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Howard Phillips

Lovecraft

Azathoth

Vermischte Schriften

In Azathoth wurden Erzählungen, Fragmente, Frühe Geschichten und


Essays von H. P. Lovecraft zusammengestellt. Es sind nicht ausschließlich
seine eigenen Werken, sondern auch Überarbeitungen und posthume
Gemeinschaftsarbeiten. Dazu muss der Leser wissen, Lovecraft war zwar
ein ungeselliger allein lebender Mensch, aber er hatte sehr regen
Briefverkehr mit zahlreichen Schriftstellern, die seinen Werken
nacheiferten. Aus diesem Pool von Werken ist dieses Büchlein
zusammengestellt.
Der interessierte Leser findet im Kapitel Erzählungen dreizehn spannende
Kurzgeschichte, an denen Lovecraft aktiv mitgewirkt hat, die aber im Kern
von anderen Autoren stammen. Diese sind wiederum in ihrem Schaffen
stark von Lovecraft beeinflusst. Deshalb ist das Büchlein keine
Mogelpackung, sondern eine Fundgrube zahlreicher gruseliger Ideen, die
eng in Verbindung mit Lovecrafts Lebenswerk stehen.
ISBN: 351838127X
Suhrkamp
Erscheinungsdatum: 1989

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!


Inhalt

Überarbeitungen und posthume Gemeinschaftsarbeiten......... 4


Der Mann aus Stein............................................................. 5
Das unsichtbare Ungeheuer .............................................. 26
Vier Uhr ............................................................................ 36
Die geliebten Toten........................................................... 43
Taub, stumm und blind ..................................................... 58
»Bis zur Neige«................................................................. 75
Das Grauen auf dem Gottesacker...................................... 88
Das Tagebuch des Alonzo Typer .................................... 108
Die elektrische Hinrichtungsmaschine............................ 138
Wentworths Tag.............................................................. 167
Der Fischer von Falcon Point.......................................... 182
Das Hexenloch ................................................................ 189
Innsmouth-Ton................................................................ 209
Fragmente............................................................................ 225
Azathoth .......................................................................... 226
Der Sproß ........................................................................ 228
Das Buch ......................................................................... 234
Das Ding im Mondlicht................................................... 239
Das uralte Volk ............................................................... 242
Frühe Geschichten............................................................... 253
Die Dichtkunst und die Götter ........................................ 254
Die Straße........................................................................ 263
Das Verschwinden des Juan Romero.............................. 271
Prosagedichte ...................................................................... 281
Erinnerung....................................................................... 282
Ex Oblivione ................................................................... 284
Was der Mond bringt ...................................................... 287
Essays.................................................................................. 290
Autobiographie. Einige Anmerkungen zu einer Null ..... 291
Anmerkungen zum Schreiben unheimlicher Erzählungen
......................................................................................... 306
Einige Anmerkungen zu interplanetarischen Erzählungen
......................................................................................... 312
Anmerkungs- und Notizbuch .............................................. 322
I. Vorschläge zum Geschichtenschreiben ....................... 323
II. Elemente der unheimlichen Geschichte und Typen der
unheimlichen Geschichte ................................................ 328
III. Eine Aufstellung gewisser Grundformen des Grauens,
die in unheimlicher Literatur wirkungsvolle Verwendung
finden .............................................................................. 329
IV. Aufstellung erster Einfälle, die denkbaren
unheimlichen Geschichten als Motivation dienen können
......................................................................................... 334
Lovecrafts Notizbuch...................................................... 335
Notizbuch ........................................................................ 336
Geschichte und Chronologie des Necronomicons .......... 361
Lord Dunsany und sein Werk ......................................... 364
Überarbeitungen und posthume
Gemeinschaftsarbeiten

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Der Mann aus Stein1

Hazel Heald und H. P. Lovecraft

Ben Hayden galt schon immer als hartnäckiger Bursche, und


sobald er von den merkwürdigen Statuen in den oberen
Adirondacks gehört hatte, konnte ihn nichts davon abhalten, sich
aufzumachen, um der Sache nachzugehen. Ich war seit Jahren
sein engster Freund, und unsere Freundschaft, unverbrüchlich
wie die von Dämon und Phintias, machte uns allzeit
unzertrennlich. Als daher Ben fest entschlossen war
aufzubrechen, mußte ich mittrotten wie ein treuer Collie.
»Jack«, sagte er, »du kennst doch Henry Jackson, der auf der
anderen Seite von Lake Placid in einer Hütte hauste, weil er
diesen blöden Schatten auf dere Lunge hatte? Also, der ist
unlängst fast geheilt zurückgekehrt, hatte aber eine Menge über
irgendwelche teuflisch merkwürdigen Umstände dort oben zu
erzählen. Er ist ganz plötzlich auf die Sache gestoßen, ist sich
aber noch nicht sicher, daß es mehr ist als nur ein Fall von
bizarrer Bildhauerkunst; aber wie auch immer, ihm ist nicht
ganz wohl bei der Sache.
Offenbar ging er eines Tages auf Jagd und stieß dabei auf eine
Höhle, vor der etwas hockte, was wie ein Hund aussah. Gerade
als er erwartete, der Hund würde bellen, sah er nochmals hin
und erkannte, daß er gar nicht lebendig war. Es war ein Hund
aus Stein - das vollkommene Abbild eines Hundes bis zum
kleinsten Barthaar, so daß ihm die Entscheidung schwerfiel, ob
es sich um eine besonders raffinierte Plastik oder ein
versteinertes Tier handelte. Er fürchtete sich fast, den Hund zu
berühren.

1
Rhoades' Übersetzung von Vergils Epos ist gereimt und wurde erstmals um
die Jahrhundertwende veröffentlicht.

-5-
Als er es jedoch wagte, erkannte er, daß er tatsächlich aus
Stein war.
Nach einer Weile riß er sich zusammen und betrat die Höhle -
und dort wurde ihm eine noch größere Überraschung zuteil.
Unweit des Höhleneingangs befand sich eine weitere Steinfigur
- oder was danach aussah -, aber diesmal die eines Mannes. Er
lag auf dem Boden, trug Kleider und hatte einen eigenartig
lächelnden Gesichtsausdruck. Diesmal hielt sich Henry nicht
damit auf, die Figur zu betasten, sondern eilte geradewegs ins
Dorf, nach Mountain Top. Natürlich stellte er Fragen - aber das
brachte ihn nicht viel weiter. Er bemerkte, daß er ein heikles
Thema berührte, denn die Einheimischen schüttelten bloß den
Kopf, falteten die Hände und murmelten etwas von einem
"Verrückten Dan" - wer immer das war.
Für Jackson war das zuviel, daher kehrte er Wochen früher als
geplant heim. Er hat mir davon erzählt, weil er weiß, wie sehr
ich Seltsames liebe - und merkwürdigerweise war ich imstande,
mich an etwas zu erinnern, das sich ziemlich mühelos mit seiner
Geschichte vereinbaren ließ. Erinnerst du dich an Arthur
Wheeler, den Bildhauer, der solch ein Realist war, daß man ihn
nur noch "einen tüchtigen Photograph" zu nennen begann? Ich
glaube, du kanntest ihn flüchtig. Also, um der Wahrheit die Ehre
zu geben, auch er ist in jenem Teil der Adirondacks gelandet.
Blieb lange Zeit dort und verschwand dann. Man hörte nie mehr
etwas von ihm. Wenn jetzt in der Gegend hier Steinstatuen
auftauchen, die wie Menschen und Hunde aussehen, meine ich,
das könnte seine Arbeit sein - egal, was die Landbevölkerung
darüber sagt oder besser nicht sagt. Natürlich ist es leicht
möglich, daß ein Kerl mit Jacksons Nerven über derlei aus dem
Häuschen gerät oder davonläuft: ich hätte jedoch eine ganze
Reihe Untersuchungen angestellt, ehe ich davongelaufen wäre.
Also, Jack, ich fahre jetzt dorthin, um meine Nase in diese
Sachen zu stecken - und du begleitest mich. Es wäre wirklich
eine feine Sache, Wheeler zu finden - oder etwas von seinen

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Arbeiten. Auf jeden Fall wird uns beiden die Bergluft guttun..
Und so kamen wir kaum eine Woche später, nach einer langen
Bahnreise und einer holprigen Busfahrt durch eine
atemberaubend schöne Landschaft im goldenen Sonnenschein
eines späten Juniabends, in Mountain Top an. Das Dorf bestand
lediglich aus einigen kleinen Häusern, dem Hotel und dem
Krämerladen, vor dem unser Bus hielt; wir wußten, daß sich der
Laden möglicherweise als Brennpunkt für allerlei Information
erweisen würde. Natürlich hatte sich die übliche Gruppe von
Müßiggängern um die Stufen versammelt, und als wir uns als
Erholungsuchende vorstellten, die eine Unterkunft brauchten,
bekamen wir eine Menge Empfehlungen.
Obwohl wir geplant hatten, mit unseren Nachforschungen erst
am nächsten Tag zu beginnen, konnte es sich Ben nicht
verkneifen, einige vage, vorsichtige Fragen zu stellen, als er die
senile Geschwätzigkeit eines der schlechtgekleideten
Müßiggänger bemerkte. Jacksons frühere Erfahrung hatte ihn
gelehrt, daß es sinnlos wäre, mit Anspielungen auf die seltsamen
Statuen zu beginnen; er beschloß, Wheeler als einen Bekannten
zu erwähnen, an dessen Schicksal wir füglich mit Recht
interessiert sein durften.
Den Leuten schien es nicht recht zu sein, als Sam mit dem
Schnitzen aufhörte und zu reden begann, auch wenn sie wenig
Grund zur Beunruhigung hatten. Aber selbst dieser barfüßige
alte Bergschrat verstummte sofort, als er Wheelers Namen hörte,
und nur mit viel Schwierigkeiten konnte ihm Ben einige
zusammenhängende Worte entlocken.
»Wheeler?« hatte er schließlich geschnauft. »O ja, der Kerl,
der die ganze Zeit über Felsen sprengte und Statuen daraus
machte. Ihr habt ihn also gekannt, he? Da gibt's nich' viel, was
wir euch erzählen können, und vielleich' ist das schon zuviel. Er
wohnte in der Hütte des Verrückten Dan in den Bergen - aber
nicht sehr lang. Bis er nichts mehr wollte - das heißt von Dan.
War 'n Süßholzraspler und schwänzelte um Dans Frau herum,
-7-
bis es der alte Teufel merkte. Hatte sich in sie verknallt, glaub'
ich.
Hat sich dann plötzlich davongemacht, und seither hat
niemand mehr was von ihm gesehen. Dan muß ihm den Wind
von vorn gegeben haben - 'n übler Bursche, dieser Dan, wenn
man ihn zum Feind hat.
Besser, ihr haltet euch fern von ihr, Jungs, denn in diesem
Teil der Berge nützt sie euch nichts. Dans Laune wurde immer
schlechter, er hat sich nicht mehr blicken lassen. Seine Frau
auch nicht. Ich vermute, er hat sie irgendwo eingesperrt, damit
ihr kein anderer schöne Augen machen kann!«
Als Sam nach einigen weiteren Bemerkungen mit dem
Schnitzen fortfuhr, wechselten Ben und ich einen Blick. Hier
gab es gewiß eine Spur, die man gründlich verfolgen mußte. Wir
beschlossen, im Hotel abzusteigen, und richteten uns so schnell
wie möglich ein; für den nächsten Tag planten wir, uns in die
rauhe Bergwelt zu stürzen.
Gegen Sonnenaufgang brachen wir auf. Jeder trug einen
Rucksack, beladen mit Vorräten und Gerätschaften, die wir für
nötig hielten. Der vor uns liegende Tag hatte den beinahe
anregenden Hauch einer Verlockung, mit einem vagen Unterton
des Unheimlichen. Unsere holprige Bergstraße stieg sehr bald in
vielen Windungen steil an, so daß uns binnen kurzem die Füße
tüchtig schmerzten.
Nach rund zwei Meilen verließen wir die Straße, überquerten
zur Rechten eine Steinmauer in der Nähe einer großen Ulme und
schlugen einen Querweg zu einem steileren Hang ein, wie uns
die Karte und die Erläuterungen, die Jackson für uns vorbereitet
hatte, verrieten. Es war ein mühsames, dorniges Unterfangen,
aber wir wußten, daß die Höhle nicht weit sein konnte.
Schließlich stießen wir ganz unvermutet auf die Öffnung - eine
dunkle, von Büschen bewachsene Felsspalte, in der der Boden
plötzlich anstieg. Daneben, vor einem niedrigen Tunnel im

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Gestein, stand steif eine kleine, schweigende Gestalt - als
wetteifere sie mit der eigenen unheimlichen Versteinerung.
Es war ein grauer Hund - oder eine Hundestatue, und als
unser beider gleichzeitiger Aufschrei erstarb, wußten wir kaum,
was wir denken sollten. Jackson hatte nicht übertrieben, und wir
konnten nicht glauben, daß es einer Bildhauerhand gelungen
war, eine solche Vollkommenheit hervorzubringen. Jedes Haar
des prächtigen Fells des Tieres war deutlich zu erkennen. Die
Haare auf dem Rücken waren gesträubt, als hätte ein
unbekanntes Wesen das Tier überrascht. Ben, der schließlich
halb liebkosend das zarte steinerne Fell berührte, stieß einen
Ausruf aus.
»Großer Gott, Jack, das kann keine Statue sein! Schau her -
all die kleinen Einzelheiten, und wie das Haar ausgerichtet ist!
Da ist nichts von Wheelers Technik zu sehen! Das ist ein echter
Hund aber nur der Himmel weiß, wie er in diesen Zustand
geraten ist.
Ganz wie Stein - faß ihn selbst an. Glaubst du, daß es hier ein
seltenes Gas gibt, das zuweilen aus der Höhle austritt und
tierischem Leben das antut? Wir hätten uns genauer mit den
örtlichen Sagen befassen sollen. Und wenn das ein echter Hund
ist - oder ein echter Hund war -, dann muß auch der Mann
drinnen ein echter Mensch sein.«
Mit einer guten Portion Ehrfurcht - fast auch Furcht - krochen
wir schließlich auf Händen und Füßen durch den
Höhleneingang, Ben voran. Die enge Stelle war kaum einen
Meter lang, dahinter weitete sich die Grotte allseits und bildete
eine feuchte, im Dämmerlicht liegende Kammer, deren Boden
mit Schutt und Geröll bedeckt war. Eine Zeitlang konnten wir
kaum etwas ausmachen, aber als wir uns erhoben und den Blick
schärften, begannen wir allmählich in der tieferen Dunkelheit
vor uns eine hingestreckte Gestalt erkennen. Ben fummelte an
seiner Taschenlampe herum und zögerte einen Augenblick, ehe
er den Lichtschein auf die hingestreckte Gestalt richtete. Wir
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hatten kaum einen Zweifel, daß dieses Steinding einst ein
Mensch gewesen war, und etwas an dieser Vorstellung entnervte
uns beide.
Im Licht von Bens Taschenlampe erkannten wir, daß der
Gegenstand auf der Seite lag, den Rücken uns zugewandt. Er
bestand eindeutig aus demselben Material wie der Hund
draußen, war jedoch in die verfaulten und nicht versteinerten
Überreste eines groben Sportanzuges gekleidet. Da wir auf einen
Schock vorbereitet waren, näherten wir uns gelassen, um das
Wesen zu untersuchen. Ben ging auf die andere Seite hinüber,
um einen Blick auf das abgewandte Gesicht zu werfen. Beide
konnten wir unmöglich auf das vorbereitet sein, was Ben sah,
als er das Licht auf diese Steinzüge fallen ließ. Daß er aufschrie,
war völlig verständlich, und unwillkürlich mußte ich in den
Schrei einstimmen, als ich an seine Seite sprang und den
Anblick mit ihm teilte. Und doch war es nichts Entsetzliches
oder an sich Erschreckendes. Es war bloß eine Sache des
Erkennens, denn ohne den geringsten Schatten eines Zweifels
war diese kalte Felsengestalt mit dem halb erschreckten, halb
bitteren Ausdruck unser alter Bekannter Arthur Wheeler.
Irgendein Instinkt trieb uns stolpernd und kriechend aus der
Höhle und den unwegsamen Hang hinunter bis zu einem Punkt,
wo wir den ominösen Steinhund nicht sehen konnten. Wir
wußten kaum, was wir denken sollten, denn unser Gehirn
schwirrte von Vermutungen und Mutmaßungen. Ben, der
Wheeler gut gekannt hatte, war besonders schockiert und schien
einige Fäden zu verknüpfen, die mir entgangen waren.
Als wir auf dem grünen Abhang stehenblieben, wiederholte er
immer wieder: »Der arme Arthur, der arme Arthur!« Aber erst
als er den Namen »Verrückter Dan« murmelte, erinnerte ich
mich an den Ärger, den sich Wheeler, dem alten Sam Poole
zufolge, kurz vor seinem Verschwinden zugezogen hatte. Der
Verrückte Dan, deutete Ben an, wäre zweifellos froh zu sehen,
was geschehen war. Einen Augenblick lang kam uns beiden

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blitzartig der Gedanke, daß der eifersüchtige Gastgeber
vielleicht für die Anwesenheit des Bildhauers in der üblen Höhle
verantwortlich sein mochte, aber dieser Gedanke verflog so
schnell, wie er gekommen war.
Am rätselhaftesten blieb uns, wie die Erscheinung an sich zu
erklären war. Welcher Gasaustritt oder welcher Gesteinsdampf
diese Veränderung in so relativ kurzer Zeit bewirkt haben
mochte, war uns völlig unerklärlich. Die normale Versteinerung
ist, wie wir wissen, ein langsamer, chemischer Prozeß, der bis
zum Abschluß unermeßliche Zeiträume erfordert; und doch
hatten wir hier vor uns zwei Steinfiguren, die - zumindest
Wheeler - noch vor ein paar Wochen lebendig gewesen waren.
Vermutungen waren sinnlos. Uns blieb nichts anderes übrig,
als die Behörden zu verständigen.
Mochten sie an Vermutungen anstellen, was sie wollten. Aber
irgendwo in Bens Hinterkopf hielt sich die Idee vom Verrückten
Dan noch immer hartnäckig. Wir bahnten uns den Weg zur
Straße zurück, doch wandte sich Ben nicht dem Dorf zu,
sondern blickte die Straße entlang nach oben, wo die Hütte des
besagten Dan lag, wie der alte Sam behauptete. Es war das
zweite Haus nach dem Dorf, hatte der alte Müßiggänger
hervorgestoßen, und lag links, von der Straße zurückgesetzt, in
dichtem Eichengestrüpp. Ehe ich es merkte, zog mich Ben den
Sandweg hoch, vorbei an einer abgewirtschafteten Farm, in ein
Gebiet zunehmender Wildnis.
Ich kam nicht auf den Gedanken zu protestieren, doch
empfand ich eine wachsende Bedrohung, als die vertrauten
Anzeichen der Landwirtschart und der Zivilisation immer
spärlicher wurden. Endlich öffnete sich zu unserer Linken ein
enger, vernachlässigter Pfad, während sich das Giebeldach eines
armseligen, ungestrichenen Gebäudes hinter kränklich
gewachsenen, halb abgestorbenen Bäumen zeigte. Das mußte,
wie ich wußte, die Hütte des Verrückten Dan sein, und ich
wunderte mich, daß Wheeler je einen so wenig heimelnden Ort
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als Quartier gewählt hatte. Ich hatte Furcht davor, den
überwachsenen, nicht sehr einladenden Pfad hinaufzusteigen,
konnte aber nicht zurückbleiben, als Ben entschlossen
auszuschreiten begann und kräftig an die wacklige, modrig
riechende Tür klopfte.
Es gab keine Reaktion auf das Klopfen. Etwas an dem
Widerhall jagte einem einen Schauder nach dem anderen über
den Rücken. Ben ließ sich davon jedoch nicht stören und ging
um das Haus herum auf der Suche nach einem unverschlossenen
Fenster. Das dritte, das er ausprobierte - auf der Rückseite der
armseligen Behausung - ließ sich öffnen. Nach einem Stoß und
einem kräftigen Sprung war er im Innern und half mir hinein.
Der Raum, in dem wir landeten, war angefüllt mit Kalkstein-
und Granitblöcken, Bildhauerwerkzeug und Tonmodellen. Wir
erkannten sofort, daß es sich um Wheelers früheres Atelier
handelte. Bislang waren wir noch auf kein Zeichen von Leben
gestoßen, doch hing über allem ein verdammt
unheilverkündender Staubgeruch. Zu unserer Linken stand eine
Tür offen, die wohl zu einer Küche auf der Kaminseite des
Hauses führte. Ben trat durch diese Tür, begierig, alles über den
letzten Wohnsitz seines verstorbenen Freundes herauszufinden.
Er war mir weit voraus, als er die Schwelle überschritt, so daß
ich zuerst nicht sehen konnte, was ihn zusammenzucken ließ
und seinen Lippen einen Schrei des Entsetzens entlockte.
Im nächsten Augenblick sah ich es ebenfalls - und ich
wiederholte seinen Aufschrei so instinktiv wie in der Höhle.
Denn hier in dieser Hütte, weit von allen unterirdischen Tiefen
entfernt, die seltsame Gase produzierten und merkwürdige
Nachbildungen bewirken konnten, befanden sich zwei
Steingestalten, von denen ich sofort wußte, daß sie nicht unter
Arthur Wheelers Meißel entstanden waren. In einem primitiven
Lehnstuhl vor der Feuerstelle, festgebunden mit den Überresten
einer langen Rohlederpeitsche, hing die Gestalt eines Mannes -
ungepflegt, schon etwas älter und mit einem Blick grenzenlosen

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Entsetzens auf dem bösen, versteinerten Gesicht.
Auf dem Fußboden daneben lag eine Frauengestalt, grazil und
mit einem Gesicht, das sehr viel Jugend und Schönheit verriet.
Sein Ausdruck schien von zynischer Befriedigung zu künden.
Neben ihrer ausgestreckten Hand stand ein großer Blecheimer,
der im Innern leichte Flecken, wie von einer dunklen
Ablagerung, aufwies. Wir vermieden es, uns diesen
unerklärlicherweise versteinerten Leichen zu nähern, und
tauschten auch nur karge Vermutungen aus. Daß dieses
steinerne Paar der Verrückte Dan und seine Frau waren, ließ
sich kaum bezweifeln, aber wie wir uns ihren gegenwärtigen
Zustand erklären sollten, war eine andere Sache. Als wir uns
erschreckt umblickten, erkannten wir die Plötzlichkeit, mit der
sie dies Ereignis überrascht haben mußte - denn alles um uns
schien, trotz einer dicken Staubschicht, die gewöhnlichen
Haushaltstätigkeiten anzuzeigen.
Die einzige Ausnahme von dieser Regel der Alltäglichkeit
bildete der Küchentisch, in dessen leergeräumter Mitte, wie um
Aufmerksamkeit zu erregen, ein dünnes, abgegriffenes,
unbeschriftetes Heft lag, das mit einem Zinntrichter von
beträchtlicher Größe beschwert war. Ben trat näher, um das Heft
zu lesen, und erkannte, daß es sich um ein Tagebuch mit weit
zurückliegenden Eintragungen handelte, geschrieben mit einer
verkrampften und ziemlich ungeübten Hand. Schon die ersten
Worte erregten meine Aufmerksamkeit, und ehe zehn Sekunden
um waren, verschlang er atemlos den immer wieder
unterbrochenen Text - und ich folgte ihm eifrig und blickte über
seine Schulter. Beim Weiterlesen - wir waren dazu in das
angrenzende Zimmer gegangen, in dem nicht diese gräßliche
Stimmung hing - wurden uns viele dunkle Umstände klar, und
wir zitterten unter einem Ansturm komplexer Gefühle.
Und das ist es, was wir lasen - und was der Coroner nach uns
las. Die Öffentlichkeit bekam in der Sensationspresse eine im
höchsten Maße verfälschte und aufgebauschte Version

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vorgesetzt, aber selbst diese enthält bloß einen Bruchteil des
echten Grauens, welches das einfache Original für uns bot, als
wir es allein in dieser modrigen Hütte im wilden Bergland
entzifferten, wobei zwei ungeheuerliche Steinabnormitäten in
der todesähnlichen Stille des Nebenzimmers lauerten. Als wir
fertig waren, steckte Ben das Buch mit einer Geste des
Abscheus in die Tasche, und seine ersten Worte waren: »Laß
uns verschwinden..
Schweigend und nervös stolperten wir zur Vorderseite des
Hauses, sperrten die Tür auf und machten uns auf den langen
Fußweg zurück zum Dorf. Wir mußten in den folgenden Tagen
zahlreiche Aussagen machen und viele Fragen beantworten, und
ich glaube nicht, daß ich oder Ben je die Auswirkungen des
ganzen qualvollen Erlebnisses abschütteln können. Und einigen
der Amtspersonen und Reporter, die sich hier tummelten, wird
es genauso ergehen - auch wenn ein bestimmtes Buch und viele
der in Kisten auf dem Speicher aufgefundenen Papiere verbrannt
wurden und man umfangreiche Apparaturen im hintersten Teil
jener unheimlichen Höhle am Berghang zerstörte. Hier ist
jedoch der Text selbst:
»5. Nov. - Ich heiße Daniel Morris. Hier in der Gegend nennt
man mich den "Verrückten Dan", denn ich glaube an Mächte, an
die heutzutage niemand mehr glaubt. Wenn ich den Donnerberg
hinaufgehe, um das Fest der Füchse zu feiern, hält man mich für
verrückt - alle mit Ausnahme der abgeschieden hausenden
Landbewohner, die sich vor mir fürchten. Man versucht mich
davon abzuhalten, der Schwarzen Ziege zu Halloween Opfer zu
bringen, und man hindert mich ständig, den Großen Ritus zu
vollziehen, der das Tor öffnen würde. Sie sollten es besser
wissen, denn es ist ihnen bekannt, daß ich mütterlicherseits ein
Van Kauran bin, und jedermann auf dieser Seite des Hudson
weiß, was die Van Kaurans in ihrer Familie überliefert haben.
Wir stammen von Nicholas Van Kauran ab, dem Hexenmeister,
der 1587 in Wijtgaart gehängt wurde, und jeder weiß, daß er mit

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dem Schwarzen Mann einen Pakt geschlossen hatte.
Den Soldaten entging sein Book of Eibon, als sie sein Haus
niederbrannten, und sein Enkel, William Van Kauran, brachte es
herüber, als er nach Rensselacrwyck und später über den Fluß
nach Esopus kam. Fragen Sie, wen Sie wollen, in Kingston oder
Hurley, was das Geschlecht der William Van Kauran den
Menschen antun könnte, die sich ihm in den Weg stellen. Fragen
Sie sie auch, ob es meinem Onkel Hendrik nicht gelang, das
Book of Eibon zu retten, als man ihn aus der Stadt jagte und er
mit seiner Familie den Fluß heraufzog, bis hierher.
Ich schreibe das - und ich werde nicht aufhören, das zu
schreiben -, weil ich möchte, daß die Menschen die Wahrheit
wissen, wenn ich tot bin. Außerdem fürchte ich wirklich, daß ich
verrückt werde, wenn ich nicht alles einfach schwarz auf weiß
niederlege. Alles hat sich gegen mich verschworen, und wenn
das so weitergeht, werde ich die Geheimnisse in dem Book
verwenden und bestimmte Mächte herbeirufen. Vor drei
Monaten kam der Bildhauer Arthur Wheeler nach Mountain
Top, und man schickte ihn zu mir herauf, denn ich bin der
einzige hier, der mehr kann als Landwirtschaft zu betreiben, zu
jagen und die Sommergäste zu schröpfen. Den Kerl schien zu
interessieren, was ich zu sagen hatte, und war bereit, sich hier
für $13,- die Woche einschließlich Mahlzeiten einzuquartieren.
Ich überließ ihm das Hinterzimmer für seine Steinbrocken und
sein Steinwerkzeug, und machte mit Nate Williams aus, daß er
sich um die Sprengungen kümmern und die großen Stücke mit
einem Rollwagen und einem Ochsengespann heraufschleppen
sollte.
Das war vor drei Monaten. Jetzt weiß ich, warum dem
verfluchten Sohn der Hölle die Unterkunft so rasch zusagte. Das
war nicht meiner Überzeugungskraft zuzuschreiben, sondern
dem Aussehen meiner Frau Rose, Osborn Chandlers ältester
Tochter. Sie ist sechzehn Jahre jünger als ich und macht den
Burschen in der Stadt immer schöne Augen. Wir haben uns aber

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immer gut verstanden, bis diese dreckige Ratte auftauchte, auch
wenn Rose sich weigerte, mir bei den Riten am Karfreitag und
Allerheiligen zu helfen. Ich erkenne jetzt, wie Wheeler ihre
Gefühle ausnutzt und sie so für ihn einnimmt, daß sie mich
kaum noch ansieht, und ich glaube, früher oder später wird er
versuchen, sich mit ihr davonzumachen.
Er arbeitet jedoch langsam, wie alle hinterlistigen,
geschniegelten Hunde, und ich habe Zeit genug, darüber
nachzudenken, was ich dagegen unternehmen soll. Keiner von
beiden weiß, daß ich etwas argwöhne, aber es wird nicht lange
dauern, bis sie erkennen, daß es sich nicht lohnt, die Familie
eines Van Kauran zu zerstören. Ich kann ihnen versprechen, daß
das, was ich tun werde, für sie eine Überraschung sein wird.
25. November, Erntedankfest. Das ist ein ziemlich guter
Scherz! Aber ich werde etwas haben, für das ich wirklich
dankbar sein kann, wenn ich fertigkriege, was ich angefangen
habe. Keine Frage mehr, daß Wheeler versucht, mir die Frau
wegzunehmen. Vorläufig jedoch kann er weiterhin bei mir Star-
Logiergast sein. Holte letzte Woche das Book of Eibon aus
Onkel Hendriks alter Kiste in der Dachkammer herunter. Ich
suche nach einer feinen Sache ohne Opfer, die ich hier nicht
bringen kann.
Ich brauche etwas, was diesen beiden hinterhältigen Verrätern
ein Ende macht, ohne daß ich mir gleichzeitig Schwierigkeiten
einhandle. Wenn es irgendeinen dramatischen Dreh hätte, um so
besser.
Ich habe daran gedacht, die Emanation des Yoth zu
beschwören, aber dazu bedarf es des Blutes eines Kindes, und
ich muß mich vor den Nachbarn hüten. Der Grüne Verfall sieht
vielversprechend aus, aber das wäre für mich genauso
unangenehm wie für sie. Gewisse Anblicke und Gerüche
vertrage ich nicht.10. Dezember - Heureka! Endlich hab ich's!
Rache ist süß - und das ist der vollkommene Höhepunkt!
Wheeler, der Bildhauer- das ist zu prächtig! Ja, wahrhaftig,
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dieser verdammte Schleicher wird eine Skulptur abgeben, die
sich rascher verkauft als all die Sachen, die er in den letzten
Wochen gemeißelt hat! Ein Realist, eh! Also - der neuen
Skulptur wird es gewiß nicht an Realismus fehlen. Ich fand die
Formel auf einem eingeklebten Manuskript, gegenüber der Seite
679 des Book. Nach der Handschrift zu schließen, wurde sie von
meinem Urgroßvater Bareut Picterse Van Kauran eingefügt -
demjenigen, der 1839 aus New Paitz verschwand. lä!
Shubniggurath! Die Ziege mit den tausend Jungen!
Um es einfach zu machen, ich habe eine Methode entdeckt,
wie man diese armseligen Ratten in steinerne Statuen
verwandeln kann. Es ist absurd einfach und hängt in Wahrheit
mehr mit gewöhnlicher Chemie zusammen als mit den Mächten
des Drüben. Wenn ich mir das richtige Zeug verschaffe, kann
ich einen Trank zusammenbrauen, der als selbstgemachter Wein
gelten mag, und ein kräftiger Schluck sollte reichen, um mit
jedem gewöhnlichen Lebewesen, das kleiner als ein Elefant ist,
fertig zu werden. Es läuft auf eine unendlich beschleunigte
Versteinerung hinaus. Schießt Kalzium- und Bariumsalze ins
ganze System und ersetzt lebende Zellen durch mineralische
Materie, und zwar so schnell, daß niemand den Prozeß aufhalten
kann. Das muß eines der Dinge gewesen sein, die Urgroßvater
vom Großen Sabbat auf dem Zuckerhut in den Catskills
mitbrachte. Dort pflegten recht seltsame Sachen vor sich zu
gehen. Ich meine, ich hätte von einem Mann aus New Paitz
gehört - Squire Hasbrouck -, der 1834 zu Stein oder dergleichen
verwandelt wurde. Er war mit den Van Kaurans verfeindet.
Zuallererst muß ich die fünf benötigten Chemikalien in Albany
und Montreal bestellen. Später habe ich genug Zeit zum
Experimentieren. Wenn alles vorbei ist, packe ich alle
Skulpturen zusammen und verkaufe sie als Wheelers Werk zur
Abdeckung der ausständigen Miete! Er war immer ein Realist
und ein Egoist wäre es nicht natürlich für ihn, ein Selbstbildnis
in Stein anzufertigen, und meine Frau als weiteres Modell zu

-17-
verwenden - was er ja in den letzten vierzehn Tagen auch
wirklich gemacht hat? Das tumbe Publikum wird sich kaum
fragen, aus welchem Steinbruch der Stein stammt!
25. Dezember - Weihnachten. Frieden auf Erden und so
weiter! Diese beiden Schweine starren einander an, als gäbe es
mich gar nicht. Sie müssen sich einbilden, ich sei taub, stumm
und blind!
Also, Bariumsulfat und Kalziumchlorid kamen schon am
Donnerstag aus Albany, und die Säuren, Katalysatoren und
Instrumente müssen jetzt jeden Tag aus Montreal eintreffen.
Gottes Mühlen - und so weiter! Ich werde die Arbeiten in
Allen's Cave in der Nähe des unteren Waldgrundstücks
durchführen, und zugleich werde ich offen hier im Keller etwas
Wein herstellen. Man braucht irgendeinen Vorwand, um ein
neues Getränk anzubieten - doch wird nicht viel Planung
erforderlich sein, um diese verliebten Einfaltspinsel zu täuschen.
Das Problem wird sein, Rose dazu zu bringen, Wein zu trinken,
denn sie tut so, als möge sie ihn nicht. Alle Tierexperimente
werde ich in der Höhle durchführen, im Winter kommt dort
niemand hin. Ich werde etwas Holz schlagen, um meine
Anwesenheit zu erklären. Ein oder zwei mitgebrachte Bündel
sollten ihn von der richtigen Spur ablenken.
20. Januar- Es ist eine härtere Arbeit, als ich dachte. Eine
Menge hängt vom genauen Mischungsverhältnis ab. Das Zeug
kam aus Montreal, aber ich mußte mir bessere Waagen und eine
Azetylenlampe bestellen. Im Dorf wird man schon neugierig.
Ich wünschte mir, die Ausgabestelle für Expreßpost wäre nicht
gerade in Steenwycks Laden. Ich probiere verschiedene
Mixturen an den Spatzen aus, die aus dem Tümpel vor der
Höhle trinken und in ihm baden - wenn er aufgetaut ist.
Manchmal werden sie getötet, aber manchmal fliegen sie auch
fort. Ich muß wohl eine wichtige Reaktion übersehen haben. Ich
nehme an, daß Rose und jener Emporkömmling meine
Abwesenheit weidlich nützen - aber ich kann es mir leisten,
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ihnen das zu gestatten. Es kann keinen Zweifel geben, daß ich
schließlich Erfolg haben werde. n. Februar - Jetzt habe ich es
endlich! Schüttete eine frische Menge in den kleinen Tümpel,
der heute aufgetaut ist, und der erste Vogel, der davon trank, fiel
um, als hätte man ihn erschossen. Ich hob ihn eine Sekunde
später auf. Er war ein vollkommenes Stück Stein, bis zur
kleinsten Kralle und Feder.
Kein Muskel war | verändert, da er sich gerade zum Trinken
anschickte, daher mußte er in dem gleichen Augenblick
gestorben sein, als das Zeug in seinen Magen gelangte. Ich hatte
nicht erwartet, daß die Versteinerung so rasch einsetzen würde.
Aber ein Sperling ist kein geeigneter Test dafür, wie das Zeug
auf ein größeres Lebewesen wirken würde. Ich brauche etwas
Größeres zur Erprobung, denn der Trank muß die richtige Stärke
haben, wenn ich ihn diesen Schweinen eingebe. Ich glaube,
Roses Hund Rex ist das richtige. Ich nehme ihn nächstes Mal
mit und erkläre, daß ihn ein Wolf erwischt hat.
Sie hat ihn sehr gern, und es wird mir nicht leid tun, ihr vor
der großen Abrechnung etwas zu liefern, worum sie sich ein
bißchen die Augen ausweinen kann. Ich muß aufpassen, wo ich
dieses Heft aufbewahre. Rose stöbert manchmal an den
merkwürdigsten Stellen herum.
15. Februar - Es wird warm! Probierte es an Rex aus, und es
funktionierte wie geschmiert bei nur der doppelten Stärke. Ich
tat es in den Felsentümpel und brachte ihn zum Trinken. Er
schien zu wissen, daß etwas Merkwürdiges mit ihm vorging,
denn er stellte die Haare auf und knurrte, er war jedoch schon
ein Stück Stein, ehe er den Kopf wenden konnte. Die Lösung
hätte stärker sein sollen, und für einen Menschen noch stärker.
Ich glaube, ich bekomme die Sache in den Griff, und bin jetzt
für diesen Halunken Wheeler bereit. Das Zeug scheint
geschmacklos zu sein, aber um sicherzugehen, werde ich es mit
dem neuen Wein, den ich im Haus herstelle, versetzen. Ich
wünschte, ich wüßte sicher, daß es geschmacklos ist, so daß ich

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es Rose in Wasser geben könnte, ohne ihr Wein aufzudrängen.
Ich werde die beiden getrennt erwischen -Wheeler hier draußen
und Rose daheim. Ich habe eben eine starke Lösung vorbereitet
und all die merkwürdigen Objekte vor dem Höhleneingang
weggeräumt. Rose heulte wie ein Schloßhund, als ich ihr sagte,
daß ein Wolf Rex erwischt hat, und Wheeler brachte in der
Gurgel eine Menge mitfühlender Geräusche zuwege.
1. März - lä R'lyeh! Lob und Dank dem Gott Tsathoggua! Ich
habe den Höllensohn endlich erwischt!
Ich redete ihm ein, ich hätte eine neue Ader brennbaren
Kalksteins hier in dieser Richtung gefunden, und er lief mir nach
wie der räudige Hundesohn, der er ist! Ich hatte das Zeug mit
Weingeschmack in einer Flasche um die Hüfte, und er war froh,
einen Schluck tun zu dürfen, als wir hier ankamen.
Stürzte es ohne Zögern hinunter - und fiel um, bevor man bis
drei zählen konnte. Er weiß jedoch, daß ich mich an ihm rächte,
denn ich schnitt eine Grimasse, die er nicht übersehen konnte.
Ich sah seinem Gesicht an, daß er mich verstand, als er
umkippte. Zwei Minuten später war er fester Stein.
Ich schleppte ihn in die Höhle und stellte Rex' Gestalt wieder
draußen auf. Diese Hundegestalt mit gesträubten Haaren wird
mithelfen, die Menschen zu verscheuchen. Es wird Zeit für die
Frühlingsjäger, und außerdem gibt es diesen verdammten
»Schwindsüchtigen« namens Jackson in einer Hütte über dem
Berg, der viel im Schnee herumschnüffelt. Es wäre mir gar nicht
recht, wenn mein Labor und mein Lager schon jetzt gefunden
würden! Als ich nach Hause kam, sagte ich zu Rose, daß im
Dorf ein Telegramm auf Wheeler gewartet hätte, in dem er
plötzlich nach Hause gerufen wurde. Ich weiß nicht, ob sie mir
glaubte oder nicht, aber das spielt keine Rolle. Der Form halber
packte ich Wheelers Sachen zusammen und nahm sie den Berg
hinunter mit. Rose erzählte ich, daß ich ihm die Sachen
nachsenden würde. Ich warf sie in den ausgetrockneten Brunnen
auf dem verlassenen Rapelye-Besitz. Nun zu Rose!
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3. März - Kann Rose nicht dazu bringen, Wein zu trinken. Ich
hoffe, das Zeug ist geschmacklos genug, um im Wasser nicht
bemerkt zu werden. Ich habe es mit Tee und Kaffee versucht,
aber es bildet eine Ausfällung und kann so nicht verwendet
werden. Wenn ich es ins Wasser gebe, muß ich die Dosis senken
und mich auf eine allmählichere Wirkung verlassen. Mr. und
Mrs. Hoog haben uns zu Mittag besucht, und ich mußte mich
sehr anstrengen, das Gespräch nicht auf Wheelers Abreise
kommen zu lassen. Es darf sich nicht herumsprechen, daß wir
behaupten, er sei nach New York zurückgerufen worden, wenn
jedermann im Dorf weiß, daß kein Telegramm kam und er nicht
mit dem Bus abgereist ist. Rose benimmt sich in der ganzen
Sache verdammt merkwürdig. Ich muß sie zu einem Streit
provozieren und in die Dachstube sperren. Das beste Vorgehen
ist, sie zu veranlassen von dem gepanschten Wein zu trinken -
und falls sie nachgibt, um so besser.
7. März - Habe mit Rose begonnen. Sie wollte keinen Wein
trinken, dafür habe ich sie ausgepeitscht und in die Dachstube
hinaufgetrieben. Sie kommt mir nicht mehr lebendig herunter.
Ich gebe ihr ein Tablett mit salzigem Brot und Pökelfleisch und
einen Eimer mit leicht versetztem Wasser, zweimal am Tag. Die
salzhaltige Nahrung sollte sie recht durstig werden lassen, und
es kann nicht lange dauern, bis die Wirkung einsetzt. Mir gefällt
gar nicht, was sie über Wheeler schreit, wenn ich an der Tür bin.
Die übrige Zeit verhält sie sich still.
9. März - Es ist verdammt merkwürdig, wie langsam das Zeug
auf Rose wirkt. Ich muß es stärker dosieren - sie schmeckt es
vielleicht nie, bei all dem Salz, das sie bekommen hat. Wenn das
Zeug sie jedoch nicht erwischt, gibt es viele andere Auswege,
auf die ich zurückgreifen kann. Ich würde aber gern diesen
sauberen Plan mit der Statue durchführen! Ging am Morgen zur
Höhle. Dort ist alles in Ordnung. Manchmal höre ich die
Schritte Roses an der Decke über mir und bilde mir ein, daß sie
immer schwerfälliger werden. Das Zeug funktioniert sicher, aber

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zu langsam. Nicht stark genug. Von jetzt an werde ich die Dosis
rapid erhöhen. ii. März - Es ist höchst merkwürdig. Sie lebt noch
immer und bewegt sich. Dienstag nacht hörte ich, wie sie sich an
einem Fenster zu schaffen machte, daher ging ich hinauf und
prügelte sie tüchtig. Sie benimmt sich eher verstockt als
erschreckt, und ihre Augen sehen geschwollen aus. Aber sie
könnte aus der Höhe niemals hinunterspringen, und es gibt
nichts, woran sie herunterklettern könnte. Ich habe des Nachts
geträumt, denn ich hörte ein langsames, schleifendes Gehen auf
dem Fußboden über mir, das zerrt an meinen Nerven. Manchmal
glaube ich, sie bearbeitet das Schloß an der Tür.
15. März - Noch immer am Leben, trotz der Erhöhung der
Dosis. Daran ist etwas merkwürdig. Sie kriecht jetzt und geht
nicht sehr oft. Das Geräusch ihres Kriechens ist entsetzlich. Sie
rüttelt auch an den Fenstern und macht sich an der Tür zu
schaffen. Wenn das so weitergeht, muß ich sie mit der Peitsche
erledigen. Ich werde sehr schläfrig. Ich frage mich, ob Rose
irgendwie Verdacht geschöpft hat. Aber sie muß das Zeug
trinken. Diese Schläfrigkeit ist abnorm - ich glaube, die
Belastung macht mir zu schaffen. Ich bin schläfrig...
(An dieser Stelle läuft die verkrampfte Handschrift in einem
verschwommenen Kratzer aus und macht einer Anmerkung in
einer festeren, offenkundig weiblichen Handschrift Platz, die
große Gefühlsanpassung verrät.) 16. März - 4 Uhr morgens -
Das wird von Rose C. Morris hinzugefügt, die bald stirbt. Bitte
benachrichtigen Sie meinen Vater, Osborne E. Chandler, Route
2, Mountain Top, N. Y. Ich habe eben gelesen, was diese Bestie
niedergeschrieben hat. Ich war mir sicher, daß er Arthur
Wheeler umgebracht hat, wußte es aber erst mit Bestimmtheit,
als ich dieses entsetzliche Notizbuch las. Jetzt weiß ich,
welchem Los ich entgangen bin. Mir fiel auf, daß das Wasser
merkwürdig schmeckte, daher trank ich nach dem ersten
Schluck keines mehr. Ich schüttete alles aus dem Fenster. Dieser
eine Schluck hat mich halb gelähmt, aber ich kann mich noch

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immer bewegen. Der Durst war entsetzlich, aber ich aß so wenig
wie möglich von dem salzigen Essen und war imstande, ein
bißchen Wasser zu gewinnen, indem ich einige alte Pfannen und
Töpfe aufstellte, die hier oben unter den Stellen standen, wo das
Dach undicht war.
Es gab zwei große Regenfälle. Ich glaubte, er wollte mich
vergiften, doch wußte ich nicht, um was für eine Art Gift es sich
handelte. Was er über sich und mich geschrieben hat, ist eine
glatte Lüge. Wir waren nie glücklich miteinander, und ich
glaube, ich heiratete ihn nur unter dem Einfluß dieser
Zauberkräfte, die er manchmal auf Menschen ausüben konnte.
Ich vermute, er hypnotisierte sowohl meinen Vater wie mich,
denn er wurde immer gehaßt und gefürchtet, und man
verdächtigte ihn dunkler Machenschaften mit dem Teufel. Mein
Vater nannte ihn einmal einen Vetter des Teufels, und er hatte
recht.
Niemand wird je wissen, was ich als seine Frau zu erleiden
hatte. Es war nicht einfach gewöhnliche Grausamkeit - obwohl
er, bei Gott, grausam war und mich oft mit der Lederpeitsche
schlug. Es wahr mehr - mehr als irgend jemand in diesem
Zeitalter je verstehen kann. Er war ein Ungeheuer und übte alle
Arten höllischer Zeremonien aus, die durch die Verwandten
seiner Mutter auf ihn gekommen waren. Er versuchte mich zu
zwingen, ihm bei den Zeremonien zu helfen - ich wage nicht
einmal anzudeuten, worum es sich dabei handelte. Ich weigerte
mich, darum schlug er mich. Es wäre Gotteslästerung,
auszusprechen, wozu er mich zwingen wollte. Soviel sei gesagt,
daß er damals schon ein Mörder war, denn ich weiß, was er
eines Nachts auf dem Donnerberg geopfert hat. Er war wirklich
ein Vetter des Teufels. Ich versuchte viermal davonzulaufen,
doch fing er mich jedes Mal ein und schlug mich. Er übte einen
gewissen Zwang auf mein Gemüt und selbst auf das Gemüt
meines Vaters aus.
Was Arthur Wheeler angeht, gibt es nichts, dessen ich mich

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schämen müßte. Wir verliebten uns ineinander, aber auf
durchaus ehrbare Weise. Er war der erste, der mich freundlich
behandelte, seit ich das Haus meines Vaters verlassen hatte, der
mich aus den Fängen dieses Teufels befreien wollte. Er hatte
mehrere Unterredungen mit meinem Vater und wollte mir
helfen, in den Westen zu gehen. Nach meiner Scheidung hätten
wir geheiratet.
Seit mich dieses Tier in der Dachstube einsperrte, plante ich,
zu entkommen und es zu erledigen. Ich hob mir das Gift immer
über Nacht auf für den Fall, daß ich fliehen konnte, ihn
schlafend finden würde und es ihm irgendwie eingeben konnte.
Zuerst wachte er leicht auf, wenn ich mir am Türschloß zu
schaffen machte und den Zustand der Fenster prüfte, aber später
begann er stärker zu ermüden und tiefer zu schlafen. Sein
Schnarchen verriet mir immer, wann er schlief.
Heute abend schlief er so schnell ein, daß ich das Schloß
aufbrach, ohne ihn aufzuwecken. Da ich teilweise gelähmt war,
hatte ich Schwierigkeiten, nach unten zu gelangen, aber ich
schaffte es. Ich fand ihn hier bei brennender Lampe -
eingeschlafen am Tisch, auf dem er in sein Heft geschrieben
hatte. In einer Ecke befand sich die lange Lederpeitsche, mit der
er mich so oft geschlagen hatte. Ich fesselte ihn damit an den
Stuhl, so daß er keinen Muskel bewegen konnte. Ich band ihn
am Hals fest, so daß ich ihm alles widerstandslos in die Kehle
schütten konnte.
Er erwachte, als ich eben fertig war, und ich glaube, er merkte
auf der Stelle, daß es mit ihm zu Ende ging. Er brüllte
entsetzliche Sachen und versuchte, mystische Beschwörungen
anzustimmen, aber ich brachte ihn mit einem Geschirrtuch zum
Verstummen. Dann fiel mein Blick auf das Buch, in dem er
geschrieben hatte, und ich nahm mir die Zeit, es zu lesen. Der
Schock war entsetzlich, und beinahe wäre ich vier- oder fünfmal
in Ohnmacht gefallen. Mein Gemüt war auf Derartiges nicht
vorbereitet.

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Nachher redete ich zwei bis drei Stunden ununterbrochen auf
den Teufel ein. Ich sagte ihm alles, was ich ihm die ganzen
Jahre über, in denen ich seine Sklavin gewesen war, hatte sagen
wollen, und eine Menge anderer Sachen, die mit dem zu tun
hatten, was ich in dem entsetzlichen Buch gelesen hatte.
Er sah beinahe purpurrot aus, als ich fertig war, und ich
glaube, er war halb im Delirium. Dann holte ich einen Trichter
von dem Bord und schob ihn ihm in den Mund, nachdem ich
den Knebel entfernt hatte. Er wußte, was ich tun würde, war
jedoch hilflos. Ich hatte den Eimer mit vergiftetem Wasser
heruntergebracht. Ohne Gewissensbisse goß ich den halben
Eimer in den Trichter.
Es muß eine sehr starke Dosis gewesen sein, denn beinahe auf
der Stelle bemerkte ich, wie der Wüstling steif wurde und sich
in ein stumpfes steinernes Grau verwandelte. Ich wußte, in zehn
Minuten würde er festes Gestein sein. Ich konnte es nicht
ertragen, ihn zu berühren, aber der Zinntrichter klirrte
entsetzlich, als ich ihn ihm aus dem Mund zog. Ich wünschte
mir, ich hätte diese Ausgeburt der Hölle schmerzhafter,
schleichender sterben lassen können, aber gewiß war das der
Tod, der ihm gebührte.
Weiter gibt es nicht mehr viel zu sagen. Ich bin halb gelähmt,
und da Arthur ermordet wurde, gibt es nichts mehr, wofür ich
leben müßte. Ich werde einen Schlußstrich ziehen und das
restliche Gift trinken, nachdem ich dieses Buch dorthin gelegt
habe, wo man es finden wird. In einer Viertelstunde bin ich eine
Steinskulptur. Mein einziger Wunsch ist es, neben der Skulptur
begraben zu werden, die Arthur war - sobald sie in der Höhle
gefunden wird, wo sie der Teufel zurückgelassen hat. Der arme,
vertrauensvolle Rex sollte zu unseren Füßen liegen. Was aus
dem Steinteufel wird, der im Stuhl festgebunden ist, kümmert
mich nicht....

-25-
Das unsichtbare Ungeheuer

Sonia Greene und H. P. Lovecraft

Mir ist niemals eine auch nur annähernd zutreffende


Erklärung des Grauens von Martin's Beach zu Ohren
gekommen. Trotz der großen Zahl von Augenzeugen stimmen
keine zwei Darstellungen überein, und die Aussagen vor den
örtlichen Behörden weisen die erstaunlichsten Widersprüche
auf.
Vielleicht ist diese Unbestimmtheit ganz natürlich im
Hinblick auf die unerhörte Natur des Grauens, die geradezu
lähmende Furcht aller, die es zu Gesicht bekamen, und die
Anstrengungen, die das Nobelhotel »Wavecrest« unternahm, um
die Sache nach dem regen öffentlichen Interesse, das Professor
Altons Artikel »Sind hypnotische Kräfte auf die anerkannte
Menschheit beschränkt?. hervorgerufen hatte, zu vertuschen.
All dieser Hindernisse zum Trotz bin ich bemüht, eine
zusammenhängende Darstellung zu liefern, denn ich habe den
entsetzlichen Vorfall mit eigenen Augen gesehen und bin der
Meinung, daß man in Anbetracht der gräßlichen Möglichkeiten,
die sich in ihm andeuten, nicht schweigen sollte. Martin's Beach
hat seine Beliebtheit als Badeort wiedererlangt, aber mich
schaudert es, wenn ich daran denke.
Ohne Schaudern kann ich nicht einmal mehr das Meer
betrachten.
Dem Schicksal mangelt es zuweilen nicht an Sinn für
dramatische Höhepunkte, daher folgte das schreckliche Ereignis
vom 8. August 1922. sehr kurz auf einen Zeitraum belangloser
und angenehm wunderträchtiger Aufregung an der Martin's
Beach. Am 17. Mai tötete die Besatzung des Fischkutters Alma
von Gloucester unter ihrem Kapitän James P. Orne nach nahezu

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vierzig Stunden währendem Ringen ein Seeungeheuer, dessen
Größe und Aussehen in wissenschaftlichen Kreisen höchste
Aufregung auslösten und gewisse Bostoner Naturforscher
veranlaßte, alle Sorgfalt walten zu lassen, um es für die
Nachwelt ausgestopft zu bewahren.
Das fragliche Ungeheuer war an die sechzehn Meter lang, von
ungefähr zylindrischer Gestalt und hatte einen Durchmesser von
mehr als drei Metern. Es handelte sich unverkennbar um einen
Kiemenfisch; die wichtigsten Merkmale wiesen daraufhin, aber
es gab gewisse merkwürdige Abweichungen wie rudimentär
entwikkelte Vorderbeine und sechszehige Füße anstelle der
Schwanzflossen, was sogleich die wildesten Spekulationen
auslöste. Sein außergewöhnliches Maul, seine dicke und
schuppige Haut und ein einzelnes, tiefliegendes Auge bildeten
Wunder, erregten Erstaunen und waren kaum weniger
bemerkenswert als seine kolossalen Ausmaße; und als die
Naturforscher erklärten, es handle sich um den Organismus
eines Jungtiers, das erst vor einigen Tagen zur Welt gekommen
war, stieg das öffentliche Interesse ins Unermeßliche.
Mit typischer Yankee-Schlauheit beschaffte sich Kapitän
Orne ein Fahrzeug, das groß genug war, das Schaustück in
seinem Rumpf aufzunehmen, und traf Vorbereitungen, seinen
Preisfang auszustellen.
Mit kluger Zimmermannskunst richtete er ein hervorragendes
Meeresmuseum ein, segelte nach Süden an den Ferienstrand der
Reichen von Martin's Beach, ankerte vor dem Hotelstrand und
brachte eine reiche Ernte an Eintrittsgeldern ein.
Die Großartigkeit des Ausstellungsstückes an sich und die
Bedeutung, die ihm in der Beurteilung vieler wissenschaftlicher
Besucher aus nah und fern eindeutig zukam, sorgten dafür, daß
es zur Sensation der Saison wurde. Daß es absolut einzigartig
war - sogar revolutionär einzigartig -, lag klar zutage. Die
Naturforscher hatten eindeutig nachgewiesen, daß es sich ganz
wesentlich von dem ähnlichen Riesenfisch unterschied, den man
-27-
vor der Küste Floridas gefangen hatte; daß, auch wenn es
augenscheinlich in nahezu vorstellbaren Tiefen - vielleicht
Tausende von Metern tief - lebte, sein Gehirn und seine
wichtigsten Organe doch auf eine aufregend übermäßige
Entwicklung hinwiesen, die mit nichts zu vereinbaren war, was
man für das Fischgeschlecht bislang für erwiesen gehalten hatte.
Am Morgen des 20. Juli steigerte sich die Sensation noch
durch den Verlust des Schiffes und seines merkwürdigen
Schatzes. In dem Sturm der vorangegangenen Nacht hatte es
sich von der Verankerung losgerissen, war für immer dem
Anblick der Menschen entschwunden und hatte die Wache mit
sich genommen, die trotz des drohenden Unwetters an Bord
geschlafen hatte. Kapitän Orne unternahm mit Unterstützung
breiter wissenschaftlicher Kreise und einer großen Anzahl von
Fischerbooten aus Gloucester eine gründliche und erschöpfende
Suche zur See, erreichte aber nur, daß das Interesse und das
Gerede zunahmen. Am 7. August gab man alle Hoffnung auf,
und Kapitän Orne war zum Hotel Wavecrest zurückgekehrt, um
seine geschäftlichen Angelegenheiten an der Martin's Beach
abzuschließen und sich mit bestimmten Wissenschaftlern zu
beraten, die zurückgeblieben waren. Das Grauen begann am 8.
August.
Es war in der Dämmerung, als graue Seevögel niedrig über
der Küste dahinschwebten und der aufgehende Mond seinen
glitzernden Pfad über die Gewässer zog. Man muß sich die
Szene genau merken, denn jeder Eindruck zählt. Am Strand
befanden sich mehrere Spaziergänger und ein paar verspätete
Badegäste; Nachzügler aus der fernen Hüttenkolonie, die
bescheiden auf einem grünen Hügel im Norden aufragte, oder
aus dem benachbarten, an die Klippen gelehnten Hotel, dessen
imposante Türme zeigten, daß es sich dem Reichtum und der
großen Welt verpflichtet fühlte.
In Sichtweite befand sich noch eine andere Gruppe von
Zuschauern, die müßigen Gäste auf der hohen, von Laternen

-28-
erleuchteten Veranda des Hotels, die die Tanzmusik aus dem
prächtigen Tanzsaal im Inneren zu genießen schienen. Diese
Zuschauer, darunter Kapitän Orne und die Angehörigen der
Wissenschaftler, schlössen sich der Strandgruppe aus
zahlreichen Hotelgästen an, bevor das Grauen weit
fortgeschritten war. Es gab wahrlich keinen Mangel an Zeugen,
auch wenn ihre Erzählungen von Furcht und Zweifel über das
Gesehene verwirrt sind.
Es ist nicht genau belegt, wenn die Sache begann, doch
behauptet die Mehrzahl der Zuschauer, daß der Fast-Vollmond
»ungefähr ein Drittel Meter« über den tiefhängenden Dünsten
des Horizonts stand. Sie erwähnen den Mond, weil das, was sie
sahen, mit ihm auf unmerkliche Weise verbunden zu sein schien
- eine Art verhaltenes, aber sichtliches, bedrohliches Gewoge,
das vom fernen Horizont über die schimmernde Mondlichtbahn
hereinzurollen schien, das sich aber anscheinend legte, ehe es
die Küste erreichte.
Den meisten fiel diese kleine Welle erst auf, als das spätere
Geschehen sie daran erinnerte; sie scheint jedoch deutlich
erkennbar gewesen zu sein, denn sie unterschied sich der Höhe
und der Bewegung nach von den sie umgebenden Wellen.
Manche nannten sie verschlagen und berechnend. Während sie
noch listig unter den schwarzen Riffs draußen im Meer verlief,
drang aus dem Geglitzer der Meereswogen ein Todesschrei; ein
Schrei voller Bedrängnis und Verzweiflung, der Mitleid
erweckte, auch wenn er es verspottete. Zwei Strandwächter, die
damals Dienst taten, reagierten als erste auf den Schrei;
stämmige Burschen in weißen Badeanzügen, die
Berufsbezeichnung in großen roten Buchstaben auf der Brust.
So vertraut ihnen das Rettungshandwerk und Schreie
Ertrinkender waren, konnten sie nichts Vertrautes an dem
unirdischen Klang entdecken. Mit berufsmäßigem Pflichtgefühl
kümmerten sie sich jedoch nicht um diese Seltsamkeit und
gingen wie üblich vor.

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Der eine von ihnen ergriff einen Rettungsring, der mit dem
daran befestigten aufgewickelten Seil immer bereit lag, und
rannte rasch den Strand entlang zu der Stelle, wo sich die Menge
sammelte; dort warf er den hohlen Ring, nachdem er ihn um den
Kopf gewirbelt hatte, um Schwung zu holen, weit in die
Richtung hinaus, aus der das Geräusch gekommen war. Sobald
der Rettungsring in den Wellen verschwand, versuchte die
Menge neugierig einen Blick auf das unglückliche Wesen,
dessen Notlage so groß gewesen war, zu erhaschen, begierig
darauf, wie die Rettung mit dem starken Seil glückte.
Es zeigte sich jedoch bald, daß die Rettung keine rasche und
leichte Angelegenheit war; denn so sehr sie auch an dem Seil
zogen, gelang es den beiden muskulösen Rettungsschwimmern
nicht, zu bewegen, was sich am anderen Ende befand. Vielmehr
mußten sie feststellen, daß das Wesen mit gleicher oder sogar
noch größerer Kraft in die entgegengesetzte Richtung zog, bis
sie binnen weniger Sekunden von der merkwürdigen Kraft, die
sich des angebotenen Rettungsringes bemächtigt hatte, ins
Wasser gezerrt wurden.
Einer der beiden Männer rief geistesgegenwärtig die Menge
am Strand zu Hilfe und warf ihnen die noch verbliebenen
Tauwindungen zu, und im Nu zogen zusammen mit den
Rettungsschwimmern alle einigermaßen kräftigen Männer, allen
voran Kapitän Orne. Mehr als ein Dutzend starker Arme legte
sich jetzt mit aller Kraft verzweifelt in die angespannte, straffe
Leine, doch nützte es nicht im mindesten.
So kräftig sie auch ziehen mochten, die merkwürdige Kraft
am anderen Ende war kräftiger; und da keine der beiden Seiten
auch nur einen Augenblick nachließ, wurde das Tau unter der
ungeheuren Anspannung straff wie Stahl. Verzehrende Neugier
hatte inzwischen die sich abmühenden Teilnehmer, aber auch
die Zuschauer, gepackt zu sehen, welcher Art die Kraft im Meer
sein mochte. Die Vorstellung, es sei ein Ertrinkender, hatte man
schon aufgegeben, und zahllose Andeutungen, es handle sich

-30-
um Wale, Unterseeboote, Meeresungeheuer und Dämonen,
waren jetzt im Umlauf. Hatte zunächst Mitgefühl die Retter
getrieben, ließ sie jetzt die Neugier ausharren; und sie zogen mit
grimmiger Entschlossenheit, um das Rätsel zu lösen.
Da man schließlich zu der Meinung gelangte, daß ein Wal den
Rettungsring verschluckt haben mußte, rief Kapitän Orne, ein
geborener Anführer, den Leuten am Strand zu, man brauche ein
Boot, um sich dem Leviathan zu nähern, ihn zu harpunieren und
an Land zu ziehen. Mehrere Männer liefen sofort auseinander,
um sich nach einem geeigneten Fahrzeug umzusehen, während
andere herbeieilten, um den Kapitän an dem straffen Seil
abzulösen, denn sein Platz war logischerweise bei der
Bootsbesatzung, die gebildet werden sollte.
Seine eigene Lagebeurteilung war sehr vage, und keineswegs
auf Wale beschränkt, da er es schon mit einem Ungeheuer zu
tun gehabt hatte, das weit seltsamer war. Er fragte sich, wie
wohl die Handlungen und das Erscheinen eines erwachsenen
Geschöpfes jener Spezies aussehen mochte, von dem das
sechzehn Meter lange Wesen bloß der allerkleinste Abkömmling
gewesen war. Und nun kam es mit entsetzlicher Plötzlichkeit zu
dem entscheidenden Vorfall, der die ganze Szenerie von einer
des Staunens in eine des Grauens verwandelte und der
versammelten Menge, den Leuten, die sich abmühten oder nur
zusahen, Furcht einjagte. Als sich Kapitän Orne umwandte, um
seinen Platz am Seil zu verlassen, mußte er feststellen, daß seine
Hände mit unerklärlicher Kraft festgehalten wurden, und er
erkannte, daß es ihm unmöglich war, das Seil loszulassen. Seine
Notlage wurde sofort offenbar, und als seine Gefährten ihre
eigene Lage prüften, stellte jeder für sich dasselbe fest. Es ließ
sich nicht mehr leugnen - jeder der Ziehenden fand sich in
geheimnisvoller Sklaverei an das Hanfseil gebunden, mit dem
sie alle langsam, entsetzlich und unaufhaltsam in das Meer
hinausgezogen wurden.
Sprachloses Entsetzen machte sich breit; ein Grauen, das die

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Zuschauer zu völliger Handlungsunfähigkeit erstarren und in
nervliches Chaos stürzen ließ. Ihre völlige Demoralisierung
spiegelt sich in den widersprüchlichen Angaben, die sie liefern,
und den albernen Ausreden, die sie für ihre anscheinend
gefühllose Trägheit vorbringen. Ich war einer von ihnen und
weiß es daher.
Selbst die Ziehenden erlagen nach einigen
Verzweiflungsschreien und vergeblichen Seufzern dem
lähmenden Einfluß und verfielen angesichts der unbekannten
Mächte in Schweigen und Fatalismus.
Dort standen sie im bleichen Mondlicht, stemmten sich blind
gegen einen gespenstischen Untergang und zuckten einförmig
vor und zurück, als ihnen das Wasser zuerst bis zu den Knien
stieg, dann zu den Hüften. Als der Mond teilweise hinter einer
Wolke verschwand, glich die Linie der schwankenden Männer
im Halbdämmer einem unheimlichen und riesigen
Tausendfüßler, der sich im Griff eines entsetzlichen
schleichenden Todes wand.
Straffer und immer straffer spannte sich das Seil, als der Zug
in beiden Richtungen zunahm, und der Strang saugte sich
ungehindert voll in den immer höher rollenden Wellen.
Langsam stieg die Flut an, bis der Sand, der vor kurzem noch
von lachenden Kindern und flüsternden Liebenden bevölkert
gewesen war, von dem unaufhaltsamen Schwall verschluckt
wurde. Die Schar der von Panik erfaßten Zuschauer drängte
blind nach hinten, als ihnen das Wasser über die Füße kroch,
während die entsetzliche Linie der Ziehenden gräßlich weiter
schwankte, schon halbversunken und jetzt in beträchtlicher
Entfernung von den Augenzeugen. Es herrschte völliges
Schweigen.
Die Menge, die sich auf einem Fleck außer Reichweite der
Flut zusammengedrängt hatte, starrte in stummer Faszination
auf das Geschehen, ohne ein hilfreiches Wort oder eine
Ermunterung oder daß sie irgendwie zu helfen versuchte. Ein
-32-
Alptraum vor einem Drohend-Bösen, wie es die Welt noch nie
zuvor gesehen hatte, lag furchtgebietend in der Luft.
Minuten schienen sich zu Stunden zu dehnen, und noch
immer war die Menschenschlange schwankender Leiber über
der rasch ansteigenden Flut zu sehen. Rhythmisch wogte sie,
langsam, entsetzlich, vom Siegel des Untergangs getroffen.
Dickere Wolken zogen jetzt an dem höher steigendem Mond
vorbei, und die glitzernde Spur auf dem Gewässer schwand
beinahe völlig.
Kaum sichtbar zuckte die Schlangenlinie nickender Köpfe, ab
und zu glänzte das aufgeregte Gesicht eines nach hinten
blickenden Opfers bleich in der Dunkelheit. Immer schneller
zogen sich die bleichen Wolken in der Dunkelheit zusammen.
Immer schneller ballten sich die Wolken, bis endlich ihre
zornigen Umrisse fieberndes Feuer scharfzüngig herunterzucken
ließen. Der Donner grollte, zunächst leise, doch bald stieg er an
zu betäubender, rasender Stärke. Dann ein Krachen als
Höhepunkt - ein Schlag, dessen Nachwehen das Land und das
Meer gleichermaßen zu erschüttern schienen - gefolgt von
einem Wolkenbruch, dessen alles durchdringende Gewalt die
verdunkelte Welt überwältigte, als hätte sich der Himmel selbst
geöffnet, um einen rachsüchtigen Strom auszugießen.
Die Zuseher, die instinktiv handelten, da doch bewußtes und
überlegtes Denken fehlte, wichen jetzt auf die Felsenstufen, die
zur Hotelveranda führten, zurück. Unter den Gästen drinnen
hatten sich Gerüchte verbreitet, so daß die Flüchtlinge sich
einem Zustand des Entsetzens gegenübersahen, der beinahe dem
ihren glich. Ich glaube, ein paar erschreckte Schreie wurden
hervorgestoßen, doch ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.
Einige der Hotelgäste zogen sich voll Grauen in ihre Zimmer
zurück, andere wiederer harrten aus, um die rasch sinkenden
Opfer zu beobachten, wenn sich die Linie der nickenden Köpfe
in den wechselnden Blitzen zeigte. Ich erinnere mich, daß ich an
diese Köpfe und die hervorquellenden Augen, die sie haben
-33-
mußten, dachte, an Augen, in denen sich wohl Furcht, Panik und
Fieberwahn eines bösartigen Universums spiegeln mochten - all
die Sorgen, Sünden, das Elend, die gescheiterten Hoffnungen
und ungestillten Sehnsüchte, Furcht, Abscheu und Pein,
erleuchtet von dem ganzen seelenzermürbenden Schmerz eines
ewig flammenden Infernos.
Und als ich so über die Köpfe hinaussah, zauberte meine
Phantasie noch ein Auge hervor, ein einzelnes Auge,
gleichermaßen erleuchtet, doch mit einer Absicht, die für mein
Gemüt so abstoßend war, daß die Vision bald verging. An die
Krallen eines unbekannten Lasters gefesselt, schleppte sich die
Linie der Verdammten weiter, mitsamt ihren erstickenden
Schreien und unausgesprochenen Gebeten, die nur den
Dämonen der schwarzen Wellen und dem Nachtwind bekannt
waren.
Jetzt aber brach aus dem zornentbrannten Himmel solch ein
verrückter Kataklysmus satanischer Klänge hervor, daß selbst
das vorhergehende Krachen zur Bedeutungslosigkeit herabsank.
Inmitten des blendenden Glanzes herabstürzenden Feuers warf
die Stimme des Himmels die Gotteslästerungen der Hölle
zurück, und die vielfältig gemischte Agonie der Verlorenen
hallte wider von dem apokalyptischen, planetenzerreißenden
Geheul eines zyklopischen Dröhnens. Das Ende des Sturms war
gekommen, denn mit unheimlicher Plötzlichkeit setzte der
Regen aus, und der Mond warf von neuem seine bleichen
Strahlen auf ein seltsam ruhig gewordenes Meer.
Keine Linie schwankender Köpfe war mehr zu sehen. Die
Gewässer lagen ruhig und verlassen da, unterbrochen nur von
den ausrollenden Wellen, die von einem Wirbel auszugehen
schienen, weit draußen im Pfad des Mondlichts, von wo der
seltsame, fremdartige Schrei zuerst gekommen war. Als ich
jedoch die verräterische Straße silbrigen Scheines
entlangblickte, mit entzündeter Phantasie und überspannten
Sinnen, traf meine Ohren aus unendlich tief versunkener

-34-
Wüstenei der schwache und unheimliche Widerhall eines
Lachens.

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Vier Uhr

Sonia Greene und H. P. Lovecraft

Gegen zwei Uhr morgens wußte ich, daß sich etwas anbahnte.
Die große, schwarze, tiefe Stille der Nacht verriet es mir, und
eine ungeheure Grille, die mit einer Beharrlichkeit zirpte - zu
abscheulich, um bedeutungslos zu sein -, ließ es mir zur
Gewißheit werden. Gegen vier Uhr wird es geschehen - gegen
vier in der Dämmerung vor Anbruch des Morgens, genauso, wie
er es gesagt hatte. Ich hatte es vorher nicht ganz geglaubt, denn
die Prophezeiung rachsüchtiger Verrückter sind selten ernst zu
nehmen. Außerdem konnte man gerechterweise nicht mir die
Schuld für das geben, was ihm unlängst um vier Uhr morgens
zugestoßen war, an jenem entsetzlichen Morgen, dessen
Erinnerung mich nie verlassen wird. Und als er schließlich
gestorben war und auf dem uralten Friedhof begraben wurde,
der, von meinen Ostfenstern aus gesehen, auf der anderen Seite
der Straße liegt, war mir klar, daß sein Fluch mir nicht würde
schaden können. Hatte ich nicht selbst gesehen, ,wie sein
lebloser Körper mit riesigen Schaufeln voll Erde sicher
niedergehalten wurde? Konnte ich mich nicht sicher fühlen, daß
sein vermoderndes Gebein machtlos wäre, mir an dem Tag und
zu der Stunde den Untergang zu bringen, die er so präzise
angegeben hatte? Solcherart waren wahrlich meine Gedanken
bis zu jener erschütternden Nacht gewesen, dieser Nacht des
unglaublichen Chaos, der zerstörten Sicherheit und namenlosen
Vorzeichen.
Ich hatte mich früh zur Ruhe begeben, in der vergeblichen
Hoffnung, trotz der Prophezeiung, die mich verfolgte, ein paar
Stunden Schlaf zu erhaschen. Jetzt, da die Zeit so nahe gerückt
war, fand ich es immer schwieriger, die vagen Ängste abzutun,
die die ganze Zeit unter meinen bewußten Gedanken geruht

-36-
hatten. Während die kühlenden Laken meinen fiebrigen Körper
trösteten, fiel mir nichts ein zur Beruhigung meines weitaus
fiebrigeren Gemüts. Ich wälzte mich von einer Seite auf die
andere und lag unbehaglich wach, probierte zunächst eine Lage
aus, dann eine andere, immer in dem verzweifelten Bemühen,
mit dem Schlummer diese eine verflixt hartnäckige Vorstellung
zu verbannen - daß es um vier Uhr geschehen würde.
Hing diese furchterregende Unruhe mit meiner Umgebung
zusammen, mit der schicksalhaften Örtlichkeit, an der ich nach
so vielen Jahren weilte? Warum, fragte ich mich jetzt bitter,
hatte ich es zugelassen, daß ich mich gerade in dieser Nacht
aller Nächte in dem mir wohlbekannten Haus und dem mir
wohlbekannten Zimmer befand, dessen Ostfenster auf die
einsame Straße und den uralten Friedhof auf der
gegenüberliegenden Seite hinausblickten? Vor meinem geistigen
Auge stieg jede Einzelheit jener schlichten Nekropole auf - die
weiße Umzäunung, die gespenstischen Granitpfeiler und die
drückende Aura jener, an denen sich die Würmer gütlich taten.
Die Kraft der Vorstellung führte meine Vision schließlich in
fernere und verbotenere Tiefen, und ich sah unter dem
ungepflegten Rasen die schweigenden Formen der Wesen, von
denen diese Aura ausging - die ruhigen Schläfer, die
verfaulenden Wesen, die Geschöpfe, die sich in ihren Gräbern
verzweifelt hin und her gewälzt hatten, bis der Schlaf kam, und
die friedlichen Knochen in jedem Stadium des Verfalls, vom
erhaltenen und vollständigen Skelett bis zu einem Häufchen
Staub. Am meisten beneidete ich den Staub. Dann überkam
mich neues Grauen, als meine Phantasie aufsein Grab stieß. Ich
wagte es nicht, meine Gedanken in diese Ruhestätte wandern zu
lassen, und ich hätte geschrien, wäre nicht etwas der bösen Kraft
zuvorgekommen, die meine Visionen antrieb. Dieses Etwas war
ein plötzlicher Windstoß, der mitten in der ruhigen Nacht aus
dem Nichts kam, die Jalousie des nächsten Fensters aufriß, sie
mit einem zitternden Krachen zurückschlug und meinem nun

-37-
hellwachen Blick den uralten Friedhof darbot, der gespenstisch
brütend unter dem frühmorgendlichen Mond lag.
Ich spreche von diesem Windstoß als etwas Barmherzigen,
doch weiß ich jetzt, daß er das nur vorübergehend und
täuschenderweise war. Denn kaum hatten meine Augen die
monderleuchtete Szenerie wahrgenommen, als ich eines neuen
Omens gewahr wurde, das diesmal zu unverkennbar war, als daß
man es als leeres Trugbild hätte abtun können, das von den
schimmernden Gräbern auf der anderen Seite des Weges
ausging. Nachdem ich mit instinktiver Vorahnung auf die Stelle
geblickt hatte, wo er verfaulend lag - eine Stelle, die von
meinem Blick durch die Fensterrahmen abgeschnitten wurde -,
nahm ich zitternd die Annäherung eines unbeschreiblichen
Etwas wahr, das bedrohlich aus jener Richtung herangeschwebt
kam: eine vage, dunstige, formlose, gräulichweiße
Gespenstermasse, trüb und kaum greifbar noch, aber mit jedem
Augenblick ehrfurchteinflößender und von zunehmend
verheerenden Möglichkeiten. So sehr ich auch versuchen
mochte, sie als natürliche Wettererscheinung abzutun, lasteten
ihre schrecklich unheilschwangeren und absichtsvollen
Merkmale immer drückender inmitten neuer Schauer des
Entsetzens und des Verstehens auf mir, so daß ich auf den
entschieden zielgerichteten und bösartigen Höhepunkt, zu dem
es bald kam, keineswegs unvorbereitet war. Dieser Höhepunkt,
der auf grausig symbolische Weise das Ende hervorsagte, war
ebenso einfach wie bedrohlich. Mit jedem Augenblick wurde
der Nebel dichter und ballte sich zusammen, bis er zuletzt fast
greifbar war, die mir zugewandte Fläche langsam in eine
kreisförmige und deutlich konkave Form überging und
allmählich aufhörte, sich zu nähern, und gespenstisch am Ende
der Straße stehenblieb.
Und als das Gebilde dort so stand, in der feuchten Nachtluft
unter dem verderbten Mond schwach zitternd, bemerkte ich, daß
sein Aussehen dem bleichen und riesigen Zifferblatt einer

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deformierten Uhr glich.
Grausige Ereignisse lösten einander jetzt in dämonischer
Folge ab. In dem unteren rechten Winkel des dunstigen
Zifferblatts nahm ein gewaltiges Wesen Gestalt an, formlos und
nur halb zu sehen, doch mit vier beachtlichen Klauen, die gierig
nach mir griffen - Klauen, die durch ihre Umrisse und
Beschaffenheit ein beängstigendes Verhängnis verkündeten, da
sie nur allzu deutlich die gefürchtete Zeigerstellung, nämlich
unverkennbar die exakte Anzeige der Ziffer IV auf der
zitternden Scheibe des Untergangs annahmen. Nun trat das
Ungeheuer aus der konkaven Fläche des Zifferblatts oder
schlängelte sich heraus und näherte sich mir in einer
unerklärlichen Bewegung. Es war jetzt zu erkennen, daß die vier
langen, dünnen und geraden Klauen in abstoßende,
fadenähnliche Tentakel ausliefen, eigenwillig jede einzelne. Sie
tasteten unaufhörlich um sich, zunächst nur langsam, dann
immer schneller, bis mich allein das rein Schwindelerregende
dieser Bewegung beinahe in den Wahnsinn trieb. Und als
Krönung des Grauens begann ich alle versteckten und
geheimnisvollen Geräusche zu hören, die die gesteigerte
nächtliche Stille durchdrangen, tausendfach verstärkt, die mich
in einer einzigen Stimme an die gefürchtete vierte Stunde
erinnerten. Ich versuchte vergebens, mir die Decke über die
Ohren zu ziehen, um sie auszusperren; vergeblich versuchte ich
auch, sie durch mein Geschrei zu übertönen. Ich war wie stumm
und paralysiert, und doch nahm ich schmerzhaft jeden
unnatürlichen Anblick und jeden Ton in jener verheerenden,
mondverfluchten Stille wahr. Einmal gelang es mir, den Kopf
unter der Decke zu verbergen - einmal, als mir das
Grillengeschrei vier Uhr den Kopf schier zu sprengen drohte -,
aber das verstärkte das Grauen nur noch, denn das Gebrüll jenes
verabscheuungswürdigen Wesens traf mich wie die Schläge
eines gigantischen Vorschlaghammers.
Und als ich jetzt meinen gemarterten Kopf aus dieser

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nutzlosen Abdeckung hervorstreckte, entdeckte ich weiter
Teufeleien, die meine Augen beleidigten. Auf der frisch
gestrichenen Wand meiner Wohnung tanzten spöttisch, als seien
sie von dem tentakelbewehrten Ungeheuer aus dem Grab
gerufen worden, eine Unzahl von Wesen, schwarze, graue und
weiße, wie sie sich nur die Phantasie der Gottverdammten
ausmalen kann. Einige waren von winziger Kleinheit, andere
wieder bedeckten riesige Flächen. Noch in den
nebensächlichsten Einzelheiten hatte jedes eine groteske,
gräßliche Individualität; in groben Umrissen gehörten sie alle zu
ein und demselben Alptraummuster, ungeachtet ihrer
unterschiedlichen Größe. Wiederum versuchte ich, die
Ausgeburten der Nacht zu bannen, aber so vergeblich wie zuvor.
Die tanzenden Wesen an der Wand wuchsen und schrumpften,
näherten sich und wichen zurück in ihrem morbiden und
bedrohlichen Hin und Her. Und jedes glich einem dämonischen
Zifferblatt, auf dem unweigerlich eine unheimliche Stunde
aufschien - die gefürchtete, den Untergang androhende vierte
Stunde.
Da jeder Versuch, die bedrängenden Delirien abzuwehren,
scheiterte, spähte ich noch einmal zu dem Fenster mit den
offenstehenden Fensterläden hin und erblickte erneut das dem
Grab entstiegene Ungeheuer. Zuvor war es bloß gräßlich
gewesen; jetzt spottete es jeder Beschreibung. Das Wesen,
früher von unbestimmter Beschaffenheit, bestand jetzt aus
bösartig rotem Feuer und fuchtelte abstoßend mit den vier
tentakelbewehrten Klauen, drohte mit abscheulich züngelnden,
lebhaften Flammen. Es wollte nicht aufhören, mich aus dem
Dunkeln anzustarren; höhnisch, spottend, bald vorrückend, bald
sich zurückziehend. Dann deuteten diese vier zuckenden
Feuerklauen in der schwarzen Stille einladend auf ihre
dämonisch tanzenden Gegenstücke an den Wänden und
schienen rhythmisch den Takt zu der schockierenden Sarabande
zu schlagen, bis die ganze Welt ein gespenstisch rotierender

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Wirbel von hüpfenden, springenden, gleitenden, höhnenden,
lockenden, drohenden Vier-Ufer-Ziffern war. Irgendwo, aus
weiter Ferne kommend und sich über das sphinxähnliche Meer
und die Fiebersümpfe ausbreitend, hörte ich, wie der frühe
Morgenwind keuchend sich näherte; zuerst kaum merklich, dann
immer lauter, bis sein unaufhörlicher Kehrreim zur Sintflut einer
schwirrenden, summenden Kakophonie heranrauschte, die
immerwährend die entsetzliche Drohung »vier Uhr, vier Uhr,
VIER UHR« mit sich führte. Eintönig schwoll sie vom Flüstern
zu betäubendem Lärm an, wie ein riesiger Wasserfall, aber
schließlich erreichte sie einen Höhepunkt und begann zu
verklingen. Beim Zurückweichen blieb in meinem
empfindlichen Ohren ein Vibrieren, wie es beim Vorbeisausen
eines schnellen, schwerbeladenen Eisenbahnzuges entsteht; dies
und nacktes Entsetzen, in dessen Heftigkeit etwas von
gelassener Resignation steckte.
Das Ende ist nah. Töne und visuelle Eindrücke gingen auf in
einem ungeheuren, chaotischen Mahlstrom tödlicher, lärmender
Drohung, in dem all die gespenstischen und grausigen Vier-Uhr-
Ziffern, die es gab, seit Vorzeiten verschmelzen und auch die,
die es bis in die künftige Ewigkeit geben wird. Das
flammenzüngelnde Ungeheuer kommt jetzt ganz nahe, seine
Leichenhaustentakel fahren mir über das Gesicht, und seine
Krallen tasten, hungrig gekrümmt, nach meiner Kehle. Endlich
kann ich sein Antlitz durch die sich heftig bewegenden,
phosphoreszierenden Dämpfe der Friedhofsluft erkennen, und
unter entsetzlichen Gewissensbissen wird mir klar, daß es sich
um den Inbegriff einer gräßlichen, ungeheuren,
wasserspeierähnlichen Karikatur seines Gesichts handelt - das
Gesicht desjenigen, aus dessen unruhigem Grab es aufgestiegen
ist. Nunmehr erkenne ich, daß mein Untergang fürwahr
besiegelt ist, daß die wilden Drohungen des Verrückten in der
Tat die dämonischen Verwünschungen eines mächtigen Teufels
waren und meine Unschuld mich nicht vor dem bösartigen

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Willen schützen wird, der nach grundloser Rache lechzt. Er ist
entschlossen, mir mit Zinsen zurückzuzahlen, was er in jener
gespenstischen Stunde erlitten hat, entschlossen, mich aus der
Welt zu zerren in Regionen, die allein die Wahnsinnigen und
vom Teufel Gerittenen kennen.
Und als inmitten der zischenden Höllenflammen und des
Lärms der Verdammten diese scharfen Klauen mörderisch auf
meine Kehle weisen, höre ich auf dem Kaminsims das schwache
Schwirren eines Zeitmessers, das Schwirren, das mir verrät, daß
bald die Stunde schlägt, deren Name jetzt unaufhörlich aus dem
todesgleichen und höhlenartigen Rachen des rasselnden,
höhnenden, krächzenden Gruftungeheuers vor meinen Augen
fließt - die verfluchte Teufelsstunde vier Uhr.

