
Bertauxsche Kultur-Transfer-Perzeption, wie sehr die behauptete
(oder gewünschte?) Alterität des Nachbarn jenseits des Rheins den
Blick auf die konkreten Veränderungen in Kunst und Literatur der
unmittelbaren Vorkriegszeit verstellt. Es steht zu vermuten, daß
auch Bloch, der während seines Berlin-Aufenthaltes 1928 mit
BertauxÊ Sohn Pierre sympathisieren sollte,17 einige dieser Einschät-
zungen teilt. Das hindert ihn jedoch nicht, ein anderes, moderneres
Deutschland zu Wort kommen zu lassen, denn in der gleichen Aus-
gabe wie den Bertaux-Artikel veröffentlicht er nicht nur eine An-
nonce des Sturm (ıDer Sturm est lÊorgane des Indépendants„), son-
dern auch einen Beitrag von Herwarth Walden, der ıFrank
Wedekind le Cynique„ gewidmet ist. Freilich verurteilt Walden das
Werk des Dramatikers in Bausch und Bogen und bestätigt in gewis-
ser Weise die Amerikanisierungsthese von Meier-Graefe: ıIls [seine
Dramen, W.A.] sont parfaits, dans la mesure où ils supportent le
transport, dans le style américain„, wie etwa Der Erdgeist. ıMais
lorsquÊils sont bâtis selon la vieille technique européenne, la mal-
façon apparaît„, und als Beispiel wird u.a. auf Frühlings Erwachen
verwiesen. Unabhängig von solchen Wertungen kommt mit Walden
jedoch ein Repräsentant der deutschen Gegenwartskultur zu Wort.
Und nicht zuletzt erscheint im ersten Heft des Effort, am 1. Juni
1910, der erste französische Aufsatz über Freud und die Psychoana-
lyse: LÊInconscient et la Défense psychologique de lÊindividu von
René Morichau-Beauchant, und in gewisser Weise ,antwortet Jean-

16 Alle Zitate: L’Effort, 01.07.1911, S. 97f.


17 Hierzu: Pierre Bertaux: Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927-1933,
hg. von Hans Manfred Bock, Gilbert Krebs und Hansgerd Schulte, Paris 2001.
586 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

Richard Bloch darauf mit seiner essayistischen Erzählung ıLa mort


dÊfidipe„ im folgenden Heft.18
Schließlich versuchen Félix Bertaux und Jean-Richard Bloch
gemeinsam im Effort der Juli-Ausgabe des Jahres 1912, eine Um-
frage unter deutschen Schriftstellern durchzuführen, die, wenn sie
zustande gekommen wäre, ein wirkliches Panorama der deutschen
Gegenwartsliteratur geboten hätte. Zwar fehlt der gerade einset-
zende Expressionismus, doch von Thomas Mann (ıpersistance ac-
tuelle du réalisme dans le roman„) über Stefan George (ıindividua-
lisme aristocratique„, ıthéorie de la vie pour lÊart„) bis zu Richard
Dehmel (ılÊart au service de la vie„) und zur Jugendbewegung oder
Worpswede, wird praktisch nach jeder wichtigen Tendenz der Ge-
genwartsliteratur gefragt.19 Auch wenn die konkreten Hinweise wohl
von Félix Bertaux stammen dürften, dokumentiert schon der Ver-
such einer solchen Enquête ein außergewöhnliches Interesse an der
deutschen Literatur und Kultur.20
Die Zeitschrift LÊEffort, und d.h. Jean-Richard Blochs Revue, ge-
hört zu den nicht sehr zahlreichen Publikationen, die versuchen, der
europäischen Gegenwartsliteratur Rechnung zu tragen. Auch wenn
es ihr nicht gelingt, einen ıart révolutionnaire„ oder gar den von
Marcel Martinet proklamierten ıart prolétarien„ zu realisieren,21
wäre es doch unangemessen, sie einer ıarrière-garde poétique„ zu-
zurechnen, wie dies Michel Décaudin in einem seiner letzten Auf-
sätze unternommen hat.22 Daß zwischen den programmatischen Er-
klärungen und der poetischen Praxis eine erhebliche Kluft klafft, ist

18 L’Effort, 15.06.1911; dazu: Michelle Moreau-Ricaud: Jean-Richard Bloch touché par la


„peste“ freudienne: „La Nuit kurde“, in: Angremy, Trebitsch, a.a.O., S. 131-138.
19 L’Effort, 01.07.1912, S. 648f.
20 S. auch Michel Espagne: Jean-Richard Bloch et les germanistes, in: Angremy,
Trebitsch, a.a.O., S. 179-193, hier S. 189.
21 L’Effort, 01.06.1913.
22 Michel Décaudin: Avant-garde politique, arrière-garde poétique. Autour de „L’Effort
libre“, in: William Marx (Hg.): Les arrière-gardes au XXe siècle. L’autre face de la
modernité, Paris 2004, S. 103-115.
587

unübersehbar. Doch mit ihrem Blick auf die Gegenwartsliteratur


außerhalb Frankreichs trägt die Zeitschrift der im Umfeld der
Avantgarden einsetzenden Europäisierung Rechnung, die zu jener
(Vorkriegs-)Zeit nicht selbstverständlich ist.

Das Engagement des Schriftstellers


Wenn eingangs behauptet wurde, daß auch die Intellektuellen am
ısacre moderne de la littérature„ partizipieren, so gilt dies für den
Jean-Richard Bloch der Zwischenkriegszeit in besonderer Weise.
Von 1914 bis 1919 als Soldat mehrfach verwundet und ausgezeich-
net, erscheint noch vor Kriegsende, im Frühjahr 1918, sein erster
Roman ...Et Cie bei der NRF. Und Anfang 1919 entlassen schreibt
er eine auf den 1. Februar datierte Prière de lÊécrivain, die im März
in den Cahiers idéalistes français Edouard Dujardins erscheint und
eine literarische Standortbestimmung sowie ein Bekenntnis dar-
stellt.23 Mit den Worten ıAu moment où je reprends la plume„ be-
ginnend, sieht Bloch einen ımonde différent„ entstehen, in dem
ıune des incarnations de la malveillance, une des incarnations du
mépris, de la puissance, du prestige, de lÊambition a été extirpée„,
also der wilhelminisch-deutsche Imperialismus vernichtet worden
ist. In dieser (neuen) Situation legt Bloch das Gelübde ab: ıje fais
vflu de dévouer mon art aux attributs de la dignité humaine, à
lÊesprit, à la souffrance, à la bonté, à lÊamitié, à lÊacceptation, à la
révolte, au travail„ usw.24 Es ist der Schriftsteller, der sich hier auf
dieses revolutionär-humanitäre Programm verpflichtet. Bloch nimmt
dieses Gebet in seine Premiers essais pour mieux comprendre mon
temps auf, in denen er Artikel des Effort aus den Jahren 1910 bis
1914 unter dem Titel Carnaval est mort veröffentlicht. Ihnen folgen
in den Jahren bis 1936 drei weitere Essaybände: Destin du siècle.

23 Cahiers idéalistes français (1919), Nr. 26.


24 Jean-Richard Bloch: Prière de l’écrivain, jetzt in: ders.: Carnaval est mort, a.a.O., S. 19-21.
588 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

Seconds essais pour mieux comprendre mon temps ; Offrande à la


politique. Troisièmes essais pour mieux comprendre mon temps und
Naissance dÊune culture. Quatrièmes essais pour mieux comprendre
mon temps.25 In diesen Bänden versammelt Bloch einen Teil seiner
mehr als einhundert Commentaires,26 die er seit 1924 für die von ihm
mitbegründete Zeitschrift Europe schreibt, und in denen sich das
Engagement des Intellektuellen Bloch stets neu konkretisiert.
Weisen schon diese Kommentare einen deutlich literarischen
Charakter auf, so gilt ıle sacre moderne de la littérature„ in beson-
derem Maße für das parallel verfolgte literarische Projekt des Au-
tors im Sinne des Gelübdes von 1919. Deutschland spielt im literari-
schen Werk eine hervorgehobene Rolle. Bloch übersetzt nicht nur
die Bühnenfassung von Leonhard Franks Karl und Anna für Gaston
Baty,27 die deutsch-französische Geschichte bildet auch mehr als den
Hintergrund für seinen großen Roman ...Et Cie. Im Vorwort zur
Neuauflage des Romans bei Gallimard 1997 situiert Max Gallo
Jean-Richard Bloch explizit in diesem deutsch-französischen Kon-
text: ıMais, intellectuel juif, Jean-Richard Bloch est français. CÊest-à-
dire quÊil est écrasé, comme toute la société intellectuelle française,
par lÊombre de lÊAllemagne, sa puissance, son rayonnement. Il souf-
fre de la défaite de 1870, et la question du rapport avec lÊAllemagne
lui est constamment posée.„28 Für den Romancier wie für die jüdi-
sche Familie Simler, die aus Treue zu Frankreich nach der Anne-
xion von Elsaß-Lothringen 1871 das heimatliche Buschendorf ver-
läßt, um sich mit ihrer Textilfabrik in Vendeuvre (Elbeuf) zu instal-
lieren, ist das Verhältnis zu Deutschland durch einen Ursprungs-

25 Sämtlich bei Rieder, Paris 1931, 1933 und 1936.


26 Eine komplette Liste bei Carmen Giese: Jean-Richard Bloch – weltanschauliche Ent-
wicklung, Literaturprogrammatik, künstlerische Praxis (1910-1947), Diss. Humboldt-
Universität Berlin 1984.
27 Erschienen bei Rieder, Paris 1929.
28 Max Gallo: Préface, in: Jean-Richard Bloch: ...Et Compagnie, Paris 1997, S. IV.
589

Verlust charakterisiert: ıEt la défaite cÊest la perte dÊun lieu intime,


dÊun accent, dÊune culture, dÊun paysage, dÊune cuisine avec ses
plats typiques.„29 Denn sowohl Blochs Familie wie auch jene seiner
Frau Marguerite Herzog, der Schwester von André Maurois (d.h.
Wilhelm Herzog), stammen aus dem Elsaß, und die Familie Simler
verweist überdeutlich auf die Familie Herzog und ihr Textilunter-
nehmen. Der gerade wegen der jüdisch-elsässischen Herkunft be-
sonders schwierige Wiederbeginn der Familie Simler in der Nor-
mandie evoziert immer eine doppelte Abwesenheit: jene der verlo-
renen elsässischen Heimat und jene des dafür verantwortlichen
Deutschland. Das Frankreich von 1870/ 71 und danach erscheint
Deutschland gegenüber als ıvieux pays„, wie es der in die USA
auswandernde Cousin Benjamin Stern feststellt: ı Je savais quÊon se-
rait battu par les Allemands qui sont un peuple jeune, et pourquoi
les Allemands seront battu par les Américains qui sont encore plus
jeunes.„30 So endet der Roman mit der Perspektive einer Erneue-
rung Frankreichs dank einer französisch-amerikanischen Komple-
mentarität: ıLÊAmérique a encore autant besoin de vous autres, les
Français, que vous avez besoin dÊelle.„31
Mit der Niederlage des Kaiserreiches verbindet sich bei Bloch
die Hoffnung auf ein anderes Deutschland. Bevor er erstmals nach
dem Krieg 1928 Deutschland besucht, verarbeitet er diese Hoffnung
auf ein neues Deutschland in einem Theaterstück, das er unmittel-
bar nach seiner Demobilisierung in Angriff nimmt: Le Dernier Em-
pereur. In seiner Lettre aux Allemands, die die NRF abgelehnt
hatte und mit der er auf Gides Lettre ouverte an die Deutschen vom
1. Juni 1919 ,antwortetÂ, bildet die Thematik des Dramas ein zentra-
les Argument: die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Milita-

29 Ebd.
30 Ebd., S. 188.
31 Ebd., S. 449.
590 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

rismus und das Preußentum.32 Blochs letzter Kaiser, der zufällig den
Thron einer offensichtlich deutschsprachigen Monarchie besteigt,
versucht, das militaristische und feudale System zu reformieren und
scheitert, da die reaktionären Kräfte lieber einen (Welt-)Krieg vom
Zaune brechen als politische Zugeständnisse zu machen – eine
Blochsche Kriegsschuldthese sozusagen. Wenn Bloch später, in De-
stin du théâtre (1930) den Prinzen und Kaiser als ıle héraut de notre
désir dÊhéroïsme„ bezeichnet, um zu resümieren: ıLÊacier fin de
lÊindividu se heurte à des masses brutales, celles des intérêts, celle
de la foule„,33 so verrät dies neben seiner Dramenkonzeption auch
einiges über sein Deutschlandbild. Es bedurfte offensichtlich eines
Weltkrieges, um sich des preußischen Militarismus zu entledigen.
Das Thema eines zutiefst als deutsch dargestellten Militarismus ver-
bunden mit einem feinsinnigen und sozialen Individuum, das ver-
geblich versucht, die proletarischen Massen auf seine Seite zu zie-
hen, dürfte es auch gewesen sein, das Erwin Piscator bewogen hat,
das Stück im April 1928, mit Ernst Deutsch in der Hauptrolle, an
seinem Theater am Nollendorfplatz zu spielen.34 Vor allem in dieser
Inszenierung wird es zum Drama der ausgebliebenen Revolution,
die den Krieg unvermeidbar machte.
Bloch versucht mit diesem Stück, ein théâtre engagé zu verwirk-
lichen, das in der Tradition des Théâtre de la Révolution seines
Freundes Romain Rolland steht. Doch das Engagement des Intel-
lektuellen und Sozialisten Bloch gerät angesichts der zeitgenössisch-
deutschen Thematik in Widerspruch zu den dramatischen Notwen-
digkeiten. Vor allem wegen des Versuchs, ein (fast romantisches)
Individuum zwischen den beiden welthistorischen Kräften von Re-

32 Jean-Richard Bloch: Lettre aux Allemands, in: Revue politique internationale (Lau-
sanne) (1919), Nr. 39/40.
33 Jean-Richard Bloch: Destin du théâtre, Paris 1930, S. 91.
34 Dazu sowie zu „Le Dernier Empereur“ insgesamt: Wolfgang Asholt: Le Destin de Jean-
Richard Bloch au théâtre, in: Revue d’histoire du théâtre (1992), Nr. 175, S. 199-220.
591

aktion und Revolution vermitteln zu lassen bzw. es von beiden zer-


rieben zu sehen. Bemerkenswert bleibt jedoch der Versuch, dieses
welthistorische Thema literarisch zu behandeln, auch wenn Bloch in
Destin du théâtre einräumen muß, daß eine solche Form des enga-
gierten Theaters nicht funktioniert: ıLa prose du dialogue [...] ne me
paraît plus apte à supporter dans sa plénitude la charge tragique de
lÊaction ni à lÊélever à cette hauteur où parole et pensée font
dôme.„35 Nur wenn ıparole et pensée„ wirklich zusammenfallen,
können der Schriftsteller und der Intellektuelle Jean-Richard Bloch
nicht nur koexistieren und kooperieren, sondern die gewünschte
harmonische Dioskurenkonstellation bilden. Der Dernier Empereur
illustriert nicht nur die zentrale Bedeutung Deutschlands für das
Blochsche Denken (erstaunlicherweise auch im Vergleich mit dem
sowjetischen Rußland der beginnenden 1920er Jahre), er verdeut-
licht darüber hinaus den Widerspruch zwischen dem individualisti-
schen, vom Ideal des ısacre de la littérature moderne„ geprägten
Autors und dem sich der sozialen Zukunft der Menschheit ver-
pflichtenden Intellektuellen.
Als Bloch 1932 seinen Roman Sybilla veröffentlicht, hat sich die
politisch-kulturelle Situation und damit auch die Bedeutung
Deutschlands für ihn und sein Werk grundlegend gewandelt. Dank
Jean Paulhan erscheint Sybilla in Fortsetzungen zwischen Mai und
Oktober 1932 in der NRF und Ende Oktober des gleichen Jahres
als Buch. Deutschland, wo ursprünglich eines der zentralen Kapitel
des Romans spielen sollte,36 ist nur noch als kultureller Hintergrund
präsent. Etwa in der Person eines preußisch-adligen Diplomaten,

35 Bloch: Destin du théâtre, a.a.O., S. 121.


36 In der Romanskizze vom 24.6.1927 befindet sich die Tanzschule Sybillas in einem
rheinischen Schloß; hier vollzieht sich die entscheidende Veränderung von Clotilde, der
französischen Schülerin der großen Tänzerin, die Bloch als „transmutation qui va
changer la bourgeoise en or“ bezeichnet (in: Jean-Richard Bloch: Projets, in: Europe,
Bloch-Dossier (1957), Nr. 135/136, S. 154). All dies fehlt im 1932 veröffentlichten Roman.
592 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

der sich der Isadora Duncan nachempfundenen Titelfigur bei Be-


darf zur Verfügung stellt, oder in der Form deutscher Musik, etwa
wenn Sybilla zu Ehren des soeben verstorbenen Lenin auf die Me-
lodie des Allegretto der Siebten Sinfonie von Beethoven tanzt.
Stefan Wirth hat gezeigt, wie sich mit der ıaporie du bon dictateur„
[Lenin] ein Perspektivwechsel verbindet: ıCar cÊest la Russie des
soviets, le mythe que Bloch propose, à travers les paroles de Sybilla,
pour rompre avec la vieille France„37 – und d.h. zumindest implizit
auch mit dem Deutschland der späten Weimarer Republik. In die-
sem Zusammenhang habe ich vor einiger Zeit auf die Notwendig-
keit des Mythos in einer Phase der enttäuschten gesellschaftlichen
und kulturellen Veränderungen und der zunehmenden faschistisch-
nationalsozialistischen Gefahren hingewiesen: ıgerade in dieser Si-
tuation erweist sich die Fähigkeit des mythischen Denkens, ange-
sichts einer ausweglosen Situation die Hoffnung auf Veränderungen
in nicht zu ferner Zukunft bewahren zu können.„38 In den kommen-
den Jahren, insbesondere nach der Ende 1932 unmittelbar bevor-
stehenden Machtergreifung Hitlers, erblickt Bloch immer exklusiver
in der Sowjetunion die ıéclosion dÊordre nouveau du monde„, die
er in einem Brief an Jean Paulhan als zentrales Thema seines Ro-
mans bezeichnet;39 die stalinistische Sowjetunion wird zum neuen
Mythos, in den er seine Hoffnung setzt.

37 Stefan Wirth: „Sybilla“ (1932): polyphonie de l’idée émancipatrice ou le poème im-


possible de Jean-Richard Bloch“, in: Angremy, Trebitsch, a.a.O., S. 71-83, hier S. 76.
38 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch: „Sybilla“ (1932), in: Edward Reichel, Heinz
Thoma (Hg.): Zeitgeschichte und Roman im Entre-deux-guerres, Bonn 1993, S. 139-
155, hier S. 152. Zur Bedeutung des Mythos in einem anderen Zusammenhang: Ders.:
L’avant-garde, le dernier mythe de l’histoire littéraire?, in: Véronique Léonard-
Roques, Jean-Christophe Valtat (Hg.): Les Mythes des avant-gardes, Clermont-
Ferrand 2003, S. 19-32 und ders.: Fotografie und neuer Mythos bei André Breton,
Kolloqium „Alte Mythen – Neue Medien“ (Siegen 2004), erscheint mit den Kolloqui-
umsakten 2005.
39 Brief vom 4.6. 1932, in: Jean Paulhan: Huit lettres à Jean-Richard Bloch, in: ders.:
Traité du ravissement, Paris 1983, S. 187-217.
593

Mitteleuropa als Modell einer neuen Kultur?


Was Jean-Richard Bloch nach einem langen Sowjetunion-Besuch an
seinen Freund und Sowjetunion-Kritiker Marcel Martinet schreibt,
ıCÊest ainsi. Et toute exégèse, quÊelle soit de gauche ou de droite,
paraît vaine tant quÊon ne sÊest pas mis en présence du ,monstre lui-
même„,40 gilt jedoch nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch
für das ımonstre sacré„ Deutschland. Denn bevor es angesichts der
Entwicklung der Weimarer Republik ab 1930 zu einer immer grö-
ßeren Skepsis und Besorgnis kommt, kann Bloch anläßlich eines
längeren Berlin-Besuches im Frühjahr 1928 sein Deutschlandbild
überprüfen und weiterentwickeln.
Wie ich in einem Beitrag zu dem Berliner Kolloquium ıBerlin in
den Deutsch-Französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen
der Weimarer Republik„, das Hans Manfred Bock im Oktober 2003
an der Humboldt-Universität organisiert hat, versucht habe zu zei-
gen, wird dieser Berlin- und Deutschland-Besuch für Bloch zu einer
ıleçon dÊeuropéanisme„.41 Wenn er seinen essayistischen Reisebe-
richt, der Ende 1928/Anfang 1929 in Europe erscheint, unter den
Titel ıEurope du milieu. Mitropa„ stellt, so weil er im Berlin der
späten 1920er Jahre das Modell eines vielfältigen, die Alterität der
Kulturen respektierenden und von ihnen profitierenden Mitteleu-
ropa erblickt, auch wenn dies sich in Deutschland herausbildet und
in hohem Maße von ihm geprägt wird. Doch es ist ein neues Deutsch-
land, ein Deutschland der ıNeuen Sachlichkeit„, ein Deutschland,
das sich den Nachbarstaaten und -Kulturen öffnet, ein Deutschland,

40 Brief aus Moskau vom 18.12.1934, zit. nach: Takahashi, a.a.O., S. 390. Zu dieser Reise
Blochs: Ludmilla Stern: Journal du voyage en URSS de Marguerite et Jean-Richard
Bloch, in: Angremy, Trebitsch, a.a.O., S. 231-240, und demnächst: Wolfgang Klein:
Marguerite et Jean-Richard Bloch en URSS, en 1934 (Woche in Cerisy: „Paris-Berlin-
Moscou. Regards croisés“, Sept. 2004).
41 So der Titel meines Beitrags in den von Hans Manfred Bock und Gilbert Krebs heraus-
gegebenen Kolloquiumsakten: Échanges culturels et relations diplomatiques. Présences
françaises à Berlin au temps de la République de Weimar, Asnières 2005, S. 295-312.
594 Wolfgang Asholt: Jean-Richard Bloch und Deutschland

dessen Hauptstadt zum Carrefour de lÊEurope wird, welches Bloch


bei seiner Reise kennenlernt. Zwar ahnt er, daß es daneben ein
anderes, bedrohliches und immer noch gefährliches Deutschland
gibt, doch setzt er 1928 nicht ohne gute Gründe seine Hoffnung
darauf, daß dieses reaktionär-nationalistische Deutschland in der
prosperierenden Weimarer Republik mehr und mehr als ein
Anachronismus erscheint. Wahrscheinlich läßt sich Bloch jedoch
ebenso sehr von den ihm zur Verfügung stehenden sociabilités intel-
lectuelles irreleiten, wie später anläßlich seiner Sowjetunion-Reise
durch das, was man ihm zeigt. Die Kreise, die er in Berlin frequen-
tiert, von Piscators Theater und seinem Publikum über den Salon
seiner Übersetzerin und Stresemann-Freundin Antonia Vallentin bis
zu jenen der Verlegerfamilie Fischer und dem Berliner Milieu um
Kurfürstendamm und Nollendorfplatz, wirken auf ihn nicht ohne
Grund offener und moderner als die Pariser Kunst- und Literatur-
szene. Hier wird der ısacre moderne de la littérature„, d.h. das fran-
zösische Modell einer textorientierten Literatur, zumindest teilweise
infrage gestellt, wie es das Theater Piscators, etwa im Vergleich mit
jenem Copeaus (an dessen Vieux-Colombier der Dernier Empereur
hätte uraufgeführt werden sollen) oder des Cartel des Quatre, au-
genscheinlich demonstriert. Dennoch steht die Literatur im Sinne
eines erweiterten Literaturbegriffs weiter im Zentrum einer so ver-
standenen Kultur, so daß sich Bloch weitgehend mit ihr identifizie-
ren oder zumindest von ihr faszinieren lassen kann. Und da er von
Ausnahmen abgesehen fast ausschließlich Schriftstellern und Künst-
lern begegnet, die sein intellektuelles Engagement teilen, muß sich
auch der Intellektuelle Jean-Richard Bloch nicht von der Berliner
Kultur distanzieren, im Gegenteil. Berlin als Experimentierfeld eines
transkulturellen Mitteleuropa wird für ihn zu der ıleçon
dÊeuropéanisme„, auf die er bei seiner Abreise aus Paris gehofft
hatte. In gewisser Weise erfüllt dieses Deutschland jene Erwartun-
595

gen, die sich mit dem Dernier Empereur und der Lettre aux Alle-
mands verbunden hatten, in der Bloch die Hoffnung geäußert hatte,
nach der Grande Guerre könne die Zeit eines neuen homme eu-
ropéen gekommen sein. Erst als diese Hoffnung enttäuscht wird,
kann der Mythos einer in der Sowjetunion entstehenden neuen Ge-
sellschaft sich entwickeln.
Deutschland bildet für Bloch also eine zentrale kulturelle und li-
terarische Referenz. Dies gilt nicht nur für die Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg oder während der Weimarer Republik. Seit dem Kriegs-
beginn 1939 und auch zur Zeit der deutschen Besatzung in den Jah-
ren 1940 und 1941 übersetzt Jean-Richard Bloch den zweiten Teil
des Faust,42 Teile davon werden nach seiner Rückkehr aus dem so-
wjetischen Exil, das von 1941 bis 1945 dauert, in Europe veröffent-
licht.43 Doch für kurze Zeit schien es so, als ob sich Deutschland
zum Modell für eine andere, modernere und offene Gesellschaft
entwickeln würde, ein Modell, das wenn schon nicht das französi-
sche Modell des literarischen und intellektuellen Engagements in-
frage stellte, diesem aber Fragen stellte, die einen zukunftsweisen-
den Dialog ermöglicht hätten.

42 In einem Brief an Georges Duhamel vom 21.8.1940 schreibt er: „je poursuis ma tra-
duction du Second Faust, entreprise l’hiver dernier aux applaudissement de Vermeil
[...] une traduction de Goethe arrachée aux bombes et aux mitrailleuses des avions
allemands“ (zit. nach: Asholt, Lafay, a.a.O., S. 205).
43 Europe (Juni 1946).
597

Die Wirkung Frankreichs.1


Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“
Michel Grunewald

1 Titel eines Aufsatzes von Klaus Mann aus dem Jahr 1938, in: Klaus Mann: Prüfun-
gen. Schriften zur Literatur, hg. von Martin Gregor-Dellin, München 1968, S. 141-152.
598 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

Im ersten Kapitel seiner Monographie über André Gide erinnerte


Klaus Mann an die sehr verschiedenen Formen, die der ıWissens-
durst„ der deutschen Jugend nach dem Ersten Weltkrieg ange-
nommen hatte: ıEs gab junge Deutsche, deren geistige Aufmerk-
samkeit einzig und allein auf das russische Experiment konzentriert
erschien, während andere sich zum italienischen Faschismus hinge-
zogen fühlten. Wieder andere suchten das Heil in den Offenbarun-
gen indischer Mystik oder im geschäftstüchtigen Idealismus eines
Henry Ford. Indessen gab es auch solche, die nach Frankreich
schauten.„2 Er selbst habe von Anfang an zu denjenigen gehört, die
ıdie geistigen Entwicklungen, die sich in Paris abzuzeichnen began-
nen, attraktiver und bedeutungsvoller fanden, als irgendetwas, was
sich in Rom oder Moskau begab„.3
Klaus Mann hat sich im Alter von 18 Jahren für Frankreich in-
tensiv zu interessieren begonnen, nachdem er Ernst Robert Curtius
kennengelernt hatte. Curtius lehrte damals in Heidelberg, und Klaus
Mann, der im Frühjahr 1924 einige Wochen in der Nähe der Stadt
in einer anthroposophischen Schule verbrachte, hatte Gelegenheit,
bei Ausflügen nach Heidelberg den schon sehr bekannten Roma-
nisten mehrmals zu treffen.4 Im Juni 1924 schenkte Curtius ihm
sein Buch über Die literarischen Wegbereiter des neuen
Frankreich,5 dessen Lektüre ihn tief beeindruckte. Später las Klaus
Mann noch wenigstens zwei weitere Werke von Curtius: seine
Balzac-Biographie und Französischer Geist im neuen Europa ; 6 1930
rezensierte er sein Frankreich-Buch.7 Klaus Mann verdankte Curtius

2 Klaus Mann: André Gide und die Krise des modernen Denkens, München 1966, S. 9.
3 Ebd.
4 Vgl. Klaus Mann: Kind dieser Zeit, Reinbek 1982, S. 186; ders.: Der Wendepunkt. Ein
Lebensbericht. Mit einem Nachwort von Friedo Mann, München 1981, S. 257.
5 Vgl. Widmungsexemplar im Klaus Mann-Archiv der Stadtbibliothek München (im
folgenden: KMA).
6 Vgl. Klaus Mann: E.R. Curtius: Frankreich, in: ders.: Auf der Suche nach einem Weg.
Aufsätze, Berlin 1931, S. 343.
7 Vgl. ebd., S. 344-346.
599

nicht nur geistige Anregungen. Es war der Heidelberger Professor,


der ihm auch seine ersten Kontakte zu französischen Schriftstellern,
insbesondere zu André Gide, vermittelte.8
Klaus Mann sah in Frankreich und vor allem in Paris, wo er sich
1925 zum ersten Mal aufhielt, sein ızweites Vaterland„.9 Seit 1926
kannte er nicht nur Gide, sondern auch Jean Cocteau,10 durch dessen
Vermittlung er junge französische Autoren und Künstler seines
Alters kennenlernte. In der Mitte der zwanziger Jahre gehörte René
Crevel11 – der surrealistische Dichter – schon zu seinen engen Freun-
den, und es hat nichts Überraschendes, daß z.B. fast die Hälfte der
Beiträge, die Klaus Mann in der Zeitschrift Die Literatur bis 1933
publizierte, Werke französischer Autoren zum Thema hatte.12 Im
März 1933, als er ins Exil gehen mußte, führte ihn sein Weg zuerst
nach Paris, und bis 1938 hielt er sich öfters für längere Zeit in der
französischen Hauptstadt auf, die er dann erst nach sieben Jahren,
im Juni 1945, wiedersah.13
Im Leben wie in der Laufbahn Klaus Manns ist das Verhältnis
zu Frankreich und seiner Literatur von entscheidender Bedeutung
gewesen. Die Entwicklung dieser in ihren Äußerungen oft sehr
emotional gefärbten Beziehung vollzog sich auf mehreren, sich häu-
fig überschneidenden Ebenen. Manche französische Autoren übten
eine echte Faszination auf ihn aus, andere halfen ihm bei der Identi-
tätsfindung oder wurden sogar von ihm als Vorbilder angesehen
und gepriesen. Seine Äußerungen über Frankreich und die Franzo-
sen standen in enger Verbindung mit seiner Überzeugung, die Eini-
gung Europas sei zur Erhaltung des Friedens unbedingt notwendig.

8 Vgl. Mann: Wendepunkt, a.a.O., S. 256-257; ders.: André Gide Krise, a.a.O., S. 23-35.
9 Mann: Wendepunkt, a.a.O., S. 346.
10 Vgl. ebd., S. 250-255.
11 Vgl. insbes. ebd., S. 192, 198, 263, 266-270.
12 Vgl. Michel Grunewald: Klaus Mann. Eine Bibliographie, München 1984.
13 Vgl. Mann: Wendepunkt, a.a.O., S. 565ff.
600 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

Nach 1933 bekleidete seine Frankreich-Vorstellung zusätzlich eine


zentrale Funktion in der Auseinandersetzung mit Deutschland, zu
der Hitlers Machtübernahme ihn nötigte.
ıLebensnotwendig„, bekannte Klaus Mann 1930, sei ihm die
ıintellektuelle und menschliche Verbindung„ mit Frankreich gewor-
den.14 Mit diesem emphatischen Bekenntnis wollte er in erster Linie
seine Dankesschuld gegenüber den französischen Autoren abtragen,
deren Werke ihm seit Mitte der 20er Jahre vertraut waren.
Der erste in dieser Reihe war Raymond Radiguet, dessen Ro-
man Le diable au corps er entdeckte, als er selbst an seinem ersten
Roman, Der fromme Tanz, arbeitete. Im Buch des 1923 im Alter
von 20 Jahren verstorbenen Autors fand er am besten geschildert,
was für sein Gefühl das ıeigenste„ der Nachkriegsjugend war: ıein
neues Sich-ordnen-wollen, eine neue Sehnsucht nach Reinheit„ und
eine ıHöflichkeit des Herzens„, die seiner Meinung nach den gan-
zen Unterschied zwischen seiner eigenen Generation und der ex-
pressionistischen ausmachten.15
Als Klaus Mann Radiguets Le diable au corps entdeckte, begann
er sich auch mit den Werken von René Crevel zu befassen, denen er
ebenfalls ıdas beglückende Erlebnis des Sich-selbst-Wiedererken-
nens„16 verdankte wie die Gewißheit, daß die Situation der Jugend
in Frankreich und Deutschland ıheute von so verblüffender Ähn-
lichkeit [sei], daß nicht viel fehl[e], bis sie identisch [sei]„.17
Eine dritte, ıwesentliche Begegnung mit der Jugend Frank-
reichs„18 hatte Klaus Mann, als er das Buch von Jean Desbordes,

14 Mann: E.R. Curtius, a.a.O., S. 343.


15 Alle Zitate hier aus Klaus Mann: Raymond Radiguet, 1925, in: ders.: Auf der Suche
nach einem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 160-164.
16 Klaus Mann: Woher wir kommen und wohin wir müssen, 1930, in: ders.: Auf der
Suche nach einem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 379.
17 Klaus Mann: René Crevel: Der schwierige Tod, 1926, in: ders.: Auf der Suche nach
einem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 165.
18 Klaus Mann: Jean Desbordes, 1929, in: ders.: Auf der Suche nach einem Weg. Auf-
sätze, Berlin 1931, S. 180.
601

JÊadore, las. Der heute in Vergessenheit geratene Autor gehörte zum


Freundeskreis von Jean Cocteau. Klaus Mann kannte ihn persön-
lich und empfand große Sympathie für ihn, weil er in ihm einen
ıinnige[n] Gottsucher„ erkannte, der wie er die Bedeutung des
ıGotteserlebnis[ses] durch den Eros„19 hoch einschätzte.
Die Überzeugung, daß die Schriftsteller seines Alters jenseits des
Rheins seine Auffassung des Lebens teilten, war nicht die einzige,
die Klaus Mann im Umgang mit französischen Autoren gewann.
Die Beschäftigung mit dem Werk – wie dem Schicksal – mancher
Vertreter der französischen Literatur half ihm auch, über sich selbst
und seine Aufgaben als Schriftsteller Klarheit zu gewinnen. Dies
zeigte ganz eindeutig sein nie nachlassendes Interesse für Rimbaud,
dem er 1934 sogar eine Biographie widmen wollte.20
Die Ambivalenz der Gefühle, die mit diesem starken Interesse
verbunden war, spiegelt in sehr einprägsamer Weise wider, wie
stark die Ereignisse seiner Zeit Klaus Mann in der Wahrnehmung
seines Standortes und seiner Aufgaben und Möglichkeiten als
Schriftsteller beeinflußten.
In seiner frühen Jugend, im Alter von etwa 18 Jahren, als er wie
Hofmannsthals Lord Chandos eine starke Neigung hatte, Zweifel an
der schöpferischen Kraft der Sprache zu äußern und bekannte, er
habe seinen eigenen Weg noch nicht gefunden, gab er ziemlich
freimütig zu, daß Rimbaud ihn faszinierte, weil er den Mut gehabt
habe, sich von den Fesseln der Literatur und der Kultur freizuma-
chen.21 Die Faszination, die Rimbaud auf den jungen Klaus Mann
ausübte, weil er die Literatur aufgegeben hatte, um sich in Aben-
teuer anderer Art zu stürzen, war von kurzer Dauer. In den frühen

19 Ebd., S. 178.
20 Vgl. Brief an Stefan Zweig, 18.6.1934, in: Klaus Mann: Briefe und Antworten, hg. von
Martin Gregor-Dellin, München 1975, Bd. 1, S. 188.
21 Vgl. Klaus Mann: Fragment von der Jugend, 1926, in: ders.: Auf der Suche nach ei-
nem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 19.
602 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

30er Jahren, als er im Gegensatz zur Zeit seiner frühen Jugend die
Überzeugung vertrat, ıdie künstlerische Leistung allein [könne] dem
Leben eines Künstlers einen Sinn geben„, war es ein anderer
Rimbaud, der ihn interessierte. Dies verdeutlichte eine Rezension
aus dem Jahr 1931, in der er sogar entgegen seiner früheren Überzeu-
gung die Vermutung äußerte, daß ıfür Arthur Rimbaud, [⁄] in der
Stunde, da er starb, wahrscheinlich sein Gedicht von den Vokalen
wichtiger [gewesen sei] als seine afrikanischen Unternehmungen„.22
Klaus Mann änderte seine Einstellung gegenüber Rimbaud er-
neut nach 1933, als für ihn wegen der Entwicklung in Deutschland
das ethische und politische Engagement zur wichtigsten Priorität
wurde. Als er während des Krieges an seiner Autobiographie The
Turning Point arbeitete, bewunderte er zwar immer noch Rimbaud
wegen seiner poetischen Leistung, aber er distanzierte sich aus-
drücklich von ihm wegen seiner Abkehr von Europa und setzte ihn
fast einem Fahnenflüchtigen gleich.23 1949, als er am Wendepunkt
arbeitete, war Klaus Mann noch viel kritischer gegenüber Rimbaud
als noch während des Krieges. In der deutschsprachigen Fassung
seiner Autobiographie, rückte er den französischen Lyriker in die
Nähe der Propheten des Irrationalen, die er für die Katastrophe des
Weltkrieges mitverantwortlich machte.24
Klaus Manns reges Interesse für französische Autoren spiegelte
nicht nur sein dauerndes Bemühen wider, seinen Standort zu be-
stimmen. Die Beziehungen, die er zu André Gide knüpfte, hatten
eine zusätzliche Dimension: sie machten das ganze Ausmaß des
Identitätsproblems deutlich, mit dem er sein Leben lang als Sohn
von Thomas Mann konfrontiert wurde.

22 Klaus Mann: Herr Gilhooley (Rezension eines Romans von Liam O’Flaherty), in: Die
Literatur, Oktober 1931, S. 46.
23 Vgl. insbes. Klaus Mann: The Turning Point, New York 1984, S. 196-229.
24 Vgl. Mann: Wendepunkt, a.a.O., S. 130f.
603

Noch bis kurz vor seinem Selbstmord sah Klaus Mann in Gide
einen Freund.25 Manche Bücher von Gide haben ihm jenseits der
Bewunderung, zu der sie ihn als literarische Leistungen veranlaßten,
buchstäblich bei der Überwindung seelischer Krisen geholfen. Die-
sen Aspekt seiner Beziehungen zu Gide verdeutlichten insbesondere
die überschwenglichen Sätze, mit denen er diesem für die Übersen-
dung der Nouvelles nourritures dankte: ıFür meinen letzten Brief
aus Luzern – muß ich um Entschuldigung bitten: es war sicher ein
schlechter Brief, denn er war in einer schlechten Stunde geschrie-
ben, ich hätte ihn nicht abschicken sollen. ,Les nouvelles nourritu-
res haben Sie mir gewiß trotz diesem Brief – nicht wegen dieses
Briefes – geschickt. Ich kann Ihnen nicht genug danken. Das Buch
ist herrlich. Seit langem hat mich keine Lektüre so bewegt, so ge-
stärkt. Ich finde alles in ihm, was ich suche. Es hat so vielerlei Töne.
Es antwortet auf so vielerlei Fragen. Beinah erschrak ich vor Freude,
als ich auf die Stelle stieß: ı J e reviens à, vous – Seigneur Christ... Je
suis las de mentir à mon cflur⁄„26 Die quasi therapeutische Funk-
tion der Bewunderung, die Klaus Mann für Gide empfand, kommt
hier unverkennbar zum Ausdruck. Indem Klaus Mann sich zu An-
dré Gide bekannte und die Gemeinsamkeiten zwischen sich selbst
und dem französischen Schriftsteller in den Vordergrund stellte,
konnte er deutlich machen, was ihn – seiner Meinung nach – von
seinem Vater unterschied.
Die Gegenüberstellung von zwei Geburtstagsgrüßen ist in dieser
Hinsicht aufschlußreich. 1925 veröffentlichte Klaus Mann aus Anlaß
von Thomas Manns 50. Geburtstag einen Aufsatz, in dem er dem
Vater zwar seine ıVerehrung„ aussprach, aber auch auf den ıAb-

25 Vgl. André Gide – Klaus Mann: Ein Briefwechsel, mitgeteilt, eingeleitet und kommentiert
von Michel Grunewald, in: Revue d’Allemagne (1982), Oktober-Dezember, S. 681f.
26 Ebd., Brief an André Gide, 18.12.1935, S. 635.
604 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

grund„ hinwies, der ihn von diesem trennte.27 Die ersten Zeilen des
Artikels, den Klaus Mann Gide 1929 zum 60. Geburtstag widmete,
hatten einen ganz anderen Ton: Er begrüßte Gide als den ıerlauch-
testen und reifsten Bruder„28 der Jugend und als den Freund, den
sie ıam meisten liebe [⁄]„.
Klaus Mann hat in Gide bis zuletzt ein Vorbild gesehen, der als
ıinspirierter Gefährte„ für die Jugend viel wichtiger sei als andere,
die als ıFührer„29 auftreten wollten. In den ersten Jahren seiner
Laufbahn war er vor allem überzeugt, daß Gide unter den lebenden
Schriftstellern derjenige sei, der seiner Generation am besten helfen
könne, einen eigenen Weg im Leben zu finden. Er habe in seinen
Romanen nicht nur Gestalten geschaffen, die sich ıeiner neuen Sitt-
lichkeit bewußt„ seien, sondern gehöre ebenfalls zu den wenigen
Autoren, die die jungen Menschen der Nachkriegszeit schilderten,
wie sie tatsächlich seien, betonte Klaus Mann in einem Essay aus
dem Jahr 1928.30
Einige Jahre später, als Klaus Mann den Kampf gegen Hitler
auch für Schriftsteller als die wichtigste Priorität ansah, war es Gides
politisches Engagement an der Seite der Linken einschließlich der
Kommunisten, das für ihn vorbildliche Bedeutung gewann. Die Re-
zension der Tagebücher von Gide, die er Anfang Februar 1933
schrieb, bestätigt, daß es das Beispiel von André Gide war, das da-
mals in ihm die Bereitschaft reifen ließ, auch gemeinsam mit den
Kommunisten Hitler zu bekämpfen: ıWir alle sind, unserem Blut,
unseren Anlagen, unserer Bildung und unserer Lebenshaltung nach,

27 Vgl. Klaus Mann: Mein Vater. Zu seinem 50. Geburtstag, 1925, in: ders.: Auf der Su-
che nach einem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 20-22.
28 Klaus Mann: André Gide zum 60. Geburtstag, 1929, in: ders.: Auf der Suche nach
einem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 148.
29 Klaus Mann: Homage to André Gide, 1941, zitiert nach Erika Manns Übersetzung:
Dank an André Gide, in: Mann: Prüfungen, a.a.O., S. 134.
30 Klaus Mann: Der Ideenroman, 1928, in: ders.: Auf der Suche nach einem Weg. Auf-
sätze, Berlin 1931, S. 157.
605

dem kommunistischen Ideal so fern, wie André Gide es selbstver-


ständlich ist. Die Forderung der Stunde ist aber die, daß wir auf gei-
stige Vorbehalte, die wir bis jetzt machen zu dürfen glaubten, ver-
zichten müssen [⁄] Das Beispiel Gides zeigt uns, daß in gewissen
historischen Situationen der geistige Mensch sich zu Tendenzen und
zu Kräften eindeutig bekennen kann, mit deren Wesen er sich, bei
genauester Prüfung, vielleicht niemals völlig zu identifizieren ver-
möchte. Er wird sich nicht nur zu ihnen zu bekennen haben, er
wird es lernen müssen, sogar in ihrem Dienste zu handeln.„31
Klaus Manns Sympathie für Frankreich hatte anfänglich keine
eindeutige politische Färbung. Er verstand sie aber bereits sehr früh
als Antwort auf den ihm verhaßten Chauvinismus seiner Lehrer. Es
war seine Abneigung gegen jegliche Art von Nationalismus, die ihn
schon als Zwanzigjährigen von einem Europa träumen ließ, dessen
Keimzelle ein Bündnis zwischen französischer und deutscher Jugend
gewesen wäre.32
Klaus Manns Überzeugung, der europäische Aufbau sei lebens-
notwendig, stand im Hintergrund aller Beiträge, in denen er seine
Sympathie für Frankreich und die ihm bekannten Franzosen äu-
ßerte. Europa war für ihn wichtiger als Deutschland oder Frank-
reich, und Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen interes-
sierten ihn – wenigstens bis 1933 – kaum. Für ıVölkerpsychologie„
hatte er gar nichts übrig, obwohl in seinem Werk auch gelegentlich
Äußerungen über Erscheinungen vorkommen, die er als typisch
ıfranzösisch„ oder ıdeutsch„ ansah. Seine große Zurückhaltung ge-
genüber dem Nationalen in jeglicher Form hatte zur Folge, daß er
zwischen Vaterlandsliebe und Nationalismus keinen Unterschied

31 Klaus Mann: André Gides Tagebücher, 1933, in: ders.: Prüfungen, a.a.O., S. 109.
32 Vgl. zu diesem Thema insb. Klaus Mann: Können Deutschland und Frankreich Freunde
sein?, 1936, in: ders.: Heute und Morgen. Schriften zur Zeit, hg. von Martin Gregor-
Dellin, München 1969, S. 155-163; Klaus Mann: Die Wirkung Frankreichs, 1938, in:
ders.: Prüfungen, a.a.O., S. 141-152.
606 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

machte; in einem Vortrag bezog er sich ausdrücklich auf Goethes


Satz ıPatriotismus verdirbt die Geschichte„, um seinem Standort
Nachdruck zu verleihen.33
Viel wichtiger als das Werben für eine Nation – auch die franzö-
sische – erschien Klaus Mann von Anfang an eine einfache Feststel-
lung: der Erste Weltkrieg habe bewiesen, daß die Einigung Europas
lebensnotwendig sei, um eine neue Katastrophe zu verhindern. Von
Anfang an war er zusätzlich der Ansicht, daß diese Einigung nicht
möglich sei, wenn Frankreich und Deutschland nicht ızusammen-
gehen„ würden.34
Klaus Manns europäisches ıCredo„ ließ ihn nicht allein für enge
Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen plädieren. Er hielt
zudem Frankreich für das Land, in dem sein europäisches Ideal am
besten verwirklicht war. Diese (oft unkritisch geäußerte) Überzeu-
gung hatte zur Folge, daß seine Wahrnehmung Frankreichs fast
identisch wurde mit seiner Wahrnehmung der Werte, die er als ty-
pisch ıeuropäisch„ pries. ıSein„ Frankreich war wie ısein„ Europa
ıdie Heimat der Zivilisation und des humanen Fortschritts„. ıSein„
Europa war ıder möglichkeitenreichste Erdteil„, und als ıEuropäer„
konnte für ihn nur derjenige gelten, der sich ıallen Erdteilen
öffne[te]„.35 ıSein„ Frankreich wies die gleichen Merkmale auf. Es
entsprach nicht der ıMischung aus lateinischer Logik und galli-
schem Esprit, die der gebildete Spießer für so eminent ,französischÂ
hielt„; es war ein neuzuentdeckendes Frankreich, dessen ıkomplexe

33 Vgl. Goethes Gespräche, neu hg. von Flodoard Frhr. von Biedermann unter Mitwir-
kung von Max Morris, Hans Gerhard Gräf und Leonhard L. Mackall, 2. Aufl., Leipzig
1909, Bd. 2, Riemer, 1800, zitiert von Klaus Mann in: Woran glaubt die europäische
Jugend? (vgl. Erstausgabe und Einleitung von Michel Grunewald in: Recherches
Germaniques, Strasbourg 1983, S. 255).
34 Klaus Mann: Heute und Morgen, 1927, in: ders.: Auf der Suche nach einem Weg.
Aufsätze, Berlin 1931, S. 24.
35 Mann: Fragment der Jugend, 1926, a.a.O., S. 19.
607

Weiträumigkeit„ es zu ergründen gelte, wenn man ein neues Europa


aufbauen wolle.36
Einer der wichtigsten Kronzeugen Klaus Manns in seiner
manchmal fast ins Hymnische wachsenden Beschwörung ıseines„
Frankreichs war sein großes Vorbild André Gide. In dem französi-
schen Schriftsteller sah er gleichzeitig einen typischen Franzosen
und ein ıeuropäisch repräsentativ[es] Phänomen„,37 weil gerade in
seinem Werk besser als in den Schriften aller seiner Zeitgenossen
feststellbar sei, wie viele Elemente der französische Geist in sich
aufnehmen könne: ıGide vereinigt in sich die verschiedensten eu-
ropäischen Eigenschaften und Werte. Die beiden Grundpfeiler und
essentiellen Elemente europäischer Bildung – das Antike und das
Christliche – sind auch in seiner geistigen Struktur als bestimmende
Grundelemente vorhanden [...]. Von den großen Deutschen haben
ihn vor allem Goethe und Nietzsche entscheidend beeinflußt. Noch
näher steht er den großen englischen Überlieferungen: er hat Shakes-
peare und Joseph Conrad übersetzt. Das Dostojewski-Erlebnis war
bestimmend für seine Psychologie von den ,Caves du Vatican bis
zu den ,Faux-monnayeursÂ; es wurde später ergänzt und vertieft
durch das Erlebnis der Psychoanalyse und die geistige Vertrautheit
mit Freud.„38 Weil Gide gegenüber allen Kulturen aufgeschlossen
sei, beweise sein Werk auch aufs prägnanteste, wie wirklichkeitsfern
die Forderungen aller Anhänger eines kulturellen Nationalismus
seien: ıMit welch vornehmer Natürlichkeit steht hier eine Lobprei-
sung der ,französischen Erde zwischen lauter scharfen Wahrheiten,
die er den Nationalisten seines Landes sagt, und die wir denen bei

36 Vgl. Mann: André Gide Krise, a.a.O., S. 9f.


37 Klaus Mann: André Gide: Kongo und Tschad, 1930, in: ders.: Auf der Suche nach
einem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 350.
38 Klaus Mann: André Gide und die europäische Jugend, 1935, in: ders.: Mit dem Blick
nach Deutschland. Der Schriftsteller und das politische Engagement, hg. und mit ei-
nem Nachwort von Michel Grunewald, München 1985, S. 48.
608 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

uns so gerne täglich sagen möchten; daß es nämlich ,ein schwerwie-


gender Irrtum sei, zu glauben, man kenne sein eigenes um so bes-
ser, je weniger man die anderen kennt; und was die Rasse betrifft,
über deren pure Latinität die Herren drüben ein ebenso langweili-
ges und enervierendes Geschrei machen, wie bei uns die Entspre-
chenden über Germanentum, so bittet Gide denn doch nicht zu
vergessen, ,daß das, was Sie unsere Rasse nennen, etwas recht Ge-
mischtes istÂ.„39
Wer wie Klaus Mann im Austausch zwischen den Kulturen und
in ihrer gegenseitigen Bereicherung die Zukunft Europas und seiner
einzelnen Nationen sah, konnte die Ansichten französischer Intellek-
tueller, die den deutschen Geist aus dem neuen Europa verbannen
wollten, nur als schlicht absurd bekämpfen. Daher schien es ihm
1931 unbedingt erforderlich, ein Buch wie Henri MassisÊ Défense de
lÊOccident der schärfsten Kritik zu unterziehen. An dem Essay des
französischen Publizisten und Sympathisanten der Action française
fand Klaus Mann vor allem auszusetzen, daß sein Verfasser den Ka-
tholizismus, wie er sich in Frankreich entwickelt hatte, als die ein-
zige Rettung Europas ansah und das ızerrüttete Deutschland der
Nachkriegsjahre„ mit ıunversöhnliche[r] Feindschaft„ verfolgte, weil
es sich seiner Meinung nach in ıeinem unterirdisch drohenden Pakt
mit dem [⁄] Orient bef[and]„.40 Klaus Mann lehnte sowohl MassisÊ
Verteidigung des Abendlandes als auch die Auffassungen der Be-
fürworter einer geistigen Erneuerung Frankreichs im Zeichen des
ılateinischen„ Geistes ab. In Défense de lÊOccident und Werken
ähnlicher Richtung sah er nur Plädoyers für das Mittelalter, d.h. für
eine Zeit, deren ıLebensform„ er als ıun- oder doch voreuropäisch„
empfand, weil das ıantike Element„ – d.h. ıdas Pathos der Freiheit

39 Klaus Mann: André Gide: Europäische Betrachtungen, in: Berliner Tageblatt,


13.12.1931.
40 Vgl. Klaus Mann: Die Jugend und Paneuropa, 1930, in: ders.: Auf der Suche nach
einem Weg. Aufsätze, Berlin 1931, S. 67.
609

und der Persönlichkeit„ – damals nicht wirksam gewesen sei.41 Des-


halb fühlte er sich dem ıbesten Teil der französischen Jugend„ viel
enger verbunden als den Freunden von Massis: ıWas ich an dem
besten Teil der französischen Jugend bewundere, ist aber gerade
die Elastizität, die Sicherheit, die Eleganz, mit der sie nach dem
Kriege ihr Weltbild und ihr Lebensgefühl erweitert und verändert
hat, ohne daß es ihr eigentlichstes, französisch-europäisches Wesen
verletzt hätte.„42
Die Franzosen, zu denen es Klaus Mann hinzog, waren alle Ver-
treter der ıeuropäischen Geistigkeit„,43 der er sich selbst zugehörig
fühlte und die er als sein eigentliches Ideal ansah. Daß diese Fran-
zosen Klaus Mann vor allem als Europäer interessierten – und nicht
weil sie Franzosen waren, bedeutete aber nicht, daß er die Zukunft
Europas im Verzicht auf alle nationalen Besonderheiten gesehen
und eine Art Einheitskultur gewünscht hätte. Klaus Mann teilte Gi-
des Auffassung, daß ıdie selbständigste, entwickelteste
Individualität es sei, die der Gemeinschaft am besten zu dienen
verm[ochte]„, wenn es sich um das Zusammenleben der Völker
handelte.44
Wenn Klaus Mann nationale Spezifika eines Volkes evozierte,
konnten solche Hinweise unter seiner Feder ebensowohl positive
wie negative Bedeutung haben. Wenn er Deutsche schilderte, fielen
ihm vorwiegend negative Aspekte ein. Er leugnete zwar nicht, daß
Lessing, Goethe, Heine und Nietzsche große Deutsche und echte
Europäer gewesen seien, aber er meinte auch – seinem Vater ähn-
lich –, daß seit Luther Deutschland in der europäischen Entwick-
lung vor allem als störendes Element gewirkt habe und daß die

41 Vgl. Mann: Europäische Jugend, a.a.O., S. 239f.


42 Mann: Jugend und Paneuropa, a.a.O., S. 71.
43 Mann: Deutschland und Frankreich, a.a.O., S. 160.
44 Mann: Europäische Jugend, a.a.O., S. 258.
610 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

Deutschen fast immer gegen Europa ırebellisch„ geworden seien,45


wenn sie sich hatten behaupten wollen.
Im Unterschied zu denen der Deutschen waren die Besonderhei-
ten des französischen Geistes, die Klaus Mann hervorhob, keine Ei-
genschaften, die einen Gegensatz zwischen Frankreich und den an-
deren europäischen Völkern erkennbar werden ließen. Was Klaus
Mann ıfranzösisch„ nannte, sah er gleichzeitig als typisch europä-
isch an – d.h. als nützlich für das Wohl aller Völker des Kontinents.
Dies galt seiner Meinung nach in erster Linie für die Änderungen,
die die Französische Revolution Europa gebracht hatte. Was 1789 in
Frankreich geschehen war, interessierte Klaus Mann vor allem, weil
seiner Ansicht nach die politische Anerkennung der individuellen
Freiheit im modernen Europa im wesentlichen dem Sturz der Mon-
archie in Frankreich zu verdanken war. Es schien ihm nach 1933
umso notwendiger, an diese geschichtliche Tatsache zu erinnern, als
die Kommunisten in ihrem Kampf gegen den Faschismus für sein
Gefühl zu wenig Rücksicht auf die Freiheit des einzelnen nahmen.
Die Frage, ob der Sozialismus für die Entwicklung des Individuums
günstig sei, war eines der Themen, die 1934 während des Moskauer
Schriftstellerkongresses, dem Klaus Mann als Gast beiwohnte, erör-
tert wurden. In diesem Rahmen erschien es ihm wichtig, daß es ge-
rade die französischen Teilnehmer waren, die für die Anerkennung
der Rechte des Einzelmenschen in der sozialistischen Gesellschaft
plädiert hatten.46
Es gab noch eine andere Besonderheit ıseines„ Frankreich, die
Klaus Mann in der Zeit des Kampfes gegen Hitler mit starkem
Nachdruck hervorhob: eine Form der Rationalität, die dem Irratio-
nalen nicht unbedingt verschlossen war. Zu den Vertretern dieser

45 Vgl. Klaus Mann: Der Blick zurück (Manuskript), 1939, KMA, Signatur KM 32, S. 7-9.
46 Vgl. zu diesem Thema: Klaus Mann: Notizen in Moskau, 1934, in: ders.: Heute und
Morgen. Schriften zur Zeit, hg. von Martin Gregor-Dellin, München 1969, S. 107-122.
611

geistigen Haltung rechnete er Jean Giraudoux, dessen Amphitryon


und Electre ihn ıentzück[ten]„, weil in diesen Stücken ıdie Magie
einer wieder-entdeckten, rationell durchaus nicht deutbaren Antike
mit einem französischen ,bon sens zusammengeh[e].„ Er hielt Gi-
raudoux gleichzeitig für den ıVertreter eines neuen Humanismus„
und einen typischen Franzosen, weil in seinen Werken seiner Mei-
nung nach ıVernunft„, ıGeheimnis„, ıEsprit„ und ıMysterium„ in
harmonischer Beziehung zueinander standen.47
Im Hintergrund von Klaus Manns Urteil über GiraudouxÊ
Werke stand eine Überzeugung, die nach 1933 für ihn von großer
Bedeutung war: er hielt es nämlich für erwiesen, daß die ıMachter-
greifung„ durch Adolf Hitler in Deutschland größtenteils auf das
Versagen der Linken zurückzuführen sei. Dieses Versagen hatte für
ihn vor allem eine Ursache: Die Linke sei wegen ihres materialisti-
schen und rein rationalistischen Weltbildes unfähig gewesen, die
Jugend für die Sache des Sozialismus zu begeistern. Die Nationalso-
zialisten hätten hingegen von Anfang an verstanden, welche Kraft
das Irrationale im Menschen besitze und daher Hunderttausende
davon überzeugen können, daß sie allein Deutschland aus der Krise
zu retten fähig seien.
Mit seinen Kommentaren über Giraudoux wie über andere fran-
zösische Autoren hatte Klaus Mann viel weniger das reale Frank-
reich als ein ideales Frankreich im Blick, das in seiner Vorstellung
fast nur positive Eigenschaften hatte. In den zwanziger Jahren wie
später im Exil galt Klaus Manns Interesse in der Tat weniger der
konkreten Realität in Frankreich als der exemplarischen Bedeutung,
die ısein„ Frankreich für die Deutschen haben konnte.
Seine Überzeugung war von Anfang an, die Deutschen seien im
Unterschied zu den Franzosen ein problematisches Volk, das wegen
seiner angeborenen Schwächen ohne einen intensiven Austausch

