Ego States Und Traumatherapie
Ego States Und Traumatherapie
Luise Reddemann1)
Einleitung
Fernando Pessoa beschreibt auf eindrucksvolle Weise, was es bedeuten kann, sich als
viele zu erleben. Ich schätze dieses Gedicht deshalb, weil deutlich wird, dass es nicht
etwas Pathologisches sein muss, sich als viele zu erleben. Künstler haben das vermut-
lich schon immer gewusst. Wenn wir an polyphone Musik denken, wie z.B. an Bachs
„Kunst der Fuge“ oder seine Kantaten, dann können wir uns daran erinnern, dass da
immer gleichzeitig und gleichberechtigt viele Stimmen erklingen. Es hat mich immer
wieder verwundert, dass in der Zeit des späten Bach und nach ihm eher Musik als
schön galt, in der eine Stimme führt. (Selbstverständlich gab es auch nach Bach noch
polyphone Musik, z.B. die „Große Fuge“ von Beethoven). Der geistesgeschichtliche
und kulturhistorische Prozess hat sich im philosophischen Denken des 19. Jahrhun-
derts niedergeschlagen, so dass die Idee eines konsistenten Ich immer wichtiger und
„wahrer“ zu werden schien. Tatsächlich ist natürlich sowohl das eine wie auch das an-
dere nur eine Sichtweise und eine jede hat ihre Berechtigung. Man kann auch an Frida
Kahlos Bilder von den zwei Fridas denken: immer wieder hat sie diese Bilder gemalt,
in denen sie ihre beiden Seiten darstellt, unabhängig davon, ob das dem Zeitgeist ent-
sprach oder nicht. Es war Frida Kahlo durch diese Gestaltbildung möglich, ihre see-
lisch schwer verletzte Seite mit anderen, weniger verletzten, hoffnungsvolleren gleich-
zeitig darzustellen und sie macht uns damit darauf aufmerksam, dass wir mehr sind als
eine bestimmte Seite unserer selbst.
In jüngerer Zeit hat der Komponist Conlon Nancarrow Werke geschaffen, in denen
die verschiedenen Stimmen, die von einem speziell präparierten Klavier gespielt wer-
den, also nicht mehr von menschlicher Hand, völlig getrennt von den jeweils anderen
erklingen, d.h. die Rhythmen und die Zeiten der einzelnen Stimmen gehen gänzlich
voneinander getrennte Wege, sie begegnen sich nur noch zufällig. Ich höre diese Mu-
sik, die mir übrigens gut gefällt - auch wenn manch einer sie für verrückt halten mag,
insbesondere wegen ihres irrwitzigen Tempos -, auch unter Ego State Gesichtspunkten
und empfinde sie als eine Art Auseinandersetzungen mit den Traumata des 20. Jahr-
hunderts: Das völlige Auseinanderfallen verschiedener Anteile, dennoch zusammen-
gehalten in dem einen Stück und durch seinen Schöpfer.
Nach den Vorstellungen von C.G. Jung sind alle Gestalten, die in einem Traum auf-
tauchen, letztlich wir selbst, schon allein deshalb, weil wir SchöpferIn unserer Träume
sind. Die Beispiele wären beliebig fortzusetzen. Sie zeigen, dass es diese Vielfalt in
einem selbst gibt, und wir wissen heute, dass traumatische Erfahrungen begünstigen,
dass jemand unbewusst sich selbst als viele konstruiert.
Nehmen wir zunächst ein alltägliches Beispiel: Eine Managerin, die tagsüber im
Kostüm in die Firma geht und sich dort sehr korrekt verhält, spielt abends mit ihren
Kindern und tobt mit ihnen herum; hat sie zwei oder mehrere Kinder, richtet sie sich
auf die verschiedenen Altersstufen ganz selbstverständlich ein. Man könnte sagen, die
Berufsfrau befindet sich in einem anderen State als die Mutter und diese noch einmal
in verschiedenen States, je nach dem, mit welchem Kind sie gerade zusammen ist. Es
kann sich um energetisch völlig verschiedene Zustände handeln. Es gelingt dieser
Frau, diese Zustände gut getrennt zu halten, obwohl ihr sowohl der eine wie die ande-
ren bewusst sind. Das wären dann im Ego State Modell zwei oder mehr Ego States,
die mit Pathologie nichts zu tun haben.
