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Titel: Geheime Orte

Zwischen 06/03

Galgenberg und
Führerbunker
Ob ober- oder unterirdisch – in Berlin gibt es viele bekannte und manche unscheinbare Stätten, die den
Besucher in ihren Bann ziehen oder ihn das Fürchten lehren können. Ein Trip an geheime Orte, die
Geschichte schrieben.

Vielleicht hatte sie Geld und damit in unmittelbarer Nähe weist noch auf war, sind nicht nur die Särge in einem
Glück. Glück, dass der Scharfrichter die ehemalige Anhöhe hin. Und auf erstaunlich guten Zustand. Auch die
sie aufs Wagenrad band und ihr zuerst dem Platz, an dem früher Scheiter- Leichen mitsamt ihrer Kleidung sind
das Genick brach. Bevor er ihr mit haufen brannten und Galgen standen, noch erhalten. Bis vor einigen Jahren
einer Eisenstange jeden Knochen ein- befindet sich heute die katholische konnte man noch heimlich durch die
zeln zerschmetterte. Normalerweise St.-Sebastianskirche und ein Spiel- Fensteröffnungen in die Gruft hinab-
starben die Delinquenten erst nach platz. Ein paar Dutzend kommen steigen. Heute sind sie vergittert. Wohl
der Tortur mit der Eisenstange. Hen- sonntags aus den angrenzenden So- auch, um Scherze wie den von 1986
riette Meyer soll sich selbst zur Witwe zialbauten hierher. Und viele von zu verhindern. Damals klauten Unbe-
gemacht haben. Mit einem Fleisch- ihnen kennen eine besondere Spukge- kannte die „rote Else“, eine vor 150
schichte: Wer um Mitternacht an der Jahren verstorbene rothaarige Frau.
Viele Orte haben ihre Kirche vorbeikommt, sieht manchmal Und setzten die Mumie auf die Stufen
besondere ein flackerndes Licht. Dieses Licht
Vergangenheit. Sie kommt aus der Laterne der alten Arme wurden außerhalb
erzählen von Mord und Meyer, die aus ihrem Grab gestiegen verscharrt. Ein solcher
Totschlag und ist, durch die Kirche wandelt und Totenacker befindet
politischem Irrsinn dann nicht wieder in ihre Gruft zu- sich heute mitten im
rückfindet. Grunewald
messer. Und auf Gattenmord stand
die Todesstrafe. Hinrichtungen waren Tote und Mumien des U-Bahneinganges Klosterstraße.
ein ganz besonderes Spektakel. Tau- In Berlin gibt es viele Orte mit ganz Die Bestattung in einer Gruft kostete
sende zogen schon in den frühen Mor- besonderen Geschichten. Heimlichen viel Geld. Doch viele Berliner waren
genstunden zum Hohen Gericht, und unheimlichen. Sie erzählen von arm. Und wer sich den Tod nicht
Marketender boten Branntwein und Mord und Totschlag und von politi- leisten konnte, wurde auf einem Ar-
Likör an, Gaukler machten Späße. schem Irrsinn. Sie sind stumme Zeit- menfriedhof außerhalb der Stadt ver-
Häufig dauerten die makaberen zeugen der letzten Jahrhunderte. Und scharrt. Ein solcher Totenacker befin-
Volksfeste bis spät in die Nacht. Auch meistens läuft man unachtsam an det sich in einem der heute
am 2. März 1837 vergnügten sich die ihnen vorbei. Doch die Geheimnisse wohlhabendendsten Bezirke mitten
Massen rund um den Platz vor den und mitunter auch der Grusel erschlie- im Grunewald. Hier fanden seit 1897
Toren Berlins. Wie lange es dauerte, ßen sich häufig auf den zweiten Blick, Ausgestoßene wie schwangere Dienst-
bis „die alte Meyern“ auf dem Rad jenseits des hektischen Berliner All- mädchen, verschuldete Spekulanten
starb, ist nicht überliefert. Doch sie tags. Zum Beispiel in der Parochial- und Selbstmörder, denen die Kirche
war die Letzte, die auf dem Galgen- kirche in Mitte. Sie ist nicht nur wegen ein Begräbnis verweigerte, ihre letzte
berg öffentlich hingerichtet wurde. ihrer Kunst- und Klanginstallationen Ruhe. Zu den Selbstmördern gehörten
Heute heißt der Galgenberg Garten- bekannt. In ihrer Gruft wurden von auch fünf Russen, die vor der Okto-
platz und liegt mitten im Wedding. 1701 bis 1878 auch 556 Berliner berrevolution geflohen waren und