47 Mann: Wirkung Frankreichs, 1938, a.a.O., S. 150.


612 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

mit anderen Völkern das ihm fehlende innere Gleichgewicht nicht


erlangen könne. Auf das besondere Verhältnis zwischen Frankreich
und Deutschland bezogen bedeutete Klaus Manns Überzeugung,
daß die Deutschen gut daran täten, ihr Nachbarvolk in vielem als
Vorbild zu betrachten. Er sah den Unterschied zwischen Deutschen
und Franzosen z.B. in Alissa aus La porte étroite verkörpert. Diese
junge Frau erinnerte ihn wegen ihrer ıschwärmerischen Zartheit„
zwar an Gestalten aus der deutschen Romantik, und er war der An-
sicht, ihre Tagebücher ıkönnten von einer der großen Gottsuche-
rinnen des späten deutschen Mittelalters sein„.48 Aber für ihn war sie
diesen Gestalten überlegen, weil sie ıbei aller Ekstase klug, und
darin Französin„ sei.49 Mit anderen Worten: Alissa sei seelisch aus-
geglichen, weil sie in einem französischen Milieu aufgewachsen sei.
Dies mache den Unterschied zwischen ihr und einer Deutschen,
ihre Überlegenheit gegenüber dieser aus.
Mit Klaus Manns Neigung, im Exil alles, was Deutschland betraf,
immer negativer zu beurteilen, wuchs noch seine Neigung, Frank-
reich als positives Modell anzusehen. Die Errichtung der nationalso-
zialistischen Herrschaft schilderte er immer nachdrücklicher als eine
Folge der negativen Einstellung der Deutschen zu den europäischen
Werten, wie sie vor allem von Frankreich verkörpert seien. Beson-
ders nach 1938 schilderte Klaus Mann die Deutschen als das pro-
blematische Volk überhaupt und ließ sich keine Gelegenheit entge-
hen, auf die Unterschiede zwischen dem Verhalten seiner Lands-
leute und dem anderer Nationen hinzuweisen. Es fehle den Deut-
schen ıan innerem Gleichgewicht: Sie [hätten] weder das ruhige
Selbstbewußtsein der Briten, noch den vernünftigen Enthusiasmus,
den rationalen Elan der Franzosen„ und es sei ihre ıUnsicherheit„,

48 Klaus Mann: Die enge Pforte, 1929, in: ders.: Auf der Suche nach einem Weg. Auf-
sätze, Berlin 1931, S. 348.
49 Ebd.
613

die ihre ıarrogante Allüre„ erkläre, schrieb Klaus Mann 1939.50


Frankreich betreffend behauptete er hingegen, dort herrsche ıpoliti-
sche Vernunft„, während die Deutschen kein Talent zur Politik hät-
ten. Ein ähnliches ıphysiologisches Manko„ erkläre, warum die
Deutschen den Frieden gefährdeten: ıWeil sie die Politik im
Grunde verachten – oder überhaupt noch nie begriffen haben, was
,Politik eigentlich ist –, glauben sie, man könne sich in der Politik
,alles leistenÂ; man dürfe in der politischen Sphäre gewalttätig sein,
unter Umständen sogar infam. Manchmal verwechseln sie ,Realis-
mus mit Niedertracht.„51 Um das ıdeutsche Problem„ zu erklären,
griff Klaus Mann auf ein Erklärungsmuster, das man ebensowohl
bei seinem Vater wie bei seinem Onkel fand: Das unpolitische
Temperament seiner Landsleute habe zur Folge gehabt, daß sie
ıden Wert der Freiheit niemals kapiert„ und ıden sittlichen Fort-
schritt, den die Französische Revolution für die Menschheit bedeu-
tet [habe], niemals akzeptiert„ hätten.52 Wie sein Vater und sein On-
kel vertrat Klaus Mann den Standpunkt, daß der ıUntertan„ vor al-
lem aus einem Grund zum Typus des Deutschen geworden sei:
Eine Tradition, die in die Zeit der Reformation zurückreiche, habe
die deutschen Intellektuellen stets gehindert, sich ernsthaft mit poli-
tischen Fragen zu befassen. Klaus Mann sah darin die wichtigste Ur-
sache der inneren Schwäche der deutschen Gesellschaft. In den
Vorarbeiten zu einem unvollendet gebliebenen Buch machte er
1939 diese Besonderheit deutlich, indem er das Verhältnis zwischen
Intellektuellen und Nation in Frankreich und in Deutschland kon-
trastiv darstellte. Er stellte dabei zuerst fest, daß ıin keinem anderen
großen zivilisierten Land [...] die Literatur, [...] der Geist einen so
geringen Einfluß auf das öffentliche Leben gehabt [habe], wie eben

50 Mann: Blick zurück, a.a.O., S. 11.


51 Ebd., S. 11f.
52 Klaus Mann: Die Vision Heinrich Heines, 1934, in: ders.: Heute und Morgen. Schrif-
ten zur Zeit, hg. von Martin Gregor-Dellin, München 1969, S. 124.
614 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

in Deutschland„.53 Dies habe aus der Literatur im ıVolk der Dichter


und Denker ein tragisches Phänomen gemacht: Sie führte ihr pro-
blematisches Dasein in einem luftleeren Raum. Sie war isoliert. Die
Nation vertraute ihr nicht. Das deutsche Volk ließ sich niemals von
seinen großen Schriftstellern lenken, beeinflussen oder auch nur be-
raten„.54 In Frankreich hingegen ıg[ebe] es, und [habe] es immer ein
Verhältnis des Vertrauens zwischen der Nation und der Literatur
[gegeben]„.55 Dies habe eine sehr bedeutungsvolle Folge gehabt: ıIn
diesem glücklicheren Lande ist die Literatur wirklich der Repräsen-
tant, der Sprecher, das Hirn, und das wachsame moralische Gewis-
sen der Gesellschaft. Alle moralischen und politischen Krisen,
durch die Frankreich seit zwei Jahrhunderten gegangen ist, wurden
geistig vorbereitet und in ihrem Ablauf bestimmt von den großen
Schriftstellern.„56 Während in Frankreich der Geist stets seine ıge-
sellschaftskritische Funktion„ habe ausüben können, seien solche
Bestrebungen in Deutschland immer mit größtem Mißtrauen aufge-
nommen worden: ıDie unvermeidliche Folge davon ist, daß viel-
leicht nirgendwo sonst in der Welt der Abgrund zwischen Geist und
Macht so entsetzlich tief klafft, wie in meiner unglücklichen Hei-
mat.„57 Dies erkläre, warum das deutsche Volk, ıintellektuell und
politisch so merkwürdig un-erzogen„ sei und nie zugelassen habe,
daß ıDichter und Denker„ ihren ıklaren, unabhängig urteilenden
Verstand„ in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts stellten.58
Statt Kritik und Engagement von ihren Schriftstellern zu erwarten,
hätten die Deutschen vielmehr ıVom Dichter und Denker [⁄] ver-
langt, er solle ,über den Wolken schweben„ und die ıeinzige Ge-

53 Klaus Mann: Europäische Kultur. Skizzen und Vorarbeiten zu einem Buch, Herbst
1937, KMA, Signatur KM 427, S. 1.
54 Ebd.
55 Ebd.
56 Ebd., S. 2.
57 Ebd.
58 Ebd., S. 3.
615

ste„, die sie von ihm erwartet hätten, sei die ıVerbeugung vor der
Macht„ gewesen.59 Hier liege die wichtigste Ursache aller Schwierig-
keiten, die die Intellektuellen seit jeher in Deutschland gehabt hät-
ten und deren Konsequenzen Klaus Mann folgenderweise schil-
derte: ı[⁄] läßt er [der Schriftsteller, M.G.] es sich [...] gar einfallen,
gegen die regierende Macht zu opponieren, so fällt er schnell in öf-
fentliche Ungnade und hat kein gutes Leben mehr in seiner Heimat.
Mancher guter deutsche Schriftsteller, der extravagant genug war,
nicht mit der Macht zu sympathisieren, wurde aus dem Lande ge-
jagt und mußte seine Tage im Exil beschließen: das war immer so,
und es ist so geblieben.„60
Weil Frankreich für Klaus Mann quasi zur Verkörperung seines
Ideals geworden war, empfand er die militärische Niederlage des
Landes gegen Hitler als sehr schmerzhaften Schlag. Der Untergang
der Dritten Republik im Sommer 1940 sei, so hieß es im Leitartikel
des vorletzten Heftes seiner Zeitschrift Decision, ıdas Symbol einer
weltweiten Krise der ethischen Werte und der Gesellschaft„
gewesen.61
In seinen Stellungnahmen zum Thema ıFrankreich„ während
des Krieges versäumte Klaus Mann keine Gelegenheit, die collabo-
rateurs aufs schärfste anzugreifen. Er bemühte sich ebenfalls, seinen
amerikanischen Lesern klarzumachen, daß Pétain und seine Ge-
folgsleute auf keinen Fall als die Vertreter des französischen Volkes
anzusehen seien. Während die Vichy-Regierung mit den Deutschen
paktiere, ıl[itten] die Franzosen unter dem Terror eines rücksichts-
losen Eroberers„.62
Die Sympathie, die Klaus Mann mit dem besiegten Frankreich
zeigte, war aber nicht frei von kritischen Untertönen. Er erkannte

59 Ebd., S. 5f.
60 Ebd., S. 3.
61 Klaus Mann: For France, in: Decision (1941), November-Dezember, S. 5.
62 Ebd., S. 3.
616 Michel Grunewald: Klaus Mann und sein „zweites Vaterland“

insbesondere, daß ohne die Fehler, die in Versailles 1919 von den
Franzosen begangen worden seien, Hitler bestimmt nicht an die
Macht gekommen wäre.
In einem Aufsatz aus dem Jahr 1943 meinte Klaus Mann sogar,
daß es unter den französischen Intellektuellen eine Minderheit ge-
geben habe, die den Untergang der Kultur herbeiführen wollte.
Dies sei der Fall mancher Surrealisten wie André Breton gewesen,
die im Bereich der Kunst als ıNihilisten„ aufgetreten seien, während
Hitler und Mussolini die politische ıRevolution des Nihilismus„
durchführten.63
Trotz solcher kritischen Stellungnahmen, vertrat Klaus Mann
nach 1939 nie die Auffassung, daß die Werte, die Frankreich sym-
bolisierte, durch das Scheitern des französischen Staates oder das
Versagen mancher französischer Schriftsteller in Frage gestellt worden
seien. Er war vielmehr der Meinung, daß es ohne oder gegen das
Genie Frankreichs keine Wiedergeburt des Westens geben könne.
Während des Krieges setzte Klaus Mann zwar seine Hoffnungen
in erster Linie auf die USA und sah im Geist der amerikanischen
Demokratie die mögliche Grundlage einer künftigen Weltdemokra-
tie. Dabei hoffte er aber immer noch auf Frankreich. Bezeichnen-
derweise waren es vor allem die Werke einiger Schriftsteller, die
ihm, wie vor Ausbruch des Krieges, dieses Vertrauen einflößten.
Nach wie vor rechnete er André Gide zu den Vertretern der
ıKräfte des Lichtes„, die im Kampf gegen die ıKräfte der Finster-
nis„ standen.64 Er empfahl auch Bernanos als Vorbild, denn er sei
eine ıauthentische Persönlichkeit„, ein ıbewundernswerter Schrift-
steller„, dessen Werke allen Menschen Vertrauen in die Zukunft
schenken könnten.65

63 Klaus Mann: Surrealistic Circus, in: The American Mercury, Februar 1943, S. 181.
64 Klaus Mann: André Gide and the Crisis of European Thought, New York 1943, S. VIII.
65 Klaus Mann: The Rebellious Christian, in: Tomorrow (1943), November, S. 37.
617

Die Nachkriegsjahre, mit allen Rückschlägen, die sie Klaus Mann


brachten, änderten seine Haltung gegenüber Frankreich nicht. Doch
gelang es ihm nach 1945 kaum noch, in der Entwicklung dieses Lan-
des und der weltpolitischen Situation überhaupt Zeichen der Hoff-
nung zu finden. In einem Vortrag, den er Anfang 1948 an der Uni-
versität Mainz über André Gide hielt, drückte er noch ein gewisses
Vertrauen aus, weil wenigstens diese Stimme aus Frankreich ıin einer
Zeit der Mittelmäßigkeiten [...] ein Trost [sei] für alle, die nach Leitung
und Orientierung suchen„.66 Als Klaus Mann Die Heimsuchung des
europäischen Geistes verfaßte, hatte er noch mehr Schwierigkeiten als
im Frühjahr 1948, sich in der Nachkriegswelt zurechtzufinden. In die-
sem, seinem letzten Essay bezeichnete er Gide weiter als Vorbild und
zeigte Interesse für das Wirken von Jean-Paul Sartre und dessen Ver-
such, Idealismus und Materialismus zu versöhnen.
In Die Heimsuchung des europäischen Geistes galten Gide und
Sartre aber nur noch als vereinzelte und schwache Stimmen in einer
Welt, in der ıdie Schlacht der Ideologien„ alles beherrschte. Eine
Überwindung der allgemeinen Krise hielt Klaus Mann 1949 für
unmöglich, solange die Welt Schlachtfeld wäre für den ıKampf zwi-
schen den beiden antigeistigen Riesenmächten – dem amerikani-
schen Geld und dem russischen Fanatismus„. Diese Auseinander-
setzung gefährde zwei Werte, für deren Erhaltung er mit seinen
französischen Altersgenossen stets gekämpft hatte: ıintellektuelle
Unabhängigkeit und Integrität„,67 so lautete seine letzte Botschaft an
seine Leser.

66 Klaus Mann: Gide (conférence, Mayence), Manuskript, Anfang 1948, KMA, Signatur
KM 240, S. 7.
67 Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes (dt. von Erika Mann), in:
Heute und Morgen. Schriften zur Zeit, hg. von Martin Gregor-Dellin, München 1969,
S. 337.
619

In Paris hatte ich einen sehr geliebten Freund...1


Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno
Gilbert Krebs

1 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 169.
Heinrich Mann widmet Félix Bertaux fast 10 Seiten, neben anderen „Gefährten“ sei-
nes Lebens wie Frank Wedekind, Arthur Schnitzler und Thomas Mann.
620 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

Die vielfachen und engen Beziehungen, die Heinrich Mann zeit sei-
nes Lebens zu Frankreich gepflegt hat, sind wohl bekannt. Zwar ist
das Thema bisher noch nicht umfassend behandelt worden, aber es
ist mehr oder weniger präsent in der gesamten dem Verfasser des
Henri IV gewidmeten Literatur. Zudem trägt sein ganzes Werk die
Spuren dieser engen Verbundenheit und Heinrich Mann selbst hat
immer wieder in seinen autobiographischen Schriften darauf hinge-
wiesen. ıBewunderer und Zögling gallischen Genius von jung auf„,2
erzogen durch französische Bücher,3 fand er seine ersten literari-
schen Vorbilder bei den französischen Romanciers des 19. Jahr-
hunderts. In der Tradition der französischen Aufklärer entdeckte er
die Leitfiguren, die er nach und nach in sein geistiges Pantheon
aufnahm, von Choderlos de Laclos bis Anatole France, über
Rousseau und Voltaire, Stendhal, Victor Hugo und Emile Zola. Sie
wurden auch durch ihr Bestreben zu seinen Vorbildern, den Sieg
der Vernunft nicht nur im Geistigen sondern auch in der Sphäre
des öffentlichen Lebens, der Politik und der Gesellschaft zu bewir-
ken, und zwar mit den Waffen des Geistes und des Wortes. Densel-
ben Kampf hat auch Heinrich Mann gefochten, um der Demokratie
in Deutschland zum Sieg zu verhelfen und die Entstehung eines
friedlichen, in sich versöhnten Europas zu fördern, in dem Frank-
reich und Deutschland, diese beiden benachbarten und komple-
mentären ıProvinzen des europäischen Reichs„, als Achse und Mo-
tor der Einigung eine entscheidende Rolle spielen sollten.
Diese zentralen Anliegen treten in einer besonders eklatanten
Weise in Manns Briefwechsel mit Félix Bertaux zutage. Die vor kur-

2 Thomas Mann 1931, anläßlich der 60. Geburtstagsfeier für seinen Bruder Heinrich.
Vgl. Thomas Mann – Heinrich Mann. Briefwechsel 1900 bis 1949, Frankfurt/Main
1975, S. 128.
3 „Meine Erzieher waren französische Bücher, Krankheit, das Leben in Italien und
zwei Frauen.“ „Autobiographische Notiz“ (1910) zitiert in André Banuls: Heinrich
Mann. Le poète et la politique, Paris 1966, S. 617.
621

zem veröffentlichten Briefe4 sind ein einzigartiges Dokument, um


Heinrich Mann in seiner Tätigkeit als Schriftsteller, als Mittler zwi-
schen den Völkern und als engagierter Bürger unmittelbar am
Werk zu sehen. Sie erlauben es auch, die gelegentlichen Erinne-
rungslücken und Irrtümer zu berichtigen, die ihm unterlaufen sind,
als er im amerikanischen Exil sein Zeitalter und seinen eigenen Le-
benslauf ıbesichtigte„. Sie zeugen vor allem für eine Freundschaft,
deren Bedeutung weit über den individuellen Fall hinausgeht. Die-
ser Briefwechsel begann 1922 und zog sich über mehr als ein Vier-
teljahrhundert hin, ohne nennenswerte Unterbrechung, abgesehen
von den Kriegsjahren vom Sommer 1940 bis April 1945. Er endete
erst mit BertauxÊ Tod im September 1948. Leider ist der Briefwech-
sel aus diesen 26 Jahren nicht vollständig überliefert: es fehlen vor
allem die meisten Briefe BertauxÊ an Heinrich Mann. Deren Inhalt
können wir aber oft aus Heinrich Manns Antworten herauslesen.
Wir beschränken uns hier auf die Anfänge dieser Beziehung, auf
die Zeit vor der offiziellen Normalisierung der deutsch-französischen
Beziehungen nach der Unterzeichnung des Vertrags von Locarno
1925. In dieser ersten Nachkriegszeit war das öffentliche Eintreten
von Menschen wie Heinrich Mann und Félix Bertaux für eine Aus-
söhnung zwischen den verfeindeten Nachbarn am Rhein besonders
verdienstvoll und mutig. Ihr Briefwechsel zeigt, wie durch individu-
elle Initiativen transnationale Verbindungen entstehen, sich erwei-
tern und vervielfältigen, die dann als Teilelemente eines sich all-
mählich entwickelnden umfassenderen Netzwerks wirken.

4 Heinrich Mann – Félix Bertaux. Briefwechsel 1922-1948, mit einer Einleitung von
Pierre Bertaux, bearb. von Wolfgang Klein, Frankfurt/Main 2002. Im folgenden wer-
den die Briefe nach dieser Ausgabe unter Angabe des Briefdatums im Text zitiert.
Auch der vorbildliche wissenschaftliche Apparat dieser Ausgabe war uns vielfach
eine wertvolle Hilfe.
622 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

„Sie haben mich gelesen und öffentlich besprochen,


ich schulde Ihnen Dank...“
So beginnt der erste überlieferte Brief von Heinrich Mann an den
Pariser Gymnasiallehrer und Literaturkritiker Félix Bertaux. In der
Tat steht die Literatur, insbesondere das literarische Werk von
Heinrich Mann nicht nur am Anfang, sondern stets auch im Mittel-
punkt des Briefwechsels. Aber es handelt sich nicht um eine Litera-
tur, die sich selbst genügt und im luftleeren Raum des Guten,
Schönen und Wahren, abseits der Wirrnisse und Forderungen des
Tages ihren eigentlichen Standort sieht, sondern um eine Literatur,
die ihre Aufmerksamkeit auf die Zustände und Mißstände der Zeit
richtet und versucht, auf erstere einzuwirken und letztere zu behe-
ben. Obwohl der erste veröffentlichte Brief von Heinrich Mann
stammt, war die Initiative für die Kontaktaufnahme zweifellos von
Félix Bertaux ausgegangen, der sich in verschiedenen französischen
Kultur- und Literaturzeitschriften und vor allem in der Nouvelle Re-
vue Française als Kenner und Vermittler zeitgenössischer deutsch-
sprachiger Literatur einen Namen erworben hatte. In der März-
nummer 1922 der NRF hatte er unter dem Titel ıÉditeurs alle-
mands„ einen Überblick über das deutsche Verlagswesen gegeben
und dabei Heinrich Mann als den ıMann der deutschen Republik„
und somit als eine rühmliche Ausnahme vorgestellt. Diesen Aufsatz
hatte er an Heinrich Mann geschickt zusammen mit einem Brief,
den wir leider nicht besitzen, auf den dieser jedoch in seiner Ant-
wort einging. Mann bedankte sich für den Aufsatz sowie für die Ab-
sicht BertauxÊ, später noch eingehender über ihn zu schreiben, und
er gab ihm sogleich einige Informationen, die ihm nützlich sein
könnten. Es ist zunächst die Rede von der Veröffentlichung der
französischen Übersetzung des Untertan. Mann beklagt sich dar-
über, daß der Verlag (Éditions du Rhin, Bâle Paris) durch seine
Verzögerungen den günstigen Zeitpunkt verpaßt habe. Der Unter-
623

tan, der schon 1914 abgeschlossen und auch teilweise veröffentlicht,


aber erst im Dezember 1918 in einer größeren Auflage dem deut-
schen Publikum zugänglich gemacht worden war, hatte gleich nach
Kriegsende einen großen Erfolg, wie es die Auflagenhöhen und
Verkaufszahlen zeigen, die Heinrich Mann seinem Briefpartner mit-
teilt. Aber 1922 war das Interesse des deutschen Publikums für
diese zeitkritische Literatur merklich gesunken und auch für eine
französische Übersetzung wäre der Absatz gleich nach Kriegsende
wahrscheinlich besser gewesen. Als die Übersetzung schließlich
Ende 1922 auf den französischen Büchermarkt kam, verkaufte sie
sich schlecht und der Rhein-Verlag versuchte Ende 1923, die Publi-
kationsrechte sowie die unverkauften Exemplare an einen Pariser
Verlag abzutreten. Da Heinrich Mann aber die finanziellen Bedin-
gungen inakzeptabel fand, bat er Bertaux, ihm bei der Suche nach
einem anderen Verleger behilflich zu sein: ıDarf ich auf Sie rech-
nen? ich schäme mich, ihnen fast jedesmal mit meinen Interessen zu
kommen. Meine Entschuldigung ist höchstens, dass auch allgemei-
nere Interessen dafür sprechen, der Untertan möge in gute Hände
kommen„ (Brief vom 2.12.1923).
BertauxÊ Bemühungen scheinen jedoch erfolglos geblieben zu
sein. Ende 1924 klagte Heinrich Mann erneut: ıIm Übrigen höre ich
von einer neuen französischen Ausgabe des Untertan gar nichts„
(Brief vom 24.11.1924). Nach verschiedenen Fehlschlägen erschien
die Neuauflage des Sujet erst 1928 bei Kra, Éditions du Sagittaire,
Paris. In der Folgezeit suchte Heinrich Mann bei Bertaux immer
wieder Rat und Hilfe bei der Suche nach Verlegern und Zeitschrif-
ten, die bereit wären, seine Werke zu veröffentlichen: Novellen, Ar-
tikel und Aufsatzsammlungen wie z.B. den Ende 1919 erschienenen
Sammelband Macht und Mensch, usw. In den ersten Nachkriegs-
jahren schien jedoch das Interesse des französischen Buchhandels
für deutschsprachige Literatur nicht besonders lebhaft zu sein, trotz
624 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

der unablässigen Anstrengungen von Mittlern wie Félix Bertaux,


das lesende Publikum zumindest über die Tendenzen der neueren
deutschen Literatur zu informieren und ihnen die Autoren und
Werke vorzustellen.
Zu diesem Zweck informierte auch Heinrich Mann Bertaux lau-
fend über seine Arbeit und seine literarische Produktion. Wir kön-
nen so die Entstehung des Romans Der Kopf verfolgen, die andau-
ernd durch widrige Umstande und die Notwendigkeit, durch klei-
nere Arbeiten Geld zu verdienen, verzögert wurde. ıSie sehen, die
ruhige u. fruchtbare Arbeit am Schreibtisch war mir auch jetzt nicht
vergönnt. Ich lebe unter der Nothwendigkeit, Dinge zu unterneh-
men, die sofort Geld bringen„ (24.2.1924).
Endlich erfährt man ıDer Kopf ist vor einigen Tagen erschie-
nen„ (13.4.1925); Heinrich Mann ließ sofort das Buch seinem
Freund zustellen, mit der Bitte um sein Urteil und um Hilfe bei der
Suche nach einem Verleger. Der ausführliche Brief von Félix
Bertaux vom 1. Mai 1925 ist ein beeindruckendes Dokument für die
freundschaftliche Anteilnahme, mit der Bertaux das literarische
Schaffen von Heinrich Mann begleitete. Sein Brief zeugt von einer
eingehenden, einfühlsamen und prinzipiell wohlwollenden Lektüre
des Romans, mit dem Heinrich Mann seine Trilogie des Kaiser-
reichs abschließt. Bertaux schrieb ihm: ıDer Kopf est si riche de
fond, si plein de choses dites et de choses suggérées, quÊil mÊest im-
possible de dominer tout cela dÊun coup. CÊest non seulement le
roman dÊune époque, mais aussi, me semble-t-il, le vôtre, en ce sens
que je crois y trouver ramassées tant de préoccupations et de sou-
venirs de votre existence quÊà la lecture je ne puis mÊempêcher de
penser autant à Heinrich Mann quÊà la société wilhelminienne„.
Dieser Brief ging Heinrich Mann sehr zu Herzen, besonders
auch weil die deutsche Kritik den Roman eher distanziert beurteilte.
ıKeinen Tag will ich vergehen lassen, ohne Ihnen zu danken für
625

Ihren Brief. Sie haben mein Buch werth gehalten, sich sehr ernst
damit zu beschäftigen. Wer weiss, ob ich noch einmal einem so lie-
bevollen Eingehen begegne, ich bin darin nicht verwöhnt„ (4.5.1925).
Bertaux erwähnte auch die Schritte, die er schon unternommen
hatte und die er noch zu unternehmen gedachte, um für den Kopf
einen Verlag zu finden. Er verhehlte jedoch nicht die Schwierigkei-
ten, die dieser Veröffentlichung im Wege standen.

Ein ähnlicher Geist macht immerhin auch verwandt,


nicht nur dasselbe Blut
Das Vertrauensverhältnis, das sich zwischen Heinrich Mann und
Félix Bertaux entwickelte und das durch ihre geistige Verwandt-
schaft gestützt wurde, die sie in literarischen wie in politischen Din-
gen feststellten, wird zunehmend enger. Heinrich Mann informierte
Félix Bertaux laufend über seine Lebensumstände und seine Ar-
beitsweise, über seine in Arbeit befindlichen Texte, seine Vortrags-
reisen (Prag, Hamburg usw.), seine Veröffentlichungen, seine öffent-
lichen Auftritte (zum Beispiel in Berlin im Reichstagssaal) und seine
Begegnungen (z.B. mit Masaryk). Auch biographische und familiäre
Informationen finden sich oft in diesen Briefen. Daneben auch im-
mer Texte mit der Bitte, sie doch zu übersetzen und einer franzö-
sischen Zeitschrift anzubieten, gegebenenfalls sie auch zu korrigie-
ren und zu kürzen (z.B. 11.6.1923). Diese Form der literarischen Zu-
sammenarbeit, die sich dann in den dreißiger Jahren vor allem bei
der Entstehung des Henri IV entwickelte, war also schon in den er-
sten Jahren präsent.
Umgekehrt hatte auch Félix Bertaux Gelegenheit, die Hilfe von
Heinrich Mann in Anspruch zu nehmen. Er hatte ihm von seinem
Vorhaben berichtet, eine Gesamtdarstellung der neueren deutschen
Literatur zu veröffentlichen. In verschiedenen Briefen kam Heinrich
Mann darauf zurück und zeigte sich interessiert an dem Unterneh-
626 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

men. Er wies Bertaux auf Neuerscheinungen hin, die ihm wichtig


schienen, obwohl er selbst, wie er gestand, lieber ältere Sachen und
französische Bücher las (11.6.1923). Er beantwortete auch die Fra-
gen, die ihm Bertaux über verschiedene Autoren stellte: seine Ur-
teile über die zeitgenössischen Kollegen sind nicht immer wohlwol-
lend: er läßt Sternheim als Komödienschreiber gelten; Schickele sei
zwar ıliebenswürdig und begeistert„, aber seine Bedeutung liege vor
allem in seiner Rolle als ıVermittler zwischen uns und Euch„
(11.6.1923). Einen Dritten nicht genannten, über den ihn Bertaux
befragt hatte, bezeichnet er als ıeinen albernen, aufgeregten
Schwindler„. Döblin sei ıkeiner der Schlechtesten„ (24.11.1924),
Werfels Verdi sei ıder beste Roman, den [er] seit manchem Jahr
gelesen habe„, aber Wassermann sei ıungleich„ (4.5.1925) und
Joseph Roth interessant, aber ıanfängerhaft„ (27.12.1925). Auch die
Literatur der Jahrhundertwende, mit der sich Bertaux schon früher
auseinandergesetzt hatte, wird in diesen Briefen erörtert und
Heinrich Mann kann auf seine persönlichen Erinnerungen an diese
Zeit zurückgreifen und von Wedekind, Conrad, Bleibtreu und an-
deren berichten.
Heinrich Mann schickte nicht nur seine Texte und Werke zur
Begutachtung an Bertaux, er ging auch seinerseits auf die Texte von
Bertaux ein, selbst wenn sie nicht sein eigenes Werk betrafen. Ein
Artikel, in dem Bertaux im Herbst 1925 von seinen Reiseerlebnis-
sen berichtete und dabei das Verhalten deutscher Touristen im
Ausland karikierte (Revue Européenne, Oktober 1925), fand Hein-
rich Manns Zustimmung: ıDas gehört zum Besten, was ich von Ih-
nen kenne„ (5.11.1925). Er meinte jedoch, daß die Nationalität nicht
das einzige Kriterium sei, um das Verhalten der Menschen zu cha-
rakterisieren und um zwischen ıBrüdern und entfernten Vettern„ zu
unterscheiden, und daß ıviele Brüder einander ferner sind, als
Menschen, die gar nicht verwandt sind„ (ebd.). Auf eben dieser
627

Grundlage beruhte die Freundschaft zwischen Heinrich Mann und


Félix Bertaux. Dieser Artikel ist auch bemerkenswert aufgrund sei-
ner Folgen, nämlich die jahrelange Fehde, die Ernst Robert Curtius
aus diesem Anlaß mit Bertaux führte.5
Wie über Félix BertauxÊ Vermittlung und über seine Veröffentli-
chungen die deutsche Literatur dem französischen Lesepublikum
vorgestellt wurde, so wurde auch umgekehrt die französische Litera-
tur über Heinrich Mann in Deutschland vermittelt. Nach der langen
Unterbrechung der Kriegsjahre mußte er selbst wieder den An-
schluß an das kulturelle und literarische Leben in Frankreich finden.
Bertaux schickte ihm 1922 verschiedene Zeitschriften, die er dankbar
quittierte: ıAus den Zeitschriften, die ich dank ihrer gütigen
Vermittlung bekommen habe, Intentions und Les écrits Nouveaux,
sehe ich mit Genugthuung wenn auch ohne Erstaunen, dass der
literarische Geist Frankreichs ungeschwächt fortbesteht„ (13.11.1922).
Dieses intensive Interesse Heinrich Manns für französische Pe-
riodika zieht sich in den folgenden Jahren durch die ganze Korre-
spondenz hindurch, auch nachdem der Bezug französischer Zeit-
schriften in Deutschland wieder leichter geworden war. Auch für
die Beschaffung älterer und neuerer französischer Bücher nahm
Heinrich Mann seinen französischen Brieffreund in Anspruch, der
seine Wünsche und Bestellungen weiterleitete oder auch direkt aus-
führte. Auf diese Weise beschaffte sich Mann vor allem Werke von
Stendhal, Victor Hugo, Anatole France, Tristan Bernard, Jules Ro-
mains und André Gide. Für Jules Romains bemühte sich Heinrich
Mann auch um Übersetzungs- und Veröffentlichungsmöglichkeiten
bei Zsolnay (Brief vom 27.12.1925). Durch diese Vermittlung
konnte Heinrich Mann also seine Kenntnis der zeitgenössischen

5 S. dazu: Hans Manfred Bock: „Ich verzichte Herr Curtius, ich verzichte!“ Félix und
Pierre Bertaux im Streitgespräch mit Ernst Robert Curtius (1925-1928), in: Passerelles
et passeurs. Hommages à Gilbert Krebs et Hansgerd Schulte, Paris 2002, S. 28-53.
628 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

französischen Literatur und des literarischen Lebens in Frankreich


auffrischen und dem deutschen Publikum mitteilen. In dieser Zeit
vor Locarno, als die deutsch-französischen Beziehungen nur allmäh-
lich auftauten, ist das Wirken Heinrich Manns hier vorbildhaft und
einzigartig. Eine Enquete des Journal littéraire über den Einfluß der
französischen Literatur in Deutschland, für die Bertaux einen Bei-
trag verfassen sollte, gab Heinrich Mann Anlaß, auch über dieses
Thema nachzudenken. Im Brief vom 27.12.1924 teilte er Bertaux
einige Überlegungen mit, die dieser dann zitierte ( Journal littéraire
10. Januar 1925). In der Folge weitete Heinrich Mann seinen Text
aus und veröffentlicht ihn zunächst in den Nouvelles littéraires (11.
Juli 1925), dann auch im Berliner Börsen-Courier vom 8. September
1925.6 Bezeichnend ist, daß Heinrich Mann in seinem Brief weniger
von Einfluß als von einer Vorbildfunktion spricht und daß dieses
Vorbildliche weniger im literarischen als im politisch-gesellschaftli-
chen Bereich liegt: ıDeutschland ist eine werdende Demokratie. [⁄]
Es handelt sich darum, statt der Liebhaber von früher neue Volks-
schichten zu gewinnen. Ich sage Deutschen, die mich nach Mittel
und Wegen hierfür fragen: Betheiligung der Demokratie an der Li-
teratur ist möglich. Sie ward vollzogen in Frankreich durch die gros-
se Romanreihe des 19. Jahrhunderts„ (27.12.1924).
In seinem Artikel für den Börsen-Courier ist sein Befund noch
deutlicher ausgedrückt: ıKeine der Richtungen, die ich in Deutsch-
land vertreten glaube, beweist mir französischen Einfluß. [⁄] wohl
aber besteht Verwandtschaft mit französischen Erscheinungen„
(8.9.1925). Diese ıwartet vielleicht nur auf günstige Bedingungen
um Ähnlichkeit zu werden.„ So hoffte Heinrich Mann, daß auch
jetzt für Deutschland Zustände kommen würden, ıdie denen seiner
Nachbarn einigermaßen gleichen„.

6 Heinrich Mann: Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge. Essays, Frank-
furt/Main 1994 (Taschenbuchausgabe), S. 171.
629

In ihrer Auffassung von Literatur waren sich beide, Heinrich


Mann wie Félix Bertaux, einig: Literatur sollte nicht zeitlos sein.
ıSoeben hat Barlach von dem Münchener Professor Strich den
Kleist-Preis bekommen wegen vorgeblicher Zeitlosigkeit, Überzeit-
lichkeit oder wie der Unsinn heisst„ schreibt Mann in seinem Brief
vom 24. November 1924. Seine eigenen Werke sah Heinrich Mann
als ıAnfänge einer sozialen Roman-Literatur„ (ebd.). Als ıKritiken
der Zeit„ würden sie von den einen entschieden abgelehnt und von
den anderen begrüßt: ıwenn ich der nationalistischen Jugend ver-
hasst bin, zieht die republikanische Jugend mich gern zu ihren
Kundgebungen heran„. Die Wirkung dieser Literatur sei aber nicht
auf den Augenblick gerichtet. Auch darin wußte sich Heinrich
Mann in Übereinstimmung mit Bertaux: ıWas den ,Untertan be-
trifft, sprechen Sie selbst meinen besten Trost aus. Es ist nie verlo-
ren, wenn man des états dÊesprit analysiert hat, die un fait historique
sind. Auch le Rouge et le Noir war bei seinem Zeitalter nicht be-
liebt, aber es hat das wahre Bild jenes Zeitalters, oder doch sein glaub-
würdigstes Bild, nun schon 100 Jahre lang aufbewahrt„ (19.10.1922).

Ich weiss, dass nur die literarische


Wiederanknüpfung […] über nationale Entzweiungen
wirklich hinwegführen kann (Brief vom 11.11.1922)
Austausch von Büchern, Zeitschriften und Besprechungen, Vermitt-
lung von Veröffentlichungsmöglichkeiten und Gedankenaustausch
über literarische Fragen waren jedoch nicht der Zielpunkt der hier
angebahnten Beziehung zwischen Félix Bertaux und Hein0rich
Mann. Von Anfang an hatte Heinrich Mann immer wieder betont,
daß sein Wunsch, in Frankreich mehr und besser besprochen, ver-
öffentlicht und gelesen zu werden, nicht seiner Geltungssucht oder
Eitelkeit, und auch nicht materiellen Beweggründen entsprang, son-
dern seinem Willen, nützlich zu sein und seinen Beitrag zu leisten,
630 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

um die verfeindeten Völker Europas wieder einander näher zu


bringen. ıMir liegt weit mehr daran, zu wirken, als bewundert zu
werden, und ich glaube, dass wahre Wirkung heute keine Landes-
grenzen mehr kennen darf„ (27.5.1922). Durch die Vermittlung Ber-
tauxÊ hoffte er der ıgemeinsamen Sache, der Verständigung„ zu nüt-
zen, denn: ıSchon längst ist es meine Überzeugung, dass, im Geisti-
gen wie im Materiellen, die Länder Europas, besonders aber Frank-
reich und Deutschland, sich annähern und ausgleichen müssen,
wenn unser Erdtheil lebendig erhalten werden soll„ (27.5.1922).
Dabei war ihm die Zusammenarbeit mit Bertaux wertvoll, da dieser
sich anbot, die Person und das Werk von Heinrich Mann seinen
französischen Lesern vorzustellen und dadurch auch zur ıKenntnis
der besseren Seele Deutschlands„ beizutragen.
Wie ernst es Heinrich Mann mit diesem Wunsch nach Ausgleich
und Annäherung war, zeigte sich zu Beginn des Jahres 1923. Am
11. Januar besetzten französische und belgische Truppen das Ruhr-
gebiet und am 30. Januar beantwortete Heinrich Mann einen Brief
von Bertaux, in dem dieser ihm zum Jahresbeginn seine besten
Wünsche übermittelt und ihm versichert hatte, daß die Verschär-
fung der deutsch-französischen Gegensätze auf keinen Fall sein
freundschaftliches Verhältnis zu Heinrich Mann und Deutschland
beeinträchtigen würde. ıIhre Wünsche und das Gute das Sie über
mich denken, erfreuen mich mehr als je. Grade jetzt ist es werthvoll
zu wissen, dass es bei ihnen Geister giebt, die noch Wohlwollen
und Hoffnung bewahren. Ich erwidere alles von ganzem Herzen,
grade jetzt und je schlimmer die Dinge zu stehen scheinen. Wer die
Verständigung unserer Nationen wirklich will, will sie immer. Der
Augenblick es zu sagen, ist immer da. Ungerechte Handlungen,
blinde Leidenschaften gehen vorbei, aber es bleibt die unbedingte
Lebensnothwendigkeit uns zu verständigen. [⁄] Wir sollen nicht
klagen, sondern hoffen und uns bereit halten„ (30.1.1923).
631

In seiner Antwort vom 6. Februar 1923 ging Bertaux begeistert


auf diesen Brief ein: ıIhr Brief hat mich sehr berührt. Wir stimmen
– ganz grundsätzlich – überein, wie die Dinge im Grunde zu sehen
sind. [⁄] Wir sollten weder optimistisch noch pessimistisch sein und
in die Zukunft schauen, wo die Wege sich schließlich kreuzen wer-
den„ (6.2.1923).
Und er sah sofort die Möglichkeit, diesen Brief zu benutzen, um
zumindest in Frankreich zu zeigen, daß die zaghaften Bemühungen,
die bis dahin für eine deutsch-französische Wiederannäherung ge-
macht worden waren, nicht alle hoffnungslos in Scherben gegangen
waren: deshalb bat er Mann um die Erlaubnis, den Brief auszugs-
weise zu zitieren, mit oder ohne Nennung des Briefschreibers. Dies
geschah auch, noch bevor Heinrich Mann seine ausdrückliche Zu-
stimmung geben konnte, was er aber nachträglich vorbehaltlos tat,
nachdem Bertaux seine Bedenken bezüglich der Einstellung der
NRF und seiner maßgeblichen Mitarbeiter wie Gide, Rivière oder
Schlumberger zerstreut hatte (Brief vom 15.2.23).7
Der Vorschlag von Bertaux bringt Heinrich Mann auf einen an-
deren Gedanken, den er ihm am 11. Februar 1923 unterbreitet: die
gleichzeitige Veröffentlichung von kurzen Beiträgen in einer deut-
schen und einer französischen Zeitschrift, in denen Deutsche und
Franzosen zu der gegenwärtigen Lage Stellung nehmen, unter ıDar-
legung der von beiden Theilen begangenen Fehler, ihrer schlimmen
Folgen und auch der Hoffnungen, die vielleicht grade aus dem
Übermass des Übels sich ergeben„. Bertaux hatte den Plan mit
Rivière besprochen, aber obwohl in der Folgezeit verschiedene Bei-
träge von Heinrich Mann in französischen Zeitschriften, auch in der
Nouvelle Revue Française, erschienen, hatte sich der Plan nicht in
der von Heinrich Mann gewollten Form verwirklicht. Heinrich

7 Der Brief von H. Mann wurde gleich zweimal zitiert, von Bertaux (La Grande Revue)
und von Rivière (Nouvelle Revue Française).
632 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

Mann hielt aber unbeirrt an seinem Entschluß fest: gerade in dieser


schwierigen Zeit müssen diejenigen, die für die Verständigung sind,
fest bleiben: ıWenn meinesgleichen nicht seine Pflicht tut, wer
bleibt übrig?„ (April 1923). Aber er fügte hinzu: ıEs ist so schwer,
dieser allerwichtigsten Sache, der Verständigung, zu dienen. Man
muss gleichzeitig in zwei Ländern richtig ermessen, was gesagt wer-
den kann. Rivière selbst wird angegriffen. Ich aber bewege mich auf
unsicherem Boden nicht nur wenn ich dort bei Ihnen ein Wort wa-
gen möchte, sondern sogar hier„ (11.6.1923).
Bei dieser Gelegenheit entdeckte Heinrich Mann in Félix
Bertaux einen verwandten Geist in jeder Hinsicht: ıSie sind ein po-
sitiver Geist; Sie haben sehr recht, darin ihre sicherste Wirkung zu
sehen. Sie sagen sich, dass Niemand es so nöthig hat auf festen
Thatsachen zu fussen, wie grade der Idealist. Kein Vorurtheil und
kein ,vagueÂ, damit überzeugen Sie und werden in immer weiterem
Maasse nützen. Ich hätte ihnen dies längst gesagt, grade diese be-
sondere Art ihrer Bemühungen liess sie mir so werthvoll erscheinen.
Ich würde nur geglaubt haben unbescheiden zu sein. Heute erge-
ben sich diese Worte von selbst„ (11.6.1923).
In demselben Jahr, auf dem Höhepunkt des Ruhrkampfes, nahm
Heinrich Mann auch die Einladung nach Pontigny an, die er durch
die Vermittlung von Félix Bertaux von Paul Desjardins erhalten
hatte. Schon im Vorjahr hatte ihm Bertaux in seinem ersten Brief
von der Union pour la Vérité berichtet und ihm im Namen von
Desjardins eine Einladung zu den Entretiens de Pontigny übermit-
telt. 1922 hatte diese Intellektuellen-Vereinigung – nicht ohne Be-
denken und Zweifel – nämlich beschlossen ıde renouer des con-
tacts avec lÊAllemagne intellectuelle„. Paul Desjardins hatte vorsich-
tig formuliert, daß man zunächst keine Annäherung versuchen
wolle, weil eine allzu große Nähe zu Reibereien (frictions) führe;
hingegen sollte man versuchen vorurteilslos sich gegenseitig kennen
633

zu lernen: ıpoint se rapprocher mais sans préjugés sÊentre-con-


naître„.8 Félix Bertaux, der seit längerer Zeit mit Desjardins in Ver-
bindung stand, hatte jenem wahrscheinlich den Namen von Hein-
rich Mann nahegelegt als einen geeigneten Gast für eine erste Kon-
taktaufnahme mit deutschen Intellektuellen. Heinrich Mann zeigte
sich 1922 sichtlich geschmeichelt, lehnte aber diese Einladung höf-
lich ab – nicht nur aus materiellen Gründen: ıich würde sehr gern
der so freundlichen Einladung des Herrn Paul Desjardins folgen;
die äusseren Umstände verhindern es leider. [⁄] Dann glaube ich
freilich auch, dass wir Deutschen noch nicht gut daran thun wür-
den, uns in ihre Bemühungen einzumischen. Es wäre verfrüht, an-
gesichts der Schwierigkeiten, die sich sogar ihnen wahrscheinlich
heute noch entgegenstellen„ (27.5.1922).
Im Juli 1923 wiederholte Paul Desjardins seine Einladung9 und
präzisierte, daß das Thema, das im Mittelpunkt der Gespräche ste-
hen werde, nichts mit politischen Fragen zu tun hätte (ıla traduc-
tion„). Diesmal hatte Mann nicht dieselben Bedenken wie im Vor-
jahr: ıMir liegt daran, die Einladung anzunehmen, schon damit ich
meine vorjährige Absage wieder gut mache und die inzwischen
empfangenen Freundlichkeiten erwidere. Damals hatte ich ihre
Briefe noch nicht und empfand innere Schwierigkeiten. Heute be-
stehen nur äussere, die sich hoffentlich heben lassen„ (16.7.1923).

8 Die Union pour l’action morale, gegründet 1892 von Paul Desjardins (1859-1940),
nahm 1904 den Namen Union pour la Vérité an. Die Décades de Pontigny bestanden
seit 1910 und führten jährlich Persönlichkeiten verschiedener Nationalität zusammen
zum Gedankenaustausch im Geiste des Humanismus und der internationalen
Zusammenarbeit. Zur Wiederaufnahme der Beziehungen mit Deutschland nach dem
Weltkrieg s. das Vorwort des Bandes: Problèmes franco-allemands d’après-guerre,
Bulletin de l’Union pour la vérité n° 4-5-6-7, Paris 1932, insbesondere S. 32. S. auch:
François Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel
einer Intellektuellen-Assoziation 1892-1939, Frankfurt/Main 2003.
9 Der Einladungsbrief von Desjardins ist veröffentlicht in: Mann: Sieben Jahre, a.a.O.,
S. 616.
634 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

Nachdem die materiellen Probleme (Reisekosten, Visa) durch


die Vermittlung von Félix Bertaux und vor allem von Paul
Desjardins beseitigt worden waren, stand der Reise nichts mehr im
Wege. Bertaux erwartete Mann in Paris am Bahnhof, lud ihn zu sich
ein und begleitete ihn dann nach Pontigny, wo er noch einige Tage
mit ihm verweilte, um die Eingewöhnung zu erleichtern. Obwohl
Heinrich Mann an den Gesprächen nicht (wie er selbst gestand)
sehr aktiv teilgenommen hatte, hatte er diesen Kontakt mit maßgeb-
lichen französischen Intellektuellen sehr genossen und erinnerte sich
noch nach Jahren dankbar und begeistert an diese Wochen, wo er
mit Gide, Schlumberger, Roger Martin du Gard ins Gespräch
gekommen war. Die Verbindung zu Desjardins hielt er später noch
aufrecht und nahm sie auch in Anspruch, um einem befreundeten
Journalisten ein Visum zu verschaffen oder um ihm vorzuschlagen,
den Grafen Coudenhove-Kalergi, Initiator der Pan-Europa-Bewe-
gung, nach Pontigny einzuladen (24.5.1924). Diese Empfehlung, die
sowohl der Persönlichkeit des Grafen galt – ıeiner der klarsten und
folgenrichtigsten Köpfe, die ich kenne„ (2.12.1923) –, als auch der
Bedeutung seines Programms für die Schaffung der Vereinigten
Staaten von Europa – ıich halte es für nothwendig, die Idee Pan-Eu-
ropa zu verbreiten. Es wäre das Mittel, auch den deutschen Natio-
nalismus zu zähmen„ (23.8.1924) – blieb dann doch ohne Folgen.
Obwohl ihn Desjardins tatsächlich einlud, kam Coudenhove nicht
nach Pontigny.
Das Netz der Beziehungen, die Heinrich Mann nach und nach
in Frankreich knüpfte, wurde im Laufe der Zeit immer dichter und
vielfältiger. Er schrieb in verschiedenen französischen Zeitschriften,
unter anderen in Europe, Les Nouvelles Littéraires, Nouvelle Revue
Française, Revue Européenne; er hatte Kontakte mit Schriftstellern
und Publizisten wie z.B. André Gide, Jean Schlumberger, Jacques
Rivière, Charles Du Bos, Alfred Fabre-Luce, Henry Poulaille und
635

Léon Bazalgette. Letzterer hatte ihn im Mai 1925 zu der Internatio-


nalen Tagung des PEN-Clubs in Paris eingeladen, bei der unter an-
deren Größen der europäischen Literatur wie Galsworthy, Hof-
mannsthal, Pirandello, Rilke und Unamuno zugegen waren. Am
Rande dieser Tagung wurde Heinrich Mann auch vom französi-
schen Unterrichtsminister Anatole de Monzie empfangen, der ihn
beauftragte, als ıavant-diplomate„ in Berlin beim preußischen Kul-
tusminister im Hinblick auf eine Wiederaufnahme der wissenschaft-
lichen Begegnungs- und Austauschtätigkeiten zu sondieren. In sei-
nem Brief vom 8.10.1925 berichtete er Bertaux stolz: ıAuch mein
Besuch bei de Monzie scheint nicht ganz ohne Wirkung geblieben
zu sein. Inzwischen hat er selbst mit dem Unterrichtsminister in Ber-
lin gesprochen.„10 Heinrich Mann war auch sehr an allen Möglich-
keiten interessiert, in Frankreich und besonders in Paris vor einem
französischen Publikum zu sprechen. Er hatte in den Zeitungen von
dem Plan der Gründung einer ıFriedens-Akademie„ in Paris gele-
sen und bekennt: ıich gestehe offen, ich wäre gern darin„
(8.10.1925) und in seinem Brief vom 27.12.1925 erkundigte er sich
über die verschiedenen Gelegenheiten in Paris zu sprechen und er
zählte auf: ıécole Normale Supérieure, Institut National dÊétudes und
Institut Carnegie...„. Daß gerade im Januar 1926 sein Bruder Thomas
auf Einladung von Henri Lichtenberger im Centre européen de la
Dotation Carnegie sprechen sollte, war wohl kein Zufall.
Die Begegnung mit de Monzie und ihre Folgen zeigen den
engen Konnex, der zu dieser Zeit zwischen den literarischen und
den politischen Annäherungsversuchen bestand: abgesehen davon,
daß sich Heinrich Mann sehr geschmeichelt fühlte, gewissermaßen

10 S. Katja Marmetschke: Un tournant dans le rapprochement franco-allemande? La ren-


contre entre C.H. Becker, ministre de l’Éducation de Prusse, et Anatole de Monzie,
ministre français de l’Instruction publique, en septembre 1925 à Berlin, in: Hans
Manfred Bock, Gilbert Krebs (Hg.): Échanges culturels et relations diplomatiques, Pa-
ris 2004, S. 35-50.
636 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

als außerordentlicher Botschafter beauftragt worden zu sein, die


deutsch-französischen Beziehungen wiederzubeleben, war dieses
Zusammengehen von Politik und Literatur auch ganz im Sinne sei-
ner Auffassung über die Verantwortlichkeit des Intellektuellen und
über das Verhältnis von Geist und Macht. Im Briefwechsel mit
Bertaux in diesen Jahren vor Locarno war natürlich die Politik nicht
abwesend, aber erstaunlicherweise findet man sehr wenige direkte
Hinweise auf unmittelbare politische Entwicklungen und Ereignisse
in dieser Zeit. Heinrich Mann erwähnte weder die Konferenz von
Genua noch den Vertrag von Rapallo (April-Mai 1922). Von der
Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau ist
nur andeutungsweise die Rede im Zusammenhang mit der ver-
hängnisvollen Rolle der Großindustrie und der Inflationsgewinnler
wie Hugo Stinnes. Die Ruhrbesetzung und die galoppierende Infla-
tion des Jahres 1923 werden nur indirekt thematisiert durch die
Hinweise auf das Wiederaufflammen des Nationalismus und auf die
wirtschaftlichen Schwierigkeiten, denen Heinrich Mann im täglichen
Leben und bei seiner schriftstellerischen Arbeit begegnete. Von den
Ereignissen in Sachsen vernehmen wir nur, weil Heinrich Mann in
Leipzig einen Vortrag gehalten hat; ıdie letzten Tage war ich in
Dresden, ich habe dort am Verfassungsfest die Rede gehalten. Bei
dem Zustand der Dinge war es überaus schwer, festlich zu spre-
chen. Ich war das Gegentheil davon, so habe ich nur die sozialisti-
sche sächsische Regierung befriedigt – was auch der Zweck war,
denn ich wollte sie stützen„ (16.8.1923).
Weder von der Separatismusbewegung in Westdeutschland noch
vom Hitler-Putsch in München ist die Rede und auch die Wahl
Hindenburgs zum Reichspräsidenten findet keine Erwähnung. Wohl
auf eine dementsprechende Frage BertauxÊ gestand Heinrich Mann:
ıein einzelner Schwärmer wollte mich zum Reichspräsidenten ma-
chen„ (20.10.1925). Die Unterzeichnung der Locarno-Verträge und
637

ihre Ratifizierung durch den Reichstag (Oktober-November 1925)


wird nicht kommentiert; Mann schrieb lediglich am 5.11.1925: ıDie
Welt-Wirthschaftskrise ist hier sehr scharf. Wird sie nach Locarno
abflauen?„ Diese scheinbare Zurückhaltung der beiden Briefschrei-
ber im Meinungsaustausch über politische Fragen ist aber zu relati-
vieren. Was in diesem Briefwechsel fehlt, ist die direkte und expli-
zite Erörterung von Problemen der Tagespolitik, aber die Politik ist
stets unterschwellig zugegen und Heinrich Mann konnte vorausset-
zen, daß Félix Bertaux ebenso aufmerksam wie er selbst die politi-
sche Entwicklung und die Ereignisse in Deutschland wie in Frank-
reich verfolgte. In dieser Frühphase ihrer Brieffreundschaft ging es
ihm vor allem darum, behutsam die Einstellung seines Pariser Kor-
respondenten in grundsätzlichen Fragen zu ergründen. Er konnte
sich sehr schnell überzeugen, daß Bertaux prinzipiell mit ihm in we-
sentlichen Fragen übereinstimmte. Seine Bedenken gegen die ırein
kapitalistische Demokratie„, die sich in Deutschland durchzusetzen
versuchte, seine Ablehnung der ıMaßlosigkeit des heutigen Kapita-
lismus„ (Brief vom 19.10.1922), die sich zum Beispiel in den Hand-
lungen eines Hugo Stinnes äußerte, fanden ein Echo bei Bertaux,
dessen im September-Heft der Grande Revue erschienenen Aufsatz
Heinrich Mann vorbehaltlos zustimmte: ıSie sagen wahrhaftig ge-
nau das, was über die Gefahr Stinnes gesagt werden muss. Wenn es
nur auch hier im Lande laut und mit solcher Sachkenntniss gesagt
würde! [⁄] Die grosse demokratische Presse (das Berliner Tageblatt)
wagt bisher nur Anspielungen auf die öffentliche Schädlichkeit der
Erscheinung„ (13.11.1922).
Das Thema wurde weiterverfolgt nach dem Erscheinen eines
zweiten Aufsatzes von Bertaux, der sich mit Walther Rathenau be-
faßte. ıDie beiden Zeitschriften mit Ihren Beiträgen haben mich
ungemein erfreut. Ich bewundere ihre eingehende Kenntniss so-
wohl der deutschen ÙPolitikÊ und Wirthschaft wie der deutschen Li-
638 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

teratur. [⁄] Rathenau würde sich nicht beklagen dürfen; denn es ist
wahr, dass auch er über den Begriff Wirthschaft, sei es für ihn auch
ein sozialer Begriff, nicht hinausdachte und Politik nur für Anhäng-
sel und Folge hielt. Die wirthschaftliche Weltauffassung ist unser
Verderben geworden„ (16.3.1923).
Heinrich Mann registrierte mit Befriedigung die nicht allzu zahl-
reichen Ereignisse, die auf eine positive Entwicklung der Lage hin-
deuteten. So zum Beispiel den Sieg des Cartel des Gauches in den
französischen Parlamentswahlen von 1924, der mit den Ergebnissen
der Reichstagswahl im Mai desselben Jahres kontrastierte (Stim-
menverlust der Regierungsparteien und der SPD). ıHier [in Deutsch-
land] ist man in die Vergangenheit gerathen, dort [in Frankreich]
sieht es hoffnungsvoll aus„ (14.5.1924). Die ersten Verlautbarungen
des Regierungschefs Édouard Herriot und sein Plan eines ıeuropäi-
schen Garantiepakts mit Einschluß Deutschlands„ erfüllten Heinrich
Mann mit ıBewunderung und Hoffnung„: ıWenn die wohlthätigen
Absichten so leicht zu verwirklichen wären wie die unheilvollen,
dann bedeutete dies den ersten Schritt zu Pan-Europa. Wir wollen
glauben, dass es der erste Schritt bleibt, selbst wenn er noch einmal
durchkreuzt werden sollte. Dieser Anfang ist eine grosse Ehre für
Ihr Land„ (30.6.1924).
Immer wieder mahnte Heinrich Mann zu Geduld und Zuver-
sicht: einmal würde der Sieg der Vernunft noch kommen. Bis dahin
müßten die pflichtbewußten Intellektuellen unverzagt weiter kämp-
fen. Eine Form dieses Kampfes ist die Erziehung: die politische Er-
ziehung der Arbeiter hatte kaum erst angefangen. ıSie fehlt aber
auch jenen radikalen Intellektuellen, die immer nur kritisieren, nie-
mals mit Leidenschaft für ihre handelnden Vertreter einstehen.„
(13.11.1922). ıDie Noth wird aber hoffentlich erziehen„ (23.8.1924).
ıDie Öffentlichkeit sollte denken lernen, d.h. nie auf Schlagworte
hineinfallen [⁄] In beiden Ländern wird es immer noch Machtbe-
639

zirke des Nationalismus geben. Wir müssen Geduld haben und hof-
fen, die Zone der Annäherung noch zu erleben, in der sie fruchtbar
wird, besonders seelisch fruchtbar.„ (24.11.1924).