Anders wäre es, wenn diese Frau von ihren verschiedenartigen Existenzen nichts
oder kaum etwas wüsste, wenn sie also abends nicht mehr wüsste, was sie tagsüber
getan hat. Das haben wir früher nicht für möglich gehalten und die Patienten beschul-
digt, sie würden lügen, oder wir haben von ihnen zu früh gefordert, sie müssten die
Verantwortung für dieses Verhalten übernehmen. Heute wissen wir, dass Patienten
durchaus nicht lügen, wenn sie über bestimmte Zeiten ihres Lebens nichts sagen kön-
nen und sich nicht erinnern. Diesen PatientInnen können wir mit herkömmlichen
Konzepten nicht unbedingt verständnisvoll begegnen. Da finde ich das Ego State Mo-
dell erheblich hilfreicher.
Hier ein klinisches Beispiel: Frau X. berichtet, dass ihr gestern im Aufzug schlecht
geworden sei. Sie verstehe das überhaupt nicht. Die Therapeutin fragt, ob es sein kön-
ne, dass ein anderer Teil von ihr darüber Bescheid wisse. (Die Patientin ist bereits mit
dem Ego State Modell vertraut.) Die Patientin wird still und scheint nach innen zu
schauen, nach etwa einer Minute wird sie sehr unruhig. Die Therapeutin vergewissert
sich zunächst, ob die Patientin noch sicher im Hier und Jetzt verankert ist. Nein, das
sei sie nicht, aber jetzt gehe es wieder. Sie habe ein kleines Mädchen, vielleicht 6-
oder 7-jährig wahrgenommen und dem gehe es schlecht. Therapeutin: „Können Sie
mit der Kleinen sprechen, wenn Sie sich vorstellen, sie sei etwas weiter entfernt von
Ihnen oder möchten Sie sich vorstellen, dass Sie sie auf einem Bildschirm nur von
ferne sehen?“ Pat.: “Wenn ich mir vorstelle, sie ist ein bisschen weiter weg, geht es.
Sie sagt, gestern im Aufzug sei jemand gewesen, der ihr Angst gemacht habe.“ Th.:
„Können Sie ihr versichern, dass Sie auf sie aufpassen und dass ihr jetzt nichts
Schlimmes passieren kann, weil Sie da sind und erwachsen sind?“ Pat. „Ja, das hilft
ihr.“ Weiter unten werde ich diese Situation weiter ausführen.
Im Folgenden will ich kurz das theoretische Modell der Ego States und verwand-
ter Konzepte darstellen. Danach soll das Thema der Gefühlsüberflutung, mit der wir
es häufig bei traumatisierten PatientInnen zu tun haben, besprochen werden und wie
das Ego State Vorgehen helfen kann, dieser Problematik zu begegnen. Schließlich
werde ich anhand der Konzepte des „inneren Kindes“ und der „malignen Introjekte“
die Nützlichkeit des Ego State Modells darlegen.
chen versuche, auch fürsorgliche, beelternde oder andere hilfreiche Teile einladen.
Vermittelnde Aufgaben können dann beispielsweise auch von der „inneren Weisheit“
bzw. dem imaginierten weisen alten Menschen wahrgenommen werden.
Janet ging davon aus, dass verschiedene Aspekte der Persönlichkeit, die verschie-
dene Muster von Gefühlen und Kognitionen enthalten, nur durch Hypnose aktiviert
werden können, eine Vorstellung, die man heute so nicht mehr unbedingt teilen würde.
Es genügt fast immer, eine Patientin einzuladen, sich „ihr jüngeres Ich“ vorzustellen
und damit in Kontakt zu gehen.
C.G. Jung sah die Persönlichkeit ebenfalls als etwas Vielfältiges mit verschiedenen
Teilen (Archetypen, Komplexen), die sowohl bewusst wie unbewusst sein können. So
gibt es das Konzept des ewigen Jünglings, des göttlichen Kindes usw. Auf diese kann
man, wenn man die „innere Kind“-Arbeit einer Patientin näher bringen will, ebenfalls
gut zurückgreifen.
Es sei betont, Ego States sind ein Konzept. Der Wert des Konzeptes liegt in seiner
klinischen Stimmigkeit, Handhabbarkeit und Einfachheit.
