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Mission: Startup

Christoph Warmer • Sören Weber

Mission: Startup
Gründer in Deutschland schildern ihren
Weg von der Idee zum Unternehmen
Christoph Warmer
Stuttgart, Deutschland

SärenWeber
Düsseldorf, Deutschland

ISBN 978-3-658-06652-9 ISBN 978-3-658-06653-6 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-06653-6

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.dc abmfbar.

Springer Gabler
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uktorat: Eva-Maria Fürst


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Springer Gabler ist eine Marke von Springer OE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe
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www.springcr-gabler.dc
Vorwort
Facebook, Dropbox, Twitter – wer kennt sie nicht, die jungen Unternehmen aus Silicon Valley
mit smarten Gründern und explodierenden Wachstumszahlen. Auch in Deutschland sind inter-
national erfolgreiche Startups wie myTaxi, Delivery Hero oder 6Wunderkinder entstanden. Die
Unternehmensberatung McKinsey schätzt, dass allein Tech-Startups bis 2020 rund 100.000
Arbeitsplätze in Deutschland schaffen könnten.
Startups, das sind junge Unternehmen auf der Suche nach einem nachhaltigen und skalier-
baren Geschäftsmodell. Auf ihrem Weg brechen sie Industrie Paradigmen, entwickeln und testen
neuartige Produkte und müssen dabei mit vielfältigen Ungewissheiten umgehen. Ihre hohe Inno-
vationskraft und klare Wachstumsorientierung unterscheidet sie von klassischen Gründungen1.
Auch wenn der Fokus meist auf den technologiebasierten Startups liegt, sind sie in allen Branchen
zu finden. So wurden beispielsweise in Deutschland erfolgreiche Food-Startups wie fritz-kola,
mymuesli, Vapiano oder Produkt-Startups wie ergobag oder Bora gegründet. 2013 sind rund
5.000 Startups in Deutschland aktiv, schätzt der Bundesverband Deutsche Startups.
Genug Inspiration und Vorbilder für angehende Gründer in Deutschland? Wir glauben nein.
Schauen wir uns Gründer aus den USA an: Steve Jobs, Elon Musk, Mark Zuckerberg – allesamt
Persönlichkeiten, die eng mit ihren Unternehmen verbunden sind und weltweit die Gründerszene
inspirieren. Auf Startup-Konferenzen hören wir immer wieder: Wir brauchen mehr Gründervor-
bilder in Deutschland. Ihre Wege sind enger an der Lebenswirklichkeit deutscher Gründer und
zeigen, dass auch in Deutschland erfolgreich internationale Startups aufgebaut werden können.
Mit diesem Buch wollen wir zu dieser Perspektive beitragen.
Das Potenzial für neue Gründer ist groß, immerhin sehen knapp 50 Prozent der 18- bis
64-Jährigen Deutschen bzw. rund 25 Millionen Deutsche in der Unternehmensgründung eine
attraktive berufliche Perspektive, so der Global Entrepreneurship Monitor 2013. Auch wenn ver-
mutlich nicht alle der 25 Millionen ein skalierbares Startup im Sinn haben, erscheinen uns 5.000
Startups eher wenig.
Allerdings: gemäß dem Startup Genome Report2 scheitern 90 Prozent der Startups. Wir
haben uns daher gefragt: wie wird aus einer ersten Geschäftsidee ein florierendes Unternehmen?
Um Antworten zu finden, sind wir quer durch Deutschland gereist und haben uns mit Gründern
zum Gespräch getroffen. Im Interview zeichnen wir ihre persönliche Gründungsgeschichte nach
– inklusive ihrer Rückschläge, Wendepunkte und Erfolge. Die Inhalte gehen dabei weit über Kur-
zinterviews in den einschlägigen Medien hinaus. Sie zeigen die großen Entwicklungsstränge wie
beispielsweise Teamaufbau, Kundengewinnung oder Finanzierungsrunden über Jahre hinweg auf.
Beleuchtet werden aber auch prägende Ereignisse, um tiefe Einblicke in das Denken und Han-
deln der Unternehmer zu geben. Die Gründer erzählen, wie sie Hindernisse gemeistert haben, was

1 In loser Anlehnung an die Definitionen von Steve Blank, Eric Ries und dem Deutschen Startup Monitor 2013
herausgegeben vom Bundesverband für deutsche Startups
2 wissenschaftliche Studie zu den Erfolgsfaktoren von Silicon Valley Startups
sie heute anders machen würden und wie sich ihr persönliches Leben mit dem Startup verändert
hat. Damit halten wir Erfahrungen aus vielen Jahren Gründung fest. Angehende Unternehmer
können davon lernen und bessere Entscheidungen für das eigene Vorhaben treffen. Ein Großteil
der Gründungsliteratur beschränkt sich auf Beispiele aus den USA. Eine vergleichbare Samm-
lung von Erfolgsgeschichten in Deutschland ist uns nicht bekannt. Wir haben daher bewusst den
Fokus auf Startups in Deutschland gelegt, um die Spezifika von Gründungen in Deutschland her-
vorzuheben und deutsche Vorbilder vorzustellen.
Bei der Auswahl der Startups war es uns wichtig ein möglichst breites Bild zu geben. So haben
wir mit Gründern aus unterschiedlichen Branchen gesprochen, wie Technologie, Food oder
Dienstleistungen. Mit Gründern, die direkt von der Uni oder aus einer Berufstätigkeit heraus
gestartet sind. Zudem haben wir uns Startups in unterschiedlichen Entwicklungsstadien ange-
schaut, beispielweise in einer frühen Phase, während der Suche nach dem optimalen Geschäfts-
modell und Produktkonzept oder in einer späteren Phase mit Fokus auf die Skalierung. Die
Auswahl ist natürlich nur einen Ausschnitt der vielfältigen Gründungen, bietet aber einen einzig-
artigen Querschnitt der aktuellen Startup-Welt in Deutschland.
Wir wurden oft gefragt: Wie lautet nun die Formel zum erfolgreichen Unternehmensaufbau?
Leidenschaft für die Idee, ein passendes Team, Neugier Neues zu testen, aber auch eine gewisse
Hartnäckigkeit oder Projektmanagement Fähigkeiten tauchen immer wieder auf. Eine allgemein-
gültige Antwort zu geben oder eine Liste mit Erfolgsfaktoren abzuleiten ist nicht unser Ziel.
Stattdessen sollen die Stories einladen, selbst auf die Suche nach interessanten Einsichten für das
eigene Gründungsvorhaben zu gehen. Und ganz nebenbei sind es spannende Geschichten inte-
ressanter Persönlichkeiten. In diesem Sinne wünschen wir Spaß beim Lesen und viel Erfolg für
das eigene Startup.

Christoph & Sören


Feedback
Dies ist die erste Auflage von Mission: Startup. Wir sehen dieses Buch als ein Produkt, das sich
durch „Kunden-Feedback“ kontinuierlich verbessert. Daher würden wir uns sehr über euer Feed-
back freuen: Was gefällt euch? Was sollen wir verändern? Wo konntet ihr etwas lernen? Welche
Fragen würdet Ihr stellen? Welche Passagen waren unverständlich oder sollten gestrichen werden?
Welche weiteren Startups haben lehrreiche und spannende Geschichten, die ihr gerne lesen
würdet?

Rückmeldungen gerne unter: [email protected]


Inhalt
6Wunderkinder
Christian Reber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11
BORA Lüftungstechnik
Willi Bruckbauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  31
cloudControl
Philipp Strube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  43
Delivery Hero
Nikita Fahrenholz und Claude Ritter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57
ergobag
Florian Michajlezko  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  73
fritz-kola
Mirco Wolf Wiegert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  87
Giesinger Bräu
Steffen Marx  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99
Intrinsify.me
Mark Poppenburg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113
kaufDA
Christian Gaiser  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129
MeinFernbus
Torben Greve und Panya Putsathit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143
Mister Spex
Dirk Graber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  159
mymuesli
Hubertus Bessau  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  175
mytaxi
Sven Külper  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193
orderbird
Jakob Schreyer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  203
RatioDrink AG und Rapskernoel.info
Rafael Kugel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  217
simpleshow
Jens Schmelzle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  231
Stockpulse
Stefan Nann und Jonas Krauß  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247
Teekampagne
Professor Dr. Günter Faltin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  257
True Fruits
Nicolas Lecloux, Katia Winter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  271
Vapiano
Gregor Gerlach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  283
YOU IS NOW
Dr. Torsten Oelke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  295
6Wunderkinder
Christian Reber
1

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_1,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
12 6Wunderkinder

Die Aufgaben der Welt organisieren


Am 10. August 2010 schuf Christian Reber gemeinsam mit fünf Mitstreitern die
6Wunderkinder. Die Idee der Gründer: Angetrieben von den schlechten Erfahrungen, die sie
als Inhaber einer Webagentur mit Projektmanagement-Tools gemacht hatten, beschlossen sie,
das Aufgabenmanagement für Business- und Privatangelegenheiten zu revolutionieren. Der erste
Schritt, die Aufgabenmanagement-App „Wunderlist“, wurde ein fulminanter Erfolg – nach 275
Tagen hatten sie bereits 1  000  000 Nutzer. Wunderlist ist jedoch nur ein kleiner Ausschnitt
einer größeren Vision von einem neuartigen Working Network. Was Dropbox für Dateien und
Evernote für Notizen ist, wollen die 6Wunderkinder für Aufgaben werden. Parallel zu Wunderlist
entwickelte die Gründertruppe deshalb das Produkt „Wunderkit“ – eine plattformübergreifende
Software, die Menschen, Teams, Firmen und Vereinen dabei helfen soll, sich und ihre Aufgaben
zu organisieren. Entwickler sollen die Möglichkeit bekommen, die Plattform um eigene Apps zu
erweitern. Die Entwicklung von Wunderkit erwies sich jedoch als sehr komplex – und scheiterte.
Seitdem konzentrieren sich die 6Wunderkinder auf Wunderlist. Die Fokussierung auf Wunderlist
hatte noch einen weiteren guten Grund: den immensen Erfolg dieser Idee. Mitte 2014 nutzten
mehr als 8  000  000 aktive User die App. An der großen Vision eines umfassenden Working
Networks halten die 6Wunderkinder aber weiter fest, nur der Weg dahin hat sich geändert.
Zu den Investoren der 6Wunderkinder zählen unter anderen Frank Thelen, Skype-Mitgründer
Niklas Zennström sowie Sequoia Capital – die einst in Steve Jobs investierten. Im Januar 2014
wurde Christian Reber vom Wirtschaftsmagazin Forbes als einziger Deutscher in die Liste von 30
jungen Pionieren im Technologiebereich gewählt.

Christian, wie ist die Idee für die 6Wunderkinder entstanden?


Seit ich zwölf Jahre alt bin, habe ich mir Programmiersprachen angeeignet und Software ent-
wickelt. Ich bin also schon immer Entwickler gewesen. Mein erstes größeres Projekt war 2007
der Musikdienst Mucelli – ein Experiment. Basierend auf der YouTube-API habe ich ein Inter-
face entwickelt, um Playlists von YouTube-Videos zu erstellen. Dieses Feature gab es damals bei
YouTube nicht. Man konnte die koreanischen, japanischen oder russischen Charts anhören,
sprich: andere Musik entdecken. Ich habe das Ding live gestellt und hatte nach einem Monat
200 000 Nutzer. Eigentlich hatte ich die Seite nur gebaut, um die Programmiersprache Flex zu
lernen, aber dann wollte mir ein deutscher Investor das Portal abkaufen, um daraus ein Unter-
nehmen zu machen – auf den Fidschi-Inseln. Ich habe abgewunken, denn auf einen solchen
Schritt hatte ich keine Lust. Für mich war das Ganze nur ein technisches Experiment und kein
Unternehmen, meine Karrierepläne waren andere. Also habe ich das Projekt schlicht verkauft.
Kurze Zeit später habe ich damit begonnen, ein Team aufzubauen, um gemeinsam etwas zu
Christian Reber 13

starten. Wir haben überlegt, was wir machen könnten und haben schließlich 2008 die Web-
agentur „Innovatics“ gegründet. Damit haben wir uns zunächst dafür entschieden, für andere
Startups und Unternehmen zu arbeiten, um Erfahrung im Design und bei der Webentwicklung
zu sammeln. Wir hatten coole Projekte – und haben sehr viel gelernt. Unsere Devise: „Work to
learn, not to earn.“
Was hast du in dieser Zeit gelernt?
.... Mit dem Auf und Ab im Business umzugehen. Es gab Phasen hoher Profitabilität, aber
auch wirtschaftlich schwierige Phasen. Wir lernten, wie man Kunden gewinnt, aber mussten auch
durch die Momente durch, wenn man sie wieder verliert. Wir haben Projekte erfolgreich gemanagt
und erlebt, wie andere gegen die Wand gefahren wurden. Wir haben Entwickler und Designer
rekrutiert und uns später wieder von ihnen trennen müssen. Am wichtigsten bei all diesen Erfah-
rungen war, zu lernen, mit dem Scheitern umzugehen. Das ist eine Grundlage jedes Technolo-
gieunternehmens. Mit jedem Fehlschlag wirst du widerstandfähiger und belastbarer. Und solange
man an seine Sache glaubt, findet man immer wieder die nötige Energie, um weiterzumachen.
Unser Ziel war es, irgendwann aus der Agentur heraus ein Tech-Startup zu starten. Und
genauso haben wir es auch gemacht. In den Agenturjahren haben wir viele Projekte gesteuert
und organisiert. Wir haben alle möglichen Tools eingesetzt, aber keines hat uns überzeugt.
Sie waren optisch nicht ansprechend, teuer, langsam und schlecht in den Workflow integriert.
Wir kamen auf die Idee, ein Produkt zu bauen, um Businessprojekte zu steuern. Aber nicht nur
das, es sollte auch private Angelegenheiten wie eine Hausrenovierung oder einen Umzug organi-
sieren können. Es handelt sich schließlich bei allen um Projekte – um nichts anderes. Allerdings
wendet kaum jemand sein Business-Projektmanagementsystem im Privaten an. Unsere Vision
hieß „The Working Network“. Wir dachten dabei an etwas wie Facebook für den professionellen
Gebrauch. Geschäftsleute und Privatpersonen sollten bei uns untereinander Events und Projekte
organisieren.
Wie fiel der Startschuss für die 6Wunderkinder?
Uns fehlten die Mittel zur Umsetzung der Vision. Ich habe eine Nachricht via Xing verschickt:
„Who‘s with me creating the next innovative web app?“ Frank Thelen, ihn hatte ich einige Monate
zuvor auf einem Tech-Event kennengelernt, antwortete innerhalb weniger Minuten und wollte
mehr wissen. Bereits Tage später waren er und sein Partner, Marc Sieberger, bei uns in Berlin. Wir
zeigten ihnen unseren Prototypen – eine reine Web-App basierend auf der Skriptsprache PHP
– und präsentierten ein paar Designkonzepte. Nach ein paar Stunden und einem gemeinsamen
Mittagessen entschieden die beiden, über ihre Gesellschaft e42 in unsere Idee zu investieren.
Gemeinsam haben wir die Produkt-Roadmap entwickelt und die Umsetzung gestartet und
gemeinsam haben wir unseren Prototypen in die Cross-Platform Productivity App „Wunder-
list“ gewandelt. Mit ihrem Investment konnten wir die Version 1.0 von Wunderlist für Mac und
Windows bauen. In dieser Phase waren wir immer noch jung und unerfahren. Wir wussten,
dass wir erst einmal beweisen mussten, dass wir in der Lage sind, echte Software zu entwickeln.
Darum haben wir beschlossen, zunächst lediglich Wunderlist zu kreieren, was nur einen kleinen
Ausschnitt der Working-Network-Vision ausmachte. Wunderlist war unser Minimal Viable Pro-
duct (MVP). Das ist die einfachste Möglichkeit, das zentrale Problem zu lösen – in unserem Fall:
Leuten zu helfen, ihr privates und berufliches Leben zu organisieren. Wir haben nur vier, fünf
Wochen gebraucht, um Wunderlist zu entwickeln, haben die Plattform veröffentlicht und wahn-
sinnig schnell User Traction gewonnen. Boom! Der Erfolg kam buchstäblich über Nacht.
14 6Wunderkinder

Es gab bereits viele Produkte in diesem Bereich. Was unterscheidet euch von anderen
Anbietern?
Wunderlist ist das mit Abstand einfachste Produkt. Alle anderen sind sper-
riger, komplexer, teurer und unübersichtlicher. Auch technisch waren wir voraus:
Wir waren die erste To-do-App mit dem Sync über mehrere Plattformen. Es ist wirk-
lich kompliziert, eine solche Anwendung stabil, zuverlässig und skalierbar zu entwickeln.
Jeder Mensch hat Dateien, Notizen und Aufgaben. Wenn man sich die Entwicklung auf dem
Softwaremarkt anschaut, ist viel passiert. Dropbox hat es ermöglicht, Dateien zu synchronisieren,
zu teilen und überall verfügbar zu haben. Vorher gab es schon einige andere File-Sharing-Tools,
aber kein Tool war so einfach wie Dropbox zu benutzen. Deshalb hat sich Dropbox durchgesetzt
und ist heute ein milliardenschweres Unternehmen. Für den normalen Nutzer ist wenig Innova-
tion zu sehen, aber wenn du dir das Produkt als Techniker anschaust, ist es sehr innovativ. Ähn-
lich hat es Evernote mit Notizen gemacht. Nun gehen wir eben die Aufgaben an. Wir ermögli-
chen es, Listen ganz einfach miteinander zu teilen und sich so zu organisieren – unabhängig von
dem Endgerät, das benutzt wird. Und: Der grundsätzliche Unterschied zwischen unserem Pro-
dukt und allen anderen Produkten ist, dass wir Business und Personal Use vereinen. Das ist unser
Alleinstellungsmerkmal.
Wer sind denn die anderen Wunderkinder und wie habt ihr euch gefunden?
Eigentlich war ich der einzige Gründer. Aber Frank Thelen und Marc Sieberger haben mir
geraten, Mitgründer zu suchen, weil es einfach unwahrscheinlich ist, dass Investoren einen jungen
Einzelgründer finanzieren. Ich hatte zu dieser Zeit ja schon mein Team in der Agentur und habe
mir dort einfach die besten fünf Leute herausgepickt und sie zu Mitgründern gemacht. Es sind
keine Co-Gründer im traditionellen Sinne, sondern eher Mitstreiter mit interessanten Paketen.
Einer hat einen Technologiefokus, der nächste einen Marketingfokus, Nummer drei ist rein auf
klassische Businessaufgaben konzentriert, Nummer vier auf die Finanzen und schließlich gibt es
noch einen Kopf für das Design. Gemeinsam decken wir die notwendigen Kompetenzen ab –
und ich hatte mein Gründerteam beisammen.
19. August 2011: 1 000 000 User nutzen eure App Wunderlist, die erst 275 Tage alt ist. So
schnell wuchs früher nicht einmal Twitter. Wie groß war euer Marketingbudget?
Null Euro.
Worauf führst du dann den fulminanten Erfolg zurück?
Wunderlist ist kostenlos. Allein damit wird es schon interessant für den Massenmarkt. Die
User probieren gerne kostenfreie Produkte aus. Wenn eine App 39 Euro kostet, fasst sie keiner
an. Dazu war unsere Cross-Platform Sync auf allen Endgeräten verfügbar, das ist ein immenser
Vorteil. Und unser extrem einfaches, schönes Interface hat natürlich auch eine zentrale Rolle
gespielt. Außerdem: Wir waren das erste Unternehmen, das „Backgrounds“ eingesetzt hat, wenn
man jetzt mal Betriebssysteme außen vor lässt. Es ist eigentlich ein ganz simples Feature, aber weil
bis dato niemand so etwas gesehen hatte, hat es unheimlich viel Traction erzeugt. Ich selbst habe
übrigens einen Katzen-Background in Wunderlist und nutze das Produkt selbst intensiv. Und
dann wurde die Geschichte zu einer Art Selbstläufer. Unser Produkt vertreibt sich, weil Nutzer
damit zufrieden sind und es anderen weiterempfehlen. Das Prinzip von Wunderlist ist ja schließ-
lich, Listen zu teilen. Und um eine Liste zu teilen, musst du jemanden dazu einladen und ihn
überzeugen, Wunderlist zu nutzen. Kurz nach dem Launch haben wir entschieden, mobile Apps
zu bauen – für iPhone, Android, Blackberry und Windows Phone. Damit haben wir natürlich
unsere Reichweite nochmals erhöht.
Christian Reber 15

Was habt ihr sonst noch gemacht, außer euch auf ein gutes Produkt zu verlassen?
Wir haben eine einzigartige Marke …
… sich 6Wunderkinder zu nennen, ist schon ein Statement.
Wir wollten einen Namen, der unsere Wurzeln repräsentiert und hatten immer das
Ziel, ein globales Unternehmen aufzubauen. Die Marke sollte weltweit funktionieren.
Eigentlich wollten wir uns „Wunderkinder“ nennen. Aber das hat uns die Indus-
trie- und Handelskammer verboten, weil der Name zu allgemein sei. Ich hoffe, das
ändert sich noch einmal. Ich würde die Firma gerne in „Wunderkinder“ umbenennen.
Wenn du dir einen so aggressiven Namen gibst, ziehst du auch die Presse an. Zudem hatten wir
zu Beginn eine extrem aggressive PR-Strategie. Wir haben jedes Interview gemacht und sehr viele
wohldurchdachte Storys veröffentlicht. Beispielsweise haben wir nicht lediglich gesagt: „Wunder-
list hat eine Million User“, sondern: „Holy Cow, we are Millionairs – well in Terms of Users.“ Wir
haben erklärt, dass wir schneller gewachsen sind als Twitter, Evernote und Foursquare. Unser Sto-
rytelling hat super funktioniert.
Im Sommer 2011 bloggst du auf dem 6Wunderkinder: „Berlin Founders stand up! – The
anti copycat revolution starts now“. Im Post kritisierst du, dass die Berliner Startup-Szene
lange eine Ökosystem für Copycats war. Dagegen hältst du, dass der Computer in Berlin
erfunden wurde und nennst eine Reihe Berliner Gründer als Vorbilder für die Anti Copycat
Revolution. Der Beitrag hat massive Reaktionen in der Szene hervorgerufen. Was war da
los?
Das war eine persönliche Geschichte von mir, die leider bei vielen falsch angekommen ist. Ich bin
Softwareentwickler. Wenn ich von anderen Menschen Codes klaue, fühle ich mich schlecht. Ich bin der
Meinung, dass es in unserer Industrie, unter Entwicklern, aber auch Designern, ein No-Go sein sollte,
gegenseitig Ideen zu klauen. Klar, du kannst dich inspirieren lassen, du kannst ein Konzept nehmen
und es verbessern. Aber man nimmt keine Idee, programmiert sie nach und sagt: „Das ist meine!“
Als wir gegründet haben, gab es in Berlin extrem viele Copycats. Das hat mich als Entwickler
genervt und daraus habe ich auch keinen Hehl gemacht. Gleichzeitig habe ich nie verstanden,
warum wir in Deutschland so viele Talente im Ingenieurwesen und dem Maschinenbau haben,
aber nicht in der Lage sind, ein neues Google oder Microsoft zu bauen. Die besagte Story sollte
eigentlich bestärken, motivieren. Ich wollte mich darin nicht über Copykids beschweren, son-
dern viel mehr zelebrieren, dass es in Berlin inzwischen viele innovative, vielversprechende Unter-
nehmen wie zum Beispiel Soundclouds, Research Gate oder Wooga gibt. Leider haben einige die
Geschichte in den falschen Hals bekommen und sie als eine Art „Nestbeschmutzerei“ aufgefasst.
Hast du Tipps, worauf es bei erfolgreicher PR-Arbeit ankommt?
Zunächst: Wir haben in Deutschland brillante Unternehmen. Aber viele deutsche Star-
tups können schlicht kein Marketing. Dabei ist es notwendig, dass Startups bei der PR
den gleichen Drive an den Tag legen wie bei der Produktentwicklung. Denn: „Wer wird am
Ende gewinnen? Es ist derjenige, der die beste Geschichte erzählt.“ Das ist eine Aussage von
Steve Jobs, die ich nur unterschreiben kann. Eines der wenigen Beispiele für gute PR-Arbeit
in Deutschland ist Amen. Die haben ein brillantes Storytelling hinbekommen, ähnlich
gut wie es amerikanischen Startups gelingt, die Marketing und Storytelling im Blut haben.
Für einige Startups ist es wohl das primäre Ziel, einen Techcrunch-Artikel zu platzieren. Dafür
wird dann eine PR-Agentur rekrutiert und der gelingt dies oder eben nicht. Aber eine externe
Agentur kann nur das Presse-Netzwerk liefern, damit die Story multipliziert werden kann. Die
spannende Story muss schon das Startup selbst entwickeln.
16 6Wunderkinder

Wie habt ihr euch finanziert?


Wir hatten 100.000 Euro Angelfunding von e42. Das hat zunächst gereicht. Wir konnten
Wunderlist ohne zusätzliches Venture Capital realisieren. Wir hatten zehn Mitarbeiter und haben
so die App für iPhone und iPad sowie die Apps für Mac und Windows gebaut. Wir haben richtig
Gas gegeben. Unsere Angels sitzen in Köln und haben schon mehrmals mit dem High-Tech
Gründerfond zusammengearbeitet. Durch sie sind wir miteinander in Kontakt gekommen und
haben uns dort vorgestellt. Und es hat funktioniert. Ich muss zugeben, dass wir sehr unerfahren
waren. Wir haben kein traditionelles Fundraising gemacht und die Idee 20 Investoren vorgestellt.
Wie habt ihr den High-Tech Gründerfond überzeugt?
Wir sind nach Bonn gefahren –schwitzend bei 40 Grad im Anzug – und haben uns in der
Komiteesitzung vorgestellt. Wir konnten Wunderlist als Erfolgsgeschichte präsentieren, hatten
den Beleg, dass unsere Idee funktioniert. Bei den meisten war die Reaktion: „Okay, müssen wir
machen.“ Mit Wunderkit wurde es ein bisschen komplizierter. Mit dieser Idee waren wir erst
dabei, zu definieren, was Wunderkit eigentlich ist und wie es in zehn Jahren aussehen soll. Es war
von uns als plattformübergreifende Software geplant, die Menschen, Teams, Firmen und Vereinen
dabei helfen soll, sich und ihre Aufgaben zu organisieren. Dritte Entwickler sollten die Plattform
um eigene Software ergänzen können. Wir haben Wunderkit aber nicht als Projektmanagement-
software präsentiert, weil wir wussten, dass beim Wort „Projektmanagement“ alle abschalten.
Stattdessen haben wir es als App-Plattform für das Working Network präsentiert. Ganz ehrlich,
wir wussten damals schon, dass es relativ schwierig wird, so etwas zu entwickeln, wollten es aber
genau so bauen. Wir haben den High-Tech Gründerfond überzeugt und eine halbe Million Ven-
ture Capital bekommen.
Wofür habt ihr das Geld eingesetzt?
Wir haben einzelne kleinere Aufgaben teilweise outgesourct. Zum Beispiel haben wir die erste
Android-App von Wunderlist extern entwickeln lassen. Technologiewissen in einem Technologie-
Startup abzugeben, war ein Fehler. Als wir die Android-Entwicklung selbst übernommen haben,
mussten wir nämlich noch einmal von vorne anfangen. Außerdem haben wir das Kapital benutzt,
um Leute einzustellen und Wunderkit zu bauen. Später haben wir noch T-Venture dazu geholt,
weil wir noch mehr Kapital dafür brauchten.
Wie habt ihr T-Venture überzeugt?
Für T-Venture hatten wir eine sehr präzise Story. Wir haben gesagt, dass wir das Projektma-
nagement revolutionieren und ein Tool für den Massenmarkt bauen wollen. Unsere Argumente
waren die vielen Prototypen, das talentierte Team, der Fokus auf das Design. Dass wir unsere Pro-
dukte zuerst designen und dann erst entwickeln, ist eine Besonderheit. Wir konnten also schon
die Screens von Wunderkit präsentieren und ihnen zeigen, wie das Ganze aussehen soll, obwohl
wir noch keine Zeile Code geschrieben hatten.
Hattet ihr damals schon eine Monetarisierungsstrategie?
Ja, wir haben von Stunde eins an gewusst, wie wir Geld verdienen wollen, und zwar mit
Monthly Subscriptions, wie bei Software-as-a–Service üblich. Dabei rechnest du dein Produkt
pro Monat pro User ab. Der Plan war von Beginn an, Wunderlist als kostenfreies Vorzeige-Expe-
riment zu starten und später Wunderkit als Subscription Model anzubieten.
Christian Reber 17

Eine zentrale Frage für viele Startups ist: VC oder Bootstrapping? Gängige Kritikpunkte an
VC sind der hohe Reporting-Aufwand oder die Fremdbestimmung bei strategischen Ent-
scheidungen. Warum hast du dich für VC entschieden?
Wir hatten keine Alternative zu VC. Es war klar, dass wir zur Umsetzung unserer Vision
ein umfassendes Backend und mehrere Apps parallel entwickeln mussten. Außerdem
wollten wir ein größeres Team, um schneller voranzukommen. Die Manpower dafür
kostet natürlich. Über Bootstrapping hätten wir diese personelle Aufstockung nicht finan-
zieren können. Zudem sank durch VC natürlich unser unternehmerisches Risiko.
Einen hohen Reporting-Aufwand sehe ich bei VC übrigens nicht. Damit verbringen wir die
wenigste Zeit. Viel entscheidender ist, dass VCs neben dem Kapital auch ein enormes Know-
how in die Startups bringen. Unsere erfahrenen Partner helfen uns dabei, die richtigen Entschei-
dungen zu treffen. Das ist ein enormer Vorteil.
2011 ist dein Team auf 25 Mitarbeiter angewachsen. Wo waren die Herausforderungen
beim Aufbau?
Die größte Herausforderung war mit Sicherheit, nicht die falschen Leute zu rekrutieren.
Woran erkennst du, dass die richtigen Leute vor dir sitzen?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Anfangs bekam ich oft den Ratschlag: „Hire A
people.“ Wobei ich keine Ahnung hatte, was das konkret bedeuten sollte. Ich ging davon aus, dass
es sich schlicht um sehr gute Leute handelt, die es im Markt natürlich gibt. Aber als junger, uner-
fahrener Gründer wirst du diese herausragenden Individuen kaum bekommen. Stattdessen habe
ich auf Leidenschaft, Energie und – vor allem – Entwicklungspotenzial gesetzt. Wenn ich Absol-
venten interviewt habe, versuchte ich zu prognostizieren, wie schnell sie ihre zugedachte Rolle
verstehen werden, wie sie sich weiterentwickeln wollen und ob sie mit dem rasanten Wachstum
unseres Startups mitgehen könnten. Für mich war es immens wichtig, dass sie erfolgshungrig
waren.
Wie findest du diese Mitarbeiter?
Letztendlich hatte ich ein recht einfache Strategie: Ich habe Wunderlist-User rekrutiert, um
Wunderlist zu bauen. Sicher die Hälfte unserer Mitarbeiter hat so den Weg zu uns gefunden.
Für die Suche haben wir Newsletter versendet oder über unsere Social-Media-Kanäle kommu-
niziert, dass wir neue Entwickler brauchen. Auf jede ausgeschriebene Stelle folgten 150 bis 200
Bewerbungen. Es war also selten eine Herausforderung, Kandidaten zu finden. Bei einer solch
großen Auswahl kann man relativ schnell filtern, welche Bewerber wirklich erfahren und gut
sind. Später beim Interview geht es dann darum, die richtigen Fragen zu stellen. Idealerweise
ist das Team in den Rekrutierungsprozess eingebunden. Es kann oft gut abschätzen, wer passt.
Es geht bei Einstellungen auch oft um die Frage, welche Leute mit welchen Fähigkeiten in
welcher Phase gebraucht werden. Wenn man eine Invader-App baut, wird das nicht mit
einem Entwickler funktionieren, der das noch nie gemacht hat. Er muss die entsprechende
Erfahrung mitbringen. Gleiches gilt natürlich für die anderen Bereiche im Unternehmen.
Allerdings muss man auch sagen, dass sich Fehler in der Anfangsphase nur schwer ver-
meiden lassen. Auch ich hatte schon die falschen Mitarbeiter zum falschen Zeitpunkt.
Ein Beispiel: Wenn du deine Strategie veränderst und daraufhin merkst, dass zwei statt
zehn Marketingleuten ausreichen, ist das kein gutes Gefühl. Es liegt nicht an den Leuten,
sondern daran, dass du Fehler in der Planung gemacht hast. Aber du musst reagieren.
Jemanden zu entlassen, ist eine der schwierigsten Aufgaben, die du als Gründer zu bewäl-
tigen hast. Es war ein großer und schwerer Schritt für mich, zu lernen, sich von Mitar-
beitern zu trennen, denn mein Team liegt mir sehr am Herzen. Aber Entlassungsgründe
18 6Wunderkinder

gibt es nun einmal viele. Vielleicht passt die Person nicht ins Team, sie ist nicht gut genug,
oder die Kosten müssen einfach gesenkt werden. Einige Betroffene weinen oder werden
wütend. Das muss man aushalten können. Bei der Entlassung von Mitarbeitern gut
zu sein, bedeutet, dass man sich nach dem Gespräch noch in die Augen schauen kann.
Mein Tipp: Bei Personalentscheidungen nicht lange zögern und eigene Fehler schnell korri-
gieren. Gerade wenn das Unternehmen schnell wächst, sollte man darauf achten, das Team immer
objektiv zu beurteilen. Die Qualität des Teams ist entscheidend, nicht die pure Größe.
Wie hast du dein Team aufgebaut?
Ein Unternehmen von zehn zu 20 zu 30 zu 40 Mitarbeitern zu skalieren, ist keine leichte Aufgabe.
Es gibt viele Unternehmen, die sagen, dass sie keine Struktur haben. Das kann ich mir kaum vor-
stellen. Jedes Unternehmen hat eine Struktur, also Leute, die Entscheidungen treffen. Und um eine
funktionierende Struktur zu haben, musst du die richtigen Leute an die richtigen Positionen setzen.
Ich habe sehr viel über die Organisationsstrukturen von Apple, Facebook und Microsoft
sowie Strukturaufbau im Allgemeinen gelesen. Mein Managementteam habe ich dann ein-
fach analog zum Management von Apple aufgebaut. Das heißt: Ich habe mir meinen Woz-
niak geholt – das ist Chad Fowler. Er ist Amerikaner, extrem erfahren, ein riesen Technolo-
gietalent und kennt jeden zweiten Rails Developer in der Welt. Genau so einen Typen wollte
ich haben. Für meinen Chief Financial Officer (CFO) Steffen Kiedel, einen ehemaligen Berater
von Roland Berger, war Tom Cook das Vorbild. Steffen ist ein sehr zahlenverliebter Cont-
roller, der komplett anders tickt als ich. Er ist Finanzmann durch und durch, ich bin total
detailverliebt bei Design und Entwicklung. Aber auch hier habe ich in Benedikt Lehnert einen
erfahrenen Chief Design Officer – meinen Jony Ive – gefunden. Er hat umfassende Erfah-
rung im Design von Hardware- und Softwareprodukten. So habe ich mein Team entwickelt.
Unterhalb des Managementteams gibt es bei uns noch eine Ebene, um Struktur zu schaffen: die
Leads. Wir haben beispielsweise ein sechsköpfiges Web-Team. Der Lead steuert das Team, kont-
rolliert es und verteilt Aufgaben. Die richtigen Leute für diese besonderen Positionen zu finden,
ist eine große Herausforderung. Am Anfang habe ich die Leute befördert, die am lautesten waren
und sich am besten präsentieren konnten. Heute läuft das anders. Ich bewerte Fähigkeiten und
Einsatzbereitschaft. Ein Kandidat muss mir zeigen, dass er den Job auch wirklich will. Und das
nicht nur, weil es mehr Geld gibt.
Große Gehälter waren am Anfang ja sicher nicht drin. Wie hast du Leute motiviert, zu dir
zu kommen und bei dir zu bleiben?
Alle Mitarbeiter besitzen Anteile an der Firma – jeder Einzelne. Das ist meiner Meinung
nach eine Grundvoraussetzung, um Leute wirklich an ein Unternehmen zu binden. Zumal
wir anfangs alle nur 2.000 Euro im Monat verdient haben. Das war unser Grundgehalt und
für alle gleich. Ich habe in Jobgesprächen immer erklärt, dass bei uns jenseits dieser Summe
nichts zu machen ist. Wer mehr haben wollte, durfte nicht zu uns kommen. Diese deutliche
Haltung war mit Sicherheit ein entscheidender Punkt. Es entsteht ein extremes Fairnessver-
ständnis. Und jeder begreift, dass wir nicht für 2.000 Euro arbeiten, sondern für unsere Mission.
Wir hatten nur 100.000 Euro Investment und wollten uns darauf konzentrieren, die Firma für
einige Monate zum Laufen zu bringen und Software zu bauen. Jedem war das bewusst, denn
alle wichtigen Fakten wurden von mir offen kommuniziert. Dann kam der erste Chief Techno-
logy Officer (CTO). Er wollte 4.500 Euro haben. Ich habe auch das offen ins Team kommuni-
ziert: „Wir würden gerne den CTO rekrutieren, er kostet 4.500 Euro im Monat. Das ist ziem-
lich teuer für uns. Wir wollen es trotzdem gerne machen. Was haltet ihr davon?“. Das Team hat
sich klar geäußert: Wenn der CTO eine entsprechende Leistung zeigen und das Unternehmen
Christian Reber 19

voranbringen könne, sei die Einstellung okay. Transparenz und Offenheit sind beim Thema
Gehalt extrem wichtig.
Industrieunternehmen können höhere Gehälter bezahlen. Fürchtest du diese finanzstarke
Konkurrenz?
Es gab mit Sicherheit einige Leute bei uns, die in der Industrie das Doppelte bekommen
hätten. Und das wussten sie auch. Aber inzwischen haben wir eine Millionenfinanzierung im
Hintergrund und konnten alle Gehaltsstrukturen anheben. Unsere Mitarbeiter besitzen auch
mehr Anteile als zu Anfang. Da hat sich also schon einiges getan. Ich denke, für den Großteil ist
es mittlerweile wirklich schwer, einen besseren Job zu finden. Einen, der besser bezahlt ist, aber
auch inhaltlich mehr bietet. Unsere Entwickler sind wahnsinnig stolz darauf, dass sie Wunder-
list bauen. Sie sind mit Herzblut dabei. Wir schicken unsere Mitarbeiter viel zu Konferenzen wie
Google IO. Wer bei solchen Events vier Mal am Tag angesprochen wird „Wow, du baust Wunder-
list, das ist ja der Hammer!“, der kommt extrem motiviert zurück. Jeder weiß, dass das Produkt,
an dem er arbeitet und wofür er seine Zeit aufbringt, auch ankommt. Das motiviert uns alle.
Im November 2011 konntest du Atomico als Investor gewinnen. Wie kam es dazu?
Als wir im Juni 2011 mit T-Venture gesprochen haben, haben wir auch mit Atomico Gespräche
geführt. Atomico ist ein sehr aggressiver Geldgeber, sie investieren nur in Unternehmen, die welt-
weit die Nummer eins werden wollen. T-Venture ist dagegen ein Investor, der sehr sicherheitsbe-
dacht ist, sehr strategisch agiert und ruhiger an Vorhaben herangeht. Ich hatte damals das Gefühl,
dass wir mit T-Venture auf der sicheren Seite sind. Mir war klar, dass uns Atomico später nicht
wieder unterstützen würde, sollten wir nicht sofort gute Ergebnisse liefern. Ein internationaler
Player wie sie verliert schnell das Interesse, wenn nicht alles perfekt läuft. Doch dann kam Ato-
mico noch einmal auf uns zu. Wir haben diskutiert und sie sind eingestiegen.
Wie lief dieses Gespräch ab?
Der Investmentmanager sagte: „Ich suche ein wahnsinnig geiles Unternehmen. Ich hab mir
drei herausgepickt, ihr seid eines davon. Was macht ihr denn eigentlich? Wo wollt ihr hin? Erkläre
mir das mal ...“ Dann habe ich alles erklärt – und unser Produktfokus und die unternehmerische
Herangehensweise haben ihn überzeugt. Mit Skype-Gründer Niklas Zennström hat Atomico
einen Partner an Bord, der ein Produkt gebaut hat, das ebenfalls cross-platform funktioniert, kos-
tenfrei ist und extrem viele Nutzer hat. Er konnte sehr viel Erfahrung an uns weitergeben. Auch
von meiner Seite war natürlich ein extrem großes Interesse da, von ihm zu profitieren. Deshalb
haben wir uns zusammengetan.
Wie bringt sich Niklas konkret ein?
Einmal gab es den Fall, dass jemand 6Wunderkinder verlassen wollte. Niklas rief ihn an und
machte ihm klar, dass er sich diese Entscheidung wirklich gut überlegen solle. Er sähe bei uns viel
Potenzial und glaube an eine große Zukunft des Unternehmens. Genau dafür ist ein Investor da.
Er hilft uns auch, wenn Überlegungen in die falsche Richtung gehen. Es gibt Tage, da sitzt man
im Büro und grübelt vor sich hin. Wenn man dann zum Hörer greifen und einen solch gigan-
tischen Investor anrufen kann, der hilft, deine Gedanken zu sortieren, ist das schon eine ziem-
lich gute Sache. Nach einem Gespräch kann es durchaus sein, dass du realisierst, dass du dich bei
deinen Überlegungen getäuscht hast. Niklas gibt uns außerdem konkrete Ratschläge zum Bau der
Software und zur Gestaltung des Product Feels.
Was waren seine Ratschläge?
„Go for World Domination!“ Es war Niklas, der mir erklärt hat, was wir da eigentlich tun. Er
ist zu uns nach Berlin gekommen und hat gesagt: „Was ihr da macht, ist ein gigantisches Ding.
20 6Wunderkinder
Christian Reber 21

Wenn ihr das weltweit ausrollt, was ihr ja schon längst getan habt, dann müsst ihr darauf achten,
euch schnell zu internationalisieren und die Produkte schnell zu übersetzen. Ihr müsst euch welt-
weit groß rausbringen – Dominate the World!“ Diese klaren Ansagen waren für mich ein Wahn-
sinnsding, weil es meinen Fokus total verändert hat. Wenn ich diese Denke vor Wunderkit gehabt
hätte, hätte ich Wunderkit wahrscheinlich nie gebaut. Denn die Grundüberlegung ist nun: Alles
was ich tue, in was ich 100  Prozent meiner Energie investiere, muss etwas sein, das weltweit
erfolgreich sein kann. Macht es da wirklich Sinn, einen Button unten links in Wunderlist einzu-
bauen? Muss ich dann gerade jetzt wirklich Wunderkit bauen? Oder ist das primäre Ziel, Wun-
derlist zu einem weltweit erfolgreichen Produkt zu machen?
Atomico hat 4,2 Millionen US-Dollar in euch investiert. Welche Ziele waren daran geknüpft?
Es gab keine auf Papier definierten Ziele oder Meilensteine, die beispielsweise lauteten, dass
bis zu Tag X die Nutzerzahlen verdoppelt sein müssten. Wir hatten ja schließlich einen klaren
Plan. Wir wollten Wunderlist zu einem Produkt mit mehr als 100 Millionen Usern machen und
weltweit den Markt dominieren. Und das so schnell wie möglich, aber basierend auf einer auch
mittelfristig stabilen Organisation, ohne dass die Leute ausbrennen oder unnötig Kapital verheizt
wird.
Wie häufig trifft sich das Managementteam von 6Wunderkinder mit den Investoren?
Grundsätzlich alle sechs bis zwölf Wochen. Es kommt immer darauf an, wie wir performen
und ob gerade große Entscheidungen anstehen. Während des Launches von Wunderkit haben
wir uns alle sechs Wochen getroffen. In einer Phase, wo es nicht ständig Neuigkeiten gibt und
die Zahlen gut aussehen, gibt es weniger Boardmeetings. Dennoch stehen wir täglich in Kontakt
mit den Investoren, vor allem wegen der Finanzierungsstrategie. Bei Boardmeetings geht es dann
darum, die wirklich schwierigen Entscheidungen zu treffen.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Anfang des Jahres 2013 ging es um die Frage, ob wir Wunderlist weiter als Free Product
weiterentwickeln und so versuchen, die 100-Millionen-User-Grenze zu knacken. Oder ob wir
darauf abzielen, schnell zu monetarisieren, um zu demonstrieren, dass wir ein profitables Unter-
nehmen aufbauen können. Das Managementteam hat diese beiden Strategien ausgearbeitet, die
Vor- und Nachteile dargelegt und eine Empfehlung ausgesprochen. Wir hielten die Monetarisie-
rung für absolut realistisch und wollten sie angehen, bei Dropbox hatte sie ja auch funktioniert.
Wir hatten damals bereits fast fünf Millionen User und eine ziemlich aktive Nutzerbase. Das
Urteil der Investoren war ebenfalls eindeutig: „Ja, macht Sinn, sehen wir auch so.“
Im Februar 2012 wurde die Beta von Wunderkit veröffentlicht. Wie lief der Launch ab?
Wir hatten mit unserer zweijährigen, aggressiven Marketingstrategie viel Erwartungsdruck
aufgebaut – auch auf uns selbst. Die Neugier war immens. Jeder hat erwartet, dass in Berlin das
nächste Facebook entsteht. Und wenn du diese Erwartungshaltung nicht erfüllst, was zu 99,99
Prozent wahrscheinlich ist, ist das nicht gerade toll.
Ihr hattet sehr schnell 100  000 Anfragen für Beta-Accounts. Das klingt zunächst
vielversprechend ...
Ja, und wir hatten auch recht schnell 500 000 registrierte User – aber keiner blieb. Der Grund
dafür war schlechte Qualität. Wunderkit war extrem buggy. Im Prinzip war es eine reine Web-
App mit angebauter iPhone-App. Wunderlist dagegen war eine echte Cross-Plattform-Techno-
logie. Uns war der Fokus verlorengegangen, weil wir zwei Produkte parallel entwickelt haben.
Produkt und Launch waren das Resultat von monatelangem Missmanagement. Das so drastisch
zu benennen, ist hart, aber so war es. Es war mein Fehler, nicht zu sagen, dass wir uns besser nur
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auf eine Sache fokussieren sollten. Und nun standen wir vor der Frage: Konzentrieren wir uns auf
die 500 000 Registrationen von Wunderkit oder die drei Millionen aktiven User der Wunderlist.
Wann habt ihr die Entscheidung getroffen, Wunderkit einzustellen?
Einen Monat nach dem Launch. Das Team hat aber schon viel früher gewusst, dass wir uns
refokussieren müssen. Alle im Team waren unzufrieden, weil sie sich gedacht haben: „Hey, Wun-
derlist funktioniert doch, warum machen wir da nicht weiter und bauen stattdessen Wunderkit?“
Gab es einen Schlüsselmoment, an dem du gesagt hast: Jetzt ziehe ich den Stecker bei
Wunderkit?
Nein, wir haben vier Wochen herumdiskutiert und ich habe mich sehr gegen das Ende
gewehrt. Aber unsere Investoren und das Managementteam haben vorgeschlagen, dass wir
uns auf Wunderlist konzentrieren sollten. Irgendwann habe ich eingelenkt und es auch ver-
standen. Mir wurde klar, dass diese Entscheidung eigentlich schon viel früher hätte fallen
müssen. Aber es hat bei mir eben seine Zeit gedauert. Wir haben unsere Entscheidung in
diesem Moment nicht veröffentlicht, sondern die Entwicklung von Wunderkit leise eingestellt.
Bei der weiteren Entwicklung von Wunderlist hatte ich als Gründer nun einen ziem-
lich einfachen Job. Ich musste nur sagen, lasst uns an Wunderlist ansetzen, und jeder
hatte sofort eine Idee, was er machen musste. Das Rad hat sich relativ einfach wieder
gedreht. Drei Monate lang haben wir ruhig vor uns hingearbeitet und Wunderlist  2 gebaut.
Wunderlist  1 war auf Titanium aufgebaut. Das ist eine Cross-Platform-Technologie, um
Apps für unterschiedliche mobile Endgeräte zu bauen. Für den Anfang war das okay, aber
wir hatten die Limits von Titanium erreicht. Daher haben wir auf die native Entwicklung für
alle Plattformen umgestellt. Das war ein wahnsinniger Aufwand, aber nötig, um die Qua-
lität hoch zu halten. Dafür haben wir auch einen neuen Cloud Sync Service erstellt. Auf
dieser Grundlage konnten wir im Vier-bis-acht-Wochenrhythmus neue Features releasen.
Am Produkt selbst haben wir auch einiges verändert; es vereinfacht und neue Funktionen einge-
baut, auf die viele Nutzer gewartet haben: beispielsweise wiederkehrende Aufgaben, Erinnerungen
oder Teilaufgaben, alles verpackt in einer vollständig überarbeiteten intuitiven Benutzeroberfläche.
Als wir dann irgendwann verkündet haben, dass wir Wunderkit nicht mehr weiterentwickeln, war
das natürlich eine Riesenstory. Doch nach einem halben Jahr kamen wir mit Wunderlist 2 heraus,
einem qualitativ sehr hochwertigen Produkt. Dann wurde es wieder ruhiger.
Ist die Vision der 6Wunderkinder damit gescheitert?
Unsere Vision ist, die Aufgaben der Welt zu organisieren. Daran halten wir fest, wenn auch
der Ansatz mit Wunderkit gescheitert ist. Wir wollen immer noch ein Massenmarktprodukt
bauen, wir wollen immer noch Teams organisieren, wir wollen immer noch ein Produkt anbieten,
das sowohl privat als auch beruflich nutzbar ist. Diese Pläne können wir mit Wunderlist genauso
umsetzen wie mit Wunderkit. Wir fügen Wunderlist nun sukzessive die Funktionen hinzu, die
wir bei Wunderkit hatten.
Wie haben die Nutzer reagiert?
Klar, wir haben zunächst viele Nutzer, Vertrauen und Reputation verloren. Ich habe über die
Entscheidung gebloggt, um transparent zu sein. Das hat viel Anerkennung gebracht, weil uns die
User verstanden und gesehen haben, dass wir seriös arbeiten und uns wirklich Gedanken machen.
Ein besonderes Merkmal unseres Marktes ist, dass Leute dein Produkt immer wieder auspro-
bieren. Und Wunderlist2 ist besser geworden.
Christian Reber 23
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Das Jahr 2012 blieb ereignisreich: Es gab eine neue Finanzierung, der High-Tech Grün-
derfond ist ausgestiegen, Early Bird eingestiegen. Inwiefern berühren euch solche Wechsel?
Und das Investment war ein Secundary, Early Bird hat den High-Tech Gründerfond heraus-
gekauft. Das heißt, der High-Tech Gründerfond hat unser Unternehmen nicht verlassen, son-
dern einen sauberen Exit gemacht. Und es war sicher einer der besten Exits ihrer Geschichte. Für
uns als Gründer hat ein solcher Wechsel keinen Effekt, weil er finanziell keine negativen Auswir-
kungen hat. In diesem Fall trat sogar das Gegenteil ein: Early Bird hat noch zusätzlich investiert.
Sie haben die Anteile vom High-Tech Gründerfond bekommen und haben oben drauf noch eine
Primary-Investition in das Unternehmen gesteckt. Es waren noch einmal eine Million Euro. Wir
haben das damals aber nicht kommuniziert, um nicht wieder einen Hype loszutreten.
Der nächste Hype kam dann doch: Sequoia Capital, die Unternehmen wie Google, Dropbox
oder Evernote finanzierten, haben 19 Millionen US-Dollar in 6Wunderkinder investiert.
Ihr wurdet angeblich mit 65 Millionen US-Dollar bewertet. Wie hast du diesen renom-
mierten Investor gewonnen?
Nachdem Atomico bei uns eingestiegen war, bekamen wir eine Mail von Sequoia. Im Betreff
stand: „Sequoia loves you.“ Das war natürlich der Wahnsinn. Aber wir haben uns für die Anfangsphase
bewusst für Investoren aus Europa entschieden, denn kürzereWege vereinfachen die Zusammenarbeit.
Wir konnten dann aber schnell zeigen, dass unser Produkt funktioniert, erzielten Umsatz und
wuchsen. Nun ging es darum, Partner zu finden, die schon mehrfach Unternehmen wie unseres
von fünf Millionen auf mehr als 100 Millionen Nutzer skaliert oder schon einmal Unternehmen
an die Börse gebracht hatten. Wir standen seit der Mail zwar immer in Kontakt mit Sequoia, aber
haben bei 40 VC in London, New York und San Francisco gepitched. Wir hatten uns darauf akri-
bisch vorbereitet und das Timing war genau abgestimmt, damit die Zahlen stimmen. Am Ende
hatten die meisten VCs Interesse, bei uns zu investieren.
Warum wurde es Sequoia Capital?
Wir haben uns für Sequoia entschieden, weil wir von ihrer Erfahrung vom Aufbau von
Dropbox und Evernote profitieren können. Sequoia kennt die Herausforderungen, die
auf uns zukommen. Sowohl technologisch bei der Cross-Plattform-Synchronisation, als
auch bei der Skalierung auf mehr als 100  Millionen User. Die Geschäftsmodelle und Ziel-
gruppen der drei Angebote sind ähnlich, adressieren aber unterschiedliche Kundenprob-
leme. Kurz gesagt: Dropbox, Evernote und Wunderlist ergänzen sich sehr gut. Ich kann mir
gut vorstellen, dass die drei Plattformen irgendwann tief miteinander verbunden sein werden.
Ein weiterer Punkt ist natürlich, dass wir von der Investorenlegende Michael Moritz, der schon
in Steve Jobs investierte und nun in unserem Board sitzt, viel lernen. Und es öffnet die eine oder
andere Tür. So wurden wir uns schnell einig. Vom Pitch bis zum Termsheet hat es nur wenige
Tage gedauert. Das war im Herbst 2013.
Wie wollt ihr das Geld investieren?
Wir investieren in Wachstum. Aktuell kommen etwa 30 Prozent unserer User aus
den USA – diese Präsenz möchten wir ausbauen. Gleichzeitig wollen wir neue Märkte
gewinnen. Unser Ziel ist klar: Wir möchten die 100-Millionen-User-Grenze knacken. Der größte
Kostenblock sind die Personalkosten. Dorthin fließt der größte Teil der Investitionen. Und wir
investieren in den Bau von Wunderlist 3.
Wunderlist 3 – was wird sich ändern?
Wunderlist soll noch einfacher, eleganter und flüssiger werden. Wir planen nur wenige neue
Funktionen und konzentrieren uns darauf, das aktuelle Produkt massiv zu verbessern. Eine
Christian Reber 25
26 6Wunderkinder

zentrale Veränderung bei Wunderlist  2 war die Umstellung auf die native App-Entwicklung.
Bei Wunderlist 3 werden wir Grundlegendes im Backend optimieren und beispielsweise einige
Sync-Probleme lösen. Damit schaffen wir die Basis für die nächsten zehn Jahre, sehr skalierbar
und flexibel. Wir können dann im Monatsrhythmus neue Funktionen live schalten oder von der
Plattform nehmen. Zudem planen wir eine API. Es wird ein erneuter Kraftakt. Ich kann jedem
Gründer nur raten, von Beginn an eine solide Basis zu legen.
Wo geht es langfristig hin? Ist ein Börsengang das Ziel?
Nein, nicht mehr unbedingt. Ich möchte, dass die Firma lange existiert. Seit der ersten Minute
will ich, dass in Deutschland neben SAP ein Technologie-Startup existiert, das internationales
Renommee besitzt. Wir wollen ein beeindruckendes Unternehmen sein, mit weltweit erfolgrei-
chen Produkten, einem überzeugenden Design und Engineering „Made in Germany“. Das ist
eine wahnsinnig spannende Herausforderung. Wenn es mit 6Wunderkindern langfristig nicht
klappen sollte, würde ich es auf einem anderen Weg noch einmal versuchen. Dann aber wahr-
scheinlich noch größer und noch lauter. Wir brauchen in Deutschland endlich ein Engineering-
Startup als Vorbild. Mit Sicherheit haben wir sehr smarte Gründer, sehr smarte Entwickler, aber
uns fehlt noch ein Facebook, Google oder Apple. Und genau darauf habe ich Bock.
Eine gängige Meinung ist, dass nicht aus jedem Gründer ein Chief Executive Officer (CEO)
wird. Wie denkst du darüber?
Ich unterscheide zwischen Gründern und Managern. Ein Gründer prägt die Vision,
die Kultur und die Arbeitsethik. Er benötigt andere Fähigkeiten als ein Manager. Die zen-
trale Aufgabe eines Managers ist es, Entscheidungen zu treffen. Er muss die Geschäfts-
strategie definieren, Leute rekrutieren und Teams aufbauen. Er muss Mitarbeiter moti-
vieren, Ziele setzen und messen, Partnerschaften etablieren, sich um die Finanzen kümmern
und vieles mehr. Diese Fähigkeiten muss man erst einmal entwickeln. Darum ist es nicht
verwunderlich, dass viele Gründer im Laufe der Zeit einen CEO oder Chief Opera-
tions Officer (COO) einstellen. Gründer sind für mich Macher, Manager und Denker.
Anfangs wollte ich kein CEO werden. Ich war ein Entwickler und meine Leidenschaft
galt dem Bau von Wunderlist, der Gestaltung des Produkts und der Marketingstrategie.
Ich war an jedem Detail beteiligt. Es war deshalb kein leichter Schritt, sich aus der inhaltli-
chen Arbeit herauszunehmen und auf die Managerseite zu fokussieren. Hin und wieder hatte
ich überlegt, einen COO einzustellen. Aber dann habe ich mich doch dafür entschieden,
ein erfahrenes Managementteam um mich herum aufzubauen. Damit konnte ich meinen
Mangel an Erfahrung ausgleichen. Diese Entscheidung hat für mich sehr gut funktioniert.
Heute konzentriere ich mich vor allem auf Zieldefinitionen, Prozesse, Business Development und
andere strategische Bereiche. Ich bin aber auch immer noch ein Mitglied des Produktteams, auch
wenn ich für diese Arbeit leider nur ein paar Stunden pro Woche aufwenden kann. Ich denke,
dass mein Transformationsprozess hin zum CEO bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Ich
bin eben ein Hands-on-Manager mit Liebe zum Detail. Hin und wieder verfalle ich ins Micro-
Management, und das bringt uns nicht zwingend voran.
Der Faktor Team wird häufig als Eckpfeiler einer erfolgreichen Gründung genannt. Wie
sieht für dich ein ideales Gründerteam für eine Tech-Startup aus?
Ich empfehle ein Team aus vier Personen mit dem Fokus Produkt, Entwicklung, Marketing
und Finanzen. Die Produktperson muss die Leidenschaft für das Produkt mitbringen, und das
sowohl auf der strategischen Ebene als auch im Detail. Sie sollte in der Lage sein, Designer zu rek-
rutieren, um die Produktentwicklung zu verbessern. Und immer danach streben, jedes noch so
kleine Produktdetail verbessern zu wollen. Idealerweise hat die Person schon Erfahrung mit der
Christian Reber 27

Entwicklung unterschiedlicher Produkte gemacht und versteht auch die technische Umsetzung.
Ein herausragender Entwickler ist von zentraler Bedeutung. Idealerweise sollte er bereits
Erfahrung als CTO mitbringen. Er muss es seinerseits verstehen, Entwickler zu rek-
rutieren, eine skalierbare Architektur zu definieren, eine Entwicklerkultur aufzu-
bauen und er muss verstehen, welche Anforderungen ein Produkt im Live-Betrieb hat.
Eine Marketing-erfahrene Person wird häufig vergessen, ist aber meiner Meinung nach eben-
falls notwendig. Auf dieser Position muss man eine Marke definieren und aufbauen können,
die – je nach Ausrichtung – global funktioniert. Neben den nötigen Fähigkeiten für den
Teamaufbau geht es in diesem Bereich vor allem um das Beherrschen des mitreißenden Sto-
rytellings, um neue Kunden zu gewinnen und bestehende Kontakte zu halten. Und natür-
lich benötigt man ein Mastermind für die Finanzen. Wenn man diese Funktion besetzt, wird
das Risiko reduziert, Fehler in finanziellen Angelegenheiten zu machen, beispielsweise unvor-
teilhafte zu akzeptieren. Ich würde nie wieder ein Startup ohne solch eine Person gründen.
Aus diesem Pool von Leuten sollte eine Person die Führung übernehmen. Selbstver-
ständlich kann man ein Unternehmen auch ohne eine definierte Führungsperson auf-
bauen, aber ich halte es für sinnvoll, wenn eine Person finale Entscheidungen treffen
kann. Damit wird die Entwicklungsgeschwindigkeit des Startups hoch gehalten.
Bei der Aufteilung der Anteile sollte man fair sein. Und alle sollten die gleiche Energie und Zeit
in das Startup investieren. Es ist ratsam, bereits früh an die potenziellen ersten Mitarbeiter zu
denken, und es ist gängig, sie auch am finanziellen Erfolg des Startups zu beteiligen. Hier würde
ich immer auf angemessene Vesting-Regeln achten.
Welche Tipps hast du noch für Gründer?
Als Gründer sollte man sich als Sportler sehen. Das heißt: Du trainierst regelmäßig und hast
immer Spaß daran. Leidenschaft ist deine Motivation, dein Ziel ist die Teilnahme an einem Mara-
thon. Darauf bereitest du dich vor. Es ist ein langer Weg, eine Aufgabe. Wenn du mit einem sol-
chen Mindset an ein Startup herangehst, ist das deutlich gesünder für dich, körperlich und mental.
Ich habe den Eindruck, dass viele Gründer versuchen, zu sprinten, und das über Jahre hinweg.
Und dann sind sie nach wenigen Jahren erschöpft. Auch bei mir war das der Fall. Einmal musste
ich ins Krankenhaus und dachte schon, es sei ein Herzinfarkt. Dabei war zum Glück nur ein
Nerv eingeklemmt. Aber mir ist klar geworden, dass ich umfalle, wenn ich so weitermache.
Heute versuche ich mich als Champions-League-Trainer zu sehen. Ich verfolge tatsächlich Trai-
nerkonzepte: wie Trainer ihre Teams aufbauen, wie Spieler gefördert werden oder wie man sich
wieder von ihnen trennt, wenn es nicht mehr passt. Ich finde es faszinierend, langfristig an Sachen
heranzugehen.
Du vergleichst das Gründen mit Sport. Wie muss ich heute trainieren, um morgen ein er-
folgreicher Gründer zu sein?
Sei erst einmal Sportler, bevor du anfängst, Trainer zu werden. Es mag sicherlich Ausnahmen
geben, aber mir hätte es geholfen, vorher in einem Startup zu arbeiten. Wäre ich vor meiner
Gründung bei Apple, Google, Facebook oder einem anderen erfolgreichen Startup gewesen, wäre
das sicher eine brillante, nützliche Erfahrung geworden. An einer Erfolgsgeschichte beteiligt zu
sein, bringt außerdem Reputation. Diese hilft dir wiederum, Geld von Investoren zu akquirieren.
Aber hier sind wir dann wieder beim Punkt: In Deutschland fehlen einfach die Möglichkeiten ...
... du meinst, es fehlen große, erfolgreiche Startups?
Genau. Aus unserer Firma sind inzwischen schon viele Gründer hervorgegangen. Sie haben an
Wunderlist und Wunderkit mitgearbeitet und danach ein eigenes Startup hochgezogen. Bei uns
28 6Wunderkinder
Christian Reber 29

haben sie gelernt, wie man Software baut, wie man ein Team managt und welche täglichen Her-
ausforderungen in einem Startup anstehen …
… also mit den Standardsituationen umzugehen …
… und mit den Ausnahmesituationen. Die sind noch viel wichtiger.
Christian, herzlichen Dank für das Gespräch!

Literaturtipps von Christian Reber

Kiyosaki, Robert (2011); Rich Dad, Poor Dad; Plata Publishing


30 6Wunderkinder
BORA Lüftungstechnik
Willi Bruckbauer
2

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_2,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
32 BORA Lüftungstechnik

Dunstabzug von unten, statt von oben


Das Schreiner-Gen liegt Willi Bruckbauer im Blut. Seit acht Generationen wird in seiner Familie
gewerkelt. Dass auch er in dieselbe Kerbe schlagen wird, stand nie zur Debatte. Zum handwerkli-
chen Geschick des Schreinermeisters und Küchenexperten gesellten sich wirtschaftliches Denken
und eine ordentliche Portion Experimentierfreude. Denn: Als ihm seine Kunden immer und
immer wieder ihr Leid über sperrige und laute Dunstabzüge klagten, machte sich der Rosen-
heimer ans Werk. Er entwarf einen Dunstabzug – von unten. 2006, nach gerade einmal neun
Monaten Entwicklungszeit, waren die ersten Systeme fertig. Nur ein viertel Jahr später waren die
ersten 300 Kochfeldabzüge abverkauft.
Bruckbauer vertreibt seine innovative Idee unter der Marke BORA – diesen Namen trägt
auch der stärkste Fallwind der Erde. Er ist so stark, dass er Segelboote zwingt, im Hafen zu
bleiben. Kein anderer Name drückte besser aus, mit welcher Kraft seine Innovation Kochdünste
nach unten zieht. Gepaart mit einer schlichten, aber schlagkräftigen Vertriebsidee eroberte BORA
von den bayerischen Alpen aus sukzessive den deutschsprachigen Raum – und die Welt. Seit 2012
gibt es sogar eine eigene Gesellschaft in Australien. Im Jahr 2010 erhielt Bruckbauer den Deut-
schen Gründerpreis, 2012 folgte der renommierte red dot product design award. Und die Liste
der Preise ist damit nicht vollständig.
BORA ist eine Erfolgsgeschichte durch und durch. Den innovativen Dunstabzug gibt es
inzwischen in drei Ausführungen. Anfangs entwickelte und vermarktete Bruckbauer sein Produkt
in einer One-Man-Show. Heute sagt er: Das Team ist wichtiger als ich.

Erfinder und Unternehmer – Ihr Kindheitstraum?


Ich stamme aus einer Schreinerfamilie. Mein Vater, Großvater und auch die Urgroßväter
waren selbstständige Schreinermeister und hießen alle Willi Bruckbauer – und das seit acht Gene-
rationen. Mein Bruder führt den Betrieb des Vaters weiter und auch ich hatte nie einen Plan B.
Nach der Realschule absolvierte ich eine Schreinerlehre, besuchte die Meisterschule und
belegte einen Crashkurs zur Betriebswirtschaft im Handwerk an der Handelskammer in Mün-
chen. Danach war die Zeit reif, ich wollte selbstständig etwas anpacken, aber mein Vater war noch
zu jung, um mir seinen Betrieb zu übergeben. So startete ich 1996 in der väterlichen Schreinerei
ein Planungsbüro für Küchen und Innenausbau. Da die Nachfrage nach individuellen Konzepten
sehr stark wuchs, gründete ich im Jahr 2000 das „Werkhaus“ – ein Kompetenzzentrum für exklu-
siven Innenausbau. 18 Unternehmen bieten hier vom exklusiven Bodenbelag über Bäder und
Öfen bis hin zu individuell gestalteten Küchen alles für den perfekten Innenausbau. Wir ergänzen
uns und das ist unser Erfolgsrezept.
Willi Bruckbauer 33

Wie sind sie auf die Idee für BORA gekommen?


Ich sehe keine Probleme, sondern suche Lösungen – immer und überall. So war es auch bei
BORA. Täglich hörte ich von den Kunden im Werkhaus: „Ich brauche einen Dunstabzug in der
Küche, aber keine sperrige, laute Abzugshaube.“
Ich probierte bestehende Alternativen aus und notierte ihre Schwachpunkte. In die Decke
eingebaute Abzugshauben schaffen es nicht, den Dampf abzuziehen – da musste es doch eine bes-
sere Alternative geben, dachte ich mir. Das ließ mich nicht mehr los. Wenn der Weg nach oben
nicht funktioniert, dann eben nach unten, unter die Kochplatten. Aber diese Ansätze waren ent-
weder viel zu laut, hatten keine Leistung, waren umständlich zu reinigen oder schlossen nicht flä-
chenbündig mit den Kochfeldern ab. Diese Schwachstellen nahm ich mir Punkt für Punkt vor
und suchte Lösungen. Beispielsweise gestaltete ich den Abzugskanal so, dass keine Wirbel ent-
stehen. Dadurch konnte ein kleinerer Motor eingesetzt werden, der leiser ist, weniger Platz benö-
tigt und zudem energieeffizient arbeitet.
Im ersten Schritt habe ich dann gemeinsam mit meinem Schwiegervater einen Teil des Abzugs-
systems aus dickem Karton gebaut – nur mit Schere und Klebstoff – und mit einem Abzugsmotor
experimentiert. Beispielsweise veränderten wir die Größe des Einzugsschlitzes, um die optimale
Strömungsgeschwindigkeit zu finden. Als wir das Idealmaß hatten, wurden unterschiedliche Pro-
totypen aus Blech gefertigt – mal größer, mal kleiner oder mit verschiedenen Winkeln im Luft-
kanal. Mit einem freiberuflichen Konstrukteur haben wir dann die Konstruktionen dafür erstellt,
und die ersten 300 Systeme fertigte ein Jungunternehmer, der sich kurz zuvor in Rosenheim
selbstständig gemacht hatte. Nach neun Monaten Entwicklungszeit waren wir bereits lieferfähig.
Wie ist der Name BORA entstanden?
Der Dunstabzug nach unten funktioniert deshalb, weil die Kochdünste mit einem Meter pro
Sekunde aufsteigen, wir aber mit vier Metern pro Sekunde die Luft nach unten absaugen. Die
entstehende Querströmung zieht die Kochdünste nach unten. Dieses starke Prinzip sollte sich
auch im Namen wiederfinden. Ich erstellte eine Ideenliste: Aircheck, Airflow oder Downdraft-
system und kam im Zuge der Namensrecherche dann auf Winde: Passat, Vento, BORA. Der
Name BORA gefiel mir sofort und passt perfekt: BORA ist der stärkste Fallwind der Erde. Er
stürzt sich durch die Karsttäler Kroatiens hinab bis an die Küste und auf das Meer. Er ist so stark,
dass er mitunter Segelboote zwingt, im Hafen zu bleiben.
Glücklicherweise war der Name „BORA“ für Küchen und Dunstabzüge noch nicht
geschützt. Allerdings hielt VW bereits Namensrechte und es gab ein paar Überschneidungen, für
die wir aber eine einvernehmliche Mitbenutzerregelung gefunden haben. Wir dürfen den Namen
BORA in Küchen und für Dunstabzüge nutzen, und VW verwendet ihn für Autos und Lüfter-
motoren im Auto.
Wie haben Sie den ersten Kunden gefunden?
Die erste Anlage verkaufte ich nach Nordhorn. Ich traf den Kunden und erzählte ihm von
BORA. Er war spontan begeistert und kam zu mir nach Rosenheim, wo er sofort zwei Anlagen
bestellte. Aber entscheidend für den Vertrieb ist das Händlernetz. Die ersten 20 Händler kamen
über mein persönliches Netzwerk. Ein tragfähiges Händlernetz aufzubauen, bedeutet viel Arbeit,
mit zunehmender Händlerdichte entsteht dann ein Dominoeffekt. Kunden lassen sich beim Kauf
einer Küche meist von mehreren Küchenplanern beraten. Zu Beginn unserer Tätigkeit entstand
die Nachfrage auch durch gezielte Erkundigungen der Endkunden nach BORA beim Küchen-
händler. Der Markt war auf unsere Innovation angesprungen. Die Küchenplaner, die bislang
noch nichts von uns gehört hatten, riefen bei uns an und wollten ebenfalls gelistet werden.
34 BORA Lüftungstechnik

In intensiven Schulungen wurden die Händler dann mit dem Produkt vertraut gemacht und
konnten fortan ihren Kunden BORA bei der Küchenplanung empfehlen und verkaufen.
Den Dominoeffekt haben wir in Hamburg beispielsweise gezielt eingesetzt. Wir boten einem
Hamburger Küchenplaner an, Neukunden für ihn zu gewinnen, wenn er im Gegenzug zu unserer
Schulung kommt und unsere Kochfeldabzüge anbietet. Wir filterten Kunden für ihn heraus,
die in Hamburg nach Dunstabzügen suchten und leiteten sie an den Küchenplaner weiter. Der
Dominoeffekt setzte ein. Plötzlich bekamen wir Anrufe von Hamburger Küchenplanern, die
ebenfalls gelistet werden wollten. So erschlossen wir Hamburg und bauten peu à peu die Ver-
triebsstruktur aus.
Warum haben Sie direkt auch einen Vertrieb in Holland aufgebaut?
Ja, das war verrückt. Auf der westfälischen Möbelmesse MOW im September 2007 in Biele-
feld stellten wir zum ersten Mal BORA aus. Das Interesse war enorm. Zu einer Gruppe hollän-
discher Küchenhändler gehörte ein junger Mann, mit dem sich ein angeregtes Gespräch entwi-
ckelte. Abends läutete mein Handy: „Ich möchte für BORA arbeiten!“ schlug er vor. Ich sagte:
„Sehr gerne, allerdings kann ich zur Zeit leider kein fixes Gehalt anbieten, die Substanz haben
wir nicht, aber ich kann variabel bezahlen.“ Der holländische Handelsvertreter war einverstanden
und arbeitet bis heute überaus erfolgreich bei uns. Der zweite Außendienst-Mitarbeiter kam für
Baden-Württemberg, dann folgten Bayern und Österreich und so kam eines zum anderen.
Wie lange dauerte es, bis die ersten 300 Kochfeldabzüge verkauft waren?
Ungefähr ein Vierteljahr. Anfangs dauerte die Fertigung länger als der Verkauf. Ich musste
die Produktion auf die enorme Nachfrage einstellen und wechselte auf eine breitere Produkti-
onsplattform, die auch für andere namhafte Firmen fertigt. Ein vorbildliches Qualitätsmanage-
ment mit einer geprüften Fertigungsstraße und Fotodokumentation für jedes gefertigte Stück ist
sichergestellt. Produktion und Versand erfolgen durch unseren Produktionspartner und wir über-
nehmen Entwicklung, Marketing und Vertrieb.
Wie haben Sie das Team aufgebaut?
Anfangs übernahm ich alle Aufgaben, aber es wurde schnell recht viel. Die erste Mitarbei-
terin war meine Sekretärin, die mich auch heute noch hervorragend unterstützt. Dann kam ein
Mitarbeiter für den Innendienst dazu, während ich weiter Vertrieb und Marketing übernahm. Es
folgten vier oder fünf Mitarbeiter im Team, das aber noch ohne formale Strukturen funktionierte.
Jeder kam einfach zu mir und fragte, wenn er etwas brauchte. Schon bald war mir klar, dass es so
mittelfristig nicht weitergehen kann.
Wie haben Sie die Teamstruktur verändert?
Ich wollte vier Stabstellen: Innendienst, Marketing, Vertrieb und Technik, von denen alle
gestalten dürfen und sollen. Wenn der Vertriebsleiter zu mir kommt und sagt: „Willi, für die
nächste Messe haben wir uns etwas Tolles ausgedacht“, gebe ich ihm gerne meine Einschätzung,
aber die Umsatzverantwortung trägt er. Es ist wie in der Familie, auch Kinder brauchen Leit-
planken. Leitplanken müssen die Richtung vorgeben, aber auch genügend Freiraum lassen. Das
Kind muss verstehen: „Wenn du diese Linie überschreitest, gibt es Sanktionen“. Als Vater muss
ich das überwachen, dann können sich Kind und Familie entwickeln. Genauso brauchen Mitar-
beiter Freiräume und Leitplanken, dann funktioniert die Firma. Inzwischen ist das Team wich-
tiger als ich.
Wie finden Sie die passenden Mitarbeiter für Ihr Team?
Wir sind in der Region bekannt dafür, sehr jungen Mitarbeitern eine Chance zu geben.
Günter Eizenhammer beispielsweise stammt aus einem Nachbarort und war noch keine 25 Jahre
Willi Bruckbauer 35
36 BORA Lüftungstechnik

alt, als er zu mir kam. Heute ist er mein wichtigster Mann im Hintergrund, leitet den Innendienst
und hat volle Prokura. Hier im Raum Rosenheim ist die Arbeitslosigkeit sehr niedrig, es herrscht
quasi Vollbeschäftigung. Da ist es schwierig, neue, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Man muss
jemanden finden, der mehr erreichen und sich verändern möchte. Häufig sind es Empfehlungen
anderer Mitarbeiter.
BORA Professional war die erste Produktlinie. Ende 2009 kam mit BORA Classic, eine
zweite, auf den Markt. Welche Überlegungen führten Sie zu dieser Entscheidung?
BORA Professional ist auf höchste Ansprüche an Funktion und Design ausgerichtet. Immer
wieder hörten wir von unseren Händlern, dass wir doch auch eine günstigere Version anbieten
sollten. Für mich war die Frage: Wenn ich mit BORA Classic eine zweite, günstigere Produkt-
linie bringe, kauft dann noch einer BORA Professional? Ich kam zu dem Schluss, dass „BORA
Professional“ nicht darunter leiden, sondern eher davon profitieren würde, weil wir unsere Mar-
kenbekanntheit steigern. Das war eine wichtige Entscheidung und ich holte mir Rat bei Hans-
georg Derks, dem ehemaligen Geschäftsführer von Bulthaup und unserem heutigen Berater für
Marketing und Vertriebsmanagement. Er schaute sich unser Konzept an und nach einem halben
Tag hat er gesagt: „Der Unterschied zwischen BORA Classic und BORA Professional ist so groß,
dass man den Preisunterschied glaubhaft argumentieren kann. So wird es ein Erfolg.“ Und so
kam es dann auch. Unser Ziel war es, innerhalb von drei Jahren den Umsatz von BORA Professi-
onal zu steigern und gleichzeitig mit Classic denselben Umsatz zu erreichen. Bereits nach einem
Jahr hatten wir das Ziel erreicht und das Wachstum steigert sich von Jahr zu Jahr. Auch für die
Zukunft hoffen wir, dass unsere Innovationsführerschaft im Markt weiterhin Anerkennung im
In- und Ausland findet.
Haben Sie einen Mentor?
Ich hatte zwei Mentoren. Der eine war Professor Klaus Fischer, von Fischer Dübel. Ich traf
ihn bei einer Veranstaltung zum deutschen Gründerpreis, den wir 2010 gewonnen haben. Er hat
seinen Stab von internationalen Vertriebsmitarbeitern sowie einen Patentanwalt für Beratung zur
Verfügung gestellt. Eine sehr wichtige Stütze ist zudem mein Berater Hansgeorg Derks, der mit
uns unter anderem die Vertriebsstruktur aufbaut. Ich bin Schreinermeister und kann von seinen
langjährigen Erfahrungen im Management profitieren. Hansgeorg Derks strukturiert Projekte,
führt die Mitarbeiter ein und übergibt klare Aufgaben an das Team.
Wie erfolgte die Internationalisierung?
Zunächst waren wir im deutschsprachigen Raum und Holland aktiv. Seit 2011 treiben
wir die Internationalisierung voran. Dabei gehen wir zweigleisig vor: In Deutschland, Öster-
reich, Holland, Belgien, Polen, Tschechien, Slowakei und Australien haben wir eigene Mitar-
beiter. In Australien sind wir sogar mit einer eigenen Gesellschaft vertreten. In Italien, Frankreich,
Großbritannien,Norwegen, Finnland und Russland arbeiten wir mit Importeuren zusammen.
Das war ein wesentlicher Entwicklungsschritt.
… Sie habe eine eigene Gesellschaft in Australien? Wie kam es dazu?
Markus Ostermeier, ein Mitarbeiter, den ich sehr schätze, hat für einige Zeit in Australien
gelebt. Nachdem er bereits zwei Jahre bei mir gearbeitet hatte, kam er 2011 zu mir und sagte, dass
er nach Australien auswandern und dabei BORA in Australien einführen möchte. Ich antwor-
tete ihm, dazu bräuchte ich zuerst ein überzeugendes Konzept und eine Bewertung des Markt-
potenzials. Seine Ideen haben mich dann wirklich beeindruckt und ich gab ihm mein OK. Im
März 2012 ging er nach Australien. Die erste Investition war ein Multivan, damit er das Produkt
bei den Händlern vorführen konnte. Schon nach einem Jahr schickte er regelmäßig Aufträge. Er
Willi Bruckbauer 37
38 BORA Lüftungstechnik

macht einen Bombenjob und ich kann mich auf ihn hundertprozentig verlassen. Verlässlichkeit
ist eine Tugend, die hier in der Region verbreitet ist und das schätze ich an meinen Mitarbeitern
sehr.
Auf BORA Classic folgte Anfang 2013 BORA Basic. Warum?
BORA Professional ist das absolute High-End-Produkt und kommt deshalb nur für 0,5 Pro-
zent aller verbauten Küchen infrage – die absolute Spitze der Pyramide. BORA Classic ist preis-
günstiger und schon für vier Prozent der geplanten Küchen relevant. Mit BORA Basic kommen
wir für elf Prozent aller Küchen in die Auswahl. Hier ist es uns gelungen, ein kompaktes System
zu einem attraktiven Preis zu schaffen.
… warum?
Der Kochfeldabzug BORA Basic wird direkt in ein Kochfeld eingebaut und ist sehr einfach
in der Planung und Installation. Und das macht sich direkt beim Preis positiv für den Kunden
bemerkbar. Herkömmliche Dunstabzugshauben benötigen zwei Mann und vier Stunden Monta-
gezeit. BORA Basic kommt mit einem Mann und zehn Minuten Montagezeit aus. Zudem sind
bei der Installation kaum Fehler möglich. Dadurch müssen wir weniger schulen und werden des-
halb auch für die großen Möbelhäuser interessant. Jetzt nehmen auch sie BORA gerne in die
Hand.
Was war der größte Rückschlag beim Aufbau von BORA?
Wenn ein Unternehmen so schnell wächst, wie wir es glücklicherweise momentan tun, so
bleiben Rückschläge nicht aus, denn die Herausforderungen der Märkte sind nicht zu unter-
schätzen. Vor allem die Erschließung neuer Märkte, der Aufbau von etablierten Vertriebska-
nälen geht dabei nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten. Und je weiter sie entfernt sind, umso
anspruchsvoller ist die Aufgabe. Dabei die Diversifizierung und Verbesserung der Produkte sowie
den Abstand zu Nachahmern nicht aus den Augen zu verlieren, hält uns auf Trab. Wer wächst,
braucht ein starkes Team. Jeder muss mit seiner Aufgabe mitwachsen, sonst schwächt er die
Gesamtentwicklung.
Was haben Sie geändert?
Mittlerweile beschäftigen wir allein sechs Personen in der Produktentwicklung, um den
enormen technologischen Anforderungen, die der Markt, aber vor allem auch wir selbst an unsere
Produkte stellen, gerecht zu werden.
Wie schützen Sie sich vor Wettbewerbern?
Ich habe direkt nach der Erfindung ein Patent angemeldet. Wir schützen uns mit Patenten
sowie Geschmacks- und Gebrauchsmustern. Aktuell haben wir neun Patente angemeldet. Und
wir versuchen immer, schneller als der Wettbewerb zu sein.
Haben Sie Ihr Patent schon einmal geltend machen müssen?
Eigentlich gab es nichts Dramatisches. Einmal wurde BORA Classic kopiert. Zum Glück
war es ein deutsches Unternehmen. Wir telefonierten, das Unternehmen entschuldigte sich und
änderte das Produkt sofort.
Wie haben Sie den Aufbau von BORA finanziert?
Mir wurde oft empfohlen, einen externen Investor zu suchen. Ich habe das aber immer abge-
lehnt, denn ohne einen Investor kann ich freier agieren, die Entscheidungswege sind kürzer und
ich muss keine Bilanz diskutieren. Wir konnten auch ohne Investor jährlich unsere Größe ver-
doppeln – bereits das sechste Jahr in Folge.
Willi Bruckbauer 39
40 BORA Lüftungstechnik

Finanzierten Sie den Aufbau aus der Geschäftstätigkeit heraus?


Mit dem Werkhaus konnte ich mir ein finanzielles Polster schaffen und so BORA ein Darlehen
geben. Damit konnten wir die erste Entwicklung finanzieren. Wir sind ein junges, gesundes, aber
kein substanzstarkes Unternehmen. An Substanz zu gewinnen, ist in Deutschland schwierig: Vom
Gewinn muss man ja die Hälfte an den Staat abführen und auch der Lagerbestand will finanziert
werden. Da muss man auch aufpassen, nicht in die Liquiditätsfalle zu geraten…
… was ist die Liquiditätsfalle?
Der Gründer hat zwar Aufträge, aber kein Geld, um das notwendige Material zu kaufen. Zwi-
schen Materialeinkauf und Auftragsbezahlung durch den Kunden können Wochen liegen. Das
Geld muss der Unternehmer vorstrecken. Auch wenn die Aufträge stark anwachsen, kann der
Unternehmer in Liquiditätsprobleme geraten.
Unternehmer zu sein, ist meist kein Nine-to-five-Job. Wie ist es bei Ihnen?
Ich habe immer gesagt, wenn ich das Büro verlasse, dann ist Freizeit. Das war meist zwischen
20 Uhr und 24 Uhr – fünf Tage die Woche und samstags um 16.00 Uhr. Vor zwei Jahren habe
ich das geändert und arbeite nun mittwochs von zu Hause aus. Ich nehme keine Termine an,
sondern ich widme mich Kreativem oder arbeite an der Vision. Am ersten Mittwoch, den ich zu
Hause verbrachte, entstand BORA Basic. Aber ich nehme mir auch die Freiheit und gehe in der
Mittagszeit zwei Stunden Radfahren.
Welche Fähigkeiten und Eigenschaften muss ein Gründer mitbringen?
Ein gesunder Menschenverstand ist wichtig. Und ich glaube, es ist wichtig, dass Gründer
nicht in Größenwahn verfallen. Darum sollte man nicht in Marktanteilen denken. Das mag für
die Großkonzerne funktionieren, junge Unternehmen laufen jedoch Gefahr, sich gnadenlos zu
überschätzen. Jedes Jahr werden in Europa 8,5 Millionen Küchen verkauft. Ein Marktanteil von
einem Prozent entspräche für BORA 250 Millionen Euro Umsatz. Ein Prozent hört sich so klein
an, ist aber für uns nicht erreichbar. Darum sollten wir realistisch planen. Ich überlege mir: Wie-
viel Handelspartner passen überhaupt zu uns, schätze den Anteil der Studios für BORA realistisch
ein und verzichte im Zweifel auf Umsatz, wenn der Partner nicht zu uns passt.
Ich sehe häufig Gründer mit „Me-too“-Produkten. An der einen oder anderen Stelle zeigen sie
Unterschiede, aber nichts Grundlegendes. Das ist ein Versäumnis, denn nur einzigartige Produkte
haben keine Konkurrenz. 99,9 Prozent aller Dunstabzüge kommen von oben. Wir brauchen bei-
spielsweise keine großen Marketingbudgets, um einen Unique Value Proposition (USP) „herbei zu
kommunizieren“. Ein Produkt funktioniert, wenn ich dem Kunden etwas Neues zeige, und er
sagt: „Ja, logisch!“ Das tun wir mit unseren BORA-Produkten.
Gründer sollten sich auch auf das Essenzielle konzentrieren. BORA produziert Kochfeldab-
zugssysteme mit den dazugehörigen Bausteinen wie Lüfter und Kochfeld – sonst nichts. Wer sich
konzentriert, wächst, wer sich verzettelt, stürzt. Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die
Schnellen fressen die Langsamen. Konzentration bringt Geschwindigkeit.
Wer sich selbstbewusst, mit Durchhaltevermögen und dem passenden Produkt auf eine
Nische spezialisiert, wird zwingend erfolgreich sein.
Herr Bruckbauer, herzlichen Dank für das Gespräch.
Willi Bruckbauer 41

Literaturtipps von Willi Bruckbauer

Altmann, Christian (2002); Kunden kaufen nur von Siegern; Moderne Industrie
Friedrich, Kerstin (2007); Erfolgreich durch Spezialisierung; Redline Verlag
cloudControl
Philipp Strube
3

Gründerteam: Tobias Wilken, Philipp Strube, Thomas Ruland (von links)

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_3,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
44 cloudControl

Führender Cloud Infrastructure Service Anbieter


Philipp Strube hat zusammen mit Thomas Ruland und Tobias Wilken im Jahr 2009 cloudCon-
trol gegründet. Bei ihrem ersten Startup hatten Philipp und Tobias das Problem, dass Entwicklern
die richtigen Tools fehlten, um Applikationen für die Cloud zu entwickeln. So sind sie auf die Idee
gekommen, mit cloudControl eine Cloud-Hosting-/Platform-as-a-Service-Lösung anzubieten.
cloudControl erlaubt es Webentwicklern, schneller Webseiten und Anwendungen zu entwi-
ckeln. Dafür stellt cloudControl den Entwicklern eine Plattform zur Verfügung, auf der die not-
wendige Software läuft, um ihre Webseiten oder Webanwendungen zu betreiben. cloudControl
bietet den Entwicklern eine vorkonfigurierte Umgebung, in welcher sie sofort loslegen können
und sich nicht mehr um Setup, Konfiguration oder Wartung der Server kümmern müssen.