„In der idealen Mitte geschieht die Begegnung. Um


zu dauern bedingt sie Liebe.“11
Geistesverwandtschaft, Übereinstimmung im literarischen Urteil und
im politischen Wollen waren die Grundlagen einer langjährigen Be-
ziehung über Grenzen und Sprachen hinweg. Aber sehr rasch ge-
sellte sich ein persönlicheres Moment hinzu, eine tiefe und wahre
menschliche Verbundenheit. Die anfängliche steife und förmliche
Anrede, ıSehr geehrter Herr„, wich sehr schnell (Ende 1922) einem
ıLieber Herr Bertaux„, worauf letzterer mit ıCher Monsieur„ ant-
wortete. Nach dem Treffen in Sèvres und Pontigny findet man ab Sep-
tember 1923 zunehmend ıMon cher ami„ oder ıLieber Freund„, ab-
wechselnd mit ıLieber Herr Bertaux„ und ıLieber Freund Bertaux„.
Ab Ende 1924 verwandten beide fast ausschließlich die Formeln
ıLieber Freund„, bzw. ıCher ami„. Diese Freundschaft schloß auch
die Familien mit ein, und regelmäßig erkundigten sich Heinrich
Mann und Félix Bertaux über das Befinden der Gattinnen und der
Kinder Leonie Mann, alias Goschi, und Pierre Bertaux. Diese fami-
liäre Dimension ihrer Freundschaft wird besonders spürbar nach
dem Treffen in München und Oberammergau im Sommer 1925.
Ein Ergebnis dieses Treffens war auch die ıFreundschaftserklä-
rung„, die man in einem vor kurzem wieder entdeckten Brief von
Félix Bertaux lesen kann (Brief vom 15.8.1925):12 ınotre meilleur
souvenir sera à beaucoup près celui des jours que nous avons pas-
sés avec vous et les vôtres [⁄] jÊose espérer que ce contact mÊa per-

11 Mann: Zeitalter, a.a.O., S. 171.


12 Dieser und andere neu aufgefundene Briefe von Félix und Pierre Bertaux sind zu le-
sen im Anhang der von Wolfgang Klein bearbeiteten Brief-Edition, a.a.O., hier S. 788.
640 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

mis de mieux vous comprendre et de mieux vous aimer. [⁄] il faut


que je vous dise comme dÊune sympathie intellectuelle, je suis passé
[⁄] à une affection tout globale pour lÊhomme que jÊai mieux dé-
couvert en vous„.
Heinrich Mann zeigte sich besorgt um BertauxÊ Gesundheit:
ıIhre Nachrichten fehlten mir schon, ich freue mich, sie wieder zu
bekommen. Möge ihr Unwohlsein schon ganz verschwunden sein!„
(10.5.1923), und fand Worte des Trostes in traurigen Umständen, so
zum Beispiel beim Tod von Jacques Rivière: ıAls Ihr Freund kann
er natürlich niemals ersetzt werden. Mir ist kein Freund meiner jun-
gen Jahre je ersetzt worden. Aber jedes Lebensalter hat wieder ein
neues Geschlecht von Freunden, die ihm angemessen sind. So be-
stehen wir weiter. Halten Sie ihre Lebens-Landschaft nicht für
sublunaire! Seien Sie nicht traurig!„ (18.3.1925).
Seine Anteilnahme erstreckte sich auch auf BertauxÊ berufliche
Tätigkeiten, nicht nur als Literaturkritiker sondern auch als Deutsch-
lehrer und Lehrbuchautor und er bot ihm sogar seine Hilfe an für
sein Wörterbuch: ıMögen Sie in Ihren zahlreichen Arbeiten Ge-
nugthuung finden. Wenn ich je daran teilnehmen dürfte (thätig,
nicht nur als Gegenstand) wäre ich glücklich. Wahrscheinlich wer-
den Sie im Verlaufe Ihres französisch-deutschen Wörterbuches
noch einige Male nach deutschen Ausdrücken suchen; bitte, verfü-
gen Sie über mich„ (29.12.1923).
Dieses tatkräftige Interesse, das Heinrich Mann für die Arbeit
von Bertaux zeigte, entsprang wohl aus seiner Dankbarkeit für alles,
was jener für ihn getan hatte: nicht nur indem er die Rezeption sei-
ner Werke und die Veröffentlichung seiner Zeitschriftenartikel in
Frankreich förderte, sondern vor allem auch dadurch, daß er ihn
durch seine einfühlsame Teilnahme am Werk und am öffentlichen
Eintreten ermutigte und stützte. ıSie werden schwer glauben, wie
wohl Sie mir thun mit ihrer aufmerksamen Anerkennung und För-
641

derung„ (11.6.1923). Und anläßlich eines späteren Aufsatzes:13 ıSie


wissen wohl kaum, wie sehr Ihr schöner Aufsatz mich erfreut. Ich
hätte mir nie träumen lassen, dass dies in einem französischen Essai,
über mich gesagt werden würde, noch dazu von einem Freund, den
zu gewinnen mir vergönnt war. Ich bin aufrichtig verbunden. Ich
erwidere alles Liebe, das Sie mir sagen, von Herzen„ (20.10.1925).
Zum Jahresende 1925 faßte Heinrich Mann noch einmal zu-
sammen, warum und wodurch die Freundschaft mit Bertaux ihm so
wertvoll war: ıUnendlich dankbar bin ich Ihnen und den Ihren, dass
Sie meiner freundlich gedenken. Ich wüsste nichts, was heute dem
Gefühl der Vereinsamung und Nutzlosigkeit besser entgegenwirkt.
[⁄] denn ich fühle bei ihnen Wärme und geistige Nähe„ (27.12.1925).
Die ersten Jahre dieser Freundschaft und dieses Briefwechsels,
der sich über ein Vierteljahrhundert erstreckte, sind in vielfacher
Hinsicht aufschlußreich. Sie sind interessant durch den geschichtli-
chen Hintergrund der ersten Nachkriegsjahre: das Trauma der Nie-
derlage, die politischen Umwälzungen, die fortwährenden Unruhen,
die Zerrüttung der Finanzen und das Währungschaos, vor allem
aber die abgrundtiefe Entfremdung zwischen Deutschland und
Frankreich schienen jeder Normalisierung der Beziehungen zwi-
schen den Nachbarn am Rhein unüberwindlich im Wege zu stehen.
Mißtrauen und Ressentiment beherrschten die Geister und jeder
Annäherungsversuch rief Ablehnung und Anfeindungen hervor. Es
ist um so beachtlicher, daß sich abseits der Öffentlichkeit auf beiden
Seiten des Rheins Menschen bereit gefunden haben, auf eigene
Initiative und eigene Gefahr hin ihren guten Willen zu bekunden
und Beziehungen aufzunehmen oder wiederanzuknüpfen.

13 Der Aufsatz erschien in Europe im Januar 1924. Bertaux hatte vor der Veröffentli-
chung Mann das Manuskript zukommen lassen und auch in der endgültigen Fassung
verschiedene Bemerkungen Manns berücksichtigt.
642 Gilbert Krebs: Heinrich Mann und Félix Bertaux vor Locarno

Die Freundschaft zwischen Heinrich Mann und Félix Bertaux ist


ein gut dokumentiertes Beispiel für diesen Vorgang; bemerkenswert
auch durch die Dauer der Beziehung und aufgrund der Bedeutung
der beiden Männer. In den ersten Jahren des Briefwechsels sieht
man die Freundschaft in statu nascendi. Heinrich Mann reagierte
zunächst vorsichtig auf die ersten Briefe von Bertaux, konnte sich
aber in den folgenden Monaten allmählich davon überzeugen, daß
der neue Brieffreund ein gleichgesinnter Geist und ein zuverlässiger
Partner sein könnte, und zwar nicht nur, um sein Werk in Frank-
reich bekannt zu machen, sondern auch in seinen Bemühungen um
eine deutsch-französische Verständigung. Er entdeckte in Bertaux
einen Kenner und Vermittler deutscher Literatur, dessen Auffassun-
gen sich weitgehend mit seinen eigenen deckten, und auch im poli-
tisch-weltanschaulichen Bereich ist ihre Verwandtschaft offenkundig.
So entstand, trotz des unübersehbaren geistigen Rangunterschieds,
nach und nach zwischen beiden ein freundschaftliches Einverneh-
men, das sich auch in gemeinsamen Initiativen und in gelegentli-
cher Zusammenarbeit dokumentierte. Durch die Vermittlung von
Félix Bertaux gelang es Mann auch, in diesen Jahren den Grund-
stock seines französischen Beziehungsnetzes zu legen und durch den
Einbezug weiterer Personenkreise und Institutionen (Zeitschriften,
Zeitungen, Verlage, Vereinigungen, usw.) auszudehnen. Aber im-
mer und vor allem in den Jahren des Exils bildete die Freundschaft
und Zusammenarbeit Heinrich Manns mit Félix Bertaux den Mit-
telpunkt seiner Beziehung zu Frankreich.
643

Annäherung in Zeiten der Feindschaft:


Die Beziehung zwischen Romain Rolland und
Hermann Hesse während des Ersten Weltkrieges
Gilbert Merlio
644 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

Am 14. November 1914 notierte Romain Rolland in seinem Tage-


buch: ıEin schöner Artikel des deutschen Dichters und Roman-
schriftstellers Hermann Hesse in der Neuen Zürcher Zeitung vom
3. November: O Freunde, nicht diese Töne! Da er in der Schweiz
wohnt, entgeht er der deutschen Ansteckung. Er richtet sich an die
Schriftsteller, Künstler und Denker und beklagt, daß sie so intensiv
am Krieg teilnehmen. Vielleicht ist er geneigt, indem er diese richti-
gen Gedankengänge zum Ausdruck bringt, die Pflicht des Künstlers
zum Schweigen zu übertreiben, was mit dem deutschen Hang zum
Gehorsam allzu sehr übereinstimmt: wenn er nicht der Gewalt folgt,
sperrt er seine Unabhängigkeit in sich ein, ich möchte dennoch ei-
nen deutschen Denker erleben, der sich ausdrücklich gegen die
Gewalt auflehnt. Nun, man muß die Leute nehmen wie sie sind!
Dieser Mann ist einer der besten seiner Rasse; und er sagt vieles,
was ich unterzeichnen könnte: gegen die Schriftsteller, die den Haß
schüren, gegen diejenigen, die vor dem Krieg humanitär eingestellt
sind und im Krieg⁄ Gegen den Krieg selbst will er nichts sagen; er
wünscht, daß er sehr heftig sei, damit er schneller zu Ende geht;
und er empfiehlt die Haltung Goethes, der sich zur Zeit der Frei-
heitskriege so erstaunlich aus der Sache heraushielt.„1
Diese erste, nicht ganz vorbehaltslose Reaktion von Romain
Rolland auf den Text von Hesse sagt schon viel über ihre zukünfti-
gen Beziehungen aus. Daß Rolland erst im Februar 1915 Hesse an-
geschrieben hat, nachdem dieser einen Aufsatz über die Zeitschrift
Die Weißen Blätter veröffentlicht hatte, hing – wie wir noch sehen
werden – schon mit einer Änderung in seiner Einstellung zum Krieg
und zur deutschen Intelligenz zusammen. Es ist nicht zu ermitteln,

1 D’une rive à l’autre. Hermann Hesse et Romain Rolland. Correspondance et frag-


ments du Journal. Introduction de Pierre Grappin, in: Cahiers Romain Rolland 21
(1972), S. 15. Die Übersetzungen sind von mir. Ich habe auch die deutsche Überset-
zung der Briefe benutzt: Hermann Hesse, Romain Rolland: Briefe, eingeleitet von
Albrecht Goes, Zürich 1954.
645

ob Hesse den Text von Rolland Au-dessus de la mêlée (Über dem


Schlachtengetümmel ), der Mitte September 1914 im Journal de
Genève erschienen war, wirklich gelesen hatte, als er seinen eigenen
Text etwa zwei Monate später verfaßte. Obwohl er überhaupt nicht
darauf Bezug nimmt, mußte er mindestens davon gehört haben.
Beide Autoren lebten in der Schweiz. Dieses neutrale Land wurde
im Krieg zum Zufluchtsort der kriegskritischen bzw. pazifistischen
Intellektuellen, die in ihrem jeweiligen Land inmitten der anfängli-
chen allgemeinen Kriegsbegeisterung zensiert und verfolgt wurden.
Presseorgane wie die Neue Zürcher Zeitung oder das Journal de
Genève wurden zu Foren für deutsch-französische bzw. internatio-
nale Auseinandersetzungen über Krieg und Frieden.
Die gemeinsame Inspiration beider Texte ist auffällig und zeugt
von einer erstaunlichen Geistesverwandtschaft. Wogegen sie sich
wandten, war nicht der Krieg an sich, sondern der ıKrieg der Gei-
ster„, also der Propagandakrieg, der in diesem ersten modernen
Krieg gleich zu Beginn der materiellen Kämpfe einsetzte. Auf bei-
den Seiten, das heißt auf deutscher Seite wie auf der Seite der En-
tentemächte, ergriffen die meisten Intellektuellen, Gelehrten, Phi-
losophen und Dichter Partei – nicht bloß für ihr Vaterland, dessen
Sieg sie verständlicherweise wünschen mochten, sondern auch für
die Kultur ihres Landes, deren Überlegenheit sie proklamierten. So
entfesselte sich neben dem eigentlichen materiellen Krieg ein Kul-
turkrieg. Schon am 8. August 1914 hielt beispielsweise der interna-
tional anerkannte französische Philosoph Henri Bergson eine An-
sprache vor der Académie des Sciences morales et politiques, der er
vorsaß: ıDer eben begonnene Kampf gegen Deutschland ist der
Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei. Alle fühlen das, aber un-
sere Akademie ist vielleicht ganz besonders befugt, es zu behaup-
ten. Sie widmet sich dem Studium der psychologischen, morali-
schen und sozialen Probleme. Sie erfüllt nur ihre wissenschaftliche
646 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

Pflicht, wenn sie auf die Brutalität und den Zynismus Deutschlands,
auf seine Verachtung jeglicher Gerechtigkeit und Wahrheit, auf
seine Regression zum wilden Zustand hinweist.„ Am 18. September
erschien in der New York Times ein von 54 Autoren unterzeichne-
tes Manifest, das gegen den Einmarsch der deutschen Armeen in
Belgien protestierte und die Gesamtheit der englischsprechenden
Völker dazu aufrief, das Völkerrecht gegen die Herrschaft von
ıblood and iron„ in Europa zu verteidigen. Gleichzeitig kursierten
in der Presse der westlichen Mächte allerlei Gerüchte über Greuel-
taten, die von den deutschen Armeen auf ihrem Vormarsch durch
Belgien begangen worden seien.
Anfang Oktober kam die deutsche Reaktion. Dreiundneunzig
deutsche Gelehrte, Künstler und Schriftsteller schlossen sich zu ei-
nem ıAufruf an die Kulturwelt„ zusammen, in dem sie sich im Na-
men von Wissenschaft und Kunst gegen die ıLügen und Verleum-
dungen„ wehrten, die von alliierter Seite den ıaufgezwungenen
schweren Daseinskampf zu beschmutzen trachten„, zu dem
Deutschland genötigt sei. Die Dreiundneunzig beriefen sich auf das
Vermächtnis der klassischen deutschen Kultur. Das Hauptziel des
Manifests richtete sich gegen das von der alliierten Propaganda ver-
breitete Bild eines gespaltenen Gegners: auf der einen Seite das gute
Deutschland der Dichter und Denker, auf der anderen Seite das
Land des skrupellosen preußischen Militarismus. In seinem Aufsatz
Gedanken im Kriege (Nov. 1914) erklärte Thomas Mann, der deut-
sche Militarismus sei in Wahrheit Form und Erscheinung der deut-
schen Moralität, die echte deutsche Kultur sei glücklicherweise
durch die deutschen Waffen vor dem zersetzenden, ja nihilistischen
Einfluß der französischen Zivilisation, bzw. der westeuropäischen
Aufklärung geschützt. Diese Gedankengänge wird er in seinen Be-
trachtungen eines Unpolitischen, in denen er eigentlich mit seinem
frankophilen Bruder Heinrich polemisiert, weiter ausführen. Auch
647

die deutschen Hochschullehrer hielten es nochmals für angebracht,


als Antwort auf ein Manifest zahlreicher britischer Akademiker im
Oktober 1914 in der Times zu bekräftigen, daß es keinen Unter-
schied zwischen deutschem Geist und der Armee des Landes gäbe.
Westliche humanistische Zivilisation gegen deutsche Barbarei, oder
umgekehrt, echte, deutsche Kultur gegen die materialistisch-merkan-
tilistische seichte Zivilisation des Westens: so argumentierten damals
die besten Köpfe der Nationen. In Deutschland trugen die meisten
führenden Gelehrten zu der Formulierung der sogenannten ıIdeen
von 1914„ bei, die im Zeichen des nationalen Sozialismus die Ideen
von 1789 ablösen sollten. Der deutsche Kultur- und Heldenkrieg
wurde von Werner Sombart oder Max Scheler dem eigennützigen
Händlerkrieg der Engländer entgegengesetzt.
Gegen diese Mobilisierung und Nationalisierung der Kultur
lehnten sich fast im selben Moment und unabhängig voneinander
Rolland und Hesse auf. Beide bangten um die geistige Einheit und
somit um die Zukunft Europas. Was ihnen bedenklich erschien, war
– um einen Ausdruck Rollands wiederaufzugreifen – ıdie Einstim-
migkeit zugunsten des Krieges„: ıNicht nur die blinden Leiden-
schaften der Rassen werfen Millionen von Menschen in den Kampf
gegeneinander; auch die Vernunft, der Glaube, die Dichtung, die
Wissenschaft werden einberufen und stellen sich in jedem Staat in
den Dienst der Armeen„.2
Rollands Text Au-dessus de la mêlée beeindruckt gleichermaßen
durch seinen Idealismus, seine Präzision und seine prophetische
Sicht. Er verurteilt nicht nur das Versagen der Sozialdemokratie
und der Kirchen. Er weist auch auf die Schuldigen an der europäi-
schen Katastrophe hin: die drei Reiche, Österreich, Rußland und
Preußen. Der preußische Imperialismus trage die Hauptschuld. Er

2 Au-dessus de la Mêlée, in: Une voix du dehors. Romain Rolland. Textes et documents
recueillis et présentés par Aude et Charles Sowerwine, Paris 1985, S. 13.
648 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

sei die Hydra, die das beste Blut Europas aufsaugt. Er müsse zual-
lererst vernichtet werden: ıEcrasons lÊinfâme„. Rolland warf den
deutschen Kriegsherren nicht nur die Verletzung der belgischen
Neutralität, sondern auch die unverzeihliche Zerstörung der Kultur-
städte Leuwen und Malines vor: ıAber um Gottes Willen. Diese
Verbrechen dürfen nicht durch ähnliche Verbrechen wieder gut
gemacht werden, keine Rache, keine Repressalien. Es sind abscheu-
liche Wörter. Ein großes Volk rächt sich nicht, sondern stellt das
Recht wieder her.„3 Zur Wiederherstellung des Rechts verlangte
Rolland die Einrichtung eines Hohen moralischen Gerichtshofes
(Haute Cour morale), der sich aus unverdächtigen internationalen
Persönlichkeiten zusammensetzen sollte und über die Verstöße ge-
gen das Völkerrecht zu urteilen hätte. Er betonte die zunehmende
Wichtigkeit der internationalen Öffentlichkeit, die dadurch bewie-
sen sei, daß die Regierenden ständig bemüht seien, ihre Kriegsver-
brechen zu leugnen oder zu rechtfertigen. Die Intellektuellen sollten
hierbei zu diesem ıunsichtbaren Gericht der menschlichen Gat-
tung„ ihren Beitrag liefern, indem sie eben ıüber dem Schlachten-
getümmel„ blieben: ıAuch wenn der Krieg ausgebrochen ist, ist es
eine Schande zu sehen, wie die Elite darin die Integrität ihres Den-
kens kompromittiert. Es ist eine Schande zu sehen, wie sie einer
kindischen, abscheulichen Politik der Rassen zu Diensten steht, die
trotz ihrer wissenschaftlichen Absurditäten (denn kein Land besitzt
eine reine Rasse) nur zu zoologischen Vernichtungskriegen führen
kann, wie sie von verschiedenen Arten von Nage- oder Raubtieren
ums Leben geführt werden. Es würde das Ende dieser fruchtbaren
Mischung bedeuten, die Menschheit heißt. Die Menschheit ist eine
Symphonie von Kollektivseelen. Der Geist ist das Licht. Die Pflicht
besteht darin, ihn über die Stürme zu erheben und die Wolken zu
verjagen, die ihn zu verdunkeln trachten. Die Pflicht besteht darin,

3 Ebd., S. 18.
649

weit über der Ungerechtigkeit und den Haßgefühlen der Nation,


viel höher und viel breiter, die Mauern der Stadt aufzubauen, hinter
denen sich die freien und brüderlichen Seelen der ganzen Welt ver-
sammeln sollen.„4
Der Krieg hatte Rolland in der Schweiz überrascht. Er war zu
alt, um eingezogen zu werden. Er hatte beschlossen, in diesem neu-
tralen Land zu bleiben, um seine Beziehungen zu Intellektuellen
aller Länder weiter ungehindert zu pflegen und so diese geistige In-
ternationale aufrechtzuerhalten. Die eben erwähnten Stellungnah-
men waren bei ihm also nicht überraschend. Vor dem Krieg hatte
er sich als guter Europäer ausgewiesen. Er war ein Sympathisant der
internationalistischen Sozialdemokratie. Sein international bekanntes
Werk Jean-Christophe war ein Plädoyer für die deutsch-französische
Verständigung. Er teilte allerdings die in Frankreich besonders nach
der Niederlage von 1871 übliche Vorstellung der zwei Deutsch-
lande. Für ihn war die Lage klar, er stand nicht wirklich ıüber dem
Schlachtengetümmel„, sondern bekannte sich klar und deutlich zu
seinem Lager: Frankreich und seine Alliierten führten den gerech-
ten Krieg gegen das imperialistische und militaristische Preußen-
Deutschland. Es galt eben, die Ideen der Aufklärung (Ecrasez
lÊinfâme! ) , die Ideen von 1789, in deren Tradition er sich selbst
stellte, zu verteidigen und durchzusetzen. Er beobachtete konster-
niert, daß die Repräsentanten des geistigen Deutschland, für das er
eine große Bewunderung hegte, sich in den Dienst des preußischen
Militarismus und Imperialismus stellten. Erhellend ist in dieser Hin-
sicht seine Kontroverse mit Gerhart Hauptmann.
Durch den offenen Brief an den Nobelpreisträger Gerhart
Hauptmann, den er im Journal de Genève Anfang September pu-
blizierte, also vor seinem Aufruf Au-dessus de la mêlée, glaubte
Rolland, sich an einen hohen Vertreter des geistigen Deutschland,

4 Ebd., S. 20.
650 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

an eine Art neuen Goethe zu wenden, in der Hoffnung, ihn zu sei-


ner Sicht der Dinge zu bekehren. Vor dem Krieg war Hauptmann
in Deutschland wegen pazifistischer Neigungen verschrieen wor-
den.5 Rolland hatte von einem seiner Artikel gehört, in dem er die
Kriegsbegeisterung nicht zu teilen schien und sich nur gemäßigt
germanophil zeigte. Diesen offenen Brief schrieb Rolland unter dem
Eindruck der Nachricht von der Zerstörung der Kunstschätze in
Leuwen sowie von anderen durch die deutschen Truppen auf ih-
rem Eilmarsch durch Belgien begangenen Greueltaten. Rolland
mißtraute der propagandistischen Kriegshetze in der Presse, aber
die erhobenen Anschuldigungen gingen an ihm nicht wirkungslos
vorbei. Deshalb stellte er an Gerhart Hauptmann als den Vertreter
Deutschlands die Frage: ıTötet die Menschen, aber respektiert die
Werke. Wer seid Ihr denn... Seid Ihr die Enkel Goethes oder
Attilas?„ Am 12. September antwortete Hauptmann, daß ihm der
Erhalt eines Menschenlebens über den eines Kunstwerkes gehe,
Krieg sei Krieg und die von Rolland verurteilten sogenannten
Kriegsverbrechen seien nur Unfälle im ıDurcheinander des Kamp-
fes„. Hauptmanns Antwort enttäuschte Rolland sehr. Er habe die
Gewalt legitimiert. In der von den kulturellen Repräsentanten
Deutschlands demonstrierten Eintracht mit dem preußischen Mili-
tärstaat habe der deutsche Idealismus sein Ende gefunden. Bald
darauf sollte die Bombardierung der Kathedrale von Reims, (gegen
die Rolland in einem neuen Artikel Pro Aris protestierte) und die
mangelnde Reaktion von deutschen Intellektuellen dieses düstere
Fazit bekräftigen.
Wegen dieser drei Artikel, die kurz hintereinander erschienen,
geriet Rolland, ins Kreuzfeuer der Kritik. In Deutschland wurde er

5 Anläßlich des hundertsten Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig hatte


Hauptmann ein Festspiel in deutschen Reimen geschrieben, dem die Nationalisten
pazifistische Tendenzen vorwarfen.
651

angegriffen, weil er eigentlich die Anklage des Barbarentums von


Bergson wiederaufnahm und dabei die Sache Deutschlands, die
ihm in Jean-Christophe so nah am Herzen zu liegen schien, gleich-
sam verriet. In Frankreich wurde Rolland kritisiert, weil er sich wei-
gerte, das ganze deutsche Volk für den Krieg verantwortlich zu ma-
chen,6 weil er den Glauben an die uneingeschränkte Gültigkeit uni-
versalistischer Werte von den geistigen Repräsentanten aller krieg-
führenden Nationen verlangte und weil er nun auch die engagierten
französischen Intellektuellen des Verrats am Geist bezichtigte. In
seinem Tagebuch schrieb er: ıWar es die Rolle eines Bergson, sol-
che Worte auszusprechen? Muß sich die Vernunft mit den Leiden-
schaften der Parteien besudeln?„
O Freunde, nicht diese Töne! Es mag sein, daß Rolland Hesse
um seinen Titel beneidet hat, der an den Geist der Ode An die
Freude von Schiller erinnert. Muß sich die Vernunft mit den Lei-
denschaften der Parteien besudeln? Dies ist ganz genau die Frage-
stellung von Hesse, in dem also Rolland den protestierenden Deut-
schen finden kann, den er bisher vergebens suchte. Mit seinem Text
grenzte sich Hesse entschieden von der Gruppe der deutschen Intel-
lektuellen ab, die sich der Kriegspartei angeschlossen hatten. Er
schrieb: ıIch bin Deutscher und meine Sympathie und Wünsche
gehören Deutschland, aber was ich sagen möchte, bezieht sich nicht
auf Krieg und Politik, sondern auf die Stellung und Aufgaben der
Neutralen. Damit meine ich nicht die politisch neutralen Völker,
sondern alle diejenigen, die als Forscher, Lehrer, Künstler, Literaten
am Werk des Friedens und der Menschheit arbeiten [...]. Der, der
im Felde steht und täglich sein Leben wagt, habe das volle Recht zu
Erbitterung und momentanem Zorn und Haß, und jeder aktive Poli-

6 „Die wirklich Schuldigen sind die Chefs, insbesondere die, die die Verletzung der
belgischen Neutralität beschlossen haben; denn dieses Verbrechen hat wahrschein-
lich die anderen nach sich gezogen.“ (Zitiert nach Michael Klepsch: Romain Rolland
im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten, Stuttgart 2000, S. 51).
652 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

tiker ebenso. Aber wir anderen, wir Dichter, Künstler, Journalisten


– kann es unsere Aufgabe sein, das Schlimme zu verschlimmern,
das Häßliche und Beweinenswerte zu vermehren?„7 Hesse verstand
nicht, warum französische Kunst auf einmal wegen des Krieges in
Deutschland verpönt sein sollte (und umgekehrt), während sie doch
wie die deutsche Kunst zur internationalen Kultur gehöre: ıDie
Leute, denen jedes der französischen Malerei erteilte Lob ein
Greuel war und denen bei jedem Fremdwort der Zornschweiß aus-
brach, die sind es nicht, von denen hier die Rede ist, die tun weiter,
was sie vorher taten. Aber die anderen alle, die sonst mit mehr oder
weniger Bewußtsein am übernationalen Bau der menschlichen Kul-
tur tätig gewesen sind und jetzt plötzlich den Krieg ins Reich des
Geistes hinübertragen wollen, die begehen ein Unrecht und einen
groben Denkfehler.„ Hesse beruft sich auf Goethe: ıGoethe war nie
ein schlechter Patriot, obwohl er Anno 1813 keine Nationallieder
gedichtet hat. Aber über die Freude am Deutschtum, das er kannte
und liebte wie nur einer, ging ihm die Freude am Menschentum.„8
Die Neutralität, die Hesse von den Intellektuellen forderte, ist
also keineswegs mit Passivität oder Gleichgültigkeit gleichzusetzen.
Gewiß suche sie ihren Platz ıüber dem Schlachtengetümmel„, aber
im Dienste einer Sache, die keiner der kriegführenden Mächte al-
lein gehört und die Gefahr liefe, in den unbarmherzigen materiellen
und ideologischen Schlachten des Krieges unterzugehen: der Sache
des Friedens, der Menschlichkeit und der Vernunft. Die Neutralität,
von der hier die Rede ist, ist also positiv, aktiv und engagiert: sie
versucht, das hervorzuheben, was in Kriegszeiten noch verbindet,
und nach dem Krieg die Wiederherstellung des Friedens ermögli-
chen kann: ıUns andern, die es mit der Heimat gut meinen und an

7 Hermann Hesse: Politik des Gewissens: die politischen Schriften, Teil 1: 1914-1932
(499 Seiten), Teil 2: 1933-1962 (S. 507-985), Taschenbuchausgabe, Frankfurt/Main
1981, S. 42.
8 Ebd., S. 45.
653

der Zukunft nicht verzweifeln wollen, uns ist die Aufgabe geworden,
ein Stück Frieden zu erhalten, Brücken zu schlagen, Wege zu su-
chen aber nicht mit dreinzuhauen (mit der Feder!) und die Funda-
mente für die Zukunft Europas noch mehr zu erschüttern.„9 Die Su-
che nach dem, was trotz allem verbindet, der Wille, die Brücken
nicht endgültig abzureißen, ist eine politische Konstante bei Hesse.
Diese positive Neutralität bei Hesse war nicht spontan. Nach sei-
nen eigenen Worten befanden sich seine Sympathien und Wünsche
zuerst auf Seiten Deutschlands. Im Wilhelminismus gehörte er zu den
kritischen Intellektuellen. Er war Mitarbeiter des Simplicissimus ge-
wesen und hatte die demokratisch-antiwilhelminische Zeitschrift März
gegründet. Nicht zuletzt um der Mediokrität und Stumpfheit der
wilhelminischen Gesellschaft zu entfliehen, die er ganz besonders in
Unterm Rad angeprangert hatte, hatte er sich 1912 in der Schweiz
niedergelassen. Nun aber wunderte er sich selber über seinen
Patriotismus: ıIch bemerke, wie einseitig patriotisch ich geworden bin:
Bemerkungen kritischer Art über Deutschlands Benehmen gegen
Belgien (das ich selbst nicht loben kann!) ärgern und erregen mich.„10
Seine Solidarität mit dem deutschen Vaterland veranlaßte Hesse,
sich 1914 als Freiwilliger zu melden. Als dienstuntauglich zurückge-
stellt, wurde er 1915 der Deutschen Gesandtschaft in Bern zugeteilt,
wo er nunmehr im Dienst der Deutschen Gefangenenfürsorge bis
1919 stehen sollte. Er, der Kulturkritiker, stand einigen ıIdeen von
1914„ nicht gleichgültig gegenüber. Würde der Krieg nicht etwas
frische Luft hereinlassen, den faden und bürgerlichen Mief hinweg-
fegen, Gelegenheit für eine kulturelle Erneuerung sein? ıDie mora-
lischen Werte des Krieges schätze ich im ganzen sehr hoch ein. Aus
dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden, tat vielen
gut grade aus Deutschland, und für einen echten Künstler, scheint

9 Ebd.
10 Ebd., S. 17.
654 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

mir, wird ein Volk von Männern wertvoller, das dem Tod gegen-
übergestanden hat und die Unmittelbarkeit und Frische des Lager-
lebens kennt.„11 Diese romantische Kriegsvorstellung, die mehr oder
weniger an den Enthusiasmus der ı Jugendbewegten„ erinnert,
wurde manchmal von dem Traum begleitet, daß eine Versöhnung
zwischen Macht und Geist, Potsdam und Weimar möglich sei: ıWir
wollen nicht mehr das arme ideale Deutschland sein, das zwar viele
Dichter und Denker, aber kein Geld und keine Macht und keine
Stimme in der Welt hatte.„12 Es gehe um die Entstehung einer
neuen Geisteshaltung, eines vom ıenglischen„ Merkantilismus be-
freiten Geistes: ıDaß wir unseren Kampf gegen die unguten, ungei-
stigen, unsauberen Mächte in der Welt richtig führen, auch gegen
diese Mächte in uns selber, dafür müssen wir von Euch Soldaten
den Heldensinn und die treue Ausdauer lernen, und Euch vor al-
lem werden wir nach dem Kriege brauchen, um unsere großen, un-
sere gewaltigen Ansprüche an das deutsche Volk und das deutsche
Wesen durchzusetzen. Ihr sollt uns aus dem Kriege den Geist mit
heimbringen, der den Schmerz und den Tod nicht fürchtet, wenn es
Großes gilt.„13 Sollte wiederum für den Patrioten Hesse die Welt am
deutschen Wesen genesen?
Tatsächlich ist Hesse differenzierter: Zum einen bedeutete für
ihn die Verletzung der belgischen Neutralität einen schweren Ver-
stoß gegen die Regeln der Zivilisation, die man selbst in Kriegszei-
ten zu respektieren habe. Zum anderen bemerkte er, daß sein In-
ternationalismus ihn in den Augen seiner Landsleute nur verdächtig
werden ließ und begann, sich über seine Identität Fragen zu stellen:
ist er Deutscher, oder eher Schweizer? Er warnte vor dem ıHurra-
Patriotismus„, der nicht ıeine Art Vorschule zum Ideal der

11 Ebd., S. 51.
12 Ebd., S. 59.
13 Ebd., S. 60.
655

Menschheit„ darstellen konnte.14 Er wiederholte, daß er zuerst


Mensch, dann Deutscher sei. Und ferner, daß es ihm nicht gelinge,
den Krieg als ıetwas Großes, gar Heiliges„15 zu betrachten. Als
Schriftsteller könne er sich nicht ıliterarisch„ damit abfinden, wie
etliche seiner Kollegen. Nach und nach fühlte er in sich ein euro-
päisches Bewußtsein erwachen, das denselben ıMittelpunkt„ habe,
wie sein deutsches: ıDer Gedanke, Europa als ideale Zukunftsein-
heit könnte etwa eine Vorstufe zu einer geeinigten Menschheit be-
deuten, wird wie jeder Kosmopolitismus zur Zeit schroff abgelehnt
und ins Reich der poetischen Träume verwiesen. Ich bin damit ein-
verstanden, aber ich halte viel von poetischen Träumen [...].„16
Rolland und Hesse waren also keine Pazifisten in dem Sinne,
daß sie den Krieg an sich verurteilt hätten, sie plädierten zu dieser
Zeit nicht für Kriegsdienstverweigerung. Rolland fand den Krieg
gegen den deutsch-preußischen Militarismus gerecht. Der Krieg sei
eben manchmal ein notwendiges Übel. Es gelte aber, ihn zu über-
winden. Seinerseits schrieb Hesse: ıDa man jetzt einmal am Schie-
ßen ist, soll geschossen werden – aber nicht des Schießens und der
verabscheuungswürdigen Feinde wegen, sondern um so bald wie
möglich eine höhere und bessere Arbeit wiederaufzunehmen [...].
Krieg wird noch lange sein, er wird vielleicht immer sein. Dennoch
ist die Überwindung des Krieges nach wie vor unser edelstes Ziel
und die letzte Konsequenz abendländisch-christlicher Gesittung.„17
Kultur sei etwas Gebrechliches. Es könne an einem Tag das zerstört
werden, worum Künstler, Gelehrte und Philosophen aller Länder
sich ihr Leben lang bemüht haben. Deshalb sollten die Intellektuel-
len im Krieg auf der Seite des Rechts, der Verständigung und der
Humanität bleiben.

14 Ebd., S. 59; s. auch S. 206.


15 Ebd., S. 56.
16 Ebd., S. 89.
17 Ebd., S. 46.
656 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

Die würdigste Aufgabe für die, die nicht eingezogen wurden, be-
stand darin, all denen zu helfen, die vom Krieg in Mitleidenschaft
gezogen wurden. Infolgedessen stellte sich Romain Rolland im Ok-
tober dem Roten Kreuz zur Verfügung und wurde freiwilliger Helfer
der Auskunftsstelle für Zivilgefangene in Genf. Rolland arbeitete
neun Monate lang intensiv in dieser humanitären Organisation. Sei-
nerseits – wiederum eine erstaunliche Gemeinsamkeit im Werdegang
beider Freunde – hatte Hesse mit Richard Woltereck und in
Verbindung mit der Deutschen Gesandtschaft in Bern eine ıBücher-
zentrale für deutsche Kriegsgefangene„ eingerichtet, die Hundert-
tausende von Gefangenen mit Büchern versorgte, welche ihnen die
gegenwärtige Misere erleichterten und sie auf einen Neubeginn nach
dem Krieg vorbereiteten. Ein gutes Drittel von Hesses Aufsätzen im
Ersten Weltkrieg gilt den Zwecken der Kriegsgefangenenfürsorge.
Ein solches humanitäres Engagement scheint ihm wirksamer und
von größerer Tragweite gewesen zu sein als der Beitritt zu irgendei-
ner pazifistischen Organisation. An die Pazifisten richtete er sich
1915 in einem streitbaren Aufsatz: ıMir ist es wunderlich, wie man
für die ferne (friedliche) Zukunft schwärmen und tätig sein kann,
während die blutige Gegenwart auf Schritt und Tritt unsere Hilfe
anruft. Ich klage Euch an, daß Ihr redet, wo so viel zu tun wäre,
daß Ihr Versammlungen und Vorträge besucht, statt tätig zu sein,
statt Eure Säle den Kranken, Euer Geld den Armen, Euren Idealis-
mus den Leidenden zur Verfügung zu stellen. Wer Adressen für
Pakete an Gefangene schreibt, wer Nägel in Kisten schlägt, die
Kleider und Schuhe zu frierenden Menschen bringen sollen, der tut
unendlich viel mehr als Ihr mit allen Reden, mit allen Broschüren,
mit allen Vorträgen.„18 Hesse hatte für die ıSchreier„ nichts übrig,
von welcher Seite sie auch schreien mochten. In diesen Schreckens-
und Leidenszeiten bevorzugte er die verborgene Tat, die den Men-

18 Ebd., S. 153.
657

schen aus ihrer körperlichen und seelischen Not half. Auch das
blieb eine seiner politischen Konstanten. Er hielt zudem an der Idee
fest, daß diejenigen, die hinter der Front Programme erstellten, für
den Wiederaufbau der Nachkriegszeit viel weniger wert sein wür-
den, als die Jugend, die an der Front gelitten und sich geopfert
hatte. Dabei unterstrich er aber seine apolitische Einstellung: ıIch
selber bin ganz unpolitisch und hänge einer asiatischen Passivität
an. Wo ich aber irgendetwas tun kann, was Frieden und Mensch-
lichkeit fördert, bin ich stets eifrig bereit.„19
Im Laufe der Jahre 1915/1916 wandelte sich das Denken
Rollands. Allmählich gelangte er zu der Überzeugung, daß Deutsch-
land nicht allein am Krieg und an seinen Greueltaten schuld war.
Diese Entwicklung deutete sich schon in seinem Aufsatz Au-dessus
de la mêlée an, als Rolland die Militarisierung der französischen In-
telligenz und den Einsatz von afrikanischen Truppen auf französi-
scher Seite kritisierte; Deutschland habe nicht das Monopol der Un-
gerechtigkeit und der Barbarei. Von nun an löste sich Rolland im-
mer mehr von seinem Patriotismus los: er schien ihm immer weni-
ger mit der Idee der Freiheit und des Humanismus vereinbar.
Rolland wandte sich nun dem Wiederaufbau Europas nach dem
Krieg zu. Zu diesem Zweck wollte er die zahlreichen Beziehungen
nutzen, die er zu Intellektuellen in ganz Europa pflegte.
In diesem Zusammenhang entdeckte er die Existenz einer Anti-
kriegspartei unter den deutschen Intellektuellen. Im Dezember 1914
hatte er erfahren, daß einige Sozialdemokraten gegen die Erneue-
rung der Kriegskredite gestimmt hatten. In der deutschen Sozialde-
mokratie wechselte allmählich die Stimmung. Drei Mehrheitssozial-
demokraten, Bernstein, Haase und Kautsky protestierten im Juli
1915 gegen die Verlängerung des Krieges. Auch im liberalen Lager
wurden immer mehr kriegskritische Stimmen in verschiedenen Zeit-

19 Brief an Romain Rolland vom 10.8.1915.


658 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

schriften (Die Schaubühne, die Ethische Kultur, die Ethische Rund-


schau, Die Christliche Welt ) laut. Die Zeitschrift Forum wurde
unter der Leitung von Wilhelm Herzog gar zum Sprachrohr von
Rollands Ideen in Deutschland. Sie übersetzte seine Texte und
publizierte zudem Aufsätze von pazifistischen Autoren, u.a. von
Heinrich Mann, René Schickele, Eduard Bernstein, Annette Kolb
und Friedrich Wilhelm Foerster. Sie gehörte mit der Aktion von
Franz Pfemfert, der Friedens-Warte von Albert H. Fried und den
Weißen Blättern von René Schickelé zu den wichtigsten Organen
des internationalen Pazifismus in Deutschland.
Auf die letztgenannte Zeitschrift wurde Rolland, wie anfangs er-
wähnt, durch einen Aufsatz von Hermann Hesse aufmerksam ge-
macht. Am 18. Februar 1915 notierte er in seinem Tagebuch:
ıHermann Hesse veröffentlicht im Feuilleton der Neuen Zürcher
Zeitung eine Rezension über eine junge deutsche Zeitschrift, die
Weißen Blätter aus Leipzig, die nach einer mehrmonatigen Unter-
brechung wiedererscheinen darf. Dort drückt sich die junge Dich-
tergeneration aus. Hesse weist auf ihre noble Gelassenheit hin. Einer
der Mitarbeiter, der Elsässer Eduard Stadler ist eben gefallen. Als
Lektor an der Freien Universität Brüssel tätig, war er der Übersetzer
und der Freund der französischen Dichter [⁄]: er war 30 Jahre alt.
Hesse vergleicht seine europäische Einstellung mit der meinen; und
er sieht darin kein einzelnes Phänomen, sondern die frühe Blüte ei-
nes ,EuropeanismusÂ, der in der besten deutschen Jugend im Keim
vorhanden ist.„ Es erfolgte darauf die erste Kontaktaufnahme zwi-
schen beiden. Frei von Patriotismus wollte Rolland Mitglieder für
seine Internationale des Geistes anwerben. Am 26. schickte er fol-
genden Brief an Hesse: ıMonsieur, man hat mir Ihren Artikel aus
der ,Neuen Zürcher Zeitung mitgeteilt. Ich drücke Ihnen herzlich
die Hand. Das wollte ich schon lange tun, – seit ich Ihre Bücher ge-
lesen habe und vor allem, seit ich mitten in diesem Sturm die Worte
659

habe zitieren hören, die die Wolken des Hasses auflösen, die Worte
des befreiten Beethoven. Wir können die Raserei der Staaten nicht
aufhalten; ich fürchte sogar, es wird noch entsetzlicher; die Völker
können nicht sprechen; sie können kaum denken (man läßt ihnen
weder die Zeit noch die Möglichkeit dazu). Um so mehr müssen wir
zusammenstehen, wir alle, die wir uns angeekelt dem bestialischen
Irrsinn verweigern und die wir die Aufgabe haben, für die Zukunft
die heilige Union des europäischen Geistes zu bewahren. Wenn der
Krieg andauert, dann, meine ich, müssen wir diese rein geistige
Einheit zwischen den freien Denkern aller Völker bekräftigen. In
aufrichtiger Zuneigung.„20
Auch Hesse löste sich nun von jeglichem Patriotismus. In seiner
Rezension der Weißen Blätter hatte er erklärt, er glaube nicht an
Programme für die Zukunft, aber erwarte viel von neuen würdigen
und fruchtbaren Beziehungen zwischen den europäischen Intellek-
tuellen. In diesem Sinne erwähnt er in einem Brief an Rolland
(28.2.1915) die mögliche Gründung einer ıneutralen„ Zeitschrift in
der Schweiz, welche französische Mitarbeiter benötigte (die Zeit-
schrift ist nie erschienen).
Im April publizierte Rolland im Journal de Genève einen Auf-
satz über den neuen Geist, der unter den Intellektuellen Deutsch-
lands aufkeimte. Darin lobte er in erster Linie Hermann Hesse (und
sein Gedicht Der Krieg ) , aber auch Stefan George (!), Max Scheler,
Georg Trakl, René Schickelé und Wilhelm Herzog. Im Juni er-
schien im Journal de Genève der Artikel Le meurtre des élites
(Mord an den Eliten), in dem Rolland wiederum die kleine Min-
derheit der in Deutschland unterdrückten kriegskritischen Stimmen
zu Worte kommen ließ. Durch seine Publikationen versuchte er,
alle pazifistisch engagierten Organisationen und Gruppen bekannt
zu machen. So wurde er zum Mittelpunkt eines europäischen Net-

20 Hesse, Rolland: D’une rive à l’autre, a.a.O., S. 17.


660 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

zes von Pazifisten oder friedensorientierten Intellektuellen. Er korre-


spondierte mit Frederick van Eeden, dem Vertreter des niederländi-
schen Anti-Orrlog-Raad, mit Ellen Key in Schweden, mit H.G.
Wells und B. Shaw in England, Carl Spitteler in der Schweiz usw.
Als Leitfigur des moralischen PazifismusÊ ist Rolland dennoch
stets darauf bedacht gewesen, von den verschiedenen Organisatio-
nen, die – je länger der Krieg dauerte – vielerorts aufblühten, nicht
vereinnahmt zu werden. So bringt er in einem Tagebucheintrag
vom April 1915 sein Mißtrauen gegenüber der von einem jungen
Engländer, Lionel Wyon, kürzlich gegründeten Gesellschaft zur
Verständigung der Intellektuellen zum Ausdruck. Deren Absichten
seien sicher nobel aber vage. Unter den Mitgliedern erblicke er
zwar sympathische Namen wie Ellen Key, Spitteler, Hermann
Hesse, aber auch ıeinige weniger sympathische„. Er habe nie eine
große Sympathie für Herdengeister empfunden. Er bleibe lieber ein
Europäer, der allein, außerhalb aller ıGesellschaft„, kämpfe.21
Rollands Reaktion erklärt sich nicht nur durch die Furcht vor
der Vereinnahmung seiner Ideen oder seiner Person, sondern auch
durch seine unbequeme Lage. Er wurde nicht nur von extremen
Nationalisten wie Henri Massis oder Maurice Barrès angegriffen,
sondern auch von ein paar alten Freunden wie Richet aufs Korn
genommen oder einfach verlassen. Deshalb weigerte er sich, ir-
gendeinem deutschen Bund beizutreten.22 Er hatte den Eindruck,
daß er in Frankreich überhaupt nicht verstanden wurde. Er wollte
ein Schiedsrichter zwischen den Nationen sein und wurde sich nun

21 Ebd., S. 21.
22 Erwähnt sei seine letztlich ablehnende Einstellung gegenüber dem Bund Neues Va-
terland, dessen Ziele er prinzipiell anerkannte. Der Bund Neues Vaterland wurde im
November 1914 gegründet, um dieser ambivalenten Position entgegenzutreten. Er
markiert eine Wende innerhalb des deutschen Pazifismus, weil er die Friedenssuche
mit der Forderung nach einer Demokratisierung Deutschlands verkoppelte. S. auch
Hans Manfred Bock: Heimatlose Republikaner in der Weimarer Republik. Die Deut-
sche Liga für Menschenrechte (vormals „Bund Neues Vaterland“) in den deutsch-
französischen Beziehungen, in: Lendemains 23 (1998), Nr. 89, S. 68-102.
661

der Schwierigkeit dieser Aufgabe bewußt. Er war des Kampfes


müde und wollte sich wieder seinen künstlerischen Tätigkeiten zu-
wenden. So schwieg er fast ein ganzes Jahr. Diese vorübergehende
Entmutigungsphase hatte aber mit der schweren Depression, die zur
selben Zeit Hesse aus anderen Gründen plagte, nichts gemein.
Als Rolland im November 1916 – im selben Monat wurde ihm
der Nobel-Preis verliehen – mit dem Aufsatz Les peuples assassinés
(Die ermordeten Völker) wieder öffentlich auftrat, hatte sich seine
Interpretation des Krieges wiederum gewandelt. Nicht mehr aus-
schließlich oder hauptsächlich der deutsch-preußische Militarismus
war schuld am Krieg, sondern das Geld. Durch seine linkssozialisti-
schen Freunde (vor allem Henri Guilbeaux, der in der Schweiz die
Zeitschrift Demain leitete) hatte Rolland Informationen über die
wirtschaftlichen Hintergründe des Krieges erhalten. Die Völker Eu-
ropas seien nicht frei, sie würden von den Kapitalisten manipuliert.
Rolland nahm zum Teil die Analysen der deutschen Kulturkritiker
(und somit auch Hesses) wieder auf. Die wissenschaftlich-technische
Zivilisation Europas sei ein Moloch, der seine eigenen Kinder fräße.
Sie sei nur noch durch eine vollkommene moralische und soziale
Revolution zu retten. Die Erneuerung könne eigentlich nur von au-
ßen kommen, von Amerika (aber bald enttäuschte ihn der
Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, die nun nicht mehr als Land
der Freiheit und der Menschenrechte, sondern als Hort des Kapita-
lismus und der Korruption galten) oder von Asien. Darüber hinaus
gelte es nicht nur den Patriotismus bzw. Nationalismus zu überwin-
den, sondern auch den engen europäischen Horizont zu überschrei-
ten. Von einer kulturellen Synthese zwischen Asien und Europa er-
wartete Rolland also die Förderung der ıgroßen Individualität der
universellen Menschheit„. Er begeisterte sich für große Gelehrte wie
den Kulturphilosophen Erwin Hanslick oder den Mediziner Georg
F. Nicolai, die durch ihre Forschung die Einheit der Menschheit
662 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

herausstellten. In dieser Hinwendung zur universellen Menschheit


folgte ihm übrigens Hermann Hesse, der freilich dieses Ideal nur in
der vollkommenen Abkehr von der Politik ins Auge fassen konnte.
Hesse schrieb an Rolland am 4. September 1917: ıWo immer mög-
lich, wende ich mich vom Aktuellen weg inÊs Zeitlose. Der Versuch,
an politische Dinge Liebe zu wenden, ist mir mißglückt; auch ,Eu-
ropa ist mir kein Ideal – solange Menschen einander töten, unter
Führung Europas, ist mir jede Einteilung der Menschen verdächtig.
Ich glaube nicht an Europa, nur an die Menschheit, nur an das
Reich der Seele auf Erden, an dem alle Völker Teil haben und des-
sen edelste Verkörperung wir Asien verdanken.„23
Von der deutschen Niederlage, vom Versailler Vertrag und von
der Errichtung der Weimarer Republik ist im Briefwechsel zwischen
Hesse und Rolland keine Rede: als ob beide in ihren Beziehungen
nicht ins Politische herabgleiten und sich weiterhin auf der hohen
Ebene des Geistes und der Menschlichkeit halten wollten. Im
Januar 1919 schickte Hesse Rolland den Aufruf von Will Vesper An
die Kinder der ganzen Welt zugunsten der hungernden Kinder
Deutschlands. Rolland sorgte für seine Weitergabe und Bekanntma-
chung. Im Frühling 1919 unterzeichnete Hesse ohne Zögern mit
Bertrand Russell, Benedetto Croce, Frederik van Eede, Stefan
Zweig und Henri Barbusse die Erklärung für die Unabhängigkeit
des Geistes, die Rolland im Einverständnis mit G.F. Nicolai verfaßt
hatte. Es galt – nach der großen Erschütterung des Krieges –
Europa wieder aufzubauen. In seinem Appell erinnerte Rolland an
den Verrat, den die Intellektuellen während des Krieges am Geist
begangen hatten und rief sie dazu auf, nun für die Sache der
Wahrheit, der Menschheit und der universellen Brüderlichkeit
einzutreten: ıWir kennen nicht die Völker, wir kennen das Volk,
das einzige, universelle Volk, das leidet, fällt, wieder aufsteht und

23 Hesse: Politik des Gewissens, a.a.O., S. 210.


663

vorwärts geht auf dem schwierigen, von seinem Schweiß und


seinem Blut durchtränkten Weg, das Volk aller Menschen, die alle
Brüder sind. Damit sie sich wie wir immer mehr dieser
Brüderlichkeit bewußt werden, erheben wir über ihre blinden
Kämpfe die Bundeslade – den freien Geist, den Einen und
Vielfältigen, den Ewigen.„
Etwas später, im August 1922, lud Rolland, der sich in Ville-
neuve niedergelassen hat, Hesse zu einer Tagung ein, die in Lugano
im Rahmen der Veranstaltung des ıInternationalen Frauenbundes
für den Frieden und die Freiheit„ stattfinden sollte. Es sollten dort
Georges Duhamel, Graf Kessler, Bertrand Russell und auch indi-
sche Freunde von Rolland, der Geschichtsprofessor aus Calcutta
Kalidas Nag sowie Dilip K. Roy zusammenkommen. Da Rolland
Hesses Scheu vor der Politik kannte, fügte er als Nachsatz hinzu:
ıDiese Vorträge haben überhaupt keinen politischen Charakter. Es
sind Zusammenkünfte freier Geister.„ ıMit Widerwillen„ wird sich
Hesse nach langem Zögern dahin begeben und dort den Schluß des
soeben erschienenen Siddharta (dessen erster Teil Rolland gewid-
met ist) vorlesen. In seinem Tagebuch berichtete Rolland über die-
ses Zusammentreffen, freute sich über den freundschaftlichen Ge-
dankenaustausch, der aus diesem Anlaß zwischen Hesse und dem
Pazifisten Van Aeden, Hesse und dem Inder Kalidas Nag stattge-
funden hatte. Hesses intime Kenntnis der Kultur Indiens hatte alle
beeindruckt. Die beiden Freunde hatten die Zeit des Krieges her-
aufbeschworen, wobei sie sich bange gefragt hatten, ob dieser wirk-
lich vorbei sei (was den stets zu Depressionen neigenden Hesse trotz
seiner ıasiatischen Weisheit„ noch mehr beunruhigte als seinen Ge-
sprächspartner!).
Die Literatur nahm in den Beziehungen der beiden Männer in
der Nachkriegszeit einen großen Platz ein. Hesse rezensierte gewis-
senhaft und wohlwollend die Werke Rollands. Rolland rühmte
664 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

manchmal ein bißchen konventionell die Werke, die literarischen


wie die malerischen, die ihm Hesse regelmäßig zuschickte. Man ver-
suchte auch, einander behilflich zu sein und die Übersetzung der
jeweiligen Werke zu fördern. Philosophisch dominierte aber ein
Thema: Asien. Durch Hesse wurde Rolland, der selbst der indi-
schen Kultur mehrere Bücher gewidmet hatte, von dem großen In-
teresse, das deutsche Denker wie Keyserling (Er schreibt oberfläch-
lich, aber schön, meinte Rolland!) Asien entgegenbrachten, in Kennt-
nis gesetzt.
Im September 1920 berichtete er in seinem Tagebuch von einem
Gespräch mit Hesse, in dem dieser ihm seine Angst mitgeteilt hatte,
noch einmal vom deutschen Publikum mißverstanden zu werden.
Er hatte sich in mehreren Schriften im Hinblick auf den morali-
schen Wiederaufbau nach dem Krieg an die Jugend gerichtet und
fürchtete, daß seine Appelle in einem ıbolschewisierenden Sinne„
interpretiert werden könnten. Dabei meinte Hesse – so berichtete
Rolland – dass die innere Befreiung, wie die asiatische Philosophie
sie lehrte und praktizierte, ıdas Einzige ist, was wir (die Europäer)
dem Bolschewismus entgegenzusetzen haben.„24
Nur so, auf indirektem Wege und zu seltenen Anlässen hören
wir in der Korrespondenz der Zwischenkriegszeit von dem politi-
schen Engagement der beiden Autoren. Hier wären wiederum zahl-
reiche Parallelen zu verzeichnen, wenn sie sich auch manchmal in
entgegengesetzter Richtung ausdrücken mögen. Zum Beispiel kriti-
sierte Rolland als Franzose die Strenge und Ungerechtigkeit des
Versailler Vertrages, während Hesse in Deutschland ıdas Weglügen
aller Kriegsschuld„25 von seiten seiner Landsleute anprangerte: ıEs
wird sich zeigen, daß die Feinde ebenfalls schuld hatten, aber es
wird sich nie zeigen, daß unsere Flottenbauten, unser Überfall auf

