Der Spiegel - 17 11 2018 PDF

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COM/WSNWS

Nr. 47 / 17.11.2018
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Leben ohne Schmerz


Rücken, Schulter, Knie – wie sich Operationen vermeiden lassen
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Kramp-Karrenbauer im Gespräch Al-Qaida, 9/11, Islamischer Staat Gewalt in der Partnerschaft


»Wir haben die innerparteiliche Begegnung mit einem Phantom Warum so viele Männer ihre
Debatte gescheut« des internationalen Terrorismus Frauen quälen und töten
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DER NEUE BMW


MIT DEM BESTEN xDRIVE ALLER ZEITEN.

Abbildung zeigt Sonderausstattungen.


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Freude am Fahren
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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Mehr Entlastung?
Hausmitteilung Mit durchgängig digitalen
Betr.: Zammar, AS Monaco, USA/Mexiko, SPIEGEL BIOGRAFIE
kaufmännischen Abläufen.
Mohammed Haydar Zammar war lange nur
ein Phantom des internationalen Terrorismus,
obwohl er sie alle kannte: Osama Bin Laden,
SYARA KAREB / DER SPIEGEL

die Täter der Anschläge von 9/11, Topleute des


»Islamischen Staates«. Der in Syrien geborene
Dschihadist mit deutschem Pass verbrachte
Jahre in Gefängnissen des Diktators Baschar al-
Assad und bei seinen Freunden vom IS. Seitdem
die Türme des New Yorker World Trade Center
Zammar, Reuter eingestürzt sind, konnte noch nie ein Journalist
mit ihm sprechen. Dann fiel er Kämpfern der
Kurden-Miliz YPG in die Hände. Im April fragte SPIEGEL-TV-Reporter Andreas Lünser
die Kurden nach Zammar, monatelang verhandelten er und die Kollegen Christoph
Reuter und Syara Kareb, während Fidelius Schmid bei deutschen Sicherheitsbehörden
recherchierte. Auf einem Stützpunkt im syrischen Kurdengebiet fand schließlich das
Treffen statt, ohne Einmischung der Bewacher, die allerdings anschließend sehr genau
wissen wollten, was Zammar gesagt hatte. Der Film läuft am Montag um 23.25 Uhr im
SPIEGEL-TV-Magazin auf RTL, das Interview lesen Sie exklusiv hier. Seite 82

Die Geschichte liest sich wie ein Thriller von John le

JAN HELGE PETRI / DER SPIEGEL


Carré: Ein russischer Oligarch rettet den maroden
Fußballklub AS Monaco. Mit Gefälligkeiten macht er
sich den monegassischen Regierungsapparat, die Poli-
zei, selbst die Entourage des Fürsten Albert II. gefügig.
Doch dann verlässt er fluchtartig das Land. Die Daten
der Enthüllungsplattform Football Leaks und eigene
Recherchen brachten ein SPIEGEL-Team auf die Spur
des Milliardärs Dmitrij Rybolowlew. In Zusammen- Schmitt, Weinzierl
arbeit mit dem französischen Nachrichtenportal
Mediapart zeichneten die Redakteure Jörg Schmitt und Alfred Weinzierl jetzt die
Geschichte des Russen nach. »Am Ende wirkte Rybolowlew wie der Pate von Mona-
co«, urteilt Weinzierl. Was die Justiz irgendwann nicht mehr ignorieren mochte: Sie
beschuldigt Rybolowlew seit voriger Woche offiziell der Korruption. Kurz darauf
setzte er sich nach Moskau ab. Seite 100

Tausende Menschen sind in den vergangenen Wochen durch Mexiko marschiert, um


in die USA einzuwandern. Donald Trump sprach von »üblen« und »gefährlichen«
Leuten und rief damit auch amerikanische Bürgerwehren auf den Plan, die Grenze
auf eigene Faust zu sichern. Die Redakteure Claas Relotius und Juan Moreno haben
beide Seiten begleitet. Moreno lief mit der geflüchteten Honduranerin Aleyda Milla
durch das Hochland Mexikos nach Norden. Relotius fand den Amerikaner »Jaeger«,
der mit anderen Männern schwer bewaffnet in der Wüste Arizonas auf Einwanderer Die digitalen DATEV-Lösungen unterstützen Sie bei
wartet. »Männer wie Jaeger sehen Flüchtlingsströme im Fernsehen und glauben an allen kaufmännischen Aufgaben – vom Angebot über
das Recht auf Selbstverteidigung«, sagt Relotius. »Die Sache einmal selbst in die Hand die Kassenführung bis hin zur Buchführung. So ge-
zu nehmen, davon werden auch einige Menschen in Europa träumen.« Seite 54 winnen Sie Freiräume und mehr Zeit für die Betreuung
Ihrer Kunden. Informieren Sie sich im Internet oder bei
Ihrem Steuerberater.

Er hat die Bundesrepublik von den Spinnweben der Nachkriegszeit


befreit und ihr den Weg in die moderne Staatengemeinschaft ge-
Digital-schafft-Perspektive.de
ebnet: Willy Brandt war ein außergewöhnlicher Politiker und der
erste Popstar der deutschen Politik. SPIEGEL BIOGRAFIE zeichnet
das Leben dieses charismatischen Mannes nach – mit SPIEGEL-
Texten aus vier Jahrzehnten – und diskutiert die Frage, was sich
die heutige Krisen-SPD von Brandts Politikstil abschauen könnte.
CGS

SPIEGEL BIOGRAFIE »Willy Brandt« erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 5


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Inhalt
72. Jahrgang | Heft 47 | 17. November 2018

Titel Gewalt Immer mehr Frauen


werden von ihren
Medizin Schulter, Rücken, Partnern misshandelt ....... 40
Knie – nicht immer sind Opera-
tionen nötig, Mediziner suchen Familienministerin Franziska
Wege aus dem Schmerz . . . . . 114 Giffey will Frauen mehr
Schutz vor Gewalt bieten . . . 48

Deutschland Adel Wie Sachsen den


Nachfahren des letzten Königs

DMITRY AZAROV / KOMMERSANT PHOTO / POLARIS / STUDIO X


Leitartikel Warum eine Frauen- Sondermüll als Antiquitäten
quote in der Politik falsch ist 8 andrehte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Meinung Der gesunde Men-


schenverstand / So gesehen: Gesellschaft
Melanias Verwandlung . . . . . 10
Früher war alles schlechter:
Daimler und VW wollen Der Irrtum von der guten
Dieselautos nachrüsten / Pfän- alten Zeit / Was machen
dungssichere Konten boomen / Schnäppchen mit unserem
KI-Forscher hält Regierungs- Gehirn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
strategie für zu zaghaft . . . . . 12
Eine Meldung und ihre
Parteien Frankreichs Präsident Geschichte Warum ein
Emmanuel Macron schmiedet
einen Pakt gegen die
Die Briten gehen, Deutsche russischer Forscher
einen Kollegen in der
deutschen Konservativen . . . 16 und Franzosen streiten Antarktis niederstach . . . . . . . 53

CDU Nordrhein-Westfalens Europa in der Krise: Während Premierministerin Schicksale Eine Frau aus
Ministerpräsident Armin May um den Brexit-Deal kämpft, ist Frankreichs Honduras reist im Flüchtlings-
Laschet beklagt die ambitions- treck Richtung USA –
lose deutsche Europapolitik 19
Präsident Macron frustriert über das Zögern an der Grenze erwarten sie
von Kanzlerin Merkel bei den Euroreformen. Er bewaffnete US-Bürger . . . . . . 54
AfD Geheimspenden und sinnt auf Rache – bei den Europawahlen. Seiten 16, 88
ausländische Strohmänner – Kirche SPIEGEL-Gespräch
die Finanzaffäre um Alice mit dem katholischen
Weidel verändert das Macht- Missbrauchsbeauftragten
gefüge in der Partei . . . . . . . . . 22 Stephan Ackermann
über eine engere Kooperation
Karrieren Der gescheiterte mit Staatsanwälten . . . . . . . . . 62
GREGOR FISCHER / PICTURE ALLIANCE/DPA

SPD-Kanzlerkandidat
Martin Schulz bereitet sein Homestory Wieso man
Comeback vor . . . . . . . . . . . . . . 26 bei Abschluss einer Kfz-Ver-
sicherung an die Bedürfnisse
Kommentar Klaus von Doh- von Tieren denken sollte . . . 65
nanyi, ehemaliger Hamburger
Bürgermeister, über den gefähr-
lichen Linksruck der SPD 29 Wirtschaft

Union SPIEGEL-Gespräch mit Keine Entschädigung für Kohle-


CDU-Generalsekretärin Das Matrjoschka-Prinzip kraftwerke / Gerangel um
Kramp-Karrenbauer über die Digitalsteuer / Onlinehandel
Fehler der Ära Merkel und Spenden aus dem Ausland belasten AfD-Frak- vor neuem Rekord . . . . . . . . . . 66
die Frage, wie das Saarland auf tionschefin Alice Weidel. Spuren führen zu einem
die Weltpolitik vorbereitet 30 Deutsche Bahn Die Konzern-
Unternehmen in Zürich und einem nieder- spitze kämpft um ihre
Regierung Der Abstieg ländischen Pensionär, der sich der »Erforschung Zukunft – und um die des
der Ursula von der Leyen . . . 34 der europäischen Identität« widmet. Seite 22 Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . 68

6 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Sozialstaat Arbeitsminister
Hubertus Heil über die Wissenschaft
Diskussion um Hartz IV und
neue Ziele in der Videoclip zur Selbstunter-
Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . 72 suchung der Brust /
Blüten-Deko im Essen kann
Steuern Wie ein ehemaliger giftig sein / Einwurf:
Banker legale Schlupflöcher Macht uns das Smartphone
schließen will . . . . . . . . . . . . . . . 76 wirklich unglücklich? . . . . . . 112

Immobilien Investoren Tiere Mit dem Adler über


setzen auf »Micro-Living« – die Alpen – die Welt aus
Wohnheime mit teuren der Vogelperspektive . . . . . . 124

KLAAS JAN VAN DER WEIJ / VISUM


Minizellen für Studenten . . . 78
Umwelt Feuerhölle
Analyse Warum Deutschlands Kalifornien – der Ökologe
Handelsüberschüsse Tim Brown über den
keine Arbeitslosigkeit richtigen Umgang mit
verursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Buschbränden . . . . . . . . . . . . . 126

Die zerstörten Häuser von


Ausland Prominenten . . . . . . . . . . . . . . 128
Geld und der Sinn des Lebens
China will deutschen
Abgeordneten eine Debatte Die Rockband Kiss ist eines der erfolgreichsten Kultur
über die Repression Unternehmen des Pop. Sänger Gene Simmons
in Xinjiang verbieten / Neues Album von The Good,
In Venezuela kämpfen
reicht das allerdings nicht. Jeden Tag begibt er The Bad & The Queen /
Banden im Auftrag der sich auf die Jagd nach mehr – wer ihn trifft, Film »Mein Bruder heißt
Regierung um Rohstoffe . . . . 80 bekommt einen Crashkurs im Reichwerden. Seite 138 Robert und ist ein Idiot« /
Kolumne: Zur Zeit . . . . . . . . . 130
Terroristen Der Dschihadist
Mohammed Haydar Kolonialismus Ein Bericht der
Zammar über Osama Bin französischen Regierung zur
Laden, 9/11 und seine 147 tote Frauen Rückerstattung von Raubkunst
mörderischen Freunde bringt Unruhe in die euro-
vom »Islamischen Staat« . . . 82 Im Schnitt wird jeden zweiten bis dritten Tag päische Museumswelt . . . . . 132
eine Frau in Deutschland umgebracht – von ihrem
EU Londoner Chaos um den Zeitgeist Zu Besuch im
Brexit-Plan ................. 88
Partner oder Ex-Partner. Eine »unvorstellbare Sauerland, der Heimat von
Größenordnung«, sagt Familienministerin Giffey. Friedrich Merz . . . . . . . . . . . . 136
Südafrika Weiße Farmer Warum wird darüber kaum gesprochen? Seiten 40, 48
fürchten um ihr Leben . . . . . . 90 Kapitalismus Gene Simmons,
der Sänger der Rockband
USA Michelle Obama ANZEIGE Kiss, gilt als Genie –
fasziniert Amerika . . . . . . . . . . 94 des Geldverdienens . . . . . . . 138

Seefahrt Tödliche Tricksereien Für welchen Rekord sorgte der Debattenkultur SPIEGEL-
im Mittelmeer . . . . . . . . . . . . . . 96 Sommer 2018 in der EU? Gespräch mit der Sprachwis-
senschaftlerin Susan Benesch
über Rhetorik im Netz
Sport und die Frage, ob Sprache
Gewalt erzeugen kann . . . . 142
Die Länderspielbilanz von
Joachim Löw / Magische Popkritik »Phoenix«, das
Momente: Apnoetaucherin Dieser Sommer war sehr heiß. Doch dank der vielen neue Album der britischen
Heike Schwerdtner über Sonnenstunden wurde jede Menge umweltfreundliche Sängerin Rita Ora . . . . . . . . . 147
ihren Weltrekord . . . . . . . . . . . . 99 Energie produziert. Laut Institut für regenerative Energie-
wirtschaft erzeugten Photovoltaikanlagen in der EU im
Football Leaks Der Oligarch ersten Halbjahr 56 Milliarden kWh sauberen Strom – ein
Dmitrij Rybolowlew im neuer Rekord! Auch wer sein Geld bei RaboDirect anlegt, Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Visier von Korruptions- fördert den Klimaschutz: Wir finanzieren weltweit Wind- Impressum, Leserservice . . . 148
ermittlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 und Sonnenenergieprojekte. Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 150
Die neue Rolle www.rabodirect.de Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
von Banken . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 154

Titelfoto: Daniel Hofer für den SPIEGEL 7


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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Engagiert euch!
Leitartikel Es braucht mehr Frauen im Parlament. Aber eine Quote ist der falsche Weg.

ch, die Nebenwirkungen wären wirklich schön. bürgerin muss es aushalten, wenn eine Partei Ideen und

A Wenn das Gesetz tatsächlich käme, das Justiz-


ministerin Katarina Barley (SPD) vorgeschlagen
hat, um den Anteil von Frauen im Bundestag
zu erhöhen; dieses Gesetz, das die Parteien verpflichten
Konzepte produziert, die er oder sie für falsch hält. Man
mag die FDP für unangenehm investorenfreundlich, die
AfD für islamkritisch halten – sie dürfen das, solange ihr
Treiben nicht gegen die Verfassung verstößt. Wenn eine
würde, auf ihren Listen alternierend Männer und Frauen Partei nicht gegen das Patriarchat kämpfen will, wenn sie
zu nominieren – dann würde sich vieles ändern. sich nicht dafür einsetzen will, dass Frauen mehr zu sagen
Die Parteien müssten sich, vom Ortsverein aufwärts, um haben – dann darf sie auch das.
Frauen bemühen. Sie müssten die Zeit der Hinterzimmer- Es muss also ohne Quote gehen. Aber wie dann? Viel-
politik beenden, über die SPIEGEL-Reporter Jürgen Leine- leicht hilft die Frage weiter, warum die Frauen eigentlich in
mann einmal sagte, dass sie »einen Sitzarsch, ein unglaub- der Politik fehlen. Eine der Antworten ist so banal, dass man
lich gutes Gedächtnis und eine sie oft vergisst: Sie haben zu tun.
gute Leber« verlange. Nicht zu ver- Hilfreicher als ein Quotengesetz
gessen die »belastbare Blase«, der wären möglicherweise verläss-
Heide Simonis, die erste Minister- liche Kinderbetreuung und Väter,
präsidentin in der Bundesrepublik, die sich genauso stark wie die
einst einen Teil ihres Erfolges zu- Mütter in der Familie engagieren.
schrieb. Die Großkopferten in den Wenn Frauen in der Politik
Parteien müssten sich umschauen, fehlen, liegt das sicherlich mit an
gezielt, aktiv: Ist da noch eine, die den Hinterzimmern, aber es
man zu uns holen, der man mehr liegt auch an den Frauen. Frauen
zutrauen kann? Interessant wäre kommunizieren anders als Män-
auch zu sehen, ob eine Partei ner, sie sagen eher: »Ich kann
klagen würde gegen mehr Frauen- nicht« und erwarten, dass andere
beteiligung: die AfD? Die FDP? sie ermutigen: »Doch, du kannst.«
Knapp 31 Prozent der Abgeord- In der Politik steht dann aber
neten im Deutschen Bundestag nicht die beste Freundin an ihrer
MARKUS HEINE / IMAGO STOCK

sind Frauen, so wenige wie seit Seite, sondern im Zweifel ein


20 Jahren nicht mehr – das ist ein Mann, der sagt: »Dann mach
starkes Argument für Barley. ich es.« So kommt es dazu, dass
Wenn Appelle nicht helfen, das ist viele Frauen gar nicht erst aus-
die Fortführung des Arguments, probieren, wie viel sie erreichen
müssen eben Vorschriften her. Bei könnten, wenn sie selbst die
den Aufsichtsräten ging es ja auch. Entscheidungen fällten.
Plötzlich gab es die qualifizierten Politikerin Merkel, Kolleginnen Natürlich hat die weibliche Zu-
Frauen, von denen es vorher hieß, rückhaltung mit der politischen
sie seien nirgends zu finden. Mehr Praxis zu tun. Viele Frauen sind
gemischte Teams, mehr »Diversität« – das bringt vielleicht ja nicht unpolitisch, sondern sie betreiben jene Art von
nicht gesamtgesellschaftlich den besseren Kapitalismus, aber Politik, die nicht so prestigeträchtig ist, außerhalb der Hie-
den Firmen verschafft es Erfolg, das besagen Studien. Des- rarchien. Sie engagieren sich in der Elternvertretung, kämp-
wegen schwindet inzwischen in der Wirtschaft der Wider- fen für Radwege oder sitzen auf Bäumen im Hambacher
stand. Warum also nicht dasselbe versuchen in der Politik? Forst. Parteipolitik erscheint ihnen oft als Hühnerhof, in
Weil es die Demokratie einschränkte, wenn der Staat dem die Hahnenkämpfe wichtiger sind als die Frage, wer
den Parteien für ihre Wahllisten eine Quote vorschriebe. Es welche Eier legt. Das schreckt viele Frauen ab.
mag gerechtfertigt sein, die Freiheit von Unternehmen Aber niemand muss dem hilflos zusehen. Je mehr Frauen
bei der Auswahl ihres Personals zu beschränken. Aber in Par- sich engagieren, desto rascher wird die politische Kultur
teien geht es um andere Dinge als in der freien Wirtschaft. sich ändern. Und wenn sie sich nicht selbst ins Getümmel
Wenn die Politik einem Unternehmen mehr Gleichbe- begeben wollen, können sie mit kritischem Blick die Hüh-
rechtigung in den Aufsichtsgremien verordnet, hat die Fir- nerhöfe vergleichen, können darauf achten, welche Partei
ma sich daran zu halten, wird aber weiterhin ihre Produkte sich zum Beispiel eine Quote verordnet, können diejenigen,
auf den Markt bringen. Das Produkt einer Partei jedoch ist die für gestrige Gesellschaften stehen, ins Abseits schicken.
das politische Konzept, ist der Gesellschaftsentwurf: Damit Sie können hören, sehen, lesen – und wählen.
stellt sie sich der Konkurrenz. Ein Staatsbürger, eine Staats- Barbara Supp

8 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Meinung So gesehen

Die Verwandlung
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
Wie Melania vom Frauchen zur
Herrscherin wurde
Braune Kassen ● Models sind zarte Geschöpfe, in die
andere etwas hineinträumen dürfen,
Dass den Grünen der dienstaktivitäten des saudischen während sie selbst schweigen müssen.
Umwelt- und Tierschutz Kronprinzen. Gerade kam heraus, dass Melania Trump, Mannequin mit
eine Herzenssache ist, die Partei gleich zwei Spenden über slowenischen Wurzeln, wollte eigent-
wird niemand bestreiten. 130 000 und 150 000 Euro aus dem lich nur reich heiraten und ihre Ruhe,
Viele Bürger wählen sie Ausland erhalten hatte. Zufällig gingen zog dann unfreiwillig ins Weiße Haus
für ihre Glaubwürdigkeit beide auf dem Konto des Kreisver- und spielte First Frauchen. Doch sie
auf diesem Feld. Schwierig bands von Alice Weidel ein. Wer hielt es nicht aus. Sie tat, was man als
wäre es daher, wenn, sagen wir, dahintersteckt, bleibt vorerst offen. Model auf gar keinen Fall tun darf:
bekannt würde, dass die Grünen sich Die Spende aus der Schweiz wurde Sie begann, sich selbst auszudrücken,
von der Atomindustrie sponsern lie- extra in 18 Tranchen von meist 9000 zunächst über Mode. Melania trug
ßen. Oder plötzlich wiesenhofartige Schweizer Franken gestückelt, um eine eine pinke Gucci-Bluse namens »Pus-
Legebatterien im Keller der Partei- transparente Ausweisung zu umgehen. sy Bow«, da war gerade herausge-
zentrale entdeckt würden, als Keimzel- Warum diese illegale Spende aus dem kommen, dass ihr Gatte sich als stol-
le eines Eierhandels zur Aufbesserung Ausland erst nach einigen Monaten zer Zwischen-die-Beine-Grapscher
der Parteifinanzen. und nicht mal vollständig zurückge-
Auch die AfD hatte ein gutes An- zahlt wurde, bleibt Weidels Geheimnis.
liegen, immerhin eines. »Unabding- Dass sie mit dem Geld gegen kritische
bar«, so steht es in ihrem Parteipro- Journalisten vorzugehen versuchte und
gramm, sei »eine restriktive und Kor- sich »Freunde« in den sozialen Netz-
ruption vermeidende Neuordnung der werken kaufte, soll hier nicht das The-
Spendenregelungen«. Die »verdeckte ma sein – obwohl Letzteres schon ver-
Parteienfinanzierung« sei »gänzlich dammt traurig ist. Problematisch ist der
aus dem Ruder gelaufen«. Die AfD sei Gestus moralischer Überlegenheit, mit
»die einzige Partei in Deutschland«, denen Weidel und Co. den »Etablier-
versprach Fraktionschefin Alice Weidel ten« die Leviten lesen und Standards
einst, »die unverbraucht und ohne Ein- einfordern, die sie selbst unterlaufen. geoutet hatte. Unvergesslich auch
fluss von Klientel- und Lobbygruppen Sollte Weidel nicht vor Scham ihren jener Moment, als Donald die Hand
Politik macht«. Wahlkampfunterstüt- Hut nehmen, wäre sie gut beraten, erst seiner Ehefrau ergreifen wollte und
zung müsse transparent sein. Und ihr mal nichts mehr von Transparenz zu Melania sie wegschlug. Doch zur Iko-
Kollege Alexander Gauland garantier- erzählen. Nur wenige Jahre nach ihrer ne der Subversivität wurde die First
te: »Solange ich in der AfD etwas zu Gründung wirkt ihre AfD jedenfalls Lady bei einem Besuch in einem
sagen habe, werden wir kein Geld aus um einiges etablierter als die von ihr Heim für Migrantenkinder: Sie wählte
dem Ausland annehmen.« gern beschimpften Parteien. an diesem Tag eine grüne Jacke mit
Blöd ist nur, dass die Quellen, aus der Aufschrift »Es ist mir echt egal,
denen sich die AfD finanziert, in etwa An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und und dir?« Wollte sie den ganzen
so transparent sind wie die Geheim- Markus Feldenkirchen im Wechsel. Zynismus der Administration ihres
Mannes kreativ zur Schau zu stellen?
Mit solchen Subtilitäten ist jetzt
Kittihawk Schluss. Melania hat ihren Gatten
über ihre Sprecherin öffentlich auf-
gefordert, seine stellvertretende
Sicherheitsberaterin Mira Ricardel
zu entlassen. Die beiden Frauen hat-
ten sich offenbar bei einer Afrika-
reise über die Sitzplatzverteilung im
Flugzeug zerstritten. Donald kam
der Aufforderung binnen 24 Stunden
nach. So gesehen ist Melania nun
in der Liga der Supermodels ange-
kommen. Die haben in ihrem Leben
so viele Wattebäusche und Blicke
geschluckt, dass sie sich in First
Furien verwandeln. Sie schmeißen
mit ihren Handys nach Assistenten
und wollen ständig jemanden feuern.
Und es funktioniert. Nicola Abé

10 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Limits?
Gibt es nicht.

#LifeBeyondOrdinary

Die neuen Miele G 7000


Geschirrspüler

Miele. Immer Besser.


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Deutschland
»Die eiserne Faust kann man auch klug im Samthandschuh verpacken.« ‣ S. 30

KAY NIETFELD / PICTURE-ALLIANCE / DPA


Zetsche im Mai in Berlin

Dieselfahrzeuge

Konzerne wollen schnell nachrüsten


Daimler und VW wollen Einbau von Katalysatoren mit 3000 Euro pro Kunde finanzieren.

G Die Autohersteller Volkswagen und Daimler wollen zügig Eine ähnliche Größenordnung meldet Volkswagen. VW soll mit
ihren Kunden zu Stickoxidkatalysatoren für die Nachrüstung mindestens zwei Anbietern im Kontakt stehen. Die Wolfsburger
älterer Dieselfahrzeuge verhelfen. Der Daimler-Konzern hat erhoffen sich bald Klarheit über die technischen Anforderungen,
Anbieter dieser Technik zu einem Treffen am 29. November ein- die das Verkehrsministerium an die Nachrüstsätze stellen will.
geladen. »Wir möchten unseren Kunden so schnell wie möglich Über Details einer entsprechenden Richtlinie sprachen Beamte
Transparenz darüber verschaffen, welche Hardware-Lösungen von Minister Andreas Scheuer (CSU) an diesem Donnerstag mit
Drittanbieter anbieten werden«, heißt es in dem Schreiben an Experten des TÜV Nord und Nachrüstanbietern. Die Konzerne
die Zulieferbetriebe, das dem SPIEGEL und dem Rechercheteam wollen die Umrüstung pro Kunde mit 3000 Euro finanzieren.
des Bayerischen Rundfunks vorliegt. Das Stuttgarter Unterneh- Scheuer hatte allerdings in der vergangenen Woche nach
men will den Zulieferern alle »Informationen zur Verfügung« einem Spitzentreffen mit Vertretern der Autokonzerne weiter
stellen, die für die Entwicklung geeigneter Anlagen notwendig große Zweifel an Hardware-Lösungen aufkommen lassen. Er gab
sind. Intern hat Daimler-Chef Dieter Zetsche seinen Ingenieuren an, frühestens 2020 könnten erste Nachrüstsätze eingebaut
beschieden: »Ich will die Sache vom Tisch haben.« Dem Bundes- werden. Das wäre allerdings für Autofahrer in jenen Städten zu
verkehrsministerium hat der Konzern mitgeteilt, dass etwa die spät, in denen schon im kommenden Jahr Fahrverbote für Die-
Hälfte aller Mercedes-Modelle mit der Schadstoffnorm Euro 5 sel-Pkw mit Euro 5 eingeführt werden sollen – etwa in Frankfurt,
für eine Ausstattung mit einem SCR-Katalysator infrage komme. Essen oder Stuttgart. GT

Umfragen fone-Instituts hervor, die am kommenden 16 Prozent dieser Aussage zu. Knapp
Mittwoch vorgestellt wird. Das Meinungs- 40 Prozent der Befragten in der Bundes-
Digitalisierungsverlierer forschungsinstitut Ipsos befragte dazu republik klagten über mangelnde Fort-
Deutschland mehr als 9000 Teilnehmer in neun Län- bildungsmöglichkeiten durch den Arbeit-
dern, darunter die USA, Spanien, Italien geber. Ganz anders antworteten die
G Mehr als die Hälfte aller Deutschen und Großbritannien. In keinem der Menschen in Asien: Sowohl in China als
sind der Ansicht, dass die Bundesrepublik befragten Länder schätzten die Menschen auch in Indien gaben drei Viertel der
bei der Digitalisierung international hin- ihr Land im Einsatz digitaler Technolo- Befragten an, regelmäßig einen Teil ihrer
terherhinkt. Das geht aus einer repräsen- gien so rückständig ein wie in Deutsch- Arbeitszeit zum Erlernen digitaler Fähig-
tativen Umfrage im Auftrag des Voda- land. In Schweden etwa stimmten nur keiten nutzen zu dürfen. OLB

12 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Parlamentarier schafter und Anwalt in einem Unterneh-


Unzulässige Werbung men für Absaugtechnik. Auf dessen Web-
site wies Kulitz nicht nur auf sein Mandat
G Mehrere Abgeordnete, die nebenbei als hin, sondern postete Fotos und Videos
Anwälte arbeiten, haben offenbar gegen mit Politprominenten wie Angela Merkel,
Verhaltensregeln des Bundestags versto- Viktor Orbán oder mit dem Papst. Der
ßen. Sie warben auf den Websites ihrer Düsseldorfer Parteienrechtler Martin
Firmen und Kanzleien mit ihren Bundes- Morlok hält dies für unzulässig: »Abge-
tagsmandaten, obwohl dies grundsätzlich ordnete sollen nicht mit ihren politischen
gegen das Hinweisverbot verstößt. Den Einflussmöglichkeiten Werbung machen
Schmu hat das Portal Abgeordneten- können.« Auf Nachfrage von Abgeordne-
watch.de aufgedeckt. Zu den Betroffenen tenwatch.de löschte AfD-Mann Pohl
gehörte demnach der AfD-Politiker Jür- den Hinweis. Meyer und Thies sahen dazu Harder-Kühnel
gen Pohl, der sich als »Volksanwalt« und keinen Anlass: Der Hinweis sei wichtig,
»Mann fürs Grobe« bezeichnet. Auch die weil er zum Lebenslauf gehöre. Beson- Bundestag
Abgeordneten Christoph Meyer (FDP) ders raffiniert reagierte Kulitz: Er strich
und Hans-Jürgen Thies (CDU) verwiesen das Bundestagsmandat von der Liste sei-
Mehrheit für AfD-
auf Kanzleiseiten auf ihr Mandat. Am ner Funktionen. Dass er Sprecher der Kandidatin fraglich
weitesten ging wohl der Ulmer FDP-Par- FDP-Fraktion für Außenwirtschaft ist, ließ
lamentarier Alexander Kulitz, Gesell- er aber auf der Firmenwebsite stehen. SVE G Die AfD wird wohl weiterhin keinen
Bundestagsvizepräsidenten stellen. Die
Union will keine Wahlempfehlung für die
AfD-Kandidatin Mariana Harder-Kühnel
Finanzen wichtig das Konto für viele Menschen aussprechen. Darauf haben sich die Füh-
Pfändungssichere Konten sei, sagt Schick. Umso dringender müsse rungsleute der Fraktion verständigt. SPD
es reformiert werden. Ein von der Bun- und Linke hatten bereits erklärt, dass sie
boomen desregierung in Auftrag gegebener Harder-Kühnel nicht wählen würden,
Evaluationsbericht hatte bereits Anfang auch bei den Grünen wird mit einer
G Immer mehr Menschen versuchen, 2016 Verbesserungsbedarf festgestellt. Ablehnung gerechnet. Die FDP will ihre
das zum Leben notwendige Existenz- Danach müsste etwa das Verfahren zur Haltung in der kommenden Woche fest-
minimum vor potenziellen Gläubigern Erhöhung des geschützten Betrags stan- legen. Damit ist eine Mehrheit für die
in Sicherheit zu bringen: Zum Stichtag dardisiert werden. Wenn Schuldner bei- als vergleichsweise gemäßigt geltende
20. September 2018 existierten in spielsweise unterhaltspflichtig gegen- Juristin aus Hessen unwahrscheinlich. In
Deutschland mehr als 2,5 Millionen über Kindern sind, kann die Freigrenze der Union hieß es, man gestehe der AfD
sogenannte Pfändungsschutzkonten, im von 1134 Euro angehoben werden. Das zwar grundsätzlich das Recht zu, einen
Januar 2015 waren es nur rund 1,8 Mil- BMJ teilt dazu mit, man arbeite noch Vizepräsidenten zu stellen. Es gebe aber
lionen. Prinzipiell hat jeder Deutsche an einem »Diskussionsentwurf« zur eine Reihe von Abgeordneten, die die
das Recht, ein solches Konto einzurich- Umsetzung der im Bericht aufgeworfe- AfD-Kandidatin nicht wählen wollten.
ten, auf dem mindestens 1134 Euro vor nen Fragen. »Zweieinhalb Jahre nach Der ursprüngliche AfD-Kandidat,
Pfändungen geschützt sind. Diese Zah- dem Bericht ist also de facto noch nichts Albrecht Glaser, war zu Beginn der Le-
len teilte das Bundesjustizministerium passiert«, kritisiert Schick. »Das ist gislaturperiode in drei Wahlgängen
(BMJ) dem Grünenabgeordneten Ger- einer dieser Punkte, wo sich CDU, CSU durchgefallen. Er war wegen islamfeind-
hard Schick auf eine schriftliche Anfrage und SPD nicht um die Alltagsprobleme licher Äußerungen von Abgeordneten
hin mit. Der starke Anstieg zeige, wie vieler Menschen kümmern.« ASE anderer Parteien kritisiert worden. RAN

Innovationen destens 150 Milliarden Dollar in die


KI-Experte kritisiert Zukunftstechnologie, was etwa dem
dortigen Leistungsbilanzüberschuss
Strategie der Regierung entspreche – für Deutschland liege die
entsprechende Summe annähernd
G Als »halbherzig« kritisiert einer der beim doppelten Betrag. Skeptisch sieht
führenden Forscher zur künstlichen Schmidhuber, der im Mai beim KI-
Intelligenz (KI) die am Donnerstag vom Gipfel im Kanzleramt als Experte mit
Bundeskabinett verabschiedete KI-Stra- Angela Merkel diskutierte, auch die
tegie. »Die Bundesregierung müsste geplante Verwendung der Mittel. Er
dafür 300 Milliarden Euro in die Hand fürchte, dass sie vorwiegend in »alte
nehmen und nicht wie geplant nur drei«, verkrustete Strukturen« der etablierten
sagt Jürgen Schmidhuber, wissenschaft- KI-Forschung flössen und nicht in
licher Direktor des Schweizer KI-For- »neue KI«, die auf maschinellem Ler-
GUIDO KIRCHNER / DPA

schungsinstituts IDSIA und anerkannte nen und neuronalen Netzen basiert.


Koryphäe seines Fachgebiets. Seine For- »Ich hätte eine Neugründung eines KI-
derung leite er aus dem erklärten Ziel Campus in München oder Berlin für
der deutschen Regierung ab, in Sachen deutlich sinnvoller gehalten«, kritisiert
KI zur Weltspitze aufzuschließen. China Schmidhuber, »um die besten Köpfe
investiere in den nächsten Jahren min- Robotik-Ausstellung in Paderborn aus aller Welt anzulocken.« ROM

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Meinungsforschung
Frieden schaffen
ohne Waffen
G Deutsche sehen in Rüstungsexporten
eine der größten Bedrohungen des
Weltfriedens. In einer Studie des Sinus-
Instituts im Auftrag von Greenpeace
landete die »weltweite Verbreitung von
Waffen durch Waffenexporte« auf dem
dritten Platz der meistgenannten
»Gründe für die Gefährdung des Welt-
friedens«. Häufiger wurden nur der
internationale Terrorismus sowie Kon-
flikte im Nahen und Mittleren Osten
genannt (siehe Grafik). Die Verbreitung
von Atomwaffen, den Klimawandel
EUROLUFTBILD / F1 ONLINE

und das gespannte Verhältnis zwischen


Russland und dem Westen hingegen
halten die mehr als 2000 Befragten
offenbar für weniger bedrohlich. Das
ist bemerkenswert, weil die Daten für
die Onlinestudie im August erhoben
Ehemalige Level-One-Immobilien in Berlin-Neu-Hohenschönhausen wurden, also vor der Tötung des saudi-
arabischen Journalisten Jamal Kha-
shoggi in der Türkei, durch die hierzu-
Immobilien lande die Debatte über Rüstungsexpor-
te noch einmal an Fahrt aufgenommen
Megapleite vor Gericht hatte. Laut Sinus-Institut ist die Studie
repräsentativ für die deutschsprachige
G Eine der größten Immobilienpleiten Insolvenz anmelden (SPIEGEL 25/2009). Wohnbevölkerung im Alter von 16 bis
Ostdeutschlands kommt jetzt, zehn Jah- Nach Auffassung der Wiener Staats- 69 Jahren. HIC
re später, vor Gericht. Ab Montag müs- anwaltschaft, die sieben Jahre lang ermit-
sen sich der in Monaco lebende österrei- telt hatte, diente das Level-One-Kon- Gründe für die Gefährdung des Weltfriedens
chische Immobilienunternehmer Cevdet strukt vor allem der persönlichen Berei- Angaben in Prozent (Mehrfachnennungen möglich)
Caner und fünf Geschäftspartner wegen cherung Caners. Hohe zweistellige
schweren Betrugs, Geldwäsche und Bil- Millionenbeträge seien aus den Immobi- Internationaler Terrorismus 79
dung einer kriminellen Vereinigung vor lienkrediten über Briefkastenfirmen
Spannungen/Konflikte im Nahen und
dem Landesgericht Wien verantworten. etwa auf den britischen Kanalinseln in Mittleren Osten 72
Caner hatte zwischen 2005 und 2008 Caners Privatvermögen geflossen. Seine
über die verschachtelte Firmengruppe Anwälte weisen die Vorwürfe zurück, Weltweite Verbreitung von Waffen
durch Waffenexporte 70
Level One 28 000 Wohnungen und ihr Mandant sei Opfer der Finanzkrise
Gewerbeimmobilien in Deutschland 2008 geworden. Auch in Deutschland
gekauft, vor allem Plattenbauten in Ost- wurde rund um die Pleite ermittelt. Verbreitung von Atomwaffen 68
deutschland. Finanziert wurde fast aus- Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte 2008
schließlich über Kredite, nennenswertes ein Geldwäscheverfahren und 2012 67
Flucht, Migration, Vertreibung
Eigenkapital besaß die Gruppe nicht. Ermittlungen wegen des Verdachts der
2008 war Level One mit mehr als einer Untreue mangels hinreichenden Tatver-
Sinus Markt- und Sozialforschung für Greenpeace
Milliarde Euro verschuldet und musste dachts eingestellt. WAS vom 10. bis 17. August 2018; 2035 Befragte

Prepper trainings oder zu Planungen sicherer Rück- »Thule-Seminar« ein. In der Gruppe »Nord«
Mindestens acht zugsorte, um sich auf Katastrophen oder soll ein Anwalt, gegen den der GBA ermit-
den Beginn des dritten Weltkriegs vorzu- telt, vorgeschlagen haben, den Tag X einer
verdächtige Chatgruppen bereiten. Franco A. ist der Soldat, der sich Katastrophe zu nutzen, um Politiker und
nach Ermittlungen des Generalbundes- Aktivisten aus dem linken Spektrum zu
G Mindestens acht Netzwerke sogenannter anwalts (GBA) als syrischer Flüchtling aus- sammeln und zu töten. Ein Waffenhändler
Prepper innerhalb der Bundeswehr und gegeben und einen Anschlag geplant gab in seiner Vernehmung an, die Gruppe
Sicherheitsbehörden haben sich zu teilwei- haben soll. Er soll Mitglied in mindestens »Süd« verlassen zu haben, nachdem ihn
se rechten Szenarien ausgetauscht. Das einer dieser Gruppen gewesen sein. Vertraute, darunter angeblich ein Ver-
geht aus Vernehmungen im Fall Franco A. Die Gruppen trugen Namen wie »Nord«, fassungsschutzmitarbeiter, gewarnt hätten,
hervor. Im verschlüsselten Messenger- »West«, »Ost«, »Süd« oder »Vier wie gefährlich diese Gruppen seien. Das
dienst Telegram verabredeten sich angeb- Gewinnt«. In einem Chat wurde Adolf Hit- Bundesamt für Verfassungsschutz teilte
lich Elitesoldaten, Polizisten, Waffenhänd- ler als »guter Mensch« bezeichnet, ein mit, dass es sich zu polizeilichen Ermittlun-
ler, Anwälte und sogar Ärzte zu Schieß- Teilnehmer lud zu einem rechtsextremen gen nicht äußere. FIS, KNO, MGB

14 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Deutschland
PHILIPPE WOJAZER / REUTERS

Ampel gegen Merkel


Parteien Frankreichs Präsident Macron will gemeinsam mit Liberalen, Grünen und
Sozialdemokraten in den Europawahlkampf ziehen. Sein Ziel ist es,
den Kandidaten der Kanzlerin für das Amt des Brüsseler Kommissionspräsidenten zu verhindern.

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s ist schon ein paar Monate her, vor die Kameras stellte, dürfte den Franzo-

E dass sich im Europaparlament


zwei sehr unterschiedliche Politi-
ker zum Schlagabtausch trafen:
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron,
sen in seiner Entscheidung bestärkt haben.
Aber auch auf Merkel blickt Macron
längst nicht mehr so wohlwollend wie noch
vor ein paar Monaten. Die Kanzlerin hat
der charismatische Volkstribun, der mit bis heute nur mau auf die visionäre Europa-
einer neuen politischen Graswurzelbewe- rede geantwortet, die der Franzose vor
gung ins Amt kam. Und der CSU-Politiker mehr als einem Jahr an der Universität Sor-
Manfred Weber, der bisher eher farblose bonne hielt. Auch ihre jüngste Chance, ein
Fraktionschef der konservativen Europäi- Auftritt vor dem Europaparlament am ver-
schen Volkspartei (EVP), die als stärkste gangenen Dienstag, ließ Merkel ungenutzt
Kraft in Straßburg seit Langem Anspruch verstreichen. Sie stimmte zwar Macrons
auf die wichtigsten Posten der EU erhebt – Vorschlag für eine europäische Armee zu,
und sie regelmäßig bekommt. allerdings als »Vision«, die nicht jetzt, son-
»Wie können wir uns mit Europawahlen dern bestenfalls »eines Tages« verwirklicht
zufriedengeben, bei denen nicht einmal werden könne. Macrons Pläne für eine Re-
50 Prozent der Bürger ihre Stimme ab- form der Eurozone mit eigenem Haushalt
geben?«, fragte Macron und verwies auf und Finanzminister erwähnte sie gar nicht
seine Erfolge mit der Bewegung »En erst, seine Forderung nach einer Digital-
Marche«. »Wir können nicht weiter so steuer für Internetkonzerne bremste sie
verfahren wie bisher.« aus. Eigene Vorschläge: Fehlanzeige.
Weber dagegen sah keinen Grund, ir- Nun treibt die bevorstehende Abstim-
gendetwas zu verändern. Wie bei der mung in Europa die beiden weiter aus-
Abstimmung vor fünf Jahren sollten die einander. Die Präsidentschaftswahl vor an-
etablierten Parteienfamilien auch diesmal derthalb Jahren hat Macron mit einer
Spitzenkandidaten für das Amt des Kom- linksliberalen Sammlungsbewegung ge-
missionspräsidenten aufstellen, die sich wonnen, die sich gleichermaßen gegen
anschließend im Europäischen Parlament Frankreichs konservative Republikaner
eine Mehrheit suchen. Man müsse da wie gegen den rechtspopulistischen Front
»nichts Neues erfinden«, sagte der Konser- National stellte. Dieses Erfolgsrezept wür-
vative. de Macron gern auf die Europawahlen
Die Redeschlacht gab einen Vorge- übertragen.
schmack auf jene Auseinandersetzung, die Es ist für ihn der erste Stimmungstest seit
im bevorstehenden Europawahlkampf die seinem Amtsantritt, sein Umfeld spricht
beiden mächtigsten Politiker Europas zur von einer »binären Entscheidung«: er und
Konfrontation zwingen wird: Macron und seine Verbündeten, die sogenannten Pro-
Angela Merkel. Die Kanzlerin muss sich gressiven, gegen den illiberalen, europa-
hinter Weber stellen, weil die EVP-Dele- feindlichen Rest. Als Orbán ihn im August
gierten ihn kürzlich mit großer Mehrheit als »Anführer der Migrantenparteien« be-
zu ihrem Spitzenkandidaten gekürt haben. zeichnete, nahm Macron den Fehdehand-
Macron dagegen besiegelte vergangene schuh dankbar auf: »Wenn sie (er meinte
Woche sein Wahlbündnis mit den europäi- Orbán und Italiens Innenminister Matteo
schen Liberalen (ALDE) bei deren Kon- Salvini) in mir ihren Hauptgegner sehen
gress in Madrid. Zudem schwebt ihm ein wollen, dann haben sie damit recht.«
großes Mehrparteienbündnis gegen die Gleichzeitig blies er zum Angriff auf
konservative Elite in Europa vor. Das Ziel: das bestehende Parteiensystem. »Wir
Weber als Kommissionspräsidenten zu glauben nicht mehr an die politische Land-
verhindern und stattdessen einen eigenen schaft, wie sie heute noch im Europäi-
Kandidaten auf den Thron zu heben, die schen Parlament repräsentiert wird«, er-
dänische EU-Wettbewerbskommissarin klärten seine Adjutanten in schöner Re-
Margrethe Vestager zum Beispiel oder den gelmäßigkeit.
niederländischen Sozialdemokraten Frans Daher versucht Macron, ein politisches
Kanzlerin Merkel, Timmermans. Was Macron plant, ist eine Netzwerk zu knüpfen, das vom Konserva-
Präsident Macron im fran- Art Europaampel gegen Merkel. tiven Alain Juppé bis zum Realo-Grünen
zösischen Compiègne* Es gibt viele Gründe, warum sich Frank- Daniel Cohn-Bendit reichen sollte. Mal
Angriff auf das System reichs Präsident zu einer Kampagne gegen reisten Macrons Emissäre nach Rom zum
Europas Konservative entschlossen hat, die Sozialdemokraten Matteo Renzi, mal or-
wichtigsten aber sind: Orbán und Merkel. ganisierten sie eine Podiumsdiskussion in
Kaum etwas hat Macron seit seinem Amts- Madrid mit der liberalen Partei Ciudada-
antritt schärfer verurteilt als den Nationa- nos, deren Vorsitzender Albert Rivera wie
lismus des ungarischen Ministerpräsiden- eine Kopie Macrons wirkt.
ten. Dass Viktor Orbán sich in Helsinki als Doch der Ertrag der Werbeaktion fiel
einer der Ersten mit einem Weber-Poster bescheiden aus, das alte Parteiensystem
erwies sich als erstaunlich resistent. Ma-
* In einem Nachbau des Eisenbahnwaggons, in dem 1918
crons Leute kassierten reihenweise Ab-
der Waffenstillstand zwischen Deutschen und Franzosen sagen, unter anderem von den öster-
unterzeichnet wurde. reichischen Sozialdemokraten und der

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 17


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Deutschland

polnischen PO, der proeuropäischen Par- zwar weiter ab, so der Liberale, »aber in die politische Bedeutungslosigkeit abge-
tei des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk. wenn wir uns auf einen Weg der Co- rutscht ist. Andererseits hat ausgerechnet
Und so hat Macron seine Strategie in- Finanzierung privater Investitionen zur der liberale Ministerpräsident Rutte dem
zwischen geändert. Er plant jetzt eine Art Entwicklung benachteiligter Regionen ver- Sozialdemokraten zugesichert, er könne
Wahlkampf der zwei Geschwindigkeiten: ständigen könnten, wäre das ein denkbarer das Land weiter in Brüssel vertreten. Besser
ein Wahlbündnis mit den liberalen ALDE- Kompromiss«. Auch ein Treffen zwischen kann man den Mann Macron und den Li-
Parteien und, später im Europaparlament, FDP-Chef Lindner und dem französischen beralen im Parlament nicht ans Herz legen.
eine lose Allianz mit Grünen und Sozial- Präsidenten soll es demnächst geben. Zudem hatte Timmermans die Verhand-
demokraten. »Die ALDE ist das Herz der Parallel führen Macrons Leute Gesprä- lungen mit der polnischen Regierung
Koalition, die ›En Marche‹ bauen will«, che mit Grünen und Sozialdemokraten. Da- geführt, bevor die EU-Kommission ein
rief die Macron-Vertraute bei geht es allerdings nicht sogenanntes Rechtsstaatsverfahren gegen
Astrid Panosyan am ver- um ein gemeinsames Pro- Polen eingeleitet hat. Gegen eine EVP, der
gangenen Freitag den De- gramm. Stattdessen würde es viele übel nehmen, Orbán und seine
legierten in Madrid zu. die Stunde der Europa- Fidesz-Partei in ihren Reihen zu dulden,
Die liberale Parteielite ampel erst nach den Euro- wäre er ein glaubwürdiger Kandidat. Das
zeigte sich begeistert, allen pawahlen schlagen, wenn sehen auch die Grünen so.
voran die Vertreter der FDP. es darum geht, eine Koali- Als Favoritin Macrons für den Job an

DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL


»Zwischen ›En Marche‹ und tion gegen EVP-Spitzen- der Kommissionsspitze gilt jedoch Wett-
ALDE gibt es die größten mann Weber zu bilden. bewerbskommissarin Vestager. Mit ihrem
inhaltlichen Schnittmen- »Ich bin sehr für ein Kampf gegen die Tech-Giganten des Sili-
gen«, sagt der stellvertreten- Wahlbündnis zwischen So- con Valley ist die Dänin zum Sinnbild dafür
de Fraktionschef Alexander zialdemokraten, Grünen, Li- geworden, was Macron meint, wenn er von
Graf Lambsdorff. Kein beralen und ›En Marche‹«, einem Europa spricht, das schützt. Vesta-
Wunder: Macron setzt in sagt der ehemalige SPD- ger hat keine Angst, sich mit Apple, Face-
der Wirtschaftspolitik auf Vorsitzende Sigmar Ga- book, Google oder Microsoft anzulegen,
marktliberale Reformen, er Spitzenkandiat Weber briel. »Spätestens nach der das bringt sie auf Augenhöhe zu den USA,
will die Wirtschaft entlas- »Nichts Neues erfinden« Europawahl müssen sich ebenfalls ein Umstand, der Macron wichtig
ten, indem er soziale Errun- die progressiven Kräfte im ist. Wenn Donald Trump über Europas
genschaften infrage stellt. »Die Steuer-, Europaparlament zusammenschließen, da- »tax lady« lästert, ist das für viele Europäer
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik von mit nicht der von Orbán unterstützte Kan- ohnehin wie ein Ritterschlag.
Macron ist den Ideen der FDP sehr nah«, didat EU-Kommissionspräsident wird.« Vestagers Problem ist, dass sie keine
sagt Lambsdorff. Nach den Europawahlen sei das Fenster für Spitzenkandidatin ist und nicht für das
Dabei hatte sich der Präsident noch im neue Koalitionen und Mehrheiten in Brüs- Europaparlament kandidiert, das trägt ihr
vergangenen Jahr kritisch über Deutsch- sel offen, sagt auch Achim Post, Generalse- die Kritik der deutschen Grünen ein. »Wir
lands Freidemokraten geäußert. Im Bun- kretär der europäischen Sozialdemokraten. werden niemanden als Kommissionspräsi-
destagswahlkampf hatte sich die Partei Die Chancen stehen nicht schlecht. In dent unterstützen, der nicht auch als Spit-
gegen Macrons Europläne gestellt, das Deutschland stellen sich die Grünen zu- zenkandidat bei der Europawahl angetre-
Wahlprogramm sah sogar die langfristige nehmend an die Seite der ten ist«, sagt Bütikofer.
Abschaffung des Eurorettungsschirms ESM Union, in Brüssel dagegen Dazu kommt, dass Däne-
vor – eine Forderung, die FDP-Chef Chris- surfen sie auf der linkslibe- marks Regierungschef einer
tian Lindner nun nicht mehr erhebt. ralen Welle. »Es sollte kei- anderen Partei angehört
Hinzu kommt, dass die Liberalen in den nen Kommissionspräsiden- und schon mal klargemacht
Umfragen passabel abschneiden. Während ten von Orbáns Gnaden hat, dass sein Land Vesta-
EVP und Sozialdemokraten mit Verlusten geben«, sagt die europa- ger nach den Europawah-
rechnen müssen, haben die ALDE-Parteien politische Sprecherin der len nicht erneut nach Brüs-
gute Chancen, im nächsten Europa- Grünen im Bundestag, sel zu schicken gedenke.
DOMINIK BUTZMANN / LAIF

parlament drittstärkste Kraft zu werden. Franziska Brantner. Auch Als weiterer Kandidat gilt
Schon jetzt stellen sie im Europäischen der grüne Europaparla- Michel Barnier. Der Franzo-
Rat immerhin acht Regierungschefs. mentarier Reinhard Büti- se gehört zwar zur EVP, hat
Mehrmals traf sich Macron mit den Pre- kofer sieht die Grünen aber als Brexit-Beauftragter
miers der Benelux-Staaten Mark Rutte ganz vorn im europäischen der EU-Kommission über
(Niederlande), Charles Michel (Belgien) Machtpoker: »Es ist gut alle Parteigrenzen hinweg
und Xavier Bettel (Luxemburg). Selbst bei möglich, dass im neuen Eu- FDP-Chef Lindner hohes Ansehen erworben.
Streitthemen gab es Annäherungen, zum ropaparlament eine Mehr- Begeistert von Macron Am Sonntag besucht der
Beispiel bei der Frage eines eigenen Haus- heit ohne die Grünen nicht französische Präsident Ber-
halts für die Eurozone, den vor allem die möglich ist; dies werden wir nach der Wahl lin. Im Bundestag wird er zum Volkstrauer-
VVD-Partei des Niederländers Rutte und auszunutzen wissen.« tag sprechen, im Kanzleramt Angela Merkel
die FDP ablehnen. Dass sie Weber verhindern wollen, darin treffen. Es geht um die üblichen Themen,
Um einen Kompromiss zu finden, wur- sind sich die Ampelparteien und Macron den Brexit, die Euroreform, die vielen au-
de eine Arbeitsgruppe gegründet. Macron weitgehend einig. Schwieriger wird es bei ßenpolitischen Konflikte vom Nahen Osten
entsandte seinen Europaberater Clément der Frage, auf welchen Alternativkandida- bis zum Mali-Einsatz. Ob Macron auch die
Beaune in die Gespräche, die FDP wurde ten sie sich einigen könnten. Für die Sozial- Personalie Weber anspricht? Denkbar. Si-
vom rheinland-pfälzischen Wirtschafts- demokraten tritt Frans Timmermans als cher ist nur: Einen Kompromiss wird es in
minister Volker Wissing vertreten. »Inhalt- Spitzenkandidat an, er ist derzeit Erster der Frage vorerst nicht geben.
lich sind wir mit La République en marche Vizepräsident der EU-Kommission. Der Julia Amalia Heyer, Peter Müller,
auf einem guten Weg«, sagt Wissing. Einen Niederländer hat zwar das Problem, dass Christoph Schult
reinen Eurozonen-Etat lehne die Partei seine Heimatpartei inzwischen weitgehend

18 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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SPIEGEL: Angela Merkel hat keine große


Idee von Europa entwickelt. Würden Sie
von einem Nachfolger oder einer Nachfol-
gerin erwarten, dass sich das ändert?
Laschet: Die Kanzlerschaft von Angela
Merkel war wesentlich geprägt durch drei
weltweite Krisen, die Finanzkrise, die
europäische Schuldenkrise und die Flücht-
lingskrise. Wir sind nun in einer Phase, in
der es darum geht, Entwicklungen, die ge-
MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL

rade erst beginnen, mit einer eigenen Idee


zu steuern. Und deshalb muss es in den
nächsten Jahren eine neue Art der Kanz-
lerschaft geben. Deutschland muss Takt-
geber, ein Inkubator für das neue Europa
sein.
SPIEGEL: Der oder die neue CDU-Vorsit-
zende hat gute Chancen, ins Kanzleramt
einzuziehen. Wem würden Sie das von

»Zu viel Zeit verloren« den drei Kandidaten für den Parteivorsitz
am ehesten zutrauen?
Laschet: Ich werde jetzt keine Kopfnoten
verteilen.
CDU Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident SPIEGEL: Dann versuchen wir es einmal
Armin Laschet, 57, über die Fehler Angela Merkels in der anders: Annegret Kramp-Karrenbauer
war Ministerpräsidentin eines Bundeslan-
Europapolitik und seine Ambitionen auf das Kanzleramt des, das weniger Einwohner hat als Köln.
Friedrich Merz war zweieinhalb Jahren
SPIEGEL: Herr Laschet, Sie waren in dieser sind etwa die Vorschläge von Macron für Fraktionschef und hat sonst keine Füh-
Woche zum Mittagessen beim französi- ein Eurozonenbudget. rungserfahrung in der Politik. Jens Spahn
schen Präsidenten Emmanuel Macron in SPIEGEL: Uns interessiert die Frage, ob ist noch nicht mal ein Jahr lang Gesund-
Paris. Verstehen Sie seine Verärgerung jemand als Chef der CDU geeignet ist, heitsminister. Ist das für eine Partei mit
über die deutsche Europapolitik? der sich von einer Unterschrift distanziert, dem Anspruch und der Geschichte der
Laschet: Ja, in vollem Umfang. Wir stehen die er wenige Wochen zuvor selbst geleis- CDU nicht ein bisschen wenig?
vor einer Europawahl, bei der möglicher- tet hat. Laschet: In dieser Logik hätte Konrad
weise die Populisten von links und rechts Laschet: Friedrich Merz hat sich gegen- Adenauer nie CDU-Vorsitzender werden
große Erfolge feiern werden. Dem kann über unserem Landesvorstand dezidiert dürfen. Der war vorher Oberbürgermeis-
man nur begegnen, wenn man zeigt, dass zu diesem Beitrag bekannt. Ich kenne ihn ter von Köln.
Europa handlungsfähig und entscheidungs- als engagierten Proeuropäer, der in glo- SPIEGEL: Als Sie den Verzicht auf Ihre
freudig ist. Dabei kommt es vor allem auf balen Dimensionen denkt und der weiß, Kandidatur für den Parteivorsitz erklärt
Deutschland und Frankreich an. Die deut- warum Europa jetzt wichtig ist. Deshalb haben, da klang es so, als würden Sie unter
sche Politik ist zu zögerlich. habe ich ihn auch zum Brexit-Beauftragten bestimmten Umständen darüber nachden-
SPIEGEL: Was meinen Sie konkret? der Landesregierung gemacht. ken, als Kanzlerkandidat anzutreten.
Laschet: Nehmen Sie die Digitalsteuer. SPIEGEL: Diese europäische Arbeitslosen- Laschet: Es war klar formuliert.
Auf der Kabinettsklausur in Meseberg ha- versicherung steht ja in diesem Aufruf Pars SPIEGEL: Was für Umstände müssten das
ben Deutschland und Frankreich verein- pro Toto für mehr Solidarität und mehr sein?
bart, bis Ende 2018 eine faire Besteuerung Transferleistungen. Ist es wirklich das, was Laschet: Die CDU hatte immer die Tradi-
der digitalen Wirtschaft in der EU herbei- Europa braucht? tion, dass Parteivorsitz und Kanzlerschaft
zuführen. Und bis Ende 2018 heißt bis Laschet: Es ist schon schlimm, dass Soli- in einer Hand waren. Das soll jetzt erklär-
Ende 2018. Der Bundesfinanzminister darität offenbar ein diskreditiertes Wort termaßen anders sein. Der oder die neue
spielt aber auf Zeit. Es ist gut, dass die zu sein scheint. Sie ist fester Teil unserer Vorsitzende muss sehr viel Energie in die
Kanzlerin nun angekündigt hat, dass bis Werteordnung! Die ganze Europäische Große Koalition investieren. Als Regie-
Dezember ein Vorschlag kommen soll. Union besteht mit ihren Kohäsionsfonds rungschef eines großen Landes in einer
Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren aus Leistungen der Stärkeren für die eigenständigen Koalition will ich die er-
beim Kampf gegen Steuervermeidung von Schwächeren. Es ist unsere Aufgabe, den folgreiche Zusammenarbeit mit der FDP
multinationalen Konzernen. Zusammenhalt in einer globalisiert agie- nicht durch dieses Parteiamt gefährden.
SPIEGEL: Ihr Parteifreund Friedrich Merz renden Welt wieder zu stärken. Wir sind uns aber in der NRW-CDU einig,
gehört zu den Erstunterzeichnern eines SPIEGEL: Mit mehr Geld aus Deutsch- dass neue Situationen neu bewertet wer-
flammenden Aufrufs für mehr Europa, in land? den müssen.
dem unter anderem eine europäische Ar- Laschet: Ja. Wir werden mehr bezahlen Interview: Ralf Neukirch, René Pfister
beitslosenversicherung gefordert wird. Seit müssen, wenn die Briten rausgehen. Es
Merz sich um die Nachfolge von Angela nützt übrigens gerade Deutschland, wenn
Merkel bewirbt, will er davon nichts mehr die Kohäsionsfonds bleiben, wenn noch Video
Die Karriere von Armin
wissen. mehr in Innovation, Forschung, in künst- Laschet im Zeitraffer
Laschet: Europa steht vor viel drücken- liche Intelligenz investiert wird. Wir müss- spiegel.de/sp472018laschet
deren Fragen, die jetzt die nächsten Mo- ten begeisterter und nicht buchhalterisch oder in der App DER SPIEGEL
nate beantwortet werden müssen. Das über Europa reden.

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Festlicher Sound für den


großen Tag: „Alexa, spiel
Weihnachtslieder“

Der neue Echo Dot:


klein, smart und genial!
Darüber freuen sich alle: Amazons neuer Lautsprecher macht unser Leben so
einfach wie noch nie – und revolutioniert das Musikhören!

Sein Design ist unauffällig-elegant, auf Leben sein kann, wenn man für die Er- musik in klarem, kraftvollem Rundum-
unserem Handteller findet er spielend füllung seiner Wünsche keinen Finger klang.
leicht Platz – und er erfüllt unsere Wün- rühren muss. Der Satz „Alexa, spiel Weil er auf das volle Programm von
sche aufs Wort genau: Amazons smarter Weihnachtslieder“ funktioniert bei der Diensten wie Amazon Music, Spotify
Lautsprecher Echo Dot sorgt mit seiner Musikauswahl ebenso zuverlässig wie
integrierten Sprachsteuerung Alexa „Alexa, spiel Musik zum Kuscheln“.
vom morgendlichen Wecken bis zum Genauso selbstverständlich reagiert der
Stilvoll, funktional
Schließen der Rollläden am Abend für ein Echo Dot, wenn nach bestimmten Songs und herrlich
überwältigendes Plus an Lebensquali- oder Interpreten gefragt wird: „Alexa, komfortabel
tät! spiel ‚Let It Snow‘ von Frank Sinatra.“
In erster Linie ist der Echo Dot natür- Oder auch: „Alexa, was gibt es für be- und TuneIn zugreifen kann, bietet der
lich ein Lautsprecher. Und schon da liebte Songs von Max Giesinger?“ Kaum Echo Dot ein nahezu grenzenloses Mu-
zeigt sich eindrucksvoll, wie leicht das ausgesprochen, erklingt die Lieblings- sikangebot. Zusätzlich sind Tausende
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DER SONG FÜRS FES TLICHE DER SENDER FÜR DIE


DEKORIEREN VORFREUDE
Ł;-ķvrb;"b;m| b]_|
 om „Alexa, starte
Aretha Franklin“ Weihnachtsradio“

DIE LIEDER FÜRS BACKEN


MIT KINDERN
Ł;-ķvrb;m
7;u);b_m-1_|v0 1h;u;b
ľ

deutsche und internationale Radiosen- möchte, kann diese mühelos über Blue-
der per Sprachbefehl ansteuerbar, tooth oder Kabel mit dem Echo Dot ver-
ebenso die Hörbuch-Plattform Audible. binden.
Selbstverständlich lässt sich über den Doch selbst damit enden die Möglich-
Echo Dot auch die eigene Mediathek auf keiten des Echo Dot noch nicht. Über
seine Sprachsteuerung lassen sich Tau-
Mit seinen vielen sende praktische Skills aktivieren: zum
Regulieren von kompatiblen Lampen
Talenten ist der
und Thermostaten, um Nachrichten
Echo Dot das perfekte oder den Wetterbericht einzuholen, ein
Geschenk für die Taxi zu bestellen, die perfekten Kekse
ganze Familie zu backen oder einfach nur Oma und
Opa anzurufen ... Alles auf Zuruf und
dem Smartphone oder anderen Geräten ohne einen Finger zu rühren. So viel- Liebe Oma,
abspielen. Und wer seine Musik zwar seitig war die Leichtigkeit des Seins damit du deine tollen Bücher jederzeit
mit Sprachbefehlen steuern, aber lieber noch nie! hören kannst! Deine Eli

über die vertraute Hi-Fi-Anlage hören Mehr Infos unter: amazon.de/echodot


Liebe Clara,
hör dir an, was du willst. Aber wenn’s
geht, immer nur dort, wo ich gerade
nicht bin. Dein Papa

Lieber Paul,
mit dem Echo Dot kannst du mich ganz
einfach anrufen. Ich freue mich schon!
Deine Tante Theda

Libe Mama,
den nechsten kuchen baken ich
und du und chefkoch.de zusamen, ja?
In drei edlen Farb - Küschen deine kleine Maus!!!!!!!
varianten erhältlich:
der handtellergroße
Echo Dot
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Deutschland

»Eine riesen Summe«


AfD Im Spendenskandal führen Spuren nach Hamburg und zu einem niederländischen Pensionär,
der »die europäische Identität« erforschen will. Parteivorsitzender Alexander
Gauland hielt Fraktionschefin Alice Weidel offenbar einen »schweren Loyalitätsbruch« vor.

B
rigitte Hinger kennt sich aus mit halte er an der geschwächten Kollegin fest, ressen im Vorstand der parteinahen Eras-
Naturheilverfahren und Yoga. heißt es aus Vorstandskreisen. mus-Stiftung und hat sich in der AfD den
Den Besuchern ihrer Internetsei- Für die Partei ist die Spendenaffäre eine Ruf als mächtiger Strippenzieher erwor-
te präsentiert sich die Yogalehre- Katastrophe. Rassistische Ausfälle oder ben. Hausberger weiß, wie Parteien an
rin aus Markdorf am Bodensee in der Pose Tabubrüche ihrer Funktionäre schaden der Geld kommen, er unterstützte bereits in
des »Baums«: auf einem Bein stehend, die AfD kaum. Viele Anhänger erfreuen sich den Neunzigerjahren die rechtsextremen
Hände über dem Kopf zusammengeführt. am politischen Krawall. Auch ein fragwür- Republikaner bei dem Versuch, eine par-
Hingers Angebot reicht von Ohr- diger Unterstützerverein, dessen anonyme teinahe Stiftung zu gründen. In den ver-
Akupunktur bis zu Entgiftungsprogram- Gönner Millionen für Plakate und Zeitun- gangenen Tagen stellte er sich vor Weidel,
men. Motto: »Die Natur heilt Körper und gen mit AfD-Propaganda ausgeben, hat sie treffe keine Schuld.
Geist.« dem Image der Partei bei ihren Wählern Die Staatsanwaltschaft Konstanz ist sich
Doch die 56-Jährige hat noch ein ande- bislang nicht geschadet. da nicht so sicher – und will gegen Weidel
res Arbeitsgebiet, in dem sie sich weniger Die dubiosen Spenden aber widerlegen wegen des Verstoßes gegen das Parteien-
gut auskennt: Hinger ist Schatzmeisterin den Anspruch der AfD, eine frische, unbe- gesetz ermitteln.
des AfD-Kreisverbands Bodensee. Seit stechliche Kraft jenseits des »Systems« der In der Affäre geht es um zwei große Fi-
Sommer 2017 liefen durch ihre Hände »Kartellparteien« zu sein. In ihrem Grund- nanzströme, die durch Recherchen des
zwei Großspenden von insgesamt fast satzprogramm heißt es: »Unabdingbar ist Netzwerks von WDR, NDR und »Süd-
300 000 Euro, die größte Summe, die je auch eine restriktive und Korruption ver- deutscher Zeitung« publik geworden sind.
eine AfD-Gliederung eingenommen hat. meidende Neuordnung der Spendenre- Die eine Spur führt in die Schweiz, die an-
Zumindest die erste Spende war direkt gelungen.« Überhaupt solle »deutschen dere in die Niederlande.
für Alice Weidel gedacht, Spitzenkandida- Parteien … die Annahme von Firmen- Alles begann mit der Schweizer Spende,
tin im Bundestagswahlkampf und heute Spenden verboten werden«. Nun steckt die Kreisschatzmeisterin Hinger im
AfD-Fraktionschefin. Doch weil die Spen- ausgerechnet die Frontfrau der selbst er- Sommer 2017 auf dem Kreisverbandskon-
den aus dem Ausland über Strohmänner nannten Alternative in einem Finanzskan- to entdeckte. Plötzlich gingen Gutschrif-
eingingen und womöglich gegen Melde- dal der ganz alten Schule. ten der Schweizer Firma PWS Pharma-
regeln verstießen, drohen der AfD Hun- Wer den Ursprung der Affäre sucht, WholeSale International AG ein, ins-
derttausende Euro Strafzahlungen. Und stößt auf ein Netzwerk von Weidel-Ver- gesamt rund 130 000 Euro, gestückelt in
schon jetzt bringt das Chaos im Kreisver- trauten. Im AfD-Kreis Bodensee hat die 18 Tranchen. Überweisungszweck: »Wahl-
band Bodensee das Machtgefüge der Par- Fraktionschefin eine kleine, schlagkräftige kampfspende Alice Weidel Socialme-
tei aus den Fugen. Machtbasis, die sich vor der Wahl intensiv dia« – eine ungewöhnlich präzise Vorga-
Für Weidel, die auch im AfD-Bundes- bemüht haben dürfte, ihre Kandidatin fi- be. Den Social-Media-Wahlkampf der
vorstand sitzt, könnte die Affäre das Ende nanziell weich zu betten. AfD verantwortete damals die amerika-
ihrer steilen Karriere bedeuten. In der Par- Der Kreisverband Bodensee ist quasi nische Agentur Harris Media. Sie ist bes-
teispitze verlor sie in den vergangenen Ta- eine Familienangelegenheit, hier sitzen ne- tens verdrahtet in höchste republikanische
gen einen wichtigen Verbündeten: Alexan- ben der Yogalehrerin und Schatzmeisterin Kreise in den USA.
der Gauland, Parteivorsitzender und Wei- Hinger nicht nur Weidel, sondern auch ihr Als die ersten Tranchen aus Zürich ein-
dels Co-Fraktionschef, soll empört sein Vater Gerhard und ein guter Freund der gingen, wandte Hinger sich an Landes-
über ihren Kurs der scheibchenweisen Auf- Weidels namens Hans Hausberger. Der 62- schatzmeister Frank Kral. »Ein Gönner
klärung. Nur noch aus taktischen Gründen jährige Österreicher vertritt Weidels Inte- aus der Schweiz unterstützt Alice wöchent-

Wahlkampfspende für »Alice Weidel«


Internetwahlkampf
Schweizer Spende von rund 130000 € z. B. Facebook-Likes
Pharmafirma zwischen Juli und September 2017 in 18 Einzelraten
PWS
an den AfD-Kreisverband Bodensee
mit namentlicher Nennung von Alice Weidel

Rücküberweisung Medienanwalt
von rund 122000 € im April 2018 bekommt Kosten erstattet, um
gegen Journalisten vorzugehen

§ Drohende Strafe 390000 €: Weiterleitung an den Bundestagspräsidenten wurde versäumt, Annahme von Spenden aus dem Nicht-EU-Ausland grundsätzlich nicht erlaubt

22
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

ter Kral: »Bitte seien Sie so gut und


setzen sich morgen früh direkt mit
Frau Hinger in Verbindung. Sie hat
wichtige Fragen zeitnah zu klären.«
Kurz vorher hatte auch die
Schatzmeisterin Kral angemailt und
hilflos ihre Fragen zum Parteien-
recht aufgelistet, »die ich mir selber
nicht beantworten kann«. Die bei-
den Kassenhüter telefonierten, aber
es dauerte weitere drei Monate, bis
das Geld im April 2018 zurückfloss.
Doch offenbar nicht komplett:
Bis heute blieben rund 8000 Euro
bei der AfD. Das Geld will die Par-
tei nun der Bundestagsverwaltung
übergeben. Die Blamage für die
AfD ist perfekt.
Bis Redaktionsschluss waren die
Spender noch nicht enttarnt. Be-
kannt ist nur, dass die Spur der offi-
ziellen Spenderfirma PWS in ein
dubioses Milieu führt. Die Firma
mit Sitz in Zürich handelte zuletzt
mit pharmazeutischen Produkten,
unter anderem dem Naturheilmittel
Regulat, das den »oxidativen
Stress« reduzieren soll.
PWS-Chef Kurt Häfliger wurde
vor einigen Jahren in erster Instanz

METODI POPOW / IMAGO/


wegen Misswirtschaft zu einer Frei-
heitsstrafe auf Bewährung verur-
teilt. Häfliger hatte eine der ersten
Versandapotheken der Schweiz mit
in den Konkurs manövriert. Das
Abgeordnete Weidel: »Ein Gönner aus der Schweiz unterstützt Alice« Gericht verpflichtete ihn und zwei
Mitstreiter, zehn Millionen Fran-
ken Schadensersatz zu zahlen.
lich mit mehreren tausend CHF«, mailte eingenommen – es dürfte ein AfD-Rekord Häfliger lässt ausrichten, er habe die
sie am 10. August um 10.24 Uhr. »Was ist gewesen sein. Kral war beeindruckt: »Das AfD-Spende nur »treuhänderisch für ei-
dabei zu beachten? Muss ich diese Beträge ist ja eine riesen Summe. Ich gehe davon nen Geschäftsfreund« überwiesen, sie
irgendwo melden oder bekannt geben?« aus, das ist der Kandidatur von Frau Dr. stamme also gar nicht von PWS selbst.
Den gelernten Bankkaufmann Kral, der Weidel geschuldet.« Den Namen des Geschäftsfreunds bleibt
seit 35 Jahren im Finanzbereich tätig ist, Ob Schatzmeisterin Hinger etwas über er schuldig.
hätte die Schweiz-Verbindung alarmieren die Identität von Weidels Schweizer Gön- Am PWS-Sitz betreibt Häfliger noch
müssen: Spenden aus dem Ausland sind ner wusste, ist unklar. Auf Anfragen rea- eine andere Firma, die Union Investment
grundsätzlich illegal, sofern der Gönner gierte sie nicht. Privée AG. Mit der großen genossenschaft-
kein Deutscher oder EU-Bürger ist. Doch Kral erklärte diese Woche dem Landes- lichen Finanzgruppe gleichen Namens in
Kral fragte Hinger drei Tage später nach vorstand, Hinger habe ihm am Telefon sig- Deutschland hat sie nichts zu tun, dafür
anderen Dingen, ob etwa das Geld »direkt nalisiert, sie kenne den Spender. »Ich er- ist Häfligers Geschäftspartner ein Deut-
an Frau Dr. Weidel« gegangen sei oder an klärte ihr, dass sie die Spenden aus der scher: Erhard Mindermann, gemeldet in
den Kreisverband. »Wenn die Beträge Schweiz nur annehmen darf, wenn ein Hamburg-Hohenfelde, im dritten Stock
über das KV-Konto laufen, sind es ganz deutscher Staatsbürger dahinter steht«, eines Bürogebäudes.
normale Spenden«, schrieb er – offenbar mailte Kral an seine Parteifreunde. »Dies Am vergangenen Dienstag öffnet er
eine Fehleinschätzung. hat sie mir bestätigt.« dem SPIEGEL die Tür, ein kleiner Mann,
Weidels Leute nutzten das Geld, als sei Wie viel wusste Weidel von diesen Vor- 61 Jahre alt, Dreitagebart. Mindermann
es fest eingeplant gewesen. Sie bezahlten gängen? Sie behauptet, im September behauptet hartnäckig, er sei nicht der deut-
eine Anwaltskanzlei für Medienrecht, die 2017 am Rande einer Wahlkampfveran- sche Staatsbürger, für den Häfliger das
juristisch gegen kritische Journalisten vor- staltung auf die Großspende hingewiesen Geld überwiesen habe. Wer sonst gespen-
ging. Geld floss auch an einen Social-Me- worden zu sein. Danach habe sie darauf det habe? Das wisse er leider nicht. Zwar
dia-Experten, der für Weidel Werbung auf vertraut, dass die Kollegen vor Ort die Zu- spreche er täglich mit seinem Geschäfts-
Facebook kaufte. Außerdem wurden die wendung schon prüfen würden. partner Häfliger. Aber wenn der seine Kun-
Kosten eines Wahlkampfvideos für Weidel Tatsächlich war ihr die Gabe aus der den geheim halten wolle, dann müsse er
beglichen. Schweiz spätestens zu Jahresbeginn 2018 das respektieren. »Häfliger hat wohl nicht
Im November machte Hinger Kassen- nicht mehr geheuer, sie schaltete sich noch gewusst, in was er da hineingeraten ist.«
sturz und meldete Kral, der Kreisverband einmal persönlich ein: Am 21. Januar um Auch Mindermann ist justizbekannt,
habe insgesamt 139 071,33 Euro Spenden 19.27 Uhr schrieb sie an Landesschatzmeis- erst kürzlich klagte die Staatsanwaltschaft

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 23


РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Deutschland

Hamburg ihn an, ausgerechnet wegen nicht erst Monate später. Doch die Mail
SPIEGEL GESCHICHTE Geldwäsche. Mindermann soll aus Belgien von Malcomeß verdeutlicht, wie schlam-
SONNTAG, 18. 11., 20.15 – 21.00 UHR | SKY zwei Überweisungen über mehr als 41 000 pig die Partei ihre Gabe prüfte: Die Stif-
Euro erhalten haben, die er – abzüglich tung hat ihren Sitz gar nicht in Belgien,
Magda Goebbels – einer kleinen Provision für sich selbst – sondern in den Niederlanden, genauer ge-
Hitlers First Lady weitergeleitet haben soll. Es war ein klas- sagt im südholländischen Leidschendam-
sischer Strohmannfall, so wie auch Häfli- Voorburg – ein peinlicher Fehler.
SANDAU / ULLSTEIN BILD / GETTY IMAGES

ger für die AfD-Spende den Strohmann Laut Stiftungsstatut wurde sie am 3. De-
spielte. Die Geschäftspartner scheinen zember 2015 in Den Haag gegründet, von
vom Fach zu sein. Das Verfahren wurde dem heute 68-jährigen Pensionär Floris
letztlich gegen Zahlung einer Geldauflage Marinus Berkhout. Offensichtlich legt die
eingestellt. Darauf angesprochen, sagt Organisation, die sich der »Erforschung
Mindermann, er habe damals alles be- der europäischen Identität« widmet, kei-
reinigt. nen gesteigerten Wert auf Öffentlichkeit.
In der AfD-Führung regiert Entsetzen Nach außen tritt sie lediglich in Form einer
über die Skandalspenden. In der Fraktion spärlichen Homepage auf.
Familie Goebbels 1942 hat Weidel mit ihrem herrischen Führungs- Und auch ihr Gründer Berkhout gibt
stil ohnehin viel Sympathie verspielt. Das sich wortkarg: Ja, es habe eine Spende an
Am 1. Mai 1945 vergiftet Magda gilt auch für den Konflikt um die AfD-Par- die deutsche AfD gegeben, räumte er am
Goebbels im Führerbunker ihre teistiftung: Im Bundesvorstand und hinter Donnerstag am Telefon ein, aber das Geld
sechs Kinder. Danach begehen sie den Parteikulissen kämpfte Weidel im sei wieder zurückgekommen.
und Joseph Goebbels Selbstmord. Sommer unerbittlich für ihr Wunschmo- Aus welcher Quelle stammten die
Mit seltenem Archivmaterial und dell mit ihrem Vertrauten Hausberger. Am 150 000 Euro? »Von der Stiftung.« Und
Interviews mit Experten zeichnet Ende setzte sich die Desiderius-Erasmus- wer gab das Geld der Stiftung? »Ich bin
Antoine Vitkine das Leben der First Stiftung durch – doch es bleiben Verlet- nicht willens, das öffentlich zu machen. Es
Lady des »Dritten Reichs« nach. zungen bei den Unterlegenen, die Weidel ist eine private Stiftung. Wir wollen sie pri-
seither nicht zu lindern versuchte. Der vat halten.«
rechte Parteiflügel hat ihr ohnehin nicht Kam die Spende von Geldgebern in
SPIEGEL TV verziehen, dass sie einst die treibende Deutschland? »Nein.« Weitere Auskünfte
MONTAG, 19. 11., 23.25 – 24.00 UHR | RTL Kraft hinter dem Ausschlussverfahren ge- über die Finanziers werde er nicht geben.
gen Björn Höcke war. Diese Information ist womöglich ge-
Bürgerinitiative gegen kriminelle In der Partei hatte Weidel als lesbische fährlich für die AfD: Das Parteiengesetz
Familie – Seit Jahrzehnten terrori- Frau nie viele Unterstützer. Doch sie verbietet nämlich illegale sogenannte
siert eine libanesische Familie die brauchte sie auch nicht, da Parteichef Gau- Strohmannspenden, bei denen die Identi-
Nachbarschaft, prügelt sich sogar mit land zu ihr hielt. Die Spendenaffäre hat tät der Gönner verschleiert wird.
der Polizei. Jetzt stehen Ramadan S. ihr Verhältnis nun unwiderbringlich zer- Nur so viel will Berkhout verraten: Es
und seine Geschwister wieder ein- rüttet. Aus der AfD heißt es, Gauland habe gebe nicht die geringste Verbindung zu
mal vor Gericht und pöbeln auf Teu- Weidel angeschrien, als Dritte ihn über die der Schweizer Spendenfirma PWS. Und
zweite Großspende informierten, die die Überweisung aus dem Februar sei
Weidel ihm verschwiegen habe. »Zutiefst die »erste und einzige« Spende seiner Stif-
schäbig« sei ihr Verhalten, soll Gauland tung an die AfD gewesen. Die Frage, ob
getobt haben, das sei ein »schwerer Loya- er persönlich Kontakt zu Weidel oder ih-
litätsbruch«. Zeitweise soll es sogar Ge- rer Partei hatte, verneint Berkhout: Es
dankenspiele in der Parteispitze gegeben habe »andere Leute« gegeben, die »invol-
haben, Weidel aufzufordern, ihre Ämter viert« gewesen seien. Im Übrigen habe
SPIEGEL TV

bis zur Klärung des Falls ruhen zu lassen. die Stiftung ihre Aktivitäten Anfang Ok-
Was Weidel bislang rettete: Es gibt für tober wieder beendet. Nach kaum drei
Angeklagter Ramadan S. sie keinen einfachen Ersatz. Mit ihrem Jahren Existenz.
Sturz bräche ein Lagerkampf aus. Weidels Spender, so scheint es, arbeiten
fel komm raus; Exklusiv – Moham- Die zweite Spende meldete AfD-Bun- nach dem Prinzip der russischen Matrjosch-
med Haydar Zammar, der Pate des desgeschäftsführer Hans-Holger Malco- kapuppe: Hinter Schweizer Firmen verber-
globalen Dschihad, im Interview meß der Bundestagsverwaltung am Diens- gen sich ominöse Geschäftsfreunde, hinter
über die Hamburger Terrorzelle, sei- tagabend um 22.28 Uhr per Mail. 150 000 niederländischen Stiftungen anonyme
ne Zeit beim IS und darüber, warum Euro seien am 13. Februar 2018 auf dem Gönner. Fest steht nur, dass die AfD-Spen-
er nach Deutschland zurückwill. Konto von Weidels Kreisverband einge- der wohlhabend sind.
gangen – diesmal nicht in Tranchen zer- Deshalb rächt sich nun ein Satz von Wei-
teilt, sondern in einem Stück. del aus dem Bundestagswahlkampf. Auf
ZDFZEIT Absender sei anscheinend eine »belgi- Twitter ermunterte sie am 21. September
DIENSTAG, 20. 11., 20.15 – 21.00 UHR | ZDF sche Stiftung« namens »Stichting Identiteit ihre Anhänger, der AfD finanzielle Unter-
Europa«, schrieb die AfD. Da der Kreis- stützung zu geben: »Im Gegensatz zu an-
Türken und Deutsche – Der verband jedoch weder die »Spenderiden- dern Parteien haben wir keine Großspen-
große Nachbarschaftstest tität noch die Spendermotivation« habe der.« Es war genau in diesen Tagen, als
Seit mehr als 60 Jahren leben Deut- feststellen können, sei das Geld knapp drei Weidel angeblich von der Schweiz-Spende
sche und Türken hierzulande Tür an Monate später zurückgegeben worden. erfahren hatte.
Tür. Doch in letzter Zeit knirscht es Eigentlich müssen Parteien Spenden Melanie Amann, Laura Backes,
öfter zwischen den ungleichen Nach- von mehr als 50 000 Euro unverzüglich Sven Becker, Sven Röbel
barn. Woran hakt es im Alltag? der Bundestagsverwaltung melden und

