Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
MatDaF85 Hahn PDF
MatDaF85 Hahn PDF
Band 85
Materialien
Deutsch als Fremdsprache
Grenzen überwinden
mit Deutsch
37. Jahrestagung des Fachverbandes
Deutsch als Fremdsprache
an der Pädagogischen Hochschule
Freiburg/Br. 2010
Materialien
Deutsch als Fremdsprache
Band 85
Universitätsverlag Göttingen
2011
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über
<http://dnb.ddb.de> abrufbar.
Die „Materialien Deutsch als Fremdsprache“ sind eine Reihe des Fachverbands
Deutsch als Fremdsprache e.V. (FaDaF), in der Tagungsergebnisse, Dissertationen und
andere wichtige Einzeldarstellungen aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache
veröffentlicht werden.
http://www.fadaf.de/de/Publikationen/mat_daf/
Dieses Buch ist nach einer Schutzfrist auch als freie Onlineversion über die Homepage
des Verlags sowie über den OPAC der Niedersächsischen Staats- und
Universitätsbibliothek (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar und darf gelesen,
heruntergeladen sowie als Privatkopie ausgedruckt werden. Es gelten die
Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Es ist nicht gestattet, Kopien oder gedruckte
Fassungen der freien Onlineversion zu veräußern.
Vorwort
Natalia Hahn & Thorsten Roelcke (Freiburg i. Br., Deutschland) ....................................... 1
Themenschwerpunkt 1
Mehrsprachigkeit in Grenzregionen
Sektionsbericht .................................................................................................................. 9
Themenschwerpunkt 2
Kompetenzen beschreiben, fördern, evaluieren
Sektionsbericht ................................................................................................................ 57
Themenschwerpunkt 3
Motivation – Forschungsgegenstand und Unterrichtspraxis
Sektionsbericht .............................................................................................................. 107
Themenschwerpunkt 4
Wirkung von Unterricht auf das Lernen von Sprachen –
Forschungskonzepte und -ergebnisse
Sektionsbericht .............................................................................................................. 145
Praxisforum A
Unterrichtspraxis
Sektionsbericht .............................................................................................................. 241
Praxisforum B
Beruf und Qualifizierung
Sektionsbericht .............................................................................................................. 345
Vom 13. bis 15. Mai 2010 fand an der Pädagogischen Hochschule Freiburg die 37.
Jahrestagung des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache statt. Sie stand unter
dem Motto „Grenzen überwinden mit Deutsch!“ – ein Motto, das sehr gut in die
Region des Breisgaus passt: Denn im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frank-
reich und der Schweiz stellen Grenzen immer wieder neue Herausforderungen dar.
Dabei ist zu erleben, dass diese Grenzen hier politisch immer offener werden, was
vor allem den Menschen in dieser Region zugutekommt. Insbesondere auch viele
Kinder und Jugendliche entlang des Hoch- und Oberrheins erwerben Deutsch
oder Französisch als erste Fremdsprache: Sie lernen dabei, nicht nur politische und
sprachliche, sondern auch soziale und kulturelle Grenzen zu überwinden – und sie
leisten damit einen wichtigen Beitrag für die Zukunft dieser Region.
Indem Menschen sprechen oder schreiben bzw. hören oder lesen, treten sie
aus ihren eigenen Grenzen hinaus – und fühlen und denken miteinander: In die-
sem Sinne war die FaDaF-Tagung in Freiburg geprägt von einer Reihe interessan-
ter Beiträge, von vielen guten Diskussionen und von zahlreichen persönlichen
Begegnungen. Der hier vorliegende Band versammelt ausgewählte Vorträge in
überarbeiteter Schriftfassung. Die Auswahl und die Redaktion der Beiträge gehen
jeweils auf die Koordinatorinnen und Koordinatoren der Themenschwerpunkte
und Praxisforen zurück – ebenso die Sektionsberichte im Verlauf des Bandes (in
denen auch diejenigen Vorträge gewürdigt werden, die hier nicht in schriftlicher
Fassung erscheinen).
2 Natalia Hahn & Thorsten Roelcke
1 Themenschwerpunkt:
Mehrsprachigkeit in Grenzregionen
Koordination:
Prof. Dr. Peter Colliander, Prof. Dr. Albert Raasch, Prof. Dr. Thorsten Roelcke
2 Themenschwerpunkt:
Kompetenzen beschreiben, fördern, evaluieren
Koordination:
Yvonne Decker, Dr. Susanne Duxa, Prof. Dr. Udo Ohm, Katja Schnitzer
3 Themenschwerpunkt:
Motivation – Forschungsgegenstand und Unterrichtspraxis
Koordination:
Dr. Silvia Demmig, Prof. Dr. Petra Gretsch, Prof. Dr. Nicole Marx
Die Motivation der Lernenden stellt einen zentralen Aspekt bei dem Erwerb von
Fremdsprachen dar, und so hat sich die Motivationsforschung zu einem eigenstän-
digen wissenschaftlichen Bereich entwickelt. Sabine Grasz (Oulu, Finnland) und
Joachim Schlabach (Turku, Finnland) setzen Motivbündel zum Erwerb von Fremd-
sprachen an und erkennen dabei insbesondere pragmatische Faktoren, welche
unter finnischen Studierenden die Wahl des Deutschen als Fremdsprache bestim-
men und nach Hochschule, Hauptfach und Geschlecht differenziert werden kön-
nen. Demgegenüber versteht Barbara Bycent Hennig (Hong Kong) den Erwerb einer
Sprache als einen Akt der Selbstformierung; am Beispiel von hongkong-chinesi-
schen Studierenden zeigt sie, dass die Motivation, Deutsch als Fremdsprache zu er-
lernen, eng mit ethischen Vorstellungen verbunden sein kann, an denen wiederum
didaktisch anzusetzen ist. In dem Beitrag von Heike Roll (Münster) wird am Bei-
spiel eines Projekts an einer Realschule untersucht, wie die Schreibmotivation von
Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache durch eine individuelle
Förderung von Schreibstrategien im Rahmen einer Schülerschreibberatung geför-
dert wird.
4 Themenschwerpunkt:
Wirkung von Unterricht auf das Lernen von Sprachen –
Forschungskonzepte und -ergebnisse
Koordination:
Inger Petersen, Prof. Dr. Claudia Riemer
samkeitsforschung wird darauf in dem Beitrag von Rebecca Launer (München) ein
Modell für Blended-Learning im Bereich Deutsch als Fremdsprache diskutiert. Der
Aufsatz von Steffi Winkler (Amsterdam, Niederlande) hat eine Interventionsstudie
zum Erwerb der deutschen Satzstruktur bei italienischsprachigen Studierenden
zum Gegenstand; es zeigt sich, dass durch eine Änderung der Unterrichtsprogres-
sion größere Lernerfolge bei dem Erwerb der OV-Struktur und der Satzklammer
erzielt werden konnten. Christian Krekeler (Konstanz) weist auf zahlreiche methodi-
sche Probleme von Fehlerkorrekturen hin, die deren Aussagekraft letztlich infrage
stellen. Der Beitrag von Albrecht Klemm (Leipzig) schließlich macht die Problematik
einer Rekonstruktion von Äußerungsabsichten durch Korrigierende deutlich und
fordert eine größere Aufmerksamkeit hinsichtlich des Überarbeitungsprozesses
selbst.
A Praxisforum:
Unterrichtspraxis
Koordination:
Marcel Hinderer, Martin Lange, Gabriela Leder
Gerade auch im Bereich Deutsch als Fremdsprache spielt die Praxis des Unter-
richts eine ganz entscheidende Rolle für den Lernerfolg. Dies zeigen Gabriele
Menne-El. Sawy und Claudia Einig (Bonn) mit der Vorstellung eines Unterrichts-
modells, mit dem DaF-Lernende nicht allein in die Lage versetzt werden, wissen-
schaftssprachliche Texte auf deren sachlichen Gehalt, sondern darüber hinaus auch
auf die Einstellung und die Absicht ihrer Verfasser hin zu exzerpieren. Die Bedeu-
tung der Wissenschaftssprache für Lernende im Bereich Deutsch als Fremdsprache
wird auch in dem Beitrag von Mi-Young Lee (Hamburg) deutlich: Hier wird ein
Konzept vorgestellt, wie die Rezeption von Fachtexten zur Steigerung der Kompe-
tenz bei der Produktion eigener Fachtexte nutzbar gemacht werden kann. Die Ver-
besserung einer selbständigen Lernkompetenz angesichts des Erwerbs umfang-
reichen Fachwortschatzes ist das Thema von Wiebke Strank (Kiel), während Bärbel
Kühn und Christine Rodewald (Bremen) eine elektronische Portfolio-Plattform vor-
stellen, mit der an Hochschulen für verschiedene Zielgruppen selbständiges und
individuelles Sprachlernen ermöglicht wird. Der Beitrag von Morten Hunke (Leeds,
Großbritannien) führt die Möglichkeiten reflektierten Podcastens im Rahmen obli-
gatorischer Auslandsaufenthalte von Studierenden vor und weist damit neue, tech-
nologiebasierte Wege des Fremdsprachenerwerbs. Dass Lernen neben Erfolg auch
Spaß bringen kann und soll, zeigen Anke Stöver-Blahak und Matthias Perner (Hanno-
ver) am Beispiel von Rappen im DaF-Unterricht; dabei wird deutlich, welche Rolle
Musik beim Fremdsprachenerwerb zukommen kann. Zwanzig praktische Tipps
zum Lehren und Lernen der Aussprache des Deutschen vermittelt schließlich der
Beitrag von Wolfgang Rug (Dornburg).
Vorwort 5
B Praxisforum:
Beruf und Qualifizierung
Koordination:
Amadeus Hempel, Prof. Dr. Hans-Werner Huneke, Dr. Annegret Middeke
Der Beitrag von Heike Mengele (Augsburg) stellt das Konzept des bayrischen Stu-
dienganges „Didaktik des Deutschen als Zweitsprache“ vor und zeigt am Beispiel
eines Projektseminars in Kooperation mit Kulturprojekten und Schulen, auf wel-
che Weise interkulturelle Dramapädagogik einen Beitrag zum interkulturellen Ler-
nen und zur sprachlichen Förderung von jugendlichen Hauptschülern zu leisten
vermag. Die Bedeutung des Deutschen als Fremd-, aber auch als Zweitsprache
nimmt im beruflichen Umfeld immer mehr zu. Vor diesem Hintergrund greifen
Matthias Jung (Düsseldorf) und Annegret Middeke (Göttingen) abschließend nicht nur
einen wichtigen Arbeitsbereich für den Fachverband Deutsch als Fremdsprache
und zahlreiche weitere Institutionen auf, sondern weisen mit ihrem Beitrag über
das Deutsche im Beruf als Arbeitsfeld für DaF- und DaZ-Lehrer auch ein stück-
weit in die Zukunft.
Umrahmt wurden die Beiträge zur 37. Jahrestagung Deutsch als Fremdsprache, an
der über 400 Personen aus ganz Deutschland und aus aller Welt teilnahmen, von
zwei Plenarvorträgen und einer Podiumsdiskussion: Albert Raasch (Molfsee) führte
unter dem Titel „,plurilinguisme‘ – ,plurilinguismes‘ ,Mehrsprachigkeit‘,... ??? ...‘“
die Komplexität des Phänomens Mehrsprachigkeit deutlich vor Augen, während
Claudia Riemer (Bielefeld) neue Antworten auf die Frage gab: „Warum Deutsch
(noch) gelernt wird – Motivationsforschung und Deutsch als Fremdsprache“ (bei-
de Vorträge sind bereits an anderem Ort erschienen); die Diskussion um „Berufs-
bezogene Curricula in DaF-Angeboten im In- und Ausland“ moderierte Roman
Luckscheiter (DAAD).
Neben der intensiven Arbeit wurden im Rahmen der Tagung einige weitere
wichtige und schöne Akzente gesetzt: Die Grußworte zur Eröffnung der Tagung
sprachen Matthias Jung vom FaDaF, Gisela Schneider vom DAAD und Thorsten
Roelcke von der Pädagogischen Hochschule Freiburg; für eine stimmungsvolle Um-
rahmung sorgte Sarah Wisser am Flügel mit dem „Lied ohne Worte“ von Mendels-
sohn-Bartholdy und einem Prelude von George Gershwin. Katja Schnitzer (Frei-
burg) und Yvonne Decker (Freiburg) hielten am Tag vor der Tagung mit großem
Erfolg einen „Crashkurs Deutsch als Zweitsprache“ als Fortbildung für Lehrer/in-
nen an Grund- und Hauptschulen ab. Außerdem fand am Vorabend der Jahresta-
gung wieder ein eigenes Treffen des wissenschaftlichen DaF-/DaZ-Nachwuchses
statt, dessen Organisation Katja Schnitzer, Yvonne Decker und Dirk Betzel (Freiburg)
übernahmen. Hinzu kamen Ausstellerpräsentationen, die von Annegret Middeke und
Monika Herold (Göttingen) koordiniert wurden und das reiche Ausstellungsangebot
6 Natalia Hahn & Thorsten Roelcke
Mehrsprachigkeit in Grenzregionen
Sektionsbericht
Mit einer ganz anderen Grenze befasste sich der Beitrag von Ellen Tichy (Szeged,
Ungarn), nämlich mit der Situation der ungarndeutschen Minderheit, speziell mit
der Unterstützung der deutschen Sprache durch die audiovisuellen und die Print-
medien. In welchem Ausmaß und auf welche Weise tragen die Medien dazu bei,
die Deutschkenntnisse der Minderheit zu tradieren? Berichtet wurde auch von
Ergebnissen einer Umfrage bei jungen Ungarndeutschen über die Wahrnehmung
und Nutzung dieser Medienangebote.
In ganz andere Regionen und weit über die Grenzen des Schwerpunktthemas
hinaus führte der Ausblick, den Dieter Strauss (München) mit seiner Lesung aus
seinem Buch „Diesseits von Goethe – deutsche Kulturbotschafter im Aus- und In-
land“ vermittelte. An Beispielen wie dem Projekt zur Aufarbeitung der schreck-
lichen Geschehnisse in der Salpeterstadt in der Atacama-Wüste zur Zeit Pinochets
und der berühmten abenteuerlichen Expedition des Barons von Langsdorff durch
den brasilianischen Urwald wird deutlich, wie eng Sprach- mit Kulturarbeit ver-
bunden ist und wo die Berührungspunkte zwischen Kulturarbeit und Entwick-
lungspolitik sichtbar werden.
Minderheitenmedien und kulturelle Identität
– Präsenz und Bedeutung ungarndeutscher
Medien
1 Einleitung
Die Ungarndeutschen sind neben den Roma und weiteren zehn anerkannten Min-
derheiten eine der größten Volksgruppen in Ungarn. In der wechselvollen Ge-
schichte des Landes standen Minderheiten nicht immer unter dem Schutz der je-
weiligen Regierung. Freiwillige wie erzwungene Assimilationsprozesse und die
Angst vor Repressalien haben letztendlich dazu geführt, dass der Verlust der
Sprachkompetenz Deutsch für viele Ungarndeutsche die Folge waren.
Seit der Nachwendezeit stehen Minderheiten in Ungarn unter dem besonderen
Schutz ungarischer wie auch europäischer Minderheitenschutzgesetze. Eines davon
ist das Minderheitenmediengesetz, das nicht nur der Minderheit der Ungarn-
deutschen Printmedien, Hörfunk- und Fernsehprogramme zusichert und damit
dazu beiträgt, die deutsche Minderheit bei der Wiedergewinnung und Behauptung
ihrer kulturellen Identität zu unterstützen.
2 Minderheiten in Ungarn
Nach dem ungarischen Minderheitengesetz von 1993 gelten als anerkannte Min-
derheiten:
14 Ellen Tichy
Alle seit mindestens einem Jahrhundert auf dem Territorium der Re-
publik Ungarn siedelnden Volksgruppen, die in der Bevölkerung des
Staates in der zahlenmäßigen Minderheit sind, deren Angehörige von
den ungarischen Staatsbürgern und dem anderen Teil der Bevölkerung
durch ihre eigene Sprache und Kultur, durch ihre Traditionen unter-
schieden werden, die zugleich auch von einem Zusammengehörig-
keitsbewusstsein Zeugnis ablegen, das auf die Bewahrung all dieser,
auf den Ausdruck und den Schutz der Interessen ihrer historisch ent-
standenen Gemeinschaften gerichtet ist. 1
Zu diesen unter dem besonderen Schutz des Minderheitengesetzes stehenden Min-
derheiten zählen die in Ungarn lebenden Roma, Ungarndeutsche, Kroaten, Slowa-
ken, Rumänen, Serben, Slowenen, Ukrainer, Polen, Griechen, Bulgaren, Ruthenen
und Armenier. Der Anteil der Minderheiten an der Gesamtbevölkerung Ungarns
macht ca. 10% aus, wobei die Volksgruppe der Roma mit Abstand die größte Min-
derheit mit einer Zahl von geschätzten 600.000 Angehörigen ist. Der Anteil der
Ungarndeutschen wird auf ca. 220.000 geschätzt.
93LXXVIIkistv.htm) (30.09.2010).
Minderheitenmedien und kulturelle Identität 15
erheblich zurück. Nur ein Bruchteil der in Ungarn verbliebenen Deutschen hatte
den Mut sich zur deutschen Nationalität oder Muttersprache zu bekennen.
Die großen Einbrüche für die ungarndeutsche Identität waren die kol-
lektive Verschuldung und die Vertreibung der Ungarndeutschen nach
dem 2. Weltkrieg. Die Heimatverbliebenen wurden enteignet und der-
artig gedemütigt und eingeschüchtert, dass sie in den ersten Jahrzehn-
ten nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr gewagt haben, laut zu sagen „Ja,
ich bin ein Deutscher“. Dafür hat man in den Dörfern zwei Ohrfeigen
bekommen können. [...] Viele Ungarndeutsche ließen ihre Namen
magyarisieren, damit der Familienname der Kinder in der Schule und
später im Leben nicht verrät „ja, das ist ein Schwabe, eine Schwäbin“.
Ein bedeutender Teil der hiesigen Deutschen hat auf diesen Druck so
reagiert, dass man die Sprache und den Namen aufgab, damit ihre
Kinder deswegen keine Nachteile in diesem Land haben. Die deutsche
Sprache blieb nur in sehr wenigen Familien Verkehrssprache. 2
Die folgenden Ergebnisse der Volkszählungen von 1941 bis 2001 belegen deutlich,
dass nicht die tatsächliche Zahl der Ungarndeutschen erfasst wurde, sondern das
öffentliche Bekenntnis zur deutschen Nationalität und Muttersprache (s. Tab. 1).
2 Habel, Johann (2010): Das Lenau-Haus in Pécs. In: Tichy, Ellen (Hrsg.) (2010), 32.
3 Statistisches Zentralamt Unganrs (www.ksh.hu) (16.07.2010).
16 Ellen Tichy
lag als die mit deutscher Nationalität, ist dies 2001 proportional umge-
kehrt. Dieses Ergebnis erklärt sich einerseits daraus, dass Deutsch als
Muttersprache kein absolutes Kriterium mehr für die Zugehörigkeit
zum Deutschtum darstellt, andererseits ist es wahrscheinlich auch ein
Zeichen der abnehmenden Deutschkompetenz. (Kappel; Németh
2010: 38)
Die Angst vor Diskriminierung und der Assimilationsprozess haben im Laufe der
Geschichte letztendlich dazu geführt, dass ein entscheidender Eckpfeiler der
ungarndeutschen Identität, die deutsche Sprache von immer weniger Ungarn-
deutschen beherrscht wurde.
Empirische Studien (vgl. z.B. Knipf-Komlósi 2004) unterscheiden die folgen-
den vier Generationen der deutschen Sprachkompetenz: Die „Dialektgeneration“,
die sogenannte „Stumme Generation“, die „Passiv – zweisprachige Generation“
und die „Deutsch als Fremdsprache – Generation“.
Die Vorkriegsgeneration (vor 1930 geboren) wird als Dialektgeneration be-
zeichnet. Sie beherrscht als Erstsprache den deutschen Dialekt und lernt/spricht
Ungarisch als Zweitsprache in der Schule und am Arbeitsplatz.
Unter der „Stummen Generation“ wird die Kriegsgeneration (geboren zwi-
schen 1930 und 1945) verstanden, die primär noch deutschsprachig sozialisiert ist.
Der ungarndeutsche Dialekt wird jedoch zunehmend verdrängt. In allen sekundä-
ren Lebensbereichen setzt sich Ungarisch als dominante Sprache durch.
Die Nachkriegsgeneration (geboren zwischen 1946 und 1960) wird als „Passiv-
zweisprachige Generation bezeichnet. Durch die Großelterngeneration entwickelt
sich noch eine überwiegend rezeptive Dialektkompetenz und auf der anderen Seite
nehmen gute Standarddeutschkenntnisse zu.
Die „Deutsch als Fremdsprache – Generation“ (geboren nach 1960) ist primär
und sekundär ungarisch sozialisiert; sporadisch existiert noch eine rezeptive Dia-
lektkompetenz; gute Standarddeutschkenntnisse nehmen weiterhin zu.
Für die Mehrheit der sich zur ungarndeutschen Volksgruppe Bekennenden
fehlt heute die Sprachkompetenz Deutsch als ein wesentlicher Identitätsfaktor. Die
„Deutsch als Fremdsprache – Generation“ unter den Ungarndeutschen kann sich
lediglich mit den Großeltern, aber nicht mit den Eltern auf Deutsch verständigen.
Sogenannte Nationalitätenschulen (zweisprachige Schulen) sind eine wichtige So-
zialisationsinstanz für die Vermittlung ungarndeutscher Traditionen, Geschichte
und Kultur. Heute kommt es vor allem darauf an, eben dieser jungen Generation
ein Bewusstsein ihrer kulturellen Wurzeln zu vermitteln.
Der ungarische Staat unterstützt die deutsche und alle anderen Minderheiten
des Landes durch ein weitreichendes Minderheiten- und Minderheitenmedien-
gesetz und war einer der ersten Staaten, die die „Europäische Charta der Regional-
oder Minderheitensprachen“ ratifizierte.
Minderheitenmedien und kulturelle Identität 17
5 Die Sendezeiten von „Unser Bildschirm“ liegen um die Mittagszeit bzw. am Vormittag (Wiederho-
lung) und sind für Berufstätige sowie SchülerInnen und StudentInnen nur online zu verfolgen.
Minderheitenmedien und kulturelle Identität 19
Die Zielsetzung der Neuen Zeitung wird von der Redaktion wie folgt formuliert:
Die seit 1957 bestehende Neue Zeitung:
• wirkt etwa wie ein öffentlich-rechtliches Wochenblatt der Ungarn-
deutschen,
• dient der Kommunikation der deutschen Volksgruppe untereinan-
der,
• versteht sich als Forum für die Selbstverwaltungen, Vereine, andere
Organisationen sowie alle Angehörigen der deutschen Minderheit
in Ungarn,
• setzt sich für die Pflege und Weiterentwicklung von Sprache und
Kultur der Ungarndeutschen ein,
• vermittelt Werte der deutschsprachigen Kultur und europäische
Werte,
• fördert durch umfassende Berichterstattung die vielfältigen Ver-
bindungen zwischen Ungarn und Deutschland,
• ist parteipolitisch neutral,
• veröffentlicht unterschiedliche Meinungen, soweit sie nicht gegen
die Verfassung und einschlägige Gesetze verstoßen. 6
Die Neue Zeitung versucht, ähnlich wie „Unser Bildschirm“ neben älteren Ziel-
gruppen auch Kinder und Jugendliche zu erreichen. Vier von 16 Seiten wenden
sich mit dem Titel „Nzjunior“ gezielt an ungarndeutsche Grundschüler. Spieleri-
sche Übungen zum Deutschlernen, Geschichten, Märchen und Wettbewerbe sol-
len motivieren, sich der ungarndeutschen Identität wieder zuzuwenden. Auch die
Gemeinschaft Junger Ungarndeutscher (GJU) hat ihre feste Seite in der Zeitung.
Trotz Anerkennung der Bemühungen, die junge Generation der Ungarn-
deutschen mit ihren kulturellen Wurzeln vertraut zu machen, gibt es auch Kritik an
der Gestaltung bzw. dem Layout. In einer Umfrage unter jungen Ungarndeutschen
zur Nutzung ungarndeutscher Medien heiß es an verschiedenen Stellen „etwas
aufpeppen“ und mehr Kreativität würden (nicht nur) den Printmedien gut tun (vgl.
Tichy 2010: 203).
5 Ausblick
Die hier skizzierten Minderheitenmedien leisten einen wichtigen Beitrag zur
Wiedergewinnung und kulturellen Behauptung der Identität der Ungarndeutschen.
Sie informieren über kulturelle und kulturpolitische Aktivitäten ungarndeutscher
Organisationen, Vereine und Selbstverwaltungen; sie dienen als Kommunika-
tionsmittel der Ungarndeutschen untereinander. Sie vermitteln Traditionen und
geschichtliches Wissen und ermutigen zu früher Zweisprachigkeit schon im Kin-
dergarten und zum Besuch zweisprachiger Schulen und tragen so zur Stärkung des
ungarndeutschen Bewusstseins bei. Die Gewinnung junger Ungarndeutscher, der
sogenannten „Deutsch als Fremdsprache – Generation“ ist dabei ein besonderes
Anliegen der Medien. Untersuchungen haben gezeigt, dass junge Leute traditionel-
le Medien wahrnehmen und schätzen, aber auch, dass sie ihre eigenen Wege über
die neuen Medien, wie z.B. soziale Netzwerke suchen und dort in interaktiven
Foren ihre eigenen Clubs und Vereine pflegen. Auch das Pausenradio (Funkforum)
ist ein ansprechendes Format, bei dem Jugendliche sich aktiv und interaktiv in
selbstgestaltete Programme einbringen können.
24 Ellen Tichy
Literatur
Ancsin, Nóra; Süle, Nóra; Varsányi, Anna (2010): „Herzlich willkommen liebe
Zuschauer…“ Eine Programmanalyse der Sendungen von „Unser Bildschirm“.
In: Tichy (Hrsg.) (2010), 169-184.
Bausinger, Hermann (1995): Identität im deutschsprachigen Kultur- und
Medienraum. In: Ders. u.a. (Hrsg.): Identität im deutschsprachigen Kultur- und
Medienraum. Allmende Nr. 44. Eggingen: Edition Isele, 10-28.
Bellem, Saskia (2008): Identitätsstiftung durch Minderheitenmedien. Das Medienverhalten der
Namibia-Deutschen. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller.
Erdei, Krisztián (2010): MR4 – „Wir sprechen Ihre Sprache“. In: Tichy (Hrsg.)
(2010), 99-109.
Földes, Csaba (1993): Zur Identität der deutschen Minderheit in Ungarn. In: Ertelt,
Vieth (Hrsg.): Sprache, Kultur, Identität: Selbst- und Fremdwahrnehmungen in Ost- und
Westeuropa. Europäische Hochschulschriften, Reihe 21, Linguistik.
Frankfurt/M.: Peter Lang, 67-81.
Gerner, Eva (2008): Die Ungarndeutschen im Fernsehen. In: MTV: Kisebbségi
Tükör. 30 éves a magyar kisebbségi televíziózás. O. O.: Magyar Televízió Zrt. Kiadó,
18-21.
Gerner, Eva (2010): Unser Bildschirm – das Programm des Ungarischen
Fernsehens für die Ungarndeutschen. In: Tichy (Hrsg.) (2010), 94-98.
Kappel, Péter; Németh, Atilla (2010): Sprache und Sprachgebrauch der
Ungarndeutschen. In: Tichy (Hrsg.) (2010), 35-57.
Kappel, Péter; Tichy, Ellen (2010): Minderheiten und Minderheitenmedien in
Ungarn. In: Tichy (Hrsg.) (2010), 14-26.
Knipf-Komlósi, Elisabeth (2004): Die Sprachbewusstheit im Assimilationsprozess
der deutschen Minderheit in Ungarn. In: Kriegleder, Wynfrid; Seidler, Andrea
(Hrsg.): Deutsche Sprache und Kultur, Literatur und Presse in Westungarn/Burgenland.
Bremen: Ed. Lumiére (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 94), 25-43.
Molnár, Timea; Surinás, Olga; Tomasovski, Beáta (2010): „Gemeinsam
voneinander profitieren“ – Möglichkeiten des Web 2.0 für ungarndeutsche
Jugendliche. In: Tichy (Hrsg.) (2010), 150-168.
Statistisches Zentralamt Ungarns (Hrsg.) (2002): Népszámlálás 2001. 4. Nemzetiségi
kötődés. A nemzeti, etnikai kisebbségek adatai [Volkszählung 2001. Band 4. Daten über
die nationalen und ethnischen Minderheiten]. Budapest: Központi Statisztikai Hivatal.
Minderheitenmedien und kulturelle Identität 25
Internetquellen
Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen: Straßburg/Strasbourg,
5.XI.1992. (http://conventions.coe.int/treaty/ger/Treaties/Html/148.htm)
(01.09.2010).
Funkforum: http://www.funkforum.net/index.php?page=ARCHIV/ (26.09.2010).
Außenministerium Ungarns (Hrsg.) (2000): Nationale und ethnische Minderheiten in
Ungarn. Fakten über Ungarn 3/2000. Budapest.
(http://www.mfa.gov.hu/NR/rdonlyres/92701E81-C320-417A-A686-
38BC98DBF6 8F/0/ etninem.pdf) (28.05.2010).
Regierungsbericht: Regierung der Republik Ungarn (2009): Beszámoló a Magyar
Köztársaság területén élő nemzeti és etnikai kisebbségek.
Satzung des Funkforum: http://www.funkforum.net/downloads/satzung.pdf/
(26.09.2010).
Nachbarsprache Tschechisch – eine kurze
Zusammenfassung des aktuellen Stands der
Entwicklung
der Realschulen, aber auch aller anderen Schularten und der Erwachsenenbildung.
Diese Publikation wird im Frühjahr 2011 verfügbar sein.
50
17 20
13
7 Anzahl der Schulen
1
0
600 517
470
500
400 350
300 220
200
Anzahl der Schüler
100 40
0
2 Fortbildungen
Während im offiziellen Katalog der staatlichen Fortbildungen Tschechisch als
Sprachmittlung nicht zu finden ist (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unter-
richt und Kultus 2010), werden auf dem nichtschulischen Markt eine ganze Reihe
von Weiterbildungen angeboten. Diese bewegen sich von universitären Zusatz-
studien, wie dem Bohemicum in Regensburg und Passau über Volkshochschul-
kurse bis zu Veranstaltungen der tschechischen Didaktik des GMF und des VWSL.
Das Angebot ist sehr vielfältig, die Anbieter sehr engagiert, die Qualität jedoch oft
sehr unterschiedlich. So ist für den Abnehmer nicht immer sofort erkenntlich,
welche Zielgruppe angesprochen wird. Da eine zentrale Erfassung und Informa-
tionsbank noch fehlt, werden Zielpersonen oft nicht informiert, was zur Folge hat,
dass viele Veranstaltungen von einem kleinen, in der Zusammensetzung relativ
konstanten Kreis besucht werden.
3 Weitere Aktivitäten
Eine kurze ausgewählte Zusammenstellung von Institutionen, die die Förderung
der Nachbarsprache aktiv unterstützen, finden Sie hier:
30 Thomas Hochleitner
5 Folgerungen
Der Trend zum durchgehenden bzw. längerfristigen Sprachenlernen der Nachbar-
sprache ist eindeutig erkennbar. Daraus ergeben sich mehrere Folgerungen:
• Der Anteil der Sprachschüler in Tschechisch ist vergleichsweise gering,
dadurch ergibt sich jedoch ein beträchtliches Wachstumspotential.
• Eine qualitative Standardisierung des Unterrichtsangebotes unter Beach-
tung des europäischen Referenzrahmens ist notwendig.
• Die Zertifizierung des Wissensstands muss im Sinne einer Vergleichbar-
keit und Motivationsbewahrung offiziell durchgeführt werden.
• Das Angebot einer Zertifizierung muss beschäftigungsfördernd ange-
wandt werden.
• Eine Qualitätsoffensive mit der Herausstellung des beruflichen Allein-
stellungsmerkmals Nachbarsprachenkompetenz sollte angebahnt werden.
Literatur
Antosova, Jarmila; Clauß, Antje; Jäger, Dagmar; Pazderova, Petra; Tiserova, Pavla
(2005): Tresky plesky, uc se cesky! Cestina pro gymnazia. 2 Bände. Sächsisches
Staatsministerium für Kultus (Hrsg.). Radebeul.
Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Akademie für
Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen (Hrsg.) (2010):
Lehrerfortbildung in Bayern. Dillingen an der Donau.
Dankbar, Joachim (2007): Tschechisch wird zum Wunschfach. Frankenpost (Hrsg.).
(http://www.rswun.de/leben/tschechisch3.htm) (25.03.2010).
Euregio Egrensis (Hrsg.) (2008): Voraussetzungen für die Einführung von Tschechisch-
Unterricht an Bayerischen Schulen. Sprachoffensive Euregio Egrensis. Marktredwitz:
Euregio Egrensis. (http://www.euregio-
egrensis.de/sprachoffensive/faltblatt_schulen.pdf) (25.03.2010).
32 Thomas Hochleitner
1 Einführung
Die Stadt Görlitz – eine Stadt, die im Dreiländereck Deutschland, Polen, Tsche-
chien liegt – bietet die Möglichkeit für einen natürlichen, realitätsnahen Sprach-
erwerb.
In vielen Kindertageseinrichtungen auf der deutschen Seite werden Polnisch
oder Tschechisch als Zweitsprache angeboten. Da es später möglich ist, das Er-
lernen der polnischen Sprache in den Grundschulen, Gymnasien, Berufsfach-
schulen und der Hochschule fortzusetzen, ist es wichtig, die Kinder von Anfang an
für die polnische Sprache zu begeistern. Hier ist die Rolle der künftigen Erzieher
sehr bedeutsam, aber man kann auch die Rolle der Polnischdozentin nicht außer
Acht lassen, denn nur eine für Polnisch begeisterte Sprachvermittlerin kann den
Kindern die Freude des Sprachenlernens beibringen.
Auf Grund meiner Beobachtungen als Dozentin für DaF/DaZ und Polnisch
als Fremdsprache gehe ich im Folgenden auf die aktuelle Lage beim Polnischlernen
ein.
Die Frage ist, wie man Erzieher auf ihre künftige Tätigkeit im Grenzgebiet ge-
zielt darauf vorbereiten kann, Polnisch in den Kindertagesstätten zu vermitteln und
dabei die Chancen der Grenznähe für einen realitätsnahen Erwerb der Sprache zu
nutzen. Ich werde dabei meine Erfahrungen vom August 2008 bis April 2009 aus
dem Polnischunterricht für die Erzieher einfließen lassen. Die Gespräche der ers-
34 Emilia Szal-Samsel
3.2 Gruppenbeschreibung
Befragt wurden zwei Anfängerklassen und zwei Klassen für etwas fortgeschrit-
tenere Lernende. Das Alter der Lernenden lag zwischen 19 und 48. Dieser Alters-
unterschied erklärt sich dadurch, dass um diesen Ausbildungsplatz sich außer den
Realschulabsolventen auch andere Personen, gefördert von der Arbeitsagentur,
bewerben können.
4.1.a. Lektüre
Als Einstieg in das Kennenlernen der polnischen Mentalität sollten die Lernenden
das Buch „Viva Polonia“ von Steffen Möller (Möller 2008) in Deutsch lesen. Die
Reaktionen nach der Lektüre zeigten, dass es ein wichtiger Schritt im interkulturel-
len Verständnis war. Steffen Möller gibt auf eine humorvolle Art und Weise einen
alltagstauglichen Einblick in die polnische Kultur, Traditionen und Mentalität. Dies
geschieht in kurzen Kapiteln, wie zum Beispiel, Aberglaube, Demokratie, Gast-
freundschaft, Individualismus, Katholische Kirche, Kommunikation, Kulinari-
sches, Sprache, Polenwitze bis zur Topliste der polnischen Urlaubsziele. Durch die
Vergleiche mit den Deutschen ist es einfacher, den Nachbarn zu verstehen, aber
man kann auch Ähnlichkeiten entdecken.
4.2 Wortschatzpräsentationen
Als eine der Aktivitäten schlug ich Wortschatzpräsentationen vor, d.h., hier berei-
ten die Lerner selbst den kindergartenrelevanten Themenwortschatz auf Polnisch
vor. Sie sollen den anderen Teilnehmern den Wortschatz beibringen. Die Anwei-
sungen sind einfach, finden aber auf Polnisch statt. Nach der Präsentation wird
zusammen besprochen, was die Referenten gemacht haben, wie sie es gemacht
haben, welche Alternativen es noch geben könnte, welche Spiele noch eventuell
passen könnten. Die aktive Mitgestaltung und die metakognitive Reflexion des
Lernprozesses machte den Schülern am meisten Spaß, weil sie sich von ihrer krea-
tiven Seite zeigen konnten (z.B. beim Thema Musikinstrumente brachten sie In-
strumente mit, beim Thema Kleidung Kindersachen, und die Lernenden mussten
einer Puppe das anziehen, was sie auf Polnisch vorgesagt haben, etc.). Dieses Vor-
gehen stärkt natürlich die Lernerautonomie, weil sie sich selbst für das Thema, die
Wörter und die Art und Weise, wie sie sie präsentieren, entscheiden können. Diese
praktische Aufgabe dient auch dazu, dass, falls sich einige Teilnehmer für ein Aus-
landspraktikum im grenznahen polnischsprachigen Raum entscheiden sollten, sie
schon nützliche Wörter, Redewendungen bzw. Anweisungen schon gelernt hätten.
38 Emilia Szal-Samsel
6 Fazit
Der Lehrende muss im Grenzgebiet das meiste Lehrmaterial für Polnisch selbst
entwickeln. Ich habe an einer Schule 79 Personen befragt und in Görlitz gibt es
noch eine Berufsfachschule, die Polnisch für Erzieher anbietet. Nach der Recher-
che stellte ich fest, dass an der deutsch-polnischen Grenze noch mehr Erzieher
oder künftige Erzieher am Materialmangel leiden. Daher erscheint die Entwicklung
von speziellem Unterrichtsmaterial für Polnisch als sinnvoll, was auch meine inter-
ne Umfrage bestätigt hat. Ich habe gefragt, ob die Lernenden eine Erarbeitung von
solchem speziellen Material relevant finden. Die meisten (vgl. Abb. 2) waren dafür.
6% 3%
ja
ich weiß nicht
nein
91%
Abb. 2: Die Relevanz der Entstehung eines Polnischlehrwerks für die Erzieher.
Grenzen als Chancen für die Mehrsprachigkeit 39
In den Grenzregionen ist der Bildungssektor von Bedeutung. Dabei spielt früher
Spracherwerb eine große Rolle und wenn die Lehrenden ein entsprechendes Mate-
rial zur Verfügung haben, steigt deren Motivation bei der Vermittlung der polni-
schen Sprache, die zwar nicht zu den modernen Fremdsprachen gehört, aber durch
die Grenznähe ein großes Potential für den Lernerfolg haben kann.
Literatur
Dzialoszynski, Magdalena; Ruranski, Joanna; Tscharntke, Marta (2006): Wir spielen
Polnisch. Euro-Schulen gemeinnützige Gesellschaft für berufliche Bildung und
Beschäftigung Sachsen mbH (Hrsg.). Görlitz; Zittau.
Hunstiger, Agnieszka; Maskala, Maria (2009): Razem. Stuttgart: Ernst Klett
Sprachen.
Malolepsza, Malgorzata; Szymkiewicz, Aneta (2006): Hurra!!! Po polsku 1. Krakow:
PROLOG. Szkola Jezykow Obcych.
Malota, Danuta (2005): Witam! Der Polnischkurs. Ismaning: Max Hueber Verlag.
Möller, Steffen (2008): Viva Polonia. Frankfurt/M.: Fischer.
Raasch, Albert (2004): Fremdsprachendidaktik in Grenzregionen. Merkmale einer
Fremdsprachendidaktik als Nachbarsprachendidaktik. In: Schwarz, Ulrike
(Hrsg.): Nachbarsprachenlernen. Von der modernen Fremdsprachendidaktik zu ihren
spezifischen Ausprägungen in Grenzregionen, 6-12.
Schröder, Konrad (2007): Fremdsprachenerwerb, Fremdsprachenunterricht und
Grenzkompetenz im Europa der Regionen. In: Schwarz, Ulrike (Hrsg.):
Grenzkompetenz. Eine Qualifikation für Europa, 103-106.
Bilingualer Fremdsprachenunterricht:
utopisch oder machbar?
2 Bilingualer Fremdsprachenunterricht
Die Auseinandersetzung mit der zweisprachigen Erziehung und dem frühen
Fremdsprachenlernen lässt ein weiteres innovatives Modell des bilingualen Lehrens
und Lernens denkbar erscheinen: den bilingualen Fremdsprachenunterricht.
Es geht dabei um einen frühen bilingualen simultanen Erwerb von zwei
Fremdsprachen im Kontext eines institutionellen Fremdsprachenunterrichts. Im
Unterschied zu anderen bestehenden bilingualen Unterrichtsformen wird die
Fremdsprache dabei nicht zum Vermittlungsmedium für die sachfachlichen Inhal-
te. Zwei Fremdsprachen treten parallel als Objekt des Lernens auf und werden
gleichzeitig zum Unterrichtsgegenstand. Das Sprachenlernen steht im Mittelpunkt.
Das Wort bilingual wird hier dementsprechend anders gedeutet und weist auf die
Kombination von zwei Fremdsprachen (L2.1 + L2.2) im Unterricht hin, und nicht
auf die Kombination von einer Erstsprache und einer Fremdsprache (L1 + L2).
Die Idee entstammt der Realität. Denn in der Wirklichkeit setzen wir uns be-
reits mit ähnlichen Situationen auseinander. Denken wir an die zahlreichen Kinder
mit Migrationshintergrund in Deutschland, die sich neben Deutsch als Zweit-
sprache eine Fremdsprache in der Schule aneignen müssen. Oder ziehen wir als
Beispiel Länder heran, in denen Kinder mit drei Sprachen aufwachsen, wie etwa in
Indien. Nicht zuletzt sind auch Eltern zu nennen, die ihre Kinder eine weitere
Fremdsprache lernen lassen würden, dies jedoch aus zeitlichen bzw. finanziellen
Gründen oft nicht können (vgl. z.B. ein kostenpflichtiges Fremdsprachenangebot
für Kinder in Ländern, in denen das Fremdsprachenlernen noch nicht zum Stan-
dardprogramm der Kitas gehört). Vielleicht könnte man von diesen Erfahrungen
lernen und die Erkenntnisse auf einen simultanen Erwerb von zwei Fremd-
sprachen in einem institutionellen Kontext übertragen? Hiermit würde ein Beitrag
zur Sprachenpolitik der Europäischen Union geleistet, deren Zielsetzung es ist,
dass alle europäischen Bürger neben ihrer Muttersprache mindestens zwei Fremd-
sprachen beherrschen. Das Gleiche könnte für die deutsche Sprachenpolitik gelten.
Bekannterweise ist Deutsch nicht die meistgelernte Fremdsprache in der Welt. Bei
der Wahl für nur eine Fremdsprache wird sich meist für Englisch entschieden.
Eine Alternative zu „Englisch statt Deutsch“ oder „Deutsch nach Englisch“ könn-
te evtl. „Deutsch mit Englisch“ sein.
Zu den Zielen des bilingualen Fremdsprachenunterrichts zählen neben der
Öffnung für mehrere Fremdsprachen, der Sensibilisierung für Sprachenlernen und
der Sprachaufmerksamkeit vor allem auch der Erwerb sprachlicher Kompetenzen
in zwei Fremdsprachen. Zwei Fremdsprachen werden systematisch und koordi-
niert im Unterricht vermittelt.
Würde das überhaupt funktionieren? Käme es nicht zu Sprachmischungen und
Interferenzen, die sich eher negativ auf das Fremdsprachenlernen auswirken? Das
wären sicherlich die ersten aufkeimenden Fragen.
Blicken wir kurz in die jüngere Vergangenheit, als zwei Fremdsprachen an
Schulen nie an einem Tag unterrichtet wurden. Boeckmann erinnert bei der Be-
44 Natalia Hahn
schreibung der Organisation mehrsprachiger Gehirne daran, dass lange Zeit die
Theorie herrschte, „dass es eine kompositionelle (ein Speicher für alle Sprachen)
und eine koordinierte Art der Speicherung (mehrere getrennte Speicher) gebe“
(2008: 8). Man glaubte also, eine koordinierte, „ungemischte“ Mehrsprachigkeit
könnte nur dann entstehen, wenn verschiedene Sprachen möglichst getrennt dar-
geboten werden. Dabei betont Boeckmann (2008: 8):
Aus heutiger Sicht ist die Auffassung, Mehrsprachigkeit gehe grund-
sätzlich mit einer besonderen Organisation des Gehirns einher, nicht
aufrechtzuerhalten […]. Statt negativ bewerteter Interferenzen zwi-
schen den Sprachen sind die lernfördernden Möglichkeiten des Wis-
senstransfers von einer Sprache in die andere in den Blick geraten. Das
legt nahe, mehrere Sprachen koordiniert gemeinsam zu lernen, wie es
die Mehrsprachigkeitsdidaktik vorschlägt.
Zwei Fremdsprachen werden simultan nach der L1 erworben. Es gibt daher keinen
Unterschied zwischen L2 und L3. Die Zielsprachen stehen auf einer Ebene und
können als L2.1 und L2.2 bezeichnet werden. Man kann vermuten, dass nicht nur
die Erstsprache das Lernen von L2.1 und L2.2 beeinflusst, sondern auch L2.1 und
L2.2 sich gegenseitig beeinflussen.
Aus dem Multilingual Processing-Modell lässt sich ableiten, dass sich die in unse-
rem Fall involvierten Fremdsprachen selbst aktivieren könnten. Die aufgerufenen
Elemente in der L2.1 aktivieren andere Elemente in der L2.2. Unter Umständen
kann das Aktivierungsniveau beider Fremdsprachen gleichmäßig erhöht werden.
Das Modell des bilingualen Fremdsprachenunterrichts lässt sich vielleicht am bes-
ten mit „kommunizierenden Gefäßen“ vergleichen. Eine homogene Flüssigkeit
steht wie bekannt in solchen Gefäßen gleich hoch. Einem richtig dosierten sprach-
lichen Input im Unterricht und der durchdachten Korrelation zwischen den Inhal-
ten in L2.1 und L2.2 angenommen, könnte man spekulieren, dass in beiden
Fremdsprachen ein relativ ähnliches Niveau erreicht werden kann.
Dem Mehrsprachenverarbeitungsmodell und der Didaktik EuroComDidakt kann der
Ansatz entnommen werden, dass verwandte Sprachen bestimmte Muster für die
Sprachhypothesen in neuen Sprachen zur Verfügung stellen. Es erscheint sinnvoll,
den bilingualen Fremdsprachenunterricht zunächst an verwandten L1, L2.1 und
L2.2 Sprachen auszuprobieren. Dabei entsteht die Frage, ob ausschließlich bekann-
te Sprachen solche Muster liefern können. Theoretisch könnte man auch mit ge-
meinsamen Elementen in den Zielsprachen ohne Bezug auf eine bekannte Sprache
arbeiten.
Dem Dynamischen Modell des Multilingualismus (DMM) mit seinen sechs Haupt-
merkmalen der sprachlichen Entwicklung (der Nicht-Linearität, Reversibilität, Sta-
bilität, Interdependenz, Komplexität und der Qualitätsänderung) folgend kann
46 Natalia Hahn
man annehmen, dass die Entwicklung von zwei fremdsprachlichen Systemen L2.1
und L2.2 so gelenkt werden kann, dass sie ähnliche Eigenschaften aufweisen.
Das Faktorenmodell bietet vor allem interessante methodische Konsequenzen
für den Unterricht und methodisch-didaktische Prinzipien des Unterrichtens einer
Tertiärsprache. Obwohl sich die Tertiärsprachendidaktik auf eine andere Zielgrup-
pe fokussiert, wären gesammelte Erfahrungen des Unterrichtens des Deutschen
nach dem Englischen und vor allem gewonnene Erkenntnisse an Ökonomisie-
rungsprozessen für die Ausarbeitung der vorliegenden Konzeption sehr nützlich.
Welche Ansätze könnten Erklärungen für die aufgestellte Hypothese liefern?
Es ist anzunehmen, dass das diskutierte Konzept auf lingualem Transfer zwi-
schen beiden Fremdsprachen basiert. Ob dieser Transfer jedoch auf verwandte
Sprachen begrenzt ist, wäre noch festzustellen. Reich (2009: 21) nimmt an, dass
sich zwischen den Sprachen Korrelationen entwickeln können, die den Sprach-
erwerb beeinflussen. Solche Beziehungen werden in „horizontale“ und „vertikale“
unterteilt. „Horizontale“ Beziehungen zeigen sich darin, dass Elemente aus einer
Sprache in die andere übernommen werden, wobei sprachlich gemischte Sätze
entstehen. Eine tiefere Beeinflussung auf den Spracherwerb weisen die „vertika-
len“ Beziehungen auf:
Eine tiefere Beeinflussung des Erwerbsprozesses liegt vor, wo die eine
Sprache gewissermaßen Vorarbeit für den Spracherwerb der anderen
leistet, also eine „vertikale“ Beziehung statthat. Man muss sich dies so
vorstellen, dass Erfahrungen beim Erwerb der einen Sprache die
Sprachverarbeitungsfähigkeit empfänglicher machen für Eigenschaften
der anderen Sprache, die in der einen Sprache schon verarbeitet wer-
den können, und die Sprachproduktionsfähigkeit dazu anstiften, Aus-
drucksmöglichkeiten, die in der einen Sprache schon bereitliegen, auch
in der anderen Sprache zu versuchen. (Reich 2009: 22)
Bezogen auf den bilingualen Fremdsprachenunterricht kann man die Hypothese
aufstellen, dass zwischen den beiden Fremdsprachen L2.1 und L2.2 Verknüp-
fungen entstehen. Wenn diese Verbindungen „vertikal“ aufgebaut werden, bedeu-
tet der bilinguale Fremdsprachenunterricht zweifellos einen Gewinn. Ein lingualer
Transfer von einer Fremdsprache L2.1 zur anderen L2.2 ökonomisiert das Mehr-
sprachenlernen und vernetzt das Sprachwissen, indem die Erfahrungen und
Kenntnisse in einer Fremdsprache den Erwerb der anderen wechselseitig vorberei-
ten und erleichtern. Die Nutzung von gleichzeitig entstehenden Lernprozessen
und Kenntnissen in zwei Fremdsprachen steht dabei im Vordergrund. Der Unter-
richt wird zweisprachig gehalten, indem zwei Fremdsprachen interagieren und
dadurch verzahnt werden. Die Koordination des Lernens und die präzise curricula-
re Abstimmung zwischen den Inhalten in L2.1 und L2.2 sind dabei von besonderer
Bedeutung.
Es empfiehlt sich ausdrücklich, ausgewählte Thesen der Tertiärsprachen-
didaktik (Hufeisen; Neuner 2003) und die der EuroComDidakt zu berücksichtigen.
Bilingualer Fremdsprachenunterricht: utopisch oder machbar? 47
So könnte man vielleicht das Konzept „Die sieben Siebe“ (Klein; Stegmann 2000,
Hufeisen; Marx 2007) anwenden, indem man die Richtung verändert. Gemeinsame
Elemente (z.B. internationaler Wortschatz, pangermanischer Wortschatz, Laut-
entsprechungen, Kernsatztypen) in den noch unbekannten Zielsprachen L2.1/L2.2
könnten evtl. ohne direkten Bezug auf eine bekannte Sprache L1 die Basis beim
simultanen Sprachenlernen im Anfangsstadium bilden. Auch dadurch würden sich
zwischensprachliche Korrelationen aufbauen und Lernprozesse ökonomisieren
lassen.
das Bestreben der Eltern, ihre Kinder vielseitig zu fördern und sie mehrere Fremd-
sprachen aneignen zu lassen.
Meine Überlegungen zum dargestellten experimentalen Projekt habe ich tabel-
larisch skizziert (s. Tab. 2).
Intensität/Dauer Mind. 2-3 mal die Woche, mind. 1-2 Jahre lang
Das Konzept ist, wenn nicht utopisch, dann nicht unumstritten. Die Möglichkeiten
und Grenzen eines bilingualen Fremdsprachenunterrichts müssen noch erforscht,
präzisiert und in der Praxis erprobt werden. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik und
-methodik wird dabei aus der Perspektive der gleichzeitigen Vermittlung von zwei
Fremdsprachen im bilingualen Fremdsprachenunterricht beleuchtet.
Auf jeden Fall verdient diese Hypothese m.E. eine Chance zur Überprüfung
als eines der möglichen weiteren Zukunftskonzepte zur institutionellen Förderung
der Mehrsprachigkeit und des frühen Fremdsprachenlernens.
Literatur
Boeckmann, Klaus-Börge (2008): Der Mensch als Sprachwesen – das Gehirn als
Sprachorgan. In: Fremdsprache Deutsch 38, 5-11.
Breitung, Horst; Kirsch, Dieter (Hrsg.) (1996): Nürnberger Empfehlungen zum frühen
Fremdsprachenlernen. Wie man einen Weg zu einer Didaktik und Methodik frühen
Fremdsprachenlernens finden kann. München: Dürr & Kessler.
Chighini, Patricia; Kirsch, Dieter (2009): Deutsch im Primarbereich. Fernstudieneinheit
25. Berlin u.a.: Langenscheidt.
Hufeisen, Britta; Neuner, Gerhard (Hrsg.) (2003): Mehrsprachigkeitskonzept –
Tertiärsprachen – Deutsch nach Englisch. Graz: European Centre for Modern
Languages, Council of Europe.
Hufeisen, Britta; Marx, Nicole (Hrsg.) (2007): EuroComGerm – Die sieben Siebe:
Germanische Sprachen lesen lernen. Aachen: Shaker.
Kielhöfer, Berndt; Jonekeit, Sylvie (1998): Zweisprachige Kindererziehung. 10. Aufl.