Eine der mir am wichtigsten erscheinenden Prämissen der Ego State Arbeit ist,
dass jeder State eine adaptive Funktion hat bzw. hatte. States sind in unterschiedlicher
Weise voneinander getrennt. Die Dissoziation mag schwächer oder stärker sein. Man-
che Autoren sprechen auch von einer "Membran" zwischen den States, die ganz
durchlässig bis völlig undurchlässig sein kann, dann könnte man auch von einer
Mauer sprechen [vgl. Frederick in diesem Heft; Anm. Hrsg.]. Probleme können da-
durch entstehen, dass verschiedene States verschiedene Interessen, Bedürfnisse, Ent-
wicklungsstadien (das würde dann bedeuten, es gibt viele verschiedene kindliche Ego
States) etc. aufweisen, die miteinander in Konflikt sind. So könnte z.B. ein jugendli-
cher State gänzlich andere Bedürfnisse haben als der State eines kleinen Kindes. Sym-
ptome wie Angst, Panik, PTSD u.v a m. lassen sich häufig als Ausdruck verschiede-
ner Ego States und deren Probleme verstehen. Oft handelt es sich um sog. kindliche
States, die in der Zeit der Traumatisierung/Verletzung wie eingefroren sind.
Wenn man die verschiedenen States willkommen heißen und nutzen kann, hat man
einen großen Reichtum zur Verfügung, der anders oft gar nicht zum Tragen kommt.
nen sie sich einfach zum gegebenen Zeitpunkt nicht leisten. Und sie haben dafür eine
Lösung gefunden: sie verteilen ihre Emotionen auf verschiedenste Ego States. Ihre all-
tagstauglichen States sind hingegen relativ weit entfernt von den Emotionen, so dass
sie relativ „normal“, aber auch oft gefühlskalt erscheinen.
Mich beeindruckt an dieser menschlichen Möglichkeit, sich als viele zu begreifen
und zu definieren, vor allem dass sich hier eine enorme Ressource auftut, die gerade
Menschen nach traumatischen Erfahrungen spontan für sich nutzen. Unter anderem
beinhaltet das Viele-sein – und damit meine ich keinesfalls nur die sog. multiple Per-
sönlichkeit –, dass emotionale Inhalte, die belastend sind, so weit vom Alltagsbewuss-
tsein ferngehalten werden können, dass ein alltägliches Funktionieren überhaupt erst
möglich ist.
Dazu schreibt der portugiesische Dichter Fernando Pessoa: „Die großen Ängste
unserer Seele sind immer kosmische Katastrophen. Wenn sie über uns hereinbrechen,
geraten um uns herum Sonne und Sterne aus ihrer Bahn. In jeder fühlenden Seele wird
das Schicksal früher oder später zu einer Apokalypse übergroßer Angst, und Himmel
und Welten brechen herein über ihre Untröstlichkeit“ (Pessoa, 2006, S. 164; Hervor-
hebungen L.R.).
Natürlich gibt es traumatisierte PatientInnen, die von einer gefühlsbetonten Arbeit
profitieren, dann sollte man sie ihnen nicht vorenthalten. Aber viele verschlechtern
sich durch stark gefühlsorientierte Arbeit, weil sie den damit verbundenen Kontroll-
verlust schlecht verkraften. Bei Pessoa habe ich den Eindruck, dass er durch sein
Schreibenkönnen einen Weg gefunden haben könnte, sich zu entlasten, auch dadurch,
dass er sich selbst als Viele definiert. Er hatte eine ganze Reihe unterschiedlicher Iden-
titäten und schrieb unter verschiedenen Heteronymen. In „metaphysische Gedanken“
stellt Pessoa tiefgründige Überlegungen an: „Die einzige Wirklichkeit sind für mich
meine Wahrnehmungen. Ich bin eine Wahrnehmung von mir. Dennoch bin ich mir
nicht einmal meiner eigenen Existenz gewiß ...“ (S. 553) - weil er sich seiner Wahr-
nehmungen nicht sicher ist oder sein kann. Daraus leitet Pessoa u.a. seine Vielheit ab
und die Imagination: „Ich vergolde mich mit vorgestellten Sonnenuntergängen, aber
auch das Vorgestellte ist in der Vorstellung lebendig. Ich freue mich über imaginäre
Brisen, das Imaginäre aber lebt, wenn man es sich vorstellt. Verschiedenen Hypothe-
sen zufolge habe ich eine Seele, aber diese Hypothesen haben ihre eigene Seele, und
die schenken sie mir. Das einzige Problem ist das Realitätsproblem, es ist so unlösbar
wie lebendig“ (S. 259). Wenn man Pessoa nicht pathologisieren will, was aus meiner
Sicht vorschnell wäre, kommt man nicht umhin, das Viele-Sein als eine kreative Form
des In-der-Welt-Seins anzuerkennen.