24 Hesse, Rolland: D’une rive à l’autre, a.a.O., S. 69.


25 Hesse: Politik des Gewissens, a.a.O., S. 488.
665

Belgien und unser Auftreten gegen Rußland in Brest-Litowsk etwas


anderes war als schlechte Politik.„26 Wird die Beendigung des Krie-
ges einen neuen Anfang erlauben? Zu Beginn der Weimarer Repu-
blik bekundete Hesse sein Vertrauen in die deutsche Jugend. Er
richtete an sie ein von Nietzsche inspiriertes Manifest: Zarathustras
Wiederkehr, das 1919 anonym erschien, ein bißchen wie in ihrer
Zeit die Schrift von Julius Langbehn Rembrandt als Erzieher. Im
selben Jahr gründete Hesse mit seinem Freund Richard Woltereck
eine kulturpolitische Zeitschrift Vivos voco, die dasselbe erzieheri-
sche Ziel verfolgte. Aufgrund seiner pazifistischen Einstellung wäh-
rend des Krieges, die ihm nun viele Briefe von Jugendlichen ein-
brachte, glaubte Hesse nämlich sich zum praeceptor germaniae auf-
spielen zu können. In Zarathustras Wiederkehr meldete sich wie-
derum der unpolitische Politiker Hesse: ıWir müssen nicht hinten
beginnen, bei den Regierungsformen und politischen Methoden,
sondern wir müssen vorn anfangen, beim Bau der Persönlichkeit,
wenn wir wieder Geister und Männer haben wollen, die uns Zu-
kunft verbürgen.„27
Also ermahnte er die deutsche Jugend dazu, den alten Idolen
des Nationalismus und Materialismus abzuschwören, um in sich
selbst den Gott wiederzufinden, der ihnen erlauben sollte, ihr
Schicksal und ihre Aufgabe zu erkennen und anzunehmen. Sie
müßten in sich gehen, den Weg nach innen einschlagen, auf die in-
nere Stimme hören, kurz sie müßten, wie Hesse es nennt, ıeigen-
sinnig„ werden, d.h. aufrichtig und authentisch sein. Bevor man die
Welt verändere, müsse man das werden, was man sei. Diese höchst
idealistisch-romantische Botschaft, in der man Anklänge an Novalis,
Nietzsche und Lao-Tse hört, konnte doch bolschewistisch interpre-

26 Ebd., S. 350.
27 Ebd., S. 296.
666 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

tiert werden, weil Hesse in einem Abschnitt des Textes die Begei-
sterung der jungen Spartakisten lobte.
Der praeceptor germaniae scheiterte. Bald mußte er einsehen,
daß das deutsche Volk die Lehre aus der Geschichte nicht ziehen
wollte. Es blieb unterwürfig, starker Männer bedürftig, machtverses-
sen (noch unter Adenauer glaubte Hesse feststellen zu können, daß
der bazillus germanicus nicht ausgestorben war!); es sabotierte seine
Demokratie. Später dachte Hesse an diese Zeit zurück als an eine
Zeit der Illusion: ıEinst, um 1919, gab es eine kriegsmüde, stark pa-
zifistische und internationalistische Jugend in Deutschland, beson-
ders Studenten, die lasen Rolland und Hesse und schienen eine Art
Sauerteig zu sein, aber einen Moment später hatte Hitler schon eine
Knabenarmee von 100.000 Burschen, die das Volk ihm freiwillig
zur Verfügung stellte und deren braune Ausrüstung es zahlte.„28 Im
Jahre 1923, nachdem er aufgehört hatte, noch irgendwie an das
deutsche Wesen zu glauben, beantragte Hesse die schweizerische
Staatsangehörigkeit.
Auch im Hinblick auf den Kommunismus ist bei den zwei
Freunden viel Gemeinsames zu verzeichnen. Aber hier sollten sich
schließlich die Geister scheiden. Beide hatten die Novemberrevolu-
tion in Deutschland begrüßt und waren von dem Scheitern der pro-
gressiven Kräfte enttäuscht, beide hatten dieselben linken Leute
bewundert: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Kurt Eisner, Gustav
Landauer usw. Nun blieb die Sympathie Hesses für den Kommu-
nismus rein idealistisch, wie er das in einem Entwurf für einen Brief
an einen Kommunisten im Jahre 1931 erklärte: ıFür den Kommu-
nismus bin ich mit dem Herzen, denn immer hat der Unterdrückte,
nie der Unterdrücker meine Liebe gehasst.„ Aber gleichzeitig ver-
warf er die Ideologie und die Gewalttätigkeit des Kommunismus.
Ohnehin verbiete ihm seine Abneigung gegen die Politik, einer Par-

28 Ebd., S. 695.
667

tei beizutreten: ıIch bin persönlich unfähig, mich einer Partei einzu-
reihen, Programm in Bausch und Bogen zu bejahen.„29 Hesse hörte
nie auf, diese seine apolitische Einstellung hervorzuheben. Am ein-
deutigsten vielleicht in einem Brief an Emil Molt vom 18.11.1918:
ıMein Dienst und mein göttlicher Beruf ist der der Menschlichkeit.
Aber Menschlichkeit und Politik schließen sich im Grunde aus.
Beide sind nötig, aber beiden zugleich dienen, ist kaum möglich.
Politik fordert Partei, Menschlichkeit verbietet Partei.„30
Rollands Einstellung zum Kommunismus war hingegen von An-
fang an noch komplizierter, ambivalenter. Wie Hesse kritisierte er
auch die Gewalttätigkeit und die Ideologie der Bolschewiki. Er ver-
warf ihr Prinzip, nach dem der Zweck die Mittel heilige. Er spottete
über ihren Glauben an die Gesetzmäßigkeit der Geschichte. Zu Be-
ginn der zwanziger Jahre lehnte er die Zusammenarbeit mit der
Zeitschrift Clarté ab, die kürzlich von Henri Barbusse – dessen
Kriegsbuch Le feu er sehr bewundert hat – gegründet worden war.
Nach der ıErklärung über die Unabhängigkeit des Geistes„ warf
ihm Barbusse vor, es bei einem rein intellektuellen Protest bewen-
den zu lassen und vor jeder ıpositiven Aktion„ zurückzuschrecken.
Zu dieser Zeit bevorzugte Rolland in der Tat die ıasiatische Passivi-
tät„. Er schrieb ein Buch über seinen Freund Mahatma Gandhi,
dessen gewaltloser Widerstand ihm als die höchste Form des Wi-
derstandes erschien. Es gibt, wenn ich so sagen darf, einen
ıhesseschen„ Rolland, der sich in der Politik nicht heimisch fühlte,
der an die Wirkung des Geistes, an die moralische Tat des Indivi-
duums, an die Gewaltlosigkeit glaubte. Beide, Hesse und Rolland,
waren leidenschaftliche Briefschreiber, weil sie an die Überzeu-
gungskraft und, im Leidensfall, an die tröstende oder ermunternde
Funktion des Wortes glaubten. Beide waren auf ihre geistige Unab-

29 Ebd., S. 463.
30 Ebd., S. 275.
668 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

hängigkeit versessen und mißtrauten als Geistesaristokraten, als wel-


che sie sich in der Nachfolge von Nietzsche empfanden, den ıHer-
dengeistern„. Beide glaubten an die historische Wirksamkeit der
großen Vorbilder wie Gandhi, Tolstoi, denen Rolland einige Bio-
graphien gewidmet hat. Beide vertraten leidenschaftlich die Sache
der Humanität, des Friedens, der Völkerverständigung und der uni-
versellen Kultur.
Daneben gab es einen politischen Rolland, der sich allmählich
zum compagnon de route der kommunistischen Partei Frankreichs
entwickelte. Ich kann und will diesen Werdegang weder beschrei-
ben noch beurteilen, der Romain Rolland freilich meistens auf die
gute Seite der Kämpfenden gegen den Faschismus und den Natio-
nalsozialismus geführt hat. In diesen zwanziger und dreißiger Jahren
war sich Romain Rolland bewußt, daß in seiner Brust zwei Seelen
wohnten. In der Einleitung zur Verzauberten Seele (1934) schrieb
er: ıIn diesen Jahren stellte ich mir Fragen über die zwei Erlebnisse,
die im sozialen Bereich entscheidend gewesen waren: Indien und
die UdSSR [⁄]. Damit es gelingt, beide antagonistischen Prinzipien
zu vereinbaren, die gewaltlose Nicht-Akzeptierung Indiens à la
Gandhi und die organisierte revolutionäre Gewalt, muß man bei
sich beginnen [⁄]. Die Versöhnung des Individuellen und des So-
zialen [⁄] ist erst dann möglich, wenn man auf das verzichtet, was
die Daseinsberechtigung und der Stolz der vergangenen Epoche
gewesen ist: den unfruchtbaren Individualismus von Leuten, die,
von der Intelligenz begünstigt, sich von dem heute notwendigen
Kampf und der von ihm erforderten Disziplin distanzieren, in einer
hochmütigen Unabhängigkeit des Geistes, eines vom Leben abge-
koppelten, abstrakten, blutlosen Geistes.„ Die Tatsache, daß die
UdSSR von den pan-europäischen Plänen eines Coudenhouve-
Kalergi ausgeschlossen blieb, erklärt die Verweigerung Rollands, an
dessen Unternehmen mitzuwirken. Selbstverständlich sah er einiges
669

in der UdSSR mit kritischem Auge, namentlich die großen Säube-


rungen und Schauprozesse am Ende der dreißiger Jahre. Er sollte
aber nicht die Hellsicht seines Freundes Gide aufbringen und mit
dem Stalinismus offen brechen.
Vielleicht erklärt Rollands immer aktiveres politisches Engage-
ment im antifaschistischen Lager und auf der Seite der Volksfront
die Ungeduld, die man manchmal in seinen Äußerungen über
Hesse zu spüren bekommt. Am 17. September 1933 erzählte er in
seinem Tagebuch von einem Besuch in Montagnola. Er fand, daß
Hesse ıà peu de frais„, ımit geringen Kosten„, ıassez commodé-
ment„, allzu leicht, mit dem Denken und der Kultur fürliebnahm,
daß er sich nicht auf dem Laufenden hielt, sich vom wirklichen Le-
ben abkapselte: ıSein schönes Haus und sein Gönner (H.C.
Bodmer) ersparen ihm die Notwendigkeit zu handeln – sei es nur
durch die Feder; und ich denke nicht, daß es für ihn gut ist.„31
Anderswo stellte er fest, daß die Kunst Hesses, in die das Soziale
keinen Eingang fand, der seinigen diametral entgegengesetzt war.
Im Jahre 1928 hatte er in einem Brief an Paul Amman den
Steppenwolf regelrecht verrissen. Es sei das Werk eines ewigen
Jünglings, der den Mut zu seinem Alter nicht habe. Kurzum: relativ
oft erscheint unter der Feder Rollands das Bild eines unreifen, ner-
venkranken und wirklichkeitsfremden Hesse.
Hesse blieb die Entwicklung Rollands nicht unbekannt. Im Jahre
1938, nach einer Pause von zwei Jahren in ihrem Briefwechsel,
schrieb er Rolland, damit dieser bei Stalin zugunsten von zwei un-
gerecht verhafteten Deutschen interveniere. Rolland antwortete, daß
er sich schon vergeblich für andere Personen eingesetzt habe. Seit
dem Tod von Gorki sei er in dieser Hinsicht völlig ohnmächtig.
Allgemein gewinnt man aber den Eindruck, Hesse mochte sich nur
an die gute alte Zeit erinnern. Anläßlich der Neuausgabe von Krieg

31 Hesse, Rolland: D’une rive à l’autre, a.a.O., S. 156.


670 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

und Frieden (d.h. von Hesses Zeitungsartikeln aus dem Ersten


Weltkrieg) im Jahre 1946 erinnerte er noch an seine ersten Kontakte
mit Rolland, in jenen Zeiten des Leidens und des Kampfes: ıDarum
habe ich, um diesen Schatten, die heute häßlicher und aktueller
sind als je, etwas Schönes und Lichtes entgegenzustellen, in der
Widmung dieses Buches eine edle, geliebte Freundesgestalt und mit
ihr das einzige Schöne und Bleibende beschworen, was jene
Kämpfe und Plagen mir einst eingetragen haben. Ich vergaß Vieles
aus den beklemmenden Tagen des Jahres 1914, in denen der frühe-
ste dieser Aufsätze entstanden ist, nicht aber jenen Tag, an dem
mich ein Briefchen von Romain Rolland als einzige sympathische
Reaktion auf diesen Aufsatz erreichte, zugleich mit der Ankündi-
gung seines Buches. Ich hatte einen Weggenossen, einen Gleichge-
sinnten, einen, der gleich mir gegen den blutigen Unsinn des Krie-
ges und der Kriegspsychose empfindlich gewesen und dagegen auf-
gestanden war, und es war nicht ein Beliebiger, es war ein Mann,
den ich als Dichter der ersten Bände des Jean-Christophe (mehr
kannte ich damals von ihm noch nicht) hochschätzte, und der mir
an politischer Schulung und Bewußtheit weit überlegen war. Wir
sind Freunde geblieben bis zu seinem Tode. Wir lebten räumlich zu
weit auseinander, und waren in allzu verschiedenen Kultur- und
Denkgewohnheiten aufgewachsen, als daß ich sein Gefolgsmann
hätte werden und im Politischen viel von ihm hätte lernen können.
Aber das war es auch nicht, worauf es ankam. Ich hatte meinen po-
litischen Weg begonnen, sehr spät, als Mann von bald vierzig Jah-
ren, erweckt und aufgerüttelt durch die grauenhafte Wirklichkeit
des Krieges, tief befremdet durch die Leichtigkeit, mit der sich
meine bisherigen Kollegen und Freunde dem Moloch zur Verfü-
gung stellten, und ich hatte auch schon die paar ersten Verluste an
Freunden, die paar ersten Angriffe, Drohungen und Beschimpfun-
gen erfahren, mit denen in sogenannten großen Zeiten die Gleich-
671

geschalteten unfehlbar den Einzelgänger überfallen. Es war zweifel-


haft, ob ich durchhalten, ob ich nicht an dem Konflikt zugrunde
gehen werde, der mein bis dahin eher glückliches und über Ver-
dienst erfolgreiches Leben jetzt zur Hölle machte. Da war es gut, da
war es Rettung und Glück, einen zu wissen, der aus dem ,feindli-
chenÂ, dem französischen Lager her denselben Protest des Gewis-
sens gegen die Forderung des Sichduckens und Mitmachens bei
den Orgien des Hasses und des krankgewordenen Nationalismus
geleistet hatte. Ich habe weder während der Kriegsjahre noch nach-
her je eigentlich politische Gespräche mit Rolland geführt, aber ich
weiß dennoch nicht, ob ich ohne seine Nähe und Kameradschaft
jene Jahre überstanden hätte.„32
Im Januar desselben Jahres hatte Hesse an seinen Sohn Heiner
geschrieben: ıIch meinerseits glaube nicht, daß nicht zwei oder
sechs oder zahllose Arten der Weltbetrachtung friedlich nebenein-
ander existieren könnten. Daß die Art, wie ein Mensch die Welt
betrachtet, ein Kampfmittel sei und sein müsse, sehe ich nicht ein.
Ich habe meinen Glauben, halb aus Herkunft, halb aus Erfahrung
stammend, und er hindert mich nicht, Andersgläubige mit Achtung
zu behandeln oder an irgendeinem Werk zur Verbesserung des
Menschenlebens mitzuarbeiten. Ein sehr großer Teil meiner Arbeit
im Leben hat in Arbeiten dieser Art bestanden, und in der Zeit von
1919 bis etwa 1925 hat die ganze pazifistisch und weltbürgerlich
denkende Jugend in Deutschland auf zwei Namen vor allen andern
geschworen, auf den von R. Rolland und auf den meinen. Rolland,
einst ein gläubiger Verehrer Gandhis und der Lehre vom ,Nichtan-
wenden von GewaltÂ, hat nachträglich dann die überaus blutige rus-
sische Revolution gutgeheißen und sich zum Kommunismus be-
kannt, was unsre Freundschaft in keiner Weise berührt und getrübt
hat. Jeder von uns wußte, daß die Welt nicht leben kann und nicht

32 Hesse: Politik des Gewissens, a.a.O., S. 767f.


672 Gilbert Merlio: Die Beziehung zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse

vorwärts kommt ohne Männer, die eines Glaubens und der Hin-
gabe an diesen Glauben fähig sind. So habe ich an meinen ,GottÂ
und er an seinen Kommunismus geglaubt, und jeder hat dem an-
dern das Recht auf seinen Glauben gelassen.„33
Ein paar Jahre später scheint doch diese weitmaschige Toleranz
nicht mehr so angebracht zu sein. In einem Brief an Wayne
Andrews aus dem Jahre 1958 erörtert Hesse ambivalente, opportu-
nistische Haltung von Gerhart Hauptmann und Richard Strauss im
Dritten Reich: ıBei R. Strauss war es ähnlich wie bei Hauptmann, er
gehörte zu den Leuten des Theaters, der massiven Wirkungen und
Erfolge, der Ovationen, Bankette und Ehrungen. Wir Steppenwölfe
und Einsiedler haben es leichter, uns diesen Lockungen fernzuhal-
ten. Über Rolland wage ich kein Urteil. Er war der Freund und Be-
wunderer Gandhis, aber auch aktiver Kommunist, also einverstan-
den damit, daß eine Weltverbesserung auch mit Gewalt und Terror
erreicht werde.„34 Rolland war Hesse vielleicht ein letzter Beweis
dafür, daß Politik kompromittiere, daß der Dichter auf keinen Fall
sich politisieren lassen dürfe: ıMeine Stellung ist bis zum Fanatis-
mus apolitisch [...]. Ich werde mich bis zum Tod dagegen wehren,
mich selber politisieren zu lassen. Es müssen doch auch Leute da
sein, die unbewaffnet sind.„35
In seiner Einleitung zu der deutschen Ausgabe des Briefwechsels
zwischen Romain Rolland und Hermann Hesse kehrt Albrecht
Goes den Unterschied in der Persönlichkeit beider Männer hervor:
ıHesses scheues Einsiedlertum, seine ,asiatische PassivitätÂ, der tap-
fer-bange, mühsame Lebensversuch eines Künstlers, des Künstlers
schlechthin – und auf der anderen Seite: der Liebesblick Romain
Rollands, Johann Christophs geistesmächtige Lebensleidenschaft,

33 Ebd., S. 738.
34 Ebd., S. 929.
35 Ebd., S. 615f.
673

das Verlangen danach, Anteil zu nehmen, sich zu verstricken, für


eine Idee zu streiten – was alles ihn, den elf Jahre älteren, oft genug
als den jüngeren in diesem Gespann erscheinen lässt.„36 Auf der
einen Seite also der unpolitische Deutsche Hesse; auf der anderen
Romain Rolland als Typ des engagierten französischen Intellektuel-
len. Welcher von den beiden hat den von Julien Benda gebrand-
markten ıVerrat der Intellektuellen„ nicht begangen?

36 Hesse, Rolland: Briefe, a.a.O., S. 6.


675

Die Gärten Epikurs in Sanssouci – Französische


Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.
von Preußen
Reinhart Meyer-Kalkus
676 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Potsdam 1740-1786: Ein Kapitel deutsch-französi-


scher Kulturbeziehungen
Dank der Forschungen von Hans Manfred Bock wissen wir
heute über die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und
Frankreich im 20. Jahrhundert mehr als über alle anderen Felder
europäischer Kulturbeziehungen. Mit unvergleichlicher Energie und
Kompetenz hat er Perzeptionen, Rezeptionen und Interaktionen
zwischen deutschen und französischen Intellektuellen zu seinem
wissenschaftlichen Lebensthema gemacht und dabei den staatlichen
und zivilgesellschaftlichen Institutionen ebenso Aufmerksamkeit ge-
schenkt wie den informellen Gemeinschaften und einzelnen Mittler-
figuren. Ich hatte das Glück, mit ihm zwischen 1985 und 1992 in
Paris intensiv zusammenzuarbeiten1 und habe dabei von seiner um-
fassenden Kenntnis, methodischen Umsicht und Sicherheit im Urteil
gelernt. Allerdings verspürte ich bei den gemeinsamen Unterneh-
mungen immer ein leises Ungenügen: Als Germanist, der seine
Kompetenzen im 17. und 18. Jahrhundert hat, konnte mich die
Konzentration aufs 20. Jahrhundert, mit sporadischen Ausgriffen
aufs letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, nicht restlos befriedigen.
Mußte man nicht eine historische Weitwinkelperspektive einneh-
men, um länger zurückreichende traditionsgeschichtliche Bezüge in
den Blick zu bringen? Gingen Diskurse, Wahrnehmungsmuster und
völkerpsychologische Clichés zwischen beiden Kulturen nicht bis
auf Romantik und napoleonische Ära zurück, ja auf den Siebenjäh-
rigen Krieg, auf Friedrich II. und Lessings Franzosenschelte – und
konnte man den ıNationalhaß„ gegen die Franzosen seit der Mitte
des 18. Jahrhunderts denn verstehen, ohne die hegemoniale Stel-
lung französischer Kultur an deutschen Höfen und in Kreisen der

1 Vgl. Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (Hg.): Entre
Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années trente,
2 Bde, Paris 1993.
677

Gebildeten seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts zu sehen,


ohne die abwertende Haltung gegenüber deutscher Sprache und
Literatur?
Nun sind solche Fragen nach Herkunft und Anfängen von
Wahrnehmungsmustern und Diskursen immer problematisch. Kul-
turen konstruieren Anfänge und Ursprünge immer wieder neu aus
dem Horizont gegenwärtiger Interessen und Legitimationsbedürf-
nisse. Aufgabe des kulturwissenschaftlich arbeitenden Historikers ist
es, hinter diese Konstruktionen zurückzugreifen, um die sozialen,
politischen und kulturellen Funktionen der Vergangenheitskonstruk-
tionen für Problemlagen der Gegenwart zu erkennen. Er wird es
dabei nicht beim Aufweiß von Überlieferungszusammenhängen be-
lassen, und auch nicht dabei, die kulturelle Mobilität, die diesen
Kristallisationen zugrunde liegt, um ihrer selbst willen zu thematisie-
ren. Vielmehr hat er die kulturellen Triebkräfte der Vergangenhei-
ten aufzuzeigen, die Gesellschaften jeweils zu mobilisieren wissen –
oder die sie neutralisieren, vergessen oder verdrängen. Gerade in
Krisenzeiten pflegen sie sich durch Rückgriffe in die Vergangenheit
ihrer selbst zu vergewissern, in Abgrenzung, Überbietung und Po-
lemik gegenüber hegemonialen Kulturen oder Nachbarkulturen –
blind dagegen, daß die Konstruktionsmittel dieser Vergangenheiten
häufig von eben dorther stammen. Rezeptionsbeziehungen und In-
teraktionen, kulturelle Mobilität und Migrationen liegen den kultu-
rellen Kristallisationen immer schon voraus.
Ich möchte an eine Episode der deutsch-französischen Kulturbe-
ziehungen aus dem 18. Jahrhundert erinnern, an der sich diese
doppelte Dialektik von kultureller Mobilität und Grenzziehung so-
wie von Erinnerung und Verdrängung besonders gut aufzeigen läßt.
Meine Wahl fällt dabei nicht von ungefähr auf die französischen
Epikureer am Hofe Friedrichs II. von Preußen während dessen lan-
ger Regierungszeit (1740-1786). Es handelt sich dabei um einen der
678 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

ersten Höhepunkte deutsch-französischer Kulturbeziehungen und


doch zugleich um ein Kapitel, das weithin in Vergessenheit geraten
ist. Schon deswegen verdiente es eine eingehendere Analyse. Doch
bietet sich diese Episode noch aus anderen Gründen an: Fällt sie
doch in eine Epoche, in der – zusammen mit militärischen und poli-
tischen Kräfteverschiebungen zwischen Deutschland und Frankreich
und in ganz Europa (und übrigens auch in den Übersee-Kolonien) –
ein grundlegender Umschwung stattfindet: Mit der Abkehr von der
hegemonialen Stellung der französischen Kultur und Sprache geht
eine Besinnung auf ıdeutsche Kunst und Art„ einher (so der Titel
der von Herder und Goethe 1773 herausgegebenen Publikation), es
findet ein unvergleichlicher Aufschwung deutscher Literatur und
Kultur in Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassik und Romantik
statt. Welche Funktion hatte dabei Friedrichs Selbstbehauptung im
Siebenjährigen Krieg, sein Sieg über die Franzosen, die Anfänge
von Patriotismus und Nationalbewußtseins in Deutschland? War
dies nur eine zufällige Gleichzeitigkeit, oder liegt vielleicht sogar
eine Interdependenz vor?
Goethe hat 1811 in Dichtung und Wahrheit angemerkt, daß die
Präsenz von Franzosen, die der preußische König und dessen Vater
und Großvater eingeladen hatten, den Deutschen in doppelter Hin-
sicht ıhöchst förderlich„ gewesen sei, zum einen weil sie dadurch
auf vielen Feldern, von den Wissenschaften bis zu den Bildungsan-
stalten, von der Ökonomie bis zur Alltagskultur unmittelbar berei-
chert worden seien, zum anderen, weil sie zur Ausbildung ihrer ei-
genen Sprache und Kultur provoziert worden seien. Ihnen sei gar
nichts anderes übrig geblieben, als auf die überragende Stellung der
französischen Kultur mit ıWiderspruch und Widerstreben„ zu rea-
gieren.2 Selbst die sonderbare Haltung des Königs, welcher den

2 Friedrich II., König von Preußen, und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts.
Texte und Dokumente, hg. von Horst Steinmetz, Stuttgart 1985, S. 272.
679

Neuanfängen einer deutschen Literatur um 1750 mit unverhohlener


Abneigung, ja mit Herablassung und Verachtung begegnete, habe
dazu beigetragen, daß die preußischen Untertanen und auch andere
Gebildete im norddeutsch-protestantischen Raum sich an diesem
Komplex der Nichtbeachtung durch den großen König hätten pro-
duktiv abarbeiteten müssen. Wie Goethe lakonisch schrieb: ıMan
tat alles, um sich von dem König bemerken zu machen, nicht etwa,
um von ihm geachtet, sondern nur beachtet zu werden; aber man
tatÊs auf deutsche Weise, nach innerer Überzeugung, man tat, was
man für recht erkannte, und wünschte und wollte, daß der König
dieses deutsche Rechte anerkennen und schätzen solle. Dies ge-
schah nicht und konnte nicht geschehen.„3
Diese merkwürdige Konstellation ist heute weitgehend aus dem
Bewußtsein der historisch Gebildeten verschwunden. Und dies mit
guten Gründen. Das Trauma der Nichtbeachtung durch den großen
König und die kulturelle Demütigung durch die französische Kultur
sind verdrängt und schließlich vergessen worden, mit ihnen aber
eine der wesentlichen Energien der kulturellen Selbstbehauptung
der Gebildeten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Kann
man die späteren deutsch-französischen Konstellationen ohne diese
Voraussetzungen verstehen? Liegt hier nicht eine Interdependenz,
statt nur zufällige Gleichzeitigkeit vor? Und werden in dieser ersten
Hochblüte deutsch-französischer Kulturbeziehungen nicht all jene
Diskurse, Wahrnehmungsmuster und Begriffe geprägt, die bis weit
ins 20. Jahrhundert hinein für die Wahrnehmung des anderen be-
stimmend bleiben sollten?
Die Geschichtswissenschaft hat für Friedrichs prekäres Verhältnis
gegenüber der deutschen Kultur kaum größeres Interesse aufge-
bracht. Selbst in der kürzlich erschienenen Biographie von Johannes
Kunisch, die mit vielen neuen Gesichtspunkten zum dynastischen

3 Ebd.
680 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Herrschafts- und Politikverständnis des Königs aufwartet, bleiben


dessen geistige Welt und seine Interaktion mit den deutschen Ge-
bildeten unterbelichtet; auch die spezifische deutsch-französische
Dialektik kommt zu kurz. In der an Intensität und Breite zuneh-
menden Aufklärungsforschung ist Friedrich II. hingegen immer
noch eine Randfigur, der ganze Komplex seines Epikureismus eine
terra incognita; wenn die französischen Epikureer an seinem Hof
überhaupt erwähnt werden, dann immer noch mit dem peinlichen
Berührtsein, wie es von Mendelssohn, Lessing und Schiller bekannt
ist. Gewiß, Friedrich habe vor dem Siebenjährigen Krieg mit diesen
Strömungen kokettiert, doch hätten sich danach sein Stoizismus und
seine Dienstauffassung gegenüber dem Amt durchgesetzt, so lautet
die gängige Meinung von Moses Mendelssohn4 und Christian
Garve5 über die borussische Friedrich-Enkomiastik bis hin zur DDR-
Geschichtsschreibung.6 Auch die Philosophiegeschichtsschreibung
konnte dieser zwischen Leibniz und Kant angesiedelten geistigen
Episode kein großes systematisches Interesse abgewinnen, Auf-
klärung und Epikureismus sind als Thema noch kaum in ihr Blick-
feld getreten, und Friedrich fristet allenfalls eine Fußnotenexistenz.
Die Literaturwissenschaft wiederum kaute die üblichen Franzosen
kritischen Äußerungen von Lessing wieder und stand der eigentüm-
lichen deutsch-französischen Dialektik in Preußen häufig schon aus
elementaren Mangel an Französischkenntnissen verständnislos ge-

4 Die „Trugschlüsse eines Epikur“ seien „für die Seele eines Marcus Aurelius viel zu
seichte“, schreibt Moses Mendelssohn in seiner Rezension von Friedrichs ‚Poésies
diverses‘, in: Briefe die neueste Literatur betreffend, Th. VI XVII. Den 24. April 1760.
98. Brief, zitiert nach: Gesammelte Schriften – Jubiläumsausgabe, Bd. 5,1, hg. von
Eva J. Engel, Stuttgart-Bad Cannstadt 1991, S. 187-199, S. 192.
5 Christian Garve: Über den litterarischen Karakter Friedrich des Zweiten, und über
einige seiner Werke, in: Neues Deutsches Museum, Leipzig 1/1789, S. 305-344, S.
483-521; 2/1790, S. 131-152; ders.: Fragmente zur Schilderung des Geistes, des
Charakters, und der Regierung Friederichs des zweyten, 2 Theile, Breslau 1798.
6 Ingrid Mittenzwei: Die philosophischen Ansichten Friedrich II., in: Friedrich II. von
Preußen: Schriften und Briefe, hg. von Ingrid Mittenzwei, 3. Aufl., Leipzig 1990, S. 5-57.
681

genüber: Friedrich II. ist allenfalls mit seiner schon 1781 übersetzten
Reformschrift Über die deutsche Literatur gegenwärtig geblieben.
Erst in jüngster Zeit zeichnet sich ein gewisser Umschwung ab:
So liegt inzwischen eine grundlegende Arbeit zum Verhältnis von
Friedrich und Voltaire vor,7 der lange verachtete La Mettrie gerät
wieder ins Blickfeld,8 die Forschungen zur Königlichen Akademie
der Wissenschaften werden intensiviert;9 und selbst Figuren wie der
Marquis dÊArgens, einer der engsten Freunde des Königs, erfreuen
sich wachsender Aufmerksamkeit.10 Nicht zuletzt gibt es eine Reihe
von kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Friedrich II. und sei-
nem Literatur- und Politikverständnis, die neue Fragen aufwerfen,11
an die auch Johannes Kunischs Biographie des Königs mit Gewinn
anknüpfen konnte.12 Was noch aussteht, ist die Neuvermessung des-
sen, was Dorothee Kimmich die ıepikureische Aufklärung„ genannt
hat13 – im Hinblick auf Friedrich II. und dessen intellektuelles, we-

7 Christiane Mervaud: Voltaire et Frédéric II: une dramaturgie des lumières 1736-1778,
Oxford 1985; Martin Fontius: Voltaire in Berlin. Zur Geschichte der bei G.C. Walther
veröffentlichen Werke Voltaires, Berlin 1966.
8 Ursula Pia Bauch: Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie
(1709-1751), München 1998.
9 Barbara Bauer: Die Anfänge der Berliner „Académie Royale des sciences“ im Urteil
der gelehrten Öffentlichkeit, in: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische
Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenais-
sance und Spätaufklärung, hg. von Klaus Garber und Heinz Wismann, Bd. 2, Tübin-
gen 1996, S. 1413-1453; Ursula Goldenbaum: Die Bedeutung der öffentlichen Debatte
über das Jugement der Berliner Akademie für die Wissenschaftsgeschichte. Eine kri-
tische Sichtung hartnäckiger Vorurteile, in: Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Eine
Bilanz nach 300 Jahren, hg. von Hartmut Hecht, Berlin 1999, S. 383-417.
10 Vgl. Friedrich der Große: Mein lieber Marquis! Sein Briefwechsel mit Jean-Baptiste
d’Argens während des Siebenjährigen Krieges, hg. von Hans Schumann, Zürich 1985,
dort bes. die Einleitung des Herausgebers: Friedrichs Freund d’Argens, S. 11-47.
11 Vgl. Martin Fontius: Der Ort des „Roi philosophe“ in der Aufklärung, in: Friedrich II.
und die europäische Aufklärung, hg. von Martin Fontius, Berlin 1997, S. 9-27; Hans-
Dieter Kittsteiner: Das Komma in Sans,souci, Heidelberg 2001.
12 Johannes Kunisch: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004.
13 Dorothee Kimmich: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Kon-
zepte der Selbstsorge, Darmstadt 1993; vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Epikureische
Aufklärung in Deutschland – Johann George Sulzers Gespräch mit Friedrich II. von
Preußen am 31.12.1777, in: Hyperboreus, Bd. 9, Sankt Petersburg 2003, S. 191-207.
682 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

sentlich durch Franzosen geprägtes Umfeld, wie auch im Hinblick


auf die tiefgründigen Reaktionen, die dieser Potsdamer Garten Epi-
kurs in Kreisen der protestantischen Aufklärung in Deutschland ge-
funden hat.

Die Niederlage der Franzosen bei Roßbach,


5. November 1757
Einer der wichtigsten deutschen Erinnerungsorte bis zur Zeit des
Ersten Weltkriegs, der heute allerdings in Vergessenheit geraten
ist,14 war Roßbach, ein kleiner Ort im Thüringischen zwischen
Merseburg und Naumburg. Hier errang Friedrich am 5. November
1757 mit einem Heer von rund 22.000 Soldaten gegen eine französi-
sche Übermacht von 60.000 Soldaten einen triumphalen Sieg. Den
Zeitgenossen erschien dieser Sieg als umso größer, als er aus
scheinbar aussichtsloser Position heraus errungen worden war und
eine militärische Demütigung der Franzosen darstellte, dergleichen
es noch keine in der gemeinsamen Geschichte gegeben hatte.
Johann Wilhelm Ludwig Gleim dichtete ein Siegesliede nach der
Schlacht bey Rossbach den 5ten November 1757, das später in
seine Preussischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757
von einem Grenadier (Berlin 1758) aufgenommen wurde:

Mit einem Blick konnt uns der Feind


querüber übersehn.
Verspottend sah er uns vereint,
Uns kleinen Haufen, stehn.

14 So wird seiner in den von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebenen
Deutsche Erinnerungsorte (München 2001-2002) auch nicht mehr gedacht. Immerhin
gibt es aber einen vorzüglichen Artikel zur Wirkungsgeschichte des Königs, vgl.
Frank-Lothar Kroll: Friedrich der Große, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, hg. von
Etienne Francois und Hagen Schulze, München 2001, S. 620-635.
683

Da dacht ein witziger Franzos:


Unrühmlich sei die Schlacht,
Sein Ludewig sey viel zu groß,
Zu wenig Friedrichs Macht.
Als aber Keith drauf vor uns her,
Der Britte, Feuer! rief,
Und Feuer war; o da war er
Der erste, welcher lief. ...
Franzose, nicht an Mann und Pferd,
An Heldenmuth gebrichts.
Was hilft dir nun dein langes Schwert
Und grosser Stiefel? Nichts!15
Die Revanche der Preußen und ihrer Verbündeten auf einem
Felde, wo sie seit jeher unterlegen gewesen waren und von den
Franzosen verachtet wurden, bewirkte eine patriotische Begeiste-
rung bislang unbekannten Ausmaßes. Der aufgeklärte Publizist und
Historiker Johann Wilhelm von Archenholtz (1741/43-1812) schrieb
dazu in seiner erstmals 1788 erschienenen Geschichte des Sieben-
jährigen Krieges in Deutschland von 1756 bis 1763 : ıDas Wort
Roßbach tönte noch viele Jahre nachher, vom Baltischen Meer bis
zu den Alpen, ohne Ansehn des Standes allen Franzosen entgegen,
die man beschimpfen wollte.„16 Archenholtz hat aus dem Abstand
von 31 Jahren auch eine ungemein prägnante Analyse der Rück-
wirkungen dieses militärischen Siegs auf das kulturelle Beziehungs-
gefüge zwischen Deutschen und Franzosen gegeben, die ausführlich
zitiert zu werden verdient: ıAlle Deutsche Völkerschaften, groß und
klein, ohne Rücksicht auf Partei, Reichs-Beschlüsse und eigenes In-

15 Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke, hg. von Walter Hettche,
Göttingen 2003, S. 92.
16 J.W. von Archenholtz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland von
1756 bis 1763, in: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Sie-
benjährigen Krieg, hg. von Johannes Kunisch, Frankfurt 1996, S. 117 (Bibliothek der
Geschichte und Politik, Bd. 9 des Deutschen Klassiker-Verlags).
684 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

teresse waren mit diesem Siege gegen die Franzosen zufrieden, den
man als einen National-Triumph ansah. Der zwischen benachbarten
Völker durch Verschiedenheit der Regierungsformen, der Gesetze
und Sitten, durch zahllose Eigenheiten, und noch mehr durch be-
ständige Kriege gewöhnliche Haß, war nicht allein die Ursache die-
ser Volksstimmung, die mehr oder weniger allen Europäischen Na-
tionen ohne Ausnahme, selbst den von Frankreich entlegenen, ei-
gen ist. Die Deutschen aber hatten außer den Gründen, die andre
Völker dazu vermochten, noch weit mehr Bewegungsgründe zu die-
sem National-Haß. Die den Franzosen gewöhnliche laute Verach-
tung des Deutschen Namens, des Deutschen Verdienstes, des Deut-
schen Genies, und der Deutschen Sprache; die Betörung Deutscher
Herrscher, groß und klein, von unwissenden Französischen Schwät-
zern, die sich in die Kabinette der Fürsten drangen, ihre Ratgeber,
und dadurch nur zu oft die Geißel des Staates wurden; dies hatte
seit einigen Generationen den fruchtbaren Samens des Hasses aus-
gestreut, der selbst bei den sanftmütigsten edelsten Menschen tiefe
Wurzel fassen mußte.„17
Ein doppeltes lag dem ıNationalhaß„ gegenüber den Franzosen
also zugrunde: einerseits die Reaktion auf die herablassende Hal-
tung französischer Autoren von Abbé Bouhours bis zu Voltaire ge-
genüber deutscher Sprache und Literatur, die zu einem kränkenden
Topos geworden war, der in Deutschland von vielen Interessierten
nur zu gerne aufgegriffen und reproduziert wurde; andererseits die
Zurücksetzung deutscher Gebildeter im höfischen und vom Hof be-
stimmten öffentlichen Leben gegenüber Franzosen und anderen
Ausländern. Lessing und Winckelmann hatten gegenüber schwä-
cheren französischen Bewerbern um Bibliothekarsstellen in Potsdam
und Berlin das Nachsehen gehabt, Mendelssohn war der Eintritt in

17 Ebd., S. 115.
685

die Königliche Akademie der Wissenschaften verwehrt worden,18


und viele andere gebildete Bürgerliche erhielten in Preußen nicht
die Positionen, für die sie qualifiziert waren. ıTraten verdienstvolle
deutsche Gelehrte und Künstler mit ihren Produkten ihres Fleißes
auf„, so Archenholtz, ıso wurden sie von Deutschlands Fürsten mit
einem kalten Dank, höchstens mit einer Schaumünze, am gewöhn-
lichsten aber mit gar nichts belohnt, dahingegen man minder wich-
tige Werke dieser Art von Franzosen mit Bewunderung aufnahm,
und mit ansehnlichen Geldsummen erwiderte; Französische Gauk-
ler aber erhielten für ihre Possen Diamanten.„19 Archenholtz diffe-
renziert sehr genau zwischen der ıVerachtung„ der Franzosen durch
den ıDeutschen Pöbel„, der ımit den Verdiensten der Französi-
schen Nation unbekannt„ war, und dem davon unterschiedenen
ıSchmerz„ der ıaufgeklärten Deutschen aller Stände„, die sehr wohl
eine ıentschiedene Hochachtung für die hohe Kultur dieses großen
Volks hatten„, sich aber gekränkt fühlten, daß sie von diesem ıso
unverdient herabgewürdigt„ wurden.20 Die Ressentiments beider
Gruppen konvergierten in einem ıNationalhaß„, der sich nach der
Schlacht in Roßbach in einem ersten Triumphgefühl entlud, beglei-
tet von Siegesgesängen, Legendenbildungen, Spott, piktorialen Dar-
stellungen und Schauspielen.
Archenholtz beschreibt anschaulich, wie der Sieg bei Roßbach
eine Welle des Patriotismus und Nationalgefühls hervorrief, die mit
einer Blüte deutscher Kultur einherging. Durch diesen ıaußeror-
dentlichen Kriege„ seien ıso viel andre Geisteskräfte entwickelt

18 Vgl. Eva Engel-Holland: Lessing, Mendelssohn, Friedrich II. Das Jahr 1771, in:
Mendelssohn-Studien 7/1990, S. 21-38; mit kleineren Ungenauigkeiten auch Barbara
Becker-Cantarino: in: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition.
Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und
Spätaufklärung, hg. von Klaus Garber und Heinz Wismann, Bd. 2, Tübingen 1996, S.
1454.
19 Archenholtz, a.a.O., S. 115f.
20 Ebd., S. 116.
686 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

[worden]. [...] Mitten unter diesen Blut-Szenen, in diesen Tagen der


Verwüstung und des ausdruckslosen Jammers [brach] für die von
Friedrich verachtete Deutsche Literatur die schönste Morgenröte an
[...]. [Und auch] auf den wissenschaftlichen Feldern [geschahen]
Riesenschritte, deren Größe die fremden Nationen aus Mangel an
Sprachkenntnis noch jetzt nicht zu beurteilen vermögen.„21 Helmut
Scheuer hat von der ıGeburt der Nation aus dem Geiste des Krie-
ges„22 gesprochen, und diese Formulierung scheint zumindest für
die Deutung des Geschehens durch von Archenholtz plausibel,
wenn dieser zum Schluß seines populären Werks schreibt: ıNun
fing die große Kultur-Epoche der Deutschen an; ein National-Glück,
das durch den Willen des Schicksals von jeher bei den berühmte-
sten Völkern unter den schrecklichsten Kriegen erzeugt wurde. [...]
Dies war auch in Friedrichs Zeitalter das erhabene Los der mit ihren
schweren Sprache ringenden, und gegen zahllose Vorurteile andrer
Nationen kämpfenden Deutschen. Während daß Europa ihre Taten
auf den Schlachtfeldern anstaunte, pflanzten sie unvergängliche
Tropheen im Reiche des Wissens, und nahmen als ein hoch ausge-
bildetes Volk in Minervens Tempel die Ehrenstelle ein, die seit Jahr-
tausenden nur sehr wenig Nationen zu Teil wurden. Der durch den
beständigen Anblick außerordentlicher Kriegs-Szenen erhöhete Geist
der Deutschen nahm jetzt eine andre Richtung, und umspannte das
unermeßliche Feld der menschlichen Forschungen. [...].„23
Eine solche Wechselwirkung zwischen Kriegsglück gegenüber
den Franzosen, Entstehung eines deutschen Patriotismus und Auf-
schwung in Wissenschaft, Literatur und Künsten ist zu jener Zeit, als
Archenholtz seine Geschichte des Siebenjährigen Krieges verfaßte,
freilich mehr Postulat als Wirklichkeit gewesen. Aufgrund der terri-

21 Ebd., S. 400.
22 Helmut Scheuer, zitiert von Johannes Kunisch in seinem Kommentar zu Aufklärung
und Kriegserfahrung, a.a.O., S. 788.
23 Ebd., S. 497f.
687

torial-politischen Zersplitterung von Deutschland und der religiösen


Trennungslinien insbesondere zwischen dem protestantischen Nor-
den und dem katholischen Süden bildeten die Deutschen noch
lange keine Nation, wie etwa die Engländer oder Franzosen.24 Was
in Preußen geschah, wurde in Sachsen und unabhängigen Fürsten-
tümern wie Weimar-Erfurt skeptisch oder gar feindlich betrachtet,
Bayern oder gar Wien standen auf der gegnerischen Seite. Goethes
ambivalente Stellung gegenüber Friedrich II. ist ein sprechendes
Zeugnis dafür – Bewunderung von früher Jugend an, dann kriti-
scher Abstand während der Leipziger Studienzeit unter dem Ein-
druck der sächsischen Umwelt und eine ambivalente Einschätzung
während seines Berlin-Besuchs 1779, schließlich in der Weimarer
Zeit der Versuch, die überragende Stellung dieses Königs angemes-
sen zu würdigen. Auch wäre Archenholtz dahingehend zu korrigie-
ren, daß der Franzosenhaß als ıNationalhaß„ keineswegs alle ver-
schiedenen Gruppen und Regionen im Reich vereinigte, besonders
nicht in den Rheinlanden. Nicht zuletzt war die ıgroße Kultur-Epo-
che der Deutschen„ im stillen seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts,
ja seit dem Ausgang aus dem europäischen Humanismus um 1600
vorbereitet worden. Was nach 1750 aufblühte, hatte tiefer zurück-
reichende Wurzeln und sozial- und bildungsgeschichtliche Voraus-
setzungen. Dennoch hatte sich mit dem Kriegsglück Friedrichs II.
eines entscheidend verändert: die Stellung der französischen Kultur
und Sprache in Deutschland.
Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert hatten die Höfe in Deutsch-
land Maß an Versailles und dem dort mit einzigartiger Pracht und

24 In Gleims Siegesliede nach der Schlacht bey Rossbach den 5ten November 1757 wer-
den die einzelnen deutschen Landsmannschaften portraitiert, die als Verbündete der
Franzosen in die Schlacht gegangen waren, von den Würtenbergern bis zu den Pfäl-
zern, von den Münsterländern bis zu den Bayern. „Preußen“ war mithin keineswegs
gleichbedeutend mit „Deutschland“, vielmehr Antipode des von Wien beherrschten
Deutschen Reichs.
688 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Intellektualität entfalteten höfischen Leben genommen. Und deut-


sche Philosophen und Autoren hatten die französische Kultur zum
Vorbild in Deutschland erhoben. Christian Thomasius hielt um
1700 in Halle seinen Discours, welcher Gestalt man denen Frantzo-
sen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle. Er begrün-
dete darin die neuen Normen eines für la cour et la ville bestimm-
ten Lebens, ıhonnêteté, gelehrsamkeit, beauté dÊesprit, un bon goût
und galanterie.„25 Noch 30 Jahre später versuchte Johann Christoph
Gottsched in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die
Deutschen die deutsche Literatur durch die strikte Orientierung an
der französischen Doctrine classique zu begründen, an Schriftstel-
lern wie Boileau, Corneille, Racine, Molière, Lafontaine etc. Und
selbst Friedrich II. wußte den Deutschen nach 1780 nichts besseres
zur Erneuerung ihrer Literatur und Kultur zu empfehlen als die
Nachahmung antiker und vor allem französischer Schriftsteller des
Siècle Louis XIV.26 Erst vor diesem Hintergrund einer immer wie-
der behaupteten, und selbst vom preußischen König, dem Sieger
über die Franzosen, verfochtenen Superiorität der französischen
Sprache und Kultur über die deutsche kann man die Tiefe des kul-
turellen Wandels in der Mitte des 18. Jahrhunderts im nördlichen
Deutschland ermessen. Ein neues ıKönnensbewußtsein„ (Christian
Meier) entstand hier, verbunden mit einem Selbstbewußtsein, das
sich in ıWiderspruch und Widerstreben„ (Goethe) gegen die Fran-
zosen formierte.

25 Christian Thomasius: Discours/Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem


Leben und Wandel nachahmen solle, in: Deutsche Schriften, hg. von Peter von Düffel,
Stuttgart 1970, S. 45.
26 Friedrich II. und die deutsche Literatur, a.a.O., S. 74f.
689

Franzosen am Hofe Friedrich II.


Für die aufgeklärten Beobachter der Entstehung eines deutschen
Nationalbewußtseins war die Haltung von Friedrich II. – seine uner-
schütterliche Liebe zur französischen Sprache und Kultur und sein
Ressentiment gegenüber der deutschen – nicht leicht begreiflich zu
machen. Friedrich habe die Entstehung einer deutschen Literatur zu
Lebzeiten ıaus (einem) Vorurteil verkannt„, das ıselbst seine partei-
losen gelehrten Freunde nicht besiegen konnten„,27 meinte etwa
Archenholtz. Es sei vielleicht sogar die Unterredung des Königs mit
dem witz- und geistlosen Gottsched in Leipzig 1757 gewesen, die
ihn in seiner vorgefaßten nachteiligen Meinung bestärkt habe.
Gottscheds Auftreten und sein ıfälschlich erworbener Ruhm bei
seinen eingeschränkten Fähigkeiten, und sein gänzlicher Mangel an
Witz und Geschmack [...] entschieden sein Urteil über diesen Ge-
genstand für sein ganzes übriges Leben.„28 Gottsched hatte sich ja
schon für Lessing als Bête noire und Witzfigur empfohlen.
Wesentlich differenzierter hat Goethe geurteilt. Er hatte Bewun-
derung für den König trotz aller Ambivalenzen des Urteils zu unter-
schiedlichen Lebensphasen: Wie könne man ıvon einem König, der
geistig leben und genießen will, verlangen, daß er seine Jahre ver-
liere, um das, was er für barbarisch hält, nur allzu spät entwickelt
und genießbar zu sehen?„29 so hat er in Dichtung und Wahrheit ge-
fragt. Mit der Formulierung ıgeistig leben und genießen„ wies Goe-
the in eine Zone geistiger Interessen, die fernab vom Bild der kon-
ventionellen Friedrich-Verehrung lag. Goethe hat denn auch die
Polemik des Königs gegen sein Jugenddrama Götz von Berlichingen
in De la littérature allemande (1780) mit einer Handbewegung bei-
seite gewischt. Der große König habe anderes im Sinne gehabt, als

27 Kunisch: Aufklärung und Kriegserfahrung, a.a.O., S. 402.


28 Ebd., S. 403.
29 Friedrich II. und die deutsche Literatur, a.a.O., S. 272.
690 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

diese ersten Früchte deutscher Literatur zu kosten, so hat er unmit-


telbar nach der ersten Lektüre dieser Schrift gesagt. ıEin Vielgewal-
tiger, der Menschen zu Tausenden mit einem eisernen Scepter
führt, muß die Production eines freien und ungezogenen Knaben
unerträglich finden. Überdies möchte ein billiger und toleranter Ge-
schmack wohl keine auszeichnende Eigenschaft eines Königes seyn,
so wenig sie ihm, wenn er sie auch hätte, einen großen Nahmen er-
werben würde, vielmehr, dünkt mich, das Ausschließende zieme
sich für das Große und Vornehme.„30
Tatsächlich lebte Friedrich II. seit seiner Kindheit in einer ge-
genüber der deutschen Literatur und Sprache abgedichteten Welt.
In der jüngst erschienen Biographie von Johannes Kunisch Friedrich
der Große. Der König und seine Zeit (München 2004) wird dieser
bildungsgeschichtlichen Voraussetzung seiner intellektuellen Exi-
stenz gebührend Beachtung geschenkt. Kunisch stellt dar, wie der
König von seiner Kindheit an von französischsprachigen Erziehern,
Ratgebern, Vorlesern und Kammerherrn umgeben war. Die ersten
Lebensjahre verbrachte er unter der Fürsorge von Madame de Ro-
coulles, mit vier Jahren wurde er Jacques Egide Duhan de Jandun,
einem hugenottischen Refugié anvertraut, der sein précepteur wur-
de.31 Friedrich rühmte Duhan in seiner Gedächtnisrede 1746 nach,
daß er ihm den Eifer für den Ruhm verdanke, der ıso charak-
teristisch für den französischen Adel [...], die heroischen Tugenden
und glänzenden Eigenschaften [sei], welche wir so lieben und ganz
Europa bewundert.„32 Das Idealbild des honnête homme war für
Friedrich zeitlebens verpflichtend, und mit ihm andere höfische
Verhaltensnormen wie Esprit, Galanterie, bon goût, gloire und welt-
kluges Verhalten, zu dem auch Simulation und Dissimulation der

30 Goethe an Jenny von Voigts am 21.6.1781, Briefe, Hamburger Ausgabe, S. 362f.


31 Kunisch: Friedrich der Große, a.a.O., S. 13.
32 Ebd., S.15f.
691

eigenen Affekte gehörten.33 Frühzeitig erschloß sich dem Kron-


prinzen die französische Literatur, in kurzer Zeit brachte er es zu
einer Bibliothek von beinahe viertausend Bänden, darunter vor al-
lem von französischen Autoren des grand siècle und der Gegen-
wart.34 Eine der nachhaltigsten Lektüreeindrücke war Fénelons
Télémaque, sehr bald kam Voltaire hinzu. Es ist gerade der Selbst-
behauptungskampf gegenüber dem despotischen Vater und die
Abkehr von dessen Bildungshorizont, die Friedrichs Vorlieben fürs
Französische und seine tiefsitzenden Ressentiments gegenüber allem
Deutschen prägten.35
Die poetischen und geschichtlichen, philosophischen und kriegs-
wissenschaftlichen Texte, die Friedrich in seiner Kronprinzenzeit zu
schreiben beginnt, sind in französischer Sprache. Friedrich war ein ob-
sessiver Gelegenheitsdichter, seine Oden, Epîtres, komischen Helden-
gedichte und anderen gereimten Versen umfassen in den von Preuß
um 1850 herausgegebenen fiuvres de Frédérique nicht weniger als
sechs Teilbände. Diese Dichtungen spannen sich zeitlich von der
Rheinsberger Kronprinzenzeit bis in die letzten Lebensjahre, mit
dem Schwerpunkt auf den ersten 20 Regierungsjahren.36

33 Vgl. auch Fontius: Ort des „Roi philosophe“, a.a.O.


34 Kunisch: Friedrich der Große, a.a.O., S. 19.
35 Ebd., S. 55f.
36 Sein Biograph Kunisch hat folgendermaßen über diese Poesie geurteilt: „Seine Dicht-
kunst ist ganz der schulmäßigen, starren, unmittelbarer Empfindung und Imagination
sich entziehenden Regelhaftigkeit der nachklassischen französischen Literatur ver-
pflichtet. Sie trägt unverkennbar den Stempel einer Epoche, die mit der Überschrift
‚La poésie sans poésie‘ charakterisiert worden ist. Auch die Inhalte dieser Dichtkunst
sind von Stereotypen geprägt.“ (Ebd., S. 67f.). Die Sprache verrät die Wertungsge-
sichtspunkte des Biographen: „Regelhaftigkeit“ und „Konvention“ im Unterschied zu
„individueller Erfahrung und spontaner Inspiration“, das sind die normativen Ge-
sichtspunkte, die mit Klopstock, Herder und Goethe in die deutsche Literatur kom-
men und eine Revolution der Ausdrucksformen bewirken. Friedrich gehört stilge-
schichtlich nach in eine ältere Epoche, ins französische Rokoko, seine Poetik ist an
höfischen Normen und vor allem an Voltaire orientiert. Zu Recht bemerkt Kunisch,
daß es in dieser Zeit „zum guten Ton“ gehörte, „sich in Versen mitzuteilen und dabei
Muße, Zerstreuung und Trost zu finden, ähnlich wie beim Musizieren und Komponie-
ren. Gedichte zu schreiben hatte demnach auch eine gesellschaftliche Funktion und
692 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Friedrich hat sich denn auch in seinen Regierungsjahren vor al-


lem mit französisch sprechenden Vertrauten und Vorlesern umge-
ben. J. Kunisch spricht von seiner ıGallomanie„ und einer ıim Alter
sich eher noch verstärkenden Präferenz.„37 Für die Auswahl seiner
Vorleser, die ihm vor allem zu Sekretärsarbeiten und zur literari-
schen Unterhaltung dienten, war die Beherrschung des Französi-
schen ausschlaggebend – neben Werten wie Honnêteté, Diskretion,
Esprit und Bildung. Zu den insgesamt sieben Vorlesern gehörten in
der Reihenfolge ihrer Anstellung der in Berlin ansässige Hugenotte
Charles Etienne Jordan, die Franzosen Claude Etienne Darget,
Julien Offray de La Mettrie und Abbé Martin de Prades, sodann
der Schweizer Henri de Catt, schließlich die Franzosen Abbé Henri-
François Duval de Peyrau und Charles Dantal.38 Wie überliefert
wird, legte der König besonderen Wert auf eine einwandfreie Aus-
sprache des Französischen. Dieses ıstellte jenes Kriterium dar, das
sowohl für die Konversation, die der König mit den Vertrauten sei-
ner Umgebung zu führen wünschte, als auch für die konkret zu

gehörte als geistreich-spielerischer Zeitvertreib zu den subtileren Formen höfischen


Divertissements. Insofern wird in der Poesie des ‚Philosophen von Sanssouci‘ sicher-
lich nicht der Kern seines schöpferischen Wesens vermutet werden dürfen, selbst
wenn er auch auf diesem Gebiet erheblichen Ehrgeiz entfaltete und zeitlebens be-
strebt war, mit Unterstützung seiner Vorleser und besonders auch Voltaires zu einer
Vervollkommnung seiner Ausdrucksmöglichkeiten zu gelangen.“ (Ebd., S. 68). Das ist
der springende Punkt: Verse zu schreiben war kein gesellschaftssprengender Akt ra-
dikaler Selbstentblößung oder prophetischer Sehergabe, sondern vielmehr eine Tätig-
keit, die jeder mit den sciences und belles lettres Vertraute beherrschen mußte, als
eine Form gesellschaftlich-galanter Kommunikation. Poesie war eine Form anspruchs-
vollster sprachlich vermittelter Geselligkeit, bei der es darauf ankam, die Distanz ge-
genüber anderen wie auch gegenüber sich selber zu wahren. „Gleichwohl ist seine
Dichtkunst als ein Medium zu betrachten“, so Kunisch, „dem er unter dem Firnis arti-
fizieller Überhöhung und konventioneller Rhetorik Empfindungen und Reflexionen
anvertraute, die durchaus persönliche Züge tragen und den Radius brieflicher und
schriftstellerischer Äußerungen überschreiten. Er wollte mit seinen Oden und Epi-
grammen belehren, aber zugleich auch unterhalten und gefallen, Ergriffenheit evo-
zieren und überraschen.“
37 Kunisch: Friedrich der Große, a.a.O., S. 314.
38 Ebd., S. 305-315.
693

übernehmenden Aufgaben eines Privatsekretärs und Korrektors


maßgeblich war.„39
Der Arzt und Philosoph La Mettrie (1709-1751) war gewiß die
schillerndste und kontroverseste Figur unter Friedrichs engeren Ver-
trauten. Er trat auf Empfehlung seines Landsmanns Maupertuis als
Sekretär und Vorleser in die Dienste des Königs und war ein anre-
gender Plauderer, ja eine Art von Hofnarr.40 Während seines Auf-
enthalts in Potsdam und Berlin schrieb er – neben medizinischen
Abhandlungen – provozierende Traktate über die Philosophie des
Genusses und über Wollust, die selbst von Friedrich wie auch den
Wortführern der französischen Aufklärung (wie Voltaire und Dide-
rot) als geschmacklos verurteilt wurden. Auch der junge Lessing
machte sich über La Mettrie nach dessen Tod her. Eine Art von
Genugtuung herrschte in Deutschland über seine Todesart im Jahre
1751, als der gerade 41jährig an den Folgen eines Festmahls starb,
sei es, weil er sich überessen hatte, sei es, weil er eine Lebensmit-
telvergiftung durch verdorbenes Fasanenfleisch erlitten hatte.41 Daß
Friedrich solche schillernden Figuren in seiner nächsten Umgebung
nicht nur tolerierte, sondern offenkundig an ihnen Vergnügen fand
und ihnen Stipendien und Pensionen gewährte, gehört zur Physio-
gnomie dieses für verletzende Späße und Verunglimpfungen emp-
fänglichen Königs, der radikale Außenseiter tolerierte, solange sie
ihn geistig unterhielten.