In welcher Situation hast du dich vor der Gründung befunden und wie ist die Idee zu cloud-
Control entstanden?
Ich habe Jura studiert. Irgendwann habe ich zusammen mit Tobias ein kleines Web-2.0-Pro-
jekt begonnen, der Name war „MyPeak“. Dabei handelte es sich um eine Seite, auf der man
Wettbewerbe mit Fotos oder Videos veranstalten konnte. Es ging darum, wer beispielsweise das
schönste Bild oder Video von einem Sonnenuntergang gemacht hat. Man konnte sehr einfach
zwei YouTube-Videos verlinken und die Leute konnten abstimmen, welches von beiden besser war.
Wir sind an diese Idee wie typische „Techies“ herangegangen, haben ein Feature nach dem
anderen gebaut. Noch ein Feature, noch eines und jedes Mal dachten wir, dass es das nun ist.
Wir hatten extrem viel Zeit in die Infrastruktur investiert. Irgendwann haben wir dann reali-
siert, dass es sich nicht lohnt. Wir wussten: Wenn wir weitermachen wollen, sollten wir zumin-
dest versuchen, die Zeit zu sparen, die wir in die Infrastruktur stecken. Wir haben dann ange-
fangen, uns umzusehen, was wir alternativ zum Selbstbetrieb der Server machen könnten.
Es gab damals die Google App Engine für Python. Unsere Software war aber in Java, deshalb ging
das nicht. Wir haben uns einige weitere Anbieter angeschaut, aber sie waren nicht wirklich gut.
Dann haben wir darüber nachgedacht, so etwas wie Google App Engine zu bauen. Und damit hat
es angefangen. Wir wussten damals noch nicht, dass das Platform-as-a-Service (PaaS) heißen wird
und auch nicht, wie sich alles entwickeln würde. Uns war damals auch nicht bekannt, dass das
neben Google auch schon andere machen. Wir sind relativ blauäugig an die Sache herangegangen.
Tobias wohnte im Zimmer nebenan. Er war schnell dabei, als ich ihm sagte, dass wir anders an
die Sache herangehen müssten. Der Name cloudControl stand relativ früh fest, den hatte ich mir
überlegt.
Philipp Strube 45

Wolltest du schon immer eine eigene Firma gründen? Du hättest mit deinem Studium ja
sicher auch andere Möglichkeiten gehabt.
Ich habe mein Studium nicht fertig gemacht. Tobias seines übrigens auch nicht. Er ist sogar
noch eingeschrieben und muss nur noch seine Diplomarbeit in Informatik schreiben. Die Scheine
bis zum ersten Staatsexamen in Jura habe ich alle gemacht. Im Repetitorium habe ich dann aber
beschlossen, die Firma genau zu diesem Zeitpunkt zu gründen, da ich dachte, dass es sonst zu spät
sei. Meiner Meinung nach war es die richtige Entscheidung. Ich glaube, ich könnte das Jurastu-
dium nicht wieder aufnehmen.
Hat dich die Idee so fasziniert und war dein Glaube daran so stark, dass du irgendwann zu
dem Punkt gekommen bist, dass du es einfach machen musstest?
Als ich angefangen habe, an der cloudControl-Idee zu arbeiten und mich entschied, das Stu-
dium dafür abzubrechen, war meine Motivation enorm hoch. Es hat mich angespornt, den ganzen
Tag an der Idee sehr hart zu arbeiten. Diese Motivation hatte ich im Studium einfach nicht. Ich
kannte das Wort „Unternehmer“, aber es war bis dato nicht zwingend, dass es das ist, was ich den
Rest meines Lebens machen möchte. Aber an irgendeinem Punkt habe ich realisiert, wie viele
Leute ein Internetunternehmen gründen. Und dann habe ich mir gesagt: Das kann ich auch!
Es gab eine zweite Erkenntnis: Zu meinem Jurastudium gehörte ein festes Praktikum. Über
meinen Vater bekam ich ein Jurapraktikum im Arbeitsrecht vermittelt, drei Monate dauerte es.
Das Praktikum war in Ordnung, aber ich hatte dennoch ein Aha-Erlebnis. An meinem letzten
Tag war der Partner, der mich betreut hatte, nicht da. Bei meiner Verabschiedung sagte einer
der anderen Anwälte, dass ich mich wieder melden könne, wenn meine Noten gut seien. Wenn
nicht, solle ich es lieber lassen. Er meinte das nicht böse, es ist eben das Prinzip, nach dem die
großen Kanzleien funktionieren. Ohne gute Noten geht nichts. Es wurde nur mit Prädikat einge-
stellt. Ende der Diskussion. Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich mich nicht bis ans Ende
meines Lebens so einem System unterordnen möchte. Es mag sein, dass mir dieses Verhalten
nicht besonders liegt. Im Scherz habe ich dann immer gesagt, dass man nur im eigenen Unter-
nehmen sein eigener Chef sein kann. Demnach könne man sich auch aussuchen, was für einen
Titel man haben will. Ganz so ist es im Endeffekt natürlich nicht. Sobald Investoren mit an Bord
sind, hat man immer wieder jemanden über sich und muss sich einigen. Aber ich hatte damals
einfach das Gefühl, dass das Unternehmertum etwas für mich ist und ich auf diesem Weg schöne
Ideen ausprobieren kann.
Wie hast du dich mit Deinem Partner Tobias am Anfang organisatorisch aufgestellt?
Tobias und ich waren der Meinung, dass es nicht gut ist, wenn wir, zwei eher technisch versierte
Typen, alleine gründen. Also haben wir noch Thomas – jemanden mit einem Business-Hinter-
grund – ins Team geholt. Drei Leute sind meiner Meinung nach das perfekte Gründerteam. Wenn
man sich mal in den Haaren liegt, ist immer jemand da, der vermitteln kann. Bei zwei Gründern
prallen auch zwei Meinungen aufeinander und dann ist es immer schwierig, eine Lösung zu finden.
Außerdem fanden wir einen Kollegen mit Business-Hintergrund wichtig, damit wir uns voll auf das
Produkt konzentrieren konnten. Bei einem Startup fallen extrem viele administrative Aufgaben an.
Und es hilft einfach nicht, wenn die Leute, die das Produkt bauen oder den Prototyp entwickeln,
Zeit dafür verschwenden. Das soll den Business-Leuten gegenüber nicht abwertend klingen. Aber
es ist einfach extrem wichtig, dass sich jeder auf seine Stärken konzentriert. Und es ist definitiv
ein Punkt, bei dem auch ein nichttechnischer Mitgründer relativ früh viel Mehrwert stiften kann.
Ich habe bei uns im Team den Chief-Executive-Officer(CEO)-Titel, d. h. ich bin derjenige, der
das Produkt vorantreibt. Am Anfang habe ich auch mit programmiert, aber das mache ich mitt-
lerweile nicht mehr. Außerdem bin ich derjenige, der am euphorischsten und sehr begeisternd mit
46 cloudControl

potenziellen Kunden oder Partnern spricht. Investoren überzeugen war auch immer meine Aufgabe.
Thomas macht dafür alles, was mit Zahlen und Prozessen zu tun hat. Tobias fokussiert sich mitt-
lerweile primär darauf, wie Dinge umgesetzt werden können und sorgt dafür, dass die Architektur
und auch die Teams stimmen. Wir haben ja mittlerweile zwei Teams à vier Personen, die entwickeln.
Die Teams bekommen eine Story vorgestellt, an der sie arbeiten sollen und Tobi schaut, ob
es so umgesetzt wird, wie er es sich vorstellt. Damit kommt das gesamte Produkt sozusagen
aus einer Hand. Mein Job ist es, Grundideen einzubringen. Ich stoße an, in welche Rich-
tung wir uns bewegen, weise auf Features hin, die spannend sein könnten. Es sind Pro-
dukt-Features oder es geht um Usability. Dinge, bei denen ich denke, dass sie uns Vor-
teile am Markt verschaffen könnten. Features, die Verbesserungen oder Optimierungen
sind, kommen häufig von Tobias. Er hat den Einblick ins System und sieht im alltägli-
chen Betrieb, wenn Schwachstellen auftreten und Dinge nicht so laufen wie sie sollten.
Wir hatten am Anfang Problem damit unsere Storys zeitnah fertigzustellen. Es hat eigentlich nie
geklappt wie es sollte. Seit einem Jahr haben wir deshalb Peter Elsayeh im Team. Er sorgt als Head
of Development dafür, dass die Teams immer genau wissen, an was sie arbeiten müssen, und dass
sie nicht abdriften und an anderen Dingen arbeiten. Die Arbeit ist nun sehr zielgerichtet und es
klappt sehr gut.
Wie genau funktioniert dieses zielgerichtete Vorgehen? Wie schafft ihr es, den Fokus zu
implementieren?
Wir nutzen Kanban, ein Vorgehensmodell zur Softwareentwicklung. Außerdem haben wir
auch die Scrum-Methode getestet, aber Scrum hat für uns nicht funktioniert. Wir wollten uns
nicht mit den starren Regeln abfinden, die Scrum hat. Bei Kanban kann man wesentlich leichter
Anpassungen vornehmen. Außerdem tut sich Scrum schwer mit Unterbrechungen. Kanban
gewährleistet, dass wir nicht nur ein Stück Software entwickeln können, sondern sie auch 24/7
betreiben. Dabei gibt es regelmäßig Unterbrechungen. Am Anfang geht immer mal wieder etwas
kaputt und dann muss man reagieren können. Das war bei Scrum immer schwierig. Peter schaut
sich genau an, was funktioniert und was nicht. Er spricht mit den Leuten und versucht, den
Prozess weiterzuentwickeln. Viele Sachen machen wir ähnlich wie andere Leute, andere Sachen
machen wir unter Umständen gar nicht. Und ich denke, wir machen einige Dinge, die in anderen
Teams nicht funktionieren – aber bei uns.
Kannst du die Grundzüge von Kanban kurz umreißen?
Wir haben zwei Teams und einen Backlog, in dem die sogenannten Stories enthalten sind.
Die Stories werden von einem Team übernommen, welches sie dann in einzelne Tasks herunter-
bricht. Danach kommt das Team wieder zu uns und erklärt, was es verstanden hat. Pro Story ver-
suchen wir, die Komplexität zu schätzen und entscheiden danach, was wir machen und was nicht.
Wir wollen keine Zeit verschwenden. Unser Richtwert ist, dass eine Story eine Teamwoche sein
sollte.
Sobald das Team an einer Story arbeitet, gibt es jeden Morgen ein Standup mit allen Teams.
Jeder sagt, woran er am Vortag gearbeitet hat und was heute bei ihm ansteht. Wenn es Schwie-
rigkeiten gibt, werden diese auch benannt. Wir machen nicht gerne große Planungen, erwarten
nicht, dass Dinge an fixen Daten fertig sind. Manchmal sagen die Leute in den Teams zwar, dass
es gut wäre, eine Deadline zu haben. Gelegentlich setzten wir sie auch, aber grundsätzlich arbeiten
wir ohne Deadlines. Wenn allerdings ein Kunde ein Anliegen hat, beispielsweise weil irgendetwas
kaputt gegangen ist, sagen wir ihm meistens auch, dass es bis zu einem gewissen Zeitpunkt fertig
ist. Diese Deadline wird auch intern kommuniziert. Dann wissen unsere Leute, dass sie in den
Tagen vorher vielleicht noch einige Stunden dranhängen müssen.
Philipp Strube 47
48 cloudControl

Wenden wir den Blick nach außen: Ihr wart auf externes Kapital angewiesen. Wie seid ihr
an euren ersten Business Angel gekommen?
Unser erster Angel war Thomas‘ ehemaliger Chef von der UBS. Die UBS war kurz
vor der Finanzkrise an irgendeinem großen Börsengang dran, der abgesagt wurde. Dar-
über kam es wohl zu einigen Entlassungen. Bei einem Wiedersehen zum Abendessen gab
es die typischen Gespräche, wer gerade was macht. Thomas hat erzählt, dass er mit zwei ehe-
maligen Schulkollegen ein Tech-Startup gegründet hat. Daraufhin sagte sein Ex-Chef:
„Klingt spannend. Ich möchte investieren.“ Und so kamen wir zu unserem ersten Angel.
Das Ganze hat allerdings seine Zeit gedauert. Das erste Investment haben wir 2010 bekommen,
vorher haben wir vergeblich versucht, Investoren zu überzeugen. Bei Erfolgsgeschichten hört es
sich im Nachhinein immer so an, als ob alles wie am Schnürchen geklappt hätte. Meistens ist das
aber nicht so. Wenn man es mal geschafft hat, ist das eine viel interessantere Geschichte, darüber
schreiben die Medien gerne. Aber in Wirklichkeit gibt es vorher eine sehr, sehr lange Durststrecke
und es wird meistens immer schlimmer, bis zu dem Punkt, wo es plötzlich wirklich gut wird.
Manchmal weiß keiner, warum es mit einem Mal klappt. Ganz oft klappt es auch einfach gar nicht.
Und so war das auch bei unserem Fundraising. Wir sind herumgelaufen und hatten mittlerweile
auch gesehen, dass es weitere Anbieter gibt. Das Feedback, das wir bekamen, lautete oft: „Naja,
billiges Hosting braucht doch keiner. Gibt es genug.“ Nicht zuletzt aufgrund unserer mangelnden
Erfahrung haben wir es nicht verstanden, mit der richtigen Antwort darauf zu reagieren. Deshalb
hat es – glaube ich – so lange gedauert, ein Investment zu finden. Wir waren einfach unerfahren.
Natürlich haben wir uns gefragt, warum unser erster Angel damals bei uns eingestiegen ist. Der
Grund ist wohl, dass er irgendwann einmal eine ähnliche Idee hatte und in uns dreien wohl
ein Team sah, das eine solche Idee umsetzen wollte. Wir haben am Anfang überoptimiert. Statt
einer Gesellschaft haben wir fünf gegründet. Jeweils eine Holding-Gesellschaft pro Gründer und
Angel, die dann die Anteile an der eigentlichen Gesellschaft halten. Das hat zwar dank Unter-
nehmergesellschaft (UG) (haftungsbeschränkt) nur relativ wenig Geld, aber dafür viel Zeit und
Nerven gekostet. Man sagt ja immer, dass man bei Technik nicht überoptimieren soll. Dies trifft
wohl auch auf die Gesellschaftsstruktur zu, ob der vermeintliche Steuervorteil solcher Holding-
Gesellschaften jemals eintritt, kann man nicht wissen. Ich kann nicht sagen, ob ich es nochmal so
machen würde. Auch unser erster Beteiligungsvertrag war ein Riesendokument, 1 000 Regeln für
alles Mögliche standen darin. Dann kamen die Investoren, und wir haben ohnehin einen neuen
bekommen. Dass das so läuft, wusste ich damals nicht. Gerade am Anfang lernt man kontinu-
ierlich dazu.
Neben dem Angel Investment habt ihr euch um weiteres Venture Capital bemüht. Wie lief
das ab?
Wir haben zunächst alle Connections, die wir hatten, „angezapft“, und uns überall Intros geben
lassen, nach Möglichkeit zwei. Und dann bin ich durch die Gegend gefahren und habe gepitcht
– auch in London, aber da haben wir es nicht geschafft. Meistens kam das Feedback, dass wir ein
zu unerfahrenes Team seien und die Investoren aus London aufgrund der Entfernung nicht genug
Mehrwert bieten könnten. Viele hatten auch Bedenken, weil ihrer Ansicht nach das Cloud-Thema
von den USA dominiert werden würde, und sie sich scheinbar nicht so recht herangetraut haben.
Im Endeffekt haben die Investoren wohl mit ihrer Erfahrung unsere Unerfahrenheit „gerochen“
und im Zusammenhang mit dem technisch anspruchsvollen Thema lieber Abstand gehalten.
Wir konnten schon ganz zu Beginn Philipp Möhring von Seedcamp für uns gewinnen. Er ist
einer meiner Freunde aus der Zeit in Köln und hat zum damaligen Zeitpunkt für DuMont
Ventures gearbeitet. Er hat ganz zu Anfang Anteile bekommen und war als unser Berater mit
dabei. Ihn zu überzeugen, war nicht schwer. Als ich ihm erzählte, was wir vorhaben, sagte er,
Philipp Strube 49

dass es eine großartige Idee sei, die wir umsetzen sollten. Über einen Freund von ihm, der in
Berlin bei einem Venture Capitalist (CV) arbeitet, die viel Cleantech- und Medtech-Sachen
machen, wurde ich auch dort zum Pitchen eingeladen. Sie sagten danach, dass die Idee zwar
gut klinge, aber für sie zu softwarelastig sei. Aber sie empfohlen uns die Investitionsbank Berlin,
mit der sie schon viele Investments gemacht hätten, und die fänden unsere Idee sicher gut.
Die Investitionsbank Berlin hat zwei Arme: IBB Kreativ und Technologie. In den beiden Fonds ist
hauptsächlich EU-Geld zum Investieren. Für den Technologie-Arm trifft in erster Linie Clemens
Kabel die Investmententscheidung – und Clemens Kabel ist Informatiker. Es war also das erste
Mal, dass jemand bei einem Pitch so richtig verstanden hat, was wir von ihm wollen mit unserem
extrem technischen Produkt. Das war natürlich gut für uns, und noch dazu fand er unsere Idee sehr
spannend. Er hat dann auch relativ früh gesagt, dass sie sich vorstellen könnten, das Investment
zu machen. Allerdings kann die IBB nur mit einem privatwirtschaftlichen Partner investieren und
noch dazu gab es gesonderte Regeln bei staatlichem Geld. Die IBB hat einen weiteren VC Creathor
Ventures vorgeschlagen, im Speziellen Christian Stein, der jetzt auch unser Investment Manager
ist. Er hatte uns zuvor schon mal bei einem Seedcamp-Event in Berlin pitchen sehen. Damals, im
Gespräch, sagte er noch schnell: „Nein, viel zu früh, sucht euch erst einmal einen Angel. Nach
dem IBB Intro circa zwei Jahre später rief er mich erneut an und beglückwünschte uns, dass wir
schon so weit gekommen wären. Ja, und danach ging alles ziemlich schnell mit dem Investment.
Man muss wissen: Bei einem Investor heißt das erste Nein nicht unbedingt dauerhaft nein. Und:
Meistens pitcht man bei den VC-Gesellschaften einen der Partner, der das Investment dann im
Kreis der anderen Partner vorstellt. Dann funktioniert es ein bisschen so wie in einer Kanzlei. Der
Partner muss die Sache vor den anderen Partnern durchsetzen. Und unter Umständen schafft er
das vielleicht nicht, obwohl er selbst den Deal hätte machen wollen. Aber weil das eben Gremie-
nentscheidungen sind, ist das so. Mal klappt es, mal klappt es nicht. Und bei uns hatte es diesmal
eben geklappt. Die Zusammenarbeit ist bis heute sehr gut.
Wie genau funktioniert die Zusammenarbeit zwischen euch und den VCs? Gibt es konkrete
Zielvorgaben? Und: Welche Rolle spielt Umsatz?
Es gibt feste Zielvorgaben – und Tranchen, die am Anfang der Ziele nach ausgezahlt
werden. Als Key Performance Indicator (KPI) hatten wir fast immer Umsatz mit drin. Im Nach-
hinein, würde ich das aus Gründersicht aber versuchen zu vermeiden – vor allem so früh. Das
ist eine große Debatte. Es gibt viele dieser vermeintlich „gehypten“ Berliner Startups, die für
viel Visibilität sorgen, auch für die gesamte Berliner Szene. Ein Beispiel ist die Empfehlungs-
plattform Amen, die in der Berliner Szene vor dem Start sehr gehypt wurde. Den hohen
Erwartungen konnte sie aber nicht gerecht werden und wurde mittlerweile von tape.tv über-
nommen. Daraufhin wurden die Gründer eher belächelt, da ist viel Spott und Häme dabei.
Leider ist ein solches Verhalten in Deutschland üblich – was ich persönlich nicht gut finde.
Die Lehre, die nun aus solchen Geschichten oft vermeintlich gezogen wird, ist, früh Umsätze zu
machen, doch ich denke, so pauschal kann man das nicht sagen. Es kommt darauf an, was man
bauen will. Gerade bei Startups, die wie wir an Entwickler verkaufen, ist die Herausforderung,
das Produkt überhaupt erst einmal zu entwickeln und zu bauen. Und ich bin nicht der Meinung,
dass man ein solches Produkt bauen kann, wenn man von Anfang an Umsätze erzielen muss. Das
ist einfach unmöglich. Ich würde deshalb auch sagen, dass wir zu früh Umsätze gemacht haben.
Wir konnten relativ früh einen großen Kunden gewinnen. Das ist natürlich auf der einen Seite
gut. Allerdings haben wir dann zum einen verschiedene Dinge, die unsere Technik noch nicht
leisten konnte, manuell für ihn gemacht. Aus dieser Mühle wieder herauszukommen, ist extrem
schwierig. Noch dazu hat der Einfluss dieses großen Kunden dazu geführt, dass verschiedene Wege,
die wir mit der Technologie hätten gehen können, nur in eine bestimmte Richtung gegangen
50 cloudControl
Philipp Strube 51

wurden. Es war die Richtung, die primär für diesen Kunden gut war, aber nicht zwangsläufig auch
für zukünftige Kunden. Aber genau das wäre natürlich auch mehr in unserem Interesse gewesen.
Wenn man das nun erzählt, klingt es natürlich irgendwie seltsam, immerhin hatten wir ja einen
Großkunden mit viel Geld. Aber: Man muss auch einmal nein sagen. Dieser kluge Ratschlag stimmt
tatsächlich. Im Nachhinein denke ich wirklich, es wäre für uns besser gewesen, bei den ersten VC-
Runden keine Umsätze, anstatt geringe Umsätze gehabt zu haben. Oft erreicht man nicht das
Wachstum, was man hätte erreichen müssen. Und dann verfehlt man auch mal seinen Meilenstein.
Ich frage mich übrigens immer, ob es überhaupt jemanden gibt, der seine Meilensteine immer
erreicht. Sicher ist: Bei dem Thema ist nichts in Stein gemeißelt. Man muss sich offen darüber
unterhalten und meistens, das ist etwas, was man den Investoren anrechnen muss, pochen sie nicht
auf die Ziele, so nach dem Motto: „Ihr habt das Ziel nicht erreicht, also gibt es kein Geld.“ Man
unterhält sich vernünftig und versucht, zu verstehen, warum es nicht geklappt hat. Danach ver-
sucht man für die Zukunft gemeinsam daraus zu lernen. Man sitzt am Ende ja im gleichen Boot.
Für Startups empfehle ich, zu versuchen, keine Ziele aufgezwungen zu bekommen, die einen zu
sehr in eine bestimmte Richtung zwängen. Man weiß nie, was zwischen jetzt und dem Ziel passieren
kann. Unter Umständen zeigt sich, dass man die völlig falsche Richtung eingeschlagen hat. Aber
man ist dann gezwungen, trotzdem in diese Richtung zu laufen, um das Ziel zu erreichen. Umso
jünger ein Startup ist, desto mehr Unbekannte. Deshalb sollte man sich vor solchen Zielen vor allem
am Anfang schützen. Auch hier gilt: Wenn man ein gutes Verhältnis zu seinen Investoren hat, kann
man sich im Optimalfall noch einmal darüber unterhalten, ob das Ziel nicht doch das falsche war.
Ziele können übrigens auch kleinere Dinge sein. Der erste Meilenstein mit unserem Business
Angel war, dass wir ein Büro gefunden haben.
Was ist eure Strategie, Kunden zu gewinnen?
Gerade am Anfang ist es für ein Startup, das an Entwickler verkauft, ganz wichtig, darauf
zu achten, wie genau die Anwender das Produkt nutzen und welche Eigenschaften zu wirklich
aktiven Nutzern führen. Das Platform-as-a-Service-Thema ist für viele Entwickler völlig neu,
es wird viel ausprobiert. Unsere Strategie ist: Wir machen das Produkt so einfach wie möglich.
Derjenige, der es ausprobiert, hat dadurch schnell ein Erfolgserlebnis und sieht, wie gut unser
Angebot ist. Wenn er dann irgendwann ein Projekt hat, bei dem er mehr Leistung als kostenlos
inklusive und/oder Support benötigt, fängt er an, für unseren Service zu zahlen.
Wie habt ihr sichergestellt, dass die unterschiedlichen Anforderungen der Entwickler ab-
gebildet werden? Habt ihr euer Produkt direkt in Zusammenarbeit mit den Entwicklern
weiterentwickelt?
Wir wollten unbedingt ein offenes System bauen, das die Leute nicht zwingt, ihre Arbeitsweise
an unsere Plattform anzupassen. Wir sind live gegangen und haben gewartet, ob die Leute genauso
damit zurechtkommen, wie wir uns das vorgestellt hatten. Wir wollten einfach schauen, was passiert.
Wenn man früher Software kaufen wollte, hatte man verschiedene Hemmschwellen. Ganz zu Anfang
gab es nie Software, die man bekommen hat, um sie auszuprobieren. Dann hat die Freeware-Idee
den Markt massiv verändert. Zuletzt gab es ein Hardwareproblem, denn es war schwierig, gerade
in großen Unternehmen einfach mal Hardware zu bekommen, um etwas auszuprobieren. Die
Cloud hat das geändert. Man kann also sagen, dass sich die Art, wie Software gekauft wird, über die
Jahre, massiv verändert hat. Die Dinge wandelten sich immer mehr vom Prinzip „Es rennt jemand
mit Schlips und Anzug herum und macht den typischen Wine and Dine“, hin zu einer Philoso-
phie „Der Entwickler probiert erst einmal etwas aus und dann verkauft man es von innen heraus.“
Wir glauben: Wenn man an Entwickler verkauft, macht es Sinn, zunächst einmal mit ihnen zu
arbeiten. So kann das Produkt durch die Nutzer lernen und kontinuierlich verbessert werden.
52 cloudControl

Erst danach kann man versuchen, Sales zu skalieren, sich ein Sales-Team an Bord zu holen und
das ausgereifte Produkt an Kunden zu bringen. Ich muss ehrlich sagen: Wir sind noch nicht
an dieser Stelle. Es ist auch noch kein anderer Service-Plattform-Anbieter an dieser Stelle. Die
Herausforderung scheint zu sein, dass es mit Public-Platform-as-a-Service relativ schwierig ist,
große Umsätze zu machen. Dem gegenüber steht aber die Tatsache, dass Public-Platform-as-a-
Service ein wichtiger Teil des Cloud-Computing-Kontextes ist. Es gibt Analysten, die urteilen,
wie extrem wichtig solche Angebote sind. Der kleine Umsatz würde den wahren Wert von Plat-
form-as-a-Service in keiner Weise widerspiegeln. Aber genau da liegt unsere Herausforderung:
Wir müssen langfristig Umsätze machen und können nicht ewig vom Geld der Investoren leben.
Wie wollt ihr euch im Markt positionieren, insbesondere mit Hinblick auf große Cloud-
Service-Anbieter, die eigene Rechenzentren betreiben?
Wir haben analysiert, wo unsere Stärken und Schwächen sind und wissen, dass unsere Tech-
nologie am Markt sehr gut mithalten kann. Es gibt einige Punkte, die besser sind als bei unseren
Konkurrenten, bei anderen Aspekten haben wir dagegen Nachbesserungsbedarf. Auch wissen wir,
dass wir eines der Unternehmen weltweit sind, das in diesem Markt mit als Erstes mitgemischt
hat. Wir haben also bereits sehr viel Erfahrung gesammelt. Allerdings sind wir nicht in der Lage,
selbst ein globales Netzwerk an Rechenzentren aufzubauen. Dafür sind wir einfach zu klein. Des-
halb verfolgen wir nun unseren White-Label-Ansatz. Wir wollen versuchen, unsere Technologie
und operative Erfahrung anderen Service Providern anzubieten, diese dann zu betreiben und den
Partner Vertrieb und Marketing unter ihrer eigenen wesentlich stärkeren Marke zu überlassen.
War die White-Label-Lösung und der Blick auf Corporate-Kunden bereits Teil eures ur-
sprünglichen Businessplans?
In unserem ersten Businessplan, der ansonsten übrigens völlig unbrauchbar war, stand der
Begriff White Label bereits drin. Aber das ist auch kein großes Kunststück, denn es ist immer so.
Wenn ich eine Technologie baue, kann ich sie entweder unter der Eigenmarke anbieten oder sie
einem anderem geben. Aber unsere Überzeugung war und bleibt: Public First. Das direkte Feed-
back von den Nutzern ist für uns immens wertvoll. Wenn man sich unser jetziges Produkt im
Detail anschaut, sieht man, dass es ein sehr hohes Niveau hat. Darauf bin ich sehr stolz. Es kann
ohne Probleme mit den großen Platform-as-a-Service-Anbietern mithalten. Und ich glaube, das
ist eben genau darauf zurückzuführen, dass wir immer gesehen haben, was die Leute wollen und
gerade machen, und im Blick hatten, in welche Richtung sich unser Angebot entwickeln muss.
Viele große Enterprise-Kunden haben Platform-as-a-Service bis heute nicht verstanden. Nur
relativ wenige große Unternehmen wie Google, Yahoo oder Facebook haben selbst das Know-
how, wie man Anwendungen in „Web-scale“-Größe betreibt. Platform-as-a-Service versucht, die
Erfahrungen aus dem Betrieb großer Internetplattformen in einen einfachen Werkzeugkasten für
Entwickler zu packen, den diese dann im Rahmen ihres agilen Entwicklungsprozesses nutzen
können. Aber gerade solche agilen Entwicklungsprozesse umzusetzen, ist immer noch ein politi-
sches Problem in vielen Unternehmen. PaaS ja oder nein ist da erst die nächste Frage. Viele sind
einfach noch nicht so weit.
Welchen Mehrwert könnt ihr Unternehmen bieten und wie unterscheidet ihr euch vom
Wettbewerb?
Wir bieten viel Best Practice und eine gute Vorauswahl der Tools. Hierbei hilft uns erneut
das direkte Feedback der Nutzer. Außerdem funktioniert unsere Strategie, dass Cloud unserer
Ansicht nach nur als Public Cloud Sinn macht. Denn die meisten Vorteile, die man durch Cloud
hat, insbesondere Ressourcen nur dann zu bezahlen, wenn man sie braucht, hat man in einer Pri-
vate Cloud nicht. Man müsste erst einmal alle Server kaufen und die stehen dann da und kosten
Philipp Strube 53

Geld, selbst wenn ich sie nicht benutze. Noch dazu muss eine Menge Hardware gekauft werden.
Momentan ist es so: Wenn wir mit Service-Providern über das White Label sprechen, kommt
uns zugute, dass unsere Konkurrenten alle auf Private Cloud ausgerichtet sind. Man muss
sich als Public-Cloud-Anbieter aber davor schützen, dass eine Anwendung die andere Anwen-
dung durch einen Fehler oder einen Angriff negativ beeinflussen kann. Bei uns sind die
Dinge anders: Bei jedem Kunden, der sich registriert, müssen wir zunächst einmal davon aus-
gehen, dass er ein potenzieller Angreifer ist. Deswegen haben wir viel Zeit in die Sicherheit
investiert. Wir haben viele Funktionalitäten, die auf den Public Cloud Use Case ausgerichtet
sind. Das ist enorm wichtig, wenn man ein Public-Platform-as-a-Service-Angebot betreibt,
wir profitieren davon. Denn wenn ich mit den Service-Providern spreche, wissen sie, dass
bei cloudControl alle wichtigen Dinge schon enthalten sind und die Technologie frei Haus
kommt. Die Alternative für sie ist, viel selbst zu machen. Das ist dann zwar vielleicht Open
Source, aber es ist nicht kostenlos, weil noch eine Menge Arbeit hineingesteckt werden muss.
Ich glaube, bei uns funktioniert alles so gut, weil wir viele Jahre Erfahrung im Umfeld von Public-
Platform-as-a-Service-Angeboten mitbringen. Unser Angebot ist sehr fokussiert und wir treiben
es zielgerichtet und in Abstimmung mit den Anforderungen, die wir bei Kunden sehen, voran.
Der Blick in die Zukunft sieht meiner Meinung nach auch gut für uns aus. Ich habe während
meines USA-Aufenthalts mit allen möglichen Leuten gesprochen, um Feedback zu bekommen.
Die Reaktionen waren sehr positiv. Wir haben auch ein sehr gutes Analysten-Feedback bekommen.
Das Interesse vor Ort war sehr groß.
Mit eurem Wachstum brauchtet ihr weitere Mitarbeiter. Wie rekrutiert ihr?
Leute einzustellen, ist für mich nach wie vor eine der schwierigsten Aufgaben. Anfangs
wusste ich natürlich gar nicht, wie man das macht. Welche Fragen muss ich stellen? Welche
Aspekte sind wichtig? Durch die ersten Gespräche musste ich mich wirklich „durchhangeln“.
Aber zum Glück waren die Ergebnisse meistens ganz gut. Der erste Mitarbeiter, den wir einge-
stellt haben, war Matthias. Er war PHP-Entwickler und hatte früher bei StudiVZ gearbeitet. Es
lief über den klassischen Weg und ging ziemlich fix: Wir hatten eine Jobanzeige gepostet, Mat-
thias hat sich beworben, kam aus Potsdam vorbei, war uns sympathisch und wurde eingestellt.
Mittlerweile haben wir unsere Recruiting-Strategie aber geändert. Für Entwickler haben wir Pro-
grammiertests. Wer sich bei uns bewirbt, bekommt als allererstes mehrere Aufgaben zugeschickt,
die gelöst werden müssen. Meistens gibt es drei Fragen, für jede hat man 30 Minuten Zeit und
am Ende gibt es eine Punkteanzahl. Es ist eine gute Sache, denn es ist extrem schwierig, Tech-
niker anhand ihres Lebenslaufes zu bewerten. Da steht immer drin, man könne alles. Beein-
druckende Zertifizierungen allein reichen uns aber nicht. Deshalb testen wir das Können lieber
direkt. Bis heute wird bei uns jeder, der neu eingestellt wird, einem solchen Praxistest unterzogen.
Die Bewerbungsprozesse für Entwickler machte unser Head of Development. Er baut auch die
Teams auf. Aus seiner vorherigen Laufbahn hat er ein sehr ausgeklügeltes System mitgebracht
und hat eine große Kompetenz beim Thema Recruiting. Genau deshalb haben wir ihn auch
eingestellt.
Neben dem Recruiting: Welche weiteren Herausforderungen gibt es beim Teamaufbau?
Wir sind mittlerweile auf mehr als 20 Mitarbeiter gewachsen. Vor allem bei der Kommunika-
tion wird es da irgendwann schwierig. Wenn man zu zweit oder zu dritt ist und an etwas arbeitet,
weiß immer jeder, wo der andere gerade dran ist oder nicht dran ist. Man muss keine großen
Methoden und Vorgehensweisen anwenden. Aber als wir dann mehr Mitarbeiter wurden, brach
Chaos aus. Nichts ging mehr voran. Wir haben uns via Internet schlau gemacht und sind auf die
Methoden Scrum und Kanban gestoßen.
54 cloudControl

Ich konnte mir am Anfang nicht vorstellen, wofür man in einem Unternehmen über-
haupt so viele Leute braucht. Mittlerweile weiß ich, dass es extrem schwierig ist, Leute zu
finden, die an mehreren Sachen gleichzeitig arbeiten können. Das soll nicht abwertend klingen,
die Erkenntnis ist vielmehr, dass die Resultate besser sind, wenn ein Mitarbeiter eine ganz
bestimmte Zuständigkeit hat. Dann kann er sich darauf konzentrieren und seine Sache richtig gut
machen. Und deswegen braucht es so viele Leute. Aber das muss natürlich koordiniert werden.
Bei uns gibt es bereits jetzt relativ viel zu besprechen – zu viel, meiner Meinung nach. Wie gehen
wir weiter vor? Wer macht wann was? Was ist das nächste Ziel? Dabei sind wir noch nicht einmal
richtig groß und das Thema Kommunikation und Koordination wird immer schwieriger, je mehr
Leute dabei sind. Selbst Kleinigkeiten wie Titel spielen eine Rolle. Wenn ein Unternehmen größer
wird, wollen die Mitarbeiter ihre Leistung innerhalb des Unternehmens bewertet sehen. Es muss
Ziele geben, die erreicht werden können, und Wege geben, um die Karriereleiter hochzuklettern.
Auch Feedback ist ein großes Thema. Bei wem hole ich mir das ein? Hierarchien sind meiner
Ansicht nach leider noch sehr wichtig. Wenn man lauter Head of xy hat, regiert das Chaos.
Wie motiviert ihr eure Mitarbeiter, welche Incentives bietet ihr?
Das ist ein ganz schwieriges Thema. Eigentlich ist unser Weg die Beteiligung am Unterneh-
menserfolg in Form von Anteilen. Aber dieses Angebot wird nicht wirklich angenommen, es
ist in Deutschland nicht akzeptiert. Der Wert wird nicht erkannt. In den USA ist die Beteili-
gung extrem anerkannt. Aber es herrscht auch die Meinung vor, dass Startups funktionieren
können. Sie haben ein sehr hohes Ansehen. Es gibt in den USA nun einmal diese großen
Erfolgsgeschichten. Als Google an die Börse ging, wurde beispielsweise ein Koch zum Milli-
onär, weil er Unternehmensanteile hatte. Beim Exit von PayPal wurden auf einen Schlag
100 Leute Millionäre. Viele sind reich geworden mit Startups. Und diese Leute verstehen,
wie das System funktioniert. Sie nehmen einen Teil des Geldes und investieren es wieder
in neue Startups. Dadurch wächst auch das Ökosystem dort viel schneller als bei uns. Bei
uns werden maximal die zwei, drei Gründer Millionäre, wenn sie erfolgreich verkaufen. Das
Geld, das sie dann wieder investieren können, ist begrenzt. Die deutsche Zurückhaltung beim
Thema Unternehmensbeteiligung schadet meiner Meinung nach dem gesamten Ökosystem.
Wir hätten unseren Mitarbeitern gerne von Anfang an Anteile gegeben. Einzelne, aus dem
höheren Management, haben zwar Anteile, aber es ist nicht so, dass man bei Entwicklern auf
breite Akzeptanz stößt. 0,5 Prozent an einem Unternehmen sind nach Ansicht vieler nichts wert.
Die Aussage ist meistens: Nein, ich möchte keine Anteile, ich möchte lieber mehr Gehalt. Ich
finde das sehr schade, aber noch ist es so. Aber: Gut für uns! Wir haben von Anfang an immer
ordentliche Gehälter bezahlt. Wir konnten das zum Glück. Ich denke aber, dass sich diese zurück-
haltende Haltung der Beteiligung gegenüber ändern wird. Wenn das deutsche Ökosystem weiter
wächst, kommt es zu mehr Exits und mehr Erfolgsgeschichten. Und dann verstehen die Leute,
dass aus wenigen Anteilen wirklich eine große Sache werden kann.
Wie beurteilst du die deutsche Startup-Infrastruktur im Vergleich mit dem Silicon Valley?
Ich kenne die deutsche Szene ganz gut. Auch durch meine Funktion als Mentor bei den
Startup-Programmen Bootcamp, Seedcamp und bei Hubraum von der Telekom. Momentan
herrscht ein ziemlicher Hype. Ich habe das Gefühl, dass jeder seinen eigenen Accelerator hat.
Doch in den USA habe ich Einblick in die Mentoren-Programme bekommen, die Startups dort
bekommen können. Und ich kann sagen: Ich bin nachhaltig beeindruckt, welches Know-how
von den Amerikanern zur Verfügung gestellt wird. Es ist ganz einfach durch Gespräche abrufbar.
Die Deutschen sind dagegen nicht gut darin, sich einfach mal bei einem Kaffee hinzusetzen und
über das ein oder andere Thema zu sprechen. Das machen wir einfach nicht – oder nur sehr
Philipp Strube 55
56 cloudControl

selten. Ich habe allerdings das Gefühl, dass es in Berlin noch besser ist als in anderen Teilen von
Deutschland. Es ist kurzfristig möglich, ein Meeting zu bekommen. Das ist ein Vorteil von Berlin,
und der Hype trägt sicher zu der Entwicklung bei. Aber wenn ich im Silicon Valley jemanden
treffen wollte, selbst Köpfe aus dem High-Level, saß ich meistens schon eine Woche später in
einem Meeting mit diesen Personen. Es scheint im Silicon Valley eine ungeschriebene Regel zu
sein, dass niemand zu dem nächsten großen Ding nein gesagt haben will. Und deshalb funktio-
niert die Kommunikation extrem gut. Du triffst dich und erzählst deine Geschichte. Wenn sie gut
ankommt, drehst du das Rad eine Stufe weiter und fragst, ob dein Gegenüber zwei weitere Kon-
takte hat, für die deine Idee interessant sein könnte. Und wenn dir dein Gesprächspartner zuge-
neigt ist, stellt er dich gerne zwei anderen vor. Warum? Wenn die Idee für seinen Kontakt interes-
sant ist, hat er selbst am Ende auch etwas davon, wenn er damals die Erst-Connection hergestellt
hat. Es ist ein prima Kreislauf. Alles kommt irgendwann wieder zurück. Bis wir in Deutschland
soweit sind, wird es noch eine Weile dauern. Auch weil wir noch gar nicht die Leute haben, die
solche Gründungserfahrungen schon 20 Mal durchlaufen haben. Aber ich denke auch hier: Das
kommt noch.
Philipp, herzlichen Dank für das Gespräch.
Delivery Hero
Nikita Fahrenholz und Claude Ritter
4

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_4,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
58 Delivery Hero

Von 0 auf 500 Millionen Dollar Umsatz


in drei Jahren
Essen per Mausklick: Im Oktober 2010 haben sich Nikita Fahrenholz, Claude Ritter und Markus
Fuhrmann gemeinsam mit dem Risiko-Kapitalgeber Team Europe vorgenommen, den deutschen
Markt für Online-Essensbestellungen durcheinanderzuwirbeln – Lieferheld wurde geboren. Das
Trio übernahm für seinen Vorstoß ein Konzept, das Niklas Östberg mit seinem Team 2008 in
Schweden entwickelt hatte: eine Übersichtsplattform über Lieferservices, die es für die Schweden
einfacher und bequemer machte, sich Essen nach Hause bringen zu lassen. Das Konzept war auch in
Deutschland ein großer Erlog – trotz harter Konkurrenz. Dies war für Niklas Östberg und Markus
Fuhrmann, Venture Partner bei Team Europe, Motivation genug, das erfolgreiche Geschäftsmodell
gemeinsam mit Fahrenholz und Ritter unter dem Namen Delivery Hero zu einer internationalen
Marke auszubauen. Der Erfolg kam schnell: Delivery Hero ist inzwischen in 14 Ländern auf vier
Kontinenten präsent und zu einem der größten Online-Essensbestelldienste weltweit geworden.
Im Netzwerk des Unternehmens werden über 50 000 lokale Restaurants gelistet und es machte
bereits nach drei Jahren einen jährlichen Umsatz von knapp 500 Millionen US-Dollar.An jeder
Essensbestellung, die über eine der Plattformen generiert wird, verdient das Startup mit. Delivery
Hero zählt zu den Top-100-Unternehmen in Europa. Das Unternehmen wurde 2013 mit dem
Red Herring Award ausgezeichnet und war auf der Shortlist des GP Bullhound Summit.

In welcher Situation befandet ihr euch vor der Gründung und wie hat sich das Gründer-
team gefunden?
Nikita: Ich habe an zwei verschiedenen Universitäten BWL studiert, an der Lancaster Univer-
sity Management School in England und der deutschen European School of Business in Reut-
lingen. Nach meinem Abschluss 2009 arbeitete ich für ein knappes Jahr als Unternehmensbe-
rater bei McKinsey. Während meiner Tätigkeit für McKinsey habe ich mich Lukasz Gadowski
von Team Europe vorgestellt, ohne jedoch eine konkrete Gründungsidee im Auge zu haben. Wir
blieben lose in Verbindung und wenn Lukasz eine spannende Idee hatte, hat er mich angepingt.
Lukasz hat mir Markus Fuhrmann vorgestellt, der gerade Partner bei Team Europe geworden
war. Markus und ich fingen an, zusammen an der Lieferhelden-Idee zu arbeiten. Und eines Tages
sagte er, dass er mir Claude gerne einmal vorstellen möchte. Claude wäre der Richtige für unser
Vorhaben.
Claude: Ich kam zu Delivery Hero aus der Ferne. Ab 2005 habe ich in China gelebt und hatte
dort mit zwei Mitgründern eine Firma, die Dating-Webseiten erstellt hat. Das Unternehmen lief
sehr gut, aber nach vier Jahren bin ich gegangen. Ich habe ein neues Startup gegründet, wieder
in China, aber nach einem guten halben Jahr ging uns das Geld aus und wir bekamen keine
Nikita Fahrenholz und Claude Ritter 59

Finanzierung mehr. Über ein Barcamp, das wir bei uns im Office gehostet haben, lernte ich
Markus kennen und wir blieben seit dem in Kontakt. Im Spätsommer 2010 rief er mich an und
sagte, ich solle nach Berlin kommen. Er war der Ansicht, dass mein aktuelles Startup keine Pers-
pektive habe und er eine viel bessere Idee in petto hätte. Ich war nicht uninteressiert und telefo-
nierte mit Lukasz über die Offerte. Daraufhin bin ich nach Berlin geflogen. Es war sehr amüsant:
Markus hatte mich zum Hackeschen Markt in irgendeine Kneipe gelotst und plötzlich stand da
Nikita. Ich war der Typ „Internetfuzzi“, Nikita mehr die Marke „Berater“ – und so sah er auch
aus. Markus ging dann und wir beide saßen uns gegenüber wie bei einem Blinddate. Bei ein paar
Bierchen kamen wir rasch ins Gespräch und schnell war klar: Wir machen das Ding zusammen.
So habe ich meine Zelte in China abgebrochen und bin – nach einem kurzen Zwischenhalt bei
meinen Eltern in der Schweiz – nach Berlin umgezogen. Dann ging es eigentlich ab Tag eins ab
wie eine Rakete.
Was war der nächste Schritt, nachdem ihr euch gefunden hattet, wie habt ihr euer Unter-
nehmen zum Laufen gebracht?
Nikita: Wir bekamen eine Startfinanzierung von Team Europe und haben Ende September
2010 die GmbH gegründet. Im nächsten Schritt ging es darum, wie wir das Produkt aufsetzen.
Wir kauften dazu eine Lizenz von einer Software der Firma mjam in Österreich. Auf Basis dieser
Software wollten wir uns weiterentwickeln. Operativ ging es danach Schlag auf Schlag. Wir
mussten Restaurants akquirieren, Leute einstellen, Menüs abtippen und so weiter und so weiter.
Und das Ganze fand unter ziemlichem Zeitdruck statt: Die Seite sollte am 22. November 2010
live gehen, unser Zeitfenster war also nicht sonderlich groß. Aber wir haben es geschafft und sind
mit 300 Restaurants an den Start gegangen.
Wann ist Fabian Siegel, Euer erster CEO, zu euch gestoßen?
Nikita: Er kam im November 2010 dazu, gehörte aber nicht zum Gründungsteam.
Die Softwareplattform ist ein Kernelement eures Startups. Warum habt ihr sie dazugekauft
und nicht selbst entwickelt?
Claude: Unser Motto war: „Head down und go“. Wir hatten schlichtweg keine Zeit, um selbst
zu entwickeln. Ich habe schon Community-Seiten mit mehreren Millionen Mitgliedern gebaut
und mir war klar, dass wir ein halbes Jahr nichts anderes machen würden als das, wenn wir alles
selbst aufsetzen. Es war einfach keine Option zu diesem Zeitpunkt. Es gab bereits Pizza.de und
Yourdelivery.de, die heute Lieferando heißen. Wir sind also spät in den Markt eingetreten und
uns war bewusst, dass wir sehr schnell loslegen müssen, wenn wir eine Chance haben wollen.
Ich bin ein Produkt- und IT-Typ und ich liebe schön designte Plattformen, aber am Ende des
Tages müssen sie erst einmal funktionieren – egal wie. Wir wussten, dass die Software von mjam
passabel war, wenn sie auch nicht die Super-Profi-Software gewesen ist. Also haben wir gesagt:
„Okay, nehmen wir diese Plattform, legen ein Skin mit unserem Logo drauf und los geht es.
Nikita: Gerade in der Anfangszeit war einer der größten Lernpunkte: Es ist besser, mit einem
unfertigen Produkt an den Markt zu gehen, damit Daten zu sammeln und dann auf dieser Basis
Entscheidungen über die nächsten Schritte zu treffen.
Wie seid ihr auf den Namen „Lieferheld“ gekommen?
Claude: Markus hatte die GmbH ursprünglich „mjam“ genannt. Wir wollten den Begriff
natürlich nicht haben, weil wir ihn nicht sexy fanden. Als ich noch in der Schweiz bei meinen
Eltern war, hatten wir schon einmal über den Namen „Lieferprinz“ gesprochen. Nikita sagte
damals aber, dass sich das nicht wirklich cool anhören würde.
60 Delivery Hero

Nikita: Wir hatten eine ziemlich lange Liste mit Namen, auch „Lieferando“ stand darauf.
Aber wir haben den Namen aussortiert. Eines Abends saß ich dann mit meiner Freundin bei einer
Flasche Wein zusammen, ziemlich genervt, weil wir immer noch keinen Namen für die Firma
gefunden hatten – und da kam mir plötzlich Lieferheld in den Sinn.
Claude: Allen gefiel der neue Name und so haben wir unser Startup umgetauft. Allerdings: In
den Quellcodes von Lieferheld steht teilweise noch Lieferprinz, beispielsweise im CSS File.
Wie habt ihr es geschafft, Lieferanten und Kunden gleichzeitig auf eure Plattform zu
bekommen?
Nikita: Unsere Wettbewerber haben Autos geleast, sind damit zu den Lieferdiensten in
Deutschland gefahren und haben ihre Plattformen vorgestellt. Wir haben uns gegen einen sol-
chen Field Sales Approach entschieden und stattdessen einen Telefonvertrieb eingerichtet. Wir
haben Lieferanten angerufen, uns vorgestellt und gefragt, ob sie mit uns auf der Plattform zusam-
menarbeiten wollen. Dann begannen wir damit, den Interessierten eine kostenlose Testphase zur
Verfügung zu stellen, damit sie das Produkt kennenlernen konnten. Nachdem sie auf diese Weise
einige Sales generieren konnten, haben wir kostenpflichtige Verträge mit ihnen abgeschlossen.
Claude: Endkunden zu gewinnen ist letztlich eine Frage des optimalen Einsatzes des Marke-
tingbudgets. Wir sind eine sehr zahlengetriebene Firma und haben früh angefangen, zu schauen,
in welche Marketingkanäle wir investieren. Wir haben uns sehr bewusst überlegt, wie viel Geld
wir in welchen Kanal stecken müssen, um einen Kunden zu gewinnen. In den ersten zwei Jahren
haben wir beispielsweise keine Branding-Kampagnen mit Plakatwerbung oder ähnliche Aktionen
gestartet.
Nikita: Wir haben viel experimentiert. Wir sind zum Beispiel zu einem Hertha-Fußballspiel
gegangen und haben 16 000 Flyer vor dem Stadion verteilt, wir haben eine große Bildboard-
Kampagne im U-Bahn-Schacht geschaltet – aber das hat alles nichts gebracht. Erst nach und nach
haben wir verstanden, an welchen Stellschrauben man bei der Kundengewinnung drehen muss
und lernten den Break-Even-Punkt eines Kunden zu beziffern. So entstand der optimale Mar-
ketingmix. Es war ein Lernprozess. Aber wir hatten dabei immer eine deutliche Haltung: Wenn
das Kostenmodell der Cost-Per-Acquisition, also der Kostenaufwand pro Kundengewinnung, zu
hoch war, haben wir es gelassen.
Im Mai 2011 wurde aus Lieferheld Delivery Hero. Wie lief das ab?
Claude: Niklas Östberg und Markus Fuhrmann waren beide Investoren von mjam. Durch die
Zusammenarbeit in der Startphase haben wir uns alle kennengelernt. Markus war definitiv eine
Schlüsselfigur bei der Konzeption von Delivery Hero.
Nikita: Wir hatten eine klare Aufgabenverteilung: Niklas, der mit der schwedischen Bestell-
service-Website erfolgreich nach Finnland, Österreich und Polen expandiert ist, sollte sich um die
Internationalisierung kümmern. Das deutsche Geschäft, das unser Part war, war zu diesem Zeit-
punkt gut angelaufen und wir hatten extrem hohe Wachstumsraten. Also haben wir Deutsch-
land zum Modell für die internationalen Märkte gemacht und die internationalen Auftritte scha-
blonenartig gebaut. Wir haben eine Holding gegründet, die Delivery Hero GmbH. Dort wurde
Lieferheld als 100-prozentige Tochter eingegliedert und ein gemeinsames Managementteam eta-
bliert. Mit dieser Struktur haben wir von unserem Berliner Büro aus die Arbeit aufgenommen.
Eure Internationalisierung startet in Australien, Russland und Mexico. Warum in diesen
Ländern?
Claude: Als wir die Firma gegründet haben, fiel die Entscheidung auf den Namen Liefer-
held, weil wir einen starken Fokus auf Deutschland hatten. Aber als wir begriffen, dass die Prin-
zipien und Mechanismen des deutschen Marktes auch international funktionieren, haben wir
Nikita Fahrenholz und Claude Ritter 61
62 Delivery Hero

sehr stark auf Expansion gesetzt. Wir haben international zwei Strategien verfolgt: zum einen
unsere „Fast-Follower“-Strategie, die beinhaltet, dass es schon Wettbewerber im Zielmarkt gibt.
Das Geschäftsmodell ist den Lieferdiensten daher bekannt und wir können relativ schnell Lie-
ferdienste akquirieren. Beispielsweise in Australien war das der Fall. Dann gibt es Märkte, die
ein hohes Business-Potenzial für uns bieten, aber noch kein Wettbewerber am Markt aktiv ist.
Hierfür sind Mexiko und Russland Beispiele. Innerhalb von zwölf Monaten sind wir dann auch
noch nach Schweden, Finnland, Österreich und Großbritannien gegangen. Die neuen Gesell-
schaften wurden in die deutsche GmbH eingegliedert. Die Frage, warum ein Land zwei Monate
vor einem anderen angegangen wurde, lässt sich schwer beantworten. Manchmal ist einfach das
Timing eines Deals in einem bestimmten Land nicht gut, manchmal muss man erst noch finan-
zielle Mittel zusammenbekommen.
Nikita: Die Akquisition von hungryhouse war ein großer Meilenstein beim Aufbau von Deli-
very Hero. Großbritannien ist der größte europäische Markt für Lieferdienste und hungryhouse
betreibt dort die zweitgrößte Plattform. Wir konnten so die Bestellungen mehr als verdreifa-
chen und die Restaurantanzahl innerhalb weniger Monate von knapp 3 000 auf über 10 000
erhöhen. Damit haben wir unsere Vormachtstellung in Europa deutlich ausgebaut. Aber eines
darf man nicht falsch verstehen, wir haben nicht ziellos Online-Lieferdienste zusammengekauft.
Vielmehr haben wir die Märkte anhand von Kennzahlen und Indikatoren verglichen, um Märkte
mit besonders hohem Potenzial herauszufiltern.
Nach welchen Kennzahlen und Indikatoren bewertet ihr das Potenzial eines Marktes?
Nikita: Zum einen sind das Marktfaktoren wie Internet- und Mobilpenetration. Dann fragen
wir uns: Bestellen Leute überhaupt beim Lieferdienst? Und: Gibt es ein ausreichend großes Markt-
volumen? Groß, das bedeutet für uns mehr als eine Milliarde Euro Pizza-Umsatz im Jahr, und
Pizza steht bei dieser Kalkulation als Synonym für alle Lieferdienstwaren. Wenn man sich nun ein
Unternehmen anschaut, gibt es ganz spezielle Indikatoren, die Rückschlüsse zulassen, ob das Geld,
das man reininvestiert, in einem überschaubaren Zeitraum einen Return erzielt. Insbesondere die
Akquisitionskosten je Kunde sind hier interessant. Konkreter möchte ich an dieser Stelle aber nicht
werden, weil das Faktoren sind, die unsere Wettbewerber teilweise noch nicht verstanden haben.
Für welchen Markt wir uns letztendlich entscheiden, ist reine Mathematik. Wir schauen uns
zunächst den Markt an, und wenn es Wettbewerber gibt, sprechen wir mit ihnen. In einem
nächsten Schritt prüfen wir, ob wir gemeinsam mit ihnen oder in Eigenregie erfolgreicher agieren
können. Wenn wir aber ein fähiges Team mit einem guten Produkt und smarten Investments vor-
finden, macht es durchaus Sinn, sich zusammenzuschließen. Sonst gehen wir es eben selbst an.
Im November 2011 habt ihr einen großen Schritt gemacht: Es gab die erste Finanzierungs-
runde über vier Millionen Euro mit Team Europe, Holtzbrinck, Tengelmann, Kite Ventures
und ru-Net together. Wie habt ihr die Investoren gefunden und von eurer Idee überzeugt?
Nikita: Die ersten Kontakte zu Investoren kamen vor allem über das Netzwerk von Markus
Fuhrmann und durch unseren damaligen CEO, Fabian Siegel, der zuvor schon erfolgreich
clickandbuy aufgebaut hatte. Ein Finanzierungswunsch spricht sich mit der Zeit außerdem in der
VC-Szene herum. Und wenn ein Investor Interesse hat, kommt schnell der nächste hinzu. Doch
gerade in der Anfangsphase sind Investoren natürlich skeptisch, weil das Produkt noch nicht aus-
gereift ist und erst wenige Zahlen vorliegen. Eigentlich investiert der Investor mehr in ein Team
und eine Vision. Und genau das war bei uns der Kernpunkt. Wir hatten ein sehr starkes Team mit
komplementären Fähigkeiten. Außerdem haben wir konsequent Daten analysiert, daraus unsere
Schlüsse gezogen und diszipliniert danach gehandelt. So haben wir eine Story aufgebaut, die sich
durch alle Investitionsrunden zieht.
Nikita Fahrenholz und Claude Ritter 63

Claude: Ich denke, ein weiterer Vorteil war, dass wir mit einem relativ schlechten Produkt
gestartet sind, aber gezeigt haben, dass wir damit trotzdem Geld verdienen können. Wir konnten
den Investoren vermitteln, dass wir mit ihrem Geld etwas Ergiebiges anstellen können. Unsere
Strategie, früh zu starten und schnell Umsatz zu generieren, war aufgegangen. Natürlich war nicht
jeder gleich begeistert. Anfangs hörten wir oft Sätze wie: „Ich dachte, ihr macht coole Sachen und
dann sieht das so aus.“ Aber Skepsis und Kritik sind normal und legitim. Letztendlich muss jeder
die richtigen Investoren für sein Projekt finden. Wer hinter dir steht, ist umso wichtiger, je größer
du wirst, denn bei zunehmendem Investitionsvolumen werden auch die Fragen kritischer. So ein
„Loch in der Weste“ hilft einem, die eigene Firma zu verbessern. Man wird von Pitch zu Pitch
überzeugender.
Anfang 2012 wurdet ihr mit dem Vorwurf konfrontiert, Menükarten von Pizza.de kopiert
zu haben. Es wurde sogar ein Strafbefehl gegen das Management von Lieferheld ausgespro-
chen. Wie bewertet ihr dieses Ereignis heute?
Nikita: Wir sind davon ausgegangen, dass von rechtlicher Seite alles in Ordnung sei. Dennoch
haben wir uns zwei juristische Meinungen eingeholt. Schon bevor uns unser Wettbewerber über-
haupt auf die Parallelen hingewiesen hatte, hatten wir bereits unsere gesamten Prozesse umge-
stellt. Das wurde gerichtlich in Braunschweig bestätigt. Wir haben uns schließlich geeinigt und
die Hände geschüttelt. Danach war das Thema vom Tisch. Die Staatsanwaltschaft Berlin hielt es
anscheinend für nötig, daraus einen Fall zu stricken. Wir haben uns entschieden, die Strafe zu
akzeptieren und daraus keine große Sache werden zu lassen.
Claude: Die Alternative zum Akzeptieren wäre eine Hauptverhandlung gewesen. Das wollten
wir natürlich nicht. Wir wollten unsere Firma weiter aufbauen. Bis heute halten wir die Entschei-
dung für überzogen.
2012 seid ihr nach Russland expandiert. Zunächst mit einer eigenen Marke und nur kurze
Zeit später habt ihr diese wieder eingestellt und seid eine Partnerschaft mit dem russischen
Wettbewerber Foodik eingegangen. Warum?
Nikita: Wir mussten feststellen, dass unsere Russland-Strategie nicht ausgereift und deshalb
nicht erfolgreich war. In der Konsequenz haben wir entschieden, uns mit einem Team zusammen-
zutun, das lokal sehr viel Erfahrung hatte.
Claude: Die zentrale Frage in solchen Momenten ist: Wo steckst du deine Energie hinein? In
einen Markt, der nicht so gut funktioniert – Beispiel Russland –, oder in einen Markt, der sehr
gut funktioniert, wie zu dieser Zeit Großbritannien. Um den Markt in Russland zum Laufen zu
bringen, hätten wir viel mehr Zeit und Liebe investieren müssen. Aber zu diesem Zeitpunkt war
das Land einfach nicht das Wichtigste für uns. Wir gehen an solche Entscheidungen pragmatisch
heran, d. h. wir geben uns eine gewisse Zeit, und wenn eine Sache läuft, dann lassen wir sie auch
laufen. Wenn aber nicht, dann müssen wir eben nachziehen.
Im Januar 2013 ist Euer CEO Fabian Siegel gegangen. Gibt es einen Zusammenhang mit
der Änderung der Russland-Strategie?
Claude: Das sah vielleicht von außen so aus, aber einen direkten Zusammenhang gibt es nicht.
Nikita: Fabians Weggang hatte schon etwas mit unserer strategischen Ausrichtung zu tun,
aber nicht mit der Russland-Strategie. Letztendlich wollte das Managementteam nicht mehr mit
einer Doppelspitze arbeiten. Gemeinsam haben wir uns dafür entschieden, mit Niklas weiterzu-
machen. Fabian hatte eine sehr attraktive Alternative außerhalb von Lieferheld.
64 Delivery Hero
Nikita Fahrenholz und Claude Ritter 65

Was hat sich geändert, seit Niklas alleiniger CEO ist?


Claude: Nach dem Wegfall der Doppelspitze war klar, dass Niklas Unterstützung benötigt,
beispielsweise bei den Finanzen. Auch sein Tag hat schließlich nur 24 Stunden. Aber das Gute an
unserer Firma ist, dass wir alle breit aufgestellt und flexibel sind. Nikita beispielweise übernimmt
intern ständig neue Aufgaben. Auf die Grundorganisation unserer Firma hatte Fabians Weggang
deshalb eigentlich keinen Einfluss.
Viele Startups sind kontinuierlich in Bewegung. Hat sich eure Produktvision im Laufe der
Zeit verändert?
Claude: Unser Feld ist E-Commerce, das heißt: Leute bestellen Essen online, bekommen es
geliefert und bezahlen es – also recht einfach. Wir sind nicht Twitter und mussten sechs oder
sieben Jahre nach einem Geschäftsmodell suchen. Aber natürlich hat sich auch bei uns die Pro-
duktvision verändert. Der Mobilsektor ist sehr stark geworden, wir haben inzwischen Apps für
alle Plattformen und das in fast allen Ländern. Wenn man mich 2010 gefragt hätte, ob dieses Feld
in Zukunft zentral sein wird, hätte ich vielleicht nein gesagt. Aber zum Glück haben wir schon
sehr früh auf diese Entwicklung reagiert. Die neuen Technologien eröffnen ungeahnte Möglich-
keiten bei der Personalisierung von Angeboten. Aber insgesamt: Obwohl so viele Dinge ständig
im Fluss sind, ist unsere Grundvision weiter intakt. Wir haben eine sehr konkrete Vorstellung,
wie die Online-Lieferung von Essen in zwei bis drei Jahren auszusehen hat. Wir basteln aktuell an
einer Idee, sind aber noch nicht ganz fertig.
Nikita: Wir wollen in einiger Zeit Weltmarktführer in unserem Bereich sein und gleichzeitig
die innovativste Firma im Markt. Wie, auf welchen Endgeräten, zu welcher Zeit, mit welchen
Algorithmen und Prozessen – das bleibt unser Geheimnis.
Claude: Das Produkt ist das eine. Aber es ist letztlich nur so gut, wie die Prozesse, die dahinter
stehen. Wir denken stark in Prozessinnovationen, denn bei der Essenbestellung im Netz ist es
elementar, dass Technik und Abläufe funktionieren. Aber häufig hapert es genau daran – auch
bei einigen unserer Wettbewerber. Es ist offensichtlich nicht leicht die Prozesse in den Griff zu
bekommen ist. Und genau deshalb legen wir einen besonderen Fokus darauf.
Wie stellt ihr Innovation auf der Prozessebene sicher?
Nikita: Zunächst einmal: Man darf sich nie mit dem Status quo zufrieden geben und muss
fortlaufend die Prozesskennzahlen überprüfen und nach Optimierungen suchen. Fähige Mitar-
beiter, die wirklich etwas zum Weiterkommen beitragen können, sind dabei natürlich sehr wichtig.
Außerdem muss sichergestellt sein, dass alle – Mitarbeiter und Firmenspitze – Anregungen von
außen reinholen. Von Best-Practices-Beispielen, das heißt Unternehmen wie Amazon, können
wir sehr viel lernen. Und natürlich gilt auch bei uns die Devise: „Trust your product, use your
product.“ Claude und ich sind Stamm-User unserer Plattformen, und wenn uns irgendetwas auf-
fällt, gehen wir es an.
Fähige Mitarbeiter ist ein gutes Stichwort. Wie habt ihr euer Team aufgebaut?
Claude: Der Teamaufbau ist ein immenser Lernprozess und Fehlgriffe gehören dazu. Wir
haben immer mal wieder Leute ins Team geholt, die nicht gepasst haben. Aber mit der Zeit
sind wir in der Einschätzung besser geworden. Im Vorfeld kann man aber nicht wirklich viel
machen. Man stellt Leute ein, von denen man denkt, dass sie fähig sind. Und dann weitere
und weitere. Irgendwann braucht man natürlich auch Köpfe, die ein Team führen können, weil
man selbst ab einer gewissen Personalgröße schlicht nicht mehr den Überblick über alles haben
kann. Außerdem muss man sich selbst darauf konzentrieren, an Dingen zu arbeiten, die das
Unternehmen vorwärts bringen. Das ist wirklich ein wichtiger Punkt. Am Anfang hat Nikita das
Budget in Excel Sheets noch selbst gemacht und ich habe Wireframes für die Webseite gebastelt.
66 Delivery Hero

Aber mit der Zeit muss sich die eigene Rolle im Unternehmen verändern. Das heißt aber auch,
dass man lernen muss, Aufgaben abzugeben. Und damit das funktioniert, muss man fähige Leute
im Team haben, die wichtige Aufgaben übernehmen können. Sonst bleibt man auf der operativen
Ebene einfach kleben.
Was sind Herausforderungen, wenn ein Team wächst und wächst?
Claude: Solange es maximal 20 Leute sind, ist das Handling ziemlich unkompliziert. Jeder
macht eigentlich alles. Dann waren wir irgendwann um die 40 Leute, waren operativ voll im
Geschäft und dennoch haben alle überall mit angepackt und bis spät in die Nacht IKEA-Stühle
aufgebaut. Aber irgendwann, wenn es dann so gegen 100 Mitarbeiter geht, muss man sich ent-
scheiden, wie man das Ganze organisieren will.
Nikita: Mittlerweile sind wir mehr als 700 Mitarbeiter und ich sehe mich zu weiten Teilen
als Coach, der dafür sorgt, dass die Fähigkeiten des Teams ausgebaut werden. Das heißt: Ich ver-
wende den Großteil meiner Zeit nicht damit, Dinge selbst zu lösen, sondern Leute zu coachen,
damit sie die Probleme lösen können.
Wie skaliert man erfolgreich von 20 auf 200 Mitarbeiter?
Claude: Ich glaube, das Wichtigste ist, dass im Kernteam gute Leute sind, und dass inner-
halb dieses Teams Vertrauen in die Entscheidungskompetenz des anderen vorhanden ist. Wie ich
bereits sagte: Irgendwann hast du den Überblick alleine nicht mehr und dann musst du Leute in
der Organisation haben, die dir helfen. Was aber eben nicht sein darf ist, dass sich jemand fragt,
ob er gefeuert wird, sobald er eine fragwürdige Entscheidung trifft. Entscheidungen müssen ab
einem gewissen Punkt auch von anderen gefällt werden. Dabei passieren sicher auch Fehler. Aber
unsere Devise ist klar: Lieber geht hier und da einmal etwas daneben, als dass nichts passiert.
Nikita: Wachstum und Erfolg sind vor allem eins: harte Arbeit. Die Rechnung ist aber ziem-
lich einfach – wenn du härter arbeitest als dein Wettbewerber, wirst du auch ein bisschen besser
sein als er. Diese Mentalität hatten wir vom ersten Tag an und ich bin sicher, das hat uns voran-
gebracht. Außerdem schätzen wir den gesunden Mittelweg aus Pragmatismus und datenbasierten
Entscheidungen.
Gibt es im Rückblick etwas, was ihr heute anders angehen würdet?
Claude: Die Firma ist ziemlich schnell, fast schon aggressiv, auf den Markt geprescht. Wir
haben unseren Namen Delivery Hero wortwörtlich in die Tat umgesetzt, er wurde zum Selbst-
verständnis der Firma. Es ist natürlich ein absolut positives Merkmal, wenn du und deine Mitar-
beiter eine Gewinnermentalität haben und pausenlos Gas geben. Wir haben uns nie gefragt, ob
wir etwas schaffen, sondern wann. Ein Nachteil war aber sicherlich, dass wir in Deutschland selbst
noch nie etwas gegründet hatten und in einigen Bereichen sicherlich naiv waren.
Kannst du ein konkretes Beispiel für diese Naivität nennen?
Claude: Wir haben auf unserer Webseite geschrieben, dass wir 4 000 Restaurants haben. Die
haben wir laut unserer Datenbank auch. Irgendwann flatterte uns eine Abmahnung auf den
Tisch, weil jemand monierte, dass einige Restaurants manchmal geschlossen seien. Damit kämen
wir nicht auf 4 000 geöffnete Restaurants, sondern nur auf 3 752. Ärger solcher Art. hatten wir
anfangs regelmäßig. Man möchte sich darauf konzentrieren, die Firma aufzubauen, zu wachsen
und vorankommen. Man hat einen Tunnelblick und dann passieren eben Missgeschicke. Heute
kommen solche Fehler nicht mehr vor.
Nikita: Wir haben Fehler wirklich von Anfang an in Kauf genommen. Wir sind pragmati-
sche, aggressive Unternehmer, die unbedingt erfolgreich sein wollen. Diese Mentalität, die spe-
ziell Claude und ich haben, versuchen wir auch an unser Team weiterzugeben. Wenn man einen
Nikita Fahrenholz und Claude Ritter 67
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solchen Drang nach Erfolg hat, passieren schon einmal Dinge, mit denen man in einem sehr
bürokratisch organisierten Land wie Deutschland anecken kann. Aber, ehrlich gesagt: Dann ist
eben so. Von nichts kommt nichts, und wenn Gründen einfach wäre, würden es alle machen.
Claude: Es gibt ein gutes Zitat von Fabian: „Don’t ask for permission, ask for forgiveness.“
Nikita: Also, ich bereue nichts.
Welche Wettbewerbsstrategie verfolgt ihr?
Nikita: Offen gesagt: Wir haben keine Strategie gegenüber unseren Wettbewerbern. Wir
schauen lediglich, in welchen Ländern sie aktiv sind und versuchen, Daten über ihr Wachstum zu
beschaffen. Dann können auch wir uns benchmarken. In unseren Management-Meetings spre-
chen wir nicht über Wettbewerber.
Claude: Was der User vorfindet, sieht relativ einfach aus, das Business dahinter ist aber kom-
plex. Und: Man kann es nicht so einfach kopieren. Das liegt allein daran, dass die Margen enger
sind und die Warenkörbe kleiner als beispielsweise bei Klamotten. Es braucht eine gewisse Kom-
petenz, um ein solches Business zu bauen. Es sind Wettbewerber auf dem Markt – ja. Und für
manche sind die eine Orientierung. Aber nicht für uns. Wir versuchen schlicht, das beste Produkt
für die Kunden zu bauen und bis jetzt geben uns die Zahlen Recht. Nach drei Jahren sind wir
Marktführer in Deutschland – wo uns am Anfang alle belächelt haben. Wir sind eine Firma, die
innerhalb von drei Jahren fast eine halbe Milliarde US-Dollar Umsatz macht. Da gibt es keinen
Grund, sich am Wettbewerber zu orientieren.
Habt ihr Mentoren, die euch auf eurem Weg begleiten?
Claude: Wir kennen natürlich eine ganze Menge Leute, mit denen wir in den vergangenen Jahren
zusammengearbeitet haben. Das sind Kollegen bei Team Europe, Leute aus Nikitas McKinsey-
Netzwerk und andere Business-Bekannte. Natürlich stellt man innerhalb dieses Kreises ab und an
einmal eine Frage, wie dieses oder jenes laufen könnte. Aber einen festen Mentor haben wir nicht.
Nikita: Wir haben im Team relativ viel und offen miteinander diskutiert und auf diese Weise
versucht, unsere Probleme zu lösen.
Claude: Bei den Debatten ist auch schon einmal ein Stuhl durch den Raum geflogen. Denn:
Jeder hat bei uns eine Meinung und vertritt diese auch offensiv. Und das ist gut. Wir haben uns
zwar manchmal hart gestritten, aber wenn ein Thema dann abgehandelt war, war es auch gut und
es ging weiter. Mittlerweile investieren wir gelegentlich in andere Startups und da beobachte ich,
dass oft endlose Diskussionen über Nebensächlichkeiten geführt werden. Wir haben uns damit
nie aufgehalten.
Nikita: Als es einmal irgendein Problem gab, weil das Marketing nicht funktionierte, gab es
den Zuruf, dass ich mir das mal anschauen solle. Marketing ist eigentlich gar nicht mein Bereich,
aber natürlich gebe ich meine Einschätzung ab. Warum auch nicht, ich war sowieso in der Firma.
Wir alle ticken nach diesem Prinzip, dass Fabian damals in uns wachgerufen hat: „Never let your
ego stand in the way of decision making.“ Ich glaube, eine solche Haltung ist wichtig.
Was ist eine gute Teamgröße, um zu gründen?
Nikita: Man sagt, die optimale Größe seien zwei bis drei Personen – optimal in dem Sinne,
dass man am schnellsten zur Umsetzung kommt.
Claude: Als Einzelkämpfer ist es, glaube ich, wirklich hart. Allein, sich immer wieder selbst zu
motivieren, ist sicherlich keine leichte Aufgabe. Es ist gut, wenn du zu zweit im Büro sitzt. Wenn
der eine ein bisschen „am Rad dreht“, kann der andere ihn wieder herunterholen, man trinkt
zusammen ein Bier und danach geht es wieder. Wenn man alleine dasitzt, hängt man sich sicher-
lich eher an einem Problem auf und tritt auf der Stelle. Das ist ein mühsamer Weg. Ob es zu zweit
besser ist, oder zu dritt, weiß ich allerdings nicht.
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Nikita: Das ist sicherlich von Fall zu Fall verschieden. Ich habe auf einer Konferenz einmal
den Satz gesagt, dass Freunde meistens nicht die besten Gründer sind. Sie sind oft nicht komple-
mentär. Claude und ich beispielsweise sind komplementär. Claude kennt sich beispielsweise in
der IT und Produktentwicklung wesentlich besser aus, also in Dingen, von denen ich gar keine
Ahnung habe.
Claude: Wenn du mit jemandem gemeinsam gründest, macht es Sinn, dass sich beispiels-
weise nicht zwei Marketing-Kommunikationswirte zusammentun, sonst kommt man sich nur
ins Gehege. Ich habe von Nikitas Bereich wenig Ahnung und er hat von meinen Aufgaben wenig
Ahnung, genau deswegen sind bei uns aber Unklarheiten meistens schnell gelöst. Im Zweifel hat
einfach der das Sagen, der sich inhaltlich besser auskennt.
Nikita: Eine Gründung ist nun einmal extrem intensiv. Man hockt ständig aufeinander, man
schmeißt Stühle nach sich, man schreit sich an, man ist unter Druck und so weiter und so fort.
Ich denke, um das durchzustehen, ist es wichtig, dass man sich grundsätzlich gut riechen kann.
Welche persönlichen Tipps habt ihr für Gründer?
Nikita: Startups werden momentan sehr gehyped und viele wollen gründen. Aber: „Don’t
bullshit yourself.“ Es müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein, um erfolgreich sein zu können.
Ich empfehle wirklich, zunächst einmal ehrlich in sich hineinzuhören und sich zu fragen, ob man
das, was man vorhat, auch wirklich will und kann. Bist du psycho genug, um das zu machen? Bist
du risikofreudig genug? Bist du pragmatisch genug? Bist du bereit für Verzicht? Bist du bereit,
lange zu arbeiten und nichts dafür zu bekommen? Und so weiter und so weiter. Ich glaube, viel
zu viele Leute erliegen beim Thema Gründen einer Illusion. Es gibt noch viele andere coole Jobs
auf der Welt, bei denen man viel bewirken kann.
Claude: Ein ganz wichtiger Punkt beim Gründen ist schlicht und ergreifend der Spaßfaktor.
Man muss Spaß zusammen haben, sonst funktioniert es nicht. Wir haben beispielsweise einmal
an das gesamte Team eine Power-Point-Präsentation geschickt, die beinhaltete, dass jeder auf der
Stelle seiner Zimmerpflanze einen klassischen deutschen Namen geben solle. Die Präsentation
gab vor, wie man die Pflanze zu beschriften hatte.
Nikita: Ich habe meine Bernd getauft.
Claude: Und ich meine Detlef.
Nikita: Und Markus hat seine Brunhilde getauft. Ein anderes Mal kamen wir in Superhelden-
Kostümen zur Arbeit. Claude kam als Superman …
Claude: … und Nikita war im Batman-Kostüm unterwegs. Plötzlich kamen unangemeldet
Investoren vorbei. Das war schon eine spezielle Erfahrung. Oder: Nikita und ich waren Ende
2013 gemeinsam spontan im Urlaub. Als wir am Montag wieder ins Büro kamen, hatte die Firma
alle Mitarbeiter in die Lounge geladen und eine Hochzeitszeremonie vorbereitet. Unser Marke-
tingchef Hugo hatte allen erzählt, Nikita und ich hätten im Urlaub geheiratet. Es gab sogar eine
zweistöckige Torte, neue Namensschilder am Büro und gefakte Hochzeitfotos.
Nikita: Einige Mitarbeiter glauben bis heute noch, dass wir verheiratet sind.
Claude: Für unseren Weg war es wichtig, dass die Firma eine gewisse Leichtigkeit hat und über
einen gewissen Grad an Craziness verfügt. Das schweißt zusammen und macht aus der Firma fast
so etwas wie eine Familie.
Claude und Nikita, herzlichen Dank für das Gespräch.
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Literaturtipps von Nikita Fahrenholz und Claude Ritter

Feld, Brad und Cohen, David (2010); Do More Faster: TechStars Lessons to Accelerate Your
Startup; Wiley
Kahneman, Daniel (2011); Thinking, Fast and Slow; Farrar Straus & Giroux
Blank, Steve (2005); The Four Steps to the Epiphany: Successful Strategies for Products That Win;
K&S Ranch
Gladwell, Malcolm (2002); The Tipping Point: How Little Things Can Make a Big Difference;
Back Bay Books
Morrow, William, Levitt, Steven D. and Dubner, Stephen J (2005); Freakonomics: A Rogue
Economist Explores the Hidden Side of Everything; William Morrow
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ergobag
Florian Michajlezko
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Gründerteam: Oliver Steinki, Florian Michajlezko, Sven-Oliver Pink (von links)

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_5,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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Revolution auf dem Schultaschen-Markt


Schwere Schulbücher auf schmalen Kinderschultern – ein Problem, das Eltern umtreibt. Florian
Michajlezko, Sven-Oliver Pink, Oliver Steinki und Juliaan Cazin präsentieren die Lösung: erg-
obag, ein Schulranzen, der sich der Statur des Kindes anpasst und das Gewicht von Büchern auf
den stabileren Beckenbereich verlagert. Das Vorbild für den innovativen Ansatz kommt aus dem
Trekkingsektor. Wenn Wanderer und Skifahrer problemlos schwere Rucksäcke schultern können,
warum geht das nicht auch bei Kindern?
Im Februar 2010 geht das Quartett mit seinem Schulrucksack auf den Markt. Um die erste
Produktion zu stemmen, müssen die vier Erspartes zusammenklauben, Kredite aufnehmen und
ihre Wohnungen kündigen. Mit dem ersten Rucksack in der Hand beginnt die Tingelei zu Händ-
lern und auf Ranzenpartys. Und der Erfolg kommt schnell. Noch dazu ist in ihrem Fall das
Glück mit den Tüchtigen. Bei einem Gründerwettbewerb lernt die Truppe Jürgen Hambrecht
kennen, den ehemaligen Chief Executive Officer (CEO) von BASF. Er glaubt an Team und Idee
und investiert.
Ergobag hat in den vergangenen Jahren viele Auszeichnungen eingeheimst. Dazu zählen das
EXIST-Gründerstipendium des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, der renom-
mierte red dot design award und Top-Platzierungen bei den Wettbewerben „365 Orte im Land
der Ideen“, enable2start sowie beim Deutschen Gründerpreis.
Anfang 2014 gehörten mehr als 50 Köpfe zum Mitarbeiterteam von ergobag. Das junge
Unternehmen verkauft heute mehrere 10  000 Rucksäcke im Jahr. Ausruhen auf dem Erfolg?
Nicht bei ergobag. Neue Produkte und Konzepte sind bereits auf dem Markt.

Flo, wie seid ihr auf die Idee gekommen?


Zunächst studierte ich BWL in Paderborn. Doch mit 600 Studenten im Audimax zu sitzen
und den theoretischen Abwandlungen eines Professors zu lauschen, passte zu dem Zeitpunkt
irgendwie nicht in mein Lebensmodell und zu dem Anspruch, wirklich Neues zu erlernen und
zu erleben. Deshalb habe ich parallel eine Ausbildung als Finanzmakler absolviert. Unter diesem
Deckmantel ging ich mit Sven-Oliver Pink nach Berlin, um ein Büro für Finanzberatung von
American Express aufzubauen. Langfristig stand für mich jedoch fest, etwas Eigenes gründen zu
wollen und zwar am liebsten mit engen Freunden. So ist die nachfolgende Idee sofort auf sehr
fruchtbaren Boden bei mir gefallen.
Auf einer Party 2008 in Berlin erzählte ein Freund, wie er für seinen Neffen eine Schultasche
auf einer Ranzenparty gekauft hat. Für uns war der Begriff „Ranzenparty“ komplett neu und so
fragten wir nach, was sich dahinter verberge. Er erklärte, dass auf diesen vom Fachhändler orga-
nisierten Verkaufsveranstaltungen alle aktuellen Schultaschenmodelle gezeigt werden. Darüber
Florian Michajlezko 75

hinaus informiert die Krankenkasse über gesunde Pausenbrote und die Kinder können sich in ein
Polizeiauto setzen oder sich schminken lassen. Auf Nachfrage, ob die Schulranzen immer noch
wie unsere eigenen Modelle aussähen, bejahte der Freund und sagte: „Meines Erachtens die Glei-
chen wie vor 20 Jahren.“ Das verstehe sie gar nicht, meinte Melanie Gabriel, eine befreundete
Physiotherapeutin. Es kämen immer häufiger Kinder mit Rückenproblemen in ihre Praxis, die
direkt von der Grundschule zu ihr kommen. Aber leider könne man die Schultaschen nicht an
die unterschiedlichen Rückenformen und -längen anpassen. Und dabei wachsen Kinder zwischen
der ersten und vierten Klasse stark. Ihren Wanderrucksack hingegen könne sowohl sie als auch ihr
Freund Martin tragen. Und dabei ist sie 1,58 Meter groß und er 1,90 Meter. Und warum ist das
möglich? Weil man das Trägersystem individuell verstellen kann. Zudem wird das Gewicht von
den Schultern auf die stabilen Beckenknochen verlagert. Im Wander- und Treckingbereich sind
diese Tragesysteme allgemein üblich. In diesem Moment dachte ich: interessant! Gibt es denn
solche Schulranzen? Und falls nicht, warum? Die Frage hat mich nicht mehr losgelassen.
Kurz darauf traf ich Oliver Steinki zum Skifahren in der Schweiz. Wir haben über das Poten-
zial der Idee gesprochen und geschaut, was es auf dem Weltmarkt gibt. Dabei stießen wir auf eine
skandinavische Firma. Sie bot zumindest einen Rucksack mit Aluschiene an, allerdings ohne ver-
stellbares Tragesystem oder eine ordentliche Kräfteverlagerung. Um die Rucksäcke mal genauer
anzuschauen, bestellten wir uns ein paar.
Die Idee fesselte uns und wir fingen an, am Produkt zu feilen. Anfangs mit der Unterstützung
von Melanie Gabriel und der Uni Gießen. Dann trafen wir Immanuel Gloeser, er entwickelte
damals Wanderrucksäcke für Jack Wolfskin. Wir saßen bei ihm im Wohnzimmer, das vollgestopft
war mit Wanderrucksäcken. Er hat viel erklärt und angefangen, seine Rucksäcke zu zerschneiden
– wir schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. So ein Stück kostet ja immerhin mehrere
hundert Euro! Er meinte, das sei nötig, damit wir den Materialunterschied zwischen günstigen
und Qualitätsprodukten sehen und fühlen können …
…  hattet ihr keine Angst, dass er euch die Idee klaut und mit Jack Wolfskin umsetzt?
Jein. Als wir vor seinem Haus parkten, habe ich Sven schon gefragt: „Warum sollte sich ein
Jack-Wolfskin-Produktentwickler mit uns zusammenzusetzen, nur um uns zu helfen? Zudem
ohne Entlohnung?“ Aber als ich Immanuel in die Augen geschaut habe, war mir sofort klar: Er ist
ein leidenschaftlicher Produktentwickler und sein einziger Antrieb war es, einem kleinen, coolen
Projekt zu helfen. Zudem war er mit der zunehmenden Kommerzialisierung seines Unterneh-
mens nicht einverstanden. Mittlerweile ist er unser Designchef und wichtigster Entwickler bei
den Kindermarken. Ihn zu treffen, war schon ein ziemlicher Glücksfall.
Wie hat sich euer Gründerteam gefunden?
Mitte 2008 bin ich mit Oli noch in Berlin gestartet. Ich hatte schon bei American Express
gekündigt und wollte für ein halbes Jahr ins Ausland. Da ich während meines Studiums immer
gearbeitet habe, kam das Studentenleben zu kurz. Deshalb bin ich nach Sydney und habe erfolg-
reich die gesamte Kohle, die ich bei Amex verdient hatte, auf den Kopf gehauen.
Zuvor habe ich noch Juliaan Cazin, einen weiteren Freund, ins Unternehmen geholt. Er
hatte sich mit der Kitesurf-Brillen-Marke JC Optics selbstständig gemacht und damit seine ersten
Erfolge feiern können. Die Brillen ließ er in China produzieren und nach Deutschland impor-
tieren. Auf dieser Erfahrung wollten wir aufbauen.
Leider ist in diesem halben Jahr recht wenig passiert. Es ging erst richtig los, als ich zurückkam.
Zuletzt holte ich noch Sven-Oliver Pink ins Team. Er ist einer meiner engsten Freunde und durch
die Zeit bei Amex wussten wir, dass auch die Zusammenarbeit bestens funktioniert. Er arbeitete
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damals noch für Kienbaum Management Consulting und war nur semi-glücklich. Daher war es
einfach, ihn zu überzeugen. Mit diesem Team sind wir gestartet.
Wie habt ihr eure Aufgaben aufgeteilt?
Sven hat das Marketing und die Finanzen übernommen, meine Aufgaben waren der Vertrieb
und die Produktentwicklung, inklusive Einkauf. Juliaan sollte die Buchhaltung, Warenwirtschaft
und das Controlling übernehmen und zu 50 Prozent mitarbeiten. Sven und ich haben uns dann
jedoch alles über den Schreibtisch zugerufen, aufgeteilt und entschieden, so dass Juliaan, der zu
dem Zeitpunkt nur unregelmäßig vor Ort war, seine Rolle leider nie gefunden hat. Daraufhin
meinte er: „Okay, ihr macht einen Riesenjob. An einer anderen Stelle habe ich einen größeren
Hebel.“ Er ging dann auf Reisen und hat inzwischen zwei Hostels und eine erfolgreiche Kite-
Schule in Tarifa, lebt in Spanien und macht sich da ein gutes Leben.
Olivers Aufgabe war der Finanzplan. Er hat in der Schweiz gearbeitet, war aber trotzdem
immer sehr nah dran. Aktuell arbeitet er halbtags bei uns und baut mit der anderen Hälfte der
Zeit einen eigenen Hedgefonds auf und sucht nach interessanten Startups für unsere kleine
Investmentgesellschaft. Vor allem unsere Vertriebspower kann für kleine Handelsunternehmen
einen ordentlichen Schub nach vorne bedeuten.
Was waren die nächsten Schritte? Wie seid ihr zu den ersten Rucksäcken gekommen?
Wir sind auf die Internationale Sportartikelmesse in München gefahren. In einer Halle prä-
sentieren sich die Produzenten. So sind wir damals an die chinesischen Produzenten für die erste
Charge Rucksäcke gekommen und an eine erste Kosteneinschätzung. Das Produkt wollten wir
in sechs Ausführungen anbieten und die Mindestabnahmemenge, die unsere chinesischen Pro-
duzenten akzeptierten, war 1 000 Stück pro Farbe. So kamen wir auf eine Summe von 240 000
Euro. Jeder hat dann 60 000 Euro in den Pott geworfen. Ich hatte mein Erspartes ja größtenteils
in Australien aufgebraucht und habe daher 50 000 Euro “Startgeld“ bei der KfW aufgenommen
und 10 000 Euro habe ich bei meiner Familie geliehen. Damit hatten wir das Geld für die ersten
6 000 Rucksäcke zusammen.
Die Finanzierungsmöglichkeiten Business Angels und Venture Capital kannten wir nicht. Um
Kosten zu sparen, gaben wir unsere Wohnungen auf und nahmen uns ein Büro, in dem wir auch
schlafen konnten. In so einem Moment lernt man eine Dusche im Büro wahrlich zu schätzen.
Auch hatten wir keine Designer. Zwar hatten wir unsere Physiotherapeutin, die etwas am Trä-
gersystem entwickelt hat und eine Zusammenarbeit mit der Uni Gießen, doch die konnte uns
beim Design auch nicht helfen. Letztlich haben wir selbst entschieden, mit welchen Blümchen
und Farben das Design gestaltet werden soll. Ich war dann zweimal in China, bis unser Produkt
einigermaßen final war.
Und dann hattet ihr plötzlich 6 000 Rucksäcken im Büro liegen?
Nein, wir hatten die Logistik von Anfang an outgesourct. Unser erster Logistikpartner ist aber
relativ schnell an den Zuwachsraten gescheitert. Ich will ihm keinen Vorwurf machen, er ist ein
toller Mensch, aber er hat eben nicht investiert. Jetzt arbeiten wir mit einem Lager in Bergheim
zusammen.
Wie habt ihr dann eure ersten Kunden gefunden?
Ich habe einfach bei Schultaschenhändlern angerufen, ihnen die neue ergobag-Schultasche
erklärt und gefragt, ob wir vorbeikommen dürfen. Die meisten haben ja gesagt. Zu diesem Zeit-
punkt hatten wir vom Handel oder Schultaschen keine Ahnung und die ersten Produkt-Samples
aus China waren eine Katastrophe. Bestellt hatten wir ein schlichtes, dunkelblaues Material für
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die Jungs. Das Sample bestand aus einem lila Stoff mit Glanzeffekt. Welcher Junge möchte mit
so einer Tasche in die Schule? Glücklicherweise wurde dieser Fehler in der Lieferung behoben.
Bei vielen Startups ist das Problem der Vertrieb, weil die Gründer zu lange an ihren Produkten
feilen. Unser Designer hat einmal versucht, eine wirklich tolle Jagdjacke an den Markt zu bringen.
Ich habe ihm gesagt: „Geh zum Händler.“ Er meinte: „Nein, der Reißverschluss ist noch nicht
perfekt. Den muss ich noch ein bisschen verändern.“ Solche Stories habe ich schon oft gehört.
Wir sind einfach mit den ersten, nicht perfekten Rucksack-Samples los.
Dann kam der erste Vertriebstag. Ich hatte drei Termine. Der Händler „Ranzenfee & Koffer-
troll“ in Rheda-Wiedenbrück hat gleich 18 Schultaschen bestellt. In Driburg meinte der Händler:
„Klingt super, aber gucken Sie, wie viele Schultaschen wir jetzt schon haben. Da ist kein Platz für
eine neue Marke.“ Aber der Ranzen Shop 24 in Paderborn – der dritte Termin – hat sofort 60
Stück bestellt. In Summe also 78 Vorbestellungen an einem Tag. Ich dachte, wenn das so weiter-
geht, muss ich nur 100 Händler gewinnen und die 6 000 Rucksäcke sind weg. Aber so einfach
war es leider nicht. Auf jeden Fall hat es Mut gemacht. Und ich bin die ganze Woche weiter durch
die Gegend gefahren und habe verkauft, verkauft und verkauft.
Die Ranzenpartys haben uns extrem geholfen, unsere Rucksäcke den Endkunden vorzustellen.
Meine erste Ranzenparty war in Mönchengladbach. Ich hatte sechs Samples dabei. Über alle Her-
steller hinweg wurden 30 Produkte verkauft – zwölf davon waren ergobags. Unsere Schultaschen
kamen auch bei den Kids super an. Das war eine weitere Bestätigung. Dementsprechend habe ich
dann gesagt: „Okay, ab jetzt geht’s jeden Samstag und Sonntag zu einer anderen Ranzenparty.“
Zudem haben wir versucht, jeden neu gewonnenen Händler auch zu schulen. Nach dem
ersten Verkaufstermin folgte die Schulung. Da saß dann die gesamte Verkaufsmannschaft und wir
haben ihnen erzählt, warum der ergobag so genial ist und was ihn von anderen Produkten unter-
scheidet. So haben wir unseren Markt aufgebaut.
Wie lief ein Vertriebstag ab?
Die Tage liefen folgendermaßen ab: Morgens um 7 Uhr fuhr ich los. Der erste Termin um 8
Uhr war eine Schulung, dann ein Neukundentermin, wieder eine Schulung in der Mittagspause,
weil der Laden da eh geschlossen ist. Nachmittags kamen wieder zwei Neukundentermine und
nach Ladenschluss eine weitere Schulung. Abends ging es im Büro weiter bis tief in die Nacht. So
liefen die ersten Monate ab …
… ein intensives Programm. Wie hast du dich motiviert?
Wenn ich morgens um 7 Uhr wieder auf dem Weg zum Kunden war, dann habe ich schon
mal gedacht „Mann, bin ich alle.“ Aber wenn dir dann wieder eine Mutter mailt, wie froh sie sei,
dass sie den ergobag gefunden habe und ihre kleine Leonore total stolz auf ihre neue Tasche sei,
dann denkst du: „Wow – dafür mach ich’s!“
Wie wichtig war Feedback für euch?
Wir haben allen Stakeholdern sehr gut zugehört. Ich glaube, das hat uns extrem stark gemacht.
Und das war auch zwingend nötig, eben weil wir damals keine Ahnung von der Materie hatten.
Ein Beispiel aus dem ersten Vertriebstag: Ich saß bei Thorsten Klahold in Rheda-Wieden-
brück und habe ihm von dem Angebot des Einkaufsverbands Duo Schreib & Spiel erzählt. Die
wollten unsere Produkte direkt platzieren und den Großhandel beliefern. Thorsten meinte: „Ich
nehme die Bestellung zurück, wenn du mit Großhändlern zusammenarbeitest. Du hast keine
Kontrolle darüber, an welchem Point of Sale du nachher stehst und kannst nicht schulen. Dabei
habt ihr ein erklärungsbedürftiges Produkt. Eine 60-jährige Verkäuferin, die seit 30 Jahren Scout
verkauft hat, wird eure Schultaschen nicht anfassen, weil sie Angst hat die Fragen der Kunden
Florian Michajlezko 79

nicht beantworten zu können.“ Nach dem Termin, hatte ich eine Liste mit 20 Punkten. Das
Feedback haben wir uns sehr zu Herzen genommen.
Den Kindern haben wir auch genau zugehört. Eine Achtjährige meinte „Wie konnte ich
eigentlich so doof sein, damals? Eine pinke Schultasche mit einem weißen Hasen drauf. Und jetzt
muss ich noch zwei Jahre damit rumlaufen.“ Klar, Eltern kaufen die Schultasche für die ersten vier
Jahre. Das Design muss sich mit dem Kind entwickeln können. Darum nähen wir den weißen
Hasen nicht fest auf die Tasche, sondern befestigen ihn mit Klett. Die Kiddies können damit das
Design einfach ändern.
Aber auch den Produzenten haben wir zugehört. Beispielsweise bestellen manche Rucksack-
hersteller 100 Produkte in 100 Farben und nehmen pro Produkt wenige hundert Stück ab. Wir
dagegen haben zwei Produkte in zehn Farben und bestellen mehrere tausend davon. Damit kann
der Produzent viel effizienter fertigen und dafür lieben sie uns.
Den Schulranzenmarkt hatten drei große Hersteller fest in ihren Händen. Ist es nicht aus-
sichtslos, in solch einen Markt eintreten zu wollen?
Vielleicht ist es sogar einfacher, in einen Markt zu gehen, in dem drei fette Gorillas sitzen,
die den Markt aufgeteilt und es sich gemütlich gemacht haben. Im Technologiebereich dagegen,
nehmen wir Mobile Payment als Beispiel, gibt es mehrere Top-Teams in Tel Aviv, Silicon Valley
oder Berlin, die an Lösungen arbeiten. In diesem Umfeld musst du der Schnellste sein und das
beste Produkt an den Markt bringen. Wir hatten den Vorteil, dass man uns nicht ernst genommen
hat.
Und die drei Gorillas haben selbst keine Innovation hervorgebracht?
Die letzte Innovation war die bunte Schultasche aus Polyester. Die kam vor 30 Jahren und
seither hat sich nichts mehr getan. Sie haben den Markt auch schlau geschützt. In jeder Ranzen-
Broschüre stand: Ein Rucksack hat in der Grundschule nichts verloren. Da haben sich Eastpak,
Nike & Co gesagt, also in den Schulranzen-Markt in Deutschland brauchen wir erst gar nicht
gehen. Die Deutschen wollen einen Tornister. Aber stimmt das wirklich? Gut, im Tornister kni-
cken die Hefte nicht. Aber was ist mit dem Kinderrücken?
Wie haben die Wettbewerber reagiert?
Mittlerweile bieten die meisten Wettbewerber Rucksäcke mit Tragesystem an. Die heißen
dann Ergoflex, Flexline oder Ergotrek. Mit diesen Produkten widersprechen sie allerdings ihrem
eigenen Glaubenssatz: Kein Rucksack in der Schule. Damit weichen sie ihren Markt auf. Zudem
verraten die Namen es schon: Es sind Kopien. Kunden und Händler sehen das natürlich auch.
Jedes Jahr werden in Deutschland 500  000 Qualitäts-Schultaschen im Einschulungsbereich
gekauft. Im ersten Jahr haben wir rund 6 000 Produkte abgesetzt, im zweiten Jahr 10 000 und
2013 gehe ich von 50 000 aus. Das Segment der ergobags wird weiter wachsen und die klassi-
schen Schulranzen langsam verschwinden. Als First Mover sind wir in einer guten Ausgangsposi-
tion, um davon zu profitieren. Aber auch wir müssen innovativ bleiben …
… wie stellt ihr das sicher?
Wir müssen den ergobag weiterentwickeln. Das Trägersystem wurde intensiv überarbeitet
und das Verstellen der Höhe erleichtert. Mit dem Fraunhofer-Institut entwickeln wir gerade ein
Hemd, das die Wärmeentwicklung und Druckpunkte bei Kiddies aufzeigt. Damit können wir
das Tragesystem noch ergonomischer gestalten.
Aber nicht nur im Produkt, sondern auch im Vertrieb, Marketing und Kundenservice wollen
wir innovativ sein und uns von den Wettbewerbern abgrenzen. Beispielsweise holen wir uns über
Facebook Kundenfeedback zu neuen Designs.
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Florian Michajlezko 81

Und natürlich bleiben wir immer mit dem Ohr am Vertrieb. Ich war selbst erst letzte Woche
beim Kunden. Oder vor einigen Wochen waren wir auf einer Messe in Tokio, um nach neuen
Trends zu schauen.
Welche weiteren Mittel brauchtet ihr zusätzlich zu den ersten 240.000 Euro? Und wie habt
ihr diese finanziert?
Zur Vorfinanzierung der Ware und zum Aufbau des Unternehmens benötigten wir zusätz-
lich 1,2 Millionen Euro. Die Investition kam von Jürgen Hambrecht, dem ehemaligen CEO von
BASF. Rund 500.000 Euro waren eine atypisch stille Beteiligung und 700.000 Euro ein Dar-
lehen. Seitdem arbeiten wir sehr eng und vertrauensvoll mit der Commerzbank zusammen, die
unser starkes Wachstum finanziert und uns wirklich den Rücken frei hält.
Und wie kam der Kontakt zu Jürgen Hambrecht zustande?
Über einen Businessplanwettbewerb lernten wir ihn kennen. Wir nahmen an unterschiedli-
chen Wettbewerben teil. Das kann ich jedem nur empfehlen. Es schadet nicht, einen Businessplan
zu schreiben und intensiv das eigene Konzept zu durchdenken. Wir konnten den Weconomy-
Wettbewerb vom Handelsblatt gewinnen und als Preis gab es ein Wochenende mit Top-Mana-
gern. Dort trafen wir Jürgen Hambrecht. Er meinte: „Jungs, schickt mir euren Business- und
Finanzplan, dann treffen wir uns noch einmal und kriegen die Finanzierung schon hin.“
Was meinst du, warum hat er sich für euch entschieden?
Wegen des Teams. Herr Hambrecht hat sich sein Leben lang für Menschen entschieden und
dabei seinem Bauchgefühl mehr vertraut als seinem Verstand. Hinzu kamen 6 000 verkaufte Pro-
dukte und 100 Händler im Netzwerk, damit haben wir unsere Vertriebspower bewiesen. Zudem
sind wir bei der Finanzierung der ersten Phase selbst ins unternehmerische Risiko gegangen und
haben diese Einlagen auch im Unternehmen gelassen. Das kam an. Auch benötigten wir die Finan-
zierung hauptsächlich zur Vorfinanzierung der nächsten 12 000 Produkte. Wir haben das Geld ja
nicht in teure Autos und Werbekampagnen gesteckt. Diese Mischung war wohl ausschlaggebend.
Hinzu kommt, dass wir unsere Produktidee innerhalb von 30 Sekunden erklären können. Ich
war letztens selbst in der Jury bei einem Businessplanwettbewerb in Berlin. Ich sollte das Poten-
zial eines neuen Edelmetalls für den Fahrzeugbau bewerten. Nur, um einen ersten Prototypen
zu bauen sind weitere vier Jahre wissenschaftliche Forschung notwendig. Ob ich da investieren
sollte, könnte ich gar nicht bewerten.
In den letzten Jahren seid ihr schnell gewachsen. Wie habt ihr das Unternehmen von vier
auf 54 Mitarbeiter skaliert?
Mit dem Einstellen neuer Kollegen haben wir lange gewartet. Mein Standpunkt war: Lasst
uns am Kostenplan festhalten und dafür lieber länger arbeiten. Doch auch das hat seine Grenzen.
2011 haben wir uns mit einer relativ schmalen Mitarbeiterdecke „durchgewurschtelt“, bis wir
gemerkt haben, dass so ein starkes Wachstum nicht mehr ohne weitere Mitarbeiter zu stemmen
ist. 2012 fingen wir an, umfangreich einzustellen. Im Januar waren es sechs bis sieben Mitarbeiter.
In den folgenden Monaten kamen dann rund zwei bis drei neue Mitarbeiter pro Monat dazu.
Seit Anfang 2014 beschäftigen wir etwas mehr als 50 Mitarbeiter und haben damit ein ganz gutes
Niveau erreicht. Zukünftig wollen wir uns hauptsächlich im internationalen Vertrieb und in der
Entwicklung verstärken.
82 ergobag

Wie findet ihr die passenden Mitarbeiter?