Die Traumaforschung hat uns darüber belehrt, dass Menschen nach einem Trauma
„dicht machen“, ihre Gefühle nicht mehr spüren können, und dass das ein Schutz ist.
Andererseits leiden viele auch oder ausschließlich an der Überflutung durch Gefühle.
Wie bekannt sein dürfte, reagiert dann der Mandelkern im Gehirn wie ein überemp-
findlicher Feuermelder, der schon auf eine brennende Zigarette hin Alarm schlagen
würde. Wir wissen auch, dass wir insbesondere bei in der frühen Kindheit traumati-
sierten PatientInnen mit einer ineffizienten dämpfenden und modulierenden Funktion
der orbitofrontalen Region auf den Mandelkern zu rechnen haben (Schore, 2002), was
dazu führt, dass der betroffene Mensch sich schlecht oder gar nicht selbst beruhigen
kann.
Zu intensiver Ausdruck von Gefühlen ist in der Regel mit einer Überidentifikati-
on mit dem Gefühlszustand verbunden. Dies aber fürchten die Menschen, die dicht
machen und wahrscheinlich haben sie zuvor irgendwann erlebt, wie schrecklich es ist,
von einem oder mehreren Gefühlen überwältigt zu sein. Nicht selten werden ja in die-
sem Zusammenhang auch Metaphern benutzt wie „in den Gefühlen ertrinken“, oder
„Dammbruch der Gefühle“. Ein Ausweg scheint mir daher ein Umgang mit Gefühlen
zu sein, der Schutzmechanismen aufgreift und diese Schutzmechanismen als Ressour-
ce nutzt.
Fähigkeiten zur Distanzierung von Gefühlen werden daher ausdrücklich gefördert.
Und damit sind wir dann bei vielen unserer PatientInnen bei dem Respekt vor ihren
Ego States, auf die sie ihre Gefühle verteilen. Besonders wirksam hat sich dabei die
Arbeit an der Fähigkeit herausgestellt, sich selbst beobachtend wahrzunehmen. Man
kann daher den beobachtenden Teil als eigenen Ego State konzeptualisieren.
Menschen mit Traumafolgestörungen können z.B. Elemente der Emotionalen
Intelligenz (EI) erlernen (Goleman et al., 2003), für sie scheint mir das sogar beson-
ders wichtig. EI beinhaltet die Kompetenzen der Selbstwahrnehmung, des Selbstma-
nagements, des sozialen Bewusstseins und des Beziehungsmanagements. Ego States,
die über einzelne dieser Fähigkeiten in unterschiedlichem Maße verfügen, können an-
hand dieses Konzepts erkannt und beschrieben werden. Die therapeutische Aufgabe
besteht darin, die verschiedenen Anteile einander begegnen zu lassen, sie miteinander
bekannt zu machen und oft erst einmal um die Bereitschaft zur Koexistenz zu werben;
ist diese erreicht, geht es darum, Kommunikation und schließlich Kooperation anzu-
regen. Ich nenne es auch „Brücken bauen“ zwischen einzelnen States; so beschreibt
denn auch der Ausdruck „Psychotherapie mit der inneren Familie“ diese Art der Ar-
beit sehr plastisch.
Es sei erwähnt, dass Menschen mit einer Traumafolgestörung ihrem oft gewohn-
heitsmäßigen Dissoziieren, d.h. dem Auseinanderhalten von verschiedenen Bewusst-
seinsinhalten, mit der „Übung in Achtsamkeit“ wirksam begegnen können. Damit
können dann auch die verschiedensten States genauer wahrgenommen werden.
Wird das Wahrgenommene als zu schmerzhaft empfunden, z.B. Gefühle bzw.