39 Ebd., S. 314.
40 Ebd., S. 308. Friedrich schrieb in seiner Eloge de La Mettrie: „Le titre de Philosophe
& de malheureux fut suffisant pour procurer à M. la Mettrie un asyle en Prusse, avec
une pension du Roi. Il se rendit à Berlin au mois de Février de l’année 1748, où il fut
reçu Membre de l’Académie Royale des Sciences. La Médecine le revendiqua à la Mé-
taphysique, & il fit un traité de la Dyssenterie, & un autre de l’Asthme, les meilleurs
qui aient été écrits sur ces cruelles maladies. Il ébaucha différens ouvrages sur des
matieres de Philosopie abstraite qu’il s’étoit proposé d’examiner […].“ Eloge de La
Mettrie, in: Œuvres du Philosophe de Sans-Souci, Bd. 3/2, S. 130.
41 Kunisch: Friedrich der Große, a.a.O., S. 314.
694 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Neben den Vorlesern umgab sich der König mit einigen engeren
Vertrauten, mit denen er literarisch-künstlerische Geselligkeit pflegte.
Französisch war auch hier die Sprache des Umgangs. Viele von
ihnen ernannte er zu Kammerherrn oder erhob sie sogar in den
Adelsstand. Dazu gehörten etwa der schillernde Weltmann Karl Lud-
wig von Poellnitz, der italienische Marchese Girolamo Lucchesini,
der in den Grafenstand erhobene italienische Schöngeist Francesco
Algarotti (1712-1764), der englische Lordmarschall George Keith und
der französische Philosoph Maupertius (1698-1759), den der König
zum Präsidenten der Königlichen Akademie der Wissenschaften
machte. In diesem Kreis von Vertrauten, die nicht von ungefähr
keine preußischen Untertanen waren, weilte für zweieinhalb Jahre
auch Voltaire (1750-1753).42
Sich mit den berühmtesten dichterischen und philosophischen
Köpfen der Zeit zu schmücken, war übrigens nicht nur eine persön-
liche Vorliebe von Friedrich, sondern entsprach dem Anspruch auf
geistige Repräsentation, wie er seit dem Siècle Louis XIV in ganz
Europa als verpflichtend galt. Im Gegensatz zu dem im 20. Jahr-
hundert aufgebrachten Cliché von der Unversöhnlichkeit von
Macht und Geist (besonders in Deutschland) betrachteten es die
absolutistischen Herrscher vor der Französischen Revolution als
selbstverständlich, daß sie die hervorragendsten Geister ihrer Zeit
an sich zogen (gleichviel welcher Nationalität sie waren), um sie als
Ratgeber oder zur Mehrung des eigenen Ruhmes zu nutzen.43 Auch
die französische Krone warb um Voltaire, dem sie zeitweise das
Amt des Geschichtsschreibers übertrug. Ein aufschlußreiches Bei-

42 Vgl. Theodore Besterman: Voltaire, München 1971, S. 259-283.


43 Ein sprechendes Detail dafür ist die Tatsache, daß Friedrichs jüngere Schwester
Luise Ulrike, die Königinwitwe Schwedens und Begründerin der schwedischen Aka-
demie der Wissenschaften, 1772 das Gespräch mit Moses Mendelssohn suchte, der
soeben von ihrem Bruder Friedrich als Akademiemitglied zurückgewiesen und im
persönlichen Umgang geschnitten wurde, vgl. Engel-Holland, a.a.O., S. 38.
695

spiel für diese Wertschätzung der Philosophen als Prestigeobjekte


aufgeklärten Herrschertums im 18. Jahrhundert ist die Reise von
Denis Diderot zur russischen Zarin nach Sankt Petersburg im Jahre
1773/ 74, die ihn auch durch Deutschland führte: Friedrich setzte alle
Hebel in Bewegung, um mit dem Herausgeber der Encyclopédie
eine Audienz herbeizuführen. Doch vergebens, Diderot hegte eine
tiefe Abneigung gegen Friedrich, betrachtete ihn als Musterbeispiel
eines skrupellosen Despoten und mied ihn.44
Friedrich warb auch um den Mitherausgeber der Encyclopédie,
Jean le Rond dÊAlembert (1717-1783). Diesen wollte er als Nachfol-
ger von Maupertius für das Amt des Präsidenten der Königlichen
Akademie gewinnen. Doch dÊAlembert lehnte ab, ohne daß das
Verhältnis zum König belastet wurde. Friedrich fuhr fort, ihn re-
gelmäßig wegen der Nominierung von Mitgliedern der Akademie
der Wissenschaften zu konsultieren und unterstützte ihn mit einem
Stipendium. Nach dÊAlemberts Tod trat er mit dem Mathematiker
und Philosophen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de
Condorcet (1743-1794) in Verbindung.45 All diese Kontakte sind
Beispiele für die auch von anderen deutschen Fürsten geübte Pra-
xis, die meinungsbildenden französischen Intellektuellen der Zeit als
Ratgeber zu gewinnen, finanziell zu fördern und zur Steigerung des
Prestiges in den eigenen Machtbereich zu ziehen, wobei Friedrich
freilich – entsprechend seines Selbstverständnisses als König und
Philosophe de Sanssouci – hohe eigene geistige Ambitionen hatte,
die von den Gesprächspartnern auch anerkannt wurden.
Immerhin gewann er den Mathematiker und Polyhistor Pierre-
Louis Moreau de Maupertuis, der zu seinen Lebzeiten als europäi-
sche Zelebrität galt, für das Amt des Präsidenten der Königlichen

44 Vgl. Adrienne Hytier: Le philosophe et le despote: histoire d’une inimitié. Diderot et


Frédéric II., in: Diderot Studies, hg. von Otis Fellows, Genf 1964, S. 55-87, bes. S. 73ff.
45 Vgl. Kunisch: Friedrich der Große, a.a.O., S. 289.
696 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Akademie. Nachdem er 1742 zum Direktor der Académie des


Sciences in Paris berufen worden war, bewog ihn der König, 1746
nach Berlin zu kommen.46 Erst der ehrenrührige Streit mit Voltaire
veranlaßte ihn 1756 dazu, sein Amt als Akademiepräsident nieder-
zulegen und nach Frankreich zurückzukehren. Allerdings gelang es
ihm, Gelehrte wie den Schweizer Jean Bernard Merian, Julien
Offray de La Mettrie und Johann Friedrich Meckel für Berlin zu
gewinnen und der Akademie damit Glanz zu verleihen.
Das engste und freundschaftlichste Verhältnis unterhielt Fried-
rich – außer mit seiner Schwester Wilhelmine und dem Bruder
Heinrich – über ein Vierteljahrhundert hinweg mit dem Marquis
dÊArgens (1704-1771), seinem bevorzugten Gesprächspartner und
Briefadressaten. DÊArgens war 1742 nach Berlin gekommen, dort
Kammerherr, dann auch Direktor der Klasse belles lettres der Aka-
demie und kurze Zeit Direktor der Schauspiele geworden.47 Er war
dem König bei seinen schriftstellerischen Arbeiten behilflich,48 gab
zusammen mit ihm 1765 eine Auswahl aus Pierre Bayles Diction-
naire heraus und war einer der vertrautesten Gesprächspartner. Der
Briefwechsel zwischen beiden Männern erstreckt sich von 1741 bis
1769, also fast über drei Jahrzehnte, und ist neben dem Briefwechsel
mit Voltaire, der Schwester Wilhelmine und dem Bruder Heinrich
der menschlich und philosophisch bedeutendste.49 Besonders in der
Zeit des Siebenjährigen Krieges ist dÊArgens der bevorzugte Ge-
sprächs- und Briefpartner. Nach dem Siebenjährigen Krieg kühlte

46 Vgl. ebd., S. 288.


47 D’Argens hat selber über seine Beziehungen zum König geschrieben in seiner His-
toire de l’esprit humain, Berlin 1768, Bd. 12, S. 379-385: „Les bontés du Roi n’ont ja-
mais été diminuées, j’écris ceci dans son palais de Sans-souci, où il m’a donné un ap-
partement; j’ai l’honneur de lui faire ma cour une partie du jour …“ (S. 381); Vgl. auch
Johann David Erdmann Preuss: Friedrich der Grosse mit seinen Verwandten und
Freunden, Berlin 1838, S. 123f., S. 318-324.
48 Offenbar besorgte d’Argens die Drucklegung der autorisierten Fassung der Poésies
diverses 1760 bei Voß in Berlin.
49 Vgl. Œuvres de Frédéric le Grand, Bd. XIX, Berlin 1852.
697

sich das Verhältnis allerdings infolge der fordernden, ja despotisch-


zudringlichen Art des Königs und der abwehrenden Haltung des
hypochondrischen Marquis mehr und mehr ab. Friedrich hat
dÊArgens zahlreiche poetische Epîtres, also gereimte Freundschafts-
briefe, und andere Gelegenheitsgedichte bzw. Lettres en vers et
prose gewidmet, die zu den besten aus seiner Feder gehören.50
DÊArgens hatte nicht den philosophischen und schriftstelleri-
schen Rang von Voltaire, Diderot oder dÊAlembert, doch war er ein
Mann ıvon ausgreifender Kennerschaft und Belesenheit, ein Lieb-
haber der Wissenschaften und Künste, ein Parteigänger im antikle-
rikalen Kampf gegen Fanatismus, Dogmatismus und Unduldsam-
keit.„51 Er war frühzeitig als produktiver Autor hervorgetreten, vor
allem mit ı Jüdischen„, ıChinesischen„ und ıKabbalistischen Brie-
fen„ im Stil von Montesquieus Lettres persanes, in denen er aus ver-
fremdender Perspektive die Herrschaft der Jesuiten und den Miß-
brauch der Religion bekämpfte, darüber hinaus über Literatur und
Künste, Wissenschaft und Politik seiner Zeit räsonierte. Durch diese
Briefe war er zu einer gewissen Berühmtheit in Europa gelangt, we-
niger bekannt war, daß er auch der anonyme Verfasser einer Reihe
von erotischen und pornographischen Romanen war, darunter Thé-
rèse philosophe, ou Mémoires pour servir à lÊhistoire du P. Dirrag,
& de Mademoiselle Eradice (2 Bde, Paris 1748), ein roman philo-
sophique, der auf einer tatsächlichen Skandalgeschichte eines Prie-
sters mit einer Schutzbefohlenen beruhte und eine der grausam-
treffendsten Verunglimpfungen der Vertreter der katholischen Kir-
che darstellte (die leider von perennierender Aktualität ist).

50 Ein Teil der Korrespondenz wurde bereits in den Œuvres posthumes de Frédéric II.
1788 gedruckt, und dann ins Deutsche übersetzt. Diese Übersetzung erschien 1798:
Briefwechsel zwischen Friedrich dem Zweiten, König von Preußen, und dem Marquis
d’Argens. Nebst den poetischen Episteln des Königs an den Marquis, Königsberg 1798.
51 Hans Schumann, in seiner Einführung zu Friedrich der Große: Mein lieber Marquis,
a.a.O., S. 24f.
698 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Schließlich veröffentlichte dÊArgens auch philosophische Schrif-


ten in einer für das höfische Publikum, für Damen und Kavaliere
ansprechenden kolloquialen Manier. Er zeigte sich hier als Vertreter
des Skeptizismus und der Philosophie des bon sens, was ihm heute
wieder eine gewisse Aufmerksamkeit sichert. Anknüpfend an den
englischen Skeptizismus von Locke stellt er die Gewißheit unserer
auf den Sinnen beruhenden Erfahrung in Frage, darüber hinaus un-
sere Urteile über Gott, die Unsterblichkeit der Seele und Gestalt
und Größe des Weltraums. In einer für die Zeit charakteristischen
Weise verknüpft er seinen theoretischen Skeptizismus mit einem
Epikureismus der Lebensführung.
Dies ist das Stichwort, dem ich im folgenden nachgehen möchte.
Die Wertschätzung der Philosophie des griechischen Philosophen
Epikur und ihrer Vermittlung durch den Römer Lukrez (in dessen
Lehrgedicht De rerum natura) ist nämlich nicht nur einer der ge-
meinsamen Nenner von Friedrichs Freundeskreis (vor allem vor
dem Siebenjährigen Krieg) gewesen. Diese Wertschätzung ist zu-
gleich einer der größten Steine des Anstoßes für die deutschen
Aufklärer gegenüber Friedrich II. gewesen. Nichts war verstörender
für sie als der Blick auf Sanssouci, wo französische Epikureer und
Materialisten ein komfortables Asyl als Kammerherren oder Präsi-
denten der Akademie fristeten, und wo der König selber offenkun-
dig mit ihren Anschauungen sympathisierte – im Widerspruch zu
allen Glaubensüberzeugungen der christlichen oder auch jüdischen
Aufklärer in Preußen und im ganzen nördlichen Deutschland.
Wenn man diesen Faden eines gegen Friedrich II. und sein Umfeld
gerichteten Anti-Epikureismus aufnimmt, stößt man auf ein verbor-
genes, darum aber nicht minder wirkungsvolles geistiges Webmu-
ster der deutschen Aufklärung, das der Ablehnung der Franzosen
erst ihre passionelle Komponente verleiht.
699

Sans-souci als epikureischer Garten


Einer der hellsichtigsten zeitgenössischen Kenner von Friedrichs in-
tellektueller Entwicklung und insbesondere seines Epikureismus war
der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai.52 Selber Verleger, Litera-
turkritiker und Philosoph hatte er ein Gespür für geistige Konstella-
tionen und bediente sich quellenkritischer Methoden, um angesichts
der Flut von Anekdoten-Sammlungen, die unmittelbar nach Fried-
richs Tod erschienen, ein Fundament für eine sachgerechte Beurtei-
lung des Königs zu finden – allerdings unter grundsätzlich affirmati-
ven Prämissen.53 Nicolai verdankte sein Wissen nicht nur der ge-
nauen Lektüre aller verfügbaren schriftlichen Dokumente, sondern
vor allem Gesprächen mit drei Personen aus der näheren Umge-
bung des Königs, dem Komponisten Johann Joachim Quantz (1697-
1773), dem Obersten Quintus Icilius (1725-1775)54 und dem Marquis
dÊArgens. Besonders die Informationen von dÊArgens, mit dem
Nicolai privaten Umgang pflegte, sind in seine Darstellung einge-
gangen. Das erste Heft von Nicolais Anekdoten von König Fried-
rich dem Zweiten von Preußen, und von einigen Personen, die um
Ihn waren (Berlin 1788-1792) scheint wesentlich von Erzählungen
bestimmt, die Nicolai von dÊArgens erhalten hatte.55

52 Friedrich Nicolai: Anekdoten von König Friedrich dem Zweiten von Preußen, und von
einigen Personen, die um Ihn waren, Berlin 1788-1792 (Nachdruck Olms 1985, Bd. 7,
hg. von Bernhard Fabian und Marie-Luise Spieckermann). Nicolai offenbart sich un-
umwunden als Anhänger Friedrich II: „Was ich an Bildung des Geistes und an Welt-
kenntniß besitzen mag, erhielt ich in dieser Zeit, durch den Einfluß der freymüthigen
unbefangenen Denkungsart, welche dieser große König begünstigte, und die sich
hauptsächlich von seinen Landen aus [...] in das übrige Deutschland ausbreitet, wo
ihr seitdem so herrliche Früchte zu danken sind.“ Vorrede, S. X.
53 Vgl. Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber
Friedrich Nicolai, Berlin 1974, S. 330-362; vgl. Nicolai: Anekdoten, a.a.O., S. 78ff.
54 Id est Karl Theophil Guichard, der den ihm vom König verliehenen Spitznamen als
Familiennamen annahm. Vgl. Eduard Schaefer: „Charles Guichard nommé Quintus Icilius“
ein commensalis Friedrich II. von Preußen, in: Lessing-Yearbook 28 (1996), S. 35-49.
55 Nicolai besaß auch die Handschrift der Lebenserinnerungen des 1779 verstorbenen
Sulzers, die er fast zwei Jahrzehnte später herausgeben sollte. Er zitiert aus ihr im 1.
700 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Nicolai gelingt es, mit wenigen Strichen die geistigen Hinter-


gründe von Friedrichs Welt zu skizzieren, die vielen Lesern um
1790 bereits unverständlich und fremd geworden sein mußten: ıEs
ist bekannt, daß der König seine Neigung zu den philosophischen
Grundsätzen des Epikur aus der fleißigen Lesung des Lucrez ge-
schöpft hat. Auch dÊArgens, der von einigen dieser Ideen ausging,
hatte einigermaßen Ihn darin befestigt. Aber ich glaube, selbst die
erste Erziehung des Königs, und die partikularistischen theologi-
schen Prinzipien, die man Ihm in seiner Jugend einflößte, und von
denen er nachher zurückkam, hatten Theil daran. Vielleicht kann
ich das einmal künftig mehr ausführen. Dieser außerordentliche
Mann las in dem so sorgenvollen Feldzug 1761, zu seiner Erholung
des Bernier Abrégé de la philosophie de Gassendi, welches doch
aus acht Bänden besteht, dachte darüber viel nach, und korrespon-
dierte mit seinem Freund dÊArgens über die epikureischen philoso-
phischen Sätze. Er schreibt scherzhaft an denselben über diese weit-
läuftige philosophische Lektür: , Je me suis pressé de finir, de crainte
que ce Laudon, qui nÊest assurément pas philosophe, nÊinterrompit
grossièrement mes études! Welch ein großer Mann war es, der in
solcher Lage sich so beschäftigen konnte!„56
Eigene philosophische Lektüren, vor allem von Lukrez und Epi-
kur bzw. Gassendi-Interpreten wie François Bernier, sodann der Um-
gang mit philosophischen Epikureern wie seinem Freund dÊArgens,
schließlich die geistige Disposition, die seine religiöse, in eine ganz
andere Richtung weisende Jugenderziehung geschaffen hatte – all

Heft seiner Anekdoten von Friedrich II. (1788) eben jene Abschnitte, die von dem Ge-
spräch Sulzers mit dem König handeln und von dessen epikureischem Bekenntnis.
56 Nicolai: Anekdoten, a.a.O., S. 137. Ernst Giedion Freiherr von Laudon war General-
feldwachtmeister in österreichischen Diensten. Er „blieb bis zum Friedensschluß der
fähigste, tatkräftigste und erfolgreichste Gegner des Preußenkönig.“ Friedrich
Benninghoven u.a. (Hg.): Friedrich der Große. Ausstellung des Geheimen Staatsar-
chivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1986, S. 201. Laudon siegte bei Kunersdorf
1759, mußte aber die Niederlage von Liegnitz 1760 hinnehmen. 1761 eroberte er im
Handstreich Schweidnitz.
701

das erscheint Nicolai als Voraussetzung von Friedrichs philosophi-


schem Bekenntnis zu Epikur. François Bernier (1620-1688), den
Friedrich im Siebenjährigen Krieg las, war Schüler von Gassendi,
sein wichtigstes Werk ein siebenbändiges Abrégé de la philosophie
de Mr. Gassendi (Paris 1674), worin er sich ızu einem durch den
Glauben an die Vorsehung ergänzten Atomismus„57 bekannte. Sein
Verdienst war die Vermittlung der lateinisch geschriebenen Werke
von Gassendi an ein französisch lesendes Publikum, seine Schwäche
der eklektische Charakter seines Systems, eines ıhinkenden Sys-
tems„, das nach Friedrichs eigenem Urteil ı Jesus Christus und Epi-
kur„ vergeblich ızu vereinigen„ suchte.58 Doch folgte Bernier darin
nur Gassendi, der seinerseits durch die Einführung eines Schöpfer-
gottes einen Kompromiß zwischen Epikureismus und christlicher
Aufklärung angebahnt und damit der Rezeption des Epikureismus
auch in christlichen Kreisen eine Bresche geschlagen hatte.
Friedrich diskutierte Berniers Abrégé eingehend in einem Brief
an dÊArgens vom 2. Juli 1761, in einem Augenblick, als er zweifeln
mußte, ob er jemals wieder nach Sans-souci würde zurückkehren
können. Berniers Ausführungen zur Physik billigte er, die zur
Astronomie59 und zur Ethik verwarf er allerdings, weil sie einen fal-
schen Kompromiß mit christlichen Grundannahmen eingingen.
Dem Brief an dÊArgens legte er einige Verse bei, in denen er – wie
üblich gegenüber Freunden – die Essenz seiner Kritik dichterisch
resumierte:

57 Olivier Bloch, in: Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 2, S. 242-
270, hier S. 246.
58 Brief an D’Argens vom 9. Juli 1761.
59 Friedrich nahm Anstoß an der ptolemäischen Astronomie, er vermißte wahrscheinlich
einen Hinweis auf Kopernikus. D’Argens trug in einem Brief nach, daß Gassendi
selber ein Anhänger von Kopernikus und Tycho Brahe gewesen war und von den
Astronomen höher geschätzt wurde als Descartes. Es sei vielmehr Bernier gewesen,
der den Akzent auf Ptolemäus gelegt habe. Vgl. D’Argens an Friedrich am 19. Juli
1761, Œuvres XIX, S. 245.
702 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Grand scrutateur de la nature,


Malgré son style et son latin,
Gassendi demeure incertain
Entre monsieur Moise et son maître Épicure.
DÊun système boiteux je suis le serviteur;
Sans vérité point de science.
Si dÊun pas assuré, ferme et plein de vigueur,
Il se guide par lÊévidence,
LÊautre pas, chancelant et vacillant de peur,
SÊappuie insensément, par excès de prudence,
Sur les béquilles de lÊerreur.60

Mit anderen Worten: Es handelt sich um einen faulen Kompromiß,


mit dem Gassendi die Herren Moses und Epikur vereinigen will
und darüber die Wahrheit verrät. Friedrich spricht dieses harte Ur-
teil nicht nur gegen Gassendi,61 sondern gegen alle Versuche eines
christlichen Epikureismus aus, der zumal in den 50er Jahren durch
Autoren wie Johann Peter Uz62 im deutschsprachigen Bereich ein
gewisses Ansehen erhalten hatten.63 Friedrich ist kompromißlos in
seiner anti-christlichen (und natürlich gleichermaßen antijüdischen)
Religionspolemik. Andererseits erkennt er die Fortschritte in Philo-

60 Œuvres, Bd. XIX, S. 240f.


61 DiesesUrteil wird in einem späteren Brief etwas moderater, wenn er anerkennt, daß
Gassendi Theologe war und aufgrund der Vorurteile seiner Erziehung oder aus
Angst vor der Inquisition sogar davor zurückschreckte, den großen Galilei zu recht-
fertigen. Und dennoch habe Gassendi durch seine Beherrschung der Materie und
seine qualité de dialecticien es verstanden, die Konsequenzen aus den philosophi-
schen Voraussetzungen Epikurs mit größerer Stärke als irgend ein anderer Philosoph
zu ziehen, vgl. Brief an d’Argens im Juli 1761, in: Œuvres, XIX, S. 241.
62 Johann Peter Uz: Versuch über die Kunst, stets fröhlich zu sein, in: Sämtliche Poeti-
sche Werke, Bd. 2, Leipzig 1768, S. 1ff. „Ich setze in meinem Gedichte das Wesen der
Glückseligkeit in das Vergnügen. Epikur ist eben der Meynung gewesen. Aber er
soll, wie einige behaupten, die Glückseligkeit bloß in das sinnliche Vergnügen ge-
setzt haben; andre vertheidigen ihn wider diese harte Anklage. Ich habe, als Dichter,
die gute Meynung seiner Vertheidiger angenommen.“ Ebd., S. 5.
63 Demgegenüber stand eine Publikation wie Charles Batteux: La Morale d’Épicure,
1758; deutsch: Die Moral des Epikur aus seinen eignen Schriften ausgezogen, Mitau
1774, wo die Doktrin individueller lustbezogener Lebensführung als Lehre für Böse-
wichter qualifiziert wurde.
703

sophie und Naturwissenschaft durchaus an, die Gassendi, Epikur


folgend, bewirkt habe: die physikalische Atomlehre mit der Behaup-
tung der Unzerstörbarkeit und Undurchdringlichkeit der Atome, die
Anerkenntnis der Leere als Voraussetzung der Bewegung der Atome,
die Zufallsbewegungen der Atome als Grund der Entstehung von
Leben usw.
ıLa philosophie nous vient dÊÉpicure; Gassendi, Newton et
Locke lÊont rectifiée; je me fais honneur dÊêtre leur disciple, mais
pas davantage„, schreibt Friedrich einmal an Voltaire.64 Das bildete
in der Tat seine philosophische Überzeugung bis zum Lebensende:
Epikur lieferte die Grundlage von Philosophie und Wissenschaften,
Gassendi, Newton und Locke, wie auch Bayle und Voltaire hätten
sie weiter ausgebaut – und durch die Anstrengungen des Staates
und der Akademien werde es vielleicht einmal möglich sein, die
Aufklärung der Geister in dieser Richtung gegen den religiösen Fa-
natismus, gegen LÊinfâme (das Niederträchtige), also gegen alle
Kräfte der Gegenaufklärung weiterzutreiben.
Friedrichs Vertrauter DÊArgens war selber ein bekennender Epi-
kureer. Er hatte Epikurs Lehre in seinen vielgelesenen und auch ins
Deutsche übersetzten Lettres juives (1734) verteidigt,65 und in seiner
Philosophie du bon-sens ou Reflexions philosophiques sur lÊincerti-
tude des connoissances humaines à lÊusage des Cavaliers, & du
Beau Sexe (8. Auflage, Dresden 1754) die Lehre von den Atomen
und der Leere, Gassendi folgend, zustimmend kommentiert.66 Wenn
DÊArgens und Friedrich von der Lehre Epikurs sprachen, dann
meinten sie allerdings nicht nur die materialistische Atomistik, die

64 Œuvres, Bd. XXIII, Berlin 1853, S. 350. An Voltaire gewandt, fährt Friedrich fort:
„C’est à Bayle, votre précurseur, et à vous, sans doute, que la gloire est due de cette
révolution qui se fait dans les esprits. Mais disons la vérité: elle n’est pas complète;
les dévots ont leur parti, et jamais on ne l’achèvera que par une force majeure; c’est
du gouvernement que doit partir la sentence qui écrasera l’infâme.“ Ebd., S. 351.
65 Vgl. ebd.
66 Philosophie du bon-sens, Bd. 1, Dresden 1754, 8. Aufl., S. 270f., 360f.
704 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Lehre von der Bewegung der Atome und der Leere des Raums,
von der Sterblichkeit der Seele und der Unbetroffenheit der Götter
von allem Menschlichen. Vielmehr verknüpften sie damit einen
ganzen Komplex von Vorstellungen einer philosophisch geleiteten
Lebenskunst. Diese Vorstellungen waren denn auch mit den Erwar-
tungen verknüpft, die Friedrich mit seinem Lustschloß Sanssouci
verwirklichen wollte. Es sollte ein Refugium, ein anderer Garten
Epikurs werden,67 wo er unter Freunden, die nicht seine Untertanen
waren, als Philosoph und Privatmann denken, reden und genießen
konnte. Sanssouci steht für ein Doppelleben der philosophischen
Muße, des Abstandes von der Welt und der Vergnügungen unter
gleichgesinnten Freunden, mit denen Friedrich an seine Zeit in
Rheinsberg anknüpfen wollte.68
Eines der schönsten Dokumente für die Erwartungen, die er mit
dieser Lebensform verband, findet sich in seiner Épître VIII. à
dÊArgens (wahrscheinlich recht bald nach der Fertigstellung und
Einweihung des Schlosses im Mai 1747),69 das erstmals in dem Pri-
vatdruck der fiuvres du Philosophe de Sans-Souci (au Donjon du
Chateau) für die engsten Freunde im Jahre 1750 erschienen ist.70
Friedrich fordert hier dÊArgens auf, Berlin zu verlassen, um sich
nach Sanssouci zu begeben, um mit der Stadt Berlin, wo er fremd
und einsam wie ein Eremit lebt, auch alle düsteren Sorgen, Pro-

67 Was dem gelehrten Kittsteiner (a.a.O.) entgangen ist, weil es vielleicht zu offensicht-
lich zu Tage lag und der Rätselfreund sich von dieser Dimension nicht hat anziehen
lassen. Es gibt freilich noch einen anderen Grund: Kittsteiner hat versäumt, sich
einmal gründlicher in die Poésies diverses des Königs einzulesen, wo er unweigerlich
von selber auf diese Spur gestoßen wäre.
68 Bau und Ausgestaltung von Sanssouci erfolgten ja im Zusammenwirken mit den bereits
im Schloß Rheinsberg erprobten Freunden wie von Knobelsdorff, Antoine Pesne u.a.
69 „Die Entstehung dieser Epistel fällt in das Frühjahr 1747, kurz nachdem das ‚Lusthaus
auf dem Weinberg‘, Schloß Sanssouci, am 1. Mai durch ein festliches Mahl mit
zweihundert Gästen eingeweiht worden war.“ Die Werke Friedrichs des Großen, 9.
Bd.: Dichtungen Erster Teil, hg. von Gustav Berthold Volz, Berlin 1914, S. 170, Anm.
70 Œuvres du Philosope, Bd. 2, S. 205-210; dann durch Preuss ediert in den Œuvres de
Frédéric, X, S. 41-46.
705

zesse, Ratten und anderes mehr hinter sich zu lassen. Ein Leben in
Muße – fern von Stadt und Welt, das ist ein alter Topos der lyri-
schen Dichtkunst seit der Antike (Horaz u.a.) und zugleich die Uto-
pie, die Friedrich mit seinem Schloß verband. Als er aus dem Zwei-
ten Schlesischen Krieg zurückkehrte, wollte er dort, wie Friedrich
Nicolai schrieb, ıim Schooße der Ruhe und der Musen die Früchte
seiner Siege und des dadurch erlangten Friedens geniessen. Er zog
alle Kunst des Friedens in sein Land, und vornehmlich nach Pots-
dam, wo er sich einen Sitz der Ruhe, des häuslichen Lebens, der
schönen Natur und der Musen, selbst schuf.„71
Gegenüber dem Freunde dÊArgens rühmt Friedrich Sanssouci
als Verwirklichung der Vision eines Garten Epikurs:

Venez à Sans-Souci, cÊest là que lÊon peut être


Son souverain, son roi, son véritable maître;
Ce châmpêtre séjour, par sa tranquillité,
Nous invite à jouir notre liberté.
DÊArgens, si vous voulez connaître
Cette solitude châmpêtre,
Ces lieux où votre ami composa ce discours,
Où la Parque pour moi file les plus beaux jours,
Sachez quÊau haut dÊune colline,
DÊoù lÊflil en liberté peut sÊégarer au loin,
La maison du maître domine…72

71 Friedrich Nicolai: Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam,


2. Aufl., Berlin 1779, S. 909.
72 In der älteren Prosaübersetzung von 1760 lauten diese Verse: „Kom nach Sans-Souci.
Hier ist man Herr über sich selbst; hier ist man sein eigner König, sein wahrer Be-
herrscher. Diese ländliche Wonung ladet uns durch ihre Ruhe ein, unsre Freiheit zu
genießen. – Wenn du, d’Argens, diese einsame Landlust kennen wilst, diese Orte, wo
Dein Freund diesen Gesang verfertigte, wo die Parce für mich die schönsten Tage
spinnet: o, so wisse, daß auf der Spitze eines Hügels, von welchem sich das Auge in
voller Freiheit in die Ferne verlieren kann, das Haus des Beherrschers hervorsteiget.“
Poetische Werke des Weltweisen zu Sans=Souci, 2. verbess. Aufl. (aus dem Französi-
schen nach der Lioner Ausgabe, übersetzt mit beigefügten Abweichungen der Berli-
ner Ausgabe), Berlin 1760, Bd. 2, S. 38f. Und weiter heißt es: „Hier bewundert man
706 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

In dieser ländlichen Einsamkeit kann jeder sein eigener Herr sein,


in Gemütsruhe und Freiheit, umgeben von den Schönheiten der
Landschaft und Architektur, in Distanz zu den Mondaneitäten der
Welt, jenen ıassommants et longs repas„, dem ıennui baillant„, dem
höfisch-eisigen Lachen, der ıétiquette„, ıwo sich der gähnende Ueber-
drus mit der Verschwendung der neuern Midus vereiniget; wo die
frostigen Scherze die ungleiche Gesellschaft, die Hofordnung und die
Geräusche öffentlich verleugnen.„73 Stattdessen verspricht Friedrich
frugale Genüsse und philosophische Gesprächsspiele. Auf Kosten
der abwesenden Törichten wird man sich ergötzen:

Une table à midi frugalement servie,


QuÊon sait assaisonner par dÊutiles propos,
Où les traits pétillants de la vive saillie
SÊégayent quelquefois sur le compte des sots,
Y pourvoit sans excès aux besoins de lavie;
On y préfère des bons mots
La saillante plaisanterie
A la gourmande intempérie
De vos apicius et de tous leurs héros.74

den Fleis einer vollendeten Arbeit. Der unter den Händen geschickt geschnittene und
in verschiedenen Bildungen bearbeitete Stein schmücket das Gebäude ohne es zu
beschweren. Des Morgens wird dieser Pallast von den ersten Stralen Aurorens ver-
güldet, die gerade auf ihn zuschiessen. Auf sechs verschiedenen Absätzen kanst du
hier sechs sanfte Anhöhen hinunter steigen und in die von einem hundertfachen
Grün schattirten Gebüsche fliehen. Unter diesem dicken Laubwerk lassen jugendli-
che Nymphen ihre silbernen Tropfen aus ausgehauenen Marmor, der den Meister-
stücken des Phidias nichts nachgiebt, in die Lüfte steigen. Hier wandeln meine Tage
immer einförmig vorüber.“ (Diese Übersetzung aus dem 18. Jahrhundert ist gegen-
über der späteren in der Ausgabe von Volz von 1910 häufig etwas holpriger, aber ge-
treuer und weniger wortreich. „Diese stille Einsamkeit/ist mir Bollwerk, Wehr und
Turm/Wider jeden Stoß und Sturm/Dieser wildbewegten Zeit“, übersetzt dagegen E.
König in: Die Werke Friedrich’s des Großen, 9. Bd., a.a.O., S. 174.)
73 Poetische Werke, S. 39.
74 Œuvres, S. 43. „Eine um Mittagszeit sparsam besetzte Tafel, die mit nützlichen Ge-
sprächen gewürzet wird und wo die funkelnden Züge eines lebhaften Witzes sich
zuweilen auf Kosten der Narren belustigen, befriediget hier ohne Ausschweifung die
707

Keine ıinfâme fausseté„ fände sich hier mit ihren ıconvulsion des
longs embrassemens„, und keine ıimplacable haine„, keine ıtrahi-
son des compliments„, auch kein exzessiver ıamour-propre„, der
sich in langen Reden bespiegelt. Ein Leben fern des Hofes mit sei-
nen Empfängen, Levers, Essen, Konzerten, Huldigungen und Heu-
cheleien, das Friedrich ja in der Tat immer zu meiden gewußt hat.75
Ein Leben als Philosoph:

Là ne se trouvent point ces bégueules titrées,


Ces prudes en chaleur, ces froides mijaurées,
Qui discutent des riens, et qui rient en chorus.
Là ne sont, grâce au ciel, connus
Ces longs discoureurs méthodiques,
Argumenteurs métaphysiques,
Tous ânes baptisés en us.
Là nÊhabite point la critique
Au ris malin, à lÊair caustique,
Ces atrabilaires Argus
A lÊongle venimeux, à la dent qui déchire,
Aux infernales eaux abreuvant leur satire,
Et ces bavards et ces fâcheux,
Tous parasites ennuyeux.
Cette tranquille solitude
Défend, comme un puissant rempart,
Contre tous les assauts quÊavec la multitude
La turbulente inquiétude
Livre aux sages amants des sciences et des arts.76

Bedürfnisse des Lebens. Hier ziehet man den lebhaften Scherz sinreicher Einfälle der
frässigen Unmässigkeit eurer Apicius und aller ihrer Helden vor.“
75 Vgl. Kunisch: Friedrich der Große, a.a.O., S. 251ff.
76 Œuvres, X, S. 44. „Hier sind keine vornehmen Maulaffen, keine erhitzten Scheinheili-
gen, keine frostigen Vetteln, die Chorweise über nichts und weiter nichts streiten.
Hier kennet man, dem Himmel sey Dank, keine methodischen, weitschweifenden
Schwätzer, keine metaphysischen Schluskrämer und keine getauften Esel in us. Auch
wonet hier nicht die Kritik mit dem boshaften Lächeln und der hönischen Miene;
noch jene galsüchtigen Argi mit vergifteten Klauen und blutgierigen Zänen, die ihre
Satire an den höllischen Bächen tränken; noch auch jene verdrüslichen Plauderer und
708 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Sanssouci ist Fluchtburg von Liebhabern von Wissenschaft und


Kunst gegenüber den Dummheiten und Eitelkeiten der Welt, so-
wohl gegenüber dem Hof wie gegenüber der Stadt. Es ist eine Art
von therapeutischem Refugium, wo man im Spott über andere und
im freundschaftlichen Umgang miteinander Seelenruhe findet. Ist
dies nicht das Ideal eines Lebens in philosophisch-theoretischer
Schau, wie es der Kern von Epikurs Glückseligkeitslehre gewesen
war? Im Durchschauen des Chaos der Atome die Furcht vor dem
eigenen Tod verlieren und damit gegenüber den Phantasmen, die
Mythologie und Religion mit unserem Lebensende umgeben, un-
abhängig zu werden, das war das Ziel von Epikurs Unterweisung.
Friedrich spricht mit Bedacht nicht von der Philosophie, die hier
gepflegt wird, sondern von sciences et arts, und im weiteren Verlauf
wird deutlich, daß er vor allem die Belles lettres meint, also jenes
Schrifttum, das sowohl Poesie als auch gelehrtes und zugleich
elegantes Schreiben über wissenschaftliche Materien umfaßt. Die
Seelenruhe Sanssoucis wird vor allem im ästhetischen Medium der
Lettres und der Künste gefunden.
Um dÊArgens nach Sanssouci zu locken, beschreibt Friedrich
den weiten Blick, den man vom Schloß bis weit ins Havelland ge-
nießen kann und schließt daran ein kaum verhülltes Zitat aus
Lukrez De rerum natura an:

Ah! DÊArgens, que lÊespèce humaine


Est sotte, folle, avide et vaine!
Heureux qui, retiré dans un temple à lÊécart,
Voit sous ses pieds grossir et gronder les orages,
Contemple de sang-froid les écueils, les naufrages

eckelhaften Schmarotzer. Diese friedfertige Einsamkeit schützet uns als ein mächti-
ges Bolwerk wider alle Anfälle, die das brausende Geräusch mit dem Pöbel auf die
weisen Liebhaber der Künste und Wissenschaften thut.“ (S. 40).
709

Où les ambitieux, vains jouets du hasard,


De leurs tristes débris vont couvrir les rivages!77

Diese Verse sind eine kaum modifizierte Paraphrase vom Anfang des
2. Buchs von LukrezÊ De rerum natura – und zwar so wie Voltaire
übersetzt hatte:

Heureux qui, retiré dans le temple des sages,


Voit en paix sous ses pieds se former les orages,
Qui contemple de loin les mortels insensés,
De leur jour volontaire esclaves empressés,
Inquiets, incertains du chemin quÊil faut suivre,
Sans penser, sans jouir, ignorant lÊart de vivre,
Dans lÊagitation consumant leurs beaux jours,
Poursuivant la fortune, et râmpant dans les cours!
O vanité de lÊhomme! O faiblesse! o misère!78

Voltaire hat diese Verse einem Widmungsschreiben an die Mar-


quise du Châtelet dem Erstdruck seiner zu Lebzeiten beliebtesten
Tragödie Alzire, ou Les Américains (erstmals 1736 gespielt) beige-
fügt. Mme de Châtelet war bekanntlich Voltaires generöseste und
zugleich kongenialste Förderin. Voltaire gesteht im Widmungs-
schreiben, daß er am liebsten den Rest seines Lebens in ihrer Nähe
verbringen möchte, ıdans le sein de la retraite, de la paix, peut-être
de la vérité, à qui vous sacrifiez dans votre jeunesse les plaisirs faux,
mais enchanteurs, du monde; enfin pour être à portée de dire un
jour avec Lucrèce, ce poète philosophe dont les beautés et les er-
reurs vous sont si connues...„79

77 „Ach d’Argens, wie närrisch, albern, begierig und eitel ist nicht das menschliche
Geschlecht! Glücklich ist derjenige, welcher seitwerts in einen einsamen Tempel
fliehet, und hier unter seinen Füssen die Donnerwolken sich verdicken und brüllen
siehet, und die Klippen und Schifbrüche mit kaltem Blute betrachtet, wo die Ehrsüch-
tigen, die eitlen Spiele des Schicksals die Ufer mit ihren traurigen Ruinen bedecken.“
Ebd., S. 40.
78 Œuvres de Voltaire, hg. von M. Beuchot, Bd. 4, Paris 1833, S. 154f.
79 Ebd.
710 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Man weiß, daß dies nicht Voltaires letzte Verwendung dieser be-
rühmten ıDaseins-Metapher„ eines ıSchiffbruchs mit Zuschauer„
(Hans Blumenberg) gewesen ist, und daß er sich später Positionen
nähern wird, wo er die lukrezische Distanz gegenüber dem Schiff-
bruch nicht länger für möglich hält, weil ıder Mensch gegenüber
den höheren Weltgenossen jede Chance verloren hat, seinerseits
noch Zuschauer zu sein: er ist das sich Subjekt dünkende pure Ob-
jekt fremder Maßstäbe.„80 Doch im Widmungsschreiben an Mme
de Châtelet besteht der Glaube an die therapeutische Kraft philoso-
phischer Weltschau noch: vollständige Freiheit und Selbstbesitz schei-
nen möglich, im Umgang mit den lettres und den arts et sciences, im
Schutz der Mäzenaten. Komplementär zur griechischen Theorie,
die für Epikur die Voraussetzung jeder Glückseligkeit war, tritt die
Beschäftigung mit Literatur, Künsten und Wissenschaften. Voltaire
zitiert zustimmend Ciceros Lob der lettres und der Muße fern von
der Welt.81
Lukrez und die Gärten Epikurs als Fluchtort der wenigen Philo-
sophen und Literaten vor dem leeren Getriebe und Getöse der
Welt, dem man dennoch obsessiv das Ohr leiht, um es besser ver-
spotten zu können – das ist Friedrichs Traum von Sanssouci. Er
übersetzt LukrezÊ Vision des gegenüber Schiffbrüchen unbetroffe-
nen, weil theoretisch gewappneten Zuschauers in die höfische Reali-
tät fern des Hofes. Friedrich entwirft eine Art von Zweiweltenlehre:
dort die Welt mit dem Hof und und hier der Garten als Asyl, dort

80 Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmeta-


pher, Frankfurt 1979, S. 34-38, hier S. 38.
81 Vgl. Voltaires Artikel Curiosité in seinen Questions sur l’Encyclopédie, 4. Teil 1771,
wo er noch einige Zeilen mehr in seiner Übersetzung bringt, dann aber Lukrez’ Le-
sart der curiosité zurückweist: „Pardon, Lucrèce, je soupçonne que vous vous trom-
pez ici en morale, comme vous vous trompez toujours en physique. C’est, à mon avis,
la curiosité seule qui fait courir sur le rivage pour voir un vaisseau que la tempête va
submerger. Cela m’est arrivé, et je vous jure que mon plaisir, mêlé d’inquiétude et de
malaise, n’était point du tout le fruit de ma réflexion.“ Œuvres de Voltaire, Bd. 28,
Paris 1829, S. 280.
711

der Krieg und hier der Temple à lÊécart – dort der Stoiker und das
römische Kostüm, hier die Philosophie Epikurs im Kreis der
Freunde. Sanssouci ist gewiß keine schäferliche Idylle, kein friedfer-
tiges Arkadien, in der man keinen Zorn und keine Affekte kennt,
dafür ist es mit der distanzierten Welt in Spott und Aggressivität zu
stark verbunden. Philosophie und Theorie dulden nun einmal keine
Einfalt und Arglosigkeit. Es ist aber auch keine bürgerliche Privat-
sphäre, die durch Familialismus und Tugenddiskurs sich gegenüber
den Schrecken der Welt abschottet, sondern vielmehr ein exponier-
ter Aussichtspunkt, von dem aus die Schiffbrüche anderer wie auch
ihr unsinniges Welttreiben besser zu beobachten sind – wenn man
will ıein Elfenbeinturm, von dessen Spitze aus man weit sieht.„82
Allerdings bleibt dieser Garten fern des Hofes doch profunde an
dessen Machtstrukturen gebunden, in einem Maße, daß selbst
Friedrichs Épître davon etwas verlauten läßt. Warum anders unter-
streicht er die in Sanssouci geübten Späße auf Kosten der Welt jen-
seits von Sanssouci, auf Kosten der Dummen, Devoten und präten-
tiösen Gelehrten? Sanssouci genügt sich eben nicht selber, durch
seine eigene philosophische Erfüllung in Anschauung der Natur –
es bedarf als gemeinsamem Kitt der ausgeschlossenen Anderen, als
Gegenstand an dem sich das Wir-Gefühl der happy few dieses um
den Souverän gescharten Freundeskreises kristallisiert. Wie ruhig ist
diese Solitude champêtre von Sanssouci tatsächlich gewesen? Ist die
Abgrenzung gegenüber anderen und die Médisance vielleicht sogar
einer der Hauptzwecke dieser Solitude? Geht es darum, frei von
den Lastern des Hoflebens zu sein und sich in einer anderen Welt
zu ergehen? oder vielmehr darum, aus der Distanz heraus die Mas-
ken zu lüften, die man im täglichen Hofleben doch tragen muß?
Und wie steht es mit der Freundschaft untereinander in einem Gar-

82 Eine Formulierung von Wolf Lepenies, freilich nicht auf Sanssouci, sondern auf das
Wissenschaftskolleg zu Berlin gemünzt.
712 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

ten, wo es jenseits der Tafelrunde eben doch einen Souverän gibt,


der weltliche Würden und Prämien zu verleihen hat – und damit
Anlaß zu Zwist und Rangstreitigkeiten gibt, wie sie ja immer wieder
aufbrachen, am turbulentesten anläßlich des Zerwürfnisses zwischen
Maupertius und Voltaire?
Friedrich läßt sich in seiner Vorstellung eines epikureischen Gar-
tens fern von der Welt allerdings nicht beirren. Mit der Zurückwei-
sung des poison de gloire und der faux plaisirs empfiehlt er seinem
Freund dÊArgens zugleich eine spezifische art de jouir, die mit Sans-
souci als Lebensform gegeben ist:

Pratiquons, nous, lÊart de jouir;


Et laissant aboyer et Cerbère et lÊenvie,
Considérons le temps, dont le rapide cours
Nous ravit, en fuyant, les instants de la vie,
Précipite nos plus beaux jours,
Et nous entrâine, hélas! Avec trop de furie
De la vive jeunesse à la caduxité.83

Hier wird die spezifische Beigabe von Friedrichs Epikureismus deut-


lich, das scharf ausgeprägte Vanitas-Bewußtsein, das in LukrezÊ Ge-
dicht, vor allem in dem von Friedrich geliebtem 3. Buch, Resonanzen
finden konnte. Die Zeit ist nur ein Augenblick, der Tod ist allgegen-
wärtig, gerade deshalb gilt es, die wenigen Momente zu genießen:

La fleur à peine éclose est aussitôt flétrie.


A peine lÊhomme est-il, que lÊhomme nÊa quÊété.
Oui, la vie est un songe, une vaine fumée,
Un théâtre où lÊillusion

83 Œuvres, X, S. 45. „So las uns die ganze Kunst zu geniessen üben. Las den Cerber und
den Neid bellen; las uns die Zeit betrachten, deren flüchtiger Lauf uns die fliehenden
Augenblick des Lebens entreisset, unsere schönsten Tage vorüberpeitschet und uns,
ach! mit alzuvieler Wuth von der lebhaften Jugend in das gebrechliche Alter schleu-
dert.“ S. 41.
713

A fait un trafic de chimère.