Auch an einen Berg erinnert hier bestattet. Und da es an diesem Toten- sich in der Havel das Leben nahmen.
nichts mehr – lediglich die Bergstraße ort über Jahrhunderte recht zugig An sie erinnern russisch-orthodoxe
Kreuze. Die meisten Grabsteine sind linge, die nur einen Kopf haben oder man ihn zu. Heute erinnert nur noch
heute verwittert und mit Efeu über- an der Brust zusammengewachsen der Name „Tunnelstraße“ auf der
wuchert. Nur ein Grab sticht mit sind, und deformierte Skelette. Stralauer Seite an Berlins ersten öf-
seinem schwarzen Marmorstein her- fentlichen Verkehrstunnel. Auch der
aus. Es ist die Nummer 82. Nico alias Verwaiste Tunnel Lindentunnel Unter den Linden ist
Christa Päffgen war gerade 18 Jahre Die dunklen, verborgenen und verbo- so ein ehemaliger Verkehrstunnel.
alt, als sie mit ihrer Mutter über die-tenen Orte befinden sich unterhalb Doch im Gegensatz zum Spreetunnel
sen Friedhof in Grunewald Forst ging von Berlin. In den Eingeweiden der kann man ihn noch heute sehen. Denn
und sagte: Hier will ich einmal begra- Stadt. Die Einstiege in das Gewirr im Bereich der einstigen Tunnelrampe
aus Tunneln und wurde 1994 die „Stille Bibliothek“
Der Bunker am Anhalter Bahnhof war B u n k e r n s i n d installiert. Mitten auf dem Bebelplatz
erst Flüchtlingslager, dann nicht nur geheim. schaut man durch eine Glasscheibe
Lebensmittellager des Senats Sie sind auch ge- in einen mit leeren Regalen versehe-
fährlich. Ohne nen Raum. Das Mahnmal erinnert
ben werden, neben dir. 1988 war es Führung ist man in dieser Unterwelt an die Bücherverbrennung der Nazis,
schließlich so weit. Die Sängerin von verloren. Hauptwasserkanäle verlie- die am 10. Mai 1933 auf diesem Platz
Velvet Underground hatte sich mit ren sich mal links, mal rechts im stattfand.
Alkohol und Drogen so zugrunde Dunkel, und kreuzende, schmale Sei- Andere Tunnel wurden illegal in den
gerichtet, dass sie einen Sturz vom tenkanäle lassen an der eigenen Ori- märkischen Sand getrieben. So etwa
Fahrrad nicht üherlebte. Noch Tage entierung zweifeln. Bei starken Re- 1929 von den Brüdern Erich und
nach dem Begräbnis sah der Fried- genfällen kann der Wasserpegel Franz Sass. Sie buddelten sich zum
hofswärter betrunkene Trauergäste innerhalb von Minuten bis zur Decke Safe der Berliner Disconto-Gesell-
zwischen den Gräbern liegen. Inzwi- anschwellen. Dieses Wasser hat im schaft in der Kleiststraße am Witten-
schen gibt es laut Friedhofsverwaltung unterirdischen Röhrensystem Spuren bergplatz durch und sackten 150.000
nur noch fünf Beisetzungen pro Jahr. hinterlassen. Stalaktiten tropfen von Reichsmark sowie Schmuck und
Aus Kostengründen lässt man den den Decken. Auch Ecken und Kanten Goldmünzen im Wert von zwei Mil-
Selbstmörderfriedhof auslaufen und gibt es hier unten nicht. Die Klinker- lionen Mark ein. Dieser Schatz liegt
wird in fünfzig Jahren die Gräber steine sind abgerundet. vermutlich noch immer irgendwo im
einebnen. Manche Tunnel sind verwaist oder Berliner Untergrund vergraben, denn
Aber Berlin hat auch weit weniger enden im Nichts – sind Relikte der das Geld wurde nie gefunden. Auch
verwunschene Orte für den Tod parat. bombastischen NS-Bauvorhaben für die Millionenbeute der „Zehlendorfer
Ohne Natur und Vogelgezwitscher. die „Welthauptstadt Germania“, zum Tunnelgangster“ blieb verschwunden.
Und nichts für schwache Nerven. Wer Beispiel unter dem sowjetischen Eh- Sie gruben 1995 einen 170 Meter
sich auf die Suche nach den Toten renmal in Tiergarten. Viele Pläne, langen Tunnel zu einer Filiale der
begibt, stößt unweigerlich auf die Akten und Dokumente, die Auf- Commerzbank in der Breisgauer Stra-
Charite, genauer auf die Pathologie. schluss über die Unterwelt gaben, ße in Schlachtensee, nahmen 17 Gei-
Dort sammelte Rudolf Virchow von verbrannten, wurden gestohlen oder seln und verschwanden mit dem Geld
