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Erfolg durch Resonanz

Wolfgang Berger

Erfolg durch Resonanz


Die unternehmerische Genialität
entfachen: offen, human, mutig

4. Auflage
Wolfgang Berger
Karlsruhe, Deutschland Bernhard Schmidt
Voestalpine Langenhagen, Deutschland
Linz, Österreich

ISBN 978-3-8349-3366-9 ISBN 978-3-8349-7171-5 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5

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Springer Gabler
1.–3. Aufl.: © Gabler Verlag | Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler GmbH, Wiesbaden
1996, 1998, 2002, unter dem Titel „Business Reframing“
4. Aufl.: © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
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Vorwort zur 4. Auflage 5

Vorwort zur 4. Auflage


Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Die Entwicklung in die-
sem Jahrhundert verläuft schneller als die industrielle Revolution im 19.
und die informationstechnische Revolution im 20. Jahrhundert. Die alten
Regeln funktionieren nicht mehr, die neuen Regeln sind uns noch nicht
vertraut. Das Neue verunsichert uns. Viele mittelständische Unterneh-
mer kämpfen um ihren weiteren Erfolg oder gar um ihre Existenz.
Dieses Buch basiert auf „cutting edge research findings“ (brandneu-
en, aktuellen Forschungsergebnissen) naturwissenschaftlicher Diszipli-
nen und überträgt diese Erkenntnisse auf die Führung von Unternehmen
und Organisationen. Die Anregung dazu geht zurück auf eine vom Santa-
Fe-Institut New Mexico, USA, gestaltete Tagung zur Komplexitätsfor-
schung im Jahr 1995. Unternehmensführer, Naturwissenschaftler und
Philosophen aus allen Kontinenten haben dort miteinander diskutiert,
um in Anbetracht neuer Herausforderungen voneinander zu lernen.
Danach – 1996 – hatte ich einen Forschungsaufenthalt in den USA.
Dort sind die wissenschaftlichen Grundlagen entstanden, die ich hier in
zehn Kapiteln darlege und immer mit Geschichten aus dem Leben ver-
binde – meist eigenen Erfahrungen und Erlebnissen, die unter die Haut
gehen. Zurück in Deutschland auf meinem Lehrstuhl für Betriebswirt-
schaftslehre haben die neuen Erkenntnisse die Studenten fasziniert und
regelmäßig das Auditorium Maximum gefüllt, bei einigen meiner Kolle-
gen aber Kopfschütteln ausgelöst.
Die erste Auflage dieses Buches ist von „Global Business Book
Awards“ als bestes praxisorientiertes Managementbuch nominiert und
in der Financial Times, dem Spiegel, der Frankfurter Allgemeinen, sowie
vielen Branchen- und Fachzeitschriften gewürdigt worden. Engagierte
Leser – unter ihnen Ursula Gérard, Siegfried Hoffmanng, Dr. David Nor-
ris, Walter Saileg, Dietmar Schrey, Dr. Klaus Weyler und Ulrich Zim-
mermann – haben gemeint, was ich da erkläre, solle man nicht nur
schreiben, sondern auch tun. Unter dem in den USA entstandenen Na-
men „Business Reframing“ (der inneren Neuausrichtung von Unterneh-
men) haben sie in 1997 ein Institut gegründet und gemeinsam mit mir
Methoden der praktischen Umsetzung entwickelt und erprobt.