Es gibt eine Formel, um den passenden Mitarbeiter zu erkennen. Stell dir vor, du triffst einen
Mitarbeiter im Supermarkt. Du siehst ihn, er dich aber nicht. Was machst du? Erste Möglichkeit:
Du willst dich hinter einem Regal verstecken, wenn du ihn siehst. Diesen Mitarbeiter sollte man
niemals einstellen, selbst bei außergewöhnlichen fachlichen Fähigkeiten. Zweite Möglichkeit: Du
gehst einfach weiter und dir ist es egal, ob er dich sieht. Im Zweifelsfall grüßt du ihn. Auch in
diesem Fall sollte man den Mitarbeiter nicht einstellen. Die letzte Möglichkeit ist, du freust dich
ihn zu sehen, hältst etwas Smalltalk mit ihm, und dann geht jeder seines Weges. Nur diese Mit-
arbeiter sollte man sofort einstellen.
Zu Beginn sind wir diesem Prinzip gefolgt. Die menschliche Seite war uns wichtiger als die
fachliche, und wir haben viele junge Absolventen und Personen aus unserem Umfeld eingestellt.
Dabei haben wir darauf vertraut, dass sie ihre Rolle finden werden. Meine Schwester hat bei-
spielsweise bei uns ihre Ausbildung gemacht und mein Bruder ist inzwischen unser Vertriebsleiter.
Svens Bruder leitet das Produktmanagement und seine Frau das Marketing. Das waren die ersten
Mitarbeiter – alle aus der Family.
Seit Frühjahr 2013 haben wir bewusst angefangen Know-how-Träger zu holen. Beispielsweise
haben wir Michael Eisenbach von Porsche Consulting für uns gewinnen können oder mit Klaas
Schröder einen Marketing-Profi von Eastpak mit über zwölf Jahren Berufserfahrung. Auch für
den Vertrieb konnten wir Mitarbeiter mit teilweise 20 Jahren Erfahrung ins Unternehmen holen.
Damit bringen wir ergobag auf eine neue Stufe der Professionalität.
Wie hat sich die Führung und Steuerung des Unternehmens verändert?
Das Büro in der Subbelrather Straße, welches schon unser zweites und ungemein größer als
das vorherige war, lag in der ersten Etage und hatte 170  Quadratmetern. Drei Monate später
haben wir die dritte Etage dazu genommen und nach weiteren drei Monaten haben wir das Erd-
geschoss bezogen. Glücklicherweise wurde immer dann eine Etage frei, als wir sie brauchten. Aber
wir haben schnell bemerkt, dass zwischen den Etagen viel Kommunikation verlorengeht. Darum
haben wir uns für die 1 000 Quadratmeter Bürofläche in der Venloer Straße in Köln entschieden.
Und heute sind alle Büros belegt.
Auch sonst hat sich extrem viel verändert. Irgendwann merkst du, dass du deine Rolle nicht
mehr durch das Erhöhen des eigenen Arbeitspensums ausfüllen kannst, weil du beispielsweise
gleichzeitig in Asien die Produktion checken musst und dem Team in Köln als Ansprechpartner
zur Verfügung stehen willst. Von mehreren Teams und Mitarbeitern bekamen wir das Feedback,
dass sie in Summe happy und zufrieden sind, nur am Informationsfluss mangele es. Da mussten
wir handeln. Wir zogen eine zweite Führungsebene ein: Produktmanagement, Innendienst, Ver-
trieb und Marketing. In jedem Bereich bauten wir Führungskräfte und Teams auf. Im Marke-
ting hast du beispielsweise die Teams für Webdesign, Kommunikations-PR und Anzeigen oder im
Produktmanagement sind es Einkauf und Design am Produkt. Darüber hinaus bauen wir gerade
einzelne Business Units (z. B. Kids, Streetwear, Fashion etc.) mit eigenen Kompetenzteams auf.
Zudem haben wir in 2013 halbjährliche Personalgespräche eingeführt, um Ziele festzulegen und
den Erreichungsgrad zu checken. Aber auch auf weiche Themen legen wir großen Wert. Und mit
dem neuen ERP-System haben wir unsere Prozesse auf ein neues Niveau gehoben.
Inzwischen haben wir auch eine Meeting-Kultur etabliert. Es gibt jede Woche Teammeetings
und zumindest mit einigen Personen Einzelgespräche. Das hat extrem viel verändert. Wenn um
13 Uhr Meeting ist, dann bin ich auch um 13 Uhr da. Sonst sagen die anderen „hey, wie gehst du
mit meiner Zeit um. Entweder rufst du an, oder du schreibst, wenn du zu spät bist. Sonst sei bitte
auch pünktlich.“ Die neue Verbindlichkeit ist eine echte Veränderung. Das war anfangs nicht so.
Einmal im Monat haben wir ein Meeting mit allen Mitarbeitern und geben ein Status-Update.
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Aber auch auf gemeinsame Aktivitäten legen wir viel Wert. Beispielsweise spielen wir im Hof
Speedminton oder wir grillen. In 2013 waren wir mit dem ganzen Team ein Wochenende in Hol-
land segeln und 2014 geht’s zum Kitesurfen nach Tarifa. Diese Kombination aus einer Nice-and-
easy-Startup-Kultur, mit Kicker und Tischtennis, und die zunehmende Professionalisierung ist
eine tolle Mischung.
Was waren die Herausforderungen beim Aufbau des Führungsteam?
Du musst dich ganz klar fragen: Welches Teammitglied kannst du zu einer Führungskraft ent-
wickeln? Ein ganz sensibles Thema. Damit würde ich mich wirklich auseinandersetzen. Manche
Mitarbeiter, die extrem viel in der frühen Phase geopfert haben und nun eine tragende Rolle im
Unternehmen spielen, erheben manchmal den Anspruch auf eine Führungsposition, obwohl ihr
Naturell nicht dazu passt. Einer unserer Vertriebler ist wirklich bombastisch. Er steht vor zehn
Verkäuferinnen, erklärt ergobag und danach sagen alle, wie geil ist der denn. Klar, die Verkäufe-
rinnen empfehlen nur noch ergobags. Aber als Vertriebsleiter wäre er im Moment noch eine Kata-
strophe und würde nicht glücklich werden mit der zusätzlichen Verantwortung. Er ist der größte
Schussel unseres Planeten. Es wäre natürlich falsch ihn gegen sein Naturell zum Vertriebsleiter zu
machen. Stattdessen sollte man seine Stärken im Vertrieb fördern. Die Entscheidung muss man
offen ansprechen und erklären. Das ist ein wirklich wichtiges Thema.
Eine gute Führungskraft muss Empathie und Zuverlässigkeit mitbringen. Sie muss sich selber
gut organisieren können um andere zu organisieren und deren Aufgaben zu priorisieren. Und wir,
die Gründer müssen mit ihnen regelmäßige Führungs-Workshops durchführen. Die Entwick-
lung von Führungskräften braucht einfach Zeit und die nötige Aufmerksamkeit. Aber schon sehr
schnell können sie einem viele Aufgaben abnehmen und die eigene Philosophie ins Unternehmen
tragen. Alternativ kann man natürlich auch externe Führungskräfte anwerben. Hier muss man
natürlich darauf achten, dass sie zur eigenen Kultur passen.
Konntest du zum Aufbau der Unternehmensstrukturen Theorien und Ansätze aus deinem
BWL-Studium nutzen?
Weniger... Am wichtigsten ist es wohl, Excel benutzen zu können …
… Eine andere Möglichkeit ist es, nach einer ersten Wachstumsphase erfahrene Executives und
MBAs ins Unternehmen zu holen, um Prozess und Strukturen auf Effizienz zu trimmen …
Den Weg sind wir mit Michael Eisenbach, unserem ehemaligen Porsche-Consulting-Berater
gegangen. Er kennt sehr gut mit Prozessen aus und hat eine unheimliche Kompetenz im Bereich
Logistik, weil er schon fünf Logistikunternehmen optimiert hat. Hin und wieder muss ich ihn
aber auch bremsen. Beispielsweise meinte er, unsere Telefonzeiten seien zu lang, die müssten
wir verkürzen. Da habe ich mein Veto eingelegt. Unsere Mädels und Jungs im Kundenservice
sind Menschen und keine Roboter. Wir wollen auch nicht das Serviceteam verkleinern, son-
dern in jedem Gespräch möglichst weitere Produkte verkaufen – und das Ganze mit der netten,
charmanten ergobag-Art in der Stimme. Beim Etablieren professioneller Strukturen darf unsere
Kultur nicht auf der Strecke bleiben, sonst wären in einem Jahr 15 Mitarbeiter weg. Deswegen
müssen wir als Gründer die Professionalisierung gestalten und können diese Aufgabe nicht ein-
fach blind den Executives und MBAs übertragen.
Wie haben sich deine Aufgaben seit der Gründung verändert?
Ich fahre jetzt nicht mehr jeden Tag raus und führe Neukundengespräche, gebe Schulungen
oder verkaufe auf den Ranzenpartys. Vieles übernimmt jetzt unser Führungsteam. Jeder ist für
seinen Bereich verantwortlich, muss für eine hervorragende Unternehmenskultur sorgen und die
Leitlinien für sein Team vorgeben. Wir Gründer können jetzt auch mal auf eine Messe nach Tokio
Florian Michajlezko 85

gehen oder einen Rucksack für Studenten entwickeln und ihn „pingponq“ nennen. Diese Frei-
heiten haben wir jetzt.
Wie geht es weiter?
Anfangs dachten wir: Es ist cool, etwas über zwei oder drei Jahre aufzubauen und dann ein
neues Projekt zu starten. Das sehen wir immer noch so. Gerade haben wir ein neues Projekt
gestartet, die Familienbande. Das ist ein Fachhandelskonzept für Babyprodukte, und der Pilot-
store wurde 2013 in Freiburg eröffnet. Im Juli 2014 folgte der nächste in Baden-Württemberg,
und aktuell suchen wir nach einer Fläche für das dritte Geschäft in einer der großen deutschen
Städte. Für die Startphase konnten wir teilweise auch die ergobag-Struktur nutzen. Genauso bei
den neuen Marken pingponq, Tivity und Affenzahn. Warum sollten wir uns den Stress der letzten
drei Jahre ein zweites Mal antun und die gesamte Organisation noch einmal auf der grünen Wiese
hochziehen? Stattdessen könnten wir alle Mitarbeiter in einer übergeordneten GmbH zusam-
menführen und für die einzelnen Produktmarken, wie ergobag, pingpong & Co, einzelne Busi-
ness Units gründen. In diesen Geschäftseinheiten haben die jeweiligen Vertriebs-, Marken-, Pro-
duktmanager und Entwickler den Hut auf und greifen parallel auf gewisse „Shared Ressources“
zu. Mit dieser Infrastruktur könnte man neue Projekte wie am Fließband starten. Wir haben noch
unfassbar viele Ideen für Taschen, die die Welt noch braucht.
Florian, wir danken dir für das Gespräch.
fritz-kola
Mirco Wolf Wiegert
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C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_6,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
88 fritz-kola

Ein Gegenentwurf zur „Allerwelts-Cola“


Einmal Cola, immer Cola? Muss das wirklich sein? Die Antwort von Lorenz Hampl und Mirco
Wolf Wiegert lautet: nein! Bereits als Studenten fassen sie im Jahr 2002 den Beschluss, eine andere
Cola auf den Markt zu bringen. Ihre Kola. Die fritz-kola. Sie lagern die ersten Kisten in Wasch-
räumen und Wohnungskellern und tingeln in Hamburg von Bar zu Bar. Mit Erfolg: Die Gast-
ronomen freuen sich über die alternative braune Brause. Ihr schwarz-weißes Unternehmenslogo
gestalteten Hampl und Wiegert selbst. Aus Mangel an Kapital und Furcht vor Urheberrechtspro-
blemen ließen sie von ihren Köpfen einen Scherenschnitt anfertigen. Fertig war das Design. Das
Auftreten und die Idee der beiden Jugendfreunde kam in der Szene immer besser an: Im Feb-
ruar 2003 gründeten sie die fritz-kola Hampl und Wiegert GbR, 2004 nahmen die Hamburger
Frucht-Limonaden mit in ihr Angebot auf. Seit 2005 geht fritz-kola nicht mehr ausschließlich
im Direktvertrieb über die Theke, sondern hat auch den Weg in den Getränkefachgroßhandel
gefunden. Produziert werden fritz-kola und die Limonaden von verschiedenen Lohnbrauereien.
Die Produkte haben inzwischen Kultstatus erreicht und sind über die deutsche Landesgrenze
hinaus bekannt. Zum Thema Abfüllmenge und Umsatzzahlen hüllen sich Hampl und Wiegert
bewusst in Schweigen. Fest steht nur: Bereits seit geraumer Zeit haben die Hamburger die Milli-
onengrenze bei der Zahl der jährlich abgefüllten Flaschen überschritten.

Wie seid ihr auf den Pfad des Unternehmertums gekommen?


Lorenz und ich kennen uns bereits seit 30 Jahren. Wir waren schon gemeinsam bei den Pfad-
findern – mit Gitarre und Lagerfeuer. Lorenz hat nach der Schule eine Ausbildung zum Indust-
rieelektroniker und ich eine zum Speditionskaufmann gemacht. Danach haben wir studiert: Er
Medientechnik, ich Außenwirtschaft. Als unsere Studien dem Ende entgegengingen und klar
war, dass wir wieder arbeiten müssen, verfestigte sich der Gedanke: Wenn wir schon wieder ran
müssen, dann aber nicht selbstausbeutend. Ein schöner Tag mit nicht zu viel Arbeit, um uns
herum Leute, die wir mögen, und an Dingen arbeiten, die uns Spaß machen – so war unsere Vor-
stellung. Aber wir wussten noch nicht, was wir machen sollten. Wir sind dann auf eine Interrail-
Tour gegangen und haben angefangen, ein Ideenbuch zu führen. Darin haben wir alle möglichen
Ideen notiert: Coffee Shop, Hostel, Putzkolonne.
Warum habt ihr euch für Kola entschieden?
Es hat nichts mit neuen Medien oder Computern zu tun. Denn wir kommen ja nicht aus der
Techszene. Die Kola hat schlicht den meisten Spaß versprochen: arbeiten und viel in Cafés und
Bars unterwegs sein. Dazu kommt: Wir können etwas produzieren, es haptisch erleben. Und Kola
trinken alle gerne. Die Herausforderung war sicherlich auch ein Kick. Wir haben immer geunkt,
Mirco Wolf Wiegert 89

dass es doch möglich sein muss, eine bessere Kola zu machen als die große Bekannte. Also haben
wir uns herangewagt.
Was waren eure ersten Schritte?
Zunächst haben wir auf Papier aufgeschrieben, was wir gerne hätten: Nicht so süß, höhere
Koffeinmenge und einen Hauch Zitrone. Dann haben wir einfach Kola-Rezepte gegoogelt. Mit
der Zutatenliste, unter anderem Coca-Blätter und Koffein, gingen wir zu einer Apotheke. Der
Apotheker hat uns sofort wieder hinausgeworfen. Wir waren branchenfremd und uns wurde
schnell klar, dass wir jemanden brauchen, der uns hilft, das Rezept zu entwickeln. Wir haben dann
so lange quer durch Deutschland telefoniert, bis wir jemanden gefunden hatten, der uns für einen
schmalen Taler hilft. So konnten wir die ersten „Testobjekte“ erstellen. Das war im Herbst 2002.
Zu dieser Zeit habe ich in einem Studentenwohnheim gewohnt. An einem Barabend haben wir
zwei Geschmacksmuster dem Praxistest unterzogen. Wir haben unsere Kola in Bierflaschen abge-
füllt und im Kopierladen Etiketten gedruckt. Die Partner für den Kola-Testlauf waren Rum und
Whisky. Danach haben wir uns für eine Rezeptur entschieden und zeitnah die Produktion der
ersten 170 Kisten fritz-kola beauftragt. Im Januar 2003 haben wir die Kisten mit einem gemie-
teten Lastwagen abgeholt und sie in allen verfügbaren Kellern und Garagen gelagert. Meine
Eltern standen nur kopfschüttelnd da: „Jung, warum tust du dir das an?“
Wie ging es weiter?
Es war klar: Wir wollen selbstständig werden. Und wie das funktioniert, müssen wir jetzt
lernen. Dass daraus etwas so Großes wird, war nicht geplant. Vielmehr dachten wir, dass es ein
Projekt ist, durch das wir die Grundlagen der Selbstständigkeit lernen. Danach wollten wir etwas
Neues machen.
Wie habt ihr euch vorbereitet?
Durch mein Außenwirtschaftsstudium wusste ich, was in einen Geschäftsplan muss und hatte
ein Grundverständnis von Marketing. Den Geschäftsplan haben wir allerdings nicht in epischer
Breite ausgearbeitet, er war nur eine Seite lang. Wir haben darin die wichtigsten Themen abge-
handelt, an denen wir uns dann später grob orientiert haben. Das hat auch völlig gereicht für die
ersten Schritte.
Welche Aspekte habt ihr in eurem Geschäftsplan aufgelistet?
Womit verdiene ich Geld? Decken die Einnahmen meine Kosten? Die zentralen Fragen eben.
Ich sehe häufig Gründer, die einen 40-seitigen Geschäftsplan schreiben, viel Marktforschung
machen, aber noch nicht ein Produkt verkauft haben. Das ist meiner Meinung nach des Guten zu
viel. Aber ein kompakter Geschäftsplan ist sicherlich notwendig. Wer sind unsere Kunden? Wie
muss ich mein Produkt aufgestellt haben? Was darf das Produkt kosten? Was muss ich erlösen?
Wie erreiche ich die Kunden? Wie sind die Abläufe? Was mache ich dafür, dass die Kunden
mich mögen? Man muss sich einmal mit seinem Partner auf die Inhalte verständigen und den
Plan dann als Leitlinie nehmen. So kommt man über die ersten Monate, vielleicht sogar Jahre.
Wir machen auch jetzt immer noch jedes Jahr einen Plan. Er ist für uns sehr wichtig. Ohne den
Plan würde ich nicht in ein neues Jahr starten. Unsere Mitarbeiter sind involviert, alles hat Hand
und Fuß. Im ersten Plan standen noch sehr viele Schätzungen und Annahmen.
Ein wichtiger Teil beim Geschäftsstart ist die Marktanalyse. Wie habt ihr sie betrieben?
Unser Markt war Hamburg. Zu diesem Zeitpunkt war es nicht relevant, wie präzise die
Zahlen sind. Grobe Schätzungen haben völlig ausgereicht.
90 fritz-kola
Mirco Wolf Wiegert 91

Ihr seid lokal in Hamburg gestartet. Warum?


Wir kommen aus Hamburg. Hier zu starten hatte den großen Vorteil, dass man alles selbst
machen konnte und einen guten Überblick behält. Wir haben dadurch schnell dazulernen
können.
Markenaufbau und -entwicklung: Wie habt ihr das geschafft?
Wir hatten so gut wie kein Budget. Aber wir brauchten ein Logo und einen Namen. Wir
haben zunächst eine Liste an Namen zusammengestellt, die wir für ein norddeutsches Produkt
passend fanden. Damit haben wir uns vor ein Einkaufszentrum in Hamburg gestellt und die Pas-
santen gefragt, welchen Namen sie am besten finden würden. Und dabei machte der schöne nord-
deutsche Name Fritz das Rennen. Eine Logo-Entwicklung kostet schnell 20.000 Euro – aber die
hatten wir nicht. Also haben wir einfach unsere Gesichter im Scherenschnitt dargestellt. Das ist
nicht teuer und man kann es sich für 600 Euro beim Patentamt schützen lassen. Die Entschei-
dung für schwarz-weiß fiel, weil das beim Druck von Werbematerial die günstige Variante ist.
Und so haben wir mit kleinem Geld unsere Marke kreiert.
Wie habt ihr den Start finanziert?
Wir haben unsere Bausparverträge aufgelöst. Das hat uns 7.000 Euro gebracht. Diese Summe
war unser Startkapital und wir haben viele Jahre kein weiteres Geld aufgenommen. Es hat einige
Zeit gedauert, bis wir uns zum ersten Mal Geld geliehen haben. Wir haben unsere Finanzlage
von Anfang an gut dokumentiert. Als wir dann das erste Mal zur Bank gegangen sind, konnten
wir valide Zahlen vorlegen. Dadurch konnte die Bank sehen, dass unsere Idee solide ist und
funktioniert.
Gehen wir noch einmal konkret in die Anfangszeit zurück: Am 28. Februar 2003 wird die
Hampl und Wiegert GbR angemeldet. Der erste Unternehmenssitz ist ein Studentenwohn-
heim in Hamburg-Othmarschen. Ihr hattet eure 170 Kisten auf Lager. Wie habt ihr die nun
vertrieben?
Mein Partner hatte eine Golf und ich einen alten VW Bus. Beide haben wir vollgepackt, sind
von Bar zu Bar gelaufen und haben Cafés besucht. Kurz gesagt: Wir sind rumgetingelt, um unsere
Kisten zu verkaufen.
Wie war die Reaktion?
Die meisten haben gesagt: Das braucht kein Mensch! Aber es waren einige dabei, die sagten,
„klasse, endlich mal eine andere Cola, die probieren wir aus“. Die Quote war am Anfang 1:20.
Unsere Strategie war: Kauf jetzt eine Kiste und wir versprechen dir, dass wir jede einzelne Flasche
wieder zurücknehmen, wenn du die Ware nicht los wirst. Die Gastronomen kannten uns nicht,
wir waren zwei Studenten, die durch die Stadt gezogen sind. Natürlich hätte es sein können, das
die Gastronomen vier Wochen später anrufen und keiner geht ans Telefon. Aber bei einer Kiste
war das Risiko natürlich überschaubar. Wären die paar Euro weg gewesen, wäre es wohl auch kein
Beinbruch gewesen. Aber so war es dann ja nicht. Im Gegenteil: Nach und nach fanden immer
mehr Gastronomen die Idee gut, endlich einmal eine andere Cola zu verkaufen, statt immer nur
die gleiche Brause über die Theke zu schieben.
Wie habt ihr euch professionalisiert?
Wir haben Anfang 2004 ein eigenes Lager in Ellerbek bei Hamburg bezogen. Da hieß es dann
endlich Waschküchen und Kellerräume ade. Von da an konnte man deutlich sehen, wie Struk-
turen entstanden sind.
92 fritz-kola

Bereits im Jahr 2004 habt ihr auch die Produktpalette um Fruchtlimonaden erweitert. Was
war der Auslöser dafür?
Nachdem die Gastronomen erkannt hatten, dass wir wissen, was wir tun, haben sie uns
gebeten, weitere Getränke zu entwickeln. So nach dem Motto: Macht doch jetzt mal das und das.
Ihr könnt das doch.
Wie habt ihr sichergestellt, dass eure Entwicklungen beim Kunden ankommen? Habt ihr
Verkostungen gemacht oder im eigenen Freundeskreis getestet?
Nein, nur Lorenz und ich haben die Limonaden abgeschmeckt.
Für die weitere Produktentwicklung habt ihr sicherlich mehr als 7.000 Euro gebraucht.
Konntet ihr sie aus dem damaligen Cashflow finanzieren?
Wir haben uns die ersten Jahre über den Cashflow finanziert. Und wir haben auch keine
Gelder herausgenommen. Wir haben fritz-kola aufgebaut, nebenher das Studium abgeschlossen
und später anderswo gearbeitet, um Geld zu verdienen. Die ersten zwei Jahre haben wir fritz-kola
nebenher in Teilzeit gemacht. So habe ich beispielsweise in der Buchhaltung einer Optikerkette
gearbeitet.
Habt ihr Ratschläge bekommen, Geld aufzunehmen und Vollzeit an fritz-kola zu arbeiten,
um schneller zu wachsen?
Ja, Ratschläge bekommt man jeden Tag. Aber unser Plan war, finanziell autark zu bleiben.
Wir wollten auch nicht zu schnell zu groß werden. Denn man macht anfangs eine Menge Fehler.
Unser Ansatz war, lieber auf kleinem Level Fehler zu machen, und diese auch mit unserem Geld
zu bezahlen. Wenn man sich Geld leiht und direkt auf einem höheren Level bewegt, wirken sich
Fehler gleich viel stärker aus.
Welche Gebiete sind besonders fehleranfällig?
Die richtigen Partner und Lieferanten auszuwählen. Oder: Die richtige Antwort auf die Frage
zu finden, was mich die Produktion einer Limonade kostet. Alleine bis man die Kalkulation her-
ausfindet, ist es ein langer Weg. Man muss richtig im Geschäft sein, bis man das Thema im Griff
hat. Ein konkreter Fehler: Wir haben einige Zeit probiert, fritz-kola in Kartons statt in Kisten
zu verkaufen. Das hat aber nicht funktioniert. Die Großhändler haben uns die Kartons wieder
zurückgeschickt und sie standen stapelweise bei uns im Hof. Aber Fehler passieren. Man muss
allerdings daraus lernen.
Seit 2005 vertreibt ihr auch über den Getränkefachhandel. Inwiefern war das wichtig? Und:
Was hat sich dadurch geändert?
Wir müssen seitdem weniger selbst ausfahren. Die Getränkehändler holen sich die Ware bei
uns im Lager ab und vertreiben sie an ihre Kunden weiter. Wir haben extra jemanden eingestellt,
der das Lager besetzt und betrieben hat. Damit hatten wir mehr Zeit, um neue Kunden zu akqui-
rieren und Prozesse zu optimieren. Klassische Kundenakquise ist bis heute unsere Hauptaufgabe.
Ihr seid mit der Zeit größer und größer geworden. Inwiefern spielt der Vergleich mit Coca-
Cola eine Rolle?
Wenn ich in der Zeitung über das Absatzvolumen anderer Kolas und anderer Getränkeher-
steller lese, muss ich eindeutig feststellen, dass wir nach wie vor unter „ferner liefen“ einzuordnen
sind. Wir sind viel zu klein für solche Vergleiche. Berührungspunkte mit anderen großen Kolas
gab es allerdings schon einmal. Wir haben vor einiger Zeit eine Posteraktion veranstaltet. Auf dem
Bild trinkt ein Kussmund eine schwarz-weiße fritz-kola mit einem gelben Strohhalm Die andere
Hand gießt eine rot-weiße Kola-Flasche aus. Das mit der Farbgebung war eine Anspielung auf
Mirco Wolf Wiegert 93

eine andere Kola. Daraufhin haben wir Post bekommen. Inhalt: Es ist ja toll, was ihr da macht,
aber lasst solche Aktionen doch bitte sein, sonst müssen wir weitere Schritte unternehmen. Wir
waren erschrocken, haben uns entschuldigt und zugesagt, dass wir so eine Aktion nicht noch
einmal machen. Die Poster haben wir wieder eingeholt und geschreddert.
Auch jenseits von Hamburg wird fritz-kola vertrieben. Seit 2006 in den Niederlanden, Ös-
terreich, der Schweiz und in Spanien. Hat die Story von den Hamburger Jungs auch außer-
halb der Stadt funktioniert, oder hattet ihr andernorts mehr Probleme?
Nein, gar nicht. Viele Gastronomen finden gut, dass sie endlich eine Alternative haben. Sie
sagen, dass ihnen die Möglichkeit gefällt, auch etwas anderes anbieten zu können. Außerdem:
Wir haben sehr hochkarätige Produkte, das differenziert uns von Wettbewerbern. Denn es reicht
nicht, einfach eine bunte Limonade in die Flasche zu füllen, das Produkt muss auch wirklich gut
sein. Es gibt viele kleine Details, die auf den ersten Blick nicht wichtig erscheinen. Aber auf genau
die kommt es an.
Worauf muss man achten?
Vor allem muss es schmecken. Und es ist erschreckend, wie viele Leute das vergessen. Wenn
ich mich umschaue, finde ich viele Limonaden, die nicht lecker sind. Das macht nicht wirklich
Sinn. Denn, die verkauft man einmal und das war es.
Wie habt ihr die Länder ausgewählt, in die ihr mit fritz-kola gegangen seid?
In der Regel fragen Gastronomen von sich aus bei uns an. Die Gastrowelt ist über Landes-
grenzen hinweg vernetzt. Das ist natürlich gut für uns, denn so erreichen wir ohne viel Aufwand
neue Kunden. Vieles ergibt sich aus bestehenden Kontakten.
Ihr seid kontinuierlich weiter gewachsen. Wie habt ihr den Schritt zu mehr Professionali-
sierung geschafft?
Wichtig ist: Es waren viele kleine Schritte. Bei uns war die Entwicklung auch recht langsam.
Wir haben Personal angeworben, uns immer wieder fortgebildet, viel diskutiert, uns ausgetauscht,
unsere Vorgehensweise besprochen, die nächsten Ziele geplant. Wir haben gemacht, was nötig ist,
um voranzukommen.
Hattet ihr externe Berater oder Mentoren?
Offen gesagt: Wir sind recht „Berater-resistent“. Wir halten uns auch vom Branchenaustausch
fern. Lieber etwas kleiner und vorsichtiger, das ist unsere Devise. Die Masse ist nicht zwangsläufig
immer der große Vorteil. Wir gehen lieber einen kleinen, sauberen Schritt nach dem anderen.
Und: Mittlerweile haben wir ziemlich gute Mitarbeiter. Das ist viel mehr wert als jeder externe
Berater.
Wir habt ihr eure Mitarbeiter rekrutiert?
Viele haben zunächst ein Praktikum bei uns absolviert. Wenn sie dann ihr BWL-Studium
abgeschlossen haben, holen wir einige von ihnen fest zu uns. Wichtig ist für uns, dass es Personen
sind, die sich an neue Themen herantrauen. Von einem BWLer kann ich erwarten, dass er sich in
Themenfelder hineinarbeitet, die er nicht kennt und für die Firma eine Lösung dazu erarbeitet.
Wir haben mit diesen Maßstäben und diesem Vorgehen gute Erfahrungen gemacht.
In welchem Gebiet hast du in den vergangenen Jahren am meisten gelernt?
Vor allem in der Produktentwicklung, aber auch beim Thema Mitarbeiterführung. Heute
würde ich da vieles ganz anderes machen, vor allem in der Kommunikation. Mitarbeiter stellen
recht viele Fragen. Das verlangt klare Aussagen und eindeutige Ansagen. Es ist ganz wichtig, dass
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Mirco Wolf Wiegert 95

man die Dinge unmissverständlich artikuliert. Doch das ist manchmal gar nicht so einfach, weil
man selbst keine Antworten hat.
Was machst du denn, wenn du selbst gerade nicht weißt, wo es langgehen soll?
Ich sage: Warte einen Moment, morgen sage ich dir dazu final Bescheid. Und dann habe ich
einige Stunden Zeit, mich in Ruhe damit zu beschäftigen, wie es weitergehen soll.
Irgendwann seid ihr an den Punkt gekommen, an dem ihr doch zur Bank gegangen seid
und Geld gebraucht habt. Wofür habt ihr die Finanzspritze benötigt?
Wir konnten unser weiteres Wachstum ohne Investitionen nicht stemmen. Wir hatten immer
mehr Kunden und stark gestiegene Anfragen. Natürlich haben wir uns dann irgendwann gefragt,
wie wir dieses stetig steigende Volumen mit unseren Ressourcen noch bedienen sollen. Es war
klar: Wir brauchten einige Kleinigkeiten. Gleichzeitig wussten wir aber, dass wir das Geld dafür
nicht haben. Mit eigenen Mitteln aus dem Cashflow konnten wir die nötigen Investitionen aber
nicht umsetzen.
Habt ihr einen Kredit aufgenommen?
Ja, ganz klassisch.
Also keine Business Angles oder Venture Capitalists (VC)?
Nein, das ist nicht unser Weg. Wir sind deshalb auch nur ab und an auf Startup-Veranstal-
tungen, denn da geht es ja meistens um Business Angles, Churn Rate und Burn Rate. Aber wir
sind in dieser Hinsicht tatsächlich recht langweilig und traditionell.
… und erfolgreich. Ihr seid 2010 mit dem Hamburger Gründerpreis „Aufsteiger des Jahres“
ausgezeichnet worden.
Wir sind schon bei der Rubrik „Gründer des Jahres“ gefragt worden. Allerdings hätten wir da
unsere Zahlen offenlegen müssen, das wollten wir aber nicht. Deshalb haben wir den Preis abge-
lehnt. Später sind wir dann noch einmal gefragt worden, ob wir die Auszeichnung als „Aufsteiger
des Jahres“ annehmen würden. Dazu muss man keine Zahlen offenlegen. Damit was es für uns
in Ordnung.
Warum legt ihr eure Zahlen nicht offen?
Der Markt ist nun einmal beinhart. Da ist es unserer Meinung nach nicht gut, den Wettbe-
werb mit Informationen zu versorgen – zumindest nicht mehr als notwendig. Der interessierte
Wettbewerber weiß ohnehin mehr über uns, als uns lieb ist. Aber wir wollen ihm nicht auch noch
valides Zahlenmaterial liefern.
Was macht den Markt so hart?
Du hast auf der einen Seite wirklich große Mitspieler, die sehr viel Geld und Möglichkeiten
haben. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Leute, denen es gelingt, irgendetwas in eine
Flasche zu füllen, und das dann auch zu verkaufen. Es gibt dabei durchaus Kandidaten, die recht
gute Limonade verkaufen.
Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, ein anderes Unternehmen zu kaufen? Gerade
dann, wenn ein neuer Player auf den Markt kommt?
Nein, das schluckt zu viele Ressourcen, die uns an anderer Stelle wichtig sind. Wir wollen uns
zunächst um uns selbst kümmern und um uns am Markt aufzustellen.
Wie geht es weiter?
Unsere Pläne lege ich nicht gerne im Detail offen. Aber es ist sicher keine Überraschung, wenn
ich sage, dass wir weiter sehr gute Kola und Limonaden verkaufen wollen. Wir haben inzwischen
96 fritz-kola

durch unsere neuen Ressourcen andere Möglichkeiten. Wir können heute Dinge machen, die wir
vor Jahren nicht machen konnten. Uns ist besonders wichtig, dass wir neben unternehmerischem
Erfolg auch Freude am Arbeiten haben. Bei unserer Tätigkeit treffen wir oft andere Unternehmer
oder Menschen, die wir vielleicht sonst nicht getroffen hätten. Wir sind in jedem Fall überzeugte
Unternehmensgründer.
Ihr bleibt fritz-kola als Gründer also auch auf lange Sicht erhalten?
Ja.
Keine Verkaufspläne?
Wir haben im Laufe der Zeit so viel gelernt und wir haben ganz viele spannende, neue Auf-
gaben. Ein Verkauf ist kein Thema.
Blicken wir noch einmal auf die Anfänge zurück: Die Leidenschaft für Kola oder die Aus-
sicht auf Selbstständigkeit – was war letztendlich die Triebfeder der Gründung?
Beides geht Hand in Hand. Auf der einen Seite war es natürlich die Leidenschaft, Unter-
nehmer zu sein, sehr viel Verantwortung zu haben und sehr viel Arbeit. Auf der anderen Seite ist
Kola, also Limonade, einfach ein sehr schönes Produkt. Sie ist lecker und man kann sie immer
sehr gut trinken. Ich hätte Schwierigkeiten mit hartem Alkohol, da hätte ich Skrupel ihn zu ver-
kaufen. Bei Limonade ist das anderes. Wir machen unsere Produkte aus Überzeugung. Das ist
nicht beliebig austauschbar.
Ihr hattet beide normale Jobs. Kannst du dir vorstellen, irgendwann wieder als Angestellter
zu arbeiten?
Eigentlich nicht. Ich glaube, wenn man einmal Unternehmer ist, sieht man, wie viele Mög-
lichkeiten man hat. Du kannst aufstehen, einen Plan für die nächste Zeit machen, stimmst dich
mit deinem Partner ab und legst los. Du bist sehr selbstbestimmt. Und dieser Luxus ist so groß,
dass ich ihn ungern eintauschen würde. Auch wenn ich als Angestellter vielleicht mehr Geld ver-
dienen würde. Aber Geld reicht für mich als Motivation nicht aus, um dafür meine unternehme-
rischen Freiheiten aufzugeben.
Aber als Unternehmer bist du abhängig von Kunden. Gab es keine Phasen, in denen du ge-
dacht hast, dass es besser gewesen wäre, Angestellter zu bleiben?
Nein, das hatte ich nie. Ich hatte natürlich schlaflose Nächte, aber Stress, Ärger und Probleme
gibt es überall mal. Letztlich liegt es an dir selbst, diese Abhängigkeiten zu beseitigen.
Welche Persönlichkeitsmerkmale muss ein Unternehmensgründer deiner Ansicht nach
mitbringen?
Ein hohes Maß an Eigenmotivation und viel Ausdauer. Er darf nicht scheu sein, aber auch
nicht blauäugig. Obwohl eine gewisse Blauäugigkeit auch hilft, einfach loszulegen. Ich bin der
Meinung, dass sich im Prinzip jeder selbstständig machen kann, der irgendwie klar denken kann.
Ich glaube aber, den meisten, die daherreden, man könne sich „ja mal selbstständig machen“,
fehlt der Mut. Und es ist auch eine gewisse Bequemlichkeit, die viele hindert. Denn gerade in
den ersten Jahren als Unternehmer, wenn es nur langsam, oder auch mal gar nicht läuft, bedeutet
Selbstständigsein dennoch viel Arbeit – besonders in Relation zum geringen Einkommen. Und
wenn man Familienvater ist, und fünf Euro mehr oder weniger einen Unterschied machen, kann
das ein Problem sein. Aber im Prinzip bleibe ich dabei: Jeder kann Unternehmer werden. Denn
letztlich ist sich selbstständig zu machen und für sich selbst zu sorgen das Normalste der Welt.
Mirco Wolf Wiegert 97

Ich habe sehr viel Respekt vor Auswanderern, die in einem fremden Land starten und ein Unter-
nehmen gründen.
Mirco, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Mirco Wolf Wiegert

Kotler, Philipp (2010); Grundlagen des Marketing; Pearson Studium


Giesinger Bräu
Steffen Marx
7

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_7,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
100 Giesinger Bräu

Einer, der auszog, um eine Brauerei in München zu


gründen
Große Konkurrenz in der Bierhochburg München? Für Giesinger Bräu kein Problem! Im Jahr
2008 gründeten Steffen Marx und Tobias Weber eine kleine Münchner Privatbrauerei – in einer
Doppelgarage auf einem Hinterhof in Giesing, die zuvor einem Metzger diente. Ihre ersten
Kunden lockten die jungen Bierbrauer mit einer Bierdeckel-Werbeaktion in den Briefkästen der
Nachbarn in ihren Hofladen. Das Besondere des Konzepts: Beim Giesinger Bräu werden Biere
und Bierspezialitäten in traditioneller Weise handwerklich hergestellt. Und: Vom Brauen, über
das Abfüllen bis hin zum Ausschank macht das Team von Giesinger Bräu alles in Eigenregie. Die
Bierbrauer möchten die Braukultur der bayerischen Landeshauptstadt bereichern, sie konzent-
rieren sich auf den regionalen Vertrieb im Raum München. Inzwischen ist ein achtköpfiges Team
für Giesinger Bräu im Einsatz, weiterer Personalausbau folgt. Steffen Marx lenkt die Geschicke
des Unternehmens inzwischen alleine, Tobias Weber ist ausgestiegen.
Die Brauerei ist seit ihrer Gründung kontinuierlich gewachsen. Allein zwischen 2008 und
2011 stieg der Ausstoß von 200 Hektolitern auf 1  200 Hektoliter jährlich. 2014 folgte der
nächste große Schritt für die Brauer aus Giesing: das eigene Brauhaus. Das bedeutet der Umzug
in eine neue, moderne Braustätte – mit deutlich erweiterten Kapazitäten. Die Brau-Marschrich-
tung für die nahe Zukunft: 5 000 Hektoliter pro Jahr. Zusätzlich zum Bierverkauf wird es eine
Gastronomie, Brauereiführungen und Braukurse geben. Auch Merchandising-Artikel gehören
zum Geschäft. Die Nähe zu Münchens Biertrinkern ist eines der Markenzeichen des Unterneh-
mens. Ein Beleg dafür, dass diese Strategie funktioniert: Giesinger Bräu ist es durch Crowdfun-
ding gelungen, einen Teil der Finanzierung für den Unternehmensumzug zu sichern.

Brauhaus-Chef oder Unternehmer: Was war dein Kindheitstraum?


Nichts von beidem. Ich habe zunächst einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Ich bin Bau-
jahr 1977, in Mecklenburg-Vorpommern groß geworden. Nach der Schule ging ich zur Bundes-
wehr, habe die Offizierslaufbahn eingeschlagen und bei der Bundeswehr studiert: Geodäsie &
Geoinformation an der Bundeswehrhochschule München. 1999 bin ich aus der Bundeswehr aus-
geschieden und nun Oberleutnant der Reserve. Ich wollte dann Brauwesen und Getränketechno-
logie studieren. Zwei Semester bin ich hingegangen. Bei einem Vorpraktikum habe ich schließ-
lich Tobias Weber, einen Braumeister, kennengelernt. Wir sind oft in den Hirschgarten gegangen,
einen Biergarten in München-Neuhausen. Bei sechs Maß hat man so manch gute Idee … Wir
sagten uns: „Was die anderen können, das können wir auch.“ Allerdings wollten wir nicht nur
Steffen Marx 101

einfach Bier brauen, sondern beispielsweise mit Fruchtbieren experimentieren. Darum haben wir
uns „Bierlaboratorium“ genannt. So hat alles angefangen. Das war im Jahr 2005.
Was waren eure nächsten Schritte?
Wir haben eine Annonce geschaltet: „Suchen kleine Brauanlage.“ Die Anzeige hat uns schon
einmal 100 Euro gekostet. Und dann läufst du diesem Hunderter hinterher, du willst das Geld
nicht in den Sand gesetzt haben. Wir fanden schließlich einen kleinen Raum, um die Anlage
aufzustellen. Es war eine Doppelgarage in einem Giesinger Hinterhof. Früher waren dort die
Kühlräume eines Metzgers. Wir haben renoviert, die Elektrik neu gemacht und unser Anlage
aufgebaut.
Tobias Weber hat noch ein halbes Jahr in seiner Firma gearbeitet und dann gekündigt. Ich
hatte noch Übergangssold von der Bundeswehr. Daher war unsere Finanzlage nicht ganz so dra-
matisch. Das erste Jahr haben wir in der Garage „herumgewerkelt“, die Brauanlage zusammenge-
kauft und Geld eingesammelt – denn Geld hatten wir keines. Wir haben einige Leute in unserem
Umfeld gefragt, ob sie uns ein paar Euros zur Verfügung stellen, und dafür stille Beteiligungen
herausgegeben. Auf diese Weise hatten wir recht schnell 50.000 Euro zusammen und damit sind
wir gestartet.
Wie habt ihr eure ersten Kunden gefunden?
Wir haben im Hof vor der Garage ein Fest veranstaltet und Freibier ausgeschenkt. Dazu
haben wir Bierdeckel gemacht, auf denen „Freibierdeckel“ stand, und haben diese in den angren-
zenden Stadtvierteln in die Briefkästen geworfen. Bei einem Bierdeckel im Briefkasten schaut
man schon mal eher hin, als bei einem Flyer. Zum Fest kamen knapp 400 Leute. Wir haben
ihnen gezeigt, was wir machen und natürlich kräftig ausgeschenkt. Daraus entstand eine Mund-
zu-Mund-Propaganda und wir gewannen unsere ersten Stammkunden.
Das heißt, ihr habt die ersten Produkte direkt an die Endkunden verkauft?
Genau, und das hat sich auch bis heute nicht sehr geändert. Wir haben 90 Prozent Hofver-
kauf. Allerdings haben wir auch schon recht früh – im Jahr 2007 – vier strategisch positionierte
Getränkemärkte akquiriert. Je einen im Norden, Osten, Süden und Westen der Stadt. Leute, die
weiter weg wohnen, sollten auch die Möglichkeit haben, an unser Bier zu kommen. Wir haben
nur eine Haltbarkeit von drei Wochen, weshalb wir diese Getränkemärkte jede Woche beliefern
müssen. Das ist natürlich aufwendig, aber wir machen es, um sicherzustellen, dass die Menschen
in den Münchner Vororten auch unser Bier bekommen. Ein Ausbau des Vertriebs, etwa in Rich-
tung Gastronomie, hätte keinen Sinn gemacht, weil wir mit der Produktion ohnehin nicht hin-
terhergekommen wären.
Gab es Rückschläge in dieser frühen Phase?
Ja, täglich. Unser Equipment war zusammengeschustert und teilweise haben wir improvisiert.
Minderwertige Sachen gehen mit der Zeit natürlich kaputt. Aber in dem Moment, in dem sie
kaputtgehen, wird erst einmal weiter improvisiert und weiter zusammengeschustert. Die Lebens-
zeit einiger Anlagenteile war nicht sonderlich lange und daraus resultierten jeden Tag andere
Schwierigkeiten. Gleichzeitig steigerte sich die Nachfrage. Es wurde also schnell deutlich, dass wir
unsere Produktion verbessern und ausweiten mussten. Im Jahr 2007 haben wir dann eine Fünf-
Hektoliter-Anlage gekauft. Ein Hektoliter sind 100 Liter, wir konnten damit also 500 Liter Bier
in einem Brauvorgang herstellen. Schon Anfang 2009 haben wir eine weitere Fünf-Hektoliter-
Anlage angeschafft.
Die frühe Phase war eine intensive Zeit – auch personell. Mein Braumeister Tobias Weber
schied aus und Simon Rossmann stieß zu uns. Er wollte auch Brauwesen studieren und musste
102 Giesinger Bräu
Steffen Marx 103

ein Vorpraktikum machen, das hat er bei uns absolviert. Er hat während seines Studiums weiter
bei uns gearbeitet und bei den Braukursen mitgeholfen. Anfang 2013 wurde Simon fertig. Jetzt
ist er Diplomingenieur für Brauwesen und wir haben ihn angestellt. Einen Braumeister haben wir
nicht mehr. Das Geld war sehr knapp, deswegen haben wir stark auf Azubis gesetzt. Flo Sommer
war unser zweiter Azubi. Er stand auf einmal vor der Tür und hat gefragt, ob wir ihn nicht aus-
bilden wollten. Ich habe gesagt: „Klar, komm rein, verdienen kannste aber nix.“ Mittlerweile ist
Florian als ehemaliger erster Brauer und Mitgesellschafter ausgeschieden und Simon leitet nun
die Ausbildung unserer Azubis.
2008 folgte die Gründung als GmbH. Wie kam es dazu?
Die Süddeutsche Zeitung hatte einen größeren Artikel über uns geschrieben. Im letzten Satz
des Beitrages stand, dass wir noch einen Investor suchen. Daraufhin hat sich ein Patentanwalt bei
uns gemeldet und 50.000 Euro auf den Tisch gelegt. Damit konnten wir weitermachen.
An welcher Stelle beziehungsweise in was habt ihr das Geld investiert?
In die Ausweitung der Produktion. Und man kann sich gar nicht vorstellen, wie viel Klein-
kram man braucht. Man muss große und kleine Fässer kaufen, Flaschen, Bügel und Etiketten.
Auch die Leergut-Thematik ist komplex. Flaschen und Träger gehen an die Kunden raus, aber
diese bringen sie erst nach einem halben Jahr wieder zurück. Außerdem haben wir über weitere
Ideen nachgedacht, wie z. B., ob wir damit anfangen möchten, Partys zu beliefern. Dazu braucht
man Gläser und Durchlaufkühler. Ein weiterer Ansatz waren Sixpacks, für die kleine Mitnahme
vor Ort im Hof. Wir haben von dem Geld auch einen neuen Azubi angestellt. Aber es hat sich
schnell summiert. Wir haben immer mehr Geld benötigt, weil sowohl wir als auch unser Pub-
likum immer größer geworden sind.
2008 haben wir einen weiteren Investor kennengelernt, den Rechtsanwalt Andreas W. Er hat
noch einmal einige Euros auf den Tisch gelegt. Schließlich haben die Investoren beschlossen/
geraten, eine GmbH zu gründen, um alles ordentlich zu dokumentieren und zu protokollieren.
Bis zu diesem Zeitpunkt war alles noch recht lose in einer offenen Handelsgesellschaft (OHG)
Wir haben uns bei dieser Gelegenheit auch umbenannt. Wir hießen immer noch Bierlabora-
torium. Aber für die Experimente mit den Fruchtbieren hatten wir keine Zeit, weil uns die Leute
das Helle förmlich aus den Händen gerissen haben. Wir kamen schon hier mit der Produktion
kaum noch hinterher. Seit 2008 heißen wir nun Giesinger Bräu beziehungsweise Giesinger Bier-
manufaktur & Spezialitäten Braugesellschaft mbH. Nach außen vermitteln wir dadurch mehr
Seriosität, Tradition und Innovation.
Wie habt ihr eure Marke entwickelt?
Unser erstes Logo haben wir selbst gebastelt: ein G in einem Kreis – der G-Punkt. Dann
haben wir Jürgen H. kennengelernt. Er ist in Berlin Professor für Schriften und Logos und hat
für uns ein professionelles Logo entwickelt. Wir nutzen es seit 2010 und werden es nicht mehr
ändern. Damit die Leute uns kennenlernen und verstehen, wofür Giesinger Bräu steht, veran-
stalten wir außerdem jedes Jahr ungefähr 40 Braukurse.
Sind die Kurse also ein Marketinginstrument?
Früher war das definitiv so. Heute bieten wir die Kurse an, weil die Nachfrage sehr groß ist.
Als Marketinginstrument brauchen wir sie nicht mehr. Unsere ersten Braukurse waren für 29
Euro pro Nase buchbar, acht Stunden, inklusive zwei Mahlzeiten. Wir hatten schon nach kurzer
Zeit keine freien Kapazitäten mehr. Deswegen haben wir den Preis hochgesetzt und sind inzwi-
schen bei 109Euro pro Person gelandet. Der Kurs dauert nun vier Stunden und es gibt einmal
Essen. 20 Personen kommen zu einem Kurs und es sind kaum Touristen dabei. Wenn unsere
104 Giesinger Bräu

Besucher sehen, wie wir arbeiten und was wir für eine tolle Geschichte zu erzählen haben, wird
sicher die Hälfte von ihnen zu Gästen. Kunden gibt es bei uns nicht, für uns sind sie alle Gäste.
Wie habt ihr eure Produktpalette aufgebaut?
Wir haben von Anfang an festgelegt, dass wir zehn traditionelle Sorten machen wollen. Das
Helle ist am beliebtesten, deshalb haben wir es immer im Programm. Daneben gibt es immer
noch eine zweite Sorte. Diese zweite Sorte kann ein saisonales Produkt sein, oder wir hören ein-
fach auf unsere Gäste. Wenn fünf, sechs Besucher in den Hof kommen und sagen: „Macht mal
ein dunkles Weißbier“, dann machen wir es. Wir müssen pro Brauvorgang 500 Liter brauen, das
sind letztlich 50 Träger. Und die müssen wir dann eben verkaufen.
Gibt es weitere Besonderheiten, durch die ihr euch von der Konkurrenz abhebt?
Wir begrüßen und verabschieden jeden Gast per Handschlag. So lernt man sich und vor allem
die Namen der Gäste kennen. Und wir sind alle per „Du“ miteinander. Es ist uns wurscht, ob ein
Richter oder eine Putzfrau vor uns steht.
Außerdem haben wir zwei Spezialitäten, die wir in 0,75-Liter-Prosecco-Flaschen anbieten.
Das eine ist das „Sternhagel“. Es ist unser Starkbier und mit 9,5 Prozent das stärkste der Stadt.
Die zweite Spezialität ist unser Weihnachtstrunk. Den gibt es nur bei uns. Es handelt sich hier um
einen Weißbierbock, in den wir beim Kochvorgang ein Netz mit Mandarinen, Zimt und Nelke
hineinhalten, um Aromen zu lösen. Dadurch ist es nicht mehr nach dem Reinheitsgebot gebraut
und wir dürfen es nicht Bier nennen. Aber es macht uns einfach Spaß, zu experimentieren. Etwas
ist von der Idee Bierlaboratorium also noch übriggeblieben.
Unser Motto ist grundsätzlich, dass wir etwas machen müssen, das die anderen nicht machen.
Auch wenn das manchmal gar nicht so einfach ist. Aber es zeichnet uns aus und unsere Gäste
wissen das zu schätzen. Deswegen akzeptieren sie auch, dass man bei uns ein, zwei Euro mehr für
seine Kiste bezahlt, als bei einer Großbrauerei.
Die Tage der umgebauten Doppelgarage neigen sich dem Ende zu, im Frühjahr 2014 steht
der Umzug in ein neues Brauhaus an. Wie kam es dazu?
Es war schnell absehbar, dass unsere umgebaute Doppelgarage auf Dauer zu klein sein wird.
Schon im Jahr 2010 haben wir deshalb mit der Suche nach einer neuen Bleibe begonnen, kamen
aber nicht so recht voran. Unsere Vorstellung war es, ein Brauhaus, sprich Wirtschaft und Sud-
haus unter einem Dach, zu haben. Außerdem musste ein Raum für den Hofverkauf zur Verfü-
gung stehen und Platz für die Braukurse bieten. Und: Das Haus musste in Giesing liegen.
Im Januar 2012 hatten wir uns auf eine Lizenz für einen Bierstand am Tag der offenen Tür
in der Großmarkthalle beworben. Wir lernten dort Matthias Schlick kennen, den Inhaber der
Eventagentur H+S, und er fragte uns, ob wir in die Trafohalle umziehen wollen. Er habe dort
150 Quadratmeter frei. Wir haben uns die Halle angeschaut und ihm gesagt, dass sie uns gefällt –
aber nicht reicht. Wir brauchten das komplette Haus. Allerdings war das so nicht realisierbar und
wäre auch nicht finanzierbar gewesen. Deswegen haben wir uns für die Hälfte des Gebäudes ent-
schieden. Dazu ist H+S als Mitgesellschafter eingestiegen. Wir haben also nicht nur die Immo-
bilie bekommen, sondern auch einen guten Vertriebspartner gefunden. H+S kennt sich natürlich
in der Gastronomie gut aus, und im hochwertigen Eventumfeld.
Was aber so ziemlich das Beste ist: Das Gebäude liegt nur 500 Meter von der Doppelgarage
entfernt. Es stammen zwar nicht alle Mitarbeiter aus Giesing, aber der eine oder andere ist hier
verwurzelt. Wir sind alle hierher gezogen, um kurze Wege zu haben. Es ist natürlich ein Luxus,
den wir uns gönnen, indem wir mitten in der Stadt wohnen. Und das wird sich mit dem Neubau
nicht ändern.
Steffen Marx 105

Wie seid ihr das Großprojekt Standorterweiterung und Umzug angegangen?


Wir haben einen Architekten, Statiker und Hausplaner gesucht und zunächst von mehreren
Anbietern Angebote eingeholt. Die Preisspanne ging von 500.000 bis 5.000.000 Euro – für ein
identisches Equipment. Wir haben uns letztendlich für die Truppe von Sudhausbau Albrecht
(JBT) mit Jürgen Stegmüller und Alexander Dreml aus Riem entschieden. Wir wollten ein Glas-
sudhaus bauen, damit die Leute auch sehen, wie gebraut wird. JBT hat das Patent auf diesem
Glassudhaus. Und unser Plan war, dass wir eine 30-Hektoliter-Anlage bauen. Allerdings: Der
Glaskörper ist konstruktionstechnisch auf 8,5 Hektoliter begrenzt und damit war das Glassud-
haus nicht realisierbar. Die Jungs haben aber einen so guten Eindruck hinterlassen, dass wir den-
noch mit ihnen weitergemacht haben.
Richtig los ging es dann im Mai 2013, weil wir vorher keine Finanzierungszusage hatten.
Außerdem hat es ein Jahr gedauert, die Baugenehmigung zu bekommen. Es war allerdings nicht
dramatisch, da wir keinen Zeitdruck hatten. Aber es war schade, da wir das Weihnachtsgeschäft
2013 verpassten. Dass alles so lange dauert, hätte wirklich keiner von uns gedacht. Aber es hilft
ja nichts.
Die Planer sind im Sommer 2013 fertig geworden, also ganze 17 Monate, nachdem wir die
Immobilie gefunden hatten. Die Baufirma legt im Winter 2013 los. Ich hoffe, dass wir 2014 die
Sudkessel anschweißen und die ersten Gäste begrüßen.
Es waren Investitionen in Höhe von 3,1 Millionen Euro notwendig. Wie habt ihr diese
Summe finanziert?
Ist das nicht der Wahnsinn? Die Antwort ist: Ich weiß es auch nicht! Es ist schlicht so: Wir
arbeiten kostendeckend, machen aber keinen Gewinn. Wir haben keine Automatisierung, son-
dern machen alles per Hand. Wir waschen per Hand, öffnen die Flaschen vor dem Befüllen per
Hand und wir etikettieren und datieren per Hand. Wie liefern selbst aus. Das ist fast nicht zu
glauben und natürlich sehr aufwendig. Wir brauchen acht Mitarbeiter, um unser Business am
Laufen zu halten. Aber für die Bank war das schwierig.
Wie habt ihr die Bank überzeugen können?
Mit einem überzeugenden Businessplan. Was man über die Banken munkelt, stimmt tat-
sächlich. Sie wollten einen umfassenden Businessplan. Also haben wir einen mit 150 Seiten
geschrieben. Damit haben wir bei acht oder neun Banken angefragt. Es war natürlich nicht so,
dass sie uns den Plan aus den Händen gerissen haben und alle unseren Bau finanzieren wollten.
Alle großen Banken haben abgelehnt. Aber zwei Banken gaben positive Signale. Es gab meh-
rere Gesprächstermine, bei denen es richtig ans Eingemachte ging. Wie viele Flaschen verkaufen
Sie? Was ist der Literpreis? Wo wollen Sie verkaufen? Wir mussten komplett „die Hose herunter-
lassen“. Am Ende haben wir uns für die Raiffeisenbank München Süd eG entschieden – eben eine
Mittelstandsbank. Sie forderte rund 30 Prozent Eigenkapital für einen Kredit von 3,1 Millionen
Euro. Wir hatten also die Aufgabe, eine Million Euro Eigenkapital zu sammeln.
Wie habt ihr die eine Million Euro Eigenkapital zusammenbekommen?
Tja, da drohte unser Projekt bereits zu scheitern. Eine Million mit einem Betrieb zusammen-
zubekommen, der nichts abwirft, ist schwierig. Wir haben zunächst das Eigenkapital der GmbH
auf 300.000 Euro erhöht. Das heißt, die Gesellschafter haben Geld nachgeschossen und das
Stammkapital hochgehoben.
Und dann war es meine Idee, Crowdfunding zu machen. „Investier in Bier“ – so lautet unser
Motto. Dieses Investment wird von Banken eigenkapitalähnlich bewertet. Das Problem ist aller-
dings: Crowdfunding-Agenturen wollten acht Prozent des angesammelten Kapitals als Honorar.
Also haben wir beschlossen, es selbst über unsere Webseite zu machen. Wir sind am 6. Dezember
106 Giesinger Bräu
Steffen Marx 107

2012 gestartet – das ist der Nikolaustag, das kann man sich gut merken. Zu diesem Zeitpunkt
hatten wir noch keine Baugenehmigung. Aber wir wollten loslegen, weil die Leute im Dezember
am konsumfreudigsten sind. Im Januar brauchst du mit so einem Schmarrn nicht anfangen. Wir
haben eine Million Flyer in der Stadt verteilt. Und auf der Baustelle eine kleine Pressekonferenz
gegeben – knapp 50 Pressevertreter kamen, sogar das Fernsehen. Das war genial. Dadurch haben
wir einen großen Betrag eingesammelt, 600 Personen haben Geld gegeben. Die Aktion ist wirk-
lich richtig gut gelaufen. Was wir allerdings unterschätzt haben, sind der Papierkram und die
Verwaltung. Für jeden Crowdfunder muss man drei Zettel ausfüllen und abheften – das sind 15
Ordner voll.
Wir haben einen Genussschein mit acht Prozent Verzinsung und 13 Jahren Laufzeit ange-
boten. Das heißt, wer 100 Euro investiert hat, bekommt jeden Januar acht Euro ausgeschüttet.
Nach 13 Jahren kann das Geld zurückgefordert werden oder man kann weiterhin jedes Jahr die
acht Euro beziehen. Ein guter Nebeneffekt der Crowdfunding-Aktion ist natürlich, dass wir 600
neue Stammkunden gewonnen haben. Unsere Zielgruppe sind Menschen, die ab und an gerne
ein Bier trinken und sich dann etwas Besonderes gönnen. Genau diese Menschen sprechen wir
an.
Aber durch die Aktion habt ihr die eine Million Euro noch nicht zusammenbekommen,
oder?
Nein. Wir haben dazu noch Firmenanteile verkauft. 15 Prozent der gesamten Firma, ein Pro-
zent für 75.000 Euro. Wir haben diese Anteile als stille Beteiligung verkauft. Es gibt also kein
Mitspracherecht, aber die Anteilseigner sind an Gewinn und Verlust und am Firmenvermögen
beteiligt.
Eure Produktion ist ausgelastet. Dennoch seid ihr im Marketing sehr aktiv. Was macht ihr?
Wir haben eine Presseagentur engagiert und geben regelmäßig Pressemitteilungen heraus.
Außerdem sind wir ein kleiner Sponsor bei einem großen Kino-Open-Air. Natürlich machen wir
auch viel über Social Media, wobei wir über diesen Kanal sicherlich noch aktiver sein könnten.
Mit einer Pressemitteilung habt ihr angekündigt, ab 2013 mit einer Hütte auf der „Wiesn“
zu sein. Es war ein Aprilscherz. Wie kam es dazu?
Ich habe diese Idee schon seit 2010 mit mir herumgetragen. Aber in den vergangenen Jahren
fiel der 1. April immer auf ein Wochenende. Zudem habe ich keine Presseagentur gefunden, die
die Geschichte platzieren wollte. Die Brauereien haben eine große Lobby, da wollte sich keiner
für mich in die Nesseln setzen. Erst die PR-Agentur Weißenbach hat gesagt: „Das mach‘ mer.“
Wir haben im Februar 2013 erstmals drüber gesprochen, es war also recht kurzfristig. Wir
sind mit Gummistiefeln und Spaten auf die Wiese gegangen und haben verkündet: „Hier steht
unser neues Zelt“. Dazu gab es natürlich entsprechende Fotos. Wir haben außerdem einen Gra-
fiker beauftragt, der uns eine kleine Wiesnhütte skizziert hat, mit Planzahlen von 2011. Wir
haben einen Plan der Wiesn genommen, auf dem die ganzen Zelte stehen, und markiert, wo
unsere Hütte stehen soll. Die Küche und den Sitzplan haben wir angelegt, und sogar ein Perso-
nalaufruf gestartet. Die Meldung sollte glaubhaft sein und nicht direkt in Verbindung mit dem
ersten April gebracht werden.
2013 fiel der 1. April ausgerechnet auf den Ostermontag. Damit mussten wir unsere Mel-
dung bereits am Freitag verschicken, weil die Zeitungen eine Ausgabe für Samstag, Sonntag und
Montag druckten. Da wir inzwischen in einer Online-Welt leben, stand unser Aprilscherz bereits
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Steffen Marx 109

am Freitag überall in Netz. Das hat natürlich für noch mehr Publicity gesorgt, weil wir einen
Tag länger im Blickpunkt standen. Die Meldung hat eingeschlagen wie eine Bombe. Alle großen
Münchner Medien haben das Thema aufgegriffen. Wir hätten innerhalb von drei bis vier Tagen
alle Tische verkaufen können. Einige Leute haben sogar geschrieben: „Egal, was es kostet, ich
brauche einen Tisch bei Euch.“ Mit einer solchen Resonanz hätte ich nicht gerechnet. Am Diens-
tagmorgen haben wir die Geschichte dann aufgedeckt. Die meisten haben gesagt: guter Coup.
In München eine neue Brauerei zu gründen – ist das generell nicht etwas verrückt?
Das stimmt schon. Aber größtenteils wird in München Exportbier hergestellt. Für den Export
muss das Bier ein Jahr oder länger haltbar sein. Deshalb wird es stark filtriert und es entsteht
dadurch ein ziemlicher Einheitsgeschmack. Ich möchte nicht alle Brauereien über einen Kamm
scheren, aber: Es wird den Konsumenten wenig Neues geboten. Aufgrund unserer Erfahrungen
der vergangenen Jahre haben wir die Entscheidung getroffen, da nicht mitspielen zu wollen. Wir
vergrößern uns zwar, wollen aber kein Exportbier werden. Unser Ziel ist es, ein Prozent Markt-
anteil in München zu erreichen. Damit wären wir völlig zufrieden. München hat 1,3 Millionen
Einwohner, durchschnittlich trinkt jeder Bürger 100 Liter Bier im Jahr. Es sind also 1,3 Milli-
onen Hektoliter in der Stadt zu verteilen. Wenn wir 13.000 Liter verkaufen, haben wir ein Pro-
zent Marktanteil. Fertig.
Warum hast du dich zum Gründen entschieden? War es Teil deines Lebensmodells oder
willst du die Brauerei groß machen, um sie später zu verkaufen?
Weder noch. Wir machen es, weil wir Spaß daran haben. Ich stehe jeden Morgen gerne auf,
weil ich zur Arbeit gehen kann und Freude dabei habe. Das ist sehr wichtig. Wenn ein Käufer
kommen würde und viele Millionen bietet, müsste man sich die Situation genauer anschauen.
Aber geplant ist es nicht. Wir wollen nun erst einmal das neue Sudhaus erfolgreich in Betrieb
nehmen und die Anlage richtig zum Laufen bringen. Der Unterschied zu unserem Start im Jahr
2008 ist, dass wir nun über Wissen und Erfahrung im Brauen verfügen.
Du sprichst euer Wissen und die Erfahrung aus den vergangenen Jahren an: Gab es große
Rückschläge? Und was habt ihr daraus gelernt?
Fundamentale Rückschläge gab es nicht. Natürlich sind ab und an Probleme aufgetaucht,
aber die haben wir gelöst. Und das war wiederum sehr motivierend, wenn es ein nächstes Problem
gab. Wir haben auch nicht ständig Listen mit dem Für und Wider unserer Vorhaben gemacht.
Wenn man das anfängt, findet man nur viele Gründe die dagegensprechen und man geht gar
nichts mehr an. Man muss stattdessen einfach machen. Wir stehen jeden Morgen mit unserem
gottgegebenen Optimismus auf. Damit kriegt man mehr bewegt, als man denkt. Ich meine, wir
haben eine Million Euro Eigenkapital zusammenbekommen. Das ist doch unglaublich. Es ist
wirklich so, dass alles ziemlich optimal gelaufen ist. Ich muss nichts schönreden.
Eure Geschichte ist tatsächlich beeindruckend. Was meinst du: Sind Optimismus und eine
Anpacker-Mentalität Eigenschaften, die ein Gründer zwingend mitbringen muss?
Ja, das denke ich schon. Außerdem musst du natürlich Ahnung von deinem Produkt haben,
brauchst ein gutes Team und musst in der Lage sein, dieses Team zu führen. Bei uns ist es zudem
wirklich wichtig, ein gutes Händchen bei der Auswahl der Azubis zu haben. Wir bekommen
auf eine Stelle 40 Bewerbungen. Ich lese die Bewerbungsunterlagen zunächst nicht, weil ich den
Bewerbern gegenüber sonst voreingenommen wäre. Stattdessen prüfen wir zunächst via Prak-
tikum, ob die Person sympathisch ist und ins Team passen könnte. Dann suchen wir fünf bis
sechs Kandidaten heraus, die weitere vier Wochen bei uns arbeiten müssen. Auf diese Weise sehen
wir, ob sie Dinge sinnvoll anpacken und fleißig sind. Aus dieser Gruppe wählen wir schließlich
110 Giesinger Bräu
Steffen Marx 111

zwei Bewerber aus, die drei Monate am Stück bei uns arbeiten. Dadurch sehen wir, wie belastbar
sie sind. Im Anschluss nehmen wir entweder beide, einen oder keinen. Je nachdem, wie und ob
es passt. Das Team ist bei uns exorbitant wichtig.
Hattet ihr einen Mentor, der euch beim Aufbau Impulse gegeben hat?
Nein, wir haben alles selbst gemacht: Kontakte selbst hergestellt, Einkäufe selbst bewertet,
Dienstleister selbst ausgewählt. Mit einem Mentor an der Seite wären diese Entscheidungen
sicher leichter gewesen. Aber wir hatten nun einmal keinen, und so mussten wir mehr Schweiß
und Zeit hineinstecken. Zu uns kommen mittlerweile Interessierte aus der ganzen Republik,
die selbst kleine Brauereien aufmachen möchten. Wir nehmen uns für fast jeden Besucher drei,
vier Stunden Zeit. Nach so einem Gespräch wissen Sie alles, was Sie wissen müssen und haben
die Kontakte an der Hand, die Sie brauchen. Es ist zeitaufwendig, deshalb lassen wir uns diese
Beratungsleistung inzwischen fast immer honorieren. Eigentlich ist das unüblich in der Branche,
aber der Zeitaufwand wurde immer größer, und wir geben immerhin das Kostbarste ab, das wir
haben, nämlich unser Wissen über den Aufbau einer Brauerei. Darum halte ich das Honorar für
gerechtfertigt.
Du sagst, das Team sei exorbitant wichtig. Wie hast du euer Team aufgebaut und wie sind
die Aufgaben verteilt?
Im Kern besteht das Team aus Markus, Simon und mir. Markus ist Bierkieser und kümmert
sich um Vertrieb und Marketing. Simon ist Diplom-Ingenieur für Brauwesen und Getränketech-
nologie und macht die technische Qualitätsleitung. Simon kümmert sich außerdem um die Aus-
bildung der Azubis. Mein Job ist es, anzuleiten und zu kontrollieren. Und natürlich muss ich den
ganzen Papierkram erledigen.
Zur Stammbesetzung kommen drei Azubis, sie sind für das Brauen zuständig. Wir haben
fähige Azubis, die selbst brauen können. Neben der harten Arbeit holen wir uns auch gemeinsam
Inspirationen. Wir fahren beispielsweise nach Italien oder Belgien zu Bierverkostungen. Auch
die Azubis sind regelmäßig dabei. Wir wollen ein guter Ausbildungsbetrieb sein und kein Unter-
nehmen, das billige Arbeitskräfte braucht. Darum kümmern wir uns aktiv.
Wie läuft ein typischer Arbeitstag bei euch ab?
Ich stehe in der Regel um sieben Uhr auf, bearbeite meine E-Mails und erledige administra-
tive Dinge. Morgens habe ich dafür noch Ruhe. Um neun Uhr ist Tagesbesprechung, in der ein-
geteilt wird, wer was macht. Jeden Montagmorgen gibt es außerdem eine Wochenbesprechung.
Wir arbeiten in der Regel bis 19 Uhr – mal etwas länger, mal etwas kürzer. Ich bin meist gegen 20
Uhr fertig. Bei einer Brauerei-Neugründung kannst du natürlich nicht am Nachmittag den Stift
fallen lassen und heimgehen. Auch unsere Azubis arbeiten manchmal etwas mehr. Im Sommer
fangen wir mit dem Brauvorgang oft schon um drei Uhr morgens an. Oder auch, wenn am
Samstag eine Verkostung ansteht oder wir einen Ausschank geben, der bis elf, zwölf Uhr nachts
dauert. Und danach müssen wir natürlich noch alles abbauen. Jeder im Team weiß, dass er nicht
nach acht Stunden heimgehen kann, wenn es brennt. Aber die Jungs akzeptieren das. Und wir
honorieren ihr Engagement mit Freizeit- und Geldausgleich. Außerdem darf jeder so viel Bier
mitnehmen, wie er – ohne Hilfsmittel – tragen kann.
Welche Aufgaben nehmen den Großteil deiner Zeit in Anspruch?
Aktuell nimmt die Planung des Umzugs sicherlich 80 Prozent meiner Zeit ein – und das nun
schon seit mehr als eineinhalb Jahren. Ich muss mit Banken verhandeln und mich regelmäßig mit
Planern treffen. Zum Tagesgeschäft gehören viel Buchhaltung, der Materialeinkauf und das Aus-
fahren von Lieferungen. Nicht alle unserer Jungs haben einen Führerschein. Außerdem kümmere
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ich mich noch um die PR, beantworte E-Mail-Anfragen, plane Braukurse, bastle an der neuen
Homepage samt Shop, mache Fotos, schreibe Texte und entwerfe Etikettenrücken. Mit dem
Umzug wird sich aber Einiges verändern. Es fallen dann nicht nur viele Aufgaben weg, sondern
es wird auch ein Sekretariat geben, das mich entlasten soll. Ich habe keine Brauerei gegründet,
um im Büro zu sitzen.
Warum hast du dann eine Brauerei gegründet?
Ich möchte mich mit dem Bier an sich beschäftigen, neue Dinge ausprobieren und unser
Produkt verkaufen. Wir wollen unser Vertriebsnetz ausbauen und in den 120 Getränkemärkten
in München präsent sein. Auch die Gastronomie wollen wir ansprechen, dafür muss man viele
Gespräche führen. Und wenn das der Brauhaus-Chef persönlich macht, hat es die beste Wirkung
auf den Wirt.
Das heißt, du siehst deine Aufgabe künftig stärker in der Produktentwicklung und im
Vertrieb?
Ja, ich muss die vereinbarten Absatzzahlen erreichen. Das ist meine Aufgabe.
Welche Veränderungen bringt der Umzug für das Team und eure Organisation?
Wir haben im neuen Gebäude ja eine Gastronomie. Deshalb stellen wir einen Restaurantleiter
ein und brauchen noch jeweils zwei Leute für die Küche und den Service. Außerdem machen
alle Azubis auf Brauereikosten ihren Führerschein. Es ist schöner, wenn wir das Bier persönlich
ausfahren und nicht noch einen Bierfahrer einstellen müssen. Da wir die Kapazitäten steigern,
müssen wir auch schauen, wie wir das Brauen organisieren. Vermutlich müssen wir ein Zwei- oder
Dreischichtsystem etablieren. Dafür brauchen wir natürlich weitere Mitarbeiter. Das Wichtigste
ist für mich, dass sich die Neuen mit der Firma identifizieren, genauso, wie dies die bestehende
Mannschaft tut. Ich habe mir das Logo von Giesinger Bräu auf den Arm tätowieren lassen – aber
dazu zwinge ich natürlich niemanden ;-)
Steffen, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Steffen Marx

Dickscheit, Rudolf (1953); Leitfaden für den Brauer; Fachbuchverlag GMBH Leipzig
Schieder, Harald und Forster, Ralph (2014); Bierführer Oberbayern; Hans Carl Verlag
Schels, Ignatz und Seidel, Uwe (2010); Das große Excel Handbuch für Controller; Markt & Technik
Bernstein, Martin und Knoll, Günther (2013); Mir san Bier; Süddeutsche Zeitung Edition
Assél, Astrid und Huber, Christian (2009); München und sein Bier; Volkverlag
Intrinsify.me
Mark Poppenburg
8

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_8,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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Ein Startup mit dem Anspruch, die Arbeitswelt


radikal zu verändern: Leidenschaft,
Selbstbestimmung, Begeisterung, Motivation und
Spaß bei der Arbeit
Leidenschaft, Selbstbestimmung, Begeisterung, Motivation und Spaß bei der Arbeit – das ist das
übergeordnete Ziel von intrinsify.me. Angetrieben von der Frage, ob die klassische Arbeitswelt
von heute wirklich das einzig Wahre ist, gingen Mark Poppenborg und Lars Vollmer im Jahr 2011
mit dem anspruchsvollen Ansatz an den Markt, bisher Bekanntes auf den Kopf zu stellen und die
Arbeitswelt durch radikales Umdenken und Umorganisieren zu revolutionieren. Aus unzufrie-
denen Angestellten sollen durch intrinsify.me glücklichere und damit leistungsfähigere Menschen
werden, die ihre jeweilige Organisation nach vorne bringen.
Die beiden Gründer und ihr Team beraten Individuen und Unternehmen, richten Veranstal-
tungen aus und bilden weiter. Ihre zentralen Themen sind die Abkehr von alten Prozessen und
Entscheidungsmustern, das Aufbrechen von Hierarchien und das Etablieren neuer, innovativer
Gedankenwelten im Arbeitsalltag. Innerhalb kurzer Zeit ist das intrinsify-Netzwerk der Anders-
denkenden stetig gewachsen. Zu den Kunden und Mitgliedern des Startups zählen gediegene
Geschäftsführer genauso wie kreative Jungunternehmer und Angestellte, die in der Arbeit nicht
lediglich ein Mittel zum Broterwerb sehen möchten, sondern auf der Suche nach Sinn, Auto-
nomie und Herausforderung sind.

Mark, wie kamst du dazu, ein eigenes Unternehmen zu gründen und wie kamst du auf die
Idee für intrinsify.me?
Mein Weg zur Gründung ist eine relativ persönliche Schicksalsgeschichte. Ich habe zunächst
als Unternehmensberater gearbeitet und habe dann ein Sabbatical angetreten. Acht Monate bin
ich durch die Welt gereist. Als ich wiedergekommen bin, habe ich mich mit dem, was ich getan
habe, nicht mehr identifizieren können. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Kunden, mit dem was
ich tat, nicht wirklich helfen konnte. Ich konnte noch nicht so recht artikulieren, was es war, aber
mir wurde bewusst, dass es noch ganz andere Hebel geben musste, an denen man hätte ansetzen
können. Ich kam zu dem Schluss, dass wir mit den vielen Methoden und Rezepten, die wir dem
Kunden verkauften, ihm nur sehr bedingt den Nutzen brachten, den sowohl er als auch wir uns
erhofften. Es fehlte mir auf einmal der Sinn in der Arbeit.
Mark Poppenburg 115

Ein zweiter Aspekt war, dass mir zunehmend nicht gefiel, dass ich als Berater sehr fremdbe-
stimmt gearbeitet habe. Der Kalender war voll, die Termine standen fest, der Klient war bestimmt
und die Workshop-Inhalte wurden vom Projektleiter oder Akquisiteur vorgegeben. Ich hatte
kaum Einfluss auf das, was ich tat. Außerdem hatte ich durch die Reise und das damit verbun-
dene Freiheitsgefühl realisiert, dass es noch eine andere Welt als die Arbeitswelt gibt.
All dies waren Anlässe, die zu Überlegungen führten, ob die Berufswelt so sein muss, wie
sie ist. Oder ob Arbeit nicht auch anders funktionieren kann. Ich habe dann einfach gekündigt.
Untermauert wurde dieser Entschluss dadurch, dass meine Freundin, die ich auf der Reise ken-
nengelernt hatte, in England lebte. Ich bin zu ihr gezogen.
Ich begab mich dann auf die Suche nach Firmen, die anders ticken, und bei denen es darum
geht, die drei Bedingungen für Motivation bereitzustellen: Sinn, Selbstbestimmung und Heraus-
forderung. Neben den klassischen Koryphäen wie Semco und Google, über die viel geschrieben
wird und die tatsächlich mit vielen der konventionellen Paradigmen brechen, habe ich nur wenige
Unternehmen gefunden. Und so wurde die Idee geboren, Menschen zu helfen, solche Unter-
nehmen zu finden. Ich wollte ihnen die Möglichkeit bieten, aus ihrem Hamsterrad ausbrechen zu
können und zu erkennen, dass sie Spaß an der Arbeit haben können. Sie sollten ein Unternehmen
finden können, in dem sie sich verwirklichen können.
Wer waren deine Mitgründer?
Ich habe intrinsify.me zusammen mit Lars Vollmer gegründet. Er ist – bis heute – der
Geschäftsführer der Beratung, bei der ich zuvor beschäftigt war. Ich hatte ihn relativ früh mit
meiner Idee konfrontiert. Er fand das Projekt spannend – und hat sich dann schnell angeschlossen
und es mit mir weiterentwickelt.
Deine Schilderungen aus der Arbeitswelt können wahrscheinlich viele nachvollziehen. Aber
aus diesem Wunsch heraus ein Startup zu gründen, ist noch einmal ein anderer Schritt.
Hattest Du von Anfang an ein Geschäftsmodell vor Augen?
Ja, aber das hat sich als vollkommener Käse herausgestellt (lacht). Das anfängliche Geschäfts-
modell orientierte sich am klassischen Headhunting. Die Idee war, eine neuartige Personalver-
mittlung zu gründen. Wir wollten Unternehmen, die schon etwas anders ticken und bereits neue
Arbeitsmodelle und -strukturen anbieten, das Personal zur Verfügung stellen, das in solch ein zeit-
gemäßes Konzept hineinpasst. In unserem Pool sollten Leute sein, die sich vom gängigen System
noch nicht haben „abrichten lassen“, die noch frisch sind, innovativ und leidenschaftlich nach
Dingen suchen, für die sie sich gerne einsetzen. Für das Zusammenbringen von Unternehmen
und Suchenden wollten wir eine Vermittlungsprovision kassieren.
Aber das Problem war und ist, dass es solch anders tickende Unternehmen kaum gibt. Diese
Firmen ausfindig zu machen, ist eine extrem mühsame Angelegenheit. Und dann kommt noch
dazu, dass gerade die Firmen, die innovative Arbeitsansätze bieten, gar kein so großes Problem
damit haben, Personal zu finden. Unterm Strich: Das Geschäftsmodell konnte nicht funktio-
nieren. Zumindest nicht aus dem Stand. Heute haben wir da schon andere Möglichkeiten.
Du hast aber trotzdem an der Grundidee festgehalten?
Ja, die Idee, dass es jenseits der heutigen Arbeitsbedingungen noch andere Möglichkeiten
geben muss, war nun einmal geboren. Und die Unternehmen, die schon etwas anders machen,
haben uns weiter inspiriert. Wir wollten an der aktuellen Situation unbedingt etwas ändern.
Die Zahlen zum Thema Jobzufriedenheit sind beeindruckend und erschreckend zugleich.
86 Prozent aller Menschen haben keine emotionale Verbindung zu ihrem Arbeitgeber. Das
Meinungsforschungsinstitut Gallup schätzt, dass dies jedes Jahr um die 120 Milliarden Dollar
Schaden anrichtet. Das ist genauso viel wie die jährlichen Verluste durch Steuerhinterziehungen.
116 Intrinsify.me

Und man muss ja nur mal seine Freunde fragen, wie ihnen ihr Job gefällt. Alle meckern über die
einengende Bürokratie, die nur von der Arbeit abhält und viel Geld kostet. Ich kenne wenige, die
in ihrem Job wirklich aufgehen. Dabei verbringen viele von uns mehr als 50% ihre Wachstunden
mit ihrer Arbeit. Diese Fakten machen doch mehr als deutlich, dass es ein Thema ist, an dem man
arbeiten sollte. Es geht uns um vielmehr, als um ein konkretes Geschäftsmodell.
Ich tippe, ihr hattet am Anfang einen relativ geringen Finanzierungsbedarf, oder?
Wir sind anfangs zwischen dem Gedanken hin und her geschwankt, ob wir versuchen wollen,
die Sache groß aufzuziehen – ähnlich wie Escape the City – oder nicht. Es ging vor allem um die
Frage, ob wir die Eintrittshürde bei der Suche nach geeigneten Unternehmen senken sollten und
ob wir mit Investoren zusammenarbeiten sollten, deren Fremdkapital natürlich deutlich mehr
ausrichten würde. Aber wir haben uns gegen diese Variante entschieden. Wir wollten versuchen,
auf eigenen Füßen zu stehen und in Ruhe beobachten, was man aus dieser grundsätzlichen Idee
machen kann.
Du sagst, die initiale Idee hat nicht funktioniert. Kam diese Erkenntnis plötzlich oder
schleichend?
Es war eine Phase, in der wir den klassischen Fehler gemacht haben, den viele anfangs machen:
Wir wurden zu Wannapreneurs. Heißt: Ich will Entrepreneur sein, also produziere ich schon
einmal Visitenkarten, gründe eine GmbH, investiere in eine Internetseite, mache Marketing,
gebe Geld für alles Mögliche aus – aber eigentlich habe ich noch gar keinen zahlenden Kunden.
Das Ego war aber erst einmal befriedigt ...
Ein bisschen schon. Aber eigentlich auch nicht wirklich. Man dachte sich irgendwann: „Was
mache ich hier überhaupt?“ Und gab sich die Antwort: „Ich bin ja schon einmal Unternehmer.“
Es ist ein klassischer Denkfehler, anzunehmen, nach außen gut dastehen zu müssen, bevor über-
haupt etwas an den Markt gebracht werden kann. Ich glaube, diesem Antrieb sind wir alle ein
bisschen erlegen.
Wir haben unsere Website sehr schnell aufgebaut und uns gewundert, dass das Angebot
keinen Zuspruch fand. Immer und immer wieder haben wir überlegt, woran das mangelnde Inte-
resse liegen könnte. Wir kamen auch zu dem Schluss, dass unser Außenauftritt noch nicht ausrei-
chend gut war, und dass die Website einfach noch nicht gut genug ist. Wir haben immer wieder
die gleichen Annahmen aufgestellt und auf diesen gleichen Annahmen weiter aufgebaut. Es war
ein schleichender Prozess, bis wir dann irgendwann realisiert haben, dass das Geschäftsmodell das
Problem ist. Es hat einfach nicht gezogen und wir mussten uns etwas anderes überlegen.
Es hat ein gutes halbes Jahr gedauert, bis wir zu dieser Erkenntnis gelangt sind. Mitte 2011
fiel der Groschen. Und dann kam die Idee auf, sich intensiver mit der Frage auseinanderzusetzen,
was in der Welt von heute eigentlich ein erfolgreiches Unternehmen ausmacht. Diese Frage hatten
wir uns natürlich auch während unserer Unternehmensberatertätigkeit immer mal wieder gestellt,
bloß fehlte uns damals oft noch die Fähigkeit die richtigen Fragen zu stellen, geschweige denn
gute Antworten zu finden.
Es sind unterschiedliche Faktoren, die eine Rolle spielen. Vor allem die Organisationsform
liefert einen bedeutenden Beitrag. Wir haben uns sehr intensiv mit den Building Blocks aus-
einandergesetzt, die ein modernes Unternehmen heute ausmachen und die verdeutlichen, wo
es sich von den klassischen Unternehmen unterscheidet. In der Auseinandersetzung mit diesen
Gedanken wurde schließlich die Idee geboren, eine Beratung anzubieten. Ihr Ziel war und ist es,
Menschen einen Zugang zu den deutlich erfolgreicheren Organisationstheorien zu verschaffen,
die heute bereits praktiziert werden. Wir wollen Unternehmen zeigen, dass sie heute vollständig
Mark Poppenburg 117

neu erdacht werden müssen, und künftig nicht mehr so aufgebaut sein können, wie sie es in den
vergangenen hundert Jahren waren.
In einem nächsten Schritt reifte der Gedanke, Workshops und Seminare anzubieten sowie
Veranstaltungen zum Thema moderne Arbeitswelt auszurichten. Und dieses Konzept begann
dann auch langsam zu fruchten.
Im Prinzip sind unsere Produkte aber immer eine Momentaufnahme. Und bei diesem Prinzip
möchte ich auch bleiben. Wir nageln uns nicht darauf fest, was unsere Geschäftsmodelle sind.
Bei uns gibt es den Warum-Kern, und darum strickt sich unser Angebot. Nebenbei bemerkt: Es
ist meiner Meinung nach eine ganz wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Unternehmen,
sich darüber bewusst zu sein, warum es eigentlich existiert. Alles, was dazu beitragen kann, dieses
Warum, diesen Sinn zu erreichen, kann als Geschäftsmodell dienen.
Zu unseren Seminaren kommen Führungskräfte, um sich über die neue Denke in der Unter-
nehmensführung zu informieren. Zwei Mal haben wir inzwischen ein Future Leadership Camp
durchgeführt. Es ist ein Forum für Geschäftsführer, die sich mit anderen Geschäftsführern aus-
tauschen möchten, die auf dem Weg zu einer neuen Unternehmensform sind. Außerdem ver-
anstalten wir alle drei Monate unsere sogenannten „Wevents“, die sich inzwischen zu einer der
ersten Anlaufstellen für die neue Arbeitswelt und Unternehmensführung entwickelt haben.
Unsere Unternehmensberatung hat sich inzwischen auch mehr als etabliert. Mit ihr helfen wir
Firmen bei sehr tiefgreifenden Transformationsprozessen – weg von der klassischen, wir nennen
sie tayloristischen Struktur hin zu einer agilen und vernetzten Zellenstruktur.
Wie habt ihr euch organisiert?
Den Kern unseres Startups bilden weiterhin lediglich wir zwei Gründer. Aber wir haben
relativ früh entschieden, dass wir dieses Unternehmen mit einer Art Mitarbeiter-Community
gemeinsam aufbauen möchten. Das heißt: mit Leuten, die unser Unternehmen mitentwickeln
und mitgestalten. Es ist ein ähnliches Prinzip wie ein Crowdsourcing-Ansatz. Diese Vorstellung
hat in der Praxis ziemlich gut funktioniert. Wir haben inzwischen wahnsinnig viele Leute um
uns herum, die anfangen, für intrinsify.me aktiv zu werden. Einige bieten inzwischen sogar selbst
Veranstaltungen und eigene Geschäftsmodelle unter der Marke intrinsify.me an. Wir merken,
dass aus diesem Ansatz ein Geschäftsmodell in sich selbst entstehen kann. Die Marke intrinsify.
me steht im Zentrum, ist sozusagen die Wirkstätte, von der aus verwaltet und Input bereitge-
stellt wird. Wer unsere Werte und Visionen teilt, kann unter der Dachmarke intrinsify.me sein
eigenes Geschäftsmodell aufbauen. Es ist wie ein Franchising, nur in moderner Form und ohne
enge Vorgaben. Ein Beispiel: Wir haben ein Mitglied, die unter unserer intrinsify-Marke ein
Coaching anbietet. Wer sich nach mehr Selbstverwirklichung im Job sehnt, kann sich von ihr
coachen lassen. Ein anderer bietet ähnliches für Führungskräfte an, die in ihrem Unternehmen
ihre Wirksamkeit erhöhen wollen. Zum Teil sind es auch Projekte, wie die Sonderauflage des
Magazins „Lust auf Gut“, die eines unserer Mitglieder mit einem Team profitable umgesetzt hat.
Wir erweitern damit unser Service-Angebot und profitieren durch einen Provisionsanteil. Durch
unser Netzwerk hat sich schon jetzt ein immenser Multiplikationseffekt entwickelt. Es gibt wahn-
sinnig viele Leute, die Lust haben, mit der intrinsify.me-Marke selbst etwas zu unserer großen
Vision beizutragen.
Wie habt ihr es geschafft, dieses Netzwerk aufzubauen?
Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung (lacht). Es sind mehr Vermutungen und Thesen, mit
denen ich mir das erkläre. Denn es begeistert mich immer wieder, mit wie viel Engagement
all die Leute mit dabei sind. Ich will es erneut anhand eines Beispiels versuchen: einer unserer
Wevents in Hamburg im vergangenen Sommer. Ich war lediglich vorab dabei involviert, die
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Rahmenbedingungen der Veranstaltung abzustecken und das zentrale Thema zu definieren,


danach habe ich mich kaum mehr einbringen müssen. Drei Mitglieder unseres Netzwerkes haben
das Treffen eigenverantwortlich von A bis Z durchorganisiert und waren dabei zu keiner Zeit auf
ein Honrar aus. Meine These ist, dass die Grundbedürfnisse für intrinsische Motivation von uns
erfüllt werden und dass dadurch dieses Engagement möglich wird. Erstens: Es gibt einen Sinn,
für den es lohnt, sich einzusetzen. Unsere Mitglieder wollen alle etwas daran ändern, dass so viele
von uns ihren Job hassen und ungern zur Arbeit gehen. Zweitens: Sie haben ein hohes Maß an
Autonomie. Und im Kraftfeld unserer Werte können sie mehr oder weniger das tun, was sie für
richtig halten. Und drittens: Sie stellen sich durch ihre neuen Aufgaben und Erfahrungen neuen
Herausforderungen. Damit ist die Grundvoraussetzung für intrinsische Motivation gegeben. Und
dann braucht es auch kein Geld, damit sich Menschen motiviert fühlen. Genauso wie es kein
Geld braucht, damit man laufen oder schwimmen geht, oder was auch immer. Geld ist lediglich
ein Hygienefaktor, der dem Überleben in unserer Gesellschaft dient.
Es ist gar nicht so einfach, die Gründe für den Erfolg dieses Netzwerks zu benennen. Aber es
ist in jedem Fall begeisternd und inspirierend.
Eure Dienstleistungen sind erklärungsbedürftig. Wie läuft eure Kundengewinnung ab, geht
ihr aktiv in den Vertrieb?
Wir machen kaum aktiven Vertrieb, wir machen quasi nur Markenarbeit. Diese läuft haupt-
sächlich über unsere Veranstaltungen und natürlich Kontakte in unserem Netzwerk. Viele Teil-
nehmer an unseren Events sind über das Netzwerk hinzugekommen. Das ist eine interessante
Beobachtung, weil es ein Indiz dafür ist, dass wir durch die Arbeit an unserer Idee und Marke
ein Netzwerk mobilisieren konnten, das wiederum Leads generiert. Wir selbst haben dafür gar
nicht sonderlich aktiv werden müssen. Natürlich betreiben wir für ein Seminar auch einmal aktiv
Akquise, schalten bei Xing oder Brand Eins eine Anzeige. Aber das reduziert sich auf Einzelfälle.
In jedem Fall habt ihr es geschafft, Kunden zu gewinnen. Was sind für dich die wesentlichen
Entwicklungsschritte hin zu dem Status, den ihr heute habt?
Einer der größten Entwicklungsschritte war, als sich herauskristallisiert hatte, warum es uns
eigentlich gibt. Denn wir haben dafür wirklich eine Weile gebraucht. Erst war nur dieser Gedanke
da, diese Idee. Dann kam das Recruiting. Doch selbst bei den ersten Events hatten wir noch
nicht klar definiert, wofür genau wir stehen. Es gab eine gewisse Unsicherheit darüber, was wir
da eigentlich machen. Gerade, weil die Idee so schwer greifbar ist. Alles ist neu und es hat einen
gewissen Pioniercharakter. Das ist vermutlich immer so, wenn man mit dem Status Quo bricht.
Man weiß wovon man weg will, aber noch nicht so genau, wo die Reise hingehen soll. Als wir uns
dann committed haben, war das ein Meilenstein.
Das erste Future Leadership Camp haben wir im März 2012 ausgerichtet. Wir hatten uns
vorgenommen, ein Forum anzubieten, bei dem sich Firmen, die offen für moderne Unterneh-
menskultur sind, austauschen können. Damals haben wir zum allerersten Mal eine Unkonferenz
organisiert, die im kommerziellen Bereich platziert war. Die Anmeldegebühr betrug 1.790 Euro.
Üblicherweise liegen Unkonferenzen wie Barcamps bei 200 Euro. Gott sei Dank haben wir nie-
manden gefragt, ob man das tun kann. Jeder hätte gesagt: Nein, das geht nicht. Das verkauft
sich nicht. Überraschenderweise hat es sich aber verkauft, und das sogar ziemlich gut. Wir waren
selbst überrascht. Das war dann ein weiterer Meilenstein. Wir haben gemerkt, dass unsere Idee
einen Konsumenten hat und dass ein echtes Bedürfnis nach Antworten herrscht. Viele Menschen
merken, dass die heutige Unternehmensführung nicht nur zu Demotivation bei den Mitarbei-
tern, sondern vor allem auch nicht mehr zu wirtschaftlicher Höchstleistung führt. Ich glaube, dass
dieser Zwang für eine hochpreisig positionierte und an Geschäftsführer gerichtete Veranstaltung,
Mark Poppenburg 119
120 Intrinsify.me