1856 bis 1902 Staublungen, Hirntu- verschwanden nach dem zweitenWelt- auf demselben Weg, auf dem sie auch
more und Fettlebern in formalinge- krieg aus den Archiven. Zu den ver- gekommen waren – unterirdisch.
füllten Weckgläsern. Knapp 10.000 gessenen Tunneln gehört zum Beispiel Zwar ließ die Polizei. den Tunnel
pathologisch anatomische Feucht- der Spreetunnel. Vor rund hundert zügig zuschütten. Doch in der Poli-
und Trockenpräparate stapeln sich Jahren wurde er von Stralau nach zeihistorischen Sammlung in Tempel-
in den Glasvitrinen. Kindern ohne Treptow für die Straßenbahn gebaut. hof kann man das akkurat nachge-
Begleitung Erwachsener ist der Besuch Doch da die Fahrgastzahlen aufgrund baute Tunnelwerk noch heute
dieser Ausstellung verboten. Aber zunehmender Motorisierung sanken, bestaunen.
auch Schwangere sollten sich gut schloss man ihn 1932. Nur um ihn
überlegen, ob sie sich die komplette vier Jahre später für die Olympischen Unterirdische Bunker
Sammlung ansehen wollen. Denn in Spiele als Fußgängertunnel wieder zu Andere Tiefbauunternehmungen dien-
einer Vitrinenallee finden sich so ge- eröffnen. Mancher alte Berliner erin- ten der Spionage oder der Flucht von
nannte Missgeburten – Föten ohne nert sich noch an die unheimliche Ost nach West im Kalten Krieg. Von
Beine, Babys mit Wasserköpfen, ein- Betonröhre, von deren Decke Wasser 30 bekannt gewordenen Fluchtversu-
äugige Kleinkinder, siamesische Zwil- tropfte. In den 50er Jahren schüttete chen gelangen nur acht. Eine der
erfolgreichsten Tunnelfluchten fand ob man sie für die nächsten Genera- „Erschreckern“ – reale maskierte
vom 3. bis 5. Oktober 1964 statt. tionen erhält, steht noch aus. Vorerst Menschen, die aus dem Dunkeln ins
Insgesamt 57 Menschen quälten sich wächst über ihnen das Gras. Der Licht springen. Grusel nach Disney-
durch einen 150 Meter langen Stollen einzige, permanent für das Publikum land-Manier.
von der Strelitzer Straße im Osten bis geöffnete Luftschutzbunker befindet
zu einem Keller in der Bernauer Straße sich am Anhalter Bahnhof in der Der Schrecken anhand realer ge-
97. Schöneberger Straße. Der bombasti- schichtlicher Orte geht meist tiefer.
Und manche Tunnel enden auch vor sche Klotz war durch Tunnel mit dem Doch er erschließt sich erst mit dem
Bunkern. Etwa unter dem Alexander- Bahnhof verbunden, um Reisenden Wissen um den Schauplatz. Viele
platz in Mitte oder dem Moritzplatz und Anwohnern während der alliler- stadthistorische Führungen helfen,
in Kreuzberg. Alte Stromaggregate ten Bornbenangriffe durch seine bis die Vergangenheit lebendig zu halten.
und Fluchtschilder weisen noch heute zu viereinhalb Meter dicken Wände Auch Zeitzeugen. Und manchmal
den Weg. Manche stehen unter Was- Schutz zu bieten. Nach dem Krieg braucht man nur genau zuzuhören,
ser wie der Adlon Bunker unter dem diente er als Flüchtlingslager, später um auf Verborgenes zu stoßen. Etwa
Pariser Platz. Und viele wurden kurz als Lebensmittellager des Berliner wenn Eltern am Gartenplatz ihren
nach ihrer Entdeckung wieder zuge- Senats. Im untersten Geschoss des Kindern die Spukgeschichte der alten
schüttet wie der „Führerbunker“ oder dreistöckigen Bunkers findet sich Meyer erzählen. Nachts trifft man
der Bunker der Fahrbereitschaft Adolf noch heute eine Wandparole von Hit- hier niemanden. Denn mit Einbruch
Hitlers an der heutigen Ebertstraße, lers engstem Sekretär, Martin Bor- der Dunkelheit machen die Anwohner
nahe dem Brandenburger Tor. Für mann: „Richtet Eure Luftschutz- noch heute einen großen Bogen um
Aufsehen sorgten die fast vollständig bunker wohnlich ein.“ Der gleiche den ehemaligen Galgenberg.
erhaltenen Wandgemälde eines unbe- Bunker beherbergt auch Berlins mo-
kannten Malers der SS-Fahrbereit- dernstes Gruselkabinett. Mit kopflo-
schaft. Eine Entscheidung darüber, sen Rittern und professionellen Britta Geithe, Ulrich Zander