Mais de là ma conclusion,
DÊArgens, ne doit pas vous déplaire:
Ma sincère amitié vous conjure de faire
Usage du plaisir qui fuit,
A fixer dÊune main légère
La jouissance passagère
Qui paraît et sÊévanouit.
Parons toujours nos fronts de ces roses nouvelles
Remplaçons les vrais biens par de douces erreurs,
A ces Amours badins allons ravir les ailes,
Et décochons leurs traits droit aux cflurs de ces belles.
Nous ne sommes enfin maîtres que du présent,
A différer le bien souvent lÊhomme sÊabuse:
Jouissons de ce seul instant,
Peut-être que demain le ciel nous le refuse.84
Das Gedicht schließt mit diesem Carpe diem: mit leichter Hand sol-
len die vorübergehenden Freuden befestigt werden: galante Liebe,
neckischer Amor, Pfeile ins Herz der Liebsten; wenn der Mensch
das Gute aufschiebt, täusche er sich. Es sind die Vergnügungen ei-
ner Herrenwelt, bei denen Frauen allenfalls als Objekt von amours
badins eine Rolle spielen. Die Nähe zur Anakreontik ist hier zu grei-
fen. Friedrich ist poetisch eben in stärkerem Maße Zeitgenosse der
Hagedorn, Uz und des jungen Lessing gewesen, als ihm dies selber

84 Ebd., S. 45f. „Die kaum aus der Knospe entschlüpfte Blume verwelket sogleich. Kaum
ist der Mensch, so hat er auch schon nichts mehr, als daß er gewesen ist. [...] Ja, das
Leben ist ein Traum, ein leerer Rauch, eine Schaubüne, wo die Verblendung einen
Handel mit albernen Hirngespinsten treibt. Aber mein Schlus hieraus, d’Argens, darf
dir nicht misfallen. Meine aufrichtige Freundschaft beschwöret dich, das Vergnügen
zu gebrauchen welches fliehet, und mit leichter Hand die vorbeirauschenden Freude
zu fesseln, welche erscheint und wieder verschwindet. [...] So las uns unsre Stirn im-
mer mir frischen Rosen schmücken und die Stelle der wahren Güter durch süsse Ir-
tümer ersetzen. Las uns den muthwilligen Liebesgöttern die Flügel ausrupfen und
ihre Geschosse gerade auf das Herz jener Schönen abdrücken. Wir sind am Ende
doch nur allein Herren des Gegenwärtigen. Oft betrüget sich der Mensch, wenn er
das Gute aufschiebet. Las uns diesen einzigen Augenblick geniessen: denn morgen
kann vielleicht der Himmel ihn uns versagen.“
714 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

bewußt sein konnte. Er gehört der deutschen Literatur, auch wenn


er französisch schreibt, stärker an als dies die Germanisten ahnen,
die seine Poesie nicht kennen. Jedenfalls vergegenwärtigen diese
Verse erotisch-galante Züge, die mit einem Leben in der Theorie
und einer reinen unbetroffenen Daseinsschau im Sinne Epikurs
nicht mehr viel zu tun haben. Etwas von der galanten Hofkultur, die
im Anschluß an italienische und zumal französische Vorbilder ge-
meineuropäisch geworden war, macht sich auch in Potsdam gelten.
Friedrichs Epikureismus ist eben nicht nur Philosophie mit dem Ak-
zent auf den belles lettres, sondern ein art de jouir, in das entspre-
chende Züge der höfisch-absolutistischen Genußkultur eingegangen
sind.
Inwiefern Friedrich selber diese erotischen Lizenzen in Sanssouci
genutzt hat, ist hier nicht mein Thema. Er selber hat in seiner Epître
XIV à Sweerts,85 Potsdam 1749 geschrieben:

⁄Sachez que dans le fond de lÊâme


JÊaime tous ces plaisirs quÊun faux mystique blâme;
Ami du sentiments des épicuriens,
Je laisse la tristesse aux durs stoiciens;
Si comme Théé, hélàs! Notre âme avait cent portes,
JÊy laisserais entrer les plaisirs en cohortes.86

Dies klingt sehr libertär, und Nicolai, der diese Verse in seinen An-
ekdoten zitierte, hatte alle Mühen zu erläutern, daß der König ıin
Einsamkeit und Stille Hülfsmittel zur Erholung gefunden habe.„ 87
Immerhin weist er auf die Statue des Antinous hin, die der König in
seinem Garten aufstellen ließ. Der König habe in heißen Sommer-
nachmittagen, wenn er den Musen opferte, oft in dieser kühlen
Laube vor der schönen antiken Statue dieses nackten Jünglings ge-

85 Ernest-Maximilien Sweerts, Baron de Reist, war Directeur des spectacles in Berlin.


86 Œuvres, X, S. 168.
87 Nicolai: Anekdoten, a.a.O., S. 198f.
715

sessen. Nicolai weist die Unterstellung, ıdaß die Erholungen des


Königs nur fröhlicher und sinnlicher Art gewesen„, zurück. ıMan
würde diesen großen Mann verkennen, wenn man glaubte, er habe
sein Vergnügen hauptsächlich nur darin gefunden.„88
Dieses Herunterspielen des erotisch-sexuellen und näherhin:
homoerotischen Aspekts war natürlich seit der drastischen und fri-
volen Darstellung Voltaires in seinen Mémoires pour servir à la vie
de M. de Voltaire (1759), die jedermann kannte und die in Deutsch-
land einen Sturm der Entrüstung und Voltaire-Schmähung hervor-
rief, notwendig.89 Im übrigen hatte aber gerade Friedrich selber eine
Art therapeutischen Umgang mit der Liebe empfohlen, der diesen
amusements dÊécoliers, wie sie Voltaire nennt, vielleicht gar nicht so
fern lag. In seinem Épître XVII à Chasot sur la modération dans
lÊamour (Potsdam 1749) schreibt er:

Pour les dieux des plaisirs mes respects sont connus,


Si jÊattaque lÊamour, cÊest quÊil peut souvent nuire,
Je veux le modérer, et non pas le détruire.90
Das ist ein merkwürdiger Lobpreis des Maßhaltens in der Liebe: Es
ist die Absage an die Liebe als Passion und ihre Reduktion auf ein
Therapeutikum, um sich nach langer harter Arbeit einige glückliche
Momente zu gewähren. Dieser Monarch kennt die leidenschaftliche
Liebe offenbar nicht, weder gegenüber dem fremden noch gegen-

88 Ebd., S. 198.
89 Da Voltaire selber auf frivole Weise den Konflikt zwischen Stoizismus und Epikureis-
mus ins Spiel bringt, sei diese Stelle in extenso zitiert: „Quand sa Majesté était habillée
et bottée, le stoique donnait quelques moments à la secte d’Épicure: il faisait venir
deux ou trois favoris, soit lieutenants de son régiment, soit pages, soit heiduques ou
jeunes cadets. On prenait du café. Celui à qui on jetait le mouchoir restait demi-quart
d’heure tête à tête. Les choses n’allaient pas jusqu’aux dernières extrémités, attendu
que le prince, du vivant de son père, avait été fort maltraité dans ses amours de
passade, et non moins mal guéri. Il ne pouvait jouer le premier rôle; il fallait se
contenter des seconds. Ces amusements d’écoliers étant finis, …“ Mémoires pour
servir à la vie de M. de voltaire, écrits par lui-même, Paris 1985, S. 43.
90 Œuvres, X, S. 186.
716 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

über dem eigenen Geschlecht. Sie dient ihm zur Erholung und Ent-
lastung von seinem Staatsdienst. So gibt Friedrich auch ein ziemlich
ungeschminktes Bild von der Entthronung von Amor und Venus in
der modernen höfischen Welt:

ıLÊamour était jadis tendre, discret, sincère,


Il nÊest plus à présent que léger et trompeur,
La débauche succède aux sentiments du cflurs:
On se prend sans amour, on se quitte de même,
Souvent, quand on se hait, on se jure quÊon sÊaime,
On se brouille, on revient, on change, on se reprend,
De nos jours la tendresse et sÊachète et se vend.„91

Friedrich – nicht eben originell – preist die Weisheit, die Exzesse


vermeidet. Allerdings legitimiert er die Liebe in sonderbarer Weise:
Eigentlich ist sie einer giftigen Pflanze ähnlich, manchmal tödlich in
ihrer Wirkung, immer aber gefährlich. Wohldosiert verwenden sie
weise Ärzte zum Wohl der Menschen. Weit entfernt davon, ein Le-
bensmittel (aliment ) zu sein, sollte sie eine Medizin (remède) sein.
Friedrich schließt mit den sonderbaren Zeilen:

Un amour modéré peut venir à notre aide,


Quand, lassés dÊun travail long et laborieux,
Nous empruntons de lui quelques moments joyeux.92
Das ist die wohl sonderbarste Rechtfertigung der Liebe in diesem
Jahrhundert: Eine gemäßigte Liebe soll nach langer und mühsamer
Arbeit einige glückliche Momente schenken – wie eine stärkende
Medizin. Das säuerlichste Bekenntnis zu Venus, das in der Literatur
des 18. Jahrhunderts zu finden ist. Eigentlich spricht hier ein ver-
klemmter Pflichtenmensch, der die sexuelle Liebe, ja die Passion

91 Ebd., S. 188f. Zu den Effeminierten heißt es: „Tous ces effeminés ressemblent-ils aux
hommes?/Livrés à la mollesse et perdus sans retour,/Dans l’ordre le plus bas esclaves
de l’amour,/Ce sont les descendants du lâche Héliogabale.“ Ebd., S. 190.
92 Ebd., S. 193.
717

der Liebe offenbar nie erlebt hat – oder nicht mehr erleben will; ein
leidenschaftsloser Mensch, der diese gefährliche Mitgift des Men-
schen zu neutralisieren gedenkt. Was für ein Abstand zu der Gene-
ration der Stürmer und Dränger, die die Liebe als Passion und Pa-
thologie erleben – oder zumindest als solche stilisieren werden!
Zu den Säuen in Epikurs Ställen gehört dieser König also offen-
bar nicht, jedenfalls nicht seit seiner Installierung in Sanssouci. Er ist
vielmehr Selbst-Abtöter, dem am Ende nur noch die Freude an sei-
nen Windspielen bleibt. Zu einigen Gedichten in durchaus galant-
erotischer Stimmung (wie einem 1762 an von Catt adressierten Ge-
dicht voller anakreontischer Motive: dem Lob der Folie, der Imagi-
nation, der Oberfläche) hat F. Nicolai einen Kommentar gegeben,
der dazu bestimmt ist, den möglichen Stein des Anstoßes aus dem
Weg zu räumen: ıDiese heitere Gesinnung war es, welche [...] so
viel beytrug, den Geist des großen Mannes auch in den größten Un-
glücksfällen, und unter den schwersten Sorgen aufrecht zu erhalten.
Es ist vielleicht, recht verstanden, keine erhabenere Philosophie des
Lebensgenusses, als: dem Vergnügen und selbst dem, was Horaz
nennt Dulce desipere in loco das Herz willig zu öffnen, aber bloß
auf der Oberfläche zu genießen, und nur in ernsthaften Gegenstän-
den tief zu gehen. Friedrich wußte in hohem Maaße beides zu ver-
einigen. Er wußte Vergnügungen aller Art zu genießen, aber ihm
war auch zu gehöriger Zeit Res severa gaudium. Ernsthafte Gedan-
ken begleiteten Ihn in Seinen heitersten und fröhlichsten Stunden,
denn diese waren nur die Würze Seines ernsthaften Nachdenkens.„93
Nicolai verweist darauf, daß Friedrich von seinem Arbeitszim-
mer aus nicht nur seinen Garten mit der geliebten Antinous-Skulp-
tur sehen konnte, sondern auch sein Grab, ınämlich auf dem offnen
Platze, gerade dem Fenster seines Studierzimmers gegenüber vor
einer Halben Rundung. [...]. Diese Gruft, deren Existenz so wenige

93 Nicolai: Anekdoten, a.a.O., S. 200.


718 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

Personen wußten, war wahrscheinlich die eigentliche Veranlassung,


diesem Orte die Benennung Sans=Souci zu geben. [...] Als Er, noch
im Anfang der Erbauung des Schlosses, einst mit dÊArgens auf die-
sem Platze spazierte, sagte Er ihm: Da Er den Entschluß gefaßt, auf
diesem angenehmen Flecke sich einen Sommeraufenthalt zu bauen,
so sey auch gleich Seine Idee gewesen, Sein Grab daselbst einzu-
richten. Quand je serai là, sagte Er, indem Er auf die verborgene
Gruft zeigte, je serai sans souci!„94 Nicolai geht nicht weiter auf das
Komma ein, sondern bezieht ıSans=souci„ auf die Gruft, als das ge-
heime Telos dieses Schlosses und seines Besitzers. Der Tod als Zu-
stand, in dem es keine Sorgen und keinen Kummer mehr gibt –
ganz entsprechend der epikureischen Todeslehre.
Seine Gewissenhaftigkeit zwingt Nicolai darauf hinzuweisen, daß
der König die Idee der Unsterblichkeit der Seele zurückwies und
von deren spurlosen Verschwinden ineins mit dem Zerfallen des
toten Körpers zu Staub ausging. Doch preist er diesen Entschluß, im
Anblick des offenen Grabes zu leben und zu genießen, als Ausweis
eines starken Charakters: ıWir, die wir andre und richtigere Begriffe
[von der Unsterblichkeit] haben, wollen dennoch den Mann be-
wundern, der seiner Begriffe vom Tode unerachtet, sich freywilli-
gerweise täglich damit bekannt machen wollte. Es gehört keine ge-
ringe Stärke des Geistes dazu, aus eigener Wahl, ohne daß es je-
mand merken kann, und also ohne alle Prätension, in seinem fried-
lichen Sommerhause sich sein Grab vor Augen setzen zu lassen,
und keine geringe Heiterkeit der Einbildungskraft, es unter der
Bildsäule der Blumengöttin zu verbergen. Friedrich hatte also in
Seinen einsamen Sommervergnügungen immer den Tod vor Au-

94 Ebd., S. 201, 203. – Kittsteiner (a.a.O.) hat diese Stelle selber zitiert, fand aber für die
Komma-Forschung keinen rechten Aufschluß darin. Als Leser hätte man sich ge-
wünscht, daß er nach der vollständigen Aporie, in die seine Erklärungen zum Komma
münden, zumindest am Schluß noch einige erhellende Ausführungen zu Schloß und
Garten gemacht hätte.
719

gen, und wußte Seinen Begriff davon, mit fröhlichem Genusse des
Lebens sowohl, als mit dem beständigen Andenken an Seine Pflich-
ten zu vereinigen.„95

Anti-Epikureismus in der deutschen Aufklärung


Friedrichs epikureische Neigungen waren kein öffentliches Geheim-
nis. Der König machte keinerlei Anstrengungen, sie geheim zu hal-
ten. Seine veröffentlichten Gedichte sprachen eine deutliche Spra-
che. Nachdem er 1750 einen Privatdruck der fiuvres du Philosophe
de Sans-Souci (Au Donjon du Château. Avec Privilège dÊApollon,
1750, 3 Bände) veranstaltet hatte, publizierte er im April 1760 bei
Voß in Berlin seine Poésies diverses, um den Raubdrucken in Lyon
und Paris eine autorisierte Fassung entgegenzusetzen.96 Seit dieser
Publikation war der Epikureismus Friedrichs II. gewissermaßen ak-
tenkundig und wurde sogleich zum Gegenstand kritischer Ausein-
andersetzungen. Der mutige Moses Mendelssohn rezensierte die
Poésies diverses in den Briefen die neueste Literatur betreffend nur
wenige Wochen nach ihrem Erscheinen. Hier rühmt er die ıerha-
benen Gesinnungen, Kenntniß des menschlichen Herzens, Natur in
den Gemählden und Gleichnissen, und so viel Zürtlichkeit in den
Empfindungen [⁄]. Jeder Vers beynahe ist ein Zug von dem Cha-
rakter dieses Prinzen, und das ganze ist das wahre Portrait, worinn
seine grosse Seele, sein noch grösseres Herz, und seine Schwachhei-
ten selbst, auf das natürlichste geschildert sind.„97 Damit ist Mendels-
sohn beim Thema: Der König habe die Philosophie Epikurs, auf die

95 Ebd., S. 205.
96 A Berlin chez Chrétien Frédéric Voss, 346 Seiten in Großoktav. Dieser Band enthält 11
Oden, die Stances, 20 Episteln und das Lehrgedicht Art de la Guerre, und zwar in der
Ordnung des ersten Bandes der Œuvres du Philosophe de Sans-Souci von 1752. Vgl.
Moriz Türk: Voltaire und die Veröffentlichung der Gedichte Friedrich des Großen, in:
Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 13/1900, S. 49-73.
97 Moses Mendelssohns Rezension, a.a.O., S. 188.
720 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

er sich etwa in der Epître XVIII. Au Maréchal Keith. Sur les vaines
terreurs de la mort & les frayeurs dÊune autre vie beziehe, keines-
wegs als seine persönliche Überzeugung vorgegeben, sondern viel-
mehr als ein poetisches Rollenspiel. Der Untertitel Imitation du
Troisième Livre de Lucrèce mache das deutlich. Friedrich habe ja
keineswegs Epikurs Leugnung der Unsterblichkeit der Seele als
dogmatische Wahrheit annehmen können: ıDes Epicurs, der, so
leidlich er auch in der Moral philosophiert, dennoch in der Meta-
physik der seichteste und suffisanteste, unter allen Dogmatikern ge-
nannt werden kann.„98 Friedrich stellt in seiner Epître tatsächlich die
Sterblichkeit der Seele als Grund für die Möglichkeit einer furchtlo-
sen Haltung gegenüber dem eigenen Tod dar: Gerade weil die
Seele nicht unsterblich ist, können die zum Zwecke unserer Un-
mündigkeit von Priestern und anderen Mächten aufrechterhaltenen
Jenseitserwartungen abgewiesen werden. Dieses Argument stellt
nicht weniger als einen Glaubensartikel von Mendelssohns plato-
nisch-leibnizianischem Optimismus in Frage. Entsprechend harsch
ist seine Reaktion in seiner Rezension: ıKann ein Schriftsteller, dem
der jetzige Zustand der Weltweisheit nicht unbekannt ist, der sich
allenthalben als einen gründlichen und Wahrheitsliebenden Kopf
zeigt; – kann der es sich wohl haben in den Sinn kommen lassen,
durch folgende Einwürfe die Lehre von der Unsterblichkeit der
Seele zu bestreiten?„99 Mendelssohn hilft sich mit der Unterstellung,
daß der Dichter hier mit der geliehenen Stimme des Lukrez spricht
(wie es in der Tat der Untertitel einer Epistel an Maréchal Keith an-
kündigt), – eine arg forcierte Ehrenrettung, die an Friedrichs eige-
nen Intentionen vorbeigeht. Am Ende seiner Rezension fordert er
Friedrich II. indirekt sogar auf, den Dichter vom Regenten, Welt-
weisen und Menschen zu trennen: ı Jenem ist es erlaubt, zum Zeit-

98 Ebd., S. 191.
99 Ebd.
721

vertreibe Gedanken in Reime zu bringen, die der Regent durch


Thaten verläugnet, der Weltweise durch Gründe verspottet, und der
Mensch selbst, der sich seines angebohrnen Adels bewußt ist, anzu-
nehmen sich weigern muß.„100
Hier zeichnete sich einmal mehr eine fundamentale Kluft zwi-
schen der deutsch-idealistischen und der materialistisch-französi-
schen Aufklärung ab. Mendelssohn wird in seinen Schriften denn
immer wieder auf den ıgemäßigten Epikureismus„, der Mode ge-
worden sei, zurückkommen, wesentliche Energien seiner schriftstel-
lerischen Arbeit zieht er gerade aus der Opposition dagegen.101
Friedrich selber machte in seinen Unterredungen mit deutschen Ge-
lehrten wie Gottsched, Gellert und Sulzer keinen Hehl aus seinen
Überzeugungen, er kehrte sie vielmehr provokatorisch heraus.102
Dem aufmerksamen Beobachter – und welcher soziale Ort schärft
den Blick mehr als Hof und Stadt? – konnte bereits seit den 40er
Jahren nicht verborgen bleiben, daß der König sich mit einer Schar
von Freunden und Gesinnungsgenossen umgab, die allesamt epiku-
reische Neigungen teilten. Gebannten Auges starrten die deutschen
Aufklärer auf das Sündenbabel Sanssouci und dessen freigeistige
Tafelrunde. Eine der sprechendsten Anekdoten dafür hat der
Schweizer Arzt und Schriftsteller Johann Georg Zimmermann über-
liefert, der 1749 seinen Landsmann Albrecht von Haller in Göttin-
gen besuchen kam. Haller hatte soeben eine Berufung an die Kö-
nigliche Akademie der Wissenschaften nach Berlin erhalten, mit
dem Zusatz des Akademie-Präsidenten Maupertius, daß der König
ihn oft zusammen mit Voltaire und den übrigen Herren in seine
Abendgesellschaft bitten werde. Gegenüber Zimmermann verbarg
Haller seine Skrupel nicht: Diese ıunchristlichen Abendstunden

100 Ebd., S. 194.


101 In dieser Hinsicht kann man Phädon oder die Unsterblichkeit der Seele (Berlin 1767)
wie eine Elaboration der in der Rezension vorgebrachten Argumentation lesen.
102 Vgl. Meyer-Kalkus, a.a.O.
722 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

und Abendfeste zu Potsdam und Sanssouci„ fielen ihm, der nach


anfänglichem Epikureismus eine scharfe christliche Wende vollzo-
gen hatte, denn doch ıaufs Herz„. Haller erzählt Zimmermann, ıwie
man damals hiervon und von dem ganzen Privatleben des Königs
in Berlin sprach: und damals sprach man in Berlin völlig, pünktlich
und buchstäblich so, wie Voltaire seitdem in seiner lügenhaften Vie
privée de Fréderic. Denken Sie sich einen Christ, denken Sie sich
einen Menschen, der an die Religion Jesu glaubt und sie von gan-
zem Herzen bekennet, nach Potsdam, zwischen den König, Voltaire,
Maupertuis, und dÊArgens.„103
Epikureismus, das ist in Deutschland seit der antiepikureischen
Polemik der christlichen Aufklärer, seit Albrecht von Haller, Johann
George Sulzer, Johann Christoph Gottsched, Moses Mendelssohn,
Lessing u.a. ein Ketzer- und Schmähbegriff – gleichbedeutend mit
Materialismus bzw. Atheismus und einer suspekten Lebenskunst,
wie sie zumal an Höfen unter französischem Einfluß gepflegt wurde.
Doch hat dieser Begriff in dieser Zeit zumeist eine spezifische Loka-
lität: er zielte fast immer auf Potsdam und den französischen Freun-
deskreis von Friedrich II. Haller entschied sich denn auch, den Si-
renenklängen aus Potsdam nicht Folge zu leisten. Gottsched über-
setzte den ıAnti-Lucrèce„ des französischen Bischofs Polignacs, eine
der schärfsten Kampfschriften gegen den Epikureismus, und versah
sie mit eigenen Anmerkungen. Noch Friedrich Schiller deutete den
ıraffinierten und konsequenten Epikuräismus„ als eine der fatalsten
Erbschaften von materialistischer Aufklärung und höfischer Welt,
als Verstrickung in rein materielle Bedürfnisse, welche Charakter
und Persönlichkeit, Tatkraft und Moral unterminieren.104

103 Johann Georg Zimmermann: Fragmente über Friedrich den Großen, Bd. 1, S. 193f.,
S. 195. Leipzig 1790.
104 „Die Aufklärung, deren sich die höheren Stände unseres Zeitalters nicht mit unrecht
rühmen, ist bloß theoretischer Kultur, und zeigt, im ganzen genommen, so wenig
einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnung, daß sie vielmehr bloß dazu hilft, die
723

Barbara Bauer hat zeigen können, daß die Kritik der protestanti-
schen Aufklärer an den schriftlichen Beiträgen der Königlich-Preu-
ßischen Akademie einen anti-epikureischen Subtext aufweist. Diese
Kritik nimmt Anstoß an den freigeistigen Tendenzen dieser kleinen,
aber für die Diskussionen der gesamten Akademie entscheidenden
Gruppe.105 Die verborgenen Spitzen dieses Schrifttums haben wir
noch kaum angemessen wahrgenommen. Eine Rélecture von vielen
scheinbar bekannten Texten ist geboten, um ihre versteckten Adres-
saten zu erkennen. Man spricht von Epikureismus, meint aber das
Sanssouci von Friedrich II. Die Meinung von Werner Kraus, wo-
nach die ıfranzösische Aufklärung in Sanssouci mancherlei Gast-
spiele gab, ihr jedoch jede Resonanz auf das sie umgebende Land
versagt geblieben„ sei,106 ist nicht zu halten. Häufig sind es unterirdi-
sche Wasseradern, welche die Blitze anziehen. So ist es auch mit
dem Epikureismus von Friedrich und seinem Freundeskreis. Stu-
diert man dieses Gegeneinander von Epikureern und Anti-Epikure-
ern im Umkreis von Friedrich II. und der Königlichen Akademie
zwischen 1740 und 1780, so stößt man auf eine der zentralen geisti-
gen Auseinandersetzungen der Zeit, an der sich deutsche und fran-
zösische Aufklärung treffen und auch wieder scheiden. Grundkon-
stellationen der für Deutschland spezifischen Aufklärungsbewegung

Verderbnis in ein System zu bringen, und unheilbarer zu machen. Ein raffinierter und
konsequenter Epikureism hat angefangen, alle Energie des Charakters zu ersticken,
und die immer fester sich zuschnürende Fessel der Bedürfnisse, die vermehrte Ab-
hängigkeit der Menschheit vom physischen hat es allmählich dahin geleitet, daß die
Maxime der Passivität und des leidenden Gehorsams als höchste Lebensregel gilt,
daher die Beschränktheit im Denken, die Kraftlosigkeit im Handeln, die klägliche Mit-
telmäßigkeit im Hervorbringen, die unser Zeitalter zu seiner Schande charakterisiert.
Und so sehen wir den Geist der Zeit zwischen Barbarei und Schlaffheit, Freigeisterei
und Aberglauben, Roheit und Verzärtelung schwanken, und es ist bloß das Gleich-
gewicht der Laster, was das ganze noch zusammenhält.“ Briefe an den Herzog
Friedrich Christian von Augustenburg, in: Friedrich Schiller: Theoretische Schriften,
hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt 1992, S. 502f.
105 Bauer, a.a.O., S. 1421ff., 1436ff.
106 Zitiert von Mittenzwei, a.a.O., S. 29.
724 Reinhart Meyer-Kalkus: Französische Epikureer und Materialisten am Hofe Friedrichs II.

in ihrer Allianz mit dem Protestantismus werden hier greifbar, in


denen sich nicht nur philosophische und religiöse, sondern auch
soziale und politische Spannungen kristallisieren.
Wer von Epikureismus sprach, meinte immer auch die Franzo-
sen. Und wenn deren Kultur in der Folgezeit in Deutschland
gleichbedeutend mit sinnlicher Ausschweifung, Atheismus und Ma-
terialismus wurde, so hat dafür – als traumatischer Schmerz – der
Stachel im eigenen Fleisch mitverantwortlich sein können, der Epi-
kureismus am Hofe von Friedrich II. Das Trauma der Herabsetzung
gegenüber den Franzosen durch ihren größten König, verbunden
mit dessen eigentümlicher deutsch-französischer Wahlverwandt-
schaft im Zeichen EpikursÊ mußte wohl vergessen und verdrängt
werden, doch hört es nicht auf zu wirken. Auch im Vergessen kon-
struieren Gesellschaften ihre Vergangenheiten.
725

Deutsche und französische Jugendliche


als transnationale Mittler
Eva Sabine Kuntz
726 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

Der Jugendliche als „Intellektuellenfigur“


In diesem Beitrag soll nicht die Rede sein von einem einzelnen
Mann oder einer einzelnen Frau des 20. Jahrhunderts, die eine prä-
gende Wirkung auf wichtige Teilbereiche der deutschen und fran-
zösischen Gesellschaft hatte; nein, es soll die Rede von einer ganzen
Gruppe von Persönlichkeiten, ja genaugenommen von Millionen
von Menschen sein. Es wird hier also nicht ein einzelner Intellektu-
eller im Rampenlicht stehen, sondern es soll einer bestimmten Gat-
tung Intellektueller ein essayistisches Denkmal gesetzt werden – der
Gattung ı Jugendlicher„. Jugendlichen, denen im deutsch-französi-
schen Verhältnis ein ganz besonderer Stellenwert zukommt und
ohne die nicht nur die deutsch-französische Zusammenarbeit auf
zivilgesellschaftlicher Ebene heute grundlegend anders aussähe, als
dies der Fall ist, sondern auch die Beziehungen auf politischer
Ebene – das deutsch-französische Verhältnis ganz allgemein.
Die Betrachtung einer ganzen Gruppe heißt aber auch, dass man
hier mit der Definition des Intellektuellen im engeren Sinne – ıPer-
sönlichkeiten, die aufgrund ihres wissenschaftlich oder künstlerisch
erworbenen Bekanntheitsgrades in der politischen Öffentlichkeit kri-
tisch intervenieren und gehört werden„1 – nicht sehr weit kommt.
Der Blick auf das ıpolitisch-kulturelle Itinerarium„ der Akteure2
kann somit auch nicht in der Tradition des Genres der Individual-
biographie stehen, die in der Regel darauf abzielt, die Lebensetap-
pen einer Einzelperson nachzuzeichnen. Vielmehr kann hier nur die
Erfassung der Rolle von Intellektuellen in einer bestimmten politik-
historischen Epoche und in spezifisch nationalkulturellen Kontexten
interessieren. Die Frage, ob und wenn ja, in welcher Weise Intellek-

1 Hans Manfred Bock: Intellektuelle, in: Robert Picht u.a. (Hg.): Fremde Freunde. Deut-
sche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München 1997, S. 72-79, hier S. 72.
2 Vgl. Hans Manfred Bock: Der Intellektuelle und der Mandarin? Zur Rolle des Intellek-
tuellen in Frankreich und Deutschland, in: Frankreich-Jahrbuch 1998, hg. vom
Deutsch-Französischen Institut, S. 35-51, hier S. 40.
727

tuelle – hier also: Jugendliche – zur Konstituierung kollektiver Ver-


haltensdispositionen und Deutungsmuster beigetragen haben, führt
zu der noch immer nicht leicht zu beantwortenden Frage der Evalu-
ierung interkulturellen Lernens. Geht man aber von einem deutlich
erweiterten Intellektuellenbegriff aus (etwa: ıPersönlichkeiten, die
aufgrund ihrer individuellen – interkulturellen – Erfahrungen in ih-
rem unmittelbaren und mittelbaren Umfeld eine Änderung von
Einstellungen und Überzeugungen bewirken können„), so erlaubt
dies auch, konkrete Wirkungsbedingungen und Handlungsspiel-
räume zu erfassen, die den Intellektuellenfiguren – hier: Jugendli-
chen – für ihr transnationales Engagement zur Verfügung standen.
Es wird hier also weniger die Rede sein vom Wirken Intellektueller
als öffentlichkeitswirksame Kritiker der Mächtigen im Stil des grand
intellectuel noch in der Form des Dieners der Mächtigen wie dem
Mandarin im Wilhelminischen Kaiserreich oder des politischen
Vordenkers und intellektuellen Stichwortgebers; im hier angespro-
chenen Sinne entsprechen Jugendliche am ehesten der Figur des
ıkulturellen Mittlers zwischen zwei Nationen„. Es interessiert vor
allem die politisch-kulturelle Dimension der Intellektuellenfigur ı Ju-
gendlicher„, der in den deutsch-französischen Beziehungen eine
ganz wichtige Rolle innerhalb der Zivilgesellschaft zukommt.3
Ermöglicht wurde diesen ıIntellektuellen der ganz besonderen
Art„ ihr Wirken durch das ıschönste Kind des Elyséevertrags„.
Nicht ein einzelner Mann, eine einzelne Frau aber, der oder die
beim Aufbau der deutsch-französischen Beziehungen Herausragen-

3 Hier soll von der Bock’schen Definition von „Zivilgesellschaft“ ausgegangen werden,
der zivilgesellschaftliche Akteure auf dem Feld der internationalen Beziehungen als
„Organisationen oder Individuen, die im vorpolitischen Raum transnationale Initiati-
ven mit ökonomischer, religiöser, kultureller, karitativer, friedenssichernder, ökologi-
scher oder sonstiger Zielsetzung ergreifen, ohne daß sie damit Partikularinteressen
oder den Zweck des politischen Machterwerbs zu verfolgen beabsichtigen.“ Hans
Manfred Bock (Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivil-
gesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opla-
den 1998, S. 17.
728 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

des geleistet hätte, ist damit gemeint, sondern eine ganze Institution:
das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW).
Andere haben es nüchterner formuliert: ıDie Gründung des
Deutsch-Französischen Jugendwerks ist [...] mit Sicherheit das er-
folgreichste unmittelbare Ergebnis des Elysée-Vertrags„.4 Oder, er-
staunlich wenig verlautbarungsdeutsch ausgedrückt: ıIn der sog.
,hohen Politik hat es, was das deutsch-französische Verhältnis be-
trifft, seit der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags schon man-
che Komplikation und manche Enttäuschung gegeben. Das
Deutsch-Französische Jugendwerk jedoch bildet eine rühmliche
Ausnahme„ – so nachzulesen 1965 im Bulletin des Presse- und In-
formationsamtes der Bundesregierung.5 Ziel des am 5. Juli 1963 in
einem feierlichen Akt von den beiden Außenministern, Gerhard
Schröder und Maurice Couve de Murville, in Anwesenheit von
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterzeichneten ıAb-
kommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Französischen Republik über die Gründung
des Deutsch-Französischen Jugendwerks„ war eine Popularisierung
der deutsch-französischen Beziehungen, die in langfristiger Perspek-
tive das Verhältnis beider Länder zueinander positiv beeinflussen
sollte. Es handelte sich hier um den in dieser Breite einmaligen Ver-
such, ein Beziehungsgeflecht auf ızivilgesellschaftlicher„ Ebene zu
entwickeln, das die politischen Beziehungen untermauert bzw. un-
abhängig von der diplomatisch-politischen Konjunktur zwischen
beiden Ländern ist.

4 Ansbert Baumann: Die Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks: Im


Spannungsfeld zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und Zivilgesellschaft, in: Hans
Manfred Bock (Hg.): Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn.
Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003, S. 39-60,
hier S. 60.
5 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (1965), Nr. 153, S. 1238.
729

Begegnungen zwischen deutschen und


französischen Jugendlichen – ein Novum
nach dem Zweiten Weltkrieg?
Nun sind Begegnungen zwischen deutschen und französischen Ju-
gendlichen nichts, was erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
oder der Gründung des DFJW entstanden wäre; hier konnte viel-
mehr auf einer langen Tradition aufgebaut werden. Nach dem tief-
gehenden Bruch der Jahre des Ersten Weltkriegs und nach einigen
vergeblichen Versuchen zivilgesellschaftlicher Verständigung zwi-
schen 1914 und 1924 gab es bereits während der zweiten Hälfte der
zwanziger Jahre und einer vorübergehenden Wiederannäherung auf
politischer Ebene erneut Aktivitäten im zivilgesellschaftlichen Be-
reich. Genannt seien hier lediglich das ıDeutsch-Französische Stu-
dienkomitee„/Comité franco-allemand dÊinformation et de documen-
tation als Beispiel für wirtschaftsbürgerliche Initiativen, die wirt-
schaftliche Interessen mit dem politischen Ziel der Verständigung
verbanden oder auch die ıDeutsch-Französische Gesellschaft„ und
die Ligue dÊEtudes Germaniques als Beispiele für bildungsbürgerli-
che Initiativen.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gab es während der Jahre
1945 bis 1949 zwar keinen von deutscher Seite selbstbestimmten
Austausch; in der französischen Besatzungszone aber gab es in den
Directions Culturelles, insbesondere in der Abteilung Jeunesse et
Sports, Stimmen, die auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit
im vorpolitischen Bereich setzten; zahlreiche private Verständi-
gungsgruppen nahmen ihre Arbeit für Begegnung und Austausch
auf. Daneben leisteten Einzelpersonen Pionierarbeit: Der Jesuitenpa-
ter Jean du Rivau etwa gründete eine deutsch-französische Austausch-
organisation, die in Frankreich als Bureau internationale de Liaison et
de Documentation (B.I.L.D.) und in Deutschland als ıGesellschaft
für übernationale Zusammenarbeit„ (GÜZ) bekannt wurde und in
730 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

beiden Ländern eine Informationszeitschrift über das Nachbarland


(Documents, Dokumente) herausgibt, Joseph Rovan wirkte in der
Kulturabteilung der Militärregierung in Baden-Baden und im
Hochkommissariat in Mainz (und veröffentlichte 1945 in der Zeit-
schrift Esprit einen Essay mit dem für die deutsch-französische Ver-
ständigungsarbeit programmatischen Titel ıLÊAllemagne de nos
mérites„),6 Emmanuel Mounier, Chefredakteur eben dieser Zeit-
schrift Esprit, gründete das Comité Français dÊEchanges avec lÊAl-
lemagne Nouvelle, und Theodor Heuss und Carlo Schmid un-
terstützten aktiv das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg.
In dieser Zeit zeichnen sich die ersten Ansätze einer neuen Ära
zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit ab, die für die zweite Hälfte
des 20. Jahrhunderts bestimmend sein wird. In den 50er Jahren
entstanden neue gesellschaftliche Austauschstrukturen (Gemeinde-,
Städte-, Schul- und Universitätspartnerschaften, deutsch-französische
Gesellschaften), die gekennzeichnet sind vom Übergang von einer
eher an den Eliten orientierten Verständigung ıvon oben„ zu einer
Breitenwirkung anstrebenden Verständigung ıvon unten„.
Im Jahr 1963 wurde mit dem Elyséevertrag nicht nur die Grund-
lage für die formalisierte Zusammenarbeit der beiden Regierungen
gelegt; mit der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks
griff die staatliche Seite in Deutschland und Frankreich im Jahr 1963
auch aktiv in die bestehenden Aktivitäten auf zivilgesellschaftlicher
Ebene ein und schuf eine Institution, die in den darauffolgenden
Jahren – und bis heute – den Jugendaustausch auf bis dahin unbe-
kannte Weise stimulieren konnte: Die gesellschaftlichen Grundlagen
des Austauschs wurden verbreitert, d.h. ein möglichst breiter Kreis
der deutschen und französischen Bevölkerung angesprochen (Ziel-
gruppe des DFJW sind Jugendliche ıvon 3 bis 30„ quer durch alle
Schichten der Gesellschaft); gleichzeitig wurde die Finanzierung des

6 Vgl. auch den ihm gewidmeten Beitrag von Hansgerd Schulte in dieser Festschrift.
731

deutsch-französischen Austauschs verstärkt in öffentliche Hände ge-


legt. Der Jugend wurde explizit besondere Bedeutung zugemessen,
der Kulturbegriff erweitert.
Ein kurzer Exkurs zum Elyséevertrag sei gestattet: Mit ihm ent-
stand le couple franco-allemand, dieses merkwürdige Gebilde, das
vierzig Jahre später dazu führen sollte, dass alle sechs Monate ge-
meinsam komplette Kabinettssitzungen stattfinden, dass der franzö-
sische Staatspräsident den Bundeskanzler und damit Deutschland
beim europäischen Rat in Brüssel vertritt, Pläne für eine deutsch-
französische Staatsbürgerschaft geschmiedet werden und ein ge-
meinsames Geschichtsbuch für deutsche und französische Schüler
ab dem Schuljahr 2006 verpflichtend eingesetzt werden soll.
Man kann den Elyséevertrag gar nicht hoch genug einschätzen.
Er hatte Modellcharakter: In ihm verpflichten sich zwei Länder, die
sich innerhalb eines Jahrhunderts dreimal mit furchtbaren Konse-
quenzen bekämpft und sich tiefem Hass hingegeben hatten, die be-
reit waren, alle zur Verfügung stehenden materiellen und geistigen
Ressourcen zu mobilisieren, um den anderen auszulöschen und
damit die gesamte zivilisierte Welt gefährdet hatten, Lehren aus
dieser furchtbaren Vergangenheit zu ziehen und einen radikal an-
deren Weg einzuschlagen.
Der Vertrag hätte nicht geschrieben werden können ohne die
Erkenntnis und den Willen von Einzelpersonen, mit der Vergangen-
heit zu brechen. Er hätte nicht mit Leben gefüllt werden können
ohne Persönlichkeiten, die wegen – oder müsste man nicht eher
sagen ıtrotz„ – ihrer persönlichen Erlebnisse bereit waren, sich zu
engagieren.
Das Bestreben, die Arbeit dieser Persönlichkeiten und die von
ihnen geführten, bereits existierenden zivilgesellschaftlichen Aus-
tauschorganisationen in die Arbeit des DFJW zu integrieren, verlief
732 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

sehr erfolgreich;7 das DFJW konnte an die oben aufgezeigte Tradi-


tion deutsch-französischen Austauschs anknüpfen und ihn aus-
bauen. Der Erfolg dieser Anstrengungen lässt sich auch quantitativ
messen: Seit 1963 hat das DFJW mehr als sieben Millionen Jugend-
liche bei ihren Begegnungen unterstützt, jährlich sind es im Durch-
schnitt 200.000.8 Die zivilgesellschaftliche Handlungsebene ist in den
deutsch-französischen Beziehungen ein Faktor der Stabilität gewor-
den, auf den Politiker gerade dann gern verweisen, wenn sich in
den zwischenstaatlichen Beziehungen Konflikte zuspitzen.
Anhand von drei Beispielen soll deutlich gemacht werden, inwie-
fern Jugendliche als kulturelle Mittler fungieren – drei Beispiele, die
auch die Fortentwicklung der erfolgreichen Arbeit im DFJW doku-
mentieren: zum einen das im Jahr 2000 ins Leben gerufene Lang-
zeitprogramm im Individualaustausch Voltaire, außerdem die Teil-
nahme an der Gestaltung der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der
Landung der Alliierten in der Normandie und schließlich die ver-
stärkte Arbeit im Bereich des trinationalen Jugendaustauschs, vor
allem mit den Ländern Mittel- und Osteuropas und Südosteuropas.

Erstes Beispiel: Jugendliche als Mittler einer


europäischen citoyenneté – Das Voltaire-Programm
Das DFJW hat mit dem Voltaire -Programm, das von den beiden
Regierungen bei den deutsch-französischen Konsultationen im No-
vember 1998 in Potsdam beschlossen wurde, eine neue Perspektive
im deutsch-französischen Austausch eröffnet: Deutschen und franzö-

7 Baumann, a.a.O., S. 59.


8 Die offizielle Statistik, die im Jahr 2004 7,4 Millionen Jugendliche ausweist, zählt le-
diglich die vom DFJW unterstützten Jugendlichen; d.h. wenn eine deutsche Schul-
klasse nach Frankreich fährt, erhalten diese Jugendliche eine finanzielle Förderung,
nicht aber die französischen Schüler, die sie bei sich aufnehmen (und aus der Reise
erst eine Austauschbegegnung machen). Es sind also de facto mindestens ca. 10 Mil-
lionen Jugendliche, die ausgetauscht wurden.
733

sischen Schülerinnen und Schülern zwischen 15 und 17 Jahren wird


die Möglichkeit gegeben, gemeinsam jeweils sechs Monate im Gast-
land zu verbringen. Während dieser Zeit leben sie in der Familie
ihres Austauschpartners und besuchen gemeinsam die Schule. Da-
mit entsteht eine neue Qualität im Austausch: Bei einem ıKurzaus-
tausch„ bleibt der Jugendliche gezwungenermaßen Gast; im Vol-
taire -Programm ist dies nicht mehr möglich, bei einem Austausch
von einem halben Jahr kann die reine Gastrolle von beiden Seiten
nicht aufrechterhalten werden. Ziel des Voltaire -Programmes als in-
dividuelles Langzeitprogramm ist es genau, den Jugendlichen zu
ermöglichen, in die andere Kultur einzutauchen und dabei ihre
Sprachfähigkeit und ihre soziale Kompetenz im interkulturellen
Raum zu erweitern. Durch die längere Aufenthaltsdauer und die
pädagogische Begleitung gewinnt der Austausch eine neue Qualität:
Die Jugendlichen lernen, im deutsch-französischen und europäi-
schen Kontext zu denken und zu handeln. Das Programm ist sehr
gefragt: Nahmen im Jahr 2001 – dem ersten Jahr, in dem das Pro-
gramm nach einer Pilotphase durchgeführt wurde – 110 Jugendliche
an dem Programm teil, so werden es im Schuljahr 2005/2006 vor-
aussichtlich 500 Schülerinnen und Schüler sein.
Eine vom DFJW beauftragte Gruppe von deutschen und franzö-
sischen Wissenschaftlern – Soziologen, Pädagogen, Psychologen,
Sprachwissenschaftler – die eine begleitende wissenschaftliche Un-
tersuchung des Programmes auf Basis der Wirkungsanalyse (mit
Fragebogen, Interviews und teilnehmender Beobachtung) durch-
führte, befasste sich unter anderem mit der Frage, welche Jugendli-
che an dem Programm teilnehmen, ihren Motiven und soziokultu-
rellen Voraussetzungen, ihren sprachlichen, sozialen und interkultu-
rellen Kompetenzen zu Beginn und nach Abschluss des Pro-
gramms, Multiplikatoreneffekten bei Schülern, Eltern und Lehrern
oder auch Langzeitwirkungen bei den Austauschschülern.
734 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

Bilanzierten sie im ersten Zwischenbericht im September 2002


(nachdem die französischen Teilnehmer das erste Halbjahr in
Deutschland verbracht hatten) noch vorsichtig, es gebe Hinweise
darauf, dass Akzeptanz und Kenntnis des anderen Landes und der
anderen Sprache zugenommen hätten, so fällt ihr Urteil im zweiten
Zwischenbericht im Oktober 2003 deutlicher und deutlich positiv
aus: Die überwiegende Anzahl der Voltaire -Schülerinnen und Schü-
ler hat beachtliche sprachliche Fortschritte gemacht, die sie nach
eigener Aussage auch als kulturelles Kapital betracht, das sie zu
nutzen gedenkt. Die Teilnehmer haben sich die Fähigkeit zum Per-
spektivenwechsel erworben, indem sie in die andere Lebenswelt
eingetaucht sind und in dieser neuen Umgebung Handlungsfähig-
keit erworben haben. Die Forscher haben den Eindruck, dass die
Jugendlichen deutliche Fortschritte in der Entwicklung ihrer persön-
lichen und kollektiven Identität gemacht haben und sehen eine
deutliche Öffnung zum anderen Land: Die Mehrheit der Teilneh-
mer bekundet den Willen, die Beziehungen zum anderen Land
fortzusetzen und auszubauen. Die Forscher unterstreichen, dass an-
zunehmen ist, dass diese Mobilitätsöffnung nicht nur für Deutsch-
land bzw. Frankreich gilt, sondern auch eine Transferwirkung für
andere Länder hat. Diese ıFähigkeit der kulturellen und sprachli-
chen Flexibilität, eine der Basiskompetenzen in einer multikulturel-
len, globalisierten Welt, ist vielleicht die bedeutsamste Wirkung des
Voltaire -Programms.„9
Dabei ist bei den Programmen des DFJW der Erhalt des Eige-
nen auch im Prozess der Immersion in das Andere ein wesentlicher
Aspekt: Der Gastaufenthalt soll durch die Erfahrung des Anderen

9 Vgl. Gilles Brougère, Lucette Colin, Hans Merkens, Hans Nicklas, Marion Perrefort,
Volker Staupe: Das Eintauchen in die fremde Kultur. Auswirkungen auf Mobilität und
Identität. Begleitende wissenschaftliche Untersuchung zum Voltaire-Programm des
Deutsch-Französischen Jugendwerks. Zweiter Zwischenbericht, Oktober 2003, S. 63
(unveröffentlicht).
735

bereichernd sein und dabei auch ein Vertrautwerden mit dem An-
deren bewirken. Dies soll aber nicht um den Preis der Aufgabe des
Eigenen erkauft werden, sondern es erscheint wesentlich, dem Ver-
trauten Neues in Form von Addition und Integration hinzuzufügen.
Hans Nicklas und Volker Saupe kommen zu dem Schluss, dass
die jungen Deutschen und Franzosen ıso etwas wie eine interkultu-
relle Gesinnung, eine europäische citoyenneté, entwickeln„ – eine
Entwicklung, die nur begrüßt werden kann, will Europa nicht nur
eine Sache der Politik, der Wirtschaft und der gemeinsamen Wäh-
rung bleiben. Sie sehen in der erworbenen interkulturellen Einstel-
lung einen Ansatz zu einem ıkommunikativen Europa„, in dem es
vielfältige Beziehungen zwischen den verschiedenen europäischen
Bevölkerungen gibt.10
Oft führt gerade bei Jugendlichen die Neugierde auf das Fremde
zu bereichernden Erweiterungen ihrer bisherigen Ansichten, Einstel-
lungen und Handlungsdispositionen, und sie sind im nachhinein
auch in der Lage, als ıBotschafter„ zu fungieren und bei anderen
Schülerinnen und Schülern, aber auch deren Eltern oder Lehrern
Änderungen in ihren Sichtweisen und Haltungen in Bezug auf das
Nachbarland zu bewirken. Wir setzen diese Schülerinnen und Schü-
ler deswegen auch nach ihrer Rückkehr aus dem Voltaire -Pro-
gramm ganz bewusst als Mittler ein – zuletzt am 22. Januar 2005,
dem deutsch-französischen Tag, an dem sie in einer ganzen Reihe
von Schulen Informationsveranstaltungen durchführten.

10 Ebd., S. 55.
736 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

Zweites Beispiel: Jugendliche als Mittler der


Versöhnungsarbeit – Teilnahme von deutschen und
französischen Jugendlichen an den bilateralen
Feierlichkeiten am Mémorial de la Paix in Caen
am 6. Juni 2004
Ein Beispiel dafür, welchen Beitrag Jugendliche als Mittler leisten
können, indem sie mit unverstelltem Blick Dinge und Sachverhalte
artikulieren, die bis dahin schwer artikulierbar erschienen, Gedan-
kenanstöße geben und exemplarische Fragen stellen, ist die Teil-
nahme deutscher und französischer Jugendlicher an den Feierlich-
keiten zum 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Nor-
mandie. Anliegen des DFJW, als es von der deutschen und franzö-
sischen Regierung gebeten wurde, die deutsch-französische Zere-
monie mitzugestalten, war es, den Jugendlichen nicht nur die Teil-
nahme am feierlichen Akt am Mémorial de Caen selbst mit Bun-
deskanzler Gerhard Schröder und dem französischen Staatspräsi-
denten Jacques Chirac zu ermöglichen, sondern ihnen eine eigen-
ständige Rolle zukommen zu lassen, die gleichzeitig Ausdruck der
kontinuierlichen Arbeit für Versöhnung und Zukunftsgestaltung sein
sollte. So konnte am 6. Juni gemeinsam mit dem Rektorat der Aca-
démie de Caen und unter Beteiligung des Mémorial de Caen eine
Diskussionsveranstaltung mit dem Titel ı Jugendliche und Zeit-
zeugen im Dialog – Geschichte erfahren, um die Zukunft zu gestal-
ten„/Témoignages et Dialogues – parler de lÊHistoire pour construire
lÊAvenir stattfinden. Neunzig deutsche und französische Schüler, die
nicht etwa extra rekrutiert wurden, sondern sich zum Schüler-
austausch im Juni in der Gegend aufhielten11 und von ihren Leh-

11 Es handelte sich um Schülerinnen und Schüler der Realschule Flensburg West und
ihrer Partnerschule, dem Lycée Pierre et Marie Curie aus Saint Lô, und Schülerinnen
und Schüler der Georg-Sauerwein-Realschule aus Gronau an der Leine und ihrer
Partnerschule, dem Collège Boris Vian aus Mézidon-Canon.
737

rerinnen und Lehrern im Rahmen des Unterrichts und während des


Aufenthaltes vor Ort thematisch vorbereitet wurden, trafen mit fran-
zösischen Zeitzeugen und einem deutschen ehemaligen Soldaten
zusammen. Eröffnet wurde die Diskussion mit der Vorführung eines
sechsminütigen, von deutschen und französischen Schülern produ-
zierten Videos ı Je me souviens – ich erinnere mich„ und kurzen
Beiträgen der Zeitzeugen.
Bei der nachfolgenden Diskussion, die für die betreuenden Leh-
rer auch wegen der unterschiedlichen, je nachdem, ob von deut-
schen oder französischen Schülern gestellten, Fragen von Interesse
war, wurde zum einen deutlich, wie facettenreich – nicht beliebig
oder gar relativierend – die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ge-
rade auch durch die Diskussion im Vorfeld des 6. Juni geworden
ist. Die Medien berichteten über Prozesse der Vergangenheitsbewäl-
tigung einzelner Dörfer in Frankreich, in denen deutsche Soldaten,
von französischen Partisanen erschossen, exhumiert und nach einer
kurzen, feierlichen Zeremonie nach Deutschland überführt wurden,
oder über das Verhalten einzelner alliierter und feindlicher, deut-
scher Soldaten, die sich trotz allem ihre Menschlichkeit bewahrt hat-
ten. Beeindruckend war auch, wie eine französische Zeitzeugin auf
die Frage eines Schülers hin, ob die Anwesenheit des deutschen
Bundeskanzlers sie nicht schockiere, mit ebenso einfachen wie ein-
dringlichen und bewegenden Worten erklärte, dass seine Teil-
nahme ihrer Überzeugung nach gut und richtig sei, weil sie den fol-
gerichtigen Schlusspunkt unter einer langen Entwicklung der Bezie-
hungen zwischen beiden Ländern darstelle. So furchtbar die Ereig-
nisse damals gewesen seien, so lange es gebraucht habe, bis Wut,
Hass und Trauer verblasst waren und bis sich größere Teile der Be-
völkerung wieder daran erinnern konnten, dass es auf der anderen
Seite nicht nur Feinde gab, sondern auch so manches Beispiel der
Menschlichkeit, so sehr habe man über die Jahrzehnte und die ge-
738 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

meinsame Arbeit der Vergangenheitsbewältigung und Begegnungen


– gerade auch zwischen Jugendlichen – gelernt, wie sehr viel positi-
ver eine auf Verständigung aufbauende Zusammenarbeit sei.
Auch am Mémorial de Caen, wo der deutsche Bundeskanzler
und der französische Staatspräsident ihre Reden mit einer gemein-
samen Umarmung beendeten und ein deutsch-französischer Chor
die Veranstaltung mit Beethovens Ode an die Freude beendete,
herrschte unter den Anwesenden der bewegende Eindruck vor,
dass an diesem Tag als Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit der Ver-
gangenheitsbewältigung auf offizieller politischer und zivilgesell-
schaftlicher Ebene aus dem alliierten Erinnerungsort Caen ein eu-
ropäischer lieu de mémoire wurde.

Strukturelle Veränderungen der deutsch-französi-


schen Zusammenarbeit – Von der Versöhnung zur
Formulierung gemeinsamer Ziele
Kann sich das Deutsch-Französische Jugendwerk also heute zurück-
lehnen und zufrieden sein mit dem, was es erreicht hat? Vielleicht
sogar beschließen, dass das Gros der Arbeit getan ist? Das hieße zu
verkennen, dass das deutsch-französische Verhältnis der ständigen
Pflege und des kontinuierlichen Engagements braucht, um weiter zu
bestehen und sich fortzuentwickeln.
In den Jahren und Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Welt-
kriegs haben Einzelpersonen – einige von ihnen habe ich eingangs
erwähnt – und zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse, insbeson-
dere von Jugendlichen, an die deutsch-französische Versöhnung ge-
glaubt und sich dafür engagiert. Ihr Engagement hat die deutsch-
französische Welt, ja die Welt tout court verändert:
Deutschland und Frankreich sind sich heute engste und wichtig-
ste Partner in Europa. Es gibt kein anderes bilaterales Verhältnis, in
dem auf allen Gebieten eine so regelmäßige und enge Abstimmung
739

erfolgt. Das gilt für den politischen Bereich genauso wie für den
zwischengesellschaftlichen, kulturellen und auch wirtschaftlichen
Bereich.
Die geopolitischen Veränderungen nach dem Fall der Mauer
und die deutsche Einheit haben eine Neuorientierung der deutsch-
französischen Zusammenarbeit notwendig gemacht; gleichzeitig galt
es auf die immer engere Verflechtung beider Gesellschaften und die
neuen Herausforderungen der Globalisierung zu reagieren. Dass die
Zivilgesellschaft dabei verstärkt in den Mittelpunkt der Zusammen-
arbeit gerückt werden muss, ist ebenso Konsens wie die fast einhel-
lige Klage über die weiterhin bestehende Distanz zwischen beiden
Gesellschaften, die immer wieder an den sinkenden Kenntnissen
der Sprache des Nachbarlandes festgemacht wird.
Gleichzeitig droht der Generationenwechsel zu einer tiefen Zäsur
im deutsch-französischen Verhältnis zu werden. Die Akteure der
deutsch-französischen Zusammenarbeit – und hier eben nicht nur
die Politiker und offiziellen Repräsentanten beider Länder, sondern
kulturelle Mittler ganz allgemein, Experten, Wissenschaftler und
eben Jugendliche – sind nicht mehr von dem Bedürfnis nach Aus-
söhnung geprägt, wie dies bei der Generation unserer Väter der Fall
war. Das deutsch-französische Verhältnis ist nicht mehr Selbstzweck,
sondern muss sich neu definieren. Damit geht natürlich auch ein-
her, dass eine gewisse Faszination – Kehrseite der Konflikte und des
Hasses? – verlorengegangen scheint, das Verhältnis an Spektakulä-
rem und vielleicht ein bisschen an Glanz verloren hat. Wechselseiti-
ges Interesse lässt sich in der Tat nicht dekretieren, sondern muss in
jeder neuen Regierung, jeder politischen Konstellation und in jeder
Generation neu hervorgebracht werden. Anders formuliert: ıIr-
gendwann ist man aufeinander zugegangen, und irgendwann hat
740 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

man sich kennengelernt. Die Frage ist nur, was kann man mit dieser
Basis an Vertrauen und Wissen anfangen?„12
In interkulturellen Beziehungen – und das gilt auch für die bila-
teralen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich – lässt
sich ein einmal erreichter Status Quo nicht festhalten, er muss stän-
dig fortentwickelt werden, um nicht gefährdet zu sein. ıSo paradox
es klingt, diese Entwicklung kann nur erreicht werden, wenn sich
das Interesse abwendet von der anderen Kultur und sich dem zu-
wendet, was außerhalb von beiden Kulturen liegt: der gemeinsamen
Formulierung von Zielen und der handelnden Annäherung an
sie.„13 Damit treten die bilateralen deutsch-französischen Beziehun-
gen in eine neue Phase, in der der Fragekontext nicht mehr lautet:
ıWas haben wir gemeinsam?„, sondern ıWas können wir gemein-
sam tun?„. ıDer Handlungskontext ist nun also nicht mehr das Pro-
blem, wie wir uns besser kennenlernen können (also eine Bestands-
aufnahme des Ist), sondern die Frage, wie wir zu unserem gegensei-
tigen Nutzen handeln können (die Konstruktion des Soll).„14
In den deutsch-französischen Beziehungen wird also nicht das
Ende der Versöhnung zum Alltag, sondern die Herausforderung
zur engeren Kooperation. Die Probleme, denen Deutschland und
Frankreich gegenüberstehen – Arbeitslosigkeit, Bioethik, Zuwande-
rung, Terrorismus, Umweltverschmutzung etc. – sind von einer Na-
tion allein nicht mehr zu bewältigen. Sie überfordern sie nicht nur
in den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, sondern auch in ihren
nationalen Denk– und Innovationsstrukturen. Gefragt ist über die
binationale Kooperation hinaus internationale und interkulturelle

12 Karl-Heinz Hetzel: Typisch französisch – typisch deutsch? Bemerkungen zu den in-


ternationalen Stereotypen, in: Lucette Colin, Burkhard Müller (Hg.): Europäische
Nachbarn – vertraut und fremd. Pädagogik interkultureller Begegnungen, Frank-
furt/Main, 1998, S. 29-33, hier S. 32.
13 Ebd.
14 Ebd.
741

Kooperation, um umfassende Strategien und Handlungsoptionen zu


entwickeln. Die kulturelle Diversität in Europa wird so zur Chance,
die übergreifenden Probleme anzugehen und für die internationale
Zusammenarbeit Vorbild zu sein.
Das Deutsch-Französische Jugendwerk hat die hier skizzierte
Entwicklung antizipiert und in den vergangenen zehn Jahren mit
seinen trinationalen Begegnungen konsequent ausgebaut.

Drittes Beispiel: Jugendliche als Mittler für den


Transfer gemeinsamer deutsch-französischer Arbeit
an Drittländer – Trinationale Begegnungen
Die trinationalen Programme des DFJW, insbesondere mit den
neuen Mitgliedstaaten der EU, machen deutlich, dass die deutsch-
französische Zusammenarbeit nicht exklusiv ist, sondern sich Dritten
öffnet und dass sie gerade für den europäischen Integrationsprozess
in einer ganz besonderen Verantwortung steht.15 In der Zusammen-
arbeit deutscher und französischer Jugendlicher und Jugendlicher
aus einem Drittland sollen die Wurzeln der europäischen Integra-
tion bewusst gemacht werden, der ıModellfall Deutschland/Frank-
reich„ mit der erfolgreichen Aussöhnung weitergetragen und ein
gemeinsamer interkultureller und bürgerschaftlicher Lernprozess ge-
leistet werden, der auf den Werten der Demokratie und der gegen-
seitigen Achtung aufbaut. Trinationale Begegnungen eröffnen den
Jugendlichen neue Möglichkeiten, interkulturelle Prozesse zu erle-
ben und ihr Verhältnis zu kulturellen Unterschieden neu zu definie-
ren. Gleichzeitig leisten die jungen Deutschen und Franzosen im
Dialog mit Jugendlichen aus Drittstaaten eine Selbstreflexion über

15 Claudie Haigneré, Europaministerin und Generalsekretärin für die deutsch-französi-


sche Zusammenarbeit, unterstreicht die besondere Rolle Deutschlands und Frank-
reichs in Europa: „Natürlich wünsche ich mir ein starkes und einiges Europa, das ei-
nem gemeinsamen Projekt verhaftet ist und nach dem Vorbild Deutschlands und
Frankreichs seine nationalen Differenzen überwinden kann.“
742 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

das bilaterale Verhältnis zueinander: Man kann sich kaum vorstel-


len, wie eindrücklich die Frage etwa junger Serben in einer deutsch-
französisch-serbischen Begegnung zum Thema ıIdentität in Europa„
wirkt, wie es denn die deutschen und französischen Jugendlichen
schafften, friedlich nebeneinander zu sitzen, obwohl sie doch auf
eine lange gemeinsame Geschichte von Krieg und Hass zurückblick-
ten. Die europäische Dimension in den Jugendbegegnungen und im
interkulturellen Lernen gewinnt hier an Bedeutung.
Diese Entwicklung kam nicht über Nacht, sondern hat eine Vor-
geschichte, die bis in die Anfänge des DFJW zurückreicht. Das
Deutsch-Französische Jugendwerk fördert seit seiner Gründung im
Jahr 1963 den Austausch junger Deutscher und Franzosen, um –
wie es im Abkommen poetisch und altertümlich zugleich formuliert
ist – ıdie Bande zwischen der Jugend der beiden Länder enger zu
gestalten„. Schon im Gründungsvertrag wird gleichzeitig auch fest-
gehalten, dass die Institution ihre Arbeit in den Rahmen europäi-
scher und internationaler Austauscharbeit stellt.16 Die Diskussion, ob
und in welchem Rahmen die Arbeit des DFJW über den bilateralen
Austausch hinausgehen müsse, ist also so alt wie die Institution
selbst. Alfred Grosser, der stets zu den Befürwortern einer Öffnung
gehörte, unterstrich als Kuratoriumsmitglied schon 1965, die Teil-
nahme von Jugendlichen aus Drittländern dürfe nicht ausgeschlos-
sen werden. Das DFJW müsse vielmehr ıAvangardist des interna-
tionalen Jugendaustausches sein„.17
Nach langen Diskussionen innerhalb des Kuratoriums und der
Regierungen über das Selbstverständnis des DFJW als deutsch-

16 „Das Jugendwerk verfolgt bei der Erfüllung seiner Aufgaben die Grundsätze der Zu-
sammenarbeit und der Verständigung unter den Ländern Europas und den anderen
Ländern der freien Welt, die es bei der Jugend zu vertiefen gilt“ (Abkommen über
das Deutsch-Französische Jugendwerk, Art. 2 Absatz 2, DFJW März 2002, S. 9).
17 Zit. n. Schlussprotokoll der 8. Sitzung des Kuratoriums des DFJW, 6./7.12.1965 in Bad
Honnef.
743

französischer Institution und die Verantwortung des deutsch-franzö-


sischen Paars für den Prozess der europäischen Integration trug si-
cherlich auch die günstige politische Konjunktur während der Re-
gierungen unter Helmut Schmidt und Valéry Giscard dÊEstaing
dazu bei, dass das DFJW 1976 ermächtigt wurde, ıkünftig auch Ju-
gendlichen aus Ländern der Europäischen Gemeinschaft die Teil-
nahme an deutsch-französischen Programmen zu ermöglichen„.18
Fünf Prozent der Programme konnten von nun an trilateral, das
heißt mit Teilnehmern aus Deutschland, Frankreich und einem
Drittland gefördert werden. 1990 fiel auch diese Einschränkung;19
seither können theoretisch mit jedem Staat der Erde Drittländerpro-
gramme gefördert werden.
Gleichwohl setzt das DFJW natürlich Schwerpunkte: Nach
1989/90 rückte der Austausch mit Ländern Mittel- und Osteuropas
(MOE) in den Mittelpunkt. Ziel war es, die zivilgesellschaftlichen
Akteure zu stärken, die Mobilität der Jugendlichen zu fördern, sie in
ihrem demokratischen Lernprozess zu unterstützen und auf die eu-
ropäische Integration vorzubereiten. Für den Austausch mit den
MOE-Staaten stellten die Außenministerien Deutschlands und
Frankreichs 1992 dem Deutsch-Französischen Jugendwerk zusätzli-
che Mittel zur Förderung von Drittländerprogrammen zur Verfü-
gung (anfangs 800.000 FF und 240.000 DM, heute insgesamt
272.000 Euro) und konkretisierten damit ihren Wunsch nach einer
Ausdehnung der Tätigkeit des DFJW. Diese seitdem jährlich ein-
gehenden Beträge werden als Sonderfonds verwaltet.