24 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Deutschland

dem Schreiben. Stattdessen fliegt er durch

Letztes Solo die Welt und tritt im Fernsehen auf, wid-


met sich der Frage, ob seine Partei noch
zu retten ist, und grübelt darüber, welche
Rolle er dabei spielen könnte.
Karrieren Martin Schulz, gescheiterter SPD-Kanzlerkandidat, hofft Im Moment hat er praktisch nichts, kein
auf ein Comeback. Eine absurde Vorstellung – oder etwa nicht? Amt, keinen Wahlkreis, keinen Apparat.
Schulz, die Ich-AG. Als Abgeordneter
ist er schwer unterfordert, aber aufhören
will er nicht. In der SPD ist es ein offenes
Geheimnis, dass er noch etwas vorhat in
der Bundespolitik. Minister, Fraktions-
chef, was auch immer. Es ist sein letztes
Solo.
Wie bitte? Dieser Schulz? Die Vorstel-
lung, der Ex-Kanzlerkandidat könnte nach
seinem Aus politisch noch einmal wieder-
belebt werden, erschien bis dato absurd.
Die Eseleien im Wahlkampf, die vorschnel-
le Absage der Großen Koalition, seine ge-
scheiterte Operation Außenminister: Nie-
mand in der Partei schien sich nach ihm
zu sehnen. Dass er trotzdem vom Wieder-
aufstieg träumte, ließ ihn lange wie eine
tragische Figur wirken, die sich ihr eigenes
Scheitern nicht eingestehen wollte.
Doch der Misserfolg der neuen Füh-
rungsspitze verschiebt die Maßstäbe.
Schulz’ Ergebnis war historisch schlecht,
aber gemessen an den Umfragen unter An-
drea Nahles erscheint sein Resultat von
20,5 Prozent schon wieder akzeptabel. Als
Parteichef wirkte er orientierungslos, aber
von klarem Kurs kann auch unter Nahles
und Olaf Scholz nicht die Rede sein.
»Es war ein Fehler, Schulz abzuräu-
men«, sagt Florian Post, bayerischer Bun-
destagsabgeordneter, der einst zu Schulz’
Gegnern zählte: »Er gehört wieder in die
erste Reihe. Jeder sieht doch, dass es so
nicht weitergehen kann.« Und einer aus
der Parteispitze sagt: »So, wie wir ihn jetzt
einsetzen, ist Schulz verschenkt.«
Viele beobachten ihn nun wieder in der
SPD. Sie glauben, er habe ein Auge auf
AXEL MARTENS / DER SPIEGEL

den Fraktionsvorsitz geworfen – für den


Fall, dass Nahles scheitern sollte, was an-
gesichts ihrer Schwierigkeiten nicht völlig
undenkbar ist. Unsinn, sagt Schulz. Wenn
es um seine Zukunft geht, sagt er nur, er
sei zufrieden als Abgeordneter. Dann zi-
Ex-SPD-Chef Schulz: »Mal biste unten, mal biste oben« tiert er Ariel Scharon: »Die Politik ist ein
Riesenrad. Das dreht sich immer. Mal biste
unten, mal biste oben.«

E in Morgen im November, neun Uhr,


Martin Schulz sitzt beim Frühstück
in seinem Berliner Hotel. Vor ihm
ein Kaffee, neben ihm ein Mitarbeiter. Seit
sere der Sozialdemokratie. Er streckt den
Rücken durch, verschränkt die Arme vor
der Brust. Kampfhaltung.
»Es läuft beschissen«, sagt Schulz.
Aber dass er Nahles’ Schwäche durchaus
auszunutzen weiß, zeigte sich zuletzt mehr-
mals. Jüngstes Beispiel: die Fraktions-
sitzung am Dienstag vergangener Woche.
einer Stunde analysiert der Ex-Kanzler- »Aber sollen wir deshalb den Laden dicht- Im Otto-Wels-Saal auf der dritten Etage
kandidat die Weltpolitik. Donald Trump? machen? Nee, danke.« des Bundestags herrscht schlechte Stim-
Habe bei den Kongresswahlen endlich mal Martin Schulz ist jetzt 62, und es ist mung: Die Umfragen trostlos, die Führung
auf die Mütze bekommen. Europa? Müsse schon eine erstaunliche Geschichte, dass unsicher, das Hessen-Ergebnis beschä-
mal die Kurve kriegen. Und die SPD? er überhaupt noch Politik macht. Nach sei- mend – unter den Abgeordneten ist die
»Wir müssen dann jetzt los«, sagt sein nem fürchterlichen Scheitern bei der Bun- Sorge groß, dass ein Weiter-so die Lage
Helfer. destagswahl hätte er allen Grund dazu, noch mehr verdüstert.
Schulz bleibt sitzen. Nichts beschäftigt sich endlich den schönen Dingen im Leben Zwölf jüngere Abgeordnete preschen
ihn dieser Tage so sehr wie die große Mi- zuzuwenden, der Ehe, dem Garten oder vor, sie fordern, der Union beim Streit um

26 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

ein Werbeverbot für Abtreibungen ein Ul- mes Thema: Rüstungsexporte nach Saudi-
timatum zu stellen. Nahles stoppt die Ini-
tiative. »Ich bin schwer enttäuscht von
euch«, hält sie den Parlamentsneulingen
Arabien. Nahles und Heiko Maas, der Au-
ßenminister, müssen erklären, warum
trotz eines ausdrücklichen Exportverbots
Steuern?
entgegen. Spannungen im Fraktionssaal.
Mehrere Frauen verlassen den Raum. Nah-
im Koalitionsvertrag noch immer Patrouil-
lenboote nach Riad geliefert werden. Die
Lass ich machen.
les wird nervös. »Wo geht ihr denn jetzt beiden winden sich. Nun ja, das seien be-
hin?«, fragt sie, als wittere sie eine Ver- reits beschlossene Lieferungen, argumen-
schwörung. Dabei haben die Kolleginnen tiert Maas. Und außerdem seien die Ex-
einfach nur vor der Tür einen Fototermin porte Angelegenheit des Bundessicher-
zu 100 Jahren Frauenwahlrecht. heitsrats. Die Außenpolitiker empören
Wenig später, Auftritt Schulz. Auch er sich. Die Rüstungsexperten warnen vor
sei ja kein Anhänger der GroKo gewesen. einer Glaubwürdigkeitsfalle.
Aber die Basis habe nun mal entschieden. Dann greift sich Schulz das Mikro. Auch
»Und im Koalitionsvertrag steht nicht, dass er kann nicht fassen, was er da hört. Er er-
wir nach jeder Landtagswahl wieder die innert an das friedenspolitische Gewissen.
Mitglieder fragen.« Sonst könne man kein »Das«, ruft Schulz Maas und Nahles ent-
Projekt mal durchtragen. Deshalb heiße gegen, »muss jetzt das letzte Mal gewesen
es jetzt regieren und kämpfen. Für Europa, sein.« Alle klatschen. Nahles und Maas
gegen rechts, für Demokratie und gegen sitzen bedröppelt auf ihren Stühlen.
den globalen Kapitalismus. Es ist ein Ap- Schulz verbringt viel Zeit damit, Ver-
pell, nicht die Nerven zu verlieren. Ap- bündete zu sammeln. Er spricht sich ab
plaus rauscht durch den Saal. Sogar Olaf mit allen maßgeblichen Genossen aus
Scholz, mit Schulz in Abneigung verbun- Nordrhein-Westfalen, hält seine Kontakte
den, schickt ihm noch während der Sit- zur Parlamentarischen Linken, reist durch
zung eine Glückwunsch-SMS zu dem Auf- die Republik zu einzelnen Abgeordneten.
tritt. Verrückte Zeiten. Er will Nahles nicht stürzen sehen. Es ist
Zur Wahrheit gehört: Auch Schulz ver- ein eigenartiges Verhältnis: Er möchte,
lor in der Fraktion häufig die Nerven, auch dass sie Erfolg hat, weil die Koalition auch
er war wahrlich kein Meister darin, Pro- sein Werk war. Sie hält den Kontakt, weil
jekte durchzusetzen. Wie chaotisch er die sie weiß, dass sie ihren Job auch ihm zu
Partei führte, hängt ihm bis heute nach. Er verdanken hat.
stand nach seiner Wahlniederlage als Dus- Aber wenn Schulz die Chefin jetzt er-
sel da. Aber inzwischen, das ist auffällig, lebt, sieht er sich auch selbst auf den letz-
schafft er es, hin und wieder die Sehnsucht ten Metern seiner unglücklichen Vorsit-
nach Klarheit zu bedienen. Es sind die zendenzeit. Wie er damals ist auch sie
simplen Botschaften, die Nahles aufgrund inzwischen mehr mit dem Innenleben
ihrer Rollen nicht überbringen kann – er der Partei beschäftigt als mit dem politi-
dagegen schon. schen Gegner. Wie bei ihm führt der Über-
Berlin, Reichstag, die SPD-Fraktionssit- lebenskampf zu Verunsicherungen und
zung ein paar Wochen zuvor. Unangeneh- Fehlern, Der Frust, die öffentliche Kritik,

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Parteivorsitzende Nahles: Sehnsucht nach Klarheit


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27
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Deutschland

die eigene Fraktion, die die Parteispitze Im Zweifel einfach antreten und schau- Truppe eine große Bewegung gemacht, Je-
treibt. Es gibt viele Parallelen. en, was passiert – das ist der Traum von remy Corbyn ist auf seine alten Tage Chef
Sie wisse jetzt, wie er sich gefühlt habe, Schulz’ Freunden, wenn der Posten des der britischen Arbeiterpartei geworden.
sagte Nahles kürzlich vor der Fraktion. Fraktionschefs frei werden sollte. Es gibt Schulz ist kein Sanders, und von Corbyn
Für Schulz ist die Lage ambivalent. leichtere Projekte. Nahles ist angeschlagen, trennen ihn europapolitisch Welten. Aber
Einerseits will er die Loyalität zurückzah- aber nicht akut bedroht. Der mächtige was in der SPD passiert, wenn die Umfra-
len, die sie ihm einst gab. Andererseits Fraktionsvorsitz wäre wohl das Letzte, gen mal einstellig sind und im Mai die
sieht er ihre Schwächen. Nur darf er sich was sie abgeben würde. Und selbst wenn Europawahlen verloren gehen, ist unvor-
nichts anmerken lassen. Schulz weiß, dass der Job neu besetzt werden müsste, wirkte hersehbar. Gibt es so viele andere Genos-
er allenfalls dann noch mal die Chance es eigenartig, wenn die SPD auf einen »Ge- sen, die mal eben Fraktionschef könnten?
auf eine Rolle bekommt, wenn er nicht Sigmar Gabriel vielleicht, der Ex-Außen-
zündelt. minister. Mit ihm tauscht sich Schulz in-
Was Schulz nicht versteht, ist, warum Mit Sigmar Gabriel zwischen wieder regelmäßig aus. Auch
Nahles das Thema Europa so stiefmütter- tauscht sich Schulz das haben sie in der SPD mit Interesse re-
lich behandelt und warum sie so selten gistiert.
Emotionen zeigt. Also macht er es. Wie inzwischen wieder Der Samstag vergangener Woche, die
neulich, als er im Plenum spontan aufstand regelmäßig aus. SPD trifft sich im Funkhaus Berlin zum
und mit Alexander Gauland abrechnete. Debattencamp. Schulz ist nicht da. Und
Die AfD, schimpfte Schulz, gehöre »auf irgendwie doch. Hier ticken die meisten
den Misthaufen der deutschen Geschich- scheiterten« setzte. Entsprechend gelassen so wie er: Wir müssen lauter werden, kla-
te«. Im Parlament war was los. Endlich ist man in ihrem Umfeld. Eine Sehnsucht rer und härter, das ist die Botschaft.
Leidenschaft, endlich Haltung. nach der Vergangenheit? Kann in ihrem Nahles diskutiert über die Zukunft der
So sahen es die einen in der SPD. Team niemand erkennen. europäischen Linken. Auch António Costa
Die anderen in der Partei schlugen die Nur ist Politik eben unberechenbar ge- ist gekommen, der Premier aus Portugal.
Hände über dem Kopf zusammen. Sie worden. Jene, die nicht in die Zeit zu pas- Costa spricht über Gerechtigkeit und seine
sahen den alten Schulz, der nur seinen In- sen scheinen, sind mitunter erstaunlich er- Wut auf die Sparpolitik. Mittendrin ruft
stinkten folgt und allzu plump argumen- folgreich, auch weil sie das wachsende er: »Erlaubt mir, einem großen Europäer
tiert. Zu viel Bauch, zu wenig Kopf. Einer, Misstrauen gegenüber dem vermeintlich herzlich zu danken: Martin Schulz.«
der auf Effekte setzt, wo andere strategisch gesunden Menschenverstand verkörpern. Der Saal tobt. Verrückte Zeiten.
denken. Zum Fremdschämen. Und so Die Underdogs haben Zulauf. Bernie San- Veit Medick
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Kommentar

Raus aus der Nische


Warum ein Ruck nach links für die SPD tödlich wäre. Von Klaus von Dohnanyi

ie SPD verliert weiter an Zustimmung. Umfragen

D sehen sie gleichauf mit der AfD, die Grünen eilen


weit voraus. Eine Parteiführung ohne erkennbares
Selbstvertrauen sucht bei Linksaußen wie dem grie-
chischen Premierminister Alexis Tsipras Ermutigung, und
die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles möchte die Agenda-
reformen von Bundeskanzler Gerhard Schröder zurück-
drehen. Ist diese SPD verloren? Wird sie noch gebraucht?
An Ratschlägen fehlt es nicht. Im SPIEGEL vom 20. Okto-
ber forderte Veit Medick im Leitartikel den Abschied vom
Reformweg des Godesberger Programms von 1959, mit dem

EMMANUELE CONTINI / IMAGO


sich SPD und Marktwirtschaft endlich versöhnten. Die Partei
solle sich nun »ein Stück zurück in die Nische« vor Godesberg
zurückziehen, schreibt Medick, und »natürlich muss sie nach
links«. So sieht es wohl auch ein großer Teil der SPD. Aber
weiter links gibt es schon die Linke mit stabilen zehn Prozent.
Die Grünen wiederum sind erfolgreich, gerade weil sie keinen
verschärften Linkskurs verfolgen.
Die SPD fehlt heute also nicht als »linke« Partei: Sie fehlt
als Volkspartei mit breitem Spektrum, die Arbeitnehmer, demokratische« Fragen stellten, gab es von ihr noch nie so
Handwerker, fortschrittlich denkende Unternehmer und Wis- wenige überzeugende Antworten. Der frustrierende Links-
senschaftler anspricht. Sie fehlt als Gegengewicht zur Union rechts-Streit blockiert unser Denken und Handeln. Meine
für einen möglichen Machtwechsel mit einem sozialdemo- Partei muss sich endlich damit versöhnen, dass es keine
kratischen Bundeskanzler. Machtwechsel sind die Eckpfeiler »Systemalternative« gibt: Freiheit und Marktwirtschaft sind
jeder Demokratie, aber nur wer die Mitte erreicht, wird ihn untrennbar miteinander verbunden, auch wenn internatio-
auch herbeiführen können. Bei allem Erfolg der Grünen: Die naler Wettbewerb gelegentlich bittere Sachzwänge schafft.
arbeitende Mitte werden sie nicht gewinnen, das zeigt ihr Mehr Wahrheit über die Wirklichkeit und innerparteilicher
leichtfertiger Umgang mit der Autoindustrie und ihre Forde- Mut sind gefragt, nicht mehr »Systemkritik«.
rung nach einem überhasteten Kohleausstieg. Das Godesberger Programm begann in seiner Präambel
Deutschland braucht aber zwei starke Volksparteien, die mit den Worten: »Das ist der Widerspruch unserer Zeit« –
sich um die Mitte bemühen. Beide, Union und SPD, stehen gemeint waren die Nutzen, aber auch die Gefahren des ato-
derzeit enorm unter Druck, die SPD allerdings weit stärker. maren Zeitalters. Heute müssen wir den neuen Widerspruch
Sind die Volksparteien noch zu retten? Die fortschreitende unserer Zeit erkennen: Nutzen und Gefahren der digitalen
Umwälzung des Parteiensystems in vielen westlichen Demo- Revolution. Diese ist die Ursache der um sich greifenden Un-
kratien scheint dagegen zu sprechen. Allerdings sind diese Ent- sicherheiten und Ängste. Wir müssen offen über den ver-
wicklungen immer Folgen des Wahlrechts: Je niedriger die schärften internationalen Wirtschaftswettbewerb reden; von
Schwelle zum Mandat, desto zersplitterter das Parlament, des- der digital beschleunigten Globalisierung, die als Kontroll-
to schwieriger die Regierungsbildung, desto instabiler später verlust wahrgenommen wird und Nationalismus und Europa-
auch die Regierung. Doch das britische Mehrheitswahlrecht skepsis hervorruft; von den Folgen für die Arbeitswelt; von
führt auch heute noch immer zu »Volksparteien«. Uns schütz- der wachsenden Ungleichheit auch zwischen Stadt und Land,
ten bisher die Fünf-Prozent-Klausel und das konstruktive Miss- aber auch in der Welt; von Cyberwar und Fake News und
trauensvotum, das es sehr schwer macht, einen Kanzler abzu- den neuen Gefahren für äußere und innere Sicherheit. Die
wählen. Aber wie lange werden diese Mechanismen noch SPD kann hier einen großen Schritt nach vorne wagen. Denn
garantieren, dass es bei uns stabile Regierungen gibt? Deutschland leidet nicht unter einer Politiksklerose wie die
Das heutige Verhältniswahlrecht, gepaart mit der Flut neu- USA oder Großbritannien, von der linke Politiker wie Bernie
er Medien, gefährdet die Stabilität auch unserer Demokratie. Sanders oder Jeremy Corbyn profitieren.
Doch an Verbesserungen des Wahlrechts zu denken ist aus- Die Digitalisierung wird alle Bereiche der Gesellschaft tief-
sichtslos. Schon heute zeigen sich Union und SPD außerstan- greifend verändern. Vor ihrem Hintergrund werden sich auch
de, auch nur die Größe des Bundestags sinnvoll zu begrenzen die von der SPD so erfolgreich eingeleiteten Reformen bewäh-
oder die Funktionsfähigkeit des Bundesrates vor lähmenden ren müssen. Hier einen glaubwürdigen Zukunftsentwurf für
Stimmenthaltungen zu schützen. Der Trend zur Fragmenti- ein politisches Programm einer zuversichtlichen, mutigen und
sierung des Parteiensystems wird sich auch bei uns weiter reformstarken Volkspartei SPD im digitalen Zeitalter zu ent-
fortsetzen. werfen, ist unsere Aufgabe. Wir gehören nicht in verstaubte
Wir brauchen aber starke Volksparteien. Die Union war Nischen von Wagenknecht und Co.
in dieser Beziehung bisher erfolgreicher, sie scheint auch jetzt
auf einem aussichtsreicheren Weg. Und die SPD? Hat sie Der Sozialdemokrat Dohnanyi, 90, war Bundesbildungs-
noch eine Chance? Obwohl sich noch nie so viele »sozial- minister und Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg.

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 29


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Deutschland

»Mag sein, dass sich manche


den starken Mann wünschen«

OLAF BLECKER / DER SPIEGEL

SPIEGEL-Gespräch CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer über die Versäumnisse


der Ära Merkel und die Frage, wie man im Saarland Erfahrungen für die Weltpolitik sammelt

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SPIEGEL: Frau Kramp-Karrenbauer, Ihr den Schultern seiner Vorgänger, im Guten ist damals zumindest anfangs nicht be-
Konkurrent um den CDU-Vorsitz, Jens wie im Schlechten. Ich werde mich nicht kämpft worden, auch nicht im Bundesrat.
Spahn, fühlt sich von Ihnen persönlich ver- künstlich von Angela Merkel distanzieren. SPIEGEL: Ist das Erstarken einer Partei wie
letzt. Sie hätten die Ehe, die er mit seinem Das ist für mich auch eine Charakterfrage. der AfD nicht geradezu zwingend, wenn
Partner eingegangen ist, in einem Atem- SPIEGEL: Glauben Sie nicht, dass sich die über Monate Hunderttausende Menschen
zug mit Inzest und Polygamie genannt. CDU nach fast 20 Jahren Merkel danach unkontrolliert ins Land kommen und die
Kramp-Karrenbauer: Ich kann verstehen sehnt, ein Gegenmodell zu wählen? Kanzlerin sagt, sie könne da leider auch
und auch nachfühlen, dass das Thema für Kramp-Karrenbauer: Mag sein, dass man- nichts daran ändern?
ihn und die Betroffenen höchst persönlich che sich den starken Mann wünschen, je- Kramp-Karrenbauer: Der Zustrom der
und auch sehr emotional ist. manden, der mit der Faust auf den Tisch Flüchtlinge ist wirksam begrenzt worden,
SPIEGEL: Sie haben gesagt, wenn die Ehe haut. Aber wenn man sich umschaut in etwa über das Türkeiabkommen. Und im
für alle erst einmal eingeführt sei, dann der Welt und auf die Putins, Trumps und Zuge der Flüchtlingskrise wurde das Asyl-
werde sich bald die Frage stellen, ob nicht Erdoğans blickt, dann bin ich mir nicht recht verschärft, wie es vorher undenkbar
auch Geschwister heiraten dürfen. Das ist sicher, ob dieser Typus die Qualität der gewesen wäre. Aber es wurde zu wenig
schon eine sehr gewagte These, um es mil- Politik verbessert. Man kann auch in deutlich gemacht, dass die Lage im Herbst
de zu sagen. einem freundlichen Ton führen und ent- 2015 eine Ausnahmesituation war.
Kramp-Karrenbauer: Die Äußerung liegt schlossen seine Position vertreten. Die SPIEGEL: Die Umfragewerte für die Union
Jahre zurück, und ich habe Jens Spahn eiserne Faust kann man auch klug im Samt- sind derzeit auf einem historischen Tief-
schon damals angesprochen und ihm er- handschuh verbergen. stand. Wenn man die CSU rausrechnet,
klärt, dass ich ihn in keiner Weise verlet- SPIEGEL: Sie waren in den vergangenen lägen Sie aktuell sogar hinter den Grünen.
zen wollte. Monaten viel in der CDU unterwegs. Wo- Was ist Ihre Erklärung für dieses De-
SPIEGEL: Hätten Sie gedacht, dass der runter leidet die Partei am Ende der Ära saster?
Kampf um den CDU-Vorsitz so schnell per- Merkel am meisten? Kramp-Karrenbauer: Neben langfristigen
sönlich wird? Kramp-Karrenbauer: Es gibt aus meiner Trends leiden wir einerseits noch immer
Kramp-Karrenbauer: Ich sehe das nicht Sicht zwei Punkte. Das eine ist die Metho- an der enorm langwierigen Regierungsbil-
als persönlichen Angriff. Es ist ein Reflex, de »normative Kraft des Faktischen« – das dung. Und dann hat der große Streit zwi-
den ich aus vielen Debatten etwa mit dem heißt, unter enormem Zeitdruck Dinge in schen CDU und CSU über die Asylpolitik
Lesben- und Schwulenverband aus mei- der Regierung durchzusetzen, obwohl die im Sommer ganz gewiss einen enormen
nem eigenen Bundesland kenne. Ich bin Partei das noch gar nicht diskutiert hat. Schaden angerichtet. Die Art und Weise,
für den Abbau jeglicher Diskriminierung wie wir gestritten haben, konnten unsere
und war auch für die Möglichkeit der ein- Mitglieder und Wähler in keiner Weise ver-
getragenen Lebenspartnerschaften. Aller- stehen. Umso wichtiger ist es, dass es im
dings habe ich einen sehr traditionellen »Ich will nicht endlos Dreieck zwischen Partei, Regierung und
Begriff von der Ehe als einer Verbindung die Schlachten der Fraktion künftig zu keiner Zerstrittenheit
zwischen Mann und Frau, an dem ich nicht Vergangenheit schlagen. mehr kommt.
rütteln will. SPIEGEL: Der Störenfried Seehofer ist also
SPIEGEL: Spahn hat darauf hingewiesen, Das ist toxisch.« an allem schuld.
dass er – anders als Friedrich Merz – in Kramp-Karrenbauer: Das wäre zu flach.
guten und in schlechten Zeiten mit der Im Grunde geht es bei dem Streit zwischen
CDU Wahlkampf geführt hat. Was halten Das beste Beispiel dafür ist der Ausstieg CDU und CSU um die Frage, wie man die
Sie von der Idee von Merz, nach zehn Jah- aus der Kernenergie nach dem Reaktor- Entscheidungen des Jahres 2015 bewertet.
ren in der Privatwirtschaft gleich den unfall von Fukushima. Die meisten Partei- Dieser ungelöste Konflikt hat sich durch
Sprung an die Parteispitze zu wagen? mitglieder wollen gar nicht zurück zur alle späteren Debatten gezogen, sei es die
Kramp-Karrenbauer: Jeder muss seine Atomkraft. Aber sie hätten gerne darüber Obergrenze, Seehofers Masterplan oder
eigenen Lebensentscheidungen treffen. gesprochen, ob und wie so ein Ausstieg die Frage, ob bereits registrierte Flüchtlin-
Friedrich Merz hat sich 2009 aus der akti- sinnvoll ist. Der zweite Punkt ist, dass wir ge gleich an der Grenze abgewiesen wer-
ven Politik verabschiedet. Das respektiere künftig auch den Mut haben müssen, kon- den sollen.
ich. Ich habe mich anders entschieden, bin troversere Themen offensiv anzugehen. SPIEGEL: Vielleicht sind Sie genau deshalb
geblieben und habe die CDU seitdem ge- Auch da ein Beispiel: Wir haben uns beim die falsche Frau für den CDU-Vorsitz.
meinsam mit vielen anderen mitgestaltet Thema Ehe für alle darauf eingelassen, Denn Ihre Gegenkandidaten glauben – ge-
und fortentwickelt. Egal, woher man dass das Bundesverfassungsgericht all jene nauso wie die CSU –, dass Merkel ganz
kommt, es muss klar sein, dass der Partei- Änderungen durchsetzt, die eigentlich die gravierende Fehler gemacht hat. Sie nicht.
vorsitz für sich steht. Es wäre fatal, wenn Politik hätte vornehmen müssen. Wir ha- Mit Ihnen wird also der Streit weiter
der Eindruck entstünde, dass man den Par- ben das getan, so ehrlich müssen wir schon schwelen.
teivorsitz eher als notwendiges Übel be- sein, weil wir die innerparteiliche Debatte Kramp-Karrenbauer: Ich will nicht endlos
trachtet, das man eingehen muss, um in gescheut haben. die Schlachten der Vergangenheit schlagen.
das wichtigste Staatsamt zu kommen. Das SPIEGEL: Ein Thema, das die Partei immer Wie toxisch das ist, können wir gut an der
hat auch etwas mit Respekt vor unseren noch sehr beschäftigt, ist die Flüchtlings- SPD beobachten, die noch heute darüber
CDU-Mitgliedern zu tun. krise. Angela Merkel beharrt darauf, dass streitet, ob die Agenda 2010 richtig war.
SPIEGEL: Ihr großer Nachteil beim Rennen die Grundentscheidungen der Bundes- Aber richtig ist, dass die Debatte über 2015
um den Parteivorsitz ist, dass Sie vielen regierung im Jahr 2015 richtig waren. Sie und über die Lehren, die daraus zu ziehen
Parteimitgliedern wie die saarländische auch? sind, anhält. Deshalb will ich in der CDU
Ausgabe von Angela Merkel erscheinen. Kramp-Karrenbauer: Ich bin überzeugt, noch im Frühjahr vor der Europawahl mit
Kramp-Karrenbauer: Zunächst einmal dass es richtig war, die Grenze offen zu Gegnern und Befürwortern, sach- und
werde ich jetzt in den Regionalkonferen- halten und nicht etwa zum Beispiel Was- fachkundigen Mitgliedern diese Frage und
zen mein eigenes Programm vorstellen. serwerfer in Marsch zu setzen. Die Linie vor allem die Vorschläge für die Zukunft
Aber natürlich steht jeder Parteichef auf der Bundesregierung und Angela Merkels diskutieren und zu einem Vorschlag bün-

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 31


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Deutschland

deln. So kann die CDU zu neuer Stärke Modell des Generationenschnitts entwi-
kommen. ckelt. Demnach würden die hier gebore-
SPIEGEL: Gilt für Sie noch der berühmte nen Kinder von Einwanderern die doppel-
Satz von Franz Josef Strauß, dass es rechts te Staatsbürgerschaft erhalten. Für die En-
von der Union keine demokratisch legiti- kel wäre Schluss. Das Modell könnte eine

OLAF BLECKER / DER SPIEGEL


mierte Partei geben darf? Grundlage für kommende Koalitions-
Kramp-Karrenbauer: Das muss nach wie verhandlungen sein. In dieser Legislatur-
vor unser Anspruch sein. Das heißt in ei- periode sehe ich wenige Chancen, etwas
nem ersten Schritt, dass wir möglichst vie- zu ändern.
le der Wähler, die wir an die AfD verloren SPIEGEL: Sie fordern mehr Teilhabe von
haben, wieder zurückgewinnen müssen. Frauen in der Politik. Wie wollen Sie das
Aber wir haben bei den letzten Wahlen Kramp-Karrenbauer, erreichen?
eben auch an die Grünen verloren. Das SPIEGEL-Redakteure* Kramp-Karrenbauer: Zunächst mal die
zeigt ja, wie groß unsere Integrationskraft »Zeit für den nächsten Schritt« Fakten: Frauen machen die Hälfte der Be-
war. Diese Bindekraft müssen wir als völkerung aus. Aber nur 26 Prozent der
Volkspartei wieder entwickeln. festgelegte Werbeverbot für Abtreibungen CDU-Mitglieder und nur 20 Prozent der
SPIEGEL: Es wird nicht ganz leicht, rechts zu streichen. Wie stehen Sie dazu? CDU-Bundestagsabgeordneten sind Frau-
und links Wähler zurückzugewinnen. Kramp-Karrenbauer: Meine Position ist en. Dass das im Jahr des 100-jährigen Be-
Kramp-Karrenbauer: Ich bin mir nicht si- sehr klar: Frauen, die sich nach einer stehens des Frauenwahlrechts kein guter
cher, ob das eine Frage von rechts oder schwierigen Abwägung für einen Abbruch Zustand ist, scheint mir offensichtlich.
links ist, und glaube auch nicht, dass dieses entschieden haben, müssen sich in einer SPIEGEL: Was halten Sie von einer Än-
alte Schema noch vollständig so gültig ist. vernünftigen Art und Weise darüber infor- derung des Wahlrechts, wie sie unter an-
Es gibt AfD-Wähler aus dem rechtsradika- mieren können, zu welchen Ärzten sie ge- derem Bundesjustizministerin Katarina
len Milieu, die wir nicht ansprechen wol- hen können. Solche Informationen kann Barley fordert?
len. Ansonsten müssen wir uns mit beiden man bei vereinbarten Institutionen oder Kramp-Karrenbauer: Als Erstes sollten
Wählerwanderungen sehr differenziert Stellen hinterlegen. Es ist aber nicht nötig, wir versuchen, durch Mitgliederwerbung
auseinandersetzen und schauen, welche das Werbeverbot aufzuheben, denn ein und gezielte Ansprache den Frauenanteil
für uns ansprechbar sind. Schwangerschaftsabbruch ist aus meiner in der Partei zu erhöhen. Dann müssen wir
SPIEGEL: Wie wollen Sie den Grünen Sicht eben gerade kein medizinisches An- schauen, wie wir als CDU mehr Frauen in
Druck machen? Indem Sie eine so symbo- gebot wie alle anderen. die Parlamente bringen. Vorrangig geht es
lisch aufgeladene Praxis wie die Ferkel- SPIEGEL: Sie wollen der Partei mehr Gel- dabei um die Frage parteiinterner Instru-
kastration, die die meisten Bürger für Tier- tung verschaffen, wenn Sie Vorsitzende mente, auch mehr Aufstellungen von Frau-
quälerei halten, auf Druck der Agrarlobby werden. Die CDU hat auf ihrem Parteitag en in Wahlkreisen sind nötig, da die CDU
verlängern? vor allem Wahlkreisabgeordnete hat.
Kramp-Karrenbauer: Die Grünen sind Wenn alles nicht hilft, dann wird der Druck
eine Projektionsfläche, und sie profitieren steigen, die Gesetze zu ändern.
von Entscheidungen, die andere getroffen »Es ist erstaunlich, mit SPIEGEL: Sie haben selbst gesagt, wer sich
haben. Würde man den Grünen folgen welcher Arroganz in um den CDU-Vorsitz bewerbe, müsse sich
und einen vollen Spurwechsel von der Berlin über manche Land- auch das Kanzleramt zutrauen. Ihre Re-
Asyl- in die Arbeitsmigration erlauben, gierungserfahrung beschränkt sich auf das
keine weiteren sicheren Herkunftsstaaten striche geredet wird.« Saarland, das weniger Einwohner hat als
anerkennen und das Türkeiabkommen die Region Hannover. Reicht das aus?
kündigen, wären wir schnell wieder Kramp-Karrenbauer: Ich finde es immer
in einer Situation wie 2015. Das wäre 2016 in Essen beschlossen, dass die dop- wieder erstaunlich, mit welcher Arroganz
unverantwortlich. Auch unsere Mitglie- pelte Staatsbürgerschaft abgeschafft wer- in Berlin über Landstriche gesprochen
der wollen Klimaschutz, auch unsere den soll. Würden Sie sich als Vorsitzende wird, in denen die Mehrzahl der Deut-
Mitglieder wollen saubere Luft in den dafür einsetzen, dass dieser Beschluss auch schen lebt.
Städten und gesunde Lebensmittel. Aber Regierungspolitik wird? SPIEGEL: Es geht um Ihre Regierungs-
wir sind zurückgefallen hinter die Zeiten Kramp-Karrenbauer: Es geht ja vor allem erfahrung, nicht um die Abwertung irgend-
von Umweltminister Klaus Töpfer, als wir um Menschen, die einen deutschen und welcher Regionen.
gezeigt haben, dass Umweltschutz und einen türkischen Pass haben. Das Konzept Kramp-Karrenbauer: Ich habe Regie-
Wirtschaftswachstum keine Gegensätze Doppelpass kann nur funktionieren, wenn rungserfahrung, ich habe Erfahrung, wie
sind. es nicht dazu dient, Integration zu verhin- man Wahlen gewinnt, auch unter sehr
SPIEGEL: Und deshalb wollen Sie die Fer- dern. Der türkische Staatspräsident Recep schwierigen Rahmenbedingungen, und ich
kelkastration ohne Betäubung weiterhin Tayyip Erdoğan schürt Loyalitätskonflikte habe diese Erfahrungen über einen Zeit-
erlauben? der hier lebenden Deutschtürken, um sei- raum von fast 18 Jahren gesammelt. Ich
Kramp-Karrenbauer: Das ist ein schwie- ne Politik im eigenen Land durchzusetzen. bin auf meine politische Laufbahn als In-
riges Thema, das mich umtreibt. Wenn wir Wenn das so läuft, dann hat der Doppel- nenministerin, als Bildungsministerin, als
diese Praxis sofort verbieten und die Land- pass seinen Sinn und Zweck verfehlt, und Sozialministerin, als Ministerpräsidentin
wirte dann die Ferkel im Ausland bestellen, dann müssen wir auch darüber reden, wie und als Generalsekretärin der CDU sehr
wo sie erlaubt ist, ist auch nicht viel ge- wir dieses System beenden. stolz, weil sie das Ergebnis gemeinsamer
wonnen. Das Ziel bleibt aber, Kastration SPIEGEL: Sie wollen also die doppelte Anstrengungen mit den Freunden vor Ort
ohne Betäubung so schnell wie möglich Staatsbürgerschaft abschaffen? und kontinuierlicher, harter Arbeit ist.
zu verbieten. Kramp-Karrenbauer: Der frühere Innen- Jetzt ist es Zeit für den nächsten Schritt.
SPIEGEL: In der Koalition wird derzeit minister Thomas de Maizière hat das SPIEGEL: Frau Kramp-Karrenbauer, wir
sehr emotional über die Forderungen aus danken Ihnen für dieses Gespräch.
der SPD diskutiert, das im Paragraf 219a * Ralf Neukirch und René Pfister in Berlin.

32 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Deutschland

ROMAN PILIPEY / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK


Ministerin von der Leyen im Oktober auf der Chinesischen Mauer: Sie hoffte, es ohne die Ochsentour zu schaffen

Ende einer Dienstfahrt


Regierung Lange galt Ursula von der Leyen als Favoritin für die Nachfolge von Kanzlerin Merkel.
Doch jetzt, da es so weit ist, ist von ihr nicht mehr die Rede. Wie konnte das passieren?

A
lle haben eingestimmt, einer nach Auch von der Leyen verzieht keine Mie- herauszufinden, was die Kanzlerin bei ih-
dem anderen. Zuerst die Tromm- ne. Sie liebt das kurze YouTube-Video, in rem Auftritt vor dem Europaparlament
ler, dann die Trompeter, die Tuba- dem sich die britische Komikerin Tracey nun zu einer gemeinsamen europäischen
spieler und schließlich die Hor- Ullman über das Pokerface der Kanzlerin Armee eigentlich genau gesagt hat. Ganz
nisten, deren Instrumente so zerbeult sind, lustig macht. Schon wenn sie daran denkt, offensichtlich hat niemand vorher mit der
als wären sie schon bei der Schlacht von muss die Verteidigungsministerin kichern. Verteidigungsministerin gesprochen.
Solferino im Einsatz gewesen. Der Kapell- Vielleicht weil sie das selbst so gut kann. Es sind diese kleinen Rücksichtslosig-
meister rudert mit den Armen, als wäre Haltung bewahren. keiten, die von der Leyen zeigen, dass sie
der Leibhaftige hinter ihm her. Langsam, So wie an diesem Montagnachmittag immer mehr ins Abseits gerät. Für die ganz
sehr langsam formt sich das Geschepper auf dem Appellplatz in Bamako, der Großen im fernen Berlin gehört sie nicht
zu einer Melodie. Bloß welcher? Hauptstadt Malis. Sie hat auch keine Mie- mehr zu denen, die unbedingt eingebunden
Ursula von der Leyen hat sich mit allen ne verzogen, als am Morgen die Forderung und informiert werden müssen. In den Au-
anderen erhoben. Sie sieht, wie die afri- von Annegret Kramp-Karrenbauer über gen derer, die gerade die Macht in der Union
kanische Nachmittagssonne auf das grüne den Ticker lief, man müsse den »Parla- neu verteilen, ist von der Leyen eine Größe
Jägerbarett des Bundeswehrgenerals mentsvorbehalt für Auslandseinsätze der geworden, die man vernachlässigen kann.
brennt, sie hat die beiden Geckos im Blick, Bundeswehr ein Stück zurückfahren«. Dabei hatte es viele Jahre der Kanzler-
die auf der anderen Seite des Appellplat- Von der Leyen ist anderer Meinung, sie schaft von Angela Merkel so ausgesehen,
zes den schwarzen Maschendrahtzaun ärgert sich, dass sie von dem Vorstoß aus als werde alles wie selbstverständlich ir-
hochflitzen. Neben ihr lauscht die franzö- den Agenturen erfahren hat, aber sie lässt gendwann auf die Frau aus Niedersachsen
sische Verteidigungsministerin mit unbe- sich nichts anmerken. zulaufen. Sie erschien als die natürliche
wegtem Gesicht dem Versuch der mali- Auch am nächsten Tag wird sie keine Nachfolgerin, eine enge Vertraute »ihrer
schen Armeekapelle, Beethovens Neunte Miene verziehen. Auf dem Rückflug nach Kanzlerin« Merkel, ein politisches Natur-
zu intonieren, die Europahymne. Deutschland versuchen ihre Mitarbeiter talent, brillant und durchsetzungsstark.

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Als von der Leyen mit Mitte 40 als Sei- den. Stattdessen setzt sie ganz auf ihre För- von der Leyen nach und nach mit allen
teneinsteigerin in die Politik kam, schien derin Merkel und auf die eigene Leistung. verdirbt.
sie alles mitzubringen, was man braucht, Mit strenger Selbstdisziplin, Fleiß und un- Als von der Leyen im Jahr 2009 Arbeits-
um es nach ganz oben zu schaffen: Rede- bändigem Ehrgeiz drängt sie nach oben, ministerin wird, verfolgen die Unions-
talent, Selbstbewusstsein, Machtwillen. aber sie hat keine Lust, die Basis zu um- abgeordneten mit Empörung, wie rück-
Und sie war ausgestattet mit einem untrüg- werben. Das trägt ihr den Ruf der Arro- sichtslos sie in anderen Ressorts wildert
lichen Instinkt für die geglückte Inszenie- ganz ein. und damit die neue Familienministerin
rung. Bald liebten die Medien die sieben- Bei den Wahlen zur stellvertretenden Kristina Schröder beschädigt, eine junge
fache Mutter, die der CDU ein modernes Bundesvorsitzenden schneidet sie regel- Frau mit lupenreiner Parteikarriere.
Antlitz verlieh. Bis heute ist sie eine der mäßig lausig ab. Ihre Berater empfehlen 2013 gelingt es von der Leyen mit äußers-
populärsten Unionspolitikerinnen, ihre Zu- ihr, neben ihrem Pressesprecher eine Art ter Härte, die Forderung nach einer gesetz-
stimmungswerte sind höher als die von Parteibetreuer zu installieren, als Verbin- lichen Frauenquote in das CDU-Wahlpro-
Kramp-Karrenbauer. dungsmann in die Union. Von der Leyen gramm zu boxen. Dafür verbündet sie sich
Auch an Ehrgeiz fehlte es von der Leyen hört aufmerksam zu, dann unternimmt zwischenzeitlich mit Abgeordneten der Op-
nicht. Es war klar, dass sie sich das wich- sie – nichts. position und unterläuft so den Widerstand
tigste Staatsamt zutraute. In jeder Gene- Sie hofft, es ohne die Partei zu schaffen, von Partei, Fraktion und Kanzlerin. »Was
ration gebe es nur einen Kanzler, und das ohne die Ochsentour. Vielleicht wird Mer- ist die Abkürzung für von der Leyen?«, spot-
sei in ihrer nun einmal Angela Merkel, lau- kel sie ja irgendwie zur Kanzlerin machen, ten sie in der Fraktion. Antwort: »I-C-H.«
tete ihre Standardantwort auf die Frage doch die wird im Laufe der Zeit immer Von der Leyen ist erst spät der CDU
nach deren Nachfolge. Es war ein formales skeptischer. Merkel sieht ja, wie es sich beigetreten, 1990 war das, nachdem ihr
Argument, das ihre Ambitionen eher be-
legte als dementierte. Und es hat sich als
falsch erwiesen.
Doch nun tritt Merkel ab, und von Ur-
sula von der Leyen ist nicht einmal mehr
die Rede. Die große Kanzlerhoffnung ist
auf den letzten Metern zusammenge-
schnurrt wie ein bunter Ballon, aus dem
die Luft entweicht. »Machtpolitisch spielt
DIE TR AUMHAFTE
Frau von der Leyen im Grunde keine Rolle
mehr«, sagt ein führender Unionspolitiker.
Spätestens als Merkel Anfang des Jah-
W I N T E R W E LT
res Kramp-Karrenbauer nach Berlin holte,
war klar, dass sie nicht mehr auf von der
Leyen setzte. Jetzt muss die einstige Favo-
ritin sogar um einen gesichtswahrenden
D E R A U T O S TA D T
Abgang aus dem Verteidigungsministe- Machen Sie eine unvergessliche Winterreise in die Autostadt in Wolfsburg: zur 6.000 m2
rium kämpfen. Um, mit sehr, sehr viel großen Eislauffläche inmitten einer einzigartigen Lichterwelt. Bei 5 Wochen Schneegarantie
Glück, vielleicht ihre politische Karriere und wöchentlich wechselnden Eisshows. Vom 30. November 2018 bis 6. Januar 2019.
in Brüssel ausklingen zu lassen. Schneien Sie vorbei unter autostadt.de und #autostadtwinter
Wie konnte es dazu kommen? »Ich kann
mir vorstellen, Kanzlerin zu sein«, vertrau-
te sie ihren Beratern Anfang vergangenen
Jahres an, »aber ich kann mir nicht vorstel-
len, wie ich das werden sollte.« Das mag
zu diesem Zeitpunkt schon richtig gewesen
sein, zwei Jahre zuvor aber standen ihre
Chancen noch bestens. Wolfgang Schäuble
etwa ist sich sicher, dass Merkel noch bis
Mitte der letzten Legislatur für ihre Nach-
folge auf von der Leyen setzte.
In der Politik gibt es verschiedene Wege,
Karriere zu machen. Man kann sich der
Protektion eines einflussreichen Förderers
versichern und es mit viel Glück bis ins
Kabinett schaffen. Ganz nach oben aber,
auf die Nummer eins, kommt nur, wer sich
auf eine eigene Machtbasis stützen kann.
Von der Leyen kennt dieses politische Ge-
setz, aber sie hat es nie beachtet.
Auch enge Vertraute können sich nicht
erklären, warum von der Leyen nie wirklich
versucht hat, sich in der Partei ein Netzwerk
loyaler Unterstützer aufzubauen. Das wäre,
sagt einer, eigentlich nicht schwer gewesen.
Doch von der Leyen probiert gar nicht
erst, ihre Distanz zur Partei zu überwin-

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Deutschland

Vater Ernst Albrecht als nieder- lich, dass er im Herbst zum neuen
sächsischer Ministerpräsident abge- Kommissionspräsidenten gewählt
wählt worden war. Für sie und ihre wird. Von der Leyens Chancen,
fünf Brüder war der Beitritt kein nach Brüssel zu wechseln, tendier-
politisches Bekenntnis, sondern ten dann gegen null. Eine zweite
ein spontaner Akt der Familiensoli- Deutsche in der Kommission oder
darität. auf einem anderen Brüsseler Spit-
Von der Leyen war damals schon zenposten gilt als ausgeschlossen.
31, sie wäre nie auf den Gedanken Dabei wird im kommenden Jahr
gekommen, sich in der Schüler- gleich eine ganze Reihe europäi-
Union, der JU oder im RCDS zu scher Spitzenämter neu besetzt:
engagieren, anders als Friedrich vom Kommissionspräsidenten über
Merz, Jens Spahn oder Kramp-Kar- die Außenbeauftragte, den Ratsprä-
renbauer, die jetzt Merkels Nachfol- sidenten und den Parlamentspräsi-
ge unter sich ausmachen. denten bis zum Chef der Europäi-
Die Partei, die sie nach ihrem Bei- schen Zentralbank und dem Nato-
tritt 1990 kennenlernte, schreckte Generalsekretär.
sie eher ab: muffige Männerrunden, Bislang gibt es auf diesen sechs
die sich damit brüsteten, Posten Posten nur eine einzige Frau, die Ita-
nach Proporz und nicht nach Leis- lienerin Federica Mogherini, die
tung zu vergeben, konservative EU-Außenbeauftragte. In Brüssel ist
Kleinbürger mit einem rückwärts- man sich sicher, dass es dabei nicht

MICHAEL KAPPELER / DPA


gewandten Gesellschaftsbild. bleiben kann. Mindestens drei Äm-
Von der Leyen fehlt das Hände- ter müssten weiblich besetzt werden.
schüttel-Gen, das viele Politiker aus- Für den Fall, dass der französische
zeichnet. Sie hat Mühe, persönliche Präsident Emmanuel Macron We-
Distanz zu überwinden. Ihr fällt es ber als Kommissionspräsidenten
schwer, einen »Wärmestrom« zu verhindert (siehe Seite 16), gäbe es
erzeugen, den der grüne Veteran Verteidigungspolitikerin von der Leyen in Mali vielleicht doch noch eine Chance für
Joschka Fischer als Voraussetzung Untrüglicher Instinkt für die geglückte Inszenierung von der Leyen. Dafür brauchte sie
für politischen Erfolg definiert hat. allerdings einmal mehr Merkels
Nicht, dass sie es nicht manchmal ver- tin werden. Zweimal ließ Merkel sie am Unterstützung. Und selbst die könnte Mit-
suchen würde. Bei einer Reise nach Bah- Ende hängen. So zumindest sieht es von te kommenden Jahres nicht mehr viel
rain am Persischen Golf lädt sie die mit- der Leyen. Merkel wiederum empfand wert sein.
reisenden Journalisten abends zum Grillen den Vorstoß in der Quotenfrage als grob Öffentlich legt sich von der Leyen in der
an den Strand. Sie trinkt Wasser, die an- illoyal. Nachfolge um den CDU-Vorsitz für keinen
deren Bier, sie isst Salat, die anderen Doch von der Leyen weiß, wie abhängig der Kandidaten fest, aber es wäre ein Wun-
Steaks, man redet über Politik, dann sieht sie inzwischen von der Kanzlerin ist. Ihr der, wenn der »Herr Merz« ihr näher stün-
sie plötzlich auf die Uhr. »Oh«, sagt sie, ist kein schlechtes Wort über Merkel zu de als die »Annegret«.
»es ist schon zehn. Dann lassen Sie uns entlocken. Nach der überraschenden Ab- Für den Konservativen Merz ist von der
jetzt locker sein.« Peinlich berührtes wahl Kauders vom Fraktionsvorsitz fuhr Leyen Teil des verhassten Systems Merkel,
Schweigen. Der Abend ist gelaufen. sie demonstrativ mit der Kanzlerin im das er beseitigen will. Und sie steht genau
Erstaunlich lange hat von der Leyens gläsernen Aufzug in die Tiefe, ein Zeichen für jenen Linksruck der Union, den er
Methode trotzdem Erfolg, doch dann über- ihrer Loyalität zur eigentlichen Verliererin immer kritisiert hat. Mal abgesehen davon,
nimmt sie das Verteidigungsressort und ist der Fraktionswahl. dass sie in seinen Augen die Bundeswehr
bald auf Unterstützung angewiesen. Erst Aus Merkels Sicht hat von der Leyen der CDU entfremdet hat.
schiebt sie ihrem Vorgänger Thomas de die Chancen, die sie der möglichen Nach- Mehr denn je hängt sie also am Schick-
Maizière die Verantwortung für die vielen folgerin einräumte, nicht genutzt. Sie weiß, sal der Kanzlerin. Solange Merkel bleibt,
Missstände zu (»Ach, der Thomas hat es dass eine Kanzlerin ihren Nachfolger nicht wird auch sie wohl bleiben. Muss die Kanz-
ja auch nicht immer leicht«), dann ver- bestimmen kann, aber sie kann Freiräume lerin gehen, ist auch von der Leyens poli-
scherzt sie es sich mit der Bundeswehr, als und Möglichkeiten geben. Und dann tische Karriere in Berlin beendet.
sie ihr im April vergangenen Jahres pau- macht der eine eben etwas daraus und die Auf dem Rückflug aus Mali legt sie die
schal ein »Haltungsproblem« unterstellt. andere nicht. Füße hoch, lässt sich ein Wasser geben und
Zwar rudert sie eilig wieder zurück, Was also wird jetzt aus ihr, der Ex- fängt an, über ihr Alter zu reden, so wie
aber der Schaden ist nicht mehr gutzu- Nachfolge-Favoritin? Manche sehen sie sie es neulich auch in der »Bunten« getan
machen. Was gibt es Schlimmeres als eine als künftige Nato-Generalsekretärin, sie hat. Sie ist in diesen Tagen 60 geworden,
Oberbefehlshaberin, die sich von der wäre die erste Frau auf diesem Posten. höchste Zeit also, sich das eigene Leben
eigenen Truppe distanziert? Niemand Von der Leyen bestreitet jede Ambition. ein wenig schönerzureden. Und sich auf
kommt ihr zu Hilfe. Am Ende muss die Sie hat sich lange Hoffnung auf einen an- eine neue Lebensphase einzustellen, ohne
Kanzlerin ihre schützende Hand über die deren Brüsseler Posten gemacht. Zu gern Politik. Vielleicht in der Wirtschaft.
Ministerin halten. wäre sie EU-Kommissarin geworden, Doch das kann noch ein paar Monate
Ihren beispiellosen Aufstieg verdankt doch auch mit diesem Trostpreis wird es dauern. So lange wird sie ihre Fähigkeit,
von der Leyen zu großen Teilen Merkels schwierig. in jeder Lage Haltung zu bewahren, noch
Protektion. Dabei ist das Verhältnis der Mit dem CSU-Mann Manfred Weber gut brauchen können.
beiden Frauen nicht unproblematisch. kandidiert ein Deutscher als Spitzenkan- Konstantin von Hammerstein,
Zweimal, 2004 und 2010, schien es so, didat der konservativen EVP bei der Eu- Christiane Hoffmann
als könnte von der Leyen Bundespräsiden- ropawahl im kommenden Jahr. Gut mög-

36 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Wir sehen.
Wir blicken.
Wir starren.
Wir blinzeln.
Wir besichtigen.
Wir beobachten.
Wir glotzen.
Wir werden uns wiedersehen.
Man kann etwas kommen sehen.
Wir verschließen die Augen.
Wir öffnen die Augen.
Und uns werden die Augen geöffnet.
Man kann einen Blick riskieren.
Es gibt erste Blicke.
Und letzte Blicke.
Manchmal entscheiden Augenblicke.
Man kann in Abgründe blicken.
Und in die Zukunft.
Wir sehen nah.
Oder fern.

Aber wir werden nie wegsehen.


Sondern immer genau hinsehen.

Claus Kleber
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Deutschland

Die Hölle daheim


Gewalt Die größte Gefahr für eine Frau: der eigene Mann. Zehntausende treten, schlagen,
bedrohen ihre Partnerin, aus Eifersucht, aus gekränktem Narzissmus oder aus Lebensfrust.
Mehr als 100 Frauen starben deshalb letztes Jahr. Warum regt das kaum jemanden auf?

D
as kleine Mädchen, drei Jahre alt, rer Partnerin verfügen zu können, die sie anderen verliebt. Er sei nicht stolz darauf,
hat alles gesehen. Wie der Mann quälen, züchtigen, bestrafen, kontrollieren. sagte er danach, aber es sei ihm egal. In
von der Terrasse ins Wohnzim- Jeden zweiten bis dritten Tag wird in München, wo ein 33-jähriger Manager sei-
mer kam, wie er auf die Mama Deutschland eine Frau von ihrem Partner ne Lebensgefährtin im Reihenhaus im
geschossen hat, dann auf Papa, auf die oder Ex-Partner umgebracht, nicht von Nobelviertel Bogenhausen mutmaßlich
Oma. Um die Kleine herum Rennen, einem bösen Fremden, der ihr nachts auf- mit einer Plastiktüte und einem Seil erdros-
Schreien, Panik. Angst, solche Angst. Sie gelauert hätte. selte, als sie ihn wegen einer Affäre zur
hat Albträume seitdem, sie will nicht, dass Die meisten Täter häuslicher Gewalt Rede stellte.
der Papa im Himmel ist. Den bösen Mann, sind Deutsche. Auch die Opfer sind in der 114 000 Frauen wurden 2017 von ihren
der das gemacht hat, nennt sie »den Räu- Mehrzahl Deutsche. Allerdings fallen Mi- Partnern bedroht, gestalkt, eingesperrt,
ber«. Wenn es an der Tür klingelt, fragt sie granten zurzeit durch krasse öffentliche sie wurden geschlagen, vergewaltigt, ver-
ihre Mutter: »Kommt jetzt der Räuber?« Taten auf wie der 34-Jährige aus Niger, brüht, gewürgt, mit der Axt oder einem
Der Räuber ist ihr Großvater, Viktor H., der im April am Hamburger Jungfernstieg Messer traktiert. Seit Jahren steigen die
59 Jahre alt. Am 19. Mai hat er in Saar- seine Ex-Freundin und ihre gemeinsame Opferstatistiken der sogenannten Partner-
brücken versucht, seine geschiedene Frau einjährige Tochter auf dem S-Bahnsteig schaftsgewalt. 147 Frauen wurden getötet,
Natalia zu töten, er hat einen Sohn er- niedermetzelte. Frauen mit Migrationshin- so zeigt es die jüngste Statistikauswertung
schossen und seinen Schwiegersohn. In ei- tergrund, so zeigen Studien, sind mitunter des Bundeskriminalamts (BKA). »Dass
nem Einfamilienhaus mit Garten im Stadt- besonders schwerer Gewalt ausgesetzt. quasi montags, donnerstags und sonntags
teil Fechingen. Es passiert überall. Im baden-württem- eine Frau von ihrem Partner umgebracht
Es ist ein schöner warmer Samstag, Frau bergischen Winterlingen, wo am Oster- wird, ist in einem modernen Land wie
H. feiert mit ihren vier Kindern, deren sonntag ein 48-jähriger Mann seine Ehe- Deutschland eine unvorstellbare Größen-
Partnern und den Enkeln ihren 60. Ge- frau erschoss, weil sie ihn mit den vier Kin- ordnung«, sagt Bundesfamilienministerin
burtstag. Im Garten liegen Würstchen und dern verlassen wollte. In Neunkirchen im Franziska Giffey, die die BKA-Auswer-
Steaks auf dem Schwenkgrill, die Kinder Saarland, wo ein 24-jähriger Mechaniker tung nächste Woche vorstellen will (siehe
spielen im Sandkasten. Die Stimmung ist seine Lebensgefährtin erwürgte, nachdem Interview Seite 48).
fröhlich. Ihr geschiedener Mann Viktor ist sie ihm erzählt hatte, sie habe sich in einen Die Zahlen werfen verstörende Fragen
nicht eingeladen. auf, nach Rollenmustern, die überkommen
Plötzlich ruft die Tochter Helene: »Da schienen: Der Mann dominiert, die Frau
kommt Papa!« Durch die geöffnete Terras- Partnerschaftsgewalt unterliegt. Auch Frauen töten und miss-
sentür betritt Viktor H. das Wohnzimmer, Weibliche Opfer in Deutschland handeln ihre Partner. Aber die Täter
er schiebt seine Sonnenbrille hoch und feu- schwerer häuslicher Gewalt sind mehrheit-
ert mit einer halbautomatischen Walther Quelle: BKA Lagebericht lich Männer, Opfer sind in 82 Prozent der
Partnerschaftsgewalt; 2017
PP 7,65 mm auf Helene, 30, die im 7. Mo- 2017 erweiterte Delikt- Fälle Frauen.
nat schwanger ist. Er verletzt sie und tötet kategorien 113965 Warum wird über die Opfer der Gewalt
ihren Mann Albert, 37, der sie schützen unter deutschen Dächern kaum diskutiert,
will. Dann zielt er auf Natalia, seine Ex- während in anderen Ländern gegen den
2015
Frau. Er schießt ihr in die Brust, ein Pro- Mord an Frauen, den Feminizid, demons-
jektil zertrümmert ihren Oberarmknochen, 104 290 triert wird? In Spanien, Italien und Mexiko
sie wird lebensgefährlich verletzt. stellten Aktivistinnen rote Frauenschuhe
Eine der Töchter schiebt die Kinder im auf öffentliche Plätze, zur Mahnung an die
Garten ins Gebüsch, im ersten Stock ver- getöteten Frauen.
steckt Sohn Anatol seine Frau und sein Wo sind die mehr als 100 000 Frauen
Baby in einem Schrank. Im Flur ringt Vik- aus der deutschen Statistik der Partner-
tor H. inzwischen mit seinem Sohn Vitali, schaftsgewalt, wer spricht für sie? Die
35, und tötet ihn mit drei Schüssen. #MeToo-Debatte um sexuelle Belästigung
Die Zeitungen schreiben von einem »Fa- hat immerhin eine breitere Öffentlichkeit
miliendrama«. So heißt es oft, wenn ein erreicht, in Firmen, in Vereinen wird nun
Mann seine Frau tötet und die Kinder. Si- darüber diskutiert, wo Kollegen und Vor-
cher, es ist eine private Tragödie, aber es gesetzte die Grenze zur Zudringlichkeit
ist viel mehr. Der Begriff Familiendrama überschreiten.
verharmlost solche Taten, verschleiert de- Aber die Gewalt zu Hause bleibt oft
ren Brutalität und schiebt sie ins Private. tabu. Der Hashtag #Keinemehr, mit dem
Dabei ist Gewalt gegen Frauen alltäglich ein feministisches Bündnis nach südame-
in Deutschland. Sie geht meist von Män- rikanischem Vorbild gegen tödliche Ge-
nern aus, die glauben, über das Leben ih- walt an Frauen mobilisieren will, zündete

40 Fotos: Lisa Wassmann / DER SPIEGEL (2)


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Weg durch den Garten zum Tatort in Saarbrücken, Tatwaffe, Nebenklage-Anwältin Puma
»Da kommt Papa«

bisher nicht. Auf Facebook sammelten sich ten Frau«, sagt die Historikerin Andrea verhältnis«, heißt es in einer Expertise
bislang gerade mal gut 400 Follower. Buskotte, die ein Buch über das Thema ge- zum Gleichstellungsbericht der Bundesre-
Was hat das mit mir zu tun?, fragen vie- schrieben hat. Auch wenn die Statistik das gierung 2017. Sowohl stark abhängige
le, ich kenne keine Frau, der das passiert. Gegenteil belege, glaubten viele, geschla- Frauen, die wenig verdienen und eine ge-
Oder: Wie kann man sich auch einen sol- gen und gedemütigt würden nur arme, un- ringe Bildung haben, werden misshandelt
chen Mann aussuchen? Dabei hat nach gebildete oder geflüchtete Frauen. »Des- als auch solche, die ihrem Partner in Bil-
der letzten repräsentativen deutschen halb schämen sich die Frauen in einer ge- dung und Beruf gleichwertig oder viel-
Befragung jede vierte Frau zwischen 16 walttätigen Beziehung und sprechen oft leicht sogar überlegen sind – manche Män-
und 85 Jahren schon einmal in ihrem Le- mit niemandem darüber.« Kein Wunder, ner sehen sich dann in ihrer gewohnten
ben körperliche oder sexuelle Gewalt dass das Dunkelfeld der Partnerschafts- Dominanz infrage gestellt.
durch einen Partner erlebt. Opfer finden gewalt sehr groß ist. Es ist nicht so, dass die Politik nichts tut,
sich in allen sozialen Schichten, die Täter Deutschland ist ein Land, in dem sich es ist nur zu wenig. Die frauenpolitische
sind Arbeitslose, Handwerker, Ärzte, Inge- trotz Emanzipation auch traditionelle Sprecherin der Grünen im Bundestag, Ulle
nieure, Hausmeister, Manager oder Archi- Rollenbilder hartnäckig halten. Das hohe Schauws, findet die Situation »so nicht län-
tekten. Ausmaß der Gewalt gegen Frauen sei Aus- ger hinnehmbar«. Es gebe nicht genug
»Häusliche Gewalt passt nicht zum druck dieser »fortbestehenden Ungleich- Schutzraum und Hilfe für weibliche Ge-
Selbstbild einer modernen, selbstbewuss- heiten und Hierarchien im Geschlechter- waltopfer, zu wenig Geld würde bereitge-

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 41


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Untersuchungsraum mit Spielzeug in der Gewaltschutzambulanz Berlin, Abdruck eines Einschusslochs im Knochen, Medizinerin Etzold
Notizen aus einer Folterkammer

stellt. Bundesweit fehlen Tausende Plätze 2017 fast 6000 Verfahren, 2013 waren es lang würden starke Emotionen des Täters
in Frauenhäusern, das nicht staatliche Un- noch 4000. wie Eifersucht vom Gericht mitunter als
terstützungssystem ist überfordert. Der Die Mehrzahl dieser Verfahren werde strafmildernd gewertet, sagt die Staatsan-
Polizei, den Staatsanwaltschaften und den allerdings eingestellt, sagt die Saarbrücker wältin. Aber »eine Beziehungstat bedeutet
Gerichten fehlt Personal, um all die Taten Oberstaatsanwältin Sabine Kräuter-Stock- zusätzlich einen schweren Vertrauens-
effektiv zu verfolgen und die Frauen mög- ton, 61. Das liege auch daran, dass viele bruch, der psychische Schaden für das Op-
lichst schnell aus dem Kreislauf der Gewalt Frauen sich vor dem Täter fürchteten, sich fer ist umso größer«.        
zu holen. abhängig fühlten und nicht mitwirken
Erst im Februar hat Deutschland die Is- wollten, ihn zu bestrafen. Es gebe zu Würgemale am Hals. Vierfach gebroche-
tanbul-Konvention in Kraft gesetzt, die wenig öffentliche Mittel und zu wenig ner Kiefer. Nase gebrochen mit Riss bis in
der Europarat 2011 verabschiedete, um Datenerhebungen. Die letzte Großstudie, die Nasennebenhöhlen. Blutergüsse in den
häusliche Gewalt zu verhüten und zu be- in der 10 000 Frauen befragt wurden, ob Augen. Schnitte im Oberkörper. Die Be-
kämpfen. Darin werden umfassende Maß- und wie sie Gewalt erlebt haben, ist funde, die Rechtsmedizinerin Saskia Et-
nahmen zum Schutz der Frauen gefordert. schon 14 Jahre alt. Nur wenn man mehr zold, 38, in ihren Gutachten notiert, lesen
Die Bundesrepublik, so Kritiker, erfüllt wisse, könne man Gewalt effektiv be- sich wie Notizen aus einer Folterkammer.
bisher nur einen Teil davon. kämpfen. Etzold ist Ärztin in der Gewaltschutzam-
Dass die Zahl der Verfahren zu Körper- Kräuter-Stockton, die im Kontrollgre- bulanz der Berliner Charité. Hier werden
verletzung, Bedrohung und Nachstellung mium des Europarats für die Istanbul-Kon- Verletzungen juristisch verwertbar doku-
steigt, liegt auch daran, dass die Frauen in- vention sitzt, fordert, das Strafgesetzbuch mentiert und begutachtet, auch ohne dass
zwischen offenbar häufiger Anzeige erstat- zu ändern: Wenn Gewalttaten in Partner- die Opfer Anzeige erstatten müssen. Das
ten. In Hamburg gab es im Dezernat Be- schaften begangen wurden, müsse dies hilft ihnen, die Übergriffe später vor Ge-
ziehungsgewalt der Staatsanwaltschaft strafverschärfend gewertet werden. Bis- richt belegen zu können.

42 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Deutschland

Seit fast fünf Jahren gibt es die Ambu- »Pack meine Sachen«, befahl er seiner aber nur mit Voranmeldung. Das habe er
lanz, die inzwischen sechs Ärztinnen be- Frau am Tag der Trennung, sie sollte ihm ausgenutzt, um sich immer wieder in den
schäftigt. »Die Gewaltbereitschaft scheint noch Frühstück für die Arbeit machen. Garten zu hocken. »Er hat seine Frau so
zuzunehmen«, sagt Etzold, »auch der Langsam und vorsichtig ist Natalia H. in in den Zustand permanenter Angst ver-
Schweregrad der Verletzungen.« 1831 Ge- den Gerichtssaal gekommen, eine kleine setzt«, sagt Anwältin Puma. Die Richterin
waltopfer ließen sich seit der Eröffnung Frau mit Locken, sie ist blass und trägt den habe Frau H. nicht geglaubt, dass Viktor
untersuchen, 77 Prozent von ihnen waren linken Arm in einer Schlinge. Zweimal ist H. eine Schusswaffe besitze, weil es nie-
Frauen. Die häufigste Ursache der Verlet- sie schon operiert worden, sie war mona- mand habe bezeugen können.
zungen: häusliche Gewalt. »80 Prozent telang im Krankenhaus, sie kann sich nicht Im Sommer 2016, acht Monate nach ih-
dieser Betroffenen berichten uns, dass allein anziehen, nicht waschen. rer Strafanzeige wegen Bedrohung, erlässt
es nicht zum ersten Mal passiert ist«, sagt »Ich verstehe nicht, warum. Was habe das Amtsgericht einen Strafbefehl über
Etzold. Ein Viertel dieser Frauen sei am ich gemacht?«, fragt sie. Sie beschreibt Vik- 450 Euro, 30 Tagessätze à 15 Euro. Der
Hals verletzt, meist durch Würgen. Auch tor als herrschsüchtigen Mann, der die Kin- Mann zahlt schließlich. Damit ist der Fall
Akademiker schlagen, sagt Etzold, aber der von klein auf schlug, der immer recht für die Justiz erledigt. Zwei Jahre später
oft nur so, dass man die Verletzungen nicht behalten wollte. In den letzten Jahren sei geht Viktor H. durch die offene Terrassen-
gleich sieht. er immer wütender geworden, aggressiver. tür und beginnt zu schießen.
Viele Frauen seien verängstigt, wenn sie Ihr Vater habe ihre Mutter »ununterbro-
bei ihnen klingelten, sie haben vielleicht chen erniedrigt und gedemütigt«, wird die Wie kommt es, dass jemand dem Men-
die Kinder zur Schule gebracht und müs- Tochter Helene später aussagen. Nach der schen Gewalt zufügt, ihn gar umbringt, der
sen den Termin in der Zeit schaffen, solan- Tat habe er gelächelt und zufrieden gewirkt. ihm am nächsten ist, den er doch eigentlich
ge der Mann arbeitet. Manche bringen ihre Wie so oft in diesen Fällen gab es Alarm- liebt oder zumindest geliebt hat? Andreas
kleinen Kinder mit, für sie liegen Stoff- zeichen. Natalia H. zeigte ihn schon 2015 Marneros, 72, Psychiater, hat sich über
bären, ein Feuerwehrauto, Malstifte und bei der Polizei an, als er ihr nach der Tren- Jahrzehnte mit Menschen beschäftigt, die
Puzzles bereit. An den Wänden hängen nung immer wieder auflauerte und drohte, ihre Intimpartner umbringen. Hunderte
friedliche Bilder von weißen Stränden, er werde sie und ihre Tochter töten. »Sie Straftäter hat Marneros vor Gericht begut-
Meer und Möwen. »Es ist wichtig, dass hatte den Eindruck, dass die Polizei nicht achtet, mehr als 80 davon hatten ihre Part-
sich diejenigen, die zu uns kommen, eini- von einer tatsächlichen Bedrohungslage ner getötet oder es versucht.
germaßen wohlfühlen«, sagt Etzold. Viele ausging«, sagt ihre Anwältin Rosetta Puma, Die größte Gefahr für eine Frau, im Er-
Frauen weinten, wenn sie ihre Geschichte die sie vor Gericht als Nebenklägerin ver- wachsenenalter getötet zu werden, gehe
erzählen. Frauen, die sich trennten, hätten tritt, »viele Menschen würden nur drohen meist von ihrem Ehemann oder sonstigen
oft nichts mehr: kein Umfeld, kein Geld. zu töten, es aber nicht tun, hieß es.« Intimpartnern aus, sagt Marneros, das las-
»Da ist der Weg in die bekannte Hölle oft Beim Familiengericht beantragte Nata- se sich auch aus internationalen Statistiken
einfacher als der Weg ins Unbekannte.« lia H. im Frühjahr 2016 ein Kontaktverbot. schließen.
Etzold weiß von mindestens einer Frau, Im April hört eine Saarbrücker Familien- Der Auslöser ist sehr oft eine Trennung.
die in der Ambulanz war, zu ihrem Partner richterin das bereits getrennt lebende Ehe- »Für den meist männlichen Täter ist es eine
zurückkehrte – und das nicht überlebte. paar H. an. Frau H. sagt, sie habe Angst narzisstische Kränkung, dass der Partner
vor ihrem Mann, er habe gesagt, sie solle ihn als Person ablehnt und damit abwer-
Viktor H., der Mann, der seine Frau er- »in ihrem Blut ertrinken«. tet«, sagt Marneros. Das erschüttere die
schießen wollte und seinen Sohn und den Er sagt, sie wolle ihm Werkzeuge aus Selbstdefinition mancher Menschen tief
Schwiegersohn tötete, muss sich seit dem dem Gartenschuppen nur über den An- und könne zu einer Kette von psychologi-
23. Oktober vor dem Saarbrücker Land- walt geben. Da habe er zu ihr gesagt: Ich schen Reaktionen führen, an deren Ende
gericht verantworten, wegen zweifachen steck dir die Papiere vom Maul bis zum sie manchmal töten. Die Täter betrachte-
Mordes und zweifachen versuchten Mor- Arsch. Das andere habe er nicht gesagt. ten die Frau als ihren Besitz und wollten
des. Er habe sich drangsaliert gefühlt von Natalia H. muss sich mit einem Ver- nicht hinnehmen, sie zu verlieren.
seiner Frau und seinen Kindern, sagte er gleich begnügen: Ihr Ex-Mann darf weiter Manche, die zu Mördern werden, sähen
nach der Tat, er empfand es als ungerecht, seine Werkzeuge aus dem Schuppen holen, sich vor einem »finalen Bankrott ihres Le-
dass er schwer nierenkrank sei, die ande-
ren aber nicht. Deshalb sollten sie sterben.
Viktor H., untersetzt, graue kurze Haa-
re, Brille, trägt Anzug und Krawatte zum
Prozessauftakt, er wirkt ganz ruhig. Mehr Körperverletzung 69,7%
als 35 Jahre lang war er mit der Frau ver-
heiratet, die er töten wollte, schon auf der
Schule in Nowosibirsk hatten sie sich ken- Weibliche Opfer
nengelernt. Sie bekamen fünf Kinder und von Straftaten
wanderten 1992 als Russlanddeutsche
durch Ehepartner, Lebens-
nach Deutschland aus. »Sie hat für mich
gefährte oder Ex-Partner Straftaten gegen die
gewaschen und gekocht, und ich habe das nach Delikten persönliche Freiheit
Geld verdient«, sagt er. Als der Staats- in Deutschland 2017 u. a. Stalking, Freiheits-
anwalt mehrmals nachhakt, warum er sich 26,5% beraubung, Bedrohung
Quelle: Polizeiliche
denn drangsaliert gefühlt habe, hat er Kriminalstatistik 2017
Mühe, das zu erklären. Sie hätten ihn aus-
genutzt, sagt er dann, vor allem seiner
Frau und seiner Tochter sei es ums Geld
gegangen, sie hätten ihn aus dem Haus ge- Mord, Totschlag 2,5% Sexualdelikte
trieben – dabei hatte er sich getrennt. Die und Tötung auf
Kinder hatten seiner Frau beigestanden. Verlangen 0,3 % an 100% fehlende: Sonstige (u. a. Raub)

Fotos: Lisa Wassmann / DER SPIEGEL 43


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Deutschland

Bis zu 19 Institutionen sind


beteiligt, wenn die Fälle in re-
gelmäßigen Konferenzen bera-
ten werden: die Opferhilfe, ein
Frauenhaus, die Täterberatung,
der sozialpsychiatrische Dienst,
die Staatsanwaltschaft, das
Jugendamt. Was tun sie? »Wir
buchen Plätze im Frauenhaus
vor oder beantragen eine Mut-
ter-Kind-Kur, damit die Frau
erst mal aus der Schusslinie ist«,
sagt Holtkamp. Bei Hochrisiko-
fällen werden die Daten der
Frauen in der Einsatzzentrale
hinterlegt, damit die Beamten
alarmiert sind, wenn etwas vor-
fällt.
Die Frauen bekommen ein
Smartphone mit einer Notfall-
App. Häufig seien die Handys
der Frauen vom Täter manipu-
liert, sagt Holtkamp, sodass er
sie verfolgen oder sogar Gesprä-
che mithören kann. Einmal kam

FOTOS: LISA WASSMANN / DER SPIEGEL


eine Frau mit vier Kindern ins
Zeugenschutzprogramm, sie le-
ben nun mit neuer Identität.
»Da war einfach klar, er wird sie
sonst umbringen«, sagt Holt-
kamp. Eine ihrer zentralen Er-
fahrungen lautet: Wenn er droht:
ich bring dich um – immer ernst
nehmen!
Uniformjacke, Fragebogen, Osnabrücker Hauptkommissarin Holtkamp im Schießstand Das Konzept funktioniere,
»Mehr als eine Frau vor dem Tod bewahrt« sagt Holtkamp: In keinem der
mehr als 300 Hochrisikofälle,
die sie anhand der Liste beurteilt
bens«. Weil sie keine anderen Ressourcen alle, aber viele. Holtkamp arbeitet bei der und in Fallkonferenzen beraten hätten, sei
für ihr Selbstbild hätten, etwa berufliche, Polizei Osnabrück, »Präventionsteam« die Frau umgebracht worden. »Wir arbei-
soziale Kontakte oder Erfolgserlebnisse, steht an der Glastür zu ihrem Büro. 20 Jah- ten hier in der Überzeugung: Wenn wir
reagierten sie mit dem primitiven Bewälti- re lang hat Monika Holtkamp bei Mord nur eine Frau vor der Tötung bewahren,
gungsmechanismus extremer Gewalt. und Totschlag ermittelt, sie hat viele Frau- hat es sich gelohnt. Und ich glaube, wir
Marneros hat Hochrisikogruppen iden- en tot in ihrem Blut liegen sehen. »Jetzt haben mehr als eine davor bewahrt.«
tifiziert. Ein Tätertypus ist der bösartige versuche ich zu verhindern, dass Frauen Und doch passierte es, in Bramsche
Narzisst. Eine solche Persönlichkeit sei überhaupt getötet werden.« nördlich von Osnabrück erschlug ein 23-
häufig hochaggressiv, sehe sich als unan- Ihr Werkzeug gegen die Gewalt ist eine Jähriger im Juni 2017 seine ehemalige Le-
tastbar und machtvoll. »Wird das infrage Liste, zwei Seiten lang, 20 Fragen. Darun- bensgefährtin mit einer Axt. »Das war
gestellt durch den Partner, lässt er seinen ter: Besitzt der Gefährder eine Schusswaf- nicht zu verhindern«, sagt Holtkamp, das
Impulsen freien Lauf und kann dann im fe? Hat er jemals versucht, Sie zu würgen? Paar sei vorher nicht aufgefallen, habe sich
Affekt töten oder plant es vielleicht sogar Hat er angedroht, Sie zu töten? Und: Ver- an niemanden gewandt, obwohl es Proble-
als gezielte Rache.« Ihn beherrsche dabei folgt er Sie und spioniert Ihnen nach? me gab.
ein Gefühl der »gerechten Wut« gegen- Seit drei Jahren arbeitet die Polizei Os- Holtkamp wird häufig als Referentin
über dem Partner, den er bestrafen will nabrück mit diesem Fragenkatalog, um eingeladen, viele Polizeidienststellen inte-
und meist entwertet und dämonisiert. Hochrisikofälle bei häuslicher Gewalt zu ressieren sich für das Osnabrücker Modell.
Schwieriger zu erkennen seien die identifizieren und einzuschreiten, bevor Mit dabei hat sie dann immer eine Folie
schwachen, wenig selbstbewussten Täter- Schlimmeres passiert. mit zwei Kreisen. Im einen steht die Zahl
persönlichkeiten. Fühlten sie sich dauer- Jede Frage, die mit Ja beantwortet wird, 13 595, das waren die Wohnungseinbrüche
haft gekränkt oder gedemütigt, dringe da- zählt bestimmte Punkte, je höher die Punkt- 2017 in Niedersachsen, im anderen stehen
von wenig nach außen. »Die Katastrophe zahl am Ende, desto höher das Risiko für die Fälle häuslicher Gewalt, 18 205. »Man
tritt dann für die Umgebung völlig überra- die betroffene Frau. Mehr als 17 Punkte be- sieht, es gibt deutlich mehr häusliche Ge-
schend ein, zumal diese Täter in der Regel deutet: »extreme Gefährdung«, vor allem, walt«, sagt Holtkamp, »bloß darüber
keine Gewaltvorgeschichte haben.« wenn noch akute Stressfaktoren dazukom- spricht kaum einer, aber über die Einbrü-
men wie ein Streit ums Sorgerecht. Dann che regen sich alle auf.«
Kann man solche Beziehungstaten über- beruft die Polizei oder die Frauenberatungs-
haupt verhindern? Polizeihauptkommis- stelle umgehend eine Fallkonferenz ein, auf Macht und Kontrolle, vor allem darum
sarin Monika Holtkamp, 62, sagt Ja. Nicht der Sofortmaßnahmen beraten werden. gehe es dem Mann, der in der Beziehung

44 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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gewalttätig wird, das sagen Polizisten, Bremer Rechtspsychologin Luise Greuel


Staatsanwälte, Sozialarbeiter. fand 2010 bei einer Untersuchung von 43
Es gibt Warnzeichen, lange vorher, sagt Tötungen des Intimpartners, dass jeder
Petra Söchting, 55, die das bundesweite vierten Tat nach einer Trennung ein aus-
Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« in gedehntes Stalking vorausging.
Köln leitet. Viele Frauen, die die Hotline Doch trotz Änderung des Stalking-Pa-
08000 116 016 anriefen, sprächen davon, ragrafen ist es immer noch schwierig, den
es sei erst die ganz große Liebe gewesen. Tatbestand gerichtsfest zu beweisen, denn
»Aber irgendwann kippt diese Nähe.« Oft das Nachstellen muss »beharrlich« sein
beginne es damit, dass der Mann Dutzen- und »geeignet«, das Leben des Opfers
de SMS sende: Wo bist du? Was machst »schwerwiegend zu beeinträchtigen«.

LISA WASSMANN / DER SPIEGEL


du? Mit wem? »Ist das noch Interesse oder Die Polizei versucht, die Gewaltspirale
schon Kontrolle?« zu durchbrechen, indem sie Täter der
Die Eifersucht des Partners könne sich Wohnung verweist oder hilft, Kontaktver-
dann an allem Möglichen entzünden, »es bote durchzusetzen. Häufig stehen die Be-
muss gar kein anderer Mann sein«, sagt amten vor dem Problem, dass die Frauen
Söchting. Oft gehe es um den Freundes- nicht gegen ihre Männer aussagen wollen.
kreis der Frau, den Sportverein, ihre be- »Doch ohne Mithilfe des Opfers können
ruflichen Erfolge. Gewalttätige Partner wir nicht viel tun«, sagt ein Hamburger
wollten oft die totale Verfügungsgewalt Zentrale des Hilfetelefons in Köln Polizeibeamter. »Die Frauen rufen uns oft
über eine Frau. »300 000 Anrufe« in der akuten Not, doch später wollen sie
»Ich werde dir zeigen, was es heißt, mich häufig nicht kooperieren.«
zu verarschen«, schrieb der 24-jährige Me- Die aktuelle Praxis der Strafverfolgung
chaniker Dominik F. seiner Freundin in king« sei inzwischen »ein weitverbreitetes mache es den Frauen schwer, kritisiert die
Neunkirchen, wenige Tage bevor er sie er- Phänomen«, schreibt der Hamburger Senat Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm,
würgte. »Du feiges Stück Scheiße, du in einer Parlamentsanfrage zu Beziehungs- 51, die auch auf Partnerschaftsgewalt spe-
lernst mich kennen, wie ich ausraste.« gewalt. Da werden E-Mails ausgespäht, Vi- zialisiert ist. Die Staatsanwaltschaft könne
Viele Männer verfolgen ihre Frau, wenn ren eingeschleust, wird in sozialen Netz- helfen, indem sie die Verfahren beschleu-
sie sich getrennt hat, lauern ihr auf, rufen werken die Identität des Opfers benutzt. nigt bearbeite, stets ein öffentliches Inte-
sie permanent an. Sie schicken SMS, über- Stalking gilt als Warnzeichen in einem resse annehme und auch ohne Strafantrag
wachen sie via Smartphone. »Cyberstal- eskalierenden Beziehungskonflikt. Die anklage. Bei Richterinnen und Richtern

Ein echter Welterfolg: Laut WHO


ist der Pockenvirus dank globaler
Impfprogramme ausgerottet.

1923
Macht der Diphtherie einen
1980
Stich durch die Rechnung:
der erste aktive Impfstoff
gegen die schwere Atem-
wegserkrankung.