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Die geliebten Toten

C. M. Eddy jr. und H. P. Lovecraft

Es ist Mitternacht. Ehe der Morgen graut, wird man mich


finden und in eine finstere Zelle schleppen, wo ich endlos
dahinvegetieren soll, während unstillbare Gelüste an meinen
Lebensgeistern zehren und mir das Herz verdorren, bis ich
zuletzt mit den Toten eins werde, die ich so liebe.
Mein Platz ist eine stinkende Vertiefung in einem alten Grab,
als Schreibtisch dient mir die Rückseite eines umgestürzten
Grabsteins, den der Zahn der Zeit glattgeschliffen hat; mein
einziges Licht ist das der Sterne und einer dünnen Mondsichel,
und doch kann ich so deutlich sehen, als wäre es heller Tag.
Auf allen Seiten rings um mich halten Grabsäulen Wache
über vernachlässigten Gräbern, halb umgestürzte, verwahrloste
Grabsteine liegen fast verborgen in Unmengen widerlicher,
verfaulter Vegetation. Über dem übrigen Friedhof, scharf gegen
den hellen Himmel abgehoben, reckt ein aufrechtstehender
Grabstein sein karges, spitz zulaufendes Türmchen in die Höhe
wie der gespenstische Anführer einer Lemurenhorde. Die Luft
ist schwer von abscheulichen Ausdünstungen der Pilzgewächse
und den Gerüchen der feuchten, schimmeligen Erde, aber für
mich sind das die Wohlgerüche Elysiums. Es ist still -
erschreckend still -, ein Schweigen, dessen Tiefe von Ernst und
Grauen kündet. Könnte ich mir meinen Wohnsitz frei wählen,
fiele meine Wahl auf das Herz einer derartigen Stadt aus
faulendem Fleisch und zerfallenden Knochen, denn ihre Nähe
sendet ekstatische Schauder durch meine Seele, läßt das träge
Blut durch die Adern rasen und mein schlaffes Herz in der
Freude eines Deliriums pochen - denn die Anwesenheit des
Todes ist für mich das Leben!
Meine frühe Kindheit verbrachte ich in einer einzigen
-43-
ununterbrochenen, trostlosen und eintönigen Apathie. Streng
asketisch, kränklich, bleich, allzu klein geraten und häufig in
länger dauernde Perioden morbider Niedergeschlagenheit
versunken, wurde ich von den gesunden, normalen Jungen
meines Alters gemieden. Sie nannten mich Spielverderber und
»altes Weib«, weil ich kein Interesse an den rohen, kindischen
Spielen hatte, die sie spielten, und auch nicht die Ausdauer
mitzumachen, falls ich es gewollt hätte.
Wie alle ländlichen Orte hatte auch Fenham seine
Klatschbasen mit spitzen Zungen. Für ihre vor nichts
zurückschreckende Phantasie war mein lethargisches
Temperament eine abschreckende Abnormität; sie verglichen
mich mit meinen Eltern und schüttelten vielsagend den Kopf
über den ungeheuren Unterschied. Einige, die stärker dem
Aberglauben zuneigten, nannten mich offen einen Wechselbalg,
während andere, die von meiner Herkunft wußten, auf die
vagen, geheimnisvollen Gerüchte aufmerksam machten, die
über einen Ururgroßonkel umliefen, der als Hexenmeister auf
dem Scheiterhaufen verbrannt worden war.
Hätte ich in einer größeren Stadt gelebt mit mehr Gelegenheit
zu kameradschaftlichem Umgang mit Gleichgesinnten, hätte ich
vielleicht diese frühe Neigung zum Einsiedlertum überwinden
können. In der Pubertät wurde ich noch verstockter, trübsinniger
und apathischer. Meinem Leben fehlte es an Antrieb. Etwas
schien mich im Griff zu haben, das meine Sinne stumpf machte,
meine Entwicklung hemmte, meinen Unternehmungsgeist
unterband und mich auf unerklärliche Weise mit
Unzufriedenheit erfüllte.
Ich war sechzehn, als ich zum ersten Mal ein Begräbnis
besuchte. In Fenham war ein Leichenbegräbnis ein
außerordentliches gesellschaftliches Ereignis, denn unsere Stadt
war für die Langlebigkeit ihrer Bewohner bekannt. Wenn
darüber hinaus mein überall bekannter Großvater der Anlaß für
ein Begräbnis war, lag es nahe, daß die Ortsbewohner in hellen

-44-
Scharen ausziehen würden, um seinem Andenken die
gebührende Ehre zuteil werden zu lassen. Und doch sah ich der
näherrückenden Zeremonie nicht einmal mit verstecktem
Interesse entgegen. Alles, was mich aus meiner
gewohnheitsmäßigen Trägheit reißen konnte, versprach nur
körperliche und geistige Unruhe.
Mich dem Drängen meiner Eltern fügend, vor allem aber
deswegen, um mich nicht ihrer bissigen Mißbilligung dessen
auszusetzen, was sie meine pflichtvergessene Haltung zu nennen
pflegten, erklärte ich mich bereit, sie zu begleiten.
Am Begräbnis meines Großvaters war überhaupt nichts
ungewöhnlich, es sei denn die enorme Blumenpracht der
Grabspenden. Es war aber, wie ich schon sagte, meine erste
Berührung mit den feierlichen Riten, die aus solchem Anlaß
abgehalten werden. Etwas an dem abgedunkelten Zimmer, dem
länglichen Sarg mit seiner düsteren Drapierung, den
aufgehäuften duftenden Blüten, an den Anzeichen von Trauer
unter den versammelten Dorfbewohnern rüttelte mich aus
meiner normalen Trägheit auf und erregte meine
Aufmerksamkeit. Durch einen Stoß des spitzen Ellbogens
meiner Mutter aus meiner augenblicklichen Tagträumerei
gerissen, folgte ich ihr in den Raum zu dem Sarg, in dem die
Leiche meines Großvaters aufgebahrt lag.
Zum ersten Mal wurde ich mit dem Tod konfrontiert. Ich
blickte auf das ruhige, stille Gesicht mit den unzähligen Falten
hinunter und bemerkte nichts, was zu Trauer Anlaß geboten
hätte. Vielmehr dünkte es mich, daß Großvater ungeheuer ruhig,
auf sanfte Weise völlig zufrieden sei. Ich fühlte mich von einem
seltsam unangemessenen erhabenen Gefühl ergriffen. Es
überkam mich so langsam, so hinterlistig, daß es mir kaum
auffiel. Wenn ich im Geiste jene zukunftsträchtige Stunde
vorüberziehen lasse, kommt es mir vor, daß dieses Gefühl mit
dem ersten Blick auf die Begräbnisszenerie zusammenhängen
muß und seinen Griff mit raffinierter Hinterhältigkeit

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schweigend verstärkte. Ein verderblicher, bösartiger Einfluß, der
von der Leiche selbst auszugehen schien, hielt mich mit
magnetischer Faszination gebannt. Mein ganzes Wesen schien
mit einer ekstatischen elektrischen Kraft aufgeladen zu sein, und
ich fühlte, wie sich meine Gestalt ohne bewußte
Willensanstrengung aufrichtete. Meine Augen versuchten, die
geschlossenen Lider des Toten zu durchdringen und eine
geheime Botschaft abzulesen, die hinter ihnen verborgen lag.
Mein Herz hüpfte plötzlich vor unheimlichem Entzücken und
schlug mit dämonischer Kraft gegen meine Rippen, als wollte es
sich von den beengenden Wänden meiner gebrechlichen Gestalt
befreien. Eine ausgelassene, ungezügelte und die Seele
befriedigende Sinnlichkeit erfaßte mich. Aufs neue wurde ich
durch einen kräftigen Stoß des mütterlichen Ellbogens zum
Handeln getrieben. Ich hatte den Weg zu dem schwarzverhüllten
Sarg mit bleiernem Schritt zurückgelegt, mit neuerlangter
Lebhaftigkeit ging ich hinweg.
Ich begleitete den Leichenzug zum Friedhof, mein ganzes
körperliches Dasein durchdrungen von diesem mystischen,
belebenden Einfluß. Es war, als hätte ich einige tiefe Züge eines
exotischen Elixiers genommen - einen abscheulichen Trank, der
nach gotteslästerlichen Rezepturen in den Archiven Belials
gebraut worden war.
Die Ortsbewohner waren vertieft in die Zeremonie, so daß nur
mein Vater und meine Mutter die radikale Veränderung meines
Benehmens bemerkten, aber in den folgenden vierzehn Tagen
lieferte mein verändertes Verhalten den Wichtigtuern frischen
Stoff für ihre spitzen Zungen. Gegen Ende dieses Zeitraums
begann die Kraft des Stimulans an Wirkung zu verlieren. Nach
ein bis zwei Tagen war ich wieder in meine altgewohnte
Apathie verfallen, wenn auch nicht in die vollständige und
gründliche Lähmung wie in der Vergangenheit. Früher hatte ich
nicht das geringste Verlangen verspürt, aus meiner
Abgespanntheit auszubrechen. Jetzt trieb mich eine vage und

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unbestimmbare Unruhe an. Äußerlich war ich wieder ich selbst
geworden, und die Klatschbasen wandten sich einem
lohnenderen Thema zu. Hätten sie auch nur im entferntesten den
wahren Grund meiner heiteren Stimmung geahnt, hätten sie
mich gemieden, als wäre ich ein abscheuliches, lepröses Wesen.
Hätte ich mir die widerliche Macht hinter meiner so kurz
währenden Hochstimmung vor Augen geführt, hätte ich mich
für immer von der übrigen Welt zurückgezogen und den Rest
meiner Jahre in reuiger Abgeschiedenheit zugebracht.
Ein Unglück kommt selten allein, und deshalb starben in den
nächsten fünf Jahren, trotz der sprichwörtlichen Langlebigkeit
unserer Ortsbewohner, beide Elternteile. Meine Mutter ereilte es
zuerst, bei einem höchst ungewöhnlichen Unfall; und mein
Schmerz war so echt, daß ich ehrlich überrascht war, als seine
Aufrichtigkeit durch jenes beinahe vergessene Gefühl äußerster
und teuflischer Ekstase verhöhnt und widerlegt wurde. Wieder
einmal sprang mir das Herz ungebärdig im Leib, wieder einmal
pochte es mit der Geschwindigkeit eines Hammerwerks und ließ
mit meteorischem Eifer das heiße Blut in meinen Adern
zirkulieren. Ich schüttelte den lästigen Mantel der Trägheit ab,
nur um sie durch die weitaus entsetzlichere Last eines
abscheulichen, unheiligen Verlangens zu ersetzen. Ich kam nicht
von dem Sterbezimmer los, in dem die Leiche meiner Mutter
lag, meine Seele dürstete nach dem teuflischen Nektar, der die
Luft des abgedunkelten Raums zu durchdringen schien. Jeder
Atemzug verlieh mir Kraft, hob sich empor zu hochaufragenden
Höhen seraphischer Befriedigung. Mir war jetzt klar, daß es sich
lediglich um eine Art Drogendelirium handelte, das bald
vorüberging und mich durch seine bösartige Kraft entsprechend
geschwächt zurückließ, doch konnte ich mein Verlangen so
wenig beherrschen, wie ich die gordischen Knoten in dem
bereits verworrenen Strang meines Schicksals durchschlagen
konnte.
Ich wußte auch, daß durch einen seltsamen Teufelsfluch mein

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Leben in allem, was ich tat, von Taten beflügelt wurde, daß es in
meiner Persönlichkeit etwas gab, das nur auf die
ehrfurchtgebietende Anwesenheit eines leblosen Körpers
ansprach. Ein paar Tage später, begierig nach dem bestialischen
Anregungsmittel, von dem die Fülle meines Daseins abhing,
sprach ich mit Fenhams einzigem Totengräber und überredete
ihn, mich als eine Art Lehrling einzustellen.
Der Tod meiner Mutter hatte meinen Vater sichtlich
mitgenommen. Ich glaube, hätte ich den Einfall einer solch
outrierten Beschäftigung zu jeder anderen Zeit vorgetragen,
hätte er nachdrücklich auf Ablehnung bestanden. So aber
stimmte er nach einem Augenblick der Überlegung zu. Wie
wenig ließ ich mir träumen, daß er der Gegenstand meines
ersten praktischen Unterrichts sein würde!
Auch er starb unerwartet, bei ihm zeigte sich ganz
überraschend ein Herzleiden. Mein in den Achtzigern stehender
Arbeitgeber versuchte nach besten Kräften, mich von der
undenkbaren Aufgabe abzuhalten, seinen Körper
einzubalsamieren, und ihm entging das leidenschaftliche
Glitzern in meinen Augen, als ich ihn schließlich zu meinem
verdammenswerten Vorhaben überredete. Ich kann kaum
hoffen, die abstoßenden, die unaussprechlichen Gedanken
auszudrücken, die in heftigen leidenschaftlichen Wellen mein
rasend pochendes Herz durchströmten, als ich mich mit dem
leblosen Körper beschäftigte. Unermeßliche Liebe war der
Schlüssel zu diesem Begriff der Liebe, unermeßlicher als ich sie
je zu seinen Lebzeiten für ihn empfunden hatte.
Mein Vater war kein reicher Mann, doch hatte er genug
weltliche Güter besessen, die ihn beneidenswert unabhängig
gemacht haben. Als sein Alleinerbe befand ich mich in einer
ziemlich paradoxen Lage. Meine frühe Jugend hatte mich völlig
ungeeignet gemacht für den Umgang mit der modernen Welt,
und doch wurde ich des primitiven Lebens in Fenham und der
Isolierung, die damit einherging, überdrüssig. Tatsächlich

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machte die Langlebigkeit seiner Bewohner das einzige Motiv
für meinen Lehrvertrag zunichte.
Nachdem die Erbschaftsangelegenheiten geregelt waren,
bereitete es mir keine Schwierigkeiten, das Lehrverhältnis
aufzulösen, und ich übersiedelte nach Bayboro, einer etwa
fünfzig Meilen entfernten Stadt. Hier war mir mein Lehrjahr von
gutem Nutzen. Ohne Schwierigkeiten gelang es mir, als Helfer
eine angenehme Geschäftsverbindung mit der Gresham
Corporation anzuknüpfen, dem größten Bestattungsunternehmen
der Stadt. Ich bat sogar um die Erlaubnis, auf dem
Betriebsgelände schlafen zu dürfen denn die Nähe zu den Toten
war bereits zu einer Zwangsvorstellung geworden.
Ich widmete mich meinen Aufgaben mit ungewöhnlichem
Eifer. Kein Fall war für mein ruchloses Empfinden zu grausig,
und bald brachte ich es in meinem erwählten Beruf zur
Meisterschaft. Mit jeder neuen Leiche, die in das
Bestattungsunternehmen eingeliefert wurde, erfüllte sich das
Versprechen unseligen Wohlbehagens, respektloser
Befriedigung, erneuerte sich der verzückte Aufstand in den
Adern, der meine grausige Aufgabe in liebgewordene Hingabe
verwandelte - und doch forderte jede fleischliche Befriedigung
ihren Preis. Allmählich begann ich die Tage zu fürchten, an
denen keine Toten, über denen ich frohlocken konnte,
eingeliefert wurden, und ich betete zu allen widerwärtigen
Göttern der fernsten Abgründe, sie möchten raschen, sicheren
Tod über die Bewohner der Stadt bringen.
Dann kamen die Nächte, da eine geduckte Gestalt sich
verstohlen durch die schattigen Straßen der Vorstädte stahl,
pechschwarze Nächte, da der mitternächtliche Mond von
schweren, tiefhängenden Wolken verhüllt wurde. Diese
versteckte Gestalt verschmolz mit den Bäumen und warf
furchtsame Blicke über die Schultern, eine Gestalt, die in einer
abgefeimten Aufgabe unterwegs war. Nach solch nächtlichem
Umherstreifen verkündeten die Morgenzeitungen ihrer

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sensationshungrigen Leserschaft in großer Aufmachung die
Einzelheiten eines alptraumhaften Verbrechens, Spalte um
Spalte reißerisches Wühlen in gräßlichen Scheußlichkeiten;
Abschnitt um Abschnitt unmögliche Lösungen und ausgefallene,
einander widersprechende Vermutungen. Während dieser
Vorgänge verspürte ich ein Hochgefühl von Sicherheit, denn
wer würde auch nur einen Augenblick lang den Angestellten
eines Bestattungsunternehmens, in dem der Tod doch
augenscheinlich eine alltägliche Sache war, verdächtigen,
Erleichterung von einem unaussprechlichen Zwang in der
kaltblütigen Ermordung seiner Mitmenschen zu suchen? Ich
plante jedes einzelne Verbrechen mit der verschlagenen
Berechnung eines Verrückten und brachte genügend
Abwechslung in die Art und Weise meiner Morde, so daß sich
niemand auch nur träumen lassen würde, sie wären alle das
Werk ein und desselben Paares blutbefleckter Hände. Die
Nachwirkungen jedes nächtlichen Unternehmens waren eine
ekstatische Stunde verrückter und ungetrübter Wonnen, eine
Lust, die immer durch die Möglichkeit erhöht wurde, daß ihr
ergötzlicher Born später, im Zusammenhang mit meiner
normalen Tätigkeit, meiner lustvollen Obhut zugeteilt werden
würde. Manchmal kam es zu diesem doppelten Gipfel der
Wonne - o seltene, köstliche Erinnerung!
In langen Nächten, da ich mich an den Schutz meines
Zufluchtsortes klammerte, fühlte ich mich durch die Grabesstille
herausgefordert, neue und unaussprechliche Arten zu ersinnen,
die Toten, die ich liebte, mit meinen Gefühlsbezeugungen zu
überschütten die Toten, die mir Leben gaben!
Eines Morgens kam Mr. Gresham weit früher als gewöhnlich
und fand mich auf einer kalten Grabtafel ausgestreckt tief in
ghulischem Schlaf, meine Arme um den kalten, steifen, nackten
Körper einer stinkenden Leiche gelegt! Er weckte mich aus
meinen wollüstigen Träumen, seine Augen füllten sich mit einer
Mischung von Abscheu und Mitleid. Sanft, aber fest erklärte er

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mir, daß er mich entlassen müßte, daß meine Nerven
überansprucht seien, daß ich eine lange Erholungspause von den
abstoßenden Aufgaben brauchte, die mein Beruf mit sich
brachte, daß meine empfängliche Jugend von der entsetzlichen
Atmosphäre meiner Umwelt zu sehr in Mitleidenschaft gezogen
sei. Wie wenig wußte er von dem dämonischen Verlangen, das
mich zu meinem abscheulichen Tun antrieb! Ich war klug genug
zu erkennen, daß dieses Argument bloß seinen Glauben an
meine potentielle Verrücktheit stärken würde - es war weit
besser fortzugehen, als die Entdekkung des Motives, das
meinem Handeln zugrunde lag, herauszufordern.
Nach diesem Vorfall wagte ich es nicht mehr, lange an ein
und derselben Stelle zu bleiben, aus Furcht, eine unvorsichtige
Handlung würde mein Geheimnis vor einer mißbilligenden Welt
offenlegen. Ich ließ mich von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf
treiben. Ich arbeitete in Leichenschauhäusern, in der Nähe von
Friedhöfen, einmal in einem Krematorium - überall, wo mir die
Möglichkeit offenstand, den Toten nahe zu sein, nach denen ich
so lechzte.
Dann brach der Weltkrieg aus. Ich war einer der ersten, der
über den Ozean fuhr, einer der letzten, der zurückkehrte. Vier
Jahre blutroter Schlachthofhölle... krankmachender
Regenmorast und faulige Schützengräben... das
ohrenbetäubende Detonieren heulender Granaten... das
monotone Schwirren teuflischer Gewehrkugeln... der rauchende
Wahnsinn der Brunnen Phlegethons... die erstickenden Dämpfe
mörderischer Gase... groteske Überreste zerschmetterter und
zerfetzter Körper... vier Jahre transzendenter Befriedigung.
In jedem Wanderer steckt der latente Drang, an die Stätten
seiner Kindheit zurückzukehren. Einige Monate später wanderte
ich über die vertrauten Nebenstraßen von Fenham.
Leerstehende, heruntergekommene Farmhäuser säumten die
Straßenränder, und die Jahre hatten für den Ort selbst einen
ähnlichen Rückschritt gebracht. Nur noch eine Handvoll Häuser

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waren bewohnt, darunter auch das eine, das ich mein Heim
genannt hatte. Die von Unkraut überwucherte, verstopfte
Einfahrt, die zerbrochenen Fensterscheiben, die verwilderten
Äcker, die sich hinter dem Haus erstreckten, alles bestätigte
stumm das, was vorsichtige Nachforschungen zutage gefördert
hatten - daß dort jetzt ein verkommener Trunkenbold wohnte,
der eine kümmerliche Existenz von den wenigen Aufträgen
fristete, die ihm die paar Nachbarn aus Mitgefühl für die
unterdrückte Frau und das unterernährte Kind zukommen ließen,
die sein Los teilten. Alles in allem war der Glanz, den meine
Umgebung in der Jugend hatte, völlig verflogen. Daher lenkte
ich meine Schritte, durch einen abirrenden närrischen Gedanken
ausgelöst, nach Bayboro.
Auch hier hatten die Jahre Veränderungen bewirkt, aber in
umgekehrter Richtung. Die Kleinstadt, an die ich mich erinnerte,
hatte sich trotz ihrer Entvölkerung in der Kriegszeit beinahe
verdoppelt.
Instinktiv suchte ich den früheren Ort meiner Beschäftigung
auf, den ich noch immer vorfand, aber mit einem unbekannten
Namen und der Bezeichnung »Nachfolger von« über der Tür,
denn die Grippeepidemie hatte Mr. Gresham hinweggerafft,
während die jungen Leute in Übersee waren. Eine
schicksalshafte Laune trieb mich, um Arbeit zu bitten. Ich
verwies mit leichtem Zittern auf meine Ausbildung bei Mr.
Gresham, doch waren meine Befürchtungen unbegründet - mein
verstorbener Arbeitgeber hatte das Geheimnis meines dem
Berufsethos widersprechenden Verhaltens mit ins Grab
genommen. Eine glücklicherweise offene Stelle ermöglichte es,
daß ich unverzüglich eingestellt wurde.
Dann folgten flüchtige, alptraumartige Erinnerungen an
Nächte unfrommer Pilgerfahrten und das unüberwindliche
Verlangen, diese gesetzeswidrigen Wonnen zu erneuern. Ich ließ
jede Vorsicht fahren und startete eine neue Reihe
verdammenswerter Ausschweifungen. Wieder einmal lieferten

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die teuflischen Einzelheiten meiner Verbrechen der
Sensationspresse willkommenes Material, sie wurden mit den
blutigen Wochen des Schreckens verglichen, welche die Stadt
vor Jahren in Panik versetzt hatten. Wieder einmal warf die
Polizei ihr Fangnetz aus und barg in den sich
zusammenziehenden Schlingen - nichts!
Mein Verlangen nach dem giftigen Nektar der Toten wuchs
sich zu einem verzehrenden Feuer aus, und ich begann, die
Pausen zwischen meinen abscheulichen Streifzügen zu
verkürzen. Ich erkannte, daß ich mich auf gefährlichem Boden
bewegte, aber eine dämonische Begierde hielt mich mit ihren
quälenden Fangarmen umfaßt und trieb mich an zu weiteren
Taten.
Während dieser Zeit stumpfte mein Gemüt immer mehr gegen
jeden Einfluß ab, mit Ausnahme der Befriedigung meines
wahnsinnigen Verlangens. Unbedeutende Einzelheiten, die für
jemanden, der sich auf solche bösen Eskapaden einläßt, von
lebenswichtiger Bedeutung sind, entgingen mir.
Irgendwie, irgendwo hinterließ ich eine unmerkliche Spur,
einen flüchtigen Fingerzeig - nicht genug, um meine Verhaftung
zu rechtfertigen, aber ausreichend, um die Flut der
Verdächtigungen in meine Richtung zu lenken. Ich spürte dieses
Belauern, war jedoch nicht fähig, dem wachsenden Verlangen
nach mehr Toten zur Belebung meiner entkräfteten Seele
Einhalt zu gebieten.
Und dann kam die Nacht, als mich der schrille Pfiff der
Polizei aufschreckte, als ich mich gerade teuflisch an der Leiche
meines letzten Opfers windete und ein blutiges Rasiermesser
noch immer fest in der Hand hielt. Mit einer flinken Bewegung
schloß ich das Rasiermesser und steckte es in die Manteltasche.
Gummiknüppel trommelten einen heftigen Rhythmus an der
Tür. Ich schlug das Fenster mit einem Stuhl ein und dankte dem
Schicksal, daß ich eine der billigeren Wohngegenden als
Unterkunft gewählt hatte. Ich ließ mich in eine schäbige Gasse
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gleiten, als blauuniformierte Gestalten durch die eingeschlagene
Tür drängten. Ich flüchtete über wackelige Zäune, durch
schmutzige Hinterhöfe, vorbei an baufälligen Hütten, trübe
beleuchtete enge Gassen entlang. Auf einmal fielen mir die
bewaldeten Moore ein, die vor der Stadt lagen und sich an die
fünfzig Meilen weit bis zu den Außenbezirken Fenhams
erstreckten. Wenn ich dieses Ziel erreichte, war ich erstmal in
Sicherheit. Vor der Morgendämmerung kämpfte ich mich hastig
durch dieses abschreckende Ödland, stolperte über die
verrottenden Wurzel halb abgestorbener Bäume, deren nackte
Zweige sich wie groteske Arme ausstreckten und mich mit
höhnischen Umarmungen zu umstricken suchten.
Die Geister der ruchlosen Götter, denen ich meine
inbrünstigen Gebete darbrachte, mußten meine Schritte durch
den bedrohlichen Morast gelenkt haben. Eine Woche später -
erschöpft, durchnäßt und ausgemergelt - verbarg ich mich in den
Wäldern eine Meile von Fenham entfernt. Bislang war ich
meinen Verfolgern entkommen, doch wagte ich nicht, mich zu
zeigen, denn ich wußte, daß die Fahndung auch im Rundfunk
gelaufen sein mußte. Ich hoffte vage, daß es mir gelungen war,
meine Spuren zu verwischen. Nach jener ersten Wahnsinnsnacht
hörte ich keinen Klang fremder Stimmen mehr, kein Gespräch
schwerer Körper, die sich durch das Unterholz kämpften.
Vielleicht war man zu dem Schluß gekommen, daß meine
Leiche in irgendeinem stehenden Gewässer verborgen lag oder
auf immer im Sumpf, der nichts mehr losließ, verschwunden
war.
Hunger nagte schmerzhaft an meinen Eingeweiden, der Durst
hatte meine Kehle ausgedörrt. Weit schlimmer jedoch war die
unerträgliche Gier meiner hungrigen Seele nach dem Anreiz,
den ich nur in der Nähe der Toten fand. Meine Nasenlöcher
zuckten in süßer Erinnerung. Ich konnte mich nicht mehr mit
dem Gedanken täuschen, daß dieses Verlangen eine bloße Laune
der erhitzten Phantasie wäre. Ich wußte jetzt, daß es ein

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unabdingbarer Bestandteil des Lebens selbst war, daß ich ohne
seine Befriedigung wie eine leere Lampe ausbrennen würde. Ich
sammelte alle verbliebene Energie, um mich für die Aufgabe zu
rüsten, meinen verfluchten Appetit zu befriedigen. Trotz der
damit verbundenen Gefahr machte ich mich zu einer
Erkundigung auf, ich huschte wie ein abstoßendes Gespenst
durch die schützenden Schatten. Wieder einmal hatte ich das
seltsame Gefühl, ich würde von einem unsichtbaren
Gefolgsmann des Satans geleitet. Doch selbst meine von Sünde
durchdrungene Seele revoltierte für einen Augenblick, als ich
vor meiner heimatlichen Bleibe, wo ich in meiner Jugend
gewohnt hatte, stand.
Dann verschwammen diese schmerzlichen Erinnerungen. An
ihre Stelle trat ein überwältigendes, lusterfülltes Verlangen.
Hinter den verfallenen Wänden dieses alten Gemäuers lag meine
Beute. Einen Augenblick später hatte ich eines der zerbrochenen
Fenster hochgeschoben und kletterte über die Brüstung. Ich
horchte einen Augenblick, alle Sinne wachsam, alle Muskeln
zur Tat gespannt. Das Schweigen gab mir wieder Sicherheit.
Katzengleich stahl ich mich durch die vertrauten Räume, bis mir
ein röchelndes Schnarchen verkündete, an welcher Stelle ich
Erleichterung von meiner Qual finden würde. Ich erlaubte mir
ein Seufzen vorweggenommener Ekstase, als ich die Tür der
Schlafkammer aufstieß. Panthergleich fand ich den Weg zu der
ausgestreckten Gestalt, die in trunkener Benommenheit dalag.
Die Frau und das Kind - wo waren sie? - nun, sie konnten
warten. Meine gekrallten Finger tasteten nach seiner Kehle.
Stunden später war ich erneut auf der Flucht, doch verfügte
ich über eine neuerlangte gestohlene Stärke. Drei stumme
Gestalten schliefen den ewigen Schlaf. Erst als das grelle
Tageslicht in mein Versteck drang, wurden mir die
unausweichlichen Folgen meiner so unbedacht erlangten
Erleichterung klar. Bis zu dieser Zeit mußte man die Leichen
entdeckt haben. Selbst die dümmsten Landpolizisten mußten die

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Tragödie mit meiner Flucht aus der nahen Stadt in Verbindung
bringen. Außerdem war ich zum ersten Mal sorglos genug
gewesen, einen greifbaren Beweis meiner Identität zu
hinterlassen - meine Fingerabdrücke auf den Kehlen der gerade
Ermordeten. Den ganzen Tag über zitterte ich in nervöser
Vorahnung. Schon das bloße Knacken eines trockenen Zweiges
unter meinem Schritt beschwor Bilder herauf, die mich in
Schrekken versetzten. In jener Nacht, im Schutz der Dunkelheit,
umschlich ich Fenham und brach in die Wälder auf, die auf der
anderen Seite lagen. Vor Morgenanbruch kam der erste
definitive Hinweis, daß die Verfolgung wieder im Gange war -
fernes Hundegebell.
Während der langen Nacht quälte ich mich weiter, aber am
Morgen konnte ich spüren, wie meine künstliche Kraft verebbte.
Gegen Mittag regte sich neuerlich der hartnäckige Ruf des
vergiftenden Fluches, und ich wußte, daß ich unterwegs
zusammenbrechen würde, wenn nicht wieder die exotische
Trunkenheit, die nur mit der Nähe der geliebten Toten kam,
eintrat. Ich war in einem weiten Halbkreis gewandert. Wenn ich
mich stetig weiterkämpfte, würde ich gegen Mitternacht bei dem
Friedhof sein, in dem ich vor vielen Jahren meine Eltern zur
letzten Ruhe gebettet hatte. Meine einzige Hoffnung, davon war
ich überzeugt, lag darin, dieses Ziel zu erreichen, ehe man mich
überwältigte. Mit einem schweigenden Gebet zu den Teufeln,
die mein Schicksal beherrschten, wandte ich mich mit bleiernen
Füßen in die Richtung meines letzten Zufluchtsortes.
Großer Gott! Waren wirklich kaum zwölf Stunden vergangen,
seit ich nach meinem gespenstischen Zufluchtsort aufgebrochen
war? In jeder bleiernen Stunde habe ich eine Ewigkeit durchlebt.
Doch wurde mir eine reiche Belohnung zuteil. Der ungesunde
Hauch dieses verrotteten Ortes ist Weihrauch für meine Seele.
Die ersten Strahlen der Morgendämmerung färben den
Horizont grau. Sie kommen! Meine scharfen Ohren fangen das
ferne Heulen der Hunde auf! Es kann nur Minuten dauern, bis

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sie mich gefunden haben werden und mich für immer von der
übrigen Welt wegschließen, auf daß ich meine Tage in rasender
Sehnsucht verbringe, bis ich zuletzt mit den Toten eins werde,
die ich liebe!
Sie sollen mich nicht ergreifen! Ein Fluchtweg steht mir
offen! Die Wahl eines Feiglings vielleicht, aber besser - weit
besser - als die endlosen Monate namenlosen Unglücks. Ich
werde diese Aufzeichnung zurücklassen, damit die eine oder
andere Seele vielleicht versteht, warum ich diese Wahl treffe.
Das Rasiermesser! Ich hatte es seit meiner Flucht aus Bayboro
in meiner Tasche vergessen. Seine blutbefleckte Klinge glitzert
merkwürdig in dem abnehmenden Licht der dünnen
Mondsichel. Nur ein klaffender Schnitt quer über mein linkes
Handgelenk, und die Erlösung ist gesichert.
Warmes, frisches Blut sprenkelt groteske Muster auf
schmutzige, zerbrochene Platten... phantasmagorische Horden
schwärmen über die faulenden Gräber... gespenstische Finger
locken mich... ätherische Bruchstücke ungeschriebener
Melodien steigen im himmlischen Crescendo auf... ferne Sterne
tanzen trunken zu dämonischer Begleitmusik... tausend dünne
Hämmer schlagen in meinem chaotischen Gehirn entsetzliche
Dissonanzen auf Ambossen an... graue Gespenster
hingemordeter Seelen ziehen in höhnendem Schweigen an mir
vorbei... verbrannte Zungen unsichtbarer Flammen drücken
meiner siechen Seele das Brandzeichen der Hölle auf... Ich kann
- nicht mehr schreiben...

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Taub, stumm und blind

C. M. Eddy jr. und H. P. Lovecraft

Am 28. Juni 1924, kurz nach Mittag, hielt Dr. Morehouse mit
seinem Wagen vor dem Tanner-Besitz, und vier Männer stiegen
aus. Das Steingebäude, perfekt wie neu instand gesetzt, stand
gleich neben der Straße, und ohne Sumpf auf der Hinterseite
hätte es keine Spur einer düsteren Andeutung gegeben.
Der makellos weiße Hauseingang über dem gepflegten Rasen
war schon in einiger Entfernung von der Straße her sichtbar, und
als sich die Gesellschaft des Arztes näherte, war zu erkennen,
daß die schwere Eingangstür sperrangelweit offen stand. Nur die
Fliegentür war geschlossen. Die Nähe des Hauses hatte den vier
Männern ein nervöses Schweigen aufgezwungen, denn was
darin lauerte, konnte man sich nur mit unbestimmtem Grauen
ausmalen. Dieses Grauen nahm deutlich ab, als die Neugierigen
das eindeutige Geräusch von Richard Blakes Schreibmaschine
vernahmen.
Vor weniger als einer Stunde war ein erwachsener Mann aus
dem Haus geflohen, schreiend und ohne Hut und Mantel, und
war auf der Schwelle des nächsten Nachbarhauses, eine halbe
Meile entfernt, zusammengebrochen. Er hatte zusammenhanglos
etwas von »Haus«, »Dunkel«, »Sumpf« und »Zimmer«
gebrabbelt. Dr. Morehouse bedurfte keines weiteren Antriebs zu
aufgeregtem Handeln, als er erfuhr, daß aus dem alten Tanner-
Haus am Rand der Sümpfe ein Verrückter mit Schaum vor dem
Mund herausgerannt war. Er hatte gewußt, daß etwas passieren
würde, schon als die zwei Männer in dem verfluchten Steinhaus
eingezogen waren der Mann, der geflüchtet war, und sein Herr,
Richard Blake, der Schriftsteller aus Boston, das Genie, das mit
wachen Nerven und Sinnen in den Krieg gezogen und in dem
jetzigen Zustand zurückgekehrt war, noch immer weltmännisch,

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wenn auch halb gelähmt, noch immer mit voller Melodie unter
den Anblicken und Tönen einer lebhaften Phantasie wandernd,
wenn auch für immer von der Körperwelt ausgeschlossen, taub,
stumm und blind.
Blake hatte sich in die unheimlichen Überlieferungen und
grauenvollen Andeutungen über das Haus und seine früheren
Bewohner versenkt. Derartige Gespenstersagen waren ein
Vorzug der Phantasie, von deren Genuß ihn sein körperlicher
Zustand nicht abhalten konnte. Er hatte über die Voraussagen
der abergläubischen Einheimischen gelächelt. Jetzt, da sein
einziger Gefährte in einer verrückten Ekstase panisch die Flucht
ergriffen und ihn hilflos dem, was dieses Entsetzen ausgelöst
haben mochte, zurückgelassen hatte, hatte Blake vielleicht
weniger Anlaß zu schwelgen und zu lächeln! Das war zumindest
Dr. Morehouses Überlegung gewesen, als er sich mit dem
Problem des Davongelaufenen konfrontiert sah und sich bei der
Verfolgung der Sache an die verwunderten Dorfbewohner um
Hilfe wandte. Die Familie Morehouse war ein alteingesessenes
Geschlecht aus Fenham, und der Großvater des Arztes hatte zu
denen gehört, die die Leiche des Einsiedlers Simeon Tanner
1819 verbrannten. Selbst nach so langer Zeit konnte der
ausgebildete Arzt nicht verhindern, daß es ihm kalt den Rücken
hinunterlief, wenn er daran dachte, was man sich über diese
Verbrennung erzählte - über die naiven Schlußfolgerungen, die
ungebildete Landbewohner aus einer winzigen und
bedeutungslosen Entstellung des Toten zogen. Er wußte, daß das
Gruseln närrisch war, denn leicht hervortretende Knochen auf
der Stirnseite des Schädels haben nichts zu bedeuten und sind
bei Glatzköpfigen ziemlich häufig zu beobachten.
Unter den vier Männern, die schließlich mit entschlossenen
Mienen im Wagen des Arztes zu dem verhaßten Haus
aufbrachen, wurden besonders ehrfürchtig vage Sagen und
ziemlich hinterhältige Bruchstücke von Dorfklatsch, die von
neugierigen Großmüttern überliefert worden waren,

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ausgetauscht - Sagen und Gerüchte, die selten wiederholt und
beinahe nie systematisch verglichen wurden. Sie reichten bis in
das Jahr 1692 zurück, als ein Tanner auf dem Galgenberg in
Salem nach einem Hexenprozeß hingerichtet worden war,
wurden aber erst ausführlicher zu jener Zeit, da das Haus
errichtet wurde - 1747 -, doch war der querliegende Anbau
jüngeren Datums. Selbst dann waren die Geschichten nicht sehr
zahlreich, denn so seltsam die Tanners auch alle waren, erst der
letzte von ihnen, der alte Simeon, wurde von den Leuten sehr
gefürchtet. Er trug zu dem Ererbten bei - etwas Entsetzliches,
flüsterten alle - und mauerte die Fenster des südöstlichen
Zimmers zu, dessen Ostwand auf den Sumpf hinausschaute.
Dieser Raum diente als Arbeitszimmer und Bibliothek, und er
wies eine Tür von doppelter Dicke mit Verstärkungen auf. Man
hatte sie in jenem schrecklichen Winter 1819 mit Äxten
eingeschlagen, als stinkender Rauch aus dem Schornstein
qualmte. Drinnen fand man Tanners Leiche - mit jenem
Gesichtsausdruck. Wegen dieses Ausdrucks - und nicht wegen
der zwei knospenden Knochen unter dem buschigen weißen
Haar - hatte man die Leiche und die Bücher und Manuskripte,
die in diesem Raum aufbewahrt worden waren, verbrannt.
Die kurze Entfernung zu dem Tanner-Haus war jedoch schon
zurückgelegt, ehe noch wichtige historische Angelegenheiten
geklärt werden konnten.
Als der Arzt, als Anführer der Gruppe, die Fliegentür öffnete
und den gewölbten Eingang betrat, fiel auf, daß das Geräusch
der Schreibmaschine plötzlich verstummte. An diesem Punkt
glaubten zwei der Männer auch einen schwachen Hauch kalter
Luft bemerkt zu haben - was sich mit der großen Hitze jenes
Tages überhaupt nicht vereinbaren lassen wollte -, auch wenn
sie sich später weigerten, es zu beschwören. Der Flur befand
sich in vollkommener Ordnung, ebenso die verschiedenen
Räume, die sie auf der Suche nach dem Arbeitszimmer betraten,
in dem Blake vermutlich zu finden war. Der Schriftsteller hatte

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sein Haus mit erlesenem Geschmack im Kolonialstil
eingerichtet, und obwohl er außer einem Diener keine weiteren
Bediensteten hatte, war es ihm gelungen, es in einem Zustand
lobenswerter Sauberkeit zu halten.
Dr. Morehouse führte seine Männer von Zimmer zu Zimmer
durch die weit offenen Türen und Durchgänge, bis er schließlich
die Bibliothek oder das Arbeitszimmer fand, das er suchte -
einen prächtigen, nach Süden gelegenen Raum im Erdgeschoß,
der an das einst gefürchtete Arbeitszimmer von Simeon Tanner
anschloß, bis zur Decke mit Büchern vollgestellt, die der Diener
nach einem einfallsreichen Tastsinn-Arrangement aufgestellt
hatte, und die umfangreichen Braille-Bände, die der
Schriftsteller selbst mit empfindsamen Fingerspitzen las.
Richard Blake war natürlich da, er saß wie gewöhnlich vor
seiner Schreibmaschine, auf Tisch und Fußboden ein vom
Luftzug verstreuter Stoß frischgeschriebener Seiten, ein Blatt
noch immer in der Maschine eingespannt. Er hatte ziemlich
plötzlich zu arbeiten aufgehört, schien es, vielleicht infolge
eines kalten Luftzugs, der ihn veranlaßt hatte, den Kragen seines
Schlafrocks hochzuziehen, und sein Kopf war dem Eingang des
angrenzenden sonnigen Raums in einer Art und Weise
zugewandt, die ganz der eines Menschen entsprach, dessen
Mangel an Sehvermögen und Gehör jede Empfindung der
Außenwelt ausschließt.
Als Dr. Morehouse sich dem Schriftsteller soweit genähert
hatte, daß er ihm ins Gesicht sehen konnte, erbleichte er und
bedeutete den anderen, stehenzubleiben. Er brauchte Zeit, um
sich zu fassen und jede Möglichkeit einer entsetzlichen Illusion
zu zerstreuen. Er brauchte keine Vermutungen mehr anzustellen,
warum man die Leiche des alten Simeon Tanner in jener
Winternacht wegen ihres Gesichtsausdruckes verbrannt hatte,
denn da war etwas, dem sich nur ein gut diszipliniertes Gemüt
stellen konnte. Der verstorbene Richard Blake, dessen
Schreibmaschine ihr unbekümmertes Klappern erst eingestellt

-61-
hatte, als die Männer das Haus betraten, hatte trotz seiner
Blindheit etwas gesehen, und das hatte Auswirkungen auf ihn
gehabt. Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte nichts
Menschliches an sich, und auch nicht die glasige, düstere
Vision, die in den großen, blauen, blutunterlaufenen Augen
brannte, die seit sechs Jahren für die Bilder der Welt
verschlossen gewesen waren. Diese Augen waren in einer
Ekstase klarsichtigen Grauens auf den Durchgang gerichtet, der
in Simeon Tanners altes Arbeitszimmer führte, wo die Sonne
auf Mauern brannte, die einst in eingemauerte Dunkelheit
gehüllt waren. Und Dr. Morehouse wich schwindelnd zurück,
als er erkannte, daß ungeachtet des blendenden Tageslichts die
tintigen Pupillen dieser Augen so höhlenhaft erweitert waren
wie die einer Katze im Dunkeln.
Der Arzt schloß die starrenden blinden Augen, ehe er
gestattete, daß die anderen das Gesicht des Leichnams
betrachteten. Unterdessen untersuchte er den leblosen Körper
mit fiebrigem Eifer, wobei er sich - trotz seiner vibrierenden
Nerven und seiner beinahe zitternden Hände - einer peniblen
ärztlichen Sorgfalt befleißigte. Einige seiner Ergebnisse teilte er
von Zeit zu Zeit den drei beeindruckten und neugierigen
Männern, die um ihn herum standen, mit. Andere Ergebnisse
hielt er sorgsam zurück, damit sie nicht zu Spekulationen Anlaß
gaben, die beunruhigender waren, als es menschliche
Überlegungen sein sollten. Es war auch nicht auf ein Wort von
ihm zurückzuführen, sondern auf intelligente unabhängige
Beobachtung, daß sich einer der Männer über das zerzauste
schwarze Haar der Leiche und die Art, wie die Papiere zerstreut
waren, Gedanken zu machen begann.
Dieser Mann sagte, es wäre, als hätte eine starke Brise durch
den offenen Eingang geblasen, zu dem der Tote geblickt hatte,
wohingegen, auch wenn die einst zugemauerten Fenster die
warme Juni-Luft völlig ungehindert hereinließen, sich während
des ganzen Tages kaum ein Lüftchen geregt hatte. Als einer der

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Männer die Blätter des auf dem Tisch und dem Fußboden
verstreuten frisch geschriebenen Manuskripts einsammeln
wollte, gebot ihm Dr. Morehouse mit besorgter Geste Einhalt.
Er hatte das Blatt gesehen, das noch in der Maschine steckte,
zog es hastig heraus und steckte es ein, nachdem ihn ein Satz
oder zwei erneut hatten erblassen lassen. Dieser Vorfall
veranlaßte ihn, die verstreuten Blätter selbst einzusammeln und
sie, wie sie waren, in die Innentasche zu stopfen, ohne sich die
Mühe zu machen, sie richtig zu ordnen. Und nicht einmal das
Gelesene erschreckte ihn halb so sehr wie das, was.ihm
aufgefallen war - der kaum merkliche Unterschied in Druck und
Stärke der Schreibmaschinenschrift, durch die sich die Blätter,
die er aufgelesen hatte, von dem unterschieden, das er in der
Schreibmaschine gefunden hatte. Diese schattenhaften
Eindrücke waren für ihn untrennbar verbunden mit jenem
anderen entsetzlichen Umstand, den er so eifrig vor den
Männern verbarg, die vor kaum zehn Minuten noch das
Klappern der Schreibmaschine gehört hatten - jenem Umstand,
den er selbst aus dem eigenen Geist zu verdrängen suchte, bis er
allein sein und in den gnädigen Tiefen seines Morris-Stuhls
ruhen konnte. Man mag die Furcht, die er über diesen Umstand
empfand, abschätzen, wenn man bedenkt, was er riskierte, wenn
er ihn unterdrückte. In seiner mehr als dreißigjährigen ärztlichen
Praxis hatte er sich von der Ansicht leiten lassen, daß ein
Amtsarzt keinerlei Tatsache unterdrücken dürfe. Und doch
erfuhr bei all den Formalitäten der Folgezeit nie jemand, daß er,
als er diesen starrenden, deformierten Leichnam des Blinden
untersuchte, sofort erkannt hatte, daß der Tod mindestens eine
halbe Stunde vor Entdeckung der Leiche eingetreten sein mußte,
Schließlich schloß Dr. Morehouse die Außentür und führte die
Gruppe durch jeden Winkel des uralten Gemäuers auf der Suche
nach Beweisen, welche die Tragödie erhellen mochten. Aber
niemals war ein Ergebnis negativer als dieses. Er wußte, daß
man die Falltür des alten Simeon Tanner entfernt hatte, sobald

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die Bücher und die Leiche dieses Einsiedlers verbrannt und der
Keller darunter und der gewundene Tunnel unter dem Sumpf
gleich nach ihrer Entdeckung, rund fünfunddreißig Jahre später,
zugeschüttet worden waren. Jetzt erkannte er, daß keine neuen
Abnormitäten an ihre Stelle getreten waren. Das ganze Gebäude
zeigte bloß den normalen Zustand einer modernen, mit
Geschmack und Sorgfalt durchgeführten Restaurierung.
Nachdem er den Sheriff in Fenham angerufen hatte, daß der
Amtsarzt des Bezirkes Bayboro kommen möge, wartete er auf
das Erscheinen des Sheriffs, der nach seiner Ankunft darauf
bestand, zwei der Männer als Hilfssheriffs zu vereidigen, bis der
Arzt gekommen war. In Kenntnis des Rätsels und der
vergeblichen Anstrengungen, die auf die Beamten warteten,
mußte Dr. Morehouse unwillkürlich trocken lächeln, als er mit
dem Dorfbewohner aufbrach, in dessen Haus der Geflüchtete
Zuflucht gefunden hatte.
Sie fanden den Patienten außerordentlich schwach, aber bei
Bewußtsein und ziemlich gefaßt. Da er dem Sheriff versprochen
hatte, dem Flüchtling jede mögliche Auskunft zu entlocken und
sie an ihn weiterzuleiten, begann Dr. Morehouse mit einem
ruhigen und taktvollen Verhör, das in einem rationalen und
entgegenkommenden Geist aufgenommen und nur durch die
Schwäche der Erinnerung beeinträchtigt wurde. Die Ruhe des
Mannes mußte zum Großteil von der gnadenvollen Unfähigkeit
stammen, sich zu erinnern, denn er konnte jetzt nur berichten,
daß er mit seinem Herrn im Arbeitszimmer gewesen war und
gesehen zu haben glaubte, daß es im Nebenzimmer plötzlich
dunkel geworden war, in dem Raum, in dem seit mehr als
hundert Jahren das Sonnenlicht die Düsternis der vermauerten
Fenster ersetzt hatte. Und selbst diese Erinnerung, die er
wirklich halb in Zweifel stellte, wühlte die überreizten Nerven
des Patienten im höchsten Maße auf. Mit größtmöglicher
Freundlichkeit und Behutsamkeit teilte ihm Dr. Morehouse mit,
daß sein Herr tot war - ein natürliches Opfer der Herzschwäche,

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die seine entsetzlichen Kriegsverletzungen verursacht haben
mußten. Der Mann grämte sich darüber, denn er war dem
behinderten Schriftsteller sehr ergeben gewesen; aber er
versprach mit innerer Stärke, die Leiche nach Abschluß der
amtlichen Totenbeschau zur Familie nach Boston zu begleiten.
Der Arzt fuhr mit ständig wachsender Erregung nach Hause,
nachdem er die Neugier des Hausbewohners und seiner Frau so
beiläufig wie nur möglich befriedigt und sie gedrängt hatte, dem
Patienten Obdach zu gewähren und ihn vom Tanner-Haus bis zu
seiner Abreise mit der Leiche fernzuhalten. Endlich hatte er
Zeit, das maschinenschriftliche Manuskript des Toten zu lesen
und zumindest eine Ahnung davon zu gewinnen, welch
höllisches Wesen den zerschmetterten Sinnen von Sicht und
Gehör getrotzt hatte und auf so katastrophale Weise zu der
zarten Intelligenz vorgedrungen war, die in ewiger Dunkelheit
und ewigem Schweigen vor sich hinbrütete. Er wußte, es würde
eine groteske und entsetzliche Lektüre werden, und beeilte sich
nicht, damit zu beginnen. Vielmehr stellte er den Wagen in die
Garage, machte es sich im Schlafrock bequem und stellte ein
Tischchen mit Beruhigungs- und Belebungsmitteln neben den
gewaltigen Stuhl, den er einzunehmen gedachte. Selbst dann
noch verschwendete er die Zeit, indem er die numerierten Seiten
langsam ordnete und es sorgfältig vermied, einen genauen Blick
auf den Text zu werfen.
Wir wissen alle, wie das Manuskript auf Dr. Morehouse
wirkte. Keine andere Seele hätte es gelesen, wenn nicht seine
Frau es in die Hand genommen hätte, als er eine Stunde später
bewegungslos in seinem Sessel lag, schwer atmete und nicht auf
ein Klopfen reagierte, das man für heftig genug halten konnte,
einen mumifizierten Pharao zu erwecken. So entsetzlich das
Dokument ist, besonders, was den offensichtlichen Stilbruch
gegen Ende betrifft, kann man sich des Eindrucks nicht
erwehren, daß es für den volksvertrauten Arzt ein zusätzliches
höchstes Grauen bedeutete, das zum Glück keinem anderen je

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zuteil werden wird. Gewiß meint man in Fenham allgemein, daß
die tiefe Vertrautheit des Arztes mit dem Gebrabbel alter Leute
und den Geschichten, die ihm sein Großvater in der Jugend
erzählte, ihm eine besondere Kenntnis vermittelte, in deren
Licht Richard Blakes entsetzliche Chronik eine neue, klare und
erschütternde Bedeutung erlangt, die für das normale
Menschengemüt beinahe unerträglich ist. Das erklärt
Morehouses langsame Wiederherstellung an jenem Juni-Abend,
den Widerwillen, mit dem er seiner Frau und seinem Sohn
gestattete, das Manuskript zu lesen, die besondere
Übellaunigkeit, mit der er sich ihrer Entschlossenheit fügte,
dieses Dokument, das so bemerkenswert war, nicht zu
verbrennen. Und es erklärt vor allem die eigentümliche Eile, mit
der er sich anschickte, den alten Tanner-Besitz zu erwerben, das
Haus mit Dynamit in die Luft zu sprengen und die Bäume des
Sumpfes bis in beträchtliche Entfernung zur Straße fällen zu
lassen. Der ganzen Sache gegenüber bewahrt er jetzt eine
unbeugsame Zurückhaltung, und es ist ziemlich sicher, daß mit
ihm ein Wissen stirbt, ohne das die Welt besser dasteht.
Das Manuskript, das hier folgt, wurde freundlicherweise von
Floyd Morehouse, Esq., dem Sohn des Arztes, abgeschrieben.
Einige durch Sternchen markierte Auslassungen sind im
Interesse des öffentlichen Seelenfriedens vorgenommen worden;
an anderen Stellen ergeben sich Lücken infolge der
Unbestimmtheit des Textes, dort wo das blitzschnelle
Blindschreiben des betroffenen Autors Unzusammenhängendes
oder Mißverständliches hervorgebracht hat. An drei Stellen, wo
die Lücken durch den Zusammenhang ziemlich gut erhellt
werden, hat man versucht, sie zu ergänzen. Was den Stilbruch
gegen Schluß angeht, bewahrt man darüber besser
Stillschweigen. Gewiß erscheint es glaubhaft genug, diese
Erscheinung, sowohl was den Gehalt und den physischen
Aspekt des Tippens angeht, dem gemarterten und verfallenden
Geist eines Opfers zuzuschreiben, dessen frühere

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Behinderungen angesichts der neuen Herausforderung zu Nichts
verblaßten. Kühnere Geister mögen nach Belieben ihre eigenen
Schlüsse ziehen.
Hier also ist das Dokument, geschrieben in einem verfluchten
Haus von einem Gehirn, dem der Anblick und die Töne der
Welt verschlossen waren - ein Gehirn, das allein und ungewarnt
dem Mitleid und dem Spott der Mächte ausgeliefert war, denen
kein sehender und hörender Mensch sich je ausgesetzt fand. Da
es allem widerspricht, was wir mittels Physik, Chemie und
Biologie vom Universum wissen, wird es der logische Verstand
als ein eigentümliches Produkt von Dementia halten - eine
Demenz, die sich auf gnädige Weise dem Manne bemerkbar
machte, der rechtzeitig aus dem Haus fliehen konnte. Und dafür
mag man es durchaus halten, solange Dr. Morehouse nicht sein
Schweigen bricht.
Vage Befürchtungen über die letzte Viertelstunde werden jetzt
zu konkreten Ängsten. Um damit anzufangen, ich bin fest davon
überzeugt, daß mit Dobbs etwas passiert sein muß. Zum ersten
Mal, seit wir zusammen sind, ist er auf meinen Ruf nicht
gekommen. Als er auf mein wiederholtes Läuten nicht reagierte,
kam ich zu dem Schluß daß die Glocke defekt sein muß, doch
habe ich so heftig auf den Tisch getrommelt, daß auch ein
Schutzbefohlener Charons wach geworden wäre. Zunächst
glaubte ich, er habe sich aus dem Haus geschlichen, um frische
Luft zu schnappen, denn es war den ganzen Vormittag heiß und
schwül, aber es sieht Dobbs überhaupt nicht ähnlich, so lange
fortzubleiben, ohne sich zuerst zu vergewissern, daß ich nichts
brauche. Der ungewöhnliche Vorfall in den letzten Minuten
bestätigt jedoch meinen Verdacht, daß Dobbs nicht aus freiem
Willen unauffindbar ist. Dasselbe Ereignis veranlaßt mich auch,
meine Eindrücke und Vermutungen dem Papier anzuvertrauen
in der Hoffnung, daß der bloße Akt des Aufzeichnens die
düstere Ahnung einer bevorstehenden Tragödie zerstreut. So
sehr ich mich auch bemühe, ich komme nicht von den Sagen los,

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die mit diesem alten Haus verknüpft sind - reiner
abergläubischer Firlefanz, in dem Pygmäenhirne schwelgen
mögen, und auf den ich keine Gedanken verschwenden würde,
wäre Dobbs hier.
In all den Jahren, da ich von der mir vertrauten Welt
abgeschnitten war, war Dobbs mein sechster Sinn. Nunmehr,
zum ersten Mal seit meiner Krankheit, erkenne ich das volle
Ausmaß meiner Ohnmacht. Dobbs hatte meine blinden Augen,
meine nutzlosen Ohren, meine stimmlose Kehle und meine
verkrüppelten Beine wettgemacht. Auf meinem
Schreibmaschinentischchen steht ein Glas Wasser. Ohne Dobbs,
der es füllt, sobald es geleert ist, wird meine Qual der des
Tantalus gleich.
Wenige sind zu diesem Haus gekommen, seit wir hier leben -
es gibt kaum Berührungspunkte zwischen händelsüchtigen
Landbewohnern und einem Gelähmten, der nicht sehen, nicht
hören und nicht zu ihnen sprechen kann -Tage mögen vergehen,
ehe jemand erscheint. Allein... nur in Gesellschaft meiner
Gedanken, beunruhigenden Gedanken, die die Wahrnehmungen
der letzten Minuten in keiner Weise beschwichtigen können.
Mir gefallen diese Empfindungen auch nicht, denn immer
stärker verwandeln sie reinen Dorfklatsch in phantastische
Bilder, die meine Gefühle auf eigenartige und beinahe
beispiellose Art und Weise beeinflussen.
Stunden scheinen vergangen zu sein, seit ich begonnen habe,
das niederzuschreiben, aber ich weiß, daß es nur ein paar
Minuten sein können, denn ich habe eben dieses neue Blatt in
die Maschine eingespannt. Die mechanische Handlung, die
Blätter auszutauschen, so kurz sie auch dauert, hat mir wieder
Gewalt über mich selbst gegeben. Vielleicht kann ich dieses
Gefühl einer näher kommenden Gefahr lang genug abschütteln,
um zu schildern, was sich bisher ereignet hat.
Zunächst war es nichts weiter als ein Zittern, ähnlich etwa
dem Erzittern eines billigen Wohnhausblocks, wenn ein
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schwerer Lastwagen in der Nähe vorbeidonnert - das hier ist
jedoch kein schlampig errichteter Skelettbau. Vielleicht bin ich
für derlei allzu empfänglich und möglicherweise spielt mir die
Einbildung einen Streich, aber mir war so, als sei die
Erschütterung unmittelbar vor mir weit ausgeprägter gewesen -
und mein Stuhl steht in Richtung des südöstlichen Flügels; von
der Straße ausgehend in einer direkten Linie bis zum Sumpf am
Ende des Grundstücks! Vielleicht war es nur eine Einbildung,
aber das Folgende läßt sich nicht leugnen. Mich erinnerte es an
Augenblicke, wo ich gespürt habe, wie der Boden unter meinen
Füßen von der Explosion riesiger Granaten erzitterte, an Zeiten,
da ich gesehen habe, daß Schiffe wie Strohhalme von der
Gewalt eines Taifuns hin und her geworfen wurden. Das Haus
wurde geschüttelt wie Zunder in den Sieben Niefelheims. Jedes
Dielenbrett unter meinen Füßen erzitterte wie ein leidendes
Wesen. Meine Schreibmaschine bebte, bis ich mir vorstellte, daß
die Typen vor Furcht klapperten.
Ein kurzer Augenblick, und alles war vorüber. Alles ist so
ruhig wie zuvor. Allzu ruhig! Es scheint unmöglich zu sein, daß
sich so etwas ereignen kann und daß alles genauso bleibt wie
zuvor. Nein, nicht genau - ich bin ganz sicher, daß Dobbs etwas
zugestoßen ist. Es ist diese Gewißheit, gekoppelt mit einer
unnatürlichen Ruhe, welche die ahnungsvolle Furcht verstärkt,
die an mir hochkriecht.
Furcht? Ja - obwohl ich vernünftig zu überlegen suche, daß es
nichts gibt, vor dem man sich fürchten müßte. Die Kritiker
haben meine Dichtung wegen etwas, was sie eine lebhafte
Phantasie nennen, sowohl gelobt wie verurteilt. In Zeiten wie
jetzt stimme ich voll und ganz mit jenen überein, die »zu
lebhaft« schreien. Nichts kann sehr aus dem Lot sein oder...
Rauch! Nur eine schwache Spur von Schwefel, aber eine, die
für meine empfindlichen Nasenlöcher unverkennbar ist. So
schwach, fürwahr, daß es mir unmöglich ist festzustellen, ob sie
von einem Teil des Hauses ausgeht oder durch das Fenster des

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angrenzenden Raumes, der sich zum Sumpf hinaus öffnet,
hereintreibt. Der Eindruck verstärkt sich. Ich bin mir jetzt sicher,
daß sie nicht von außen kommt. Wechselnde Visionen der
Vergangenheit, düstere Szenerien früherer Tage blitzen im
dreidimensionalen Überblick vor meinem geistigen Auge auf.
Eine in Flammen stehende Fabrik... hysterische Schreie
erschrockener Frauen, die von Feuerwänden eingeschlossen
sind; eine brennende Schule... mitleiderregendes Geschrei
hilfloser Kinder, die von eingestürzten Treppen gefangen sind,
ein Theaterbrand... ein rasendes Babel panikerfüllter Leute, die
sich über glühendheiße Fußböden ins Freie kämpfen und, vor
allem, undurchdringliche Wolken schwarzen, giftigen,
bösartigen Rauchs, der den friedlichen Himmel vergiftet. Die
Luft im Zimmer ist mit dicken, schweren, erstickenden Wellen
gesättigt... jeden Augenblick erwarte ich zu spüren, wie heiße
Flammenzungen begierig an meinen nutzlosen Beinen lecken...
die Augen schmerzen... die Ohren sausen... Ich huste und
spucke, um meine Lungen von den erstickenden Dämpfen frei
zu bekommen... ein derartiger Rauch entsteht nur im Gefolge
entsetzlicher Katastrophen, stechender, stinkender, verpesteter
Rauch, durchsetzt von widerlichem Geruch brennenden
Fleisches.
Wieder einmal bin ich allein mit dieser unheilverkündenden
Ruhe. Die willkommene Brise, die über meine Wangen streicht,
stellt meinen dahingeschwundenen Mut sehr rasch wieder her.
Das Haus kann eindeutig nicht in Flammen stehen, denn auch
der letzte Rest des marternden Rauchs hat sich verzogen. Ich
merke nicht mehr die geringste Spur davon, obwohl ich die Luft
wie ein Bluthund geschnüffelt habe. Ich frage mich allmählich,
ob ich verrückt werde, ob die Jahre der Einsamkeit in meinem
Gemüt eine Schraube haben locker werden lassen - aber die
Erscheinung war zu bestimmt, als daß ich sie als bloße
Halluzination abtun könnte. Geistig gesund oder verrückt, ich
kann mir diese Dinge nicht anders als konkret vorstellen - und in

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dem Augenblick, da ich sie einordne, bleibt mir nur eine einzige
logische Schlußfolgerung. Die Indizien an sich reichten aus, um
die geistige Stabilität zu gefährden. Räumt man das ein, so heißt
das, die Wahrheit der abergläubischen Gerüchte einzubekennen,
die Dobbs unter den Dorfbewohnern gesammelt und in
Blindenschrift aufgezeichnet hat, so daß ich sie mit den
empfindsamen Fingerspitzen lesen kann - immaterielles
Hörensagen, das mein materialistischer Verstand instinktiv als
Dummheit abtut!
Ich wünschte, das Dröhnen in meinen Ohren hörte auf! Es ist,
als würden verrückte Gespensterspieler ein Duett auf den
schmerzenden Trommelfellen schlagen. Ich vermute, es handelt
sich bloß um eine Reaktion auf das Gefühl des Erstickens, das
ich gerade durchgemacht habe. Noch ein paar Züge dieser
erfrischenden Luft...
Etwas - jemand ist im Zimmer! Ich bin mir so sicher, daß ich
nicht mehr allein bin, als könnte ich die Anwesenheit sehen, die
ich so unmißverständlich verspüre. Es ist ein Eindruck, der sehr
dem ähnelt, den ich hatte, als ich mir mit den Ellbogen den Weg
durch eine bevölkerte Straße bahnte - die entschiedene
Vorstellung, daß Augen mich vom übrigen Getriebe mit einem
Blick aussonderten, der intensiv genug war, um meine
unbewußte Aufmerksamkeit zu erregen - dieselbe Empfindung,
nur tausendfach vergrößert. Wer was - kann das sein? Meine
Befürchtungen sind vielleicht grundlos, vielleicht bedeutet es
nur, daß Dobbs zurückgekehrt ist. Nein... es ist nicht Dobbs.
Wie erwartet, hat das Trommeln in meinen Ohren aufgehört und
ein leises Flüstern erregt meine Aufmerksamkeit... die
überwältigende Bedeutung des Wesens ist gerade zu meinem
verblüfften Gehirn durchgedrungen... Ich kann hören!
Es handelt sich nicht um eine einzelne flüsternde Stimme,
sondern um viele...! Ein wollüstiges Summen bestialischer
Schmeißfliegen... satanisches Schwirren geiler Bienen...
zischendes Spukken obszöner Reptilien... ein flüsternder Chor,

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wie ihn keine Menschenseele singen könnte! Er nimmt an
Lautstärke zu... der Raum hallt wider von dämonischem
Singsang; unmelodiös, tonlos und grotesk, grimmig... ein
teuflischer Chor, der unheilige Litaneien einübt... Lobgesänge
mephistophelischen Unglücks, in die Musik klagender Seelen
gesetzt... ein entsetzliches Crescendo heidnischen
Pandämoniums...
Die Stimmen, die mich umgeben, nähern sich meinem Stuhl.
Der Singsang hat urplötzlich aufgehört und das Flüstern hat sich
in verstehbare Töne aufgelöst. Ich strenge meine Ohren an, um
die Wörter zu unterscheiden. Näher... und noch näher. Sie sind
jetzt klar und deutlich - klar! Es wäre besser gewesen, meine
Ohren wären auf ewig geschlossen geblieben als gezwungen,
diesen höllischen Manifestationen zu lauschen...
Ruchlose Enthüllungen seelenzermürbender Saturnalien...
ghulische Vorstellungen von vernichtenden Ausschweifungen...
profane Bestechungen kabirianischer Orgien... böswillige
Drohungen unvorstellbarer Strafen...
Es ist kalt. Kälter als es der Jahreszeit entspricht! Wie von den
kakodämonischen Wesen befeuert, die mich belästigen, grollt
die Brise, die vor wenigen Minuten so freundlich strich, mir
zornig um die Ohren - ein eisiger Windstoß, der vom Sumpf
hereinströmt und mich bis auf die Knochen frieren läßt.
Wenn mich Dobbs verlassen hat, bin ich ihm deswegen nicht
böse. Ich breche keine Lanze für Feigheit oder ängstliche
Furcht, aber es gibt Dinge... Ich hoffe, sein Schicksal war nicht
schlimmer, als daß er sich rechtzeitig abgesetzt hat!
Mein letzter Zweifel wird hinweggeschwemmt. Ich bin jetzt
doppelt froh, daß ich meinem Entschluß gefolgt bin, meine
Eindrücke niederzuschreiben... nicht daß ich erwarte, daß mich
jemand versteht... oder mir gar glaubt... es war eine Erholung
von der in den Wahnsinn treibenden Belastung, müßig auf jede
neue Ausprägung psychischer Abnormität zu warten. Wie ich es

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sehe, gibt es nur drei Wege, die man einschlagen kann: von
diesem verfluchten Ort zu fliehen und die peinvollen Jahre, die
in der Zukunft liegen, beim Versuch zuzubringen, alles zu
vergessen - fliehen jedoch kann ich nicht; sich einer
abscheulichen Verbindung mit Mächten auszuliefern, die so
bösartig sind, daß für sie selbst der Tartarus nur als eine Nische
des Paradieses erschiene - aber fügen will ich mich nicht; zu
sterben - weit lieber wäre es mir, mein Leib würde von Kopf bis
Fuß entzweigerissen, denn ich würde meine Seele im
barbarischen Handel mit dem Gesandten Belials vergiften...
Ich mußte für einen Augenblick innehalten, um mir auf die
Finger zu blasen. Der Raum ist kalt, von der stinkenden
Eiseskälte des Grabens... eine friedliche Benommenheit
überkommt mich... ich muß diese Lähmung bekämpfen; sie
untergräbt meine Entschlossenheit, eher zu sterben als den
hinterlistigen Einflüsterungen nachzugeben... Ich gelobe mir
erneut, bis zum Ende Widerstand zu leisten... ein Ende, das nicht
mehr fern sein kann, wie ich weiß...
Der Wind ist kälter als je zuvor, als wäre so etwas möglich...
ein Wind, beladen mit dem Gestank totlebendiger Wesen... 0
barmherziger Gott, der Du mir das Augenlicht genommen
hast!... ein Wind, so kalt, daß er verbrennt, wo er erfrieren lassen
sollte... er ist zum glühendheißen Schirokko geworden...
Unsichtbare Finger halten mich gefaßt... Geisterfinger, denen
es an der körperlichen Kraft fehlt, mich von meiner
Schreibmaschine wegzuzerren... Eisesfinger, die mich in einen
faulen Wirbel des Lasters zwingen... Teufelsfinger, die mich
hinunter in einen Strudel ewiger Niedertracht reißen... tote
Finger, die mir den Atem abschneiden und meinen blinden
Augen das Gefühl geben, daß sie vor Schmerz zerplatzen...
gefrorene Punkte drücken sich in meine Schläfen... harte,
knochige Knöpfe, die Hörnern ähneln... der stürmische Atem
eines seit langem toten Wesens küßt meine fiebrigen Lippen und
versengt meine heiße Kehle mit einer gefrorenen Flamme.

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Es ist dunkel... nicht die Dunkelheit, die Teil von Jahren der
Blindheit ist... die undurchdringliche Dunkelheit
sündendurchtränkter Nacht... die pechschwarze Dunkelheit des
Fegefeu... ich sehe... spes mea Christus!... es ist das Ende...
Dem sterblichen Geist ist es nicht gegeben, einer Macht zu
widerstehen, die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Dem
unsterblichen Geist ist es nicht gegeben, das zu erobern, was die
Tiefen ausgelotet und aus der Unsterblichkeit einen flüchtigen
Augenblick gemacht hat. Das Ende? Nein, wahrhaftig nicht! Es
ist bloß ein seliger Anfang...

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»Bis zur Neige«

Robert H. Barlow und H. P. Lovecraft

Der Mann ruhte auf einer zerklüfteten Gratkante und blickte


weit über das Tal hinaus. Im Liegen konnte er in eine große
Ferne sehen, aber in all der stillen Weite war keinerlei
Bewegung zu erkennen.
Nichts regte sich in der staubigen Ebene, in dem
feingemahlenen Sand längst ausgetrockneter Flußläufe, in denen
einst die reißenden Ströme der jugendlichen Erde ihren Lauf
genommen hatten. In dieser Endzeitwelt, dem Endstadium
menschlichen Daseins auf dem Planeten, gediehen kaum noch
Pflanzen. Seit ungezählten Äonen hatten Trockenheit und
Sandstürme die Länder verwüstet. Bäume und Sträucher waren
kleinem, knorrigem Gebüsch gewichen, das sich im seiner
Genügsamkeit lange hielt; aber auch dieses Gebüsch ging
wieder zugrunde unter dem Ansturm grober Gräser und der
zähen, harten Vegetation einer befremdlichen Evolution.
Als sich die Erde der Sonne näherte, verdorrte und tötete die
allgegenwärtige Hitze mit mitleidlosen Strahlen. Das war nicht
auf einmal passiert; Äonen waren vergangen, ehe die
Veränderung zu erkennen war. Und in diesem frühen Zeitalter
war die vielseitige Menschengestalt der allmählichen
Veränderung gefolgt und hatte sich an die immer trockener
werdende Luft angepaßt. Dann war der Tag gekommen, da es
die Menschen nicht mehr in ihren heißen Städten aushielten, und
ein allmählicher Rückzug setzte ein, langsam, aber gezielt. Die
Städte und Niederlassungen in Äquatornähe waren als erste
betroffen, andere kamen später hinzu. Der verweichlichte und
erschöpfte Mensch konnte der erbarmungslos zunehmenden
Hitze nicht mehr standhalten. In seiner jetzigen Verfassung
versengte sie ihn, und die Evolution verlief zu langsam, um neue

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Widerstandskräfte in ihm wachsen zu lassen.
Doch die großen Städte am Äquator wurden den Spinnen und
Skorpionen erst später überlassen. In den Anfangsjahren gab es
viele, die ausharrten und merkwürdig anmutende Schilde und
Panzer gegen die Hitze und die tödliche Trockenheit ersannen.
Diese furchtlosen Gemüter schirmten bestimmte Gebäude gegen
die näherrückende Sonne ab und verwandelten sie in
Zufluchtswelten en miniature, in denen kein Schutzpanzer
benötigt wurde. Sie erfanden wunderbar scharfsinnige
Vorrichtungen, so daß sich der Mensch eine Zeitlang in den
rostenden Türmen halten konnte, womit sie hofften, die alten
Länder retten zu können, bis die sengende Hitze vorüber wäre.
Denn viele wollten den Aussagen der Astronomen keinen
Glauben schenken und warteten auf die Wiederkehr der milden
alten Welt. Eines Tages jedoch sandten die Männer von Dath
aus der neuen Stadt Niyara Signale nach Yuanario, ihrer
unvorstellbar alten Hauptstadt, und erhielten keine Antwort von
den wenigen, die dort zurückgeblieben waren. Und als Forscher
die jahrtausendealte Stadt der mit Brücken verbundenen Türme
erreichten, stießen sie nur auf Schweigen. Nicht einmal das
Grauen des Verfalls war zu bemerken, denn die aasfressenden
Eidechsen waren schnell gewesen.
Erst dann ging es den Menschen auf, daß diese Städte für sie
verloren waren, daß sie sie auf ewig der Natur überlassen
mußten. In den heißen Ländern flohen die letzten Kolonisten aus
ihren kühnen Standorten, und völliges Schweigen regierte
innerhalb der Basaltmauern von tausend menschenleeren
Städten. Von dem Gewimmel und dem Treiben der Menge war
schließlich nichts übriggeblieben. Jetzt ragten vor den
regenlosen Wüsten nur die blasenüberzogenen Türme leerer
Häuser, Fabriken und Gebäude jeder Art auf, die die blendende
Helligkeit der Strahlung spiegelten und die in der immer
unerträglicher werdenden Hitze schmorten.
Viele Länder waren jedoch der versengenden Plage noch

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immer entgangen, so daß die Flüchtlinge sich bald in das Leben
in einer neuen Welt schickten. Während seltsam blühender
Jahrhunderte gerieten die alten verlassenen Städte am Äquator
fast in Vergessenheit und dienten nur als Rahmen für
phantastische Fabelgeschichten. Wenige nur dachten an diese
gespenstischen, verfallenden Türme, diese Anhäufungen
schäbiger Mauern und kaktuserstickter Straßen, die
düsterschweigend und verlassen dalagen.
Es kam zu sündhaften lang dauernden Kriegen, aber die
Friedenszeiten überwogen. Die angewachsene Sonne strahlte
jedoch immer heftiger, als sich die Erde der feurigen Mutter
näherte. Es war, als wolle der Planet zu der Quelle
zurückkehren, der er, vor vielen Äonen, durch die Zufälle
kosmischen Wachstums entrissen wurde.
Mit der Zeit breitete sich der Brand vom zentralen Gürtel
nach außen aus. Süd-Yarat brannte als unbewohnte Wüste in der
Sonne - und dann der Norden. In Perath und Baling, den uralten
Städten, Brutstätte der Jahrhunderte, regten sich nur noch die
schuppigen Gestalten von Schlange und Salamander, und
schließlich gab es in Loton nur mehr ein einziges Echo auf den
plötzlichen Einsturz baufälliger Türme und zerfallender
Kuppeln.
Beständig, universell und unaufhaltsam wurde der Mensch
aus den Bereichen vertrieben, in denen er von jeher angestammt
war. Kein Stück Boden innerhalb des sich ausdehnenden
betroffenen Gürtels blieb verschont; kein Volk entging der
Entwurzelung. Es war ein Epos, eine gigantische Tragödie,
deren Fabel den Schauspielern verborgen blieb - diese
Massenflucht der Menschen aus den Städten.
Es erforderte nicht Jahre oder selbst Jahrhunderte, sondern
Jahrtausende unbarmherzigen Wandels.
Und noch immer war kein Ende abzusehen - träge,
unausweichlich, voller Zerstörungswut vollzog er sich.

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Die Landwirtschaft kam zum Erliegen, denn die rasch
zunehmende Dürre in der Welt bekam der Saat nicht. Abhilfe
sollte künstlicher Ersatz schaffen, der bald überall angewandt
wurde. Und als die alten Stätten, die die großen
Errungenschaften der Sterblichen gekannt hatten, aufgegeben
wurden, retteten die Flüchtlinge immer weniger an Beute.
Gegenstände von größtem Wert und höchster Bedeutung blieben
in den toten Museen zurück - verloren unter den Jahrhunderten -
, und am Ende wurde das Erbe der unvorstellbar alten
Vergangenheit völlig aufgegeben. Mit der abscheulichen Hitze
setzte ein körperlicher und kultureller Verfall ein, denn der
Mensch hatte so lange in Bequemlichkeit und Sicherheit gelebt,
daß ihm der Exodus von den Schauplätzen seiner Vergangenheit
schwerfiel. Diese Ereignisse wurden jedoch nicht gleichmütig
hingenommen. Gerade ihre Langsamkeit war erschreckend.
Verkommenheit und Ausschweifung wurden bald zur Regel.
Die Regierung verfiel, und die Kulturen sanken ziellos zurück
ins Barbarentum.
Als, neunundvierzig Jahrhunderte nach dem Brand am
Äquatorgürtel, die ganze westliche Halbkugel unbewohnt
zurückblieb, war das Chaos vollkommen. In den letzten Szenen
dieser gigantischen, ziellos imposanten Wanderung zeigte sich
keine Spur von Ordnung oder Anstand. Wahnsinn und Raserei
breiteten sich unter den Menschen aus, und Fanatiker
verkündeten schreiend, daß Harmageddon nahe bevorstünde.
Der Mensch war jetzt ein armseliger Überrest der alten
Geschlechter, ein Flüchtling nicht nur vor den herrschenden
Zuständen, sondern auch vor der Degeneration der Menschheit.
Jene, denen das möglich war, zogen ins Nordland und in die
Antarktis, die übrigen gaben sich jahrelang unglaublichen
Ausschweifungen hin und hegten leise Zweifel, ob die drohende
Katastrophe eintreten würde. In der Stadt Borligo kam es nach
Monaten unerfüllter Erwartung zur Massenhinrichtung der
neuen Propheten. Man hielt die Flucht ins Nordland für

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überflüssig und dachte nicht mehr an das drohende Ende.
Diese eitlen, närrischen Geschöpfe, die glaubten, sich dem
Universum widersetzen zu können, müssen wahrlich auf
grauenvolle Weise umgekommen sein. Aber die geschwärzten,
verbrannten Städte blieben stumm...
Diese Ereignisse brauchen jedoch nicht wie in einer Chronik
festgehalten zu werden - denn es gibt größere Zusammenhänge,
die in Betracht zu ziehen sind, als diesen verwickelten und
langsam fortschreitenden Niedergang einer zum Untergang
verurteilten Kultur. Während der langen Zeitspanne war unter
den wenigen Mutigen, welche die fremden arktischen und
antarktischen Küsten besiedelten, die jetzt so mild waren wie
das südliche Yarat in der längst versunkenen Vergangenheit, die
Moral auf einen Tiefpunkt gesunken. Aber in diesem
Augenblick gab es einen Aufschub. Die Scholle war fruchtbar,
und vergessene landwirtschaftliche Fähigkeiten lebten wieder
auf. Lange Zeit hielt sich eine genügsame kleinere Nachbildung
der verlorenen Länder, allerdings nur dünn besiedelt und
spärlich bebaut. Die Menschheit überlebte nur in Überresten die
Äonen des Wandels und bevölkerte die verstreuten Dörfer der
späteren Welt.
Es ist nicht bekannt, wie viele Jahrtausende dieser Zustand
andauerte. Nur allmählich griff die Sonne diese letzte Zuflucht
an, und je mehr die Zeit verstrich, entwickelte sich eine gesunde,
kräftige Rasse, die sich - auch der Sage nach - nicht mehr an die
alten, verlorenen Länder erinnerte. Diese neuen Menschen
fuhren gelegentlich zur See, hatten die Flugmaschine völlig
vergessen. Ihre Gerätschaften waren von simpelster Art, ihre
Gepflogenheiten einfach und primitiv. Und doch waren sie
zufrieden und nahmen das warme Klima als etwas Natürliches
und Gewohntes hin.
Von diesem einfachen Bauernvolk nicht wahrgenommen,
bereiteten sich jedoch langsam weitere Unbilden der Natur vor.
Mit jeder Generation schwanden auch die Gewässer des
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ungeheuren und unausgeloteten Ozeans langsam dahin und
reicherten die Luft und den ausgetrockenten Boden an, mit
jedem Jahrhundert sank der Wasserspiegel tiefer und tiefer. Die
tosende Brandung glitzerte immer noch hell, die wirbelnden
Strömungen waren immer noch vorhanden, doch hing eine
Trockenheit drohend über der ganzen Wasserweite. Diesen
Schwund hätte man jedoch nur mit Instrumenten entdecken
können, die empfindlicher waren als alle, die der Spezies
bekannt waren. Selbst wenn man das Absinken des Ozeans
erkannt hätte, hätte man sich darüber nicht besorgt oder verstört
gezeigt, denn die Verluste waren so geringfügig und die Meere
so gewaltig... Nur ein paar Zoll in vielen Jahrhunderten - aber in
vielen Jahrhunderten immerhin ein paar Zoll mehr...
So verschwanden zuletzt auch die Ozeane, und Wasser wurde
zu einer Seltenheit auf einem Globus sonnverbrannter Dürre.
Der Mensch hatte sich langsam über alle arktischen und
antarktischen Gebiete ausgebreitet. Die Städte am Äquator und
viele spätere Wohnstätten waren selbst in der Sage vergessen.
Und jetzt wurde der Friede wieder gestört, denn das Wasser
war rar geworden und nur in tiefen Höhlen zu finden. Und selbst
dort gab es nur wenig, und Menschen starben an Durst, wenn sie
weite Strecken zurückzulegen hatten. Und doch gingen diese
tödlichen Veränderungen so langsam vor sich, daß sich jede
neue Generation weigerte, das von den Eltern Gehörte zu
glauben. Keine wollte sich eingestehen, daß die Hitze geringer
oder das Wasser in früheren Tagen reichlicher gewesen war,
oder auch Warnungen Glauben schenken, daß Zeiten
schmerzhafteren Sengens und der Dürre bevorstanden. Und so
war es selbst am Ende, als nur noch ein paar hundert
menschliche Wesen unter der grausamen Sonne nach Atem
rangen - eine erbärmlich zusammengeschmolzene Handvoll von
all den ungezählten Millionen, die einst den zum Untergang
verurteilten Planeten bewohnt hatten.
Und die Hunderte wurden weniger, bis der Mensch nur noch

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in Zehnern gezählt werden konnte. Diese Zehnergrüppchen
drängten sich um die immer geringer werdende Feuchtigkeit der
Höhlen und erkannten endlich, daß das Ende nahe war. Sie
waren so wenig herumgekommen, daß keiner von ihnen je die
winzigen, sagenhaften Eisflecken gesehen hatte, die in der Nähe
der Pole des Planeten übrig waren - falls es sie überhaupt noch
gab. Selbst wenn es sie gegeben hätte und sie dem Menschen
bekannt gewesen wären, hätte sie niemand durch die pfadlosen
gewaltigen Wüsten erreichen können.
Und so schmolzen die armseligen wenigen Stellen dahin...Sie
entzieht sich der Beschreibung, diese furchteinflößende Kette
von Ereignissen, welche die ganze Erde entvölkerte; die
Tragweite ist zu ungeheuerlich für jeden einzelnen Menschen,
als daß er sie sich ausmalen oder sie erfassen könnte.
Von der Bevölkerung der glücklichen Erdzeitalter, vor
Milliarden Jahren, wären nur einige wenige Propheten und
Wahnsinnige imstande gewesen, sich vorzustellen, was da
kommen sollte - die Visionen von stummen, toten Landstrichen
und längst leeren Ozeangründen. Die übrigen hätten gezweifelt -
gezweifelt am Schatten der Veränderung über dem Planeten und
am Schatten des Untergangs über der Spezies. Denn der Mensch
hat sich von jeher für den unsterblichen Herrn der Dinge
gehalten.
Sobald er die Todespein der alten Frau gelindert hatte,
wanderte Ull in angsterfüllter Betäubung in den blendenden
Sand hinaus. Sie war furchterregend gewesen,
zusammengeschrumpft und vertrocknet wie verdorrte Blätter.
Ihr Gesicht hatte die Farbe vergilbten Grases, das im heißen
Wind raschelte, und sie war abstoßend alt.
Doch war sie eine Kampfgefährtin gewesen, jemand, vor dem
man über vage Ängste sprechen konnte, über diese unglaubliche
Lage, eine Kameradin, mit der man seine Hoffnungen auf Hilfe
von den stummen Kolonien jenseits der Berge teilen konnte. Er
wollte nicht glauben, daß woanders niemand mehr lebte, denn
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Ull war jung und nicht so festgefahren in seinen Überzeugungen
wie die Alten.
Seit vielen Jahren hatte er niemand außer der Alten gekannt -
sie hieß Miaddna. Sie war an jenem Tag in seinem elften Jahr
gekommen, als alle Jäger auf Nahrungssuche ausgezogen und
nicht zurückgekehrt waren. Ull konnte sich an seine Mutter
nicht erinnern, und es gab wenige Frauen in der winzigen
Gruppe. Als die Männer verschwanden, hatten die drei Frauen,
die junge und die beiden alten, vor Angst geschrien und lange
gejammert. Dann war die junge verrückt geworden und hatte
sich mit einem spitzen Stock umgebracht. Die alten begruben sie
in einer flachen Vertiefung, die sie mit den Nägeln scharrten,
und darum war Ull allein gewesen, als die noch ältere Miaddna
kam.
Sie ging mit Hilfe eines knorrigen Stockes, einer
unbezahlbaren Reliquie aus den alten Wäldern, von Jahren des
Gebrauchs hart und glänzend geworden. Sei verriet mit keinem
Wort, woher sie kam, sondern stolperte in die Hütte, als die
junge Selbstmörderin begraben wurde. Dann wartete sie, bis die
beiden alten Frauen zurückkehrten, und sie wurde ohne zu
fragen aufgenommen.
So ging es viele Wochen, bis die beiden erkrankten und
Miaddna sie nicht heilen konnte. Merkwürdig, daß die zwei
Jüngeren von der Krankheit befallen wurden, während sie
schwach und uralt weiterlebte!
Miaddna hatte sie viele Tage gepflegt, aber schließlich starben
sie, so daß er mit der Fremden allein zurückblieb. Er weinte die
ganze Nacht, bis sie schließlich die Geduld verlor und drohte,
sich ebenfalls umzubringen. Daraufhin beruhigte er sich sofort,
denn es verlangte ihn nicht nach völliger Einsamkeit.
So lebt er also mit Miaddna, und sie sammelten Wurzeln.
Miaddnas verfaulte Zähne waren kaum für diese Nahrung
geeignet, aber es gelang ihnen, sie so zu zerkleinern, bis sie sie

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schlucken konnte. In diesem ermüdenden Einerlei von
Nahrungssuche und Nahrungsaufnahme verlief Ulls Kindheit.
Jetzt war er groß und stark, neunzehn Jahre alt, und die Alte
war tot. Nichts mehr konnte ihn zum Bleiben bewegen, daher
machte er sich kurzentschlossen auf, die sagenhaften Hütten
jenseits der Berge zu suchen und bei den Menschen dort zu
leben. Er besaß nichts, was er auf seine Reise hätte mitnehmen
können. Ull schloß die Tür seiner Hütte - warum, hätte er nicht
sagen können, denn seit Jahren schon gab es keine Tiere mehr
hier - und ließ die Tote im Innern zurück. Halbbetäubt und voll
Angst über seine eigene Kühnheit marschierte er stundenlang
durch trockenes Gras und erreichte schließlich die Ausläufer der
Berge. Der Nachmittag kam. Ull kletterte, bis er erschöpft war,
dann streckte er sich im Gras aus. Wie er dalag, ging ihm vieles
durch den Kopf. Er wunderte sich über das seltsame Leben und
hoffte leidenschaftlich, die verlorene Kolonie jenseits der Berge
zu finden. Aber zu guter Letzt schlief er ein.
Als er erwachte, schienen ihm die Sterne ins Gesicht, und er
fühlte sich erfrischt. Jetzt, da die Sonne für einige Zeit
untergegangen war, bewegte er sich schneller fort, aß ein wenig
und beschloß, sich zu beeilen, ehe der Wassermangel
unerträglich werden würde. Er hatte kein Wasser mitgenommen,
denn die letzten Menschen, die immer an ein und derselben
Stelle gewohnt und nie Gelegenheit gehabt hatten, ihr wertvolles
Wasser fortzutragen, stellten keinerlei Behälter gleich welcher
Art her. Ull hoffte, sein Ziel an einem Tag zu erreichen und
damit dem Durst zu entkommen; und so eilte er unter den hellen
Sternen dahin, rannte zuweilen in der warmen Luft und verfiel
dann wieder in einen langsamen Trab.
Und so ging es weiter, bis die Sonne aufstieg, und doch hatte
er noch immer nicht die Bergausläufer hinter sich gebracht, vor
ihm ragten drei hohe Gipfel auf. In ihrem Schatten ruhte er
neuerlich aus. Er kletterte den ganzen Morgen weiter, und gegen
Mittag bezwang er den ersten Gipfel, auf dem er eine Zeitlang

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rastete und das Gebiet vor der nächsten Kette erkundete.
Ull ruhte auf einer zerklüfteten Gratkante und blickte weit
über das Tal hinaus. Im Liegen konnte er in eine große Ferne
sehen, aber in all der stillen Weite war keinerlei Bewegung zu
erkennen...
Die zweite Nacht kam, und Ull befand sich noch immer
zwischen den wilden Gipfeln, das Tal und der Ort, wo er sich
ausgeruht hatte, lagen weit hinter ihm. Er hatte die zweite
Gebirgskette jetzt fast schon hinter sich gelassen und eilte noch
immer dahin. Tagsüber hatte ihn der Durst überkommen, und er
bedauerte seinen Leichtsinn. Und doch hätte er nicht bei der
Leiche bleiben können, allein im Grasland. Er versuchte, sich
das klarzumachen, und so eilte er immer weiter, müde, aber
entschlossen.
Und jetzt waren es nur noch ein paar Schritte, bevor sich die
Gratwand vor ihm teilen und den Blick auf das Land dahinter
freigeben würde. Ull stolperte erschöpft den steinigen Pfad
hinunter, stürzte und schlug sich noch mehr auf. Es lag knapp
vor ihm, dieses Land, von dem das Gerücht ging, daß hier
Menschen gehaust hatten, dieses Land, von dem er in seiner
Jugend erzählen gehört hatte. Der Weg war lang, aber sein Ziel
war groß. Ein Gesteinsbrocken von gewaltigen Ausmaßen
versperrte ihm die Sicht. Er erkletterte ihn voll Bangen. Nun, zu
guter Letzt, lag im Licht der untergehenden Sonne sein
langgesuchtes Ziel vor ihm. Sein Durst und seine schmerzenden
Muskeln waren vergessen, als er voller Freude sah, daß sich ein
kleines Häufchen von Gebäuden an der gegenüberliegenden
Felswand festklammerte.
Ull ruhte sich nicht aus, sondern rannte, taumelte und kroch,
vom Gesehenen angespornt, die letzte halbe Meile dahin. Er
bildete sich ein, zwischen den primitiven Hütten Gestalten
erkennen zu können.
Die Sonne war beinahe untergegangen, die verhaßte,

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vernichtende Sonne, welche die Menschheit dahingerafft hatte.
Die Einzelheiten konnte er nicht klar erkennen, aber die Hütten
kamen immer näher.
Sie waren sehr alt, denn Lehmblöcke überdauern lange in der
schweigenden Trockenheit der sterbenden Welt. Wahrhaftig,
wenig veränderte sich bis auf die Lebewesen - die Gräser und
diese letzten Menschen.
Vor ihm schwang eine Tür auf groben Scharnieren hin und
her. Im schwindenden Licht trat Ull ein, zu Tode erschöpft, und
suchte schmerzlich nach den erwarteten Gesichtern.
Dann fiel er weinend zu Boden, denn an dem Tisch lehnte ein
vertrocknetes, uraltes Skelett.
Endlich erhob er sich, rasend vor Durst, unter unerträglichen
Schmerzen, nachdem er die schrecklichste Enttäuschung erlitten
hatte, die einem Sterblichen widerfahren konnte. Er war damals
das letzte Lebewesen auf dem Globus. Sein war das Erbe der
Erde - alle Länder, und alle waren gleichermaßen nutzlos für
ihn. Er raffte sich auf, ohne in dem reflektierten Licht die
verschwommene weiße Form anzublicken, und trat durch den
Eingang. Er wanderte durch das leere Dorf, suchte nach Wasser
und besichtigte traurig diesen seit langem verlassenen Ort, den
die stets gleichbleibende Luft so gespenstisch konserviert hatte.
Hier war eine Behausung - dort eine primitive Stätte, wo etwas
angefertigt worden war- Tongefäße, die nur Staub enthielten -
und nirgends die geringste Spur einer Flüssigkeit, um seinen
brennenden Durst zu löschen.
Und dann erblickte Ull im Mittelpunkt der kleinen Stadt einen
Brunnen. Er wußte, was es war, denn von Miaddna hatte er
Geschichten über solche Dinge gehört. Mit erbärmlicher Freude
schob er sich vorwärts und lehnte sich über den Brunnenrand.
Hier zumindest war er am Ende seiner Suche angelangt. Wasser
schleimiges, schales und seichtes Wasser, aber immerhin
Wasser vor seinen Augen.

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Ull schrie auf wie ein gequältes Tier, griff nach Kette und
Eimer. Seine Hand glitt auf der glitschigen Kante aus, und er fiel
mit der Brust über den Rand. Einen Augenblick lag er dort, dann
stürzte sein Körper den dunklen Schacht hinunter.
Unter leichtem Aufplatschen fiel er in dem trüben, seichten
Wasser auf einen seit langem versunkenen Stein, der vor Äonen
aus der massiven Einfassung herausgebrochen war. Das
aufgewirbelte Wasser glättete sich wieder.
Und nun zuletzt war die Erde tot. Der letzte, armselige
Überlebende war zugrunde gegangen. All die wimmelnden
Milliarden, die langsam verstreichenden Äonen, die Reiche und
Kulturen der Menschheit waren in dieser armen verrenkten
Gestalt vereinigt und wie titanisch bedeutungslos war alles
gewesen! Nun waren alle Anstrengungen der Menschheit
wirklich beendet und hatten ihren Höhepunkt erreicht - welch
ungeheuerlicher und unglaublicher Höhepunkt in den Augen der
armen, selbstzufriedenen Narren aus den Tagen des Wohlstands!
Niemals mehr würde der Planet die polternden Schritte
menschlicher Millionen erleben nicht einmal das Kriechen von
Eidechsen und das Summen von Insekten, denn auch sie waren
zugrunde gegangen. Jetzt würde die Herrschaft der saftlosen
Zweige und der endlosen Felder widerstandsfähiger Gräser
anbrechen. Die Erde war, wie ihr kalter, durch nichts zu
störender Mond, auf ewig dem Schweigen und der Dunkelheit
ausgeliefert.
Die Sterne wanderten weiter. Der ganze gedankenlose Plan
würde bis ins unbekannte Unendliche weitergehen. Dieses
banale Ende einer unerheblichen Episode hatte nicht die
geringste Bedeutung für ferne Sternnebel oder für neugeborene,
im Zenith ihrer Kraft stehende oder sterbende Sonnen. Die
menschliche Rasse, zu unbedeutend und zu flüchtig, um eine
echte Funktion oder einen wahren Zweck zu haben, gab es nicht
mehr, es war, als hätte es sie nie gegeben. Die äonenlange Farce
ihrer mühseligen Evolution war so ans Ende gelangt.

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Als die ersten Strahlen der tödlichen Sonne über das Tal
huschten, fand ein Lichtstrahl seinen Weg zu dem erschöpften
Gesicht einer zerschmetterten Gestalt, die im Schlamm lag.
Lovecraft fügte dem Rand der letzten Seite dieses Manuskripts
folgende Bemerkung an Barlow hinzu:
»Insekten und andere Lebensformen werden den Menschen
und die anderen Säugetiere wahrscheinlich wohl überleben..

-87-
Das Grauen auf dem Gottesacker

Hazel Heald und H. P. Lovecraft

Wenn die Staatsautobahn nach Rutland gesperrt ist, sind die


Reisenden gezwungen, die Straße nach Stillwater, vorbei an
Swamp Hollow, zu benutzen. Die Landschaft bietet stellenweise
einen wirklich großartigen Anblick, und doch erfreut sich diese
Strecke seit Jahren geringer Beliebtheit. Sie hat etwas
Deprimierendes an sich, besonders in der Nähe von Stillwater.
Motorisierte fühlen sich von dem Bauernhaus auf der
Bergkuppe mit den festverschlossenen Fensterläden auf
unbestimmbare Weise unangenehm berührt, und das gilt auch
für den weißbärtigen Schwachsinnigen, der sich auf dem
Friedhof im Süden herumtreibt, wo er anscheinend mit den
Insassen einiger Gräber redet.
Jetzt ist von Stillwater nicht mehr viel übrig. Die Krume ist
ausgelaugt, und die meisten Bewohner sind in die Städte über
dem fernen Fluß oder in die Stadt hinter den Bergen in der Ferne
abgewandert.
Der Turm der alten weißen Kirche ist eingestürzt, und die
Hälfte der rund zwanzig verstreut liegenden Häuser steht leer
und befindet sich in verschiedenen Stadien des Verfalls.
Normales Leben findet man nur in der Umgebung von Pecks
Gemischtwarenladen und der Tankstelle, und dort halten auch
die Neugierigen ab und zu an, um sich nach dem Haus mit den
verschlossenen Fensterläden und dem Idioten, der mit den Toten
redet, zu erkundigen.
Die meisten Fragesteller gehen mit einem leichten Gefühl von
Abscheu und Beunruhigung fort. Auf sie wirken die
heruntergekommenen Faulenzer merkwürdig unangenehm und
voller dumpfer Andeutungen, wenn sie von längst vergangenen
Ereignissen reden. Der Tonfall, in dem sie ganz gewöhnliche
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Ereignisse zu beschreiben pflegen, hat etwas Bedrohliches,
Ominöses - die ausgesprochen unangebrachte Neigung, sich
heimlichtuerisch, vielsagend, vertraulich zu geben und
manchmal in ehrfurchtsvolles Flüstern zu verfallen - was den
Zuhörer auf hinterhältige Weise verwirrt. Alte Yankees reden
oft so. In diesem Fall jedoch bekommt dieses düstere,
geheimnisvolle Verhalten noch zusätzliche Bedeutung durch
den melancholischen Anstrich des halbverfallenen Dorfes und
die triste Art der zutage tretenden Geschichte. Man spürt im
Innern das reine Grauen, das dem vereinsamten Puritaner und
seinen seltsamen Verdrängungen zugrunde liegt man spürt es
und sehnt sich danach, so rasch wie möglich in reinere Luft zu
entkommen.
Die Faulenzer flüstern bedeutsam, daß das Haus mit den
verschlossenen Fensterläden der alten Miss Sprague gehört -
Sophie Sprague, deren Bruder am 17. Juni begraben wurde, vor
Zeiten, im Jahr '86.
Sophie war nach diesem Begräbnis nie wieder die alte - nach
dem Begräbnis und dem anderen, das sich am selben Tag
ereignete -, und schließlich rührte sie sich gar nicht mehr aus
dem Haus. Sie läßt sich jetzt nicht einmal sehen, sondern
hinterlegt Mitteilungen unter der Matte der Hintertür und läßt
sich ihre Einkäufe durch Ned Pecks Jungen aus dem Laden
bringen. Sie fürchtet sich vor irgend etwas - am meisten vor dem
alten Friedhof in Swamp Hollow. Sie ist nicht dorthin zu
kriegen, seit ihr Bruder - und der andere - dort zur letzten Ruhe
gebettet wurden. Kein Wunder allerdings in Anbetracht der Art
und Weise, wie sich der verrückte Johnny Dow aufführt. Er
treibt sich den ganzen Tag auf dem Friedhof herum und
zuweilen auch des Nachts und behauptet, mit Tom zu reden -
und dem anderen auch. Dann marschiert er an Sophies Haus
vorbei und brüllt ihr dies und das zu - und das ist der Grund,
warum sie die Fensterläden nicht mehr aufmacht. Er behauptet,
Wesen von irgendwo seien darauf aus, sie irgendwann zu

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erwischen. Dem müßte man ein Ende machen, aber man darf
mit dem armen Johnny nicht zu hart ins Zeug gehen. Außerdem
hatte Steve Barbour schon immer seine eigenen Meinungen.
Johnny redet mit zweien der Gräber. Das eine ist das Tom
Spragues. Das andere, am entgegengesetzten Ende des
Friedhofs, ist das Henry Thorndikes, der am selben Tag
begraben wurde. Henry war Totengräber des Dorfes - der
einzige weit und breit - und in Stillwater nie sehr beliebt. Ein
Stadtmensch aus Rutland, hatte das College besucht und steckte
voller Bücherwissen. Las merkwürdige Sachen, von denen
niemand sonst je gehört hatte, und mischte Chemikalien, gewiß
nicht zum Spaß. Versuchte immer, etwas Neues zu erfinden -
ein neumodisches Balsamieröl oder eine närrische Arznei.
Einige Leute behaupteten, er hätte Arzt werden wollen, aber das
Studium nicht geschafft, und hätte deshalb den nächstbesten
Beruf ergriffen. Natürlich gab es in einem Ort wie Stillwater
nicht viel zu tun für einen Totengräber, aber Henry betrieb
nebenbei noch Landwirtschaft.
Von gemeiner, krankhafter Neigung - dazu ein heimlicher
Trinker, wenn man nach den leeren Flaschen in seinem Müll
gehen konnte. Kein Wunder, daß Tom Sprague ihn haßte, ihn
aus der Freimaurerloge ausschloß und ihn abwies, als er sich an
Sophie heranmachen wollte. Seine Tierversuche waren gegen
Natur und Bibel. Wer konnte den Zustand vergessen, in dem
jener Collie aufgefunden wurde, und was mit Mrs. Akeleys
Katze passiert war? Und dann war da noch die Sache mit
Deacon Leavitts Kalb, bei der Tom eine Bande von Dorfjungen
angeführt hatte, um Rechenschaft zu fordern. Das Merkwürdige
daran war, daß das Kalb schließlich doch lebendig wurde,
obwohl Tom es steif wie einen Schürhaken vorgefunden hatte.
Manche behaupteten, daß Tom der Belämmerte war.
Thorndike war jedoch möglicherweise anderer Ansicht, da er
die Faust seines Feindes Tom zu spüren bekommen hatte, ehe
man den Irrtum entdeckte.

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Tom war zu der Zeit natürlich halb betrunken. Er war
bestenfalls ein bösartiger Raufbold und schüchterte seine arme
Schwester mit Drohungen ein. Aus diesem Grund ist sie
vielleicht noch immer ein so verängstigtes Wesen. Die beiden
lebten allein, und Tom hätte sie nie verlassen, weil das bedeutet
hätte, den Besitz zu teilen. Die meisten Burschen fürchteten ihn
zu sehr, als daß sie sich Sophie nähern mochten - er war über
zwei Meter groß -, Henry Thorndike jedoch war ein
verschlagener Kerl, der es verstand, hinter dem Rücken der
Leute ans Werk zu gehen. Er war kein besonders gewinnender
Anblick, aber Sophie hatte nie böse Worte für ihn. Da ihr Bruder
gemein und häßlich war, wäre sie froh gewesen, wenn jemand
sie ihm entrissen hätte. Sie hat sich vielleicht gar nicht gefragt,
wie sie von ihm befreit werden würde, nachdem er sie von Tom
befreit hatte.
So standen die Dinge zumindest im Juni '86. Bis dahin war
das Geflüster der Faulenzer in Pecks Laden noch nicht
unerträglich drohend gewesen. Aber im Lauf der Zeit wuchs das
Element des Geheimnisvollen und der Spannung. Tom Sprague,
so schien es, unternahm in regelmäßigen Abständen Ausflüge
nach Rutland, und seine Abwesenheit kam Henry Thorndike
sehr zustatten. Wenn Tom zurückkam, war er immer in sehr
schlechter Verfassung, und der alte Dr. Pratt, so taub und
halbblind er auch war, warnte ihn immer vor dem Trinken und
der Gefahr des Delirium tremens. Toms Geschrei und Gefluche
zeigte stets an, daß er wieder daheim war.
Am neunten Juni - einem Mittwoch, ein Tag, nachdem Joshua
Goodenough mit dem Bau seines neuen Silos fertig geworden
war - machte er sich auf zu seiner letzten und längsten Sauftour.
Am folgenden Dienstagmorgen kehrte er zurück, und man sah
vom Laden aus, daß er seinen braunen Hengst schlug, wie er es
immer tat, wenn ihn der Whiskey in den Fängen hatte. Dann
drangen Schreie, Kreischen und Flüche aus dem Sprague-Haus,
und das erste, was jeder merkte, war, daß Sophie, so schnell sie

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die Beine tragen wollten, zum alten Dr. Pratt rannte. Als der
Arzt eintraf, fand er Thorndike bei Sprague.Tom lag in seinem
Zimmer auf dem Bett, mit starren Augen und Schaum vor dem
Mund.
Der alte Pratt fummelte ein bißchen herum, führte die
üblichen Tests durch, schüttelte mit ernster Miene den Kopf und
sagte zu Sophie, daß sie einen großen Verlust erlitten hätte - daß
ihr nächster und liebster Verwandter die Tore zu einem besseren
Land durchschritten hätte, was, wie jedermann wußte, eintreten
mußte, wenn er mit dem Saufen nicht aufhörte.
Sophie schluchzte, die Faulenzer raunten, aber das war auch
schon alles. Thorndike lächelte nur - vielleicht wegen des
ironischen Umstands, daß er, immer sein Feind, jetzt der einzige
war, der für Thomas Sprague noch von Nutzen sein konnte. Er
brüllte etwas in Dr. Pratts noch halbwegs gutes Ohr von der
Notwendigkeit, wegen Toms Zustand das Begräbnis sehr früh
abzuhalten. Solche Trunkenbolde waren immer unsichere
Kantonisten, und jede zusätzliche Verzögerung - bei begrenzten
Möglichkeiten auf dem Lande - würde zu Folgen sichtbarer und
anderer Art rühren, was für die trauernden Hinterbliebenen
schwerlich einzusehen wäre. Der Arzt hatte gemurmelt, daß die
Laufbahn als Alkoholiker Tom schon im voraus ziemlich gut
einbalsamiert haben mußte, aber Thorndike versicherte ihm das
Gegenteil, wobei er gleichzeitig mit seiner eigenen
Geschicklichkeit prahlte und mit der Überlegenheit, mit der er
seine Experimente ersonnen hatte.
An diesem Punkt fingen die geflüsterten Gerüchte der
Faulenzer wirklich an, Verstörung zu verbreiten.
Bis hierher wird die Geschichte gewöhnlich von Ezra
Davenport erzählt oder von Luther Fry, falls Ezra mit einer
Erkältung daniederliegt, wozu er im Winter neigt. Ab hier aber
nimmt Calvin Wheeler den Faden auf, und seine Stimme kann
auf verdammt hinterlistige Art verstecktes Grauen andeuten.