Gefühle der States oder auch Körperempfindungen, nutzen wir die Fähigkeit vieler
Menschen zur Separation, wie ich das lieber nenne als Spaltung, indem wir dazu ein-
laden, dass die Patientin bewusst mit der Vorstellung ihrer „inneren Beobachterin“ ar-
beitet und sich dadurch wiederum vom Wahrgenommenen distanzieren kann.
Wenn Achtsamkeit bewusst verwendet wird, hat dies andere Auswirkungen, als
wenn die Patientin unbewusst „neben sich steht“, obwohl der Mechanismus vermut-
Welche Indikationen für Ego State orientierte „innere Kind“-Arbeit sind denkbar:
1. Die Patientin spricht von sich aus von verschiedenen Teilen und/oder von einem
Kind.
2. Länger dauernde oder mehrere erfolglose Therapien laden geradezu dazu ein, das
Konzept der Ego States und des inneren Kindes anzubieten, ebenso wie auffälli-
ges widersprüchliches Verhalten, das auf "innere Kämpfe" hindeutet.
3. Schwere oder komplexe PTSD und/oder dissoziative Symptome sind eine wichti-
ge Domäne für Ego State Arbeit allgemein und für die Arbeit mit dem inneren
Kind im speziellen.
Als Kontraindikation gilt es zu berücksichtigen:
1. Der Patient lehnt die angebotene Sichtweise ab.
2. Wenn die Ego State orientierte Arbeit mit dem inneren Kind mehr Fragmentierung
schafft als vorher vorhanden, bzw. wenn mehr Ganzheitlichkeit nicht in Sicht zu
sein scheint, sollte man auf Ego State Arbeit eher verzichten.
Ohne ein stabiles erwachsenes Ich bzw. genauer: ohne einen stabilen erwachsenen
State kann aus meiner Sicht „innere Kind“-Arbeit nicht gelingen. Das bedeutet nicht,
dass der erwachsene Teil fähig sein muss, sich um das innere Kind selbst zu kümmern,
denn das kann er auf der inneren Bühne auch idealen Eltern oder Helferwesen über-
lassen. Aber er muss im Alltag einigermaßen kompetent als Erwachsener agieren kön-
nen. Ist das nicht der Fall, sollte immer erst an erwachsenen Alltagskompetenzen gear-
beitet werden.
Die Trennung zwischen der Erwachsenen und ihrem inneren Kind entlastet Pati-
entinnen deutlich. Nach und nach können dann Probleme der Erwachsenen, z.B. mit
ihrem Partner oder als Mutter, von denen des Kindes immer genauer unterschieden
werden. Dadurch kann dann die Erwachsene sich zunehmend kompetent fühlen, weil
sie merkt, dass sie als Erwachsene über sehr viel Kompetenz in vielen schwierigen Si-
tuationen verfügt, ohne zu sehr von den kindlichen Anteilen verunsichert zu werden.
Im Weiteren kann es wichtig sein, dass sich der Therapeut immer wieder von sich
aus nach dem Wohlergehen des Kindes/der Kinder erkundigt. So könnte eine Stan-
dardfrage sein: Wie geht es Ihrem kleinen Mädchen? Und wie geht es Ihnen? Das
heißt: in der Ego State Therapie müssen wir eine Art Allparteilichkeit für alle Anteile
aufbringen ähnlich wie in der Familientherapie. PatientInnen lernen dadurch mehr
und mehr, selbst ihr Kind zunehmend wahrzunehmen und es zu schützen.
In der Kindheit vernachlässigte PatientInnen brauchen in der Regel auch aktive
Zuwendung durch vermehrtes Verständnis und Freundlichkeit, ein falsch verstandener
Abstinenzbegriff führt da leider eher zu schädlichem Verhalten von Seiten der
Therapeutin. TherapeutInnen sind also AnwältInnen der Erwachsenen wie des Kindes
und vermitteln zwischen beiden.
Eine Patientin hat es so formuliert: „Wenn ich jetzt merke, dass ich klein werde,
dann sage ich mir, dass ich beides bin, die Große und die Kleine, und dass ich, die
Grosse, der Kleinen helfen kann. Dann geht es mir besser.“ Selbsttröstende Maßnah-
men, wie sie die Arbeit mit dem „inneren Kind“ beinhalten, sind sehr häufig zu
machen. „1000 Mal“ ist vermutlich eine gute Metapher. Freude, Humor und Lachen
sind dabei sehr hilfreich.