1955
Fieberhafter Forschung
sei Dank: Der Impfstoff aus
inaktivierten Polioviren
schützt vor Kinderlähmung.

Dank der Chemie genießen nicht nur


РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

erlebt Clemm oft ein überraschendes Ver- glaubte ihm – und verweigerte die Aussa-
ständnis für den Täter. Er leide ja auch un- ge. »Ich wollte nicht schuld sein daran,
ter der Trennung, heiße es da schon mal, dass er ins Gefängnis muss«, sagt Braun.
oder dass strafmildernd zu berücksichtigen Das Verfahren wurde eingestellt.
sei, wenn er die Kinder nur noch einge- Sie blieb, selbst dann noch, als das Ju-
schränkt sehen könne. »Die Richter urtei- gendamt nach einem der vielen nächt-
len dann deutlich milder mit dem gewalt- lichen Polizeieinsätze entschied, ihre zwei-
tätigen Partner als mit einem Fremden, der jährige gemeinsame Tochter lebe besser
einer Frau Gewalt antut.« Für die Frauen bei Pflegeeltern. Etwa ein Drittel aller
sei das ein unhaltbarer Zustand. Frauen kehre selbst nach ihrer Zeit im ge-
schützten Haus zu ihrem Partner zurück,

LISA WASSMANN / DER SPIEGEL


Sieben Frauen und elf Kinder wohnen erzählt Anna Müller, 60, die Leiterin des
derzeit im Frauenhaus der Arbeiterwohl- Frauenhauses. »Sie hoffen, dass er sich än-
fahrt in einer stillen Seitenstraße von Iser- dert. In 98 Prozent der Fälle tut er es
lohn, drinnen hell gestrichene Räume mit nicht.«
selbst gemalten Bildern an den Wänden, Neben Müller kümmern sich eine So-
in der Küche hängt der Putzplan, alle müs- zialpädagogin, eine Verwaltungsfachkraft
sen mithelfen. Die Bewohnerinnen hatten und eine Erzieherin um die Frauen und
Glück, 100 Frauen mussten vergangenes die Kinder: Sie beantragen Krankenkas-
Jahr abgewiesen werden, weil es keinen Hilfetelefon-Leiterin Söchting senkarten, organisieren Arzttermine. Man-
Platz mehr gab. »Irgendwann kippt diese Nähe« che Frauen brauchen erst mal ein eigenes
Kerstin Braun, die ihren richtigen Na- Konto, um Kindergeld erhalten zu können.
men nicht in der Zeitung lesen will, kam Davor lief alles über die Männer.
an einem Sonntag im Oktober. Warum sie ihr neuer Mann aus. Er prügelte vor den Manche werden abgewiesen, weil sie
ausgerechnet an diesem Tag die Entschei- Augen der Kinder auf sie ein, bis sie am nicht bezahlen können. Wenn eine Frau
dung traf, kann sie selbst nicht sagen. ganzen Körper blutete. Dann würgte er Hartz IV bekommt, werden die Kosten
Denn der Tag, an dem ihr Mann versucht sie so lange, bis sie bewusstlos zusammen- übernommen. Andere müssen die Kosten
hatte, sie umzubringen, liegt schon mehr sackte. Bis heute kann sie nicht richtig mitunter selbst tragen – oder gehen.
als zwei Jahre zurück. Sie war mit ihrem schlucken. »Im Grunde verstoßen wir gegen Men-
Ex-Mann und den Kindern im Zirkus ge- Sie zeigte ihn an, doch vor Gericht zeig- schenrechte«, sagt Müller: »Einige Perso-
wesen. Als sie nach Hause kam, rastete te er Reue und gelobte Besserung. Sie nen bekommen Hilfe, andere nicht.« Gut

2018
So macht die Grippe keine Ihre Chemie sorgt auch morgen
große Welle: mit den jährlich
neu entwickelten Grippe- mit Kreativität und Forschergeist
impfstoffen gegen Viren- für die Prävention von Krank-
stämme der Influenza.
heiten. So steht einer gesunden

2006
Stoff für die Geschichtsbücher:
Zukunft nichts im Wege.

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Der erste Impfstoff zum Schutz
vor Gebärmutterhalskrebs steht unter www.ihre-chemie.de.
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Diplomaten Immunität.
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Geschlechter Familienministerin Franziska Giffey, 40 (SPD), steht vor ich als erste Maßnahme einen runden
Tisch einberufen, an dem Bund, Länder
einem Problem, das sie schon als Bezirksbürgermeisterin von Berlin- und Kommunen mit Fachleuten aus der
Neukölln beschäftigt hat: Zu viele Frauen erleben häusliche Gewalt. Praxis zusammenarbeiten.
SPIEGEL: Es gibt seit Jahren eine Bund-
Länder-Arbeitsgruppe. Wann folgen dem

»Unvorstellbare Zahlen« Reden denn mal Taten?


Giffey: Das stimmt, und es wurde auch
schon viel getan, es gibt etwa das Hilfe-
telefon Gewalt gegen Frauen, an das sich
in den ersten fünf Jahren schon mehr
SPIEGEL: Frau Giffey, jeden zweiten bis und sonntags eine Frau von ihrem Partner als 300 000 Hilfesuchende gewandt ha-
dritten Tag wird in Deutschland eine Frau umgebracht wird, ist in einem modernen ben. Aber es ist wirklich das erste Mal seit
vom Partner oder Ex-Partner getötet. Land wie Deutschland eine unvorstellbare Gründung des ersten Frauenhauses 1976,
Sind Männer hierzulande besonders ge- Größenordnung. Aber es gibt ja durchaus dass sich Bund und Länder gemeinsam
walttätig? Debatten darüber. Wir wollen mit unseren mit den Kommunen an einen Tisch setzen,
Giffey: In jedem Land gibt es gewalttätige Maßnahmen auch dazu beitragen, das um verbindliche Absprachen zu erzielen.
Menschen, das ist kein typisch deutsches Thema noch stärker öffentlich zu machen. Zu allererst geht es um eine Bestandsauf-
Problem. SPIEGEL: Politiker sind in der Pflicht, das nahme über Frauenhausplätze, Beratungs-
SPIEGEL: Die Opferzahlen häuslicher Thema auf die Tagesordnung zu bringen. stellen und deren Finanzierung. Die letz-
Gewalt steigen seit Jahren. In anderen Ländern reden sie von Femizi- ten umfassenden Zahlen sind von 2012.
Giffey: Sie sind zumindest gleichbleibend den – die Bundesregierung möchte das SPIEGEL: Waren Sie nicht geschockt, als
hoch. Wir werden am Dienstag die Aus- nicht. Ist es nicht Zeit, die Sache beim Na- Sie ins Ministerium kamen und sahen,
wertung des Bundeskriminalamts zur men zu nennen? dass es nicht einmal dieses grundsätzliche
Partnerschaftsgewalt für 2017 veröffentli- Giffey: Das Wort bringt zum Ausdruck, Zahlenmaterial gibt?
chen. Demnach gab es vergangenes Jahr dass Frauen aufgrund ihres Frauseins er- Giffey: Wir brauchen zumindest dringend
138 383 Opfer von häuslicher Gewalt, da- mordet werden. Der Begriff Femizid neue Daten, um gezielt handeln zu kön-
von 113 965 Frauen, also 82 Prozent. In wird fachlich diskutiert. In der Öffentlich- nen. Ich weiß, wie schwierig es ist, Frauen
147 Fällen wurde eine Frau von ihrem keit kennt den aber kaum jemand. Mir in Gefahr zu helfen. Als ich Bezirksbürger-
Partner oder Ex-Partner getötet. geht es darum, dieses Problem so klar zu meisterin in Berlin-Neukölln war, hatten
SPIEGEL: Das ist ein Sprung im Vergleich benennen, dass es alle verstehen. wir im Jahr mindestens zehn Fälle, in
zu 2016, als 109 000 Frauen Opfer von SPIEGEL: Sagen Sie doch Frauenmorde. denen wir junge Frauen, häufig mit Migra-
häuslicher Gewalt wurden. Giffey: Der Begriff Frauenmorde trifft es tionshintergrund, komplett aus ihren
Giffey: Das stimmt, aber das erklärt sich gut, auch wenn er juristisch nicht ganz Familien rausgeholt haben. Sie brauchten
vor allem dadurch, dass neue Kategorien präzise ist. Richtig ist aber: Nur wenn wir eine neue Identität, eine Zufluchtswoh-
von Gewalt in die Statistik aufgenommen das Problem klar benennen, bringen wir nung möglichst weit außerhalb Berlins.
wurden. Zum Beispiel Freiheitsberau- Kraft in das Thema. Das war immer ein Kraftakt.
bung, Zwangsprostitution und Zuhälterei. SPIEGEL: Was tun Sie jetzt? SPIEGEL: Schon jetzt ist klar, dass in
Rechnet man die heraus, ist der Anteil Giffey: Wir haben die Bekämpfung von Deutschland Tausende Zufluchtswohnun-
nahezu stabil. Generell kann ein Anstieg Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder gen fehlen. Frauenhäuser müssen oft
von Zahlen auch bedeuten, dass mehr zum Schwerpunkt gemacht. Konkret habe ebenso viele Frauen ablehnen wie sie auf-
Taten angezeigt werden. Das wäre eine nehmen. Was tun Sie gegen diesen Not-
gute Nachricht. stand?
SPIEGEL: Man hat zuletzt viel von Frauen- Giffey: Wir wollen drei Fragen beantwor-
morden durch Migranten gelesen. Sehen ten: Wie können die rechtlichen Rahmen-
Sie einen Zusammenhang zwischen den bedingungen verbessert und vereinheit-
Zahlen zur häuslichen Gewalt und der ge- licht werden? Wo muss in Frauenhäuser
stiegenen Einwanderung? investiert werden? Und was passiert
Giffey: Beim Thema Partnerschaftsgewalt eigentlich nach dem Frauenhaus, wenn
liegt der Anteil deutscher Staatsangehöri- die Frauen beim Aufbau eines neuen
ger unter den Tatverdächtigen laut Statis- Lebens Unterstützung brauchen? Mit dem
tik bei knapp 68 Prozent. Das Problem runden Tisch wollen wir unser Aktions-
geht durch alle gesellschaftlichen Schich- programm gegen Gewalt an Frauen aus-
ten und alle ethnischen Hintergründe. Die arbeiten, das 2019 anlaufen wird.
Einzelberichterstattung zeichnet oft ein SPIEGEL: Von den fast 140 000 Gewalt-
anderes Bild. Wenn man die Zeitung liest, opfern in Deutschland sind immerhin
hat man manchmal das Gefühl, nur 25 000 Männer. Wo finden sie Hilfe?
INGA KJER / PHOTOTHEK.NET

Flüchtlinge und Migranten verprügeln Giffey: Für gewaltbetroffene Männer gibt


und töten ihre Frauen, weil diese Fälle im- es einige sogenannte Männerhäuser, in
mer ganz groß dargestellt werden. Oldenburg, Berlin, Leipzig oder Dresden.
SPIEGEL: In Spanien gingen Frauen mas- Groß ist das Angebot aber nicht. Wenn
senweise auf die Straße, um gegen die laut Statistik fast ein Fünftel aller Opfer
»Macho-Gewalt« zu protestieren. Wo von Partnerschaftsgewalt Männer sind,
bleibt der deutsche Aufstand? kann man das nicht ignorieren. Auch da
Giffey: Das frage ich mich auch manch- Ministerin Giffey müssen wir mehr tun.
mal. Dass quasi montags, donnerstags »Kraft in das Thema bringen« Interview: Ann-Katrin Müller, Anne Seith

48 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Deutschland

ihnen sei die Hand ausgerutscht.


»Gewalt ist immer eine Entschei-
dung«, sagt Schmiedel. Das heißt:
Man kann sich auch dagegen ent-
scheiden. »Wir verurteilen die Tat,
aber nicht den Mann, der die Ver-
antwortung übernimmt.«
Das Leugnen habe viel mit
Scham zu tun, sagt der Sozialpä-
dagoge. Prügel in der Partner-
schaft seien nichts, womit sich ein
Mann brüsten könne, anders als
mit einer Kneipenschlägerei.
Die Männer in seinen Kursen
kämen aus allen Kulturen, Alters-
gruppen und sozialen Schichten.
Vor ihm säßen Entscheidungsträ-

ger aus der Wirtschaft ebenso wie 
 
  
arbeitslose Schulabbrecher.
Aus den Gewalttaten spreche
häufig ein unsicheres Selbstbild,
LISA WASSMANN / DER SPIEGEL

sagt Schmiedel: »Die Täter fühlen


sich in einer selbst gesetzten Hie-
rarchie verletzt. Sie empfinden
sich als unterlegen, wenn Gleich-
berechtigung herrscht. Dann glau-
ben sie, ein Gleichgewicht mit Ge-
walt wiederherstellen zu kön-
nen.« In Gefahr seien deshalb un-
Täterstuhlkreis in München ter anderem Frauen, die sich
»Gewalt ist immer eine Entscheidung« emanzipieren, indem sie eine
neue Beziehung wählen oder im
Beruf durchstarten. »Natürlich«,
situierte Frauen kämen seltener ins Frau- sagt Schmiedel, »hängt Gewaltneigung
enhaus, sie hätten eigene Netzwerke.

In einem nüchternen Besprechungszim-


auch damit zusammen, wie groß das hie-
rarchische Gefälle zwischen Mann und
Frau ist.«


mer einer Büroetage im Münchner Stadt-


teil Moosach sitzen an drei Abenden in
der Woche acht Männer im Stuhlkreis. Sie
Natalia H., die Frau, die an ihrem
60. Geburtstag in den Lauf einer Pistole
blickte, wurde inzwischen zum dritten Mal
 
kommen meist nicht freiwillig, ein Gericht
oder das Jugendamt hat sie geschickt oder
operiert. Ärzte haben in ihrer Hand noch
ein Projektil entdeckt. Es ist unklar, ob sie  
die Partnerin verlangt Besserung. Die den angeschossenen Arm je wieder nor-
Männer haben ihre Frauen körperlich und mal gebrauchen können wird.
seelisch verletzt und sollen nun einen Weg Immerhin muss sie ihrem Ex-Mann kei-
finden, anders als mit Gewalt auf Konflikte ne Nutzungsentschädigung mehr für das
zu reagieren. Sie besuchen ein bundesweit gemeinsame Haus zahlen, das zum Tatort
anerkanntes »Täterprogramm« gegen Part- wurde. Sie kann dort nicht mehr leben,
nerschaftsgewalt im Münchner Informa- weil sie gepflegt werden muss und deshalb
tionszentrum für Männer (MIM). bei ihrer Tochter wohnt. Es sei ein »erle-
An der Wand in Moosach hängt eine digendes Ereignis« eingetreten, so das Fa-  $   '  &

Kamera für Videoaufzeichnungen, um Pro- miliengericht. ++ 
$
   
blemgespräche zu analysieren, auf einem Der Prozess vor dem Saarbrücker Land-
Beistelltischchen aus Metall steht eine gericht geht weiter. Für nächste Woche hat %$    
graue Box mit Taschentüchern. Viktor H. eine Aussage angekündigt. Seine
Die brauchten seine Gesprächspartner Ex-Frau traut ihm weiter alles zu, auch  %
$ % $
manchmal, erzählt Andreas Schmiedel, 58, dass er versuchen wird, seinen Plan eines  *$   %
der die Kurse gegen Partnerschaftsgewalt Tages zu vollenden. Und sie und ihre Toch-
leitet. Es gebe viel Trauer, Wut und andere ter tötet. '  $ ! )% '
Emotionen. Der Sozialpädagoge konfron- Laura Backes, Jan Friedmann, Annette
tiert die gewalttätigen Männer mit ihrem Großbongardt, Ann-Katrin Müller, % $(  "
Handeln: »Sie müssen sich ihren Taten Anne Seith
stellen«, Ausreden lässt Schmiedel nicht
gelten, etwa wenn Männer verharmlosend ‣ Ab Montag, dem 19. November, startet
von »unschönen Szenen« in der Partner- bei SPIEGEL ONLINE eine Themenwoche mit wei-
schaft berichteten. Oder wenn sie ihm er-
klärten, es sei »so ein Impuls« gewesen,
teren Texten zum Thema Partnerschaftsgewalt. $  "%$ 
49
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Deutschland

Der Mann irrte. Vier Jahre später ist der Das Hylotox-Problem ist allgemein be-
Herzog und Krieg wieder ausgebrochen. Glücklicher-
weise schicken auch Wettiner heute keine
kannt. In Brandenburg wird das Domstift
deswegen saniert, bei Potsdam das Schloss
Truppen mehr los, sondern nur Rechtsan- Charlottenhof. Der SPIEGEL berichtete
Holzwurm wälte. Fünf Herzoginnen, eine Prinzessin
und ein Herzog verklagen den Freistaat
schon 1997 darüber. Das Wirtschaftsminis-
terium in Sachsen hat mit dem Landesamt
nun vor dem Dresdner Landgericht auf für Denkmalpflege ein Faltblatt zum The-
Adel Nie wieder wollten Sachsen Schadensersatz, genau 100 Jahre nachdem ma herausgegeben. In Fachbeiträgen säch-
und die Nachfahren des letzten der letzte Wettiner abgedankt hat (»Macht sischer Museen wird über den nötigen
Königs miteinander streiten. euern Dreck alleene«). Schutz bei der Arbeit mit Hylotox-belas-
Sachsen habe ihnen teilweise wertlosen teten Kunstwerken informiert: »Staubmas-
Dann drehte der Freistaat ihnen Sondermüll aufgeschwatzt, argumentieren ke, Handschuhe und spezielles Absaugge-
Sondermüll als Kunstgüter an. dessen Nachfahren. Sie erfuhren davon, rät zur Aufnahme giftiger Stäube«.
als sie einige Kunstgüter verkaufen woll- Experten können die Kontamination
ten. In einer Mail teilte das Auktionshaus recht mühelos erkennen. Auf den behan-

Z um großen Finale fuhr ein Lastwa-


gen am idyllischen Elbschloss Pillnitz
vor. Verladen wurden Dinge, auf die
Königs lange hatten verzichten müssen:
Christie’s in München ihnen mit, drei Ob-
jekte aus einer Auktion zurückzuziehen.
Der hauseigene Möbelspezialist hatte eine
»Kontamination mit Hylotox« festgestellt
delten Flächen bilden sich kleine, milchig
weiße Kristalle. Sie sind an den betroffe-
nen Kommoden und dem Eckschrank gut
zu sehen, vor allem in den Schubkästen.
eine güldene Prunkkutsche des sächsi- und erklärt, ein Verkauf sei »nicht mög- Die Wettiner sagen, dass ihnen das Fach-
schen Hofes, glänzende Kommoden aus lich«. Die drei Möbelstücke, Schätzwert wissen fehle und sie nichts von den Pro-
Nussbaum, Stühle von 1720, Tabourets 114 000 Euro, kamen luftdicht eingepackt blemen gewusst hätten. Aber was ist mit
vom Ende des 18. Jahrhunderts. in Plastikfolie zurück. den Kunstsammlungen?
Aus der Sächsischen Landesbibliothek Am besten sollte niemand sie mehr aus- Sicher ist, dass die Dresdner Sammlun-
in Dresden wurden mehr als 1300 Bücher wickeln. Hylotox 59 wurde in der DDR gen und der Freistaat kein entspanntes Ver-
herangekarrt, in manchen hatte schon noch bis zur Wende als Mittel gegen Holz- hältnis mit den Wettinern pflegten. Mal
Sachsens König Johann geblättert. Und würmer eingesetzt. Ein Liter der Flüssigkeit klagte der zuständige Kunst-Staatssekretär,
per elektronischer Anweisung schickte der enthielt 30 Gramm DDT und 5 Gramm Lin- er fühle sich von den Wettinern mit
Freistaat Sachsen noch 4,8 Millionen Euro dan – beides hochgiftige und nachhaltig »Schüssen aus der Schrotflinte« verfolgt.
hinterher. im menschlichen Körper bleibende Nerven- Mal jammerte der Chef der Kunstsamm-
Empfänger in jenem Dezember 2014 gifte. Ein Gutachter rückte mit der Bohr- lungen, die Erben würden »den gesamten
waren die Nachfahren Augusts des maschine an, ein Labor entdeckte in Bohr- Laden lahmlegen« – und er habe, auch
Starken: das Fürstenhaus Wettin. 18 Jahre kernen eine teils »sehr hohe Belastung« mit wenn die Rechtslage eine andere sei, kein
lang hatten die Erben mit dem Freistaat DDT und Lindan. Die Stücke zu dekonta- »Verständnis dafür, dass Museumsbestän-
Sachsen um ihr Eigentum gestritten, nun minieren ist technisch derzeit nicht möglich. de als Bedienmasse angesehen werden und
feierten alle die »abschließende gütliche Bleibt die fachgerechte Entsorgung. persönlicher Reichtum über das kulturelle
Einigung«. Der Chef der Staatlichen Wussten die Vertreter der staatlichen Erbe aller gestellt« werde. Dabei wollte
Kunstsammlungen schwärmte nach jahre- Kunstsammlungen, was sie den Nachfah- die Familie immer nur eine finanzielle Ent-
langer Pein von einem »endgültigen ren des letzten sächsischen Königs mit auf schädigung. Die Kunstwerke sollten blei-
Rechtsfrieden«. den Weg gaben? ben, wo sie waren.
Am Ende half alles nichts: Der Freistaat
zahlte einen zweistelligen Millionenbetrag
an die Familie um Rüdiger Prinz von Sach-
sen Herzog zu Sachsen und gab Tausende
Besitztümer zurück.
Waren die giftigen Möbel nach all dem
Zoff eine hinterlistige Retourkutsche? Ver-
treter der Sammlungen wollen sich zu der
Frage, ob die Kontamination bekannt war,
nicht äußern. Es sei ein laufendes Verfah-
ren. Kristalline Ausblühungen auf Kunst-
gütern seien indes »ein Verdachtsmoment,
aber kein Beweis«. Hylotox-verdächtige
Objekte im eigenen Besitz habe man hin-
gegen sicher verpackt: »luftdicht und mit
Aktivkohlefiltern eingehaust«.
Mitgliedern des Hauses Wettin, die bei
einem Sieg vor Gericht das Geld für ein
gemeinnütziges Umweltprojekt in Sachsen
spenden wollen, teilte eine Referatsleiterin
OLIVER KILLIG / DER SPIEGEL

aus dem Finanzministerium schriftlich mit,


die Gegenstände seien »in ihrem aktuellen
Zustand und ohne Gewährleistung über-
tragen« worden.
Mit anderen Worten: Pech gehabt.
Steffen Winter
Kommodenerbe Rüdiger von Sachsen: Hochgiftige Möbel

50 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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und ihrer Kultur

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Intensiverleben
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Gesellschaft
Den Teufeln aus dem Süden in den Arsch treten, genau wie Donald Trump. ‣ S. 54

Q U E L L E : B E RT E L S M A N N - ST I F T U N G
61 Prozent der Deutschen finden,
dass die Welt früher ein besserer Ort war. Früher war alles schlechter
Nº 151: Nostalgie
61 Deutsche 39

65 Franzosen 35

77 Italiener 23

64 Spanier 36
39 Prozent
der Deutschen sind
59 Polen 41 anderer Meinung.

Vom »Gift der Nostalgie«, von der fatalen menschli- wenig von der EU halten und Angst vor Einwande-
chen Neigung, alles Vergangene unabhängig von den rern haben, was sie empfänglich macht für restaurati-
Fakten zur Idylle zu verklären, war an dieser Stelle ve politische Botschaften. Dass die AfD nicht längst
schon mehrfach die Rede. Nun hat die Bertelsmann- mit »Make Germany Great Again« wirbt, liegt nur
Stiftung kürzlich das Ausmaß dieser unglückseligen daran, dass der Satz nicht deutsch genug ist. Nein,
Wirklichkeitsverzerrung, wie sie in der törichten die Welt war früher kein besserer Ort. Die heutigen
Redensart »Früher war alles besser« zum Ausdruck Generationen sind in ihrer Lebenszeit Zeugen radi-
kommt (einer Haltung, der diese Rubrik seit 151 Folgen Guido Mingels kaler globaler Verbesserungen geworden, der Wohl-
entgegenzuwirken sucht), in einer Umfrage aufgezeigt. »Früher war alles stand nimmt zu, die Freiheit gedeiht, die Bildung
Probanden in der Europäischen Union wurden gefragt, schlechter 2« verbessert sich, die Gewalt nimmt ab, die Lebens-
ob sie der Aussage »Die Welt war früher ein besserer SPIEGEL-Buch erwartung steigt, die Sicherheit wächst. Eine realis-
mit Grafiken von
Ort« zustimmen oder nicht. Ergebnis: Zwei Drittel Michael Walter tische, faktenbasierte Weltsicht muss aushalten
der Europäer (67 Prozent) sehnen sich zurück in eine bei DVA, München; können, dass folgende drei Aussagen gleichzeitig
»gute alte Zeit«, die es nicht gab. Unter den Deutschen 144 Seiten; 15 Euro. wahr sind: Es geht der Welt sehr viel besser als jemals
leiden 61 Prozent an Nostalgie, in Italien sind es sogar zuvor; vieles ist immer noch schrecklich; es kann noch
77 Prozent, in Polen 59 Prozent. Die Studie zeigt auch, viel besser werden. Mit zuversichtlichen Grüßen, Ihr
dass Nostalgiker sich politisch eher rechts verorten, [email protected]

Konsum Häusel: Schnäppchen kommt ja von Häusel: Das war eine Aktion, um Mode-
Was machen Schnäppchen schnappen. Früher schnappten wir Kanin- kollektionen auszuverkaufen. Das gibt es
chen, heute Flachbildfernseher. Der Mensch heute das ganze Jahr. Black Friday klingt
mit unserem Gehirn, ist kein rationales Wesen, wir werden von modern, ist aber im Prinzip dasselbe:
Emotionen bestimmt, zeigt die Hirnfor- großer Ausverkauf der Reste.
Herr Häusel? schung. 70 bis 80 Prozent unseres Handelns SPIEGEL: Müssen wir eigentlich alles von
Hans-Georg Häusel, 67, Verhaltensforscher laufen unbewusst ab. Rabatte schalten das den Amerikanern kopieren?
Großhirn aus, da wird der Mensch zur Bestie. Häusel: Der Mensch orientiert sich
SPIEGEL: Warum verlieren Menschen SPIEGEL: Ist man als Verhaltensforscher immer an den Starken. Die Österreicher
den Verstand, wenn sie reduzierte Waren davor gefeit? gucken auf uns, und wir gucken über den
sehen? Häusel: Na, hören Sie, ich renne ganz Atlantik. Die Vereinigten Staaten prägen
Häusel: Wir denken: Herrje, heute ist sicher nicht am Freitag in die Stadt. Je älter unsere Kultur. Kino, Musik, Halloween,
Rabatttag. Dann beginnt unser Jagdtrieb. man wird, desto niedriger ist auch das Inte- alles Amerika. Wir machen das nach, weil
Jetzt gibt es Schnäppchen, da müssen wir resse am Konsum. Da haben Sie schon das es als hip gilt.
mitmachen und schnell sein, damit wir den meiste. Mit 30 Jahren träumen Sie noch, SPIEGEL: Dann feiern die Deutschen bald
anderen noch etwas wegschnappen. Es ist Ihre Wünsche sind riesengroß. Deshalb auch Thanksgiving?
ein Herdentrieb, eine innere Gier. Wir hof- kaufen am Black Friday auch eher Jüngere. Häusel: Nein. Feste, die etwas mit Spaß
fen, dass der andere es nicht bekommt. SPIEGEL: Reicht der gute, alte Sommer- und Hedonismus zu tun haben, übernehmen
SPIEGEL: Ein echter Urinstinkt. schlussverkauf nicht mehr? wir gern. Religion ist was für Ältere. RED

52 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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studieren will? Jack, der Musiker? Mark, der Jurist? Oder


Eine Meldung und ihre Geschichte
Stark, der Elektroingenieur werden will?
Der Elektroingenieur Sawizki hatte sich auf vergnügliche

Kurzschluss Stunden gefreut bis zur Auflösung dieser Frage. Aber dann
kam der Schweißer wieder. Es ist schwer zu sagen, wann und
warum ihr Verhältnis kippte. Sie hatten eigentlich ein schönes
Leben auf ihrer Station. Menschen, die in der Arktis oder
Warum ein russischer Elektroingenieur Antarktis arbeiten, sind in ihrer Heimat vom Mythos umweht,
einem Kollegen in der Antarktis man nennt sie die heldenhaften Polarniks. Die Auszeichnung
ein Küchenmesser in die Brust rammte »Held der Sowjetunion« wurde einst für die Retter der Schiff-
brüchigen einer Expedition im Nordpolarmeer gestiftet. Die
sowjetischen Forscher, die 1956 erstmals die Antarktis betra-
urz nach dem Frühstück, eingenommen im Speiseraum ten, wurden gefeiert, als hätten sie das All erobert. »Das Ge-
K der russischen Antarktisstation Bellingshausen, 15 000
Kilometer von Moskau entfernt, rammt der Elektro-
ingenieur Sergej Sawizki dem Schweißer Oleg Belogusow
sicht der Antarktis« nannte das Staatsfernsehen die Station
Bellingshausen kürzlich, das war vor der Messerstecherei.
Seefahrer Bellingshausen, nach dem die Station benannt
ein Küchenmesser in die Brust. Der Schweißer sackt auf den ist, ein Deutschbalte in Diensten des Zaren, erblickte im Jahr
Boden, ein 52 Jahre alter Mann mit Rauschebart und kantigen 1820 als erster Mensch die Antarktis. Es gibt zwar Historiker,
Wangenknochen. Er hat gern Selfies mit Pinguinen gemacht. die meinen, ein Engländer sei vor ihm da gewesen, aber: Es
Das Messer hat ihn in der Herzgegend getroffen. ist alles lange her. Präsent sind Bilder der ersten sowjetischen
Der Elektroingenieur, 54 Jahre alt, rennt nicht weg, wo- Antarktisexpedition Mitte der Fünfzigerjahre. Russische Sen-
hin auch, die Station liegt am westlichen Zipfel von King der zeigen heute noch gern Aufnahmen von damals, ver-
George Island. Es gibt hier Ozean bis an den Horizont, See- mummte Männer, die sich durch Schneestürme kämpfen,
leoparden, See-Elefanten, 1260 Quadratkilometer schnee- durch ein weißes, wütendes Nichts.
bedecktes Land und ein paar Forschungsstationen anderer Die Station Bellingshausen wird unter Polarforschern
Nationen. »Kurort« genannt. Die Temperatur fällt hier nicht unter
Der Elektroingenieur und sein minus 15 Grad Celsius, anders als
Opfer kommen beide aus Sankt etwa auf der Station Wostok in
Petersburg, sie waren schon vier- der Ostantarktis, wo schon mal
mal in der Antarktis, in dieser Sai- minus 80 Grad gemessen wurden.
son hatten sie die Aufgabe, neue Sawizki und Belogusow hatten In-
Antennen für meteorologische ternet, Fernsehempfang, warme
Messungen aufzustellen. Küche, Einzelzimmer. Sie konn-
Was passiert an diesem Morgen ten in der Kirche beten, die hier
FOTOS: ACTION PRESS
Anfang Oktober? Laut einer Ver- 2004 errichtet wurde. Der eine
sion des Tathergangs, den russi- war gut im Billard, der andere im
sche Ermittler prüfen, sind Sawizki Tauziehen.
und Belogusow bereits zu früher Über Sawizki weiß man darü-
Stunde betrunken. Der Schweißer ber hinaus nicht viel. Er wohnt in
fordert den Kollegen auf, auf dem Sawizki, Belogusow einem Plattenbau zusammen mit
Tisch zu tanzen, gegen Geld, wo- seiner Mutter, seiner Schwester
raufhin dieser in Rage gerät. und einem Neffen. In der Antark-
Es gibt eine andere, weniger tis konnte er nicht verhaftet wer-
triviale Version. Demnach sind den. Die Besatzung der Station,
Sawizki und Belogusow während meist sind es 12 bis 15 Menschen,
ihrer Jahre in der Antarktis zu be- ist zwar aufgerufen, bei russischen
geisterten Krimilesern geworden, Präsidentschaftswahlen abzustim-
eine Leidenschaft, die ihre Freizeit Von der Website Thesun.co.uk men, aber ein Polizeirevier gibt es
sinnvoll ausfüllt, im zwischen- auf King George Island noch nicht.
menschlichen Verhältnis jedoch zur Belastung wird. Sie wohnen Nach seiner Tat wurde Sawizki nach Hause geschickt, ohne
seit April auf dieser Insel, und mit der Zeit entwickelt der Schwei- Begleitung, auf dass er dort verhaftet werde. Erst flog er nach
ßer ein perfides Spiel: Er setzt sich dem Ingenieur gegenüber, Punta Arenas, dem nächstgelegenen chilenischen Flughafen,
blickt ihm in die Augen und verrät ihm dann, kalt und mit glü- von dort über Uruguay und Amsterdam nach Russland. Elf
hendem Vergnügen zugleich, die Auflösungen jener Krimis, Tage war er unterwegs, und als er in Sankt Petersburg landete,
die sein Gegenüber gerade liest. An diesem Vormittag soll sich wurde er dem Haftrichter vorgeführt. Hausarrest, entschied
Sawizki in »Die vier Söhne des Doktor March« vertieft haben, der Richter. Bis zum Prozessbeginn Anfang Dezember bleibt
ein Buch der französischen Schriftstellerin Brigitte Aubert. Da- Sawizki in seinem Plattenbau wohnen.
rin entdeckt das Dienstmädchen Jeanie, das bei dem Arzt Dr. Der Schweißer mit dem Rauschebart, der angeblich so
March angestellt ist, das anonyme Tagebuch eines Serienmör- gern den Schluss von Kriminalgeschichten verrät, hat über-
ders, der zum Beispiel schildert, wie er ein kleines Mädchen lebt. Er konnte nach Punta Arenas ausgeflogen werden und
bei lebendigem Leib verbrennt. Wenn er jemanden töte, schreibt wurde dort operiert.
der Mörder, müsse er sich »beherrschen, um nicht vor Freude Niemand ist gestorben in diesem Fall, das Gott sei Dank
zu glucksen, um nicht vor Vergnügen zu schreien. Ich zittere. nicht. Es gibt einen Täter, und es gibt ein Opfer, und zusam-
Ich muss nur daran denken, dann zittern meine Finger, wie jetzt«. men haben sie, so viel ist mal sicher, einen Mythos zerstört.
Dieses Ungeheuer ist einer der vier Söhne des Arztes, so Fehlt noch der Schluss: Der Serienmörder hieß Zack, ein
viel steht fest, die Frage ist nur: welcher? Clark, der Medizin fünfter Sohn des Doktor March. Timofey Neshitov

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Gesellschaft

Jaegers Grenze
Schicksale Die Honduranerin Aleyda marschiert mit ihrer Tochter Alice, 5, im großen Treck durch
Mexiko, um in die USA zu fliehen. Der Amerikaner Jaeger wartet mit bewaffneten Bürgern in
Arizona, um das zu verhindern. Für beide gibt es kein Zurück. Von Juan Moreno und Claas Relotius

Männer der Bürgerwehr bei Kontrolle von Rucksäcken nach einer Jagd auf Flüchtlinge in der Wüste Arizonas: »Wir beschützen unser Land,

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n einer Nacht, in der Tausende Men- Sie tragen Munitionsgürtel, automati- »Wir beschützen unser Land, wir brin-

I schen durch das mexikanische Hoch-


land marschieren, mit Rucksäcken
oder kleinen Kindern auf dem Rü-
cken, mit guten oder schlechten Absichten
sches Gewehr, schusssichere Weste und
ausgedachte Namen. Einer nennt sich Pain,
Schmerz, er raucht Zigarre und sagt, er
wolle den Teufeln, die auf Amerika zulie-
gen niemanden um«, sagt Jaeger. Aber
nun, da ganze Karawanen auf dem Weg
zu ihnen seien, da Tausende auf die USA
zurennten, müssten sie sich verteidigen.
nordwärts zur großen Grenze, stehen 2000 fen, in den Arsch treten, genau wie Donald Die Linie, die Jaeger halten will um je-
Kilometer entfernt in Arizona, auf einem Trump. Einer heißt Luger, so wie die Pis- den Preis, ist 3144 Kilometer lang. Sie er-
Berg, der die Wüste Mexikos von den Ver- tole, er hat Tarnfarbe im Gesicht und steu- streckt sich vom Pazifischen Ozean im
einigten Staaten trennt, sechs Männer in ert eine Drohne Richtung Süden, zur Auf- Westen bis zum Atlantischen Ozean im
Uniform und warten auf die Invasion. klärung über Bewegungen der Feinde. Osten; vom Strand Kaliforniens über die
Drei andere, sie nennen sich Spartan, Nai- Canyons Arizonas und New Mexicos bis
ler und Ghost, haben das Sternenbanner zu den Sümpfen in Texas, von Tijuana,
falsch herum gehisst, das Zeichen für den dem größten Grenzübergang der Welt,
nationalen Notstand. Der Sechste, ein bä- über den Rio Grande bis zum Golf von
renhafter Mann mit Militärhelm, Kampf- Mexiko. Auf etwa einem Drittel jener
stiefeln und dunkelbraunem Vollbart, Grenze steht eine meterhohe Befestigung
40 Jahre alt, sein Kampfname ist Jaeger, aus Stahl oder Beton. An den meisten Stel-
späht durch sein Nachtsichtgerät hinab ins len ist die Grenze offen. Jaeger nennt das,
Altar Valley, ein stockdunkles Tal, und was Amerika an diesen Koordinaten be-
spricht von einem Krieg. vorsteht, »a battle for survive«, eine
Das grünschwarze Infrarotbild, das Jae- Schlacht ums Überleben. Er schiebt ein
gers Augen sehen, geht weit über die Sono- Magazin in sein Scharfschützengewehr.
ra-Wüste, eine sandige Landschaft fast so Nur ein paar Stunden später, gut 2000
groß wie Deutschland. Sie ist voll mit Klap- Kilometer südlich, auf einem Tankstellen-
perschlangen, Geiern, Skorpionen »und in parkplatz am Ortsausgang von Isla, einem
jeder verdammten Nacht«, sagt Jaeger, »ein verlorenen Kaff im mexikanischen Bundes-
paar Tausenden Kojoten«. Er meint nicht staat Veracruz, geht ein junge Frau mit Kin-
die Wölfe der Prärie, er meint Menschen- derwagen auf einen fremden Mann in einem
schlepper, die Verbrecher, Drogen und Ille- Lkw zu, um ihm ein Angebot zu machen.
gale ins Land brächten wie Krankheiten. Die Frau, sie ist 25 Jahre alt, ihr Name
Jaeger und die fünf anderen sind hier, ist Aleyda Milla, trägt gefälschte Plastik-
um alles, was die Fremden mit sich führen, Crocs, eine graue Leggins und ein T-Shirt
zu stoppen. Sie sind keine Soldaten, jeden- mit der Aufschrift »Friends«. An der Hand
falls nicht mehr, und kommen eigentlich hält sie ihre fünfjährige Tochter, Alice.
auch nicht aus Arizona. Pain, 50, ist ein »Wann können wir los?«, fragt Aleyda.
Rapsfarmer aus Kansas, Luger, 44, ein »Sofort«, sagt der Mann, sein Atem
Fondshändler aus Michigan. Nailer, 57, riecht nach Tequila.
war mal Vorarbeiter auf Baustellen in Er öffnet die hintere Tür des Lkw, als
Utah. Spartan, 64, und Ghost, 48, sind wäre es die Tür zum Paradies. Es dauert
Brüder, der ältere ist im Ölgeschäft in nur Minuten, dann nähern sich Gestalten
Louisiana, der jüngere arbeitet als Hilfs- vom ganzen Parkplatz, junge Männer in
sheriff in Colorado. Nur Jaeger, der aus schmutzigem Hemd, Familien mit noch
Kalifornien stammt, hat keinen Job. mehr Kindern auf dem Arm, erschöpfte
Sie haben sich den Namen, der auf ihrer Menschen. 150 von ihnen steigen in den
Armeeuniform eingenäht ist, selbst gege- Laderaum, setzen sich dicht gedrängt auf
ben, weil sie für das, was sie hier vorhaben, den Boden, immer fünf in einer Reihe. Die
keinen Auftrag und keine Erlaubnis haben, Luft ist heiß und stickig. Ein Mann mit
aber das ist ihnen egal. einer Mütze der L. A. Lakers fragt, ob er
Ein paar Hundert Mal, sagt Jaeger, hät- ein kaltes Bier haben und Fox Sports
ten sie schon Fremde, die in der Nacht von schauen könne. Die Leute lachen.
Süden her auf sie zugeschlichen kamen, Sie werden in diesem Lkw, einem Obst-
gefangen, gefesselt oder mit Warnschüssen transporter, in dem es dunkel ist und es kei-
vertrieben. Einmal, sagt Jaeger, hätten sie ne Kühlung gibt, 350 Kilometer, gute zehn
drüben in El Paso neun Männer aus Gua- Stunden, zurücklegen. Sie werden während
temala, die Bandentattoos auf ihrem Arm der Fahrt eine Tür offen lassen und alle
hatten, durch die Dunkelheit gejagt, bis 40 Minuten eine Pause einlegen, weil die
die zusammenbrachen. Einmal, sagt Jae- Luft brennt. Am Anfang werden die Kinder
ger, hätten sie unten bei Brownsville, Te- schreien, nach zehn Minuten werden sie
xas, drei Frauen aus Mexiko, die Rucksäcke ganz still sein. Diese Fahrt, sie wird vielen
voll Kokain auf ihren Schultern trugen, im Laderaum vorkommen wie Luxus.
zwei Nächte lang in den Bergen frieren las- Sie sind in den vergangenen fünf Wo-
sen und erst dann der Grenzpolizei über- chen, bepackt mit Rucksäcken oder Plas-
JOHNNY MILANO

geben. Und einmal, als sie hier in Arizona tiktüten, mehr als 1500 Kilometer mar-
einen Teenager aus El Salvador erwisch- schiert, Hunderte Stunden. Sie sind,
ten, ließen sie den Jungen zur Strafe ein- manchmal barfuß, meist schweigend, über
fach wieder zurücklaufen, ohne Schuhe zwei Ländergrenzen gekommen, von Hon-
wir bringen niemanden um« und ohne Wasser durch die Wüste. duras nach Guatemala, von Guatemala

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Gesellschaft

weiter nach Mexiko, auf Landstraßen diese bewaffnet und entschlossen sind, nie- trale, in der sie ihren Kampf gegen die In-
durch tropische Hitze, über Zäune, steile manden an sich vorbeizulassen. vasoren steuern, mit Einsatzkarten, Über-
Hügel, durch einsame Täler und breite Aleyda und Jaeger, von denen dieser wachungsbildschirmen, Computern. Sie
Flüsse. Sie haben nachts in Parks oder in Text handelt, sind nur zwei Menschen auf haben am Fuße des Berges, in der mexika-
Busstationen geschlafen, wo immer es ih- beiden Seiten. Sie wurden auf demselben nischen Wüste, durch die seit Jahren Ein-
nen in dem Land, in das sie kamen, befoh- Kontinent, aber nicht im selben Land ge- wanderer und mit ihnen manchmal auch
len wurde. Sie haben Reis und Bohnen ge- boren, der eine im reichen Norden, die an- Drogen kommen, Bodenkameras instal-
gessen, viele von ihnen sind darüber krank dere im armen Süden. Ihre Leben, die nie liert, in einem Radius von 40 Kilometern.
geworden, und doch haben sie sich, irgend- etwas miteinander zu tun hatten, stoßen Sie bekämen sogar mit, sagt Jaeger, wenn
wo in diesem Menschenstrom aus Tausen- nun, physisch oder auch nicht, an der eine Schildkröte dort niese.
den, die in einer Karawane und vor Fern- Grenze zweier Staaten zusammen; der Er ruft zwei Männer zur Morgenpatrouil-
sehkameras aus aller Welt immer weiter eine schottet sich ab, der andere lässt Mi- le. Luger und Ghost schließen sich an, zu
Richtung Norden zogen, Kilometer um granten einfach durch. Es könnte, auf den dritt steigen sie den Berg hinab, um die Vi-
Kilometer vorgekämpft. ersten Blick, nur eine Erzählung über deoaufzeichnungen der Nacht aus den Ka-
Jetzt, nach wochenlangem Marschieren, Oben und Unten sein, aber es geht um meras zu holen. Sobald die Sonne am Him-
in der Dunkelheit des Laderaums, hören Menschen, die an nichts mehr glauben, mel steht, kann sich die Wüste im Winter
sie den Motor des Lkw, der sie in nur ei- außer an sich selbst. Es geht, auf beiden auf bis zu 40 Grad aufheizen. Sie klettern
nem Tag bis in die Stadt Puebla, kurz Seiten, um Wut, Verzweiflung, Angst. über Felsen, laufen durch verdorrtes Gras,
vor Mexiko-Stadt, näher an ihr Ziel, die
US-amerikanische Grenze, bringt.
Aleyda Milla, die Frau, die diesen Deal
mit dem Fahrer ausgehandelt hat, die jun-
ge Mutter mit ihrer kleinen Tochter, sitzt
ganz am Rand, an der rechten Kabinen-
wand. Aleyda, die aus einem kleinen Städt-
chen in Honduras stammt, aus einem Ort
namens Yoro, drückt ihr Kind fest an sich.
Ihre jüngere Schwester Vicky und deren
Söhne Manuel, 4, und Dylan, 1, sitzen ne-
ben ihr. Aleyda hat sich mit ihnen auf den
Weg gemacht. Sie hat die drei Kinder, ihre
Schwester und sich selbst bis hierhin be-
schützt vor fremden Männern. Männer,
die sich näherten, wenn Aleyda den Kin-
derwagen einen steilen Hang hinaufschob,

SCOTT DALTON / DER SPIEGEL


und nach dem Vater fragten. Die Männer
schoben dann den Kinderwagen, und
nachts, wenn Aleyda in dem blauen Zelt
schlief, das sie seit Wochen mitschleppt,
öffneten die Männer den Reißverschluss
und verlangten »Bezahlung«. Dreimal ist
das passiert, dreimal konnte sich Aleyda Flüchtling Aleyda mit Tochter Alice in Mexiko: »Ich wollte nie nach Amerika«
die Typen irgendwie vom Hals schaffen.
Sie weiß aber, dass der gefährlichste Teil,
der ohne die Karawane, erst noch kommt. Über Arizona graut der Morgen, lang- vorbei an Kakteen, die wie riesige Mittelfin-
Sie weiß, dass im Norden, an der Stelle, sam wird es hell über der Wüste. Die Män- ger in der Landschaft stehen. Nach fast einer
an der sie die Grenze überschreiten wird, ner vom Altar Valley haben unter freiem Stunde passieren die Männer einen manns-
Drogenkartelle regieren. Sie weiß, dass die- Himmel geschlafen, mit dem Gewehr auf hohen Stein, darauf steht: »End of country«,
se ihr »derecho de paso«, ihr Passierrecht, ihrer Brust, nur Spartan und Jaeger haben Ende des Landes, und auf der anderen Seite
Geld oder noch viel mehr von ihr verlan- Wache gehalten, die ganze Nacht. Sie ha- »Límite del patio«, Ende des Gartens. Sie
gen werden. Aleyda weiß auch, dass an der ben nichts Verdächtiges gehört, die Wär- beachten ihn gar nicht. Sie betreten einfach
Grenze mehr als 5000 US-amerikanische mebildkamera der Drohne hat ein paar Be- mexikanischen Boden. Sie tun das, so oft
Soldaten warten. Auch von bewaffneten wegungen in der Wüste angezeigt, aber das, sie wollen, während jeder, der den umge-
Bürgern, Männern mit Gewehren, hat sie sagt Jaeger, sei wohl nur ein Hirsch gewesen. kehrten Weg geht, sein Leben riskiert.
gehört, die irgendwo hinter der Wüste lau- Spartan, ein grauhaariger Mann mit trai- Es gebe hier draußen niemanden, der
ern, um Menschen wie sie zu jagen. nierten Oberarmen, schenkt Kaffee aus, der US-Amerikaner kontrolliert, sagt Ghost.
Es ist nicht klar, ob sich die Wege von einem die Augen aufreißt, er spricht von Die nächste Stadt liegt anderthalb Auto-
Aleyda, die mit ihrer kleinen Tochter nach seinem »Vietnamrezept«. Er hat Amerika stunden entfernt, der nächste Posten der
Norden zieht, und Jaeger, der mit den Män- im Krieg gedient, wie alle hier, die anderen Border Patrol fast zwei. Ein paar Ranger,
nern in Arizona auf Eindringlinge aus dem waren in Afghanistan, Irak. Sie haben auf die für Sicherheit im angrenzenden Natur-
Süden wartet, jemals kreuzen werden. dem Berg ein Lager aus Armeezelten, Feld- park sorgen, fahren tagsüber hinter der
Wahrscheinlich ist aber, dass viele, die wie betten und Funkantennen aufgebaut, als Grenze in weißen Elektrowagen auf und
Aleyda mit der Karawane laufen, ihr Glück wären sie noch immer irgendwo dort. ab wie Busfahrer, aber die, sagt Luger, er-
in Arizona versuchen und auf Jaegers Män- Hundert Meter hinter ihrer Front stehen wischten ja nicht mal Mexikaner.
ner zukommen werden. Sicher ist auch, zwei Pick-ups neben einem kleinen, unbe- »Da«, ruft Jaeger. Er geht ein paar Meter
dass in Texas, Kalifornien und New Mexico wohnten Haus, das früher mal zu einer voraus und hält plötzlich den Arm nach Sü-
andere Bürgerwehren warten; dass auch Ranch gehörte. Es ist die Kommandozen- den, es ist jetzt hell, und in der Ferne liegt

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ein sandfarbener Hügel mit drei Zacken. Es Er hält an und spielt ein zweites Video nächsten Abend irgendwo am Rand der
sei der Ausguck eines mexikanischen Kar- auf seinem Handy ab, einen Wahlkampf- Großstadt raus. Das Erste, was Aleyda
tells, sagt er. Sie könnten manchmal, wenn auftritt des Präsidenten. Auf diesem Video sieht, sind blaue Streifenwagen, eine Stra-
es ganz dunkel sei, mit dem Fernglas die steht der Präsident auf einer Bühne und ßensperre der Policía Federal.
Lichter der Smartphones sehen. Für Jaeger warnt vor den Karawanen wie vor einem Die Polizei nimmt die Geflüchteten nicht
sind die Drogenkartelle, die längst nicht Rudel Wölfe. Er verspricht, sie diesmal zu fest, sondern lässt sie mit Bussen in ein
mehr nur mit Drogen, sondern auch mit »fangen« und »zurückzuschlagen«, er Flüchtlingslager bringen. Dort warten Hilfs-
geflüchteten Menschen handeln, die Frauen spricht von einer »großen Show«. organisationen mit Abendessen. Es gibt
und Kinder kurz vor der Grenze entweder Jaeger sagt, er habe auf Fox News ge- Reis und Bohnen, wie jeden Abend.
töteten oder ihnen Rucksäcke mit Fracht hört, dass Trump die Nationalgarde und Für Jaeger und für Donald Trump, das
aufschnallten, die schlimmsten Teufel. Jae- 5200 Soldaten hier runtergeschickt habe. sagen beide deutlich, sind Menschen wie
ger will aber auch nicht noch mehr Frauen Er hat aber noch keinen einzigen Soldaten Aleyda Eindringlinge, Verbrecher, auf je-
und Kinder aus dem Süden, er sagt Illegale gesehen. Es mache ihn fertig, sagt er, dass den Fall Leute, die kein Anrecht haben, in
oder Bohnenfresser, im Land haben. nicht jeder anständige Amerikaner, der den USA zu leben.
Er hat in der Nacht, während die ande- sein Land liebe, mit ihnen hier draußen Für viele Mexikaner, die den Menschen
ren Männer schliefen, ein Facebook-Video sei, um die Armee gegen den Ansturm zu der Karawane während all der Wochen
von Donald Trump auf seinem Handy an- unterstützen, um zurückzuschlagen, wie Kleider und Wasser spendeten, sind es Ha-
geschaut. Das Video dauerte gut eine Mi- es der Präsident verlange. benichtse aus dem Süden, die sich durch
ihr Land quälen, um nach dem amerikani-
schen Traum zu suchen. Böden wischen,
Kinder wickeln, Orangen pflücken, Gläser
spülen, Wände spachteln. Das ist es, was
die meisten in Städten wie Houston, Phoe-
nix oder Miami tun werden, wenn sie es
in die USA schaffen. Das ist das große Ziel,
dafür der ganze Schmerz, die Lebensge-
fahr, das Geld, die Plackerei, all die langen
Kilometer.
In dem Flüchtlingslager in Puebla,
gleich neben einem Fußballstadion, be-
grüßt eine Gruppe katholischer Schwes-
tern Aleyda und die anderen. Die Schwes-
tern umarmen die Menschen, und die
meisten sind froh darüber. Es bildet sich
sogar eine kleine Schlange, um umarmt zu
werden. Die Schwestern zeigen in Rich-
tung einer großen Halle, die ziemlich gut
gefüllt ist. Überall liegen Körper, viele
JOHNNY MILANO

schlafen, einige schauen auf ihr Handy,


andere essen noch ihre Bohnen.
Aleyda sagt, sie sei froh, wie der Tag ge-
Arbeitsloser Jaeger im Einsatz im Grenzgebiet: »Fuck! Fuck! Fuck!« laufen sei. Alice, ihre Tochter, schläft ne-
ben ihr. Am Morgen waren es noch 3200
Kilometer nach Tijuana. Jetzt sind es keine
nute. Zuerst zeigte es einen glatzköpfigen Vor ihnen, im Sand zwischen Ziegen- 3000 mehr. Sie weiß nicht, wohin genau
Mexikaner, der zwei US-Polizisten ermor- skeletten und einem trockenen Flussbett, sie muss, der Schlepper wird sie noch an-
det hatte und vor Gericht darüber lachte; liegen Kleider. Ein zerrissenes, rotes T-Shirt, rufen, aber es ist ihr egal. Sie ist der Gren-
dann zeigte es gewalttätige Horden, bren- eine Jogginghose, eine glitzernde Jeans. ze wieder ein Stück näher, nur das zählt.
nende Autos, Menschen mit dunkelbrau- Luger bleibt stehen und hebt eine Unter- »Ich wollte nie nach Amerika«, erzählt
ner Haut, die Zäune niederreißen. Jaeger hose mit seinem Gewehrlauf an. »Die Aleyda. Sie hat das blaue Faltzelt im Schat-
sagt, er spürte sein Blut kochen, aber dann meisten danken Gott, wenn sie es angezo- ten des Stadions aufgeschlagen, den Kin-
musste er selbst laut lachen. Über dem gen bis hierhin schaffen«, sagt er, »glaubt derwagen so danebengeschoben, dass sie
Post von Trump stand: »Jobs not Mobs«. ihr, das waren Kojoten?« – »Sind die Clin- ihn immer im Blick hat. An den Tag, an
Jaeger krempelt die Ärmel seiner Uni- tons kriminell?«, antwortet Ghost. Das soll dem Aleyda zum ersten Mal über ein Leben
form hoch, auf seinen tätowierten Hand- heißen: ja. Er sei sich sicher, dass die Klei- in Amerika nachdachte, kann sie sich nicht
rücken stehen die Worte »Strength« und der zwei Frauen oder Mädchen gehört ha- mehr erinnern. Es ist ein Gedanke, den die
»Pride«, Stärke und Stolz. Er marschiert ben, die von den Schleppern, die sie be- meisten Armen in Honduras haben. Ame-
immer weiter hinein in die mexikanische zahlt hatten, vergewaltigt wurden. rika ist für so ziemlich jedes Problem die
Wüste und sagt, jeder, der seine Heimat Jaeger kaut auf seinem Kaugummi wie Lösung. Ihr selbst kam dieser Gedanke in
verlasse und in einem anderen Land um auf einer Beißschiene. Er nimmt seinen einer Nacht, in der sie mit Alice im Bett lag
Hilfe bettele, statt die Dinge im eigenen Helm ab und sagt: »Was sind das für Men- und hoffte, dass Juan, ihr Mann, nie mehr
Land zu regeln, sei eine »Pussy«. Er sehe schen?« nach Hause kommen würde. Er hatte sie
das genau wie der Präsident, der gesagt Der Lkw, der Aleyda Milla, ihre Schwes- aus einem Grund verprügelt, an den sich
habe, in den Karawanen seien keine Engel, ter Vicky, die drei Kinder und 145 andere später weder er noch sie erinnern konnten,
sondern viele üble Kerle, nicht nur Dro- Menschen am frühen Morgen auf einem vermutlich weil es keinen gab.
genhändler, Killer, »wahrscheinlich sogar Parkplatz in Veracruz aufgeladen und Sie hatte Juan kennengelernt, als sie 16
Leute aus dem Mittleren Osten«. nach Puebla gefahren hat, lässt sie am war. Er arbeitete auf einer Baustelle, das

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Bauarbeiter Nailer im Pick-up der Bürgerwehr in Arizona: Fangen und zurückschlagen

war ungewöhnlich. Die meisten jungen kurz daran, ihn umbringen zu lassen. San trouille. Ghost verwechselt Honduras stän-
Männer, die Aleyda kannte, waren entwe- Pedro Sula, die nächstgrößere Stadt, galt dig mit Hungary, Ungarn. Luger kennt
der in einer Gang oder hatten sich nach viele Jahre als die gefährlichste Stadt der Honduras nur, weil Donald Trump das
Amerika aufgemacht. Kriminelle sind die Welt. In der Gegend, in der sie wohnte, Land im Fernsehen mal als »shithole«,
Einzigen in Honduras mit guten Berufs- kannte sie genügend junge Männer, die in Scheißloch, bezeichnet hat.
aussichten. In der Regel verlassen sie das einer Gang waren. Für ein paar Dollar hät- Es ist Nachmittag, die Berge werfen fast
Land nicht. Es sind viel häufiger die Ehr- ten sie das übernommen. keine Schatten, und Jaeger schwitzt als
lichen, die gehen. Aleyda entschied sich dagegen, ihren Einziger in seinem Zelt. Er überprüft die
Juan hatte mit dem Material, das er an Mann zu töten, und dafür, ihre Tochter zu Kamerabänder, die sie an Kakteen in der
Baustellen klaute, ein Häuschen gebaut. retten. Sie begann, Geld zu sparen, fragte Wüste eingesammelt haben. Nach einer
Aleyda zog wenige Wochen nach ihrem Freundinnen, wie man in die USA gelange. Stunde ruft er: »Fuck!«
ersten Kuss bei Juan ein, und für ein gutes Irgendwann rief sie eine ihrer Tanten an, Der Hirsch, dessen Bewegungen sie in
Jahr, so erzählt sie jetzt, sei sie der glück- die schon vor Jahren dorthin geflohen war, der Nacht hinter den Wärmebildern der
lichste Mensch in ganz Honduras gewesen, die bis heute dort lebt und eine Wäscherei Drohnenkamera vermutet hatten, ist eine
auch weil ihr Mann erlaubte, ihre Schwes- in San Antonio, Texas, besitzt. Auch sie Gestalt mit Rucksack gewesen.
ter Vicky bei sich aufzunehmen. kam als Illegale. Die Tante versprach, ihr Jaeger beugt sich seinem Laptop entge-
Aleyda und sie waren bei ihren Groß- und auch ihrer Schwester Vicky zu helfen, gen und hämmert in die Tastatur, spult vor,
eltern aufgewachsen. Ihre Eltern waren 15, sie versprach, den Kojoten für sie beide spult zurück. Die Gestalt, nur in Umrissen
als sie Aleyda bekamen. Dreimal in ihrem und die drei Kinder zu bezahlen, sollten zu erkennen, flitzt auf dem Bildschirm
ganzen Leben habe sie die Mutter und den sie es zu Hause nicht mehr aushalten und durch die Dunkelheit. Sie ist für Jaeger
Vater gesehen. Jedes Mal, wenn sie ein sich auf den Weg machen. nicht mehr einzuholen.
Kind bekamen, brachten sie es zu den Dann, vor fast einem Monat, hörte »Fuck! Fuck! Fuck!« Jaeger bleibt jetzt,
Großeltern und verschwanden wieder. Aleyda von einer Karawane. während die anderen Männer draußen
Juan war Trinker und Schläger, erzählt Die Männer vom Altar Valley, Jaeger selbst gebrautes Bier trinken, ein Lagerfeu-
Aleyda, immer in der Reihenfolge. Wenn und seine Truppe, glauben genau zu wis- er machen und Rinderrippchen grillen, den
er betrunken nach Hause kam, dauerte es sen, was für Menschen in diesen Karawa- Rest des Tages in seinem Zelt. Als Jaeger
nicht lange, bis er sich ärgerte und zu- nen kommen. Sie wissen aber, wenn man sich zwei Stunden später wieder beruhigt
schlug. Vier Jahre habe sie das ausgehalten. sie fragt, nichts darüber, warum junge Frau- hat, klappt er den Laptop zu. Verwechslun-
Vier Jahre, in denen sich der nüchterne en aus Yoro fliehen oder warum junge gen mit Tieren kämen vor, sagt er, aber er
Juan immer wieder für den erbärmlichen Männer aus San Pedro Sula entweder zum könne gut schlafen, wenn er daran denke,
Juan entschuldigte und Besserung gelobte. Flüchtling oder zum Mörder werden. wie viele Kilogramm Kokain sie hier schon
Irgendwann, als wieder ihr ganzer Körper Sie waren in ihrem ganzen Leben noch beschlagnahmt, im Klo runtergespült oder
von seinen Schlägen schmerzte, wusste nicht einmal in Mexiko, noch nie südlich im Sand versenkt hätten. »Wie viele Le-
Aleyda, dass sie wegmusste. Sie dachte von Arizona, außer auf ihrer täglichen Pa- ben«, sagt Jaeger, »haben wir gerettet?«

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Honduranerin Aleyda (r.) mit Tochter Alice, Flüchtlinge im Lkw: 30 000 Dollar für fünf Köpfe

Er selbst habe in seinem Leben einmal Zorn. Er spricht jetzt mit leiser Stimme. Er starb sein Vater und hinterließ die Schrei-
viele gute Freunde gehabt, so erzählt er, die will erzählen, wie aus ihm der wurde, der nerei. Er übernahm sie und stellte drei jun-
heute aber nicht mehr seine Freunde seien. er heute ist. Er habe eigentlich nie etwas ge Männer ein, sie stammten aus einem
Sie behaupteten, er sei ein Extremist, sagt gegen Fremde gehabt, sagt er, er habe drü- Dorf nahe Medellín, Kolumbien, und wa-
er, weil er 300 Tage im Jahr hier oben sei ben in Kalifornien seine halbe Jugend mit ren vor dem Drogenkrieg geflohen. Es war
und Menschen, die nur ein besseres Leben ihnen verbracht. Er wuchs auf in Fresno, die Zeit nach dem 11. September, die Män-
wollten, jage. »Wenn extrem bedeutet, nicht zwischen San Francisco und Los Angeles. ner sprachen kaum Englisch, er habe fast
auf der Couch sitzen zu bleiben und dabei Sein Vater betrieb eine Schreinerei, seine nichts über sie gewusst, sagt Jaeger, aber
zuzusehen, wie dieses Land kaputtgeht«, Mutter war Hausfrau. Beide wählten die er fand, sie verdienten eine Chance.
sagt Jaeger, »ja, dann bin ich Extremist.« Republikaner, und beide zogen Sonntags- Sie schienen ihn nicht zu enttäuschen, sie
Ist er ein Rassist? kleider an, fuhren Hunderte Kilometer machten ihre Arbeit gut. Seine Frau und er
»Schwachsinn«, sagt Jaeger. Er habe Richtung Süden, als Ronald Reagan im luden sie jede Woche zum Essen zu sich
nichts gegen Menschen mit anderer Haut- Wahlkampf 1984 nach San Diego kam und nach Hause ein. Dann, eines Tages, kam
farbe, er trage auch kein verfluchtes Bett- dort vor Tausenden erklärte: »Die einfache der Crash. Amerikas Banken kollabierten,
laken über dem Kopf. Wahrheit ist, dass wir die Kontrolle über und ein Hauskredit, den Jaeger aufgenom-
Er scheint etwas in der Brusttasche seiner unsere Grenzen verloren haben, und keine men hatte, platzte. Er verlor von einem Tag
Uniform zu suchen. Dann, irgendwann, Nation, die das zulässt, kann überleben.« zum nächsten alles: das Haus, den Betrieb,
sagt er, sein richtiger Vorname sei Chris und Jaeger sagt, er sei damals sechs Jahre alt vielleicht, sagt Jaeger, sogar seine Familie.
sein richtiger Nachname, »no bullshit«, Jae- gewesen, und er hätte sich diesen Satz wahr- Es war vor neun Jahren, erzählt er, als er
ger. Sein Großvater sei einst aus Deutsch- scheinlich nie gemerkt, wenn sein Vater ihn sich der US-Armee verpflichtete, um die
land in die USA eingewandert, erzählt er, nicht immer wiederholt hätte. Sein Vater, Schulden wenigstens zur Hälfte abzuzahlen.
der Großvater hieß Hans und stammte aus erzählt er, glaubte an Regeln, an das Recht Er flog gemeinsam mit anderen Schuldnern
einem kleinen Dorf in Bayern. zur Selbstverteidigung und an das Gesetz nach Afghanistan, um Amerika vor Terro-
Er selbst sei nie in Deutschland gewesen, »stand your ground«, das Amerikanern er- risten zu beschützen. Er saß seine Zeit ab
sagt Jaeger, aber er verfolge sehr genau, laubt, unrechtmäßige Eindringlinge auf ih- auf dem Stützpunkt der US-Streitkräfte in
was dort passiere, seitdem Flüchtlinge ins rem Grundstück zu erschießen. Er selbst, Bagram, während zu Hause in Fresno alles
Land gelassen wurden. »Vergewaltigungen, sagt Jaeger, glaubte immer an Nächsten- zerbrach. Er flog jedes Jahr zweimal zurück,
Morde, Terror«, Jaegers Finger springen liebe und daran, Schwächeren zu helfen. um sich mit seiner Frau wegen Geld zu strei-
auf wie Klappmesser. »Das Schlimmste ist, Er war 15 Jahre alt, da kaufte er Essens- ten. Er träumte von McDonald’s und den
dass wir ihnen helfen, und zum Dank«, sagt marken für mexikanische Mitschüler auf Taliban, die sich nie zeigten, während seine
er, »brechen sie uns das Genick.« seiner Highschool, jeden Tag. Er war 20, Tochter Paula, die noch keine 13 war, süch-
Chris Jaeger zieht immer noch an seiner da heiratete er ein Mädchen namens An- tig nach Drogen wurde.
Brusttasche, als verberge sich darin irgend- drea und bekam mit ihr eine Tochter, sie Am Anfang rauchte sie nur Marihuana.
ein Geheimnis, eine Erklärung für seinen gaben ihr den Namen Paula. Er war 26, da Dann Crack. Dann Crystal Meth. Seine

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Gesellschaft

Tochter sei heute 20 Jahre alt und abhängig ern. Sie glaubten an Donald Trump, und Kilometer durch Honduras, Guatemala
von Heroin, sagt Jaeger. Aus seiner Brust- sie wollten, dass Amerika nicht länger von und Mexiko getragen hat, lassen sie in Pue-
tasche zieht er nun ein kleines Foto. Darauf Fremden vergiftet werde, deshalb hielten bla zurück, genau wie die Karawane. Der
ist eine Frau mit zerfurchter Haut und auf- sie hier die Stellung. Deswegen, sagt Jae- Weg, den sie in den nächsten zehn Tagen
gerissenen Augen, wie eine Grimasse. Seine ger, »werden jetzt alle Einbrecher dran nehmen werden, ist jetzt klar. Drei Städte
Tochter sei erst halb so alt wie er, sagt Jaeger, glauben«. liegen noch vor ihnen. Sie werden auf Lkw
»manchmal sieht sie aus wie meine Mutter«. Im Flüchtlingslager in Puebla, die Kin- oder in kleinen Bussen zuerst nach Mon-
Er besuche sie einmal im Monat in einer Kli- der schlafen, öffnet Vicky, Aleydas Schwes- terrey fahren, eine Großstadt im Nordosten.
nik. Seine Frau habe sich scheiden lassen, er ter, den Reißverschluss des blauen Zeltes. Dann weiter durch den Bundesstaat Nuevo
sei nur wegen seiner Tochter aus Afghanis- »Ich habe mit San Antonio telefoniert. Leon, in dem das Kartell Los Zetas das
tan zurückgekehrt. Und als er sie gefragt Es geht los«, sagt sie. Die Tante habe sich Sagen hat, und über die Schnellstraße 40,
habe, wer ihr die Drogen verkauft, von wem gemeldet. Sie bezahlt den Kojoten und hat auf der an manchen Tagen geköpfte Lei-
sie als Teenager den ganzen Stoff bekom- endlich Anweisungen gegeben, wie es wei- chen liegen, nach Reynosa. Dann, viel-
men habe, da habe sie ihm verraten: von tergehen soll. Aleyda ist sofort hellwach. leicht am achten oder am neunten Tag,
den drei Männern, denen er Arbeit und eine »Wohin?«, fragt sie. werden sie Matamoros erreichen.
Chance gegeben hatte, die immer zu ihnen »Matamoros«, antwortet Vicky. Es ist der Abend des 13. November,
zum Essen gekommen waren, den jungen Aleyda weiß alles über Matamoros. Der zehn Tage nachdem sie Puebla, die Kara-
Männern aus Kolumbien. Name klingt für sie wie ein Versprechen, wane und ihr Zelt verlassen haben, schickt
Aleyda eine SMS. Sie schreibt nur ein
Wort: »Estoy«, ich bin da.
Es ist eine kalte Nacht in Arizona, die
ersten Karawanen in Mexiko lösen sich
langsam auf, der Wahlkampf in Amerika
ist bereits zu Ende, und Chris Jaeger liegt
auf dem Berg über der Wüste und zielt mit
seinem Scharfschützengewehr auf etwas,
das sich schleichend in der Dunkelheit be-
wegt. Er kann durch sein Zielfernrohr
nicht erkennen, was es ist, vielleicht nur
ein Hirsch oder ein Puma, vielleicht wie-
der eine Gestalt mit Rucksack.
Die Männer spähen mit Nachtsicht-
geräten ins Tal. Jaeger hat sie alle aufge-
weckt und alarmiert, er will, dass ihnen
nicht noch ein Einbrecher entwischt.
Es ist die Nacht nach den Kongresswah-
len in Amerika, und er hat tagsüber im Ra-
dio gehört, dass die 5200 Soldaten, die
JOHNNY MILANO

Trump vor den Wahlen an die Grenze be-


ordert hat, gar keine Waffen einsetzen, auf
niemanden schießen dürften, wenn die Ka-
Veteran Jaeger auf Patrouille im Altar Valley: »Jetzt werden alle Einbrecher dran glauben« rawanen kämen. Er hat auch gehört, dass
die Nationalgarde hinter der Grenze in
Wahrheit keine Mauern oder Gefängnisse
Jaeger sagt, er habe jetzt einiges begrif- ein Ort direkt an der Grenze, um den sich für Schwerverbrecher baue, sondern Zelt-
fen. Er hat nicht auf Fox News, sondern Legenden ranken. Ihre Freundinnen in lager für die Erschöpften.
auf CNN gehört, dass allein dieses Jahr Honduras hatten davon erzählt, in der Ka- Jaeger muss jetzt an Trumps Worte den-
400 000 Immigranten illegal über die Gren- rawane hört sie ständig davon. Browns- ken. »Fangen und zurückschlagen«, sagt
ze gekommen seien; dass mit ihnen jedes ville, Texas, liegt direkt auf der anderen er und legt in Ruhe sein Gewehr an. Er
Jahr Drogen im Wert von über 60 Milliar- Seite. Die meisten Einwanderer versuchen, weiß nicht, was da unten im Tal ist, ein
den Dollar ins Land gelangten und dass im die Grenze dort zu überqueren. Der Rio Tier oder ein Mensch.
vergangenen Jahr mehr als 70 000 Men- Grande, so hat Aleyda gehört, sei dort Vielleicht glaubt er, er müsse das, was
schen in den USA an Überdosis gestorben flach, am anderen Ufer erhebe sich eine Trumps Soldaten nicht tun dürfen, nun
seien, so viele wie nie. Böschung. Zwar wimmle es von Grenz- selbst tun. Vielleicht will er nicht wahr-
Er habe nun verstanden, dass man nicht beamten, aber wenn man als Gruppe von haben, dass Trumps Worte die ganze Zeit
alle Menschen, bloß weil sie arm sind, in 10, 20 übersetze, gebe es eine Chance. nur Wahlkampf waren, nur eine Show.
sein Haus lassen dürfe. Er sei heute selbst Die Tante hat mit den Schleppern abge- Jaeger blinzelt in die Dunkelheit, das
arm, und ihm helfe keiner. Er habe Nailer, macht, dass sie immer nur Teilbeträge an- Gewehr liegt auf seiner Schulter. Er hat
Pain, Ghost, Luger und Spartan zufällig weist. Die Gesamtzahlung, 30000 Dollar kein Ziel. Er kann nichts sehen. Und ir-
auf Waffenausstellungen oder im Internet, für fünf Köpfe, ist erst fällig, wenn Aleyda gendwann drückt er ab.
in Facebook-Gruppen der Republikaner und Vicky eine Nachricht mit Beweisfoto
kennengelernt. Sie alle spürten die gleiche schicken, dass sie am Ziel angekommen sind.
Wut, und Männer wie sie, die bereit seien Am nächsten Morgen brechen Aleyda Video
»Ich habe eine
zu kämpfen, seien jetzt überall entlang der und Vicky nach Mexiko-Stadt auf. Die drei Botschaft an Trump«
Grenze. Sie wollten ihr Land nicht länger Kinder sitzen im Kinderwagen, auf ihren spiegel.de/sp472018migranten
zwischen Ziegenhirten am Hindukusch Schultern haben sie ihren kleinen Ruck- oder in der App DER SPIEGEL
verteidigen, sondern an den eigenen Mau- sack. Das blaue Zelt, das Aleyda über 1600

60 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Gesellschaft

»Ich war nicht überrascht«


SPIEGEL-Gespräch Bischof Stephan Ackermann will als Missbrauchsbeauftragter künftig enger
mit Staatsanwälten zusammenarbeiten – und die kirchlichen Geheimarchive öffnen.

Ackermann, 55, wuchs in Nickenich nahe im Seminar natürlich gesprochen. Aber vergangenen Jahrzehnten mindestens
Koblenz auf. Er studierte Katholische Theo- ich war damit nicht direkt befasst und hielt 1670 katholische Kleriker 3677 Kinder und
logie und Philosophie in Trier, wurde 1987 es für einen Einzelfall. Jugendliche missbraucht haben.
zum Priester geweiht und bildete jahre- SPIEGEL: Kommende Woche geht es beim Ackermann: Ich war nicht überrascht, weil
lang junge Männer zu Seelsorgern aus. Seit »Ständigen Rat« der Deutschen Bischofs- ich mich seit acht Jahren intensiv mit die-
2009 ist Ackermann Bischof in Trier, 2010 konferenz wieder um sexuellen Miss- sem Thema befasse, mit Betroffenen rede
wurde er zum Missbrauchsbeauftragten der brauch. Gibt es Bischöfe, die die Angele- und natürlich die Zahlen aus meinem Bis-
Bischofskonferenz ernannt. Zum Gespräch genheit lieber zu den Akten legen würden? tum kenne. Ich weiß auch um das Ausmaß
empfängt er in seinem Bischofshof aus dem Ackermann: Es bleibt für alle Beteiligten der Anträge auf Anerkennung des erlitte-
18. Jahrhundert. Er steht unter Zeitdruck, eine Herausforderung, sich immer wieder nen Leids, die Betroffene seit 2011 bei der
weil er im Anschluss zu einer Firmung in aufs Neue damit auseinanderzusetzen. Bischofskonferenz einreichen können.
die Eifel muss. Wir haben in den vergangenen Jahren vie- Trotzdem hat es mich getroffen, die Zah-
le Regelungen eingeführt, Verdachtsfälle len schwarz auf weiß zu sehen. Das Er-
SPIEGEL: Herr Bischof Ackermann, wann verfolgt und aufgearbeitet, eine umfassen- schrecken nimmt nicht ab.
haben Sie zum ersten Mal etwas von se- de Studie in Auftrag gegeben. Das Thema SPIEGEL: Erste Leitlinien zum Umgang
xuellem Missbrauch in der Kirche gehört? wirft ständig Folgefragen auf und bleibt mit sexueller Gewalt durch Kleriker wur-
Ackermann: Das war in den Neunziger- aktuell. Ich bin in der Bischofskonferenz den 2002 verabschiedet, 2010 erschütterte
jahren, als ich stellvertretender Leiter am in besonderer Weise Anwalt für dieses The- ein epochaler Missbrauchsskandal die Kir-
Trierer Priesterseminar war. Damals gab ma und bringe es immer wieder ein. Es che. Kam die Studie nicht zu spät?
es hier in der Stadt ein Gerichtsverfahren kann keinen Schlussstrich geben. Ackermann: Wir haben uns 2010 zu der
gegen einen Priester, der eine Person se- SPIEGEL: Bei der Missbrauchsstudie der wissenschaftlichen Erforschung des Miss-
xuell missbraucht hatte. Darüber wurde Bischofskonferenz kam heraus, dass in den brauchs in der Kirche entschieden mit der

OLIVER DIETZE / DER SPIEGEL

Katholik Ackermann: »Nicht zur Tagesordnung übergehen«

62 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Maßgabe, darin vor allem auf die systemi- Gegen dieses Vorhaben gab es Kritik bis ten vernichtet wurden. Es war aber auch
schen Ursachen zu schauen. Es gab anfangs hin nach Rom. Deshalb haben wir gemacht, ausdrücklich nicht das Ziel der Studie he-
aber Schwierigkeiten, das Projekt auf den was datenschutzrechtlich möglich war. rauszufinden, wer sich im Einzelnen schul-
Weg zu bringen. Wir betraten Neuland, SPIEGEL: Die Autoren der Studie bemän- dig gemacht hat, wer vertuscht hat, wer
in Deutschland gab es bis dahin keine ver- gelten, dass die Zusammenarbeit mit den seiner Verantwortung nicht nachkam.
gleichbare Studie, keine Institution, die einzelnen Diözesen höchst unterschiedlich SPIEGEL: Was war denn das Ziel?
sich dem Thema auf diese Art gestellt hatte. gewesen sei. Manche Bischöfe waren offen- Ackermann: Wir wollten zunächst einmal
Eine Frage war etwa, wie wir bei der um- bar nicht besonders kooperativ. wissenschaftlich ergründen, welche Fakto-
fassenden Auswertung von Personalakten Ackermann: Das ist beklagenswert. Man ren und Risikokonstellationen den Miss-
den Datenschutz gewährleisten. hat das Thema offensichtlich nicht in allen brauch im Bereich der katholischen Kirche
SPIEGEL: Eigentlich sollte der Kriminologe Diözesen so prioritär behandelt wie es begünstigen, um daraus systemische Rück-
Christian Pfeiffer das Projekt leiten, 2013 erforderlich gewesen wäre. In der Miss- schlüsse für die Zukunft ziehen zu können.
scheiterte das Projekt, weil für ihn die Kir- brauchsbekämpfung braucht es eine ent- Es ging uns in diesem ersten Schritt nicht
che zu stark eingreifen wollte. sprechende Haltung auf allen Ebenen. um eine vollumfassende Aufarbeitung des
Ackermann: Es ging uns nicht darum, in Aber trotzdem ist es auch eine Frage des Missbrauchs. An diesem Punkt waren wir
die Studie einzugreifen oder gar Ergebnis- politischen Willens. Von oben muss die 2014 noch nicht. Von uns Bischöfen und
se zu verändern. Der strittige Punkt war, klare Direktive kommen: Wir wollen das, den Generalvikaren war das damals auch
wie die Ergebnisse am Ende angemessen wir machen das. Wenn ein Bischof die The- nicht gewünscht.
kommuniziert werden. Im Laufe der Zu- matik nicht zur Chefsache erklärt, bleibt SPIEGEL: Warum nicht?
sammenarbeit ist das Misstrauen immer die Umsetzung schwierig. Ackermann: Wir wollten vermeiden, dass
größer geworden. Das führte zum Bruch, SPIEGEL: Kritiker sagen, die Studie sei in- es eine Art Missbrauchsranking der Bistü-
und wir haben einen Fehlstart hingelegt. transparent. Sie konstatieren, dass über mer gibt, nach dem Motto: Wo sind be-
SPIEGEL: Andere Forscher übernahmen, die Jahre Dokumente vernichtet wurden, sonders viele Fälle, wo besonders wenige?
aber auch sie durften keine Originalakten und verweisen auf die hohe Dunkelziffer. SPIEGEL: Im Zuge der Missbrauchsstudie
einsehen. Kirchenmitarbeiter übergaben Es ist die Rede von 100 000 Betroffenen. hat sich die Bischofskonferenz bei ihrer
nur anonymisierte Informationen. Ackermann: Ich kann diese Zahl nicht be- Vollversammlung in Fulda in einer Ab-
Ackermann: In der nun vorliegenden Stu- werten. Uns ist aber völlig klar, dass das sichtserklärung zu »verstärktem Handeln«
die haben wir Personalakten von Kleri- Dunkelfeld groß ist. Wir wissen durch die verpflichtet. Was heißt das?
kern im Zeitraum zwischen 1946 und 2014 Studie, dass sich 50 Prozent der von Be- Ackermann: Wir haben uns zu einer Reihe
analysieren lassen, auch ohne dass ein troffenen gemeldeten Fälle gar nicht in den weitergehender Schritte verpflichtet. Dazu
Anfangsverdacht vorliegen musste. Das Personalakten wiederfinden, etwa weil gehören die kritische Überprüfung bereits
betraf auch die Daten von Kirchenmitar- man die Vorkommnisse seinerzeit nicht etablierter Maßnahmen, aber auch unab-
beitern, die aktuell noch im Dienst sind. dokumentiert hat oder weil tatsächlich Ak- hängige Aufarbeitung. Es gilt zu klären,

HARALD OPPITZ / KNA

Herbsttagung der deutschen Bischöfe in Fulda: »Wir haben einen Fehlstart hingelegt«

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Gesellschaft

wer über die Täter hinaus institutionell lichen hierarchisch-autoritären Systems


Verantwortung getragen hat. In eine wirk- können Sie sich vorstellen?
liche Aufarbeitung müssen auch die Be- Ackermann: Das sind Fragen, die sich
troffenen mit einbezogen werden, voraus- nicht mit einzelnen Maßnahmen abhan-
gesetzt, sie sind dazu bereit. deln lassen, dafür braucht es einen aus-

OLIVER DIETZE / DER SPIEGEL


SPIEGEL: Wie meinen Sie das? führlichen Dialog. Dabei muss es um unser
Ackermann: Ich kann keinen Missbrauchs- Amtsverständnis gehen und auch um Fra-
geschädigten dazu zwingen, die eigene Ge- gen der katholischen Sexualmoral.
schichte aufzuarbeiten, wenn er das nicht SPIEGEL: Welche Rolle spielt der Zölibat,
will oder möglicherweise schon damit ab- wenn es um kirchlichen Missbrauch geht?
geschlossen hat. Wenn ich etwa in der Per- Ackermann: Die Forscher sagen uns, es
sonalakte eines beschuldigten Klerikers den Ackermann, SPIEGEL-Redakteur* gebe keine monokausale Lösung. Deshalb
Namen eines Opfers finde, kann ich die Per- »Ich nehme die Kritik an« möchte ich den Zölibat auch nicht einfach
son ja nicht einfach anrufen. Da braucht es zur Disposition stellen.
eine besondere Sensibilität. Trotzdem ver- und Jugendlichen sind. Zuvor holen wir SPIEGEL: Er ist aber ein Faktor dafür, dass
suchen wir, dem nachzugehen. ein forensisch-psychiatrisches Gutachten jemand zum Missbrauchstäter wird. Ein
SPIEGEL: Wann öffnen Sie Ihre Archive zur Risikoabschätzung ein. Ein Einsatz in Vergleich der Quoten in der Missbrauchs-
endlich externen Forschern? der normalen Pastoral ist aber in aller studie zeigt, dass sich 5,1 Prozent aller
Ackermann: Es ist klar, dass die nun fol- Regel nicht mehr möglich. Diözesanpriester unter den Tätern befan-
gende Aufarbeitung keine interne Sache SPIEGEL: Warum werden Missbrauchstä- den, aber nur 1 Prozent der Diakone, die
mehr sein kann. Unabhängig heißt für mich, ter nicht aus dem Kirchendienst entfernt? ihre Sexualität leben dürfen.
dass der jeweilige Bischof die weitere Un- Ackermann: Selbstverständlich gibt es Ackermann: Es gibt bestimmte Risikokon-
tersuchung aus der Hand gibt und alles zur auch Entlassungen aus dem Klerikerstand. stellationen, zu denen wesentlich auch die
Verfügung stellt, was dafür nötig ist. Das be- Das ist kirchenrechtlich das höchste Straf- Frage nach der übertragenen Macht gehört.
deutet auch, dass man die Archive kirchen- maß. In weniger gravierenden Fällen wird Die ist bei Priestern größer als bei Diako-
unabhängigen Fachleuten zugänglich macht. ein Verbot des Seelsorgedienstes und der nen. Problematisch ist ebenfalls, wenn sich
SPIEGEL: Manche Bischöfe sind bereits öffentlichen Zelebration ausgesprochen ein angehender Seelsorger gar nicht mit sei-
mit eigenen Aufarbeitungsinitiativen vor- oder die sofortige Versetzung des Klerikers ner Sexualität auseinandersetzt und gewis-
geprescht, andere zögern. Wie wollen Sie in den Ruhestand veranlasst. sermaßen in den Zölibat flüchtet. Sexuali-
sich in Würzburg einigen? SPIEGEL: Das war früher anders. Die Miss- tät hört mit der Weihe nicht auf. Auch ein
Ackermann: Ich werde meinen Mitbrü- brauchsstudie hat ergeben, dass die Bistü- Priester kennt sexuelles Begehren. Er muss
dern einen Arbeitsplan für die kommen- mer über die Jahrzehnte nur in jedem drit- aber lernen, so damit umzugehen, dass er
den Monate vorlegen. Wir müssen uns dem Zölibat nicht zuwiderhandelt.
über bereits ergriffene Initiativen abspre- SPIEGEL: Opferverbände kritisieren, dass
chen. Und wir wollen in den Bereichen die Kirche Missbrauchsgeschädigten in der
Intervention und Prävention über Bistums- »Auch ein Priester kennt Regel nur bis zu 5000 Euro auszahle, und
grenzen hinweg zusammenarbeiten, ge- sexuelles Begehren. Er nannten die Summe »schäbig«.
meinsam mit dem Unabhängigen Beauf- muss aber lernen, damit Ackermann: Ich nehme die Kritik an und
tragten der Bundesregierung für Fragen weiß, dass es Unzufriedenheit gibt. Ich hal-
des sexuellen Kindesmissbrauchs. umzugehen.« te das System insgesamt aber nicht für ver-
SPIEGEL: Weil die Missbrauchsstudie für fehlt. Unter den 1800 bisherigen Antrag-
einen Anfangsverdacht sorgte, haben stellern sind zahlreiche Menschen, die die
sechs Strafrechtsprofessoren vor wenigen ten Fall ein kirchenrechtliches Verfahren Leistungen als materielle Anerkennung ih-
Wochen Anzeige gegen unbekannt erstat- gegen schuldige Kleriker eingeleitet haben. res Leids annehmen. Härtefälle werden
tet. Wie gehen Sie damit um? Oft wurden Täter nur in andere Bistümer schon jetzt gesondert verhandelt. Und bei
Ackermann: Wir werden volle Koopera- versetzt, wo sie erneut Kinder missbrauch- der Übernahme von Therapiekosten rich-
tionsbereitschaft mit den Ermittlungsbe- ten. Wie konnte das passieren? ten wir uns nach den Vorgaben des vom
hörden zeigen. Kirchliches Recht kann Ackermann: Das muss die weitere Aufar- Bund eingerichteten Systems.
nicht gegen staatliches stehen. Es wäre aber beitung zeigen. Schon jetzt ist klar, dass SPIEGEL: Zahllose Katholiken hierzulande
auch falsch zu glauben, dass wir erst jetzt man den sexuellen Missbrauch innerkirch- können nicht fassen, dass der Episkopat
damit anfangen, mit Staatsanwaltschaften lich zu lange als rein moralisches Problem schuldige Kleriker jahrzehntelang deckte.
zu kooperieren. Wir haben die Zusammen- betrachtet und nicht als Pädokriminalität Was sagen Sie denen?
arbeit bereits seit 2010 intensiviert. Sobald gewertet hat, auch mit den Folgen, die das Ackermann: Ich verspreche ihnen, mich
sich ein Verdachtsfall erhärtet, wird er zur für die Opfer hatte. Dafür gab es kein aus- mit aller Kraft weiter dafür einzusetzen,
Anzeige gebracht. reichendes Bewusstsein. Man muss den ein- dass wir uns als katholische Kirche in
SPIEGEL: Können Sie ausschließen, dass zelnen Fall anschauen. Wenn etwa 1970 ein Deutschland unserer Verantwortung stellen.
es auch zum jetzigen Zeitpunkt noch Se- sexuell übergriffig gewordener Geistlicher Dabei weiß ich sehr wohl, dass nicht nur
xualstraftäter gibt, die als katholische innerhalb eines Jahres dreimal versetzt wur- Worte, sondern Taten zählen. Dazu haben
Priester in Gemeinden tätig sind? de, liegt nahe, dass man die Vorfälle nicht wir Bischöfe uns verpflichtet, und was ich
Ackermann: Da richten wir uns strikt nach wahrhaben und aufklären wollte. dazu beitragen kann, werde ich tun. Ich
unseren Leitlinien. Sobald jemand als Tä- SPIEGEL: Die Macher der Missbrauchsstu- werde nicht zur Tagesordnung übergehen.
ter identifiziert ist, gibt es keinen Einsatz die haben auf die geschlossenen Struktu- Dafür ist das Thema viel zu schmerzlich, in
mehr in einer Gemeinde. ren in der Kirche verwiesen, durch die eine allererster Linie für die Betroffenen, aber
SPIEGEL: Und wo kommen die Leute hin? jahrelange Vertuschung erst ermöglicht auch für die Gemeinschaft der Gläubigen.
Ackermann: An Orte, wo es keinerlei An- worden sei. Welche Änderungen des kirch-              
SPIEGEL: Herr
  Bischof Ackermann, wir
reize mehr für den schuldig gewordenen danken Ihnen für dieses Gespräch.
Geistlichen gibt, wo etwa keine Kinder * Felix Bohr im Bischofshof in Trier.