unsere Botschaft sehr deutlich artikulieren zu müssen, uns massiv nach vorne gebracht hat. Auch,
weil es uns bei der Fokussierung geholfen hat.
Wie wichtig ist es, sich zu fokussieren?
Dass eine Fokussierung unumgänglich ist, wenn man etwas startet, ist für mich einer der
größten Lerneffekte gewesen. Ich würde diese Einsicht jedem mitgeben, der versucht, etwas auf
die Straße zu bringen. Wenn du eine Idee hast, nimm dir irgendein Element dieser Idee, etwas,
das du verkaufen kannst, und probiere es einfach aus. Und wenn du dich damit auf die Nase legst,
steh wieder auf und versuche das nächste Element bzw. ändere einen kleinen Aspekt der Idee.
Nachdem wir das gelernt hatten, haben wir immer mehr nach diesem Prinzip gearbeitet.
Wir befeuern den Markt heute immer mal wieder mit irgendwelchen Geschäftsmodellen und
schauen, ob er reagiert oder nicht. Ewig zu theoretisieren bringt nichts.
Einer der größten Meilensteine war dann natürlich der erste große Beratungskunde. Als wir
den ersten Kunden gewinnen konnten und damit das Gefühl hatten, dass unsere Idee in die rich-
tige Richtung geht, war das natürlich ein riesiger Booster für uns. Wir haben begriffen, dass in
unseren Gedanken tatsächlich etwas drinsteckt, womit etwas Großes entstehen kann.
Was sind die Eckpunkte eures intrinsify.me-Unternehmensmodells, wenn ihr solche Unter-
nehmen beratet?
Vorweg ist wichtig zu erwähnen, dass es kein konkretes Lösungsmodell im Sinne eines
Rezepts ist. Gerade in der Suche eines solchen Rezepts liegt nämlich die Schwäche herkömmli-
chen Denkens. Ich versuche das mal zu erklären. Die größte Beschränkung von klassischen tay-
loristischen Organisationen ist, dass sie von der Determinierbarkeit der Welt ausgehen. Der Tay-
lorismus ist aufgebaut worden, um einen Markt zu bedienen, der von relativ geringer Volatilität
geprägt war und in dem man relativ viel absetzen konnte, ohne sich groß Gedanken machen zu
müssen, was als nächstes um die Ecke kommt. Es gab wenig Wettbewerb und man war deshalb
kaum von Kundenwünschen beeinflusst. Es ging lediglich darum, den besten, den effizientesten
Weg dafür zu finden, die wenigen Produkte zu erzeugen, die man anbot. Inspiriert von den geni-
alen Erkenntnissen Fredrick Taylors, trennten die meisten Unternehmen das Denken vom Han-
deln. Das heißt: Du gibst Wenigen die Entscheidungsmacht um darüber nachzudenken, wann
was wie gemacht wird und hast dann ganz viele Akteure, um Entscheidungen ausführen zu lassen.
Das war für lange Zeit das Erfolgsrezept der meisten Branchen und ist inzwischen tief in unserer
Lehre, in unseren Köpfen und übrigens auch in unseren Schulen verankert.
Das ging auch bis vor 20-30 Jahren gut. Lange Zeit wurden die Unternehmen nur selten
von Wettbewerbern überrascht. Sie mussten nur selten auf Veränderungen reagieren und hatte
deshalb nicht die Notwendigkeit, eine natürliche Lernfähigkeit zu entwickeln. Jeder Impuls, der
vom Markt kam, konnte langsam nach oben zum Chef wandern, und der konnte sich überlegen,
wie die Dinge denn nun künftig laufen müssten. Und dann ging es die Kette wieder runter. Doch
mit der zunehmenden Marktsättigung und der Globalisierung ist eine Situation aufgetreten, in
der Impulse, Störfaktoren und Überraschungen häufiger und intensiver auftreten. Und die Unter-
nehmen müssen darauf reagieren. Das Problem ist nur: eine tayloristische Organisation kann
mit Überraschungen, also mit Neuem, nur sehr schlecht umgehen. Für eine Überraschung hält
sie noch kein Wissen bereit. Sonst wäre es ja keine. Mit den sperrigen Prozessen, Methoden und
Regeln, die ihr zur Verfügung stehen wird dann nur Geld verbrannt und Mitarbeiter demotiviert.
Um mit dieser neuen Situation umgehen zu können, braucht es ein anderes Verständnis von
Organisation. Es braucht Organisationsformen, in denen Neues ausprobiert werden kann und
man nicht an Vorgaben und Steuerungsprozesse gebunden ist. Es braucht eine Organisation, die
Vielfalt eben nicht vermeidet, sondern bewusst provoziert. Das heißt aber auch, dass die Suche
Mark Poppenburg 121

nach dem einen besten Weg, also der effizientesten Lösung nicht mehr an erster Stelle stehen darf.
Wer auf die neuen Herausforderungen eine Antwort haben will, muss das Primat der Effizienz
überwinden und sich der Denkübung aussetzen, dass Redundanzen die Wirtschaftlichkeit för-
dern werden.
Unser Denkansatz etabliert kleine Unternehmen im Unternehmen. So werden in der
Peripherie des Unternehmens nach einem bestimmten Ordnungsmerkmal, zum Beispiel nach
Kunden, Regionen oder Produktgruppen, die gesamte Werkschöpfung betrieben, die vollständig
integriert ist, und nicht wie in einer klassischen Organisation funktional desintegriert. Wir verab-
schieden uns also von den klassischen Abteilungen und damit von der unbedingten Suche nach
Syngerieeffekten. Diese Unternehmen im Unternehmen wickeln Einkaufsfunktionen, Vertriebs-
funktionen, Personalentscheidungsfunktionen und alle anderen notwendigen Kompetenzen ab –
sie können also auf Marktimpulse autark reagieren.
Wir nennen diese kleinen Unternehmen im Unternehmen übrigens Zellen. Und, was ganz
wichtig ist: Die Zellen können Angebote aus dem Zentrum des Unternehmens ablehnen. Wir
reden hier also nicht von den klassischen Profitcentern. Jeder kennt Beispiele aus klassischen
Organisationen, etwa dass die Personalentwicklung entscheidet, ein neues Personalentwicklungs-
programm auszurollen oder die IT ein Tool zur Nutzung vorgibt. Das ist das klassische Prinzip
der Steuerung, das der Taylorismus kennt: Es gibt den einen besten Weg, und den müssen alle
befolgen. Bei uns stehen die Zellen hierarchisch über dem Zentrum und nicht darunter. Das Zen-
trum dient den Zellen.
Die Reintegration der Werkschöpfung, eine Auflösung klassischer formaler Hierarchie und
eine Zusammenführung von Denken und Handeln, wie es früher in Handwerksbetrieben üblich
war, das sind die wesentlichen Eckpfeiler dieses Denkmodells.
Eine ziemlich deutliche Abkehr vom dem, was man heute kennt. Werdet ihr mit eurer Idee
von dem ein oder anderen als „Esoteriker“ abgetan?
Ja, das hören wir regelmäßig. Auch unser Claim “happy work and people” irritiert viele.
Gerade ein gestandener Geschäftsführer glaubt im ersten Moment oft, dass es uns lediglich darum
geht, dass die Mitarbeiter machen können, was sie wollen – dass es also nur um sie ginge. Doch
wenn wir Unternehmen beraten geht es um Leistung, darum also, dass das Unternehmen erfolg-
reicher wird.
Wer meint, die Forderung nach mehr menschlicher Individualität am Arbeitsplatz sollte
den Mitarbeitern zuliebe erfolgen hat den Kern des Problems nicht verstanden. Unternehmen
sind zweckrationale Organismen. Sie interesssieren sich nicht für das Wohl der Mitarbeiter son-
dern nur für ihr eigenes Überleben. Aber erfreulicherweise ist die Gegenwart von einer Situation
geprägt, in der Unternehmen nur dann leistungsfähig seien können, wenn Mitarbeiter ihr ganzes
Talent zur Entfaltung bringen. Glückliche Fügung könnte man sagen. Um also zur Frage zurück
zu kommen: Es geht um Leistung aufgrund und nicht trotz individueller Selbstentfaltung. Mit
Esoterik hat das nichts zu tun.
Gab es Rückschläge auf eurem Weg?
Einige. Anfang 2013 mussten wir mit einem Rückschlag fertig werden. Wir hatten im Januar
eine Mitarbeiterin eingestellt, weil wir zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen waren, dass wir
zwei weitere Projekte bekommen. Es waren ziemlich große Projekte. Obwohl eigentlich schon
alles festgemacht war, haben wir sie dann doch nicht bekommen. Langsam aber sicher sind wir
schließlich in ein Liquiditätsloch geraten und mussten uns im Mai die Entscheidung treffen,
122 Intrinsify.me

dass die Mitarbeiterin wieder gehen muss. Es lief relativ glimpflich ab, weil wir uns selbst an das
Prinzip der totalen Transparenz halten, was wir auch unseren Kunden empfehlen. Unsere Mitar-
beiterin konnte zu jeder Zeit alles einsehen. Sie hatte Einblick in jegliche Unternehmenszahlen.
Deshalb hat sie das Übel natürlich auch kommen sehen, und als wir dann darüber geredet haben,
war es keine große Überraschung mehr, sondern mehr oder weniger nur noch ein formaler Akt.
Diese Erfahrung war für uns schmerzhaft. Dennoch haben wir daraus gelernt. Nämlich, dass
Transparenz hilft, solche Sachen gemeinsam durchzustehen. Außerdem haben wir uns in dieser
Krise auch wieder gefragt: Was heißt das jetzt für uns? Worauf müssen wir mehr achten? Wie
können wir uns besser aufstellen, damit wir uns und unseren Mitarbeitern beim nächsten Mal
solche Erfahrungen ersparen?
Für euch ist das Thema Organisation und Lernen sehr wichtig. Wie lernt ihr selbst?
Einmal tun wir das, indem wir alle drei Monate Feedbackschleifen machen. Wir stellen
Thesen auf und schauen, ob sie gestimmt haben. Einer Standardstruktur folgen wir dabei aller-
dings nicht. Denn damit würden wir ja einem Paradigma folgen - das es einen richtigen Weg gibt,
den wir vorgeben. Aber wir rufen ja eben dazu auf, sich von Prozessen zu trennen. Zumindest
wenn es darum geht, etwas Neues zu lernen. Deswegen entscheiden wir uns auch selbst an vielen
Stellen gegen Standardabläufe. Wir schauen einfach, was gerade Priorität hat, wo die Energie ist,
und wo wir das Gefühl haben, das sich die Investition lohnt. Natürlich haben auch wir gewisse
Rhythmen und Grenzen. Wir würden zum Beispiel nie unsere Buchführung der Kreativität aus-
setzen. Aber wir versuchen an die meisten Dinge möglichst frei heranzugehen. Und so verändert
sich auch stetig die Art, wie wir lernen.
Außerdem sind mein Mitgründer und ich unfassbare Leseratten und unterhalten uns sehr
viel über die Bücher, die wir studieren. Ich glaube, das hat einen recht großen Einfluss. Viele
Impulse bekommen wir natürlich auch durch intensive Gespräche mit unseren Kunden – was wir
noch mehr machen sollten, als wir es ohnehin schon tun.
Seht ihr, dass auch in Startups die drei Voraussetzungen für intrinsische Motivation er-
füllbar sind?
Auf jeden Fall. Start-Ups haben die besten Ausgangsbedingungen dafür. Gerade da geht es am
Anfang um eine gemeinsame Idee, also einen Sinn. Autonomie ist auch so gut wie immer gegeben
und vor Herausforderungen wimmelt es nur so. Von daher bedient ein Start-up genau die Bedin-
gungen für intrinsische Motivation. Das sieht man auch daran, dass viele Gründer bereit sind,
große Opfer zu bringen. Beispielsweise für einige Monate oder Jahre weniger zu verdienen. Sie
sind dazu bereit, weil sie passioniert an ihre Idee herangehen und an diese glauben.
Meiner Meinung nach gibt es kaum eine bessere Möglichkeit, sich derart selbst zu verwirk-
lichen, wie mit einem eigenen Unternehmen. Allerdings sollte man an die Gründung sehr reflek-
tiert herangehen und sich immer die Frage stellen, ob das Geschäftsmodell, das man da gerade
aufbaut, auch wirklich in die Unabhängigkeit führt. Oder dahin, dass man nur noch von Kunden
fremdbestimmt wird.
Das Problem das die meisten Start-Ups irgendwann trifft ist Wachstum. Unternehmen wachsen
regelrecht kaputt. Denn wenn sie eine bestimmte Größe erreichen brauchen sie Strukturen. Und
mangels Wissen über die bestehenden Alternativen, wird die alte Blaupause angewendet. Also
Hierarchien eingezogen, Abteilungen gegründet und Kontroll- und Regelmechanismen einge-
führt. In dieser sogenannten Differenzierungsphase beginnt dann sowohl die Leistung des Unter-
nehmens als auch die Motivation der Mitarbeiter abzunehmen. Es ist nur schwer dies zu sehen,
denn meist wird die Situation ja noch von wachsenden Umsätzen und Gewinnen vernebelt. Wie
Mark Poppenburg 123

viel höher diese Umsätze und Gewinne aber sein könnten, wenn Unternehmen nicht den klassi-
schen Strukturen folgen würden, danach fragt keiner.
Was würdest du angehenden Gründern oder Leuten raten, die überlegen, ein Startup
hochzuziehen?
Den größten Lerneffekt hatte ich durch die Erkenntnis, dass es weder gut noch richtig ist,
lange darüber nachzudenken, wie das mögliche Geschäftsmodell aussehen könnte. Ebenso
unsinnig ist es, sich an der Frage aufzureiben, was der Kunde denn wohl haben will. Mein Rat:
Mache dem Kunden konkrete Angebote und warte, ob er kauft. Wenn man mit anderen Grün-
dern spricht, was ich regelmäßig tue, hört man immer heraus, dass sie zu einem ähnlichen Schluss
gekommen sind. Denn: Wenn ein Kunde tatsächlich Geld für etwas ausgibt, ist das der bestmög-
liche Test und einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren. Also: Analysiere, was ein Kunde gebrau-
chen könnte, bilde eine Hypothese darüber, geh hin, biete etwas an, und warte ab, ob er Interesse
zeigt. Und falls nicht: Versuche, daraus zu lernen und dein Angebot weiterzuentwickeln. Drucke
noch keine Visitenkarten, mache noch keine Website, kaufe dir irgendein günstiges Design, oder
was auch immer, und leg los!
Nehmen wir noch einmal ein konkretes Beispiel: Wir haben die Idee, Unternehmen Diag-
nosen ihrer Kulturmuster anzubieten. Das heißt: Wir wollen ihnen helfen, zu verstehen, warum
sie so sind, wie sie sind. Ich mache das eigentlich bereits seit mehreren Jahren, aber bislang gehe
ich in die Unternehmen, führe Interviews und versuche vor Ort zwischen den Zeilen zu lesen.
Irgendwann haben wir uns gefragt, ob man das Spiegeln der Kultur, was übrigens sehr effektiv ist,
nicht auch durch Fragebögen schaffen kann. Aber nicht durch diese klassischen Fragebögen mit
Feldern zum Ankreuzen, sondern durch qualitativ hochwertige, andersartige Fragebögen. Wir
wissen aber nicht, ob der Kunde das haben will. Eine Herangehensweise wäre, zunächst einmal
diese Fragebögen zu entwickeln, eine Website dazu aufzubauen und eine Marke zu entwickeln.
Danach steigt man langsam in die Akquise ein. Oder aber: Man designt ein Muster, wie solch
eine Auswertung aussehen könnte, schreibt einen Text, der einem ein Gefühl dafür gibt, was
man nachher in den Händen hält. Und genau das haben wir gemacht. Es hat uns zwei Wochen
gekostet. Nun zeigen wir es dem Kunden und warten, ob er es kauft. Kauft er, steigen wir in die
Entwicklung ein.
Auf diese Art und Weise kann man sehr viel schneller lernen als durch das ständige Grübeln,
ob das, was ich mir vorgestellt habe, tatsächlich eine Chance auf Erfolg hat. Und wer so an die
Dinge herangeht, der kann auch direkt die nächste Annahme über Bord werfen, nämlich die, dass
man als Unternehmer unbedingt risikobereit sein muss. Das mit der Risikoaffinität stimmt nur
bis zu einem gewissen Grad. Denn: Wenn ich viel teste, kann ich relativ sicher werden, ob ein
Produkt funktionieren kann. Ich muss dann gar keine großen Risiken mehr eingehen und auch
gar nicht wahnsinnig viel Geld in die Hand nehmen. Austesten, austesten, austesten – das ist für
mich einer der wertvollsten Tipps überhaupt.
Das intensive Testen der Produkte ist interessant. Wie läuft das genau ab: Ihr geht mit
eurem Prototyp zu zehn Kunden, und wenn fünf davon das Produkt haben wollen, geht ihr
in die Entwicklung?
Ja, so ungefähr. Wir gehen mit neuen Ideen in der Regel nicht zu Kunden, die wir gut kennen.
Denn sie geben uns oft einen Vertrauensvorschuss und nehmen die neuen Produkte ohnehin.
Wir gehen mit unseren Testprodukten zu Firmen, die wir gar nicht kennen. Wenn sie Interesse
zeigen, bekommen wir das Gefühl, dass in dem Produkt Potenzial steckt. Wenn wir dieses Gefühl
fünf Mal haben, oder sogar schon konkrete Sales generieren konnten, erst dann gehen wir in die
Entwicklung.
124 Intrinsify.me

Eure Vorgehensweise entspricht genau der Lean-Startup-Philosophie: Risiko minimieren


und möglichst früh das Modell oder Produkt testen. Verfolgt ihr noch andere Methoden?
Tatsächlich benutzen wir das Business Model Canvas sehr oft. Jedes Geschäftsmodell, das wir
uns überlegen, gehen wir damit an. Wir versuchen, uns zu disziplinieren, unsere Arbeit in regel-
mäßigen Abständen zu konsolidieren. Ich erwähnte es ja schon: Wir treffen uns alle drei Monate,
schauen in den Rückspiegel und überprüfen unsere Annahmen. Mit welchen Gedanken sind wir
in den Drei-Monats-Zyklus gegangen? Was hat sich bestätigt, was nicht? Wir haben ein Playbook,
in dem wir festhalten, was für die nächste Zeit wichtig ist, wo wir den Fokus legen wollen. Wir
haben also immer eine Strategie für die nächsten drei Monate, denken aber auch darüber hinaus.
Es ist sehr wichtig, diese Annahmen und strategischen Überlegungen regelmäßig zu überprüfen,
ob sie auch gefruchtet haben.
Ein Wort zu deinem Alltag: Welche Aufgaben kommen täglich auf deinen Tisch?
Das ist total unterschiedlich. Im Moment fühle ich mich immer noch wie das Mädchen für
alles. Es gibt Phasen, in denen ich Rechnungen schreibe und handwerkliche, administrative und
bürokratische Dinge tue. Und natürlich geht auch ein signifikanter Anteil für die Vorbereitung
unserer Veranstaltungen und die Beratung der Unternehmen drauf. 50 bis 60 Prozent meiner Zeit
verbringe ich aber sicherlich mit Netzwerken. Es gibt unfassbar viele Leute, die einfach auf uns
zukommen und sagen, dass sie Lust haben, mit uns zusammen zu arbeiten oder sich austauschen
wollen. Ich verbringe wahnsinnig viel Zeit damit, mich mit Leuten zu treffen. Daraus entwickeln
sich manchmal Dinge und manchmal nicht. Meiner Meinung nach ist auch das ein wichtiger
Tipp für Gründer: Mit jeder zusätzlichen Gelegenheit, die ich mir schaffe, steigt die Wahrschein-
lichkeit, dass eine dieser Gelegenheiten einen großen Einfluss auf mich hat. Es ist die Black Swan-
Philosophie. Man muss sich möglichst viele Gelegenheiten schaffen, darf diese allerdings nicht zu
ernst nehmen und nicht enttäuscht sein, wenn nichts dabei herauskommt. Aber ab und an wird
halt etwas Großes daraus und plötzlich habe ich einen Auftrag an der Hand und etwas anderes,
von dem ich mir vorher gar kein Bild machen konnte.
Hast du einen Mentor, bei dem du dir Rat für strategische Entscheidungen holst?
Mein größter Mentor ist mein Geschäftspartner Lars. Und ich glaube, das gilt andersherum
genauso. Ich finde unser Duo-Modell optimal. Ich kenne diese Art der Zusammenarbeit aus der
Zeit, als ich als Student im Vorstand des Verbands deutscher Wirtschaftsingenieure aktiv war. Wir
waren damals auch ein Zweiergespann. Im Duo zu arbeiten ist meiner Ansicht nach ein totales
Erfolgsmodell, vor allem, wenn du zwei Charaktere kombinierst, die unterschiedliche Präferenzen
haben, unterschiedlich ticken und unterschiedlich über die Welt nachdenken. Jede wesentliche
Entscheidung reflektieren Lars und ich. Das bringt unfassbar viel.
Als weiterer Reflektionsmechanismus dient die Auseinandersetzung mit unseren Mitgliedern.
Sie fordern unser Geschäftsmodell und unsere Ideen kontinuierlich heraus. Ihr Feedback hat
manchmal schon fast einen Grad von Nervigkeit, denn sie möchten nun einmal mitwirken und
wollen sich aktiv mit der Frage auseinandersetzen, was die Zukunft von intrinsify.me ist. Wir
bekommen E-Mails, in denen steht, wir sollten hier noch einsteigen oder uns da engagieren. So
schön dieses Feedback ist: Es ist damit natürlich immer eine latente Gefahr verbunden, sich in
alles hineinzustürzen.
Außerdem habe ich noch einen Mentor aus meiner alten Arbeitgeberzeit. Wir telefonieren
ca. alle zwei Monate. Ich erzähle ihm, was gerade passiert, und er gibt mir wertvolle Impulse.
Das Gute ist, dass er in unserer Sache kaum drinsteckt und mir aus der Metaebene heraus Fragen
stellt, auf die ich nicht kommen würde.
Mark Poppenburg 125
126 Intrinsify.me

Kannst du ein Beispiel nennen?


Wir hatten einmal eine Situation, in der sich eines unserer Mitglieder sehr stark für uns enga-
gieren wollte. Aber ich hatte das Gefühl, dass es überhaupt nicht passt. Aus meiner Sicht konnten
wir nicht gut miteinander, es war keine harmonische Beziehung. Auch seine Zielrichtung war
eine andere als unsere, aber er war unheimlich passioniert bei der Sache, wollte mitmischen und
Ideen für intrinsify.me einbringen. Ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll, ich
bin ein ziemlich harmoniebedürftiger Mensch. In schwierigen Momenten lasse ich mich oft dazu
verleiten, „rumzuschwurbeln“ oder Dinge zu sagen, die mein Gegenüber hören will, anstatt die
Situation aufzulösen.
Über diesen konkreten Konflikt mit dem Mitglied habe ich mit meinem Mentor gesprochen.
Und – es klingt banal – er hat gesagt, dass ich dem Mitglied schlicht die Wahrheit sagen soll.
Im Endeffekt täte ich ihm damit einen Gefallen. Mit der Wahrheit sei ihm genauso gedient wie
mir. Es ist nur ein kleines Beispiel, aber ohne meinen Mentor wäre ich nicht dahin gekommen,
die Dinge einfach beim Namen zu nennen. Ich hätte wahrscheinlich noch zwei, drei weitere
Wochen oder Monate herumgedruckst und das Ganze hätte sich zu einer ekelhaften, unbe-
quemen Situation entwickelt. Stattdessen habe ich mich mit unserem Mitglied hingesetzt, ihm
meine Gefühlslage dargestellt und fertig. Die Situation zwischen uns war danach besser als vorher.
Ich glaube, solche Momente, in denen man teilweise ganz banale Hinweise von außen
bekommt, auf die man sonst nicht kommen würde, gibt es sehr viele. Es reicht schon, dass jemand
durch ein Gespräch kleine Impulse gibt, damit sich ein Knoten in dir löst. Deshalb sind Reflek-
tion und Austausch mit anderen meiner Meinung nach elementar wichtig. Allerdings muss man
Leuten gegenübersitzen, die sich trauen, das zu sagen, was sie denken. Und nicht das, was man
hören will. Danach sollte man sich seine Gesprächspartner auch aussuchen.
Ein letzter Impuls zu dieser Thematik: Ich würde mir zusätzlich einen Gesprächspartner
suchen, der deutlich jünger ist als ich selbst. In der Generation nach uns gibt es viele Leute, die
völlig grenzen- und hemmungslos über die Welt nachdenken. Sie tragen keine inneren Blockaden
mit sich herum, die wir vielleicht noch von unseren Eltern mit auf den Weg bekommen haben.
Sie stellen erfrischende Fragen und gehen unverblümt an Dinge heran. Deshalb kann man von
ihnen viel lernen. Verrate deinem Gesprächspartner aber nicht, dass er dein Mentor ist, denn
dann verliert die Situation an Charme. Aber nutze den Input, der kommt, für deine eigene Ent-
wicklung. Ich habe so etwas eine Weile mit einem unserer Mitglieder gemacht und es ist sehr
wertvoll.
Gibt es zurückblickend Dinge, die du heute anderes angehen würdest?
Auf jeden Fall. Unzählbar viele. Aber vor allem würde ich weniger Vorarbeit in die Leistungen
stecken, würde viel mehr lean reingehen, viel mehr testen. Wobei ich das gleichzeitig an einer
Stelle einschränken möchte: Manche Dinge kommen nicht in die Welt, wenn man sie zu rational
und zu effizienzgetrieben sieht und nur kurzfristig denkt. intrinsify.me ist auf eine gewisse Art
und Weise natürlich ziemlich idealistisch, vielleicht sogar überheblich. Unsere Grundannahme,
die Arbeitswelt verändern zu wollen, ist schon ein hoher Anspruch, gerade wenn man in unserem
Alter ist. Und wenn wir von Anfang an ausschließlich auf den Validierungs- und Testgedanken
gesetzt hätten, hätten wir vielleicht zu früh die Gabel in den Heuhaufen geschmissen. Insofern
waren die vielen mutmachenden Überlegungen am Start vielleicht doch nicht ganz nutzlos.
Bei meinem zweiten Unternehmen, das ich vor Kurzem gegründet habe, bin ich sehr stark
der Lean Start-Up Philosophie gefolgt. Und es hat sich mehr als ausgezahlt. Das heißt aber nicht,
dass es nicht auch mal Sinn machen kann, einfach etwas durchzuziehen, obwohl noch kein Kunde
da ist und keine Sicherheit besteht. Es hängt immer vom Einzelfall ab. Eins ist jedoch sicher: Es
bringt wirklich gar nichts, zuhause vor dem Schreibtisch zu sitzen und sich zu überlegen, was die
Mark Poppenburg 127

Welt wohl brauchen könnte. Du musst raus aus Deiner Komfortzone und Dich der Gefahr aus-
setzen, dass Du falsch liegen könntest. Das fällt vielen von uns sehr schwer, aber es ist der einzige
Weg zum Erfolg.
Mark, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Mark Poppenburg:

Ries, Eric (2011); The Lean Startup: How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to
Create Radically Successful Businesses; Crown Publishing
Taleb, Nassim Nicholas (2013); Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen;
Albrecht Knaus Verlag
Sinek, Simon (2011); Start With Why: How Great Leaders Inspire Everyone To Take Action;
Penguin
Wohland, Gerhard (2012); Denkwerkzeuge der Höchstleister: Warum dynamikrobuste Un-
ternehmen Marktdruck erzeugen; UNIBUCH
Seneca; Letters from a stoic
kaufDA
Christian Gaiser
9

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_9,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
130 kaufDA

Innovative Lösung für Online-Werbeprospekte


kaufDA ist der führende Anbieter von standortbezogener Prospektwerbung in Web und Mobile
und zählt bisher über fünf Milliarden aufgerufene Prospektseiten. Mehr als 247  000 statio-
näre Einzelhandelsgeschäfte aus 12 000 deutschen Städten und Gemeinden sind auf dem Portal
vertreten.
Darüber hinaus bindet kaufDA die Angebotsinhalte der Händler auf großen Partnerseiten wie
T-Online.de, BILD.de, RTL.de und Meinestadt.de ein. kaufDA zählt deutsche Einzelhändler,
Verbundgruppen, Marken und Mediaagenturen zu seinen Kunden.
Das 2008 gegründete Unternehmen gehört mehrheitlich zur Axel Springer SE. kaufDA ist ein
Unternehmen der Bonial International Group. Sitz der Gruppe ist Berlin. Weitere Standorte sind
Chicago, Paris, Barcelona, Moskau und São Paulo.

Christian, in welcher Situation hast du dich vor der Gründung befunden und wie kamst du
dazu, dich selbstständig zu machen?
Als ich damals angefangen habe, an der WHU – Otto Beisheim School of Management,
in Vallendar zu studieren, war es mein großer Traum – wie für viele andere Kommilitonen –
Investmentbanker bei einer dieser großen Legenden wie Goldman Sachs oder Merrill Lynch zu
werden. Während des Studiums hatte ich dann auch die Chance, bei Goldman ein Praktikum zu
absolvieren. Ich war einer der wenigen Deutschen, die es in das Private Equity Team in London
geschafft hatten, und es gefiel mir sehr gut. Mir war klar: Dort steige ich nach dem Studium ein.
Kurz vor dem Abschluss ging ich jedoch nochmal in die USA ins Silicon Valley, um an einer For-
schungsarbeit zum Thema Software as a Service and Platform as a Service zu schreiben. In diesem
Startup-verrückten Umfeld haben meine Mitstudenten und ich uns die Frage gestellt, ob wir
wirklich langfristig eine Bankkarriere machen wollen.
Damals habe ich mich an eine Umfrage erinnert, in der Menschen mit erfolgreichen Bank-
karrieren befragt wurden. Zwar gaben die meisten an, stolz auf ihre Leistungen in einer interna-
tionalen Bank zu sein, doch die wenigsten waren wirklich glücklich damit – das hat mein dama-
liges Gefühl gut beschrieben.
Ich habe mich dann bewusst gegen die Laufbahn im Investmentbanking entschieden, obwohl
ich zu diesem Zeitpunkt noch keine konkrete Gründungsidee hatte. Meine Mitstudenten und ich
waren aber guter Dinge, dass wir eine finden und auch erfolgreich umsetzen würden.
Christian Gaiser 131

Du hast also damals das Silicon Valley kennengelernt und lebst jetzt in Berlin. Wie ist deine
Meinung zu der Diskussion Valley versus Berlin?
Mittlerweile habe ich eine differenziertere Meinung zum Valley als der „Heilige Gral“. Aus
meiner Sicht ist das Valley ganz klar ein Cluster mit Top-Leuten, sehr viel Geld und einem Öko-
System, das es jungen Firmen sehr schnell ermöglicht, ihr Business zu entwickeln. Dabei hilft
auch die kulturelle Haltung, die sehr auf „Trial and Error“ ausgelegt ist, – eine Haltung, die in
Deutschland nicht sehr ausgeprägt ist.
Nichtsdestotrotz brauchen wir uns in Deutschland nicht zu verstecken. Gerade, wenn es um
die Umsetzung oder die Internationalisierung von Geschäftsmodellen geht, sind deutsche Inter-
netfirmen außerhalb der USA sehr erfolgreich. Den amerikanischen Startups reicht zunächst der
riesige homogene Markt vor der Tür, so dass sie sich die ersten Jahre darauf konzentrieren können,
in den USA groß zu werden und dann im Rest der Welt einfach zuzukaufen.
Auch bei der Bewertung von Firmen gibt es große Unterschiede. In den USA wird bei Börsen-
gängen gerne das 15-Fache des Umsatzes als Bewertungsbasis genommen, während in Deutsch-
land und Europa das 15-Fache des Profits herangezogen wird. Das macht es den US-Startups
natürlich leichter, schneller zu wachsen und andere spannende Geschäftsmodelle zu integrieren,
weil die Investoren viel optimistischer in die Zukunft blicken – ein sehr wichtiger Unterschied.
Doch von den Personen und Fähigkeiten her können wir in Deutschland – und das merkt man
hier in Berlin deutlich – sehr gut mithalten.
Wie seid ihr dann auf die Idee für kaufDA gekommen?
Wir sind auf drei Aspekte aufmerksam geworden, aus denen wir letztlich unser Konzept ent-
wickelten. Das war erstens die unglaubliche Schwemme an Werbeprospekten, die wir in den
USA erlebt haben. Das ist dort noch viel stärker ausgeprägt als bei uns in Deutschland. Zweitens
hatte ich eine Studie darüber gelesen, wie viele Prospektbeilagen Unternehmen jährlich produ-
zieren und verteilen lassen. Beispielsweise hat ein großer Baumarkt damals eine Milliarde Flyer
produzieren lassen und dafür in Deutschland 50 bis 60 Millionen Euro ausgegeben. Diese Zahl
hat uns echt umgehauen. Der dritte Punkt, den wir gesehen haben, waren die bereits erfolgrei-
chen Classifieds-Business-Modelle, wie z. B. Immoscout24 oder mobile.de, bei denen Online-
Recherche Offline-Transaktionen beeinflusst. Daran haben wir gesehen, dass Printwerbung auch
online funktionieren kann. Damals war die Handelswerbung einer der wenigen Bereiche, die
noch nicht digital verfügbar waren. So kam uns die Idee für eine Art lokales Einkaufszentrum
unter dem Namen kaufDA.
Ihr hattet weder Erfahrung in der Branche noch in der Gründung eines eigenen Unterneh-
mens – wie habt ihr euch letztlich motiviert, loszulegen?
Im Nachhinein betrachtet war es von Vorteil, dass wir wenig Erfahrung in der Branche hatten.
Viele Experten aus dem Einzelhandel haben uns damals davon abgeraten, sie schienen in ihren
eingefahrenen Denkstrukturen gefangen. Wir hatten Scheuklappen auf und haben es einfach
durchgezogen, auch als uns im ersten Jahr große Herausforderungen erwarteten. Es reizte mich
einfach. Schon mein ganzes Leben lang habe ich einfach gerne Dinge aufgebaut und Projekte
gestartet. Mit 15 Jahren fing ich zum Beispiel schon an, mit Aktien zu handeln. Meine Eltern
sind in der Hotel- und Gastronomiebranche selbstständig. Ich habe somit das Unternehmertum
und die wirtschaftlichen Zusammenhänge schon von Kindesbeinen an mitbekommen. Ich mag
es, mit Menschen zusammenzuarbeiten und ein Team zu führen. Das waren und sind wichtige
Motivationsfaktoren für mich – es ist weniger das Geld, das ist mir nicht so wichtig.
132 kaufDA

Wie seid ihr dann weiter vorgegangen, wie habt ihr versucht, eure Idee des digitalen lokalen
Einkaufszentrums zu validieren?
Als Erstes haben wir uns mit Experten aus dem Handel, dem Medienbereich und der Web-
szene unterhalten. Gemeinsam haben wir sehr viele Szenarien durchgespielt. Wenn wir eine Idee
hatten, haben wir schnell einen 10-Pager zusammengebaut und versucht, möglichst viel Feedback
von Experten einzuholen. Das entspricht auch meiner Philosophie – ich halte nicht viel davon,
lange Businesspläne zu schreiben, sondern versuche schnell, Feedback von Leuten einzuholen, die
sich mit der Materie auskennen. Viele Gründer schrecken davor zurück, weil sie Angst vor Ideen-
klau haben. Das ist aber zumeist unberechtigt, weil die Idee alleine nicht viel wert ist. Es kommt
vor allem auf eine zielgerichtete und effiziente Umsetzung an.
Wir sind dann bei der weiteren Entwicklung schnell an Grenzen gestoßen. An Einzelhan-
dels- und Familienunternehmen kommt man nur schwer heran. Außerdem hatten wir nichts vor-
zuzeigen und damals konnten sich die Kunden unter unserer Produktidee nichts vorstellen. Wir
wollten es trotzdem versuchen und schätzten die Chance auf Erfolg auch relativ hoch ein, denn
es gab ja bereits die erfolgreichen Beispiele aus dem Kleinanzeigen-Umfeld. Die entscheidende
Frage war, ob es uns gelingen würde, genug Reichweite aufzubauen. Wir hatten dann innerhalb
von zwei Monaten ein Team zusammengestellt. Glücklicherweise gewannen wir einen exzellenten
Chief Technology Officer (CTO) als Mitgründer, der sehr schnell die erste Version unseres Pro-
dukts umsetzte. Damit sind wir gestartet und hatten bereits nach einem Monat ein paar hun-
derttausend Nutzer auf der Plattform – ohne umfangreiches Marketing. Wir sahen: Unsere Idee
hat wirklich Potenzial. Es war unsere Philosophie, schnell Gespräche zu führen und dann ebenso
schnell in den Markt einzutreten. Wir haben sehr viel dabei gelernt und konnten die Kosten
niedrig halten – vielleicht spielt hier meine schwäbische Herkunft eine Rolle ...
… das heißt, ihr habt wie die schwäbische Hausfrau die Kosten auf ein Minimum
beschränkt?
Das kann man so sagen (lacht). Ich glaube auch, mit Mitte 30 wäre das unmöglich gewesen
– wir sind da schon sehr auf dem Zahnfleisch gegangen und haben persönlich sehr viel geopfert.
Wenn ich mir Bilder von 2008 und 2009 anschaue – da war ich bestimmt 20 Kilogramm leichter
als heute.
Du hast eben erwähnt, dass ihr sehr schnell ein Produkt in den Markt gebracht habt. Ihr
habt im August 2008 gegründet und wart im Dezember 2008 bereits online. Wie habt ihr
das so schnell geschafft und wie habt ihr eure Aktivitäten priorisiert?
Wir waren auch deshalb so schnell, weil wir einige Dinge schon vorbereitet hatten, z.  B.
hatte jeder von uns bereits eine Beteiligungsgesellschaft gegründet. Die ganzen Rechtsthemen
und administrativen Rahmenbedingungen – etwas woran Gründer oft zu wenig denken – waren
bereits abgedeckt und wir konnten sofort mit der eigentlichen Arbeit loslegen. Schnell zu sein war
unser oberstes Gebot, denn uns war klar, dass der First-Mover Advantage in dem Markt gigan-
tisch sein musste, und wir hatten die Sorge, es könnte uns jemand zuvorkommen. Oberste Prio-
rität war also der Launch. Dazu mussten wir das Produkt finalisieren, aber auch erstes Kunden-
feedback einholen. Letzteres war meine Aufgabe – ich war sozusagen der „Außenminister“. Dazu
gehörte auch die Präsentation nach außen. Uns war zum Beispiel von Anfang an wichtig, dass
wir uns nicht als Startup, sondern als möglichst seriöses, professionelles und ein stückweit auch
konservatives Unternehmen verkaufen, eben weil der deutsche Einzelhandel relativ konservativ
und zurückhaltend ist. Wir haben von Anfang an aus der Kundensicht gedacht – etwas, das viele
deutsche Startups meiner Meinung nach zu wenig machen. Der Kunde ist nicht zwangsläufig der
Nutzer, sondern letztendlich derjenige, der die Rechnungen bezahlt – und bei uns ist das eben
Christian Gaiser 133
134 kaufDA

der Handel. Wir haben uns daher schnell an den Interessen des Handels ausgerichtet. Es war aus
meiner Sicht mit einer der größten Vorteile für uns, dass wir einfach das gewählt haben, was der
Handel schon kannte. Und die andere wichtige Priorität war das Kundenfeedback, was sich für
uns später auch als strategisch wertvoll erwiesen hat.
Habt ihr konkrete Tools und Methoden angewandt oder kam das mehr aus dem Bauch
heraus?
Die Methode, die wir angewandt haben, war ganz einfach: möglichst schnell möglichst viel
zu machen. Wir haben nicht in irgendwelchen festgefahrenen Mustern gedacht, sondern ein-
fach alles, was wir an Energie hatten, zielgerichtet eingesetzt, um möglichst schnell vorwärtszu-
kommen. Rückblickend würde ich schon einiges anders machen. Über die Zeit merkt man, dass
mehr Input nicht unbedingt zu mehr Output führt. Was uns geholfen hat, war unsere Erfah-
rung, die wir beim Studium an der WHU und in der Praxis sammeln konnten. Auch wenn
diese nicht lange war, wussten wir, wie man schnell und professionell Präsentationen entwickelt
und wie man ein Excel-Modell aufsetzt. Das heißt, es war viel, was ich als Tacit Knowledge
bezeichnen würde, vorhanden. Wenn wir ansonsten an einer Stelle nicht weiter wussten, haben
wir in unserem Umfeld gefragt.
Apropos Hilfe aus dem Umfeld – ihr hattet von Anfang an fünf Business Angels. Welche
Rolle hatten sie, waren das in erster Linie Kapitalgeber oder auch eine Art Mentoren?
In erster Linie haben wir das Geld gebraucht. Unsere Business Angels haben aber auch kom-
plementäre Fähigkeiten mitgebracht, die uns dabei geholfen haben, das Modell wirklich schnell
nach vorne zu bringen. Beispielsweise hat Stephan Schubert permanent Dinge infrage gestellt.
Das war für uns nicht immer angenehm, hat uns aber geholfen, besser zu verstehen und den
Fokus darauf zu legen, was der Kunde möchte. Er hat onVista mit aufgebaut und hatte dadurch
Erfahrung gesammelt, wie man Deals mit großen Konzernen macht. Das war für uns eine wich-
tige Hilfe, um bei diesen teilweise sehr langwierigen Prozeduren nicht die Motivation zu verlieren.
Ein weiteres Beispiel ist Frank Thelen, der aus meiner Sicht einer der wenigen Produktgenies in
Deutschland ist. Er hat von Anfang an immer gesagt: „Macht iPhone!“, er hat mich damals alle
zwei Wochen angerufen und mir mit Mobile in den Ohren gelegen. Wir haben uns es relativ früh
auf die Agenda gesetzt und das war auch gut, denn Mobile macht mittlerweile über 60 Prozent
unseres Umsatzes aus. Das war also eine wichtige Rolle, um uns immer wieder neu zu fordern.
Der zweite Punkt ist, dass wir bei neuen Herausforderungen, beispielsweise einem Problem im
App-Store, sehr selektiv geschaut haben, wer uns helfen könnte. Drittens konnten uns die Angels
natürlich bei der weiteren Finanzierung vor allem mit Kontakten unterstützen. Beispielsweise
kam der Kontakt zu eVenture über Stefan Glänzer zustande.
Mein Eindruck war, dass die Angels am Ende des Tages einfach sehen wollten, dass wir etwas
aufbauen können, was funktioniert. Sie unterstützten an den Stellen, an denen noch eine Ergän-
zung notwendig war, um sicherzustellen, dass wir auch erfolgreich sein konnten.
Zu eurer Marketingstrategie: Wie habt ihr Endkunden auf euch aufmerksam gemacht und
Händler gewonnen?
Für die Nutzerseite haben wir sehr viel Suchmaschinenmarketing betrieben, das war für uns
ein sehr guter Hebel. 25 Prozent der Suchanfragen waren damals schon lokal und hier konnten
wir uns gut positionieren. Andere lokale Suchergebnisse wie Gelbe Seiten oder Telefonbücher
hatten außer Adressen nicht viel zu bieten. Ein zweiter wichtiger Teil war eine Kombination von
Maßnahmen im Bereich Mobile, z. B. hatten wir eine Kooperation mit der Telekom und haben
sehr viel App-Store-Marketing betrieben. Die dritte Komponente – und die war auch wichtig für
die Händlerseite – war die Kommunikation. Wir haben sehr stark auf die Berichterstattung in
Christian Gaiser 135

den Fachmedien gesetzt, worüber wir an Glaubwürdigkeit gewonnen haben – am Ende des Tages
ist es harte Vertriebsarbeit. Deshalb hatten wir auch recht früh den ehemaligen Vertriebsleiter des
Berliner Tagespiegel, Peter Dröge, an Bord geholt, der über 20 Jahre Erfahrung in der Handels-
branche mitbrachte. Das war im Team natürlich nicht unumstritten, schließlich veränderte so ein
erfahrener Profi auch unsere Kultur. Doch ich war überzeugt, dass wir ihn brauchten und stellte
ihn als Vertriebsleiter ein. Es war meine feste Überzeugung, dass es extrem wichtig sein würde,
jemanden im Team zu haben, der die Sprache des Handels spricht. Mit unserem Businesswort-
schatz wären wir nicht weit gekommen. Eine amüsante Erfahrung dazu haben wir im Schwa-
benland bei einem milliardenschweren Handelsunternehmen gemacht, als uns der Senior-Chef
fragte: „Herr Gaiser, das ist ja alles schön und gut, aber was kostet das denn jetzt?“ und wir dar-
aufhin unser Performance-Modell und Cost per Click vorstellten. Die Antwort war: „Cost per
Click? Mit solchen Anglizismen brauchen Sie mir gar nicht kommen.“ Seitdem nennen wir das
Ganze „Prospektöffnungsgebühr“. Meine Erkenntnis ist, dass es wichtig ist, auf die Menschen
einzugehen. Letztlich verkauft man auch immer über die eigene Persönlichkeit – und da kann
der Erfolg stark von einigen wenigen Entscheidern abhängen – stärker als das z. B. im E-Com-
merce der Fall ist.
Neben dem Fingerspitzengefühl für Kommunikation und Beziehungen – was war noch
wichtig, um die Händler zu überzeugen?
Ein erster wichtiger Punkt war, den Handel zu überzeugen, dass es sich lohnen würde, im
Internet präsent zu sein. Der Handel hatte zu der Zeit noch nichts im Internet gemacht und wir
mussten erst mal Gattungsmarketing betreiben. Um das zu erreichen, mussten wir den „langen
Weg“ wählen. Unser Vertriebsleiter sprach immer davon „Wellen zu schlagen“. Wir haben dem
Handel dargelegt, aus welchen Gründen das Internet wichtig sei und warum er mitinvestieren
sollte. Eine zweite Herausforderung war, den Punkt zu finden, ab dem ein Entscheidungsträger
bereit ist, sich persönlich dafür einzusetzen. Es gibt ja das Sprichwort „No one gets fired for hiring
IBM“ und im Marketing ist es die Printanzeige, mit der man nichts falsch machen kann. Etwas
Neues hingegen ist riskant, das heißt, wir brauchten eine Art Champion in der Organisation, der
das Thema vertrat. Die dritte Herausforderung war, die Schlüsselpersonen solcher Themen zu
finden. Am Anfang hieß es, wir sollten mit dem Webmaster sprechen. Am Ende war die Entschei-
dung, in uns zu investieren, aber eine sehr strategische, die meist ganz oben getroffen wurde. Ein
vierter Punkt ist das Thema Glaubwürdigkeit. Das Prospekt ist für die Händler das wertvollste
Marketinginstrument, und diesen Heiligen Gral sollten sie nun uns, einem im Markt neuen
Unternehmen, anvertrauen. Geholfen hat uns dabei, dass wir die Deutsche Telekom als Venture
Investor mit an Bord hatten und wir von der starken Marke profitieren konnten.
Es war aus meiner Sicht wichtig, dass wir das bisherige Modell nicht abgetan – und unseren
Service eher als Ergänzung präsentiert haben. Viele Internet-Unternehmen machen den Fehler, zu
glauben, sie hätten die beste Antwort und das alte Modell würde abgeschafft. Wir wollten nicht
als Smart-Ass daherkommen und haben den Händlern gesagt: „Lieber Händler, das, was du die
letzten 30 Jahre gemacht hast, ist nicht falsch, das war gut so. Wir übertragen jetzt genau diese
Systematik ins Internet, aber Print ist weiterhin sinnvoll und wichtig.“
In 2009 seid ihr dann stark gewachsen, auch mithilfe von Venture Capital. Wie ist eure Fi-
nanzierungsrunde gelaufen? Wie kam der Kontakt zustande und wie konntet ihr die Inves-
toren überzeugen?
Im Falle unseres ersten Investors 2009, der Deutschen Telekom, wurden wir kontaktiert,
bevor wir die Runde überhaupt gestartet hatten. Das war auf eine Art und Weise, wie es wohl
nur selten passiert. Ich hatte morgens früh einen Anruf bekommen und wurde nach Darmstadt
136 kaufDA

zur Abteilung „Strategie und Innovation“ der Deutschen Telekom eingeladen. Begrüßt wurde
ich mit: „Das ist ja schon ganz schön disruptiv, was Sie da machen.“ Nach einer kurzen Vor-
stellung wurden die Gastgeber relativ „pushy“ und nannten mehrere Anknüpfungspunkte für
eine Unterstützung. Eine Frage war, ob wir Geld benötigten. Ich habe natürlich ja gesagt und so
wurde der Kontakt zu T-Venture hergestellt. Bei unserem ersten Meeting mit Patrick Meisberger
von T-Venture hatten wir schnell gemerkt, dass die Chemie stimmte und man einen guten Ein-
druck von uns gewonnen hatte. Wir hatten wenig mit Key Performance Indicators (KPIs) argu-
mentiert, es war die Traction, die wir bis dato bereits erzeugt hatten, die die Verantwortlichen
überzeugte. Außerdem war das Konzept gerade für die Telekom sehr attraktiv, denn schließlich
konnte man Parallelen zu dem Kleinanzeigenmarkt ziehen, in dem die Telekom viel Erfahrung
durch die Scout Group gesammelt hatte. Dann ging alles sehr schnell. Auch wenn Einige immer
noch der Meinung sind, die Telekom sei ein schwerfälliger Konzern – wir haben sehr positive
Erfahrung mit T-Venture und den beteiligten Personen gemacht.
Der zweite Investor war die Beteiligungsfirma eVenture Capital Partners. Hier kam der Kon-
takt über Stefan Glänzer zustande. Wir haben zwei Vertreter in Hamburg getroffen und hatten
ein sehr gutes Gespräch, auch weil eVenture den Einzelhandel sehr gut kennt. Auch hier merkten
wir schnell, dass der Funke übergesprungen war – das war ein bisschen wie beim Dating –, und
hatten ein sehr gutes Gefühl für eine Zusammenarbeit.
In einem gemeinsamen Due-Diligence-Termin hatten wir beide Parteien zusammenge-
bracht, das war für uns eine ideale Kombination. Wir haben mit beiden sehr gerne und sehr gut
zusammengearbeitet. Nebenbei bemerkt: Wir hatten auch andere Angebote aus dem Medien-
umfeld, doch wollten wir uns zu dem Zeitpunkt nicht mit einem Player aus der Medienbranche
vermählen.
Mit den beiden Venture-Capital-Investoren hattet ihr nun Zugriff auf Kapital – wofür habt
ihr es eingesetzt?
Uns war schnell klar, dass wir möglichst schnell wachsen wollen, das heißt, es ging in erster
Linie um Team Investments. Wir wollten weitere erfahrene Leute mit an Bord holen, um das
Wachstum zu beschleunigen. Der Fokus lag zu diesem Zeitpunkt darauf, das Geschäftsmodell
wirklich auf die Probe zu stellen und profitabel zu werden – dafür haben wir das Kapital ein-
gesetzt. Eine Internationalisierung wollten wir erst nach der Bewährung des Geschäftsmodells
angehen.
Euer Wachstumskurs hat sich in 2010 fortgesetzt – wie habt ihr den Sprung vom Gründer-
team zu einer größeren Firmenstruktur gemanagt?
Wir haben im Laufe der Entwicklung unseres Unternehmens rasch festgestellt, dass den Her-
ausforderungen des rasanten Wachstums nicht jeder gewachsen ist. Man sieht das auch daran,
dass von den vier ursprünglichen Gründern von kaufDA heute nur noch zwei das Unternehmen
führen. Wir hatten 2010 eine zweite Managementebene mit Mitarbeitern etabliert, die ers-
tens Führungserfahrung mitbrachten und zweitens selber als Leuchtpunkt und Magnet für die
anderen Mitarbeiter wirken konnten. Dieser Ansatz war sehr erfolgreich. Aus meiner Sicht ent-
scheidend ist es auch heute noch, recht früh gute Leute an Bord zu holen und allen Mitarbei-
tern die Möglichkeit zu geben, sich weiterzuentwickeln. Ich glaube, viele Gründer machen den
Fehler, zu lange zu operativ tätig zu sein und nicht loslassen zu wollen. Ich bin auch immer noch
sehr detailorientiert, doch ich glaube, es ist uns gelungen, relativ schnell eine Organisation aufzu-
bauen, bei der nicht jede Entscheidung vom Gründer getroffen werden muss. Natürlich ist solch
ein Wachstumsprozess auch schmerzlich, da die Mitarbeiter weniger Kontakt zu den Gründern
Christian Gaiser 137

haben – gerade für Mitarbeiter der ersten Stunde. Trotzdem sind viele der ersten Mitarbeiter auch
heute noch dabei, und die Wachstumsschwellen haben wir sehr gut gemeistert.
Wie hat sich dein Job verändert?
Mein Job hat sich extrem gewandelt. Am Anfang habe ich alles gemacht. Dazu gehörte z. B.
auch, 20 000 Adressen händisch in das System einzutragen. Heute bin ich dagegen ca. 50 Prozent
meiner Zeit im Ausland unterwegs, da wir uns im Zuge der Internationalisierung die Märkte sehr
genau anschauen. Ich bin also fast so viel im Flugzeug wie meine Schwester, die als Stewardess
arbeitet. Weitere 20 bis 30 Prozent meiner Zeit verwende ich heute für die Repräsentation von
kaufDA vor Kunden und Geschäftspartnern. Und in der restlichen Zeit bearbeite ich strategische
Aufgabenstellungen, z. B. Märkte analysieren und entscheiden, welche neuen Projekte wir voran-
treiben wollen. Auch wenn ich dabei nochmals tiefer in Themen einsteige – für operative Tätig-
keiten wie z. B. Präsentationsdesign habe ich einfach keine Zeit mehr. Ich habe auch viel zu lange
damit gewartet, eine eigene Assistentin einzustellen. Nach meiner Erfahrung ist es sehr wichtig,
sich auf die Bereiche zu fokussieren, in denen man als Gründer echten Input liefern kann. Und
das bedeutet, eben nicht alle Dinge selbst umzusetzen, sondern Entscheidungen zu treffen und
möglichst viel Zeit beim Kunden zu verbringen.
Stichwort Repräsentation und Öffentlichkeitsarbeit. Hier wurde bezüglich kaufDA eine
sehr emotionale Debatte geführt und ihr wurdet als Schrecken der Verlage bezeichnet. Was
hast du aus dem Umgang mit den Medien gelernt?
Das war tatsächlich ein Bereich, in dem wir, neben der Vertriebserfahrung, am meisten gelernt
haben. Es war sehr schwierig, uns in den Medien zu positionieren, weil uns viele der Medien-
vertreter als Bedrohung der Verlage und somit ihres Jobs sahen. Es ist uns dennoch gelungen,
auch in den führenden Publikationen so präsent zu werden, dass uns keiner mehr ignorieren
konnte. Wichtig dabei war, dass wir schon relativ frühzeitig eine sehr professionelle Pressearbeit
mit klarem Fokus auf hochwertigen und seriösen Informationen betrieben haben.
Dabei gab es immer wieder unterhaltsame Höhepunkte. So wurde ich auch mal als „Lady
Gaga der Handelsbranche“ bezeichnet. Das war teilweise sehr amüsant. Natürlich haben uns viele
Journalisten herausgefordert und versuchten, uns eine radikale Aussage abzuringen. Hier hat es
uns sehr geholfen, ein klares Kommunikationskonzept zu haben.
2011 ist dann der Axel Springer Verlag bei euch eingestiegen beziehungsweise hat euch über-
nommen. Wie ist das Ganze entstanden und warum wolltet ihr euch übernehmen lassen?
Auch wenn die Medien eine Übernahme daraus gemacht haben, sehe ich es eher als eine
Partnerschaft, eine Art Anchor Investment von Axel Springer. Und wir haben ja auch nur einen
kleinen Teil verkauft, den Großteil meiner Anteile habe ich behalten – das ist auch gut so, da ich
sie sonst viel zu günstig verkauft hätte. Der Prozess erstreckte sich damals über sechs Monate.
Durch unsere Präsenz in den Medien gab es damals ein großes Interesse von Unternehmen und
zahlreiche Anfragen bezüglich Beteiligungen. Eine davon kam von Axel Springer und mir war
schnell klar, dass das der einzige Partner ist, mit dem ich das machen wollte. Wir haben intensive
Gespräche geführt, unter anderem auch mit dem Chief Executive Officer (CEO) Matthias Döpfner
und Andreas Wiele. Schließlich wollten wir wissen, auf wen wir uns einlassen. Wieder haben wir
auf unser Bauchgefühl gehört und waren überzeugt, dass wir mit Axel Springer den Sprung auf
das nächste Level schaffen könnten. Wichtig für uns war, dass man mit uns die Leidenschaft
teilte, unser Modell rasch und weitgehend zu internationalisieren. Der Verlag hatte sich bereits
138 kaufDA
Christian Gaiser 139

bei anderen Unternehmen, wie z. B. idealo, als erfolgreicher und stark unterstützender Partner
bewiesen. Auch wir konnten uns vertraglich so viele Spielräume sichern, um weiter die notwen-
dige Hoheit über unser Geschäft zu halten. Unsere Wunschvorstellung war es, einen Partner
zu haben, der uns eine Art Werkzeugbox bereitstellt, auf die wir bei Bedarf zugreifen könnten,
ansonsten es uns aber weitgehend unabhängig ermöglicht, unser Geschäft voranzubringen. Und
so trat es dann auch ein. Alles, was wir umsetzen wollten, hat sehr gut funktioniert – insbeson-
dere die Internationalisierung, die ohne diese Partnerschaft sicher nicht möglich gewesen wäre.
Im Zuge der Partnerschaft mit Axel Springer begann der nächste Akt bei kaufDA – die In-
ternationalisierung. Wie sah eure Strategie aus? Gab es Konkurrenz im Ausland?
Wir hatten Glück, dass es in vielen Ländern noch keine lokale Kopie gab. Das Schöne an
unserem Geschäftsmodell ist, dass die Branche als verstaubt gilt und für viele nicht auf den ersten
Blick erkennbar ist, welch ein Riesengeschäft dahintersteckt. Uns war klar: Den Prospektmarkt
in ähnlicher Form gibt es aber auch in anderen Ländern, so dass unser Konzept auch dort funk-
tionieren müsste. Wir haben es als Wachstumschance und auch ein bisschen als unsere Pflicht
als Entwickler des Modells gesehen, ausländische Märkte zu erobern und globaler Marktführer
zu werden. Schließlich haben wir uns verschiedene Märkte angesehen und mit Experten vor Ort
gesprochen. Es war schnell klar, dass wir den französischen Markt als Erstes angehen müssen. Und
zwar nicht unbedingt wegen des Marktes, sondern, weil die französischen Handelsketten wie Car-
refour international eine sehr dominierende Stellung haben. Die nachfolgenden Märkte haben
wir in erster Linie nach der Größe ausgewählt. Der Aufwand ist für uns für jedes Land gleich, ob
Brasilien oder Spanien, jedes Land haben wir wie ein neues Startup aufgebaut. Den Fehler, den
meiner Meinung nach viele Firmen begehen, ist im Nachbarland und im Kulturkreis zu bleiben
und in die Schweiz oder nach Österreich zu gehen, obwohl diese Märkte sehr klein sind. Für
unser Modell gibt es wenig grenzüberschreitende Synergien und wir managen jedes Land indivi-
duell, also eher wie ein Portfolio.
Jeden Markteintritt haben wir generalstabsmäßig geplant und dabei eine Art Playbook entwi-
ckelt, das wir abarbeiten können – also vom Launch über den Teamaufbau bis hin zu den ersten
angestrebten Geschäftspartnern. Ich wünschte, ich hätte dieses Playbook schon für Deutschland
gehabt. Bisher ist die Internationalisierung sehr erfolgreich verlaufen und wir sind überall min-
destens mit dem gleichen Tempo wie in Deutschland unterwegs, sehen ähnliche positive Signale,
aber auch Herausforderungen.
Lokal präsent zu sein ist für euer Modell wichtig, baut ihr je Land jeweils ein Office und
ein Team auf?
Ja, wir haben in jedem Land ein Büro, aktuell sind das São Paulo, Moskau, Barcelona und
Paris und neuerdings auch Chicago. Wir brauchen den lokalen Zugang zum Markt für Kommu-
nikation, Vertrieb und Geschäftspartner und wollen als lokales Unternehmen wahrgenommen
werden. Wenn man sich die Rubrikmärkte z. B. für Immobilien anschaut, gibt es in jedem Land
einen eigenen Player. Davon hat es aber keiner geschafft, weltweit erfolgreich zu sein, da es ver-
säumt wurde, einen ausreichenden Fokus auf Lokalität zu legen. Und das versuchen wir anders zu
machen. Wir sind mittlerweile ein globales Team, in dem über 60 Prozent keinen deutschen Pass
besitzen, und das ist natürlich auch für unser Team ein spannender Mix.
Ihr seid kürzlich in den USA gestartet, dem Land, in dem eure Idee entstanden ist. Was ist
besonders an dem Sprung in die USA?
kaufDA ist eines der wenigen innovativen Unternehmen mit dem Ursprung der Geschäftsidee
in Deutschland – eben keine simple US-Kopie. Wir müssen das einfach tun, sonst würde ich mir
das nie verzeihen, später einen großen Player vor Ort in den USA zu sehen, der nicht uns gehört.
140 kaufDA

Unser Ziel ist es, in dem von uns „erfundenen“ Markt den globalen Marktführer zu etablieren.
Das geht nur, wenn wir auch in den USA die Nummer eins sind. Damit haben wir die führende
Position in fünf der zehn wichtigsten Werbemärkte weltweit und es ist dabei schön, zu sehen, wie
gerade die USA sehr positiv auf unsere Lösung reagieren. In sehr kurzer Zeit konnten wir bereits
mehr als 50 große Handelspartner gewinnen.
Das besondere an den USA ist natürlich zum einen die absolute Dimension: Nach nur
wenigen Tagen erzielten unsere Apps bereits ein Vielfaches der Downloads, die wir aus Deutsch-
land gewohnt sind. Und: Viele Amerikaner sind schon wesentlich weiter im Verständnis unseres
Modells. Die Händler beispielsweise suchen händeringend nach Lösungen, um ihr wichtigstes
Werbeinstrument auf mobile Endgeräte zu verlängern. Für uns bedeutet das einen paradiesischen
Marktzustand!
Neben der Internationalisierung, die ihr ja auch weiterhin vorantreibt, was waren deiner
Meinung nach noch wichtige Meilensteine eurer Entwicklung?
Ein wesentlicher Meilenstein war sicher Mobile. Als wir anfingen, waren wir eine Desktop
Company und Anfang 2009 galt das Thema iPhone nur als Nice to Have. Auch einige unserer
Investoren hatten uns geraten, uns nicht darauf zu fokussieren. Wir hatten das damals schon
anders gesehen und mittlerweile laufen 60 Prozent unseres Traffics über mobile Endgeräte, das
heißt, wir sind mittlerweile eine Mobile Company geworden, was unsere Produktgestaltung sehr
verändert hat. Ein weiterer wichtiger Meilenstein war die Adressierung eines weiteren Kunden-
segments, den Marken selbst. Wir haben hier – ähnlich wie in einem Einkaufszentrum einzelne
Produkte gefeatured werden – den Marken die Möglichkeiten gegeben, uns als Kanal zu nutzen,
um saisonale Highlights zu bewerben. Und über diesen Kanal konnten wir zusätzlich wachsen.
Im Fokus bleibt aber nach wie vor unser Kerngeschäft – das Potenzial ist gigantisch, hier wollen
wir uns nicht ablenken lassen.
Eure Entwicklung ist sehr beeindruckend, eine Art Paradebeispiel für ein Startup. Was
glaubst du, sind die Erfolgsfaktoren?
Viele Faktoren sind entscheidend, aber ich denke, es gibt ein paar wesentliche Punkte, die
auch ein Differenzierungsmerkmal von uns sind. Das ist erstens der absolute Fokus auf Kunden-
bedürfnisse, verbunden mit einer geeigneten Sales-Strategie. Zweitens eine klare Kommunikati-
onsstrategie, die sehr stringent verfolgt wird, dabei professionell aufgesetzt, aber auch inhaltlich
sehr spannend ist. Ein dritter wichtiger Faktor war unser Recruiting. Es ist uns gelungen, Persön-
lichkeiten in das Unternehmen zu holen – vom Studienabbrecher bis zur 60 Jahre alten Mitarbei-
tern – die alle sehr unternehmerisch denken und einen starken Drive mitbringen. Und viertens
war es entscheidend, dass wir die richtigen Partner ausgewählt haben, sowohl unsere allerersten
Investoren, später Axel Springer, wie auch die anderen Geschäftspartner. Am Ende des Tages ist
es aber auch sehr viel harte Arbeit.
Was würdest du rückwirkend anders machen?
Ich würde den Launch in Deutschland anders gestalten. Ich würde sehr viel früher die Sales-
Organisation aufbauen. Uns hat das ja damals niemand gesagt, sondern wir haben es sozusagen
auf dem Weg als Erkenntnis mitgenommen. Ich würde viel schneller und konsequenter sein, z. B.
auch bei der Auswahl von Personal oder von Business-Development-Projekten. Ich glaube, das
haben wir am Anfang noch nicht richtig gut gemacht.
Und wie schon erwähnt, ist der Fokus extrem wichtig, ich würde häufiger nein sagen, wenn
das Projekt nicht in die Roadmap passt. Ein weiterer Punkt ist, dass ich Investments eher tätigen
würde. Wir haben am Anfang zu lange gewartet, da wir sparsam sein wollten – wurden dann aber
von Themen überrannt und hatten nicht vorgesorgt.
Christian Gaiser 141
142 kaufDA

Mit 25 Jahren wurdest du auf Platz 35 der Top-Manager Deutschlands gewählt. Was bedeu-
tete dies für dich?
Natürlich habe ich mich persönlich darüber gefreut. Aber als Repräsentant von kaufDA sehe
ich es auch als Anerkennung für das, was wir als Team gemeinsam bei kaufDA geleistet haben.
Wir hatten so nicht nur die Bestätigung unserer Kunden, sondern wurden auch als professionelles
Unternehmen wahrgenommen, das es geschafft hat, in einem sehr konservativen Umfeld zwi-
schen Handel und Medien extrem schnell Momentum aufzubauen. Uns alle hat das gefreut – ins-
besondere unseren Vertriebsleiter, der damals beinahe an die Decke gesprungen ist.
Wie siehst du dein Startup aus persönlicher Sicht ? Denkst du, du wärst eventuell bei
Goldman glücklicher geworden oder denkst du, dass kaufDA genau dein Ding ist?
Das ist ganz klar mein Ding und es macht mir auch nach mittlerweile fünf Jahren immer noch
sehr viel Spaß. Wir haben ein tolles Team, ich genieße viele Freiheiten, wir entwickeln uns ständig
weiter und auch die große Verantwortung – auch wenn sie mich nachts manchmal nicht schlafen
lässt – ist etwas, was ich persönlich möchte.
Klar, ich hätte wahrscheinlich auch bei Goldman eine tolle Zeit gehabt und viel gelernt, aber
es ist einfach anders und die Erfahrungen, die ich hier gemacht habe, möchte ich auf keinen Fall
missen. Diese Achterbahnfahrten, die wir durchgemacht haben, sind schon sehr aufregend und
mit viel Adrenalin verbunden. Das macht in gewisser Weise süchtig.
Ist Gründen deiner Meinung nach eine Typfrage und gibt es Eigenschaften, die für eine
Gründung wichtig sind? Falls ja, gibt es den Natural Born Entrepreneur oder kann ich mich
auch gezielt auf eine Gründung vorbereiten?
Ich glaube, es gibt verschiedene Facetten. Wichtig ist z. B. die Persönlichkeit und die Fähig-
keit, Menschen mitzureißen. Das ist wohl etwas, was man nur schwer lernen kann. Man kann es
– oder nicht. Daneben gibt es aber auch Produkt- und Technikgenies, die vielleicht eher in sich
gekehrt sind und die man teilweise auf Herausforderungen im Startup vorbereiten kann, wie z. B.
den Umgang mit Mitarbeitern und Investoren.
Am Ende des Tages finde ich es wichtig, einfach anzufangen, sobald man ein spannendes Pro-
dukt und ein geeignetes Team hat. Das halte ich für besser, als sich intensiv darauf vorzubereiten,
denn es passiert so viel, auf das man sich sowieso nicht vorbereiten kann. Gerade am Anfang
hilft es, auch die Realität teilweise auszublenden und mit einer gewissen Naivität einfach loszu-
legen. Wenn ich daran denke, was ich dazugelernt habe, dann ist das schon ein riesiger Unter-
schied zum Anfang. Wenn ich mir aber alte Präsentationen anschaue, erkenne ich schon sehr viel
Unverfrorenheit.
Christian, herzlichen Dank für das Gespräch.
MeinFernbus
Torben Greve und Panya Putsathit
10

Gründerteam: Panya Putsathit und Torben Greve (von links)

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_10,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
144 MeinFernbus

Fernbusse galten in Deutschland als unmöglich –


bis MeinFernbus kam und es einfach gemacht hat
Eine klare Vision, fundiertes Know-how und Mut zur Entscheidung: Im Juni 2011 grün-
deten Torben Greve und Panya Putsathit die MFB MeinFernbus GmbH. Keine drei Jahre später
eroberte das Berliner Unternehmen die Marktführerschaft.
Einer der Grundpfeiler des Erfolgs von MeinFernbus ist die große Fachkompetenz, die beide
Gründer von Tag eins an in ihr Unternehmen einfließen lassen konnten: fundiertes Wissen zum
europäischen Fernverkehrsmarkt und breite Expertise zu den Themen Netzplanung, Vertrieb,
Vermarktung und Service. Greve arbeitete nach seinem BWL-Studium viele Jahre bei der Deut-
schen Bahn, Putsathit blickt auf eine langjährige Beratertätigkeit und Erfahrungen beim Erfolgs-
Startup PayPal zurück.
Handeln statt Zaudern lautete die Devise. Noch bevor die Politik Anfang 2013 eine Liberali-
sierung des Fernbusmarktes in Kraft setzte, entschlossen sich die beiden Gründer, durchzustarten.
Im April 2012 eröffneten sie ihre erste Fernbuslinie. Als die Liberalisierung kam, fuhr Mein-
Fernbus bereits mit 30 Bussen auf acht Fernbuslinien 26 Städte an. Damit waren die Berliner der
Konkurrenz einen Riesenschritt voraus. Die Liberalisierung nutze das junge Team dann nicht für
den Auf-, sondern für den Ausbau. MeinFernbus wuchs rasant.
Gemeinsam mit ihren inzwischen 190 Mitarbeitern und in Verbund mit mittelständischen
Busunternehmen ist das Startup zum Top-Player der Fernbusbranche in Deutschland geworden.
Das Wachstum trat genauso ein, wie es im Businessplan einst vorgesehen war.

Panya, welcher Pfad hat dich zu MeinFernbus geführt?


Panya: Torben und ich kennen uns schon seit Ewigkeiten. Wir haben in Gießen BWL studiert
und zusammen in einer WG gewohnt. Für ein Auslandssemester studierten wir zeitgleich in Eng-
land, wenn auch nicht an derselben Uni. Wir haben uns aber gegenseitig besucht und gemeinsam
das Land erkundet – mit den in England populären Fernbussen. Als wir zurück nach Deutsch-
land kamen, fragten wir uns: Warum gibt es die Fernbusse hier nicht? Torbens Vertiefung war Ver-
kehrswirtschaft, und ihm wurde schnell klar, dass der Markt in Deutschland extrem stark reguliert
ist, und die Bahn vor der Fernbus-Konkurrenz schützt. Wir hatten also schon damals die fixe Idee,
etwas im Fernbusmarkt zu machen. Aber wir wussten, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war.
Ich habe dann erst einmal sieben Jahre als Unternehmensberater für Accenture gearbeitet.
Interessanterweise war ich dort die ersten drei Jahre bei der Deutschen Bahn und habe das neue
DB-Vertriebssystem mit eingeführt. Dann wollte ich mehr von der Welt sehen und habe Projekte
im Vertriebs- und Servicebereich für Energieversorger und Banken in Europa gemacht. Aber nach
Torben Greve und Panya Putsathit 145

vier Jahren war ich des vielen Reisens überdrüssig. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich nicht
mehr weiter Konzepte entwickeln möchte, die andere dann umsetzen, sondern selbst etwas auf
die Straße bringen möchte. Dazu kam noch, dass ich gerne nach Berlin ziehen wollte und just
dort eine reizvolle Stelle fand – bei PayPal. Ich war dafür verantwortlich, dass Käufer auf eBay mit
PayPal bezahlen. Es war eine tolle Zeit und ich konnte richtig viel über E-Commerce dazulernen.
Und dann wurde es irgendwann mit MeinFernbus ernst.
Torben: Bei mir ist es sehr früh auf die Gründung von MeinFernbus hinausgelaufen. Um mein
Studium zu finanzieren, habe ich als Reiseleiter im Bus gearbeitet. Ich bin in Reisebussen kreuz
und quer durch Europa gefahren und habe es sehr gemocht, mit netten Reisenden und Fahrern
zusammen zu sein. In dieser Zeit konnte ich auch den Busbetrieb mit Disponenten und Werk-
statt kennenlernen.
Nach dem Studium fing ich bei der Deutschen Bahn an. Ich war ein überzeugter Bahner und
wollte nichts weniger als die beste Bahn der Welt bauen. Meine erste Stelle war im Bereich der
Angebotsplanung für den Fernverkehr. Wir gestalteten den Fahrplan, berechneten die notwen-
digen Kapazitäten und stellten die Wirtschaftlichkeit des Netzes sicher. Ein Highlight war die
WM 2006. Ich habe den gesamten Sonderverkehr geplant und verantwortet. Es war eine wun-
derbare Zeit. Es gab Raum für Kreativität, und wir konnten das Angebot verbessern. Aber plötz-
lich wurden die Leistungen immer stärker gekürzt, die Züge waren überfüllt und die Kundenbe-
schwerden stiegen rapide an. Ich bin daraufhin intern als Leiter zum E-Ticketing-Projekt Touch
& Travel gewechselt. Es war so etwas wie ein Startup innerhalb der Bahn. Vodafone und Motorola
waren auch mit an Bord. Unsere Vision war es, den Schlüsselbund und die Karten im Portemon-
naie durch das Handy zu ersetzen. Wir wollten also ein Handy, mit dem man bezahlen, Türen
öffnen oder sich beim Arzt identifizieren kann. Doch dann kamen Smartphones und Apps, und
die Luft aus dem Thema war leider raus.
Wir haben damals mit einer Unternehmensberatung zusammengearbeitet. Sie fragten, ob ich
die Seiten wechseln wolle. Da ich ohnehin bei der Bahn die Perspektiven verloren hatte, sagte
ich zu. Ich habe bei der Beratung verschiedene Verkehrsprojekte gemacht. Ein großer Schie-
nenverkehrsanbieter aus dem Ausland plante, der Bahn Konkurrenz zu machen – das war sehr
spannend. Leider hat ihnen am Ende aber der Mut gefehlt und das Vorhaben wurde begraben.
Ein anderer Anbieter hatte mitbekommen, dass sich der Fernbusmarkt in Deutschland langsam
liberalisierte. Ich sollte eine Markteintrittsstrategie entwerfen. „Täglich grüßt das Murmeltier“,
dachte ich da nur. Wir haben wie verrückt einige Monate lang analysiert, gerechnet und Busi-
nesspläne aufgestellt. Doch auch hier fiel wieder das Urteil: Das Rechtssystem ist zu kompliziert,
die deutsche Sprache zu schwierig, der grüne Wieseansatz zu riskant. Die Unternehmensberatung
ist irgendwann insolvent gegangen. Bis zum Start von MeinFernbus habe ich dann als selbststän-
diger Berater gearbeitet.
Panya: Wir hatten damals ein schönes Ritual: Immer wenn einer von uns in seinem Job
unglücklich war, haben wir uns mittwochabends für zwei Stunden getroffen und an einer Busi-
nessidee gearbeitet.
Welche Ideen kamen euch dabei?
Torben: Eine Idee war, eine deutschlandweite Kette für Co-Working-Häuser zu entwickeln.
Als Freiberufler ist es zwar schön, selbstbestimmt zu arbeiten, aber man sitzt ständig alleine zu
Hause oder hält sich lediglich bei Kunden auf. Es fehlen Kollegen, um sich austauschen.
Ein anderer Einfall war, Pasta2Go-Stände, die wir in Südfrankreich gesehen hatten, nach
Deutschland zu bringen. Die Kunden können sich aus verschiedenen Pastasorten und Soßen
etwas Leckeres zusammenstellen. Das gab es in Deutschland noch nicht. Wir dachten: „Das ist
146 MeinFernbus

unsere Chance.“ Wir eröffnen eine Kette in hoch frequentierten Bahnhöfen und in Fußgänger-
zonen. Fünf Pastasorten und fünf Soßen. Das ist einfach.
Panya: Es gab sogar schon einen konkreten Business Case. Wir hatten durch einen Freund
recherchiert, wie man als Pastakette in die Bahnhöfe hineinkäme. Selbst die Kosten für die
Küchenausstattung hatten wir schon eingeholt.
Und wieso habt ihr euch am Ende gegen Pasta & Co und für den Fernbus entschieden?
Panya: Die Gespräche von den Treffen am Mittwochabend sind nach einigen Wochen immer
wieder im Sand verlaufen. Den Fernbusmarkt haben wir dagegen seit unserer Studienzeit kon-
tinuierlich im Blick gehabt. Im Jahr 2010 kam dann ein Verwaltungsgerichtsurteil, das die Kri-
terien für die Vergabe von Konzessionen für Fernbusstrecken klarer definierte. Es starteten auch
vereinzelt Spezialunternehmen wie ein Nachtbusservice. Richtig konkret wurde es dann, als 2011
ein Gesetzesentwurf von der Bundesregierung auf den Tisch kam. Auf einmal hatten wir endlich
etwas Handfestes, mit dem wir arbeiten konnten. In dem Gesetzesentwurf stand konkret drin,
wie sich die Regierung den liberalisierten Markt vorstellt und die Regelung sollte am 1. Januar
2012 in Kraft treten. Das war keine halbherzige Sache, sondern bot die Rahmenbedingungen, um
ein großes, dichtes Netz mit Fernbuslinien in Deutschland zu verwirklichen. Und das war genau
das, was wir immer schon wollten.
Torben: Bei mir hat die tiefe innere Überzeugung für die anderen Ideen gefehlt. Es waren
zwar vielversprechende Ansätze, aber ich wollte nicht mein Leben lang Pasta verkaufen. Bei der
Fernbus-Idee war das anders. Ich erinnere mich noch genau: Anfang 2011 war ich früh morgens
mit dem Fahrrad unterwegs. Dabei kam mir der Gedanke, dass wir das Ding jetzt selber machen
müssen. Zack, da war sie, die totale Überzeugung. Und: Mit einer Fernbuslinie hinterlässt man
natürlich auch größere Fußstapfen als mit der 15. Pastakette.
Panya: Aus der Mittwochabend-Erfahrung haben wir gelernt, dass wir mit Herzblut dabei
sein müssen, wenn wir die Sache wirklich angehen wollen. Im Januar 2011 haben wir uns dann
noch einmal zusammengesetzt, uns tief in die Augen geschaut und gesagt, dass es nun an der Zeit
ist, eine Entscheidung zu treffen. Und wenn diese ja lautete, hieß das auch, dass ich meinen Job
kündigen und Torben seine Projekte runterfahren muss, damit wir uns Vollzeit auf die Idee kon-
zentrieren können. Uns war klar, dass sonst alles wieder einschläft und wir zu langsam sind. Wir
wollten früh eine führende Stellung einnehmen, um nach der Liberalisierung aus der Pole-Posi-
tion durchstarten zu können. Das war uns sehr wichtig. Und dann ging es ab April 2011 tatsäch-
lich los.
Panya, Du hattest eine gute Position mit – mehr oder weniger – geregelten Arbeitszeiten.
Wie hat dein Umfeld auf deine Entscheidung reagiert?
Panya: Ich glaube, meine Frau konnte die Entscheidung zunächst nicht ganz einschätzen. Wir
haben unsere gesamten Ersparnisse in diese neue Firma gesteckt. Das gesamte Jahr 2011 haben
wir ohne Gehalt gearbeitet und mussten von unseren Reserven leben. Das war schon ein kleines
Abenteuer. Aber es gab dennoch keine Bedenken. Meine Frau hat gemerkt, dass mir die Idee Spaß
bereitet, und dass ich eine unglaubliche Energie entwickelte. Also war sie mit dabei.
Im April 2011 fiel die Entscheidung, loszulegen. Im Juni 2011 habt ihr die GmbH ange-
meldet. Was habt ihr dazwischen gemacht?
Panya: Wir saßen ab April bei mir im Wohnzimmer und haben die Eckpfeiler unserer Idee
definiert. Die Leitfrage war: Wer wollen wir sein? Ein Nischen-Player für Spezialstrecken? Ein
vollumfänglicher Netzanbieter? Sind wir ein Lowcost-Unternehmen, das mit einem möglichst
niedrigen Preis auftritt, oder wollen wir ein serviceorientierter Anbieter sein, zwar mit güns-
tigem Preis, aber auch einem guten Service und einem sympathischen Image? Und dann gab es
Torben Greve und Panya Putsathit 147

natürlich noch weitere zentrale Punkte zu diskutieren: Wollen wir die Busse selbst kaufen? Oder
wollen wir mit lokalen Busunternehmen kooperieren? Welche Unternehmenswerte bilden unser
Fundament? In dieser Zeit ist unser Ziel entstanden, der bekannteste und beliebteste Fernbusan-
bieter Deutschlands zu werden – und dies auch zu bleiben.
Wir haben uns in den ersten Wochen außerdem intensiv darüber unterhalten, wie wir damit
umgehen, wenn wir mal nicht einer Meinung sind. Wir kannten uns schließlich schon lange und
wussten, dass wir sehr unterschiedlich sind. Dieser Austausch war sehr wichtig, denn in einem
Duo besteht ja immer die Gefahr einer Patt-Situation.
Wie habt ihr das Patt-Problem gelöst?
Panya: Wir haben eine klare Aufgabenteilung gemacht. Und für den Fall, dass wir wirklich
einmal keinen gemeinsamen Nenner finden sollten, haben wir festgelegt, dass am Ende derjenige
das letzte Wort hat, in dessen Aufgabenbereich die Entscheidung fällt. Aber bislang ist es dazu
noch nicht gekommen. Ich glaube, es reicht schon aus, es für den Fall der Fälle einmal definiert
zu haben.
Wie habt ihr die Aufgabenbereiche zwischen euch aufgeteilt?
Panya: Bis Ende 2011 haben wir sehr viel zu zweit gemacht. Vor allem, wenn wir uns an neue
Themenfelder herangetastet haben. Als detailverliebter Analytiker habe ich mich mehr um die
Excel Sheets gekümmert. Torben ist eher ein visionärer Bildermaler und hat sich der Powerpoints
angenommen. Aber ein intensiver Austausch fand weiterhin zwischen uns statt. Das halte ich
grundsätzlich für enorm wichtig und es war sehr befruchtend.
Wie ging es weiter?
Panya: Wir haben einen klassischen Businessplan geschrieben. In einem Fünf-Jahres-Plan
haben wir durchkalkuliert, ob die Idee am Ende auch finanziell stimmig ist. Schnell wurde uns
klar: Selbst wenn wir unsere gesamten Ersparnisse in das Projekt stecken, reicht es nicht. Und
damit rückte das Thema Finanzierung in den Fokus. Und die Frage: Wen gehen wir an? Banken,
Business Angels oder Venture Capitalists (VC)?
Wofür habt ihr euch entschieden und warum?
Panya: Wir wollten möglichst unabhängig bleiben und uns in einem Umfeld bewegen, das
langfristig denkt. Venture Capitalists sind extrem finanz- und kennzahlenorientierte Kapitalgeber.
Sie fordern Monats-, Quartal-, Halbjahres- und Jahresberichte ein. Außerdem fahren Startups,
die durch Venture Capital finanziert sind, häufig eine Finanzierungsrunde nach der anderen. Das
ist im Modell schon so eingebaut. Die nächsten drei Jahre muss man sich ständig fragen, wo neues
Kapital herkommt. Wir waren uns einig, dass uns das zu sehr von unserer eigentlichen Kernauf-
gabe abgelenkt hätte, nämlich dem Aufbau der Firma. Auch die kurzfristige Denkweise einiger
VCs – möglichst 1 000 Prozent Wachstum jedes Jahr und nach fünf Jahren ein aufgepumptes
Unternehmen möglichst profitabel verscherbeln, bevor es in sich zusammenfällt – passte nicht zu
unseren Vorstellungen. Venture Capital schied also aus.
Wie stand es mit den Banken?
Panya: Unsere Vorstellung war es, direkt mit einer größeren Finanzierungsrunde zu starten.
Sie sollte uns bis zu dem Punkt bringen, an dem sich das Geschäftsmodell von selbst trägt. Banken
waren deshalb eine interessante Option, denn sie vergeben Fremd- statt Eigenkapital. Wir hatten
unsere Power-Point-Präsentation, ein gutes Excel-Sheet und natürlich uns beide als Gründerteam.
So haben wir uns dann bei einigen Banken vorgestellt. Die Chance lag unserer Ansicht nach auf
der Hand: Der Transport- und Reisebereich ist sehr interessant, da in Deutschland gerne und
viel gereist wird. Die Zahlungsfähigkeit der Deutschen ist hoch und das Autobahnnetz bestens
148 MeinFernbus

ausgebaut. Durch die Liberalisierung öffnete sich ein komplett neues Marktsegment. Das war
natürlich eine wahnsinnig gute Gelegenheit. Aber unterm Strich muss man sagen, dass die Pro-
zesse bei Banken sehr langwierig sind. Und letztendlich hatten wir als Startup auch nicht die
nötigen Sicherheiten.
Blieb noch die Option Business Angels …
Panya: Genau. Wir waren eigentlich von Anfang an davon überzeugt, dass es Business Angels
geben müsste, die in der Liberalisierung ebenfalls eine Chance sehen. Also haben wir auch in
diesem Bereich angefangen, uns durchzufragen. Zunächst haben wir natürlich mit Leuten gespro-
chen, die wir kannten. Diese haben dann Kontakte zu weiteren Business Angels hergestellt. Und
aus diesen Gesprächen haben wir dann tatsächlich einen Business-Angel-Club zusammenbe-
kommen, der bei uns investiert hat und mit dem wir bis heute extrem zufrieden sind.
Was macht euch so zufrieden?
Panya: Unsere Business Angels bringen eine langfristige Denkweise mit und sind nicht nur
auf den nächsten Quartalsgewinn fokussiert. Klar, wollen auch wir Gewinn erzielen, aber nicht
sofort. Und unsere Business Angels verstehen, dass man Geschäfte Schritt für Schritt aufbauen
muss. Dazu ist die Gruppe sehr divers und bringt viel Erfahrung in unser Unternehmen. Einige
Köpfe sind von sehr strategischer Natur, andere haben einen kaufmännischen Hintergrund. Und
wiederum andere waren früher selbst Busunternehmer und bringen wertvolles Hands-on-Wissen
mit.
Wir profitieren letztlich zweifach. Die Finanzierung ist sichergestellt und gleichzeitig haben
wir tolle Sparingspartner, die mit uns Entscheidungen diskutieren oder uns auch mal Kontakte
über ihre Netzwerke besorgen. Diesen Weg zu gehen, war eine sehr gute Wahl.
Torben: In dieser Zeit hat uns übrigens ein Förderprogramm der Investitionsbank Berlin Bran-
denburg sehr geholfen. Wir bekamen einen erfahrenen Startup-Coach an die Seite gestellt. Mit
ihm haben wir Investorengespräche geübt und Tipps für die Vertragsgestaltung bekommen. Und
falls er selbst einmal nicht weiter wusste, hat er Kontakt zu erfolgreichen Startups hergestellt. Für
Gründer ist es oft recht schwer, einen fairen Beteiligungsvertrag zu bekommen. Investoren haben
sehr viel Erfahrung mit Vertragsverhandlungen, Gründer haben meistens keine. Hier hat uns der
Coach unglaublich unterstützt.
Wie seid ihr vom ersten Gespräch mit den Business Angels zum Vertragsschluss gekommen?
Woran habt ihr passende Business Angels erkannt?
Torben: Wie ernst es einem Business Angel ist, sieht man beispielsweise daran, wie intensiv er
sich um den Kontakt bemüht. Wenn er sich schon drei Mal mit Ihnen getroffen hat, extra nach
Berlin kommt, und sich bei den Treffen viel Zeit nimmt, ist das ein sehr gutes Zeichen. Und dann
wird der Deal auch nicht mehr an einem kleinen Punkt im Vertrag scheitern.
Die Business Angels waren immer sehr umgänglich, nur ihre Anwälte brachten ständig neue
Ideen für Vertragsänderungen auf den Tisch. Dann muss man in der Lage sein, klar und deutlich
nein zu sagen. Ohne das Coaching wären wir vermutlich einige Kompromisse eingegangen. Wir
haben dann ein Term Sheet aufgesetzt, in dem unsere Vertragsbedingungen standen und kommu-
niziert, dass daran nichts zu ändern ist. Das hat mir zwei, drei schlaflose Nächte bereitet, denn wir
brauchten die Finanzierung, um schnell starten zu können. Aber unser Coach riet uns, gelassen zu
bleiben. Er meinte: „Die Business Angels sind heiß. Don`t worry. Zieht Euer Ding durch.“ Und
das haben wir dann auch gemacht.
Panya: Im Oktober 2011 war die Finanzierung abgeschlossen. Nach der Gründung der
GmbH war das der nächste ganz große Meilenstein in unserer Firmengeschichte.
Torben Greve und Panya Putsathit 149
150 MeinFernbus

Wie seid ihr auf den Namen MeinFernbus gekommen?