-92-
Wenn Johnny Dow zufällig vorbeigeht, kommt es immer zu
einer Unterbrechung, denn in Stillwater sieht man es nicht allzu
gern, wenn Johnny zu viel mit Fremden spricht.
Calvin schiebt sich an den Reisenden heran und ergreift ihn
manchmal mit seiner knorrigen, mit Leberflecken gesprenkelten
Hand am Jackettkragen, während er seine wässrigen Augen halb
schließt.
»Ja, Herr«, flüstert er, »Henry ging nach Hause un' holte sein
Totengräberwerkzeug - der verrückte Johnny Dow schleppte das
meiste, denn er ging Henry immer zur Hand- un' sagte, Doc
Pratt und der verrückte Johnny sollten mithelfen, die Leiche
vorzubereiten. Doc hat immer behauptet, daß Henry den Mund
zu voll nimmt - damit prahlt, was für'n hervorragender Arbeiter
er ist, und was für'n Glück es wäre, daß Stillwater 'nen richtigen
Totengräber hätte, statt daß man die Leute einfach so begräbt,
wie sie eben sind, wie sie's drüben in Whiteby tun.
"Angenommen", sagt er, "so'n Kerl hätt' 'nen Anfall von
Starrkrampf, wie man's manchmal liest. Wie würde es 'nem
solchen Kerl gefallen, wenn man ihn hinunterläßt und anfängt,
die Erde auf ihn zu schaufeln? Wie würde es ihm gefallen, wenn
er dort drunten unter dem neuen Grabhügel erstickte, kratzend
und scharrend, wenn er die Kraft dazu wieder hätte, die ganze
Zeit aber wüßte, daß es ihm nichts nützt? Nein, Herr, ich sage
Ihnen, es ist'n Segen, daß Stillwater 'nen klugen Arzt hat, der
weiß, wann'n Mann tot ist und wann nicht, und einen
ausgebildeten Totengräber, der eine Leiche so präparieren kann,
daß sie unten bleibt, ohne Ärger zu machen..
So redete Henry daher, meistens, als spräche er zu den
sterblichen Überresten des armen Tom; und dem alten Pratt
gefiel nicht, was er davon aufschnappte, auch wenn Henry ihn
einen klugen Arzt nannte. Der verrückte Johnny behielt die
ganze Zeit die Leiche im Auge, und die Sache wurde dadurch
nicht angenehmer, daß er Zeug daher sabbelte wie: "Er ist nicht
kalt, Doc" oder:
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"Ich seh, wie sich seine Lider bewegen" oder: "Gebt mir eine
Injektionsspritze mit dem Zeug, das mir so gut bekommt. "
Thorndike brachte ihn zum Schweigen, obwohl wir alle wußten,
daß er dem armen Johnny Drogen gegeben hatte. Es ist ein
Wunder, daß der arme Bursche je davon loskam.
Das Schlimmste, dem Doktor zufolge, war jedoch die Art und
Weise, wie die Leiche zuckte, als Henry begann, ihr
Balsamierungsflüssigkeit zu injizieren. Er hatte damit geprahlt,
was für eine wunderbare neue Rezeptur er durch seine
Experimente mit Katzen und Hunden gefunden hätte, als sich
plötzlich Toms Leiche zusammenkrümmte, als lebe sie und
schicke sich zu einem Ringkampf an. Donnerwetter!
Doc sagte, er war zu Tode erschrocken, auch wenn er wußte,
wie Leichen reagieren, wenn die Muskeln steif zu werden
beginnen. Also, Sir, um es kurz zu machen, der Leichnam setzte
sich auf und ergriff Thorndikes Injektionsspritze, so daß sie sich
in Henry bohrte und er eine saubere Dosis seiner eigenen
Balsamierflüssigkeit abbekam, wie man es sich besser nicht
wünschen konnte. Darüber war Henry ziemlich erschrocken,
auch wenn er die Nadel herauszog und es ihm gelang, den
Körper niederzuhalten und die Flüssigkeit einzuspritzen. Er maß
noch mehr von dem Zeug ab, als wollte er sichergehen, daß es
reichte, und sich selbst vergewissern, daß nicht viel davon in
seinen Kreislauf gelangt war, aber der verrückte Johnny begann
wieder im Singsang zu verkünden:
"Das isses, was Se Lige Hopkins Hund gegeben haben, als er
völlig tot un' steif war un' dann wieder aufwachte. Jetzt wirst du
so tot un' steif wie Tom Sprague! Vergiß nicht, wenn es nicht
genug ist, wirkt es erst nach sehr langer Zeit!.
Sophie war mit einigen der Nachbarn unten. Meine Frau
Matildy - sie ist jetzt schon dreißig Jahre tot - war bei ihnen. Sie
versuchten alle herauszubekommen, ob Thorndike dagewesen
war, als Tom heimkam, und ob der Umstand, ihn anzutreffen, es
gewesen war, was den armen Tom in Rage gebracht hatte. Ich
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sage am besten gleich hier, daß es einige Leute recht
merkwürdig fanden, daß Sophie nicht mehr Trauer zeigte und
sich auch nicht über die Art und Weise aufregte, wie Thorndike
gelächelt hatte. Nicht, daß jemand andeuten würde, Henry habe
Tom mit einigen seiner merkwürdigen zusammengepanschten
Flüssigkeiten und Injektionen zum Jenseits verholten, oder
Sophie würde den Mund halten, falls sie das glaubte - aber man
weiß schon, was die Leute hinterrücks für Vermutungen
anstellen. Wir wußten alle, mit welcher Besessenheit Thorndike
Tom gehaßt hatte - und das nicht ohne Grund -, und Emily
Barbour sagt noch zu meiner Matildy, Henry hätte Glück
gehabt, daß der alte Doc Pratt gerade rechtzeitig mit dem
Totenschein zur Stelle war, so daß für niemand ein Zweifel
bleiben konnte..
Wenn der alte Calvin zu dieser Stelle kommt, beginnt er
gewöhnlich, Unverständliches in seinen strähnigen,
schmutzigweißen Bart zu murmeln. Die meisten Zuhörer
versuchen, vor ihm zurückzuweichen, aber er scheint sich selten
um diese Gesten zu kümmern. Gewöhnlich setzt Fred Pack, zur
Zeit dieser Ereignisse ein kleiner Junge, dann die Erzählung fort.
Thomas Spragues Begräbnis fand am Donnerstag, dem 17.
Juni, nur zwei Tage nach seinem Tod, statt.
Eine solche Eile hielt man im fernen und unzugänglichen
Stillwater, wo die Trauergäste weite Entfernungen
zurückzulegen hatten, beinahe für unanständig, aber Thorndike
hatte erklärt, daß der Zustand des Verstorbenen es erfordere. Der
Totengräber schien ziemlich nervös zu sein, seit er den
Leichnam vorbereitet hatte, und man sah häufig, wie er seinen
Puls fühlte. Der alte Doktor Pratt dachte, daß er sich über die
zufällige Dosis von Balsamierflüssigkeit Sorgen machte.
Natürlich hatte sich die Geschichte verbreitet, so daß doppelter
Eifer die Trauergäste beflügelte, die sich versammelten, um ihre
Neugier und ihr krankhaftes Interesse zu befriedigen.
Auch wenn Thorndike offensichtlich besorgt war, schien er
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darauf bedacht zu sein, seiner beruflichen Pflicht in großem Stil
nachzukommen. Sophie und andere, die die Leiche sahen, waren
höchst erstaunt über ihre völlige Lebensähnlichkeit, und der
Friedhofsvirtuose sicherte seine Aufgabe ab, indem er in
regelmäßigen Abständen bestimmte Injektionen wiederholte. Er
entlockte den Städtern und Trauergästen beinahe eine Art
widerwilliger Bewunderung, auch wenn er dazu neigte, den
Eindruck durch sein prahlerisches und geschmackloses Gerede
zu verderben. Wann immer er sich um seinen schweigenden
Klienten kümmerte, wiederholte er das ewige Gefasel von dem
Glück, einen erstklassigen Totengräber zu haben. Was - sagte er,
als wende er sich direkt an den Leichnam -, wenn Tom zu den
nachlässigen Burschen gehört hätte, die ihre Toten lebendig
begraben? Die Art, wie er vom Grauen des
Lebendbegrabenseins nicht loskam, war wirklich barbarisch und
ekelhaft.
Der Trauergottesdienst wurde in dem stickigen Salon
abgehalten, der seit dem Tod Mrs. Spragues zum ersten Mal
geöffnet worden war. Das verstimmte kleine Harmonium ächzte
jämmerlich, und der Sarg, nahe der Eingangstür aufgebahrt, war
mit widerwärtig riechenden Blumen bedeckt. Eine große
Menschenmenge war aus nah und fern herbeigeströmt, und
Sophie bemühte sich, um ihretwillen gebührenden Schmerz zu
zeigen. In Augenblicken, da sie ihre Beherrschung vergaß,
schien sie so verwundert wie unruhig zu sein, und ihr Blick ging
zwischen dem fiebrig aussehenden Totengräber und der
lebensechten Leiche ihres Bruders hin und her. In ihr schien
langsam Abscheu vor Thorndike zu wachsen, und die
Umstehenden flüsterten ohne Scheu, daß sie ihm jetzt bald
Beine machen würde, da Tom nicht mehr im Weg stand das
heißt, falls sie dazu imstande war, denn es fiel manchmal
schwer, mit einem so aalglatten Burschen fertig zu werden. Mit
Hilfe ihres Geldes und ihrem immer noch guten Aussehen
würde sie jedoch vielleicht wieder einen Freund finden können,

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und der würde sich Henrys schon annehmen.
Als das Harmonium schnaufend »Schöne Insel im Irgendwo«
anstimmte, stimmte der Kirchenchor der Methodisten mit seinen
kummervollen Stimmen in die grausige Kakophonie ein, und
alle blickten fromm auf Diakon Leavett - das heißt, alle bis auf
den verrückten Johnny Dow, der die Augen noch immer auf die
ruhige Gestalt im Glassarg geheftet hielt. Er murmelte leise
etwas in seinen Bart.
Stephen Barbour - von der Nachbarfarm - war der einzige, der
Johnny Beachtung schenkte. Es schüttelte ihn, als er merkte, daß
der Idiot direkt zu der Leiche sprach und sogar mit den Fingern
närrische Zeichen machte, als wolle er den Schläfer unter dem
Glasdeckel herausfordern. Tom, fiel ihm ein, hatte den armen
Johnny bei mehr als einer Gelegenheit drangsaliert, vielleicht
aber auch hatte jener ihn dazu gereizt. Etwas an der ganzen
Sache zerrte an Stephens Nerven. Unterdrückte Spannung lag in
der Luft und eine brütende Abnormität, die er sich nicht erklären
konnte. Man hätte Johnny nicht ins Haus lassen sollen - und es
war merkwürdig, wie sehr sich Thorndike anscheinend dazu
zwingen mußte, die Leiche anzusehen. Ab und zu fühlte der
Totengräber sich mit seltsamer Gebärde den Puls.
Reverend Silas Atwood leierte in monotonem Klageton seine
Ansprache über den Verblichenen - wie das Todesschwert
mitten auf diese Kleinfamilie herabgesaust war und die
irdischen Bande zwischen dem liebenden Geschwisterpaar
gekappt hatte. Mehrere Nachbarn blickten einander unter
gesenkten Augenlidern verstohlen an, und Sophie begann
tatsächlich, nervös zu weinen. Thorndike trat an ihre Seite und
versuchte sie zu beruhigen, aber sie schien merkwürdigerweise
vor ihm zurückzuweichen.
Seine Bewegungen waren deutlich unsicher, und er schien
heftig die ungewöhnliche Spannung zu spüren, die in der Luft
lag. Schließlich schritt er, sich seiner Pflicht als
Zeremonienmeister bewußt, nach vorn und kündigte mit
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Grabesstimme an, daß man einen letzten Blick auf den
Verstorbenen werfen könne.
Langsam defilierten Freunde und Nachbarn an der Totenbahre
vorbei, von der Thorndike den verrückten Johnny gewaltsam
wegzog. Tom schien friedlich zu ruhen. Zu seiner Zeit war
dieser Teufel recht hübsch gewesen. Man hörte ein paar von
Herzen kommende Seufzer - und viele vorgetäuschte -, doch
begnügten sich die meisten in der Menge, neugierig zu glotzen
und später flüsternd Bemerkungen zu machen. Steve Barbour
verweilte lang und aufmerksam über dem ruhigen Gesicht und
ging kopfschüttelnd weiter. Seine Frau Emily, die ihm folgte,
flüsterte, daß Henry Thorndike besser nicht zu sehr mit seiner
Arbeit prahlen solle, denn Toms Augen hatten sich geöffnet. Sie
waren geschlossen gewesen, als die Andacht begann, denn sie
hatte nahe gestanden und hatte es gesehen. Sie sahen aber ganz
natürlich aus - nicht so, wie man es nach zwei Tagen erwarten
würde.
Wenn Fred Peck in seiner Erzählung an diesem Punkt
ankommt, hält er gewöhnlich inne, als sträube er sich
fortzufahren. Auch der Zuhörer hat das Gefühl, daß etwas
Unangenehmes bevorsteht. Peck beruhigt seine Zuhörer jedoch
mit der Feststellung, daß das, was dann geschah, nicht so
schlimm war, wie gern angedeutet wird. Selbst Steve hat nie
gesagt, was er sich gedacht haben mag, und den verrückten
Johnny darf man natürlich überhaupt nicht zählen.
Es war Luella Morse - die nervöse alte Jungfer, die im Chor
sang -, die die Dinge ausgelöst zu haben schien. Sie zog wie die
übrigen am Sarg vorbei, hielt aber inne, um ein bißchen genauer
hinzusehen, als es alle mit Ausnahme der Barbours getan hatten.
Und dann stieß sie ohne Ankündigung einen schrillen Schrei aus
und fiel in Ohnmacht.
Natürlich herrschte sofort ein Chaos. Der alte Doktor Pratt
bahnte sich mit dem Ellbogen den Weg zu Luella und rief, man
solle etwas Wasser bringen und ihr das Gesicht benetzen.
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Andere drängten herbei, um sie und den Sarg anzustarren.
Johnny begann vor sich hinzumurmeln: »Er weiß es, er weiß es,
er kann alles hören, was wir sagen, und alles sehn, was wir tun,
und man wird ihn so begraben« - aber bis auf Steve Barbour
schenkte ihm niemand Beachtung.
Nach einigen Augenblicken erwachte Luella aus ihrer
Ohnmacht. Sie konnte nicht genau sagen, was sie so erschreckt
hatte, sondern wisperte bloß: »Wie er ausschaute - wie er
ausschaute.« Für die anderen aber schien die Leiche völlig
unverändert zu sein. Sie bot jedoch einen grausigen Anblick, mit
den offenen Augen und den geröteten Wangen. Und dann fiel
der erstaunten Menge etwas auf, was sowohl Luella wie auch
der Leiche einen Augenblick die Aufmerksamkeit stahl. Es war
Thorndike - auf den die Menge eine merkwürdig schlechte
Wirkung zu haben schien. In dem allgemeinen Hin und Her war
er offensichtlich umgestoßen worden und lag auf dem Boden,
wo er sich aufzurichten suchte.
Sein Gesicht zeigte einen höchst erschreckten Ausdruck, und
sein Blick wurde glasig und trüb. Er brachte kein lautes Wort
hervor, doch das heisere Rasseln seiner Kehle zeigte, für alle
unverkennbar, eine unsägliche Verzweiflung an.
»Bringt mich nach Hause, rasch, und laßt mich allein. Die
Flüssigkeit, die irrtümlich in meinen Arm gelangt ist...
Herzreaktion... diese verdammte Aufregung... zu viel... wartet...
wartet... Ich komme später zurück, weiß nicht, wie lange es
dauert... die ganze Zeit werde ich bei Bewußtsein sein und
wissen, was vorgeht... laßt euch nicht täuschen...«
Als diese Worte im Nichts verklangen, trat der alte Doktor
Pratt zu ihm und fühlte seinen Puls - beobachtete ihn lange Zeit
und schüttelte schließlich den Kopf. »Es hat keinen Zweck,
etwas zu unternehmen - er ist tot. Herzversagen - und die
Flüssigkeit, die er in den Arm bekam, muß ein schlimmes Zeug
gewesen sein. Keine Ahnung, was es ist.«

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Die ganze Gesellschaft schien wie gelähmt. Ein neuer
Todesfall im Totengemach! Nur Steve Barbour erinnerte an
Thorndikes letzte Worte, die er hervorgestoßen hatte. War er
wirklich tot, wenn er selbst gesagt hatte, es könnte
fälschlicherweise so aussehen? Wäre es nicht besser, eine Weile
abzuwarten, was geschehen würde? Und was konnte es schaden,
wenn sich Doc Pratt Tom Sprague vor der Grablegung noch
einmal ansah? Der verrückte Johnny stöhnte und hatte sich wie
ein treuer Hund auf Thorndike geworfen. »Begrabt ihn nicht,
begrabt ihn nicht! Er is' so wenig tot wie Lige Hopkins Hund
oder Diakon Leavitts Kalb, als er ihnen die Spritze verpaßt
hatte. Er hat da so'n Zeugs, das er einem eingibt, damit man tot
aussieht, wenn man's gar nich' is'! Man scheint tot zu sein, aber
man weiß alles, was vorgeht, und am nächsten Tag is' man so
gut wie zuvor. Begrabt ihn nicht - er kommt unter der Erde zu
sich und kann sich nicht durcharbeiten!
Er is'n guter Mensch, nich' wie Tom Sprague. Ich hoff bei
Gott, Tom kratzt und erstickt stundenlang...«
Aber niemand außer Barbour schenkte dem armen Johnny die
geringste Beachtung. Auch das, was Steve selbst gesagt hatte,
war offensichtlich auf taube Ohren gestoßen. Überall herrschte
Unsicherheit.
Der alte Doc Pratt machte letzte Tests und murmelte etwas
von Formularen für die Toterklärung, und der salbungsvolle
Presbyter Atwood schlug ein Doppelbegräbnis vor. Da
Thorndike tot war, gab es bis Rutland keinen Totengräber, und
es würde eine riesige Ausgabe bedeuten, einen von dort zu
holen.
Wenn Thorndike aber in diesem heißen Juniwetter nicht
einbalsamiert wurde die Folgen waren nicht auszudenken. Es
gab keine Verwandten und Freunde, die Einwände erheben
konnten, falls sich nicht Sophie dazu entschloß - aber Sophie
befand sich auf der anderen Seite des Raumes und starrte
schweigend, gebannt und wie in düsteren Gedanken krankhaft in
-100-
den Sarg ihres Bruders.
Diakon Leavitt versuchte den Anschein von geziemender
Würde wiederherzustellen und ließ den armen Thorndike quer
durch die Halle ins Wohnzimmer schaffen. Inzwischen sandte er
Zenas Wells und Walter Perkins ins Haus des Totengräbers nach
einem Sarg passender Größe. Der Schlüssel steckte in Henrys
Hosentasche. Johnny jammerte weiter und zerrte an der Leiche,
und Presbyter Atwood versuchte, Nachforschungen über
Thorndikes Konfession anzustellen - denn Henry hatte nicht an
den örtlichen Gottesdiensten teilgenommen. Als man zu dem
Entschluß kam, daß seine Angehörigen in Rutland - die jetzt alle
tot waren - Baptisten waren, entschied Reverend Silas, daß am
besten Diakon Leavitt das kurze Gebet sprach.
Es war ein Festtag für die Begräbnisliebhaber von Stillwater
und Umgebung. Selbst Luella hatte sich soweit erholt, daß sie
bleiben konnte. Murmeln und Flüstern erfüllte den Raum,
während an Thorndikes abkühlendem, steif werdendem Körper
die letzten Handgriffe vorgenommen wurden.
Johnny hatte man aus dem Haus gejagt, und die meisten
waren sich einig, daß man das gleich hätte tun sollen. Sein
fernes Heulen war ab und zu grausig zu hören.
Als die Leiche eingesargt und neben der Thomas Spragues
aufgebahrt war, starrte die schweigende, beinahe erschreckt
aussehende Sophie sie so intensiv an, wie sie die Leiche ihres
Bruders angestarrt hatte. Eine gefährlich lange Zeit hatte sie
kein Wort hervorgebracht, und der verwirrte Ausdruck auf
ihrem Gesicht entzog sich jeder Beschreibung oder
Interpretation. Als sich die anderen zurückzogen, um sie mit den
Toten allein zu lassen, raffte sie sichzu einer Art mechanischer
Rede auf, aber niemand konnte aus ihren Worten schlau werden.
Sie schien zuerst zu einer Leiche und dann zur anderen zu
sprechen.
Und nun wurde die ganze Begräbnis-Maskerade vom

-101-
Nachmittag lustlos wiederholt, in einer Art und Weise, die
einem Außenstehenden als Höhepunkt grausamer unbewußter
Komödie erscheinen mußte.
Wiederum schnaufte das Harmonium, der Chor kreischte,
wiederum wurde ein leiernder Tonfall angeschlagen, und
wiederum zogen die krankhaft neugierigen Zuschauer an einem
makabren Gegenstand vorüberdiesmal sterblichen Überresten in
doppelter Anordnung. Einige der Empfindsameren schüttelte es
ob dieser Prozedur, und wieder verspürte Stephen Barbour einen
Ton tiefen Grauens und dämonischer Abnormität. Großer Gott,
wie lebensecht wirkten diese beiden Leichen... und wie der arme
Thorndike in vollem Ernst dafür plädiert hatte, daß er nicht für
tot erklärt werden wollte... und wie er Tom Sprague haßte... aber
was konnte man schon tun gegen den gesunden
Menschenverstand - ein Toter war ein Toter, und da war der alte
Doc Pratt mit seiner Erfahrung.
Wenn sich sonst niemand den Kopf zerbrach, warum sollte
man sich selbst Sorgen machen?... Was immer mit Tom passiert
war, hatte er vermutlich verdient... und falls Henry ihm etwas
angetan hatte, so waren sie quitt... zumindest war Sophie zu
guter Letzt frei...
Als sich die gaffende Prozession zuletzt auf den Flur und zur
Eingangstür bewegt hatte, war Sophie wieder mit dem Toten
allein. Presbyter Atwood stand draußen auf der Straße und
sprach mit dem Fahrer des Leichenwagens von Lees
Mietstallung, und Diakon Leavitt stellte die doppelte Anzahl
von Sargträgern auf. Glücklicherweise hatten in dem
Leichenwagen zwei Särge Platz. Keine Eile - Ed Plummer und
Ethan Stone waren mit den Schaufeln vorausgegangen, um das
zweite Grab auszuheben.
In der ganzen Prozession gab es drei Mietdroschken und jede
Anzahl privater Gespanne - es hatte keinen Sinn, die Menge von
den Gräbern fernzuhalten.

-102-
Dann drang ein verzweifelter Schrei aus dem Zimmer, in dem
sich Sophie und die Leichen befanden.
Die Menge war wie gelähmt, und das Gefühl kehrte wieder,
das aufgekommen war, als Luella geschrien hatte und in
Ohnmacht gefallen war. Steve Barbour und Diakon Leavitt
schickten sich an hineinzugehen, aber ehe sie noch das Haus
betreten konnte, kam Sophie weinend herausgestürzt und stieß
hervor: »Das Gesicht am Fenster!... Das Gesicht am Fenster!...«
Zur selben Zeit kam eine wildblickende Gestalt um die
Hausecke gebogen und lüftete das Geheimnis von Sophies
dramatischem Aufschrei. Es war offensichtlich der Eigner des
Gesichts - der arme verrückte Johnny. Er begann, auf und ab zu
springen, deutete auf Sophie und kreischte: »Sie weiß es!
Sie weiß es! Ich habe es ihrem Gesicht angesehen, als sie sie
anschaute und mit ihnen sprach! Sie weiß es und läßt es zu, daß
man sie in die Erde versenkt, daß sie kratzen und nach Luft
scharren... Sie werden aber mit ihr reden, und sie können sie
hören... sie werden mit ihr reden und ihr erscheinen... und eines
Tages kommen sie zurück, um mit ihr abzurechnen!.
Zenas Wells zerrte den kreischenden Tölpel zu einem
Holzschuppen hinter dem Haus und sperrte ihn ein. Sein
Schreien und Klopfen war in einiger Entfernung zu hören, aber
niemand schenkte ihm weiter Beachtung. Der Zug formierte
sich, und mit Sophie in der ersten Mietdroschke legte er langsam
die kurze Strecke vom Dorf bis zum Friedhof von Swamp
Hollow zurück.
Presbyter Atwood sprach die passenden Worte, als Thomas
Sprague zur Ruhe gebettet wurde, und bis er geendet hatte,
hatten Ed und Ethan Thorndikes Grab auf der anderen Seite des
Friedhofs fertig ausgehoben. Die Menge wandte sich nun
dorthin. Diakon Leavitt hielt eine blumige Rede, und das
Hinabsenken wiederholte sich. Die Leute hatten begonnen, sich
in Grüppchen zu entfernen, und das Klappern der abfahrenden

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Wagen war zu vernehmen, als die Schaufeln wieder ihre
Tätigkeit aufnahmen. Als die Erde auf die Sargdeckel donnerte,
zuerst auf jenen Thorndikes, fielen Steve Barbour die seltsamen
Regungen auf, die über Sophie Spragues Gesicht huschten. Er
konnte sie nicht alle sehen, aber hinter jenen, die er bemerkte,
schien sich ein schiefer, halbunterdrückter Blick vagen
Triumphs zu verbergen. Er schüttelte den Kopf.
Zenas war nach Hause zurückgelaufen und hatte den
verrückten Johnny aus dem Holzschuppen befreit, ehe Sophie
nach Hause kam. Der arme Kerl eilte sofort verzweifelt zum
Friedhof. Er kam an, ehe die Schaufler mit ihrer Arbeit fertig
waren. Zahlreiche der neugierigen Trauergäste lungerten noch
immer herum. Die überlebenden Zuschauer erinnern sich nur
schaudernd, was er in Spragues teilweise zugeschüttetes Grab
schrie, und wie er mit denHänden in der lockeren Erde von
Thorndikes frisch aufgeschüttetem Grab auf der anderen Seite
des Friedhofs herumwühlte. Jotham Blake, der Dorfpolizist,
mußte ihn gewaltsam in den Ort zurückführen, und seine
Schreie lösten ein entsetzliches Echo aus.
An dieser Stelle hört Fred Peck gewöhnlich zu erzählen auf.
Was sonst, fragt er, gibt es noch zu erzählen? Es war eine
düstere Tragödie, und es ist kaum verwunderlich, daß Sophie
nachher seltsam wurde. Und mehr bekommt man nicht zu hören,
falls die Stunde bereits so weit fortgeschritten ist, daß der alte
Dalvin Wheeler nach Hause geschwankt ist. Falls er aber noch
da ist, mischt er sich mit diesem verdammt ins Ohr gehenden
und heimtückischen Flüstern ein. Manchmal haben diejenigen,
die ihn hören, später Angst, am Haus mit den verschlossenen
Fensterläden oder am Friedhof vorbeizugehen, vor allem in der
Dunkelheit.
»He, he... Fred war damals noch ein Grünschnabel und
erinnert sich kaum mehr an die Hälfte dessen, was vorging! Sie
möchten wissen, warum Sophie die Läden ihres Hauses
verschlossen hält und warum der verrückte Johnny noch immer

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zu den Toten spricht und vor Sophies Fenstern herumbrüllt?
Gut, Sir, ich bin mir nicht sicher, ob ich alles weiß, was es da zu
wissen gibt, aber ich höre, was ich höre.«
An dieser Stelle spuckt der Alte seinen Kautabak aus und
neigt sich vor, um den Zuhörer zur Aufmerksamkeit zu zwingen.
»Es war in derselben Nacht, vergessen Sie das nicht - gegen
Morgen, nur acht Stunden nach diesen Begräbnissen -, als wir
den ersten Schrei aus Sophies Haus hörten. Er hat uns alle
aufgeweckt - Steve und Emily Barbour und ich und Matildy
laufen eilig hinüber, alle in Nachthemden, und finden Sophie
ganz angezogen und ohnmächtig auf dem Fußboden des
Wohnzimmers. Zum Glück hatte sie die Tür nicht verschlossen.
Als wir zu ihr kamen, zitterte sie wie Espenlaub und ließ kein
Sterbenswörtlein verlauten, was mit ihr los sei. Matildy und
Emily taten, was sie konnten, um sie zu beruhigen, aber Steve
flüsterte mir Sachen zu, die eher den gegenteiligen Effekt hatten.
Eine Stunde später, als wir schon erklärten, wir würden bald
nach Hause gehen, begann Sophie den Kopf auf die Seite zu
legen, so als höre sie etwas. Dann schrie sie plötzlich neuerlich
auf und brach wieder bewußtlos zusammen.
Also, mein Herr, ich erzähle, was ich erzähle, und lasse mich
auf keine Vermutungen ein, wie Steve Barbour es getan hätte.
Er neigte immer dazu, etwas anzudeuten... starb vor zehn Jahren
an Lungenentzündung...
Was man da so undeutlich hörte, war natürlich nur der arme
verrückte Johnny. Bis zum Friedhof ist es nicht mehr als eine
Meile, und er muß durch das Fenster des Hauses entkommen
sein, in das man ihn im Ort eingesperrt hatte - auch wenn der
Konstabler Blake behauptet, daß er in jener Nacht nicht
ausgebrochen ist. Von jenem Tag an treibt er sich zwischen den
Gräbern herum und redet zu den beiden - bei Toms Grab schreit
er herum und tritt mit den Füßen danach, auf Henrys Grab legt
er Blumensträuße und anderes. Und wenn er das nicht tut, treibt
er sich vor Sophies dichtverschlossenen Fenstern herum und
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brüllt, daß bald jemand kommt, um mit ihr abzurechnen.
Sie wollte nie mehr dem Friedhof zu nahe kommen, und jetzt
geht sie nicht einmal mehr vor das Haus und trifft auch
niemanden. Sie sagt, ein Fluch lag auf Stillwater - und ich will
verdammt sein, wenn sie nicht teilweise recht hat, hält man sich
vor Augen, wie sie heutzutage verfällt. An Sophie war wirklich
die ganze Zeit etwas Merkwürdiges. Einmal, als Sally Hopkins
sie besuchte - das war, glaube ich, '97 oder '98 -, gab es ein
entsetzliches Rütteln an ihren Fenstern - und Johnny war zu
jener Zeit sicher eingesperrt zumindest Konstabler Dodge
schwor das hoch und heilig. Ich glaube aber nicht an ihre
Geschichten von Geräuschen an jedem 17. Juli oder von
schwachglänzenden Gesichtern, die an jedem pechschwarzen
Morgen um zwei Uhr Sophies Tür und Fenster aufbrechen
wollen.
Sie müssen wissen, es war um zwei Uhr morgens, daß Sophie
die Geräusche hörte und zweimal in jener ersten Nacht nach
dem Begräbnis in Ohnmacht fiel. Steven und ich, Matildy und
Emily hörten es das zweite Mal, so schwach es war, gerade so
wie ich es Ihnen erzählt habe. Und ich sage Ihnen nochmals, daß
es der verrückte Johnny drüben auf dem Friedhof gewesen sein
muß, mag Jotham Blake auch behaupten, was er will. Auf so
weite Entfernung kann man eine Männerstimme nicht mehr
unterscheiden, und da wir den Kopf voller Unsinn hatten, nimmt
es nicht Wunder, daß wir uns einbildeten, zwei Stimmen zu
hören - noch dazu Stimmen, die überhaupt nicht hätten reden
dürfen.
Steve behauptete, mehr gehört zu haben als ich. Ich bin
überzeugt, daß er an Gespenster glaubte.
Matildy und Emily waren so verängstigt, daß sie sich nicht
daran erinnerten, was sie gehörthatten. Und merkwürdigerweise,
niemand sonst in der Stadt wenn jemand zu dieser unchristlichen
Stunde wach war - hat je gesagt, daß er Stimmen gehört hätte.

-106-
Was immer es war, es war so leise, daß es der Wind hätte sein
können, wären da nicht Worte gewesen.
Ich verstand ein paar, wollte es aber nicht sagen, da ich allem
zugestimmt hätte, was Steve behauptete, aufgeschnappt zu
haben...
"Teufelin"... "die ganze Zeit"..."Henry"... und "lebendig"...
war deutlich... ebenso "du weißt..." "hast versprochen, dabei zu
sein", "werde ihn los"... und "begrab mich"... mit einer
veränderten Stimme...
Dann gab es dieses entsetzliche "kehre eines Tages wieder"...
begleitet von einem Kreischen wie in Todesangst... aber Sie
können mir nicht einreden, daß Johnny diese Geräusche nicht
hätte hervorbringen können...
He, Sie! Warum haben Sie es so eilig wegzukommen?
Vielleicht gibt es noch mehr, was ich Ihnen erzählen könnte,
wenn ich wollte....

-107-
Das Tagebuch des Alonzo Typer

William Lumley und H. P. Lovecraft

Anmerkung des Herausgebers: Alonzo Hasbrouch Typer aus


Kingston, New York, wurde zum letzten Mal am 17. April 1908
gegen Mittag im Hotel Richmond in Batavia gesehen und
erkannt. Er war der einzige Nachkomme einer uralten Familie
aus dem Bezirk Ulster und zum Zeitpunkt seines Verschwindens
53 Jahre alt.
Mr. Typer wurde privat unterrichtet und besuchte
anschließend die Universitäten Columbia und Heidelberg. Er
verbrachte sein ganzes Leben als Lernender, seine
Forschungsgebiete schlössen viele dunkle und allgemein
gefürchtete Grenzbereiche menschlichen Wissens mit ein. Seine
Schriften über Vampirismus, Ghule und Poltergeistphänomene
wurden privat gedruckt, nachdem sie von vielen Verlegern
abgelehnt worden waren. Nach einer Reihe besonders bitter
geführter Auseinandersetzungen trat er im Jahr 1900 aus der
Society for Psychical Research aus.
Zu verschiedenen Zeiten unternahm Mr. Typer ausgedehnte
Reisen, manchmal verschwand er für längere Zeiträume. Man
weiß, daß er viele unbekannte Orte in Nepal, Indien, Tibet und
Indochina besucht hat und den Großteil des Jahres 1899 auf den
geheimnisvollen Osterinseln verbrachte. Die ausgedehnte Suche
nach dem Verschwundenen erbrachte keine Ergebnisse, und sein
Erbe wurde unter entfernte Verwandte in New York City
aufgeteilt.
Das hiermit vorgestellte Tagebuch wurde angeblich in den
Ruinen eines geräumigen Landhauses in der Nähe von Attica, N.
Y., das schon Generationen vor seinem Einsturz einen
merkwürdig unheimlichen Ruf hatte, gefunden. Das Gebäude
war sehr alt, älter als die allgemeine Besiedlung des Gebiets
-108-
durch die Weißen, und war die Heimstatt einer merkwürdigen
und verschlossenen Familie namens van der Heyl gewesen, die
1746 aus Albany unter dem merkwürdigen Schatten des
Verdachts, Hexerei betrieben zu haben, hierhergezogen war. Der
Bau stammte möglicherweise aus der Zeit um 1760.
Von der Geschichte der van der Heyls ist nur wenig bekannt.
Sie hielten sich von ihren Nachbarn fern, beschäftigten Neger
als Bedienstete, die sie direkt aus Afrika holten und die kaum
Englisch sprachen, und erzogen ihre Kinder privat und auf
europäischen Hochschulen. Diejenigen unter ihnen, die in die
Welt hinauszogen, verschwanden schnell aus dem Blick, jedoch
erst, nachdem sie einen schlimmen Ruf erlangt hatten, weil sie
sich mit Gruppen eingelassen hatten, die Schwarze Messen
abhielten, und mit Kulten von noch dunklerer Tragweite.
Um das gefürchtete Haus erhob sich eine Streusiedlung,
bewohnt von Indianern und später von Renegaten aus dem
umliegenden Gebiet, das den zweifelhaften Namen Chorazin
trug. Über die einzigartigen Erbanlagen, die später unter den
Dorfbewohnern von Chorazin auftraten, haben Ethnologen
mehrere Monographien verfaßt. Unmittelbar hinter dem Dorf, in
Sicht des Hauses der van der Heyls, befindet sich ein steiler
Hügel, der von einem merkwürdigen Ring uralter, aufrecht
stehender Steine gekrönt ist, die von den Irokesen immer mit
Furcht und Abscheu betrachtet wurden.
Ursprung und Natur der Steine, deren Entstehungsdatum,
nach den archäologischen und klimatologischen Beweisen zu
urteilen, sagenhaft früh sein muß, sind noch immer ein
ungelöstes Problem.
Von etwa 1795 an wissen die Sagen der einströmenden
Pioniere und der späteren Bevölkerung viel zu berichten von
seltsamen Rufen und Gesängen, die zu gewissen Jahreszeiten
von Chorazin sowie dem großen Haus und dem Hügel der
aufrecht stehenden Steine ausgingen. Doch gibt es Grund zu der
Annahme, daß dies um 1872 aufhörte, als der gesamte vander-
-109-
Heyl-Haushalt - mit allen Dienstboten - plötzlich verschwand.
Von da an war das Haus verlassen, denn es ereigneten sich
andere Katastrophen, darunter drei unerklärliche Todesfälle,
fünf Fälle von Verschwinden und vier Fälle plötzlichen
Wahnsinns, als spätere Besitzer und interessierte Besucher
versuchten, es zu bewohnen. Das Haus, das Dorf und
ausgedehnte landwirtschaftliche Nutzflächen ringsum fielen an
den Staat und wurden mangels auffindbarer vander-Heyl-Erben
versteigert. Seit ungefähr 1890 haben die Besitzer (der
verstorbene Charles A. Shields und sein Sohn Oscar S. Shields
aus Buffalo) den ganzen Besitz verfallen lassen und alle
Neugierigen gewarnt, das Gebiet zu betreten.
Von denjenigen, die sich, wie man weiß, dem Haus während
der letzten vierzig Jahre genähert haben, waren die meisten
Erforscher des Okkulten, Polizeibeamte, Zeitungsleute und recht
seltsame Gestalten aus dem Ausland, darunter ein
geheimnisvoller Eurasier, möglicherweise aus Chochinchina,
dessen späteres Wiederauftauchen im Jahr 1903, bar jeder
Erinnerung und mit bizarren Verstümmelungen, in der Presse
große Aufmerksamkeit fand.
Mr. Typers Tagebuch - ein Buch von etwa 6x3 1/2 Zoll
Größe, aus widerstandsfähigem Papier und einer merkwürdig
haltbaren Bindung aus dünnem Metallblech - wurde am 16.
November 1935 im Besitz eines der dekadenten Dorfbewohner
von Chorazin entdeckt, und zwar von einem Staatspolizisten,
der ausgesandt worden war, um den Gerüchten vom Einsturz der
leerstehenden vander- Heyl-Villa nachzugehen. Diese war bei
dem heftigen Sturm vom 12.. November wirklich eingestürzt,
offensichtlich eine Folge des Alters und der Vernachlässigung.
Die Zerstörung war eigenartig gründlich, und mehrere Wochen
lang konnte keine genaue Durchsuchung der Ruinen
vorgenommen werden. John Eagle, der dunkelhäutige,
affengesichtige, indianerähnliche Dorfbewohner, der das
Tagebuch in seinem Besitz hatte, erklärte, daß er das Buch an

-110-
der Oberfläche des Schuttberges gefunden hatte, in den Resten
dessen, was vermutlich das Vorderzimmer im Obergeschoß
gewesen war.
Das Innere des Hauses ließ sich nur noch schwerlich
identifizieren, wiewohl ein riesiges und erstaunlich festes
Ziegelgewölbe im Keller (dessen uralte Eisentür wegen des
merkwürdig verzierten und auf perverse Weise Widerstand
bietenden Schlosses aufgesprengt werden mußte) intakt blieb
und rätselhafte Baumerkmale aufwies. Erstens waren die Wände
mit noch immer unentzifferten Hieroglyphen bedeckt, die grob
in das Ziegelmauerwerk eingeritzt waren. Eine weitere
Merkwürdigkeit war eine riesige kreisförmige Öffnung auf der
Hinterseite des Gewölbes, die durch eine Bodensenkung
blockiert war, die offensichtlich vom Einsturz des Gebäudes
herrührte.
Am rätselhaftesten jedoch war die anscheinend in jüngster
Zeit erfolgte Ablagerung einer stinkenden, schleimigen,
pechschwarzen Substanz auf dem verfliesten Boden, die sich in
einer meterbreiten Linie erstreckte, deren eines Ende die
verschüttete Kreisöffnung bildete. Die Leute, die das Gewölbe
öffneten, erklärten, daß die Stelle wie das Schlangengehege
eines Zoos roch.
Das Tagebuch, das offensichtlich allein zu dem Zweck
angelegt worden war, die Erforschung des gefürchteten vander-
Heyl-Hauses durch den verschwundenen Mr. Typer zu
beschreiben, ist inzwischen von Schriftsachverständigen für echt
erklärt worden. Das Schriftstück zeigt gegen Ende Anzeichen
einer wachsenden Nervenzerrüttung und wird stellenweise
beinahe unleserlich. Die Bewohner von Chorazin - deren
Beschränktheit und Wortkargheit alle Erforscher des Gebietes
und seiner Geheimnisse erstaunt - erklären, sich an nichts zu
erinnern, was Mr. Typer von anderen unvorsichtigen Besuchern
des gefürchteten Hauses unterschieden hätte.
Der Text des Tagebuchs wird hier buchstabengetreu ohne
-111-
jeden Kommentar wiedergegeben. Wie man ihn interpretieren
und was man daraus anderes schließen kann als die geistige
Zerrüttung des Schreibers, muß jeder Leser für sich selbst
entscheiden. Nur die Zukunft kann weisen, welcher Wert ihm
bei der Lösung des generationenalten Geheimnisses zukommen
mag. Man kann hinzufügen, daß die Genealogen Mr. Typers
verspätete Erinnerung in der Sache Adriaen Sieght bestätigen.
Das Tagebuch Kam hier gegen 6 Uhr abends an. Mußte die
ganze Strecke von Attica angesichts eines drohenden Sturms zu
Fuß gehen, denn niemand wollte mir ein Pferd oder einen
Wagen leihen, und mit einem Auto kann ich nicht umgehen.
Dieser Ort ist noch schlimmer als erwartet, und ich fürchte das
Bevorstehende, obwohl ich mich gleichzeitig danach sehne, das
Geheimnis zu erkunden. Nur allzu schnell ist die Nacht da - die
alte Walpurgisnacht des Sabbatgrauens -, und nach jener Zeit in
Wales weiß ich, was zu erwarten ist. Was immer kommt, ich
werde mit keiner Wimper zucken. Von einem unergründlichen
Drang angetrieben, habe ich mein ganzes Leben der Suche nach
unheiligen Geheimnissen gewidmet. Aus keinem anderen Grund
bin ich hierhergekommen, und ich will nicht mit dem Schicksal
rechten.
Bei meiner Ankunft war es sehr dunkel, obwohl die Sonne
noch keineswegs untergegangen war. Die Sturmwolken waren
die dichtesten, die ich je gesehen hatte, und ohne die Blitze hätte
ich den Weg überhaupt nicht gefunden. Das Dorf ist ein
hassenswerter Ort, wo sich die Füchse gute Nacht sagen, und
seine wenigen Bewohner sind nicht besser als Idioten. Einer von
ihnen begrüßte mich auf merkwürdige Weise, so als kenne er
mich. Ich konnte sehr wenig von der Gegend sehen - bloß ein
winziges, sumpfiges Tal mit braunen Schilfgewächsen und toten
Schwämmen, umgeben von knorrigen, drohend verkrüppelten
Bäumen mit blätterlosen Ästen. Hinter dem Dorf jedoch liegt
ein trist aussehender Hügel, auf dessen Kuppel sich ein Kreis
großer Steine mit einem weiteren Stein im Mittelpunkt befindet.

-112-
Das ist zweifellos jenes abgefeimte Urschlammwesen, von dem
mir V-- erzählt hat, die N--st-Fledermaus.
Das große Haus liegt inmitten eines Parks, der zur Gänze mit
merkwürdig aussehenden Dornbüschen bedeckt ist. Ich konnte
mir kaum einen Weg bahnen, und als es mir gelungen war,
hielten mich das enorme Alter und die Verlotterung des
Gebäudes beinahe davon ab einzutreten. Der Ort sah schmutzig
und entartet aus, und ich fragte mich, wie ein so lepröser Haufen
zusammenhalten mochte. Es besteht aus Holz, und obwohl die
ursprünglichen Konturen in einer verwirrenden Vielzahl von
Gebäudeflügeln verborgen sind, die zu verschiedenen Zeiten
hinzugefügt wurden, glaube ich, daß es ursprünglich in dem
geometrischen Kolonialstil Neu-Englands erbaut wurde. Das
war vermutlich einfacher zu bauen als ein holländisches
Steinhaus - und außerdem erinnere ich mich, daß Dirck van der
Heyls Frau aus Salem stammte, sie war eine Tochter des
unsäglichen Abaddon Corey. Das Haus hatte eine kleine
Säulenveranda, die ich gerade erreichte, als der Sturm losbrach.
Es war wirklich ein teuflischer Sturm - schwarz wie Mitternacht,
es regnete in Strömen, Donner und Blitz wie am Tag des
Weltuntergangs, und ein Wind, der im wahrsten Sinn des
Wortes an mir zerrte.
Die Tür war nicht verschlossen, daher holte ich meine
elektrische Taschenlampe hervor und ging hinein. Auf Boden
und Möbeln lag zentimeterdick Staub, und der Platz stank wie
ein vermoderndes Grab. Ein Flur erstreckte sich bis nach hinten,
und rechts führte eine geschwungene Treppe nach oben.
Ich kämpfte mich mühsam dorthin durch und wählte mir
dieses Vorderzimmer als Unterkunft. Alles scheint möbliert zu
sein, doch fallen die meisten Möbel schon auseinander. Ich
schreibe dies um acht Uhr, nach einer kalten Mahlzeit aus
meiner Reisetasche. Später werden mir die Dorfbewohner
Nachschub bringen, auch wenn sie sich vorerst (wie sie sagen)
nicht bereit erklärt haben, weiter als bis zu den Ruinen des

-113-
Parktores zu kommen. Ich wünschte, ich könnte ein
unangenehmes Gefühl der Vertrautheit mit dieser Stätte
loswerden.
Später Ich bin mir sicher, daß mehrere Wesen sich in diesem
Haus aufhalten. Eines davon ist mir entschieden feindlich
gesinnt - ein bösartiger Wille, der danach strebt, meinen eigenen
zu bezwingen und mich zu überwältigen. Ich darf das keinen
Augenblick lang zulassen, sondern muß meine ganze Kraft
aufbieten, um Widerstand zu leisten. Es ist entsetzlich böse und
entschieden nichtmenschlich. Ich glaube, es muß mit Mächten
außerhalb der Erde in Verbindung stehen - Mächten in den
Räumen hinter der Zeit und außerhalb des Universums. Es ragt
wie ein Koloß in die Höhe und bestätigt damit, was in den Aklo-
Schriften behauptet wird. Mit ihm ist eine Empfindung solch
ungeheurer Größe verbunden, daß ich mich frage, wie diese
Kammern seine Masse aufnehmen können - und doch hat es
keine sichtbare Ausdehnung. Sein Alter muß unaussprechlich
hoch sein - schockierend, nicht zu beschreiben.
18. April Schlief sehr wenig letzte Nacht. Um drei Uhr
morgens begann ein seltsamer, schleichender Wind das ganze
Gebiet zu durchziehen, der immer heftiger wurde, bis das Haus
schwankte, als stünde es in einem Taifun. Als ich die Treppe
hinunterging, um nach der klappernden Eingangstür zu sehen,
nahm die Dunkelheit in meiner Phantasie halb sichtbare Formen
an. Gerade unter dem Verandaabsatz erhielt ich einen heftigen
Stoß von hinten - vom Wind, nehme ich an, wiewohl ich hätte
schwören mögen, daß ich die sich auflösenden Umrisse einer
riesigen schwarzen Pfote erblickte, als ich mich rasch
umwandte. Ich verlor den Halt nicht, sondern beendete den
Abstieg sicher und schob den schweren Bolzen an der gefährlich
rüttelnden Tür vor.
Ich hatte nicht vorgehabt, das Haus vor der
Morgendämmerung zu erkunden. Jetzt aber - nicht imstande,
wieder einzuschlafen, und beflügelt von einer Mischung aus

-114-
Grauen und Neugier spürte ich kein Verlangen, meine Suche
aufzuschieben. Mit meiner starken Taschenlampe kämpfte ich
mich durch den Staub zum großen Salon im Süden durch, wo
die Porträts hängen mußten, wie ich wußte.
Dort waren sie auch, genauso wie V-- es berichtet hatte, und
wie ich mich offenbar aus einer dunklen Quelle zu erinnern
schien. Einige waren so geschwärzt und staubbedeckt, daß ich
wenig oder gar nichts ausmachen konnte, aber an denen, die ich
erkennen konnte, sah ich, daß sie tatsächlich die hassenswerte
Ahnenreihe der van der Heyls darstellten. Einige der Gemälde
schienen Ähnlichkeit mit Gesichtern zu haben, die ich gekannt
hatte, aber welche Gesichter genau, daran konnte ich mich nicht
erinnern.
Die Umrisse des erschreckend anmaßenden Joris - zur Welt
gebracht 1773 von Dircks jüngster Tochter waren am
deutlichsten, und ich konnte die grünen Augen und den
Schlangenblick in seinem Gesicht erkennen. Jedesmal, wenn ich
die Taschenlampe ausschaltete, schien das Antlitz im Dunklen
zu glühen, bis mir fast so war, als leuchte es mit einem
schwachen, grünlichen Eigenlicht. Je länger ich es betrachtete,
desto böser schien es zu sein, und ich wandte mich ab, um dem
Wahn zu entgehen, sein Ausdruck wechsle.
Dasjenige aber, dem ich mich zuwandte, war noch schlimmer.
Das lange, mürrische Gesicht, die kleinen, eng
zusammenliegenden Augen und schweineähnlichen Züge ließen
sofort erkennen, wer es war, auch wenn sich der Künstler
bemüht hatte, den Rüssel so menschlich wie möglich zu
machen.
Das war es, wovon V-- geflüstert hatte. Als ich es entsetzt
anstarrte, war mir, als würden die Augen einen rötlichen Schein
annehmen, und einen Augenblick lang schien der Hintergrund
durch eine fremdartige und anscheinend nicht dazugehörende
Landschaft ersetzt zu sein - ein einsames, düsteres Moor unter
einem schmutziggelben Himmel, auf dem ein erbärmlich
-115-
aussehender Schlehdornbusch wuchs. Um meine geistige
Gesundheit fürchtend, stürzte ich aus der verfluchten Galerie in
den vom Staub gesäuberten Winkel oben im ersten Stock, wo
ich mein »Lager« aufgeschlagen habe.
Später Beschloß, einige der labyrinthischen Flügel des Hauses
bei Tageslicht zu erkunden. Ich kann mich nicht verirren, denn
meine Fußspuren sind in dem knöcheltiefen Staub deutlich
erkennbar, und wenn notwendig, kann ich andere Kennmarken
anbringen. Es ist merkwürdig, wie rasch mir die Windungen des
Flurs vertraut werden. Ich folgte einem langgestreckten
nördlichen »L« bis ans Ende und gelangte an eine versperrte
Tür, die ich aufbrach. Dahinter lag ein kleines Zimmer, das mit
Möbeln vollgestopft war und dessen Paneele vom Holzwurm
zernagt waren. An der Außenwand erspähte ich einen schwarzen
Raum hinter dem verfaulenden Holzwerk und entdeckte einen
engen Geheimgang, der nach unten in unbekannte,
nachtschwarze Tiefen führte. Es war eine steil abfallende
Rutsche oder ein Tunnel ohne Stufen oder Handgriffe, und ich
fragte mich, welchem Zweck er wohl gedient hatte.
Über dem Kamin hing ein vermodertes Gemälde, das ich bei
näherer Betrachtung als das einer jungen Frau in der Kleidung
des späten achtzehnten Jahrhunderts erkannte. Das Gesicht war
von klassischer Schönheit, zeigte jedoch den teuflischsten
Ausdruck, den ich je in einem menschlichen Antlitz erblickt
habe. Nicht bloß Zynismus, Gier und Grausamkeit, sondern eine
Eigenschaft, entsetzlich, über jedes menschliche Verständnis
hinaus, schien in diesen sehr schöngeschnittenen Zügen zu
liegen. Und bei der Betrachtung kam es mir so vor, als habe der
Künstler - oder die langsamen Prozesse des Moders und Verfalls
- der bleichen Gesichtsfarbe einen krankhaften Stich ins Grüne
verliehen und die Andeutung einer beinahe schuppenähnlichen
Beschaffenheit. Später stieg ich zur Dachkammer hinauf, wo ich
mehrere Kisten mit seltsamen Büchern fand - viele davon von
gänzlich fremdartigem Aussehen, sowohl was die Buchstaben

-116-
wie die äußere Form anging. Eines enthielt Spielarten der Aklo-
Formel, von deren Existenz ich keine Ahnung gehabt hatte. Die
Bücher in den staubigen Regalen unten habe ich mir noch nicht
vorgenommen.
19. April Es gibt hier zweifellos unsichtbare Wesen, auch
wenn der Staub außer meinen eigenen keine anderen Fußspuren
zeigt. Bahnte mir gestern einen Pfad durch das Dorngestrüpp
zum Parkeingang, wo meine Vorräte abgelegt werden, aber an
diesem Morgen fand ich ihn zugewachsen. Höchst merkwürdig,
weil sich in den Büschen kaum noch der Saft des Frühlings regt.
Wiederum hatte ich die Empfindung, etwas so Kolossales sei
nahe, daß es die Gemächer kaum fassen. Diesmal spürte ich, daß
mehr als eines der Wesen von solcher Größe ist, und ich weiß
nunmehr, daß das dritte Aklo-Ritual - das ich gestern in dem
Buch in der Dachstube entdeckt habe - ein solches Wesen
materiell und sichtbar machen würde. Ob ich mich an diese
Materialisierung wagen werde, bleibt abzuwarten. Die Gefahren
sind groß.
Letzte Nacht begann ich in den dunklen Winkeln der Säle und
Gemächer flüchtige Schattengesichter und formen zu erspähen -
Gesichter und Formen, die so entsetzlich und abscheulich sind,
daß ich nicht wage, sie zu beschreiben. Sie scheinen der
Substanz nach mit der Riesenpfote verwandt zu sein, die mich
vorletzte Nacht die Stufen hinunterzustoßen suchte. Es muß sich
um Phantome meiner gestörten Phantasie handeln. Was ich
suche, ähnelt diesen Dingen nicht ganz. Ich habe die Pfote
neuerlich gesehen, manchmal allein und zuweilen mit ihren
Gefährten, aber ich bin entschlossen, derartige Erscheinungen
nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Am frühen Nachmittag habe ich erstmals den Keller erforscht,
indem ich eine Leiter hinunterstieg, die ich in einem Lagerraum
gefunden hatte, denn die Holzstufen waren verfault. Der ganze
Ort ist eine Masse nitröser Verkrustungen, amorphe Erhebungen
markieren die Stellen, wo verschiedene Gegenstände sich

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zersetzt haben. Am entgegengesetzten Ende befindet sich ein
enger Durchgang, der sich unter dem nördlichen »L« zu
erstrecken scheint, wo ich den kleinen versperrten Raum fand.
An seinem Ende gibt es eine massive Backsteinwand mit einer
versperrten Eisentür. Diese Mauer und diese Tür, die
offenkundig zu einem Gewölbe gehören, tragen Anzeichen, die
darauf hinweisen, daß es sich um Handwerksarbeit aus dem 18.
Jahrhundert handelt, die zur selben Zeit wie die ältesten
Anbauten zu dem Haus entstanden sein müssen - eindeutig vor
der Revolution. Auf dem Schloß, das offenkundig älter ist als
das übrige Eisenzeug, sind gewisse Symbole eingraviert, die ich
nicht entziffern kann.
V-- hatte mir von diesem Gewölbe nichts gesagt. Es erfüllt
mich mit größerer Unruhe als alles, was ich gesehen habe, denn
jedesmal, wenn ich mich ihm nähere, verspüre ich den beinahe
unwiderstehlichen Drang, auf etwas zu lauschen. Bislang haben
keine unheilvollen Töne meinen Aufenthalt an diesem bösen Ort
markiert. Als ich den Keller verließ, wünschte ich mir fromm,
die Stufen wären noch da, denn das Erklimmen der Leiter schien
aufreibend langsam vor sich zu gehen.
Ich möchte nicht mehr dort hinuntersteigen - und doch treibt
mich irgendein böser Geist an, es nachts zu versuchen, wenn ich
herausfinden möchte, was es herauszufinden gibt.
20. April Ich habe die Tiefen des Grauens anklingen lassen -
nur damit mir noch tiefere Tiefen bewußt wurden.
Letzte Nacht war die Versuchung zu groß, und in den dunklen
frühen Nachtstunden stieg ich noch einmal mit der
Taschenlampe in den nitrösen, höllischen Keller hinab und ging
auf Zehenspitzen zwischen den formlosen Haufen zu jener
entsetzlichen Ziegelwand und der verschlossenen Tür. Ich
verursachte kein Geräusch und nahm davon Abstand, irgendeine
der mir bekannten Beschwörungen zu flüstern, doch lauschte ich
mit angespannter Konzentration.

-118-
Schließlich hörte ich Töne hinter diesen verschlossenen
Platten aus Eisenblech, das bedrohliche Umherstapfen und
Gemurmel wie von riesigen Nachtwesen im Inneren. Dazu
gesellte sich ein gräßliches Gleiten, als schleppte eine ungeheure
Schlange oder ein Meeresungetüm den enormen Leib über einen
Fliesenboden. Vor Schreck beinahe gelähmt, starrte ich auf das
riesige verrostete Schloß und die fremdartigen, kryptischen
Hieroglyphen, die es trug. Es handelte sich um Zeichen, die ich
nicht erkennen konnte, und etwas an ihrer vage ans Mongolische
erinnernden Technik wies auf ein gotteslästerliches und
unbeschreibliches Alter hin. Zuweilen bildete ich mir ein, ich
könnte sie in einem grünlichen Schein leuchten sehen.
Ich wandte mich um zu fliehen, entdeckte aber vor mir das
Trugbild der Riesenpfoten. Die großen Krallen schienen zu
wachsen und beim Hinsehen greifbarer zu werden. Sie
erstreckten sich aus der scheußlichen Schwärze des Kellers
herauf, mit schattenhaften Andeutungen schuppenbedeckter
Gelenke dahinter. Ein zunehmend bösartiger Wille leitete ihr
entsetzliches Herumtasten. Und dann hörte ich hinter mir -
innerhalb jenes abscheulichen Gewölbes - einen neuen
Ausbruch gedämpfter Schwingungen, die von weiten
Horizonten wie ein ferner Donner widerzuhallen schienen. Von
dieser größeren Furcht angetrieben, näherte ich mich mit meiner
Taschenlampe den schattenhaften Pfoten und sah, wie sie unter
der vollen Kraft des elektrischen Strahls verschwanden. Dann
kletterte ich wie rasend die Leiter hinauf, die Taschenlampe
zwischen den Zähnen, und hielt erst wieder an, nachdem ich
mein »Lager« oben erreicht hatte.
Ich wage nicht, mir vorzustellen, was mein schließliches Ende
sein wird. Ich kam als ein Suchender, jetzt aber weiß ich, daß
etwas mich sucht. Ich könnte nicht fortgehen, selbst wenn ich es
wollte. An diesem Morgen versuchte ich zu dem Tor zu
gelangen, um mir meine Vorräte zu holen, entdeckte aber, daß
sich die Dornhecken fest in meinen Pfad hineinwanden.

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Dasselbe war in jeder anderen Richtung der Fall - hinter dem
Haus und rings um das Haus.
Stellenweise hatten sich die braunen, dornigen Ranken zu
erstaunlichen Höhen aufgerichtet und bildeten eine
undurchdringliche Hecke. Die Dorfbewohner stehen mit all dem
in Verbindung. Als ich hineinging, entdeckte ich meine Vorräte
in dem großen Eingangsflur, ohne das geringste Anzeichen, wie
sie hierhergekommen waren. Es tut mir jetzt leid, daß ich den
Staub weggekehrt habe. Ich werde ihn wieder ein bißchen
verstreuen und feststellen, welche Abdrücke zurückbleiben.
Am Nachmittag las ich einige der Bücher in der großen,
schattigen Bibliothek im hinteren Teil des Erdgeschosses, und
mir kamen gewisse Vermutungen, die ich nicht zu äußern wage.
Nie zuvor hatte ich den Text der Pnakotic Manuscripts oder der
Eltdown Shards gesehen, und ich wäre nicht hierhergekommen,
hätte ich gewußt, was sie enthalten. Ich glaube, jetzt ist es zu
spät - denn der entsetzliche Sabbat ist nur mehr zehn Tage
entfernt. Man spart mich für diese Nacht des Grauens auf.
21. April Ich habe mir neuerlich die Porträts angesehen. Bei
einigen sind Namen angebracht, und mir ist eins von ihnen
aufgefallen: das Porträt einer böse aussehenden Frau, das vor
zwei Jahrhunderten gemalt wurde und das mir Rätsel
aufgegeben hat. Es trug den Namen Trintje van der Heyl Sieght,
und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß mir der
Name Sieght schon einmal in einem wichtigen Zusammenhang
begegnet ist. Damals trug er nicht diese entsetzliche Bedeutung,
aber jetzt hat er sie.
Ich muß mir den Kopf nach einem Fingerzeig zermartern.
Die Augen auf diesen Bildern verfolgen mich. Ist es möglich,
daß einige deutlicher aus ihren Leichentüchern aus Staub und
Verfall und Moder hervortreten? Die schlangen- und
schweinegesichtigen Hexenmeister starren mich unheilvoll aus
ihren geschwärzten Rahmen an, und eine Unmenge anderer

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anmaßender Gesichter beginnen, aus den verschatteten
Hintergründen hervorzuspähen. Sie alle tragen eine grauenhafte
Familienähnlichkeit, und das Menschliche daran ist
fürchterlicher als das Nichtmenschliche. Ich wünschte, sie
erinnerten mich weniger an andere Gesichter -Gesichter, die ich
in der Vergangenheit gekannt habe. Sie waren ein verfluchtes
Geschlecht, und Cornelis von Leyden war der schlimmste unter
ihnen. Er war es, der die Barriere niederriß, nachdem sein Vater
den anderen Schlüssel gefunden hatte. Ich bin mir sicher, daß V-
- lediglich ein Bruchstück der entsetzlichen Wahrheit kennt und
daß ich also in der Tat unvorbereitet und ohne Verteidigung bin.
Was war mit dem Geschlecht vor dem alten Claes? Was er 1591
tat, wäre ohne generationenlanges böses Erbe oder irgendein
Verbindungsglied mit dem Draußen nie möglich gewesen. Und
was ist mit den Abkömmlingen dieser monströsen Ahnenreihe?
Sind sie über die Welt verstreut, erwarten sie ihre gemeinsame
Erbschaft des Grauens? Ich muß mich an den Ort erinnern, an
dem mir einst der Name Sieght so ganz besonders auffiel.
Ich wünschte, ich könnte sicher sein, daß diese Bilder immer
in ihren Rahmen blieben. Seit mehreren Stunden sehe ich
zeitweilige Erscheinungen wie die früheren Pfoten und
Schattengesichter und Schattengestalten, die aber große
Ähnlichkeit mit einigen der uralten Porträts zeigen. Irgendwie
kann ich niemals gleichzeitig einen flüchtigen Anblick der
Erscheinung und des Porträts, dem sie ähnelt, erhaschen - die
Lichtverhältnisse sind stets ungeeignet für das eine oder das
andere, oder aber Erscheinung und Porträt befinden sich in
verschiedenen Räumen.
Vielleicht sind die Erscheinungen, wie erhofft, bloße
Traumgebilde, Hervorbringungen meiner Phantasie, aber ich
kann mir dessen jetzt nicht sicher sein. Einige sind weiblich und
von derselben höllischen Schönheit wie das Bild in dem kleinen
verschlossenen Raum. Einige ähneln keinem Porträt, das ich je
gesehen habe, erwecken in mir aber das Gefühl, daß ihre

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gemalten Züge nicht erkennbar unter Moder und Ruß der
Gemälde lauern, die ich nicht zu deuten vermag. Einige wenige,
befürchte ich verzweifelt, sind der Materialisierung in feste oder
halbfeste Form nahe - und einigen eignet eine furchtbare und
unerklärliche Vertrautheit.
Es gibt da eine Frau, die an Lieblichkeit alle anderen
übertrifft. Ihre verhängnisvolle Anziehung gleicht einer giftigen
Blüte voller Nektarsium, die am Abgrund der Hölle wächst.
Wenn ich sie genau ansehe, verschwindet sie, nur um später
erneut zu erscheinen. Ihr Angesicht hat eine grünliche Färbung,
und ab und zu kommt es mir vor, als könne ich ein Anzeichen
von Schuppen auf der glatten Hautfläche erspähen. Wer ist sie?
Ist sie jenes Wesen, das vor einem Jahrhundert oder noch früher
in dem kleinen Raum gewohnt haben muß? Meine Verpflegung
wurde wieder im Eingangsflur zurückgelassen - das scheint
eindeutig der Brauch zu sein. Ich hatte etwas Staub verstreut,
um Fußspuren festzuhalten, aber an diesem Morgen war der
ganze Flur von unbekannter Hand gefegt worden.
22. April Heute war ein Tag grauenvoller Entdeckungen. Ich
habe von neuem die spinnwebenverhangene Dachkammer
durchsucht und fand eine geschnitzte, verfallende Kiste -
eindeutig aus Holland -, gefüllt mit gotteslästerlichen Büchern
und Schriften, weit älter als alle, die ich hier bisher angetroffen
habe. Da gab es ein griechisches Necronomicon, ein
normannischfranzösisches Livre d'Eibon und eine Erstausgabe
des De Vermis Mysteriis des alten Ludvig Prinn. Das alte
gebundene Manuskript war jedoch das allerschlimmste. Es war
in Küchenlatein, geschrieben in der seltsamen, zittrigen
Handschrift des Claes van der Heyl, offensichtlich das Tagebuch
oder Notizheft, das er zwischen 1560 und 1580 führte. Als ich
die geschwärzte silberne Spange löste und die vergilbten Blätter
öffnete, flatterte eine farbige Zeichnung heraus das Ebenbild
eines Ungeheuers, das einem Tintenfisch vor allem ähnelte, mit
Schnabel und Tentakeln, riesigen gelben Augen und in den

-122-
Umrissen von einer gewissen abscheulichen Ähnlichkeit mit der
menschlichen Gestalt war.
Nie zuvor hatte ich eine so ekelerregende und alptraumhafte
Gestalt gesehen. Auf Pfoten, Füßen und Kopfsaugarmen
befanden sich merkwürdige Krallen - sie erinnerten mich an die
ungeheuren Schattenformen, die so entsetzlich auf meinem Weg
herumgetastet hatten -, während das Wesen als Ganzes auf
einem riesigen thronähnlichen Piedestal saß, das mit
unbekannten Hieroglyphen vage chinesischen Aussehens
beschriftet war. Über Schrift und Bild lag ein Hauch
abgefeimten Bösens so tief und durchdringend, daß ich mir nicht
vorstellen konnte, es sei das Produkt einer einzigen Welt oder
eines einzigen Zeitalters. Vielmehr mußte diese monströse Form
der Brennpunkt alles Bösen im unbegrenzten Weltraum sein, in
allen vergangenen und künftigen Äonen - und diese
gespenstischen Symbole waren wohl abscheuliche Ikonen,
ausgestattet mit einem morbiden Eigenleben, bereit, sich vom
Pergament loszureißen, um den Leser zu vernichten. Was die
Bedeutung dieses Ungeheuers und dieser Hieroglyphen anging,
hatte ich keinen Fingerzeig, doch wußte ich, daß beide mit einer
höllischen Präzision und für keinen nennbaren Zweck verfertigt
worden waren. Als ich die höhnisch lachenden Buchstaben
studierte, wurde mir ihre Verwandtschaft mit den Symbolen auf
jenem ominösen Schloß im Keller immer deutlicher. Ich ließ das
Bild in der Dachkammer, denn niemals hätte ich mit so etwas in
der Nähe einschlafen können.
Den ganzen Nachmittag und Abend las ich in der Handschrift
des alten Claes van der Heyl; und was ich las, wird jeden
Lebensabschnitt, der vor mir liegt, mit Grauen umwölken und
mit Grauen erfüllen.
Die Entstehung der Welt und früherer Welten entfaltete sich
vor meinen Augen. Ich erfuhr von der Stadt Shamballah, die
'von den Lemuriern vor fünfzig Millionen Jahren errichtet
worden war, doch noch immer unzerstört hinter der Mauer

-123-
psychischer Kraft in der östlichen Wüste steht. Ich erfuhr vom
Book ofDzyan, dessen erste sechs Kapitel älter sind als die Erde,
und das bereits alt war, als die Herren der Venus in ihren
Schiffen aus dem Weltraum kamen, um unseren Planeten zu
zivilisieren. Und schriftlich festgehalten fand ich zum ersten
Mal den Namen, von dem andere mir nur flüsternd gesprochen
hatten und den ich auf engere und schrecklichere Weise
kennenlernte - den gemiedenen und gefürchteten Namen Yian-
Ho.
An mehreren Punkten wurde ich durch Stellen aufgehalten,
die einen Schlüssel erforderten. Schließlich folgerte ich aus
verschiedenen Anspielungen, daß der alte Claes es nicht gewagt
hatte, sein ganzes Wissen in einem Buch niederzulegen, sondern
daß er bestimmte Punkte für ein anderes aufgespart hatte. Keiner
der beiden Bände ist ohne den Begleitband zur Gänze
verständlich, und darum habe ich mir vorgenommen, den
zweiten zu finden, wenn er irgendwo innerhalb der Mauern
dieses verfluchten Hauses verborgen ist. Obwohl ich
offenkundig ein Gefangener bin, habe ich meinen lebenslangen
Eifer für das Unbekannte nicht verloren und bin entschlossen,
den Kosmos so tief als möglich auszuloten, ehe mich das
Verhängnis ereilt.
23. April Suchte den ganzen Morgen nach dem zweiten
Tagebuch und fand es gegen Mittag in einem Schreibtisch in
dem kleinen verschlossenen Zimmer. Wie das erste ist es in
Claes van der Heyls barbarischem Latein abgefaßt und scheint
aus unzusammenhängenden Notizen zu bestehen, die sich auf
die verschiedenen Abschnitte des anderen beziehen. Beim
Blättern fiel mir sofort der abscheuliche Name Yian-Ho auf -
Yian-Ho, die versunkene und verborgene Stadt, in der äonenalte
Geheimnisse verborgen liegen und von der düstere
Erinnerungen, älter als der Körper, hinter den Seelen aller
Menschen lauern. Er wurde viele Male wiederholt, und der Text
war mit unbeholfen gezeichneten Hieroglyphen übersät, die

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offenkundig denen am Piedestal auf der höllischen Zeichnung
glichen, die ich gesehen hatte. Hier also lag eindeutig der
Schlüssel zu der ungeheuerlichen tentakelbewehrten Gestalt und
ihrer verbotenen Botschaft. Mit diesem Wissen stieg ich die
knarrende Treppe zu der Dachkammer voller Spinnweben und
Grauen hinauf.
Als ich die Tür zur Dachkammer zu öffnen versuchte,
klemmte sie wie nie zuvor. Mehrmals widerstand sie jedem
Versuch, sich öffnen zu lassen, und als sie schließlich nachgab,
hatte ich deutlich den Eindruck, eine kolossale, unsichtbare
Gestalt habe sie plötzlich freigegeben - eine Gestalt, die auf
nicht materiellen, aber hörbar schlagenden Flügeln davonflog.
Die entsetzliche Zeichnung lag meiner Meinung nach nicht
mehr genau an der Stelle, wo ich sie zurückgelassen hatte. Als
ich den Schlüssel in dem anderen Buch anwandte, merkte ich,
daß er nicht ohne weiteres das Geheimnis lüftete. Es war nur
eine Fährte - eine Fährte zu einem Geheimnis, das zu schwarz
war, als daß man es nur leicht bewacht ließ. Es würde Stunden -
vielleicht Tage - erfordern, um die entsetzliche Botschaft zu
entschlüsseln.
Werde ich lang genug leben, um das Geheimnis zu
ergründen? Die schattenhaften schwarzen Arme und Pfoten
suchen meine Vorstellungen jetzt mehr und mehr heim und
wirken noch titanischer als zuvor. Ich bin auch nicht mehr lange
frei von diesen verschwommenen unmenschlichen
Erscheinungen, deren nebelhafte Masse viel zu ungeheuerlich
scheint, als daß die Gemächer sie fassen könnten. Und ab und zu
paradieren die grotesken, dahinschwindenden Gesichter und
Gestalten und die höhnenenden Porträtschatten in verwirrendem
Durcheinander an mir vorbei.
Wahrhaftig, es gibt schreckliche Urarkana der Erde, die am
besten unbenannt und unbeschworen bleiben; fürchterliche
Geheimnisse, die nichts mit dem Menschen zu tun haben und
die der Mensch nur erfährt, wenn er Frieden und geistige

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Gesundheit dreingibt; kryptische Wahrheiten, die den
Wissenden auf ewig zu einem Fremden unter seinesgleichen
machen und zur Folge haben, daß er allein auf Erden wandelt.
Ebenso gibt es gefürchtete Überlebende von Geschöpfen, die
älter und mächtiger als der Mensch sind; Geschöpfe, die sich
gotteslästerlich durch Äonen zu Zeitaltern vorgekämpft haben,
die nie für sie bestimmt waren; monströse Wesenheiten, die
endlos schlafend in unvorstellbaren Grüften und fernen Höhlen
gelegen haben, bereit, von solchen Gotteslästerern geweckt zu
werden, die ihre dunklen verbotenen Zeichen und heimlichen
Schibboleths kennen.
24. April Besah mir den ganzen Tag in der Dachkammer das
Bild und den Schlüssel. Gegen Sonnenuntergang vernahm ich
seltsame Geräusche, wie sie mir vorher nicht bemerkbar
gewesen waren, Geräusche, die von weither zu kommen
schienen. Durch Lauschen überzeugte ich mich, daß sie von dem
seltsamen steilen Hügel mit dem Kreis der aufrecht stehenden
Steine ausgehen mußten, der hinter dem Dorf und in einiger
Entfernung nördlich des Hauses liegt. Ich hatte gehört, daß es
einen Pfad gab, der vom Haus den Hügel hinauf zu dem alten
druidischen Steinkreis führte, und vermutete, daß die van der
Heyls zu gewissen Zeiten regen Gebrauch davon gemacht
hatten, aber bislang hatte die ganze Sache ungenutzt in meinem
Bewußtsein geschlummert. Die fraglichen Geräusche bestanden
aus einem schrillen Pfeifen, in das sich ein eigenartiges und
abscheuliches Zischen oder Blasen mischte, eine bizarre,
fremdländische Musik, die nichts glich, was in den Annalen der
Erde beschrieben ist. Es war sehr schwach und schwand bald,
aber die Sache hat mir zu denken gegeben. In Richtung dieses
Hügels erstreckt sich das lange, nach Norden weisende »L« mit
der geheimen Rutsche und dem verschlossenen Ziegelgewölbe
darunter. Kann es hier eine Verbindung geben, die mir bislang
entgangen ist? 25. April Ich habe eine eigenartige und
verstörende Entdeckung über die Natur meiner Gefangenschaft

-126-
gemacht.
Von einer unheimlichen Kraft vom Hügel angezogen,
entdeckte ich, daß das Dornengestrüpp vor mir
auseinanderweicht, aber nur in dieser Richtung. Es gibt ein
verfallenes Tor, und unter den Büschen existieren zweifellos die
Spuren eines alten Pfades. Die Dornensträucher erstrecken sich
zum Teil den Hügel hinauf und um den Hügel herum, obwohl
der Gipfel mit den aufrecht stehenden Steinen nur einen
merkwürdigen Bewuchs von Moos und kurzem Gras trägt. Ich
kletterte auf den Hügel und verbrachte dort mehrere Stunden,
wobei mir ein seltsamer Wind auffiel, der stetig um die
verbotenen Monolithe zuwehen und manchmal in einer
merkwürdig artikulierten, wenn auch dunkelkryptischen Art zu
flüstern scheint.
Die Steine ähneln sowohl in Farbe wie Gefüge nichts, was ich
andernorts gesehen habe. Sie sind weder braun noch grau,
sondern eher von einem schmutzigen Gelb, das in ein bösartiges
Grün übergeht und eine chamäleonhafte Veränderlichkeit
andeutet. Ihre Beschaffenheit ähnelt seltsamerweise einer
geschuppten Schlange und erweist sich bei Berührung
merkwürdig abstoßend - ist so kalt und klamm wie die Haut
einer Kröte oder eines anderen Reptils. In der Nähe des
zentralen Druidensteins befindet sich eine einzigartige
steingefaßte Aushöhlung, die ich mir nicht erklären kann, die
aber möglicherweise den Eingang zu einem längst verschütteten
Brunnen oder Tunnel bildet. Als ich versuchte, den Hügel an
bestimmten Stellen hinabzusteigen, die vom Haus wegführen,
bemerkte ich, daß sich mir die Dornsträucher wie zuvor in den
Weg stellten, obwohl sich der Weg zum Haus leicht zurücklegen
ließ.
26. April Am Abend wieder auf den Hügel, und das Flüstern
des Windes war jetzt weit deutlicher. Das beinahe zornige
Summen hörte sich fast wie richtiges Sprechen an, vage und
zischend in seiner Art, und erinnerte mich an den seltsamen

-127-
pfeifenden Gesang, den ich von weitem gehört hatte. Nach
Sonnenuntergang zuckten merkwürdige Blitze eines verfrühten
Sommergewitters über den nördlichen Horizont, denen sofort
eine seltsame Detonation hoch oben am verblassenden Himmel
folgte. Etwas an der Erscheinung verstörte mich zutiefst, und ich
konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Lärm in
einer Art unmenschlich zischender Rede endete, die in einem
gutturalen kosmischen Gelächter ausklang. Ist mein Gemüt
zuletzt doch ins Wanken geraten oder hat meine unerwünschte
Wißbegier unerhörtes Grauen aus den Zwielichträumen
hervorgerufen? Der Sabbat steht kurz bevor.
Wie wird das enden? 27. April Zu guter Letzt müssen sich
alle meine Träume verwirklichen! Ob es mein Leben oder
meinen Geist oder meinen Körper kostet, ich werde den
Durchgang betreten! Ich bin bei der Entzifferung dieser
entscheidenden Hieroglyphen auf dem Bild nur langsam
vorangekommen, aber an diesem Nachmittag bin ich auf den
letzten Fingerzeig gestoßen. Bis zum Abend hatte ich ihre
Bedeutung entziffert - und diese Bedeutung kann nur auf eine
Art mit den Dingen zusammenhängen, auf die ich in diesem
Haus gestoßen bin.
Unter diesem Haus - in einer Gruft, von der ich nicht weiß,
wo sie sich befindet - gibt es ein uraltes Wesen, das mir den
Durchgang zeigen wird, den ich betreten will, und das mir die
verlorenen Zeichen und Worte vermitteln wird, die ich brauche.
Wie lang es dort begraben lag, vergessen von allen mit
Ausnahme jener, welche die Steine auf dem Hügel errichtet
haben, und jener, die später diesen Ort aufsuchten und das Haus
erbauten, kann ich nicht ermessen. Zweifellos kam Hendrik van
der Heyl auf der Suche nach diesem Wesen 1638 nach Neu-
Holland. Die Menschen dieser Erde kennen es nicht, abgesehen
von dem geheimen Raunen jener wenigen Furchtgeschüttelten,
die den Schlüssel gefunden oder ererbt haben. Bislang hat es
kein Menschenauge auch nur flüchtig erblickt - es sei denn, die

-128-
verschwundenen Hexenmeister dieses Hauses sind tiefer als
vermutet eingedrungen.
Mit dem Wissen um die Symbole stellte sich gleich eine
Meisterschaft der Sieben Verlorenen Zeichen des Schreckens
und die stillschweigende Erkenntnis der abscheulichen und
unaussprechlichen Wörter der Furcht ein. Mir bleibt nur eines:
den Gesang anzustimmen, der den Vergessenen, der Wächter
des Uralten Durchgangs ist, verwandeln wird. Ich wundere mich
sehr über den Gesang. Er besteht aus seltsamen und abstoßenden
Kehllauten und verstörenden Zischlauten, keiner Sprache
ähnlich, die mir je begegnet ist, nicht einmal in den
schwärzesten Kapiteln des Livre d'Eibon. Als ich gegen
Sonnenuntergang auf den Hügel stieg, versuchte ich, laut zu
lesen, rief aber nichts als ein vages, unheimliches Grollen am
fernen Horizont hervor und eine dünne Wolke von
Staubteilchen, die zuckten und wirbelten wie ein bösartiges
Lebewesen. Vielleicht spreche ich die fremdländischen Silben
nicht korrekt aus oder vielleicht kann die große Verwandlung
nur am Sabbat - dem Höllensabbat, für den mich die Mächte in
diesem Haus fraglos festhalten - stattfinden.
Ich hatte an diesem Morgen einen merkwürdigen Anfall von
Furcht. Ich meinte einen Augenblick lang, mich zu erinnern, wo
ich den rätselhaften Namen Sieght zuvor gehört hatte, und die
Aussicht, ans Ziel zu kommen, erfüllte mich mit
unaussprechlichem Grauen.
28. April Heute haben unablässig dunkle, unheilverkündende
Wolken über dem Kreis auf dem Hügel geschwebt. Mir sind
derartige Wolken bereits einige Male zuvor aufgefallen, doch
haben ihre Umrisse und Formationen jetzt eine neue Bedeutung
gewonnen. Sie sind schlangenähnlich, phantastisch und gleichen
merkwürdig den bösen Schattengestalten, die ich im Haus
gesehen habe. Sie schweben in einem Kreis um den uralten
Druidenstein und drehen sich des öfteren, als seien sie von
unheilverkündendem Leben und Absichten erfüllt. Ich könnte

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schwören, daß sie ein zorniges Murmeln ausstoßen. Nach etwa
fünfzehn Minuten segeln sie langsam weiter, immer nach Osten,
wie die Einheiten eines verstreuten Bataillons. Handelt es sich
wirklich um diese gefürchteten Wesen, die einst Salomon kannte
- die riesigen schwarzen Wesen, deren Zahl Legion ist und deren
Schritt die Erde erschüttert? Ich habe den Gesang geübt, der das
namenlose Wesen verwandeln wird, doch bedrängen mich
seltsame Ängste, wenn ich die Silben vor mich hinmurmele.
Durch Zusammenfügen aller Anzeichen zu einem Bild habe ich
jetzt entdeckt, daß der einzige Weg zu Ihm durch das
verschlossene Kellergewölbe führt. Dieses Gewölbe wurde mit
einer höllischen Absicht errichtet und muß den verborgenen Bau
bedecken, der zu des Uralten Wesens Lagerstatt führt. Welche
Wächter unaufhörlich darin leben, mit welcher unbekannten
Labung sie jahrhundertelang durchhalten, können nur Verrückte
sich ausmalen. Die Hexenmeister dieses Hauses, die sie aus dem
Innern der Erde heraufbeschworen haben, kennen sie nur zu gut,
wie die erschreckenden Porträts und Erinnerungen an diesem
Ort zeigen.
Was mir am meisten Sorgen bereitet, ist die begrenzte
Wirkungsmöglichkeit des Gesangs. Er beschwört wohl das
namenlose Wesen herauf, liefert jedoch keine Handhabe, um
das, was heraufbeschworen wird, im Zaum zu halten. Es gibt
natürlich allgemeine Zeichen und Handlungen, aber ob sie sich
gegen jemanden wie den Einen als wirkungsvoll erweisen, wird
sich erst zeigen. Doch sind die Belohnungen hoch genug, um
jede Gefahr zu rechtfertigen, und auch wenn ich wollte, könnte
ich nicht zurück, denn eine unbekannte Kraft treibt mich voran.
Ich habe ein weiteres Hindernis entdeckt. Da das
verschlossene Kellergewölbe durchquert werden muß, ist es
notwendig, den Schlüssel zu diesem Ort zu finden. Das Schloß
ist bei weitem zu stabil, um gewaltsam aufgebrochen zu werden.
Daß sich der Schlüssel irgendwo in der Nähe befindet, steht
außer Zweifel, aber die Zeit bis zum Sabbat ist nicht mehr lang.

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Ich muß sorgfältig und gründlich suchen. Es wird Mut erfordern,
diese Eisentür aufzuschließen, denn welch eingekerkerter
Schrecken mag wohl dahinter lauern? Später Ich habe den
Keller seit einem oder zwei Tagen zu meiden begonnen, doch
am späten Nachmittag werde ich wieder in diese
furchterregenden Bereiche hinabsteigen.
Zunächst war alles ruhig, aber innerhalb von fünf Minuten
begann von neuem das Tappen und Murmeln hinter der
Eisentür. Diesmal war es lauter und erschreckender als je zuvor.
Ich erkannte auch wieder das Gleiten, das von einem
ungeheuerlichen Meeresungetüm kündete - rascher jetzt und
nervös verstärkt, als versuche das Wesen, sich den Weg durch
das Portal zu erzwingen, vor dem ich stand.
Als das Aufundab-Gehen lauter, ruheloser und unheimlicher
wurde, da durchdrang es pochend jene höllischen und
unidentifizierbaren Schwingungen, die von fernen Horizonten
widerzuhallen schienen wie ein ferner Donner. Jetzt aber war
ihre Lautstärke hundertfach vergrößert, und ihre Klangfarbe
erschreckte mit neuen und graueneinflößenden Bedeutungen.
Ich kann das Geräusch mit nichts treffender vergleichen als dem
Röhren eines gefürchteten Ungeheuers des entschwundenen
Zeitalters der Saurier, als uralte Horrorwesen die Erde
durchstreiften und Valusiens Schlangenmenschen die
Fundamente übler Magie legten. Einem solchen Röhren - aber
angeschwollen zu betäubenden Höhen, die keine normale
natürliche Kehle erreichen konnte - glich dieses schockierende
Geräusch. Wage ich es, die Tür aufzusperren und mich dem
Ansturm des Dahinterliegenden auszusetzen? 29. April Der
Schlüssel zu dem Gewölbe ist gefunden. Er gelangte diesen
Mittag in dem kleinen verschlossenen Zimmer in meinen Besitz
verborgen unter allerlei Krimskrams in einer Schublade des
uralten Schreibtisches, als sei er in einem verspäteten Versuch
versteckt worden. Er war in eine zerfallende Zeitung vom 31.
Oktober 1872. gehüllt, darunter aber noch in eine Umhüllung

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aus getrockneter Haut - offensichtlich die Haut eines
unbekannten Reptils, die eine küchenlateinische Botschaft in
derselben unleserlichen Schrift trug wie die Notizbücher, die ich
gefunden hatte. Wie vermutet waren Schloß und Schlüssel
weitaus älter als das Gewölbe. Der alte Claes van der Heyl hielt
sie bereit für etwas, was er oder seine Nachfahren vorhatten -
und ich konnte nicht abschätzen, wieviel älter sie waren als van
der Heyl. Beim Entziffern der lateinischen Botschaft zitterte ich
von neuem in einem Anfall von erdrückendem Grauen und
namenloser Furcht.
»Die Geheimnisse der ungeheuerlichen Uralten Wesen«,
verkündete der undeutliche Text, »deren kryptische Worte von
den verborgenen Dingen berichten, die es vor dem Menschen
gab, die Dinge, von denen niemand auf Erden erfahren sollte,
damit nicht sein Seelenfrieden für immer verloren sei, will ich
nie preisgeben. Im wahren Fleisch dieses Körpers war ich in
Yian-Ho, der versunkenen und verbotenen Stadt unzähliger
Äonen, deren Lage nicht verraten werden darf, und in der außer
mir kein Lebender weilte. Dort habe ich gefunden und von dort
habe ich mitgenommen jenes Wissen, das ich nur allzugern
wieder los wäre, obwohl mir das nicht gelingt. Ich habe gelernt,
eine Kluft zu überbrücken, die nicht überbrückt werden sollte,
und muß aus der Erde hervorrufen das, was nicht erweckt oder
beschworen werden sollte. Und das, was ausgesandt wurde, um
mir zu folgen, will nicht ruhen, bis ich oder die nach mir das
gefunden und getan haben, was gefunden und getan werden
muß.
Von dem, was ich erweckt und mit fortgetragen habe, darf ich
mich nicht trennen. So steht es geschrieben im Book of Hidden
Things. Das, von dem ich gewollt habe, daß es sei, hat seine
entsetzliche Gestalt um mich gewunden und - falls ich nicht
lebe, um das mir Aufgetragene zu erfüllen - um die geborenen
und ungeborenen Kinder, die nach mir kommen, bis der Auftrag
erfüllt ist. Auf seltsame Weise schließen sie sich vielleicht an,

-132-
und entsetzlich die Hilfe, die sie herbeibeschwören, bis das Ende
erreicht ist. Das Suchen muß in unbekannten und düsteren
Ländern erfolgen, und ein Haus muß für die äußeren Wächter
erbaut werden.
Das ist der Schlüssel zu dem Schloß, das mir in der
entsetzlichen, äonenalten und verbotenen Stadt Yian-Ho
übergeben wurde; das Schloß, das ich oder die Meinen auf den
Vorplatz dessen, das gefunden werden soll, legen müssen. Und
mögen die Lords von Yaddith mir- oder ihm - beistehen, der das
Schloß an seinem Platz anbringt oder seinen Schlüssel
umdreht.«Das war die Botschaft - eine Botschaft, die ich, sobald
ich sie gelesen hatte, schon zuvor gekannt zu haben schien.
Jetzt, da ich diese Worte schreibe, liegt der Schlüssel vor mir.
Ich blicke ihn an mit einer Mischung aus Abscheu und
Sehnsucht und finde keine Worte, sein Aussehen zu
beschreiben. Er ist von demselben leicht grünlich angehauchten
Metall wie das Schloß, ein Metall, das man am besten mit von
Grünspan überzogenem Messing vergleicht. Seine Form ist
fremdartig und phantastisch, und das sargförmige Ende der
gewaltigen Form läßt keinen Zweifel über das Schloß zu, in das
es passen sollte. Der Griff bildet grob ein seltsames,
nichtmenschliches Bild, dessen exakte Umrisse und
Beschaffenheit jetzt nicht zu verfolgen sind. Wenn ich ihn
längere Zeit halte, scheine ich ein fremdartiges, anormales
Leben in dem kalten Metall zu spüren -, eine Beschleunigung
oder ein Pulsieren, die für ein gewöhnliches Erkennen zu
schwach sind.
Unterhalb des Abbildes ist eine schwache, in Äonen verblaßte
Inschrift in diesen gotteslästerlichen, chinesisch aussehenden
Hieroglyphen angebracht, die ich mittlerweile so gut kenne. Ich
kann nur den Anfang ausmachen - die Worte: »Meine Rache
lauert...«-, dann wird der Text unleserlich. In diesem
rechtzeitigen Auffinden des Schlüssels liegt eine gewisse
Schicksalhaftigkeit denn morgen nacht ist der höllische Sabbat.

-133-
Merkwürdigerweise jedoch, unter all dieser entsetzlichen
Gespanntheit aufkommende Dinge, gibt mir der Name Sieght
immer mehr Anlaß zu Beunruhigung. Warum sollte ich
fürchten, ihn mit dem der van der Heyls verknüpft zu finden?
Walpurgisnacht, 30. April Die Zeit ist gekommen. Ich bin letzte
Nacht aufgewacht, um den Schlüssel in einer grellen grünlichen
Strahlung leuchten zu sehen dasselbe morbide Grün, das ich in
den Augen und der Haut gewisser Porträts hier gesehen habe,
auf dem schockierenden Schloß und Schlüssel, den monströsen
Menhirs des Hügels und in tausend anderen Kammern meines
Bewußtseins. In der Luft lag durchdringendes Geflüster - ein
zischendes Pfeifen wie das des Windes um den gräßlichen
druidischen Opferstein.
Etwas sprach zu mir aus dem fernen Äther des Weltraums und
sagte: »Die Stunde naht.« Das ist ein Omen, und ich lache über
meine eigenen Ängste. Habe ich nicht die gefürchteten
Schwerter und die Sieben Versunkenen Zeichen des Grauens -
die Macht, die jeden Bewohner des Kosmos oder der
unbekannten dunklen Räume bezwingen kann? Es gibt für mich
kein Zögern mehr.
Der Himmel ist tiefdunkel, als stünde ein heftiger Sturm
bevor - ein Sturm noch heftiger als in jener Nacht, in der ich vor
nahezu vierzehn Tagen hier ankam. Aus dem Dorf, weniger als
eineinhalb Kilometer entfernt, vernehme ich ein seltsames und
ungewohntes Gemurmel. Es ist, wie ich vermutet habe - diese
armen Idioten sind in das Geheimnis eingeweiht und halten auf
dem Hügel den entsetzlichen Sabbat ab.
Hier im Haus sammeln sich die Schatten dicht an dicht. In der
Dunkelheit leuchtet der Himmel vor mir beinahe in einem
grünen Eigenlicht. Ich war noch nicht im Keller. Ich warte
lieber, damit die Geräusche dieses Murmelns und
Umherschlurfens dieses Gleiten und die gedämpften
Schwingungen - mir nicht die Nervenkraft rauben, ehe ich die
schicksalhafte Tür aufschließen kann.

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Auf was ich treffen werde und was ich zu tun habe, davon
habe ich nur eine ganz unbestimmte Vorstellung. Werde ich
meine Aufgabe schon im Gewölbe finden, oder muß ich tiefer in
das umnachtete Herz unseres Planeten eindringen? Es gibt
einiges, was ich nicht verstehe - oder zumindest nicht zu
verstehen vorziehe -, trotz eines entsetzlichen, wachsenden und
unerklärlichen Gefühls früherer Vertrautheit mit dem
fürchterlichen Haus. Die Rutsche zum Beispiel, die aus dem
kleinen verschlossenen Raum in die Tiefe führt. Ich glaube aber
zu wissen, warum sich der Flügel mit dem Gewölbe bis auf den
Hügel zu erstreckt.
6 Uhr nachmittags Als ich durch die Nordfenster sehe,
erblicke ich eine Gruppe von Dorfbewohnern auf dem Hügel.
Sie scheinen nichts davon zu merken, daß der Himmel immer
tiefer herabsinkt, und graben in der Nähe des großen zentralen
Opfersteins. Mir wird klar, daß sie an der steingefaßten hohlen
Stelle arbeiten, die aussieht wie ein vor langer Zeit eingestürzter
Tunneleingang. Was wird geschehen? Wieviel von den alten
Sabbatriten haben diese Leute beibehalten? Der Schlüssel glüht
entsetzlich - das ist keine Einbildung. Wage ich es, ihn so zu
benützen, wie er benützt werden muß? Etwas anderes hat mich
tief beunruhigt. Als ich nervös in einem Buch in der Bibliothek
blätterte, stieß ich auf eine vollständigere Form des Namens, der
meine Erinnerung so sehr herausgefordert hat:
»Trintje, Frau von Adriaen Sieght.«
Das Wort Adriaen führt mich an den Rand der Erinnerung.
Mitternacht Das Grauen ist entfesselt, aber ich darf nicht
schwach werden. Der Sturm ist mit höllischer Wut
losgebrochen, und dreimal haben Blitze auf dem Hügel
eingeschlagen, doch die hybriden, entstellten Dorfbewohner
haben sich im Kromlech versammelt. Ich kann sie im Licht der
nahezu ununterbrochen zuckenden Blitze erkennen. Die großen
Standbilder ragen erschreckend empor und haben eine
stumpfgrüne Leuchtkraft, die sie erkennen läßt, selbst wenn kein
-135-
Blitz herabzuckt. Die Donnerschläge sind ohrenbetäubend, und
jeder einzelne scheint eine entsetzliche Antwort aus einer
unbestimmten Richtung zu erhalten. Während ich schreibe,
haben die Wesen auf dem Hügel zu singen und zu heulen und zu
schreien begonnen, in einer heruntergekommenen, halb
äffischen Version des uralten Rituals.
Regen stürzt herab wie eine Flut, doch sie hüpfen herum und
stoßen Schreie aus in einer Art teuflischer Ekstase. »lä, Shub-
Niggurath! Die Ziege mit den Tausend Jungen!« Das
Schlimmste jedoch geht im Haus vor sich. Selbst in dieser Höhe
höre ich noch die Geräusche aus dem Keller: das Herumtappen
und Murmeln und Gleiten und die gedämpften Laute aus dem
Inneren des Gewölbes...
Erinnerungen kommen und gehen. Der Name Adriaen Sieght
pocht merkwürdig an die Pforte meines Bewußtseins. Dirck van
der Heyls Schwiegersohn... sein Kind, die Enkelin des alten
Dirck und Abaddon Coreys Urenkelin.
Später Barmherziger Gott! Endlich weiß ich, wo ich den
Namen sah. Ich weiß es und bin von Grauen erfüllt.
Alles ist verloren...
Der Schlüssel hat begonnen, sich in meiner linken Hand, die
ihn nervös umfaßt hält, warm anzufühlen.
Zuweilen wird die vage Schwingung oder das Pulsieren so
deutlich, daß ich beinahe spüren kann, wie sich das lebendige
Metall bewegt. Es ist zu einem entsetzlichen Zweck aus Yian-
Ho hierhergekommen, und mir - der allzu spät das dünne
Rinnsal des Blutes der van der Heyls erkennt, das von den
Sieghts in meine eigene Ahnenreihe tröpfelte - ist die
entsetzliche Aufgabe zugefallen, diesen Zweck zu erfüllen...
Mein Mut und meine Neugierde schwinden. Ich kenne das
Grauen, das hinter dieser Eisentür liegt.
Und wenn schon Claes van der Heyl mein Vorfahr war - muß
ich wirklich seine namenlose Sünde sühnen? Ich will nicht - ich
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schwöre, ich will nicht!... (die Schrift wird hier unleserlich)... zu
spät - ich kann nicht anders als - schwarze Klauen
materialisieren sich - werde zum Keller gezerrt...