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Der Steinmarder ist ein hübsches Tier, graubraun mit wei-

Folgeschäden ßem Kehlfleck, katzengroß, aber wer ihn einfach nur putzig
findet, hat nie das Ruckeln und Stottern des Motors erlebt,
weil jemand das Zündkabel durchgebissen hat. Oder den
Kühlwasserverlust aus perforierten Schläuchen, was die Wir-
Homestory Warum man beim Abschluss kung haben kann, dass der Motor plötzlich nur noch im Not-
einer neuen Kfz-Versicherung programm fährt. Und womöglich irgendwann kaputtgeht,
auch an die Marotten der Tierwelt denken sollte das sind dann Folgeschäden vom Marderbiss, und eine nor-
male Teilkaskoversicherung deckt so etwas nicht ab.
Der Mensch zieht in Naturnähe, und plötzlich ist die Natur
ovember ist die Zeit, da der Mensch über die Risiken ihm näher als erwünscht; wer im ländlichen Raum lebt, kennt

N des Lebens nachdenkt und wie ihnen wohl zu be-


gegnen sei. Mit einem Versicherungswechsel bei-
spielsweise.
Ich suchte mir ein Vergleichsportal, Abteilung: Kfz. Das
das Problem. 46 000 Marderschäden meldete allein die HUK
Coburg im vergangenen Jahr. Der ADAC kam auf 12 496 Ein-
sätze. Insgesamt 66 Millionen Euro Marderkosten registrierte
die Versicherungswirtschaft zuletzt.
Portal fand es wichtig, wie leicht man kündigen konnte und Beeindruckende Zahlen, dachte ich. Der Mensch beein-
ob die Versicherung auch einsprang bei grober Fahrlässigkeit. trächtigt den Lebensraum der Tiere, die Tiere beeinträch-
Punkt drei war: Marderbiss. Kostenerstattung für Schäden tigen zurück, im ländlichen Raum, aber immer wieder auch
durch Marderbiss. Marderbiss klingt im Vergleich zu den an- in der Stadt.
deren Sachen erst mal nach Kleingedrucktem. Aber wer so Ich las, dass man das Problem zuerst in der Schweiz be-
denkt, hat keine Ahnung. obachtet habe, vor 40 Jahren etwa, es breitete sich dann
Marder. Ich kenne das Problem. Mein Nachbar kennt es nach Norden aus. Die Firma Audi, las ich, habe mal eine
auch, seit Jahren. Das Problem spielt eine relativ große Rolle zahme Marderdame namens Kyra beschäftigt, um heraus-
im Leben des Nachbarn, ständig denkt er sich neue Lösungs- zufinden, wo ein Marder im Motorraum gern herumkriecht
möglichkeiten aus. und wie er sich dort benimmt. Ich las auch, dass Elektroautos
Vor Kurzem sagte er: mardermäßig kein Aus-
»Ich gehe mir frische Ei- weg seien, weil es einen
er holen, vom Bauern.« speziellen Trick gibt, wie
Ein Satz, der eigentlich man mit ein paar Bis-
nach keiner Gegenfrage sen die gesamte Elektrik
verlangt. Er wartete aber lahmlegt.
auf eine. Für Menschen ist ein
Also? Frische Eier? Auto ein Ding, das einen
Der Nachbar stand von A nach B bringen
vor einem kastenartigen soll. Für Marder ist ein
Ding aus Holz, es hat- Auto ein Ding, in dem
te viele Schrauben und man schlafen, spielen
mehrere Klappmechanis- und als junger Marder
men. Vor diesem Ding die Welt erkunden kann,
würde er, in regelmäßi- indem man auf ihr he-
gen Abständen über die rumbeißt.
Hofeinfahrt verteilt, die- Und Schlimmeres, das
se Eier auslegen, die er THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL sagte der Nachbar neu-
nur mit Handschuhen lich etwas undeutlich un-
anfassen würde, weil sie ter der Motorhaube am
nach Hühnerstall rie- Wagen seiner Tochter
chen müssten und nicht nach Mensch, sagte er. Weil der hervor, er zerrte an den Dämmmatten herum, die Spuren
Marder schlau ist. Weil das Tier Eier mit Menschengeruch der Verwüstung trugen. Seine Tochter fahre offenbar zwi-
liegen lässt. schen zwei Marderrevieren hin und her. Der eine Marder
Über die Jahre hat der Nachbar viel gelernt über das Pro- rieche dann jeweils den anderen und gerate in Wut.
blem, aber das Problem ist immer noch da. »Ich glaube«, Der Kampf geht weiter. Die Nachbarin sagt: »Der Marder
sagte er, »das ist jetzt die dritte Mardergeneration.« ist ein Grüner.«
Der Nachbar ist technikaffin, er hatte Maßnahmen getrof- Der Nachbar sagt, er sei total optimistisch. Er hat sich
fen, schon lange waren wir Zeuge. Es fing an mit den üblichen daran gewöhnt, dass seine Familie seinen Bemühungen
Abschreckungsgittern unter dem Auto und auf dem Weg manchmal etwas distanziert zusieht. Er hat sich jetzt also
zum Dachboden des Nachbarn, weil Marder sich gern auf diese »Lebendfangfalle« besorgt, mit Schrauben und
Dachböden einquartieren; es heißt, dass Marder solche Falltüren und Klappmechanismen, auszulösen durch den
Kunststoffgitter nicht mögen. Dem örtlichen Marder waren Marder, woraufhin der Marder mit der Hilfe des örtlichen
sie egal. Es wurde kurz über Starkstrom nachgedacht, aber Jägers ausgewildert wird, mindestens 60 Kilometer weit
natürlich nur theoretisch. Es wurden Laufwege studiert und weg, sonst ist das Tier gleich wieder da. So denkt sich der
zunehmend raffinierte Videokameras installiert, es gibt jetzt Nachbar das.
verschwommene nächtliche Marderporträts, aber das stört Der Marder denkt sich das, bisher jedenfalls, ganz anders.
das Tier natürlich nicht. Es gibt keine Lösung.
Wir beobachteten die Bemühungen des Nachbarn mit Sym- Der Mensch bekämpft weiter den Marder. Der Marder
pathie. Wir beglückwünschten uns, dass die Laufwege des bekämpft weiter den Individualverkehr.
Tieres zwar manchmal bei uns übers Auto führten, aber in Neulich schaltete unser Auto ganz plötzlich ins Notlauf-
den Motorraum offenbar nicht. programm. Barbara Supp

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 65


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Wirtschaft
Im günstigsten Fall sind nur die Kaffeemaschinen defekt, im schlimmsten Fall bleibt der Zug auf der Strecke. ‣ S. 6 8
JO HOLZ / VISUM

RWE-Braunkohlekraftwerke am Tagebau Garzweiler in Nordrhein-Westfalen

Energie

Kein Geld für abgeschaltete Kohlemeiler


Bundesregierung muss Stromkonzerne laut Bundestags-Gutachten nicht entschädigen.
G Der Bund kann Energieriesen wie den RWE-Konzern schreiben die Verfasser. Auch das von den Betreibern einge-
zwingen, Kohlekraftwerke stillzulegen, ohne dafür milliar- forderte Recht, die Anlagen so lange zu betreiben, bis sich
denschwere Entschädigungen zahlen zu müssen. Zu diesem die Investitionen »vollständig amortisiert haben«, schließen
Ergebnis kommen die Wissenschaftlichen Dienste des Bun- die Dienste aus. »Für die von der Bundesregierung eingesetzte
destags in einem Gutachten. Demnach kann die Regierung Kohlekommission ist das Gutachten eine Steilvorlage, um
Laufzeiten von Kraftwerken begrenzen, wenn sie damit »ver- die Stilllegungen von Kraftwerken durchzusetzen, sagt der
nünftige Erwägungen des Gemeinwohls« verfolge. Die Redu- Grünen-Energieexperte Oliver Krischer. Die Kommission
zierung der Treibhausgase und der Gesundheitsschutz seien soll einen Plan für den Ausstieg aus der Kohleverstromung
solche Ziele, heißt es in dem elfseitigen Papier. Die Betreiber erarbeiten. Dabei war sie auf Widerstand der Energieversor-
der Anlagen hätten in einem solchen Fall keinen Anspruch ger gestoßen. Sie fordern milliardenschwere Entschädigun-
auf Entschädigung. »Bloße Umsatz- und Gewinnchancen« gen und hatten dies mit Gutachten untermauert. Die Kom-
würden in dem Fall nicht von der Eigentumsgarantie erfasst, mission hatte solche Zahlungen bislang auch vorgesehen. FDO

Onlinehandel umsatz von rund 2,4 Milliar- lich mehr als zehn Millionen fünfte Modeartikel im Online-
Retouren-Rekorde den Euro. Das wäre ein Plus Pakete und Kuriersendungen handel zurückgeschickt. Laut
von rund 15 Prozent gegen- verschickt – ein Großteil geht einer Befragung von 1000 Per-
G Die bevorstehenden Han- über dem Vorjahr. Der chine- auf Einkäufe im Internet zu- sonen in Deutschland für die
delsaktionstage Black Friday sische Onlineriese Alibaba ver- rück. Allerdings wird fast jeder Organisation Greenpeace
und Cyber Monday, die in kaufte bei seinem Shopping- bestellen 60 Prozent der Kun-
den USA traditionell das Weih- event am 11. November, dem den unter 30 Jahren Artikel
nachtsgeschäft einläuten, sogenannten Singles-Day, oft schon mit der Absicht, sie
werden wohl auch hierzulande in diesem Jahr Waren im Wert wieder zu retournieren. Neun
erneut für Rekordzahlen von 27 Milliarden Euro. Ins- von zehn Befragten in der
sorgen – bei Umsätzen, aber gesamt taxiert der HDE den Stichprobe aus dem Oktober
auch bei Post-Retouren. Der Umsatz im Onlinehandel in wussten nicht, dass zurückge-
Handelsverband Deutschland Deutschland für 2018 auf mehr schickte Ware durch die Händ-
(HDE) rechnet bei diesen als 53 Milliarden Euro. Inzwi- ler aus Kostengründen vernich-
Aktionen mit einem Online- schen werden hierzulande täg- tet werden könnte. MUM, ONE

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Digitalsteuer Greser & Lenz


Vor dem Scheitern
G Die Pläne der EU, sich noch bis Ende
des Jahres auf eine Digitalsteuer zu
einigen, rücken in weite Ferne. Durch
den Ecofin-Rat, die Runde der EU-
Finanzminister, geht ein tiefer Riss in
der Frage, ob Digitalunternehmen wie
Google oder Amazon schon bald mit
einer eigenen Steuer belegt werden
sollen. Das geht aus dem Protokoll der
Sitzung des Rats von Anfang Novem-
ber hervor. Danach plädierten Finanz-
minister von zehn Ländern, darunter
Frankreich, Italien und Griechenland,
dafür, auf EU-Ebene möglichst rasch
eine Digitalsteuer einzuführen. Dem
widersprachen die Vertreter Schwe-
dens, Dänemarks, Estlands, Finnlands,
Irlands und Maltas. Auch Finanzminis-
ter Olaf Scholz (SPD) ist skeptisch und
glaubt nicht, dass sich die EU noch
einigen wird, weil dazu Einstimmigkeit
nötig ist. Laut Protokoll setzt er darauf,
das Problem mit einer »effektiven
Mindestbesteuerung« zu lösen. Dabei
würden die EU-Finanzbehörden die Ge- Klima der Stromerzeugung auf erneuerbare
winne von grenzüberschreitend tätigen Kohlendioxid soll einen Energien attraktiver werden. Benzin und
Unternehmen nachversteuern, wenn Diesel würden um 12 bis 14 Cent pro
sie meinen, dass die im Ausland zu festen Preis bekommen Liter teurer, was den Kauf von Elektro-
wenig Steuern bezahlen. Scholz glaubt autos ankurbeln könnte. Zusätzlich
damit bis zu 85 Prozent der strittigen G Damit Deutschland die Klimaziele er- könnte die Stromsteuer gesenkt werden.
Steuerfälle lösen zu können, die unter reicht, sollen fossile Energien wie Kohle, Dadurch würde der Preis pro Kilowatt-
die Digitalsteuer fallen. Er fürchtet, Öl und Gas mit einer CO2-Abgabe belegt stunde für die Bürger um fast vier Cent
diese könnte Begehrlichkeiten aus werden. In einem Gutachten schlägt gesenkt. Alternativ dazu könnten die
ländischer Finanzbehörden auf Gewin- die Denkfabrik Agora Energiewende vor, Mehreinnahmen aus der CO2-Bepreisung
ne deutscher Exportunternehmen dass von 2020 an mindestens 45 Euro neben dem Klimaschutz in einen »Pro-
wecken – und der deutsche Fiskus bis pro emittierter Tonne CO2 an den Staat Kopf-Energiewendebonus« von 120 bis
zu fünf Milliarden Euro verlieren. REI abgeführt werden. So soll die Umstellung 200 Euro pro Jahr fließen. GT

Samstagsfrage

Können wir bald kein YouTube mehr gucken?


In Deutschlands Kinderzimmern geht die Angst um: Videoclip- oder für alles Lizenzverträge abzuschließen. Dass die
YouTube werde es 2019 so nicht mehr geben. Die stunden Reform das Ende von YouTube bedeutet, ist dennoch
populäre Plattform sei gezwungen, alle Videos zu die pro Minute bei YouTube unwahrscheinlich. So steht überhaupt nicht fest,
löschen, die nicht von TV-Sendern oder anderen von Nutzern hochgeladen werden wie die Richtlinie im Detail aussehen wird. Euro-
großen Produzenten stammten. Das zumindest päisches Parlament, Rat und Kommission verhan-
behaupten einflussreiche Videomacher wie LeFloid Febr. 2018: deln derzeit über die finale Fassung. Strittig ist
2008:
und versetzen so ihr jugendliches Publikum in beispielsweise die Frage, unter welchen Umständen
Panik. Die reißerischen Filme sind Teil einer Kam-
rund 15 450 ein Filter, der Verstöße automatisch erkennen soll
pagne namens »Save your Internet«. Initiator: der zum (und den YouTube schon jetzt anwendet), die Plattfor-
Google-Imperium gehörende YouTube-Konzern. Der US- men aus der Haftung entlässt. Einigkeit herrscht in der
Techriese ist mit einer geplanten Richtlinie der Europäischen Politik jedoch darüber, dass für Parodien Ausnahmen gelten
Union nicht einverstanden. Die EU will das Urheberrecht refor- sollen. Sogenannte Memes, die etwa Filmausschnitte humorvoll
mieren, um Kreative besser zu schützen. Problematisch ist die verfremden, sollen so auch künftig noch möglich sein. Die EU
Reform aus Sicht von YouTube, weil Plattformen künftig dafür weist die Horrorszenarien zurück und verspricht eine Lösung,
haften sollen, wenn Nutzer dort urheberrechtlich geschützte »die für uns alle akzeptabel ist«. Dank YouTubes Lobbykampagne
Inhalte hochladen. YouTube argumentiert, dass minütlich Hun- steht sie nun trotzdem wie ein Dinosaurier da, der ahnungslos
derte Stunden Material hinzukommen würden – und es un- durch die digitale Welt stolpert. Und dabei aus Versehen das
möglich sei, dies lückenlos auf Urheberrechtsverstöße zu prüfen Internet zerstört. Ann-Kathrin Nezik

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 67


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JOCHEN ECKEL / SZ PHOTO / LAIF


C.HARDT / SNAPSHOT / FUTURE IMAGE / SZ PHOTO

Signalanlagen der Bahn, Schienenbauarbeiten: Mehr Investitionen, höhere Schulden

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Wirtschaft

Notfahrplan
Deutsche Bahn Mit einer neuen Strategie will der Vorstand den Konzern endlich aus der Krise
führen. Doch das Verhältnis zu Regierung und Aufsichtsrat ist zerrüttet,
der erhoffte Neustart dürfte schwierig werden. Jetzt kommt es zur Entscheidung.

S
ein ganzes Arbeitsleben lang geht am Wochenende stattfinden können. Und Das Papier ist auf ein konkretes Datum
es um Pünktlichkeit, schon als wenn er die Fernzüge schon über die Aus- hin geschrieben worden: Am 22. und 23.
Azubi am Berliner Ostbahnhof weichstrecke nördlich des Mains schicken November ist eine Strategiesitzung anbe-
war das so. Stefan Schubert erin- muss, dann könnte auf der gesperrten Stre- raumt, in der der Vorstand dem Aufsichts-
nert sich noch gut daran, wie er ein dickes cke gleich noch ein Bahnsteig repariert rat seine Vision einer modernen Bahn vor-
Kursbuch unter dem Arm trug. »Damit werden. »Die Arbeiten stehen ohnehin legen soll. Vor allem aber wird es um die
suchte ich dem ratlosen Großmütterchen bald an«, sagt er und geht die Sache an. Frage gehen, wie viel Geld der Konzern
eine neue Zugverbindung nach Dresden.« Tatsächlich steigt die Zahl der täglichen braucht, um diese Vision umzusetzen.
Damals war er noch Teenager, Bürger Baustellen bei der Bahn weiter – die da- Seit Wochen herrscht im Bahntower am
der DDR, und sein Arbeitgeber hieß Deut- durch bedingten Verspätungen aber sind Potsdamer Platz deshalb helle Aufregung.
sche Reichsbahn. Mehr als 40 Jahre später um 22 Prozent gesunken. Das sind Erfolgs- Einzeln und in Gruppen haben sich die
arbeitet Schubert bei der Deutschen Bahn zahlen. Sie finden sich auf Seite 26 eines sechs Vorstandsmitglieder vorbereitet, von
AG und kämpft noch immer gegen Ver- Berichts, den die 19 Aufsichtsratsmitglie- dem Termin hängt viel ab, auch für die
spätungen. Seine Aufgabe ist im Kern die der der Deutschen Bahn Ende vergange- eigene Karriere. Deshalb ist die Stimmung
gleiche – und doch viel größer: Als Leiter ner Woche zugeschickt bekamen. zunehmend gereizt.
des »Lagezentrum Bau« muss der 57-jäh- Geschrieben hat ihn der Konzernvor- Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla
rige Ingenieur mit seinen Kollegen dafür stand, der Titel der 200-seitigen Präsenta- und Berthold Huber, zuständig für den
sorgen, dass Millionen Fahrgäste pünktlich tion lautet »Unsere Agenda für eine bes- Personenverkehr, kämpfen darum, nicht
ans Ziel kommen. sere Bahn«. Das klingt nach Schulaufsatz, den Schwarzen Peter für die Verspätungen
Auf Schubert und seinem neunköpfigen dabei kämpft die Konzernspitze um ihr und Ausfälle zugeschoben zu bekommen.
Team lastet die Hoffnung des gesamten berufliches Überleben. Und natürlich um Lange hatte sich die Aufmerksamkeit auf
Konzerns. Seine Spezialtruppe ist Teil des die Zukunft der Bahn. Schienen und Signaltechnik gerichtet. Das
Plans, mit dem der Bahn-Vorstand endlich ist Pofallas Reich. Dann musste Huber ein-
vorankommen will; raus aus der Krise, in gestehen, dass auch Züge, selbst ICEs,
der es immer und immer wieder um die Bahn-Forderungen nicht ausreichend gewartet aus den Repa-
gleichen Themen geht: unpünktliche Züge, an den Bund für Infrastrukturmaßnahmen raturstätten laufen. Im günstigsten Fall
Lokführermangel, Zoff in der Führung, in Milliarden Euro sind nur die Kaffeemaschinen im Bord-
gewaltige Schulden. 7,0 bistro defekt, im schlimmsten Fall bleibt
Tatsächlich steht der Konzern, knapp 2025 der ganze Zug auf der Strecke (SPIEGEL
ein Vierteljahrhundert nach seiner Priva- 5,6 40/2018).
tisierung, vor riesigen Herausforderungen: 2020 Im Sommer war die Atmosphäre im
Einerseits ist die von allen gewünschte Ver- Vorstand so schlecht, dass Bahn-Chef Ri-
kehrswende ohne die Bahn undenkbar, chard Lutz seinem Frust in einem Brand-
der Ausbau ihres Glasfasernetzes entschei- 3,6 brief freien Lauf ließ. Er echauffierte sich
dend für die Digitalisierung des Landes. 2017 darin nicht nur über das schlechte Erschei-
Und trotzdem sind es eigentlich profane nungsbild seines Konzerns, sondern auch
Probleme, die für die Kunden zum Dauer- über den mangelnden Zusammenhalt der
ärgernis werden. Eine der zentralen Ursa- einzelnen Sparten: »Die geschäftsfeldüber-
chen, warum die Bahn einfach nicht pünkt- greifende Zusammenarbeit ist nach wie
lich kommt, ist ihr Baustellenmanagement. vor unbefriedigend«, schrieb er.
Weil es Puzzlearbeit ist, für die es gute Reisende im Fernverkehr Klar ist: Der Druck kommt von allen
Nerven braucht. Seiten. Da ist der Verkehrsminister, An-
in Millionen io.
Schubert hat diese Nerven. An einem dreas Scheuer, der die dauernden Fehler-
Montagmorgen Ende Oktober sitzt er in iel: +
70 M 200 meldungen leid ist. Der CSU-Mann hat
sZ
einem schmucklosen Büroturm neben der neue 2030 den Vorstand deshalb enger an die Kan-
Frankfurter Messe und klappt seinen Lap- dare genommen. Sprach er Anfang Juni
top auf. Ein Programm zeigt ihm neu ein- 142 noch wie ein staunender Bub vom »Wow-
geplante Baustellen entlang der 33 000 Ki- 129 2017 Effekt«, der sich beim Blick auf die Bahn
lometer langen Strecken. Heute gilt sein Au- 2014 einstelle, setzte er Lutz und seinen Vor-
genmerk einer Baustelle ausgerechnet auf ständen jetzt eine Frist: Bis Frühjahr 2019
der Strecke zwischen Frankfurt und Fulda. müssten »erhebliche Verbesserungen für
»Ein Nadelöhr«, wie Schubert bemerkt. die Bahn-Kunden« sichtbar werden.
Sein Job ist es, Baustellen wie diese best- Daneben übt der Bund, immerhin Allein-
möglich zu koordinieren. Er prüft deshalb, eigentümer, auch über den Aufsichtsrat sei-
ob die Arbeiten am Gleiskörper nicht auch Quelle: DB-intern nen Einfluss aus. In dem sitzen zahlreiche

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 69


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den können, bevor sie kaputtgehen. »Digi-


tale Schiene Deutschland« heißt das Pro-
jekt. Alles in allem kosten die Zukunfts-
investitionen 4,95 Milliarden Euro.
Neben diesen Projekten hofft Pofalla
auch auf schnell zu realisierende Innova-
tionen, mit denen die Pünktlichkeit ver-
bessert werden soll. Das Lagezentrum
Bau, in dem Stefan Schubert seinen Dienst
tut, entstand unter Pofallas Regie. Jetzt
soll etwas Ähnliches mit einem »Akutpro-
gramm Leit- und Sicherungstechnik« für
die Signale und Stellwerke entstehen.
Noch bis zum Ende dieses Jahres sollen
die 100 störanfälligsten Anlagen identifi-
ziert werden. Das kostet laut Aufsichtsrats-
vorlage zwar 25 Millionen Euro, soll aber
tausend Züge mehr als im Vergleich zum
miserablen ersten Halbjahr 2018 pünktlich
ans Ziel kommen lassen.

ANDREAS REEG / DER SPIEGEL


Der Bau großer neuer Bahnstrecken
wird auf der Strategiesitzung des Aufsichts-
rats nicht ausgerufen werden. Die Schnell-
strecke zwischen München und Berlin so-
wie Stuttgart 21 sind die in absehbarer Zeit
letzten Großprojekte. Pofalla setzt darauf,
Baustellenmanager Schubert: Die Hoffnung des gesamten Konzerns die neuralgischen Knotenpunkte auszu-
bauen, die es in Deutschland gibt: etwa
den um den Hamburger Hauptbahnhof,
Politiker und Ministeriale, allen voran der Dafür soll die Kapazität der Zugflotte die Korridore Köln–Dortmund und Ful-
ehemalige Verkehrsstaatssekretär Michael um 50 Prozent steigen, was bedeutet, dass da–Mannheim.
Odenwald. Der Scheuer-Vertraute führt schon in den nächsten fünf Jahren 200 Damit sich durch die erhöhte Bautätig-
das Kontrollgremium an – und mischt sich neue Züge angeschafft werden müssen, da- keit nicht noch mehr Züge verspäten, soll
zum Unmut des Vorstands zunehmend in von allein 137 neue ICEs. in Zukunft häufiger nachts und an den
das Tagesgeschäft des Führungspersonals Mehr Züge helfen, um genug Ersatz zu Wochenenden gearbeitet werden. Dafür
ein. haben, wenn ein Gespann ausfällt. An den müssen den Fachkräften allerdings höhere
Neulich etwa wollte die Digitalvor- neuralgischen Stellen im Netz kann die Löhne gezahlt werden. Die Frage ist, ob
standsfrau Sabina Jeschke auf Geschäfts- Bahn allerdings nicht einfach mehr Züge der Staat die zusätzlichen Kosten finan-
reise, neun Tage nach China. Odenwald durchschicken. Da fehlt schlicht der Platz zieren will. Stefan Schubert und seinen
bekam Wind davon und ließ nachfragen, auf dem Gleis. Der Ausweg: Die Gespanne Leuten vom Lagezentrum Bau würde es
was sie denn in Fernost wolle und ob es werden um einen Waggon verlängert. Im das Leben leichter machen.
nicht besser sei, sich in Berlin auf die Stra- Falle der ICEs sollen das auch welche mit Die Bereitschaft des Bundes, weiteres
tegiesitzung vorzubereiten. Sogar einen eigenem Antrieb sein. Dadurch plant Hu- Geld lockerzumachen, hängt davon ab, ob
Brief schrieb Odenwald an Jeschke, ge- ber, an mehr Stellen mit 265 Stundenkilo- das Strategiepapier die Aufsichtsräte über-
spickt mit kritischen Fragen zum geplan- metern statt wie bisher mit 250 fahren zu zeugt. Die Bahn-Vorstände haben sich auf
ten Chinatrip. Am Ende musste sich Vor- können. Auch das erhöht die Kapazität. den 200 Seiten deshalb eher auf kurzfris-
standschef Lutz vor Jeschke stellen, er er- Damit der Fuhrpark zuverlässiger durch tige Maßnahmen für eine bessere Leis-
laubte ihr ausdrücklich zu fliegen. das Land braust als bisher, sollen auch tungsfähigkeit der Bahn konzentriert.
Die Episode zeigt, wie tief das Misstrau- deutlich mehr Mechaniker in den War- »Eine richtige Strategie für das Jahr 2030
en zwischen Vorstand und Aufsichtsrat in- tungsbetrieben arbeiten. Allein in Ham- und danach kann ich darin nicht erken-
zwischen ist. Immerhin sorgte Odenwalds burg soll das Ausbesserungswerk um 150 nen«, kritisiert ein Aufsichtsrat.
Intervention dafür, dass der Vorstand en- Spezialisten erweitert werden. Dadurch Nach all den Krisenjahren sind die Auf-
ger zusammengerückt ist. soll Zeit geschaffen werden, um die Züge passer desillusioniert. »Uns hat es auch in
Trotzdem dürfte die Stimmung auf der regelmäßig zu 48-Stunden-Checks in die der Vergangenheit nicht an bunten Charts
zweitägigen Klausursitzung im Bahntower Werkstätten zu holen. Sie werden dann mit lauter schönen Ankündigungen ge-
ziemlich angespannt werden. Zu Beginn wesentlich gründlicher durchgecheckt als mangelt«, sagt einer. Allerdings sei stets
des Treffens wird jeder einzelne Vorstand bisher. Sogar eine »Galley (Bordküche) genau das Gegenteil eingetroffen. Immer-
vor den Kontrolleuren präsentieren, wel- der Zukunft« wird Huber den Aufsichts- hin erkenne man, dass die Bahn-Vorstände
chen Beitrag er zur Gesundung des Kon- räten präsentieren – und damit um Gnade die eigene Lage erstmals schonungslos kri-
zerns zu leisten gedenkt. bitten. So steht es jedenfalls in der Vorlage tisch beschrieben. Das wecke die Hoff-
Personenverkehrsvorstand Huber wird für die Kontrolleure. nung, dass die Dinge jetzt auch angepackt
darlegen, wie er den Ansturm der Fahr- Hubers Kollege Pofalla, der Herr über würden, so ein Rat.
gäste auf die Bahn bewältigen will. Seine Gleis und Stellwerke, setzt auf die Digita- Bahn-Chef Lutz schließlich wird auf der
Präsentationsfolien zielen auf das Jahr lisierung: Künftig soll der Zugverkehr zen- Sitzung die zentrale Aufgabe haben, die
2030 ab, in dem die Bahn doppelt so viele tral von Rechnern gesteuert, Züge und Geldsumme zu begründen, die die Bahn
Passagiere befördern soll wie heute – so Weichen von Sensoren und Computern vom Staat haben will. Sie verbirgt sich hin-
der Wunsch der Politik. überwacht werden, damit sie repariert wer- ter der sperrigen Bezeichnung Leistungs-

70 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Wirtschaft

und Finanzvereinbarung, kurz LuFV, jener


Vertrag, mit dem der Bund der Bahn das
Geld zusichert, das in den nächsten Jahren
in den laufenden Betrieb und den Erhalt
der Infrastruktur fließen soll.
In der Aufsichtsratssitzung wird Lutz
QUALITY WORKS.
erstmals beziffern, wie viel er in den kom-
menden Jahren vom Steuerzahler ver-
langt: bis zu sieben Milliarden Euro jähr-
lich. Das ist sehr viel Geld, fast das Dop-
pelte von dem, was in der jetzt ablaufen-
den Finanzierungsperiode gezahlt wurde.
Das frische Geld würde der Bahn helfen,
den Modernisierungsrückstand aufzuho-
len, der nach jahrelangem Heruntersparen
des Unternehmens erdrückend ist. Auch
würde es verhindern, weitere Schulden zu
machen. Die liegen mittlerweile bei 20 Mil-
liarden Euro, die fast fünf Milliarden Euro
an Leasingkosten für Züge sind da noch
nicht einmal eingerechnet.
Bislang musste die Bahn diese Verbind-
lichkeiten auch nicht auf ihre Schulden
addieren. Damit allerdings wird Ende 2018
Schluss sein, weshalb der neue Finanzvor-
stand, der ehemalige Investmentbanker
Alexander Doll, gleich bei seinem ersten
Halbjahresbericht knappe 25 Milliarden
Euro Schulden ausweisen muss. Keine gu-
ten Voraussetzungen, um den Finanzminis-
ter in Spendierlaune zu versetzen.
Denn am Ende ist es Olaf Scholz, der
die neuen LuFV-Milliarden lockermachen
muss. Bei der Bahn ist man deshalb hoch-
nervös. Zwar bekennen sich alle Politiker
öffentlich zur Bahn als modernes, umwelt-
und klimafreundliches Verkehrsmittel –
auch Scholz. Die Befürchtung der Bahner
aber ist: Der Finanzminister will schon des-
halb keine Milliarden spendieren, weil er
damit dem Unionsmann Scheuer einen Er-
folg bescheren würde.
In Scholz’ Kasse gebe es rote und
schwarze Euro, unkt man im Bahn-Vor-
stand, also Geld für SPD-regierte Ministe-
rien und Geld für unionsgeführte Häuser.
Deshalb hat man sich im Bahntower neben
dem Verkauf von Minderheitsanteilen an
den Töchtern Arriva und Schenker bereits
die ein oder andere List überlegt, mit der
man den Finanzminister gnädig stimmen LANXESS Qualität setzt Zeichen! Gerade in der Chemie
will. Schon im kommenden Jahr soll etwa macht Qualität den Unterschied zwischen Alltäglichem und
die ICE-Strecke von Berlin nach Hamburg
einen halbstündigen Takt bekommen. % HVRQGHUHPĂ ² VRZLH ]% 1DQRWXEHV GLH 4XDOLWlWYLHOHU
Und nicht nur das: Auch soll die Bahn 3URGXNWHYHUEHVVHUQ'HVKDOEOHEHQZLUEHL/$1;(664XDOLWlW
auf dieser Trasse ein superschnelles Mo- LQDOOHPZDVZLUWXQ²IUKRFKZHUWLJHQDFKKDOWLJH3URGXNWH
bilfunksystem mit dem neuesten Standard IUPHKU/HEHQVTXDOLWlWLP$OOWDJXQGIUGHQ(UIROJXQVHUHU
5G einrichten. Wenn Scholz also aus Ber-
lin zurück in seine Heimatstadt Hamburg .XQGHQ'DVLVWHVZDVZLU(QHUJL]LQJ&KHPLVWU\QHQQHQ
fährt, kann er an Bord flink mit seinem quality.lanxess.de
Smartphone surfen.
Zumindest dieses Lockmittel hat offen-
bar gezogen. Scholz hat für das Modell-
projekt bereits Geld in den Bundeshaus-
halt des kommenden Jahres eingestellt.
Tim Bartz, Gerald Traufetter

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Wirtschaft

SPIEGEL: Die Debatte über ein bedin-

»Den Alltag verbessern« gungsloses Grundeinkommen hält sich


aber hartnäckig. Was stört Sie daran?
Heil: Die Beschäftigten und die Arbeits-
losen, mit denen ich spreche, wollen in ers-
Sozialstaat Arbeitsminister Hubertus Heil, 46 (SPD), ter Linie Einkommen aus Arbeit. Einige
über die Diskussion um einen Ausstieg aus Hartz IV und Menschen plädieren sicherlich aus Idealis-
moderne Antworten auf neue Abstiegsängste mus für ein bedingungsloses Grundein-
kommen, weil sie glauben, dass unserem
Land die Arbeit ausgeht. Das stimmt aber
SPIEGEL: Herr Heil, bislang warb nur die SPIEGEL: Braucht es dann einen neuen Na- nicht. Außerdem unterschätzen sie den
Linkspartei mit dem Slogan »Hartz IV men für die Grundsicherung, wie etwa SPD- Wert der Arbeit für den Zusammenhalt
muss weg«. Warum will jetzt auch die SPD Generalsekretär Lars Klingbeil fordert? unserer Gesellschaft. Wir dürfen nicht
weg von Hartz IV? Heil: Es geht nicht um ein Etikett, sondern zulassen, dass unser Land ein gebrochenes
Heil: Die SPD ist die Partei der Arbeit. Für um die Substanz. Wir müssen erst mal Verhältnis zu ordentlicher Erwerbsarbeit
die allermeisten Menschen ist Arbeit mehr dafür sorgen, dass das System die Gesell- bekommt.
als Broterwerb; sie bedeutet Teilhabe am schaft nicht mehr trennt. Und dann wird SPIEGEL: SPD-Generalsekretär Klingbeil
sozialen Leben. Deshalb steht für mich im uns auch ein guter neuer Name einfallen. spricht sich für eine besondere Form
Vordergrund, gerade in Zeiten des techno- SPIEGEL: Die SPD hat mit der neuen De- des Modells aus: eine bezahlte Auszeit
logischen Wandels dafür zu sorgen, dass batte wieder einmal das Kunststück voll- vom Job.
wir Arbeitslosigkeit verhindern, bevor sie bracht, eigene Erfolge kleinzureden. Als Heil: Nicht jeder neue Vorschlag führt in
entsteht. Gleichzeitig müssen wir mehr Gerhard Schröder Hartz IV auf den Weg die richtige Richtung. Ich halte nichts von
Menschen aus der Grundsicherung raus- brachte, gab es 4,5 Millionen Arbeitslose, Versuchen, sich unter anderen Namen an
bringen und denjenigen, die darauf ange- heute sind es nur 2,2 Millionen. Hat das das bedingungslose Grundeinkommen he-
wiesen sind, eine verlässliche Absicherung nichts mit den Reformen zu tun? ranzurobben. Wir müssen klar zwischen
garantieren. Es ist deshalb richtig, den So- Heil: Es gibt Licht und Schatten, ich will Grundsicherung und Grundeinkommen
zialstaat weiterzuentwickeln. das nicht ideologisch diskutieren. Neue Zei- unterscheiden. Ich verstehe auch nicht, wie-
SPIEGEL: Ihre Parteichefin scheint das ra- ten brauchen neue Antworten. Heute ist so der Staat jedes Jahr neun Milliarden
dikaler zu sehen. Wenn Andrea Nahles die Lage am Arbeitsmarkt anders als 2005. Euro Steuergeld ausgeben sollte, um Men-
sagt, »Wir werden Hartz IV hinter uns las- Damals galt Deutschland als der kranke schen, die sich das ohnehin leisten können,
sen«, klingt das wie ein Abschied von der ein Sabbatical zu bezahlen. Das Geld soll-
ungeliebten Arbeitsmarktreform. ten wir lieber in ein Chancenkonto stecken,
Heil: Wir sind längst dabei, das System zu »Wenn eine Kassiererin um jedem mehr Selbstbestimmung und
erneuern. Der Bundestag hat gerade erst Angst hat, sie könnte einen Rechtsanspruch auf Qualifizierung
das Gesetz für einen sozialen Arbeits- zu geben. Statt vermeintlich hippen Debat-
markt beschlossen. Das ist ein Paradigmen- ihren Job verlieren, dann ten hinterherzulaufen, sollte die SPD als
wechsel, weil wir künftig für langzeit- ist diese Angst konkret.« Partei der Arbeit Dinge durchsetzen, die
arbeitslose Menschen dauerhaft Arbeit den Alltag der Menschen verbessern.
statt Arbeitslosigkeit finanzieren. SPIEGEL: Die Hartz-IV-Sanktionen sind
SPIEGEL: Wenn das reichen würde, dann Mann Europas. Heute kümmern wir uns für viele in Ihrer Partei zum Symbol für
hätte Ihre Parteichefin wohl kaum eine um die Arbeit im digitalen Wandel, die die Gängelung durch den Sozialstaat ge-
Hartz-IV-Debatte vom Zaun gebrochen. Fachkräftesicherung und eine vorsorgende worden. Sehen Sie das auch so?
Heil: Ich verstehe Andrea Nahles so, dass Sozialpolitik. Heil: Überflüssige und gängelnde Sanktio-
es darum geht, den Sozialstaat für die SPIEGEL: Die SPD kümmert sich doch vor nen müssen abgeschafft werden. Dass 24-
Zukunft aufzustellen. Mir ist es wichtig, allem darum, die eigenen Umfragewerte Jährige schärfer sanktioniert werden als
dass wir das mit Blick auf die Lebens- aufzupäppeln. Schließlich brach die Hartz- 25-Jährige, ist unnötig. Und die Kosten für
wirklichkeit tun und für neuen Zusammen- Debatte unmittelbar nach den verlorenen Miete sollten künftig nicht mehr gekürzt
halt sorgen. Die Debatte um Hartz IV hat Wahlen in Bayern und Hessen aus. werden. Aber nicht jede Mitwirkungs-
das Land 15 Jahre lang tief gespalten. Da Heil: Die Frage, wie wir den Sozialstaat pflicht ist überflüssig. Wenn jemand das
gibt es die einen, die immer gesagt haben, ausgestalten, ist für mich keine taktische. zehnte Mal in Folge nicht zum Termin
Langzeitarbeitslose seien zu faul zum Es muss darum gehen, Chancen auf gute beim Amt erscheint, dann sollte das Kon-
Arbeiten, was Unsinn ist. Und es gibt die Arbeit und anständige Löhne zu erhöhen sequenzen haben. Ich rate jedem, der die
anderen, die finden, jede Mitwirkung sei und soziale Lebensrisiken abzusichern. Debatte führt, sich mit den Mitarbeitern
ein Anschlag auf die Menschenwürde. Auch innerhalb der SPD muss klar sein: in den Jobcentern zu unterhalten.
Diese Schützengräben müssen wir ver- Wir sind die Partei der Arbeit, und genau SPIEGEL: Aus Sicht vieler Arbeitnehmer
lassen. das unterscheidet uns von den anderen. Es gibt es vor allem ein Problem bei Hartz
SPIEGEL: Diese Spaltung prägt auch Ihre gibt drei Dinge, die wir jetzt anpacken: Wir IV: Die Grundsicherung ist für alle gleich,
Partei. Wie wollen Sie sie überwinden? werden die Arbeitslosenversicherung zu egal, ob jemand zuvor über Jahre Beiträge
Heil: Für mich steht fest, dass eine neue einer Arbeitsversicherung umbauen und eingezahlt hat oder nicht. Ist das gerecht?
Grundsicherung unbürokratischer und den Menschen ein Recht auf Weiterbildung Heil: Die Debatte ist berechtigt, aber das
etwa bei Vermögensanrechnungen groß- einräumen, damit sie beschäftigungsfähig Problem muss man über die Arbeitslosen-
zügiger werden muss. Für mich bemisst bleiben. Wir werden uns nicht nur auf den versicherung lösen, nicht über die Grund-
sich die Qualität der Grundsicherung aber Mindestlohn konzentrieren, sondern alles sicherung. Wir sollten darüber reden, ob
nicht nur an der Frage, wie hoch die finan- tun, damit es wieder mehr ordentliche wir den Menschen, die sehr lange Beiträge
zielle Unterstützung ist, sondern an der Tariflöhne gibt. Außerdem brauchen wir gezahlt haben und dann ihren Job ver-
Fähigkeit, Menschen aus der Not zu holen eine bessere Grundsicherung, aber be- lieren, länger Arbeitslosengeld zahlen soll-
und in Arbeit zu bringen. stimmt kein Grundeinkommen. ten als heute. Idealerweise sollte man das

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DOMINIK BUTZMANN / LAIF

SPD-Politiker Heil: »Nicht jeder neue Vorschlag führt in die richtige Richtung«

mit einer Qualifizierung verbinden. Der Heil: Das werden wir sehen. Wir haben SPIEGEL: Ende 2019 wird die SPD Zwi-
Schutz der Arbeitslosenversicherung muss schon Dinge verabschiedet, die über den schenbilanz ziehen und entscheiden, ob
stärker werden. Koalitionsvertrag hinausgehen, etwa das sie in der Koalition bleiben will.
SPIEGEL: Passt die Debatte um den So- Gesetz über Qualifizierungschancen. Ich Heil: Das ist richtig und notwendig. Die
zialstaat überhaupt zur Lebenswirklich- setze auf klare Ziele und Überzeugungs- Welt nimmt keine Rücksicht auf Koaliti-
keit der Menschen? Die Wirtschaftsdaten arbeit, Schritt für Schritt. onsverträge, sondern ändert sich ständig.
sind gut, die Arbeitslosigkeit so niedrig SPIEGEL: Ist die Sozialstaatsdebatte für Deshalb müssen wir bilanzieren, was wir
wie seit Jahrzehnten nicht mehr. die SPD so wichtig, dass sie daran auch bis dahin erreicht haben und ob wir in der
Heil: Das passt sogar sehr gut. Im Alltag die Koalition scheitern lassen würde? Koalition noch zu neuen Antworten kom-
empfinden viele Menschen den Sozialstaat Heil: Ich will unsere Vorstellungen in die- men können.
zu oft als bürokratisch und widersprüch- ser Koalition umsetzen. Das ist angesichts SPIEGEL: Mit anderen Parteien können
lich. Das werden wir ändern. Klar, es geht einer anderen Grundorientierung der Sie die Diskussion über den Sozialstaat
dem Land und vielen Menschen gut, aber CDU in sozialen Fragen nicht leicht, aber doch viel einfacher führen.
eben nicht allen. Das können wir nicht möglich. Wir haben ja in der Koalition Heil: Dass wir in manchen Fragen mehr
ignorieren. Wenn eine Kassiererin Angst schon viel geschafft: beim sozialen Woh- Überschneidungen mit anderen Parteien
hat, sie könnte wegen des digitalen Wan- nungsbau, dem Gute-Kita-Gesetz und als der Union haben, ist richtig. Aber da
dels ihren Job verlieren, dann ist diese beim sozialen Arbeitsmarkt. Ohne die un- im Moment keine andere Option zur Ver-
Angst konkret. Wenn der Sozialstaat nicht nötige Koalitionskrise im Sommer wäre fügung steht, hilft eine solche Debatte nicht.
als verlässlich empfunden wird, ist das ein das auch mehr Menschen aufgefallen. SPIEGEL: Und was ist mit der Linkspartei?
Nährboden für Parteien, die sich gegen die SPIEGEL: Wollen Sie mit der Großen Heil: Es gibt dort Experten, mit denen
Demokratie wenden. Wir müssen Zu- Koalition weitermachen? man hervorragend in der Sache disku-
versicht geben, dass der Sozialstaat ver- Heil: Die Koalition ist kein Selbstzweck, tieren kann. Und dann gibt es Leute, die
lässlich schützt. Statt abgehobener De- sie muss etwas bewegen. Die letzten Mo- wünschen sich eine rückwärtsgewandte,
batten braucht die SPD einen klaren Blick nate waren gespalten: Das, was wir an national abgeschottete Welt. Mit Dietmar
auf die arbeitenden Menschen und ihren konkreten Gesetzen gemacht haben, ist Bartsch kann man Politik machen, mit
Alltag. besser als der Ruf dieser Regierung. Doch Sahra Wagenknecht nicht.
SPIEGEL: Mit Ihrem Koalitionspartner, der das Gesamterscheinungsbild der Regie- Interview: Markus Dettmer,
Union, werden Sie nur wenig von Ihren rung war katastrophal. Das muss anders Cornelia Schmergal
Ideen umsetzen können. werden.

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 73


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Wirtschaft

tionen beim Bundeszentralamt für Steuern

Ende der Trickserei anzeigen, wenn diese zur Verringerung


oder Erstattung von Einkommen-, Grund-
erwerb-, Gewerbe-, Erbschaft- oder Schen-
kungsteuer führen. Betroffen wäre aus-
Steuern Finanzminister Olaf Scholz will Kanzleien zwingen, ihre schließlich die Steuergestaltung für Unter-
Steuergestaltungsmodelle offenzulegen, um Schlupflöcher zu schließen. nehmen und Einkommensmillionäre. Das
Die Idee kommt ausgerechnet von einem ehemaligen Banker. Steuergeheimnis bliebe gewahrt, die Na-
men ihrer Klienten müssten die Dienstleis-
ter nicht angeben. Die Anzeigepflicht soll

D ie Wirtschaftskanzlei Flick Gocke


Schaumburg (FGS) residiert seit
zwei Jahren in Berlin an der Straße
Unter den Linden. Es ist eine feine Adres-
wirt einer der bis dato größten deutschen
Privatbanken war, der BHF in Frankfurt,
glaubt man auf den ersten Blick. Dass er
in einem der ersten antiautoritären Kin-
sich sowohl auf grenzüberschreitende Mo-
delle, die von unterschiedlichen Steuer-
sätzen profitieren, als auch auf inländische
Konstruktionen erstrecken.
se, die Klientel ist exklusiv: Es sind ver- derläden erzogen wurde, im linksalterna- Der Grund für die Maßnahme ist banal.
mögende Privatpersonen, Familienunter- tiven Stadtteil Nordend, ahnt man nicht. Es gab und gibt zu viele Schlupflöcher, die
nehmen und internationale Konzerne. Sie Seit geraumer Zeit kämpft der im Fis- das Finanzministerium zu viel Geld kos-
suchen Rat bei den Advokaten, vor allem kalrecht promovierte Volkswirt dafür, dass ten. Ins Juristendeutsch übertragen heißt
in Steuerfragen. Sie eint das Ziel, mög- Kanzleien, Steuerberater und Banken ihre das: »Die Gestaltungen widersprechen
lichst wenig Geld an den Staat zu zahlen Steuergestaltungsmodelle den Behörden den gesetzgeberischen Prinzipien steuer-
– allerdings ohne dabei ins Visier der Steu- anzeigen müssen. Verwaltung und Politik licher Gerechtigkeit«, so steht es in dem
erfahndung zu geraten. hätten so die Möglichkeit, rechtzeitig zu internen Papier. Deswegen sei es »ent-
Solche Steuergestaltungsmodelle sind reagieren und Konstrukte zu unterbinden, scheidend«, dass die Steuerbehörden »um-
die Spezialität der Kanzlei, maßgeschnei- die ausschließlich erfunden werden, um fassende und relevante Informationen« er-
dert auf den jeweiligen Mandanten und Zahlungen an den Fiskus zu umgehen. hielten. Nur so könnten sie »gegen schäd-
nicht offensichtlich illegal. Es ist ein lukra- »Die Schädigung des Gemeinwohls muss liche Steuerpraktiken« zeitnah vorgehen
tiver Markt, den FGS nicht allein bedient. begrenzt werden und der Staat auf Augen- und »ungewollte Gestaltungsspielräume
Fast alle internationalen Anwaltsfirmen höhe mit den Steuergestaltern sein«, sagt durch Rechtsvorschriften oder Steuer-
unterhalten eigene Abteilungen zum Auf- Nimmermann. prüfungen schließen«.
spüren von Steuerschlupflöchern. Deshalb Jahrelang hatten Bundesfinanzminister Das ist nicht neu – doch der Druck auf
war das Interesse groß, als FGS Anfang aller Couleur das Thema ignoriert: erst der die Bundesregierung ist stetig gewachsen.
November zu einem Afterwork-Treffen in Sozialdemokrat Peer Steinbrück, dann der Bereits im März hatte die Finanzminister-
Sachen Steuergestaltung in ihre Berliner Christdemokrat Wolfgang Schäuble. konferenz von Bund und Ländern eine
Kanzleiräume lud. Dessen Nachfolger Olaf Scholz (SPD) bundesweite Regelung zur Anzeigepflicht
Vor allem der Referent des Abends hat- hingegen will nun die Anzeigepflicht ein- von Steuergestaltungsmodellen gefordert.
te die Aufmerksamkeit der Juristen und führen. »Je schneller wir solche Modelle Dabei hatten nicht zuletzt die Leaks
Steuerexperten von Freshfields Bruckhaus erkennen, desto rascher lassen sie sich ge- (»Panama Papers«, »Paradise Papers«) vor
Deringer, CMS Hasche Sigle, Beiten Burk- setzlich unterbinden«, sagt Scholz dem allem aus karibischen Steuerparadiesen
hardt, PwC geweckt: Es war Philipp Nim- SPIEGEL. Wer gegen die Anzeigepflicht deutlich gemacht, dass ein beträchtlicher
mermann, Finanzstaatssekretär aus Kiel. verstößt, werde Bußgelder bezahlen müs- Anteil der dort gebunkerten Milliarden
Ein Grüner, der gerade mit Macht dabei sen. »Die Sanktionen müssen wirksam, nicht etwa gewaschene Drogengelder sind,
ist, das lukrative Geschäftsmodell der verhältnismäßig und abschreckend sein.« sondern – trickreich verpackt – hinterzo-
Branche zu zerstören. Tatsächlich liegt seit wenigen Wochen gene Steuern. Auch die Affäre um die du-
Dabei sieht Nimmermann, 52, gar nicht ein entsprechendes Arbeitspapier in seiner biosen Cum-Ex-Aktiendeals schärfte das
aus wie ein Revoluzzer. Von den Schuhen Steuerabteilung, das in zentralen Punkten Bewusstsein. Bei diesem Modell wurden
bis zur Glatze wirkt er poliert, er trägt Kra- Nimmermanns Plänen folgt. Demnach sol- Aktienpakete hin und her geschoben, mit
watte, Dreiteiler, gern auch mal einen Geh- len Anwälte, Steuer- und Finanzberater dem einzigen Ziel, sich Steuern zurücker-
rock. Dass er bis 2014 zuletzt Chefvolks- künftig innerhalb von 30 Tagen Konstruk- statten zu lassen, die nie gezahlt worden
sind. Der Staat wurde dabei um mindes-
Meldepflicht für Steuergestaltungsmodelle tens fünf Milliarden Euro geprellt, das zu-
mindest ist die Zahl, die das Bundesfinanz-
ministerium inzwischen einräumt. Kenner
der Cum-Ex-Geschäfte wie der grüne Fi-
nanzexperte Gerhard Schick rechnen mit
einem europaweiten Schaden von 55 Mil-
liarden Euro.
Das Absurde daran ist: Es sind zumeist
legale Konstrukte, die die Steuerschäden
verursachen. Unternehmen und vermögen-
de Privatpersonen nutzen lediglich Lücken
aus, die der Gesetzgeber übersehen hat
und von deren Verwendung die Finanz-
1 Finanz- und Steuerberater 2 Diese Dienstleister 3 Banken, Steuerberater oder behörden oft erst Jahre später erfahren.
nutzen Lücken in der Steuergesetz- sollen künftig neue Steuer- Wirtschaftsprüfer, die gegen Das zeigt auch das Beispiel der soge-
gebung und entwickeln aggressive gestaltungsmodelle vorab diese Mitteilungsungspflicht nannten Share-Deals, mit denen bei Im-
Steuergestaltungsmodelle für ihre den Steuerbehörden an- verstoßen, sollen mit Buß- mobiliengeschäften die Grunderwerbsteu-
finanzkräftigen Klienten. zeigen. geldern bestraft werden. er umgangen wird. Der Gesetzgeber woll-

76
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DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL


Grüner Finanzstaatssekretär Nimmermann: Das Wort »Steuern« kommt nicht von »Stehlen«

te mit der Regelung ursprünglich verhin- 650 Millionen britische Pfund mehr an Fritz Güntzler, Abgeordneter aus Göttin-
dern, dass bei dem Verkauf von Anteilen Steuergeldern. Dennoch sind in Europa gen, Mitglied im Finanzausschuss und zu-
an Unternehmen, die Grund und Boden bisher nur Portugal und Irland dem Bei- fällig Steuerberater, hält die Anzeigepflicht
besitzen, automatisch Grunderwerbsteuer spiel der Briten gefolgt.  für ein »Bürokratiemonster«. Wieso, fragt
fällig wird. Findige Berater erkannten je- Deutschland aber zaudert, und das seit er, »sollen meine Berufskollegen legale
doch schnell, dass sich die Regelung auch 2007. Schon damals empfahl der Finanz- Steuergestaltungsmodelle anzeigen?«
auf schnöde Häuserkäufe anwenden lässt, ausschuss des Bundesrats, Steuergestal- Noch kategorischer beurteilt Wolfgang
wenn es dabei um Millionengeschäfte geht. tungsmodelle anzeigen zu lassen. Die Ein- Kubicki, FDP-Bundesvize aus Nimmer-
Der Besitzer musste nur seine Immobilie führung des geplanten Paragrafen 138a AO manns Jamaika-Koalitionsland Schleswig-
in Gesellschaftsanteile zerlegen, dann wer- scheiterte aber am erbitterten Widerstand Holstein, die Anzeigepflicht. »Ich halte
den nur noch diese verkauft – und schon der Lobby. Der Fiskus wolle unter Andro- das für kontraproduktiv«, so der Anwalt,
ist das Geschäft kein Grundstücksgeschäft hung von Bußgeldern in Höhe von bis zu »da es der gesetzgeberischen Schlamperei
(Asset-Deal) mehr, sondern ein Anteils- fünf Millionen Euro »unentgeltliche Zu- Tür und Tor öffnet und das Besteuerungs-
kauf (Share-Deal). Und damit steuerfrei. arbeit« von Rechtsanwälten und Banken verfahren zum Lotteriespiel werden lässt.«
Allein beim Weiterverkauf eines mil- erzwingen, höhnte der Deutsche Steuer- Ob die Lobbyarbeit Wirkung zeigt, ist
liardenschweren Immobilienpakets der beraterverband damals und warnte vor noch nicht sicher. Klar ist nur: Die Damen
Deutschen Bank entgingen den Bundes- der »Pönalisierung legalen Verhaltens«. und Herren Berater, die sich Anfang No-
ländern so über Jahre Grunderwerbsteu- Ob Scholz sich dieses Mal durchsetzen vember in der Berliner Kanzlei getroffen
ern in zweistelliger Millionenhöhe – ganz wird, ist nicht sicher. Wirtschaftsminister haben, treibt die Angst vor Strafen um.
legal. Peter Altmaier (CDU) hält wenig von Ein Steuerfachanwalt sprach von Bußgel-
Die Branche ist bei der Entwicklung im- einer Anzeigepflicht, zumindest nicht, dern, die bis zu eine Million Euro betragen
mer komplexerer Modelle ziemlich krea- wenn es um inländische Steuergestaltungs- könnten, je nachdem, wie viel Geld dem
tiv – die EU-Mitgliedsländer verlieren da- modelle geht. Er will sich nicht öffentlich Staat durch die Kreativität des Beraters
durch selbst nach konservativen Schätzun- zu dem Thema positionieren, steht aber entgeht. Und solche Modelle, die unter die
gen der Europäischen Kommission jedes unter dem massiven Druck der Lobby: Be- Anzeigepflicht fielen, gäbe es schließlich
Jahr rund 60 Milliarden Euro. Bereits im reits Anfang des Jahres hatten sowohl die zuhauf.
März hat die EU-Kommission deswegen Kammer der Steuerberater als auch deren Ein Anwalt der Kanzlei Freshfields,
eine Anzeigepflicht für grenzüberschrei- Verband ein als »Brandbrief« betiteltes so berichtete ein Teilnehmer, sagte ihm
tende Steuermodelle durch deren Vermitt- Schreiben an Altmaier geschickt, unter- jüngst, wie viele Steuergestaltungsmodelle
ler beschlossen. Ab Juli 2020 soll sie euro- zeichnet auch von der Wirtschaftsprüfer- sie in Arbeit hätten, die sie anzeigen müss-
paweit gelten. Die Umsetzung in nationa- kammer und der Bundesrechtsanwalts- ten, würde sich der Grünen-Finanzstaats-
les Recht obliegt den Mitgliedstaaten. kammer. Darin monieren die Präsidenten sekretär Nimmermann durchsetzen: 1200.
Das als globaler Finanzplatz besonders der Organisationen neben rechtlichen Ar- Diesen jedoch erschüttert der Wider-
gebeutelte Vereinigte Königreich hat diese gumenten auch das Ziel der Anzeigepflicht: stand nicht. »Das Wort ›Steuern‹ kommt
Pflicht auf nationaler Ebene bereits 2004 die Abschreckung. »Dies passt nicht in un- vom Mittelhochdeutschen ›stiure‹, stüt-
eingeführt. Das System erwies sich als ser bestehendes System, in dem grundsätz- zen«, sagt der schlanke Mann mit dem so-
überaus lukrativ für das Staatssäckel: Lon- lich alles erlaubt ist, was nicht explizit ver- noren Bass. Mit »Stehlen« sei der Begriff
dons Haushälter konnten dank der Anzei- boten ist«, schrieben sie ganz ernsthaft. nicht verwandt.
gepflicht rasch Gesetzeslücken schließen Widerstand kommt zudem aus den Rei- Annette Bruhns, Andreas Wassermann
und ernteten dadurch pro Jahr bis zu hen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 77


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Wirtschaft

Besonders hart trifft es die Großstädte. die sich nicht nur an Studierende, sondern

Möblierte Berlin, Köln, Hamburg und München zie-


hen nicht nur Studierende an, sondern auch
Projektmitarbeiter, Zuwanderer aus dem
auch an Auszubildende und Wochenend-
pendler richtet – an alle, die für begrenzte
Zeit eine funktionale Bleibe suchen, eine

Einzelzelle Ausland und Senioren, die kurze Wege und


die dichte Infrastruktur der Großstadt schät-
zen. Sie alle bevorzugen eine ähnliche Art
Art möblierte Einzelzelle zum Schlafen,
Kochen und Lernen.
»Micro-Living ist in Deutschland ein
Immobilien Studenten finden in von Bleibe: klein, zentral, nicht zu teuer. junger, stark wachsender Markt«, sagt Rai-
manchen Städten kaum eine Wer 2018 in München nach einer typi- ner Nonnengässer, Vorstand des Bundes-
schen Studentenwohnung sucht, muss im verbands für studentisches Wohnen. Elf
Unterkunft. Private Wohnheim- Schnitt mehr als 600 Euro Warmmiete ein- Unternehmen mit je mindestens 1000
betreiber stoßen in die Lücke. kalkulieren – mehr als überall sonst in Wohneinheiten listet eine Studie von
Deutschland. Das geht aus dem Studen- Union Investment auf und konstatiert:
tenwohnpreisindex des Instituts der deut- »Insbesondere in Deutschland liegt viel

N ot macht angeblich erfinderisch.


Manchmal öffnet sie allerdings
auch nur den Geldbeutel. 570 Euro
überwies Sarah Hampel monatlich für ihr
schen Wirtschaft Köln (IW) hervor. In Ber-
lin haben sich die Durchschnittsmieten in
acht Jahren fast verdoppelt – auch wenn
sie mit rund 12 Euro unter den Quadrat-
Potenzial.«
Sarah Hampel aus Stuttgart unter-
schrieb einen Mietvertrag für drei Jahre.
Die Einrichtung beschreibt sie als »schlicht,
Mini-Apartment in einem Stuttgarter Stu- meterpreisen in Frankfurt am Main (15,20 aber modern«, statt eines Schlüssels erhielt
dentenwohnheim, selbst für die teure Süd- Euro) und Hamburg (13,50 Euro) liegen. sie eine Zugangskarte aus Plastik, »wie im
westmetropole ein stattlicher Betrag. »Studierende treffen diese Steigerungen Hotel«. Dass zwischendurch das Warm-
Knapp zwei Jahre lang hatte sie nach besonders«, sagt der IW-Ökonom Chris- wasser ausblieb und die Heizung ausfiel,
einer Wohnung gesucht, hatte immer wie- tian Oberst. »Sie haben häufig kein eige- hätte sie stutzig machen müssen, sagt sie
der Absagen kassiert. Also pendelte sie nes Einkommen.« Die Wohnpauschale, als heute. Was Hampel nicht wusste: Die Mut-
von ihrem Elternhaus in Karlsruhe zur Teil des Bafög gezahlt, liegt derzeit bei tergesellschaft ihres Vermieters, die Deut-
Hochschule, 80 Kilometer pro Strecke. 250 Euro im Monat, soll aber im Herbst sche Real Estate Funds mit Sitz in Luxem-
Das Angebot des privaten Wohnheim- 2019 auf 325 Euro steigen. burg, hatte Insolvenz angemeldet.
anbieters mit dem Namen »Twenty First Einen Platz in einem staatlich geförder- Firmen zu gründen, um Immobilien zu
student living«, das die 23-Jährige im In- ten Wohnheim ergattern nur wenige. Rund bauen oder zu kaufen, sie zu vermieten
ternet entdeckte, erschien ihr zwar 193 000 Zimmer stellen die Deutschen Stu- und anschließend mit Gewinn zu ver-
»recht teuer«, aber sie fand nichts ande- dentenwerke bundesweit bereit. Dem ste- äußern, ist ein beliebtes Vorgehen. »Hohe
res, außerdem drängte die Zeit. »Zum hen 2,8 Millionen Studierende gegenüber. Renditen ziehen ausländische Investoren
Glück haben meine Eltern mich unter- Die Zahl ist kontinuierlich gestiegen. »Die an, aus Großbritannien und Frankreich,
stützt.« Studentenwerke können gar nicht so aber auch den USA und Singapur«, sagt
Studentischer Wohnraum ist knapp: schnell Wohnheime bauen«, sagt Stefan Nonnengässer. Bis zu acht Prozent seien
Mehr als 400 000 Erstsemester nehmen Brauckmann, Direktor des Moses Men- möglich. Wer solche Gewinne erwarte,
in diesem Herbst ihr Studium auf – und delssohn Instituts, das zum studentischen gehe allerdings ein hohes Risiko ein.
stoßen auf einen vielerorts überhitzten Wohnungsmarkt forscht. »Auch sie kämp- »Twenty First student living« ist vermut-
Wohnungsmarkt. In Frankfurt am Main fen mit steigenden Grundstückspreisen.« lich so ein Fall.
hat der Asta Feldbetten aufgebaut. Müns- In diese Lücke stoßen private Anbieter. Dutzende ehemalige Mieter warten bis
ter bietet freie Flüchtlingsunterkünfte an. »Micro-Living« nennt sich die Wohnform, heute auf die Rückzahlung ihrer Kaution,
manche seit mehr als einem Jahr. 817 Euro
sind es für Sarah Hampel. Einige Mieter
schalteten Anwälte ein. Sie berichten in
einer Facebook-Gruppe von ihren Fort-
schritten, sie umfasst fast 300 Mitglieder.
Philipp Schulden wartet ebenfalls auf
sein Geld, rund 700 Euro. Er war für sechs
Monate in ein Twenty-First-Wohnheim in
Essen gezogen, weil er im Ruhrgebiet ein
Praktikum machte. »Ich hatte keine Lust
mehr auf WG«, sagt der 25-Jährige. Zu oft
hatte er sich durch zähe Casting-Gesprä-
che gequält, vor Besichtigungen zu viele
Stunden in Warteschlangen verbracht.
Die 430 Euro, die er für das Mini-Apart-
ment im Monat zahlte, lagen zwar deutlich
über dem Essener Schnitt. Im Vergleich zu
seiner vorherigen Wohngemeinschaft in
Frankfurt am Main »war das aber okay«.
FRANK RUMPENHORST / DPA

Heute, zehn Monate später, hat Schul-


den nach mündlichen und schriftlichen
Nachfragen seine Kaution noch nicht zu-
rückbekommen. »Ich glaube nicht, dass
ich das Geld wiedersehe«, sagt er.
Miriam Olbrisch
Studentin in Schlaflager auf dem Campus in Frankfurt am Main: Erst mal aufs Feldbett

78 DER SPIEGEL Nr. 45 / 3. 11. 2018


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Wirtschaft

Bachblütenökonomie
Analyse Immer wieder werfen Politiker und Ökonomen Deutschland vor, seine hohen Exportüber-
schüsse führten zu höherer Arbeitslosigkeit im Ausland. Das ist falsch, das Gegenteil ist der Fall.

enn es um ihre Überzeugungen geht, liegen Popu- Auch der umgekehrte Fall widerspricht Trumps und La-

W listen von links und rechts zuweilen ganz dicht


beieinander. Es gilt die Hufeisentheorie: Linkes
und rechtes politisches Spektrum kommen sich
häufig sehr nah. Die überraschende Übereinstimmung eigent-
fontaines Bachblütenökonomie: Würde die Bundesregierung
ein brachiales Sparprogramm auflegen und die Konjunktur
abwürgen, stiege zwar die Arbeitslosigkeit. Zugleich aber
fiele der deutsche Leistungsbilanzüberschuss höher aus, weil
lich gegensätzlicher Weltbilder zeigt sich etwa im Streit um die Deutschen weniger Geld hätten, um im Ausland einzu-
die Leistungs- und Handelsbilanzen. Da erscheinen Politiker kaufen. Ein Fall, den es nach Trumps und Lafontaines Welt-
so unterschiedlicher Prägung wie US-Präsident Donald sicht nicht geben dürfte.
Trump und Linken-Ikone Oskar Lafontaine als Brüder im Tatsächlich übersehen sie und ihre Apologeten die beschäf-
Geiste. Die Einfuhr von Waren aus dem Ausland »liefert tigungsfördernde Wirkung von Importen. Preiswerte Einfuh-
unsere Jobs und unseren Wohlstand« anderen Ländern aus, ren wirken gleichsam wie eine Gehaltserhöhung: Kauft ein
wütet der Insasse des Weißen Hauses regelmäßig und über- Haushalt in New Jersey für 500 Dollar einen Computer aus
zieht Freund wie Feind mit Handelskriegen. Ähnlich sieht das Südkorea, statt das Doppelte für einen aus heimischer Pro-
der Globalökonom aus dem Saarland, er zählt Deutschland duktion auszugeben, können tatsächlich Jobs in amerikani-
zu den »größten Sündern welt- schen Fabriken verloren gehen.
weit«. Lafontaines Begründung: Allerdings hat der amerikanische
»Solange wir viel mehr exportier- US-Arbeitslosenquote Konsument 500 Dollar übrig, um
ten als importierten, schädigen in Prozent dafür ins Restaurant oder ins Kino
wir andere. So ist das nun mal.« 9,3% zu gehen, ein neues iPhone zu kau-
Genau so ist es eben doch nicht. fen oder für einen Ford Mustang
Den Klagen liegt die Annahme 7,4% zu sparen. Das schafft Arbeitsplät-
zugrunde, deutsche Autos oder ze zu Hause, die nicht entstünden,
Maschinen würden amerikanische wenn es keine Alternativen zum
Konkurrenten verdrängen, die Quelle: International Monetary Fund, teuren heimischen PC gäbe.
dort Beschäftigten also ihre Arbeit World Economic Outlook Database 4,3% Trump & Co. verkennen zu-
verlieren. Der Grund dafür ist in dem, dass das Defizit der USA
den Augen der Kritiker einfach: kein Zeichen der Schwäche ist,
Die Deutschen sparten zu viel und US-Leistungsbilanzdefizit sondern im Gegenteil ein Aus-
gäben sich mit zu geringen Löh- 0 in Prozent des Bruttoinlandsprodukts weis von Stärke. Eine Parallele
nen zufrieden. Deshalb seien ihre aus dem Privatleben macht das
–2,1% –2,3%
Produkte wettbewerbsfähiger. –2,6% deutlich: Fast jeder hat ein Han-
Abgesehen davon, dass die Ver- delsbilanzdefizit mit seinem Le-
treter dieser These nie fragen, ob bensmittelhändler, seinem Buch-
die Amerikaner nicht vielleicht laden und seinem Getränkeliefe-
2009 2011 2013 2015 2017
viel zu wenig sparten und ob ihre ranten. Der Grund liegt auf der
Löhne nicht zu hoch ausfielen, sit- Hand, jeder bezieht viel mehr
zen Trump und Lafontaine einem ökonomischen Trugschluss Waren von ihnen als andersherum. Das ist so lange kein Pro-
auf: Angenommen, jede Regierung strebte mit ihrer Politik blem, wie jeder seine Rechnungen bezahlen kann.
Vollbeschäftigung an und wäre erfolgreich, dann müssten alle Was passiert, wenn ein Kunde dieser drei Einzelhändler
Länder Außenhandelsüberschüsse erwirtschaften. Das aber eine Gehaltserhöhung bekommt? Sein ganz privates Han-
ist unmöglich, denn die Überschüsse des einen sind zwingend delsbilanzdefizit wird weiter wachsen, gegenüber einem
die Defizite des anderen. Deshalb gilt im Umkehrschluss: Voll- Juwelier beispielsweise, weil er sich nun endlich die teure
beschäftigung hat wenig damit zu tun, ob Leistungsbilanzen mechanische Armbanduhr leisten kann. Geht es ihm deswegen
ins Plus oder ins Minus drehen oder ausgeglichen ausfallen. schlechter? Eher nicht. Das zeigt: Dem anhaltenden Jammer
US-Präsident Trump kann das zu Hause am Beispiel seiner über Ungleichgewichte liegt ein chronischer Denkfehler zu-
eigenen Politik beobachten: Mit seiner Steuerreform hat er grunde, die Verwechslung von Ursache und Wirkung. Das
für die US-Wirtschaft den Nachbrenner eingeschaltet, die Defizit der USA ist nicht Grund für Arbeitslosigkeit, sondern
ohnehin schon gute US-Konjunktur wird durch die Steuer- die Folge hoher Beschäftigung.
erleichterungen zusätzlich befeuert. Amerikanische Unter- Wenn es aber möglich ist, dass zwei Länder mit komplett
nehmen und Verbraucher haben mehr Geld auf dem Konto, gegensätzlichen Leistungsbilanzen wie Deutschland und die
das sie zumindest zum Teil dafür verwenden, Güter aus dem USA am Rande der Vollbeschäftigung operieren, dann drängt
Ausland zu ordern. Die Folge: Das Leistungsbilanzdefizit sich eine Erkenntnis auf: Leistungsbilanzsalden taugen nicht
wird in diesem Jahr wahrscheinlich steigen. Hätten Trump als Orientierungsgröße für wirtschaftspolitisches Handeln. Sie
und Lafontaine recht, müsste die Zahl der Beschäftigten sind nicht viel mehr als Restgrößen, die sich aus Entscheidun-
gleichzeitig sinken. Doch das Gegenteil ist passiert: Im Sep- gen von Milliarden Verbrauchern auf dem ganzen Globus er-
tember erreichte die Arbeitslosenquote den niedrigsten Stand geben. Dass lässt nur einen Schluss zu: Es gibt drängendere
seit 1969, es herrscht fast Vollbeschäftigung. Probleme zu lösen auf der Welt. Christian Reiermann

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 79


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Ausland
»Für mich war Bin Laden ein sehr sympathischer, guter Mensch.« ‣ S. 82

MAHMUD HAMS / AFP


In diesem von der israelischen Luftwaffe beschädigten Haus präsentiert eine Palästinenserin ein unbeschadet
gebliebenes Hochzeitskleid. Der Gazakonflikt ist in dieser Woche eskaliert. Zuerst war eine Geheimmission
des israelischen Militärs aufgeflogen, anschließend feuerten Islamisten 460 Raketen auf Israels Süden ab –
die israelische Luftwaffe flog ihrerseits Angriffe auf 160 Ziele.

Kommentar

Unangemessene Einmischung
China will deutschen Abgeordneten verbieten, über die Repression in der Region Xinjiang zu reden.

Vorige Woche schrieb die chinesische Botschaft in Berlin einen heiten« und ersuchten um ein Treffen, »um diese Sorgen zu disku-
Brief an die deutsche Regierung und den Bundestag. Sie beschwer- tieren«. Das chinesische Außenministerium bezeichnete diesen
te sich darüber, dass die deutschen Abgeordneten über die drama- Brief daraufhin als »Einmischung in die inneren Angelegenheiten«
tische Menschenrechtslage im Autonomiegebiet Xinjiang disku- Chinas. Botschafter sollten nicht »unangemessene Forderungen an
tierten. Dort werden Hunderttausende Muslime, vor allem Ange- die Länder richten, in denen sie ansässig sind«.
hörige der Minderheit der Uiguren, ohne Gerichtsverfahren ein- Unangemessen ist, was China tut – seine Sicherheitsdienste in
gesperrt und oft monatelang in Umerziehungslagern festgehalten. Xinjiang und seine Diplomaten. Selbstverständlich hat das deut-
China sei »äußerst unzufrieden«, dass der Bundestag darüber sche Parlament das Recht, die Zustände in einer chinesischen
gesprochen habe, und forderte ihn auf, dies künftig zu »unterlas- Region zu debattieren, aus der Tausende geflohen sind und auch
sen« – schrieb die Botschaft in einer »ernsthaften Demarche«. in Deutschland Schutz suchen. Die Abgeordneten des Bundestags
Am Donnerstag setzten 15 westliche Botschafter in Peking, sind frei gewählt. Ihnen vorschreiben zu wollen, worüber sie zu
darunter auch der deutsche, ihrerseits einen Brief auf. Er ist an reden haben, ist eine Einmischung in Deutschlands innere Angele-
den Parteichef von Xinjiang gerichtet, den Hauptverantwortlichen genheiten. Die chinesische Botschaft ist darauf hinzuweisen, wie
für die Repressionen. Die Botschafter seien »zutiefst bestürzt eine parlamentarische Demokratie funktioniert. Mit einer ernst-
angesichts der Berichte über den Umgang mit ethnischen Minder- haften Demarche. Bernhard Zand

80 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Venezuela Demokratische Republik Kongo


Gefährlicher »Die Frauen verlieren
Goldrausch alles«
G Präsident Nicolás G Tausende Menschen sind getötet,
Maduro will bislang unge- mehr als 1,4 Millionen vertrieben wor-
hobene Bodenschätze den – im teilweise ethnisch motivierten
nutzen, um die leeren Konflikt in den Kasaï-Provinzen zwi-
Staatskassen aufzufüllen – schen Regierungstruppen und Milizen.
und könnte damit weite Francisca Baptista da Silva, 35, Projekt-
Teile des Landes der Herr- leiterin der Hilfsorganisation Ärzte
schaft von Warlords aus- ohne Grenzen, kümmert sich vor allem
liefern, die von dem Gold- um die Opfer sexueller Gewalt. Be-
rausch profitieren. Im waffnete haben in der Region Tausende

MARCO BELLO / REUTERS


Arco Minero, einer riesi- Frauen vergewaltigt. Ein Protokoll.
gen rohstoffreichen Re-
gion südlich des Orinoco, »Bewaffnete Gruppen gehen so brutal
kämpfen mehrere bewaff- gegen Frauen und Kinder vor, dass es
nete Gruppen um die uns oft schwerfällt zu glauben, dass das
Herrschaft über die zahl- Präsident Maduro wirklich passiert. Einmal wurden Frau-
reichen illegalen Minen. en in einer Kirche vergewaltigt, nachts.
Die Regierung hat die Kontrolle über ten Gefängnissen haben. In der Gegend Einmal zwangen Bewaffnete einen
die Region praktisch bereits verloren. In sind außerdem regierungsnahe Milizen jungen Mann, die älteren Frauen seines
der Gegend wurde zu Zeiten der spani- sowie die kolumbianische Guerilla ELN Dorfes zu vergewaltigen, sonst hätten
schen Conquista das legendäre Dorado aktiv. Sie finanzieren sich durch Schutz- sie ihn erschossen. Eine Frau Anfang
vermutet, sie umfasst über zwölf Prozent gelder, die sie von Minenbetreibern 50 berichtet, ihr Ehemann sei ermordet
des nationalen Territoriums und zieht erpressen, sowie durch Entführungen und und sie selbst neben seiner Leiche
sich von Kolumbien bis Guyana. Hier lie- Überfälle. Vor zwei Wochen lockten vergewaltigt worden, vor den Augen
gen geschätzt 7000 Tonnen Gold, Dia- Guerilleros der ELN eine Patrouille der der Kinder. Danach wurden drei der
manten, Eisenerz und Bauxit unter der Nationalgarde in einen Hinterhalt, dabei fünf Kinder ebenfalls vergewaltigt und
Erde sowie Coltan – ein seltenes Erz, das starben mindestens drei Soldaten. Ex- getötet.
unter anderem für die Herstellung von perten fürchten, dass Venezuela neben Jeden Monat empfangen wir auf unse-
Handys benötigt wird. Korrupte Militärs einer Umweltkatastrophe ein bürger- rer Station im Krankenhaus 200 Opfer
haben die Ausbeutung bewaffneten Ban- kriegsähnlicher Dauerkonflikt um Boden- sexueller Gewalt, darunter auch Kinder
den überlassen, die von sogenannten schätze droht, wie er seit Jahrzehnten und einige Männer. Wir untersuchen sie,
Pranes angeführt werden – Gangsterbos- in einigen rohstoffreichen Nationen Afri- geben ihnen Medikamente, und wenn
sen, die ihre Machtbasis in den überfüll- kas herrscht. JGL es gut läuft, geschieht das in den ersten
drei Tagen nach der Tat. Dann lassen
sich Infektionen wie HIV oder Schwan-
Chappatte gerschaften noch abwenden.
Wir sind hier fünf psychologische
Betreuer und sechs Ärzte. Auch für uns
ist es eine starke Belastung, wenn hin-
tereinander drei Kinder oder sechs
ältere Frauen mit ähnlichen Schicksalen
auf die Station kommen. Die Opfer
haben Albträume, sie leiden unter
Schmerzen, und viele können nicht zu-
rück in ihre Dörfer, aus Scham.
Wie soll eine Familie damit umgehen,
dass Töchter und Mütter so etwas
erlebt haben? Beziehungen zwischen
Mann und Frau sind nach so einem
traumatischen Ereignis oft gestört. Die
Frauen verlieren alles. Das Haus wird
zerstört, der Besitz geraubt. Nach
der Tat wissen Mütter oft nicht, wie sie
ihre Kinder ernähren sollen. Sie brauch-
ten ein sicheres Umfeld, einen Job.
Das können wir nicht leisten. Unsere
Station in Kananga, der Provinzhaupt-
stadt, ist sicher. Aber ich frage mich,
wie viele Frauen nur ein paar Hundert
Meter weiter vergewaltigt werden,
während wir hier sprechen.«
Aufgezeichnet von Susanne Koelbl

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Ausland

»Im Grab der Lebenden«


Terroristen Der Deutsche Mohammed Haydar Zammar hat sie alle gekannt:
Osama Bin Laden, die Attentäter des 11. September, Männer des »Islamischen Staats«.
Zum ersten Mal redete er jetzt in einem kurdischen Gefängnis mit Journalisten.