ȱ
6 Vorwort zur 4. Auflage

Die dritte Auflage präsentiert Praxisbeispiele aus der Umsetzung zu


jedem Kapitel und die vorliegende vierte Auflage zeigt dem Leser die
ganze Breite konkreter und eindrucksvoller Ergebnisse, die möglich
werden, wenn Unternehmer die Lektionen dieses Buches umsetzen. Die
Partner der „ohm-Resonanzschmiede für Unternehmen“ – unter ihnen
Dipl.-Ing. Friedhelm Amsel, Dipl.-Ing. Sabine Bürkle, Birgit Graf, Dr. rer.
nat. Klaus Schenck und Andrej Schindhelm – vermitteln Unternehmern
eine wichtige Erkenntnis: Kunden kaufen keine Produkte; sie kaufen das
Motiv, das hinter dem Produkt und seiner Geschichte steht; sie kaufen
die Antwort auf das „Warum“ eines Angebots.
„ohm“ hat eine doppelte Bedeutung: In der Physik beschreibt das
ohmsche Gesetz einen Zusammenhang zwischen der elektrischen Span-
nung und der Stärke des fließenden Stroms. Im Unternehmen herrscht
Spannung wenn Mitarbeiter der Organisation mit innerem Widerstand
begegnen. Die ohm-Resonanzschmiede löst diesen Widerstand durch
Resonanz auf; mehr Energie kann fließen und nach außen dringen; das
Unternehmen wird attraktiv für qualifizierte Mitarbeiter, für Kunden
und für Lieferanten.
„o“ steht aber auch für „offen“: In der Arbeit der Resonanzschmiede
gibt es keine Tabus. Sogar die Frage nach dem, was unmöglich ist, wird
gestellt. „h“ steht für „human“: In jedem Menschen verstecken sich be-
sondere Fähigkeiten und kraftvolle Antriebe; wir brauchen sie nur aus
ihrem Versteck herauslocken. „m“ steht für „mutig“: Unternehmer, die sich
auf die Arbeit mit der Resonanzschmiede einlassen, brauchen Mut; sie
stellen sich der härtesten Realität im Unternehmen – dem was die Mit-
arbeiter über das Unternehmen und ihre Vorgesetzten denken; sie lassen
sich auf einen Weg ein, auf dem nicht alles planbar ist. Martin Luther King,
hat in der Geschichte der Vereinigten Staaten tiefere Spuren hinterlassen
als jeder Präsident. In einer großen Rede hat er nicht gesagt „I have a plan“
(ich habe einen Plan), sondern „I have a dream“ (ich habe einen Traum).
Die Halbwertszeit der Managementmethoden und -torheiten, die un-
sere Unternehmen überrollen, wird immer kürzer. Managementmetho-
den werden zur Mode – nicht in der lateinischen Bedeutung „modus“ (das
rechte Maß einer Zeit), sondern im Sinne von Abwechslung, wie bei Klei-
dern oder Kaffeetassen. Dabei ist Substanz von elegant etikettierter
Verpackung schwer zu unterscheiden.
Vorwort zur 4. Auflage 7

Die ohm-Resonanzschmiede führt keine neue Mode oder Methode in


die Unternehmen ein. Die naturwissenschaftlichen Grundlagen haben
das Tor zur Weisheit wieder eröffnet, die ewig gilt. Die praktischen Emp-
fehlungen sind keine Theorie; in fünfzehn Jahren haben sie sich in vielen
mittelständischen Unternehmen bewährt. In der Einleitung sind einige
Beispiele dargestellt.
Geld ist der Treibstoff im Motor der Unternehmen; gezündet wird er
mit Ideen. Nachhaltige Existenzsicherung ist heute mit Innovations-
kraft verbunden. Innovationen entstehen, wenn Mitarbeiter offen sein
können, human behandelt werden und mutig neue Wege gehen dürfen.
Wenn diese Bedingungen gegeben sind, können wir das als „artgerechte
Menschenhaltung“ bezeichnen, die auf dem aufbaut, was alle Menschen
sich wünschen:
– Wir wollen geliebt und anerkannt werden;
– Wir wollen über uns selbst bestimmen und
– Wir suchen einen Sinn hinter dem, was wir tun.
In jedem Atom spiegelt sich das ganze Universum, und in jedem Mit-
arbeiter spiegelt sich das ganze Unternehmen.
Wolfgang Berger
ohm – Die Resonanzschmiede für Unternehmen
www.resonanzschmiede.de
[email protected]

