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Besondere Lernleistung

Von

Johannes Weis
Carl – Benz – Gymnasium
Ladenburg

„Jugend im Dritten Reich“


Methoden der Manipulation

Seminarfach Radikalismus unter Leitung von Frau Glenz und Herrn Christmann

Juni 2003
Inhaltsverzeichnis

Vorwort 3

Einleitung 4

1 Anfängliche Entwicklung 6
1.1 Vorgeschichte 6
1.2 Die Grundlagen werden geschaffen 9

2 Wege der Propaganda 13


2.1 Die Zeit der Vorbereitung 13
2.2 Erziehung und Indoktrinierung 15
2.2.1 Untersuchung am Beispiel von Jugendbüchern 16
2.3 Propaganda in der Schule 21

3 Die totale Erfassung in der HJ 27


3.1 Entstehung und Entwicklung 29

4 Blinde Treue bis in den Tod 35

Fazit 38

Glossar 39

Bibliografie 40

-2-
Vorwort

Als es gegen Ende der elften Klasse um das Wählen unserer Fächer für das kommende Schuljahr
ging, stand für mich fest, dass ich mich für wenigstens ein Wahlfach entscheiden wollte. Ich
konnte mir damals zwar noch nichts unter dem Begriff „Seminarkurs“ vorstellen, doch
interessierte mich das angebotene Thema durchaus. „Seminarfach Radikalismus“ hieß es dann
auf meinem Stundenplan. Und so kam es, dass ich mich mit einigen anderen Schülern jeden
Dienstag Nachmittag unter der Leitung von Frau Glenz und Herrn Christmann traf, um zu
diskutieren, Material auszutauschen, Themen zu formulieren und Stück für Stück die nun
vorliegende Seminararbeit zu schreiben.
Während meiner Recherchen konzentrierte ich mich auf Material aus unterschiedlichsten
Quellen. Ich erstand ein zensiertes Exemplar von Hitler’s „Mein Kampf“, aus dem ich als Beleg
für meine Thesen einige Male zitieren werde1, die Bundeszentrale für politische Bildung
versorgte mich mit günstigen Geschichtsbänden sowie Studien zum Nationalsozialismus und
mittels Internet gelangte ich an historische Dokumente, so z. B. Videoausschnitte aus
nationalsozialistischen Propagandafilmen.
Während es sicherlich interessant gewesen wäre, wie einige andere Kursteilnehmer auch,
aktuelle Themen zu untersuchen, konzentriere ich mich in meiner Arbeit auf Geschehenes, doch
nicht Vergessenes. Die Zeit von 1939 – 1945 ist, was Deutschland betrifft, auch heute noch sehr
strittig im Hinblick auf die Meinungen verschiedener Historiker. Ich will versuchen, mit dieser
Arbeit in einen besonders dunklen und lange Zeit unberührten Winkel der Geschichte des
Nationalsozialismus Licht zu werfen, und einige Lücken zu füllen, die bisher von der breiten
Masse immer noch mit Mythen und Legenden bedeckt werden.
Im Voraus sei außerdem bemerkt, dass die HJ, welche bei der Indoktrinierung der Jugend eine
wichtige Rolle spielte, in ihrer Blütezeit über ein komplexes System von Unterorganisationen
verfügte. Ich erachte es als für die Erklärung der Methoden der Manipulation unwichtig, auf
dieses System näher einzugehen, da es allenfalls interessant, aber für das Verständnis nicht
erheblich ist. Für eine Vertiefung zum Thema Organisation der HJ empfehle ich dem Leser den
Kauf der entsprechenden Bücher aus dem Literaturverzeichnis dieser Arbeit.

1
Für die Zitate aus „Mein Kampf“ sei angemerkt, dass ich lediglich über eine digitale Version des Buches verfüge,
was zur Folge hat, dass ich weder über das Erscheinungsdatum, noch den Erscheinungsort und die Auflage dieser
Ausgabe genau Auskunft geben kann. Die Seitenangaben meiner digitalen Ausgabe richten sich meines Wissens
nach der 1942 in München erschienenen Version des Buches.
-3-
Einleitung

Als am Abend des 30. Januar 1933 Anhänger der


Nationalsozialisten den lang ersehnten "Tag der
Machtergreifung" mit Fackelzügen durch das
Brandenburger Tor feierten, markierten die
triumphierenden Kundgebungen auch symbolisch
das Ende der Weimarer Republik. Wenige Stunden
zuvor hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg
den Vorsitzenden der Nationalsozialistischen
Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler,
zum neuen Reichskanzler ernannt. Mit gerade
einmal 33,1 Prozent der Wählerstimmen war es der
NSDAP gelungen, eine zentrale Machtposition im
Reichstag zu erlangen.

Und trotzdem war Hitlers Ernennung zum


Abbildung 1: Blick vom Hotel Adlon auf
Reichskanzler weder der Höhepunkt noch der den Fackelzug durch Berlin

Anfang des steigenden Einflusses


nationalsozialistischen Gedankenguts. Von der Gründung der ursprünglichen Partei im Jahre
1919 an, der „Deutschen Arbeiterpartei“ (DAP), bis zum Zweiten Weltkrieg, jene erschütternde
Katastrophe, in der Hitlers Größenwahn gipfelte, durchlief der Einfluss der NSDAP auf das
deutsche Volk eine bemerkenswerte Entwicklung.
Einen der wichtigsten Faktoren hierfür, wenn nicht sogar den wichtigsten Faktor überhaupt, stellt
die ausgefeilte Strategie dar, mit der sich der Staat der Jugend bemächtigte und sie mit
geschickter Raffinesse zu Instrumenten seiner Absichten machte. Dazu ein Zitat Hitlers über das
Ziel seiner erzieherischen Vorstellungen:

„Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen
Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken
wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich.
Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches
und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren
Augen blitzen.“2

2
Adolf Hitler über Erziehung – Rauschning, H.: „Gespräche mit Hitler“ Zürich / Wien / New York 1940, S. 237
-4-
Eine zentrale Rolle dabei spielte die sog. „Hitler-Jugend“ (HJ), ein staatliches Organ, das
Jugendliche ab dem zehnten Lebensjahr erfasste, integrierte und erzog. Wenn auch diese
nationalsozialistische Einrichtung den meisten ein Begriff sein sollte, und wenn ich ihr auch ein
ganzes Kapitel zuteile, so war es, wie ich im Weiteren erläutern will, keineswegs sie alleine, die
diese Vereinnahmung der Jugend ermöglichte. Darüber hinaus gab es gewiss Jugendliche, die
sich dem totalitären System entzogen, ja sogar Widerstand leisteten. Und diese waren, wie ich
während meiner Recherchen feststellte, zum einen ebenfalls organisiert, und zum anderen
beileibe keine Randerscheinung.
Ich will in dieser Arbeit versuchen, die Methoden aufzuzeigen, mit denen die Jugend im Dritten
Reich vereinnahmt wurde und die Ideologie zu beschreiben, nach der die Jugend zu leben
erzogen wurde. Um die Vorgänge zu jener Zeit zu verstehen, muss man allerdings weiter zurück
schauen. Warum war die Jugend so empfänglich für das rechte Gedankengut? Mit welchen
Mitteln wurde die Jugend von Hitlers Regime derart vereinnahmt? Auf welche ideologische
Grundlagen stützte sich Hitler Doktrin von „seiner Jugend“? Wie wirkte sich die Erziehung
letzen Endes auf die Jugend aus?
Diese Fragen und ähnliche gilt es für mich zu klären. Dazu werde ich im Folgenden einen Bogen
von den Anfängen des Dritten Reiches über die zunehmende Kontrolle der Jugend durch den
Staat durch Schriften und die Schule bis hin zum Krieg selbst schlagen. Beginnen möchte ich
aber mit der Zeit vor der Blüte des Nationalsozialismus.

-5-
1 Anfängliche Entwicklung

1.1 Vorgeschichte

Am 28. Juni 1919 unterzeichneten der deutsche Außenminister Hermann Müller und der
Verkehrsminister Johannes Bell im Spiegelsaal des ehemaligen Schlosses von Ludwig XIV. den
Versailler Vertrag. Damit war für alle Kritiker der Startschuss gegeben, die Schmach der
Niederlage im Ersten Weltkrieg mit Propaganda und politischer Hetze auszunutzen. Nicht nur
die extreme Rechte warf den republikanischen Kräften vor, mit der Befürwortung und
Unterzeichnung des Vertrags entschieden zu einer Erniedrigung des Deutschen Reichs und zur
Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts Deutschlands beigetragen zu haben; vielmehr war
bei beinahe allen Deutschen der Nationalstolz durch diese Niederlage zutiefst verletzt. Die Rede
war von den „Fesseln von Versailles“ und der
„Germania am Marterpfahl“.
Dieses Gedankengut fand auch schnell Resonanz bei
der Jugend im damaligen Deutschland. Bei sog.
„bewegten“ jungen Leuten bestand ein Bedürfnis nach
der „Einheit der Jugend“, nach einem Aktivismus gegen
die konservative Politik „der Alten“. Diese Stimmung
herrschte lange vor und wurde von verschiedenen
extremen linken sowie rechten, aber auch von
gemäßigten Bevölkerungsgruppen und Parteien
geschürt.
Bereits vor der Gründung der DAP durch Anton
Drexler und Karl Harrer im Jahre 1919, aus der, schon
damals mit antisemitischen und antimarxistischen
Tendenzen, später die NSDAP entstehen sollte, konnte
Abbildung 2: Germania am
Marterpfahl. Unterschrift: man in ganz Deutschland Organisationen von
„Wenn auch entwaffnet und gefesselt – Jugendlichen finden, deren Aufmachung und Ideologie
Am Himmel leuchtet ein
Hoffnungsstrahl - Es naht die Stunde stark an die der HJ erinnerten. Als Sammelbegriff für
der Erlösung Germania am
Marterpfahl“ jene Organisationen findet man etwa ab 1923 die
Wendung „Bündische Jugend“. Darunter werden all die
Jugendbünde zusammengefasst, die sich als unpolitisch und unkonfessionell bezeichneten.
Die größtenteils aus dem Bürgertum stammende Bündische Jugend versuchte als eigenständige
Selbsterziehungsgemeinschaft, ihr Leben neben Elternhaus, Schule, Kirche und Beruf frei zu
gestalten. Auf Wanderfahrten ins Grüne, in Lagern und auf Heimabenden suchten die Bünde mit

-6-
ihren insgesamt etwa 70.000 organisierten Mitglieder eine zumeist romantisch stilisierte
Rückbesinnung auf Heimat und Natur ohne Alkohol und Nikotin sowie ein Alltagsleben abseits
der bürgerlichen Konsumgesellschaft mit ihren Normen und Ausschweifungen. Derartige
Vereinigungen erinnern ein wenig an die heutigen Pfadfindergruppen.
Auffallend waren damals schon die später in der HJ üblichen Uniformen, ein ausgeprägter
Gemeinschaftssinn und Schlagworte wie: „Führer und Gefolgschaft“, „Nation und Sozialismus“,
„Blut und Boden“, „soldatische Tugenden“ oder „Kampf gegen Versailles und Weimar“ 3. Wenn
das oben Beschriebene auch nicht auf unmittelbar alle dieser Organisationen zutrifft, so lässt es
doch vermuten, dass junge Leute, die nach diesen Leitbildern lebten, den Aufstieg der
Nationalsozialisten weitgehend mit Wohlwollen betrachteten.
Als die Nationalsozialisten die HJ nach 1933 schließlich weiter
ausbauten, stützten sie sich dabei nicht etwa auf selbst ersonnene
Konzepte, sondern bedienten sich lediglich auf wirksame Weise
der Ideologie der bereits vorhanden Bündischen Jugend. Und
ausgehend vom Machtanspruch, den das Dritte Reich stellte, war
es ein wichtiger Zug, jene Werte zu instrumentalisieren und als
neues Doktrin für die Jugend zu verwenden. Hätten Hitlers
Handlanger dies damals nicht gesehen, hätten gewiss andere

Strömungen das Jugendpotenzial ausgenutzt, und ein für Hitlers


Abbildung 3: Pfadfinder
totalitäres System so wichtiges Staatsorgan wie die HJ wäre mit Fahne und Trommel

niemals entstanden.
Wie bedeutend die Jugend für Hitler und seine Pläne war, erwähnte er bereits in seinem
Propagandawerk „Mein Kampf“, einer Art Manifest über sein Handeln und Denken. Das Buch,
welches später zur Pflichtlektüre eines jeden „guten Deutschen“ wurde, schrieb er im Jahre 1924
während er in der Festung Landsberg aufgrund eines Putschversuches inhaftiert war. Zum
Thema „Das Heer als letzte und höchste Schule“ schrieb Hitler:

„Dabei kann diese Erziehung in großen Zügen schon die Vorbildung für den
späteren Heeresdienst sein. [...] Im völkischen Staat soll also das Heer nicht mehr
dem einzelnen Gehen und Stehen beibringen, sondern es hat als die letzte und
höchste Schule vaterländischer Erziehung zu gelten. Analog der Erziehung des
Knaben kann der völkische Staat auch die Erziehung des Mädchens von den gleichen
Gesichtspunkten aus leiten. Auch dort ist das Hauptgewicht vor allem auf die
körperliche Ausbildung zu legen, erst dann auf die Förderung der seelischen und

3
Vgl.: Klönne, Arno: „Jugend im Dritten Reich“ in: Bracher / Funke / Jacobsen (Hrsg.): „Deutschland 1933 – 1945
/ Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft“, BpB, Bonn 1992, 2. ergänzte Auflage, S. 224
-7-
zuletzt der geistigen Werte. Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die
kommende Mutter zu sein.“4

Noch deutlicher wurde Hitler später in einer Rede 1938, als seine Ziele bereits weitestgehend
umgesetzt waren:

„Dann kommt eine neue deutsche Jugend, und die dressieren wir schon von ganz
kleinem an für diesen neuen Staat [...]. Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes, als
deutsch denken, deutsch handeln, und wenn nun diese Knaben mit zehn Jahren in
unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male überhaupt eine
frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk
in die Hitlerjugend, und dort behalten wie sie wieder vier Jahre, und dann geben wir
sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger,
sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder
in die SS, in das NSKK [NS-Kraftfahrerkorps, Anm. des Autors] usw. Und wenn sie
dort zwei oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten
geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder
sechs oder sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen
Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten an Klassenbewusstsein oder
Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die
Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie dann nach zwei,
drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall
rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS usw., und sie werden nicht mehr frei
ihr ganzes Leben. Und wenn mir einer sagt, ja, da werden aber doch immer noch
welche übrigbleiben: Der Nationalsozialismus steht nicht am Ende seiner Tage,
sondern erst am Anfang.“5

Für Hitler stand also von Anfang an fest, dass er die Jugend zum Werkzeug seiner Pläne machen
würde. An der späteren Struktur der HJ und an der Auslegung derselben auf körperliche
Ertüchtigung („Wehrerziehung“) war der Sinn dieser Einrichtung noch deutlicher zu erkennen.
Bei der Umsetzung der Idee und der Einrichtung dieses Erziehungsorgans kamen ihm die
gedanklichen Grundzüge der Bündischen Jugend genauso recht wie die Faszination der meisten
Jugendlichen dieser Zeit für jenes Gemeinschaftsdenken, das sich sowohl in der Bündischen
Jugend als auch später in der Hitlerjugend fand.

4
Adolf Hitler: „Mein Kampf“, S. 459
5
Zitiert nach Jahnke, Karl Heinz / Buddrus, Michael: „Deutsche Jugend 1933 – 1945. Eine Dokumentation.“
Hamburg 1989, S. 155
-8-
1.2 Die Grundlagen werden geschaffen

Bis zum Jahre 1932 befanden sich die in der HJ organisierten Jugendlichen in der Minderheit.
Wie aus der Grafik hervorgeht, war die HJ zu diesem Zeitpunkt mit schätzungsweise 100.000
Mitgliedern eher schwach besetzt. Keine zwei Jahre später allerdings, 1934 nämlich, belief sich

Organisierte Jugend um 1932


Sportjugendverbände
2000000 Katholische Jugendverbände
2000000
Evangelische Jugendverbände
1500000 1000000
Gewerkschaftsjugend
600000
1000000 400000 Hitlerjugend
100000
90000 Sozialistische Arbeiterjugend
500000 70000
55000 Bündische Jugend
0 Kommunistische Jugend
Anzahl der Mitglieder

die Mitgliederzahl auf 3,5 Millionen Jugendliche. Dieser immense Zuwachs lässt sich damit
erklären, dass die NSDAP der HJ durch einige politische und propagandistische Maßnahmen
eine Monopolstellung unter den Jugendverbänden verschaffte.
Nachdem Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, wurden zwei grundlegende
Gesetze erlassen, die tief in das Fleisch der junge Demokratie der Weimarer Republik schnitten.
Dazu ein etwas längerer Exkurs, der für das Verstehen der jetzt beschriebenen und auch später
angeführten Vorgänge notwendig ist:
Die erste Maßnahme war die sog. „Reichstagsbrandverordnung“. Als am 27. Februar 1933, etwa
einen Monat nach Hitlers Ernennung, der Reichstag in Flammen stand und der Niederländer
Marinus van der Lubbe der Brandstiftung am Reichstagsgebäude angeklagt und für schuldig
befunden wurde, bemühten sich die Nationalsozialisten, diese
Umstände für ihre Zwecke auszunutzen. Entgegen van der
Lubbes Geständnis, er alleine habe als Linksanarchist diesen
Anschlag verübt, um die deutsche Arbeiterschaft zu einem
Aufstand gegen Hitlers Regime anzustiften, verbreiteten
Hermann Göring, damals kommissarischer preußischer
Innenminister, und andere NSDAP-Funktionäre, der „Beginn
des kommunistischen Aufstandsversuches“ stehe kurz bevor.
Daraufhin legte Innenminister Wilhelm Frick bereits einen
Tag später besagte Reichtagsbrandverordnung vor, eine

„Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, wie er es


Abbildung 4: Reichstagsbrand
am 27. Februar 1933 formulierte. Sie wurde vom Kabinett einstimmig
beschlossen. Infolgedessen war es Hitler neben den
Konsequenzen für die einzelnen Jugendverbände möglich, extremistische Parteien wie die KPD
-9-
zu verbieten, unter dem Vorwand, die Ordnung des Staates zu wahren. Auch beim Verbot der
SPD im Juni desselben Jahres, sowie bei der Errichtung des Einparteienstaates stellte die
Reichstagsbrandverordnung eine wichtige Grundlage dar.
Die zweite Maßnahme war der Entwurf für das sog. „Ermächtigungsgesetz“. Dieses Gesetz
sollte die Regierung dazu befähigen, ohne Zustimmung von Reichstag und Reichsrat sowie ohne
Gegenzeichnung des Reichspräsidenten Gesetze zu erlassen. Für eine derartige
Verfassungsänderung war bei der Abstimmung im Reichstag allerdings eine Zweidrittelmehrheit
notwendig. Strategisch geschickt waren hierbei Hitlers vermeintliche Zusicherung, er würde mit
den ihm gegebenen Vollmachten verantwortungsvoll umgehen, die alternative Formulierung
„Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, sowie die Inszenierung des „Tages von
Potsdam“6 kurz zuvor durch Propagandaminister Goebbels. Zusätzlich veranlasste Hitler am Tag
der Abstimmung im Reichstag einen Auflauf von SA-Leuten, die Druck auf die Widerspenstigen
ausüben sollten. Alleine die 94 Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
(SPD) ließen sich nicht erpressen, wenn auch die Mehrheit mit den 444 Stimmen der
Regierungskoalition, bestehend aus NSDAP, Deutschnationaler Volkspartei (DNVP),
Zentrumspartei, Bayerischer Volkspartei (BVP) und Deutscher Staatspartei sicher gegeben war.
Faktisch wurde damit der Grundordnung der Weimarer Republik ein Ende gesetzt, auch wenn
die Republik formell bis zum Ende des Dritten Reiches bestand.
Wenngleich das Gesetz anfangs lediglich auf vier Jahre verabschiedet war, so wurde es 1937,
1939 sowie 1943 verlängert und diente bis zum Fall des Dritten Reiches im Mai 1945 als Basis
für die deutsche Gesetzgebung.
Erwartungsgemäß, wie man es aus heutiger Sicht formulieren würde, nutzte Hitler seine aus
diesen Gesetzesänderungen resultierenden Vollmachten gnadenlos aus. In den nächsten Wochen
wurden zehntausende Oppositionelle in „Schutzhaft“ genommen und damit vom politischen
Geschehen entfernt.
Und ebenso günstig waren jene Gesetzesänderungen für Hitlers Pläne, der HJ unter den
Jugendorganisationen eine Monopolstellung zu verschaffen. Neben allen anderen Zwecken, zu
denen Hitler seine neuen Vollmachten nutzte, ließ er noch im Jahre 1933 sämtliche andere
Jugendorganisationen verbieten. Einzig ausgenommen von dem anfänglichen Verbot waren die
katholischen Jugendverbände. Die HJ, anfangs die Parteijugend der NSDAP, wandelte sich
damit zur Staatsjugend. Zwingend wurde die Mitgliedschaft allerdings erst am 1. Dezember
1936 durch die Einführung der „Jugenddienstpflicht“ im Zuge des „Gesetzes über die
Hitlerjugend“:

6
Genau 62 Jahre nach der ersten Reichstagssitzung im Kaiserreich wurde am 21. März 1933 der erste Reichstag
nach der Machtübernahme der NSDAP eröffnet. Bewusst wurde von dem eine Woche zuvor, nach dem
Reichstagsbrand, ernannten Propagandaminister Joseph Goebbels Potsdam als ein wichtiger Ort preußischer
Geschichte für die feierliche Konstituierung ausgewählt.
- 10 -
„Gesetz: Hitlerjugend, 1936

Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936

Von der Jugend hängt die Zukunft des Deutschen Volkes ab. Die gesamte deutsche
Jugend muß deshalb auf ihre künftigen Pflichten vorbereitet werden.

Die Reichsregierung hat daher das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit
verkündet wird:

§1. Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der
Hitlerjugend zusammengefaßt.

§2. Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der
Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum
Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.

§3. Die Aufgabe der Erziehung der gesamten deutschen Jugend in der Hitlerjugend
wird dem Reichsjugendführer der NSDAP übertragen. Er ist damit "Jugendführer
des Deutschen Reichs”. Er hat die Stellung einer Obersten Reichsbehörde mit dem
Sitz in Berlin und ist dem Führer und Reichskanzler unmittelbar unterstellt.

§4. Die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen


Rechtsverordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften erläßt der Führer
und Reichskanzler.“

Berlin, den 1. Dezember 1936


Der Führer und Reichskanzler: Adolf Hitler
Der Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei: Dr. Lammers“7

Die vorübergehende Sonderbehandlung der katholischen Jugendverbände hatte Gründe, die bei
heutiger Betrachtung ein eher negatives Licht auf die katholische Kirche wirft. Zum einen
herrschte eine große Bereitschaft der katholischen Kirche, ausgehend vom Vatikan, mit dem NS-
Regime zusammenarbeitete. Fixiert auf das Wohl ihrer Gläubigen unterließ es die katholische
7
Reichsgesetzblatt 1936, S. 993
- 11 -
Kirche lange Zeit, die menschenverachtende Politik Hitlers moralisch zu verurteilen und rief
auch nicht zum Widerstand ihrer Anhänger auf. Vereinzelte Widerstandshaltungen von
Bischöfen (so z. B. Bischof Konrad Preysing8) oder von Pfarrern blieben die Ausnahme.
Wenn die katholische Kirche ihren regimekonformen Kurs auch bis zum Ende des Dritten
Reiches hielt, so wurden ihre Jugendverbände Ende 1933 dennoch verboten. Für Hitler war es,
wie anfangs schon erläutert, oberste Priorität, die deutsche Jugend für seine Pläne zu gewinnen.
Von daher war es unumgänglich, sämtliche konkurrierende Jugendverbände früher oder später
auszuschalten und die Jugend von klein auf in das totalitäre Gefüge zu integrieren.