D
ie Ikone des weltweiten Dschi- sind anders als in Deutschland. Wir sind hier gen Mann und war wieder schwanger. Ich
had geht langsam. Vorsichtigen mit 28 Personen in einer kleinen Zelle, kön- habe einen meiner Vernehmer gefragt, der
Schrittes kommt der Mann den nen nachts nur auf der Seite liegend schlafen. hat gesagt, sie sei zurück zu ihren Eltern
schmalen Gang entlang. Ein mas- Wir haben das den Wärtern gesagt, aber die gegangen. Ich weiß nicht, ob sie angekom-
kierter Wächter führt ihn. Mohammed Lage ist so: Die haben nicht genug Gefäng- men ist, ob sie lebt, ob sie zu essen hat.
Haydar Zammar, 57, ein gebürtiger Syrer nisse, aber sehr viele Gefangene, vom »Isla- SPIEGEL: Nach über zehn Jahren in syri-
aus Hamburg, war Mudschahid in Bosnien, mischen Staat« und anderen Gruppierungen. schen Gefängnissen kamen Sie 2013 frei.
er war bei al-Qaida in Afghanistan, bei der SPIEGEL: Haben Sie sich ergeben, oder Warum sind Sie dann zum »Islamischen
Hamburger Zelle der 9/11-Attentäter und wie sind Sie hierhergekommen? Staat« gegangen – und nicht einfach nach
später bei den Schlächtern des »Islami- Zammar: Ich war mit meiner Frau und den Hause, nach Hamburg?
schen Staates« (IS). Nun sitzt er in einem Kindern in Darnidsch, einem Dorf auf der Zammar: Ich habe im Gefängnis Gott ge-
Gefängnis des kurdischen Geheimdienstes östlichen Euphrat-Seite nahe der Stadt beten, mir zu sagen, wohin ich gehen soll.
irgendwo im Nordosten Syriens. Der Er hat mich erhört und mir bedeutet,
Hüne von einst, der bei 1,93 Meter dass ich in Syrien bleiben könne ohne
Länge 145 Kilogramm wog, ist schma- Angst. Es war eine furchtbare Zeit im
ler geworden. Der mächtige Vollbart Gefängnis, wir haben gehungert dort.
ist einer gestutzten Version gewichen. Zum Glück hatten wir Brot getrock-
Zammar ist ein Veteran aus über net, neben dem Fenster aufgehängt
zwei Jahrzehnten Glaubenskrieg. Er als Vorrat, aber manche sind gestor-
ist Täter, Opfer und Zeuge zugleich. ben. Ich wollte immer Dschihad ma-

KNUT MÜLLER / DER SPIEGEL


Auf einer Reise nach Marokko ver- chen gegen die Ungerechtigkeit ge-
schleppte die CIA ihn einst und brach- genüber Muslimen! Ich bin seit 1971
te ihn in sein Geburtsland Syrien, wo in Deutschland gewesen. Was lässt
er für Jahre in den Foltergefängnissen mich das gute Leben, das gute Essen
des Assad-Regimes verschwand. Ab dort aufgeben? Die Ungerechtigkeit!
2013 war er beim IS. Die Rolle der Sie erinnern sich an Srebrenica, Bos-
deutschen Behörden in dem Fall hat nien? Ich habe das im deutschen Fern-
in Berlin eine Affäre ausgelöst und ei- sehen gesehen. Da bin ich sofort nach
nen Untersuchungsausschuss gezeitigt. Bosnien aufgebrochen.
Zammar hat sich seit 2001, dem SPIEGEL: Können wir erst einmal bei
Jahr der Anschläge vom 11. Septem- Ihrer Zeit in Syrien bleiben?
ber, nicht öffentlich geäußert. Nun ist Zammar: Natürlich. Fragen Sie!
es einem Team von SPIEGEL und SPIEGEL: Sie saßen nach dem 11. Sep-
SYARA KAREB / DER SPIEGEL

SPIEGEL TV gelungen, ihn zu treffen. tember 2001 mehr als zehn Jahre in
Sechs Monate dauerten die Verhand- syrischen Gefängnissen. Wie sind Sie
lungen mit der Führung der YPG, überhaupt herausgekommen?
dem syrischen Ableger der Arbeiter- Zammar: Das Gefängnis wurde 2013
partei Kurdistans, PKK, die Zammar belagert von der Rebellengruppe
nach eigenen Angaben im Winter Ahrar al-Scham, und bei denen war
festgenommen hat. Wenn er selbst Dschihadist Zammar 2001, 2018: »Auge um Auge« ein alter Freund von mir, den ich aus
bereit sei zu reden, hieß es zuletzt, Afghanistan kannte. Der hat dafür
dürfe er. gesorgt, dass ich und fünf andere aus-
Zammar setzt sich, begrüßt alle Anwe- Deir al-Sor. Wir saßen fest, die Kurden wa- getauscht wurden gegen zwei Generäle
senden höflich. Er hat lange kein Deutsch ren schon überall. Wir hatten kein Auto, aus Assads Armee. Der Rote Halbmond
gesprochen. Er wird während der kom- kein Motorrad, kein Geld, und ganz ge- hat das dann organisiert. Ein ehemaliger
menden 77 Minuten immer wieder die sund bin ich auch nicht mehr. Ich sah keine Mitgefangener hat uns empfangen und be-
richtigen Worte suchen müssen. Er wird andere Möglichkeit, als mich zu ergeben. wirtet. Es gab ein Abendessen mit gegrill-
sich zur Mitgliedschaft im IS bekennen, Ich wollte nicht wieder ins Gefängnis, aber ten Hähnchen, Kartoffeln, Coca-Cola. Ich
aber seine Mitwisserschaft am 11. Septem- was sollte ich machen? Ich wurde verhaf- hätte nicht so viel essen dürfen, hatte ja
ber bestreiten. tet, meine Frau wurde weggebracht, ich vorher die ganze Zeit gehungert. Eine Wo-
habe seither keinen Kontakt mehr zu ihr. che lang konnte ich nicht aufstehen, Blut
SPIEGEL: Herr Zammar, wie geht es SPIEGEL: Ihre Frau ist doch in Deutschland? kam aus mir raus.
Ihnen? Zammar: Nicht die. Diese hier habe ich ein
Zammar: Alhamdulillah, es geht mir gut. Jahr vor meiner Festnahme hier geheiratet. Seine Aufpasser haben Zammar in einen
Klar, Gefängnisse in arabischen Ländern Sie hatte schon drei Kinder von ihrem vori- Bürostuhl gesetzt. Hinter ihm prangt das

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PICTURE ALLIANCE / SZ PHOTO

Anschlag auf das World Trade Center in New York 2001: »Ich dachte, es seien die Japaner gewesen – als Rache für Hiroshima«

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Massenexekution durch Terroristen des »Islamischen Staats« in Palmyra 2015: »Natürlich ist nicht alles richtig, was der IS gemacht hat«

Logo des kurdischen Geheimdienstes. Auf das steht auch in der Bibel und in der Tora, SPIEGEL: Glauben Sie immer noch, dass
einem Tischchen steht eine pinkfarbene glaube ich. der »Islamische Staat« das gerechtere
Schachtel mit Kleenex-Tüchern. Zammar SPIEGEL: Der IS hat Ihren Freund aus Staatsmodell hat als Deutschland?
trägt eine braune Hose und einen gestreif- Afghanistan, der Sie aus dem Gefängnis Zammar: Nun, möglicherweise ist Deutsch-
ten Pullover mit Kragen. geholt hat, Abu Chalid al-Suri, ermordet. land besser. In einigen Dingen. In anderen
Er wirkt nicht wie ein radikaler Islamist, Er hatte als Emissär von al-Qaida vor dem nicht: Wenn ein Mensch als Terrorist ver-
eher wie ein Rentner. Beim Reden hat er IS gewarnt. Dort seien »falsche Dschiha- urteilt wird, obwohl er niemanden getötet
die Hände auf den Oberschenkeln, gele- disten«, die »keine Brüderlichkeit, nur Un- hat. Zum Beispiel mein Freund Mounir al-
gentlich hebt er sie. Er schildert seine Ge- terwerfung, Lügen, Mord« kennen: »Die Motassadeq ...
schichte fast emotionslos, als Abfolge von echten Dschihadisten werden verraten SPIEGEL: ... der verurteilt wurde, weil er
Ereignissen, ohne Dramatik. werden.« Geld an die Terroristen um Mohammed
Zammar: So? Hmm. Natürlich ist nicht al- Atta nach Amerika überwiesen hatte, wäh-
Zammar: Als ich wieder gesund war, les, was der IS gemacht hat, richtig. Wo rend die schon Flugunterricht für die An-
hat einer meiner Brüder aus dem Gefäng- Menschen sind, werden Fehler gemacht. schläge nahmen.
nis, er war inzwischen Gouverneur des Ich hatte einen Freund, der bei der Sicher- Zammar: Aber er selbst hat doch keinen
»Islamischen Staates« für Aleppo, gefragt: heitsabteilung gefangen war. Es hieß, er Menschen umgebracht! Der musste für
»Haydar, Abu Adil, willst du zu uns?« habe einen Gefangenen getötet, und er 15 Jahre ins Gefängnis. Das finde ich un-
Natürlich will ich Dschihad machen wurde eingesperrt. Die haben ihm Hand- gerecht.
gegen die Ungerechtigkeit, habe ich ihm schellen ganz eng angelegt, ihn dann daran SPIEGEL: Sie sagen, Motassadeq sei Ihr
gesagt. So habe ich ihm den Treueeid aufgehängt. Das hat ihm das Fleisch von Freund gewesen, ebenso wie die Todes-
gegeben. den Handgelenken gerissen. piloten Marwan al-Shehhi, Ziad Jarrah
SPIEGEL: So wie einst Bin Laden, den Sie SPIEGEL: Und wie fanden Sie das? und Mohammed Atta, den Sie schon 1996
in Afghanistan getroffen hatten? Zammar: Ich fand es ungerecht, weil er es kennenlernten.
Zammar: Nein. Ich war mehrmals in Af- nicht gemacht hatte. Folter finde ich so- Zammar: Das waren meine besten Freun-
ghanistan, und für mich war Bin Laden wieso ungerecht. Selbst die anderen isla- de. Im deutschen Fernsehen wurde immer
ein sehr sympathischer, guter Mensch. mischen Staaten machen nicht alles richtig. von der Hamburger Zelle gesprochen, als
Aber ich habe keinen Treueeid an al-Qai- Deutschland zum Beispiel ist viel gerech- seien wir im Untergrund gewesen. Aber
da gegeben, auch wenn das immer behaup- ter als die meisten von denen. wir haben uns nicht versteckt. Wir wollten
tet wird. nicht verloren gehen in dieser Gesellschaft,
SPIEGEL: Nachdem Sie selbst jahrelang in wo alles erlaubt ist; Sexualität, unanstän-
verschiedenen Gefängnissen gefoltert wur- Video diges Anziehen. Wir wollten uns als Grup-
So lief das Interview
den, gehen Sie ausgerechnet zum IS, der mit Zammar pe helfen, mit Gott zu bleiben, den Koran
Menschen foltert und hinrichtet? spiegel.de/sp472018zammar
zu lesen. Es stimmt, dass ich die Broschüre
Zammar: Ja, aber doch nach islamischem oder in der App DER SPIEGEL mit Bin Ladens Aufruf zum Dschihad ge-
Gesetz. Auge um Auge, Zahn um Zahn, gen Amerika vervielfältigt habe. Ich habe

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Ausland

dorthin ausgeliefert werden zu können. nen da geraten, vorläufig in Deutschland


Nach zwei Wochen kamen sie zur Schluss- zu bleiben?
folgerung: Der Mann habe von den An- Zammar: Im Gegenteil. Als ich rauskam,
schlägen nichts gewusst. habe ich den Polizisten gesagt, ich möchte
Auch deutsche Ermittler konnten ihm mein zweite Frau besuchen, die ich in
keine Beteiligung oder Mitwisserschaft Marokko habe. Da haben die gesagt: kein
nachweisen. Ein Verfahren wegen Unter- Problem!
stützung einer terroristischen Vereini- SPIEGEL: Sie fuhren. Nur als Sie von Casa-
gung stellte der Generalbundesanwalt blanca aus wieder nach Hamburg zurück-
nach jahrelangen Ermittlungen ohne Er- fliegen wollten, nahm Ihre Reise einen
folg wieder ein. sehr anderen Verlauf.
Zammar: Ich wurde am Flughafen ent-
SPIEGEL: Was dachten Sie, als Sie die ers- führt. Wahrscheinlich hatten die Amerika-
ten Bilder der brennenden Türme und der ner das veranlasst. Im Gefängnis haben
hineinrasenden Flugzeuge im Fernsehen die Marokkaner mich geschlagen, mit
sahen – und davon erfuhren, dass Ihre kaltem Wasser überschüttet, bis ich fast
Freunde soeben den größten Terror- ohnmächtig wurde, am ganzen Körper zit-
anschlag der Geschichte verübt hatten? terte. Es war Dezember und kalt. Zwei
Zammar: Wer das gewesen war, davon Wochen ging das so. Obwohl ich deutscher
war ganz am Anfang noch nicht die Rede. Staatsbürger bin, haben sie mich dann
Ich dachte, es seien die Japaner gewesen. nach Syrien gebracht. Ich kam zur »Paläs-
VISUAL PRESS AGENCY / ALL4PRICES

SPIEGEL: Die Japaner? tina-Abteilung« in den Keller.


Zammar: Ja, als Rache für Hiroshima. Die SPIEGEL: Sie reden von der für ihre be-
Namen und Bilder meiner Freunde wur- sondere Brutalität berüchtigten Abteilung
den erst etwas später bekannt. Aber ich des Militärgeheimdienstes und ihrem
konnte es nicht glauben. Gefängnis.
SPIEGEL: Warum nicht? Zammar: Wir Häftlinge nannten unseren
Zammar: Ich dachte nicht, dass die das Trakt das Grab der Lebenden. Zwei Jahre
können. und zehn Monate war ich dort in einer
SPIEGEL: Und dann kam die Polizei? winzigen Zelle eingesperrt. Die war sehr
Zammar: Nein, ich war ja in Reyhanlı, ei- eng und 1,80 Meter lang. Aber ich bin
nem Ort an der türkisch-syrischen Grenze. 1,93 Meter groß, konnte mich nie aus-
sie auch vor der Moschee verteilt, ganz of- Ich hatte meine Frau begleitet, die Ver- strecken. In meiner Zelle war nur ein win-
fen. Dafür schäme ich mich nicht. wandte in Syrien besuchen wollte. Ein ziges Lichtloch, ansonsten blieb es finster.
SPIEGEL: Sie haben die Männer erst zu- paar Tage später bin ich zurückgeflogen. Dreimal durfte ich in dieser Zeit für eine
sammengebracht? Ein Cousin sagte mir, die Hölle sei los ge- halbe Stunde in den Hof, den Himmel
Zammar: Ja. wesen, die Polizei sei zur Hausdurchsu- sehen. Dreimal in fast drei Jahren.
SPIEGEL: Aber Sie wussten nichts von den chung gekommen. Ich habe dann erst mal SPIEGEL: Was geschah dort mit Ihnen?
Anschlägen, die diese Männer später plan- bei meinem Bruder übernachtet. Tage spä- Zammar: Im ersten Monat wurde ich nicht
ten und begingen? ter klingelte dort ein Polizist, ließ einen geschlagen. Aber dann ging es los: mit den
Zammar: Nein. Die haben mir nichts ge- Zettel mit einer Vorladung da. Dann bin Fäusten, mit Kabeln, ins Gesicht, auf die
sagt. Ich hatte die letzten zwei Jahre davor ich zur Polizei gegangen, die haben mich Fußsohlen. Manchmal haben sie mich in
auch kaum noch Kontakt zu den dreien. gleich dabehalten. einen Autoreifen gezwängt und aufge-
Ich habe absolut nichts gewusst. Wahr- SPIEGEL: Was nicht verwundert: Sie hat- hängt und dann immer darauf eingeprü-
scheinlich haben sie mich außen vor ge- ten die Gruppe der Attentäter zusammen- gelt. Einmal haben sie meinen Kiefer ge-
halten, um mich nicht reinzureißen. gebracht, in Hamburg den Dschihad ge- brochen. Ein anderes Mal haben sie so auf
SPIEGEL: Aber Sie haben Said Bahaji, priesen, waren fünfmal in Afghanistan ge- meine Füße eingeprügelt, dass sie lange
einen der Planer, acht Tage vor dem wesen. Wieso sollten die Ermittler nicht schwarz waren.
11. September zum Hamburger Flughafen vermuten, dass Sie mit den Anschlägen zu
gebracht, als er sich nach Pakistan ab- tun haben? Die Bundesregierung trägt zumindest in-
setzte. Zammar: Aber dann wäre ich doch aus direkt Mitverantwortung für Zammars Fol-
Zammar: Der wollte doch nur nach Af- der Türkei nicht nach Deutschland zurück- ter. Auch wenn die Beweise für einen Haft-
ghanistan zum Dschihad, dachte ich. Der gekommen! Ich wäre weiter nach Afgha- befehl gegen Zammar in Deutschland
Said hat doch keine Anschläge gemacht. nistan oder sonst wohin geflohen. Ich habe nicht reichten: Mindestens zweimal infor-
gesagt, dass ich mit Atta und den anderen mierte das Bundeskriminalamt (BKA), das
Als marokkanische Vernehmer Zammar zusammen Koran gelesen, gegessen habe, Zammar abhören und observieren ließ, die
Ende 2001 im Hauptquartier des Geheim- in die Moschee gegangen bin. Aber nichts amerikanische Bundespolizei FBI detail-
dienstes in Rabat gemeinsam mit der wusste ich von den Anschlägen. Gott ist liert über dessen Marokkoreise.
CIA verhörten, prahlte er anfangs noch: mein Zeuge. So war auch die CIA im Bilde, dass
Es sei überhaupt seine Idee gewesen, SPIEGEL: Wären Ihnen die Pläne bekannt Zammar gebucht war für die KLM-Ma-
Passagierjets als Waffen einzusetzen. Er gewesen, hätten Sie dann versucht, Ihre schine aus Casablanca am 8. Dezember
habe die Idee der Al-Qaida-Führung Freunde aufzuhalten? 2001 um 6.45 Uhr und »nach vorliegen-
angetragen. Zammar: Ich weiß es nicht. Ich war so wü- den Erkenntnissen beabsichtigt, den ge-
Die Vernehmer vermuteten später, dass tend auf die amerikanische Politik. Wirk- planten Rückflug anzutreten«.
Zammar sich wichtig machen wollte und lich, ich weiß es nicht. Doch ein marokkanisches Sonder-
sich fälschlich in Sicherheit gewogen habe, SPIEGEL: Als Sie im Oktober 2001 wieder kommando nahm ihn fest. Man verhörte
als Staatsangehöriger Deutschlands nur auf freien Fuß gesetzt wurden, hat man Ih- ihn zwei Wochen lang, von den Ameri-

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 85


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kanern wurde er dann nach Syrien expe- rück zur »Palästina-Abteilung«, dann wie- schenrechte, aber keine Demokratie. De-
diert. der nach Saidnaja, später noch in ein wei- mokratie sei Götzendienst.
Statt sich für Zammars Freilassung teres Gefängnis, dann nach Aleppo. Es ist die Wirklichkeit eines Unver-
einzusetzen, verabredete die Bundes- SPIEGEL: Was haben Sie genau beim »Is- besserlichen. Und zugleich zeigt der Fall
regierung einen Deal mit dem Chef des lamischen Staat« gemacht? die Unmöglichkeit, einen geistigen Weg-
syrischen Militärgeheimdienstes: Zugang Zammar: Zuerst in Aleppo war der »Isla- bereiter des Terrors juristisch zur Ver-
für deutsche Ermittler zu Zammar im mische Staat« noch kein Staat, sondern antwortung zu ziehen. Er war zwar immer
syrischen Knast, dafür werde ein Ermitt- eine Gruppe wie die 30, 40 anderen, die mittendrin, aber doch nicht mit dabei.
lungsverfahren wegen Spionage gegen es da gab. Dann kam Anfang 2014 eine Klar ist, dass er fünfmal nach Afghanistan
zwei Syrer in Deutschland eingestellt. hinterhältige Attacke der Freien Syrischen fuhr. Dass er die Attentäter des 11. Sep-
Mit Wissen von Frank-Walter Steinmei- Armee, und ich musste mit meiner Frau tember 2001 erst zusammenbrachte und
er, damals Kanzleramtsminister, entschie- aus der Stadt fliehen. Zaudernde wie den späteren Todespiloten
den der damalige Chef des Bundesnach- SPIEGEL: Die Frau, mit der Sie vergange- Marwan al-Shehhi anhielt, stark in ihrem
richtendienstes (BND) August Hanning nen Winter festgenommen wurden? Glauben zu sein. Und dass die Attentäter
und Geheimdienstkoordinator Ernst Uhr- Zammar: Nein, also, das war noch eine ihn dann außen vor ließen, als sie den
lau, fünf Beamte nach Damaskus zu schi- andere. Was soll ich machen? Meine Frau größten Terroranschlag der Geschichte
cken: zwei Männer vom BND, zwei vom in Hamburg konnte nicht zu mir, und ich planten. Und dass er beim »Islamischen
Verfassungsschutz, einen vom BKA. konnte nicht nach Deutschland. Aber ich Staat« landete.
Dem deutschen Quintett, das am 20. No- brauche eine Frau, die sich um mich sorgt. Früher wollten alle unbedingt mit ihm
vember 2002 nach Damaskus kam, wurde Um die ich mich kümmere, die mir Kinder reden, die CIA, deutsche Geheimdienstler.
Zammar in Jogginghose vorgeführt. Er schenkt. Wir sind nach al-Bab gegangen, Heute könnten die Deutschen ihm den
klagte, er sei geschlagen worden. Zammar eine Stadt weiter östlich, und dort drei Jah- Prozess machen wegen seiner IS-Mitglied-
hatte viel abgenommen, er schaft. In Karlsruhe, beim Ge-
kam ihnen aber nicht unter- neralbundesanwalt, liegt ein
ernährt vor. Haftbefehl gegen ihn vor.
Drei Tage lang sprachen sie Aber womöglich will Deutsch-

WINFRIED ROTHERMEL / AP
mit Zammar. Der Mann habe land Zammar gar nicht mehr.
sich kooperativ gezeigt, freuten Weil kein Staat die IS-Kämpfer
die Beamten sich anschließend, aus dem eigenen Land zurück-
habe mutmaßliche Mitkämpfer haben möchte, die nur eine Ge-
BKA / DPA

auf Fotos identifiziert. »Gut bis fahr sind.

RTC
sehr gut« sei das gelaufen, ver- Das Auswärtige Amt in Ber-
merkte das Ergebnisprotokoll lin teilte auf Anfrage lapidar
der beteiligten Dienste. Sie mit, eine konsularische Be-
setzten darauf, noch öfter mit treuung im nordsyrischen
Zammar reden zu können. Kurdengebiet sei leider nicht
Doch daraus wurde nichts. möglich.
GAMMA / STUDIO X

Der Verfassungsschutz habe


GETTY IMAGES

»erhebliche Bauchschmerzen«, SPIEGEL: Und nun?


notierte ein BKA-Beamter 2003: Zammar: Ich hoffe, dass die
AFP

Zammar hatte womöglich Din- Deutschen, die verantwortlich


ge gesagt, die in Syrien sein To- Attentäter des 11. September* sind für meine Sache, mit mir
desurteil bedeuten könnten. »Das waren meine besten Freunde« reden. Ich war ein guter Nach-
bar in Deutschland. Fragen Sie
SPIEGEL: Wie verlief die Befragung durch re geblieben. Ich habe mich um die Gäste- in meiner Nachbarschaft, meine Lehrer.
die deutschen Ermittler, die Ende 2002 für häuser der Mudschahidin gekümmert. Ich bin kein schlechter Mensch.
drei Tage kamen? Also Wäsche, Essen, dass da kein Müll he-
Zammar: Waren das drei Tage? Oder rumliegt. Das habe ich eine Weile gemacht, Zu Hause in Hamburg öffnet Zammars
zwei? Ich kann mich nicht mehr genau er- dann bei der Abteilung für allgemeine Be- Frau Rabab Bahanoui die Tür. Vom
innern. Zwei von denen stellten Fragen, ziehungen als Vermittler gearbeitet: wenn Roten Kreuz hat sie erfahren, dass ihr
einer hat mitgeschrieben auf seinem Lap- zwei Stämme sich streiten oder Eheleute Mann von den kurdischen YPG gefangen
top. Freundlich waren die nicht. Auch nicht mehr miteinander klarkommen. genommen wurde. Sie hat ihm geschrie-
nicht brutal, einfach kühl. Ich habe denen Dann hat man mich als Aufseher zu den ben, aber noch keine Antwort erhalten.
geschildert, was hier passiert, die gebeten, Arbeitergruppen geschickt. Zum Schluss Mehr möchte sie nicht sagen. Die Frau
helfen Sie mir, nach Deutschland zurück- sollte ich noch zur Medienabteilung gehen, hat tiefe schwarze Ringe um die Augen.
zukommen. Einer sagte nur: Träumen Sie aber da war schon alles kaputt. Nicht nur ihren Mann hat sie an den Ter-
davon! ror und den Krieg gegen ihn verloren.
SPIEGEL: Kamen Sie nach den knapp drei Das Gespräch geht dem Ende entgegen. Auch zwei ihrer Söhne sind kürzlich in
Jahren im Keller der »Palästina-Abteilung« Zammars Aufpasser drängen. Zammar Syrien gestorben. Ihr steigen die Tränen
direkt nach Aleppo ins Gefängnis? möchte noch etwas loswerden. Wenn der in die Augen.
Zammar: Oh nein. Ich wurde nach Said- IS »ohne Gerechtigkeit« foltere, sei das Syara Kareb, Andreas Lünser,
naja verlegt, das riesige Gefängnis nördlich verboten. Er sei nicht dorthin gegangen, Christoph Reuter, Fidelius Schmid
von Damaskus. Dort habe ich 2008 drei um Terror zu verbreiten. Er wolle Men-
Gefangenenrevolten erlebt. Der Direktor ‣ Sendehinweis Der Film über
stieg auf eine Feuerwehrleiter und erschoss * Oben: Zakariya Essabar, Said Bahaji, Ramzi Binal- Haydar Zammar läuft bei SPIEGEL TV
von oben wahllos Menschen. Verletzte shibh, Mounir al-Motassadeq; unten: Ziad Jarrah, Mar- auf RTL am Montag um 23.25 Uhr.
wurden totgeprügelt. Ich kam danach zu- wan al-Shehhi, Mohammed Atta.

86 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Foto: © Juan Fernando Ayora @juanfayora


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Ausland

ihrem Volk versprachen, hätte das König-

Der Sturm reich für lange Zeit nicht die volle Kon-
trolle über seine Gesetze, seine Grenzen
und sein Geld wiedererlangt. Und es
EU 874 Tage nach dem Brexit-Referendum gibt es einen Plan. könnte auf Jahre hinaus auch keine Frei-
handelsverträge mit anderen Ländern ab-
Aber immer klarer wird: Das Ringen in schließen. In Wahrheit zerschreddert der
Brüssel war nur das Dramolett vor dem Drama in London. Deal die letzten Illusionen: Eine schnelle,
saubere Scheidung von der EU wird es
nicht geben.

A m Morgen bevor Großbritannien


sein politisches Endspiel beginnt,
bestellt Steve Baker ein »full Eng-
lish breakfast«. Der konservative EU-Geg-
hat. Wer am Ende noch aufrecht stehen
wird, ist unmöglich vorherzusagen. Aber
schon jetzt ist klar: Mögen die Verhand-
lungen mit Brüssel auch nervenzerfetzend
In Brüssel wollte dennoch niemand von
Siegern und Verlierern sprechen, zu groß
war die Furcht, May bei ihrem anstehen-
den Überlebenskampf weiter zu schwä-
ner ist bestens gelaunt, als er an diesem gewesen sein – sie waren doch nur das Dra- chen. Doch klar ist: Was den Inhalt angeht,
Dienstag, einen Münzwurf entfernt vom molett vor dem Drama. hat sich Brüssel weitgehend durchgesetzt.
Parlament, eines jener feinen Lokale be- Mehr als einmal hatten die Unterhänd- Herausgekommen sind 585 Seiten, in-
tritt, in denen sich Londons Strippenzieher ler beider Seiten in den vergangenen Wo- klusive dreier Zusatzprotokolle und einer
gern austauschen. Baker weiß noch nicht, chen in den Abgrund gestarrt. Vor vier Reihe von Anhängen, genügend Platz, um
dass seine Premierministerin Theresa May Wochen etwa saß man schon einmal bis unangenehme Wahrheiten zu verstecken.
am Abend Vollzug in den Brexit-Verhand- kurz vor zwei Uhr nachts zusammen, als So finden sich die Regeln zur umstrittenen
lungen mit Brüssel melden wird. Er kennt dann nichts mehr ging. Stundenlang hatte Sonderbehandlung Nordirlands für den
nicht die Details des fast 600 Seiten langen der britische Unterhändler Oliver Robbins Fall, dass sich ein Freihandelsabkommen
Vertragsentwurfs. Aber er ist schon sicher: mehr mit London telefoniert, als mit dem verzögert, weit hinten im Vertrag, recht-
»Es wird eine große Rebellion geben.« Er Team des EU-Verhandlungsführers Michel lich bindend, aber nicht so gut sichtbar.
lächelt dabei. Barnier gesprochen. Am Ende war klar, Die Briten zahlen einen hohen Preis,
Baker, 47, ist Flugzeugingenieur, Fall- dass May sich nicht trauen würde, mit dem und das nicht nur wegen der saftigen Ab-
schirmspringer und Abgeordneter der Ergebnis vor ihr Kabinett zu treten. schlussrechnung von bis zu 50 Milliarden
Tory-Partei. Vor allem aber ist er eine der Vergeblich war das Wochenende den- Euro. Die 27 restlichen EU-Länder haben
zentralen Figuren im großen Schachspiel noch nicht. Seinerzeit wurde die Idee kon- sich bis zum Schluss nicht spalten lassen
namens Brexit. Der Mann aus Cornwall kreter, dass das Vereinigte Königreich nach und nicht nur in der Irlandfrage zusam-
ist Koordinator der leidenschaftlichsten einer fast zweijährigen Übergangsphase, mengehalten. So setzten sie durch, dass
EU-Feinde in der konservativen Parla- in der sich ohnehin fast nichts am Status sich London bis auf Weiteres an europäi-
mentsfraktion. Ihre Zahl wird auf etwa quo ändert, noch eine Zeit lang als Ganzes sche Umwelt- und Sozialstandards sowie
50 geschätzt – genug, um jede Einigung an EU-Beihilferegeln halten muss, wenn
zwischen London und Brüssel zu blockie- die Briten schon auf eine Zollunion drän-
ren. Also sagt Baker siegesgewiss: »Wa- Der Deal zerschreddert gen und mit dem Kontinent weiter ver-
rum, um Himmels Willen, sollten wir ak- die letzten Illusionen: nünftig Geschäfte machen wollen. Sollten
zeptieren, dass uns die EU bis zum Sankt die Briten vorgehabt haben, auf der Insel
Nimmerleinstag vorschreiben darf, wie Eine schnelle, saubere eine schneidige Konkurrenz zu Unterneh-
wir unser Land regieren?« Scheidung gibt es nicht. men auf dem Kontinent aufzubauen, kön-
Baker und seine Brexiteers sind nicht nen sie das nun erst mal vergessen.
die Einzigen, die in diesen Tagen im Ver- Die scheinbar weniger wichtige Frage,
einigten Königreich eilig ihre Truppen sam- in einer Zollunion mit der EU bleiben wer in wessen Gewässern fischen darf, ist
meln. Seit Theresa May, 874 Tage nach könnte. So lange, bis das angestrebte Frei- bislang nicht ausreichend beantwortet.
dem EU-Referendum, endlich eine Verein- handelsabkommen zwischen dem Staaten- Vor allem Länder wie Dänemark, die Nie-
barung mit Brüssel getroffen hat, die ihrem block und seinem Ex-Mitglied steht. derlande und Frankreich drängen auf
Land einen kaum merklichen Ausstieg aus Der Plan, für den May intern weiter mehr Klarheit, das Thema könnte auch
der Staatengemeinschaft ermöglichen wür- kämpfte, hat den entscheidenden Vorteil, aufseiten der EU noch für Ärger sorgen.
de, erhebt sich von allen Seiten wütender dass er eine harte Grenze zwischen Irland Der aber ist nichts im Vergleich zu dem
Protest. und Nordirland – und damit ein mögliches Sturm, der sich auf der Insel zusammen-
Jene, denen der Deal zu weit, und jene, Wiederaufflammen der Gewalt in der braut – und der May hinwegfegen kann.
denen er nicht weit genug geht, stehen Unruheprovinz – einstweilen verhindert. Die Premierministerin selbst orakelte am
plötzlich vereint gegen eine einsamer wer- Allerdings deutet einiges darauf hin, dass Mittwochabend, als sie nach fünfstündi-
dende Regierungschefin. Die trotzte ihrem die Briten diese Zollpartnerschaft mit der gem Ringen im Kabinett mit fahler Miene
Kabinett am Mittwoch zwar eine halbher- EU noch lange werden erdulden müssen. vor die Kameras trat: »Ich weiß, dass nun
zige Zustimmung ab – aber nur, um zwölf In den nun vorliegenden Eckpunkten schwierige Tage kommen.«
Stunden später den Rücktritt ihres Brexit- für eine politische Erklärung, die den Aus- Es ist ein weiter Weg bis zum EU-Son-
Ministers zu erleben. Es blieb nicht der trittsvertrag flankieren soll, werden Frei- dergipfel, der laut EU-Ratspräsident Do-
einzige. handelsabkommen und Zollpartnerschaft nald Tusk nur dann am 25. November
Noch ist nicht einmal restlos klar, ob als Ausgangspunkt für die Gespräche über stattfinden wird, »wenn nichts Außerge-
Mays Brexit-Pläne überhaupt einer Über- die künftigen Beziehungen aufgeführt. wöhnliches geschieht«. Zum Beispiel der
prüfung durch die 27 restlichen EU-Staa- Und London hätte danach nicht das Recht, Sturz einer Regierungschefin.
ten standhalten werden, Ende November die Vereinbarung einseitig aufzukündigen. Und selbst wenn es May bis dahin schaf-
wollen die darüber befinden. Aber schon Für die Brexit-Ultras auf der Insel be- fen sollte, wartet zu Hause immer noch
jetzt ist alles bereitet für einen Showdown, deutet das schlicht »Kapitulation«, so ein ihr Parlament. Das Unterhaus hat sich das
wie die britische Politik noch keinen erlebt Hardliner. Anders als die EU-Feinde es Recht erstritten, über den finalen Deal mit

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Premierministerin May vor ihrem Amtssitz: Ist ein halber Brexit besser als gar keiner?

der EU abstimmen zu dürfen. Irgendwann Sonderrechte wie Nordirland. Am heikels- abstimmung kommen, in der die Briten,
im Dezember wird es voraussichtlich so ten für May aber ist, dass sich selbst die des Dauerchaos überdrüssig, den Brexit
weit sein. Und Mays Problem ist: Um leidenschaftlichsten EU-Freunde in ihrer einfach wieder abblasen.
durchzukommen, braucht sie nicht nur Partei von ihr abwenden. Sie erkennen May wird deshalb in den kommenden
jeden einzelnen der 315 Tory-Abgeord- nicht den Sinn einer Vereinbarung, nach Wochen, unterstützt von wichtigen Fir-
neten, sondern auch die Stimmen der der das Königreich in weiten Teilen an EU- menbossen, versuchen, ihr Volk und des-
nordirischen DUP-Fraktion, mit der sie Regeln gebunden wäre – aber ohne jede sen Vertreter milde zu stimmen. Die Stra-
faktisch koaliert. Chance, in Brüssel noch mitzureden. tegen in 10 Downing Street haben bereits
Die Ultranationalisten aber denken bis- Am Mittwoch entzog Dominic Grieve, eine entsprechende Charmeoffensive ge-
lang gar nicht daran, irgendeiner Lösung der Vordenker der EU-freundlichen Tories, plant. Die Regierungschefin wird klar-
zuzustimmen, die Nordirland enger an die seiner Regierung das Vertrauen: »Ich kann machen, ohne es so deutlich zu sagen, dass
EU binden und der Provinz damit einen meinen Wählern nicht in die Augen schau- ein halber Brexit besser ist als gar keiner.
Sonderstatus im Königreich verschaffen en und behaupten, dass dieser Deal besser Und dann, wohl kurz vor Weihnachten,
würde. Sie wissen sich damit einig mit kon- ist als unsere EU-Mitgliedschaft. Ich werde kommt mit der Parlamentsabstimmung
servativen Hardlinern wie Ex-Außen- deshalb dagegen stimmen.« die Bescherung. Sie wird auch darüber ent-
minister Boris Johnson, der – in völliger Ist eine desaströse Niederlage also scheiden, ob Theresa May als eine der un-
Unkenntnis des Vertragsentwurfs – bereits kaum noch vermeidbar? Mays beste, wenn glücklichsten oder erfolgreichsten Füh-
polterte, fortgesetztes »Vasallentum« sei nicht einzige Chance ist, auf die Alternati- rungsfiguren in die britische Geschichte
mit ihm nicht zu machen. ven zu verweisen, sollte ihr Deal scheitern. eingehen wird. Immerhin: Am späten
Widerstand haben auch die schottischen Dann nämlich würde sich ihr Land selbst Donnerstagabend war sie noch im Amt.
Nationalisten im Parlament angemeldet, ohne Rettungsring aus dem EU-Boot Peter Müller, Jörg Schindler
aber aus ganz anderem Grund: Sie wollen schubsen, mit unabsehbaren wirtschaft- Mail: [email protected],
für ihr Land, das mehrheitlich für einen lichen und sozialen Folgen. Oder es könn- [email protected]
EU-Verbleib stimmte, künftig dieselben te doch noch zu einer weiteren Volks-

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Viehzüchter in Südafrika,
Farmer Mukhawane, Harmse
Fiasko im Paradies

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Ausland

Stunde der Demagogen


Südafrika Die Regierung will weiße Landwirte ohne Entschädigung enteignen –
droht ein Hunger-Desaster wie im Nachbarland?

W
o das Grab liegen soll, weiß endlich das Unrecht der Vergangenheit um die absolute Mehrheit bei den Wahlen
Harry Harmse nicht so genau. auszugleichen. im nächsten Jahr, der neue Präsident und
Er bezweifelt, dass es über- Noch ist nichts entschieden, aber kein Parteichef Cyril Ramaphosa will durch ei-
haupt existiert. »Sie machen anderes Thema wühlt in diesen Tagen die nen schärferen Kurs in der Landfrage Stim-
das immer so«, sagt der 70-jährige Farmer. Südafrikaner so sehr auf wie dieses. Dabei men sichern.
Sie, die Schwarzen. In seinem Fall hatte vertiefen sich die Gräben zwischen den Ernest Mukhawane interessieren die
eine ehemalige Hilfsarbeiterin erklärt, dass Volksgruppen, die hierzulande im Alltag politischen Rochaden nicht, er hat andere
sie ihr verstorbenes Kind auf Harmses noch »Rassen« genannt werden. Sorgen. Das Reetdach seines Farmhauses
Farm beerdigt habe, unten am Wasserlauf, Für die schwarze Bevölkerungsmehr- droht einzustürzen, der Brunnen im Gar-
im Jahr 1953, und dass sie deshalb An- heit war der Kampf um das in der Kolo- ten ist ausgetrocknet, das Pumpenhaus
spruch auf sein Land erhebe – es sei das nialzeit okkupierte Land stets eine Trieb- verfällt. Mukhawane, ein schlanker Mann
Land ihrer Ahnen. kraft des Widerstands. »Mayibuye iAfrika« von 61 Jahren, gehört zu den Nutznießern
Harmse sagt, allein in seiner Gegend – Komm zurück, Afrika!, hieß eine Parole der bisherigen Landumverteilung. Er hat
südlich der Provinzstadt Polokwane gebe der Befreiungsbewegung African National vor sieben Jahren 105 Hektar Grund er-
es rund 2000 Verfahren, in denen Rechts- Congress (ANC). In den historischen halten, den der Staat einem weißen Far-
ansprüche auf den Grund und Boden Mythen der Weißen erschlossen die ersten mer abgekauft hatte. Seither müht er sich
weißer Landwirte angemeldet wurden. europäischen Siedler eine Terra nullius, ab, Mangos zu ernten. Aber die Bäume
Aber er werde seinen Besitz bis zum letz- ein herrenloses Land, das sie in vielen sind in einem bedauernswerten Zustand
ten Blutstropfen verteidigen, schließlich Generationen kultiviert haben. und tragen nur mickrige Früchte, er hat in
habe er die Farm namens Rietvlei erst vor Aber natürlich war Afrika nicht leer, die all den Jahren noch keinen Cent Gewinn
14 Jahren gekauft, »ganz rechtmäßig«. Europäer haben die traditionellen Sied- gemacht.
Die Arbeiterin ist mittlerweile verstor- lungsräume der Afrikaner einfach enteig- Dabei sollten hier, in einem Tal bei
ben, Harmse hat erst mal Ruhe. »Aber ir- net. 1948 besiegelte das Regime der Apart- Tzaneen, Pilotprojekte für eine erfolg-
gendwann werden sie uns alles wegneh- heid den Landraub, die Weißen verfügten reiche Landreform entstehen und mittel-
men. Sie wollen den Kommunismus.« Sie, zu der Zeit über rund 87 Prozent des lose Subsistenzbauern ihre eigenen Äcker
die Schwarzen und ihre Regierung, die an- Grund und Bodens. Den Rest durften sich bestellen können. Die Voraussetzungen
gekündigt hat, das Land der Weißen zu die Schwarzen in sogenannten Bantustans sind optimal, die Region gilt als tropisches
enteignen, ohne dafür Entschädigung zu teilen, in Reservaten. Als der ANC 1994 Paradies: Zitrusfrüchte, Bananen, Litschis,
zahlen. die Macht übernahm, Ananas, Avocados, Erdnüsse,
»Wo sollen wir dann hin? Wer hilft uns?«, standen die Rückgabe Tee, alles gedeiht in Hülle
fragt Harmses Frau Charlotte, 67. Die bei- und die Umverteilung Polokwane und Fülle.
den sitzen an einem heißen Nachmittag fruchtbaren Landes auf Fragt sich nur, warum auf
beim Kaffee im Vorbau ihres schlichten Zie- der politischen Agenda Tzaneen Mukhawanes Ländereien 65
gelhauses, der wie ein Käfig vergittert ist. ganz weit oben. Pretoria Hektar brachliegen. Man
Zwei alte Leute im Belagerungszustand, Doch die geplante Bo- ahnt die Antwort, wenn man
Harmse hält seine Waffen stets schussbereit. denreform wurde so kon- SÜDAFRIKA sich in der einzigen bewohn-
Sie leben allein auf ihrer 488 Hektar gro- fus und stümperhaft aus- baren Kammer seines Hofs
ßen Farm, ihre Kinder sind in die Stadt ge- geführt wie die gesamte umsieht: Dort stapeln sich
zogen. Die Eltern haben Angst um ihren Politik des ANC: Die landwirtschaftliche Fachzeit-
Besitz, um die 144 Rinder, die Pferde, die ruhmreiche Partei Nel- schriften, in denen er gele-
Landmaschinen. »Wir Weißen haben die- son Mandelas verwandelte sich im Laufe gentlich blättert. »Als ich hier anfing, wuss-
ses Land entwickelt, wir haben Städte und der Jahre in einen korrupten Verein, der te ich nichts über Landbau«, sagt Mukha-
Straßen gebaut. Jetzt haben wir hier keine die Ressourcen des Landes plünderte. Und wane. Er sei Pharmaassistent von Beruf
Zukunft mehr«, sagt Harmse, und seine als sich das Volk um das versprochene bes- und habe sich alle Kenntnisse selbst bei-
Frau fügt hinzu: »Sie werden uns alle sere Leben betrogen fühlte, schlug die bringen müssen.
umbringen, und dann wird Afrika wieder Stunde der Demagogen. Auf dem Hofgelände rosten kaputte Ge-
schwarz sein.« Die linksradikalen Economic Freedom rätschaften vor sich hin. Der rote Traktor
Die Furcht geht auf vielen der 30 000 Fighters (EFF) stacheln die enttäuschten und das Kreiselmähwerk funktionieren
von Weißen bewirtschafteten Farmen Süd- Wähler seither dazu auf, das Land zurück- noch. »Aber wie lange noch? Ich habe kei-
afrikas um, seit die Regierung in Pretoria zuerobern, notfalls mit Gewalt. Sie grölen ne Ersatzteile«, klagt Mukhawane.
den Artikel 25 der Verfassung, der das ein altes Schlachtlied: »Tötet die Farmer! Die Bank gibt ihm keinen Kredit für
Recht auf Eigentum garantiert, ändern will; Tötet die Buren!« Investitionen, für Saatgut, Kunstdünger
ein parlamentarischer Ausschuss prüft ge- Ihr Anführer Julius Malema plädiert für oder Bewässerungsanlagen. Denn er hat
rade die Möglichkeit, Leute wie Harmse die Verstaatlichung aller Agrarflächen. Er keinen Besitztitel, das Land wurde ihm
zu enteignen. trieb die in Misskredit geratene Regierung vorerst nur zur Pacht überlassen.
Die konfiszierten Nutzflächen sollen an so lange vor sich her, bis auch sie seine For- Manchmal würden Leute vom Land-
landlose Schwarze verteilt werden, um derungen aufnahm. Denn der ANC bangt wirtschaftsministerium vorbeikommen,

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leere Versprechungen machen und nach und korrupt, sie haben Milliardensummen sein. Einige spekulieren nur mit dem Land
fünf Minuten in ihren dicken Gelände- unterschlagen.« und verkaufen es dann stückweise an
wagen wieder davonrauschen, erzählt Das traurigste Exempel lieferte eine weiße Farmer zurück.«
Mukhawane. Blacky schaut mit treuen einst ertragreiche Teepflanzung hoch in Der weiße Bauer führt die Besucher
Augen zu ihm auf, ein Buschschwein hat den Bergen über Tzaneen. Der Staat hatte auf den unbewirtschafteten Hof nebenan,
den Hofhund gebissen, er läuft nur noch sie 2006 erworben und an einen weitver- der einem schwarzen Rechtsanwalt aus
auf drei Beinen und wirkt genauso ver- zweigten Familienclan übergeben. Die Be- der fast 300 Kilometer entfernten Stadt
loren wie sein Herrchen. »Die Regierung günstigten zerstritten sich und verscher- Mbombela gehört. Der Mann lasse sich
hilft uns nicht, sie hat uns schwarze Farmer belten im Laufe der Jahre die gesamte nur alle zwei Wochen hier blicken und
vergessen.« Infrastruktur, die Kooperative ging pleite. scheuche seine Arbeiter herum, denen er
»Ernest schafft das nie, obwohl er über Am Ende waren rund 2000 Arbeits- Hungerlöhne bezahle.
drei Millionen Rand staatliche Zuschüsse plätze vernichtet und umgerechnet etwa Das Anwesen ist vollkommen verwahr-
erhalten hat«, sagt Oupa Mathebula, 44. 15 Millionen Euro Steuergelder versenkt lost: Gebäuderuinen, kaputte Zäune, zer-
Er hat im selben Jahr wie Mukhawane worden. Die Plantage ist zwar noch auf borstene Wasserleitungen, schrottreife
Land vom Staat erhalten, 265 Hektar. Sein Google Maps eingezeichnet, wurde aber Maschinen.
Anwesen steht auf dem nächsten Hügel, mittlerweile buchstäblich von der Erde ver- An einem abgestorbenen Baum hängt
er sitzt auf der Veranda und schaut mit ab- schluckt. ein Fetzen Kuhfell, eine Viehseuche habe
schätzigem Blick auf die kümmerliche Oft würden sich ANC-Funktionäre oder den Bestand wohl hingerafft, vermutet der
Plantage seines Nachbarn hinüber. Der Günstlinge der Partei Farmen aneignen, Bure. Wenn erfahrene Farmer wie er ein
Busch erobert sie allmählich zurück, zwi- sagt ein Nachbarbauer von Mathebula, ein derartiges Fiasko besichtigen, fühlen sie
schen den Baumreihen sieht man das Gras stämmiger Bure, der anonym bleiben will. sich in ihrem Urteil bestätigt: »Die Leute
wuchern. »Sie können nicht einmal unterscheiden, denken, dass sie über Nacht reich werden,
Mathebula zählt zu den wenigen erfolg- wo bei einem Traktor vorn und hinten ist, wenn sie Land bekommen. Dann sitzen
reichen schwarzen Farmern. Auf seiner und wollen eigentlich gar keine Bauern sie ratlos auf ihren Farmen herum. Sie
Weide grasen prächtige können das Land einfach
Brahman-Rinder, dazwi- nicht richtig bewirtschaf-
schen trotten Schafe und ten.«
Ziegen herum. In den Ge- »Das ist ein weitverbrei-
wächshäusern hinter dem tetes Vorurteil«, sagt Theo
herrschaftlich wirkenden de Jager, 55. »Ich kenne
Haupthaus wachsen Gur- eine Reihe von jungen
ken, Tomaten und Paprika, Schwarzen, die hervorra-
in dieser Saison haben seine gende Landwirte sind.«
14 Arbeiter 1200 Kisten Er gehört zu den einfluss-
Mangos geerntet; die Er- reichsten Agrarpolitikern
zeugnisse werden an Frisch- am Kap, er war jahrelang
gemüsemärkte in Johannes- im Vorstand von AgriSA,
burg und Pretoria geliefert. der Organisation kommer-
»Ich habe Agrarökono- zieller Farmer. Unweit von
mie studiert, das ist der Un- Tzaneen besitzt er einen
terschied«, sagt Mathebula. Forstbetrieb und eine
Auch er muss kämpfen, Baumschule, ist aber nur
aber er hat es inzwischen ge- selten zu Hause – als Prä-
schafft. sident des Weltbauernver-
In seiner Freizeit steht er bands hält er sich meistens
auf dem getrimmten Rasen in Rom auf.
vor seinem Haus und übt De Jager ist ein gelasse-
Golfschläge. So stellt sich ner Mann, der vor hyste-
vermutlich die Regierung ei- rischen Überreaktionen
nen ihrer schwarzen Muster- warnt. »Die Bodenreform
farmer vor. Aber momentan ist notwendig, um eines
ist der umtriebige Mann au- unserer größten Probleme
ßer Gefecht gesetzt, er hat zu überwinden: die Massen-
sich bei einem Jagdunfall armut auf dem Land.«
selbst angeschossen. Allerdings gibt auch er
Oupa Mathebula ist Vor- zu bedenken, dass der Plan
sitzender von Fabco, dem der Regierung verheerende
Regionalverband schwarzer Folgen haben könnte. Eine
Farmer mit 341 Mitglie- Gesetzesänderung und Ent-
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dern. Alle haben Land er- eignungen würden nicht


halten, aber die vorläufige nur ausländische Investo-
Bilanz ist niederschmet- ren abschrecken, sie könn-
ternd. »Rund 80 Prozent ten zudem einen Exodus
sind gescheitert, weil sie al- von kommerziellen Land-
leingelassen wurden«, sagt wirten auslösen und Zehn-
Mathebula. »Die zuständi- tausende Farmarbeiter ih-
gen Behörden sind unfähig Landwirt Mathebula: »Die Behörden sind korrupt« ren Job kosten.

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Weltbauernpräsident de Jager, Mitarbeiter: Warnung vor dem Exodus

Am Ende könne sogar die nationale Harry Harmse, der weiße Viehzüchter, »im großen Stil« getötet würden. Tony
Nahrungsmittelversorgung gefährdet sein, hat kein Vertrauen in den neuen Staats- Abbott, Ex-Premierminister von Austra-
sagt Theo de Jager. »Simbabwe hat gezeigt, chef. »Der einzige gute Präsident war lien, erklärte im März, das in den vergan-
wie man es nicht machen soll.« Dort ent- Mandela, aber seitdem der nicht mehr lebt, genen zwölf Monaten »so um die 400 wei-
eignete und vertrieb das Regime des Dik- geht es bergab.« Er holt ein Buch mit dem ße Farmer« ermordet worden seien.
tators Robert Mugabe 4000 weiße Farmer, Titel »Treurgrond« aus dem Küchenregal: Die jüngste Polizeistatistik verzeichnet
seither hungern viele Menschen. Trauererde. Darin sind Überfälle und 62 Farmmorde in diesem Zeitraum, in die-
Es sieht nicht so aus, als hätte die süd- Morde auf Farmen dokumentiert. »Immer ser Zahl sind Farmbesitzer, Arbeiter und
afrikanische Regierung aus der Katastro- mehr Weiße werden umgebracht, das hat Besucher eingeschlossen.
phe im Nachbarland Lehren gezogen. Da- Methode«, sagt er. Niemand bestreitet, dass auf einsamen
bei sei sie schon auf einem ganz guten Weg In den vergangenen 20 Jahren wurden Gehöften immer wieder grausame Gewalt-
gewesen, so de Jager. »Hätte sie die Ende nach Polizeiangaben rund 1700 Landwirte verbrechen geschehen. Doch die meisten
der Neunzigerjahre beschlossenen Reform- ermordet, Harmse jedoch glaubt, dass die Bluttaten haben nichts mit rassistischen
pläne umgesetzt, wären heute 30 Prozent Zahl der Opfer mindestens doppelt so Racheakten oder der ungelösten Landfra-
des Agrarlands umverteilt.« hoch ist. Er hat den Angehörigen ein Stück ge zu tun, sondern werden aus kriminellen
Doch das Programm sei an Unwilligkeit, Land am Rande seiner Farm für ein Motiven verübt. Die Wahrscheinlichkeit,
Gier und Inkompetenz staatlicher Institu- symbolisches Gräberfeld überlassen: zwei in einem von Banden terrorisierten Slum
tionen gescheitert. Manche der 4000 Far- Hügelkuppen, übersät mit zahllosen wei- in den südafrikanischen Großstädten er-
men, die die Regierung aufgekauft hat, ßen Eisenkreuzen, für jedes Opfer steht mordet zu werden, ist vermutlich höher.
blieben ungenutzt, vielerorts verwildern dort ein Kreuz. Das Ehepaar Harmse glaubt dennoch,
fruchtbare Flächen. Dieses Mahnmal wird oft auf den Web- dass am Kap eine Art »Rassenkrieg« aus-
Aber die allgemeine Aufregung werde sites rechtsradikaler Burenorganisationen gebrochen sei. Charlotte, die Farmersfrau,
sich wahrscheinlich wieder legen, wenn abgebildet. Sie sprechen von einem »wei- schaut aus ihrem Wohnkäfig hinaus auf
die Wahlen im nächsten Jahr vorbei seien, ßen Genozid«, der von der ANC-Regie- die mit reifen Früchten behangenen Zitro-
prophezeit de Jager. »So war das schon rung orchestriert werde, und verbreiten nenbäume und sagt: »Es könnte so schön
immer. Ramaphosa ist nicht der erste diese Verschwörungstheorie über die so- sein in unserem Land – wenn nur die
Präsident, der die Landfrage nutzt, um zialen Medien. Schwarzen nicht da wären.«
Stimmen zu gewinnen. Aber er weiß als Die Propaganda findet Widerhall in al- Bartholomäus Grill
ehemaliger Unternehmer auch, was auf ler Welt. Im August twitterte US-Präsident Mail: [email protected]
dem Spiel steht.« Donald Trump, dass in Südafrika Farmer

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ironie fähig ist, Witze reißt und damit eine

Ihre Story ganze Basketballarena unterhält; die er-


zählt, wie sie ihre Karriere auf Eis legte,
damit ihr Mann Präsident sein konnte; die
mit ihrer Rolle ringt; die der Dienerschaft
USA Michelle Obama stellt ihre Biografie vor und wird gefeiert im Weißen Haus erlaubte, bequemere
wie ein Popstar. Sie redet über Ehekrisen, die Zeit im Sachen zu tragen. »Am ersten Tag stand
Weißen Haus, und Millionen denken: Sie muss Präsidentin werden. da ein schwarzer Butler in Smoking und
Fliege, um eine schwarze Familie zu be-
dienen«, erzählt Obama. Ihre Augenbrauen

W enn man den Umfragen glaubt,


über die sich das halbe Land ge-
rade beugt, hätte Michelle Oba-
ma hervorragende Chancen, in zwei Jah-
Noch bevor sie die Bühne betritt,
blitzen Fotos und Videoclips über Lein-
wände: Michelle tanzt, Michelle lacht,
Michelle gewinnt gegen die Komikerin
sagen: Wie grotesk ist das?
Je länger sie spricht, umso mehr denkt
man, Oprah hätte zu Hause bleiben kön-
nen. Obama redet, als hätte sie eben die
ren zur ersten Präsidentin der Vereinigten Ellen DeGeneres einen Liegestütz-Wett- Sprache entdeckt. Finde deine Stimme. Ihr
Staaten gewählt zu werden. Das Problem kampf. Dazu singt Alicia Keys: »This girl Denken, erzählt sie, sei jahrzehntelang um
ist: Sie will nicht. is on fire«. Michelle Obama ist das gewor- eine Frage gekreist: »Bin ich genug?« Was
In ihrem neuen Buch, das soeben er- den, was Jackie Kennedy nur kurzzeitig müsse sie tun, um akzeptiert und ernst ge-
schienen ist, macht sie deutlich, dass sie war und Hillary Clinton nie sein wollte: nommen zu werden? Die Ungewissheit,
lieber in einen aktiven Vulkan einziehen ein Popstar. Allmählich wird sie zur wah- die Selbstzweifel. »Gehöre ich hierhin?«
würde als noch mal ins Weiße Haus. Ihr ren Heldin der Obama-Jahre. Und dann, als sie oben stand, sagten
Buch trägt den Titel »Becoming – Meine Es ist ein leichter, heiterer Moment in Afroamerikaner: Die Obamas sind nicht
Geschichte«, aber es hätte auch heißen einer dunklen Gegenwart. Im Weißen schwarz genug. »Kaum zu glauben, so et-
können: Warum ich wirklich keine Lust Haus wohnt derzeit ein Ehepaar mit sei- was tun wir uns gegenseitig an.«
auf Politik habe. nem zwölf Jahre alten Sohn, man sieht die Im Vergleich zu anderen hatte Michelle
Die entscheidende Frage war also vorab drei selten gemeinsam. Der Mann bewun- Obama von Anfang an drei entscheidende,
bereits geklärt, als sich am Dienstag mehr dert Diktatoren, kämpft gegen die halbe sehr reale und greifbare Nachteile: Sie war
als 20 000 Menschen im United Center westliche Welt, einen Russland-Sonder- schwarz, sie war arm, und sie war ein Mäd-
von Chicago einfinden. Das Programm ermittler und die Vorwürfe rund um chen. Eine Schulberaterin sagte zu ihr ei-
verspricht eine »intime Unterhaltung« Schweigegeld, das er an eine Pornodarstel- nen Satz, der den Antrieb für ein Leben
zwischen Michelle Obama und der Talk- lerin gezahlt hat. Seine Frau verschickt geben kann: »Ich weiß wirklich nicht,
show-Legende Oprah Winfrey. Im Eingangs- indes eine Erklärung, in der sie die Entlas- ob du Princeton-Material bist.« Obama
bereich haben die Veranstalter eine Poster- sung von Mitarbeitern fordert – wie diese sagt, sie habe sich einen Kampf geliefert
wand mit dem Porträt der Autorin aufge- Woche, als Melania Trump verkünden gegen sich selbst um Anerkennung und da-
stellt, vor der aufgekratzte Frauen warten, ließ, die Stellvertretende Sicherheitsbera- rum, »endlich jemand zu werden«. Beco-
um Fotos zu machen. Die Männer tragen terin im Weißen Haus verdiene »die Ehre, ming Michelle. »Und dann wurde ich die
unterdessen Schalen mit überbackenen Ehefrau von Barack.«
Nachos und absurd große Getränkebecher Die Leute lieben diese Offenheit, die
in die Arena, als brauchten sie Kraft. Am Ihr Denken, erzählt sie, spitzbübische Art, in der sie über ihren
Ende wird der Abend zu einer Mischung sei jahrzehntelang Mann redet. Immer wieder wird sie von
aus Pilgerreise und Gruppentherapie. Applaus unterbrochen, das Publikum
»Eigentlich ist meine Geschichte doch um eine Frage gekreist: kann nicht genug von ihr bekommen.
die klassische Story des Aufstiegs«, wird »Bin ich genug?« Im Grunde ist sie die beste Präsidentin,
Obama später erzählen. »Aber warum die Amerika nie hatte. Obama erbrachte
wagte es trotzdem immer jemand, mir zu den Beweis, dass eine First Lady mehr ist
sagen, ich gehöre nicht dazu?« Ihre Story dem Weißen Haus zu dienen, nicht län- als ein lächelnder Kleiderbügel. Sie zeigte,
geht so: Schwarzes Mädchen aus der South ger«. Undenkbar unter den Obamas. Vor dass man in dieser Rolle langfristig mehr
Side von Chicago wächst in einer lieben- dieser Folie läuft der Abend in Chicago ab. Einfluss ausüben kann als ein Mann im
den, aber mittellosen Familie auf, bemüht Eigentlich müsste sich Michelle Obama Oval Office, der sich Kleinkriege mit Män-
sich in der Schule, schafft es durch Fleiß, nicht anstrengen, um zu glänzen, aber sie nern liefert, die mit Vornamen Mitch hei-
Disziplin und Talent nach Princeton, be- tut es trotzdem. Als sie auf die Bühne tritt, ßen oder Paul oder sonst wie.
kommt einen Job in einer Kanzlei, strengt glaubt man kurz, jemand hätte eine Blend- Ist es nicht hart, fragt Oprah Winfrey,
sich weiter an, lernt einen ehrgeizigen Jura- granate gezündet. Sie trägt ein weißes die Fassung zu wahren, wenn die Gegen-
studenten namens Barack kennen und lan- Glitzeroberteil, das eine Schulter freilässt, seite dauernd unter die Gürtellinie schlägt?
det schließlich in Washington. eine weiße Hose, und im Gesicht ein Lä- Klar sei das hart, sagt Obama. »Aber
Chicago ist der Auftakt zu Obamas cheln, gegen dessen Strahlen jede Schwei- wenn du dein Ego beiseitelegst, klappt es.«
Tournee, die mit Lesereise nur unzurei- ßerbrille zwecklos ist. Lange, innige Um- Die Alternative ist, auf das Niveau von
chend beschrieben ist. Zehn Städte in fünf armung mit Oprah, dann schwebt sie auf Angst und Wut hinabzusteigen, das andere
Wochen, ein Gewalttrip durch die großen einen mit Samt bezogenen Sessel. Auf so gut beherrschen. Sie nennt keine Na-
Hallen von Los Angeles über Washington einem Tischchen neben ihr wartet eine men, aber jeder weiß, wen sie meint. Ihr
bis nach Dallas. Die besseren Sitzplätze weiße Tasse mit den Worten »Finde deine Ansatz und der ihres Mannes sei immer
werden für 1000 Dollar und mehr ver- Stimme«. gewesen: Kopf senken, nicht provozieren
kauft. Michelle Obama, das wird an die- Für die Leute im Saal ist Michelle Oba- lassen, weitermachen. »Lass die Arbeit für
sem Abend deutlich, löst sich von ihrer ma noch immer die First Lady, egal, wer sich selbst sprechen.«
Vergangenheit, von ihrer Rolle als Ehefrau 2016 gewählt worden sein mag. Die Be- Für die Obamas hat dieser Satz funktio-
und Präsidentengattin. Sie ist jetzt 54 und wunderung ist absolut: Da sitzt wirklich niert, für andere Afroamerikaner tut er
hat sich selbst überwunden. eine Frau, die denken kann, zu Selbst- das längst noch nicht. Amerika ist nach

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Obama-Auftritt in Chicago: »Ich scheuchte die Mädchen: Weg hier, die Trumps kommen«

wie vor ein Land, in dem weiße Polizisten Warum aber die Abneigung, Präsiden- Und so muss die Frau vorn auf der Büh-
auf Unschuldige schießen, weil sie schwarz tin zu werden? Auf der Bühne sitzt eine ne weiter mit den Erwartungen anderer
sind. Es gibt einen strukturellen, tief ver- der berühmtesten Frauen der Vereinigten zurechtkommen. Sie wirkt, als habe sie
wurzelten Rassismus in den Vereinigten Staaten. Millionen finden, sie sei für das damit ihren Frieden gemacht.
Staaten, der nicht einfach verdampft, höchste Amt im Staat bestens geeignet – Den derzeitigen Bewohner im Weißen
wenn man die Arbeit für sich sprechen auch deshalb, weil es so wenige Figuren Haus erwähnt sie nur einmal mit Namen,
lässt. Es gibt Leute, die sagen: Die Zeit, gibt, die die Demokraten bewundern als sie erzählt, wie Freundinnen ihrer Töch-
brav den Kopf zu senken, ist vorüber. können. ter am Tag vor der Amtseinführung Do-
Obamas Schicksal war es, dass sie die Frage an den Sitznachbarn: Ist es nicht nald Trumps bei ihnen übernachteten, ein
ohnehin schwere Aufgabe, die sie zu er- egoistisch, wenn sich jemand dem Wunsch allerletztes Mal im Weißen Haus. »Am
füllen hatte, noch überragen musste. Sie des Volkes und der Partei derart verwei- nächsten Morgen scheuchte ich die Mäd-
musste nicht nur ihre Karriere zurück- gert? »Michelle weiß, was sie im Weißen chen raus mit den Worten: Weg hier, die
stellen und die gute, geduldige afroameri- Haus erwarten würde«, sagt Paul Yankie, Trumps kommen bald!«
kanische First Lady spielen, sie durfte auch Reihe 112 rechts, Sitz 19, Unternehmer aus Sie muss jetzt nichts mehr sagen, der
nicht manipulativ erscheinen, ärgerlich, Ohio. Er ist mit seiner Mutter hier. »Ich Satz genügt, um der Dunkelheit den
allzu ambitioniert. Sie musste sich an die glaube, Michelle kann mehr verändern, Schrecken zu nehmen. Michelle Obama
Erwartungen der Mehrheit anpassen, an- wenn sie nicht mit der Tagespolitik kämp- hat bewiesen, dass sie keine Angst hat. Sie
ders ging es nicht. Auch deshalb holt sie fen muss.« Yankies Mutter ergänzt mit hat gewonnen. Sie gehört hierhin und
sich jetzt ihre eigene Geschichte zurück. glänzenden Augen: »Michelle lästert sel- verschwindet auch so schnell nicht.
Was ist ihr Platz in dieser Welt, wohin ten über andere, sie ist aufrichtig und an- Christoph Scheuermann
gehört sie? Sie will wieder die Hoheit über ständig. Es wäre klasse, wenn sie antreten Twitter: @chrischeuermann
ihr Leben. würde. Ein Jammer, wenn sie es nicht tut.«

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Ermittler der sizilianischen Behörden

Tödliche Befehle beschäftigen sich mit dem Fall. Eine for-


melle Untersuchung wegen unterlassener
Hilfeleistung wurde jedoch noch nicht ein-
geleitet.
Seefahrt Lassen Kapitäne großer Schiffe Flüchtlinge absichtlich im Jana Ciernoch, Sprecherin der Hilfs-
Mittelmeer ertrinken? Verdächtige Vorfälle häufen sich. organisation SOS Mediterranée, schob im
August Deckwache an Bord des Rettungs-
schiffs »Aquarius«. Die Besatzung hatte

A ls sie die USNS »Trenton« das erste


Mal sahen, schlugen bereits Wellen
in ihr Schlauchboot, da draußen auf
offener See. Die 117 Menschen hatten sich
Nach einer geschätzten halben Stunde
tauchte ein Helikopter auf, dann kamen
drei Motorboote der »Trenton«. Sie holten
41 Menschen aus dem Wasser. Die ande-
da gerade 25 Menschen gerettet. Ciernoch
kam mit zwei Männern aus Kamerun ins
Gespräch. Die beiden erzählten von der
Überfahrt, und was Ciernoch hörte, be-
in das nur zwölf Meter lange Schlauchboot ren Bootsinsassen waren ertrunken. Auch schäftigt sie bis heute.
gesetzt, um den libyschen Folterlagern Josefs Freundin mit dem ungeborenen Zusammengepfercht in einem kleinen
zu entkommen. Jetzt rissen sie sich die Kind. 76 Menschen starben an diesem Tag. Holzboot, seien sie von den libyschen
T-Shirts vom Leib, winkten damit und Es ist nicht der einzige Fall, bei dem die Menschenhändlern aufs Meer geschickt
schrien um Hilfe. Auch Josef*, der aus Frage im Raum steht, ob Schiffbrüchigen worden und hätten nach Norden gehalten.
Nigeria kommt und an diesem 12. Juni die Rettung verweigert wurde. Zivile See- Irgendwann hätten sie ein Frachtschiff
2018 auf ein neues Leben in Italien hoffte, notretter sagen, dass dies immer häufiger erspäht, doch es sei vorbeigefahren. Später
zusammen mit seiner Freundin, die vorkomme, seit Italien und Malta im Juni sei noch eines in ihre Nähe gekommen
schwanger war. 2018 ihre Häfen für Schiffe mit Überleben- und dann noch weitere. Doch keine der
Doch die USNS »Trenton«, ein 103 Me- den an Bord geschlossen haben. Tatsäch- Mannschaften habe geholfen.
ter langer Hochgeschwindigkeitskatama- lich ist der Anteil der Menschen, die auf Als sie eine Ölplattform entdeckten, hät-
ran, ausgestattet mit Helikopter und Über- der Flucht über das Mittelmeer sterben, in ten sie darauf zugehalten und um Hilfe ge-
wachungstechnik, drehte nicht bei, son- diesem Jahr proportional so hoch wie noch schrien. Die Arbeiter auf der Plattform hät-
dern ab. Das Schlauchboot setzte nach, nie zuvor. ten jedoch bloß ihre Smartphones gezückt,
aber bald verschwand das amerikanische Warum die »Trenton« nicht früher zu sie gefilmt und beschimpft. Irgendwann
Kriegsschiff gen Horizont. Hilfe kam, ist unklar. Radargeräte können sei ihnen der Treibstoff ausgegangen, ihr
Einige Flüchtlinge begannen offenbar Schlauchboote oft nur schwer erkennen, kleines Holzboot von der Strömung abge-
zu schreien, andere wurden still. Mit blo- und der Wachoffizier kann die Migranten trieben worden.
ßen Händen schöpften sie Wasser aus dem übersehen haben. Außerdem fuhr das Nach 35 Stunden auf dem Wasser ent-
lebensgefährlich überfüllten Boot, doch Gummiboot zu dem Zeitpunkt noch und deckte die »Aquarius«-Crew die Gruppe
das Wasser stieg immer höher. Mütter, die war deshalb juristisch gesehen nicht in in Seenot. Viele waren dehydriert und von
nicht schwimmen konnten, gaben ihre akuter Seenot. der Sonne verbrannt, aber alle lebten
Babys in andere Arme, vorsorglich. Es war Aber klar scheint, dass die Besatzung noch. Mitarbeiter von Ärzte ohne Gren-
nicht viel Wind, doch eine Welle rollte der »Trenton« nicht ohne Weiteres hilft, zen führten später systematische Inter-
heran, traf das Schlauchboot angeblich so wenn sie nicht aus Seerechtsgründen muss. views und rekonstruierten die Überfahrt:
unglücklich, dass der hölzerne Boden zwi- Denn zwei Tage bevor Josefs Freundin Fünf Schiffe hätten die Rettung verweigert.
schen den Schläuchen nachgab. Die Müt- ertrank, musste bereits ein anderes Der Kieler Seerechtsexperte Uwe Je-
ter, Väter und Kinder stürzten ins Wasser. Schlauchboot gerettet werden. Als die nisch sagt: »Das Seerechtsübereinkommen
Neben Josef schwamm ein Mann, der »Leon Hermes«, ein griechischer Öltanker, der Vereinten Nationen von 1982 schreibt
seine Frau über Wasser hielt. Andere Er- die »Trenton« dabei um Unterstützung vor, dass Kapitäne auf See jeder Person in
trinkende klammerten sich an sie, rissen bat, antworteten die Amerikaner per Lebensgefahr Hilfe leisten müssen.« Und
sie unter Wasser. Der Mann bekam sie Funk: »Wir haben einen anderen Auftrag.« die Streitfrage ist immer: Ab wann ist ein
noch mal zu packen, zog sie hoch. Wieder Die U.S. Navy sagt zu den Todesfällen: Mensch in Lebensgefahr? Schon dann,
stürzten sich andere Verzweifelte auf »Um ungefähr 10.10 Uhr am 12. Juni 2018 wenn er in einem Schlauchboot mit funk-
sie, zogen sie runter. Dieses Mal tauchte entdeckte unser Ausguck ein gekentertes tionierendem Motor auf hoher See sitzt?
sie nicht mehr auf. Josef bekam die Über- Boot und im Wasser treibende Menschen. Oder erst, wenn das Gummiboot sinkt?
reste des Schlauchboots zu packen und Es war die erste Sichtung des Schlauch- Ciernoch denkt viel darüber nach. Sie
klammerte sich daran. Seine Freundin sah boots durch Personal der USNS ›Trenton‹.« glaubt, dass die Handelsschiffe nicht hel-
er nicht. Einer der Überlebenden sagt: »Hätten fen, weil sie tagelange Irrfahrten fürchten
sie uns gerettet, als wir sie zum ersten Mal müssen, seit Europa seine Häfen für Über-
* Name geändert. sahen, hätte niemand sterben müssen.« lebende geschlossen hat.
Das Dublin-Abkommen der Europäi-
Auf dem Seeweg nach Europa gestorbene schen Union sieht vor, dass Asylsuchende
oder vermisste Flüchtlinge 2018 ihren Antrag in dem Land stellen müssen,
in dem sie die EU zuerst betreten haben.
Deshalb war Italien lange Zeit zuständig
zentrale östliche
für die Mehrheit der Migranten, die über
Mittelmeerroute Mittelmeerroute das Mittelmeer kamen. Zwischen 2014 und
westliche 2017 waren das im Schnitt 156 936 Men-
Mittelmeerroute 1266 156
schen pro Jahr. Zivile Seenotretter steuer-
621 ten häufig italienische Häfen an – bis zum
9. Juni 2018, als die »Aquarius« mit 629
Überlebenden an Bord Kurs auf Italien
Quelle: International Organization for Migration, 1. Januar bis 13. November 2018 nahm, doch Italiens Innenminister Matteo

96 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Salvini, Mitglied der rechtsradikalen Lega,


dem Schiff die Hafeneinfahrt verwehrte.
Auch die »Trenton«-Crew musste damit
rechnen, keinen Hafen zugewiesen zu
bekommen. Und tatsächlich dauerte es fünf
Tage, bis sie die Überlebenden an die ita-
lienische Küstenwache übergeben konnte.
Im selben Zeitraum rettete das dänische
Containerschiff »Alexander Maersk« mehr
als hundert Menschen und musste ebenfalls
mehrere Tage warten. Frachtschiffe führen
seitdem regelmäßig an schiffbrüchigen Boo-
ten vorbei, sagt Ruben Neugebauer von der
Organisation Sea-Watch.
Neugebauer ist Einsatzleiter an Bord

ALAMY / MAURITIUS IMAGES


eines zivilen Rettungsflugzeugs. An Tagen,
an denen die Wetterverhältnisse es zulas-
sen, dass Schlauchboote von Libyen able-
gen, kreist er in einer Höhe von 500 Metern
über dem Mittelmeer.
Macht Neugebauer ein schiffbrüchiges
Kriegsschiff »Trenton«: »Wir haben einen anderen Auftrag« Schlauchboot aus, informiert er die Ret-
tungsleitstelle in Rom und funkt die Ko-
ordinaten an alle Schiffe in der Umgebung,
damit diese zu Hilfe eilen können. »In den
allermeisten Fällen reagieren die schließ-
lich«, sagt Neugebauer. Aber immer öfter
behielten sie ihren ursprünglichen Kurs
bei und versuchten wegzukommen.
Neugebauer fotografiert die Szene dann,
kreist über dem entsprechenden Schiff und
lässt den Kapitän über Funk wissen, dass
er Beweismaterial für unterlassene Hilfe-
leistung hat. Spätestens danach würden
die meisten Kapitäne reagieren, sagt er.
Doch auch Neugebauer und seine Kol-
legen wurden im Frühling 2018 an ihrer
Arbeit gehindert. Am 24. Mai entdeckte
die Flugcrew ein schiffbrüchiges Schlauch-
boot und sah, dass die »San Giusto«, das
damalige Flaggschiff der EU-Mission Ope-
ration Sophia, in der Nähe kreuzte. Der
Einsatzleiter habe das Kriegsschiff zur Ret-
tung aufgefordert, jedoch keine Antwort
erhalten. Erst nach wiederholter Auf-
forderung habe das Schiff zwei Beiboote
zur Rettung entsandt.
Am nächsten Tag habe es einen weiteren
Notfall gegeben, erneut hätten sie ein Ma-
rineschiff zur Hilfe aufgefordert, so Neu-
gebauer. Als sie dann das nächste Mal eine
Starterlaubnis in Malta anforderten, wurde
diese ohne Angabe von Gründen verwei-
gert und bis heute nicht wieder erteilt.
Die Schuld dafür sei jedoch nicht bei
den Reedereien zu suchen, sagt Neugebau-
er. Diese müssten Vertragsstrafen fürchten,
wenn ihre Schiffe aufgrund einer Rettung
ihre Ware zu spät im Zielhafen abliefern.
»Das Sterben wird so lange weitergehen,
ALAMY / MAURITIUS IMAGES

wie Italien seine Häfen geschlossen hält.«


Ändern würde sich erst etwas, wenn die
EU-Länder sich auf eine gerechte Vertei-
lung der Migranten einigen würden. Bis
dahin seien »Zeugen im Mittelmeer nicht
erwünscht«. Raphael Thelen
Rettung Überlebender durch »Trenton«-Crew: Ab wann ist ein Mensch in Lebensgefahr?

97
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DEIN
LEBEN
BRAUCHT EINEN
INFLUENCER.
DICH.
Leg los und nimm deine
Zukunft selbst in die Hand:

Orange-Building-My-Tomorrow.de
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Sport
Geld ostdeutscher Kleinsparer wird in einen hoch verschuldeten spanischen Fußballverein gepumpt. ‣ S. 108

Länderspielbilanz von Joachim Löw Sieg Unentschieden Niederlage


Punkte *noch ein Spiel
pro Spiel ausstehend
Jahres-
durchschnitt: 2,17 2,19 2,18 2,24 2,31 2,07 2,42 2,18 1,78 2,06 2,47 1,17
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018*

EM WM EM WM EM WM

Schlechter war die Bilanz von Joachim Löw bisher in keinem gegen die Niederlande am Montag siegte das Löw-Team erst
seiner zwölf Jahre als Bundestrainer. Mit insgesamt 111 Siegen viermal, verlor hingegen bereits sechs Partien. Diese magere
ist Löw zwar der erfolgreichste deutsche Nationaltrainer, doch Ausbeute ist umso erstaunlicher, weil 2017 noch das beste
ausgerechnet im Weltmeisterschaftsjahr schwächelten er und komplette Löw-Jahr war. Rechnet man die Ergebnisse um, holte
seine Mannschaft. Vor dem abschließenden Nations-League-Spiel das DFB-Team im Schnitt 2,47 Punkte.

Magische Momente

»Ab und an Rammstein«


Apnoetaucherin Heike Schwerdtner, 48, über ihren langen Atem beim Weltrekord

SPIEGEL: Sie sind Apnoe- SPIEGEL: Wie merken Sie im Wasser, auf: In 24 Stunden legten Sie zusammen
taucherin, tauchen ohne wann Sie wieder auftauchen müssen? 198,25 Kilometer unter Wasser zurück.
Pressluftgerät. Ihr deut- Schwerdtner: Irgendwann fängt das Schwerdtner: Wir tauchten ohne Flossen
scher Rekord im Zeittau- Zwerchfell an zu zucken, der Atemimpuls in einem 25-Meter-Becken, mussten
chen liegt bei 6:38 Minu- wird immer stärker, ist kaum mehr auszu- nach jeder Bahn auftauchen. Beim Apnoe
ten. Wie schaffen Sie es, halten. Der Körper sendet Signale, wann bewegt man sich unter Wasser relativ
so lange die Luft anzuhalten? es Zeit ist aufzutauchen, zum Beispiel langsam, um so wenig Sauerstoff wie mög-
Schwerdtner: Man muss so entspannt wie indem man plötzlich Farben sieht. Wenn lich zu verbrauchen. Ich schwamm in vier
möglich an die Sache rangehen und auch man das nicht ernst nimmt, kann man Etappen, war rund 15 Stunden im Wasser.
während des Luftanhaltens die Ruhe in einen sogenannten Black-out hineinrut- SPIEGEL: Klingt nach Quälerei.
bewahren. Im besten Fall beginnt man, schen, eine Ohnmacht. Schwerdtner: Im Gegenteil. Eigentlich
unter Wasser zu träumen. SPIEGEL: In diesem Jahr stellten Sie mit wollte ich nur zwölf Stunden tauchen.
SPIEGEL: Wie trainieren Sie das? elf weiteren Tauchern einen Weltrekord Doch im Wasser hat es sich super ange-
Schwerdtner: Es gibt Atmungstabellen fühlt, ich habe es sehr genossen. Also
mit verschiedenen Intervallen, zum habe ich meine Wasserzeiten verlängert
Beispiel fünfmal drei Minuten Luft- und die Atempausen verkürzt.
anhalten mit stetig kürzeren Atempausen SPIEGEL: Mögen Sie diese Monotonie?
dazwischen. Ziel ist es, die Kohlen- Schwerdtner: Nun, ich hatte ja einen
dioxidtoleranz – die den Atemimpuls MP3-Player mit, habe unter Wasser
gibt – zu steigern und den geringen fast durchweg Musik gehört – die Band
Sauerstoffgehalt im Blut tolerieren Nightwish, ab und an Rammstein –
zu lernen. und kam so in einen Flow.
SPIEGEL: Das geht auch über Wasser? SPIEGEL: Wie haben Sie gefeiert?
Schwerdtner: Ja, teilweise trainiere ich Schwerdtner: Mit Spaghetti und Sekt,
auf der Couch. Früher habe ich nebenbei allerdings: Nach ein paar Schluck waren
Fernsehen geschaut, mittlerweile brauche wir schon angetrunken, nach so einer
ich absolute Stille. Schwerdtner beim Weltrekord in Freiburg Anstrengung merkt man das sofort. TNE

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 99


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Oligarch im Fürstentum
Affären Ein russischer Milliardär rettet 2011 den maroden AS Monaco. Er investiert in Topspieler,
lädt Regierung, Polizei und Justiz ins Stadion ein, macht Geschenke, vergibt Jobs.
Vorige Woche wurde gegen Dmitrij Rybolowlew jedoch Anklage erhoben – wegen Korruption.