Die Hölle Fürsorge vorzugaukeln. Nun haben


die Filmemacher die Ergebnisse ihrer
die absurde Logik der NS-Bürokraten
bis hin zu Massenvergewaltigung und

unter Berlin
Recherche zu einem Dokumentarfilm Tod. Zum anderen sind da die Bilder
verdichtet, der von nicht weniger als der Bunkerruinen, deren betörende
vier TV-Anstalten koproduziert und Schönheit so gar nicht zu den scho-
Der Berliner Untergrund kommt von ebenso vielen Förderanstalten nungslosen Schilderungen passen mag
ins Kino. Die Dokumentation unterstützt wurde. „Bunker – Die – und die Wirkung des Gesagten ge-
„Bunker – Die letzten Tage“ letzten Tage“ nennt das Duo sein rade durch diesen Widerspruch ver-
erkundet die unterirdische Werk, das auf eine konventionelle stärkt. Nicht nur als Stilmittel sind
Reichshauptstadt. Mischung aus Propagandamaterial, diese Impressionen einzigartig: Viele
Wochenschauaufnahmen, lnterviews der Bunker, die Reuter und Hodge in
Jedes Thema findet früher oder später und nachgestellten Szenen setzt und ihrem Film verewigen, waren nur
seinen Autor. Wer zum Beispiel den trotzdem aus zwei Gründen bemer- wenige Tage geöffnet und wurden
Berliner Untergrund kennen lernen kenswert erscheint. danach abgerissen oder zugeschüttet.
will, kommt an Martina Reuter und Zum einen folgt „Bunker – Die letzten Ohne diesen Dokumentarfilm wäre
Gavin Hodge nicht länger vorbei. Tage“ dem neuesten Trend, das Leid die bizarre Pracht des Berliner Unter-
Zwölf Jahre lang sammelten die bei- der deutschen Zivilbevölkerung im grundes wohl für immer verloren
den dffb-Absolventen zunächst jeder Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt gewesen. Sven S. Poser
für sich, ab 1997 dann gemeinsam zu rücken. Dabei konzentriert sich
Informationen und bewegte Bilder der Film vornehmlich auf drei Über-
über das gigantische Bunkerlabyrinth, lebende, die Zeugnis über die kleinen
das die Nazis nach 1940 unter der Banalitäten und großen Grausamkei- Bunker - Die letzten Tage Deutschland
Reichshauptstadt anlegen ließen, um ten des Bunkeralltags ablegen – von 2002; Regie: Martina Reuter und Gavin
den Hauptstädtern Sicherheit und den ewig verstopften Toiletten über Hodge; Farbe, 85 Minuten.

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