Panya: Über einen Namen hatten wir schon während des Studiums nachgedacht. Wir hatten
sogar schon mehrere Websites registriert. Als die Namensüberlegungen in 2011 dann wieder
begannen, haben wir mit Tier- und Farbkombinationen gespielt. Der rote Fuchs und Die blaue
Meise waren Beispiele für Kreationen. Wir beauftragten auch eine Naming-Agentur, aber das lief
ins Leere. Klar war: Wir wollten einen sprechenden Namen, der persönlich und sympathisch ist
und die Idee zweifelsfrei benennt. Das „Mein“ bedeutet, dass es etwas für mich ist und damit
etwas Persönliches. In der Kombination mit dem Wort „Fernbus“ braucht es keine weitere Erklä-
rung, um was es bei uns geht. MeinFernbus ist genau das, was wir machen.
Für das Firmendesign haben wir einige Agenturen pitchen lassen. Unser Anspruch ist es, sym-
pathisch und freundlich zu sein. Relativ früh hat sich die Grün-Orange-Mischung durchgesetzt.
Mit einigen Design-Varianten ging ich zu meinen Kollegen von PayPal und habe sie gefragt, was
sie damit assoziieren. Wir haben am Ende die Variante genommen, die am sympathischsten und
freundlichsten rüberkam.
Was waren die ersten Schritte beim Aufbau der Operations?
Panya: Wir brauchten eine Website. Aber die konnten wir nicht selbst machen. Also war klar,
dass wir einen Chief Technology Officer (CTO) einstellen müssen, der uns das abnimmt.
Wie habt ihr ihn gefunden?
Panya: Das ist in Berlin nicht so einfach, weil dort viele Entwickler gesucht werden. Ein
befreundeter Headhunter hat schließlich über Xing unseren CTO gefunden. Unser CTO war
von Anfang an begeistert und hat auch direkt einen Entwickler mitgebracht. Im Dezember 2011
haben die beiden angefangen, an der Website zu bauen. Auch für das Marketing haben wir direkt
jemanden eingestellt, der uns beim Markenaufbau unterstützt hat.
Panya, bis dahin habt ihr noch in deinem Wohnzimmer gearbeitet. Wann hat sich das
geändert?
Panya: Wir sind schnell in unser erstes Büro gezogen. Es war ein Klassenzimmer in der ehe-
maligen katholischen Schule in Ost-Berlin. Es gibt einen großen Hof an dessen Ende die Herz-
Jesus-Kirche steht und an den Seiten gibt es ein Studentenwohnheim und eine Kita. Vor unseren
Fenstern war ein kleiner Garten mit Grillplatz. Das Büro hatte 64 Quadratmeter und bot Platz
für acht Personen. Wir blieben die ersten Monate.
Eure Pläne drohten zu kippen: Die Liberalisierung des Fernbusmarkts war für den 1.Ja-
nuar 2012 geplant, wurde dann aber auf den 1. Januar 2013 verschoben. Wie habt ihr da-
rauf reagiert?
Panya: Wir haben uns entschieden, nicht zu warten, sondern die Zeit zu nutzen, um uns eine
führende Position aufzubauen. Es gab bereits das Verwaltungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2010,
das die Kriterien zur Bewilligung von Konzession für Fernbuslinien im regulierten Markt kon-
kreter definiert hatte. Dadurch hatten die Behörden weniger Spielraum, abzulehnen.
Die Kriterien für eine Fernbuslinie waren: Der Bus musste entweder deutlich günstiger sein
als die Bahn, deutlich schneller, oder er musste direkter sein, also ohne Umstiege nutzbar. Die
erste Linie, die wir beantragten, verlief von Freiburg nach München. Sie hatte den Charme, dass
sie gleich alle drei Kriterien erfüllte. Wir dachten: Das können die Behörden doch gar nicht
ablehnen. Und das haben sie auch nicht. Die Freiburger Behörde war sehr offen und interessiert.
Rückblickend war es eine sehr gute und glückliche Entscheidung, in dieser Region anzufangen,
denn die Freiburger sind absolute Reisefans. Wir haben später weitere Linien von Freiburg aus
gestartet.
Torben Greve und Panya Putsathit 151

Ihr kümmert euch um Marketing, Vertrieb und Netzplanung. Die Busse werden von eigen-
ständigen Busunternehmen betrieben. Warum habt ihr euch für dieses Konzept entschieden?
Panya: Wir wollten ein dichtes, deutschlandweites Netz an Fernbuslinien etablieren. Um eine
führende Position aufzubauen und zu halten, mussten wir sehr schnell wachsen. Ein Bus kostet
circa 400.000 Euro. Wenn wir von 100 Bussen ausgehen, hätten wir 40 Millionen Euro benö-
tigt – allein für die Busse. Dieses Geld hatten wir einfach nicht. Auch ein Leasing-Ansatz wäre
schwierig geworden. Außerdem ist der Betrieb von Bussen nicht unsere Kernkompetenz, zumal
es in Deutschland fast 4 000 Busunternehmen gibt, die insgesamt 20 000 Busse betreiben. Busse
gibt es also wahrlich genug am Markt. Hinzu kommt noch, dass mittelständige Busunternehmen
in der Liberalisierung ihre Chance sehen, sich ein zweites Standbein aufzubauen. Allerdings
gehören der Aufbau eines Liniennetzes mit abgestimmten Anschlüssen, Preisoptimierung mittels
Yield Management oder der Betrieb eines 24/7-Kundenservices wiederum nicht zu den klassi-
schen Kernkompetenzen eines mittelständigen Busunternehmers. Hier brachten dagegen Torben
und ich Erfahrung mit. Damit ergänzten sich zwei Kompetenzen perfekt, und deshalb haben wir
uns für das Kooperationskonzept entschieden.
Wie habt ihr euren ersten Buspartner für die Linie Freiburg-München gefunden?
Panya: Um zum beliebtesten Anbieter zu werden, müssen sich unsere Kunde wohlfühlen. Sie
sollen überrascht sein, wie toll alles bei uns ist und uns weiterempfehlen. Der Buspartner, seine
Fahrzeuge und die Fahrer sind ein ganz wesentlicher Bestandteil dieses Kundenerlebnisses. Das
muss man immer im Kopf haben, wenn man sich seine Partner aussucht.
Wir haben in Freiburg via Telefon Termine mit Busunternehmern vereinbart. Wir haben sie
vor Ort besucht, uns den Betriebshof angeschaut und versucht, den Anspruch des Unternehmers
im Umgang mit seinen Kunden zu verstehen. Wenn jemand im Gespräch von sich aus erzählt
hat, dass er seine Fahrten so gestalten möchte, dass er viele Stammgäste gewinnt und er Wert
darauf legt, dass seine Fahrer auf die Gäste eingehen, haben wir gewusst: Unser Gegenüber ist ein
Partner für uns.
Zu dieser Zeit war MeinFernbus noch nicht bekannt und die Liberalisierung noch nicht
verabschiedet. Wie habt ihr die ersten Buspartner überzeugt bei eurer Idee mitzumachen?
Panya: Wir mussten sie nicht nur von unserem Konzept überzeugen, sondern auch von uns
und unseren Fähigkeiten, ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen. Die Situation war letzt-
lich sehr ähnlich zu den Gesprächen mit den Business Angels. Für das Busunternehmen fallen
bei einer Partnerschaft schließlich auch Investitionskosten an. Dazu kommen laufende Kosten
wie die Betankung des Busses und der Lohn des Fahrers. Der Busunternehmer musste verstehen,
dass er zuerst investieren muss, aber langfristig ein zweites, rentables Standbein entstehen kann.
Mittelständige Busunternehmen sind keine Großunternehmer mit riesigen Busflotten. Wir
haben zunächst drei Partner gefunden, die bereit waren, einen, maximal zwei Busse zur Verfügung
zu stellen, um dann zu schauen, wie es funktioniert. Wir sind am Ende mit vier Bussen gestartet.
Es war schön, anzusehen, dass unsere Buspartner über die Zeit mit uns gewachsen sind.
Nun hattet ihr die Konzession für die Linie und die ersten Buspartner. Was stand bis zur
ersten Fahrt im April 2012 noch auf Eurer To do-Liste?
Panya: Wir mussten zunächst auf den Fernbus als Verkehrsmittel aufmerksam machen. Eine
solche Option gab es in Deutschland bis dahin ja noch nicht. Eine der ersten Aktionen war, mit
einem grünen Bus auf das Stadtfest nach Friedrichshafen zu fahren. Die Stadt liegt auf der Route
152 MeinFernbus

Freiburg-München. Wir haben einen Infostand mit Glücksrad und Gewinnspiel aufgebaut und
die Passanten eingeladen, sich den Bus anzuschauen. Die Menschen waren richtig neugierig. Es
haben sich Schlangen vor dem Bus gebildet – wir konnten es kaum glauben. Unser ganzes kleines
Mitarbeiterteam war da, auch zum Mithelfen. Das positive Feedback der Leute hat uns alle wahn-
sinnig motiviert.
Welche Gefühle rufen die Erinnerungen an die Premierenfahrt in dir hervor?
Panya: Nur gute. Torben und ich haben alle Kunden persönlich begrüßt und sind selbst mit-
gefahren. Es war wahnsinnig schön, zu sehen, dass das Ganze so aufging, wie wir es uns vorge-
stellt hatten. Gut, es war ein Bestandsbus, der einfach grün überklebt wurde, etwas Rot schim-
merte noch durch. Aber das war egal. Es war der allererste Bus und die allererste Fahrt. Wir waren
unglaublich stolz. Dass alles so gut funktioniert hat, haben wir auch den Freiburger Bürgern zu
verdanken. Wir waren die ersten Wochen immer ausverkauft. Es war ein richtig toller Start.
Der Gesetzesentwurf zur Liberalisierung des Fernbusmarktes war immer noch nicht verab-
schiedet. Ihr habt euch dann aktiv ins Polit-Geschäft eingeschaltet. Was hat euch dazu be-
wogen, Lobbyarbeit zu betreiben und wie seid ihr an die Sache herangegangen?
Panya: Wir wollten sicherstellen, dass die Liberalisierung einen vernünftigen Rahmen absteckt.
Der Gesetzesentwurf der schwarz-gelben Bundesregierung war sehr liberal, aber er musste noch
durch den Bundesrat und der war Rot-Grün dominiert. Der Bundesrat hatte bereits einige
Anpassungen vorgeschlagen, die zum Teil sinnvoll waren, aber teilweise auch nicht. Wir haben
uns dann dazu entschlossen, bei den verkehrspolitischen Sprechern der Fraktionen anzurufen,
um einen Gesprächstermin zu vereinbaren. Wir wollten den Entscheidern unsere Sichtweise dar-
stellen. Letztendlich haben wir mit Vertreten aller großen Parteien gesprochen und ihnen die
erwartbaren Praxisprobleme der einzelnen Gesetzestexte aufgezeigt.
September 2012: Auf der Messe IAA-Nutzfahrzeuge in Hannover habt ihr eure Wachstums-
strategie vorgestellt. Wie kam es dazu?
Panya: Dazu muss ich ein bisschen ausholen: Als wir Ende 2011 gestartet sind, wollten
wir nicht direkt auf dem Radar der Deutschen Bahn landen. Dort sollte niemand auf uns auf-
merksam werden, zumal der Name Torben Greve in der Vorstandsetage des Konzerns bekannt ist.
Wir fürchteten, dass die Deutsche Bahn eine Gefahr wittert und dass sie dann versucht, uns und
unsere Pläne im Keim zu ersticken. Das hätte möglicherweise den Beschluss zur Liberalisierung
gefährdet. Also haben wir zunächst nur eine und nicht gleich 20 Linien beantragt. So ging das
Ganze noch als Hobbyprojekt von Torben durch. Außerdem wollten wir in diesem Stadium keine
Wettbewerber auf den Plan rufen. Also haben wir große Aufmerksamkeit am Anfang vermieden.
Im Herbst 2012 war die Marktliberalisierung dann beschlossen und damit war alles in tro-
ckenen Tüchern. Nun haben wir gesagt: „Was soll es, jetzt kann und muss die Bahn sehen, dass
sie einen Gegenspieler hat.“ Also haben wir auf der IAA-Nutzfahrzeuge zum ersten Mal unsere
große Geschichte erzählt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir davon gesprochen, ein Fernbus-
anbieter zu werden. In Hannover haben wir klar gesagt, dass wir der bekannteste und belieb-
teste Fernbusanbieter werden wollen und die Marktführerschaft anstreben. Dem Publikum gefiel
unser Mut. Aber es gab natürlich auch Stimmen, die gesagt haben, dass wir uns ganz schön viel
vorgenommen hätten.
Torben: Mit der Liberalisierung hat sich unsere Strategie verändert. Wir wollten nun mög-
lichst attraktiv für potenzielle Buspartner sein. Kurze Zeit später haben wir dann noch ein biss-
chen mehr auf die Pauke gehauen, um die anderen Fernbusanbieter einzuschüchtern. Wir wollten
zeigen: Wir sind groß und ziehen das Ding durch. Wir wollten ihnen signalisieren, dass es für sie
keinen Sinn macht, noch in den Markt einzusteigen.
Torben Greve und Panya Putsathit 153

Die ersten großen Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten: Am 22. November 2012
konntet ihr den 100 000sten Kunden begrüßen.
Panya: Wir haben den November 2012 intern den Big-Bang-Monat genannt. Wir wollten
noch vor dem Inkrafttreten der Liberalisierung beweisen, dass wir der Markführer sind. Berlin-
linienbus war damals der Platzhirsch. Während der deutsch-deutschen Teilung gab es spezielle
Konzessionen für Busunternehmen, die von westdeutschen Städten nach West-Berlin fuhren.
Diese Großvaterrechte hatte sich Berlinlinienbus irgendwann zusammengekauft. Sie hatten
damit viele Linien, allerdings meist nur ein bis zwei Busse je Linie im Einsatz. Im November
haben wir dann sechs Linien gleichzeitig gestartet. Wir sind innerhalb einer Woche von neun
auf 30 Busse gewachsen. Das war unser Big Bang. Wir hatten damit die größte Fernlinienflotte
und wurden Marktführer. Ja, und dann konnten wir relativ schnell den 100 000sten Kunden
begrüßen. Getragen von diesem Erfolg, haben wir gesagt: Auf den Big Bang 2012, folgt der
Bigger Bang 2013.
Welche Vertriebsstrategie verfolgt Ihr?
Panya: Unsere Busse sind nicht nur für Schüler und Studenten interessant, sondern vor allem
auch für Rentner. Diese Zielgruppe schätzt das Reisen ohne Umsteigen, den festen Fahrer an
Bord, der mit dem Gepäck hilft, und die günstigen Preise. Allerdings sind viele Senioren nicht
internetaffin. Darum haben wir neben dem Online-Vertrieb von Anfang an auch Agenturen ein-
gesetzt. Unser Anspruch war, in jeder Stadt, die wir anfahren, zwei bis drei Agenturen in der Nähe
der Haltestellen zu haben. Wenn Kunden in unserem Callcenter anrufen und sagen, dass sie – aus
welchen Gründen auch immer – online kein Ticket kaufen können, wollten wir ihnen wenigsten
Adressen von Agenturen nennen können. Gestartet sind wir mit einigen wenigen handverlesenen
Agenturen. Richtig groß wurde der Offline-Vertrieb, als wir TUI und DER gewinnen konnten.
Zusammen bieten sie ein Netz von fast 4 000 Agenturen in Deutschland.
Welche Vertriebsmaßnahmen haben nicht funktioniert?
Panya: Wir sind sehr kostenbewusst und passen auf, dass wir unser Budget nicht unbedacht
verjubeln. Bei neuen Vertriebsideen formulieren wir erst einmal unsere Erwartungen, testen im
Kleinen und schauen, was passiert. Auf diese Weise können wir in relativ kurzen Zyklen nach-
steuern oder Maßnahmen wieder komplett einstellen. Ich hatte mir beispielsweise von einem
Deal mit Groupon viel hinsichtlich der Kundenakquise versprochen. Am Ende hat es aber leider
nicht für uns funktioniert. Eine solche Aktion würde ich heute nicht mehr machen. Zum Glück
haben wir dabei aber nicht viel Geld versenkt.
1. Januar 2013: Die Liberalisierung tritt in Kraft. Noch im Januar habt ihr zwei neue Linien
eröffnet, auch in den Folgemonaten habt ihr euer Netz konsequent ausgebaut. Im Januar
2014 hattet ihr 40 Linien, 151 Busse und 46 Buspartner. Mit welchen Hürden und Heraus-
forderungen wart ihr bei der Skalierung der Operations konfrontiert?
Panya: Zum Beispiel ist der Umgang mit Behörden eine Herausforderung – gerade am
Anfang. Wir haben bereits in 2012 viel Erfahrung diesbezüglich sammeln können. Von diesen
Erfahrungen haben wir in der Wachstumsphase 2013 sehr profitiert. Die Behörden kannten uns
zu dieser Zeit bereits und wussten, dass unsere Arbeit Hand und Fuß hat. Ein guter Kontakt zu
den Behörden ist beispielsweise sehr wichtig, um eine gute Haltestelle zu bekommen.
Torben: Allerdings haben wir leider nicht alle Wunsch-Haltestellen bekommen, was zu einer
neuen Herausforderung führt: Wenn die Busse im Stadtverkehr ewig hin- und herfahren, hat
das direkte Auswirkungen auf unseren abgestimmten Fahrplan. Dieser Fall ist zwar zum Glück
nicht häufig eingetreten, aber es gab einige Stellen, wo wir uns den Kopf zerbrechen mussten.
Rückschläge mussten wir natürlich auch in der Zusammenarbeit mit den Busunternehmern
154 MeinFernbus

wegstecken. Einzelne Busunternehmen haben gesagt, dass sie nicht mitmachen werden, obwohl
wir sie gerne als Partner gewonnen hätten.
Panya: Ein weiteres Thema, an dem wir mit der Zeit gewachsen sind, ist die Fahrplangestal-
tung. Der Knackpunkt sind die Fahrzeiten. Anfangs mussten wir regelmäßig nachsteuern. Hier
kamen mal zehn Minuten dazu, da mal ein paar Minuten weg. 2013 lief diese Arbeit schon deut-
lich stabiler. Wenn wir heute einen neuen Fahrplan erstellen, ist unsere Planung viel verlässlicher.
Eine der größten Herausforderungen war aber sicherlich das enorme personelle Wachstum
unseres Unternehmens. Im Sommer 2013 sind die Kundenzahlen extrem schnell nach oben
gegangen. Damit verbunden war ein deutlich höheres Anrufvolumen in unserem Callcenter.
Leider war der Kundenservice aber personell noch nicht entsprechend aufgestellt. Im Ergebnis
führte dies zu einer schlechten Erreichbarkeit und verursachte viele negative Kommentare auf
Facebook. Das war ein schlechtes Gefühl. Wir haben in kürzester Zeit 50 neue Mitarbeiter ein-
gestellt, aber es braucht eben vier bis sechs Wochen, bis alle angekommen sind. Sie müssen die
MeinFernbus-Werte verstanden haben und ihre Jobs so ausführen können, wie wir uns das vor-
stellen. Da mussten wir eben durch.
Wie habt ihr es geschafft, die MeinFernbus-Werte an eure Mitarbeiter weiterzugeben?
Torben: Entscheidend sind die Führungskräfte. Sie müssen die Werte von MeinFernbus teilen,
hinter der Vision stehen und dasselbe Verständnis vom Weg dahin haben wie wir. Führungskräfte,
die MeinFernbus fühlen, geben das auch an die Mitarbeiter weiter. Davon bin ich überzeugt.
Panya: Werte in einem Unternehmen zu verankern, funktioniert nicht von heute auf morgen.
Man muss von Beginn an daran arbeiten. Es ist zwingend notwendig, dass die Werte allen bekannt
sind, aber verordnen kann man sie nicht. Wir haben viel mit den Mitarbeitern über unsere Werte
gesprochen und diskutiert, wie man sie im Alltag unterbringt. Und wir leben diese Werte natür-
lich selbst vor, bis sie allen in Fleisch und Blut übergehen. Gerade in einer Phase des schnellen
Wachstums ist es allerdings extrem schwierig, an dieser Stelle nicht nachlässig zu werden, weil so
viele andere Aufgaben auf dem Tisch liegen.
Torben: Durch das Vorleben und Teilen der Werte und das Definieren der Ziele lässt sich viel
erreichen. Aber man muss auch immer wieder feststellen, dass es Menschen gibt, die schlicht
nicht zur Firma passen. Mitarbeiter können fachlich noch so gut sein, aber wenn jemand nicht
zur Firmenkultur passt, muss man sich trennen. Da darf man nicht zögern. Das klingt hart, aber
es ist notwendig. Allerdings mussten wir diese Konsequenz auch erst einmal lernen.
Im Juli 2013 habt ihr den millionsten Fahrgast begrüßt. Die zwei Millionen habt ihr im
Oktober 2013 geknackt, die drei Millionen im Januar 2014. Mit circa 40 Prozent Marktan-
teil Anfang 2014 konntet ihr euch als Marktführer behaupten. Wie ist euch das gelungen?
Torben: Es war eine Mischung aus vielen, vielen neuen Linien mit vielen, vielen neuen Bussen.
Dazu hatten wir eine permanente gute Auslastung auf den bestehenden Linien. Bei neuen Linien
dauert es eigentlich immer eine Zeit, bis sich das Angebot herumspricht und schließlich etab-
liert hat. Aber bei uns ging alles immer recht schnell. Dennoch waren wir überrascht, wie rasch
sich alles entwickelt hat. Die Zahlen trafen genauso ein, wie wir es im Businessplan beschrieben
hatten.
Panya: Wir haben auch in der Kundenakquise Neues ausprobiert, was sicherlich einen Effekt
hatte. Vor Weihnachten gab es beispielsweise zum ersten Mal ein Deutschlandticket bei Tchibo.
Auch mit Galeria Kaufhof haben wir mehrere Aktionen gemacht, die uns einen weiteren Schritt
nach vorne gebracht haben. Das hat sich nicht nur in den Ticketverkäufen widergespiegelt, son-
dern wir konnten auch unsere Markenbekanntheit steigern.
Torben Greve und Panya Putsathit 155
156 MeinFernbus

Worauf führt ihr euren großen Erfolg zurück?


Panya: Wir hatten einen Plan und haben diesen stringent umgesetzt. Bereits in der Investoren-
Präsentation war der Bus so abgebildet, wie er heute auf der Straße fährt. Das ist schon erstaun-
lich. Auch die Kennzahlen im Businessplan sind eingetroffen, wie wir uns das vorgestellt haben,
das ist selten. Viele merken Jahre später, dass die eine Hälfte des Businessplans gar nicht einge-
treten ist, die andere ganz anders als prognostiziert. Nicht so bei uns.
Bei uns im Büro hängt ein Karte mit dem Spruch: „Alle sagten, das geht nicht. Dann kam
einer, der wusste das nicht und hat es einfach gemacht.“ Genauso ist es bei uns gewesen. In der
Branche hieß es immer: Vor der Liberalisierung des Marktes braucht man gar nicht erst anfangen.
Als die Liberalisierung verschoben wurde, waren wir das Warten aber leid und fingen an, Schritt
für Schritt eine Linie nach der anderen zu beantragen. Wenn man mit einer gewissen Beharrlich-
keit und Hartnäckigkeit hinter seiner Idee steht, findet man seinen Weg. Im Rückblick war die
Verschiebung der Liberalisierung sogar gut für uns. Wir konnten in Ruhe Erfahrungen sammeln,
die Operations hochfahren und eine führende Position aufbauen.
Torben: Eine weitere zentrale Basis unseres Erfolgs ist die kooperative Partnerschaft mit mit-
telständigen Buspartnern. Es sind Partner auf Augenhöhe und keine Subunternehmer. Mit dieser
Mittelstandskooperation sind wir gut gerüstet für einen Wettbewerb gegen die großen, kapital-
schweren Konzerne wie die Bahn oder die Post.
Einmal jährlich haben wir ein Jahrestreffen, um die Kooperation mit Leben zu füllen. Alle
Buspartner kommen nach Berlin. Sie können untereinander Best  Practices austauschen und
Fragen erörtern: Wo gibt es günstige Hotels? Wie rekrutiere ich neue Fahrer? Auch allgemeine
Qualitätsthemen kommen immer zur Sprache. Außerdem können unsere Partner bei dieser Gele-
genheit das gesamte Berliner Team von MeinFernbus kennenlernen. Damit bekommen sie einen
besseren Einblick in unsere Arbeit und lernen ihre Ansprechpartner besser kennen. Wir nutzen
diese Plattform außerdem, um beispielsweise den Marketingplan für das nächste Jahr zu erläu-
tern, neue Uniformen vorzustellen oder das weiterentwickelte Onboard-Service-Konzept zu prä-
sentieren.
Ihr habt eure Buspartner in einem Sprechergremium organisiert. Warum habt ihr euch zu
diesem Schritt entschlossen?
Torben: Schon während der Konzeption von MeinFernbus war klar, dass wir schnell mit 50
und mehr Partnern arbeiten werden. Da wird es schwierig, mit allen Partnern sämtliche Fragen
zu diskutieren. Deshalb haben wir das Sprechergremium als Sparringspartner etabliert. Gleich-
zeitig haben wir definiert, in welchen Bereichen uns Know-how fehlt, das die Busunternehmen
mitbringen. Und genau dort beziehen wir das Sprechergremium intensiv ein. Ein Beispiel: Wir
führen ein MeinFernbus-Standardfahrzeug ein, bei dem wir den Innenausbau und den Bordser-
vice selbst gestaltet haben. Da ist es von großem Wert, das Praxiswissen der Buspartner frühzeitig
einzubinden. Wir nutzen das Sprechergremium außerdem, um Erfahrungen aus dem täglichen
Betrieb der Buspartner an uns zurückzuspielen. Dadurch können wir unsere Betriebssteuerung
verbessern. Das Gremium tagt drei bis vier Mal im Jahr und wird auf dem Jahrestreffen von allen
Buspartnern gewählt.
Panya: Natürlich haben wir täglich Kontakt mit einzelnen Partnern, dafür haben wir eine
eigene Abteilung etabliert. Irgendetwas gibt es immer zu besprechen, seien es Zusatzfahrten oder
Änderungen im Fahrplan. Das Sprechergremium ist für übergeordnete Themen zuständig.
Welche Faktoren waren für euren Aufstieg noch entscheidend?
Torben: Was man nicht unterschätzen darf, ist die Macht der PR, gerade am Anfang. Der
Faktor Öffentlichkeit ist extrem bedeutsam.
Torben Greve und Panya Putsathit 157
158 MeinFernbus

Uns war wichtig, dass Zeitungen das Thema Fernbus automatisch mit uns in Verbindung
bringen. Um das zu erreichen, haben wir viele Redaktionsgespräche geführt. Anfangs haben wir
einfach bei Redaktionen angerufen und gesagt: „Wir sind in zwei Wochen ohnehin in deiner
Stadt, wollen wir uns nicht zu einem Gespräch treffen?“ Wir sind mit dem Bus hingefahren und
haben ihn direkt vor der Redaktion geparkt. Die Interviews haben wir im Bus gemacht. Unser
Auftritt hatte einen tollen Effekt: Er hat meist weitere Journalisten aus dem Gebäude gelockt, die
dann ebenfalls mit uns sprechen wollten.
Vom Arbeitnehmer zum Unternehmer: Ihr kommt beide aus einem Angestelltenverhältnis
und habt die Seiten gewechselt. Wie bewertet ihr den Unterschied?
Panya: Der deutliche Unterschied ist, dass ich jetzt nicht nur für mich selbst Verantwor-
tung trage, sondern auch für 190 Mitarbeiter. Das ist ein anderes Gefühl. Kürzlich lief ich über
den Flur des Kundenservice, als mich eine Mitarbeiterin fragte, ob sie mich umarmen dürfe. Ich
zögerte, aber sie meinte, sie wolle mich einfach nur einmal umarmen. So etwas wäre bei PayPal
oder Accenture wohl nicht passiert. Dort war ich zwar auch Teamlead, aber das Verhältnis war
mehr von Kollegialität und Dialog auf Augenhöhe geprägt.
Torben: Wir fühlen und geben uns nicht wie die großen Bosse. Dennoch muss man sehr wach
und reflektiert mit den Mitarbeitern interagieren – vor allen bei Kritik. Vielleicht sehe ich nur
etwas im Vorbeigehen, will einen Hinweis geben und denke mir nichts dabei, aber der Mitarbeiter
ist danach total geschockt, ein schlechtes Feedback vom Geschäftsführer bekommen zu haben.
Panya: Wenn ich einen Mitarbeiter frage, ob wir gemeinsam essen gehen, denkt er gleich:
„Oh, was habe ich gemacht? Was will mir der Chef mitteilen?“ Dabei geht es mir nur um ein Mit-
tagessen. Man muss sich bewusst sein, was man mit einfachen Fragen auslösen kann.
War die Gründung Teil eures Lebenskonzeptes?
Torben: Mein Weg über die Reiseleitung für Studienfahrten, meine Zeit bei der Deutschen
Bahn und dann die Tätigkeit als Berater – diese Schritte sind schon genau auf die Gründung
von MeinFernbus hinausgelaufen. Aber alles lässt sich nicht vorausplanen. Dass wir im richtigen
Moment die richtigen Investoren getroffen haben und visionäre Buspartner gewinnen konnten,
war sicherlich auch etwas glückliche Fügung.
Torben und Panya, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Torben Greve und Panya Putsathit

Minto, Barbara (1996); The Pyramid Principle; Minto Intl


Covey, Steven (1998); The 7 habits of highly effective people; Free Press
Mister Spex
Dirk Graber
11

Gründerteam: Dirk Graber, Björn Sykora, Philipp Frenkel und Thilo Hardt (von links)

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_11,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
160 Mister Spex

Deutschlands größter Online-Optiker für


Markenbrillen
Mister Spex wurde im Jahr 2007 von Dirk Graber, Björn Sykora, Thilo Hardt und Philipp Frenkel
gegründet und in dieser Phase und in den Anfangsjahren von Team Europe unterstützt. Mister
Spex ist als E-Commerce-Unternehmen für Brillen und Kontaktlinsen gestartet und hat sich
mittlerweile zum Multi-Channel-Unternehmen weiterentwickelt. Der Online-Optiker ist mit der
Vision angetreten, eine neue Art und Weise des Brillenkaufs zu etablieren, die Spaß macht sowie
günstige und vor allem transparente Preise bietet. Das Unternehmen bietet ein Vollsortiment, das
aus Korrektionsbrillen, Sonnenbrillen, Sportbrillen und Kontaktlinsen besteht. Das Sortiment
des Online-Händlers ist deutlich größer als bei der stationären Konkurrenz. Mister Spex ist inter-
national aktiv und mittlerweile Europas führender Online-Optiker.

Dirk, in welcher Situation hast du dich vor der Gründung befunden und wie kamst du
dazu, dein eigenes Unternehmen zu gründen?
Die erste Berührung mit dem Thema Unternehmensgründung gab es schon sehr konkret
während des Studiums. Ich habe an der Leipziger Handelshochschule (HHL) studiert und damals
war Malte Brettel einer der Professoren; er ist heute an der RWTH Aachen sehr etabliert. Es
gab einige Studenten, die aus der HHL heraus gegründet haben – zum Beispiel auch Lukasz
Gadowski, der während seines Studiums das Startup Spreadshirt gegründet hat. So wuchsen auch
bei mir das Interesse und das Bedürfnis, zu gründen. Während des Studiums an der HHL habe
ich zudem zwei sehr unternehmerische Praktika bei eBay und Jamba gemacht, und viele Leute
aus der heutigen Berliner Gründerszene kennengelernt. Seit diesem Zeitpunkt konnte ich mich
immer wieder für Businessideen und Businesspläne begeistern. Damals waren dies allerdings alles
noch Theoriekonstrukte. Die Idee, selbst zu gründen, war faszinierend, aber ich konnte mich den-
noch nicht durchringen, direkt nach dem Studium zu gründen. Ich war mir noch nicht hundert-
prozentig sicher, was ich will. Es gab Angebote von Firmen, bei denen ich ein Praktikum gemacht
hatte, aber ich dachte damals, dass ich mich damit zu sehr auf eine Branche festlegen würde. Ich
bin deshalb erst einmal in eine Unternehmensberatung gegangen – auch weil ich mein Studium
komplett selbst beziehungsweise die Studiengebühren über ein Darlehen der Sparkasse finanziert
hatte. Für eine Gründung hatte ich kein Geld. Ich bin zweieinhalb Jahre bei der Boston Con-
sulting Group gewesen, was wirklich Sinn gemacht hat. Es war die richtige Entscheidung, ich
würde es wieder machen. Allerdings muss ich auch sagen: Ich war bei der richtigen Beratung.
Zufällig habe ich dann Lukasz wieder getroffen und wir haben angefangen, zu diskutieren, was es
Dirk Graber 161

für Optionen gibt. Parallel habe ich mir selbst Gedanken gemacht und mich gefragt, was meine
Stärken sind.
Wie bist du auf die Idee zu einem Online-Brillenversand gekommen?
Aufgrund der Erfahrungen während meiner Praktika und der Beratungszeit bin ich schnell
auf E-Commerce gekommen. In den Diskussionen mit Lukasz haben wir dann diverse E-Com-
merce- Businessmodelle diskutiert. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, nur digitale Produkte
zu vertreiben, also war klar, dass es um physische Ware gehen musste. Es war aber noch kom-
plett offen, um welche Dinge es gehen sollte. Ich habe mir dann über einige Wochen verschie-
dene Märkte angeschaut, um zu verstehen, welche Produkte noch nicht online verkauft wurden.
In diesem Prozess bin ich auf mehrere gestoßen, unter anderem auf Brillen. Diesen Markt habe
ich dann detailliert über zwei bis drei Monate analysiert und dabei Geschäftsberichte gelesen
und Testkäufe gemacht, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie der Markt funktioniert und
ein Businessmodell aussehen könnte. Das Ganze habe ich intensiv mit Lukasz diskutiert. Und
irgendwann fiel die Entscheidung, zu sagen, okay, wir versuchen es. Lukasz hatte damals natür-
lich noch eine aktivere Rolle als im weiteren Geschäftsverlauf. Er stand für die ersten Diskussi-
onen zur Verfügung, quasi als Business Angel. Und er war es auch, der das erste Geld investierte
und die Kontakte zu anderen Investoren hergestellt hat. Ich denke, das ist der große Unterschied
meiner Geschichte zu der von vielen anderen: Ich hatte den Vorteil, dass ich von Anfang an ein
großes Vertrauen bei bestimmten Business Angels genossen habe. Das erleichterte es mir, die
nötige Finanzierung zu bekommen.
Der Prozess der Ideenentwicklung hört sich sehr analytisch, weniger leidenschaftlich an?!
Das ist korrekt. Die Ideenfindung war komplett analytisch, ich habe schlicht nach großem
Potenzial gesucht. Ich bin zwar selbst Brillenträger, aber ich könnte jetzt nicht eine dieser
Geschichten erzählen, dass ich meine Brillen unbedingt habe günstiger machen müssen, weil ich
kein Geld für Brillen hatte.
Mich hat das Gründen und das Unternehmertum an sich begeistert. Hierfür zeige ich 100
Prozent Leidenschaft. Bei mir kam das Businessmodell vor dem strukturierten Ansatz. Mir war
lediglich klar, dass es wegen meiner Fähigkeiten und Erfahrungen E-Commerce werden wird.
Wie hat dein Umfeld reagiert? du hattest ja einen guten Job ...
Das war nicht unbedingt einfach. Meine Mutter beispielsweise hat das Ganze zunächst nicht
verstanden. Warum ich den „gut bezahlten Beraterjob“ an den Nagel hänge, hat sich ihr nicht
erschlossen. Die Verselbstständigung und das bei null anfangen war für sie das Schlimmste. Meine
Schwiegermutter ist Augenärztin. Sie war sehr skeptisch. Aber sie war gleichzeitig ein guter Spar-
rings-Partner, was die inhaltlichen Themen angeht. Wie tickt ein Augenoptiker oder ein Kunde?
Was muss ich beachten, wenn ich eine Brille verkaufen will? Solche Fragen konnte ich mit ihr gut
erörtern. Sie hat am Ende nicht dagegen gesprochen, aber war schon sehr kritisch.
Das Sich-selbständig-Machen ist das eine, das Businessmodell das andere. Schon das Busi-
nessmodell fand anfangs kaum einer richtig überzeugend. Ich konnte nur wenige überzeugen –
aber das waren meine Mitgründer.
Wie hast du dein Mitgründerteam zusammengestellt?
Björn war der Erste, den ich ins Boot geholt hatte. Er ist ein langjähriger Freund von mir, den
ich früher als Basketballtrainer trainiert hatte. Nachdem wir uns einige Jahre aus den Augen ver-
loren hatten, haben wir uns an der HHL wiedergetroffen. Er hat nach dem Studium bei Jamba
angefangen und ich in der Beratung. Ich wollte ihn als Allrounder für das Team gewinnen, weil
ich ihm hundertprozentig vertrauen konnte. Thilo und Philipp kamen über Lukasz zum Team.
162 Mister Spex

Lukasz hatte in eine ihrer ersten Ideen investiert. Sie hatten einen Prototyp für eine Blogsuchma-
schine programmiert. Eine Finanzierung für das Businessmodell gestaltete sich aber schwierig,
also kamen die beiden nach Berlin und wir haben uns zu viert zusammengesetzt. Es hat gut
gepasst und so wurde aus uns ein Gründerteam. Also auch hier wieder: Die Hälfte des Teams kam
über einen Business-Angel-Kontakt.
Das war Ende 2007. An den Start gegangen seid ihr im April 2008. Wie viele Brillen hattet
ihr damals im Sortiment?
Ich schätze, dass wir zwischen 300 und 400 verschiedene Korrektionsbrillen und Sonnen-
brillen zum Start auf unserer Website hatten. Es waren wenige Marken dabei, vielleicht zehn oder
zwölf, und einige Eigenmarkenbrillen – also recht wenig, sehr überschaubar. Zum Start war es für
uns sehr schwierig, die Markenhersteller zu überzeugen, mit uns zusammenzuarbeiten. Außerdem
hatten wir nur begrenzte finanzielle Mittel, um uns Ware auf Lager zu legen. Es hat zwei bis drei
Jahre gedauert, bis wir alle relevanten Lieferanten und Marken überzeugen konnten, mit uns
zusammenzuarbeiten. Zunächst bekamen wir oft nur ein kleines Sortiment im mittleren Preis-
segment, später, nachdem wir uns als verlässlicher Partner erwiesen hatten, haben uns die Liefe-
ranten sukzessive immer mehr Marken geliefert. Kontaktlinsen gab es zu diesem Zeitpunkt übri-
gens noch gar nicht.
Warum nicht?
Ich habe nicht daran geglaubt und fand das Businessmodell nicht attraktiv. Als ich mir die Lis-
tenpreise und die Verkaufspreise angeschaut habe, dachte ich: sehr wenig Marge und sehr nied-
rige Durchschnittspreise. Der Preis liegt durchschnittlich bei 40 bis 50 Euro für ein Kontakt-
linsen-Doppelpack. Das war nicht sonderlich attraktiv, zumal es einen sehr starken Wettbewerb
gab. Aber als wir dann nach einiger Zeit feststellten, dass das Thema „Brille online“ doch recht
schwierig ist, haben wir unsere Haltung verändert. Wir wollten und mussten schließlich auch
Umsatz machen und haben das Produkt Kontaktlinse genutzt, um die Marke aufzubauen und
uns Kunden zu erschließen – und um dem Kontaktlinsenkunden später eine Sonnenbrille oder
Korrektionsbrille zu verkaufen. Dieser Ansatz hat ganz gut funktioniert. Es war also die richtige
Strategie.
Ihr hattet zum Geschäftsauftakt gleich mehrere Baustellen: Shop-Entwicklung, Logistik,
Marketing, um nur einige zu nennen. Wie habt ihr euch organisiert?
Wir waren zu viert und hatten immer zwei bis drei Praktikanten, die uns unterstützt haben.
Die Grundaufteilung war so: Thilo programmiert den Online-Shop und Philipp programmiert
die Warenwirtschaft. Beim Thema Produktmanagement, also beispielsweise der Frage, welche
Features wir brauchen, haben wir uns zu viert hingesetzt. Wir haben uns die Standardanforde-
rungen überlegt, uns andere, gute Online-Shops angeschaut und uns dann für ein Feature und
ein Designelement entschieden und es übernommen beziehungsweise verbessert. Mein Job war
es primär, die ganzen Lieferantenbeziehungen aufzubauen, die Finanzierung zu sichern und das
Thema Businessplan und Finance anzugehen. Björn hat am Anfang das ganze Thema Logistikpro-
zesse übernommen und sich dann, als es Richtung Go-live ging, um das Marketing gekümmert,
das hatten wir erst nach fünf Monaten gebraucht. Außerdem hat sich Björn mit Personalfragen
befasst und beispielweise Praktikanten rekrutiert und Prozesse definiert. Den gesamten Content
für die Website haben wir wiederum gemeinsam erstellt – der eine kümmert sich um Produktbe-
schreibungen, der andere um das Impressum sowie die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGBs)
und so weiter.
Dirk Graber 163

Ihr habt Euren Webshop also selbst programmiert. Warum habt ihr keine Standardlösung
verwendet?
Am Anfang hatten wir für einen Teil des Shops noch eine bestehende Standardlösung. Bis
Mitte 2008, wenn ich mich richtig erinnere. Das Problem war, dass wir mit Korrektionsbrillen
ein Produkt verkaufen wollten, das bis dahin noch nicht professionell online verkauft wurde.
Keiner von uns wusste vorab, was letztendlich die wichtigen Features sein würden. Einfache und
flexible Standard-Shops (wie beispielsweise Magento) gab es damals noch nicht. Wir hätten uns
oft zu stark an bestehenden Standards orientieren müssen. Das wollten wir nicht. Beispielsweise
das Zusammenspiel zwischen Brillenfassung, den Korrektionswerten der Kunden und Brillenglä-
sern ist etwas sehr Komplexes.
Ende 2008 kam es zur ersten Finanzierungsrunde mit dem High-Tech Gründerfonds und
Grazia Equity. Wie habt ihr überzeugen können, insbesondere vor dem Hintergrund der
beginnenden Finanzkrise?
Wir hatten im Februar und Mai 2008 eine Angel-Finanzierung in einem recht großen Rahmen
von 700.000 Euro bekommen. Für Business Angel ist das schon eine ziemlich hohe Summe, aber
wir wussten, dass E-Commerce ziemlich kapitalintensiv ist, gerade am Anfang. Es kamen Themen
wie Infrastruktur, Lager und erste Marketingaktivitäten auf den Tisch. Im Juni habe ich damit
begonnen, mich um die Finanzierung zu kümmern, Leute anzusprechen und mit Venture Capi-
talists (VCs) zu reden. Doch bis zum frühen Herbst konnten wir keinen großen VC überzeugen,
zu investieren. Alle haben gesagt: Brille online funktioniert nicht. Aber im Oktober, November
gab es dann vom High-Tech Gründerfonds und von Grazia Equity positive Signale, dass man sich
ein Investment vorstellen könne. Das war unser Glück. Wir hatten keine Auswahl, nur diese eine
Option. Zwei Tage vor Weihnachten haben wir die Finanzierungsrunde dann unterschrieben.
Dabei waren noch einige Angels, die mit investierten.
Überzeugt haben wir in erster Linie sicherlich als Team. Wir konnten damit punkten, dass
wir vier Köpfe waren, die sehr komplementär aufgestellt gewesen sind. Außerdem war es die
Vision, die sehr viel Potenzial hatte. Es gab keinen Wettbewerber, es war kein „Me-too“-Produkt.
Es gibt Investoren, die genau auf ein solches Alleinstellungsmerkmal stehen, es ist genau das, was
sie wollen. Außerdem haben wir mit einem monatlichen Netto-Umsatz von 70.000 bis 80.000
Euro schon Traktion auf der Umsatzseite vorweisen können. Das war fünf Monate nach Go-live
gar nicht so schlecht. Lustigerweise haben wir bei Grazia Equity den ältesten Partner, der über 70
Jahre alt ist, als Erstes von uns überzeugen können. Bei den 30- bis 50-jährigen Partnern hat das
ein bisschen länger gedauert.
Hätten wir die Finanzierung Ende 2008 nicht bekommen, wären wir kurze Zeit später pleite
gewesen. Das muss man ganz deutlich sagen. Vier Wochen später wäre Schluss gewesen. Als
Gründer steht man in so einer Situation mit einem halben Bein im Gefängnis, vor allem als
Geschäftsführer. Da geht es dann um Dinge wie Insolvenzverschleppung oder ähnliche Themen.
Dieser Moment war das erste Mal, dass wir uns gefragt haben, ob es die richtige Idee gewesen ist,
zu gründen, und ob wir wirklich in der Lage sind, das alles zu schultern.
Wie habt ihr euch in dieser Situation motiviert?
Ich bin jemand, der sich in solchen Momenten sagt: jetzt erst recht. Und: Ich bin immer ange-
treten, um mir selbst etwas zu beweisen und nicht, um anderen zu demonstrieren, dass ich etwas
kann. Das heißt, ich konnte mich schon immer gut selbst motivieren. Auch in dieser Phase. Das
Problem war mehr, dass wir Ende 2008 schon um die zehn Angestellten und Praktikanten hatten,
für die wir uns natürlich verantwortlich fühlten. Auch meine persönliche Situation war nicht ganz
leicht. Ich war im Mai 2008 erstmals Vater geworden, hatte 2006 geheiratet. Natürlich kommen
164 Mister Spex

in so einer Phase auch Selbstzweifel auf. War das wirklich das Richtige? Warum habe ich das über-
haupt gemacht? Und dann natürlich der Gedanke: Wäre ich bei der Beratung geblieben, wäre
mein Leben wohl einfacher gewesen. Aber schlussendlich hat sich diese Jetzt-erst-recht-Mentalität
durchgesetzt und ist oben geblieben.
Hattest du einen Plan B, den du aus der Schublade hättest ziehen können, wenn die Finan-
zierung nicht geklappt hätte?
Nein. Ich habe damals mit meinen Mitgründern besprochen, dass, wenn wir das Ding wirk-
lich vor die Wand fahren, alle wieder auf Jobsuche gehen, um unsere Familien ernähren zu
können. Wir haben keine großen Schulden gemacht, jenseits unserer Einlagen. Wir sind alle sehr
gut ausgebildet und wären schon irgendwo untergekommen. Insofern gab es vielleicht doch einen
Plan B: entweder direkt etwas anderes neu zu gründen, oder eben ein Jahr angestellt zu arbeiten,
um sich einen finanziellen Puffer aufzubauen und dann wieder zu starten.
Im Worst Case, also der Pleite, wäre also lediglich das Geld von Investoren in Mitleidenschaft
gezogen worden. Aber es war natürlich eine Startphase und das war jedem bewusst, der als Angel-
Investor eingestiegen ist. Angels investieren in der Regel auch nicht nur in ein Unternehmen, son-
dern in mehrere. Das sind erfahrene Leute, die natürlich auch die damalige Situation einschätzen
konnten. Keiner hat vor dem Hintergrund der beginnenden Krise gesagt: „Wir geben dir Geld,
egal zu welchen Konditionen.“ Und vielleicht war aufgrund der Zeit auch die eine oder andere
Kondition, die an die Finanzierung geknüpft war, nicht optimal. Aber am Ende waren die Opti-
onen, die wir gewählt haben, in Ordnung. Auch die Investoren haben sich als sehr gut, sehr ver-
lässlich und sehr vertrauenswürdig erwiesen. Die meisten sind bis heute dabei.
Ihr habt die Finanzierung bekommen und es konnte weitergehen. Wie habt ihr das Invest-
ment priorisiert, wofür habt ihr es verwendet?
Hauptsächlich für drei Dinge: IT-Weiterentwicklung, Marketing und Warenlager – und natür-
lich für den Personalausbau. Es mag komisch klingen, aber es war unser Glück, dass zu dieser Zeit
nicht nur die Finanzmärkte, sondern auch die Werbemärkte kaputt gingen. Alle großen Marken-
hersteller haben ihre TV-Budgets zusammengestrichen und sich dazu auf die wenigen großen
Sender konzentriert. Die kleinen Sender haben nichts mehr vom Kuchen abbekommen. Wir
haben dann einen guten Deal mit einem kleineren Sender einfädeln können und haben sehr
viel Werbezeit für sehr kleines Geld bekommen. Dadurch sind wir innerhalb eines Jahres von
450.000 Euro Umsatz auf 4,5 Millionen Euro Umsatz gewachsen.
Die Finanzierung unseres Businessmodells haben wir zwar zu schlechteren Konditionen abge-
schlossen, als man sie in besseren Marktphasen bekommen hätte, aber auf der anderen Seite waren
eben die Marketingkosten extrem niedrig. Ich glaube, so hat sich das irgendwann wieder ausgegli-
chen. Auch das Argument Preistransparenz und Preisersparnis hat zu dieser Zeit bei Kunden sehr
gut funktioniert, weil die Leute generell Geld sparen wollten.
Wie habt ihr den Erfolg der TV-Werbung gemessen? Und: Habt ihr TV-Werbung wieder
eingesetzt, nachdem sich der Werbemarkt erholt hatte?
Die einfachste Metrik war damals lediglich die Frage, über welche Kanäle der Traffic kommt.
Allerdings waren unsere Messungen noch nicht so differenziert, dass wir nach Uhrzeit, Sender
und Format unterschieden haben. Da der Anstieg der Besucher und Käufer auf unserer Website
sehr groß und sehr günstig einzukaufen war, hat uns das zu diesem Zeitpunkt noch nicht interes-
siert. Rückwirkend hätten wir viel mehr rausholen können. Heute wissen wir genau, was ein TV-
Spot an zusätzlichen Besuchern und Umsatz gebracht hat, und was uns die Besucher und Käufer
gekostet haben. Die Online-Werbung ging nun ebenfalls nach oben, weil die Marke Mister Spex
auf einmal bekannter war und deshalb mehr Vertrauen vorhanden war. Es hat einfach alles in die
Dirk Graber 165

richtige Richtung gezeigt. Wir wussten aber natürlich, dass diese Phase der extrem günstigen TV-
Werbung endlich war. Also haben wir zu dieser günstigen Zeit damit begonnen, langfristige Ver-
träge abzuschließen. Es hat zwar eine Weile gedauert, aber Mitte 2010 hatten wir einen langfris-
tigen TV-Vertrag, ohne Anteile am Unternehmen dafür abgeben zu müssen.
Welche anderen Marketingmaßnahmen setzt ihr ein?
Natürlich die gesamte Palette des Online-Marketings von AdWords bis Affiliate-Marke-
ting. Bevor wir unser Marketingbudget weiter vergrößert haben, hatten wir uns entschieden, die
Marke noch einmal aufzufrischen. Wir haben schon nach zwei Jahren einen intensiven Prozess
in Bewegung gesetzt, in dem wir mithilfe von zwei externen Branding-Experten die Marke bezie-
hungsweise das Logo und auch unsere Positionierung überarbeitet haben. Wir wollten das Pro-
dukt hochwertiger machen. Und schon damals war die Maßgabe, dass die Marke auch offline
funktionieren muss.
Was waren weitere Meilensteine in den Jahren 2008 und 2009?
Wir mussten die Prozesse definieren und zusehen, wie wir es schaffen, 100 Bestellungen am
Tag zu verschicken. Wir brauchten einen Kundenservice, denn die Nutzer hatten Nachfragen.
Björn, Thilo, Philipp und ich haben in den ersten Wochen beispielsweise die Pakete zur Post
gebracht, so brauchten wir zunächst noch keine Mitarbeiter im Versand. Aber dann ist das Ganze
natürlich gewachsen und wir mussten uns professionalisieren. Viele Investitionen flossen nun in
das Personal.
Ihr seid schnell gewachsen: In 2010 hattet ihr zehn Millionen Euro Umsatz und mehr als
100 Mitarbeiter. Ihr habt eure zweite Finanzierungsrunde gestartet. Welche Zielsetzung
hattet ihr?
Als ich in die Finanzierungsgespräche gegangen bin, lief bei uns gerade alles perfekt. Wir
hatten extrem viel Traktion. Ich habe gesagt, dass ich zehn Millionen Euro brauche, fünf Milli-
onen für die Internationalisierung und Entwicklung des deutschen Geschäftes, plus fünf Milli-
onen für Filialen. Drei Filialen pro Jahr war mein Ziel. Das Filialthema fand allerdings niemand
sexy, keiner wollte es. Alle waren damals der Meinung, wir sollten allein beim E-Commerce
bleiben, skalieren und schnell wachsen. Die Unterstützung der bestehenden und neuen Inves-
toren war da, die fünf Millionen wurden bereitgestellt. Zu den anderen fünf Millionen hieß es:
„Das machen wir später.“ Also haben wir internationalisiert, zunächst ging es nach Frankreich.
Gleichzeitig haben wir uns weiter professionalisiert. Als wir anfingen, in andere Länder zu gehen,
wurde die Sache komplex. Wir wurden größer, wir mussten mehr Prozesse optimieren und unser
Marketing weiterentwickeln. Irgendwann, wenn man sehr schnell wächst, kommen dann die
ersten Wachstumsschmerzen. Denn man trifft durchaus auch mal eine falsche Entscheidung.
Diese kann man zwar oft revidieren, aber das kostet meistens extra Geld, Energie und Zeit.
Wie aufwendig war die Internationalisierung? Als E-Commerce-Startup musstet ihr ja auch
die Logistik skalieren.
Die direkten Kosten waren nicht hoch. Sie sind im niedrigen fünfstelligen Bereich gewesen,
denn die Plattform war per se darauf angelegt, internationalisieren zu können. Wir mussten das
Angebot lediglich übersetzen. Das macht man mit zwei, drei Praktikanten oder ersten Ange-
stellten. Wir haben zwei Franzosen eingestellt, die das gemacht haben. Vor Ort in Frankreich
hatten wir nichts und niemanden – außer der Website. Die Ware wurde von Deutschland ver-
schickt, natürlich mit Anschluss an La Poste, der französischen Post. Es war eine sehr schlanke
Lösung. Was wir anfangs unterschätzt haben, sind indirekte Kosten wie IT-Ressourcen, um die
Mehrsprachigkeit funktionsfähig zu machen. Auch dass sämtliche Produkttexte mehrsprachig
166 Mister Spex

sein mussten, hat letztendlich Kapazitäten gefressen. Wenn man diese Dinge vernachlässigt oder
gar nicht erst bedenkt, dann kann eine Internationalisierung schon teuer werden, weil andere
Entwicklungen dann verlangsamt werden.
Was waren die größten organisatorischen Herausforderungen beim Wachstum?
In 2010 war es das Recruiting. Das ist wirklich ein wahnsinniger Lernprozess. Wir haben zu
spät die richtigen Leute eingestellt. Wenn man auf so einer Wachstumsfahrt ist, wie wir es waren,
braucht man mehr belastbare Schultern – und Leute, die das Know-how dafür mitbringen.
Nehmen wir das Thema TV-Marketing-Optimierung durch Tracking. Heute sind wir hier extrem
gut aufgestellt, das hätten wir damals schon so machen müssen, um das Beste herauszuholen.
Auch das Thema Finance ist ein gutes Beispiel. Erst 2011 haben wir in ein Business Intelligence
System und entsprechende Mitarbeiter investiert. Aber genau an dieser Stelle hätten wir deutlich
früher jemanden mit Erfahrung holen müssen.
Viele unserer Leute sind mit dem Unternehmen sehr gut mitgewachsen. Die Organisations-
strukturen haben sich dadurch immer wieder verändert. Irgendwann haben wir ein Produkt-
management neben der IT eingeführt, das gab es vorher nicht. Bis dahin bin ich oder jemand
anderes zur IT gegangen, wir haben die Features besprochen, die wir brauchten, und es wurde
umgesetzt. Doch irgendwann wird eine solche Geschichte so komplex, dass man die Dinge deut-
lich besser spezifizieren muss. So kam es dann beispielsweise zum Produktmanagement, das Thilo
aufgebaut hat. Durch die Internationalisierung bekam das Marketing eine zweite Dimension.
Es ging nicht nur um Kanäle, sondern auch um Länder. Da muss man dann schon überlegen,
wie man es angeht. Zunächst sind die einzelnen Felder scheibchenweise mitgewachsen, ab 2010
haben wir uns dann beim Personal stärker professionalisiert.
Apropos schnelles Wachstum: Es gibt die Geschichte, dass dich ein Mitarbeiter einmal ge-
fragt hat, welche Position du denn im Unternehmen hättest. Stimmt sie?
Ja, das war auf einer Cocktailparty, die wir 2010 anlässlich des Marken-Relaunchs hatten. Ich
saß mit zwei Mitarbeiterinnen aus der Logistik an der Bar und habe sie gefragt, was sie bei uns
machen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon um die 70 bis 80 Leute, und ich habe nicht mehr
jeden persönlich eingestellt. Nach der Antwort erhielt ich von einer der Damen die Gegenfrage:
Was denn mein Job im Unternehmen sei? Ich fand das gar nicht schlimm, aber es war ein Aha-
Erlebnis mit Blick auf das Thema Personalführung.
Als ich nicht mehr jeden Mitarbeiter persönlich einstellt habe, begriff ich irgendwann, dass
wir uns mit dem Thema Unternehmenswerte beschäftigen müssen. Denn, solange ich selbst ein-
gestellt habe, erfolgte die Abwägung, ob jemand zum Unternehmen passt oder nicht, auf der Basis
meiner impliziten Wertevorstellungen. Sobald ein anderer Mitarbeiter über eine Neueinstellung
entscheidet, trifft er die Entscheidung dann auf Basis seiner impliziten Werte. Bei einem jungen
Unternehmen, in dem auch viele junge und noch wenig erfahrene Köpfe in Schlüsselpositionen
arbeiten, kann es deshalb passieren, dass Leute eingestellt werden, die eigentlich nicht zum Unter-
nehmen passen. Diese Erfahrung haben auch wir gemacht. Und so haben wir uns dann das erste
Mal mit dem Thema Unternehmenswerte beschäftigt. Wir haben uns zwei Tage lang außerhalb
des Büros hingesetzt und haben die wichtigen Aspekte Punkt für Punkt runtergeschrieben. Das
hat in der Zukunft geholfen, es war für alle ein Augenöffner. Und es hat dazu geführt, dass sich
Personalauswahl und Organisationsstruktur ein bisschen mehr in Richtung Wunschbild gedreht
haben.
Welche prägenden Erfahrungen hast du sonst noch mit Blick auf Personalfragen gemacht?
Wir hatten eine Zeit, in der wir konsolidieren und uns von Mitarbeitern trennen mussten. 15
Mitarbeiter von 150 mussten gehen. Darunter waren einige Mitarbeiter, bei denen wir festgestellt
Dirk Graber 167

hatten, dass sie ohnehin nicht passten. Aber bei einigen hat es wirklich wehgetan. Doch wir
mussten uns nun einmal fokussieren und einräumen, dass wir für gewisse Themen und Projekte
keine Ressourcen hatten. Ein Beispiel: die englische Website. Es existierte eine englische Sprach-
version unserer Website, für die wir anfingen, Suchmaschinenmarketing zu betreiben. Die Web-
site war nicht besonders gut für den englischen Markt adaptiert und die dazu notwendigen IT-
Ressourcen hatten wir nicht. Das hieß: Der Marketingmitarbeiter war zwar wirklich gut, aber wir
brauchten ihn nicht mehr. Das sind schmerzhafte Erfahrungen und man fragt sich natürlich, was
man hätte besser machen können. Hätte man die Entwicklung eher erkennen können? War dieser
Schritt vermeidbar? Aber aus alldem haben wir gelernt. Und letztendlich haben wir auch in dieser
Phase einen großen Schritt voran gemacht, denn wir haben danach das Management verstärkt.
Ein Ex-Kollege aus meiner Beraterzeit hat den Job des Chief Financial Officer (CFO) bei uns über-
nommen. Ich kannte ihn schon sieben Jahre, konnte ihm komplett vertrauen. Er erledigt seine
Arbeit mit großer Detailgenauigkeit und Engagement, er war und ist für uns der perfekte Finanz-
chef. Auch in Bezug auf das zwischenmenschliche Feingefühl.
Wenn man zurückblickt, fallen Bewertungen manchmal anders aus: Gab es Fehlentschei-
dungen, die du heute bereust?
Ich würde wahrscheinlich in ein anderes Land zuerst expandieren, wahrscheinlich eher in
Richtung Österreich, Schweiz oder Niederlande. Die Konsumenten dort sind deutlich näher am
deutschen Markt. Und gewisse Sachen würde ich grundlegender angehen, gerade in der IT.
Wir haben oft einen 80-20-Approach durchgezogen und nur kurz getestet, ob etwas funktio-
niert. Dann funktionierte die Businessseite aber oft so gut und wuchs so schnell, dass wir es ein-
fach haben laufen lassen, statt auf die Bremse zu treten und die IT dafür entsprechend sauber auf-
zusetzen. Eine Weile funktionierte dieses Prinzip auch ganz gut, aber irgendwann war ein Level
erreicht, auf dem eine grundlegende Sanierung unausweichlich wurde, weil Dinge schlicht nicht
mehr funktionierten beziehungsweise die Entwicklung neuer Funktionalitäten nur noch sehr
langsam voranging. In der Folge lieferte die IT ein gutes halbes Jahr wenig neue Features, hat aber
trotzdem relativ viel Geld verschlungen. Ich bin zwar nach wie vor ein Fan von schnellem Testen,
aber irgendwann muss man die Kurve für das Optimieren bekommen. Den richtigen Zeitpunkt
dafür gibt es natürlich nie.
Ein weiteres Beispiel ist unsere Partnerschaft mit stationären Optikern. Es lief von Beginn an
sehr gut und wir hatten uns vorgenommen, schnell zu skalieren und richtig groß damit zu werden.
Ende 2013 hatten wir bereits 350 Partneroptiker. Was man aber eigentlich keinem erzählen darf:
Die Kundengutscheine, die damals verschickt worden sind, wurden von uns manuell erstellt und
nicht automatisiert, weil in der IT-Pipeline zu dieser Zeit einfach drei andere Projekte wichtiger
waren. Inzwischen sind die Prozesse automatisiert.
Für ein E-Commerce Startup ist die IT das zentrale Thema. Jeder denkt, mit dem neuen Fea-
ture wird alles viel schneller und besser. Aber gerade hier zu priorisieren und eine sehr hohe Dis-
ziplin an den Tag zu legen, das ist oft schwierig.
Im Rückblick war auch die Beauftragung einer Werbeagentur eine absolute Fehlentscheidung.
Unsere Investoren meinten irgendwann, dass wir eine gute Agentur für den nächsten TV-Spot
bräuchten. Also sind wir zu einer dieser großen deutschen Agenturen gegangen und haben uns
beraten lassen. Sie haben den Auftrag dann auch bekommen, aber es war eine totale Katastrophe.
Es passte überhaupt nicht zu unserer Positionierung, aber hat uns gefühlt einen siebenstelligen
168 Mister Spex

Betrag gekostet. Produktion, Opportunitätskosten und die direkten Mediakosten waren enorm
hoch. Es war der teuerste Fehler, den wir je bei Mister Spex gemacht haben.
Wie habt ihr eure Strategie weiterentwickelt, um euer Wachstum weiter voranzutreiben?
Wir haben angefangen, die Produktkategorie Brille sehr, sehr stark in den Fokus zu rücken.
Wir hatten gemerkt, dass es langfristig nicht attraktiv genug ist, nur über Kontaktlinsen und
Sonnenbrillen zu wachsen. Wir haben uns dann im Jahr 2011 auf das Thema Brille fokussiert,
um langfristig ein wertvolleres Unternehmen aufzubauen. Bis dahin lag der Umsatzanteil der
Produktkategorie Brille noch im niedrigen zweistelligen Prozentbereich. Ich habe dann einen
externen Berater, Mirko Caspar, geholt, und er hat im zweiten Quartal 2011 eine sehr umfang-
reiche Marktstudie durchgeführt. 6 000 Personen wurden online sehr umfassend zu unserer Per-
formance und der Performance von Online- und stationären Wettbewerbern befragt. Das Geld
dafür, einen mittleren fünfstelligen Betrag, hätten wir wahrscheinlich schon deutlich eher aus-
geben sollen. Denn die Erkenntnisse haben uns die Augen geöffnet. Wir haben danach ange-
fangen, viele kleine Dinge zu optimieren, beispielsweise bei der TV-Werbung und in der Online-
Kommunikation. Und seitdem wächst die Produktkategorie Brille extrem gut. Man muss einfach
verstehen, welche Stellschrauben man in welche Richtung drehen muss. Wir haben durch die
Analyse das erste Mal das Thema Kundenorientierung verstanden. Sukzessive kamen in dieser
Zeit auch sehr gute neue Leute zu uns, und wir sind seitdem personell sehr gut aufgestellt.
In 2011 haben wir mit dem Fokus auf die Brille und unsere Partnerschaft mit stationären
Optikern eine Sache umgesetzt, an die wir geglaubt haben und das, obwohl uns die Investoren
kein Geld dafür gegeben haben. Das Konzept für die Kooperation stand bereits im Jahr zuvor,
aber wir hatten zunächst nicht geglaubt, dass uns Optiker ernsthaft als Partner sehen könnten.
Aber wir haben es einfach versucht. Wir haben uns 30 Partner herausgepickt und die Optiker
angesprochen, die wir kannten. Und es hat funktioniert, sie hatten Interesse. Wir haben auf diese
Weise mit sehr wenig Geld das Multi-Channel-Modell aufgebaut. Und inzwischen ist es eher so,
dass die Investoren fragen: „Und? Wann machen wir endlich die eigenen Filialen auf?“ Vielleicht
war die Reihenfolge, wie es gelaufen ist, aber auch genau richtig. Die Komplexität des Themas
Filialen hätte uns zu einem früheren Zeitpunkt gegebenenfalls das Genick gebrochen, weil es ein-
fach zu viele Dinge gleichzeitig gewesen wären. Wir haben unser Brillenbusiness und das Opti-
kernetzwerk dann in 2012 sukzessive ausgebaut und uns weiter professionalisiert. Es war ein Jahr,
in dem wir sehr stark gewachsen sind und an vielen kleinen Dingen geschraubt haben. Wir haben
wieder viele Prozesse optimiert, Kosten minimiert und sind immer weiter vorangekommen. Das
Multi-Channel-Konzept ist zwar heute in Bezug auf den Gesamtanteil am Umsatz noch immer
klein, aber es wächst sehr gut.
Du hast geschildert, dass ihr sehr positive Erfahrungen mit der Kundenbefragung gemacht
habt. Holt ihr weiter Feedback eurer Kunden ein?
Ja, wir führen mittlerweile sogar drei, vier verschiedene Befragungen dazu durch. Einmal
im Jahr gibt es eine sehr große Umfrage, bei der wir 5 000 bis 6 000 Kunden und Interessenten
befragen. Es geht dabei um Fragen, wie uns Kunden im Vergleich zum Wettbewerb wahrnehmen,
um unsere Markenbekanntheit oder um das Thema Kundenbindung. In jeder einzelnen Produkt-
kategorie fragen wir ab, was Interessenten und Kunden an Mister Spex gut finden und wie wichtig
ihnen diese Dinge sind. Außerdem fragen wir unsere Markenbekanntheit und die unserer Wett-
bewerber mehrmals pro Jahr ab. Außerdem lassen wir uns von unseren Kunden nach jedem Kon-
takt mit dem Kundenservice oder mit einem unserer Partneroptiker bewerten.
Dirk Graber 169
170 Mister Spex

Wie integriert ihr das Feedback in eure Prozesse?


In 2012 haben wir neue Meeting-Strukturen eingeführt und werfen dabei jede Woche einen
Blick auf das Kundenfeedback. Wir schauen uns jedes Kundenfeedback an, bei dem wir vom
Kunden auf einer Fünfer Skala mit der Note drei oder schlechter bewertet wurden. Dadurch
erkennen wir sehr genau, an welchen Prozessen und Themen wir arbeiten müssen.
Die neue Meeting-Struktur besteht aus täglichen, wöchentlichen, monatlichen und quartals-
weisen Meetings. Das Konzept stammt aus dem Buch „Mastering the Rockefeller Habits“ von
Verne Harnish, welches ich 2012 zum zweiten Mal gelesen hatte. Beim ersten Durchlesen 2008
hatte ich das Konzept für völlig übertrieben gehalten, 2012 schien es aber viele unserer damaligen
Probleme zu adressieren. Also gab ich es meinem Kollegen Mirko Caspar, den wir nach seinem
Beratungsprojekt 2011 als zweiten Geschäftsführer für Mister Spex gewinnen konnten. Er fand
das Buch und insbesondere das Kapitel zu Meeting-Strukturen und -Inhalten genauso gut wie
ich. Also haben wir es umgesetzt. Das Management war allerdings erst einmal zurückhaltend, weil
es sich nicht sicher war, ob das wirklich eine gute Sache sei, sich so oft zusammenzusetzen. Aber
wir haben es sehr diszipliniert durchgezogen und mittlerweile haben alle den Mehrwert erkannt.
Ein weiteres Beispiel dazu: Wir setzen uns einmal im Quartal mit dem gesamten Manage-
ment, das sind zehn bis zwölf Personen, zusammen. Diese Quartals-Meetings dauern einen
ganzen Tag. Wir definieren darin für jede Abteilung die fünf wichtigsten Fokusthemen, an denen
im nächsten Quartal gearbeitet werden soll. Diese Top Five muss jeder verfolgen und im Monats-
Meeting seine Ergebnisse vorstellen: Den Status für das Quartal, wo er steht, was er noch erfüllen
muss, und was er möglicherweise nicht geschafft hat. Die Abteilungsleiter brechen die Top Five
auch auf ihr Team herunter und verteilen entsprechende Aufgaben. Außerdem schauen wir uns
täglich, wöchentlich und monatlich die wichtigsten Unternehmenskennzahlen und geben uns
gegenseitig Feedback, was gut und was schlecht läuft. So stoßen wir immer wieder auf Punkte, die
uns signalisieren, dass irgendwo ein Problem zu bestehen scheint, das es zu lösen gilt. Es können
organisatorische Probleme sein oder Schwierigkeiten im Hinblick auf Kompetenz und Verant-
wortung. Wenn sich herauskristallisiert, dass ein Problem irgendwo in der Organisation verankert
ist, legen wir fest, wer für die Lösung zuständig sein soll.
Die Monats-Meetings, in denen die Top-Five-Themen vorgestellt werden, finden in einem
deutlich breiteren Kreis statt. Es sind alle Teamleiter dabei, wir sind dann ungefähr 30 Leute. In
diesem Rahmen diskutieren wir auch immer zwei bis drei Schwerpunktthemen, bei denen uns
das Feedback unserer Mitarbeiter wichtig ist, und stellen die großen Projekte vor. Zahlen, Good
News, Mitarbeiter- und Kundenfeedback – all das kommt dabei natürlich auch auf den Tisch.
Ein weiterer Meilenstein war eure dritte Finanzierungsrunde und die Akquise eines schwe-
dischen Konkurrenten. Wie kam es dazu?
Unsere Vision heißt: Mister Spex – the favorite way and place to buy eyewear in Europe.
In Deutschland waren wir 2012 bereits Marktführer und hatten ein funktionierendes E-Com-
merce-Modell aufgebaut. Bei der Internationalisierung schauen wir uns jeden Markt genau an
und entscheiden dann, ob wir im jeweiligen Land organisch wachsen wollen, oder ob ein Zukauf
eine relevante Option ist. In Skandinavien haben wir uns für den Kauf eines Wettbewerbers
als Markteintrittsstrategie entschieden. Warum? Mit Blick auf die Kontaktlinsen war der Markt
schon sehr weit entwickelt. Es gab bereits drei Unternehmen, die damit signifikante Umsätze
machten. Das Unternehmen, welches wir gekauft haben, hatte ein sehr starkes Management
und sehr starkes Wachstum. Außerdem war es profitabel. Uns war im Rahmen der Marktana-
lyse bewusst geworden, dass wir wahrscheinlich ein lokales Logistikzentrum für Kontaktlinsen
haben müssen, wenn wir in Skandinavien konkurrenzfähig sein wollen. Außerdem brauchten
wir gute Manager mit relevanter E-Commerce-Erfahrung in Skandinavien sowie IT-Ressourcen
Dirk Graber 171

für einen organischen Aufbau. Daher hat die Akquisition, bei der wir diese fehlenden Ressourcen
und Kompetenzen sowie ein bereits erfolgreiches Unternehmen zugekauft haben, Sinn gemacht.
Zudem konnten wir uns dann auf andere Länder fokussieren.
Wie habt ihr die schwedische Firma bewertet und wie liefen die Verhandlungen ab?
Es war nicht die einzige Firma, die wir uns angeschaut haben. Man sieht sich natürlich eine
Reihe von Unternehmen an, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wer der richtige Partner ist.
Auch die Märkte haben wir sehr genau unter die Lupe genommen. Dadurch kann man Umsatz
und Gewinnmultiples bewerten. Und natürlich gibt es strategische Aspekte, die wir berücksich-
tigen mussten. Dazu rechnet man Synergien ein, vor allen Dingen was den Einkauf angeht. Mit
diesem Hintergrundwissen haben wir den Deal verhandelt.
Mir ging es vor allem darum, langfristig zu denken, und es war mir wichtig, dass das lokale
Management bleibt. Es wäre nicht sinnvoll gewesen, die Firma zu kaufen, ohne dass das Manage-
ment involviert geblieben wäre. Wenn die zentralen Köpfe gegangen wären, hätte der Deal für
uns keinen Sinn gemacht.
Der Preis ist letztendlich eine Verhandlungssache. Beide Seiten müssen zufrieden sein, sonst
kommt man nicht zusammen. Das Unternehmen war in keiner Notsituation, in der sie hätten
verkaufen müssen. Am Ende war es ein fairer Deal für alle Parteien, würde ich sagen.
Springen wir noch einmal zurück zum Thema Finanzierung: Was hast du über Venture-Ca-
pital-Finanzierung gelernt und welche Tipps würdest du anderen Gründern an die Hand
geben?
Zunächst: Man braucht immer deutlich mehr Geld, und es dauert deutlich länger, als man
sich vorstellen kann. Das will man als Gründer nicht glauben, aber es ist so.
Ein zentrales Learning ist für mich gewesen, sich sehr genau anzuschauen, mit wem man sich
da eigentlich „ins Bett legt“. Das ist extrem wichtig. Denn letztendlich ist der VC für einige Jahre
mit an Bord und hat in dieser Zeit ein gewichtiges Mitspracherecht.
Das Zweite, auf das man achten muss, ist, Leute zu finden, die über mehrere Runden mitfi-
nanzieren. Man braucht Geldgeber, die bereits einen Teil der neuen Finanzierung abdecken. Es
ist dann deutlich einfacher, einen neuen Investor ins Boot zu holen. In Deutschland ist dies aber
keine leichte Aufgabe, da viele Fonds nur sehr begrenzte Mittel für ein Unternehmen haben und
sich auf bestimmte Finanzierungsphasen konzentrieren. Es ist nicht einfach, jemanden zu finden,
von dem man weiß, dass er auch die nächsten ein bis zwei Finanzierungsrunden mitgeht.
Und dann würde ich noch empfehlen, dass einige Standards und Regeln eingehalten werden
sollten. Für mich ist beispielsweise die Geschwindigkeit im Finanzierungsprozess mindestens
genauso wichtig wie die Konditionen, die im Term Sheet oder dem späteren Vertrag stehen.
Ich glaube, ob man fünf Prozent mehr Bewertung herausholt oder nicht, ist nicht relevant. Für
mich sind die richtigen Leute und die Geschwindigkeit entscheidender. Die Gründer sollten
sich mehr mit den strategischen und operativen Fragestellungen beschäftigen können als mit
Finanzierungsrunden.
Ganz wichtig ist natürlich auch die Vorbereitung auf die Gespräche. Die Unterlagen sind zen-
tral. Ich denke, man kann mit jedem erfahrenen Gründer darüber sprechen, was man für Unter-
lagen braucht. Wenn ich die Unterlagen nicht zeitig fertig habe, und sie nicht gut sind, mache
ich mir später unnötigen Stress. Außerdem wird der Prozess noch länger, und man braucht in
Deutschland für eine Finanzierungsrunde ohnehin leider schon vier bis sechs Monate. Wenn man
es in drei bis vier Monaten hinbekommt, ist das schon extrem gut.
172 Mister Spex
Dirk Graber 173

Es gibt etablierte Player auf eurem Markt – wie Fielmann, die massive Umsätze machen.
Habt ihr keine Angst vor eurer Konkurrenz?
Nein, warum sollten wir? Ich finde, es hilft immer, sich in die Position des anderen zu ver-
setzen. Was würde er an deiner Stelle machen? Und dann sieht man relativ schnell, dass bei-
spielsweise Fielmann ein Unternehmen ist, das eine sehr starke Marke, eine klare Positionie-
rung – Service-Orientierung und Preisführerschaft – und sehr gute Finanzkennzahlen vorweisen
kann. Würde Fielmann zukünftig Brillen, Kontaktlinsen und Sonnenbrillen online verkaufen,
hätten sie ein Problem mit ihrer Positionierung und auch ihrer Glaubwürdigkeit. Insbesondere
der Punkt Preistransparenz würde ihnen auf die Füße fallen. Unsere Markt- und Wettbewerbs-
studien zeigen, dass Fielmann lokal extrem unterschiedliche Preise verwendet, um auf regionale
Wettbewerber gezielt zu reagieren. In einem Multi-Channel-Konzept mit transparenten Online-
Preisen würde Fielmann schnell an Glaubwürdigkeit beim Endkunden verlieren. Außerdem
würde es Fielmann extrem viel Geld und Marge kosten, in ähnlicher Weise auf die deutlich güns-
tigere Online-Konkurrenz, wie wir es sind, zu reagieren. Aus diesen Gründen glaube ich nicht,
dass es für Fielmann attraktiv wäre, unter der eigenen Marke heute online zu gehen. Es wird zwar
behauptet, dass Fielmann es jederzeit könnte, aber ich glaube, man will es gar nicht, da es für das
Unternehmen nicht attraktiv ist.
Dazu kommt, dass die Kundschaft von Fielmann nicht die klassische Online-Kundschaft
ist. Fielmann verkauft sehr viele Gleitsichtbrillen an ältere Menschen, die sie sich über Jahre als
Kunden aufgebaut haben. Der klassische Online-Käufer ist mehr bei Mister Spex, er ist sehr
marken- und modebewusst. Dazu gibt es einen Teil, der sehr preisbewusst ist.
Ein dritter Gedanke dazu ist: Wenn Fielmann ins Online-Geschäft einsteigen würde, würde
der Online-Handel im Segment Brille extrem viel an Vertrauen gewinnen. Und die Wahrschein-
lichkeit, dass wir mit unserem einen Prozent Marktanteil in Deutschland davon stärker profi-
tieren als Fielmann, ist sehr hoch. Ich glaube kaum, dass Fielmann uns von diesem einen Prozent
etwas wegnehmen könnte. Wir verstehen die Details von E-Commerce sicherlich besser als Fiel-
mann. Umgekehrt kann Fielmann übrigens besser Filialgeschäft als wir. Aber noch einmal: Ich
sehe aktuell keine Bedrohung.
Du bist in ein Geschäft hineingegangen, das du thematisch nicht kanntest. Du hattest dafür
aber Erfahrung im E-Commerce und als Berater. Für wie wichtig hältst du Vorerfahrung?
Hättest du deinen Job ohne deine Erfahrungen genauso gut machen können?
Ich glaube, es ist bei uns nicht hinderlich gewesen, dass wir keine Ahnung vom Thema Augen-
optik hatten. Wir sind damit naiver und vorbehaltsloser an die Dinge herangegangen. Ich würde
sogar sagen, es ist ein Vorteil gewesen, es hat uns geholfen. Generell hilft es aber natürlich schon,
einige relevante Fähigkeiten mitzubringen. Eine klare, langfristige Vision zu formulieren und
auch ein Businessmodell entwickeln zu können, ist elementar. Und um einschätzen zu können,
ob etwas funktioniert, braucht man ein Verständnis dafür, wie das Businessmodell ausgestaltet
werden muss und sollte wissen, an welchen Stellschrauben gedreht werden kann. Genauso muss
man in der Lage sein, zu erkennen, wenn etwas nicht funktioniert und muss das Businessmodell
dann entsprechend ändern können.
Was übrigens auch hilft, ist, resistent gegen externe Meinungen zu sein. Wenn man mit einem
Kunden spricht, sollte man natürlich genau zuhören, was er sagt und was er will. Aber man
muss den Lösungsvorschlag nicht zwingend befolgen. Das gilt auch für Gespräche mit Inves-
toren und anderen Playern. Es ist sehr wertvoll, sich die Meinung von anderen einzuholen und
Feedback zu bekommen. Aber das heißt nicht, dass ich genau das umsetze, was die Gegenseite
will und mir empfiehlt. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, was meinen Gegenüber bewegt,
was er gut findet und was schlecht. Ich nehme das auf, aber finde meinen eigenen Weg, um die
174 Mister Spex

Ziele zu erreichen. In der Lage zu sein, autonom auf die Dinge zu reagieren, die man aufnimmt,
ist meiner Meinung nach eine wesentliche Charaktereigenschaft auf dem Weg zum erfolgreichen
Gründerdasein.
Dirk, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Dirk Graber

Harnish, Verne (2002); Mastering the Rockefeller Habits: What You Must Do to Increase the Value
of Your Growing Firm; Gazelles, Inc.
Hsieh, Tony (2001); Delivering Happiness: A Path to Profits, Passion, and Purpose; Business Plus
mymuesli
Hubertus Bessau
12

Gründerteam: Max Wittrock, Hubertus Bessau und Philipp Kraiss (von links)

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_12,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
176 mymuesli

Der Baukasten für Bio-Müsli


Eine simple Idee mit großer Wirkung: Im Jahr 2007 bereiteten Max Wittrock, Philipp Kraiss und
Hubertus Bessau dem allmorgendlichen Rosinenpicken im Müsli ein Ende. Sie setzten ihre Vor-
stellung vom Müsli-Essen in die Tat um und schufen mymuesli: Bio-Müsli, das nach den per-
sönlichen Vorlieben individuell zusammengestellt werden kann. Erster Vertriebskanal war das
Internet. Der Ansturm auf die mymuesli-Seite war von Tag eins an so groß, dass es mehrfach zu
Lieferengpässen kam – auch weil die Gründer die Müslis anfangs von Hand zusammenmischten.
Dem Erfolg tat das jedoch keinen Abbruch. Bald folgten eigene Müsli-Läden und schließlich der
Gang ins Supermarkt-Regal. Inzwischen ist mymuesli in Deutschland zur Erfolgsmarke geworden
– und hat längst Europa ins Visier genommen.
Die drei Gründer, Freunde aus Studienzeiten, sind noch immer ein Team. Von Passau und
Berlin aus führen sie gemeinsam ihr Unternehmen, ein weiterer Produktionsstandort ist in der
Schweiz. Das Startup liegt ausschließlich in Gründerhand.
Mymuesli hat in den vergangenen Jahren viele Preise eingeheimst. Im Jahr 2013 gewann das
Startup den Deutschen Gründerpreis in der Kategorie Aufsteiger.

Ihr habt zu dritt gegründet. Wie hat sich euer Team gefunden?
Philipp und ich haben beide in Passau BWL studiert. Er war die erste Person, die ich
dort kennenlernte - wir haben uns direkt gut verstanden. Das BWL-Studium ist recht tro-
cken und wir haben nach einiger Zeit darüber nachgedacht, wie wir das Gelernte prak-
tisch einsetzen könnten. Im 2.  Semester, das war im Jahr 2002, haben wir dann eine der
ersten automatischen Videotheken Deutschlands eröffnet. Unser Teamwork hat super
funktioniert. Uns war klar, dass wir später auch irgendetwas zusammen machen würden.
Parallel dazu habe ich Max kennengelernt, er hat zu diesem Zeitpunkt Jura studiert. Zunächst
war er einfach ein Freund. Im weiteren Verlauf des Studiums haben wir zu dritt angefangen,
Geschäftsideen zu entwickeln. Einige davon wollten wir nach dem Ende der Zeit an der Uni
weiterverfolgen.
Welche Ideen hattet ihr?
Wir hatten beispielsweise die Idee eines Finanz-Supermarkts. Darin sollte der Einkauf kom-
plexer Finanzprodukte so einfach sein wie der Einkauf im Supermarkt. Bei einer anderen Idee
ging es darum, mit günstigen Schweizer Krediten Immobilien in Deutschland zu finanzieren. Wir
wollten auch eine Business-Plattform bauen, Collaborated Workspaces. Damit hatten wir sogar
schon begonnen. Aber später haben wir festgestellt, dass unser Herz für Müsli schlägt.
Hubertus Bessau 177

Wie entstand die Idee zu mymuesli?


Im Sommer 2005 waren wir auf dem Weg zu einem Badesee. Wir haben den Radio-Werbespot
eines Müsli-Herstellers gehört, und da hatten wir den Geistesblitz. Abends, auf dem Rückweg,
wollten wir im Supermarkt etwas zum Grillen besorgen. Bei dieser Gelegenheit haben wir uns das
Müsli-Regal angeschaut: zwölf Meter lang und voll mit Haferflocken, Cornflakes, Schoko-Müsli
und Co. Nur: Der eine hat eine Nussallergie, der andere mag keine Rosinen. Und wenn man mit
diesem Blick vor dem Regal steht, bleibt von der überwältigenden Auswahl nicht mehr viel übrig.
Warum also nicht individuelle Müsli-Mischungen anbieten? Die Idee für mymuesli war geboren.
Was waren die nächsten Schritte?
Wir haben erst einmal recherchiert, ob es bereits einen Anbieter für individuelle Müsli-
Mischungen gibt und gleichzeitig darüber nachgedacht, wie sich Leute ihr individuelles
Müsli zusammenstellen. Der übliche Weg ist wohl der Gang ins Reformhaus, wo man sich
die Zutaten einzeln kauft, um sich so das Müsli zusammen zu mixen. Letztendlich ist es wie
bei einer Pizza: Man kann sie selbst machen, fertig im Supermarkt kaufen oder eben indivi-
duell beim Lieferdienst bestellen. Und wir sind eben der Lieferdienst für individuelles Müsli.
Zwischen den einzelnen Schritten verstrich allerdings viel Zeit. Wir haben die Müsli-Idee neben
den anderen verfolgt, zunächst aber eher spaßeshalber. Unsere Überlegungen haben wir immer
wieder diskutiert und sind regelmäßig losgezogen, um Zutaten zu kaufen und das Mixen auszu-
probieren. Richtig ernst wurde es aber erst im Oktober 2006.
Habt ihr eure Idee getestet, um sicherzustellen, dass ihr Kunden findet?
Dass auch andere gerne ihr individuelles Müsli mixen würden, davon waren wir überzeugt.
Aber wir wussten nicht, ob der Kanal funktioniert, also der Online-Vertrieb von Lebensmit-
teln. Das war zu dieser Zeit noch ein absolutes No-Go. Auch mit Blick auf die Mass Custo-
mization, also das individuelle Zusammenstellen und Fertigen eines Produktes, waren wir
selbst skeptisch. Diese Art der Produktion funktioniert bei einem Auto, wo man Farbe,
Motor und Sitze auswählt, aber funktioniert es auch bei einem Low-Involvement-Lebens-
mittel wie Müsli? Das haben wir uns schon gefragt. Ein weiterer Punkt war, dass allein die
Versandkosten bei unserer Idee ungefähr dem entsprachen, was ein Müsli im Supermarkt
kostete. Draus ergab sich zwangsläufig, dass wir uns als Premium-Produkt mit einem Pre-
mium-Preis positionieren mussten. Wir haben uns natürlich gefragt: „Kann das funktionieren?“
Um eine Antwort zu bekommen, haben wir einen Fragebogen erstellt und diesen per
E-Mail an 150 Freunde verschickt – mit der Bitte, ihn weiterzuleiten. Die Meinung der
Befragten war eindeutig: online kaufen ja, aber nur, wenn man sparen kann. Als BWLer
hätten wir in diesem Moment eigentlich sagen müssen: „Das war es, wir verfolgen besser
eine der anderen Ideen.“ Aber zu dem Zeitpunkt waren wir schon so weit und haben uns
so sehr darauf gefreut, dass wir gesagt haben: „Egal, wir ziehen das jetzt trotzdem durch.
Und wenn es nicht funktioniert, können wir in drei Monaten etwas anderes angehen.“
Ich bin natürlich froh, dass wir uns damals gegen die theoretische Lehre gestellt haben. Wir sind
seit dieser Erfahrung große Freunde davon, im realen Markt zu testen und zu schauen, wie echte
Kunden im echten Marktumfeld reagieren. Klassische Marktforschung machen wir seither keine
mehr.
Wie ging es weiter? Was waren die wichtigsten Schritte bis zum Go-Live im April 2007?
Zunächst haben wir alle das Studium beendet. Ich im Oktober 2006, Philipp und Max
einige Monate später. In dieser Zeit kümmerte ich mich um unsere Website, weil ich mit dem
Thema die meiste Erfahrung hatte; seit ich 16 bin, habe ich Internetseiten gebaut. Auch wenn
ich zuvor nie etwas ähnlich Komplexes programmiert hatte. Zugegeben, das Ergebnis war
178 mymuesli

nicht wahnsinnig elegant und skalierbar, aber es hat gereicht, um unser Modell zu testen. Drei
Monate nach dem Go-Live haben wir dann Profis beauftragt, eine solide Lösung zu bauen.
Konkrete Gedanken zu unserem Produkt waren natürlich genauso wichtig: Woher bekommen
wir welche Zutaten in welcher Qualität? Und: Was ist eigentlich eine Rosine von hoher Qualität?
Wie bekommen wir es bei 80 Zutaten mit unterschiedlichen Gewichten hin, dass 575 Gramm
in der Dose sind, aber die Dose nicht nur zu einem Drittel voll ist oder überläuft? Wie sind die
gesetzlichen Bestimmungen zu dem, was auf der Dose alles drauf stehen muss? Und: Was darf
man nicht drauf drucken? Mit solchen Fragen haben wir sehr viel Zeit verbracht.
Wie seid ihr auf den Namen mymuesli gekommen?
Mehr als ein Jahr lang wurden alle möglichen Namen hin und her gewälzt. Wir haben sogar
ein Skript geschrieben, das uns irgendwie Silben aneinanderreiht und Wörter kombiniert, aber
da kam immer nur Schrott heraus. Irgendwann sind wir dann auf eine der ersten Ideen zurückge-
sprungen, und das war mymuesli. Der Name passt genau zu dem, was wir machen wollen.
Wie sah eure Markteintrittsstrategie aus?
Wir hatten kein Geld, also konnten wir auch nichts ins Marketing stecken. Wir haben
lediglich unter mymuesli.com eine Seite online gestellt mit dem Vermerk: „Coming April
2007“. Dazu gab es ein Feld zur Angabe einer E-Mail-Adresse. Auf diesem Weg konnten wir
einige E-Mail-Adressen sammeln. Es ist illusorisch zu glauben, man könne einfach eine Seite
mit einem E-Mail-Formular ins Netz stellen und dann tragen sich die Leute wie wild ein.
Max und ich betrieben einen Blog zum Thema Konsumgüter, Vielfalt und Ästhetik. Des-
halb wussten wir, wie sich Beiträge in der Blogosphäre verbreiten. 2006 waren wir auf
einem Bloggertreffen in München, 50 Blogger und einige Gründer waren dort. Nach
dem Platzen der Dotcom-Blase durfte man zu dieser Zeit wieder langsam über Web-Star-
tups reden. Wir haben nicht verraten, was wir vorhatten, aber der Name mymuesli deutet
ja darauf hin, dass es keine neue Software-Schmiede war. Ein Blogger meinte: Hört mal alle
her, die machen was ganz Verrücktes und gehen bald mit mymuesli an den Start. Alle waren
neugierig und drückten uns Visitenkarten in die Hand. Wir versprachen, eine Mail zu schi-
cken, sobald es soweit ist. Und baten darum, bis dahin noch nichts über uns zu schreiben.
Am 30. April 2007 gingen wir online. Morgens um fünf Uhr wurden 300 E-Mails verschickt –
auch an die Blogger. Am nächsten Tag haben viele von ihnen über uns geschrieben. Innerhalb
von zehn Tagen waren wir für den Suchbegriff Müsli auf Platz eins bei Google. Das war toll,
andererseits ist „Müsli“ auch kein Suchbegriff, der sehr gefragt war. Viel wichtiger war, dass über
die Blogger die klassischen Medien auf uns aufmerksam wurden. Es kamen Presseanfragen von
Tageszeitungen und Magazinen und bald auch von Radio- und Fernsehsendern. Die Reaktion
war enorm.
Warum wurde eure Story von den Medien so gut aufgegriffen?
Unsere Idee war einfach und für jeden verständlich zu erklären. Das war gut für die Presse.
Hinzu kam, dass unser Konzept gerade am Anfang stark polarisiert hat. Die einen sagten: „Ihr
seid ja völlig verrückt, wer braucht denn so was!“ Die anderen: „Super, genau darauf habe ich
gewartet!“ Das war eine ziemlich gute Mischung.
Ich habe gelesen, dass ihr bereits nach zwei Wochen das Material für zwei Monate verkauft
hattet …
Ja, das war völlig verrückt. Und es hat zu zwei Problemen geführt. Wir waren effektiv nach zwei
Wochen ausverkauft – und zwar, ohne es zu bemerken, weil wir natürlich keine Warenwirtschafts-
systeme hatten. Es ist uns erst zehn Tage später aufgefallen. Und nun Schwierigkeit Nummer zwei:
Hubertus Bessau 179

Da wir nicht damit gerechnet hatten, dass es direkt so gut läuft, wussten wir auch nicht, wie lange
Nachbestellungen dauern. Das Problem: Vor allem die Dosen waren sehr speziell. Und unser Liefe-
rant sagte, dass er uns erst wieder in sechs Wochen beliefern könne. Das war natürlich weniger gut.
So mussten wir unseren Kunden also sagen: „Vielen Dank für die Bestellung. Wir sind ausver-
kauft und können erst in sechs Wochen wieder liefern.“ Das haben wir auch in einem großen
Banner auf die Website geschrieben. Jetzt kam die nächste, große Überraschung: Es trafen wei-
terhin Bestellungen ein, wenn auch etwas weniger. Wir waren wirklich verwundert, denn hatte
unser Fragebogen nicht klar gezeigt, dass Müsli-Kauf eine spontane Sache ist? Und jetzt kamen
stapelweise Bestellungen von Kunden, die sechs Wochen auf ihr individuelles Müsli ohne Rosinen
und extra vielen Nüssen warten wollten. Wir bekamen lange E-Mails mit dem Tenor: „Toll, dass
es euch gibt. Endlich muss ich nicht mehr jeden Morgen mit dem Zahnstocher die Rosinen aus
meinem Müsli picken.“ Da dämmerte es uns langsam, dass Müsli essen etwas sehr Emotionales ist.
Als wir wieder produzieren konnten, saßen wir auf einem Berg von Bestellungen. Und die
Produktion war echte Handarbeit: Bestellung ausdrucken, Haferflocken, Nüsse und Co.
abwiegen, mixen und die Adresse per Hand auf das Postetikett schreiben. Zu dritt war das
nicht mehr zu schaffen. Wir haben dann unseren Freundeskreis zum Müsli-Mixen überredet.
Uns wurde durch diese Erfahrung schnell bewusst, dass Mass Customization eine wahnsinnige
logistische Herausforderung ist. Man kann schließlich erst produzieren, wenn die Bestellung vor-
liegt. Vorproduzieren für Peak-Zeiten geht nicht. Und der nächste Peak, das ahnten wir damals
noch nicht, stand uns schon bevor: ein Galileo-Beitrag, den mehr als eine Millionen Zuschauer
im Fernsehen sahen. Es kam eine Flut an Bestellungen rein – und schon wieder waren wir nicht
lieferfähig.
Wie kann man sich eure erste Produktionsstätte vorstellen?
Auf 40 Quadratmetern lief alles ab: Wareneingang, Produktion und Waren-
ausgang. Es war also alles sehr klein, musste aber von Anfang an Lebensmittelkon-
trollen standhalten. Als die Kontrolleure kamen, waren sie von unseren professio-
nellen Hygienestandards total überrascht. Aber für uns war klar: Wir machen ein
absolutes Premiumprodukt. Das kann man nicht in einer WG-Küche zusammenschütten.
Unsere erste Manufaktur war in der Passauer Fußgängerzone, im ersten Stock. Es war die güns-
tigste Option. Als der erste 40-Tonner kam, hat uns der Fahrer für verrückt erklärt. Wir mussten
25-Kilogramm-Säcke mit Haferflocken die Treppen hochschaffen. Das war besser als jedes
Fitnessstudio.
Wie habt ihr euren Produktionsprozess professionalisiert?
2007 sind wir in unsere zweiten Produktionsräume, eine leerstehende Lebens-
mittelhalle, umgezogen. Dort war schon alles da, vom Waschbecken über Gabel-
stapler bis hin zum Hochregallager. Das war eine ziemliche Erleichterung. Wir haben
zu dieser Zeit realisiert, dass wir mit dem manuellen Mixen nicht hinterher kommen,
wenn die Nachfrage weiterhin so stark steigt. Uns war klar: Wir brauchen eine Maschine.
In diese Müsli-Mix-Maschine ist wahnsinnig viel Know-how geflossen. Man denkt, nach einigen
Monaten steht das Ding da, aber dem ist nicht so. Zwei Jahre lang wurde geplant, es folgten 1,5
Jahre Bauzeit. Erst im November 2011 haben wir unseren Müsli-Mixer in Betrieb genommen.
Es handelt sich dabei um die erste vollautomatische Maschine der Welt, die individuelle Müslis
produzieren kann, und es sind mehr als 566 Billiarden Variationen möglich. Über einen Barcode
werden die Dosen identifiziert, mit den jeweiligen Zutaten befüllt, am Ende sogar automatisch
geschüttelt, schließlich über ein computergesteuertes Terminal verpackt und zu unseren Kunden
geschickt.
180 mymuesli

Wie haben die anderen Müslihersteller reagiert?