D
ie Füße Ihrer Hoheit müssen au- die High Society lösten; denen aber zu- energischen Untersuchungsrichter, Donald
ßerordentlich erfreut gewesen gleich zugetraut wird, weiterhin enge Kon- Trump, einer Ehefrau im Knast, einem Ge-
sein. Fürstin Charlène, die Ge- takte zu Seilschaften in der Heimat zu pfle- mälde von Leonardo da Vinci und Prinzes-
mahlin von Fürst Albert II., ließ gen. Bis hinein in die Regierung in Moskau. sin Stéphanies Sohn auf Jobsuche.
jedenfalls von ihrer Privatsekretärin ein Die Geschichte des Dmitrij Rybolowlew
Schreiben an den »lieben Herrn Rybo- ist eine Geschichte, wie sie sich allenfalls
lowlew« aufsetzen, um ihm zu danken John le Carré hätte ausdenken können. Es I. ZWEI KILLER UND
»für die wundervollen Laufschuhe, den geht um Macht, Intrigen, Verrat und un- EIN MILLIARDENGESCHÄFT
Sportbeutel und die Kleidung«, die er ihr ermesslich viel Geld.
gesandt habe. Sie sei »sehr berührt« von Rybolowlew, Sohn eines Ärztepaars und Die Neunzigerjahre sind eine wilde Zeit,
seiner Geste und Aufmerksamkeit – und ausgebildet zum Kardiologen, hatte vom in der untergegangenen Sowjetunion ist
werde »diese Geschenke mit großem Ver- Fußball kaum Ahnung, als er den AS Mo- alles möglich, die Fesseln des Kommunis-
gnügen tragen«. naco übernahm. Er stellte eigens einen mus sind gesprengt, wer gute Beziehun-
Auch wenn die Geschäfte im Fürsten- Coach an, der ihm die Grundlagen des gen, eine feine Nase und viel Chuzpe hat,
tum Monaco nicht mehr ganz so blühen Spiels beibringen sollte. Über sein Mo- kann sehr vermögend werden. In
wie vor 20 Jahren, für ein Paar Jogging- tiv, des Fürsten Sorgenkind hoch- Perm, einer Millionenstadt an der
treter reicht es allemal am Hofe der Gri- zupäppeln, geben Tausende ver- Grenze zwischen Europa und
maldis. Wie kommt also einer auf die Idee, trauliche Dokumente Auskunft: Asien, 1200 Kilometer östlich
Sportschuhe in den Palast zu schicken? Mails, Verträge, Akten, die von von Moskau, erkennt Dmitrij
Und wieso dankt die Fürstin in einer Form, der Enthüllungsplattform Football Rybolowlew die Chancen des
als hätte ihr jemand ein Diadem im Samt- Leaks stammen und die der Umbruchs. Er gibt seine Arzt-
kästchen auf den Nachttisch gelegt? SPIEGEL mit dem EIC geteilt hat; karriere auf, betätigt sich als Finanz-
Um das Geschenk und die Dankeszeilen dazu Unterlagen aus den Ermittlungen der dienstleister, so erfolgreich, dass er sich
einordnen zu können, hilft ein näherer Blick monegassischen Justiz, die das Nachrich- an diversen Unternehmen beteiligt und
auf den lieben Herrn Rybolowlew. Wenn tenportal Mediapart einsehen konnte. sich schon damals einen Rückzugsort für
er nicht wie vorige Woche mal eine Nacht Aus den Papieren wird deutlich, warum sich und seine Familie am Genfer See
in Polizeigewahrsam verbringt, wohnt der die Staatsanwaltschaft Anfang November leisten kann.
Russe in seinem 300-Millionen-Euro-Pent- Anklage erhoben hat, wegen Korruption. Es geht rau zu, die Korruption blüht,
house des »La Belle Époque«, mit Blick Rybolowlew hat sich viel mehr gekauft Ex-Mitarbeiter des Geheimdienstes KGB
auf den Hafen und den Palast. Er ist ein als einen Sportverein, er hat sich die No- mischen vielerorts in der Wirtschaft mit.
Freund des Hofes – seit er menklatura des Fürsten- Ein Menschenleben zählt wenig, die Gren-
2011 ein Spielzeug des Fürs- tums gefügig gemacht. Mit- zen zwischen organisierter Kriminalität
ten, den in die Zweitklas- Das SPIEGEL-Team tels des AS Monaco hat und legalen Geschäften verschwimmen.
sigkeit abgestürzten Fuß- Rafael Buschmann, Jürgen er sich ein Netzwerk auf- Nachhaltigen Erfolg hat nur, wer seine
ballverein AS Monaco, für Dahlkamp, Gunther Latsch, gebaut, ein Geflecht aus neu erworbenen Geschäfte absichert –
einen symbolischen Euro Andreas Meyhoff, Nicola Naber, Abhängigkeiten geschaffen, gegen Konkurrenten und gegen die Will-
erwarb, in den folgenden Jörg Schmitt, Alfred Weinzierl, mit engen Kontakten zu kür der Politik. Und wer Menschen kennt,
Jahren mehr als 300 Mil- Robin Wille, Christoph Ministern, Abgeordneten, die helfen, Probleme schnell zu lösen.
lionen Euro vor allem in Winterbach, Michael Wulzinger Polizeibeamten, die ihm bei Clans heißen diese informellen Zusam-
Spieler investierte und das seinen Geschäften halfen, menschlüsse bei westlichen Nachrichten-
Team zurück auf die inter- European Investigative Dienstgeheimnisse verrie- diensten oder auch OCG (Organized Crime
Collaborations (EIC)
nationale Bühne führte. ten und Gesetzentwürfe in Groups). Sie bestehen in der Regel aus
ACTION IMAGES / REUTERS; ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR

Aus reiner Fußballbegeis- »Expresso« (Portugal), seinem Sinne formulierten. Unternehmern, lokalen Politikern, ehe-
terung? Eher nicht. »L’Espresso« (Italien), »Le Soir« Man pflegte den Austausch maligen KGB-Agenten, Militärs – und alle
Dmitrij Rybolowlew, 51, (Belgien), Mediapart (Frank- von Informationen, von stammen aus demselben Ort. »Russen
geboren in Perm am Ural, reich), »Nacional« (Kroatien), Gefälligkeiten, von kleinen denken in Netzwerken, und zwar langfris-
ist ein Oligarch. Und zwar NDR (Deutschland), »NRC und großen Geschenken, tig«, sagt der Russlandexperte einer deut-
einer der Oligarchen, die Handelsblad« (Niederlande), die Freundschaften begrün- schen Sicherheitsbehörde. »Was zählt,
mit Bodenschätzen so obs- PLTV (Frankreich), »Politiken« den oder erhalten. sind alte Freundschaften.«
zön reich geworden sind, (Dänemark), Reuters (UK), Dmitrij Rybolowlew ist Rybolowlews Schutzmacht in Perm ist
dass sie irgendwann den ei- »Standaard« (Belgien), ein Meister der kalkulier- eine Clique um Jurij Trutnew. Der han-
genen Staat fürchteten; die Tamedia (Schweiz), ten Großzügigkeit. Beim delte in den Neunzigerjahren mit Le-
sich ins westliche Ausland The Black Sea/RCIJ (Rumänien), Nachzeichnen seiner Le- bensmitteln aus dem Westen. Trutnew
absetzten und mit ihrem VG (Norwegen) bensgeschichte begegnet wird 1996 Bürgermeister von Perm, gut
Geld die Eintrittskarte in man zwei Killern, einem sieben Jahre später gar Rohstoffminister

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Dmitrij Rybolowlew

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in Moskau, wo er heute noch als Vize- neue Untersuchung zum Grubenunglück Startkapital für einen Neuanfang im
premier tätig ist. am Ural an. Der Aktienkurs des Kalikon- Westen hat Rybolowlew also mehr als ge-
1995 erhält Rybolowlews Karriere einen zerns bricht dramatisch ein, plötzlich stehen nug. Die Frage stellt sich nur, wo er neu
ersten Dämpfer. Ein Geschäftspartner wird Forderungen des Kreml zwischen 1,5 Mil- beginnen soll. Er besitzt zwar das Anwe-
in seinem Hausflur erschossen. Zunächst liarden und 50 Milliarden Dollar im Raum. sen am Genfer See, doch dort residiert sei-
stehen die Ermittler vor einem Rätsel – bis Rybolowlew soll dafür zahlen, dass in Be- ne Ex-Frau, mit der er einen teuren Schei-
ein Häftling im Gefängnis behauptet, er resniki monatelang kein Kali gefördert wer- dungskrieg führt. In der Republik Zypern
habe für den Mord zwei Killer angeheuert, den konnte. knüpfte er schon Anfang der Nullerjahre
und Rybolowlew habe die beiden Waffen Der Vorgang beschäftigt auch die US- ein undurchschaubares Netz an Firmen,
besorgt. Die Polizei nimmt Rybolowlew Botschaft in Moskau. In einer als geheim 2010 kaufte er sich bei der klammen Bank
fest, elf Monate lang schmort er hinter Git- klassifizierten Depesche stellen die Diplo- of Cyprus mit zehn Prozent ein. Die Mit-
tern. Aber die Anklage hat nichts außer maten fest, dass »starke Elemente in der telmeerinsel ist bekannt dafür, dass sie Aus-
der Aussage des Inhaftierten. Aus Mangel Regierung nach mehr staatlichem Einfluss ländern, wenn sie nur genug investieren,
an Beweisen kommt er frei; aber sicher in der Wirtschaft drängen« – um eigene einen einheimischen Pass anbietet. Das
hilft ihm auch, dass die Witwe des getöte- Interessen zu fördern. Die angedrohten Reisedokument eines EU-Landes wird
ten Partners die guten Beziehungen ihres Geldbußen legten den Verdacht nahe, dass Rybolowlews Freifahrtschein in die Welt
Mannes zu Rybolowlew preist. »jemand in der Regierung plant, das Un- der Schönen und Reichen.
Rybolowlews Aufstieg in die erste Liga ternehmen zu übernehmen«.
der Oligarchen kann weitergehen. Er inves- Rybolowlew bangt um sein Lebens-
tiert in Uralkali, eine Weltfirma für werk – bis er im Frühjahr 2009 plötzlich II. MAN KENNT SICH,
Kalisalze. 2005 hat er mit der Düngemit- eine Einigung mit dem Kreml erzielt. Ural- MAN HILFT SICH
telherstellung angeblich die erste Milliarde kali zahlt 218 Millionen Dollar, unter an-
Dollar angehäuft. derem für eine neue Bahnlinie. Die Mil- Namhafte Spieler haben das rot-weiße Tri-
Am 17. Oktober 2006 ereilt ihn jedoch liardenforderung scheint vom Tisch. Hat kot des AS Monaco getragen, der Franzo-
»das schwerste ökologische Unglück in der Rybolowlew seine Rettung seinem alten se Thierry Henry, der Deutsche Jürgen
früheren Sowjetunion seit Tschernobyl«, Freund Trutnew zu verdanken? Oder hat Klinsmann, der Engländer Glenn Hoddle.
wie Moskauer Zeitungen später schreiben. er sich auf einen teuren Deal mit dem Große Triumphe hat das Publikum im
An diesem Tag dringt Wasser in die Kreml eingelassen? Stade Louis II feiern dürfen, allein sieben-
Schächte der Kalizeche unter der Stadt Be- Bis heute hält sich in westlichen Ge- mal die französische Meisterschaft. Doch
resniki, löst das Salz, später stürzt die Erde heimdienstkreisen das Gerücht, Rybo- im Herbst 2011 lag der Stolz der Grimaldis
ein – übrig bleibt ein 170 mal 90 Meter lowlew habe sich seinerzeit von der dro- am Boden, sportlich in die zweite Liga ab-
großer Krater. Häuser, Bahngleise und henden Milliardenzahlung freigekauft. Im gestürzt, finanziell praktisch pleite.
Straßen werden beschädigt. Ein Kraftwerk Dezember 2008, also nur wenige Wochen Fürst Albert II., der Besitzer des Fuß-
sowie eine Zuglinie sind betroffen, aus- vor der Einigung mit dem russischen Staat, ballklubs, befand sich in einer Lage, in der
gerechnet die Hauptverkehrsader für die verkauft er 25 Prozent seiner Anteile an man wenige Fragen stellt – und noch we-
gesamte Industrie der Region. eine Firma Keralt Global in Panama. niger Forderungen. Und der Mann, der
Zunächst scheint Rybolowlew wieder Dokumente, die dem SPIEGEL von der sich plötzlich als Retter anbot, hatte zwei-
mal davonzukommen. Eine Regierungs- »Süddeutschen Zeitung« und dem Recher- felsfrei eines: genügend Geld, um dem AS
kommission unter Leitung seines Freundes chenetzwerk ICIJ zur Verfügung gestellt Monaco wieder eine spielstarke, erstliga-
Jurij Trutnew, damals als Rohstoffminister wurden, zeigen, dass die Firma mehrheit- reife Mannschaft zusammenzukaufen.
für die Untersuchung zuständig, spricht ihn lich einem Maxim Markewitsch gehört. So übernahm Dmitrij Rybolowlew im
von jeder Schuld frei. Der Einsturz sei auf Der Besitzer eines mutmaßlichen Mil- Dezember 66,67 Prozent der Anteile des
eine geologische Anomalie zurückzuführen. liardenvermögens ist ein No Name. Außer Profiklubs und das Präsidentenamt. Damit
Doch knapp zwei Jahre später muss Ry- einer verwaisten Wohnung in Moskau und veränderte sich sein Status über Nacht:
bolowlew erkennen, dass seine Clanstruk- einem Apartment im Zürcher Umland gibt Aus einem der vielen neureichen Russen
tur schwächelt: Im Kreml hat sich der Ruf es keine Spuren zu ihm. Westliche Geheim- im Stadtstaat wurde der Mäzen eines
nach nationaler Stärke breitgemacht. Prä- dienste glauben, dass Markewitsch nur als monegassischen Kulturguts.
sident Wladimir Putin will die in den Neun- Strohmann auftritt – für einen Big Name Die Verwunderung über den Investor
zigerjahren unter Boris Jelzin privatisierten im Kreml. Markewitsch war für eine Stel- schlug spätestens nach dem Wiederauf-
Kernindustrien – Öl, Gas und andere Roh- lungnahme nicht zu erreichen. stieg des Klubs 2013 in Bewunderung um:
stoffe – wieder in Kreml-nahe Hände über- Russlandexperten erkennen in Rybo- Rybolowlew gab gleich am Anfang weit
führen. Und Kali ist als Grundprodukt für lowlews Biografie ein gängiges Muster für mehr als hundert Millionen Euro für Spit-
Dünger einer dieser Rohstoffe. Wichtig für die Putin-Ära. Etliche Oligarchen werden zenkicker aus.
die eigene Landwirtschaft und wichtig als im neuen Jahrtausend ins Exil und zum Gleichsam investierte er in gutnach-
Exportgut. Da außer Russland nur die USA Verkauf ihrer russischen Unternehmens- barliche Beziehungen. Über die Jahre be-
PANORAMIC / IMAGO; ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR

Kali in großem Stil produzieren, gilt es, sei- anteile gedrängt. Wer sich widersetzt, glückte er zu Weihnachten immer mehr
ne Macht auf dem Weltmarkt auszuspielen. droht wie Michail Chodorkowski zu en- Staatsdiener »mit sehr gutem Wein für die
»Putin gab die Devise aus, dass die Oligar- den. Der frühere Chef des Energiekon- Männer und Champagner und Schokolade
chen nicht mehr nur Geld für sich und ihre zerns Jukos hatte es gewagt, sich mit dem für die Frauen«. Die Präsente machten Ein-
Freunde sammeln, sondern auch den au- Kreml anzulegen, und war 2003 inhaftiert druck: »Ich bin gerührt und verlegen zu-
ßenpolitischen Interessen des Landes zu worden; sein Unternehmen wurde darauf- gleich«, dankte einer aus der Entourage
dienen haben«, sagt der Russlandexperte. hin zerschlagen und verstaatlicht. des Fürsten und versicherte, dem AS Mo-
Der Mann, der die Oligarchen an die Rybolowlew wählt den geschmeidige- naco gern zu helfen.
Leine legen soll, heißt Igor Setschin, Vize- ren Weg. Mitte 2010 verkauft er 53,2 Pro- 2014 ließ Rybolowlew den Kreis der Be-
premier und seit gemeinsamen Zeiten in zent an Uralkali für 6,5 Milliarden Dollar – günstigten noch einmal erweitern. Seinen
Sankt Petersburg ein enger Vertrauter Pu- die neuen Besitzer sind drei Kreml-nahe Vertrauten beim AS Monaco, Vizepräsi-
tins. Im Herbst 2008 ordnet Setschin eine Geschäftsleute. dent Wadim Wassiljew, bat er, eine Liste

102 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Fürst Albert II.

Louis Ducruet

von wichtigen Menschen zu erstellen, de- Beziehung zum Fürsten« pflege. Das war verliere, bilanzierte der Kaufmann. Klub-
nen der Klub einen Geschenkkorb zum Fest nicht hochgestapelt. Louis Ducruet, so heißt vize Wassiljew müsse unbedingt wissen,
schicken sollte. Wassiljew, ein ehemaliger der junge Mann, ist der Sohn von Prinzes- notierte er in einem Brandbrief, wie viele
Diplomat, jovial freundlich, perfekt Fran- sin Stéphanie, in der Thronfolge der Gri- Karten an »Polizei, Regierung, Bürger-
zösisch parlierend, kam auf 52 Namen, auf- maldis damals die Nummer sieben. meister etc.« verschenkt würden.
geteilt in die Kategorien A, B und C. Ganz Man kennt sich, man hilft sich. Also er- Danach änderte das Management das
oben »Son Altesse Sérénissime le Prince hielt Ducruet sein Praktikum beim AS Mo- Verfahren, die Tickets wurden ab sofort
ALBERT II«, mit einer 200-Gramm-Son- naco, bekam danach einen Jahresvertrag zu jedem Spiel neu vergeben. Das bedeu-
derration Beluga-Kaviar, und darunter, fein als Scout mit 3000 Euro Monatsgehalt und tete zwar Verwaltungsaufwand, es minder-
abgestuft, alles, was im Fürstentum einen kümmerte sich anschließend um die Ex- te aber die Zahl der nicht genutzten Plätze,
Rang hat, Macht, Einfluss, vom Rathaus pansion des Klubs nach Asien. und es machte die Karten begehrenswerter.
über die Polizei bis zur Justiz. Vom Gene- Der Besitz eines attraktiven Fußball- Und Wassiljew wachte über die Verteilung.
ralsekretär des Jachtklubs (»A«), über den teams bedeutet, mit Wohltaten nicht bis Bei besonders wichtigen Persönlichkei-
Automobilklub-Präsidenten (»B«) bis zum Weihnachten warten zu müssen. Man kann ten bot der AS-Monaco-Vize auch mal ein
Kommandeur der Carabinieri (»C«). sie wöchentlich verteilen, bei jedem Match. Premiumpaket an. So flog Serge Telle, der
Es war jenes Jahr, als das Schmiermittel Im Juli 2013, das Team war soeben in die neue Chef der monegassischen Regierung,
der guten Tat sich längst in den Behörden erste Liga zurückgekehrt, präsentierte ein im Mai 2016 im Privatflugzeug des Trikot-
und Amtsstuben verteilt hatte. Monacos enger Mitarbeiter dem Boss eine Mann- sponsors Fedcom zum Auswärtsspiel nach
Polizeichef Régis Asso zum Beispiel fand schaftsaufstellung der besonderen Art: rund Lyon. Ach ja, auch dessen 13-jähriger Sohn
offenbar gar nichts dabei, im Juli bei hundert Personen, die künftig mit einem war mit von der Partie.
Rybolowlew nachzufragen, ob der Sohn Stadionticket bedacht werden sollten – die
seines Russischlehrers ein Praktikum meisten aus dem Staatsministerium (66
im »Family Office« des Milliardärs ma- Plätze), viele aus dem Palast (26 Plätze). III. DIE AFFÄRE BOUVIER
chen könne. Einen IT-Studenten ins Ge- Die Spiele des AS Monaco gerieten zum
heimste des Firmengeflechts zu lassen Stelldichein der öffentlichen Verwaltung. Dmitrij Rybolowlew ist ein scheues Wesen.
mutete etwas kühn an. Aber dem jungen Im Januar 2015 stellte der Marketing- Es mag daran liegen, dass er des Französi-
Mann »einen Zeitvertrag für zwei oder chef des Klubs die Einladungskultur je- schen nicht mächtig ist und nicht des Eng-
drei Monate« beim AS Monaco zu ge- doch infrage. Er sorgte sich nicht um Com- lischen. Aber womöglich liegt ihm die Ge-
ben, das schien Wassiljew eine gute pliance-Fragen, es ging ihm ums Geld. Er sellschaft von Menschen generell nicht. Als
Investition. hatte sich angeschaut, wie viele Freikarten er 2012 zu seinem 46. Geburtstag Gäste in
Fast zeitgleich ereilte den Klubvize die beim ausverkauften Champions-League- seine Residenz auf Hawaii einlud, verließ
Anfrage eines 21-Jährigen, der in den USA Spiel gegen den FC Arsenal aus London er die Party um 21 Uhr. Im Mai, bei den
Sportmanagement studiert habe, gern Spie- verteilt worden waren. Er sei »schockiert« Filmfestspielen in Cannes, kamen die zwei
lerberater werden wolle und eine »sehr gute gewesen, wie viel Geld der AS Monaco Seelen des Russen gut zum Ausdruck. Auf

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der einen Seite sponserte er den Galaabend Tricks der Branche. Rybolowlew erwirbt sein Netzwerk aus Politik, Justiz und Ver-
der Aids-Stiftung AmfAR. Auf der anderen über Bouvier alte und neue Meister im waltung ihm zu Diensten war. Wie Rybo-
Seite verbarg er seine Augen beim unver- Wert von zwei Milliarden Dollar – bis die lowlew seine Kontakte gnadenlos ausnutz-
meidlichen Gang über den roten Teppich Geschäftspartner über den Kaufpreis eines te, um gegen Widersacher vorzugehen.
hinter einer dunklen Brille, lief wort- und Leonardo da Vinci in Streit geraten. Zum Directeur des services judiciaires,
grußlos an den Fotografen vorbei. Im März 2013 wird unter höchster Ge- Philippe Narmino, pflegt er ein besonderes
Insofern ist Rybolowlew eine tragische heimhaltung ein Werk aus dem 16. Jahr- Verhältnis. Im Februar 2015 war Monacos
Figur: Er gehört zu den 250 reichsten Men- hundert in Rybolowlews Penthouse in Justizminister für zwei Tage in Rybo-
schen der Welt, er besitzt einen Airbus, New York gebracht. Das Bild »Salvator lowlews Chalet im schweizerischen Gstaad.
zwei Megajachten, zahlreiche Häuser, da- mundi« zeigt Christus als Heiland der Allein das könnte man als nicht koscher be-
runter das teuerste Apartment in Manhat- Welt, es stammt aus der Werkstatt da Vin- zeichnen. Bizarr wird der Umstand, wenn
tan (88 Millionen Dollar) – aber er ist stän- cis, wahrscheinlich sogar aus seiner Hand. man weiß, dass wenige Tage später der
dig auf der Flucht. Menschen aus seinem Offiziell kassiert Bouvier für ein Bild Kunsthändler Bouvier in Haft genommen
Umfeld beschreiben ihn als Kontrollfreak, zwei Prozent Vermittlungsprovision. Doch wurde, als Folge der Ermittlungen im Streit
der seinen Tag streng nach dem Termin- heimlich tritt er als Käufer und Verkäufer mit dem Russen.
plan seiner persönlichen Assistentin ab- auf, er überweist den Alteigentümern 80 Und Narmino ist nur die prominenteste
hakt. Das Leben in Russland hat ihn Para- Millionen Dollar – und berechnet Rybo- Figur unter den Willfährigen. Auch zwi-
noia gelehrt, Wasser trinkt er nur aus frisch lowlew 127,5 Millionen Dollar. schen den beiden hochrangigen Kripo-
geöffneten Flaschen, die engsten Mitarbei- Wie Bouviers Geschäftsmodell in Wahr- beamten Frédéric Fusari und Christophe
ter sind ihm wie eine Familie, die sich mit- heit funktioniert, bemerkt der Sammler Haget entwickelte sich seinerzeit ein reger
tags zum gemeinsamen Mahl einzufinden erst knapp zwei Jahre später. Da offenbart SMS-Verkehr mit der Anwältin Tetjana Ber-
hat. Der Mann, der halb Monaco in seiner sich, dass der Schweizer seinem besten scheda, der rechten Hand Rybolowlews.
Tasche hat, ist in Wahrheit isoliert und ein- Kunden für ein Amedeo-Modigliani-Ge- Der Russe ließ Fusari sogar ausrichten, er
sam, ohne selbstlose Freunde. mälde 118 Millionen Dollar statt 93,5 Mil- wolle persönlich über den Fortgang der Din-
Bereits weit vor seiner Zeit an der Côte lionen in Rechnung gestellt hatte. Im Ja- ge informiert werden – mit dem Vorschlag
d’Azur, als er noch wahlweise in Genf, auf nuar 2015 zeigt Rybolowlew den Händler einer Konferenzschaltung, »zum Beispiel
Zypern oder am Ural lebt, entdeckt Rybo- an, ein paar Wochen später nimmt die Poli- gegen 17.15 Uhr – 17.30 Uhr?« Fusari stimm-
lowlew die Kunst als Kapitalanlage. Dass zei in Monaco Bouvier in Gewahrsam. te zu: »Gegen 17.30 Uhr.«
ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR

man auf diesem Feld Geld waschen und Dass sich die monegassischen Ermitt- Rybolowlew, so zeigt sich jetzt, versteht
verstecken kann, mag dabei eine Rolle lungsbehörden für Rybolowlews Interes- sich als Pate von Monaco, dem man kei-
spielen – Belege dafür gibt es in seinem sen massiv ins Zeug gelegt haben, steht nen Wunsch abschlagen kann. Was soll
Fall bislang nicht. nun im Zentrum der aktuellen Korruptions- der Russe aber auch anderes denken,
2003 vertraut sich der Milliardär einem ermittlungen gegen den Russen. Zahlrei- wenn sogar die Nummer eins im Zwerg-
Fachmann an, Yves Bouvier. Der Schwei- che Dokumente belegen, wie der Gönner staat seinen Lockrufen erliegt? Wenn sich
zer hat glänzende Kontakte, kennt die nicht nur gegeben hat – sondern auch, wie Fürst Albert II. zur Fußball-WM 2014 von

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Rybolowlew das Luxusquartier in Rio be-


sorgen oder, im August 2016, auf die Jacht
des Russen einladen lässt, die vor Korsika
Anker geworfen hat – inklusive Hub-
schrauberpassage nach Porto-Vecchio?
Fürst Albert erklärt dazu: »Ich habe nie-
mals mehrere Tage am Stück mit Herrn
Rybolowlew verbracht.« Die Treffen seien
immer punktuell gewesen. Narmino, Fu-
sari und Haget haben auf Anfragen des
SPIEGEL nicht geantwortet.

IV. VERSCHWÖRUNG
AUF ZYPERN
Zu Studentenzeiten lernte Dmitrij Rybo-
lowlew an der medizinischen Fakultät in
Perm seine spätere Frau Jekaterina kennen.
Das Paar hat zwei Töchter, Anna und Katja,
2008 reichte Jekaterina die Scheidung ein.
Sie wirft ihm vor, zu oft mit sehr jungen
Damen verkehrt zu haben. Es folgte ein
langjähriger Rosenkrieg, in dem der Mil-

Das Nachrichten-Magazin
liardär 2014 dafür sorgte, dass seine Ex-
Frau festgenommen wurde.
Wie es dazu kommen konnte und dass
es Behörden gab, die Rybolowlew offen-
kundig auch diese Bitte nicht abschlagen
mochten, weist verblüffende Parallelen
zur Affäre Bouvier auf.
Nachdem Rybolowlew sich 2010 von
für Kinder.
seinem Kaliwerk getrennt und seine Hei-
mat endgültig verlassen hatte, wanderte
er zwischen zwei Welten – seinem Domizil
am Genfer See und Zypern, dem Zentrum
seiner geschäftlichen Aktivitäten.
Einer seiner engsten Partner auf der Mit-
Jetzt
telmeerinsel war der Ex-Kongressabgeord-
nete Andreas Neocleous, dessen Kanzlei
testen:
sich auf die Konstruktion von Offshore- www.deinspiegel.de
firmen spezialisiert hat. Der Anwalt ver-
waltet zwei seiner vielen Trusts (»Aries«
und »Virgo«), in die Rybolowlew seine Mil-
liarden überführt hat. Außerdem behütet
der Zyprer den »Zeus Trust«, der die Fir-
ma Monaco Sport Invest kontrolliert – die
wiederum die Mehrheitsanteile am AS
Monaco hält.
Rybolowlews Netzwerk auf Zypern
reicht bis in die Spitzen der Politik, auch
der Chef der Regierungspartei genießt
2014 Skitage in Gstaad. Entsprechend zu
Diensten war man auf der Mittelmeerinsel,
als die Scheidung von seiner Frau allzu
teuer zu werden drohte. 4,5 Milliarden
Euro forderte Jekaterina Rybolowlewa,
die Hälfte des Vermögens.
Unter dem Vorwand, abschließende Ge-
spräche über den finanziellen Ausgleich zu
führen, lockte Rybolowlew seine Ex-Gattin
im Februar 2014 nach Zypern. Zugleich er-
stattete er auf der Insel gegen sie Anzeige
wegen Diebstahls. Einen 25 Millionen Dol-
lar teuren Ring habe sie mitgehen lassen,
so gab er an, und die zyprische Polizei
war willens, diese Tat nun zu ahnden. Die

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Kanzlei von Andreas Neocleous, so bele- prinzipienfesten Untersuchungsrichter sich wegen der laufenden Ermittlungen
gen Dokumente, sorgte dafür, dass der an- nach Monaco versetzt. Einen, der sich nicht äußern könne. Er bestreitet aber jeg-
gebliche Diebstahl sofort beim stellvertre- nicht für die Spiele des AS Monaco inte- liches Fehlverhalten.
tenden Generalstaatsanwalt landete. Und ressiert, aber sehr wohl für die Einladun- Fürst Albert ist erkennbar auf Distanz
Rybolowlews Anwältin Tetjana Berscheda gen, Geschenke, Reisen und Jobs aus Ge- gegangen. Sollten sich die Korruptionsvor-
schickte via SMS die genauen Ankunfts- fälligkeit, mit denen der Milliardär sich würfe bestätigen, sagt er, »wird sich Herr
und Passdaten der Ex-Frau. Teile des Zwergstaats gekauft hat. Rybolowlew von sich aus aus dem AS Mo-
Als Jekaterina Rybolowlewa bei der Ein- Levraults Nachforschungen führen zu naco zurückziehen«.
reise am Flughafen aufgegriffen und in Narminos Versetzung in den vorzeitigen Sogar in den USA beschäftigt man sich
eine Polizeistation in Limassol gebracht Ruhestand. Plötzlich kehren sich die Er- mit Rybolowlew, und zwar kein geringerer
wurde, registrierte Berschedas Mobiltele- mittlungen um. Es geht vorrangig nicht als Sonderermittler Robert Mueller, der
fon einen regen SMS-Verkehr. In Echtzeit mehr darum, ob Bouvier den Russen seit Monaten Mitarbeitern aus Donald
las sie den Lauf der Dinge auf der Insel betrogen hat, sondern darum, wie Rybo- Trumps früherem Wahlkampfteam wegen
mit. »Sie sagt, dass der Ring ein Geschenk lowlew die Ermittlungen der Polizei be- möglicher russischer Einflüsse auf die Wah-
gewesen sei«, erfuhr sie per iMessage aus einflusst hat. Mehrere Staatsdiener wer- len 2016 nachstellt. Rybolowlew kaufte
der Vernehmung. den nun beschuldigt, außerdem auch vor zehn Jahren Trumps Luxusdomizil in
Die Verschwörung endete jedoch in ei- Tetjana Berscheda, die jede illegale Hand- Palm Beach, Florida, für sagenhafte 95 Mil-
ner Blamage. Rybolowlewa, unterstützt lung bestreitet. lionen Dollar. Und das zu einem Zeit-
von der russischen Botschaft auf Zypern, Am Dienstag vergangener Woche ver- punkt, als der Markt wenige Wochen vor
gelang es, einen Beleg vorzulegen, aus bringt Rybolowlew eine Nacht auf dem der Lehman-Pleite bereits am Boden lag.
dem hervorging: Der Ex-Mann hatte den Trump hatte vier Jahre zuvor nur 41 Mil-
Ring für seine Frau gekauft und ihr ge- lionen Dollar für die Villa gezahlt.
schenkt. Nach sieben Stunden war Jeka- Wollte da jemand dem heutigen US-Prä-
terina Rybolowlewa wieder auf freiem sidenten aus Russland Millionen zukom-
Fuß. Am Ende erhält sie aus der Scheidung men lassen, um das Trump-Imperium zu
mehr als 600 Millionen Dollar. stützen?
Muellers Ermittler interessiert auch, ob
es noch weitere Verbindungen zwischen
V. EIN UNERBITTLICHER dem Oligarchen und dem Präsidenten gibt.
UNTERSUCHUNGSRICHTER Aktenkundig ist, dass Rybolowlews silber-
schwarzer Airbus A319 am 3. November
Typisch für das System Rybolowlew ist, 2016 auf dem Douglas International Air-
dass er selten persönlich in Erscheinung port von Charlotte landete. Knapp zwei
tritt. Das übernimmt neben AS-Monaco- Stunden später schwebte Trumps Jet ein,
Vize Wassiljew vor allem Tetjana Bersche- der damalige Präsidentschaftskandidat
da. Sie ist die Tochter eines ukrainischen Kommissariat, sein Klub verliert am sel- hatte eine Wahlveranstaltung. Vier Tage
Diplomaten, hat in Fribourg ein glänzen- ben Abend das Champions-League-Spiel zuvor war Rybolowlews Flugzeug in Las
des juristisches Examen abgelegt, besitzt gegen Brügge 0:4. Danach kommt er wie- Vegas gesichtet worden, während sich
die Schweizer Staatsbürgerschaft. der frei, unter Auflagen. Trump ebenfalls in der Glücksspielmetro-
Ob sie sich bei Polizeichef Régis Asso pole aufhielt.
in einer Art bedankt, als wäre er als Rybo- VI. ZU VIELE BAUSTELLEN Vorigen Samstag setzte sich Rybo-
lowlews Privatdetektiv unterwegs (»Lie- lowlew in Richtung Moskau ab. Seitdem
ber Régis … Danke für die Effektivität Der Mann, der am liebsten unsichtbar wäre, wird im Fürstentum darüber spekuliert,
Deiner Ermittlungen«), oder ob sie die steht plötzlich im Rampenlicht. Mehrere ob das als Flucht zu verstehen ist. In Fuß-
Fürstenfamilie einlädt in eines der Anwe- Länder und Sicherheitsbehörden sind ihm ballkreisen geht das Gerücht um, der AS
sen des Milliardärs auf Mallorca – jedes auf der Spur. Allein bei der UBS-Bank in Monaco stehe zum Verkauf. US-amerika-
Mal spricht und schreibt Berscheda für den Monaco sind 15 Konten aufgetaucht, die Ry- nische und chinesische Investoren seien in-
Mann im Hintergrund. bolowlew zugeordnet werden, meist in Ver- teressiert. Das würde zu neuen Aktivitäten
So ist sie auch am 22. Februar 2015 dabei, bindung mit Offshorefirmen in Steueroasen. passen, die Rybolowlew auf der grie-
als das Ehepaar Narmino per Helikopter Internationale Geldwäscheermittler haben chischen Privatinsel Skorpios angekündigt
von seinem Skiwochenende in der Schweiz schon lange die Geschäftsfelder des Russen hat. Vor fünf Jahren hat der Russe das Ei-
zurückfliegt. In einer SMS bedanken sich mit Argwohn betrachtet: »Fußball, Kunst, land für mehr als hundert Millionen Dollar
Monacos Justizminister und seine Frau für Immobilien, alles ideale Voraussetzungen, erworben, von der Enkelin von Aristoteles
Rybolowlews Gastfreundschaft und be- um illegale Gelder aus Russland im Westen Onassis. Der frühere Reedereikönig hatte
glückwünschen ihn »für die Schönheit sei- reinzuwaschen«, sagt einer von ihnen. auf Skorpios einst Jackie Kennedy gehei-
ner Residenz in Gstaad«. Einen Monat spä- Unter westlichen Geheimdiensten hält ratet.
ter fühlt sich Christine Narmino erneut zu sich außerdem die These, Rybolowlew ver- Ursprünglich hatte Rybolowlew die Insel
Dank verpflichtet: »Vielen Dank für Deine walte für Russlands Vizepremier Trutnew seiner Tochter Katja zum Geburtstag ge-
Zeilen, Deine Blumen sind wundervoll … treuhänderisch Teile von dessen Vermögen. schenkt. Doch inzwischen scheint er mit
ich umarme Dich und sehe Dich bald.« Die beiden würden weiterhin Geschäfte dem 88 Hektar großen Flecken im Ioni-
ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR

So viel Nähe ist am Ende ungesund für machen. Mit Diamanten aus Namibia, mit schen Meer andere Pläne zu verfolgen. Ein
einen Staatsdiener, dessen Behörde sich Forstwirtschaft im Osten Russlands. Ein Luxusresort mit einem Dutzend Villen, Res-
zeitgleich mit Rybolowlews Verfahren Russlandexperte eines europäischen Nach- taurants und Wellnessanlagen will er dort
gegen Bouvier befasst. Was Philippe Nar- richtendienstes glaubt: »Rybolowlew ist bauen lassen. Es sieht so aus, als schaffe
mino zu dieser Zeit wohl nicht ahnen Trutnews größte Brücke in den Westen.« sich da einer einen neuen, sicheren Hafen.
konnte: dass der französische Staat 2016 Trutnew hat auf Fragen nicht geantwor- Für sich und seine Vertrauten.
mit Édouard Levrault einen jungen und tet, Rybolowlew lässt ausrichten, dass er

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Im Mauseloch
Finanzierungsgeschäfte Mitarbeiter von Privatbanken und Investoren steuern Fußballklubs an wie
Staubsaugervertreter. Denn selbst umsatzstarken Großvereinen fehlt es oft an Cash.

A
m 1. Juni 2016 verkaufte Borussia sorenverträge – und eben ausstehende Ra- sischen Erstligisten schickte, führte die
Dortmund İlkay Gündoğan an ten aus dem Verkauf von Spielern. Bank stolz auf, dass sie in den zehn Jahren
Manchester City. Auf Seite zwei Der Preis, den die Klubs für die kurz- zuvor europaweit rund 250 Millionen
des »Transfer Agreement« steht fristigen Geldspritzen bezahlen, sind ne- Euro an 30 Fußballklubs verliehen hatte.
in fett hervorgehobener Schrift die Ablö- ben hohen Bearbeitungsgebühren Zinssät- Die damals noch offenen Kredite lagen bei
sesumme, die die Borussen für den Mittel- ze von bis zu zehn Prozent – eine enorme 44,4 Millionen Euro, etwas mehr als die
feldstar kassierten: 25,8 Millionen Euro. finanzielle Belastung in Zeiten, in denen Hälfte davon hatten deutsche Klubs als
Das Geld landete allerdings nicht auf sich die Zinsen weltweit auf niedrigstem Verbindlichkeiten in ihren Büchern stehen.
einen Schlag auf dem Konto des BVB. Ver- Niveau bewegen. Als Ansprechpartner »Business Clients
einbart war eine Zahlung in zwei Raten. Großbanken haben seit dem Ausbruch Football« wird in der PR-Broschüre Frithjof
Die erste von 12,9 Millionen Euro war der Finanzkrise vor zehn Jahren ihr Kraemer präsentiert. Er ist der Mann, der
am 7. Juli 2016 fällig, die zweite in Engagement im Fußballbusiness das Finanzierungsgeschäft der IBB im Fuß-
gleicher Höhe genau ein Jahr spä- stark zurückgefahren. Ihr Sicher- ballbusiness in den vergangenen Jahren mit
ter. Diese in Zeiten exorbitanter heitsbedürfnis kollidiert vor al- ausgebaut hat. Von 2007 bis 2012 arbeitete
Ablösesummen branchenübliche lem beim Abschluss von Kredit- Kraemer als Geschäftsführer bei Aleman-
Stückelung war für Borussia geschäften mit kurzer Laufzeit nia Aachen. Seine Laufbahn in der Fußball-
Dortmund offenbar ein Problem. mit dem Entscheidungsdruck, unter branche verlief, gelinde ausgedrückt, nicht
Denn der Verein brauchte im Spät- dem die Klubs stehen. ganz unfallfrei. In seiner Zeit stieg der Klub
sommer 2016 den gesamten Betrag. In die Lücke der klassischen Geldge- von der ersten in die dritte Bundesliga ab –
Und zwar so schnell wie möglich. ber ist ein neuer Typ von Investoren ge- und wurde zahlungsunfähig.
Am 19. September, dreieinhalb Monate treten. Es sind einerseits Privatbanken, die Die Kölner Staatsanwaltschaft warf dem
nach Gündoğans Verkauf, schickte der das Fußballterrain entdeckt haben und die von der Alemannia geschassten Kraemer
Hausjurist des BVB eine Mail an Manches- das Risiko nicht scheuen, auch finanz- zunächst Insolvenzverschleppung und Un-
ter City. Es war so etwas wie ein elektro- schwache Vereine mit frischem Geld zu treue vor. In einem Prozess vor dem Land-
nischer Bittbrief. Die Borussia wolle »ihre versorgen. Sie schicken Mitarbeiter los, die gericht Aachen wurde er schließlich 2017
Liquidität stärken«, schrieb der Anwalt, diese Klubs wie Staubsaugervertreter an- wegen Bankrott in 39 Fällen zu einer
man sei in Gesprächen mit einer Bank und steuern, um mit ihnen ins Geschäft zu kom- Bewährungsstrafe von anderthalb Jahren
werde dem Kreditinstitut die zweite men. Andererseits drängen immer mehr und einer Geldbuße von 50 000 Euro ver-
Tranche für Gündoğan überschreiben: als Investoren auf den Fußballmarkt, die Mil- urteilt. Das Strafmaß fiel so milde aus, weil
Sicherheit für einen kurzfristigen Kredit. liarden Euro eingesammelt haben. Dieses der Angeklagte geständig war.
»Das ist ganz normal und beeinträchtigt Geld ist häufig in Steueroasen geparkt und Der Deutsche Fußball-Bund ernannte
oder verändert unser Vertragsverhältnis sucht weltweit nach Anlagemöglichkeiten. Kraemer schon vor dem Ende des Strafpro-
nicht«, fuhr der BVB-Jurist fort. Er benö- Im Material der Enthüllungsplattform zesses zur Persona non grata. Im November
tigte für den Deal die Zustimmung der Football Leaks finden sich zahlreiche Do- 2013 verkündete das DFB-Sportgericht ge-
Engländer, die tatsächlich einige Tage spä- kumente, die einen tiefen Einblick in die gen den Vereinspleitier ein »Funktionsver-

MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF, PRIME MEDIA IMAGES / IMAGO SPORT; ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR
ter grünes Licht gaben. »Scheint okay für verschwiegene Finanzwelt und ihre Deals bot« im deutschen Fußball. Zwei Jahre lang
mich«, hielt der Finanzchef von Manches- in der Fußballbranche ermöglichen. Auf- durfte Kraemer kein Amt im DFB, in einem
ter City in einer internen Mail fest. fällig ist die Risikobereitschaft auf beiden Landesverband oder einem Klub ausüben.
Danach ging alles ganz schnell. Bereits Seiten, bei Geldgebern wie Schulden- Für die IBB war die Vorgeschichte kein
Ende September 2016 konnte sich Borussia machern. Und so strömen jährlich Hun- Hindernis. Was die Friedrichshafener Pri-
Dortmund vom Internationalen Bankhaus derte Millionen Euro in den Fußballmarkt, vatbank benötigte, war Insiderwissen über
Bodensee (IBB) frisches Geld pumpen. Die die zwar noch nicht in der Kasse sind, aber die Branche. Das brachte Kraemer mit.
in Friedrichshafen sitzende Privatbank hat schon munter ausgegeben werden – idea- Besonders eng sind die Bande der IBB
sich darauf spezialisiert, Fußballklubs mit ler Nährboden für eine Blase. zu Klubs wie dem Hamburger SV, die no-
Cash-Bedarf flüssig zu halten. Fußballklubs Die Privatbank IBB in Friedrichshafen, torisch über ihre Verhältnisse leben. Im
wie Borussia Dortmund. die Borussia Dortmund mit dem 12,9-Mil- Juli 2016 flossen zwei Millionen Euro aus
Der Umsatz der Vereine in den größten lionen-Vorschuss auf den Gündoğan-Trans- Friedrichshafen in die Hansestadt, unter
Ligen Europas steigt seit zwei Jahrzehnten fer beglückte, ist meist ganz vorn mit dabei, anderem als Vorgriff auf Transfererlöse,
unaufhörlich, niemals ist so viel Geld im wenn Fußballvereine mal wieder dringend die der HSV aus Leverkusen erwartete.
Spiel gewesen. Doch das brummende Ge- Cash benötigen. Das Geldhaus, 1995 ge- Rückzahlungsfrist: ein Jahr. Zinssatz: sechs
schäft läuft vielfach nur auf Pump. Denn gründet, gehört zum Firmenimperium des Prozent. Weitere zwei Millionen Euro hat-
auch die Kosten schießen immer weiter in schwäbischen Milliardärs Reinhold Würth. te die Bank im April 2015 lockergemacht.
die Höhe: Ablösesummen und Gehälter Über die Würth Finanz-Beteiligungs-GmbH Das Frühjahr 2015 war die Zeit, in der
für die Profis, Honorare für Berater. Und mit Sitz in Künzelsau hält der 83-jährige die Abhängigkeit des HSV von den Boden-
so greifen viele Klubbosse zur selben Pille: »Schraubenkönig« 94 Prozent der Anteile. see-Bankern besonders deutlich wurde.
Sie beleihen ihre zukünftigen Einnahmen, In einer Firmenpräsentation, die ein Beim Lizenzierungsverfahren für die Sai-
langfristige Marketing-, Fernseh- und Spon- Mitarbeiter der IBB 2014 einem franzö- son 2015/2016 hatte die Deutsche Fußball-

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İlkay Gündoǧan

Stephan Schnippe

Liga gegen den Traditionsklub für den Fall gewechselt war. Ein früherer Mitarbeiter liegen«, antwortete der Klubvertreter dem
eines Abstiegs in die zweite Liga strenge des portugiesischen Spielerberaters Jorge IBB-Mann, »sodass wir es diesmal nicht
Auflagen verfügt; der HSV musste auf die Mendes klapperte Vereine auf der Iberi- mit euch machen werden.«
Schnelle knapp zehn Millionen Euro auf- schen Halbinsel ab. Die Bank aus Alema- Wie hart der Wettbewerb im Finanzie-
treiben, irgendwie. Als Retter in der Not nia sei »Marktführer bei Finanzierungsge- rungsgewerbe ist, musste die IBB auch
erwies sich auch die IBB. Sie sagte dem schäften mit Klubs in ganz Europa«, be- beim AS Monaco erfahren. Die Monegas-
HSV erneut reichlich Cash zu: fast fünf hauptete der IBB-Mann in einer Mail an sen hatten nach der Fußball-WM 2014 in
Millionen Euro. den Finanzchef des FC Villareal, ihr Mar- Brasilien ihren kolumbianischen Star
Die IBB verlieh Geld an den FC Porto, kenzeichen sei »unmittelbare Liquidität«. James Rodríguez für 75 Millionen Euro
an Benfica Lissabon, an Olympiakos Pi- Doch der spanische Erstligist winkte an Real Madrid verkauft. Nur die erste
räus, an Atlético Madrid. Manchmal waren ab, als die IBB die Bedingungen für einen Tranche von 25 Millionen Euro zahlte Real
es zweistellige Millionenbeträge wie beim 19-Millionen-Euro-Vorschuss auf Transfer- sofort, zwei weitere sollten im Juli 2015
Vorgriff des FC Porto auf eine Zwölf-Mil- erlöse für den Spieler Eric Bertrand Bailly und im Juli 2016 folgen.
lionen-Euro-Transferrate für den Spieler diktierte, der zu Manchester United wech- Monacos russischer Besitzer Dmitrij Ry-
Danilo Luiz da Silva, der zu Real Madrid selte. »Wir haben bessere Angebote vor- bolowlew konnte nach 2013 kein frisches

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Geld mehr in den Klub stecken, weil die zier J. Stern & Co. mit Sitz in London, das und aus den Vereinigten Staaten, die
Financial-Fair-Play-Regeln der Uefa diese einen »bevorzugten Funding Partner«. rund zehn Milliarden Dollar zum Anlegen
Art von Subventionen fortan weitgehend Mehrmals flog der IBB-Vorstand an die und Vermehren eingesammelt haben.
untersagten. Deshalb waren die Monegas- Côte d’Azur, die Konditionen schienen den Die Gründer von XXIII Capital, zwei
sen ständig auf der Suche nach frischem Monegassen jedoch zu hoch. Schnippe warf Banker aus Australien und England, hatten
Geld. Die Aussicht, dem Klub im Fürsten- ein, dass Atlético Madrid bei drei kurzfris- laut vertraulichen Firmenunterlagen be-
tum gegen satte Gebühren und Zinsen bis tigen Darlehen der IBB zuletzt sogar Raten reits »Finanzierungsgeschäfte von mehr als
zu 50 Millionen Euro vorstrecken zu kön- von bis zu 9,25 Prozent hingenommen hät- 500 Millionen Pfund« mit Klubs wie dem
nen, zog Investoren an wie Wespen ein te. Den Zuschlag bekam dennoch ein Kon- FC Liverpool, dem FC Arsenal, Tottenham
Marmeladenglas. kurrent der IBB. Der AS Monaco pumpte Hotspur, dem FC Barcelona, Real Madrid
Auch die IBB-Banker boten dem AS sich den Vorschuss auf die dritte Rodríguez- oder auch Hertha BSC abgeschlossen, ehe
Monaco ihre Dienste an – »obwohl inter- Rate von der australischen Investmentbank sie sich 2014 selbstständig machten.
national agierende Kreditinstitute es der- Macquarie Bank International. Das Finanz- Einer ihrer Klinkenputzer bei den Ver-
zeit vermeiden, ins Fußballgeschäft zu in- haus aus Sydney lieh dem Klub im Juni einen ist der frühere Finanzchef des hol-
vestieren«, wie ein Mitarbeiter der Bank 2015 schließlich 22,28 Millionen Euro. Ver- ländischen Erstligisten SC Heerenveen,
vom Bodensee in einer Mail an den Vize- einbarte Summe bei Rückzahlung ein gutes Henk Hoekstra. »Wir sind nicht die übli-
präsidenten des AS Monaco vermerkte. Jahr später: 23,55 Millionen. chen Hausierer«, schrieb Hoekstra einem
Ende Juli 2014, wenige Tage nach dem Je höher die Ablösesummen der Spieler Champions-League-Teilnehmer Anfang
Rodríguez-Verkauf, kam es im Fürstentum werden, desto reizvoller und lukrativer September 2015 – und trug ziemlich dick
zu einem ersten Treffen. Diesmal war die wird für Investoren das Geschäft mit der auf: Allein im Vormonat habe XXIII Ca-
Angelegenheit Chefsache. Stephan Schnip- Vorfinanzierung dieser Transfers. Und so pital 125 Millionen Euro an Darlehen an
pe, einer der Vorstände der IBB, über- erhöht sich mit den steigenden Preisen für Fußballvereine in Europa vergeben.
nahm die Verhandlungen persönlich. »Wir Neueinkäufe automatisch auch die Geld- In Reports erstattet Hoekstra seinen
sind wirklich interessiert an dem Ge- menge, die von außen in den Fußballkreis- Chefs Bericht, in welchen Ligen er welche
schäft«, schrieb Schnippe dem Vizepräsi- lauf gepumpt wird. Klubs ansteuert. »In Deutschland«, so be-
denten Wadim Wassiljew, die Bank wolle Klubs wie der AS Monaco, die zuletzt richtete er im Frühjahr 2015, »ist es nicht
eine »langanhaltende, erfolgreiche Zusam- fast in jedem Sommer Profis für mehr als so einfach, Termine zu erhalten.« Er sei
ILLUSTRATION: BENEDIKT RUGAR

menarbeit« mit dem AS Monaco auf- hundert Millionen Euro verkauften, haben am 1. FC Kaiserslautern dran, am Karls-
bauen. Um eine Summe von 50 Millionen auf potenzielle Finanziers eine geradezu ruher SC, an Fortuna Düsseldorf, dem
Euro zu stemmen, müsse er ein »Syndikat magische Anziehungskraft. Im September VfL Bochum. Auch bei RB Leipzig ver-
hinter der IBB« errichten, schrieb Schnip- 2015 meldete sich bei dem Klub die Firma suche er, einen Fuß in die Tür zu bekom-
pe. Was er damit meinte: weitere private XXIII Capital Limited, eine der umtrie- men, schob Hoekstra hinterher: »Manch-
Investoren mit ins Boot holen. Schnippe bigsten in der Branche. Hinter den Inves- mal fühle ich mich dabei wie ein Detektiv,
wandte sich dazu an den Schweizer Finan- toren stehen Geldgeber von den Bermu- um die Kontakte herauszukriegen.«

110 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Ein deutscher Klub, der schließlich an- tümer bleiben im Dunkeln, das Unterneh- Schnelle 12,25 Millionen Euro, rückzahl-
biss, war – klar doch – der Hamburger SV. men wurde erst ein halbes Jahr vor dem bar binnen zwei Monaten. Ein lukrativer
Ende 2016 brauchte er kurzfristig fünf Mil- Deal mit den Spaniern gegründet. Quickie: Die IBB verdiente an der Zwei-
lionen Euro, und ein paar Wochen später Atlético Madrid pflegt zahlreiche sol- Monats-Leihe knapp 100 000 Euro.
legte XXIII Capital ein Angebot vor: ein cher Geschäftsverbindungen. Der Klub Auch ein anderer Banker aus Deutsch-
Darlehen mit einem Jahr Laufzeit, die Zin- zählt in Europa zu den sportlich erfolg- land blieb Atlético verbunden: Stephan
sen und Gebühren lagen bei 7,5 Prozent. reichsten Adressen. Seit 2010 gewannen Schnippe, der frühere Vorstand der IBB.
»Wie Sie sehen, haben sich unsere Kondi- die »Colchoneros« dreimal die Europa Er war dort Mitte 2015 ausgestiegen und
tionen für Sie wesentlich verbessert«, League, einmal die spanische Meister- hatte sich einer Investmentfirma in Mün-
schrieb Hoekstra einem Mitarbeiter aus schaft sowie den spanischen Pokal, zudem chen angeschlossen: der Score Capital AG.
der Finanzabteilung des HSV. Der hatte standen sie zweimal im Finale der Cham- Auch sie lebt davon, klammen Fußball-
eine erste Offerte zuvor noch abgelehnt: pions League. Der Jahresumsatz stieg zum klubs frisches Geld zu verschaffen.
»Um ehrlich zu sein, war der Knackpunkt Juni 2017 auf 258 Millionen Euro an, lang- Im Januar 2017 vermittelte Schnippe At-
bei unserem letzten Kontakt die Zinsrate.« fristige Sponsorenverträge wie mit Nike lético Madrid ein Darlehen, exakt zehn
Die Geldverleiher von XXIII Capital ha- und dem chinesischen Mitgesellschafter Millionen Euro. Das Geld kam aus Thü-
ben seit 2016 eine Zulassung von der Fi- Wanda sind sehr gut dotiert. ringen: von der Volks- und Raiffeisenbank
nancial Conduct Authority, der zuständi- Doch Atlético mangelt es im Hier und Bad Salzungen Schmalkalden eG. Im
gen Regulierungsbehörde für den briti- Jetzt an Cash. Und so pumpt sich Gil, der Juli 2017 schrieb Schnippe eine Mail an
schen Finanzmarkt. Der englische Verband auch der Mehrheitsaktionär des Vereins einen Mitarbeiter von Atlético, dass das
hat zuletzt die Auflagen für Finanzierungs- ist, von allen Seiten Geld, um die laufen- Kreditinstitut aus Deutschland »seine Part-
geschäfte von Klubs noch einmal ver- den Kosten zu stemmen. In der Bilanz nerschaft gerne ausweiten würde«.
schärft. Damit will die Premier League ver- Atléticos standen zum Abschluss der Miguel Ángel Gil äußert sich nicht zu
hindern, dass weiterhin ungehindert auch Saison 2016/17 kurzfristige Verbindlich- den zahlreichen Kreditgeschäften seines
Kapital aus Offshore-Staaten in den Markt keiten bei Finanzinstituten in Höhe von Klubs. Bleibt eine Frage, die sich nicht nur
strömt, womöglich auch gewaschenes Geld. 213,7 Millionen Euro. Mitte 2014 waren Kleinsparer in Bad Salzungen und in
Mittlerweile müssen die Klubs Auskunft es nur 23,9 Millionen Euro gewesen. Schmalkalden stellen: Wie kommt eine
darüber erteilen, wer hinter den Briefkas- Als Geldbeschaffer Atléticos ganz vorn Genossenschaftsbank aus der ostdeut-
tenfirmen steckt, die ihnen teilweise drei- mit dabei war XXIII Capital. Im August schen Provinz dazu, einem hoch verschul-
stellige Millionensummen bereitstellen. 2014 unterschrieb der Verein die Eckpunk- deten Fußballverein wie Atlético Madrid
Wie undurchsichtig Geldgeber großer te für ein 23,5-Millionen-Euro-Darlehen, zehn Millionen Euro zu pumpen?
europäischer Vereine sind, lässt sich dank das ihn für 26 Monate fast 3,5 Millionen Es gibt zwischen der Volks- und Raiff-
der Dokumente von Football Leaks auch Euro kostete. Einen Monat später lieh die eisenbank Bad Salzungen Schmalkalden
an Finanzgeschäften von Atlético Madrid Firma dem Klub 13,3 Millionen Euro. und der Score Capital in München eine
belegen. So hatten die Spanier im Sommer Um die Weihnachtszeit 2015 ging es rich- verblüffende Verbindung: Dieter Althaus,
2011 ihren Stürmerstar Sergio Agüero für tig hoch her. Erst bot XXIII Capital den der frühere Ministerpräsident des Frei-
36 Millionen Euro an Manchester City ver- Madrilenen 73,8 Millionen Euro an, zu- staats Thüringen und heutige Lobbyist,
kauft. 12 Millionen davon flossen sofort rückzuzahlen in knapp dreieinhalb Jahren. sitzt bei beiden Unternehmen im Auf-
von Manchester nach Madrid, der Rest Dann legten die Finanziers aus London ein sichtsrat. Hat er das Kreditgeschäft wo-
erst bis Sommer 2013. Angebot für ein Darlehen in Höhe von 100 möglich vermittelt? Althaus bestreitet das,
Atlético-Chef Miguel Ángel Gil Marín Millionen Euro vor, zuzüglich Zinsen von ebenso wie Schnippe. Der Vorstand der
lieh sich die ausstehenden 24 Millionen 7,75 Prozent und einer »Beratungsgebühr« Score Capital hält den Deal mit Atlético
Euro für Agüero sofort nach dessen Trans- von 819 000 Euro. In dem Dokument steht, vielmehr für ein gutes Geschäft: »Die As-
fer von Investoren auf den British Virgin dass Atlético 82 Millionen Euro des ge- setklasse Profifußball ist nachweislich sehr
Islands. Der Fonds hieß Mousehole Limi- pumpten Geldes verwenden würde, um risikoarm.«
ted, zu Deutsch: Mauseloch GmbH. Steuerschulden zurückzuzahlen. Das liest sich in den Unterlagen von
Wies schon die Namensgebung darauf Wieder einen Monat später schrieb Football Leaks anders. Im Juni 2013 hatte
hin, dass es sich bei der Mousehole um ein ein Anwalt von Atlético, dass der Verein Atlético-Boss Gil offenbar Probleme, eine
Geldversteck in einem Steuerparadies han- 60 Millionen Euro aufnehmen wolle, rück- Rate an den Singapurer Milliardär Peter
deln könnte, so machten die in London zahlbar zwischen Juli 2017 und August Lim zurückzuzahlen, Atlético hatte sich
ansässigen Juristen der Firma deutlich, 2019. Man habe Angebote eingeholt, der im Jahr zuvor 16 Millionen Euro von einer
dass sie zunächst nicht gewillt waren, die Zinssatz plus Gebühren liege bei acht Pro- Firma Lims in Hongkong gepumpt. Als die
Eigentumsverhältnisse offenzulegen. Der zent, die Finanziers von XXIII Capital Investoren in Fernost die Geduld zu ver-
englische Fußballverband hatte darauf be- könnten mitbieten. lieren drohten, schickte Gil eine verzwei-
standen. Sonst würde Agüero nicht für Und so geht es in einem fort, rastlos ist felte SMS an seinen Gläubiger.
Manchester City spielen können. Vereinsboss Gil auf der Suche nach fri- Er beschwor ihre Partnerschaft, er ge-
Erst nach einem juristischen Tauziehen schem Kapital. Im September 2017 traf er lobte Besserung, er verwies auf seine Le-
gaben die Mousehole-Anwälte den Namen sich im Stadion von Atlético mit Vertretern bensleistung. Und er bat um Zahlungsauf-
des Eigentümers preis. Er war einer der der Londoner Investoren Greensill Capital, schub: »Bitte, Peter, versuche mir zu hel-
reichsten Geschäftsleute des Vereinigten die dem Klub 76 Millionen Euro leihen fen. Du wirst in jedem Fall immer einen
Königreichs. Einen Großteil seines Vermö- wollten. Als Sicherheit verlangten die Kre- guten Freund in Madrid haben. Danke.«
gens hat der Mann mit einem Wettbüro- ditgeber, dass Atléticos Ausrüster Nike
Imperium gemacht. ihnen die Raten aus dem gerade erst
Video
Ähnlich intransparent sind auch die verlängerten Sponsorenvertrag übertrug.
Das System
Geldgeber, bei denen sich Atlético-Boss Doch Nike wollte nicht mitspielen. erklärt
Gil im Mai 2017 exakt 20 Millionen Euro Amigos hat der Klub auch bei der IBB spiegel.de/sp472018fl
borgte. Die Firma Haneuro International 1 in Friedrichshafen. Ende Juli 2017 half die
hat ihren Firmensitz auf Malta. Die Eigen- Bank mal wieder aus und überwies auf die

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Wissenschaft+Technik
Dann stürzt er sich in die Tiefe und nähert sich rasend schnell dem Mann auf dem Gletscher. ‣ S. 124

CLEAN2ANTARCTICA.NL
Mit der Kraft der Sonne möchte das niederländische Ehepaar Liesbeth und Edwin ter Velde zum Südpol
fahren. Als Transportmittel dient den beiden ein selbst gebautes Solarmobil, das aus recyceltem Plastik
besteht. Die Idee für die Expedition »Clean2Antarctica« kam ihnen, als sie eines Abends am Küchentisch
beschlossen, zur Gänze auf Plastikmüll zu verzichten. Nun sind sie auf dem Weg nach Süden, um zu bewei-
sen, dass auch eine so extreme Reise nachhaltig und mithilfe sauberer Technologie bewältigt werden kann.

Einwurf

Dein Haus, dein Auto, deine Instagram-Likes


Warum nicht immer das Smartphone schuld daran ist, wenn wir unglücklich sind

Die amerikanische Psychologin Melissa Hunt vermeldete jetzt: Problem kaum mit dem Zählen von Minuten beheben lassen wird.
Wer weniger soziale Medien nutzt, wird weniger depressiv. Ihre Hunt sagt, es sei die Angst, etwas zu verpassen, die uns unglück-
Studie liefert auch gleich eine Therapie: Sie reduzierte die Nut- lich macht. Zu sehen, wie viel schöner und erfolgreicher alle ande-
zung von Facebook, Instagram und Snapchat in einer Gruppe jun- ren sind: mein Haus, mein Auto, meine Instagram-Likes.
ger Studenten auf je zehn Minuten pro Tag. Nach drei Wochen Natürlich macht einen das wahnsinnig! Aber der Neid hat die
ging es den Probanden psychisch wesentlich besser als Studenten, Menschen schon vor ein paar Tausend Jahren gequält. Wenn es so
die unbeschränkt auf ihrem Smartphone rumdaddeln durften. leicht wäre, mit seinem Lehmhüttchen zufrieden zu sein, hätte
Hunt sagt: »Wenn man nicht damit beschäftigt ist, in den Bann Mose sich nicht in Stein diktieren lassen: »Du sollst nicht begeh-
von sozialen Medien gezogen zu werden, verwendet man die Zeit, ren deines Nächsten Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind und Esel.«
um Dinge zu tun, die einem guttun.« Sicher hat sie mit dieser Auch den Buddhismus hätte es nicht gebraucht. Es ist von jeher
Einschätzung recht. Und bestimmt werden viele Eltern die Studie eine Herausforderung, mit dem, was man kann und hat, zufrieden
nutzen, um eine neue Zehn-Minuten-Regel an den Kühlschrank zu sein. Statt dem Nachwuchs nun die Handysperre aufzuerlegen,
zu pinnen. Vielleicht hilft das sogar – zumindest so lange, bis die sollte man den Kindern (und sich selbst) vielleicht besser klar-
Kinder wissen, wie sie die Sperre umgehen können. Denn wer die machen, warum Menschen, die auf Bildern allzeit glücklich drein-
Begründung liest, weshalb die Zeit mit dem Smartphone die schauen, nicht immer wirklich glücklich sind. Und warum einem
Menschen unglücklich macht, wird einsehen müssen, dass sich das das ohnehin egal sein sollte. Kerstin Kullmann

112 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Gesundheit Ernährung

»Keine Angst vorm Anfassen« Gefährliche Blumen-Deko


G Sind die Blüten, mit denen viele
Die New Yorker Filme- Biopsie stellte sich heraus, dass die Kno- Köche und Hobbyköche gern ihre
macherinnen Mona ten nicht gefährlich waren. Damals merk- Gerichte dekorieren, wirklich essbar?
Chalabi und Mae Ryan, te ich, dass es für Frauen wirklich wichtig Das wollten Forscher des Lebensmittel-
beide 31, wurden mit ist, dieses Wissen über ihren Körper zu instituts der Dänischen Technischen
KYLE DOROSZ

ihrer Videoserie über besitzen. Universität wissen und haben sich in


die Vagina für einen SPIEGEL: Hatten Sie ärztliche Beratung einer Übersichtsstudie 23 Pflanzen
Emmy Award nominiert. für den Film? angesehen, die häufig Verwendung in
Jetzt klären sie Frauen Chalabi: Ja. Unter anderem meine Frauen- der Küche finden. 14 davon enthielten
im Internet unter touchyourtits.com ärztin. Hier in den USA findet derzeit potenziell giftige Substanzen. So finden
darüber auf, wie sie sich zusätzlich zur eine grundsätzliche Debatte darüber statt, sich in den hübschen Borretschblüten
Krebsfrüherkennung durch den Arzt ob man Frauen überhaupt dazu raten soll, oder Natternköpfen Pyrrolizidinalka-
die Brust selbst untersuchen können, um sich selbst zu untersuchen. Wohl teilwei- loide, die die Leber schädigen und
Veränderungen zu entdecken. se aus der Überzeugung heraus, dass sie krebserzeugend sind. Hohe Dosen an
ihren Körper nicht richtig verstehen und Schafgarbe schädigten in Studien das
SPIEGEL: Frau Chalabi, in Ihrem Video deshalb zu panischen Reaktionen neigen, Hodengewebe von Ratten und Mäusen.
zeigen rund ein Dutzend Frauen, wie wenn sie etwas finden. Das Argument
man sich die Brüste abtastet. Im Hinter- lautet, dass es besser sei, auf die jährliche
grund läuft Musik, die Frauen lächeln Untersuchung zu warten.

LARISSA VERONESI / PLAINPICTURE


und unterhalten sich. Normalerweise sind SPIEGEL: Weil man die Frauen davor
solche Aufklärungsfilme medizinisch schützen will, in Panik zu geraten?
ernst. Wie sind Sie darauf gekommen, es Chalabi: Ja. Aber wir finden es besser, sie
anders zu machen? darüber aufzuklären, wie sie ihren Kör-
Chalabi: Die Videos, die existieren, sind per richtig anfassen und kennenlernen
größtenteils furchtbar. Meine Arbeitskol- können. Wir weisen ja auch ausdrücklich
legin Mae und ich haben Filme gesehen, darauf hin, dass nicht jede Auffälligkeit
in denen männliche Ärzte sich Plastik- gleich das Schlimmste bedeuten muss. Blüten im Salat
brüste umgebunden haben, um die Unter- SPIEGEL: Viele Frauen untersuchen sich
suchung vorzuführen. In anderen wird nicht selbst, weil sie fürchten, sie könnten Und – ebenfalls in höheren Dosen –
geraten, der Partner solle das machen. etwas finden? geht auch das Waldmeisterkraut auf die
Vollkommen daneben! Ich muss sagen, Chalabi: Genau. Deshalb möchten wir Leber. Ein erwachsener Mensch sollte
ich habe selbst lange nicht auf das Thema sagen: Es kann sein, dass man etwas ent- nicht mehr als wenige Gramm der Blü-
geachtet. Ich dachte, ich wäre zu jung. deckt. Das muss aber nicht gleich Krebs ten pro Tag verzehren. Für alle Blüten
Als mir eine Freundin erzählte, dass sie bedeuten. Und trotzdem ist es gut, den gilt: Die Dosis macht das Gift. Die
sich selbst regelmäßig untersucht, war ich Knoten dann so schnell wie möglich im Salat beliebten Wilden Stiefmütter-
erstaunt, tat es dann aber auch. Und fand durch einen Arzt untersuchen zu lassen. chen hat die European Medicines
prompt einen Knoten. Weil frühe Erkennung bei Brustkrebs Agency 2010 schon als Heilkraut ein-
SPIEGEL: Was ist passiert? die größten Heilungschancen bringt. Wir gestuft, gleichzeitig aber davon ab-
Chalabi: Ich war sehr verängstigt, bin wollen Frauen die Angst davor nehmen, geraten, sie Kindern und Jugendlichen
irgendwann zu einer Ärztin gegangen, sich selbst anzufassen. Und dabei hilft zu servieren. Wer Zweifel hat, sollte
die noch einen zweiten fand. Bei einer auch ein bisschen Humor. KK die Blüten-Deko deshalb einfach auch
als solche behandeln – und sie an den
Tellerrand schieben. KK

Fußnote

12 000
Jahre alt, wenn nicht älter, sind die
Höhlenbilder, die Tübinger Archäolo-
gen in Frankreich entdeckt haben.
In zwei Höhlen im südöstlichen Bur-
gund fanden sie Wandzeichnungen,
MAE RYAN, MONA CHALABI

die unter anderem die Silhouette eines


Pferdes darstellen. Sie waren von
späteren Zeichnungen überdeckt. In
der Gegend erforschen Wissenschaft-
ler schon seit 150 Jahren die Über-
reste von Neandertalern und moder-
Darstellerinnen aus Aufklärungsfilm zur Brustkrebsvorsorge nen Menschen.

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ILLUSTRATION: HEDI XANDT / DER SPIEGEL

Schultergelenk*
»Ob Operation oder Scheinoperation – den Patienten geht es danach gleich gut«

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Titel

Auf die Knochen


Medizin Schulter, Rücken, Knie – irgendwann verschleißen die Gelenke, am Ende steht oft eine
Operation. Doch ausgerechnet die häufigsten Eingriffe in der Orthopädie helfen vielen Menschen
nicht. Jetzt zeigen Ärzte, dass es auch anders geht: indem sie mehr mit den Patienten sprechen.

A
m Ende war der Schmerz in der fürs Zuhören und Sprechen entlohnt und »Früher haben Chirurgen nur operiert,
rechten Schulter so schlimm, dass können sich deshalb für einen Patienten um lebensbedrohliche Erkrankungen ab-
Karl-Heinz den Arm nicht mehr ungefähr doppelt so viel Zeit nehmen wie zuwenden«, sagt Carr, ein Gentleman, der
heben konnte. »I hald des Malär üblich. An diesem »Facharztprogramm Or- bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zur
nemme aus«, sagte der Mann aus Deizisau thopädie« nehmen in Baden-Württemberg Arbeit fährt. Doch in den vergangenen
am Neckar und flehte den Arzt an: »Obe- 530 Praxen und 600 000 Patienten teil – 50 Jahren seien die Indikationen für Ope-
rieret Sie mi!« mit erstaunlichen Ergebnissen. Lembeck rationen immer weicher geworden. »Heute
Doch der Orthopäde Burkhard Lembeck, zeigt ein Blatt mit den neuesten Zahlen geht es in der Orthopädie bei einer riesigen
52, dessen Praxis im ersten Stock eines zum Rückenschmerz und sagt: »Mehr Zahl von Eingriffen darum, Schmerz zu lin-
Zweckbaus in Ostfildern-Nellingen liegt, Sprechen – das führt zu weniger Opera- dern«, meint Carr. »Wenn der Endpunkt
hatte einen besseren Vorschlag. Nach ein- tionen und weniger Pillen.« aber ein so subjektiver ist wie Schmerz,
gehender Untersuchung und ausführlichem dann muss man besonders sorgfältig über-
Gespräch gab er seinem schwäbischen Pa- prüfen: Bringt eine Operation wirklich das,
tienten, einem pensionierten Gärtnermeis- Engpasssyndrom in der Schulter was man sich von ihr verspricht?«
ter, eine Spritze gegen die Schmerzen und Bei Schulterschmerzen entfernen Als Beispiel nennt Carr eine Standard-
verschrieb ihm Krankengymnastik. Operateure Knochenmaterial aus dem operation bei einem bestimmten Schulter-
Ein 54-jähriger Elektromeister aus Kön- Schulterdach. schmerz, dem Engpasssyndrom (auch Im-
gen kam mit Rückenschmerzen in Lem- pingement-Syndrom genannt). Das ist ge-
becks Sprechstunde und zeigte den Brief nau jene Erkrankung, die auch Karl-Heinz,
eines Chirurgen, den er zuvor konsultiert dem Gärtner aus Deizisau, den Ruhestand
hatte. Dieser schrieb, er würde »zu einer vermiest. Wenn der Patient den seitlich
ausgiebigen Dekompression L5/S1 mit bi- 2008 ausgestreckten Arm anhebt, dann meint
lateraler Foraminotomie raten. Eine solche 71 000 er, von einer bestimmten Höhe an einen
Operation müsste dann mit einer Fusion Operationen glühenden Dolch in der Schulter zu spüren.
kombiniert werden«. Mit anderen Worten: in Deutschland Etliche Orthopäden sagen, der Schmerz
Er wollte Bandscheibenmaterial entfernen, entstehe, weil unter dem vorderen großen
Quelle: DIMDI
beidseitig Nervenaustrittskanäle erweitern Knochenfortsatz des Schulterblatts der
und Wirbel miteinander verschrauben. Schleimbeutel und die Sehnen im Gelenk
Aber auch hier hatte Lembeck einen an- gequetscht werden. Sie empfehlen deshalb,
deren Plan. Nach ausgiebiger Anamnese ver- von diesem Knochenvorsprung ein Stück
ordnete er dem Elektromeister Physiothe- chirurgisch zu entfernen.
rapie und empfahl ihm, sich regelmäßig zu Dieser Eingriff, die »subakromiale De-
Anstieg gegenüber 2008
bewegen. kompression«, kann per Schlüsselloch-
»In der Orthopädie kann man oft ope-
rieren, aber nur ganz selten muss man es
tun«, sagt Burkhard Lembeck, ein Mann
2015
92000 +30 % technik und damit ohne große äußerliche
Wunden in einer halben Stunde durch-
geführt werden. Es ist die populärste Ope-
mit der Gelassenheit seiner westfälischen ration an der Schulter überhaupt. Bei
Heimat, den es ins Schwabenland ver- den Versicherten der Techniker Kranken-
schlagen hat. Als junger Oberarzt am Uni- Ein Orthopäde, der ebenfalls lieber redet kasse sind die Fallzahlen in der Zeit von
klinikum Tübingen hat er selbst Eingriff als schneidet, ist der Engländer Andrew 2014 bis 2017 um 40 Prozent gestiegen.
auf Eingriff vorgenommen; aber als er sich Carr, 60. Seine Distanz zum traditionellen In Deutschland machen Ärzte rund 92 000
vor Jahren in einer Gemeinschaftspraxis Medizinbetrieb lässt sich schon an seinem Eingriffe – pro Jahr.
niederließ, reichte es ihm. »Das Honorar- Institut in Oxford erkennen: Während auf Carr hat die Operation auch schon oft
system diktiert, wie man Medizin macht. einem Campus im Osten der Stadt das durchgeführt – allerdings mit einer Beson-
Da habe ich gesagt: Das kann nicht sein.« hochmoderne Nuffield Orthopaedic Centre derheit. Carr bat seine Patienten jeweils,
Seinen Worten hat Lembeck Taten fol- thront, das größte Klinikum seiner Art in sich ein paar Monate nach dem Eingriff
gen lassen. Mit der AOK Baden-Würt- Europa, leitet Carr rund 150 Meter entfernt noch einmal vorzustellen. Nun untersuchte
temberg hat er einen bundesweit einzig- ein eher unscheinbares Haus, das Botnar er die Schulter ein weiteres Mal und erfass-
artigen Vertrag entwickelt: Die teilneh- Research Centre. Abseits der klinischen te mit einem standardisierten Fragebogen,
menden Orthopäden werden verstärkt Hektik sind rund 300 Mediziner, Naturwis- ob die Menschen noch Schmerzen hatten.
senschaftler und andere Mitarbeiter damit »Den Auswertungen zufolge ging es
* Alle Gelenkdarstellungen beruhen auf einem 3-D-
Modell des Skeletts; bei den gezeigten Manipulationen
befasst, den Nutzen der Orthopädie auszu- 80 bis 90 Prozent der Patienten nach der
handelt es sich um – von echten Operationen inspi- loten: Wie werden Patienten behandelt – Operation besser als vorher. Das war ermu-
rierte – künstlerische Fantasie. und was haben sie davon? tigend«, sagt Carr. »Aber wir fanden noch

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etwas: Es spielte keine Rolle, wie viel Kno- Wem Muskeln oder Knochen schmer- diesmal von Ärzten, die selbst kein Geld
chensubstanz wir entfernt hatten.« zen, der ist akut vom sogenannten Odys- mit chirurgischen Eingriffen verdienen:
Das machte ihn stutzig: Ist es egal, ob seus-Syndrom bedroht. So wie der Held Beim Knie wurde in 80 Prozent der Fälle
man die Schulter operiert oder nicht? aus der griechischen Sagenwelt erst nach von der Operation abgeraten, bei der Wir-
Nur für 20 Prozent aller Eingriffe der einer dramatischen und zermürbenden Irr- belsäule in 90 Prozent und bei der Schulter
Orthopädie haben Gesundheitsforscher fahrt nach Hause fand, muss der ortho- in 92 Prozent der Fälle.
bisher gut belegen können, dass sie dem pädische Patient auf der Suche nach der Philip F. Stahel, 52, hat seinen Facharzt
Patienten tatsächlich besser helfen als richtigen Medizin mancherlei Abenteuer für Chirurgie mit Schwerpunkt Unfall-
eine konservative Behandlung. Eine or- überstehen. Ihn lehren nicht Stürme das chirurgie an der Berliner Charité gemacht.
dentlich eingesetzte künstliche Hüfte ist Fürchten oder Riesen – wohl aber Eingrif- Er sagt: »Die Öffentlichkeit wäre geschockt,
ohne Frage ein Segen. Aber für über- fe, die nur dem Doktor helfen. wenn sie wüsste, wie häufig überflüssige
raschend viele Therapieversuche ist nicht Beispiel Wirbelsäule: Für einen Patienten, Operationen in der Orthopädie sind.« Sta-
wissenschaftlich erwiesen, ob sie den an dem die Ärzte zunächst die Bandscheibe hel ist dem deutschen Medizinbetrieb ent-
Schmerz nennenswert lindern können. operieren und später die Wirbel versteifen, flohen und fand in Denver (USA) eine
Ein Patient aus Heidelberg hat das am ei- zahlen Krankenkassen der Klinik mehr als Stelle als orthopädischer Chirurg, wo er ein
genen Leib erfahren. »Was haben mir die 18 000 Euro. Die Zahl solcher Eingriffe ist fixes Gehalt bekommt und nicht nach Pro-
klassischen Mediziner nicht alles für Be- in Deutschland zwischen 2007 und 2015 um duktivität bezahlt wird. Auch er hat ein kri-
handlungen gegen meine Rückenschmerzen 71 Prozent gestiegen: auf knapp 800 000. tisches Buch geschrieben, in dem er mit
empfohlen«, erzählt Gerd Nieschalk, 74, seiner Zunft abrechnet**. Er warnt: »Mil-
früher Vorstand einer Volksbank, »unter lionen Menschen bekommen orthopädi-
anderem Reizstrom, Rüttelliegen, Streck- Schmerzen im Lendenbereich sche Eingriffe, die ihnen gar nicht helfen
bank.« Deren einzige Wirkung habe darin Häufig entfernen Operateure zunächst werden, aber schaden könnten.«
bestanden, »dank beachtlicher Preise das Bandscheibengewebe, in einem Folge- Fragwürdige Eingriffe sind bei Erkran-
Einkommen des Arztes zu erhöhen – ge- eingriff stabilisieren sie oftmals kungen der Knochen und Gelenke so häu-
holfen hat keine einzige«. verschiedene Wirbel mit Schrauben fig, weil das Reservoir an – vermeintlich –
Zwar vermag ein Chirurg ein steifes und Stäben aus Titan. krankhaften Anomalien unerschöpflich ist.
Gelenk am großen Zeh (»Hallux rigidus«) Im Alter von 50 Jahren haben vier von fünf
wieder schön beweglich zu machen. Es beschwerdefreien Personen abgenutzte
kann aber passieren, dass der behandelte Bandscheiben; bei mehr als einem Drittel
Mensch danach vor Schmerzen kaum 2007 der Vertreter dieser Altersgruppe sind diese
noch laufen kann. Operation gelungen – 452000 vorgewölbt. Diese Zahlen ergeben sich aus
Patient verzweifelt. Operationen Studien, für die Mediziner 3110 Menschen
Niedergelassene Orthopäden planen in deutschen mit Kernspin- oder Computertomografie
Krankenhäusern
etwa zehn Minuten pro Patient in ihrer untersucht haben. Verschleiß und Schmerz
Sprechstunde; da kommt es vor, dass sie Quelle: Bertelsmann Stiftung hängen also gar nicht unbedingt zusammen.
vorschnell tippen, was die Malaise verur- In einer anderen Forschungsarbeit ließen
sacht hat. Mal kommt die verspannte beschwerdefreie Erwachsene ihre Me-
Schulter dann vom Stress, mal von einem nisken im Kernspin untersuchen – etwa
blockierten Halswirbel, mal vom Schwim- 40 Prozent von ihnen hatten eingerissene
Anstieg gegenüber 2007
men, mal vom Laufen. Patienten merken oder zermürbte Menisken.
das, wenn sie den Arzt wechseln. Sie be-
kommen Erklärungen zu hören, die sich
häufig widersprechen.
2015
772000 + 71 % »Im Laufe der Jahre werden die Haare
grau, das Gesicht wird faltig und, ja, auch
das Skelett verändert sich«, sagt Andrew
Im Medizinischen Versorgungszentrum Carr in seinem Eckbüro in Oxford. »Bei
am Brüderhaus Koblenz fand sich im Mai Leuten, die älter als 40 sind, wird man
eine 66-Jährige aus dem Hunsrück ein, Man vertraue hier, im internationalen sehr wahrscheinlich irgendeine Anomalie
die ihr Leid klagte. Nach einem Sturz Vergleich, besonders auf Operationen der an Gelenken oder Knochen finden. Nur
von der Leiter war sie mit Schmerzen im Wirbelsäule, aber auch der Gelenke, meint ist das nicht zwingend etwas Krankhaftes.«
rechten Knie zum niedergelassenen Or- Marcus Schiltenwolf, Professor an der Kli- Chirurg Stahel in Denver drückt es so
thopäden gegangen. »Zuerst wurden eine nik für Orthopädie und Unfallchirurgie aus: »Das Spektrum der Indikationen ist
Kernspintomografie und das Übliche ge- des Universitätsklinikums Heidelberg. Es so weit, dass man alles rechtfertigen kann
macht«, erzählt die Frau, »dann wurde werde versucht, den Schmerz »technisch und den Patienten so berät, dass er eine
ich mehr oder weniger vor die Entschei- zu lösen«, schreibt er in seinem Buch*. Oft- bestimmte Operation haben will.«
dung gestellt: ein Eingriff mit dem Arthro- mals werde drauflosoperiert, obwohl es Es geht in der Orthopädie oft nicht um
skop oder eine Knieendoprothese.« Sie gar nicht funktionieren könne. Und so Leben oder Tod, sondern um elektive Ope-
habe sich daraufhin in der nächsten Stadt, kommt es laut Schiltenwolf zu »Fehl- und rationen, um Eingriffe also, die man pla-
zwölf Kilometer weiter, einem anderen Überbehandlungen«, sprich: zu medizi- nen und auf einen bestimmten Tag legen
Orthopäden vorgestellt. Dieser Arzt hielt nisch unnötigen Maßnahmen. kann. Den Nutzen von drei besonders häu-
Operationen für vollkommen falsch und Knapp 3000 Menschen, die bereits eine figen elektiven Eingriffen haben Forscher
verordnete Akupunktur. Empfehlung für eine orthopädische Ope- inzwischen gründlich untersucht – mit auf-
»Man ist auch hilflos als Patient«, sagt Hel- ration in einem deutschen Krankenhaus schlussreichen Ergebnissen.
ga Schnabel, 75, aus Vallendar und berichtet, hatten, ließen sich erneut untersuchen,
was ihr beim niedergelassenen Orthopäden
passiert sei. »Der hat gleich von zwölf Sprit- * Marcus Schiltenwolf und Peter Henningsen (Hg.): Kratzen in der Schulter
»Muskuloskelettale Schmerzen«. Schattauer; 456 Sei-
zen in die Hüfte gesprochen – dabei war ich ten; 69,99 Euro.
Wie findet man eigentlich heraus, dass
wegen der Füße da.« Der nächste Arzt wie- ** Philip F. Stahel: »Blood, Sweat & Tears. Becoming eine Operation gar nicht besser ist als ein
derum riet von solchen Injektionen ab. a Better Surgeon«. TFM Publishing; 296 Seiten. Eingriff, den man bloß vortäuscht? Oxford-

116 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Titel

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Wirbelsäule
»Bei Leuten, die älter als 40 sind, wird man sehr wahrscheinlich eine Anomalie finden«