Tübingen: Stauffenburg-Verlag.
Klein, Horts; Stegmann, Tilbert (2000): EuroComRom – Die sieben Siebe: Romanische
Sprachen sofort lesen können. Aachen: Shaker.
52 Natalia Hahn
1 Einleitung
Innerhalb der deutschsprachigen Wortschatzdidaktik lässt sich seit anderthalb Jahr-
zehnten ein bemerkenswertes Phänomen feststellen: In seltener Einigkeit hat sich
die Überzeugung breitgemacht, dass Wortschatzkenntnisse einen zentralen Be-
standteil fremdsprachlicher Kompetenz bilden und daher größere Aufmerksamkeit
erfahren sollten. In der Folge ist ein regelrechter Boom zu verzeichnen – an For-
schungsarbeiten zum Vokabellernen ebenso wie an entsprechenden Lehr- und
Lernmaterialien. Über die betreffende Teilkompetenz selbst herrscht jedoch bered-
tes Schweigen. So vielstimmig die Diskussion über Methoden und Techniken aus-
fällt, so wenig ist über das Ziel von Wortschatzarbeit zu vernehmen. Während
manche Kompetenzbereiche des Fremdsprachenunterrichts geradezu paradigmati-
sche Bedeutung erlangt zu haben scheinen (wie interkulturelle Kompetenz oder
Schreibkompetenz), spielt die Kernkompetenz „Wortschatz“ im deutschsprachigen
Raum bisher nur eine verschwindend geringe Rolle. Um es auf eine einprägsame
Zahl zu bringen: es gibt zu „Wortschatzkompetenz“ bzw. „lexikalischer Kompe-
tenz“ genau drei eigenständige Publikationen auf Deutsch: Karin Aguados weg-
60 Tobias Bargmann
weisender Aufsatz von 2004, Werner Kiewegs Basisartikel aus dem Fremdsprach-
lichen Unterricht (2002) und eine finnische Magisterarbeit (Kontio 2009). 1
ist höchst fraglich, inwieweit die Speicherung einzelner Einheiten mit deren An-
wendbarkeit einhergeht, zumal sich Köster und Huneke/Steinig diesbezüglich gar
nicht äußern. Ob beispielsweise die von Christiane Neveling konzipierten Wörter-
netze sich nicht nur als „behaltensdienlich“ und „speicherwirksam“ (Neveling
2004: 345, 348), sondern auch als funktional erweisen, ist empirisch ungeklärt und
sollte dringend erforscht werden. 3
Auch die Zielformulierung bei Bohn, die von Martin Löschmann (1993: 29)
stammt, kann nicht recht überzeugen:
Ziel der Wortschatzarbeit ist die Aneignung eines Wortschatzes, der
– je nach Absicht und Situation verfügbar ist,
– sicher und schnell abrufbar ist,
– variabel und korrekt angewandt werden kann.
Dabei äußert sich die Qualität des Wortschatzes, über den man ver-
fügt, vor allem in seiner Anwendbarkeit, d.h. er soll
– dem Ziel und dem Gegenstand der Darstellung angemessen
sein,
– vom Partner verstanden werden,
– sowohl in der Rezeption – dem Verstehen – wie auch in der
Produktion auf neue Kommunikationssituationen anwendbar
sein.
Löschmann weist zwar auf einige wichtige Aspekte hin – funktionale Orientierung,
Qualität, Anwendbarkeit, Transfer – bleibt dabei aber so unspezifisch, dass im
Grunde jede sprachliche Äußerung gemeint sein könnte. Man ersetze „Wort-
schatzarbeit“ durch „Fremdsprachenunterricht“ und „Wortschatz“ durch „Fremd-
sprache“.
Im Bereich der Wortschatzdidaktik – und dies gilt nicht nur für Deutsch als
Fremdsprache – ist die seit der Jahrtausendwende aufgekommene Kompetenz-
orientierung bisher auffallend wirkungslos geblieben. Es scheint, als hätten die
Erkenntnisse aus Psycholinguistik und Neurobiologie (Stichwort: Mentales Lexi-
kon und neuronale Netze) regelrecht zur Renaissance eines materialistischen Wis-
sensmodells beigetragen – bei dem es darum geht, wie Wörter in den Kopf gelan-
gen, „gespeichert“, „verankert“ oder „vernetzt“ werden, aber nicht, was man da-
nach mit ihnen anstellen kann. So selbstverständlich von dem Ziel der „Vokabel-
beherrschung“ die Rede ist, so wenig wird bisher klar, was darunter zu verstehen
wäre. Bildlich ausgedrückt: der stetig wachsende Berg an methodischen Vorschlä-
gen steht auf einem Fundament, dessen Belastbarkeit weitgehend ungesichert ist. 4
Mein Beitrag widmet sich daher der fundamentalen Frage innerhalb der Wort-
schatzdidaktik: Was soll eigentlich beim Vokabellernen erreicht werden? Wie kann
die dabei zu erwerbende Kompetenz beschrieben werden, die ich mit Karin Agua-
do (2004) „Wortschatzkompetenz“ nennen möchte? 5
Eine erschöpfende Beantwortung dieser Fragen kann und will dieser Beitrag al-
lerdings nicht leisten, vielmehr ist er als eine Einführung in das Problemfeld ge-
dacht. Als Ausgangspunkt dient hierfür bewusst ein praxisrelevantes Beispiel: der
wohl einflussreichste und zugleich einzige bildungspolitische Text, der sich zu
Wortschatzkompetenz systematisch äußert. Wie ich zeigen werde, vermittelt der
„Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen“ (2009) eine allzu vage
Konzeption dieser Teilkompetenz, die sich sprachwissenschaftlich und didaktisch
als wenig angemessen erweist (Kap. 2.1). Mit dem Einstieg in die angelsächsisch
geprägte Debatte möchte ich anschließend einige wesentliche Beschreibungs-
größen synthetisieren (Kap. 2.2). Anhand des Modells von Paul Nation (2001)
versuche ich schließlich, meine Forderung nach einem erweiterten Wortschatz-
kompetenz-Modell zu erhärten (Kap. 2.3). Meine Hauptthese lautet dabei: Die
bisherigen wissensbasierten Modelle sind in ihrer Terminologie, summarischen
Konzeption, Formorientierung und Begrenzung nur bedingt geeignet, die notwen-
dige Kompetenzorientierung des Fremdsprachenunterrichts weiter zu fundieren.
Die daran anschließende Frage der Evaluation soll zum Schluss in einem kleinen
Ausblick problematisiert werden (Kap. 3).
5 Bedingt durch verschiedene Fachperspektiven und Traditionen finden sich in der Diskussion auch
begriffliche Alternativen, die sich in ihrer Konzeption jedoch erheblich unterscheiden können
(Stichwort: Wissens- vs. Kompetenzorientierung), z.B. lexical competence/lexikalische Kompetenz oder
vocabulary knowledge/Wortschatzwissen. Im fachdidaktischen Kontext halte ich Aguados Begriff für
den eingängigeren, eindeutigeren und anschaulicheren, verglichen mit den Alternativen.
6 Grammatische (5.2.1.2), semantische (5.2.1.3), phonologische (5.2.1.4), orthographische (5.2.1.5)
und orthoepische Kompetenz (5.2.1.6).
Was bedeutet eigentlich „Vokabeln beherrschen“? 63
kalische Kompetenz] umfasst die Kenntnis des Vokabulars einer Sprache, das aus
lexikalischen und aus grammatischen Elementen besteht, sowie die Fähigkeit, es zu
verwenden.“ 7 Zur Erhellung der Problematik trägt diese Definition wenig bei.
Außer der trivialen Gegenüberstellung von Kenntnis und Verwendung und von
Inhalts- und Funktionswörtern enthält sie nichts. Zwar werden anschließend noch
„feste Wendungen“ und „Einzelwörter“ als lexikalische Elemente unterschieden –
ein wenig Licht ins Kompetenzdunkel bringen aber erst die beiden Skalen, mit
denen die Kompetenzniveaus beschrieben werden. Der Anschaulichkeit halber
klassifiziere ich die ausformulierten Beschreibungen wie folgt (s. Tab. 1).
Niveaustufen
A1 A2 B1 B2 C1 C2
7 Die Aufschlüsselung der „lexikalischen Elemente“ in „feste Wendungen“ und „Einzelwörter“ ist
mit Blick auf die Erkenntnisse der Phraseologie- und Kollokationsforschung zu begrüßen. Huneke;
Steinig (2010: 170) dagegen hatten lediglich von „Wörtern“ gesprochen, Köster (2001: 888) hat im-
merhin „Wort, Wortgruppe, idiomatische Wendung“ als „lexikalische Einheiten“ unterschieden.
64 Tobias Bargmann
Dem GER bleibt nicht viel mehr übrig, als sich auf eine formale Beschreibung 8
des „Vokabulars“ zu konzentrieren: die verschiedenen Wortschatzelemente – In-
halts- vs. Funktionswörter, nach Umfang und Grad unterschiedene feste Wendun-
gen –, die Größe des Wortschatzes und die Abdeckung bestimmter Themenberei-
che. Was unter Korrektheit und Angemessenheit in der „Wortschatzbeherr-
schung“ zu verstehen wäre, bleibt ungeklärt. Immerhin werden mit Variations- und
Umschreibungsfähigkeit zwei metakognitive Prozesse angedeutet.
Niveaustufen
A1 A2 B1 B2 C1 C2
1) Operator ? be- gute verwendet ? ?
herrscht Beherr- genau
schung
8Der GER konstatiert in Kap. 5.2.1.3 selbst: „Linguistische Kompetenz wird hier in einem formalen
Sinn behandelt.“
66 Tobias Bargmann
9 Die wichtigsten davon sind (in chronologischer Reihenfolge): Nation (1990, 2001), Chapelle (1994,
1998), Meara (1996), Schmitt; McCarthy (1997), Read (2000, 2004), Laufer (2004), Quian; Schedl
(2004), Henriksen (1999), Zareva (2005), Daller et al. (2007) und Milton (2007, 2009).
10 Schmitt; McCarthy (1997: 4) belassen es bei einem kurzen Hinweis auf Richards (1976) und Nation
(1990). Read (2000: 25-37) referiert Richard, Chapelle und Nation. Milton (2009: 13-17) zitiert Nation
Was bedeutet eigentlich „Vokabeln beherrschen“? 67
Dies mag auch daran liegen, dass sich der Forschungsschwerpunkt auf die Mes-
sung einzelner Dimensionen verlagert hat, über die ein Minimalkonsens besteht.
Anschaulich beschrieben werden sie in Dallers et al. (2007: 7-9) Bild vom lexikali-
schen Raum (lexical space): Auf dessen erster Achse erstreckt sich die lexikalische
Breite (breadth) – man könnte auch sagen: Quantität –, definiert als Anzahl der
Wörter, die ein Lerner kennt, unabhängig davon wie gut er das tut. Auf der zweiten
ist die so genannte lexikalische Tiefe (depth) 11 – man könnte auch sagen: Qualität –
aufgetragen: das Wissen, über das ein Lerner hinsichtlich der Wörter verfügt.
Wie Read (2004) nachgewiesen hat, lassen sich auf dieser Achse drei Ansätze
unterscheiden: manche sehen in einer bestimmten Wissenskomponente das entschei-
dende Qualitätskriterium, nämlich der Präzision der Bedeutung; andere in der Ge-
samtheit des Wissens und wieder andere in der Organisation des Wissens im Mentalen
Lexikon. Die dritte Achse umfasst die flüssige Beherrschung (fluency): wie einfach
(readily) und automatisch der Lerner die Wörter, die er kennt, gebrauchen kann und
welche Informationen er über ihren Gebrauch besitzt.
Aus verschiedenen Gründen halte ich das Konzept des lexikalischen Raums als
Modell in dieser Form für problematisch: erstens ist es fraglich, ob die Dimensio-
nen tatsächlich voneinander zu trennen sind. Stichwort hierfür ist die auch im Re-
ferenzrahmen anklingende Vorstellung vom ‚Reichtum‘ eines Wortschatzes (lexical
richness), der sich aus quantitativen und qualitativen Aspekten speist. 12 Zweitens
bieten die Dimensionen lediglich eine ungefähre Orientierung, aber keine spezifi-
schen Beschreibungsgrößen. Drittens erscheint mir die Aufteilung der Achsen in
die Wissensdimension Tiefe und Breite und die Anwendungsdimension Beherrschung
zu verkürzt: auch Qualität und Quantität erweisen sich erst in der Anwendung als
Wissenskomponenten, d.h. wenn eine lexikalische Einheit in einem Kontext ver-
wendet wird.
Ich möchte daher einen Schritt weiter gehen als Daller et al. (2007: 8), die
schreiben: „wir haben noch immer kein einheitliches Modell gefunden, das die
Basis für einen umfassenden Test lexikalischer Tiefe liefert.“ Ich meine: wir haben
auch für die anderen Dimensionen kein solches. Meine Forderung nach einer nöti-
gen Weiterentwicklung der vorhandenen Ansätze möchte ich anhand von Nations
Modell (2001) demonstrieren, das über die am weitesten ausdifferenzierten Be-
schreibungsgrößen verfügt, in Dallers Raum-Konzept zitiert wird und als durch-
gängiger Bezugspunkt der einschlägigen Publikationen gelten kann.
(2001) und verweist auf Daller et al. (2007), deren Achsenschema – wie ich darzulegen versuche – nur
einen geringen Modellcharakter besitzt.
11 Vgl. zur Begriffsgeschichte Read (2004: 210).
12 Vgl. Laufer; Nation (1995) und Read (2000: 200-205).
68 Tobias Bargmann
Tab. 3: Nations Schema von vocabulary knowledge and use („What is involved in knowing a
word? “) für das Beispiel RAUSCHEND.
13 Vgl. zu diesem Punkt die systematische Kritik von Read; Chapelle (2001: 1-4).
70 Tobias Bargmann
fordern. Daher würde ich den Begriff „Kontext“ bevorzugen. Die Unterscheidung
Rezeption vs. Produktion, die Nation mit Levelts Modell des Sprachprozesses
(1989) begründet und als Kontinuum verstanden wissen will, erscheint mir hin-
gegen angemessen, auch wenn sie bei Nation nicht systematisch definiert wird. 14
Von einzelnen Beschreibungsgrößen möchte ich nun den Blick auf die Gren-
zen des Rasters lenken. Das Modell von Chapelle bildet hierfür einen guten Kont-
rast, da es in gewisser Hinsicht einen Gegenentwurf zu Nation darstellt. Während
sich Nation auf „Wortschatzwissen und -anwendung“ (vocabulary knowledge and use)
beschränkt und einen strukturalistischer Ansatz wählt, verfolgt Chapelle das Ziel
„Wortschatzfähigkeit“ (vocabulary ability) in einer pragmatisch-interaktionistischen
Lesart. Dies ist nicht nur ein gradueller Unterschied: Neben der Komponente
„Wortschatzwissen und -zugriff“, die in etwa Nations Kategorien entsprechen,
möchte Chapelle nämlich auch noch zwei weitere Komponenten berücksichtigt
wissen, die den Gebrauch ins Zentrum stellen: den außersprachlichen „Kontext“,
in dem Wortschatz angewendet wird, und die „Metakognitiven Strategien“, die
dabei eingesetzt werden. Insbesondere letztere erscheinen mir wichtig. Wie
Chapelle (1994: 167) darlegt, ist der Fremdsprachenlerner in besonderer Weise auf
den Strategieeinsatz angewiesen, will er sein kommunikatives Ziel trotz des stark
limitierten Vokabulars erreichen. Beim Muttersprachler selten oder gar nicht vor-
kommende Strategien gehören daher zum Standardinstrumentarium des Fremd-
sprachenlerners: Umschreibungen (circumlocution/paraphrase: „das, womit man sich
die Haare trocknet“ – statt: „Fön“), Wechsel der Sprache (language switch: „kannst
Du mir die scissors geben?“), Ansprache an den Gegenüber (appeal to authority: „wie
sagt man…?“) oder sogar Themenwechsel (change of topic) und Vermeidung be-
stimmter Bedeutungszusammenhänge (semantic avoidance). 15 Metakognitive Strate-
gien sollten daher dringend in die Modellierung aufgenommen werden.
Ein solcher Schritt würde nicht weniger bedeuten als die Erweiterung der bis-
her wissensorientierten Modelle zu kompetenzorientierten – ein Paradigmen-
wandel, den ich aus verschiedenen Gründen für nötig halte. Neben der Strategie-
gebundenheit bei fremdsprachlichen Lernern nenne ich als zweiten Grund die
Gradualität des Wissens: Die Formulierung absoluter Wissenszustände wie bei
Nation – der Lerner weiß oder weiß nicht – trägt der Prozesshaftigkeit des Wort-
schatzerwerbs zu wenig Rechnung. Ich plädiere daher für eine synchrone und dia-
chrone Abstufung. Das heißt: Verschiedene Beschreibungsgrößen können zu ei-
nem Zeitpunkt verschieden stark erfüllt sein und werden kumulativ erworben. So
kann ein Lerner eine lexikalische Einheit erfahrungsgemäß erst der Form nach
erkennen und segmentieren, bevor er sie auch in anderen Formen und Kontexten
selbst produziert. Entsprechende Stufungskriterien wären zu entwickeln.
14 Aguados (2004: 239) überzeugender Forderung nach einer Unterscheidung von Wiedererkennen
(„recognition“) vs. Abruf („recall“) und Verstehen („comprehension“) vs. Verwendung („use“) trägt
Nations Raster genügend Rechnung. Zur systematischen Unterscheidung von Rezeption und Pro-
duktion vgl. Melka (1997).
15 Vgl. Blum-Kulka; Levenston (1983: 126).
Was bedeutet eigentlich „Vokabeln beherrschen“? 71
Der dritte Grund folgt ganz unmittelbar daraus: Die einzelnen Beschreibungs-
größen sind nicht nur graduell unterschiedlich, sondern auch funktional. Der
summarische Ansatz von Nation, der alle Größen als gleich bedeutend sieht, sollte
daher durch einen hierarchischen ersetzt werden. Einzelne Größen erweisen sich
nämlich – je nach Entwicklungsstadium des Lerners oder abhängig von der lexika-
lischen Einheit – als mehr oder weniger wichtig: Während im Anfangsstadium die
Form im Vordergrund stehen dürfte, gewinnen in späteren Phasen die Bedeutung
und Kontextbezogenheit an Gewicht.
Abb. 1: Die Vocabulary knowledge scale von Paribakht; Wesche (1997: 180) am Beispiel
GLÜCKLICH (mit möglichen Antworten eines englischsprachigen Lerners).
Hauptsächlich wird hier eine Selbsteinschätzung des Lerners gemessen, die durch
Angabe eines Synonyms oder einer Übersetzung verifiziert wird. Wie problema-
tisch selbst diese sein kann, lässt sich an den möglichen Lernerantworten ersehen.
Der produktive Teil auf Stufe V ist derart beliebig, dass die Antworten keine Aus-
sagekraft haben dürften. Die Forderung nach semantischer Angemessenheit und
grammatischer Korrektheit könnte zu Minimalsätzen führen, die wenig mit der
Anwendung in komplexen Situationen gemein haben. Der Wortschatzwissenstest
ist meiner Meinung nach also eher ein ‚Ich-kenne-ein-Wort‘-Test.
Beim Depth of Vocabulary Knowledge (DVK)-Test von Quian; Shedl (2004) wird
von vorneherein nur die Rezeption gemessen. Hierbei gilt es, zu einem Wort die
korrekten Synonyme (siehe linke Spalte) und Kollokationen (rechts) auszuwählen
(s. Abb. 2).
Powerful
(A) potent; (B) definite; (C) influential; (E) position; (F) engine; (G) repetition;
(D) supportive (H) price
Abb. 2: Der Depth of Vocabulary Knowledge (DVK)-Test von Quian; Shedl (2004: 138).
Inwieweit der Lerner dabei auf bereits vorhandenes Wissen zurückgreift (statt ad-
hoc zu interpretieren) und dieses tatsächlich anwenden kann, ist nicht zu ermitteln.
Der letzte Test hingegen reklamiert für sich, die produktive Komponente zu
evaluieren: Der Productive Vocabulary Levels Test von Laufer; Nation (1999), auch
wenn beide nur von „kontrollierter Produktivität“ (1999: 37) sprechen. Bei dieser
Abwandelung des Cloze-Tests gilt es, mit Hilfe von zwei bis vier Anfangsbuchsta-
ben und dem Satzkontext das fehlende Wort in der Lücke zu ergänzen (s. Abb. 3).
Abb. 3: Der Productive Vocabulary Levels Test von Laufer; Nation (1999: 37).
Aguados (2004: 241) Kritik, es handele sich eher um eine „besondere Variante der
rezeptiven Evaluation“, ist daher vollkommen zutreffend, auch wenn positiv zu
bemerken ist, dass diese Evaluation immerhin kontextualisiert stattfindet.
Die drei Test-Beispiele mögen einen Eindruck vermittelt haben, wie weit Kon-
zeptwunsch und Evaluationswirklichkeit bei der Wortschatzkompetenz leider noch
immer auseinanderliegen. Ob sich die Hoffnung erfüllt, einmal mehrere Kompo-
nenten produktiv und in größeren Kontexten messen zu können, hängt auch da-
von ab, ob die Modellbildung zu genaueren Beschreibungen der Größen und Pro-
zesse beim Wortschatzgebrauch kommt. Modellierung und Evaluation sind inso-
fern zwei Seiten einer Medaille, um die Kompetenzorientierung auch in der Wort-
schatzdidaktik ankommen zu lassen.
Was bedeutet eigentlich „Vokabeln beherrschen“? 73
Literatur
Aguado, Karin (2004): Evaluation fremdsprachlicher Wortschatzkompetenz.
Funktionen, Prinzipien, Charakteristika, Desiderate. In: Fremdsprachen Lehren
und Lernen 33, 231-250.
Bachman, Lyle F. (1990): Fundamental Considerations in Language Testing. Oxford:
Oxford University Press.
Blum-Kulka, Shoshana; Levenston, E. A. (1983): Universals of Lexical
Simplification. In: Faerch, Claus; Kasper, Gabriele (Hrsg.): Strategies in
Interlanguage Communication. London: Longman, 119-139.
Bohn, Rainer (2003): Probleme der Wortschatzarbeit [1999]. 2. Aufl., Berlin u.a.:
Langenscheidt.
Carter, Ronald (1998): Vocabulary: Applied Linguistic Perspectives [1987]. 2. Aufl.,
London u.a.: Routledge.
Chapelle, Carol (1994): Are C-tests Valid Measures for L2 Vocabulary Research?
In: Second Language Research 10, 157-187.
Chapelle, Carol (1998): Construct Definition and Validity Inquiry in SLA Research.
In: Bachman, Lyle F.; Cohen, A. D. (Hrsg.): Second Language Acquisition and
Language Testing Interfaces. Cambridge: Cambridge University Press, 32-70.
Daller, Helmut; Milton, James; Treffers-Daller, Jeanine (2007): Modelling and
Assessing Vocabulary Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press.
Europarat; Rat für Kulturelle Zusammenarbeit; Goethe Institut (Hrsg.) (2009):
Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen
[2001]. 8. Aufl. Berlin u.a.: Langenscheidt.
Handwerker, Brigitte (2004): Die Wortschatz-Grammatik-Schnittstelle aus der
Sprachlernperspektive. Zur Entwicklung lexikalisch-grammatischer
Kompetenz am Beispiel der Klassenbildung beim Verb. In: Fremdsprachen
Lehren und Lernen 33, 176-191.
Henriksen, Birgit (1999): Three Dimensions of Vocabulary Development. In:
Studies in Second Language Acquisition 21, 303-317.
Huneke, Hans-Werner; Steinig, Wolfgang (2010): Deutsch als Fremdsprache. Eine
Einführung. 5., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin: Erich Schmidt.
Kieweg, Werner (2002): Die lexikalische Kompetenz zwischen Wunschdenken und
Realität. In: Der fremdsprachliche Unterricht – Englisch 36/55, 4-10.
Kontio, Janette (2009): Bereiche der lexikalischen Kompetenz in Wortschatzübungen anhand
der Lehrbuchserien ‚In Touch‘ und ‚Genau‘. Jyväskylä/Finnland, Univ.,
Magisterarbeit (https://jyx.jyu.fi/dspace/handle /123456789/22343).
74 Tobias Bargmann
Read, John (2004): Plumbing the depths: How should the construct of vocabulary
knowledge be defined? In: Bogaards, Paul; Laufer, Batia (Hrsg.): Vocabulary in a
Second Language: Selection, Acquisition and Testing. Amsterdam: Benjamins, 209-
227.
Read, John; Chapelle, Carol A. (2001): A framework for second language
vocabulary assessment. In: Language Testing 18, 1-32.
Richards, Jack C. (1976): The Role of Vocabulary Teaching. In: TESOL Quarterly
10, 77-89.
Rieder, Angelika: Beiläufiger Vokabelerwerb. Theoretische Modelle und empirische
Untersuchungen. Tübingen, Univ., Diss. (http://tobias-lib.uni-
tuebingen.de/dbt/volltexte/2002/646/pdf/Beil_Vokabelerwerb.pdf).
Schmitt, Norbert; McCarthy, Michael (1997): Vocabulary. Description, Acquisition and
Pedagogy. Cambridge: Cambridge University Press.
Siepmann, Dirk (2005): Sammelrezension zu Stork (2003) und Neveling (2004). In:
Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 16, 119-132.
Siepmann, Dirk (2007): Wortschatz und Grammatik. Zusammenbringen, was
zusammengehört. In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 46, 59-80.
Stork, Antje (2003): Vokabellernen. Eine Untersuchung zur Effizienz von
Vokabellernstrategien. Tübingen: Narr.
Zareva, Alla (2005): Models of Lexical Knowledge Assessment of Second
Language Learners of English at Higher Levels of Language Proficiency. In:
System 33, 547-562.
Orate vs. literate Strukturen im Schriftspracherwerb
1 Einleitung
Schriftsprachkompetenz ist eine entscheidende Teilnahmevoraussetzung für viele
gesellschaftliche Kontexte. Sie entscheidet maßgeblich über den Erfolg und Miss-
erfolg von Schülern während ihrer Schullaufbahn und über einen erfolgreichen
Übergang in den Beruf. Viele Untersuchungen zum deutschen Bildungssystem
zeigen nun, dass Schüler mit Migrationshintergrund im Vergleich zu ihren Mit-
schülern mit ähnlichen sozio-ökonomischen Hintergründen häufiger die Haupt-
schule besuchen und sogar die Schule häufiger ohne Schulabschluss beenden (vgl.
u.a. Weishaupt et al. 2010: 9). Daraus ergibt sich die Frage, ob und inwiefern das
Scheitern der Schüler mit deren Schriftsprachkompetenz zusammenhängt. Schrift-
sprache wird dabei als Loslösung von Strukturen, die typisch für die gesprochene
Sprache sind (orate Strukturen), verstanden. Um festzustellen, in welchen Berei-
chen es den Schülern gelingt, sich von oraten Strukturen zu lösen und schrift-
sprachliche (literate) Strukturen zu verwenden, ist ein systematischer Vergleich von
gesprochener und geschriebener Sprache erforderlich.
Eine geeignete Grundlage für den beabsichtigten Vergleich bieten die Konzep-
te orat und literat nach Maas (2008, 2010). Um die strukturellen Unterschiede zwi-
schen gesprochener und geschriebener Sprache erfassen zu können, werden sie
daher im vorliegenden Beitrag zunächst erläutert. Anschließend soll die Vor-
gehensweise des systematischen Vergleichs anhand von Texten einer Schülerin mit
Migrationshintergrund in Bezug auf zwei Analysekriterien (Form der Referenten
und Form der Konnektiva) veranschaulicht werden. Eine bessere Einordnung der
Ergebnisse der Schülerin soll abschließend durch einen Vergleich ihrer Texte mit
78 Anja Boneß
Texten eines Mitschülers und Texten aus dem Deutschbuch der Schüler ermög-
licht werden.
1 Grundsätzlich berücksichtigt Maas (2010: 10) drei Dimensionen, die die Unterschiede der sprach-
lichen Praxis beschreiben: das Medium (mündlich vs. schriftlich), die Funktion der Äußerung (kom-
munikativ vs. darstellend) und die Struktur der Äußerung (fragmentiert vs. satzförmig). Im vorliegen-
den Beitrag wird ausschließlich auf strukturelle Unterschiede eingegangen.
2 Nach Chafe ergeben sich die Einheiten der gesprochenen Sprache aus prosodischen Kriterien. Er
spricht dabei von Intonationseinheiten, die von den syntaktischen Einheiten der geschriebenen Spra-
che (Sätze) abzugrenzen sind.
Orate vs. literate Strukturen im Schriftspracherwerb 79
In der gesprochenen Version werden die Referenten zunächst durch eine Links-
Herausstellung eingeführt (1); die Information zu den Referenten wird anschlie-
ßend durch eine neue prosodische Einheit vermittelt (2). Demgegenüber werden
die beiden Informationen bei der Verschriftlichung der beiden Äußerungen in eine
syntaktisch vollständige Einheit integriert (3).
Literate Strukturen sind eng mit dem Konzept des Sprachausbaus verknüpft, da
erweiterte (literate) Strukturen nur im Zusammenhang mit dem Erwerb der
Schriftsprache entwickelt werden können. Literate Strukturen ermöglichen da-
durch dem Sprecher, Strukturen zu verwenden, die unabhängig vom Kontext der
jeweiligen Situation sind; sie ermöglichen die Loslösung von ihrem Entstehungs-
kontext. Maas (2008: 331) weist jedoch darauf hin, dass literate Strukturen aus
bereits verfügbaren kommunikativen Strukturen abgeleitet werden müssen, was er
mit dem Vorgang des Bootens gleichsetzt. Komplexere (literate) Strukturen werden
dementsprechend von einfacheren kommunikativen Strukturen aus gebootet. Dies
bedeutet jedoch auch, dass literate Strukturen erworben werden müssen, was un-
umgänglich mit dem Erwerb der Schriftsprache verbunden ist. Dadurch fällt die
Vermittlung literater Strukturen zwangsläufig in den Aufgabenbereich der Schule.
Basierend auf dem Prinzip des Sprachausbaus, für den literate Strukturen not-
wendig sind, wird die Kategorie literat als skalar verstanden. Im Wesentlichen be-
zieht sich die Skalarität dieser Strukturen auf den Grad der Komplexität. Die unter-
schiedlichen Ausbauformen, die im folgenden Abschnitt näher erläutert werden,
repräsentieren verschiedene Komplexitätsstufen. 4
3 Durch die direkte Gegenüberstellung der gesprochenen und geschriebenen Version eines Textes
wird deutlich, wie die Strukturen der gesprochenen Sprache in geschriebene Sprache umgesetzt wer-
den. Dabei können die strukturellen Unterschiede leicht identifiziert werden.
4 Diese Komplexitätssufen spiegeln wider, in welchem Ausmaß das Symbolfeld der Sprache hinzu-
geschaltet wird. Dies ist zurückzuführen auf Bühler (1934), der Sprache als Symbolfeld versteht, das
die Darstellung von bestimmten Inhalten ermöglicht, die mit rein kommunikativen Mitteln nicht
80 Anja Boneß
erreicht werden könnte. Maas (2008: 700) ordnet schriftsprachliche Strukturen dem Symbolfeld zu.
Sie erweitern die Option des Symbolfelds.
5 Die Komplexität von Sätzen spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Gegenüberstellung
von oraten und literaten Strukturen. Während orate Strukturen fragmentierte Äußerungen darstellen,
ermöglichen literate Strukturen die Integration von mehreren Informationen in eine syntaktische
Struktur (vgl. Chafe 1982 und Beispiel 1 in Abschnitt 2). In diesem Beitrag soll jedoch der Fokus auf
den Referenten und den Konnektiva liegen. Boneß (im Erscheinen) umfasst die Analyse aller drei
Bereiche.
6 Lambrecht (1994) unterscheidet zwischen unterschiedlichen Informationsstatus von Referenten, die
die Wahl der linguistischen Form bestimmen, anhand derer der Bezug zu den Referenten hergestellt
wird.
Orate vs. literate Strukturen im Schriftspracherwerb 81
Des Weiteren gelten die Demonstrativpronomen 7 der, die, das als orate Mittel der
Referenzherstellung. Sie unterscheiden sich rein strukturell zwar nicht von Perso-
nalpronomen der dritten Person, werden aber anders als diese nicht in schrift-
sprachlicher Kommunikation verwendet. Personalpronomen der dritten Person
werden laut Skala als einfache literate Strukturen aufgefasst, wozu außerdem Inde-
finitpronomen und NPs mit vollem lexikalischem Substantiv als Kopf zählen. Sie
sind weniger abhängig vom Kontext als die Pronomen der ersten und zweiten
Person, stellen jedoch strukturell einfache Formen dar (s. Abb. 1).
Ist eine NP durch eine Präpositionalphrase, ein Genitivattribut oder ein attributi-
ves Adjektiv erweitert, steigt die strukturelle Komplexität der NP und die Identifi-
zierbarkeit ist gleichzeitig weniger abhängig vom Kontext, so dass diese NP-For-
men literatere Varianten als einfache lexikalische NPs darstellen. Zudem kann eine
NP durch einen Relativsatz erweitert werden oder einen Komplementsatz nach
sich fordern, wodurch die strukturelle Komplexität der NP erneut gesteigert wird
und somit diese Formen als erweitert literat aufzufassen sind. Eine NP, die durch
mehrere strukturell unterschiedliche Modifizierer erweitert ist, bildet die höchste
Stufe in der orat-literat Skala für Referenten.
7 In diesem Zusammenhang bezieht sich die Wortart Demonstrativpronomen ausschließlich auf die
Formen, die die Funktion eines Pronomens übernehmen; die Funktion des Determinierers ist nicht
damit gemeint.
8 Die Abkürzung NP bezieht sich innerhalb dieser Graphik ausschließlich auf NPs mit vollem lexika-
lischem Substantiv als Kopf.
82 Anja Boneß
Miller; Weinert (1998: 142) zeigen, dass zunehmend komplexe NPs äußerst selten
in spontan gesprochener Sprache vorkommen, so dass die hier beschriebene orat-
literat Skala für Referenten auch die Ergebnisse dieser Studien widerspiegelt. Biber
(1988: 104) weist darauf hin, dass jegliche Form von Attributen zusätzliche Infor-
mationen in eine Struktur integriert und somit hohes Informationspotenzial bereit-
hält. Strukturelle Integration von Informationen (im Gegensatz zur Fragmentie-
rung) wurde bereits in Abschnitt 2 als Merkmal geschriebener Sprache vorgestellt,
so dass auch dieser Aspekt verdeutlicht, dass erweiterte NPs typisch für literate
Strukturen sind.
4.1 Datenmaterial
Zur Veranschaulichung der Vorgehensweise sollen hier zwei Texte einer Schülerin
mit Migrationshintergrund analysiert werden. Der mündliche Text ist ein Interview
mit der Schülerin, in dem es hauptsächlich um ihr Freizeitverhalten, ihre Zu-
kunftspläne und ihr familiäres Umfeld geht. Der schriftliche Text ist eine Deutsch-
klassenarbeit, in der eine interpretative Aufgabe zu einem Kapitel eines Jugend-
romans zu bearbeiten ist. 9 Die Schülerin (im Folgenden mit dem Kürzel HKA
9 Das Interview ist im Zusammenhang mit dem Projekt Schriftspracherwerb in der Organisation Schule unter
den Bedingungen von Migration und Mehrsprachigkeit entstanden, in dessen Kontext auch der Zugang zur
Klassenarbeit ermöglicht worden ist. Das Projekt ist ein interdisziplinäres Kooperationsprojekt der
Universität Osnabrück (IMIS), der Bilgi Universität Istanbul (Centre of Migration Studies) und der
Universität Potsdam (SVM, Zentrum für Sprache, Variation und Migration). Es wird von der
Volkswagen Stiftung im Rahmen der Studiengruppen zu Migration und Integration von 2007 bis 2011
gefördert.
84 Anja Boneß
bezeichnet) ist zum Zeitpunkt der Datenerhebung 13 Jahre alt und geht in die
siebte Klasse einer Gesamtschule in einem Arbeiterviertel Duisburgs. Ihre Erst-
sprache ist Türkisch; Deutsch hat sie insbesondere seit dem Kindergarten erwor-
ben. 10 Während ihre Eltern zu Hause in der Regel Türkisch sprechen, spricht
HKA mit ihren Geschwistern sowohl Türkisch als auch Deutsch.
Zum Interview ist hinzuzufügen, dass dieses Genre für die Schülerin ver-
gleichsweise formell ist, was einerseits auf das Verhältnis zwischen der Forscherin
und HKA und andererseits auf die spezifischen Eigenschaften der Kommunika-
tionssituation Interview zurückzuführen ist. In Interviews sind beispielsweise Spre-
cher- und Hörerrolle immer eindeutig zuzuordnen, wohingegen sie in informelle-
ren Gesprächen, die wesentlich interaktiver sind, nicht immer klar verteilt sind.
Dennoch unterscheidet sich das Interview deutlich von der Klassenarbeit (wie die
Auswertung der Daten später zeigen wird), in der schriftsprachliche Konventionen
verlangt werden.
Zur Einordnung der Strukturen im Interview und in der Klassenarbeit von
HKA soll die Klassenarbeit eines Mitschülers von HKA mit Deutsch als Erst-
sprache herangezogen werden. Der Schüler wird im Folgenden mit PMO abge-
kürzt. Weiterhin werden die Schülertexte einem Text aus dem Deutschbuch der
Schüler gegenübergestellt. Daraus wird ersichtlich, in welchen Bereichen es der
Schülerin HKA gelingt, sich von oraten Strukturen zu lösen, aber gleichzeitig kann
gezeigt werden, in welchen Bereichen die Schülerin die literaten Strukturen noch
optimieren kann. Bei dem Vergleich mit einem Text aus dem Schulbuch ist unbe-
dingt zu beachten, dass von den Schülern keineswegs verlangt werden kann, ähn-
lich literate Strukturen zu verwenden. Es soll dadurch lediglich gezeigt werden,
inwiefern die von den Schülern verwendeten Strukturen ausbaufähig sind, wenn
man beachtet, dass literat als skalare Kategorie verstanden wird.
4.2 Die Struktur der Referenten in den Texten der Schülerin im Vergleich
Abbildung 3 stellt die Verteilung der verschiedenen Referentenformen in den ana-
lysierten Texten gegenüber (s. Abb 3). Dabei wird deutlich, dass HKA in ihrer
Klassenarbeit weitaus weniger orate Referentenstrukturen, zu denen Pronomen der
ersten und zweiten Person sowie Demonstrativpronomen zählen, verwendet als im
Interview. In Beispiel 2 erklärt HKA, warum sie sich für das Wahlfach Darstellen
und Gestalten entschieden hat (vgl. Beispiel 2): 11
10 Es ist anzunehmen, dass sie (u.a. durch ihre zwei älteren Schwestern) vorher bereits gelegentlich
(Beispiel 2):
100
80
60
40
20
0
Interview Klassenarbeit PMO Zielsprache
Im Interview verweist HKA ebenfalls häufig anhand von Eigennamen auf gewisse
Referenten. In Kombination mit einem definiten Artikel (z.B. der Peter) wird diese
Struktur als orat eingestuft, da sie typisch für bestimmte Dialekte des Deutschen
(hier: Ruhrgebiet) ist und innerhalb der Konventionen der Schriftsprache unge-
wöhnlich ist. Während orate Strukturen im Interview dominieren, überwiegen in
der Klassenarbeit einfache literate Referenten (vgl. Beispiel 3): 12
(Beispiel 3):
*An dem Moment zeigte er an *seinem Herz. Dann nimmt Anna wie
von selbst Georgs Hand und fragt, warum er es nicht wollte.
Es wird deutlich, dass Personalpronomen der dritten Person, einfache lexikalische
NPs sowie Eigennamen in der Herstellung von Referenz bevorzugt werden.
Zudem verwendet HKA in ihrer Klassenarbeit erweiterte literate Strukturen
(NP + Attribut), die im Interview nicht vertreten sind; deren Anteil beträgt jedoch
weniger als acht Prozent der gesamten Referenten. Beispiel 4 zeigt eine NP erwei-
tert durch eine PP:
(Beispiel 4):
Am Tag nach der Beerdigung läuft Anna wieder einmal in *der Stadt,
[...].
Bei einem Vergleich zwischen HKAs und PMOs Klassenarbeit fällt auf, dass sich
die Verteilung der Referenten insbesondere in Bezug auf den Anteil einfach lite-
rater Strukturen kaum voneinander unterscheidet; in beiden Texten dominieren
diese die Referentenformen. Dennoch verwendet PMO ungefähr nur halb so viele
orate Referentenformen und mehr als doppelt so viele NPs, die durch ein Attribut
erweitert sind, so dass PMOs Text einerseits als weniger kontextgebunden, ande-
rerseits als geringfügig komplexer in Bezug auf die Referentenstruktur angesehen
werden kann.
Der Vergleich mit dem Schulbuchtext (Zielsprache) verdeutlicht, dass kontext-
gebundene (orate) Formen von Referenten dort nicht vorkommen, wohingegen
die übrige Verteilung der Strukturen den Klassenarbeiten von HKA und PMO
nahe kommt. Der Anteil der erweiterten NPs ist jedoch auch im Schulbuchtext
mehr als doppelt so hoch wie in HKAs Klassenarbeit, so dass hier zusammen-
fassend festgehalten werden kann, dass HKAs Referentenstruktur in Bezug auf die
Komplexität ausbaufähig ist. Dennoch gilt es hervorzuheben, dass HKA in ihrem
geschriebenen Text die Loslösung von oraten Strukturen, die im Interview über-
wiegen, größtenteils gelingt.
100
80
60
40
20
0
Interview Klassenarbeit PMO Zielsprache
orat literat literat + literat ++
Die hier als orat eingestufte Verknüpfungsform bezieht sich auf eine rein durch
prosodische Mittel erzeugte Verknüpfung; wird eine Verknüpfung zusätzlich zur
prosodischen Markierung lexikalisch ausgedrückt, wird dies nicht mehr als orat
aufgefasst. In der Analyse des Interviews wird deutlich, dass mehr als die Hälfte
der markierten Anschlüsse ausschließlich durch prosodische Mittel hergestellt wird.
In Abschnitt 3.2 wurde bereits darauf eingegangen, dass insbesondere ein nicht
fallender Intonationsverlauf auf die Absicht des Sprechers hindeutet, seine Äuße-
rungen fortzuführen. Abbildung 5 zeigt einen Ausschnitt aus dem Interview mit
HKA (s. Abb. 5). Die zweite prosodische Einheit (eingeteilt durch die senkrechten
Striche im Oszillogramm und dem Verlauf der Grundfrequenz (F0)) endet mit
einem steigenden Intonationsverlauf, woraufhin die folgende Äußerung die war aus
meiner grundschule keinen overten lexikalischen Konnektor enthält. Diese Art der
prosodischen Verknüpfung, die nur anhand von prosodischen Mitteln hergestellt
wird, wird als orat eingestuft.
Nur in ungefähr 20% der Fälle folgt eine Äußerung auf einen fallenden Intona-
tionsverlauf ohne lexikalische Markierung bzw. werden einfache Konnektiva wie
und oder aber verwendet. In Beispiel (5) erläutert HKA, wie ihr eine Verbesserung
in einem Fach gelungen ist. Dabei verknüpft sie die Äußerungen mit und (zweite
Zeile) bzw. einem asyndetischen Anschluss (dritte Zeile):
(Beispiel 5):
deren Anteil geringfügig höher ist als in HKAs Klassenarbeit. Somit wird deutlich,
dass die Verwendung spezifischerer Konnektiva in den Texten der Schüler un-
üblich ist. Insbesondere der Vergleich zum Schulbuchtext zeigt jedoch, dass solche
Formen zu einer schriftsprachlichen Darstellung gehören. Hier fällt der geringste
Anteil der Verknüpfungselemente auf die Asyndese oder die unspezifischen Kon-
nektiva, wohingegen ungefähr doppelt so viele Sätze durch eine spezifische Form
verknüpft sind. Den größten Anteil nehmen aber die literateren verknüpfenden
Adverbien ein, die in den beiden Schülertexten jeweils weniger als zehn Prozent
der Konnexionsformen ausmachen.
5 Fazit
Die Untersuchung hat aufgezeigt, dass sich HKA in Bezug auf beide Analyseberei-
che (Form der Referenten und Form der Konnektiva) in ihren Klassenarbeiten
größtenteils von oraten Strukturen löst. Der Anteil orater Referenten könnte aber
noch weiter minimiert werden. Das würde bedeuten, dass einerseits die expliziten
Referentenzuweisungen erhöht und andererseits die für die Konventionen der
Schriftsprache ungewöhnlichen Referentenformen wie die Kombination aus defi-
nitem Artikel und Eigennamen reduziert würden. Im Bereich der Konnektiva sind
die geschriebenen Texte HKAs deutlich ausbaufähig, da die Sätze mehrheitlich nur
asyndetisch aneinandergereiht sind bzw. unspezifische Verknüpfungsformen ver-
wendet werden. Durch einen erhöhten Anteil an spezifischeren und somit auch
literateren Verknüpfungselementen würde die Kohärenz des Textes, die ein aus-
schlaggebender Faktor für dessen Konstitution darstellt, steigen. In Bezug auf die
Konnektiva fällt jedoch auf, dass der Schüler PMO mit Deutsch als Erstsprache in
diesem Bereich ähnliche Probleme hat.
So deutet das Ergebnis darauf hin, dass dies nicht nur eine Schwierigkeit für
Schüler mit Deutsch als Zweitsprache darstellt. Es könnte vermutet werden, dass
dies mit dem vergleichbar niedrigen Bildungsniveau der Elternhäuser der hier un-
tersuchten Schüler erklärt werden kann. Es ist aber natürlich eine größere Unter-
suchung auf der Basis einer höheren Probandenzahl notwendig, um die Ursachen
für die hier lediglich aufgezeigten Schwierigkeiten eingrenzen und verallgemeinern
zu können. Dazu wäre beispielsweise auch ein Vergleich mit Texten von erfolg-
reicheren Schülern erforderlich. Auf diese Weise kann ermittelt werden, inwieweit
die hier festgestellten Probleme bei der Verwendung literater Strukturen alters-
bzw. entwicklungsbedingt oder auf das Lernniveau der Schüler zurückzuführen
sind (vgl. Boneß (im Erscheinen)).
Hier kann nur festgestellt werden, dass die Verwendung von Konnektiva den
untersuchten Schülern schwer fällt, wodurch ihre Texte nahezu als bloße Aneinan-
derreihung von Sätzen erscheinen, die sehr wenig Kohärenz aufweisen. Diesbezüg-
lich ist es erforderlich, didaktische Ansätze zu entwickeln, die ihren Fokus auf die
Förderung in diesem Bereich legen. Letztendlich sollte außerdem die syntaktische
90 Anja Boneß
Komplexität von Sätzen, die hier nicht thematisiert worden ist, berücksichtigt wer-
den, um einen ganzheitlichen Blick auf die Schwierigkeiten in der Verwendung der
Schriftsprache gewinnen zu können.
Literatur
Biber, Douglas (1988): Variations across speech and writing. Cambridge: Cambridge
University Press.
Boneß, Anja (im Erscheinen): The structure of intonation units as basic grammar for literacy
acquisition. Dissertation, Universität Osnabrück.
Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Fischer.
Chafe, Wallace (1982): Integration and involvement in speaking, writing, and oral
literature. In: Tannen, Deborah (Hrsg.): Spoken and written language. Exploring
orality and literacy. Norwood u.a.: Ablex, 35-53.
Chafe, Wallace (1988): Linking intonation units in spoken English. In: Haiman,
John; Thompson, Sandra A. (Hrsg.): Clause combining in grammar and discourse.
Amsterdam u.a.: Benjamins.
Chafe, Wallace (1994): Discourse, consciousness, and time: the flow and displacement of
conscious experience in speaking and writing. Chicago u.a.: Chicago University Press.
Du Bois, John W.; Schuetze-Coburn, Stephan; Cumming, Susanna; Paolino, Danae
(1993): Outline of discourse transcription. In: Edwards, Jane A.; Lambert,
Martin D. (Hrsg.): Talking data: Transcription and coding in discourse research.
Hillsdale u.a.: Erlbaum, 45-89.
Lambrecht, Knud (1994): Information structure and sentence form: topic, focus, and the
mental representations of discourse referents. Cambridge: Cambridge University Press.
Maas, Utz (2008): Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkulturelle
Dimension. Göttingen: V&R unipress und Universitätsverlag Osnabrück.
Maas, Utz (2010): Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse geschriebener und
gesprochener Sprache. In: Maas, Utz (Hrsg.): Orat und literat. Graz: Institut für
Sprachwissenschaft der Universität Graz, 21-150.
Miller, Jim; Weinert, Regina (1998): Spontaneous spoken language: syntax and discourse.
Oxford: Clarendon Press.
Weishaupt, Horst et al. (2010): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter
Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im
demografischen Wandel. (http://www.bildungsbericht.de/daten2010/
wichtige_ergebnisse_presse2010.pdf) (13.09.2010).
Clash of expectations:
Kompetenzraster der Sprachausbildung zwischen
europäischem Anspruch und lokalen Lernkulturen
Clash, boom, bang – es knallt, und zwar gewaltig in den zur Globalisierung ver-
dammten Studierzimmern, den Denk-Laboratorien der Wissenschaft. Schon bei
der Erweiterung der kommunikativen Methode um die kulturelle Komponente
und der Gegenüberstellung von Kulturen mit dem Versuch zwischen diesen zu
vermitteln und für weitreichendes Verständnis zu werben, spätestens jedoch seit
Huntingtons Konzept vom Clash of Civilizations (1996) scheiden sich die Geister
und wird die hochsensible und explosive Brisanz des Themas deutlich.
Versteht man Kultur als ein komplexes System, das auf gemeinsamen Erleb-
nissen und Erfahrungen basiert, dessen implizites Wissen den Sprachhandlungen
selbst zugrunde liegt und Identität stiftend fungiert, dann lässt sich auch nach ihrer
Existenzberechtigung und ihrem Selbstverständnis in der heutigen Welt fragen, die
die Überwindung von Grenzen propagiert, nicht ohne zugleich an anderen Orten
neue zu errichten, und sei es nur im Bewusstsein der Menschen. Schließlich gilt
hier der Gemeinplatz, dass ich immer das Andere brauche, um mich selbst zu er-
kennen. Ich selbst nehme mich erst in Abgrenzung zum Fremden wahr. Handelt es
sich also bei dem Clash-Konzept um einen echten Zusammenstoß oder bloß um
eine Konfrontation? Ist es noch ein Konflikt oder schon ein Streit? Wer tritt hier
gegeneinander an? Sicher nicht ganze Kulturen, sondern vielmehr kulturelle Kon-
zepte; Ideen, die unsere Vorstellungen prägen und bestimmte Erwartungsmuster.
Es sind also eher unterschiedliche Welt(an)sichten, die da korrelieren und irritieren.
92 Anne Gladitz
Doch anstatt Probleme zu sehen oder zu suchen, sollten diese mehr als Aufgaben
verstanden werden.
Aufgaben, die für meine Tätigkeit als DAAD-Lektorin eine Herausforderung
stellen, der ich mich als Sprach- und Kulturmittlerin angenommen habe in der
symbolträchtigen Metropole Istanbul: errichtet auf sieben Hügeln und zwei Konti-
nenten, an der Schnittstelle von Abendland und Morgenland, mit einer Brücke als
Symbol für die mögliche Symbiose der daraus resultierenden Gegensätze, die im
öffentlichen Diskurs hinreichend zitiert und nicht selten genug als Politikum ange-
führt und diskutiert werden. Es ist genauso eine Gradwanderung, ein Seiltanz, ein
interkultureller Spagat zwischen der eigenen Erwartungshaltung vor einem europä-
ischen Bildungshintergrund und der Konfrontation mit anders gestalteten tradi-
tionellen Denk- und Verhaltensmustern in einer Wirklichkeit, die den Alltag be-
stimmt, das eigene Handeln prägt und die Gedanken lenkt.
Die folgenden Ausführungen wollen einen Einblick in das berufliche Wirken
und die Arbeitsbedingungen vor Ort vermitteln, vor allem aber die dortigen
Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung von Lehrkonzepten für Fremd-
sprachenerwerb und interkulturelles Lernen abstecken und mit Erfahrungen aus
der Praxis Anregungen zum Umgang mit kultureller Diversität geben.
1Prof. Dr. Kerim Edinsel ist Bologna-Experte am National Academic Contact Point for Quality
Assurance in Samsun, Türkei.
Clash of expectations 95
in das E-Paper, womit erneut der Fremdspracherwerb im Sinne der Begegnung mit
einer neuen Lebenswelt und eines damit verbundenen (inter)kulturellen Bewusst-
machungsprozesses fokussiert werden soll.
Darüber hinaus gehend und in diesem Zusammenhang erwähnenswert ver-
sucht das ebenso im Umfeld des Europarats angesiedelte Projekt „Profile deutsch“
mit seinen so genannten Kannbeschreibungen auf die sechs Referenzniveaus des
GER Bezug nehmend Institutsleitenden, Lehrenden oder Lehrwerksautoren Leit-
material zu sein. Es stellt Bausteine zur Verfügung für die Erarbeitung von Curri-
cula oder auch von gruppenspezifischen Modulen z.B. für die Sprachverwendung
in Unternehmen und ermöglicht damit eine starke Ausrichtung und Anpassung auf
die Lernergruppe.