8
Vgl.: Der Spiegel, Ausgabe Nr. 17 / 19. 04. 03, „Pakt zwischen Himmel und Hölle“, S.70
- 12 -
2 Wege der Propaganda

2.1 Die Zeit der Vorbereitung

Hitler hatte bereits sehr früh konkrete Vorstellungen, wie er „sein Volk“ haben wollte. Man kann
davon ausgehen, dass schon lange vorher vage Gedanken über ein mögliches Ziel seiner
selektiven Vorstellungen existierten; zu den erzieherischen Methoden liest man zum ersten Mal
in Hitlers „Mein Kampf“ von einem konkreten Menschenbild, hier unter anderem im Hinblick
auf die geistigen Werte und Fertigkeiten:

„Der völkische Staat hat [...] seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht
auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten
kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen
Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters,
besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der
Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche
Schulung.“9

Hitler stellt hier zunächst bewusst die physischen Eigenschaften über alle anderen, stets mit dem
brutalen Hintergedanken, für eine eventuell unausweichliche Auseinandersetzung zwischen den
Rassen (oder ggf. zwischen den Ländern) gewappnet zu sein. Nun gewichtet er unter den
geistigen Fertigkeiten gezielt diejenigen stärker, die sich in einem Krieg als ebenso nützlich
erweisen könnten. Erst ganz zum Schluss wird die „wissenschaftliche Schulung“ als
„einigermaßen sinnvoll“ erwähnt. Man sieht daran bereits sehr gut, dass der Schule unter Hitler
eine gänzlich andere Aufgabe zukam, als jemals vor oder nach ihm.
Während an diesem Ort heutzutage sowie die meiste Zeit zuvor hauptsächlich Wissen vermittelt
werden soll und sollte, trat diese Aufgabe zur Zeit des Dritten Reichs weit in den Hintergrund.
Die Schule und die Bildung durch den Staat im Allgemeinen waren lediglich ein weiterer Mittel
zum Zweck; dem Zweck nämlich, Hitlers Traum vom idealen Deutschen umzusetzen, das Volk
(und vorausschauend speziell die Jugend) weiter für sich und seine Pläne zu gewinnen und den
Nachwuchs weitestgehend auf die vermeintlichen gemeinsamen Feinde einzuschwören.
Während der Zeit von 1933 bis 1936, welche in historischen Büchern oft als die Phase der
Machtergreifung und Machtsicherung bezeichnet wird10, galt es (wie in Kapitel „.1.2 Die

9
Adolf Hitler: „Mein Kampf“, S. 452
10
so z. B. Tenorth, H.-Elmar: „Bildung und Wissenschaft im Dritten Reich“ in: Bracher / Funke / Jacobsen (Hrsg.):
„Deutschland 1933 – 1945 / Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft“, BpB Bonn 1992, 2. ergänzte
Auflage, S. 240
- 13 -
Grundlagen werden geschaffen“ bereits erwähnt) um ein funktionierendes System zu errichten
vor allem, bereits existierende Vereinigungen zu entmachten und an ihre Stelle entsprechende
Organisationen der NS-Bewegung zu setzen. Speziell im Bereich der Bildung und Erziehung
fanden sich nach diesen drei Jahren der ersten Phase der NSLB (Nationalsozialistischer
Lehrerbund), der NSDStB (Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund) und natürlich die
HJ sowie der BDM (Bund Deutscher Mädel).
Auch wurden in dieser Zeit die Grundlagen zur Beeinflussung von Bildung und Wissenschaft
geschaffen, u. a. durch die Gründung des „Reichsministeriums für Erziehung, Wissenschaft und
Volksbildung“.
Nun war es aber nicht alleine die Entmachtung der ehemaligen Institutionen, die es den Nazis
ermöglichte, in so kurzer Zeit den Erfolg ihrer Maßnahmen zu ernten. Es herrschte, wie im
Kapitel „1.2 Die Grundlagen werden geschaffen“ erläutert, eine Art Aufbruchstimmung gegen
das System der Weimarer Republik. Wenn auch nicht alle, so sahen auf jeden Fall zu viele
Pädagogen, Erzieher, Beamte, Lehrer, Wissenschaftler und Verbandsfunktionäre in den
Absichten der Nazis den erwünschten Abschied von dem zerstückelten System der Republik und
befürworteten das vereinheitlichte, auf nationale Werte ausgerichtete Erziehungssystem der
Nazis.

- 14 -
2.2 Erziehung und Indoktrinierung

Die Regierung Hitler verfügte über mehrere staatliche Organe und Ministerien, deren einzige
Aufgabe darin bestand, das Volk nach den Wünschen des Regimes zu beeinflussen. Darunter
fielen die Produktion Hitler-verherrlichender Filme, Bildreihen und Schriften (Leni Riefenstahl
machte sich hier als Regisseurin bei diversen Massenveranstaltungen einen unauslöschlichen
Namen), die Herausgabe hetzerischer Zeitschriften und Bücher sowie die Organisation von
gestellten Demonstrationen, Aufmärschen oder feierlichen Versammlungen.
Speziell im Bereich der schriftlichen Propaganda arbeitete
der Stürmer-Verlag, der zwar nicht direkt der Partei
unterstellt war, allerdings mit Julius Streicher einen
überzeugten Antisemiten11 und Hitlerfreund als Besitzer
hatte. In diesem Verlag erschien in erster Linie die Zeitung
„Der Stürmer“, die mit aggressiven, polemischen und
teilweise sexuell-kriminellen Berichten von angeblichen
Judenverbrechen und –skandalen auffiel. Sie sorgte bei der
breiten Basis der Bevölkerung für eine allgemeine
Akzeptanz Hitlers rassistischer Politik und legte bereits
1933 die ideologischen Grundlagen für die 1935 erlassenen
„Nürnberger Rassengesetze“.
Abbildung 5: Julius Streicher,
Bezogen auf Jugendpropaganda gab Streicher über seinen Besitzer des Stürmer-Verlags
Verlag verschiedene Kinderbücher heraus, die allesamt
sehr effektvoll in der gewünschten Erziehung der Kinder waren. Auf drei bekanntere Werke
möchte ich hier nun ausführlicher eingehen.

11
Streicher zur Zielsetzung des Verlags:

„Die Weiterarbeit des Stürmer wird dazu beitragen, daß auch noch der letzte Deutsche mit Herz und
Hand sich in die Front derer begibt, die sich zum Ziel gesetzt haben, der Schlange Alljuda [gemeint
ist das jüdische Volk, Anm. d. Autors] den Kopf zu zertreten.“

- 15 -
2.2.1 Untersuchung am Beispiel von Jugendbüchern

Der Pudelmopsdackelpinscher

Das Buch „Der Pudelmopsdackelpinscher und andere besinnliche Erzählungen“ erschien 1940 in
Nürnberg. Autor war der Chefredakteur des Verlags, Ernst Hiemer. Die Zielgruppe für dieses
Buch waren Kinder jüngeren Alters – das Buch ist leicht zu verstehen, sodass auch Leseanfänger
damit etwas anfangen konnten. Es basiert auf fabelähnlichen Geschichten, in denen stets
Tiervölker (anstelle von Menschen) unter sich eine Gruppe von bisher unbemerkten
Nichtsnutzen ausmachen. Doch anstatt, wie bei Fabeln üblich, dem Leser einen kritischen
Spiegel vorzuhalten, dienen jene Erzählungen von vornherein der Diffamierung anderer
Menschen. Der Titel lässt bereits vermuten, dass das Buch auf die Gefahren einer „Vermischung
der Rassen“ warnen will.
Eine Geschichte aus diesem Buch erzählt von einem Bienenstamm. Die zwei Hauptcharaktere,
die fleißigen Arbeiterbienen „Melli“ und „Api“, unterhalten sich über eine bestimmte Sorte
Bienen, die Drohnen nämlich. In Mellis Augen sind diese Tiere faule Schmarotzer, die sich mit
Essen versorgen lassen und nichts dafür tun. Melli erklärt Api auf sehr einfache und scheinbar
logische Weise, warum die Drohnen den anderen Bienen nichts nützen, und mehr noch, warum
sie ihnen sogar schaden und vernichtet werden müssen. Nachdem Api überzeugt ist, setzen es
sich die beiden zum Ziel, alle Bienen aufzuklären und zum „Kampfe gegen den Volksfeind“
aufzurufen. Der Aufstand gelingt, die Drohnen werden getötet oder fortgejagt.
Nach diesem, psychologisch sehr geschickten und unterschwelligen Schema laufen die meisten
dieser Geschichten ab. Bei der Lektüre fiebert der junge und nichtsahnende Leser mit den
Helden mit, wird über die „Missstände“ aufgeklärt (wie die nichtsahnende Api) und freut sich
mit den Helden über die gelungene Revolution. Damit dann das soeben Verinnerlichte auch
angewandt werden kann, folgt nach jeder Erzählung der abstruse Schluss auf die Welt der
Menschen:

„Drohnen gibt es nicht nur bei den Bienen, die Drohnen gibt es auch bei den
Menschen. Es sind die Juden!“12

Der Folgerung ist aus Sicht des Kindes nichts entgegenzusetzen, und das Mitleid mit den
ausgenutzten Bienen, das in der Kinderseele die Überzeugung von der Richtigkeit dieses
Schlusses festnagelt, bildet recht schnell die Entschlossenheit heraus, im wirklichen Leben nach

12
Maaß, Hans (Hrsg.): „Verführung der Unschuldigen“, Evangelischer Presseverband für Baden e. V., Karlsruhe
1990, S. 10
- 16 -
ähnlichen Missständen zu suchen, und sich gegen sie einzusetzen. Allerdings spielt für diese Art
der Beeinflussung das Alter eine wichtige Rolle. Das Kind muss noch jung und flexibel sein, da
sonst gewisse Werte schon geprägt sind und neue Informationen kritischer aufgenommen
werden, als es für solche Propaganda nützlich wäre.
Dass die Logik, nach der in den Geschichten argumentiert wird, unhaltbar ist, erscheint mit dem
Abstand, den wir heute von solchem Gedankengut haben, sehr offensichtlich. Die biologische
Grundlage existiert zwar bis zu einem gewissen Maße: Die Drohnen (also männliche Bienen)
werden, nachdem sie die Königin befruchtet haben, tatsächlich aus dem Stamm verjagt oder
getötet. Außerdem sammeln sie in der Tat keinen Nektar. Übersehen wird hier aber, dass die
Bienen ohne die Drohnen, also ohne Partner zur Fortpflanzung, nicht existieren könnten.
Darüber hinaus entbehrt der Schluss vom Bienenstamm auf den Menschen schlicht jeglicher
Rechtfertigung. Durch diesen Mangel hätte diese Art von Geschichten bei älteren (und bereits
geprägten) Menschen weniger Wirkung gezeigt – wenn auch nicht alle diesen realitätsfremden
Rückschluss hinterfragen würden, so mutet er doch recht merkwürdig an.

„Trau keinem Fuchs auf grüner Heid’“

Für ältere Leser gab es ähnliche Literatur, die


allerdings nicht mehr auf ganz so
unterschwellige Weise funktionierte.
Ebenfalls im Stürmer-Verlag erschien 1936
bereits „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid“.
Das Buch war von der damals
achtzehnjährigen Elvira Bauer verfasst
worden, die sich im Zuge des allgemein
aufkommenden Antisemitismus Geld für ihr
Kunststudium dazuverdienen wollte. Ihr Werk
Abbildung 6: Titelseite von Elvira Bauers „Trau
keinem Fuchs auf grüner Heid’ und keinem Jud’ zeugt von weit weniger tiefenpsychologischer
bei seinem Eid.“
Fertigkeit als es „Der Pudelmops-
dackelpinscher“ tut. Holprig gereimte Verse, illustriert mit dilettantischen Zeichnungen heben
hier Kapitel für Kapitel bestimmte Charakterzüge der Juden hervor, wie sie ihnen nachgesagt
wurden. Hin und wieder belegt Bauer ihre Behauptungen mit Zitaten aus dem Talmud13. Diese
Belege ruhen allerdings auf ebenso wackeligem Fundament wie die Behauptungen, da sie die

13
Brockhaus: „Talmud der, nachbibl. jüd. Sammlung von Religionsgesetzen, neben der hebräischen Bibel das
Hauptwerk des Judentums; besteht aus Mischna (nach Themen geordnete Rechtssammlung in Hebräisch) und
Gemara (Kommentierung der Mischna in Aramäisch).“

- 17 -
entsprechenden Textstellen entweder falsch auslegt, verfälscht oder gar frei erfindet.
Diese Art von Meinungsbildung griff zwar bei weitem nicht so tief wie die heroischen
Tiergeschichten im „Pudelmopsdackelpinscher“, doch reichten sie gewiss aus, um erstens
Skepsis und Argwohn den Juden gegenüber auszubilden und zweitens bereits bestehenden
Antisemitismus durch neue Vorurteile und die Bestätigung von alten zu bekräftigen.