18 Vgl. TOP2 zu den Orientierungsvorschlägen 1977, in: Protokoll der 40. Kuratori-
umssitzung am 26./27. April 1976 in Nizza.
19 Bereits 1982 waren die Drittländerprogramme auf Jugendliche aus solchen Ländern
erweitert worden, die die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft beantragt hat-
ten. Der Austausch mit Spanien und Portugal – und die Unterstützung beim Demo-
kratisierungs- und Integrationsprozess – konnte so bereits vor deren Beitritt beginnen.
744 Eva Sabine Kuntz: Deutsche und französische Jugendliche als transnationale Mittler

Auf Wunsch der beiden Regierungen wurde im Lauf des Jahres


1990 auch den Begegnungen mit Ländern des Mittelmeerraumes
eine besondere Stellung eingeräumt. Und schließlich baten beide
Regierungen das DFJW im Jahr 2000, ermutigt durch eine erste
Initiative des DFJW für Kinder in den Flüchtlingslagern während
des Kosovo-Konfliktes, seine Aktivitäten in Südosteuropa zu entfal-
ten, um zur Stärkung von örtlichen und regionalen Strukturen der
Jugendarbeit beizutragen.
Das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) und das Deutsch-
Polnische Jugendwerk (DPJW) haben Anfang Mai 2004 den Carlo-
Schmid-Preis für die ıherausragende, grenzüberschreitende, euro-
päische und nachbarschaftliche Gemeinschaftsarbeit für und mit Ju-
gendlichen„ erhalten. An den beiden Standorten des DFJW in Paris
und Berlin war die Freude natürlich groß, als Preisträger in der
Nachfolge illustrer Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt und
Jacques Delors oder auch von Institutionen wie ARTE zu stehen.
Ganz besonders gefreut aber hat die Begründung der Carlo-Schmid-
Stiftung: Beide Jugendwerke hätten ıeinen wichtigen Beitrag dazu
geleistet, dass die Völker näher zueinander gebracht werden„. Und
es wurde deutlich, dass auch Intellektuelle im Bockschen Sinne den
Stellenwert der Jugendlichen als kulturelle Mittler anerkennen: Prof.
Gesine Schwan erinnerte in ihrer sehr persönlich gehaltenen Lauda-
tio daran, dass es insbesondere Jugendliche gewesen seien, die den
Gedanken der Aussöhnung zwischen den Völkern Polens, Frank-
reichs und Deutschlands immer wieder vorangetrieben hätten.

Und in Zukunft?
Der Preis ist dem DFJW gleichzeitig Ehre und Ansporn, in seinem
Engagement nicht nachzulassen, denn der wichtigste Aspekt deutsch-
französischer Zusammenarbeit ist mehr denn je die gemeinsame
Verantwortung für Europa. Gleichzeitig wissen wir, dass globale Ko-
745

operation nur gelingen kann, wenn der Umgang mit dem Fremden
von früher Jugend an gelernt wird. Um den Lebensbedingungen
von heute und morgen gerecht zu werden, muss daher die Erfah-
rung des Fremden als Element von Erziehung und Bildung begrif-
fen werden.20 Das Deutsch-Französische Jugendwerk will deshalb
das Seine dazu beitragen, deutschen und französischen Jugendli-
chen interkulturelles Lernen, Sensibilität für die besondere Verant-
wortung des deutsch-französischen Paares in Europa, Motivation
zum Spracherwerb und zum bürgerschaftlichen Engagement zu
vermitteln, das sie im Sinn eines erweiterten Intellektuellenbegriffs
dann in ihr unmittelbares und mittelbares Umfeld weitertragen und
dort Änderungen von Einstellungen und Überzeugungen bewirken.
Für die Jugendlichen als kulturelle Mittler wird das Deutsch-Franzö-
sische Jugendwerk weiterhin ıeinen Lernort für Erfahrungen mit
dem Fremden dar[stellen], dessen Bedeutung angesichts der Globa-
lisierungsprozesse heute kaum überschätzt werden kann.„21

20 Vgl. Christoph Wulf: Erziehung und Bildung am Anfang des 21. Jahrhunderts – Der
deutsch-französische Jugendaustausch als Lern- und Erfahrungsfeld in einem globa-
len Referenzrahmen, in: Jacques Demorgon, Christoph Wulf: Binationale, trinationale
und multinationale Begegnungen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede in interkul-
turellen Lernprozessen, DFJW-Arbeitstexte Nr. 19, Deutsch-Französisches Jugend-
werk, Berlin, 2002, S. 167-187, hier S. 169.
21 Ebd., S. 170.
747

Sprachvermittlung und Kulturtransfer


in europäischer Zukunft:
Das Lektorenprogramm des DAAD
Joachim Umlauf
748 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

Europa wächst zusammen: Was zuweilen wie ein Gemeinplatz


klingt, ist doch in vielerlei Hinsicht gerechtfertigt. Zwar diskutiert
man häufig, kontrovers und ausgiebig, wie anlässlich des möglichen
Beitritts der Türkei, über geographische und kulturelle Grenzen der
Europäischen Union,1 zwar sind einige Länder – und nicht nur die
Beitrittsländer des Jahres 2004 – weniger integriert als andere, doch
nähert man sich in vielen Bereichen sowohl gesellschaftlich als auch
zivilrechtlich an bzw. ist zumindest gehalten, die gemeinsamen eu-
ropäischen Spielregeln zu respektieren. Vor allem in der Wirtschaft
ist mit grenzüberschreitenden Handels-, Arbeits- und Niederlas-
sungsmöglichkeiten sowie einer gemeinsamen Währung Europa
bereits Realität geworden. Nicht nur große Konzerne, auch kleine
und mittelständische Unternehmen können heute nur im europäi-
schen, ja globalen Handel bestehen und verabschieden sich zuneh-
mend von nationalen bzw. nationalistischen Diskursen.
Das Verständnis von Kulturen und Kulturräumen dagegen folgt
traditionell im Grunde fast ausschließlich nationalstaatlichen Denk-
mustern. Hier wird es nun höchste Zeit, dass wir einen auf Europa
zielenden Paradigmenwechsel vorantreiben und versuchen, Rück-
fälle in nationalstaatliche Fundamentalismen (in Deutschland bei-
spielsweise die leidige Diskussion über eine angeblich notwendige
Leitkultur ) zu verhindern. Die für die Entwicklung der modernen
Nationen und des demokratisch geprägten Europa so grundlegende
Trias von Sprache-Kultur-Nation (aus der gemeinhin das Recht auf
Selbstbestimmung abgeleitet wird) weist in kulturpolitischer Hin-
sicht ein hohes Beharrungsvermögen auf – vielleicht auch weil sie so
eng mit dem republikanischen Grundgedanken verwoben ist und

1 Wobei sich im Prinzip zwei Hauptlinien abzeichnen, die sich auch in der Debatte um
die europäische Verfassung niederschlugen: die eine, die aus eher konservativer
Sicht den christlich-kulturellen Zusammenhang priorisiert – und deshalb den Beitritt
der Türkei eher ablehnt – und die andere, die republikanisch-freiheitliche Grund-
werte zum eigentlichen Gradmesser macht.
749

sich so mühevoll gegenüber totalitären Entwürfen durchzusetzen


hatte. Wenn aber die deutsch-französische Freundschaft weiterhin
eine über die nun vollzogene Versöhnung von einstigen Erbfeinden
hinausgehende geschichtliche Bedeutung haben soll, dann muss
jetzt die Überführung der ınationalen Identität(en)„ in eine ıeuro-
päische„2 lanciert werden, deren Existenzberechtigung und Demo-
kratiefähigkeit sich im gleichberechtigten Nebeneinander verschie-
dener Kulturen erweisen muss. Bescheidener und realistischer for-
muliert: Die zukünftige Gleichstellung mehrerer Identitäten, als Eu-
ropäer, als Deutsche und Franzosen, somit die partielle Entmach-
tung des nationalen Primats, sollte das Bestreben künftiger deutsch-
französischer Kulturbeziehungen sein. Als Mensch der Postmoderne
gilt es zu ertragen, dass das geistige Konstrukt, die wohlige Wärme
des Gefühls einer umfassenden Zugehörigkeit, dass heißt eine auf
einen ganzheitlich zu erfassenden Ursprung und Zusammenhang
zurückgehende Identifikation, im europäischen Zusammenhang nur
noch sehr bedingt erfahrbar sein wird. Was als Kern für eine kultu-
relle Standortbestimmung Europas – insbesondere gegenüber der
ıAußenwelt„ – übrig bleiben wird, ist eine Art Verfassungspatrio-
tismus, so wie ihn Richard Rorty übrigens auch für die USA zu de-
finieren suchte, im Sinne einer Bewahrung der zivilisatorischen (und
eben nicht kulturellen oder nationalen) Minimalstandards in Hin-
sicht auf Demokratie und Menschenrechte. Eine solche Form der
europäischen Identitätskonstruktion ließe sich auch mit dem Ziel
vereinen, Europa in all seinen regionalen und nationalen, kulturel-
len und sprachlichen Varianten zu respektieren und zu erhalten: als

2 Gegenbewegungen sind allenthalben festzustellen und werden noch lange eine Her-
ausforderung darstellen. Das Pendel kann dabei extrem zurückschlagen, wenn jener
archaische, unteilbare identitäre „Urgrund“ gesucht wird, weil die Vielfalt und nicht
zu reduzierende Komplexität nicht ertragen wird. Diese Ängste kann man den
Menschen nur durch Erlebnisse des Zusammenschlusses und durch Stärkung ihrer
lokal-regionalen Identität, so sie einer solchen bedürfen, nehmen.
750 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

eine Einheit in der Vielfalt, in einer potentiellen Unabgeschlossen-


heit und unter größtmöglicher Vermeidung von Hierarchisierung,
d.h. der Wert einer ıkleinen„ Sprache und Kultur soll dem der
ıgroßen„ nicht nachstehen, sondern im Gegenteil wird der Bewah-
rung und Pflege randständiger und bedrohter Sprachen und Kultu-
ren großes Augenmerk zuteil.
Die meisten europäischen Gesellschaften definieren sich und
ihre Demokratiefähigkeit daher zunehmend von den Rändern her,
vom Grade der Toleranz gegenüber dem Anderen, dem Minoritä-
ren, so wie sich in den Geschichtswissenschaften der Blick zuneh-
mend auf Einzel- oder Gruppenschicksale Ausgegrenzter und deren
Rekonstruktion gerichtet hat. Der Mannheimer Germanist und Me-
dientheoretiker Jochen Hörisch wies kürzlich, nach den europäi-
schen Konstituenten gefragt, auf die ıDurchsetzungskraft der Häre-
tiker„ hin: Wesen und Ziel der europäischen Identität besteht letzt-
lich in ihrer Nicht-Identität, als eine der Aufklärung geschuldete
Aufgabe der Europäer, sich ständig selbst ins Wort zu fallen und die
Methoden der Identitätskonstruktion bzw. Selbst- und Traditions-
vergewisserung permanent kritisch zu betrachten.
Wenn wir folglich trotz aller sich einstellender Definitionspro-
bleme und unscharfer Ränder dem Gedanken Raum geben wollen,
dass wir dem in seinen Grundwerten einheitlichen und kulturell so
vielfältigen Europa Vorschub leisten sollten, muss man sich fragen,
was die einzelnen nationalen Kulturen und ihre außenpolitischen
Kulturfunktionsträger tun, um diese zu stärken. Welche Rolle wird
in Zukunft der nationalen auswärtigen Kulturpolitik innerhalb Eu-
ropas zukommen? Haben sich, konkreter gefragt, beispielsweise
zwischen Frankreich und Deutschland die traditionellen, staatlich
geförderten Instrumente des Kulturaustausches überlebt? Ist das in-
stitutionelle und informelle Netz des kulturellen Austausches so
engmaschig, selbsttragend und lebendig, dass wir der Vermittlung
751

von nationaler Kultur innerhalb Europas und der Ausbildung von


Mittlern zwischen einzelnen Ländern weniger Aufmerksamkeit
schenken können? Die Beantwortung dieser Fragen fällt schon
darum schwer, weil Kultur eben nicht wie Wirtschaft funktioniert.
Daher ist es auch kurzsichtig, wenn ıergebnisorientierte„ Politiker
die auswärtige Kulturarbeit Deutschlands in Europa (und das heißt:
vor allem in Frankreich, Großbritannien, Italien, der iberischen
Halbinsel und Nordeuropa) für zunehmend überflüssig erklären
und die Beteiligung der sogenannten Zivilgesellschaft an der Finan-
zierung von kultureller Repräsentation einklagen – wie es stellen-
weise in der gegenwärtig als Grundlage der auswärtigen Kulturpoli-
tik dienenden ıKonzeption 2000„ des Auswärtigen Amtes nachzule-
sen ist. Aber ist es nicht auch richtig, dass wir angesichts des kultu-
rellen und medialen Überangebots in Europa den Blick mehr auf
die armen, vernachlässigten Weltregionen wie beispielweise Afrika
richten sollten, um dort mit unserem Engagement zu helfen,
Grundwerte wie Urteilskraft, selbständiges Denken und Meinungs-
freiheit herauszubilden?
Kultur- und Bildungspolitik funktionieren nicht ökonomischen
Marktgesetzen entsprechend. Eine schnelle Rendite ist hier nicht zu
erwarten und positive wie negative Ergebnisse lassen sich nur lang-
fristig beurteilen. So sinnvoll es daher sein kann, die Instrumente
der auswärtigen Kulturpolitik und deren Effizienz regelmäßig zu un-
tersuchen, um sie den gesellschaftlichen Gegebenheiten neu anzu-
passen, so fatal ist es andererseits, dass die Methoden und Analysen
im Kern gerade dem auf Profit und kurzfristige Durchsetzungsfähig-
keit eingerichteten Wirtschaftsleben entlehnt sind. Die Tatsache,
dass die bundesrepublikanischen Kulturetats in den letzten zehn
Jahren kontinuierlich gekürzt wurden, hat auch im Rahmen der
auswärtigen Kulturarbeit zu einem immer stärkeren Verteilungs-
kampf geführt, der paradoxerweise gerade Bewährtes und Nahelie-
752 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

gendes als am ehesten verzichtbar erscheinen lässt. Nachdem die


Welt seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr in
zwei große politische Blöcke geschieden ist, die Stoßrichtung, Ab-
grenzung, Sinn und Zweck sowie Selbstrechtfertigung der auswärti-
gen Kulturpolitik quasi von sich aus herstellten, geht es jetzt in zu-
nehmendem Maße um regionale Schwerpunktsetzungen, die für
Westeuropa nicht günstig ausfallen. Insgesamt wendete Gesamt-
deutschland im Jahr 2004 nicht mehr Geld für die auswärtige Kul-
turpolitik auf, als es bereits 1989 die alte Bundesrepublik tat, die zu
jener Zeit allerdings einen ganzen Teil der Welt, nämlich den ehe-
mals sozialistisch regierten, vernachlässigen konnte bzw. musste.
Im Allgemeinen agiert die auswärtige Kulturpolitik in Fragen der
europäischen ıEntgrenzung„ eher konservativ – sowohl was die in-
nereuropäischen Kommunikationsstrukturen anbelangt als auch ihre
Arbeit in Ländern außerhalb der EU. Nur selten verstehen sich die
nationalen kulturpolitischen Vertreter im Ausland als Repräsentan-
ten der anderen europäischen Kulturen oder gar einer gemeinsa-
men europäischen Kultur. Zwar gibt es europäisch geförderte Kul-
turprogramme3 sowie Ansätze, Kulturinstitute wie Goethe-Institut,
British Council und Institut Français zu stärkerer Zusammenarbeit
zu verpflichten, bei großen, eigentlich grenzübergreifenden Fragen
– beispielsweise der Integration von Ausländern und Einwanderern
muslimischer Herkunft, entwicklungspolitischen Problemen oder
auch Bildungsfragen – gibt es jedoch noch viel zu wenig Zusam-
menarbeit auf europäischer Ebene. Auch die Bewahrung der

3 Im Maastrichter Vertrag wurde 1992 mit dem Artikel 128 (heute 151) die rechtliche
Grundlage dafür geschaffen. Dass die Kulturpolitik im europäischen Rahmen eine
späte Entdeckung ist (Programme gibt es erst seit Mitte der neunziger Jahre), er-
schließt sich auch aus der Erläuterung für die europäischen Kulturförderprogramme,
die auf den entsprechenden Internetseiten zu finden sind: „Mit zunehmendem politi-
schen Integrationswillen der Mitgliedstaaten wuchs das Bewusstsein dafür, dass un-
abdingbare Voraussetzung für ein Zugehörigkeitsgefühl der Bürgerinnen in allen
Mitgliedstaaten zur Europäischen Union ist, auch den kulturellen Bereich in die Ge-
meinschaftspolitik einzubeziehen.“
753

sprachlichen Vielfalt in Europa ist ein solches Problem, das zukünf-


tig wohl viel stärker im Zentrum der national-europäischen Kultur-
politik stehen wird: Wie soll eine sich ständig ausweitende Födera-
tion wie Europa auf Dauer auf eine Art ıAmtssprache„ verzichten
können? Flankiert vom globalisierten Handel, von der kulturellen,
politischen und militärischen Durchsetzungskraft der USA, von den
Standards des internationalen Wissenschaftsdiskurses sowie der Ju-
gendkultur wird es zweifelsohne das Englische, bzw. genauer ge-
sprochen eine internationale Variante des Englischen sein, das sich
auf dieser Ebene durchsetzen wird. Natürlich werden weder das
Französische noch das Deutsche verschwinden – da mögen noch so
viele Anglizismen Einzug halten –, denn 60 bzw. 80 Millionen Spre-
cher werden auch bei sinkender Geburtenrate und Zuzug anders-
sprachiger Mitbürger ihr Überleben und Fortentwickeln auf lange
Sicht garantieren. Damit werden wir jedoch möglicherweise in die
paradoxe Situation einer spezifischen kulturellen Bipolarität geraten,
bei der zumindest die großen europäischen Länder versuchen wer-
den, der sprachlich-kulturellen ıBedrohung„ durch die globalisierte
Kultur anglophoner Prägung dadurch zu begegnen, dass sie in
Rückzugsgefechte verfallen und viel Energie darauf verwenden
werden, ihre eigene Kultur sorgsam zu bewahren, zu pflegen und
diese unter Umständen als ıhöherwertig„ auszugeben. Ein auf sol-
che Weise verengter Blick wird in internationaler Hinsicht nur noch
wenig Andersartiges zur Kenntnis nehmen können. Die exception
culturelle französischer Prägung weist in diese Richtung. Ähnliches,
so lässt sich befürchten, wird für das Sprachenlernen und die Wis-
senschaften gelten. Die Anwendungsvielfalt des Englischen als der
heutigen lingua franca4 wird es zunehmend unwichtiger erscheinen

4 Diese reicht über die Bedeutung der begriffsbildenden lingua franca des Mittelmeer-
raumes der frühen Neuzeit insofern deutlich hinaus, als sie in verschiedenen sozialen
und gesellschaftlichen Zusammenhängen tonangebend ist: als internationale Basis-
754 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

lassen, andere Fremdsprachen zu erlernen, außer wenn spezifische,


berufliche oder private Interessen es erfordern. Zudem werden sich
die Sprachen aus bestimmten Bereichen zurückgedrängt sehen und
im internationalen Kontext in immer höherem Maße bedeutungslos
werden. Die an Fahrt gewinnende Internationalisierung von For-
schung und Lehre sowie der Hochschulen gibt hierfür ein beredtes
Beispiel. In vielen Fächern spielt Deutsch als Wissenschaftssprache
bereits keine Bedeutung mehr. In den Naturwissenschaften, aber
selbst auch in Fächern wie der Linguistik kann man wissenschaftli-
ches Renommee fast nur noch mit englischsprachigen Veröffentli-
chungen erreichen.5 Viele kleinere Länder wie Dänemark und die
Niederlande stellen, um im internationalen Bildungswettbewerb
konkurrenzfähig zu sein, ihre Lehre und Studienangebote mehr und
mehr auf das Englische um. Deutschland folgt bisweilen diesem
Modell, insbesondere in den neuen Studienstrukturen in Anlehnung
an die Reformen des sogenannten Bologna-Prozesses, wie bei den
international ausgerichteten Master-Studiengängen, in denen mehr
und mehr Abschlüsse auf Englisch angeboten werden und Deutsch-
lehrer demnächst womöglich mit einem Master of Education ab-
schließen werden. Die Tatsache, dass sich viele der Strukturverän-
derungen, die den Bau eines europäischen Hochschulraumes be-
fördern sollen, an angelsächsischen Traditionen und Bezeichnungen
orientieren (z.B. die gestuften Studiengänge Bachelor/ Master), kann
gewissermaßen als das Eingeständnis einer Niederlage der deutsch-
französischen Hochschulpolitik gewertet werden, der es trotz man-
nigfacher institutioneller Unterstützungen (z.B. durch den DAAD

verständnissprache, als Jugendsprache und Jargon (beispielsweise in der Werbung),


aber auch als hochstehende Wissenschaftssprache.
5 So entwickelte die Universität Stuttgart gemeinsam mit der Universität Paris 8 eine
von der Deutsch-Französischen Hochschule geförderte Graduiertenschule im Bereich
der Linguistik, die Aufenthalte der graduierten Studierenden in beiden Ländern vor-
sieht. Zwar werden die Teilnehmer die Möglichkeit erhalten, rudimentär Deutsch zu
erlernen, Arbeitssprache wird jedoch Englisch sein.
755

oder die Deutsch-Französische Hochschule) über Jahrzehnte hinweg


nicht gelungen ist, eine zufriedenstellende, exportierfähige Kompa-
tibilität der beiden (zugegebenermaßen in vielen Dingen grundver-
schiedenen) Hochschul- bzw. Wissenschaftssysteme herzustellen und
damit für die europäische Ebene beispielhaft und modellbildend zu
wirken.
Werden Frankreich und Deutschland nun in Bezug auf die Frage
der europäischen Mehrsprachigkeit in gleicher Weise ihre Chance
vertun eine Vorreiterrolle einzunehmen? Beide Länder betonen an-
gesichts des starken Rückgangs der Lernerzahlen zwar immer wie-
der die Wichtigkeit des Beherrschens der Sprache des Nachbarn,
wirkliche Konsequenzen wurden bisher hieraus jedoch nicht gezo-
gen. Ohne eine bewusst voluntaristische Sprachenpolitik zu betrei-
ben, für die man auch bereit ist, zusätzliche finanzielle oder struktu-
relle Mittel zur Verfügung zu stellen, bleiben diese Anliegen jeden-
falls bloße Rhetorik. Im Jahr 2004 gab der deutsch-französische Mi-
nisterrat deutlicher als je zuvor der Besorgnis um das gegenseitige
Sprachenlernen Ausdruck, und die Franzosen scheinen immerhin
bereit, erste konkrete Maßnahmen zu unterstützen – beispielsweise
die Werbeaktion LÊallemand: passeport pour lÊEurope im Jahre
2005 (diese Werbeaktionen werden jedoch auch substantiell von
den deutschen Mittlerorganisationen wie dem Goethe-Institut und
dem DAAD unterstützt). Hier wird der grundsätzlich richtige Weg
eingeschlagen, die Beherrschung der eigenen Sprache und die des
Englischen zunächst als selbstverständliche Grundqualifikation eines
jeden Europäers zu affirmieren, darüber hinaus aber das Erlernen
einer weiteren Fremdsprache als notwendige Zusatzqualifikation
einzufordern. Ob diese und andere Kampagnen, die vor allem ver-
suchen emotional zu argumentieren, indem sie direkt die Vorstel-
lungswelt der Jugendlichen ansprechen sowie gängige Stereotypen
756 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

durch ironische Brechung in Frage stellen,6 tatsächlich greifen wer-


den, bleibt abzuwarten. Denn natürlich ist bereits vielfach (mit un-
terstützendem und belegendem Zahlenmaterial) recht erfolglos dar-
auf hingewiesen worden, dass sich die Berufsaussichten eines jungen
Menschen in Frankreich erheblich erhöhen, wenn er Deutsch lernt
und beherrscht, da das sozio-ökonomische Gesamtgeflecht zwischen
Deutschland und Frankreich so eng ist, dass in diesem Sektor viele
gut dotierte Arbeitsplätze vorhanden sind. Die Gründe jedoch, die
die Wahl einer Fremdsprache durch Schüler und/oder Eltern be-
dingen, sind komplex und lassen sich hier nicht umfassend darle-
gen. Sie reichen von den strukturellen Voraussetzungen über die
Bedeutung der jeweiligen Fremdsprache im jeweiligen nationalen
Bildungssystem (Stichwort: Deutsch als Elitensprache) bis hin zu
imaginären Werten bzw. zu Stereotypen. So ist die Tendenz heute,
neben Englisch die zweite ıentnationalisierte„ Sprache, das Spani-
sche, zu erlernen. Hinzu kommt, dass sich die Germanistik als
Fremdsprachenphilologie insgesamt in einer schweren inhaltlichen
Krise befindet: Die noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Ab-
solutsetzung der Literatur als universaler Vermittlungsinstanz inter-
kultureller Erfahrungen und Kommunikation wird der heutigen
Vielfalt an Teildisziplinen sowie den späteren beruflichen Tätigkeits-
feldern einfach nicht mehr gerecht.
Auf diese Weise avanciert die Frage des Fremdsprachenlernens
zu einer der größten Herausforderungen für das deutsch-französi-
sche Verhältnis. Mehr als bisher müssen beide Länder bei der
sprachlichen Bildung der Tatsache gewahr werden, dass die Vertei-

6 DAAD, Goethe-Institut, Deutsche Botschaft Paris und das Auswärtige Amt, die Föde-
ration der deutsch-französischen Häuser, die Robert Bosch-Stiftung und andere öf-
fentliche und private, deutsche und französische Institutionen haben sich in den letz-
ten Jahren auf diesem Gebiet engagiert, so beispielsweise mit der Werbekampagne
„On a tout à faire ensemble“, die zum Teil auch in der Pariser Metro plakatiert
wurde, Werbespots im Fernsehen und den Deutschmobilen, die in den französischen
Schulen Lust auf das Deutschlernen machen sollen.
757

digung der Bedeutung der eigenen Sprache im In- und Ausland al-
lein über die Stärkung der Sprache des engsten europäischen Part-
ners (und des Sprachenlernens im allgemeinen) im eigenen Land
vonstatten gehen kann. Mit gewissen Ausnahmen (die Frankopho-
nie außerhalb Europas für die Franzosen, die Bedeutung des Deut-
schen in der GUS) sind beide Sprachen nämlich in erster Linie be-
deutende Regional- und längst keine Weltsprachen mehr. War das
Französische dem Englischen lange Zeit auf europäischer Ebene
ebenbürtig, so ist es heute, was beispielsweise die Menge der ins
Französische übertragenen Texte betrifft, deutlich nachrangig. Das
heißt, dass ihre faktische Bedeutung als Fremdsprache, als Wissen-
schafts- und internationale Verkehrssprache ganz wesentlich über
den Einsatz und die Verbreitung im unmittelbar benachbarten Aus-
land bestimmt wird.
Mit dem Nachlassen der Tiefe und Breite des intellektuellen
deutsch-französischen Austausches könnte einer wichtigen Figur
und Konstante zukünftig die Grundlage entzogen werden, die in
ihren historischen und kulturspezifischen Dimensionen stets im Zen-
trum des Interesses des hier geehrten Hans Manfred Bock stand:
der Mittler oder Multiplikator nämlich, der (z.B. als Lehrer, Journa-
list, Schriftsteller, Politiker oder Intellektueller) den Menschen in
seinem eigenen Land den Anderen, Fremden und dessen geogra-
phischen, kulturellen und historischen Hintergrund erklärt, versteh-
bar und (im günstigen Falle) begreifbar macht. Um kompetente
Mittler auf den verschiedenen Ebenen des geistigen Lebens zwi-
schen zwei Ländern hervorzubringen, bedarf es zweierlei: einerseits
eines hohen Grades an Verankerung der Sprache des Nachbarn im
Bildungssystem (vor allem in der Schule, aber auch in der Universi-
tät) und andererseits eines bedeutenden gesellschaftlichen Refe-
renzwertes im Blick auf den Stellenwert und das Augenmerk, das
eine Gesellschaft einer anderen in ihren öffentlichen, politischen
758 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

und intellektuellen Diskursen einräumt. Beide Aspekte durchdrin-


gen und überschneiden sich naturgemäß, wenn auch das Interesse
füreinander sehr unterschiedlicher Natur sein kann – wie sich im
historischen Verlauf des spannungsreichen deutsch-französischen
Verhältnisses immer wieder gezeigt hat. In negativer Perspektive
deutet umgekehrt das scherenschnittartige, karikaturale Deutsch-
landbild vieler, vorwiegend junger Briten, das sich besonders deut-
lich in der Reduzierung von Deutschland auf Nazideutschland zeigt,
auf einen durchaus als bedenklich zu bezeichnenden interkulturel-
len Verfallsprozess, der sich vor allem auf einem mangelnden bzw.
sehr oberflächlichen Interesse für den Anderen gründet, aber
ebenso auf einen unzureichenden Spracherwerb und damit fehlen-
des Kontaktwissen zurückgeht.7
Es ist nicht einfach, dem zu beobachtenden dauerhaften Nieder-
gang des Erlernens und Studierens der deutschen Sprache insbe-
sondere in den europäischen Nachbarländern (aber auch in südeu-
ropäischen Ländern wie Italien und Portugal) entgegenzuarbeiten;
durch einen weiteren Abbau der staatlich geförderten auswärtigen
Kulturpolitik und ihrer Instrumente wird die Zahl der Deutschlerner
im Ausland sicherlich jedenfalls nicht angehoben werden können.
Eines dieser sehr erfolgreichen traditionellen Instrumente der aus-
wärtigen Kulturpolitik, das die Lebendigkeit und Angemessenheit
des Deutschlandbildes im Ausland sowie die Intensität der sprachli-
chen Auseinandersetzung mit dem Deutschen in den letzten 50 Jah-
ren unterstützt und gesichert hat, ist das Lektorenprogramm des
DAAD.
Der 1950 wiedergegründete Deutsche Akademische Austausch-
dienst8 hat die meisten seiner traditionellen Stipendien-, Austausch-

7 Großbritannien ist, was das Fremdsprachenlernen insgesamt anbelangt, eindeutiges


Schlusslicht in Europa.
8 Der 1925 gegründete DAAD wurde in den 30er Jahren rasch von den Nationalsoziali-
sten vereinnahmt und schließlich gleichgeschaltet. 1950 erfolgte die Neugründung
759

und Strukturprogramme mit den beiden prinzipiellen Partnern der


Nachkriegszeit, Großbritannien und Frankreich,9 entwickelt und
erprobt. Darunter gibt es viele philologisch geprägte Programme
(Romanisten-, Anglisten- Hispanisten- und Italianistenprogramme
für Deutsche, Germanistenprogramme für Ausländer), die über die
Jahrzehnte Tausenden von angehenden Gymnasial- und Hochschul-
lehrern die Möglichkeit geboten haben, eine längere Zeit im Land
der Zielsprache zu verbringen.10

auf Anregung der Briten. Er ist ein eingetragener Verein der deutschen Hochschulen
und Studentenschaften. Als von verschiedenen Ministerien sowie der EU (für die eu-
ropäischen Mobilitätsprogramme) finanzierter Förderer der Hochschulbeziehungen
mit dem Ausland durch den Austausch von Studierenden, Graduierten und Wissen-
schaftlern ist er die weltweit größte Organisation seiner Art. In den letzten Jahren
hat sich der DAAD zunehmend um die Internationalisierung der deutschen Hoch-
schulen gekümmert, was insbesondere in Hinblick auf die massive Unterstützung
englischsprachiger Studienangebote zu nicht unerheblichen Anwürfen geführt hat,
und zwar in dem Sinne, dass es dem DAAD nicht ausreichend um die deutsche Spra-
che ginge. Zu entkräften ist dieses Argument allein dadurch, dass mittels der Wer-
bung für den Hochschulstandort Deutschland in den letzten Jahren die Anzahl der
ausländischen Studierenden an deutschen Hochschulen ganz erheblich gesteigert
werden konnte und damit natürlich auch die der Deutschlerner.
9 Es ist bekannt, dass Hans Manfred Bock zahlreiche Texte und Aufsätze dem Wirken
deutscher und französischer Mittler und Mittlerorganisationen gewidmet hat. In Hin-
sicht auf das Wirken des DAAD im engeren Sinne seien zwei Texte genannt, die in
Jubiläumsschriften erschienen sind und einen Einblick in den Umfang und die Art
der beginnenden oder im Aufbau befindlichen Institutionen im deutsch-französi-
schen Verhältnis der Nachkriegszeit geben: Hans Manfred Bock: Der DAAD in den
deutsch-französischen Beziehungen, in: Spuren in die Zukunft. Der Deutsche Aka-
demische Austauschdienst 1925-2000, 3 Bände, Bonn 2000, Band 1: Der DAAD in der
Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben. Vierzehn Essays, hg. von
Peter Alter, S. 196-219. Zur 40-Jahrfeier des vom DAAD verwalteten Heinrich-Heine-
Hauses in Paris erschien eine Festschrift. Hans Manfred Bock: La Maison de
l’Allemagne à la Cité Universitaire de Paris. Un projet socio-culturel à travers les vi-
cissitudes des relations franco-allemandes de 1927 à 1952, in: Martin Raether (Hg.):
Maison Heinrich Heine Paris – Quarante ans de présence culturelle, Paris, Bonn 1998,
S. 24-64.
10 Durch die wachsende Bedeutung der europäischen Mobilitätsprogramme (Erasmus/
Sokrates), bei denen sich der Austausch zwischen Deutschland und Frankreich
zahlenmäßig im übrigen äußerst positiv entwickelt, ist die Sinnhaftigkeit von Indivi-
dualstipendien für deutsche Studierende nach Westeuropa in den letzten Jahren zu-
nehmend ins Kreuzfeuer der Diskussion geraten. Die einstigen Philologenprogramme
sind 2003 durch „Europäische Exzellenzprogramme“ abgelöst worden, deren Erfolg
sich momentan noch nicht abschätzen lässt. Insbesondere die Entwicklung in
Richtung auf die Einführung der gestuften Studiengänge Bachelor/Master wird
760 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

Der DAAD zählt die ıFörderung der Germanistik und der deut-
schen Sprache im Ausland„ zu seinen fünf Hauptaufgaben.11 Dafür
wendet er jährlich annähernd 36 Millionen Euro aus Mitteln des
Auswärtigen Amts auf. Fast die Hälfte dieser Summe geht in das
wichtigste kulturpolitische Instrument des DAAD, das Lektorenpro-
gramm. Heute arbeiten über 400 deutschsprachige Nachwuchswis-
senschaftler für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren an ausländi-
schen Hochschulen in aller Welt als Lektorinnen und Lektoren. Ihre
Haupttätigkeit ist der Deutschunterricht auf akademischem Niveau:
das reicht von Anfängerkursen für Studierende aller Fachrichtungen
bis zu hochspezialisierten Fachsprachenkursen, Übersetzungsübun-
gen, Phonetik- und Linguistikvorlesungen, Literaturkursen etc. Die
meisten haben eine germanistische Hochschulausbildung, häufig in
Verbindung mit einer Zusatzqualifikation im Fach Deutsch als
Fremdsprache und/oder anderen Sprachenphilologien. Arbeitgeber
sind die Hochschulen der jeweiligen Länder, der DAAD stockt die
häufig geringen Gehälter (vor allem in Osteuropa und den Entwick-
lungsländern) auf westliches Niveau auf und bietet weitere finan-
zielle und vor allem fachliche Unterstützung. Dabei konnte die hohe
Zahl der Lektorinnen und Lektoren nach den Mitte der neunziger
Jahre beginnenden Mittelkürzungen nur gehalten werden, indem
bestimmte finanzielle Leistungen reduziert bzw. pauschaliert wur-
den. Mit 484 vermittelten Lektorinnen und Lektoren erreichte das
Programm 2002 einen historischen Höchststand (zum Vergleich:

zeigen, ob die Studierenden überhaupt vor Ende des Bachelorstudiums noch ins
Ausland gehen werden. Ich persönlich bin der Meinung, dass es äußerst wichtig ist,
mit den benachbarten und anderen großen europäischen Ländern Austauschpro-
gramme zu erhalten und weiter zu entwickeln, die der Ausbildung von Lehrern und
(Kultur-)Mittlern dienen.
11 Siehe die Jahresberichte des DAAD, wo diese Hauptaufgabengebiete in fünf „olym-
pischen“ Ringen dargestellt werden. Neben der Germanistik werden die vier ande-
ren Bereiche „Stipendien für Ausländer“, „Stipendien für Deutsche“, „Internationali-
sierung der Hochschulen“, „Bildungszusammenarbeit mit Entwicklungsländern“ in
ihrer kulturpolitischen Zielwirkung erläutert.
761

1988, vor dem Mauerfall, waren es 386), ehe es wegen Einsparvor-


gaben und der zusätzlichen Besteuerung von Teilleistungen zurück-
gefahren werden musste. Die zahlenmäßige Entwicklung des Pro-
gramms innerhalb der einzelnen Regionen spiegelt seine kulturpoli-
tische Zielsetzung wider: Waren 1988 insgesamt 218 Lektorinnen
und Lektoren in Westeuropa im Einsatz und nur 23 in Mitteleuropa,
so erhöhte sich deren Zahl im Jahre 2003 auf 124, während der
Rückgang in Westeuropa (auf 176) inzwischen spürbar ist und für
das Jahr 2005 dort noch geringere Zahlen vorgesehen sind. Gleich-
zeitig wurden die finanziellen Zusatzleistungen in Westeuropa we-
sentlich stärker beschnitten als in anderen Regionen, da man in der
Regel davon ausgeht, dass die Hochschulen in europäischen Län-
dern annähernd ausreichende, dem bundesrepublikanischen Ge-
haltsniveau vergleichbare Gehälter anbieten können. Mit geringen
Schwankungen ist der Einsatz der Lektoren in den anderen Regio-
nen (Afrika/Asien/Ozeanien/ Nord- und Mittelamerika/Südamerika)
übrigens zahlenmäßig stabil geblieben.
Damit ist eine kulturpolitische Stoßrichtung vorgegeben, die sich
in den kommenden Jahren noch verstärken könnte: Das höhere
Engagement in Osteuropa (und in weltpolitischen Brennpunktre-
gionen wie Afghanistan und Irak, aber auch China) korreliert mit
der Reduzierung des Einsatzes im Westen. Dabei hat das Lektoren-
programm diese politisch gewollte Kehrtwendung sozusagen auf
leisen Sohlen nach und nach vollziehen können, da es ınur„ Men-
schen bewegt (aber keine Infrastrukturen wie Gebäude etc. unter-
hält). Die Umstrukturierungsprojekte der Goethe-Institute kamen im
Gegensatz dazu deutlicher zum Vorschein, weil jede Institutsschlie-
ßung einen beträchtlichen kulturpolitischen Flurschaden anrichtet.
Tatsache ist, dass der langfristige Wert des kulturpolitischen Einsat-
zes im Ausland an Glaubwürdigkeit verliert, wenn auf Entwicklun-
gen möglichst kurzfristig reagiert wird, ohne zuvor die weitreichen-
762 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

den kulturpolitischen Resultate abzuschätzen – wenn beispielsweise,


wie in einigen französischen Städten, ıhistorisch Gewachsenes„
(Kulturinstitute) einfach abrupt abgeschafft wird. In den nächsten
Jahren wird voraussichtlich, was das Goethe-Institut betrifft, eine
weitere deutliche Ressourcenverlagerung folgen – inzwischen verbal
geschickt verpackt in ein ganz Europa umfassendes, finanzneutrales
ıEuropakonzept„, das global betrachtet keine Finanzeinbußen zu
verzeichnen hat. Dabei ist an der Sinnhaftigkeit einer verstärkten
kulturpolitischen Präsenz in den Ländern Osteuropas, deren zum
Teil fragile Demokratien alle Unterstützung verdienen, überhaupt
nicht zu zweifeln, ganz im Gegenteil. Es bleibt nur die Frage, ob
sich die Bundesrepublik, die ständig die Bedeutung der ıRessource„
Bildung betont, nicht die geeigneten Mittel geben will, dies zusätz-
lich zu tun.
Der Wechsel der kulturpolitischen Optik wird noch deutlicher,
wenn man zu den Anfängen der bundesrepublikanischen Kulturpo-
litik im Ausland zurückgeht. 1954 wurde mit der bescheidenen An-
zahl von neun Lektoren begonnen, 1956 waren die Hälfte der zwölf
weltweit eingesetzten Lektoren in Frankreich tätig. Dort entwickelte
sich das Lektorenprogramm in der Folge beträchtlich, 1963, nach
der Gründung der Pariser Außenstelle in der Rue Verneuil waren
es bereits 32, 1969 dann 78 Lektoren, und in den siebziger Jahren,
in der Phase zahlreicher Hochschulneugründungen bzw. der Ein-
richtung neuer Stellen, erreichte die Lektorenvermittlung12 des
DAAD, freilich sehr kurzzeitig nur, eine Art Monopolstellung13 in

12 Eine aus deutschen und französischen Hochschullehrern zusammengesetzte Kom-


mission wählt aus zahlreichen Bewerbern eine beschränkte Anzahl von sogenannten
Hauptkandidaten aus, von denen dann bis zu fünf jeder Hochschule vorgeschlagen
werden, die sich dann je nach Aufgabenfeld und gewünschtem Profil ihren Kandida-
ten auswählen können.
13 Verlässliche Zahlen liegen nicht vor. Es ist aber anzunehmen, dass der DAAD damit
abzüglich der im Rahmen von Hochschulkooperationen und der anderen von
deutschsprachigen Ländern besetzten Lektorate (Österreich und die DDR) alle Stellen
besetzte.
763

Frankreich, wo weit über 100 DAAD-Lektoren tätig waren. Schon


zu Beginn der achtziger Jahre sank die Zahl auf siebzig, wo sie sich
im Prinzip bis zum Jahr 2001 einpendelte, seitdem ist die Zahl rück-
läufig. 2005 werden nur noch 50 DAAD-Lektorinnen und Lektoren
in Frankreich tätig sein. Dabei ist sehr zu hoffen, dass sich dieses
ınur noch„ im Blick der offiziellen Kulturpolitik nicht von neuem in
ein ıimmer noch so viele„ verwandelt. Ähnlich stellt sich im übrigen
die Situation für die britischen Inseln dar.
Natürlich haben sich die Dinge gewandelt. Als das Lektorenpro-
gramm in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum ersten
Mal, in den fünfziger Jahre zum zweiten Mal auf beiden Seiten des
Rheins ıerfunden„ wurde, ging es für Deutschland darum, Men-
schen nach Frankreich zu schicken, die kein Gewehr trugen und
einer Generation angehörten, die kein Gewehr getragen hatte. Der
stark erzieherische Aspekt sorgte auf Seiten der Franzosen, die die
Lektorenvermittlung später aber ganz einstellten, dafür, dass gleich
nach Ende des Zweiten Weltkrieges sehr viele Franzosen in
Deutschland als vermittelte Lektoren an Hochschulen unterrichteten.14
Befürworter des flächendeckenden Einsatzes der Lektoren in
Frankreich wenden zu Recht ein, dass die Bundesrepublik bei wei-
terer Reduzierung eines (inzwischen) sehr preiswerten, hoch effizi-
enten kulturpolitischen Instruments erheblich verlieren würde; Geg-
ner bringen vor, dass Industriestaaten wie Frankreich eigentlich in
der Lage sein müssten, ihre Fremdsprachenlektoren eigenständig
angemessen zu entlohnen. Die letztere Position unterschätzt zum
einen die historisch gewachsenen und bedingten Zustände, zum an-

14 Überblicksliteratur zu den DAAD-Lektoren in Frankreich und kulturpolitischer Zu-


sammenarbeit: Reinhart Meyer-Kalkus: Die akademische Mobilität zwischen Deut-
schland und Frankreich (1925-1992), DAAD Forum, Band 16, Bonn 1994. Ders:
Deutsche Lektoren in Frankreich, in: Info DaF 1 (1989), S. 49-59. Elisabeth Mellangé-
Tauch: Le rôle des lecteurs dans la coopération universitaire et les échanges culturels
franco-allemands, in: Allemagnes d’aujourd’hui (1989), Nr. 108, S. 73-87.
764 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

deren ignoriert sie die Tatsache, dass die kulturpolitische Bedeutung


und Arbeit der Lektoren weit über den reinen Unterricht und die
Vermittlung eines aktuellen Deutschlandbildes hinausgeht, denn sie
informieren (u.a.) über das Hochschulsystem und Stipendienmög-
lichkeiten, vermitteln Praktika, nehmen Sprachtests ab und sind um-
fassend kulturpolitisch tätig (Veranstaltungsorganisation etc.). Nach
dem Zweiten Weltkrieg waren die Deutschen froh, bei der Wieder-
aufnahme kulturpolitischer Aktivitäten überhaupt wieder im Kreise
der Nationen agieren zu dürfen, und zwar insbesondere, was ihre
kulturelle Präsenz bei den Alliierten und in den von der Naziraserei
besonders in Mitleidenschaft gezogenen Ländern betraf. Dieses
wiedergefundene Privileg hatten sie aber anfänglich durch die Ak-
zeptanz bisweilen besonders schlechter finanzieller Konditionen zu
bezahlen.
In Frankreich werden alle Lektoren für alle Sprachen prinzipiell
gleich entlohnt, nämlich als Berufsanfänger im Hochschulbereich
und in durchaus logischer finanzieller Distanz zum Maître de Con-
férence, dem promovierten Wissenschaftler. Im Grunde verstand
(und versteht) man nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen
anderen Ländern Europas unter einem Lektor einen verhältnismä-
ßig jungen Muttersprachler der Zielsprache, der im Anschluss an
den ersten Hochschulabschluss in seinem Heimatland für eine recht
begrenzte Zeit (in der Regel bis zu zwei Jahren) an einer ausländi-
schen Hochschule zum Einsatz kommt. Sein Status ist gering, in der
Regel spielt er keine Rolle in den entscheidenden Hochschulgre-
mien, häufig darf er nicht prüfen, und sein Einsatzgebiet beschränkt
sich eigentlich auf die Sprachpraxis. So fixiert es in Frankreich auch
ein Lektorendekret, das allerdings als Sonderklausel die Höchstver-
weildauer für in staatlichen oder bilateralen Zusammenhängen ver-
mittelte Lektoren von zwei (mit zwei Einjahresverträgen) auf sechs
Jahre (2x3) festlegt, und damit, da nur wenige andere Länder struk-
765

turierte oder zahlenmäßig bedeutende Lektorenvermittlungspro-


gramme haben, vor allem auf die Bedürfnisse des DAAD-Lekto-
renprogramms reagiert hat. Mehr noch: Die üblicherweise hohe
Qualifikation der DAAD-Lektorinnen und Lektoren, die zudem ein
mehrstufiges, kompliziertes Auswahlverfahren durchlaufen, an dem
die französischen Hochschulen an wesentlichen Punkten beteiligt
sind, haben dazu geführt, dass sie an zahlreichen Hochschulen viel
anspruchsvollere Aufgaben verrichten, als es auf dem Papier festge-
legt ist. Und in der Tat haben sich mit der Entwicklung der einst
inhaltlich klar umrissenen (vor allem auf Literatur und Sprachver-
mittlung zentrierten) Germanistik das Aufgabengebiet, die Einsat-
zorte und die Lehrinhalte der Lektoren stark ausgeweitet in wirt-
schaftliche, politische, sozialwissenschaftliche Bereiche. Zudem ha-
ben die meisten von ihnen ein Zusatz- oder Aufbaustudium im Be-
reich ıDeutsch als Fremdsprache„ absolviert. Der Nutzen für die
Bundesrepublik ist vielfach. Nach Beendigung ihrer Tätigkeit haben
viele Lektorinnen und Lektoren, von ihren interkulturellen Kennt-
nissen und ihrem wissenschaftlichen Gewinn im Ausland profitie-
rend, als Mittler in bestem Sinne Tätigkeiten in deutschen Schulen,
in Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen gefunden. Die In-
ternationalisierung des Hochschulstandortes Deutschland wird nicht
unwesentlich von ehemaligen Lektoren vorangetrieben, die z. B. in
Akademischen Auslandsämtern der deutschen Hochschulen arbei-
ten. Allerdings tauchen mit der in letzter Zeit steigenden Arbeitslo-
sigkeit zuweilen auch größere Reintegrationsprobleme auf. Schließ-
lich darf man nicht vergessen, dass zahlreiche Lektorinnen und Lek-
toren auch in den jeweiligen Ländern Stellen inner- und außerhalb
der Universitäten gefunden haben: allein in Frankreich zählt man an
den Hochschulen über sechzig ehemalige Lektoren, von denen
nicht wenig Professuren innehaben. Es wäre fatal ein solches, im
Verhältnis zu seiner Wirkung letztendlich sehr preiswertes Pro-
766 Joachim Umlauf: Das Lektorenprogramm des DAAD

gramm, das durch seine fortwährend und immer neue Ausbildung


von Mittlern besticht, einem Zeitgeist zu opfern, der kulturelles En-
gagement in der Europäischen Union für zunehmend überflüssig hält.
767

Bibliographie von Hans Manfred Bock


768 Bibliographie von Hans Manfred Bock

Bücher
Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 -1923. Zur Geschichte
und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikali-
sten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kom-
munistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, Anton-Hain Verlag, Mei-
senheim/ Glan 1969, 480 S. (Marburger Abhandlungen zur Politischen
Wissenschaft, Bd. 13), Nachdruck 1970.
Anton Pannekoek, Herman Gorter: Organisation und Taktik der proletari-
schen Revolution, hg. und eingeleitet von Hans Manfred Bock, Verlag
Neue Kritik, Frankfurt/ M. 1969, 254 S. (Archiv sozialistischer Literatur
11), Nachdruck 1970.
(mit Gilbert Krebs, Jean-François Tournadre, Bernd Witte): La Civilisation
allemande. Guide bibliographique et pratique, Librairie Armand
Colin, Paris 1971, 384 S. (Collection U 2).
Geschichte des ılinken Radikalismus„ in Deutschland. Ein Versuch, Suhr-
kamp Verlag, Frankfurt/ M. 1976, 370 S. (edition suhrkamp Nr. 645).
(Hg. mit Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch): Entre Locarno et Vichy.
Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, 2 Bde,
CNRS-Editions, Paris 1993, 891 S. (De lÊAllemagne, Bd. 2).
Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur
Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993, 499 S.
Les rapports mensuels dÊAndré François-Poncet, Haut-Commissaire français
en Allemagne 1949-1955. Les débuts de la République fédérale
dÊAllemagne. Publiés et annotés par Hans Manfred Bock, Professeur à
lÊUniversité de Kassel. Préface de Jean François-Poncet, Ancien mi-
nistre des Affaires étrangères, sénateur, 2 Bde, Imprimerie Nationale,
Paris 1996, 1433 S. (Commission de publication des documents di-
plomatiques français, Institut Historique Allemand).
Le discours européen dans les revues allemandes (1871-1914). Der Europa-
diskurs in den deutschen Zeitschriften (1871-1914), hg. von Michel
Grunewald in Zusammenarbeit mit Helga Abret und Hans Manfred
Bock, Peter Lang Verlag, Bern u.a. 1996, 330 S. (Convergences, Bd. 1).
769

Le discours européen dans les revues allemandes (1918 -1933). Der Europa-
diskurs in den deutschen Zeitschriften (1918 -1933), hg. von Michel
Grunewald in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Peter Lang
Verlag, Bern u.a. 1997, 405 S. (Convergences, Bd. 3).
Paul H. Distelbarth: Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kul-
tur und Politik Frankreichs und zu den deutsch-französischen Bezie-
hungen 1932-1953, mit einer Einleitung hg. und kommentiert von
Hans Manfred Bock, Peter Lang Verlag, Bern u.a. 1997, 535 S. (Con-
vergences, Bd. 2).
(Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Zur Rolle der Zivilge-
sellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigs-
burg, Leske und Budrich, Opladen 1998, 491 S.
Pierre Viénot. Ungewisses Deutschland. Zur Krise seiner bürgerlichen Kul-
tur, neu hg., eingeleitet und kommentiert von Hans Manfred Bock,
Bouvier Verlag, Bonn 1999, 262 S. (Réflexions sur lÊAllemagne au 20e
siècle. Reflexionen über Deutschland im 20. Jahrhundert, hg. vom
Deutschen Historischen Institut Paris).
Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939). Der Europa-
diskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939), hg. von Michel
Grunewald in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Peter Lang
Verlag, Bern u.a. 1999, 550 S. (Convergences, Bd. 11).
(Mithg.): Pierre Bertaux: Mémoires interrompus, Publications de lÊInstitut
dÊAllemand dÊAsnières, Paris 2000, 325 S.
(Mithg.): Pierre Bertaux. Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes
1927-1933, hg., eingeleitet und kommentiert von Hans Manfred Bock,
Gilbert Krebs und Hansgerd Schulte, Publications de lÊInstitut dÊAlle-
mand dÊAsnières, Paris 2001, 464 S.
Le discours européen dans les revues allemandes (1945-1955). Der Europa-
diskurs in den deutschen Zeitschriften (1945-1955), hg. von Michel
Grunewald in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Peter Lang
Verlag, Bern u.a. 2001, 461 S. (Convergences, Bd. 18).
770 Bibliographie von Hans Manfred Bock

(Hg. mit Friedrich-Martin Balzer und Uli Schöler): Wolfgang Abendroth –


wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge, Leske und
Budrich Opladen 2001, 505 S.
Le milieu intellectuel de gauche en Allemagne, sa presse et ses réseaux
(1890 -1960). Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine
Presse und seine Netzwerke (1890 -1960), hg. von Michel Grunewald
in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Peter Lang Verlag, Bern
u.a. 2002, 708 S. (Convergences, Bd. 24).
(Hg.): Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Stu-
dien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-2003, Leske und
Budrich, Opladen 2003, 333 S. (Frankreich-Studien, Bd. 7).
Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux
(1890 -1960). Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland,
seine Presse und seine Netzwerke (1890 -1960), hg. von Michel Grune-
wald und Uwe Puschner in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock,
Peter Lang Verlag, Bern u.a. 2003, 718 S. (Convergences, Bd. 27).
(Hg. mit Gilbert Krebs): Echanges culturels et relations diplomatiques.
Présences françaises à Berlin au temps de la République de Weimar,
Publications de lÊInstitut dÊAllemand dÊAsnières, Paris 2004, 350 S.
(Hg.): Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen. Französische
Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Gunter Narr Verlag, Tü-
bingen 2005.
Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler-Biographien und
-Diskurse zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts, Gunter Narr Verlag, Tübingen 2005.
Le milieu intellectuel catholique en Allemagne, sa presse et ses réseaux
(1890 -1960). Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland,
seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), hg. von Michel Grune-
wald und Uwe Puschner in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock,
Peter Lang Verlag, Bern u.a. 2005, i.E. (Convergences).
(Hg. mit Ilja Mieck): Berlin – Paris 1900 -1933. Begegnungsorte, Wahrneh-
mungsmuster und Infrastrukturprobleme im Vergleich, Peter Lang
Verlag, Bern u.a. 2005, i.E.
771

Versöhnung oder Subversion? Deutsch-französische Gesellschafts- und Kul-


turbeziehungen in der Zwischenkriegszeit, VS Verlag für Sozialwissen-
schaften, Wiesbaden 2005, i.E.

Herausgebertätigkeit
Schwerpunkt Gaullismus, in: Lendemains (1978), Nr. 10, S. 73-115.
Französische Intellektuelle vor den ıdeutschen Ungewißheiten„ der Zwi-
schenkriegszeit, in: Lendemains (1992), Nr. 66, S. 16 -75.
Paul H. Distelbarth oder die unterbrochene Revision des deutschen Frank-
reichbildes nach 1945, in: Lendemains (1993), Nr. 71/ 72, S. 60 -96.
(mit François Beilecke): Vernunftethik als gesellschaftliche Begründung der
Republik. Die Intellektuellen-Vereinigung Union pour la Vérité in der
Dritten Republik, in: Lendemains (1995), Nr. 78/ 79, S. 79-171.
Themenschwerpunkt: Wahrnehmungsmuster zwischen Deutschland und
Frankreich, in: Frankreich-Jahrbuch 1995, Opladen 1996, S. 35-186.
Deutsch-französische Kulturbeziehungen 1949-1955, in: Lendemains (1996),
Nr. 84, S. 58 -125.
Mittler, in: Lendemains (1997), Nr. 86/ 87, S. 8 -92.
(mit François Beilecke): Demokratie, Menschenrechte, Völkerverständi-
gung. Die Ligue des Droits de lÊHomme und die deutsch-französi-
schen Beziehungen von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Welt-
krieg, in: Lendemains (1998), Nr. 89, S. 7-102.
Themenschwerpunkt: Intellektuelle in der französischen Gesellschaft, in:
Frankreich-Jahrbuch 1998, Opladen 1998, S. 35-167.
Themenschwerpunkt: Zukunft und Erinnerung, in: Frankreich-Jahrbuch
2000, Opladen 2000, S. 30 -201.
Gesellschaftliche Neubegründung interkulturellen Austauschs. Zur Vorge-
schichte und Struktur des Deutsch-Französischen Jugendwerks 1949-
1963, in: Lendemains (2002), Nr. 107/ 108, S. 139-224.
772 Bibliographie von Hans Manfred Bock

Seit 1991 Mitherausgeber von: Frankreich-Jahrbuch. Politik, Wirtschaft, Ge-


sellschaft, Geschichte, Kultur, hg. vom Deutsch-Französischen Institut,
Leske und Budrich, Opladen 1988ff. (seit 2004: VS Verlag für Sozial-
wissenschaften, Wiesbaden).
Seit 1988 Mitherausgeber von: Lendemains. Etudes comparées sur la
France. Vergleichende Frankreichforschung, Köln, dann Marburg/
Lahn, dann Berlin, dann Tübingen 1974ff. (seit 2004: Gunter Narr-
Verlag, Tübingen).
(Hg. mit Adolf Kimmel und Henrik Uterwedde): Buchreihe ıFrankreich-
studien„ beim Verlag Leske und Budrich, Opladen, 2000ff. (seit 2004:
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden).
(Hg. mit Wolfgang Asholt, Alain Montandon, Michael Nerlich und Margarete
Zimmermann): Buchreihe ıCahiers lendemains„, Tübingen 1999ff. (seit
2005: ıéditon lendemains„, Gunter Narr Verlag, Tübingen).