Als Kontrollinstrumente linguistischer Korrektheit und – insoweit möglich –
kulturadäquater Sprachverwendungsmuster dienen heute schließlich standardisierte
und aufeinander abgestimmte, in der Regel fertigkeitsorientierte Testverfahren all-
gemeingültiger Prüfungen, angefangen bei dem weltweit wachsenden Zuspruch
und Anerkennung findenden TestDaF über UNIcert® und die breite Palette des
Goethe-Spektrums bis hin zu den im Auslandsschulwesen präsenten Sprach-
diplomen der KMK und den vermehrt Zulauf findenden, wenn auch für den Be-
reich des Deutschen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht als Voraussetzung
für den Hochschulzugang in Deutschland akkreditierten Sprachstandsmessungen
von Telc. 2
Was diese Kompetenzmessungen, die in erster Linie auf die Beherrschung von
Sprache im Alltag und in Berufssituationen ausgerichtet sind, vielleicht (noch)
nicht oder nur sehr schwer leisten können, ist die Bewertung des ganzheitlichen
Spracherwerbs, wie er allseits und allerorts gefordert wird; dass an Stelle des Regel-
wissens eine interkulturelle Kommunikationsfähigkeit tritt und eine damit verbun-
dene Handlungskompetenz herausgebildet wird, deren Entwicklung jedoch in er-
ster Linie ein Prozess ist, der auf Erfahrungen und den Umgang von Lehrenden
wie Lernenden mit der fremden Wirklichkeit, d.h. der Begegnung mit kultureller
Diversität beruht. Die Umsetzung dieses hehren Zieles stellt damit nicht nur eine
Herausforderung an konzeptionelle Vorbedingungen und den Lernprozess selbst,
sondern vor allem auch an die Ausbildung von den diesen Prozess initiierenden
wie begleitenden Lehrpersonen und ihr Bemühen um einen reflektierten Kultur-
transfer.
3 Die Studie „Selbsteinschätzungen praktizierender Deutschlehrer in der Türkei in Bezug auf Lehr-
strategien“ bildet den zweiten Teil einer Untersuchung, deren erste Phase im Studienjahr 2001-2002
mit 134 Teilnehmern aller vier Studienjahre der Deutschlehrerausbildung der Universität Istanbul
durchgeführt wurde. Der erste Untersuchungsteil „Über Lernerautonomie zum effektiven Deutsch-
unterricht: Lernertypologie der angehenden DeutschlehrerInnen“ (2003) zielte darauf ab, Lern-
gewohnheiten, Lernweisen und -stile der angehenden türkischen Deutschlehrer festzulegen.
Clash of expectations 99
dass da, wo er gerade ist, andere Werte und Ideen genauso unverrück-
bar und selbstverständlich sind. 4
Literatur
Chakrabarty, Dipesh (2000): Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die
Kritik der Geschichte. In: Conrad, Sebastian; Shalini, Randeria (Hrsg.): Jenseits
des Eurozentrismus. Frankfurt/M.: Campus Verlag, 283-312.
Edelhoff, Christoph (1983): Internationalität und interkulturelle Ziele des
Fremdsprachenunterrichts in Europa – Verstehen und Verständigung. In:
Arabin, Lothar; Kilian, Volker (Hrsg.): Deutsch in der Weiterbildung. München:
Lexika Verlag, 75-92.
Europarat; Rat für Kulturelle Zusammenarbeit; Goethe Institut (Hrsg.) (2001):
Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen.
Berlin u.a.: Langenscheidt.
Fischer, Gudrun (1990): Interkulturelle Landeskunde? In: Deutsch als Fremdsprache
27, 141-146.
Galtung, Johan (1972): Eine strukturelle Theorie des Imperialismus. In: Senghaas,
Dieter (Hrsg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 29-
104.
Hackel, Wolfgang; Langner, Michael; Simon-Pelanda, Hans (1998):
Landeskundliches Lernen. In: Fremdsprache Deutsch 18, 5-12.
Hansen, Klaus P. (2003): Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen;
Basel: UTB.
Hatipoğlu, Sevinç: Selbsteinschätzungen praktizierender Deutschlehrer in der
Türkei in Bezug auf Lehrstrategien. In: Zeitschrift für Interkulturellen
Fremdsprachenunterricht 10. (http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-10-
2/docs/Hatipoglu.pdf) (15.10.2010).
Huntington, Samuel Phillips (1998): Clash of civilizations and the remaking of the world
order. New York: Simon & Schuster.
Edinsel, Kerim (2009): Der Bologna-Prozess in der Türkei: ECTS-Anwendungen
und Probleme der Qualitätssicherung. In: TU International 64, 24-26.
(https://www.alumni.tu-berlin.de/fileadmin/Redaktion/ABZ/PDF/TUI/
64/edinsel_TUI64.pdf) (15.10.2010).
Meyer, Thomas (2002): Identitätspolitik. Vom Missbrauch des kulturellen Unterschieds.
Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Polat, Tülin; Tapan, Nilüfer (2005): Deutsch als Fremdsprache in der Türkei.
Aktuelle Entwicklungen. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht
10. (http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-10-2/docs/Tapan_Polat.pdf)
(15.10.2010).
104 Anne Gladitz
Motivation –
Forschungsgegenstand und Unterrichtspraxis
Sektionsbericht
1 Einleitung
Anlass dieser Untersuchung sind Veränderungen und Reformen, die seit längerem
den Fremdsprachenunterricht an finnischen Universitäten prägen: Durch den so
genannten Bologna-Prozess, diverse Studienplanreformen und mit Einsparungen
motivierte Zusammenlegungen von Instituten und Universitäten ergeben sich weit
reichende strukturelle Änderungen. Auch die Vorkenntnisse und Lernziele der
Studierenden sind in ständigem Wandel. Es wird nun immer wichtiger, mehr über
die Studierenden und ihre Motive für das Fremdsprachenlernen zu erfahren, um
ein attraktives, genau auf die Bedürfnisse der Studierenden zugeschnittenes Fremd-
sprachenangebot zu präsentieren.
Ziel dieser Untersuchung ist es, erstmals empirische Daten über die Ein-
stellung der finnischen Wirtschaftsstudierenden zu Sprachen, Sprachenlernen und
Mehrsprachigkeit zu erheben. Konkret geht es um eine Verbesserung des Sprach-
kursangebots und der Studienberatung. Im Hintergrund dieser Untersuchung ste-
hen neben den genannten Veränderungen einerseits das kontinuierliche Streben
der Universitäten nach Internationalisierung und andererseits die sich an den finni-
schen Schulen abzeichnende Entwicklung, dass die Schüler immer weniger Spra-
chen lernen. Die neuen Studierenden beginnen also mit geringeren sprachlichen
Vorkenntnissen ihr Studium.
110 Sabine Grasz & Joachim Schlabach
3 Motivationsforschung
L2-Motivationsforschung kann in zwei Bereiche unterteilt werden: Inhaltstheorien
beschäftigen sich mit den Motiven für die Wahl bestimmter Fremdsprachen, wäh-
rend Prozesstheorien motivationale Aspekte im Prozess des Fremdsprachenler-
nens selbst untersuchen (vgl. Riemer 2010). Die vorliegende Studie gehört zum
ersten Bereich und konzentriert sich auf diejenigen Motive, die zur Wahl bzw. zur
Nicht-Wahl einer Fremdsprache führen. Im Fokus der Untersuchung stehen die
Motivationsfaktoren, die Wirtschaftsstudierende – positiv – in die Sprachkurse
führen und – negativ – sie davon abhalten, bestimmte Sprachen zu wählen. Die
Studie ist nicht ausschließlich auf Deutsch bezogen, sondern fragt nach den Moti-
ven für oder gegen verschiedene Fremdsprachen.
Motivation umfasst sowohl individuelle als auch kollektive Faktoren. Zu den
individuellen zählen unter anderem die allgemeinen personalen Voraussetzungen
des Lerners, zielsprachenspezifische Einstellungen und Motive, Lernziele, Vor-
erfahrungen, Einschätzung der Erfolgsaussichten und Kontakte zu der Fremd-
sprache (vgl. Riemer 2002). Kollektive Faktoren sind oft mit dem Status der
Fremdsprache im konkreten Lernumfeld verbunden und werden unter anderem
beeinflusst von der Sprecherzahl der Sprache, der ökonomischen Stärke der
Motive finnischer Wirtschaftsstudierender bei der Sprachenwahl 111
4 Ergebnisse
Die Umfrage wurde im Frühjahr 2009 als Online-Befragung an fünf der sieben
finnischsprachigen Wirtschaftsuniversitäten bzw. Wirtschaftsfakultäten durchge-
führt. Angeschrieben wurden 6963 Wirtschaftsstudierende, davon antworteten
2412, was einer Rücklaufquote von 34,6% entspricht. Die Befragung war auf Fin-
nisch und enthielt 25 zumeist geschlossene Fragen zu den vier Bereichen: I. Hin-
tergrundinformation, II. Sprachenbiographie, III. Sprachenwahl und Sprachen-
lernen an der Universität sowie IV. Mehrsprachigkeit.
Im Folgenden werden wesentliche Ergebnisse und besonders jene mit Bezug
zu Deutsch als Fremdsprache präsentiert.
Nach einer quantitativen Auswertung ergibt sich, dass etwa 90% drei und mehr
Fremdsprachen (hier Schwedisch eingeschlossen) gelernt haben und über 40% vier
und mehr Fremdsprachen. Es ist anzunehmen, dass Wirtschaftsstudierende bereits
vor Studienbeginn mehr Sprachen gelernt haben als andere Studierende.
Etwa ein Viertel der Respondenten gibt an, in einer Sprache besondere Sprach-
kenntnisse zu haben, zumeist in Englisch, jedoch ein Fünftel in Deutsch. Diese
höheren Sprachkenntnisse gehen zurück auf längere Aufenthalte in den Zielspra-
chenländern wie beispielsweise einen Austauschaufenthalt (hier gibt es zwischen
Finnland und Deutschland ein gut ausgebautes Schul-Austauschprogramm), Ar-
beitsaufenthalte der Eltern oder auf den Besuch der Deutschen Schule in Helsinki.
Gefragt nach der aktuellen Sprachkompetenz ergibt sich ein ähnliches Bild wie
oben: Englisch können alle, Schwedisch fast alle und Deutsch 74% (Französisch
45%, Spanisch 39% und Russisch 23%). Die Respondenten geben in der Selbst-
evaluation ihre Kompetenz in Deutsch zumeist auf den Niveau-Stufen A2 (25%),
B1 (22%), A1 (20%) und B2 (12%) an.
Die Sprachenwahl der Studierenden im Wirtschaftsstudium ist wie folgt: Eng-
lisch ist mit 93% die am häufigsten gewählte Sprache, danach folgt Schwedisch, die
als zweite Landessprache obligatorisch ist, mit 80% und Deutsch mit 48%. Die
weiteren Sprachen sind Spanisch 29%, Französisch 25% und Russisch 14%. Etwa
Motive finnischer Wirtschaftsstudierender bei der Sprachenwahl 113
ein Viertel will weitere Sprachen wählen; hier steht Russisch an erster Stelle, gefolgt
von Deutsch, Schwedisch, Spanisch und Französisch.
Das Engagement für das Sprachenlernen ist generell sehr hoch. Die Hälfte der
Respondenten gibt an, dass Sprachenlernen für sie wichtig ist, und dass sie weitere
fakultative Kurse belegen wollen. Ein Drittel meint, nur die obligatorischen
Sprachkurse zu machen, diese aber richtig, also mit dem erwarteten Einsatz. Nur
ein Zehntel stimmt der Aussage zu, dass sie mit dem Sprachenlernen so wenig wie
möglich zu tun haben wollen.
Vorkenntnisse in der jeweiligen Sprache ist insgesamt der wichtigste Grund eine
Sprache zu wählen. Die Studierenden möchten ein funktionales Niveau in den von
ihnen gelernten Fremdsprachen erreichen und meinen wohl, dass der Erfolg am
größten ist, wenn sie eine Sprache fortsetzen, die sie schon früher gelernt haben.
Institutionelle Gründe, wie der Pflichtcharakter der Sprache sind in diesem Kon-
text ebenfalls wichtig. Interessant ist, dass auf das instrumentelle Motiv „Die Spra-
che ist wichtig für mein zukünftiges Berufsleben“ direkt ein affektiver Faktor,
nämlich „Ich mag diese Sprache“ folgt. Diese Mischung von instrumenteller und
integrativer Motivation ist wohl ein Charakteristikum der positiven Einstellung der
Wirtschaftsstudierenden gegenüber Fremdsprachenlernen. Das zeigt sich auch in
der annähernd gleichen Stärke von Wichtigkeit für das Studium und Wichtigkeit
für die Freizeit und dem Interesse an der Kultur des Sprachraums. Von außen
scheint es relativ wenig Einfluss auf die Sprachenwahl zu geben: weder Studien-
beratung, Empfehlungen von Kommilitonen noch Freunde haben einen nennens-
werten Einfluss auf die Sprachenwahl.
Betrachtet man hier die Ergebnisse sprachenspezifisch für Deutsch, so lassen
sich sowohl ähnliche Trends wie bei den Ergebnissen für alle Sprachen als auch ein
eigenständiges Profil der deutschen Sprache erkennen (s. Abb. 3).
Der bei weitem bedeutendste Grund für die Wahl von Deutsch sind Vorkenntnis-
se, worüber gut zwei Drittel der Respondenten schon vor Studienbeginn verfügen.
Ziemlich gleichauf liegen die Faktoren „Ich mag die Sprache“, „Die Sprache ist
wichtig für meinen zukünftigen Beruf“ und „Nette/gute Lehrer“. Der Faktor Leh-
rer spielt nur eine geringe Rolle bei den Pflichtsprachen wie Schwedisch und Eng-
lisch (wobei Englisch de facto keine Pflichtsprache ist, aber von fast allen Studie-
renden gewählt wird). Bei den fakultativen Sprachen gewinnt dieser Faktor an Be-
deutung.
Auch bei Deutsch lässt sich also ein vorteilhaftes Zusammenspiel verschiede-
ner Motive erkennen. Für Deutsch spricht einerseits eine starke instrumentelle
Motivation. Deutsch wird als wichtig für das Arbeitsleben und das Studium gese-
Motive finnischer Wirtschaftsstudierender bei der Sprachenwahl 115
hen. Es zeigen sich aber auch ausgeprägte affektive Motive, die sich in Sympathie
für die Sprache und Interesse an der Kultur ausdrücken.
Ein ähnliches Motivationsprofil wie bei Deutsch gibt es bei Russisch, wo eben-
falls eine stark ausgeprägte instrumentelle Motivation neben Interesse an der Spra-
che und am Kulturraum zu erkennen ist. Bei Russisch spielt der kollektive Faktor
„Die Sprache wird in Finnland für wichtig erachtet“ auf der anderen Seite eine
höhere Rolle als bei Deutsch, was wohl auf die kürzlich geführte öffentliche Dis-
kussion zurückzuführen ist, dass es in Finnland zu wenige Sprecher des Russischen
gibt. Im Vergleich dazu ist bei den romanischen Sprachen (Französisch, Italienisch
und Spanisch) und Japanisch zu sehen, dass die affektiven Faktoren (Sympathie,
Interesse an der Kultur) und Nützlichkeit in der Freizeit überwiegen. Instrumentel-
le Faktoren, vor allem Nützlichkeit im Berufsleben, spielen hier nur eine unter-
geordnete Rolle.
Welche Faktoren sind nun bei der Nicht-Wahl bestimmter Sprachen relevant?
Insgesamt gaben 28% der Respondenten an, dass sie bestimmte Sprachen nicht
wählen. Die meisten wählen bewusst kein Russisch (394), gefolgt von Japanisch
(362), Italienisch (307), Französisch (305), Spanisch (220), Deutsch (217), Schwe-
disch (141) und Englisch (30). Einen Überblick über die Gründe für die Nicht-
Wahl zeigt die Abbildung 4.
Abb. 4: Faktoren für die Nicht-Wahl einer Sprache für alle Sprachen.
Die Gründe für die Nicht-Wahl korrespondieren mit den oben präsentierten
Gründen eine Sprache zu wählen. Der bedeutendste Grund eine Sprache nicht zu
wählen ist, dass man meint, kein ausreichend hohes Niveau in dieser Sprache errei-
chen zu können. Der zweitwichtigste Ausschlussgrund ist, dass die Sprache für den
116 Sabine Grasz & Joachim Schlabach
Beruf nicht wichtig ist. Die empfundene Schwierigkeit und affektive Faktoren, hier
die Antipathie gegenüber der Sprache oder den Sprechern dieser Sprache, sind
ebenfalls sehr wichtig.
Das Profil für Deutsch sieht wie folgt aus (s. Abb. 5). Hier ist der meistgenann-
te Grund, dass die Sprache nicht gemocht wird, gefolgt von der Meinung, dass
kein ausreichend hohes Niveau erreicht werden kann. Ein Teil der Respondenten
empfindet Deutsch auch als zu schwierig. Dieser Grund ist aber für Deutsch, Eng-
lisch, Schwedisch, Spanisch und Italienisch nicht so wichtig wie für die Sprachen
Russisch, Japanisch und Französisch, bei denen die empfundene Schwierigkeit ein
bedeutender Grund für die Nicht-Wahl ist.
In der Studie wurden auch der Abbruch von Sprachkursen und die Gründe dafür
ermittelt. Deutsch gehört nicht zu den Sprachen, die oft abgebrochen werden (s.
Tab. 1). Die Drop-out-Rate steht in Korrelation mit folgenden Faktoren der Wahl
bzw. Nicht-Wahl: In Sprachen, bei denen man das Gefühl hat, kein ausreichend
hohes Niveau zu erreichen, weil man sie früher noch nicht gelernt hat und/oder
sie als schwierig empfunden werden, ist die Drop-out-Rate höher. Das trifft be-
sonders auf Chinesisch und Japanisch, aber auch auf Russisch und Französisch zu.
Genauso werden Sprachkurse, für deren Wahl es nur eine geringe instrumentelle
Motivation gibt, wie in Italienisch und Spanisch, häufiger abgebrochen. Als sehr
häufiger sprachunabhängiger Grund für den Abbruch wurden Probleme mit dem
Stundenplan und zu wenig Zeit neben Studium und Arbeit genannt.
Motive finnischer Wirtschaftsstudierender bei der Sprachenwahl 117
Drop-out-Rate
Chinesisch 33 %
Japanisch 32 %
Italienisch 25 %
Spanisch 14 %
Russisch 14 %
Französisch 13 %
Deutsch 6%
Schwedisch 0,5 %
Englisch 0,4 %
Andere 20 %
4.3 Mehrsprachigkeit
Mehrsprachigkeit ist ein dezidiertes Ziel der Fremdsprachencurricula in finnischen
Schulen und im Zuge der Internationalisierung zu einer Schlüsselqualifikation von
Universitätsstudierenden und -absolventen geworden. In der Umfrage wurden
Aussagen zu Mehrsprachigkeit präsentiert, die die Respondenten mit Hilfe einer
vierteiligen Likertskala zu Zustimmung und Abneigung bewerten sollten: 1 – abso-
lute Zustimmung; 2 – teilweise Zustimmung; 3 – teilweise Ablehnung; 4 – absolute
Ablehnung (s. Tab. 2).
Insgesamt kann festgestellt werden, dass Mehrsprachigkeit ausgesprochen po-
sitiv gesehen wird. Besonders auf einer eher allgemeinen Ebene sehen die Respon-
denten Mehrsprachigkeit vor allem als erstrebenswert, sie verbessert die Chancen
auf dem Arbeitsmarkt und sie fördert die internationale Kooperation. Die Mehr-
heit findet es auch gut, dass man mehrere Sprachen an der Universität lernen muss
und meint, dass Englisch alleine nicht ausreichend ist.
Obwohl die Einstellungen als sehr positiv gesehen werden können, lassen sich
doch Unterschiede zwischen einer allgemeinen Zustimmung und der konkreten
mehrsprachigen Praxis erkennen. 97% der Respondenten stimmen absolut und
teilweise mit der Aussage „Mehrere Sprachen zu können ist erstrebenswert“ über-
ein, aber nur 72% arbeiten wirklich gerne in mehrsprachigen Umgebungen und nur
weniger als die Hälfte der Respondenten sucht aktiv Gelegenheiten, ihre Fremd-
sprachenkompetenz anzuwenden. Drei Viertel der Respondenten sprechen lieber
Englisch, da sie sich in den anderen Sprachen unsicher fühlen.
118 Sabine Grasz & Joachim Schlabach
1 2 3 4
Mit mehreren Sprachen hat man bessere Chancen auf 81% 16% 2% 1%
dem Arbeitsmarkt.
Ich spreche lieber Englisch, da ich mich in anderen 38% 37% 18% 7%
Sprachen unsicher fühle.
Ich suche aktiv Gelegenheiten, meine Fremdsprachen- 13% 34% 42% 11%
kompetenzen anzuwenden.
Sprachkurse nicht in den Stundenplan passen oder wenn Studium und Beruf zu
kombinieren sind.
Der wichtigste Motivationsfaktor für Deutsch ist die frühere Lernerfahrung in
Deutsch. Denn auf Basis der Vorkenntnisse lassen sich auch während des Wirt-
schaftsstudiums noch funktionale Sprachkenntnisse erreichen. Dieser Motivations-
faktor könnte jedoch in Zukunft an Gewicht verlieren, wenn an den Schulen im-
mer weniger Deutsch gelernt wird. 2 Es ist deshalb anzustreben, dass durch ent-
sprechende sprachpolitische Maßnahmen sowohl ein früher Fremdsprachenbeginn
als auch kontinuierliches Fremdsprachenlernen verstärkt gefördert werden.
Weitere Faktoren für Deutsch sind Motive der Nützlichkeit in Beruf und Stu-
dium sowie, dass man die Sprache mag. Negativ-Faktoren gegen Deutsch wie etwa
Antipathie gegen die Sprache sind nicht so frequent. Allerdings gibt es sprach-
unspezifische Negativ-Faktoren wie die Sorge, kein funktionales Sprachniveau
erreichen zu können oder der nach Umsetzung der Bologna-Reform nun größere
Druck, sein Studium möglichst schnell abzuschließen.
Neben den bereits genannten sprachpolitischen Maßnahmen für eine Stärkung
des frühen und kontinuierlichen Fremdsprachenlernens an den Schulen betreffen
die weiteren Schlussfolgerungen die Arbeit an den universitären Sprachenzentren:
Die Studierenden müssen zur Stärkung der Sprachlernmotivation kontinuierlich
über den bestehenden Sprachenbedarf im Wirtschaftsleben informiert werden. Die
Argumente hierfür liefert das Wirtschaftsleben: Nach der neuesten Untersuchung
des Hauptverbands der Finnischen Wirtschaft EK erwartet die Wirtschaft von
Mitarbeitern und Stellenbewerbern nicht nur Englisch sondern auch Schwedisch,
Russisch und Deutsch. 3 Desweiteren sollten an den Sprachenzentren organisatori-
sche Probleme bei der Stundenplangestaltung vermieden und die Information bzw.
Beratung für das Sprachenlernen effektiviert werden.
2 Dies ist gerade in den letzten Jahren in Finnland brisant geworden: Nach verschiedenen Reformen
in den Schullehrplänen hat sich das Sprachenwahlverhalten in der Schule drastisch verändert. Es wird
sehr viel stärker Englisch gewählt. Man beginnt früher mit Englisch und häufig bleibt Englisch die
einzige ‚lange‘ Sprache, die anderen Fremdsprachen werden sowohl als ‚lange‘, aber auch als ‚kurze‘
Sprache seltener gewählt. Man nennt dieses Phänomen ‚Verengung der Sprachkompetenz‘. Das wirkt
sich auch auf den Sprachenunterricht im Wirtschaftsstudium aus: Zunehmend mehr Studierende
wählen Kurse auf niedrigeren Niveaus oder gar Anfängerkurse, so dass es nun länger dauert und auch
immer schwieriger wird, ein funktionales Sprachniveau zu erreichen.
3 Die Bedarfsanalyse wurde mit folgender Überschrift publiziert: „Englisch allein genügt nicht im
Berufsleben – Der Sprachunterricht muss erneuert werden“. [„Englanti ei yksin riitä työelämässä –
Kielikoulutukseen tarvitaan remontti“] (Pressemitteilung EK 2010).
120 Sabine Grasz & Joachim Schlabach
Literatur
Ammon, Ulrich (2009): Macht und Sprachenwahl. In: Enell-Nilsson, Mona;
Nissilä, Niina (Hrsg.): VAKKI Symposium XXIX. Kieli ja valta. Språk och makt.
Sprache und Macht. Language and Power. Vaasa, 10-29.
Dörnyei, Zoltan (1994): Motivation and Motivating in the Foreign Language
Classroom. In: The Modern Language Journal 78, No. 3, 273-284.
EK-report (2010): Työelämässä tarvitaan yhä useampia kieliä. EK:n henkilöstö- ja
koulutustiedustelu 2009 [Im Berufsleben benötigt man zunehmend mehr
Sprachen. EK Mitarbeiter und Ausbildungs-Studie]. Helsinki: Elinkeinoelämän
keskusliitto EK.
Pressemitteilung EK (2010): Englanti ei yksin riitä työelämässä - Kielikoulutukseen
tarvitaan remontti. [Englisch allein genügt nicht im Berufsleben – Der
Sprachunterricht muss erneuert werden]. (http://www.ek.fi/www/fi/
index.php?we_objectID=11555) (02.06.2010).
Riemer, Claudia (2002): Wie lernt man Sprachen? In: Quetz, Jürgen; von der
Handt, Gerhard (Hrsg.): Neue Sprachen lehren und lernen. Fremdsprachenunterricht in
der Weiterbildung. Bielefeld: wbv-Verlag, 49-83.
Riemer, Claudia (2010) (im Erscheinen): Warum Deutsch (noch) gelernt wird –
Motivationsforschung und Deutsch als Fremdsprache. In: Barkowski, Hans;
Demmig, Silvia; Funk, Hermann; Würz, Ulrike (Hrsg.): Deutsch bewegt –
Entwicklungen in der Auslandsgermanistik und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Valtioneuvoston asetus yliopistojen tutkinnoista 794/2004. [Verordnung 794/2004
Hochschulgesetz] Helsinki. (http://www.finlex.fi/fi/laki/alkup/2004/
20040794) (02.06.2010).
Selbstformierung als Motivationsfaktor:
Ein alternatives Rahmenmodell zur
Motivationsforschung
1 Einleitung
Was bewegt Studenten in Hongkong dazu, Deutsch als Hauptfach zu wählen?
Diese Fragestellung war der Ausgangspunkt meiner empirischen Studie, in der die
Motivation von zwölf hongkong-chinesischen Studenten untersucht wurde, die
Deutsch als Hauptfach an einer Universität in Hongkong belegten.
Ursprünglich orientierte sich die Studie an den in der Motivationsforschung
allgemein verwendeten Rahmenmodellen, die Motivation als intrinsisch/extrinsisch
oder integrativ/instrumental definieren (Gardner; Lambert 1972, Gardner 1979,
1985, Dörnyei 2001a, Dörnyei 2001b, Dörnyei 2005). Diese lieferten jedoch weder
neue Erkenntnisse, wie sie nicht bereits in der Literatur erwähnt wurden, noch
schienen sie der besonderen Situation gerecht zu werden, in denen Deutsch in
Hongkong erlernt wird: Das Erlernen der deutschen Sprache beruht in Hongkong
meist auf freiwilligen Überlegungen, darüber hinaus gilt Deutsch als exotisches und
besonderes Fach. Eine Teilnehmerin an der Pilotstudie beispielsweise verglich sich
als Deutschlernende mit jemandem, der zum Friseur geht und teure Kleider kauft.
Durch das Deutschstudium wollte sie ihr „Selbst“ aufwerten und wettbewerbs-
fähiger machen, die Aufmerksamkeit anderer auf sich lenken und eine besondere
Stellung in ihrem sozialen Umfeld erwerben. Diese Aspekte der Selbststilisierung
legten daher eine theoretische Neuorientierung nahe.
122 Barbara Bycent Hennig
4 Methodik
Die Daten für die Studie, an der ursprünglich 14 Studenten teilnahmen, wurden
über zwei akademische Semester von September 2006 bis Mai 2007 durch vorwie-
gend qualitative Methoden (Interviews, Tagebucheinträge, Fokusgruppen) erho-
ben. Da Selbstformierung ein diskursbestimmter Prozess ist, orientierte sich die
Datenanalyse an Laclau und Mouffe’s (1985) theoretischer Diskursanalyse und
Foucault’s (1997) vier Achsen der ethischen Selbstformierung. Nach Laclau und
Mouffe unterliegt unser Verständnis der Welt ständiger Veränderung, da jede Be-
deutungseinheit jederzeit durch eine sich ändernde Situation aufgebrochen und neu
formiert werden kann.
5 Diskussion
Deutsch als Hauptfach zu entscheiden. Durch das Erlernen einer schweren Spra-
che glaubten sie, sich selbst und anderen ihre intellektuellen Fähigkeiten unter Be-
weis stellen zu können und über ein größeres Maß an Ausdauer und Einsatz-
bereitschaft zu verfügen als Lernende herkömmlicher Sprachen wie Japanisch oder
Spanisch.
5.3 Selbstpraktiken
Mit Hinsicht auf das Deutschlernen beschäftigten sich die Lernenden außerhalb
der Universität mit der Sprache in unterschiedlichen Aktivitäten und verwendeten
Deutsch im Internet, lasen deutsche Bücher oder sahen deutsche Filme. Eine ein-
gehendere Untersuchung ergab, dass die Lernenden durch die Sprachanwendung
nicht nur ihre Sprachkenntnisse verbessern, sondern auch ein Umfeld kreieren
wollten, in dem sie ihre idealisierten Wertvorstellungen umsetzen und erleben
Selbstformierung als Motivationsfaktor 125
5.4 Telos
Bei den Teilnehmern war der Telos keine ein für allemal gefertigte Zielvorstellung,
sondern änderte sich während des Studiums, teils wegen der zunehmenden Sprach-
sicherheit, teils wegen der sich ändernden Umstände wie Beschäftigungsmöglich-
keiten nach dem Studium, der Möglichkeit nach einem Aufbaustudium, oder der
finanziellen Situation.
Den Teilnehmern lag nicht nur daran, die deutsche Sprache nach kognitiven
Aspekten zu erwerben, sondern mit der Sprache auch ihre ethischen Wertvorstel-
lungen umzusetzen. Dies kam bei einer Teilnehmerin namens Audrey (Pseudo-
nym) besonders zum Ausdruck, die ihr Leben aufgrund sich plötzlich ändernder
Umstände neu gestalten musste. Audrey beabsichtigte, in Deutschland ein Aufbau-
studium zu absolvieren, doch durch die plötzliche Arbeitslosigkeit ihrer Mutter sah
sie sich gezwungen, eine Ausbildung bei einer chinesischen Bank in Hongkong
anzutreten. In der Bank wurden ihre Sprachkenntnisse keineswegs geschätzt, und
Audrey fühlte sich dort ‚fehl am Platz‘, da sie in dieser Position keinen „Ausblick
zur Welt“ erhalten konnte, den sie sich durch Deutsch erhofft hatte.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Lernenden mit ihren Sprachkenntnissen
nicht nur lukrative Karrieremöglichkeiten verbanden, sondern im Spracherwerb
auch ein Mittel sahen, ihr Leben lebenswert und bedeutungsvoll zu gestalten, und
ihre Individualität umzusetzen.
126 Barbara Bycent Hennig
Literatur
Anderson, Benedict (1991): Imagined communities: Reflections on the origin and spread of
nationalism. London: Verso.
Bourdieu, Pierre (1984): Distinction – A social critique of the judgement of taste.
Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.
Davison, Chris; Lai, Winnie (2007): Competing identities, common issues:
Teaching (in) Putonghua. In: Language Policy 6, 119-134.
Dörnyei, Zoltan (2001a): Motivational strategies in the language classroom. Cambridge,
U.K.: Cambridge University Press.
Dörnyei, Zoltan (2001b): Teaching and researching motivation. Harlow, UK: Longman.
Selbstformierung als Motivationsfaktor 127
Dörnyei, Zoltan (2005): The psychology of the language learner: Individual differences in
second language acquisition. Mahwah, N. J.: L. Erlbaum Associates.
Foucault, Michel (1984): The care of the self: The history of sexuality. Vol. 3. London:
Allen Lane The Penguin Press.
Foucault, Michel (1985): The use of pleasure: The history of sexuality. Vol. 3. New York:
Pantheon Books.
Foucault, Michel (1988). The care of the self: The history of sexuality. Vol. 3. New York:
Pantheon.
Foucault, Michel (1997): Ethics, subjectivity and truth – Essential works of Foucault, 1954-
1984. Vol. 1. In: Rabinow, Paul (Hrsg.). New York: The New Press.
Gardner, Robert (1979): Social psychological aspects of second language
acquisition. In: Giles, Howard; Clair, Robert (Hrsg.): Language and social
psychology. Oxford: Oxford University Press, 193-220.
Gardner, Robert (1985): Social psychology and language learning: The role of attitudes and
motivation. London, Ontario: Edward Arnold.
Gardner, Robert; Lambert, Wallace (1972): Attitudes and motivation in second-language
learning. Rowley, MA: Newbury House.
Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal (1985): Hegemony and socialist strategy: Towards a
radical democratic politics. London: Verso.
Schülerschreibbegleitung zur Unterstützung
der Schreibmotivation bei Schüler(innen)
mit Deutsch als Zweitsprache
„Müssen wir schreiben?“ Diese Frage, so berichten Lehrkräfte der hier vorgestell-
ten Realschule, stellen Schüler und Schülerinnen häufig, wenn es darum geht, im
Unterricht vermitteltes Wissen schreibend zu verarbeiten, sich also der Schrift als
Lernmedium zu bedienen. Ja, Schüler 1 müssen schreiben – denn die Befähigung
zum schriftsprachlichen Handeln, zum Ausbau (fach-)sprachlicher Mittel einer
„Bildungssprache“ ist ein zentrales fächerübergreifendes Lernziel in der Sekundar-
stufe. Seit die großen schulischen Vergleichsstudien den Zusammenhang von
schriftsprachlicher Kompetenz und Schulerfolg nachweisen konnten (u.a. PISA
2006), ist die Frage, wie Literalität bei Zweitsprachlernenden angebahnt und geför-
dert werden kann, in den Fokus der fachdidaktischen und sprachwissenschaft-
lichen Diskussion gerückt. Vorrangig ist seither die Anforderung, einen sprach-
sensiblen Regelunterricht durchzuführen, der den spezifischen Bedarf von DaZ-
Schülern integriert und diesen nicht länger abgekoppelt in den Nachmittagsbereich
drängt. Auf der anderen Seite bietet der „Ganztag“ neue Zeit-Räume für eine
niederschwellige Sprachförderung, die ohne Bewertungsdruck an den individuellen
Ressourcen und Interessen der Schüler und Schülerinnen ansetzen kann. An Lern-
orten wie einer Schreibwerkstatt kann Spaß an einer „Schreibarbeit“ entstehen, die
nicht das (von vielen Schülern so empfundene) Stigma des „Förderunterrichts“
1 Im Folgenden verwende ich zumeist die generische Form, die Schüler und Schülerinnen einschließt.
130 Heike Roll
trägt. Schüler können das Schreiben als eine kreative Form des Denkens und Füh-
lens entdecken, das an ihre eigene Erfahrungswelt anknüpft.
In diesem Beitrag möchte ich das Konzept der Schülerschreibbegleitung (in
Anlehnung an Bräuer 2007) als jahrgangsübergreifendes Förderkonzept im Ganz-
tagsbereich vorstellen. Es wird seit dem Schuljahr 2009/2010 an der Geschwister-
Scholl-Realschule in Münster durchgeführt. 2 Leitend für das Projekt war die Frage,
in welcher Weise das computergestützte Schreiben sowie das gemeinsame, tutoriell
begleitete Nachdenken und Sprechen über Texte in dem informellen Setting
„Schreibwerkstatt“ ein positives Selbstkonzept als Schreibende und damit die
Schreibmotivation befördern kann. Hierzu sollen erste, im Rahmen einer Aktions-
forschung explorativ gewonnene Einsichten diskutiert werden. Einführend werden
Merkmale des zweitsprachlichen Schreibens unter Berücksichtigung motivationaler
Aspekte dargestellt. Im nächsten Schritt wird die Konzeption der Schreibwerkstatt
skizziert. Die exemplarische Rekonstruktion einer „tutoriell angeleiteten Text-
arbeit“ zeigt, wie es einer Schreibbegleiterin gelingt, Aufmerksamkeit auf Bruch-
stellen im Text zu lenken und Schreibende zur Auseinandersetzung mit ihrem Text
zu motivieren.
4 Ballis befragte im Jahr 2005 ca. 400 Schüler verschiedener Augsburger Schulformen für ihre Studie.
5 Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht belegen die psychometrisch angelegten Untersuchungen von
Jerusalem; Hopf (2002) den Zusammenhang von motivationalen Prozessen, Selbstwirksamkeitserfah-
rungen und lernerorientierten Verfahren.
132 Heike Roll
3.2 Schreibbegleiterschulung
Zum Schuljahresbeginn führten die Tutorinnen eine Schulung mit den älteren
Schülern durch, die parallel zu den Schreibaktivitäten der jüngeren Teilnehmer
verlief. Diese orientierte sich an dem von Bräuer (2007) vorgeschlagenen Curricu-
lum zur Schreibberaterausbildung; Schreibanlässe und Umfang wurden der Ziel-
gruppe angepasst. Dieses Curriculum umfasst vier Themenblöcke: (1) Bewusstma-
chung und Analyse des eigenen Schreibprozesses, (2) Erarbeitung von Schreib-
strategien, (3) Erprobung von Überarbeitungswerkzeugen, (4) Grundsätze der
Textrückmeldung und der non-direktiven Beratung. In einem Portfolio (Bräuer
2007b) werden Textformen (Pohl; Steinhoff 2010) 9 und Reflexionen des Schreib-
prozesses dokumentiert.
Bemerkenswert ist an dieser Stelle die anders ausgerichtete Konzeption der
Lese- und Schreibberatung an der Schillerschule Esslingen. Dort findet an jedem
Schultag in der zweiten und dritten Unterrichtsstunde eine Beratung durch Lehr-
kräfte oder studentische Tutoren statt (Aschenbrenner et al. 2009). Gegenstand der
Beratung sind Aufgaben aus dem Regelunterricht, wodurch eine Öffnung des Un-
terrichts hin zu einer Individualisierung des Lernprozesses stattfindet.
9 Der Dynamik des Schreibprozesses angemessen ist der Ansatz von Pohl; Steinhoff (2010), „Text-
form“ von „Schreibprodukt“ abzusetzen: „Sämtliche Realisierungsvarianten eines Textes, wie sie im
sukzessiv-rekursiven Schreibprozess notwendig entstehen, sind als Textformen aufzufassen.“ (Ebda,
16).
Schülerschreibbegleitung zur Unterstützung der Schreibmotivation 135
arbeitung zu finden, die nicht nur auf der Textoberfläche liegen. So formuliert
Bräuer (2006: 135):
Der Berater soll…
… fragen, anstatt festzustellen.
… wahrnehmen, anstatt zu interpretieren.
… antizipieren, anstatt vorzuschreiben.
… gemeinsame Handlungskonzepte entwickeln, anstatt Rezepte
auszugeben.
Zu untersuchen ist nun, wie Schüler diese „Beratungstätigkeit“ (a) umsetzen und
(b) wie sie in Schreibbegleiterschulungen dabei unterstützt werden können. Inwie-
weit der Diskurstyp „Beratung“ für dieses sprachliche Handeln in Anspruch ge-
nommen werden kann, wäre auf einer breiteren empirischen Basis zu untersuchen.
Der Forschungsstand der funktionalen Pragmatik zur Kommunikation in der
Schule ermöglicht zunächst Rekonstruktionen dieser spezifischen Schüler-Schüler-
Kommunikation.
4.1 Valentinstag!
Im Folgenden wird exemplarisch der Text eines Schülers vorgestellt, dessen Be-
arbeitung in einer altersgemischten Kleingruppe unter Anwendung des Verfahrens
„Über den Rand schreiben“ (Becker-Mrotzek; Böttcher 2006: 47) im Anschluss
analysiert wird. Schreibanlass war der Valentinstag, der 14. Februar, der als „Tag
der Liebenden“ für viele Menschen eine besondere Bedeutung hat. Der Schreiber
verdichtet – im Modus des „Freien Schreibens“ – in einer kurzen Erlebniserzäh-
lung eine alltägliche Situation, die er als biographisch qualifiziert („als ich klein
war“): Er erzählt von einem Konflikt mit seinen Freunden („Club“) „wegen eines
Mädchens“, der sich in der Spielbude auf einem Hof hinter den Müllcontainern
abspielt. Der Text, der zunächst handschriftlich konzipiert und dann in den PC
eingegeben wurde, wird in der graphischen Originalgestaltung wiedergegeben.
(Beispiel 1):
Valentinstag! (16.02.2010)
sie spielen doch mein Cousin wollte auch mit mir spielen. Dann habe
ich aus ihr Club gekündigt obwohl ich der Anführer war. Alle meine
Freunde haben mich gehasst und es war alles am Valentinstag passiert.
Als ich zu Hause war hat sich mein Cousin sich bei mir entschuldigt
und alle waren zufrieden.
Eine erste Einschätzung des Sprachstands des Schülers ermöglicht das Verfahren
der Profilanalyse (zuletzt Grießhaber 2010). 10 Das Sprachprofil bewegt sich auf der
Stufe 4 (von insgesamt 6 Stufen). Insgesamt vier Äußerungen mit Nebensatz und
Verbendstellung (davon überdehnt der Konnektor „als“) zeigen, dass sich die Hy-
potaxe im Ausbau befindet. Der C-Test im Klassenverband ergab 72 Punkte (von
80). Die vorliegenden Texte lassen jedoch den Schluss zu, dass die textuelle Kom-
petenz ausbaufähig ist.
In der vorliegenden „Textform“ 11 dominieren Elemente der Mündlichkeit.
Diese sind einerseits der Textart geschuldet. Sie belegen aber auch, dass gerade im
Bereich des emotionalen Wortschatzes, der stilistischen Gestaltung eigenen Erle-
bens und damit der Selbstdarstellung Zweitsprachlernende Lücken aufweisen.
Umso positiver ist jede Anstrengung der Schüler zu werten, ihre teils erstsprachlich
gefassten Erfahrungen in eine narrative Form zu gießen, deren L2-geprägtes Hand-
lungsmuster häufig aufgrund fehlender (deutschsprachiger) Literalität im Eltern-
haus nur in einer schulisch erworbenen basalen Form zugänglich ist.
Das Vorhandensein einer Überschrift markiert ein literales Element, zugleich
wirkt das Exklamativ „Valentinstag!“ durch die malend nachgeahmte Intonation 12
konzeptionell mündlich (vgl. Chat-Kommunikation). Die somit aufgebaute Erwar-
tungshaltung, dass nämlich eine spannende Geschichte folgt, wird bedingt einge-
löst. Es erfolgt eine lineare Strukturierung in Rahmensetzung (Dortmund – Valen-
tinstag – Freundin), Planbruch (doch) und Bewertung (alle waren zufrieden). 13
Eine „Weltausbreitung“ (Augst 2010), die den Leser durch erzählerische Mittel wie
Detaillierung, Qualifizierung durch Adjektive oder freie Angaben involviert, findet
nicht statt. Auffällig ist, dass der Verfasser eingangs eine individuelle Rahmen-
setzung vornimmt: Er gibt den für ihn relevanten Punkt, dass er als Kind eine
Freundin in Dortmund hatte, im ersten Satz als nicht eingebettete Vorabinforma-
tion.
Teilnehmer-Siglen:
Dieser Ausschnitt lohnt einer näheren Betrachtung. Erkan (S1) lenkt seinen Be-
arbeitungsfokus auf den Satz: Unsere Bude war hinter ein Müllcontainer. Er stellt fest,
dass sich dieser Satz nicht so gut anhört (s21) – und merkt an, dass zwischen diesem
und dem Satz davor ein Zusammenhang besteht. (Als es Valentinstag war hat mich mein
Cousin abgeholt und wir sind zur unsere Bude gegangen.) Diese Beobachtung verweist auf
die Zone der nächsten Entwicklung (Vygotski) im Erwerbsprozess. Diese betrifft
die weitere Ausbildung der Hypotaxe, an dieser Stelle des Relativsatzes. Genau
dieses förderdiagnostische Moment, das möglicherweise eine von einer Lehrkraft
geleitete Schreibberatung auf der Formulierungsebene aufgreifen könnte, kann die
Schreibbegleiterin nicht aufgreifen. Sie bleibt in einer konvergenten Gesprächsfüh-
rung (okay), erfüllt aber ihre Aufgabe doppelt: Sie hält den Fokus auf der Aufga-
benstellung, indem sie (a) nachfragt und (b) eine Wissenslücke bei Erkan hinsicht-
lich der Aufgabe antizipiert. Um diese zu füllen, gibt sie eine reformulierende
Worterklärung des Begriffs Leerstelle (s22): Is das da irgendwie/ • • dass es dort schwer is,
den Text zu verstehen?
Deutlich wird aus Erkans Antwort (s23), dass er mental seinen Punkt der syn-
taktischen Komplexität verfolgt: jaa weil das könnte man ja zusammenschreiben ( s23).
Auch im weiteren Verlauf gibt die Begleiterin Hilfestellung, indem sie den
normorientierten Fokus der Schüler (in s26 auf Kasusfehler) auf die Tiefenstruktur
lenkt (s27). Eine durchgängig bestätigende Gesprächsführung wird durch konver-
gente Hörerrückmeldungen (ja genau, aber; joa; okay, hmhmˇ gut) hergestellt.
(Beispiel 3)
(26) S2: Aalso beiii dem Satz bei S1M, ehm da stand ja unsere Bude war hinter ein
Müllcontainer, da müsste einen Müllcontainer hin.
(27) SCHB: Ja • • genau, is n grammatischer Fehler, aber danach suchen wir ja nich
wirklich, sondern wir suchen nach diesen Leerstellen, also da, wo
etwas im Text fehlt, wo du • • wo du dir denkst, „Was soll das bedeu-
ten? Was soll mir das sagen?“, verstehst du?
(28) S1: hmhmˇ
(29) S2: hm¯ • aber da gibt’s noch ne Leerstelle zum Beispiel als ich • • ehmm
zuhause war, hat sich mein Cousin bei mir entschuldigt, da fehlt zum Beispiel
ehmm wie er sich gefühlt hat (oder) was er gesagt hat oder ehm wie er
sich gefühlt hat, als er • nach Hause gekommen is.
(30) SCHB: ((1s)) Joá
(31) S1: Also ging zu schnell?
Schülerschreibbegleitung zur Unterstützung der Schreibmotivation 139
– Was ist das für eine Bude? Beispiel: ... Wie sind zu unserer Bude gegangen,
in der wir uns oft getroffen haben.
– Schreibe, warum deine Freunde dich gehasst haben.
Fix (2000: 269) kommt in seiner grundlegenden Studie zur Textrevision zu dem
Schluss, dass die didaktische Stärke der kooperativen Textbearbeitung in der Schär-
fung des Problembewusstseins zu suchen ist, während sie als Methode des Aus-
baus der Formulierungskompetenz nicht ausreicht. Dieser Befund bestätigt sich
bei der Betrachtung der Schüleraktivitäten – deutlich wird aber, dass (schreib-)er-
fahrene Schüler durchaus effektive Hilfestellungen geben können. Die Verbindung
aus selbstgewähltem Schreibanlass, selbstgesteuerter Tätigkeit und tutorieller Un-
terstützung hat sich als ein motivationsförderliches Setting erwiesen.
5 Ausblick
Aufgrund der positiven Rückmeldung der Schüler und Schülerinnen sowie ihrer
konstanten Teilnahme wird die Schreibwerkstatt im Schuljahr 2010/2011 fort-
gesetzt. Ein Ausbau der Schreibbegleiterschulung soll die Wirkung der Maßnahme
verstärken. In einem zweitägigen Schreib-Workshop außerhalb der Schulzeit kön-
nen die älteren Schüler ihre Schreib- und Gesprächskompetenzen entwickeln und
damit für ihre persönliche und berufliche Entwicklung profitieren. Um die Schüler
für sprachlicher Muster, Mittel und Strategien einer hörerorientierten Gesprächs-
führung zu sensibilisieren, eignet sich der Einsatz von didaktisierten authentischen
Materialien (beispielsweise das hier vorgestellte Transkript). Motivierend wirken
freiwillig schreibende Schüler auch auf Lehrkräfte. So lässt eine Lehrerin der
Projektschule, angeregt von der Schreibwerkstatt, in ihrem LRS-Unterricht neuer-
dings mit großem Erfolg freie Texte schreiben. Pilotprojekte können auf diese
Weise von den Rändern des Schulalltags her auch das schulische Curriculum ver-
ändern.
Literatur
Aschenbrenner, Karl-Heinz; Kunk-Deppermeier, Alexandra; Schäfer, Joachim
(2009): Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Schwierigkeiten bei der
Textproduktion durch Lese- und Schreibberatung. In: Ahrenholz, Bernt
(Hrsg.): Empirische Befunde zu DaZ-Erwerb und Sprachförderung. Freiburg: Fillibach,
235-254.
Augst, Gerhard (2010): Zur Ontogenese der Erzählungskompetenz. In: Pohl,
Thorsten; Steinhoff, Thorsten (Hrsg.): Textformen als Lernformen. KöBeS, 7.
Duisburg: Gilles & Francke, 63-96.
Schülerschreibbegleitung zur Unterstützung der Schreibmotivation 141
1 Mitarbeiterinnen des BeFo-Projekts: Prof. Dr. Petra Stanat und Prof. Dr. Heidi Rösch (Leitung);
Annkathrin Darsow, Dr. Anja Felbrich, Jennifer Paetsch, Daniela Rotter (wissenschaftliche Mitarbei-
terinnen). Das Projekt wird im Rahmen der Forschungsinitiative Sprachdiagnostik und Sprachförde-
rung (FiSS) vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
150 Heidi Rösch & Petra Stanat
Zweitsprache erwerben, beziehen sich die Analysen ausschließlich auf die Kinder
nichtdeutscher Herkunftssprache.
Die Kinder in der Treatmentgruppe wurden wiederum zwei Bedingungen zu-
gewiesen. Von den Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache
erhielten 35 ausschließlich implizite Förderung. Sie nahmen täglich vor- und nach-
mittags an einem theaterpädagogischen Programm teil, das darauf abzielte, durch
sprachintensive Aktivitäten die sprachlichen Kompetenzen der Kinder weiterzu-
entwickeln. Die 60 anderen Kinder wurden dagegen explizit und implizit gefördert.
Sie erhielten am Vormittag zwei Stunden sprachsystematischen Unterricht und be-
suchten am Nachmittag das theaterpädagogische Programm. Die Untersuchung
ergab, dass die Kinder, die am Camp teilgenommen hatten, einen größeren sprach-
lichen Kompetenzzuwachs erzielten als Kinder, die nicht teilgenommen hatten
(Stanat; Becker; Baumert; Lüdtke; Eckhard im Erscheinen). Die 60 explizit und
implizit geförderten Kinder zeigten direkt nach dem Camp signifikant bessere
Grammatik- und Leseleistungen als die Vergleichsgruppe, während die Leistungs-
unterschiede zwischen den ausschließlich implizit geförderten Kindern und der
Vergleichsgruppe nicht signifikant waren. Nach drei Monaten waren die Vor-
sprünge der explizit geförderten Gruppe in der Tendenz zwar weiterhin zu be-
obachten, ließen sich jedoch nur für die Leseleistungen inferenzstatistisch absi-
chern. Dieses Befundmuster kann als erster Hinweis darauf gewertet werden, dass
sich mit sprachsystematischer Förderung Effekte erzielen lassen, die über Wirkun-
gen einer rein impliziten Förderung hinausgehen.
und etwa auf ihre Einbettung in eine ungewohnte und für die Kinder be-
sonders attraktive Lernumgebung zurückzuführen sind. Anknüpfend an
die Forschung zur Förderung des Fremdspracherwerbs (vgl. z.B. Norris;
Ortega 2000) wird erwartet, dass auch mit der sprachsystematischen För-
derung allein und im schulischen Kontext positive Effekte auf die Sprach-
kompetenzen erzielt werden.
2) Untersuchung von Fördereffekten über einen längeren Zeitraum. In der JSC-Studie
waren direkt nach den Sommerferien sowohl für Grammatik als auch für
Lesen signifikante Effekte der Kombination aus impliziter und expliziter
Förderung zu beobachten. Drei Monate später waren die Unterschiede je-
doch nur noch für die Leistungen im Lesen signifikant. Demnach scheint
die Nachhaltigkeit einer kurzfristigen Intervention begrenzt zu sein. Mög-
licherweise hätte der Leistungsvorsprung der Treatmentgruppe mit explizi-
ter Förderung durch eine Weiterführung der Maßnahme in der Schulzeit
gehalten werden können. Im BeFo-Projekt werden daher die Effekte von
kontinuierlichem Unterricht in DaZ über einen Zeitraum von einem
Schuljahr untersucht. Dabei wird angenommen, dass die Effekte bei kon-
tinuierlicher Förderung über die Zeit zunehmen.
3) Erweiterung der impliziten Sprachförderung durch ein stärker schulbezogenes und theo-
retisch besser fundiertes Konzept. Das im JSC-Projekt umgesetzte theater-
pädagogische Programm ermöglichte es, eine Baseline Schätzung für die
Effekte von sprachintensiven Aktivitäten zu liefern. Die Ergebnisse der
Studie weisen darauf hin, dass diese Aktivitäten zwar nicht wirkungslos
waren, statistisch nachweisbare Effekte konnten aber nur in Kombination
mit expliziter Förderung erreicht werden. Im BeFo-Projekt wird die impli-
zite Förderung durch explizite Fokussierung der Bedeutung von Sprache
ergänzt und durch Ankopplung an die Inhalte des Fachunterrichts stärker
auf schulische Anforderungen ausgerichtet.
4) Untersuchung der Rolle von Zweitsprachförderung für den schulischen Erfolg von Kin-
dern mit Migrationshintergrund. In der Literatur besteht weitgehende Einigkeit
darüber, dass dem Erwerb der Verkehrssprache bei Schülerinnen und
Schülern eine Schlüsselrolle zukommt. Offen ist jedoch, inwieweit sich
Zweitsprachförderung positiv auf Leistungen im entsprechenden sprach-
lichen Fach (in deutschen Schulen also im Fach Deutsch) auswirkt und da-
rüber hinaus auch Effekte auf Leistungen in den Sachfächern (in der
Grundschule v.a. Mathematik und Sachunterricht) nach sich zieht. Dies
soll im Rahmen des BeFo-Projekts geprüft werden.