-137-
Die elektrische Hinrichtungsmaschine

Adolphe de Castro und H. P. Lovecraft

Für jemanden, der niemals von der Gefahr bedroht war, zum
Tode verurteilt zu werden, habe ich einen ziemlich
merkwürdigen Abscheu, vom elektrischen Stuhl zu reden. Ich
glaube wahrhaftig, daß mich dieses Thema in größeren Schauder
versetzt als so manchen, der vor Gericht um sein Leben kämpfen
mußte. Der Grund liegt darin, daß ich das Ding mit einem
Vorfall in Verbindung bringe, der vierzig Jahre zurückliegt - der
allerseltsamste Vorfall, der mich knapp an den Rand des
schwarzen Abgrunds des Unbekannten brachte.
Im Jahre 1889 arbeitete ich als Buchprüfer und Ermittler für
die Tlaxcala Mining Company in San Francisco, die mehrere
Silberund Kupferbergwerke im San-Mateo-Gebirge in Mexico
betrieb. Im Bergwerk Nr. 3 waren einige Schwierigkeiten
aufgetreten, die von einem griesgrämigen, verschlagenen
stellvertretenden Direktor namens Arthur Feidon ausgingen. Am
sechsten August erhielt die Firma ein Telegramm mit der
Mitteilung, daß Feidon verschwunden war und alle
Förderberichte, Wertpapiere und privaten Aufzeichnungen
mitgenommen und die gesamte Firmenkorrespondenz und
Buchhaltung in heillosem Chaos zurückgelassen hatte.
Diese Entwicklung war ein schwerer Schlag für die
Gesellschaft. Am späten Nachmittag ließ mich Präsident
McComb in sein Büro kommen und erteilte mir den Auftrag, die
Papiere zu beschaffen, koste es, was es wolle. Dem standen
jedoch schwerwiegende Hindernisse entgegen. Ich hatte Feidon
nie gesehen und konnte mich nur anhand ziemlich unscharfer
Photos orientieren. Überdies war für den nächsten Donnerstag
meine Hochzeit angesetzt - in nur neun Tagen -, so daß ich
naturgemäß nicht darauf brannte, mich eiligst nach Mexico auf

-138-
eine Menschenjagd von Ungewisser Dauer entsenden zu lassen.
Die Angelegenheit war jedoch so dringend, daß sich McComb
für berechtigt hielt, mich aufzufordern, umgehend aufzubrechen;
und ich meinerseits entschied, wenn ich mich rasch fügte, daß es
sich auf mein zukünftiges Verhältnis zur Gesellschaft auswirken
würde.
Ich sollte noch in der Nacht losfahren und den Privatwagen
des Aufsichtsratspräsidenten bis nach Mexico City benutzen.
Von dort mußte ich dann die Schmalspurbahn zu den
Bergwerken nehmen.
Jackson, der Direktor von Nr. 3, würde mich bei meiner
Ankunft über alle Einzelheiten informieren und mir jeden nur
möglichen Hinweis liefern. Dann sollte die Suche beginnen - in
den Bergen, an der Küste oder in den Nebenstraßen von Mexico
City, je nachdem. Ich brach mit der grimmigen Entschlossenheit
auf, die Sache so schnell wie möglich hinter mich zu bringen -
und zwar erfolgreich - , und tröstete mich mit Vorstellungen von
einer frühen Rückkehr mit den Papieren und dem Schuldigen
und einer Hochzeit, die beinahe einem Triumphzug glich.
Nachdem ich meine Familie, meine Verlobte und die
wichtigsten Freunde benachrichtigt und hastige Vorbereitungen
für die Reise getroffen hatte, traf ich Präsident McComb um
acht Uhr abends an der Endstation der Southern Pacific, erhielt
von ihm einige schriftliche Anweisungen und ein Scheckheft
und brach um 8.15 Uhr in seinem an den ostwärts fahrenden
Transkontinentalzug angehängten Waggon auf. Die Reise
zeichnete sich durch Ereignislosigkeit aus, und nach einer
ausgedehnten Nachtruhe genoß ich den Luxus des privaten
Waggons, der mir so entgegenkommenderweise zur Verfügung
gestellt worden war. Ich las meine Anweisungen sorgfältig
durch und legte mir Pläne zurecht, wie Feidon zu fassen und die
Unterlagen zu retten seien. Ich kannte die Gegend um Tlaxcala
recht gut - vielleicht weit besser als der Flüchtige - und hatte
daher bei meiner Suche gewisse Vorteile, es sei denn, er hatte

-139-
bereits per Eisenbahn die Flucht ergriffen.
Meinen Instruktionen zufolge hatte Feidon Direktor Jackson
schon seit geraumer Zeit Anlaß zu Besorgnis gegeben. Er hatte
eigenmächtig gehandelt und zu nachtschlafender Zeit ohne
guten Grund im Labor der Firma gearbeitet. Es bestand der
begründete Verdacht, daß er mit einem mexikanischen Aufseher
und mehreren Personen in Erzdiebstähle verwickelt war, und
wenn auch die Einheimischen entlassen worden waren, so
reichten die Beweise nicht aus, um gegen den raffinierten
Angestellten offen Maßnahmen ergreifen zu können. Trotz
seiner Heimlichtuerei schien die Haltung des Mannes mehr von
Trotz als von Schuld zu zeugen. Er hegte Ressentiments gegen
die Firma und redete, als betrüge die Firma ihn und nicht
umgekehrt. Daß er von seinen Kollegen offensichtlich
überwacht wurde, schrieb Jackson, schien ihn zunehmend zu
irritieren. Und jetzt war er mit allem, was einigermaßen
Wichtigkeit besaß, aus dem Büro verschwunden. Es gab
überhaupt keine Anhaltspunkte, wo er sich befinden mochte,
obzwar Jacksons letztes Telegramm auf die wilden Abhänge der
Sierra de Malinche hinwies, jenen hochaufragenden,
mythenumrankten Gipfel mit dem Umriß einer Leiche. Aus
diesem Gebiet sollten auch die diebischen Eingeborenen
stammen.
In El Paso, das wir in der folgenden Nacht um zwei Uhr
erreichten, wurde mein Privatwagen von dem transkontinentalen
Zug abgehängt und an eine Lokomotive angekoppelt, die ihn,
wie telegraphisch angewiesen, nach Mexico City im Süden
ziehen sollte. Ich schlummerte bis zum Tagesanbruch weiter,
und den ganzen nächsten Tag langweilte mich die flache
Wüstenlandschaft von Chilhuahua. Die Eisenbahner hatten mir
gesagt, wir würden Freitag mittag in Mexico City eintreffen,
aber ich erkannte bald, daß die zahllosen Aufenthalte wertvolle
Stunden verschlangen. Wir mußten entlang der ganzen
eingleisigen Strecke auf Abstellgleisen warten, und ab und zu

-140-
brachte ein heißgelaufenes Lager oder eine andere Schwierigkeit
den Fahrplan noch mehr durcheinander.
In Torreon hatten wir sechs Stunden Verspätung, und es war
beinahe acht Uhr. Am Freitag abend - unser Plan war um volle
zwölf Stunden überzogen - erklärte sich der Lokomotivführer
bereit, schneller zu fahren, um etwas Zeit aufzuholen. Meine
Nerven waren angespannt, ich konnte aber nichts anderes tun,
als vor Verzweiflung im Waggon auf und ab zu gehen.
Schließlich mußte ich entdecken, daß die höhere
Geschwindigkeit teuer erkauft worden war, denn innerhalb einer
halben Stunde zeigten sich Anzeichen von Überhitzung an
meinem eigenen Waggon. Nach einem nervenzermürbenden
Halt beschloß das Zugpersonal, daß alle Lager überholt werden
müßten, nachdem wir mit einem Viertel der Geschwindigkeit
zur nächsten Station weitergekrochen waren, wo es Werkstätten
gab - die Fabrikstadt Queretaro. Das brachte das Faß zum
Überlaufen, und ich stampfte beinahe wie ein Kind mit den
Füßen auf. Zuweilen überraschte ich mich dabei, wie ich meinen
Lehnsessel anschob, als wollte ich den Zug schneller als im
Schneckentempo vorwärtsschieben.
Es war beinahe zehn Uhr abends, als wir in Queretaro
einfuhren, und ich verbrachte eine quälende Stunde auf dem
Bahnsteig der Station, während mein Waggon auf ein
Seitengleis geschoben wurde und sich ein Dutzend einheimische
Mechaniker daran zu schaffen machten. Schließlich teilten sie
mir mit, daß die Aufgabe ihre Kräfte überstiege, da für die
vorderen Laufräder neue Ersatzteile benötigt würden, die nur in
Mexico City erhältlich waren.
Alles schien sich gegen mich verschworen zu haben, und ich
knirschte mit den Zähnen, wenn ich daran dachte, daß Feidon
sich immer weiter entfernte - vielleicht in den bequemen
Unterschlupf Vera Cruz mit seinen Schiffahrtsverbindungen
oder Mexico City mit seinen Eisenbahnanschlüssen -, während
mich neue Verzögerungen hilflos machten. Natürlich hatte

-141-
Jackson die Polizei aller Städte in der Umgebung verständigt,
aber ich wußte aus leidvoller Erfahrung, wie es um die
Leistungsfähigkeit der mexikanischen Polizei bestellt war.
Das beste, was ich machen konnte, war, wie ich schnell
herausfand, den regulären Nachtschnellzug nach Mexico City zu
nehmen, der aus Aguas Calientes kam und in Queretaro fünf
Minuten Aufenthalt hatte. Wenn er keine Verspätung hatte,
würde er um ein Uhr nachts eintreffen und am Samstag um fünf
Uhr morgens in Mexico City sein. Als ich mir die Fahrkarte
kaufte, stellte ich fest, daß der Zug aus europäischen Wagen mit
Abteilen bestand, statt aus langen amerikanischen Waggons mit
Reihen zweisitziger Bänke. In den Anfangstagen des
mexikanischen Eisenbahnwesens hatte man sie häufig benutzt,
da beim Bau der ersten Bahnlinien europäische Bauinteressen
involviert waren, und 1889 setzte die mexikanische
Zentralverwaltung noch immer eine Anzahl von ihnen auf
kürzeren Strecken ein. Gewöhnlich bevorzuge ich
amerikanische Wagen, denn ich hasse es, wenn mir Leute von
Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen. Aber diesmal freute
ich mich über den ausländischen Wagen. Zu dieser
nachtschlafenen Zeit standen die Aussichten gut, daß ich ein
ganzes Abteil für mich allein haben würde, und in meinem
erschöpften, nervlich überreizten Zustand war mir die
Einsamkeit willkommen - nicht weniger der bequem gepolsterte
Sitz mit weichen Armlehnen und Kopfkissen, der so breit war
wie das ganze Abteil. Ich kaufte mir eine Fahrkarte erster
Klasse, holte meinen Koffer aus dem Privatwaggon auf dem
Nebengleis, informierte telegraphisch sowohl Präsident
McComb wie auch Jackson über das Geschehene und machte es
mir auf der Station gemütlich, um den Nachtschnellzug so
geduldig zu erwarten, wie es meine überstrapazierten Nerven
erlaubten.
Wunder über Wunder, der Zug hatte nur eine halbe Stunde
Verspätung. Dennoch hatte die einsame Wache in der Station

-142-
meiner Geduld den Rest gegeben. Der Schaffner, der mich unter
Bücklingen in mein Abteil führte, sagte zu mir, er erwarte, daß
man die Verspätung aufholen und rechtzeitig die Hauptstadt
erreichen werde. Ich streckte mich bequem auf dem Sitz in
Fahrtrichtung aus und erwartete eine ruhige Fahrt von
dreieinhalb Stunden Dauer. Das Licht der Öllampe an der Decke
war beruhigend schwach, und ich fragte mich, ob ich trotz der
Besorgtheit und Nervenanspannung nicht einen dringend
benötigten Zipfel Schlaf erhaschen könnte, was mich ehrlich
erfreut hätte. Meine Gedanken eilten voraus zu meiner Suche,
und ich nickte im sich beschleunigenden Rhythmus der
schneller werdenden Waggonskette.
Plötzlich wurde ich gewahr, daß ich doch nicht allein war. In
der Ecke mir gegenüber saß ein einfach gekleideter Mann von
ungewöhnlicher Größe, den ich in dem schwachen Licht zuvor
nicht bemerkt hatte, zusammengesunken, so daß sein Gesicht
nicht zu sehen war. Neben ihm auf dem Sitz stand ein riesiger
abgenutzter Koffer, der so vollgestopft war, daß er sich wölbte,
und den er selbst im Schlaf mit einer gar nicht zu ihm passenden
schlanken Hand umklammert hielt. Als die Lokomotive bei
einer Kurve oder einem Bahnübergang scharf pfiff, fuhr der
Schläfer nervös auf und versank in eine Art wachsamen
Halbschlaf. Er hob den Kopf, und es zeigte sich ein hübsches
Gesicht, bärtig und eindeutig angelsächsisch, mit dunklen,
strahlenden Augen. Bei meinem Anblick erwachte er völlig, und
ich wunderte mich über die ausgesprochen feindselige Wildheit
seines Blicks. Zweifellos, dachte ich bei mir, nahm er mir meine
Anwesenheit übel, da er doch gehofft hatte, er würde das Abteil
die ganze Strecke für sich allein haben, ebenso wie ich
enttäuscht war festzustellen, daß ich in dem halberleuchteten
Abteil seltsame Gesellschaft hatte. Es blieb jedoch nichts
anderes übrig, als sich mit Anstand in die Lage zu fügen. Darum
entschuldigte ich mich bei dem Mann für mein Eindringen. Er
schien wie ich Amerikaner zu sein, und nach dem Austausch

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einiger Höflichkeitsfloskeln konnten wir uns beide gelassener
fühlen und einander für die übrige Reise in Frieden lassen. Zu
meiner Überraschung reagierte der Fremde auf meine höflichen
Bemerkungen mit keinem Wort. Statt dessen starrte er mich
ungestüm und beinahe abschätzig an und wischte mein
verlegenes Angebot einer Zigarre mit einer nervösen Bewegung
seiner freien Hand beiseite. Die andere Hand hielt noch immer
den großen, abgenutzten Koffer fest. Sein ganzes Wesen schien
eine dunkle Bösartigkeit auszustrahlen. Nach einiger Zeit
wandte er sein Gesicht abrupt dem Fenster zu, obwohl es in der
dichten Dunkelheit draußen nichts zu sehen gab.
Merkwürdigerweise schien er so gebannt irgendwohin zu
starren, als gäbe es dort wirklich etwas zu sehen. Ich beschloß,
ihn nicht weiter zu beachten und ihn, ohne zu stören, seinen
Überlegungen und Plänen zu überlassen. Ich lehnte mich also in
meinen Sitz zurück, zog den Rand meines weichen Hutes über
das Gesicht und schloß die Augen bei dem Versuch, den Schlaf
zu erhaschen, mit dem ich halb gerechnet hatte.
Ich konnte nicht sehr lange oder sehr tief geschlummert
haben, als sich meine Augen öffneten, wie von einer äußeren
Kraft gezwungen. Ich schloß sie wieder mit einiger
Willensanstrengung und versuchte neuerlich einzuschlummern,
jedoch ohne Erfolg. Ein nicht spürbarer Einfluß schien es darauf
abgesehen zu haben, mich wach zu halten. Ich hob den Kopf
und blickte mich in dem schwach erleuchteten Abteil um, um
herauszufinden, ob etwas nicht in Ordnung sei. Alles schien
normal zu sein, doch bemerkte ich, daß mich der Fremde in der
gegenüberliegenden Ecke gespannt ansah - aufmerksam, jedoch
ohne die Umgänglichkeit oder Freundlichkeit, die angezeigt
hätte, daß sich seine frühere mürrische Haltung geändert hätte.
Diesmal versuchte ich nicht, eine Konversation anzuknüpfen,
sondern lehnte mich in meine vorhergehende Schlafhaltung
zurück. Mit halbgeschlossenen Augen döste ich vor mich hin,
beobachtete ihn aber weiterhin neugierig unter meinem

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herabgezogenen Hutrand.
Während der Zug weiter durch die Nacht ratterte, bemerkte
ich, wie eine schleichende und allmähliche Veränderung die
Miene des auffallenden Mannes überzog. Offenkundig
überzeugt, daß ich schlief, bemühte er sich nicht, das
merkwürdige Durcheinander von Gefühlen zu verbergen, das
sich auf seinem Gesicht spiegelte und dessen Natur alles andere
als beruhigend war. Haß, Furcht, Triumph und Fanatismus
zuckten in verschiedenen Mischungen über die Linien seiner
Lippen und die Augenwinkel, während sein Blick zu einem
Widerglanz echt beunruhigender Gier und Wildheit wurde.
Plötzlich wurde mir bewußt, daß dieser Mensch verrückt war,
und zwar auf gefährliche Weise.
Ich gebe zu, daß mich tiefes Erschrecken packte, als ich die
Lage erkannte. Ich war am ganzen Körper in Schweiß gebadet
und mußte mich sehr anstrengen, den Anschein von
Entspanntsein und Schlummer aufrechtzuerhalten. Gerade
damals bot mir das Leben viel Anziehendes, und der Gedanke,
ich bekäme es mit einem mörderischen Verrückten zu tun, der
möglicherweise bewaffnet und dessen Kraft geradezu ans
Wunderbare grenzte, war entmutigend und erschreckend. Bei
jeder Art körperlicher Auseinandersetzung war ich im Nachteil,
denn der Mann war im wahrsten Sinn des Wortes ein Riese.
Er schien in bester körperlicher Verfassung, während ich
immer ziemlich schmächtig und gerade damals vor Angst,
Schlaflosigkeit und Nervenanspannung beinahe völlig erschöpft
war. Das war unbestritten ein böser Augenblick für mich, und
ich fühlte mich einem entsetzlichen Tod nahe, als ich die Furien
des Wahnsinns in den Augen des Fremden erkannte. Ereignisse
aus der Vergangenheit drangen wie für einen Abschied in mein
Gemüt - so wie es heißt, daß das ganze Leben eines
Ertrinkenden im letzten Augenblick vor seinen Augen abläuft.
Natürlich hatte ich meinen Revolver in der Manteltasche, aber
jede Bewegung meinerseits, ihn zu erreichen und zu ziehen,
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wäre sofort bemerkt worden. Aber selbst wenn ich ihn erreichte,
war nicht abzusehen, welche Wirkung er auf den Verrückten
hätte. Selbst wenn ich ein- oder zweimal auf ihn schösse, hätte
er vielleicht Kraft genug, um mir den Revolver zu entreißen und
mich zu überwältigen.
Und war er selbst bewaffnet, so schoß er vielleicht auf mich
oder stach auf mich ein, ohne zu versuchen, mich zu entwaffnen.
Man kann einen normalen Menschen einschüchtern, indem man
ihm eine Pistole vorhält, die völlige Gleichgültigkeit eines
Verrückten gegenüber den Folgen verleiht ihm jedoch eine Kraft
und Gefährlichkeit, die absolut übermenschlich ist. Selbst in
jenen vorfreudianischen Tagen erkannte ich mit gesundem
Menschenverstand die gefährliche Macht eines Menschen, der
die normalen Hemmschwellen nicht kennt. Die flammenden
Augen und das Zucken der Gesichtsmuskeln ließen mich keinen
Augenblick daran zweifeln, daß der Fremde in der Ecke
wirklich eine Mordtat plante.
Plötzlich hörte ich, wie sein Atem stoßweise ging, und sah,
daß sich seine Brust in steigender Erregung hob und senkte. Die
Zeit für eine Konfrontation rückte nahe, und ich versuchte
verzweifelt zu überlegen, was ich tun sollte! Ich gab mir weiter
den Anschein, als schliefe ich, ließ aber meine Rechte
allmählich unauffällig zu der Tasche gleiten, in der meine
Pistole steckte. Dabei beobachtete ich den Verrückten
angespannt, um herauszufinden, ob er eine Bewegung entdecken
würde.
Unglücklicherweise entging sie ihm nicht - er bemerkte sie,
bevor sich dieser Umstand noch in seiner Miene abzeichnete.
Mit einem Sprung, der so behend war, daß er bei einem
Menschen seiner Größe unglaublich wirkte, hatte er mich
erreicht, ehe ich wußte, wie mir geschah. Hochaufragend,
wankend wie ein riesiger Menschenfresser aus dem Märchen,
hielt er mich mit der einen kräftigen Hand fest, während die
andere mir beim Erreichen des Revolvers zuvorkam. Er holte

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ihn aus der Tasche und steckte ihn in die eigene, dann ließ er
mich verächtlich los, denn er wußte, wie sehr meine körperliche
Konstitution mich ihm auf Gnade und Ungnade auslieferte.
Dann erhob er sich zu voller Größe - sein Kopf berührte beinahe
die Decke des Waggons - und blickte auf mich herab mit Augen,
deren Wut sich rasch in einen Blick mitleidiger Verachtung und
kannibalischer Berechnung verwandelte.
Ich rührte keinen Finger, und einen Augenblick später nahm
der Mann seinen Platz mir gegenüber wieder ein. Mit einem
abscheulichen Lächeln öffnete er seinen großen, gewölbten
Koffer und holte einen Artikel von absonderlichem Aussehen
hervor - einen ziemlich großen Käfig aus halb biegsamem
Draht, geflochten in der Art der Maske eines Baseballfängers,
der Form nach aber eher wie die Kapuze eines Taucheranzugs.
Seine Oberseite war mit einem Kabel verbunden, deren anderes
Ende in dem Koffer blieb. Diese Vorrichtung streichelte er mit
offenkundiger Liebe und wiegte sie in seinem Schoß, als er mich
von neuem anblickte und sich die bärtigen Lippen mit einer
beinahe katzenartigen Bewegung der Zunge leckte. Dann sprach
er zum ersten Mal - mit einer tiefen, angenehm weichen
Stimme, deren Kultiviertheit sich überraschend von seinen
groben Kordkleidern und seinem ungepflegten Äußeren abhob.
»Sie haben Glück, Sir. Ich werde Sie als ersten verwenden.
Sie werden in die Geschichte eingehen als erste Frucht einer
bemerkenswerten Erfindung. Ungeheure soziologische Folgen -
ich werde sozusagen mein Licht leuchten lassen. Ich erstrahle
die ganze Zeit, bloß weiß es niemand. Nun werden Sie es
wissen. Intelligentes Versuchskaninchen. Katzen und Esel - es
hat sogar bei einem kleinen Packesel funktioniert...«
Er hielt inne, und seine bärtigen Züge zeigten eine
konvulsivische Bewegung, die mit dem kräftigen kreisenden
Schütteln seines ganzen Kopfes in engem Gleichklang ablief. Es
war, als schüttelte er ein nebelhaftes störendes Medium ab, denn
danach verdeutlichte und verfeinerte sich sein Ausdruck,

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welcher den Anschein offenkundiger Verrücktheit in den
weltmännischer Gelassenheit wandelte, durch welchen die
Verschlagenheit nur verstohlen durchschimmerte. Ich bemerkte
den Unterschied sofort und warf ein Wort ein, um
herauszufinden, ob sich sein Gemüt in harmlose Bahnen steuern
ließ.
»Sie scheinen ein wunderbar großartiges Instrument zu haben,
soweit ich das beurteilen kann. Verraten Sie mir doch, wie Ihnen
diese Erfindung geglückt ist..
Er nickte.
»Nichts als logische Überlegung, werter Herr. Ich habe mir
Gedanken über die Bedürfnisse der Zeit gemacht und bin ihnen
gefolgt. Andere hätten das auch gekonnt, wären ihre Geister so
konstruiert - das heißt, genauso fähig zur anhaltenden
Konzentration - wie meiner. Ich war von der Überzeugung
durchdrungen - von der verfügbaren Willenskraft -, das ist alles.
Mir wurde klar wie noch keinem vor mir, von welch
entscheidender Wichtigkeit es ist, jedermann von der Erde zu
entfernen, ehe Quetzalcoati zurückkehrt, und ich erkannte
ferner, daß es auf elegante Weise geschehen muß. Ich hasse
Schlächterei jeder Art, und Hängen ist barbarisch roh. Wie Sie
wissen, hat letztes Jahr die gesetzgebende Körperschaft von
New York sich für die elektrische Hinrichtung von Verurteilten
entschieden - aber all die Apparate, an die man denkt, sind so
primitiv wie Stephensons »Rocket. oder Davenports erste
Elektrolokomotive. Ich kenne eine bessere Methode und hielt
damit auch nicht hinter dem Berg, aber man hat mir keine
Aufmerksamkeit geschenkt. Gott, welche Narren! Als wüßte ich
nicht alles, was man über die Menschen, den Tod und die
Elektrizität wissen kann - über den Studenten, den reifen Mann
und den Jungen - Techniker und Mechaniker - Glücksritter...«
Er lehnte sich zurück und kniff die Augen zusammen.
»Vor zwanzig und mehr Jahren diente ich in Maximilians

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Armee. Ich sollte geadelt werden. Dann haben ihn diese
verdammten Mexen umgebracht, und ich mußte nach Hause
zurückkehren. Ich bin jedoch wiedergekommen - hin und her,
hin und her. Ich wohne in Rochester, New York....
Seine Augen nahmen einen verschlagenen Ausdruck an; er
beugte sich vornüber und berührte meine Knie mit den Fingern
seiner paradoxerweise zarten Hand.
»Ich kam wieder, sage ich, und ich drang tiefer als jeder
einzelne von ihnen. Ich hasse die Mexen, aber ich liebe die
Mexikaner! EinRätsel? Hören Sie mir zu, junger Mann - Sie
glauben doch nicht, daß Mexiko wirklich spanisch ist? Großer
Gott, wenn Sie die Stämme kennen würden, die ich kenne! In
den Bergen - in den Bergen - Anahuac - Tenochtitlan, die
uralten....
Seine Stimme wurde zu einem Singsang und einem nicht
unmelidiösen Heulen. »lä!
Huitzilopochtli!... Nuhuatlacati! Sieben, sieben, sieben...
Xochimiica, Chaica, Tepaneca, Acolhua, Tiahuica, Tiascalteca,
Azteca!... lä! lä! Ich war in den Sieben Höhlen des
Chicomoztoc, aber niemand wird es je erfahren! Ihnen sage ich
es, weil Sie es nie wiederholen werden....
Er endete und fuhr im Gesprächston fort.
»Es würde Sie überraschen, wüßten Sie, was man sich in den
Bergen alles erzählt. Huitzilopochtli kehrt zurück... daran
besteht kein Zweifel. Jeder Peon südlich von Mexico City kann
Ihnen das bestätigen. Ich wollte jedoch nichts dagegen
unternehmen. Ich kehrte nach Hause zurück, ich sage es Ihnen,
immer wieder, und wollte der Gesellschaft mit meiner
elektrischen Hinrichtungsmaschine einen großen Dienst
erweisen, als diese verfluchte gesetzgebende Körperschaft in
Albany sich für die andere Methode entschied. Ein schlechter
Scherz, Sir, ein schlechter Scherz! Ein Großvaterstuhl, man sitzt
am Kamin - Hawthorne -.

-149-
Der Mann kicherte erneut in einer krankhaften Parodie guter
Laune.
»Ja, Sir, ich wäre gern der erste Mensch, der in ihrem
verdammten Stuhl sitzt und ihren kleinen Zwei- Groschen-
Batteriestrom spürt! Er bringt nicht einmal Froschschenkel zum
Tanzen! Und man glaubt, damit Mörder hinrichten zu können -
Belohnung für Verdienste - das alles! Dann aber, junger Mann,
erkannte ich die Nutzlosigkeit - die zwecklose Unlogik
sozusagen -, die darin liegt, daß man nur einige wenige
umbringt. Jeder ist ein Mörder man mordet Einfälle - stiehlt
Erfindungen - man hat meine durch Beobachtung und
Beobachtung und Beobachtung gestohlen - «
Der Mann drohte zu ersticken, er mußte innehalten, und ich
redete ihm beruhigend zu.
»Ich zweifle nicht daran, daß Ihre Erfindung die weitaus
bessere war, und vielleicht wird man das schließlich auch
einsehen.«
Offenkundig reichte mein Takt nicht, denn seine Reaktion
bewies nur neuerlichen Ärger.
»Sie "zweifeln nicht"? Welch nette, milde konservative
Versicherung! Sie scheren sich einen Teufel - aber Sie werden
es bald wissen. Zum Teufel noch mal, alles Gute, was an diesem
elektrischen Stuhl je dran sein wird, hat man mir gestohlen. Das
hat mir der Geist des Nazahualpilli auf dem heiligen Berg
verraten. Man hat mich beobachtet und beobachtet und
beobachtet -.
Er drohte wieder zu ersticken und machte wieder eine dieser
Gesten, bei denen er sowohl den Kopf zu schütteln wie auch den
Gesichtsausdruck zu verändern schien. Das schien ihn kurze
Zeit zu beruhigen.
»Meine Erfindung muß nur noch getestet werden. Hier ist sie.
Die Drahtkapuze oder das Kopfnetz ist flexibel und leicht
überzustreifen. Ein Nackenstück hält einen fest, aber erdrosselt

-150-
einen nicht. Die Elektroden berühren die Stirn und die Basis des
Zerebellums - weiter ist nichts nötig. Halte den Kopf, und was
kann sich noch rühren? Diese Narren dort oben in Albany mit
ihrem geschnitzten Eichen-Lehnstuhl bilden sich ein, man
müsse von Kopf bis Fuß Vorkehrungen treffen. Idioten! Wissen
diese Blödiane nicht, daß man einen Menschen nicht mehr durch
den Leib schießen muß, wenn man sein Gehirn durchlöchert
hat? Ich habe Männer im Kampf sterben sehen - ich weiß es
besser. Und dann ihr dummer Hochspannungsstromkreis -
Dynamos - Generatoren - das ganze Zeug. Warum hat man nicht
erkannt, was mir mit der Speicherbatterie gelungen ist?
Niemand hat mich angehört - niemand weiß es - ich allein
besitze das Geheimnis - ich und Sie, falls ich mich entscheide.
Sie am Leben zu lassen... Ich brauche jedoch Versuchspersonen
- Personen - wissen Sie, wen ich als ersten ausgewählt habe?«
Ich versuchte es mit einem kleinen Scherz, der rasch in
freundlichem Ernst aufging, als Beruhigungsmittel. Rasches
Denken und treffende Worte konnten mich vielleicht noch
retten.
»Wahrhaftig, unter den Politikern in San Francisco, woher ich
komme, gibt es eine Menge großartiger Versuchspersonen. Die
brauchen Ihre Behandlung, und ich möchte Ihnen helfen. Sie
einzuführen. Ich glaube wirklich, Ihnen helfen zu können. Ich
habe einen gewissen Einfluß in Sacramento, und wenn Sie mit
mir in die Vereinigten Staaten zurückkehren, nachdem ich
meine Angelegenheit in Mexico erledigt habe, werde ich mich
darum kümmern, daß man Sie anhört.«
Er antwortete nüchtern und höflich.
»Nein - ich kann nicht zurückkehren. Ich habe geschworen, es
nicht zu tun, als diese Verbrecher in Albany meine Erfindung
ablehnten und Spione aussandten, um mich zu beobachten und
zu bestehlen.
Ich brauche jedoch amerikanische Versuchspersonen. Diese

-151-
Mexen stehen unter einem Fluch, und das fiele zu leicht; und die
reinrassigen Indianer - die wirklichen Kinder der gefiederten
Schlange - sind geweiht und unverletzlich, abgesehen davon,
daß sie richtige Weiheopfer sind... und selbst diese müssen dem
Zeremoniell entsprechend geschlachtet werden. Ich muß
Amerikaner bekommen, ohne zurückzukehren - und der erste
von mir ausgewählte Mensch wird ganz besonders geehrt und
ausgezeichnet werden. Wissen Sie, um wen es sich handelt?.
Ich versuchte verzweifelt, mir etwas einfallen zu lassen.
»Ach, wenn das ein Problem sein sollte, treibe ich ein
Dutzend erstklassige Yankee- Versuchskaninchen für Sie auf,
sobald wir in Mexico City sind. Ich weiß, wo es Unmengen
armer Bergleute gibt, die man tagelang nicht vermissen wird -.
Er unterbrach mich jedoch mit einem neuen und plötzlichen
Anstrich von Autorität, der etwas von wahrer Würde an sich
hatte.
»Das reicht - wir haben genug Zeit verschwendet. Erheben
Sie sich und stehen Sie stramm wie ein Mann. Sie sind die
ausgewählte Versuchsperson, und in der anderen Welt werden
Sie mir für diese Ehre dankbar sein, so wie das Weiheopfer dem
Priester dafür dankt, daß er ihm zu ewigem Ruhm verholten hat.
Ein neues Prinzip - kein anderer Lebender hat von einer solchen
Batterie geträumt, und vielleicht wird sie nicht wieder entdeckt,
und experimentierte die ganze Welt tausend Jahre lang.
Wissen Sie, daß die Atome nicht das sind, was sie zu sein
scheinen? Narren! Noch in hundert Jahren würde sich irgendein
Tölpel den Kopf zerbrechen zu erraten, wenn ich die Welt am
Leben ließe!.
Als ich mich auf seinen Befehl erhob, holte er weitere Meter
Schnur aus dem Koffer und stand stramm neben mir, den
Drahthelm in beiden Händen mir entgegengestreckt und einen
Blick echter Begeisterung auf seinem gebräunten und bärtigen
Gesicht. Einen Augenblick lang glich er einem strahlenden

-152-
hellenischen Mystagogen oder Hierophanten.
»Hier, o junger Mann - ein Trankopfer! Wein des Kosmos -
Nektar der gestirnten Weltenräume - Linos - lacchus - lalemus -
Zagreus - Dionysos - Atys - Hylus - Apollo entsprungen und
getötet von den Hunden von Argos - Saat der Psamathe - Kind
der Sonne - Evoe! Evoe!«Er hatte wieder seinen Singsang
angestimmt, und diesmal schien sein Geist zurück zu den
klassischen Erinnerungen seiner Collegetage gewandert zu sein.
In meiner aufrechten Stellung bemerkte ich, daß die Notbremse
sich nicht weit über unseren Köpfen befand, und fragte mich, ob
ich sie wohl erreichen konnte, wenn ich so tat, als reagiere ich
mit einer Geste auf seine zeremonielle Stimmung. Es war den
Versuch wert, meine Arme auf ihn zu und feierlich in die Höhe
zu werfen, wobei ich den lauten Schrei »Evoe« ausstieß in der
Hoffnung, ich könne die Leine ziehen, bevor er es merkte. Es
nützte jedoch nichts. Er erkannte meine Absicht und fuhr mit
einer Hand zur rechten Manteltasche, in der mein Revolver
steckte. Worte waren überflüssig, und einen Augenblick standen
wir da wie Statuen. Dann sagte er ruhig: »Beeilen Sie sich!.
Wiederum mühte sich mein Geist verzweifelt ab, irgendeinen
Fluchtweg zu ersinnen. Die Türen, das wußte ich, waren bei
mexikanischen Zügen unverschlossen. Mein Reisegefährte
konnte mich jedoch einfach am Versuch hindern, eine zu öffnen
und hinausspringen zu wollen. Außerdem fuhr der Zug in so
hohem Tempo, daß die Sache im Falle des Gelingens für mich
vermutlich ebenso tödlich wäre wie beim Mißlingen. Mir
verblieb nur noch, Zeit zu schinden. Ein gutes Stück der
dreieinhalbstündigen Fahrt war bereits zurückgelegt, und wenn
wir erst in Mexico City wären, würden die Bahnhofswachen und
die Polizei sofortige Sicherheit bedeuten.
Es gäbe zwei diplomatische Möglichkeiten, dachte ich. Wenn
ich ihn dazu bringen könnte, das Überziehen der Haube
hinauszuschieben, würde ich Zeit gewinnen. Natürlich glaubte
ich nicht, daß das Ding wirklich tödlich war, ich wußte jedoch

-153-
genug von Wahnsinnigen, um zu verstehen, was geschehen
würde, wenn es nicht funktionierte. Zu seiner Enttäuschung
käme das verrückte Gefühl hinzu, daß ich für den Fehlschlag
verantwortlich wäre, was seine Aufmerksamkeit fesseln und
mehr oder minder ausgedehnte Nachforschungen nach anderen
Einflüssen auslösen würde. Ich fragte mich nur, wie weit seine
Glaubensseligkeit ginge und ob ich gleich das Scheitern
prophezeihen solle, wobei mir dann das Scheitern selbst den
Weihestempel des Sehers oder Eingeweihten oder sogar eines
Gottes aufdrücken würde. Ich kannte genug von der
mexikanischen Mythologie, um den Versuch wagen zu können,
auch wenn ich mein Heil zunächst in anderen
Verzögerungstaktiken suchen und die Prophezeiung als
plötzliche Offenbarung ins Spiel bringen würde. Würde er mich
schließlich verschonen, wenn ich ihn dazu bringen könnte, mich
für einen Propheten oder einen Gott zu halten? Würde er mir
»abnehmen«, Quetzalcoatl oder Huitzilopochtli zu sein? Alles
war mir recht, wenn es nur gelang, die Suche bis zu unserer
planmäßigen Ankunft um fünf Uhr in Mexico City
hinauszuzögern.
Meine erste »Verzögerungstaktik« war der uralte
Testamentstrick, den Verrückten dazu zu bringen, seinen Befehl,
ich solle mich beeilen, zu wiederholen. Ich erzählte ihm von
meiner Familie und der geplanten Heirat und bat ihn um den
Gefallen, ein Testament abfassen zu dürfen und über mein Geld
und das sonstige Vermögen Verfügungen zu treffen. Falls er mir
etwas Papier zur Verfügung stellen und sich bereit erklären
würde, das von mir Geschriebene zur Post zu geben, könnte ich
ruhig und in Frieden sterben. Nach einiger Überlegung gab er
meinem Verlangen statt und suchte in seinem Koffer nach einem
Notizblock, den er mir mit ernster Miene reichte, während ich
mich wieder setzte. Ich holte einen Bleistift hervor, dem ich
gleich am Anfang geschickt und heimlich die Spitze abbrach
und so für Verzögerung sorgte, während er nach einem anderen

-154-
Bleistift suchte. Als er ihn mir reichte, nahm er den
abgebrochenen Bleistift an sich und schickte sich an, ihn mit
einem großen Messer mit Horngriff zu spitzen, das er unter dem
Mantel im Gürtel getragen hatte. Es war offenkundig, daß mir
ein zweites Abbrechen des Bleistifts nicht viel nützen würde.
Ich kann mich jetzt kaum mehr erinnern, was ich schrieb. Es
war weitgehend wirres Zeug und setzte sich zusammen aus
zufälligen Bruchstücken im Gedächtnis haften gebliebener
Literatur, wenn mir sonst nichts einfiel, was ich niederschreiben
konnte. Ich schrieb absichtlich so unlesbar wie möglich, aber so,
daß die Zeichen noch immer als Schrift erkennbar waren, denn
ich wußte sehr wohl, daß er sich höchstwahrscheinlich das
Ergebnis ansehen würde, ehe er mit seinem Experiment begann,
und es war nicht schwer zu erraten, wie er auf augenfälligen
Unsinn reagieren würde. Das war eine entsetzliche Prüfung, und
ich ärgerte mich jede Sekunde über das Schneckentempo des
Zuges. Früher hatte ich mir oft einen fröhlichen Galopp zu dem
munteren »Ratata« der Räder auf den Schienen gepfiffen, aber
jetzt schien das Tempo zu dem eines Leichenzuges
herabgesunken zu sein - und zwar meines Leichenzuges, wie es
mir grimmig durch den Kopf ging. Meine List funktionierte, bis
ich mehr als vier Seiten DIN A4 bedeckt hatte. Dann zog der
Verrückte zu guter Letzt seine Uhr und sagte mir, ich hätte nur
noch fünf Minuten. Was sollte ich noch anstellen? Ich machte
mich hastig daran, so zu tun, als schlösse ich mein Testament
ab, als mir eine neue Idee kam. Ich hörte schwungvoll auf und
reichte ihm die fertigen Blätter, die er achtlos in die linke
Manteltasche steckte. Dabei erinnerte ich ihn an meine
einflußreichen Freunde in Sacramento, die sich sehr für seine
Erfindung interessieren würden.
»Gehört sich doch, daß ich Ihnen ein Empfehlungsschreiben
mitgebe«, sagte ich. »Vielleicht sollte ich auch eine signierte
Skizze und Gebrauchsanweisung für Ihre Hinrichtungsmaschine
beifügen, damit man Sie freundlich empfängt? Die Leute

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können Sie berühmt machen, müssen Sie wissen - und es besteht
überhaupt kein Zweifel, daß man Ihre Methode im Staat
Kalifornien anwendet, wenn man von ihr durch jemanden wie
mich hört, den man kennt und dem man vertraut..
Ich schlug diesen Weg auf die Chance hin ein, daß ihn seine
Vorstellung vom verkannten Erfinder die aztekischreligiöse
Seite seines Wahns für eine Weile vergessen lassen würde. Falls
er wieder darauf zurückkäme, ^überlegte ich mir, würde ich ihn
mit »Offenbarungen« und »Prophezeiungen.
überraschen. Mein Plan funktionierte, denn seine glühenden
Augen verrieten eifrige Zustimmung, auch wenn er mir brüsk
befahl, mich zu beeilen. Er räumte den Koffer noch weiter aus
und holte eine seltsam aussehende Masse von gläsernen Zellen
und Windungen hervor, die mit dem Draht, der von der Kapuze
abging, verbunden waren. Dabei schoß er eine Salve von
Bemerkungen auf mich ab, die zu fachmännischer Natur waren,
als daß ich ihnen hätte folgen können, die aber völlig plausibel
und logisch wirkten. Ich tat so, als notierte ich alles, was er
sagte, und fragte mich dabei, ob der seltsame Apparat vielleicht
nicht doch eine Batterie war. Würde ich einen leichten Schlag
verspüren, wenn er die Vorrichtung einschaltete? Der Mensch
redete zweifellos, als wäre er wirklich Elektriker. Die
Beschreibung seiner Erfindung war eindeutig etwas, was ihm
lag, und ich erkannte, daß er nicht mehr so ungeduldig war wie
zuvor. Die hoffnungsvolle Morgenröte schimmerte durch die
Fenster, ehe er fertig war, und ich spürte schließlich, daß meine
Chance zur Flucht greifbar nahe war.
Aber auch ihm entging die Morgenröte nicht, und er setzte
wieder seinen wilden Blick auf. Er wußte, daß der Zug um fünf
in Mexico City eintreffen sollte, und würde bestimmt eine
rasche Entscheidung erzwingen, wenn es mir nicht gelänge, sein
Urteilsvermögen mit verführerischen Ideen auszuschalten.
Als er sich mit entschlossener Miene erhob und die Batterie
auf den Sitz neben den offenen Koffer legte, erinnerte ich ihn
-156-
daran, daß ich die notwendige Skizze noch nicht angefertigt
hatte. Ich bat ihn, den Kopfteil zu halten, damit ich daneben die
Batterie zeichnen konnte. Er kam dieser Aufforderung nach und
setzte sich, wobei er mich wiederholt mahnte, mich zu beeilen.
Nach einem weiteren Augenblick hielt ich inne, um
Informationen zu erbitten. Ich fragte ihn, wie das Opfer für die
Hinrichtung placiert werden und wie man seinen vermutlichen
Widerstand überwinden würde.
»Kein Problem«, erwiderte er, »der Verbrecher ist fest an
einen Pfahl angebunden. Es spielt keine Rolle, wie sehr er den
Kopf hin und her wirft, denn der Helm sitzt fest und zieht sich
noch fester zusammen, wenn der Strom eingeschaltet wird. Man
dreht allmählich am Schalterman sieht ihn hier, eine sorgfältig
ausgetüftelte Anordnung mit einem Rheostat..
Eine neue Idee, Zeit zu schinden, kam mir, als die bestellten
Felder und die wachsende Anzahl von Häusern draußen im
Morgenlicht von unserer Annäherung an die Hauptstadt
kündeten.
»Aber«, sagte ich, »ich muß den Helm ebenso an Ort und
Stelle auf einem Menschenkopf zeichnen wie neben der
Batterie. Können Sie ihn nicht selbst einen Augenblick
überziehen, damit ich Sie mit ihm zeichnen kann? Die
Zeitungen verlangen das ebenso wie die Politiker, denn sie legen
großen Wert auf Vollständigkeit.«
Ich hatte zufällig besser ins Schwarze getroffen als geplant;
denn bei der Erwähnung der Presse begannen die Augen des
Verrückten neuerlich zu leuchten.
»Die Zeitungen? Ja, zum Teufel mit ihnen, Sie können sogar
die Zeitungen dazu bringen, mich anzuhören! Sie haben mich
alle ausgelacht und wollten nicht ein Wort drucken. Hier,
beeilen Sie sich!
Wir dürfen keine Sekunde verlieren!
Jetzt werden sie die Bilder bringen, der Teufel hole sie! Ich

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verbessere Ihre Skizze, falls Ihnen Fehler unterlaufen - man muß
so genau sein wie möglich. Die Polizei findet Sie später schon -
Sie werden erklären, wie es funktioniert. Eine Meldung in der
Associated Press - bestätigt Ihren Brief - unsterblicher Ruhm...
Beeilen Sie sich, beeilen Sie sich, verdammt noch mal!«
Der Zug rumpelte über das schlechtere Schotterbett in
Stadtnähe, und wir schaukelten ab und zu gefährlich hin und
her. Ich nahm dies als Vorwand, den Bleistift neuerlich
abzubrechen, aber natürlich reichte mir der Verrückte sofort
seinen, den er gespitzt hatte. Ein erster Vorrat an Kriegslisten
war schon fast aufgebraucht, und ich spürte, daß ich mich bald
dem Kopfteil ausliefern mußte. Wir waren noch immer eine gute
Viertelstunde vom Zielbahnhof entfernt, und es war an der Zeit,
meinen Gefährten bei der Religion zu packen und die göttliche
Prophezeiung auf ihn loszulassen.
Ich raffte zusammen, was ich noch an Bruchstücken der
nahuanaztekischen Mythologie wußte, warf plötzlich Bleistift
und Papier nieder und setzte zu einem Singsang an.
»la! la. Tloquenahuaque, Der Du Ganz in Dir Selbst bist!
Auch Du, Ipalnemoan, Durch den wir leben!
Ich höre, ich höre! Ich sehe, ich sehe! Schlangentragender
Adler, heil! Eine Botschaft, eine Botschaft!
Huitzilopochtli, in meiner Seele hallt dein Donner wider!.
Als er meine Beschwörungen vernahm, starrte der Verrückte
ungläubig durch seine seltsame Maske.
Sein hübsches Gesicht zeigte Überraschung und Verblüffung,
die bald von Beunruhigung abgelöst wurden. Sein Geist schien
einen Augenblick lang leer zu sein und sich dann in einem
anderen Muster neu zu kristallisieren. Mit erhobenen Händen
intonierte er wie in einem Traum.
»Mictianteuctii, Gewaltiger Herr, ein Zeichen! Ein Zeichen
aus dem Innern deiner schwarzen Höhle! la! Tonatiu-Metzli!
Cthulhu! Befiehl, und ich gehorche!.
-158-
In diesem ganzen Schwall von Unsinn, mit dem er reagierte,
gab es ein Wort, das eine merkwürdige Seite in meinem
Gedächtnis anschlug. Das ist seltsam, weil es in keiner
gedruckten Darstellung der mexikanischen Mythologie
vorkommt, doch hatte ich es mehr als einmal als ehrfürchtiges
Geflüster unter den Peonen in den Tlaxcala-Bergwerken meiner
eigenen Gesellschaft vernommen. Es schien Teil eines
außergewöhnlich geheimen und uralten Rituals zu sein, denn es
gab geflüsterte Reaktionen, auf die ich ab und zu gestoßen war
und die den Fachgelehrten so unbekannt waren wie mir selbst.
Dieser Verrückte mußte beträchtliche Zeit unter den Peonen und
Indianern der Berge verbracht haben, wie er ja auch behauptet
hatte, denn gewiß konnten solche unaufgezeichneten
Überlieferungen nicht von bloßem Buchwissen stammen. Da ich
die Bedeutung erkannte, die er seinem doppelt esoterischen
Jargon beimessen mußte, beschloß ich, ihn an seiner
verwundbarsten Stelle zu treffen und ihm mit dem
Kauderwelsch zu dienen, dessen sich die Eingeborenen
bedienten.
»Ya-R'lyeh! Ya-R'lyeh!« rief ich. »Cthulhu fhtaghan!
Nigurat-Yig! Yog-Sototl -.
Ich hatte keine Chance auszureden. Durch die exakte
Reaktion, die sein Unbewußtes höchstwahrscheinlich nicht
erwartet hatte, zur religiösen Epilepsie elektrisiert, warf sich der
Verrückte auf die Knie nieder. Er neigte immer wieder den Kopf
mit dem Drahthelm und drehte ihn dabei auch noch nach links
und rechts. Mit jeder Drehung wurden seine Verbeugungen
tiefer, und ich konnte hören, wie seine schaumbedeckten Lippen
die Silben »töte, töte, töte« in einem rasch zunehmenden
monotonen Klang wiederholten. Mir wurde klar, daß ich zu weit
gegangen war und daß meine Reaktion eine akut wachsende
Manie ausgelöst hatte, die ihn, noch ehe der Zug die Station
erreichte, zum Mord treiben würde.
Mit dem allmählich größer werdenden Radius der Drehungen

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des Verrückten war der Spielraum des Kabels, das vom
Kopfstück der Batterie führte, immer geringer geworden. Nun
erweiterte er ihn in einem alles vergessenden ekstatischen
Delirium zu vollständigen Kreisen, so daß sich das Kabel um
seinen Hals zu wickeln begann und an der Verbindung mit der
Batterie auf dem Sitz zerrte. Ich fragte, was er tun würde, wenn
das Unausweichliche geschah und die Batterie zu Boden gezerrt
würde, um dort vermutlich zu zerschellen.
Dann trat die plötzliche Katastrophe ein. Die Batterie, die von
der letzten Bewegung orgiastischer Raserei des Verrückten über
den Sitz gezerrt worden war, fiel wirklich zu Boden, aber ohne
gänzlich zu zerbrechen. Statt dessen wurde der Aufprall vom
Rheostat aufgefangen, was mein Auge in einem nur allzu
flüchtigen Augenblick erhaschte, so daß der Schalter sofort auf
volle Belastung gerissen wurde. Und das Wunder war, daß es
wirklich Strom gab. Die Erfindung war kein bloßer
Wahnsinnstraum.
Ich sah einen blendenden Blitz wie eine Aurora, hörte einen
Aufschrei und ein Aufheulen, entsetzlicher als die
vorhergehenden Schreie während dieser verrückten,
fürchterlichen Reise, und spürte den abstoßenden Geruch
brennenden Fleisches. Mehr konnte mein überreiztes
Bewußtsein nicht mehr ertragen, und ich sank bewußtlos zu
Boden.
Als mich die Zugwache in Mexico City wiederbelebte, hatte
sich vor der Tür meines Abteils eine Menge angesammelt. Auf
meinen unwillkürlichen Aufschrei hin nahmen die Gesichter der
Herbeidrängenden einen neugierigen und zweifelnden Ausdruck
an, und ich war erleichtert, als die Wache alle bis auf den
adretten Arzt ausschloß, der sich den Weg bis zu mir gebahnt
hatte. Mein Aufschrei war nur eine natürliche Reaktion, aber sie
war durch etwas mehr ausgelöst worden als durch den
schockierenden Anblick auf dem Waggonboden, den ich
vorzufinden erwartet hatte. Vielleicht sollte man sagen, von

-160-
etwas weniger, denn in Wahrheit befand sich auf dem Fußboden
überhaupt nichts.
Es war auch niemand drinnen gewesen, sagte der Mann von
der Zugwache, als er die Tür öffnete und mich bewußtlos im
Innern fand. Für dieses Abteil war nur meine Fahrkarte verkauft
worden, und ich war die einzige Person, die man darin gefunden
hatte. Nur mich und meinen Koffer, sonst nichts. Ich war die
ganze Strecke von Queretaro an allein gewesen. Zugwache, Arzt
und Neugierige tippten sich auf meine verzweifelten und
beharrlichen Fragen vielsagend auf die Stirn.
War das alles ein Traum gewesen oder war ich wirklich
verrückt? Ich erinnerte mich an meine Besorgnis und die
überreizten Nerven, und mich schauderte. Ich dankte dem Mann
von der Zugwache und dem Arzt, bahnte mir den Weg durch die
neugierige Menge, sank in ein Taxi und ließ mich zur Fonda
Nacional bringen, wo ich, nachdem ich Jackson in dem
Bergwerk telegraphisch unterrichtet hatte, bis zum Nachmittag
schlief, um meine Nerven wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Ich ließ mich um ein Uhr wecken, um rechtzeitig die
Schmalspurbahn zum Bergwerksgebiet zu erreichen, aber als ich
aufstand, fand ich ein Telegramm unter der Tür. Es stammte von
Jackson und enthielt die Mitteilung, daß man Feidon am Morgen
tot in den Bergen gefunden hatte, die Nachricht hatte das
Bergwerk gegen zehn Uhr erreicht. Die Unterlagen waren alle in
Sicherheit, und das Büro in San Francisco war entsprechend
informiert worden. So war die ganze Reise mit ihrer nervösen
Hast und der qualvollen Gemütsbelastung vergebens gewesen!
Da ich wußte, daß McComb trotz der Entwicklung, welche
die Ereignisse genommen hatten, von mir einen persönlichen
Bericht erwartete, sandte ich eine weitere Depesche ab und
nahm doch die Schmalspurbahn. Vier Stunden später langte der
Zug ratternd und rüttelnd in der Station des Bergwerks Nr. 3 an,
wo mich Jackson herzlich begrüßte. Die Angelegenheiten des
Bergwerks nahmen ihn so in Anspruch, daß ihm meine

-161-
Erschütterung und mein elendes Aussehen gar nicht auffielen.
Die Geschichte des Direktors fiel kurz aus, und er erzählte sie
mir, als er mich zu der Hütte auf dem Hügel über dem arrastra,
wo Feidons Leichnam lag, führte. Feidon, erklärte er, war stets
ein merkwürdiger, mürrischer Mensch gewesen, schon als er vor
einem Jahr eingestellt wurde. Er hatte insgeheim an irgendeiner
mechanischen Vorrichtung gearbeitet, über ständige
Bespitzelung Klage geführt und hatte mit den einheimischen
Arbeitern auf unerwünscht gutem Fuß gestanden. Doch kannte
er sich unbestritten mit der Arbeit, dem Land und den Leuten
aus. Er pflegte lange Ausflüge in die Berge zu unternehmen, wo
die Peone lebten, und sogar an ihren uralten, heidnischen
Zeremonien teilzunehmen. Er deutete genauso oft merkwürdige
Geheimnisse und fremdartige Kräfte an, wie er sich seiner
Geschicklichkeit in mechanischen Dingen rühmte. In letzter Zeit
war er rasch verfallen, hatte seine Kollegen mit krankhaftem
Argwohn verfolgt und sich mit seinen einheimischen Freunden
an Erzdiebstählen beteiligt, als seine Geldmittel schwanden. Aus
diesem oder jenem Grund brauchte er sündhaft hohe
Geldbeträge - ständig kamen für ihn Kisten aus Laboratorien
und Werkstätten in Mexico City oder den Vereinigten Staaten
an.
Was seine schließliche Flucht mit allen Unterlagen anging -
das war nur eine verrückte Rachegeste für das, was er
»Bespitzelung« nannte. Er war unzweifelhaft hochgradig
verrückt, denn er war durch das Land gezogen zu einer
verborgenen Höhle an einem wildzerklüfteten Hang der von
Gespenstern heimgesuchten Sierra de Malinche, wo kein Weißer
lebt, und hatte einige erstaunlich merkwürdige Dinge getan. Die
Höhle, die man ohne die schließliche Tragödie nie gefunden
hätte, war voller aztekischer Idole und Altäre, letztere waren mit
den versengten Knochen neuerer entsetzlicher Flammenopfer
bedeckt. Die Einheimischen wollten nichts verraten - sie
schworen sogar hoch und heilig, von nichts zu wissen -, doch

-162-
war unschwer zu erkennen, daß ihnen die Höhle als alter
Treffpunkt diente und daß sich Feidon an ihren Praktiken
beteiligt hatte.
Die Suchmannschaft hatte den Ort nur wegen des Singsangs
und des Aufschreis am Schluß gefunden.
Es war fast fünf Uhr morgens gewesen, und nachdem sie die
ganze Nacht kampiert hatten, hatte sich die Mannschaft eben
angeschickt zusammenzupacken, um unverrichteter Dinge zum
Bergwerk zurückzukehren. Dann aber hatte jemand in einiger
Entfernung schwache Klänge vernommen und wußte sofort, daß
einer der abscheulichen alten Eingeborenenriten an einer
einsamen Stelle am Hang des leichenförmigen Berges
hinausgeheult wurde. Sie hörten dieselben alten Namen -
Mictianteuctii, Tonatiuh-Metzli, Cthulhu, Ya-R'lyeh und alle
übrigen -, aber das Merkwürdige war, daß vermischt mit ihnen
auch englische Wörter vorkamen. Das echte Englisch des
weißen Mannes, nicht das des Mexen- Kauderwelsch. Sie eilten
den Klängen nach, den mit Schlingpflanzen bewachsenen
Berghang empor, als nach einer kurzen Stille der Aufschrei ihre
Ohren traf. Es war etwas Grauenvolles - etwas Schlimmeres, als
jeder einzelne von ihnen je gehört hatte. Es schien eine leichte
Rauchentwicklung zu geben, und ein scheußlicher ätzender
Geruch machte sich breit.
Dann stießen sie auf die Höhle, deren Eingang durch
Mesquitensträucher verdeckt war, doch stiegen aus ihm jetzt
Wolken eines stinkenden Rauches. Innen war die Höhle von
Kerzen erhellt, die erst vor einer halben Stunde entzündet
worden sein mußten. In ihrem zuckenden Schein zeigte sich der
entsetzliche Altar mit seinen grotesken Bildern, und auf dem
kiesbedeckten Boden lag das Grauenvolle, das die ganze Menge
zurückschaudern ließ. Es war Feidon, den Kopf zu Asche
verbrannt durch eine merkwürdige Vorrichtung, die er sich
übergestülpt hatte - eine Art Drahtkäfig, der mit einer ziemlich
mitgenommenen Batterie verbunden war, die offenkundig von

-163-
einem nahen Altarkelch zu Boden gefallen war. Bei diesem
Anblick wechselten die Männer Blicke, denn sie mußten an die
»elektrische Hinrichtungsmaschine« denken, die erfunden zu
haben sich Feidon immer rühmte - die Vorrichtung, die alle
abgelehnt, aber zu stehlen und nachzuahmen versucht hatten.
Die Unterlagen waren sicher in Feidons offener Aktentasche, die
in der Nähe stand. Die Kolonne der Suchmannschaft marschierte
mit ihrer gräßlichen Last auf einer improvisierten Tragbahre
eine Stunde lang nach Nr. 3 zurück.
Das war alles, aber es reichte, um mich erblassen und
zurückschrecken zu lassen, als mich Jackson an der arrastra
vorbei zu dem Schuppen führte, in dem die Leiche lag. Denn
mir mangelte es nicht an Phantasie, und ich wußte nur zu gut, in
welch höllischen Alptraum diese Tragödie auf übernatürliche
Weise sich einfügte. Ich wußte, was ich innerhalb der weit
offenstehenden Tür finden würde, um die sich die Bergarbeiter
scharten, und zuckte mit keiner Wimper, als meine Augen die
Riesengestalt, die einfachen Kordkleider, die merkwürdig zarten
Hände, die verbrannten Bartbüschel und die höllische Maschine
erblickten - die Batterie leicht zerbrochen und das Kopfstück
geschwärzt durch das Verkohlen dessen, was sich darin befand.
Die große, vollgestopfte Aktentasche überraschte mich nicht,
und ich bebte nur vor zweierlei zurück - zunächst den gefalteten
Papierblättern, die aus der linken Tasche hervorschauten. Als
niemand hinsah, streckte ich die Hand aus, nahm die allzu
vertrauten Blätter an mich und zerknüllte sie, ohne es zu wagen,
mir die Schrift anzusehen. Jetzt tut es mir leid, daß ich sie in
jener Nacht mit abgewandten Augen in panischer Furcht
verbrannte. Sie wären ein materieller Beweis für oder gegen
etwas gewesen - aber schließlich hätte ich noch immer meinen
Beweis haben können, wenn ich den Coroner über den Revolver
befragt hätte, den er später aus der herunterhängenden rechten
Jackentasche holte. Ich brachte nie den Mut auf, ihn danach zu
fragen - denn mein eigener Revolver fehlte mir seit jener Nacht

-164-
im Zug. Auch zeigte mein Taschenbleistift Anzeichen eines
unbeholfenen und eiligen Spitzens, ganz anders als die präzise
Schärfe, die ich ihm am Freitagnachmittag mit der Maschine in
Präsident McCombs Privatwaggon gegeben hatte.
So kehrte ich schließlich, noch immer im dunkeln tappend,
zurück - vielleicht barmherzigerweise im dunkeln tappend. Als
ich nach Queretaro kam, war der Privatwaggon schon repariert,
aber die richtige große Erleichterung verspürte ich erst, als wir
den Rio Grande Richtung El Paso und Vereinigte Staaten
überquerten. Am folgenden Freitag war ich wieder in San
Francisco, und die verschobene Heirat fand in der
darauffolgenden Woche statt.
Was aber in jener Nacht wirklich geschah - wie schon gesagt,
ich wage es einfach nicht, mir darüber den Kopf zu zerbrechen.
Dieser Bursche Feidon war von Anfang an verrückt, und
darüber hinaus hatte er eine Unmenge prähistorischer
aztekischer magischer Überlieferung gesammelt, die von Rechts
wegen niemand wissen darf. Er war ein echtes Erfindergenie,
und jene Batterie muß wirklich eine Batterie gewesen sein. Ich
hörte später, daß ihn in früheren Jahren die Presse, die
Öffentlichkeit und die Machthaber nicht ernst genommen hatten.
Menschen einer gewissen Sorte tun allzu viele Enttäuschungen
nicht gut. Wie auch immer, eine unheilige Verbindung
verschiedener Einflüsse spielt mit herein. Er hatte übrigens
wirklich unter Maximilian als Soldat gedient.
Wenn ich meine Geschichte erzähle, nennen mich die meisten
glatt einen Aufschneider. Andere sehen die Ursache in der
Psychologie des Abnormen - und der Himmel weiß, daß ich
übernervös war-, und wieder andere reden von einer »astralen
Projektion«. Mein Eifer, Feidon zu fangen, ließ gewiß meine
Gedanken zu ihm vorauseilen, und bei all seiner indianischen
Zauberei wäre er der erste gewesen, der sie erkannt hätte und
auf sie eingegangen wäre. War er in dem Eisenbahnabteil oder
war ich in der Höhle auf dem leichenförmigen Spukberg? Was

-165-
wäre mit mir geschehen, hätte ich ihn nicht auf die Weise
hingehalten, wie ich es tat? Ich gebe zu, ich weiß es nicht, und
ich bin nicht sicher, daß ich es wissen will. Ich bin seit damals
nicht mehr in Mexiko gewesen - und wie ich am Anfang sagte,
ich höre nicht gern von elektrischen Hinrichtungen.

-166-
Wentworths Tag

H. P. Lovecraft und August Derleth

Nördlich von Dunwich liegt ein fast verlassener Landstrich,


der weitgehend - nachdem er nacheinander von alteingesessenen
Neu-Engländern, den Frankokanadiern, die nach ihnen kamen,
den Italienern und den Polen, die zuletzt kamen, bewohnt
gewesen war - in einen Zustand zurückgekehrt ist, der dem
wildnatürlichen gefährlich nahekommt. Die ersten Siedler
rangen der steinigen Erde und den Wäldern, die einst das ganze
Land bedeckten, den Lebensunterhalt ab, doch waren sie nicht
sehr erfahren in der Bewahrung weder der fruchtbaren Scholle
noch ihrer natürlichen Ressourcen, und nachfolgende
Generationen laugten das Land noch weiter aus. Die nach ihnen
kamen, streckten bald die Waffen und zogen woanders hin. Der
Landstrich zählt nicht zu den Gebieten von Massachusetts, die
gern von Menschen bewohnt werden. Die Häuser, die einst stolz
dastanden, sind so heruntergekommen, daß in den meisten von
ihnen kein bequemes Wohnen mehr möglich ist. Auf den
weniger steilen Hängen stehen noch immer Farmhäuser mit
Walmdächern, uralte Gebäude, die oft im Windschatten felsiger
Abhänge den Geheimnissen vieler Generationen in Neu-
England nachzuhängen scheinen; doch sind die Zeichen des
Verfalls allenthalben erkennbar - an den zerbröckelnden
Schornsteinen, den ausgebeulten Seitenmauern, den
zerbrochenen Fenstern der verlassenen Scheunen und Häuser.
Straßen führen kreuz und quer durch das Gebiet, aber sobald
man einmal die Staatsautostraße verlassen hat, die durch das
langgezogene Tal nördlich von Dunwich führt, findet man sich
auf Seitenstraßen, die aus wenig mehr als Wagenspuren
bestehen und die so wenig benutzt werden wie die meisten
Häuser auf dem Land.

-167-
Auch liegt über dem Landstrich weitgehend eine Stimmung
nicht allein des Alters und der Verlassenheit, sondern auch des
Bösen. Es gibt Waldgebiete, in denen nie eine Axt gefallen ist,
düstere, weinbewachsene Täler, wo Bächlein in einer
Dunkelheit daherrieseln, die selbst am strahlendsten Tag von
keinem Sonnenstrahl durchbrochen wird. Im ganzen Tal gibt es
kaum ein Anzeichen von Leben, obwohl auf einigen der
heruntergekommenen Farmen einsiedlerische Bewohner leben;
selbst die Habichte, die hoch oben am Himmel ihre Kreise
ziehen, scheinen nie lange zu verweilen, und die schwarzen
Krähenschwärme überqueren bloß das Tal und lassen sich
niemals nieder, um Aas oder Futter zu suchen. Einst, vor langer
Zeit, stand es in dem Ruf, ein Land zu sein, in dem Hexerei - der
Hexenglauben des abergläubischen Volkes - praktiziert wurde,
und etwas von diesem wenig beneidenswerten Ruf hängt ihm
noch immer nach.
Es ist keine Landschaft, in der man sich allzu lange aufhalten,
und gewiß kein Ort, wo man des Nachts angetroffen werden
möchte. Und doch war es Nacht in jenem Sommer 1927, als ich
meine letzte Reise in das Tal unternahm, um einen Ofen in die
Nähe von Dunwich zu liefern. Ich hätte mich nie dazu
entschließen sollen, das Gebiet nördlich jener verfallenen Stadt
zu durchqueren, aber ich hatte noch etwas zu erledigen, und
anstatt meinem Impuls zu folgen, das Tal zu umfahren und vom
anderen Ende zurückzukommen, fuhr ich am späten Nachmittag
in das Tal. Dort hatte die Dämmerung, die in Dunwich noch
immer vorherrschte, einer Dunkelheit Platz gemacht, die bald
undurchdringlich war, denn der Himmel hatte sich völlig
zugezogen, und die Wolken hingen so niedrig, daß sie beinahe
die umliegenden Berge berührten, so daß ich sozusagen in einer
Art Tunnel dahinfuhr. Auf der Autostraße war wenig Verkehr.
Es gab andere Straßen, die man einschlagen konnte, um Ziele zu
beiden Seiten des Tals zu erreichen, und die Nebenstraßen
waren hier so zugewachsen, man hatte sie buchstäblich

-168-
aufgegeben, so daß sich wenige Autofahrer auf das Risiko
einlassen wollten, sie zu benutzen.
Alles wäre gut gegangen, denn mein Weg führte geradewegs
durch das Tal zum anderen Ausgang, und es bestand für mich
keine Notwendigkeit, die Staatsstraße zu verlassen, wären nicht
zwei unvorhergesehene Umstände eingetreten. Bald nachdem
ich Dunwich verlassen hatte, begann es zu regnen. Der Regen
hatte den ganzen Nachmittag über schwer über der Erde
gehangen, und jetzt öffnete endlich der Himmel seine
Schleusen, und die Flut kam herunter. Die Autostraße glitzerte
im Licht meiner Scheinwerfer. Und dieser Schein fiel bald auch
auf etwas anderes. Ich war vielleicht fünfzehn Meilen ins Tal
hineingefahren, als mich plötzlich ein Hindernis auf der
Autostraße und eine gut markierte Umleitung aufschreckten. Ich
konnte erkennen, daß die Straße hinter der Absperrung so
desolat war, daß man sie wahrlich nicht passieren konnte.
Ich fuhr voller düsterer Vorahnungen von der Autostraße ab.
Wenn ich bloß meinem Impuls gefolgt wäre, nach Dunwich
zurückzukehren und eine andere Straße zu nehmen, wäre ich
vielleicht frei von den verfluchten Alpträumen, die mir seit jener
Nacht des Grauens den Schlaf verleiden! Ich tat es jedoch nicht.
Da ich schon so weit war, verspürte ich nicht den geringsten
Wunsch, die Zeit zu verschwenden, welche die Rückkehr nach
Dunwich kosten würde. Der Regen fiel noch immer wie ein
dichter Vorhang hernieder, und das Lenken war keineswegs
einfach. Nach dem Verlassen der Straße befand ich mich auf
einem Weg, der nur teilweise einen Kiesbelag aufwies.
Straßenarbeiter waren hier tätig gewesen und hatten die
Durchfahrt durch das Entfernen überhängender Zweige, die ein
Passieren vorher fast unmöglich gemacht hatten, ein wenig
erweitert, doch hatten sie wenig für die Straße selbst getan, und
ich erkannte bereits nach kurzer Fahrt, daß ich in
Schwierigkeiten steckte.
Der Zustand der Straße, auf der ich fuhr, verschlechterte sich

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in dem Regen rapid. Mein Wagen, obwohl eines der robustesten
Ford-Modelle mit relativ hohen, schmalen Rädern, schnitt tiefe
Rillen ein, und von Zeit zu Zeit fuhr ich spritzend durch
zunehmend tiefer werdende Wasserpfützen, die den Motor zum
Knattern und Stottern brachten. Ich wußte, daß es nur eine Frage
der Zeit war, ehe das Wasser durch die Kühlerhaube sickern und
mein Motor überhaupt absterben würde, und ich begann, nach
Leben in der Gegend Ausschau zu halten oder nach einer Art
von Unterstand, die mir und dem Wagen Schutz bieten konnten.
Da ich die Einsamkeit dieses abgelegenen Tals kannte, hätte ich
fürwahr eine verlassene Scheune vorgezogen, doch war, um der
Wahrheit die Ehre zu geben, ohne Führer unmöglich ein
Gebäude auszumachen. So sah ich zu guter Letzt ein blasses
Fensterquadrat aus Licht, das unweit der Straße schien, und
durch eine glückliche Fügung fand ich im erlöschenden Strahl
meiner Scheinwerfer die Zufahrt.
Ich bog ein, vorbei an einem Briefkasten, auf dem der Name
des Besitzers unbeholfen aufgepinselt worden war. Er hob sich
zunächst ab, verblaßte aber dann: Amos Stark. Der
Scheinwerferkegel strich über die Fassade des Gebäudes, und
ich merkte, daß es uralt war, in der Tat eines der Häuser, die aus
einem Guß gemacht sind - Haus, rechtwinklig angebauter
Flügel, Sommerküche, Scheune, alles in einem langen Bau unter
Dächern von verschiedener Höhe. Zum Glück stand die Scheune
weit offen, und da ich keinen anderen Unterstand erblickte, fuhr
ich den Wagen unter dieses Dach in der Erwartung, Rinder und
Pferde anzutreffen. Die Scheune sah jedoch aus, als stehe sie
seit langem leer, denn es gab weder Rinder noch Pferde, und das
Heu, mit dem sie gefüllt war, mußte nach seinem Geruch
vergangener Sommer zu schließen mehrere Jahre alt sein.
Ich hielt mich nicht weiter in der Scheune auf, sondern eilte
durch den strömenden Regen zum Haus.
Von draußen hatte es, soviel ich sehen konnte, denselben
Anschein von Verlassenheit wie die Scheune.

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Es war ebenerdig, der Vorderfront war eine niedrige Veranda
vorgelagert, und der Fußboden dieser Veranda war, wie ich
gerade noch rechtzeitig entdeckte, hier und da kaputt, mit
dunklen Löchern, die anzeigten, wo einst Bretter gewesen
waren.
Ich fand die Tür und trommelte an die Füllung.
Lange Zeit gab es keinen anderen Laut als das Geräusch des
Regens, der auf das Verandadach und in die Pfützen, die sich im
Hof gesammelt hatten, fiel. Ich klopfte wieder und erhob meine
Stimme zu dem Ruf: »Ist da jemand?«
Drinnen war eine zitternde Stimme zu hören: »Wer seid Ihr?«
Ich erklärte, ich sei ein Handlungsreisender, der Obdach
suchte. Das Licht begann sich zu bewegen, eine Lampe wurde
ergriffen. Das Fenster wurde trüber, und die gelbe Linie unter
dem Türspalt verstärkte sich. Das Geräusch von Bolzen und
Ketten, die zurückgezogen wurden, waren zu hören, dann wurde
geöffnet, und jemand stand in der Tür und hielt eine Lampe in
die Höhe. Es war ein verrunzelter alter Mann mit einem
zerzausten schütteren Bart, der seinen hageren Hals halb
bedeckte.
Er trug eine Brille, spähte jedoch über ihren Rand auf mich.
Sein Haar war weiß, die Augen schwarz, und als er mich
erblickte, zog er die Lippen in einer Art Raubtiergrinsen zurück
und zeigte seine Zahnstummel.
»Mr. Stark?« fragte ich.
»Vom Sturm hierhergetrieben, eh?« begrüßte er mich.
»Kommen Sie sofort ins Haus und trocknen Sie sich. Glaube
nicht, daß der Regen noch lang anhalten wird.«
Ich folgte ihm ins Innere, von wo er gekommen war, doch
zuerst schloß und versperrte er sorgfältig die Tür hinter uns, ein
Vorgang, der mich mit leichtem Unbehagen erfüllte. Er mußte
meinen fragenden Blick bemerkt haben, denn sobald er die
Lampe auf einem dicken Band abgesetzt hatte, der auf einem
-171-
runden Tisch in der Mitte des Raumes lag, zu dem er mich
führte, wandte er sich um und erklärte mit heiserem Kichern:
»Heute ist Wentworths Tag. Ich hielt Sie für Nahum.«Sein
Kichern steigerte sich zu einem gespenstischen Lachen.
»Nein, Sir. Mein Name ist Fred Hadley. Ich komme aus
Boston.«
»War nie in Boston«, sagte Stark. »War noch nicht mal in
Arkham. Habe meine Farmarbeit, die mich hier festhält.«
»Ich hoffe, es stört Sie nicht. Ich habe mir erlaubt, meinen
Wagen in Ihre Scheune zu stellen.«
»Den Kühen macht das nichts aus.« Er gackerte vor Lachen
über seinen schwachen Witz, denn er wußte ganz genau, daß es
in der Scheune keine Kuh gab. »Ich würde selbst keine dieser
neumodischen Vorrichtungen fahren, aber ihr Stadtleute seid
alle gleich. Kommt ohne Autos nicht aus..
»Ich hätte kaum gedacht, daß ich wie ein Lackaffe aus der
Stadt aussehe«, erwiderte ich in dem Versuch, es ihm an Laune
gleichzutun.
»Ich erkenne einen Stadtfritzen auf der Stelle - ab und zu zieht
jemand in diese Gegend, aber sie ziehen auch schnell wieder
fort; vermute, es gefällt ihnen hier nicht. War niemals in einer
großen Stadt; glaube auch kaum, daß ich gehen möchte.«
Er brabbelte auf diese Weise eine Weile vor sich hin, daß ich
imstande war, mich umzusehen und eine Bestandsaufnahme des
Raumes zu machen. In jenen Jahren verbrachte ich die Zeit, die
ich nicht unterwegs war, in dem Kaufhaus in Boston, und es gab
wenige Kollegen, die mich beim Inventarisieren übertrafen;
daher erkannte ich im Nu, daß Amos Starks Wohnzimmer mit
allen möglichen Sachen vollgerammelt war, für die
Antiquitätensammler gute Preise zahlen würden. Da gab es
Möbelstücke, die fast zweihundert Jahre alt waren, sofern ich
etwas davon verstand, und prächtige Nippsachen, Etageren,
wunderbar geblasenes Glas und auf den Borden und Etageren

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Haviland- Porzellan. Und es gab eine Menge alter
handgearbeiteter Werkzeuge der Neuengland-Farm vor einigen
Jahrzehnten - Lichtputzscheren, Tintenfässer aus Kork auf
Holzständern, Kerzenformen, eine Buchstütze, eine lederne
Truthahnlockpfeife, Pechkiefer und Baumharz, Kalebassen,
Stickmustertücher -, so daß eindeutig zu erkennen war, daß das
Haus viele Jahre alt war.
»Wohnen Sie allein, Mr. Stark?« fragte ich, als ich ein Wort
einwerfen konnte.
»Jetzt schon. Einst gab es noch Molly und Dewey. Abel lief
als Kind davon und Ella starb an Lungenfieber. Ich bin jetzt
schon fast sieben Jahre allein..
Selbst beim Sprechen fiel mir an ihm seine abwartende,
wachsame Haltung auf. Er schien fortwährend auf ein Geräusch
zu lauschen, das durch das Trommeln des Regens drang.
Abgesehen von einem leisen Knirschen einer Maus, die
irgendwo in dem alten Haus nagte, war aber nichts zu hören -
nichts außer diesem Geräusch und dem unaufhörlichen
Regenfall. Noch immer lauschte er, den Kopf leicht zur Seite
geneigt, die Augen zusammengekniffen, als blicke er in den
Lampenschein, und sein Kopf glänzte an der kahlen Krone, die
von einer dünnen, strähnigen Tonsur aus weißem Haar umringt
war.
Er mochte achtzig Jahre alt sein, er mochte aber auch erst
sechzig sein, wenn ihn seine beengte, zurückgezogene
Lebensweise vorzeitig hatte altern lassen. »Sie waren allein auf
der Straße?« fragte er plötzlich. »Traf auf dieser Seite von
Dunwich keine Menschenseele. Siebzehn Meilen, schätze ich.«
»Eine halbe mehr oder weniger«, stimmte er zu. Dann begann
er zu gackern und zu kichern, als könnte er einen Ausbruch von
Heiterkeit nicht mehr unterdrücken. »Heute ist Wentworths Tag.
Nahum Wentworth,« Seine Augen verengten sich einen
Moment. »Sind Sie schon lange als Handlungsreisender in

-173-
dieser Gegend unterwegs? Sie müssen Nahum Wentworth
gekannt haben?«
»Nein, Sir. Ich habe ihn nicht gekannt. Ich verkaufe meist in
den Städten. Nur ab und zu auf dem Land..
»Beinahe jeder kannte Nahum«, fuhr er fort. »Aber keiner
kannte ihn so gut wie ich. Sehen Sie das Buch?« Er deutete auf
ein abgegriffenes Buch, das ich in dem schlecht beleuchteten
Zimmer gerade noch ausmachen konnte. »Das da ist das
Siebente Buch Mosis - darin gibt es mehr Gelehrsamkeit als in
jedem anderen Buch, das ich je gesehen habe. Das dort war
Nahums Buch..
Er kicherte über irgendeine Erinnerung. »Ah, dieser Nahum
war schon ein merkwürdiger Kauz, kein Zweifel. Aber auch
gemein und geizig. Verstehe nicht, wie Sie ihn verpassen
konnten..
Ich versicherte ihm, daß ich von Nahum Wentworth nie zuvor
gehört hatte, obwohl sich bei mir innerlich einige Neugierde für
das Objekt, dem die Gedanken meines Gastgebers galten, regte,
insofern als er häufig im Siebenten Buch Mosis gelesen hatte,
das eine Art Hexenbibel war, da es angeblich alle Arten von
Zaubersprüchen, Beschwörungen und Verhexungen für jene
Leser enthielt, die leichtgläubig genug waren, daran zu glauben.
Ich sah im Kreis des Lampenlichts auch gewisse andere Bücher,
die ich erkannte - eine Bibel, so abgenutzt wie das Lehrbuch der
Magie, eine umfangreiche Ausgabe der Werke des Cotton
Mather und einen gebundenen Jahrgang des Arkham Advertiser.
Vielleicht hatten auch diese Dinge einst Nahum Wentworth
gehört.
»Ich sehe, daß Ihr Blick auf seinen Büchern ruht«, sagte mein
Gastgeber, als hätte er wirklich meine Gedanken gelesen. »Er
sagte, daß ich sie haben könne; also nahm ich sie. Wirklich gute
Bücher. Ich würde sie lesen, wenn ich keine Brille brauchte. Sie
dürfen sie sich jedoch gern ansehen..

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Ich dankte ihm in gesetzten Worten und erinnerte ihn daran,
daß er von Nahum Wentworth gesprochen hatte.
»Ach ja, dieser Nahum!« erwiderte er sofort und begann
wieder zu kichern. »Ich glaube kaum, daß er mir all das Geld
geborgt hätte, wenn er gewußt hätte, was mit ihm passieren
würde. Nein, Sir, das glaube ich nicht. Und er hat auch nie eine
schriftliche Bestätigung dafür haben wollen. Es waren
fünftausend. Und er hat mir noch gesagt, er brauchte keinen
Schuldschein und keine schriftliche Quittung, so gab es keinen
Beweis, daß er mir das Geld je gegeben hatte, überhaupt keinen,
nur wir zwei wissen es, und er hat einen Tag in fünf Jahren
festgelegt, da wollte er seines Geldes und seiner Zinsen wegen
kommen. Fünf Jahre, und heute ist dieser Tag, heute ist
Wentworths Tag.«
Er hielt inne und warf mir einen verschlagenen Blick zu, aus
Augen, die zugleich vor unterdrückter Heiterkeit tanzten und vor
unterdrückter Furcht dunkel waren. »Er kann nur nicht kommen,
denn in weniger als zwei Monaten nach diesem Tag wurde er
auf der Jagd erschossen. Eine Schrotladung in den Hinterkopf.
Reiner Zufall. Natürlich gab es welche, die behaupteten, ich
hätte es absichtlich getan, aber ich zeigte ihnen, daß sie den
Mund halten sollten, denn ich fuhr nach Dunwich und ging
geradewegs zur Bank und setzte mein Testament auf, so daß
seiner Tochter - das ist Miss Genie - bei meinem Tod alles
zufallen sollte, was ich schuldig bin. Habe auch nie ein
Geheimnis daraus gemacht. Ich ließ es alle wissen, damit sie
sich die Dummköpfe heißreden konnten. «
»Und das geliehene Geld?« konnte ich mich nicht enthalten
zu fragen.
»Die Zeit läuft erst heute um Mitternacht ab.« Er grinste und
gackerte vor Lachen. »Und es sieht nicht so aus, als könnte
Nahum die Verabredung einhalten, nicht wahr? Ich denke, wenn
er nicht kommt, gehört es mir. Und er kann nicht kommen. Und
es ist gut, daß er nicht kommen kann, denn ich habe es nicht.«
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Ich fragte nicht nach Wentworths Tochter und wie es ihr
erging. Um die Wahrheit zu sagen, ich begann die Strapazen des
Tages und die abendliche Fahrt im strömenden Regen zu spüren.
Und das muß für meinen Gastgeber offenkundig gewesen sein,
denn er hörte zu reden auf und saß da, mich beobachtend, und
sprach erst nach einer, wie es schien, sehr langen Zeit.
»Sie sehen kränklich aus. Sind Sie müde?.
»Ich denke schon. Aber ich fahre weiter, sobald sich der
Sturm ein bißchen gelegt hat..
»Wissen Sie was? Nicht notwendig, daß Sie hier drinnen
sitzen und meinem Geschnatter zuhören. Ich gebe Ihnen eine
Lampe, und Sie können sich auf die Couch im Nebenzimmer
legen. Wenn es zu regnen aufhört, rufe ich Sie..
»Ich nehme Ihnen doch nicht Ihr Bett weg, Mr. Stark?.
»Ich bleibe nachts lange auf«, sagte er.
Jeder Protest, den ich erhoben hätte, wäre vergeblich
gewesen. Er war bereits aufgestanden und zündete eine
Petroleumlampe an, und ein paar Augenblicke später führte er
mich in das Nebenzimmer und zeigte mir die Couch. Im
Vorbeigehen nahm ich das Siebente Buch Mosis, getrieben von
einer Neugier, die durch Jahrzehnte beflügelt wurde, in denen
ich von den mächtigen Wundern zwischen seinen Buchdeckeln
hatte reden hören; obwohl er mir einen seltsamen Blick zuwarf,
erhob mein Gastgeber keinen Einwand, kehrte in seinen
Weiden-Schaukelstuhl im angrenzenden Zimmer zurück und
ließ mich allein.
Draußen fiel der Regen noch immer in Strömen. Ich machte
es mir auf der Couch bequem, einem altmodischen
lederüberzogenen Möbelstück mit hoher Kopflehne, zog die
Lampe an mich heran - denn ihr Licht war äußerst schwach -
und begann im Siebenten Buch Mosis zu lesen, das, wie ich bald
entdeckte, ein merkwürdiges Geschwafel von Liedern,
Anrufungen und Beschwörungen solcher »Fürsten« der

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Jenseitswelt wie Aziel, Mephistopheles, Marbuel, Barbuel,
Aniquel und anderer war.
Die Anrufungen waren von vielerlei Art: einige sollten
Krankheiten heilen, andere Wünsche erfüllen, einige sollten den
Erfolg von Unternehmungen herbeiführen, andere Rache auf
Feinde lenken. Der Leser wurde im Text wiederholt gewarnt,
wie entsetzlich einige der Worte wären, so sehr, daß ich mich,
vielleicht wegen dieser Ermahnungen, gezwungen sah, die
schlimmsten dieser Beschwörungen, die mir ins Auge stachen,
abzuschreiben - Aila himel adonaij amara Zebaoth cadas
yeseraije harlius - was nichts weniger als eine Beschwörung für
die Versammlung von Teufeln oder Geistern oder die
Erweckung der Toten sein sollte.
Und nachdem ich alles abgeschrieben hatte, schreckte ich
nicht davor zurück, die Worte mehrmals laut auszusprechen. Ich
erwartete keinen Augenblick, daß sich etwas nicht Geheures
ereignen würde. Es geschah auch nichts. Daher legte ich das
Buch beiseite und blickte auf meine Uhr. Elf. Es schien mir, als
habe die Gewalt des Regens abgenommen, er fiel nicht mehr in
Strömen; jenes Schwächerwerden, das immer das baldige Ende
eines Regens ankündigt, hatte begonnen. Ich merkte mir die
Einrichtung des Zimmers gut, damit ich beim Rückweg zu dem
Zimmer, in dem mein Gastgeber wartete, nicht über irgendein
Möbelstück stolperte, und löschte das Licht, um mich ein
bißchen auszuruhen, ehe ich mich wieder auf die Straße begab.
Aber so müde ich auch war, es fiel mir schwer, Ruhe zu
finden. Es lag nicht nur daran, daß die Couch, auf der ich ruhte,
hart und kalt war, auch die Atmosphäre des Hauses schien
bedrückend zu sein. Wie sein Besitzer verbreitete es eine Art
Resignation, einen Hauch des Wartens auf das Unvermeidliche,
als ob es wüßte, daß eher früher als später ihre vom Wetter
zernagten Mauern sich nach außen wölben und das Dach nach
innen fallen würde, um seinem zunehmend bedrohten Dasein ein
Ende zu setzen.

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Aber dieses hatte etwas mehr von der Atmosphäre vieler alter
Häuser, eine Resignation mit einem Anflug von Vorahnung -
dieselbe Vorahnung, die den alten Amos Stark hatte zögern
lassen, bevor er auf mein Klopfen reagierte. Und bald
überraschte auch ich mich dabei, daß ich, wie Stark, auf das
Geräusch fallender Regentropfen lauschte, das jetzt ständig
abnahm, und auf das unaufhörliche Nagen von Mäusen.
Mein Gastgeber saß nicht ruhig da. Alle paar Augenblicke
erhob er sich, und ich konnte ihn von einem Platz zum anderen
umherschlurfen hören. Jetzt war es das Fenster, jetzt die Tür. Er
ging hin, um zu überprüfen, ob sie wirklich verschlossen waren.
Dann kam er zurück und setzte sich wieder.
Manchmal murmelte er vor sich hin. Vielleicht hatte er zu
lange gelebt und war in die Gewohnheit isolierter,
zurückgezogener Leute verfallen, Selbstgespräche zu führen.
Was er sagte, war größtenteils unverständlich, beinahe unhörbar,
aber gelegentlich drangen ein paar Worte durch, und es kam mir
so vor, daß eines der Dinge, die seine Gedanken in Anspruch
nahmen, die Zinsen betrafen, die für das Geld fällig waren, das
er Nahum Wentworth schuldete, wenn es jetzt fällig wäre.
»Hundertfünfzig Dollar pro Jahr«, sagte er immer wieder, »läuft
auf siebenfünfzig hinaus« - mit etwas wie Ehrfurcht gesprochen.
So ging es weiter, und da war noch etwas anderes, das mich
mehr beunruhigte, als ich zugeben wollte.
Etwas, was der alte Mann sagte, war verstörend, wenn man es
zusammenfügte; er sagte jedoch nichts davon in der richtigen
Reihenfolge. »Ich fiel hin«, murmelte er, und es folgte ein Satz
oder zwei voller Ungereimtheit. »Und sonst gab es da nichts.«
Wieder viele nicht unterscheidbare Worte. »Ging los - sehr
rasch.« Wiederum eine Reihe sinnloser oder nicht verständlicher
Wörter. »Wußte nicht, daß sie auf Nahum gerichtet war.«
Wiederum gefolgt von unverständlichem Gemurmel. Vielleicht
plagte den Alten das Gewissen. Die auf dem Haus lastende
Resignation reichte hin, um seine dunkelsten Gedanken

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auszulösen. Warum war er nicht den anderen Bewohnern des
Steintals zu einer der Siedlungen gefolgt? Was war es, das ihn
davon abhielt wegzugehen? Er behauptete, allein zu sein, und
vermutlich war er in der Welt so allein wie in dem Haus, denn
hatte er seinen irdischen Besitz nicht Nahum Wentworths
Tochter vermacht? Seine Pantoffeln schlurften über die Dielen,
in seinen Fingern raschelte Papier.
Draußen begannen die Ziegenmelker zu rufen, was ein
Zeichen war, daß sich der Himmel teilweise aufzuklären
begann, und bald betätigte sich ein ganzer Chor von ihnen, der
ausgereicht hätte, einen Menschen taub zu machen. »Hört die
Ziegenmelker«, vernahm ich das Murmeln meines Gastgebers.
»Sie rufen nach einer Seele. Clem Whateley liegt im
Sterben.« Sowie die Stimme des Regens langsam verklang,
nahmen die Stimmen der Ziegenmelker zu, und bald wurde ich
schläfrig und döste ein.
Ich komme jetzt zu jenem Teil meiner Geschichte, der mich
an den eigenen Sinnen zweifeln läßt, etwas, das sich, im
Rückblick betrachtet, anscheinend unmöglich zugetragen haben
kann. Und wirklich habe ich mich im Lauf der Jahre oftmals
gefragt, ob ich nicht alles geträumt habe - und doch weiß ich,
daß es kein Traum war, und ich besitze noch immer gewisse
Zeitungsausschnitte, die ich als Beweis vorzeigen kann, daß ich
nicht geträumt habe -Ausschnitte über Amos Stark, über seine
testamentarische Verfügung an Genie Wentworth und - am
merkwürdigsten von allem -über die höllische Verwüstung eines
Grabes, das halbvergessen an einem Berghang in dem
verfluchten Tal liegt.
Ich hatte nicht lange geschlafen, als ich aufwachte. Der Regen
hatte aufgehört, aber die Stimmen der Ziegenmelker hatten sich
dem Haus genähert und bildeten jetzt einen Donnerchor. Einige
der Vögel saßen unmittelbar unter dem Fenster des Zimmers, in
dem ich lag, und das Dach der wackligen Veranda muß mit den
Nachtvögeln bedeckt gewesen sein. Ich bezweifle nicht, daß es
-179-
ihr Lärmen war, das mich aus dem leichten Schlaf erweckt hatte,
in den ich gesunken war. Ich lag einige Augenblicke da, um
mich zu sammeln, und schickte mich dann an aufzustehen, denn
da der Regen jetzt aufgehört hatte, war die Fahrt weniger
gefährlich, und der Motor lief weniger Gefahr abzusterben.
Gerade aber als ich die Füße von der Couch schwang, ertönte
an der Außentür ein Klopfen.
Ich saß regungslos und mucksmäuschenstill - und auch
drüben im anderen Zimmer war es mucksmäuschenstill.
Wiederum klopfte es, diesmal ungeduldiger.
»Wer ist da?« rief Stark.
Es kam keine Antwort.
Ich bemerkte, daß sich das Licht bewegte, und ich hörte
Starks Triumphgeschrei. »Mitternacht vorbei!« Er hatte auf
seine Uhr geblickt, und zur selben Zeit blickte ich auf meine.
Seine Uhr ging zehn Minuten vor.
Er ging zur Tür.
Ich konnte feststellen, daß er die Lampe niederstellte, um die
Tür zu öffnen. Ob er vorhatte, die Lampe wieder aufzunehmen,
wie er es getan hatte, um mich zu mustern, kann ich nicht sagen.
Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde - sei es durch seine Hand
oder die eines anderen.
Und dann erklang ein entsetzlicher Schrei, ein Schrei aus
Amos' Kehle, in dem sich Zorn und Grauen mischten. »Nein!
Nein! Zurück! Ich habe es nicht - ich habe es nicht, ich sage es
dir. Zurück!« Er stolperte nach hinten und fiel, und beinahe auf
der Stelle ertönte danach ein entsetzlicher, erstickter Schrei, das
Geräusch mühsamen Atemholens, ein gurgelndes Keuchen...
Ich raffte mich auf und stolperte durch den Durchgang in das
Zimmer - und dann, für einen entsetzlichen Augenblick, stand
ich wie angewurzelt, unfähig, mich zu bewegen, aufzuschreien,
so grausig war der Anblick, der sich mir bot. Amos Stark lag auf

-180-
dem Fußboden, und auf ihm saß rittlings ein verfaultes Skelett,
die knochigen Arme um seinen Hals, die Finger in seine Kehle
gekrallt. Und am Hinterkopf die zerschmetterten Knochen, wo
eine Schrotladung hindurchgegangen war. Das alles erblickte
ich in einem Augenblick des Grauens - und dann verlor ich
gnädigerweise das Bewußtsein.
Als ich es ein paar Augenblicke später wiedergewann, war in
dem Zimmer alles ruhig. Das Haus war mit dem frischen
Moschusgeruch des Regens erfüllt, der durch die offene
Eingangstür hereindrang.
Draußen schrien die Ziegenmelker noch immer, und das Licht
des abnehmenden Mondes lag wie bleicher weißer Wein auf
dem Boden. Die Lampe brannte noch immer im Flur, aber mein
Gastgeber saß nicht in seinem Stuhl.
Er lag dort, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte, auf dem
Fußboden ausgestreckt. Ich wollte nichts weiter als mich so
rasch wie möglich von dem entsetzlichen Schauplatz entfernen,
aber das Anstandsgefühl zwang mich, neben Amos Stark zu
verharren, um mich zu vergewissern, daß ihm nicht mehr zu
helfen war. Und in dieser schicksalhaften Pause kam es zur
Krönung des ganzen Grauens, zu dem Grauen, das mich
schreiend in die Nacht hinauslaufen ließ, um diesem
Höllenpfuhl zu entkommen, als wären mir alle Dämonen der
jenseitigen Gefilde auf den Fersen. Denn als ich mich über
Amos Stark beugte, um mich zu vergewissern, daß er wirklich
tot war, sah ich eingekrallt im verfärbten Fleisch seines Halses
die gebleichten Fingerknochen eines menschlichen Skeletts, und
während ich sie noch anschaute, lösten sich die einzelnen
Knochen, sprangen hüpfend von der Leiche weg, den Flur
entlang und hinaus in die Nacht, um sich wieder mit dem
gespenstischen Besucher zu vereinen, der aus dem Grabe
gekommen war, um seine Verabredung mit Amos Stark
einzuhalten.