Aufsätze
Das faschistische Modell öffentlicher Herrschaft, in: Wolfgang Abendroth,
Kurt Lenk (Hg.): Einführung in die Politische Wissenschaft, München
1968, S. 119-135 (6. Auflage 1982).
Zur Geschichte und Theorie der Holländischen Marxistischen Schule, in:
Anton Pannekoek, Herman Gorter: Organisation und Taktik der pro-
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Ist der Elysée-Vertrag veraltet? Zum dreißigsten Jahrestag des deutsch-fran-
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Paul H. Distelbarth oder die unterbrochene Revision des deutschen Frank-
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Neue Unübersichtlichkeit und Perspektiven der Frankreichforschung, in:
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Sozialistische Diskordanz und kapitalistische Dekadenz. Zur Frankreich-
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Konservativer Einzelgänger und pazifistischer Grenzgänger zwischen Deutsch-
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Europa als republikanisches Projekt. Die Libres entretiens in der rue
Visconti/ Paris und die Décades von Pontigny als Orte französisch-
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roles ouvrières, in: Antoine Prost u.a. (Hg.): LÊinvention des syndica-
lismes. Le syndicalisme en Europe occidentale à la fin du XIXe siècle,
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Der Weg Pierre Viénots von Lyautey zu de Gaulle. Biographische Statio-
nen eines nonkonformistischen Intellektuellen, in: Galerie. Revue cul-
turelle et pédagogique (1997), Nr. 1, S. 105-145.
André François-Poncet. Des vieux démons et des vertus des allemands, in:
Magazine littéraire, 1997, Nr. 359, S. 51.
Vom Beruf des kulturellen Übersetzens zwischen Deutschland und Frank-
reich, oder: Verzagen die Mittler?, in: Lendemains (1997), Nr. 86/ 87,
S. 8 -19.
Intellektuelle, in: Robert Picht, Vincent Hoffmann-Martinot, René Lasserre,
Peter Theiner (Hg.): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor
dem 21. Jahrhundert, München u.a. 1997, S. 72-78.
Histoire et historiographie des intellectuels en Allemagne, in: Marie-
Christine Granjon, Nicole Racine, Michel Trebitsch (Hg.): Pour une
histoire comparée des intellectuels, Brüssel 1998, S. 79-109.
La Maison de lÊAllemagne à la Cité Universitaire de Paris. Un projet socio-
culturel à travers les vicissitudes des relations franco-allemandes de
1927 à 1952, in: Martin Raether (Hg.): Maison Heinrich Heine Paris.
Quarante ans de présence culturelle, Bonn u.a. 1998, S. 24- 64.
Der lange Weg zum Deutschland-Haus in der Cité Universitaire in Paris.
Ein sozio-kulturelles Projekt im deutsch-französischen Spannungsfeld
1927-1952, in: Martin Raether (Hg.): Maison Heinrich Heine Paris.
Quarante ans de présence culturelle, Bonn u.a. 1998, S. 65-101.
Das Deutsch-Französische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaft-
lichen Austauschs zwischen Deutschland und Frankreich, in: Hans
Manfred Bock (Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung,
Opladen 1998, S. 11-121.
Bibliographischer Versuch zu den zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, in: Hans Man-
785

fred Bock (Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung, Opladen


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La querelle de lÊıAllemand„. Les réactions allemandes à la publication du
livre de Jacques Rivière, in: Bulletin des Amis de Jacques Rivière et
dÊAlain-Fournier (1998), Nr. 87/ 88, S. 25-36.
La postérité européenne de Jacques Rivière. Les débats sur le rapproche-
ment franco-allemand et lÊentente européenne dans les milieux pro-
ches de la Nouvelle Revue Française durant lÊentre-deux-guerres, in:
Bulletin des Amis de Jacques Rivière et dÊAlain-Fournier (1998), Nr.
87/ 88, S. 97-111.
ı...stillwirkende Kraft der politischen Bemühungen„. Zur Gründung des
Deutsch-Französischen Instituts vor fünfzig Jahren, in: Dokumente.
Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog (1998), S. 193-200.
Germanistik und historische Sozialwissenschaften. Plädoyer für ein produk-
tives Komplementärverhältnis. in: Colette Cortès, Gilbert Krebs (Hg.):
Le territoire du germaniste. Situations et explorations. Actes du XXXe
Congrès de lÊAGES à Paris (1997), Paris 1998, S. 53- 62.
Reichshauptstadt und französischer Kulturtransfer 1871-1890. Paul Lindau
als publizistischer, literarischer und dramaturgischer Vermittler zwi-
schen Paris und Berlin, in: Etienne François u.a. (Hg.): Marianne und
Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kon-
text 1789-1914, Leipzig 1998, S. 315-332.
Heimatlose Republikaner in der Weimarer Republik. Die Deutsche Liga
für Menschenrechte (vormals Bund Neues Vaterland) in den deutsch-
französischen Beziehungen, in: Lendemains (1998), Nr. 89, S. 68 -102.
Der Intellektuelle und der Mandarin? Zur Rolle des Intellektuellen in
Frankreich und Deutschland, in: Frankreich-Jahrbuch 1998, Opladen
1998, S. 35-51.
Ort deutsch-französischer Aussprache und Begegnung. Kommentierte Do-
kumentation zur Gründung des Deutsch-Französischen Instituts in
Ludwigsburg im Jahre 1948, in: Lendemains (1998), Nr. 90, S. 8 -26.
Der Blick des teilnehmenden Beobachters. Zur Entstehung von Pierre
Viénots Buch ıUngewisses Deutschland„ in der Weimarer Republik
786 Bibliographie von Hans Manfred Bock

und zu dessen Stellung in der französischen Deutschland-Essayistik


des 20. Jahrhunderts, in: Pierre Viénot. Ungewisses Deutschland. Zur
Krise seiner bürgerlichen Kultur, Bonn 1999, S. 9-77.
Der Autor Pierre Viénot, in: Pierre Viénot. Ungewisses Deutschland, Bonn
1999, S. 253-261.
Kalter Krieg und ıdeutsche Gefahr„. Politisch-gesellschaftliche Motive fran-
zösischer Deutschland-Wahrnehmung und ihres Wandels in den fünf-
ziger Jahren, in: SOWI. Sozialwissenschaftliche Information (1999), Nr.
1, S. 43-51.
ıRichard Wagner ist das größte Ereignis des deutschen Geistes seit
Goethe„. Henri Lichtenberger als germanistischer Autor und Beob-
achter der Wagner-Rezeption in Frankreich, in: Annegret Fauser, Ma-
nuela Schwartz (Hg.): Von Wagner zum Wagnerisme. Musik, Litera-
tur, Kunst, Politik, Leipzig 1999, S. 199-225.
Republikanischer Elitismus und technokratische Herrschaft. Zu einigen
Merkmalen der politischen Elite im gegenwärtigen Frankreich, in:
Marieluise Christadler, Henrik Uterwedde (Hg.): Länderbericht Frank-
reich, Opladen 1999, 383-403.
Das ıJunge Europa„, das ıAndere Europa„ und das ıEuropa der weißen
Rasse„. Diskurstypen in der ıEuropäischen Revue„ von 1925 bis 1939,
in: Michel Grunewald (Hg.): Le discours européen dans les revues al-
lemandes 1933-1939. Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschrif-
ten 1933-1939, Bern u.a. 1999, S. 311-351.
Kulturzeitschriften im Deutschland der dreißiger Jahre im Kontext der Ge-
sellschafts-, Kultur-, Verlags- und Intellektuellengeschichte. Ein biblio-
graphischer Versuch, in: Michel Grunewald (Hg.): Le discours
européen dans les revues allemandes 1933-1939. Der Europadiskurs in
den deutschen Zeitschriften 1933-1939, Bern u.a. 1999, S. 433-466.
Connaître lÊAllemagne – Enseigner lÊAllemagne. Quelques origines biogra-
phiques de la conception des études germaniques de Pierre Bertaux,
in: Lendemains (1999), Nr. 95/ 96, S. 164-168.
Universitätsrevolte und Reform des französischen Germanistikstudiums.
Erinnerung und Dokumentation zur Gründung des Institut dÊAlle-
787

mand dÊAsnières vor dreißig Jahren, in: Lendemains (1999), Nr. 92,
S. 117-139.
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européenne„ de 1945 à 1949, in: Andrée Bachoud, Josefina Cuesta,
Michel Trebitsch (Hg.): Les intellectuels et lÊEurope de 1945 à nos
jours, Paris 2000, S. 91-102.
Der DAAD in den deutsch-französischen Beziehungen, in: Peter Alter
(Hg.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige
Aufgaben. Vierzehn Essays, Bonn 2000, S. 196 -219.
Nation als vorgegebene oder vorgestellte Wirklichkeit? Anmerkungen zur
Analyse fremdnationaler Identitätszuschreibungen, in: Ruth Florack
(Hg.): Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in
deutscher und französischer Literatur, Tübingen 2000, S. 11-36.
Portrait: Carl Heinrich Becker, in: Pierre Bertaux: Mémoires interrompus,
Paris 2000, S. 303f.
Portrait: Brigitte (Tutti) Bermann-Fischer, in: ebd., S. 304f.
Portrait: Golo Mann, in: ebd., S. 313f.
Portrait: Heinrich Mann, in: ebd., S. 314f.
Portrait: Joseph Roth, in: ebd., S. 316.
Portrait: Pierre Viénot, in: ebd., S. 319f.
Zwischen nationalem Gedächtnis und europäischer Zukunft. Französische
Geschichtskultur im Umbruch, in: Frankreich-Jahrbuch 2000, Opladen
2000, S. 33-50.
La nation, un moment de lÊHistoire?, in: Jean-Noël Jeanneney (Hg.): Une
idée fausse est un fait vrai. Les stéréotypes et la construction de
lÊEurope, Paris 2000, S. 157-165.
Baustellen transnationaler Öffentlichkeit oder: Wozu deutsch-französische
Zeitschriften?, in: Lendemains (2000), Nr. 100, S. 12-27.
Créateurs, organisateurs et vulgarisateurs. Biographies de médiateurs socio-
culturels entre la France et lÊAllemagne au 20e siècle, in: Revue
dÊAllemagne (2001), Nr. 4, S. 101-115.
788 Bibliographie von Hans Manfred Bock

Les ıannées folles„ de Berlin (1927-1933). Le témoignage de Pierre Bertaux,


in: Pierre Bertaux: Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes
de 1927 à 1933, Paris 2001, S. 13-46.
Bibliographie sélective, in: Pierre Bertaux. Un normalien à Berlin. Lettres
franco-allemandes, Paris 2001, S. 418 -440.
Deutsche und französische Europäer. Berliner Gespräche 1928 zwischen
Joseph Roth und Pierre Bertaux, in: Nicole Pelletier, Jean Mondot,
Jean-Marie Valentin (Hg.): LÊAllemagne et la crise de la raison. Hom-
mage à Gilbert Merlio, Bordeaux 2001, S. 407-421.
Soziale Demokratie und wissenschaftliche Politik. Zu Wolfgang Abendroths
Verständnis der Politikwissenschaft in den fünfziger Jahren, in: Wolf-
gang Hecker, Joachim Klein, Hans Karl Rupp (Hg.): Politik und Wis-
senschaft. 50 Jahre Politikwissenschaft in Marburg, Münster 2001,
S. 86 -131.
Die fortgesetzte Modernisierung des Konservativismus: ıMerkur. Deutsche
Zeitschrift für europäisches Denken„ 1947 bis 1957, in: Michel Gru-
newald (Hg.): Le discours européen dans les revues allemandes (1945-
1955). Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1945-1955),
Bern u.a. 2001, S. 149-185.
Kulturzeitschriften in Deutschland von 1945 bis 1955 im Kontext der Ge-
sellschafts-, Kultur-, Verlags- und Intellektuellengeschichte. Ein biblio-
graphischer Versuch, in: Michel Grunewald (Hg.): Le discours
européen dans les revues allemandes (1945-1955). Der Europadiskurs
in den deutschen Zeitschriften (1945-1955), Bern u.a. 2001, S. 425-449.
Akademische Innovation in der Ordinarien-Universität. Elemente einer
Gruppenbiographie der Abendroth-Doktoranden, in: Friedrich-Martin
Balzer, Hans Manfred Bock, Uli Schöler (Hg.): Wolfgang Abendroth –
wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge, Opladen
2001, S. 271-288.
(mit Joachim Klein): Karrieremuster und Praxisfelder der von Wolfgang
Abendroth promovierten Politikwissenschaftler, in: ebd., S. 289-319.
(mit Friedrich-Martin Balzer und Uli Schöler) Werkbibliographie. Gesamt-
verzeichnis der Schriften Wolfgang Abendroths, in: ebd., S. 345-474.
789

(mit Friedrich-Martin Balzer und Uli Schöler): Lebensspuren. Verzeichnis


von Schriften über Wolfgang Abendroth, in: ebd., S. 475-505.
Ein marxistischer Sozialist im Kalten Krieg. Zur Stellung Wolfgang
Abendroths in der Intellektuellen-Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland, in: ebd., S. 216 -267.
ıRéapprendre lÊAllemagne„. Félix Bertaux als Freund André Gides und
der zeitgenössischen deutschen Literatur, in: Lendemains (2001), Nr.
101/ 102, S. 144-166.
Zivilgesellschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich,
in: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi, Edward Reichel (Hg.): Handbuch
Französisch. Studium, Lehre, Praxis, Berlin 2002, S. 606 - 612.
Wechselseitige Wahrnehmung zwischen Deutschland und Frankreich, in:
Ingo Kolboom, Thomas Kotschi, Edward Reichel (Hg.): Handbuch
Französisch. Studium, Lehre, Praxis, Berlin 2002, S. 613- 618.
(mit Michel Grunewald): Zeitschriften als Spiegel intellektueller Milieus.
Vorbemerkungen zur Analyse eines ungeklärten Verhältnisses, in:
Michel Grunewald (Hg.): Das linke Intellektuellenmilieu in Deutsch-
land (1890 -1960), seine Presse und seine Netzwerke, Bern u.a. 2002,
S. 21-34.
Der schwierige Dritte Weg im Sozialismus. Die ıSozialistische Politik„ und
ihre gesellschaftlichen Trägergruppen 1954 bis 1966 im Spektrum
linkssozialistischer Zeitschriften, in: Michel Grunewald (Hg.): Das linke
Intellektuellenmilieu in Deutschland (1890-1960), Berlin 2002, S. 659-688.
ıIch verzichte Herr Curtius, ich verzichte!„ Félix und Pierre Bertaux im
Streitgespräch mit Ernst Robert Curtius (1925-1928), in: Passerelles et
passeurs. Hommages à Gilbert Krebs et Hansgerd Schulte, Asnières
2002, S. 29-54.
Die ıseltsame Niederlage„ der Sozialisten vom 21. April 2002 und ihre Folgen
für den Parti Socialiste, in: Lendemains (2002), Nr. 105/ 106, S. 25-31.
Initiatives socio-culturelles et contraintes politiques dans les relations uni-
versitaires entre la France et lÊAllemagne dans lÊentre-deux-guerres, in:
Revue dÊAllemagne (2002), Nr. 3, S. 297-310.
790 Bibliographie von Hans Manfred Bock

Gesellschaftliche Neubegründung interkulturellen Austauschs. Zur Vorge-


schichte und Struktur des Deutsch-Französischen Jugendwerks 1949-
1963, in: Lendemains (2002), Nr. 107/ 108, S. 139-146.
Private Verständigungsinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland und
in Frankreich 1949 bis 1963, in: Lendemains (2002), Nr. 107/ 108,
S. 146 -176.
Private Verständigungs-Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland und
in Frankreich 1949 bis 1964 als gesellschaftliche Entstehungsgrundlage
des DFJW, in: Hans Manfred Bock (Hg.): Deutsch-französische Be-
gegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französi-
schen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003, S. 13-38.
Komplizierung der politischen Beziehungen und Konsolidierung des DFJW
in den sechziger Jahren, in: ebd., S. 61-90.
Bilateralismus im Zeichen der deutschen Vereinigung, der Europäisierung
und der Globalisierung, in: ebd., S. 155-192.
(mit Katja Marmetschke): Auswahlbibliographie zum DFJW, zu seinem in-
stitutionellen und organisatorischen Umfeld und zu seinen Publika-
tionsserien, in: ebd., S. 303-333.
Un monde intellectuel polycentrique et apolitique. Regards comparatistes
sur les intellectuels allemands et les concepts mis en fluvre pour écrire
leur histoire, in: Michel Leymarie, Jean-François Sirinelli (Hg.):
LÊhistoire des intellectuels aujourdÊhui, Paris 2003, S. 429-443.
(mit Adolf Kimmel und Henrik Uterwedde): Vom politischen System zur
bürgerlichen Gesellschaftsformation. Gilbert Zieburas Beitrag zur
Konstituierung der sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung in
der Bundesrepublik, in: Gilbert Ziebura: Frankreich als Gesellschafts-
formation. Gesammelte Aufsätze, Opladen 2003, S. 325-338.
Henri Lichtenberger, in: Christoph König (Hg.): Internationales Germani-
stenlexikon 1800 bis 1950, Berlin u.a. 2003, S. 1088 -1089.
Robert Minder et Albert Schweitzer. Deux représentants de la ıpensée al-
sacienne„?, in: Allemagne dÊaujourdÊhui (2003), Nr. 165, S. 49- 69.
Das Elsaß als geistige Lebensform. Zur Bedeutung regionaler Identität und
ihrer Repräsentanten (Charles Andler, Lucien Herr, Henri Lichten-
791

berger) bei Robert Minder, in: Albrecht Betz, Richard Faber (Hg.):
Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich.
Zum 100. Geburtstag von Robert Minder, Würzburg 2004, S. 61-75.
Les intellectuels, le pouvoir interprétatif et la polémique. Aperçu historico-
sociologique, in: Valérie Robert (Hg.): Intellectuels et polémiques
dans lÊespace germanophone, Paris 2003, S. 65-70.
Bilaterale Begegnung und europäischer Bürgersinn. Das DFJW zwischen
Vergangenheit und Zukunft in historisch-sozialwissenschaftlicher Per-
spektive, in: Lendemains (2003), Nr. 110/ 111, S. 209-215.
Eine anspruchsvolle, eine belastbare Freundschaft. Zum Briefwechsel zwi-
schen Heinrich Mann und Félix Bertaux 1922 bis 1948, in: Frankreich-
Jahrbuch 2003, Opladen 2003, S. 183-189.
Représentation et médiation. Le DAAD dans les relations franco-allemandes
1963-2003, in: Allemagne dÊaujourdÊhui (2004), Nr. 168, S. 116 -139.
De la ıRépublique moderne„ à la ıRévolution nationale„. LÊitinéraire intel-
lectuel dÊAndré François-Poncet de 1912 à 1942, in: Albrecht Betz,
Stefan Martens (Hg.): Les intellectuels et lÊoccupation, Paris 2004,
S. 106 -148.
(mit Ulrich Pfeil): Les acteurs culturels et la coopération franco-allemande.
Formes, objectifs, influences, in: Corine Defrance, Ulrich Pfeil (Hg.):
Le traité de lÊElysée et les relations franco-allemandes 1945-1963-2003,
Paris 2005, S. 193-209.
(mit Ulrich Pfeil): Kulturelle Akteure und die deutsch-französische Zusam-
menarbeit. Formen, Ziele, Einfluß, in: Corine Defrance, Ulrich Pfeil
(Hg.): Der Elysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen
1945-1963-2003, München 2005, S. 215-234.
(mit Wolfgang Asholt): Michel Trebitsch, in: Lendemains (2004), Nr. 116,
S. 126 -129.
Transaction, transfert et constitution de réseaux. Concepts pour une his-
toire sociale des relations culturelles transnationales, in: Hans Manfred
Bock, Gilbert Krebs (Hg): Echanges culturels et relations diploma-
tiques. Présences françaises à Berlin au temps de la République de
Weimar, Asnières 2004, S. 7-31.
792 Bibliographie von Hans Manfred Bock

Otto Grautoff et la Société franco-allemande de Berlin, in: Hans Manfred


Bock, Gilbert Krebs (Hg.): Echanges culturels et relations diploma-
tiques. Présences françaises à Berlin au temps de la République de
Weimar, Asnières 2004, S. 69-103.
Weimarer Intellektuelle und das Projekt deutsch-französischer Gesell-
schaftsverflechtung, in: Rüdiger Hohls, Iris Schröder, Hannes Siegrist
(Hg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen
europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65.
Geburtstag, Stuttgart 2005, S. 422-427.
Berlin – Paris, Paris – Berlin. Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begeg-
nung in der Locarno-Ära, in: Hans Manfred Bock, Ilja Mieck (Hg.):
Berlin – Paris 1900 -1933. Begegnungsorte, Wahrnehmungsmuster und
Infrastrukturprobleme im Vergleich, Bern u.a., 2005, i.E.
(mit Katja Marmetschke): Gesellschaftsverflechtung zwischen Deutschland
und Frankreich. Transnationale Beziehungen, Gesellschaft und Jugend
in Konrad Adenauers Frankreichpolitik, in: Klaus Schwabe (Hg.):
Konrad Adenauer und Frankreich, Bonn 2005, i.E.
Voyages entre Berlin et Paris dans lÊentre-deux-guerres, in: Wolfgang
Asholt, Claude Leroy (Hg.): Paris – Berlin – Moscou. Récits de voyage
1919-1939, Paris 2005, i.E.
Reisen zwischen Berlin und Paris in der Zwischenkriegszeit, in: Wolfgang
Asholt, Claude Leroy (Hg.): Paris – Berlin – Moskau. Reiseberichte
1919-1939, Bielefeld 2005, i.E.
Représentation et médiation. Le DAAD dans les relations franco-alleman-
des 1963-2005. Vertretung und Vermittlung. Der DAAD in den
deutsch-französischen Beziehungen 1963-2005, Paris 2005, i.E.
Michel Trebitsch (1948 -2004), in: Francia. Forschungen zur westeuropäi-
schen Geschichte, 2005, i.E.
Transaktion, Transfer, Netzwerkbildung. Konzepte einer Sozialgeschichte
der transnationalen Beziehungen, in: Hans Manfred Bock (Hg.): Kul-
tureller Austausch und diplomatische Beziehungen. Französische Kul-
tur im Berlin der Weimarer Republik, Tübingen 2005, i.E.
793

Otto Grautoff und die Deutsch-Französische Gesellschaft in Berlin, in: Hans


Manfred Bock (Hg.): Kultureller Austausch und diplomatische Bezie-
hungen. Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik, Tü-
bingen 2005, i.E.
Reformkraft für das 21. Jahrhundert? Modernisierung und Mutation im
Parti Socialiste, in: Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hg.): Regie-
rungs- und Reformfähigkeit Frankreichs, Wiesbaden 2005, i.E.
Der Abendland-Kreis und das Wirken von Hermann Platz im katholischen
Milieu der Weimarer Republik, in: Michel Grunewald, Uwe Puschner
(Hg.): Le milieu intellectuel catholique en Allemagne. Sa presse et ses
réseaux (1890 -1960). Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutsch-
land. Seine Presse und seine Netzwerke (1890 -1960), Bern u.a. 2005,
i.E.
795

Über die Autorinnen und Autoren


796 Über die Autorinnen und Autoren

Carla Albrecht, M.A., Politikwissenschaftlerin. Studium in Kassel und


Paris; von 2002 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich
Soziologie und Geschichte der Universität Konstanz. Forschungsschwer-
punkte: deutsch-französische Gesellschafts- und Kulturbeziehungen und
politische Parteien in Frankreich. Veröffentlichungen (Auswahl): Das ıCo-
mité français dÊéchanges avec lÊAllemagne nouvelle„ als Wegbereiter des
Deutsch-Französischen Jugendwerks, in: Lendemains 2002, Nr. 107/108, S.
177-189; Das Deutsch-Französische Jugendwerk als Avantgardist des interna-
tionalen Jugendaustausches: Die Drittländerprogramme des Jugendwerks, in:
Hans Manfred Bock (Hg.): Deutsch-französische Begegnung und europäi-
scher Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-
2003, Opladen 2003, S. 287-301; Maurice Papon und die Frage der staatli-
chen Kontinuität in der französischen Erinnerungspolitik, in: Bernhard
Giesen u.a. (Hg.): Tätertrauma. Nationale Erinnerung im öffentlichen Dis-
kurs, Konstanz 2004, S. 295-312; Gespaltene Gewinner. Zum Abschneiden
der Grünen bei den Regionalwahlen in Frankreich, in: Lendemains 2004,
Nr. 114/115, S. 112-117.

Wolfgang Asholt, Professur für Romanische Literaturwissenschaft


an der Universität Osnabrück, Gastprofessuren in Orléans und Paris IV-
Sorbonne, Mitglied des Graduiertenkollegs ıEuropäische Integration„, Mit-
projektleiter ıReisen zwischen Berlin – Paris – Moskau„ (gefördert durch
die VW-Stiftung), Mitherausgeber von Lendemains und des Frankreich
Jahrbuchs. Forschungsschwerpunkte: Europäische Avantgarde-Bewegun-
gen, französische und spanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts,
Reiseliteratur. Letzte Buchveröffentlichungen: Der Blick vom Wolkenkrat-
zer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/
Atlanta 2000 (Avantgarde Critical Studies Nr. 14). (Hg. gem. mit W.
Fähnders); Unruhe und Engagement. Blicköffnungen für das Andere, Biele-
feld 2004 (Hg. gem. mit R. Reinecke, E. Schütz u. H. Weber).

Niels Beckenbach, Prof. Dr., Dipl.-Soziologe, Promotion 1975, Ha-


bilitation im Fach Soziologie 1980, jeweils an der FU Berlin; Empirische
Forschungen zur ıTechnisch-wissenschaftlichen Intelligenz„ und zu den
ıZwei Kulturen„; zu Industriearbeit und Technikkultur; zur politischen Kul-
797

tur im Nachkriegsdeutschland und zu zeitdiagnostischen Fragen der bun-


desrepublikanischen Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart. Veröf-
fentlichungen (Auswahl): Industriesoziologie (1991); Auf der Wacht für die
DDR (Dok.-Film, NDR 2000); The Imaginary Foe (1996); Vitrine, Triom-
phe, Miroir. Les Métamorphoses de lÊObjet Industriel (2000); Alle Gewalt
geht vom Volke aus (2003).

François Beilecke, Dr. rer. pol., Diplom-Romanist und Politikwis-


senschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Gesellschafts-
wissenschaften der Universität Kassel. Studium in Kassel und Paris; Promo-
tion 2002. Seit 1994 Redaktionsmitglied der Zeitschrift Lendemains. Veröf-
fentlichungen (Auswahl): Die Form der ısociabilité intellectuelle„ am Bei-
spiel der Union pour la Vérité 1918 -1939, in: Frankreich-Jahrbuch 1998,
Opladen 1998, S. 105-120; Intellektuelle, Kultureliten und Kulturzeitschrif-
ten in der Weimarer Republik: Konzepte und Forschungsperspektiven, in:
Klaus-Dieter Weber (Hg.): Verwaltete Kultur oder künstlerische Freiheit?
Momentaufnahmen aus der Weimarer Republik, Kassel 2002, S. 289-305;
Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer In-
tellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt/ M. 2003; mit Nicolas Hubé
(Hg.): Die französischen Regionalwahlen 2004 als nationaler Test für Regie-
rung und Parteien, in: Lendemains 2004, Nr. 114/115, S. 70-145.

Ulrich Brand, Dr., Hotelfachmann und Politikwissenschaftler, Promo-


tion an der Universität Frankfurt/M. 2000 mit einer Arbeit zum Verhältnis
von Nichtregierungsorganisationen, Staat und ökologischer Krise; von 2000 -
2003 Mitarbeiter in einem von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt
zu internationaler Biodiversitätspolitik, seit 2001 Hochschulassistent am
Fachgebiet Globalisierung und Politik der Universität Kassel, arbeitet derzeit
an seiner Habilitation mit dem Arbeitstitel ıKritische Theorie internationaler
Politik„. Publikationen (Auswahl): Gegen-Hegemonie. Perspektiven globali-
sierungskritischer Strategien (2005); Postfordistische Naturverhältnisse. Kon-
flikte um genetische Ressourcen und die Internationalisierung des Staates
(mit Christoph Görg, 2003); Fit für den Postfordismus? Theoretisch-politische
Perspektiven der Regulationstheorie (Hg. mit Werner Raza, 2003); Global
Governance. Alternative zur neoliberalen Globalisierung? (mit Alfred
Brunnengräber, L. Schrader, Chr. Stock und P. Wahl, 2000).
798 Über die Autorinnen und Autoren

Heinz Bude, Prof. Dr., Soziologe, Promotion 1986 an der Technischen


Universität Berlin und Habilitation 1990 an der Freien Universität Berlin;
seit 1992 Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und seit
1998 dort Leiter des Bereichs ıDie Gesellschaft der Bundesrepublik„ und
seit 2001 Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Publika-
tionen (Auswahl): Deutsche Karrieren, Frankfurt/ M. 1987; Bilanz der Nach-
folge: Die Bundesrepublik und der Nationalsozialismus, Frankfurt/ M. 1992;
Das Altern einer Generation, Frankfurt/ M. 1995; Die ironische Nation,
Hamburg 1999; Generation Berlin, Berlin 2001; Lebenskonstruktionen, i.E.

Dagmar Bussiek, Dr., Historikerin; Promotion an der Universität Kas-


sel 2000 mit einer Arbeit über die ıNeue Preußische Zeitung„ (ıKreuzzei-
tung„) 1848-1892; 2001 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem For-
schungsprojekt ıGeschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutsch-
land 1937 bis 1961„ an der Universitätsklinik Erlangen-Nürnberg; seit 2003
wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Ge-
schichte der Universität Kassel; Habilitationsprojekt zum Thema ıBenno Rei-
fenberg (1892-1970). Eine biographische Studie„. Publikationen (Auswahl):
ıMit Gott für König und Vaterland!„ Die Neue Preußische Zeitung (Kreuz-
zeitung) 1848 bis 1892, Münster u.a. 2002; zusammen mit Rolf Castell, Jan
Nedoschill und Madeleine Rupps: Die Geschichte der deutschen Kinder-
und Jugendpsychiatrie 1937 bis 1961, Göttingen 2003; Die Stimme der ıUl-
trarechten„: Die Kreuzzeitung 1881-1892, in: Das konservative Intellektuellen-
Milieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890 -1960), hg.
von Michel Grunewald und Uwe Puschner in Zusammenarbeit mit Hans
Manfred Bock, Bern 2003, S. 49- 67.

Corine Defrance, Dr. habil., Historikerin am Centre National de la


Recherche Scientifique (CNRS, Institut IRICE/ Paris) und wissenschaftliche
Mitarbeiterin bei der Editionskommission der französischen diplomatischen
Akten des französischen Außenministeriums; ehemalige Stipendiatin des
Instituts für Europäische Geschichte (Mainz 1993) und der Alexander-von-
Humboldt-Stiftung (Bonn 1995). Publikationen: La politique culturelle de la
France sur la rive gauche du Rhin, 1945-1955, Strasbourg 1994; Les Alliés
occidentaux et les universités allemandes, 1945-1949, Paris 2000 ; mit Ulrich
799

Pfeil (Hg.): Le Traité de lÊÉlysée et les relations franco-allemandes, 1945 –


1963 – 2003, Paris 2005; dies. (Hg.): Der Elysée-Vertrag und die deutsch-
französischen Beziehungen 1945 – 1963 – 2003, München 2005.

Klaus Große Kracht, Dr., Historiker, Promotion an der Universität


Bielefeld sowie in einem co-tutelle-Verfahren an der Ecole des Hautes
Etudes en Sciences Sociales (Paris) 2000 mit einer Arbeit über Bernhard
Groethuysen; von 1999 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Ludwig-Maximilians-Universität München, seit 2001 wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam; Lehr-
beauftragter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt /Oder; Redak-
tionsmitglied von Zeithistorische Forschungen. Studies in Contemporary
History. Publikationen (Auswahl): Zwischen Berlin und Paris: Bernhard
Groethuysen (1880 -1946). Eine intellektuelle Biographie (2002); Die zan-
kende Zunft. Historische Kontroversen nach 1945 (2005).

Michel Grunewald, Prof. Dr., Germanist, Professor an der


Université Paul Verlaine, Metz und Leiter des Centre dÊEtudes des
Périodiques de Langue Allemande. Habilitation (doctorat dÊEtat) 1983 mit
einer Arbeit über Klaus Mann 1906-1949 (2 Bde, 1984). Publikationen
(Auswahl): Klaus Mann: Mit dem Blick nach Deutschland. Der Schrift-
steller und das politische Engagement (1985); (Hg. mit Hans Manfred
Bock) Le discours européen dans les revues allemandes / Der Europadiskurs
in den deutschen Zeitschriften 1945-1955 (2001); Moeller van den Brucks
Geschichtsphilosophie (2001); (Hg. mit Hans Manfred Bock und Uwe
Puschner) Le milieu conservateur allemand, sa presse et ses réseaux /Das
konservative Intellektuellenmilieu, seine Presse und seine Netzwerke (2003);
(Hg. mit Pierre Béhar) Frontières, transferts, échanges culturels et trans-
frontaliers (2005).

Pascale Gruson, Docteur en Sociologie (Paris, Sorbonne, 1970).


Chercheur CNRS (depuis 1972) au Centre dÊEtude des Mouvements So-
ciaux (Ecole des Hautes Etudes en Sciences sociales, Paris). Travaux sur
lÊhistoire du système dÊenseignement supérieur français, LÊEtat enseignant
(1978), LÊenseignement supérieur et son efficacité, France, Etats-unis, URSS,
800 Über die Autorinnen und Autoren

Pologne (1983). Depuis 1990, recherches sur les développements de la


germanistique universitaire française depuis les débuts de la 3ème Républi-
que: travaux et articles sur quelques germanistes fondateurs de la disci-
pline, Charles Andler, Edmond Vermeil, Victor Basch; travaux et articles
sur la réception du romantisme allemand en France, ainsi que sur Adolf
von Harnack, Walter Rathenau, Arnold Schönberg, etc. Parmi les publica-
tions récentes: co-directeur avec Katja Marmetschke: Les études germa-
niques en France, in: Lendemains 26 (2001), 103/104, p. 8 -78; Relire
lÊEthique protestante et lÊesprit du Capitalisme, in: Esprit , juillet 2004.

Jens Flemming, Dr. phil., Prof. für Neuere und Neueste Geschichte
am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel; For-
schungsschwerpunkte: Alltagsgeschichte der Deutschen zwischen 1871 und
1945, ländliche Gesellschaft und konservative Bewegungen im 19. und 20.
Jahrhundert, Kulturgeschichte der Moderne seit dem späten 19. Jahrhun-
dert. Neuere Publikationen: ıFührersammlung„, ıpolitische Schulung„ und
ıneue Aristokratie„. Die Herrengesellschaft Mecklenburg in der Weimarer
Republik, in: Karl Christian Führer u.a. (Hg.): Eliten im Wandel. Gesell-
schaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004;
Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhält-
nisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004 (Hg.
zusammen mit P. Puppel u.a.).

Eike Hennig, Professor für Theorie und Methodologie der Politikwis-


senschaft an der Universität Kassel. Promotion zum Dr. phil. 1973 in Mar-
burg / Lahn mit einer Arbeit über Politik und Ökonomie im Nationalsozia-
lismus, Habilitation für das Fach Politikwissenschaft 1976 in Hannover zum
Thema Demokratie, Öffentlichkeit und Massenkommunikation. Ab 1968
bzw. 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter, ab 1973 Professor für Massen-
kommunikationsforschung an der Universität Frankfurt /M., seit 1981 Tätig-
keit in Kassel. Publikationen zu den Themen Nationalsozialismus, Rechts-
extremismus, politische Theorie (bes. Demokratietheorien), Wahlforschung
sowie Metropolen und Globalisierung.
801

Dietmar Hüser, Studium: Geschichts- und Politikwissenschaft, Völker-


und Europarecht an den Universitäten Bochum, Heidelberg, Paris und
Saarbrücken; Stipendien: 1985/ 86 Deutscher Akademischer Austausch-
dienst, 1990 -1991 Deutsches Historisches Institut Paris; Abschlüsse: 1986
Certificat dÊEtudes Politiques am Institut dÊEtudes Politiques de Paris, 1989
Magister, 1994 Promotion, 2002 Habilitation; Uni-Stellen und Gastdozentu-
ren: 1991-1997 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, 1997-2002 Wissenschaftlicher
Assistent, 2002-2004 Hochschuldozent an der Universität des Saarlandes;
2000 -2004 Lehrbeauftragter am Institut des Hautes Etudes Européen-
nes/ Université Robert Schuman in Straßburg; 2003/ 04 Alfred-Grosser-
Gastprofessor am Institut dÊEtudes Politiques de Paris; seit 2004 Professor
für Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert an der Universität
Kassel. Publikationen: zwei Monographien und gut fünfzig Artikel zur
deutschen und französischen Geschichte sowie zu deutsch-französischen
Beziehungen, Vergleichen und Transfers im 19. und 20. Jahrhundert; zu-
letzt erschienen: RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitge-
schichte populärer Musik und politischer Kultur, Köln 2004.

Adolf Kimmel, Professor i.R. für Politikwissenschaft, zuletzt an der


Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Politisches System Frankreichs,
Deutsch-Französische Beziehungen, Politisches System der Bundesrepublik
Deutschland, Europäische Integration. Veröffentlichungen: Der Aufstieg
des Nationalsozialismus im Spiegel der französischen Presse 1930-1933,
Bonn 1969; Die Nationalversammlung in der V. französischen Republik,
Köln etc. 1983 (frz. Ausg. Paris 1991); Länderbericht Frankreich, Bonn 2005
(Hg. mit Henrik Uterwedde); Die Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6.
Aufl., München 2005 (Hg. mit Christiane Kimmel); 1988-2003 Mithg. des
Frankreich Jahrbuchs; Mithg. der Frankreichstudien, Opladen 2000 (bisher
9 Bde); regelmäßige Chronique über Politik in der Bundesrepublik
Deutschland in: Pouvoirs (seit 1985); Die deutsch-französischen Beziehun-
gen seit 1963. Eine Dokumentation (Hg. mit Pierre Jardin), Opladen 2002
(frz. Ausg. Paris 2000).
802 Über die Autorinnen und Autoren

Gilbert Krebs, Prof. Dr., Germanist Jahrgang 1932; Studium in Nancy,


Lille und Paris (bei R. Minder, P. Grappin, Cl. David u.a.). Assistent an der
Universität Straßburg (1961-1965), Dozent an der Sorbonne (1965-1969).
Mitbegründer mit Pierre Bertaux des Institut dÊAllemand dÊAsnières (Sor-
bonne nouvelle). Daselbst tätig als Professor von 1970 bis zu seiner Emeri-
tierung 2001. Gründer des Forschungszentrums: ıSociétés et cultures des
pays de langue allemande„ und der Reihe ıPublications de lÊInstitut dÊAlle-
mand„ PIA (38 Titel ). Gastprofessur in Middlebury College (Vermont
USA) und Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz. Schwerpunkte der Lehr-
und Forschungstätigkeit: Literatur und Gesellschaft, Deutsche Geistes- und
Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, insbes. Geschichte der Ju-
gend und der Erziehung. Veröffentlichungen zur deutschen Literatur (La-
rousse des Littératures, H. Heine, Th. Fontane u.a.); zur Didaktik der Lan-
deskunde (u.a. mit H.M. Bock, La civilisation allemande, Paris 1971) und
zur deutschen Geschichte. Zuletzt: État et société en Allemagne sous le 3 e
Reich, PIA 1997 (mit G. Schneilin); Échanges culturels et relations diploma-
tiques, PIA 2004 (mit H.M. Bock)

Eva Sabine Kuntz, Dr., Politikwissenschaftlerin und Romanistin,


Studium in Heidelberg, Dijon, Paris und Rom, Promotion an der Rheini-
schen Friedrichs-Wilhelm-Universität Bonn 1997 mit einer Arbeit über
ıVogelzügen gleich kehren Sie immer wieder...„: Aspekte des Deutsch-
landbildes in der italienischen Presse nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine
Untersuchung zu Konstanz und Wandel von Stereotypen. Seit 1992 in ver-
schiedenen Funktionen im Presse- und Informationsamt der Bundesregie-
rung tätig, zuletzt als Büroleiterin des Regierungssprechers und Leiterin des
Referats ıBildung und Forschung„. Seit 2004 stellvertretende Generalsekre-
tärin des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW), seit 1. Juli 2005 Ge-
neralsekretärin des DFJW. Publikationen (Auswahl): Konstanz und Wandel
von Stereotypen. Deutschlandbilder in der italienischen Presse nach 1949
(1996); ı... potenza tedesca contro la classe e la tecnica degli ungheresi„.
Nationenbilder in Sport und Politik, in: Zibaldone 25 (1998).
803

Katja Marmetschke, Doktorandin der Politikwissenschaft mit einer


Arbeit über Edmond Vermeil am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften
der Universität Kassel; 1991-1998 Studium der Romanistik, Hispanistik und
Wirtschaftswissenschaften in Kassel, Lyon und Barcelona; 1999/2000 Sti-
pendiatin am Deutschen Historischen Institut Paris; seit 2001 Redaktions-
mitglied der Zeitschrift Lendemains. Publikationen (Auswahl): Hg. mit
Pascale Gruson: Les études germaniques en France, in: Lendemains (2001),
Nr. 103/104, S. 8 -78; Krise und Neugestaltung des DFJW in den siebziger
Jahren, in: Hans Manfred Bock (Hg.): Deutsch-französische Begegnung und
europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk
1963-2003, Opladen 2003, S. 91-122; Expliquer ou comprendre lÊAlle-
magne? Edmond Vermeils und Robert Minders Befassung mit Deutschland
im Vergleich, in: Richard Betz, Richard Faber (Hg.): Kultur, Literatur und
Wissenschaft in Deutschland und Frankreich. Zum 100. Geburtstag von
Robert Minder, Würzburg 2004, S. 77-93.

Reinhart Meyer-Kalkus, Apl.-Prof. Dr., ist Wissenschaftlicher


Koordinator am Wissenschaftskolleg zu Berlin und Außerplanmäßiger Pro-
fessor an der Universität Potsdam. Er war von 1981 an für den Deutschen
Akademischen Austauschdienst (DAAD) in Bonn und Paris tätig, bevor er
1992 an das Wissenschaftskolleg zu Berlin berufen wurde. 1998/99 war er
Research fellow am Getty Research Institute in Los Angeles. Forschungs-
schwerpunkte: Deutsche und französische Literatur (17.-20. Jahrhundert),
Literatur, Musik und Medien, Internationale Wissenschaftliche Kooperation.
Bücher: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in
Lohensteins Dramatik am Beispiel von ıAgrippina„, Göttingen 1986; Die
akademische Mobilität zwischen Deutschland und Frankreich 1925-1992,
Bonn 1994, 2. unveränd. Aufl., Bonn 1996 (Reihe Forum des DAAD, Nr.
16); Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001.

Gilbert Merlio, geb. 1934 in Douai, Frankreich, Studium der Germa-


nistik in Lille, Paris, Saarbrücken. Agrégé de lÊuniversité. 1956 -1966 Stu-
dienrat an höheren Schulen in Roubaix und Bordeaux. 1966 -1981 Assistent
und Dozent an der Universität Bordeaux III. 1981-1993 Professor an der
Universität Bordeaux III. Seit 1977 Mitglied des ıGroupe de recherche sur
804 Über die Autorinnen und Autoren

la révolution conservatrice„ (Leiter Louis Dupeux, Strasbourg II). Seit 1982


Gründungsmitglied des ıGroupe de recherche sur la culture de Weimar„
(Leiter: Gérard Raulet, Maison des sciences de lÊhomme, Paris). 1984
Gastprofessor an der Universität Hamburg. 1985 Gründer des ıCentre
dÊinformation et de recherche sur lÊAllemagne moderne et contemporaine„
(CIRAMEC Bordeaux III). 1993 -2003 Professor an der Universität Paris IV-
Sorbonne. Forschungsschwerpunkte: Die Weimarer Republik, die zwei
deutschen Diktaturen (Drittes Reich, DDR), die deutsche Kulturkritik, die
Konservative Revolution sowie Studien zu Spengler, Nietzsche, E. Jünger,
Jaspers sowie zu den deutsch-französischen Intellektuellenbeziehungen.
Letzte Veröffentlichung: Les résistances allemandes à Hitler, Paris 2003
(2. Aufl.).

Guido Müller, PD Dr., Historiker, Promotion an der Rheinisch-West-


fälischen Technischen Hochschule Aachen 1989 mit einer Arbeit über den
Islamwissenschaftler und preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker;
1997 Habilitation an der Universität Aachen mit der Arbeit Deutsch-franzö-
sische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-
Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund im Rahmen
deutsch-französischer Verständigungsbewegungen 1924-1933, Vertreter einer
Professur für Geschichte Westeuropas an der Universität Tübingen;
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München;
Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart. Publikationen (Auswahl): (Hg.)
Deutschland und der Westen: Internationale Beziehungen im 20. Jh.
Festschrift für Klaus Schwabe zum 65. Geburtstag (1998); Die Geschichte der
internationalen Beziehungen in Erneuerung und Erweiterung (2004);
Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg (2005).

Lothar Peter, Prof. für Soziologie an der Universität Bremen; Promo-


tion an der Universität Marburg 1971, Assistent an der Universität Paris
1971/ 72; Mitglied des Instituts für Soziologie und des Instituts Arbeit und
Wirtschaft der Universität Bremen. Publikationen (Auswahl seit 1990):
Dogma oder Wissenschaft? Marxistisch-leninistische Soziologie und Sys-
temverfall in der DDR (1991); Rüstungskonversion in der Region (mit C.
Butterwegge, 1997); Das Ärgernis Bourdieu, in: Das Argument 1999, 231;
805

Warum und wie betreibt man Soziologiegeschichte? (2001); Alte und neue
Subjektivität von Arbeit, in: Sozial. Geschichte 2003, 1; Pierre Bourdieus
Theorie der symbolischen Gewalt, in: M. Steinrücke: Pierre Bourdieu
(2004); Französische Soziologie der Gegenwart (mit S. Moebius, 2004); Von
den USA lernen? Zur Zukunft der Arbeits- und Sozialpolitik in Deutsch-
land (mit A. Holtrup, 2005).

Ulrich Pfeil, PD Dr., Historiker und Germanist; 1995 Promotion an der


Universität Hamburg mit einer Arbeit über den Aufstieg der NSDAP in
Heide/ Holstein; 1996 -2002 DAAD-Lektor am Institut dÊAllemand dÊAsniè-
res (Paris III); 2002 Habilitation an der Universität Lille 3; 2002-2005 DFG-
Stipendiat und Gastwissenschaftler am DHI Paris; seit 2005 Fachreferent für
Zeitgeschichte nach 1945 am DHI Paris. Publikationen: (Hg.): La RDA et
lÊOccident 1949-1990, Asnières 2000; (Hg.): Die DDR und der Westen.
Transnationale Beziehungen 1949-1989, Berlin 2001; ıComme un coup de
tonnerre dans un ciel dÊété.„ Französische Reaktionen auf den 17. Juni
1953. Verlauf – Perzeptionen – Interpretationen, Berlin 2003; Die ıande-
ren„ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-
1990, Köln 2004; mit Corine Defrance (Hg.): Le Traité de lÊÉlysée et les
relations franco-allemandes 1945 – 1963 – 2003, Paris 2005; mit Corine De-
france (Hg.): Der Elysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehun-
gen 1945 – 1963 – 2003, München 2005.

Robert Picht, Professor Dr., Soziologe, Promotion 1972 an der Sor-


bonne Paris unter Leitung von Pierre Bourdieu mit einer bildungssoziologi-
schen Arbeit Les étudiants germanistes et lÊAllemagne ; 1965-1972 Mitarbei-
ter der Pariser DAAD Zweigstelle und Lektor an Pariser Hochschulen,
1968 -1972 an der ENA, 1972-2000 Leiter des Deutsch-Französischen Insti-
tuts in Ludwigsburg. Seit 1988 zunächst Visiting Professor am Europakolleg
in Brügge, dort seit 1994 Leiter des interdisziplinären Programms, seit 2001
Hendrik Brugmans Chair for Interdisciplinary Studies, 2002 Rektor ad inte-
rim, 2004/ 2005 Leiter des Warschauer Campus in Natolin. Seit 1990 Hono-
rarprofessor für Soziologie der Internationalen Beziehungen an der Fern-
hochschule Hagen. Zahlreiche Funktionen im Stiftungsbereich, u.a. seit
2000 Präsident des Kuratoriums der Allianz Kulturstiftung.
806 Über die Autorinnen und Autoren

Nicole Racine, Directrice de recherche à la Fondation nationale des


sciences politiques (Paris). Après une thèse de doctorat (Paris 1963) a publié
avec Louis Bodin, Le parti communiste français pendant lÊentre-deux-
guerres, Paris 1972. Responsable de la rubrique des Intellectuels dans le
Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier français. IVe partie. 1914-
1939. Tomes 17 à 44 (dir. Jean Maitron et Claude Pennetier, 1982-1997.
Edition cédérom, 1997), a collaboré à des ouvrages collectifs sur la mémoire
du communisme, du gaullisme, ainsi quÊà des biographies collectives de
Jean-Richard Bloch, Jean Cassou, Jean Cavaillès, Jean Guéhenno, Georges
Friedmann. A animé avec Michel Trebitsch de 1989 à 2001 le Groupe de
recherche sur lÊhistoire des intellectuels à lÊInstitut dÊhistoire du temps
présent (CNRS) et dirigé avec lui ıSociabilités intellectuelles. Lieux, milieux,
réseaux„ et ıIntellectuels engagés dÊune guerre à lÊautre„ (Cahiers de lÊIHTP,
20, 1992; 26, 1994), Intellectuelles. Du genre en histoire des intellectuels,
Bruxelles 2004. Elle sÊest intéressée à lÊhistoire des revues et des réseaux
européens avec des contributions à lÊouvrage Entre Locarno et Vichy. Les
relations culturelles franco-allemandes dans les années trente (dir. Hans
Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch, Paris 1993) et Les
intellectuels et lÊEurope de 1945 à nos jours (dir. Andrée Bachoud, Josefina
Cuesta, Michel Trebitsch, Paris 2000). Prépare une biographie politique de
Paul Rivet et est membre du Groupe de travail des archives des décades de
Pontigny-Cerisy.

Detlef Sack, Dr. rer. pol., wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich


Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. Studium der Politikwis-
senschaft, Geschichte und Germanistik in Hamburg und Kassel. Seit 2003
wissenschaftliche Forschungstätigkeit am Wissenschaftszentrum Berlin. In
2004 Visiting Professor an der Rutgers University, Newark. Forschungs-
schwerpunkte: Stadt- und Regionalpolitik sowie Modernisierung im Öffent-
lichen Sektor im internationalen Vergleich, Politikfeldanalyse in der Ver-
kehrspolitik, Demokratietheorie und Wahlentwicklung. Jüngste Buchpubli-
kationen: Hg. mit Gerd Steffens: Gewalt statt Anerkennung? Aspekte des
11.9.2001 und seiner Folgen, Frankfurt /M. 2003; Hg. mit Maria Oppen und
Alexander Wegener: Abschied von der Binnenmodernisierung? Kommu-
nen zwischen Wettbewerb und Kooperation, Berlin 2005.
807

Christoph Scherrer, Volkswirt und Politologe, lehrt ıGlobalisierung


& Politik„ an der Universität Kassel. Er leitet zwei englischsprachige
Masterprogramme zur internationalen politischen Ökonomie. Er war u.a.
Kennedy-Memorial Fellow an der Harvard University. Neuere Buchveröf-
fentlichungen: Surviving Globalization? Perspectives for the German Eco-
nomic Model (Hg. mit St. Beck u. F. Klobes, Berlin 2005); Zu wessen Dien-
sten? Öffentliche Aufgaben unter Globalisierungsdruck (mit Thomas Fritz,
Hamburg 2002); Nach der New Economy: Perspektiven der deutschen
Wirtschaft (mit St. Beck, G. Caglar, Münster 2002); Global Rules for Trade:
Codes of Conduct, Social Labeling, and WorkersÊ Rights Clauses (mit
Thomas Greven, Münster 2001); Globalisierung wider Willen? Die Durch-
setzung liberaler Außenwirtschaftspolitik in den USA (Berlin 1999).

Gerd Steffens, Prof. Dr. phil., studierte Politologie, Geschichte und


Germanistik in Heidelberg und Hamburg. Lehrt seit 1998 Politische Bil-
dung und ihre Didaktik am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der
Universität Kassel. Mithg. des Jahrbuchs für Pädagogik. Veröffentlichungen
über Zusammenhänge von Gesellschafts- und Bildungstheorie und Kritik der
Didaktik. Neueste Veröffentlichungen (Auswahl): (Hg. mit Detlef Sack)
Gewalt statt Anerkennung? Aspekte des 11.9.2001 und seiner Folgen,
Frankfurt /M. u.a. 2003; (zusammen mit Edgar Weiß) Globalisierung und
Bildung, Jahrbuch für Pädagogik 2004.

Hansgerd Schulte, Prof. Dr. phil., studierte Romanische Philologie,


Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie u.a. in Freiburg/
Br., Grenoble, Paris, Madrid und Florenz; 1957 Promotion; zahlreiche
Lehrtätigkeiten an deutschen und französischen Universitäten, ab 1990 auch
am Institut dÊEtudes Politiques in Paris; 1972-1987 Präsident des Deutschen
Akademischen Austauschdienstes, Mitbegründer (mit Pierre Bertaux) und
ab 1991 Direktor des Institut dÊAllemand dÊAsnières (Paris III - Sorbonne
Nouvelle); Offizier der Ehrenlegion und Träger des Großen Bundesver-
dienstkreuzes. Publikationen u.a.: El desengaño: Wort und Thema in der
spanischen Literatur des Goldenen Zeitalters (1969); Hg.: Spiele und Vor-
spiele (1978) sowie zahlreiche Beiträge zur deutsch-französischen Wissen-
schaftskooperation; Mithg. der Memoiren (2000) und Briefe (2001) von Pierre
Bertaux.
808 Über die Autorinnen und Autoren

Guido Thiemeyer, PD, Dr., geb. 1967, Hochschuldozent für Neuere


und Neueste Geschichte an der Universität Kassel, z.Z. Vertreter des Lehr-
stuhls für europäische Geschichte an der Universität Siegen. 1997 Promo-
tion an der Universität zu Köln mit einer Arbeit über die Anfänge der Ge-
meinsamen Europäischen Agrarpolitik. Habilitation 2004 an der Universität
Kassel mit einer Arbeit über währungspolitische Kooperation im europäi-
schen Staatensystem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Johannes Thomas, Univ.-Prof., Dr., Literatur- und Landeswissen-


schaftler, Promotion an der Universität zu Köln 1967 mit einer Arbeit über
Brunetto Latinis Übersetzungen aus dem Lateinischen und die Anfänge des
Schriftitalienischen; 1968 -1974 Wiss. Assistent am Institut für Romanische
Philologie der RWTH Aachen; dort 1974 Habilitation mit der Schrift Stu-
dien zu einer Poetik der klassischen französischen Tragödie ; 1976 -1978
Wiss. Rat und Professor für Romanische Philologie an der RWTH Aachen;
seit 1978 Professor für Romanistik an der Universität Paderborn; 1979
Gastwissenschaftler am Collège de France bei Michel Foucault; seit 1993
Chefredakteur der Zeitschrift Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-fran-
zösischen Dialog. Publikationen (Auswahl): Engel und Leviathan. Neue
Philosophie in Frankreich als nachmarxistische Politik und Kulturkritik
(1979); mit St. Gross: Littérature nationale? LÊexemple de la Belgique fran-
cophone (1989); Logik des Zufalls. Kunstkritik im Kontext von Moderne,
Postmoderne und Antike (1997).

Michel Trebitsch, (1948 -2004), agrégé dÊhistoire, von 1988 bis 2004
Mitarbeiter am Institut dÊHistoire du Temps Présent (IHTP) am Centre
National de Recherches Scientifiques (CNRS) in Paris; dort mit Nicole
Racine Leiter des von Jean-François Sirinelli gegründeten Groupe de Re-
cherches sur lÊHistoire des Intellectuels (GRHI); Veranstalter von zahlrei-
chen Kolloquien, u.a. über die deutsch-französischen Kulturbeziehungen,
über europäische Kulturzeitschriften, über Intellektuelle und Europa sowie
über epistemologische Fragen in der Geschichtswissenschaft. Zahlreiche
Forschungen und Publikationen über Intellektuelle in den zwanziger und
dreißiger Jahren, u.a. über Henri Lefebvre und Jean-Richard Bloch. Aus-
gewählte Veröffentlichungen: mit Nicole Racine (Hg.): Sociabilités intellec-
809

tuelles: lieux, milieu, réseaux, in: Cahiers de lÊIHTP (1992), Nr. 20; mit
Marie-Christine Granjon (Hg.): Pour une histoire comparée des intellectuels,
Bruxelles 1998; Jean-Richard Bloch ou lÊécriture et lÊaction, Paris 2002.

Joachim Umlauf, Dr. phil., Romanist und Germanist, promoviert


1993 in Frankfurt /M. mit einer Arbeit zu Blaise Cendrars und Robert De-
launay, Lektor für Germanistik an der Universität Venedig, an der Sor-
bonne Nouvelle, an der Maison des sciences de lÊhomme, Paris; 1994 Ent-
sandter am Goethe-Institut Prag. 1996 -2000 Leiter des Heinrich-Heine-
Hauses in Paris, ab 2000 Leiter der Gruppe ıÜberregionale Programme„
im DAAD in Bonn, ab 2004 Leiter der Gruppe ıWesteuropa, Nordame-
rika„. Übersetzungen aus dem Französischen, Publikationen zu französi-
scher Literatur, Auswärtiger Kultur- und Sprachenpolitik. 2005 Gastdozen-
tur an der Sorbonne Nouvelle, Paris.

Johannes Weiß, Dr. phil., ordentlicher Professor für Soziologie an


der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie,
Philosophie der Sozialwissenschaften, Kultursoziologie. Veröffentlichungen
u.a.: Weber and the Marxist World (London 1986, Neuausg. 1998); Max
Webers Grundlegung der Soziologie (2. Aufl., München u.a. 1992); Ver-
nunft und Vernichtung. Zur Philosophie und Soziologie der Moderne
(Opladen 1993); Handeln und handeln lassen. Über Stellvertretung (Opla-
den 1998); (Hg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin
Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft (Konstanz 2001).

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