In der BeFo-Studie wird die relative Effektivität formfokussierter und bedeutungs-
fokussierter Sprachförderung untersucht, die mit sprachsystematischem und fach-
integriertem Unterricht operationalisiert werden. Es wird erwartet, dass mit beiden
Ansätzen positive Effekte auf die Leistungen der Kinder in den Sachfächern erzielt
werden. Diese sollten jedoch in der fachintegrierten Förderung stärker ausgeprägt
Bedeutung und Form (BeFo) 153
sein. Die Effekte der Förderung auf die sprachlichen Kompetenzen der Kinder,
insbesondere in Bezug auf Grammatik, sollten dagegen im sprachsystematischen
Unterricht stärker ausfallen als in der fachintegrierten Förderung.
Die Grundlage für die Kontrastierung der Ansätze im BeFo Projekt bilden theore-
tische Unterscheidungen zwischen Focus on Meaning (FoM) und Focus on Form
(FoF) (vgl. z.B. Doughty; Williams 1998, Ellis 2000). Wie Tabelle 2 zusammen-
fassend verdeutlicht, stellen Förderkonzepte, die durch FoM gekennzeichnet sind,
bei der Rezeption und Produktion von Sprache die inhaltliche Bedeutung in den
Vordergrund. In Bezug auf strukturelle Aspekte von Sprache erfolgt die Förderung
überwiegend implizit, d.h. ohne die Aufmerksamkeit der Lernenden auf sprach-
liche Regeln zu lenken. Förderkonzepte mit FoF hingegen beinhalten explizite
Komponenten, bei denen Sprachstrukturen zum Gegenstand des Unterrichts ge-
macht werden.
Bedeutung und Form (BeFo) 155
Kontext Inhalte dienen zur Inhalte haben eine Inhalte dienen als
Illustration der zu über die Form- Kommunikations-
erwerbenden Regel betrachtung hinaus- grundlage
gehende Bedeutung
Rolle der die Instruktion thema- die Instruktion rea- die Instruktion
Instruktion und tisiert die Sprachstruk- giert auf ein rezepti- bezieht sich aus-
Metasprache turen in toto themati- ves oder produktives schließlich auf die
siert, stark lenkend, Sprachproblem, lenkt Inhalte und das
folgt grammatischer je nach Lernstand, Erfassen sowie
Progression, Metaspra- Verwendung von Kommunizieren
che im Feedback und Metasprache nur bei von Konzepten
in den Aufgaben tragfähigen Regeln und Begriffen,
keine Verwendung
von Metasprache
156 Heidi Rösch & Petra Stanat
Beide Ansätze, die im BeFo-Projekt umgesetzt werden, zielen auf die Entfaltung
der bildungssprachlichen Kompetenz ab. Die Mittel, mit denen dies erreicht wer-
den soll, unterscheiden sich jedoch. Während es im FoF-Ansatz primär um
Sprachbewusstheit und eine formalsprachlich angemessene Sprachproduktion geht,
fokussiert der FoM-Ansatz das Verstehen von komplexen fachlichen Inhalten und
das Kommunizieren über diese Inhalte.
Beide Ansätze basieren auf der mittlerweile unumstrittenen Interlanguage-
Hypothese von Selinker (1972), die davon ausgeht, dass Zweitsprachlernende
Hypothesen über die Struktur der Zielsprache ausbilden und mit diesen experi-
mentieren, um sie zu bestätigen und ggf. zu revidieren. Dabei entstehen Norm-
abweichungen wie Übergeneralisierungen, Tilgungen, Interferenzen, die bei erfolg-
reichem Zweitspracherwerb zu einer zunehmenden Annäherung an die Ziel-
sprache, aber auch zu Fossilisierung oder gar zum Abbruch des Zweitsprach-
erwerbs führen können.
Eine zweite wichtige Grundannahme, auf die sich das BeFo-Projekt bezieht, ist
die Interaktionshypothese von Long (1985), die die Bedeutung der Interaktion von
Lernenden einer Zweitsprache mit Sprecherinnen und Sprechern in der Ziel-
sprache betont. Susan Gass (vgl. Gass; Mackey 2005) konkretisiert diese These,
indem sie dafür plädiert, vor allem bei (anhaltenden) Sprachproblemen in Unter-
richtssituationen Interaktionen zu initiieren, die diese Probleme thematisieren.
Swain (1985: 248f.) spricht in diesem Zusammenhang von „comprehensible out-
put“ und bezieht sich auf die Annahme, dass diese Interaktionen „where there has
been a communicative breakdown – where the learner has received some negative
input – and the learner is pushed to use alternate means to get across his or her
message“, dem Lerner die Nutzung seiner linguistischen Ressourcen ermöglichen.
Während dieser Ansatz gestützt durch die Output- und die Noticing-Hypothese
(vgl. Schmidt 1990) im FoF-Ansatz herangezogen wird, um am Output, d.h. an der
Sprachproduktion der Kinder, zu arbeiten und ihre Aufmerksamkeit auf die noch
nicht beherrschten sprachlichen Phänomene zu lenken, orientiert sich der FoM-
Ansatz an der Input-Hypothese von Krashen (z.B. 1981, 1985) und gestaltet den
sprachlichen Input thematisch und aus schulischer Perspektive fachlich authen-
tisch. Auch hier spielt Interaktion eine zentrale Rolle. Interaktionsprobleme wer-
den dadurch gelöst, dass verständlicher Input angeboten und Bedeutung ausge-
handelt wird, was laut Krashen zum Spracherwerb führen sollte. Dies ist eine we-
sentliche Grundannahme des FoM-Ansatzes.
Bedeutung und Form (BeFo) 157
dem der Text nur zur Illustration für die zu erwerbende Regel dient), um eine si-
tuative Gestaltung des Kontexts, in dem der Lerner sich die Bedeutung der Form
über den Kontext erschließen kann. Das Ziel ist formalsprachliche Korrektheit,
was deutlich über einen erweiterten und präzisen Wortschatz hinausgeht, ohne
dabei jedoch explizites Regelwissen zum Gegenstand des Sprachunterrichts zu
machen.
Der Input besteht im FoFs-Ansatz in Beispielen für die Formenvermittlung,
im FoM-Ansatz dagegen in Inhalten, die an fachlichen Anforderungen orientiert
sind. Im FoF-Ansatz wird mit dem Input ein thematischer Rahmen etabliert, in
dem Form und Bedeutung verbunden werden wie in einem funktionalen Gramma-
tikunterricht. Der Output orientiert sich im FoM-Ansatz an den erarbeiteten Inhal-
ten, während es im FoFs-Ansatz um eine regelkonforme, situationsunabhängige
Verwendung sprachlicher Mittel geht. Auch hier nimmt der FoF-Ansatz eine Mit-
telstellung ein, denn er zielt darauf ab, die Aufmerksamkeit der Lernenden bei
ihrem selbst produzierten Output auf eine im Lernprozess sinnvoll zu vermittelnde
Form zu lenken. Auch wenn die Feedback-Verfahren output-fordernd sind, sind
sie weniger direkt und beziehen seltener metasprachliche Erklärungen ein als im
FoFs-Ansatz. Gleichzeitig reagieren sie auf die Probleme und versuchen diese mit
den Lernenden zu bearbeiten.
Insgesamt ist die Rolle der Instruktion und der Metasprache in den drei Ansät-
zen sehr unterschiedlich: FoFs-Vertreter thematisieren Sprachstrukturen in toto und
sie agieren stark lenkend. Ihr Unterricht folgt einer strikten grammatischen Pro-
gression und sie verwenden Metasprache in allen Unterrichtsphasen, vor allem
auch in den Aufgaben und im Feedback. FoF-Vertreter reagieren dagegen auf re-
zeptive oder produktive Sprachprobleme, lenken je nach Lernstand die Aufmerk-
samkeit auf bestimmte Phänomene und formulieren – wenn überhaupt – nur trag-
fähige Regeln metasprachlich. Völligen Verzicht auf Metasprache zu Sprachstruk-
turen üben FoM-Vertreter aus. Ihre Instruktion bezieht sich ausschließlich auf die
Inhalte und die Kommunikation über Konzepte und Begriffe. Entsprechend sind
die Aufgaben inhaltsbezogen und sehen kommunikative Aktivitäten, Feedback und
Recasts vor.
Der FoF-Ansatz nimmt also eine vermittelnde Rolle ein, was seine Vertreter
immer wieder der Gefahr aussetzt, als ‚verkappte‘ FoFs-Anhänger bzw. als Ver-
fechter eines traditionellen Grammatikunterrichts zu gelten. Entscheidend sind
deshalb die Kontextgebundenheit von FoF und die durchgängig induktive Vorge-
hensweise, die den Lernenden und nicht die zu erlernende Form in den Mittel-
punkt des Unterrichts stellt. Die Lernenden werden dabei unterstützt, Regelhaftes
zu entdecken und sich aktiv anzueignen. Dass auch FoFs durchaus positive Er-
gebnisse erzielen und eine „grundsätzlich kommunikative Orientierung im Klas-
senraum“ (Lütke 2010: 35) mit dem FoF-Ansatz teilen kann, weist Sheen (2005,
zit. in Lütke 2010: 35) nach. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Ansätzen
besteht im Grad der Explizitheit (vgl. Housen; Pierrard 2005).
Bedeutung und Form (BeFo) 159
Im BeFo-Projekt haben wir uns für die Umsetzung einer präventiven und reakti-
ven Formfokussierung entschieden, d.h. die Planung orientiert sich an grammati-
schen Inhalten und am (phasenweise distanzierten, dekontextualisierten und
deautomatisierten) Umgang mit Sprache. Die Förderung will den Erwerb von pro-
zeduralem Sprachwissen unterstützen. Bedeutungsfokussierung verstehen wir in
einem weiten Sinn, d.h. die Planung orientiert sich an lexikalischen Inhalten und
handlungsorientiertem Umgang mit Sprache. Gleichzeitig will die FoM-Förderung
aber auch einen impliziten Erwerb morpho-syntaktischer Strukturen unterstützen.
Zusammenfassend lassen sich die beiden Ansätze wie in Abbildung 1 und in
Tabelle 1 dargestellt verorten.
In welcher Weise sich diese Ansätze im schulischen Kontext umsetzen lassen und
welche Effekte sie bewirken, wird die Untersuchung im laufenden Schuljahr
(2010/11) zeigen. Erste Ergebnisse werden etwa Ende 2011/Anfang 2012 vorge-
legt werden können.
Literatur
Brunner, Ewald (1989): Interaktion und Erziehung. München: Verl. Internat.
Psychoanalyse.
Doughty, Catherine; Williams, Jessica (1998): Pedagogical choices in focus on
form. In: Doughty, Catherine; Williams, Jesssica (Hrsg.): Focus on form in
classroom second language acquisition. Cambridge: University Press, 197-261.
Ellis, Rod (2000): Instructed Second Language Acquisition. Oxford, Cambridge:
Blackwell.
Gass, Susan et al. (2005): Task-Based Interactions in Classroom and Laboratory
Settings. Language Learning 55/4, 575-611.
Gibbons, Pauline (2006): Unterrichtsgespräche und das Erlernen neuer Register in
der Zweitsprache. In: Mecheril, Paul; Quehl, Thomas (Hrsg.): Die Macht der
Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster: Waxmann,
269-290.
160 Heidi Rösch & Petra Stanat
1 Einleitung
Sprachförderung wird seit der Jahrtausendwende von Wissenschaft, Politik und
Öffentlichkeit als Medium der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund
erkannt. In dieser Zeit ist eine Vielzahl an Fördermaterialien und -konzepten ent-
standen, die unter den verschiedensten Rahmenbedingungen eingesetzt werden.
Die Beurteilung der Wirksamkeit der unterschiedlichen Maßnahmen ist von großer
gesellschaftspolitischer Relevanz, da sie mit Kosten verbunden sind und den Kin-
dern möglicherweise keine optimalen Bedingungen für ihre sprachliche und, damit
verbunden, ihre schulische Entwicklung bieten.
Die Evaluation von Sprachfördermaßnahmen stellt die Wissenschaft dabei vor
erhebliche, schwer lösbare Probleme. Das hat zum einen mit der Menge an inter-
nen und externen Faktoren zu tun, die den Zweitspracherwerb in der Kindheit
beeinflussen und es erschweren, in allen relevanten Aspekten vergleichbare Unter-
suchungs- und Kontrollgruppen zu bilden. Zum anderen stellen die eingesetzten
Messinstrumente einen Problembereich bei der Beurteilung von Maßnahmen dar.
Die Ergebnisse vorliegender Evaluationsstudien sind vor diesem Hintergrund als
äußerst fragwürdig zu betrachten.
Im Folgenden wird eine Studie kritisch reflektiert, die Sprachfördermaßnah-
men im Rhein-Neckar-Raum betrifft: die von J. Roos und H. Schöler im Auftrag
der Landesstiftung Baden-Württemberg durchgeführte EVAS-Studie (Polotzek;
Roos; Schöler 2009), bei der die Ergebnisse von Sprachförderung nach drei Kon-
164 Erika Kaltenbacher
zepten, darunter einer Vorläuferversion von „Deutsch für den Schulstart“ 1 , mit
denen einer „unspezifischen“ Förderung im Kindergartenalltag verglichen wurden.
In dieser Studie wurden, ebenso wie in einer zeitgleich durchgeführten Studie der
PH Weingarten zu anderen Fördermaßnahmen, keine positiven Effekte der geziel-
ten Sprachförderung gegenüber einer „situativen“, in den Alltag integrierten
sprachlichen Förderung im Kindergarten festgestellt. Es stellt sich die Frage, ob
alle oder einige der einbezogenen, gezielten Fördermaßnahmen tatsächlich keinen
„Mehrwert“ erbringen, oder ob dieser in den Evaluationsstudien nur nicht erfasst
wird. Diese Frage wird im Folgenden insbesondere für das Förderkonzept
„Deutsch für den Schulstart“ in Bezugnahme auf die EVAS-Studie, aber auch auf
eine eigene, projektinterne Überprüfung von Förderergebnissen reflektiert. Im
Zentrum stehen dabei die eingesetzten Messinstrumente. Für diese erscheinen die
folgenden Anforderungen wesentlich:
- Sie sollten die zentralen Förderbereiche berücksichtigen, d.h. auf die Inhal-
te der Förderung bezogen sein.
- Sie sollten den Stand und die Entwicklung der Kinder in diesen Bereichen
angemessen erfassen können, d.h. entwicklungssensitiv sein.
Für die Bewertung der Ergebnisse sind Richtwerte erforderlich, welche Entwick-
lungsschritte bei den für die jeweiligen Kinder gegebenen Erwerbs- und Förder-
bedingungen in welchem Zeitrahmen möglich sind. Diese liegen beim derzeitigen
Forschungsstand nicht vor, so dass die Interpretation der Daten und damit die
Bewertung der Maßnahmen problematisch ist.
1 Das Förderkonzept wurde im Rahmen eines Projekts am Seminar für Deutsch als Fremdsprachen-
philologie der Universität Heidelberg unter Leitung der Verfasserin dieses Artikels entwickelt. Wir
danken der Günter-Reimann-Dubbers-Stiftung (Heidelberg) und der Dürr-Stiftung (Hamburg) für
die finanzielle Unterstützung, die die Projektarbeit möglich macht. Joanna Ermonies-Jargielo, Gunde
Kurtz, Giulio Pagonis und Tanja Vasylyeva danke ich für Unterstützung und Anregungen beim
Verfassen dieses Artikels.
2 Derzeit arbeitet die Projektgruppe an einer Adaptation des ursprünglich für den Vorschulbereich
entwickelten Materials an die Bedingungen einer Grundschulförderung (1. und 2. Klasse).
Zur Problematik der Evaluation von Sprachfördermaßnahmen 165
3 Die EVAS-Studie
Die an der PH Heidelberg unter der Leitung von J. Roos und H. Schöler durch-
geführte „Evaluationsstudie zur Sprachförderung von Vorschulkindern“ (EVAS)
betrifft das Förderjahr 2005/06 und erfasst sprachliche, kognitive und ausgewählte
schulische Leistungen der Kinder im Rahmen eines Prätest/Posttest- und Follow-
up-Designs. Die Datenerhebung erfolgte vor Beginn der Förderung im letzten
Kita-Jahr der Kinder, am Ende des Förderjahres sowie nach dem 1. und 2. Schul-
jahr (Polotzek et al. 2009: 8f). Verglichen werden über alle vier Zeitpunkte hinweg:
3 Zum Förderkonzept gehören außerdem eine einjährige E-Learning-Fortbildung, die der vertieften
Auseinandersetzung mit dem Förderkonzept und der Ausbildung von Multiplikatorinnen dient, sowie
Materialien und Anregungen für die Elternarbeit.
4 Der Einfachheit halber beziehen wir uns auch auf diese Vorläuferversion mit der Bezeichnung
„Deutsch für den Schulstart“.
5 Die Didaktik des Förderkonzepts folgt dem Ziel, die Kinder im Rahmen einer systematischen
Förderung in ihrem natürlichen Erwerbsverlauf zu unterstützen, indem jeweils eine gezielte Förde-
rung im Bereich des nächsten Entwicklungsschritts erfolgt. Dabei wird ein impliziter, beiläufiger
Erwerb durch die Kinder angestrebt.
166 Erika Kaltenbacher
bedarf nicht gewährleistet, da für die Letztere bessere individuelle bzw. soziale
Rahmenbedingungen angenommen werden können (Kaltenbacher; von Stutter-
heim 2009). Auch wurde im Bereich der kognitiven Fähigkeiten zwar die – non-
verbale – Intelligenz, nicht jedoch die für den Spracherwerb grundlegende Auf-
merksamkeitsspanne erfasst. Bezüglich der Datenerhebung wurde von Seiten der
beteiligten Kindertagsstätten die Eignung der eingesetzten Testleiter/innen für
diese Aufgabe in Frage gestellt.
Die Methodik der EVAS-Studie wurde von einem Experten (Rogge 2009) kri-
tisch analysiert. Hauptkritikpunkte betreffen:
- die fehlende theoretische (sprachwissenschaftliche und psycholinguisti-
sche) Basis, auf deren Grundlage klare Hypothesen zu erwartbaren Lern-
fortschritten hätten formuliert werden können. Bei diesem methodischen
Defizit sind die Ergebnisse der Studie nicht zu interpretieren;
- die fragliche Eignung der eingesetzten statistischen Auswertungsverfahren.
Sie erlauben es nicht, die Entwicklung von einzelnen Kindern und diffe-
renzierten Wirkungszusammenhängen in den Blick zu nehmen;
- unzulässige Verallgemeinerungen. So schränkt die Anlage der Unter-
suchung (das quasi-experimentelle Design) die Verallgemeinerbarkeit der
Ergebnisse stark ein. Die fehlende Thematisierung dieser Einschränkung
in den Berichten stellt eine Verletzung der wissenschaftlichen Sorgfalts-
pflicht dar.
Insgesamt lässt es die Studie demnach nicht zu, Schlussfolgerungen für künftige
Fördermaßnahmen abzuleiten, da eine differenzierte Erfassung und Bewertung
von Erwerbsverläufen unterbleibt.
Im Folgenden soll die Eignung der eingesetzten Testverfahren zur Über-
prüfung des Fördererfolgs genauer diskutiert werden. Diese Frage stellt einen
Kernpunkt bei der Kritik der EVAS-Studie aus der Sicht der Spracherwerbs-
forschung dar. 6
Bezüglich der Auswahl der erfassten Sprachbereiche ist EVAS dadurch ge-
kennzeichnet, dass die Textkompetenz der Kinder, d.h. ihre Fähigkeit beim Ver-
stehen und Gebrauch größerer sprachlicher Einheiten (wie Geschichtenverständnis
und Erzählen) nicht berücksichtigt wird. Damit wird ein wesentlicher Inhalt der
Sprachförderung nach „Deutsch für den Schulstart“ vollständig ausgeklammert.
Für die Überprüfung des Wortschatzes wurde neben einer einfachen Benennungs-
aufgabe, die aufgrund des Deckeneffekts keine interpretierbaren Daten erbrachte,
der Subtest „Wortfindung“ des HSET eingesetzt. Ebenso wie für den überprüften
grammatischen (morphologischen und syntaktischen) Bereich wird damit ein In-
strument verwendet, das nicht zum Zweck der Evaluation, sondern zu dem der
Differentialdiagnose von Sprachstörungen entwickelt wurde. Ein solches Vor-
6Für andere Evaluationen, etwa die ebenfalls von der Landesstiftung Baden-Württemberg in Auftrag
gegebene der PH Weingarten, trifft das ebenso zu.
168 Erika Kaltenbacher
gehen wird von Wottawa; Thierau (1990: 125f) in ihrem Lehrbuch zur Evaluation
kritisch reflektiert. Die Verfasser stellen fest, dass sich Testverfahren, die für ange-
wandt-diagnostische Zwecke entwickelt wurden, für Evaluationen wenig eignen.
So erfordert die diagnostische Zielsetzung eine geringe Änderungssensitivität, wäh-
rend bei Evaluationen gerade – auch kleinere – Veränderungen von Interesse sind.
Die Autoren stellen die verbreitete Bevorzugung von standardisierten Verfahren in
Frage (ebd. 126):
Das Bestreben vieler Evaluatoren, objektive Testverfahren einzuset-
zen, ist verständlich. Man muss aber auch die Grenzen der Möglich-
keiten dieser Instrumente zumindest bei ihrem derzeitigen Entwick-
lungsstand sehen, und es kann sinnvoller sein, mit einer ‚weichen‘, we-
niger exakten und elaborierten Methode ein interessantes Kriterium zu
messen als mit hoher Präzision etwas, was inhaltlich nicht zu den ei-
gentlichen Evaluationszielen passt.
Diese Überlegungen treffen für die bei EVAS eingesetzten Testverfahren in ho-
hem Maße zu, wie im Folgenden am Beispiel der beiden Subtests „Verstehen von
Strukturformen“ (VS) und „Imitation von Strukturformen“ (IS), mit denen die
syntaktische Kompetenz der Kinder überprüft wurde, gezeigt werden soll. Die
beiden Subtests bestehen aus Testitems, mit denen späte Entwicklungen in der
Syntax erfasst werden können – solche, die sich im Erstspracherwerb überwiegend
erst im Übergang zum Schulalter herausbilden. Im Einzelnen handelt es sich dabei
um Passivsätze (VS, IS), Relativsätze (VS, IS), Temporalsätze (VS, IS), Expletiv-
strukturen (IS) und performative Sätze (VS), die den Kindern kontextlos vorgege-
ben werden und mit Spielfiguren ausagiert (Verstehenstest) bzw. nachgesprochen
(Imitationstest) werden sollen. Die damit verbundenen sprachlichen Anforderung-
en werden zunächst an einigen Beispielen für den Verstehens-, danach für den
Imitationstest erläutert.
Für den Verstehenstest sollen dazu die Testsätze mit Passivstrukturen und mit
temporalen Nebensätzen herangezogen werden. Passivstrukturen sind in den Test-
items Nr. 2, 4 und 8 enthalten:
VS Testitem 2: Die Katze wird von dem Jungen gefangen
(irreversibel)
VS Testitem 4: Das Mädchen wird von dem Jungen gewaschen
(reversibel)
VS Testitem 8: Die Mutter wird von dem kleinen Kind gewaschen
(kontra-intuitiv)
Die Testsätze enthalten einen zunehmenden Schwierigkeitsgrad: Der irreversible,
d.h. nur in einer Handlungsrichtung (mit dem Jungen als Agens) plausible Passiv-
satz 2 kann ohne Beachtung der Passivmorphologie aufgrund des Weltwissens,
d.h. auf der Basis einer Semantikstrategie, korrekt ausagiert werden. Die von Bever
für den Erstspracherwerb postulierte N-V-N-Strategie (vgl. Grimm; Schöler;
Zur Problematik der Evaluation von Sprachfördermaßnahmen 169
Wintermantel 1975: 62f), nach der das erste Nomen im Satz als Agens interpretiert
wird, muss dabei allerdings außer Kraft gesetzt werden. Bei dem reversiblen
Passivsatz 4, bei dem beide Handlungsrichtungen („Mädchen wäscht Junge“ und
„Junge wäscht Mädchen“) gleich plausibel sind, hilft weder eine Semantikstrategie
noch die N-V-N-Strategie weiter. Hier müssen die strukturellen Merkmale des
Passivs genutzt werden, um zu einem korrekten Verständnis zu kommen. Bei
Testsatz 8 müssen diese so gut beherrscht werden, dass sie den kontra-intuitiven
Inhalt des Satzes „aushebeln“.
Eine entsprechende Schwierigkeitsabfolge ergibt sich für die Testitems mit
temporalen Nebensätzen:
VS Testitem 6: Die Ente wackelt weg, bevor das Schaf umfällt
VS Testitem 7: Nachdem das Pferd rennt, springt der Elefant
VS Testitem 12: Bevor der Hund rennt, springt das Pferd.
Satz 6 kann auf der Basis einer „order of mention“ – Strategie (Grimm et al. 1975:
134f) korrekt verstanden werden: Die Nennung der Ereignisse im Satz entspricht
hier der chronologischen Abfolge. Dasselbe trifft auf Satz 7 zu, bei dem allerdings
die den Literaturbefunden zufolge schwierigere Konjunktion nachdem, d.h. die
Nachzeitigkeit, betroffen ist. Bei Satz 12 ist die „order of mention“ – Strategie
irreführend, hier ist ein präzises Verständnis der Konjunktion erforderlich.
Für alle Testsätze gilt, dass aufgrund ihrer isolierten Darbietung keine kontext-
bezogenen Verstehensstrategien eingesetzt werden können. In Anbetracht der
hohen Anforderungen an die grammatische Kompetenz erstaunt es daher nicht,
dass die Untersuchungsgruppen im Posttest durchschnittlich nur sechs Aufgaben
korrekt ausagierten und damit deutlich hinter der Vergleichgruppe ohne Förder-
bedarf zurückblieben, die auf durchschnittlich elf korrekte Lösungen kam. Über
den Fördererfolg sagt dieses Ergebnis jedoch wenig aus.
Zur Illustration der sprachlichen Anforderungen beim Imitationstest sollen
zwei – für den Subtest durchaus typische – Testsätze herangezogen werden:
IS Testitem 1: Der Teppich wird von dem Vater ausgeklopft
IS Testitem 5: Es sitzt der kleine Vogel im Gebüsch
Die Imitation von Sätzen dieser Länge setzt eine Restrukturierung und damit
sprachliches Wissen auf verschiedenen Ebenen voraus. Die Testsätze beinhalten
dabei für die Förderkinder problematische Wörter (ausklopfen, Gebüsch) und Sach-
verhalte („Teppich klopfen“). Ihre präzise Wiedergabe setzt neben der Wort-
schatzkenntnis differenziertes Wissen im formal-grammatischen Bereich voraus: in
Bezug auf die Artikelwahl in der Genus- und Kasusmorphologie, im verbalen Be-
reich in der Passivmorphologie, beim expletiven „es“ die Beachtung eines rein
formalen, inhaltsleeren Elements. Forschungsergebnisse zum frühen Zweitsprach-
erwerb zeigen, dass entsprechende Bereiche in einem langwierigen Prozess erwor-
ben werden (Kaltenbacher; Klages 2007, Kaltenbacher; Klages 2008, Montanari
2010, Wegener 1995, Wegener 1998). Da für die Bewertung mit der vollen Punkt-
170 Erika Kaltenbacher
7 Damit ist der Zeitpunkt gemeint, ab dem das Kind in aktiven Kontakt mit der Zweitsprache
kommt.
Zur Problematik der Evaluation von Sprachfördermaßnahmen 171
hen Zweitspracherwerbs darstellen, werden bei der Auswertung – die ja auch für
eine andere Zielgruppe und Zielsetzung entwickelt wurde – ebenfalls nicht berück-
sichtigt. Bei einem entwicklungssensitiven Verfahren sollten sie bei der Auswer-
tung positiv bewertet werden. 8
Für die – ebenfalls für einsprachige Kinder entwickelten – Verfahren zur Er-
fassung der Rechtschreibleistung und des Leseverstehens gilt Ähnliches wie für die
HSET-Untertests. Auch hier zeigt sich das gravierende linguistische Defizit der
EVAS-Studie: Die Tests setzen Sprachleistungen der mehrsprachigen Kinder
voraus, die bei den gegebenen Erwerbs- und Förderbedingungen unrealistisch
sind. Prüft man eine Fähigkeit zu zwei Zeitpunkten, die zum zweiten Zeitpunkt
nicht erreicht sein kann, so lassen sich auf Grund der Testergebnisse keine
Schlussfolgerungen zu Lernfortschritten ziehen.
8 Das betrifft u.a. die Genusform der Artikel, bei der die Kinder im Zweitspracherwerb zunächst ein
zweigliedriges System aus maskulinen und femininen Formen aufbauen und Neutra mit der maskuli-
nen Form verwenden, aber auch Entwicklungsstufen beim Passiverwerb, wo „ist“ als Auxiliar über-
generalisiert wird.
9 Wir danken an dieser Stelle den zahlreichen Personen, die auf diese Weise durch ihr Engagement
zur stetigen Verbesserung der Förderkonzeption beigetragen haben.
10 In den beiden Jahren zusammen nahmen die Kinder durchschnittlich ca. 180 Stunden an der
Sprachförderung teil.
172 Erika Kaltenbacher
wir uns auf die Entwicklung im grammatischen Bereich. Eine vollständigere Analy-
se ist in Kaltenbacher; Klages; Vasylyeva (im Druck) enthalten.
Die hier vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf einen Einzeltest, bei dem
den Kindern nacheinander 15 Bildkarten vorgelegt werden mit der Bitte, die abge-
bildeten Sachverhalte zu beschreiben. 11 Die mit diesem Verfahren erhobenen Aus-
sagen der Kinder werden in einem ersten Auswertungsschritt in Bezug auf Syntax
und Wortschatz, in weiteren Schritten in Bezug auf die Genus- und Kasuskompe-
tenz analysiert. Der erste Auswertungsschritt erfasst die Fähigkeit des Kindes, den
abgebildeten Sachverhalt in Bezug auf Wortschatz und Satzstruktur angemessen
sprachlich wiederzugeben. Bei der Satzstruktur werden dabei die syntaktische Voll-
ständigkeit sowie verschiedene Stellungsmuster des Verbs (S-V-O; S-Aux-O-V; S-
V-O-Part 12 ) erfasst. Abbildung 1 gibt die Entwicklung der Kinder über die beiden
Förderjahre hinweg wieder. 13
Abb. 1: Entwicklung der Kinder bei Syntax und Wortschatz in zwei Förderjahren.
Abbildung 1 zeigt einen Anstieg der Leistungen von durchschnittlich sechs auf 18
von 24 möglichen Punkten für die Gesamtgruppe der Kinder.
Die Abbildungen 2 und 3 geben am Beispiel von zwei Bildkarten typische
Äußerungen der Kinder zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Förderzeitraums
wieder (s. Abb. 2 und Abb. 3).
11 Die Abbildungen haben teilweise irrealen Charakter, was nicht nur den Unterhaltungswert steigert,
sondern auch die Überprüfung der produktiven Kompetenz der Kinder begünstigt. Gleichzeitig
können so Sätze besser elizitiert werden, bei denen das Subjekt nicht auf menschliche Wesen, son-
dern auf unbelebte Handlungsträger Bezug nimmt, was für die Ermittlung der Genuskompetenz von
Interesse ist.
12 Die Abkürzungen stehen für: S = Subjekt; V = Verb; O = Objekt; Aux = Auxiliar; Part = trennba-
re Verbpartikel.
13 Zwischen der Endtestung des 1. Jahres (Juli 2008) und der Anfangstestung des 2. Jahres (Novem-
ber 2008) fand keine Förderung statt.
Zur Problematik der Evaluation von Sprachfördermaßnahmen 173
Abb. 2: Die Ente hat den Stuhl kaputt Abb. 3: Das Haus gießt den Baum.
gemacht.
100
90
Anzahl der Kinder in %
80 NGP erworben
70
60
50 mind. 2-gld. Genus
40 beim Subjekt
30
mind. 2-gld. Genus
20
beim Objekt
10
0
Nov. 07 Juli 08 Okt. 08 Juli 09
Testzeitpunkt
Abb. 4: Ergebnisse beim NGP, grammatischen Genus beim Subjekt und direkten Objekt
in zwei Förderjahren.
Insgesamt zeichnen die Ergebnisse ein Bild, bei dem die geförderten Bereiche
schrittweise im Rahmen von Entwicklungssequenzen erworben werden. Sie ver-
deutlichen auch, dass komplexe Sätze wie die bei den HSET-Subtest VS und IS
überprüften weit jenseits des Kompetenzniveaus der geförderten Kinder liegen.
5 Fazit
Die Verfasser von EVAS vertreten den Standpunkt, dass eine den wissenschaft-
lichen Anforderungen genügende Evaluationsstudie nur auf der Basis standardi-
sierter Testverfahren möglich ist. Wie in Abschnitt 3 gezeigt wurde, nehmen sie
dabei eine mangelnde Validität durch den Einsatz von Verfahren in Kauf, die die
Entwicklungsprozesse der untersuchten Kinder im frühen Zweitspracherwerb
nicht erfassen können. Dieser Mangel, der auch in einer aktuellen Studie zur
14 Das Deutsche weist eine lautliche Tendenz bei der Genuszuweisung auf: Wörter, die auf unbeton-
tes „e“ enden, sind in der überwiegenden Mehrheit feminin; einsilbige Wörter sind mehrheitlich
maskulin.
Zur Problematik der Evaluation von Sprachfördermaßnahmen 175
Literatur
Dieser, Elena (2008): Strategien beim Erwerb des russischen und deutschen Genus
(am Beispiel mehrsprachiger Kinder). In: Zeitschrift für Slavistik 53, 394-402.
Grimm, Hannelore; Schöler, Hermann; Wintermantel, Margret (Hrsg.) (1975): Zur
Entwicklung sprachlicher Strukturformen bei Kindern. Weinheim u.a.: Beltz.
Grimm, Hannelore; Schöler, Hermann (1978): Heidelberger Sprachentwicklungstest.
Göttingen: Hogrefe.
Haberzettl, Stefanie (2005): Der Erwerb der Verbstellungsregeln in der Zweitsprache
Deutsch durch Kinder mit russischer und türkischer Muttersprache. Tübingen: Niemeyer.
Kaltenbacher, Erika; Klages, Hana (2007): Sprachprofil und Sprachförderung bei
Vorschulkindern mit Migrationshintergrund. In: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.):
Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten. 2. Aufl.
Freiburg: Fillibach, 80-97.
176 Erika Kaltenbacher
1 Einleitung
Die Entscheidung für ein Blended-Learning-Kursmodell hat bei Kursanbietern oft
vor allem pragmatische Gründe: Über Blended-Learning-Kursangebote sollen Ler-
nende angesprochen werden, die aus zeitlichen oder räumlichen Gründen keinen
Kurs mit regelmäßigem Präsenzunterricht besuchen können. Die Stärken des
E-Learning, also zeitliche und räumliche Flexibilität, Distanzüberbrückung durch
synchrone und asynchrone Kommunikationswerkzeuge (Chat, Instant Messaging,
E-Mail, u.a.) sowie vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu Informationsressourcen,
werden in einem Blended-Learning-Arrangement mit den Stärken des Präsenz-
unterrichts, dem persönlichen Kontakt und der sozialen Nähe zur Lehrkraft und
den anderen Lernenden sowie dem direkten Austausch zwischen allen Beteiligten
kombiniert.
Den Impuls für diese Forschungsarbeit gab die Frage: Ist Blended Learning nur
eine pragmatische Alternative zum traditionellen Präsenzunterricht oder kann
Blended Learning auch eine Lernmethode sein, die den Fremdsprachenlernprozess
besonders effektiv unterstützt?
Sich dem Thema Blended Learning von wissenschaftlicher Seite zu nähern, ist
sehr schwierig, was zunächst dem Begriff als solchem geschuldet ist. Hinter ihm
verbergen sich sehr unterschiedliche Vorstellungen, Konzepte und Szenarien (Rös-
ler; Würffel 2010). Allgemein kann man ihn als konzeptuelles Kontinuum be-
schreiben, das sowohl Unterricht in der Klasse mit zusätzlichen E-Learning-
180 Rebecca Launer
Komponenten sein kann als auch ein E-Learning-Kurs mit einer Auftakts- oder
Abschlussveranstaltung sowie alle denkbaren Variationen, die dazwischen liegen.
Kranz und Lücking definieren Blended Learning als einen „abnehmerorientierten
Mix von verschiedenen Methoden und Lernformen“, in dem durch ein ausgewo-
genes Verhältnis von multimedial gestützten Lernphasen und Präsenzunterricht ein
„erhöhter und nachhaltiger Lerneffekt erzielt werden“ soll (Kranz; Lücking 2005:
1). So groß die Spielräume sind, die eine solche weite Definition erlaubt, so groß
sind die Herausforderungen, vor die man sich in einer empirischen Untersuchung
zu diesem Thema gestellt sieht:
– Im Vergleich wozu soll Blended Learning einen erhöhten und nachhaltige-
ren Lerneffekt erzielen?
– Kann man unterschiedliche Lernszenarien überhaupt vergleichen oder
vergleicht man dann die sprichwörtlichen Äpfel und Birnen miteinander?
Dazu kommen die Aufgaben, die man in jeder empirischen Untersuchung beach-
ten muss, wie beispielsweise:
– Kontrolle der Einflussfaktoren: Lernende, Lehrende, Lerninhalte, Lern-
zeit, Lernmaterialien u.v.m.
– Beachtung von ethischen Grundsätzen bei der Erstellung und Durchfüh-
rung von Untersuchungen, an denen Personen teilnehmen (z.B. Transpa-
renz der Studie, keine Benachteiligung einer Versuchsgruppe etc.).
tigt: der Wortschatz- und Grammatiklernprozess sowie das Training der vier
Handlungskompetenzen Leseverstehen, Hörverstehen, Schreiben und Sprechen.
Zunächst soll der Wortschatzlernprozess betrachtet werden. Das multilinguale
Lexikon ist ein sehr komplexes Konstrukt, das verschiedenartige Informationen
verarbeiten und verbinden muss: Formelemente, syntaktische Strukturen sowie
Konzepte (De Bot 2004). Effektive Wortschatzvermittlung muss diesen stark ver-
netzten Aufbau des mentalen Lexikons unterstützen. Dabei müssen neue Wörter
in vorhandenes Wissen, sowohl Wörterwissen als auch Situations- und Weltwissen,
eingebettet werden. Das Vorwissen der Lernenden und auch die Einbettung sind
in höchstem Maße individuell, so dass folglich auch der Lernprozess individuell ist.
Während im Präsenzunterricht in der Regel ein Mittelweg gefunden werden muss,
der versucht, die Bedürfnisse aller Lernenden auf einen Nenner zu bringen, kön-
nen die Lernenden in den Onlinephasen genau das lernen und vertiefen, was sie
persönlich benötigen.
Wie der Prozess des Wortschatzlernens ist auch der des Grammatiklernens
sehr individuell, da dieser Prozess ebenfalls auf dem individuellen Vorwissen der
Lernenden aufbaut und mit den grammatischen Vorprägungen der Muttersprachen
verknüpft bzw. davon abgegrenzt werden muss. Darüber hinaus werden die
grammatischen Strukturen in der Muttersprache stark automatisiert gebraucht
(Butzkamm 2002). Um in der Fremdsprache eine annähernd ähnliche Automatisie-
rung zu erreichen, bedarf es intensivster Übung. In der Klassengemeinschaft be-
steht dabei die Gefahr, dass bei intensiven Strukturübungen nicht immer alle Ler-
nende gleichzeitig aktiv sind, vielleicht mit den Gedanken abschweifen und nicht
den vollen Nutzen aus dem Übungsangebot ziehen können. Wird der Lernprozess
der grammatischen Strukturen jedoch in den Einzellernphasen angesiedelt, müssen
die Lernenden die Strukturen selbst erarbeiten. Jeder bearbeitet die ihm gestellten
Themen aktiv, lernt im eigenen Tempo und so ausführlich wie nötig, ohne dass
einzelne durch die Heterogenität der Klasse über- oder unterfordert werden.
Beim Lese- wie auch beim Hörverstehen finden Verarbeitungsprozesse sowohl
auf der Form- als auch auf der Inhaltsebene statt. Auf der Formebene geht es da-
bei um die Dekodierung des geschriebenen oder auditiven Textes. Auf der Inhalts-
ebene geht es um die Erschließung und Besprechung von Informationen
(Lütjeharms 2006).
Das Formtraining für das Lese- und das Hörverstehen wird in diesem Modell
in den individuellen Lernphasen verortet. Dadurch können die Lernenden den
auditiven oder visuellen Text in ihrem eigenen Tempo dekodieren und ihn so oft
wie nötig wiederholen. Die inhaltliche Bearbeitung von Lese- oder Hörtexten eig-
net sich besser für die Arbeit in der Klassengemeinschaft, da sich beim Bilden von
Hypothesen und Diskutieren über Texte viele natürliche Sprechanlässe ergeben,
die in der Gruppe bearbeitet werden können.
Das Verfassen schriftlicher Texte ist ein wichtiger Bestandteil für den Fremd-
sprachenlernprozess, da es von einem inneren Sprechen begleitet wird, in dem, im
Vergleich zum Sprechen, Inhalte bewusster konzipiert, Wörter und Strukturen
182 Rebecca Launer
bewusster gewählt und eingesetzt werden (Kast 1999). Es ist allerdings auch zeit-
aufwändig und nimmt im Unterricht den kommunikativen Interaktionen wertvolle
Zeit. Aus diesem Grund werden schriftliche Aktivitäten in diesem Blended-
Learning-Modell in den multimedial gestützten Einzellernphasen verankert. Ein
weiteres Argument, das dafür spricht, ist die Tatsache, dass die Kommunikation in
den neuen Medien vorwiegend schriftlich verläuft, weshalb der Einsatz dieser Me-
dien natürliche Schreibanlässe schafft (Scrivener 2005).
Das Sprechen verläuft in der Regel als interaktiver Prozess zwischen zwei oder
mehreren Kommunikationspartnern. Aus diesem Grund wird das Training des
Sprechens in der Gruppe in den Präsenzphasen platziert. Dabei kann direkter Be-
zug auf Hör- und Lesetexte genommen, diese können resümiert und diskutiert
werden oder es werden die Themen der Einzellernphasen weitergehend bearbeitet,
wie zum Beispiel durch Rollenspiele oder Projektarbeiten. Auch monologisches
Sprechen in Form von kleinen Präsentationen vor einem Publikum kann in der
Klasse trainiert werden. Zusätzlich zum Sprechen können auch die Kommunika-
tionsstrategien in den Präsenzphasen thematisiert und miteinander ausprobiert
werden: Kompensationsstrategien, wenn Sprecher nicht genau das sagen können,
was sie sagen wollen; Reparaturstrategien für den Fall, dass die Kommunikation ins
Stocken gerät; affektive Strategien bei Hemmungen und Angst sowie soziale und
interkulturelle Strategien für die kommunikative Interaktion mit Sprechern anderer
Herkunftsländer (Oxford 1990).
4) Für beide Kurse wurde dieselbe Lehrkraft eingesetzt, die über eine um-
fangreiche Lehrerfahrung verfügte und in der Betreuung der Onlinephasen
geschult wurde.
Die Kurse wurden jeweils an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in Mün-
chen und am Institut für Interkulturelle Zusammenarbeit und Auswärtige Kultur-
arbeit e.V. (IIK) in Bayreuth durchgeführt, so dass insgesamt vier Vergleichsgrup-
pen (Experimentgruppe LMU: n = 11, Experimentgruppe IIK: n = 4, Kontroll-
gruppe LMU: n = 14, Kontrollgruppe IIK: n = 6) einander gegenübergestellt wer-
den konnten. Die Lernenden wurden bei der Anmeldung darüber informiert, dass
der Kurs Teil einer wissenschaftlichen Untersuchung ist und stimmten der Teil-
nahme zu. Sie wurden nach der Anmeldung per Los entweder dem Blended-
Learning-Kurs bzw. dem Präsenzkurs zugeteilt 2 .
In der Untersuchung wurden quantitative und qualitative Ansätze miteinander
verbunden, um eine tiefere Einsicht in den Lernprozess und die Lernergebnisse zu
erhalten (Grotjahn 1993, Riemer 1997). Die Ergebnisse der quantitativen Mes-
sungen sind aufgrund der geringen Probandenzahl keine repräsentativen Ergebnis-
se, sondern können nur eine Tendenz zeigen und dienten als Impuls für die quali-
tativen Fragestellungen. Die Forschungsfragen und Hypothesen wurden, um den
Rahmen der Untersuchung nicht zu sprengen, auf den Wortschatz- und Gramma-
tikerwerb sowie auf das interaktive Sprechhandeln eingeschränkt:
Während die Experimentgruppe nur einen Mitteilwert von drei Punkten in der
durchschnittlichen Verbesserung erreichte, erreichte die Kontrollgruppe einen
Mittelwert von 12,05.
Die Messung der Grammatikkenntnisse ergab keine signifikanten Unterschiede
zwischen den beiden Gruppen. Anhand des Boxplots in Abbildung 3 wird deut-
lich, dass die durchschnittlichen Ergebnisse nah beieinander liegen, wobei die
Spannweite der Ergebnisse in der Kontrollgruppe deutlich größer ist.
Auch beim Test zum interaktiven Sprechhandeln verbesserte sich die Kontroll-
gruppe stärker als die Experimentgruppe. Der Unterschied zwischen den beiden
Gruppen war jedoch nicht signifikant (s. Abb. 4).
5 Fazit
Abschließend möchte ich noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurück-
kommen: Ist Blended Learning nur eine pragmatische Alternative zum traditionel-
len Präsenzunterricht oder kann Blended Learning auch eine Lernmethode sein,
die den Fremdsprachenlernprozess besonders effektiv unterstützt?
Die hier beschriebene Vergleichsstudie gibt auf diese Frage leider keine eindeu-
tige Antwort, da man, wie eingangs erwähnt, in der Tat Äpfel mit Birnen verglei-
chen muss. Dennoch zeigt die Untersuchung, wie sich der Lernprozess für die
Lernenden durch Blended-Learning-Arrangements verändert, da die Individualisie-
rung des Lernens im Vergleich zum traditionellen Präsenzunterricht zunimmt und
damit die Eigenverantwortung der Lernenden für die Gestaltung des Lernprozes-
ses und den Lernerfolg größer wird. Durch die größer werdende Individualisierung
des Lernens können die Bedürfnisse der einzelnen stärker berücksichtigt werden,
als es in heterogenen Gruppen möglich ist. Die größere Verantwortung verstärkt
jedoch die Bedeutung der metakognitiven und kognitiven Kompetenz. Um erfolg-
reich in einem Blended-Learning-Arrangement zu lernen, müssen die Lernenden
auf diese veränderten Anforderungen vorbereitet sein bzw. werden. Das bedeutet
natürlich auch, dass die Förderung der Lernerautonomie immanenter Bestandteil
der Lehrerausbildung sein muss, um die Lehrkräfte für ihre zusätzlichen Funktio-
nen als Lernberater und Moderator zu schulen.
Die Entwicklung der digitalen Medien schreitet stetig voran und regelmäßig
kommen neue technische Errungenschaften auf den Markt. Dieser Prozess eröff-
net zum einen neue Möglichkeiten für Lernarrangements, wie zum Beispiel die An-
wendungen, die unter der Überschrift Web 2.0 kooperative Lernmöglichkeiten im
Internet schaffen. Zum anderen stellen sie uns vor neue Herausforderungen. Bei
aller Begeisterung für neue technische Möglichkeiten darf das Primat der Didaktik
nicht aus den Augen verloren werden und die Werkzeuge müssen immer wieder
auf ihren Mehrwert für das jeweilige Lernszenario hin untersucht werden. Dabei
spielen neben den didaktischen Fragen auch institutionelle und organisatorische
Frage eine Rolle, wie zum Beispiel: Wie kann auf eine Anwendung zugegriffen
werden? Wie kann der Datenschutz bei Internetanwendungen gewährleistet wer-
den? Ist der Zugriff auf eine Anwendung geschlossen (nur für registrierte Lernen-
de zugänglich) oder offen?
Blended Learning im Allgemeinen und im Besonderen im Fremdsprachen-
unterricht ist sehr komplex und der Grad an Komplexität nimmt durch die Erwei-
terung der technischen Möglichkeiten zu. Wenn dieser Tatsache durch eine gezielte
didaktische Planung, durch den angemessenen Einsatz von Technik und durch das
Wissen um die Herausforderungen für Lernende und Lehrkräfte Rechnung getra-
gen wird, dann kann Blended Learning eine effektive Lernmethode sein und auch
den Fremdsprachenlernprozess in besonderem Maße unterstützen. Es wird jedoch
auch in Zukunft notwendig sein, Blended Learning immer wieder in seinen ver-
schiedenen Ausprägungen und mit den sich verändernden Möglichkeiten neu zu
190 Rebecca Launer
Literatur
Butzkamm, Wolfgang (2002): Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen:
UTB.
De Bot, Kees (2004): The Multilingual Lexicon: Modelling Selection and Control.
In: The International Journal of Multilingualism 1, 17-32.
Grotjahn, Rüdiger (1993): Qualitative vs. quantitative Fremdsprachenforschung:
Eine erklärungsbedürftige und unfruchtbare Dichotomie. In: Timm, Johannes-
Peter; Vollmer, Helmut Johannes (Hrsg.): Kontroversen in der
Fremdsprachenforschung. Dokumentation des 14. Kongresses für Fremdsprachendidaktik,
veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) Essen 7.-
9.Oktober 1991. Bochum: Brockmeyer, 223-348.
Kast, Bernd (1999): Fertigkeit Schreiben. Fernstudieneinheit 12: Fernstudienangebot
Germanistik: Deutsch als Fremdsprache. Berlin: Langenscheidt.
Kranz, Dieter; Lücking, Bernd (2005): Blended Learning – von der Idee zur Tat,
vom Konzept zur Realisierung: Zwei Berichte aus der pädagogischen Praxis
der Lehrerbildung. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht.
(http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-10-1/docs/KranzundLuecking2005.pdf)
(25.10.2010).
Launer, Rebecca (2008): Blended Learning im Fremdsprachenunterricht – Konzeption und
Evaluation eines Modells. (http://edoc.ub.uni-muenchen.de/8905/1/Launer_
Rebecca.pdf) (25.10.2010).
Lütjeharms, Madeline (2006): Zum Erwerb fremdsprachiger Lesefertigkeiten. In:
Jung, Udo O. (Hrsg): Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer.
Frankfurt/M.: Peter Lang, 145-152.
Oxford, Rebecca (1990): Language Learning Strategies. What every teacher should know.
Alabama: Cengage Learning Services.
Riemer, Claudia (1997): Individuelle Unterschiede im Fremdsprachenerwerb. Eine
Longitudinalstudie über die Wechselwirksamkeit ausgewählter Einflußfaktoren.
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Rösler, Dietmar; Würffel, Nicola (2010): Blended Learning im
Fremdsprachenunterricht. In: Fremdsprache Deutsch 42, 5-11.
Scrivener, Jim (2005): Learning Teaching. Oxford: Macmillan Education.
Blended Learning für den Fremdsprachenunterricht 191
Software:
Ludwig-Maximilians-Universität: uni-deutsch.de.de. München 2003.
(http://www.uni-deutsch.de) (25.10.2010).
Progressionsfolgen im DaF-Unterricht.
Eine Interventionsstudie zur Vermittlung der
deutschen (S)OV-Wortstellung
1 Einleitung
Die Reihenfolge, in der bestimmte grammatische Phänomene im DaF-Unterricht
eingeführt werden, ist weitgehend abhängig von der Progressionsgestaltung im ver-
wendeten Lehrwerk bzw. von einem Rahmencurriculum. Selbstverständlich ist es
dem Lehrenden möglich, bestimmte Einführungsreihenfolgen zu modifizieren und
den spezifischen Bedürfnissen der Zielgruppe anzupassen, doch vor allem bei
Lerngegenständen auf der Text- oder Satzebene ist dies nicht immer möglich: Häu-
fig sind die entsprechenden, aufeinander aufbauenden Einführungsschritte den an-
gebotenen Lehrmaterialien inhärent und lassen sich nur schwer aus dem Lehr-
werkkontext herauslösen. Dies gilt beispielsweise auch für die Vermittlung der
Wort- bzw. Verbstellungsregularitäten im deutschen deklarativen Hauptsatz, wel-
che Gegenstand des vorliegenden Artikels sein soll.
Die Vermittlung der Verbstellungsregeln im deutschen Hauptsatz findet im
Niveau A1 nach dem GER statt und beginnt in der Regel mit der Einführung von
einfachen Strukturen mit einer SVO-Satzgliedfolge. Das Prädikat wird hierbei
durch ein lexikalisches Verb gebildet, welches in seiner finiten Form in zweiter
Position im Satz erscheint. Erst im weiteren Verlauf des Anfängerunterrichts wird
mit der Einführung von Modalverben und Perfektauxiliaren die Klammerstruktur
des Deutschen vermittelt und damit auch die Endstellung des lexikalischen Verbs
bzw. die zugrundeliegende SOV-Wortstellung eingeführt.
194 Steffi Winkler
2 Theoretischer Hintergrund
satzfinalen Position. Handelt es sich aber um eine Struktur mit einem eingliedrigen
Prädikat, welches durch ein lexikalisches Verb gebildet wird, so bewegt sich das
lexikalische Verb aus seiner satzfinalen Basisposition in die satzzweite Position und
dient dort dem Ausdruck der Finitheitsmerkmale (vgl. 1b).
(1) a. Marco will eine Pizza essen
b. Marco issti eine Pizza ti
Es wird hier deutlich, dass es sich bei der zweiten Position im Satz nicht per se um
eine Position für (lexikalische) Verben handelt. Vielmehr erscheint ein lexikalisches
Verb in dieser strukturellen Position, weil es als Träger der Finitheitsinformation in
dieser Stellung realisiert werden muss. Der Terminus „Verbzweitsprache“ ist somit
eigentlich irreführend. Vielmehr müsste es „Finitheitszweitsprache“ heißen. Die
zugrundeliegende Position für das Verb nämlich ist satzfinal.