-181-
Der Fischer von Falcon Point

H. P. Lovecraft und August Derleth

An der Küste von Massachusetts, wo er wohnte, flüstert man


sich über Enoch Conger so manches zu - und gewisse andere
Dinge werden nur mit gesenkter Stimme und hinter
vorgehaltener Hand angedeutet - Dinge von unüberbietbarer
Fremdartigkeit, die sich in den Worten der Seeleute aus der
Hafenstadt Innsmouth die Küste hinauf und hinab verbreiten.
Denn er lebte nur ein paar Meilen von jener Stadt entfernt an der
Küste in Falcon Point, das so hieß, weil man dort die
Wanderfalken und Zwergfalken und manchmal sogar die großen
Geierfalken zur Wanderzeit sehen konnte, wie sie an dieser
einsamen Landzunge vorbeizogen, die in das Meer hinausragte.
Dort lebte er, bis man ihn nicht mehr sah, denn niemand kann
behaupten, daß er starb.
Er war ein kräftig gebauter Mann, breitschultrig, mit einem
Brustkorb wie ein Faß und langen, muskulösen Armen. Selbst in
mittleren Jahren trug er einen Bart, und langes Haar krönte
seinen Kopf.
Seine Augen waren von kaltblauer Farbe und saßen tief in
seinem kantigen Gesicht, und wenn er seinen Regenumhang mit
passendem Hut trug, sah er aus wie jemand, der vor einem
Jahrhundert von einem alten Schoner abgemustert hatte. Er war
ein schweigsamer Mann, der aus Neigung allein in einem Haus
aus Stein und Treibholz lebte, das er sich selbst auf dem
windumtosten Stück Land erbaut hatte, wo er die Stimmen der
Möwen und Seeschwalben, des Windes und der See, und, wenn
die Zeit dafür war, die Zugvögel aus fernen Landen hören
konnte, die vorbeizogen, manchmal in unsichtbaren Höhen. Es
hieß von ihm, daß er ihnen antwortete, daß er mit Möwen und
Seeschwalben redete, mit dem Wind und der tosenden See, und

-182-
mit anderen Geschöpfen, die unsichtbar waren und von denen
nur die seltsamen Töne zu hören waren, die klangen wie die
gedämpften Geräusche, die große, froschartige Tiere machten,
die in den Morasten und Sümpfen des Festlands unbekannt
waren.
Conger lebte vom Fischfang, und es war ein karges Leben,
doch gab er sich damit zufrieden. Tag und Nacht warf er sein
Netz im Meer aus, und was es emporholte, schaffte er nach
Innsmouth oder Kingsport oder noch weiter, um es zu
verkaufen. Aber eines Nachts, es war mondhell, da brachte er
keine Fische nach Innsmouth, sondern kam nur selbst, die
Augen weit aufgerissen und starr, als hätte er zu lange in die
untergehende Sonne geblickt und wäre erblindet. Er betrat die
Taverne am Rand der Stadt, die er aufzusuchen pflegte, saß
allein an einem Tisch und trank Bier, bis einige Neugierige, die
an sein Erscheinen gewöhnt waren, sich zu ihm an den Tisch
gesellten und, mit Hilfe von Alkohol, seine Zunge lösten, auch
wenn er redete, als führe er Selbstgespräche und seine Augen sie
nicht zu sehen schienen.
Und er erzählte, daß er in jener Nacht ein gewaltiges Wunder
erlebt hatte. Er war mit seinem Boot zum Teufelsriff mehr als
eine Meile vor Innsmouth hinausgefahren, hatte sein Netz
ausgeworfen und viele Fische emporgeholt - und dazu etwas -
etwas, das eine Frau war und doch keine Frau, etwas, das zu ihm
wie ein Mensch sprach, aber mit den Kehllauten eines Frosches,
begleitet von Flötenmusik, wie sie in den Frühlingsmonaten in
den Sümpfen angestimmt wurde, etwas, das eine weite
Mundöffnung, aber sanfte Augen hatte und das unter dem
langen Haar, das vom Kopf wehte, Schlitze aufwies, die Kiemen
glichen, etwas, das um sein Leben flehte und ihm das eigene
Leben versprach, wenn er einer solchen Hilfe je bedurfte.
»Eine Meerjungfrau«, warf jemand lachend ein.
»Sie war keine Meerjungfrau«, sagte Enoch Conger, »denn
sie hatte Beine, auch wenn zwischen ihren Zehen
-183-
Schwimmhäute saßen, und sie hatte Hände, auch wenn zwischen
ihren Fingern Schwimmhäute saßen, und die Haut ihres Gesichts
war wie meine, obwohl ihr Körper die Farbe des Meeres
zeigte.«
Sie lachten ihn aus und spotteten, aber er hörte sie nicht. Nur
einer von ihnen lachte nicht, denn er hatte seltsame Geschichten
von gewissen Wesen gehört, die den alten Männern und Frauen
von Innsmouth aus den Tagen der Hochseeklipper und des
Ostindienhandels bekannt waren, von Heiraten zwischen
Männern von Innsmouth und Meerfrauen der Inseln im
Südpazifik, von seltsamen Vorfällen im Meer in der Nähe von
Innsmouth. Er lachte nicht, sondern lauschte nur und stahl sich
später fort und hütete seine Zunge, ohne sich an den Scherzen
seiner Gefährten zu beteiligen. Enoch Conger nahm jedoch nicht
mehr Notiz von ihm als von den primitiven Herausforderungen
seiner Trinkkumpane, und fuhr mit seiner Erzählung fort und
schilderte, wie er das Wesen, das er im Netz gefangen hatte, in
den Armen gehalten hatte, beschrieb das Gefühl ihrer kalten
Haut und die Beschaffenheit ihres Körpers und erzählte, wie er
sie freigelassen und ihr zugesehen hatte, wie sie fortschwamm
und vor der dunklen Erhebung des Teufelsriffs im Meer
verschwand, um später wieder aufzutauchen, die Arme grüßend
zu ihm emporgestreckt, und auf immer zu verschwinden.
Nach jener Nacht kam Enoch Conger selten in die Schenke,
und wenn er es tat, saß er ganz allein und wich denen aus, die
ihm Fragen über seine »Meerjungfrau« stellten und wissen
wollten, ob er ihr einen Antrag gemacht hatte, ehe er sie freiließ.
Er war wieder schweigsam, sprach wenig, trank nur sein Bier
und ging. Es war jedoch bekannt, daß er nicht mehr beim
Teufelsriff fischte. Er warf sein Netz anderswo aus, näher bei
Falcon Point, und obwohl man einander zuflüsterte, daß er sich
fürchtete, jenem Wesen wieder zu begegnen, das er in jener
mondhellen Nacht in seinem Netz gefangen hatte, sah man ihn
oft, wie er auf der Landzunge stand und aufs Meer

-184-
hinausblickte, als erwartete er, am Horizont ein Schiff
auftauchen zu sehen, oder als sehne er sich nach jenem Morgen,
das auf ewig vor uns liegt, aber für die meisten Zukunftssucher
nie eintrifft und wahrlich auch nicht für die meisten Menschen,
was immer sie vom Leben auch fordern und sich vom Leben
erwarten.
Enoch Conger zog sich immer mehr in sich selbst zurück,
kam immer seltener in die Schenke am Rand von Innsmouth,
und schließlich blieb er ganz fort. Er zog es vor, seine Fische auf
dem Markt anzubieten und mit den benötigten Einkäufen nach
Hause zu eilen, während sich seine Geschichte von der
Meerjungfrau die Küste hinauf und hinunter verbreitete, den
Miskatonic entlang ins Landesinnere nach Arkham und
Dunwich getragen wurde und selbst weiter bis in die dunklen,
bewaldeten Berge, wo Menschen lebten, die weniger dazu
neigten, sich über die Geschichte lustig zu machen.
Ein Jahr verging so und noch eines und wieder eines, und
dann kam eines Tages die Nachricht nach Innsmouth, daß Enoch
Conger bei seiner einsamen Tätigkeit schwer verletzt worden
war und daß er seine Rettung nur zwei anderen Fischern
verdankte, die vorbeigekommen waren und ihn hilflos in seinem
Boot hatten liegen sehen. Sie hatten ihn in sein Haus auf Falcon
Point gebracht, denn er wollte nirgend anderswo hin, und waren
eilig nach Innsmouth zurückgekehrt, um Dr. Gilman zu holen.
Als sie jedoch mit Dr. Gilman zum Haus des Enoch Conger
zurückkehrten, war der alte Fischer nirgends zu sehen.
Dr. Gilman behielt seine Meinung für sich, aber die beiden,
die ihn geholt hatten, flüsterten in ein Ohr nach dem anderen
eine höchst sonderbare Geschichte. Sie erzählten, wie sie das
Haus ganz feucht vorgefunden hätten, eine Feuchtigkeit, die den
Mauern, der Türklinke, selbst dem Bett anhaftete, in das sie
Enoch Conger erst vor kurzem gelegt hatten, während sie
eilends den Arzt geholt hatten - und auf dem Fußboden
zeichneten sich nasse Fußabdrücke ab, die von Füßen mit

-185-
Schwimmhäuten zwischen den Zehen stammten - eine Spur, die
aus dem Haus hinausführte, zum Meeresstrand hinunter, und
während des ganzen Weges waren die Abdrücke tief
eingedrückt, als sei etwas Schweres aus dem Haus getragen
worden, etwas, das so schwer war wie Enoch.
Aber obwohl die Geschichte die Runde machte, wurden die
Fischer ausgelacht und verspottet, denn es gab nur eine Fußspur,
und Conger war zu groß, als daß ihn einer allein über eine
solche Entfernung hätte tragen können; und überdies hatte Dr.
Gilman nichts weiter gesagt, als daß er von Schwimmhäuten bei
den Bewohnern Innsmouths wußte, und auch, daß Enoch
Congers Zehen so beschaffen waren, wie sie sein sollten, denn
er hatte sie untersucht. Und die Neugierigen, die zum Haus auf
Falcon Point hinausgefahren waren, um mit eigenen Augen zu
sehen, was es da zu sehen gäbe, kehrten enttäuscht zurück, weil
sie nichts gesehen hatten, und fügten ihren Spott dem der
anderen hinzu. Sie brachten die unglücklichen Fischer zum
Schweigen, denn es gab welche, die sie verdächtigten, Enoch
Conger ermordet zu haben, und das flüsternd auch landauf,
landab verbreiteten.
Wohin er auch immer gegangen sein mochte, Enoch Conger
kehrte nicht mehr in das Haus auf Falcon Point zurück, das den
Unbilden der Witterung überlassen blieb. Sie rissen da eine
Schindel und dort ein Brett los, trugen die Backsteine des
Schornsteins ab, zerbrachen eine Scheibe. Und die Möwen und
Seeschwalben und Falken flogen vorbei, ohne eine Stimme zu
hören, die ihnen geantwortet hätte. Die Küste entlang
verstummte das Flüstern, und dunkle Andeutungen tauchten
statt dessen auf, verdrängten den Verdacht auf Mord und eine
dunkle Tat durch etwas, das noch weitaus größeres Grauen
verbreitete.
Denn der ehrwürdige alte Jedediah Harper, der Patriarch der
Küstenfischer, kam eines Nachts mit seinen Männern an Land
und schwor, daß er draußen vor dem Teufelsriff eine seltsame

-186-
Gesellschaft von Wesen hatte schwimmen sehen, weder ganz
menschlich noch ganz froschartig, amphibische Wesen, die sich
halb nach Menschenart und halb nach Froschart im Wasser
bewegt hatten, eine Gruppe von über hundert Wesen männlichen
und weiblichen Geschlechts. Sie waren nahe an seinem Boot
vorbeigezogen, sagte er, und glänzten im Mondlicht, wie
Gespensterwesen, die aus den Tiefen des Atlantik
heraufgestiegen zu sein schienen. Im Vorbeischwimmen hatten
sie anscheinend einen eintönigen Singsang auf Dagon
angestimmt, ein Loblied, und unter ihnen, das wollte er
beschwören, hatte er Enoch Conger erblickt, der mit den übrigen
schwamm, nackt wie sie, und seine Stimme in dunklem Lob
erschallen ließ. In seinem Erstaunen hatte er ihm zugerufen, und
Enoch hatte sich umgewandt, ihn anzusehen, und da hatte er
sein Gesicht erblickt. Dann tauchte der ganze Schwarm - auch
Enoch Conger - in die Wellen ein und erschien nicht wieder.
Aber nachdem er dies erzählt hatte und es sich herumsprach,
wurde der alte Mann, so hieß es, von einigen Angehörigen des
Clans der Marshes und Martins, die im Ruf standen, mit
seltsamen Meeresbewohnern im Bunde zu stehen, zum
Schweigen gebracht. Und Harpers Boot fuhr nicht mehr hinaus,
denn in der Folge mangelte es ihm nicht an Geld, und die
Männer, die mit ihm gewesen waren, hielten ebenfalls den
Mund.
Lange danach, in einer anderen mondhellen Nacht, kehrte ein
junger Mann, der sich an Enoch Conger aus seinen
Knabenjahren in Innsmouth erinnerte, in die Hafenstadt zurück
und erzählte, daß er mit seinem kleinen Sohn auf dem Meer
draußen gewesen und im Mondschein an Falcon Point
vorbeigerudert war, als plötzlich ein bis zu den Hüften nackter
Mann vor ihm aus dem Meer auftauchte - so nahe, daß er ihn
beinahe mit dem Riemen hätte berühren können - ein Mann, der
im Wasser stand, als würde er von anderen emporgehalten, und
der ihn nicht sah, sondern nur mit großer Sehnsucht in den

-187-
Augen auf die Ruinen des Hauses auf Falcon Point blickte, ein
Mann mit dem Gesicht von Enoch Conger. Das Wasser lief ihm
das lange Haar und den Bart hinab und glitzerte auf seinem
Körper und war dort dunkel, wo die Haut unter seinen Ohren
lange Schlitze aufzuweisen schien. Und dann versank er wieder
im Meer, so plötzlich und seltsam, wie er aufgetaucht war.
Und das ist der Grund, warum an der Küste von
Massachusetts in der Nähe von Innsmouth so manches über
Enoch Conger geflüstert - und so manches andere mit gesenkter
Stimme angedeutet wird...

-188-
Das Hexenloch

H. P. Lovecraft und August Derleth

Die Bezirksschule Nummer Sieben stand genau am Rand der


Wildnis, die sich westlich von Arkham erstreckt. Sie stand in
einem kleinen Hain, der hauptsächlich aus Eichen und Ulmen
und einem oder zwei Ahornbäumen bestand. In einer Richtung
führte die Straße nach Arkham, in der anderen verlor sie sich in
dem unwegsamen, bewaldeten Gebiet, das düster am westlichen
Horizont aufragt. Als ich, der neue Lehrer, die Schule Anfang
September 1920 zuerst erblickte, bot sie mir ein
herzerwärmendes, anziehendes Bild, obwohl sie nichts
Architektonisches aufwies, was sie ausgezeichnet hätte. Sie war
in jeder Hinsicht das genaue Abbild von Tausenden von
Landschulen, die über ganz Neu-England verstreut sind, ein
festgefügter, konservativer, weißgetünchter Bau, so daß sie sich
gleißend von den Bäumen abhob, von denen sie umgeben war.
Damals war sie schon ein altes Gebäude, und zweifellos ist sie
inzwischen aufgelassen oder abgerissen worden. Die
Schulverwaltung ist inzwischen in Ordnung gebracht, aber zu
jener Zeit waren die Mittel für die Erhaltung der Schule höchst
mickrig, an allen Ecken und Enden wurde gespart und
gestrichen.
Als ich dorthin kam, um zu unterrichten, war McGuffeys
Eclectic Reader noch immer das Standardlehrbuch, noch dazu in
Ausgaben, die aus der Zeit vor der Jahrhundertwende stammten.
Ich hatte 27 Schützlinge. Es gab Allens und Whateleys und
Perkinsens, Dunlocks und Abbots und Talbots - und Andrew
Potter gehörte auch dazu.
Ich kann mich jetzt nicht mehr an die genauen Umstände
erinnern, wie Andrew Potter meine Aufmerksamkeit erregte. Für
sein Alter war er ein großer Junge, von sehr dunkler
-189-
Gesichtsfarbe, mit dem Blick eines Gejagten und einem Schöpf
zerzausten schwarzen Haares. Seine Augen musterten mich mit
einer Eigentümlichkeit, die mich zuerst herausforderte, aber
schließlich seltsam unbehaglich stimmte. Er war in der fünften
Klasse, und ich entdeckte sehr rasch, daß er leicht in die siebente
oder achte hätte vorrücken können, er bemühte sich jedoch nicht
darum. Seine Schulkameraden schien er gerade noch zu dulden,
und sie ihrerseits respektierten ihn, aber nicht so sehr aus
Zuneigung, sondern aus Furcht, wie es mir bald schien. Bald
danach ging mir auf, daß dieser merkwürdige Junge für mich
dieselbe Art amüsierter Duldung zeigte, die er seinen
Schulkameraden entgegenbrachte.
Es war wohl unausweichlich, daß die Herausforderung durch
diesen Schüler dazu führte, daß ich ihn so verstohlen wie
möglich beobachtete und wie es mir die Umstände in einer
Schule erlaubten, die aus nur einem Raum bestand. Dabei fiel
mir ein vage beunruhigender Umstand auf. Von Zeit zu Zeit
reagierte Andrew Potter auf einen Reiz, der die Wahrnehmung
meiner Sinne überstieg. Er benahm sich genauso, als habe ihn
jemand gerufen, richtete sich auf, wurde wachsam und verhielt
sich wie jemand, der auf Geräusche lauschte, die mein eigenes
Gehör überstiegen, in der gleichen Haltung, die Tiere zeigen,
wenn sie Geräusche hören, die jenseits der Hörschwelle des
menschlichen Ohres liegen.
Da meine Neugier stetig gewachsen war, ergriff ich die erste
Gelegenheit, darüber Erkundigungen einzuziehen. Einer der
Jungen aus der achten Klasse, Wilbur Dunlock, hatte die
Gewohnheit, gelegentlich nach der Schule zu bleiben und bei
dem allgemeinen Aufräumen zu helfen, das erforderlich war.
»Wilbur«, sagte ich an einem Spätnachmittag zu ihm. »Mir
fällt auf, daß ihr euch nicht viel um Andrew Potter zu kümmern
scheint, keiner von euch. Warum?.
Er sah mich an, ein bißchen mißtrauisch, und überlegte sich
die Antwort, ehe er mit den Schultern zuckte und erwiderte: »Er
-190-
ist nicht wie wir.«
»Weshalb?.
Er schüttelte den Kopf. »Es ist ihm egal, ob wir ihn mit uns
spielen lassen oder nicht. Er will nicht..
Er schien nur widerstrebend sprechen zu wollen, aber durch
hartnäckiges Fragen entlockte ich ihm ein paar spärliche
Informationen. Die Potters lebten tief in den Bergen, westlich
einer fast aufgegebenen Abzweigung der Hauptstraße, die durch
die Berge führte. Ihre Farm stand in einem kleinen Tal, das bei
den Einheimischen als »Hexenloch« bekannt war und das
Wilbur einen »schlimmen Ort« nannte. Die Potters waren nur zu
viert - Andrew, eine ältere Schwester und ihre Eltern. Sie
»verkehrten« nicht mit den anderen Leuten des Bezirks, nicht
einmal mit den Dunlocks, die ihre nächsten Nachbarn waren und
nur eine halbe Meile von der Schule entfernt wohnten, vielleicht
vier Meilen vom Hexenloch.
Zwischen den beiden Farmen erstreckte sich ein Wald.
Mehr konnte - oder wollte - er nicht sagen.
Etwa eine Woche später bat ich Andrew Potter, nach dem
Unterricht zu bleiben. Er erhob keinen Widerspruch, sondern
schien meine Bitte für selbstverständlich zu halten. Sobald die
anderen Kinder gegangen waren, kam er nach vorn zum
Katheder und blieb wartend stehen, die dunklen Augen
erwartungsvoll auf mich gerichtet, nur den Schatten eines
Lächelns auf den vollen Lippen.
»Ich habe mir deine Noten angesehen, Andrew«, sagte ich,
»und es scheint, daß du bei ein bißchen Anstrengung in die
sechste Klasse vorrücken könntest, vielleicht sogar in die
siebente. Wäre das nicht der Mühe wert?«
Er zuckte die Schultern.
»Was hast du nach der Schule vor?.
Er zuckte wieder die Schultern.

-191-
»Wirst du die High School in Arkham besuchen?.
Er betrachtete mich mit Augen, die plötzlich in ihrer Schärfe
durchdringend wirkten, alle Lethargie war verschwunden. »Mr.
Williams, ich bin hier, weil es ein Gesetz gibt, das besagt, daß
ich hier sein muß«, antwortete er. »Es gibt kein Gesetz, das
vorschreibt, daß ich die High School besuchen muß..
»Aber interessiert dich das denn nicht«, hakte ich nach.
»Was mich interessiert, zählt nicht. Es zählt nur, was meine
Familie will..
»Nun, dann werde ich mit deinen Eltern reden«, beschloß ich
auf der Stelle. »Komm mit. Ich bringe dich nach Hause.«
Einen Augenblick lang zeigte sich etwas wie Besorgnis in
seiner Miene, verschwand aber in Sekundenschnelle und machte
einer Miene aufmerksamer Lethargie Platz, die für ihn so
typisch war.
Er zuckte die Schultern und stand abwartend da, während ich
meine Bücher und Schreibutensilien in die Aktenmappe packte,
die ich immer bei mir trug. Dann ging er gehorsam mit mir zum
Wagen und stieg ein, wobei er mir ein Lächeln zuwarf, das man
nur als überlegen beschreiben konnte.
Wir fuhren schweigend durch die Wälder, was der Stimmung
entsprach, die mich überkam, sobald wir in die Berge kamen,
denn die Bäume standen nahe der Straße, und je tiefer wir
hineinfuhren, desto dunkler wurde der Wald, was ebensosehr
den späten Oktobertagen wie dem Dichterwerden des
Baumbestandes zuzuschreiben war. Aus relativ lichten
Schneisen kamen wir in einen uralten Wald, und als wir
schließlich in die Abzweigung einbogen - wenig mehr als ein
Feldweg -, auf die Andrew schweigend wies, stellte ich fest, daß
ich durch einen Bestand sehr alter und merkwürdig
mißgebildeter Bäume fuhr. Ich kam nur vorsichtig voran, die
Straße wurde so wenig benutzt, daß rechts und links das
Unterholz hereinwuchs, und merkwürdigerweise kannte ich,

-192-
trotz all meiner botanischen Studien, wenig davon, obzwar ich
einmal einen merkwürdig mutierten Steinbruch zu erkennen
glaubte. Ich fuhr abrupt, ohne Vorwarnung, in den Hof vor dem
Potter-Haus.
Die Sonne war jetzt hinter der Baumwand verschwunden, und
das Haus stand in einer Art Zwielicht da. Hinter ihm erstreckten
sich einige Felder, das Tal entlang aufgereiht. Auf einem
standen Kornbündel, ein weiteres war ein Stoppelfeld, auf einem
weiteren wuchsen Kürbisse. Das Haus selbst war abschreckend,
zu Boden geduckt, mit einem halben Obergeschoß,
Walmdächern, mit Läden vor den Fenstern, und die
Außengebäude standen finster und öde da und sahen aus, als
wären sie nie benutzt worden. Die ganze Farm wirkte verlassen.
Das einzige Zeichen von Leben bestand aus ein paar Hühnern,
die in der Erde hinter dem Haus scharrten.
Hätte der Weg, den wir gefahren waren, nicht hier geendet,
hätte ich nicht gewußt, daß wir am Potter- Haus gelandet waren.
Andrew warf mir einen raschen Blick zu, als wollte er mich bei
einem Ausdruck ertappen, der ihm verriet, was ich dachte. Dann
sprang er leichtfüßig aus dem Wagen und überließ es mir, ihm
zu folgen.
Er trat vor mir ins Haus. Ich hörte, wie er mich ankündigte.
»Habe den Lehrer mitgebracht. Mr. Williams.«
Es erfolgte keine Antwort.
Dann stand ich plötzlich in dem Raum, der nur von einer
altmodischen Petroleumlampe erhellt war, und dort waren die
anderen drei Potters - der Vater, ein großgewachsener Mann mit
hängenden Schultern, knorrig und grau, der nicht viel mehr als
vierzig zählen konnte, aber weit, weit älter aussah, nicht so sehr
physisch als psychisch, die Mutter, eine beinahe obszön fette
Frau - und das Mädchen, schlank, groß und mit demselben
Hauch aufmerksamen Wartens, der mir an Andrew aufgefallen
war.

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Andrew übernahm die kurze Vorstellung. Die vier standen
oder saßen und warteten darauf, was ich zu sagen hatte. Ihr
Verhalten deutete beklemmend an, daß ich mich äußern und
dann verschwinden sollte.
»Ich wollte mit Ihnen über Andrew reden«, sagte ich. »Er
zeigt große Begabung, und er könnte sich um eine Klasse oder
zwei verbessern, wenn er ein wenig mehr lernen würde..
Meine Worte wurden widerwillig aufgenommen.
»Ich glaube, daß er klug genug für die achte Klasse ist«, fuhr
ich fort und hielt dann inne.
»Wenn er in der achten Klasse ist«, sagte sein Vater, »müßte
er in die High School gehen, denn er ist alt genug, um draußen
in die Schule zu gehen. Das ist Gesetz. Das hat man mir gesagt..
Unwillkürlich mußte ich daran denken, was mir Wilbur
Dunlock von der zurückgezogenen Lebensweise der Potters
erzählt hatte, und als ich dem alten Potter zuhörte und daran
dachte, was ich gehört hatte, merkte ich plötzlich eine gewisse
Spannung unter ihnen und eine leichte Veränderung in ihrer
Haltung. Sobald der Vater zu reden aufhörte, gab es eine
eigentümliche Harmonie der Haltung - alle vier schienen einer
inneren Stimme zu lauschen, und ich bezweifelte, daß sie meine
Einwände überhaupt hörten.
»Sie können nicht erwarten, daß ein Junge, der so intelligent
ist wie Andrew, einfach hierher zurückkehrt«, sagte ich.
»Das hier reicht«, sagte der alte Potter. »Außerdem, er ist
unser Kind. Und fangen Sie jetzt bloß nicht an, über uns zu
reden, Mr. Williams.«
Der so bedrohliche Unterton in seiner Stimme verblüffte
mich. Gleichzeitig spürte ich einen wachsenden Hauch von
Feindschaft, der nicht so sehr von einem oder allen Vieren
ausging als von dem Haus und seiner Umgebung.
»Danke«, sagte ich. »Ich fahre.«

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Ich drehte mich um und ging hinaus. Andrew folgte mir auf
den Fersen.
Draußen sagte er leise: »Sie sollten nicht über uns reden, Mr.
Williams. Pa wird zornig, wenn er es erfährt. Sie haben mit
Wilbur Dunlock gesprochen..
Ich wollte eben in den Wagen steigen und hielt inne. Einen
Fuß auf dem Trittbrett, wandte ich mich um. »Hat er das
gesagt?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Sie waren es, Mr. Williams«, sagte
er und trat zurück. »Es geht nicht darum, was er glaubt, sondern
was er vielleicht tut.«Ehe ich etwas sagen konnte, war er im
Haus verschwunden.
Einen Augenblick lang stand ich unentschlossen da. Die
Entscheidung wurde mir jedoch abgenommen. In der
Dämmerung schien das Haus plötzlich eine Drohung
auszustrahlen, und alle Wälder der Umgebung schienen nur
wartend dazustehen, um sich zu mir herunterzubeugen. Ich
bemerkte sogar ein Rascheln im ganzen Wald, wie das Flüstern
des Windes, obwohl sich kein Lüftchen regte, eine
Feindseligkeit, die vom Haus selbst ausging, wirkte wie ein
Faustschlag. Ich kletterte in den Wagen und fuhr fort, den
Eindruck von Bösartigkeit im Rücken wie der heiße Atem eines
rasenden Verfolgers.
Endlich erreichte ich, zutiefst verstört, mein Zimmer in
Arkham. Rückblickend hatte ich eine beunruhigende psychische
Erfahrung gemacht. Es gab einfach keine andere Erklärung. Ich
hatte die unumstößliche Überzeugung, daß ich mich, wenn auch
blinden Auges, in weit tiefere Gewässer gestürzt hatte, als mir
bewußt war, und gerade das Unerwartete an dem Erlebnis
machte die Sache so schauerlich. Vor lauter Verwunderung über
die Vorgänge in dem Haus im Hexenloch konnte ich nichts
essen, denn ich fragte mich, was die Familie aneinander fesselte,
sie an den Platz kettete und in einem begabten Jungen wie

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Andrew Potter noch den flüchtigsten Wunsch erstickte, das
dunkle Tal zu verlassen und in eine hellere Welt
hinauszuziehen.
Ich lag in der Nacht größtenteils schlaflos da, erfüllt von
namenloser Angst, für die es keine Erklärung gab, und als ich zu
guter Letzt einschlief, war mein Schlaf erfüllt von verstörenden
Träumen, in denen Wesen, die meine alltägliche Phantasie weit
überstiegen, den Schauplatz beherrschten und sich
kataklysmische Ereignisse höchsten Grauens und Entsetzens
ereigneten. Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich,
daß ich auf eine Welt gestoßen war, die mir völlig fremd war.
Ich kam an diesem Morgen früh zur Schule, doch Wilbur
Dunlock war schon vor mir da. Seine Augen richteten sich mit
anklagender Trauer auf mich. Ich konnte mir nicht vorstellen,
was vorgefallen war, um diesen gewöhnlich freundlichen
Schüler so aufzubringen.
»Sie hätten Andrew Potter nicht sagen sollen, daß wir über
ihn gesprochen haben«, sagte er mit unglücklicher Resignation.
»Das habe ich nicht, Wilbur.«
»Ich war es nicht, das weiß ich. Also müssen Sie es gewesen
sein«,sagte er. Und dann: »Sechs von unseren Kühen wurden
letzte Nacht getötet, als der Stall, in dem sie standen, über ihnen
zusammenstürzte..
Ich war zu verblüfft, um sogleich zu antworten. »Ein
plötzlicher Sturm«, begann ich, doch er unterbrach mich.
»Letzte Nacht gab es keinen Wind, Mr. Williams. Und die
Kühe wurden zermalmt..
»Du wirst doch nicht glauben, daß die Potters irgend etwas
damit zu tun haben, Wilbur!« rief ich.
Er warf mir einen müden Blick zu - den Blick eines, der weiß
und dem Blick eines anderen begegnet, der wissen sollte, aber
nichts versteht - und sagte nichts mehr.

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Das war noch aufregender als mein Erlebnis in der
vergangenen Nacht. Er zumindest war überzeugt, daß es eine
Verbindung gab zwischen unserem Gespräch über die Familie
Potter und dem Verlust eines halben Dutzends von Kühen bei
den Dunlocks. Und er war so tief davon überzeugt, daß ich,
ohne den Versuch gemacht zu haben, wußte, daß nichts, was ich
einwenden mochte, seine Überzeugung würde erschüttern
können.
Als Andrew Potter eintrat, hielt ich vergebens nach einem
Anzeichen Ausschau, daß sich seit unserem letzten
Zusammentreffen irgend etwas Ungewöhnliches ereignet hatte.
Irgendwie überstand ich den Tag. Unmittelbar nach
Unterrichtsschluß eilte ich nach Arkham und begab mich ins
Gebäude der Arkham Gazette, deren Chefredakteur als Mitglied
der örtlichen Bezirksschulbehörde so freundlich gewesen war,
mir das Zimmer zu besorgen. Er war ein älterer Mann, beinahe
siebzig, und wußte vermutlich, was ich herausfinden wollte.
Meine Aufregung mußte mir anzusehen sein, denn als ich sein
Büro betrat, hob er die Brauen und sagte: »Was hat Sie denn so
in Harnisch gebracht, Mr. Williams?.
Ich machte einen Versuch, mich zusammenzureißen, da ich
nichts Greifbares vorweisen konnte, und, bei nüchternem
Tageslicht besehen, hätte das, was ich sagen mochte, für einen
unparteiischen Zuhörer beinahe hysterisch geklungen. So sagte
ich nur:
»Ich würde gerne etwas über eine Familie Potter erfahren, die
im Hexenloch wohnt, westlich von der Schule..
Er warf mir einen geheimnisvollen Blick zu. »Haben Sie nie
vom alten Hexenmeister Potter gehört?. fragte er. Und ehe ich
antworten konnte, fuhr er fort: »Natürlich nicht, Sie stammen
aus Brattleboro.
Man kann kaum erwarten, daß Leute aus Vermont wissen,
was im Hinterland von Massachusetts vor sich geht. Er hat dort

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früher gelebt. War schon ein alter Mann, als ich ihn
kennenlernte. Und diese Potters waren entfernte Verwandte,
lebten im oberen Michigan, erbten den Besitz und zogen hierher,
als der Hexenmeister Potter starb.«
»Aber was wissen Sie über sie?« fragte ich beharrlich. »Nur
das, was jeder weiß«, sagte er. »Als sie kamen, waren sie nette,
freundliche Leute. Jetzt reden sie mit niemandem und gehen
selten aus - und da ist dieses Gerede von verschwundenen
Tieren aus Farmen der Umgebung. Die Leute sehen da eine
Verbindung. «
Nach diesem Anfang fragte ich ihn nach Strich und Faden
aus. Ich bekam ein erstaunliches Rätsel von unvollständigen
Geschichten, Andeutungen, Legenden und Sagen zu hören, das
mein Verständnis völlig überstieg. Unleugbar schien eine ferne
Verwandtschaft zwischen Hexenmeister Potter und einem
gewissen Hexenmeister Whateley aus dem nahen Dunwich zu
sein - »ein übler Bursche. nannte ihn der Redakteur; die
einzelgängerische Lebensweise des alten Hexenmeisters Potter
und die unglaubliche Zeitspanne, die er gelebt hatte; der
Umstand, daß die Leute allgemein das Hexenloch mieden. Was
reine Auswüchse der Phantasie zu sein schienen, waren die
abergläubischen Sagen - daß Hexenmeister Potter etwas »vom
Himmel herab beschworen hatte, und es lebte mit ihm oder in
ihm, bis er starb«; daß ein später Wanderer, den man sterbend an
der Hauptstraße gefunden hatte, etwas hervorgestoßen hatte wie
»ein Wesen mit Fühlern - ein schleimiges, gummiartiges Ding
mit Saugnäpfen an den Fühlern«, das aus dem Wald
herausgekommen war und ihn angegriffen hatte und noch viel
mehr abergläubisches Zeug dieser Art.
Als er fertig war, kritzelte der Redakteur eine Mitteilung an
den Bibliothekar der Miskatonic Universität in Arkham nieder
und reichte sie mir. »Sagen Sie ihm, er soll Ihnen das Buch
zeigen.
Vielleicht erfahren Sie etwas.« Er zuckte die Schultern. »Oder
-198-
auch nicht. Die jungen Leute fassen die Welt heute allzu
wörtlich auf.«
Ich verzichtete auf das Mittagessen, um das Fachwissen zu
erlangen, das ich für nötig hielt, wenn ich Andrew Potter für ein
besseres Leben retten wollte. Denn mich trieb eher dieses Motiv
an als die Befriedigung meiner Neugier. Ich begab mich also zur
Bibliothek der Miskatonic Universität, suchte den Bibliothekar
auf und übergab ihm die Mitteilung des Redakteurs.
Der alte Mann warf mir einen scharfen Blick zu, sagte:
»Warten Sie hier, Mr. Williams«, und ging mit einem
Schlüsselbund fort. Also wurde das Buch, was immer es war,
hinter Schloß und Riegel aufbewahrt.
Ich wartete eine, wir mir schien, nie endenwollende Zeit. Ich
verspürte jetzt etwas Hunger und begann an meiner
unziemlichen Eile zu zweifeln - und doch spürte ich, daß keine
Zeit zu verlieren war, obwohl ich mir die Katastrophe, die ich
abzuwenden hoffte, nicht vorstellen konnte. Schließlich kam der
Bibliothekar zurück. Er trug einen uralten Band, den er für mich
auf einen Tisch legte, den er im Auge behalten konnte. Es war
ein lateinischer - Necronomicon -, obwohl sein Autor
offensichtlich ein Araber war, Abdul Alhazred, und der Text
war in etwas archaischem Englisch gehalten.
Ich begann mit Interesse zu lesen, doch das Interesse wich
bald völliger Verblüffung. Das Buch handelte offensichtlich von
uralten, außerirdischen Rassen, Invasoren der Erde, großen
mythischen Wesen, genannt die Alten Wesen und die Alten
Götter, mit ausgefallenen Namen wie Cthulhu und Hastur,
Shub-Niggurath und Azathoth, Dagon und Ithaqua und Wendigo
und Cthugha, die alle in eine Art Plan zur Berrschung der Erde
verwickelt waren und die von einigen irdischen Völkern
unterstützt wurden - den Tcho-Tcho und den Tiefen Wesen und
ähnlichen. Es war ein Buch voll kabbalistischer Legenden und
Beschwörungen und dessen, was sich als Darstellung eines
großen interplanetaren Ringens zwischen den Alten Göttern und
-199-
den Alten Wesen und dem Überleben von Kulten und
Kultdienern in abgeschiedenen und entlegenen Orten unseres
Planeten, aber auch auf Schwesterplaneten der Erde ausgab.
Was dieses Geschwafel mit meinem unmittelbaren Problem, der
einzelgängerischen und seltsamen Familie Potter und ihrer
Sehnsucht nach Einsamkeit sowie ihrer antisozialen
Lebensweise zu tun hatte, überstieg völlig mein Verständnis.
Ich weiß nicht, wie lange ich weitergelesen habe. Als ich
meine Lektüre schließlich unterbrach, lag das daran, daß ich
gewahr wurde, von einem Fremden beobachtet zu werden, der
nicht weit von mir stand und dessen Augen zwischen dem Buch,
das ich so eifrig las, und mir hin und her schweiften. Da er
meinen Blick erhascht hatte, nahm er den Mut zusammen, vor
mich hin zu treten.»Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber was in
diesem Buch interessiert einen Dorfschullehrer?«
»Das frage ich mich auch«, erwiderte ich.
Er stellte sich als Professor Martin Keane vor. »Ich darf
sagen, Sir«, fügte er hinzu, »daß ich dieses Buch praktisch
auswendig kann.«
»Ein Sammelsurium von Aberglauben.«
»Meinen Sie wirklich?.
»Ganz entschieden..
»Ihnen ist die Fähigkeit zum Staunen abhanden gekommen,
Mr. Williams. Wollen Sie mir verraten, wie Sie auf dieses Buch
gestoßen sind?«
Ich zögerte. Professor Keanes Persönlichkeit war jedoch
überzeugend und wirkte vertrauenserweckend.
»Vielleicht machen wir einen kleinen Spaziergang«, schlug
ich vor.
Er nickte zustimmend.
Ich gab das Buch dem Bibliothekar zurück und schloß mich
meinem neugewonnenen Freund an.

-200-
Zögernd und so klar ich konnte, erzählte ich ihm von Andrew
Potter, dem Haus im Hexenloch, meinem außergewöhnlichen
psychischen Erlebnis - selbst dem merkwürdigen Zufall von
Dunlocks Kühen. All dem lauschte er, ohne mich zu
unterbrechen, ja sogar in völliger Versunkenheit. Ich erklärte
ihm schließlich, daß nur mein Wunsch, etwas für meinen
Schüler zu tun, mich bewogen hatte, nähere Informationen über
das Hexenloch einzuholen.
»Schon flüchtige Nachforschungen«, erklärte er, als ich
geendet hatte, »hätten Ihnen gezeigt, daß in so entlegenen Orten
wie Dunwich und Innsmouth - selbst Arkham und dem
Hexenloch - viele merkwürdige Vorfälle passiert sind. Sehen sie
sich nur um unter diesen alten Häusern mit ihren fest
verrammelten Fensterläden und spärlich erhellten Oberlichten.
Wie viele seltsame Ereignisse haben sich unter diesen
Walmdächern zugetragen! Wir werden es nie wissen. Aber
lassen wir die Frage des Glaubens außer acht! Man muß die
Verkörperung des Bösen nicht unbedingt mit eigenen Augen
sehen, um an sie zu glauben, Mr. Williams. Ich würde dem
Jungen in dieser Sache gern einen kleinen Dienst erweisen. Darf
ich?«
» Selbstverständlich!.
»Es ist vielleicht gefährlich - für Sie wie auch für ihn.«
»Ich fürchte nicht um mich selbst..
»Ich versichere Ihnen aber, es kann für den Jungen nicht
gefährlicher sein als seine gegenwärtige Lage.
Selbst der Tod ist ungefährlicher für ihn.«
»Sie sprechen in Rätseln, Professor.«
»Es bleibt besser dabei, Mr. Williams. Aber kommen Sie, wir
sind bei meinem Haus angelangt. Bitte treten Sie ein..
Wir betraten eines jener uralten Häuser, von denen Professor
Keane gesprochen hatte. Ich schritt in die modrige

-201-
Vergangenheit, denn die Räume waren mit Büchern und allen
Arten von Antiquitäten angefüllt. Mein Gastgeber führte mich in
einen Raum, offensichtlich sein Wohnzimmer, räumte die
Bücher von einem Stuhl und lud mich ein zu warten, während er
im ersten Stock etwas erledigte.
Er blieb jedoch nicht lange fort - nicht einmal lange genug,
daß ich die merkwürdige Atmosphäre des Zimmers, in dem ich
wartete, hätte aufnehmen können. Als er zurückkehrte, trug er
etwas, was ich sofort als steinerne Objekte erkannte, ungefähr in
der Form fünfzackiger Steine. Fünf davon legte er mir in die
Hände.
»Morgen nach der Schule - falls der Potter-Junge nicht fehlt
müssen Sie trachten, ihn mit einem dieser Steine zu berühren,
und ihm den Stern aufdrücken«, erklärte mein Gastgeber. »Es
sind noch zwei weitere Bedingungen zu erfüllen. Sie müssen
einen dieser Steine immer bei sich tragen und Sie müssen jeden
Gedanken an den Stein und was Sie damit tun sollen aus Ihrem
Gemüt verbannen. Diese Wesen haben einen telepathischen
Sinn - die Fähigkeit, Ihre Gedanken zu lesen.«
Überrascht erinnerte ich mich an Andrews Beschuldigung, ich
hätte mit Wilbur Dunlock über sie geredet.
»Ich möchte gern wissen, worum es sich bei diesen Steinen
handelt«, sagte ich.
»Falls Sie Ihren Zweifel vorläufig zurückstellen können«,
antwortete mein Gastgeber mit grimmigem Lächeln. »Diese
Steine gehören zu den Tausenden, die das Siegel von R'lyeh
tragen, mit denen die Kerker der Alten Wesen verschlossen
wurden. Es sind die Siegel der Alten Götter.«
»Professor Keane, das Zeitalter des Aberglaubens ist vorbei«,
protestierte ich.
»Mr. Williams - das Wunder des Lebens und seine
Geheimnisse sind nie vorbei«, erwiderte er. »Wenn der Stein
keine Bedeutung hat, hat er auch keine Macht. Wenn er keine

-202-
Macht hat, hat er keine Wirkung auf den jungen Potter. Und
dann kann er auch Sie nicht beschützen.«
»Wovor?.
»Vor der Macht hinter dem bösen Einfluß, den Sie in dem
Haus im Hexenloch verspürten«, antwortete er. »Oder war auch
das Aberglaube?« Er lächelte. »Sie brauchen nicht zu antworten.
Ich kenne Ihre Antwort. Wenn etwas passiert, wenn Sie dem
Jungen den Stein auflegen, darf er nicht mehr nach Hause
zurückkehren. Sie müssen ihn hierher zu mir bringen. Sind Sie
einverstanden?«
»Ja«, antwortete ich.
Der nächste Tag wollte kein Ende nehmen, nicht allein wegen
der bevorstehenden Krise, sondern weil es äußerst schwierig
war, vor dem neugierigen Blick Andrew Potters meine Miene
undurchdringlich zu halten. Darüber hinaus war ich mir wie nie
zuvor der Mauer pulsierender Bösartigkeit hinter meinem
Rücken bewußt, die von der Wildnis dort ausging, eine greifbare
Bedrohung, die in einem Einschnitt in den düsteren Bergen
verborgen lag. Die Stunden verstrichen jedoch, wenn auch
langsam, und knapp vor Unterrichtsschluß bat ich Andrew
Potter zu warten, bis die anderen gegangen waren.
Und wiederum stimmte er zu, mit jenem lässigen Gehabe, das
beinahe an Frechheit grenzte, so daß ich mich unwillkürlich
fragte, ob er es wert wäre, »gerettet« zu werden, denn tief in
meiner Seele hatte ich vor, ihn zu retten.
Ich blieb jedoch hartnäckig. Ich hatte den Stein im Wagen
versteckt, und sobald die anderen fort waren, bat ich Andrew,
mit mir nach draußen zu kommen.
An diesem Punkt überkam mich ein Gefühl von Hilflosigkeit
und Absurdität. Ich, ein College- Absolvent, schickte mich an,
etwas zu versuchen, was für mich unleugbar eine Art Zauber zu
sein schien, der in den afrikanischen Dschungel gehörte. Und
ein paar Augenblicke lang, in denen ich entschlossen vom

-203-
Schulgebäude zum Wagen ging, wäre ich beinahe weich
geworden und hätte Andrew bloß eingeladen, in den Wagen zu
steigen, ich würde ihn heimbringen.
Ich tat es jedoch nicht. Ich erreichte den Wagen, Andrew mir
auf den Fersen, langte hinein, ergriff einen Stein, den ich in
meine Tasche gleiten ließ, dann einen anderen, und wandte mich
blitzschnell um, um den Stein an Andrews Stirn zu drücken.Was
immer ich auch erwartete, es ereignete sich etwas ganz anderes.
Denn bei der Berührung des Steines erschien in Andrew
Potters Augen ein Ausdruck höchsten Entsetzens, und ein
Aufschrei des Grauens brach von seinen Lippen. Er streckte die
Arme aus, verstreute seine Bücher, drehte sich weg, so weit er
es in meinem Griff konnte, erzitterte und wäre hingefallen, hätte
ich ihn nicht aufgefangen und ihn, mit Schaum vor dem Mund,
zu Boden sinken lassen. Und dann spürte ich einen gewaltigen
kalten Wind, der um uns wirbelte und wieder verschwand, der
Gräser und Blumen knickte, den Waldsaum erzittern ließ und
die Blätter von der äußersten Baumreihe fegte.
Von meinem eigenen Grauen angetrieben, hob ich Andrew
Potter in den Wagen, legte ihm den Stein auf die Brust und fuhr,
so schnell ich konnte, in das sieben Meilen entfernte Arkham.
Professor Keane erwartete mich bereits, nicht im geringsten von
meinem Kommen überrascht. Er hatte auch erwartet, daß ich
Potter mitbringen würde, denn er hatte für ihn ein Bett
vorbereitet. Zusammen brachten wir Andrew zu Bett. Sodann
verabreichte ihm Keane ein Beruhigungsmittel.
Dann wandte er sich mir zu. »Nun denn, es ist keine Zeit zu
verlieren. Sie werden nach ihm suchen - das Mädchen vielleicht
zuerst. Wir müssen zum Schulgebäude zurückkehren.«
Inzwischen dämmerte mir die volle Bedeutung und das
Grauen dessen, was mit Andrew Potter geschehen war, und ich
war so erschüttert, daß mich Keane aus dem Zimmer schieben
und halb aus dem Haus zerren mußte. Und wiederum, jetzt, da

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ich diese Worte so lange nach den entsetzlichen Ereignissen
jener Nacht zu Papier bringe, zittere ich noch immer vor
Vorahnung und Furcht, die Besitz von einem Menschen
ergreifen, der zum ersten Mal dem unendlichen Unbekannten
von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht und erkennt, wie
winzig und bedeutungslos er im Vergleich zu dieser kosmischen
Unendlichkeit ist. Ich wußte in jenem Moment, daß das, was ich
in dem verbotenen Buch in der Miskatonic-Bibliothek gelesen
hatte, kein Sammelsurium des Aberglaubens war, sondern der
Schlüssel zu einer bisher unerwarteten Offenbarung, die
vielleicht weitaus älter war als die Menschheit im Weltall. Ich
wagte nicht daran zu denken, was der Hexenmeister Potter aus
dem Himmel herabbeschworen hatte.
Ich hörte kaum Professor Keanes Worte, der mich drängte,
meine Gefühlsreaktion zu vergessen und in einer
wissenschaftlichen, fast klinischen Weise an das Geschehene zu
denken. Schließlich hatte ich jetzt mein Ziel erreicht -Andrew
Potter war gerettet. Um seine Rettung abzuschließen, mußte er
jedoch von den anderen befreit werden, die ihm sicher folgen
und ihn finden würden. Ich dachte nur daran, auf welch
lauerndes Grauen dieses Quartett von Landmenschen aus
Michigan gestoßen waren, als sie gekommen waren, um die
einsame Farm im Hexenloch in Besitz zu nehmen.
Ich fuhr blindlings zur Schule zurück. Dort drehte ich auf
Professor Keanes Geheiß das Licht an und saß bei offener Tür in
der warmen Nacht, während er sich hinter dem Gebäude
verbarg, um ihre Ankunft abzuwarten. Ich mußte mich
zusammenreißen, um an nichts zu denken und diese Wache
anzutreten.
Bei Anbruch der Nacht kam das Mädchen...
Und nachdem ihr dasselbe widerfahren war wie ihrem Bruder,
und sie neben dem Katheder lag, den sternförmigen Stein auf
der Brust, zeigte sich der Vater im Eingang. Jetzt war es schon
finster geworden, und er trug ein Gewehr. Er brauchte nicht zu
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fragen, was geschehen war; er wußte es. Er stand wortlos da,
zeigte auf seine Tochter und den Stein auf ihrer Brust und hob
das Gewehr. Seine Absicht war klar - wenn ich den Stein nicht
entfernte, würde er schießen. Offensichtlich handelte es sich hier
um den Notfall, den der Professor erwartet hatte, denn er schlich
von hinten an Potter heran und berührte ihn mit dem Stein.
Anschließend warteten wir zwei Stunden - vergebens - auf
Mrs. Potter.
»Sie kommt nicht«, erklärte der Professor schließlich. »In ihr
hat die Intelligenz dieses Wesens ihren Sitz - ich hatte geglaubt,
es wäre der Mann. Nun denn, wir haben keine Wahl - wir
müssen zum Hexenloch fahren. Die zwei da können wir
zurücklassen.«
Wir fuhren durch die Dunkelheit, ohne uns zu bemühen, unser
Kommen geheimzuhalten, denn der Professor behauptete, das
»Wesen« in dem Haus im Hexenloch »wüßte«, daß wir kämen,
könne aber den Schutz des steinernen Talismans nicht
durchbrechen, um uns etwas anzutun. Wir fuhren durch den
dicht herandrängenden Wald, den engen Weg entlang, wo das
merkwürdige Unterholz im Licht der Scheinwerfer nach uns zu
greifen schien, und in den Hof der Potters.
Das Haus lag im Dunkeln, abgesehen vom schwachen
Lampenschimmer in einem einzigen Zimmer.
Professor Keane sprang mit seinem kleinen Sack
sternförmiger Steine aus dem Wagen und machte sich daran, das
Haus ringsum zu versiegeln - mit einem Stein in jeder der zwei
Türen und einem in jedem Fenster. Durch eines der Fenster
konnten wir die Frau am Küchentisch sitzen sehen -
unerschütterlich, aufmerksam, klar im Kopf, nicht mehr nervös.
Sie ähnelte gar nicht mehr der kichernden Frau, die ich vor
kurzem in diesem Haus gesehen hatte, sondern eher einem
großen, intelligenten Raubtier, das gestellt worden war.
Als er fertig war, ging mein Gefährte zur Vorderseite und

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setzte das Haus mit dem Gestrüpp, das er im Hof gesammelt und
vor der Tür angehäuft hatte, in Brand, ohne sich um meine
Proteste zu kümmern.
Dann kehrte er zum Fenster zurück, um die Frau zu
beobachten. Dabei erklärte er, daß nur das Feuer die elementare
Macht zerstören könne, daß er aber noch immer hoffe, Mrs.
Potter zu retten. »Sie sehen besser weg, Williams..
Ich hörte nicht auf ihn. Hätte ich es doch getan - und mir so
die Träume erspart, die sich noch immer in meinen Schlaf
drängen! Ich stand hinter ihm am Fenster und sah zu, was in
jenem Zimmer vor sich ging - denn der Rauchgeruch
durchdrang nun das Haus. Mrs. Potter - oder was ihren
gewaltigen Leib belebte - stand auf, ging unbeholfen zum
Hintereingang, wich zurück, ging zum Fenster, wich von dort
zurück und trat wieder in die Mitte des Zimmers, zwischen den
Tisch und den Holzofen, der nicht geheizt wurde, da die Kälte
noch nicht eingesetzt hatte. Dort fiel sie zukkend und sich
windend zu Boden.
Der Raum füllte sich langsam mit Rauch, nebelte die gelbe
Lampe ein und ließ das Innere des Zimmers kaum mehr
erkennen - aber immerhin nicht so sehr, um zu verhüllen, was
im Verlauf dieses entsetzlichen Kampfes am Boden vor sich
ging, wo Mrs. Potter sich wand wie in Todeszuckungen und
langsam, kaum merklich, etwas anderes Gestalt annahm - eine
unglaubliche amorphe Masse, in dem Rauch kaum zu sehen,
tentakelbewehrt, schimmernd, mit einer kalten Intelligenz und
einer Kälte des Leibes, die ich selbst durch das Fenster
verspüren konnte. Das Wesen stieg wie eine Wolke über dem
nunmehr bewegungslosen Körper der Mrs. Potter auf, dann
senkte es sich auf den Ofen nieder und verschwand wie eine
Dampfschwade in ihm!
»Der Ofen!« rief Professor Keane und wich zurück. Über uns
drang aus dem Schornstein eine zunehmende Schwärze, wie
Rauch, die sich kurz zusammenballte. Dann raste sie wie der
-207-
Blitz davon, den Sternen zu, in Richtung Hyaden, zurück zu
jenem Ort, von dem sie der alte Hexenmeister Potter zu sich
herabbeschworen hatte, weg von dort, wo sie auf die Ankunft
der Potters aus Obermichigan gelauert hatte, die ihm auf dem
Antlitz der Erde als neuer Wirt dienen sollten.
Es gelang uns, Mrs. Potter aus dem Haus zu schaffen. Sie war
jetzt gewaltig zusammengeschrumpft, lebte jedoch noch.
Es ist nicht nötig, sich bei den übrigen Ereignissen jener
Nacht aufzuhalten - wie der Professor wartete, bis das Feuer das
Haus verzehrt hatte, um seinen Vorrat an sternförmigen Steinen
einzusammeln, bei der Wiedervereinigung der Familie Potter -
die jetzt vom Fluch des Hexenlochs befreit ist und entschlossen,
niemals in das Spuktal zurückzukehren - bei Andrew, der, als
wir kamen, um ihn aufzuwecken, im Schlaf von »gewaltigen
Winden, die kämpfen und zerren« und »einer Stelle am See
Hali, wo sie in ewiger Herrlichkeit leben«, daherredete.
Mir fehlte der Mut, danach zu fragen, was der alte
Hexenmeister Potter wohl von den Sternen herabbeschworen
hatte, doch ich wußte, daß es an Geheimnisse grenzte, die
menschlichen Geschlechtern besser unbekannt geblieben wären,
Geheimnisse, von deren Vorhandensein ich nie etwas geahnt
hätte, hätte ich nicht zufällig die Bezirksschule Nummer Sieben
übernommen und hätte es unter meinen Schülern nicht den
merkwürdigen Jungen Andrew Potter gegeben.

-208-
Innsmouth-Ton

H. P. Lovecraft und August Derleth

Die Umstände, die mit dem Schicksal meines verblichenen


Freundes, des Bildhauers Jeffrey Corey- wenn »verblichen« das
richtige Wort ist -, zusammenhängen, müssen mit seiner
Rückkehr aus Paris und seinem Entschluß, im Herbst 192.7
südlich von Innsmouth eine Strandhütte zu mieten,
zusammenhängen. Corey entstammte einer wappentragenden
Familie, die entfernt mit dem Geschlecht der Marsh aus
Innsmouth verwandt war - jedoch nicht so eng, daß er
verpflichtet gewesen wäre, mit seinen Verwandten Umgang zu
pflegen. Jedenfalls waren über die zurückgezogen lebenden
Marshes merkwürdige Gerüchte im Umlauf. Diese Gerüchte
über die Familie aus jener Hafenstadt in Massachusetts waren
kaum geeignet, Corey dazu zu bewegen, sich zu melden, wenn
er in die Gegend kam.
Ich besuchte ihn einen Monat nach seiner Ankunft im
Dezember jenes Jahres. Corey war ein verhältnismäßig junger
Mann, noch keine vierzig, zwei Meter groß, mit zarter, frischer
Haut, die frei von jeder Haarzierde war, obwohl er sein Haar
ziemlich lang trug, wie es damals unter Künstlern im Quartier
Latin von Paris der Fall war. Er hatte strahlend blaue Augen,
und sein hohlwangiges Gesicht wäre in jeder
Menschenansammlung aufgefallen, nicht bloß wegen seines
durchdringenden Blicks, sondern ebensosehr wegen der
seltsamen, wie ein Flechtwerk aussehenden Haut an einer Stelle
hinter dem Kiefer, unter den Ohren und ein kurzes Stück unter
den Ohren den Hals hinunter. Er sah nicht schlecht aus, und eine
merkwürdige, beinahe hypnotische Eigenheit, welche die feinen
Züge seines Gesichts prägte, übte so etwas wie Faszination auf
die meisten Leute aus, die ihm begegneten. Er hatte sich, als ich

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ihn besuchte, bereits gut eingewöhnt und begonnen, an einer
Statue von Rima, dem Vogelmädchen, zu arbeiten, die eine
seiner gelungensten Arbeiten zu werden versprach.
Er hatte sich Vorräte für einen Monat angelegt, die er selbst
aus Innsmouth geholt hatte, und er schien mir mitteilsamer als
gewöhnlich zu sein, vor allem, was seine entfernten Verwandten
betraf, über die in den Läden von Innsmouth allerlei geredet
wurde, wenn auch sehr vorsichtig. Da sie so abgeschieden
lebten, zogen die Marshes natürlich einige Neugierde auf sich;
und da diese Neugierde unbefriedigt blieb, war ein
beeindruckendes Sagen- und Legendengerank um sie
gewachsen, das bis eine Generation weit zurückreichte, die sich
im Handel im südlichen Pazifik engagiert hatte. Die Gerüchte
waren so unbestimmt, daß sie für Corey wenig Sinn ergaben,
aber das, was man vernahm, wies auf alle möglichen Arten
alchemistischen Grauens hin, von dem er in einer nebulösen
Zukunft mehr zu erfahren hoffte, wiewohl er keinen Drang dazu
verspürte. Das Thema war in dem Dorf einfach so beherrschend,
erklärte er, daß es beinahe unmöglich war, ihm auszuweichen.
Er sprach auch von einer geplanten Ausstellung, erwähnte
Freunde in Paris und seine Studienjahre dort, die Kraft von
Epsteins Bildhauerarbeiten und die politischen Unruhen, die im
Lande kochten. Ich erwähne diese Dinge, um anzudeuten, wie
völlig normal Corey anläßlich meines ersten Besuches bei ihm
nach seiner Rückkehr aus Europa war. Ich hatte ihn natürlich
flüchtig in New York gesehen, als er nach Hause gekommen
war, aber kaum lange genug, um irgendein Thema so
ausführlich zu besprechen, wie wir es an jenem Dezembertag
1927 tun konnten.
Ehe ich ihn im folgenden März wiedersah, erhielt ich von ihm
einen merkwürdigen Brief, dessen Quintessenz im letzten
Absatz zu finden war, auf den alles übrige im Brief als
Höhepunkt hinauszulaufen schien - »Vielleicht hast Du etwas
von den seltsamen Vorfällen in Innsmouth im Februar gelesen.

-210-
Ich habe keine klare Information darüber, aber es muß gewiß
irgendwo in der Presse zu finden gewesen sein, so
zurückhaltend sich auch unsere Zeitungen in Massachusetts in
dieser Sache verhalten zu haben scheinen. Mir ist von der
Angelegenheit nichts weiter bekannt, als daß eine große Schar
von Bundesbeamten die Stadt heimsuchte und einige ihrer
Bürger abführte - unter ihnen einige meiner Verwandten,
wiewohl ich nicht sagen kann, welche von ihnen, da ich mir nie
die Mühe gemacht habe herauszufinden, wie viele von ihnen es
gibt - oder gab, je nachdem. Was ich in Innsmouth herausfinden
kann, bezieht sich auf den Handel mit dem südlichen Pazifik, an
dem gewisse Schiffahrtsinteressen offensichtlich noch immer
beteiligt waren, obwohl das ziemlich weit hergeholt scheint, da
die Docks einen völlig verlassenen Eindruck machten und
überhaupt weitgehend nutzlos waren für die Schiffe, die jetzt
den Pazifik durchpflügen und von denen die meisten die
größeren und moderneren Häfen anlaufen. Abgesehen von den
Gründen für das Vorgehen der Bundesbehörden - und, wie Du
erkennen wirst, von weitaus größerer Wichtigkeit für mich - gibt
es den unbestreitbaren Umstand, daß, gleichzeitig mit der
Razzia in Innsmouth, einige Marineeinheiten vor der Küste in
der Nähe des sogenannten Teufelsriffs auftauchten und dort eine
Unmenge von Wasserbomben warfen!
Diese lösten in der Tiefe solche Turbulenzen aus, daß in der
Folge ein Sturm alle Arten von Treibgut an die Küste
schwemmte, darunter einen merkwürdigen blauen Ton, der sich
hier an der Wasserlinie ablagerte. Er schien mir dem
Modellierton ähnlicher Farbe zu gleichen, den man an manchen
Stellen im Innern Amerikas findet und der häufig für die
Ziegelherstellung verwendet wurde, vor allem Vorjahren, als
den Baumeistern modernere Methoden der Ziegelherstellung
noch nicht zur Verfügung standen. Daran ist nur das eine
wichtig, daß ich allen Ton sammelte, den ich finden konnte, ehe
ihn das Meer wieder zurückholte. Seit einiger Zeit arbeite ich an

-211-
einer ganz neuen Plastik, die ich vorläufig "Meeresgöttin" nenne
- und ich bin ganz begeistert über die Möglichkeiten, die sich da
eröffnen. Du wirst sie sehen, wenn Du mich nächste Woche
besuchst, und ich bin sicher, daß sie Dir noch besser gefällt als
meine "Rima"..
Ganz im Gegensatz zu seinen Erwartungen fühlte ich mich
jedoch beim ersten Anblick von Coreys neuer Plastik
merkwürdig abgestoßen. Die Gestalt war schlank, abgesehen
vom Bau der Hüften, der weit plumper war, als ich es für
angemessen hielt, und Corey hatte es vorgezogen, die Füße mit
Schwimmhäuten zwischen den Zehen auszustatten.
»Warum?« fragte ich ihn.
»Weiß ich wirklich nicht«, erwiderte er. »Es ist die reine
Wahrheit, daß ich es nicht so geplant hatte.
Es ist einfach so passiert..
»Und diese entstellenden Male am Nacken?« Er war in jenem
Bereich mit der Arbeit anscheinend noch nicht fertig.
Er stieß ein verlegenes Lachen aus, und ein seltsamer
Ausdruck trat in seine Augen. »Ich wünschte, ich könnte mir
selbst diese Abdrücke erklären, Ken«, sagte er. »Ich wachte
gestern morgen auf und stellte fest, daß ich im Schlaf
weitergearbeitet haben muß, denn am Hals unter den Ohren - auf
beiden Seiten - waren Schlitze - Schlitze wie - nun ja, wie
Kiemen. Ich bessere jetzt die Beschädigung aus.«
»Vielleicht sollte eine "Meeresgöttin" wirklich Kiemen
haben«, sagte ich.
»Ich glaube, es hängt mit dem zusammen, was ich gestern in
Innsmouth aufgeschnappt habe, als ich dort war, um mir einige
Dinge, die ich benötigte, zu besorgen. Weiteres Gerede über das
Geschlecht der Marsh. Es lief darauf hinaus, daß die
Angehörigen der Familie vielleicht absichtlich so
zurückgezogen lebten, weil sie körperlich irgendwie entstellt
waren, was mit einer Sage von gewissen Südseebewohnern
-212-
zusammenhängen sollte. Das ist genau die Art von Märchen, die
von Unwissenden aufgegriffen und ausgeschmückt wird -
wiewohl ich zugeben muß, daß dieses Märchen interessanter ist
als die, die man gewöhnlich zu hören bekommt, weil es in
Beziehung steht zu den judäochristlichen Moralvorstellungen.
Ich habe in jener Nacht davon geträumt - und habe
offensichtlich schlafgewandelt und einen Teil des Traums an
meiner "Meeresgöttin" abreagiert.«
So seltsam mir das auch vorkam, enthielt ich mich jeder
weiteren Bemerkung über den Vorfall. Seine Worte hatten eine
gewisse Logik, und ich muß zugeben, daß mich die Gerüchte
von Innsmouth verständlicherweise mehr interessierten als die
Entstellung der "Meeresgöttin".
Außerdem fühlte ich mich von Coreys offenkundiger
Obsession etwas abgestoßen. Im Gespräch war er zwar lebhaft,
ganz gleich welches Thema angeschnitten wurde, aber
unweigerlich fiel mir ein Hauch von Entrückung auf, wenn wir
uns nicht unterhielten als laste etwas auf seinem Gemüt, von
dem er nicht sprechen wollte, etwas, was ihm unterschwellig
Sorge bereitete, was er aber nicht genau kannte, nicht so gut
kannte, daß es ihm darüber zu sprechen erlaubte. Das zeigte sich
auf verschiedene Art - einem abwesenden Blick, einem
gelegentlichen Ausdruck der Verwirrung, einem Starren ins
Leere, auf das Meer hinaus, und ab und zu schweifte er im
Gespräch ab, kam vom Thema ab, als dränge sich ein Gedanke
in das erörterte Thema, der ihn stärker in Anspruch nahm.
Seit damals habe ich mir überlegt, daß ich die Initiative
ergreifen und jener Obsession hätte nachgehen sollen, die für
mich so offenkundig war. Ich sah davon ab, weil ich der
Meinung war, daß mich das nichts anginge und mir das als
Eindringen in Coreys Privatsphäre erschienen wäre. Obwohl wir
seit langem Freunde waren, schien es mir nicht meine Pflicht zu
sein, mich in Angelegenheiten einzumischen, die
augenscheinlich ihn allein angingen, und da er keine Anstalten

-213-
traf, das Thema von sich aus anzuschneiden, war ich der
Meinung, daß auch ich es nicht tun durfte.
Wenn ich hier dennoch abschweifen und zu jener Zeitspanne
nach Coreys Verschwinden vorauseilen darf, als ich in den
Besitz' seines Erbes gekommen war - wie von ihm in einem
formellen Dokument verfügt -, war es ungefähr zu dieser Zeit,
daß Corey in einem Journal oder Tagebuch, das er angelegt
hatte, verstörende Anmerkungen niederzuschreiben begann. In
einem Notizheft, in dem er allein sein schöpferisches Leben
aufzeichnete. Chronologisch passen diese Anmerkungen hier in
die Darstellung der Umstände, unter denen Jeffrey Corey seine
letzten Monate verbrachte.
» 7. März. Ein recht seltsamer Traum letzte Nacht. Etwas
zwang mich, die Meeresgöttin zu taufen. Am Morgen stellte ich
fest, daß die Plastik um Kopf und Schulter feucht war, als hätte
ich es wirklich getan. Ich beseitigte die Beschädigung, als ob
mir keine Alternative offenstünde, obwohl ich geplant hatte,
Rima zu verpacken. Der Zwang macht mir Sorgen.
8. März. Im Traum geschwommen, begleitet von
schattenhaften Männern und Frauen. Die Gesichter sind
erschreckend vertraut wie aus einem alten Photoalbum. Das hing
sicher mit den grotesken Andeutungen und hinterhältigen
Anspielungen zusammen, die ich heute in Hammonds Drugstore
hörte - über die Marshes, wie gewöhnlich. Eine Geschichte vom
Urgroßvater Jethro, der im Wen gelebt haben soll. Mit Kiemen!
Dasselbe behauptet man von einigen Angehörigen der Familie
Waite, Gilman und Eliot. Vernahm dasselbe Zeug, als ich
anhielt, um an der Bahnstation eine Auskunft einzuholen.
Die Einheimischen lassen sich schon seit Jahrzehnten darüber
aus.
10. März. Offenkundig bin ich in der Nacht schlafgewandelt,
denn an der Meeresgöttin wurden einige kleine Änderungen
angebracht. Merkwürdige Dellen sind zu sehen, als hätte jemand

-214-
seine Arme um die Plastik gelegt, die gestern viel zu hart war,
als daß man einen Abdruck ohne Meißel oder ein ähnliches
Werkzeug hätte anbringen können. Die Zeichen sahen aus, als
wären sie in weichen Ton eingepreßt worden. Das ganze Objekt
war heute morgen feucht. n. März. Ein wirklich
außerordentliches Erlebnis in der Nacht. Vielleicht der
lebendigste Traum, den ich je hatte, gewiß der erotischste.
Selbst jetzt kann ich kaum an ihn denken, ohne sexuell erregt zu
werden. Ich träumte, daß eine Frau, nackt, zu mir ins Bett
schlüpfte, nachdem ich eingeschlafen war, und die ganze Nacht
bei mir blieb. Ich träumte, daß die ganze Nacht von Liebe erfüllt
war - oder vielleicht sollte ich Lust sagen. Habe seit Paris nichts
derartiges mehr erlebt! Und so wirklich wie die vielen Nächte
im Quartier Latin! Vielleicht zu echt, denn ich erwachte ganz
erschöpft. Und ich hatte unzweifelhaft eine ruhelose Nacht
verbracht, denn das Bett war in völliger Unordnung.
12. März. Der gleiche Traum. Erschöpft.
13. März. Wieder der Traum vom Schwimmen. In
Meerestiefen. Tief unten eine Art Stadt. Ryeh oder R'lyeh?
Etwas namens »Großer Thulu"?«
Von diesen Dingen, diesen merkwürdigen Träumen, verriet
Corey bei meinem Besuch im März sehr wenig. Sein Aussehen
schien mir damals etwas verändert, er kam mir abgezehrt vor. Er
sprach von gewissen Schlafschwierigkeiten; er konnte sich,
sagte er, nicht »ausruhen« - ganz gleich, wann er zu Bett ging.
Er fragte mich, ob ich die Namen »Ryeh« oder »Thulu« je
gehört hatte; natürlich nicht, aber am zweiten Tag meines
Besuchs konnten wir sie hören.
Wir fuhren an diesem Tag nach Innsmouth - eine kurze
Strecke von weniger als fünf Meilen -, und es wurde mir bald
klar, daß die Einkäufe, die Corey machen mußte, wie er
behauptete, nicht der Hauptgrund für seinen Besuch in
Innsmouth waren. Corey war eindeutig auf einen "Fischzug"
aus; er war in der Absicht gekommen, über seine Familie
-215-
herauszufinden, was er konnte, und zu diesem Zweck führte sein
Weg von einem Ort zum anderen, von Ferrand's Drug Store zur
öffentlichen Bibliothek, wo der uralte Bibliothekar bei dem
Thema, das die alten Familien von Innsmouth und Umgebung
betraf, bemerkenswert zurückhaltend war, auch wenn er zu guter
Letzt die Namen zweier alter Männer erwähnte, die sich
vielleicht an einige der Marshes und Gilmans und Waites
erinnerten und die vielleicht an ihrem üblichen Aufenthaltsort,
einem Saloon auf der Washington Street, zu finden sein
mochten.
So sehr Innsmouth heruntergekommen war, es war doch ein
Ort, der jeden archäologisch oder architektonisch Interessierten
unausweichlich faszinieren mußte, denn er war gut ein
Jahrhundert alt, und die Mehrzahl seiner Gebäude - abgesehen
von denen im Geschäftsviertel - waren Jahrzehnte vor der
Jahrhundertwende erbaut worden. Auch wenn viele jetzt
verlassen dalagen und in einigen Fällen zu Ruinen verfallen
waren, spiegelten die architektonischen Züge der Häuser eine
Kultur, die seit langem aus der amerikanischen Landschaft
verschwunden ist.
Als wir uns auf der Washington Street dem Hafenviertel
näherten, zeigten sich überall Anzeichen einer Katastrophe.
Gebäude lagen in Ruinen - »Gesprengt«, sagte Corey, »von den
Bundesbeamten, wie es heißt« -, und man hatte sich kaum die
Mühe gemacht aufzuräumen, denn einige Nebenstraßen waren
noch immer durch Trümmerhaufen unpassierbar. An einer Stelle
schien eine ganze Straße zerstört worden zu sein, ebenso hatte
man all die alten Gebäude rund um das Hafenbecken, die einst
als Lagerräume gedient hatten und seit langem aufgelassen
worden waren, gesprengt. Als wir uns der Küste näherten,
machte sich ein ekelerregender, durchdringend widerlicher
Geruch nach Fisch bemerkbar; er überstieg noch den
Fischgestank, den man oft an toten Gewässern entlang der Küste
oder auch an Binnenseen antrifft.

-216-
Die meisten Lagerhäuser, sagte Corey, hatten einst den
Marshes gehört. Das hatte er in Ferrand's Drug Store erfahren.
Die verbliebenen Angehörigen der Familien Waite und Gilman
und Eliot hatten nur geringe Verluste erlitten. Die staatliche
Macht hatte sich fast ausschließlich gegen die Marshes und
ihren Besitz in Innsmouth gerichtet, wenn auch die Marsh
Refining Company, die allerdings nicht mehr der Marsh-Familie
gehörte und noch immer einigen Dorfbewohnern, die nicht auf
Fischfang gingen, Arbeit bot, nicht betroffen gewesen war.
Der Saloon, den wir schließlich erreichten, stammte eindeutig
aus dem 19. Jahrhundert; und es war gleichermaßen deutlich,
daß das Gebäude von innen und von außen seit der Errichtung
nicht mehr renoviert worden war, denn alles sah unglaublich
verwahrlost und verkommen aus. Ein schlampiger Mann
mittleren Alters saß hinter dem Tresen und las im Arkham
Advertiser, außerdem saßen noch, weit voneinander entfernt,
zwei alte Männer da, einer von ihnen schlafend.
Corey bestellte ein Glas Brandy, ich desgleichen.
Der Barkeeper machte sich nicht die Mühe, sein vorsichtiges
Interesse an uns zu verbergen.
»Seth Akins?« fragte Corey schließlich. Der Barkeeper zeigte
nickend auf den Kunden, der am Tresen schlief.
»Was trinkt er?« fragte Corey.
»Alles..
»Einen Brandy für ihn..
Der Barkeeper goß einen Schuß Brandy in ein schmutziges
Glas und stellte es auf den Tresen. Corey trug es zu dem alten
Mann hinunter, setzte sich neben den Schlafenden und stieß ihn
an, bis er erwachte.
»Ich lade Sie ein«, sagte er.
Der alte Mann blickte auf und zeigte dabei ein gegerbtes
Gesicht und Triefaugen unter zerzaustem grauen Haar. Er sah

-217-
den Brandy, grapschte nach ihm, grinste unsicher und schüttete
ihn hinunter.
Corey begann ihn auszufragen, wobei er zunächst nur
bemerkte, daß er ein alter Einwohner Innsmouths sei. Er sprach
ganz allgemein über das Dorf und das Umland bis Arkham und
Newburyport. Akins antwortete ziemlich freimütig, und Corey
bestellte ihm noch ein Glas und dann noch eins.
Akins' Redefluß verstummte jedoch sofort, als Corey die alten
Familien erwähnte, vor allem die Marshes. Der Alte wurde
spürbar vorsichtiger, seine Augen huschten sehnsüchtig zur Tür,
als wäre er gern entkommen. Corey setzte ihm jedoch hart zu,
und Akins gab nach.
»Vermutlich schadet's nicht, jetzt zu reden«, meinte er
schließlich. »Die meisten Marshes sind fort, seit die Regierung
letzten Monat eingegriffen hat. Niemand weiß, wohin sie
verschwunden sind, aber sie kommen nicht mehr zurück.« Er
schweifte ein bißchen ab. Nachdem er jedoch das Thema einige
Zeit umkreist hatte, kam er schließlich auf den
»Ostindienhandel« und »Käptn Obed Marsh« zu sprechen - »der
mit allem begann. Er hatte eine Art Vereinbarung mit den
Ostindern - brachte einige ihrer Frauen mit und hielt sie in dem
großen Haus, das er gebaut hatte. Nachher bekamen die jungen
Marshes den seltsamen Blick und begannen draußen beim
Teufelsriff herumzuschwimmen. Sie blieben lange Zeit fort -
stundenlang -, und es war nicht normal, so lange unter Wasser
zu bleiben. Käptn Obed heiratete eine dieser Frauen - und einige
der jungen Marshes fuhren nach Ostindien und brachten weitere
mit.
Der Handel der Marshes ging nie so zurück wie der der
anderen. Alle drei von Käptn Obeds Schiffen - die Brigg
Columby, die Barke Sumatry Queen und eine weitere Brigg,
Hetty,segelten im Ostindien- und Pazifikhandel, ohne je einen
Unfall zu erleiden. Und diese Leute - die Ostinder der Marshes -
fingen mit einer neuen Religion an - sie nannten sie den Orden
-218-
von Dagon und es wurde über diese Treffen viel geredet,
geflüstert, wo niemand mithörte, und die jungen Leute - also
vielleicht gingen sie zugrunde, aber niemand sah sie wieder, und
all dieses Gerede über Opfer - Menschenopfer - ungefähr zur
gleichen Zeit, wo die jungen Leute verschwanden - aber keiner
von den Marshes oder Gilmans oder Waites oder Eliots,
niemand von diesen Leuten verschwand je. Und all dieses
Geraune von einem Ort namens "Ryeh" und etwas namens
"Thulu" - irgendein Verwandter Dagons, scheint's...«
An dieser Stelle unterbrach ihn Corey mit einer Frage, in der
Absicht, Akins' Erwähnung erläutert zu bekommen, doch wußte
der Alte nichts, und ich verstand den Grund für Coreys
plötzliches Interesse erst später.
Akins fuhr fort: »Die Leute hielten sich von den Marshes fern
und auch von den anderen. Aber zum Großteil waren es die
Marshes, die dieses merkwürdige Aussehen hatten. Es wurde so
schlimm, daß einige von ihnen nie das Haus verließen, außer des
Nachts, und dann meistens nur, um im Ozean schwimmen zu
gehen. Sie konnten wie Fische schwimmen, hieß es - ich habe es
nie selbst gesehen, und niemand redete viel, denn uns fiel auf,
daß jedesmal, wenn einer viel daherredete, er bald nicht mehr zu
sehen war - wie die jungen Leute - und man nichts mehr von
ihm hörte.
Käptn Obed lernte eine ganze Menge in Ponape und von den
Kanaken - alles über die Leute, die man die "Tiefen Wesen"
nannte, die unter Wasser lebten - und er brachte alle Arten von
Schnitzwerk zurück, merkwürdige Fischwesen und
Unterwasserwesen, die keine Fischwesen waren - Gott weiß,
was für Wesen das waren!«
»Was hat er mit diesem Schnitzwerk gemacht?« unterbrach
ihn Corey.
»Ein paar, die nicht in die Halle Dagons kamen, hat er
verkauft und für 'nen guten Preis, 'nen wirklich guten Preis hat

-219-
er dafür bekommen. Aber jetzt sind alle fort, alle fort - und mit
dem Orden Dagons ist es aus, und die Marshes hat man hier
nicht mehr gesehen, seit die Lagerhäuser mit Dynamit in die
Luft gesprengt wurden. Es wurden auch nicht alle verhaftet -
nein, Sir, man sagt, daß die Marshes, die übrigblieben, bloß zur
Küste hinabwanderten und ins Wasser gingen und sich selbst
umbrachten.« An dieser Stelle lachte er höhnisch. »Aber
niemand hat eine der Leichen der Marshes gesehen, an der
ganzen Küste nicht..
Er hatte gerade diesen Punkt in seiner Erzählung erreicht, als
es zu einem höchst merkwürdigen Vorfall kam. Er starrte
meinen Gefährten plötzlich mit weit aufgerissenen Augen an,
das Kinn fiel ihm herab, und seine Hände begannen zu zittern.
Einen Augenblick oder zwei wirkte er wie erstarrt in dieser
Stellung, dann riß er sich zusammen, glitt vom Barhocker,
drehte sich um und rannte stolpernd aus dem Haus auf die
Straße hinaus, und ein langer Verzweiflungsschrei drang
gräßlich durch die Winterluft zu uns.
Zu sagen, daß wir erstaunt waren, hieße, es milde
auszudrücken. Seth Akins' plötzliche Flucht vor Corey kam so
völlig unerwartet, daß wir uns erstaunt anblickten. Erst später
fiel mir ein, daß Akins' abergläubisches Gemüt vom Anblick der
merkwürdigen Runzeln auf Coreys Hals unter seinen Ohren
erschüttert gewesen sein mußte - denn im Verlauf unseres
Gesprächs mit dem Alten hatte sich Coreys dicker Schal, der
seinen Hals vor der rauhen kalten Märzluft geschützt hatte,
gelöst, war in einer kurzen Schlaufe über seine Brust gefallen
und hatte die Vertiefungen und die rauhe Haut enthüllt, die
Coreys Hals immer gezeigt hatte, die Kehllappen, die auf Alter
und Verbrauchtheit hinwiesen.
Keine andere Erklärung bot sich an, und ich sagte Corey
nichts davon, um ihn nicht weiter zu erregen, denn er war
sichtlich beunruhigt, und es brachte nichts, wenn man ihn noch
mehr aufregte.

-220-
»Was für ein Geschwätz!« rief ich aus, sobald wir uns wieder
auf der Washington Street befanden.
Er nickte abwesend, doch konnte ich deutlich erkennen, daß
einige Aspekte der Erzählung des alten Burschen meinen
Gefährten irgendwie beeindruckt hatten - und nicht gerade
angenehm. Er rang sich ein Lächeln ab, aber ein ziemlich
gezwungenes, und auf meine weiteren Einwürfe zuckte er bloß
mit den Schultern, als wünschte er nicht von den Dingen zu
sprechen, die wir von Akins gehört hatten.
Den ganzen Abend über war er bemerkenswert schweigsam
und ganz offenkundig in Gedanken versunken, weit stärker noch
als zuvor. Ich erinnerte mich, daß ich ihm seine mangelnde
Bereitschaft übelnahm, die Gedanken, die sein Gemüt
bedrückten, mit mir zu teilen, aber natürlich lag diese
Entscheidung bei ihm und nicht bei mir, und ich hege den
Verdacht, daß das, was an jenem Abend seine Gedanken
bewegte, ihm so weit hergeholt und ausgefallen erschienen sein
muß, daß er sich den Spott ersparen wollte, den er sich
offensichtlich von mir erwartete. Darum kam ich nach mehreren
Anläufen, die er abwehrte, nicht mehr auf das Thema Seth
Akins und die Sagen von Innsmouth zurück.
Am Morgen kehrte ich nach New York zurück.
Weitere Auszüge aus Jeffrey Coreys Tagebuch.
»i8. März. Erwachte am Morgen mit der Überzeugung, daß
ich letzte Nacht nicht allein geschlafen hatte. Eindrücke auf dem
Kissen und im Bett. Zimmer und Bett sehr feucht, als hätte
neben mir etwas Feuchtes gelegen. Intuitiv weiß ich, daß es sich
um eine Frau handelte. Aber wie? Beunruhigung bei dem
Gedanken, daß der Marsh-Irrsinn sich vielleicht bei mir zu
zeigen beginnt. Fußspuren auf dem Boden.
19. März. "Meeresgöttin" verschwunden! Die Tür ist offen.
Jemand muß sich während der Nacht eingeschlichen und sie
mitgenommen haben. Man kann kaum behaupten, daß ihr

-221-
Verkaufswert das Risiko lohnt! Sonst fehlt nichts.
20. März. Träumte die ganze Nacht davon, was Seth Akins
sagte. Erblickte Käptn Obed Marsh unter Wasser! Uralt. Mit
Kiemen! Schwamm vor dem Teufelsriff weit unter der
Oberfläche des Atlantiks.
Viele andere, Männer wie Frauen. Das merkwürdige Marsh-
Aussehen! Oh, die Macht und die Herrlichkeit.
2.1. März. Nacht des Frühlingsbeginns. Mein Nacken pochte
die ganze Nacht vor Schmerz. Konnte nicht schlafen. Stand auf
und ging zur Küste hinunter. Wie mich das Meer anzieht! War
mir zuvor nie bewußt, aber jetzt erinnere ich mich, wie ich mir
als Kind immer einbildete, ich hörte - weit von der Küste
entfernt, mitten auf dem Festland - das Geräusch des Meeres,
der Gezeiten und der windgepeitschten Wellen! - Die ganze
Nacht erfüllte mich ein furchtgetränktes Gefühl, daß etwas
geschehen würde.«
Unter demselben Datum - 21. März - schrieb Corey seinen
letzten Brief an mich. Er erwähnte darin seine Träume nicht,
aber er schrieb mir über seine Halsschmerzen.
»Es ist nicht die Kehle - das ist klar. Das Schlucken bereitet
mir keine Beschwerden. Der Schmerz scheint in dem entstellten
Hautbereich unter den Ohren zu sitzen - den Kehllappen oder
Warzen oder Runzeln, wie immer man es nennen will. Ich kann
es nicht beschreiben, es ist nicht der Schmerz, den man mit
Starre oder Verspanntheit oder einer Schwellung verbindet. Es
ist, als wolle die Haut nach außen aufbrechen, und es reicht tief
hinein. Gleichzeitig kann ich mich nicht des Eindrucks
erwehren, daß etwas unmittelbar bevorsteht - etwas, was ich
ebenso fürchte wie ich mich darauf freue, und
Stammeserinnerungen aller Arten - so mangelhaft ich es auch
ausdrücke - halten mich gefangen!.
Ich riet ihm in meiner Antwort, einen Arzt aufzusuchen, und
versprach ihm, ihn Anfang April zu besuchen.

-222-
Zu dieser Zeit aber war Corey verschwunden.
Es gab einige Hinweise, daß er zum Atlantik gegangen und
hineingestiegen war - ob in der Absicht zu schwimmen oder
Selbstmord zu begehen, ließ sich nicht feststellen. Die Abdrücke
seiner bloßen Sohlen wurden in den Überresten des
merkwürdigen Tons entdeckt, den das Meer im Februar an den
Strand gespült hatte, doch gab es keine Abdrücke, die auf seine
Rückkehr schließen ließen. Es gab keinen Abschiedsbrief gleich
welcher Art, doch hatte er Anweisungen hinterlassen, in denen
er Verfügungen über seinen Besitz traf und mich zum
Nachlaßverwalter einsetzte, was darauf hinwies, daß er etwas
vorausgeahnt hatte.
Eine, wenn auch bestenfalls oberflächliche Suche nach
Coreys Leiche wurde an der Küste und unterhalb Innsmouths
durchgeführt, doch erwies sie sich als ergebnislos, und das
Gericht kam unschwer zu dem Schluß, daß Corey einem
Unglück zum Opfer gefallen war.
Keine Aufzeichnung der Umstände, die für das Geheimnis
seines Verschwindens bedeutsam schienen, könnte ohne kurze
Darstellung dessen bleiben, was ich draußen vor dem Teufelsriff
in der Abenddämmerung des 17. April sah.
Es war ein friedlicher Abend, das Meer war wie aus Glas, und
kein Windhauch bewegte die Abendluft.
Ich stand vor dem Abschluß der Verfügungen über Coreys
Besitz und hatte mich entschlossen, in einiger Entfernung vor
Innsmouth hinauszurudern. Was ich vom Teufelsriff
vernommen hatte, zog mich unausweichlich zu seinen
Überresten hin - ein paar gezackte und zerborstene Steine, die
bei Ebbe gut eine Meile vor dem Dorf aus dem Wasser
emporragten. Die Sonne war jetzt untergegangen, ein schönes
Nachglühen lag am westlichen Horizont, und das Meer war, so
weit der Blick reichte, von tiefem Kobaltblau.
Ich hatte gerade erst das Riff erreicht, als es im Wasser

-223-
großen Aufruhr gab. Die Oberfläche wurde an vielen Stellen
aufgewühlt. Ich hielt inne und saß ganz still da, denn ich
vermutete, daß vielleicht ein Schwarm Delphine an die
Oberfläche kam, und spürte eine gewisse Vorfreude auf den
Anblick, der sich mir bieten mochte.
Es handelte sich jedoch keinesfalls um Delphine. Es war eine
Art von Meeresbewohnern, von denen ich keine Kenntnis hatte.
In dem schwindenden Licht glichen die Schwimmer sowohl
Fischen wie auch beschuppten Menschen. Alle bis auf ein Paar
von ihnen blieben dem Boot fern, in dem ich saß.
Das Paar - eines davon eindeutig ein weibliches Wesen von
merkwürdig tonartiger Farbe, das andere ein Mann - kam dem
Boot, in dem ich saß und ihm mit gemischten Gefühlen
entgegensah, die nicht frei von der Art von Grauen waren, das
aus einer tiefen Furcht vor dem Unbekannten erwächst, ganz
nahe. Die beiden schwammen vorbei, stießen an die Oberfläche
und tauchten wieder, und nachdem sie vorbeigeschwommen
waren, wandte sich das hellhäutigere der beiden Wesen um und
warf mir unzweifelhaft einen Blick zu, wobei es einen seltsamen
gutturalen Laut von sich gab, der einem halberstickten Aufschrei
meines Namens nicht unähnlich war: »Jack!« und mich mit der
klaren und unverkennbaren Überzeugung zurückließ, daß das
kiemenbewehrte Meereswesen die Züge Jeffrey Coreys trug!
Das verfolgt mich heute noch in meinen Träumen.

-224-
Fragmente
Diese unter Lovecrafts Papieren aufgefundenen Fragmente
sind vermutlich Versuche, in rudimentärer Form, als Vorstufe
zur Ausarbeitung längerer Erzählungen, einige seiner Träume
niederzulegen.
Keines wurde je zu einer Geschichte erweitert. Einen
Schlüssel zu den Traumquellen einiger dieser Fragmente findet
man in Lovecrafts Briefen.

-225-
Azathoth

Als das Alter die Welt traf und das Staunen das Gemüt der
Menschen verließ; als graue Städte dem verrauchten Himmel
ebenso grimmige wie häßliche Riesentürme entgegenstreckten,
in deren Schatten niemand von der Sonne oder blühenden
Frühlingswiesen träumte; als das Wissen die Erde ihres schönen
Kleides beraubte und die Dichter nur mehr von verzerrten
Phantomen sangen, die sie mit trüben und nach innen
gewendeten Augen erblickten; als es zu all dem gekommen war
und die kindischen Hoffnungen auf ewig vergangen waren, da
gab es einen Mann, der aus dem Leben aufbrach zu einer
Suchfahrt in die Räume, in welche die Träume der Welt
entwichen waren.
Vom Namen und von der Behausung dieses Mannes steht
wenig geschrieben, denn sie gehörten allein der Wachwelt an,
doch heißt es auch, daß beide im Dunklen lagen. Es genügt zu
wissen, daß er in einer Stadt mit hohen Mauern wohnte, wo ein
steriles Zwielicht regierte, und daß er den ganzen Tag zwischen
Schatten und Aufruhr geschuftet hatte und am Abend in einen
Raum heimgekommen war, dessen einziges Fenster sich nicht
auf die Felder und Haine hinaus öffnete, sondern auf einen
finsteren Hof, auf den andere Fenster in stumpfer Verzweiflung
hinausstarrten. Von diesem Keller aus sah man nur Wände und
Fenster, außer gelegentlich, wenn man sich weit hinauslehnte
und zu den kleinen Sternen emporspähte, die hoch oben
vorbeizogen. Und da Mauern und Fenster allein jemanden, der
viel träumt und viel liest, bald in den Wahnsinn treiben müssen,
pflegte der Bewohner jenes Raumes sich Nacht um Nacht
hinauszulehnen und hinaufzuspähen, um einen Blick auf einen
Ausschnitt der Dinge jenseits der Wachwelt und des Graus der
hohen Städte zu erhaschen. Nach Jahren fing er an, die langsam
dahinziehenden Sterne beim Namen zu nennen und ihnen im
Geiste zu folgen, wenn sie ihm zu seinem Kummer aus dem
-226-
Blick schwanden; bis sich seinem Auge schließlich viele
geheime Ansichten auftaten, die kein gewöhnliches Auge zu
schauen vermutet. Und eines Nachts wurde eine Brücke über
einen mächtigen Abgrund geschlagen, und der Himmel der
Traumgeister wallte zum Fenster des einsamen Beobachters
herein, um in der dumpfen Luft seines Zimmers aufzugehen und
ihn zu einem Teil seines Fabelwunders zu machen.
In diesem Zimmer trafen ungebärdige Ströme violetter
Mitternacht ein, die vor Goldstaub glitzerten, Strudel von Staub
und Feuer, die aus dem entlegensten Weltraum herbeiwirbelten,
befrachtet mit Wohlgerüchen von jenseits der Welten.
Betäubende Ozeane ergossen sich hier, erleuchtet von Sonnen,
die das Auge nie erblicken wird und in deren Wirbeln sich
seltsame Delphine und Meeresnymphen aus Tiefen, die sich
dem Gedächtnis entziehen, tummelten. Lautlose Unendlichkeit
umströmte den Träumer und führte ihn mit sich fort, ohne auch
nur den Körper zu berühren, der steif aus dem einsamen Fenster
lehnte. Und an vielen Tagen, die die Kalender des Menschen
nicht zählen, trugen ihn die Gezeiten ferner Himmelskugeln
sanft dahin, damit er sich mit den Träumen vereinige, nach
denen er sich sehnte, jene Träume, die dem Menschen
verlorengegangen sind. Und als die Himmelsbahn mehrmals
durchlaufen war, setzten sie ihn sanft schlummernd an einer
grünen Sonnenaufgangsküste ab, einer grünen Küste mit
wohlriechenden Lotosblüten, übersät mit den Sternen roter
Camalaten...
(etwa 1922.)

-227-
Der Sproß

Ich schreibe, den Worten meines Arztes zufolge, auf dem


Totenbett, und meine schrecklichste Befürchtung ist, daß er sich
irrt. Ich nehme an, man wird mich nächste Woche zu Grabe
tragen, aber...
In London gibt es einen Mann, der schreit, wenn die
Kirchenglocken läuten. Er haust mit seiner gestreiften Katze in
Gray's Inn, und die Leute sagen, er sei ein harmloser Irrer. Sein
Zimmer ist vollgestopft mit Büchern der zahmsten und
kindischsten Sorte, und Stunde um Stunde versucht er, sich in
ihren einfältigen Seiten zu verlieren. Er hat nur den einen
Wunsch, ans Leben nicht denken zu müssen. Aus einem
bestimmten Grund ist das Denken für ihn etwas Entsetzliches,
und alles, was die Phantasie anregt, flieht er wie die Pest. Er ist
unwahrscheinlich dünn und grau und verrunzelt, aber manche
Leute behaupten, er sei bei weitem nicht so alt, wie er aussehe.
Die Furcht hält ihn in ihren grausamen Klauen, und jedes
Geräusch läßt ihn auffahren, seine Augen werden starr und auf
seiner Stirn bilden sich Schweißtropfen. Freunde und Gefährten
meidet er, denn er will keine Antwort auf Fragen geben. Jene,
die ihn einst als Gelehrten und Schöngeist kannten, sagen, daß
er jetzt bemitleidenswert aussieht. Er hat Vorjahren den Kontakt
mit ihnen abgebrochen, und keiner von ihnen kann mit
Sicherheit sagen, ob er das Land verlassen hat oder ihnen bloß
auf einem verborgenen Nebenweg aus den Augen geraten ist.
Seit einem Jahrzehnt wohnt er nun im Gray's Inn, und wo er sich
zuvor aufgehalten hatte, darüber ließ er kein Wort verlauten bis
zu der Nacht, da der junge Williams das Necronomicon kaufte.
Williams war ein Träumer, erst dreiundzwanzig, und als er in
das uralte Haus einzog, spürte er etwas Wunderliches, einen
Hauch kosmischen Windes um den grauen verrunzelten Mann
im Nebenzimmer.