Der Giftpilz

Drittens und letztens erschien 1938 „Der Giftpilz“, wieder von Ernst Hiemer verfasst und vom
Stürmer-Verlag unter Julius Schleicher in Nürnberg herausgegeben. Das Buch beginnt mit den
Worten:

„Die deutsche Jugend muß den jüdischen Giftpilz


kennenlernen. Sie muß wissen, welche Gefahr der
Jude für das deutsche Volk und die ganze Welt
bedeutet. Sie muß wissen, dass die Judenfrage eine
Schicksalsfrage für uns alle ist.
Die nachstehenden Kurzgeschichten künden die
Wahrheit über den Jüdischen Giftpilz. Sie zeigen
uns die verschiedenartigsten Gestalten, in denen
der Jude auftritt. Sie zeigen uns die Verkommenheit
und Niedertracht der jüdischen Rasse. Sie zeigen
uns den Juden als das, was er in Wirklichkeit ist,
als

Teufel in Menschengestalt.“14
Abbildung 7: Titelseite des „Giftpilz“

Ganz offensichtlich wird gleich zu Anfang der Sinn und Zweck des Buches erwähnt, der schon
alleine sehr fragwürdig erscheint. Unverholen werden die „wahren“ Charakterzüge der Juden frei
erfunden, die Religion auf sehr dreiste Weise als Bedrohung für die ganze Welt bezeichnet. Die
Argumente aus vorausgehender Propaganda dienen hier als Stützpfeiler für den weiteren Ausbau
des wirren Konstrukts. Bereits voreingenommene Leser (von denen es 1938 gewisse nicht
wenige gab) fühlen sich bestätigt; unbefangene werden durch die ähnlich geschickte
Erzählweise, wie sie bereits im „Pudelmopsdackelpinscher“ angewandt wurde, auf die
scheinbare Gefahr aufmerksam gemacht.
14
Maaß, Hans [Hrsg.]: „Verführung der Unschuldigen“, Evangelischer Presseverband für Baden e. V., Karlsruhe
1990, S. 27
- 18 -
Das gefährliche Moment liegt auch hier wieder im Weg vom „Herz zum Hirn“, wie es Maaß in
seinem Buch „Verführung der Unschuldigen“ formuliert. Die Texte lesen sich nämlich allesamt
wie ein Roman oder eine Erlebniserzählung. Ein Stil, den man bei Büchern erwarten würde, die
über Geschichten aus dem Leben berichten wollen, von denen man also annimmt, dass sie so
oder auf ähnliche Weise jedem passieren könnten. Diese Antizipation bekommen Kinder im
entsprechenden Alter zwar in den seltensten Fällen mit, doch passiert die Folgerung sehr schnell
auf unterbewusster Ebene.
Eine Episode aus diesem Buch berichtet vom Besuch eines Mädchens namens Inge bei einem
jüdischen Arzt. Während sie im Wartezimmer sitzt, hört sie eine protestierende Mädchenstimme
aus dem Behandlungszimmer, es folgen Schreie, dann Stille. Der Arzt öffnet daraufhin die Tür.
Er will nach Inge greifen, diese schlägt ihm,
angewidert durch sein Aussehen und seine
Handgreiflichkeit, ins Gesicht und rennt davon.
Die obligatorische, hässliche und
verallgemeinernde Beschreibung des Äußeren
des Juden bestätigt den Leser, wie auch bei den
anderen Werken, in seinen bisherigen
Vorurteilen. Dann legen der Protest des
Mädchens im Behandlungszimmer und das
darauffolgende Verstummen ein sexuelles
Vergehen nahe, wenn nicht sogar einen Mord.
Die Formulierungen im „Giftpilz“ sind recht
offensichtlich, er arbeitet weder mit ausgefeilten
Strategien noch ist der Schreibstil ein besonders
anspruchsvoller. Allerdings ist der logische
Abbildung 8: Illustration aus dem „Giftpilz“ zur
Episode „Inges Besuch bei einem jüdischen Zusammenhang der Erzählungen sehr geschickt
Doktor“
angelegt. Häufig wird eine anfangs
„ungläubige“ Person nach einem schockierenden Erlebnis eines Besseren belehrt. Die Lehre, die
der Betroffene zieht, steht natürlich ganz im Sinne der NS-Ideologie. Die Unverfrorenheit, mit
der hier Lügen, Verallgemeinerungen und Beleidigungen in einem zusammengefasst werden, ist
aus heutiger Sicht einfach nur grotesk. Es scheint unfassbar, dass diese Lügen als bare Münze
verkauft und als solche auch gelesen wurden.
Doch blieb den Kindern, die ja durch frühere Lektüren schon vorbereitet waren, und denen bis zu
einem gewissen Alter noch eine gesunde kritische Beurteilungsgabe fehlte, nichts anderes übrig,
als sich in aufrechtem Ehrgeiz vorzunehmen, gegen diese angeblich alltäglichen Vorfälle
vorzugehen und damit ihren Teil zu einer besseren Welt beizutragen. Die Propagandamaschine

- 19 -
der Nazis funktionierte in diesem Sinne hervorragend, allerdings setzte sie politischen Druck auf
die Eltern als eigentlich Erziehende und einen gewissen fruchtbaren Boden für den
Antisemitismus voraus.
Diese drei Beispiele, der „Pudelmopsdackelpinscher“, „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid“ und
„Der Giftpilz“, stehen für die systematische Indoktrinierung der Jugend verschiedenen Alters.
Von den ersten Leseerfahrungen an, mit Texten auf Grundschulniveau, werden die Kinder in die
Rassenideologie der Nationalsozialisten eingeführt, um dann mit fortschreitendem Alter mittels
niveauvollerer Texte gründlich in die Ideologie vertieft zu werden. Dieser ständige
Wiederholprozess trug gravierend zur Wertebildung bei und ließ eine ganze Generation mit
nahezu unauslöschlichen Vorurteilen und Vorbehalten gegenüber einer Religion aufwachsen.

- 20 -
2.3 Propaganda in der Schule

In der heutigen Zeit, und damit meine ich während des gesamten 20. Jahrhunderts, prägt den
Menschen nur weniges stärker als die Schule. Sie ist ein Ort, an dem man Kontakte knüpft,
Enttäuschungen kennen lernt und auch Auseinandersetzungen erlebt. Die Erfahrungen, die man
während seiner Jugendzeit macht, sind maßgebend für die Entwicklung der Persönlichkeit und
steuern stark zur Meinungsbildung bei. Während der Schule heutzutage, ausgehend von der
Gesellschaft, eine bei weitem größere erzieherische Aufgabe zukommt als bisher, wurde der
Schule im Dritten Reich, ausgehend von der Regierung, ein hoher Stellenwert beigemessen im
Hinblick auf die gründliche Erziehung zum rassenideologischen Denken.
Neben der HJ, die sicherlich als zentrales Organ bei der Umsetzung der Doktrin Hitlers
angesehen werden kann, spielte die Schule im Alltag der Jugend im Dritten Reich die wichtigste
Rolle. Mit der Umgestaltung des Unterrichts nach den Vorstellungen des
Propagandaministeriums wurden die Kinder damals morgens in der Schule und anschließend
nachmittags in der HJ mit rassistischem und nationalsozialistischem Gedankengut konfrontiert.
Den Anfang bildeten zum einen scheinbar harmlose Gewohnheiten und zum anderen vereinzelte
Verordnungen, die sich im Schulalltag
bemerkbar machten. Zum Beispiel wurde es
noch gegen Ende des Jahres 1933 üblich, die
Lehrkräfte mit dem sog. „deutschen Gruß“, also
dem Hitlergruß, zu begrüßen. Der Unterricht
wurde später auch mit dem Hitlergruß eröffnet,
zusammen mit den Worten „Heil Hitler“
salutiert der Lehrer vor der Klasse, die Schüler
Abbildung 9: Fahnenappell an einer
Mädchenschule erwidern das Ritual in Habachtstellung neben
ihren Pulten.
Der Fahnenappell vor und nach den Ferien war auch bald für Lehrer sowie Schüler Pflicht. Eine
Siebtklässlerin verfasste damals dazu den folgenden Hausaufsatz:

„Flaggenehrung

Nie kann ich den Tag vergessen, als ich zum Schulbeginn nach den Weihnachtsferien
mit allen meinen Mitschülerinnen auf unserem Schulhof stand und die Fahnen vor
unseren Augen an den beiden Masten hochgezogen wurden. Alle Schülerinnen
unserer Schule, [...], standen stramm auf dem Schulhof und hörten andächtig der
Ansprache der Herrn Direktors zu. Seine Worte sind mir noch gut im Gedächtnis

- 21 -
geblieben:
"Wenn ihr in die Schule geht und aus der Schule kommt, sollt ihr immer mit Stolz und
Freude zu den Fahnen, den Fahnen des neuen, wieder auferstandenen Deutschland,
aufblicken und fest zusammenhalten und mit dem anderen ganzen Volk geschlossen
hinter eurem Führer stehen."
Herr Direktor hatte unsere Herzen gepackt. Nun wurden die Fahnen gehißt. [...] Erst
wurde die schwarz-weiß-rote Fahne, unsere alte deutsche Fahne, hochgezogen und
dazu das Deutschlandlied gesungen [...] in der Überzeugung, daß nichts höher ist als
unser geliebtes Vaterland. Dann wurde die Hakenkreuzfahne, die Fahne des jungen
Deutschland, gehißt. Jetzt sangen wir mit Stolz und Freude das Horst-Wessel-Lied,
und wir gelobten uns alle im Stillen, mit unserem Führer für Deutschland zu kämpfen
und immer unsere Pflicht zu tun. Wie die Fahnen im Wind flatterten und die ganze
Schule vor ihnen stramm stand, das hat einen unvergeßlichen Eindruck auf mich
gemacht. Als ich so die ganze schule geschloßen stehen sah, dachte ich bei mir: So
steht das ganze Volk jetzt hinter seinem Führer.“15

Auch hier liest man wieder von jenem Gemeinschaftsgefühl, welches mitunter für die breite
Akzeptanz des Weges sorgte, den Hitler eingeschlagen hatte. Die Schülerin beschreibt in ihrem
Hausaufsatz den Stolz, den sie beim Anblick der Fahnen verspürt, weiterhin auf eine sehr
positive Weise die Loyalität des deutschen Volkes zu Hitler, die sicherlich auch mit dieser
Prozedur ausgeprägt werden sollte.
Einer Dokumentation über die Horst-Wessel-Schule in Kassel über die Zeit von 1933 – 194416
entnahm ich außerdem, dass der eigentliche Unterricht, mit dem Ziel, die Schüler zu bilden,
schon sehr früh Veranstaltungen weichen musste, die sehr im Zeichen der nationalsozialistischen
Ziele stand. Der Name der Schule lässt zwar vermuten, dass diese Einrichtung sicherlich
überdurchschnittlich von Nazi-Propaganda betroffen war, doch zeigt die Schilderung den
Vorgang der Vereinnahmung sehr beispielhaft.
Den Anfang bilden auch hier die Einführung des Hitlergrußes, dann das Ausschmücken des
Schulgebäudes mit den Bildern von nationalsozialistischen Vorbildern (was ein wenig an das
parallel laufende Regime in Russland unter Lenen / Stalin erinnert) und die allmähliche
Verschmelzung des Schullebens mit dem nationalsozialistischen Umfeld – so wird etwa ein
Schüler als Vertrauensmann der HJ bestimmt, die Wehrmacht hält für die Schüler pflichtmäßig
zu besuchende Vorträge und besonders tüchtige Schüler werden mit Büchern belohnt, die u. a.
für den Dienst an der Waffe werben.