ȱ

Vorwort zur 1. Auflage 9

Vorwort zur 1. Auflage


„Albert Einsteins gefeierte Gleichung sagt uns, wie wir mit Hilfe der
Lichtgeschwindigkeit jeder Masse einen Energiewert zuordnen können“,
doziert Murray Gell-Mann, Teilchenphysiker und Nobelpreisträger, der
für Jahrzehnte die Forschungsthemen der Physik dominiert.
„Rock ’n’ Roll, Dinosaurier und Innovationen nennt Tom Peters das in
seinen berühmten Schimpforgien“, meint mein Tischnachbar von Ciba-
Geigy unter Anspielung auf dessen Managementtrainings-Show „Tea-
ching Elephants to Dance“ (Elefanten das Tanzen beibringen).
„Der Tanz von Elementarteilchen und Molekülen schafft Materie und
Leben, die Bewegung von Lebewesen und Gestirnen schafft Evolution,
und das Tempo der Explosion des Universums schafft Komplexität“,
bestätigt Francisco Varela, Neurologe und Forschungsdirektor der École
Polytechnique de Paris (Technische Universität von Paris).
„Komplexitätsmanagement verbindet die Neurologie mit der Physik“,
erkennt Mary Cirillo, Vizepräsidentin von Citicorp: „Bei unserem Tempo
entspricht jeder Energiewert einer bestimmten Masse – einem bestimm-
ten Gewinn.“
„Tempo ist das Entscheidende“, zitiert ein McKinsey-Partner Eberhard
von Kuenheim, den Aufsichtsratsvorsitzenden von BMW: „nicht die
Großen besiegen die Kleinen, sondern die Schnellen fressen die Lang-
samen.“
„Es geht nicht ums Fressen“, kontert Howard Sherman, Philosophie-
professor und Präsident der Dion Corporation, „es geht um unsere Ent-
wicklung. Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, wir entwickeln sie
täglich weiter.“
„Dabei kann Tempo aber Wunder produzieren“, sagt John Holland, In-
formatiker an der Universität von Michigan: „Wenn ein Affe mit Lichtge-
schwindigkeit an einer Tastatur herumspielt, kommen dabei irgendwann
zufällig die Werke von Shakespeare heraus.“
„In New Mexico haben wir einen Affen gezüchtet, der schon nach vier
Wochen an der Tastatur die gesammelten Werke von Shakespeare re-

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10 Vorwort zur 1. Auflage

produziert hat“, schmunzelt Christopher Langton, Biologe und Leiter des


Forschungsprogramms Künstliches Leben am Santa-Fe-Institut. Und er
fügt hinzu: „Wir haben ihn getötet, weil das nicht sein darf.“
„Um Himmels willen, warum haben Sie das getan?“ ruft der Admiral
der United States Air Force, „Sie hätten ihn an uns verkaufen können!“
„Ein Affe hätte Ihre Probleme nicht gelöst“, beruhigt Arie de Geus,
ehemaliger Shell-Direktor, „auch er kennt den richtigen Weg nicht.“
Und dann zitiert David Whyte, Poet und Berater des Boeing-Vor-
stands, einen Satz aus seinem neuen Lyrikband, der mich seitdem ver-
folgt: „There is no path. You lay down a path in walking.“ (Einen Weg gibt
es nicht. Wenn wir gehen, breiten wir den Weg vor uns aus.)
Dies ist eines von vielen Gesprächen, die Manager aus allen Teilen der
Welt mit Naturwissenschaftlern und Philosophen geführt haben: auf der
„London Conference on Complexity and Strategy“ (Londoner Komplexi-
täts- und Strategietagung) im Mai 1995. Meine Aufzeichnung ist ein
Gedächtnisprotokoll, fast ein Jahr später erstellt. Ich kann nicht garan-
tieren, dass die Zitate präzise und den einzelnen Teilnehmern immer
korrekt zugeordnet sind.
Nach der Tagung habe ich einen halbjährigen Forschungsaufenthalt
in den Vereinigten Staaten vorbereitet. Aktuelle Forschungsergebnisse
der Neurologie, der Physik, der Philosophie, der Linguistik und der Bio-
logie versöhnen den Rationalismus mit der Mystik. Auf der Grundlage
dieser neuen Erkenntnisse muss das Management radikal verändert,
ganz neu erfunden werden.
Die Kernaussagen dieser Revolution sind in zehn Thesen verpackt, die
der herrschenden Lehre widersprechen und zur Auseinandersetzung
einladen – oder zur Besinnung. Jeder These ist ein Kapitel gewidmet.
Lake Tahoe, Sierra Nevada, USA, im August 1996 Wolfgang Berger