-228-
Er zwang ihm seine Freundschaft auf, wo alte Freunde es
nicht wagten, und wunderte sich über die Furcht, die diesem
hageren, abgezehrten Beobachter und Lauscher im Nacken saß.
Denn daß der Alte stets beobachtete und lauschte, daran konnte
kein Zweifel sein. Er beobachtete und lauschte mehr mit seinem
Gemüt als mit Augen und Ohren und trachtete unentwegt,
irgend etwas zu übertäuben, indem er ständig über heiteren,
abgeschmackten Romanen brütete. Und wenn die
Kirchenglocken läuteten, dann hielt er sich die Ohren zu und
schrie, und die graue Katze, die bei ihm hauste, heulte im
Gleichklang mit ihm, bis der letzte Glockenschlag widerhallend
verklang.
Aber so sehr sich Williams auch bemühte, er konnte seinen
Nachbarn nicht dazu bringen, von etwas Belangvollem oder
Verborgenem zu sprechen. Der Alte wurde seinem Aussehen
und seinem Gebaren nicht gerecht, er tat so, als stimme er
lächelnd zu, und plauderte aufgeregt und wie gehetzt von
fröhlichen Banalitäten. Seine Stimme schwoll dabei von
Augenblick zu Augenblick an und wurde immer lauter, bis sie
zuletzt in einem pfeifenden und abgerissenen Falsett
auseinanderfiel. Daß seine Kenntnisse tief und gründlich waren,
ging selbst aus seinen allerbanalsten Bemerkungen zur Genüge
hervor, und Williams war keineswegs überrascht, als er erfuhr,
daß er in Harrow und Oxford studiert hatte. Später stellte sich
heraus, daß er kein Geringerer als Lord Northam war, von
dessen uraltem Stammschloß an der Küste Yorkshires man sich
so viele Seltsamkeiten erzählte. Als Williams jedoch versuchte,
das Gespräch auf das Schloß und seine angeblich römischen
Ursprünge zu bringen, weigerte er sich zuzugeben, daß an ihm
etwas Ungewöhnliches war. Er kicherte sogar durchdringend,
wenn das Gespräch auf die angeblichen tiefen Gewölbe kam, die
aus dem massiven Felsen, der auf die Nordsee hinabblickt,
herausgehauen worden sein sollen.
So standen die Dinge bis zu der Nacht, da Williams das

-229-
berüchtigte Necronomicon des verrückten Arabers Abdul
Alhazred nach Hause brachte. Er hatte von diesem gefürchteten
Band seit seinem sechzehnten Jahr gewußt, als seine
aufkommende Vorliebe für das Bizarre ihn veranlaßt hatte,
einem buckligen alten Buchhändler in der Chandos Street
ausgefallene Fragen zu stellen. Und er hatte sich immer
gewundert, daß die Menschen erblaßten, wenn sie davon
sprachen. Der alten Buchhändler hatte ihm verraten, daß, soweit
man wußte, lediglich fünf Exemplare die von Entsetzen
ausgelösten Bannflüche der Priester und Gesetzgeber gegen das
Buch überstanden hatten, und alle fünf wurden mit ängstlicher
Sorgfalt von Wächtern unter Verschluß gehalten, die sich
angeschickt hatten, die verhaßte Fraktur zu lesen. Zu guter Letzt
aber hatte er nicht nur ein verfügbares Exemplar entdeckt,
sondern hatte es auch um einen lächerlich geringen Betrag
erworben. Und zwar in einem jüdischen Laden in der
heruntergekommenen Gegend um Cläre Market, wo er schon
früher öfter kuriose Sachen erworben hatte. Er glaubte zu sehen,
daß der knorrige alte Levit in seine Bartzotteln lächelte, als er
die gewaltige Entdeckung gemacht hatte. Der voluminöse
Ledereinband mit dem Messingschloß war so ins Auge fallend
und der Preis absurd niedrig.
Der eine Blick, den er hatte auf den Titel werfen dürfen, hatte
genügt, um ihn heftig zu erregen, und einige der Abbildungen,
die in den oberflächlich nach Latein aussehenden Text
eingestreut waren, lösten die dichtesten und beunruhigendsten
Erinnerungen in seinem Geist aus. Er fühlte, daß er das
ungeschlachte Ding umgehend nach Hause schaffen mußte, um
es zu entziffern, und trug es mit solch unmäßiger Eile aus dem
Laden, daß der alte Jude beunruhigend hinter ihm gluckste. Als
er aber endlich sicher in seinem Zimmer angekommen war,
erwies es sich, daß die Verbindung von Fraktur und
verfälschtem Idiom seine Fähigkeiten als Sprachforscher
überstieg, und widerwillig wandte er sich an seinen

-230-
wunderlichen, erschreckten Freund um Hilfe bei dem entstellten,
mittelalterlichen Latein.
Lord Northam flüsterte seiner gescheckten Katze Torheiten
ins Ohr und fuhr heftig zusammen, als der junge Mann eintrat.
Dann erblickte er den Band, fing heftig an zu zittern und fiel in
tiefe Ohnmacht, als Williams den Titel nannte. Als er seine
Sinne wiedererlangt hatte, erzählte er seine Geschichte, erzählte
stoßweise flüsternd von seinem phantastischen Wahngebilde,
damit sein Freund nicht versäume, das verfluchte Buch
unverzüglich zu verbrennen und seine Asche in alle Winde zu
zerstreuen.
Von Anfang an, flüsterte Lord Northam, mußte etwas falsch
gelaufen sein, es wäre jedoch nie zum Ausbruch gekommen,
wenn er seine Forschungen nicht zu weit getrieben hätte. Er war
der neunzehnte Baron einer Linie, deren Anfänge beunruhigend
weit in die Vergangenheit zurückreichten - unglaublich weit,
wenn man einer vagen Überlieferung Glauben schenken durfte,
denn es gab Familiengeschichten, die von einer Abkunft aus der
Zeit vor den Sachsen zu berichten wußten, da ein gewisser
Luneus Gabinius Capito, der Militärtribun der Dritten Legion
des Augustus, die damals in Lindum im römischen Britannien
stationiert war, auf schnellstem Wege seines Kommandos
enthoben worden war, weil er an gewissen Zeremonien
teilgenommen hatte, die mit keiner bekannten Religion zu tun
hatten. Gabinius war, so wußte das Gerücht zu berichten, auf
eine Höhle im Kliff gestoßen, in der seltsame Leute
zusammentrafen und im Dunkeln das Alte Zeichen machten, ein
seltsames Völkchen, von dem die Britannier nur voller Furcht
sprachen, die letzten Überlebenden eines gewaltigen Landes im
Westen, das untergegangen war und nur Inseln zurückgelassen
hatte, mit Steinen und Ringen und Schreinen, von denen
Stonehenge der größte war. Man konnte natürlich nicht sicher
sein, daß die Legende stimmte, derzufolge Gabinius über der
verbotenen Höhle eine unbezwingbare Festung erbaut und ein

-231-
Geschlecht gegründet hatte, das weder Pikten noch Sachsen,
auch nicht Dänen und Normannen auslöschen konnten, oder die
stillschweigende Vermutung, daß diesem Geschlecht der kühne
Gefährte und Unterführer des Schwarzen Prinzen entsprang, den
Eduard der Dritte zum Baron von Northam erhob. All das war
keineswegs gesichert, doch wurde oft davon erzählt; und
wirklich sahen die Steinbauten von Schloß Northam
beunruhigenderweise wie das Mauerwerk von Hadrians Wall
aus. Als Kind hatte Lord Northam merkwürdige Träume gehabt,
wenn er in den älteren Teilen der Burg schlief, und hatte sich
angewöhnt, durch sein Gedächtnis hindurch auf
halbverschwommene Szenen, Muster und Eindrücke
zurückzublicken, die an seinen Erlebnissen im Wachzustand
keinen Anteil hatten. Er wurde ein Träumer, der das Leben fade
und unbefriedigend fand, ein Erkunder seltsamer Reiche und
einst vertrauter Beziehungen, die allerdings der sichtbaren Welt
verborgen waren.
In dem Gefühl, daß die Welt des Greifbaren nur ein Atom in
einem unermeßlichen und bedeutungsschweren Gewebe ist und
daß unbekannte Kräfte die Sphäre des Bekannten an jedem
Punkt bedrängen und durchdringen, lernte Northam als Knabe
und als junger Mann nacheinander die Quellen der
herkömmlichen Religion und der okkulten Geheimlehren
kennen. Nirgends jedoch konnte er Ruhe und Zufriedenheit
finden, und je älter er wurde, desto aufreizender wurden für ihn
Schalheit und Begrenztheit des Lebens. In den neunziger Jahren
hatte er sich mit dem Satanismus eingelassen, und zu allen
Zeiten nahm er gierig jede Lehre und Theorie in sich auf, die ein
Entkommen aus den engen Perspektiven der Wissenschaft und
den stumpfsinnigen unveränderlichen Naturgesetzen zu
versprechen schienen. Bücher wie Ignatius Donnellys visionäre
Darstellung von Atlantis verschlang er mit Lust, und ein
Dutzend zweifelhafter Vorläufer des Charles Fort zogen ihn in
den Bann ihrer Phantastereien. Er reiste meilenweit, um einer

-232-
flüchtigen Dorferzählung von einem abnormen Wunder
nachzugehen, und einmal zog er in die Wüste Arabiens, um eine
Stadt ohne Namen zu suchen, von der er verschwommen gehört
hatte und die niemand je mit eigenen Augen gesehen hat. In ihm
regte sich quälend die Überzeugung, irgendwo gäbe es einen
leichten Zugang, der ihm, wenn er ihn fand, unschwer Eintritt in
jene äußersten Tiefen verschaffen würde, deren Nachhall so
düster in seinem Hinterkopf pochte. Vielleicht existierte das Tor
in der sichtbaren Welt, vielleicht aber auch nur in seinem Gemüt
und in seiner Seele. Vielleicht gab es in seinem eigenen
halberforschten Gehirn jenes kryptische Bindeglied, das ihn für
uralte und zukünftige Lebensspannen in vergessenen
Dimensionen erwecken, das ihn mit den Sternen und den
Unendlichkeiten und Ewigkeiten hinter ihnen verbinden würde...
(ungefähr um 1926)

-233-
Das Buch

Meine Erinnerungen sind völlig durcheinander. Ich kann nicht


einmal sagen, wo sie einsetzen, denn zuweilen tauchen
bedrükkende Bilder von Jahren, die hinter mir liegen, auf, und
dann wieder scheint es, als sei der Augenblick nur ein isolierter
Punkt in einer grauen, gestaltlosen Unendlichkeit. Ich weiß nicht
einmal sicher, wie ich diese Botschaften verständlich machen
soll. Zwar weiß ich, daß ich spreche, aber ich habe den vagen
Eindruck, daß irgendeine seltsame und vielleicht entsetzliche
Art der Vermittlung nötig sein wird, um das, was ich sage, bis
zu dem Punkt, da ich gehört werden will, zu ertragen. Auch
meine Identität liegt in irritierendem Dunkel. Ich scheine einen
gewaltigen Schock erlitten zu haben - vielleicht nach einer
absolut monströsen Übersteigerung einer Serie einzigartiger,
unglaublicher Erlebnisse.
Die Serie von Erlebnissen hängt natürlich mit jenem
wurmstichigen Buch zusammen. Ich erinnere mich, wann ich es
fand - an einer düsteren Stätte, über die ständig wallende Nebel
hinziehen, in der Nähe eines öligschwarzen Flusses. Die Stätte
war sehr alt, sah ziemlich heruntergekommen aus, und die bis
zur Decke reichenden Bücherregale voller modriger Bände
erstreckten sich endlos weiter in fensterlose Innenräume und
Nischen. Überdies lagen große, ungeordnete Bücherstapel auf
dem Fußboden und in primitiven Kisten. Auf einem solchen
Stapel hatte ich das Zeug gefunden. Ich erfuhr nie seinen Titel,
denn die Anfangsseiten fehlten, aber die letzten Seiten lagen
aufgeschlagen da und lenkten meinen flüchtigen Blick auf
etwas, das meine Sinne schwindeln ließ.
Ich wußte von einer Art Formel - einer Aufstellung, was man
sagen und tun sollte -, in der ich etwas Unheilvolles und
Verbotenes erkannte, etwas, von dem ich zuvor in versteckten
Artikeln gelesen hatte, in denen sich Abscheu und Faszination

-234-
mischten, niedergeschrieben von jenen seltsamen, uralten
Erforschern der wohlgehüteten Geheimnisse des Universums,
deren vermodernde Texte ich in mich aufzunehmen liebte. Sie
war ein Schlüssel - eine Art Führer - zu gewissen Toren und
Übergängen, von denen Mystiker geträumt und geraunt haben
seit der Jugend der Spezies, und die zu Freiheiten und
Entdeckungen außerhalb der drei Dimensionen und Lebens- und
Materiebereiche, die wir kennen, führte. Seit Jahrhunderten
hatte sich niemand an ihre lebensspendende Substanz erinnert
oder gewußt, wo sie zu finden sei, aber dieses Buch war
wirklich sehr alt. Keine Druckerpresse, sondern die Hand eines
halbverrückten Mönchs hatte diese unheimlichen lateinischen
Formulierungen in Unzialen von ehrfurchtgebietendem Alter
gezogen. Ich erinnere mich an den höhnischen Blick des alten
Mannes, sein Kichern, und daß er mit der Hand ein seltsames
Zeichen machte, als ich es forttrug. Er hatte sich geweigert, eine
Bezahlung anzunehmen, und erst viel später erriet ich den
Grund. Als ich durch diese engen, gewundenen, in Nebel
gehüllten Straßen der Hafengegend nach Hause eilte, hatte ich
den beängstigenden Eindruck, daß mir leise trippelnde Schritte
beharrlich folgten. Die jahrhundertealten, verfallenden Häuser
rechts und links schienen neu belebt durch eine schauerliche
Bösartigkeit - als ob ein bisher aufgestauter Kanal teuflischer
Intelligenz plötzlich geöffnet zu fließen begänne. Ich fühlte, daß
diese Wände und überhängenden Giebel aus schimmelbedeckten
Ziegeln und schwammigem Mörtel und Holz - mit
augenähnlichen, rautenförmigen Fenstern, die höhnisch blickten
- drauf und dran waren, sich vorzuschieben und mich zu
erdrücken... und doch hatte ich nur das unbedeutendste
Bruchstück jenes gotteslästerlichen Liedes gelesen, bevor ich
das Buch zuklappte und einsteckte.
Ich erinnere mich, wie ich schließlich das Buch las - mit
bleichem Gesicht, eingeschlossen in dem Giebelzimmer, das ich
seit langem seltsamen Forschungen gewidmet hatte. In dem

-235-
großen Haus war es ganz still, denn ich war erst nach oben
gegangen, als Mitternacht vorbei war. Ich glaube, ich hatte
damals eine Familie obwohl die Einzelheiten völlig
verschwommen sind -, und ich weiß, daß es zahlreiche
Dienstboten gab. In welchem Jahr das war, vermag ich nicht zu
sagen, denn seit damals habe ich viele Zeitalter und
Dimensionen erlebt, und mein ganzer Zeitbegriff hat sich
aufgelöst und verändert. Ich las bei Kerzenschein - ich erinnere
mich noch an das unbarmherzige Tropfen des Wachses -, und
von fernen Glockentürmen erklang ab und zu Glockengeläut.
Ich schien dieses Glockengeläut mit merkwürdiger Spannung zu
verfolgen, als fürchtete ich, darunter einen fernen, störenden
Klang zu vernehmen.
Dann war das erste Mal Kratzen und Tappen am Giebelfenster
zu hören, das hoch über die anderen Dächer der Stadt
hinwegblickte. Es war zu vernehmen, als ich laut den neunten
Vers dieses Urliedes vor mich hin sprach, und unter Schaudern
war mir klar, was es bedeutete. Denn derjenige, der die Tore
passiert, erwirbt sich immer einen Schatten, und hinfort ist er nie
mehr allein. Ich hatte die Geister heraufbeschworen - und das
Buch enthüllte wirklich alles, was ich vermutet hatte. In jener
Nacht schritt ich durch das Tor, hinein in einen Wirbel aus
verzerrter Zeit und Vorstellung, und als ich mich am Morgen in
dem Dachzimmer fand, erblickte ich an Wänden und Borden
und Einrichtungen etwas, was ich nie zuvor gesehen hatte.
Auch nachher konnte ich die Welt nie mehr so wahrnehmen,
wie ich sie gekannt hatte. In die augenblickliche Szene mischte
sich immer ein wenig Vergangenheit und ein wenig Zukunft,
und jeder einst vertraute Gegenstand ragte fremdartig in die
neue Perspektive hinein, zu der meine erweiterte Sicht geführt
hatte. Von da an wandelte ich in einem phantastischen Traum
unbekannter und halbbekannter Formen, und mit jedem neuen
Tor, das ich durchschritt, verloren die Dinge der
eingeschränkten Sphäre, an die ich so lang gebunden gewesen

-236-
war, an Schärfe. Was ich um mich sah, konnte niemand sonst
sehen, und ich wurde doppelt so schweigsam und reserviert,
damit man mich nicht für verrückt hielt. Hunde fürchteten mich,
denn sie spürten den äußeren Schatten, der nie von meiner Seite
wich. Ich las jedoch noch immer weiter- in verborgenen,
vergessenen Büchern und Schriftrollen, zu denen mich meine
neue Sicht führte - und drängte vorwärts durch neue Tore des
Weltraums und Seins und der Lebensformen auf den Kern des
unbekannten Kosmos zu.
Ich erinnere mich an die Nacht, da ich die fünf konzentrischen
Feuerkreise auf dem Fußboden zog und im Innersten stand und
jene ungeheuerliche Litanei anstimmte, die der Sendbote aus der
Tartarei mitgebracht hatte. Die Mauern schmolzen hinweg, und
ich wurde von einem schwarzen Wind durch Abgründe von
bodenlosem Grau mitgerissen, Meilen unter mir die
nadelscharfen Spitzen unbekannter Berge. Nach einiger Zeit
herrschte völlige Schwärze, und dann bildete das Licht von
Abermillionen Sternen seltsame, fremdartige Sternbilder.
Schließlich erblickte ich unter mir eine grün beleuchtete Ebene,
und darauf unterschied ich die verzerrten Türme einer Stadt, in
einem Stil erbaut, der mir nie zu Gesicht gekommen war, der
mir nie bei meiner Lektüre oder im Traum begegnet war. Als ich
näher an diese Stadt heranschwebte, erblickte ich ein großes
quadratisches Gebäude aus Stein auf einem offenen Platz und
spürte, wie eine entsetzliche Furcht mich in ihre Fänge nahm.
Ich schrie und kämpfte, und nach einer Zeit der Bewußtlosigkeit
fand ich mich in meiner Dachkammer wieder, der Länge nach
ausgestreckt über fünf leuchtenden Kreisen auf dem Boden. Die
Wanderungen jener Nacht hatten nichts Seltsameres an sich als
die Wanderungen vieler früherer Nächte, doch war das Grauen
größer, denn ich wußte, daß ich diesen Abgründen und Welten
draußen näher war als je zuvor. In der Folge war ich bei meinen
Beschwörungen vorsichtiger, denn ich verspürte nicht den
Wunsch, vom Körper und von der Erde in unbekannten

-237-
Abgründen, aus denen ich niemals zurückkehren könnte,
abgeschnitten zu werden...
(ungefähr um 1934)

-238-
Das Ding im Mondlicht

Morgan ist kein Literat. Die Wahrheit sieht vielmehr so aus,


daß er nicht einmal zusammenhängend Englisch sprechen kann.
Das ist der Grund, warum ich über die Worte staune, die er
geschrieben hat, auch wenn andere gelacht haben.
An dem Abend, als es passierte, war er allein. Unvermutet
überkam ihn ein unüberwindbarer Drang zu schreiben, er griff
zur Feder und schrieb folgendes:
Mein Name ist Howard Phillips. Ich lebe in der College Street
66 in Providence, Rhode Island. Am 2.4. November 1927 - ich
weiß nicht einmal, welches Jahr jetzt sein mag - versank ich in
Schlaf und träumte, und seit damals bin ich nicht imstande,
wieder wach zu werden.
Mein Traum setzte ein in einem naßkalten, vom Schilf
überwachsenen Sumpf, der unter einem grauen Herbsthimmel
lag. Gegen Norden zu ragte ein Kliff aus flechtenüberzogenem
Gestein auf. Von einem unklaren Drang getrieben, stieg ich eine
Spalte oder Rinne in dieser überhängenden Steilwand empor,
und beim Klettern bemerkte ich zahllose furchterregende
Höhlen, zur Rechten und zur Linken, bis in die Tiefen des
Felsplateaus aufgesperrte schwarze Rachen.
An mehreren Stellen war der Durchgang überdacht, weil die
Felsen über der engen Spalte ganz nahe zusammentraten; diese
Stellen waren stockdunkel, so daß man unmöglich irgendwelche
Höhlen erkennen konnte, die dort vorhanden sein mochten. In
einem solchen dunklen Abschnitt überkam mich eine
einzigartige Furcht, als verschlängen feine, körperlose
Ausdünstungen aus dem Abgrund meinen Geist. Es war jedoch
zu dunkel, als daß ich die Quelle meiner Beunruhigung entdeckt
hätte.
Schließlich gelangte ich auf eine Hochebene mit
moosbewachsenem Fels und kargem Boden, erhellt von einem
-239-
schwachen Mondlicht, das das erlöschende Tagesgestirn
abgelöst hatte. Als ich mich umblickte, gewahrte ich kein
lebendes Wesen, aber ich spürte eine höchst merkwürdige
Bewegung weit unter mir, unter den flüsternden Binsen des
Pestsumpfes, den ich erst vor kurzem hinter mir gelassen hatte.
Nachdem ich eine Strecke gegangen war, stieß ich auf die
rostigen Schienen einer Straßenbahn und die wurmzerfressenen
Pfosten, die noch immer die schlaff durchhängende Oberleitung
hielten. Als ich diesen Gleisen folgte, traf ich bald auf einen
gelben Waggon mit Plattform und der Nummer 1852- ein
gewöhnlicher, vorn und hinten steuerbarer Typ, wie er von 1900
bis 1910 üblich war. Es saß niemand darin, doch stand er
offensichtlich zur Abfahrt bereit, der Stromabnehmer war
ausgefahren, und die Druckluftbremse pochte ab und zu unter
dem Boden. Ich stieg ein und sah mich vergebens nach dem
Lichtschalter um - und dabei fiel mir auf, daß der Steuerhebel
fehlte, was darauf hindeutete, daß sich der Wagenführer für
kurze Zeit entfernt hatte. Ich setzte mich auf einen der Quersitze
des Fahrzeugs. Bald hörte ich in dem spärlichen Gras zur Linken
ein Schwirren und sah die dunklen Gestalten zweier Menschen
im Mondlicht aufragen. Sie trugen die Uniformmützen einer
Eisenbahngesellschaft, es handelte sich zweifellos um den
Fahrer und den Schaffner. Dann schnüffelte einer von ihnen
auffallend heftig und wandte sein Gesicht dem Mond zu, um ihn
anzuheulen. Der andere ließ sich auf alle viere nieder und lief
auf den Wagen zu.
Ich sprang sofort auf, stürzte wie verrückt aus dem Wagen
und rannte über endlose Meilen des Plateaus, bis ich vor
Erschöpfung nicht weiterkonnte - und zwar nicht deswegen,
weil sich der Schaffner auf alle Viere niedergelassen hatte,
sondern weil das Gesicht des Wagenführers lediglich ein weißer
Kegel war, der in einem blutroten Saugarm auslief.Ich wußte
natürlich, daß ich nur träumte, aber dieses Wissen war
keineswegs angenehm.

-240-
Seit jener furchtbaren Nacht bete ich nur, ich möge erwachen
- ich bin aber nicht erwacht!
Vielmehr stelle ich fest, daß ich ein Bewohner dieser
entsetzlichen Traumwelt bin! Die erste Nacht wich der
Morgenröte, und ich schlenderte ziellos durch die einsame
Sumpflandschaft. Als die Nacht hereinbrach, wanderte ich noch
immer umher, in der Hoffnung, wach zu werden. Plötzlich
jedoch teilte ich das Schilf und erblickte vor mir einen uralten
Eisenbahnwaggon - und auf einer Seite ein kegelgesichtiges
Wesen, das den Kopf hob und seltsam in dem herabfließenden
Mondlicht heulte.
Tag für Tag war es dasselbe. Jede Nacht führte mich wieder
an jenen Schreckensort. Ich habe versucht, mich bei Anbruch
der Nacht nicht zu bewegen, aber ich muß wohl schlafwandeln,
denn ich erwache stets, sowie das Schreckenswesen vor mir im
bleichen Mondschein heult, und ich drehe mich um und fliehe
wie von Sinnen.
Guter Gott! Wann werde ich erwachen? Das ist es, was
Morgan niederschrieb! Ich würde schon in die College Street 66
in Providence gehen, aber ich fürchte das, was ich dort vielleicht
vorfinde.
(1934)

-241-
Das uralte Volk

Providence, 2. November 1927 Lieber Melmoth:


... Du beschäftigst Dich also damit, in die Zwielichte
Vergangenheit dieses unausstehlichen jungen Asiaten Varius
Avitus Bassianus einzudringen? Ach! Es gibt nur wenige
Personen, die ich mehr verabscheue als diese verfluchte kleine
syrische Ratte!
Mich hat kürzlich die Lektüre von James Rhoades' Aeneis1 in
die Zeit der Römer zurückgeführt, eine Übersetzung, die ich
zuvor nie gelesen hatte und die P. Maro gerechter wird als jede
andere Fassung, die ich kenne - darunter die meines
verstorbenen Onkels Dr. Clark, die unveröffentlicht ist. Dieser
Vergilische Zeitvertreib, im Verein mit den gespenstischen
Gedanken, die mit dem Vorabend von Allerheiligen mit seinen
Hexensabbaten auf den Hügeln zusammenhängen, rief in mir
letzte Montagnacht einen römischen Traum von solch
übernatürlicher Klarheit und Lebendigkeit und solch titanischen
Andeutungen verborgenen Grauens hervor, daß ich wahrhaft
glaube, ich werde mich seiner eines Tages in meiner
erzählenden Prosa bedienen. Träume von Rom waren in meiner
Jugend nichts Ungewöhnliches - ich pflegte dem göttlichen
Julius als ein Tribunus Militum der Nacht durch ganz Gallien zu
folgen -, aber seit langem hatte ich keinen Traum von solch
außerordentlich beeindruckender Kraft mehr gehabt.
Es war ein flammender Sonnenuntergang oder
Spätnachmittag in dem winzigen Provinzstädtchen Pompelo, am
Fuß der Pyrenäen im spanischen Citerior.2 Es muß in einem

1
Rhoades' Übersetzung von Vergils Epos ist gereimt und wurde erstmals um
die Jahrhundertwende veröffentlicht.
2
Das weist darauf hin, daß die Stadt ungefähr nordwestlich vom heutigen
Barcelona lag.

-242-
späten Jahr der Republik3 gewesen sein, denn die Provinz wurde
noch immer von einem Prokonsul des Senats und nicht von
einem prätorianischen Unterfeldherrn des Augustus regiert, und
der Tag war der erste vor den Kaienden des November.4 Die
Berge erhoben sich scharlachrot und golden im Norden der
Kleinstadt, und die nach Westen eilende Sonne schien rötlich
und mystisch auf die rohen neuen, aus Stein und Mörtel
zusammengefügten Gebäude des staubigen Forums herab und
auf die Holzwände des in einiger Entfernung weiter östlich
gelegenen Zirkus. Gruppen von Bürgern - breitstirnige römische
Kolonisten und grobhaarige romanisierte Einheimische neben
offenkundigen Kreuzungen beider Rassen, alle gleichermaßen in
billige Wolltogen gekleidet - und Beimischungen von behelmten
Legionären und in grobe Mäntel gekleidete, schwarzbärtige
Stammesangehörige der ringsum siedelnden Vaskonen -, sie alle
tummelten sich auf den wenigen gepflasterten Straßen und dem
Forum, angetrieben von einer unbestimmten und unbenennbaren
Besorgnis. Ich selbst war gerade aus einer Sänfte gestiegen,
welche illyrische Träger ziemlich eilig aus Calagurris, von der
anderen Seite des Iberus im Süden, hergetragen zu haben
schienen. Es hatte den Anschein, als sei ich ein Provinzquästor
namens L. Caelius Rufus, und als sei ich vom Prokonsul P.
Scribonius Libo hierherzitiert worden, der erst vor einigen
Tagen aus Tarraco5 angekommen war. Bei den Soldaten
handelte es sich um die fünfte Kohorte der XII. Legion unter
dem Militärtribunen Sex. Asellius; und der Unterfeldherr des
ganzen Gebietes, Cr. Balbutius, war ebenfalls aus Calagurris
gekommen, dem ständigen Stationierungsort.

3
Mit dem Sieg des Augustus (d.h. Oktavians) über Antonius in der Schlacht
von Aktium (z. September 31 v.Chr.) war praktisch das Ende der Republik
gekommen, aber Augustus nahm den Titel Princeps erst am 16. Januar z 7 v.
Chr. an.
4
D.h. 31. Oktober, die Kalenden waren der Monatserste.
5
Das heutige Tarragona, ungefähr südlich von Barcelona an der Küste.

-243-
Die Sitzung war einberufen worden wegen des Schreckens,
der die Berge in Bann schlug. Die Stadtbewohner wurden von
Furcht gepeinigt und hatten um die Entsendung einer Kohorte
aus Calagurris gebeten. Die entsetzliche Zeit des Herbstes war
angebrochen, und das wilde Bergvolk traf Vorbereitungen für
die grausigen Zeremonien, die in den Städten nur gerüchteweise
bekannt waren. Es handelte sich um einen uralten Volksschlag,
der weiter oben in den Bergen wohnte und eine abgehackte
Sprache sprach, die den Vaskonen unverständlich war. Sie
ließen sich selten sehen. Ein paarmal im Jahr jedoch sandten sie
kleine gelbe, schielende Sendboten herab (die wie Skythen6
aussahen), um mit den Kaufleuten mittels Zeichensprache
Handel zu treiben. Und jeden Frühling und Herbst hielten sie
ihre berüchtigten Zeremonien auf den Gipfeln ab. Ihr Heulen
und ihre Altarfeuer versetzten dann die Dörfer in Schrekken.
Immer dasselbe - die Nacht vor den Kaienden des Mai und die
Nacht vor den Kaienden des November. Knapp vor diesen
Nächten pflegten Stadtbewohner zu verschwinden, und man
hörte nie mehr von ihnen. Und es liefen Gerüchte um, daß die
einheimischen Hirten und Bauern dem uralten Volk nicht übel
gesinnt waren - daß mehr als eine strohgedeckte Hütte an den
beiden entsetzlichen Sabbaten vor Mitternacht leer stand.
In diesem Jahr war die Furcht größer als sonst, denn die Leute
wußten, daß Pompelo den Zorn des uralten Volks erregt hatte.
Vor drei Monaten waren fünf der kleinen schielenden Händler
von den Bergen herabgekommen, und bei einer Rauferei auf
dem Markt waren drei von ihnen erschlagen worden. Die
übrigen beiden waren wortlos in ihre Berge zurückgekehrt - und
in diesem Herbst war kein einziger Dorfbewohner
verschwunden. In dieser Ausnahme lag eine Bedrohung. Es sah
dem uralten Volk überhaupt nicht ähnlich, am Sabbat seine

6
Das sind die Bewohner auf dem Gebiet der heutigen Krim und ihrer
Umgebung, die seit der Zeit der Griechen (vgl. Herodot III. 1 ff.) für ihr
Barbarentum bekannt waren.

-244-
Opfer zu verschonen. Das war zu schön, um normal zu sein, und
die Dorfbewohner warteten in Angst und Schrecken.
Seit vielen Nächten war aus den Bergen ein dumpfes
Trommeln zu hören gewesen, und schließlich hatte Tib.Annaes
aus Stiipo (der halb eingeborener Abstammung war) zu
Balbutius in Calagurris senden lassen, mit der Bitte um eine
Kohorte, die dem Sabbat in der entsetzlichen Nacht ein Ende
bereiten sollte. Balbutius hatte sich gedankenlos geweigert mit
der Begründung, daß die Befürchtungen der Dorfbewohner
grundlos waren und daß die schaurigen Riten der Bergbewohner
römische Bürger nicht zu kümmern brauchten, solange die
eigenen Leute nicht bedroht waren. Ich jedoch, der ich als enger
Freund des Balbutius galt, konnte seine Meinung nicht teilen,
denn ich behauptete, daß ich tief in die schwarze, verbotene
Überlieferung eingedrungen war und daß ich das uralte Volk für
imstande hielt, über die Stadt so gut wie jedes unsägliche
Verhängnis zu bringen. Nicht zuletzt war die Stadt eine
römische Siedlung mit einer großen Anzahl römischer Bürger.
Helvia, die leibliche Mutter des Beschwerde führenden Aedilen,
war eine reinrassige Römerin, die Tochter des M.
Helvius Cinna, der mit Scipios Heer hierher gezogen war.
Deshalb hatte ich einen Sklaven - einen behenden kleinen
Griechen namens Antipater mit Briefen zu dem Prokonsul
gesandt, und Scribonius war meinem Ersuchen nachgekommen
und hatte Balbutius befohlen, seine fünfte Kohorte unter
Asellius nach Pompelo zu entsenden, um am Vorabend der
Kaienden des November in der Dämmerung in die Berge
einzumarschieren und jedweder der unsäglichen Orgien ein für
allemal ein Ende zu bereiten - und allfällige Gefangene für den
nächsten Gerichtstag des Proprätors nach Tarraco zu schaffen.
Balbutius hatte jedoch Einspruch dagegen erhoben, so daß ein
weiterer Briefwechsel folgte.
Ich hatte dem Prokonsul so ausführlich geschrieben, daß er
sich ernsthaft interessiert gezeigt und entschlossen hatte,

-245-
persönlich zu untersuchen, was es mit diesen Schrecken auf sich
hatte. Schließlich hatte er sich mit seinen Liktoren und Dienern
nach Pompelo begeben, wo er genügend von den Gerüchten
vernommen hatte, um im höchsten Maß beeindruckt und besorgt
zu sein und fest auf seinem Befehl zu bestehen, den Sabbat
auszumerzen. Da er wünschte, sich mit jemandem beraten zu
können, der die Sache studiert hatte, befahl er mir, mich der
Kohorte des Asellius anzuschließen - und Balbutius war
ebenfalls mitgekommen, um seine gegenteiligen Ansichten
weiter zu vertreten, denn er war aufrichtig überzeugt, daß
drastische militärische Aktionen unter den Vaskonen eine
gefährliche Stimmung der Unruhe auslösen würden, sowohl bei
den mit ihren Stämmen lebenden wie den angesiedelten. Also
waren wir hier alle in dem mystischen herbstlichen
Sonnenuntergang der Berge versammelt - der alte Scribonius
Libo in einer Toga Praetexta, das goldene Licht spiegelte sich
auf seinem Glatzkopf und in seinem faltigen Habichtsgesicht,
Balbutius in schimmerndem Helm und Brustpanzer, die
blaurasierten Lippen zusammengepreßt in bewußt hartnäckiger
Widersetzung, der junge Asellius mit seinen Beinschienen und
seinem herablassenden Lächeln und die merkwürdige Menge
von Stadtbewohnern, Legionären, Stammesangehörigen,
Bauern, Liktoren, Sklaven und Dienern. Ich selbst trug
offensichtlich eine gewöhnliche Toga und hob mich durch kein
Merkmal besonders hervor.
Und überall herrschte brütendes Entsetzen. Die Stadt- und
Umlandbewohner wagten kaum die Stimme zu erheben, und die
Männer aus Libos Gefolge, die seit fast einer Woche hier waren,
schienen ein wenig von dem namenlosen Furchtgefühl
angesteckt worden zu sein. Der alte Scribonius selbst sah sehr
ernst drein, und den scharfen Stimmen von uns
Spätergekommenen schien eine merkwürdige
Unangemessenheit zu eignen, als befänden wir uns an einer
Stätte des Todes oder im Tempel eines mystischen Gottes. Wir

-246-
betraten das Prätorium und hielten ernste Beratungen ab.
Balbutius brachte nachdrücklich seine Einwände vor und wurde
von Asellius unterstützt, der alle Einheimischen aufs äußerste zu
verachten schien, es aber gleichzeitig für inopportun hielt,
Aufruhr unter ihnen auszulösen.
Beide Soldaten vertraten den Standpunkt, daß wir es uns eher
leisten konnten, die Minderheit von Kolonisten und zivilisierten
Einheimischen durch Untätigkeit vor den Kopf zu stoßen, als
uns höchstwahrscheinlich eine Mehrheit von
Stammesangehörigen und Hüttenbewohnern zu Feinden zu
machen, indem wir die gefürchteten Zeremonien ausrotteten. Ich
andererseits erneuerte meine Forderung, hart durchzugreifen,
und bot mich an, die Kohorte auf jeder Strafexpedition zu
begleiten, zu der sie aufbrechen mochte. Ich wies darauf hin,
daß die barbarischen Vaskonen bestenfalls Unruhe zeigten und
wir ihrer Loyalität nicht sicher sein konnten, so daß
Zusammenstöße mit ihnen früher oder später unausweichlich
waren, welchen Kurs wir auch einschlugen, daß sie sich in der
Vergangenheit nicht als ernsthafte Gegner für unsere Legionen
erwiesen hatten und daß es den Vertretern des römischen Volks
schlecht anstünde, es Barbaren zu gestatten, sich in eine Politik
einzumischen, wie sie Gerechtigkeit und Ansehen der Republik
erforderten. Daß andererseits auch die reibungslose Verwaltung
einer Provinz in erster Linie von der Sicherheit und dem guten
Willen des zivilisierten Elements abhing, in dessen Händen der
lokale Ablauf von Handel und Wohlstand lag und in dessen
Adern eine beträchtliche Beimischung unseres eigenen
italienischen Blutes zirkulierte. Es war, obwohl es der Zahl nach
eine Minderheit bilden mochte, das stabile Element, auf dessen
Zuverlässigkeit man bauen konnte und dessen Mitarbeit die
Provinz am festesten mit dem Imperium des Senats und des
römischen Volkes verbinden würde. Es war zugleich unsere
Pflicht und unser Vorteil, ihm den Schutz zu bieten, der Bürgern
Roms zustand, selbst (und an dieser Stelle warf ich Balbutius

-247-
und Asellius einen sarkastischen Blick zu) wenn es einige Mühe
kostete durchzugreifen und Würfelspiel und Hahnenkämpfe im
Lager Calagurris kurz unterbrochen würden.
Daß die Gefahr für die Stadt und die Bewohner Pompelos
keine Einbildung war, stand für mich nach Studien
unzweifelhaft fest. Ich hatte zahlreiche Schriftrollen aus Syrien,
Ägypten und den kryptischen Städten Etruriens7 gelesen und
hatte ausführlich Zwiegespräche mit dem blutrünstigen Priester
der Diana Aricina in seinem Tempel in den Wäldern, die an den
Lacus Nemorensis8 grenzten, gehalten.
Entsetzlich Verhängnisvolles konnte am Sabbat aus den
Bergen herabbeschworen werden, Verhängnisse, die man auf
einem Territorium des römischen Volkes einfach nicht dulden
durfte, und Orgien von der Art zuzulassen, wie sie bekanntlich
am Sabbat gefeiert werden, wäre kaum mit den Gepflogenheiten
jener vereinbar, deren Vorväter zur Zeit des Konsuls A.
Postumius so viele römische Bürger wegen Ausübung der
Bacchanalien hatten hinrichten lassen - ein Vorfall, der auf
ewige Zeiten in Erinnerung gerufen wurde durch das Senatus
Consultum de Bacchanalibus, in Bronze graviert und für jedes
Auge sichtbar. Rechtzeitig unter Kontrolle gehalten, ehe die
Ausbreitung der Riten womöglich etwas auslöste, womit das
Eisen eines römischen Pilums nicht mehr fertig wurde, würde
der Sabbat die Stärke einer einzigen Kohorte nicht überfordern.
Nur Teilnehmer sollten festgenommen werden, und wenn man

7
D.h. Norditalien. Für die Menschen des Altertums wie der heutigen Zeit
waren und sind die Etrusker ein Geheimnis: niemand kann mit Sicherheit
sagen, woher sie kamen (Herodot 1.94 hat möglicherweise recht, wenn er
anmerkt, daß sie vielleicht eine Kolonie waren, die von Lydien in Kleinasien
ausgeschickt wurde, vielleicht im 8. vorchristlichen Jahrhundert); ihre
Sprache - die wir noch nicht entziffert haben - gehört nicht zur
indoeuropäischen Sprachenfamilie.
8
Dieser Tempel, dessen Ruinen noch immr erhalten sind, liegt rund 18
Meilen südöstlich von Rom.

-248-
die große Anzahl bloßer Zuschauer verschonte, ließe sich die
Verstimmung bei dem sympathisierenden Teil der
Landbevölkerung weitgehend in Grenzen halten. Kurzum,
sowohl aus prinzipiellen wie aus politischen Gründen war
entschlossenes Handeln angezeigt, und ich konnte nicht daran
zweifeln, daß Publius Scribonius in Anbetracht der Würde und
Verpflichtungen des Volkes von Rom seinen Plan aufrecht
halten würde, die Kohorte zu entsenden und mich mit ihr, aller
Einwände zum Trotz, die Balbutius und Asellius - die
wahrhaftig mehr als Provinzbewohner denn als Römer sprachen
- in wachsender Zahl noch vorbringen mochten.
Die sinkende Sonne stand jetzt schon sehr niedrig, und die
ganze Stadt schien in einen unwirklichen und unheilvollen
Glanz getaucht. Dann bekundete der Prokonsul P. Scribonius
seine Zustimmung zu meinen Worten und teilte mich der
Kohorte in der vorübergehenden Funktion eines Centurio
primipilus zu. Balbutius und Asellius beugten sich dem, der eine
bereitwilliger als der andere.
Als die Dämmerung an den wilden Herbsthängen niedersank,
schwebte ein getragenes, schauriges Gedröhn fremdartiger
Trommeln in gräßlichen Rhythmen von ferne herab. Einige
wenige Legionäre zeigten sich furchtsam, aber scharfe Befehle
stellten die Ordnung her, und die ganze Kohorte nahm bald auf
der offenen Ebene östlich des Zirkus Aufstellung. Libo selbst,
aber auch Balbutius bestanden darauf, die Kohorte zu begleiten.
Es bereitete jedoch große Schwierigkeiten, einen einheimischen
Führer zu finden, der den Weg zu den Bergen weisen konnte.
Schließlich erklärte sich ein junger Mann namens Vercellius, der
Sohn reinrassiger römischer Eltern, bereit, uns zumindest über
die Ausläufer hinaus zu führen. Wir marschierten in der
einsetzenden Dämmerung los, die schwache Silbersichel des
Neumonds zitterte über den Wäldern zu unserer Linken.
Das, was uns am meisten in Unruhe versetzte, war die Frage,
ob der Sabbat überhaupt abgehalten wurde. Berichte vom

-249-
Anmarsch der Kohorte mußten die Berge erreicht haben, und
selbst die Tatsache, daß eine endgültige Entscheidung noch
ausstand, konnte dem Gerücht nichts von seiner beunruhigenden
Wirkung nehmen - und doch ließen sich die unheimlichen
Trommeln von gestern vernehmen, als ob die Feiernden einen
besonderen Grund hätten, sich nicht darum zu kümmern, ob
Streitkräfte des Römischen Volkes gegen sie marschierten oder
nicht.
Die Geräusche schwollen an, als wir in einer Schlucht
aufwärts in die Berge marschierten. Bewaldete Steilhänge
schlössen uns rechts und links ein, und im flackernden Licht
unserer Fackeln zeigten sich merkwürdig phantastische
Baumstämme. Wir waren alle zu Fuß unterwegs, mit Ausnahme
von Libo, Balbutius, Asellius, zwei oder drei Zenturionen und
mir selbst. Schließlich wurde der Pfad so steil und eng, daß die
Berittenen gezwungen waren, die Pferde zurückzulassen. Eine
Abteilung von zehn Mann wurde zu ihrer Bewachung abgestellt,
obwohl es wenig wahrscheinlich war, daß in einer solchen
Schreckensnacht Räuberbanden unterwegs waren. Ab und zu
schien es, als verberge sich eine zusammengekauerte Gestalt in
den nahen Wäldern. Nach halbstündigem Klettern machten
Steilheit und Enge des Weges den Vormarsch einer so großen
Truppe - zusammen insgesamt über 300 Mann -
außergewöhnlich mühsam und beschwerlich.
Dann, völlig überraschend und erschreckend plötzlich, hörten
wir von unten einen furchtbaren Laut. Er stammte von den
angepflockten Pferden - sie hatten gebrüllt... nicht gewiehert,
sondern gebrüllt... und dort unten war kein Licht, auch nicht ein
Geräusch von Menschen, das angezeigt hätte, warum sie
gebrüllt hatten. Im selben Augenblick begannen auf allen
Gipfeln Signalfeuer zu brennen, so daß das Grauen
gleichermaßen vor wie hinter uns zu lauern schien. Als wir uns
nach dem jungen Vercellius, unserem Führer, umblickten,
entdeckten wir nur eine zusammengesunkene Gestalt, die in

-250-
einer Blutlache lag. In der Hand hielt er ein Kurzschwert, das er
aus dem Gürtel des D. Vinulanus, eines Subzenturions, gerissen
hatte. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von solchem
Entsetzen, daß sogar die abgebrühtesten Veteranen bei diesem
Anblick erbleichten. Er hatte sich selbst getötet, als die Pferde
brüllten... er, der aus dieser Gegend stammte, sein ganzes Leben
hier verbracht hatte und wußte, was man sich über die Berge
zuflüsterte.
Das Licht der Fackeln wurde schwächer, und die Schreie der
in Furcht und Schrecken versetzten Legionäre mischten sich mit
dem unaufhörlichen Gebrüll der angepflockten Pferde. Die Luft
wurde merklich kälter, und zwar weit plötzlicher, als es Anfang
November der Fall zu sein pflegt. Sie schien von entsetzlichen
Wallungen aufgewirbelt zu werden, die ich nur mit dem Schlag
riesiger Flügel in Verbindung bringen konnte. Die ganze
Kohorte war wie festgebannt. Als das Licht der Fackeln
abnahm, sah ich etwas, was ich für phantastische Schatten hielt,
die sich am Himmel vor dem gespenstischen Leuchten der Via
Lactea abzeichneten, dort wo sie durch Perseus, Cassiopeia,
Cepheus und Cygnus floß.
Plötzlich versanken alle Sterne am Himmel in Dunkelheit-
selbst die hellen Deneb und Vega, und die einsamen Altair und
Fomalhaut hinter uns. Als die Fackeln völlig erloschen, blieben
über der schreckensstarren, brüllenden Kohorte nur die
abscheulichen, grauenerregenden Altarflammen auf den
hochragenden Gipfeln, höllenrot, vor denen sich jetzt die
Umrisse der wahnsinnigen, ungeheuerlichen Gestalten
namenloser hüpfender Untiere abzeichneten, von denen kein
phrygischer Priester und keine campanische Großmutter je in
ihren wildesten Geschichten geraunt haben.
Und über dem Gebrüll von Mensch und Tier in der
Dunkelheit schwoll das dämonische Trommeln laut an, während
plötzlich ein eiskalter Wind mit entsetzlicher Lebhaftigkeit und
Entschlossenheit von diesen unwirtlichen Höhen herabfuhr und

-251-
jeden Mann einzeln umklammerte, bis die ganze Kohorte sich
im Dunkeln wehrte und schrie, als müßte sie das Schicksal des
Laokoon und seiner Söhne nachvollziehen.9 Nur der alte
Scribonius Libo schien sich mit seinem Schicksal abzufinden. Er
stieß unter all dem Gebrüll Worte hervor, die noch immer in
meinen Ohren nachhallen. »Malibia vetus - malibia vetus est...
venit... tandem venit...«10 Und dann wachte ich auf. Es war der
lebhafteste Traum seit langem, der Quellen des Unbewußten
erschloß, die seit langer Zeit unberührt und vergessen waren.
Über das Schicksal jener Kohorte hat sich kein Bericht erhalten,
zumindest aber wurde die Stadt gerettet - denn die
Konversationslexika berichten, daß sich Pompelo bis auf den
heutigen Tag erhalten hat, unter dem heutigen spanischen
Namen Pompelona...
Mit vorzüglicher Hochachtung in gothischer Überlegenheit G.
Julius Vernus Maximinus

9
Ein trojanischer Fürst und Priester, der, nachdem er sich vergeblich der
Aufnahme des Trojanischen Pferdes in die Mauern Trojas widersetzt hatte,
mit seinen zwei jungen Söhnen auf entsetzliche Weise starb, als zwei riesige
Schlangen aus dem Meer stiegen und sie erdrückten und vergifteten. In seiner
Aeneis liefert Vergil eine höchst anschauliche Darstellung, 11.40-56, I99-
Z33.
10
"Die Arglist - die Arglist ist alt... Sie kommt... sie kommt nun doch..."

-252-
Frühe Geschichten

-253-
Die Dichtkunst und die Götter

An einem feuchten, düsteren Aprilnachmittag, kurz nach dem


Ende des Ersten Weltkriegs, war Marcia allein mit ihren
merkwürdigen Gedanken und Wünschen, seltsamen
Sehnsüchten, die aus dem geräumigen, im Stil des 2.0.
Jahrhunderts eingerichteten Wohnzimmer aufstiegen, durch die
Luft, weiter ostwärts zu Olivenhainen im fernen Arkadien, das
sie nur in ihren Träumen erblickt hatte. Sie hatte den Raum
gedankenverloren betreten, die grellen Lüster abgeschaltet und
ruhte nun auf einem weichen Diwan neben einer Stehlampe, die
einen grünen Schimmer über das Lesetischchen breitete, so
anheimelnd wie der Mondschein, der durch das Blätterwerk
eines uralten geweihten Ortes dringt.
Einfach gekleidet in ein tiefausgeschnittenes schwarzes
Abendkleid, schien sie nach außen hin ein typisches Produkt der
heutigen Zivilisation zu sein. In dieser Nacht jedoch spürte sie
den maßlosen Abgrund, der sich zwischen ihrer Seele und der
ganzen prosaischen Umgebung auftat. Lag es an ihrem
merkwürdigen Zuhause, diesem Hort der Kälte, wo die
Beziehungen stets angespannt waren und die Bewohner kaum
mehr als Fremde? War es das, oder war es eine gewichtigere
und nicht so leicht erklärbare Verzerrung in Zeit und Raum, der
zufolge sie zu spät geboren worden war - oder zu früh und zu
weit weg von den Reichen ihres Gemüts, um je mit der
häßlichen Realität von heute harmonieren zu können? Um die
Stimmung zu vertreiben, die sie mit jedem Augenblick tiefer in
den Abgrund stürzte, griff sie nach einer Zeitschrift auf dem
Tischchen und blätterte sie auf der Suche nach einem tröstlichen
Gedicht durch. Die Dichtkunst hatte auf ihr aufgewühltes Gemüt
immer beruhigender als alles andere gewirkt, auch wenn manche
Eigenheiten der ihr zugänglichen Lyrik nicht so ganz
beruhigend waren. Manches auch in den erhabensten Versen lag
unter einem eisigen Dunst steriler Häßlichkeit und
-254-
Zurückhaltung, wie Staub auf einer Fensterscheibe, durch die
man einen prachtvollen Sonnenuntergang betrachtet.
Beim lustlosen Blättern in der Zeitschrift, wie auf der Suche
nach einem trügerischen Schatz, stieß sie plötzlich auf etwas,
was ihre Mattigkeit verscheuchte. Hätte sie jemand beobachtet,
hätte er vielleicht ihre Gedanken gelesen und ihr verraten
können, daß sie auf ein Bild oder einen Traum gestoßen war, der
sie ihrem unerreichten Ziel näher gebracht hatte als jedes Bild
oder jeder Traum, den sie bisher gesehen. Es war nur ein
Stückchen ungebundener Lyrik, der klägliche Kompromiß des
Dichters, der die Prosa überspringt, aber die göttliche Melodik
des Metrums verfehlt. Und doch war es erfüllt von all der
ungekünstelten Musik eines Barden, der lebt und fühlt und
ekstatisch nach der entschleierten Schönheit greift. Ohne
Regelmaß hatte es die Harmonie beflügelter, spontaner Worte,
eine Harmonie, die den herkömmlichen, konventionellen
Reimen, die sie bis dahin gekannt hatte, fehlte. Beim
Weiterlesen versank ihre Umwelt allmählich, und bald umfingen
sie nur noch traumhafte Nebelschleier, purpurrote,
sterngesprenkelte Nebel jenseits der Zeit, wo einzig und allein
Götter und Träumer wandeln.
Mond über Japan, Weißer Schmetterlingsmond!
Wo der schwerlidrige Buddha träumt Zum Klang des
Kuckucksrufes...
Die weißen Flügel der Mondschmetterlinge Flattern die
Straßen der Stadt entlang l Lassen die nutzlosen Dochte der
klingenden Laternen in Mädchenhänden in Vergessenheit
versinken Mond über den Tropen Weißgeschweifte Knospe Die
ihre Blüten langsam in der Wärme des Himmels öffnet...
Die Luft ist voller Düfte Und matter warmer Klänge...
Eine Flöte läßt ihre Insektenmusik in die Nacht erklingen
Unter den geschwungenen Mondblüten des Himmels Mond über
China Müder Mond des Himmelstroms Das Aufblitzen von

-255-
Licht in den Weiden ähnelt dem Zucken von tausend silbernen
Eiritzen Durch dunkle Untiefen; l Die Platten auf Gräbern und
verfallenden Tempeln blitzen auf die Wellen Der Himmel ist
wolkengefleckt wie die Schuppen eines Drachen.
Umhüllt von Traumnebeln rief die Leserin die rhythmischen
Sterne an, verkündete ihre Freude über die Heraufkunft eines
neuen Zeitalters des Gesangs, einer Wiedergeburt des Pan. Mit
halbgeschlossenen Augen wiederholte sie Worte, deren Melodie
verborgen lag wie Kristalle auf dem Grund eines Flusses vor der
Dämmerung, verborgen, aber nur, um bei der Geburt des Tages
glänzend zu schimmern.
Mond über Japan, Weißer Schmetterlingsmond!
Mond über den Tropen Weißgeschweifte Knospe, Die ihre
Blüten langsam in der Wärme des Himmels öffnet...
Die Luft ist voller Düfte Und matter warmer Klänge...
Mond über China, Müder Mond des Himmelstroms...
Aus dem Nebel drang gottähnlich glitzernd die Gestalt eines
Jünglings in Flügelhelm und Sandalen, den Merkurstab in der
Hand, von einer Schönheit, die mit nichts auf Erden zu
vergleichen war. Vor dem Gesicht der Schläferin schwenkte er
dreimal den Stab, den Apollo ihm im Tausch gegen die
neunsaitige Muschel der Melodie gegeben hatte, und auf ihre
Stirn legte er einen Kranz von Myrten und Rosen. Dann sprach
Hermes bewundernd:
»O Nymphe, die du schöner bist als die goldhaarigen
Schwestern der Dyene oder die im Himmel wohnenden
Atlantiden, Liebling der Aphrodite und Gesegnete der Pallas, du
hast wahrhaftig das Geheimnis der Götter entdeckt, nämlich
Schönheit und Gesang. 0 Prophetin, die du lieblicher bist als die
Sybille von Cumae, als Apollo sie kennenlernte, du hast
wahrhaftig von einem neuen Zeitalter gesprochen, denn eben
jetzt seufzt Pan und reckt sich im Schlaf auf Maenalus, um zu
erwachen, und erblickt rings um sich die kleinen

-256-
rosenbekränzten Faune und die uralten Satyre. In deiner
Sehnsucht hast du entdeckt, woran sich kein Sterblicher mit
Ausnahme einiger weniger, die die Welt verschmäht, erinnert:
daß die Götter niemals tot waren, sondern einfach den Schlaf
schliefen und Götterträume in lotosgeschmückten Hesperiden-
Gärten jenseits des goldenen Sonnenuntergangs träumten. Und
jetzt kommt die Zeit ihres Erwachens, wenn Kälte und
Häßlichkeit untergehen werden und Zeus wieder auf dem
Olymp thronen wird. Das Meer rings um Paphos erzittert bereits
in einer Gischt, auf die der Himmel des Altertums schon einmal
herabgeblickt hat, und des Nachts auf Helikon hören die Hirten
merkwürdiges Gemurmel und halbvergessene Töne. Wälder und
Felder erzittern im Zwielicht unter dem schimmernden Weiß
tanzender Gestalten, und der zeitlose Ozean bringt seltsame
Einblicke unter dünnen Monden hervor. Die Götter sind
geduldig und haben lange geschlafen, aber weder Mensch noch
Riese soll sich den Göttern auf ewig widersetzen. Im Tartarus
winden sich die Titanen, und unter dem feurigwilden Ätna
stöhnen die Kinder von Uranus und Gaea. Jetzt bricht der Tag
an, da der Mensch Rede und Antwort stehen muß für
Jahrhunderte der Verleugnung, aber ihr Schlaf hat die Götter
milde gestimmt, und sie werden ihn nicht in den Abgrund für
Gottesleugner schleudern. Statt dessen wird ihre Rache das
Dunkel, die Täuschung und die Häßlichkeit zerschmettern, die
den menschlichen Geist auf Abwege gebracht haben, und unter
der Herrschaft des bärtigen Saturn werden die Sterblichen, ihm
neuerlich Opfer darbietend, in Schönheit und Freude ihr Leben
verbringen. Noch diese Nacht sollst du die Gnade der Götter
erfahren und auf dem Parnaß jene Träume von Angesicht zu
Angesicht sehen, welche die Götter durch die Zeiten hindurch
zur Erde gesandt haben, um zu zeigen, daß sie nicht tot sind.
Denn Dichter sind die Traumgestalten der Götter, und in jedem
Zeitalter hat jemand, ohne es zu ahnen, die Botschaft und die
Verheißungen auf den Lotosgärten jenseits des

-257-
Sonnenuntergangs verkündet..
Nach diesen Worten trug Hermes die träumende Jungfrau
durch den Himmel. Sanfte Brisen vom Turm des Äolus führten
sie hoch empor über warme, wohlriechende Meere, bis sie
plötzlich auf Zeus stießen, der auf dem doppelköpfigen Parnaß
Hof hielt, sein goldener Thron flankiert von Apollo und den
Musen zur Rechten, und dem efeubekränzten Dionysos und den
von Lust geröteten Bacchanten zur Linken. Solch eine Pracht
hatte Marcia nie zuvor gesehen, weder wachend noch träumend,
aber ihr Strahlenglanz fügte ihr kein Leid zu, wie es der Glanz
des hohen Olymps getan hätte, denn in diesem kleinen Hofstaat
hatte der Göttervater seine Glorie für die Augen der Sterblichen
gedämpft. Vor der lorbeerumwundenen Öffnung der
corycianischen Höhle saßen aufgereiht sechs edle Gestalten,
dem Aussehen nach Sterbliche, aber der Miene nach Götter. Die
Träumerin erkannte sie nach Abbildungen, die sie gesehen hatte,
und sie wußte, daß sie niemand anders waren als der göttliche
Mäonier, der vogelgleiche Dante, der mehr als bloß sterbliche
Shakespeare, der das Chaos erforschende Milton, der kosmische
Goethe und der musenbegnadete Keats. Sie waren die
Sendboten, welche die Götter ausgeschickt hatten, um den
Menschen mitzuteilen, daß Pan nicht tot war, sondern nur
schlief, denn in der Dichtkunst sprechen die Götter zu den
Menschen. Dann sprach der Donnerer:
»O Tochterdenn da du meiner nie endenden Ahnenreihe
angehörst, bist du wahrhaftig meine Tochter -, erblicke auf
Elfenbeinthronen der Ehre die ehrwürdigen Sendboten, welche
die Götter hinabgesandt haben, damit Worte und Schriften des
Menschen gewisser Spuren göttlicher Schönheit nicht entbehren
müssen. Andere Barden sind gerechterweise von den Menschen
mit ewigem Lorbeer gekrönt worden, aber diese hier hat Apollo
gekrönt, und ihnen habe ich einen besonderen Platz gegeben,
denn es sind Sterbliche, welche die Sprache der Götter
gesprochen haben. Lange haben wir in Lotosgärten jenseits des

-258-
Sonnenuntergangs geträumt und uns nur in Träumen
verständlich gemacht; aber die Zeit rückt heran, da unsere
Stimmen nicht länger schweigen werden. Es ist eine Zeit des
Erwachens und des Wandels. Wieder einmal hat Phaeton seinen
Wagen zu tief hinabgelenkt, hat die Felder verbrannt und die
Flüsse versiegen lassen. In Gallien weinen einsame Nymphen
mit zerrauftem Haar neben Brunnen, die vertrocknet sind,
trauern über Flüssen, rot gefärbt vom Blut der Sterblichen.
Ares und seine Scharen sind mit Götterwahnsinn ausgezogen
und zurückgekehrt, Daimos und Phöbus haben ihre unnatürliche
Lust gestillt. Tellus irrt voll Trauer umher, und die Gesichter der
Menschen gleichen denen der Erinnyen, wie damals, als Asträa
in den Himmel flüchtete und die uns zu Gebote stehenden
Wasser alles Land mit Ausnahme eines einzigen hohen Gipfels
bedeckten. Inmitten dieses Chaos, bereit, sein Kommen
anzukündigen und seine Ankunft doch zu verhüllen, müht sich
jetzt unser letztgeborener Sendbote ab, in dessen Träumen all
die Bilder enthalten sind, die andere Sendboten vor ihm
geträumt haben. Er ist derjenige, den wir als Verschmelzung
aller Schönheit, welche die Welt zuvor gekannt hat, dazu
auserwählt haben, in ein einziges prächtiges Ganzes aufzugehen
und Worte niederzuschreiben, in denen all die Weisheit und
Lieblichkeit der Vergangenheit nachhallt. Er ist derjenige, der
unsere Rückkehr verkündigen und von künftigen Tagen singen
soll, da Faune und Dryaden in Anmut wie gewohnt die Haine
bevölkern. Jene lenkten unsere Wahl, die jetzt auf
elfenbeinernen Thronen vor der Corycianischen Grotte sitzen
und in deren Liedern du die erhabenen Töne vernimmst, an
denen du in Zukunft den größeren Sendboten erkennen sollst.
Lausche ihren Stimmen, wenn sie dir einer nach dem anderen
hier ihr Lied singen. Jeden Ton sollst du künftig wieder in der
Dichtkunst vernehmen, jener Dichtkunst, die deiner Seele
Frieden und Freude bringen wird, obwohl du in trüben Jahren
nach ihr suchen mußt. Lausche aufmerksam, denn jede Saite, die

-259-
verklingt, wird dir wieder erscheinen, wenn du zur Erde
zurückkehrst, sobald Alpheus, der seine Gewässer in die Seele
von Hellas versenkt, als die kristallene Arethusa im fernen
Sizilien wieder erscheint.«
Nach diesen Worten Apollos erhob sich Homer, der älteste
unter den Barden, ergriff seine Leier und schlug eine Hymne auf
Aphrodite an.
Marcia verstand kein Wort Griechisch, und doch traf die
Botschaft nicht auf verständnislose Ohren, denn der rätselhafte
Rhythmus enthielt etwas, das alle Sterblichen und Götter
ansprach und keiner Übersetzung bedurfte.
So war es auch mit den Liedern Dantes und Goethes, deren
unbekannte Worte den Äther mit Melodien durchdrangen, die
unschwer zu verstehen und zu bewundern sind. Aber zuletzt
erklangen Töne vor der Lauscherin, an die sie sich erinnerte. Es
war der Schwan von Avon, einst ein Gott unter Menschen, und
noch immer ein Gott unter Göttern:
Schreibt Eurem Sohn, schreibt meinem liebsten Herrn, Daß er
aus blut'ger Schlacht zur Heimat kehre; Ihn segne Frieden hier,
indes ich fern Mit heißer Andacht seinen Namen ehre.
Noch vertrautere Töne erhoben sich, als Milton, nicht mehr
blind, die unsterbliche Harmonie verkündete:
... oder laß meine Lampe zur mitternächtlichen Stunde
gesehen werden auf einem hohen einsamen Turm, wo ich möge
oft überwachen des Bars Gestirn mit dem übergroßen Hermes,
oder zu folgen Platos Geist, um zu entdecken, welche Welt oder
was für weite Felder aufhalten die unsterbliche Seele, wenn sie
verläßt ihre Wohnung im fleischernen Behälter...
Zuweilen komme die prächtige Tragödie mit ihrem
königlichen schleppenden Mantel, vorstellend Thebens oder
Pelops Haus, oder des göttlichen Trojas Wundergeschichte...
Schließlich erklang die jünglingsharte Stimme von Keats, der
von allen Sendboten dem lieblichen Faunenvolk am ähnlichsten
-260-
war:
Erlauschter Klang ist süß; noch Süßres sagt Der stumme:
Linde Pfeifen, stimmet an!
Verdirbt auch dies Geschlecht in kurzer Frist, Du überdauerst
Leid und Zeit und Tod, Freundin des Menschen, lehre mein
Gedicht:
"Schönes ist wahr und Wahres schön - dies ist, Was ihr auf
Erden wißt, mehr frommt euch nicht..
Als der Sänger geendet hatte, trug der Wind einen Klang aus
dem fernen Ägypten herüber, wo nachts Aurora am Nil um ihren
erschlagenen Memnon trauert. Die rosenfingrige Göttin stürzte
sich dem Donnerer zu Füßen und rief kniend: »Meister, es ist an
der Zeit, daß ich die Tore des Sonnenaufgangs öffne.«
Und Phoebus reichte seine Leier Calliope, seiner Braut unter
den Musen, und schickte sich an, nach dem juwelenbesetzten
und auf Säulen ruhenden Palast der Sonne aufzubrechen, wo die
an den goldenen Wagen des Tages geschirrten Rosse bereits
unruhig tänzelten. Also stieg Zeus von seinem geschnitzten
Thron herab und legte seine Hand auf Marcias Kopf, wobei er
sprach:
»Tochter, die Dämmerung naht, und es ist gut, daß du vor
dem Erwachen der Sterblichen in dein Heim zurückkehrst.
Weine nicht über die Freudlosigkeit deines Lebens, denn der
Schatten irriger Überzeugungen wird bald verschwunden sein
und die Götter werden aufs neue unter den Menschen wandeln.
Suche ohne Unterlaß nach unserem Sendboten, denn in ihm
wirst du Frieden und Trost finden. Sein Wort wird deine Schritte
zum Glück leiten, und in seinen Träumen von Schönheit soll
dein Gemüt finden, wonach es sich sehnt.«
Nachdem Zeus geendet hatte, ergriff der junge Hermes sanft
die Jungfrau und trug sie zu den verblassenden Sternen empor,
hinauf und westwärts über unsichtbare Meere.
Viele Jahre sind verstrichen, seit Marcia von den Göttern und
-261-
ihrer Zusammenkunft auf dem Parnaß geträumt hat. Heute nacht
sitzt sie in demselben geräumigen Wohnzimmer, aber nicht
allein.
Verschwunden ist der alte Geist der Unrast, denn an ihrer
Seite ist jemand, dessen Name vor Ruhm leuchtet: der junge
Dichter aller Dichter, dem die ganze Welt zu Füßen liegt. Er
liest Worte aus einem Manuskript, die niemand je zuvor gehört
hat, die aber, wenn man sie hört, den Menschen die Träume und
Phantasien zurückbringen werden, die sie vor vielen
Jahrhunderten verloren haben, als Pan sich in Arkadien zum
Schlummer niederließ und die gewaltigen Götter sich
zurückzogen, um sich unter den Lotosblüten jenseits des Gartens
der Hesperiden zur Ruhe zu begeben. In den zarten Kadenzen
und verborgenen Melodien des Sängers hatte das Gemüt der
Jungfrau endlich Ruhe gefunden, denn dort hallen die
göttlichsten Töne des thrakischen Orpheus wider, Töne, die
selbst Felsen und Bäume an Hebrus' Ufern bewegten. Der
Sänger endet und verlangt mit Eifer nach einem Urteil, und
doch, was kann Marcia schon sagen, als daß der Gesang »der
Götter würdig sei«? Und während sie spricht, kommt ihr
neuerlich eine Vision vom Parnaß und der weit entfernten,
mächtigen Stimme, die sagt:
»Sein Wort wird deine Schritte zum Glück lenken, und in
seinen Träumen von Schönheit wird deinem Gemüt alles zuteil
werden, wonach es sich sehnt.«

-262-
Die Straße

Es gibt Leute, die behaupten, daß Dinge und Plätze Seelen


haben, und es gibt Leute, die behaupten, sie hätten keine; ich
wage es nicht, mich dazu zu äußern, aber ich will gern etwas
von einer Straße erzählen.
Menschen von Macht und Ehre haben die Straße geprägt:
gute, tatkräftige Männer von gleicher Herkunft wie wir, die von
den Glücklichen Inseln jenseits des Meeres gekommen waren.
Zunächst war sie nur ein Pfad, ausgetreten von Wasserträgern,
die vom Waldesrand zu der Ansammlung von Häusern an der
Küste gingen. Dann, als mehr Menschen zu der wachsenden
Ansiedlung stießen und nach Plätzen Ausschau hielten, wo sie
wohnen konnten, bauten sie entlang der Nordseite Hütten aus
festgefügten Eichenklötzen, mit Mauerwerk zur Waldseite hin,
denn dort lauerten viele Indianer mit Feuerpfeilen. Und einige
Jahre später wurden Hütten auf der Südseite der Straße gebaut.
Die Straße hinauf und hinunter spazierten ernste Männer, die
zumeist Musketen oder Vogelflinten trugen, mit spitzen Hüten.
Und man traf dort auch ihre haubentragenden Frauen und die
artigen Kinder. Abends pflegten diese Männer mit ihren Frauen
und Kindern bei dem riesigen Herde zu sitzen und zu lesen und
zu plaudern. Die Dinge, von denen sie lasen und über die sie
plauderten, waren sehr einfach, aber doch Dinge, die ihnen Mut
und Güte verliehen und die tagsüber halfen, den Wald zu
bezwingen und die Felder zu pflügen. Und die Kinder hörten zu
und erfuhren von den Gesetzen und Taten aus alter Zeit, und
von jenem trauten England, das sie nie gesehen hatten oder an
das sie sich nicht erinnern konnten.
Ein Krieg brach aus, und als er vorbei war, bedrohten Indianer
die Straße nicht mehr. Die Menschen, die eifrig ihrer Arbeit
nachgingen, wurden so wohlhabend und glücklich, wie sie es
nur zu sein verstanden. Die Kinder wuchsen in Geborgenheit

-263-
auf, und weitere Familien kamen aus dem Mutterland, um in der
Straße zu wohnen. Und die Kinder der Kinder und die Kinder
der Neuankömmlinge wuchsen ebenfalls heran. Aus dem
Städtchen war eine Stadt geworden, und nach und nach wichen
die Hütten Häusern einfachen, schönen Häusern aus Ziegeln und
Holz, mit steinernen Treppen und eisernen Geländern und
Lampen über den Türen. Diese Häuser waren keine
Behelfsbauten, denn sie waren für viele Generationen geplant.
In ihrem Inneren gab es gemeißelte Simse und anmutige Stiegen
und vernünftige, behagliche Möbel, Porzellan und aus dem
Mutterland mitgebrachtes Silber.
Auf diese Weise sog die Straße die Träume der Jugend in sich
auf und freute sich mit den Bewohnern, als sie anmutiger und
glücklicher wurden. Wo es einst nur Macht und Ehre gegeben
hatte, waren jetzt auch guter Geschmack und Gelehrsamkeit
eingezogen. Bücher und Gemälde und Musik hielten Einzug in
die Häuser, und die jungen Männer besuchten die Universität,
die sich im Norden über die Ebene erhob. Anstelle von spitzen
Hüten und Degen, von Spitzen und schneeweißen Perücken gab
es nun Kopfsteinpflaster, über das so manches Vollblutpferd
klapperte und manche schöne Kutsche ratterte, und gepflasterte
Gehsteige mit Aufsteigeblöcken und Pfosten zum Anbinden der
Pferde.
In jener Straße gab es viele Bäume: würdige Ulmen, Eichen
und Ahorn, so daß im Sommer die Szenerie ganz aus sanftem
Grün und Vogelgezwitscher bestand. Und hinter den Häusern
befanden sich eingezäunte Rosengärten mit heckengesäumten
Wegen und Sonnenuhren, wo des Nachts Mond und Sterne
verführerisch herabschienen, während zarte Blumen im Tau
glitzerten.
Und so träumte die Straße weiter, über Kriege, Unglücksfälle
und Veränderungen hinweg. Wieder einmal mußten die jungen
Männer fort, und einige kamen nicht mehr zurück. Das war, als
man die alte Flagge einholte und ein neues Banner aus Streifen

-264-
und Sternen hißte. Aber wenn auch die Menschen von großen
Veränderungen redeten, die Straße verspürte nichts davon, denn
ihre Bewohner waren noch immer dieselben, die von den alten,
vertrauten Dingen in der alten, vertrauten Weise sprachen.
Und in den Bäumen nisteten noch immer Singvögel, und des
Nachts blickten Mond und Sterne auf taubedeckte Blüten in die
eingezäunten Rosengärtlein herab.
Mit der Zeit gab es keine Degen, keine Dreispitze und
Perücken mehr in der Straße. Wie seltsam wirkten die Bewohner
mit ihren Spazierstöcken, hohen Zylinderhüten und
kurzgeschnittenem Haar!
Neue Klänge drangen aus der Ferne - zuerst ein seltsames
Keuchen und Schreien von dem eine Meile entfernten Fluß, und
dann, viele Jahre später, ein seltsames Keuchen und Schreien
und Gemurmel aus anderen Richtungen. Die Luft war nicht
mehr ganz so rein wie früher, aber der Geist des Ortes hatte sich
nicht geändert. Abstammung und Seele der Vorfahren hatten die
Straße geprägt. Dieser Geist änderte sich auch nicht, als man die
Erde aufriß, um merkwürdige Rohre zu verlegen, oder als hohe
Stangen aufgerichtet wurden, die unheimliche Drähte trugen.
Jene Straße kündete von so vielen alten Überlieferungen, daß
die Vergangenheit nicht so leicht in Vergessenheit geraten
konnte.
Dann kamen böse Tage, da viele, die die Straße in alten
Zeiten gekannt hatten, sie nicht wiedererkannten, und viele sie
kennenlernten, die sie zuvor nicht gekannt hatten, und fortzogen,
denn ihre Aussprache war grob und grell und ihre Mienen und
Gesichter abstoßend. Auch ihre Gedanken lagen mit dem
weisen, aufrechten Geist der Straße in Fehde, so daß die Straße
sich schweigend abhärmte, als ihre Häuser verfielen und ihre
Bäume einer nach dem anderen abstarben und ihre
Rosengärtlein von Schilf und Unkraut überwuchert wurden.
Aber eines Tages verspürte sie wieder eine Regung von Stolz,
als die jungen Männer neuerlich fortmarschierten, von denen
-265-
einige nicht mehr zurückkehrten. Diese jungen Männer waren
blau gekleidet.
Im Lauf der Jahre befiel die Straße ein noch schlimmeres
Mißgeschick. Ihre Bäume waren jetzt alle verschwunden und
ihre Rosengärten ersetzt durch die Rückseiten häßlicher
Neubauten in Parallelstraßen. Und doch blieben die Häuser,
trotz des Zahns der Zeit und der Stürme und Würmer bestehen,
denn sie waren so gebaut worden, daß sie vielen Generationen
dienen konnten. Neue Gesichter zeigten sich auf der Straße,
dunkelhäutige, unheimliche Gesichter mit verschlagenen Augen
und sonderbaren Zügen, deren Besitzer fremdartige Worte
sprachen und Schilder mit bekannten und unbekannten
Buchstaben auf den meisten der feuchten Häuser anbrachten. In
den Rinnsteinen stand ein Handwagen am anderen. Ein
scheußlicher, undefinierbarer Gestank lag über dem Ort, und der
uralte Geist schlief.
Über die Straße kam wieder einmal große Aufregung. Krieg
und Revolution tobten jenseits der Meere.
Eine Dynastie war verjagt worden, und ihre degenerierten
Untertanen strömten aus zweifelhaften Beweggründen in das
Land des Westens. Viele von ihnen schlugen ihre Heimstatt in
den heruntergekommenen Häusern auf, die einst Vogelgesang
und Rosenduft gekannt hatten. Dann erwachte das Land des
Westens selbst und schloß sich dem Mutterland in seinem
Titanenkampf um die Zivilisation an. Über den Städten flatterte
wieder einmal die alte Flagge, begleitet von der neuen Flagge
und einer einfacheren und doch glorreichen Trikolore. Über der
Straße aber flatterten nicht viele Flaggen, denn in ihr brüteten
nur Furcht und Haß und Unwissenheit. Wiederum zogen junge
Männer hinaus, aber nicht ganz so wie die jungen Männer der
früheren Tage. Es fehlte etwas. Und die Söhne dieser jungen
Männer von einst in eintönigem Oliv, beseelt vom wahren Geist
ihrer Vorfahren, brachen aus allen Himmelsrichtungen auf und
wußten nichts von der Straße und ihrem uralten Geist.

-266-
Jenseits der Meere kam es zu einem großen Sieg, und die
meisten der jungen Leute kehrten in Triumph zurück. Jenen,
denen etwas gefehlt hatte, fehlte nichts mehr, und dennoch
hingen Furcht und Haß und Unwissenheit noch immer drückend
über der Straße, denn viele waren nicht zurückgekommen, und
viele Fremde aus der Ferne waren in die uralten Häuser
eingezogen. Und die jungen Männer, die zurückgekehrt waren,
wohnten dort nicht mehr. Die meisten der Fremden waren
dunkelhäutig und unheimlich, doch waren unter ihnen auch
einige wenige Gesichter zu finden, die jenen ähnelten, die die
Straße geprägt und ihren Geist geformt hatten. Ähnlich und
doch nicht ähnlich, denn in den Augen aller gab es ein
unheimliches, ungesundes Glitzern wie von Neid, Ehrgeiz,
Rachsucht oder irregeleitetem Fanatismus. Unruhe und Verrat
herrschten im Ausland unter einigen wenigen Bösen, die sich
verschworen, um dem Land des Westens den Todesstoß zu
versetzen, auf daß sie über seinen Ruinen zur Macht gelangen
könnten, so wie in jenem unglücklichen, eisigen Land, aus dem
die meisten gekommen waren, Meuchelmörder die Macht
ergriffen hatten. Und das Herz dieser Verschwörung schlug in
der Straße, deren verfallene Häuser von ausländischen
Unruhestiftern wimmelten und von Ideen und Reden jener
widerhallten, die den vorherbestimmten Tag aus Blut, Feuer und
Verbrechen herbeisehnten.
Über verschiedene merkwürdige Ansammlungen auf der
Straße vermochten Vertreter des Rechts viel zu berichten, aber
sie hatten wenig zu beweisen. Äußerst vorsichtig schlichen
Männer mit versteckten Dienstabzeichen um solche Orte wie
Petrovitch' Bäckerei, die verwahrloste Rifkin-Schule für
Moderne Wirtschaft, den Zirkel Sozialer Klub und das Freiheits-
Cafe herum. Dort fanden sich verdächtige Personen in großer
Zahl ein, doch hüteten sie stets ihre Zunge oder redeten in einer
fremden Sprache.
Und noch immer standen die alten Häuser, mit ihrer

-267-
vergessenen Überlieferung von besseren vergangenen
Jahrhunderten, von kräftigen Neusiedlern und taubedeckten
Rosengärten im Mondlicht.
Manchmal kam ein einsamer Dichter oder Reisender, um sie
zu besichtigen, und versuchte, sie sich in ihrer verschwundenen
Pracht auszumalen. Doch solche Reisende und Dichter gab es
nur wenige.
Nun verbreitete sich landauf, landab das Gerücht, daß sich in
diesen Häusern die Anführer einer verzweigten Terroristen-
Bande verbargen, die an einem bestimmten Tag ein Gemetzel
anstellen würden, mit dem Ziel, Amerika und all die prächtigen
alten Überlieferungen, die die Straße noch immer liebte,
auszulöschen. Flugblätter und Schriftstücke flatterten über der
schmutzigen Gosse, Flugblätter und Schriftstücke, die in vielen
Sprachen und mit vielen Buchstaben gedruckt waren, doch
trugen sie alle Botschaften des Verbrechens und der Rebellion.
In diesen Schriften drängte man die Leute, Gesetze und
Tugenden, die unsere Väter hochgehalten hatten,
niederzureißen, die Seele des alten Amerika mit Füßen zu treten
- jene Seele, die durch tausendfünfhundert Jahre
angelsächsischer Freiheit, Gerechtigkeit und Mäßigung als Erbe
weitergegeben worden war. Es hieß, daß die dunkelhäutigen
Männer, die in der Straße hausten und sich in ihren verrottenden
Gebäuden zusammenfanden, die Gehirne einer schrecklichen
Revolution waren, daß auf ihr Befehlswort hin viele Millionen
hirnloser, verblendeter Bestien ihre widerlichen Klauen aus den
Slums von tausend Städten ausstrecken würden, brandschatzend,
mordend und vernichtend, bis es das Land unserer Väter nicht
mehr gab. All das wurde behauptet und weitergetragen, und
viele blickten voller Furcht dem vierten Juli entgegen, auf den
die seltsamen Schriften oft hinwiesen. Und doch ließ sich nichts
finden, womit eine Schuld nachzuweisen war. Niemand
vermochte zu sagen, wer zu verhaften sei, um die ruchlose
Verschwörung mit der Wurzel auszurotten. Viele Male kamen

-268-
Abteilungen blauuniformierter Polizei, um die baufälligen
Häuser zu durchsuchen, aber schließlich blieben sie aus, denn
auch sie waren müde geworden, auf Ruhe und Ordnung zu
achten, und hatten die Stadt ihrem Geschick überlassen. Die
Männer in Olivgrün kamen, mit Gewehren bewaffnet, bis es so
aussah, als ob die traurig vor sich hinschlafende Straße einen
spukhaften Traum an jene vergangene Tage hätte, als
musketenbewaffnete Männer in spitzen Hüten auf ihr
paradierten, von der Waldesquelle bis zu der
Häuseransammlung am Strand. Doch nichts konnte der
drohenden Katastrophe Einhalt gebieten, denn die
dunkelhäutigen, unheimlichen Männer waren seit Alters her
verschlagen.
Und so schlief die Straße unruhig weiter, bis sich eines Nachts
in Petrovitch' Bäckerei und der Rifkin- Schule für Moderne
Wirtschaft, dem Zirkel Sozialer Klub und dem Freiheits-Cafe
und auch an anderen Orten riesige Menschenhorden
versammelten, deren Augen vor entsetzlichem Triumph und
Erwartung glühten. Über verborgene Drähte liefen merkwürdige
Botschaften, und viel wurde geredet über noch merkwürdigere
Botschaften, die erst noch kommen sollten. Das meiste davon
wurde aber erst später entdeckt, als das Land des Westens von
der Gefahr befreit war. Die Männer in Olivgrün konnten nicht
sagen, was geschah oder was sie tun sollten, denn die
dunkelhäutigen, unheimlichen Männer waren geübt in
Hinterhältigkeit und Heimlichtuerei.
Und doch werden sich die Männer in Olivgrün immer an
diese Nacht erinnern und von der Straße sprechen, wenn sie
ihren Enkeln davon erzählen, denn viele von ihnen wurden
gegen Morgen mit einem Auftrag dorthin entsandt, der
überhaupt nicht dem glich, den sie erwartet hatten. Es war
bekannt, daß es diese Brutstätte der Anarchie schon lange gab
und daß die Häuser durch die Verheerungen der Jahre und der
Stürme und Würmer nahezu zusammenbrachen, und doch waren

-269-
die Ereignisse jener Sommernacht durch ihre eigenartige
Gleichförmigkeit eine Überraschung. Es handelte sich
wahrhaftig um einen einzigartigen Vorfall, wenn auch
schließlich einen recht simplen. Denn ohne jede Warnung
erreichten die Verheerungen der Jahre und der Stürme und
Würmer einen fürchterlichen Höhepunkt in einer jener frühen
Nachtstunden, und nach dem Zusammenbruch blieb in der
Straße nichts stehen außer zwei uralten Schornsteinen und
einem Teil einer dauerhaften Ziegelmauer. Auch nichts von
dem, was lebendig gewesen war, blieb unter den Ruinen am
Leben. Ein Dichter und ein Reisender, die in der Menge waren,
die den Schauplatz aufsuchte, haben seltsame Geschichten zu
erzählen. Der Dichter behauptet, daß er während der
Nachtstunden vor der Dämmerung im Schein der Bogenlampen
undeutlich die schäbigen Ruinen wahrnahm, daß über der
Zerstörung ein anderes Bild aufstieg, auf dem er Mondschein
und schöne Häuser und Ulmen und Eichen und würdige
Ahornbäume ausmachen konnte. Und der Reisende behauptet,
daß in der Luft anstelle des üblichen Gestanks ein lieblicher
Duft wie von Rosen in voller Blüte schwebte. Aber sind nicht
die Träume von Dichtern und die Erzählungen von Reisenden
notorische Lügen? Es gibt Leute, die behaupten, daß Dinge und
Plätze Seelen haben, und es gibt Leute, die behaupten, sie hätten
keine; ich wage es nicht, mich dazu zu äußern, aber ich habe
Ihnen von der Straße erzählt.

-270-
Das Verschwinden des Juan Romero

Ich habe kein Verlangen, über die Ereignisse, die sich am 18.
und 19. Oktober 1894 im Bergwerk Norton zutrugen, zu
sprechen. Lediglich das Pflichtgefühl der Wissenschaft
gegenüber zwingt mich dazu, mich in den letzten Jahren meines
Lebens an Szenen und Vorfälle zu erinnern, die mit einem
Grauen beladen sind, das doppelt heftig ist, weil ich es nicht
ganz genau erklären kann. Ich glaube jedoch, daß ich, bevor ich
sterbe, berichten soll, was ich von dem - soll ich sagen
Vergehen? - des Juan Romero weiß.
Mein Name und meine Herkunft brauchen der Nachwelt nicht
überliefert zu werden. Wahrhaftig, ich glaube, es ist besser,
wenn es nicht geschieht, denn wenn jemand plötzlich in die
Vereinigten Staaten oder die Kolonien auswandert, läßt er seine
Vergangenheit hinter sich. Außerdem ist das, was ich einst war,
für meine Erzählung von keinerlei Belang, ausgenommen
vielleicht der Umstand, daß ich während meiner Dienstzeit in
Indien mehr unter weißbärtigen Eingeborenen-Lehrern als unter
meinen Offizierskameraden zu Hause war. Ich hatte mich nicht
im geringsten mit seltsamen orientalischen Lehren beschäftigt,
als jenes Unheil mich befiel, das zu meinem neuen Leben in
Amerikas grenzenlosem Westen geführt hat - ein Leben, in dem
ich es für geraten hielt, einen Namen anzunehmen - meinen
gegenwärtigen -, der weit verbreitet ist und dem keinerlei
Bedeutung zukommt.
Im Sommer und Herbst des Jahres 1894 wohnte ich in den
trostlosen Weiten der Kaktus-Berge und war als Hilfsarbeiter im
berühmten Norton-Bergwerk beschäftigt, dessen Entdeckung
durch einen Schatzsucher fortgeschrittenen Alters die
Umgebung aus einer nahezu unbewohnten Wüste in einen
brodelnden Schmelzkessel garstigen Lebens verwandelt hatte.
Eine Höhle voll Gold, die tief unter einem Bergsee lag, hatte

-271-
ihren ehrwürdigen Entdecker über seine wildesten Träume
hinaus reich gemacht und bildete jetzt den Sitz ausgedehnter
Stollenbauarbeiten seitens der Firma, an die sie schließlich
verkauft worden war. Man hatte noch weitere Grotten gefunden,
und die Ausbeute des gelben Metalls war überaus groß, so daß
eine mächtige und bunt zusammengewürfelte Armee von
Bergarbeitern Tag und Nacht in den unzähligen Stollen und
Felsenhöhlungen schuftete. Der Direktor, ein gewisser Mr.
Arthur, sprach oft von der Einzigartigkeit der örtlichen
geologischen Formationen, spekulierte über die mögliche
Ausdehnung der Höhlenkette und stellte Schätzungen über die
Zukunft der gigantischen Bergwerksunternehmungen an. Er
hielt die goldhaltigen Höhlen für das Ergebnis von
Wassereinwirkung und glaubte, daß bald die letzte von ihnen
erschlossen sein würde.
Nicht lange nach meiner Ankunft und Anstellung kam Juan
Romero in das Norton-Bergwerk. Als einer aus einer großen
Schar ungepflegter Mexikaner, die aus dem Nachbarland
hierhergelockt worden waren, hatte er zunächst nur durch seine
Gesichtszüge Aufmerksamkeit erregt. Obwohl offenkundig vom
Typus des Indianers, waren sie nichtsdestoweniger wegen ihrer
hellen Farbe und verfeinerten Ausbildung bemerkenswert und
glichen überhaupt nicht denen des durchschnittlichen
Mexikaners oder Piuten jener Gegend. Es ist merkwürdig, daß
Romero, so sehr er sich von der Masse der spanischen
Mischlinge und Stammesindianer unterschied, nicht im
geringsten den Eindruck kaukasischen Blutes machte. Wenn
sich der schweigende Peon am Frühmorgen erhob und fasziniert
die Sonne anstarrte, die über die östlichen Hügel kroch, wobei er
die Arme dem Ball entgegenstreckte, als vollführe er eine
Zeremonie, deren Natur er selbst nicht erfaßte, ließ einen die
Phantasie nicht an den kastilianischen Konquistador oder den
amerikanischen Pionier denken, sondern an den uralten, edlen
Azteken.

-272-
Abgesehen von seinem Gesicht jedoch wies nichts an Romero
auf adelige Abstammung hin.
Unwissend und schmutzig fühlte er sich unter den anderen
braunhäutigen Mexikanern daheim, denn er stammte (wie ich
später erfuhr) aus der allerniedrigsten Umwelt. Als Kind hatte
man ihn in einer primitiven Berghütte gefunden, der einzige
Überlebende einer Epidemie, welche die Gegend todbringend
heimgesucht hatte. In der Nähe der Hütte, an einer
ungewöhnlichen Felsenkluft, hatten zwei Skelette, eben erst von
Aasvögeln saubergepickt, gelegen, vermutlich die sterblichen
Überreste seiner Eltern. Niemand erinnerte sich daran, wer sie
waren, und die meisten hatten sie bald vergessen.
Als die Adobe-Hütte verfiel und die Felsenspalte durch eine
Lawine zugeschüttet wurde, war die Erinnerung an den Vorfall
selbst gelöscht. Aufgezogen von einem mexikanischen
Viehdieb, der ihm seinen Namen gegeben hatte, unterschied sich
Juan nur wenig von seinen Gefährten.
Die Zuneigung, die Romero mir gegenüber bewies, hatte
ihren Ursprung unzweifelhaft in dem altmodischen und uralten
Hindu-Ring, den ich trug, wenn ich nicht arbeitete. Wie er
beschaffen war und wie er in meinen Besitz kam, darf ich nicht
verraten, denn er war meine letzte Verbindung mit einem auf
immer abgeschlossenen Kapitel meines Lebens, und ich hielt ihn
in hohen Ehren. Bald fiel mir auf, daß der seltsam aussehende
Mexikaner gleichermaßen interessiert war. Er betrachtete den
Ring mit einem Ausdruck, der jeden Verdacht, er hätte es bloß
auf seinen Besitz abgesehen, ausschloß.
Seine ungefügen Hieroglyphen schienen in seinem
unausgebildeten, aber lebhaften Geist eine schwache Erinnerung
wachzurufen, obwohl er ihn unmöglich zuvor je gesehen haben
konnte. Wenige Wochen schon nach seiner Ankunft verhielt
sich Romero wie ein treuer Diener, und dies trotz des Umstands,
daß ich nur ein gewöhnlicher Bergmann war. Unser Gespräch
beschränkte sich natürlich nur auf die wenigen Worte Englisch,
-273-
die er beherrschte, und ich mußte feststellen, daß sich mein
Oxford-Spanisch völlig von dem Patois des Peons in Neu-
Spanien unterschied.
Der Zwischenfall, den ich schildern will, wurde durch
keinerlei Vorzeichen angekündigt. Obwohl mich Romero als
Mensch interessiert und ihn mein Ring seltsam beeinflußt hatte,
glaube ich, daß keiner von uns beiden irgendeine Vorstellung
hatte, was nach der großen Sprengung passieren würde.
Geologische Erwägungen hatten eine Erweiterung der Mine
vom tiefsten Teil des unterirdischen Gebietes abwärts
erforderlich gemacht, und die Auffassung des Direktors, daß
man nur auf massives Gestein stoßen würde, hatte zur Folge,
daß man eine Dynamitladung von beträchtlicher Sprengkraft
angebracht hatte. Romero und ich hatten mit dieser Arbeit nichts
zu tun, weshalb unsere erste Information, daß
Außergewöhnliches geschehen war, von anderen herrührte. Die
Sprengung, die vielleicht heftiger als geschätzt ausgefallen war,
hatte anscheinend den ganzen Berg erschüttert.
Barackenfenster auf dem Hang draußen wurden von der
Schockwelle zerschmettert, und in den näheren Stollen wurden
die Bergleute zu Boden gefegt. Der über dem Schauplatz der
Explosion gelegene Jewel Lake erzitterte wie unter einem
Sturm. Nachforschungen zeigten, daß unterhalb der
Explosionsstelle ein neuer bodenloser Abgrund gähnte; ein
Abgrund, der so ungeheuerlich war, daß kein bereitliegendes
Seil reichte, ihn auszuloten, noch konnte ihn eine Lampe
erhellen. Die verwirrten Grubenarbeiter berieten sich mit dem
Bergwerksdirektor, der befahl, große Seilrollen zur Grube zu
bringen und sie so lange zusammenzuspleißen und
hinabzulassen, bis der Grund erreicht war. Bald darauf
unterrichteten die bleichen Arbeiter den Direktor vom
Fehlschlag ihrer Bemühungen. Fest, aber respektvoll teilten sie
ihre Weigerung mit, den Abgrund noch einmal aufzusuchen
oder auch in der Mine weiterzuarbeiten, solange er nicht dicht

-274-
verschlossen war. Hier standen sie offenbar vor etwas, was ihre
Erfahrung überstieg, denn soviel sie feststellen konnten, war die
Leere unten unendlich. Der Direktor korrigierte sie nicht.
Vielmehr überlegte er gründlich und traf für den nächsten Tag
seine Pläne. Die Nachtschicht ging an jenem Abend nicht an die
Arbeit.
Um zwei Uhr morgens begann auf dem Berg ein einsamer
Coyote erbärmlich zu heulen. Von irgendwo innerhalb des
Werkes bellte ein Hund zur Antwort, entweder als Reaktion auf
den Coyoten - oder auf jemand anderen. Ein Sturm braute sich
um die Gipfel der Bergkette zusammen, und unheimlich
geformte Wolken zogen schaurig über den verwischten Fleck
himmlischen Lichts, das die Versuche eines auf beiden Seiten
konvexen Mondes markierte, die vielen Dunstschichten der
Schleierwolken zu durchdringen. Romeros Stimme, die aus der
Schlafstatt über mir kam, weckte mich, eine Stimme, die vor
einer vagen Erwartung, die ich nicht verstehen konnte, erregt
und angespannt war; »jMadre de Dios! - El sonido - ese sonido -
¡ orga Vd!
(¡ lo oyte Vd? ¡ Senor, dieser klang!.
Ich lauschte und fragte mich, welchen Klang er meinte. Der
Coyote, der Hund, der Sturm, sie alle waren zu hören. Lezterer
gewann nun die Oberhand, denn der Wind kreischte immer
heftiger.
Aufzuckende Blitze waren durch das Fenster der Unterkunft
zu sehen. Ich befragte den nervösen Mexikaner und führte die
Geräusche an, die ich gehört hatte:
»(el coyote? - el perro? - el viento?.
Romero antwortete jedoch nicht. Dann fing er an, voll
ehrfürchtiger Scheu zu flüstern:
»¡ E1 ritmo,Senorelritmo de latierradieses pochen tief im
boden!«
Und jetzt hörte ich es ebenfalls, hörte es und erzitterte, ohne
-275-
zu wissen, warum. Tief, tief unten war ein Klang - ein
Rhythmus, genau wie es der Peon gesagt hatte -, der, wiewohl
außergewöhnlich schwach, doch selbst den Hund, den Coyoten
und den zunehmenden Sturm übertönte. Ihn beschreiben zu
wollen wäre sinnlos - ein rhythmischer Klang jenseits jeglicher
Beschreibung.
Vielleicht glich er dem Pulsieren von Motoren tief unten im
Rumpf eines großen Linienschiffs, wie man es vom Deck aus
spürt, doch klang es nicht so mechanisch, nicht so lebensfremd
und bewußtlos.
Von allen Eigenschaften der Erde beeindruckte mich Ferne
am meisten. Bruchstücke einer Stelle aus Joseph Glanvil, die
Poe mit ungeheurer Wirkung zitiert hat, drängten sich in meinen
Sinn.
»- die Großartigkeit, Unermeßlichkeit und Unerforschlichkeit
seiner Werke, welche eine Tiefe in sich haben, die großartiger
ist als der Brunnen des Demokritos.«
Plötzlich sprang Romero aus seiner Koje und stand vor mir,
um den seltsamen Ring auf meiner Hand anzustarren, der bei
jedem Blitzschlag merkwürdig glitzerte, und blickte dann
gespannt in Richtung Bergwerksschacht. Ich erhob mich
ebenfalls. Wir standen eine Zeitlang bewegungslos da und
lauschten angestrengt, als der unheimliche Rhythmus immer
lebhafter wurde. Dann begannen wir uns, anscheinend
unwillentlich, auf die Tür zu zu bewegen, in deren Rütteln im
Sturm eine irdische Realität sich tröstlich andeutete. Der
eintönige Singsang in der Tiefe - denn so hörte sich der Klang
jetzt an - nahm an Stärke und Deutlichkeit zu, und uns zwang
eine unwiderstehliche Macht dazu, in den Sturm hinaus und zu
der klaffenden Schwärze des Schachtes zu gehen.
Uns begegnete kein Lebewesen, denn die Männer der
Nachtschicht waren vom Dienst freigestellt worden und hielten
sich zweifellos in der Siedlung Dry Gulch auf, wo sie einem

-276-
schläfrigen Bartender die Ohren mit unheimlichen Gerüchten
vollsangen. In der Hütte des Wachtpostens jedoch glänzte ein
kleines Quadrat gelben Lichts wie ein Wächterauge. Ich fragte
mich unwillkürlich, wie das rhythmische Geräusch auf den
Wachtposten gewirkt hatte, aber Romero schritt jetzt schneller
aus, und ich folgte ihm, ohne innezuhalten.
Als wir in den Schacht hinabstiegen, wurde der Klang von
unten unzweifelhaft deutlicher. Mir kam er so entsetzlich vor
wie eine Art orientalischer Zeremonie, bei der Trommeln
geschlagen wurden und viele Stimmen einen Singsang
anstimmten. Ich habe, wie Sie ja wissen, lange Zeit in Indien
verbracht.
Romero und ich bewegten uns, ohne zu zögern, durch Stollen
und über abwärts führende Leitern, immer auf das Wesen zu,
das uns anzog, doch ständig erfüllt von einer erbärmlich
hilflosen Furcht und Abneigung. Einmal glaubte ich fast,
verrückt geworden zu sein - und zwar, als ich überlegte,
wodurch unser Weg ohne Lampe oder Kerze erhellt wurde, und
merkte, daß der uralte Ring an meinem Finger mit unheimlichen
Strahlen glühte und durch die feuchte, schwere Luft um uns
einen bleichen Lichtschein verströmte.
Nachdem wir eine der vielen breiten Leitern hinabgeklettert
waren, begann Romero mit einem Mal zu laufen und ließ mich
allein zurück. Ein neuer und wilder Ton in dem Trommelschlag
und Singsang, für mich bloß unmerklich wahrnehmbar, hatte auf
ihn eine überraschende Wirkung. Mit einem wilden Aufschrei
stürmte er blindlings in die Düsternis der Höhle hinein. Ich hörte
vor mir seine wiederholten Schreie, als er unbeholfen die
waagerechten Gänge entlangstolperte und wie wahnsinnig die
wackligen Leitern hinunterkletterte. Und so erschreckt ich auch
war, bewahrte ich doch genug Auffassungsvermögen, um zu
bemerken, daß seine Rede, wenn sie zu verstehen war, nicht
irgendeiner mir bekannten Sprache angehörte. Strenge, aber
eindrucksvolle Viersilbenwörter hatten die gewohnte Mischung

-277-
von schlechtem Spanisch und noch schlechterem Englisch
abgelöst, und davon schien mir nur der oft wiederholte Schrei
»Huitzilopochtli« ein wenig vertraut zu sein. Später fand ich das
Wort in den Werken eines großen Historikers wieder (Prescott,
Conquest of Mexico) - und mich schauderte, als mir der
Zusammenhang klar wurde.
Der Höhepunkt dieser entsetzlichen Nacht umfaßte mehrere
Stufen, war aber ziemlich kurz und setzte gerade ein, als ich die
letzte Höhle der Reise erreichte. Aus der Dunkelheit unmittelbar
vor uns erklang ein Aufschrei des Mexikaners, dem sich solch
ein Chor unheimlicher Geräusche anschloß, den ich nie mehr
ertragen könnte, ohne zu sterben. In diesem Augenblick schien
es, als hätten all die verborgenen Schrecken und
Ungeheuerlichkeiten der Erde eine Stimme bekommen bei dem
Versuch, das Menschengeschlecht zu überwältigen. Gleichzeitig
erlosch das Licht in meinem Ring, und ich sah ein neues Licht,
das aus dem tieferen Raum nur ein paar Meter vor mir
aufglomm. Ich war an dem Abgrund angelangt, der jetzt rötlich
glühte und offensichtlich den unglücklichen Romero
verschlungen hatte. Ich trat näher und spähte über den Rand der
Kluft, die kein Seil ausloten konnte und die jetzt ein
Pandämonium zuckender Flammen und Höllenlärms war. Zuerst
erblickte ich nichts als einen brodelnden Fleck von etwas
Leuchtendem. Aber dann begannen sich Formen, alle unendlich
fern, aus dem Durcheinander zu lösen, und ich erblickte ihn -
war es Juan Romero? - aber bei Gott! Ich wage nicht. Ihnen zu
erzählen,was ich sah!... Eine Himmelsmacht, die mir zu Hilfe
eilte, löschte beides, Anblick und Klänge, in einem Krachen aus,
wie man es nur vernimmt, wenn zwei Welten im All
zusammenstoßen. Das Chaos trat ein, und mir wurde der Frieden
der Auslöschung zuteil.
Ich weiß kaum, wie ich fortfahren soll, geht es doch um
einzigartige Vorgänge. Ich werde jedoch mein Bestes tun und
nicht einmal zwischen dem Realen und dem Scheinbaren zu

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unterscheiden versuchen.
Als ich erwachte, lag ich sicher in meiner Koje, und am
Fenster war das rote Glühen der Morgendämmerung sichtbar. In
einiger Entfernung lag der leblose Körper des Juan Romero auf
einem Tisch, umgeben von einer Gruppe von Männern, darunter
der Lagerarzt. Die Männer erörterten den seltsamen Tod des
Mexikaners, während er schlafend dagelegen hatte, ein Tod, der
anscheinend irgendwie mit dem entsetzlichen Blitz
zusammenhing, der den Berg getroffen und erschüttert hatte.
Keine unmittelbare Todesursache war ihm anzusehen, und
auch eine Autopsie erbrachte kein Ergebnis.
Aus Gesprächsfetzen ging zweifelsfrei hervor, daß weder
Romero noch ich die Unterkunft in der Nacht verlassen hatten,
daß keiner von uns beiden während des entsetzlichen Sturmes
wach war, der über die Kaktus-Gebirgskette dahinzog. Jener
Sturm, erklärten Männer, die sich in den Bergwerksschacht
hinuntergewagt hatten, hatte ausgedehnte Einstürze verursacht
und den tiefen Abgrund verschlossen, der am Vortag solche
Befürchtungen ausgelöst hatte. Als ich den Wachtposten fragte,
welche Geräusche er vor dem mächtigen Blitzschlag gehört
hatte, erwähnte er einen Coyoten, einen Hund und den
fauchenden Bergwind - sonst nichts. Ich zweifle nicht an seinem
Wort.
Nach Wiederaufnahme der Arbeit ordnete Direktor Arthur an,
daß einige besonders zuverlässige Männer in der Nähe der
Stelle, wo der Abgrund sich aufgetan hatte, Nachforschungen
anstellen sollten. Die Männer gehorchten, wenn auch ohne
große Begeisterung, und es wurde eine Tiefenbohrung
vorgetrieben. Die Ergebnisse waren recht merkwürdig. Die
Decke über der Leere, bei offenem Zustand gesehen, war
keineswegs dick gewesen; und doch stießen die Männer auf eine
Stelle, wo sich massives Gestein grenzenlos auszudehnen
schien. Da sie sonst nichts fanden, nicht einmal Gold, stellte der
Bergwerksdirektor die Versuche ein. Wenn er nachdenklich an
-279-
seinem Schreibtisch sitzt, überzieht jedoch zuweilen ein
verblüffter Ausdruck sein Antlitz.
Eine andere Sache ist höchst merkwürdig. Kurz nach meinem
Erwachen an dem fraglichen Morgen nach dem Sturm fiel mir
das unerklärliche Fehlen meines Hindurings am Finger auf. Ich
hatte ihn sehr geschätzt, aber trotzdem empfand ich ein Gefühl
der Erleichterung über sein Verschwinden. Wenn ihn einer
meiner Bergarbeiter-Kameraden an sich gebracht hatte, mußte er
sich seiner Beute höchst schlau entledigt haben, denn trotz
Anzeigen und polizeilichen Nachforschungen wurde der Ring
nie wiedergefunden. Irgendwie bezweifle ich, daß er von
sterblichen Händen gestohlen wurde, denn in Indien sind mir
viele Merkwürdigkeiten begegnet.
Meine Meinung zu diesem Erlebnis schwankt von Zeit zu
Zeit. Bei hellem Tageslicht und die meiste Zeit des Jahres neige
ich dazu, es zum Großteil für einen bloßen Traum zu halten.
Manchmal im Herbst jedoch, so um zwei Uhr morgens, wenn
die Winde und die Tiere erbärmlich heulen, dann dringt aus
unvorstellbaren Tiefen eine verwünschte Andeutung eines
rhythmischen Pochens..., und ich spüre, daß das
Dahinschwinden des Juan Romero wahrhaft entsetzlich war.
16. September 1919

-280-
Prosagedichte

-281-
Erinnerung

Im Tal Nis scheint der verfluchte abnehmende Mond


schwach, er bricht durch das tödliche Laubwerk eines
gewaltigen Upas-Baumes mit den kraftlosen Spitzen seiner
Sichel einen Pfad für sein Licht. In den Tiefen des Tales, dort,
wohin das Licht nicht mehr reicht, bewegen sich Gestalten,
deren Anblick kein Auge erträgt. Auf den Hängen rechts und
links wächst üppiges Grün, dort schlängeln sich böse Ranken
und Kriechpflanzen zwischen den Steinen verfallener Paläste,
schlingen sich fest um zerborstene Säulen und fremdartige
Monolithe, kriechen Marmorfliesen hinauf, die von längst
vergessenen Hilfskräften verlegt wurden. Auf Bäumen, die in
verwahrlosten Höfen zu gigantischen Höhen emporwachsen,
hüpfen Äffchen umher, während sich in und vor den tiefen
Schatzgewölben Giftschlangen und namenlose Schuppenwesen
tummeln.
Ungeheuerlich sind die Steine, die unter einer Decke feuchten
Moses schlafen, und gewaltig waren die Mauern, von denen sie
herabstürzten. Ihre Erbauer errichteten sie für die Ewigkeit, und
fürwahr, sie erfüllen noch immer vornehm ihren Zweck, denn
unter ihnen hat die graue Kröte ihre Behausung aufgeschlagen.
Am tiefsten Punkt des Tals liegt der Fluß Tensch, dessen
Gewässer schleimig und schilfbestanden sind. Er entspringt
verborgenen Quellen und fließt in unterirdische Grotten weiter,
damit der Dämon des Tals nicht weiß, warum sein Wasser rot
ist, und ebensowenig, wohin es fließt.
Der Geist, der in den Mondstrahlen haust, sprach zum Dämon
des Tals, und zwar so: »Ich bin alt und habe viel vergessen.
Berichte mir von den Taten, dem Aussehen und dem Namen
derer, welche die steinernen Gebäude errichtet haben.« Und der
Dämon erwiderte: »Ich bin die Erinnerung und besitze großes
Wissen um die Überlieferung der Vergangenheit, aber ich bin

-282-
gleichfalls alt. Diese Wesen glichen den Gewässern des Flusses
Tensch, sie waren nicht zu verstehen. An ihre Taten erinnere ich
mich nicht, denn sie dauerten nur einen Augenblick. An ihr
Aussehen erinnere ich mich schwach, denn es glich dem der
Äffchen auf den Bäumen. An ihren Namen erinnere ich mich
deutlich, denn er reimte sich auf den des Flusses. Diese Wesen
von gestern wurden Mensch genannt.«
Und so flog der Geist zu dem schwachen, sichelförmigen
Mond zurück, und der Dämon sah konzentriert einem Äffchen
zu, das sich auf einem Baum tummelte, der in einem verfallenen
Hof wuchs.