Bei unserem Markteintritt haben sie gar nicht reagiert. Ich glaube, wir waren etwas völlig
Skurriles, eine Randerscheinung in einer anderen Dimension, mit der sie bis dahin nicht in
Berührung gekommen waren. Wenn wir durch Zufall jemanden aus der Branche getroffen haben,
wurden wir belächelt und man hat uns Glück gewünscht. Wir wurden nicht als Wettbewerber
wahrgenommen, sondern als ein Player, der sich in einem anderen Markt bewegt, anders positio-
niert ist und andere Preise hat. Wir sind niemandem auf die Füße getreten. Das änderte sich aller-
dings, als wir verstärkt in Supermärkte gekommen sind. Wenn wir dort einen Kunden gewinnen,
kann es sein, dass ein anderer seinen verliert. Dennoch haben wir ein gutes Verhältnis zu unseren
Wettbewerbern.
Bald kamen Online-Wettbewerber, die euer Modell einfach kopiert haben. Ihr habt euch
dennoch durchgesetzt. Warum?
Die ersten Nachahmer kamen ungefähr neun Monate nach uns auf den Markt. Allerdings
haben wir das zu der Zeit überhaupt nicht bemerkt – es fehlte auch schlichtweg die Zeit, uns damit
zu beschäftigen. Stattdessen haben wir ständig versucht, die steigende Nachfrage zu bedienen und
die vielen Anfragen von Müsli-Freunden, der Presse und potenziellen Kooperationspartnern zu
beantworten. Mit Wettbewerbern habe ich mich eigentlich nur einmal beschäftigt. Aber das war
schon vor dem Start von mymuesli. Damals habe ich lange überlegt, wie ich mich als Wettbe-
werber von mymuesli positionieren würde. Das war nicht nur interessant, sondern eine strategische
Überlegung. Mit meinen Gedanken bin ich jedoch auf keinen grünen Zweig gekommen. Wenn
man eine neue Kategorie im Markt aufbaut, ist man erst einmal alleine dort. Aber früher oder
später werden andere folgen. Das ist auch gut für die gesamte Kategorie, sie wird bestätigt und der
Kuchen wächst insgesamt. Ursprünglich dachten wir, dass es sinnvoll sein könnte, wenn wir uns
mit einer zweiten Marke selbst Konkurrenz machen würden. Irgendjemand wird es tun, warum
nicht wir selbst? Nach dem Gedankenspiel zur Positionierung war das allerdings hinfällig. Realis-
tisch betrachtet hätten wir keine Zeit dazu gehabt - und richtig angefühlt hat es sich auch nicht.
Nachahmer sind all die Jahre aufgetaucht und wieder vom Markt verschwunden. Wir ver-
schwenden keine Zeit, uns darum zu kümmern, solange keine Schutzrechte von uns missbraucht
werden. Wenn jemand kopiert, was er heute sieht, dann sind wir intern schon mindestens ein
Jahr weiter. Und wer das versucht, nur um Geld zu verdienen … da würden mir weitaus einfa-
chere Wege einfallen.
Wie habt ihr mymuesli finanziert?
Wir hatten kein Geld. Also haben wir mymuesli zu Ungunsten unserer eigenen Zeit auf-
gebaut. Möglichst viel wurde selbst gemacht. Auch an Dinge, die wir nicht so gut konnten,
sind wir in Eigenregie herangegangen. Unsere erste Manufaktur haben wir zum Beispiel
selbst verspachtelt und gestrichen. Das kostet natürlich weniger Geld als ein Malerbetrieb.
Letztendlich betreiben wir klassischen Handel: Zutaten kaufen, zusammenmischen
und zu einem höheren Preis weiterverkaufen. Dadurch konnten wir von Anfang an
Gewinne erzielen. Außerdem muss der Müsli-Kauf per Vorkasse bezahlt werden. Auch
dadurch waren wir liquide. Mit dem Geld haben wir schrittweise größere Zutatenge-
binde gekauft: zuerst eine 250-Gramm-Packung Rosinen, dann die Zwei-Kilogramm-
Packung und irgendwann 25-Kilogramm-Säcke. So haben wir uns schrittweise vergrößert.
Gleichzeitig waren wir extrem sparsam. Wir kamen frisch von der Uni und waren es als Studenten
gewohnt, mit wenig Geld auszukommen. Wir haben weiter in unserer Studentenwohnung gelebt
und uns die ersten anderthalb Jahre 750 Euro Gehalt pro Kopf und Monat ausgezahlt. Das hat
Hubertus Bessau 181

gereicht. Wir haben ohnehin so viel gearbeitet, dass wenig Zeit zum Geldausgeben blieb. Und das
Frühstück gab es ja auch immer gratis.
Habt ihr mit Investoren gesprochen?
Ja, wir hatten mit einigen Business Angels gesprochen. Die Termine waren oft in schnieken
Büros voller Anzugträger, die überhaupt nicht verstanden, was wir machen. Damals wollten die
Meisten in werbefinanzierte Social Networks investieren – und wir haben eine Müsli-Idee vor-
gestellt. Als dann die Frage aufkam, wie wir denn mit unserer Idee Geld verdienen, waren wir
schockiert. Das Prinzip einkaufen, veredeln und mit Gewinn verkaufen sollte jedem Betriebswirt
bekannt sein. 2007 kamen dann aber doch zwei Business Angels ins Boot: Lukasz Gadowski und
Kolja Hebenstreit vom Team Europe.
Warum fiel die Wahl auf diese beiden?
Wir haben überlegt, wer zu uns und der Idee von mymuesli passt. Lukasz war damals
der Einzige, der durch Spreadshirt Erfahrung mit Mass Customization hatte. Außerdem
hatte er Logistik-Expertise beim Verschicken eines physischen Produktes. Wichtig war
uns vor allem, dass wir uns persönlich gut verstehen. Es ging uns nicht ums Geld. Und bei
Lukasz hatten wir auch auf persönlicher Ebene ein gutes Gefühl. Unser Kennenlernen war
lustig, Lukasz meinte damals am Telefon: „Kommt nach Berlin, damit wir uns unterhalten
können.“ Wir: „Okay, sollen wir einen Schlafsack mitbringen?“ Er: „Wie? Ihr wollt bei mir
übernachten?“ Wir: „Ja, wir haben kein Geld für ein Hotel. Das Zugticket ist schon teuer
genug.“ So etwas hatte er sicher noch nicht erlebt. Aber er meinte: „Klar, kommt vorbei, find
ich gut.“ Schon das war ein Punkt, an dem wir gemerkt haben, dass wir miteinander können.
2013 haben wir die Anteile von Team Europe wieder zurückgekauft. Wir wollten wieder zu
100 Prozent in Gründerhand sein. Größere Investitionen wie neue Maschinen oder Ladeneröff-
nungen finanzieren wir heute klassisch über die Bank.
Welche Fragen hat euch Lukasz zum Einstieg gestellt?
Er wollte wissen, was unsere Eltern machen. Das wunderte uns schon – Max’ und meine
Mutter sind Lehrerinnen, üben also einen klassischen Mittelschichtberuf aus. So etwas hat ihn
interessiert. Bei uns ist das heute übrigens etwas, was wir uns generell angewöhnt haben: nur mit
Menschen Geschäfte zu machen, die ein ähnliches Werteverständnis haben wie wir. Da spielt
häufig auch der persönliche Hintergrund eine Rolle. Ansonsten kann eine Zusammenarbeit nach
hinten losgehen.
Wollte Lukasz einen Businessplan sehen?
Nein. Ich glaube, wir haben irgendetwas auf eine Serviette gemalt, als wir ihn getroffen haben.
Welche Bedeutung hatte der Businessplan für euch?
Überhaupt keine. Wir hatten für unsere Videoladen-Idee einen Businessplan und uns extrem
viel damit beschäftigt. Für mymuesli gab es keinen Businessplan. Wir wussten, dass wir einfach
nicht sagen können, wie viele Kunden wir in Jahr eins, zwei und drei gewinnen werden und was
sonst noch passiert. Und wir hatten ja auch nicht vor, um Geld zu pitchen.
Was wir allerdings hatten, war ein Dokument für unsere Positionierung. Darin stand, dass
wir ein Premium-Müsli herstellen wollen, und dass wir keine Abstriche an der Qualität machen,
sondern im Zweifelsfall lieber einen höheren Preis in Kauf nehmen. Weitere Punkte darin: Wir
stellen ein Bio-Müsli her. Es gibt eine einheitliche Verpackungsgröße statt zehn verschiedene. Wir
wollen eine nachhaltige Brand sein. Wir haben uns darauf verständigt, dass wir diese Kriterien
eisern durchziehen. Und so ist es immer noch.
182 mymuesli
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2008 habt ihr eure Europa-Expansion gestartet. Wie habt ihr die Länder ausgewählt?
Ganz ehrlich: Hinter der Entscheidung stand kein großer strategischer Ansatz. Wir haben
schlicht auf die Kundenwünsche reagiert. Passau liegt nahe an der österreichischen Grenze.
Immer wieder haben Österreicher gefragt, warum sie nicht bei uns bestellen können. Wir haben
dann relativ schnell einen Weg gefunden, um die Pakete in das österreichische Postnetz einzu-
speisen. Kurze Zeit später wollten die Schweizer ebenfalls mymuesli. Wir dachten, warum nicht?
Allerdings war uns bis zu diesem Zeitpunkt der Unterschied zwischen EU- und Nicht-EU-Län-
dern nur aus den Nachrichten ein Begriff. Plötzlich hatte es sehr praktische Implikationen. Wir
mussten sogar eine zweite Manufaktur in der Schweiz eröffnen, damit es funktioniert. Die Expan-
sion nach Großbritannien und in die Niederlande haben wir strategischer ausgewählt.
Was waren eure Auswahlkriterien?
Wir haben uns die Märkte angeschaut: Wo wird überhaupt Wert auf Frühstück gelegt? Wo
wird Müsli gefrühstückt? Wie viel geben Menschen dafür aus? Neben solchen Markt-Aspekten
gab es sehr pragmatische Gründe: Wir mussten natürlich die Website und die Produktbeschrif-
tungen in die Landessprache übersetzen. Und Englisch konnten wir einfach am besten.
2008 hattet ihr auch den ersten TV-Spot. Wie seid ihr das angegangen?
Damals wurde in den Medien intensiv über die Zukunft von TV und Zeitung diskutiert. Die
Branche hatte Existenzängste, weil immer mehr Budgets in Online-Werbung gewandert sind. Die
TV-Sender wollten neue Erlösmodelle ausprobieren. Wir konnten einen Cost-Per-Order-Deal
abschließen. Cost-Per-Order – kurz CPO – ist ein Provisionsdeal, bei dem der Sender an jedem
Verkauf, den ein Werbespot erzielt, etwas verdient. Damit hatten wir eigentlich kein Risiko.
Wie habt ihr einen Verkauf einem Werbespot zugerechnet?
Wir haben in den Spots andere Webadressen genannt – Wunschmuesli.de oder MeinMuesli.
Alle Kunden, die über diese Seiten kamen, haben wir der Werbung zugerechnet. Die Einnahmen
haben wir mit dem Sender geteilt.
Ihr habt eure Produktpalette im Laufe der Zeit konsequent erweitert. Seit 2010 gibt es bei-
spielsweise Orangensaft. Warum und welche Rationale steckt dahinter?
Die Rationale ist natürlich, dass wir Kunden haben, die sich für Müsli interessieren. Da liegt
es nahe, ihnen auch O-Saft oder Kaffee dazu anbieten – eben alles, was zu einem guten Frühstück
dazu gehört. Dieses Prinzip funktioniert ganz gut.
Bei uns hat vieles neben einer strategischen auch eine lustbedingte Komponente. Wir defo-
kussieren einfach wahnsinnig gerne. Und das ist nicht immer etwas Negatives. Wenn wir jah-
relang nur Müsli gemacht hätten, wäre vielleicht die Spannung irgendwann verlorengegangen.
Neue Produktideen faszinieren uns – genauso wie ihre Umsetzung. Allerdings muss man auch
ganz klar sagen: Mit den Jahren sind wir durchaus zu der Erkenntnis gelangt, dass die Fokussie-
rung für das Unternehmen sinnvoller ist. Eine breite Produktpalette birgt die Gefahr, dass man
zu stark auf etwas schaut, was einen gerade fasziniert, anstatt auf das, was einem das tägliche Brot
sichert. Also versuchen wir, unsere Experimentierfreude in einem gesunden Rahmen zu halten.
Wie habt ihr eure Multi-Channel-Strategie entwickelt und umgesetzt?
Zunächst: Wir sind nicht online gestartet, weil wir unbedingt ein Internet-Startup machen
wollten. Es war schlicht der Absatzkanal, den wir uns leisten konnten. Für eigene Läden fehlte
uns anfangs das Kapital, und wie wir ins Supermarktregal kommen sollten, wussten wir nicht.
184 mymuesli

Aber klar war auch: Damit die Manufaktur zum Mixen eines individuellen Müslis ausgelastet
ist, mussten wir deutschlandweit auftreten. Also mussten wir uns auf den Distanzhandel ein-
lassen. Allerdings wollten wir auch wirklich jedem sein persönliches Lieblingsmüsli anbieten
können. Allein über den Online-Vertrieb funktioniert das aber nicht. Und natürlich: Wir bieten
ein Produkt an, das man sehen, riechen und schmecken kann. Hier liegt es nahe, diese Eigen-
schaften im Offline-Vertrieb zu nutzen. Also haben wir in kleinen Schritten damit begonnen.
In 2009 haben wir in Passau unseren ersten Laden eröffnet. Es waren 20 Quadratmeter, die wir
vor allem für uns selbst nutzen wollten. Wir wollten dort vernünftig frühstücken können und
gemeinsam mit unseren Mitarbeitern Kaffee trinken. Außerdem haben wir haben festgestellt, wie
praktisch ein eigener Laden ist. Wir konnten mit unseren Kunden in direkten Kontakt treten. Und
da sich das Geschäft ziemlich schnell rechnete, haben wir ein richtiges Ladenkonzept entwickelt.
Mitte 2010 haben wir einen zweiten Laden eröffnet, in München am Viktualienmarkt. Er ist
65 Quadratmeter groß und man kann dort ebenfalls frühstücken und unsere Produkte kaufen.
Trotz einer hohen Miete hat auch dieser Laden gut funktioniert. Und dann erreichten uns via
Facebook ziemlich schnell ziemlich viele Anfragen von Leuten, die in ihrer Heimatstadt auch
einen Laden haben wollten. Fünf Jahre, nachdem wir unseren ersten Laden aufgemacht haben,
stehen wir heute bei zwölf Läden – und weitere sollen folgen. Wir sind Schritt für Schritt in die
Multi-Channel-Rolle hineingewachsen.
Was habt ihr beim Aufbau der Läden gelernt?
Wir sind ohne Wissen in dieses Vorhaben gestolpert. Das Positive daran war, dass wir des-
halb alles komplett durchdenken mussten. Wir haben nicht einfach stumpf das Vorgehen anderer
kopiert. Das nötige Wissen kam in vielen kleinen Schritten. Als Ausgangspunkt hatten wir uns
überlegt, was der Kunde eigentlich will. Vielleicht möchte er online bestellen und dann versand-
kostenfrei im Laden abholen? Wir haben ein Pick-up-Konzept ausprobiert und festgestellt, dass
es gut funktioniert, solange das Lager im Laden groß genug ist, um den Ansturm auszuhalten.
Unterm Strich: Meistens werden wir von unserem gesunden Menschenverstand geleitet. Aller-
dings kommt es immer wieder vor, dass uns jemand sagt: „Ist ja toll, was ihr macht. Nur an die
banalste Einzelhandelsregel habt ihr euch nicht gehalten …“
… die da lautet?
Wir lieben minimalistisches Design. Deshalb haben wir im ersten Laden jedes Produkt mit
viel freier Fläche aufgestellt. Eine der Grundregeln im Einzelhandel lautet allerdings: Vollgestellte
Flächen steigern den Verkauf. Das umzusetzen, widerstrebte zwar unserem ästhetischen Emp-
finden, ist aber ökonomisch sinnvoll.
Nach den eigenen Läden kamen Supermärkte als Vertriebskanal hinzu. Wie kam es zu dieser
Entwicklung?
Der Gedanke reifte heran, nachdem wir merkten, dass viele Kunden in unseren Läden vorge-
schlagene Mischungen kaufen. Parallel kamen Händler auf uns zu und sagten, dass sie uns gerne
listen möchten. Allerdings müssten wir dazu einige Dinge ändern. Wir haben dann gemeinsam
ein Regal-Konzept entwickelt: Wie sieht unser Müsli-Regal aus? Welche Mischungen brauchen
wir, um unser Angebot abzurunden? Was ist nötig, um uns zu differenzieren? Wo wird das Regal
platziert? Neben den anderen Müslis, in der Bio-Ecke oder an einem anderen Platz? Das Konzept
wurde im Supermarkt getestet.
In der Online-Welt ist der Verkaufsprozess gut messbar. Offline fällt die Messung schwerer:
Wie viele Besucher waren im Supermarkt? Wie viele sind vor dem Regal stehengeblieben?
Hubertus Bessau 185

Wie viele haben eure Produkte aus dem Regal geholt? Wie habt ihr da eure Lerneffekte
erzielt?
Ganz klar: Man ist auf die Erfahrung und das Bauchgefühl der Marktleiter und ihrer Mit-
arbeiter vor Ort angewiesen. Wir haben viel mit ihnen gesprochen. Aber wir haben uns
ab und an auch selbst neben das Regal gestellt und beobachtet, wie die Menschen reagieren.
Das Regal-Konzept wurde konsequent weiterentwickelt. Wir haben geschaut, wie sich Ände-
rungen auf die Absatzzahlen auswirken. Der Lernprozess ist oft langsamer als in der Online-Welt.
Wir mussten noch einmal bei null anfangen. Aber es war enorm wichtig, um nachhaltig erfolg-
reich zu sein.
Lass uns noch einmal über euer Team sprechen. Viele halten das Gründen mit Freunden für
problematisch. Bei euch hat es funktioniert. Worauf führst du das zurück?
Wir waren nicht einfach nur drei Freunde, wir haben uns auch wahnsinnig gut ergänzt. Phi-
lipp hatte im Studium einen Schwerpunkt auf Finanzierungsthemen und hat sich sofort auf
die Themen Produktion und Logistik gestürzt. Max und ich fanden diese Gebiete langweilig
und waren froh, dass Phillip sie übernahm. Neben seinem Jura-Studium hat Max eine Journa-
listen-Ausbildung gemacht. Also wusste er, wie die Pressewelt funktioniert. Ich habe mich auf die
Themen Marketing und IT gestürzt. Das klassische Wer-verantwortet-was-Gespräch war bei uns
nicht nötig. Jeder hatte von Beginn an seinen Bereich. Und das wird bis heute so durchgezogen.
Nach dem fulminanten Start musstet ihr schnell euer Team aufbauen. Welche Fehler sind
passiert?
Wir haben beim Teamaufbau sehr viele Fehler gemacht. Allerdings haben wir auch schnell aus
Fehlern gelernt. Ein Beispiel: Als wir noch eine Handvoll Leute waren, saßen wir alle in einem
Raum und haben dort jeden Tag 18 Stunden gearbeitet. Ich war zu diesem Zeitpunkt davon
überzeugt, dass alle auf demselben Informationsstand seien und in dieselbe Richtung rennen.
Jeder bekam ja mit, was rechts und links von ihm passierte. Aber diese Annahme war falsch. Wir
mussten irgendwann erkennen, dass von alleine eben nicht alle in dieselbe Richtung rennen. Die
erste Herausforderung ist, herauszufinden, welche Richtung überhaupt die beste ist. Und dann
muss man es hinbekommen, dass alle auch dorthin wollen.
Wie habt ihr diese Herausforderung gelöst?
Durch intensive Kommunikation. Max, Philipp und ich besprechen jedes Jahr, ob die aktuelle
Entwicklung von mymuesli dazu passt, wie wir gerade leben wollen. Und wir reden darüber, in
welche Richtung wir mymuesli weiterentwickeln möchten. Grob sind wir uns dabei immer einig.
Schwieriger ist die Frage, was mymuesli noch ist und was nicht mehr. Wir haben beispielsweise
lange über den Müsli-Drink diskutiert. Kann mymuesli etwas Flüssiges in einer PET-Flasche sein?
Oder braucht es eine eigene Marke für diese Idee? Die Antworten auf solche Fragen sind oft nicht
schwarz oder weiß. Aber für Klarheit zu sorgen, das ist genau das, was wir als Gründer leisten müssen.
Enorm wichtig ist dann natürlich der Transfer zu unseren Mitarbeitern. Denn: Wenn sich schon
die drei Gründer darüber unterhalten müssen, wo mymuesli anfängt und wo es aufhört, ist diese
Frage für die Mitarbeiter noch viel schwieriger zu beantworten. Also müssen wir die Richtung
vorgeben: Was ist die Vision? Was sind die einzelnen Ziele? Welchen Beitrag leistet welche Posi-
tion im Gesamtkonstrukt? Wer produziert wann und wie? Bei uns hat es etwas zu lange gedauert,
bis wir die Bedeutung davon erkannten. Aber mittlerweile sind wir ganz gut darin.
186 mymuesli

Wie habt ihr es geschafft, dass alle dasselbe Zielbild vor Augen haben?
Zunächst ist das Bewusstsein wichtig, dass das Ziel eben nicht von Natur aus gegeben ist.
Und dann muss man sich wahnsinnig viel miteinander austauschen und gemeinsam Grenzbe-
reiche erforschen. Erst wenn diese Arbeit erledigt ist, beginnen alle in dieselbe Richtung zu laufen.
Ihr habt also mit allen Mitarbeitern das Zielbild kritisch diskutiert?
Ja. Als Gründer hat man dabei natürlich die Freiheit, nein zu sagen. Aber es ist manchmal
gut, dass man durch jemanden herausgefordert wird. Wir haben nicht nur mit unseren Mitarbei-
tern geredet, sondern kommunizieren auch mit unseren Kunden auf Augenhöhe. Sie werden in
die Entwicklung von mymuesli einbezogen. Ein Beispiel dafür sind unsere Kartons. Am Anfang
ist die Hälfte der Lieferungen kaputt angekommen. Es musste also eine Umverpackung her. Wir
mussten einen Kartonagenhersteller finden, der bezahlbare Dosenkartons herstellt und in kleinen
Stückzahlen liefert. Diese Suche haben wir in unserem Blog öffentlich gemacht. Innerhalb kür-
zester Zeit bekamen wir knapp 30 Vorschläge. Einer davon passte.
Bis zu welcher Teamgröße hat dieser intensive Austausch funktioniert?
Bei 25 Mitarbeitern stieß der Ansatz an seine Grenze. Wir haben festgestellt, dass es zwar
schön ist, wenn jeder alles mitbekommt und gefragt wird. Aber dann kamen wir zu nichts
anderem mehr. Also haben wir angefangen, eine Kompetenzabteilung zu entwickeln. Wir haben
allerdings niemandem Scheuklappen verpasst, vielmehr entstanden Experten-Inseln. Wenn nun
der Kartonagenhersteller anrief, war klar, wem man den Hörer geben musste.
Sitzt ihr als Gründer mit auf diesen Inseln?
Ja, ein Gründer ist bei uns immer Teil einer Insel. Und bei uns gibt es sowohl Inseln von
inhaltlicher als auch von örtlicher Bedeutung. Ich sitze mit acht Leuten auf der Arbeitsinsel Mar-
keting, die in Berlin angesiedelt ist. Max verteilt seine Arbeitskraft und seine Zeit auf Berlin und
Passau, Philipp arbeitet in seinem Sektor ausschließlich in Passau. Ginge Phillip aus Passau weg,
würde diese Insel allein gelassen und vielleicht in einer Richtung abdriften, die mymuesli nicht
gut tut. Die Präsenz, zumindest eines Gründers, ist für die Inseln wichtig. Und wichtig ist natür-
lich auch, dass die Inseln örtlich und thematisch Sinn machen.
Wie organisiert ihr die Arbeit innerhalb einer Insel?
Oberstes Ziel ist wie gesagt, dass alle auf einem einheitlichen Informationsstand sind. Bei
uns passiert das vor allem über einen ausgeprägten informellen Austausch. Im Berliner Büro
arbeiten 25 Leute. Jeden Montag um neun Uhr frühstücken wir zusammen. Dabei erzählt
jeder, was er letzte Woche gemacht hat und was die Herausforderungen der aktuellen Woche
sind, natürlich alles nur im Groben. Zum Beispiel wird auf diesem Weg bekannt, wenn ein
neuer Kooperationspartner gewonnen wurde. Und durch den offenen Austausch können sich
alle auf die Veränderung einstellen, beispielsweise unser Social-Media-Beauftragter oder der
Kunden-Support.
Wie synchronisiert ihr die Inseln?
Die Arbeit muss natürlich abgestimmt sein, aber von Insel zu Insel nicht so extrem wie man
das denkt. Sie sind im Großen und Ganzen doch autarke Einheiten mit teils sehr unterschied-
lichen Arbeitsweisen. Die größte Distanz liegt bei uns zwischen Marketing und Manufaktur.
Im Marketing wird langfristig geplant und in der Umsetzung sind wir relativ flexibel. Ob eine
Aufgabe heute oder morgen fertig wird, ist oft nicht entscheidend. In der Manufaktur ist das
anders. Dort wird die Kapazität langfristig geplant und im Tagesgeschäft muss alles straff aufei-
nander abgestimmt sein. Bestellungen müssen umgehend bearbeitet werden und Paletten direkt
nach der Anlieferung vom Lkw abgeladen werden. Damit alles reibungslos abläuft, braucht es
Hubertus Bessau 187
188 mymuesli

unmissverständliche Ansagen. Die Frage der Zuständigkeit muss in jedem Moment klar sein, sie
darf sich nicht irgendwie ergeben. Im Marketing kann es dagegen sein, dass wir eine Koopera-
tion eingehen, die online und offline betrifft, und dass sich die Teams dazu je nach Kapazität und
Gusto selbst organisieren.
Wie sieht eine typische Arbeitswoche von dir aus?
Meine Woche startet mit dem gemeinsamen Team-Frühstück am Montagmorgen. Am
Dienstag habe ich den kompletten Tag Jour Fixes mit meinen Direct Reports. Das sind momentan
elf Leute. Drei davon sind nicht vor Ort, mit ihnen telefoniere ich. Dienstagsabends bin ich dann
immer ziemlich fertig. Mittwoch und Donnerstag sind Meetings mit Untergruppen und ich habe
Termine bei Externen. Auf der Agenda steht an diesen Tagen immer auch die Rückkopplung mit
Max und Phillip. In den wenigen verbleibenden Stunden zwischen Meetings und Telefonaten ver-
suche ich, meine E-Mails zu beantworten. Außerdem muss ein wenig Zeit bleiben, damit ich mich
über Marketingtrends und Neuheiten aus der Lebensmittelbranche informieren kann. Freitag ist
für unvorhergesehene Dinge reserviert. Und davon gibt es viele. Den Mittag versuche ich mir frei-
zuhalten, um entweder mit dem Team oder mit jemandem aus der Gründerszene essen zu gehen.
Am Ende des Tages frage ich mich schon manchmal, was ich heute eigentlich geleistet habe. Oft
bin ich damit beschäftigt, Dinge zu managen. Über die Jahre sind die Managementaufgaben eben
immer mehr geworden.
Was fällt für dich unter Management?
Es geht darum, Entscheidungen zu treffen, die nicht auf niedriger Ebene getroffen werden
können. Oder anders formuliert: Es betrifft alles, was dazu beiträgt, den Betrieb am Laufen zu
halten, ohne dass ich selbst Müsli verkaufe oder beispielsweise eine Anzeige schreibe. Es ist natür-
lich total unsinnig, wenn ich mich vor Photoshop setze, um einen Prototypen zu bauen. Unser
Grafiker kann das viel schneller. Aber es macht einfach Spaß und ich bin auch ein ziemlich fana-
tischer Micro-Manager. Als wir in das Berliner Büro gezogen sind habe ich die Farbe der Tisch-
platte und die Auswahl der Lampen mitbestimmt. Klar, auch da kann man sagen, dass ich die
Zeit für etwas anderes hätte nutzen können. Aber ich mache es einfach gerne und es hilft sicher
den mymuesli-Spirit zu erhalten.
Was habt ihr über den Aufbau und die Führung eines Teams gelernt?
Im BWL-Studium gab es das Fach Personalwirtschaft. Dort haben wir gelernt, was eine
hierarchische Organisation und was eine Matrixorganisation ist. Das war hilfreich, aber reicht
nicht aus. Weiche Faktoren spielen bei der Teamführung eine immense Rolle, jeder Mensch
muss individuell motiviert werden. Anfangs haben wir das unterschätzt und mussten viel lernen.
Was wir dagegen direkt richtig gemacht haben, war der Aufbau der Organisation. Oberstes
Kriterium bei allen Entscheidungen war, dass wir uns langfristig wohlfühlen. Wir haben aus-
schließlich Mitstreiter gesucht, denen es nicht primär um das Monetäre geht, sondern um
die Leidenschaft für die Sache. Und das haben wir – glaube ich – ganz gut hinbekommen.
Auch für uns Gründer hat die schöne gemeinsame Zeit, das Erarbeiten eines gemeinsamen Weges
eine sehr große Bedeutung. Und wir haben versucht, in unserem Denken und Handeln ein Vor-
bild zu sein. Ziel ist, dass unsere Mitarbeiter Aufgaben so angehen und umsetzen, wie wir es selbst
machen würden. Bis das Ziel erreicht ist, braucht es natürlich viel Zeit und Hingabe. Aber dieses
Herangehen ist unserer Meinung nach belastbarer als ein aggressiver Führungsstil.
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Wie findet ihr die richtigen Mitarbeiter?


Am Anfang war die Suche relativ wahllos. Wir sind auf den Campus gegangen und haben
gesagt: „Hey, du siehst nett und fähig aus, kannst du Säcke mit Haferflocken schleppen? Ja?!
Okay, ab heute arbeitest du bei uns.“ Inzwischen hat sich unser Vorgehen natürlich verändert.
Wir sehen uns einen Kandidaten genau an und versuchen, zu verstehen, wo er hin will. Wenn
jemand später selbst gründen möchte, ist das kein Problem. Wir planen sein Know-how dann
direkt so ein, dass beide Seiten möglichst viel davon haben. Das Prozedere ist vergleichsweise
informell: Der Kandidat stellt sich bei uns vor und wir gehen gemeinsam essen. Am Ende ent-
scheiden diejenigen, die mit der Person zusammenarbeiten müssen. Eine Human-Resources-Insel
haben wir erst Anfang 2014 eingeführt.
Wie schafft ihr es, die Mitarbeiter zu halten?
Heutzutage ist es illusorisch zu glauben, dass ein Mitarbeiter kommt und die nächsten 25
Jahre bei uns bleibt. Darüber sprechen wir auch offen bei Bewerbungsgesprächen. Trotzdem sind
wir wahnsinnig froh darüber, dass wir viele gute Mitarbeiter haben und sie seit Jahren halten
können. Im Marketing haben einige vor fünf Jahren als Praktikanten angefangen und sind heute
immer noch da. Sie wachsen gemeinsam mit dem Unternehmen. Es ist eine große Motivation,
wenn man eigene Idee umsetzen darf und beobachten kann, wie diese Früchte tragen.
Warum hast du dich für die Gründung entschieden und nicht für eine Laufbahn als
Arbeitnehmer?
Ich habe BWL studiert, weil ich nicht wusste, was ich später machen will. Das Studium
sollte mir eine breite Basis schaffen, um in alle Richtungen gehen zu können. Der Gedanke,
etwas Eigenes zu machen, ist daraus entstanden, dass ich mich mit keiner beruflichen Alterna-
tive anfreunden konnte. Beispielsweise habe ich mich mit normalen Vergütungsmodellen nie
wohlgefühlt. Ich habe eine Zeit lang in einer Werbeagentur gearbeitet, war mit vollem Herzblut
dabei. Aber der Rechnungsbetrag für den Kunden und mein Gehalt standen in einem krassen
Missverhältnis zueinander – auch wenn mir die wirtschaftlichen Zusammenhänge natürlich
bewusst waren. Ein anderes Beispiel: Mit 16 habe ich eine Website für ein lokales Unternehmen
gebaut. Sie fragten: „Was kostet uns deine Arbeit?“ Ich hatte mir dazu noch keine Gedanken
gemacht. Die logische Antwort schien mir: „Ich hätte gerne die Hälfte von dem, was es euch
bringt.“ Das hat nur Kopfschütteln ausgelöst, aber eigentlich sehe ich das heute noch genauso.
Ich erfreue mich wahnsinnig daran, eine Situation zu schaffen, von der alle etwas haben: Der
Kunde bekommt sein Lieblingsmüsli, der Mitarbeiter kann seine Familie versorgen und sich über
die angenehme Arbeitsatmosphäre freuen, und mir geht es auch noch gut, weil ich Spaß habe,
morgens ins Büro zu gehen. Das erfüllt und motiviert mich.
Wie lautet die Formel für eine erfolgreiche Unternehmensgründung?
Über das Team und die Idee wird in der Szene zu Recht viel diskutiert. Entscheidend sind aber
auch noch zwei weitere Faktoren: Timing und Glück.
Beim Timing hatten wir wahnsinnig viel Glück. 2007 konnte man – nach der Dotcom-Blase
– wieder gründen. Bio wurde damals langsam zum Mainstream, das Internet wuchs rasant und
mit den Blogs hatten wir ein wirkungsvolles Sprachrohr. Heute ist Social Media viel kurzweiliger
geworden. Es gibt große Hypes, aber am nächsten Tag hat sich das Interesse schon wieder gelegt.
Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Timing lässt sich beim Gründen nur bedingt beein-
flussen. Man kann natürlich überlegen, ob die Zeit für eine Idee reif ist. Und dafür muss man
selbst der Zeit voraus sein. Zumindest soweit, wie die Umsetzung dauert. Aber ein Garant dafür,
dass eine Idee funktioniert, ist allein das Timing noch nicht. Die berühmte Portion Glück gehört
Hubertus Bessau 191
192 mymuesli

auch noch dazu und ganz klar: Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig ein gutes Team ist.
Damit steht und fällt alles.
Hubertus, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Hubertus Bessau

Gladwell, Malcolm (2001); The Tipping Point: How Little Things Can Make a Big Difference;
Little, Brown and Company
Cialdini, Robert B. (2006); Influence: The Psychology of Persuasion; HarperBusiness
Jenewein, Wolfgang und Heidbrink, Marcus (2011); High-Performance-Organisationen: Wie
Unternehmen eine Hochleistungskultur aufbauen; Schäffer-Poeschel
mytaxi
Sven Külper
13

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_13,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
194 mytaxi

Ein disruptiver Ansatz, der Taxizentralen


überflüssig macht
mytaxi wurde im Juni 2009 von Niclaus Mewes, 35 Jahre und Chief Executive Officer (CEO), und
Sven Külper, 34 Jahre und Chief Marketing Officer (CMO) gegründet. Mit mytaxi haben sie den
internationalen Taximarkt in das 21. Jahrhundert geführt und weltweit neu definiert. Mit einem
zunächst sehr kleinen Team wurde dazu eine disruptive und skalierbare Technologie mit dem Ziel
entwickelt, die existierende Wertschöpfungskette des Taximarktes umzustrukturieren und effek-
tiver zu gestalten: die Revolution mytaxi.

Sven, in welcher Situation hast du dich vor der Gründung befunden?


Eigentlich habe ich damals von einer eigenen Musikkarriere geträumt, doch mein Vater
meinte: „Du wirst in keinem Fall auf der Bühne stehen, eventuell finden wir etwas für dich hinter
der Bühne.“ Dem habe ich mich dann gefügt, einen dualen Studiengang in Business Administra-
tion absolviert und parallel bei Edel Music gearbeitet – eine interessante, aber auch sehr intensive
Erfahrung. Ich habe mich dann dafür entschieden, noch einmal ein richtiges Studentenleben zu
führen und bin für mein Master-Studium nach Sydney gegangen. Die Zeit dort war genauso gut,
wie ich es mir erhofft hatte. Ich bin schweren Herzens nach einem Jahr zurückgekommen und
habe mir natürlich die Frage gestellt: „Was machst du jetzt?“ Ich hatte keine Lust, in einem Kon-
zern zu arbeiten, sondern wollte lieber Beratung machen. Ich habe es vorgezogen, in eine kleine
Beratung einzusteigen und habe dort für zwei Jahre gearbeitet, mir dann aber gesagt: „Okay, jetzt
möchte ich gerne etwas Eigenes machen.“
„Etwas Eigenes machen“ sagen sich viele – wie hast du es geschafft, den nächsten Schritt zu
gehen und deinen Co-Founder und eine Idee zu finden?
Einen Co-Founder habe ich in meinem Cousin Niclaus Mewes sehr schnell gefunden. Wir
haben schon lange vor der Gründung von mytaxi die unterschiedlichsten Businessmodelle
durchgesprochen – immer wenn wir uns sahen, redeten wir zu 80 Prozent über Businessideen
und zu 20 Prozent über alle anderen Dinge des Lebens. Zu dem Zeitpunkt, als ich mich ent-
schloss, etwas Eigenes zu starten, hatten mein Cousin und ich uns eine vielversprechende Idee
im Bereich Mobility ausgedacht. Das war 2009, die Zeit, als Apple mit dem iPhone den Durch-
bruch schaffte und sich alternative Mobilitätskonzepte rasant entwickelten. Diesen Trend fanden
wir extrem spannend und hatten den Gedanken, eine Art Ad-hoc-Mitfahrzentrale auf den Markt
zu bringen. Das heißt, ich bin beispielweise in der Innenstadt von Hamburg und möchte gerne
gen Westen. Warum kann ich nicht einfach bei Privatleuten mitfahren, die in dem Moment
sowieso in diese Richtung fahren? Für uns schien dies möglich, in dem man per Smartphone eine
Sven Külper 195

Eins-zu-eins-Direktverbindung zwischen beiden Parteien herstellt und so die Leute zueinander


finden können.
Was war der Haken an eurer initialen Idee der Ad-hoc-Mitfahrzentrale?
Als wir uns näher mit dem Thema beschäftigten, stellten wir fest, dass die Umsetzung sehr
komplex werden würde. Das größte Problem an der Idee war, dass wir gleichzeitig zwei Größen,
nämlich Mitfahrer und Fahrer, hätten aufbauen müssen, damit das ganze System funktioniert.
Ein klassisches Henne-Ei-Problem also.
Wie habt ihr die Idee weiterentwickelt?
Nach der Analyse des Henne-Ei-Problems hatten wir die Eingebung: „Hey, warum nutzen
wir nicht den Taximarkt? Die Größe der Taxifahrer steht schon, wir definieren den Markt einfach
neu.“ Die Idee mit der Eins-zu-eins-Direktverbindung war nach wie vor unser Schlüssel, nur jetzt
in Form einer Verbindung zwischen Taxifahrer und Taxigast. Und das war es dann. Damals waren
wir die ersten weltweit, die eine Taxi-App auf den Markt gebracht haben. Wir haben schnell rea-
lisiert, dass dies ein sehr disruptiver Ansatz ist, da wir quasi die Taxizentralen überflüssig machen.
Wenn man so will, verkürzen wir die Wertschöpfungskette und ermöglichen einen direkten Kon-
takt vom Kunden zum Taxifahrer. Je mehr wir uns damit beschäftigten, desto größer erschien
uns die Idee. Wir stellten fest, wie hochgradig ineffizient der Taximarkt eigentlich ist, wie wahn-
sinnig teuer die Zentralen sind, und dass es auf jeden Fall einen gigantischen Bedarf für zusätz-
liche Touren seitens der Taxifahrer gibt. Hinzu kam noch eine bemerkenswerte Disharmonie zwi-
schen den Taxifahrern und den Zentralen, wobei die Zentralen eigentlich ein Dienstleister sein
sollten. Wir sahen hier also eine große Chance.
Ihr hattet also eine überzeugende Idee entwickelt – war es dann noch schwer, sich zu ent-
schließen, das Vorhaben full-time weiterzuverfolgen?
Klar war es ein Risiko, gerade weil wir das Thema zunächst privat finanzierten. Auf der anderen
Seite lag für mich der Schritt in die Selbstständigkeit schon lange auf der Hand. Es war immer
mein Wunsch, selbstständig zu sein, bevor ich 30 bin … und das habe ich gerade noch geschafft.
Wichtig war natürlich auch, dass wir sehr von der Idee überzeugt waren. Wir hatten uns lange
mit dem Thema Gründung und Startups auseinandergesetzt, und wir wollten ein Modell haben,
das verschiedene Kriterien erfüllt und Trends kombiniert. Unser Modell erfüllte genau das: Es war
erstens skalierbar, zweitens disruptiv, drittens die Verbindung von online und offline und viertens
etwas mit Mobile. Das waren vier wesentliche Treiber, an denen man merkte, dass hier etwas bro-
delt. Es war klar: Da ist Leben drin! Das Modell passte also perfekt in unsere Vorstellung.
Damit stand dem Start nichts im Wege. Habt ihr versucht, das Modell zu validieren, zum
Beispiel mit einem sehr frühen Prototyp, wie es die Lean-Startup-Philosophie propagiert?
Ja, haben wir. Die Lean-Startup-Philosophie zieht sich durch unser gesamtes Unternehmen.
Egal, was wir machen, und sei es eine kleine Marketing-Aktion, wir testen zunächst im Kleinen
und schauen, ob es Traction gewinnt. Erst dann legen wir richtig los.
Das hört sich sehr systematisch an …
Das stimmt. Natürlich ist das Testen der Ideen nicht immer leicht, insbesondere am Anfang
war es schwer, herauszufinden, wie groß das Kundenbedürfnis nach unserem Produkt ist. Man
muss sich vorstellen, dass Smartphones 2009 gerade erst massentauglich wurden. Viele Leute im
Taxifahrer-Segment kannten das Wort Smartphone gar nicht, und dann sollten wir ihnen noch
unser Produkt erklären. Für uns war dies aber noch kein negativer Test der Idee, weil wir davon
ausgehen mussten, dass das Konzept gar nicht verstanden wurde.
196 mytaxi

Neben den Taxifahrern sind ja die Taxizentralen wichtige Player im Markt. Habt ihr diese
auch von Anfang an einbezogen?
Wir sind mit unserem Konzept direkt zum deutschen Taxi- und Mietwagenverband (BZP)
gegangen. Der BZP repräsentiert bundesweit rund die Hälfte der etwa 25 000 Taxiunternehmen.
Das war also eine wirklich große Sache. Wir wollten unser Konzept dort präsentieren und den
BZP als Sprachohr nutzen, um an die Taxifahrer heranzukommen. Dieser Plan ist allerdings
nicht aufgegangen. Zwar durften wir unser Konzept nach fünf Instanzen dem Vorstand präsen-
tieren, doch hat uns dieser einige Tage später angerufen und gesagt: „Das ist nur ein Trend mit
den Smartphones und den Apps, das wird nichts.“
Damit war eure Idee, über die Zentralen an die Taxifahrer heranzutreten, hinfällig, ihr habt
aber trotzdem weitergemacht?
Ja, nach dem Anruf sagten wir uns: „Gut, dann machen wir es eben selber.“ Und das haben
wir dann auch getan. Niclaus und ich sind auf die Straße, sind von Taxi zu Taxi gegangen, haben
an die Scheibe geklopft und versucht, in einer Art Direktvertrieb unsere App zu vertreiben.
Und da gab es auch positive Rückmeldungen.
Genau, wir konnten Fahrer von der Idee begeistern. Es gab einige, die das Konzept verstanden
haben und meinten: „Okay, ich bekomme meine Fahrten also direkt auf mein Handy und die
Hardware, die ich mir gerade für 4.000 Euro gekauft habe, brauche ich dann gar nicht. Und das
dicke Funkgerät auch nicht – ich verstehe sowieso nie, was dort gefunkt wird. Ich kann also direkt
mit den Kunden kommunizieren. Hinzu kommt, dass ich keine monatlichen Fixkosten für die
Nutzung von mytaxi habe. Das hört sich vielversprechend an, das probiere ich.“
Und damit war mytaxi live … Wie haben die ersten Vermittlungen geklappt?
Wir hatten eine Handvoll Taxifahrer mit unserer App auf der Straße. Die App sah damals
noch sehr rudimentär aus, aber die direkte Verbindung zwischen Kunde und Taxifahrer hat funk-
tioniert. Ein befreundetes Startup aus Hamburg hatte einem unserer Investoren von uns – diesen
verrückten Jungs, die den Taximarkt auf den Kopf stellen – berichtet. T-Venture Holding hatte
uns kurz darauf nach Bonn eingeladen.
Damit hattet ihr also euren ersten Investor direkt von eurem Produkt überzeugen können.
Was war sonst noch nötig, um T-Venture als Investor zu gewinnen?
Drei Tage später sind wir dann nach Bonn gereist, haben klassisch gepitcht und unser Kon-
zept im Detail vorgestellt. T-Venture Holding war überzeugt und ist heute unser Lead-Investor.
Wichtig war meiner Meinung nach, dass wir bereits ein Produkt zeigen konnten. T-Venture Hol-
ding hat dadurch das Konzept sofort begreifen können und gesehen, dass es funktioniert. Die
Meetings gingen dann schnell nicht mehr um die Frage, ob es sinnvoll ist, sondern wie man am
besten weiter vorgeht. T-Venture Holding hat aktiv und begeistert mitdiskutiert und überlegt,
welchen Beitrag die Telekom leisten kann. Man kann mit viel Glück sicherlich auch ein Pre-
Seed Investment auf Basis einer Powerpoint-Präsentation bekommen, aber letztlich ist das Pro-
dukt entscheidend. Allein auf Basis einer Powerpoint-Präsentation wird in Deutschland extrem
wenig finanziert, und wenn, zu schlechten Konditionen.
Wofür habt ihr das T-Venture Investment verwendet? Wo lagen eure Prioritäten zu dieser
Zeit?
Es gibt eine Faustregel, an der auch wir uns orientiert haben: Growth, Engagement, Mone-
tization. Das heißt, zu Beginn ist Wachstum das Wichtigste, dann gilt es, mit Engagement die
Kunden zu binden und eine Art Lock-in-Effekt zu schaffen. Wenn man dann soweit ist, kann mit
der Monetarisierung begonnen werden. Wir waren – ehrlich gesagt – noch gar nicht an Punkt
Sven Külper 197
198 mytaxi

drei angelangt, wollten aber trotzdem das Geld für den Proof of Monetization nutzen. Wir haben
das Produkt zu einem kostenpflichtigen Angebot weiterentwickelt, bei dem für jede Tour eine
Gebühr anfällt. Erstaunlicherweise haben die Touren damit besser geklappt und wir sind stärker
gewachsen als vorher. Wir vermuten, dass durch die Gebühr das Bewusstsein für den Wert der
Vermittlung gestärkt wurde. Das war ein gutes Learning. Den Proof konnten wir also erfolgreich
erbringen. Ansonsten haben wir mit dem Geld Rollouts in weiteren Städten finanziert. Nach
Hamburg kamen Köln und Bonn, beides waren „Low Hanging Fruits“, da dort die Telekom-
Zentrale ist und die Mitarbeiter sofort angefangen haben, über uns zu buchen. Weitere Städte in
dieser Runde waren München und Berlin.
Thema Rollouts: Wie sah eure Strategie aus, um neue Kunden zu gewinnen? Welches Mar-
keting habt ihr gemacht? Und wie habt ihr sichergestellt, beide Größen, die der Taxifahrer
und die der Kunden, aufzubauen?
Wir haben immer die zwei Größen Angebot und Nachfrage, die wir balancieren müssen. In
dem Moment, wo eine Größe die andere überragt, rutscht diese automatisch zurück. Deswegen
müssen beide präzise balanciert werden und parallel wachsen. Die Taxifahrer springen ab, wenn sie
mit mytaxi unterwegs sind, aber keine Buchungen reinkommen. Auf der anderen Seite bringt es
auch nichts, wenn es zu viele Buchungen für zu wenige Taxis gibt. Wir brauchten eine Form von
Grundrauschen, also regelmäßige Buchungen. Das haben wir durch unsere Hotel-Initiative erreicht.
Wir haben in Hotels iPads verteilt, über die sowohl Kunden, als auch das Hotelpersonal via mytaxi
buchen konnten. Das war eine Win-win-Situation, denn die Hotels konnten sich auf diese Weise
als modern und innovativ darstellen. Sie haben das Angebot deshalb gerne aufgenommen. Und wir
hatten durch die Hotel-Buchungen über den Tag verteilt kontinuierliche Anfragen. Die Taxifahrer
hatten also ihr „Futter“ und wir konnten parallel anfangen, unsere Kundenbasis weiter auszubauen.
Für die Kundengewinnung haben wir vor allem auf Außenwerbung an den Taxis gesetzt, ein sehr
effektives Tool, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dann sind wir stärker in das Online-Performance-
Marketing eingestiegen. Wir haben damit begonnen, wichtige Kennzahlen wie Cost per Acqui-
sition zu beobachten, um entsprechende Ziele, wie beispielsweise, ein Kunde muss sich nach
sechs Monaten amortisiert haben, zu erreichen. Wir waren in dieser Zeit sehr „Data-driven“.
Ein weiterer wichtiger Aspekt war PR. Wir hatten eine gewisse Aufmerksamkeit über unsere Außen-
werbung, Social Media und generelle Bekanntheit. Wirklich in die Hände gespielt hat uns dann aber,
dass mytaxi sehr reizvoll für die Presse war und wir deshalb viel Aufmerksamkeit bekommen haben.
Warum wart ihr so interessant für die Presse?
Das lag vor allem an unserer Auseinandersetzung mit dem BZP. Am Anfang wurden wir ja
nur belächelt. Als wir dann jedoch größer wurden, haben sie versucht, uns zu bekämpfen. Sie
haben sogar versucht, uns zu verbieten und Taxifahrer unter Druck gesetzt, mytaxi nicht zu ver-
wenden. An der Durchsetzung sind sie dann allerdings gerichtlich gescheitert. Als schließlich
noch Daimler, die Lieblingsmarke der Taxifahrer, über die Tochter Daimler Mobility Services bei
uns eingestiegen ist, fühlten sie sich noch mehr vor den Kopf gestoßen. Der BZP hat schließlich
einen Brief an den Daimler-Vorstand geschrieben und sich über den Vorgang beschwert. Mitt-
lerweile haben sie unsere App kopiert und eigene Produkte entwickelt. Diese ganze Story über
wütende Reaktionen bis hin zum Kopieren war natürlich ein guter Aufhänger für die Presse, die
uns häufig auch als kreative Zerstörer bezeichnet hat. Das Thema hat damals so eine Eigendy-
namik entwickelt, durch die wir viel mediale Aufmerksamkeit bekommen haben.
Sven Külper 199
200 mytaxi

In 2011 habt ihr einen weiteren Meilenstein erreicht und habt mytaxi international ausge-
rollt. Wie war eure Internationalisierungsstrategie?
International ist immer ein sehr aufregendes Thema. Wir sind in Wien gestartet, da wir hier
keine Sprachbarriere hatten und dachten, dass die kulturellen Unterschiede gering seien. Kulturell
ist Wien allerdings doch ein Unterschied, aber das zeigte sich erst in den Details. Bei unserer wei-
teren Rollout-Planung in andere Städte und Länder haben wir verschiedene Kriterien herange-
zogen wie Sozialstruktur sowie Rolle und Aufbau der Taxizentralen. Außerdem haben wir die all-
gemeine Affinität zu solch einem Produkt in dem entsprechenden Land und im Speziellen in der
Stadt geprüft. Und natürlich haben wir den Markt abgeschätzt und uns gefragt: Wie hoch ist die
Einwohnerdichte? Wie viele Taxis gibt es überhaupt? Wie hoch ist der Anteil von Street Hailing
– also Taxis, die an der Straße anhalten – im Vergleich zu telefonischen Bestellungen? Wir haben
immer ein Bündel an Faktoren analysiert, um zu entscheiden, wo wir ausrollen.
Habt ihr lokale Büros aufgemacht oder alles von Deutschland aus betrieben?
Nein, wir haben lokale Offices errichtet. Dies ist essenziell, da wir die Online-Offline-
Schranke haben. Wir brauchen jemanden vor Ort, der Sales macht, sowohl auf Hotel-, als auch
auf Taxifahrerseite. Und jeder Markt hat natürlich seine Eigenheiten. Wir brauchen lokale Leute,
die eine passende Marketingbrille aufhaben und wissen, wie man in dem Markt kommuniziert.
Was sind die größten Herausforderungen beim internationalen Wachstum?
Die größte Herausforderung liegt im Aufbau einer neuen Entities, denn dabei muss man die
DNA der Company transportieren. Damit meine ich unsere Werte, unser Arbeitsklima, unser
Miteinander. Das sind für uns wichtige Erfolgsfaktoren. Doch diese genauso auf einen ausländi-
schen Standort zu übertragen, ist de facto unmöglich. Die Leute vor Ort regelmäßig abzuholen
und Engagement, Commitment und das „Brennen“ für die Firma sicherzustellen, ist eine wesent-
liche Aufgabe. Trotz der Herausforderungen ist unsere Internationalisierungsstrategie bisher aber
sehr gut aufgegangen.
Wie beurteilt ihr den Wettbewerb und würdest du sagen, dass der Markt ein „Winner-takes-
it-all“-Markt ist und daher Geschwindigkeit extrem wichtig ist?
Ich würde sagen, „Winner takes it all“ ist sehr stark bei sozialen Netzwerken. Ich glaube, in
unserem Segment ist es auch möglich, dass es mehrere erfolgreiche Player parallel gibt. Wenn sich
die Produkte allerdings kaum unterscheiden, hat derjenige den Vorteil, der die beste Qualität am
schnellsten auf die Straße bringt. In unserem Markt ist Differenzierung relativ schwierig. Sicher-
lich gibt es die Features Payment oder die Bestellung eines Luxus-Taxis, aber dann hört es auch
auf. Dementsprechend würde ich sagen, Parallelbetrieb ist durchaus möglich, aber pro Markt
werden nicht mehr als zwei Player erfolgreich sein können.
Stichwort Innovation und Qualität schnell auf die Straße bringen – hier werdet ihr immer
als Vorreiter hervorgehoben. Wie schafft ihr es, innovativ zu bleiben?
Bei uns herrscht eine sehr kreative Kultur, wir erschaffen jeden Tag Listen voll mit Produktideen
und Verticals. Ich glaube, eine wichtige Voraussetzung dafür ist, Leute einzustellen, die von alleine
brennen, die wir nicht „micro-managen“ müssen, die automatisch mitdenken. Dann kommen
auch gute Ideen dabei heraus. Ich habe nie das Gefühl gehabt, wir seien zu wenig innovativ. Wichtig
ist eher, wie wir unsere Ideen priorisieren. Und da sind wir wieder beim Punkt Lean Startup. Jede
Idee bekommt ihre Chance im ganz Kleinen. Wir testen die Idee systematisch und bewerten sie
schließlich anhand von Metriken. Dann schauen wir, ob sie passt, oder ob wir sie wieder verwerfen.
Wir haben nie die Erfahrung gemacht, dass wir ein Produkt hatten, das keine Traction hatte
und dann aus irgendwelchen Gründen Traction gewonnen hätte. Wir bringen neue Versionen in
Sven Külper 201
202 mytaxi

kleinen Schritten und kurzen Release-Zyklen heraus. Dabei gibt es Early Adopter, die es lieben
oder eben nicht. Sollten sie es lieben, tasten wir uns in kleinen Schritten weiter voran, bis wir
schließlich einen größeren Schritt in der Versionierung machen.
Was waren für euch weitere Meilensteine bis heute?
Das waren natürlich unsere weiteren Finanzierungsrunden. 2012 ist Daimler über seine
Tochter Daimler Mobility Services eingestiegen. Der Einstieg von Daimler Mobility Services
war neben der Finanzierung auch aus strategischen Gesichtspunkten ein Meilenstein. Über
die Partnerschaft können wir unsere mytaxi-App-Bestellfunktion auch in der Carsharing-App
Car2go von Daimler Mobility Services anbieten. Daimler hat diese Integration mit der Mobi-
litätsplattform moovel noch weiter vorangetrieben und integriert verschiedene Fortbewe-
gungsmittel und Dienste, um von A nach B zu kommen. Wir glauben an solch eine durch-
gängige Lösung mit Taxi, Bahn, Carsharing, Fahrrad und gegebenenfalls Flugzeug. Alles in
einer App durchgebucht und bezahlt, das ist es, was die Kunden wollen. Daimler Mobi-
lity Services und mytaxi ergänzen sich hier sehr gut und wir können Synergien nutzen.
Ein weiterer wichtiger Schritt war die Entwicklung einer cloudbasierten Software für Taxizent-
ralen, um auch telefonische Bestellungen über mytaxi laufen zu lassen. Zielgruppe sind hier vor
allem kleine, ländliche Taxizentralen, die auf diese Weise die Vorteile von mytaxi nutzen können.
Ansonsten war natürlich noch die weitere Internationalisierung ein Meilenstein für uns, insbe-
sondere der Sprung in die USA nach Washington. Die Expansion im Ausland soll auch zukünftig
vorangetrieben werden. Daimler Mobility Services ist auch hierbei ein wichtiger Partner für uns.
Hast du aus eurer Erfahrung noch Tipps für Gründer? Was sollte man mitbringen, um ein
Startup wie mytaxi hochzuziehen?
Grundvoraussetzung ist natürlich eine Idee, an die man glaubt. Außerdem sollte es ein Bereich
sein, für den man brennt und eine Leidenschaft entwickeln kann. Ein Startup hochzuziehen,
erfordert sehr viel Energie. Der Workload ist nur zu schaffen, wenn man Freude an der Arbeit hat.
Nur hart arbeiten alleine ist aber sicherlich nicht ausreichend, für unabdingbar halte ich das rich-
tige Timing. Gerade in unserem Bereich war es extrem wichtig, schneller zu sein und fester an die
eigene Idee zu glauben, als alle anderen. mytaxi war die erste App auf dem Markt, die eine direkte
Verbindung zwischen Fahrgast und Fahrer ermöglicht hat. Dieser Vorsprung hat uns sehr geholfen.
Natürlich hat eine erfolgreiche Gründung auch mit Glück zu tun. Wir hatten Glück, dass wir mit
T-Venture früh einen geeigneten Partner gewinnen konnten. Wichtig finde ich auch, zu betonen,
dass sich selbst bei einer guten Idee und guten Kontakten nicht absehen lässt, wohin die Reise
gehen wird. Letztlich kommt es darauf an, es zu probieren.
Sven, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Sven Külper:

Ries, Eric (2011); The Lean Startup: How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to
Create Radically Successful Businesses; Crown Publishing
Livingston, Jessica (2007); Founders at Work: Stories of Startups’ Early Days; Apress
Maurya, Ash (2012); Running Lean: Iterate from Plan A to a Plan That Works; O’Reilly & Associates
Lacy, Sarah (2008); Once You’re Lucky, Twice You’re Good: The Rebirth of Silicon Valley and the
Rise of Web 2.0; Gotham Books
von Norman, Don (2004); Emotional Design: Why We Love (or Hate) Everyday Things; Basic Books
orderbird
Jakob Schreyer
14

Gründerteam: Patrick Brienen, Jakob Schreyer und Bastian Schmidtke (von links)

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_14,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
204 orderbird

Kassensystem in der Cloud


Die Idee kam Gründer und Produktmanager Bastian Schmidtke. Seine Arbeit im Außendienst
für klassische Kassensysteme und seine Vorliebe für Apple-Produkte inspirierten ihn zum iPad-
Kassensystem: orderbird POS.
Jakob Schreyer, ein Schulfreund von Bastian, arbeitete zu dieser Zeit in New York für die Red
Bull Agentur. Dort lernte er Rado Pavlov, den Geschäftsführer der Münchner Nobeldisko P1
kennen und erzählte ihm von der Idee. Die Begeisterung sprang über und die erste Anfrage für
ein iPad-Kassensystem lag auf dem Tisch. Das war die Initialzündung für die drei Gründer Bas-
tian Schmidtke, Jakob Schreyer und Patrick Brienen.
In kürzester Zeit entwickelte sich die orderbird AG im Herzen Berlins von einem kleinen
Startup zu einem etablierten Kassensystemanbieter. Von Anfang an bezogen die Gründer ihre
Kunden mit in den iterativen Entwicklungsprozess ein. So wundert es nicht, dass sie ihre ersten
50 Kunden schon gewonnen hatten, bevor ihre App offiziell im Apple Appstore veröffentlicht
wurde. Ab diesem Zeitpunkt wuchs der Kundenstamm rasant an.
Bereits Ende 2010 gewann orderbird zwei renommierte Gründerwettbewerbe. Kurz darauf
folgten weitere Auszeichnungen - beispielsweise von der DEHOGA, der INTERNORGA, der
Initiative Mittelstand, der Financial Times oder vom Hasso-Plattner-Institut.

Wie kamt ihr auf die Idee zu orderbird? Und in welcher persönlichen Situation befandest
du dich?
Die Idee hatte Bastian Schmidtke, mein Mitgründer. Er arbeitete in der Kassenindustrie
und vertrieb marktführende Kassenlösungen. Dadurch hatte er tiefe Einblicke in diese Branche
und kannte die hohen Preise für Kassensysteme. Mit der Einführung des iPhones dachte er sich:
„Damit könnte man im Restaurant selbst Bestellungen aufgeben – sprich die Bestellung via App
an das zentrale Kassensystem schicken.“ Und als das iPad auf den Markt kam, war klar: Damit
lässt sich auch noch das zentrale Kassensystem ersetzen. Die allererste Idee gab es also bereits,
bevor das iPad erschien.
Bastian und ich sind alte Schulfreunde. Er erzählte mir Anfang 2010 von seiner Idee. Ich war
begeistert, nur wussten wir nicht so recht, wie wir die Sache angehen sollten. In dieser Zeit arbei-
tete ich für die Red-Bull-Agentur Kastner und Partner in New York. Dort lernte ich zufällig Rado
Pavlov, Geschäftsführer der Münchener Nobeldisko P1, kennen und erzählte ihm von unserer
Idee. Er war sofort interessiert und wir hätten ihm direkt ein Kassensystem verkaufen können,
aber bisher war es ja nur ein Gedankenspiel.
Die Idee ließ uns nicht mehr los. Wir fanden zwei Entwickler in Deutschland, und gemeinsam
mit Bastian gingen sie nach Berlin. Die drei starteten in einem Co-Working-Space, ich blieb erst
Jakob Schreyer 205
206 orderbird

einmal in New York. Bastian übernahm das Produktmanagement und ich kümmerte mich um
das Marketing und Rechtliches, wie die Gründung unserer Vorgesellschaft App.aratschik UG.
Aus der Idee entstand so ein greifbares Produkt.
Den Kontakt zu Rado Pavlov hielten wir. Ende 2010 zog das P1 um und wurde neu eröffnet.
Dort hatte unsere erste Installation Feuertaufe. Die Produktentwicklung wurde erst am Tag der
Eröffnung fertig – eine echte Punktlandung. Wir bekamen auch die Chance, unser Produkt auf
der Eröffnungsfeier vorzustellen und standen am nächsten Tag auf der ersten Seite der Süddeut-
schen Zeitung. Das hat eine Anfragewelle von Journalisten aber auch Investoren ausgelöst. An
diesem Punkt wurde uns klar: Da steckt mehr dahinter. Das ist nicht nur eine Einzelentwicklung
für ausgewählte Firmen, sondern ein skalierbares Kassensystem.
Wie habt ihr die Produktentwicklung für das P1 finanziert?
Die ersten Kosten für Rechner und Server haben wir selbst finanziert. Das waren ein paar Tau-
send Euro. Einer unserer Entwickler und Mitgründer unserer Vorgesellschaft kam vom Hasso-
Plattner-Institut in Potsdam. Dort haben wir einen Businessplan erstellt und 20.000 Euro Grün-
dungsgeld bekommen. Zudem kam noch ein Bankkredit von 70.000 Euro. Damit hatten wir gut
100.000 Euro zur Verfügung und konnten so das erste Produkt bauen.
Anschließend gründeten wir eine Aktiengesellschaft, die alle Rechte der Vorgesellschaft über-
nahm. Die Seed-Investoren gaben knapp 400.000 Euro in die AG, damit wir uns ein kleines Büro
mieten, die ersten Mitarbeiter einstellen und so an Fahrt gewinnen konnten.
Warum fiel die Wahl auf die Gesellschaftsform Aktiengesellschaft?
Carlo Kölzer, Geschäftsführer der Devisenhandelsplattform 360T und erfolgreicher Unter-
nehmer, berät uns in diesem Bereich. Er meinte: „Klar, eine AG ist aufwendiger als eine GmbH,
aber der Mehraufwand erzieht euch zur Sauberkeit. Es gibt beispielsweise keine komischen
Nebenabmachungen zwischen den Eigentümern, sondern eine hundertprozentig klare Struktur.
Das ist investorenfreundlich.“
Wie habt ihr die Seed-Investoren gefunden?
Wir fanden sie über unser persönliches Netzwerk. Dazu zählt Thomas Hoffstiepel vom Kas-
senhersteller Automatics Boss. Er hat uns nicht nur mit Kapital, sondern auch mit seinem Know-
how unendlich weitergeholfen. Und natürlich Carlo Kölzer, der uns in der Gründungsphase und
bei den folgenden Entscheidungen und Finanzierungsrunden sehr unterstützte. Dazu kommen
weitere Seed-Investoren aus New York und San Francisco.
Mit der Seed-Finanzierung war klar: Das Berlin-New-York-Setup funktioniert nicht mehr.
Ich zog also nach Berlin. Zudem holten wir noch Patrick Brienen ins Gründungsteam. Er arbei-
tete in seiner Münchner Zeit als Key-Account- und Projektmanager in einer Marketingagentur.
Anfang 2011 haben wir dann zu dritt die orderbird AG gegründet.
Umzug von New York nach Berlin. War das eine einfache Entscheidung?
Das war kein leichter Schritt. Ich war vier Jahre in New York, unheimlich happy und nun
sollte ich das alles aufgeben? Aber ich hatte auch den Drang nach einer Selbstständigkeit. Die
Idee war gut, und wir hatten ein super Team – es fühlte sich einfach gut an. Dann ging es recht
schnell. Innerhalb weniger Wochen vermietete ich meine Wohnung, packte die Koffer und flog
nach Berlin. Anfangs hatten Patrick, Bastian und ich eine Dreier-WG in einer Zwei-Zimmer-
Wohnung – überall stapelten sich die Kisten und Koffer. Aber wir wollten einfach loslegen. Alles
andere war unwichtig. Meine Freundin blieb noch für ein Jahr in New York. Als sie nach Berlin
kam, war es mit der WG vorbei und wir nahmen uns eine eigene Wohnung.
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208 orderbird

Wie habt ihr die ersten 50 Kunden gewonnen?


Das ging schnell. Es gibt Startups, die viel Zeit in die Entwicklung eines umfangreichen Pro-
duktes stecken und erst dann den Vertrieb starten. Bei uns war es genau umgekehrt: Wir entwi-
ckelten möglichst schnell die minimalste Produktversion und starteten den Vertrieb so früh wie
möglich. Im April 2011 habe ich das Produkt drei- oder vier Mal zur Babanbè-Bar in Berlin Kreuz-
berg mitgenommen – unserem ersten Kunden. Dem Besitzer gefiel es und wir bezogen ihn bei
der Weiterentwicklung eng mit ein. Daraus ist mittlerweile eine echte Freundschaft entstanden.
In dieser Zeit hatten wir zwar eine Website, aber keinen aktiven Vertrieb. Dennoch kamen
wöchentlich ein oder zwei neue Kunden dazu. So wuchs unser Kundenstamm bis September
2011 auf 50 Kunden an. Im September 2011 veröffentlichten wir unsere App offiziell im Apple
AppStore. Damit konnten uns potenzielle Kunden gezielt finden und wir starteten mit dem
aktiven Vertrieb.
Anfangs hatten wir keine klare Kundensegmentierung. Wir hatten große, kleine und mitt-
lere Kunden. Klar, wir waren über jeden Kunden froh. Es stellte sich heraus, dass einige Kunden
sehr individuelle Ansprüche formulierten, die bei uns sehr viel Aufwand verursachten. Das lässt
sich durch eine klare Fokussierung auf definierte Kundensegmente vermeiden. Darauf würde ich
heute von Beginn an Wert legen.
Seid ihr einer Startup-Methode gefolgt, wie beispielsweise Lean Startup?
Ja, wir sind der Lean-Startup-Methode gefolgt. Zudem haben wir uns Geoffrey Moores Buch
„Crossing the Chasm“ sehr zu Herzen genommen. Wir überlegten uns: „Wie gewinnen wir
die Innovatoren, die Pragmaten, und wie bereiten wir den Sprung über den Chasm vor? Was
ist unsere Nische und wie können wir uns darauf fokussieren?“ Nach der ersten Euphoriewelle
begannen uns diese Themen zu beschäftigen.
Eine iterative Entwicklung und das Einbeziehen der Kunden sind zentrale Elemente der
Lean-Startup-Methode. Wie habt ihr das umgesetzt?
Bastians Philosophie war es, von Anfang an eng mit den Kunden zusammenzuarbeiten. Bis
heute skizzieren wir viel auf Papier und arbeiten mit Prototypen. Vor einer Veröffentlichung holen
wir uns das Feedback aus einem Kreis Testnutzer ein. Teilweise arbeiten unsere Mitarbeiter sogar
als Kellner beim Kunden und erleben so das Produkt in der Praxis. Regelmäßig befragen wir auch
Kellner zu ihren Erfahrungen oder führen hier bei uns Workshops durch. Dafür haben wir extra
ein Showroom-Café bei uns im Büro eingerichtet.
2011 habt ihr eine Finanzierung durch die Investitionsbank Berlin gesichert. Wie kam es
dazu?
Mit dem Seedfunding konnten wir das erste Wachstum finanzieren. 2011 war das Geld fast
verbraucht. Es war von Anfang an klar, dass wir nicht innerhalb eines Jahres profitabel sind. Dafür
mussten wir zu viel Geld in die Entwicklung stecken, zumal wir uns dafür entschieden hatten, erst
für das fertige Produkt zu kassieren.
Andere Gründer empfahlen uns die Gründerförderung „ProFIT“ von der Investitionsbank
Berlin: 500.000 Euro Darlehen und knapp 200.000 Euro Innovationsförderungen. Die Beantra-
gung war zwar aufwendig, aber das Paket überzeugte.
Mit diesem Mittelschub konnten wir unser Produkt ausbauen und fingen an, auch in den
Vertrieb zu investieren. Es wurden zwei Vertriebsmanager, ein Mitarbeiter für den Innendienst
und ein Marketingspezialist eingestellt. Wir bauten einen Shop auf und benötigten zum Kunden-
management schon bald ein CRM-System. Zudem mussten wir noch ein neues ERP-System ein-
bauen. Plötzlich lief da eine ganze Maschinerie an, und wir merkten: Wir bräuchten alles, und
zwar jetzt.
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210 orderbird

Zur Kundengewinnung habt ihr ein Callcenter eingesetzt. Warum? Und welche Erfah-
rungen habt ihr damit gemacht?
Wir haben das Callcenter eingesetzt, um unser Wachstum zu beschleunigen. Online sind wir
zwar stark präsent und gut aufgestellt, aber nur eine begrenzte Anzahl an Kunden sucht online
nach einem neuen Kassensystem. Das Potenzial ist irgendwann ausgeschöpft, uns war aber klar:
Der Markt ist größer. Darum rufen wir aktiv potenzielle Kunden an, um zusätzliches Wachstum-
spotenzial zu erschließen.
Ein externes Callcenter dafür zu engagieren, ist nicht günstig. Bis aber eigene Mitarbeiter
eingestellt sind und die Telefonanlage installiert ist, vergehen locker zwei Monate. So viel Zeit
wollten wir nicht verstreichen lassen. Ein weiterer Vorteil eines externen Partners ist, dass wir
keine Mitarbeiter unter Vertrag haben, falls der telefonische Vertrieb nicht klappen sollte.
Wir entschieden deshalb, eine dreimonatige Testphase mit einem externen Callcenter durch-
zuführen. So konnten wir den Einsatz eines Callcenters testen und am Ende entscheiden, ob wir
ein eigenes aufbauen wollen. Der Test verlief erfolgreich und nun haben wir selbst ein kleines
Callcenter etabliert. Unsere Caller vereinbaren Beratungstermine, zeigen unser Produkt über
Screensharing oder verkaufen orderbird direkt.
Ist das Callcenter das Kernstück eurer Vertriebsstrategie?
Nein. Den größten Teil des Wachstums erzielen wir über Incoming – das heißt, Kunden spre-
chen uns proaktiv an. Aber wir wollten Outcoming – das heißt, wir sprechen Kunden an – stärker
forcieren. Insbesondere wollen wir potenzielle Kunden ansprechen, die nicht aktiv suchen, sich
aber trotzdem von einem guten Kassensystem überzeugen lassen. Aber der Online-Kanal steht
schon im Zentrum des Vertriebs und damit erzielen wir auch die meisten Abschlüsse. Der Außen-
dienst trägt seinen Teil bei, ist aber recht teuer und darum setzen wir ihn nur in den Millionen-
städten ein.
Auch im Marketing sind wir aktiv. Eine Aktion war beispielsweise die Abwrackprämie für
Kassen. Wir boten 250 Euro für das Abwracken einer alten Kasse. Man musste dafür nur ein
kleines Video davon erstellen. Die Kassenbesitzer waren teilweise sehr kreativ und haben die Kasse
mit der Motorsäge zerlegt oder sind mit einem Bagger drübergefahren. Anfangs fragten wir uns
schon: „Ist das nicht zu zerstörerisch und erzeugt ein negatives Image?“ Doch wenn man es mit
der richtigen positiven Ausstrahlung kommuniziert, geht es schon. Unsere Message war: „Hey,
das Alte muss raus, damit es Platz für orderbird gibt.“
Wie habt ihr das Team auf 45 Mitarbeiter ausgebaut. Welche Herausforderung gab es dabei?
Transparenz zu schaffen, war eine zentrale Herausforderung. Alle Teams und Mitarbeiter
wissen, woran die anderen arbeiten. Eine weitere Herausforderung war, die Balance zwischen
Regel- und Zielvorgaben sowie Freiheit für die Mitarbeiter zu finden. Schließlich wollen wir
kein Corporate Business aufbauen, sondern ein Unternehmen mit flachen Hierarchien, das etwas
Neues verkörpert.
Im Vertrieb standen wir vor der Herausforderung, dass keiner ein iPad-Kassensystem kannte.
Das war auch eine Hürde, die wir nehmen mussten. Wir waren schließlich die ersten und mussten
anfangs viel erklären. Das ist heute deutlich einfacher. Die meisten sagen: „Ja, haben wir schon
einmal irgendwo gesehen.“
Jakob Schreyer 211
212 orderbird

Wie haben sich deine Aufgaben als CEO verändert?


Anfangs habe ich mich stärker auf das Marketing fokussiert. Heute liegt mein Schwer-
punkt darin, Investor Relations, KPIs im Auge zu behalten oder das Team auszubauen – ab einer
gewissen Größe ist das Führen eines Unternehmens ein Fulltime-Job.
In der zweiten Runde habt ihr Carsten Maschmeyer als Investor gewonnen. Wie lief das ab?
Carsten Maschmeyer fand uns über die Berichterstattung in den Medien und sprach uns an.
Ich war die letzten Jahre im Ausland und kannte ihn nicht. Da habe ich ihn zuerst einmal gegoo-
gelt … und ja, aufgrund der gemischten Berichterstattung waren wir auch skeptisch, bis wir ihn
dann persönlich trafen: „Ich kann mit euch kurzfristig oder langfristig planen. Das ist ein Vor-
teil meines Family Offices gegenüber einem Venture Capitalist, kurz VC. Ein VC möchte inner-
halb von drei bis fünf Jahren mit Gewinn wieder aussteigen. Mit meinem Family Office können
wir aber langfristig planen und ein großes Unternehmen aufbauen.“ Und weiter meinte er: „Ihr
habt einen starken Aufsichtsrat. Wenn ihr wollt, halte ich mich aus operativen Angelegenheiten
raus. Aber ich bringe gerne meine Sales-Kompetenzen beispielsweise durch operative Sales-Schu-
lungen ein.“ Das überzeugte uns. Er investierte 2,4 Millionen Euro und schult seitdem unser
Vertriebsteam.
Ist das Investment an konkrete Ziele gekoppelt?
Ja, die Investition ist in zwei Tranchen aufgeteilt: Die erste gab es bei Vertragsschluss und die
zweite beim Erreichen einer definierten Kundenzahl.
Was ist eure Produktvision? Hat sich diese seit der Gründung verändert?
Die ursprüngliche Produktvision war ein mehrplatzfähiges Kassensystem basierend auf der
Online-Datenzentrale my.orderbird mit Analysefunktion und Payment Tool. Zudem sollte der
Kunde über eine Gäste-App selbst bestellen können. An der Vision hat sich bis heute nichts
Grundlegendes geändert.
Wie setzt ihr die Produktvision um?
Uns war klar, dass mehrere Umsetzungsschritte nötig waren. Ende 2012 sollten diese abge-
schlossen sein. Es hat letztlich viel länger gedauert, da wir unser Produkt früh auf den Markt
brachten und viel mit Kunden testeten. So gewannen wir schnell Kunden, bekamen wertvolles
Feedback und konnten unsere Marke aufbauen, auf der anderen Seite verlangsamte dies den Ent-
wicklungsprozess. Trotzdem kann ich rückblickend sagen: Es war definitiv der richtige Ansatz,
wenn auch manchmal schmerzhaft. Beispielsweise gingen wir von sechs Monaten Entwicklungs-
dauer aus und haben das unseren Kunden versprochen. Nach acht Monaten mussten wir wieder
zurückrudern: „Sorry, wir brauchen noch einmal vier Monate.“ Das verunsichert Kunden und
die Mitarbeiter im Vertrieb. Die Entwickler geraten unter Druck und müssen entsprechend moti-
viert werden. Mittlerweile haben wir uns in der Entwicklung verlässlicher Pläne verbessert. Die
Maxime lautet: „Under promise and over deliver. “
Wie wichtig ist Fokussierung für euch?
2011 ist durch die Awards, den CEBIT-Auftritt und die Medienberichterstattung ein Hype
entstanden. Plötzlich kamen große, namhafte Firmen auf uns zu. Die ersten zwei Monate nahmen
wir fast alle Gesprächseinladungen an. Wir diskutierten Erweiterung für Lieferdienste, Coupo-
ning oder Tischreservierungen und vereinbarten Tests und Folgetermine mit Produktmanagern.
Im Gegenzug versprachen sie, 500 oder 1 000 Lizenzen abzunehmen. Aber irgendwann rannten
wir vier oder fünf losen Enden hinterher – das verzögerte wieder unsere Produktentwicklung und
verwirrte die Mannschaft. Wenn das Management anfängt, links und rechts zu springen, dann
springt das ganze Team mit und alle verlieren die Richtung. Also zogen wir die Reißleine und
Jakob Schreyer 213
214 orderbird

stoppten die Erweiterungen. Nun galt: 100 Prozent Fokus auf unser Kassensystem. In diesem
Bereich gab es ja mit der Online-Datenzentrale my.orderbird oder der Payment-Lösung zwei
große Projekte.
Wie schützt ihr euch vor Nachahmern?
In Europa und USA gibt es ein paar Firmen mit ähnlichen Produkten. Ein Patent haben
wir aber nicht. Das Konzept lässt sich nicht schützen. Ich glaube, wir haben einen riesen Wett-
bewerbsvorteil, weil wir einfach einer der ersten waren und den größten Kundenstamm haben.
Zudem ist unser Service ausgezeichnet und wir kommunizieren aktiv mit unseren Kunden. Das
wird im Markt wahrgenommen. Aber wir müssen weiterhin schnell sein und das Kassensystem
zu einer offenen Plattform erweitern. So könnten beispielsweise Konsumenten ihre Bestellhistorie
abrufen. Der Plattformgedanke existiert seit der ersten Stunde von orderbird und unser Kun-
denstamm ist natürlich eine sehr gute Basis zur Umsetzung. Das ist ein klarer Vorteil gegenüber
unseren Wettbewerbern.
Hattet ihr einen Mentor?
Verschiedene Leute begleiteten uns. Unsere Seed-Investoren waren immer Sparringpartner für
uns. Durch den Award von Hasso Plattner Ventures bekamen wir ein regelmäßiges Mentoring.
Carlo Klözer ist ebenfalls einer unserer frühen Mentoren und jetzt Aufsichtsratsvorsitzender. Er
und die anderen Mitglieder im Aufsichtsrat unterstützen uns.
Ihr seid ein Tech-Startup, aber keiner aus dem Gründungsteam der orderbird AG hat einen
Technologie-Background. Wie funktioniert das?
Bastian ist sehr technologieaffin. Er ist zwar kein Entwickler, bringt aber Ideen zur Produkt-
gestaltung, sein grundlegendes Verständnis von Technologie und von Kundenbedürfnissen ein.
Gemeinsam mit den beiden ersten Entwicklern hat er so angefangen, unser Produkt zu erstellen.
Die Entwickler waren von Anfang an mit an Bord und sie halten auch heute noch Anteile an der
Firma. Sie kamen frisch von der Uni und waren recht fit. Im Nachhinein muss man allerdings
sagen: Vielleicht waren sie doch zu jung und hatten eben keine Führungserfahrung. Nach einem
Jahr holten wir uns einen erfahrenen Chief Technology Officer (CTO), der Managementaufgaben
wahrnahm und ebenfalls an der Firma beteiligt wurde. Es ist schon ein Vorteil, von Anfang an
einen erfahrenen CTO im Gründerteam zu haben.
Wie habt ihr euren CTO gefunden?
Über eine Recruiting-Agentur.
Wie gestaltet ihr eure Company Culture?
Wir stecken unheimlich viel in unsere Mitarbeiter – etwas anderes passt auch nicht zu einem
Tech-Startup. Früher war die Frage: Was erwartet das Unternehmen vom Mitarbeiter? Mittler-
weile ist es umgekehrt, besonders in Städten wie Berlin oder San Francisco, wo gute Entwickler
sich ihre Jobs aussuchen können. Bei uns dürfen, sollen und müssen alle aktiv mitgestalten. Jeden
Mittwoch treffen sich alle Mitarbeiter zum Frühstück, um das sich zwei Abteilungen kümmern.
Beispielsweise müssen die Entwickler zusammen mit den Vertrieblern Baguettes besorgen, Spie-
geleier braten oder das Müsli zubereiten. Zudem bekommen sie ein kleines Budget für ein gemein-
sames Lunch bei einem unserer Kunden in Berlin mit der Aufgabe, den Kunden zu befragen.
Beim nächsten gemeinsamen Frühstück berichten sie dann, womit der Kunde zufrieden ist und
was wir verbessern können.
Darüber hinaus findet immer donnerstags von 8 Uhr bis 9 Uhr ein Yoga-Kurs statt, oder hin
und wieder schauen wir uns auf der Terrasse Themenfilme wie zum Beispiel über Technologie an.
Das motiviert.
Jakob Schreyer 215

Wie hoch ist deine durchschnittliche Wochenarbeitszeit?


Rund 50 Stunden arbeite ich im Büro. Dabei versuche ich, nach spätestens neun Stunden
wieder rauszukommen. Aber klar, abends sitze ich noch ein, zwei Stunden am Rechner oder
arbeite Dringendes am Wochenende ab. In Summe sind es wohl 60 bis 70 Stunden in der Woche.
Zudem bilde ich mich gezielt in neuen Aufgabenfeldern weiter. Das kommt noch oben drauf.
Das sind jetzt meine Schaffensjahre. Da will ich etwas erreichen, ohne es natürlich zu über-
treiben. Ich muss schon aufpassen, dass ich nicht abends heimkomme, nur eine Kleinigkeit esse
und dann direkt wieder an die E-Mails gehe. Hin und wieder sage ich mir bewusst: „Okay, jetzt
einen Gang zurückschalten“ und dann nehme ich mir den halben Freitag frei. Ich entspanne auch
gerne mit meiner Freundin und meiner Family.
Welche Tipps und Ratschläge hast du für Gründungsinteressierte?
Für uns waren Mentoren immer Gold wert. Mit Sicherheit gibt es Fehler, die man selbst
machen muss, aber nicht alle. Insbesondere bei langfristigen Vorhaben machen sich Mentoren
bezahlt. Warum sollte man sich beispielsweise keinen Rat beim Aufbau des eigenen Vertriebspro-
zesses holen? Der richtige Mentor hat das schon mehrfach in der Praxis gemacht und kann einen
Bauplan aus der Tasche ziehen. Dafür sind Mentoren unheimlich wichtig.
Die Company Culture ist in einem jungen Unternehmen ein wichtiger Erfolgsfaktor. Sie hilft,
die letzten Prozente der Mitarbeiter abzurufen und sorgt für Loyalität. Dann gilt es noch, die rich-
tigen Mitarbeiter zu finden und nicht Hals über Kopf einzustellen, nur weil der erste Eindruck
stimmt. Die richtigen Talente für orderbird zu finden, stellt eine weitere Herausforderung dar …
… woran siehst du, ob es ein Talent für orderbird ist?
Das beurteile ich nicht alleine. Erst einmal muss ein Talent aus unserem Team die fachli-
chen Fähigkeiten des Bewerbers checken. Ein Mitarbeiter aus einer zweiten Abteilung prüft, ob
die zwischenmenschliche Ebene stimmt. Und im letzten Schritt checke ich, ob die Person zu
unserer Company Culture passt. Mit diesem Vorgehen haben wir bisher sehr gute Erfahrungen
gesammelt.
Jakob, wir danken dir für das Gespräch.

Literaturtipps von Jakob Schreyer

Tony Hsieh (2010); Delivering Happiness: A Path to Profits, Passion, and Purpose; Business Plus
RatioDrink AG und Rapskernoel.info
Rafael Kugel
15

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_15,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
218 RatioDrink AG und Rapskernoel.info

Risikolos gründen
Ein Gründer, zwei Firmen – bislang. Entstanden sind die Geschäftsideen für Rapskernoel.info
und RatioDrink AG beim Ideen-Ping-Pong mit dem Berliner Professor für Entrepreneurship
Günter Faltin und Rafael Kugel setzt bei seinen Unternehmen die Theorie des Konzept-kreativen
Gründens in die Tat um.
Rapskernoel.info ging 2005 an den Start. Der Kerngedanke: Öl in höchster Qualität wird
in Großpackungen via Internet bestellt und direkt vom Hersteller zum Endkunden geliefert.
Das Unternehmen funktioniert ausschließlich durch die Verkettung externer Dienstleister. Damit
sind keine Angestellten notwendig. Hinter dem Fokus auf nur ein Produkt steckte von Tag eins
an eine Strategie: simpel anfangen, viel lernen.
Das gewonnene Wissen floss bereits kurze Zeit später in Gründung Nummer zwei ein: die
RatioDrink AG, gegründet nur ein Jahr nach dem Start von Rapskernoel.info. Die Leitdevise
hieß hier: selbst anpacken statt dick (r)auftragen. In der Produktionskette setzt Kugel erneut auf
externe Dienstleister. Damit sinken die Fixkosten gegen null und ab dem ersten Produkt wird
Gewinn erzielt. Risikofrei gründen – so funktioniert es. Statt auf Fragen der Mitarbeiterführung
oder Optimierung von Betriebsabläufen konzentriert sich Kugel auf strategische Fragen. Weicht
er von seinen Kernaufgaben einmal ab, bringt ihn Günther Faltin, sein Mentor und Aufsichtsrats-
vorsitzender der RatioDrink AG, wieder zurück auf Linie.

Herr Kugel, wollten Sie schon immer Unternehmer werden?


Schon immer reizte es mich, Dinge zusammenzubringen und damit Neues zu erschaffen.
Zudem wollte ich gerne Freizeit und Beruf verbinden und mein eigener Chef sein. Als Schüler
nannte ich diesen Wunschberuf „Organisator“, da ich keine bessere Bezeichnung dafür hatte.
Ich stamme aus Konstanz am Bodensee. In der Schulzeit fing ich an, Tagesausfahrten zum
Skifahren und Snowboarden zu organisieren. Mein Preis für Skipass und Busfahrt lag unter dem
normalen Verkaufspreis für einen einzelnen Skipass im Skigebiet. Das realisierte ich durch einen
Mengenrabatt und erwirtschaftete einen Gewinn dabei. Nach mehreren Ausfahrten hatte ich
zehn Stammkunden. Sie durften gratis mit, sofern sie jeweils zehn weitere Personen akquirierten.
Es funktionierte und mein Organisationsaufwand sank erheblich. Ich musste nur noch in den
Bus steigen, verbrachte einen tollen Tag mit meinen Freunden und verdiente gutes Taschengeld.
Nach dem Abitur war mein Entschluss klar: Beruflich sollte es in diese Richtung gehen. Nur,
wie ich es angehen soll, das wusste ich nicht genau. Dann saß ich einem Trugschluss auf. Ich
dachte, dass ich BWL studieren muss. Sonst gründe ich, und wenn es schief geht, müsste mich
mir vorwerfen, dass mein Scheitern mit kaufmännischem Fachwissen vermeidbar gewesen wäre.
Rafael Kugel 219
220 RatioDrink AG und Rapskernoel.info

Also schrieb ich mich zum BWL-Studium an der Freien Universität (FU) Berlin ein. Im ersten
Semester sagte der Rechnungswesen-Professor: „So, stellen Sie sich vor, Sie haben ein Stahlwerk.
Wie verbuchen Sie den Wareneinkauf?“ Die Frage, wie ich zum Stahlwerk komme, beantwortete
keiner. Es wurde einfach vorausgesetzt, dass Stahlwerke existierten. Das fand ich schade.
Ich hatte das Gefühl, dass die Bereitschaft, zu gründen, innerhalb des Studiums stetig
abnimmt. Möglicherweise weil einem vorgeführt wird, mit welcher Komplexität sich Buchhal-
tung betreiben lässt. Um alles richtig zu machen, müsste man sich ja zehn Jahre ausschließlich
damit beschäftigen. Und daneben gibt es noch weitere Themen wie beispielsweise Steuergesetze.
Nach sechs Semestern schloss ich mein Studium erfolgreich ab. Ich überlegte: Promotion,
Gründung oder doch eine Festanstellung? 2000 ging ich eher lustlos zu einer Absolventenmesse.
Vier von fünf Gesprächen waren totale Flops. Einzig der Vertreter von KPMG überzeugte mich.
Für drei Jahre arbeitete ich an der Schnittstelle zwischen Prüfung und Beratung. Das war eine
spannende Zeit. Ich sah, dass Unternehmen auch nur mit Wasser kochen – häufig mit recht bra-
ckigem dazu. Das hat mir etwas die Angst vor der Gründung genommen.
In dieser Zeit hörte ich von Günter Faltin (Professor für Entrepreneurship an der FU Berlin).
Er beantworte die Frage, wie ich zu dem Stahlwerk – oder einem innovativen Unternehmen –
komme. Zufälligerweise hatte er eine halbe Assistentenstelle frei und stellte mich ein. So wurde
ich einerseits dafür bezahlt, dass ich von ihm lerne und hatte genügend Zeit, selbst zu gründen.
Neben der Institutsarbeit war der wirklich spannende Teil der Abend. Bei einer guten Flasche
Wein spielten wir „Ideen-Ping-Pong“, das heißt, wir haben die unterschiedlichsten Geschäfts-
ideen entwickelt, verworfen und neu zusammengesetzt. Aus dieser Zeit stammen die Ideen für
Rapskernoel.info und die RatioDrink AG.
Was war die Motivation hinter der Gründung von Rapskernoel.info?
Seriengründer sagen gerne: Die erste Gründung ist die schwierigste, die zweite geht etwas
einfacher und bei der dritten weiß man, wie es geht. Wenn die erste Gründung die schwierigste
ist, dann suche ich mir doch die strukturell einfachste Geschäftsidee. Der Lerneffekt ist so am
höchsten und das Risiko minimiert. Bei der zweiten Gründung kann man dann ein komple-
xeres Unternehmen gründen. Mit Rapskernoel.info wollte ich meine erste Gründung erfolgreich
umsetzen.
Die Kernüberlegung von Rapskernoel.info war: Man könnte doch Öl in Großpackungen
direkt vom Hersteller zum Endkunden bringen. Dann fallen sämtliche Kosten für den Zwischen-
handel weg. Und liefert man das beste Öl, muss der Endkunde zu keinen Alternativen greifen.
Uns reizte es, zu zeigen, dass diese Theorie auch in der Praxis funktioniert.
Eine weitere Motivation war, Erfahrung mit dem Gründen in Komponenten zu sammeln
(Anmerkung d. Redaktion: siehe Kopf schlägt Kapital von Günter Faltin für weiterführende
Informationen zum Gründen in Komponenten) Die Idee ist radikal: Ich nehme bestehende
Dienstleistungen und setze daraus meine Unternehmen zusammen.
Welches sind die wichtigsten Komponenten zum Betrieb von Rapskernoel.info?
Das sind der Öllieferant, der Abfüller, der Verpackungshersteller und der Websitebetreiber.
Zudem habe ich einen Buchhalter, der die Aufträge aus dem Online-Shop übernimmt. Er hat
auch Zugriff auf die Konten und sieht, ob die Zahlung eingetroffen ist. Entsprechend wird ein Lie-
ferschein ausgestellt oder ein Mahnverfahren angeschoben. Die Bags mit dem Rapskernöl stehen
in einer Lagerhalle. Sobald der Lieferschein kommt, wird die Ware an den Kunden verschickt.
Ihr Rapskernöl beziehen Sie von der Teutoburger Ölmühle – dem „Champagner unter den
Rapsölen“. Wie konnten Sie das Unternehmen als Lieferant gewinnen?
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222 RatioDrink AG und Rapskernoel.info

Die Teutoburger Ölmühle wurde 2000 gegründet. Sie ist eine Ausgründung aus der Uni
Essen und basiert auf einem neuartigen Verfahren zur Herstellung von Rapskernöl. Der Gründer
war neuen Ansätzen gegenüber wohl aufgeschlossen. Ich rief ihn an und sagte, ich sei ein Spinner
aus Berlin und er könne in fünf Minuten auflegen, aber vielleicht habe ich einen tollen Vorschlag
für ihn. Er meinte dann, „Ja, Spinner aus Berlin, aber lass uns da doch weiterreden.“ Wir verein-
barten einen Besuch und ich konnte ihn für die Idee gewinnen.
Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie bei Rapskernoel.info?
Keinen. Das Unternehmen funktioniert ausschließlich durch die Verkettung externer
Dienstleister.
Eine Motivation zur Gründung von Rapskernoel.info war es, Lerneffekte zu erzielen.
Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Ich lernte mit der Bag-in-Box-Verpackung umzugehen. Dieses Verpackungssystem entwi-
ckelte ich so weiter, dass es beim Postversand nicht kaputt geht. Zudem lernte ich die Kompo-
nenten einzusetzen. Die RatioDrink AG greift ebenfalls auf Komponenten zu.
Als Gründer holt man sich Ratschläge ein. Gab es Flop-Ratschläge?
Ich hatte an einem Businessplanwettbewerb teilgenommen. Als Kapitalbedarf gab ich 5.000
Euro an – deutlich mehr als notwendig. Die Rückmeldung war in Summe sehr positiv. Einzig von
Finanzierung hätte ich keine Ahnung. Für ein Vorhaben meiner Größenordnung bräuchte man
mindestens 100.000 Euro. Zudem legte der Juror – ein Herr der Berliner Volksbank – seine Karte
mit der Anmerkung dazu, dass ich mich gerne für einen Kredit mit ihm in Kontakt setzen könne.
An diesem Vorgang wird ein fragwürdiges Denkraster deutlich. Im Leitfaden zur Erstellung
von Businessplänen steht: „Machen Sie sich Gedanken über die Höhe des Kredits zur Unterneh-
mensgründung.“ Ob ein Kredit überhaupt nötig ist, stellt keiner infrage. Zudem denken viele, sie
bräuchten erst einmal ein Büro, ein dickes Auto und einen Chefsessel. Und zum Schluss stellen
sie sich die Frage, womit sie ihr Geld verdienen möchte.
Generell bin ich auch vorsichtig mit Gründungsberatern, die selbst keine Unternehmen
gegründet haben. Die erzählen häufig Bullshit. Beispielsweise raten sie gerne, einen Kurs in Buch-
haltung oder Steuern zu belegen. Ein solides Geschäftsmodell ist viel wichtiger. Gründer müssen
sich mit Gründern unterhalten. Da können Sie wahrscheinlich mehr lernen als von der IHK
Fachberatung Gründung. Wenn ein Berater einen tollen Tipp hat, warum setzt er ihn dann nicht
selbst um?
Wie entstand die Idee für die RatioDrink AG?
Es war einer dieser Abende im Jahr 2006, an dem ich mit Günter Faltin Geschäftsideen dis-
kutiert habe. Wir stellten fest, dass 90 Prozent der Säfte in Deutschland aus Fruchtsaftkonzen-
trat bestehen. Der Safthersteller nimmt Fruchtsaftkonzentrat, mischt es mit Wasser und verkauft
das als Fruchtsaft an die Kunden. Kurz gesagt: Fruchtsaftkonzentrat + Wasser = Saft. Nur, warum
kann ich kein Konzentrat pur kaufen? Man könnte doch Transportwege und vieles mehr weg-
lassen. Ich fing an, zu recherchieren, um eine realistische Einschätzung der Lage zu bekommen.
Was waren die wichtigsten Schritte von der ersten Idee zum marktreifen Produkt?
Zunächst wollte ich das Mischen selbst ausprobieren. Ich schrieb drei Keltereien an, um
an Konzentrat zu kommen. Keine antwortete. Beim nächsten Anlauf gab ich mich als Agent
eines Großkunden aus, der aktuell noch nicht genannt werden wollte, und einen Lieferanten
für 100  Tonnen Fruchtsaftkonzentrat sucht. Auf fünf Anfragen bekam ich ein Angebot. Das
Angebot beinhaltete eine genaue Spezifikation von Fruchtsaftkonzentrat. Erstmals hielt ich ein
Dokument in der Sprache der Keltereien in der Hand. Bei den nächsten Anfragen verwendete ich
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224 RatioDrink AG und Rapskernoel.info

dieses Spezifikationsdokument einfach als Vorlage. Endlich erhielt ich konkrete Angebote. Einem
Anbieter schrieb ich zurück: „Super Angebot! Aber mein Kunde möchte zunächst selbst die Qua-
lität prüfen. Können Sie mir bitte ein drei Kilogramm Muster schicken?“ So kam ich zu meinem
ersten Konzentrat und konnte das Mischen selbst ausprobieren.
In dieser Zeit war das Labor für Entrepreneurship aktiv – eine Lehrveranstaltung von Günter
Faltin. Wir probierten das Mischen von Konzentrat und Wasser als Pausenunterhaltung aus. Das
Feedback der 25 teilnehmenden Studenten zur Alltagstauglichkeit unseres Produkts war positiv.
Ich gab der Kelterei Rückmeldung: „Qualitätsprüfung bestanden.“ Bevor wir allerdings in Groß-
produktion gehen können, bräuchten wir noch einmal 150 Kilogramm, um zu testen, ob unsere
Maschinen mit dem Konzentrat umgehen können. Das ist übrigens der erste Zeitpunkt, an dem
wir Geld in die Hand nahmen. Nebenbei hatte ich eine Abfüllanlage gefunden, die in kleiner
Stückzahl das Konzentrat in die Bag-in-Box-Verpackung abfüllen konnte. Wir erstellten noch ein
paar schwarz-weiße Etiketten, druckten sie aus und brachten sie mit einem Klebestift auf. Dann
standen die ersten 50 Prototypen vor uns.
Als nächsten Schritt haben wir einen Markttest durchgeführt. Die Überlegung war, wenn ich
es schaffe, die Prototypen im näheren Umfeld zu einem marktüblichen Preis zu verkaufen, dann
besteht eine reelle Chance für eine flächendeckende Vermarktung. Ich kannte nun die ungefähren
Kostenpositionen und konnte damit einen realistischen Verkaufspreis bestimmen. Auf einer Ver-
anstaltung zum Labor für Entrepreneurship boten wir die Prototypen an und fanden zahlende
Kunden. Damit bauten wir unsere ersten Stammkunden auf. Und die Studenten erzählten ihren
Freunden und Bekannten von unserem Projekt. Produkt- und Marktentwicklung liefen parallel
– mit geringem Ressourceneinsatz.
Eine Umfrage halte ich für keinen verlässlichen Markttest. Da bekommt man kein ehrliches
Urteil. Die Studenten beantworten die Frage, ob sie das Produkt kaufen würden, nach Sympa-
thiewerten. Eine realistische Einschätzung ist das nicht.
Welches waren die wichtigsten Professionalisierungsschritte?
Neben farbigen Etiketten war es wichtig, einen sich-selbst-kontrollierenden Vertriebsprozess
zu etablieren. Zudem wollten wir qualitativ hochwertigeres Konzentrat anbieten und unser Sor-
timent um weitere Geschmacksrichtungen erweitern.
Im Vertriebsprozess verknüpfen Sie Dienstleistungen mehrerer Anbieter, ohne selbst dabei
aktiv zu werden. Wie funktioniert dieser sich-selbst-kontrollierende Prozess?
Die zentrale Frage ist: Wie können sich die Prozessstufen gegenseitig kontrollieren? An den
Schnittstellen zwischen den Prozessstufen muss der Empfänger der Ware die Einhaltung defi-
nierter Qualitätskriterien kontrollieren. Erst dann geht die Verantwortung der Ware auf ihn über.
Eine dritte Instanz prüft stichprobenartig die Einhaltung der Qualitätskriterien.
Die einzelnen Prozessschritte können jeweils zwei Lieferanten erbringen. Damit minimiere
ich das Risiko, dass einer seine Preise verdreifacht oder aus anderen Gründen die Leistung nicht
mehr erbringt. Durch die doppelte Auslegung wird der Prozess auch skalierbar. Sprich, wenn die
Nachfrage steigt, schalte ich einfach einen weiteren Lieferanten dazu. Damit lassen sich Flaschen-
hälse im Prozess vermeiden.
Dieser Automatismus funktioniert von „Kunde bestellt“ bis „Kunde erhält die Ware“. Alles
außerhalb dieser Aktivitäten ist meine Aufgabe. Ich beschäftige mich mit Fragen wie beispiels-
weise: Wo wollen wir in fünf Jahren stehen? Wie erhöhe ich den Bekanntheitsgrad? Welche neuen
Marketing-Aktionen sind sinnvoll?
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226 RatioDrink AG und Rapskernoel.info

Welche Überlegungen leiteten Sie beim Ausbau Ihres Produktsortiments?