15
Entnommen aus: http://gymnasium-heissen.de/projekte/geschi/orghjbdm/schule.htm
16
Platner, G. [Hrsg.]: „Schule im Dritten Reich“, München, 1983, S. 197 ff.
- 22 -
Der reguläre Unterricht weicht hier zunehmend besonderen Veranstaltungen. Dazu kommt, dass
diese zumeist von den Schülern selber bezahlt werden müssen. So wird etwa ein Pflichtbeitrag
zur Anschaffung von Filmapparaten erhoben. Obendrein müssen die Schüler für die
verpflichtende Teilnahme an Vorführungen eine Gebühr entrichten. Gezeigt werden sowohl
unterrichtsbezogene Filme bzw. Lichtbildreihen, als auch propagandistisches Material, welches
für die HJ, die Wehrmacht oder den Arbeitsdienst (bei Mädchen) werben soll. Die
unterrichtsbezogenen Beiträge sind zu einem großen Teil wiederum propagandistischer Natur, da
der Stoff in den einzelnen Fächern lehrplanmäßig bereits auf NS-Gedankengut zugeschnitten ist.
Die HJ mischt sich währenddessen immer wieder ins Schulgeschehen ein. Zum einen hat der
Dienst in der HJ gegenüber dem Unterricht und Hausaufgaben Vorrang. Es kommt zu häufigem
Unterrichtsausfall, teilweise auch zu regelrechten Beurlaubungen für den Besuch von HJ-
Lehrgängen. Bei eventuellen Beschwerden von Seiten der Lehrer meldet der HJ-Gruppenführer
das dem Rektor, der Lehrer wird meist sofort entlassen. Zum anderen halten Führer des
Jungvolks Vorträge in den Klassen, die für den Eintritt ins Jungvolk werben.
Ende 1934 wird von einem längeren Aufenthalt in einer Waldschule berichtet. Dort werden den
Schülern innerhalb eines eng gefassten Tagesablaufes all die Fähigkeiten antrainiert, welche sich
wiederum beim späteren Dienst an der Waffe als nützlich erweisen. Eigenschaften wie absoluter
Gehorsam, Unterordnung und Disziplin werden bei den Übungen nebenbei auch nahe gelegt.
Ein großer Teil der Lehrpläne wird gegen Ende 1935 per staatlicher Verordnung umgeschrieben.
Das rassenpolitische Amt kontrolliert deren Einhaltung und hält auch Vorträge an der Schule.
Die Wehrmacht setzt auch per Lehrplan eine spezielle Ausbildung auf militärspezifischen
Gebieten fest und kontrolliert deren Einhaltung ebenso.
Der Bericht, der aus dem Schulkonferenzprotokoll der Horst-Wessel-Schule entnommen ist, geht
noch weiter bis zum März 1945. Man liest noch über Ministerialerlasse, die etwa das Kollegium
betreffen – allerdings ändert sich für die Schüler selber nichts größeres mehr. Der Unterricht
wird auf nationalsozialistische Werte ausgerichtet weitergeführt, die Lehrer werden als
Vermittler dieser Werte ständig an ihre Pflichten erinnert.
Ausgehend von dieser Basis, die das äußere Konstrukt für den Unterricht darstellt, und welche
bis auf wenige Ausnahmen in ganz Deutschland geschaffen wurde, möchte ich nun noch auf
einige Einzelheiten des Unterrichts selber eingehen.
Vom Inhalt des Unterrichts her änderte sich nämlich ebenso viel, wenn nicht noch mehr. Diese
Einschnitte fanden zwar in allen Fächern statt; die Schwerpunkte wurden allerdings auf
bestimmte Fächer gesetzt, die entweder für die Zukunft der Schüler als Diener des Reichs
wichtig waren, oder für Hitlers rassistisches Doktrin besonders geeignet waren.
So wurde z. B. der Sportunterricht kurzerhand zu einer Vorstufe der Wehrerziehung
umgemodelt. Auf dem Programm standen Querfeldeinläufe, Überlebenstraining, Zielschießen,

- 23 -
Waffentechnik und Nahkampf, alles mit dem Hintergedanken, dass die Schüler später einmal in
der Armee für Deutschland kämpfen sollten. Nebenbei förderten Gruppenübungen und der harte
Drill, der während des Unterrichts herrschte, Eigenschaften wie Disziplin, freiwillige
Unterordnung, Selbstbeherrschung, Mut und Selbstvertrauen, Opferfreudigkeit, Kameradschaft
und letztendlich auch Vaterlandsliebe, da den Schülern stets vorgehalten wurde, wofür sie so hart
trainierten.
Hitler schwärmte nämlich, wenn er Reden vor Großversammlungen der HJ hielt, gerne davon,

„dass ihr [gemeint ist die Jugend, Anm. d. Autors] dereinst all das in euch aufnehmt,
was wir uns von Deutschland erhoffen“17.

Gemeint sind damit ideelle Werte, aber auch Äußerliches, wie das Bild Hitlers vom „arischen
Deutschen“, auf das die Kinder, soweit möglich, schon früh hintrainiert wurden. Die Betroffenen
wussten also durchaus, worauf ihre Ausbildung hinauslief – nur realisierten wohl die Wenigsten,
was das für sie bedeutete.
Unter diesem Gesichtspunkt findet man auch in anderen Fächern entsprechende Einschnitte. Der
Biologieunterricht wurde als Basis für die scheinbar logischen Argumente zum angeblich
berechtigten Rassendenken umgestaltet. Hierzu wurde Charles Darwins Theorie vom Überleben
des Stärkeren als natürlicher Prozess zur Selektion auf merkwürdige Weise verzerrt und
entfremdet. Gesprochen wurde vom „Recht des Stärkeren“, wonach der Arier, kurzerhand zum
Stärkeren erklärt, anderen Rassen gegenüber im Vorrecht war – eventuelle Kriege waren damit
genauso „gerechtfertigt“ wie der Holocaust an den Juden. Jene, ursprünglich für die freie,
unzivilisierte Natur erdachte Theorie übertrug man eins zu eins auf den Menschen.
Außerdem wurden von 1933 an Rassenkunde und Vererbung als Teile des Biologieunterrichtes
gelehrt. Anhand aus ernsthaft wissenschaftlicher Sicht unhaltbarer Punkte gab der Unterricht
einen groben Überblick über verschiedene Rassen, ihre Herkunft, ihre äußerlichen Merkmale
und ihre angeblichen, besonderen Eigenschaften. Unsinnigerweise verknüpfte dieser Versuch,
die Menschen zu kategorisieren, Aussehen mit Charakterzügen bzw. Fertigkeiten und Begabung.
Ein Rückschluss, auf den sich heutzutage kein ernstzunehmender Wissenschaftler mehr stützen
wird.
Als zweite Naturwissenschaft musste die Physik für die Aufklärung im militärischen Bereich
herhalten. Hier lernten die Kinder über Bau- und Funktionsweise von Handgranaten, die
Berechnung der ballistischen Flugbahn von Geschossen, Besonderheiten und Beschaffenheit von
Munition und Sprengsätzen oder wie man etwa einen Kompass benutzt.
Irrwitzigerweise findet man auch im Bereich der Mathematik einige Änderungen. Hier wurden
17
Hitler in Leni Riefenstahls propagandistischer Videodokumentation „Ansprache an die deutsche Jugend“
- 24 -
Textaufgaben so umformuliert, dass in der Fragestellung jedes Mal ein Stück NS-Ideologie
verpackt war. Eine Aufgabe lautete:

„Aufgabe 97: Ein Geisteskranker kostet täglich etwa 4 RM, ein Krüppel 5,50 RM,
ein Verbrecher 3,50 RM. In vielen Fällen hat ein Beamter täglich nur etwa 4 RM, ein
Angestellter kaum 3,50 RM, ein ungelernter Arbeiter noch keine 2 RM auf den Kopf
der Familie.
a) Stelle diese Zahlen bildlich dar.
Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300 000 Geisteskranke,
Epileptiker usw. in Anstaltspflege
b) Was kosten diese jährlich insgesamt bei einem Satz von 4 RM?
c) Wieviel Ehestandsdarlehen zu je 1000 RM könnten - unter Verzicht auf spätere
Rückzahlung - von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?“18

Schon die Formulierung der Anfangssituation unterstellt eine herrschende Ungerechtigkeit, frei
nach dem Motto: „Wenn ein Geisteskranker, der nicht arbeitet, mehr Geld erhält als ein ehrlicher
Arbeiter, dann kann doch was nicht stimmen...“. Ferner kommt hinzu, dass der Schüler beim
Errechnen des Ergebnisses in etwa feststellen soll: „Na, mit dem Geld könnte man ja einiges
anstellen. Und dann auch noch für normale Menschen...“.
Natürlich ist dieser Gedankengang unmenschlich und keineswegs sozial. Doch sieht man an der
Politik der Nationalsozialisten, dass eben dieser Gedankengang zuende gedacht wurde, was
schließlich die Idee der Vernichtung aller andersartigen Menschen mit sich zog – Behinderte und
Invalide wurden gegen Ende des Dritten Reichs genauso in KZs verschleppt wie Juden oder etwa
Verbrecher.
Ähnliche Aufgaben fragten z. B. nach der benötigten Anzahl an Bomben für die Zerstörung einer
gegebenen Fläche, nach der Berechnung von Flugstrecken für Kampfbomber oder nach einer
akkuraten Skizze eines Hakenkreuzes.19
Von jeher mit nationalistischen Ideen bestückt und von daher für die Propaganda gut geeignet
war der Unterricht in Geschichte und Deutsch. Während sich fortan die Entstehung der arischen
Rasse wie ein roter Faden durch die Geschichte zog, und die „Helden“, die im 1. Weltkrieg für
Deutschland gefallen waren, in den höchsten Tönen gelobt wurden, befasste man sich in Deutsch
mit klassischen Gedichten und Erzählungen von Helden und Patrioten oder auch mit
zeitgenössischer Literatur.
Dabei befanden sich unter diesen Gedichten durchaus Werke von „unabhängigen“ Poeten – so
18
/ 19 Focke, Harald / Reimer, Uwe / Duve, Freimut [Hrsg.]: „Alltag unterm Hakenkreuz“, Rowohlt Taschenbuch
Verlag GmbH, Reinbek, 1979, S.89

- 25 -
etwa „John Maynard“ (Theodor Fontane), „Der Graf von Habsburg“ (Friedrich von Schiller) und
„Die Vergeltung“ (Anette von Droste-Hülshoff).20 Sie erzählen zwar nicht von einem deutschen
Weltreich, von Hitler dem Führer oder von Patriotismus als Tugend schlechthin, doch behandeln
sie Themen wie Tapferkeit, Heldentum und Gerechtigkeit, welche, ins rechte Licht gerückt,
durchaus für die gewünschte Erziehung von Nutzen waren.
Ähnlich verhielt es sich mit dem Geschichtsunterricht – es wurden nicht etwa Fakten verdreht
(abgesehen von gelegentlichen Verweisen auf das angebliche, zeitlose Schmarotzertum der
Juden), vielmehr wurde die „Herkunft“ der verschiedenen Rassen geklärt und Deutschland bei
allen großen Kriegen, an denen es im Laufe der Zeit beteiligt gewesen war, als gedemütigter
Verlierer bzw. gerechtfertigter Gewinner dargestellt.
Viele Zeitzeugen berichten heute von einer eher laxen Haltung gegenüber der Anordnungen oder
der Propaganda.21 Man habe zwar an den Aktivitäten teilgenommen, die Dinge aber immer
wieder hinterfragt. Man ist eben nicht laut geworden, denn es war ja gefährlich. Aber innerlich
war man niemals Nationalsozialist.
Selbst wenn diese Behauptungen stimmen mögen, so hat doch die Schule ihren damaligen
Zweck erfüllt. Man war zumindest bereit, sich für das deutsche Vaterland zu opfern. Die ständig
wiederholten Phrasen über die NS-Ideologie setzten sich früher oder später in den Köpfen der
Schüler fest und machten sie, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, zu Untergebenen der
Nazis.

20
Diese und andere Gedichte finden sich in:

Hennesthal, Rudolf / Probst, K. Friedrich: „Ihr sollt brennen!“ – Deutsche Gedichte, Verlag Moritz Diesterweg,
Frankfurt a. M., 1936
21
So z. B. in: Focke, Harald / Reimer, Uwe / Duve, Freimut [Hrsg.]: „Alltag unterm Hakenkreuz“, Rowohlt
Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek, 1979, S.77 ff.