-283-
Ex Oblivione

Als meine letzten Tage gekommen waren und die nichtigen


Widrigkeiten des Daseins begannen, mich in den Wahnsinn zu
treiben wie die kleinen Wassertropfen, die Folterer unaufhörlich
auf einen bestimmten Punkt des Körpers ihres Opfers fallen
lassen, liebte ich besonders die verklärende Zuflucht des
Schlafes. In meinen Träumen fand ich ein wenig von der
Schönheit, die ich im Leben vergebens gesucht hatte, und
wanderte durch alte Gärten und verzauberte Wälder.
Einmal, als der Wind mild und voller Düfte war, hörte ich den
Ruf des Südens, und segelte endlos und schlaff unter
fremdartigen Sternen dahin.
Einmal, als sanfter Regen fiel, glitt ich in einer Barke einen
lichtlosen unterirdischen Strom hinab, bis ich in eine andere
Welt aus purpurroter Dämmerung, irisierenden Bäumen und
niemals welkenden Rosen gelangte.
Und einmal schlenderte ich durch ein goldenes Tal, das zu
verschatteten Hainen und Ruinen führte und in einer mächtigen
Mauer endete, die von uralten Schlingpflanzen überwuchert und
einem kleinen Bronzetor durchbrochen war.
Viele Male schritt ich durch jenes Tal, und immer länger hielt
ich in dem gespenstischen Halbdämmer inne, in dem sich die
gigantischen Bäume grotesk wanden und schlängelten, der graue
Boden feucht sich von Stamm zu Stamm erstreckte und
manchmal die schimmelbefleckten Steine vergrabener Tempel
freigab. Das Ziel meiner Phantasievorstellungen war immer die
mächtige, von Schlingpflanzen überwucherte Mauer, in die das
kleine Bronzetor eingelassen war.
Nach einer Weile, als die Tage des Wachseins in ihrer grauen
Gleichförmigkeit kaum mehr zu ertragen waren, schwebte ich
oft im Opiumfrieden durch das Tal und die verschatteten Haine
und fragte mich, wie ich sie zum ewigen Wohnort gewinnen
-284-
konnte, damit ich nicht mehr in eine stumpfsinnige Welt
zurückzukriechen brauchte, die jedes Interesse und jeder neuen
Farbe bar war. Und als ich auf die kleine Pforte in der mächtigen
Mauer blickte, fühlte ich, daß hinter ihr ein Traumland lag, aus
dem es, sobald man es betreten hatte, keine Rückkehr mehr gab.
So suchte ich jede Nacht im Schlaf den verborgenen Riegel zu
dem Tor in der efeuüberwucherten alten Mauer zu finden,
obwohl er außerordentlich geschickt versteckt war. Und ich
redete mir ein, daß das Reich hinter der Mauer nicht nur von
größerer Dauer sei, sondern auch lieblicher und prächtiger.
Und dann stieß ich eines Nachts in der Traumstadt Zakarion
auf einen vergilbten Papyrus, beschriftet mit den Gedanken der
Traumweisen, die seit alters her in der Stadt wohnten, und die zu
weise waren, als daß sie je in die Wachwelt hineingeboren
würden. Darin stand so manches über die Traumwelt
geschrieben, darunter auch die Sage von einem goldenen Tal
und einem heiligen Hain mit Tempeln sowie einer hohen Mauer,
die von einer kleinen Bronzepforte durchbrochen wurde. Als ich
auf diese Sage stieß, erkannte ich, daß sie sich auf die
Schauplätze bezog, die ich immer wieder aufgesucht hatte, und
daher blieb ich lange an dem vergilbten Papyrus hängen. Einige
der Traumweisen berichteten von den großartigen Wundern
hinter der unpassierbaren Pforte, andere jedoch schrieben von
Grauen und Enttäuschung. Ich war im Zweifel, wem ich
Glauben schenken sollte, doch verlangte mich mehr und mehr,
für allezeit in das unbekannte Land hinüberzuwechseln, denn
Ungewißheit und Geheimnistuerei sind die Essenz aller
Verlockungen, und kein neues Grauen kann entsetzlicher sein
als die alltägliche Folter des Gewöhnlichen. Als ich daher von
dem Rauschmittel erfuhr, welches das Tor öffnen und mich
einlassen konnte, beschloß ich, dieses Mittel einzunehmen,
wenn ich das nächste Mal erwachte.
Letzte Nacht schluckte ich das Mittel und entschwebte
träumend in das goldene Tal und die verschatteten Haine. Und

-285-
als ich diesmal zu der uralten Mauer kam, erkannte ich, daß die
kleine Bronzepforte offenstand. Von Ferne drang ein Schein
heran, der auf unheimliche Weise die riesigen knorrigen Bäume
und die Spitzen der versunkenen Tempel beleuchtete. Ich
schwebte freudig weiter, in Erwartung der Pracht des Landes,
aus dem ich nie mehr zurückkehren würde.
Als sich die Pforte jedoch weiter öffnete und die Zauberkraft
aus Rauschmittel und Traum mich hindurchdrängte, erkannte
ich, daß es zu Ende war mit dem Einblick und der Pracht, denn
weder Land noch Meer gab es in dem neuen Reich, sondern nur
unbewohnten und unermeßlichen Weltraum in seiner weißen
Leere. Und auf diese Weise, glücklicher als ich je zu hoffen
gewagt hatte, löste ich mich wieder in die ursprünglich
angeborene Unendlichkeit kristallischer Auslöschung auf, aus
der mich der Dämon Leben für eine kurze und leidvolle Stunde
abberufen hatte.

-286-
Was der Mond bringt

Ich hasse den Mond - ich fürchte ihn -, denn wenn er auf
bestimmte vertraute und geliebte Szenerien herabscheint,
verwandelt er sie manchmal in etwas Unvertrautes und
Entsetzliches.
In jenem geisterharten Sommer schien der Mond auf den alten
Garten herab, in dem ich umherging, dem geisterhaften Sommer
betäubend duftender Blumen und feuchter Meere von
Laubwerk, der wilde und vielfarbene Träume bringt. Und als ich
den seichten Kristallfluß entlangging, sah ich seltsame Wellen
mit gelben Lichtkrönchen so, als würden diese geruhsamen
Gewässer widerstandslos in Strömen von seltsamen Ozeanen
angezogen, die nicht von dieser Welt sind. Ruhig und glitzernd,
strahlend und unheilvoll eilten diese mondverfluchten Gewässer
dahin, ich wußte nicht wohin, während Lotosblüten von den
Böschungen am Ufer eine nach der anderen in den betäubenden
Nachtwind flatterten und traurig in den Strom fielen, unter der
behauenen Bogenbrücke schauerlich dahinwirbelten und wie
reglose Totengesichter in Abschiedsdüsternis zurückstarrten.
Und als ich den Strand entlanglief, schlafende Blumen mit
den Füßen achtlos zertrampelte, immer verwirrter von der
Furcht vor dem Unbekannten und der Verlockung der
Totengesichter, merkte ich, daß der Garten unter dem Mond
kein Ende hatte, denn wo tagsüber Mauern standen, war jetzt
nichts weiter zu erkennen, als neue Ausblicke auf Bäume,
Blumen und Sträucher, steinerne Idole und Pagoden und die
Windungen des gelb beleuchteten Bachs, wie er zwischen
grasbewachsenen Ufern und unter grotesken Marmorbrücken
hindurch dahinfloß. Und die Lippen der toten Lotosgesichter
flüsterten traurig und befahlen mir, ihnen zu folgen. Ich hielt
erst inne, als aus dem Bach ein Fluß wurde, der in einer Gegend
aus Sumpfland, von schwankendem Schilf umstanden, und

-287-
Stranden aus gleißendem Sand in ein ungeheures und
namenloses Meer mündete. Auf dieses Meer schien der verhaßte
Mond herab, und über seinen lautlosen Wellen schwebend
sammelten sich unheimliche Wohlgerüche. Als ich die
Lotosgesichter darin verschwinden sah, wünschte ich mir Netze
herbei, damit ich sie fangen und die Geheimnisse erfahren
könne, die der Mond für die Nacht mitgebracht hatte. Als aber
der Mond weiter nach Westen wanderte und die lautlosen
Gezeiten von der düsteren See zurückebbten, erblickte ich im
Licht alte Türmchen, die die Wellen beinahe freigegeben hatten,
und weiße Säulen, geschmückt mit Girlanden aus grünem
Seetang. Und da ich wußte, daß an diesem versunkenen Ort alle
Toten gekommen waren, überkam mich ein Zittern, und es
verlangte mich nicht mehr danach, mit den Lotosgesichtern zu
reden.
Als ich jedoch sah, wie weit draußen auf dem Meer ein
schwarzer Kondor vom Himmel herabsank, um sich auf einem
ungeheuren Riff auszuruhen, hätte ich ihn gern befragt und mich
bei ihm nach jenen erkundigt, die ich als Lebende gekannt hatte.
Das hätte ich ihn gefragt, wäre er nicht so weit weg gewesen, er
war jedoch sehr ferne und überhaupt nicht mehr zu sehen, als er
sich dem gigantischen Riff näherte.
Und so verfolgte ich, wie die Ebbe unter dem sinkenden
Mond zurückwich, und erblickte die Turmspitzen, die Türme
und die Dächer jener toten, triefenden Stadt. Und während ich
das beobachtete, suchte sich meine Nase gegen den Gestank der
Toten der Welt zu verschließen, der den Wohlgeruch
verdrängte, denn wahrlich, auf diesem nicht lokalisierten und
vergessenen Fleck hatte sich alles Fleisch der Friedhöfe
versammelt, damit aufgeblähtes Meeresgewürm daran nagen
und sich mästen konnte.
Über diesem Grauen hing der böse Mond jetzt sehr tief, aber
das aufgeblähte Meeresgewürm brauchte den Mond nicht zum
Fressen. Und als ich die Wellen verfolgte, die das Gewimmel

-288-
der Würmer unter der Oberfläche anzeigten, verspürte ich
neuerlich einen kalten Hauch von dorther, wohin der Kondor
geflogen war, als hätte mein Fleisch ein neues Entsetzen
wahrgenommen, bevor ich es mit den Augen erblickt hatte.
Und wirklich hatte mein Fleisch nicht grundlos gezittert, denn
als ich die Augen hob, sah ich, daß die Gewässer sehr weit
zurückgewichen waren und viel von dem weit ausgedehnten
Riff freigelegt hatten, dessen Rand ich zuvor erblickt hatte. Und
als ich erkannte, daß dieses Riff nur der schwarze Basaltschädel
eines schreckeneinflößenden Hengstes war, dessen
ungeheuerliche Stirn nun im trüben Mondlicht erglänzte und
dessen ekelhaften Hufe auf dem höllischen Schleim Meilen
entfernt herumtrampeln mußten, schrieb ich und schrie ich,
damit das verborgene Gesicht nicht über den Wasserspiegel
aufstiege und damit mich die verborgenen Augen nicht anstarren
konnten, nachdem der höhnisch grinsende und verräterische
gelbe Mond sich davongeschlichen hatte.
Und um diesem unbarmherzigen Wesen zu entgehen, stürzte
ich mich freudig und ohne zu zögern in die stinkende Untiefe,
wo inmitten schilfbewachsener Mauern und versunkener
Straßen fettes Meeresgewürm an den Toten der Welt seinen
Festschmaus hält.

-289-
Essays

-290-
Autobiographie. Einige Anmerkungen zu
einer Null

Mit Fußnoten von August W. Derleth [Der verstorbene H. P.


Lovecraft hat zahlreiche autobiographische Äußerungen zu
Papier gebracht - seine Briefe wimmeln davon -, doch sind seine
»Anmerkungen zu einer Null. die längste und einer förmlichen
Autobiographie am nächsten kommende Darstellung, die er je
abfaßte. Sie ist mit dem 23. November 19 3 3 datiert, weniger
als vier Jahre vor seinem Tod also. Damals hatte Lovecraft
bereits den Großteil seines schöpferischen Werkes
abgeschlossen; und wirklich wurde ja nur eine einzige seiner
wichtigsten Geschichten - »Der leuchtende Trapezoeder« - nach
diesem autobiographischen Zeugnis verfaßt, wiewohl auch die
gemeinsam mit Kenneth Sterling geschriebene Erzählung »In
den Mauern von Eryx« wie »Der leuchtende Trapezoeder« aus
dem Jahre 193 j stammt. Was nach der Autobiographie unter
Lovecrafts Namen gedruckt wurde, sind bis dahin
unveröffentlichte frühere Erzählungen; dazu gehören »Berge
des Wahnsinns«, »Der Fall Charles Dexter Ward«,
»Psychopompos«, »Der Schatten aus der Zeit«, »Schatten über
Innsmouth« und »Das Ding auf der Schwelle«. »Einige
Anmerkungen zu einer Null« ist folglich eine ziemlich
abgeschlossene Darstellung. Meine Anmerkungen folgen der
Darstellung in Form von Fußnoten. A. W. D.] Für mich liegt die
Hauptschwierigkeit beim Schreiben einer Autobiographie darin,
etwas von genügender Wichtigkeit aufzuspüren, das sich lohnt,
festgehalten zu werden.1 Mein Leben ist so still, so ereignislos
und so unauffällig verlaufen, daß es, zu Papier gebracht,
bestenfalls erbärmlich glanzlos und fade erscheinen muß.
Ich wurde am 10. August 1890 in Providence, Rhode Island,
geboren, und dort habe ich auch, von zwei kleineren
Unterbrechungen abgesehen, mein ganzes Leben verbracht.

-291-
Mütterlicherseits stamme ich aus einer alten Familie in Rhode
Island, väterlicherseits von Einwanderern aus Devonshire, die
seit 1827 im Staat New York ansässig waren.2 Die Interessen,
die mich zur phantastischen Literatur hinführten, traten schon
frühzeitig zutage, denn so weit ich mich klar zurückerinnern
kann, haben seltsame Erzählungen und Einfälle mich stets sehr
angezogen, desgleichen der Anblick uralter Gegenstände.
Niemals hat mich wohl etwas stärker fasziniert als der Gedanke
an merkwürdige Störungen alltäglicher Naturgesetze oder an das
ungeheuerliche Eindringen unbekannter Wesen aus einem
grenzenlosen Draußen in unsere Welt.3 Als ich etwa drei Jahre
alt war, lauschte ich begierig den bekannten Kindermärchen.
Die Märchen der Gebrüder Grimm gehörten zu meiner ersten
Lektüre im Alter von vier Jahren. Im Alter von fünf Jahren
geriet ich in den Bann von »Tausendundeine Nacht«, und
stundenlang konnte ich Araber spielen - ich nannte mich »Abdul
Alhazred«, weil mir ein netter Erwachsener erklärt hatte, das sei
ein typisch sarazenischer Name. Erst Jahre später kam mir der
Einfall, Abdul Alhazred in das Milieu des 8.
Jahrhunderts zu verpflanzen und ihm das gefürchtete und
unaussprechliche Necronomicon zuzuschreiben!
Aber nicht nur Bücher und Sagen beschäftigten meine
Phantasie. In den alten hügeligen Straßen meiner Heimatstadt,
wo mit gefächerten Oberlichten ausgestattete Türen im
Kolonialstil, winzige Fenster und anmutige Dachfirste aus der
Zeit König Georgs den Glanz des achtzehnten Jahrhunderts
lebendig erhalten, verspürte ich einen Zauber, der damals wie
heute schwer zu erklären ist. Der Sonnenuntergang über den
weithingebreiteten Dächern, wie er sich von der Aussicht des
größten Hügels aus bot, besaß für mich eine besondere
Bedeutung.4 Ehe es mir noch zu Bewußtsein gekommen war,
hatte mich das achtzehnte Jahrhundert unwiderstehlicher
gefangengenommen, als es dem Held von Berkeley Square je
passiert war, und darum auch hockte ich auf dem Dachboden

-292-
stundenlang über den längst aus der Bibliothek unten verbannten
Büchern mit den alten, langen »s« und machte mir ganz
unbewußt den Stil Popes und Dr. Johnsons als natürliche
Ausdrucksweise zu eigen. Diese Versenkung wirkte um so
nachhaltiger, als mein schlechter Gesundheitszustand mir den
Schulbesuch nur selten und unregelmäßig erlaubte. Dadurch
fühlte ich mich als Zeitgenosse irgendwie fehl am Platze und
stellte mir folglich die Zeit als mystisches, verheißungsvolles
Etwas vor, das alle möglichen unerwarteten Wunder in sich
bergen mochte.5 Auch die Natur sprach meinen Sinn für das
Phantastische lebhaft an. Unser Haus lag nahe am damaligen
Rand des bewohnten Gebietes, so daß mir die wogenden Felder,
Steingemäuer, riesigen Ulmen, gedrungenen Bauernhäuser und
weiten Wälder des ländlichen Neuengland ebenso vertraut
waren wie die alte Stadtlandschart. Diese dumpfe, einfache
Landschaft schien mir eine unausgelotete, umfassende
Bedeutung zu bergen, und manche finstere bewaldete
Niederungen in der Nähe des Seekonk Rivers erlangten für mich
eine Aura der Seltsamkeit, die sich mit einem verschwommenen
Grauen mischte. Sie beherrschten meine Träume, besonders die
Alpträume, in denen mir. düstere, geflügelte biegsame
Geschöpfe erschienen, die ich »Nachtgespenster« nannte.
Als ich sechs Jahre alt war, kam ich durch verschiedene
leichtverständlich gehaltene Jugendschriften mit der
griechischen und römischen Mythologie in Berührung, die mich
tief prägte. Ich war kein Araber mehr, sondern wurde zu einem
Römer. Übrigens kam mir das alte Rom seltsam vertraut vor,
und ich identifizierte mich mit ihm, allerdings nicht ganz so
stark wie mit dem achtzehnten Jahrhundert. In gewisser Hinsicht
ging beides Hand in Hand, denn als ich die Klassiker im
Original entdeckte, denen die Kindergeschichten entnommen
worden waren, las ich sie überwiegend in Übersetzungen aus
dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert. Meine Phantasie
wurde ungeheuer beflügelt, und eine Zeitlang kam es mir in der

-293-
Tat so vor, als könnte ich in gewissen altehrwürdigen Hainen
Faune und Dryaden mit dem Blick erhaschen. Ich pflegte Altäre
zu errichten und Pan, Apollo und Minerva Opfer darzubringen.6
Ungefähr zu dieser Zeit wirkten die unheimlichen Illustrationen
von Gustave Dore - die ich in Dante- und Milton-Ausgaben und
im »Alten Matrosen« fand - tief auf mich ein. Zum erstenmal
begann ich, selbst zu schreiben. Den ersten Versuch, an den ich
mich erinnern kann - die Erzählung von einer entsetzlichen
Höhle -, verbrach ich im Alter von sieben Jahren und nannte ihn
»Der edle Lauscher«.
Die Geschichte ist nicht erhalten, doch besitze ich noch
immer zwei lächerlich infantile literarische Gehversuche aus
dem folgenden Jahr: »Das geheimnisvolle Schiff« und »Das
Geheimnis des Grabes«, deren Titel meine Geschmacksrichtung
hinreichend verraten.
Im Alter von acht Jahren zeigte ich starkes Interesse an den
Wissenschaften, das zweifellos durch die geheimnisvoll
anmutenden Abbildungen
»philosophischnaturwissenschaftlicher Instrumente« im Anhang
von Websters Unabridged Dictionary geweckt wurde. Zuerst
kam die Chemie, und bald nannte ich ein verlockendes kleines
Labor im Keller unseres Hauses mein eigen. Dann kam die
Geographie, die auf mich eine unheimliche Faszination ausübte
und sich auf die Antarktis und die unwegsamen Gefilde ferner
Wunder konzentrierte.
Schließlich erwachte in mir das Interesse für die Astronomie,
und die Verlockung anderer Welten und undenkbarer
kosmischer Abgründe überschattete lange Zeit nach meinem
zwölften Geburtstag alle anderen Interessen. Ich gab eine kleine
hektographierte Zeitschrift heraus, das »Rhode Island Journal of
Astronomy«, und endlich - im Alter von sechzehn Jahren -
schaffte ich tatsächlich den Durchbruch und wurde in einer
Zeitung gedruckt. Ich veröffentlichte Aufsätze zu
astronomischen Fragen, steuerte für eine Lokalzeitung

-294-
monatliche Artikel über Himmelserscheinungen bei und
bombardierte die ländliche Wochenzeitungen mit
umfangreicheren vermischten Beiträgen.7 In der High School -
die ich einigermaßen regelmäßig besuchen konnte - begann ich,
unheimliche Geschichten von gewisser Stimmigkeit und
Ernsthaftigkeit zu verfassen. Der größte Teil davon war Schund,
und mit achtzehn vernichtete ich die meisten. Ein bis zwei
erreichten vielleicht das Durchschnittsniveau der Groschenhefte.
Von allem habe ich mir nur »Das Tier in der Höhle« (1905) und
»Der Alchimist« (1908) aufgehoben. In diesem Stadium hatten
Wissenschaft und Klassik den Hauptanteil an meiner
unermüdlichen, umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit.
Unheimliche Geschichten spielten lediglich eine relativ
unbedeutende Rolle. Die Wissenschaft hatte mir den Glauben an
das Übernatürliche genommen, und im Augenblick fesselte
mich die Wahrheit stärker als alle Träume. Philosophisch bin ich
noch immer mechanistischer Materialist. Was meine Lektüre
anging, las ich Wissenschaftliches, Historisches, schöngeistige
Literatur, unheimliche Geschichten und völlig wertlosen Schund
auf gänzlich unkonventionelle Weise bunt durcheinander.8
Gleichzeitig mit diesem Interesse am Lesen und Schreiben
genoß ich eine sorglose Kindheit. Die frühen Jahre gestalteten
mir Spielzeug und Streifzüge in der Natur lebendig, und in der
Zeit nach meinem zehnten Geburtstag erschloß ich mir die
nähere Umgebung durch ausdauerndes Herumradeln.
Diese Streifzüge brachten mir die pittoresken, die Phantasie
befeuernden Entwicklungsphasen der Dörfer und ländlichen
Gebiete in Neuengland nahe. Auch war ich keinesfalls ein
Einsiedler; ich schloß mich gleich mehreren Gruppen von
Jugendlichen an.9 Mein Gesundheitszustand machte mir den
Besuch eines Colleges unmöglich, aber unsystematisches
Lernen daheim und der Einfluß eines bemerkenswert gebildeten
Onkels, eines Arztes, halfen mir, einige der ärgsten Folgen
dieses Mangels auszugleichen. In den Jahren, die ich hätte auf

-295-
dem College verbringen sollen, wechselte ich zwischen
Wissenschaft und Literatur hin und her und erwarb mir ein
fundiertes Wissen in allem, was das achtzehnte Jahrhundert
anging, dem ich mich seltsam zugehörig fühlte. Mit dem
Schreiben unheimlicher Geschichten hatte ich zeitweilig
ausgesetzt, doch las ich alle Gespenstergeschichten, die mir in
die Hand fielen - einschließlich der ausgefallenen Beiträge in
billigen Magazinen wie The All-Story und The Block Cat. Mein
eigenes Schaffen bestand hauptsächlich aus Gedichten und
Essays - alle gleichermaßen wertlos, und ich habe sie in
Vergessenheit geraten lassen.
Im Jahre 1914 entdeckte ich die United Amateur Press
Association und trat ihr bei. Das war eine von mehreren im
ganzen Lande verbreiteten Korrespondenz-Organisationen von
literarischen Neulingen, die ihre eigenen Blätter publizierten
und eine verschworene Gemeinschaft, ein Miniaturnetz aus
hilfreicher, gegenseitiger Kritik und Ermunterung bildeten. Die
Vorteile, die ich aus dieser Verbindung zog, lassen sich kaum
überschätzen, denn der Kontakt zu den verschiedenen
Mitgliedern und Kritikern ermöglichte es mir, die schlimmsten
archaischen Züge und Unbeholfenheiten meines Stils zu
mildern.
Von diesem organisierten Liebhabertum kam auch der erste
Anstoß, mit dem Schreiben unheimlicher Geschichten
fortzufahren. Und wirklich, im Juli 1917 schrieb ich »Das Grab«
und kurz darauf »Dagon«. Diese Liebhaberkreise haben mir
auch die Kontakte ermöglicht, die zur ersten professionellen
Publikation einer meiner Geschichten führten. Das war im Jahre
192.2, als Home Brew eine Reihe schauriger Geschichten
druckte, die sich »Herbert West - der Wiedererwecker« nannten.
Derselbe Kreis führte darüber hinaus zu meiner Bekanntschaft
mit Clark Ashton Smith, Frank Belknap Long,Wilfried B.
Talman und anderen, die sich inzwischen auf dem Gebiet
ungewöhnlicher Geschichten einen Namen gemacht haben.10

-296-
Im Jahre 1919 gab meine Entdeckung Lord Dunsanys durch den
mir die Idee eines künstlichen Pantheons und einer Mythenwelt,
vertreten durch Cthulhu, Yog-Sothoth, Yuggoth usw., kam -
meiner Schriftstellerei auf dem Gebiet der Gruselgeschichte
gewaltigen Auftrieb. Solche Geschichten schrieb ich jetzt in
größerem Umfang als jemals zuvor oder danach. Zu jener Zeit
dachte ich weder an eine professionelle Veröffentlichung, noch
erhoffte ich sie, aber die Gründung von Weird Tales im Jahre
192.3 eröffnete einen einigermaßen beständigen Absatzmarkt.
Meine Geschichten aus den zwanziger Jahren zeigen zum
Gutteil den Einfluß meiner zwei Hauptvorbilder - Poe und
Dunsany - und neigen im allgemeinen zu sehr zu Maßlosigkeit
und Kitsch, als daß sie ernsten literarischen Wert hätten.11
Indessen hatte sich seit 192.0 mein Gesundheitszustand radikal
gebessert, so daß ich mein ziemlich geruhsames Dasein durch
bescheidene Reisen bereicherte, die meinem stark ausgeprägten
Interesse für alles Alte eine freiere Entfaltung ermöglichten. Die
Suche nach architektonischen und landschaftlichen Schönheiten
in alten Kolonialstädten und auf Nebenwegen der ältesten
Siedlungsgebiete Amerikas wurde neben der Literatur zu meiner
Hauptbeschäftigung. Im Verlauf dieser Suche nach einer
Wiedererweckung der Vergangenheit glückte es mir,
beträchtliche Teile des Landes kennenzulernen, vom
bezaubernden Quebec im Norden bis zum tropischen Key West
im Süden und dem farbenprächtigen Natchez und New Orleans
im Westen. Quebec zählte neben Providence zu meinen
Lieblingsstädten, des weiteren Portsmouth, New Hampshire, in
Massachusetts Salem und Marblehead, in meinem Heimatstaat
Newport, Philadelphia, Annapolis, Richmond mit seinen reichen
Erinnerungen an Poe, Charleston aus dem 18. Jahrhundert, St.
Augustine aus dem 16. und das schläfrige Natchez auf
schwindelnder steiler Felsenküste in der wunderbaren
subtropischen Umgebung. Die Städte »Arkham. und
»Kingsport«, die in einigen meiner Erzählungen vorkommen,

-297-
sind ein mehr oder weniger verändertes Salem und Marblehead.
Neuengland, wo ich herstamme, und seine alte Überlieferung
haben sich meiner Einbildungskraft tief eingeprägt und kommen
in meiner Prosa häufig vor.
Gegenwärtig wohne ich in einem hundertdreißig Jahre alten
Haus auf einem alten Bergrücken in Providence. Von meinem
Schreibtisch aus bietet sich mir ein unvergeßliches Panorama
altehrwürdiger Dächer und Zweige.12 Es ist mir inzwischen
klar, daß sich jegliches echte literarische Verdienst, das ich
haben mag, auf Erzählungen vom Traumleben, von seltsamen
Schatten und kosmischer »Außenseitigkeit« beschränkt, obwohl
ich an anderen Lebensbereichen regen Anteil nehme und gegen
Bezahlung die stilistische Überarbeitung erzählerischer Prosa
und selbst von Lyrik anderer übernehme.13 Ichhabe nicht die
leiseste Ahnung, warum dem so ist. Ich mache mir keine
Illusionen über den prekären Status meiner Erzählungen, und ich
erwarte nicht, mich jemals ernstlich mit meinen
Lieblingsautoren unheimlicher Erzählungen messen zu können -
Poe, Arthur Machen, Dunsany, Algernon Blackwood, Walter de
la Mare und Montague Rhodes James. Für mein Werk kann ich
nichts weiter vorbringen als seine Redlichkeit. Ich weigere
mich, den mechanischen Konventionen der
Unterhaltungsliteratur Tribut zu zollen oder meine Erzählungen
mit Klischeefiguren und abgedroschenen Situationen
vollzustopfen.
Ich lege Wert darauf, echte Gemütsäußerungen und Eindrücke
so gut zu schildern, wie ich es nur vermag. Die Ergebnisse
mögen armselig sein, doch ringe ich lieber weiter hartnäckig um
echten literarischen Ausdruck, als die künstlichen Maßstäbe
wohlfeiler Schnulzen zu akzeptieren.
Im Laufe der Jahre habe ich versucht, meine Erzählungen zu
verfeinern und subtiler anzulegen. Das ist mir jedoch nicht in
dem Maße gelungen, wie ich mir hätte wünschen mögen. Einige
meiner Versuche sind in den Jahrbüchern von O'Brien und

-298-
O'Henry lobend erwähnt worden (»Das Grauen von Dunwich«,
»Die Farbe aus dem All« und so weiter), und einigen wurde die
Ehre zuteil, in Anthologien nachgedruckt zu werden. Aber aus
allen Vorschlägen, eine Sammlung meiner Geschichten zu
veranstalten, ist nichts geworden.14 Ich schreibe nie, wenn mir
der spontane Ausdruck verwehrt ist. Ich schreibe nur, um eine
bereits vorhandene Gemütsverfassung auszudrücken, die es zur
Kristallisation drängt. Einige meiner Geschichten drehen sich
um Träume, die ich selbst gehabt habe. Tempo und Art meines
Schreibens sind von Fall zu Fall sehr verschieden, doch fällt mir
das Schreiben in der Nacht immer am leichtesten. Von allen
meinen Werken sind mir »Die Farbe aus dem All« und »Die
Musik des Erich Zann« - in dieser Reihenfolge - am liebsten.15
Ich bezweifle, daß ich mit der gewöhnlichen Sciencefiction
jemals Erfolg haben könnte.
Ich bin der Ansicht, daß die unheimliche Literatur ein ernst zu
nehmendes Genre darstellt, das der besten literarischen Künstler
wert ist, obwohl sie zumeist ein ziemlich eng begrenztes Gebiet
ist, das nur einen kleinen Ausschnitt der unendlich vielfältigen
Gemütsverfassungen des Menschen spiegelt.
Gespenstergeschichten sollen realistisch und stimmungsvoll
sein - sie sollen ihre Abweichung von der Natur auf die eine
ausgewählte übernatürliche Bahn beschränken und nie aus dem
Auge verlieren, daß Szenen-Schilderung, Stimmung und
Naturerscheinungen bei der Vermittlung des zu Vermittelnden
weit wesentlicher sind als Charaktere und Handlung. Die
»Wucht« einer wahrhaft unheimlichen Geschichte ist einfach die
Aufhebung oder Überschreitung eines unumstößlichen
kosmischen Gesetzes - eine phantasievolle Flucht aus der
erdrückenden Wirklichkeit. Denn Naturerscheinungen, nicht
aber Personen sind ihre logischen »Helden«.16 Das Grauen
sollte originell sein - der Rückgriff auf alltägliche Mythen und
Legenden mindert nur seine Wirkung. Die derzeitigen
Geschichten in den Zeitschriften, die zu einem hoffnungslos

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gefühlsduseligen, konventionellen Standpunkt und einem
flotten, unbekümmerten Stil neigen und zu gekünstelten Fabeln
voller Handlungsreichtum, haben keinen sehr hohen
literarischen Rang. Algernon Blackwoods »Die Weiden« ist
vielleicht die bedeutendste unheimliche Geschichte, die je
geschrieben wurde.17 H. P. Lovecraft Anmerkungen von August
Derleth 1 Das ist eine typisch bescheidene Bemerkung
Lovecrafts; man sollte sie nicht mit falscher Bescheidenheit
verwechseln, denn Lovecraft hatte vom eigenen Werk eine sehr
schlechte Meinung und ließ sich nicht träumen, daß er oder
irgend etwas, was er tat, auch nur die geringste Bedeutung
haben könnte.
2 Lovecraft hat immer höchst ungern von seinen Eltern
gesprochen, und selbst wenn er scheinbar offen war, konnte man
unmöglich herausfinden, ob er ehrlich überzeugt oder ob er zu
zurückhaltend war, um Tatsachen anzuführen. Tatsache ist, daß
Lovecraft häufig schrieb, sein Vater habe »einen völligen
Zusammenbruch« erlitten, wohingegen Winfield Lovecraft an
Parese litt. Möglicherweise - und sogar höchst wahrscheinlich -
kannte Lovecraft die Umstände der »Probleme« seines Vaters
nicht und erfuhr auch nie, daß dieser als Syphilitiker an
fortgeschrittener Parese starb. Bemerkungen wie »Im Jahre 1893
erlitt mein Vater einen Schlaganfall, der auf Schlaflosigkeit und
ein überreiztes Nervensystem zurückzuführen war und ihn völlig
lahmte, so daß er den Rest seines Lebens im Krankenhaus
verbringen mußte«, die er 1915 in einem Brief an Maurice W.
Moe machte, sind typisch für die Art, wie Lovecraft von
seinem Vater sprach. Die Krankengeschichte bestätigt den Sohn
jedoch nicht: in ihr erscheint Winfield Lovecraft als Paretiker.
Seine Mutter war depressiv, herrschsüchtig und hilflos, eine
Neurotikerin hart an der Grenze des Wahnsinns, die schließlich
imMärz 1929 im Butler Hospital Aufnahme fand, wo sie zwei
Jahre später an geistiger und physischer Erschöpfung starb.
3 In seinem kürzlich erschienenen Buch The Strength to

-300-
Dream schreibt Colin Wilson von Lovecrafts »Versuch, den
Materialismus zu untergraben«, und behauptet von ihm, daß er
»völlig in sich verschlossen war« und sich von der
»"Wirklichkeit" losgesagt hatte « - eine Meinung, die von
denen, die Lovecraft kannten oder mit ihm korrespondierten,
nicht geteilt wird. In Wahrheit verbrachte Lovecraft eine äußerst
einsame Kindheit. Zweifellos fehlte in dem Haus, wo er mit
seiner Mutter und zwei Tanten lebte, der Vater, denn sein
Großvater und ein Onkel überlebten seinen Vater nicht lange. In
seiner Einsamkeit fand er Trost in manchen
Phantasievorstellungen, nicht allein in denen des Grauens,
obwohl er nur diesem Aspekt dichterischen Ausdruck gab, nicht
aber den griechischarabischen Träumen.
4 Die Beschreibung einer solchen Szene, die einem Brief
Lovecrafts entnommen ist, habe ich, allerdings mit geändertem
Pronomen, in die posthume »Zusammenarbeit.
»Die Lampe des Alhazred« eingefügt.
5 So faszinierend diese Versenkung ins achtzehnte
Jahrhundert ist, so bedauerliche und nachteilige Wirkungen
hatte sie auf sein schöpferisches Werk. Er vergeudete
Unmengen von Papier und noch mehr Schweiß auf das
Schreiben von Lehrgedichten in der Manier von Dichtern des
achtzehnten Jahrhunderts. Die meisten davon sind heute
unlesbar.
6 Das spielte sich in den ländlichen Gebieten entlang des
Rivers Seekonk ab, wie man sich vorstellen kann, in Einsamkeit,
denn die Kinder der Nachbarschaft hatten das übliche Interesse
an Kampfspielen und waren an der Dramatisierung von
Mythologie oder Geschichte nicht interessiert. In einem sehr
weit gefaßten Sinn lehnte er sie ab, und sie lehnten ihn ab, was
zum Teil die Einsamkeit seiner Jugend erklärt, wiewohl er
einige sehr enge Freunde hatte, die sich ihm anschlössen, als er
später die Abenteuer Nick Carters, Sherlock Holmes' und der
Bradys las und die »Detektivagentur Providence. gründete.
-301-
7 Lovecrafts Spalte erschien in der Tribüne von Providence.
8 Er merkte sich jedoch fast alles, was er las. Auf dem
Höhepunkt seiner Aktivität als Briefschreiber erstaunte er seine
Briefpartner häufig durch sein Wissen, das er spontan verfügbar
hatte oder das er aus den Erinnerungen an seine umfangreiche
Lektüre ausgrub. Während unserer zwölf Jahre andauernden
Briefverbindung, während der er bis zu seinem Verfall gegen
Ende seiner tödlichen Krankheit im Durchschnitt einen Brief pro
Woche schrieb, war ich häufig tief beeindruckt, wie leicht es
ihm fiel, die verschiedensten Themen zu erörtern.
9 Diese Aussage ist strittig und muß relativiert werden. Es
gibt keine Beweise, die dafür sprechen, und wenn Lovecraft
tatsächlich gleich »mehreren« Gruppen von Jugendlichen
angehörte, muß man annehmen, daß er nur ein Mitläufer war,
aber selten aktiv mitgemacht haben kann. Die
unternehmungslustige Bande, der er angehörte, war die
Detektivagentur Providence. Bezeichnenderweise war er ihr
Anführer. Keiner der Gefährten seiner Kindheit hat sich als
Zeuge gemeldet, und eine Dame, die ihn aus der Kinderzeit
kannte, hat ihre Erinnerungen an ihn niedergeschrieben. Clara L.
Hess hat uns ein höchst eindeutiges Bild eines Knaben
hinterlassen, der sich merkwürdig benahm und ein Sonderling
war, der sich absonderte und vor anderen Kindern versteckte.
Sie erinnert sich, daß sie ihn häufig sah, wie er »den Angell Hill
hinaufging, ohne etwas zu sagen, den Blick geradeaus gerichtet,
den Mantelkragen hochgeschlagen und das Kinn gesenkt«, eine
Schilderung, die von einem anderen Zeitgenossen, Carlos G.
Wright, bestätigt wird. Miss Hess ging einmal auf ihn zu, als er
auf einem Feld durch sein Teleskop die Sterne beobachtete,
»aber seine Sprache war so vom Fach, daß ich ihn nicht zu
verstehen vermochte«. Das erklärt teilweise Lovecrafts
Einsamkeit, denn die Jugend meidet einen überdurchschnittlich
intelligenten Jungen ebenso wie einen unterdurchschnittlich
begabten.

-302-
10 Es kann keinen Zweifel daran geben, daß diese
Bekanntschaften Lovecraft reichlich für den Mangel an
Freundschaft in seiner häuslichen Umgebung entschädigten. Er
war ein enthusiastisches Mitglied der
Amateurpressevereinigung. Mir fällt ein, daß er mich schon für
die United Amateur Press Association geworben hatte, als
unsere Korrespondenz noch kaum begonnen hatte. Er lieferte
nicht nur Beiträge für die meisten Amateurpublikationen,
sondern redigierte und publizierte eine Zeitlang sogar eine
eigene Zeitschrift, The Consewative.
11 Lovecraft war Zeit seines Lebens sein eigener strengster
Kritiker. Das ist auch die richtige Einstellung für einen
Schriftsteller, denn ein selbstzufriedener Autor bleibt in seiner
Entwicklung stecken. Von 192.3 an war Weird Tales sein
hauptsächlicher Markt; nur relativ wenige seiner Geschichten -
insgesamt vier - wurden anderswo veröffentlicht.
12 Lebenslang war die Vergangenheit für Lovecraft sehr
wichtig. Das läßt sich nicht leugnen.
Veränderungen flößten ihm mehr Abscheu ein als dem
Durchschnittsmenschen. Jeder von uns weigert sich bis zu einem
gewissen Grade, den Wandel zu akzeptieren, und dieser
Widerwille nimmt mit steigendem Alter zu. Vielleicht war für
ihn die Vergangenheit mit ihren Familienbanden - der
beschirmenden Mutter, dem Großvater mütterlicherseits und
dem Onkel - eine Art Sicherheit, eine Absicherung, die ins
Wanken geriet durch den beschleunigten Schritt der heutigen
Welt und die rasante Geschwindigkeit des Wandels, der die
Zerstörung der alten Gebäude und Straßen, die Lovecraft so sehr
liebte, mit sich brachte. Mit ihnen verbanden sich Erinnerungen
an die Kindheit und die noch ältere Vergangenheit. Nicht lange
nach dieser autobiographischen Darstellung verfiel Lovecrafts
Gesundheit langsam, und am 15. März 1937 starb er.
13 Lovecraft nahm gründliche Überarbeitungen von Werken
anderer Autoren vor. Ob ihm das mehr Zeit raubte als seine
-303-
Riesenkorrespondenz, ist ungewiß. Den Briefwechsel brauchte
er, denn das war seine Verbindung mit der Welt. Die
Überarbeitungen mußte er machen, denn er brauchte dieses
Einkommen, um sein Dasein zu fristen, und seine
Lebensführung würden die meisten von uns heute als weit unter
dem Existenzminimum liegend betrachten. Ohne
Abnehmermarkt jedoch fehlte Lovecraft der Antrieb zum
Schreiben, und wann immer eine seiner Geschichten abgelehnt
wurde - und Farnsworth Wright lehnte seine Geschichten häufig
aus einem unglaublichen Mangel an Urteilsvermögen ab -, war
er gezwungen, solche Arbeiten anzunehmen. Unter den
abgelehnten Erzählungen befanden sich »Die Farbe aus dem
All«, »Schatten über Innsmouth«, »Der Schatten aus der Zeit«,
»Berge des Wahnsinns« und andere, die erst angenommen
wurden, als er sie zum zweiten oder dritten Mal vorlegte. Man
darf also vermuten, daß Lovecraft mehr geschrieben hätte, wäre
er gezwungen gewesen, seinen Lebensunterhalt ohne diese
Überarbeiter-Tätigkeit zu verdienen. Angesichts der schlechten
Meinung, die Lovecraft von seinem eigenen Werk hatte, berührt
jedoch der Gedanke ironisch, daß seine Geschichten mit um so
größerer Regelmäßigkeit abgelehnt wurden, je überzeugender
sie wurden und je besser in Stil und Darstellung.
14 Die Dummheit der Herausgeber in dieser Beziehung hielt
aber noch an, nachdem Donald Wandrel und ich The Outsider
and Others zusammengestellt hatten. Dieses Buch wurde
sowohl Simon & Schuster als auch Charles Scribner's Sons
vorgelegt, und dann wurde aus meiner Ungeduld heraus - denn
ich mußte meine eigenen Bücher schreiben, so wie ich heute
meine Schriftstellerei noch immer betreibe, trotz der
Ausweitung der Arkham-House-Agenden - Arkham House
geboren. Wenn ich mich recht erinnere, kam die Anregung, wir
sollten den Lovecraft-Sammelband selber verlegen, von einem
Lektor bei Scribner's, meinem damaligen Verleger. Das beste
Werk Lovecrafts ist nun in beinahe jedem europäischen Land

-304-
erschienen, einschließlich einiger hinter dem Eisernen Vorhang,
sowie in ganz Lateinamerika.
15 Lovecraft war darin nicht sehr konsequent. Gelegentlich
kehrte er die Reihenfolge um. Ein anderes Mal nannte er »Das
Grauen von Dunwich« und »Die Ratten im Gemäuer«.
16 Colin Wilson ist der Meinung, daß Lovecrafts ganzes
Leben eine Flucht vor der Wirklichkeit war, ein einziger
Rückzug. Siehe sein Buch The Strength to Dream.
17 Seit Lovecrafts Tod im Jahre 1937 ist die Lage auf dem
amerikanischen Zeitschriftenmarkt für den Schriftsteller ganz
anders geworden. Die Pulps gehören der Vergangenheit an, die
Flut an Sciencefiction ist zurückgegangen, und der Markt für
phantastische Literatur hat sich seit dem niedrigen Stand, den er
mit der Einstellung von Weird Tales im Jahre 1954 erreichte,
niemals wesentlich erweitert. Zu keiner Zeit seines Lebens gab
sich Lovecraft je dazu her, für die Groschenmagazine
konventionelle, handlungsreiche Geschichten zu schreiben.

-305-
Anmerkungen zum Schreiben
unheimlicher Erzählungen

Der Grund, warum ich Erzählungen schreibe, ist der, daß ich
mir selbst die Befriedigung verschaffen möchte, klarer,
eingehender und bleibender mir die vagen, flüchtigen und
bruchstückhaften Eindrücke des Staunens, der Schönheit und
der erwartungsvollen Abenteuerlichkeit vor Augen zu führen,
die mir durch gewisse Anblicke (szenischer, architektonischer,
stimmungsvoller Art usw.). Einfälle, Ereignisse oder Bilder
vermittelt werden, auf die ich in Kunst und Literatur stoße. Auf
unheimliche Erzählungen habe ich mich deswegen verlegt, weil
sie meiner Neigung am ehesten entsprechen - einer meiner
stärksten und nachhaltigsten Wünsche ist es, die Illusion
wenigstens vorübergehend einmal zu erreichen, daß die
ärgerlichen Beschränkungen von Zeit, Raum und Naturgesetz,
die uns ständig einkerkern und unsere Wißbegier über die
unendlichen kosmischen Räume jenseits unseres Blickfeldes
und unserer analytischen Fähigkeiten zunichte machen,
aufgehoben oder gesprengt sind. Geschichten betonen häufig
das Element des Grauens, denn Furcht ist unser tiefstes und
stärkstes Gefühl und dasjenige, mit dem sich am besten
Illusionen hervorbringen lassen, die sich über die Naturgesetze
hinwegsetzen. Grauen und das Unbekannte oder Seltsame sind
stets eng miteinander verknüpft, so daß es schwer fällt, die
Zerschlagung von Naturgesetzen oder kosmische Fremdartigkeit
oder »das Außenseitige« überzeugend zu schildern, ohne das
Gefühl der Furcht hervorzuheben. Die Zeit spielt in so vielen
meiner Erzählungen eine wichtige Rolle, weil diese Erscheinung
meiner Meinung nach eine zutiefst dramatische und
grimmigentsetzliche Angelegenheit im Weltall darstellt. Die
Auseinandersetzung mit der 2eit scheint mir das mächtigste und
ergiebigste Thema im Rahmen menschlichen

-306-
Ausdrucksvermögens zu sein.
Wenn die Art und Weise, wie ich Geschichten schreibe, auch
unstrittig ausgefallen und vielleicht eingeengt ist, so ist sie
nichtsdestoweniger eine beständige und bleibende
Ausdrucksform, so alt wie die Literatur selbst. Stets wird es
einen kleinen Prozentsatz von Personen geben, der von
brennender Neugierde auf den unbekannten Weltraum erfüllt ist,
und auch von einem brennenden Verlangen, aus dem Gefängnis
des Bekannten und Wirklichen in jene verzauberten Länder
unglaublicher Abenteuer und unendlieber Möglichkeiten zu
entfliehen, die sich uns in Träumen auftun und die etwa tiefe
Wälder, phantastische Stadttürme, flammende
Sonnenuntergänge und dergleichen augenblicklich vor das Auge
stellen. Zu diesen Menschen gehören bedeutende Autoren
ebenso wie unbedeutende Amateure wie ich - Dunsany, Poe,
Arthur Machen, M. R. James, Algernon Blackwood und Walter
de la Märe sind typische Meister auf diesem Gebiet.
Wie ich nun eine Geschichte schreibe - da gibt es keine
ausschließliche Methode. Jede meiner Erzählungen hat eine
andere Entstehungsgeschichte. Ein- oder zweimal habe ich
buchstäblich einen Traum ausgeschmückt und
niedergeschrieben, aber gewöhnlich gehe ich von einer
Stimmung oder einem Einfall oder einem Bild aus, etwas, das
ich ausdrücken möchte, und wälze sie in meinem Geist herum,
bis mir eine gute Darstellungsweise einfällt, wie ich sie in einer
Kette dramatischer Ereignisse ausdrücken kann, die sich ganz
konkret schildern lassen. Meistens gehe ich im Geist eine Liste
von Ausgangssituationen oder Zuständen durch, die sich für eine
solche Stimmung oder einen Einfall oder ein solches Bild am
besten eignen, und dann beginne ich zu überlegen, wie ich die
besagte Stimmung, den Einfall oder das Bild je nach
Ausgangslage oder Ausgangssituation am besten logisch und
natürlich motivieren und begründen kann.
Der tatsächliche Schreibprozeß ist natürlich von Fall zu Fall

-307-
so grundverschieden wie die Wahl des Themas oder des
ursprünglichen Konzeptes. Würde man jedoch die
Entstehungsgeschichte aller meiner Erzählungen untersuchen,
ist es gut möglich, daß man aus der allgemeinen Arbeitsweise
folgende Regeln ableiten könnte: i. Herstellung einer
Zusammenfassung oder eines Szenarios der Ereignisse in der
Reihenfolge ihres tatsächlichen Auftretens - nicht in der
Reihenfolge, in der sie erzählt werden. Die Beschreibung sei
ausführlich genug, damit alle wesentlichen Punkte erfaßt und
alle vorgesehenen Ereignisse erklärt werden. Weitergehende
Einzelheiten, Kommentare und Einschätzungen der
Folgewirkungen sind bei diesem zeitlichen Rahmen zuweilen
wünschenswert. i. Anfertigung einer zweiten Zusammenfassung
oder eines Szenarios der Ereignisse - diesmal in der
Reihenfolge, wie sie erzählt werden (nicht in der tatsächlichen
Abfolge), hinreichend eingehend und mit allen Einzelheiten,
ferner mit Anmerkungen über Wechsel der Perspektive,
Hervorhebungen und dramatischen Höhepunkten, Abänderung
und Angleichung der ursprünglichen Zusammenfassung, wenn
dadurch die dramatische Kraft oder die allgemeine Wirkung der
Geschichte gesteigert wird.
Ereignisse werden beliebig eingefügt oder gestrichen - man
fühle sich keineswegs an das ursprüngliche Konzept gebunden,
selbst wenn die Endfassung der Geschichte ganz und gar nichts
mehr mit der ursprünglich geplanten zu tun hat. Hinzufügungen
oder Änderungen sollten stets durchgeführt werden, wann
immer sie sich im Prozeß des Ausformulierens ergeben.
3. Niederschreiben der Geschichte - schnell, flüssig und nicht
allzu kritisch - und zwar in der Reihenfolge der zweiten oder
erzähltechnisch geordneten Zusammenfassung. Abänderung der
Ereignisse und der Fabel, wann immer der Entwicklungsprozeß
eine solche Änderung geboten erscheinen läßt, und ohne daß
man sich an die frühere Planung gebunden fühlt. Ergibt die
Entwicklung plötzliche neue Möglichkeiten für dramatische

-308-
Wirkungen oder lebendiges Erzählen, füge man hinzu, was
immer vorteilhaft erscheint - dann gehe man zurück, um die
vorhergehenden Teile dem neuen Plan anzupassen. Ganze
Absätze und Abschnitte können hinzugefügt oder gestrichen
werden, wenn es notwendig oder wünschenswert erscheint.
Verschiedene Anfänge und Abschlüsse können erprobt werden,
bis die beste Kombination gefunden ist. Es ist aber darauf zu
achten, daß alle Bezugnahmen und Anspielungen in der ganzen
Geschichte durchgehend auf den endgültigen Plan abgestimmt
werden, um Widersprüche zu vermeiden. Man streiche alles,
was möglicherweise überflüssig ist - Worte, Sätze, Absätze,
auch ganze Episoden oder Erzählelemente, wobei wie üblich auf
die innere Stimmigkeit aller Teile zu achten ist.
5. Anfertigung eines sauber getippten Manuskripts, wobei
man nicht davor zurückscheuen soll, Schlußkorrekturen dort
anzubringen, wo sie geboten erscheinen.
Das erste dieser Stadien ist oft ein rein geistiges - eine Fülle
von Ausgangsbedingungen und Ereignissen, die ich im Geiste
ausprobiere und erst dann zu Papier bringe, wenn ich soweit bin,
eine genaue Zusammenfassung der Ereignisse in der
Reihenfolge, in der sie erzählt werden, anzufertigen.
Manchmal aber fange ich schon mit der Niederschrift an, ehe
ich weiß, wie ich die Idee entwickeln soll - dieser Beginn ergibt
ein Problem, für das erste eine Begründung und eine
erzählerische Verwertung gefunden werden muß.
Meiner Meinung nach gibt es vier deutlich unterschiedene
Typen unheimlicher Geschichten: einen, welcher eine Stimmung
oder ein Gefühl ausdrückt; einen anderen, der ein bildliches
Konzept, einen dritten, welcher eine allgemeine Situation, einen
Zustand, eine Erläuterung oder ein intellektuelles Konzept
ausdrückt; und einen vierten, welcher eine bestimmte
dramatische Szene, eine spezifische dramatische Situation oder
einen dramatischen Höhepunkt erklärt. Anders gesagt, man kann
unheimliche Geschichten grob in zwei Kategorien einteilen -
-309-
diejenigen, in denen sich das Wunder oder das Grauen auf einen
Zustand oder eine Naturerscheinung bezieht, und diejenigen, in
denen es sich auf ein Handeln von Personen im Zusammenhang
mit einem ausgefallenen Zustand oder einer Naturerscheinung
bezieht.
Jede unheimliche Geschichte - speziell die Gruselgeschichte
scheint fünf bestimmte Elemente zu umfassen: (a) ein
fundamentales Grauen oder eine Abnormität - eine Situation, ein
Wesen usw. -, (b) die allgemeinen Auswirkungen oder die
Tragweite des Grauens, (c) die Art und Weise, wie es sich
manifestiert - das Objekt, welches das Grauen und die
beobachteten Naturerscheinungen verkörpert - , (d) die Typen
der Furchtreaktion, die sich auf das Grauen beziehen, und (e) die
spezifischen Auswirkungen des Grauens in bezug auf die
jeweilige Situation.
Beim Verfassen einer unheimlichen Geschichte achte ich stets
darauf, die richtige Stimmung und Atmosphäre zu erzielen und
das hervorzuheben, was hervorgehoben werden soll. Außer in
infantiler schwindelhafter Groschenheftliteratur läßt sich die
Schilderung unmöglicher, unwahrscheinlicher oder undenkbarer
Naturerscheinungen nicht als alltägliche Erzählung objektiver
Handlungen und konventioneller Gefühle darbieten.
Unvorstellbare Ereignisse und Umstände müssen nämlich ein
besonderes Handikap überwinden, und das läßt sich nur
erreichen, wenn man in jedem Stadium der Geschichte außer
einem, das das eine als gegeben genommene Wunder anbelangt,
auf striktesten Realismus achtet. Dieses Wunder jedoch muß
sehr eindrücklich und wohlbedacht behandelt werden - mit
einem sorgfältigen, gefühlsmäßigen "Aufbau" -, andernfalls
wirkt es flach und wenig überzeugend.
Da es in der Geschichte die Hauptsache ist, sollte sein bloßes
Vorhandensein die Charaktere und Ereignisse überschatten. Die
Charaktere und Ereignisse müssen jedoch stimmig und natürlich
sein außer dort, wo sie mit dem einen Wunder zu tun haben.

-310-
Inbezug auf das zentrale Wunder sollten die Charaktere dieselbe
überwältigende Gemütsbewegung zeigen, die ähnliche
Charaktere für ein solches Wunder im wirklichen Leben zeigen
würden. Ein Wunder darf nie als selbstverständlich genommen
werden. Selbst wenn anzunehmen ist, daß die Gestalten an das
Wunder gewöhnt sind, versuche ich, eine Atmosphäre von
Ehrfurcht und Eindrücklichkeit zu weben, die dem entspricht,
was der Leser empfinden soll. Ein beiläufiger Stil ist der Ruin
jedweder ernsthaften Phantastik.
Atmosphäre, nicht die Handlung ist das große Desiderat in der
unheimlichen Literatur. Eine Geschichte von einem Wunder
kann fürwahr nie etwas anderes sein als ein lebendiges Bild
einer bestimmten Art menschlicher Stimmung. Sobald sie etwas
anderes zu sein versucht, wird sie billig, infantil, ohne
Überzeugungskraft. Der Nachdruck sollte primär auf raffinierte
Andeutung gelegt werden - kaum wahrnehmbare Andeutungen
und ein Hauch sparsamer assoziativer Einzelheiten, die
Stimmungsschattierungen ausdrücken und eine vage Illusion der
seltsamen Wirklichkeit des Unwirklichen aufbauen. Man
vermeide bloße Kataloge unglaublicher Ereignisse, die weder
Substanz noch Bedeutung haben können, abgesehen von einem
alles überziehenden Schleier von Farbe und Symbolik.
Das sind die Regeln oder Normen, denen ich - bewußt oder
unbewußt - seit der Zeit gefolgt bin, da ich ernsthaft begann,
phantastische Literatur zu schreiben. Daß meine Anstrengungen
von Erfolg gekrönt sind, mag man bezweifeln - doch bin ich mir
sicher, daß sie, hätte ich die Überlegungen außer acht gelassen,
die ich in den letzten Absätzen anführe, weit schlimmer
ausgefallen wären, als es der Fall ist.

-311-
Einige Anmerkungen zu
interplanetarischen Erzählungen

Trotz der derzeitigen Flut von Geschichten, die sich mit


anderen Welten und Universen befassen und mit wagemutigen
Flügen durch kosmische Weiten zu und von ihnen, ist es wohl
keine Übertreibung zu behaupten, daß nicht mehr als ein halbes
Dutzend dieser Erzeugnisse, einschließend der Romane von H.
G. Wells, auch nur den geringsten Schatten eines Anspruchs auf
künstlerischen Ernst oder literarischen Rang erheben können.
Unehrlichkeit, Konventionalität, Abgedroschenheit,
Künstlichkeit, Gefühlsduselei und kindisches Überdie-Stränge-
Schlagen feiern in diesem übervölkerten Genre Triumphe, so
daß lediglich einige äußerst seltene Ausnahmen wahrhaft reif
genannt zu werden verdienen. Und die Darbietung solch
unverbesserlicher Hohlheit hat so manchen zu der Frage
veranlaßt, ob aus diesem Stoff je das Gewebe wirklicher
Literatur entstehen kann.
Der Autor dieser Zeilen glaubt nicht, daß die Idee von
Raumfahrt und anderen Welten an sich für eine literarische
Darstellung ungeeignet wäre. Er ist vielmehr der Meinung, daß
die allgegenwärtige Verkitschung und der Mißbrauch dieser
Idee Folge einer weitverbreiteten irrigen Auffassung sind, eines
Mißverständnisses, das sich auch auf andere Zweige der
unheimlichen Literatur und der Sciencefiction erstreckt. Dieser
Irrtum liegt in der Vorstellung, daß die Schilderung
unmöglicher, unwahrscheinlicher oder unvorstellbarer
Erscheinungen mit Erfolg als alltägliche Erzählung von
objektiven Ereignissen und herkömmlichen Gefühlen in der
gewohnten Färbung und Manier der Unterhaltungsliteratur
dargeboten werden kann. Unreife Leser mögen eine solche
Darstellung oft »durchgehen« lassen, doch wird ihr ein
ästhetischer Wert nie auch nur im entferntesten beigemessen

-312-
werden.
Unfaßliche Ereignisse und Umstände sind eine Kategorie für
sich, die mit allen anderen Elementen, die eine Geschichte
ausmachen, nichts zu tun hat, und durch den bloßen Prozeß
beiläufigen Erzählens können sie nicht überzeugend gestaltet
werden. Sie müssen das Handikap der Unglaublichkeit
überwinden, und das ist nur durch sorgfältigen Realismus in
allen anderen Abschnitten der Geschichte erreichbar, in
Verbindung mit einer allmählich dichter werdenden Atmosphäre
oder einem Gefühlsaufbau von größter Raffinesse. Ferner muß
die Betonung richtig placiert werden - sie muß ständig das
Wunder der zentralen Abnormität selbst umschweben. Man darf
nicht vergessen, daß jede Übertretung dessen, was wir als
Naturgesetz kennen, an sich schon eine ungeheuerlichere Sache
ist als jedes andere Ereignis oder Gefühl, das auf einen
Menschen einwirken könnte. Daher darf man nicht erwarten,
daß eine Geschichte, die sich mit derlei beschäftigt, ein Gefühl
der Lebensnähe oder einen Eindruck von Wirklichkeit weckt,
wenn das Wunder beiläufig behandelt wird und die Charaktere
aus gewohntem Antrieb handeln. Die Charaktere sollen, auch
wenn sie sich natürlich verhalten, dem zentralen Wunder
untergeordnet sein, um das herum sie angeordnet sind. Der
wahre »Held« einer phantastischen Erzählung ist nicht ein
beliebiger Mensch, sondern einfach eine Reihe von
Erscheinungen.
In erster Linie sollte die mächtige, empörende, ungeheure
Abweichung von der Natur, auf die es ankommt, alles
überragen. Die Charaktere sollen darauf so reagieren, wie
wirkliche Menschen reagieren würden, stieße ihnen so etwas
plötzlich im alltäglichen Leben zu. Sie müssen das nahezu
seelenzerstörerische Erstaunen zeigen, das natürlich jeder an den
Tag legen würde, anstatt milde, zahme, rasch zugängliche
Gemütsäußerungen, die die Konvention der billigen
Unterhaltungsliteratur vorschreibt. Selbst wenn es sich um ein

-313-
Wunder handelt, mit dem die Gestalten angeblich vertraut sind,
muß das Gefühl des Staunens, des Wunderns und der
Seltsamkeit, das der Leser angesichts einer solchen Sache
empfinden würde, vom Autor irgendwie angedeutet werden.
Wenn eine wunderbare Reise ohne die entsprechende
Gefühlsfärbung geschildert wird, fehlt jede Spur von
Anschaulichkeit.
Es entsteht nicht die gruselige Illusion, daß sich so etwas
möglicherweise zugetragen haben könnte, sondern man hat den
Eindruck, daß da jemand nur einige ausgefallene Wörter von
sich gegeben hat.
Ganz allgemein sollte man auf alle populären
Zeilenschinderkonventionen billiger Literatur verzichten und
bemüht sein, aus der Geschichte einen perfekten Ausschnitt aus
dem wirklichen Leben zu machen mit der einen Ausnahme, wo
es um das Wunder, auf das es ankommt, geht. Man sollte so
vorgehen, als inszenierte man einen Jux und bemühte sich, daß
die ausgefallene Lüge für bare Münze genommen werde.
Atmosphäre, nicht Handlung muß in einer Wundergeschichte
gepflegt werden. Man kann den Nachdruck nicht auf die reinen
Ereignisse legen; denn die unnatürliche Überspanntheit dieser
Ereignisse läßt sie hohl und absurd erscheinen, wenn sie zu sehr
hervortreten. Solche Ereignisse, selbst wenn sie in Zukunft
theoretisch möglich oder vorstellbar sind, haben keine
Entsprechung und keine Grundlage im tatsächlichen Leben und
in der menschlichen Erfahrung, daher können sie niemals das
Fundament einer ausgereiften Geschichte bilden. Alles, was eine
Wundergeschichte auf ernsthafte Weise je sein kann, ist das
lebendige Bild einer bestimmten menschlichen Stimmung.
Sobald sie versucht, etwas anderes zu sein, gleitet sie ab ins
Billige, Kindische, dem jegliche Überzeugungskraft fehlt. Daher
sollte der Autor phantastischer Literatur darauf achten, daß die
treibende Kraft die raffinierte Andeutung ist - die kaum
wahrnehmbaren Andeutungen und Züge ausgesuchter und

-314-
assoziationsreicher Einzelheiten, die Gefühlsschattierungen
ausdrücken und die vage Illusion der seltsamen Wirklichkeit des
Unwirklichen aufbauen - und nicht reine Häufungen
unglaublicher Ereignisse, die abgesehen von dem sie
bestimmenden Kolorit und den Stimmungssymbolismen weder
Substanz noch Bedeutung haben. Eine ernsthafte, ausgereifte
Geschichte muß in einem bestimmten Aspekt lebenswahr sein.
Da Wundergeschichten nicht in bezug auf die Ereignisse
lebenswahr sein können, müssen sie einen Aspekt betonen, den
sie als wahr schildern können, nämlich gewisse sehnsüchtige
oder rastlose Stimmungen des Menschengeistes, in denen er sich
aus Fäden des Altweibersommers Fluchtleitern aus der
quälenden Tyrannei von Zeit, Raum und Naturgesetz zu weben
sucht.
Und wie lassen sich diese allgemeinen Prinzipien einer
ausgereiften Literatur des Wunders auf die interplanetarische
Geschichte im besonderen anwenden? Daß man sie anwenden
kann, daran läßt sich nicht zweifeln. Die wichtigen Faktoren
sind hier wie an anderer Stelle ein entsprechender Sinn für das
Wunder, entsprechende Gemütsäußerungen bei den handelnden
Personen, Realismus im Milieu und in den Rahmenereignissen,
Sorgsamkeit bei der Auswahl entscheidender Einzelheiten und
die gewissenhafte Vermeidung abgedroschener künstlicher
Charaktere und dummer konventioneller Ereignisse und
Situationen, die auf der Stelle die Lebensfähigkeit einer
Geschichte zerstören, indem sie sie als Produkt ausgeleierter
Massenproduktion ausweisen. Es ist die ironische Wahrheit, daß
keine künstlerische Geschichte dieser Art: aufrichtig, ehrlich
und unkonventionell geschrieben, eine Chance hätte, von den
Lektoren der gewöhnlichen Groschenheftrichtung angenommen
zu werden. Das wird jedoch den wirklich entschlossenen
Künstler, der etwas Ausgereiftes schaffen will, nicht
abschrecken können. Es ist besser, redlich für eine Zeitschrift zu
schreiben, die keine Honorare zahlt, als für Geld wertloses Zeug

-315-
zusammenzuschustern. Eines Tages werden die Anforderungen
der Herausgeber billiger Zeitschriften vielleicht weniger flagrant
absurd in ihrer antikünstlerischen Starrheit.
Die Ereignisse einer interplanetarischen Geschichte -
abgesehen von Geschichten, bei denen es sich um rein
dichterische Phantasieflüge handelt - spielen am besten in der
Gegenwart oder werden so dargeboten, als hätten sie sich
insgeheim oder in prähistorischen Zeiten in der Vergangenheit
zugetragen. Die Zukunft ist für die Darstellung eine heikle
Zeitspanne, denn es ist nahezu unmöglich, bei der Schilderung
zukünftiger Lebensweise nicht ins Groteske und Absurde zu
geraten, und die Gestalten büßen immer stark an
Empfindsamkeit ein, wenn man sie als mit den geschilderten
Wundern vertraut darstellt. Die Personen einer Geschichte sind
im Grunde Projektionen unserer selbst, und es ist ein
unleugbarer Nachteil, wenn sie nicht unser eigenes Nichtwissen
und unser Staunen über die Ereignisse teilen können. Damit sei
nicht gesagt, daß Geschichten von der Zukunft nicht
künstlerisch sein können, sondern bloß, daß es schwieriger ist,
sie künstlerisch anzulegen.
In einer guten interplanetarischen Geschichte muß es
realistische menschliche Gestalten geben, nicht die Klischee-
Wissenschaftler, schurkischen Assistenten, unbesiegbaren
Helden und die liebliche Heldin, des Wissenschaftlers
Töchterlein, wie im üblichen Schund dieser Art. Wahrhaftig, es
gibt keinen Grund, warum es überhaupt einen »Schurken«,
»Helden« oder eine »Heldin« geben sollte.
Diese künstlichen Charaktertypen gehören völlig künstlichen
Fabelformen an und haben in ernster Literatur gleich welcher
Art nichts zu suchen. Die Funktion der Geschichte liegt darin,
einer bestimmten menschlichen Stimmung des Staunens und der
Befreiung Ausdruck zu geben, und jedes wohlfeile Hereinziehen
der Theatralik der Groschenhefte ist ebenso fehl am Platz wie
abträglich. Die üblichen romanhaften Verwicklungen sind

-316-
unerwünscht. Man darf nur solche Charaktere auswählen (nicht
notwendigerweise stramme oder schneidige oder jugendliche
oder malerische Kerle), die ganz natürlich in die zu schildernden
Ereignisse verwikkelt werden würden, und sie müssen sich
genau so verhalten, wie sich wirkliche Personen verhalten
würden, wenn sie es mit den gegebenen Wundern zu tun
bekämen. Der Tonfall der ganzen Sache muß realistisch, nicht
romanhaft sein.
Der entscheidende und heikle Punkt, wie die Gestalten die
Erde verlassen, muß sorgfältig gelöst werden. Das ist vielleicht
auch das größte Einzelproblem der Geschichte. Die Abreise muß
plausibel begründet und eindrucksvoll beschrieben werden.
Liegt die geschilderte Zeit nicht in der Vorgeschichte, ist es
besser, wenn das Mittel für die Abreise eine geheime Erfindung
ist. Die Gestalten müssen auf diese Erfindung mit dem
geziemenden Sinn völligen, nahezu lähmenden Staunens
reagieren und die Tendenz der Groschenhefte vermeiden, solche
Dinge halb selbstverständlich zu nehmen. Um Irrtümer bei
komplexen Problemen der Physik zu vermeiden, empfiehlt es
sich, sich bei der Beschreibung der Erfindung nicht allzu sehr
auf Einzelheiten einzulassen.
Kaum weniger heikel ist das Problem der Beschreibung der
Fahrt durch den Weltraum und der Landung auf einer anderen
Welt. Hier ist der Nachdruck zu allererst auf überwältigende
Gefühlsäußerungen zu legen - das unüberwindliche Erstaunen,
das die Reisenden empfinden, wenn sie erkennen, daß sie die
einheimische Erde tatsächlich verlassen haben, oder das sie
angesichts kosmischer Abgründe oder auf einer fremden Welt
verspüren. Selbstverständlich ist es unerläßlich, sich bei der
Darstellung der mechanischen, astronomischen und anderen
Aspekte der Reise strikt an wissenschaftliche Tatsachen zu
halten. Viele Leser kennen sich in den Naturwissenschaften aus,
und eine flagrante Verletzung der Wahrheit ruiniert die
Geschichte für jeden, der imstande ist, sie zu entdecken.

-317-
Die gleiche wissenschaftliche Sorgfalt muß der Darstellung
der Ereignisse auf dem fremden Planeten gewidmet werden.
Alles muß völlig mit der bekannten oder postulierten Natur des
fraglichen Himmelskörpers übereinstimmen -
Oberflächenschwerkraft, Achsenneigung, Länge von Tag und
Jahr, das Aussehen des Himmels usw. -, und die Atmosphäre
muß mit entscheidenden Einzelheiten aufgebaut werden, die der
Geschichte Glaubwürdigkeit und Realismus verleihen.
Abgedroschene Hilfsgriffe wie etwa der Empfang der Reisenden
durch die Bewohner des Planeten sollten strikt ausgeschlossen
werden. Weiterhin sollte es kein allzu leichtes Erlernen fremder
Sprachen geben, keine telepathische Verständigung, keine
Verehrung der Reisenden als Götter, keine Teilnahme an den
Angelegenheiten Pseudomenschlicher Königreiche, keine
Heiraten mit schönen anthropomorphen Prinzessinnen, keine
stereotypen Armageddons mit Strahlpistolen und Raumschiffen,
keine Hofintrigen und eifersüchtigen Hexenmeister, keine
Bedrohung durch behaarte Affenmenschen von den
Polarkappen, und so weiter und so fort. Gesellschaftliche und
politische Satire ist immer unerwünscht, da jede intellektuelle
und äußerliche Vorgabe der Kraft der Geschichte als
Auskristallisation einer Stimmung abträglich ist. Was stets in
höchstem Maße vorhanden sein sollte, ist ein tiefes,
überzeugendes Gefühl der Fremdartigkeit - der völligen,
unverständlichen Fremdartigkeit einer Welt, die mit unserer
nichts gemein hat.
Es ist nicht nötig, daß der fremde Planet überhaupt bewohnt
ist oder zur Zeit der Reise bewohnt ist. Ist er bewohnt, müssen
seine Bewohner dem Aussehen, der Geisteshaltung, den
Gefühlen und dem Sprachgebrauch nach entschieden
nichtmenschlich sein, es sei denn, sie sind augenscheinlich
Abkömmlinge einer vorhistorischen Kolonisierungsexpedition
von der Erde. Das menschenähnliche Aussehen, die
menschenähnliche Psychologie und die Eigennamen, die die

-318-
Masse billiger Autoren den Bewohnern anderer Planeten von
gewöhnlich andichtet, sind gleichzeitig lachhaft und pathetisch.
Eine weitere absurde Gewohnheit der Zeilenschinder besteht
darin, daß sie die wichtigsten Bewohner anderer Planeten immer
als wissenschaftlich und technisch fortgeschrittener als uns
schildern. Und sie führen stets vor einem Hintergrund
kubistischer Tempel und Paläste spektakuläre Opferhandlungen
aus, und stets werden sie von einer ungeheuerlichen und
dramatischen Gefahr bedroht. Dieser Schmus muß durch einen
ausgereiften Realismus ersetzt werden, in dem die
Planetenbewohner, je nach den künstlerischen Anforderungen,
sich in allen möglichen Entwicklungsstadien befinden -
manchmal hohen, manchmal niedrigen und manchmal ganz
unpittoresk mittelmäßigen. Königlicher und religiöser Pomp
sollte nicht willkürlich überbetont werden. Es ist überhaupt
höchst unwahrscheinlich, daß mehr als ein Bruchteil der
exotischen Rassen auf so ausgefallene Volksgebräuche wie
Königtum und Religion verfallen sein sollte. Man muß sich vor
Augen halten, daß nichtmenschliche Lebewesen mit
menschlichen Motiven und Perspektiven überhaupt nichts
gemein hätten.
Der wirkliche Kern der Geschichte sollte jedoch etwas sein,
was von dem spezifischen Aussehen und den Gebräuchen einer
jeden hypothetischen außerirdischen Rasse weit entfernt ist,
wahrhaftig, nichts Geringeres als die einfache Empfindung des
Staunens darüber, daß man nicht mehr auf der Erde ist.
Das Interesse bliebe am besten durch Darstellungen bizarrer
und unirdischer Naturbedingungen gefesselt, und nicht durch
künstlich dramatische Handlungen menschlicher oder exotischer
Gestalten.
Abenteuer dürfen sehr wohl eingeführt werden, doch sollten
sie dem Realismus gebührend untergeordnet werden - und
unausweichliche Folge der beschriebenen Zustände sein und
nicht synthetischer Kitzel, der um seiner selbst willen

-319-
zusammengebraut wird.
Klimax und Schluß müssen sorgsam angelegt werden, um
Überspanntheit und Künstlichkeit zu vermeiden. Im Interesse
der Überzeugungskraft sollte man den Umstand der Reise
vorzugsweise so schildern, als sei er der breiten Öffentlichkeit
unbekannt - oder man verlegt die Reise in die Vorgeschichte
und gibt vor, die Menschheit hätte sie vergessen und die
Wiederentdeckung sei ein Geheimnis geblieben. Die Idee einer
allgemeinen Enthüllung, die eine verbreitete Veränderung im
menschlichen Denken, der menschlichen Geschichte oder der
menschlichen Zielsetzung impliziert, gerät leicht in Widerspruch
mit Ereignissen der Umwelt, stößt mit wirklichen künftigen
Wahrscheinlichkeiten radikal zusammen, als daß der Leser den
Eindruck des Natürlichen gewänne. Es ist weit wirkungsvoller,
die Wahrheit der Geschichte nicht von einer Bedingung
abhängig zu machen, die augenscheinlich dem widerspricht, was
wir wissen - denn der Leser kann vergnüglich mit der
Vorstellung spielen, daß sich diese Wunder vielleicht doch
ereignet haben!
Inzwischen hält die Sintflut an albernem interplanetarem Zeug
weiter an. Der Autor wagt nicht vorauszusagen, ob je eine
qualitative Aufwärtsentwicklung in größerem Maßstab einsetzen
wird. Auf jeden Fall hat er gesagt, was er für die
hauptsächlichen Aspekte des Problems hält. Ernsthaft gestaltet,
birgt die astronomische Erzählung zweifellos große
Möglichkeiten in sich, wie einige wenige Fast- Klassiker wie
Der Krieg der Welten, Die letzten und die Ersten Menschen,
Station X, »The Red Brain« und Clark Ashton Smiths beste
Arbeiten beweisen. Aber die Pioniere des Genres müssen bereit
sein, ohne finanziellen Erfolg, berufliche Anerkennung oder die
Ermutigung durch die Mehrheit der Leserschaft, deren
Geschmack ernsthaft durch den Schund, den sie verschlungen
hat, verdorben worden ist, zu wirken. Zum Glück ist redliches
künstlerisches Schaffen sein eigener Antrieb und seine eigene

-320-
Belohnung, so daß wir trotz aller Hindernisse nicht an der
Zukunft einer unverbrauchten literarischen Form verzweifeln
müssen, deren gegenwärtig unentwickelter Zustand nur um so
mehr Raum für brillantes und fruchtbares Experimentieren
offenläßt.

-321-
Anmerkungs- und Notizbuch

-322-
I. Vorschläge zum
Geschichtenschreiben

(Vorläufige Festlegung von Einfalt und Handlung.)


1. Man fertige eine Zusammenfassung oder ein Szenario der
Ereignisse in der Reihenfolge ihres Vorkommens an - nicht in
der Reihenfolge, in der sie erzählt werden. Die Beschreibung sei
hinreichend ausführlich, damit alle wesentlichen Punkte erfaßt
und alle vorgesehenen Ereignisse begründet sind.
Genaue Einzelheiten, Bemerkungen dazu und die Beurteilung
ihrer Konsequenzen sind manchmal wünschenswert.
2. Man fertige eine Zusammenfassung oder ein Szenario der
Ereignisse in der Reihenfolge an, in der sie erzählt werden,
hinreichend ausführlich und mit allen Einzelheiten und mit
Anmerkungen in bezug auf Perspektivenwechsel, Bedeutungen
und dramatischen Höhepunkt. Man ändere die ursprüngliche
Zusammenfassung um der Stimmigkeit willen, wenn eine
Abänderung die dramatische Wirkung oder die allgemeine Kraft
der Geschichte steigert. Man schiebe einzelne Vorfälle nach
Belieben ein oder streiche sie und fühle sich keineswegs an die
ursprüngliche Konzeption gebunden, selbst wenn das
Endergebnis eine Erzählung ist, die mit der ursprünglich
konzipierten gar nichts mehr gemein hat.
Hinzufügungen und Abänderungen sind vorzunehmen, wann
immer sie sich im Verlauf der Ausarbeitung ergeben.
3. Man schreibe die Geschichte nieder, rasch, in einem Zuge
und nicht allzu kritisch, indem man der zweiten
Zusammenfassung folgt. Man ändere Handlung und Ereignisse
ab, wann immer der Entwicklungsprozeß eine solche Änderung
geraten erscheinen läßt, und fühle sich keineswegs an einen
Entwurf gebunden. Wenn sich im Zuge der Ausarbeitung neue
Möglichkeiten für dramatische Wirkungen oder lebendigeres

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Erzählen ergeben, füge man ein, was immer man für vorteilhaft
hält - und gehe zurück und stimme die früheren Teile mit dem
neuen Konzept ab. Man füge ganze Abschnitte ein oder streiche
sie, wenn es notwendig oder wünschenswert ist, und erprobe
verschiedene Anfänge und Abschlüsse, bis die beste Lösung
gefunden ist. Man überzeuge sich, daß alle Anspielungen und
Bezugnahmen in der Geschichte gründlich auf das endgültige
Konzept abgestimmt sind. Man streiche alles Überflüssige -
Worte, Sätze, Abschnitte, auch ganze Episoden oder
Handlungselemente -, wobei man mit der gebotenen Vorsicht
vorgehe, was die Stimmigkeit aller Teile anbelangt.
4. Man überarbeite den ganzen Text, wobei man auf
Wortschatz achte, auf Grammatik, Rhythmus der Prosa,
Proportionierung der Teile, Feinheiten des Tons, Anmut und
Überzeugungskraft der Übergänge (von Szene zu Szene,
behäbiger und eingehend geschilderter Handlung zu schnell und
skizzenhaft gezeichneter, größere Zeiträume umfassender
Handlung und vice versa etc.), Wirksamkeit von Anfang und
Ende, Höhepunkte usw. usf., dramatische Spannung und
dramatisches Interesse, Plausibilität, Atmosphäre und
verschiedene andere Elemente.
5. Man fertige ein sauber getipptes endgültiges Manuskript
an.
In manchen Fällen empfiehlt es sich, die Geschichte ohne
Zusammenfassung oder auch ohne jegliche Vorstellung, wie sie
entwikkelt und abgeschlossen werden soll, zu beginnen. Das ist
dann der Fall, wenn man die Notwendigkeit verspürt, eine
besonders pakkende und eindringliche Stimmung oder ein Bild
bis in die letzten Einzelheiten niederzuschreiben und
auszuschöpfen. Bei diesem Vorgehen kann der so entstandene
Beginn zu einem Problem werden, das der Begründung und
Erklärung bedarf.
Natürlich kann es sich im Verlauf der Ausarbeitung dieser
Begründung und Erklärung als vorteilhaft erweisen, den
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ursprünglich entstandenen Beginn abzuändern oder
abzuwandeln, bis zur Unkenntlichkeit umzugestalten oder sogar
völlig auf ihn zu verzichten.
Ab und zu, wenn ein Schriftsteller einen charakteristischen
Stil hat, voller Rhythmen und Kadenzen, die eng mit
phantasievollen Assoziationen verbunden sind, ist es möglich,
mit charakteristischen Abschnitten eine Stimmung zu weben, so
daß auf diese Weise die Stimmung einen Großteil der Erzählung
bestimmt.
Ab und zu ist es wirkungsvoll, sich einen eindringlichen Titel
oder eine Reihe von Titeln - von der Art und Weise, die
ergreifende Gedankenassoziationen auslösen - im voraus
auszudenken und die Geschichte dann um diesen Titel oder
diese Titel herum zuschreiben. Nach Abschluß der Arbeit kann
der Titel durchaus geändert werden.
In sehr seltenen Fällen kann man eine wirkungsvolle
Geschichte auch anhand eines Bildes schreiben.
Oft ist es von Vorteil, sich eine Erzählung ausführlich im
Kopf zurechtzulegen - mit Anmerkungen -, ehe man sie
tatsächlich niederschreibt. Man träume sie gemächlich - langsam
- mit allen möglichen Abänderungen.
Unheimliche Geschichten gehören zwei verschiedenen Arten
an - die eine, in denen sich das Grauen oder das Wunder auf
einen Zustand oder eine Erscheinung bezieht, und die andere,
wo es sich auf ein Handeln von Personen in Verbindung mit
einem bizarren Zustand oder einer bizarren Erscheinung bezieht.
Wenn man sich für eine Stimmung, ein Bild, eine Situation, eine
Erklärung, eine dramatische Szene oder einen dramatischen
Höhepunkt entschieden hat, denen man Ausdruck geben will,
empfiehlt es sich für den Autor häufig, den Katalog
grundlegender Erscheinungsformen des Grauens gründlich
durchzumustern, um eine zu finden, die sich für den gegebenen
Rahmen besonders eignet. Sobald das geschehen ist, muß man

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seine ganze Erfindungskraft aufwenden, um die gegebene
Wirkung anhand des ausgewählten grundlegenden Grauens auf
logische und natürliche Weise zu begründen und zu erklären.
Man halte alle ausgefallenen Einfälle, Stimmungen, Bilder,
Träume, Konzepte etc. für die zukünftige Verwendung fest. Man
gerate nicht in Verzweiflung, falls sie keine logischen
Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten scheinen. Man kann sich
mit ihnen nach und nach befassen - Anmerkungen und
Zusammenfassungen um sie als Kern gruppieren und sie
schließlich in eine zusammenhängende Erklärungsstruktur
einbauen, die sich für eine literarische Verwendung eignet.
Man habe es niemals eilig. Gerade die besten Geschichten
wachsen manchmal sehr langsam heran - über lange Zeiträume
und mit Unterbrechungen bei ihrer Abfassung.
In einer Erzählung, in der es um komplexe philosophische
und wissenschaftliche Grundsätze geht, versuche man, alle
Erklärungen am Anfang, bei der Aufstellung der These,
anzudeuten (wie in Machens »Die weißen Gestalten«), was die
Erzählung selbst und die dramatischen Höhepunkte davon frei
hält Man muß bereit sein, ebenso viel Zeit und Mühe für die
Formulierung der Zusammenfassung wie für das Schreiben des
tatsächlichen Textes aufzuwenden - denn die Zusammenfassung
ist das wahre Herz der Geschichte. Die wirklich schöpferische
Arbeit beim Schreiben erzählender Prosa liegt im Erschaffen
und Ausformen einer Geschichte in der synoptischen Kurzform.
Man habe keine Bedenken gegen die Einführung von zwei
oder mehr grundlegenden Arten des Grauens, vorausgesetzt, die
natürliche und innere Logik der Geschichte erfordert es. Man
achte jedoch darauf, daß die Geschichte absolut nichts an Logik
und Realismus verliert, mit Ausnahme der Richtung, die man
sich für die Abweichung von der Realität ausgewählt hat.
Gelegentlich ist es nützlich, sich eine Geschichte halb
unverantwortlich und spontan aus einem gegebenen Element des

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Grauens zusammenzubrauen, das man im Verlauf der Handlung
sich entwickeln läßt, das man abändert, wenn es wünschenswert
erscheint, und das man in Form einer losen, weitschweifigen
synoptischen Zusammenfassung aufzeichnen kann. Aus so
einem unbekümmerten Entwurf läßt sich oft eine echte
Geschichte machen.
Um einen entsprechenden dramatischen Höhepunkt zu
erreichen, empfiehlt es sich manchmal, zuerst einen Höhepunkt
bis in die kleinste Einzelheit niederzuschreiben und ihn dann in
einer großen Zusammenfassung zu erklären. Manchmal kann
auch ein ganz und gar ausgefallenes und verblüffendes
Verfahren angebracht sein. Eine Zeit, eine Szene.oder andere
Elemente, die völlig fremdartig und nichtmenschlich sind.

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II. Elemente der unheimlichen
Geschichte und Typen der unheimlichen
Geschichte

a) Elemente der unheimlichen Geschichte A) Ein


grundlegendes, in der Geschichte verwurzeltes Grauen oder eine
Abnormität - ein Zustand, ein Wesen etc.
B) Allgemeine Auswirkungen oder Verhalten des Grauens.
C) Art seines Auftretens - Objekt als Träger des Grauens und
der beobachteten Naturerscheinungen.
D) Typen der Angstreaktionen auf das Grauen. E) Spezifische
Auswirkungen des Grauens in bezug auf die jeweiligen
Ausgangsbedingungen. b) Typen der unheimlichen Geschichte
A) Ausdruck einer Stimmung oder eines Gefühls.
B) Ausdruck einer bildhaften Vorstellung.
C) Ausdruck einer allgemeinen Situation, eines Zustands,
einer Erklärung oder einer intellektuellen Vorstellung.
D) Erklärung einer bestimmten dramatischen Szene, einer
dramatischen Situation oder eines dramatischen Höhepunk tes.