Wir starteten mit Apfelsaftkonzentrat. Dann kam Apfel naturtrüb dazu. Wir überlegten, wei-
tere Geschmacksrichtungen anzubieten wie beispielsweise Himbeere, Johannisbeere oder Kirsche.
Diese Säfte sind als Konzentrate recht sauer. Handelsübliche Säfte verwenden meist Zucker als
Basis. Das wollten wir nicht, da wir ein Gegenentwurf zum Zuckerwasser von Coca-Cola sind.
Darum entwickelten wir eine Basis aus Apfel, die die Süße mitbringt, geschmacklich aber im
Hintergrund steht. Eine weitere Frucht – beispielsweise Johannisbeere – wird zugeführt und steht
geschmacklich im Vordergrund. Damit bauen wir schrittweise unser Sortiment aus.
Günter Faltin ist ihr Mentor und Mitgründer. Welches waren seine wichtigsten Ratschläge?
Hin und wieder komme ich in die Versuchung, ausgelagerte Aufgaben selbst betreiben zu
wollen. Mein Mentor stupste mich da wieder zurück. Er hilft mir erstens, meine Ziele klar zu for-
mulieren und zweiten, den Fokus auf die Ziele zu halten. Auch animiert er mich, hin und wieder
über den Tellerrand zu schauen. Das kann in der täglichen Arbeit untergehen. Die Gefahr ist, dass
ich anfange, im Unternehmen zu arbeiten, und die Arbeit am Unternehmen vernachlässige. In
diesen Bereichen gibt mir Günter Faltin Hilfestellung.
Familie und Freundeskreis sind für mich ebenfalls wichtige Ansprechpartner. Sie haben einen
Außenblick und können einem helfen, Dinge realistisch einzuordnen. Das ist wichtig, denn
irgendwann sieht alles aus wie Apfelsaftkonzentrat.
Wie finde ich den passenden Mentor?
Schwierig. Wer will schon Mentor sein? Es kostet viel Zeit und man muss sich Probleme
anhören, die einen nicht direkt betreffen …
… wie kann der Gründer den Mentor motivieren?
Mentoring gegen Beteiligung ist eine Möglichkeit. Die Schwierigkeit ist, den richtigen Modus
zu treffen. Allerdings glaube ich, dass im Frühstadium Beteiligungen zu locker abgegeben werden.
Beteiligung ist ein gutes Stichwort. Sie sind ohne Finanzierung gestartet. Haben Sie später
eine Finanzierung dazugenommen?
Nein. Sowohl das Raspkernoel.info als auch die RatioDrink AG sind aus dem eigenen Geld-
beutel finanziert. RatioDrink ist eine AG. Zur Gründung braucht es 50.000 Euro Kapital. Das
haben Günter Faltin und ich eingebracht und konnten so starten.
Bei der Gründung und dem Aufbau des Unternehmens fallen viele Aufgaben an. Wie haben
Sie die Arbeit zwischen den Gründern aufgeteilt und organisiert?
Bei der RatioDink AG bin ich Vorstandsvorsitzende und übernehme alle operativen Tätig-
keiten. Günter Faltin ist Vorsitzender des Aufsichtsrats und hat damit eine Kontrollfunktion
inne. Zudem ist er mein Ideen-Sparringspartner. Das ist sehr wertvoll, denn irgendwann wird es
schwierig, jemanden zu finden, mit dem man über die Probleme im Unternehmen vertrauens-
voll sprechen kann.
Die Rechtsform der RatioDrink AG verlangt mindestens einen Mitarbeiter. Mehr haben
wir auch nicht. Grundsätzlich halte ich das Einstellen von Mitarbeitern für ein zweischneidiges
Schwert. Gute Mitarbeiter bringen enorm viel. Aber man hat auch mittelmäßige Mitarbeiter. Und
Mitarbeiter, die doppelt so alt sind, wie man selbst. Hin und wieder muss man sie zurechtweisen
und gleichzeitig motivieren. Das sind unterschiedliche Rollen, die am Unternehmer hängen. Ein
Gründer muss aber nicht zwingend Mitarbeiter führen können. Von dieser Annahme muss man
Gründer befreien.
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228 RatioDrink AG und Rapskernoel.info

Wenn Mitarbeiterführung keine notwendige Qualifikation eines Gründers ist, welche Fä-
higkeiten muss er dann mitbringen?
Eine innovative Denkweise. Er muss erkennen, wie sich bestehende Lösungen, Dienstleis-
tungen und Denkmuster zu neuen Geschäftsansätzen kombinieren lassen. Und er muss die Fähig-
keit mitbringen, diese Einzelteile in der Realität zu einer funktionierenden Lösung zusammen-
setzen – Lösen statt labern. Ich hatte lange das Wort „Tun“ an meiner Pinnwand hängen, um den
Übergang in die Handlung zu priorisieren. Das ist eine spannende Zeit – wie bei der „Sendung
mit der Maus“. Beispielsweise schaut man sich die Rapskernöl-Produktion an.
Zudem muss ein Gründer an die eigene Idee glauben und hartnäckig dranbleiben, ande-
rerseits darf man auch nicht beratungsresistent und realitätsfern sein. Hier gilt es, die richtige
Balance zu finden. Und man muss aber auch den Mut haben, den Stecker zu ziehen, falls keine
Kunden kommen.
Eine weitere Voraussetzung ist auch die Erkenntnis, nicht in allen Aufgabenbereichen glänzen
zu können. Für diese Bereiche muss man sich professionelle Hilfe holen. Und zwar möglichst
keinen Berater, der dir beibringt, wie man tolle BWL macht, sondern jemanden, der selbst tolle
BWL macht. Mit anderen Worten, ich suche mir jemanden, der die Aufgabe übernimmt und ich
schaue nur noch, ob die Aufgabe auch erledigt ist.
Zudem muss man die richtigen Personen kennen …
… bedeutet das Netzwerk?
Ein stückweit ja. Wobei es fraglich ist, ob dort immer die richtigen Leute sitzen. Neulich
benötigte ich einen Anwalt. Der Anwalt aus dem Freundeskreis hat hier versagt. Der Anwalt aus
dem Freundeskreis hat totalen Mist gebaut. Dann kontaktierte ich einen Fachanwalt aus dem
Telefonbuch, und der hat einen sehr guten Job gemacht. Nur weil jemand aus dem eignen Netz-
werk und Freundeskreis stammt, ist er oder sie nicht automatisch die richtige Person für die Auf-
gabe. Das gilt wahrscheinlich auch, wenn man mit Freunden gründet.
Nach welchen Kriterien würden Sie Ihr Gründerteam zusammenstellen?
Einige gehen sicher davon aus: Im Team verteilt sich die Verantwortung auf mehrere Schul-
tern und deshalb ist es für alle leichter. Ich glaube, dies ist ein Trugschluss. Die Nachteile werden
übersehen. Beispielsweise muss ich mich im Team ständig abstimmen. Auch reagieren Personen
unter Druck häufig anders, als man das gewohnt war. Im Team sehe ich sowohl Nach- als auch
Vorteile. Ich würde mir eher Spezialisten für einzelne Aufgaben suchen. Aber warum müssen es
gleich Mitgründer sein?
Ihre beiden Gründungen sind erfolgreich. Was sind die Erfolgsfaktoren der RatioDrink
AG? Warum hat es funktioniert?
Das Erfolgsgeheimnis liegt in der Struktur der Idee. Nahezu alle Kostenpositionen sind vari-
abel. Damit entstehen nur echte Kosten, wenn ein echter Kunde einen echten Preis bezahlt.
Der Preis ist so kalkuliert, dass jedes verkaufte Produkt profitabel ist. Damit bin ich mit jedem
verkauften Produkt erfolgreich. Falls ich keine Kunden finde, fallen auch keine Kosten an. Ich
muss beispielsweise keine großen Maschinen abschreiben. Damit geht mein Insolvenzrisiko gegen
Null. In die Verlustzone könnte ich höchstens durch einen schleichenden Aufbau von Fixkosten
geraten. Mit dieser Struktur kann das Ergebnis also nur neutral oder positiv sein. Nicht aber
negativ.
Die Struktur der Idee macht auch den Businessplan hinfällig, da ich keinen Break-Even
berechnen muss. Mit meinem Modell bin ich von Anfang an Break-Even. Woran messe ich jetzt
den Erfolg? Die Bekanntheit und generelles Feedback sprechen für einen echten Nutzen. Die
Bestandskunden bestellen wieder und Neukunden kommen ständig hinzu. Damit ist das System
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230 RatioDrink AG und Rapskernoel.info

stabil. Es entsteht ein echter Unternehmenswert, das heißt, ich könnte die RatioDrink AG ver-
kaufen. Ein netter Nebeneffekt: Ich kann komplett davon leben.
Wo liegen die Unterschiede zwischen dem Job als Gründer und einer Anstellung bei einem
etablierten Unternehmen? Was sollte man berücksichtigen, wenn man einen Job bei einem
etablierten Unternehmen hat, aber mit dem Gedanken spielt, zu gründen?
Wenn man als Angestellter projektbezogen arbeitet, geht das schon in die Richtung der Auf-
gaben, die man als Unternehmer hat. Ich würde empfehlen, nicht den harten Schnitt zu machen
und heute den gutbezahlten Job beim etablierten Unternehmen zu kündigen, um ab morgen nur
noch am Startup zu arbeiten. Dadurch bringt man sich möglicherweise ohne Zwang in eine Situ-
ation, die nicht notwendig gewesen wäre. Eine Alternative ist es, einen Grundjob als Einnahme-
quelle für die eigenen Lebenshaltungskosten zu suchen. Mit der freien Kapazität kann man die
Gründung vorantreiben. Sobald das Startup genügend Geld abwirft, kann man den Grundjob an
den Nagel hängen.
Von den Aufgaben her ist man natürlich sehr frei. Ich entscheide mich, ob ich arbeite oder
doch lieber segeln gehe. Aber es gibt auch Momente, in denen man sich selbst in den Hintern
treten muss. Schließlich sagt keiner: Auf jetzt – mach das mal!
Wie motivieren Sie sich in diesen Augenblicken?
Da hilft mir der berühmte Tipp von Beppo dem Straßenkehrer aus „Momo“: „Statt das Ende
der langen Straße zu beachten, immer nur das nächste Stück zu sehen.“ Step by Step.
Einer meiner Lieferanten beeindruckt mich da immer wieder. Er stammt aus einer alten Gene-
ration, Internet ist nicht sein Ding. Wenn er ein Problem lösen muss, ruft er Personen aus seinem
Netzwerk an und gelangt über diesen Diskurs zur Lösung. Ich denke, entscheidend ist nicht nur,
im stillen Kämmerlein das Problem zu wälzen, sondern mit anderen darüber zu sprechen. Ide-
alerweise entsteht durch die Lösung eine echte Win-win-Situation für alle an der Lösungsfin-
dung Beteiligten. Dann freuen sich die Beteiligten auch, beim der nächsten Gelegenheit wieder
gemeinsam Probleme zu lösen.
Herr Kugel, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Literaturtipps von Rafael Kugel

Faltin, Günter (2012), Kopf schlägt Kapital; Deutscher Taschenbuch Verlag


Kawasaki, Guy (2004); The Art of the Start: The Time-Tested, Battle-Hardened Guide for Anyone
Starting Anything; Portfolio Hardcover
Gratzon, Fred (2003); The Lazy Way to Success: How to Do Nothing and Accomplish Everything,
Soma Press
Suter, Martin (2002); Business Class: Geschichten aus der Welt des Managements; Diogenes Verlag
simpleshow
Jens Schmelzle
16

Gründerteam: Jens Schmelzle, Adrian Thoma, und Kai Blisch (von links)

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_16,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
232 simpleshow

Die Erklär-Experten
Bei Stuttgart denken viele bis dato nur an Porsche, Daimler und Bosch. Es sind die etablierten
Platzhirsche, die vor Jahrzehnten gegründet worden sind. Jens Schmelzle, Adrian Thoma und
Kai Blisch, die Macher der simpleshow, gehören zu der neuen Generation, die daran arbeitet, die
Gründertradition der Schwabenmetropole wiederzubeleben.
Sie starteten mit einem Plattenlabel und angeschlossener Medienagentur. Ob Homepage,
Imagefilm oder TV-Spot – für neue Aufträge erarbeiteten sie stets neue Konzepte. So auch für den
Auftrag: Erklärvideo. Was dann geschah, überraschte das kreative Trio: Weitere Kunden wollten
ebenfalls dreiminütige Erklärvideos. Individueller Sprecher, Zeichenstil und Musik waren nicht
entscheidend. Viel wichtiger war den neuen Kunden die Lösung ihres Erklärproblems. Das war
die Geburtsstunde der simpleshow.
Die Gründer beschlossen, das Erklärvideoformat als Standardprodukt von der Stange zu defi-
nieren, zu einem Pauschalpreis anzubieten und dazu eine Marke aufzubauen. Innerhalb von nur
wenigen Monaten generierte das Team mit seinem Angebot siebenstellige Umsätze und konnte
dabei den Aufbau seines Unternehmens aus dem eigenen Cashflow finanzieren.
Zielstrebig entwickelten Sie die Kompetenz zur Lösung von Erklärproblemen, bauten ein
schlagkräftiges Team auf und führten standardisierte Prozesse ein. Damit schufen sie die Basis
für den nächsten Entwicklungsschritt: die internationale Skalierung. Dafür etablierten sie Struk-
turen, um standardisiert neue Erklärvideo-Startups in anderen Ländern zu gründen. Mit Erfolg:
Mittlerweile sind sie auf drei Kontinenten zu Hause und haben Standorte unter anderem in
Berlin, London, Miami, Tokio, Hongkong oder Singapur.

Wie ist die Idee für die simpleshow entstanden?


Wir hatten nie den Plan, ein globales Unternehmen für Erklärvideos aufzubauen. Es kam, wie
so vieles im Leben, durch Zufall.
Ich habe an der Hochschule der Medien in Stuttgart studiert und dort den Abschluss als
Diplom-Ingenieur für Audiovisuelle Medien gemacht – bin also kein Kaufmann. Während des
Studiums habe ich zwei Kommilitonen kennengelernt – Adrian Thoma und Kai Blisch. Adrian
und ich haben gemeinsam in einer Band gespielt und hatten den Plan, Musiker zu werden und
gemeinsam ein Plattenlabel zu gründen. Dann trafen wir irgendwann zufällig Christoph Bertsch,
einen jungen Stuttgarter Unternehmer. Er hatte schon einige Firmen gegründet und pushte uns:
„Ein Plattenlabel?! Macht das!“ Allerdings wussten wir nicht so richtig, wie wir anfangen sollten,
und schon gar nicht, wie das Ganze finanziert werden sollte. Christoph meinte, alles was wir
bräuchten, sei ein bisschen Startkapital, und das könnten wir uns doch schnell selbst verdienen.
Er hat uns ein weißes Blatt Papier hingelegt und uns aufgefordert, aufzuschreiben, mit welchen
Jens Schmelzle 233

unserer Fähigkeiten wir Geld verdienen könnten. Es war eines der wichtigsten Aha-Erlebnisse
meines Lebens. Zum ersten Mal dachte ich: Ich muss nicht mehr als Teilzeitkraft beim SWR
arbeiten, um als Musiker über die Runden zu kommen. Ich kann selbst etwas machen. In diesem
Moment ist wirklich ein Knoten geplatzt.
Über Nacht habe ich mit Adrian dann ein Modell entworfen: Wir gründen das Unternehmen
MARIA. Es hat zwei Bereiche: Plattenlabel und Medienagentur. Mit der Medienagentur ver-
dienen wir Geld und subventionieren damit das Plattenlabel. Wir nehmen also das Geld der
Unternehmen dieser Welt und stecken es in die Musik, ein bisschen im Robin-Hood-Stil. Zu
diesem Zeitpunkt hatte unsere Idee noch nichts mit Erklärvideo, Startup oder gar internationalen
Wachstumsplänen zu tun.
Mit der Medienagentur haben wir im Prinzip alles gemacht. Fragte ein Kunde, ob wir ihm
eine Homepage bauen, haben wir gesagt: „Ja, klar!“ Und zur Not haben wir in unserem Netz-
werk die richtigen Leute zusammengezogen, um Anfragen umzusetzen. Heute würde ich sagen,
unsere Agentur war eine klassische Ente: Die kann ja irgendwie laufen, schwimmen und fliegen,
aber nichts davon kann sie richtig.
Und wie hat sich daraus die simpleshow entwickelt?
Die Anfänge waren dem Zufall geschuldet. Nach einigen Monaten kam ein Unternehmen
zu uns, das eine Media-Asset-Management-Software herstellt. Media-Asset-Management? Keiner
weiß, was das ist. Und genau dieses Problem hatte das Unternehmen beim Kunden. Das Team
hatte hervorragende Entwickler, aber wenig talentierte Erklärer. Ihre Anfrage an uns lautete, ob
wir ihren Kunden in drei Minuten erklären könnten, welchen Nutzen ihre Software hat. Unsere
Antwort war: „Ja, klar!“ Wir hatten zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keine Ahnung, wie wir
das anstellen sollten.
Wir haben dann hin und her überlegt. Die Optionen der üblichen Broschüren und Power-
point-Folien haben uns nicht überzeugt. Unser Gedanke war: Es muss doch einen Weg geben,
das Produkt ohne technische Möglichkeiten bei einem Gespräch in einer Bar auf einer Serviette
erklären zu können. Auf diesem Weg sind wir auf das Papierthema gekommen.
Wir haben dann eine Freundin gefragt, ob sie uns ein paar Zeichnungen machen könne.
Diese haben wir ausgeschnitten, sind 250 Kilometer zu einem ehemaligen Kommilitonen nach
München gefahren, der eine Kamera und Scheinwerfer hatte, und haben in seinem Studenten-
zimmer den ersten Papierclip gedreht. Danach haben wir auf dem Balkon gegrillt, sind wieder
heimgefahren, haben den Film vertont und fertig abgeliefert.
Damit war das Projekt Papierclip für uns zunächst erledigt. Wir waren ja eine klassische
Medienagentur, das heißt: Jede neue Anfrage bekommt auch eine neue Idee. Doch dann pas-
sierte etwas Unerwartetes: Nach zwei Wochen rief der Kunde an. Er war super glücklich mit dem
Clip. Ein Geschäftspartner hatte den Film gesehen und wollte auch einen haben. Der Stil dürfe
derselbe sein, wichtig sei nur, dass er sein Produkt erklären müsse. Wir sagten wieder schulterzu-
ckend: „Ja, klar!“ Riefen wieder die Freundin an, fuhren nach München, drehten, grillten und lie-
ferten Papierclip Nummer zwei ab.
Von diesem Zeitpunkt an wurde das Format zum Selbstläufer. Christoph meinte damals
sofort, dass es ein großes Ding werde und gab uns schließlich einen Vorschuss für die erste eigene
Kamera. Eine tolle Unterstützung, denn für uns war das damals eine Riesen-Investition.
Wie ging es dann weiter?
In den nächsten Wochen und Monaten kristallisierten sich zwei Dinge heraus: Es gibt einen
großen Bedarf an einfachen Erklärungen per Videoclip und das für die unterschiedlichsten
234 simpleshow

Themen und Branchen. Und: Wir als Kreative waren immer davon ausgegangen, dass wir viel-
fältige Sprecher, Illustrationsstile und Musiken zur Auswahl stellen müssen. Das Gegenteil war
der Fall. Am Anfang haben wir drei Sprecher zur Auswahl vorgestellt. Passiert ist dann immer
das Gleiche: Der Kunde war sich unsicher, wollte unseren Rat und am Ende haben wir immer
den ersten Sprecher genommen. Auswahlmöglichkeiten wurden von den Kunden gar nicht
gewünscht. Sie haben das ganze Projekt stattdessen unnötig verkompliziert. Also haben wir über-
legt und sind zu einem einfachen Schluss gekommen: das Erklärvideoformat als Standardprodukt
von der Stange zu definieren, zu einem Pauschalpreis anzubieten und dazu eine Marke aufzu-
bauen. Das war ein völlig neuer Ansatz – und die Geburtsstunde der Simpleshow.
Was waren die ersten Schritte beim Aufbau von simpleshow?
Zunächst haben wir das Geschäftsmodell hinter den Erklärvideos gestaltet. Die Produktion
der Legetrickfilme ist gar nicht das Entscheidende, sondern es kommt darauf an, das jeweilige
Erklärproblem richtig zu erfassen und zu lösen. Außerdem steckt in einem Pauschalpreis ein
Risiko für eine Agentur. Schließlich hast du ein Produkt, das individuell für den Kunden erstellt
werden muss. Die nötige Arbeitszeit lässt sich oft nur schwer abschätzen – und jede Korrek-
turschleife kostet uns Geld und den Kunden Zeit. Um das in den Griff zu bekommen, haben
wir standardisierte und skalierbare Prozesse geschaffen. Bereits nach dem vierten, fünften Film
haben wir festgestellt, dass wir Scribbles wie Sprechblasen oder Ausrufezeichen wieder verwenden
können. Über die Zeit konnten wir ein Scribble-Archiv aufbauen, was natürlich zu einer Zeiter-
sparnis führt.
Auf diese Art und Weise haben wir versucht, Abläufe und Strukturen zu schaffen. Wir wollten
zwar die Individualität jedes Erklärproblems abbilden, aber gleichzeitig die Voraussetzungen
schaffen, eben nicht nur fünf Filme im Monat zu machen, sondern mehrere hundert, wie es heut-
zutage auch der Fall ist. Mit einer klassischen Medienagentur hat diese Form des Arbeitens nur
noch wenig gemeinsam.
Was war die erste große Herausforderung?
In kurzer Zeit stapelten sich die Anfragen auf unserem Tisch. Unser Team, die drei Gründer
und eine Handvoll Mitarbeiter, kamen einfach nicht mehr hinterher. Damit standen wir vor dem
ersten Wachstumsproblem. Wenn ich neue Mitarbeiter einstelle, muss ich ihnen erst einmal die
simpleshow-Methodik beibringen, die wir uns ja selbst beigebracht und entwickelt hatten. Nur,
worin besteht eigentlich diese Methodik? Wie bringe ich sie zu Papier? Das war die erste große
Herausforderung.
Wir haben dann eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung gegründet – die simpleshow
academy. Sie hatte zwei Aufgabenbereiche. Erstens: In Zusammenarbeit mit Universitäten sollte
in der academy unser Format erforscht werden. Kernfragen: Was passiert im Gehirn, wenn
man einen Film sieht? Was ist das richtige Tempo, was die richtige Länge? Wie müssen Sym-
bole gestaltet sein? Dazu haben wir Eye-Tracking-Tests und Nutzerbefragungen durchgeführt.
Außerdem haben wir ein internes Ausbildungsprogramm für Konzepter, also unsere Filmautoren,
gestartet. Dies war nötig, da wir sehr schnell festgestellt haben, dass nicht jeder Erklärprobleme
schnell erfassen und erfolgreich lösen kann. Auf diese Weise wollten wir früh filtern. Inzwischen
ist daraus ein Rekrutierungsprogramm geworden. Der angehende Konzepter wird über mehrere
Monate evaluiert und muss mehrere Tests absolvieren. Auf den ersten Blick sieht das vielleicht
etwas übertrieben aus, aber es ist notwendig, wenn du bei einem schnellen Wachstum höchste
Qualität beibehalten willst. Es ist nach wie vor einer der aufwendigsten und wichtigsten Prozesse
im Unternehmen.
Jens Schmelzle 235
236 simpleshow

Wie findet ihr eure Mitarbeiter?


Zunächst lief alles über unser persönliches Netzwerk und unsere Website. Dann fingen wir
an, auch über Internetplattformen und -portale wie Xing und Stepstone zu suchen. Bei Stellen,
die wir regelmäßig besetzen, haben wir heute allerdings nicht mehr das Problem, dass wir zu
wenige Bewerbungen haben. Es geht vielmehr darum, aus den Bewerbungen die Richtigen
herauszupicken.
Wie habt ihr den Aufbau der simpleshow finanziert?
Ein Funding hatten wir nicht. Wir sind von Tag eins an aus dem eigenen Cashflow gewachsen
und konnten Umsatz und Mitarbeiterzahl jedes Jahr verdoppeln. Es ging alles ziemlich schnell.
Was wir bei der Entwicklung nicht vorhergesehen hatten, war, dass sich in einer solchen Wachs-
tumsphase auch die Strukturen sehr verändern müssen. Eine große Firma ist keine große Ausgabe
einer kleinen Firma. Das weiß ich heute. Damals dachte ich: flache Hierarchien, jeder kann mit-
bestimmen und am Nachmittag wird zusammen gegrillt. Anfangs lief es genau so. Und es funk-
tionierte prima mit fünf Mitarbeitern. Mit 50 Mitarbeitern funktioniert es allerdings nicht mehr.
Jede Wachstumsphase benötigt unterschiedliche Strukturen. Und die Mitarbeiter und Führungs-
kräfte benötigen unterschiedliche Skill-Sets.
Welche Skill-Sets braucht man in der frühen Phase?
Am Anfang war es sehr wichtig, dass jeder von uns alles konnte. Das heißt: Ich bin zu einem
Kunden gefahren und habe die simpleshow vorgestellt, den Kunden beraten und das Angebot
geschrieben. Sobald der Auftrag eingegangen war, habe ich das Projektmanagement über-
nommen, den Film konzipiert, mit daran gebastelt und die Vertonung gemacht. Am Ende habe
ich den Film ausgeliefert und dann auch noch die Rechnung selbst geschrieben. Und das hat jeder
von uns so gemacht. Diese Flexibilität war sicherlich die wichtigste Fähigkeit im Gründerteam
und der Mitarbeiter der ersten Stunde.
Heute sieht das anders aus. Die simpleshow mit 120 Mitarbeitern braucht Spezialisten für
die einzelnen Produktionsschritte statt flexible Generalisten. Ein Cutter muss kein Konzept mehr
schreiben. Natürlich muss jeder über seinen Tellerrand schauen und den gesamten Produkti-
onsablauf verstehen, aber wichtiger ist, dass die Spezialisten auf ihrem Gebiet einen guten Job
machen.
Pro Film sind bei uns heute über zehn Spezialisten im Einsatz. Da muss man natürlich sicher-
stellen, dass die Schnittstellen funktionieren. Es sind Strukturen erforderlich, die den Informati-
onsfluss zwischen den Spezialisten sicherstellen. Anfangs war das überhaupt nicht wichtig – im
Zweifelsfall hat man einfach über den Schreibtisch hinweg gefragt.
Eine Schwelle erreichte die Organisation, als wir die 50-Mitarbeiter-Marke überschritten
haben. In diesem Moment funktionierten viele Prozesse nicht mehr reibungslos. Bis dahin waren
wir ohne Marketing, ohne Vertrieb, ohne richtige Kundenverwaltung und nur mit einer Halb-
tags-Buchhaltungskraft unterwegs. Das war sehr kosteneffizient und wir konnten dennoch einen
siebenstelligen Umsatz erzielen. Aber unsere Wachstumsfähigkeit stieß an Grenzen. Alle wich-
tigen Entscheidungen liefen über das Gründerteam. Wir waren total überlastet. Bildlich gespro-
chen: Wir waren zu diesem Zeitpunkt „mit 200 Sachen in einem Kettcar auf der Rennstrecke
unterwegs“, doch unser Fahrzeug war dafür einfach nicht ausgelegt. Also haben wir einen radi-
kalen Schritt gemacht. Wir wussten: Wir müssen mit dem Kettcar jetzt in die Box fahren – und
einen richtigen Rennwagen daraus bauen. 
Was habt ohr verändert?
Gerade beim Stichwort Finanzen sind wir Gründer an unsere Grenzen gestoßen. Wir sind eben
keine ausgebildeten Kaufleute. Natürlich hatten wir im Studium ein Semester BWL-Grundlagen
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238 simpleshow

belegt. Aber eigentlich war das nicht unser Thema. Auch wenn wir mehrere Tage in der Woche in
Themen wie Cash-Planung oder Bilanzanalyse investierten, waren wir uns immer unsicher, ob wir
auch an alles gedacht hatten. Keine Frage: Ein Fachmann kann das schneller und besser.
Außerdem überlegten wir, ob man die Firma nicht viel besser voranbringen könnte, wenn
sich jeder auf die Gebiete konzentriert, die er sehr gut kann. Auch bei Gesprächen mit unserem
Gesellschafter Christoph Bertsch wurde deutlich, dass die Expertise eines Fachmanns nötig ist,
um das weitere Wachstum zu steuern. Damit war die Entscheidung, einen erfahrenen Finanzge-
schäftsführer einzustellen, gefallen.
Wir haben dann eine Vertriebsmannschaft samt Außendienst aufgebaut, daneben eine Mar-
ketingabteilung und eine Buchhaltung mit mehreren Mitarbeitern. Durch diese Schritte wollten
wir die Basis für eine skalierbare Firma legen.
Welche konkreten Probleme sind an der 50-Mitarbeiter-Schwelle noch aufgetreten und wie
habt ihr sie gelöst?
Es gab nicht den einen großen Knall, vielmehr war es eine Reihe an Problemen, die wir
angehen mussten. Zum Beispiel das Thema Umsatz-Forecast. Im letzten Monat des Jahres haben
wir wahnsinnig viele Rechnungen geschrieben, weil am Ende des Jahres einfach so viele Projekte
fertiggestellt wurden. Wir hatten zuvor den Überblick beim Forecast ein wenig verloren. Ein
hoher Umsatz ist zwar grundsätzlich schön, aber wir hätten das besser vorhersehen müssen, um
noch Investitionen zu tätigen. Heute haben wir ein deutlich transparenteres Forecast-System und
wissen genau, wie viele Projekte sich in welchem Stadium befinden und wann sie voraussichtlich
abgerechnet werden können.
Auch das Stichwort Cashflow war ein großes Thema. Plötzlich stellst du fest, dass dein Unter-
nehmen, dem es auf dem Papier gut geht, sehr schnell Liquiditätsprobleme bekommen kann.
Besonders dann, wenn du für große Kunden arbeitest. Sie fordern 60 oder 90 Tage Zahlungsziel
für Rechnungen. Also haben wir Anzahlungen eingeführt.
Einmal haben wir uns ziemlich auf die Nase gelegt, weil wir im August zu viele Mitarbeiter
gleichzeitig in den Urlaub gelassen haben und plötzlich unerwartet viele Anfragen bekamen. Bis
dato hatte die Urlaubsplanung bei uns auf Zuruf funktioniert. In einer Situation, in der du 24
Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeitest, mit den Kundenprojekten kaum hinterher-
kommst, und jeder jedem vertraut, machst du dir wenig Gedanken zum Thema Urlaubsplanung.
Die Konsequenz war, dass wir dann doch ein wenig Bürokratie aufbauen mussten und beispiels-
weise Urlaubsanträge eingeführt haben. Leider. Aber es ging nicht mehr anders.
Was waren weitere nötige Schritte in der Professionalisierung?
Wir wollten weiter wachsen. Doch damit das klappte, mussten wir sehr gut prognostizieren,
wie viele Filme wir verkaufen werden und wie viele Mitarbeiter wir dazu benötigen. Wenn die
Vertriebsprognose zu hoch ist und du zu viel Personal einstellst, bekommst du ein Problem mit
den Personalkosten. Wir haben uns dadurch geholfen, dass wir einen zertifizierten Freelancer-
Pool aufgebaut haben. So konnten wir je nach Auftragslage flexibel reagieren. Es war zwar etwas
teurer, aber es hat uns Sicherheit gegeben.
Auch unsere Prozesse mussten weiter verbessert werden. Wir hatten eine Wachstumsrate von
100 Prozent pro Jahr. Dabei hat sich die Faustregel bewährt: Funktioniert der Prozess auch noch,
wenn wir doppelt so viele Filme machen? Hilfreich ist es auch, sich zu überlegen, wie man den
Prozess und das Team auf der grünen Wiese aufbauen würde, um möglichst effizient die dop-
pelte Anzahl Filme zu erstellen – unabhängig von den bisherigen Abläufen. Und: Sobald du einen
neuen Prozess darstellst, an dem von nun an mehrere Personen arbeiten, taucht natürlich die
Frage nach der Abstimmung zwischen den Beteiligten auf. Beispielsweise muss die Buchhaltung
Jens Schmelzle 239

wissen, welche Leistungen im Erstellungsprozess erbracht wurden, um die Rechnung zu sch-


reiben. Irgendwann sind IT-Systeme dann unausweichlich.
Allein das Wort IT-Systeme klingt für ein Startup natürlich ziemlich unsexy. Aber sobald die
Prozesse über IT-Systeme liefen, hatten wir Daten und konnten unser Unternehmen besser ver-
stehen. Wir konnten Projektdurchlaufzeiten messen, analysieren, wie viel Umsatz unsere Kunden
machen, wie sie sich entwickeln, und wo wir stärker reingehen müssen. Und eines kann ich sagen:
Gerade an diesem Punkt trügt manchmal das Bauchgefühl. Durch die Analysen haben wir unsere
Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, verbessert. Wobei man natürlich auch immer aufpassen
muss, Daten nicht falsch zu interpretieren. Optimal ist deshalb aus meiner Sicht eine gute Kom-
bination aus Daten und Intuition.
Auch in der Organisation hat sich einiges getan. Wir haben alle Unternehmensbereiche neu
aufgestellt und eine zweite Führungsebene eingeführt. Dadurch gab es plötzlich klare Hierar-
chien. Für unsere Mitarbeiter war das eine Umstellung. Sie konnten die Alltagsthemen nicht
mehr mit den Gründern besprechen, sondern hatten nun einen Teamleiter dafür. Da ging ein
Stöhnen durch das Team. Wir haben gelernt, wie wichtig es ist, Entscheidungen zu erklären. Es
gab Antworten auf die Fragen, warum wir diese Entscheidung getroffen haben, und dass wir einer
Strategie folgen. Und man muss ja auch sagen: Mitarbeiter möchten sich schließlich auch entwi-
ckeln und mehr Verantwortung übernehmen. Aber das geht eben nur, wenn ein Unternehmen
wächst. Letztlich braucht Veränderung schlicht Zeit. Vieles spielt sich irgendwann ein.
Ihr habt dann einen Standort in Berlin eröffnet. Wie kam es dazu?
Wir betreiben ein beratungsintensives Geschäft und wollten näher bei unseren Kunden sein.
Nicht alles lässt sich per Telefon abwickeln. Deswegen war klar, dass wir einen weiteren Standort
in Deutschland brauchen. Als wir uns unsere Kundenstruktur angeschaut haben, wurde deutlich,
dass nur die Ballungszentren infrage kommen. Es konzentrierte sich schnell auf Nordrhein-West-
falen, Hamburg, München und Berlin. Nordrhein-Westfalen und München können wir gut von
Stuttgart aus anfahren, blieben also noch Hamburg oder Berlin. Letztendlich gab es dann zwei
Argumente, die den Ausschlag für Berlin gaben: Das Rekrutieren von kreativen, internationalen
Mitarbeitern ist in Berlin leichter, und unser Finanzgeschäftsführer hatte seinen Wohnsitz eben-
falls dort. Damit war die Standortwahl entschieden.
Die Entscheidung hat allerdings wieder neue Fragen und Probleme aufgeworfen: Baust du
ein Team an einem oder an zwei Standorten auf? Wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen
zwei Standorten?
Wie habt ihr diese Fragen für euch beantwortet?
Wir haben uns dafür entschieden, in Berlin ebenfalls Vertriebspersonal, Projektmanager und
Konzepter zu etablieren, die Marketingabteilung sitzt ausschließlich in Berlin. Die Storyboards
sollten aber weiterhin ausschließlich in Stuttgart produziert werden. Also mussten wir die Über-
gabe eines Storyboards von Berlin nach Stuttgart definieren.
Damals hatten wir auch schon im Hinterkopf, international wachsen zu wollen. Und es war
klar, dass wir nicht in jedem Land ab dem ersten Tag ein eigenes Studio haben werden. Der Plan
war, in jeder Region und in jeder Zeitzone möglichst zentral ein Studio anzusiedeln. Dies würde
es uns erlauben, schlank in neue Märkte vorzustoßen – mit lokalem Vertrieb, Projektmanage-
ment, Konzeption und zentraler Produktion. Deshalb mussten wir die Prozesse für das Zusam-
menspiel ohnehin entwerfen und testen.
240 simpleshow

Als wir das Londoner Büro eröffnet haben, wussten wir schon, wie wir es aufsetzen müssen.
Die Londoner Storyboards werden ebenfalls in Stuttgart produziert. Von den Prozessen gibt es
zwischen den Büros in London und Berlin kaum einen Unterschied. Abgesehen von der Sprache
ist alles identisch. Das hat unsere Expansion enorm erleichtert. Allerdings stießen wir auch auf
das Problem, dass Mitarbeiter nicht mitbekommen, was gerade in Berlin, Stuttgart oder anderswo
läuft, weil vieles per E-Mail kommuniziert wird. Wir haben daraufhin die interne E-Mail abge-
schafft und durch ein firmeninternes soziales Netzwerk ersetzt. Anfangs war das eine große Umstel-
lung, heute ist es nicht mehr wegzudenken. Alles wird transparent. Natürlich haben unsere Mitar-
beiter eine gewisse Holpflicht. Jeder muss in die Nachrichten seiner Gruppen hineinschauen und
relevante News abonnieren. Aber das klappt sehr gut. Diese Form der internen Kommunikation
hat die Zusammenarbeit von Teams deutlich verbessert.
Wir haben im Laufe der Zeit wirklich gelernt, wie wichtig es ist, früh die richtigen Entschei-
dungen zu treffen, um sich für die Zukunft aufzustellen, auch wenn die Schritte aktuell überdi-
mensioniert erscheinen mögen. Unser Scribble-Archiv ist so ein Beispiel. Anfangs war es einfach
nur ein Ordner, der auf unserem zentralen Fileserver lag. Relativ früh haben wir dann ein System
eingeführt, um Scribbles in der Cloud abzulegen, zu verschlagworten und zu durchsuchen. Heute
ist es eines der Kernsysteme unserer Internationalisierung. Illustratoren arbeiten damit von Japan
bis in die USA.
Wie kam es zur Internationalisierung?
Auch da kamen wieder mehrere Faktoren zusammen. Erklärvideos waren ein wahnsinniges
Trendthema. Davon haben wir natürlich unheimlich profitiert und wir haben gesehen, dass wir
auch im weltweiten Wettbewerb ziemlich gut dastehen. Außerdem hat der Boom extrem viele
Nachahmer in Deutschland hervorgebracht. Jede Woche taucht ein neuer Wettbewerber auf.
Grundsätzlich habe ich kein Problem mit Wettbewerb. Jeder hat das Recht, so etwas zu machen.
Aber zum Teil wurden wir lediglich dreist kopiert. Es werden wirklich manchmal Grenzen
überschritten.
Hast du dafür ein Beispiel?
Einmal hat ein Wettbewerber ein Fake-Projekt mit uns gemacht. Zwei Monate später hat
er denselben Service angeboten wie wir, dabei fanden wir unsere Unterlagen und Prozesse, nur
minimal verändert, auf dessen Webseite wieder. In einigen Templates hatte er sogar vergessen,
unseren Firmennamen auszutauschen – ein Armutszeugnis. Die Eintrittsbarrieren sind natür-
lich relativ gering, weil die Videoproduktion so einfach erscheint. Dass der Kern unserer Dienst-
leistung nicht in dem Format, sondern in der Lösung des Erklärproblems liegt, müssen wir den
meisten Kunden erst erläutern.
Aber zurück zu den Gründen für die Internationalisierung: Wir hatten schon vor ein paar
Jahren in 50 Sprachen gearbeitet, unsere Filme wurden beispielsweise bereits in Japan, Skandi-
navien und Afrika eingesetzt. Dadurch haben wir gesehen, dass das Format weltweit funktio-
niert. Langsam entwickelten sich in den USA und Indonesien dann auch Startups für Erklärvi-
deos. Wir kamen zu dem Schluss, dass wir durch unsere standardisierten Prozesse einen Vorteil
gegenüber den entstehenden Wettbewerbern hatten und uns als erster Global Player positionieren
könnten. Darum beschlossen wir, schnell zu internationalisieren. Um diese Internationalisierung
aus eigener Kraft stemmen zu können, hätten wir bestimmt 20 Jahre gebraucht. Also hielten wir
nach möglichen Partnern Ausschau und haben Investoren an Bord geholt.
Jens Schmelzle 241
242 simpleshow

Neben Investoren gibt es beispielsweise noch Banken als Finanzierungsmöglichkeit. Warum


habt ihr euch für Investoren entschieden?
Der Hauptgrund war, dass wir nicht nur Kapital, sondern auch Know-how im Team haben
wollten. Zum Beispiel ein Management, das bereits Erfahrung bei der Internationalisierung einer
Marke hat. Außerdem sollten die handelnden Akteure mit im Risiko sein. All diese Komponenten
haben wir im aktuellen Setup gefunden.
Wie seid ihr bei der Investorensuche vorgegangen?
Wir haben die Netzwerke aller Gesellschafter genutzt, und die Suche hat einige Monate
gedauert. Neben dem formalen Due-Diligence-Prozess war das persönliche Kennenlernen sehr
wichtig. Als die Firma durchleuchtet wurde, haben sich die Investoren Zeit genommen. Sie haben
uns regelmäßig vor Ort besucht und uns zunächst lange zugehört, anstatt gleich Tipps zu geben.
Auf persönlicher Ebene hat es von beiden Seiten sehr gut gepasst. Letztendlich waren es einige
glückliche Zufälle, bis wir bei der finalen Konstellation mit mehreren Investoren aus Asien und
Luxemburg gelandet sind.
2013 haben wir dann eine internationale Holding als neue Zentrale in Luxemburg angesie-
delt. Dazu gibt es Subholdings für den amerikanischen Kontinent, für Europa und für Japan –
und kleinere Ländergesellschaften. Außerdem haben wir Strukturen geschaffen, um standardisiert
neue Erklärvideo-Startups in anderen Ländern zu gründen. Nach dem Wandel vom Kettcar zum
Rennwagen ging es nun darum, einen Rennstall aufzubauen.
Welche Strukturen sind nötig, um standardisiert neue Startups zu gründen?
In erster Linie geht es dabei um Marken- und IP-Rechte, dokumentierte Prozesse, Unter-
lagen, Ausbildungs- und Produktionsstandards, aber auch um IT-Systeme in der Cloud.
Nach welchen Kriterien wählt ihr Länder für neue Erklärvideo-Startups aus?
Die Hauptkriterien sind Marktattraktivität, Marktpotenzial und Zugänglichkeit. Wir haben
außerdem die Flexibilität, verschiedene Lizenzierungsmodelle zu fahren. Je nach Land bietet sich
eher das eine oder das andere an.
Was hat sich für dich und deinen Arbeitsalltag durch euer Wachstum verändert?
Die größte Veränderung für mich ist, dass ich nicht mehr nur Deutschland im Blick habe. Ich
denke jetzt bei wirklich jedem Prozess sofort darüber nach, ob er auch international funktioniert.
Das ist eine ziemliche Umstellung, die ihre Zeit braucht. Eine weitere Veränderung ist, dass die
Entscheidungswege länger geworden sind. Früher ging bei uns alles immer sehr fix, heute müssen
wir viele Entscheidungen in Luxemburg treffen und an viele Märkte denken – beispielsweise bei
der Einführung neuer Preislisten oder Produkte. Und das ist eben zwangsläufig komplizierter.
Seit 2014 ist die academy eine eigene Firma. Ich bin aus dem Tagegeschäft der simpleshow
ausgestiegen, um mich um die simpleshow academy GmbH zu kümmern. Es geht vor allem
um Forschung, das internationale Onboarding und die Qualitätssicherung. Außerdem treibe ich
unsere Entwicklung hin zu einem Erklärdienstleister voran. Erklärvideos sind zwar unser Kern-
produkt, aber die zentrale Kompetenz unseres Unternehmens liegt im Lösen von Erklärprob-
lemen und nicht im Format.
Welche weiteren Formate und Produkte bietet ihr an?
Neben dem Standardformat „simpleshow classic“ haben wir noch die Produkte „simpleshow
custom“ und „simpleshow premium“ im Angebot, bei denen wir mit digitalen Animationen
arbeiten. Darüber hinaus haben wir noch das Produkt „simpleshow interactive“ im Portfolio.
Das sind Lernkurse mit interaktiven Elementen, zum Beispiel Quizfragen. Über die Produktpa-
lette hinaus bieten wir Beratungsleistungen an, schulen Führungskräfte darin, Dinge einfach zu
Jens Schmelzle 243

erklären und halten Vorträge. Inzwischen ist aus diesen Aktivitäten ein zweiter Revenue-Stream
geworden. Außerdem können wir uns beim Kunden als Erklärungsexperten positionieren. Diese
Entwicklung war vor vier oder fünf Jahren nicht absehbar.
Wenn ich jetzt zurückblicke, haben wir vieles von dem durchgemacht, was man im Lean-
Startup-Ansatz wiederfindet, beispielsweise Fail Early & Adapt oder Pivots. Wir haben uns vom
Plattenlabel und von der Medienagentur zum Nischenanbieter für Erklärvideos verändert. Und
jetzt folgt die neue Wandlung hin zum Erklärungsdienstleister.
Worauf führst du zurück, dass ihr die fortlaufende Transformation eures Geschäftsmodells
erfolgreich gemeistert habt?
Wir haben uns auf die Reise eingelassen. Wer mir direkt nach meinen Abschluss gesagt hätte,
„Du, in ein paar Jahren machst du standardisierte Videos, die für jeden Kunden gleich aussehen
und verkaufst diese weltweit“, den hätte ich für verrückt erklärt und gesagt: „Das braucht doch
kein Mensch!“
Nach dem Lean-Startup-Ansatz ist das Schreiben eines Businessplans Verschwendung. Was
meinst du dazu? Welche Bedeutung hatte ein Businessplan beim Aufbau von simpleshow?
Ob ein Businessplan sinnvoll ist, kommt sehr auf das Startup an. Da will ich nicht genera-
lisieren. Wir waren anfangs nicht auf Investorensuche, deshalb brauchten wir keinen Business-
plan. Wir hatten einen Liquiditätsplan, um zu sehen, wie lange unser Geld reicht. Später wurde
daraus ein Jahresplan, über den wir kalkuliert haben, wie viele Mitarbeiter wir brauchen, wenn
das Wachstum kontinuierlich weitergeht. Damit hat sich das Ganze dann schon in Richtung
Businessplan entwickelt. aber eher aus der Situation heraus, um den nächsten Schritt meistern
zu können.
Ich kann jetzt nicht sagen: „Macht keinen Businessplan!“ Er ist sicher ein gutes Mittel, um alle
Szenarien zu kalkulieren und Reaktionsmöglichkeiten durchzuspielen. Nur: Wer einen macht,
sollte sich darüber bewusst sein, dass die Zahlen kaum so eintreffen werden.
Also ein Businessplan als Startup-Turngerät?
Genau! Er gibt Orientierung, weil du dein Business besser verstehst. Die Kosten sind nicht
mehr lediglich ein großer Block, der dich erschrickt, weil – gefühlt – monatlich viel Geld ver-
brannt wird. Durch die Übersicht bekommt man einen differenzierteren Blick, wo das Geld hin-
geht. Allerdings ist es auch wichtig, nicht stur an einem Plan festzuhalten. Man muss loslassen
können, wenn die Reaktion der Kunden es verlangt. Und das ist wahnsinnig schwierig. Denn
man ist natürlich in sein Baby verliebt.
Wie lernt man, einzuschätzen, was fix bleiben sollte und was man verändern muss?
Die Vision, die Werte und die Kundenorientierung müssen stabil bleiben. Der Weg aber kann
sich ändern, falls er nicht funktioniert. Ich würde empfehlen, der Lean-Startup-Idee zu folgen:
sehr schnell einen Beweis finden, ob das Vorhaben funktionieren könnte, dann einen Schritt wei-
tergehen. Wenn du bemerkst, dass deine Ideen beim Kunden nicht ankommen und beispielsweise
keiner etwas für dein Produkt bezahlen möchte, rede es dir nicht schön. Nimm stattdessen Anpas-
sungen vor. Aus neuen Erkenntnissen kann etwas Neues entstehen. Man muss es nur zulassen. Ich
weiß, das ist einfacher gesagt als getan.
Worauf führst du euren Erfolg zurück?
Uns hat sicher geholfen, dass Videos in unserer Startphase zunehmend zu einem Trendthema
wurden, weil auf einmal die technischen Möglichkeiten dafür verfügbar waren. Bei der Filmpro-
duktion haben wir Hände und Handbewegungen genutzt, weil es für uns zum Start schlicht der
einfachste Weg war, Dinge zu bewegen. Gleichzeitig kehrten durch den Tablet-Markt die eigenen
244 simpleshow

Hände als Gesten-Steuerungselement sehr in das Bewusstsein der Leute zurück. Damit waren wir
schon auf zwei Trendgebieten unterwegs.
Allerdings können sich auch äußere Umstände, die uns bei simpleshow in die Hände gespielt
haben, genauso schnell gegen dich wenden. Adrian und ich haben 2011 noch ein zweites Unter-
nehmen gegründet. Es heißt Sellaround und ist ein Social-Commerce-Unternehmen. Die Ker-
nidee ist, dass der Webshop zu dir kommt. Verkäufer können ein kleines Widget erstellen und im
Netz verteilen. Der Verkaufsprozess findet direkt über das Widget statt. Konkret heißt das: Man
sieht in seinem Facebook-Stream ein Verkaufs-Widget und kann das Produkt direkt im Widget
kaufen, ohne Facebook zu verlassen. Und du kannst es teilen und dir eine Provision verdienen,
wenn einer deiner Freunde es kauft.
Wir hatten Sellaround deutlich systematischer geplant als die simpleshow. Es gab ein durch-
dachtes und skalierbares Produkt und auch schon eine Finanzierungsrunde. In dieses Startup
ist drei Jahre lang viel Herzblut geflossen. Und aus meiner Sicht haben wir sehr vieles richtig
gemacht. Funktioniert hat es in den ersten Jahren aber nicht so, wie wir uns das erhofft hatten.
Warum? Zum Beispiel, weil zeitgleich zwei Wettbewerber in den USA eine zweistellige Millio-
nensumme eingesammelt haben. Damit war Sellaround für einige Partner, mit denen wir bereits
über eine potenzielle Investition gesprochen hatten, nicht mehr interessant. Der Faktor Zufall war
also auch hier ein großes Thema. Aber diesmal zu unseren Ungunsten.
Welche weiteren Faktoren haben euch zum Erfolg verholfen?
Wichtige Grundfaktoren sind sicherlich Begeisterung und Leidenschaft. Unser Format und
das, was wir tun, begeistern uns jeden Tag. Vielleicht auch, weil es sich im Laufe der Zeit verän-
dert. Ganz ehrlich: Heute bin ich nicht mehr so scharf darauf, einen Film zu scheiden. Es gibt im
Zuge unseres Wachstums aber viele neue Dinge, die mich faszinieren. Die Internationalisierung
zum Beispiel, oder die simpleshow foundation. Das ist unsere Stiftung, die sich für freie Bildungs-
materialien einsetzt. Auch ist es interessant, zu sehen, was man mit dem Format alles machen
kann und wie unsere Kunden die simpleshow einsetzen, um ihre Kommunikation zu verbessern.
Das begeistert mich nach wie vor.
Ich glaube, wenn mich das Produkt nicht mehr überzeugt, würde ich aufhören. Dieser Antrieb
ist für mich unheimlich wichtig. Für mich gehört dazu auch, dass ich meinen eigenen Anspruch
nicht herunterschraube. Ich kann mich nicht belügen und sagen: Eigentlich verkaufen wir Mist,
aber dem Kunden gaukele ich vor, dass das Produkt super ist. Für mich funktioniert das nicht.
Was sicherlich auch noch wesentlich ist: Man muss einen langen Atem haben. Hartnäckigkeit
und Zielstrebigkeit gehören dazu. Und man darf sich von Rückschlägen nicht entmutigen lassen.
Fallen, wieder aufstehen, weitermachen. Ich glaube, die Erfahrungen aus der Musikszene waren
dafür eine gute Schule. Wir waren zehn Jahre lang mit vielen verschiedenen Bands unterwegs und
haben immer versucht, daraus etwas wachsen zu lassen. Wenn du auf Tour gehst, musst du eine
Menge organisieren. Du musst Klinken putzen, um Auftritte zu ergattern, die Gage verhandeln,
nebenher noch Songs schreiben und proben – und bist dir immer darüber bewusst, dass dich
eigentlich kaum jemand hören will. Du spulst am Wochenende hunderte von Kilometern auf der
Autobahn herunter, spielst vor zwei Leuten in irgendeinem Jugendzentrum in Sachsen und lädst
nachts um Vier im strömenden Regen wieder den Sprinter aus. Aber du glaubst an deine Musik.
Deshalb stehst du immer wieder auf, und das über Jahre hinweg. Du willst weitermachen, willst
dich entwickeln, strebst danach, größere Konzerte zu spielen – das alles, ohne deine Seele zu ver-
kaufen, sondern mit deiner Musik.
Meiner Meinung nach gibt es unheimlich viele Parallelen zwischen der Musik- und der
Startup-Welt. Allerdings wissen das die meisten nicht. Adrian und ich waren in unseren Bands
und der Musikerwelt immer die Macher, die Geschäftsleute, die einen gewissen Pragmatismus an
Jens Schmelzle 245

den Tag gelegt haben. Wir wollten immer etwas schaffen, sei es eine Tour zu organisieren oder das
Plattenlabel gründen. Auf der anderen Seite, in der Geschäftswelt, waren wir immer die Rock ‚n‘
Roller. Wir haben auf keine Seite so richtig gepasst, waren immer die anderen.
Und dann habt ihr durch die simpleshow das Beste aus beiden Welten zusammengebracht?
Wir haben es zumindest versucht. Diese beiden Welten sprechen nicht richtig mitein-
ander und denken, sie seien völlig verschieden. Ich sehe das anders, beide Welten haben sehr
viel gemeinsam, vor allem, was Zielstrebigkeit angeht, Hartnäckigkeit und den Glauben an eine
gemeinsame Sache. Es gibt aber einen großen Unterschied: Wenn du Musik machst und damit
auch noch Geld verdienen musst, bist du immer in einem Interessenskonflikt. Mit der Musik
möchtest du etwas genau so ausdrücken, wie du selbst als Künstler es für richtig hältst. Du willst
dich nicht verbiegen. Aber am Ende bist du davon abhängig, ob es dem Publikum gefällt. Das ist
das Geschäftsmodell. Und das kann ganz schön bitter sein.
Bei einem Startup muss dir dein Produkt natürlich auch gefallen. Aber wenn es den Kunden
nicht anspricht und niemand dafür bezahlt, dann ist es einfach kein gutes Produkt. Der Erfolg
deines Unternehmens wird von Anfang an genau dadurch bestimmt, ob es dir gelingt, ein über-
zeugendes Produkt zu entwickeln – oder nicht. Das ist der Deal. Einen Interessenskonflikt gibt es
dabei nicht. Anders ausgedrückt: Kundenorientierung ist für mich als Unternehmer das A und O
– für mich als Musiker hingegen überhaupt nicht – ganz im Gegenteil.
Deswegen ist es für mich leichter, meinen Lebensunterhalt als Unternehmer zu verdienen.
Und an die Musik geht es nur in der Freizeit. Dabei muss ich nun nicht mehr drauf achten, ob
das, was ich da mache, jemandem gefällt außer mir. Ich bin in dem, was ich tue, völlig frei und
kann mich musikalisch verwirklichen.
Jens, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Jens Schmelzle

Ries, Eric (2012); Lean Startup: Schnell, risikolos und erfolgreich Unternehmen gründen; Redline
Verlag
Dobelli, Rolf (2011); Die Kunst des klaren Denkens: 52 Denkfehler, die Sie besser anderen über-
lassen; Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
McCloud, Scott (1994); Understanding Comics: The Invisible Art; William Morrow Paperbacks
Stockpulse
Stefan Nann und Jonas Krauß
17

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_17,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
248 Stockpulse

Börsenkurse mit Social-Media-Daten vorhersagen


Mit Social Media am Puls des Marktes: Kaum ein Markt ist derart von Stimmungen abhängig
wie der Finanzmarkt. Keine Medien transportieren mehr Stimmung als Twitter, Facebook und
Co. Eine gute Kombination, dachten sich Jonas Krauß und Stefan Nann und gründeten im Jahr
2011 das Startup StockPulse. Die Idee: StockPulse analysiert Social Media-Daten. Stimmungen,
Gerüchte und Trends werden in Echtzeit erfasst und damit von Börsenkursen prognostiziert.
Dass ihre Idee funktioniert, bewiesen die beiden Wirtschaftsinformatiker bereits als Stu-
denten. 2008 prognostizierten sie die Oscarpreisträger mit Social-Media-Daten aus Filmforen.
Das Ergebnis: Bei neun von zehn Gewinnern lagen sie richtig. Dieser wissenschaftliche Erfolg
trug Früchte: Krauß und Nann arbeiteten und forschten danach einige Jahre in der Schweiz und
am renommierten Massachusetts Institute of Technology an der amerikanischen Ostküste.

Wie kam es zur Gründung von Stockpulse?


Jonas: Ich kenne Stefan aus dem Wirtschaftsinformatikstudium der Uni Köln. Wir schrieben
zusammen eine Seminararbeit über die Vorhersagbarkeit der Oscarverleihung auf Basis von Social-
Media-Daten der Internet Movie Database. Einem Schweizer Gastdozenten gefiel die Arbeit, und
wir veröffentlichten sie wissenschaftlich. Er machte uns außerdem das Angebot, zu promovieren
und gleichzeitig in sein Startup – ein Unternehmen zur Auswertung von Social-Media-Daten –
einzusteigen. Wir sagten zu und es ging es für drei Jahre in die Schweiz und für einige Forschungs-
aufenthalte an das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston.
In dieser Zeit konnten wir extrem viel Erfahrung sammeln, gute und schlechte. In jedem Fall
war es eine gute Ausgangsbasis für eine eigene Gründung und wir haben uns gesagt: „Okay, jetzt
machen wir es selbst und versuchen es anders zu machen.“
Was genau wolltet ihr besser machen – oder was lief schief?
Jonas: Es gab keinen Fokus und es fehlte ein klares Geschäftsmodell sowie eine gemeinsame
Unternehmensvision. Wir wollten ganz allgemein ein Softwaretool zur Auswertung von Social
Media entwickeln, und genau diese Allgemeinheit war das Problem. Eine Kundenanfrage ging
um Bienensterben und eine andere um Fußballtalente. Da stecken jeweils ganz andere Analyse-
verfahren dahinter. Und damit ein ordentliches Ergebnis erzielt wird, muss man in beiden Fällen
viele Grundlagen neu schaffen. Die zentralste Lehre war: Fokus!
Stefan: Es ist natürlich schon sehr verlockend, wenn namhafte Unternehmen anklopfen. Und
unsere Verbindung zum MIT war der absolute Türöffner. Man hätte sich allerdings sehr verbiegen
müssen, um alles zufriedenstellend abzuarbeiten. Wir haben das des Öfteren angemerkt, es war
jedoch schwierig, sich jedes Mal durchzusetzen. Das war für mich ein wichtiges Learning.
Stefan Nann und Jonas Krauß 249
250 Stockpulse

Jonas: Jede Idee für sich genommen war wirklich gut und hätte als Basis für ein eigenes Startup
getaugt. Beispielsweise haben wir zur gleichen Zeit als die Personensuchmaschine 1-2-3-people
– einer Art Google für Personen – startete, an einem ähnlichen Projekt gearbeitet. Mit unserem
Tool konnten wir Daten aus XING, Facebook und dem Web einzelnen Personen zuordnen und
ein aggregiertes Profil erstellen. Das war schon recht gut. Das Projekt haben wir vielleicht vier
Wochen verfolgt, dann wurde eine andere Anfrage bearbeitet. Dort wäre viel Potenzial drin
gewesen.
Stefan: Eine klare Fokussierung hat ja auch den Vorteil, dass man keine 24-Stunden-Schichten
schieben muss. Natürlich muss man – je nachdem was ansteht – auch mal länger oder am
Wochenende arbeiten. Das ist schon okay. Aber eine klare Fokussierung hilft enorm, die eigenen
Aufgaben zu priorisieren.
Wie kam es dann zur Gründung?
Stefan: Uns war klar: Wenn wir das machen, dann in Vollzeit. Jobs würden uns nur ablenken.
Bis November 2010 arbeiteten wir noch bei dem Startup in der Schweiz. Danach ging es los.
Wir sind zurück nach Köln und hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine Förderung. Das EXIST-
Stipendium war beantragt, aber das dauerte. In dieser Zeit lernten wir den Informatikprofessor
Schrader von der Uni Köln kennen, der uns direkt Unterstützung angeboten hat. Beispielsweise
stellte er uns – obwohl wir das Stipendium noch nicht hatten – Büros zur Verfügung. Es war
immer sehr unkompliziert mit ihm. An dieser Stelle ein riesen Dankeschön an ihn! Das war schon
ein glücklicher Moment.
Jonas: Ja, Professor Schrader hat uns sehr weitergeholfen. Er hat uns auch nach dem EXIST-
Stipendium in den Uni-Büros arbeiten lassen. Im Mai 2011 erfolgte dann die offizielle Gründung.
Social-Media-Auswertungen sind in vielen Bereichen möglich. Warum der Fokus auf
Finanzen?
Jonas: Stefan hatte schon in seiner Diplomarbeit über Predictive Analytics auf Basis von Social-
Media-Daten geschrieben. Wir hatten immer im Hinterkopf, dass das eine der spannendsten
Anwendungsmöglichkeiten im Bereich Social-Media-Auswertung ist. Darauf wollten wir uns
fokussieren. Das war einfach klar. Wir bekamen auch Kundenanfragen aus anderen Bereichen,
die wir aber schließlich abgelehnt haben. Wir wussten ja, dass eine klare Fokussierung wichtiger
ist, als umgehend etwas Geld zu verdienen. Und das ziehen wir bis heute durch.
Stefan: Fokussieren ist ein Prozess und auch für uns noch nicht abgeschlossen. Anfangs war
unsere Idee, dem Nutzer ein Dashboard zu geben, womit er sich selbst die gewünschten Ansichten
und Auswertungen zusammenstellen kann. Das sehen wir heute nicht mehr ganz so. Der Fokus
liegt stark auf Signalen, die dem Nutzer direkt sagen, was er tun soll. Es ist ein iterativer Prozess.
Ich glaube, dass es sehr schwer ist, schon bei der Gründung ein Produktkonzept zu haben, das
perfekt zum Markt passt. Wir probieren viel aus und lernen dazu.
Welche Bedeutung hat für euch Kunden-Feedback?
Jonas: Eine zweite, wichtige Erfahrung aus der Zeit beim Schweizer Startup ist: zügig umsetzen
und möglichst schnell mit einer ersten Lösung am Markt zu sein. Nur so bekommt man ein
brauchbares Feedback. Bei unseren Geschäftspartnern kommt die schnelle Umsetzung von Feed-
back gut an. Die meisten sind überrascht und sagen: „Das ist ja schon auf eurer Website live.
Dabei haben wir es euch doch eben erst gesagt.“ Das ist einfach möglich, da Stefan und ich selbst
programmieren.
Stefan: Ich höre immer wieder, dass Startups Angst davor haben, mit ihrer Lösung online zu
gehen, weil es noch den einen oder anderen Fehler gibt oder ein Button die falsche Farbe hat.
Aber du kannst es sowieso nie perfekt machen. Das ist ähnlich wie bei einer Diplomarbeit, die
Stefan Nann und Jonas Krauß 251
252 Stockpulse

lässt sich auch endlos verbessern. Irgendwann muss man online gehen – und das ist für viele
schwierig. Aber nur so bekommt man Feedback. Und dann muss man schnell darauf reagieren.
Das haben wir von Anfang an so gemacht.
Und wie habt ihr die ersten Testnutzer gewonnen?
Jonas: Wir haben es dann online über unsere privaten Facebook- und XING-Netzwerke ver-
marktet. Dann kamen Freunde und Kollegen von Freunden dazu. Zudem schrieb die Süddeut-
sche Zeitung einen großen Artikel über uns. Der hat uns auch vorangebracht. So konnten wir
mit vielen kleinen Schritten unseren Stamm an Kunden und Testnutzern aufbauen. Seit Oktober
2012 gab es auch eine Bezahlmöglichkeit mit PayPal oder Kreditkarte. Aber es hat lange gedauert
bis wirklich einer gekauft hat.
Hattet ihr einen Mentor?
Jonas: Im Rahmen des EXIST-Stipendiums bekommt man einen Gründercoach gestellt, bei-
spielsweise vom Neues Unternehmertum Rheinland (NUK) hier in Köln. Aus unserer Zeit in der
Schweiz kannten wir einen sehr erfahrenen Senior Manager von SAP. Ihn konnten wir als unseren
EXIST- Gründercoach gewinnen und mittlerweile ist er ein guter Freund geworden. Mit ihm
haben wir unser Startup von A bis Z durchleuchtet. Das war sehr aufschlussreich.
Ich kann jedem Gründer raten, ein gutes Netzwerk aufzubauen, das ihm mit Rat und Tat zur
Seite steht. Insbesondere in Bereichen, von denen man selbst keine Ahnung hat. Wir haben sicher
mehr Ahnung vom Programmieren als von Marketingstrategien. Wir hatten auch das Glück, dass
unsere Business Angels von Anfang an operativ mit angepackt haben.
Was meinst du mit „Sie haben auch operativ mit angepackt“?
Jonas: Neben dem EXIST-Gründercoach konnten wir noch einen zweiten Unterstützer
gewinnen. Beide sind nicht nur Business Angels, sondern auch Journalisten. Sie haben uns in
ihrem Netzwerk bekannt gemacht. Einer hat uns sehr bei der Gestaltung von Verträgen und
Gesellschafterbeschlüssen geholfen. Wenn man davon keine Ahnung hat, muss man sich viel-
leicht einen Rechtsanwalt nehmen, was dann schnell sehr teuer wird.
Stefan: Business Angels sind nicht immer ein Segen. Sie bringen zwar Geld, wollen aber auch
viel entscheiden. Glücklicherweise haben wir sehr früh die richtigen Entscheidungen getroffen.
Wir wollten nicht nur stille Teilhaber, sondern operative Unterstützung. So haben wir es auch
immer offen kommuniziert und in einem „Letter of Intent“ ausdrücklich festgehalten.
Jonas: Ein funktionierendes Team ist enorm wichtig. Ich sehe das bei einem Bekannten, der
gerade in Berlin gründet. Sein ursprüngliches Team hat nicht funktioniert und er muss jetzt einen
neuen Teamkollegen finden. Das wirft ihn um ein halbes Jahr zurück.
Wie habt ihr euer Team aufgebaut?
Jonas: Während des EXIST-Stipendiums haben wir Stockpulse zu zweit gemacht. Dann stieß
der erste Business Angel dazu. Im Februar 2012 folgte der Schweizer Investor Next Generation
Finance Invest (NextGFI). Thomas – ein Vollzeit Programmierer – arbeitet seit März 2012 bei
uns.
Wie seid ihr auf NextGFI aufmerksam geworden?
Stefan: Die Startups im NextGFI Portfolio adressieren hauptsächlich den Endkundenmarkt.
Wir sind auch mit diesem Ziel angetreten. Das gefiel NextGFI. Sie haben uns angemailt und ein
Vorstellungsgespräch per Skype vereinbart. Danach hatten wir regelmäßig Kontakt und sie auf
dem Laufenden gehalten über aktuelle Entwicklungen.
Stefan Nann und Jonas Krauß 253

Jonas: Es war immer unsere Devise, nicht im stillen Kämmerlein zu arbeiten, sondern mög-
lichst viele Gespräche nach außen zu suchen. Wir hatten viele Kontakte, mit denen wir uns
intensiv über unser Geschäftsmodell unterhalten haben – auch kritisch.
Stefan: Auch das Timing war optimal. Das EXIST-Stipendium lief im Februar 2012 aus und
im März 2012 hatten wir die Finanzierung von NextGFI gesichert. Wir wussten natürlich schon
im Juni 2011, dass unser Stipendium endlich ist und hatten uns frühzeitig um eine Anschlussfi-
nanzierung gekümmert. Es gab auch einige EXIST-Startups, die sich nicht um eine Anschlussfi-
nanzierung bemüht haben. Da war dann Schluss.
Wie habt ihr NextGFI letztlich überzeugt?
Jonas: NextGFI ist weder klassischer Business Angel noch Risikokapitalgeber. Sie stehen
irgendwo dazwischen. Sie sind nicht wie klassische Risikokapitalgeber über verschiedenste Bran-
chen diversifiziert, sondern setzen klar auf den Finanzmarkt. Zudem wollen sie ihre Investitionen
zehn bis 15 Jahre halten und nicht nach drei Jahren aussteigen und Kasse machen. Das hat sehr
gut zu unseren Vorstellungen gepasst. Der Vertragsschluss war recht unkompliziert. Im Grunde
lief das wie bei den Business Angels ab.
Stefan: Wir haben auch keinen Businessplan mit einem riesen Hockeystick präsentiert. Auf-
grund der Größe des Marktes gibt es den bei uns nicht. Ich halte nichts davon, Zahlen einfach zu
verdoppeln, wie man es vielfach als Empfehlung auf Businessplan-Seminaren hört.
Jonas: Wir haben uns immer gegen riesige Phantasiezahlen gewehrt. Man weiß ja nicht, was
in den nächsten drei Jahren passiert. Wir haben immer versucht, realistisch zu sein, und das kam
auch sehr gut an. Die Kunst ist wohl, nicht zu übertreiben und sich aber auch nicht unter Wert
zu verkaufen.
Worin unterscheiden sich die Pitches beim Business Angel und Risikokapitalgeber?
Jonas: Ein Business Angel ist viel früher involviert und schaut, ob das Geschäftsmodell grund-
sätzlich Sinn macht. Zudem würde ich eher das Team in den Vordergrund stellen und im besten
Fall den Business Angel ins Team aufnehmen. Risikokapitalgeber dagegen haben meist eine stan-
dardisierte Checkliste, die sie abarbeiten. Da müssen einfach gewisse Kennzahlen stimmen.
Anfang 2012 habt ihr Tweettrader – eine Microblogging Community – akquiriert. Warum?
Und wie lief das ab?
Jonas: Timm Sprenger hat Tweettrader im Rahmen seiner Doktorarbeit an der TU München
entwickelt. Seine Promotion ging zu Ende, er wollte das Projekt nicht weiterbetreiben und da hat
er ein neues Dach für Tweettrader gesucht. Wir kannten uns und so hat er gefragt, ob wir es nicht
übernehmen wollen.
Tweettrader ist ein kostenfreier Service und etwas verspielter als unser Angebot. Das hat sich
gut ergänzt und die Nutzerbasis ist natürlich sehr wertvoll für uns. Zudem war das Projekt sehr
professionell aufgebaut. Beispielsweise war die Dokumentation vorbildlich. Das hat die Über-
nahme vereinfacht.
Stefan: Es gibt auch nicht viele Unternehmen in Deutschland, zu denen Tweettrader gepasst
hätte. Wir haben nur wenig Wettbewerber.
Auch wenn es nur wenige Wettbewerber gibt, wie schützt ihr euch vor ihnen?
Stefan: Also wir schützen uns nicht explizit. Wir haben alle Programme – von der Daten-
sammlung bis zur Auswertung – selbst geschrieben. Da stecken gut fünf Jahre Entwicklungsarbeit
drin. Das ist unser eigentlicher Schutz. Man kann nicht einfach ein Team in Indien anwerben und
die Technologie aus dem Boden stampfen oder gar von der Stange kaufen.
254 Stockpulse

Jonas: Die meisten Wettbewerber sind auch wieder vom Markt verschwunden. Es ist offenbar
nicht so einfach, das Geschäft aufzubauen.
Und ihr verbessert auch laufend eure Technologie. Wie macht ihr das?
Stefan: Zur Verbesserung unsere Algorithmen führen wir Backtests durch. Dafür ist eine
umfassende Datenbasis eine wichtige Voraussetzung, und diese bauen wir seit drei Jahren gezielt
auf. Von Twitter – einer unserer Datenquellen – bekommt man beispielsweise rückwirkend keine
Daten. Die sind weg oder man kauft sie zu sehr hohen Preisen. Das ist ein weiterer Schutz vor
Wettbewerbern. Übrigens fragen Händler aus allen Ländern mittlerweile sogar historische Daten
für Backtests bei uns an.
Wie ging es weiter? Was war 2012 sonst noch wichtig?
Jonas: Bis dato hatten Stefan und ich alles selbst programmiert. Im März 2012 kam mit
Thomas ein echter Informatiker ins Team. Mit seiner Expertise konnten wir die Datenverarbei-
tung vom stündlichen Rhythmus auf Echtzeit verbessern. Zudem haben wir das Backend von
PHP auf Java umgestellt. Das war eine sehr große Veränderung und hat fast drei Monate länger
gedauert als ursprünglich geplant. Richtig rund lief das neue Backend ab September 2012.
Wie habt ihr die Vermarktung vorangetrieben?
Stefan: Als Internet-Startup müssen wir natürlich im Internet sichtbar sein. Auf Google
Adwords haben wir anfangs verzichtet. Dafür hätten wir ein großes Budget aufwenden müssen.
Deswegen haben wir auf Presseartikel und auf die Präsenz auf anderen Webseiten gesetzt. Wir
konnten OnVista für eine Kooperation gewinnen und arbeiten mit Ayondo und Gekko – eben-
falls zwei Unternehmen aus dem NextGFI Portfolio – zusammen. Eine weitere Kooperation
haben wir mit Admiral Markets in Indien. Zudem haben wir ein Affiliate-Programm gestartet. So
treiben wir schrittweise die Vermarktung voran …
Jonas: … aber es geht schon langsamer, als wir das gerne hätten. Eine Kooperation mit einer
etablierten Großbank würde uns enorm weiterbringen. Banken verschicken beispielsweise täglich
Newsletter über Finanzprodukte. Da würden unsere Informationen sehr gut hineinpassen und
man könnte sie als White-Label-Angebot integrieren. Wir sind da auch dran und hatten schon
einige konkrete Zusagen …
… woran scheitert es?
Jonas: Bei den Banken gehen 95 Prozent des Budgets in die Umsetzung von regulatorischen
Änderungen. Und um die verbleibenden Innovationsbudgets kämpfen natürlich noch andere
Unternehmen.
Zudem ist die Zielgruppe in Deutschland recht klein – man muss sich nur die umgesetzten
Volumen an Aktien oder Derivaten anschauen. USA, Großbritannien oder Australien sind
größer. Wir sind eben ein internationales Produkt und müssen entsprechend unsere Vermark-
tung anpassen.
Um unsere Internationalisierung voranzutreiben, kooperieren wir jetzt mit QuantCon-
nect. Das Unternehmen bietet eine Backtesting-Plattform und sitzt in New York. Auf der Platt-
form können die Kunden an ihren Finanzmodellen tüfteln und unsere Daten zur Optimierung
verwenden.
Das klingt nach einem neuen Geschäftsfeld.
Jonas: Genau. Über QuantConnect werden neue Kunden auf uns aufmerksam und kommen
dann direkt zu uns. Amerikaner sind sehr an unserem Service interessiert.
Stefan Nann und Jonas Krauß 255
256 Stockpulse

Ist Deutschland vielleicht nicht der richtige Standort für euch?


Jonas: Als Internet-Startup spielt der Standort keine große Rolle. Es ist wichtiger, in den rich-
tigen Ländern präsent zu sein. Beispielsweise, indem wir Berichterstattung auf lokalen Newssites
sicherstellen. Zudem arbeiten wir als Gastautoren an einem Buchprojekt in Großbritannien mit.
Letzten Monat war ich bei Torque Research in London zu Besuch, um mich in die Finanzszene
„hinein zu networken“. Es ist wichtig, den richtigen Zugang zu finden, da haben wir in der
jüngsten Vergangenheit noch einmal dazugelernt. Jetzt sind wir auf einem guten Weg.
Was waren die wichtigsten Meilensteine im Jahr 2013?
Zum einen der Umzug am 1. Januar in die Büros in der Venloer-Straße – jetzt haben wir sogar
Domblick. Und dann natürlich Mitte des Jahres die zweite Finanzierungsrunde.
Wie kam es dazu?
Stefan: 2012 hatten wir hauptsächlich unser Produkt entwickelt und den Fokus geschärft.
Da hätte es keinen Sinn gemacht, umfassend in die Vermarktung zu investieren. Das war auch
so mit den Investoren besprochen. In der zweiten Finanzierungsrunde hat NextGFI das Invest-
ment erhöht. Nun wollen wir den Vertrieb forcieren. Ziel ist es, deutlich mehr Bezahlkunden zu
gewinnen.
Wie wollt ihr das Vertriebsziel erreichen?
Stefan: Wir haben Technik und Vermarktung getrennt. Jonas, Thomas und ich sind die Tech-
nikabteilung, eine neue Mitarbeiterin und ein Praktikant bilden die Marketingabteilung. In
einem Vertriebsplan haben wir die Ziele für die nächsten sechs bis zwölf Monate festgelegt. Jedes
Team hat noch einen kurzfristigen Plan. Da wir noch relativ klein sind, lässt sich das Ganze noch
ohne umfangreiche Projektpläne organisieren.
Jonas: Es wird keine Werbekampagne in den Massenmedien geben. Das passt nicht zu
unserem Markt. Wir wollen beispielsweise auf der World-of-Trading-Messe vertreten sein und
dort Kontakte knüpfen., zudem wollen wir unsere Kooperationen mit großen deutschen Finanz-
portalen ausweiten. Das ist Gratiswerbung und diese Kunden sind wertvoller, als solche, die wir
über Google Adwords gewinnen könnten. Aber wir wollen auch Google Adwords ausprobieren,
das ist unser Vertriebsansatz.
Jonas und Stefan, wir danken euch für das Gespräch.

Literaturtipps von Jonas Krauß und Stefan Nann

Isaacson Walter (2011); Steve Jobs: Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers;
C. Bertelsmann Verlag
Teekampagne
Professor Dr. Günter Faltin
18

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_18,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
258 Teekampagne

Entrepreneurship für Professor an der Freien


Universität Berlin, Gründer der Teekampagne und
Business Angel
Professor Dr. Günter Faltin baute den Arbeitsbereich Entrepreneurship an der Freien Universität
Berlin auf. Seit 2013 lehrt er als Gastprofessor an der Universität Chiang Mai in Thailand.
1985 gründete er die Projektwerkstatt GmbH mit der Idee der „Teekampagne“ als Modell
für Entrepreneurship. Das Unternehmen wurde zum weltgrößten Importeur von Darjeeling Tee.
Faltin initiierte das Labor für Entrepreneurship und ist Business Angel erfolgreicher Startups,
darunter eBuero, RatioDrink und PaperC. Die Price-Babson-Foundation, Boston, verlieh ihm
den Award „For Bringing Entrepreneurial Vitality to Academe“. 2001 errichtete er die Stiftung
Entrepreneurship mit dem Ziel, eine offenere Kultur des Unternehmerischen zu fördern. Für die
Teekampagne erhielt er 2009 den Deutschen Gründerpreis. Als „Pionier des Entrepreneurship-
Gedankens in Deutschland“ zeichnete ihn 2010 der Bundespräsident mit dem Bundesverdienst-
orden aus.

Professor Faltin, Sie sind Hochschulprofessor und Entrepreneur. Wie kam es, dass Sie selbst
gegründet haben?
Gerade beim Entrepreneurship geht es nicht nur um Theorien, sondern auch um
Praxis. Und ich war der Ansicht: Wenn ich über Unternehmensgründungen lehre, muss
ich auch selbst gründen. Mindestens einmal, wenn nicht sogar öfter. Diesen Gedanken
hatte ich bereits Anfang der 80er- Jahre. Die große Frage war nur: Was gründen?
Kollegen und Freunde haben mir übrigens dringend davon abgeraten. Deshalb war es umso wich-
tiger, genau darüber nachzudenken, was ich gründe. Ich wollte mich schließlich nicht blamieren.
Mein Fokus lag deshalb auf der Idee, dem Konzept. Allerdings hatte ich auch den Anspruch,
nicht einfach nur eine Firma zu gründen, sondern etwas zu machen, was besser ist als das, was es
schon gibt. Die Praxis besser machen als andere, das war mein Ziel. Und deshalb habe ich sehr
lange überlegt, mit welchem Konzept ich in den Markt gehen will. Schließlich bin ich auf etwas
gestoßen, von dem ich zunächst gar nichts verstand: Tee. Denn ich bin eigentlich Kaffeetrinker.
Von Tee verstand ich damals wirklich nichts. Aber ich hatte das Gefühl, dass der Teemarkt das
aussichtsreichste Feld für mich ist, besser als beispielsweise Mode oder der Handel mit Kaffee.
Wie lange hat es gedauert, bis das Konzept für die Teekampagne stand?
Der Prozessdauerte mehrere Jahre. In der Regel vergeht vielZeit voneinemerstenEinfallhinzueinem
tragfähigen Konzept. Manche Menschen verwechseln Einfall mit einem ausgearbeiteten Konzept.
Professor Dr. Günter Faltin 259

Das deutsche Wort „Idee“ ist hier auch nicht eindeutig, denn es kann einen Einfall oder ein Konzept
beschreiben. Ich verwende das Wort Idee deshalb nur ungern, sondern spreche lieber vom „Konzept“.
Man könnte es so erklären: Auch ein Künstler hat zunächst nur einen Einfall. Aber vom ersten
Einfall hin zu etwas, was jemand seinen Stil nennen kann, bei dem er sich selbst ausdrückt und
gleichzeitig sich auch andere Menschen davon angesprochen fühlen, braucht Zeit. Es reicht nicht,
einen Farbbeutel an die Wand zu werfen und zu sagen: Das ist jetzt Wurf-Art. Einen eigenen Stil
zu entwickeln braucht Zeit. Von „Konzepten“, die lediglich Einfälle sind, halte ich deshalb nicht
viel. Denn oft zeigt sich später, dass der Einfall nicht viel taugt. Mir war es dagegen wichtig, mir
etwas auszudenken, was wirklich Hand und Fuß und Aussicht auf Erfolg hat. Als ich lange genug
über Tee recherchiert hatte, hatte ich auch ein Konzept, wie man es besser machen kann. Tee ist
ein gutes, gesundes Produkt, und es gab viel Potenzial, es besser zu machen als die etablierten
Unternehmen im Teemarkt.
Wie genau sah das Konzept der Teekampagne aus?
Ein wichtiger Aspekt war, auf eine so hohe Einkaufsmenge zu kommen, dass man diese direkt
beim Erzeuger einkaufen kann. Ich hatte herausgefunden, dass das teuerste am Tee der Zwi-
schenhandel ist. Dazu war es notwendig, sich radikal zu beschränken und lediglich auf ein Pro-
dukt zu fokussieren. Während andere Teehändler bis zu 300 Teesorten anbieten, hatten wir nur
eine einzige Sorte im Angebot: Darjeeling. Das war das ökonomische Grundprinzip der Teekam-
pagne: Direkt bei den Erzeugern einzukaufen, um den Zwischenhandel umgehen zu können.
Das zweite Grundprinzip war, Großpackungen zu verwenden. Es war verwunderlich, dass Tee
bis dato nur in kleinen Verpackungen verkauft wurde, während die Standardpackung Kaffee 500
Gramm schwer war. Dabei hält sich Tee viel länger als Kaffee. Bei Tee ist die Standardpackung
aber nur 100 Gramm. Das schien mir völliger Unfug, einfach nur eine Konvention, ohne ver-
nünftigen Grund. Die Überlegung war: Die Teepackung muss größer sein als die Kaffeepackung.
Ich bin ein konservativer Ökonom. Die Aufgabe der Ökonomie ist es, gute Produkte preiswert
anzubieten. Heute wird diese Aufgabe zunehmend aus den Augen verloren. Stattdessen wird
viel Geld für Marketing ausgegeben und werden Marken aufgebaut. Wir haben hingegen ver-
sucht, das Produkt besser zu machen: Bessere Qualität – Darjeeling ist das höchstgelegenste
Teegebiet der Welt und produziert ein einzigartiges Aroma. Wir wollten einen fairen Preis an
die Erzeuger zahlen; außerdem sollte der Tee keine Chemierückstände enthalten. Um Letzteres
sicherzustellen, haben wir vor jedem Tee-Einkauf Rückstandsanalysen durchgeführt. Das war
damals noch etwas sehr Exotisches. Die Diskussion um Chemierückstände fing zu diesem Zeit-
punkt erst an. Tee galt als besonders reines Lebensmittel. Doch das stimmte leider nicht. In
den Tees waren bis zu 20 verschiedene Chemierückstände enthalten. Unser großes Ziel war es,
einen Tee mit weniger Chemierückständen anbieten zu können, später möglichst in Bio-Qualität.
Es gibt einen weiteren Aspekt, der für mich entscheidend war: Tee ist ein Fertig-
produkt. Kaffee muss erst noch geröstet und gemahlen werden, beim Tee kaufe
ich direkt an der Plantage ein Endprodukt. Dieses muss ich nur noch verpacken.
Alles in allem konnten wir am Ende einen sensationellen Preis anbieten. Wir hatten
keine Abgaben an Zwischenhändler und verkauften in Großpackungen. Auch die
anderen Vorteile, wie Fair Trade und die Rückstandskontrollen, waren für uns und die
Kunden wichtig. Und das besonders Schöne dabei ist: Kunden müssen diese Vorteile
nicht extra bezahlen. Normalerweise verteuern ja Fair Trade und Bio-Qualität das Pro-
dukt. Wir sparen an anderer Stelle viel und können dafür an diesen Stellen großzügig sein.
Auch die Finanzierung war Teil des Konzepts. Wir haben den Tee im Versand ausschließlich
per Vorkasse verkauft. Normalerweise geht da kein Mensch gerne darauf ein. Das konnten wir
machen, weil wir eben etwas Besonderes angeboten haben: hohe Qualität, niedriger Preis, dazu
260 Teekampagne

noch Fair Trade und rückstandskontrollierter Tee. Durch die Vorkasse bekamen wir das Geld,
lange bevor wir die Teerechnung bezahlen mussten. Dadurch war die Finanzierung zum großen
Teil sichergestellt. Und wir hatten immer Cash. Das hätte gereicht, um gleichzeitig eine Bank zu
gründen.
Das Konzept ist überzeugend. Hat es in der Umsetzung auch funktioniert?
Unsere Vorteile waren so groß, dass wir uns ziemlich sicher waren, dass es klappen wird.
Schließlich hat unser Tee nur ein Drittel von dem gekostet, was im Handel üblich war. Und das
ist natürlich ein immenser Vorteil. Wenn mich die Leute nach Marketing fragen, sage ich immer,
dass wir kein Marketing brauchen. Unser Marketing ist der Preisvorteil, der Kampfpreis. Und die
Antwort ist: Ja, es hat funktioniert. Die Leute standen Schlange. Nach vier Wochen waren wir
ausverkauft. Dabei hatten wir keine Werbung gemacht. Normalerweise denken die Leute bei so
einem Preis: Da stimmt etwas nicht. Aber die Teekampagne war von Anfang an sehr transparent.
Es war für jedermann ersichtlich, wie wir auf diesen Preis kommen. Wir haben unsere komplette
Kalkulation bis auf den letzten Cent veröffentlicht.
Sie sagen, Sie haben kein Marketing gemacht. Wie ist die Teekampagne zu ihrer Bekannt-
heit gekommen?
Es funktionierte tatsächlich hauptsächlich durch Mundpropaganda. Ein Beispiel dazu:
Irgendwann hat ein Bremer Lehrer durch Zufall in Berlin von der Teekampagne erfahren. Seine
Schule gab einmal im Jahr eine Großbestellung bei einem alteingesessenen Versandhändler
auf. Der Lehrer erzählte, den gleichen Tee gebe es in Berlin zu einem Drittel des Preises. Alle
dachten natürlich zunächst, dass das nicht sein könne und der Tee nichts tauge. Aber dann hat
die Schule einen Test gemacht: der bisherige Tee gegen den Tee der Teekampagne. Und die Mei-
nungen waren gleich verteilt, es konnte kein Unterschied festgestellt werden. Damit schwenkte
die gesamte Bremer Schule zur Teekampagne um. Wir bekamen auf einen Schlag eine Bestellung
in der Größenordnung von 800 Kilogramm – wir sind fast in Ohnmacht gefallen. Das war toll.
Und die Geschichte machte natürlich die Runde. Das Kollegium hat dann Lehrern von anderen
Schulen davon erzählt und so fing sich das Rad an zu drehen.
Das heißt also: Das Konzept war so gut, dass das Marketing allein durch das Konzept ge-
tragen wurde?
Genau. Und das ist ein Punkt, der für alle Nicht-Ökonomen von Bedeutung ist. Wenn man
ein gutes Konzept hat, kann man an anderen Stellen schwach sein, zum Beispiel im Management.
Ich bin ein schlechter Manager und vom Management her war die Teekampagne ein Desaster.
Beispielsweise haben wir bei uns im Wandregal eines Tages einen Karton entdeckt, der voll mit
Verrechnungschecks im Gesamtwert von mehr als 10.000 D-Mark war. Aufgefallen ist das vorher
niemandem. Und vermisst hat die Schecks auch keiner. Dieses Beispiel war nicht die einzige
Management-Katastrophe. Wir waren wirklich schlechte Manager und hatten schlechte Kont-
rollen. Trotzdem sind wir nie in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Es hat funktioniert, weil das
Konzept so gut war, dass es solche Katastrophen ausgehalten hat.
Sie haben – auch aus den Erfahrungen mit der Teekampagne heraus – das Buch „Kopf
schlägt Kapital geschrieben“. Darin beschreiben Sie das sogenannte konzept-kreative
Gründen, bei dem das Konzept ein zentraler Aspekt der Philosophie ist. Warum ist das so
wichtig?
Das Konzept ist eine wesentliche Säule des konzept-kreativen Gründens. Es ist so wichtig, weil
es die eigentliche Funktion des Gründers beschreibt. Es ist nicht die Business Administration –
einen Manager kann man einstellen, das muss man nicht selbst tun. Larry Page und Sergey Brin, die
Professor Dr. Günter Faltin 261
262 Teekampagne

beiden Gründer von Google, beispielsweise konzentrierten sich völlig auf die Suchmaschine, das
Management gaben sie ab. Es ist auch nicht das Kapital, denn das ist heute nicht mehr der Engpass.
Heute brauchen Gründer viel weniger Kapital; es geht schließlich nicht mehr darum, ein neues
Stahlwerk zu bauen. Entweder kann man sein Unternehmen selbst finanzieren, oder man tut es
mit Hilfe von Freunden oder der Familie. Zur Bank müssen heute nicht mehr viele Gründer gehen.
Was ich sagen möchte: Wenn das Konzept gut ist, kann man sich eher Schwächen an anderer
Stelle leisten. Dafür reicht es aber nicht, mit einem Einfall zu gründen, sondern es braucht eben
ein wirklich gut durchdachtes Konzept. Und das heißt auch: Gründe nicht zu schnell!
Was ist neben dem Konzept wichtig?
Die zweite wichtige Säule heißt: mit Komponenten gründen, also professionelle Dienst-
leister heranziehen. Anstatt als dilettantischer Anfänger alles selbst machen zu wollen, sollte
ich mir professionelle Komponenten einkaufen. Ich denke beispielsweise an die Logistik, die
Buchhaltung oder Bürodienstleistungen. Das können andere viel besser, meist auch preis-
werter, vor allem wenn man die Fehler, die Anfänger machen, mit einrechnet. Und die Ver-
fügbarkeit solcher Dienstleistungen ist in jüngster Zeit stark gewachsen. Das macht diesen
Ansatz überhaupt erst möglich. Die Sichtweise, dass man als Entrepreneur ein Alleskönner sein
und alles wissen muss, finde ich fatal. Wir müssen von dieser Vorstellung Abschied nehmen.
Ingvar Kamprad, der IKEA-Gründer, hat einmal über sich gesagt, er sei ein katastrophaler Orga-
nisator. Trotzdem ist IKEA ein hervorragend organisiertes Unternehmen. Der beste Beweis
dafür, dass Komponenten funktionieren sind auch Serial-Entrepreneurs, also Menschen, die
mehrere Unternehmen parallel betreiben. Das schaffen sie nur, weil sie Aufgaben abgeben.
Komponenten haben immense Vorteile. Ich brauche kein Kapital, um mir eine eigene entspre-
chende Infrastruktur aufzubauen. Ich hole mir das Know-how von Experten ins Haus und bin
dadurch von Anfang an professionell und effizient. Ich muss die Komponenten lediglich koor-
dinieren können und ich muss in der gewonnenen Zeit am Unternehmen und nicht im Unter-
nehmen arbeiten. Ich kann mich also auf das Wesentliche konzentrieren. Das ist ja auch genau
das Schöne an der Funktion des Entrepreneurs: Sie können als Chef das abgeben, was Ihnen nicht
liegt und behalten sich die Dinge vor, die Sie gerne machen. Als Gegenargument höre ich oft,
dass man sich professionelle Komponenten nicht leisten könne. Dann sage ich immer: Ja, wenn
Sie sich Professionalität nicht leisten können, dann versuchen Sie es doch mal mit Unprofessiona-
lität. Jeder weiß sofort, dass das noch teurer ist. Ein Konzept muss so ausgereift sein, dass ich mir
professionelle Komponenten von Beginn an leisten kann.
Andere aktuelle Lehren über Startups – wie das Buch Lean Startup – heben vor allem das
frühe Testen der Idee hervor. Welche Rolle spielt das Austesten in Ihrer Philosophie des
konzept-kreativen Gründens?
Das, was im Englischen „Proof-of-Concept“ heißt, ist sehr wichtig und ist die dritte
wesentliche Säule des konzept-kreativen Gründens. Bei der Entwicklung eines Konzepts gibt
es immer Annahmen, die man testen sollte. Beispielsweise: Wie viel Teetrinker gibt es über-
haupt? Wie viele davon trinken Darjeeling-Tee? Was man nicht machen sollte ist, anzufangen
und erst dann zu testen. Man sollte das Testen bereits im Prozess der Konzeptentwicklung tun,
also den Proof-of-Concept von Anfang an suchen. Alles andere ist Gründen als Roulette-Spiel.
Nehmen wir an, Sie wollen ein ägyptisches Restaurant eröffnen. Sie kaufen die Küche, die Ein-
richtung und stellen das Personal ein. Dann öffnen Sie die Tür, machen Marketing und hoffen,
dass Gäste kommen. Das ist für mich das Gleiche, wie in eine Spielbank zu gehen. Ich würde so
nie gründen. Wenn ich das Gründen als eine Art Wette betreibe, verliere ich in den meisten Fällen.
Stattdessen würde ich die Annahmen vorher testen und zwar sehr konkret, das heiß, nicht nur
Professor Dr. Günter Faltin 263

Meinungen zu ägyptischem Essen erfragen, sondern selbst ägyptisch essen gehen und beobachten,
wie viele Leute es auch tun. Man muss so früh wie möglich und so intensiv wie möglich testen.
Bei einem Produkt ist die Frage „Würden Sie dieses Produkt kaufen?“ kein harter Test. Vielleicht sagen
die Befragten nur aus Höflichkeit ja. Besser ist es, wenn sich die Leute auf eine Liste eintragen müssen,
um das Produkt zu erhalten und einen Vorschuss zahlen. Das ist ein harter Test. Mein Rat ist, einen
Test lieber zu übertreiben, als ihn zu „weich“ zu machen. Es geht darum, alle erkennbaren Risiken
zu adressieren. Oft wird gesagt: Wir brauchen mehr risikobereite Unternehmer. Aber es ist doch viel
besser, sich gut vorzubereiten und das Risiko zu minimieren. Ein Restrisiko bleibt ohnehin immer.
Kürzlich habe ich Glorianna Davenport gehört, die Mitgründerin des berühmten MIT Media
Lab. Sie erzählte, dass 80 Prozent der MIT-Startups scheitern. Es überleben also nur 20 Prozent der
Gründungen, obwohl viele von der technologischen Seite her hervorragend sind. Davenport sagt
außerdem, dass von den 20 Prozent, die überleben, wiederum nur 20 Prozent wirklich sehr erfolg-
reich sind, also nur vier von 100 an die Spitze kommen. Das sind die, die dann in aller Munde
sind. Die anderen, die überleben, verdienen Geld, sind aber nicht spektakulär erfolgreich. Woran
es krankt, ist sicher nicht die Technologie, sondern es ist das Businessmodell. Technologie ist der
Rohstoff. Daraus etwas zu machen, was ankommt, ist eine ganz andere Sache. Selbst Glorianna
Davenport meinte, dass sie dies am MIT unterschätzt haben. Sie glaubten, dass es allein mit der
besten Technologie funktionieren wird. Das Businessmodell haben sie vernachlässigt. Aber genau
da muss man viel tun. Die drei Säulen: Konzept, professionelle Komponenten und ein möglichst
frühzeitiger Proof-of-Concept sind meiner Meinung nach unabdingbar bei einer Gründung.
In meinem Umfeld hat es bislang keine Insolvenz gegeben. Zwar gab es Konzepte, die nicht reali-
siert wurden oder Entrepreneurs, die rechtzeitig wieder aufgehört haben, weil der Proof-of-Con-
cept nicht gelang – aber keine Insolvenz. Im Vergleich zu den eben genannten Zahlen ist das
schon bemerkenswert.
Wie gelingt es, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln?
Um es vorweg zu sagen: Ein gutes Konzept zu entwickeln, ist nicht einfach. Es funktio-
niert nicht nach Lehrbuch. Sie wissen nicht, ob es überhaupt jemals zu einem Ergebnis kommt.
Ich vergleiche das immer mit einem Puzzle – sie haben einige Teile in der Hand, aber es fehlen
noch ganz viele. Bei einem herkömmlichen Puzzle wissen sie, was herauskommen soll, wie das
Bild aussieht. Bei der Suche nach einem Konzept weiß man dagegen nicht, wie das Bild letzt-
endlich aussehen wird. Das Ergebnis ist völlig offen. Sie müssen aus den Puzzleteilen etwas her-
ausbekommen, das zu etwas Sinnvollem führt. Und das wird nicht immer funktionieren. Ich
selbst hatte neben der Teekampagne noch einen anderen, wie ich fand, guten Einfall, nämlich
Flaschen als Baumaterial zu nutzen. Den Getränkeflaschen aus Glas eine Form geben, dass sie
als Baustein verwendet werden können. Quasi ein zweites Leben der Glasflasche. Altglas als
Baumaterial. Glas ist ein toller Werkstoff: hell, isolierend – und kostenlos. Doch ich bin dazu
bis heute nicht auf ein tragfähiges Konzept gekommen. Es scheitert immer an Details wie bei-
spielsweise der deutschen Bauaufsicht. Der Fall, dass es trotz eines vielversprechenden Einfalls
zu keiner Realisierung kommt, kann immer eintreffen. Das sollte man im Hinterkopf haben.
Man kann an dieser Stelle übrigens eine Parallele zur Kunst ziehen. Modernes Entrepre-
neurship hat viel mit Kunst zu tun. Es macht Sinn, Dinge mit den Augen eines Künst-
lers zu betrachten und nicht nur mit BWL-Augen. Es eröffnet neue Sichtachsen.
Grundvoraussetzung für ein gutes Konzept ist es, ein Thema genau zu verstehen. Nur dann kann
ich die richtigen Ansätze finden und Dinge besser machen. Um ein solch tiefes Verständnis zu
haben, braucht es Zeit, es muss reifen. Wenn man sich aber einmal für ein Thema entschieden
hat, hat man auch den nötigen Fokus. Bei mir drehte sich irgendwann alles um Tee. Überall, wo
etwas mit Tee war, habe ich sehr genau hingesehen. Wenn in der Zeitung etwas über Tee stand,
264 Teekampagne

habe ich das natürlich gelesen. Meinen Urlaub habe ich in Darjeeling in Indien verbracht und
nicht auf Mallorca. Ich habe mir den Hafen in Kalkutta angeschaut und mit den Leuten gespro-
chen, weil ich wusste, dass ich kein Experte bin und mich genau informieren musste, um keine
fundamentalen Fehler zu begehen. Gleichzeitig habe ich damit von Anfang an auf professionelle
Komponenten gesetzt. Beispielsweise: Mit welchen Experten für den Transport sollte ich zusam-
menarbeiten? Bei welchen Tee-Auktionen lohnt sich der Besuch? Ich lokalisierte die Kompo-
nenten, die ich brauchte, um keine Anfängerfehler zu machen. Und ich musste aufpassen, nicht
zu idealistisch an die Sache heranzugehen. Ich wurde zu der Zeit häufig als Idealist oder Spinner
abgetan. Man darf nicht naiv an ein solches Unterfangen herangehen und muss aufpassen, nicht
von Profis und „Geschäftshubern“ ausgenommen zu werden.
Sie sagen: Die Konzeptentwicklung ist nicht vorhersagbar, eher künstlerisch. Gibt es
trotzdem eine Systematik, um zu einem guten Konzept zu gelangen?
Es gibt schon Aspekte, die sich systematisch abarbeiten lassen. Zunächst braucht es immer
eine Anfangsidee und dann Techniken, um die Idee abzuklopfen. Ich habe sieben Techniken iden-
tifiziert: Potenzial in Vorhandenem entdecken, Vorhandenes neu kombinieren, mehr als nur eine
Funktion erfüllen, Probleme als Chance verstehen, Arbeit in Spaß und Unterhaltung verwandeln,
Visionen Wirklichkeit werden lassen und Funktion statt Konvention, also Konventionen zu bre-
chen und Funktionen zu erfüllen. Wie ich bereits erwähnt habe, war es eine Konvention, Tee in
kleinen Packungen zu verkaufen. Aber das war nur deshalb normal, weil sich einfach alle daran
gewöhnt hatten. Besser ist es aber, von den Funktionen her zu denken und sich zu fragen, ob alle
mit der üblichen Art und Weise verbundenen Prozesse überhaupt notwendig sind. Im Falle der
Teekampagne war die Antwort: nein. Und sie führte zum Direktverkauf von Großverpackungen.
Der nächste Schritt ist, die einzelnen Puzzleteile zu finden und möglichst früh die
Annahmen zu testen. Wichtig ist hierbei auch die Offenheit der Situation, die Ambiva-
lenz auszuhalten. Schließlich wissen sie nicht, was am Ende herauskommt – oder ob über-
haupt etwas herauskommt. Ob aus den einzelnen Puzzleteilen irgendwann ein Ganzes wird.
Dass das Konzept stimmig zur Person ist, aber auch stimmig zum Markt, ist ein ganz wichtiger
Punkt. Ich werde oft gefragt, wie man die Stimmigkeit zur Person herausfinden kann. Denn: Sich
selbst zu erkennen. ist nicht einfach. Wo ist man glücklich? Wo ist man selbstvergessen, arbeitet,
ohne es als Arbeit zu empfinden? Nicht wenige Menschen gehen an dem, was sie gut können, vorbei.
Eben weil es ihnen so leichtfällt. Dabei ist genau das die Ecke, in die man genau hinsehen sollte.
Was ist sonst noch wichtig? Sich neue Sichtachsen zu legen, in Komponenten zu denken und
die Ökonomie der Aufmerksamkeit zu beachten. Denn Marketing muss Teil des Konzepts sein.
Konventionelle Werbung kommt meistens nicht infrage, weil sie zu teuer ist. Sie müssen versu-
chen, aufzufallen. Das kann durch das Produkt gelingen oder durch den Unternehmer selbst. Karl
Lagerfeld ist ein perfektes Beispiel. Er hat es durch sein Auftreten geschafft, eine Weltmarke zu
sein. Ein Vorteil gegenüber großen Spielern im Markt können Sympathie und Authentizität sein.
Wer diese Attribute erarbeitet, kann sie ausspielen.
Sie heben die Stimmigkeit zur Person hervor. Warum ist es so wichtig, seine eigene Person
zu berücksichtigen, anstatt lediglich auf gute Gelegenheiten am Markt zu schauen?
Die Stimmigkeit zur Person ist extrem wichtig, da sie sonst die Energie nicht aufbringen
können, die für den Aufbau eines Unternehmens nötig ist. Der Vorrat an Disziplin ist begrenzt,
stattdessen braucht es Leidenschaft. Und die entwickelt sich nur, wenn die Unternehmung zur
Person passt. Wenn Sie mich fragen, kann man Entrepreneurship in einem Wort zusammen-
fassen: Passion. Also Leidenschaft für eine Sache. Nur so haben wir es geschafft, Weltmarktführer
für Darjeeling-Tee zu werden und Firmen wie Lipton, Twinings und Teekanne zu überholen.
Professor Dr. Günter Faltin 265
266 Teekampagne