Die Ergebnisse zeigen, dass der Lehrwerkinput erst ab etwa der Hälfte des A1-
Niveaus die SOV-Wortstellung des Deutschen evident macht. Die einzige mir
bekannte Ausnahme ist hier das Lehrwerk „Delfin“, in dem die Verbendstellung in
Progressionsfolgen im DaF-Unterricht 197
der Satzklammer bereits nach etwa einem Drittel des A1-Niveaus eingeführt wird.
Davor werden die Lerner ausschließlich mit SVO-Abfolgen konfrontiert. Es ist
davon auszugehen, dass diese Inputgestaltung eine zielsprachenabweichende Über-
generalisierung des SVO-Musters bei SVO-Muttersprachlern in der Anfangsphase
des Erwerbs geradewegs negativ unterstützt.
In Bezug auf die weitere Einführungsreihenfolge kann festgestellt werden, dass
sie mittels der in (3) exemplifizierten Satzbaumuster erfolgt:
(3) Vorfeld linke SK Mittelfeld rechte SK
4 Die Interventionsstudie
Der Sprachunterricht im Rahmen der Studie hatte einen Umfang von 60 Kontakt-
stunden, aufgeteilt auf 3x2 Unterrichtseinheiten pro Woche. Aus methodischer
Sicht orientierte sich der Unterricht an den Grundsätzen der kommunikativen Di-
daktik und des interkulturellen Ansatzes. Die Grammatikvermittlung erfolgte weit-
gehend induktiv. Die Unterrichtssprache war Italienisch. Dies war erforderlich, um
Struktur, Gestalt und sequenzielle Gliederung des deutschsprachigen Inputs im
Unterricht entsprechend steuern und kontrollieren zu können.
Es gab kein kursbegleitendes Lehrwerk, alle Lehrmaterialien wurden von der
Autorin dieses Artikels selbst erstellt bzw. ausschnittweise aus gängigen Lehr-
werken übernommen und wenn erforderlich adaptiert oder modifiziert. Alle Teil-
nehmer mussten vor Beginn der Studie zusichern, keine weiteren Lehrmaterialien,
Grammatikübersichten oder andere Lernhilfen als die im Kurs bereitgestellten zu
verwenden.
Die Teilnehmer wurden in zwei Gruppen à 20 Studenten aufgeteilt, eine Test-
gruppe und eine Kontrollgruppe. Für beide Gruppen fungierte die Autorin dieses
Artikels als Kursleiterin. In der Kontrollgruppe wurden die Verbstellungsregeln
des deutschen Hauptsatzes in der im DaF-Unterricht weitgehend üblichen Einfüh-
rungsreihenfolge vermittelt: SVO-Abfolgen gehen SOV-Strukturen voran. Für die
Testgruppe orientierte sich die Inputgestaltung und die Progressionsfolge an den in
(6) dargestellten Richtlinien. Diese resultieren direkt aus den in Abschnitt 2.1 erläu-
terten systemstrukturellen Charakteristika des Deutschen als Zielsprache sowie aus
den in Abschnitt 2.2 und 3 dargelegten Erkenntnissen der Spracherwerbsfor-
schung:
(6) a. Frühe Dominanz von (S)OV-Strukturen
b. Minimierung von lexikalischen Verben in V2-Position
c. Frühe Einführung von Modalverben und Auxiliaren
Mittels (6a) soll die zugrundeliegende satzfinale Position von Verben im Deut-
schen von Beginn an im Unterricht evident gemacht werden. Des Weiteren soll –
durch bewusste Reduzierung von SVO-Abfolgen im Input – der Etablierung einer
fehlleitenden SVO-Hypothese für das Deutsche effektiv entgegengewirkt werden
(Richtlinie 6b). Mit (6c) schließlich orientiert sich die Unterrichtsprogression an
erfolgreichen Strategien aus dem ungesteuerten Deutscherwerb.
Tabelle 2 zeigt die Progressionsfolgen für Test- und Kontrollgruppe auf. Es
werden jeweils die im Input enthaltenen Strukturen in ihrer chronologischen Ab-
folge dargelegt. Darüber hinaus werden auch Art und Zeitpunkt der Daten-
erhebungen aufgeführt (Näheres hierzu siehe Abschnitt 4.2).
200 Steffi Winkler
schaften der zu lernenden Sprache haben noch vor Absolvierung der ersten Kon-
taktstunde.
Basierend auf Pilottests mit Studenten der Università degli studi di Bergamo,
Italien, wurden drei unterschiedliche Tests für die Datenerhebung in der Interven-
tionsstudie ausgewählt: Zwei Wortstellungstests (Satzpuzzletest, schriftlich; OV-
Test, mündlich) und ein Imitationstest, auch bekannt als „Elicited Imitation Task“
in der englischsprachigen Literatur. Beim Satzpuzzletest mussten die Lerner aus
vorgegebenen deutschen Wörtern Sätze bilden. Der OV-Test zielte auf die Pro-
duktion von Objekt-Verb-Verbindungen ab und beim Imitationstest schließlich
musste ein akustisch dargebotener deutscher Satz – mit entweder zielsprachlich
korrekter oder aber nicht realisierter Satzklammer – wiederholt werden. In dem
hier gegebenen Rahmen sollen Design und Ergebnisse des Satzpuzzletests und des
OV-Tests präsentiert werden.
Der Satzpuzzletest bestand aus je drei Sektionen, in denen die Lerner je vier
Sätze bilden mussten. Eine Sektion diente der Erhebung von Strukturen mit Mo-
dalverben, eine weitere der Erhebung von Strukturen mit Auxiliaren, und die dritte
Sektion fokussierte auf lexikalische Verben und das Kopulaverb „sein“. Die deut-
schen Wörter in allen Sektionen wurden gemeinsam mit ihrer italienischen Über-
setzung bereitgestellt. Somit war es möglich, diesen Test mit den Lernern bereits
vor der ersten Kontaktstunde durchzuführen. Beispiel (11) zeigt exemplarisch eine
Sektion aus einem Satzpuzzletest, die der Erhebung von Strukturen mit Modal-
verben diente. In alphabetischer Reihenfolge finden sich hier vier finite Formen
von Modalverben, vier Infinitive von lexikalischen Verben, vier Nomen, die als
Subjekt verwendet werden können, vier Nomen, die als Objekt verwendet werden
können, außerdem ein Adjektiv und zwei Negationswörter:
(11) abwaschen (lavare) – Blumen (fiori) – darf (può) – darf (può) –
das Mädchen (la ragazza) – das Theaterstück (lo spettacolo) – der
Junge (il ragazzo) – der Mann (l’uomo) – die Frau (la donna) – die
Teller (i piatti) – gehen (andare) – ins Kino (al cinema) – kaufen
(comprare) – nicht (non) – nicht (non) – schöne (belli) – sehen
(vedere) – will (vuole) – will (voule)
Ein möglicher zu bildender Satz ist der in (12), wobei er von den Lernern sowohl
mit zielsprachlich korrekter Satzklammer (12a) als auch ohne Klammerstellung
(12b) gebildet wurde. Letztere Struktur spiegelt hierbei die muttersprachliche SVO-
Wortstellung wider:
(12) a. Das Mädchen will ins Kino gehen.
b. Das Mädchen will gehen ins Kino.
Im Rahmen des OV-Tests wurden den Lernern Bilder gezeigt, auf denen bei-
spielsweise eine Frau Auto fuhr, Jungen Fußball spielten, ein Mädchen ein Buch las
oder Jugendliche Bier tranken. Die Aufgabe der Lerner war es, die auf dem Bild
dargestellte Aktivität möglichst schnell und mit nur zwei Wörtern zu benennen.
Progressionsfolgen im DaF-Unterricht 203
4.3 Ergebnisse
Tabelle 3 und 4 geben einen Überblick über die Ergebnisse des Satzpuzzletests für
die Test- bzw. Kontrollgruppe für jeweils die Sektionen mit Modalverben und mit
Auxiliaren.
Wie die Daten in Tabelle 3 und 4 für jeweils Satzpuzzletest 1 zeigen, wird der Er-
werb des Deutschen in beiden Gruppen mit einer SVO-Hypothese begonnen. Die
große Mehrzahl aller Testsätze mit Modalverben und Auxiliaren wird – entspre-
chend der muttersprachlichen Struktur – in SVO-Abfolge ohne Satzklammer reali-
siert. In den Testsätzen, die eine SOV-Struktur aufweisen, werden bemerkens-
werterweise sowohl infinite als auch finite Bestandteile des Verbalkomplexes satz-
final realisiert. Dies kann als struktureller Transfer aus dem Lateinischen, eine
Sprache mit vorherrschender SOV-Wortstellung, interpretiert werden. Es bleibt
festzuhalten, dass keiner der Testsätze entsprechend der zielsprachlichen Stellungs-
regularitäten konstruiert wurde.
Dieses sprachliche Verhalten ändert sich in der Testgruppe mit der Einführung
von SOV-Strukturen mit Modalverben. Die Daten für Satzpuzzletest 2 zeigen, dass
fast alle Testsätze (98,8%) mit der zielsprachlich korrekten Klammerstruktur pro-
duziert werden. Interessanterweise werden diese Wortstellungsregularitäten auch
auf Strukturen mit Auxiliaren übertragen, obwohl diese zu diesem Zeitpunkt noch
gar nicht im Input enthalten waren. Trotzdem werden 77,8% aller Testsätze mit
Auxiliaren mit SOV-Struktur realisiert (s. Tab. 3). Die Lerner der Kontrollgruppe
hingegen, die keine Evidenz für SOV-Wortstellungen im Input bekommen, halten
an ihrer SVO-Hypothese fest bzw. verwerfen die auf dem Lateinischen basierende
SOV-Abfolge (vgl. die Daten in Tab. 4).
Satzpuzzletest 3 zeigt bei jeweils gleicher Inputsituation keine großen Verände-
rungen in den Ergebnissen für beide Gruppen. Der leichte prozentuale Rückgang
an zielsprachlich korrekt konstruierten Testsätzen mit Modalverben und mit
Auxiliaren in der Testgruppe lässt sich durch die Fokussierung auf nominale Lern-
gegenstände (z.B. Akkusativ, Demonstrativa, Possessiva) in dem relevanten Unter-
richtszeitraum erklären. Wortstellungsphänomene lagen so nicht primär im Auf-
merksamkeitszentrum der Lerner.
Nach der Einführung von SOV-Strukturen mit Auxiliaren in der Testgruppe,
die somit erneut Evidenz für die SOV-Wortstellung des Deutschen erhält, weisen
alle Testsätze mit Modalverben und mit Auxiliaren die zielsprachlich korrekte
Klammerstruktur auf (vgl. die Daten für Satzpuzzletest 4, Tab. 3). Für die Kon-
trollgruppe hingegen, die jetzt erstmalig mit der Einführung von SOV-Strukturen
mit Modalverben Evidenz für SOV-Wortstellungen erhält, weisen nur 65,2 % der
Testsätze mit Modalverben und 41,7% der Testsätze mit Auxiliaren die zielsprach-
lich korrekte Struktur auf (s. Satzpuzzletest 4, Tab. 4). Vergleicht man diese Daten
für die Kontrollgruppe – erhoben nach der ersten Einführung von SOV-Struktu-
ren im Unterricht – nun mit den Daten von Satzpuzzletest 2 für die Testgruppe –
erhoben ebenfalls nach der ersten Einführung von SOV-Strukturen im Unterricht
– so lässt sich ein größerer Lernerfolg für die Testgruppe feststellen: 98,8%/77,8%
korrekte Testsätze mit Modalverben/Auxiliaren für die Testgruppe stehen 65,2%/
41,7% korrekten Testsätzen mit Modalverben/Auxiliaren für die Kontrollgruppe
gegenüber.
Progressionsfolgen im DaF-Unterricht 205
In Tabelle 5 und Tabelle 6 nun sind die Ergebnisse des OV-Tests für die Test-
bzw. Kontrollgruppe dargelegt.
5 Zusammenfassende Schlussbemerkungen
Insgesamt ist festzustellen, dass die Lerner der Testgruppe die Klammerstruktur
des Deutschen sowie die (S)OV-Wortstellungseigenschaften erfolgreicher erwer-
ben als die Lerner der Kontrollgruppe: Die Daten der Testgruppe zeigen deutlich
weniger Instanzen muttersprachlichen Strukturtransfers. Dies kann darauf zurück-
geführt werden, dass der zielsprachliche Unterrichtsinput für die Testgruppe von
Beginn an Evidenz für die zugrundeliegende SOV-Struktur des Deutschen lieferte.
Darüber hinaus wurden im Rahmen der gewählten Einführungsreihenfolge Mittel
206 Steffi Winkler
und Strategien, wie sie von erfolgreichen Lernern im ungesteuerten Erwerb be-
nutzt werden, im Unterrichtsinput bereitgestellt.
Im Gegensatz zur Testgruppe zeigen die Lerner der Kontrollgruppe stärkeren
Einfluss muttersprachlichen Strukturtransfers in ihren Daten. Aufgrund der frühen
und ausschließlichen Präsenz von SVO-Mustern im Unterrichtsinput beginnen die
Lerner der Kontrollgruppe den Erwerb des Deutschen mit einer ihrer L1 entspre-
chenden SVO-Hypothese. Diese fehlleitende SVO-Hypothese wird konsequent
mindestens so lange aufrechterhalten, bis der Input erstmalig Gegenevidenz in
Form von SOV-Strukturen mit Modalverben liefert. Erst jetzt kann die anfängliche
SVO-Hypothese revidiert werden, was – wie die Daten in Abschnitt 4.3 zeigen –
einigen Lernern deutliche Schwierigkeiten bereitet: Vergleicht man die Daten von
Test- und Kontrollgruppe, welche nach der ersten Behandlung von SOV-
Strukturen mit Modalverben im Unterricht erhoben wurden, so zeigen sich für die
Kontrollgruppe deutlich mehr Instanzen von zielsprachenabweichenden (S)VO-
Mustern in den Lernerdaten.
In Anbetracht dieser Ergebnisse ist es anzuraten, (S)OV-Strukturen im DaF-
Unterricht von Beginn an im Unterrichtsinput bereitzustellen und auf sie zu fokus-
sieren, um so frühzeitig der Etablierung einer letztendlich fehlleitenden SVO-
Hypothese entgegenzuwirken. Dies gilt vor allem für Lernergruppen mit SVO-
Muttersprachen. Auf diese Weise kann negativem muttersprachlichem Struktur-
transfer effektiv entgegengearbeitet werden, während die Orientierung an Strate-
gien und Progressionsfolgen aus dem ungesteuerten Erwerb gleichzeitig die kogni-
tiv verankerten natürlichen Spracherwerbsmechanismen positiv unterstützt.
Literatur
Becker, Angelika (2005): The semantic knowledge base for the acquisition of
negation and the acquisition of finiteness. In: Hendriks, Henriëtte (Hrsg.): The
Structure of Learner Varieties. Berlin, New York: Mouton de Gruyter, 263-314.
Clahsen, Harald; Meisel, Jürgen; Pienemann, Manfred (1983): Deutsch als
Zweitsprache: Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen: Narr.
Diehl, Erika; Christen, Helen; Leuenberger, Sandra; Pelvat, Isabelle; Studer,
Thérèse (2000): Grammatikunterricht: Alles für der Katz? Untersuchungen zum
Zweitspracherwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer.
Dimroth, Christine (2009): Lernervarietäten im Sprachunterricht. In: Zeitschrift für
Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (153), 60-80.
Progressionsfolgen im DaF-Unterricht 207
ters verfasst hatten. Während des Kurses erhielten die Lernerinnen und Lerner
Fehlerkorrekturen zu ihren Texten. Mit diesem Forschungsdesign lässt sich die
Wirkung der Fehlerkorrektur am Lernertext auf die Schreibfähigkeit nicht zwin-
gend nachweisen, weil die Änderungen im Posttest möglicherweise auch durch
andere Einflüsse verursacht wurden. Dementsprechend vorsichtig formuliert Fer-
ris:
We found a strong relationship between teachers’ error markings and
successful student revisions on the subsequent drafts of their essays.
[...] In addition, our data add to the substantial evidence from previous
studies that students who receive error feedack show progress in writ-
ten accuracy over time. (Ferris 2006: 82)
An dieser Stelle soll keine Kritik an der Studie von Ferris geübt werden, denn im
Zentrum ihrer Studie standen andere Fragen (z.B. Qualität der Fehlerkorrektur).
Ein überzeugendes Design für eine Studie zur Wirkung der Fehlerkorrektur liegt
hier jedoch nicht vor.
Wie groß der Lernfortschritt ohne das Treatment gewesen wäre, hätte man an
einer „nichtbehandelten“ Kontrollgruppe untersuchen können. Bei einem Kont-
rollgruppenplan mit Pre- und Posttests nehmen beide Gruppen am Pretest und am
Posttest teil, aber nur die Experimentalgruppe erhält das Treatment (die Fehler-
korrektur am Lernertext).
Tab. 1: Stichprobengrößen (n) von Studien zur Fehlerkorrektur mit Kontrollgruppe und
längerem Untersuchungszeitraum.
Was das Signifikanzniveau betrifft, so spricht nichts dagegen, sich bei Studien zur
Wirkung der Fehlerkorrektur mit einem Signifikanzniveau von 95 Prozent zufrie-
den zu geben (p<0,05).
Das Problem besteht in der Effektgröße. Man muss davon ausgehen, dass der
Effekt der Fehlerkorrektur allein nicht besonders stark ist, da sie in der Regel nur
zusammen mit anderen Lerngelegenheiten wirkt. Auch die Ergebnisse der vorlie-
genden Studien geben einen Hinweis darauf, dass es sich allenfalls um einen klei-
nen Effekt handelt. Um eine ausreichende Teststärke zu erreichen, ist bei einem
kleinen Effekt allerdings eine große Stichprobe erforderlich. Dies geht aus Tabelle
2 hervor.
Effektgröße Signifikanzniveau
α = 0,01 α = 0,05
δ=0,20; kleiner Effekt 503 310
δ=0,50; mittlerer Effekt 82 50
δ=0,80; großer Effekt 33 20
Tab. 2: Optimale Stichprobengröße bei einem Vergleich von zwei Mittelwerten (nach
Bortz; Döring 2006: 628).
zwischen 13 und 30. Daher dürfte es allein aus testmethodischen Gründen kaum
möglich sein, mit diesen Studien zu belastbaren Ergebnissen zu gelangen.
In den Studien wird üblicherweise die Gesamtzahl der Teilnehmer angegeben,
so dass zunächst der Eindruck entsteht, als handele es sich um eine ausreichend
große Stichprobe. So beschreibt Bitchener seine Studie wie folgt:
This article presents a ten month study on the effect of written correc-
tive feedback to 52 low intermediate international ESL students in
Auckland, New Zealand. (Bitchener 2005: 191)
Bitchener und Knoch teilen die 52 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aber in vier
Gruppen ein, die dann jeweils lediglich 13 Personen enthalten.
Weitere Aspekte sollten im Zusammenhang mit der Stichprobe bei Studien zur
Wirkung der Fehlerkorrektur nicht unerwähnt bleiben: Erstens gibt es eine Reihe
von individuellen Faktoren, welche die Wirkung der Fehlerkorrektur beeinflussen.
Dazu gehören beispielsweise das Alter der Lernerinnen und Lerner, die Lern-
motivation, das Niveau der Fremdsprachenkenntnisse und möglicherweise auch
die Muttersprache und die Zielsprache. Studien können kaum Antworten liefern,
die für die gesamte Population der Fremdsprachenlernenden gilt, sondern nur für
Teilgruppen. Dann sollte eine Stichprobe gewählt werden, die spezifisch repräsen-
tativ ist (im Gegensatz zur global repräsentativen Stichprobe).
Zur Komplexität der Fragestellung trägt zweitens bei, dass die Effektivität der
Fehlerkorrektur auch davon abhängt, wie motiviert die Lernerinnen und Lerner
und wie fortgeschritten sie sind (DeKeyser 1993, Derwing; Munro; Thomson
2007). Beide Aspekte, Motivation und Sprachstand, erhöhen die Komplexität. Die
Motivation zu erfassen, ist nicht einfach: Dies erfordert ein eigenes Erhebungs-
instrument. Ähnliches gilt für den Sprachstand. Bei beiden Faktoren kann man sich
mit einfachen Zuordnungen helfen (z.B. Zugehörigkeit zu einem bestimmten
Kursniveau), die letztlich aber ungenau sind.
Ein weiterer Aspekt ist die Repräsentativität der Stichprobe. Es dürfte sich bei
den vorgestellten Studien jeweils um ad-hoc-Stichproben (Gelegenheitsstich-
proben) handeln, das heißt, es werden die Personen untersucht, die gerade zur Ver-
fügung stehen. Im Gegensatz zu echten Zufallsstichproben zählen Gelegenheits-
stichproben zu den nichtprobabilistischen Stichproben, deren Aussagekraft einge-
schränkt ist.
Vor diesem Hintergrund ist die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse der in
Abschnitt 1 erwähnten Studien als eingeschränkt zu betrachten. Die Studien sind
dennoch nicht bedeutungslos oder überflüssig: Sie können beispielsweise im Sinne
von Pilotstudien Anhaltspunkte für die zu erwartende Effektstärke liefern.
Ein letzter Hinweis zur Stichprobengröße: Selbst wenn es einen positiven Ef-
fekt geben sollte, ist es unwahrscheinlich, dass sich dieser bei den kleinen Stich-
proben auch signifikant nachweisen lässt. Dies hat Folgen für den Umgang mit den
Studien, z.B. in einer Metastudie. Es ist daher unangemessen, aus einer Meta-
Studie den Schluss zu ziehen, eine Fehlerkorrektur sei nicht förderlich, wie
Möglichkeiten und Grenzen der Wirkungsforschung in der Fremdsprachendidaktik 215
Truscott (2007) es tut. Das heißt, auch bei Meta-Studien muss die Qualität der
einzelnen Studien und die Stichprobengröße berücksichtigt werden.
dass die Fehlerkorrektur auch wahrgenommen wird, z.B. indem man eine Aus-
einandersetzung damit im Unterricht anregt. Zum anderen kann aber auch argu-
mentiert werden, dass eine Nichtbeachtung nur die Realität widerspiegelt und da-
mit auch die wahre Bedeutung der Fehlerkorrektur. Wie auch immer man sich
entscheidet: Die Wahrnehmung ist ein Faktor, der berücksichtigt werden muss.
4 Schluss
Es war mein Anliegen, mit diesem Beitrag Perspektiven für Forschungsprojekte in
den Fremdsprachen zu skizzieren. Dazu habe ich zunächst Problembereiche der
empirischen Forschung am Beispiel von Studien zur Wirkung der Fehlerkorrektur
dargestellt. Aus der Komplexität der Aufgabe ziehe ich jedoch nicht den Schluss,
dass erfolgreiche Studien nicht möglich sind. Ich empfehle aber eine Reduktion der
Komplexität durch eine Begrenzung der Treatments, eine Kontrolle der Stich-
probe, eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands sowie durch die Wahl
eines sinnvollen Zeithorizonts. Nicht verzichten sollte man auf die Berücksichti-
gung einer Kontrollgruppe sowie darauf, eine ausreichend große Stichprobe zu
untersuchen. Außerdem ist die persönliche Unabhängigkeit der Forscher erforder-
lich.
Literatur
Bitchener, John (2008): Evidence in support of written corrective feedback. In:
Journal of Second Language Writing 17, 102-118.
Bitchener, John; Knoch, Ute (2009): The value of a focused approach to written
corrective feedback. In: ELT Journal 63, 204-211.
220 Christian Krekeler
Bitchener, John; Young, Stuart; Cameron, Denise (2005): The effect of different
types of corrective feedback on ESL student writing. In: Journal of Second
Language Writing 14, 191-205.
Black, Paul; Wiliam, Dylan (1998): Assessment and classroom learning. In:
Assessment in Education: Principles, Policy 6 & Practice 5, 7-74.
Bortz, Jürgen; Döring, Nicola (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human-
und Sozialwissenschaftler. 4. Aufl. Heidelberg: Springer.
DeKeyser, Robert M. (1993): The effect of error correction on L2 grammar
knowledge and oral proficiency. In: The Modern Language Journal 77, 501-514.
Derwing, Tracey M.; Munro, Murray J.; Thomson, Ron I. (2007): A longitudinal
study of ESL learners’ fluency and comprehensibility development. In: Applied
Linguistics 29, 359-380.
Fazio, Lucy L. (2001): The effect of corrections and commentaries on the journal
writing accuracy of minority- and majority-language students. In: Journal of
Second Language Writing 10, 235-249.
Ferris, Dana R. (2002): Treatment of error in second language student writing. Ann Arbor,
MI: University of Michigan Press.
Ferris, Dana R. (2004): The „grammar correction“ debate in L2 writing: where are
we, and where do we go from here? (and what do we do in the meantime…?).
In: Journal of Second Language Writing 13, 49-62.
Ferris, Dana R. (2006): Does error feedback help student writers? New evidence
on the short- and long-term effects of written error correction. In: Hyland,
Ken; Hyland, Fiona (Hrsg.): Feedback in second language writing. Cambridge:
Cambridge University Press, 81-104.
Ferris, Dana R.; Roberts, Barrie (2001): Error feedback in L2 writing classes: How
explicit does it need to be? In: Journal of Second Language Writing 10, 161-184.
Havranek, Gartraud (2002): Die Rolle der Korrektur beim Fremdsprachenlernen.
Frankfurt/M.: Peter Lang Verlag.
Kepner, Christine Goring (1991): An experiment in the relationship of types of
written feedback to the development of second-language writing skills. In: The
Modern Language Journal 75, 305-313.
Polio, Charlene; Fleck, Catherine; Leder, Nevin (1998): „If I only had more time“:
ESL learners’ changes in linguistic accuracy on essay revisions. In: Journal of
Second Language Writing 7, 43-68.
Robb, Thomas; Ross, Steven; Shortreed, Ian (1986): Salience of feedback on error
and its effect on EFL writing quality. In: TESOL Quarterly 20, 83-95.
Möglichkeiten und Grenzen der Wirkungsforschung in der Fremdsprachendidaktik 221
Roberts, Michael A. (1998): Awareness and the efficacy of error correction. In:
Schmidt, Richard (Hrsg.): Attention and awareness in foreign language learning.
Honolulu, Hawaii: University of Hawaii Press, 163-182.
Schmidt, Richard W. (1990): The role of consciousness in second language
learning. In: Applied Linguistics 11, 129-158.
Semke, Harriet D. (1984): Effects of the red pen. In: Foreign Language Annals 17,
195-202.
Sheppard, Ken (1992): Two feedback types: do they make a difference. In: RELC
Journal 23, 103-110.
Truscott, John (2007): The effect of error correction on learners’ ability to write
accurately. In: Journal of Second Language Writing 16, 255-272.
Truscott, John; Hsu, Angela Yi-ping (2008): Error correction, revision, and
learning. In: Journal of Second Language Writing 17, 292-305.
Überarbeitungsprozesse und -produkte nach
schriftlichen Fehlerkorrekturen:
Zum Deutungspotential schriftlicher Fehler und zur
Relativität des Konstrukts „Überarbeitungserfolg“
Auch wenn schriftliche Fehlerkorrekturen als Instrument für die Bewertung von
Lernertexten fraglich sind, da ihr Fokus auf den Defiziten und nicht dem Können
der in der Fremdsprache Schreibenden liegt, sind sie weiterhin fester Bestandteil
des Unterrichtsalltags.
Fehler werden als „Übungs- und Lernanlass“ (vgl. Kleppin; Raabe 2001) gese-
hen und es wird angeregt, „bewusstmachend“ zu korrigieren, damit Fremdspra-
chenlernende über ihre Fehler reflektieren und sich selbst korrigieren können (vgl.
Kleppin 2000: 42). Dass Fremdsprachenlernende dadurch befähigt werden, sprach-
liche Normabweichungen in zukünftigen Textproduktionen reduzieren zu können,
ist jedoch umstritten. Seit dem Erscheinen des programmatischen Artikels „The
case against grammar error correction“ von Truscott (1996) wurden insbesondere
im Bereich ESL/EFL zahlreiche Studien durchgeführt, die der Frage nach der
Wirksamkeit verschiedener schriftlicher Korrekturarten nachgegangen sind (vgl.
Krekeler in diesem Band). Dass trotz der steigenden Anzahl an empirischen Arbei-
ten bisher nur wenige aussagekräftige Ergebnisse zur erwerbsfördernden Funktion
schriftlicher Korrekturen vorliegen und noch keine Einigkeit darüber herrscht, in
welchen Kontexten und bei welchen Lernenden bestimmte Korrekturarten zu
einem Lerneffekt führen können, muss in erster Linie im Zusammenhang mit
224 Albrecht Klemm
auch Aussagen über die Eindeutigkeit der Korrekturzeichen zu. Sie ist jedoch nicht
gleichzusetzen mit der Rekonstruktion dessen, was der Schreibende ursprünglich
an dieser Stelle schreiben wollte.
Auffallend in der bisherigen Korrekturforschung ist außerdem, dass schrift-
liche Texte einseitig als Produkte betrachtet werden. In allen von Krekeler (in die-
sem Band) besprochenen Studien werden Schreibprodukte untersucht, ohne dass
dabei der Entstehungsprozess der untersuchten schriftlichen Texte berücksichtigt
wird. Dass dem Schreibprozess in Korrekturstudien keine Aufmerksamkeit ge-
schenkt wird, verwundert in Anbetracht der Tatsache, dass seit der Entwicklung
des Grundlagenmodells von Hayes; Flower (1980) versucht wird, den Schreib-
prozess in der Mutter- und Fremdsprache zu erforschen. Insbesondere Unter-
suchungen zu Textrevisionen und Überarbeitungsprozessen (vgl. etwa Lindgren;
Sullivan 2006, Piolat 2004) können neue methodologische Anregungen bei der Er-
forschung der schriftlichen Fehlerkorrektur geben. Darüber hinaus scheint die Ein-
beziehung des Schreibprozesses von großer Bedeutung, weil nur so die von der
Korrektur ja intendierte Auseinandersetzung der Lernenden mit Fehlern und deren
Ursachen (s.o.) adäquat berücksichtigt werden kann.
Die Untersuchung des Überarbeitungsprozesses nach Korrekturen ist nicht zu-
letzt eine forschungsmethodologische Alternative zu einem grundlegenden Prob-
lem der bisherigen Korrekturforschung. Um in den von Ferris (2004: 51) geforder-
ten Langzeitstudien zur Wirksamkeit von Korrekturen eine Korrelation zwischen
der unabhängigen Variable, der Korrektur von Fehlern, und der abhängigen Vari-
able, der Verbesserung von schriftlichen Texten, herstellen zu können, müssen
viele Variablen, die einen Einfluss auf das Messergebnis haben können, kontrolliert
werden. Innerhalb eines prozessorientierten Schreibansatzes lässt sich hingegen die
Beziehung zwischen fehlerhaften Strukturen in einer ersten Textfassung, der Leh-
rerkorrektur und der überarbeiteten Textfassung einfacher herstellen.
Ausgehend von diesen Vorüberlegungen ergeben sich folgende Fragestellun-
gen:
1) Wie hoch ist das Deutungspotential bei der Korrektur von Lernertexten?
2) Wie werden korrigierte Texte durch Lernende überarbeitet?
3) Welche Wirkung haben Korrekturen auf Lernertexte innerhalb eines pro-
zessorientieren Schreibansatzes?
In Anbetracht des konstatierten Forschungsdefizits und der Komplexität des For-
schungsgegenstands muss eine Annäherung an diese Fragen zunächst im Rahmen
eines explorativ-interpretativen Ansatzes geschehen, um Fehler, Korrekturen und
Lernertexte detailliert und umfangreich beschreiben zu können. Die im Folgenden
besprochenen Daten stammen aus einer Studie mit insgesamt 23 Probanden, die
als Teilnehmer/innen eines studienbegleitenden Schreibkurses an der Universität
Leipzig einen mit Korrekturzeichen korrigierten Text überarbeiteten. Im Rahmen
des vorliegenden Beitrags kann dabei nur auf eine Auswahl an schriftlichen Feh-
lern und Korrekturen sowie Überarbeitungsprozessen und -produkten eingegangen
226 Albrecht Klemm
werden. Die hier angeführten Beispiele zweier Probanden sollen dabei nicht als
repräsentative Auswahl der Untersuchungsgruppe missverstanden werden, sie die-
nen vielmehr zur Verdeutlichung der Komplexität des Untersuchungsgegenstands
– sowohl was das Deutungspotential von Fehlern als auch die Operationalisierung
dessen, was als erfolgreiche Korrektur verstanden werden kann, betrifft. 1
Bei den zwei Probanden Ashley und Paul 2 handelt es sich um Studierende aus
den USA, die in ihrem Heimatland Deutsche/Englische Literatur und Germa-
nistik/Geschichte studierten und sich im Rahmen eines Austausches zehn bzw.
fünf Monate an der Universität Leipzig aufhielten. Beide sind englische Mutter-
sprachler und lernten zum Zeitpunkt der Untersuchung seit neun bzw. seit sieben
Jahren Deutsch. Sie besuchten den studienbegleitenden „Aufbaukurs Schreiben“
an der Universität Leipzig, der auf dem Niveau B1-B2 des europäischen Referenz-
rahmens angesiedelt ist. Dieser Kurs verfolgte das Ziel, das Schreiben von für den
Studienalltag relevanten Textsorten zu trainieren.
Untersuchungsgegenstand war ein argumentativer Essay, der am Ende des
Wintersemesters 2009/10 nach einer vorbereitenden Sitzung außerhalb des Unter-
richts am Computer geschrieben wurde. Thema des 300 Wörter umfassenden
Textes, für dessen Produktion die Kursteilnehmer eine Woche Zeit hatten, war ein
interkultureller Vergleich des Geschäftsverhaltens in verschiedenen Nationen.
Basierend auf der Vorarbeit im Kurs bestand die halboffene Schreibaufgabe darin,
Erfolgs-, Spaß- und Angstfaktoren in der deutschen Businesskultur zu beschreiben
und diese mit drei Faktoren einer anderen Kultur ihrer Wahl zu vergleichen und
Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.
Die hier besprochenen Textausschnitte der beiden Probanden wurden von der
Leiterin des Kurses mit dem am Studienkolleg Sachsen üblichen Korrektursystem
mit Korrekturzeichen korrigiert:
Korrekturzeichen Bedeutung
J Inhaltsfehler
W Lexikfehler
+ Morphologischer Fehler
S Syntaktischer Fehler
I Orthographischer Fehler
- Interpunktionsfehler
Die Rückgabe des korrigierten Textes erfolgte eine Woche nachdem die Proban-
den ihre erste Textfassung abgegeben hatten. Während der Überarbeitung erhielten
beide Probanden ein Informationsblatt, auf dem die Bedeutung der Korrektur-
zeichen mithilfe von Beispielen erläutert wurde. Die Überarbeitung des Textes
innerhalb des Unterrichts war auf 60 Minuten beschränkt und fand sofort im An-
1 Die nach einer Kategorisierung der Korrektur- und Überarbeitungssequenzen noch ausstehende
quantitative Analyse wird mehr Aufschluss darüber geben, inwieweit die hier angeführten Beispiele
repräsentativ für die Untersuchungsgruppe sind.
2 Um die Anonymität der Probanden zu wahren, wurden ihre Namen geändert.
Überarbeitungsprozesse und -produkte nach schriftlichen Fehlerkorrekturen 227
schluss an die Rückgabe der korrigierten Texte am Computer statt. Durch eine
erfolgreiche Überarbeitung ihrer Fehler konnten die Probanden die Note, die sie
für die erste Textfassung erhalten hatten, verbessern. Es ist davon auszugehen,
dass die Probanden daher eine hohe extrinsische Motivation bei der Überarbeitung
ihrer korrigierten Fehler hatten.
Jeder Proband erhielt schriftlich die Aufgabe, den Text auf Basis der Korrektu-
ren neu zu schreiben. Für die Überarbeitung waren sowohl das Internet und alle
Funktionen des Programms „Word“ als auch von den Lernenden mitgebrachte ge-
druckte Hilfsmittel zugelassen. Die Verwendung von Hilfsmitteln am Computer
wurde mittels der Keystroke-Logging-Software „Inputlog“, die sämtliche Tastatur-
und Mausbewegungen sowie den Bildschirm aufzeichnet, nachvollzogen (zu
Einzelheiten des Programms vgl. Leijten; Van Waes 2006). Bei der Verwendung
gedruckter Wörterbücher o.Ä. wurden die Probanden gebeten, auf dem korrigier-
ten Text die Strukturen farbig zu markieren, bei denen sie auf gedruckte Hilfsmittel
zurückgriffen und die Art des Hilfsmittels zu nennen.
Bei der Datenanalyse wurde ein Vorgehen gewählt, dass sich an der im Fehler-
annotierten Lernerkorpus (FALKO) verwendeten Mehrebenenannotation mit
EXMARaLDA orientiert (vgl. Lüdeling et al. 2005). Da fehlerhafte Strukturen sehr
oft nicht eindeutig einer normgerechten Struktur zugeordnet werden können, plä-
diert Lüdeling (2008: 135) dafür, den Annotationsprozess explizit zu machen. Dies
geschieht durch die Annotation von Zielhypothesen, d.h. durch die Sichtbar-
machung der angenommenen korrekten Form, die jeder Kategorisierung von Feh-
lern im Rahmen einer Fehlerannotation zugrunde liegt. Diese Verfahrensweise
wurde in der vorliegenden Untersuchung in modifizierter und vereinfachter Form
adaptiert. Ausgehend von der Erkenntnis, dass sowohl die Annotation von Lerner-
fehlern als auch die Rekonstruktion der Lerneraussage durch Annotatoren großen
intersubjektiven Schwankungen unterliegen kann (vgl. Lüdeling 2008), wurde
durch den Forschenden in den hier diskutierten Textbeispielen überprüft, ob sich
mit den gleichen Korrekturzeichen (s.o.) der Text anders korrigieren bzw. fehler-
hafte Strukturen sich anders deuten lassen. Bei Lernerstrukturen, die sich unter-
schiedlich deuten und damit auch unterschiedlich korrigieren ließen, wurde durch
den Forschenden in einer zusätzlichen Spur eine alternative Korrektur angegeben,
mit der sich auf eine andere, ebenfalls normgerechte Struktur verweisen lässt. Aus
den Korrekturen wurden dann durch den Forschenden sowohl für die tatsächlich
gegebene als auch für die alternative Korrektur Zielhypothesen abgeleitet, die
ebenfalls in eigenen Spuren annotiert wurden. Dieses Verfahren wird in unten
angeführten Beispielen weiter verdeutlicht.
Die Beobachtung des Überarbeitungsprozesses nach Korrekturen erfolgte wie
oben erwähnt mithilfe der für wissenschaftliche Zwecke frei verfügbaren
Keystroke-Logging Software „Inputlog“. Diese Software benutzt die Oberfläche
des Textverarbeitungsprogramms „Word“ und ermöglicht eine indirekte und si-
multane Beobachtung des Schreibprozesses. Der große Vorteil einer solchen
Schreibprozessanalyse ist, dass sie nicht mit der eigentlichen Schreibaufgabe, in
228 Albrecht Klemm
diesem Falle der Überarbeitung eines korrigierten Texts, interferiert und der ge-
samte Schreibprozess automatisch gespeichert wird und damit beliebig oft wieder
abgerufen werden kann (Spelman Miller 2006: 4). Anhand der Aufzeichnungen
lassen sich zwar keine direkten Aussagen über die Verarbeitung der Korrektur
machen, aber Pausen im Schreibprozess, also der Zeitraum in dem weder Text
produziert noch durchgesehen wird, können nach Spelman Miller (2006: 19) als
indirekter Hinweis auf kognitive Prozesse gesehen werden. Um das damit einher-
gehende Interpretationspotential von Pausen zu minimieren, wurde auch die von
den Probanden während der Schreibpause aufgerufenen Internetseiten in die Ana-
lyse einbezogen. So kann die Verarbeitung der in Korrekturzeichen enthaltenen
metalinguistischen Information anhand der verwendeten Online-Grammatiken
nachgezeichnet oder die intendierte Aussage der Probanden anhand der genutzten
zweisprachigen Online-Wörterbücher rekonstruiert werden.
Um die Frage nach der Wirkung von Fehlerkorrekturen im Rahmen eines pro-
zessorientierten Schreibansatzes zu beantworten, wurde zunächst auf den Über-
arbeitungsindex von Ferris (2006) zurückgegriffen. Ferris unterscheidet sechs Ka-
tegorien: 1. erfolgreiche Selbstkorrektur nach Korrektur des Lehrers, 2. fehlerhafte
Selbstkorrektur, 3. keine Selbstkorrektur, 4. Weglassen der korrigierten Struktur, 5.
erfolgreiches/nicht erfolgreiches Ersetzen der korrigierten Struktur in einem nicht
durch die Korrektur intendierten Sinn, 6. erfolgreiche/nicht erfolgreiche Selbst-
korrektur trotz/wegen fehlerhafter Korrektur. In Anbetracht der oben besproche-
nen Problematik der Fehlerdeutung war eine Modifikation der Kategorien nötig,
zumal Ferris (ebd.) in ihrer Studie nicht näher darauf eingeht, wie sie eine erfolg-
reiche Überarbeitung operationalisiert. Bei der Analyse der überarbeiteten Struktu-
ren wurde versucht, die Ein-/Mehrdeutigkeit von Fehlern und Korrekturen, die
intendierte Äußerungsabsicht der Schreibenden und die Komplexität sprachlicher
Fehler zu berücksichtigen. Die Annotation der Korrekturzeichen und Zielhypothe-
sen in EXMERaLDA erhöhte zudem die Transparenz der Auswertung.
Im Hinblick auf die erste Forschungsfrage zeigte sich in den untersuchten
Texten, dass Fehler sowohl eindeutig als auch mehrdeutig sein können. Ein Fehler
kann eindeutig identifiziert und korrigiert werden, wenn er nur eine Deutung zu-
lässt und die Fehlerursache mithilfe der verwendeten Korrekturzeichen zweifelsfrei
bestimmt werden kann. Hierzu zählen orthographische und die Interpunktion be-
treffende Fehler und mehrheitlich auch grammatische Normabweichungen, wie
der Deklinationsfehler im folgenden, in EXMARaLDA annotierten Textausschnitt
der amerikanischen Probandin Ashley (vgl. Tab. 1).
Der aus der ersten Essayfassung stammende Satzteil „Der Deutsche fürchtet
ein Geschäftspartner, der nicht einschätzbar ist“ (Spur T1) enthält in diesem Aus-
schnitt eine grammatische Normabweichung, die mithilfe des Korrekturzeichens
„M“ (Spur FK) eindeutig als morphologischer Fehler klassifiziert werden konnte.
Es lässt sich für diesen Fehler auch nur eine Zielhypothese (Spur ZH) formulieren.
Überarbeitungsprozesse und -produkte nach schriftlichen Fehlerkorrekturen 229
[T1] Der Deut- fürchtet ein Ge- , der nicht ein- ist
sche schäfts- schätz-
partner bar
[FK] M
[ZH] Der Deut- fürchtet einen Ge- , der nicht ein- ist
sche schäfts- schätz-
partner bar
Im untersuchten Text der gleichen Probandin traten aber auch Fehler auf, die aus
verschiedenen Gründen nicht eindeutig identifiziert und korrigiert werden konnten
(vgl. Tab. 2). So lässt sich etwa folgende Normabweichung (Spur T1) auf verschie-
dene Weise interpretieren:
Prinzipiell lässt der im Text begangene Fehler zwei Lesarten zu. So wie er mit dem
Zeichen „W“ (Spur FK) korrigiert wurde, handelt es sich um ein falsch gewähltes
Verb (Spur ZH). Man könnte den Text jedoch auch so deuten, dass das Verb kor-
rekt, die Konstruktion mit „als“ aber fehlerhaft ist (Spuren FK; ZHa). Je nachdem
wie der Lernertext rekonstruiert und anschließend korrigiert wird, ändert sich die
intendierte Aussage: Entweder geht der Korrigierende davon aus, dass die Autorin
die Zuverlässigkeit der Deutschen als ein von den Deutschen gewünschtes Er-
scheinungsbild (Spur ZH) oder als eine Tatsache (Spur ZHa) ansieht. Jede Form
der schriftlichen Korrektur solcher Fehler stellt somit nicht nur eine Berichtigung,
sondern auch eine Deutung des Lernertextes dar.
Diese Phänomene treten insbesondere bei lexikalischen und bei komplexen
Fehlern auf, wie im folgenden Beispiel des zweiten hier vorgestellten amerikani-
schen Probanden Paul deutlich wird. Der folgende Ausschnitt stammt aus dem
Satz: „Wie in Deutschland, Gemeinsarbeit ist ganz bewertet, aber in den USA wird
man lieber anerkannt als ein Leiter der Gruppe.“ (vgl. Tab. 3).
230 Albrecht Klemm
3 Gerade bei solch komplexen und mehrdeutigen Fehlern ließen sich viele unterschiedliche Zielhypo-
thesen erstellen und es ist davon auszugehen, dass verschiedene Annotatoren hier zu sehr unter-
schiedlichen Ergebnissen kommen können (vgl. auch Untersuchungsergebnisse von Lüdeling 2008).
Zur Beantwortung der Forschungsfragen in diesem Beitrag ist jedoch nur relevant, ob eine oder
mehrere ZH erstellt werden können, d.h. ob Fehler eindeutig oder mehrdeutig sind.
Überarbeitungsprozesse und -produkte nach schriftlichen Fehlerkorrekturen 231
Anhand dieser Überlegungen wird bereits deutlich, wie komplex die Rekonstruk-
tion der Lerneraussage und damit ihre Korrektur ist. Gestaltet sich bereits die Kor-
rektur solcher Fehler problematisch, so ist eine Operationalisierung dessen, was im
Anschluss an Korrekturen als erfolgreiche Überarbeitung definiert werden kann,
umso schwerer.
Im Folgenden sollen exemplarisch die Überarbeitungsprozesse und -produkte
der bereits erwähnten korrigierten Strukturen näher beleuchtet und vor dem Hin-
tergrund der für die Wirksamkeit von Korrekturen so zentralen Kategorie des
Überarbeitungserfolgs kritisch analysiert werden.
Bei dem oben angeführten Textausschnitt der Probandin Ashley, der als Bei-
spiel für einen eindeutigen Fehler und eine eindeutige Korrektur diente, kann zwei-
felsfrei bestimmt werden, dass es sich im Rahmen des Schreibprozesses um eine
erfolgreiche Überarbeitung handelt (vgl. Tab. 4).
Hier deckt sich die eindeutig aus der Korrektur ableitbare Zielhypothese (ZH) mit
der überarbeiteten Struktur (T2). Inwieweit die Korrektur jedoch über diese Über-
arbeitung hinaus wirksam war, d.h. zum langfristigen Erwerb der Artikeldeklina-
tion im Deutschen beiträgt, ist indes eine andere Frage. Erwerbstheoretisch fußt
eine solche erwerbsfördernde Funktion auf der Annahme, dass explizites Wissen
über grammatische Strukturen, wie es in diesem Fall durch Korrekturzeichen ge-
fordert und gefördert wird, zu implizitem Wissen werden kann. 4 Ob die Probandin
tatsächlich über das nötige explizite Wissen verfügte oder bei der Überarbeitung
auf implizit gespeicherte Versatzstücke (chunks) zurückgriff, bleibt unklar. Zwar
konnte sie diesen Fehler sehr schnell, d.h. in weniger als einer Sekunde Überarbei-
tungszeit ohne Verwendung von Hilfsmitteln erfolgreich überarbeiten. Bei der
Überarbeitung eines ähnlich gelagerten, ebenfalls durch die Rektion des Verbs
4 Im Gegensatz zu Stephen Krashen und anderen Anhängern der non-interface position, die explizitem
Wissen nur eine Monitorfunktion zuweisen, gehen Vertreter der weak interface position und der strong
interface position von einer solchen erwerbsfördernden Funktion aus (vgl. Ellis 2008).
232 Albrecht Klemm
Inwieweit es durch die von der Korrektur angeregte Überarbeitung zu einer Ände-
rung der intendierten Textaussage gekommen ist, lässt sich anhand des Überarbei-
tungsprozesses, während dessen die Probandin ein gedrucktes Wörterbuch ver-
wendete, leider nicht sagen. Wenn es die Absicht der Schreibenden war, die Zuver-
lässigkeit der Deutschen als ein gewünschtes Erscheinungsbild der Deutschen
darzustellen (s.o. Fehleranalyse), dann war die Korrektur ein wirksames Mittel, um
sie bei der korrekten Formulierung ihrer Aussageabsicht zu unterstützen. Wollte
die Probandin die Zuverlässigkeit der Deutschen hingegen als Tatsache schildern
(s.o.), dann erschiene die – wenn auch formal korrekte Überarbeitung – in einem
anderen Licht. In diesem Falle hätte die Korrektur zu einer ungewollten Umdeu-
tung des Lernertextes geführt, die von der Korrigierten aufgenommen wurde. Die
Frage nach der Wirksamkeit schriftlicher Fehlerkorrekturen stellt sich auch im
letzten, eingangs bereits erwähnten Textbeispiel von Paul (vgl. Tab. 7).
te. Dies lässt den Schluss zu, dass es sich bei der fehlerhaften Passivstruktur um
einen interlingualen Fehler handelt: „teamwork is valued“ Æ „Gemeinsarbeit ist bewer-
tet“. Nach dieser Schreibpause widmete sich der Proband wieder dem Text und
änderte die besprochene Struktur erneut, indem er „Gemeinsarbeit“ strich, durch
„Teamwork“ ersetzte und anstelle von „bewertet“ die im Online-Wörterbuch gefun-
dene Übersetzung „geschätzt“ verwendete: „Wie in Deutschland ist Teamwork geschätzt“.
Nachdem der Proband nach knapp 50 Minuten den gesamten Essay überarbeitet
hatte, widmet er sich nochmals spezifisch einigen Textstellen. Erst im Zuge dieser
letzten Überarbeitung löschte er die bis dahin immer noch falsche Passivform und
ersetzte sie durch eine korrekte Aktivstruktur (T2).
Dieses Beispiel ist hinsichtlich der Frage nach der Wirksamkeit von Korrektu-
ren aus mehreren Gründen interessant. Zunächst wird durch die Analyse der Such-
wörter im Online-Wörterbuch deutlich, dass die Korrektur (FK) und die sich da-
raus ableitbare Zielhypothese (ZH) nicht dem entsprachen, was der Proband ei-
gentlich ausdrücken wollte. Von dieser Perspektive aus kann die gegebene Korrek-
tur nicht als wirksam angesehen werden. Auf der anderen Seite ist die letztendlich
produzierte Struktur im überarbeiteten Text sowohl grammatisch korrekt als auch
stilistisch akzeptabel. D.h. auch wenn der erfolgreich überarbeitete Text in diesem
Fall nicht direkt auf die gegebene Korrektur zurückgeführt werden kann, sondern
vielmehr auf das abschließende Korrekturlesen des Probanden, hat die Korrektur
zumindest eine Auseinandersetzung mit der fehlerhaften Struktur initiiert.
Ziel des vorliegenden Beitrags war es, zum einen das Deutungspotential
schriftlicher Fehler in zusammenhängenden Texten von DaF-Lernenden an aus-
gewählten Beispielen zu diskutieren, und zum anderen den Zusammenhang zwi-
schen Ausgangstext, Korrekturen und überarbeitetem Text mithilfe der detaillier-
ten Text- und Schreibprozessanalyse kritisch zu beleuchten.
Wie sich bereits in den wenigen angeführten Fehlerbeispielen zeigt, können in
Texten nicht nur eindeutige Fehler auftreten, sondern auch mehrdeutige. Neben
der in Korrekturstudien bereits berücksichtigten Schwierigkeit, dass bestimmte
Fehler nicht regelbasiert sind (vgl. die Konzepte der treatable und nontreatable erorrs
von Ferris 1999: 6), kann auch die Rekonstruktion der Äußerungsabsicht der
Schreibenden ein Problem darstellen. Je nach Komplexität der fehlerhaften Struk-
tur, steigt bei solchen Fehlern die Gefahr, den Lernertext durch die Korrektur
falsch zu interpretieren.
In der Unterrichtspraxis kann dem Phänomen solcher mehrdeutiger Fehler mit
schriftlichen Korrekturen kaum begegnet werden. Weder direkte Korrekturen, wie
sie in der Korrekturdidaktik für schwächere Lerner gefordert werden, noch in-
direkte Korrekturen mit Korrekturzeichen, die zu einer Reflexion über Fehler-
ursachen anregen sollen, können in der Fremdsprache Schreibende unterstützen,
wenn die Schreibabsicht der Lernenden falsch interpretiert wird. Schriftlich ließe
sich die Deutungsunsicherheit bei zweideutigen Fehlern durch Kommentare aus-
drücken. Gerade bei komplexen Fehlern könnte es jedoch langfristig effektiver
sein, diese individuell und mündlich mit den Lernenden zu besprechen.
Überarbeitungsprozesse und -produkte nach schriftlichen Fehlerkorrekturen 235
Literatur
Chandler, Jean (2003): The efficacy of various kinds of error feedback for
improvement in the accuracy and fluency of L2 student writing. In: Journal of
Second Language Writing 12, 267-296.
Corder, Stephen P. (1981): The role of interpretation in the study of learner error’s
interpretation. In: Corder, Stephen P. (Hrsg.): Error analysis and interlanguage.
Oxford: Oxford University Press, 35-44.
Ehlich, Konrad (1984): Zum Textbegriff. In: Rothkegel, Annely; Sandig, Barbara
(Hrsg.): Text – Textsorten – Semantik. Hamburg: Buske, 9-25.
Ellis, Rod (2008): Explicit knowledge and second language learning and pedagogy.
In: Cenoz, Jasone; Hornberger, Nancy H. (Hrsg.): Encyclopedia of Language and
Education. Vol. 6. Knowledge about Language, New York: Springer, 143-153.