Es kann vorkommen, dass bei der Arbeit mit dem inneren Kind eine starke Erre-
gung, Panik, oder ein freezing auftreten. Dies weist darauf hin, dass es eine Affekt-
brücke zu einer traumatischen Situation gibt, bzw. dass die angedeutete Situation trau-
matischen Charakter hat. Dann sind distanzierende Techniken erforderlich, wie z.B.
„stellen Sie sich vor, dass Sie sich die Szene von Weitem betrachten“. Auch das
Wahrnehmen des Hier und Jetzt und Grounding sind dann notwendig. „Sie sind jetzt
hier in meiner Praxis, heute ist der so und so vielte 2006, Sie sind hier sicher, können
Sie das wahrnehmen?“
Bei stärker dissoziativen PatientInnen sind zwar einige Modifikationen der Arbeit
mit dem inneren Kind erforderlich, aber grade bei diesen PatientInnen ist das Konzept
der Ego States besonders erfolgreich. Es geht zunächst darum, dass die jüngeren Ichs
sozusagen lernen, dass sie heute in Sicherheit sind. Das weiß zwar die erwachsene
Person und Patienten sagen dann, „im Kopf weiß ich das“, aber die jüngeren Ichs wis-
sen eben nicht, dass sie in Sicherheit sind, denn es handelt sich ja um traumatisierte
Ichs, die im Trauma wie eingefroren sind. Es hat sich bewährt, wenn Patienten sich
konsequent darin üben, ihren jüngeren Ichs zu erklären, dass sie jetzt an einem ande-
ren Ort, in einer anderen Zeit und in einer anderen Situation sind. Manche Patienten
finden diese Idee etwas seltsam. Es ist daran zu erinnern, dass dies alles nur Bilder,
Metaphern sind, man kann sie verwenden, muss das aber nicht.
In Zukunft wird sich möglicherweise zeigen lassen, dass dissoziierte Ego States
mit der Aktivierung anderer Gehirnregionen zu tun haben als der Ego State des „er-
wachsenen Ichs“. Da davon auszugehen ist, dass Verbindungen zwischen diesen ver-
schiedenen Regionen bestehen, werden durch die Ego State Arbeit vermutlich derar-
tige neuronale Netzwerke verstärkt.
Assimilation, so dass aus Introjekten Selbstanteile werden, die nicht als fremd erlebt
werden.
Täterintrojektion ist ein Schutzvorgang, der während traumatischer Situationen
hilft, sich vor überwältigender Ohnmacht zu schützen. Lebt der Täter im Selbst, ist die
Tat richtig und damit gibt es keine Ohnmacht. Täterintrojektion im Kindesalter schützt
das Kind außerdem vor Objektverlust. Dieser Vorgang kann sich auch in Extremsitu-
ationen bei Erwachsenen abspielen (s. dazu Reemtsma, 1997 “Im Keller“).
Identifikation ist in der psychoanalytischen Neurosenlehre eine reifere Abwehr-
form. Wenn man sich mit jemanden identifiziert, verhält man sich so wie der andere.
Auch Identifikation gehört zur normalen Entwicklung. Täteridentifikation ist eben-
falls ein Schutz, nämlich vor allem vor schmerzlichen Gefühlen. Täteridentifizierte
Teile verhalten sich also wie die Täter, während Täterintrojekte dazu führen, dass man
denkt oder fühlt wie der Täter, wobei das Eine mit dem Anderen kombiniert auftreten
kann.
Den Begriff Täterintrojekt sollte man nur verwenden, wenn eine Tat bekannt ist.
Andernfalls sollte man von malignen Introjekten sprechen, oder auch nur von malig-
nen Teilen.