- 26 -
3 Die totale Erfassung in der HJ

Es ist schwer, zwischen der HJ und dem restlichen sozialen Umfeld, in dem die Jugend zur Zeit
des Nationalsozialismus mit rassistischem Gedankengut konfrontiert wurde, eine klare Linie zu
ziehen. Es herrschte im Allgemeinen eher ein fließender Übergang zwischen Schule, dem Dienst
in der HJ, Sonderveranstaltungen mit propagandistischen Zielen und oft auch dem Einfluss, dem
die Kinder im eigenen Elternhaus ausgesetzt waren. Dennoch lässt sich klar sagen, dass der HJ
bei der systematischen Ausrichtung der Jugend auf die Ziele der Nationalsozialisten die größte
Bedeutung zukommt.
Die unbewegliche und hierarchische Struktur der HJ zeigt sehr deutlich den paramilitärischen
Charakter dieser Organisation auf. Daraus wird auch das eigentliche Ziel der HJ ersichtlich,
nämlich die folgenden Generationen des deutschen Volkes an den Staat zu binden, die willenlos
dienen und eben auch kämpfen. Hitler zu seiner Philosophie über den Aufbau der staatlichen
Einrichtungen:

„Eine große Idee kann nur dann zum Ziele geführt werden, wenn eine festgefügte und
straffe, mit konsequenter Härte durchgeführte Organisationsform der
22
Weltanschauung die Gestalt gibt.“

Daraus ergab sich folgende, ab dem Juli 1933 feststehende Struktur:

Reichsjugendführung
Gebiet Obergau
(jeweils etwa 20 Banne) (jeweils etwa 20 Untergaue)

Bann Untergau
(4 – 6 Stämme und 4 – 6 Jungstämme) (4 – 6 Mädelringe und 4 – 6 JM-Ringe)

HJ DJ BDM JM
(14 – 18jährige) (10 – 14jährige) (14 – 21jährige) (10 – 14jährige)
Je 4 Einheiten

nächsthöhere
ergeben eine

Stamm Jungstamm Mädelring Jungmädelring


Gefolgschaft Fähnlein Mädelgruppe Jungmädelgruppe
Schar Jungzug Mädelschar Jungmädelschar
Kameradschaft Jungenschaft Mädelschaft Jungmädelschaft

Jeweils etwa 10 Kinder und Jugendliche in der untersten Einheit

10jährige Jungs kamen beim Eintritt in die HJ vorerst ins „Deutsche Jungvolk“ (DJ), in die
eigentlich HJ wurden sie erst mit 14 Jahren überwiesen. Als ab 1936 komplette Jahrgänge

22
Klönne, Arno: „Jugend im Dirtten Reich – Die Hitlerjugend und ihre Gegner“, Eugen Diederichs Verlag,
Düsseldorf, 1982, S. 42
- 27 -
erfasst wurden, fand die Überweisung vom DJ in die HJ auf genauso feierliche Weise statt wie
die Aufnahme der Neuzugänge. Ebenso kamen 10jährige Mädchen vorerst zu den „Jungmädeln“
(JM), mit 14 Jahren dann in den BDM. Der Dienst im BDM war anfangs ähnliche aufgebaut wie
der in der HJ; erst später wurden Schwerpunkte auf die Erziehung zur Hausfrau und Mutter
gelegt. Mit 18 Jahren wurden die Jungen wiederum in die Partei oder in eine der
Sonderabteilungen überwiesen. Die Mädchen dienten bis 21 im BDM, die 17 – 21jährigen auf
freiwilliger Basis im 1938 angefügten BDM – Werk „Glaube und Schönheit“.
Die HJ war wiederum unterteilt in einzelne Spezialgebiete, die einerseits besondere Interessen
ansprachen, auf der anderen Seite aber auch in die entsprechenden Richtungen ausbildeten. Die
wichtigsten unter ihnen waren: Marine-, Flieger-, Motor- und Nachrichten-HJ, außerdem der
Landdienst und der HJ-Streifendienst. Letzterer funktionierte wie eine Jugendversion der SS, er
war für Einsätze bei Denunzierungen oder beim Verdacht auf Volksfeindlichkeit im kleineren
Rahmen zuständig (so z. B. bei einem Überfall auf die Geschäftsräume des Reichsausschusses
für Jugendbünde).
Das System, in das sich die Jugendlichen zu einem großen Teil selbst einfügten, war geschickt
ausgelegt auf Gehorsam gegenüber Höhergestellten, die Erlernung von Opferbereitschaft und die
Überzeugung der Kinder, das Richtige zu tun. Damit war es kein Problem, die begeisterten
Jugendlichen später für die Wehrmacht oder den Arbeitsdienst zu gewinnen. Ein kurzer Abriss
über die Entstehung und die Entwicklung der HJ soll über diesen Prozess einen kleinen
Überblick verschaffen.

- 28 -
3.1 Entstehung und Entwicklung

Bereits wenige Jahre nach der Gründung, also noch vor dem ersten Verbot der NSDAP am 9.
November 1923, existierten mehrere Jugendverbände der Partei. Der „Jungsturm Adolf Hitlers“
war eine Organisation, die 1922 in der Sturmabteilung (SA) von der NSDAP gegründet worden
war. Aus dieser Organisation ging vier Jahre später die eigentliche Hitlerjugend hervor. Andere
Jugendverbände der Partei (NS-Schülerbund, Bund Deutscher Mädel und Deutsches Jungvolk)
wurden der HJ erst 1932 untergeordnet.
Ursprünglich als Parteijugend gedacht, wurde die HJ am 2. Reichsparteitag der nach ihrem
Verbot erneut gegründeten NSDAP, der am 3. / 4. Juli 1926 in Weimar stattfand, ins Leben
gerufen. Während der Zeit der Weimarer Republik kam ihr als Organisation eine weniger große
Bedeutung zu. Die damalige Jugend orientierte sich vorwiegend an anderen konfessionellen oder
politischen Verbänden. Wie aus dem Schaubild auf S. 7 hervorgeht, befand sie sich sogar 1932,
also nur ein Jahr vor der Machtergreifung Hitlers, mit 100.000 Mitgliedern immer noch in der
klaren Minderheit.
Dies sollte sich allerdings schlagartig ändern. Mit der im Kapitel „1.2 Die Grundlagen werden
geschaffen“ beschriebenen Vorgehensweise, gelang es Hitler bereits im Wahljahr, der HJ durch
das Verbot sämtlicher anderer Jugendorganisationen besagte Monopolstellung zu verschaffen.
Ende 1934 verfügte die HJ über 3,5 Millionen Mitglieder. Da die Mitgliedschaft bis 1936 nicht
verpflichtend war, jedenfalls formeller Weise, müssen die Hauptgründe für den gigantischen
Zuwachs in solchen Methoden gesucht werden, die in totalitären Systemen und diktatorischen
Regierungsformen gerne Anwendung finden.
Zum Einen (und das ist gewiss der Hauptgrund), fand ein Großteil der Jugend schnell Gefallen
an der HJ. Die Ideen der Bündischen Jugend, die von Hitler für das Konzept der HJ schlicht
übernommen wurden, sprachen viele Jugendliche an. Die bereits erwähnten Ausflüge in die
Natur, die Heimabende oder die, zumindest scheinbare, Abgrenzung von der
Erwachsenengesellschaft – all dass wirkte gewiss attraktiv auf damalige Heranwachsende.
Nicht nur die Jugend glaubte sich damals mit dem Befürworten von Hitlers Politik, einem
erwürdigen und glorreichen Ziel verschrieben zu haben. Während Jugendliche in ihrem
Idealismus und mit ihren Visionen die Erwachsenen stets übertreffen, gab die HJ ihnen das
Gefühl, sich für eine bessere Zukunft einzusetzen.
Dies wurde darüber hinaus noch unterstützt durch wohldurchdachte propagandistische Auftritte
der HJ in der Öffentlichkeit – wer noch nicht ganz überzeugt war, wurde von den pompösen
Festlichkeiten weiter bekräftigt. Hier präsentierte sich die HJ mit Märschen und
Demonstrationen als gedrillter und in sich klar organisierter Verein, der sprichwörtlich mit
Pauken und Trompeten durch die Straßen marschierte und mögliche neue Mitglieder auf sich

- 29 -
aufmerksam machte.
Die erste bedeutende dieser großen Demonstrationen von
Gruppengefühl und Geschlossenheit wurde 1932 in Potsdam
abgehalten. Baldur von Schirach, seit dem 30. Oktober 1931
Reichsjugendführer, wollte in Anbetracht des baldigen „Sieges“
über die Weimarer Republik die Macht seiner Jugend
demonstrieren, die zu diesem Zeitpunkt etwa 40.000
Jugendliche umfasste und von einer großen Zahl
Sympathisanten bewundert wurde.
Zu diesem Anlass strömten am 1. und 2. Oktober 1932 etwa
100.000 Jugendliche zusammen. Die Kinder in den Zügen

Abbildung 10: Baldur von


liefen, Soldaten gleich, in Reih’ und Glied nach einem
Schirach, Reichsjugendführer Marschlied. Den Zügen liefen eine klassische Marschkappelle
seit Oktober 1931
bestehend aus Trommlern und Bläsern und ein Fahnenträger
voran. Hintendrein die restlichen Mitglieder, allesamt in Uniform, nicht selten wurden
patriotische Lieder gesungen.
Bei dieser und ähnlichen Veranstaltungen war die psychologische und propagandistische
Wirkung ungeheuer groß. Das Gefühl, dabei gewesen zu sein, die Musik, die Uniformen, die
festliche Stimmung – nicht selten waren die HJ-Zentralen nach solchen Märschen wegen
spontaner Beitrittserklärungen ausgelastet. Schirach beschrieb die Atmosphäre, die damals
geherrscht haben muss, mit folgenden Worten sehr treffend:

„[Der Jugendliche] steht nicht mehr allein. Er wird Teil einer


Millionengemeinschaft. Überall, wo die Fahnen der Hitler-Jugend wehen, hat er
seine Kameraden, seine Brüder und Schwestern, die in einem Glauben gebunden, in
einer Weltanschauung geeint, in einer Organisation zusammengefügt sind. Es ist ein
herrliches und wunderbares Erlebnis, dessen deutsche Jugend teilhaftig wird.“23

Dabei war die HJ in ihren Formen lange Zeit nicht sehr stark gefestigt. Bis 1933 existiert in ganz
Deutschland eher kleinere Ortsgruppen. Erst nach den großen Erfolgen der Partei und den
festlichen Auftritten der HJ kam es zu jenem Mitgliederandrang. Nun waren Führungskräfte für
die einzelnen Untergliederungen der HJ gefragt.
Zu Anfang, das heißt auf jeden Fall bis auf 1933 und teilweise auch länger, herrschte in den
einzelnen Abteilungen nicht immer die von oben gewünschte Disziplin. Je nach Größe und

23
Grube, Frank [Hrsg.] / Richter, Gerhard: „Alltag im Dritten Reich“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg,
1982, S. 82
- 30 -
Situierung der Abteilung hielt dies auch entsprechend lange an. Es fanden sich nur langsam
ernsthaft interessiert Führungspersönlichkeiten, die gewillt waren, die Unternehmungen nach
Vorschrift durchzuführen und die sich gänzlich auf das NS-Gedankengut einließen.
Bündisches Gedankengut war in den Augen der Nazis nach wie vor verwerflich. Die
Bemühungen, die Bündische Jugend als Freizeitbeschäftigung für Jugendliche abzuschaffen,
scheinen paradox – ähnelte doch die HJ der Bündischen Jugend in einem Großteil von Punkten.
Die Argumente, die gegen die Bündische Jugend angebracht wurden, hatten im Grunde kaum
Fundament. Der einzige Grund für das entschiedene Vorgehen war eben, realistisch betrachtet,
jener totalitären Anspruch, den die HJ als Staatsjugend (offiziell erst ab 1936) stellte.
Trotzdem fanden sich für die Führerpositionen vermehrt ehemalige Mitglieder der Bündischen
Jugend. Sie besaßen mit ihrer Erfahrung, die sie in ihren alten Gruppierungen gesammelt hatten,
ausreichende Fertigkeiten für die Führung und Organisation einer Jugendgruppe. Darüber waren
sie ernsthaft an der Führung der Gruppen interessiert und konnten sich mehr oder minder gut mit
den Idealen der Nazis arrangieren. Mitunter gab es natürlich auch solche, die in der NS-
Bewegung einen Ersatz für ihre alten Ideale sahen und durchweg hinter Hitler standen. Wenn
also ehemals bündische Jugendführer skeptisch beäugt wurden, so wurden sie doch dringend als
erfahrene Führungskräfte gebraucht.
Die Fahrten und Unternehmungen hielt man noch lange Zeit im Stil der Bündischen Jugend ab,
Gemeinschaftssinn und der romantische Part war den unbeaufsichtigten Gruppen noch wichtiger.
Dazu kamen eine gewisse Autonomie einiger Gruppen, die mehr Straßenbanden als HJ-Gliedern
glichen, und die Tatsache, dass viele Jugendliche der HJ aus
opportunistischen Gründen beitraten bzw. Gruppenführer
wurden.
Bis die HJ 1936 offiziell zur Staatsjugend erklärt wurde,
vollzog sich innerhalb der Organisation langsam aber sicher
der Wandel zu Disziplin, Härte und strenger Führung. Nur so
war es auch nötig, besagte Geschlossenheit zu präsentieren,
die bis zum verpflichtenden Beitritt auch großer
Mitgliedermagnet war.
Der Anfang wurde im „Jahr der Schulung“ gemacht, welches
Schirach 1934 ausrief. Er initiierte die Gründung mehrerer
HJ-Führerschulen, an denen die einzelnen HJ-Führer die
Abbildung 11: Einweihung einer
gewünschten Führungsqualitäten erlangen und ausbauen BDM-Führerinnenschule durch
Baldur von Schirach
konnten. Bis zum August dieses Jahres waren 12.727 HJ-
Führer und 24.660 Jungvolkführer in 287 Drei-Wochen-Lehrgängen ausgebildet worden. Für
diese ersten Lehrgänge reichten die anfänglich bestehenden 22 Gebietsführerschulen aus,