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III. Eine Aufstellung gewisser
Grundformen des Grauens, die in
unheimlicher Literatur wirkungsvolle
Verwendung finden

Unnatürliches Leben in einem Haus und die unnatürliche


Verkettung des Lebens entfernt voneinander lebender
Persönlichkeiten. Scheintot begraben. Lauschen auf ein sich
näherndes Grauen.
Seelenwanderung - ein totes Wesen zwingt den Lebenden
seine Persönlichkeit auf.
Ausgeburten von Sterblichem und Dämon. Jeder
geheimnisvolle und unaufhaltsame Marsch in den Untergang.
Unnatürliches Leben auf einem Bild - Verpflanzung des
Lebens eines Menschens in das Bild.
Verlängerung oder Fortbestand einer abnormen Belebung bei
Toten.
Persönlichkeitsverdoppelung.
Verwüstung eines Grabes - Entdeckung, daß der anscheinend
Tote lebt.
Unnatürlicher Zusammenhang zwischen einem Gegenstand
und dem Abbild dieses Gegenstandes.
Mitgliedschaft bei Teufelskult von Hexerei oder
Dämonenverehrung.
Existenz einer grauenvollen verborgen lebenden Rasse in
entlegenem Gebiet.
Die schockierende Verwandlung oder der Verfall von
lebenden Menschen, ausgelöst durch Einnahme eines
unbekannten und bösen Rauschmittels. Vorstellung eines
ungeheuerlichen Begleiters. Tiere, die sich gegen den Menschen
empören.
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Unsichtbare kosmische Wesen in einem bestimmten Gebiet -
Vorstellung des Genius loci.
Psychisches Residuum in einem alten Haus - Gespenst.
Dorf, dessen Einwohner sämtlich an ungeheuerlichen
geheimen Zeremonien teilnehmen.
Ein Elementargeist macht sich bemerkbar oder wird
beschworen.
Eine fromme Gesellschaft geht insgeheim zur
Teufelsanbetung über.
Kaum merkliches vampirisches Raubtierverhalten eines
Lebewesens gegenüber einem anderen.
Entsetzlicher Einsiedler an einsamer Stelle - saugt
gewissermaßen Reisenden das Blut aus.
Mächte der Dunkelheit (oder kosmischer Fremdartigkeit)
belagern geweihtes Gebäude oder ergreifen von ihm Besitz.
Entsetzlicher Dämon, der sich an einen bestimmten Menschen
heftet (und nach dessen Tod an bestimmte Gegenstände, die mit
diesem Menschen verknüpft sind), sei es durch einen
Sündenfall, durch Beschwörungen usw.
Abscheuliche Opfer, ausgeführt durch längst vergangene
heidnische Gebräuche. Gespenstische Rache.
Veränderungen auf einem Bild, die tatsächlichen Ereignissen
- gegenwärtigen oder vergangenen - bei der dargestellten
Szenerie entsprechen.
Böser Zauberer bedient sich der Seelenwanderung, um in
Tiergestalt zu überleben und Rache zu üben.
Gespenstisches Zimmer in einem Haus - verschwindet
zeitweilig.
Hexenmeister, der bei einer Reise in ein fremdartiges Gebiet
des Grauens einen bösen Gefährten gewinnt.
Ein Verto\geiwesen, das durch eine unbedachte Beschwörung

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aus dem Grab erweckt wird.
Das Blasen auf einer augegrabenen Pfeife unbekannten Alters
ruft ein höllisches Wesen unbekannter Natur aus der Tiefe
herbei.
Ungeheuerlicher übernatürlicher Wächter, der einen Schatz
oder ein Buch bewacht, beides in uralten Ruinen versteckt.
Ein Toter steigt aus dem Grab, um seinen Mörder
fortzuschleppen oder zu bestrafen.
Ein unbelebter Gegenstand verhält sich wie ein Lebewesen,
um ein Verbrechen zu rächen. Gespenst des Opfers überführt
den Mörder. Die Störung eines uralten Grabes läßt ein
ungeheuerliches Wesen auf die Welt los.
Magisches Teleskop (oder ein anderes wissenschaftliches
Instrument) zeigt die Vergangenheit.
Bei Ausgrabung eines uralten und verbotenen Wesens heftet
sich ein feindlicher Schatten an den Grabenden und vernichtet
ihn schließlich.
Eine Familie in gewaltigem Schrecken vor der Ankunft eines
unbekannten Verderbens.
Ein Sakrileg gegenüber einer uralten Religionsgemeinschaft
ruft aus dem Weltraum oder aus dem Meer ein rächendes
Ungeheuer herbei, das den Frevler verschlingt.
Die Lektüre eines entsetzlichen Buches oder der Besitz eines
abscheulichen Talismans bringt jemanden in Berührung mit
schokkierenden Träumen oder einer Welt der Erinnerung, die
ihm schließlich den Untergang bringt.
Ein Mensch, der auf abnorme Weise mit niederen Tieren
verwandt ist. Sie rächen seine Ermordung.
Insekt hypnotisiert einen Menschen und lockt ihn in den Tod.
Gespensterfahrzeug. Ein Mensch besteigt es und wird in eine
unwirkliche Welt entführt.
Ein Schlafwandler kommt einem entsetzlichen Ort immer

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näher. Rendezvous mit den Toten usw.
Im Keller vergrabene Leiche hetzt den Mörder (oder
Totenbeschwörer) in den Tod.
In einem Land der Wilden bewacht ein einsiedlerisch
lebender Priester einen alten Schrein, der ein höchst seltsames
uraltes Wesen enthält. Ein Zufall setzt das Wesen frei, und der
Verantwortliche kommt zu Schaden.
Fernes Inselgebiet am äußersten Ende der Welt, am Rand
eines Abgrunds. Dort tritt ein seltsames Grauen in Erscheinung.
Maritime Ghule kommen in Verkleidung von Robben an Land
und suchen die Menschheit heim!
Der Wiederaufbau eines uralten Tempels oder die
Umwidmung eines uralten Altars setzen gefährliche,
unkörperliche Mächte frei.
Ein böser Forscher belebt eine viertausend Jahre alte Mumie
und zwingt sie, seine Mordbefehle auszuführen. Ein Mensch
versucht, mit Hilfe von Drogen und Musik, die auf das
Gedächtnis einwirken, seine komplette Vergangenheit
wiederzugewinnen. Erstreckt den Prozeß auf das Erbgedächtnis
- bis auf vormenschliche Zeiten. Diese Erinnerungen der
Vorfahren zeigen sich in Träumen. Plant die ungeheuerliche
Wiedergewinnung der Urzeit - wird jedoch untermenschlich,
entwickelt einen entsetzlichen Primatengeruch, flüchtet in die
Wälder und wird vom eigenen Hund zerrissen.
Ein Reisender stößt an einem seltsamen Ort auf etwas
Entsetzliches - als Grauen in einer Hütte mit erleuchteten
Fenstern, die er im tiefsten Wald entdeckt.
Traum- und Wachwelt gehen ineinander über.
Ein Grauen aus der Vergangenheit (oder der Zukunft), knapp
außerhalb der Erinnerung (oder der Vorahnung).
Komplette Schauplätze und Ereignisfolgen werden durch
Hypnose hervorgerufen - die entweder von einem lebenden

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Menschen oder einer Leiche oder einem anderen Träger
restlicher psychischer Kräfte ausgeht.
Man gelangt an einen unbekannten Ort und stellt fest, daß
man eine bislang latente Erinnerung daran oder eine entsetzliche
Verbindung damit hat.

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IV. Aufstellung erster Einfälle, die
denkbaren unheimlichen Geschichten
als Motivation dienen können

Verdinglichung von Produkten der Einbildungskraft


Seelenwanderung Rückkehr der Seele Rückkehr des Körpers -
Vampir Erbgedächtnis Abnormer Blick in die Zukunft Ankunft
eines außerirdischen Wesens auf der Welt Durch Zeremonie
beschworener Dämon Vision, die sich durch ein übles Buch
auftut Dämonischer Wächter eines Ortes Von Rauschmittel
herbeigeführte Veränderung oder Vision Ghul Ungeheuerliche
Geburt Fortlebender Einfluß im Haus Fortlebender Einfluß im
Grab Turm oder ein anderer Überrest der Vormenschen Welt
unter dem Meer Bewohnter Dämonenturm an fernem Ort Haus
des Grauens in alter Stadt Bewußtseinsveränderung Eingriff auf
die Zeit Archäologisches Grauen wird ausgegraben Böse Macht
dringt in Form von Fledermaus in Häuser ein Befall -
Fortschleppen - eines Menschen durch jenseitige Kräfte Parasit
läßt sein Gedächtnis in jemanden einströmen, von dem er sich
nährt.
Materialisation eines Wesens durch Kult- oder
Zauberhandlung.
Deutliche Töne: intensives, beklemmendes, fiebriges Grauen;
feinsinnige traumgleiche Phantastik; realistisches,
wissenschaftliches Grauen; höchst raffinierte Andeutung.

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Lovecrafts Notizbuch

Dieses Buch besteht aus Einfällen, Bildern und Zitaten, hastig


niedergeschrieben für die denkbare zukünftige Verwertung in
unheimlichen Geschichten. Nur zum geringen Teil handelt es
sich um wirklich entwickelte Fabeln - zum größten Teil sind es
bloß Andeutungen oder zufällige Eindrücke, die das Gedächtnis
oder die Phantasie anregen sollen. Ihre Quellen sind vielfältig -
Träume, Gelesenes, zufällige Wahrnehmungen, Gedankenblitze
und so weiter.
Gewidmet R. H. Barlow, Esq., am 7. Mai 1934 im Tausch für
ein bewunderungswürdig sauber getipptes Exemplar von seiner
geschickten Hand.
H. P. Lovecraft

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Notizbuch

[1919] Demophon erzitterte, als ihn die Sonne beschien


(Liebhaber der Finsternis - Unwissen).
Die Bewohner Zinges, über denen der Stern Canopus jede
Nacht aufgeht, sind immer fröhlich und ohne Sorgen.
Die Küsten Attikas reagieren mit Gesang auf die Wellen der
Ägäis.
Gruselgeschichte - ein Mann träumt vom Fallen - wird auf
dem Fußboden zerschmettert aufgefunden, als sei er aus
ungeheurer Höhe herabgestürzt.
Der Erzähler geht eine Landstraße entlang, die er nicht kennt -
gelangt in ein seltsames Gebiet des Unwirklichen.
In Lord Dunsanys »Idle Days on the Yann«: Die Bewohner
des altehrwürdigen Astahahn am Yann verrichten alles und
jedes anhand eines uralten Zeremoniells. Dort gibt es nie etwas
Neues. »Hier haben wir der Zeit Fuß- und Handfesseln angelegt,
die sonst die Götter töten würde..
Horrorgeschichte - die aus Stein gemeißelte Hand - oder eine
andere künstliche Hand -, die ihren Schöpfer erwürgt.
Horrorgeschichte - ein Mann verabredet sich mit einem alten
Feind. Stirbt - die Leiche hält die Verabredung ein.
Dr. Eben-Spencer-Fabel.
Traum, über eine Stadt zu fliegen. Celephais.
Merkwürdige nächtliche Zeremonie. Wilde Tiere tanzen und
bewegen sich im Takt der Musik.
Ereignisse in der Zeitspanne zwischen dem
Ankündigungsgeräusch und dem Schlagen der Uhr - endet mit -
»es waren die Klänge der Uhr, die drei schlug«.
Haus und Garten - alt - Assoziationen. Der Anblick bekommt
einen Anstrich des Seltsamen.

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Entsetzliches Geräusch in der Dunkelheit.
Brücke und schleimigschwarze Gewässer. Fungi - The Canal.
Die wandelnden Toten - anscheinend lebendig, jedoch -.
Türen, die geheimnisvollerweise mal offen und dann wieder
geschlossen vorgefunden werden etc. - erwecken Schauder.
Kalamander-Holz - ein wertvolles Tischlermaterial aus
Ceylon und Südindien, das dem Rosenholz ähnelt.
Überarbeite Erzählung aus 1907 - ein Gemälde äußersten
Grauens.
Ein Mensch reist in die Vergangenheit - oder ein
Phantasieland und läßt die körperliche Hülle zurück.
Ein uralter Koloß in einer uralten Wüste. Antlitz fehlt - kein
Mensch hat es je gesehen.
Sage von der Meerjungfrau - Ency. Britt. XVI, 40.
Der Mensch, der nicht schlafen wollte - nicht einzuschlafen
wagte -, nimmt Rauschmittel, um sich wach zu halten. Schläft
schließlich ein - und es passiert etwas. Motto aus Baudelaire,
Seite 214.
Hypnos.
Dunsany - Goßy Street. Jemand stößt auf eine Traumwelt -
kehrt zur Erde zurück - versucht zurückzukehren - es gelingt
ihm, aber er findet die Traumwelt uralt und verfallen vor, als
seien Tausende von Jahren verstrichen.
Ein Mann besucht ein Museum der Antike - verlangt, daß dort
ein Bas-Relief angenommen wird, das er gerade angefertigt hat
der alte und gelehrte Kurator lacht und erklärt, daß er nichts so
Modernes akzeptieren kann. Der Mann erklärt, daß »Träume
älter sind als das brütend daliegende Ägypten oder die in
Nachdenken versunkene Sphinx oder das gartenumgürtete
Babylonien«, und daß er die Skulptur im Traum hergestellt
habe. Der Kurator fordert ihn auf, sein Werk vorzuzeigen, und
als dieser dem Verlangen nachkommt, weicht der Kurator

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entsetzt zurück und fragt, wer der Mann sein mag. Er nennt
einen heutigen Namen. »Nein, vor diesem«, sagt der Kurator.
Der Mann erinnert sich nicht, außer im Traum. Dann bietet ihm
der Kurator einen hohen Preis, aber der Mann hat das
Empfinden, daß er die Skulptur zerstören will. Verlangt einen
märchenhaften Preis - der Kurator wird beim Direktorium
Rückfrage halten.
Füge eine gute Entwicklung hinzu und beschreibe die Natur
des Bas-Relief. Cthulhu.
Traum von uralten Schloßtreppen - schlafende Wachen,
schmales Fenster - Schlacht auf einer Ebene zwischen
Engländern und Männern in gelben Wappenröcken mit roten
Drachen. Der Anführer der Engländer fordert den Anführer des
Feindes zum Zweikampf. Sie kämpfen. Der Feind verliert den
Helm, aber kein Kopf wird sichtbar. Die ganze Armee des
Feindes schwindet im Nebel dahin, und der Beobachter
entdeckt, daß er der berittene englische Ritter auf der Ebene ist.
Blickt zur Burg hin und erkennt eine eigenartige
Zusammenballung phantastischer Wolken über den höchsten
Zinnen.
Leben und Tod. Tod - seine Trostlosigkeit und sein Grauen -
düstere Räume - Meeresgrund - tote Städte. Das Leben jedoch -
das größere Grauen! Ungeheure, unerhörte Reptilien und
Leviathane - entsetzliche wilde Tiere des prähistorischen
Dschungels - üppige schleimige Vegetation - böse Instinkte der
Urmenschen. Das Leben ist entsetzlicher als der Tod.
Die Katze ist die Seele des antiken Ägypten und der Träger
von Berichten aus vergessenen (Reichen von) Städten in Meroe
und Ophir. Sie ist mit dem Herrn des Dschungels verwandt und
Erbe der Geheimnisse des ehrwürdigen Afrika. Die Sphinx ist
ihre Base, und sie spricht ihre Sprache; doch ist sie weit älter als
die Sphinx und erinnert sich an das, was jene vergessen hat. Die
Katzen von Ulthar.

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Traum von Seekonk - Ebbe - Blitz aus dem Himmel - Exodus
aus Providence - Einsturz des Rathauses.
Seltsamer nächtlicher Besuch an einem Ort - Mondschein -
Burg von großer Pracht etc. Das Tageslicht zeigt entweder eine
verlassene Stelle oder unkenntliche Ruinen - vielleicht von
unermeßlichem Alter.
Urmensch, erhalten geblieben im sibirischen Eis. (Siehe
Winchell - Walks and Talks in the Geological Field, S. 156 ff.)
So wie die Dinosaurier einst von den Säugetieren abgelöst
wurden, so werden Mensch und Säugetiere von den Insekten
oder den Vögeln abgelöst werden. Sturz des Menschen vor der
neuen Rasse.
Determinismus und Prophetie.
Fortbewegung von der Erde, schneller als das Licht. Die
Vergangenheit wird allmählich enthüllt.
Entsetzliche Enthüllungen.
Besondere Wesen mit besonderen Sinnen aus fernen Welten.
Sichtbarwerden eines äußeren Universums.
Die Auflösung aller Materie zu Elektronen und schließlich
dem leeren Raum ist sicher, ebenso wie bekannt ist, daß die
Energie zu Strahlungswärme herabsinkt. Fall von
Beschleunigung - Mensch geht im Weltraum auf.
Eigenartiger Geruch von Buch aus Kindheit führt zur
Wiederholung kindlicher Phantasie.
Gefühl zu ertrinken. Unterseeische Städte, Schiffe, Seelen der
Toten. Ertrinken ist ein entsetzlicher Tod. Klänge,
möglicherweise musikalische, werden des Nachts aus anderen
Welten oder Seinsbereichen gehört. Warnung, daß ein
bestimmter Boden heilig oder verflucht ist; daß auf ihm kein
Haus und keine Stadt errichtet werden dürfen; oder, wenn sie
schon gebaut worden sind, aufgegeben oder zerstört werden
müssen; sonst droht Katastrophe.

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Die Italiener nennen die Angst La Figlia della Morte - die
Tochter des Todes.
Furcht vor Spiegeln - Erinnerung an Traum, in dem sich der
Anblick verändert und der dramatische Höhepunkt eine
entsetzliche Überraschung bringt, wenn man sich selbst im
Wasser oder in einem Spiegel erblickt. Identität? Der
Außenseiter? Lebend geborene Ungeheuer - wühlen sich in die
Erde und vermehren sich, bilden eine Rasse unvermuteter
Dämonen.
Burg am See oder Fluß - Spiegelbild, im Verlauf der
Jahrhunderte fixiert. Burg zerstört, Spiegelbild lebt weiter, um
sich an den Zerstörern grausig zu rächen.
Rasse unsterblicher Pharaonen, die in ungeheuren
unterirdischen Hallen unter den Pyramiden hausen, zu denen
schwarze Treppen hinabführen.
Hawthornenicht aufgezeichnete Fabel. Besucher aus dem
Grab. Ein Fremder bei einer öffentlichen Veranstaltung wird um
Mitternacht bis zum Friedhof verfolgt, wo er in die Erde
hinuntersteigt.
Aus Arabien, Ency. Britt. II, 2.5 5. Prähistorische
sagenumwitterte Stämme von Ad im Süden, Thamud im Norden
und Tasm und Jadis im Inneren der Halbinsel. Ȇberaus
prächtig sind die Schilderungen, die von Irem, der Stadt der
Säulen (wie der Koran sie nennt), gegeben werden, die
angeblich von Shedad, dem letzten Tyrannen Ads im Gebiet von
Hudramant, errichtet worden ist und die doch, nach der
Vernichtung ihrer Bewohner, völlig erhalten ist, behaupten die
Araber, gewöhnlichen Augen unsichtbar, aber gelegentlich, und
zwar in weiten Abständen, sich einem vom Himmel
ausgezeichneten Reisenden enthüllt.« Felsenausgrabungen in
N.W. Hejaz, die dem Stamm Thamud zugeschrieben werden.
Städte, ausgelöscht von übernatürlichem Zorn. AZATHOTH -
ein entsetzlicher Name.

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Phlegethon - ein Fluß aus flüssigem Feuer im Hades.
Zaubergarten, in dem der Mond den Schatten eines
Gegenstandes oder Gespenstes wirft, der für das menschliche
Auge unsichtbar ist.
Totenbeschwörung - eine Stimme oder ein vertrautes
Geräusch im angrenzenden Zimmer.
Die Hand eines Toten schreibt.
Identitätsveränderung.
Mensch wird von unsichtbarem Wesen verfolgt.
Buch oder MS, das zu entsetzlich ist, als daß man es lesen
könnte -Warnung vor seiner Lektüre.
Jemand liest es und wird tot aufgefunden. Haverhill-Unglück.
Segeln oder rudern auf See im Mondenschein - man segelt ins
Unsichtbare.
Ein merkwürdiges Dorf, ein Tal, erreichbar durch eine lange
Straße und vom Kamm des Berges sichtbar, von dem aus die
Straße hinunterführt - oder nahe an einem dichten und uralten
Wald.
Mann in seltsamer unterirdischer Kammer - bemüht sich,
Bronzetür aufzuzwängen - wird von einströmendem Wasser
überwältigt.
Fischer wirft bei Mondschein Netz im Meer aus - was er
fängt.
Eine entsetzliche Pilgerfahrt zum umnachteten Thron des weit
entfernt hausenden Dämonen-Sultans Azathoth.
Jemand, der aus Aberglauben lebend in Brücke eingemauert
wird - oder schwarze Katze.
Unheimliche Namen - (Kamanthoh del).
Identität. Rekonstruktion der Persönlichkeit - jemand stellt ein
Duplikat von sich her.
Rileys Furcht vor Totengräbern - Tür nach dem Tod von

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innen verriegelt.
Unter einer Stadt werden Katakomben entdeckt. In Amerika?
Ein Eindruck. Bedrohte Stadt - tote Stadt, Pferdestatue, Mensch
in verschlossenem Zimmer, von draußen hört man das Klappern
von Hufen. Als er hinausschaut, wird das Wunder sichtbar.
Zwiespältiger Schluß.
Ein Mord wird entdeckt, die Leiche von einem
psychologischen Detektiv gefunden, der behauptet, er habe die
Wände des Zimmers durchsichtig gemacht. Rechnet mit der
Angst des Mörders.
Mensch mit unnatürlichem Gesicht, seltsame Eigenart beim
Sprechen. Stellt sich als Maske heraus - Auflösung.
Tonfall extremer Phantastik. Mensch wird in Insel oder Berg
verwandelt.
Jemand hat seine Seele dem Teufel verkauft - kehrt von Reise
zu seiner Familie zurück. Das Leben nachher - Angst,
wachsendes Grauen. Vom Umfang eines Romans.
Vorfall zu Halloween. Spiegel im Keller - darin gesehenes
Gesicht-Tod (Klauenabdrücke?).
Ratten vermehren sich und vernichten zuerst eine Stadt und
dann die ganze Menschheit. Zunahme an Größe und Intelligenz.
Italienische Rache - tötendes Ich in Zelle, während Feind vor
der Burg steht.
Schwarze Messe unter antiker Kirche.
Uralte Kathedrale, entsetzliche Wasserspeier. Jemand
versucht einen Einbruch - wird tot aufgefunden, Kiefer des
Wasserspeiers blutig.
Unbeschreiblicher Tanz der Wasserspeier; am Morgen wird
entdeckt, daß mehrere Wasserspeier auf der alten Kathedrale die
Plätze vertauscht haben.
Als er durch ein Labyrinth enger Slumstraßen schlendert,
stößt jemand auf ein fernes Licht. Unerhörte Opferhandlungen
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von Bettlerschwärmen, wie der Hof der Wunder in Notre Dame
de Paris.
Entsetzliches Geheimnis im Grabgewölbe eines uralten
Schlosses - entdeckt von einem Bewohner.
Formloses Lebewesen bildet den Kern eines uralten
Gebäudes.
Marmorkopf. Traum - Grabhügel - Abend, Unwirklichkeit.
Ein Fest? Macht eines Hexenmeisters, die Träume anderer zu
beeinflussen.
[1920] Zitat: »Ein verreckter Alptraum, der an seiner eigenen
Bösartigkeit zugrunde gegangen war und seinen schlaffen
Leichnam auf der Brust des Gequälten zurückgelassen hatte,
damit der da zusehe, wie er sich seiner nach besten Kräften
entledige.« Hawthorne.
Entsetzliche abgerissene Baß-Dissonanzen der kaputten Orgel
in einem leerstehenden Kloster oder einer Kathedrale. Red
Hook.
»Denn weist nicht auch die Natur ihre Groteskerien aufeinen
auseinanderklaffenden Felsen, das verzerrende Abendlicht auf
einsamen Straßen, die unverschleierte Struktur des Menschen im
Embryo oder im Skelett?« Pater - Renaissance (da Vinci).
Etwas Entsetzliches in einem vielleicht vertrauten Buch zu
finden und es dann nicht mehr finden zu können.
(Charles Dexter Ward) Borrelus behauptet, »daß die
wesentlichen Salze von Tieren so zubereitet und aufbewahrt
werden können, daß ein erfindungsreicher Kopf die ganze Arche
Noah in seinem Studierzimmer haben und die ganze edle Gestalt
eines Tieres nach Belieben aus seiner Asche auferstehen lassen
kann; und daß ein Philosoph mittels derselben Methode aus den
wesentlichen Salzen des menschlichen Staubes, ohne jede
verbrecherische Nekromantie, die Gestalt eines beliebigen toten
Vorfahren aus dem Staub heraufbeschwören kann, in den sein
Leichnam zerfallen ist.«
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Einsamer Philosoph liebt Katze - hypnotisiert sie sozusagen,
indem er wiederholt zu ihr spricht und sie ansieht. Nach seinem
Tode zeigt die Katze Anzeichen, daß sie seine Persönlichkeit
hat. P. S. Er hat eine Katze dressiert und vererbt sie einem
Freund mit der Auflage, an ihrer rechten Vorderpfote mit Hilfe
einer speziellen Stützapparatur eine Feder anzubringen. Später
schreibt sie mit der Handschrift des Verstorbenen.
Einsame Lagunen und Sümpfe in Louisiana - Todesdämon
uralte Häuser und Gärten - moosbewachsene Bäume - Girlanden
spanischen Mooses.
[1921] Anenceophalous oder gehirnloses Ungeheuer, das
überlebt und eine gewaltige Größe erreicht.
Verlorener Wintertag - den ganzen Tag verschlafen. Zwanzig
Jahre später. Schlaf im Stuhl an Sommerabend. Falscher
Sonnenaufgang - alte Szenerie und Empfinden - kalt - alte Leute
jetzt tot.
Grauen- erfroren? Der Körper eines Menschen stirbt, aber die
Leiche erwacht wieder zum Leben. Schleicht herum - versucht
Verwesungsgeruch zu verbergen - wird irgendwo aufbewahrt.
Entsetzlicher Höhepunkt.
Kühle Luft.
Ein Ort, an dem man gewesen ist (eine schöne Aussicht auf
ein Dorf oder ein mit Bauernhäusern gesprenkeltes Tal bei
Sonnenuntergang), den man weder wiederfinden noch im
Gedächtnis festmachen kann.
Eine Veränderung überkommt die Sonne - zeigt Gegenstände
in seltsamer Form, vielleicht durch Wiederherstellung einer
vergangenen Landschaft.
Entsetzliches Farmhaus im Kolonialstil und dichter Garten auf
Berghang bei Stadt, völlig verwachsen.
Gedicht »The House« als Grundlage der Geschichte.
Unbekannte Feuer, die des Nachts in den Bergen erblickt

-344-
werden.
Blinde Furcht vor einem bestimmten Tal in Waldgegend, wo
sich unter krummen Wurzeln Bächlein schlängeln und wo sich
auf einem vergrabenen Altar entsetzliche Opfer ereignet haben.
Leuchten abgestorbener Baumstämme. Vom Boden steigen
Blasen auf.
Entsetzliches altes Haus auf einem steilen Berghang in Stadt,
Bowen Street, lockt in der Nacht.
Schwarze Fenster, namenloses Grauen. Kalte Berührung und
Stimme; das Willkommen der Toten.
[1923] Salem-Geschichte. Hütte einer betagten Hexe, worin
man nach ihrem Tod verschiedene entsetzliche Gegenstände
findet.
Unterirdisches Gebiet unter geruhsamem Neuengland-Dorf,
bewohnt von (lebenden oder ausgestorbenen) Wesen aus
prähistorischer Zeit und äußerster Fremdartigkeit.
Entsetzliche Geheimgesellschaft - weit verbreitet -
entsetzliche Zeremonien in Höhlen unter vertrauten Anblicken.
Der eigene Nachbar gehört vielleicht dazu.
Leiche in Zimmer führt eine Handlung aus, die durch
Gespräche in seiner Anwesenheit herausgefordert wird. Zerreißt
oder versteckt das Testament usw.
Versiegelter Raum, zumindest ist in ihm keine Lampe erlaubt.
Schatten an der Wand.
Alte Meerestaverne, jetzt weit im Landesinneren auf
Schwemmland. Seltsame Vorfälle - Geräusch von Wellenschlag.
Vampir sucht Menschen an uraltem Wohnsitz der Vorfahren
heim; ist der eigene Vater.
Ein Ding, das auf der Brust eines Schläfers saß. Am Morgen
verschwunden, aber etwas bleibt zurück.
Tapete löst sich in unheimlichen Mustern ab; jemand stirbt
vor Angst. Die Ratten im Gemäuer.Gebildeter Mulatte sucht die

-345-
Persönlichkeit eines Weißen zu verdrängen und seinen Körper
in Besitz zu nehmen.
Uralter Wudu-Negerhexenmeister in Sumpf; bemächtigt sich
eines Weißen.
Vorsintflutliche zyklopische Ruinen auf einsamer
Pazifikinsel. Zentrum eines die Erde umspannenden
unterirdischen Hexenkultes.
Uralte Ruine in Sumpf in Alabama. Wudu.
Jemand wohnt neben Friedhof. Wovon lebt er? Nimmt keine
Nahrung zu sich.
Biologische Erberinnerungen an andere Welten und
Universen. Butler, Gods Known and Vnknown, S.
59.
Todeslichter tanzen über Salzsumpf.
Uraltes Schloß, in dessen Inneren der Klang eines
unheimlichen Wasserfalls zu vernehmen ist. Das Geräusch hört
zeitweilig unter seltsamen Umständen auf.
Nächtliches Herumschleichen um unbeleuchtete Burg
inmitten seltsamer Umgebung.
Ein verborgen gehaltenes Lebewesen, das in einem Haus
gefüttert wird.
[1924] Etwas wird im Erkerfenster eines verbotenen Raumes
in einem alten Herrenhaus gesehen.
Kunstkommentar - phantastische Dämonen von Salvator Rosa
oder Füßli (Rumpf-Rüssel).
Sprechender Vogel von großer Langlebigkeit. Erzählt lange
nachher ein Geheimnis.
Photius berichtet von einem "verschollenen" Schriftsteller
namens Damascius, der »Unglaubliche Geschichten«,
»Erzählungen von Dämonen« und »Wundersame Geschichten
von Totenerscheinungen« schrieb.

-346-
Entsetzliche Dinge werden in den Zeilen des Gauthier du
Metz, 13. Jahrhundert, »Image du Monde« angedeutet.
Vertrockneter Mensch lebt jahrhundertelang in kataleptischem
Zustand in uraltem Grab.
Abscheuliche nächtliche Geheimversammlung in uraltem
Gäßchen. Einer nach dem anderen entfernt sich verstohlen.
Einer wird beobachtet, wie er etwas fallenläßt - eine
Menschenhand. Von Schiff Ausgesetzter - schwimmt im Meer -
wird Stunden später aufgefischt und erzählt merkwürdige
Geschichte von einem unterseeischen Gebiet, das er besucht hat.
Verrückt? Auf Insel Ausgesetzte essen unbekannte Vegetation
und werden seltsam verwandelt.
Uralte und unbekannte Ruinen. Seltsamer, unsterblicher
Vogel, der in einer Sprache spricht, die für die Forscher
entsetzlich und aufschlußreich ist.
Individuum wandert durch eine seltsame Entwicklung den
Pfad der Evolution zurück und wird zum Amphibium.
Ein Arzt versteift sich darauf, daß das bestimmte Amphibium,
von dem der Mensch abstammt, keinem der Paläontologie
bekannten gleicht. Um es zu beweisen, führt er ein seltsames
Experiment durch oder erzählt von einem.
[1925] Marmorfaun, S. 346: seltsame prähistorische
italienische Stadt aus Stein.
N. 0. Gebiet namens »Hexenloch« - entlang des Flußlaufes.
Gerüchte von Hexensabbats und Indianertrommeln auf einem
ausgedehnten Hügel, der sich aus der Ebene erhebt, wo alte
Schierlingstannen und Buchen einen dunklen Hain oder
dämonischen Tempel bildeten. Schwer erklärliche Legenden.
Holmes -Guardian Angel.
Leuchten verfaulenden Holzes, in Neuengland »Fuchsfeuer«
genannt.
Übergeschnappter Maler in uraltem, unheimlichen Haus

-347-
zeichnet Wesen. Wer stand ihm Modell? Flüchtiger Blick.
Pickmans Modell.
HSW. - Cassius. Ein Mann hat einen gestaltlosen winzigen
siamesischen Zwilling - ausgestellt im Zirkus. Zwilling wird
operativ entfernt - stellt mit bösartigem Eigenleben Entsetzliches
an.
Roman vom Hexenloch? In einer Privatschule angestellter
Lehrer verfährt sich beim ersten Mal - trifft auf ein dunkles Tal
mit unnatürlich angeschwollenen Bäumen und einer kleinen
Hütte (Licht im Fenster?). Erreicht die Schule und hört, daß den
Jungen verboten ist, das Tal aufzusuchen. Ein Junge ist seltsam -
Lehrer beobachtet ihn, wie er Tal besucht. Seltsame Vorgänge -
geheimnisvolles Verschwinden oder entsetzliches Schicksal.
Eine abscheuliche Welt überlagert die sichtbare. Durchgang
eine Macht führt den Erzähler zu einem uralten und verbotenen
Buch, das Anweisungen für den Zutritt enthält.
Eine Geheimsprache, die von einigen wenigen alten
Menschen in einem wilden Land gesprochen wird, führt zu
verborgenen Wundern und grausigen Dingen, die sich erhalten
haben.
Ein seltsamer Mensch wird an einer einsamen Bergstelle
gesehen, wie er mit einem großen geflügelten Wesen spricht,
das fortfliegt, als sich andere nähern.
Jemand oder etwas weint beim Anblick des aufgehenden
Mondes vor Furcht, als handele es sich um eine merkwürdige
Sache.
DELRIO stellt die Frage: »An Sint unquam daemones incubi
et succubae et an ex tali congressu proles nasci queat?« Red
Hook.
Ein Forscher kommt in ein seltsames Land, wo eine
atmosphärische Besonderheit den Himmel buchstäblich bis zur
Schwärze verdunkelt - was es dort an Wundern gibt.

-348-
[1926] Anmerkung von Haggard oder Lang in »The World's
Desire«:
»Die geheimnisvollen und unentzifferbaren Bücher, die man
im alten Ägypten gelegentlich ausgrub, waren möglicherweise
in der toten Sprache eines weitaus älteren und nunmehr
vergessenen Volkes abgefaßt. Das war der Fall mit dem in
Coptos im dortigen Heiligtum von dem Priester der Göttin
entdeckten Buch. »Die ganze Erde war von Dunkelheit bedeckt,
aber rings um das Buch schien der Mond." Mit diesen Worten
erwähnt ein Schreiber aus der Zeit der Ramsesiden ein anderes
Buch in der unentzifferbaren uralten Schrift. "Ihr erklärt mir, Ihr
verstündet kein Wörtchen davon, weder ein gutes noch ein
schlechtes. Es ist sozusagen von einem Wall umgeben, den
niemand überklettern kann. Ihr werdet belehrt, aber Ihr wisset es
nicht, und das versetzt mich in Angst und Schrecken." Birch
Zeitschrift 1871, S. 61-64, Papyrus Anastisi I, Rolle X, I, 8,
Rolle X, 1-4. Maspero, Hist. Anc. S.
66-67.«
Mitglieder eines Hexenkults wurden mit dem Gesicht nach
unten begraben. Jemand stellt über einen Vorfahren im
Familiengrab Nachforschungen an und findet einen
beunruhigenden Zustand vor.
Seltsamer Brunnen im Bezirk Arkham - das Grundwasser ist
versiegt (oder wurde nie erreicht - seit der Ausschachtung blieb
das Loch fest mit einem Stein verschlossen) - bodenlos -
gemieden und gefürchtet- was lag darunter (entweder ein
unheiliger Tempel oder etwas anderes sehr Altes oder eine große
Höhlenwelt). Fungi -The Well.
Entsetzliches Buch wird flüchtig in uraltem Laden erblickt -
dann nie mehr gesehen.
Entsetzliche Pension - geschlossene Tür wird nie geöffnet.
In Grab wird antike Lampe gefunden - mit Öl gefüllt und
entzündet zeigt ihr Schein eine seltsame Welt. Fungi.

-349-
Jeder beliebige uralte, unbekannte oder prähistorische
Gegenstand - seine Macht der Beeinflussung - verbotene
Erinnerungen.
Vampirischer Hund.
Böses Gäßchen oder umschlossener Hof in uralter Stadt -
Union oder Wilson Street. Fungi.
Besuch bei jemandem in einem wildromantischen, weit
entfernt liegenden Haus - Fahrt von der Station durch die Nacht
- in die Berge, in denen es spukt. Haus an Waldrand oder am
Wasser - dort leben entsetzliche Wesen.
Jemand sieht sich gezwungen, in einem seltsamen Haus
Zuflucht zu suchen. Gastgeber trägt dicken Bart und dunkle
Brillen. Zieht sich zurück. In der Nacht steht der Gast auf und
sieht die Kleider des Gastgebers herumliegen, auch eine Maske,
die das angebliche Gesicht des Gastgebers war, was immer
dieser war. Flucht.
Das autonome Nervensystem und das Unterbewußtsein haben
ihren Sitz nicht im Kopf. Ein verrückter Arzt köpft einen
Menschen, hält ihn jedoch unter unbewußter Kontrolle am
Leben. Man achte darauf, nicht bloß die Geschichte W.C.
Morrows nachzuahmen.
[1928] Schwarze Katze auf einem Berg in der Nähe einer
dunklen Spalte im Hof eines alten Gasthauses.
Miaut heiser- lockt Künstler in die dunklen Geheimnisse von
drüben. Stirbt schließlich in hohem Alter.
Spukt in den Träumen des Künstlers herum - lockt ihn, ihr zu
folgen. Seltsames Ergebnis (erwacht nie? oder macht die bizarre
Entdeckung einer alten Welt außerhalb des dreidimensionalen
Raums?).Trophonious - Höhle von. Siehe Class. Dict. und
Artikel im Atlantic.
Stadt mit Walmdächern, die man im Sonnenuntergang von
weitem sieht - bleibt in der Nacht unbeleuchtet. Man sah ein

-350-
Segel, das aufs Meer hinausfuhr. Fungi.
Abenteuer eines körperlosen Geistes - in düsteren,
halbvertrauten Städten und über seltsamen Mooren; durch Raum
und Zeit- schließlich andere Planeten und Universen.
Verschwommene Lichter, geometrische Figuren etc., die bei
geschlossenen Augen auf der Retina zu sehen sind. Ausgelöst
von Strahlen aus anderen Dimensionen, die auf den Sehnerv
einwirken? Von anderen Planeten'. Verknüpft mit einem Leben
oder einer Daseinsstufe, in denen ein Mensch leben könnte,
wüßte er nur, wie dorthin zu gelangen? Jemand fürchtet sich, die
Augen zu schließen - er war irgendwo auf einer entsetzlichen
Pilgerfahrt, und dieses angsteinflößende Sehvermögen ist ihm
geblieben.
Jemand hat einen entsetzlichen Hexenmeister zum Freund,
der Einfluß auf ihn gewinnt. Er tötet ihn in Verteidigung seiner
Seele; mauert die Leiche in einem alten Keller ein-JEDOCH -
der tote Hexenmeister (der Seltsames über die länger im Körper
verweilende Seele gesagt hat) tauscht mit ihm den Körper... er
bleibt als denkender Leichnam im Keller zurück. Das Ding auf
der Schwelle.
Gewisse Arten von tiefer, feierlicher Musik aus den siebziger
und achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts rufen bestimmte Visionen dieser Zeit in
Erinnerung - gasbeleuchtete Salons der Toten, Mondenschein
auf alten Fußböden, verfallende Geschäftsstraßen mit
Gaslampen etc. - unter entsetzlichen Umständen.
Buch, das beim Lesen einschläfernd wirkt - man kann es nicht
lesen. Ein Entschlossener liest es - wird verrückt. Von betagtem
Eingeweihten werden Vorsichtsmaßnahmen getroffen, der als
Autor und Übersetzer weiß, wie er sich durch Beschwörung
schützt.
Zeit und Raum. Vergangenes Ereignis, vor 150 Jahren,
ungeklärt. Heutige Zeit. Jemand, der sich intensiv nach der

-351-
Vergangenheit sehnt, sagt oder tut etwas, das körperlich in der
Zeit zurückwirkt und das vergangene Ereignis tatsächlich
herbeiführt.
Krone des Grauens. Großvater kehrt von seltsamer Reise
zurück... Geheimnis im Haus... Wind und Dunkelheit...
Großvater und Mutter verschlungen... verbotene Fragen...
Schlaflosigkeit...
Untersuchung... Katastrophe... Schreie von oben...Jemand, der
seinen Reichtum auf dunkle Weise erwarb, verliert ihn. Erklärt
seiner Familie, er müsse den ORT erneut aufsuchen (entsetzlich
und unheimlich und außerdimensional), wo er zu seinem Gold
kam. Andeutungen von möglichen Verfolgern oder der
möglichen Nicht-Rückkehr. Er bricht auf. Aufzeichnung, was
mit ihm passiert: oder was in seinem Haus passiert, wenn er
zurückkehrt. Vielleicht mit vorhergehendem Thema verbunden.
Behandelt auf phantastische, an Dunsany erinnernde Weise.
Jemand wird an einem öffentlichen Ort mit den Zügen oder
dem Ring oder dem Schmuck eines Mannes gesehen, der schon
lange, vielleicht seit Generationen im Grab liegt.
Entsetzliche Reise zu einem uralten und vergessenen Grab.
Abscheuliche Familie lebt im Schatten einer uralten Burg am
Rand eines Waldes nächst schwarzen Klippen und einem
ungeheuren Wasserfall.
Ein Junge wächst in einer Atmosphäre dräuenden
Geheimnisses auf. Hält seinen Vater für tot.
Plötzlich erfährt er, daß sein Vater bald zurückkehren wird.
Absonderliche Vorbereitungen - Folgen.
Einsame, düstere Inseln vor der Küste Neuenglands. Das
Grauen, das sie beherbergen - Vorposten kosmischer Einflüsse.
Was aus einem Urei ausschlüpft.
Ein seltsamer Kauz im verschatteten Bezirk einer uralten
Stadt besitzt ein bestimmtes unvordenklich archaisches Grauen.

-352-
[1930] Abscheuliches altes Buch wird entdeckt -
Anweisungen für schokkierende Beschwörungen.
In der Wüste findet man ein vormenschliches Götzenbild.
Götzenbild in Museum bewegt sich auf bestimmte Weise.
Zug der Lemminge - Atlantis.
Kleine, grüne keltische Statuen, die in einem alten irischen
Moor ausgegraben werden.
Jemandem werden die Augen verbunden, und er wird in
einem verschlossenen Taxi oder Wagen an einen uralten und
geheimen Ort gebracht.
Die Träume eines Menschen schaffen tatsächlich eine
halbverrückte Welt gleichsam materieller Substanz in einer
anderen Dimension. Ein anderer Mann, ebenfalls ein Träumer,
gerät im Traum zufällig in diese Welt. Was er dort findet.
Nachrichten von den Bewohnern. Ihre Abhängigkeit vom ersten
Träumer. Was bei seinem Tod passiert.
Ein uraltes Grabmal im tiefen Wald nächst einer Stelle, wo
sich ein Landhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert befand. Das
unverweste, angeschwollene Wesen, das darin vorgefunden
wurde.
Erscheinen eines uralten Gottes an einer einsamen und
archaischen Stelle - möglicherweise eine Tempelruine. Die
Atmosphäre der Schönheit und nicht des Grauens. Raffinierte
Darstellung - Anwesenheit wird durch ein schwaches Geräusch
oder einen Schatten enthüllt. Die Landschaft verändert sich?
Aus der Sicht eines Kindes? Unmöglich, den Ort je wieder zu
erreichen oder zu identifizieren? Ein gewöhnliches Haus des
Grauens... namenloses Verbrechen... Geräusche... spätere
Bewohner (Flammarion) ein Roman? Bewohner einer anderen
Welt - Gesicht maskiert, vielleicht mit Menschenhaut oder
operativ an die menschliche Gestalt angepaßt, Körper unter der
Kleidung außerirdisch. Nach der Ankunft auf der Erde versucht
er, sich unter die Menschen zu mischen. Entsetzliche
-353-
Aufklärung. Von Clark Ashton Smith vorgeschlagen.
In einer uralten versunkenen Stadt findet jemand ein
zerfallenes prähistorisches Dokument in englischer Sprache und
in seiner eigenen Handschrift, das eine unglaubliche Geschichte
berichtet.
Angedeutet wird eine Reise von der Gegenwart in die
Vergangenheit. Mögliche Aktualisierung dieses Einfalls. 193^
verwendet.
Anspielungen in einem ägyptischen Papyrus auf ein
Geheimnis oder Geheimnisse unter dem Grab des Hohepriesters
Ka-Nefer. Das Grab wird schließlich gefunden und identifiziert -
Falltür in Steinboden - Treppen und die bodenlose schwarze
Tiefe.
In der Antarktis oder an einem anderen unheimlichen Ort
verirrte Expedition. Skelette und Gebrauchsgegenstände werden
Jahre danach gefunden. Filme verbraucht, aber nicht entwickelt.
Die Finder entwickeln sie - und entdecken ein seltsames Grauen.
Anblick städtischen Grauens - Sous le Cap oder Champlain
Street, Quebec - zerklüftete Felsenklippe - Moos, Schimmel,
Feuchtigkeit - ein Haus, halb in die Klippe hineingebaut.[1931]
Wesen aus dem Meer - in einem dunklen Haus entdeckt jemand,
daß die Türklinken usw. feucht sind, etwa so, als wären sie von
etwas berührt worden. Er war Hochseekapitän und fand einmal
einen merkwürdigen Tempel auf einer Insel, die vulkanisch aus
dem Meer aufgetaucht war.
Traum, in einer ungeheuren Halle seltsamer Architektur zu
erwachen, wo unter Tüchern Gestalten auf Steinplatten liegen,
eine Lage, die der eigenen gleicht. Andeutungen von verstörend
nichtmenschlichen Umrissen unter dem Laken. Eines der
Objekte bewegt sich und wirft das Laken ab - ein außerirdisches
Wesen zeigt sich. Andeutung, daß man selbst solch ein Wesen
ist - der Geist ist in einen Körper auf einem anderen Planeten
versetzt worden.

-354-
Felsenwüste - prähistorische Tür in Klippe, in dem Tal
ringsum liegen die Gebeine von ungezählten Milliarden von
Tieren, sowohl aus der heutigen Zeit wie aus der Vorgeschichte,
einige von ihnen bedenklich angenagt.
[i932] Uralte Nekropole; eine Bronzetür, die aufgeht, als der
Mondenschein darauf fällt. Gebündelt von einer uralten Linse in
der gegenüberstehenden Säule? Vorzeitliche Mumie im
Museum... erwacht und tauscht mit dem Besucher Platz.
[1933] Auf der Hand eines Mannes zeigt sich plötzlich eine
merkwürdige Wunde, urplötzlich und scheinbar ohne Ursache.
Breitet sich aus. Folgen.
Tibetanischer ROLANG-Zauberer (oder NGAGSPA) ruft
eine Leiche ins Leben zurück, indem er sie in einem dunklen
Raum aufbewahrt, sie von Mund zu Mund beatmet und eine
Zauberformel wiederholt, ohne an etwas anderes zu denken. Die
Leiche erwacht langsam zum Leben und erhebt sich.
Versucht zu entkommen; zuckt, ruckt und kämpft; der
Hexenmeister hält sie jedoch fest. Fährt mit seiner Zauberformel
fort. Die Leiche streckt die Zunge heraus, und der Hexenmeister
beißt sie ab.
Dann sinkt der Leichnam in sich zusammen. Die Zunge dient
als wertvoller magischer Talisman.
Entkommt die Leiche - entsetzliche Folge und Tod für den
Hexenmeister.
Seltsames Buch des Grauens wird in alter Bibliothek entdeckt.
Abschnitte von entsetzlicher Bedeutung werden abgeschrieben.
Später unmöglich, Buch zu finden und Text zu verifizieren.
Vielleicht entdeckt man einen Körper oder ein Bild oder ein
Zaubermittel unter dem Boden, in einem Geheimfach oder
sonstwo. Einfall, daß das Buch lediglich eine hypnotische
Täuschung war, herbeigeführt durch totes Gehirn oder uralten
Zauber.
Jemand betritt in pechschwarzer Dunkelheit Gebäude, das er
-355-
für sein eigenes Haus hält. Tastet sich in sein Zimmer vor und
schließt hinter sich die Tür. Seltsames Grauen... oder dreht Licht
an und findet einen fremdartigen Ort oder ein fremdartiges
Wesen. Oder findet die wiederhergestellte Vergangenheit oder
eine angedeutete Zukunft.
Merkwürdig aussehende Glasscheibe aus verfallenem Kloster,
das im Ruf steht, in seinen Mauern Teufelsanbeter beherbergt zu
haben, wird in einem heutigen Haus am Rand einer
wildromantischen Landschaft eingesetzt. Durch sie sieht die
Landschaft auf unbestimmte und nicht genau definierbare Weise
falsch aus. Sie hat eine unbekannte, die Zeit verzerrende
Eigenschaft und stammt aus einer urzeitlichen, untergegangenen
Kultur. Schließlich sieht man durch sie abscheuliche Wesen aus
einer anderen Welt.
Wenn Dämonen zu bösen Zwecken Menschengestalt
annehmen wollen, übernehmen sie die Körper Gehenkter.
[1934] Verlust der Erinnerung und Eintritt in eine bewölkte
Welt seltsamer Anblicke und Erlebnisse nach einem Schock,
Unfall, der Lektüre eines merkwürdigen Buches, der Teilnahme
an einer merkwürdigen Zeremonie, dem Trinken eines
seltsamen Gebräus usw. Das Gesehene wirkt auf vage und
beunruhigende Weise vertraut. Auftauchen. Unfähigkeit, den
Weg zurück zu verfolgen.
Ein ferner Turm ist von einem Fenster am Berghang aus
sichtbar. Des Nachts scharen sich die Fledermäuse in dichten
Scharen um ihn. Beobachter ist fasziniert. Eines Nachts erwacht
er und findet sich auf einer unbekannten schwarzen
Wendeltreppe. Im Turm? Entsetzliches Ziel.
Schwarze geflügelte Wesen fliegen des Nachts in das Haus.
Sie sind nicht aufzufinden oder zuzuordnen, aber daraus ergeben
sich raffinierte Entwicklungen.
Jemand spürt ein unsichtbares Wesen - oder sieht es, wie es
Fußabdrücke hinterläßt - auf einem Berggipfel oder an einem

-356-
anderen, unzugänglichen Ort.
Planeten, die aus unsichtbarer Materie bestehen.
Aus einem späteren Notizbuch Ein ungeheuerliches Wrack -
gefunden und bestiegen von einem überlebenden Ausgesetzten
oder Schiffbrüchigen.
Eine Rückkehr an einen Ort unter traumähnlichen,
entsetzlichen und nur dunkel begriffenen Umständen. Tod und
Verfall regieren. In Stadt flammen am Abend keine Lichter auf-
Enthüllung.
Verstörende Überzeugung, daß jedwedes Leben nur ein
täuschender Traum ist, hinter dem sich ein gräßliches oder
unheimliches Grauen verbirgt.
Jemand blickt aus dem Fenster und entdeckt, daß die Stadt
und die Welt draußen finster und tot (oder merkwürdig
verändert) sind.
Ein Versuch, die fernen Anblicke festzumachen und
aufzusuchen, die man vom Fenster aus sieht - bizarre Folgen.
Etwas wird einem in der Nacht entrissen - an einem einsamen,
uralten und allgemein gemiedenen Ort.
(Traum von) einem Fahrzeug - einem Eisenbahnwaggon,
einer Kutsche etc. - die man betäubt oder im Fieber besteigt, und
die ein Bruchstück einer vergangenen oder außerdimensionalen
Welt sind - die den Reisenden aus der Wirklichkeit in
verschwommene, vom Alter niedergedrückte Gebiete oder
unglaubliche Abgründe des Wunders entführt.
Sondermeldung der N. Y.Times, 3. März 1935: »Halifax, N.
S.tief eingeätzt in die Umrisse einer Insel, die vor der Südküste
Nova Scotias, zwanzig Meilen von Halifax entfernt, aus der
Atlantikbrandung aufragt, befindet sich die seltsamste
Gesteinsformation, deren sich Kanada rühmen kann. Stürme,
Meer und Frost haben in die feste Klippe der sogenannten
Virgin's Island die nahezu vollkommenen Umrisse der Madonna

-357-
mit dem Christuskind auf dem Arm eingegraben.
Die Insel weist steil abfallende und umbrandete Küsten
auf,bildet eine Gefahr für die Schiffahrt und ist völlig
unbewohnt. Soviel bekannt ist, hat kein Mensch je den Fuß auf
ihre Küsten gesetzt.
Ein altes Haus mit geschwärzten Gemälden an den Wänden -
so verdunkelt, daß man ihr Sujet nicht mehr enträtseln kann.
Restaurierung und eine Enthüllung. Vgl. Hawthorne - Edw.
Rand. Port.
Beginne die Geschichte mit der Anwesenheit des Erzählers -
ihm selbst unerklärlich - in völlig fremdartiger und
furchteinflößender Umgebung.
Merkwürdiger Mensch oder merkwürdige Menschen leben in
einem uralten Haus oder in Ruinen, weit von allen bevölkerten
Gebieten entfernt - entweder in Neuengland oder in einem
fernen exotischen Land. Verdacht, gestützt auf Aussehen und
Gewohnheiten, daß sie nicht ganz menschlich sind.
Alte Wälder im Winter... Moos -... große Baumstämme...
verkrüppelte Zweige... dunkel... gerippte Wurzeln... es tropft
immer...
Sprechendes Gestein aus Afrika - unvorstellbar alter Felskreis
in verfallenen Dschungelruinen, der mit äonenalter Stimme
spricht.
Jemand mit Gedächtnisverlust in einer seltsamen, nur
teilweise verstandenen Umwelt. Angst, die Erinnerung
wiederzuerlangen... ein flüchtiger Blick...
Jemand formt träge ein merkwürdiges Abbild - eine Macht
zwingt ihn dazu, es merkwürdiger zu machen, als er es tun
könnte. Wirft es voll Abscheu fort, jedoch - etwas geht in der
Nacht um.
Uralte (römische? prähistorische) Steinbrücke, die von einem
(plötzlichen und unerklärlichen?) Sturm hinweggeschwemmt

-358-
wird. Etwas wird freigesetzt, das vor Tausenden von Jahren im
Mauerwerk eingemauert worden war. Es passiert einiges.
Spiegelbild in der Zeit - das Abbild einer längst vergangenen
vormenschlichen Stadt.
Nebel oder Rauch - nimmt unter Beschwörungen Form an.
Glocke einer alten Kirche oder eines Schlosses wird von
unbekannter Hand geläutet - einem Wesen... oder einer
unsichtbaren Präsenz.
Insekten oder andere Wesen aus dem Weltraum stürzen sich
auf den Kopf eines Menschen und dringen in ihn ein, was dazu
führt, daß er sich an fremdartige und exotische Dinge erinnert -
mögliche Persönlichkeitsverdrängung.
Diese letzte Eintragung kann man ziemlich exakt datieren,
denn am 5. Mai 1935 schrieb H.P.
Lovecraft an einen Freund folgendes:
»Ihr Traum von Chobey-Maam war gewiß eine tolle Sache
würdig, neben dem gewaltigen Wallaru zu bestehen! Können
Sie eine Vermutung wagen, auf welchem Planeten Sie sich
befanden? Ich hatte erst letzte Nacht ein sehr lebendiges
Bruchstück von einem Traum - vielleicht teilweise abgeleitet
von der äußerst raffinierten Idee für eine Geschichtenhandlung,
die Sie gegen Ende Ihres Briefes entwerfen.
Sie erwähnen einen Schädel, der anstelle des Gehirns eine
merkwürdige metallische Vorrichtung enthält wobei Sie
andeuten, daß letztere entweder selbst ein außerirdisches und
mit Bewußtein begabtes Wesen ist oder aber eine Art
Empfänger, durch den weit entfernte Wesen von draußen den
Körper, in dem er eingepflanzt ist, lenken können. Nun also - in
meinem Traum wurde ich, während ich in vertrauter ländlicher
Gegend spazierenging, plötzlich von einem Schwarm schnell
aus dem Himmel herabschießender Insekten angegriffen. Sie
waren winzig und stromlinienförmig und schienen imstande zu
sein, meine Schädeldecke zu durchdringen und ins Gehirn
-359-
einzudringen, als wäre ihre Substanz nicht völlig materiell.
Kaum waren sie in meinen Kopf eingedrungen, schienen meine
Identität und Lage höchst zweifelhaft zu werden. Ich erinnerte
mich an außerirdische und unglaubliche Szenen - Klippen und
Felsnadel, die von violetten Sonnen erhellt wurden,
phantastische Säulen aus zyklopischem Mauerwerk, vielfarbige
Pilzvegetation, halb formlose Gestalten, die über grenzenlose
Ebenen scharwenzelten, bizarre Reihen von Wasserfallstaffeln,
oben offene Steinzylinder, zu denen Strickleitern hinaufführten
wie die Weberleinen von Schiffen, labyrinthische Korridore und
geometrisch mit Fresken ausgemalte Räume, merkwürdige
Gärten mit unerkennbaren Pflanzen, in Roben gekleidete
amorphe Wesen, die mit einem nichtvokalen Pfeifen sprachen -
und unzählige Vorfälle unbestimmter Natur und unnützlichen
Wirkungen. Ich wußte überhaupt nicht, wo genau ich wares gab
jedoch die bedrückende Empfindung unendlicher Ferne und
völliger Fremdartigkeit im Vergleich zur Erde und zum
Menschengeschlecht. Zu keinem Zeitpunkt geschah wirklich
etwas - und ich merkte, daß ich vor dem tatsächlichen Erwachen
beträchtliche Zeit geträumt hatte. Nach dem Aufstehen machte
ich in meinem Schwarzen Buch (dessen derzeitige Ausgabe Sie
so beharrlich angeregt haben) eine Notiz von dem Traum, und
eines Tages verwende ich vielleicht diesen Traum oder ihre
Anregung unverfälscht in einer Geschichte. Danke für die Idee -
ob sie jetzt den Traum verursacht hat oder nicht.«

-360-
Geschichte und Chronologie des
Necronomicons

Originaltitel Al Azif - Azif ist das Wort, das von den Arabern
verwendet wird, um das (von Insekten hervorgerufene)
nächtliche Geräusch zu bezeichnen, das angeblich vom Geheul
der Dämonen herrührt.
Verfaßt von Abdul Alhazred, einem verrückten Dichter aus
Sanaa im Yemen, der während der Zeit der Omaijaden-
Kaliphen, um 700 n. Chr., wirkte. Er suchte die Ruinen von
Babylon und die unterirdischen Geheimnisse von Memphis auf
und hielt sich zehn Jahre mutterseelenallein in der großen
südarabischen Wüste auf, dem Roba El Khaliyeh oder »Leeren
Raum« der antiken oder der »Dahna« oder »Karmesinroten
Wüste« der heutigen Araber, die von bösen Schutzgeistern und
Ungeheuern des Todes bewohnt sein soll. Von dieser Wüste
erzählt man sich unter denen, die so tun, als wären sie bis zu ihr
vorgedrungen, viele seltsame und unglaubliche Wunder. In
seinen letzten Lebensjahren ließ sich Alhazred in Damaskus
nieder, wo das Necronomicon (AI Azif) geschrieben wurde, und
von seinem schließlichen Tod oder Verschwinden (738 A.D.)
erzählt man sich die entsetzlichsten und widersprüchlichsten
Dinge. Ebn Challikan (ein Biograph aus dem zwölften
Jahrhundert) behauptet, er sei bei hellichtem Tag von einem
unsichtbaren Ungeheuer ergriffen und vor den Augen einer
großen Zahl vor Schreck erstarrter Zeugen verschlungen
worden. Über seinen Wahnsinn ist so manches in Umlauf. Er
behauptet, das märchenhafte Irem oder die Stadt der Säulen
gesehen und in den Ruinen einer gewissen Stadt ohne Namen in
der Wüste die erschreckenden Annalen und Geheimnisse einer
Rasse entdeckt zu haben, die älter ist als die Menschheit. Er war
nur ein indifferenter Moslem und verehrte unbekannte
Wesenheiten, die er Yog-Sothoth und Cthulhu nannte.

-361-
950 n.Chr. wurde das Azif, das unter den Philosophen der Zeit
beträchtliche, wenn auch heimliche Verbreitung gefunden hatte,
von Theodorus Philetas in Konstantinopel unter dem Titel
Necronomicon heimlich ins Griechische übersetzt. Ein
Jahrhundert lang regte es gewisse Schwarzkünstler zu
entsetzlichen Versuchen an, bis es von dem Kirchenvater
Michael unterdrückt und verbrannt wurde.
Danach hörte man nur verstohlen von ihm, doch fertigte Olas
Wormius in der Folge im Mittelalter (12.2.8) eine lateinische
Übersetzung an, und der lateinische Text wurde zweimal
gedruckt - einmal im fünfzehnten Jahrhundert in Fraktur
(offenkundig in Deutschland) und einmal im siebzehnten
(vielleicht spanischen Ursprungs). Beide Ausgaben enthalten
keine bibliographischen Angaben und lassen sich nur anhand
typographischer Merkmale im Innern in Ort und Zeit festlegen.
Das Werk, sowohl die lateinische wie die griechische Ausgabe,
wurde 12.32 von Papst Gregor IX. unmittelbar nach der
Übersetzung ins Lateinische auf den Index gesetzt, was
Aufmerksamkeit auf das Buch lenkte. Schon zur Zeit des
Wormius ging das arabische Original verloren, worauf er in
seiner einleitenden Erklärung hinweist (es gibt jedoch eine vage
Darstellung, daß in unserem Jahrhundert ein geheimes Exemplar
in San Francisco auftauchte, aber später bei einem Brand
zerstört wurde), und von der griechischen Ausgabe - die
zwischen 1500 und 15 5 o in Italien gedruckt wurde - hat man
nicht gehört, daß sie irgendwo aufgetaucht wäre, seit 1692 die
Bibliothek eines bestimmten Einwohners Salems verbrannt
wurde. Eine von Dr. Dee angefertigte Übersetzung blieb
ungedruckt und ist nur in Bruchstücken erhalten, die von dem
ursprünglichen Manuskript gerettet wurden. Von den noch jetzt
existierenden lateinischen Texten weiß man, daß sich ein
Exemplar (aus dem fünfzehnten Jahrhundert) im Giftschrank des
British Museum befindet, und ein weiteres (aus dem siebzehnten
Jahrhundert) wird in der Bibliotheque Nationale in Paris

-362-
aufbewahrt. Exemplare aus dem siebzehnten Jahrhundert
befinden sich in der Widener Bibliothek in Harvard und in der
Bibliothek der Miskatonic Universität in Arkham; auch in der
Bibliothek der Universität von Buenos Aires gibt es eines.
Unzählige andere Exemplare existieren versteckt, und das
Gerücht hält sich hartnäckig, daß eines aus dem fünfzehnten
Jahrhundert in der Sammlung eines berühmten amerikanischen
Millionärs vorhanden ist. Ein bislang noch vages Gerücht
behauptet, daß sich ein griechisches Exemplar in der Familie
Pickman aus Salem erhalten hat; wenn es jedoch dort eines gab,
so ging es mit dem Maler R. U. Pickman zugrunde, der 1926
spurlos verschwand. Das Buch wird von den Behörden der
meisten Staaten unbarmherzig unterdrückt, ebenso von allen
organisierten Religionsgemeinschaften. Seine Lektüre führt zu
entsetzlichen Folgen. Aus den Gerüchten über dieses Buch (von
denen in der breiten Öffentlichkeit relativ wenige wissen) soll
Robert W. Chambers den Einfall zu seinem frühen Roman The
King in Yellow bezogen haben.

-363-
Lord Dunsany und sein Werk

Die relativ geringe Anerkennung, die Lord Dunsany, dem


vielleicht einzigartigsten, originellsten und phantasievollsten
unter den derzeit* lebenden Autoren, zuteil geworden ist, bildet
einen erheiternden Kommentar zur natürlichen Dummheit des
Menschengeschlechts. Konservative Kreise betrachten ihn mit
väterlicher Herablassung, denn er kümmert sich nicht um die
schwerwiegenden Irrtümer und künstlichen Konstruktionen, die
ihre höchsten Werte ausmachen. Die Radikalen schätzen ihn
gering, denn sein Werk zeigt nicht jene chaotische
Herausforderung des guten Geschmacks, die für sie das einzige
Kennzeichen authentischer moderner Desillusionierung ist. Und
doch ginge man mit der Behauptung kaum fehl, daß ihn eher
beide Richtungen ehren sollten als keine von ihnen. Denn wenn
jemand die Überreste der wahren Kunst der alten wie der neuen
Schule abgewonnen und miteinander verknüpft hat, dann dieser
alleinstehende Riese, in dem die klassische, die jüdische, die
nordische und die irische ästhetische Tradition auf so
eigentümliche und bewunderungswürdige Weise eine
Verbindung eingegangen sind.
Das allgemeine Wissen über Dunsany scheint sich auf den
verschwommenen Eindruck zu beschränken, daß er jener
Gruppe angehört, die sich die Wiederbelebung des Keltischen
zum Ziel gesetzt hat und merkwürdige Theaterstücke schreibt.
Wie das meiste allgemein verbreitete Wissen ist auch dieses
bedauerlich bruchstückhaft und unvollständig, in vieler Hinsicht
auch irreführend. Genau genommen gehört Dunsany überhaupt
keiner Gruppierung an, und die bloße Urheberschaft
dramatischer Phantasiestücke ist nur ein unbedeutender Aspekt
der Persönlichkeit eines, in dessen dichterischen Erzählungen
und Schauspielen sich wahrhaft das Genie einer eigenständigen
Philosophie und ästhetischen Anschauung spiegelt. Dunsany ist
kein nationaler, sondern ein universeller Künstler, und seine
-364-
oberste Eigenschaft ist nicht bloß das Unheimliche, sondern eine
bestimmte gottähnliche und unpersönliche Vision von
kosmischer Reichweite und Perspektive, welche die
Bedeutungslosigkeit, Verschwommenheit, Vergeblichkeit und
tragische Absurdität allen Lebens und aller Wirklichkeit
begreift. Sein Hauptwerk gehört einer Richtung an, die heutige *
Dieser Aufsatz wurde 1922 geschrieben; Lord Dunsany starb
erst 1957.
Kritiker »Fluchtliteratur« genannt haben, die Literatur
bewußter Unwirklichkeit, geschaffen aus der intelligenten und
anspruchsvollen Überzeugung, daß die zergliederte Wirklichkeit
kein Erbe hat außer Chaos, Schmerz und Enttäuschung.
Solchermaßen ist er zugleich Konservativer und Anhänger der
Moderne; ein Konservativer, weil er noch immer nicht den
Glauben verloren hat, daß Schönheit eine Sache goldener
Erinnerungen und einfacher Muster ist, und ein Vertreter der
Moderne, weil er erkennt, daß wir nur in willkürlich
ausgewählten Phantasien eines der Muster ausgeprägt finden
können, die zu unseren goldenen Erinnerungen passen. Er ist der
oberste Dichter des Wunders, aber eines intelligent ersonnenen
Wunders, dem man sich zuwendet, nachdem man ausgiebig die
Desillusionierung des Realismus erlebt hat.
Edward John Moreton Drax Plunkett, der achtzehnte Baron
Dunsany, wurde 1878 im Dunsany Castle, County Meath,
Irland, geboren und ist ein Vertreter des ältesten und
bedeutendsten Blutes im Britischen Weltreich. Er ist
vorwiegend teutonischer und skandinavischer Abstammung -
normannischer und dänischer -, ein Umstand, der ihm eher die
eisige Erbschaft nordischer Volkssagen als der sanfteren und
mystischeren keltischen Überlieferung mitgibt. Seine Familie ist
jedoch eng mit dem Leben Irlands verwoben, und sein Onkel,
der Staatsmann Sir Horace Plunkett, war es, der als erster den
Einfall zur Bildung eines Dominionstaates hatte, der jetzt bei der
Schaffung des Freistaats Irland in die Praxis umgesetzt wird.

-365-
Seinen Neigungen nach ist Lord Dunsany persönlich ein loyaler
Anhänger des Empires, ein tapferer Offizier der britischen
Armee und Veteran des Burenkrieges und des Ersten
Weltkriegs.
Seine früheste Jugend verbrachte Dunsany auf Dunstall
Priory, Shoreham, Kent, England, dem Erbgut seiner Mutter. Er
hatte ein Zimmer, dessen Fenster nach den Bergen und dem
Westen zu gelegen waren, und diesem Anblick der goldenen
Erde und des goldenen Himmels schreibt er einen Gutteil seiner
poetischen Neigung zu. Seine einzigartige Ausdrucksweise
wurde von seiner Mutter durch die sorgfältige Auswahl seiner
Lektüre gefördert. Zeitungen bekam er überhaupt nicht zu lesen,
das Hauptnahrungsmittel seiner literarischen Diät war die King
James-Bibel. Die Auswirkungen dieser Lektüre auf seinen Stil
waren dauerhaft und wohltätig. Ohne bewußte Anstrengung
eignete er sich die Einfachheit und die Reinheit des archaischen
Englisch und die kunstvollen Wiederholungen der Psalmisten
an, so daß er bis zum heutigen Tag dem Stilverfall entkommen
konnte, der bei den meisten modernen Prosaautoren so häufig zu
finden ist.
In seiner ersten öffentlichen Schule, der Cheam School, geriet
Dunsany noch stärker unter den Einfluß der Bibel, und er kam
zum ersten Mal mit einem Einfluß in Berührung, der noch
wertvoller war: dem der griechischen Klassiker. Bei Homer fand
er einen Geist des Wunders, der seinem eigenen verwandt war,
und in seinem gesamten Werk läßt sich die Anregung durch die
Odyssee verfolgen - nebenbei ein Epos, das vielleicht von weit
größerem Genie zeugt als sein kriegerischer Vorgänger, die
Ilias. Die Odyssee wimmelt geradezu von jenem Zauber
seltsamer, ferner Landstriche, der auch Dunsanys
Hauptmerkmal ist.
An die Cheam School schloß sich Eton an, danach Sandhurst,
wo der jugendliche Edward Plunkett in jenem Waffenhandwerk
ausgebildet wurde, das einem Adelssprößling geziemt. 1899

-366-
brach der Burenkrieg aus, und der Jüngling kämpfte bei den
Goldstream Guards und machte alle Entbehrungen jener Jahre
mit. Im selben Jahr erbte er seinen alten Titel und Besitz; der
Knabe Edward Plunkett war zu dem Mann und Soldaten Lord
Dunsany geworden.
Dunsany erscheint erstmals in der Literatur kurz nach
Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts, und zwar als Förderer
des Werks junger irischer Literaten. 1905 veröffentlichte er The
Gods of Pegäna, sein erstes Buch, in dem sein eigenständiges
Genie durch die phantastische Schöpfung einer neuen und
künstlichen Mythologie durchschimmert, ein vollkommen
entwickelter Zyklus von Naturallegorien mit dem ganzen
unendlichen Liebreiz und der pfiffigen Philosophie einer
natürlichen Sagenwelt.
Danach erschienen weitere Bücher in rascher Folge, alle von
dem Künstler des Seltsamen Sidney H.
Sime illustriert. In Timeandthe Gods (1906) wurde die
mythische Grundidee mit wachsender Lebendigkeit weiter
ausgebaut. The Sword of Welleran (1908) besingt eine Welt von
Menschen und Helden, die von Pegänas Göttern regiert werden,
ebenso A Dreamer's Tales (1910). Hier finden wir die besten
Beispiele Dunsanyscher Dichtung voll entwickelt; das
hellenische Gefühl von Konflikt und Schicksalhaftigkeit, den
großartigen kosmischen Standpunkt, den wunderbaren lyrischen
Fluß der Sprache, den orientalischen Glanz von Farben und
Bilder, die titanische Fruchtbarkeit und den Einfallsreichtum der
Phantasie, den mystischen Zauberschein von märchenhaften
Ländern »weit im Osten« oder »am Rande der Welt« und das
erstaunliche Talent, sich musikalische, verlockende und Staunen
hervorrufende Eigennamen, sowohl Personennamen wie
geographische Bezeichnungen, nach klassischen und
morgenländischen Vorbildern auszudenken. Einige von
Dunsanys Erzählungen befassen sich mit der objektiven Welt,
die wir kennen, und den darin enthaltenen seltsamen Wundern.

-367-
Die besten von ihnen berichten aber von Ländern, die man
sich nur in Wachträumen vorstellen kann.
Diese sind in dem rein dekorativen Geist gestaltet, der die
höchste Kunst bedeutet, denn sie weisen kein sichtbares
moralisches oder didaktisches Element auf, sieht man von der
altmodischen Allegorie ab, die dem Typus von Legendengut
innewohnt, dem sie angehören. Dunsany hat keine andere
didaktische Idee als den Haß eines Künstlers auf das Häßliche,
Dumme und Gewöhnliche. Das erkennen wir gelegentlich in
satirischen Anklängen bei der Schilderung gesellschaftlicher
Einrichtungen und Beschwerden über die Verschandelung der
Natur durch düstere Städte und abscheuliche Reklameschilder.
Von allen menschliche Einrichtungen sind Reklameflächen Lord
Dunsany am verhaßtesten.
1909 schrieb Dunsany sein erstes Stück, The Glittering Gate,
auf Wunsch W. B. Yeats', der von ihm etwas für sein Abbey
Theatre in Dublin haben wollte. Obwohl dem Autor jede
Bühnenerfahrung abging, war das Ergebnis ein voller Erfolg und
führte dazu, daß Dunsany eine stetige Karriere auf dem Gebiet
dramatischer Dichtungen einschlug. Auch wenn der Schreiber
dieser Zeilen weiterhin die Erzählungen vorzieht, sind sich die
meisten Kritiker darin einig, die Stücke höher zu loben. Und
gewiß weisen diese eine Brillanz des Dialogs und eine
Sicherheit der Technik auf, die Dunsany einen Platz unter den
größten Dramatikern sichern. Welche Einfachheit! Welch
Einfallsreichtum! Welch edle Redeweise! Wie bei den
Geschichten leben auch die besten der Stücke von einer
phantastischen Fabel und einem phantastischen Milieu. Die
meisten sind recht kurz, doch sind zumindest zwei, Ifund
Alexander, von abendfüllender Länge. Das am meisten
geschätzte ist möglicherweise The Gods of the Mountains, das
vom Schicksal von sieben Bettlern in der Stadt Kongros
berichtet, die sich als die sieben grünen Jade-Götter
verkleideten, die auf dem Berg Marma sitzen. Grün ist übrigens

-368-
eine Lieblingsfarbe in Dunsanys Werk, und am häufigsten tritt
sie als grüne Jade auf. In diesem Stück istdie Nietzscheanische
Gestalt des Bettlerhäuptlings Agmar mit meisterlichen Strichen
gezeichnet und wird wahrscheinlich unter den lebendigen
Gestalten der Dramatik der Welt fortleben. Andere wunderbar
gewaltige Stücke sind A Night at an Inn - des Pariser Grand
Guignols würdig - und The Queen's Enemies, die Ausarbeitung
einer von Herodot überlieferten ägyptischen Anekdote. Man
kann das reine Genie für dramtische Rede und dramatische
Situation gar nicht genug betonen, das Dunsany in seinen besten
Stücken erkennen läßt. Sie sind in jedem Sinne durch und durch
klassisch.
Dunsanys Einstellung zum Wunderbaren ist, wie bereits
bemerkt, eine bewußt kultivierte; ihr liegt eine
erzphilosophische und anspruchsvolle Vernunft zugrunde. Es
verwundert daher nicht, daß sich im Laufe der Jahre in seinem
Werk ein Element sichtbarer Satire und treffenden Humors
bemerkbar zu machen begann. Es gibt wahrhaftig eine
interessante Parallelentwicklung zwischen ihm und jenem
anderen großen Iren, Oscar Wilde. Auch bei diesem gingen die
phantastische und die witzigweltkluge Seite ineinander über,
und auch er hatte dieselbe Göttergabe für glänzende Prosa und
exotische Bilder.
1912 erschien The Book of Wonder, dessen kurze
phantastische Geschichten alle einen gewissen humorvollen
Zweifel an der eigenen Ernsthaftigkeit und Wahrheit erkennen
lassen. Bald danach schrieb er The Lost Silk Hat, eine einaktige
Sittenkomödie, die an prickelndem Glanz und Witz allem
gleichzusetzen ist, was selbst ein Sheridan schaffen konnte. Und
seit diesem Zeitpunkt war die ernsthafte Seite Dunsanys ständig
im Abnehmen begriffen, trotz gelegentlicher Stücke und
Erzählungen, die das Überleben des Verehrers des absolut
Schönen zeigen. Die Fifty-One Tales, 1915 veröffentlicht, haben
etwas von dem städtischen, prosadichterischen Geist eines

-369-
philosophischen Baudelaire, während The Last Book ofWonder
(1916) dem ersten Buch mit ähnlichem Titel gleicht.
Nur in den verstreuten Fragmenten, die die Tales ofThree
Hemispheres (1919) bilden, finden wir starke Mahnungen an
den älteren, einfacheren Dunsany. If (192.2), das neue lange
Stück, ist hauptsächlich eine satirische Komödie mit einem
kurzen Hauch exotischer Beredsamkeit. Der Schreiber dieser
Zeilen hat Don Rodriguez, das vom Verlag eben angekündigt
wurde, noch nicht gelesen. Darin findet man vielleicht mehr von
dem alten Dunsany. Es ist sein erster Roman und wird von den
Rezensenten, die ihn gelesen haben, sehr geschätzt. Alexander,
ein abendfüllendes Stück, das auf Plutarch basiert, wurde 1912
geschrieben und wird vom Autor als seine beste Arbeit
betrachtet.
Bedauerlicherweise ist dieses Drama weder veröffentlicht
noch aufgeführt worden. Dunsanys kürzere Stücke sind in zwei
Bänden zusammengefaßt. Five Plays, es enthält The Gods ofthe
Mountain, The Golden Doom, KingArgimenes and the Unknown
Warrior, The Glittering Gate und The Lost Silk Hat, wurde 1914
veröffentlicht.
1917 erschien Plays of Gods and Men mit The Tents of the
Arabs, The Laughter of the Gods, The Queen's Enemies und A
Night at an Inn.
Dunsany hat seine Position als Förderer der Literatur nie
aufgegeben und war der literarische Schirmherr des irischen
Bauerndichters Ledwidge - dieses Sängers der Amsel, der im
großen Völkerringen fiel, als er unter dem Hauptmann Dunsany
bei den Fifth Royal Inniskilling Füsiliers diente. Der Krieg
nahm Dunsanys Phantasie sehr gefangen, denn er war bei den
Kämpfen in Frankreich und beim Dubliner Volksaufstand von
1916 eingesetzt, bei dem er schwer verwundet wurde. Wie der
Krieg auf ihn wirkte, zeigen ein Band bezaubernder und
manchmal rührseliger Geschichten, Tales ofWar (1918), und
eine Sammlung reminiszierender Essays, Unhappy Far-Off
-370-
Things (1920). Seine allgemeine Auffassung vom Krieg ist in
diesen Büchern die gleiche: kriegerische Auseinandersetzungen
sind ein Unglück, so unvermeidlich wie die Gezeiten und die
Jahreszeiten.
Dunsany hat eine sehr hohe Meinung von Amerika, denn es
war rascher bereit als sein Mutterland, ihm jene kleine
Anerkennung zu geben, die ihm zuteil geworden ist. Die meisten
seiner Stücke sind hier von kleinen Theatergruppen aufgeführt
worden, besonders der Stuart Walkers, und zuweilen wurden sie
begeistert aufgenommen. Alle diese Inszenierungen wurden
unter der sorgsamen Mitwirkung des Autors gemacht, dessen
Briefe mit Anweisungen äußerst aufschlußreich sind. Dunsanys
Stücke erfreuen sich bei vielen Theatergesellschaften an
Colleges großer Beliebtheit, und zwar völlig zu recht.
1919-20 unternahm Dunsany eine Vortragsreise durch die
Vereinigten Staaten und fand allgemein eine freundliche
Aufnahme.
Dunsany hat eine überaus anziehende Persönlichkeit, wie der
Verfasser dieser Zeilen bezeugen kann, der ihm in der ersten
Reihe direkt gegenüber saß, als Dunsany im Oktober 1919 im
Ballsaaldes Copley- Plaza-Hotels einen Vortrag hielt. Bei
diesem Anlaß legte Dunsany seine literarischen Anschauungen
mit viel Anmut dar und las sein kurzes Stück The Queen's
Enemies. Er ist ein sehr großer Mann - 1,80 Meter -, von
mittlerem Umfang, heller Gesichtsfarbe, blauen Augen, hoher
Stirn, einem hellbraunen Haarschopf und einem kleinen
Schnurrbart von derselben Farbe. Sein Gesicht bietet einen
gesunden und hübschen Anblick und trägt einen Ausdruck
bezaubernder und wunderlicher Freundlichkeit, mit einem
gewissen knabenhaften Charme, den keine Welterfahrung und
auch nicht sein Monokel auslöschen kann. Auch Gang und
Haltung weisen eine gewisse Knabenhaftigkeit auf, eine Spur
schlechter Haltung und die gewinnende Unbeholfenheit, die
man mit der Pubertät verbindet. Seine Stimme ist angenehm und

-371-
sanft und seine Aussprache der Gipfel britischer Sprechkultur.
Er gibt sich locker und gelöst, in einem Maße, daß sich der
Berichterstatter des Boston Transcript sogar über den Mangel an
salbungsvoller Rednerpose bei ihm beschwerte. Als
Vortragendem eines dramatischen Stückes mangelt es ihm
unzweifelhaft an Lebendigkeit und Gestik. Es liegt auf der
Hand, daß er als Schauspieler so armselig wäre, wie er als Autor
groß ist. Er kleidet sich betont leger, und man hat ihn den am
schlechtesten gekleideten Mann von Irland genannt. Gewiß war
der weite Abendanzug, der auf seinen amerikanischen Vorträgen
um ihn schlotterte, wenig beeindruckend. Gegenüber den
Bostoner Autogrammjägern war er sehr entgegenkommend,
denn er wies niemanden ab, wiewohl er starke Kopfschmerzen
hatte, die ihn dazu zwangen, sich mehrmals an die Stirn zu
greifen. Wenn er in ein Taxi stieg, verlor er immer den Zylinder
- so erinnern sich die Unbedeutenden der Mißgeschicke der
Großen!
Lord Dunsany ist mit einer Tochter Lord Jerseys verheiratet
und hat einen Sohn, den Hon. Randal Plunkett, geboren 1906.
Sein Geschmack, weit davon entfernt, die morbiden Vorlieben
des herkömmlichen Zynikers und Phantasten zu teilen, ist
auffallend naturbezogen und normal. Er genießt sein feudales
Erbe als Baron sichtlich. Er ist der beste Pistolenschütze von
Irland, ein begeisterter Kricketspieler und Pferdeliebhaber, ein
Großwildjäger und ein eingefleischter Anhänger des
Landlebens. Er ist weit gereist, besonders in Afrika, und lebt
abwechselnd auf seinem Schloß Meath, auf dem Sitz seiner
Mutter in Kent und in seiner Londoner Wohnung am Lowndes
Square 55. Daß ihm die wahrlich romantische Eigenschaft
bescheidenen Heldentums eignet, wird durch einen Vorfall
bezeugt, bei dem er jemanden vor dem Ertrinken rettete und sich
weigerte, der Menge, die ihn als Helden feierte, seinen Namen
zu verraten.
Dunsany schreibt seine Werke immer sehr rasch, und zwar

-372-
vornehmlich am Spätnachmittag und Frühabend, wobei er als
mildes Anregungsmittel Tee zu sich nimmt. Er schreibt fast
immer mit einem Federkiel, dessen breite, pinselähnliche Züge
allen unvergeßlich sind, die seine Briefe und Manuskripte
gesehen habe. Seine Einzigartigkeit tritt in jedem Abschnitt
seines Tuns zutage und umfaßt nicht nur eine einzigartige
Sparsamkeit der Interpunktion, die von den Lesern gelegentlich
bedauert wird. Sein Werk umgibt Dunsany mit einer
altmodischen Atmosphäre von gepflegter Naivität und
kindgleicher Unwissenheit, und er liebt es, historischen und
anderen Angaben einen Hauch wohltuender Kunstlosigkeit zu
geben, als sei er mit ihnen nicht vertraut. Seine beharrliche
Absicht ist es, die Welt mit der leicht beeindruckbaren Frische
unverdorbener Jugend zu erforschen - oder mit einer
Verfahrensweise, die dieser Eigenschaft so nahe kommt, wie es
seine Erfahrung nur zuläßt. Diese Auffassung bringt oft sein
Urteilsvermögen durcheinander, wie 1920 deutlich zu erkennen
war, als er sich freundlicherweise der United Amateur Press
Association als Ehrenpreisrichter für Lyrik zur Verfügung
stellte. Dunsany hat die Einstellung des wahren Aristokraten zu
seinem Werk. Wenn ihm auch der Ruhm willkommen käme,
denkt er nicht im Traum daran, seine Kunst entweder dem
spießbürgerlichen Pöbel oder der herrschenden Clique
literarischer Chaotiker zuliebe herabzuwürdigen. Er schreibt
allein, um sich auszudrücken, und ist deshalb der Idealtypus des
Amateurjournalisten.
Die endgültige Stellung Dunsanys in der Literatur hängt
weitgehend von der zukünftigen Entwickung der Literatur selbst
ab. Wir leben in einem Zeitalter seltsamen Übergangs und des
Auseinanderklaffens, die Kunst sondert sich zunehmend von der
Vergangenheit und auch vom gewöhnlichen Leben ab. Die
moderne Wissenschaft hat sich letztlich als Feind von Kunst und
Vergnügen erwiesen, denn indem sie uns die ganze niedrige und
alltägliche Grundlage unserer Gedanken, Motive und

-373-
Handlungen gezeigt hat, hat sie die Welt ihres Glanzes, ihres
Wunders und all jener Illusionen von Heldentum, Edelmut und
Aufopferung beraubt, die so beeindruckend klangen, wenn sie
auf romantische Manier behandelt wurden. Wahrhaftig, es ist
keine Übertreibung, wenn man behauptet, daß die
psychologische Entdeckung und chemische, physikalische und
physiologische Forschungen unter informierten und
anspruchsvollen Leuten das Element des Gefühls weitgehend
zerstört haben, denn sie haben es in seine Bestandteile aufgelöst
- den verständigen Einfall und den tierischen Trieb. Die
sogenannte »Seele« mit all ihren hektischen und widerlichen
Attributen wie Gefühlsduselei, Verehrung, Ernsthaftigkeit,
Ergebenheit und dergleichen ist unter der Analyse zugrunde
gegangen. Nietzsche führte eine Umwertung aller Werte herbei,
Remy de Gourmont jedoch en gros die Zerstörung aller Werte.
Wir wissen nunmehr, was für ein vergebliches, zweckloses und
zusammenhangloses Durcheinander von Trugbildern und
Heucheleien das Leben ist. Und dem ersten Schock über dieses
Wissen ist die bizarre, geschmacklose, aufsässige und
chaotische Literatur der schrecklichen Generation entsprungen,
die unsere Großmütter so schockiert - die ästhetische Generation
von T. S. Eliot, D. H. Lawrence, James Joyce, Ben Hecht,
Aldous Huxley, James Branch Cabell und all den übrigen. Diese
Schriftsteller, da sie wissen, daß das Leben kein wirkliches
Muster aufweist, rasen entweder oder höhnen oder schließen
sich dem kosmischen Chaos an, indem sie eine ungeschminkte
und bewußte Unverständlichkeit und Verwirrung der Werte
ausschlachten. Für sie schmeckt es nach Vulgarität, eine
Ordnung zu akzeptieren - denn heutzutage lesen nur
Dienstboten, Kirchgeher und erschöpfte Geschäftsleute etwas,
was etwas bedeutet, oder erkennen Werte an. Welche Chance
hat denn ein Autor, der weder dumm noch gewöhnlich genug für
die Leserschar von Cosmopolitan, Saturday Evening Post,
Harold Bell Wright, Snappy Stories, Atlantic Monthly und Home

-374-
Brew ist; noch verwirrt, obszön oder wasserscheu genug für die
Leser von Dial, Freeman, Nation oder New Republic und die
Möchtegern-Leser des Ulysses? Gegenwärtig lehnt ihn die eine
Clique als »zu anspruchsvoll« ab, während ihn die andere als
unerträglich lahm und kindisch verständlich nicht zur Kenntnis
nimmt.
Dunsanys Hoffnung auf Anerkennung liegt bei den Literaten
und nicht bei der Menge, denn sein Reiz liegt in einer äußerst
zarten Wortkunst und einer sanften Desillusionierung und
Weltverdrossenheit, die lediglich Feingeister genießen können.
Der notwendige Schritt zu einer solchen Anerkennung ist eine
Abkehr von der vorherrschenden ästhetischen Anarchie, eine
Abkehr, die höchstwahrscheinlich eintritt, wenn es zu einem
reiferen Verständnis der modernen Desillusionierung und was
sie zu bedeuten hat, kommt. Die Kunst ist durch eine gründliche
Kenntnis des Universums zerstört worden, die zeigt, daß die
Welt für jeden nur ein je nach individueller Wahrnehmung sich
darbietender Kehrichthaufen ist. Sie wird, wenn überhaupt, nur
vom nächsten und letzten Schritt der Desillusionierung gerettet
werden, der Erkenntnis, daß ein vollständiges Verständnis und
eine vollständige Wahrheit an sich wertfrei sind, und daß man
für jede echte künstlerische Anregung künstlich Grenzen des
Bewußtseins und ein Lebensmuster, das der ganzen Menschheit
gemein ist, erfinden muß - am natürlichsten das einfache alte
Muster, das uns die uralte und tastende Überlieferung zuerst
vorgab. Wir erkennen, daß die Quelle aller Freude und jeder
Begeisterung das Staunen und die Unwissenheit sind, und sind
dann bereit, mit den höhnenden Atomen und Elektronen einer
zwecklosen Unendlichkeit das alte Blinde-Kuh-Spiel zu spielen.
Dann werden wir auch erneut Musik und Farbe der göttlichen
Sprache verehren und ein epikuräisches Vergnügen an jenen
Verbindungen von Einfällen und Phantasien finden, die wir als
künstlich erkannt haben. Nicht, daß wir dem Gefühl gegenüber
wieder eine ernsthafte Einstellung gewinnen können - dazu ist

-375-
die Vernunft zu sehr losgelassen -, doch werden wir uns des
Arkadiens aus Dresdener Porzellan eines Autors erfreuen
können, der mit den alten Einfällen, Stimmungen, Typen,
Situationen und Lichteffekten auf geschickte, bildhafte Art und
Weise spielt, eine Art und Weise, die von liebevollen
Erinnerungen wie an gestürzte Götter gefärbt ist, aber doch nie
von einer kosmischen und sanft satirischen Erkenntnis der in
Wahrheit mikroskopischen Bedeutungslosigkeit der
menschlichen Puppen und ihrer unbedeutendenden Beziehungen
untereinander abweicht. Ein solcher Autor mag gut Frivolität
oder Vulgarität vermeiden, doch muß er der vernunftgemäßen
Anschauungsweise den Vorrang einräumen, selbst wenn sie
verborgen bleibt, und sich davor hüten, ernsthaft mit der Stimme
von Leidenschaften zu sprechen, die von der modernen
Psychologie als entweder heuchlerisch hohl oder absurd
animalisch erkannt worden sind.
Und klingt das nicht buchstäblich wie eine Beschreibung
Dunsanys, eines gewandten Prosadichters, der zufällig auch
klassische Hexameter schreibt und seine Bühne aufstellt für
unerbittliche Götter und ihren noch unerbittlicheren Eroberer
Zeit, für kosmische Schachspiele von Schicksal und Zufall, für
Leichenbegängnisse toter Götter, für Geburt und Tod von
Universen und für die einfachen Annalen jenes Stäubchens im
Weltraum, das die Welt genannt wird, die mit ihren armseligen
Bewohnern nur eines der unzähligen Spielzeuge der kleinen
Götter ist, die ihrerseits bloß die Träume der MÄNA YOOD
SUSHÄI sind? Das Gleichgewicht zwischen Konservatismus
und dem Anspruchsvollen ist bei Dunsany vollkommen, er ist
auf wunderliche Weise traditionell, sich aber doch der
chaotischen Nichtigkeit der Werte bewußt wie jeder, der sich als
Vertreter der Moderne bekennt. Mit derselben Stimme, die
gottbewegende Mächte besingt, trauert er um das zerbrochene
Schaukelpferd eines Kindes und erzählt, wie der Wunsch eines
Jungen nach einem Reifen einen König dazu veranlaßte, seine

-376-
Krone den Sternen zu opfern. Er versäumt auch nicht, von
stillen Dörfern zu singen, dem Rauch idyllischer Herdstätten
und dem abendlichen Lichterschein in Hüttenfenstern. Er
erschafft eine Welt, die es nie gegeben hat und nie geben wird,
die wir aber immer gekannt und nach der wir uns in Träumen
gesehnt haben. Diese Welt erfüllt er mit Leben, nicht indem er
so tut, als sei sie wirklich, sondern indem er die Eigenschaft des
Unwirklichen erhöht und sein ganzes Traum-Universum mit
einem zarten Pessimismus überzieht, der sich zur Hälfte von der
modernen Psychologie herleitet und zur anderen von unseren
ererbten nordischen Mythen von Ragnorok, der
Götterdämmerung. Er ist zugleich modern und ein Mythologe
und sieht das Leben zu Recht als eine Reihe sinnloser Bilder,
stattet es mit all den uralten Formeln und Redewendungen aus,
die wie erstarrte Metaphern in der Sprache zu einem
unabdingbaren Teil unseres hochgeschätzten Erbes an
Gedankengut geworden sind.
Dunsany gleicht niemandem sonst. Wilde kommt ihm am
nächsten, und es gibt gewisse Verwandtschaften mit Poe, de
Quincy, Maeterlinck und Yeats. Doch alle Vergleiche sind
müßig. Die besondere Verbindung von Stoff und Manier, die
sich bei ihm findet, ist in ihrem stolzen Genie einzigartig. Er ist
nicht vollkommen oder nicht immer vollkommen, aber wer ist
das denn auch ständig? Kritiker bemängeln, daß er gelegentlich
Satire mit der Stimmung einer Tragödie vermischt.
Das ist jedoch ein konventioneller Einwand und bezeugt nur,
daß sie mit der irischen Tradition nicht vertraut sind, die solch
perverserweise unsterblichen Werke wie James Stephens Crock
of Gold hervorgebracht hat. Sie bekritteln auch, daß er
wandelnde Steingötzen und abscheuliche Hindu-Idole auf der
Bühne einführt. Diese Beckmesserei ist erbärmlich blind,
interpretiert sie doch apokalyptische Visionen nach
Bühnenerfordernissen. Jede Kritik des Schreibers dieser Zeilen
würde die Form einer Bitte annehmen; er würde sich eine

-377-
weniger vollständige Verwandlung des alten mythenschaffenden
Dunsany in den neueren und prickelnderen Dunsany wünschen.
Ein wiedererstandener Sheridan ist wahrhaftig wertvoll, der
Dunsany von A Dreamer's Tales ist jedoch ein doppelt so
wertvolles Wunder, denn man kann ihm nicht gleichkommen
oder auch nur nahekommen. Es ist ein Wunder, das uns unsere
Kindheitsträume wiedergegeben hat, soweit uns solche Dinge
überhaupt je wiedergegeben werden können, und das ist
vielleicht der größte Segen, den es auf Erden gibt.
Die Zukunft ist dunkel und voller Zweifel, und inmitten ihrer
vernichtenden Introspektion und Analyse gibt es vielleicht
keinen Platz für die Kunst, wie wir sie kennen. Falls jedoch
irgendeine schon vorhandene Kunst dieser Zukunft angehört,
dann ist es die Kunst Lord Dunsanys.
H. P. Lovecraft, 14. Dezember 1922 »Der Mann aus Stein«
war Mrs. Healds erste veröffentlichte Geschichte. Sie wurde von
Lovecraft weniger stark als ihre späteren Erzählungen
überarbeitet. Unter dem Datum 30. September 1944 schrieb
Mrs. Heald: »Lovecraft half mir bei dieser Geschichte
ebensosehr wie bei den anderen und schrieb ganze Absätze um.
Er kritisierte Absatz um Absatz, fügte daneben mit Bleistift
Bemerkungen ein und ließ mich dann alles umschreiben, bis er
damit zufrieden war.« Es gibt schlüssige Beweise, die darauf
hindeuten, daß Lovecrafts Überarbeitungen in zwei scharf
getrennte Gruppen einzuordnen sind - das Gros rein
professioneller Überarbeitungen von Sprache und Interpunktion
und eine gewisse kleine Gruppe von Geschichten, die ihn
persönlich stark interessierten und denen er seinen persönlichen
literarischen Stempel aufdrückte. Das gilt weniger für »Der
Mann aus Stein« als für die späteren Arbeiten, die unter dem
Namen Hazel Heald erschienen. Lovecraft überarbeitete auch -
über die Werke hinaus, die bereits bei Arkham House vorliegen
- Erzählungen unter den Namen Sonia H. Greene (die Frau, mit
der Lovecraft kurze Zeit verheiratet war) und Adolphe de

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Castro, die in Weird Tales erschienen. »Der Mann aus Stein«
wird hier in erster Linie als ein Beispiel von Lovecrafts frühen
Überarbeitungen angeführt, das die Kennzeichen eines rein
beruflichen und zum Teil auch eines persönlichen Interesses
trägt, man denke z. B. an die Einfügung des Book of Eibon usw.

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