Inhalt 11

Inhalt
Vorwort zur 4. Auflage ........................................................................................................5

Vorwort zur 1. Auflage ........................................................................................................ 9

Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft ...................... 13

1 Managementmoden sind Modekrankheiten ........................................... 19


PRAXISBEISPIEL 1: Das Problem................................................................................... 39

2 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg ................................................ 41


PRAXISBEISPIEL 2: Der Unternehmertag ................................................................... 61

3 Unternehmen sind nicht für den Markt da............................................. 67


PRAXISBEISPIEL 3: Die Vorbereitung ......................................................................... 87

4 Erfahrung ist nicht übertragbar ................................................................ 91


PRAXISBEISPIEL 4: Das Projektteam ...........................................................................111

5 Sachkonflikte gibt es nicht....................................................................... 115


PRAXISBEISPIEL 5: Missionsworkshop ..................................................................... 125

6 Organisatorische Macht ist wirkungslos ..............................................129


PRAXISBEISPIEL 6: Coaching „Commitment“ ......................................................... 149

7 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie ......................... 153


PRAXISBEISPIEL 7: Change-Management-Workshop ............................................ 172

8 Mitarbeiter sind Resonanzkörper ........................................................... 177


PRAXISBEISPIEL 8: Coaching Implementation........................................................ 197

9 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke .............................................. 199


PRAXISBEISPIEL 9: Konsolidierungsworkshop ....................................................... 219

10 Visionen wirken stärker als Dynamit .................................................... 225


PRAXISBEISPIEL 10: Das Schlussgespräch .............................................................. 235

ȱ
12 Inhalt

Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung...................................................... 237

Literatur ...............................................................................................................................243

Der Autor............................................................................................................................. 265



Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft 13

Einleitung: Verantwortung – das Maß für


Gestaltungskraft
Wenn die beruflichen Anforderungen immer schwieriger werden, wenn
24 Stunden am Tag nicht ausreichen, um die Erwartungen von Kapital-
gebern, Kunden, Vorgesetzten, Mitarbeitern und der Familie zu erfüllen,
dann holen Sie einen leeren Blumentopf und einige Steine aus dem Gar-
ten. Füllen Sie den Blumentopf mit den Steinen bis er voll ist.
Ist der Topf wirklich voll? Wenn Sie Kieselsteine an einem nahen Bach
suchen, werden Sie sehen, dass er noch nicht voll ist. Sie können die
Kieselsteine in den Topf schütten und ihn sacht bewegen, so dass sie in
die Leerräume zwischen den Steinen rollen.
Ist der Topf jetzt voll? Gehen Sie zu einem Spielplatz, füllen Sie eine
Dose mit Sand und schütten sie diese in den Topf. Der Sand wird den
kleinsten verbliebenen Freiraum füllen.
Glauben Sie, dass der Topf jetzt endlich voll ist? Nehmen Sie eine Fla-
sche Bier aus dem Kühlschrank und schütten Sie den ganzen Inhalt in
den Topf. Die Flüssigkeit füllt auch den letzten Raum zwischen den
Sandkörnern aus.
Dieser Topf ist Ihr Unternehmen. Die großen Steine sind die wichtigen
Dinge: Die Menschen im Unternehmen, der Respekt, mit dem sie gesehen
und behandelt werden, die Entwicklungschancen, die jeder von ihnen
bekommt, die Freude, die die Arbeit in diesem Unternehmen ihnen berei-
tet. Und wenn die Welt einmal untergeht, werden diese Menschen sie neu
erschaffen.
Die Kieselsteine stehen für den betrieblichen Alltag: Die Investitio-
nen, der Verkauf, die Aufträge und ihre Abwicklung, die Arbeitsabläufe,
die Kontrolle der Qualität, die Sorgfalt, mit der alle laufenden Aufgaben
erledigt werden.
Der Sand symbolisiert die Kleinigkeiten: Die Ausstattung der Produk-
tionshallen, Räume und Arbeitsplätze, das Intranet, Gestaltung und
Betrieb der Kantine, die Parkplätze, die Gebäude und Fassaden etc.
Wenn Sie den Sand zuerst in den Topf geben, passen die Kieselsteine