Neuerdings lassen sich Introjektion sowie Imitation und Identifikation neurobio-
logisch als Niederschlag der Arbeit unserer Spiegelneurone erklären. Hierzu zitiere
ich aus dem Klappewntext zu Joachim Bauers (2005) Buch ‘Warum ich fühle, was Du
fühlst’: „Warum können Menschen sich spontan verstehen, fühlen, was andere fühlen
und sich intuitiv eine Vorstellung machen, was Andere in etwa denken? Die Erklärung
dieser Phänomene liegt in den Spiegel-Nervenzellen, einer vor kurzem entdeckten
neurobiologischen Sensation ... Spiegelzellen ... melden uns, was Menschen in unse-
rer Nähe fühlen und lassen uns deren Freude oder Schmerz mitempfinden.“ Leider
melden sie uns auch, wenn uns Menschen in unserer Nähe hassen und auch das bildet
sich dann in uns ab. Die Übernahme von Gefühlen der Täter, wie das Ferenczi (1932)
eindrücklich beschrieben hat, dürfte den Spiegelneuronen geschuldet sein. Das würde
aber auch bedeuten: besonders als kleine Kinder haben wir keine Wahl, ob wir etwas
introjizieren oder nicht, denn dazu sind wir zu sehr angewiesen auf die Bezugsper-
sonen. Biologen wie de Waal (2005) meinen, dass Spiegelung der Bindung dient. Und
damit bekommt dann auch aus biologischer Sicht die Täterintrojektion einen Sinn.
Das heißt: die Meinung der Ego State Therapeuten zur Nützlichkeit von Ego States
steht damit auch auf einer neurobiologischen Grundlage.
Es empfiehlt sich, mit Täterintrojekten nur dann zu arbeiten, wenn sie sich störend
bemerkbar machen, man sollte sie nicht aktiv hervorholen.
Während es bei der Arbeit mit dem inneren Kind um die direkte Auseinanderset-
zung mit Angst und anderen schmerzlichen Gefühlen geht, „benehmen“ sich Täterin-
trojekte wie die Täter, also scheinbar erwachsen, unangreifbar, stark. Dennoch sind sie
zum Schutz des Kindes entstanden. Der kindliche Teil in der Patientin kann Angst vor
dem Introjekt haben, während das Introjekt selbst keine Angst kennt, d.h. die Ausein-
andersetzung mit der Angst, die letztlich auch hier die Quelle der Existenz des Intro-
jektes darstellt, kann nicht direkt erfolgen.
Täterintrojekte kann man sich auch vorstellen „als bösartige Erwachsene, die als
Kinder verkleidet sind“, jedoch wissen diese Erwachsenen nicht, dass sie eigentlich
Kinder sind.
Immer mehr habe ich in den letzten Jahren entdeckt, dass Ego State Therapie ori-
entierte Auseinandersetzung mit malignen inneren Objekten vielen Patienten sehr ent-
spricht. Das Modell, auf der inneren Bühne als destruktiv wahrgenommene Anteile
auf die eine oder andere Weise zu vernichten, habe ich in den letzten Jahren weitge-
hend zugunsten der Ego State Arbeit verlassen. Klassisch orientierte Ego State Thera-
peuten heben mahnend den Finger und meinen, man dürfe nie das maligne Introjekt
vernichten. M.E. ist das zu einseitig, denn manchmal hilft auch dieses Vorgehen.
Ich komme zurück auf die Geschichte vom Pinguin, dessen Mutter so furchtbar
geschrieen hat, dass er auseinander flog. Es gibt wohl wenig Zweifel daran, dass in
einem lebenden Organismus alle biologischen Funktionen zutiefst beseelt sind, so hat
es Joachim Bauer (2005) ausgedrückt. Wenn wir also mit körperbezogenen Bildern
wie denen der inneren Bühne, des inneren Hauses etc. arbeiten, so hat das Wirkung
auf Körper, Geist und Seele, was nicht bedeutet, dass Imagination nicht ergänzt wer-
den kann – bzw. manchmal sogar sollte - durch direkte körpertherapeutische Arbeit.
Denn der Körper ist auch der Ort der Traumatisierung und die Verkörperung der
Traumaerinnerung (vgl. Rothschild, 2002 „Der Körper erinnert sich“).