Ferris, Dana (1999): The case for grammar correction in L2 writing classes: A
response to Truscott (1996). In: Journal of Second Language Writing 8, 1-10.
Ferris, Dana (2004): „The grammar correction“ debate in L2 writing: Where are
we, and where do we go from here? (and what do we do in the meantime...?).
In: Journal of Second Language Writing 13, 49-62.
Ferris, Dana (2006): Does error feedback help student writers? New evidence on
the short- and long-term effects of written error correction. In: Hyland, Ken;
Hyland, Fiona (Hrsg.): Feedback in Second Language Writing: Contexts and Issues.
Cambridge: Cambridge University Press, 81-104.
236 Albrecht Klemm
Unterrichtspraxis
Sektionsbericht
Auch in diesem Jahr bot das Forum traditionsgemäß wieder eine Plattform für den
Austausch aus der Praxis für die Praxis. Es galt vor allem, bewährte Beispiele aus
konkreten Unterrichtskontexten vorzustellen, wobei in der Ausschreibung vor
allem Beiträge aus folgenden Bereichen erwünscht worden waren:
• Studienbegleitende Sprachvermittlung: Modelle – Ziele – Beispiele
• Einsatz digitaler Medien und ihr didaktischer Mehrwert
• Konzepte und Aufgabenstellungen für einen handlungsorientierten Unter-
richt.
Im Folgenden sind diejenigen Beiträge, die im Nachgang der Tagung zum Abdruck
eingereicht wurden, durch Hervorhebung kenntlich gemacht.
Im Rahmen des thematischen Schwerpunkts der Studienbegleitung machten
zunächst Heike Brandl und Christiane Lutterkort von PunktUm (Bielefeld) den
Anfang, die ein erfolgreiches Begleitkonzept DaF und Kulturkunde für die an vie-
len Hochschulen immer bedeutender werdende Zielgruppe zumeist auf Englisch
promovierender Doktorand/inn/en vorstellten. 1 Dem Werkstattcharakter der Ar-
beit von PunktUm ähnelt die Arbeitsweise von Gabriele Menne-El. Sawy und Claudia
Einig vom Sprachlernzentrum der Uni Bonn. In ihrem Beitrag: „Exzerpieren als
wissenschaftliche Arbeitstechnik für nicht-muttersprachliche Studierende“ zeigten sie, wie
durch gezielte Übungen der Wert des Exzerpierens bewusst gemacht und dessen
Handhabung zielführend vermittelt werden kann.
Anknüpfend an diesen Beitrag ging Mi-Young Lee auf die „Sprachlernorientierte Ver-
arbeitung von Fachtexten zur Förderung wissenschaftlicher Schreibkompetenz“ ein und be-
leuchtete so die produktive Seite wissenschaftlichen Arbeitens innerhalb des sog.
PIASTA-Programms der Universität Hamburg. Die Anbahnung der Lernerauto-
nomie kommt auch im Ansatz von Wiebke Strank (Kiel) zum Tragen, die über die
„Hinführung zu einem systematischen Wortschatzerwerb für Lernende auf dem Niveau C1-C2“
referierte und die Konzeption ihres kurz vor der Tagung erschienenen Lehrwerks
„Da fehlen mir die Worte“ vorstellte.
Gleichfalls um Autonomie ging es bei Bärbel Kühn und Christine Rodewald in
ihrem Beitrag „Autonomes Lernen mit der elektronischen Portfolio-Plattform EPOS am
Fremdsprachenzentrum der Hochschulen im Land Bremen“. Der Vortrag bildete den
Übergang zum Themenbündel „Einsatz digitaler Medien und die Frage nach ihrem
didaktischen Mehrwert“. Die Lernenden des Bremer Projekts können mit Hilfe der
beschriebenen Plattform zu einer Selbsteinschätzung ihrer Kompetenzen kommen;
die gewonnenen Erkenntnisse finden Eingang in die tutorielle Betreuung und die
gemeinsame Erarbeitung selbständiger Lernstrategien. Das noch relativ junge Me-
dium des Podcasting steht bei Morten Hunke (Leeds) im Mittelpunkt, der einen be-
sonderen didaktischen Mehrwert in der Reflektion beim Gebrauch dieser Technik
durch die Lernenden konstatiert: „‚Hamburg-Harburg ruft Leeds – Hallo, hier Leipzig ...‘
– Reflektierendes Podcasten von Studierenden während des obligarorischen Auslandsaufenthalts“.
Der mündliche Vortrag Hunkes lebte besonders durch die akustischen Proben der
britischen Lernenden, die ihre Erfahrungen im Ausland an die Heimatuniversität
gepodcastet hatten. Mit dem „Einsatz von Fernsehserien zum Erwerb sprachlicher
und interkultureller Kompetenzen“ – vor allem bei lateinamerikanischen Lernen-
den – beschäftigte sich Dagmar Silberstein (Marburg). Die beschriebene Zielgrup-
pe hat eine ausgesprochene Affinität zu Fernsehformaten der sog. „Telenovelas“,
doch auch Lernende aus anderen Kulturen können durch Vergleich der im Fern-
sehen dargestellten Verhaltensformen mit jenen der eigenen Kultur den Erwerb
interkultureller Kompetenz befördern.
Die Lebhaftigkeit von Audio- und Videobeispielen prägten – wie bei Morten
Hunke – auch den Vortrag von Anke Stöver-Blahak und Matthias Perner (Hannover),
die sich selbst in einem von Musik-Loops untermalten Rap vorstellten. Ihr Thema
lautete: „Rap im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht – ‚Es hat Spaß gemacht und trotzdem
haben wir etwas gelernt‘“. Sie leiteten damit vom Medienschwerpunkt über zum Be-
reich handlungsorientierter Unterrichtskonzepte: Mit Feuereifer hatten die Ler-
nenden an Workshops zum Rappen teilgenommen und produktive wie rezeptive
Fertigkeiten eingeübt: in der thematischen Planung, bei Reimen, Rhythmisierung
und Aussprache in der Vertonung ihrer Produkte und nicht zuletzt beim kritischen
Zuhören und der Anwendung von Formen konstruktiver Kritik. Leider lässt sich
die aus den gezeigten Videobeispielen von den Workshops sprechende Begeiste-
rung schwerlich in die Schriftform eines Tagungsbandes übertragen, doch erhalten
Interessierte wertvolle Hinweise, wie sich der Ansatz auch in andere Lehr-/Lern-
kontexte übertragen lässt.
Sektionsbericht Praxisforum A 243
Einen krönenden Abschluss des Forums Unterrichtspraxis bildete der Vortrag von
Wolfgang Rug (Dornburg/Tübingen) „... dann klappt’s auch mit der Aussprache! – Die 20
besten Tipps für die phonetische DaF-/DaZ-Praxis“. Rug beklagt, dass vielfach in der
Aussprachepraxis eine Verzahnung mit dem Grammatikunterricht fehle. Mithilfe
phonetischer und intonatorischer Grundmuster, Tipps zur Überwindung von Arti-
kulationsschwierigkeiten sowie chorischen und gesanglichen Übungsbeispielen bot
er einem begeistert mitübenden Publikum ein großes Repertoire aus gelebter Un-
terrichtspraxis, Workshops und den Ergebnissen mehrerer Fachtagungen zum
Thema Sprechdidaktik. Besondere Beachtung fand die von Rug entwickelte Typo-
graphie zur Verschriftlichung von Betonungsmustern und Rhythmisierungsformen
der deutschen Sprache, wie sie auch im vorliegenden Tagungsband vorgestellt
wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch das Abstecken bestimmter
Schwerpunktbereiche bereits zum Zeitpunkt des Aufrufs zur Einreichung von Bei-
trägen sich im Tagungsverlauf eine Fülle von Bezügen der Vorträge untereinander
ergibt, was der übergreifenden Diskussion im Forum sehr förderlich ist. Diese
Praxis empfiehlt sich auch für kommende Jahrestagungen.
Exzerpieren als wissenschaftliche Arbeitstechnik für
nichtmuttersprachliche Studierende
der richtigen Art und Weise des Zitierens gestellt und in der Einzelberatung be-
richten Studierende auch von negativen Rückmeldungen ihrer Dozentinnen und
Dozenten zu ihrem Umgang mit Quellen. Aussagen von Studierenden dazu lassen
sich wie folgt wiedergeben: „Mein Professor hat mir meine Arbeit zurückgegeben.
Er sagt, das sei ein Plagiat. Ich würde meinen Text und die Texte, die ich gelesen
habe, zu sehr vermischen“. Andererseits war eine auch immer wiederkehrende
Aussage der Studierenden, dass sie das Exzerpieren für sich nicht als nützliche
„Lese“-Technik erachten: „Warum soll ich exzerpieren? – Ich kopiere den Text
und unterstreiche das Wichtige!“
Unseres Erachtens ist hier für viele Studierende – zum Teil vielleicht auch
durch einen kulturspezifisch anders gelernten Umgang mit Quellen, der eine solche
Form der Rezeption und Verarbeitung nahelegt – nicht ersichtlich, dass die von
ihnen gewählte wissenschaftliche Arbeitsmethode Einfluss auf das von ihnen er-
stellte Produkt hat und dass es sich beim Exzerpieren nicht um eine Lesetechnik
handelt, sondern um eine rezeptiv-produktive wissenschaftliche Arbeitstechnik 2 .
Es wird deutlich, dass das Exzerpieren als Arbeitstechnik hinsichtlich seiner Nütz-
lichkeit unterschätzt wird. Dies gilt aber auch für den Schwierigkeitsgrad der Aus-
wertung wissenschaftlicher Literatur, der oft mit einer Einschätzung wie „Mit dem
Lesen von Texten habe ich kaum Probleme“ dargestellt wird. Der Zusammenhang
zwischen rezeptiv-produktiver Verarbeitung der wissenschaftlichen Literatur und
den oben genannten Problemen mit dem Zitieren und den negativen Rückmeldun-
gen wird hierbei offenbar nicht erfasst.
Mehlhorn empfiehlt in „Studienbegleitung für ausländische Studierende an
deutschen Hochschulen“, dass Kenntnisse in der deutschen Wissenschaftssprache
und Wissenschaftskultur nicht allein durch das Lesen von entsprechenden Rat-
gebern, sondern eher durch die Förderung eines längeren Lernprozesses vermittelt
werden sollten, also ein „schrittweises Erlernen von wissenschaftlichem Arbeiten“
angemessen ist (Mehlhorn 2005: 194). Wir haben versucht, die oben dargelegten
Aspekte in unserer Unterrichtssequenz zum Exzerpieren zu berücksichtigen und
einen Didaktisierungsvorschlag zu entwickeln, der in seiner Gesamtheit entspre-
chend kleinschrittig ist. Einzelne Übungssequenzen lassen sich zudem bedarfs-
orientiert in unseren unterschiedlichen Programmteilen einsetzen.
Im Folgenden wird in einem Problemaufriss das Besondere der wissenschaft-
lichen Arbeitstechnik Exzerpieren herausgestellt sowie auf die Bedeutung des Er-
fassens von Sprechhandlungen und Argumentativstruktur in diesem Kontext ein-
gegangen. Darauf aufbauend werden die Didaktisierung der zu vermittelnden
2 Eßer stellt z.B. in ihrer Analyse wissenschaftlicher Arbeiten mexikanischer Studierender fest, dass
sie Zitate innerhalb ihrer eigenen Wissenschaftskultur nicht unbedingt belegen müssen und das Gele-
sene auch eher nicht im Rahmen eines kritischen wissenschaftlichen Diskurses rezipieren, sondern als
„Weisheit“ gelehrter Wissenschaftler (vgl. Eßer 1997: 60ff). Auch in unseren Kursen wurde von
Seiten asiatischer Studierender Bedenken geäußert, Meinungen von Autoritäten ihres Faches zu
hinterfragen.
Exzerpieren als wissenschaftliche Arbeitstechnik 247
2 Problemaufriss
Die Vermittlung von Wissen in den Wissenschaften geschieht zumeist in text-
sprachlicher, diskursiver Form. Dieses erlesene Wissen kann aber nur dann für den
Lernenden fruchtbar gemacht werden, wenn es auf das Wesentliche reduziert, in
die verschiedenen Wissensdiskurse eingeordnet und mit bereits vorhandenen In-
formationen abgeglichen werden kann. Als Grundlage für diese Form der Wis-
sensaufnahme und -verarbeitung dient die Textsorte des Exzerpts.
Konrad Ehlich beschreibt in seinem Aufsatz „Zur Analyse von Exzerpten“ das
Exzerpt als eine eigenständige Textart, die der Textverarbeitung dient, indem eine
angemessene Reduktion von Informationen eine bessere Wissensvermittlung und
-einordnung unterstützt. Diesem Gedanken folgend wird klar, dass das reine Ko-
pieren des Ausgangstextes, etwa in Zitatform oder durch Unterstreichen im Origi-
naltext, keinesfalls dieser Textart gerecht werden kann. Neben der Gewichtung der
Gehalte muss auch in besonderem Maße auf die diskursive Struktur der Texte
eingegangen werden (Ehlich 1981: 383).
Um aber die Argumentationsstruktur nachvollziehbar zu machen, bedarf es
beim Leser zum einen des Erkennens der jeweiligen Sprecherintention des Autors,
zum anderen aber auch der richtigen Wahl sprachlicher Mittel, um diese Sprech-
handlungen auszudrücken. Diese Differenzierung, die auch für Muttersprachler
manchmal schwierig ist, fällt nichtmuttersprachlichen Studierenden sowohl im re-
zeptiven wie auch im performativen Bereich schwer, besonders dann, wenn es um
feine Nuancierungen der jeweiligen Sprechhandlung geht (vgl. Jahr 2008).
Fehler können hier auf verschiedenen Ebenen auftreten, wie an den folgenden
Beispielen deutlich wird. 3
Beispiel (1):
3 Didaktisierung
4 Ein Beispiel für einen in dieser Hinsicht geeigneten Textauszug ist in der Dissertation von Ricarda
Gilbert (1993: 30f.) zu finden.
Exzerpieren als wissenschaftliche Arbeitstechnik 251
sionen über die Bedeutungsnuancen der einzelnen Verben, wodurch den Studie-
renden bewusst wird, dass diese Ausdrücke ein breites, flexibles Anwendungs-
spektrum abdecken.
Erst nach dieser oft sehr kontrovers und lösungsoffen geführten Diskussion
wird eine Liste (s. Anhang) ausgeteilt, die in Anlehnung an Fandrych und die Mate-
rialien des „punktum“-Projekts der Universität Bielefeld zusammengestellt worden
ist (Fandrych 2004; Punktum 2008). Sie dient im weiteren Verlauf als Grundlage
für die Arbeit mit der von uns entwickelten erweiterten Exzerptform.
Über eine Analyse dieses Beispiels in Hinblick auf Inhalte, Aufbau, Funktion und
Sprache können viele Vorteile eines Exzerptes erarbeitet werden: In der Kopfzeile
des Exzerptes wird die Quelle mit allen notwendigen Daten festgehalten und der
„Standort“, wo diese Quelle zu finden ist. Hierüber kann die Bedeutung der ge-
nauen Quellendokumentation für ein effizientes wissenschaftliches Arbeiten ver-
deutlicht werden. Die Nennung des Themas sowie insbesondere der Fragestellung,
unter der das Thema behandelt wird, spielt in Kursen für nichtmuttersprachliche
Studierende eine wichtige Rolle: Ein rein thematisches Erfassen des Textinhaltes
führt oft zu einer wissenschaftlich nicht angemessenen oberflächlichen Wahrneh-
mung und einer eben solchen späteren Wiedergabe des gelesenen Textes. Werden
Studierende jedoch dazu aufgefordert, die dem Text zugrunde liegende Fragestel-
lung herauszufiltern, müssen sie den Text tiefer durchdenken, den Zugriff des
Autoren oder der Autorin auf das Thema nachvollziehen. Für viele nichtmutter-
sprachliche Studierende ist diese tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Text
eine große Herausforderung. Die Diskussion über die Fragestellung bietet darüber
hinaus in unseren C2-Kursen sowie in der Schreibberatung mit fortgeschritteneren
Studierenden den Anlass, den Unterschied zwischen subjekt-orientiertem und
objekt-orientiertem Exzerpieren (vgl. Ehlich 1981: 396) grundlegend zu reflektie-
ren, also die individuelle Rezeption im Kontext der eigenen Arbeit kritisch zu be-
leuchten.
Das Exzerptbeispiel in der Abb. 3 bietet aber nicht nur hinsichtlich der Frage-
stellung eine Diskussionsbasis, sondern auch durch die unterschiedliche Darstel-
lung der aus dem Text extrahierten Inhalte und des Kommentars. An den Inhalten
lassen sich die Bestandteile Paraphrase und direktes Zitat verdeutlichen. Dies bietet
Anlass zur Diskussion einer jeweils sinnvollen Verwendung der beiden Wieder-
gabeformen. Deutlich abgegrenzt davon sind durch die andere Schrifttype der
eigene Kommentar, die eigenen Überlegungen zum Exzerpt. Auch andere
Exzerptbeispiele oder -vorlagen verdeutlichen diese Abgrenzung, so die von Sti-
ckel-Wolf; Wolf (2006) vorgeschlagene Musterform (Abb. 4).
Hier (s. Abb. 4) müssen wie bei Bünting; Bitterlich; Pospiech (2009) die Quelle,
der Standort und das Datum des Exzerpts angegeben werden. Stickel-Wolf und
Wolf schlagen eine tabellarische Form vor. Die Fragestellung wird nicht themati-
siert, die wichtige Unterscheidung zwischen aus dem Text extrahierten Inhalten
und eigenem Kommentar wird jedoch deutlich. Diese Unterscheidung sollte in
Kursen mit nichtmuttersprachlichen Studierenden ebenfalls sorgfältig diskutiert
werden, da die so gesteuerte und dokumentierte Unterscheidung von eigener Posi-
tion und Aussage des Quelltextes für nichtmuttersprachliche Studierende oft
schwer zu erfassen, aber eine Vorbedingung für das gelungene Einbinden der Se-
kundärliteratur in den eigenen Text ist.
Exzerpieren als wissenschaftliche Arbeitstechnik 253
gen wird geschult: Interpretationsspielräume sind zwar vorhanden, aber die Zu-
ordnungen sind nicht beliebig.
Tab. 1: Zuordnungsübung.
Diese kurze Übung bereitet jene Argumentationsstruktur vor, die dem in der
nächsten Übung zu exzerpierenden Text zugrunde liegt und dient somit auch der
Vorentlastung. Als Textkorpus für die nächste Übung wurde ein Text aus Schade
(2009) genommen. Der Auswahl lagen dabei folgende Kriterien zugrunde: Der
Text sollte wissenschaftssprachlich sein und wissenschaftliche Inhalte behandeln.
Er sollte leicht verständlich sein und trotz einer geeigneten Kürze unterschiedliche
Textdichte und eine gut erkennbare Argumentationsstruktur aufweisen.
In der in Tabelle 2 ausschnittsweise dargestellten Übung sollen in einem ersten
Schritt die Abschnitte des Textes auf ihre Argumentationsstruktur hin untersucht
und benannt werden, zudem soll eine passende Sprechhandlung ausgewählt wer-
den. Im Anschluss werden die Ergebnisse vorgestellt, im Plenum diskutiert und
das Ergebnis gesichert. Im zweiten Schritt sollen sich die Studierenden mit der
Textverdichtung befassen. Hier muss eingeschoben werden, dass sowohl notwen-
dige Kenntnisse über das Zusammenfassen von Texten als auch über den formalen
Gebrauch von Zitaten an anderer Stelle im Kurs, im Workshop oder in der Bera-
tung geübt und an dieser Stelle vorausgesetzt werden. 5 Schwerpunkt dieser Übung
ist die Diskussion und Entscheidungsfindung, an welchen Stellen der Text gut
zusammenzufassen ist, welche Aussagen wegfallen können und welche Aussage
des Textes so zentral sind, dass sich ein direktes Zitat anbieten würde. Auch hier
wurden die Ergebnisse abschließend ausführlich diskutiert und kritisch evaluiert.
5 Übungsmaterial sind überwiegend selbst erstellte Materialien. Zur Zusammenfassung darüber hin-
aus Materialien aus: Beinke (2008), Tütken; Singer (2006), zum Zitieren unter anderem Punktum
(2008), Mehlhorn (2005).
256 Gabriele Menne-El. Sawy & Claudia Einig
1. Bitte analysieren Sie jeden Abschnitt, exzerpieren Sie die wichtigsten Inhalte und
kennzeichnen Sie die Sprechhandlung des Autoren (s. Kopie 3).
2. Wählen Sie aus, was Sie zusammenfassen oder weglassen wollen, was Sie als zentrale
Idee zitieren wollen und welche Stellen Sie in indirekter Rede wiedergeben wollen.
Tab. 2: Übung zu Zitat und Paraphrase (Zum Text aus Schade 2009: 217)
(C1-Modul: Wissenschaftssprache und wissenschaftliches Schreiben M. Harms,
C. Einig WS 2009/10).
Im Anschluss daran wird in häuslicher Arbeit das Exzerpt als Grundlage für eine
Zusammenfassung verwendet. In der nächsten Unterrichtseinheit kann darauf auf-
bauend eine Musterzusammenfassung im Plenum erstellt werden – hier das Bei-
spiel einer solchen Zusammenfassung:
Hartmann stellt fest, dass bereits von Beginn an in der Medizin die
Kinderheilkunde eine wichtige Rolle spielte. Er sieht die Gründe dafür
in der hohen Kindersterblichkeit. Beschreibungen von Kinderkrank-
heiten und ihrer Behandlung seien schon in historischen Werken des
Altertums zu finden. Hartmann betont aber, dass sich erst im 19. Jahr-
hundert die Kinderheilkunde zu einem selbstständigen Fach entwickelt
Exzerpieren als wissenschaftliche Arbeitstechnik 257
habe und führt aus: ‚Für diese Entwicklung war die beängstigende
Steigerung der Kindersterblichkeit zu Beginn des industriellen Zeit-
alters von Bedeutung.‘
Die Auswahl des Aufbaus dieser Übungssequenz ist sehr bewusst auf die Lese-
gewohnheiten und die oben dargestellte Zurückhaltung der Studierenden gegen-
über der ungewohnten Arbeitstechnik des Exzerpierens ausgerichtet. Die Studie-
renden haben in der einfachen Zuordnungsübung schnellen Erfolg und arbeiten
sich bereits in die Strukturmerkmale von Textargumentation ein, die sie im Fol-
genden brauchen. Auch in der komplexen zweiten Übung besteht der erste Schritt
zunächst im einfachen Erkennen und Markieren unterschiedlicher Abschnitte. Im
Anschluss bearbeiten sie die für sie komplexen Aufgaben der Analyse der Argu-
mentationsstruktur und des Exzerpierens der Inhalte an einem durch seine Kürze
und seinen Schwierigkeitsgrad überschaubaren Text. Durch die gewählte Form des
kooperativen Lernens nach dem Think – Pair – Share-Modell 6 wird dabei eine
vertiefende Rezeption der Lerninhalte gefördert. Mit dem letzten Schritt, der auf
der Grundlage des Exzerpts erstellten Zusammenfassung, wird die Nützlichkeit
des rezeptiv-produktiven Exzerpierens für die Erstellung des Endprodukts „wis-
senschaftlicher Text“ verdeutlicht.
Aufbauend auf dieser Unterrichtseinheit wird den Studierenden eine erweiterte
tabellarische Exzerptform (Tab. 3) zur Verfügung gestellt, die neben den oben
genannten Bestandteilen eines Exzerptes auch eine Spalte vorsieht, in der die
Sprechhandlungen erfasst werden. Durch diese formale Vorgabe wird explizit ver-
deutlicht, dass die exzerpierten Inhalte nicht kontextlos für sich zu verstehen sind,
sondern als Äußerungen einer Autorin/eines Autoren, mit denen er/sie wissen-
schaftlich argumentiert und sich im wissenschaftlichen Diskurs positioniert, und
dass diese Argumentation und Position auch bei der Einbettung der Fremd-
meinung in den eigenen Text dargestellt werden muss.
Standort:
Thema:
Fragestellung:
4 Schlussfolgerungen
Die oben dargestellte Unterrichtssequenz wurde im Rahmen unseres noch jungen
Sprachprogramms entwickelt. Sie wurde aus der direkten Erfahrung in der Zu-
sammenarbeit mit nichtmuttersprachlichen Studierenden entwickelt. Diese hat uns
verdeutlicht, dass bestimmte allgemein wissenschaftssprachliche Konzepte Wissen
implizieren und voraussetzen, über das muttersprachliche Studierende in höherem
Maße verfügen. Ein rein quantitatives Vorgehen, nämlich mehr Übungen zum
ungewohnten und ungeliebten Exzerpieren, führen deshalb nur eingeschränkt zum
Erfolg. Unser Konzept sollte die speziellen Belange nichtmuttersprachlicher Stu-
dierender berücksichtigen und den Sinn des Exzerpierens augenfällig machen. Eine
wichtige Facette hierbei war das Thematisieren der Sprechhandlungen und der
Argumentationsstruktur. Die Fokussierung auf diese Aspekte der Texterfassung
scheint auch die Leistung bei anderen Übungen im Kurs positiv zu beeinflussen:
Eine wenn auch nicht fehlerfreie, so doch zielgerichtete und bewusstere Verwen-
dung von Sprechhandlungsverben zeichnete sich ab. Ein Beispiel dafür zeigt fol-
gender Text einer Studierenden (Beispiel 4) 7 .
7 Bei der Übung handelte es sich um die Aufgabe, einen Auszug aus einer Rede zu verschriftlichen.
Quelle: http://www.internationalepolitik.de/ip/archiv/jahrgang2003/dezember03/rede-der-deutsch
en -kulturstaatsministerin--christina-weiss--zu----kultur-und-medien-in-der-informationsgesellschaft--
--auf-dem-symposium-informationsgesellschaft-2003-der-alcatel-sel-stiftung-am-26--november-2
003-in-berlin.html (28.09.2010).
Exzerpieren als wissenschaftliche Arbeitstechnik 259
Beispiel (4):
8 Laut Aussagen von Studierenden eröffnete sich ihnen ein neuer Zugang zu Quelltexten, der einen
bisher außer Acht gelassenen Aspekt des wissenschaftlichen Arbeitens in ihr Blickfeld rückte.
260 Gabriele Menne-El. Sawy & Claudia Einig
Literatur
Beinke, Christian et al. (2008): Die Seminararbeit. Schreiben für den Leser. Konstanz:
UVK Verlagsgesellschaft mbH.
Bünting, Karl-Dieter; Bitterlich, Axel; Pospiech, Ulrike (2009): Schreiben im Studium:
mit Erfolg. Ein Leitfaden. 8. Aufl. Berlin: Cornelsen-Scriptor.
Ehlich, Konrad (1981): Zur Analyse der Textart Exzerpt. In: Frier, Wolfgang
(Hrsg.): Pragmatik. Theorie und Praxis. Amsterdam: Rodopi Amsterdamer
Beiträge zur neueren Germanistik. Bd. 13, 379-401.
Eßer, Ruth (1997): „Etwas ist mir geheim geblieben am deutschen Referat“: kulturelle
Geprägtheit wissenschaftlicher Textproduktion und ihre Konsequenzen für den universitären
Unterricht von Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium.
Fandrych, Christian (2004 ): Bilder vom wissenschaftlichen Schreiben.
Sprechhandlungsausdrücke im Wissenschaftsdeutschen: Linguistische und
didaktische Überlegungen. In: Wolff, Armin; Chlosta, Christoph; Ostermann,
Torsten (Hrsg.): Integration durch Sprache. Materialien Deutsch als Fremdsprache.
Regensburg: FaDaF 73, 269-291.
Gilbert, Ricarda (1993): Der Schrei in der Literatur und auf dem Theater. Diss.
Universität Gießen.
Jahr, Silke (2008): Sprechhandlungstypen in Fachtexten und deren Vermittlung im
DaF-Unterricht. In: Chlosta, Christoph; Leder, Gabriele; Krischer, Barbara
(Hrsg.): Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis.
35.Jahrestagung des Fachverbands Deutsch als Fremdsprache 2007. Göttingen:
Universitätsverlag, 247-246.
Kooperatives Lernen (2009): Fremdsprache Deutsch. Zeitschrift für die Praxis des
Deutschunterrichts, 41.
Mehlhorn, Grit unter Mitarbeit von Bausch, Karl-Richard; Claußen, Tina; Helbig-
Reuter, Beate; Kleppin, Karin. (2005): Studienbegleitung für ausländische Studierende
an deutschen Hochschulen. München: Iudicium Verlag.
Schade, Günter (2009): Einführung in die deutsche Sprache der Wissenschaften. Ein
Lehrbuch für Deutsch als Fremdsprache mit Lösungsschlüssel. 13. Auflage. Berlin: Erich
Schmidt Verlag.
Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende – Universität Bielefeld „Punktum“.
Unveröffentlichte Materialien (2008): Fach Deutsch als Fremdsprache. Brandl,
Heike; Brinkschulte, Melanie; Immich, Stephanie. Wissenschaftliche Leitung:
Prof. Dr. Claudia Riemer.
Exzerpieren als wissenschaftliche Arbeitstechnik 261
Anhang:
Einteilung der Sprechhandlungsverben in wissenschaftssprach-
lichen Texten nach Bedeutungsfeldern
(erarbeitet in enger Anlehnung an Fandrych 2004, ergänzt durch Materialien von „punkt-
um“ Uni Bielefeld)
Erklärung: V, X, Y, Z = Verfasserin/Verfasser; A/B/C = Sachverhalt, Thema
L) hinweisen, zeigen
zurückblicken auf X weist darauf hin/verweist darauf, dass …
hinweisen auf/einen Hinweise In einer Arbeit über A demonstriert Z, wie … X
geben auf, an etwas erinnern hat in seiner Dissertation gezeigt, dass …
andeuten, aufzeigen, demonstrieren, Die Tabelle zeigt …
vor Augen führen, verdeutlichen, Auf diese Weise verdeutlicht Y, dass …
zeigen, dass
264 Gabriele Menne-El. Sawy & Claudia Einig
1 Einleitung
Viele Studien belegen, dass die Textproduktion im akademischem Kontext für aus-
ländische Studierende (also Nichtmuttersprachler) eine der größten Herausforde-
rung bei der Bewältigung des akademischen Alltags darstellt (vor allem Eßer 1997,
Büker 1998, Claußen; Mehlhorn 2004, Isserstedt; Schnitzer 2005, Heublein 2006,
Brandl; Brinkschulte; Immich 2008). Verschiedene Studien zeigen aber außerdem,
dass auch bei deutschen Studierenden (also Muttersprachlern) Bedarf besteht, hin-
reichende Kompetenz im wissenschaftlichen Schreiben zu erwerben (vor allem
Dittmann; Geneuss; Nennstiel; Quast 2003, Steinhoff 2007). Dieser Befund wird
bestätigt durch die wachsende Nachfrage nach Schreibseminar-Angeboten von
Seiten muttersprachlicher Studierender. Die Schreibkompetenz ist also eine Kom-
petenz, die nicht nur von ausländischen, sondern auch von deutschen Studieren-
den erworben werden muss.
In diesem Aufsatz wird zunächst ein Modell vorgestellt, welches das gemein-
same Lernen ausländischer und deutscher Studierender vorsieht und gleichzeitig
die spezifische Förderung ausländischer Studierenden auf der sprachlichen Ebene
ermöglicht. Dabei handelt es sich um die Schreibwerkstatt der Universität Ham-
burg. Im nächsten Schritt werden Überlegungen zur langfristigen Förderung auf
Wissenschaftssprache bezogener Schreibkompetenz bei ausländischen Studieren-
den durch Vermittlung sprachlernorientierter Lesestrategien diskutiert. Diese
266 Mi-Young Lee
1 PIASTA (Programm International für Alle Studierende und Alumni) ist ein Projekt der Abteilung
Internationales der Universität Hamburg. Es leistet einen wesentlichen Beitrag zur Internationalisie-
rung der Universität Hamburg, indem es das Ziel verfolgt, mit einem vielseitigen Unterstützungs-
programm sowohl ausländischen als auch deutschen Studierenden den Einstieg in den deutschen
akademischen Alltag zu erleichtern.
Sprachlernorientierte Verarbeitung von Fachtexten 267
Schreibwerkstatt
Modul 1 Modul 2
Allgemeine Spezifisch für
Grundlagen internationale
Studierende
Schreibberatung Korrekturhilfe
Modul 3 Modul 4
Fachspezifisch Studiengang-
(z.B. Jura usw.) spezifisch
(BA/MA/Promo.)
Modul 5
Psychologische Workshops
(z.B. Überwindung der Schreibblockade)
dierenden das Lernen für das Schreiben im Studium selbstständig steuern können.
Dieses Modell wird seit Wintersemester 2009/2010 umgesetzt und soll in weiteren
Semestern weiter ausgebaut werden.
2 Bei dieser Umfrage handelt es sich um eine Stichprobenuntersuchung, weshalb die Ergebnisse nicht
auf alle ausländischen Studierenden generalisierbar sind. Dennoch erlaubt sie einen gewissen Einblick
in die Lage der ausländischen Studierenden.
Sprachlernorientierte Verarbeitung von Fachtexten 269
3 An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass Studierende erfahrungsgemäß schnell das Interesse am
Lernen verlieren, wenn im Sprachkurs fachfremde Texte behandelt werden, was ein Problem für
manche fachübergreifend konzipierte Sprachlehrveranstaltungen darstellt.
4 Beispielsweise leisten Phänomene wie Konjunktiv I und II im wissenschaftssprachlichen Gebrauch
andere spezifische Funktionen als im alltagssprachlichen Gebrauch.
270 Mi-Young Lee
5 Der Begriff „alltägliche wissenschaftliche Sprache“, der von Ehlich (1993) stammt, ist mit dem
Konzept „nicht-fachliches Vokabular im Fachtext“ von Meyer (1993) vergleichbar, der diesen Begriff
in Bezug auf englische wissenschaftliche Texte eingeführt hat.
272 Mi-Young Lee
hypothese“, vgl. Edmondson 2003). Die Bedeutung von Chunks, Routinen und
Pattern in der Sprachproduktion soll nun näher betrachtet werden.
Chunk, ein Begriff, der auf Miller (1956) zurückzuführen ist, ist Handwerker
zufolge (Handwerker, Madlener 2010) 6 ein „Einheitsbündel“ von Wörtern, die im
mentalen Lexikon als eine sinnvolle Einheit zusammen gespeichert sind und in der
Produktion zusammen abgerufen werden, wie z.B. „vor einem Jahr“, „ins Kino
gehen“, „zur Uni fahren“ usw. Routinen sind nach Edmondson; House (1993: 101)
„fertig verfügbare sprachliche Versatzstücke“, die semantisch und pragmatisch
komplexe Funktionen haben (also eine Art spezifische Chunks), wie z.B. „Wie
geht’s dir/Ihnen?“ in der Gesprächseröffnungsphase, „Herzlichen Glückwunsch
zum …“ zum Anlass für eine Gratulation oder „Ich hätte gern XY“ z.B. zum Aus-
druck eines Kaufwunschs im Laden. Pattern sind Strukturmuster, aus dem leicht
variiert verschiedene Phrasen oder Sätze gebildet werden können (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Pattern 7 .
Nach Pawley; Syder (1983) spielen in der Sprachproduktion Chunks, Routinen und
Pattern eine große Rolle (vgl. Ellis 1997: 128-129). Zum einen gestalten sie den
Formulierungsprozess effizient. Beispielsweise können aus in Pattern gespeicher-
ten Äußerungen nur leicht variiert weitere Äußerungen erzeugt werden, so könne
aus „I’m sorry to keep you waiting.“ der Satz „Mr Brown is so sorry to have kept
you waiting.“ generiert werden. Diese Effizienz in der Sprachproduktion bezeich-
net Nick Ellis als „native-like fluency“. Zum anderen ermöglichen Chunks, Routinen
oder Pattern adäquate Formulierungen, was Nick Ellis „native-like selection“ nennt.
Beispielsweise stelle man im Englischen einen Heiratsantrag mit der Äußerung „I
want to marry you.“, nicht aber mit Äußerungen wie „I wish to be wedded to
you.“, „Your marrying me is desired by me.“ oder „Becoming your spouse is what
I want.“, obwohl es sich hierbei um grammatisch einwandfrei gebildete Sätze han-
delt. Diese Bespiele zeigen deutlich, dass die Generierung von Äußerungen kein
rein kreativer Prozess ist, sondern weitgehend konventionell geregelt ist.
In Bezug auf wissenschaftliche Textproduktion bedeutet die Verwendung sol-
cher standardisierter Formulierungen wie Chunks, Routinen oder Pattern, dass
zum einen der Formulierungsaufwand erheblich reduziert werden kann, zum ande-
ren stilistisch angemessene Texte produziert werden können. Wenn man bedenkt,
dass, wie Graefen betont, der angemessene wissenschaftssprachliche Stil zum gro-
6 Handwerker, Brigitte; Madlener, Karin: Multimedia-Chunks für Deutsch als Fremdsprache. (http://
www2.hu-berlin.de/daf/forschung/multimedia-chunks.php) (06.09.2010).
7 Frei nach Funk; Kuhn; Demme (2006: 144).
Sprachlernorientierte Verarbeitung von Fachtexten 273
ßen Teil von der Verwendung typischer sprachlicher Mittel abhängt, ist es für aus-
ländische Studierende notwendig, solche Stilmittel zu beherrschen:
Sprachliche Mittel werden aus den Reservoirs der Gemeinsprache für
wiederkehrende mentale und kommunikative Tätigkeiten verwendet.
Solche Ausdrucksmittel, die sich für spezifische Zwecke bewährt ha-
ben, haben sich durch den Gebrauch routinisiert, zu Stilmitteln verfes-
tigt. (Graefen 2009: 114)
Tatsache ist
[…], dass der richtige, d.h. sachlich passende und konventionsadäqua-
te, Einsatz den ‚guten‘ wissenschaftlichen Stil prägt. (Graefen 2009:
106-107)
10 In Sinne von Förderung von „Noticing“ durch Vermittlung expliziten Wissens nach Rod Ellis
(2003: 149).
Sprachlernorientierte Verarbeitung von Fachtexten 275
3) Im dritten Schritt sollen Studierende mit Aufgaben wie in Abb. 3 auf po-
tentielle Lücken in Bezug auf Kollokationen in der produktiven Verwen-
dung aufmerksam gemacht werden (eine Art „Noticing the Gap“).
Diese Aufgabe in Abb. 3 kann durch Lückentextaufgaben ergänzt werden,
in denen die Studierenden jeweils den zum Basiswort (z. B. „Schlussfolge-
rung“) passenden Kollokator („zieht“) in die Lücke eintragen sollen: „Aus
diesen Beobachtungen (…) Brown (1973) folgende Schlussfolgerung:
[…]“.
Zu empfehlen ist bei der Erstellung von Lückentextaufgaben, die Kolloka-
tionen möglichst so auszuwählen, dass einige ohne große Mühe gelöst
werden können, wohingegen einige weitere davon Schwierigkeiten berei-
ten, so dass die Lerner ohne fremde Hilfe nicht auf die Lösung kommen.
So lässt sich verdeutlichen, dass Kollokationen als Chunk gelernt werden
sollten. 11
Beim Lesen von Fachtexten ist Ihnen sicher bereits aufgefallen, dass in wissenschaft-
lichen Texten Wörter oft in einer bestimmten Wortkombination auftauchen. Folgende
Formulierungen sind Beispiele hierfür:
eine Analyse durchführen/vornehmen, etwas einer Analyse unterziehen
Begriff definieren/erläutern
im Bezug auf, im Hinblick auf, mit Hilfe
Aufgabe 3-1:
Kennen Sie weitere solche Ausdrücke? Überlegen Sie sich, in welchen Wortverbindun-
gen folgende Wörter in wissenschaftssprachlichem Kontext verwendet werden können.
Falls Ihnen keine Verbindungen einfallen, achten Sie beim nächsten Mal, wenn Sie
einen Fachtext lesen, darauf, in welchen Wortverbindungen diese Wörter oft vorkom-
men.
Beispiel(e)
Experiment
Hypothese
Konsequenz(en)
Schlussfolgerung(en)
11 Sinnvoll wäre es auch, den Studierenden in dieser Phase anhand von Lernerwörterbüchern zu
zeigen, wie sie beim Schreiben in akuten Fällen des Kollokationsproblems vorgehen können.
276 Mi-Young Lee
☺ Lerntipp 2:
¾ Die oben genannten Wortkombinationen tragen wesentlich zur Bildung
eines wissenschaftlichen Schreibstils bei. Daher sollten Sie über möglichst großen
Wortschatz solcher Wortverbindungen verfügen, wenn Sie einen stilistisch an-
gemessenen wissenschaftlichen Text schreiben wollen. Das Lernen solcher
Wortverbindungen gelingt am besten beim Lesen Ihrer Fachtexte.
¾ Empfehlenswert ist es, die Texte auf zwei Ebenen zu lesen, nämlich einerseits in-
haltlich, andererseits sprachlich. Wenn Sie den Inhalt Ihrer Texte verstanden ha-
ben, lesen Sie den Text noch einmal durch, und dabei versuchen Sie Formulie-
rungen zu finden, die Ihrer Meinung nach in einer typischen Verbindung ste-
hen. Markieren Sie solche Wortverbindungen und versuchen Sie sich diese
Formulierungen nach Ihrer eigenen Vokabellernmethode einzuprägen. Sie
können z.B. eine Tabelle wie in Aufgabe 3-1 (Wortverbindungsliste) anfertigen
und die Wortverbindungen, die Sie beim Lesen Ihrer Fachtexte entdeckt ha-
ben und später in Ihrer Hausarbeit verwenden möchten, eintragen und regel-
mäßig nachschlagen.
5) Als fünfter Schritt wird das Lernen von Kollokationen beim Lesen von
Fachtexten im Workshop ausprobiert wie in Abb. 5 dargestellt. Hier sollen
Studierende alle Wörter markieren, die ihrer Meinung nach zusammen-
hängende Wortverbindungen sein können. Diese Aufgabe kann eventuell
mit spielerischen Komponenten bereichert werden. Im Workshop wurden
z.B. mehrere Gruppen gebildet, und zwischen diesen Gruppen wurde eine
Art Wettbewerb veranstaltet nach dem Motto „Schatzsuche: Es gewinnt
die Gruppe, die die meisten Kollokationen findet!“.
Aufgabe 3-2:
Bei dem folgenden Text handelt es sich um einen Ausschnitt einer Handreichung für
DaF-Dozenten, die an deutschen Universitäten studienbegleitende Deutschkurse leiten.
Thematisiert wird in diesem Text, wie sich ausländische Studierende durch Training auf
Kontaktaufnahme mit deutschen Studierenden im Studienalltag besser vorbereiten kön-
nen.
Markieren Sie alle Wortverbindungen im Text, die Ihrer Meinung nach eine typische Wort-
verbindung darstellen, und die daher als eine Einheit zu lernen sind.
(Beispieltext)
Denkbar wäre es, dass die Studierenden anschließend an ihren eigenen Fachtexten
arbeiten, welche sie zum Workshop mitgebracht haben. Sie lesen einen Ausschnitt
und markieren die kollokationellen Verbindungen. Die gefundenen Kollokationen
können anschließend im Plenum vorgetragen werden – gewissermaßen nach dem
Sprachlernorientierte Verarbeitung von Fachtexten 277
Aufgabe 1:
Lesen Sie den folgenden Text vor dem oben erläuterten Hintergrund. Im ersten Ab-
schnitt führt die Autorin den Leser in ihr Hausarbeitsthema […] ein. Welche Informa-
tionen will die Autorin dem Leser oder der Leserin im Einleitungsteil vermitteln? Versu-
chen Sie knapp zu beschreiben, was die Autorin im zweiten Abschnitt macht (z.B. etwas
verallgemeinern, schlussfolgern, beweisen, begründen, definieren, klassifizieren, zitieren usw.) und
welches die Kernaussage dieses Abschnitts ist. Schreiben Sie wie beim ersten Abschnitt
die entsprechenden Stichworte in die linke und rechte Spalte der Tabelle. (Für die inhalt-
liche Kernaussage können Sie wichtige Wörter direkt im Text markieren.)
(Beispieltext)
Aufgabe 2:
Anfang des zweiten Abschnittes nennt die Autorin explizit ihr Erkenntnisinteresse, d.h.
die Punkte, die sie in ihrer Hausarbeit beantworten will.
2.1. Markieren Sie, wie die Autorin ihre eigene Arbeit bezeichnet.
2.2. Welche typische Formulierung wird von der Autorin einleitend verwendet, um ihr
Erkenntnisinteresse darzustellen?
Auf ähnliche Weise können Formulierungen in der Einleitung, die den Aufbau der
Arbeit verdeutlichen, anhand von Aufgaben wie in Abb. 8 routinisiert werden. Bei
der Aufgabenstellung ist darauf zu achten, dass Aufgaben so formuliert werden, dass der
Lerner die Perspektive des Autors beim Schreiben nachvollziehen kann (z.B. Aufgabe 3.2. in
Abb. 8).
Sprachlernorientierte Verarbeitung von Fachtexten 279
Aufgabe 3:
Im zweiten Abschnitt stellt die Autorin neben ihrem Erkenntnisinteresse die Gliede-
rung der Hausarbeit vor und nennt die Arbeitsschritte zur Beantwortung der zentralen
Forschungsfrage der Arbeit.
3.1. In wie vielen Arbeitsschritten will sie vorgehen? Wie viele Kapitel wird man als Leser
erwarten?
3.2. Markieren Sie sprachliche Mittel, die die Autorin verwendet, um den Aufbau der Arbeit zu
verdeutlichen.
☺ Lerntipp: Versuchen Sie, beim Lesen wissenschaftlicher Texte solche sprachlichen
Mittel zu sammeln und in Ihre eigene Arbeit zu integrieren, wenn Sie
später eine Hausarbeit schreiben.
Ferner ist den Studierenden als eine weitere Lerntechnik zu empfehlen, eine Art
eigenes Formulierungswörterbuch 12 anzulegen. Beim Formulierungswörterbuch
handelt es sich um eine Sammlung von Formulierungen, die die Studierenden beim
Lesen von Fachtexten als Sprachroutinen identifiziert haben. Als ein Beispiel dafür
könnte man die „Formulierungshilfen“ zum Thema Hausarbeiten von Mehlhorn
(2005) vorstellen. Diese Liste von Mehlhorn ist m.E. zum Zweck der Routinisie-
rung relevanter Formulierungen gut geeignet, da die Formulierungen auf dieser
Liste in verschiedene Handlungen, die der Autor beim Schreiben eines wissen-
schaftlichen Textes durchführt, kategorisiert sind (z.B. „eine Hausarbeit einleiten
und zum Thema hinführen“, „das Thema begründen und einordnen“, „die Gliede-
rung vorstellen“ usw.). Diese Sammlung sollten die Studierenden im Laufe des
Studiums selbstständig immer weiter ergänzen.
12 Den Begriff „Formulierungswörterbuch“ verdanke ich meiner Kollegin Frauke Priegnitz, mit der
ich im Rahmen der Schreibwerkstatt den Workshop „Formulierung und Stil“ leite.
280 Mi-Young Lee
5 Zusammenfassung
In diesem Aufsatz wurde versucht zu zeigen, wie die auf Wissenschaftssprache
bezogene lernersprachliche Entwicklung zum Zwecke der Textproduktion bei aus-
ländischen Studierenden langfristig gefördert werden könnte. Hierfür wurde ein
Konzept zur Vermittlung von Lese- und Lernstrategien vorgestellt, nach denen
Fachtexte beim Lesen von Studierenden sprachlernorientiert verarbeitet werden
sollen. Mit diesen Strategien sollen sie ihre Lernprozesse für das wissenschaftliche
Schreiben im akademischen Alltag selbstständig steuern können.
Dieses Training kann zwar systematisch aufgebaute Schreibkurse nicht erset-
zen, aber solche Kurse insofern sinnvoll ergänzen, als die ausländischen Studieren-
den durch Training von Lernstrategien darauf vorbereitet werden, außerhalb des
Sprachkurses oder nach dem Besuch des Sprachkurses ihre lernersprachliche Ent-
wicklung im Studienalltag selbstständig zu lenken, im Idealfall das ganze Leben
lang. So soll das Lernen nicht an einem Punkt aufhören, sondern vollzieht sich
immer weiter.
Einige Wochen nach der Vermittlung dieses Konzepts bekam ich Feedback
von einer Studentin. Sie sagte mir, dass sie Fachtexte nun ganz anders lese als frü-
her. Gemeint war, dass sie Fachtexte nicht mehr nur inhaltlich liest, sondern auch
formbezogen. Fachtexte sind m.E. wie ein Feld, auf dem viele sprachliche Schätze
(im Sinne eines großen Wort-Schatzes) versteckt liegen. So sollten wir die Studie-
renden zur Schatzsuche auf das wissenschaftssprachliche Feld schicken. Es ge-
winnt derjenige, der am meisten Schätze findet, sammelt, nach Hause mitnimmt –
und vielleicht mit anderen teilt.
Sprachlernorientierte Verarbeitung von Fachtexten 281
3.5. Überlegen Sie, warum die obige Struktur (in Aufgabe 3.4.) in wissenschaftlichen
Texten besonders oft verwendet wird. Vergleichen Sie dabei folgende Sätze, die in-
haltlich identisch, strukturell aber unterschiedlich sind.
a) Im weiteren Verlauf werden Studien aufgeführt, welche die Effizienz des auf fo-
cus on form beruhenden Fremdsprachenunterrichts untersucht haben.
b) Im weiteren Verlauf werde ich Studien aufführen, welche die Effizienz des auf
focus on form beruhenden Fremdsprachenunterrichts untersucht haben.
Literatur
Al-Hejin, Bandar (2004): Attention and awareness: Evidence from cognitive and
second language acquisition research. In: Columbia University Working Papers in
TESOL & Applied Linguistics 4, 1-22. (http://journals.tc-library.org /index.
php/tesol/issue/view/7) (15.10.2010).
Beinke, Christiane; Brinkschulte, Melanie; Bunn, Lothar; Thürmer, Stefan (2008):
Die Seminararbeit. Schreiben für den Leser. Konstanz: UTB.
Brandl, Heike; Brinkschulte, Melanie; Immich, Stephanie (2008):
Sprachbegleitprogramm für internationale Studierende an der Universität
Bielefeld. In: Chlosta, Christoph; Leder, Gabriela; Krischer, Barbara (Hrsg.):
Auf neuen Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. Tagungsband der
35. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2007 in Berlin.
Göttingen: Göttingen Universitätsverlag, 401-430.
Büker, Stella (1998): Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben in Deutsch als Fremdsprache.
Eine empirische Studie zu Problemlösungsstrategien ausländischer Studierender.
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Claußen, Tina; Mehlhorn, Grit (2004): „Ich würde nie in eine Sprechstunde
gehen...“ – Erfahrungen aus einem Studierstrategien-Kurs. In: Wolff, Armin;
Ostermann, Torsten; Chlosta, Christoph (Hrsg.): Integration durch Sprache.
Regensburg: Fachverband Deutsch als Fremdsprache, 371-390.
Dittmann, Jürgen; Geneuss, Katrin; Nennstiel, Christoph; Quast, Nora A. (2003):
Schreibprobleme im Studium – Eine empirische Untersuchung. In: Ehlich,
Konrad; Steets, Angelika (Hrsg.): Wissenschaftlich schreiben – lehren und lernen.
Berlin: de Gruyter, 155-185.
Edmondson, Willis (2003): Output als automatisches Lernen: Spracherwerb und
Sprachproduktion aus kognitiver Sicht. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 22,
196-213.
Edmondson, Willis; House, Juliane (1993): Einführung in die Sprachlehrforschung.
Tübingen u.a.: Francke.
Ehlich, Konrad (1993): Deutsch als fremde Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch
Deutsch als Fremdsprache 19, 13-42.
Eßer, Ruth (1997): „Etwas ist mir geheim geblieben am deutschen Referat“. Kulturelle
Geprägtheit wissenschaftlicher Textproduktion und ihre Konsequenzen für den universitären
Unterricht von Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium.
Faerch, Casper; Kasper, Gabriele (1986): The Role of Comprehension in L2
Learning. In: Applied Linguistics 7, 257-274.
Sprachlernorientierte Verarbeitung von Fachtexten 283
Ein Lerner des Deutschen, der nach bestandener DSH- oder entsprechender Prü-
fung ein Fachstudium aufgenommen hat, besitzt einen guten Grund- und Aufbau-
wortschatz und kann sich in den meisten Situationen mündlich und schriftlich
adäquat ausdrücken. Dennoch möchten oder müssen viele Lerner auch in diesem
Stadium ihre Ausdrucksfähigkeit noch weiter verbessern, etwa um zu einer besse-
ren Lese- und Schreibfertigkeit im Umgang mit der studienrelevanten Literatur zu
gelangen oder sich präziser im Schriftlichen auszudrücken. Dies gilt insbesondere
für Studierende stark sprachgeprägter Studiengänge.
Es ist eine wichtige Frage, wie man diesen Lernenden sinnvolle Hilfestellungen
an die Hand geben kann, damit sie in Eigenarbeit ihren Wortschatz weiter vergrö-
ßern oder vertiefen können. Denn bei einer Anzahl an Vokabeln, die in die Tau-
sende, wenn nicht Zehntausende geht, ist Lernerautonomie nicht nur wünschens-
wert, sondern essentiell.
Meine Lehrmethode setzt sich aus drei Komponenten zusammen:
1. Die Lernenden erhalten eine lexikologische Basisausbildung, die eine
metasprachliche Orientierung im semantischen Bereich verstärkt.
2. Sie üben die Benutzung diverser Spezialwörterbücher ein (z.B. eines Syno-
nymwörterbuchs, eines Wortfamilienwörterbuchs, eines rückläufigen Wör-
terbuchs etc.).
286 Wiebke Strank
re? Welches Bild steckt dahinter, wenn die Wirtschaft wie eine Pflanze wächst? Hier
sieht man auch die großartige Möglichkeit, Wortschatzunterricht mit einem Kon-
versationsunterricht auf gehobenem Niveau zu verbinden.