- 31 -
allerdings waren weitere in Planung.
Mit stetig besser ausgebildeten Jugendführern änderte sich zunehmend auch die Art des Dienstes
in der HJ. Das verbliebene bündische Wesen verschwand zusehends, die Treffen waren nun
mehr auf körperliche Fitness und paramilitärische Übungen ausgelegt. Im Laufe des Jahres
vollzog sich auch ein Großteil jener Eingliederungen und Übernahmen von anderen
Jugendverbänden, wie in den Kapiteln „1.1 Vorgeschichte“ und „1.2 Die Grundlagen werden
geschaffen“ näher erläutert wird.
Das Jahr 1935 lief unter dem Namen „Jahr der Ertüchtigung“. Bei Jahresbeginn umfasste die HJ
aufgrund der Eingliederung anderer Organisationen und durch weitere freiwillige Beitritte
bereits sechs Millionen Mitglieder. Um den jugendlichen Wettkampfeifer anzuspornen, verlieh
man ab sofort für besondere sportliche Leistungen „Leistungsabzeichen“.
1936 schließlich wurde der Startschuss gegeben zur erstmaligen Erfassung eines gesamten
Jahrgangs. Schirach proklamierte das Jahr bezeichnenderweise zum „Jahr des deutschen
Jungvolks“. Alle 1926 Geborenen sollten am 19. April, also einen Tag vor Hitlers Geburtstag,
als großer Festakt in die HJ eintreten. Noch war der Beitritt offiziell freiwillig – zwischen
Theorie und Praxis wurde allerdings unterschieden: Wer nicht „freiwillig“ eintreten wollte, der
wurde mit Drohung, Sanktionen oder schlicht mit Gewalt eines Besseren belehrt.
Fortan geschah die Erfassung des jeweiligen Jahrgangs in den vier Wochen vor dem 20. April.
Zu Anfang noch recht wahllos, wurden die 10jährigen ab 1939 aufgrund eines Erlasses der
Reichsjugendführung (RJF) durch ärztliche Untersuchung und Tauglichkeitszeugnis, einer
militärischen Musterung gleich, in verschiedene Klassen eingeordnet. So wurden etwa taube und
blinde Kinder in „Reichsbanne Blinde und Gehörgeschädigte“ überwiesen.
Die alljährliche Prozedur fand im Festsaal der Marienburg statt. Dort gelobten die Kinder dem
Führer ihre Treue:

„Ich verspreche, in der Hitlerjugend allezeit meine Pflicht zu tun in Liebe und Treue
zum Führer und zu unsrer Fahne, so wahr mir Gott helfe!“24

Der Bezug auf Gott wurde später allerdings weggelassen.


Feierlich und überschwänglich erklärte Schirach zur Begrüßung des Jahrgangs 1938:

24
Klose, Werner: „Die Hitlerjugend – Generation im Gleichschritt“, Stalling Verlag GmbH, Oldenburg-Hamburg-
München, 1982, S. 71
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„Viele tausend Volksgenossen aus allen Kreisen unseres Volkes senden dem Führer
zum Geburtstag ihre Gaben. Die Jugend aber schenkt sich selbst.“25

Ähnlich entrückt mutete Stabsführer Lauterbacher 1940 an, als er den ersten Jahrgang im Krieg
verpflichtete:

„Ab heute seid ihr die jüngsten Kämpfer des Führers und legt euer Dasein in seine
Hände. Eure Mütter aber bringen ihm in euch das schönste Geburtstagsgeschenk.“26

Nach der Erfassung 1936 waren 90 % des Jahrgangs Mitglied der HJ. Das Gesetz über die
Hitlerjugend, das am 1. Dezember 1936 erlassen wurde, besiegelte die erzieherische Aufgabe der
HJ nun auch offiziell, außerdem befand sich die HJ bei der Erziehung der Kinder mit Eltern und
Schule nun auf einer Ebene. Im Zuge des Gesetzes wurde Schirach zum Staatssekretär ernannt,
des weiteren wird die HJ zur Obersten Reichsbehörde aufgewertet. Bemerkt sei, dass der Dienst
in der HJ bis 1939 offiziell immer noch nicht verpflichtend war, die Nazis leisteten also
bemerkenswerte wie grausame Überzeugungsarbeit.
Schließlich wurde am 25. März 1939 die Jugenddienstpflicht und die Pflichtmitgliedschaft der
Jugendlichen in den einzelnen Unterorganisationen der HJ eingeführt. Mit Beginn des Krieges
kam nun auch die paramilitärische Ausbildung, die die Jugendlichen in der HJ erfahren hatten,
zu ihrem zweifelhaften Nutzen. Neben dem herkömmlichen
HJ-Dienst kamen Aufräumaktionen, Luftschutzdienst,
Erntearbeit und Sammelaktionen für Kleider, Altmetall oder
für das Winterhilfswerk hinzu.
Ab 1940 geriet Schirach in Streitigkeiten mit anderen
Parteimitgliedern, als er zum alleinigen Herrscher über die
Erziehung der Jugend aufzustreben versucht. Sein Amt wurde
an Arthur Axmann, seinem bisherigen Stellvertreter,
übergeben. Er forcierte die militärisch organisierte
Entwicklung der HJ und ließ zunehmend HJ-Gruppen zum
Militärdienst heranziehen.
Schirach wurde am 8. August zum Reichsstatthalter, zum
Abbildung 12: Plakat zur Gauleiter von Wien und zum Beauftragten für die Inspektion
Kinderlandverschickung
der gesamten HJ ernannt. Außerdem wurde er mit der Leitung
der Kinderlandverschickung (KLV) beauftragt. Die KLV war eine Möglichkeit für Familien
25
/ 26 Klose, Werner: „Die Hitlerjugend – Generation im Gleichschritt“, Stalling Verlag GmbH, Oldenburg-
Hamburg-München, 1982, S. 71

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(bzw. für die Mütter, denn die meisten Männer waren bereits im Krieg), ihre Kinder in Lager auf
dem Land zu schicken, um sie vor den Bombenangriffen auf die Großstädte zu schützen. Dort
wiederum waren sie jeglichem elterlichen Einfluss entzogen und konnten so noch besser nach
den Vorstellungen der Nazis erzogen werden. Ein kleiner Nebeneffekt war, dass die Mütter so
mehr Zeit hatten, in der Rüstungsindustrie für die Kriegsmaschinerie zu arbeiten.
In den kommenden Jahren verschwand der Gedanke an die HJ als Freizeitvergnügen vollends.
Die Jungen wurden systematisch auf den Krieg vorbereitet, außerdem standen fortan alle
laufenden Aktivitäten von HJ und BDM im Zeichen des Krieges. So wurde eine ganze
Generation zuerst gleichgeschaltet und schließlich wegen des Größenwahns eines einzelnen
Menschen ihrer Jugend beraubt.

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4 Blinde Treue bis in den Tod

Gegen Ende des Dritten Reiches geriet die HJ immer tiefer in die Verwirrungen des Krieges. Die
verschiedenen Leitsätze, unter denen die Jahre des Krieges für die Jugend standen, sagen viel
über das aus, was von den HJ-Mitgliedern verlangt wurde:

1940 Jahr der Bewährung


1941 Unser Leben ein Weg zum Führer
1942 Osteinsatz und Landdienst
1943 Kriegseinsatz der deutschen Jugend
1944 Jahr der Kriegsfreiwilligen

Und hatten sie mit noch so großem Eifer für den Dienst für Hitler verpflichtet, erfuhren die
Jugendlichen bereits im ersten Kriegsjahr einige Desillusionierungen. Hatte man ihnen vorher
noch vom Heldentod fürs Vaterland mit einem patriotischen Lied auf den Lippen erzählt, zogen
jetzt zunächst ihre Väter und älteren Brüder an die Front, ganz ohne Abschiedsfeier, ohne
Gesänge und Marschkapellen. Das Bild vom ehrwürdigen Soldaten, der in der freien Natur
marschiert, die Kameraden neben sich, und sich tapfer gegen den Feind zur Wehr setzt – das
alles stellte sich nun als die verlockende Lüge heraus, die ihnen während dem Dienst in der HJ
immer wieder vorgehalten worden war.
Trotzdem lief die Propagandamaschinerie unaufhörlich weiter. Bis zum letzten Kriegsjahr noch
wurden die einzelnen Jahrgänge erfasst, der letzte am 19. April 1945 – elf Tage, bevor sich
Hitler in seinem Bunker erschoss. Während hinter der Front aufgeräumt wurde, wurden
verheißungsvolle Lieder gesungen, wurde den Jungen die Ehre vorgehalten, für den Führer
kämpfen und sterben zu dürfen, den Mädchen ihre wichtige Aufgabe und Pflicht, in der Heimat
ihre Arbeit zu leisten.
Der Dienst in den einzelnen Sonderabteilungen der HJ, die seit jeher deutlich militärische Ziele
besaßen, wurde nun gänzlich zur Wehrertüchtigung umgemodelt. Es wurden Lager eingerichtet,
in denen die Jungen in Schnellkursen den Umgang mit Waffen erlernten und schließlich auch in
den Einsatz geschickt wurden. Hier wurden die Kinder von Ausbildern der Wehrmacht und von
Mitgliedern der Waffen-SS unterwiesen.
Der anfängliche Aktivismus, der in den Kindern brannte, und den die Propaganda der Nazis auch
hervorragend zu benutzen wusste, sollte Ansporn sein, begierig neue Aufgaben zu erwarten und
auszuführen. Tatsächlich gingen die ersten Jugendjahrgänge mit viel Eifer daran, etwa den
Luftschutz in ihren Schulen zu organisieren oder etwa für das Winterhilfswerk (WHW) zu
sammeln.

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Doch sind diese vereinzelten Berichte damaliger Zeitzeugen mit Vorsicht zu genießen, denn ein
allgemeines Bild der Mentalität der Jugend über den Krieg lässt sich nur schwer zeichnen. Bis
heute ist nicht eindeutig geklärt, wie die Jugend mit den teilweise konträren Devisen der Nazis
umgingen. Zwar waren „soldatische Tugenden“ und „militärische Einsatzbereitschaft“ anerzogen
worden, allerdings hatten die Nazis das Dritte Reich als „Friedensmacht“ propagiert.
Zu Beginn des Krieges dürften trotzdem die meisten Deutschen, also auch die Jugend, ein
Gefühl des Stolzes und der Freude verspürt haben. Die raschen Erfolge der Wehrmacht in
Frankreich und Polen kostete wenig Verluste auf deutscher Seite und schien den
Weltmachtanspruch des Deutschen Reiches zu untermauern. Eventuelle Zweifel am Grund für
diesen Krieg wurden bequem zur Seite geräumt – Hitler und andere NSDAP-Spitzen erklärten in
vielen Reden vor und während des Krieges, das „bolschewistische Finanzjudentum“ werde
Europa in einen neuen Weltkrieg stürzen.
Der Dienst in der HJ, Kriegseinsätze und der Schulunterricht wurden ab 1939 kurzerhand
vielerorts vereint. Die Schulklassen wurden mitsamt Lehrern zu den einzelnen Stellungen
verlegt, die Lehrer hielten dort Behelfsunterricht. Mitunter genossen die Schüler hier ihre
plötzliche Verantwortung und Autorität, wenn sie z. B. bei Luftangriffen ihre Lehrer in den
Bunker schicken konnten, während sie selbst an den Flaks (Flak = Flieger Abwehr Kanone) in
Stellung gingen.
Über den Stellenwert des Unterrichts während des Krieges findet man verschiedene
Behauptungen in verschiedenen Quellen. Auf der einen Seite liest man, das Regime habe, „um
die wissenschaftlich-technische Funktionsfähigkeit des eigenen – auch militärischen – Systems
nicht zu gefährden, schon vor 1939 die wissenschaftliche Ausbildung im Verhältnis zur
politischen Erziehung wieder stärker betont“27. Dem entgegen stehen Berichte von zeitintensiven
Luftschutzübungen, außerordentlichen HJ-Einsätzen und der immerwährenden Konfrontation
mit der Nazi-Ideologie auch und besonders während des Unterrichts.
Auch wird erwähnt, die HJ habe im Krieg eine ideelle Verschieben zurück zu den Wurzeln der
ursprünglichen Jugendorganisationen erfahren. Um das Interesse der Jugendlichen zu halten und
neues zu schüren, wurde wieder der musische und romantische Part der Unternehmungen
unterstrichen.
Beides, sowohl die neuen Schwerpunkte in der Bildung als auch im HJ-Dienst, trugen vermutlich
zu einer weiteren mentalen Haltung der Jugendlich gegenüber dem Krieg bei. Man versuchte,
sich mit möglichst geringer Anstrengung durchzumogeln, am Rande des Erlaubten größeren
Gefahren zu entgehen und die Zeit hinter der Front möglichst locker zu gestalten.