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Titel

ILLUSTRATION: HEDI XANDT / DER SPIEGEL

Kniegelenk
»Wer konservativ behandelt, ist kein Orthopäde zweiter Klasse«

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Professor Carr hat – gemeinsam mit Haus- schen Kollegen kam das nicht gut an: In Die Methode war in Europa und den
ärzten, Chirurgen, Physiotherapeuten, einer »Stellungnahme« versuchten Mitglie- USA bereits seit 20 Jahren Routine, als
Ethikern und Menschen mit Schulter- der von sieben Fach- und Berufsverbän- der amerikanische Orthopäde Bruce
schmerzen – zwei Jahre lang beraten, wie den aus Orthopädie und Unfallchirurgie Moseley auf die Idee kam, den Nutzen
man das am Beispiel des Engpasssyndroms sowie der Chirurgie in Deutschland, das der Kniegelenkstoilette in einer Ver-
feststellen könnte. Im Gespräch mit pro- Ergebnis kleinzureden. Das bloße Einfüh- gleichsstudie aufzuzeigen. Im Losverfah-
fessionellen Schauspielern übten die Stu- ren des Endoskops habe »sehr wohl« ei- ren wurden 180 Frauen und Männer mit
dienärzte, wie sie Schulterpatienten für nen »Vorteil« gegenüber der Gruppe der mittelschwerer Kniearthrose unterschied-
die Untersuchung gewinnen könnten. Sie Nichtoperierten gezeigt, behaupten sie – lichen Gruppen zugeteilt. Alle Patienten
sagten: »Sie haben Glück. Sie sind an ei- und interpretieren die Lancet-Studie an wurden vor dem Eingriff mit Narkose-
nem der wenigen Orte der Welt, wo man diesem Punkt anders als deren Urheber. oder Beruhigungsmitteln behandelt, da-
Ihr Problem aktiv erforscht. Aber um ehr- »Für das deutsche Gesundheitssystem mit sie nicht mitbekamen, was mit ihnen
lich zu sein, besteht da noch eine Unsicher- ergeben sich keine Konsequenzen« aus der geschah.
heit, was am besten zu tun ist. Könnten Schulterstudie, folgerten die Ärzte, und es Aus versiegelten Briefen erfuhr der
Sie sich vorstellen, uns zu helfen?« Hun- klingt beinahe flehentlich. Sie können für Arzt erst kurz vor dem Eingriff, wie er
derte Patienten waren dazu bereit. jede Schulteroperation mehrere Tausend mit einem bestimmten Patienten verfah-
Es gab drei Gruppen, deren Mitglieder Euro einstreichen – wer wollte sich dieses ren sollte. Mal lautete die Anweisung, er
per Los ausgesucht wurden. Die Studien- Geschäft vermiesen lassen? solle das Knie spülen und die Gelenk-
ärzte schoben bei einigen Patienten nun flächen glätten, mal sollte er nur spülen.
ein starres Endoskop (ein röhrenförmiges Wieder andere Patienten waren in der
Gerät mit Objektiv, Videochip und Lämp- Kniebeschwerden Placebogruppe. Ihnen ritzte Moseley
chen) in die Schulter und entfernten tat- Bei der Arthroskopie entfernen Ärzte zwar in die Haut am Knie, jedoch schob
sächlich Sporne aus dem Schulterdach – Knorpelmaterial aus dem Kniegelenk er das Endoskop gar nicht hinein. Obwohl
das war die herkömmliche »subakromiale und spülen es mit einer speziellen die Patienten schliefen, bewegte Moseley
Dekompression«. Anderen Patienten Lösung. das Bein wie bei einer richtigen Operation
täuschten sie den Eingriff nur vor: Sie scho- und ließ einen Assistenten die Spülgeräu-
ben zwar ein Endoskop in die Schulter, 2015 sche nachmachen – die Inszenierung soll-
aber keine weiteren OP-Instrumente und 262000 te perfekt sein.
ließen die Knochenvorsprünge des Schul- Zwei Jahre später wurden die Patienten
Operationen in deutschen Krankenhäusern
terblatts vollkommen unberührt. Die Pa- Quelle: Statistisches Bundesamt
untersucht. Das Ergebnis: Sie hatten im
tienten der dritten Gruppe schließlich un- Durchschnitt weniger Schmerzen als frü-
tersuchten die Ärzte nur äußerlich und her, allerdings spielte es für ihre Besserung
verfolgten den natürlichen Verlauf der überhaupt keine Rolle, ob sie operiert wor-
Schulterschmerzen. 2017 den waren oder nicht. Hatte allein die
In einer Praxis oder in einem Kranken- 217000 Kraft der Suggestion geholfen?
haus ist es oftmals der Operateur selbst, Den Placeboeffekt (lateinisch für: »Ich
der entscheidet, ob der von ihm durchge- werde gefallen«) haben Hirnforscher als
führte Eingriff erfolgreich war. In der Stu- wichtiges Wirkprinzip erkannt, weil er
die von Andrew Carr dagegen blieb das nachweislich körpereigene Schmerzhem-
Urteil jenen überlassen, um die es geht: Abnahme gegenüber 2015 mer freisetzen kann. Aus diesem Grund
den Patienten. Auf einem Fragebogen kann es sinnvoll sein, einem Patienten die
(dem »Oxford Shoulder Score«) gaben sie
sechs Monate und ein Jahr nach dem Ein-
–17 % Behandlung nur vorzugaukeln.
Das jedoch kratzt am Ego vieler Opera-
griff oder nach der äußerlichen Untersu- teure. »Wenn randomisierte Studien bele-
chung an, wie es ihnen ergangen ist. gen, dass manche ärztliche Maßnahme
Die Auswertung der Bögen war eine nicht besser ist als eine Scheinmaßnahme,
Überraschung. »Es gibt überhaupt keinen Putzen im Knie kommt es meist zu einem Aufschrei der
Unterschied zwischen der Operation und Patienten, oft im Alter zwischen 35 und 65, Empörung der ärztlichen Fachkreise.
der Scheinoperation. Den Patienten geht werden vom Orthopäden gern zur »Knie- Denn was wäre ein Arzt, der durch den
es gleich gut«, sagt Andrew Carr. »Und gelenkstoilette« gebeten. Der Begriff hat Schein agiert?«, schrieben der Orthopäde
die Operation und die Scheinoperation mit »faire la toilette« zu tun, französisch für: Schiltenwolf und der Arzt und Psycho-
sind, klinisch gesehen, nicht wirklich nütz- etwas säubern oder putzen. Die ärztlichen therapeut Martin Sack vor einiger Zeit
licher, als den Patienten nicht zu operieren Reinigungskräfte schieben dazu ein Endo- im »Deutschen Ärzteblatt«. Und weiter:
und abzuwarten.« skop ins Knie, entfernen verschlissenes »Der Aufschrei der Empörung gilt der
Deshalb solle man das Hantieren mit dem Knorpelmaterial, glätten raue Oberflächen Abwehr der Angst, dass der Arzt nicht
Endoskop lieber sein lassen, findet Carr. und spülen literweise Flüssigkeit hindurch. durch Wissen und technische Fertigkeit
Schließlich könne es bei jeder Schulterope- Das alles soll gegen Schmerzen helfen. wirksam wird.«
ration zu einer potenziell lebensbedroh- Diese Endoskopie des Kniegelenks, Nachdem Moseley und seine Kollegen
lichen Komplikation kommen, zu einer Em- auch Arthroskopie genannt, wurde größ- ihr Ergebnis im »New England Journal of
bolie oder einer Infektion. Viel sicherer und tenteils in den Siebzigerjahren entwickelt Medicine« vorgestellt hatten, versuchten
nahezu genauso wirksam sei es, Schmerzen und zählt heute zu den häufigsten Opera- viele Orthopäden, einfach weiterzuarthro-
an der Schulter mit Physiotherapie und ei- tionen überhaupt. Allein in Deutschland skopieren – als wäre nichts geschehen.
nem Bewegungsprogramm zu behandeln. werden jedes Jahr rund 217 000 Gelenk- Dumm nur: Zu diesem Zeitpunkt hatten
Das Ergebnis haben Carr und seine Kol- knorpel und Menisken in Krankenhäusern kanadische Forscher bereits eine ähnliche
legen im Fachmagazin »The Lancet« ver- auf diese Weise traktiert. Orthopäden ma- Studie zur Kniearthrose begonnen. Die
öffentlicht, einer der bekanntesten Medi- chen Millionen damit – aber hilft es dem einen Patienten bekamen eine Arthro-
zinzeitschriften der Welt. Bei den deut- Patienten? skopie und danach eine Physiotherapie;

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Titel

die anderen erhielten Physiotherapie und ten. Dann entschied das Los, wie die Chi- Vielen von ihnen tut die Lende weh, an-
medizinische Betreuung. Nach zwei Jah- rurgen weiter vorgingen. Einigen Patienten dere haben einen bis in die Beine ausstrah-
ren wurden 168 Patienten nachuntersucht: entfernten sie ein Stück des Meniskus; an- lenden Schmerz. Experten zufolge sind
Im Durchschnitt ging es ihnen besser – deren gaukelten sie diesen Eingriff nur vor. ungefähr 30 Prozent der Patienten nach
aber es war egal, ob sie operiert worden Das Ergebnis nach einem Jahr: Es gab kei- einer Rückenoperation mit dem Ergebnis
waren oder nicht. nen Unterschied zwischen den Gruppen. nicht zufrieden.
Sechs Jahre nach Moseley zogen die Die Auswertung von insgesamt neun Ärzte entfernen häufig zuerst ein Stück-
kanadischen Forscher das gleiche Fazit: Untersuchungen zur Arthroskopie des chen der Bandscheibe und verbinden spä-
Die Arthroskopie bringe Patienten mit Knies kommt zum gleichen Befund: Mehr ter verschiedene Wirbel mit Metallstäben
einer Kniearthrose über eine gute Phy- als sechs Monate nach dem Eingriff gibt es und Schrauben (Wirbelversteifung oder
siotherapie hinaus keinen »zusätzlichen keinen Vorteil für die operierten Menschen. Spondylodese) miteinander. Die erste Ope-
Nutzen«. Allerdings drohen ihnen Komplikationen ration kann jedoch zu einer Instabilität
Daraufhin reagierte man in Deutsch- wie Infektionen oder Thrombosen. In sel- führen – und schafft auf diese Weise den
land. Im November 2015 hatten Mitarbei- tenen Fällen enden die sogar tödlich. Grund für die zweite Operation.
ter des Gemeinsamen Bundesausschusses Das alles könnte bedeuten: Die Arthro- Wenn Ärzte zwischen diesen beiden
(GBA) diese Daten ausgewertet und erklär- skopie des Kniegelenks kann zwar jungen Eingriffen eine Frist von 30 Tagen verstrei-
ten: Es konnte für die untersuchten arthro- Menschen, etwa nach einer Sportverlet- chen lassen, dann können sie jeden geson-
skopischen Verfahren bei Kniegelenk- zung, gut helfen. Jedoch wird sie in den dert abrechnen: Die Bandscheibenopera-
arthrose »im Vergleich zu Scheinopera- tion bringt gut 4000 Euro ein; die nach
tionen oder einer Nichtbehandlung kein der Kunstpause folgende Spondylodese
Nutzenbeleg gefunden werden«. Diese Entwicklung der Krankheitskosten erlöst weitere 8300 Euro (ein bis zwei
Verfahren könnten deshalb »zukünftig bei diagnostizierten Erkrankungen des Wirbel versteift) oder sogar 14 200 Euro
nicht mehr zulasten der gesetzlichen Kran- Muskel-Skelett-Systems, in Deutschland (drei bis fünf Wirbel versteift).
kenkassen erbracht werden«. Viele Orthopäden wenden diesen Ab-
Eigentlich hätte die Zahl der Arthrosko- rechnungstrick offenbar an, das legen je-
pien nun deutlich sinken müssen. Ist sie denfalls Zahlen der Krankenkasse Barmer
aber nicht, was daran liegen könnte, dass nahe: Die Zahl dieser Zweiteingriffe war
findige Orthopäden nun einfach anders in sechs Jahren um 115 Prozent gestiegen.
abrechnen. Als Grund für die Arthrosko- 2008 Selbst wenn diese Operationen technisch
pie geben sie nicht mehr den vom GBA- 29,3 Mrd. € perfekt laufen, machen sie viele Patienten
Verbot betroffenen Knorpelverschleiß am Quelle: Statistisches Bundesamt
nicht gesund. Denn die Bandscheiben sind
Kniegelenk an, sondern präsentieren eine zwar bei vielen Menschen verschlissen, in
andere Indikation: verschlissene Menis- vielen Fällen jedoch nicht für den Schmerz
ken. Mit ihren Instrumenten zupfen und verantwortlich. Auslöser der Pein können
glätten sie dann vielleicht nicht mehr nur verkümmerte Muskeln, Verspannungen
am Knorpel des Oberschenkelknochens und Überbelastung sein. Und dagegen kann
oder des Schienbeins, sondern auch, ein das Skalpell nichts ausrichten.
paar Millimeter weiter, am Knorpel einer »In orthopädischen Spezialgebieten stel-
Meniskusscheibe. len Operateure die Indikationen für elek-
Anstieg gegenüber 2008
Letztere Indikation ist doppelt prak- tive Eingriffe viel zu großzügig«, sagt Phi-
tisch: Von einem gewissen Alter an haben
die meisten Menschen Risse am Meniskus.
Und die gesetzlichen Krankenkassen müs-
2015
34,2 Mrd. € +17 % lip F. Stahel. Das gilt auch für Deutschland:
Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zu-
folge werden bestimmte Eingriffe am Rü-
sen für diese Arthroskopievariante zahlen, cken in einigen Regionen wesentlich häu-
nach wie vor. figer durchgeführt als in anderen, etwa die
»Man kann einen Eingriff immer so be- allermeisten Fällen an Menschen, die 35 bis lukrative Versteifungsoperation. »Bei Pa-
gründen, dass die Vorgaben des GBA um- 65 Jahre alt sind, vorgenommen – und tienten im hessischen Landkreis Fulda
gangen werden. Die Schlupflöcher sind genau diese Patienten mit ihren alters- etwa werden 13-mal so viele Eingriffe vor-
riesengroß«, sagt ein erfahrener Orthopä- bedingten Meniskusveränderungen haben genommen wie im brandenburgischen
de, der einst an der Universitätsklinik so gut wie nichts davon. Frankfurt/Oder«, heißt es in der Studie.
Tübingen Professor war und anonym Gesundheitsforscher fordern im Fach- Und Bandscheibenmaterial kam Menschen
bleiben will. Von niedergelassenen Kol- blatt »Acta Orthopaedica«, mittelalte und in Fulda sechsmal so häufig abhanden wie
legen wisse er, dass Arthroskopien seit alte Patienten nicht mehr mit der Arthro- Menschen in Frankfurt an der Oder.
dem GBA-Beschluss massenhaft anders skopie zu behelligen: Die »verfügbaren Patienten, die eine unbegründete Ope-
abgerechnet würden. Beweise« sprächen dafür, diese häufige ration vermeiden wollen, sind gut beraten,
Zwar ist die Zahl der Arthroskopien in medizinische Methode aufzugeben: »Es sich eine Zweitmeinung einzuholen. Die
Krankenhäusern seither um etwa 20 Pro- ist an der Zeit, von Bord zu gehen.« Techniker Krankenkasse bietet Mitglie-
zent gesunken, aber niedergelassene Ärzte dern, die bereits eine Empfehlung für eine
führen den Eingriff unverdrossen an ihren Rückenoperation haben, einen kosten-
Patienten durch. Viele mit der Begrün- Wunden an der Wirbelsäule losen Service: Sie können sich in ein
dung, der Meniskus sei ramponiert – und Schmerzen und Schäden nach Rücken- Schmerzzentrum begeben und nochmals
bei dieser Indikation würde die Arthrosko- operationen sind so häufig, dass Mediziner untersuchen lassen, und zwar von einem
pie wirklich helfen. dafür einen eigenen Begriff erfinden muss- Arzt, einem Physiotherapeuten und einem
Doch stimmt das? Finnische Ärzte sind ten. Das »Failed Back Surgery Syndrome« Psychotherapeuten. Von 2010 bis 2016
der Sache nachgegangen. Sie suchten nach haben 20 bis 30 Prozent der Menschen, nutzten 2400 Menschen diesen Service.
erwachsenen Studienteilnehmern, die einen wenn sie nach einem Eingriff an der Und siehe da: 90 Prozent der Patienten
verschleißbedingten Riss am Meniskus hat- Wirbelsäule aus der Narkose aufwachen. bekamen den Rat, sich lieber nicht unters

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Messer zu legen. Ein Jahr danach hatten handeln oder die Orthopädietechnik opti-
annähernd 80 Prozent dieser Menschen mal zu nutzen«, heißt es darin. Und: »Wer
sich noch nicht operieren lassen – offenbar konservativ behandelt, ist kein Orthopäde
waren ihre Schmerzen besser geworden, oder Unfallchirurg zweiter Klasse.«
und ein chirurgischer Eingriff war tatsäch- So braucht sich Lembeck auch nicht zu
lich nicht erforderlich. fühlen. Ganz im Gegenteil, eine Auswer-
Ärzte müssen Strafe fürchten, wenn sie tung hat soeben nachgewiesen, dass er mit
Patienten zu unnützen Operationen drän- seiner Vision der sprechenden Medizin auf
gen. Das zeigt ein Gerichtsverfahren in dem richtigen Weg ist.
TOBIAS LANG

Hamm: Ein Belegarzt riet einem 59-Jähri- Die Patienten, die sich freiwillig in das
gen mit Rückenschmerzen zu einem Eingriff Programm der AOK Baden-Württemberg
an der Lendenwirbelsäule und führte diese eingeschrieben haben, verpflichten sich,
keine zwei Wochen später selbst durch. bei Problemen zunächst ihren Hausarzt
Es war ein Fiasko. Nach der Operation aufzusuchen. Dafür sind sie von Zuzah-
konnte der Mann das gestreckte Bein lungen für Medikamente befreit und be-
kaum noch regen, die Füße nicht mehr he- kommen zügig einen Termin, wenn doch
ben und senken sowie seine Blase nicht eine Untersuchung beim Orthopäden er-
mehr entleeren. Zwei weitere Operationen forderlich ist.
konnten nichts mehr ausrichten: Der Dieser bekommt auch längere Gesprä-
Mann ist seither impotent und kommt auf che honoriert und ist damit nicht in Ver-
Krücken nur noch 400 Meter weit; danach suchung, den Patienten abzuwimmeln oder
braucht er einen Rollstuhl oder Rollator. nur deshalb zu operieren, um auf seine
Und der Rücken schmerzt weiterhin. Kosten zu kommen. Auch kann der Or-
Vorigen Dezember hat das Oberlan- thopäde gezielt Bewegungsprogramme in
desgericht Hamm das Urteil gesprochen. Sportstudios verschreiben und Psycho-
Der Belegarzt muss seinem Rückenpa- therapeuten, Sozialarbeiter und Sportwis-
tienten Schmerzensgeld und Schadens- senschaftler hinzuziehen.
ersatz in Höhe von insgesamt mehr als Nun haben unabhängige Forscher im
110 000 Euro zahlen. Darüber hinaus hat Auftrag der AOK anhand der Gesund-
er für künftige Schäden zu haften. Die heitsdaten untersucht, wie es den im Pro-
Begründung: Einerseits habe der Opera- gramm eingeschriebenen Rückenpatien-
teur nicht hinreichend gesagt, wie riskant ten im Unterschied zu Patienten in der
ein Eingriff an der Wirbelsäule sein kann. Regelversorgung ergangen ist. Demnach
Zum anderen habe er dem Patienten ver- haben sie deutlich weniger Kontakte zu
schwiegen, dass es sehr wohl Alternativen verschiedenen Ärzten – das Doktor-Hop-
zur Operation gegeben hätte – eine län- ping blieb aus. Darüber hinaus wurden
Die Farben des gere Schmerztherapie oder Nichtstun und
Abwarten unter ärztlicher Begleitung.
sie viel seltener an den Bandscheiben ope-
riert – die Übertherapie war eingedämmt.
Krieges Der verurteilte Belegarzt hätte es besser
wissen können; es ist bekannt, dass es
Schließlich verbrauchten sie weniger
Schmerzmittel und fehlten seltener krank-
Razan bringt Bilder von Krieg und Gewalt vielen Menschen nach akuten Beschwer- heitsbedingt auf der Arbeit – sie hatten
den meist von allein wieder besser geht, den Rückenschmerz offenbar besser über-
in ihrem Kopf auf Papier, malt sie auf Lein-
erst recht, wenn sie körperlich aktiv wer- wunden.
wände, transformiert sie in Installationen. den. Von Natur aus haben Rückenschmer- »Wir haben es geschafft, eine andere
Sie hat sich damit aus ihrer Betäubung zen einen gutartigen Verlauf. Medizin zu machen«, freut sich Burkhard
befreit: »Wenn du in einem Land die Spra- Lembeck. Mehr Zeit zum Sprechen, von
che nicht verstehst, dann fühlst du dich, diesem Motto profitieren in seiner Praxis
als wärst du auch taub«, sagt sie über die Warten und bewegen nicht nur die AOK-Versicherten, sondern
Zeit nach ihrer Flucht. Sieben Jahre ist es Den Selbstheilungskräften ihrer Patienten alle Patienten.
her, seit die Haustür in Damaskus hinter geben viele Orthopäden selten eine Chance. Der Elektrotechniker aus Köngen hat
ihr ins Schloss fiel. Sie ist eine von Das liegt auch an der Ausbildung: »Wir ope- Lembecks Rat beherzigt und fährt jetzt an
800 000 Personen, die diese Reise ange- rieren, weil wir das so beigebracht bekom- drei Abenden in der Woche mit dem Fahr-
men haben und weil wir es schon immer rad. Seither ist er den Rückenschmerz los.
treten haben, von Syrien nach Deutsch-
so gemacht haben oder es einfach nicht bes- Karl-Heinz, der Gärtnermeister, hat Kran-
land. Eine Geschichte vom Ankommen. ser wissen«, sagt der Chirurg Stahel. kengymnastik gemacht und zu Hause geübt.
Viele Orthopäden in Deutschland sehen Den rechten Arm bewegt er in die Höhe.
Sehen Sie die Visual Story im digitalen das genauso. »Wer nur operieren lernt, »Dr Dokdor hedd gsagd, dess ned gloi obe-
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. wird auch nur operieren«, heißt es im riert wird«, sagt er. »Und da bin i ihm heud
»Weißbuch Konservative Orthopädie und sehr dankbar drübr.« Jörg Blech
Unfallchirurgie«, das Burkhard Lembeck Mail: [email protected]
mit 71 Kollegen verfasst hat (im Netz
frei verfügbar: www.degruyter.com/view/
product/485172). »Wir können und wollen Video
Welche OP ist wirklich
nicht hinnehmen, dass immer mehr junge nötig, Dr. Lembeck?
Kolleginnen und Kollegen nicht mehr in spiegel.de/sp472018orthopaedie
der Lage sind, einen Patienten richtig zu oder in der App DER SPIEGEL
JETZT DIGITAL LESEN untersuchen, Frakturen konservativ zu be-

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Wissenschaft

Sturzflug mit Victor


Tiere Wie sieht die Welt aus der Vogelperspektive aus? Mit einer
360-Grad-Kamera auf dem Rücken von Adlern
erkunden Forscher die Schönheit der bedrohten Tierwelt.

G elassen blickt er in den Abgrund.


An der Gipfelstation der Zugspitze
wartet Victor geduldig auf seinen
Einsatz.
Mit dem Projekt Eagle Wings will Tra-
vers gemeinsam mit einer Gruppe um die
Gründerin Nomi Baumgartl dazu beitra-
gen, die Folgen von Umweltzerstörung
Tief unten, tausend Meter entfernt am und Klimawandel auch für Laien sichtbar
Nördlichen Schneeferner-Gletscher, winkt zu machen. Zu den Unterstützern gehören
ihm ein Mann in einem orangefarbenen die Höhenbergsteigerin Gerlinde Kalten-
Mantel zu. Ein Mensch würde ein Fernglas brunner ebenso wie die ehemalige Bun-
brauchen, um diese Gestalt zu erkennen, desumweltministerin Barbara Hendricks
aber Victor sieht jedes Detail. (SPD). Das Max-Planck-Institut für Orni-
Dann stürzt er sich mit einer Art Kopf- thologie in Radolfzell am Bodensee wie-
sprung in die Tiefe, erreicht dabei eine Spit- derum erhofft sich von den Testflügen wei-
zengeschwindigkeit von 84 Kilometern pro tere Einblicke in verborgene Verhaltens-
Stunde, fängt sich im Flug, gleitet rechts weisen von wilden und trainierten Adlern,
hinüber zum Grat, weicht einer Dohle aus als GPS-Tracks gespeichert in der Move-
und nähert sich rasend schnell dem Mann bank, Teil einer Art Internet der Tiere.
auf dem Gletscher. Kurz vor Erreichen sei- »Die Wissenschaftler gewinnen durch
nes Ziels breitet Victor seine mächtigen Victors Flüge Informationen«, so Travers,
Schwingen voll aus und landet sanft auf »und wir Emotionen.«
dem Lederhandschuh des Falkners. Aber selbst eine Hochleistungskamera
»Ich arbeite mit Vögeln wie Victor, seit auf dem Vogelrücken kann nur einen un-
ich zwölf Jahre alt bin«, erzählt Jacques- gefähren Eindruck vermitteln, wie Victor
Olivier Travers. »Ich habe mir alles selbst mit seinen Adleraugen die Welt wirklich
beigebracht, mit Krähen fing ich an.« sieht. Noch aus vier Kilometer Distanz ver-
Der Mann mit dem militärisch kurzen mag der Greifvogel eine Person zu erken-
Haarschnitt betreibt am Genfer See einen nen, auf 300 Meter eine Maus. Adler-
Tierpark, in dem mehr als 70 Vogelarten augen sind ähnlich variabel wie ein Zoom-
zu Hause sind. Der Franzose ist eine Art objektiv; anders als der Mensch verfügen Urinspuren von Mäusen wie Leuchtstrei-
Schausteller der Lüfte; seine Greifvogel- sie über jeweils zwei Sehschärfezentren. fen am Boden aus.
flüge vom Eiffelturm, über den Ärmel- Dank der besonders hohen Sehzellendich- Die Reaktionsgeschwindigkeit und das
kanal und vom höchsten Bauwerk der te sehen sie fast doppelt so scharf. Durch zeitliche Auflösungsvermögen der Greif-
Welt, dem Burj Khalifa in Dubai, live über- die Anordnung der Sehschärfezentren ha- vögel sind erstaunlich, wenn sie bei der Jagd
tragen von den britischen BBC News, ha- ben sie außerdem einen extrem starken mit einem Tempo von geschätzt 200 Kilo-
ben ihn bekannt gemacht. Rundumblick mit einem großen Sehfeld metern pro Stunde ihre Beute überraschen.
Zu Victor hat er ein besonders inniges für die räumliche Wahrnehmung. Menschliche Gesten dürften ihnen träge
Verhältnis. Travers hat diesem Seeadler Sogar im ultravioletten Bereich des wie Zeitlupenaufnahmen vorkommen.
überhaupt erst das Fliegen beigebracht, Lichtspektrums nehmen Greifvögel Dinge Die Helfer bereiten Victor auf seinen
denn das Tier wuchs in Gefangenschaft wahr: Für Turmfalken zum Beispiel sehen nächsten Kameraflug vor. Aber der See-
auf. Jahrelang flog der Mann dem Vogel adler will nicht abheben. Er zögert, blickt
mit dem Gleitschirm voraus, um ihm zu hinab ins Tal. Irgendetwas stört ihn. Tra-
demonstrieren, wie man in Aufwinden vers steht unten auf dem Gletscher und
stundenlang gleiten kann. winkt seinem Vogel zu.
Nun hat Travers mit Victor und anderen Beinahe will der Trainer schon aufge-
Greifvögeln sein bislang abenteuerlichstes ben und verlangsamt das Herumfuchteln,
Experiment gestartet: Aus der Vogelper- da stürzt sich Victor doch noch in die Tiefe.
NOMI BAUMGARTL / EAGLEWINGS-PROJECT.ORG

spektive will er die wilde Schönheit der Gemächlich gleitet der Vogel über einen
Alpen erkunden. Auf Victors Rücken hat Felsgrat, wahrscheinlich weil ihn dort ein
er zu diesem Zweck eine 360-Grad-Kame- Aufwind emporträgt.
ra und ein GPS-Gerät befestigt. Nach dem Die spätere Auswertung des Videos lässt
kurzen Flug von Deutschlands höchster erahnen: Greifvögel nehmen die Welt völ-
Bergspitze entfernt Travers die Speicher- lig anders wahr als ein Mensch. Wege und
karte, schiebt sie in den Laptop – und Häuser ignorieren sie, Grate und Gipfel
staunt über die spektakulären Aufnahmen: dagegen scheinen sie zu lesen wie eine
Mächtige Gipfel schrumpfen zu Maul- Wegbeschreibung, murmeltiertaugliche
wurfshügeln, Bergsteiger sehen aus wie Felsen wie eine Speisekarte.
bunte Zwerge, verloren in der unendlichen Falkner Travers mit Greifvogel Victor Erneut rast Victor nun auf den Falkner
Weite der Natur. Schausteller der Lüfte zu, bremst erst im letzten Moment ab.

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JACQUES-OLIVIER TRAVERS
Seeadler Victor beim Flug über das Zugspitzmassiv: »Sein größter Feind lauert überall«

Mit einem harten Ruck setzt er auf dem ken, noch heute führen 27 Länder einen vögeln leichter entkommen. Auch der ver-
Lederhandschuh auf, sein messerschar- Adler in ihrem Staatswappen. Aber wegen stärkte Frühjahrsregen macht den Adlern
fer gelber Schnabel endet direkt neben ihrer Stärke wurden die Tiere auch erbit- zu schaffen, denn sie brauchen starke Auf-
Travers’ Gesicht. Ist das nicht ein gefähr- tert verfolgt. In Bayern ernannte Prinz- winde, um energiesparend durch die Lüfte
liches Spiel? regent Luitpold einst einen Jäger zum »Ad- zu gleiten. Hinzu kommen Bleivergiftun-
»Ich merke meistens vorher, wenn lerkönig«, als der seinen 50. Adler erlegt gen, wenn die Tiere Aas von Beutetieren
Victor mich mit dem Schnabel hacken hatte. Mehr als eine halbe Million Greif- fressen, die von Jägern mit Bleimunition
will«, sagt Travers. Schon mehrfach muss- vögel wurden im 18. Jahrhundert allein in getötet wurden.
te der Mann im Krankenhaus genäht wer- Norddeutschland getötet; für jedes Kral- »Am schlimmsten aber ist die Verrum-
den, Kopf und Oberkörper sind übersät lenpaar gab es saftige staatliche Prämien. melung der Alpen«, sagt Bezzel. »Ständig
von Narben. »Adler können eben nicht »Für die größte Erholung der Bestände sind selbst an den entlegensten Graten
sprechen«, sagt Travers verständnisvoll sorgten die beiden Weltkriege, weil in der Mountainbiker unterwegs, auch nachts
und blickt dem Tier tief ins Auge, Nase an Zeit weniger gejagt wurde«, sagt Bezzel. geistern Stirnlampen durch die Wildnis.«
Schnabel. »Victor drückt sich mit seinem Noch 1961 aber forderte ein Forstbeamter Und gerade weil die Vögel mit ihren Ad-
Körper aus.« weniger Hürden beim Abschuss der Vögel. leraugen alles mitkriegen, was in ihrem
Der Ornithologe Einhard Bezzel, ein Heute sind etwa 45 Reviere in Bayern mit Sichtfeld passiert, sind sie für Störungen
Gelehrter von 84 Jahren, der 33 Jahre lang einem Steinadlerpaar besetzt. aller Art besonders anfällig.
die Staatliche Vogelschutzwarte in Gar- »Doch diese erfreulichen Zahlen täu- »Vielleicht ist dieses Brimborium mit
misch-Partenkirchen geleitet hat, blickt schen«, sagt Bezzel. »Denn die Reproduk- den Kameraflügen sogar  hilfreich«, sagt
wissenschaftlich nüchterner auf den Adler. tionsrate ist weltweit mit am niedrigsten.« Bezzel. »Dann bleiben hoffentlich mehr
»Dieses ganze Gerede vom König der Lüf- Sie liegt bei rund 0,3 Jungvögeln pro Paar Menschen daheim, um Adlerfilme zu
te ist doch irreführend«, grummelt Bezzel. und Jahr – viel zu wenige, um die Bestän- schauen – und lassen die Tiere in freier
»Klar, Adler stehen am Ende der Nahrungs- de in den deutschen Alpen langfristig zu Wildbahn in Ruhe.« Hilmar Schmundt
kette, andererseits sind es doch recht emp- sichern. Die Adler sind auf Einwanderung
findliche Burschen.« aus anderen Gebieten angewiesen.
Zwar hätten sie keine natürlichen Fress- Was den Steinadlern so zusetzt, ist ver- 360°-Video
Auf dem Rücken
feinde, so der Biologe. »Aber sein größter mutlich eine Kombination von Gründen: des Adlers
Feind lauert überall – der Mensch.« Der Klimawandel führt zu wärmeren Win- spiegel.de/sp472018adler
Über Jahrhunderte wurden Adler auf tern, weshalb Murmeltiere und Gämsen oder in der App DER SPIEGEL
Wappen verewigt, weil sie so mächtig wir- besser genährt sind und dadurch den Greif-

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Wissenschaft

NOAH BERGER / AP
Feuerwehrmann vor brennendem Wohnhaus bei Paradise: »Die Wahrscheinlichkeit großer Brände nimmt zu«

»Ein Funke genügte«


Umwelt Der Klimaforscher und Ökologe Tim Brown erklärt, warum in Kalifornien
immer heftigere Buschfeuer wüten – und
warnt davor, kleinere Brände mit allen Mitteln zu verhindern.

Brown ist Atmosphärenfor- Winde vorhergesagt, sowohl in Nord- wie ken. 2017 zum Beispiel wurden mehrere
scher und Buschfeuerexperte auch in Südkalifornien. Feuer durch beschädigte Stromleitungen
am Desert Research Institute SPIEGEL: Er gibt also eine Feuervorhersage? ausgelöst.
in Reno (US-Bundesstaat Brown: Oh ja, die Vorhersage des Feuer- SPIEGEL: Warum war das Brandrisiko in
Nevada). wetters ist sogar recht gut. Zum Teil kann diesem Jahr so hoch?
sich die Gefahr von Stunde zu Stunde ver- Brown: Entscheidend ist zunächst, dass
SPIEGEL: Herr Professor Brown, Kalifor- ändern. Das Einzige, was sich nicht pro- der Sommer sehr heiß und trocken war.
nien wird von den schlimmsten Bränden gnostizieren lässt, ist die Entzündung. Bei Die Pflanzen waren also ausgedörrt. Vor
seit Beginn der Aufzeichnungen heimge- Gewittern können wir zumindest das Ri- allem in Nordkalifornien kam noch ein un-
sucht. Mehr als 50 Menschen kamen in siko von Blitzschlag abschätzen. Aber an- gewöhnlich regenreicher Winter hinzu,
den Flammen um, über 8000 Häuser sonsten bleibt der Funke selbst unbere- der das Wachstum der Gräser befördert
brannten nieder – war vorhersehbar, dass chenbar. hatte. Die Folge: Wir hatten sehr viel tro-
so etwas passieren würde? SPIEGEL: Die Schuld an den aktuellen ckene Biomasse, die nur noch eines Fun-
Brown: Zumindest hat es mich nicht wirk- Bränden liegt also beim Menschen? kens bedurfte, um lichterloh zu brennen.
lich überrascht. Natürlich wusste niemand Brown: Die genaue Ursache wird noch un- SPIEGEL: Und dann war da noch der
genau, wo es brennen würde. Aber es gab tersucht. Aber ja, wenn es kein Blitz ist, Wind …
klare Indizien für eine erhöhte Feuer- dann sind fast immer – so oder so – Men- Brown: Ja, wobei der starke Wind selbst
gefahr. Insbesondere waren sehr starke schen verantwortlich für den ersten Fun- gar nichts Ungewöhnliches ist. Die Santa-

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ZUMA PRESS / ACTION PRESS


Verwüstung in Paradise: »Zwei Millionen Häuser stehen in Gegenden mit hoher Brandgefahr«

Ana-Winde sind in Kalifornien ein alljähr- wir über viele Jahre hin erfolgreich Feuer del verursacht diese großen, zerstöreri-
lich auftretendes Phänomen. Dabei han- verhindert haben. Das klingt zwar er- schen Feuer.« Wir dürfen die anderen, min-
delt es sich um charakteristische heiße freulich, aber es führt gleichzeitig dazu, destens ebenso wichtigen Faktoren nicht
Herbstwinde, die typischerweise durch die dass sich immer mehr Brennstoff ange- außer Acht lassen: dass es in der Vergan-
Differenz zwischen einem Hochdruck- sammelt hat. genheit eine Form der Brandvorsorge ge-
gebiet über dem Inland und tiefem Druck SPIEGEL: Also ein Fall von schlechtem Ma- geben hat, die wir überdenken sollten; und
vor der Küste angetrieben werden. Diese nagement? dass die Menschen ihre Häuser an eben-
Winde müssen den Gebirgsriegel der Brown: So würde ich es nicht nennen. Ag- jenen Orten bauen, wo die Gefahr beson-
Sierra Nevada überwinden. Dann strömen gressives Verhindern von Feuer kann Vor- ders groß ist.
sie hangabwärts, wobei ihre Geschwindig- und Nachteile haben. Rückblickend er- SPIEGEL: Sie wollen sagen: Die Leute ha-
keit zunimmt. Die Luft wird dabei kom- weist es sich manchmal als Irrtum. ben ihre Häuser am falschen Ort gebaut;
primiert, was sie zusätzlich aufheizt. SPIEGEL: Schlagen Sie also vor, die Vege- jetzt müssen sie sich nicht wundern, dass
SPIEGEL: Es scheint so, als hätte die Häu- tation regelmäßig und kontrolliert abzu- sie abbrennen?
figkeit von Bränden in Kalifornien zuge- fackeln? Brown: Die Menschen wollen raus aus den
nommen. Warum ist das so? Brown: Sie werfen da eine höchst komple- Städten, und sie dringen dabei immer wei-
Brown: Zunächst: Die Gesamtzahl aller xe Frage auf. Ja, in einigen Gegenden sind ter vor in die Übergangszone zwischen
Feuer in Kalifornien hat überhaupt nicht kontrollierte Feuer das Mittel der Wahl, in Stadt und Wildnis. Wer aber sein Eigen-
zugenommen; die Zahl der großen, ver- anderen ist es besser, die Pflanzen physisch heim an einem Platz inmitten einer Vege-
heerenden Feuer aber sehr wohl. Von den auszudünnen. Und manchmal empfiehlt tation errichtet, die alljährlich austrocknet,
20 größten je dokumentierten Feuern in sich eine Kombination von beidem. der riskiert, dass es irgendwann in Flam-
Kalifornien brannten 15 in diesem Jahr- SPIEGEL: Welche Rolle spielt der Klima- men aufgeht.
tausend. wandel? SPIEGEL: Sollte das bei der Siedlungs-
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das? Brown: In der Feuerökologie gilt die planung besser berücksichtigt werden?
Brown: Ich sehe zweierlei Ursachen: Zum Grundregel: Klima ermöglicht Feuer, Wet- Brown: Unbedingt! Denn nachträglicher
einen sind da die wärmeren, trockeneren ter facht es an. Mit anderen Worten: Ja, Feuerschutz von Häusern, nachdem sie
Klimabedingungen, vor allem im Norden wenn es wärmer und trockener wird – und einmal gebaut sind, kann sehr teuer wer-
Kaliforniens. Besonders wichtig ist dabei, das beobachten wir in Kalifornien –, dann den. Ungefähr zwei Millionen Häuser in
dass die nächtlichen Temperaturen ge- bedeutet das erhöhte Feuergefahr. Ich zö- Kalifornien stehen in Gegenden mit hoher
stiegen sind. Der andere Punkt ist, dass gere trotzdem zu sagen: »Der Klimawan- Brandgefahr.

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 127


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Wissenschaft

SPIEGEL: US-Präsident Donald Trump hat Brown: Erheblich. Die Epidemiologen


das Management der Forstwirte verant- Buschbrände in Kalifornien liefern uns Zahlen, die eindrucksvoll zei-
wortlich für die Brände gemacht. Ist auch Stand: 15. November gen, wie sehr der Rauch die Sterblichkeit
da etwas Wahres dran? Quelle: fire.ca.gov steigen lässt. Auch die Notaufnahmen in
Brown: Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, den Krankenhäusern haben bei hoher
was er damit meint. Diese Feuer haben ja Rauchbelastung merklich mehr zu tun. Es
gar nicht wirklich in bewaldeten Gegenden spricht viel dafür, dass die Zahl mittelbarer
USA
gewütet. Das »Camp Fire« im Norden ist Todesfälle aufgrund der feuerbedingten
zwar weiter oben im Wald entstanden, hat Luftverschmutzung wesentlich höher ist
sich dann aber ins Gestrüpp hangabwärts Paradise als diejenige der unmittelbaren Brand-
gefressen. Und da, wo es im Süden brennt, opfer.
gibt es überhaupt kein zusammenhängen- San SPIEGEL: Wie geht es jetzt weiter? Wird
des Waldgebiet. Francisco es vor dem Winter noch weitere Feuer in
SPIEGEL: Die Brandbekämpfung in Kali- Kalifornien geben?
fornien mutet erstaunlich hilflos an. Wa- Brown: Wenn ich das wüsste! Vor allem
rum ist es trotz aller Technik immer noch in Südkalifornien wird die Feuergefahr
so schwierig, diese Urgewalt der Natur un- Paz i fi k KALIFORNIEN noch bis in den Winter hinein bestehen
ter Kontrolle zu bringen? bleiben. Es kommt sehr darauf an, ob wir
Brown: Vergessen Sie nicht: 98 Prozent Malibu noch einmal starke Winde bekommen.
aller Feuer werden rasch gelöscht. Wir re- SPIEGEL: Und wie sieht es langfristig
den hier also nur über ein, zwei Prozent aus? Werden weitere Orte, ähnlich wie
aller Brände. Aber wenn Wind, ungünsti- Los Angeles das jetzt eingeäscherte Paradise, nieder-
ges Terrain und viel trockene Vegetation brennen?
zusammenkommen, dann wird es schwie- Von Bränden betroffene Brown: Ich will keine Prognose über
rig. Sie haben recht: Wenn sich die Feuer- Flächen Todesopfer machen. Aber eines lässt sich
in km2
wehr einem Brand gegenübersieht, der mit Sicherheit sagen: Die Wahrscheinlich-
von starkem Wind angefacht wird, dann 6587 keit großer Brände nimmt zu. Wir werden
ist sie so hilflos wie eh und je. 2286 5053 bis 12. Nov. mehr solcher Ereignisse erleben.
SPIEGEL: Wie schlimm sind die indirekten 2016 2017 2018 Interview: Johann Grolle
Gesundheitsgefahren dieser Feuer?

Klimawandel Die Waldbrände haben auch die Häuser von darunter die Sängerin Miley Cyrus, die
mit ihrem Verlobten, dem Schauspieler
Prominenten zerstört – die nun die Stimme gegen Trump erheben. Liam Hemsworth, und ihren Tieren den
Flammen entkam. Auch der Popstar Katy

Flammende Wut Perry und der Altrocker Rod Stewart kriti-


sierten Donald Trump: »Herzlos« nannte
Katy Perry die Reaktion des Präsidenten.
Und Rod Stewart schrieb: »Kalifornien
G Dystopie trifft Realität in den verhee- Young, der sein Haus ebenfalls im Feuer braucht unterstützende und ermutigende
rendsten Buschfeuern der Geschichte Kali- verloren hatte. Auf seiner Website kriti- Worte, keine Drohungen oder Schuld-
forniens: Der Filmset für die US-amerika- sierte er den amerikanischen Präsidenten zuweisungen und Vorwürfe.«
nische Serie »Westworld«, eine dunkle Donald Trump für dessen Politik und Neil Young wurde noch wesentlich
Fantasie über eine technisierte Zukunfts- wandte sich gegen Trumps Vorwurf, »gro- deutlicher: »Stell dir einen Anführer vor,
welt, in der Roboter die Macht über- bes Missmanagement« sei für die Kata- der sich der Wissenschaft widersetzt«,
nehmen könnten, wurde von den Flam- strophe verantwortlich. »Kalifornien ist schrieb er, jemanden, der sich mehr um
men verschlungen – die Paramount verwundbar«, schrieb Young, »wegen des seine eigene bequeme Meinung kümmert
Ranch, 1927 erbaut und Westernkulisse Klimawandels; die extremen Wetterereig- als um die Menschen, die er führt. »Stell
vieler Sendungen und Filme. nisse und die anhaltende Dürre hier bei dir einen ungeeigneten Anführer vor«,
Unterdessen meldete sich eine andere uns sind ein Teil davon.« Einige andere so Youngs Fazit. »Und jetzt stell dir einen
Westernlegende zu Wort, der Sänger Neil Künstler verloren ebenfalls ihr Haus, geeigneten vor.« GOD
MIKE NELSON / EPA-EFE / REX

MIKE NELSON / EPA-EFE / REX

FREDERIC J. BROWN / AFP

Abgebrannte Kulisse von »West World« Zerstörtes Haus des Sängers Neil Young Hausruine des Schauspielers Gerard Butler

128 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Kultur
»It’s about the money!« ‣ S. 138

KHALED BARAKEH
Barakeh-Werk »Untitled Images 2«, 2014

Kunst

Bilder der Toten und der Überlebenden


G Khaled Barakeh kam 1976 in einem Vorort von Damaskus gibt es in diesem Land zu wenige – solche, die an die Lebens-
zur Welt, er wurde zum Künstler, ausgebildet in seiner Hei- welten der Migranten erinnern. Kriegerische Konflikte, Fol-
mat und in Europa, heute unterrichtet er an der Berliner Uni- ter, Exil. All das kommt bei Barakeh vor, und was er mit den
versität der Künste. Wer könnte besser als er sagen, wie es Themen macht, ist auch künstlerisch prägnant. An manchen
sich anfühlt, wenn das eigene Koordinatensystem wegbricht Fotoarbeiten würde man am liebsten vorbeisehen, dabei
und man sich in einem neuen zurechtfinden muss. Und wenn dokumentieren sie nicht einmal den ganzen Schrecken, den
einen die Vergangenheit doch nicht loslässt. Identitätssuche in Syrien viele erfahren mussten, lassen beunruhigende Leer-
heißt das, und darum kreisen die Arbeiten des Malers und stellen: Sie zeigen, auf zerstörten Straßen, weinende, schrei-
Konzeptkünstlers. Von diesem Wochenende an sind sie im ende Menschen, die einen toten Angehörigen im Arm halten,
Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe in der Ausstel- ihre Kinder manchmal. Die Leichen wurden vom Künstler
lung »Die blaue Stunde« zu sehen. Kunstschauen dieser Art unkenntlich gemacht, sind nur noch weiße Silhouetten. UK

Kino Große Denker sind immer schon an der sche Totalen und mikroskopisch kleine
Sein oder Nichts frischen Luft auf große Gedanken gekom- Dramen ab. Ihm gelingen Bilder, in die
men. Warum also nicht über Vergäng- sich der Zuschauer fallen lassen kann wie
G Immer wieder gleiten die Schatten lichkeit sinnieren, während man dabei in eine Sommerwiese. Leider herrscht
eines Windrads über die Figuren, wie die zusieht, wie Ameisen den Rest eines diesmal kein Schweigegelübde. Das Sirren
Zeiger einer riesigen Uhr. Es ist offen- Apfels verspeisen, oder über Zeitsprünge, und Flirren der Natur, das dazu einlädt,
sichtlich, dass sich Philip Grönings neuer während ein Grashüpfer einen Riesensatz über Erhabenheit und Glück, das Sein
Film »Mein Bruder heißt Robert und ist macht? Nur wenige Regisseure können und, ja, auch über die Zeit zu reflektieren,
ein Idiot« um das Thema Zeit dreht. Der aus Ereignislosigkeit so großes Kino wird immer wieder unterbrochen von
Regisseur erzählt von der Abiturientin machen wie Gröning. Über das Leben in zwei Teenagern, die superschlau daherre-
Elena (Julia Zange), die sich mit ihrem einem Kloster, in dem ein Schweigegelüb- den. Das macht diesen fast drei Stunden
Zwillingsbruder Robert (Josef Mattes) auf de herrscht, drehte er das packende 160- langen Film zu einem immer wieder groß-
ihre Philosophieprüfung vorbereitet, Minuten-Epos »Die große Stille« (2005). artigen und zugleich extrem anstrengen-
mitten im Sommer, mitten auf einem Feld. Diesmal gewinnt er der Natur majestäti- den Erlebnis. LOB

130 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Pop Land eben nicht mehr: »fröhlich«. Es ist Nils Minkmar Zur Zeit
Britische Trauerarbeit gespalten, ratlos und ohne Zukunft. Wie

G Sollte der Brexit wirklich kommen, hat


keinem Popstar seiner Generation ging es
Damon Albarn in fast allem, was er
Selbstwarnung
der Gorillaz-Erfinder und Blur-Sänger gemacht hat, immer um die Fortschrei- Heute erhielt ich per E-Mail
Damon Albarn, 50, einmal in einem bung jenes großen Projekts, das mit eine »Sicherheitswarnung«:
Interview gesagt, werde er England ver- den Beatles seinen Anfang nahm: in Jemand hat, nachdem er
lassen. Noch ist es nicht so weit – doch der Popkultur eine neue Identität sich ein neues Kennwort
mit »Merrie Land« (Warner), dem neuen für ein Land zu formulieren, das mit besorgt hatte, mein E-Mail-
Album von Albarns anderer Band The den Kolonien seine politische Welt- Postfach geöffnet. Die Alarm-
Good, The Bad & The Queen, nimmt er geltung verloren hatte – global, bunt mail verriet mir den Standort
schon einmal Abschied. The Good, The und dabei immer unverkennbar britisch. dieses Menschen. Er befand sich in
Bad & The Queen waren ja immer mehr Das ist fürs Erste gescheitert. The Good, unmittelbarer Nähe. Ein Nutzername
als nur ein Seitenprojekt von Albarn. The Bad & The Queen singen davon, wie war ebenfalls angegeben, und den
Es war sein Versuch, London in Musik zu weh das tut. RAP kannte ich gut – es war mein eigener.
verwandeln, die britische Hauptstadt Auch für so einen Fall stand etwas in
wie die Hauptstadt des Pop. Paul Simo- der Mail: Ich solle das Ganze vergessen.
non, der Ex-Bassist der Punkband The Man wolle mich bloß darüber infor-
Clash war dabei, der Afrobeat-Schlag- mieren, was ich so tue. Doch ein einmal
zeuger Tony Allen und der The-Verve- geweckter Zweifel legt sich nicht so
Gitarrist Simon Tong. Als das Debüt leicht wieder hin. War ich das wirklich?

PENNY SMITH / WARNER MUSIC


2007 erschien, war das ein optimisti- Der amerikanische Schriftsteller
sches Unterfangen. Jetzt, fast zwölf Jah- Philip Roth hat in seinem Buch »Ope-
re später, ist es vor allem Trauerarbeit. ration Shylock« beschrieben, wie
Die Songs gehen um Abschied und um er während einer Reise durch Israel
Trennung, um Schmerz und darum, wie immerzu auf den amerikanischen
die alte Ordnung sich auflöst. »Merrie Schriftsteller Philip Roth angesprochen
Land« ist ein deprimiertes Wortspiel auf wird, der Interviews gibt und seltsame
»merry old England«, denn das ist dieses Allen, Albarn, Tong, Simonon Thesen verbreitet. Die alte, analoge
Welt hat sich mit dem Problem der
Identifikation der Person ja immer sehr
schwergetan. Unsere digitale Gegen-
Theater Die haben etwas vor, die arbeiten an wart hat für solche Fälle Tests und wen-
»Unverblümte Realität« einer gelenkten, autoritären, nationalen det sie unablässig an. Das Orakel von
Demokratie. Ich würde das nicht mehr Delphi empfahl noch: »Erkenne dich
ARMIN SMAILOVIC / AGENTUR FOCUS

Der österreichische Demokratie nennen wollen. selbst.« Google sagt: »Wir haben dich
Schriftsteller Doron SPIEGEL: In Ihrer Textcollage, die im erkannt, und es ist höchste Zeit für
Rabinovici, 56, über seine Zsolnay Verlag als Buch erschienen ist, einen Sicherheitscheck.« Dafür gibt es
Collage »Alles kann zitieren Sie Hannah Arendt mit der ja dann oft diese Bilderserien, auf
passieren. Ein Politthea- Bemerkung, dass in Zeiten der Lüge je- denen all jene Fotos zu markieren sind,
ter«, die am Mittwoch der, »der einfach sagt, was ist, bereits auf denen »ein Zebrastreifen« erkenn-
im Wiener Akademie- zu handeln angefangen hat«. Verstehen bar ist. Der Test soll beweisen, dass der
theater aufgeführt wird Sie Ihre Arbeit als politischen Akt? Proband ein Mensch ist, obwohl Fähig-
Rabinovici: Ja. Wir treten gegen das an, keiten einer in der Savanne jagenden
SPIEGEL: Herr Rabinovici, Sie haben Tex- was manche »alternative Wahrheiten« Großkatze abgefragt werden.
te aus Reden europäischer Rechtspopulis- nennen oder, nach den Worten eines Wesentliche Funktion des digitalen
ten wie Viktor Orbán, Matteo Salvini österreichischen Politikers, »stichhaltige Sicherheitswahnsinns ist es, den Nutzer
und Heinz-Christian Strache zu einem Gerüchte«. Ich habe keine der Reden beschäftigt und besorgt zu halten.
Drama arrangiert. Mit welchem Ziel? bearbeitet, sie sind nur verkürzt und so Unlängst konnte ich das Sicherheitssys-
Rabinovici: Das Ziel heißt: genaueres aneinandergereiht, dass sie dramatur- tem eines Hotels prüfen. Die Tür meines
Zuhören. Auftritte von Politikern sind gisch Sinn ergeben. Man merkt dabei, Zimmers meldete einen unbefugten
fast immer Inszenierungen, die Sätze aus wie die Redner mit Feindbildern operie- Öffnungsversuch und verschloss sich
dem Mund der Akteure sind stark aufge- ren, wie sie ihre Zuhörer mit »Volk« automatisch. Allerdings stand ich selbst
plustert, ihr Sinn ist vernebelt. Wir fah- ansprechen statt als »Bevölkerung«, wie auf dem Flur und versuchte, mit meiner
ren die Inszenierung zurück. Schauspiele- sie gegen die Medien mobilmachen. Zimmerkarte die Tür zu öffnen. Kurz
rinnen lesen die Texte. So werden die SPIEGEL: Warum ist für Sie das Theater zuvor ging es noch. Erst der Manager des
Worte deutlich. Man versteht wieder, was der richtige Ort für die korrekte Darstel- Hauses vermochte meine Tür mit seiner
da eindeutig gesagt wird. lung der Realität? Superkarte zu öffnen. Man kann nie vor-
SPIEGEL: Es geht Ihnen bei »Alles kann Rabinovici: Tatsächlich sehe ich einen sichtig genug sein. Wer weiß, was ich in
passieren« um Aufklärung? Rollenwechsel zwischen bestimmten meinem Zimmer wollte? Skeptisch blick-
Rabinovici: Wir, der Journalist Florian Medien und der Theaterkunst. Früher te ich in den Spiegel: Darf dieser Mann
Klenk und ich, wollen die Zusammenhän- war es die Aufgabe der Kunst zu pro- mein Gepäck beaufsichtigen? Permanen-
ge zeigen. Der Titel ist ein Zitat Viktor vozieren, heute scheinen manche Medien te Paranoia ist die neue Form der Psycho-
Orbáns, das es so ähnlich aus dem Mund die Provokation als ihre Hauptaufgabe analyse: Wo du bist, könnte Es sein.
anderer populistischer Politiker gibt. zu betrachten. Deshalb wird es in der
Wenn solche Leute sagen, dass wir uns Kunst umso interessanter, die Realität An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
noch wundern werden, dann merkt man: möglichst unverblümt darzustellen. HÖB Elke Schmitter im Wechsel.

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Kultur

Vor der
Schockwelle
Kolonialismus In der kommenden Woche präsentiert Frank-
reichs Präsident Emmanuel Macron Vorschläge, wie er
koloniales Raubgut zurück nach Afrika bringen will. Europas
Museen befürchten eine Signalwirkung – und leere Vitrinen.

N
och verweigern der Präsident gesehen haben, die kaum wussten, wohin
des Pariser Musée du quai sie all die Mitbringsel ihrer sogenannten
Branly und sein Direktor eine Forschungsreisen oder das, was sie bei Zwi-
Aussage zu dem großen, heiklen schenhändlern eingekauft hatten, stopfen
Thema dieser Zeit. Vielmehr wirken sie sollten.
fast so stumm und undurchdringlich wie Sie bekamen all das nur, weil die Euro-
die alten afrikanischen Skulpturen, die sich päer Afrika mit äußerster Brutalität leer
in ihrer Obhut befinden – und von denen räumten – aber auch das wird im Däm-
sie bald einige in die Herkunftsländer merlicht fast ausgeblendet. Auf Wandtex-
zurückschicken müssen. ten heißt es, nicht nur die Sammlung dieses
Sie sagen nur, dass sie nichts sagen wol- Museums, sondern auch die »Sammler«
len. Noch nicht. des 19. Jahrhunderts sollten gewürdigt wer-
Das Museum, an der Seine gelegen, ist den: ihre »Expeditionen«, ihre »Mission«.
das größte seiner Art in Frankreich, eines Eine seltsame Verharmlosung angesichts
der berühmtesten auch international. Es des Grauens, das mit den Eroberungs- und
wurde 2006 eröffnet, alles daran war über- Plünderungstouren durch Afrika einher-
raschend, ungewöhnlich und unkonven- ging. Eine Verharmlosung auch angesichts
tionell, aus damaliger Sicht radikal. Ein der Tatsache, dass sich über 90 Prozent
Museum für außereuropäische Kunst, wie des afrikanischen kulturellen Erbes nicht
es kein anderes gibt. mehr in Afrika, sondern in den Sammlun-
Die alten ethnologischen Museen – in gen der Länder des Nordens befinden, von
Deutschland gern Völkerkundemuseen Berlin bis New York. Oder eben in Paris.
genannt – wirkten ja oft wie altmodische Dabei hatte das Musée du quai Branly
wissenschaftliche Kabinette. Staubige immerhin einen besonderen Anspruch –
Vitrinen und eine spröde und pseudowis- und wird sich trotzdem bald neu erfinden
senschaftliche Zurschaustellung einer ver- müssen. Seine Vertreter werden sich auch
meintlichen Gegenwelt. Im Musée du quai äußern, das haben sie versprochen. Aber
Branly wird dagegen die ästhetische Kraft sie wollten warten, sagen sie, »bis der Be-
all der Kult- und Alltagsobjekte betont, die richt erscheint«.
Aura alter Gegenstände etwa aus Afrika Voraussichtlich am nächsten Freitag soll
oder Südamerika. im Élysée-Palast »der Bericht« vorgestellt sin Bénédicte Savoy, eine in Paris und Ber-
Vor dem Gebäude befindet sich eine Art werden, den der französische Staatspräsi- lin lehrende Professorin für Kunstgeschich-
Paradiesgarten, Bäume, Hecken, Büsche, dent Emmanuel Macron im März in Auf- te, sowie den senegalesischen Wirtschafts-
Schilf, japanische und andere Gräser, zwi- trag gegeben hat. Schon dieser Auftrag professor und Autor Felwine Sarr.
schen die haben Landschaftsarchitekten sorgte – vor allem außerhalb Frankreichs – Seit März also arbeiten die beiden an
transparente Röhren mit glitzernder blauer für ziemliche Aufregung. ihrem Report und ihren Vorschlägen, sind
Flüssigkeit gesteckt. Innen: ausschließlich Mit ihm will Macron ein Versprechen dafür viel gereist, haben mit Experten in
Dämmerlicht. Die Artefakte – die Holz- einlösen, das er Studenten in Burkina Faso Frankreich, in Afrika gesprochen. Und
skulpturen, die Zepter oder Kopfstützen, gab. Er sagte, dass die »Verbrechen der wenn ihre Ideen am nächsten Freitag öf-
auf denen die Häupter von Toten bei Be- europäischen Kolonialisierung unbestreit- fentlich präsentiert werden, dürfte endgül-
gräbnissen geruht haben – werden so sanft bar« seien, dass er die Voraussetzungen tig eine Schockwelle durch die Museums-
angeleuchtet, als scheine nur Kerzenlicht. schaffen wolle, damit das einst geraubte welt gehen.
Obwohl der Bau modern ist, ist es die Kulturgut nach Afrika zurückkehren Savoy und Sarr wollen im Vorfeld nichts
Stimmung eben nicht. Alte afrikanische könne. verraten. Doch natürlich erwartet Macron,
Instrumente zum Beispiel, vor allem Trom- Dafür bat er zwei so renommierte wie der mit seinen Versprechen sehr weit ge-
meln, stehen in einem gläsernen Schau- selbstbewusste Wissenschaftler, die Rah- gangen ist, keine vagen Andeutungen, son-
depot dicht an dicht in Regalen. So muss menbedingungen einer solchen Restitu- dern möglichst konkrete Ansagen. Was be-
es vor 150 Jahren bei jenen Gelehrten aus- tion zu entwickeln, und zwar die Franzö- sitzt Frankreich an kolonialen Gütern?

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JAVIER LARREA / PRISMA BILDAGENTUR


Skulpturen im Pariser Musée du quai Branly: Warum hier, wenn in Afrika nichts mehr ist?

Was besitzt es wohl zu Unrecht? Wie defi- Was auch immer sie vorschlagen wer- wo vorher keine waren. Wem will man nun
niert man überhaupt Unrecht, wie erstellt den: Etliche Museumsleute vor allem aus etwas zurückübertragen, einer Gemein-
man Kriterien, was muss denen zufolge den anderen europäischen Ländern wer- schaft, einem Staat? Was ist, wenn Krieg
zurückkehren? Geht das ohne die Ände- den sagen, dass das alles unangemessen herrscht, wie seit Jahren schon in Mali?
rung von Gesetzen oder eben nicht? oder auch gar nicht machbar sei. Denn Gleichgültig wie Frankreich im Bereich
Das Musée du quai Branly steht sicher sonst stünden sie unter Zugzwang. Kaum des Kleingedruckten verfahren wird, die
im Mittelpunkt aller Überlegungen, es be- einer ist schon bereit, auf die wichtigsten anderen Ex-Kolonialmächte werden das
sitzt die meisten Objekte im Land – und Schätze seines Hauses zu verzichten, nur alles nicht ignorieren können. Die Einstel-
die digitalisierten Daten dazu. Manches weil Macron am Zeitgeist dreht. lung einer jüngeren europäischen Genera-
wird sich vielleicht schnell einordnen las- Jede Empfehlung von Sarr und Savoy tion zu dem Erbe aus Afrika und anderen
sen, anderes viel Zeit erfordern. Vielleicht wird daher neuer Diskussionsstoff sein, es eroberten Gebieten ändert sich gerade,
auch Jahre über Macrons Amtszeit hinaus. wird tatsächlich nicht ausreichen zu erfor- und manche Projekte werden davon kalt
Der französische Präsident muss nun be- schen, welche Artefakte nach Afrika oder erwischt.
weisen, dass er mehr im Sinn hat als nur Lateinamerika zurückgehen. Es muss auch Beispiel Deutschland: In Berlin wird
halbherzige Lösungen. Und mit Sarr und geklärt werden, an wen. Die Europäer 2019 das Stadtschloss eingeweiht – oder
Savoy hat er sich zwei Persönlichkeiten ge- haben Afrika in den Achtzigerjahren des doch mindestens ein Teil davon. Im darin
holt, die es stets ernst meinen. Vielleicht 19. Jahrhunderts neu aufgeteilt, als sie auf untergebrachten Museum soll, wie im
sogar ernster, als ihm lieb ist. der Berliner Konferenz Grenzen zogen, Musée du quai Branly, die Kultur der au-

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 133


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Ländern dieses Kontinents und der restli-


chen Welt etabliert.
Bisher ist stattdessen, auch auf musealer
Ebene, ein ewiges Gefälle sichtbar. Savoy
hat im Sommer im SPIEGEL (29/2018)
betont, die junge Generation könne in Afri-
ka nicht in Museen gehen und auf die ei-
gene Geschichte blicken, es sei einfach
nichts da. Und es sei heuchlerisch, den Jün-
geren anzubieten, sich das alles in Europa
anzusehen, denn sie erhielten oft nicht ein-
mal ein Visum.
In Europa wiederum wurde die Frage,
wie die eigenen Museen gefüllt wurden,
lange gar nicht erst gestellt. Das Publikum

ALAIN JOCARD / AFP


sollte nicht mit den unschönen Seiten der
europäischen Sammelleidenschaft beläs-
tigt werden. Dabei wäre manches Museum
ohne die Mitbringsel sogenannter militä-
Wissenschaftler Sarr, Savoy: Selbstbewusste Berichterstatter rischer und wissenschaftlicher Expeditio-
nen gar nicht erst entstanden. In diesen
Häusern, letztlich noch im Musée du quai
Branly, wurde dann eine simple und fatale
Sicht verbreitet, die Welt schien sich dort
zu teilen in ein »wir« und »die anderen«.
Gelegentlich kommt es zu Restitutionen,
die Bereitschaft beschränkt sich aber häu-
fig auf die Rückgabe sogenannter mensch-
licher Überreste. Denn auch die haben
Europäer einst angehäuft, Schädel, Kno-
chen, Schrumpfköpfe. Die anderen Stücke,
die Kunst, das Kunsthandwerk aber – das
will niemand so leicht aufgeben.
Vieles, was in diesen Monaten bespro-
chen wird, erinnert an die Debatten, die ge-
führt wurden, nachdem vor 20 Jahren die
LUDOVIC MARIN / AFP

Restitution von NS-Kunst vereinbart wor-


den war. Damals unterzeichneten 44 Staa-
ten eine Deklaration – die »Prinzipien von
Washington« – und kündigten an, endlich
Wiedergutmachung zu üben. Auch seiner-
Staatschef Macron 2017 in Burkina Faso: Versprechen, die weit gingen zeit kam es, gerade in Museen, zu Abwehr-
reflexen. Direktoren bestritten die Ansprü-
che jüdischer Familien oft genug.
ßereuropäischen Welt zelebriert werden. den. Blut klebe an den Objekten, so hat Eine junge Generation von Museums-
Deutschland wollte sich, wie einst Frank- es Savoy oft gesagt – doch das Blut sollte mitarbeitern und Wissenschaftlern redet
reich, mit diesem Staatsvorhaben vor al- offenbar nicht sichtbar werden. Mit ihrem längst anders über Themen wie Mitschuld
lem selbst überhöhen, und zwar als welt- Rückzug hat sie viel ausgelöst, dieser Auf- und Verantwortung großer Institutionen,
offenes Land – das aber ausgerechnet mit- ruhr dürfte auch ein Grund für Macron ge- aber weiter oben in der Hierarchie
hilfe des kolonialen Erbes. wesen sein, sich des Themas anzunehmen. herrscht häufig ein anderes Denken vor.
Als das alles vor etlichen Jahren be- Weltweit wurde 2017 über Savoys Aus- Dort ist eher die Angst vor leeren Vitrinen
schlossen wurde, war man noch naiver als tritt und ebenso über die von ihr geschil- verbreitet, noch mehr vor Bedeutungsver-
die Erbauer des Pariser Museums. Denn derten Schattenseiten des Staatsprojekts lust, davor, nicht mehr Herr der Lage zu
die Sammlungsbestände, von denen große Humboldt-Forum berichtet. Im Kanzler- sein – und der Sammlungen.
Teile eine koloniale Vergangenheit haben, amt machte sie sich damit wohl nicht be- In Deutschland gab der Museumsbund
sollen ausgerechnet zur Verfügungsmasse liebt, und doch erzwang sie ein gewisses einen »Leitfaden zum Umgang mit Samm-
eines Schlosses werden, das an die preu- Umdenken. So wurde die Aufarbeitung lungsgut aus kolonialen Kontexten« he-
ßischen Herrscher und damit an einstige der kolonialen Vergangenheit im letzten raus. Ein Unterpunkt »Rückgabe« kommt
Kolonialherren erinnert. Koalitionsvertrag festgeschrieben. vor, doch klingt der widersprüchlich, und
Das Projekt erhielt den Namen Hum- Felwine Sarr wiederum steht für eine zudem heißt es, eine »allgemeingültige
boldt-Forum, und die Kunsthistorikerin neue afrikanische Perspektive, er macht Aussage« sei nicht möglich. Vieles wird
Savoy gehörte dem wissenschaftlichen Bei- sie in seinem Buch »Afrotopia« deutlich, doch nur eine Frage des guten Willens im
rat an, bis sie einige Sitzungen erlebte und das im Januar in deutscher Übersetzung jeweiligen Museum bleiben.
entsetzt austrat. Sie sprach von einem kul- erscheint. Er fordert, dass Afrikas Poten- Auch Tristram Hunt, Chef des Londo-
turellen »Tschernobyl«, denn zu viel Ge- ziale gesehen werden und nicht immer nur ner Victoria and Albert Museum und ein
schichte solle unter den Teppich –  oder die Probleme und dass sich dabei eine ehemaliger Politiker, sagte dem SPIEGEL
eben unter die Bleidecke – gekehrt wer- gleichberechtigte Beziehung zwischen den (14/2018) vor einiger Zeit zu Macrons Vor-

134 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Kultur

stoß, über Einzelfälle könne man sprechen,


Flexibel bleiben: Lesen Sie den
doch insgesamt gelte, die Kultur dürfe sich
nicht einer geopolitischen Agenda unter-
ordnen, dürfe kein Werkzeug der Politik
SPIEGEL, solange Sie möchten!
werden. Und Hartwig Fischer, der deut-
sche Direktor des mächtigen British Mu-
seum in London, ist für Fragen nicht er-
reichbar, wochenlang. Er sei auf Reisen,
hieß es, das klingt so, als befände man sich
in einem anderen Jahrhundert, als Telefon
und Internet noch nicht erfunden waren.
Wohl in Hinblick auf Macrons Bericht –
und um nicht so viel schlechter auszusehen
als die Kollegen in Frankreich – beschlos-
sen das British Museum, die Stiftung Preu-
ßischer Kulturbesitz in Berlin sowie diver-
se andere europäische Museen vor Kur-
zem eine Art Alibiprojekt. Sie teilten mit,
es gebe Überlegungen, Nigeria beim Bau
eines Museums zu unterstützen. Ein euro-
päisches Konsortium könne das mit Leih-
gaben versorgen, etwa mit Schätzen aus
dem einstigen Königreich Benin. Von dem Keine
Eingeständnis, dass diese Schätze einst
(von den Briten) geraubt und weltweit ge- Mindest-
handelt worden waren, ist keine Rede.
Auch nicht von Restitution.
laufzeit
Das Arroganzgefälle zwischen dem Nor-
den und dem Süden ist heute nicht viel
kleiner als vor 100 oder 150 Jahren. Im
Sommer 1897 berichtete die »New York
Times« über ein »archäologisches Puzzle«,
es habe mit Benin zu tun, wo sich kürzlich
»einige Kämpfe zugetragen haben«. Die
englischen Eroberer hätten viele alte Bron-
zearbeiten »gefunden«, Statuen, Plaket-
ten, die nun ins British Museum nach Lon-
don gebracht werden sollten. Groß war
das Erstaunen darüber, dass in Benin über-
haupt jemals echte Kunst entstanden ist.
Die Franzosen werden, wenn sie etwas
bewirken wollen, nicht nur Skulpturen
nach Afrika schicken müssen, sondern erst
einmal Informationen. Wie sonst sollten
die Länder dort erfahren, was ihnen ge-
nommen wurde, sie konnten darüber kei- Der SPIEGEL jede Woche frei Haus:
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ein Mensch, der Frau und Mann zu sein www.spiegel-live.de
scheint. Sehr mysteriös, tausend Jahre alt,
an diesem Morgen findet sie nicht viel Be-
achtung, die Besuchergruppen, die Schul-
klassen ziehen schnell daran vorbei. Wa-
rum darf sie in Paris stehen, wenn in Afrika
nichts mehr ist? Warum dieser ebenfalls
über tausend Jahre alte Megalith aus dem
Ja, ich möchte bequem den SPIEGEL lesen!
Senegal und vieles mehr? Von den 300000 Ich lese den SPIEGEL für nur € 4,80 pro Ausgabe statt € 5,10 im Einzelkauf
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aus den Ländern südlich der Sahara.
Sollte Frankreich bereit sein, Verzicht
gerade auf die wichtigsten Stücke zu üben,
dann wird diese Einrichtung an der Seine Einfach jetzt anfordern:
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tatsächlich zu dem Vorzeigemuseum, das


es immer sein wollte. Ulrike Knöfel abo.spiegel.de/flexibel
135
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Kultur

Alles in Ordnung
Zeitgeist Wer Friedrich Merz verstehen will, muss in das deutsche Herzland fahren.
Ein Besuch in seiner Heimatstadt Arnsberg im Sauerland.

F
riedrich Merz lebt und arbeitet in München, das Ruhrgebiet, Köln, Frankfurt Merz wird nun oft mit dem Begriff der
Arnsberg im Sauerland. Wenn und Leipzig sind die Ausnahmen. Viele Leitkultur in Verbindung gebracht, den er
man nach unvermeidbar langer Deutsche wohnen in der Fläche dazwi- schon im Jahre 2000 verwendet hat. Wie
Anreise am historischen Markt- schen, das sind die, die die Politikerfloskel kann man erschließen, was er genau damit
platz von Arnsberg aussteigt, sieht man anspricht, die berühmten »Menschen drau- meint? Man kann ihn fragen. Aber nie-
die klassizistische Auferstehungskirche aus ßen im Lande«. Friedrich Merz kommt aus mand ist besonders gut darin, den eigenen
den 1820er-Jahren und davor ein Plakat. dieser Welt, und er ist so etwas wie ihr kulturellen Hintergrund zu erklären.
Auf ihm ist ein Foto von Merz. Er spricht Sprecher geworden. In Brilon ist er auf-
am 24. November auf einer Podiumsdis- gewachsen, heute hat er ein Büro in Arns- In Arnsberg dient dazu das Sauerland-
kussion zum Thema »Kirche in der Zeit. berg-Neheim. Ein Flugzeug ist hier prak- museum. Es wird gerade umgebaut, aber
Wagemut in Politik und Kirche in einer tisch, denn man kommt nicht besonders die Dauerausstellung ist seit dem Septem-
aus den Fugen geratenden Welt«. gut her und weg. Lieber Pilotenschein, als ber 2018 wieder geöffnet. Hier hängt eine
Der Betrachter hat nicht den Eindruck, umziehen zu müssen. Die regionale Ver- eindrucksvolle Karte. Sie zeigt die Klöster
dass Arnsberg aus den Fugen zu geraten bundenheit ist etwas, das viele Deutsche und Stifte im Herzogtum Westfalen, lässt
droht. Bürgersteige und Straßen sind leer, mit Merz teilen. Wenn es sich vermeiden sich aber als Darstellung des sauerländi-
immerhin sind einige Rentner unterwegs. lässt, zieht der Durchschnittsdeutsche auch schen Kosmos lesen: In der Mitte liegt
Sie versammeln sich vor einem Stand mit nicht mehr als einmal im Leben um, näm- Arnsberg, im Osten sind Brilon und
gebratenem Fisch und Fischbrötchen. Die lich um das Elternhaus zu verlassen. Man Rüthen, wo Merz sein Abitur ablegte. Da-
übrige Bevölkerung arbeitet oder besucht kann das Interesse an Merz’ Kandidatur mit niemand diese Provinz für entlegen
die Schule. Der Zug war pünktlich. nicht verstehen, wenn man nicht über den hält, ist ein Raum den Produkten aus der
Das Sauerland bemüht sich um größe- mit ihr verbundenen kulturellen Hinter- Region gewidmet. Das Sauerland ist näm-
ren touristischen Zuspruch. Im Regional- grund, die Heimat, nachdenkt. lich die Heimat der Falke-Socken, einer
zug aus Dortmund war eine Reisegruppe
auf dem Weg in ein Seminarhotel. Sie freu-
te sich, aber es überwog die Sorge um die
»Ordnung« des Frühstücks im Hotel. Was
würde es geben und ab wann? Frühstückt
man zusammen oder getrennt, drinnen
oder draußen, wo man rauchen darf? Es
ging wenig um die subjektiven Wünsche,
sondern darum, wie »man« es dort macht.
Das Sauerland ist ein gutes Reiseziel für
Leute, deren höchstes Lob lautet, es sei
alles in Ordnung gewesen.
Wer diese sucht, findet sie hier. Es ist
nicht das flache Land der Bauernhöfe,
aber die Natur spielt eine große Rolle. Der
Wald ist endlos, der Horizont tiefgrün und
sanft geschwungen. Dafür sieht man keine
Hochhaussiedlungen, keine Graffitis, kei-
ne Studentenviertel und keine Szene.
Nichts ist gentrifiziert, den Altbauten sieht
man das Alter wirklich an. Fassaden ver-
fallen ganz gemütlich. Fachgeschäfte ha-
ben Leitzordner und Karteikästen im
Schaufenster, als seien Computer eine Op-
tion unter vielen. Vor den Hauseingängen
liegen Fußmatten, auf denen noch mal
Putztücher befestigt sind, damit die Mat-
ten nicht allzu schmutzig werden.
Arnsberg ist das Zentrum des Sauer-
lands und ein Gegenentwurf zu Berlin und
anderen großen Städten. Denn Hamburg,

Schriftzug in Arnsberger Schützenhalle


Provinz mit Ambition

136 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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bekannten Klopapiermarke, der Gott- Schonung – man sieht die Straße vor dem trag, um die Kultur insgesamt in der Re-
schalk-Reißzwecken und der früheren Museum, voll beflaggt mit Hakenkreuz- gion zu fördern. Die Mittel und Ziele der
Dienstwaffe vieler deutscher Polizisten, fahnen. Aber es geht auch um den Propst Stiftung seien begrenzt, sie sei, wie Frau
der Walther PPK. Joseph Bömer, der die Kapelle im Stadttor Plett sagt, »klein und fein«. Der Spott über
Dies ist nicht die Region der großen In- aus Protest zusperrte, als ein Hakenkreuz die Stiftung, sie fördere Streber mit Buch-
dustriefürsten, der Krupps und Thyssens, auf dem Turm montiert wurde. In der preisen, sei billig – aber für die Schüler
sondern der Mittelständler und Familien- Schilderung der Verbrechen werden der dieser entlegenen Ecke sei es ein Zwinkern
unternehmer, freilich mit höheren Ambi- Widerstand, der besondere Einzelne nicht des Schicksals und ein freundlicher Gruß
tionen. Das Ideal ist auch bildlich zu be- vergessen. Hans Frankenthal wird er- aus der größeren Welt. Es ist nicht die Bill-
wundern, in einer Darstellung der Familie wähnt, der jüdische Händler aus Schmal- Gates-Stiftung, die mit dem Budget eines
des Kommerzienrats Brökelmann aus dem lenberg, der nach Auschwitz deportiert Staatshaushalts die Welt retten möchte.
19. Jahrhundert: Der Inhaber einer Öl- wurde, Internierung und Zwangsarbeit Andererseits fallen einem auch nicht be-
mühle in Neheim ist mit seiner gesamten überlebte und nach dem Krieg in seinen sonders viele deutsche Politiker ein, die,
Familie dargestellt. Es ist ein erbauliches Heimatort zurückkehrte. nachdem sie zu Vermögen gekommen
Ölgemälde, wie es sich auch die Lübecker sind, so etwas machen. Oder gibt es eine
Familie Buddenbrook bestellt haben könn- Es ist eine Provinz, deren Ambition sich Gerhard-Schröder-Stiftung? Eine Oskar-
te. Brökelmann habe sich für das Gemein- aus der heimlichen Überzeugung erklärt, Lafontaine-Stiftung?
wesen engagiert, wird in der Erläuterung dass es dem Land und der Welt besser täte, Gegenüber dem Möhneturm wartet der
lobend vermerkt, er habe das Neheimer so zu sein, wie es hier ist. Das kann zu ko- Neheimer Modellbahntreff auf interessier-
Jägerfest gegründet und den Eisenbahn- gnitiven Dissonanzen führen. Es war ver- te Kunden und Experten. Es stehen auch
ausbau entlang der Ruhr gefördert. Die blüffend, wie Friedrich Merz bei seinem Automodelle im Schaufenster, Züge natür-
Firma und das Gemeinwesen werden wie Auftritt vor der Bundespressekonferenz lich und kleine Fabriken wie jene, die das
die Familie geführt, von netten und ambi- ein wagemutiges Statement nach dem an- Tal der Ruhr weltweit bekannt machten.
tionierten Eltern. Es sei in der Politik wie deren formulierte: Jünger müsse die CDU Die eigene Geschichte kann als Modell
im privaten Leben, sagte Helmut Kohl oft. werden, offener für Frauen und sensibler nachgebaut werden, sauber und ordent-
Ambition ist das Leitmotiv des sauer- für ein Lebensgefühl in den Universitäts- lich. Nichts scheint hier ausgeflippt oder
ländischen Narrativs. Eben der von Merz und Großstädten. Jedes einzelne dieser aus den Fugen.
am 24. November zu thematisierende nachvollziehbaren Argumente sprach ge-
»Wagemut«. Das gilt auch in der histori- gen ihn als Parteivorsitzenden, aber er ließ Am Abend ereignet sich auf dem Bahn-
schen Aufklärung. Ein großer Teil des sich nicht beirren. Er erinnerte an enga- steig von Neheim-Hüsten eine eigenartige
Museums ist der Geschichte des National- gierte Väter, die während des Elternabends Szene. Der Zug in Richtung Warburg soll
sozialismus gewidmet. Hier gibt es keine den anderen auf freundliche Weise die abfahren, bleibt jedoch stehen. Ein Mann
Welt erklären: dass man die Beiträge zur in Jeans und Jeansjacke, mit zwei Plastik-
Klassenkasse bald mit Bitcoins zahle, die tüten, steigt aus, bleibt aber auf dem Bahn-
chinesischen Schulen schon längst weiter steig. Die Zugbegleiterin schaut aus dem
seien und dass in der Zukunft und woan- Fenster, sie hat die Bahnpolizei gerufen.
ders alles anders sei. Der Mann, der vielleicht aus dem Nahen
In Arnsberg-Neheim, im sogenannten Osten kommt, beschwert sich, redet auf
Möhneturm, ist der Sitz der Friedrich und die Beamten ein. Auch die Zugbegleiterin
Charlotte Merz Stiftung, im selben Haus, steigt aus, schildert den Vorfall aus ihrer
in dem auch das Büro von Friedrich Merz Sicht. So lange bleibt der Zug stehen. Es
seinen Sitz hat. Merz gründete diese Stif- geht nicht um Gewalt, aber ganz weit ist
tung, als er 50 wurde. Die Geschäftsführe- sie auch nicht. Die Polizisten erklären dem
rin Anne Plett kann man im Foyer des Ibis Mann, dass er bald Post bekommen werde,
Style Hotels treffen. Es ist ganz in Grün und mit der solle er dann zum Dolmet-
und Orange gehalten und fraglos der fröh- scher und zum Anwalt. Der Mann in der
lichste Ort in ganz Neheim. Frau Plett ist Jeansjacke geht in die Hocke und versucht,
kein Profi der Stiftungsszene oder der sich zu beruhigen. Nichts ist passiert, aber
Kommunikation, sie schwärmt auf sympa- der Moment hing bedrohlich in der Schwe-
thische Art einfach drauflos. Der Fokus be. Ohne die Polizei hätte es keine Ver-
ihrer Arbeit ist regional begrenzt, auf die ständigung gegeben.
Schulen des Stadtgebiets Arnsberg. Das So ist es derzeit oft in Deutschland.
hat den Vorteil, dass alle sich kennen, die Nicht aus den Fugen, vielmehr angespannt
Wege kurz sind und die Arbeit effektiv und neuartig. Leitkultur wird improvisiert.
bleibt. Gute Schüler werden ausgezeichnet, Traditionen helfen, aber sie sind nicht alles.
anderen wird geholfen. Es kann um Aus- Kann ein engagierter Auskenner und
landsaufenthalte gehen, um Reisekosten Familienvater wieder alles richten, das
zu einem Wettbewerb oder sonst eine un- Land in eine Ordnung bringen? In den
vorhergesehene Ausgabe. Viele Fälle un- USA nennt man Staaten zwischen den
bürokratischer Individualförderung gebe Küsten in der Mitte das Heartland. Aber
es. Aber auch die Fortbildung von Lehrern ist das deutsche Herzland auch das Merz-
ROLF VENNENBERND / DPA

und ganze Schulen werden von der Merz- Land? Bewohner solcher Provinzen, ältere
Stiftung unterstützt. Bürgerinnen und Bürger, Erben der west-
Das Ehepaar Merz sei dabei besonders deutschen, patriarchalisch geprägten Union
aufmerksam, ansprechbar, die Arbeit und sehnen sich danach. Aber sind sie die
die Termine der Stiftung hätten Vorrang Mehrheit? Nils Minkmar
bei ihm. Frau Plett sieht das auch als Bei-

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Kultur

Der direkte Weg zum Käse


Kapitalismus Gene Simmons hat mit der Rockband Kiss eines der erfolgreichsten
Popunternehmen der Welt gegründet. Doch das reicht ihm nicht. Ein Wochenende mit ihm in
Toronto und ein Crashkurs zum Reichwerden. Von Philipp Oehmke

N
atale Rea, genannt Nat, hat die würde. Rea hat dunkle warme Augen, und Da kommt sein Kindheitsidol ins Spiel.
Stretchlimousine, die er extra ge- man sieht in ihm immer noch den Jungen, Gene Simmons, Frontmann von Kiss, ist
mietet hat, am Straßenrand par- der in den Siebzigern glühender Fan der an diesem Wochenende aus seinem Wohn-
ken lassen und wartet nun auf Rockspektakelband Kiss war. Heute, mit ort Beverly Hills nach Toronto gekommen,
Gene Simmons. Rea hätte lieber einen Anfang fünfzig, ist Rea ein reicher Mann, um einer Beschäftigung nachzugehen, die
Maybach gehabt als dieses lange Neun- er leitet eine Autozulieferfirma, seine Pfer- er Speeddating nennt.
zigerjahreding, aber er wusste nicht, wie dezucht hat er gerade verkauft, jetzt sucht Er gewährt, meist nur für eine halbe
viele Leute Simmons noch mitbringen er nach weiteren Betätigungsfeldern. Stunde, kanadischen Multimillionären und
Milliardären eine Audienz, in der die Ge-
schäftsleute den Rockstar von ihren Busi-
nessideen überzeugen sollen, und viel-
leicht lässt sich ja zusammen etwas Geld
machen. Den meisten der reichen Männer,
die Simmons an diesem Wochenende trifft,
ist Kiss gar nicht unbedingt ein Begriff. Für
sie ist Simmons schlicht ein Businessgenie,
wie sie sagen, ein Virtuose des modernen
Merchandising, der aus einer kleinen New
Yorker Schauderband eines der kommer-
ziell erfolgreichsten Popunternehmen aller
Zeiten gemacht und dabei sogar Rekorde
der Beatles gebrochen hat.