Der Bezug zur Person wird in vielen Ratgebern übersehen. Es geht darin immer nur um die „guten
Gelegenheiten“, den klassische Ansatz der sogenannten „Opportunity Recognition“. Doch es wird nie
gefragt, ob das Vorhaben denn auch zu der Person passt. Die „Opportunity Recognition“ könnte zum
Beispiel ergeben, dass in Berlin Zehlendorf ein Copyshop fehlt und dieser gute Geschäfte verspricht.
Mag sein. Aber nicht jeder will für den Rest seines Lebens in Zehlendorf in einem Copyshop stehen.
Ich rede lieber von „Opportunity Creation“. Ich muss mir etwas schaffen, das zu mir passt. Das ist
nicht einfach, denn dafür muss ich wissen, wo ich hingehöre und was ich wirklich machen will.
Ich muss mich also vorab selbst erkennen.
Meiner Meinung nach kann jeder Entrepreneur sein, der die richtige Ausdauer mitbringt.
Es gibt viele empirische Untersuchungen über Charaktereigenschaften von erfolgreichen Grün-
dern. Sie führen zu keinem klaren Ergebnis. Der Bildungsgrad korreliert nicht, der Familienhin-
tergrund auch nicht. Einzige Ausnahme ist die Ausdauer. Hier ist eine Korrelation vorhanden,
zwar schwach, aber immerhin. Diese Ausdauer muss aus einem selbst kommen. Und deshalb ist
die Leidenschaft so wichtig.
Woher kam Ihre Leidenschaft für die Teekampagne. Sie waren ja Kaffeetrinker …
Die Leidenschaft war zunächst nicht der Tee. Das hat sich erst später entwickelt. Mein Punkt
war ein anderer: Ich wollte beweisen, dass man von der Universität aus eine bessere Praxis ent-
werfen kann. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die einen Gast von Siemens einladen, der von der
Praxis erzählt. Entrepreneurship ist für mich auch mehr als nur Business machen. Es ist krea-
tive Zerstörung a lá Schumpeter. Ich will kein Geschäftshuber sein. Die Hauptsache ist auch
nicht der Profit. Profit ist für mich lediglich der Treibstoff, damit die Maschine läuft. Ich wollte
schlicht etwas machen, das besser ist als das Bestehende. Das Entrepreneurship war also bei mir
die Passion.
Ihre Philosophie des konzept-kreativen Gründens hat großen Anklang gefunden. Es gibt
inzwischen weitere Gründungen a lá Teekampagne …
Es gibt ein gutes Netzwerk und eine große Fangemeinde, die von der Teekampagne als Modell
ausgehen. So gibt es beispielsweise die zwei Olivenölkampagnen, eine Weinkampagne, eine
Gewürzkampagne, eine Laktasekampagne, und sogar eine Sockenkampagne. In manche bin ich
als Business Angel involviert. Es sind Gründungen, die sich direkt an der Teekampagne orientiert
haben. Dann gibt es Unternehmen, die einzelne Elemente von uns übernommen haben, zum Bei-
spiel indem sie professionelle Komponenten anwenden. Es gibt aber natürlich auch andere Grün-
dungen. IT-Startups und Softwareentwicklungen scheinen beispielsweise ein anderes Feld zu sein.
IT-Startups und das konzept-kreative Gründen passen also nicht zusammen?
Es passt eigentlich zusammen. Aber aus irgendeinem Grund nennen es die Softwareentwickler
nicht konzept-kreativ. Konzept-kreativ grenzt sich von denjenigen ab, die der Meinung sind, dass
das Wichtigste das Management ist. Es gibt immer noch Leute, die sagen, dass die Idee nicht relevant
ist, sondern lediglich die Geschäftsabwicklung, also dass das Management zählt. Ich habe diesbe-
züglich Zweifel. Ich erwähnte ja schon, dass die Teekampagne ein Beispiel dafür ist, dass allein das
Konzept funktioniert hat, obwohl das Management katastrophal war. Damit unterscheidet sich
die Teekampagne von der Tradition, wie Gründen früher betrachtet wurde. Und diese Vorstellung
gibt es immer noch: dass ich als Gründer eben viel Kapital brauche und etwas von BWL verstehen
muss. Die Idee sei nicht so wichtig. Mir leuchtet dieser Ansatz nicht ein. Und die Zahlen spre-
chen ja auch eine andere Sprache, denn die Statistik besagt, dass 80 Prozent aller Neugründungen
nach fünf Jahren nicht mehr vorhanden sind. Das ist ja nun wirklich ein katastrophales Ergebnis.
Stellen Sie sich mal vor, in einer Fabrik würden 80 Prozent Ausschüsse erzeugt. Oder in der
Schule würden 80 Prozent durchfallen. Das ist nicht akzeptabel. Doch beim Gründen wird eine
Professor Dr. Günter Faltin 267
268 Teekampagne

solche Quote akzeptiert. Dabei liegt es meiner Meinung nach viel an den schwachen Konzepten.
Es gibt auch Beispiele dafür, dass man mit einer schlechten Idee und guter „Execution“ erfolg-
reich sein kann. Aber ich empfehle, nicht der Konvention zu folgen, sondern auf ein gutes Kon-
zept zu setzen: Gerade denjenigen, die nicht viel Geld haben und keine Management-Ausbildung
oder Talent zum Management mitbringen. Und das sind die meisten. Viele können noch nicht
einmal ihr eigenes Leben managen, geschweige denn ein Unternehmen.
BWL-Wissen hilft also nicht SO SEHR VIEL weiter. Wie sähe denn eine ideale Gründer-
Grundausbildung aus? Wie könnte ein Curriculum an der Universität gestaltet werden?
Einem solchen Gedanken stehe ich skeptisch gegenüber. Letztlich läuft es in der Praxis leider
immer darauf hinaus, dass BWL gelehrt wird. Dabei sollte man sich die historische Entwick-
lung der BWL vor Augen halten. BWL ist durch das Wachstum von Großunternehmen ent-
standen, bei denen man mit einfachen Daumenregeln nicht mehr zurechtkam. Also brauchte
es eine Art Management Science. Konzeptentwicklung kommt bei diesem Ansatz nicht vor.
Dann aber zu glauben, dieser Ansatz eigne sich für Gründer, ist ein Irrtum. Natürlich brauche
ich BWL. Aber ich brauche BWL nicht in der Art wie sie für Großunternehmen entwickelt
worden ist. Am Anfang reicht für die Buchhaltung beispielsweise ein Student. Ich brauche
mich nicht selbst in die GmbH-Buchhaltung einzuarbeiten, die ziemlich komplex ist. Meiner
Meinung nach ist die Fachdisziplin, die Ausbildung, die jemand macht, irrelevant. Egal ob
jemand Theologie, Philosophie oder was auch immer studiert – er kann Entrepreneur werden.
Ich habe meine Zweifel an klassischen Ausbildungsinhalten. Ich würde sehr vieles über Kompo-
nenten lösen und versuchen, eine Detail-Spezialisierung zu vermeiden. Die Details sind natürlich
wichtig, aber wenn ich mich um alles kümmern muss, werde ich erschlagen und komme nicht
zum wesentlichen Teil, dem Konzept.
In den vergangenen Jahren hat sich interessanterweise Einiges geändert. Heute reden alle vom
Businessmodell; das hat vor zehn Jahren noch niemand getan. Heute wird anders gegründet;
heute steht das Konzept viel stärker im Mittelpunkt als früher. Der Business Model Canvas,
entwickelt von Alexander Osterwalder, ist für die Visualisierung der Geschäftsidee sehr populär
geworden.
Wichtig finde ich aber auch, sich die Frage zu stellen: Was willst du bewirken? Was ist deine
Philosophie? Willst du dich für ein Anliegen einsetzen? Willst du die Welt besser machen? Diese
Aspekte kommen viel zu wenig vor. Der Anspruch ist oft verlorengegangen im heutigen Fokus
auf Profit, Finanzierungsrunden und einen gelungenen Exit. Ich gönne es natürlich jedem, der es
schafft. Aber die Anzahl der Erfolgreichen ist eben verschwindend gering. Es gibt eine Studie von
McKinsey, die besagt, dass nur jede 100. Gründung Venture Capital erhält.
Venture Capital ist ein gutes Stichwort: Was halten Sie davon?
Trotz der Präsenz in der öffentlichen Diskussion: Ich würde nicht anstreben, Venture Capital zu
bekommen. Zunächst einmal ist es eher unrealistisch. Die Chancen sind, wie eben gehört, sehr gering.
Ich rate aber noch aus einem weiteren Grund davon ab. Sobald Sie Venture Capital beziehen, sind
Sie nicht mehr Herr im eigenen Haus. Sie werden schneller als Sie denken zum Angestellten Ihrer
eigenen Gründung, der in der Hamstermühle herumläuft und versucht, die Ziele, die Milestones,
die ihm gesetzt wurden, zu erreichen. Manchmal kommen Leute zu mir und erzählen stolz, dass sie
eine Million Venture Capital bekommen haben. Das hört sich erst einmal gut an. Aber wenn man
sich die Verträge anschaut, steht dort im Grunde, dass sie eine Million bekommen, wenn sie zwei
Millionen erwirtschaften. Venture-Capital-Geber sind Profis mit einem Heer an Rechtsanwälten.
Fazit: Aus statistischen, aber auch aus inhaltlichen Gründen würde ich Venture Capital nur mit
äußerster Vorsicht anfassen.
Professor Dr. Günter Faltin 269
270 Teekampagne

Sie haben selbst gegründet und sind als Business Angel aktiv. Worauf sollten Gründer bei
der Zusammenstellung ihres Teams achten?
Zunächst einmal sollten sie sehr vorsichtig sein. Viele haben ein euphorisches Erlebnis, wenn sie in
einer Gruppe arbeiten. Das ist zweifellos toll. Aber viele solcher Gruppen gehen schief, oft fürchterlich
schief. Freundschaften werden zu Feindschaften. Ich habe wirklich schon viele Teams erlebt, die sehr
bitter auseinandergegangen sind. Ich möchte deshalb jedem dazu raten, nicht unüberlegt Freunde,
Familienmitglieder oder Bekannte heranzuziehen, sondern auf professionelle Begleiter zu setzen.
Eine Grundregel ist, Teams immer mit unterschiedlichen Qualifikationen zu besetzen. Jeder
sollte seinen Bereich haben, in dem er sich entfalten kann und nicht mit anderen konkur-
riert. Und wer für welche Aufgaben zuständig ist, gehört dabei klar definiert. Bei der Frage,
wer der Lead Entrepreneur ist, muss Einigkeit herrschen. Überhaupt: Wem was gehört, muss
eindeutig geklärt sein. Wer wie viele Unternehmensanteile hat, sollte aufgeschrieben werden.
Selbst wenn sich das Team nicht finanziell einbringt, dann doch mit Wissen und Zeit.
Ein Team ist etwas Großartiges, wenn es funktioniert. Doch ich warne davor, zu optimistisch her-
anzugehen. Es gibt viele Menschen, die arbeiten besser allein oder als Chefs mit Untergebenen.
Zum Abschluss: Haben Sie noch einen Rat für Gründungsinteressierte?
Zunächst einmal: Mir selbst ist es wichtig, die Bedeutung von Entrepreneurship hervor-
zuheben. Entrepreneurship hat einen emanzipatorischen Hintergrund, es ist ein Stück Gesell-
schaftspolitik. Das Anliegen von Entrepreneurship ist es, Menschen die ökonomische Unab-
hängigkeit zu geben. Entrepreneurship ist also weit mehr als eine weitere Karrieremöglichkeit.
Für den Einzelnen ist Entrepreneurship natürlich eine wunderbare Option, die sehr viel Spaß
machen kann. Ich kann nur sagen: Probieren Sie es aus, fangen Sie an, ein Konzept zu entwickeln.
Nehmen Sie die Herausforderung an.
Viele Menschen haben irgendwann das Gefühl, aus dem eigenen Leben nicht genug gemacht
zu haben. Dieses Gefühl, man hätte vielleicht mehr Herausforderungen annehmen können und
hat es nicht getan, ist sehr schmerzhaft. Entrepreneurship ist eine Form der Selbstverwirklichung
Das Materielle ist dabei nur ein angenehmer Nebeneffekt. Henry Ford war nicht so erfolgreich,
weil er Dollarzeichen in den Augen hatte, sondern weil er mit Leidenschaft bei der Sache war.
Sich für etwas einzusetzen und sich lebendig zu fühlen – das allein ist bereits immens viel wert.
Es gibt den Begriff Überzeugungsgründung, den ich sehr schön finde. Selbst der berühmte
Management-Guru Peter Drucker hat sinngemäß gesagt: Es geht bei Entrepreneurship nicht um
Management. Es geht um einen Sinn, um die Überzeugung für eine Sache.
Herr Faltin, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Günter Faltin

Faltin, Günter (2012); Kopf schlägt Kapital; Deutscher Taschenbuch Verlag


Kawasaki, Guy (2013); The Art of the Start: Von der Kunst, ein Unternehmen erfolgreich zu
gründen; Vahlen
Fried, Jason und Heinemeier Hansson, David (2010); Rework; Crown Business
Osterwalder, Alexander (2010); Business Model Generation: A Handbook for Visionaries, Game
Changers, and Challengers; John Wiley & Sons
www.entrepreneurship.de – viele Lernvideos und Texte zum kostenlosen Download
True Fruits
Nicolas Lecloux, Katia Winter
19

Gründerteam: Gründerteam: Nicolas Lecloux, Marco Knauf und Inga Koster (von links)

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_19,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
272 True Fruits

Drei Studenten erobern mit true fruits als erster


Smoothie-Anbieter den deutschen Markt
2006 von drei Freunden gegründet, branchenfremd und mit kaum Kapital gestartet, eroberte
true fruits als erster Smoothie-Anbieter den deutschen Markt. Mit mittlerweile sechs unterschied-
lichen Smoothies, drei Sorten frischen Saft und 19 Gefährten ziehen sie ihr Ding konsequent
durch – mit Erfolg: Produktdesign und Qualität wurden bereits mehrfach national und interna-
tional ausgezeichnet. Leidenschaft statt Industrie, Qualität statt Zusatzstoffe und allen voran das
Prinzip: 100% Frucht – no tricks. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Nicolas, wie entstand die Idee für True Fruits?


Nicolas: Die Gründergeschichte hat gar nicht mit mir begonnen, sondern mit Inga und
Marco, meinen beiden Mitgründern und damaligen Kommilitonen. Beide waren im Auslandsse-
mester in Schottland und haben dort diese bunten Fläschchen mit Frucht – die Smoothies – ent-
deckt. Sie haben sich sofort verliebt und ihnen war direkt klar: „Hey, bei uns in Deutschland hat
das irgendwie noch keiner gemacht.“ Die Idee hat sie dann nicht mehr losgelassen, und sie haben
mich nach ihrer Rückkehr mit ihrer Begeisterung angesteckt und mit ins Boot geholt.
Wie ging es dann weiter?
Nicolas: Uns war klar, dass wir die Idee weiterverfolgen wollten, wussten aber zunächst nicht
wie. Zwar hatten wir alle BWL studiert, wussten aber trotzdem nicht, wie man ein Unternehmen
gründet. Unsere FH Hochschule Bonn-Rhein-Sieg bot zum Thema Entrepreneurship damals
nicht viel. Trotzdem sind wir mit einem One-Pager zum Dekan gegangen und haben versucht,
ihn zu begeistern. Am Ende fand er die Idee interessant und hat uns angeboten, ein Praxisprojekt
draus zu machen. Im Rahmen der Praxisprojekte bearbeitet ein interdisziplinäres Studententeam
eine Praxisaufgabe. Unser Projekt hieß „Herstellung und Vertrieb von hochfruchthaltigen Ganz-
fruchtsaftgetränken“ und wir haben dies im Plenarsaal allen Professoren und Studenten vorge-
stellt. Die erste Reaktion der meisten Zuhörer war „Hä – was?“, da keiner das Produkt ver-
stand und die anderen Projekte normalerweise bei renommierten Großkonzernen durchgeführt
wurden. Wir haben es trotzdem durchgezogen und ich glaube, das ist auch der Punkt, der den
Gründer vielleicht vom Gründungsinteressierten unterscheidet. Es ist eben der „way to action“,
auch mal Dinge zu versuchen, die es noch nicht gibt. Jedenfalls hat es bei uns funktioniert und
wir konnten einige Chemiker und Biologen für unser Projekt gewinnen.
Nicolas Lecloux, Katia Winter 273

Wie habt ihr euch organisiert und wo welche Prioritäten im Praxisprojekt gesetzt?
Nicolas: Uns selbst zu organisieren und die nächsten Schritte festzulegen, war schon eine Her-
ausforderung. Natürlich galt als Erstes auch, den Businessplan zu schreiben, wichtiger war es aber
zunächst, die grundlegenden Fragen der Herstellung zu klären. Wo kriegen wir die Früchte her,
wie schält man z. B. eine Ananas, sollen wir das selber machen oder machen lassen? Wir haben
das Praxisprojekt dafür genutzt, die Masse solcher grundlegenden Fragen, die sich zwangsläufig
ergaben, als wir näher an das Thema heranrückten, zu klären.
Wann hattet ihr dann euren ersten Prototypen fertig und wie habt ihr das Produkt
weiterentwickelt?
Nicolas: Unseren ersten Prototypen haben wir dann Anfang 2006 auf dem Gründercampus der
Hochschule Bonn-Rhein-Sieg vorgestellt. Die Abfüllung haben wir gerade noch rechtzeitig hin-
bekommen. Das Geld für die Früchte hatten wir uns zusammengeliehen. Die Smoothies waren
damals noch sehr dickflüssig, eher wie Baby-Brei. Dort standen wir also mit unseren chaotisch
abgefüllten „Baby-Brei-Smoothies“ in vier verschiedenen Sorten. Die Resonanz war aber durchweg
positiv und das war für uns eine wichtige Bestätigung und Ermunterung weiterzumachen.
In der Produktweiterentwicklung hat uns, glaube ich, unsere Offenheit geholfen. Wir haben
kein Geheimnis aus unserer Idee und den offenen Fragen gemacht. Man muss sich vorstellen,
dass das Thema in den USA seit 1970 ein Multi-Millionen-Business und seit über zehn Jahren in
Großbritannien ein Riesen-Business war – und in Deutschland hat es noch keiner angefasst. Das
Produkt hatte also einerseits ein großes Potenzial, andererseits war es schon verwunderlich, dass es
noch keiner in Deutschland versucht hatte und wir fragten uns „Gibt es vielleicht einen Grund,
den wir nicht kennen?“ Hinzu kam, dass wir keinen im Team hatten, der sich mit Lebensmittel-
verarbeitung auskannte. Unsere Strategie war also, offen mit dem Thema umzugehen und viel zu
fragen. Wir haben dadurch viel Hilfe erfahren, vielleicht auch aufgrund der Tatsache, dass wir als
„naives“ Studentenprojekt auftraten. In jedem Fall ist das auch ein Learning, was wir gerne mal
weitergeben: Wenn ihr irgendwie nicht weiterwisst – fragt!
Wen habt ihr um Rat gefragt?
Nicolas: Wir hatten viele offene Fragen in Bezug auf Herstellung, also haben wir uns auf die
Suche nach dem Experten gemacht, dem Boss im Fruchtsaftbereich, der sich wirklich auskennt.
Die Koryphäe in dem Bereich war damals Professor Dr. Binnig. Als wir nach langer Wartezeit
endlich einen Termin mit ihm bekommen haben und wir ihm unser Smoothie-Konzept vorge-
stellt haben, hat er zunächst nur den Kopf geschüttelt und uns für verrückt erklärt. Am Ende hat
er uns dann aber in vielen Fragen weitergeholfen und Ratschläge gegeben, z. B. von Anfang an
die Produktion outzusourcen. Seine Empfehlung, auf Plastikflaschen zu setzen, anstatt auf Glas,
haben wir uns allerdings nicht zu Herzen genommen, da dies zentraler Bestandteil unserer Pro-
duktvision war …
… wie sah denn eure Vision aus?
Nicolas: Wir hatten schon immer den Anspruch, ein tolles Produkt im Premium-Segment zu
machen. Unser Fokus lag also auf der Qualität und nicht auf dem Price Leadership. Für uns war
dieser Fokus wesentlich spannender und hat uns mehr motiviert, denn wir waren selber von dem
Produkt begeistert und wollten etwas ultimativ Cooles produzieren. Deswegen war für uns auch
klar, dass unser Smoothie nicht in Plastik sondern in Glas verkauft wird, wir besondere exotische
Früchte verarbeiten und keine Konzentrate verwenden.
Diese Vision durchzusetzen, erforderte allerdings auch Trotz, da nicht alle diese Vision teilten,
wie z. B. unser Fruchtsaft-Experte. Wir wurden oft für verrückt erklärt, Glas zu verwenden, da es
wesentlich teurer als Plastik ist. Auch wurden wir gefragt: „Warum nehmt ihr keine Konzentrate?
274 True Fruits

Das ist viel billiger und den Unterschied schmeckt doch sowieso keiner.” An ein paar Stellen sind
wir immer wieder auf Widerstand gestoßen, haben uns aber entgegen dieses Widerstands durch-
gesetzt und das ist der Grund, warum wir heute immer noch existieren.
Ihr hattet also eine klare Vision, einen ersten Prototypen und wesentliche technische Fragen
geklärt. Wann war der Zeitpunkt, wo es mehr als ein Studentenprojekt wurde und ihr euch
für True Fruits als Full-Time Job entschieden habt?
Nicolas: Wir haben das Projekt ja schon quasi Fulltime gemacht. Die Diplomarbeit lief noch
nebenher, aber einen Großteil der Energie haben wir für unser Projekt aufgebracht. Inga hat mir
ihrer Diplomarbeit den Businessplan für uns fertiggestellt. Es gab also nicht einen Entscheidungs-
punkt, sondern es war eher ein fließender Übergang. Ein wegweisender Moment war aber sicher-
lich das positive Feedback bei der ersten Verkostung auf dem Gründercampus. Wir waren alle
bereit, durchzustarten, und ich hab mir natürlich schon die Frage gestellt: „Ja und was machst du?
Machst du da jetzt weiter mit?“ Ich weiß noch, wie Marco mir diese Frage stellte. Es war in einem
Café – da wo Omas mit ihren Dackel hingehen, um ihr Stück Käsekuchen zu essen – und er hat
mich gefragt: „Hey, willst du mitmachen?” und es war irgendwie klar, wir machen das, denn ich
fand die Aussicht, ein eigenes Produkt auf den Markt zu bringen, sehr spannend. Irgendwann
habe ich es dann auch meinen Eltern erzählt.
Okay, im nächsten Schritt musstet ihr euch dann mit dem Vertrieb auseinandersetzen. Wie
habt ihr den Erstkontakt mit dem Markt grundsätzlich empfunden?
Nicolas: Es war definitiv sehr anstrengend und schwieriger als erwartet. Zwar hatten wir wei-
teren Zuspruch durch den zweiten Platz im NUK Businessplan-Wettbewerb bekommen, doch die
Realität im Markt war nochmal eine andere Nummer. Wir haben selbst die ganze Zeit gezweifelt
– weil es noch keiner gemacht hat, kann dir auch keiner sagen, wie es geht. Also für mich war das
die größte Erfahrung in der Anfangszeit, zu lernen, selbst zu denken. Die meiste Zeit im Leben
wird man geschult und glaubt die Dinge in der Regel auch. Hier waren wir nun gezwungen,
Dinge infrage zu stellen, gegen Widerstände zu kämpfen und neue Lösungen zu suchen. Das war
sehr anstrengend, vor allem vom Handel ständig abgelehnt zu werden. Niemand bereitet dich
schließlich auf Kalt-Akquise im Vertrieb vor, da wirst du – und ich glaube daraus lernst du fürs
Leben – zum Köter.
Wie genau sah eure Vertriebsstrategie aus?
Nicolas: Auch hier hatten wir eine steile Lernkurve. Zunächst haben wir eine hochwertige Dis-
tributionsstrategie verfolgt: Lifestyle Locations wie Bars, Clubs oder Fitnessstudios. Wir haben
jedoch relativ schnell gemerkt, dass der Aufwand, die Gastronomie zu aktivieren, zu hoch wäre.
So sind wir glücklicherweise schnell auf den Einzelhandel gekommen. Als Einstieg haben wir uns
für die Tankstellen – im Marketingdeutsch „Convenience-Kanal“ genannt – entschieden. Über
diesen Weg ist schließlich auch Red Bull groß geworden. Wir haben uns folglich an den zentralen
Logistiker der Tankstellen gewandt und auch einen Termin bekommen. Leider konnten wir den
Herrn dort nicht überzeugen. Er äußerte Bedenken, da er keine Ahnung hätte, wie wir das her-
stellten, wohlmöglich sogar in der heimischen Badewanne, und er würde lieber warten, bis Pro-
dukte von einem großen Marmeladeproduzenten in drei Monaten auf den Markt kämen. Dieses
definitive „Nein“ war der erste massive Widerstand. Wir hatten richtig Angst um das Projekt als
Ganzes, denn für uns war aber nach wie vor klar: Wir müssen in die Tankstellen. Also versuchten
wir, einen anderen Weg und hatten Glück bei XING mit der direkten Ansprache eines Food &
Beverage Managers einer Tankstellenkette. Nach vier hartnäckigen Nachrichten rief er uns an
und sagte: „Also ihr geht mir auf die Nerven, ich bin am Wochenende in Bonn und da seid ihr
besser im Büro.“ Auch wenn wir uns nicht wohlfühlten mit der Stalker-Masche, waren wir froh,
Nicolas Lecloux, Katia Winter 275
276 True Fruits

einen Termin mit einem echten potenziellen Kunden zu haben. Und tatsächlich schienen ihm
das Produkt und unsere offene Art zu gefallen, und er hat sich auf einen Test in zehn Tankstellen
eingelassen.
War der Test in den ersten zehn Tankstellen erfolgreich?
Nicolas: Der Test lief sensationell gut. Wir haben in vier Wochen so viele Smoothies abgesetzt
wie ein damals ähnliches Fruchtprodukt in einem ganzen Jahr! Wir hatten damit eine tolle Refe-
renz, mit der die Tür zum zentralen Logistiker wieder offen stand.
Ihr musstet dann die Kapazitäten hochfahren? Wie habt ihr dies finanziert?
Nicolas: Die ersten Smoothies haben wir noch selbst in der Küche hergestellt, haben die Pro-
duktion dann aber schnell abgegeben. Wir brauchten dafür Kapital. Durch einen Zeitungsartikel,
in dem wir erwähnten, dass wir Kapital suchen, haben wir diverse Anfragen von Business Angels
bekommen. Die Business-Angel-Szene war damals, in 2006, noch sehr digital ausgerichtet und
es schien leichter, eine Millionen Euro zu bekommen als 100.000 Euro. Wir haben auch viele
schlechte Erfahrungen gemacht und Forderungen wie, „wir müssen dann schon die Mehrheit an
Ihrem Unternehmen bekommen“. Am Ende hatten wir Glück mit einem Bonner Unternehmer-
Duo, das heute immer noch Teilhaber ist.
Du hast gerade von schlechten Erfahrungen gesprochen. Wie erkenne ich ein dubioses An-
gebot von einem Investor?
Nicolas: Das ist schwierig. Es gab Beispiele, bei denen ich zugesagt hätte, und Marco mich für
verrückt erklärt hat. Das ist der Vorteil, wenn man zu dritt ist, man kann Entscheidungen dis-
kutieren. Gerade Marco war in der Hinsicht kompromisslos. Keine Kompromisse bei der Fla-
sche, keine Kompromisse bei der Finanzierung. Das hört sich jetzt so einfach an, aber wir hatten
natürlich auch den Stress im Nacken und waren auf das Geld angewiesen. Und da ist Konsequenz
schon ein gewisser Luxus und erfordert Mut. Insbesondere wenn du schon mehreren Investoren
abgesagt und kein weiteres Gespräch in Aussicht hast – du weißt ja nicht, ob jetzt überhaupt
noch ein weiterer Investor kommt. In unserem Fall hat sich das Abwarten zum Glück immer
ausgezahlt.
Wann seid ihr dann im großen Stil in den Markt eingestiegen?
Nicolas: Mit dem Erhalt des Geldes haben wir zunächst die Flaschenform beauftragt, das
eigene unverwechselbare Design. Wir wollten eben keine Standardflasche. Das war elemen-
tarer Bestandteil unserer Strategie, auch wenn dies den Start nochmal um drei Monate verzögert
hat. Trotzdem sind uns die vielen Kunden, die wir in der Zwischenzeit akquiriert hatten, treu
geblieben. Der Handel hat sich im Nahhinein als ein fantastischer Booster herausgestellt. Zwar
war es sehr schwierig, hineinzukommen, und bei Nicht-Erfolg wären wir auch sehr schnell wieder
aus dem Sortiment geflogen, doch wenn das Produkt funktioniert, ist der Handel ein sehr guter
Multiplikator. Bei uns ging entsprechend die Post ab, wir sind im November 2006 gestartet und
haben im ersten vollen Kalenderjahr 2007 bereits 2,1 Millionen Flaschen verkauft. Das war für
uns sensationell. Trotz des starken Wettbewerbs durch die zwei neuen großen Player Innocent
und Chiquita verlief unsere Entwicklung auch in den folgenden Jahren extrem gut.
Wie verlief parallel dazu die Skalierung der Produktion? Ab wann habt ihr Mitarbeiter
eingestellt?
Nicolas: Dadurch, dass wir viel an große Systempartner outgesourct hatten, konnten wir sehr
gut skalieren. Wir waren z. B. von Anfang an bei einem großen deutschen Kühl-Spediteur. Für
solch ein Unternehmen spielt es keine Rolle, ob es eine oder 100 Paletten ausfährt. Wir waren
immer lieferfähig – ich erinnere mich an eine Situation, in der wir keine Ananas mehr hatten.
Nicolas Lecloux, Katia Winter 277
278 True Fruits

Dann haben wir diese für sehr viel Geld direkt einfliegen lassen und haben bestimmt sechs
Monate nichts an dem Produkt verdient. Aber gerade für uns als neuer Player im Handel war es
geradezu ein Mantra, immer lieferfähig zu sein.
Mit dem starken Wachstum in 2007 haben wir schließlich den Punkt erreicht, wo das Grün-
derteam nicht mehr selbst alle Aufgaben stemmen konnte, und wir haben angefangen, einzu-
stellen. Unser erster Mitarbeiter war sehr gut im Strukturieren und hat uns extrem geholfen, drin-
gend notwendige Strukturen aufzubauen.
Wie habt ihr weitere Mitarbeiter rekrutiert? Welchen Kriterien und welche Kanälen spielten
eine Rolle?
Nicolas: Wir haben immer darauf geachtet, dass die Leute ins Team passen, den entspre-
chenden Spirit mitbringen und eine Begeisterung für das Produkt zeigen. Am Anfang haben
wir zunächst Freunde und Bekannte rekrutiert. Wir haben das in der Vergangenheit nicht mehr
gemacht, da wir teilweise Rollenkonflikte erlebt haben und uns von einigen Mitarbeitern auch
wieder trennen mussten. Jetzt rekrutieren wir zielgerichteter und mit einem richtigen Bewer-
bungsprozess. Schließlich sind wir am Ende des Tages für das Geschäft verantwortlich und auch
wenn wir keine despotischen Herrscher sind, wollen wir, dass die Dinge in unserem Sinne gere-
gelt werden. Dies läuft mit einem vom Markt rekrutierten Mitarbeiter meist professioneller ab.
Von der Organisation her reicht bei unserer Größe von aktuell 19 Mitarbeitern immer noch eine
oberste Führungsebene. Den Tipping Point, also die Teamgröße, die neue Strukturen erforderlich
macht, sehen wir noch vor uns.
Das heißt, ihr geht von weiterem Wachstum aus. In letzter Zeit stagniert der Smoothie-
Markt und es sind neue Konkurrenten hinzugekommen, wie beurteilt ihr den Markt und
die Wachstumschancen?
Nicolas: Allgemein ist die Fruchtsaftbranche etwas gebeutelt. Rein technisch hätten sie ohne
viel Aufwand auch Smoothies anbieten können. Ich habe mit einigen aus der Branche gespro-
chen, die sagten: „Das kann ja wohl nicht sein, dass uns die Studenten vormachen, wie wir eine
echte Innovation an den Markt kriegen.“ Und das ist nicht die erste Innovation, die sie ver-
schlafen haben. Apfelschorle z. B. wird von den Mineralwasserherstellern gemacht. Über all die
Jahre ging es im Fruchtsaftbereich nur darum, billiger zu werden. Apfelsaft wurde zu einem Stan-
dardprodukt ohne Geschmacksunterschiede. Deshalb war das auch in gewisser Weise mutig, was
wir gemacht haben, weil wir dieses Low-Involvement-Produkt Fruchtsaft zu einem attraktiven
Produkt gemacht haben – gesund und sexy. Die Produkte in den Naturkostläden waren viel
zu bieder, nicht attraktiv. Mit unserem Produktkonzept heben wir uns also von der klassischen
Fruchtsaftbranche ab und differenzieren uns aber auch immer noch von unseren direkten Kon-
kurrenten Wir sind noch stärker qualitätsorientiert und das Produkt für Qualitätsfetischisten. Mit
dieser Differenzierung glauben wir, weitere Marktanteile zu gewinnen und weiter zu wachsen.
Stichwort Mentoren. Ihr hattet ja alle noch keine Erfahrung im Gründungsbereich. Hattet
ihr Leute, bei denen ihr Rat gesucht habt?
Nicolas: Zunächst war es schon hilfreich, dass wir zu dritt waren. Ich habe großen Respekt
vor Leuten, die alleine gründen, da die Gründer sich all die quälenden Fragen selbst beantworten
müssen. Wir konnten uns unter den Gründern gegenseitig Ratschläge geben.
Eine Art Mentor war natürlich auch Professor Binnig, der uns in Fruchtsaftfragen sehr
geholfen hat. Trotzdem haben wir ihn nie als solchen tituliert, dazu war er zu stark auf die Sach-
fragen fokussiert. Einen Mentor stelle ich mir anders vor. Es ist jemand, mit dem ich neben fach-
lichen Problemen auch Persönliches besprechen kann.
Nicolas Lecloux, Katia Winter 279
280 True Fruits

Wie war die Arbeitsaufteilung zwischen euch Gründern? Würdest du sagen, eure Skills sind
komplementär?
Nicolas: Ja. Darum hat das auch immer so gut funktioniert. Inga ist extrem gut darin, Pro-
bleme zu verstehen und zu lösen. Wir nennen sie immer Mrs. Wolf – den Cleaner (Anmerk. d.
Red.: in Anlehnung an einen Charakter aus Pulp Fiction). Sie ist sehr analytisch, sehr strategisch
und denkt schon mal drei Schritte voraus. Ich sehe mich eher als den Kreativen oder die Ram-
pensau, wenn man so will. Und Marco ist eher der Kopf unserer Bande. Entsprechend haben wir
uns aufgeteilt. Inga macht Produkt und Finanzen, Marco den Vertrieb und die Strategie und ich
Marketing und Singen (bei Geburtstagen und so).
Glaubt ihr denn, dass ihr jetzt in diesem Job mehr Freiheiten habt? Könnt ihr euch vor-
stellen, in einem Konzern zu arbeiten?
Nicolas: Ich glaube, keiner von uns kann wirklich zurück in ein Angestelltenverhältnis. Wenn
ich mir vorstelle, ich werde bezahlt dafür, dass ich mich noch einmal ins Zaumzeug legen lasse
– selbst wenn ich wollte, wäre dies nicht mehr mein Ding. Ich glaube auch, die anderen hätten
Schwierigkeiten, wieder Fuß in der „normalen“ Berufswelt zu fassen.
Was die Freiheit angeht – natürlich können wir jetzt nicht einfach mal ein langes Sabbatical
einlegen. Und Mitarbeiter in modernen Konzernen genießen ja auch immer Freiräume und Fle-
xibilität. Aber der Vorteil hier ist eben, dass du dein eigener Herr bist. Es ist tatsächlich diese Frei-
heit, sich auszudrücken und zu sagen, ich tue das, was ich tun möchte. Und im besten Fall hin-
terlasse ich noch etwas, das ist schon großartig.
Ein anderer Aspekt ist ja noch die Abhängigkeit von Investoren, die einem ein Stück der
Freiheit rauben können. Wie ist euer Finanzierungsbedarf heute?
Nicolas: Wir sind seit circa einem Jahr komplett selbst finanziert und schuldenfrei. Eine
relativ angenehme Situation also. Klar, könnten wir jetzt theoretisch noch zehn Millionen auf-
nehmen, um eine TV-Kampagne umzusetzen, aber wir sind da vorsichtig. Wir haben gesehen,
wie Wettbewerber viel Geld z. B. in TV-Kampagnen gesteckt haben, und das war nicht unbe-
dingt effektiv. Wir könnten es jetzt besser machen, aber trotzdem glauben wir, dass der Invest,
um über Werbung im TV einen gewissen Wirkungsgrad zu erreichen, so hoch wäre, dass sich das
heute mit Smoothies kaum in einer vernünftigen Zeit zurückverdienen ließe. Wir setzen lieber auf
die Produktivität der kleinen Schritte, auch wenn sich das etwas konservativ anhört. Wir inves-
tieren aktuell in neue Produktideen und in den Vertrieb. Das können wir alles aus eigener Kraft
stemmen.
Wenn nicht TV, welche anderen Marketingkanäle nutzt ihr?
Katia: Neben der klassischen Öffentlichkeitsarbeit betreiben wir auch ein aktives Award
Management, das bedeutet, wir bemühen uns aktiv um renommierte Awards mit Strahlkraft.
Das wirkt Wunder, wir haben viel Coverage und Aufmerksamkeit bei relativ wenig Aufwand.
Für jeden gewonnenen Award gibt es eine gezielte PR-Aktivierung. Dabei schreiben wir passende
Medien an, die dann darüber berichten. Beispielsweise haben wir mit unseren Flaschen bereits
mehrere Design-Auszeichnungen erhalten und darüber berichten dann auch die Zeitschriften.
Ein anderes Beispiel ist die Produktion eines nahezu kostenlosen Werbevideos, das eine große
Werbeagentur für uns produziert hat. Der Hintergrund war, dass die Agentur einen Spot für ein
Werbefilm-Festival benötigte. Und da bieten wir mit unserem Produkt natürlich einen schönen
Aufhänger. So haben wir jedenfalls einen professionellen Spot, kostenlose PR und am Ende einen
tollen Award bekommen.
Nicolas Lecloux, Katia Winter 281

Ist eine Kampagne auch mal fehlgeschlagen?


Nicolas: Nein, nicht wirklich. Eine lustige Anekdote ist aber unsere Kampagne „Frequently
Unasked Consulting (FUC)“, die damit spielte, nicht alle Ratschläge bezüglich unseres Produkt
einfach anzunehmen. Der lustige Part hierbei ist, dass wir die Kampagne an einem Ort präsen-
tiert haben, an dem man nicht unbedingt für Lebensmittel wirbt – den Pissoirs/Toiletten in Tank-
stellen und Raststätten. Wir haben das aus Trotz durchgezogen, außerdem ist das der einzige Ort,
an dem du noch zehn Sekunden ungeteilte Aufmerksamkeit bekommst.
Habt ihr noch Ratschläge für angehende Gründer?
Nicolas: Ja, ein paar „Weisheiten“ aus unserer eigenen Erfahrung wollen wir gerne weiter-
geben. Erstens: „Conditions are never ideal“, das heißt, es wird nie den idealen Zeitpunkt geben,
z. B. erst noch zuende studieren, erst mal Geld sparen etc. Wenn du die Idee hast, dann musst
du dich dazu bekennen und Gas geben. Der zweite Punkt: fragen, fragen, fragen – insbesondere
sollte man sich nicht scheuen, Fragen zu stellen, wenn man keine Ahnung hat. Drittens: „Beware
of frequently unasked consultancy (fuc)“ – sprich, man muss unterscheiden können, welche Ant-
worten und Ratschläge einen weiterbringen und welche nicht. Die große Kunst ist es, aus den
Ratschlägen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Viertens: Seid ausdauernd und hartnäckig. Denn,
wenn alles so einfach wäre, hätte es wahrscheinlich schon vor euch jemand gemacht. Es muss also
logischerweise einen Widerstand geben. Ihn zu knacken, erfordert Ausdauer und Hartnäckigkeit.
Der fünfte Punkt ist Offenheit. Das hat sich in unserem Fall bewährt. Wir waren immer scho-
nungslos offen und haben dadurch enorm gepunktet. Die Leute fanden es gut, dass da drei Leute
einfach offen die Karten auf den Tisch legen. Offenheit ist nun Teil unserer Unternehmenskultur.
Beispielsweise werden Änderungen am Produkt offen kommuniziert und das hilft uns sicherlich
in einer für Trickserei berüchtigten Lebensmittelbranche. Also einfach nett und authentisch sein.
Meist lässt sich eine Maskerade sowieso nicht lange aufrechterhalten.
Nicolas, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Nicolas Lecloux

Ries, Eric (2011); The Lean Startup: How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to
Create Radically Successful Businesses; Crown Publishing
Vapiano
Gregor Gerlach
20

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_20,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
284 Vapiano

Pasta, Pizza und Salate – frisch zubereitet, selbst


abgeholt und in lockerer Atmosphäre konsumiert
„Chi va piano, va sano e va lontano“
– „Wer alles im Leben locker und gelassen angeht, lebt gesünder und länger“
Italienische Redensart und Philosophie bei Vapiano
Pasta, Pizza und Salate – frisch zubereitet, selbst abgeholt und in lockerer Atmosphäre kon-
sumiert. Auf diesen Grundpfeilern fußt die Idee von Vapiano. Das erste Restaurant der unkon-
ventionellen Systemgastronomie eröffnete am 22. Oktober 2002 in Hamburg, zwei Jahre später
startete ein weltweites Franchise-System. Die Gründer von Vapiano sind Gregor Gerlach, Friede-
mann Findeis, Klaus Rader und Mark Korzilius; ein wenig später kommt Kent Hahne hinzu, nur
Gerlach ist bis heute noch mit an Bord. Alle vier kommen aus der Gastro-Szene. Im Jahr 2009
kaufte die Darmstädter Unternehmerfamilie Sander Firmenanteile des Unternehmens, 2011
übernahmen die Tchibo-Erben Günter und Daniela Herz knapp 45 % der Vapiano-Gruppe.
Mitte 2014 gibt es 150 Vapianos in 28 Ländern auf vier Kontinenten. Der Systemumsatz in 2013
betrug 336 Millionen Euro.

Unternehmer zu sein, war das schon immer Ihr Ziel?


Ich komme aus einer Unternehmerfamilie, da wächst man mit Unternehmergeist auf. Den-
noch habe ich zunächst einige Jahre bei McKinsey gearbeitet. Es war eine spannende Zeit, in der
ich viel herumgekommen bin und interessante Firmen und Menschen kennenlernen durfte. Aber
irgendwann kam der Wunsch auf, nicht nur vom Beifahrersitz aus zu beraten, sondern selbst am
Steuer zu sitzen.
Von welchen Erfahrungen aus Ihrer McKinsey-Zeit können Sie heute profitieren?
Ich habe bei McKinsey vermittelt bekommen, strukturiert und systematisch zu denken.
Außerdem habe ich gelernt, selbst bei großen Projekten oder Problemen nicht in Schockstarre
zu verfallen, sondern die Themen stattdessen anzugehen. Auch im Umgang mit Menschen habe
ich einiges mitgenommen. Als Berater hat man keine Weisungsbefugnis, im Gegenteil, teilweise
wollen die Mitarbeiter der Kunden nicht mit den Externen zusammenarbeiten. Um zu einem
Ergebnis zu kommen, muss man als Berater die Menschen im Unternehmen für sich gewinnen.
Wie fand sich das Gründerteam für die Idee Vapiano?
Ich hatte gerade das Projekt SIDE Hotel mit dem Designer und Architekten Matteo Thun
beendet. Ich kannte Matteo Thun durch Mark Korzilius, mit dem ich in München studiert hatte.
Zum Projektabschluss vom SIDE Hotel lud ich zum Abendessen nach Hamburg ein, auch Mark
Gregor Gerlach 285

Korzilius war dabei. Irgendwann am Abend sagte er: „So, jetzt seid ihr mit eurem Projekt fertig,
welches Projekt machen wir jetzt zusammen?“ Ich fragte zurück: „Was willst du denn machen?“.
Mark erklärte, dass er ein richtig gutes italienisches Restaurant eröffnen wolle. Da ich aus der
Hotelbranche kam, war meine Reaktion zurückhaltend – „Um Gottes Willen, ein Restaurant.
Aber wenn, dann bitte kein klassisches.“
Ich hatte zwei Bedingungen: Erstens, die Nudeln und Soßen müssen frisch zubereitet werden.
Und zweitens, es darf keine Bedienung geben. Dann stieß Klaus Rader zum Team. Auch er hatte
eine Bedingung: Es sollte nicht nur Pasta, sondern auch Salate und Pizza verkauft werden. Über
Klaus Rader kam schließlich noch Friedemann Findeis mit an Bord. Klaus Rader kannte ihn aus
seiner Zeit bei McDonald’s. Zudem konnten wir noch Herrn Schrott als reinen Finanzinvestor
gewinnen. Wir hatten alle Branchenbezug und jeder hat auf den Tisch geworfen, was er glaubte,
was für die Gäste wichtig sei. Wir haben nicht wirklich systematisch geforscht und entwickelt.
Das erste Restaurant öffnete im Herbst 2002. Wie waren die Reaktionen der Kunden und –
auch nicht unerheblich – die anderer Gastronomen?
Das Essen schmeckte und die Gäste waren begeistert. Allerdings haben wir uns zu dieser
Zeit noch wenig Gedanken über effiziente Prozesse im Restaurant gemacht und uns vor allem
auf das Produkt konzentriert. Es hat teilweise sehr gedauert, bis die Gäste ihr Essen hatten. Die
Schlangen waren lang. Aber: Das war am Ende des Tages ein gutes Zeichen, denn die Leute waren
bereit, sich anzustellen. Der Umsatz war natürlich nicht so, wie wir ihn uns vorgestellt hatten.
Der Durchsatz stimmte nicht. Die anderen Gastronomen haben schon geunkt, dass wir in drei
Monaten wieder weg sind. Unterm Strich: Das Produkt war sehr gut, der Rest sehr chaotisch.Im
Jahr 2004 haben Sie die erste Franchise-Lizenz vergeben. Wie wurde aus dem chaotischen Laden
in der Hamburger Bleiche ein Franchise-System?
Wir haben uns sehr bewusst zunächst zwei Jahre Zeit genommen. Wir wollten nicht nur ein
gutes Produkt anbieten, sondern auch die Prozesse optimieren und eine gleichbleibende, hohe
Qualität sicherstellen.
Am Anfang hatten wir viele leckere Rezepte. Aber wir mussten feststellen, dass es Rezepte gab,
die schlicht zu lange dauerten. Sie waren einfach unpraktisch. Diese mussten wir rausnehmen
oder verändern. Dann gab es Rezepte, die sehr schwierig zu kochen waren. Es war sehr abhängig
vom jeweiligen Vapianist, wie das Essen gerade schmeckte. Kleine Abweichungen hat man natür-
lich immer, aber es gab Gerichte, bei denen die Schwankungen doch sehr groß waren. Deshalb
haben wir auch diese rausgenommen oder verändert. Auf diese Art und Weise haben wir versucht,
uns innerhalb von zwei Jahren von einem guten Produkt hin zu einem System zu entwickeln.
Ein dreiviertel Jahr nach der ersten Eröffnung kam Kent Hahne zum Team. Mark Korzi-
lius war ein Kreativer, aber die Prozesse waren nicht sein Thema. Deshalb hatten wir jemanden
gesucht, der uns auf dieser Ebene helfen kann. Kent hatte diesbezüglich viel Erfahrung aus seiner
Zeit bei McDonald’s. Mark Korzilius ist daher nach kurzer Zeit auch wieder ausgestiegen.
Insgesamt haben wir in diesen zwei Jahren eigentlich nicht wirklich viel am Produkt geändert,
sondern uns darauf konzentriert, Prozesse und interne Abläufe zu optimieren, um in die Gewinn-
zone zu kommen. Denn: Am Anfang haben wir Umsatz gemacht, aber kein Geld verdient. Ledig-
lich die Gäste waren glücklich, aber wir nicht. Also haben wir daran gearbeitet, dass die Gäste
glücklich bleiben und wir auch glücklich sind.
Wie haben Sie ihre Franchisenehmer gefunden?
Irgendwann war klar, dass wir den nächsten Schritt gehen und ein weiteres Restaurant aufma-
chen wollen. Parallel zu diesen Gedanken kamen die ersten Anfragen, ob man Vapiano in Fran-
chise machen könne.
286 Vapiano

Franchisenehmer findet man nicht auf Franchisemessen. Da laufen nur Leute rum, die am
Morgen aufgestanden sind und noch nicht wissen, ob sie Staubsauger verkaufen, einen Kinder-
garten eröffnen oder ein Restaurant führen wollen. Und das ist eine denkbar schlechte Vorausset-
zung. Ein guter Franchisenehmer reagiert von sich aus, weil er das Produkt sieht oder das Produkt
sucht. Er kommt ins Restaurant und sagt: Das finde ich gut, an wen muss ich mich wenden? Ich
brauche bei der Suche nach Franchisenehmern also genauso wenig auf Messen zu gehen, wie ich
in der Gastronomie Zeitungsanzeigen schalten muss. Die beste Werbung ist das Produkt im Res-
taurant. Wenn das überzeugt, kommen nicht nur die Gäste, sondern auch die Franchisenehmer.
Und genauso lief es auch bei uns. Wir bekamen viele Anfragen und konnten die Besten auswählen
Nach welchen Kriterien ist die Entscheidung für die ersten Standorte gefallen?
Ganz einfach: In der Stadt, aus der ein interessierter Franchisenehmer kam, haben wir
eröffnet. Wir hatten damals noch keine Expansionsstrategie. Wir haben nicht gesagt, „wir wollen
jetzt München“, sondern es kam jemand aus München auf uns zu und fragte: „Ich finde Ihr Kon-
zept toll, können wir das in München machen?“
Wir schauen zunächst, ob der Franchisenehmer zu uns passt. Und dann fängt die Suche nach
einer Immobilie an. Bei uns ist der Franchisenehmer Manager, Teamleiter und Motivator. Ob er
schon an Tag eins die Immobilie hat oder nicht, ist uns egal. Auch wenn er nicht genug Geld hat,
finden wir eine Lösung. Für uns ist Franchising ein Managementinstrument und keine Finanzie-
rungs- oder Makleralternative.
Mitte 2007 wurden drei Restaurants in der US-Hauptstadt Washington eröffnet. War das
der Startschuss zur Internationalisierung?
Die ersten internationalen Restaurants gab es 2006 in Wien und im Jahr 2007 in Zürich. Die
USA waren das vierte Land. Kent Hahne hat einen amerikanischen Pass und einige Zeit drüben
gelebt. Irgendwann sagte er: „Ich gehe jetzt dahin und mache Vapiano in Amerika.“
Wenn man sagt, ich will das und das Land jetzt machen, egal wie, geht das jedoch häufig
schief. Wenn wir heute drei, vier Länder als nächstes angehen möchten, schauen wir erst einmal,
wo die passenden Leute für die Umsetzung sind. Erst dann folgt die Entscheidung für das Land.
Ein fähiger Franchisenehmer steht wirklich im Mittelpunkt. Da kann man noch so viele strategi-
sche Überlegungen anstellen.
Klar, kann man ein bisschen gucken. Und gerade wenn es Corporate-Märkte sind, kann man
auch mit einem Headhunter suchen. Aber am Ende muss es jemand sein, der vom Konzept über-
zeugt ist. Es macht keinen Sinn, jemanden nur mit Geld abzuwerben. Das Beste ist wenn jemand
zwei Tage bei uns mitarbeitet. Entweder ist er danach begeistert und will einsteigen, oder er ist
sowieso der Falsche.
Ich denke, man muss ein wenig kombinieren: Schauen, wo es gute Leute gibt und wissen,
wo man hin will. Das haben wir am Anfang nicht sonderlich ausgewogen gemacht. Wir haben
alle Gelegenheiten genutzt, egal ob sie sinnvoll waren oder nicht. Es gab sicherlich das ein oder
andere Land in dieser wilden Phase, bei dem wir uns rückblickend fragen müssen, ob das hätte
sein müssen – beispielsweise ein Vapiano im Libanon. Letztlich gehören solche Erfahrungen ein-
fach zu einem Startup dazu.
Was hätten Sie heute in der wilden Phase anders gemacht?
Da gibt es natürlich viele Punkte, aber andererseits ist es immer auch ein Trade-off. Der Trade-
off ist ein Dreieck zwischen Overhead-Kosten, Expansionsgeschwindigkeit und Fehlerquote. Da
macht es keinen Sinn, einen Faktor besonders zu optimieren, sondern man muss versuchen, ein
Gleichgewicht zu finden. Im Nachhinein kann man immer sagen: „Vielleicht hätte ich dort drei
Gregor Gerlach 287
288 Vapiano

Prozent mehr oder weniger reinstecken sollen“, aber am Ende des Tages haben wir diese Balance
gut hinbekommen.
„Breaking the rules“ ist ein Motto von Vapiano. Mit welchen Regeln und Konventionen
haben Sie gebrochen?
Einige Wochen vor der Eröffnung in Hamburg erklärte ich Freunden und Bekannten immer
wieder das Vapianokonzept. Ein italienisches Restaurant mit frischer Pasta und Soßen, aber ohne
karierte Tischdecken, sondern im modernen Design von Matteo Thun. Das kam hervorragend
an. Die Kombination mit der Selbstbedienung erntete allerdings nur Kopfschütteln. Irgendwann
habe ich dann aufgehört, die Idee zu erklären.
Das ist auf den ersten Blick nachvollziehbar, denn die Gastronomie basiert auf dem Para-
digma: Geringe Essenqualität geht mit geringem Serviceniveau einher und hohe Essenqualität
mit hohem Serviceniveau. Mit diesem Paradigma haben wir gebrochen. Wir bieten hochwertiges
Essen und Design zu einem günstigen Preis. Dies gelingt uns, weil wir an anderen Stellen opti-
miert haben und dazu gehört, dass sich die Gäste bei uns das Essen selbst holen. Den Begriff des
Fast Food vermeiden wir. Bei Fast Food gibt es zwar auch Selbstbedienung, aber es klingt nach
Essen aus der Mikrowelle und minderwertiger Qualität.
Es ist anfangs eine große Herausforderung gewesen, im Restaurant alles frisch zu zubereiten.
Auch wenn wir heute neue Country- oder Area-Manager einstellen, merken wir, dass das immer
noch ein Thema ist. Beim ersten Interview reden wir über die Bedeutung von Produktfrische und
alle sagen, dass Frische oberste Maxime ist. In der Regel arbeiten die Bewerber dann zwei Tage
im Restaurant, damit wir sehen, wie sie mit dem Team zurechtkommen. Nach dieser Probearbeit
kommen viele wieder und sind ganz überrascht, dass wir wirklich alles frisch machen.
Wie gelingt es, die Frische-Maxime im Arbeitsalltag umzusetzen und dabei profitabel zu
sein?
Es ist sehr aufwendig. Jeden Tag gehen viele Stunden nur in die Vorbereitung im Restaurant.
Das rechnet sich nur bei unseren 1 000 Gästen am Tag. Der normale Italiener an der Ecke, der
vielleicht 100 bis 200 Gäste hat, kann sich das gar nicht leisten, egal wie seine Preise sind. Wir
sind an die Frische-Idee am Anfang sicher etwas naiv herangegangen, denn der Faktor Frische
macht sehr viel mehr Arbeit, als wir einkalkuliert hatten. Aber er hat uns zum Glück auch sehr
viele Gäste gebracht. Und dann macht es wieder Sinn.
Das beste Beispiel ist die Pasta. Das Zeitaufwendigste ist das Reinigen und Zusammensetzen
der Maschine. Das dauert einige Stunden am Tag und dabei ist es egal, ob wir Pasta für 100 oder
1 000 Gäste herstellen. Die Zutaten treiben die Kosten nicht in die Höhe, auch wenn man quali-
tativ hochwertigen Hartweizengrieß verwendet. Allerdings: Man hat enorme Fixkosten. Allein die
Pastamaschine kostet 20.000 Euro. Eine solche Investition macht nur Sinn, wenn täglich 1 000
Gäste kommen. Und auch das haben wir gelernt: Über die hohe Gästeanzahl bekommen wir die
Chance, frisch zu kochen und das nicht nur bei der Pasta, sondern auch bei den Soßen. Vieles
wird bei uns in jedem Restaurant in der Vorbereitungs-Küche frisch zubereitet und das ist sicher
einer der großen Punkte, die andere Gastronomen überraschen.
Und wie waren die Reaktionen auf das zweite No-Go: Selbstbedienung statt Service und
freie Platzwahl statt zugewiesener Tisch?
Es ist heute noch so, dass uns Franchisenehmer in neuen Ländern sagen, dass es bei ihnen
keine hochwertigen Restaurants ohne Bedienung gibt. Klar, das ist bei uns in Deutschland eigent-
lich genau so. Das nächste Argument, das dann immer kommt: „Bei uns wollen die Gäste allein
sitzen, die setzen sich nicht mit Fremden an diese hohen Tische.“ Auch hier mein Gedanke:
Ist bei uns in Deutschland eigentlich genau so. Die Franzosen haben daraufhin viele niedrige
Gregor Gerlach 289
290 Vapiano

Vierer-Tische gebaut und das Ergebnis war, dass Vapiano plötzlich ein ganz normales Restaurant
war. Und siehe da, plötzlich fragten die Gäste: „Wo ist denn hier der Service?“
Bei uns in Deutschland finden unsere Gäste dieses Mischen und das Leute Kennenlernen
gerade gut, es ist unkompliziert. Gerade deswegen vermissen unsere Gäste die klassische Bedie-
nung nicht. Außerdem sind unter unseren Gästen viele Singles, und die sitzen nicht gerne alleine
an Vierertischen. Und an jedem Vierertisch, an dem nur ein Gast sitzt, gehen drei Plätze verloren.
Der Bruch mit dem Gastronomie-Paradigma geht auf die Zusammensetzung des Grün-
derteams zurück. Ich hatte bis Vapiano die Luxus-Hotellerie-Perspektive, die Themen Frische
und Qualität habe ich traditionell vermittelt bekommen. Klaus Rader kam aber eben aus der
McDonald’s-Ecke. Es waren zwei Welten, die da aufeinander getroffen sind. Aber es hat sich gut
ergänzt und vielleicht ist genau das die Wurzel des Erfolgs.
Vapianos Erfolgskurve ging steil nach oben: 2010 lag der Umsatz über 160 Millionen Euro,
es gab 81  Restaurants mit circa 5  000 Mitarbeitern. Im Jahr 2011 haben Friedemann
Findeis, Klaus Rader und Kent Hahne dann ihre Anteile veräußert. Wie kam es dazu?
Eigentlich müssen Sie diese Frage den anderen stellen. Vielleicht, weil wir nie eine Dividende
bezahlt haben. Alles, was die Firma verdient hat, ist wieder investiert worden. Ich war der jüngste
Gesellschafter, die anderen wollten vielleicht die Früchte ihrer Arbeit ernten. Und wenn einer
geht, löst das schon einmal einen Schneeballeffekt aus.
Seit Sommer 2011 hält die Beteiligungsgesellschaft Mayfair knapp 45 Prozent an der Va-
piano-Gruppe. Den Rest halten Sie und die Familie Sander. Wie ist die Transaktion mit
Mayfair zustande gekommen?
Die anderen wollten verkaufen. Ich wollte gerne bleiben, weil ich glaubte, dass man aus der
Idee noch viel mehr machen kann. Die drei führten erste Gespräche und das Ganze ging in Rich-
tung Heuschrecken. Ich bekam etwas Panik, weil ich bei dieser Variante die Minderheit gehalten
habe und der Finanzinvestor über den Kurs von Vapiano hätte entscheiden können. Also habe
ich mir eine kurzfristige Finanzierung besorgt und den Dreien die Anteile abgekauft. Allerdings
hatte ich das klare Ziel, die Anteile wieder weiterzuverkaufen. Letzteres war eine Vereinbarung
mit Hans-Joachim Sander, der natürlich lieber eine Demokratie als einen Mehrheitsgesellschafter
haben wollte. In der heutigen Dreierkonstellation kann keiner alleine entscheiden, es müssen sich
immer zwei einig sein.
Wie konnten Sie die Tchibo-Erben Günter und Daniela Herz, die hinter Mayfair stehen,
überzeugen?
80 Prozent ihrer Fragen betrafen die Marke und die Internationalisierung von Vapiano.
Natürlich waren auch die Kosten ein Thema, aber nur am Rande. Im Kern ging es um die Marke
und das war mir sehr sympathisch. Ich glaube, Marke und Potential haben letztendlich überzeugt.
War ein Börsengang auch eine Option?
Ich habe damals einige Gespräche dazu geführt. Aber es war eine Option, die aus verschie-
denen Gründen schwierig war. Sicherlich hätte es eine Weile gedauert, den Börsengang vorzu-
bereiten. Und sobald man an der Börse ist, wird man in ein Laufrad getrieben. Hans-Joachim
Sander war davon auch nicht sehr begeistert. Also haben wir uns schnell dagegen entschieden.
Im Zuge der Transaktion wurden Sie Geschäftsführer. Im September 2011 sind Sie ange-
treten. Welche Prioritäten hatten sie in den ersten 100Tagen?
Die ersten 100 Tage haben viel länger gedauert als 100 Tage. Ich glaube, sie sind erst heute,
zwei Jahre später, zu Ende. Als ich antrat, gab es ein sehr starkes deutsches Geschäft, der Rest
der Welt war wild gewachsen, ohne Struktur und ohne System. Deshalb war eine erste Priorität,
Gregor Gerlach 291

bewährte Prinzipien aus dem deutschen Markt auf den Rest der Welt zu übertragen und dabei
beispielsweise eine vernünftige Betreuung der Franchisenehmer aufzubauen. Die zweite Priorität
war der Aufbau der internen Marketingkompetenz. Wir hatten zwar eine interne Marketingabtei-
lung, jedoch wurde die Markenstrategie bislang von einer externen Marketingagentur entwickelt.
Nach zehn Jahren hatten wir das Gefühl, dass wir uns weiterentwickeln müssen. Wir haben zwei
große Initiativen gestartet. Die eine ist ein neues Design von Matteo Thun. Die zweite Initiative
betrifft die Weiterentwicklung unseres Produktangebots.
Die Feuertaufe für das neue Design war die Eröffnung des 100sten Vapiano-Restaurants in
Wien im November 2011. Hier wurde der neue Look erstmals präsentiert. Wie entwickeln
und testen Sie neue Ideen?
Wien war zugleich Pilotprojekt für das neue Design. Bei unseren Gästen kam es gut an, aber
als wir das nächste Pilotprojekt gemacht haben, mussten wir feststellen, dass die Architekten
Schwierigkeiten bei der Umsetzung hatten. Also haben wir Workshops und Schulungen organi-
siert, um den Architekten zu zeigen, worauf sie achten müssen.
Neue Produkte lassen wir natürlich von unseren Gäste testen. Wir fragen, welches Restaurant
testen will, und lassen das Produkt in zwei Restaurants zwei lang Monate laufen. Das ist der häu-
figste und sinnvollste Weg.
Was sind die Dos und Don’ts für eine erfolgreiche Skalierung?
Ein Don’t ist, wild zu wachsen. Am Anfang sollten Gründer nicht zu geldgierig sein, son-
dern auch einmal nein sagen – vor allem, wenn der Falsche nach einer Franchiselizenz fragt. Es
ist verführerisch zu denken, „der Typ ist ja vielleicht gar nicht so schlecht“, aber dann quält man
sich und es geht prompt schief. Das Schlimmste ist, zu euphorisch zu sein. Wir hatten Phasen,
in denen wir Franchisenehmer haben unterschreiben lassen, die wir nicht hätten unterschreiben
lassen sollen. Es gab Locations, die wir gemietet haben, die wir nicht hätten mieten sollen. Und
so weiter. Man denkt, dass man unbesiegbar ist, und das ist nicht gut. Wie man das verhindert,
weiß ich allerdings auch nicht. Euphorie ist eine menschliche Eigenschaft.
Ein Do ist sicherlich, den eigenen Grundwerten treu zu bleiben. Ein Fehler, den wir gemacht
haben, ist, beim Eintritt in neue Länder unsere Grundwerte zu schnell zu verändern. Zu unseren
Erfolgsfaktoren gehören das Anderssein, die fehlende Bedienung, die hohen Tische und natür-
lich die Frische. Und dahinter stehen Werte. Das ist zum einem die Frische, das sind aber auch
Atmosphäre und die kommunikative Umgebung. Unser Konzept fußt auf diesen drei Säulen. Es
gibt Länder, in denen Frische nicht so viel zählt, in denen auch Atmosphäre nicht so viel zählt.
Dann ist es auch egal, wie das Restaurant eingerichtet ist. Aber: Atmosphäre und Frische sind bei
uns Erfolgsfaktoren. Wenn diese nicht ankommen, sollten wir uns nicht verbiegen und nicht auf
ein solches Land einlassen. Natürlich sind die Geschmäcker lokal verschieden und man muss auf
lokale Begebenheiten eingehen. Ein Beispiel dafür sind die USA. Dort sind die meisten Gerichte
auf Sahne basiert, in Deutschland eher auf Tomaten. Das geht durchaus. Es hat nichts mit den
Grundwerten zu tun. Beides lässt sich frisch zubereiten. Aber an den Grundwerten darf man eben
nicht drehen.
Worauf man auch achten muss, ist rechtzeitig die richtigen Mitarbeiter zu finden und auszu-
bilden. Nur so funktioniert das Wachstum. Unabhängig davon, ob es 50, 100 oder 1 000 Restau-
rants sind – ich kann nicht in jedem selber kochen. Dafür brauche ich ein gutes Team. Je größer
die Firma wird, desto mehr muss man Aufgaben delegieren und Verantwortung übergeben. Mit
der Zeit sieht man dann auch, dass einige sehr gut mitwachsen, sich weiter entwickeln. Andere
bleiben dagegen stehen. Es ist am Anfang gar nicht leicht zu bemerken, wer stehen bleibt und wer
weiter geht. Aber man muss darauf reagieren. Entweder entwickelt sich das Team, oder man muss
292 Vapiano

sich neue Spieler suchen. Das ist wie beim Fußball. Wenn ein Club in die nächste Liga aufsteigt,
gibt es etliche, die sich mitentwickeln. Und es gibt die, die nun nicht mehr zum Team passen.
Diese Veränderungen sind manchmal schmerzlich, aber notwendig.
Hatten Sie einen Mentor?
Nein, aber ich lege Wert darauf, von Freunden Feedback zu bekommen. Mir ist es wichtig, im
Freundeskreis das Gefühl zu haben, auch einmal etwas ausdiskutieren zu können. Solches Feed-
back hilft weiter. Ich finde es immer interessanter, was Menschen auf gleicher Augenhöhe denken
und sagen.
Haben Sie noch Ratschläge an Gründer?
Ich bekomme jede Woche 20 Businesspläne zugeschickt. Wenn ich mir einmal die Zeit
nehmen kann, hineinzulesen, finde ich es erschreckend, wie viel Energie die Gründer schon
im ersten Businessplan in Excel-Modelle stecken und versuchen, den Umsatz in fünf Jahren zu
berechnen. Teilweise habe ich das Gefühl, dass das Produkt nicht im Zentrum steht. Stattdessen
wird eine Restaurantidee gesucht, die in einem anderen Land erfolgreich ist. Dann wird viel Zeit
in den Businessplan gesteckt. Eigentlich muss es andersherum sein. Man muss sich mit dem Pro-
dukt beschäftigen und rausarbeiten, warum das Produkt Potential hat. Ich glaube, wenn ein Pro-
dukt erfolgreich ist, ergibt sich der Rest von selbst. Dann findet man Investoren, macht Umsatz
und verdient Geld.
Sie wünschen sich also einen stärkeren Fokus auf das Produkt?!
Ja! Wenn jeden Tag 1 000 Gäste kommen und ich jedes Jahr zehn Restaurants eröffne, lässt
sich darauf ein solides Unternehmen aufbauen. Dafür brauche ich aber keine ausgefeilten Excel-
Modelle. Die Kernfrage ist doch: Warum glaube ich, dass 1 000 Gäste kommen?
In einem Jahr, soll es weltweit 250 Restaurants geben. Was sind die wichtigsten Meilen-
steine, um dieses Ziel zu erreichen?
Es ist sicherlich ist eine große Herausforderung, zu einem globalen Unternehmen zu werden.
Auf Teamseite haben wir das schon ganz gut geschafft. Die Restaurants sind aber hauptsäch-
lich immer noch in Deutschland und Österreich. Unser Fokus liegt jetzt darauf, neue Länder zu
erobern und vor allem, in den Ländern, in denen unsere Idee schon funktioniert, noch mehr Gas
zu geben. Damit meine ich jetzt auch aber nicht nur Deutschland. England ist beispielsweise ein
sehr vielversprechender Standort. Beide Restaurants dort laufen phänomenal. Deshalb müssen
wir jetzt noch mehr daraus machen.
Herr Gerlach, herzlichen Dank für das Gespräch.
Gregor Gerlach 293
YOU IS NOW
Dr. Torsten Oelke
21

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6_21,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
296 YOU IS NOW

Startup-Inkubator und Accelerator der


Scout-Gruppe
YOU IS NOW ist ein Startup-Inkubator, der im Jahr 2010 von ImmobilienScout24 ins
Leben gerufen wurde, um Startups in der Immobilienszene anzusprechen. Zwei Jahre später ent-
wickelte sich dieser Ansatz einen Schritt weiter: Die Scout-Gruppe etablierte YOU IS NOW im
Hauptquartier in München und erweiterte das Themenspektrum des Inkubators. Scout24 bietet
Gründern eine Infrastruktur und Plattform, um ihre Ideen umzusetzen. Es gibt zwei Programme,
die Startups eine Finanzierung sichern.
Scout24 unterstützt in erster Linie Internet-Startups, die sich im Themenfeld der eigenen
Angebotspalette tummeln: Immobilien, Mobilität, Dating und Finanzen.

Torsten, wie kam es zu der Gründung von YOU IS NOW?


YOU IS NOW ist entstanden, um für ImmobilienScout eine Innovationsstrategie zu entwi-
ckeln. Als Vehikel, um Innovationen in YOU IS NOW hineinzuholen, habe ich das Format Inku-
bator vorgeschlagen. Wir sind relativ pragmatisch gestartet: Wir haben das Konzept grob skizziert
und uns dann sehr schnell wie ein eigenes Startup aufgebaut. Unsere Aktivitäten waren zu diesem
Zeitpunkt noch nicht öffentlich.
Wie habt ihr erste Startups für euer Konzept gewonnen?
In der Anfangsphase, 2010, haben wir Startups selbst angesprochen und sie gebeten, bei uns
zu pitchen. Im Gegenzug haben wir eine gewisse Unterstützung angeboten. Das lief in Form
von Sachleistungen, Know-how, dem Zugang zu Wissen sowie Partnerschaften bei ImmobilienS-
cout. Das gemeinsame Ziel war, dass sich die Startups über neue Angebote positiv differenzieren
können. Damals war die Vielfalt noch nicht so groß wie heute.
Wie lief ein Pitch ab?
Wir haben das in mehreren Runden gemacht und zwei, drei Mal zwei bis zu vier Startups ein-
geladen. Diese haben vor der Geschäftsführung ganz klassisch ihre Idee vorgestellt. Danach wurde
diskutiert, die Idee strukturell bewertet und am Ende zu- oder abgesagt. Wir konnten meistens
ein sehr spezifisches Feedback geben, da fast alle Ideen schon bekannt waren. Es gab sie natürlich
noch nicht in der konkreten Umsetzung, aber in einer ähnlichen Ausprägung.
Wann habt Ihr YOU IS NOW öffentlich gemacht?
Wir haben YOU IS NOW auf der dmexco, der Fachmesse für digitales Marketing & Wer-
bung in Köln, offiziell vorgestellt. Das war 2010. Dort haben wir uns als Inkubator-Programm
Torsten Oelke 297

präsentiert, das über eine gewisse finanzielle Ausstattung verfügt und diese für eine Förderung von
zwölf Monaten einsetzen kann.
Wer waren die ersten zwei Unternehmen unter eurem Dach?
Die ersten beiden Firmen waren schon sehr reife Unternehmen, die weitentwickelt waren.
Das eine war „umzug-easy“, über die Umzugsunternehmen gefunden und Vergleichsangebote
eingeholt werden können, das zweite war „dotproperty“, ein geschlossener Online-Marktplatz
für Investmentimmobilien ab fünf Millionen Euro. „umzug-easy“ war bereits ein profitables
Unternehmen, „dotproperty“ hatte eine technisch fertig entwickelte Plattform und schon Pilot-
Kunden, allerdings musste „dotproperty“ noch stark die Marke aufbauen. Mittlerweile ist „dot-
property“ in den Gewerbebereich von ImmobilienScout24 integriert worden und heißt Immobi-
lienScout Commercial Network.
Wir haben mit diesen Schritten zwei Gründer in das Unternehmen geholt. Dadurch
bekamen wir viele neue Ansatzpunkte. Wie Gründer nun einmal sind, kreieren sie immer wieder
neue Themen. Dadurch kommt ImmobilienScout kontinuierlich in Berührung mit neuen
Innovationen.
Neben eurem Inkubator-Modell bietet ihr auch ein sogenanntes Accelerator-Modell an. Für
wen ist dieses Modell gedacht? Und wo genau liegt der Unterschied zwischen Inkubator und
Accelerator?
Wir haben dieses zusätzliche, dreimonatige Accelerator-Programm in 2013 etabliert. Damit
sprechen wir Teams an, die sich in einem sehr frühen Stadium ihrer Entwicklung befinden. Es
sind Teams, die sich manchmal noch gar nicht vollständig gefunden haben. Bei diesem kürzeren
Programm gibt es finanzielle Unterstützung ohne Gegenleistung in Form von Anteilen. Es ist eine
klassische Förderung.
Grundsätzlich kann man sagen: Accelerator ist für Startups, die in einem Status sind, in dem
die Themen noch geformt werden können. Das Inkubator-Modell ist mehr für Startups, die the-
matisch schon etabliert sind, und wo es nun darum geht, den Markt auf einer gesicherten Basis
anzugehen. Entsprechend sind die Kapitalbedürfnisse hier natürlich auch anders. Das reflektieren
die Programme und es werden unterschiedliche Unterstützungsleistungen bereitgestellt. Die Ver-
zahnung ist bei beiden Programmen aber ähnlich. Allerdings ist bei dem zwölfmonatigen Inku-
bator-Programm der Austausch natürlich intensiver und längerfristiger.
Ihr verlangt für das Accelerator-Programm keine Gegenleistung. Was versprecht ihr euch
dann davon?
Wir glauben, dass die Ideen in einem so frühen Stadium sind, dass allen Beteiligten zu diesem
Zeitpunkt noch nicht klar ist, wo die Reise hingehen kann. Wenn man sich nun direkt daran
beteiligen würde, was einige ja machen, hat man nachher vielleicht sehr viel Arbeit damit. Man
müsste ein Portfolio managen, was man eigentlich noch gar nicht richtig managen kann, eben
weil die Ideen dahinter noch nicht ausgegoren sind. Im Laufe dieser drei Monate kann sich
außerdem herausstellen, dass zwar das Programm gut ist, aber die Beteiligten keinen Ansatz für
eine weitere Zusammenarbeit sehen. Wenn man sich das genau durchrechnet, spart man im End-
effekt Zeit und Geld. Wir sehen das Investment als eine Art Forschungs- und Entwicklungsleis-
tung. Wir unterstützen beim Prozess der Erkenntnisgewinnung. Davon profitiert das Startup und
auch wir. Der Lerneffekt ist gerade bei Ideen, die noch nicht ausgereift sind, groß.
298 YOU IS NOW

Ihr habt auch in München ein Büro eröffnet. Was war der Grund dafür? Genügt Berlin als
Startup Zentrum nicht?
Das YOU-IS-NOW-Programm ist 2012 innerhalb der gesamten Scout-Gruppe ausgerollt
worden. Diese sitzt – außer ImmobilienScout – mit AutoScout, FriendScout, FinanceScout
und der Scout Holding in München. Die Erfahrung hat gezeigt, dass eine enge örtliche Anbin-
dung über den Erfolg des Programms entscheidet. Das Büro in München war also eine logische
Konsequenz.
Ihr habt also den Fokus des Programms erweitert. Nun ging es nicht ausschließlich um Im-
mobilien, sondern auch um Themen, die Bezug zum Rest der Scout-Gruppe hatten. Warum
dieser Schritt?
Wir wollten unseren Fokus erweitern, um den Startups weiteres Potenzial zu bieten. Der
Zugang zu Know-how ist sehr wichtig. Bleiben wir beim Beispiel ImmobilienScout. Das Unter-
nehmen hat mehr als 600 Mitarbeiter, eine gigantische Marktstellung und natürlich viele Kon-
takte zu bestimmten Kundengruppen. Sie agieren im privaten und im gewerblichen Anbieterbe-
reich von Immobilien, haben aber auch eine Bindung zu den jeweiligen Nachfragern. Dazu hat
ImmobilienScout Wachstumsgeschäfte in Themen rund um die Immobilie: Immobilienbewer-
tung, Baufinanzierung, Umzug und und und ... Wir haben einen Bereich, der sich mit Datenpro-
dukten auseinandersetzt. Dort werden die Daten, die ImmobilienScout über all die Jahre gene-
riert hat, herangezogen. Zu diesem gesamten Fundus bieten wir den Zugang.
Welche Rolle spielen standardisierte Methoden bei euch, zum Beispiel zur Bewertung von
Startups?
Methoden sind für uns sehr wichtig, aber wir sehen auch, dass die Entwicklungen sehr dyna-
misch sind und versuchen daher Methoden sehr flexibel einzusetzen. Grundsätzlich kommt es
darauf an, dass die Methoden die Startups befähigen, mit einer Technologie sehr schnell am
Markt zu sein und recht viel umsetzen zu können, zu testen und zu lernen. Gerade wenn man
noch in einem sehr frühen Stadium ist, gilt es, das zu befördern. Technik, Markt, Businessplan –
das sind alles Schlagworte, die zählen.
Wie kann ein Exit für ein Startup aussehen?
Der Standard bei uns ist die Abweichung. Wir haben für die Integration bislang immer sehr
individuelle Lösungen gefunden, die vor allen Dingen den Bedürfnissen und auch dem Status des
jeweiligen Startups entsprochen haben.
Möglich ist natürlich die Integration in die Scout-Gruppe. Was die Gründer dafür bekommen,
ist die individuelle Verhandlung zwischen der jeweiligen Fachabteilung, dem Gründerteam und
den Investoren, die manchmal schon dabei sind. Es gibt alle Varianten. Beim klassischen Kauf
gibt es meistens eine Earn-Out-Klausel. Neben dem Basispreis wird ein erfolgsabhängiger Zusatz-
preis vereinbart, der erst später fällig wird. Das Unternehmen kann komplett integriert werden.
Es gibt aber auch lockerere Partnerschaften. Ein Beispiel für diese Variante ist das Startup
Energy Profiler, das Energieverbrauchsdaten von Immobilien analysiert. Es ist lediglich lose ange-
bunden und stellt im Grunde eine Zusammenarbeit unter fremden Dritten dar. Aber es gibt auch
Teams, die lassen sich finanzieren, nutzen die gute Infrastruktur, erbringen zunächst eine Agen-
turleistung und bauen dabei alleinverantwortlich an ihrem Thema weiter.
Wir haben die ganze Bandbreite der Optionen angewendet. Nicht nur theoretisch, sondern
praktisch. Es hat sich bewährt, nicht nur mit einem klassischen Modell zu kommen, so nach dem
Motto: „Das bieten wir an und sonst nichts“, sondern individuelle Lösungen zu suchen. Wir von
YOU IS NOW unterstützen bei diesem Prozess natürlich so gut wir das können. Wir kennen die
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Scout-Gruppe und die Verantwortlichen inzwischen sehr gut. Am Ende ist es aber natürlich eine
Entscheidung, die von den Akteuren im Haus gemeinsam mit den Startup-Teams getroffen wird.
Lass uns von der YOU-IS-NOW-Story zu der Startup-Szene allgemein kommen. Durch
deine Arbeit hast du einen guten Überblick über die Branche. Was macht deiner Meinung
nach eine tragfähige Businessidee aus, welche Kriterien muss sie erfüllen?
Aus der Perspektive von YOU IS NOW gesprochen: Neben dem finanziellen Engagement
stellen wir uns vor allem die Frage, in wie weit wir inhaltlich unterstützen können. Es soll ein
Wert geschaffen werden. Klassische Investoren schauen auf eine gewisse Größe. Sie klopfen den
potenziellen Markt ab und brechen die Marktanteile herunter. Es geht ihnen um das Potenzial,
das eine Businessidee hat, denn sie müssen natürlich wissen, ob sich das Investment überhaupt
zurückverdienen lässt. Klassische Investoren schauen sich aber genauso das Team an und den
Track-Record. Es geht vor allem darum, ob man es dem Team zutraut, den angedachten Weg
erfolgreich umzusetzen. Manche Gründer können bereits auf Erfolge in der Vergangenheit hin-
weisen, das ist hilfreich. Andere hinterlassen durch gutes Auftreten den Eindruck, dass ihnen der
Erfolg in kurzer Zeit gelingen wird. Das ist wichtig für Investoren, denn sie haben in der Regel
nicht viel Zeit. Der genaue Blick auf das Team hat sich auch für uns immer bewährt. Vor allem
beim Accelerator-Programm legen wir großen Wert auf diesen Faktor. Wir legen darauf mehr
Wert als auf die große Businessidee und alle damit zusammenhängenden Fragestellungen.
Was sind deiner Meinung nach die zentralen Eigenschaften eines guten Teams?
Wir nutzen zur Einschätzung des Teams einen Test, den alle Teammitglieder durchlaufen
müssen. Dadurch wird ein psychologisches Bild mit Stärken, Schwächen, Profilen und Charak-
tereigenschaften entwickelt. Ich glaube, es braucht die richtige Mischung aus einem emotionalen
Gründer, der für seine Idee brennt, und solchen, die rational-pragmatisch an die Sache heran-
gehen. Je weltverändernder die Idee ist, desto überzeugter muss ein Gründer sein, denn er muss
seine Idee gegen Strömungen verteidigen können. Gleichzeitig muss das Gründerteam aber in der
Lage sein, Situationen frei von Emotionen zu bewerten. Manchmal muss man einsehen können,
dass der Markt etwas anderes sagt, als man es sich ausgemalt hatte, und dem muss ich dann auch
mal glauben und entsprechend reagieren. Man darf sich beim Gründen nicht verrennen. Dabei
hilft der Verstand oft mehr als der Bauch. Ich glaube, viel Herzblut für die Sache auf der einen
und Offenheit für Korrekturen statt blindem Festhalten auf der anderen Seite, das sind genau die
Kerneigenschaften auf die es ankommt. In der Reinheit dürfte dies so gut wie gar nicht zu finden
sein. Aber das ist das Idealbild.
Wir wissen nicht mit Sicherheit, was einen erfolgreichen Gründer ausmacht. Wahrscheinlich
weiß man viel mehr, was nicht zu einem erfolgreichen Business führt.
Nach welchem Kriterium sortiert ihr Businessideen am häufigsten aus?
Man merkt oft, dass das Thema Leidenschaft für sich allein in Anspruch genommen wird,
und das auch in Themenumfeldern, die bereits von vielen Startups bearbeitet werden. Bestes Bei-
spiel dafür sind die ganzen sozialen Netzwerke, die durch den Erfolg von Facebook aufgekommen
sind. In dieser Ecke gibt es überproportional viele Ideen, bei denen man weiß, dass sie nicht
erfolgreich werden. Natürlich gibt es Ausnahmen, was auch gut ist, aber grundsätzlich muss man
gerade bei den Trendthemen sehr genau hinsehen. Die Kernfrage ist immer: Warum sollte sich
gerade dieses Startup in solch einem starken Wettbewerb erfolgreich differenzieren können? Man
beurteilt das Team sehr stark, analysiert, wie weit es im Vergleich zu anderen ist. Welche Inves-
toren haben sie schon überzeugt? Wie gut sind ihre Netzwerke? Wie weit ist die Technologie? Wie
valide ist das, was sie anbieten? Sind sie schon irgendwo im Markt? Haben sie bereits Showcases
oder Kunden überzeugt? Wir versuchen, die hoch kompetitiven Themen zu identifizieren. Nur
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so können wir uns orientieren. Umgekehrt ist das übrigens auch eine Botschaft an die Gründer.
Früher haben Gründer fast ein geschriebenes Buch abgeliefert und das wurde nach Kriterien
bewertet. Heute ist es so, dass schon das halbe Ergebnis umgesetzt ist, oder die Entwicklung
zumindest schon sehr weit ist.
Wie kann man dann die Businessideen testen? Wie gestaltet man ein wirklich überzeu-
gendes Proof of Concept?
Ganz simpel: Indem man erste Kunden gewinnt – „First Paying Customers“.
Wie gewinne ich damit einen Investor, sprich: Was gehört deiner Ansicht nach in eine über-
zeugende Investoren-Präsentation?
Wichtig ist, das Konzept zu belegen. Investoren wollen alles, was im Businessplan geschrieben
steht, bewiesen sehen. Sie wollen Fakten, nicht nur Annahmen. Die Proof-of-Concept-Phase ist
also eigentlich dafür da, dass man alle wesentlichen Hypothesen beweist. Die Investoren müssen
ein klares Gefühl zu den Themen bekommen können. Markt, Team, Umsetzung, Produkt, all das
ist relevant. Je näher man an der Realität ist, je klarer man seine Idee validiert hat, desto höher
sind die Chancen, zu überzeugen.
Was sind häufige Schwachstellen in einem Proof of Concept?
Viele decken gar nicht alle nötigen Themenfelder ab. Meistens sieht man, dass es Stärken
in einem bestimmten Sektor gibt, dafür aber andere Bereiche vernachlässigt werden. Das Stich-
wort Produkt ist der Klassiker. Es gibt produktstarke Gründer, die mit Spaß an ihre Sachen her-
angehen. Aber sie gewichten das Thema Produkt oft zu stark und behandeln andere elemen-
tare Aspekte nur nebensächlich. Interessante Produkte gibt es viele, aber braucht dieses Produkt
eigentlich der Markt? Diese Frage vergessen sich manche zu stellen. Ein anderes Beispiel: Im
Gründerteam sind starke Seller. Manchmal merkt man dann relativ schnell, dass zwischen dem,
was überzeugend angepriesen wird und dem, was Realität ist, deutliche Unterschiede bestehen.
Es werden uns manchmal Fakten verkauft, die beim genauen Hinsehen gar keine sind. Zusam-
mengefasst: Eine gewisse Unausgewogenheit in den verschiedenen zentralen Themenbereichen ist
etwas, was wir häufig sehen. Und ganz eindeutig: Ein First Paying Customer ist eben doch etwas
anderes als eine Absichtserklärung.
Nach dem Proof of Concept und der Etablierung eines Repeatable-Sales-Prozess, wie kann
ich dann am besten skalieren? Gibt es Dos und Dont’s?
Meiner Meinung nach musst du an dieser Stelle eine Entscheidung treffen, wie schnell du
dein Business groß machen möchtest. Ob es funktioniert, ist abhängig von verschiedenen Para-
metern wie beispielsweise der Finanzierung und von dem Risiko, das du bereit bist, in dem jewei-
ligen Wettbewerbsumfeld zu gehen. Das ist, glaube ich, eine ziemlich bedeutende Sache: Man
muss wissen, wie viel Gas man auf der Rennstrecke geben kann, ohne dass es einen aus der Kurve
haut oder man durch zu langsames Fahren zurückfällt. Dafür ein Gefühl zu haben, das ist enorm
wichtig, bei jeder Runde, die man fährt.
Hast du ein Beispiel für ein Startup, bei dem die Skalierung erfolgreich funktioniert hat?
Und wenn ja: Worauf führst du den Erfolg zurück?
Ich sage es mal so: Wenn es lediglich darum geht, möglichst schnell mit ausreichendem Fun-
ding den Markt zu besetzen, dann gibt es sehr viele erfolgreiche Beispiele. ImmobilienScout ist
vor 15 Jahren so eine Erfolgsgeschichte gewesen. Die wussten, wie das Rennen zu fahren war. Sie
haben stets sicher gelenkt: sowohl als sehr viel Geld da war, als auch in Zeiten, als so gut wie gar
kein Geld da war. Ihre Rennstrategie ist aufgegangen.
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Was sollte man bei der Skalierung tunlichst vermeiden?


Ich glaube, bei vielen stimmt das Timing nicht. Viele agieren schon, obwohl sie noch gar nicht
in der Skalierungsphase sind. Es wird beispielsweise Geld für Marketingmaßnahmen ausgegeben,
obwohl man sich eigentlich noch in der Validierungsphase befindet. In dieser Situation muss man
natürlich auch Marketinggelder einsetzen, nur viel gezielter. Es geht zu diesem Zeitpunkt primär
darum, Learnings zu produzieren und nicht darum, Marktanteile zu gewinnen. Dies zu unter-
scheiden und zu wissen, wo man sich eigentlich gerade befindet, ist ein Thema, bei dem relativ
viele Fehler machen und dadurch oft nicht wirklich erfolgreich werden.
Gründer skalieren also oft zu früh?
Ja, es fehlt oft das Bewusstsein, dass man theoretisch zwar skalieren kann, aber das dieser
Schritt für den Markt häufig noch zu früh ist. Außerdem wird zu wenig darauf geachtet, dass
pro Kunde sehr hohe Customer Acquisition Costs entstehen und es mit den Margen, die ich
pro Kunde habe, sehr lange braucht, um diese zurückzugewinnen. Das kann sogar unattraktiv
für zukünftige Finanzierungsrunden sein. Es wäre ratsamer, schon in der Validierungsphase zu
erkennen, welch harter und teurer Prozess die Kundengewinnung ist. Man sollte ehrlich heran-
gehen und sich klar machen, was es eigentlich heißt, zu wachsen. Wie kommen wir eigentlich
dahin, wo wir hin wollen? Dann brauchen wir auch niemanden mehr nach Geld fragen, weil wir
unsere Ziele rechtzeitig umsetzen können.
Torsten, herzlichen Dank für das Gespräch.

Literaturtipps von Torsten Oelke

Oelke, Torsten (2009); Stars des Internets; Redline Verlag


Danksagung
Unser besonderer Dank gilt den Gründern, die in diesem Buch zu Wort kommen. Sie waren alle
bereit ein ausführliches Interview zu geben, uns offen ihre Geschichte zu erzählen und uns Ein-
blicke in die Startup Welt zu gewähren. Ebenso gilt unser Dank allen Startup-Mitarbeitern, die
den Interviewprozess an vielen Stellen aktiv unterstützt haben.
Wir bedanken uns herzlich bei Christiane Wohlhaupter. Sie ist mitverantwortlich für die Ini-
tialzündung des Projektes und hat uns mit ihren Ideen und journalistischer Expertise unterstützt.
Auch bei der Journalistin Nora Schmitt-Sausen möchten wir uns bedanken, die uns bei der Edi-
tierung der Interviews unterstützt hat. Vielen Dank an Julian Jülich für die kreative Mitarbeit bei
der Umsetzung der Illustrationen. Unser Dank gilt auch Mareike Holtkamp, die uns von Beginn
an moralisch und mit gestalterischem sowie geisteswissenschaftlichem Sachverstand unterstützt
hat.
Wir bedanken uns darüber hinaus bei allen, die sonst noch an diesem Buch mitgewirkt haben.
Und es waren viele! Viele kluge Köpfe, die uns beim Networking unterstützt haben, Ideen beige-
steuert und uns wertvolles Feedback gegeben haben.
Unser Dank gilt des Weiteren dem Springer Gabler Verlag, der uns bei der Umsetzung dieses
Buchs mit dem gesamten Team unterstützte, vor allem unserer Lektorin Eva-Maria Fürst.

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
Über die Autoren

Christoph Warmer hat seit jeher eine ausgeprägte Leidenschaft für neu-
artige Ideen und unternehmerisches Handeln. Während des Studiums gründete er sein erstes
Startup und arbeitete für ein Forschungsprogramm zum Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse
in die Unternehmenspraxis. Aktuell ist er hauptberuflicher Managementberater bei einem glo-
balen Beratungshaus. Er hält ein Diplom in Medien und Wirtschaft sowie einen Master in Inter-
national Business.

Sören Weber gründete mit Beginn der Web 2.0 Startup Welle in 2006
sein erstes Internet Startup und ist seitdem in der Startup Szene aktiv. Aktuell ist er hauptberufli-
cher Unternehmensberater bei einem führenden Beratungshaus. Er hält einen Abschluss in Com-
puter Science & Media sowie in Economics.

C. Warmer, S. Weber, Mission: Startup, DOI 10.1007/978-3-658-06653-6,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

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