27
So etwa Arno Klönne: „Jugend im Dritten Reich“ in: Bracher / Funke / Jacobsen (Hrsg.): „Deutschland 1933 –
1945 / Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft“, BpB, Bonn 1992, 2. ergänzte Auflage, S. 224
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Es herrschte eine Art Lethargie, die ursprüngliche Begeisterung für das Vaterland war
verschwunden. Schnell kam es auch zu Spannung zwischen älteren Schülern und ihren
Ausbildern. Zwar zeugt diese Haltung keineswegs von einer oppositionellen Einstellung
gegenüber dem System, doch reagierten die Jugendlichen häufig wenig begeistert auf das stupide
Exerzieren und Befehle-Auswendig-Lernen.
Vor allem nach dem Abreißen der schnellen Erfolgskette an Siegen 1941, als sich herausstellte,
dass Russland auf keinem Fall im „Blitzsieg“ erobert werden würde, zweifelten die jungen
Soldaten vermehrt an den ihnen aus der früheren Erziehung bekannten Ideale. Das Bild vom
heroischen Einsatz im Krieg als „letzte Erfüllung“ der Jugend verschwand hinter den
Alltagserfahrungen, die der Krieg mit sich brachte.
Der Kriegsapparat des Dritten Reiches funktionierte trotzdem weiter, die Erfassung der
Jahrgänge dauerte an und mit dem Fortschreiten der Kriegsentwicklung wurden immer jüngere
Kinder immer früher mit stetig kürzerer Ausbildung in den Krieg geschickt. Die Kinder wuchsen
im Umfeld ihrer Einheit, des Lagers oder des Arbeitsdienstes auf, die Familien waren oft
zerrissen, weil der Vater oder der ältere Bruder im Krieg war. Kriegshandeln und
Kriegsfähigkeiten galten als kulturelle Selbstverständlichkeiten.
Dieser Wahnsinn gipfelte im September 1944 in der Verkündung des sog. „Volkssturm“.
Heinrich Himmler, Chef der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und Reichsführer der SS,
verkündete als Leiter des "Ersatzheers" auf dem Territorium Polens die Aufstellung des
Volkssturms. Diese Aktion stellt eine Maßnahme dar, mit der Himmler rücksichtslos und
vergeblich versucht, die ursprüngliche Heeresstärke wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten.
Das Ziel war es, alle bisher noch nicht kämpfenden waffenfähigen Männer zwischen 16 und 60
Jahren zur Verteidigung des „Heimatbodens“ zu rekrutieren und für den deutschen „Endsieg“ zu
gewinnen. Vorgesehen waren sechs Millionen Volkssturmmänner, deren Aufgaben
hauptsächlich bei Bau - und Schanzarbeiten, Sicherungsaufgaben sowie zur Verteidigung von
Ortschaften lagen. Hier wurden Minderjährige auch um ersten Mal bewusst an die Front
geschickt und unmittelbar der Kriegsgefahr ausgesetzt.
Auf Hitler vereidigt und propagandistisch als entscheidende Reserve gegen die vorrückenden
Alliierten aufgewertet, zogen die Hitlerjungen und älteren Männer notdürftig bewaffnet und
schlecht ausgebildet in einen ungleichen Kampf gegen einen überlegenen Gegner. Wenn
überhaupt, lernten sie in Schnellkursen das Gröbste über den Gebrauch ihrer Waffen.
Wie anzunehmen war, hatte der Volkssturm keinen Erfolg – trotz propagandistischer Meldungen
über angebliche Erfolge der Wehrmacht oder erfundenen Nachrichten über Truppennachschub
sank die Moral bei den Volkssturmtruppen. Bei Feindkontakt lösten sich viele Einheiten auf oder
ergaben sich sofort. Dieser letzte Kraftakt bezeugt ein weiteres Mal, wie rücksichtslos die Nazis
mit den Deutschen umgingen und wie realitätsfremd Hitlers Fanatismus gewesen sein muss.

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Fazit

Durch den Krieg wurden letztendlich alle Jugendlichen im Dritten Reich entscheidend geprägt.
Sogar die, die nicht an der Front oder in direkter Nähe Dienst leisten mussten, bekamen direkt
oder indirekt vom Kriegsgeschehen mit; sei es durch Flüchtlinge, Vertriebene, Gefangene,
Zwangsarbeiter, versehrte heimkehrende Soldaten oder gefallene Verwandte und Freunde. Dabei
erhielten sie bis zum Ende des Dritten Reiches keine Möglichkeit, sich mit ihren Erlebnissen
auseinander zu setzen – der öffentliche Diskurs war unter der Diktatur Hitlers nicht denkbar, eine
kritische Verarbeitung der Kriegsgeschehnisse war nicht möglich.
Was die Jugend während ihrer Erziehung im Dritten Reich gelernt hatte, scheiterte zumindest in
einer Hinsicht: Der Krieg machte alle Illusionen eines „höheren Rechts“ der Deutschen zunichte.
Krieg war nicht herrlich, Krieg machte keinen Spaß und übertrieben patriotische Losungen
vergaß man ganz schnell, wurde man einmal mit dem Leid und Elend des Krieges konfrontiert.
Gegen Ende des Krieges machte sich bei einem Großteil der jungen Soldaten eine passive
Haltung breit. Man merkte, dass es beim Krieg mehr ums nackte Überleben, um das eigene Wohl
ging. Ähnlich verhielt es sich oftmals fern von der Front: Die Jugendlichen merkten sehr wohl,
dass es mit der „Kriegsjugendgeneration“ und der „kriegerischen Neuordnung“ wenig auf sich
hatte, und machten sich eine, nicht gerade oppositionelle, aber eben passive Mentalität zu eigen.
Inwieweit sich die Erziehung zum Rassendenken auf die Jugendlichen auswirkte, ist schwer zu
sagen. Überlebende, die heute zu diesem Thema gefragt werden, geben gerne als Antwort: „Man
hatte ja keine andere Wahl“ oder „uns wurde das ja von klein auf anerzogen“. Sicherlich kann
man auch hier keine verallgemeinernde Aussage machen, Fakt ist aber, dass die Methoden der
Nazis eine gewisse psychologische Wirkung gehabt haben müssen. Wenigstens die damals sehr
Jungen werden bei der Lektüre des „Pudelmopsdackelpinschers“ oder ähnlichen Werken etwas
mitgenommen haben.
Fest steht aber, dass der nationalsozialistische Staat unter Hitler neben all der unterschwelligen
und geschickt angebrachten Propaganda gerade in seinem Totalitätsanspruch eine einzigartige
Chance verpasste. Das enge und rigide System der organisierten Jugend ließ keinen Platz für
abweichende Meinungen und keinen Freiraum für Eigeninitiative. Eben durch diese Eingrenzung
versagte das Regime dabei, die nachwachsende Generation für sich zu gewinnen und dem
Dritten Reich die auf lange Sicht notwendige Unterstützung der Jugend zu gewährleisten.

- 38 -
Anhang

Abkürzungen

BDM Bund Deutscher Mädel


BVP Bayrische Volkspartei
DAP Deutsche Arbeiterpartei
DJ Deutsches Jungvolk
DNVP Deutschnationale Volkspartei
Gestapo Geheime Staatspolizei
HJ Hitlerjugend
KLV Kinderlandverschickung
KPD Kommunistische Partei Deutschlands
KZ Konzentrationslager
NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NSDStB Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund
NSKK NS-Kraftfahrerkorps
RJF Reichsjugendführung
SA Sturmabteilung
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SS Schutz-Staffel

Abbildungsnachweis

Abb. 1: Photographie, Berlin, 30. Januar 1933, DHM, Berlin


Abb. 2: Propagandapostkarte gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags, Verlag:
Josef Winter, Oberndorf bei Salzburg, 1920
Abb. 3: Postkarte, Farbenphotographische Gesellschaft, um 1925
Abb. 4: Photographie, Berlin, 27./28. Februar 1933, DHM, Berlin
Abb. 5: Photographie aus: Erich Retzlaff "Wegbereiter und Vorkämpfer für das neue
Deutschland", München, 1933
Abb. 6: Bauer, Elvira / Streicher, Julius [Hrsg.]: „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid’“,
Stürmer-Verlag, 1936, Nürnberg
Abb. 7+8: Hiemer, Ernst / Streicher, Julius [Hrsg.]: „Der Giftpilz“, Stürmer-Verlag, 1938,
Nürnberg
Abb. 9: http://gymnasium-heissen.de/projekte/geschi/orghjbdm/schule.htm
Abb. 10: Retzlaff, Erich: "Wegbereiter und Vorkämpfer für das neue Deutschland",
München, 1933
Abb. 11: Keystone View Company, Potsdam, 1936
Abb. 12: Reichsjugendführung [Hrsg.], Carl Sabo AG [Druck], Berlin, 1943

Quellen

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nationalsozialistischen Herrschaft“, BpB, Bonn 1992, 2. ergänzte Auflage

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München, 11. Auflage, 1986
- 39 -
Focke, Harald / Reimer, Uwe / Duve, Freimut [Hrsg.]: „Alltag unterm Hakenkreuz“, Rowohlt
Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek, 1979

Ginzel, Günther Bernd / Kleinherne, Klaus / Ney, Dieter / Ney, Dr. Heinz-Günther / Wende,
Wolfgang: „Mit Hängemaul und Nasenzinken“, Der kleine Verlag GmbH, Düsseldorf, 1984

Grube, Frank [Hrsg.] / Richter, Gerhard: „Alltag im Dritten Reich“, Hoffmann und Campe
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Von der Grün, Max: „Wie war das eigentlich? – Kindheit und Jugend im Dritten Reich“, Druck-
und Verlagsgesellschaft mbH, Darmstadt, 1981

Jahnke, Karl Heinz / Buddrus, Michael: „Deutsche Jugend 1933 – 1945. Eine Dokumentation.“
Hamburg 1989

Klaus, Martin: „Mädchen im Dritten Reich – Der Bund Deutscher Mädel“, PapyRossa Verlags
GmbH & Co. KG, Köln, 3. Ausgabe, 1998

Klose, Werner: „Die Hitlerjugend – Generation im Gleichschritt“, Stalling Verlag GmbH,


Oldenburg-Hamburg-München, 1982

Klose, Werner: „Hitler und sein Staat“, Katzmann-Verlag KG., 4. Auflage, Tübingen, 1970

Knopp, Guido: „Hitlers Kinder“, Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH, München, 2000

Maaß, Hans [Hrsg.]: „Verführung der Unschuldigen“, Evangelischer Presseverband für Baden e.
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Platner, G. [Hrsg.]: „Schule im Dritten Reich“, München, 1983

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Sösemann, Bernd [Hrsg.]: „Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft“, Deutsche
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Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes [Hrsg.]: „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“, BpB,
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Hennesthal, Rudolf / Probst, K. Friedrich: „Ihr sollt brennen!“ – Deutsche Gedichte, Verlag
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Internetquellen

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http://www.du.nw.schule.de/grimm/grimmold6.htm - Chronik der Gebrüder-Grimm-Schule


Duisburg von 1933 – 1937

http://www.eglofs.rv.schule-bw.de/3-reich.htm - Ein fächerverbindendes Projekt der Grund- und


Hauptschule Eglofs /Argenbühl zum Thema „Das Dritte Reich – Deutschland unter
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http://www.calvin.edu/academic/cas/gpa - Archiv des Calvin College in Mississippi über die


Propaganda im Dritten Reich

http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/schule/ - Werdegang der Horst-Wessel-Schule in


Kassel 1933 – 1945, Dokumentation anhand von Schulprotokollen

http://www.extremismus.com - Umfassendes Archiv über Links- und Rechtsextremismus,


sowohl aus historischer als auch aus aktueller Sicht

http://nibis.ni.schule.de/~rs-leer/gesch/geinh.htm - Quellensammlung der Friedensschule Leer

http://gymnasium-heissen.de/projekte/geschi/h-haupt.htm - Projekt des Gymnasiums Heißen


(Mülheim an der Ruhr) „Geschichte vor Ort“

http://www.dhm.de/lemo/home.html - „Lebendiges Museum Online“, ein Projekt des Deutschen


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http://www.shoa.de/ - Ein Projekt zu Holocaust, Antisemitismus, Drittes Reich und Zweiter


Weltkrieg

http://www.h-ref.de/ - Argumente gegen Auschwitzleugner

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