Was tun wir also? Ich meine, dass Jutta Bauer das poetisch sehr schön ausgedrückt
hat, wenn sie in der Pinguingeschichte sagt: “Ganz müde waren die Füße abends in
der Wüste Sahara angekommen, als sich ein großer Schatten über sie legte. Schrei-
mutter hatte alles eingesammelt und zusammengenäht, nur die Füße hatten noch ge-
fehlt. Entschuldigung, sagte Schreimutter.“ Diesen Prozess versuchen wir bei unseren
„auseinander gefallenen“ Patienten nachzuholen. Für irrig halte ich die Vorstellung,
dass eine „Integration“ aller Teile zu einem einzigen Ich gelingen müsse. Diese Kon-
zept hat etwas subtil Gewaltsames. Letztlich entscheidet die Patientin selbst, wie eng
sie mit ihren Teilen verbunden sein will.
Literatur
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Bauer, J. (2005). Warum ich fühle, was Du fühlst. Hamburg: Hoffmann und Campe.
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Ferenczi, S. (1932). Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. In ders.: Ges. Schriften,
Band 3. Frankfurt: Fischer.
Fürstenau, P. (2001). Psychoanalytisch verstehen, systemisch denken, suggestiv intervenieren (2., erw. Aufl.
2002). Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.
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Reemtsma, J. P. (1997). Im Keller. Hamburg: Hamburger Edition.
Rothschild, B. (2002). Der Körper erinnert sich. Essen: Synthesis.
Schore, A. N. (2002). Dysregulation of the right brain: A fundamental mechanism of traumatic attachment
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[Van der Hart, O., & Nijenhuis, E. (1995). Amnesie für traumatische Erfahrungen. Hypnose und Kognition,
11(2), 84-101.]
Watkins, J. G., & Watkins, H. (2003): Ego States. Theorie und Therapie. Heidelberg: Carl Auer.
Rezension
Integrierte Psychotherapie
Anwendungen in der Gesamtmedizin und benachbarten Sozialberufen
Barolin, Gerhard S.
2006, XIII, 521 S., mit zahlreichen Abb, Geb., ISBN: 978-3-211-25775-3
Hochkarätig liegt hier ein Lehrbuch vor, das umfassend und fundiert informiert. Nicht
nur ästhetisch von außen, auch gleich beim ersten Blick in die pralle Seitenzahl, beste-
chen die klare Gliederung der Kapitel, Hervorhebungen und liebevoll ausgewählte
Cartoons, die schon das Blättern zu einem Genuss machen.
Der Anspruch ist kein geringer: Psychotherapeutisches Denken und Handeln soll
auch das allgemeine Gesundheitssystem prägen und eine Behandlung der gesamten
somato-psycho-sozialen Einheit Mensch erlauben. Aber wie stelle ich das große Ge-
biet Psychotherapie - bis auf Verästelungen z. B. in die Hypnotherapie - für alle im
therapeutischen und beratenden Sektor Tätigen ausführlich, verständlich und lehrend
dar, mit ihrer Geschichte, Tradition und den vielfachen Möglichkeiten der Interven-
tion? Wie wirke ich erkennend, klärend und heilend in großem Rahmen und suppor-
tiv-kollegialem Netzwerk?
So ein Werk muss reifen, reifen wie ein guter Wein und das ein gut Teil des Le-
bens. Gerhard S. Barolin hat das gesammelte Wissen seiner lebenslangen Erfahrung
als Arzt, als Psychotherapeut, aber vor allem als Mensch in die Kelter gebracht und
kann nun zusammen mit hervorragenden Kollegen aus dem Fachgebiet ein Lehrbuch
der besonderen Art präsentieren. Der interessierte Leser, komme er aus der Psycho-
therapie, somatischen Medizin, Krankenpflege, Sozialarbeit und den Sozialwissen-
schaften oder der Pädagogik und Seelsorge, kann sich entspannt und sogar mit Freude
informieren, ja mit einem kleinen Schmunzeln zurückgelehnt fortbilden. Eindringlich
sind grundlegende Inhalte in Kasten gesetzt, was das Aufnehmen und Einprägen von
Inhalten begünstigt. Das Konzept der integrierenden und zugleich übergreifenden
Psychotherapie wird in all seiner Vielfalt und aus allen Perspektiven stringent ausge-
leuchtet, plausibel, didaktisch klar, aus höherer Warte, aber ohne Dünkel.
Ein sehr empfehlenswertes, da ausgereiftes Buch. Gratulation den Autoren und
Glückwunsch dem Leser, der es studiert ... vielleicht mit einem vollmundigen Roten
in der Hand!