Kiss, für alle, die die vergangenen 40 Jah-


re woanders als auf der Erde verbracht ha-
ben, sind die vier als Fantasiegestalten ver-
kleideten Musiker mit den geschminkten
Gesichtern. Gene Simmons’ Bühnenfigur
heißt The Demon. Er spuckt Feuer und
kotzt Blut und ist berüchtigt für seine lange
Zunge, die er gern herausstreckt. Im Janu-
ar werden Kiss wieder auf eine gigantische
Welttournee gehen, ihre letzte wohl, und
Simmons, inzwischen 69, wird Kostüm
und Schminke wieder anlegen und noch
einmal losächzen.
Wofür Kiss aber vor allem berühmt sind,
ist ein ganzer Kosmos jenseits der Musik:
Kiss-T-Shirts, klar, Kiss-Flipperautomaten,
okay, Kiss-Kreditkarten, Kiss-Tupperware,
Kiss-Särge. Es gibt mehr als 2500 Lizen-
zen für Gegenstände, die mit Kiss zu tun
haben. Alle Bands machen heute in Zeiten
sinkender Tonträgererlöse beträchtlichen
Umsatz mit dem sogenannten Merchandi-
sing, doch keine in solch einem Maße wie
Kiss. Es gibt weltweit nur eine Marke, die
JOHN HRYNIUK / DER SPIEGEL

noch mehr Merchandising-Krimskrams


verkauft, und das ist »Star Wars«, auch so
eine eigene Fantasiewelt.
Nicht einmal Simmons scheint seinem
eigenen Merchandising entfliehen zu kön-
nen. Zum Bezahlen zückt er grinsend eine
schwarze Kiss-Kreditkarte, sein iPhone
Geschäftsmann Simmons: Bezahlen mit der Kiss-Kreditkarte steckt in einer Kiss-Schutzhülle.

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Als er in Toronto zu Nat Rea in den


Fond der Stretchlimousine klettert, trägt
er Cowboystiefel, hautenge schwarze Le-
derhosen, ein Samtsakko sowie ein Käppi
mit einem Emblem, das Säcke voller Dol-
lar zeigt. Er hält Rea seine geballte Faust
hin. Rea zögert einen Moment, dann stößt
er seine Faust vorsichtig gegen die seines
Gegenübers. Simmons fürchtet sich vor
Keimen, und die meisten von ihnen ver-
mutet er auf den Händen seiner Mitmen-
schen, also vermeidet er den Handschlag.
Er sortiert seine langen Beine, Simmons
ist fast eins neunzig groß, taxiert Nat Rea
und sagt: »Und? Warum sind wir hier?«
Simmons gefällt es, mit seiner Direkt-
heit die Leute zunächst aus dem Gleich-
gewicht zu bringen.
Rea erzählt, dass er gerade eine Firma
in der Autozulieferindustrie übernom-
men habe.
Oha, nicht gerade Rock ’n’ Roll.
»Ich habe 22 000 Angestellte«, sagt Rea
dann.
Das kommt gut an bei Simmons. Größe,
Macht und Erfolg fühlen sich überall gleich
an, egal in welchem Feld, ob Rockgeschäft
oder Autoindustrie. Rea hat nicht den üb-
lichen 30-Minuten-Spot wie die anderen
Millionäre früher an diesem Freitag. Die
warteten wie in einer Arztpraxis in ver-
schiedenen Zimmern, während Simmons
als Doktor von Raum zu Raum ging und
sich ihre Anliegen anhörte. Rea hingegen
darf Simmons mit der Stretchlimousine zu
Kanadas angeblich bestem Steakhouse am
Hafen fahren.

WARING ABBOTT / GETTY IMAGES


Ein Rechtsanwalt namens Keith Stein
sitzt mit im Auto, er ist eine Art Con-
sigliere für Simmons. Stein hat das Speed-
dating organisiert, die Millionäre für
Simmons kuratiert. Er kenne Simmons
seit 20 Jahren, sagt er. »Ich kann ziemlich
gut einschätzen, bei wem es mit Gene
klick macht, und er vertraut mir blind«, Musiker Simmons 1980: Nur »Star Wars« verkauft mehr Merchandisingprodukte
sagt Stein.
Simmons bestätigt das, allerdings wären
zuvor beinahe Zweifel aufgekommen, als
sich ein Mann, den Stein hergeholt hatte, Geld machen lässt, wenn man, wie Sim- Cannabis eintritt, das passt, denkt man zu-
bei Simmons mit den Worten vorstellte, mons, eben weiß, wie. nächst, doch so ist es nicht. »Ich habe noch
er sei »der Gene Simmons der kanadi- »It’s not all about the money«, sagt Sim- nie geraucht, noch nie getrunken«, sagt
schen Finanzwelt«. Er plane eine Silvester- mons. Zum Glück, denkt man, das wäre Simmons, »und das Einzige, was ich mir
show mit Kiss, die weltweit in Imax-Kinos ja auch irgendwie deprimierend. Simmons die Nase hochjage, ist mein Finger.«
übertragen werden sollte. Zwei Millionen macht eine Pause. Dann sagt er: »It’s about Simmons interessiert sich nicht fürs Kif-
Dollar für Simmons garantiert, vielleicht the money!« fen, er arbeitet mit dem industriellen Can-
mehr, für einen Abend Arbeit. Simmons nabishersteller Invictus ausschließlich, weil
hatte dazu gesagt: »Ich habe wirklich Nur deswegen hatte Simmons jahrelang seit diesem Herbst Cannabis in Kanada
schon bessere Vorschläge in meinem Le- seine eigene Realityfernsehshow, die in zum legalen Verkauf freigegeben wurde.
ben gehört, aber bei zwei Millionen kön- 84 Länder verkauft wurde, es gibt Sim- Simmons und sein Berater Keith Stein ver-
nen wir mal anfangen zu reden.« mons Records, Simmons Books und Co- muten nicht ganz zu Unrecht, dass sich
Gene Simmons hat sich seit seiner Zeit mics, ihm gehört die Restaurantkette Rock jetzt nicht nur ein riesiger Markt öffnen
als Immigrantenkind in New York als Ge- & Brews und neuerdings eine Limonade wird, sondern dass die freie Verfügbarkeit
schäftsmann gesehen. Rockstar ist er auf namens MoneyBag. von Cannabis und seine medizinische
seinem Weg eher zufällig geworden. Kiss An diesem Wochenende ist Simmons Anwendung die Welt verändern werden.
ist für ihn keine Kunstform, sondern Un- eigentlich in Toronto, weil er seit Neuestem Simmons hat für seine Aufgabe als
terhaltung, ein Business, mit dem sich bei Markenbotschafter für einen großen Can- »Chief Evangelist Officer« 2,5 Millionen
geringem finanziellen Einsatz sehr viel nabishersteller ist. Ein Rockstar, der für Dollar in cash bekommen sowie rund

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 139


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EIN 6,5 Millionen Aktien der Firma, die im


Frühjahr, als Simmons seinen Vertrag

GLAUBE abschloss, knapp zwei Dollar pro Stück


wert waren.
Am Vormittag musste er für Invictus bei

EROBERT einer Art Investorenkonferenz namens


MoneyShow hier in Toronto auftreten.
Gute Geschäfte seien für Simmons solche,

DIE WELT so erklärte er mir an diesem Wochenende,


bei denen er deutlich weniger investiere,
als er bekomme. Insofern war die Money-
Show perfekt: Für seine 6,5 Millionen
Aktien musste er lediglich im Gespräch
mit einem unterwürfigen Hedgefonds-
Manager eine halbe Stunde lang seinen
Standard-Gene-Simmons-Vortrag liefern,

REX FEATURES / ACTION PRESS


eine Ansammlung von Aphorismen und
Jokes, die er schon oft ausprobiert hat (das
mit dem Finger in der Nase kommt auch
vor).
Nach seinem Auftritt in der Money-
Show bin ich mit Simmons im Ritz-Carl-
ton-Hotel zum Mittagessen verabredet. Er
ernährt sich fast ausschließlich von Fast Rockgruppe Kiss 1976
Food und Softdrinks, hat ein Steaksand- Lediglich ein paar Jahre Lieder schreiben
wich mit Käsesoße bestellt.
Simmons begrüßt mich relativ enthu- mit dem Namen Chaim Witz nicht viel rei-
siastisch auf Deutsch und fragt, ob ich ßen konnte. Er erfand für sich den Vor-
etwas essen möchte. Er sagt, das Deutsch namen Gene, weil er so amerikanisch
habe er auf seinen Deutschlandtouren klingt, und nahm vorerst den Nachnamen
mit Kiss von Groupies gelernt. Einfach seiner Mutter an: Klein, was weniger ame-
so? Einfach so. Er spreche sechs Sprachen, rikanisch klingt. Als er Ende 1972 mit sei-
sagt er, von Hebräisch über Deutsch bis nem Freund Stanley Eisen die Gruppe Kiss
Japanisch. gründete, änderten die beiden jüdischen
Jungen auch ihren Nachnamen, nun hie-
Und da er schon einmal einen Deutschen ßen sie Gene Simmons und Paul Stanley.
vor sich hat, beginnt er, von seiner Mutter Ein Migrantenkind, das, wie viele Ein-
zu sprechen. Das tut er relativ häufig, be- wanderer in den Fünfzigerjahren, Ameri-
256 Seiten mit s/w-Abb. · Gebunden mit SU reits in der Konversation auf der Money- ka überverehrte (was heute unter Migran-
C 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich Show hat er seine Mutter erwähnt, als Ant- ten nicht mehr unbedingt so ist) und das
wort auf die Frage, ob er tatsächlich noch amerikanischer als die Amerikaner sein
nie Drogen genommen habe. Seine Mutter, wollte. Nur, wie war man amerikanisch?
hat er da geantwortet, habe das Konzen- Indem man Geld verdient, stellte Gene für
trationslager Dachau überlebt. Dagegen sich fest. Indem man alles umarmt, was
SPIEGEL-Autoren, verblasse alles andere, und im Angesicht wir heute unter Pop summieren und was
Kirchenhistoriker und Theologen dieses Überlebenswillens würde er es nicht in den Sechzigerjahren in den USA popu-
erzählen die mehr als 2000-jährige wagen, auch nur eine Sekunde seines Le- lär wurde: von Coca-Cola über McDo-
bens zu verschwenden. nald’s und Popsoda zu Comicbüchern und
Geschichte einer weltverändernden Gene Simmons wurde 1949 als Chaim Superheldenfilmen, Bubblegum-Pop und
Religion: Sie zeichnen den Aufstieg Witz in Israel geboren, kurz nachdem der das überdimensionierte Bild der Auto-
Staat gegründet worden war. Simmons’ kinos. All diese Komponenten finden sich
des Christentums von der
Mutter war ungarische Jüdin und ins Kon- bis heute im Werk von Kiss, und obwohl
jüdischen Sekte zur Weltreligion nach, zentrationslager gekommen, als sie 14 war. Kiss in den Siebzigern scheinbar die Merk-
beleuchten Irrungen, Seitenwege Dort wurde sie Zeugin, wie ihre Mutter male einer Counterculture-Band aufwies,
und Großmutter in die Gaskammer ge- war die Band in ihrem Kern zutiefst affir-
und Reformen und zeigen, führt und ermordet wurden. Auch ihr Bru- mativ amerikanisch.
warum das Christentum bis heute der wurde getötet.
ein Hauptfaktor abendländischer Unmittelbar nach der Befreiung, zurück Man muss sich vielleicht an all dies er-
in Ungarn, traf sie Simmons’ Vater, und innern, um besser zu verstehen oder über-
Identität ist. 1949 konnte das Paar nach Israel auswan- haupt auszuhalten, was Gene Simmons an
dern. Als der Sohn sieben Jahre alt war, ver- diesem Wochenende in Toronto über das
ließ der Vater die Familie, und zwei Jahre Leben und eine gelungene Existenz auf
später wanderte die Mutter mit Chaim nach der Erde doziert.
New York aus, fortan lebten sie in einer Das ehemalige Migrantenkind soll in-
schlechten Gegend von Queens. zwischen ein Vermögen von 300 Millio-
Der Junge begriff schnell, dass man für nen Dollar angehäuft haben, es hat sein
das, was er sich unter Amerika vorstellte, Ziel erreicht.

www.dva.de 140 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Kultur
10 JAHRE
NDR KULTUR
Warum also tut Simmons sich solch ein bestellt. Rea hat den Sommelier kommen
Wochenende in Toronto an, an dem er sich lassen, damit Simmons sich eine Cola light
zwei Tage lang jeweils 12 bis 14 Stunden mit bestellen kann, teurer Wein, weiß und rot,
fremden Leuten trifft und sich ihren Busi- wird dennoch geordert. Rea erzählt von
nesskram und ihre Angebereien anhört?
Am Nachmittag zum Beispiel, als Sim-
mons in einem von seinem Consigliere ge-
den Rennpferden und Zuchthengsten, die
er mal besessen hat, und vom Zureiten. Er
ist relativ dick, man kann ihn sich schlecht
SACHBUCHPREIS
mieteten Weinkeller von Zimmer zu Zim- auf einem Rennpferd vorstellen. Ein zehn-
mer zu seinen Audienzen schreitet, sitzt jähriger Junge, Will, der momentan bei
da dieser bereits erwähnte Investor, der Keith Stein, dem Consigliere, und seiner
sich als »Gene Simmons der kanadischen Familie zu Besuch ist, kommt hinzu. Für
Finanzwelt« vorstellt, mehrere Glas Wein ihn werden auch Pommes frites bestellt.
trinkt und laut wird.
Es gibt ein berühmtes Interview mit Kiss Die letzte Station an diesem Abend ist
aus dem amerikanischen Fernsehen von das Coca-Cola Coliseum. Dort wird Da-
1979, bei dem der Leadgitarrist Ace Frehley vis-Cup-Tennis gespielt, Kanada gegen die
offensichtlich high war und immer wieder Niederlande. Ein Tennispromoter und ehe-
durch lautes Prusten das Gespräch unter- maliger Trainer, der heute Spielkasinos be-
brach. Es ist sehr komisch, durch Gene Sim- sitzt und mit Simmons darüber reden will,
mons’ Schminkmaske hindurch zu beob- hat eingeladen.
achten, wie der Abstinenzler Simmons kurz Nun sitzt Gene Simmons mit Sonnen-
vorm Explodieren ist ob des Verhaltens sei- brille im Flutlicht in der ersten Reihe gleich
nes Bandkollegen. Er hasst so etwas. Seine am Spielfeldrand und sieht ein bisschen
Mutter hat das KZ überlebt. Doch hier in aus wie ein Untoter, der jeden Moment in
Toronto beruhigt er den Investor immer seine Einzelteile zerfällt. Es ist zehn Uhr
wieder fast zärtlich, er müsse sich nicht auf- abends, und wir sind inzwischen zwölf
mandeln, streicht ihm über die Schulter, Stunden unterwegs. Simmons hat mindes-
unterbricht dessen Vorträge mit Sätzen wie tens zwei Dutzend Businessmeetings ab-
»Let’s go back and make some money«. solviert. Auf dem Weg hierher behauptete
Es ist also anstrengend, und als ich am er, er sehe jetzt schon einige gute Deals

Foto: PM Images
Ende dieses zweitägigen Marathons frage, am Horizont. Ein paar der Leute werde er
warum er das mache, wenn er doch auch in sein Haus nach Beverly Hills einladen.
etwas Angenehmes tun könne, einen neuen Er wolle die Leute doch nur in sein pri-
Song für Kiss schreiben beispielsweise, ei- vates Kiss-Museum locken, sagte darauf
nen Hammer wie »I Was Made for Loving der Consigliere Stein. Manchen in unserer
You« oder »Shout It out Loud«, er habe Gruppe fallen die Augen zu, während die
doch genug Geld für sich und seine beiden
Kinder forever, sagt er: »Erstens hat man
Tennisbälle mit 120 Sachen an uns vorbei-
fliegen.
GEWINNER 2018
nur ein paar wenige Jahre in seinem Leben, Gene Simmons ist happy. »Es ist doch
in denen man Lieder schreiben kann, und
wenn die Gabe weg ist, ist sie weg. Und
eher schwierig, nicht Geld zu machen«,
flüstert er. 10 bis 20 Millionen Dollar, STEVEN LEVITSKY
was das Geld betrifft, ob ich nicht schon
genug hätte: Das ist die Frage des armen
Mannes.«
schätzt er, würden aus diesem Wochen-
ende herausspringen.
Endlich, in der Stretchlimo auf dem
DANIEL ZIBLATT
Es geht nämlich nicht um das Geld, son-
dern um den Sinn des Lebens, und der heißt
Weg zurück ins Ritz-Carlton, zückt Nat
Rea sein Handy. Simmons scheint Rea zu
WIE DEMOKRATIEN STERBEN
für Gene Simmons: »the hunt«. Die Jagd, mögen, und Rea fühlt sich deshalb wohl UND WAS WIR DAGEGEN
stets aufs Neue. Eine Analogie, die er an genug, um dem zehnjährigen Will zu zei-
dem Wochenende immer wieder aufge- gen, mit wem er hier überhaupt im Auto TUN KÖNNEN
bracht hat, handelt von einer Maus in einem sitzt.
Labyrinth, die den Käse finden muss. Gene Rea googelt Kiss-Videos, die großen Hits,
Simmons, Sänger und Bassist von Kiss, Gene Simmons in seinem The-Demon- 21.11. | 19 UHR | LIVE IM RADIO
sucht immer den direkten Weg zum Käse. Outfit auf der Bühne. Die Songs schallen
»Und ich bringe Gene immer neue Irr- durch den Wagen, draußen das nächtliche Gala zur Preisverleihung
gärten, neue Betätigungsfelder, auf denen Toronto, Rea singt mit, der Junge staunt Ehrengast: Dr. Wolfgang Schäuble,
es etwas zu holen gibt«, sagt Keith Stein, oder ist gelangweilt. Gene sagt über seine
der Consigliere. Nach Cannabis jetzt also Musik hinweg, er werde am Sonntag auf Präsident des Deutschen Bundestages
die Autozulieferindustrie, why not. Long Island bei New York seine Mutter be-
Nat Rea, der Autozulieferer in der suchen. Sie sei 94 Jahre alt und sein mora-
Stretchlimo, hat Simmons und die Entou- lisches Rückgrat. Dann nickt er ein. Video-Livestream unter
rage in das Steakhouse fahren lassen und
dort die ganze Gruppe als Erstes in die ndr.de/ndrkultursachbuchpreis
Küche geführt, wo der Chefkoch seine bes- Video
Unterwegs mit
ten Fleischstücke und frischesten Fische Gene Simmons
für Rea und Simmons präsentieren musste. spiegel.de/sp472018simmons
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oder in der App DER SPIEGEL
frites. Die anderen Millionäre haben Salat

141 Hören und genießen


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Kultur

»Wenn man erst wartet,


bis ein Land mit Benzin getränkt
ist, ist es zu spät«
SPIEGEL-Gespräch Die Professorin Susan Benesch über den Zusammenhang
von Sprache und Gewalt, die gefährliche Rhetorik von Donald Trump und der AfD
und die Frage, was Humor gegen Hass im Netz ausrichten kann

Benesch, 54, begann ihre Karriere als Re-


porterin. Für den »Miami Herald« berich-
tete sie aus Kriegs- und Krisengebieten wie
El Salvador, Nicaragua und Haiti. Sie ver-
ließ den Journalismus, weil sie sich zuneh-
mend als »Elendstouristin« fühlte, studierte
Jura in Yale und arbeitete als Anwältin für
Menschenrechte, etwa für Amnesty Inter-
national. Sie lehrt an der American Uni-
versity und forscht am Berkman Klein Cen-
ter for Internet & Society in Harvard. Vor
acht Jahren gründete sie das »Dangerous
Speech Project«, das weltweit den Zusam-
menhang zwischen Sprache und Massen-
gewalt erforscht, um Letztere zu verhindern.

SPIEGEL: Frau Benesch, können Worte


töten?
Benesch: Das hängt davon ab, auf wel-
chen Boden sie fallen. Menschen sind zwar
selbstbestimmte Wesen. Aber, ja, Sprache
kann sie zu Gewalt verleiten.
SPIEGEL: Sie erforschen seit Jahren, wie
gefährlich Sprache sein kann, welchen An-
teil sie etwa an der Entstehung von Völker-
mord hat. Warum treibt Sie das Thema um?
Benesch: Als Jurastudentin habe ich 1999
beim Uno-Kriegsverbrechertribunal für
das frühere Jugoslawien gearbeitet. Ich
habe mich damals gefragt, wie selbst in Sa-
rajevo, einer früher so offenen und multi-
kulturellen Stadt, solche Gräuel geschehen
konnten. Menschen, die friedlich mit ihren
Nachbarn gelebt haben, wachen nicht
plötzlich eines Morgens auf und entschei-
den kollektiv, dass es eine gute Idee sei,
diese Nachbarn zu massakrieren. Vorher
muss etwas geschehen sein, das ihre An-
sichten und ihr Verhalten verändert. Die
Frage, welche Rolle der öffentliche Diskurs
LEXEY SWALL / DER SPIEGEL

dabei spielt, hat mich immer interessiert.


SPIEGEL: Vor zweieinhalb Monaten wur-
de in Chemnitz ein Mann mutmaßlich von

Das Gespräch führte die SPIEGEL-Redakteurin Isabell Forscherin Benesch


Hülsen in Washington.

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РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

zwei Ausländern getötet. In der Stadt kam Das ist einer der Gründe, warum ich für mei- rer Gesellschaft zwar besondere Anstren-
es danach zu Attacken auf Migranten. Ein ne Arbeit den Begriff »gefährliche Sprache« gungen für alle möglichen marginalisierten
AfD-Politiker twitterte, wenn der Staat die nutze und nicht »Hate Speech«. Es gibt eine Gruppen unternehmen, aber nicht für sie.
Bürger nicht schütze, sei es »Bürgerpflicht, Menge Hass, der völlig ungefährlich ist, weil Das ist eine toxische Kombination aus
die todbringende ›Messermigration‹ zu er ziemlich sicher keine Gewalt auslöst. Ich Angst und Wut.
stoppen«. Ist das gefährliche Sprache? könnte Ihnen fürchterliche Dinge an den SPIEGEL: Vor drei Wochen ermordete ein
Benesch: Ich bin zurückhaltend, wenn ich Kopf werfen, aber ich bin mir sicher, dass Rechtsradikaler elf Menschen in einer Sy-
ein Land nicht sehr gut kenne. Aber darin Sie trotzdem nicht zur Waffe greifen. nagoge in Pittsburgh, wenige Tage zuvor
stecken zumindest Merkmale gefährlicher SPIEGEL: Was muss passieren, damit Wor- wurden Paketbomben abgefangen, die an
Sprache, die erschreckend vertraut sind. te in reale Gewalt münden? politische Gegner von Trump adressiert
SPIEGEL: Welche sind das? Benesch: Entscheidend sind zwei Fakto- waren. Welchen Anteil tragen Trumps
Benesch: Eine Gruppe von Menschen als ren. Der Inhalt muss aufwiegelnd sein, und eigene Äußerungen an dieser Gewalt?
tödliche Bedrohung darzustellen, als Mör- es braucht ein Publikum, das dafür emp- Benesch: Ich würde die beiden mutmaß-
der. Sich mit Gewalt gegen sie zu verteidi- fänglich ist. Warum etwa sind Trumps lichen Täter dazu gern fragen. Bisher ha-
gen erscheint dann lebensnotwendig. Eine Wähler so anfällig für die fremdenfeindli- ben wir starke Indizien aus ihren Social-
solche Sprache kann Angst schüren und chen Botschaften des Präsidenten? Weil Media-Profilen. Cesar Sayoc, der die Pa-
verstärken. sie Angst haben: um ihren Lebensunter- ketbomben gebaut haben soll, scheint
SPIEGEL: Was macht Angst so gefährlich? halt, Angst, dass Gesellschaft und Techno- direkt von Trump inspiriert: Viele der Lü-
Benesch: Das Gefühl, existenziell bedroht logie zu schnell voranschreiten und sie zu- gen, die Trump verbreitet, hat Sayoc wie-
zu sein, ist viel stärker als beispielsweise Hass. rücklassen. Sie glauben, dass die Eliten ih- derholt gepostet. Seine Bomben hat er an
Menschen und Organisationen verschickt,
die Trump selbst öffentlich angegriffen hat,
von George Soros bis CNN. Sayoc scheint
jemand zu sein, den wir als besonders an-
fällig für gefährliche Sprache bezeichnen
könnten. Robert Bowers, der Täter von Pitts-
burgh, schrieb vor dem Anschlag, dass
»schmutzige, böse Juden« »schmutzige,
böse Muslime« ins Land brächten. Er könne
nicht tatenlos zusehen, wie seine Landsleute
geschlachtet würden. Er mag von Trumps
oft wiederholter Idee inspiriert worden
sein, dass Muslime eine tödliche Gefahr
für die USA seien. Bei beiden gibt es also
viele Anklänge an das, was Trump sagt.
SPIEGEL: Diese Anklänge finden sich auch
in den zunehmenden Attacken auf Jour-
nalisten. Vor Kurzem wurde ein Mann ver-
haftet, der beim »Boston Globe« angeru-
fen und gedroht hatte, die Journalisten zu
»Juden
töten, weil sie »Feinde des Volkes« seien.
werden uns nicht
ersetzen!« Benesch: Diese Formulierung hat eine lan-
ge und giftige Geschichte, aber im öffent-
lichen Diskurs war sie nicht verbreitet, bis
»Volksverräter« Trump sie wieder und wieder verwendet
hat. Seine Angriffe auf Journalisten und
»Es ist Bürgerpflicht, Medien beschränken sich aber nicht auf
die todbringende diesen Satz. Es gibt ein berüchtigtes Bild,
Messermigration das er einmal getwittert hat: Ein Zug rollt
»Journalisten sind zu stoppen!« auf einen Menschen zu, anstelle seines
Feinde des Volkes!« Kopfes ist ein CNN-Logo zu sehen. Das
ist ein Beispiel für das, was wir die Ent-
menschlichung von Sprache nennen und
die Hürden für Gewalt senkt. Trump hat
in jedem Fall dazu beigetragen, die Dis-
kursnormen im Land zu verschieben.
SPIEGEL: Wie genau vollzieht sich diese
Verschiebung?
Benesch: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: die
Ausschreitungen in Charlottesville vor gut
einem Jahr. Neonazis marschierten durch
die Stadt und skandierten: »Juden werden
uns nicht ersetzen.« Bis dahin hatten sie
so etwas nur im privaten Raum oder in On-
lineforen gesagt. Es war möglich, dass sie
davon als Amerikaner nichts mitbekom-
men hatten. Nach Charlottesville ging das

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 143


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Kultur

nicht mehr. Vielleicht hat Chemnitz den- vorstellen können, dieselben Fragen in den Benesch: Nein, wir sind zu Recht beunru-
selben Effekt in Deutschland: Es zeigt, dass USA oder Europa stellen zu müssen? higt, wie sich die öffentliche Debatte gera-
Worte und Taten möglich sind, die zuvor Benesch: Das schmerzt. Als wir das »Dan- de verändert. Aber wir vergessen oft, dass
außerhalb des gesellschaftlich akzeptablen gerous Speech Project«, gegründet haben, wir auch riesige Fortschritte gemacht ha-
Spektrums lagen. Das ist ein Weckruf! dachten wir weder an die USA noch an ben. Wenn Männer vor 30 Jahren zusam-
SPIEGEL: In Deutschland sind durch die Westeuropa, sondern an Länder, die akut men in der Umkleidekabine oder auf der
AfD Begriffe in die öffentliche Debatte ein- von Völkermord bedroht sind. Vor zwei Jagd waren, haben sie ungeniert über Frau-
geführt worden, die stark an den National- Jahren haben wir angefangen, uns zu fra- en hergezogen, bis hin zu Vergewaltigungs-
sozialismus erinnern: Volksverräter, Lü- gen, ob unsere Ideen nicht auch in unserer witzen. Jetzt machen dieselben Kerle
genpresse, linksgrün-versifft. westlichen Gesellschaft brauchbar sein einen Witz auf Facebook, früher oder spä-
Benesch: Es hilft, sich Sprache als ein könnten. Natürlich gibt es in den USA kein ter entdeckt ihn eine empörte Frau – oder
Spektrum vorzustellen. Die Wahrschein- Risiko eines Genozids, aber die Verände- ein Mann – und beschwert sich. Beide Sei-
lichkeit, mit der sie zu Gewalt führt, kann rungen machen uns große Sorgen. ten sind wütend über diese »Begegnung«.
man auf einer Skala abbilden, von niedrig SPIEGEL: Sie machen die Gefährlichkeit Aber der Kerl, der den Witz gemacht hat,
bis sehr hoch. Das Problem ist: Wenn eine von Sprache nur an Gewalt fest. Ist es nicht wird letztlich öffentlich zur Verantwortung
nur leicht gefährliche Sprache sozial ak- ebenso gefährlich, dass das gesellschaft- gezogen! Das wäre früher nicht passiert.
zeptabler wird, dann wird auch jene Spra- liche Miteinander durch Hass und Fake SPIEGEL: Für Menschen, die in den sozia-
che gebräuchlicher, die eine Stufe gefähr- News vergiftet, das Vertrauen in demokra- len Medien verunglimpft oder verspottet
licher ist. Das ist wie eine Reihe von Do- werden, ist das ein schwacher Trost.
minosteinen: Wenn der eine fällt, kippt Benesch: Natürlich. Solche Zusammen-
der nächste. Die Hürden zur Gewalt fallen stöße polarisieren und erzeugen viel Wut,
schrittweise. »Wir können gar nicht so aber sie tragen dazu bei, dass sich Normen
SPIEGEL: Also gilt auch für Sprache ein schnell löschen, wie in die richtige Richtung verschieben.
»Wehret den Anfängen«? neuer Hass nachkommt. SPIEGEL: Ihr Beispiel zeigt aber auch, wel-
Benesch: Es gibt eine für mich unvergess- che Dynamik soziale Medien entfachen
liche Bemerkung eines Zeugen im Uno- Es reicht einfach nicht.« können. Wird gefährliche Sprache dadurch
Kriegsverbrechertribunal für Ruanda. Es gefährlicher, die Lunte kürzer?
ging damals um den Radiosender RTLM, Benesch: Einerseits ja, weil es einfacher
auch »Radio Machete« genannt, der die tische Institutionen zerrüttet wird? Die öf- ist, sehr viele Menschen zu erreichen. An-
Gruppe der Tutsis als Volksfeinde und exis- fentliche Debatte wird zunehmend aggres- dererseits sind unsere Chancen zu reagie-
tenzielle Gefahr für die Hutus geißelte und siver, polarisierter … ren auch viel größer als früher. Wir haben
mit solchen Botschaften zum Völkermord Benesch: Darf ich Ihren düsteren Vortrag in einem Projekt untersucht, welche Me-
beitrug. Angeklagt waren zwei Führungs- kurz unterbrechen? thoden Menschen nutzen, um auf bösarti-
kräfte des Senders. Der Zeuge sagte: Die SPIEGEL: Unbedingt. ge Sprache im Netz zu reagieren. Für sol-
Angeklagten hätten nach und nach Benzin Benesch: Ja, die Debatte ist härter gewor- che »Counterspeech«-Techniken gibt es
über das ganze Land getropft, bis es eines den, weil das Internet auch denen, die wunderbare Beispiele. Bisher diskutieren
Tages in Flammen aufgehen würde. Das schreckliche Dinge sagen, ein Megafon in wir ja fast immer nur über eine Option,
ist ein brillantes Bild. Irgendwann, wenn die Hand gegeben hat. Aber die Mehrheit um Hass im Netz loszuwerden: löschen!
genug Benzin getropft ist, reicht ein klei- der Menschen, etwa auf Facebook oder SPIEGEL: Was ist falsch, wenn man Men-
ner Funke. Twitter, äußert sich höflich. Der raue, häss- schen damit vor Rassismus, Beleidigung
SPIEGEL: Was lernen wir daraus? liche Ton von einigen wenigen prägt we- oder Verleumdung schützt?
Benesch: Wenn man erst wartet, bis ein niger die Diskussionskultur als solche, als Benesch: Es ist nicht unbedingt falsch,
Land mit Benzin getränkt ist, ist es zu spät. unseren Eindruck von ihr. Das ist wie beim aber es ist ein Hase-und-Igel-Spiel, das
Dann wird es sehr schwierig, Gewalt zu Zeitungslesen: Wenn Menschen in der Zei- nicht zu gewinnen ist. Es reicht einfach
stoppen. Das bedeutet: Wir müssen auf- tung über einen Mord lesen, vergessen sie nicht. Wir können gar nicht so schnell lö-
passen, dass kein Benzin tropft. Und gern, dass darüber berichtet wird, weil er schen, wie neuer Hass nachkommt. Selbst
gleichzeitig die Meinungsfreiheit schützen. die Ausnahme ist, nicht die Regel. dann nicht, wenn die Internetkonzerne
SPIEGEL: Sie haben in Ruanda geforscht, SPIEGEL: Soll heißen: alles nicht so diese Inhalte automatisch erkennen und
in Kenia und Myanmar. Hätten Sie sich schlimm, wie es scheint? sofort entfernen würden. Die Gefahr für
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SPIEGEL: Ihre Organisation ist auch in


Twitters »Trust & Safety«-Rat präsent. Wie
beurteilen Sie Twitters Umgang mit Ver-
leumdung, Rassismus und Hass?
Benesch: Der Umgang mit dem Thema
hat sich dramatisch verändert. Bei allen
Plattformen denken die Verantwortlichen
heute viel intensiver darüber nach, wel-
chen Schaden Inhalte anrichten können.
Das liegt am Druck der Nutzer und an
den Regulierungsbemühungen der Politik.
Twitter hat zum Beispiel eine neue Richt-

ARCHIE CARPENTER / IMAGO / UPI PHOTO


linie angekündigt, die eine entmenschli-
chende Sprache verbieten soll, also etwa
Menschen als Ratten, Ungeziefer oder
Ähnliches zu bezeichnen.
SPIEGEL: Sie haben mal geschrieben, Hu-
mor sei ein recht erfolgreiches Mittel, um
Hetze und Hass einzuhegen. Können Sie
uns dazu mehr verraten?
Benesch: Ehrlich gesagt haben wir das
Protestplakat neben Synagoge in Pittsburgh: »Worte zählen« noch nicht ausreichend erforscht, ich kann
aber anekdotische Beispiele liefern. Der
IS-Anführer Abu Bakr El-Baghdadi rich-
die Meinungsfreiheit wäre dagegen riesig, Wir wissen aus der Forschung, dass wir tete vor drei Jahren einen Aufruf an alle
deshalb bin ich strikt dagegen. uns am ehesten davon beeinflussen lassen, Muslime, sich dem Kalifat anzuschließen.
SPIEGEL: Sie wissen genau, wie viel Ge- was Menschen von uns denken oder den- Daraufhin half der palästinensische Bür-
walt Sprache auslösen kann, und kämpfen ken würden, die uns wichtig sind. Mit Kol- gerrechtsaktivist Iyad El-Baghdadi, der
trotzdem vehement für die Meinungsfrei- legen arbeite ich dazu gerade an einem sich auf Twitter »Nicht DER Baghdadi«
heit. Wie geht das zusammen? großen Experiment auf Twitter. nennt, eine Welle von Antworten auszu-
Benesch: Es fühlt sich in der Tat manchmal SPIEGEL: Wie sieht das aus? lösen. Die waren zum Teil extrem lustig:
ziemlich einsam an. Aber wenn Menschen Benesch: Wir haben Twitter dafür gewon- »Sorry, ich würde ja gern, aber meine
keine friedlichen Mittel haben, um ihre nen, an eine große Zahl seiner Nutzer in Mama sagt Nein.« Welche Wirkung das
Ängste und Sorgen auszudrücken, greifen den USA eine Nachricht zu senden. Darin hat, wissen wir noch nicht. Meine Theorie
sie womöglich erst recht zu Gewalt. Natür- steht, dass die Mehrheit der Nutzer auf ist zumindest, dass Humor den Diskurs er-
lich gibt es Inhalte, die runter müssen, mein Twitter nicht gegen die Regeln verstößt. leichtern und deeskalieren kann.
Punkt ist aber: Löschen allein ist auch des- Soll heißen: Es ist soziale Norm, sich auf SPIEGEL: Oder Probleme verniedlicht.
halb keine Lösung, weil es die Meinung von unserer Plattform anständig zu benehmen. Benesch: Wir haben viele Gegenredner
Menschen nicht verändert. Es hält sie also SPIEGEL: Und das soll Menschen beein- befragt. Die meisten sagen: Ich bin nicht
nicht davon ab, ihre Bösartigkeiten weiter drucken, die im Zweifel wissen, dass sie naiv, ich weiß, dass ich Hassprediger nicht
zu verbreiten. Anders gesagt: Wenn man die Regeln brechen? bekehre. Aber sie hoffen, einen positiven
verhindern will, dass eine Badewanne über- Benesch: Wir testen jetzt, ob eine solche Effekt auf das Publikum zu haben, das der
läuft, muss man dafür sorgen, dass weniger Nachricht die Neigung verschiedener Nut- Unterhaltung etwa auf Twitter folgt. Wir
Wasser hineinfließt. Ansonsten ist man bis zergruppen beeinflusst, gegen Twitters vertrauen in den USA darauf, dass am
in alle Ewigkeit damit beschäftigt, Wasser Community-Regeln zu verstoßen. Unser Ende, wenn alle Ideen, ob gut oder
abzuschöpfen. Das macht keinen Sinn. Experiment basiert auf einer faszinieren- schlecht, frei zirkulieren können, die bes-
SPIEGEL: Was bedeutet das? Wie lässt sich den Forschung. Sie kennen doch diese seren Argumente obsiegen. Das Vertrauen
dem Problem beikommen? Kärtchen in Hotelbadezimmern? in die Meinungsfreiheit ist in den USA fast
Benesch: Um die Flut an Hass zu stoppen, SPIEGEL: Die mir sagen, dass ich meine ein säkulares Dogma.
müssen wir Normen verändern: Eine kri- Handtücher wieder benutzen soll, um die SPIEGEL: Dieses Vertrauen schwindet aber.
tische Masse von Menschen muss das Ge- Umwelt zu schonen? Laut einer Gallup-Umfrage sagt eine Mehr-
fühl bekommen, dass es unangemessen ist, Benesch: Ja. Diese Kärtchen haben eine heit von US-Studenten, dass ihnen eine
sich so zu verhalten oder zu äußern. gewisse Wirkung, aber offen gesagt: Es Gesellschaft, die Vielfalt zulässt, wichtiger
SPIEGEL: Und wie soll das funktionieren? gibt Menschen, die ihr Handtuch ohnehin ist als der Schutz der Meinungsfreiheit.
Benesch: Es gibt dafür erfolgreiche Vor- wiederverwenden, den anderen ist die Benesch: Das mag sein, aber noch schüt-
bilder. Die Zahl der Menschen in den USA Umwelt im Grunde egal. Aber wenn die zen die USA die Meinungsfreiheit mehr
etwa, die betrunken Auto fahren, ist dra- Botschaft auf dem Kärtchen lautet: 85 Pro- als jedes andere Land. Wir hatten nie Be-
matisch gesunken. Das liegt daran, dass es zent der Gäste, die in diesem Hotel über- lege dafür, dass die Idee gut ist, wir haben
sozial inakzeptabel geworden ist. Heute nachten, benutzen ihr Handtuch wieder, uns implizit darauf verlassen. Jetzt haben
kann es Ihnen passieren, dass Ihnen ein hat das laut Forschung eine viel größere wir im Netz endlich die Chance zu über-
Freund die Autoschlüssel abnimmt, wenn Wirkung. Und zwar, weil Menschen sehr prüfen, ob die Idee von Rede und Gegen-
Sie sich betrunken ans Steuer setzen. daran interessiert sind, Teil einer Gruppe rede funktioniert. Wir sind verrückt, dass
SPIEGEL: Das klingt etwas sehr idealistisch. zu sein und sich an deren Normen zu hal- wir nicht viel größere Anstrengungen un-
Betrunken Auto zu fahren ist immerhin ten. Das Faszinierende an diesem Experi- ternehmen zu forschen.
gesetzlich verboten. ment ist, dass es sich ja nicht einmal wirk- SPIEGEL: Frau Benesch, wir danken Ihnen
Benesch: Ja, aber das heißt nicht unbe- lich um eine Gruppe handelt, die Men- für dieses Gespräch.
dingt, dass Menschen sich daran halten. schen haben sich noch nie getroffen.

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 145


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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
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Belletristik Sachbuch

1 (–) Lucinda Riley Die Mondschwester 1 (1) Stephen Hawking Kurze Antworten
Goldmann; 19,99 Euro auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro

2 (2) Eckart von Hirschhausen / Tobias Esch


Die Bestsellerautorin erzählt Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro
im fünften Band ihrer
Sieben-Schwestern-Serie 3 (3) Yuval Noah Harari 21 Lektionen
von einer glamourösen
Flamencotänzerin und der für das 21. Jahrhundert
ewigen Suche nach Identität C. H. Beck; 24,95 Euro

2 (1) Sebastian Fitzek Der meditierende Vega-


Der Insasse Droemer; 22,99 Euro ner, Historiker und Univer-
salgelehrte erklärt die
3 (2) Dörte Hansen Probleme und Herausfor-
Mittagsstunde Penguin; 22 Euro derungen der Gegenwart

4 (4) Charlotte Link 4 (4) Bas Kast Der Ernährungskompass


Die Suche Blanvalet; 24 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro

5 (3) Volker Kutscher 5 (5) Dirk Müller


Marlow Piper; 24 Euro Machtbeben Heyne; 22 Euro

6 (8) Carmen Korn 6 (13) Andreas Englisch


Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro Mein Rom C. Bertelsmann; 22 Euro

7 (5) Fred Vargas


In der nächsten Der Zorn der Einsiedlerin Limes; 23 Euro
7 (6) Florian Illies
1913 – Was ich unbedingt noch
erzählen wollte S. Fischer; 20 Euro
8 Inger-Maria Mahlke
SPIEGEL -Ausgabe
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Archipel Rowohlt; 20 Euro 8 (12) Robert Habeck
Wer wir sein könnten
9 (7) Michael Hjorth / Hans Rosenfeldt
am 24.11.2018 Die Opfer, die man bringt
Kiepenheuer & Witsch; 14 Euro

Wunderlich; 22,95 Euro 9 (9) Thilo Sarrazin


Feindliche Übernahme FBV; 24,99 Euro
10 (11) Juli Zeh
Neujahr Luchterhand; 20 Euro 10 (8) Udo Lindenberg / Thomas Hüetlin
Udo Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
11 (9) Sabine Ebert Schwert und Krone –
Zeit des Verrats Knaur; 19,99 Euro 11 (17) Peter Wohlleben Das geheime
Unsere Tipps: 12 (12) Jonas Jonasson Der Hundertjährige,
Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro

der zurückkam, um die Welt zu retten 12 (11) Kollegah


Die 20 Bücher C. Bertelsmann; 20 Euro
Das ist Alpha! Riva; 22 Euro

13 (10) Elizabeth George


des Jahres Wer Strafe verdient Goldmann; 26 Euro
13 (15) Richard David Precht
Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro
14 (14) Christian Berkel
Der Apfelbaum Ullstein; 22 Euro 14 (10) Bob Woodward
Der beste Roman, 15 (13) Rita Falk
Furcht Rowohlt; 22,95 Euro

Eberhofer, Zefix! 15 (19) Rainer M. Schießler


das beste Debüt, dtv; 8 Euro
Jessas, Maria und Josef Kösel; 20 Euro
16 (16) Maxim Leo / Jochen Gutsch
die beste Biografie, Es ist nur eine Phase, Hase 16 (14) Elli H. Radinger
Ullstein; 12 Euro Die Weisheit alter Hunde Ludwig; 22 Euro
das beste Kochbuch,
17 (17) Karen Duve Fräulein Nettes 17 (20) Dietrich Grönemeyer
das beste Jugendbuch kurzer Sommer Galiani; 25 Euro Weltmedizin S. Fischer; 20 Euro

Anne Gesthuysen Mädelsabend


und vieles mehr 18 (–)
Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
18 (–) Margot Käßmann Schöne Aussichten
auf die besten Jahre bene!; 18,99 Euro

19 (15) Andreas Eschbach


NSA – Nationales Sicherheits-Amt 19 (16) Christopher Schacht
Lübbe; 22,90 Euro Mit 50 Euro um die Welt adeo; 20 Euro

20 (18) Martin Suter 20 (–) Jordan B. Peterson


Allmen und die Erotik Diogenes; 20 Euro 12 Rules For Life Goldmann; 20 Euro

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Kultur

dem Oras Outing als Bisexuelle folgte und eine Diskussion

Die kriegt darüber, ob sie mit dem Lied nicht nur die männliche Ideal-
vorstellung lesbischer Frauen reproduziere.
Als wäre das noch nicht genug, sind da noch all die Lieder,

keiner klein die nur darauf zu warten scheinen, auch endlich zu Hits zu
werden. Das ansteckende »First Time High«, das unschuldige
Abiparty-Euphorie verbreitet. Das melancholisch schöne
»Summer Love«, zu dem sich der sonnenuntergangsfarbene
Popkritik Glatt, eingängig, Werbespot irgendeiner Lifestylemarke quasi von selbst zu
großartig: »Phoenix«, das neue Album drehen scheint.
der britischen Sängerin Rita Ora Vor allem aber ist da das letzte Lied der Deluxe-Edition
des Albums. »Soul Survivor« heißt es, und es könnte zu einer
Selbstermächtigungshymne werden, wie sie früher von
n einem Novembertag im Jahr 1990, als Slobodan Destiny’s Child oder TLC produziert wurden. Ein »Mich
A Milošević längst seine berüchtigte Amselfeld-Rede ge-
halten und der Kosovo bereits seine Autonomie verlo-
ren hatte, als Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften
kriegt ihr nicht klein«-Lied, das so gut funktioniert, weil die-
ses »ihr« eben jeder sein könnte: Ex-Freund, Lehrer, Neider,
ach, im Zweifel sogar die ganze verdammte Gesellschaft.
und Demonstranten schon die ersten Todesopfer gefordert Für Ora dürfte klar sein, wer mit dem »ihr« gemeint ist:
haben und die jugoslawische Armee erste Einheiten in den das von dem amerikanischen Rapper und Hip-Hop-Mogul
Kosovo versetzt hat, da kommt in Priștina ein Mädchen zur Jay-Z gegründete Plattenlabel Roc Nation, bei dem Ora vor
Welt. Sein Vorname lautet Rita. Sein Nachname lautet Sa- sechs Jahren noch ihr Debüt veröffentlicht hat. Einen Großteil
hatçiu und stammt vom türkischen Wort für Uhrmacher ab. der Zeit, die seitdem vergangen ist, hat sie damit verbracht,
Das Mädchen ist gerade ein sich aus diesem Vertrag herauszu-
Jahr alt, als seine Familie nach klagen. Sie fühlte sich nicht genug
England flieht, wo der Vater unterstützt. Das Musiklabel habe
Doppelschichten arbeitet, die bald nach dem Debüt das Interes-
Mutter tagsüber jobbt und bei se an ihr verloren. Roc Nation re-
Nacht für ihr Studium lernt und agierte mit einer Gegenklage. Das
die Familie sich einen neuen laufende Verfahren bedeutete für
Namen gibt. Einen, der nicht Ora, dass sie während dieser ge-
so fremdartig für englische samten Zeit kein zweites Album
Ohren klingt. Statt des Wortes veröffentlichen konnte.
für Uhrmacher wählen sie den So ist sie notgedrungen zur
albanischen Begriff für Uhr. Ora. berühmtesten Musikerin ohne
Nah genug dran, nur eingängiger neues Album geworden. Sie hat
und glatter. »America’s Next Top Model« mo-
Sollte eines Tages einmal je- deriert und in der Jury einer bri-
mand einen Roman über den bri- tischen Castingshow gesessen. Sie
tischen Popstar Rita Ora schrei- hat mit anderen Musikern koope-
ben: Diese Geschichte könnte das riert und Auftritt an Auftritt an
Leitmotiv vorgeben. Gut singen, Auftritt gereiht. Sie war im Fern-
gut tanzen und gut schauspielern, sehen zu sehen, an der Seite von
das können andere auch. Was Calvin Harris, in der Klatsch-
Ora, 27, so interessant macht, ist presse und auf Instagram. Sie ist
ihr untrügliches Gespür für Ein- Ehrenbotschafterin des Kosovo
WARNER MUSIC

gängigkeit. geworden und Markenbotschafte-


Es ist, als würde sie sich vor rin für Adidas. Sie hat auf dem
jeder Zeile, die sie singt, jeder Laufsteg von Victoria’s Secret ge-
Entscheidung, die sie trifft, vor sungen und im Vatikan.
jedem öffentlichen Auftritt eine Musikerin Ora Im vergangenen Jahr traf ein
einfache, alles entscheidende Lieder, die nur darauf warten, Hits zu werden Journalist des »Guardian« Ora
Frage stellen: Ist das alles auch für ein Porträt. Dabei passierte
glatt genug? Stört daran nichts? Ist das alles genug Ora? Nicht etwas Seltenes: Ora vergaß für einen Moment, ausschließlich
zu viel Sahatçiu? glatt und clean zu sein. Stattdessen redete sie wenige Sätze
»Phoenix« heißt ihr neues, zweites Album, das nächste darüber, wie schlimm ihr 25. Lebensjahr gewesen sei. Und
Woche herauskommt – aber schon zuvor mehr Hits hervor- wie sehr sie der Rechtsstreit mit dem Musiklabel mitgenom-
gebracht hat als das gesamte Best-of manch anderer Musiker. men habe. Natürlich nur, um im nächsten Gespräch gleich
Da ist der Hit »Anywhere«, der zu jener Sorte Lieder gehört, wieder klarzustellen, dass sie dem alten Label sehr dankbar
die jeder kennt, ohne sich bewusst daran zu erinnern. Da ist sei für alles und die Trennung einvernehmlich verlaufen sei
das dramatische »Let You Love Me«, bei dem sich beim Mit- und überhaupt diese ganze Phase eigentlich nur wie eine mu-
singen so wunderbar die vibrierende Divenhand in die Luft sikalische Detoxkur gewirkt habe.
strecken lässt, weil ja auch die Töne immer höher werden. Vielleicht ist es das, was das Lied »Soul Survivor« von den
Da ist das zwangsfröhliche »Lonely Together«, das auf nahe- handwerklich ebenso perfekten anderen Hits abhebt. Wer
zu magische Weise auf jedem Radiosender zu laufen scheint, die Augen schließt und sich konzentriert, kann sich mit etwas
sobald man auch nur kurz irgendwo in zäh fließenden Ver- Fantasie für kurze Momente sogar vorstellen, dass dieses
kehr gerät. Da ist »For You« aus dem Soundtrack des Films Lied gar nicht Rita Ora singt. Sondern eine wütende junge
»Fifty Shades of Grey – Befreite Lust«. Da ist das Lied »Girls«, Frau namens Rita Sahatçiu. Maren Keller

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Alexandra Schulz, Marco Wedig
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CHEFREDAKTION MADRID Apartado Postal Número 100 64, Informationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen
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Thomas Schäfer
folgende Wege zur Verfügung:
Kurbjuweit, Alfred Weinzierl
Schlussredaktion: Gesine Block; Christian
MOSKAU Christian Esch, Glasowskij Post: DER SPIEGEL, c/o Investigativ, Ericusspitze 1,
Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, 20457 Hamburg
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Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Ursula Telefon: 040 3007-0, Stichwort »Investigativ«
HAUPTSTADTBÜRO Leitung: René Pfister, Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke NEW YORK Philipp Oehmke, Suite 1460, Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ
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Jürgen Litfin, 78 Georg Funke, 63


Nachrufe Die DDR nannte er »Verbre-
cherstaat«. Nach der Wie-
Für viele Menschen war
Georg Funke das deutsche
dervereinigung kämpfte Jür- Gesicht der Finanzkrise.
gen Litfin für ein würdiges Der ehemalige Chef der
Gedenken aller Maueropfer, Hypo Real Estate (HRE)
sein Bruder war der erste wurde bekannt, als die
Mensch, der beim Fluchtver- Bundesregierung im Herbst
such aus der DDR erschos- 2008 die HRE mit Milliar-
sen wurde. Wie so oft ver- denhilfen stützte und
brachte sein großer Bruder schließlich verstaatlichte.
Günter das Wochenende Funke wollte die Schuld für
vom 13. August in Ost-Berlin das Desaster nie anerken-
bei der Familie; er arbeitete nen, die Bank sei »von
in West-Berlin. Die Abrie- außen zerstört« worden.
gelung der Demarkations- Ob er eine Mitschuld trug,
linie mit Stacheldraht konnte juristisch nicht
und Barrikaden mitten in geklärt werden, im Septem-
Berlin überrumpelte ihn ber 2017 stellte das Land-
ZUMA PRESS / IMAGO

völlig, er war gefangen. Am gericht München einen


24. August versuchte er Strafprozess gegen Geldauf-
verzweifelt, den Westen lage ein. Das Klischee des
schwimmend zu erreichen – abgehobenen Gierbankers
und wurde erschossen. In
der Sterbeurkunde stand

MICHAEL GOTTSCHALK / DDP IMAGES


Stan Lee, 95 keine Todesursache, Jürgen
Schon als Kind träumte er davon, ein großer Literat zu Litfin öffnete heimlich den
werden. Dem Sohn jüdisch-rumänischer Einwanderer, 1922 verplombten Sarg, um sei-
in kleinbürgerlichen Verhältnissen als Stanley Martin nen Bruder noch einmal zu
Lieber in Manhattan geboren, gelang dann tatsächlich so sehen. Es folgten Jahre der
etwas wie ein Update der »Great American Novel«. Als Schikane; die Familie stand
Comicautor und Chefredakteur des New Yorker Marvel- unter Beobachtung, ein
Verlags bevölkerte Lee seine großen, knallbunten Bilder- Ausreiseantrag wurde 1976
romane mit fantastischen Charakteren: dem »Hulk«, einer abgelehnt. 1980 kamen Lit-
modernen Jekyll-und-Hyde-Version, oder den gesellschaft- fin und seine Frau Brigitte hat auf Funke nie gepasst,
lich geächteten Mutanten »X-Men«. Zwischen 1961 und wegen angeblicher Flucht- in der Finanzszene galt der
1972 entstanden unter Lees hyperproduktiver Ägide Dut- beihilfe in Haft. Die Bundes- eigenwillige Westfale als
zende solche gebrochenen Heldenfiguren, die den Zeitgeist republik kaufte ihn frei. Außenseiter. In Gelsen-
eines von gesellschaftlichen Revolten und technologischen Mit seinen hartnäckigen, kirchen geboren, machte
Aufbrüchen geprägten Jahrzehnts spiegeln. Lee selbst ja wütenden Bemühungen, Funke nach der Schule eine
wurde zum schillernden Popstar, der seine Kolumnen mit einen Erinnerungsort für Ausbildung zum Kaufmann
»Excelsior!« beendete. Lange mussten Zeichner und seinen Bruder zu finden, der Wohnungswirtschaft,
Kreative wie Jack Kirby, Steve Ditko oder John Romita Sr. blieb er lange allein. Die studierte Betriebswirtschaft
darauf warten, für ihren Anteil an Lees Arbeit anerkannt Bewährungsstrafe, die der und stieg bei der Hypo-
zu werden. Urheberrechte spielten im wilden »Silver Age« Vereinsbank (HVB) zum
der Comichistorie keine große Rolle. Bis heute sind die Bereichsvorstand auf. Als
Marvel-Heroen, ob in Kioskheften oder als Leinwandstars die HVB ihre Gewerbe-
in Hollywood-Blockbustern wie »Avengers« oder »Black immobiliensparte abspalte-
Panther«, fester Bestandteil westlicher Popkultur. Lees te und 2003 als HRE an
essenzielle – und populärste – Figur ist der 1962 erstmals die Börse brachte, war Fun-
vorgestellte »Spider-Man« Peter Parker: ein linkischer ke plötzlich Chef. Zunächst
Nerd aus Queens, der von einer radioaktiv verseuchten hatte er Erfolg, doch die
SVEN DARMER / DAVIDS

Spinne gebissen wird und dadurch Superkräfte entwickelt. Übernahme der Depfa-
Ein Schicksalskomplex aus Schuld- und Verantwortungs- Bank im Sommer 2007 wur-
gefühlen lässt den Teenager zum Helden wachsen: das de der HRE zum Verhäng-
Überwesen, ein netter Bursche aus der Nachbarschaft mit nis. Nach der Finanzkrise
Alltagssorgen. Dieser menschliche Faktor, der Marvels geriet Funkes Leben zum
Comicpersonal von abgehobenen DC-Konkurrenten wie Spießrutenlauf. Er flüchtete
»Superman« unterscheidet, ist Lees Vermächtnis – und das Todesschütze erhielt, fand zunächst nach Mallorca,
Geheimnis für den dauerhaften Erfolg der Superhelden. er immer zu milde. Litfin wo er sich als Immobilien-
»Ich habe versucht, alles so realistisch wie möglich zu gelang es, 2003 in einem makler versuchte, später
machen«, sagte Lee einmal über seine Fantasywelten. der letzten DDR-Grenz- zog er weiter. Wie erst
Den Marvel-Fans bleibt Lee als gottgleiches Maskottchen wachtürme die Gedenk- jetzt bekannt wurde, ist
erhalten: In vielen Kinofilmen ist er in winzigen ver- stätte Günter Litfin zu er- Georg Funke im Juni
schmitzten Gastauftritten zu sehen. Stan Lee starb am öffnen. Jürgen Litfin starb nach kurzer Krankheit
12. November in Los Angeles. BOR am 19. Oktober in Berlin. KS verstorben. MHS, STK

DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018 149


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Personalien

DOROTHEE FALKE / T&T


Neues vom Häcksler gestellt wurden. Folkerts leistete Abbitte, indem sie auf Einla-
dung des damaligen rheinland-pfälzischen Wirtschaftsministers
Rainer Brüderle (FDP) mit ihm durch seine Heimat wanderte.
● Dienstälteste »Tatort«-Ermittlerin ist sie längst. 2019 begeht Die Fortsetzung ist ebenfalls in Zarten angesiedelt, Drehbeginn
Ulrike Folkerts, 57, als Ludwigshafener Kommissarin Lena soll im Frühjahr sein. Folkerts sagt, sie wolle die »Tatort«-
Odenthal ihr Dreißigjähriges. Zu diesem Anlass soll eine der Zuschauer »mit auf eine Zeitreise nehmen«. Wie in Teil eins
berüchtigtsten Folgen der Krimireihe weitererzählt werden: spielt Ben Becker den Dorfpolizisten. Der SWR hatte auch
»Tod im Häcksler«. Der Fall war 1991 ein Skandal – zumindest den Regisseur von »Tod im Häcksler« für die Fortsetzung an-
unter Pfälzern. Sie sahen sich verunglimpft, weil die Bewohner gefragt, doch der sagte ab, da sein Job ihm dafür keine Zeit lasse:
des fiktiven Örtchens Zarten als hinterwäldlerischer Mob dar- Nico Hofmann ist heute Chef der Produktionsfirma Ufa. AKÜ

nur sein Gefallen am histori- mentierte, der Mann wolle


Anders als schen Kanzlerbungalow wohl Bundeskanzler werden,
Adenauer in Bonn – »im Gegensatz zu Scholz reagierte mit einem
Adenauer« findet Scholz das zufriedenen Grinsen. Mit auf
● Bundesfinanzminister und Gebäude aus den Sechziger- der Bühne saß der Schweizer
Vizekanzler Olaf Scholz, jahren »schön« –, sondern Architekt der Elbphilharmo-
60, fühlt sich offenbar zu sagte auch, dass er weder nie, Jacques Herzog, der
Höherem berufen. Beim Bürgermeister von New York Scholz’ Rolle bei dem schwie-
»SPIEGEL Gespräch live« im noch von Venedig werden rigen Bau, der den Steuer-
wolle, ihm schwebe »ein ande- zahler statt 77 am Ende fast
KRAFFT ANGERER

Hamburger Thalia Theater


vergangenen Dienstag res Amt« vor. Redakteurin 800 Millionen Euro kostete,
zum Thema »Stadt der Susanne Beyer, die für den über alles lobte: »Ohne ihn
Zukunft« offenbarte er nicht SPIEGEL moderierte, kom- stünde da gar nichts.« KS

150 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Reportern in Shanghai An-


Entspannt fang Oktober, dass sie nicht
diplomatisch vorhersagbar sei. Trotzdem
habe er Vorstellungen, wie er
● Von vielen wird er für den seine Zeit als Ruheständler
besten männlichen Tennis- gestalten möchte, verriet er

RALPH KOEHLER / PROPICTURE / DER SPIEGEK


spieler aller Zeiten gehalten, nun dem »Sunday Times
seine Bilanz ist ja auch ein- Magazine«. Weil er so viel
drucksvoll, seine 20-jährige geflogen sei während seiner
Karriere langlebig. Inzwi- Karriere, wolle er gern lange
schen wird der Touren mit dem
Schweizer Tennis- Auto machen:
profi Roger Fede- durch Italien,
rer, 37, allerdings Deutschland,
immer häufiger Frankreich, Skan-
gefragt, wann er in dinavien. Außer-
den Ruhestand dem wolle er
gehen wolle. Bis- London als Tou- Die Augenzeugin
LAIF

her verweigerte rist erobern. Und


der achtmalige
Wimbledon-Sieger die Ant-
wort stets mehr oder weni-
bis dahin? Das
Einzige, was ihm wichtig sei,
seien seine Frau, seine Kinder
»Sofort war die Hölle los«
ger diplomatisch. Das Schöns- und seine Freunde. Federer: In Thüringen wird erstmals eine Moschee neu
te an seiner Karriere sei für »Tennis? Großartig. Wenn gebaut. Lautstarke Proteste begleiteten die
ihn, so reagierte er auf ent- ich weiter siege – fantastisch. Grundsteinlegung am Stadtrand von Erfurt, Dutzende
sprechende Anfragen von Wenn nicht, auch gut.« KS
Menschen demonstrierten aber auch für Religions-
freiheit – darunter die Studentin Anna-Lena Metz.

Mehr, mehr, mehr spielern, aber auch Parfum-


verkaufen und, und, und –
● »Ich stehe seit dem Vormittag hier vor dem Moschee-Bau-
platz. Als die Demonstranten ankamen, war sofort die Hölle
● Sie habe ihren wahren machen J. Lo ohnehin zu los. Überall Polizisten und eine irgendwie angespannte Stim-
Wert endlich erkannt, teilte einer der laut Magazin mung. Die Gegner der Moschee haben ihren Lautsprecher-
Jennifer Lopez, 49, der »Forbes« 100 reichsten wagen direkt gegenüber aufgestellt, auf einer Wiese auf der
»New York Times« kürzlich Prominenten der USA. In anderen Straßenseite. Wir haben uns dann hier am Bauzaun
mit. Das meint die Schau- Zukunft will Lopez einen positioniert, direkt vor dem Eingang zum Baugrundstück,
spielerin keineswegs meta- höheren Gewinn einstreichen wo jetzt die Grundsteinlegung stattfindet. Wir spielen laute
phorisch. Die Werbung für für die Produkte, die ihren Musik ab, um diese Hetzreden zu übertönen – damit die Fei-
ihren neuen Film »Manhat- Namen tragen. Es gehe ihr er drinnen einigermaßen ungestört ablaufen kann. Immerhin
tan Queen«, der im Januar dabei um mehr als ums Geld, sind wichtige Politiker und Vertreter anderer Religionen
in Deutschland startet, beteuert sie. Sie will ein Zei- gekommen, das ist ein gutes Zeichen.
begleitet sie mit der Ankün- chen setzen für ihre Kinder, Es ist aber schon heftig, wie viele Leute mit ihren Schil-
digung, fortan weniger arbei- die eine Welt erleben sollen, dern hergekommen sind und Parolen gegen den Islam rufen.
ten und mehr Geld verdie- in der Frauen viel erreichen Das können ja nicht alles besorgte Nachbarn sein, hier im
nen zu wollen. Noch mehr können: »Wir schreiben Gewerbegebiet wohnt kaum jemand. Warum reisen Leute
Geld, muss es heißen, denn Geschichte, wir reißen Mau- an, um Stimmung gegen Muslime und ein Gotteshaus zu
ihre diversen Einnahmequel- ern ein, wir wollen die gläser- machen? Ich habe ganz grundsätzlich Schwierigkeiten damit,
len – Singen, Tanzen, Schau- ne Decke durchbrechen.« KS wenn Menschen solch eine tiefe Ablehnung erfahren.
Warum sollte man überhaupt Unterschiede machen zwi-
schen unterschiedlichen Menschengruppen? Was noch
schlimmer ist: Die Leute, die hier gegen den Neubau
demonstrieren, ignorieren die Religionsfreiheit. Die ist mir
echt ein Anliegen, obwohl ich gar nicht besonders gläubig
bin, aber ich studiere im Nebenfach Religionswissenschaft.
In Erfurt lässt es sich schon seit einer Weile beobachten,
wie Rechte gegen Minderheiten vorgehen. Ich bin das Kind
eines ehemaligen Gewerkschaftssekretärs, vielleicht muss
ich denen deshalb zeigen, dass sie nicht die Mehrheit oder
›das Volk‹ sind. Ich frage mich, woher diese Wut kommt,
dieser Hass. Auf den Schildern sind einige Rechtschreib-
fehler, da steht zum Beispiel ›Moshee‹ statt ›Moschee‹. Also
Dummheit, denke ich, könnte schon eine Rolle spielen.
NYT / REDUX / LAIF

Die Leute von der Ahmadiyya-Gemeinde haben uns


hingegen sehr nett begrüßt, ich werde demnächst näheren
Kontakt zu ihnen aufnehmen. Sie sollen merken, dass sie
nicht allein sind in Erfurt.« Aufgezeichnet von Peter Maxwill

151
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»Auch Martin Schulz hat die Basis in hellen Aufruhr versetzt,


dann war es sehr schnell zu Ende. Friedrich Merz sollte aufpassen.«
Martina Möller, Bad Marienberg (Rheinland-Pfalz)

Der ideale Gegner lich der ideale Gegner für die andere Seite. er von einem »Beziehungsdreieck«, als ob
Er ist zu wohlhabend, wirtschaftsfreund- da irgendeine Beziehung bestanden hätte.
Nr. 46/2018 Der Anti-Merkel – was
lich, konservativ, er ist kein volksnaher Dies kommt einer Verhöhnung des Opfers
Friedrich Merz mit Deutschland vorhat
Typ, der auch auf Anhänger anderer Par- gleich. Außerdem sein Rat: keinen Alkohol
Kaum hat sich Friedrich Merz in der Poli- teien anziehend wirkt. Er würde von der trinken und sich natürlich keine Drogen
tik zurückgemeldet – schon landet er auf Mitte der Bevölkerung nicht gewählt und ins Getränk mischen lassen. Damit macht
dem SPIEGEL-Titel! Besser hätte es für ihn von der AfD keine Wähler zurückholen. er die Frauen verantwortlich für die gegen
nicht laufen können. Dietrich Jesse, Mainaschaff (Bayern) sie gerichtete Gewalt. Fehlt nur noch, dass
Dietmar Brummack, Elmenhorst (Schl.-Holst.) er Frauen empfiehlt, nach 19 Uhr nicht
Nicht zuletzt als langjähriger SPIEGEL-Le- mehr das Haus zu verlassen – im Winter
Haben Sie sich nur nicht getraut, mit »Der ser bin ich ein Verfechter der Freiheit des natürlich ab 17 Uhr!
Antichrist« zu titeln? Ich finde das un- Wortes und der Presse. Bei der Lektüre Isabella Schmid, München
möglich. des Berichts über Friedrich Merz habe ich
Frank Gemballa, Sankt Augustin (NRW) mich aber schon gefragt, was die Hinweise Eigentlich ein vernünftiges Interview – lei-
der ist mir beim letzten Satz der Kragen
Mir liegt Friedrich Merz nicht mehr am geplatzt. Der »Ratschlag« ist im wahrsten
Herzen als die anderen Kandidaten für Sinne des Wortes ein Schlag, vor allem ins
den CDU-Parteivorsitz. Aber war es nötig, Gesicht des Opfers. Was für eine Frechheit,
ein Bild auszuwählen, das so wirkt, als als ob die junge Frau die Drogen absicht-
wolle Herr Merz sich für die Rolle des Me- lich genommen hätte! In der Berichterstat-
phisto, Symbol von diabolischer Verfüh- tung hieß es, es sei ihr etwas ins Glas ge-
GETTY IMAGES
rungskunst und Intrige, beim Berliner En- kippt worden. Und selbst wenn sie betrun-
semble bewerben? Bei der Titelzeile hätte ken gewesen wäre oder Ähnliches – 2018
es ein neutraleres Foto auch getan. sollte jeder Mann begriffen haben, dass
Anne Chavez-Siebenborn, Frankfurt am Main Merkel-Konkurrent Merz das Opfer nicht »selber schuld« ist, egal
wie betrunken, bekifft, wie kurz der Rock
Falls Herr Merz tatsächlich auch nur mit- auf die NSDAP-Mitgliedschaft des Groß- und so weiter.
telbar mit Institutionen zu tun hatte, die vaters und die richterliche Tätigkeit »mit Claudia Ley, München
per Cum-Ex-Geschäft oder auf andere NS-Bezug« des Vaters zur Sache beitragen
Weise Gesetzeslücken ausnutzen, um »le- sollten. Sind derartige Informationen nicht Gute Eltern bleiben
gal« diverse Gemeinwesen zu betrügen eher ein Versuch, die Familie und damit
Nr. 45/2018 »Papa hat dich nicht mehr
und zu bestehlen, kann er doch nicht im Herrn Merz implizit mit dem rechten
lieb« – wie eine Trennung der Eltern
Ernst in ein Amt gewählt werden, das dem Rand in Verbindung zu bringen? das Leben ihrer Kinder zerstören kann
Gemeinwohl verpflichtet ist! Thomas Gerlach, Bebra (Hessen)
Carsten Lorenzen, Hamburg Während andere Länder für Eltern-Kind-
DER SPIEGEL Sehr geehrter Herr Gerlach, Entfremdung teils drastische Strafen ver-
Merz war doch, abgesehen von zwei Jah- uns ging es darum, die Familiengeschichte hängen, wird in Deutschland der entfrem-
ren Fraktionsvorsitz, immer nur einfacher von Friedrich Merz zu skizzieren – und dende Elternteil letztendlich noch belohnt.
Abgeordneter ohne jede Führungsfunk- nicht darum, ihn in die rechte Ecke zu stel- Und der entfremdete Vater muss auch
tion. Es ist mir ein Rätsel, wie das jeman- len. Deshalb haben wir die NSDAP-Mit- noch zahlen. Den Glauben an den Rechts-
den für das Amt des Bundeskanzlers qua- gliedschaft des Großvaters erwähnt, aber staat verliert man dabei zwangsläufig.
lifizieren soll. Abgesehen davon sollte ihn auch, dass der Vater von Friedrich Merz Markus Witt, Teltow (Brandenb.)
doch seine Lobbytätigkeit ohnehin disqua- als Richter in den Siebzigerjahren an der
lifizieren. Und selbst wenn man all dies juristischen Aufarbeitung der NS-Zeit be- Wohltuend ist die sachliche Auseinander-
beiseite lassen könnte: Dieser Mann hat teiligt war. setzung mit dem Thema. Was noch fehlt,
1997 aus Überzeugung gegen die Strafbar- René Pfister, Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros ist der Verweis auf einen Lösungsansatz.
keit der Vergewaltigung in der Ehe ge- Die internationale Forschung zum besten
stimmt! Ich finde es schockierend, auch Was für eine Frechheit Modell nach einer Trennung der Eltern ist
nur daran zu denken, so einen Mann als sich einig: Gleich nach der traditionellen
Nr. 45/2018 Der Freiburger Polizeipräsident
Vorsitzenden einer Volkspartei zu wählen. Bernhard Rotzinger rät nach einer Familie kommt die paritätische Doppelre-
Mareike Schneider, Essen mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung sidenz, hierzulande eher als »Wechselmo-
zu gesundem Risikobewusstsein dell« bekannt. Warum nicht das Wechsel-
Die Basis sei besoffen von Merz, dieser modell als Standard einführen, nachdem
gelte geradezu als Messias, wird bereits in »Macht euch nicht wehrlos«, rät der Frei- sich im Residenzmodell – das praktisch
Teilen der CDU geäußert. Ja, die Partei- burger Polizeipräsident im Interview, nach- Standard ist – elterliche Entfremdung so
mitglieder scheinen besoffen zu sein, sie dem ein junges Mädchen von acht Män- lange ausbreiten konnte? Wie es anders
wissen nicht, was sie tun. Merz wäre näm- nern vergewaltigt wurde. Zudem spricht und besser geht, zeigen unsere Nachbar-

152 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018


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Briefe

länder, in denen die Diskussion weit vo- ter, die Verfahrensbeistände und die Ge- ger und dabei schäbiger, als in Indonesien
rangeschritten ist – in Richtung Wechsel- richte. Es ist eine Schande, wie wenig die oder Brasilien das quadratkilometerweise
modell und Befriedung von Trennungskon- genannten Beteiligten sich letztendlich um Abholzen der Urwälder zu stoppen – in
flikten. Wir können in der Familienpolitik das Kindeswohl kümmern und wie sich denen vermutlich Abertausende Affen le-
noch eine Menge von unseren Nachbarn stattdessen alles nur um die Bedürfnisse ben. Wie so oft wird auch hier am kleinen
lernen, zum Nutzen unserer Kinder. der Mutter dreht. Die Behörden tragen, Mann ein irrsinniges Exempel statuiert,
Martin Ostendorf, Hamburg wenigstens in meinem Fall, die größte
Schuld an unserer familiären Tragödie.
Das sogenannte PAS (parental alienation Andreas Bolte, Landshut (Bayern)
syndrome) ist ein pseudowissenschaft-

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


liches Konzept, das weitläufig nicht aner- Die wirren Argumentationen der pseudo-
kannt wird. Dennoch wird das Internet wissenschaftlichen PAS-Theorie suchen
überschwemmt mit Artikeln, die ihm die die Schuld pauschal bei der Mutter und
Aura einer Realität verleihen, und mit Er- sind somit weder unter ethischen noch un-
schrecken stelle ich fest, dass auch Ihr Text ter Gleichstellungs- oder Kindeswohlge-
sich dieser Bewegung andient. PAS ist eine sichtspunkten vertretbar. Narzisstischen
sexistische Theorie, die es durch ihre Ver- Kindsvätern, die eh schon dazu neigen, Zirkusdirektor Köhler mit Robby
einfachung der komplexen Eltern-Kind- die Schuld für ihr eigenes erzieherisches
Beziehung selbst gewalttätigen oder miss- Versagen nicht bei sich zu suchen, wird während die großen Tierquäler, die den
brauchenden Vätern ermöglicht, vor Ge- eine Bühne bereitet. Die Reduzierung des Lebensraum von Zigmillionen Tieren ab-
richt das Sorgerecht zu erkämpfen. Wenn hochstrittigen, komplexen Elternkonflikts holzen, ungebremst weiterrasen. Applaus
ein Kind den Vater ablehnt, klar: Schuld auf ein stark vereinfachtes Modell bedient an Peta für diesen Zynismus.
ist die Mutter. Entzieht man ihr das Sorge- sich lediglich patriarchischer Machtstruk- Peter Vicsay, Berlin
recht daraufhin, womöglich total, wie es turen zur Verfestigung einer patriarchi-
ein von Ihnen zitierter »Wissenschaftler« schen Gesellschaftsstruktur. Wollen Sie In meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als
fordert, und es geht dem Kind noch sich ernsthaft diesen narzisstischen, trum- Tierarzt und auch als Amtstierarzt hatte
schlechter: Schuld ist natürlich die Mutter, pischen, patriarchischen Machtstrukturen ich zahlreiche Berührungspunkte mit gra-
die das Kind »fernsteuert«. unterwerfen? vierenden Problemen des Tierschutzes.
Stefan Blasig, Saint-Benoît (la Réunion, Frankreich) Johanna von Arend, Kronshagen (Schl.-Holst.) Das Tierschutzgesetz ist eine Grundlage
für die Entscheidungen der Fachorgane.
Kein Paar mehr sein, aber gute Eltern blei- Die aktuelle Rechtsprechung setzt Frauen Zugleich gilt es aber, den gesunden Men-
ben – das ist die Königsdisziplin. In einer beim Kampf ums Kind in eine heraus- schenverstand einzuschalten. Dieser bleibt
»Ich-Gesellschaft« gelingt das leider nur ragende Machtposition. Zugleich sind bei der Entscheidung zum Schimpansen
wenigen Müttern und Vätern in Tren- diese Mütter oft wütend über die verlo- Robby seitens des Veterinäramtes Celle
nungssituationen. Anstatt sich, unter Zu- rene Beziehung und die neue, schwierige auf der Strecke. Es ist nicht nachvollzieh-
rückstellung eigener Befindlichkeiten, in Situation als Alleinerziehende. Nur eine bar, dass er nach mehr als 40 Jahren Leben
die Gefühlswelt ihrer Kinder sensibel hi- Minderheit der Frauen bringt in dieser in Zweisamkeit mit seinem Betreuer in
Situation die Kraft, Selbstreflexion und In- eine Auffangstation gegeben werden soll.
tegrität auf, das tatsächliche Wohl ihrer Würde diesem Ansinnen stattgegeben,
Kinder über die eigenen Emotionen zu dann käme das einer staatlich angeordne-
stellen. Wenn die Mutter dann nicht will, ten Form der Tiermisshandlung gleich.
bleibt dem Vater nur, weiter um das Kind Dr. Siegfried Erler, Saalfeld (Thür.)
zu kämpfen, wissend, dass er es damit ei-
nem dauerhaften Konflikt aussetzt – oder Dieser Mann braucht nicht dermaßen at-
GESCHE JÄGER

das Kind aufzugeben und die Rolle des tackiert zu werden, denn er kümmert sich
Zahlvaters einzunehmen. Das Kind ver- um seinen alten Freund, und beide schei-
liert immer. Der österreichische Ansatz ei- nen im Alter ruhig und zufrieden zu leben.
Babyfoto in Schneekugel ner verpflichtenden Begleitung der Eltern Dass Tiere nicht mehr in den Zirkus ge-
erscheint daher auch für deutsche Tren- hören, ist Gott sei Dank inzwischen zur
neinzuversetzen und selbst Lösungen zu nungsfamilien höchst sinnvoll. Regel geworden. Aber diese beiden sind
finden, führen Eltern um Sorgerecht und Axel Schwiersch, Bendestorf (Nieders.) ein Auslaufmodell. Lasst sie in Ruhe ihren
Umgangskontakte (Macht-)Kämpfe vor Lebensabend verbringen und traktiert sie
Gericht. Als an diesen Auseinandersetzun- Lasst sie in Ruhe! nicht mit der Prinzipienreiterei! Es gibt
gen beteiligte Anwältin gewinne ich nicht reichlich Tierleid, das es dringender zu be-
Nr. 45/2018 Was macht einen
selten den Eindruck: Es geht hier um vieles kämpfen gilt.
Menschenaffen glücklich?
– um das Kind geht es oft nicht. Lissy Petersen, Potsdam
Elisabeth Hoffmann-Gallhoff, Rechtsanwältin mit Ein Mann und ein Affe haben gemeinsam
Schwerpunkt im Familienrecht, Bünde (NRW) ihr gesamtes Leben im Zirkus verbracht DER SPIEGEL Am 8. November hat das
und sollen jetzt, kurz vor Ultimo, sinnlos Niedersächsische Oberverwaltungsgericht
Ich (50) bin mit meinem vierjährigen Sohn auseinandergerissen werden von den Tier- entschieden, dass der Schimpanse Robby
genau in der in Ihrem Artikel beschriebe- schützern, die sich in ihrem Fanatismus bei Zirkusdirektor Köhler bleiben darf.
nen Situation – der Junge und ich sehen wie die Aasgeier auf dieses Paar stürzen.
uns gegen den Willen des Kindes viel zu Langsam fragt man sich, ob noch der letzte
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
selten. Nach einem Jahr Umgangsblocka- Funken Maß und Mitte auf dem Altar des ([email protected]) gekürzt
de muss ich aber noch andere, sehr wich- Naturfanatismus geopfert werden muss. sowie digital zu veröffentlichen und unter
tige Mitspieler in diesem Trauerspiel nen- Den Zirkusdirektor Klaus Köhler nieder- www.spiegel.de zu archivieren.
nen: die Jugendämter, die Umgangsbeglei- zuknüppeln ist ja auch viel einfacher, billi-

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Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der »Frankfurter Allgemeinen Sonn- Zitate


tagszeitung«: »Plastikmüll ist in aller
Munde, das will Europa jetzt ändern.« Die »Berliner Zeitung« über die
Reaktion des DFB-Sportdirektors Horst
Hrubesch, EM-Held von 1980,
zu den Football-Leaks-Enthüllungen
(Nr. 45/2018):

In der Vorwoche brachte der SPIEGEL die


Aus der Syker »Kreiszeitung« Titelgeschichte »Der Verrat – Geheim-
sache Luxus-Liga« heraus, dem die ARD-
Doku »Football Leaks: Von Gier, Lügen
Antwort des Servicecenters Fahrgast- und geheimen Deals« folgte. Hrubesch hat
rechte der DB Vertrieb GmbH auf einen das meiste daraus kopfschüttelnd zur
Entschädigungsantrag für eine Verspä- Kenntnis genommen: »Ich bin mit diesen
tung: »Wir bedauern die Ihnen entstan- Summen schon lange nicht mehr einver-
denen Unannehmlichkeiten und haben standen. Wenn ich die Zahlen lese, dann
aufgrund einer Verspätung von 61 Minu- wird einem angst und bange.« Er wolle
ten eine Gutschrift in Höhe von 0 Bahn-
Bonus Punkten veranlasst.«
Machen Sie die sich gar nicht ausmalen, wie der Profifuß-
ball in zehn Jahren aussehe.
digitale Zukunft
Aushang bei einem Reifenhändler
in Aschheim (Bayern): »Nutzen Sie
zu Ihrer Gegenwart. Die britische Zeitung »The Independent«
zum SPIEGEL-Gespräch mit Labour-Chef
unseren Service der Terminplanung Jeremy Corbyn »Ich bin sehr jung.
und sichern sich ihren Termin online, Ich rauche nicht, ich trinke nicht. Ich tue
um in der Umrüstsaison unnötige nichts Schädliches.« (Nr. 46/2018):
Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen.«
Alles an Jeremy Corbyns Interview mit
dem SPIEGEL war faszinierend, einschließ-
lich der Publikation, in der es erschienen
ist. Der Oppositionsführer hält seine Be-
Aus der »Westfalenpost« ziehungen zur britischen Presse für so mi-
Der Bachelorstudiengang serabel, dass er sich an ausländische Jour-
nalisten wendet, um eine faire Anhörung
Aus der »Saarbrücker Zeitung«: Betriebswirtschaft und zu bekommen … Er ist tatsächlich ein EU-
»Ein Rettungswagen war im Begriff einen Digitalisierung an der Skeptiker. Mag er auch vor dem EU-Refe-
Patienten nach Elversberg zu rendum halbherzig die soziale Seite der
bringen und bemerkte während der
SPIEGEL AKADEMIE. EU betont haben, nun blickt er dem Aus-
Fahrt dorthin, dass der tritt mit Begeisterung entgegen.
rechte Außenspiegel beschädigt war.« Wissenschaftlich fundiert,
berufsbegleitend und
staatlich zugelassen. Der SPIEGEL berichtete …
… in »Untenherum nackt« (Nr. 46/2015)
über einen Vorwurf gegen den
1988 verstorbenen Hildesheimer
Altbischof Heinrich Maria Janssen
wegen sexuellen Missbrauchs.

Aus den »Elmshorner Nachrichten« Das Bistum gab am Mittwoch einen neuen
Missbrauchsvorwurf gegen den einstigen
Kirchenfürsten bekannt.
Bildunterschrift der »Cuxhavener
Nachrichten«: »Schrecken vieler Haus-
besitzer: Einbrecher verschaffen sich
Zutritt zu den eigenen vier Wänden.« Ehrung
Die SPIEGEL-Redakteure Markus Dett-
Die »Lippische Landes-Zeitung« über mer und Cornelia Schmergal sind für
einen Vortrag der AfD-Politikerin Leyla ihren Text »Halber Job, ganzer Kerl«
Bilge: »Bilge zitiert unter anderem den (SPIEGEL 32/2017) mit dem Willi-Blei-
Vergewaltigungsfall in Freiburg: Daran, cher-Preis der IG Metall Baden-Württem-
dass hier von 15 Tätern keiner die Polizei berg ausgezeichnet worden. Der Bericht
gerufen habe, sehe man, dass das kein beschreibt die Probleme von Männern in
Einzelfall sei.« Teilzeitjobs.
Informieren Sie sich unter
154 DER SPIEGEL Nr. 47 / 17. 11. 2018
www.spiegel-akademie.de
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und VO (EU) Nr. 2017/1151)

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