Um den Wortschatz schließlich in einen weiteren, größeren Kontext zu brin-
gen, sollte sich an jede Einheit eine Textarbeitseinheit anschließen. Beispielsweise
können die gelernten Strukturen in längeren, zusammenhängenden Texten heraus-
gefiltert und markiert werden.
Obwohl in einem stark lehrergesteuerten Unterricht eine Arbeit mit diesen
Strukturen schon ab dem Niveau B1 (wenn nicht sogar im Einzelfall ab A2) mög-
lich ist, ist eine lernerautonome Arbeit, die auch das selbstständige Arbeiten in
Tandem- und Lerngruppen mit einschließt, wohl erst ab dem Niveau B2 zu emp-
fehlen.
Literatur
Augst, Gerhard (2009): Wortfamilienbuch der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen:
Niemeyer.
Dornseiff, Franz; Quasthoff, Uwe (2004): Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen.
Berlin, New York: de Gruyter.
Leipziger Wortschatzdatenbank: http://wortschatz.uni-leipzig.de (15.10.2010).
Muthmann, Gustav (2001): Rückläufiges deutsches Wörterbuch. Handbuch der
Wortausgänge im Deutschen mit Beachtung der Wort- und Lautstruktur. Reihe
Germanistische Linguistik. Tübingen: Niemeyer.
Strank, Wiebke (2010): Da fehlen mir die Worte. Systematischer Wortschatzerwerb für
fortgeschrittene Lerner in Deutsch als Fremdsprache. Leipzig: Schubert.
Autonomes Lernen mit der elektronischen
Portfolio-Plattform EPOS am
Fremdsprachenzentrum der Hochschulen
im Land Bremen
1 Erfolgskonzept GER?
schen Richtigstellung möchten wir mit unserer Darstellung zunächst an die spra-
chenpolitischen Umstände erinnern, in deren Kontext GER und ESP entstanden
sind, sondern v.a. deshalb, weil es auch der Kontext für autonomes Lernen als
übergeordnete pädagogische Zielstellung ist.
Sprachenpolitisch betrachtet können die Väter und Mütter 1 des Gemeinsamen
Europäischen Referenzrahmens zufrieden sein: Die europäischen Bildungsministe-
rien haben im Sprachenjahr 2001 beschlossen, ihn europaweit zu implementieren. 2
Und seitdem benutzt tatsächlich „ganz Europa“ einheitliche Bezeichnungen, wenn
es darum geht, für Schulen, Hochschulen und auch in der Wirtschaft Sprach-
niveaus zu definieren und sie grenzüberschreitend lesen zu können. Unterstützt
wurde der sprachenpolitische Anerkennungsprozess, der den Weg vom Europarat
ins Europäische Parlament und von dort in die Europäische Kommission und ihre
Aktionspläne nahm, von dem lediglich um ein Jahr versetzt beginnenden „Bolog-
na-Prozess“, der mit dem Ziel auf den Weg gebracht wurde, einen einheitlichen
europäischen Hochschulraum zu schaffen. Da die gegenseitige Anerkennung von
Hochschulqualifikationen ebenso der grenzüberschreitenden Lesbarkeit bedarf,
geht inzwischen die einheitliche Zahlen-Währung der ECTS-Punkte Hand in Hand
mit der auf sechs standardisierte Niveaus reduzierten „Währung“ des GER. Aus
dieser Perspektive betrachtet überrascht der Siegeszug des GER wenig, der heute
schon über Europa hinaus geht: Auch Japan und China haben begonnen, sich über
Sprachkompetenzen mit seiner Hilfe zu verständigen, wenn es um die gegenseitige
Anerkennung der Niveaustufen für europäische Sprachen einerseits und für Japa-
nisch und Chinesisch andererseits geht. 3
Dazu kommt als ein dritter Prozess der sogenannte Lissabon-Prozess. In ihm
geht es um europäische Mobilität aus der Sicht der Wirtschaft. Auch von hier aus
wurde ein Referenzrahmen auf den Weg gebracht, der Europäische Qualifikations-
rahmen für lebenslanges Lernen (EQR) 4 , dessen Anspruch den des GER – von
dem er gelernt hat – v.a. auf die berufliche Bildung überträgt (mit der Tendenz, ihn
auf lebenslanges Lernen auszudehnen und damit auch auf Schule und Hochschu-
le). Er arbeitet mit acht Stufen. Ist er einmal implementierungsreif, woran die Wirt-
schaft ein Interesse hat, könnte der GER in ihm aufgehen.
1.2 Umsetzungsprobleme
Aber die Umsetzung des GER blieb in vielerlei Hinsicht bis heute unvollkommen:
So werden zwar in immer mehr der im Bologna-Prozess reformierten Studien-
gängen sprachliche Zulassungsniveaus definiert, doch wird in einem Studiengang
1 Von denen ist in der einschlägigen Literatur allerdings kaum die Rede.
2 Bereits 2000 hatten die Bildungsminister die Implementierung des Europäischen Sprachenportfolios
beschlossen. Vgl. die Website des Europarates: http://www.coe.int/T/DG4/Portfolio/ (15.10.
2010).
3 Vgl. ausführlicher zum „Siegeszug“ von ESP und GER (Kühn 2008).
4 Vgl. http://www.ecvet.de/c.php/ecvetde/index.rsys (15.10.2010).
Autonomes Lernen mit der elektronischen Portfolio-Plattform EPOS 291
z.B. das Niveau A2 akzeptiert, in einem anderen wiederum C1. In den Mobilitäts-
programmen kommt es sogar vor, dass auch Studierende mit A1-Niveau in der
Sprache des Ziellandes in dieses gesandt werden. In den englischsprachigen Mas-
terstudiengängen wiederum ist C1 die sprachliche Voraussetzung, sitzen doch hier
diejenigen Studierenden, für die sich die Fakultäten, insbesondere die naturwissen-
schaftlichen, wirklich interessieren und denen sie, wenn sie gut sind, die Promotion
in Aussicht stellen.
Dem GER ist im Bolognaprozess die Rolle eines Filters zugewachsen. Nach-
dem erst einmal auch die großen internationalen Testanbieter – einschließlich
TOEFL – auf die Standards eingeschworen waren, die mit den Deskriptoren des
GER gesetzt wurden, dienen diese Standards als Ein- oder Ausschlusskriterien für
die Zulassung zur gehobenen internationalen „community“ in wirtschaftlichen,
sozialen und insbesondere Bildungseinrichtungen und Netzwerken.
Es ging in diesem Prozess die Begründung der Standardisierung im GER un-
ter, die das eigentlich Neue ausmacht: Der so genannte „Stoff“ – Grammatikregeln
und Wortschatz und seine „Progression“ – bilden nicht mehr die Folie für die
sechs Niveaus, sondern sind quasi nur noch das Handwerkszeug, dessen sich die
LernerInnen einer Sprache bedienen, wenn sie sagen, was sie sprachlich schon
„können“. An ihre Stelle ist der kommunikative Zweck getreten, das sprachliche
Handeln und somit das Ziel, auf das Sprachenlernen hinarbeitet. Was in den Des-
kriptoren steht, mit denen die Niveaustufen beschrieben werden, den so genannten
Can-do-Statements, ist kommunikative – dem Anspruch nach auch interkulturelle
– Kompetenz, differenziert nach Anwendungsbereichen – mündliche und schrift-
liche Produktion, Hör- und Leseverstehen sowie Sprachmittlung (Übersetzen und
Dolmetschen) – individuell und zwischen Kulturen 5 .
Wie hätte es aber auch anders sein können? Für Hochschulverwaltungen, die
sprachliche Zulassungen aussprechen, für Personal- oder für Schulleitungen ist
dieses „Vorwissen“ nicht nötig. Nötig ist es jedoch für die, die nicht nur messen
bzw. Gemessenes verwenden, sondern die erst einmal die Voraussetzungen schaf-
fen oder überprüfen müssen, mit denen ein bestimmtes sprachliches Niveau als
„learning outcome“ erreicht werden kann.
An den Hochschulen, auf die wir uns hier beschränken wollen, ist dies i.d.R.
die Aufgabe von Sprachenzentren. Aber die gleichen Hochschulen, die im Bolog-
na-Prozess gelernt haben, Internationalisierung hoch anzusetzen, sehen in ihren
Sprachenzentren sehr häufig nur zuarbeitende Serviceeinrichtungen. Von diesen
wird erwartet, dass sie in alter behavioristischer Manier mit schlecht bezahlten
Honorarkräften und/oder Computerlernprogrammen sprachliche Drillübungen
bereitstellen, mit denen sich am Ende „irgendwie“ das nachzuweisende „learning
outcome“ erzeugen ließe. Das aber kann nicht funktionieren. Und daher kann
vorausgesagt werden, dass europäische Mobilität, die als gelebte Mehrsprachigkeit
5Dass letztere oft vergessen wird, hat damit zu tun, dass sich die Grobraster des ESP im Schweizer
„Urmodell“ mit den ersten vier, den traditionellen, Kompetenzbereichen begnügen.
292 Bärbel Kühn & Christine Rodewald
und Interkulturalität mehr wäre als ein mechanisches „Verschicken“ von Studie-
renden, nicht eher erreicht ist, als sich Bildungsministerien – aber ebenso auch
Lernende und Lehrende – an die vollständigen Zielformulierungen erinnern, die
der Europarat mit der Schaffung von GER und ESP verband.
6
Vgl. Schmenck 2005.
7 Vgl. Reich 2005.
8 Zur Differenzierung von Pluri- und Multilingualismus vgl. Kühn 2008: 486.
9Vgl. die Webseite des Schweizer Portfolios: http://www.sprachenportfolio.ch/page/content/index.
asp?MenuID=2080&ID=3365&Menu=14&Item=1.1.5. (15.10.2010).
10 Vgl. detailliert im Internet das Portfolio-Portal des Europarates: http://www.coe.int/t/dg4/ port-
folio/ default.asp?l= e&m=/main_pages/welcome.html (15.10.2010).
Autonomes Lernen mit der elektronischen Portfolio-Plattform EPOS 293
Dennoch, was weithin mit dem ESP verbunden wird, auch bei jenen, die das ESP
im Unterricht einsetzen, ist die Vorstellung, dass es ein Assessment-Instrument ist,
das der Einstufung auf eines von sechs Niveaus dient. Zugegeben, ein paar Ent-
wicklungen hat es gegeben: Wir verfügen in Europa über zwei akkreditierte Hoch-
schulportfolien, übersetzt in große und kleine Sprachen, wir haben Übersetzungen
des Schweizer Portfolios in viele europäische Sprachen. Es gibt eine Reihe von
Portfolien für besondere Altersstufen und auch Portfolien für besondere Berufs-
profile. Sie unterscheiden sich v.a. in den Deskriptoren, d.h. diese wurden an be-
sondere Zielgruppen angepasst. Wozu dieselben jedoch dienen, ist nach wie vor
die Bewertung von „learning outcome“ – sei es durch „Fremdevaluation“ oder –
und dies ist in der Tat eine Weiterentwicklung des Test-Ansatzes – durch Selbst-
evaluation.
So wird auch „Selbstevaluierung“, „Self Assessment“ in der Regel als der große
Fortschritt angesehen. Und sicher, es ist ein Fortschritt, wenn Lernenden selbst die
Fähigkeit zugetraut wird, sich anhand der Grobraster oder der Deskriptorenlisten
des ESP selbst einschätzen zu können und wenn ihre Eintragungen im Sprachen-
pass des ESP von Arbeitgebern und Hochschulverwaltungen auch wertgeschätzt
werden. Aber: Was hat das – wie oft behauptet wird – mit Autonomie zu tun? Was
hat das mit Lernen zu tun? Reicht es zur Selbstmotivation wirklich aus, wenn ich
ungefähr einschätzen kann, was ich sprachlich schon kann? Brauche ich da nicht
erst recht die Lehrperson, die mich an die Hand nimmt und mir den richtigen Weg
weist, wenn ich noch nicht da bin, wo ich gerne hinmöchte?
des ESP beschäftigten. Wir, das waren und sind engagierte KollegInnen aus den
drei Bildungsbereichen, Schule, Hochschule, Weiterbildung sowie den drei europä-
ischen Kulturinstituten, Institut français, Instituto Cervantes und Goethe-Institut,
mit denen wir uns an einem sog. „Runden Tisch Sprachen“, inzwischen im „Spra-
chenrat Bremen“ regelmäßig zusammenfanden. So griffen wir etwa um 2004 den
im Schulbereich Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bremen im Rahmen
eines Bund-Länder-Modellversuchs gemachten Anfang für ein elektronisches Port-
folio auf und entwickelten es nach Ende dieses Modellversuchs weiter, auch für
den Hochschulbereich.
Am Ende hatten wir eine Plattform mit akkreditierten Deskriptoren für den
Schulbereich 11 (SI) plus hinterlegten Beispielaufgaben für Englisch sowie zwei
akkreditierten Portfolien für den Hochschulbereich: das Lausanner Portfolio des
ELC für Französisch, Italienisch und Deutsch sowie das Dubliner CERCLES-
Portfolio für Englisch 12 . Besondere Bedeutung gaben wir ergänzenden Dokumen-
ten zur Reflexion – Lernvertrag, Lernertagebuch – und zur Motivation. Dabei anti-
zipierten wir, dass ein Dossier, das nicht allein der Dokumentation von Vorzeige-
stücken und Prüfungsleistungen für Bewerbungen dient, sondern in Ausnutzung
vielfältiger Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation und Produktion
(z.B. von Filmen, Audiobüchern, Podcasts, WiKis) – 1. „work in progress“, 2. ein
Dossier für soziale Produkte und daher 3. hoch motivierend sein müsste.
Wir möchten im Folgenden zeigen, dass sich unsere Erwartungen bestätigt ha-
ben: Das elektronische Sprachenportfolio EPOS entfaltet seine Wirksamkeit am
Sprachenzentrum der Hochschulen (FZHB), weil wir seine Funktionalität streng
pädagogisch begreifen und strukturell absichern.
Der folgende Abschnitt soll einerseits zeigen, wie EPOS in verschiedenen
Kurszusammenhängen und für verschiedene Zielgruppen eingesetzt wird, und
andererseits, wie es zur Unterstützung des individuellen Lernens beiträgt. Um ei-
nen Begriff aufzunehmen, der in der aktuellen pädagogischen Diskussion, nicht
nur im Bereich des Sprachenlernens, eine immer größere Bedeutung bekommen
hat: Unsere These ist, dass EPOS viel dazu beitragen kann, dass „Heterogenität“
sowohl in größeren Lerngruppen als auch für individuell Lernende zur Chance
werden kann für autonomes Sprachenlernen – zunächst, aber nicht nur, an Hoch-
schulen.
scheiden sie sich dafür – in Ergänzung eines Kurses oder statt eines Kurses – eine
Sprache selbständig zu lernen. Um dafür auch Credit Points erhalten zu können,
sind bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen: Als zeitlichen Aufwand müssen die
Studierenden einen Workload von sechs Stunden leisten. Diese Arbeit wird zeitlich
und inhaltlich erfasst als Basis für eine Lernwegberatung. Das Besondere an dieser
Form der Lernberatung ist die sog. „Pädagogik unter Gleichen“. Denn zum einen
sind die TutorInnen selbst Studierende, die in einen Dialog mit den Lernenden
über den Lerngegenstand eintreten; zum anderen erhalten Lernende Unterstützung
beim Lernen, ohne die Verantwortung dafür abgeben zu können. Denn: Der in
Gang kommende Prozess der Reflexion der Entscheidung über Lernziele, Lern-
schritte, Medien und Materialen betrifft Lernende und (lernende) TutorInnen.
Das Konzept der Lernberatung impliziert so die Eigenverantwortlichkeit der
Lernenden für ihren Lernprozess (vgl. Mehlhorn 2005: 157). Damit dies gelingt,
werden die TutorInnen in Workshops vor Beginn des Programmes für ihre Auf-
gabe sensibilisiert und geschult, und ihre Arbeit wird durch kontinuierliche Super-
vision begleitet. Sie sind keine HilfslehrerInnen, sondern ihre Unterstützung liegt
insbesondere im Bereich der Methodik: Motivation, Zeitmanagement und Lern-
wegplanung.
In vier Hauptbestandteile gliedert sich das Tutorenprogramm: Neben dem
selbstverantwortlichen Lernenden, EPOS und der studentischen Lernberatung
spielen LernpartnerInnen oder Lerngruppen eine große Rolle. Selbstorganisiertes
Lernen ist nicht mit isoliertem Lernen gleichzusetzen. Vielmehr können gerade
Projekte das soziale Lernen fördern. Für das Programm bieten sie die Möglichkeit
für die kontinuierliche Arbeit an einem Produkt, welches am Ende präsentiert
werden kann. Der/die Lernende verpflichtet sich zu Lernzielen, die in einem Lern-
vertrag expliziert werden. Die Lernschritte auf dem Weg zu den Zielen werden in
einem Lerntagebuch beschrieben und reflektiert. Lerntagebuch und Lernvertrag
sind zusätzliche Teile des Sprachenportfolios EPOS und können freigeschaltet
werden, damit der Tutor/die Tutorin sie einsehen kann. Aber immer liegt die Ent-
scheidung, einen Text für den Tutor/die Tutorin sichtbar zu machen, bei der/dem
Lernenden. Online erhalten die TutorInnen Nachricht über die aktuellen Freigaben
und Anfragen der Lernenden und können das freigeschaltete Lerntagebuch ein-
sehen. Die Rückmeldungen der TutorInnen erfolgen ebenfalls über EPOS oder bei
einem wöchentlichen Treffen.
Durch EPOS ist diese Mischform der schriftlichen und direkten Beratung
möglich, in der auch immer gleich Lernprodukte präsentiert werden können.
Selbsteinschätzung, Lernwegplanung mit Materialienwahl, Selbstevaluierung führen
zu einer hohen Eigenverantwortlichkeit der Lernenden. Pädagogisches Ziel ist
Autonomes Lernen (vgl. Schneider 1999: 5). Anders ausgedrückt: Das Lernen stellt
einen Prozess der Selbstorganisation dar (vgl. Wolff 2002: 350f.).
Auch in Zusammenhängen mit Sprachkursen lässt sich die Selbsteinschätzung
mit EPOS und die Lernzielbestimmung im Zusammenhang mit Projekten ein-
setzen. Z.B. wählen TeilnehmerInnen, die ihren mündlichen Ausdruck verbessern
296 Bärbel Kühn & Christine Rodewald
wollen, ein Thema, das sie selbständig bearbeiten und dann im Kurs präsentieren.
Demgegenüber erfolgt im Tutorenprogramm die Präsentation im Rahmen einer so
genannten Messe: Zum Abschluss des Tutorenprogramms stellt der/die Lernende
sein/ihr Thema vor und erhält dabei Rückmeldung durch eine Fachkraft (aus dem
Sprachbereich des FZHB oder auch aus dem Fachbereich der Universität). Andere
Lernende sehen sich die Präsentation ebenfalls an und beteiligen sich an der Dis-
kussion.
Die Mehrheit der Teilnehmenden wählt LernpartnerInnen für den Austausch
beim Lernen der Sprache und insbesondere für die Projektarbeit. Bei sprachlichen
Schwierigkeiten ist gegenseitige Unterstützung möglich. Durch die Peer-Wahl neh-
men die Studierenden nun ebenfalls wechselseitig die Rolle von Beratenden ein.
Dieser Prozess trägt zur Erhöhung des Selbstbewusstseins des Lernenden bei –
auch dies ist eine wichtige Voraussetzung für Lernerfolge (vgl. Helmling 2006: 8).
Autonomes Lernen ist gerade heute mehr als ein Ideal. In Zeiten der Notwen-
digkeit lebenslangen Lernens ist es die Voraussetzung dafür, immer wieder je nach
Lebensumständen flexibel und kompetent neu dazu lernen zu können. Das
Tutorenprogramm zeigt, wie wichtig dabei ein strukturiertes Vorgehen ist. EPOS
bietet ein Instrumentarium, das durch seine Funktionen nicht nur die gewählte
Sprache, sondern auch allgemeine Lernstrategien selbständig lernen hilft und sie so
auf ihrem selbstgewählten Lernweg unterstützt.
Wir denken, dass wir mit EPOS damit einlösen, was einmal als Sinn und
Zweck des GER und des ESP gedacht war.
Literatur
Europäische Kommision (Hrsg.) (2008): Empfehlung des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 23. April 2008 zur Errichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens
für Lebenslanges Lernen. Brüssel.
Helmling, Brigitte (2006): Peergruppenarbeit. In: Zeitschrift für Interkulturellen
Fremdsprachenunterricht 11/2. (http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-11-
2/beitrag/Helmling1.htm) (15.10.2010).
Kohonen, Viljo (2001): Autonomy, Authenticity and Agency in Language
Education: the European Language Portfolio as a Pedagogical Resource. In:
Kantelinen, Ritva; Pollari, Pirkko (Hrsg.): Language Education and Lifelong
Learning. University of Eastern Finland, Philosophical Faculty.
Kühn, Bärbel (2008): Vom ELP zu EPOS. Das Portfolio der Sprachen in Europa
und am Fremdsprachenzentrum der Hochschulen in Bremen. In: Krings, Hans
Peter; Mayer, Felix (Hrsg): Sprachenvielfalt im Kontext von Fachkommunikation,
Übersetzung und Fremdsprachenunterricht. Berlin: Frank & Thieme.
Autonomes Lernen mit der elektronischen Portfolio-Plattform EPOS 297
1 Die Ausgangssituation
Britische und irische Studenten der modernen Philologien absolvieren i.d.R. einen
Auslandsaufenthalt als festen Bestandteil im Rahmen ihres Studiums. Die Länge
und Art dieser Aufenthalte im für Germanisten deutschsprachigen Ausland variiert
von Universität zu Universität. Die Studierenden an der University of Leeds gehen
für ein Jahr oder für ein Semester ins Ausland, die Mehrzahl jedoch für ein Jahr.
Für das Auslandsjahr stehen den Studierenden drei Möglichkeiten offen. Sie kön-
nen an einer der Partneruniversitäten studieren, als Sprachassistenten an Schulen
arbeiten oder ein Praktikum in einer Firma absolvieren. Das Auslandsjahr wird
traditionell in Leeds mit Hilfe von schriftlichen Aufgaben unterschiedlicher Art
begleitet und ausgewertet. Von den Studierenden wird erwartet eigenverantwort-
lich ein Logbuch zu führen. Dieses Logbuch ist nur für sie individuell und den
„residence abroad tutor“ einzusehen. Als Aufgaben gab es bisher vier sog. „Mei-
lensteine“, Zusammenfassungen des Logbuchs unter bestimmten Fragestellungen,
und vier Sprachaufgaben. Am Ende des Jahres steht ein 1500 Wörter umfassender
Bericht an. Die Zeit im Ausland wird nicht benotet, sondern nur mit „bestanden/
nicht bestanden“ evaluiert. Die Schwierigkeit besteht darin, Aufgaben zu kreieren,
die es den Studierenden erlauben, die stark divergierenden Lebens- und Arbeits-
situationen zu erfassen und zu repräsentieren. Vor allem Anpassungsfähigkeit,
zielgerichtetes und zweckorientiertes Lernen und ein Verständnis von (eigenen)
Lernprozessen sollen betont werden. Viele Universitäten haben versucht mit Än-
derungen des Curriculums und anderen Maßnahmen auf neue Tendenzen und An-
forderungen aus der Politik zur Messbarkeit von Nachhaltigkeit im Bildungssektor
zu reagieren. Ein Beispiel dafür ist die Einführung von Lern- und persönlichen
Entwicklungsportfolios, und an zentraler Stelle sind hier das Europäische Spra-
chenportfolio und der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für das Lehren
und Lernen von Fremdsprachen zu nennen. Besonders im angelsächsischen Kon-
text spielt das Erreichen bestimmter definierter Standards („learning outcomes“)
durch die Lerner eine starke Rolle als Gütezeichen für die Leistungen nicht der
Studierenden, sondern vielmehr der Institution (vgl. Bräuer 2009: 149ff.). Beson-
ders die Publikationen der Higher Education Academy für Großbritannien und
Nordirland geben gute Einblicke in die weitreichenden, mit dem Begriff „Personal
Development“ verbundenen, Ziele. Stefani et al. (2007: 20ff.) beschreiben umfang-
reich diese Entwicklungen der letzten Jahre in verschiedenen Ländern. In Groß-
britannien definiert die Institution der Quality Assurance Agency for Higher Edu-
cation (QAA), eine übergeordnete staatlich kommissionierte Planungsbehörde,
„personal development“ als „a structured and supported process undertaken by an
individual to reflect upon their own learning, performance and/or achievement
Podcasten als Reflexionsmedium für Studierende während des Auslandsaufenthalts 301
and to plan for their personal, educational, and career development.“ (QAA 2009:
2). Diese Entwicklungen zeigen eine deutliche Tendenz, sich immer mehr dem
schulischen Bereich anzugleichen. Studierende dürfen/sollen in Portfolios allzu oft
nur ihre Kreuzchen machen, und von Lernerorientierung und individueller Zu-
schneidung von Angeboten an Lernerbiographien ist weitaus weniger die Rede.
Bräuer (2009: 149) spricht vom „showcase portfolio approach“, d.h. der massiven
Ergebnisorientierung seitens der Institution und der Vernachlässigung pädagogi-
scher Erwägungen oder eines Fokus auf die Bedürfnisse des Lerners. Dies ist be-
sonders fatal, da der ursprüngliche Gedanke von Lernportfolios einer der Beförde-
rung der Sprachlernfähigkeiten und -bewusstheit war, was unter den gegeben Um-
ständen kaum für eine zunehmende Anzahl von Studierenden der Fall sein dürfte
(ebd.: 150). Das vorliegende Projekt versteht sich als Versuch allzu normierenden
und standardisierenden Tendenzen ein wenig entgegen zu wirken.
2 Eingangsüberlegungen
Die Überlegung, Podcasts in die Begleitung und Auswertung des Auslandsjahres
zu integrieren, stammt aus einer intensiven Beschäftigung mit dem Studienbestand-
teil des Auslandsjahres als „year abroad tutor“ vieler Studierender und aus der
inhaltlichen Auswertung im Unterricht im letzten Studienjahr nach der Rückkehr
der Studierenden nach Leeds. Viele Studierende machen sich während des Aus-
landsjahres wenig bewusst und zielgerichtet Gedanken darüber, was sie gerade alles
an Verstehens-, Interpretations- und interkultureller (Sprach-)Lernarbeit eigentlich
leisten. Wegen der schwer planbaren oder vorhersehbaren und individuell stark
unterschiedlichen Lernsituationen, mit denen sich einzelne Studierende im Ausland
oft konfrontiert sehen, bietet sich reflektierendes Lernen im Sinne von Moon
(2004: 87f.) geradezu idealtypisch an. Das Auslandsjahr ist zwar ein großer Motiva-
tionsfaktor in England, ein Fremdsprachenstudium aufzunehmen, aber häufig
stehen während des Jahres und in der Rückbetrachtung das Sozialleben und ge-
schlossene Freundschaften fast ausschließlich im Vordergrund (Coleman 1997:
13). Den Studenten Strategien aufzuzeigen und sie in die Lage zu versetzen, eigene
Wege zu entwickeln, sich mit den vielfältigen Anforderungen und neuen Reizen
für sich selbst produktiv auseinanderzusetzen ist eines der Ziele des hier beschrie-
benen Projekts. Der Faktor Stolz auf das selbst Geleistete und Erreichte wurde im
Rahmen des Projekts auch immer wieder betont. Als Lerner sagen zu können, das
konnte ich vor einem halben Jahr nicht und jetzt mache/benutze ich es auf täg-
licher Basis. Der Austausch der Studierenden über ihre jeweiligen Podcasts in
Form von „peer feedback“ soll ebenfalls eine zentrale Anwendung finden. Sehr oft
werden Studierende Situationen und Szenarien, denen sie selbst begegnet sind, und
die sie auch ähnlich gemeistert haben, wiedererkennen, was ihnen zusätzliches
Selbstbewusstsein und gestärkte Lernmotivation und Energien verleihen kann.
302 Morten Hunke
3 Das Projekt
Im Rahmen des hier beschriebenen Projekts wurden zwei der bisher rein schrift-
lich zu erledigenden Aufgaben durch Audiobeiträge im Podcastformat ersetzt. Da-
mit wurde soweit wie irgend möglich auf das Bestehende aufgebaut und versucht,
es um weitere Komponenten zu bereichern. Für die Durchführung des Projekts
wurden Mittel vom White Rose Centre for Excellence in Teaching and Learning
for Enterprise (WRCETLE 1 ) an der University of Leeds zur Verfügung gestellt.
Mit diesen Mitteln wurden vor allem Workshopmaterialien, Fragebögen und Kon-
zepte zur Begleitung des reflektiven Lernens mittels Podcasts im Auslandsjahr
entwickelt. Zudem wurde eine Pilotstudie mit fünf Studierenden im akademischen
Jahr 2009/2010 durchgeführt. Die erste Gruppe von Studierenden, die im Aus-
landsjahr verpflichtend Podcasts produzieren muss, befindet sich im akademischen
Jahr 2010/2011 in deutschsprachigen Ländern. D.h. auch das Projekt wurde sofort
und direkt ins Curriculum übernommen. Konkret wurden ein Meilenstein und eine
Sprachaufgabe durch Podcastreflexionsaufgaben ersetzt. Nach drei Monaten sollen
die Studierenden sich die Frage stellen, welche sprachlichen oder sonstigen Fähig-
keiten sie in den letzten Monaten erworben oder verfeinert haben, auf die sie zuvor
nicht zugreifen konnten oder nur in vermindertem Maße. Für diese Aufgabe kön-
nen Beispiele aus dem sozialen oder dem Arbeitskontext gewählt werden. Beson-
ders die Anregung zur Zusammenarbeit ist in Anlehnung an Haighs „reflective
conversation“ (Haigh 2005: 9) entstanden, um Erkenntnis und Lerngewinn nicht
zu eng auf bestimmte Kontexte zu reduzieren, sondern den Studierenden die Mög-
lichkeit zu bieten, praktisch verschiedene Formen der Reflexion selbst auszupro-
bieren. Zur Orientierung wurden jedoch auch, zumindest für die sprachliche Seite,
Fragebögen entwickelt, mit deren Hilfe sich Studierende über ihren selbst wahr-
genommenen Sprachstand, ihre Ambitionen und Pläne befragen können. Zusätz-
lich werden die Studierenden in sehr praktisch und angewandt gehaltenen Work-
shops unter Zuhilfenahme von Beispielen aus der Pilotstudie mit möglichen Um-
setzungen vertraut gemacht. Auf diese Beispiele und viele der Workshopmateria-
lien haben sie auch während des Jahres beständig Zugriff über die Lernplattform
der Universität. Die zweite durch einen Podcast ersetzte Aufgabe ist eine Sprach-
aufgabe. In der neuen Podcastsprachaufgabe, die etwa in der Mitte des Auslands-
jahres zu absolvieren ist, soll der/die Studierende über bisher erreichte Sprach-
fortschritte und die allgemeine Zufriedenheit mit der sprachlichen Entwicklung
reflektieren. Zudem sollen zu verbessernde Bereiche identifiziert werden und ein
möglichst detaillierter Plan zur Umsetzung der Erkenntnisse in den Podcast mit
einfließen. Die Anforderungen dieses Podcasts bringen es mit sich, dass das For-
mat weitaus häufiger Tagebuch- oder Berichtcharakter bekommen wird. Allerdings
ist Zusammenarbeit erneut nicht ausgeschlossen, sondern durchaus erwünscht. Die
Podcasts sollen eine Maximallänge von fünf Minuten bei allein produzierten und
1 http://www.wrcetle.ac.uk/(15.10.2010).
Podcasten als Reflexionsmedium für Studierende während des Auslandsaufenthalts 303
acht Minuten bei kooperativ erstellten Sendungen nicht überschreiten. Wie bereits
oben angedeutet, gibt es neben der Fertigstellung eigener Podcasts die Verpflich-
tung, sich mindestens drei Podcasts (jeweils für Podcastreflexions- und -sprach-
aufgabe) von Kommilitonen anzuhören und, wenn möglich, mündlich zu kom-
mentieren. Dies wird ermöglicht durch die auf der Blackboard Lernplattform der
University of Leeds eingebetteten Audioplattform Wimba. Deren Voiceboard
ermöglicht einfachen Zugriff und unmittelbares Reagieren auf andere Sendungen
im passwortgeschützten Raum.
2 http://audacity.sourceforge.net/ (15.10.2010).
306 Morten Hunke
Audacity fand ich ganz einfach zu benutzen und, weil ich deutlich
sprechen musste, merkte ich, dass mein Akzent mit der Zeit verbessert
wurde.
Literatur
Bräuer, Gerd (2009): Reflecting the Practice of Foreign Language Learning in
Portfolios. In: GFL-Journal (German as a foreign language) 2-3, 147-166.
(http://gfl-journal.de/Issue_2_2009.php) (15.10.2010).
Cane, Chris; Cashmore, Annette (2008): Students’ Podcasts as Learning Tools. In:
Salmon, Gilly; Edirisingha, Palitha (Hrsg.): Podcasting for Learning in Universities.
Maidenhead: Open University Press.
Coleman, James A. (1997): Residence abroad within language study. In: Language
Teaching 30 (1), 1-20. (http://www.lang.ltsn.ac.uk/abroad/Staff/Resources/
Language_Teaching.htm) (15.10.2010).
Conacher, Jean E. (2008) „Home Thoughts on Abroad“: Zur Identität und
Integration irischer ERASMUS-StudentInnen in Deutschland. In: GFL-Journal
2, 1-20. (http://gfl-journal.de/Issue_2_2008.php). (15.10.2010).
Cross, Jeremy (2002): ‚Noticing‘ in SLA: Is it a valid concept? In: The Electronic
Journal for English as a Second Language (TESL-EJ) Vol. 6/No. 3. (http://tesl-
ej.org/ej23/a2.html).(15.10.2010).
Häcker, Thomas (2006): Vielfalt der Portfoliobegriffe. Annäherung an ein schwer
fassbares Konzept. In: Brunner, Ilse; Häcker, Thomas; Winter, Felix (Hrsg.):
Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte, Anregungen, Erfahrungen aus Schule und
Lehrerbildung. Seelze-Velber: Kallmeyer, 33-39.
Haigh, Neil (2005): Everyday conversation as a context for professional learning
and development. In: International Journal for Academic Development 10/1, 3-16.
Hunke, Morten (2010): Deutschsichtig: Unsere Deutschlandbilder. Ein
interkulturelles Podcastprojekt mit Deutschstudierenden aus England und
Norwegen. In: GFL-Journal 2, 3-20. (http://gfl-journal.de/index.php)
(15.10.2010).
Kolb, David A. (1984): Experiential Learning. Experience as the Source of Learning and
Development. New Jersey: Prentice Hall P T R.
Krashen, Stephen; Terrell, Tracy (1983): The Natural Approach: Language Acquisition
in the Classroom. Oxford.
Podcasten als Reflexionsmedium für Studierende während des Auslandsaufenthalts 309
Internetquellen
Der freie, betriebssystemunabhängige Audioeditor: http://audacity.sourceforge.net/
(15.10.2010).
The White Rose Centre for Excellence in the Teaching and Learning of Enterprise
(WRCETLE): http://www.wrcetle.ac.uk/ (15.10.2010).
http://reflektiv-podcasten.podspot.de/ (15.10.2010).
RaP im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht –
„Es hat Spaß gemacht und trotzdem haben wir
etwas gelernt.“
Wir folgen in diesem Beitrag dem Anliegen des Forums, Beispiele aus der Praxis zu
geben: Zunächst beschreiben wir den Verlauf eines Unterrichtsbeispiels, werten es
dann aus und möchten damit KollegInnen die Möglichkeit geben, Teile oder das
Ganze in ihren Zusammenhängen zu wiederholen. Das sehr positive Feedback auf
unseren Vortrag bei der Jahrestagung in Form von Anfragen und Einladungen und
die bereits eingegangenen Rückmeldungen zu eigener Umsetzung des Projekts ver-
mittelt uns den Eindruck, mit diesem Thema etwas aufgegriffen und umgesetzt zu
haben, was von praktischem Interesse für viele ist. Wir beschließen den Artikel,
indem wir kurz die theoretischen Positionen darstellen, auf denen unser Projekt
basiert.
„Es hat Spaß gemacht und trotzdem haben wir etwas gelernt.“ – hinter diesem
überraschten Kommentar einer Kursteilnehmerin in der Evaluation nach dem
ersten Durchgang stecken zwei Grundannahmen:
1. Wenn etwas Spaß macht, kann man nicht lernen.
2. Wenn man etwas lernt, hat man keinen Spaß. Spaß und Lernen zusammen
scheint für viele Studierende nicht vorstellbar – und doch ist in vielen For-
schungen belegt, dass man gerade dann besonders gut lernt, wenn man
positiv emotional beteiligt ist.
312 Anke Stöver-Blahak & Matthias Perner
Inspiriert durch den Besuch einer Fachtagung 1 zum Thema Musik im Fremd-
sprachenunterricht, speziell eines „Hands-on“-Workshops von Werner Novitzki 2 ,
entstand die Idee, Musik auch in ein DaF-Seminar am Fachsprachenzentrum der
Leibniz Universität zu integrieren, um damit auch dieser Dimension von Lehren
und Lernen Raum zu geben.
Viele der sprachlichen Schwierigkeiten, mit denen ausländische Studierende zu
kämpfen haben, sind kommunikativer Unsicherheit, realitätsfernen Unterrichts-
situationen in den Heimatländern und dem Bemühen um grammatische Korrekt-
heit geschuldet. Letzteres wird individuell häufig als für Kommunikationszwecke
nicht ausreichend genug erachtet.
Die wachsende Anzahl von Publikationen im Bereich Musik und Sprachdidak-
tik lässt erahnen, wie sinnvoll die Kombination der zwei Bereiche sein kann (Mize-
ner 2008).
Von kreativen Fertigkeiten in der Vorbereitung (Textproduktion, Textstruktur,
Wortschatz, Grammatik, Sprechen) über interkulturelle Interaktion (Teambildung,
Projektentwicklung) bis zur tatsächlichen Präsentation (Körpersprache, Artikula-
tion, Prosodie, Rhythmik, etc.) sollen hier verschiedene Bereiche gezielt angespro-
chen und optimiert werden.
Der Pilotkurs fand im Wintersemester 2009/2010 statt. Er wird im Folgenden
dargestellt.
1 Rahmenbedingungen
Der Kurs war Teil des regulären DaF-Programms (studienbegleitende Deutsch-
kurse) des Fachsprachenzentrums. Er wurde ausgeschrieben für alle ausländischen
Studierenden und MitarbeiterInnen der Universität auf dem Sprachniveau B2 des
gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GER), die Anmeldung erfolgte
elektronisch. Es wurden benotete Scheine ausgestellt und drei ECTS-Punkte waren
erreichbar.
Allerdings lief der Kurs nicht im üblichen Intervall von zwei Semester-
wochenstunden, sondern als dreitägiger Blockkurs mit einem vollen Unterrichtstag
(acht Zeitstunden) am Anfang des Semesters und zwei Tagen (vier und acht Zeit-
stunden) in der letzten Semesterwoche. In der Zwischenzeit wurde von den Kurs-
teilnehmerInnen teilweise erhebliche Mitarbeit in Form von Gruppentreffen, Text-
erstellung und -überarbeitung und Treffen mit den Dozenten erwartet.
1 „Der Einsatz von Musik und die Entwicklung von audio literacy im Fremdsprachenunterricht“ am
12./13.03.2009 am Englischen Seminar der Leibniz Universität Hannover.
2 Werner Novitzki, Wellington, New Zealand: „The Rhythm & Poetry-Way of Teaching and Learning
English“, Hands-on Workshop am 12.03.2009.
RaP im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht 313
2 TeilnehmerInnen
Der Kurs begann mit neun TeilnehmerInnen:
– Drei Frauen aus Südkorea (Germanistik);
– zwei Frauen aus Tschechien (Germanistik und Geographie);
– einer Frau aus Bulgarien (Wirtschaftswissenschaften);
– einer Frau aus Spanien (Institut für Weiterbildung);
– einem Mann aus Brasilien (Elektrische Energieversorgung);
– einem Mann aus Georgien (Sprachwissenschaften).
Zwei Teilnehmerinnen (aus Südkorea und aus Spanien) blieben dem Unterricht
ohne Angabe von Gründen nach dem ersten Blockunterricht fern.
Der Kurs war heterogen in der Zusammensetzung der Herkunftsländer, Aus-
gangssprachen, der Aufenthaltsdauer in Deutschland, dem Studentenstatus (Eras-
mus, Vollstudium, Gaststudent), in der Fächerauswahl gab es ein leichtes Über-
gewicht bei der Germanistik, was möglicherweise die hohe Textqualität erklärt.
In dem Versuch, die Erwartungshaltung und ggf. musikalische Vorbildung der
TeilnehmerInnen abzufragen, wurde allen Personen im Vorfeld ein elektronischer
kurzer Fragebogen zugesandt. Die Antworten ergaben, dass:
3 Im Zuge der einfacheren Lesbarkeit wird hier die orthographische Form des Anglizismus „RaP“
(Rhythm and Poetry, analog zu Rhythm and Blues (RnB) gewählt. Einer Verwechslung mit deutschen
Homographen soll somit vorgebeugt werden.
4 Unser verbindlichster Dank für Unterstützung und aufrichtiges Interesse gebührt daher Hajo Leh-
mann von Musimiet, Hannover.
314 Anke Stöver-Blahak & Matthias Perner
3 Kursziele
Das vordergründige Kursziel war die Erarbeitung der o.g. Semesterleistung. Das
Schreiben und Vortragen eines RaPs in einer Gruppe hatte allerdings implizite
weitere Ziele mit großer Relevanz für den Studienalltag der KursteilnehmerInnen:
1. Bewusstmachung individueller Stärken und Schwächen, speziell beim
Schreiben von Texten und in Vortragssituationen; strukturierte Text-
produktion;
2. Verbesserung des Sprech- und Vortragsverhaltens (Phonetik, Prosodie,
Wortschatz etc., aber auch Körperhaltung im weitesten Sinne) entspre-
chend individueller Bedürfnisse;
3. Entwicklung von interkultureller Kompetenz im Team durch i) das Wahr-
nehmen und Diskutieren von eigenen und fremden Schwierigkeiten im
Umgang mit der Fremdsprache Deutsch, ii) die ergebnisorientierte Grup-
pendiskussion bzgl. Textform, -inhalt und Präsentationsweise;
4. Abbau von Sprechhemmungen und Ängsten in Vortragssituationen.
5Ähnliche Reaktionen konnten wir auch bei unseren ebenso begonnenen Vorträgen, z.B. auf der
FaDaF-Jahrestagung in Freiburg, beobachten.
RaP im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht 315
Nach der Mittagspause wurden Gruppen gebildet, deren einzige Vorgabe war, dass
TeilnehmerInnen mit derselben Muttersprache möglichst nicht in einer Gruppe
sein sollten. Die Dozenten begleiteten die Gruppenbildungsphase explizit nicht.
Die Gruppen sollten in der Zeit bis zum Ende des Semesters selbständig einen
Text erarbeiten und in Absprache mit den Dozenten eine Melodie dazu finden. Im
letzten Teil des Tages bereiteten sich die entstandenen Gruppen auf die anschlie-
ßende Selbstarbeitsphase vor, indem sie über mögliche Themen diskutierten, im
Internet dazu recherchierten oder schon Entwürfe für künftige Treffen machten.
Der Tag endete mit einer kurzen Evaluation, um mögliche Fehlentwicklungen oder
-erwartungen zu erkennen und möglicherweise gegensteuern zu können.
4.2 Selbstarbeitsphase
In der knapp dreimonatigen Zwischenphase, die allerdings durch die Weihnachts-
ferien unterbrochen war, sollten die Gruppen sich eigenverantwortlich treffen, ein
Thema verabreden bzw. ausbauen, einen Text schreiben, den Text mit den Dozen-
ten besprechen, eine Melodie dazu finden (ggf. mit Unterstützung ) und den Vor-
trag üben. In einigen Gruppen gelang dieser selbständige Prozess sehr gut, andere
hatten mit der relativen Freiheit Probleme, eine Gruppe konnte nicht fortgeführt
werden. 7 Insgesamt kamen die Gruppen jeweils zwei- bis dreimal in die Sprech-
stunden der Dozenten.
7 Beispiele für einen gelungenen Arbeitsplan und einen gelungenen Text finden Sie im Anhang (Abb.
2, Abb. 3).
8 Engl. „Schleife“, bezeichnet eine sich ständig wiederholende rhythmische Einheit von 2-4 Takten,
ggf. mit leichten Variationen.
9 Zwar sind Anpassungen der Musik an den Text relativ aufwendig, unterstützen aber den Textfokus
und motivieren die qualitative Darbietung der Künstler. Ein einfacher Loop wäre für den eigentlichen
Zweck jedoch völlig ausreichend.
RaP im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht 317
Lied- als RaP-Charakter; aber auch dadurch wurden die gestellten Kriterien
(Rhythmus, Aussprache, Präsentation etc.) erfüllt.
Alle Beiträge wurden intensiv diskutiert und ausgewertet. Die TeilnehmerIn-
nen waren überrascht und erfreut von der hohen Qualität der Beiträge.
Die Möglichkeit, sie im Rahmen eines Parallelseminars (Vorstellung von Ge-
dichten) einem größeren Publikum zu präsentieren, wurde begeistert aufgenom-
men. Zur Vorbereitung dieses Auftrittes mussten noch adäquate Choreographien
entwickelt werden. Der Tag endete mit Überlegungen zu einem Einleitungs-RaP,
mit dem die TeilnehmerInnen sich und den Kurs in jenem Abschlusskonzert vor-
stellen wollten.
4.5 Aufführung
In den ursprünglichen Planungen zu diesem Kurs war eine Aufführung nicht ent-
halten. Die Idee dazu entstand durch die Motivation der TeilnehmerInnen und die
hohe Qualität der Beiträge. Es erschien einfach schade, dass derart witzige, der
Lebenswirklichkeit der TeilnehmerInnen so nahe Texte und Melodien nur der
11 Die bei dieser und folgenden Veranstaltungen mitgefilmten Präsentationen werden auf Wunsch der
Teilnehmer auf YouTube veröffentlicht werden.
12 Die Beiträge werden in Originalrechtschreibung abgedruckt und stehen in der Reihenfolge der
Fragebögen.
RaP im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht 319
5.3 Kursorganisation
Zu dieser Entwicklung hat unserer Meinung nach auch die Entscheidung beigetra-
gen, den Kurs als Blockseminar durchzuführen. Kreative Prozesse können sich im
Zweisemesterwochenstundenrhythmus nicht so gut entwickeln und auch der Auf-
bau von Vertrauen gelingt besser, wenn sich der Kurs gleich zu Anfang eine länge-
re Zeit sieht (in unserem Fall waren es acht Stunden.).
Als schwierig stellte sich aber die lange „Pause“ zwischen dem ersten und dem
zweiten Blocktag heraus. Die KursteilnehmerInnen müssen ein hohes Maß an
Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit mitbringen, um ihren Arbeitsprozess ge-
meinsam zu organisieren und selbständig den Kontakt zu den Lehrenden zu halten
– ähnlich wie in den fachlichen Veranstaltungen an der Universität. In der Evalua-
tion gaben TeilnehmerInnen dieses als einzigen Kritikpunkt an. In einem Nach-
folgekurs wurde der zweite Blocktag in die Mitte des Semesters gesetzt – was für
Studierende und Lehrende vorteilhaft war, weil etwas mehr verbindliche Struktur
vorgegeben war.
Sehr angenehm war für KursteilnehmerInnen und Dozenten die Doppel-
besetzung der Dozentenrolle. Anders als bei vielen anderen Kursen ist bei dieser
Art von Unterricht sehr wenig planbar; das bedeutet, dass der Dozent/die Dozen-
tin sehr präsent und flexibel im Unterricht aber auch in den dazwischenliegenden
Betreuungsphasen sein muss. Man weiß vorher nur sehr vage oder gar nicht, wel-
che Voraussetzungen die KursteilnehmerInnen mitbringen, welche speziellen
Wünsche sie äußern, welche sprachlichen, psychologischen, technischen, organisa-
torischen oder soziologischen Probleme auftreten werden und wie sich Gruppen
zusammenfinden. Wir haben uns im Unterricht abgewechselt aber auch bei Bedarf
parallel gearbeitet. So konnten wir die TeilnehmerInnen gezielt intensiv unterstüt-
zen. Aus ihrer Perspektive ist es vermutlich auch angenehm, nicht den ganzen Tag
von einer Person unterrichtet zu werden und in den Selbstarbeitsphasen zwei An-
sprechpartnerInnen zu haben.
Andererseits gibt die unerbittliche Videodokumentation auch den Dozenten
Aufgaben auf: im Eifer des Gefechts kam es vereinzelt vor, dass beide redeten
oder sich unterbrachen. Niemand im Kurs, auch nicht die Kursleitung, ist also von
Kritik verschont – selbst wenn es den Studierenden kaum aufzufallen schien.
nikationssituation und gibt differenzierte Feedbacks, die der Sprecher sonst nicht
erhalten würde. Sie erfüllt also mehrere Funktionen.
Hauptaufgabe der Dozenten ist die Schaffung und Ausgestaltung einer reichen
und angemessenen Lernumgebung, das Lehrerverhalten ist geprägt von dem Prin-
zip „Hilfestellung“ und gekennzeichnet von einer „kooperativen Zusammenarbeit
zwischen Lehrer und Schüler: ein spezifisches pädagogisches Handeln, das es den
Lernenden ermöglichen soll, die Lerninhalte individuell unterschiedlich zu konstru-
ieren, zu organisieren und für die Wiederverwendung vorzubereiten“ (Wolff 2002:
13).
„Autonome Lerner“, darauf weist Little hin,
cannot construct their knowledge out of nothing, neither can they
know by instinct how to conduct focused and purposeful learning
conversations that shape themselves to the ways of thinking charakte-
ristic of the subject in question. Teachers remain indespensable, both
as pedagogues and as discipline experts. (Little 2007: 21)
Selbstverständlich ist uns bekannt, dass Musik und Sprache in Kombination kei-
neswegs eine neue Entwicklung sind. Von der griechischen Tradition (vgl. Cvetko
2006, Cvetko im Erscheinen) an bis Professor Lapper, der in den 1960ern mit der
„Singmethode“ Deutsch in Österreich (Bad Reichenhall) Deutsch als Fremd-
sprache mit Gesang kombinierte und singend von seinen Schülern auf der Straße
begrüßt wurde, scheint es eine bewährte Kombination zu sein, deren Ansatz in der
modernen Fremdsprachenforschung aktuell wiederbelebt wird.
Im Übrigen werden die Dozenten dieses Projektes auch vereinzelt mit einem
RaP-Gruß („Yo, man!“) begrüßt.
Literatur
Cvetko, Alexander J. (2006): „... durch Gesänge lehrten sie...“ Johann Gottfried Herder und
die Erziehung durch Musik. Mythos - Ideologie – Rezeption. Frankfurt/M.: Peter
Lang.
Cvetko, Alexander J. (im Erscheinen): Der Sprechgesang in wissenschaftlicher
Perspektive: Anregungen aus der Historischen Musikwissenschaft für die
Musikpädagogik. In: Greuel, Thomas; Kranefeld, Ulrike u.a. (Hrsg.): Singen und
Lernen – Annäherungen an die Perspektive des Schülers. Aachen.
Holec, Henri (1981): Autonomy in Foreign Language Learning. Oxford: Pergamon
Press.
Little, David (1991): Learner Autonomy; Definitions, Issues and Problems. Dublin:
Authentic.
RaP im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht 323
Internetquellen
Freie Loops zum Download nach Anmeldung: www.looperman.com (15.10.2010).
Kostenfreie Bearbeitungssoftware für Audio-Dateien: http://audacity.sourceforge.net/
(15.10.2010).
Entstehende Dokumentation zum DaF-RaP-Projekt am Fachsprachenzentrum der Leibniz
Universität Hannover: http://www.fsz.uni-hannover.de/daf-rap.html
(15.10.2010).
324 Anke Stöver-Blahak & Matthias Perner
Anhang
1 Einleitung
Theoretisch ist kein Mangel an DaF 3 -Phonetik, auch die Lehrwerke haben sich
F
1 Der Beitrag ist die leicht ergänzte Textfassung einer Power-Point-Präsentation mit 34 Folien auf der
Freiburger Jahrestagung. Aus der dortigen Präsentationsform resultiert die argumentativ knappe
Darstellungsweise, die auch auf umfangreiche Literaturverweise verzichtet. Auch ist dem Autor
bewusst, dass es in der Aussprachedidaktik keineswegs mit nur zehn sprachlichen und zehn phonetik-
didaktischen Tipps umfassend getan ist. Aber angesichts der weithin feststellbaren und von vielen
Lehrenden auch selbst beklagten Defizite in der DaF-/DaZ-Praxis scheint ein solches knapp auswäh-
lendes Verfahren vertretbar zu sein, weil damit ein recht gut ausgestatteter Mindeststandard für die
phonetische DaF-/DaZ-Praxis beschrieben ist. Wirken sich die hier präsentierten 10 + 10 Hinweise
effektiv in der Unterrichtspraxis aus, ist schon viel gewonnen.
2 Praxishintergrund sind viele Jahre Aussprachetrainingskurse an der Universität Tübingen, darunter
immer wieder solche mit sprachkontrastiver Ausrichtung; drei über den FaDaF veranstaltete Fort-
bildungsseminare in Blaubeuren zwischen 2000 und 2004 sowie zahlreiche weitere Phonetik-
Lehrerfortbildungen mit den Universitäten Tübingen, Jena, Leipzig, der Hochschule Reutlingen, dem
VHS-Landesverband Baden-Württemberg u.a. – Dazu detailliert Rug (2007 und 2008). In Kürze
erscheint beim Schubert-Verlag Leipzig vom Autor das Übungsbuch 77 Klangbilder gesprochenes
Hochdeutsch.
3 Methodisch ist DaZ grundsätzlich mitgemeint sein, wobei sich „Phonetik für DaZ“ in der komfor-
tableren Situation befindet, sich auf den Kontrast zu einer jeweils bestimmten Herkunftssprache
konzentrieren zu können; dies gilt noch stärker für den Lehrbereich „DaF im Ausland/an deutschen
Auslandsschulen“.
328 Wolfgang Rug
befördern – bei den Lehrern und bei den Lernenden. Um den Weg hinein in die
Praxis zu verkürzen, sind hier die 20 best-practice-Tipps aus vielen Jahren phoneti-
scher Praxis im DaF-Unterricht, in Phonetik-Workshops oder Schwerpunktkursen
und in der DaF-Lehrerfortbildung versammelt. Phonetik kompakt für Praktiker.
Das erste 10er-Paket (Teil A) bietet eine Sammlung von „Hauptschwierig-
keiten“ der deutschen Artikulation und Intonation – wohl wissend, dass es erheb-
lich mehr Ausspracheprobleme für internationale Deutschlernende gibt. Die Liste
beschränkt sich auf solche Bereiche, die entweder für die Klanglichkeit des Deut-
schen von fundamentaler Bedeutung sind, und solche, die für viele/mehrere der
„wichtigen“ Herkunfts- und Kontrastsprachen eine Lernschwierigkeit darstellen.
Dabei gilt als übergreifende methodische Anleitung: Körperhaltung und Artikula-
tion mit einfachen Worten passend einstellen (hörend und sprechend, mit mög-
lichst wenig Schrift auf dem Papier (also nicht oder weniger lesend und nachspre-
chend), ohne viele IPA-Zeichen (wenn möglich lieber mit Klangimitation mittels
Buchstaben), ohne komplizierte linguistische Terminologie, dann geht’s mit konse-
quentem Üben leichter und wird von selbst schon ziemlich richtig. Also Tipps wie:
Die jeweils richtige Körperhaltung produziert die richtigen Lang- und Kurz-Vokale
– Was ein breites „Cheese-Gesicht“ alles leistet – Mehr Mut zur r-Vokalisierung –
Wie leicht das deutsche (konsonantische) r gelingt – starke Satzakzente + konse-
quente Silbenreduzierung/Silbenminimalisierung in Endungen, („unbetonten“)
Vorsilben und Mittelvokalen: das sind alles gar nicht so komplizierte Geheimnisse
von Klang, Rhythmus und Intonation in einer guten deutschen Aussprache.
Die Tipps im zweiten 10er-Paket (Teil B) zeigen, wie Phonetiklehren und
-lernen im täglichen DaF-/DaZ-Unterricht methodisch in vielfacher Weise ein-
gebunden werden kann und soll. Tipps wie:
– Kein Grammatikthema ohne (sogar: primäre) Klangebene, ohne Aus-
sprachetraining;
– Chorsprechen, Singen, Formen in gesprochenen Rhythmen bringen mehr
als Regeln einüben und erhöhen Sprechfrequenz und Sprachlust der Ler-
nenden;
– Nicht stolperndes Lesen, sondern Auswendiglernen und Rezitieren, Spra-
che inszenieren;
– Jedem Schüler sein (kontrastives + individuelles) Hauptschwierigkeiten-
und Trainingsprogramm;
– Wie kommen Freude und Erkenntnis in die Fehlerkorrektur?
– Vom Unterricht hinaus in den Lebensalltag auf dem Weg zum guten
Deutsch-Sprechen.
Die 20 besten Tipps für die phonetische DaF-/DaZ-Praxis 329
2 Teil A
Muster 1: zy dammda
schaffn schaffn schaffn schaffn
lachn lachn lachn lachn
küssn küssn küssn küssn
bittn bittn bittn bittn
Symbol für Muster 1: Schweinchen – ein dicker Körper (Stamm) und ein minimal-
kleines Schwänzchen (Endung); Quantitätsverhältnis: 1:0,1 oder 10:1.
Muster 2: y z dadamm
gedacht – gemacht – gelacht – gekracht – das Ding –’n Ding
gesagt – bewegt – versagt – erlaubt
Symbol für Muster 2: Käfer – ein minimal-kleiner Kopf (unbetonte/untrennbare
Vorsilbe) und ein dicker Körper (Stamm); Quantitätsverhältnis: 0,1:1 oder 1:10.
Das Muster gilt auch für die Gruppe Artikelwort + Nomen.
Die beiden Muster können weiter abgewandelt und kombiniert werden:
z
Variation 1: y y dadammda
berühren – befühlen … oder so schreiben: betastn – begreifn – die Sachn
Symbol für diesen Rhythmus: Schildkröte (kleiner Kopf, dicker Körper, kleiner
Schwanz) für die grammatischen Formen von Verben mit unbetonter/untrenn-
barer Vorsilbe (Infinitiv, z.T. Partizip II etc.), aber auch für die Gruppe Artikel-
wort + zweisilbiges Nomen, Nomen im Plural etc.
2.5 Die Langvokale meeehr üüüben – und dann auch die Kurzvokale
Vor allem e: – o: – ö: – ü: sind sehr geeignet für Chorsprechen mit Körpersprache:
- Kopf weit nach hinten, Blick nach schräg oben richten, Arm und Zeige-
finger nach schräg oben strecken – in so gespannter Körperhaltung wird’s
richtig.
- Mit graphischer Unterstützung:
Oooben in Pooolen die Kooohlen hooolen
Der Eeesel trinkt nie Teee im Schneee.
Üüüben, üüüben, aber immer mit Gefüüühl!
- Man kann sich mit gespreiztem Daumen/Zeigefinger in die Kehle drü-
cken und die Vokale trotzdem laut artikulieren: sie klingen gespannt, vorn,
hoch … und lang.
- Und so geht es mit den kurzen Vokalen: schlappe Körperhaltung, mit
hängenden Armen, Kopf nach unten, Kinn auf die Brust: die kurzen Vo-
Die 20 besten Tipps für die phonetische DaF-/DaZ-Praxis 333
kale fallen locker heraus und sind deutlich tiefer, lockerer (ungespannt),
von weiter hinten (Brustton) als die langen, … und kürzer.
– Bei weichem/stimmhaftem Anlaut der Folgesilbe gilt: Hart (-t, -p, -k) wird
von weich nicht weich gemacht – stimmlos (-ch, -sch, -f, -s) wird von
stimmhaft nicht stimmhaft gemacht:
Rückgabe, Stadtgarten, Aufgabe, Nachbar, ich weiß, es gibt, Kapitalismus
Auch hier: Zum Üben den „Fremdklang“ spielerisch übertreiben und mit dem
richtigen Deutschklang vergleichen; übend hin und her spielen.
3 Teil B
genden Synkopen, am Ende als dreistimmiger Kanon und „Deutsch-Hit“ der gan-
zen Klasse:
Heut kommt der Hans zu mir, freut sich die Lies.
Ob er aber über Oberammergau, oder aber über Unterammergau,
oder aber überhaupt nit kommt, das is’ nit g’wiss.
Oder warum nicht so: bei den -er-Endungen rhythmisiert und die Langvokale
überdeutlich:
Heut kommt der Hans zu miia, freut sich die Lies.
Oba aaba üüba Ooba’ammagau, ooda aaba üüba Untaammagau,
ooda aaba üübahaupt nit kommt, das is’ nit g’wiss.
Im folgenden Text, dem Anfang der „Kleinen Fabel“ von Kafka, sind die Text-
phrasierung sowie fünf Tonstärke-Stufen enthalten: Satzakzent (4) – verbleibender
Wortakzent (3) – unbetont (2) – reduzierte Endung (1) – Elision (0): die Schreib-
weise ist dem Klang angepasst:
- Michael Ende: 11 Beppo Straßenkehrer erklärt Momo, wie man eine Straße
kehren soll.
Literatur
Fischer, Andreas (2007): Deutsch lernen mit Rhythmus. Der Sprechrhythmus als Basis einer
integrierten Phonetik im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Leipzig: Schubert-
Verlag.
Fischer, Andreas (2010): Phonetik-Atelier (enthält u.a. Textproben, Hörproben und
Videos zu den Materialbroschüren „Das Kinderkarussel“, „Es fliegt ein Vogel
ganz allein“. „Sowieso-Raps“ und „Mann O Mann“) (http://www.phonetik-
atelier.de) (15.10.2010).
Rug, Wolfgang (1998): Bessere Aussprache und Intonation – kontrastiv für 25
Sprachen – ein Tübinger Arbeitsprojekt. In: Wolf, Armin; Eggers, Dietrich
(Hrsg.): Lern- und Studienort Deutschland, Emotion und Kognition, Lernen mit neuen
Medien. Regensburg, 425-440.
11 http://www.youtube.com/watch?v=VHb5q2iYuuU&feature=related (21.10.2010).
12 http://www.pigor.de/getCmsData.php?id=333&category=hoeren (21.10.2010).
13 http://www.dailymotion.com/video/x6xv23_max-raabe-kein-schwein-ruft-mich-an_music (21.10.
2010).
14 http://www.myvideo.de/watch/6282047/Stefan_Raab_Wadde_Hadde_Dudde_Da (21.10.2010).
15 http://www.youtube.com/watch?v=eUPXC7R7VYo&feature=related (21.10.2010).
Die 20 besten Tipps für die phonetische DaF-/DaZ-Praxis 341
Rug, Wolfgang (2007): Klänge der Grammatik. In: Phonetik in Deutsch als
Fremdsprache: Theorie und Praxis. Online-Zeitschrift für Interkulturellen
Fremdsprachenunterricht. (http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-12-
2/navigation/startbei.htm) (15.10.2010).
Rug, Wolfgang (2008): Der Klang der gesprochenen Sprache Hochdeutsch. In:
Chlosta, Christoph; Leder, Gabriela; Krischer, Barbara (Hrsg.): Auf neuen
Wegen. Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Praxis. 35.Jahrestagung des
Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache an der Freien Universität Berlin 2007.
Göttingen: Universitätsverlag, 343-371.
Internetquellen
Beppo über das Kehren von Straßen:
http://www.youtube.com/watch?v=VHb5q2iYuuU&feature=related
(21.20.2010).
Janosch: Oh wie schön ist Panama:
http://www.youtube.com/watch?v=raM2tvMtXXM (21.10.2010).
Leon, der gestiefelte Kater: http://www.youtube.com/watch?v=VRVu6MAX4e8
(21.10.2010).
Heut kommt der Hans zu mir, Ob er aber über Oberammergau…:
http://www.youtube.com/watch?v=Vyt80IcEZpk (21.10.2010);
http://www.youtube.com/watch?v=lfzljNAotFA&feature=related
(21.10.2010);
http://www.youtube.com/watch?v=CFY7ocyLbtY&feature=related
(21.10.2010).
Pigor: Tubist: http://www.pigor.de/getCmsData.php?id=333&category=hoeren
(21.10.2010).
Raab, Stefan: Wadde Hadde Dudde Da:
http://www.myvideo.de/watch/6282047/Stefan_Raab_Wadde_Hadde_Dudd
e_Da (21.10.2010).
Raabe, Max: Kein Schwein ruft mich an:
http://www.dailymotion.com/video/x6xv23_max-raabe-kein-schwein-ruft-
mich-an_music (21.10.2010).
Waalkes, Otto; Herbig, Bully: Mein kleiner grüner Kaktus:
http://www.youtube.com/watch?v=eUPXC7R7VYo&feature=related
(21.10.2010).
Praxisforum B
Das Praxisforum Beruf und Qualifizierung hat sich seit der Jahrestagung 2006, als
erstmals ein dreistündiger Workshop aus diesem Bereich – damals ging es um den
Berufsfeldbezug in den „neuen“ BA-/MA-Studiengängen Deutsch als Fremdspra-
che – neben den bekannten Themenschwerpunkten und dem Praxisforum „Unter-
richt“ angeboten wurde, inzwischen zu einer durchgehenden Veranstaltung entwi-
ckelt. Für dieses Forum gibt es vorab keinen Call, sondern werden gezielt Beiträge
von Spezialisten für die Berufsbereiche DaF und DaZ angeworben. Es handelt
sich zum Großteil um Informations- oder Beratungsveranstaltungen sowie um
Podiumsdiskussionen.
Zu den Informations- und Beratungsangeboten gehörte auch auf der Freibur-
ger Tagung die schon zur Tradition gewordene Beratung zur Sozialversicherung
für selbständige Honorarlehrkräfte („Gesetzeslage, Probleme und Lösungsansät-
ze“) von Erwin Denzler, Dozent für Arbeits- und Sozialrecht (Fürth). Zwar kann
aufgrund der sehr unterschiedlichen individuellen Situationen in einer solchen Ver-
anstaltung keine Pauschallösung gegeben werden, aber doch eine Orientierung zur
Einschätzung der eigenen Situation, welche sich bei der Klärung offener Fragen
und bei der Entwicklung einer individuellen Strategie im Umgang mit Versiche-
rungsträgern als nützlich erweist. Erwin Denzler wird aufgrund der positiven Reso-
nanz regelmäßig zu FaDaF-Jahrestagungen eingeladen. Anschließend informierten
der stellvertretende FaDaF-Vorstandsvorsitzende Martin Lange (Kiel) und Vertre-
ter des FaDaF-GATE-Konsortiums aus Sicht der GATE-Hochschulmarketing-
initiative des DAAD über Bildungsmarketing („Deutsch lernen in Deutschland“)
für DaF-Kurse in Deutschland. Im Vortrag berichteten Mitglieder des Konsorti-
346 Sektionsbericht Praxisforum B
ums über Erfahrungen von Sibirien bis Chile, wobei unter anderem die Bedeutung
des Auftretens unter einem Qualitätssiegel und im Verbund deutlich wurde. Eine
weitere Beratungsveranstaltung boten Matthias Jung (Düsseldorf) und Annegret
Middeke (Göttingen) an. Es ging darin um Fragen der Beantragung und Durchfüh-
rung von EU-Projekten, nachdem Larisa Klyushkina, Monika Herold und Imke
Baasen (Göttingen) die transversalen EU-Projekte „Interkultureller Dialog durch
regionalisierte Lehrwerke (IDIAL)“ und „IDIAL for Professionals (IDIAL4P)“, in
denen der FaDaF Konsortialpartner ist, vorgestellt hatten. Die Powerpointpräsen-
tation der EU-Fördermittelberatung findet sich auf www.fadaf.de/de/aktuelles/
(02.02.2010).
Des Weiteren gehörten drei Podiumsdiskussionen zum Forum „Beruf und
Qualifizierung“. Vertreter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, von Pro
Integration und des Deutschen Bundestags äußerten sich in einer von Vorstands-
mitglied Amadeus Hempel (Hamburg) moderierten Podiumsdiskussion zu den
organisatorischen und finanziellen Perspektiven von Integrationskursen in der
neuen Legislaturperiode. Angesichts der Tatsache, dass die Nachfrage nach Inte-
grationssprachkursen erfreulicherweise hoch ist, aber trotz erhöhter Finanzmittel
das Geld nicht ausreicht, um die Kurse nach dem Bedarf der Zuwanderer zu finan-
zieren, war die Diskussion entsprechend kritisch. Eine weitere Diskussionsrunde
mit Vertretern von Sprachschulen und des Bundesverbands der Volkshochschulen
widmete sich dem Thema „Arbeitsmarkt für DaF-/DaZ-Lehrkräfte, Anforderun-
gen an Lehrkräfte von Integrationssprachkursen des BAMF und die Ausgestaltung
der rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen ‚vor Ort‘“. Auch die vom DAAD
organisierte und von Roman Luckscheiter (Bonn) moderierte Podiumsdiskussion
„Berufsbezogene Curricula in DaF-Angeboten im In- und Ausland“ war dem Fo-
rum „Beruf und Qualifizierung“ zugeordnet. Die Teilnehmer – Uwe Koreik (DaF-
Studiengangsleiter an der Universität Bielefeld), Hartmut Möller (IHK Südlicher
Oberrhein, Leiter Geschäftsbereich Berufsbildung), Yusra Alkhazraji (DAAD-
Stipendiatin aus dem Irak), Rajito Sartini (DAAD-Stipendiatin aus Indonesien) und
Ulrich Dronske (Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, Referent für Testerstel-
lung) – diskutierten, wie berufsvorbereitende Komponenten in Deutschlernange-
bote an Hochschulen integriert werden können und was das für die Arbeit von
DaF-Lehrern bedeutet.
Die Informations- und Beratungsveranstaltungen und auch die Podiums-
diskussionen als primär mündliche Gattungen sind nicht im Band vertreten. Ver-
öffentlicht wurden zwei Beiträge. Der eine basiert auf dem Vortrag von Martina
Rost-Roth und Heike Mengele (Augsburg) zur „Lehrerausbildung und Praxisorien-
tierung im Studienfach ‚DiDaZ‘ in Bayern am Beispielinterkultureller Theater-
projekte an der Universität Augsburg“. Es ging darin um die Konzeption des Stu-
diengangs und des Bayrischen Konzepts im Vergleich zu anderen Bundesländern
und – am Beispiel interkultureller Dramapädagogik – um die Gestaltung von Ko-
operationen mit Kulturprojekten und Schulen. Der andere, „Deutsch für den Be-
ruf als Arbeitsfeld für DaF-/DaZ-Lehrer“, von Matthias Jung (Düsseldorf) und
Sektionsbericht Praxisforum B 347
Annegret Middeke (Göttingen) ergab sich sozusagen aus der Diskussion im Um-
feld der EU-Fördermittelberatung und der Präsentation der EU-Projekte, da eines,
IDIAL4P, sich mit berufsrelevanten Fremdsprachenkenntnissen beschäftigt und
genau zu dem Thema zahlreiche Fragen aus dem Publikum kamen.
Allen, die sich am Forum „Beruf und Qualifizierung“ beteiligt haben, Referen-
ten wie Teilnehmern, sei noch einmal ganz herzlich gedankt.
Vom begleiteten zum begleitenden
Berufsfeldbezug: Das Projektseminar
„Interkulturelle Dramapädagogik mit
jugendlichen Hauptschülern“
lich zurückzuführen ist, geht davon aus, dass eine „ausschließliche Entwicklung
linguistisch-logischer Intelligenzen nicht ausreicht, um Lehrer zu motivations- und
interesseweckender Unterrichtsgestaltung zu befähigen“ (Schewe 2001: 33). In
seinen fünf Thesen „DaF-Lehrerausbildung: nicht nur als Wissenschaft, sondern
ebenso als Kunst!“ (Schewe 1997: 253) fordert er unter anderem eine Balance der
Förderung konzeptioneller und ästhetischer Kompetenzen. Selbsterfahrungen der
Studierenden mit den vielfältigen dramapädagogischen Ausdrucksformen, sind auf
dem Weg dorthin unerlässlich, denn gerade diesen Selbsterfahrungen wird bei der
Entwicklung performativer Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern eine Schlüs-
selrolle zugeschrieben (vgl. Haak 2010: o.S.).
Unter performativer Kompetenz ist „[…] ein Bündel von Fähigkeiten des In-
dividuums, die Inszeniertheit allen sozialen Handelns zu verstehen, selbst soziale
Interaktionssituationen zu initiieren, diese selbstbestimmt mitzugestalten und die
eigene Rolle darin kritisch zu reflektieren“ (Hallet 2010: o.S). Bei der Gestaltung
schülerzentrierter Lernszenarien, mit hohen Sprech- und Handlungsanteilen bei
den Schülerinnen und Schülern, die insbesondere für die Gestaltung des Deutsch
als Zweitsprache Unterrichts gefordert werden 4 stellt performative Kompetenz
eine wünschenswerte Basiskompetenz für die Lehrperson dar. Die Qualität von
Unterricht und Lernprozessen „hängt [dabei] in großem Maß von der Lehrkraft
und ihrer Fähigkeit ab, eine dramapädagogische Realität möglichst offen und inte-
ressant zu gestalten“ (Haak 2010: o.S.). Gemeint ist damit, inwiefern der Lehrer
oder die Lehrerin es vermag, Lernprozesse über deren Initiierung hinaus eben auch
zu inszenieren, anstatt Inhalte „herunterzuleiern“. Das dramapädagogische Metho-
denrepertoire dient dabei als hilfreiches Rüstzeug. Sich-Ausprobieren in verschie-
denen (Lehrer-)Rollen vor einer Gruppe erweitert das Rollenrepertoire des zukünf-
tigen Lehrers. Das hilft dabei, sich professionell distanziert auch auf mögliche
Überraschungen im Unterricht einzustellen. Performative Kompetenz zielt eben
nicht, wie der Begriff eventuell vermuten lässt, vorrangig auf ein sich In-Szene-
setzen des Lehrenden: Das Einüben der Rolle des Gastgebers (Entertainer im ei-
gentlichen Sinne), der seinen Unterricht so gestaltet, dass die Schüler zu Co-
Regisseuren des Unterrichtsgeschehens werden, ist wünschenswert (vgl. Haak
2010: o.S).
3 Dramapädagogik
Dramapädagogik ist das deutsche Pendant zum Begriff „drama in education“
(Schewe 2000: 13). Damit ist die Verwendung dramatischer Konventionen (d.h.
Übungen) für pädagogische Zwecke gemeint. Es „sollen fiktive dramatische Situa-
tionen geschaffen werden, die es ermöglichen, unterschiedlichste Aspekte der men-
schlichen Erfahrung zu erkunden“(Kessler 2008: 37). Das Quellenmaterial, das den
4Vgl. Bayerischer Lehrplan Deutsch als Zweitsprache (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht
und Kultus 2002) oder Hölscher; Piepho; Roche (2006).
352 Heike Mengele
5 In Schlemminger (2000) finden sich vielfältige Vorschläge und didaktische Konzepte zur Umset-
zung dramapädagogischer Einheiten im DaF-Unterricht.
6 Vgl. Domkowsky (2008) mit ihrem empirischen Beitrag zum Zusammenhang von Theaterspielen
und Persönlichkeitsentwicklung.
7 Kessler (2008) betont, dass es neben den bewegungsorientierten Lernaktivitäten auch ruhige Phasen
gibt, die den Lernprozess entschleunigen und die Vorstellungskraft der TeilnehmerInnen fördern.
Vom begleiteten zum belgleitenden Berufsfeldbezug 353
5 Interkulturelle Dramapädagogik
Das Konzept der ‚interkulturellen Dramapädagogik‘ für den Fremdsprachenunter-
richt präsentiert Dramapädagogik als das lang gesuchte „Vehikel interkulturellen
Lernens“ (vgl. Kessler 2008). 8 Der Anspruch, dass Lernende im Fremdsprachen-
unterricht interkulturell kompetent werden, also unter anderem Empathie, Tole-
ranz und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel erwerben, stellt höchste Anforde-
rungen an die Lehrenden. Die Rezeption und Aushandlung literarischer Texte –
eine beliebte Methode, interkulturelles Potential zu erschließen – kann nur be-
grenzt für die Realisierung affektiver, bewusstseinsorientierter Lernziele genutzt
werden. „Es erscheint schwer vorstellbar, wie […] die Schüler (dadurch) ihre inter-
kulturelle Handlungsfähigkeit gezielt üben und erweitern können“ (Kessler 2008:
32). Textbasierter Unterricht, unter Umständen im fragend-entwickelnden Stil,
berührt oft nur kognitive Dimensionen. Kessler (2008) verweist darauf, dass Dra-
mapädagogik als holistisches Lernkonzept alle Dimensionen interkulturellen Ler-
8
Kessler verweist auf die Implementationsproblematik des interkulturellen Lernens im fremdsprach-
lichen Curriculum und nennt diesbezügliche curriculare Forderungen Lippenbekenntnisse, da in den
meisten Fällen für den Fremdsprachenunterricht curriculare Handlungsempfehlungen für dessen
Umsetzung fehlten (vgl. Kessler 2008: 29).
354 Heike Mengele
9
Ein unterrichtspraktisches Beispiel zur Arbeit mit ‚critcal incidents‘ im Englischunterricht findet
sich in Küppers (2009). Auch die Methode „Forumstheater“ bietet sich zur Bearbeitung von ‚critcal
incidents‘ an.
10
Zu weiteren Informationen vgl. http://www.philhist.uni-augsburg.de/de/lehrstuehle/germanistik
/DaF/studium/ (15.11.20109).
Vom begleiteten zum belgleitenden Berufsfeldbezug 355
11
Sofern sie DiDaZ als Unterrichts- oder Erweiterungsfach studieren.
12 Finanziell ermöglicht wurde dies bislang durch den Kultur- und Schulservice Augsburg. Genauere
Informationen dazu unter: http://www.ks-aug.de/ (15.11.2010).
13 Vgl. Auerheimer (2004).
356 Heike Mengele
9 Die Seminarstruktur:
Verschränkte Theorie-Praxis-Einheiten
Das dramapädagogische Seminar gliedert sich in drei Phasen: 1. einen verzahnten
Theorie-Praxisteil im Rahmen einer wöchentlichen Seminarveranstaltung (15 mal
je zwei Semesterwochenstunden), 2. eine von Theaterpädagogen und Dozentin
begleitete Projektwoche (34 Stunden) in der die Studierenden selbst Workshops
anleiten und 3. einen abschließend reflektierenden Teil in Form eines Portfolios (s.
Tab. 1)
14
Schader (2004) dient dem Seminar hierbei als praxisorientierte Basislektüre.
358 Heike Mengele
Phase 2.
Die Projektwoche: Begleiteter Praxisbezug
Phase 3.
Zusammenschau der Erfahrungen: Das Portfolio
Auf der Basis ihrer Erfahrungen, die die Studierenden während der Projektwoche
täglich schriftlich fixieren, erstellen sie Portfolios. Diese enthalten Beschreibungen
und Beurteilungen der eigenen Workshops. Darüber hinaus werden die Studieren-
den durch Leitfragen angeregt, Selbsteinschätzungen bezüglich Methoden-, Sozial-,
Selbst- und Organisationskompetenz vorzunehmen.
12 Schlussbemerkung
Eine umfassende empirische Evaluation der Kompetenzzuwächse der Studieren-
den stellt noch ein Desiderat dar und ist derzeit in Vorbereitung. Stellvertretend
dafür steht bisweilen das Feedback einer Studentin: „Es hat in den Workshops und
mit den Kindern Spaß gemacht. Wir haben viel gelacht, aber auch gelernt. Ich steh’
Vom begleiteten zum belgleitenden Berufsfeldbezug 359
jetzt ganz anders da, auch vor der Gruppe. […].“ Diese Aussage spiegelt – frei
interpretiert – den motivationalen Wert des Projektseminars, insbesondere drama-
pädagogischer Methoden, wider. Studierende ‚stehen hinterher anders da‘, festigen
ihr persönliches pädagogisches Selbstkonzept und beginnen professionelle Kom-
petenz zu entfalten. Das Angebot eines frühen, mit der Lehre verschränkten Be-
rufsfeldbezugs, in Kombination mit Coaching und reflexiven Einheiten, schafft
dafür geeignete Ausgangsbedingungen. Das besondere Potential der Dramapäda-
gogik für die Hochschuldidaktik, insbesondere für die Ausbildung von Sprach-
lehrerinnen und -lehrern wird deutlich: Dramapädagogik scheint das geeignete
Vehikel den hochschuldidaktisch geforderten ‚shift from teaching to learning‘ zu ermög-
lichen. 15 Denn durch die Vermittlung dramapädagogischer Methoden rückt die
Vision Manfred Schewes (2001: 37) von der beruflichen Zukunft der Sprachlehre-
rinnen und -lehrer näher:
Je weiter wir uns in das neue Jahrtausend hinein bewegen, desto mehr
werden Lehrer und Lehrerinnen die Aneignung einer fremden Sprache
als sinnliche Erfahrung begreifen. Sie werden nicht nur mit der Stim-
me sprechen, sondern mit ihren Augen, Händen und Füßen. Sie wer-
den sich trauen, im Unterricht zu singen, zu tanzen, zu malen, zu spie-
len und werden ein Instrument beherrschen. Sie werden nicht nur Re-
gie führen, sondern Akteure sein. Wir werden Improvisationskünstler
in unseren Klassenräumen haben: Lehrerinnen, die die Fremd- […und
Zweit-]sprache leibhaftig inszenieren und dabei ihrer Intuition ver-
trauen, ihrer Spontaneität und schöpferischen Kraft.
Diese Vision Manfred Schewes ist keinesfalls Utopie. Die Erfahrungen, die wir im
Augsburger Projekt mit Interkultureller Dramapädagogik gemacht haben, verdeut-
lichen darüber hinaus deren Potentiale für den Bereich des Deutschen als Zweit-
sprache. Gerade im Umgang mit multikulturellen, meist sehr heterogenen Schul-
klassen erwies sich der Einsatz dramapädagogischer Techniken als Gewinn. In den
Leitgedanken des bayerischen Lehrplans Deutsch als Zweitsprache (2002) werden
ganzheitliches Lernen, Schülerorientierung, interaktive Situationen als Lernanlass,
Wachstum durch Sprachanwendung, Spielen als Probehandeln, offene Unterrichts-
situationen bzw. Szenarien und außerschulisches Lernen“( Bayerisches Staatsminis-
terium für Unterricht und Kultus 2002: 9-11) gefordert, die Empfehlung des Ein-
satzes dramapädagogischer Methoden, die alle Kriterien erfüllen könnte, fehlt
noch.
Es soll hier aber nicht der Eindruck vermittelt werden, interkulturelle Drama-
pädagogik könne die übrigen Methoden und Lernarrangements ersetzen. Sie kann
unverzichtbare Beiträge für schulische Sprachförderung der Kinder und Jugend-
lichen und der Ausbildung der Sprachförderkräfte leisten. Ihr Nutzen im Unter-
15 Eine umfassende Sammlung weiterer Möglichkeiten und Gründe, „Theater in der Lehre“ einzuset-
zen, findet sich in Wildt; Hentschel; Wildt (2008).
360 Heike Mengele
richt ist dabei maßgeblich abhängig von der Methodenkompetenz und -präferenz
der Unterrichtenden, die es zu fördern gilt.
Im Sinne Hartmut von Hentigs (1996) können Dramapädagogik und Theater
auch für die universitäre Bildung eine Chance, ein Lernarrangement unter anderen
darstellen, insbesondere um angehende Lehrkräfte auf deren Umgang mit Kindern
und Jugendlichen vorzubereiten:
Ja, ich behaupte darum, dass das Theaterspielen eines der machtvolls-
ten Bildungsmittel ist, die wir haben, ein Mittel, die eigene Person zu
überschreiten, ein Mittel zur Erkundung von Menschen und Schick-
salen und ein Mittel der Gestaltung der gewonnenen Einsicht. (Hentig
1996: 119)
Literatur
Auernheimer, Georg (2004): Unser Bildungssystem und unsere Schulen auf dem Prüfstand.
Systemdefizite und Schulqualität unter dem Aspekt interkultureller Bildung. (http://
www. georg-auernheimer.de /downloads/Schulqualitaet.pdf) (02.09.2010).
Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.) (2002): Lehrplan
Deutsch als Zweitsprache. München: Maiß Verlag.
Domkowsky, Romi (2008): Theaterspielen öffnet die Persönlichkeit. Eine Studie
der Wirkung des Theaterspielens auf junge Menschen. In: Jurke, Volker; Linck,
Dieter; Reiss, Joachim; Mayer, Matthias (Hrsg.): Zukunft Schultheater. Das Fach
Theater in der Bildungsdebatte. Hamburg: Ed. Körber-Stiftung, 51-60.
Even, Susanne (2003): Drama Grammatik. Dramapädagogische Ansätze für den
Grammatikunterricht Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium.
Haak, Adrian (2010): KünstlerInnen der improvisierten Aufführung. Performative
Fremdsprachendidaktik als Teil des Lehramtsstudiums. In: Schewe, Manfred;
Even, Susanne (Hrsg.): Scenario. Journal for Drama and Theatre in Foreign and Second
Language Education 1. (http://publish.ucc.ie/scenario/2010/01/haack/04/de)
(16.09.2010).
Hallet, Wolfgang (2010): Performative Kompetenz und Fremdsprachenunterricht.
In: Schewe, Manfred; Even, Susanne (Hrsg.): Scenario. Journal for Drama and
Theatre in Foreign and Second Language Education 1. (http://publish.ucc.ie/
journals/scenario/2010/01/hallet/02/de) (03.10.2010).
Hölscher, Petra; Piepho, Hans-Eberhard; Roche, Jörg (2006): Handlungsorientierter
Unterricht mit Lernszenarien. Kernfragen zum Spracherwerb. Oberursel: Finken
Verlag.
Vom begleiteten zum belgleitenden Berufsfeldbezug 361
1 Einleitung
Im folgenden Aufsatz soll das Arbeitsfeld berufs- bzw. fachbezogener Deutsch-
unterricht im In- und Ausland exemplarisch beleuchtet werden, und zwar hinsicht-
lich der sich dort bietenden Erwerbschancen, der notwendigen Qualifikationen
und besonderer Anforderungen, hier vor allem an die Lehrmaterialien, sowie im
Hinblick auf entsprechende Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Schon auf-
grund der Beschränkungen des Umfangs können wir uns dabei nur auf gewisse
Ausschnitte konzentrieren: So kann die Situation im Ausland nur generalisierend,
speziell für Europa, dargestellt werden und im Bereich der Lehrmaterialien bzw.
der (Selbst-)Weiterbildung gehen wir vor allem auf Online-Materialien wie die
Ergebnisse und Angebote des EU-Projektes IDIAL4P (2010-2011) ein, da diese
allgemein und kostenlos zur Verfügung stehen bzw. auf Nachhaltigkeit und die
dauerhafte Beteiligung der Nutzer angelegt sind.
dazu aber Jung 2010) und konzentrieren uns auf die selbständigen DaF-Dozenten.
Während klassische Freiberufler wie Ärzte, Anwälte oder Grafiker und Designer
die wirtschaftliche Eigenverantwortlichkeit durch höhere Stundensätze im Ver-
gleich zu ihren angestellten Kolleginnen und Kollegen kompensieren und, wenn
sie erfolgreich sind, auch im Jahr deutlich mehr verdienen können als diese, scheint
das im Lehrerberuf und speziell als DaF-Dozent genau umgekehrt zu sein: Selb-
ständige DaF-/DaZ-Lehrer haben den unsicheren Arbeitsplatz und verdienen im
Schnitt 70 % weniger als angestellte Lehrer im öffentlichen Schulwesen (BAMF
2009: 14). Diese Zahl bezieht sich zwar zunächst nur auf Lehrer in Migrations-
kursen, die allgemeinsprachliches Deutsch bis etwa zum Niveau B1/B2 unterrich-
ten, aber dürfte für Lehrer in anderen allgemeinsprachlichen Deutschkursen – die
größte Gruppe sind hier vermutlich die Lehrkräfte in der Studienvorbereitung –
nur tendenziell und nicht grundsätzlich besser aussehen.
Wer als Freiberufler ein einigermaßen ausbildungsadäquates Einkommen erzie-
len oder Einkommenssicherheit und -höhe verbessern will, muss sein Auftrag-
geber- ebenso wie sein Angebots-„Portfolio“ erweitern. Die einen DaF-Lehrer
unterrichten weitere Fremdsprachen, vor allem natürlich Englisch, sind dann aber
gegenüber den Native Speakern im Hintertreffen, die besonders begehrt sind und
meist höhere Stundensätze erzielen können, während ihnen im DaF-/DaZ-Bereich
dieser Status wenig nützt, weil es im Zielsprachenland verständlicherweise ein
Überangebot an deutschen Muttersprachlern gibt.
Eine andere naheliegende Erweiterung für DaF-/DaZ-Lehrer mit Studien-
abschluss ist häufig das weite Feld der Kommunikationstrainings, wo sie meistens
nicht nur in Konkurrenz zu Absolventen anderer philologischer Studienfächer, vor
allem der traditionellen Germanistik, stehen, sondern auch zu Psychologie, Erzie-
hungs- oder Kommunikationswissenschaftlern. Immerhin werden ganz andere
Stundensätze erzielt; Tagessätze von 500 EUR bis 1.000 EUR sind hier, zumindest
bei den sogenannten Inhouse-Trainings für Firmen und öffentliche Institutionen
normal und keineswegs das obere Limit. Auch wenn ein Kommunikationstrainer
im Schnitt vielleicht nur 5 bis 10 Trainingstage im Monat hat, ist er damit deutlich
besser gestellt als der Unterrichtende in Migrationskursen, der 30 UStd. pro Woche
leistet und das offiziell festgestellte Durchschnittshonorar von 18,35 EUR pro
UStd. erhält.
Von solchen Stundensätzen können Fremdsprachentrainer, auch wenn sie in
Firmenkursen arbeiten, in der Regel nur träumen. Es ist bezeichnend und leider
auch beschämend, dass Kolleginnen und Kollegen, die sowohl als DaF- als auch
als Kommunikationstrainer für Firmen arbeiten, es tunlichst vermeiden, beide
Kompetenzen in derselben Firma einzusetzen: „Wenn meine Kunden mitbekom-
men, dass ich auch als DaF-Lehrer arbeite, sehen sie mich nicht mehr als wirklich
kompetenten Kommunikationstrainer an, mein Honorar sinkt oder ich verliere gar
den Auftrag“ – so ähnlich lauten die Kommentare zu diesem Imageproblem des
DaF-Lehrers, das er mit den Kolleginnen und Kollegen, die andere Fremdsprachen
unterrichten, teilt. Warum freiberufliche „Lehrer“ zumindest in Deutschland ein
Deutsch für den Beruf als Arbeitsfeld für DaF-/DaZ-Lehrer 365
3 Was Beate Lindemann (2008: 243) über die Situation in Norwegen sagt („In Norwegen lernen
immer weniger Jugendliche Deutsch an den Schulen. Gleichzeitig besteht in vielen Bereichen der
norwegischen Wirtschaft ein großer Bedarf an Arbeitskraft mit Deutschkenntnissen“), ist ein Trend
in vielen Ländern.
4 So verlangt z.B. Hewlett-Packard in Sofia entsprechende Qualifikationen von seinen Mitarbeitern.
370 Matthias Jung & Annegret Middeke
Länder (2006: 21), wobei die Ausbildungswege, auf denen jene Bivalenz erreicht
werden kann, in einem Zweifachstudium und vor allem in Zusatzqualifikationen
gesehen werden (s. ebd.: 21-23). Doch sind gerade im Ausland solche Möglich-
keiten nicht immer gegeben und auch in Deutschland eher selten realisiert, da Phi-
lologen meist zwei Fremdsprachen oder Deutsch und eine Fremdsprache unter-
richten. „Um Studierenden die Möglichkeit zu bieten, Fächer aus verschiedenen
Wissenschaften zu kombinieren“, schreibt z.B. Renata Rozalowska-Żądło (2008:
268) über die Situation in Polen, „müssen die ministeriellen Vorschriften bezüglich
der Lehrerausbildung und das im Jahre 2005 verabschiedete Hochschulgesetz ge-
ändert werden.“
Für den deutschsprachigen Sachfachunterricht kommt erschwerend hinzu,
dass in den meisten Ländern das Deutsche nicht die erste, oft nicht einmal die
zweite Fremdsprache ist. Das bedeutet, dass eigentlich eine spezielle, sachfach-
bezogene Tertiärsprachendidaktik 5 mit entsprechenden Lehrmaterialien sowie
Lehreraus- und -fortbildungen entwickelt und angeboten werden müssten. An
vielen Schulen wie Hochschulen arbeiten deshalb Sprachdidaktiker und Fachlehrer
zusammen, sie planen Curricula gemeinsam und beraten sich gegenseitig bei der
Erstellung von CLIL-geeigneten Unterrichtsmaterialien. Findet eine solche Zu-
sammenarbeit nicht statt oder sind die Lehrer nicht zufällig von Hause auch in
dem anderen Fach ausgebildet, bleiben sie auf sich allein gestellt und sind damit
gezwungen, das nötige Wissen und die entsprechenden Vermittlungskompetenzen
in Eigeninitiative zu erwerben. Das ist, das entsprechende Interesse an dem jewei-
ligen Fach vorausgesetzt, bis zu einem gewissen Grad auch durchaus möglich und
kann über die Jahre zu einer recht passablen Sachkompetenz führen.
Im Fall der Vermittlung von berufsbezogenem Deutsch in Weiterbildungs-
maßnahmen für Arbeitskräfte, die bereits im Beruf stehen, kommt als ideale Quali-
fikation noch etwas hinzu: Neben der Sachkompetenz zählt vor allem die betrieb-
liche Erfahrung in den unterrichteten Berufen oder zumindest in einem organisa-
torischen, betriebswirtschaftlichen oder technischen ähnlichen Arbeitsfeld, je nach
der unterrichteten Zielgruppe. Das verbessert nicht nur generell die Akzeptanz des
Lehrers bei den berufstätigen Lernern, sondern erlaubt es auch, ohne Buch souve-
rän mit den sehr speziellen kommunikativen „Szenarien“ (s.u.) umzugehen, die
oftmals in der betrieblichen Weiterbildung zu vermitteln sind. Doch wie kann man
Erfahrung in den Berufen der Lerner erwerben, wenn man sie nicht bereits auf-
grund seines Lebenslaufs mitbringt?
Hier bleiben nur der Verweis auf Praktika oder gelegentliche Nebenjobs in der
Wirtschaft wie Übersetzen und Dolmetschen, Messejobs u.ä. sowie der Hinweis
auf Offenheit und Neugier, mit der der Firmentrainer von seinen Lernern und
Auftraggebern viel Wirtschaftstypisches erfragen und erkennen kann, speziell,
wenn er „inhouse“ arbeitet, d.h. das Training in der Firma am Arbeitsplatz selbst
durchführt. Auch schließen Lehrerweiterbildungen im Bereich Fachkommunika-
2007). Über die die Kombination verschiedener Deskriptoren lassen sich dann
berufsfeldspezifische Szenarien, meist mit Fertigkeitswechseln definieren, deren
Beherrschung in der Fremdsprache Deutsch dann im Firmentraining zu vermitteln
sind. 6
Im Unterschied zu anderen Verwendungsweisen des Begriffs „Szenario“ geht
es beim (Sprachhandlungs-)Szenario nicht um alternative zukünftige Entwick-
lungen und Risiken (z.B. Krisen- oder Umweltszenarien, falls A, B oder C eintritt).
Es ist auch kein „Drehbuch“, d.h. die einem Film, Buch oder ggf. auch einem
Lehrwerk zugrundeliegende nicht-sprachliche Handlungsfolge und Personen-
konstellation („Geschichte“), und schließlich sind damit keine „Lernszenarien“
gemeint, also Unterrichtssettings, die möglichst selbstbestimmtes und realitäts-
nahes Erfahrungslernen in der Klasse ermöglichen sollen. Im berufsorientierten
Unterricht macht ein Szenario-Begriff am meisten Sinn, der eine verkettete,
erwartbare Abfolge kommunikativer (Sprach-) Handlungen, meist mit Fertigkeits-
wechsel bezeichnet (vgl. Müller-Trapet 2010). Ein besonderer Vorteil von Szenari-
en ist darüber hinaus, dass in ihnen auch Lerner mit unterschiedlichen Sprach-
niveaus, wie sie im Kleingruppentraining in Firmen besonders häufig vorkommen,
authentisch miteinander kommunizieren können. 7
Zu erwerben sind diese Zusatzkompetenzen zwar in begrenztem Maße in einer
DaF-Aus- oder -Weiterbildung – ein Großteil der betreffenden, zertifizierenden
Angebote, seien es Studiengänge, Zusatzqualifikationen oder Fernstudien, die man
über das Wiki (Große; Middeke 2009) auf www.fadaf.de/wiki nachschlagen kann,
schließt auch entsprechende Module mit ein; aber schon aufgrund des mög-
licherweise hohen Spezialisierungsgrades im Firmentraining wird man als Lehrkraft
nicht umhin kommen, hier einiges an Eigeninitiative zu entwickeln und einschlägi-
ge Literatur zu lesen.
8 Das Lehrmaterialproblem
Was für den Weiterbildungsbedarf der Fach- und Berufssprachenlehrkraft gesagt
wurde, lässt sich auch auf die Lehrmaterialsituation übertragen: Gefragt ist Selbst-
hilfe. Die Nutzerzahlen bei fach- und berufssprachlichen Materialien sind im Ver-
gleich zu denen allgemeinsprachlicher Lehrwerke ungleich geringer und tendieren
in Extremfällen zur Einstelligkeit. Es ist wenig verwunderlich, dass Verlage ent-
sprechende Publikationen recht stiefmütterlich behandeln, nur große Themen wie
„Wirtschaftsdeutsch“, „Bürokommunikation“, „Handelskorrespondenz“, „Tech-
nik“ oder ggf. etwas spezialisierter „Tourismus“ und „Deutsch im Krankenhaus“
6 Wertenschlag; Müller (2007) etwa beschreiben die Konzeption und Planung eines so konzipierten
Trainings für die Staatliche Schweizer Eisenbahngesellschaft.
7 Der Szenario-Ansatz wird seit den späten 90er Jahren auch von einer Gruppe von Personalentwick-
lern aus der Wirtschaft, insbesondere beim Düsseldorfer Henkel-Konzern (Eilert-Ebke), verfolgt, die
in diesem Zusammenhang sogar ein spezifisches Fortbildungsangebot für Firmentrainer eingeführt
hat (vgl. http://www.cltc-corporate.de/ bzw. Jung; Eilert-Ebke 2007).
Deutsch für den Beruf als Arbeitsfeld für DaF-/DaZ-Lehrer 373
ins Programm aufnehmen und dann oft jahrzehntelang nicht mehr aktualisieren.
Noch geringer sind die Stückzahlen natürlich bei regionalisierten Lehrmaterialien,
die im Kontext eines Landes entstehen und in eine spezifische Ausgangskultur
eingebettet sind (sei es nur durch den Einsatz der Muttersprache bei den Anwei-
sungen). Typisch für die publizierten fach- und berufssprachlichen Lehrmaterialien
ist zudem, dass sie mit ganz wenigen Ausnahmen auf allgemeinsprachlichen Lehr-
werken aufsetzen, d.h. im Schnitt meist bei einem Niveau um A2 beginnen und
dann ggf. bis in den C-Bereich des GER führen.
Auch Online-Lehrmaterialien schaffen hier nur bedingt Abhilfe, aber immer-
hin gibt es mit DUO (www.deutsch-uni.com) ein fachlich breites und weiter
wachsendes Spektrum an fachbezogenen, studienbegleitenden DaF-Materialien für
den Hochschulunterricht. Es ist gewiss kein Zufall, dass diese Reihe (auf dem Ni-
veau C1) nur durch den massiven Einsatz öffentlicher Fördergelder möglich wur-
de. Allerdings sind sie ausschließlich für die Studienvorbereitung und -begleitung
gedacht, d.h. stark fachsprachlich und wenig berufssprachlich bei einer ausgepräg-
ten Orientierung an den Textsorten Fachartikel und Vorlesung konzipiert. Münd-
liche Kommunikationsformen und Szenarien im oben beschriebene Sinne kom-
men schon aufgrund der Begrenzungen des Mediums kaum vor.
Speziell im berufsorientierten DaF-/DaZ-Unterricht und am stärksten bei ei-
ner Firmentrainingsmaßnahme wird eine kompetente Lehrkraft nicht umhin
kommen, eigene Berufsfeldrecherchen – vor allem was typische Szenarien betrifft
– durchzuführen und entsprechende (Zusatz-)Materialien auf dem jeweils benötig-
ten Niveau zu entwickeln. Der Aufwand dafür ist nicht zu unterschätzen und wird
sich in der Regel nur lohnen, wenn man ähnliche Gruppen regelmäßig unterrichtet
oder wenn es sich um eine umfassende Trainingsmaßnahme für eine große Gruppe
handelt, bei der auch die Materialentwicklung mit finanziert wird. Andererseits hat
fast jede Lehrkraft im Laufe der Zeit einen kleinen Fundus an Arbeitsblättern,
Texten, Grafiken oder Abbildungen aufgebaut, die er zumindest als Zusatzmateria-
lien einsetzt. Dennoch bleiben diese Materialien meist Stückwerk und speziell der
Einsteiger in den fach- und berufsorientierten Unterricht wird große Schwierigkei-
ten haben, gute Materialien zu finden. Spätestens in einem hochwertigen, spezifi-
schen Firmentraining wird man sich von der Krücke Lehrbuch verabschieden
müssen.
10 Fazit
Es scheint wenig zweifelhaft, dass die Bedeutung des fach- und berufssprachlichen
Unterrichtens und damit der Bedarf an entsprechend ausgebildeten Lehrkräften
weiter steigen wird: in Deutschland weil nach allen demoskopischen Voraussagen
hoch qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben werden müssen.
Ganz wie auch Jugendliche mit Migrationshintergrund in der beruflichen Bildung
gilt es diese bereits ausgebildeten, häufig besonders spezialisierten Arbeitskräfte
schon aus ökonomischem Interesse der Arbeitgeber sprachlich optimal in ihrem
Arbeitsumfeld zu integrierten. Im Ausland wird der anhaltende Trend weg von
Deutsch als Teil einer fremdsprachlichen Allgemeinbildung und hin zu ökono-
misch verwertbaren beruflichen Qualifikationen (Middeke 2010) für verstärkte
Nachfrage nach entsprechenden Kompetenzen bei den Lehrkräften sorgen.
Für die Bedeutung derartiger Zusatzqualifikationen spricht aber nicht nur der
absehbar wachsende Bedarf: Kompetenzen im fachsprachlichen Unterrichten oder
berufsorientierten Training können zudem die Berufs- und Einkommenschancen
von DaF-/DaZ-Kräften erheblich verbessern, sei es bei der Stellensuche oder –
vor allem – als haupt- wie nebenberuflich selbständige Trainer. Besondere Qualifi-
kationen werden in der Regel mit einer besseren Entlohnung honoriert. Für Lehr-
kräfte im Inland sind diese Kompetenzen gerade als Freiberufler hauptsächlich
eine Möglichkeit, nicht qualifikationsangemessen bezahlte Jobs durch besser vergü-
tete Honorarstunden zu ergänzen oder zu ersetzen, aber können auch bei Bewer-
bungen um feste Stellen helfen. Im Ausland bessern sie die – etwa in Osteuropa –
im Vergleich zu anderen Berufen besonders niedrige Gehälter des öffentlichen
Bildungswesens durch Nebeneinnahmen auf. Spezifische oder anerkannte Qualifi-
kationen gibt es in diesem Bereich nur wenige, sie werden auch von den Arbeit-
und Auftraggebern meist noch zu wenig nachgefragt. Diese setzen stattdessen
überwiegend auf eine sich on-the-job scheinbar von selbst einstellende Erfah-
rungskompetenz. Einen Großteil der im vorliegenden Artikel dargestellten Fach-
qualifikation wird man sich also vorerst weiter autodidaktisch aneignen müssen,
wobei das Internet eine große Hilfe ist und neue Möglichkeiten bietet. Es bleibt
aber von den einschlägigen DaF-Institutionen (Jung; Wicke; Krumm 2010) zu for-
dern, dass sie insbesondere Zusatzqualifikationen entwickeln, die aus zeitlichen wie
finanziellen Gründen neben dem Beruf erworben werden können, und diesbezüg-
lich verlässliche Standards in der Lehrer- bzw. Trainerqualifikation setzen.
376 Matthias Jung & Annegret Middeke
Literatur
Akstinat, Björn (2009): Deutschsprachige Studiengänge weltweit. 6. Aufl. IMH-Verlag:
Köln.
BAMF (2009): Ramboll-Kurzgutachten zum Finanzierungssystem der Integrationskurse.
(http://www.integration-in-deutschland.de/SharedDocs/Anlagen/DE/
Integration/Downloads/Integrationskurse/Kurstraeger/Sonstiges/ramboll-
finanzierungsgutachten-2009.html) (30.01.2010).
Casper-Hehne, Hiltraud; Koreik, Uwe; Middeke, Annegret (2006) (Hrsg.): Die
Neustrukturierung von Studiengängen „Deutsch als Fremdsprache“. Probleme und
Perspektiven. Göttingen: Universitätsverlag.
DIHK (2007) (Hrsg.): Arbeitsplatz Europa – Sprachkompetenz wird messbar. Broschüre,
3. Auflage.
EVoQ (2003): European Vocational Qualifications Languages. Ein anerkanntes System für
die Zertifizierung von berufsbezogenen Kompetenzen in Fremdsprachen. Frankfurt/M.:
ICC o. J. (vgl. http://www.icc-languages.eu/evoqs.php) (02.03.2011).
Fomina, Sinaida (2010): Deutsch als Fachfremdsprache für russische
Bauingenieure und Architekten aus der Perspektive des Bologna-Prozesses. In:
Middeke, Annegret (Hrsg.): Entwicklungstendenzen germanistischer Studiengänge im
Ausland. Sprache – Philologie – Berufsbezug. Göttingen: Universitätsverlag, 119-130.
Funk, Hermann (2010): Berufsorientierter Fremdsprachenunterricht. In Krumm,
Hans-Jürgen; Fandrych, Christian: Hufeisen, Britta; Riemer, Claudia (Hrsg.):
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin; New
York: Mouton de Gruyter, 1145-1151.
Glaboniat, Manuela; Müller, Martin; Ruch, Paul; Schmitz, Helen; Wertenschlag,
Lukas (2005): Profile deutsch A1-C2. Lernzielbestimmungen, Kannbeschreibungen,
Kommunikative Mittel. München: Langenscheidt.
Große, Annika; Middeke, Annegret (2009): Die DaF-Wikis als Informations- und
Verbreitungsmedium. In: Casper-Hehne, Hiltraud; Middeke, Annegret (Hrsg.):
Sprachpraxis der DaF- und Germanistikstudiengänge im europäischen Hochschulraum.
Göttingen: Universitätsverlag, 229-234.
Haataja, Kim (Hrsg.) (2008): Curriculum Linguae 2007. Sprachenvielalt durch Integration.
Tampere: Juvenes.
Jung, Matthias (2007): Firmentraining: Trends, Erfahrungen, Tipps aus der
Wirtschaft. In: Kiefer, Karl-Hubert; Fischer Johann; Jung, Matthias; Roche,
Jörg (Hrsg.): Wirtschaftsdeutsch vernetzt. München: Iudicium, 37-50.
Deutsch für den Beruf als Arbeitsfeld für DaF-/DaZ-Lehrer 377
Band 85
Materialien
Deutsch als Fremdsprache