ȱ
14 Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft

nicht mehr hinein, und die großen Steine auch nicht. Wenn Sie Aufmerk-
samkeit, Zeit und Energie im Unternehmen mit Nebensächlichkeiten
vergeuden, haben die wichtigen Dinge keinen Platz mehr.
Nehmen Sie die Dinge wichtig, welche die Arbeitsfreude der Menschen
im Unternehmen gefährden könnten: Gehen Sie mit jedem respektvoll
um, fördern Sie jeden in seiner Entwicklung und stellen Sie sicher, dass
die meisten gern zur Arbeit kommen und Spaß dabei haben. Dann wird
der betriebliche Alltag nicht zur Maloche, sondern zu einem Erlebnis für
alle, das setzt Innovationskräfte frei, die Ihre Vorstellungskraft spren-
gen. Setzen Sie Prioritäten. Der Rest ist nur Sand.
Fragen Sie sich, wofür das Bier jetzt noch steht? Es zeigt Ihnen, dass –
egal wie aufreibend der Alltag auch sein mag – immer noch Platz für ein
oder zwei Bierchen ist.
Mit diesen einfachen Grundsätzen hat die ohm-Resonanzschmiede für
Unternehmen in jeweils sehr kurzer Zeit – manchmal in nur wenigen
Tagen – erstaunliche Ergebnisse ausgelöst. Hier einige Beispiele:
– Ein Hersteller von Büromöbelkomponenten war im Würgegriff seiner
großen Kunden, die ihm Bedingungen und Preise diktierten. Die
Nachkalkulation ergab bei fast jedem Auftrag einen Verlust, das Ende
war absehbar. Die Vision des Unternehmers war es, die Abhängigkeit
von seinen Großkunden umzukehren. Das zuvor Undenkbare ist in-
nerhalb von zwei Jahren gelungen. Umsatz und Mitarbeiter haben sich
verdreifacht, ein weiteres Werk im europäischen Ausland wurde er-
richtet.
– Einem Präzisionsteilehersteller war der größte Kunde mit der Hälfte
seines Umsatzes plötzlich weggebrochen. Bei Kurzarbeit optimierte
die Belegschaft die Prozesse, verbesserte die Qualität und führte
wirksame Kontrollen für jeden Schritt der Wertschöpfungskette ein.
Nach drei Jahren kam der Großkunde, der fristlos gekündigt hatte, zu-
rück. Der Umsatz mit ihm wurde seitdem noch größer und viele neue
Kunden kamen hinzu. Der Umsatz vervierfachte sich, die Zahl der
Mitarbeiter verdoppelte sich.
– Eine Beratungsgesellschaft drohte auseinanderzubrechen. Streitig-
keiten zwischen Mitarbeitern, Partnern und Gesellschaftern gefähr-
Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft 15

deten die Existenz. In einem 2½tätigen Zukunftsworkshop wurden


die tieferen Gründe für die Auseinandersetzungen und Anfeindungen
offengelegt und bearbeitet. Die Luft war rein, die zersetzenden Rivali-
täten sind solidarischer Kooperation gewichen, die Gesellschaft hat
Bestand und wird weitergeführt, die Geschäftsentwicklung seitdem
ist positiv.
– Die Motivation der Belegschaft eines Handwerksbetriebs war auf dem
Nullpunkt. Jeder einzelne Auftrag war das Ergebnis eines mörderi-
schen Preiskampfs, es konnten nur niedrige Löhne gezahlt werden
und die Betriebsausstattung beschränkte sich auf das unbedingt
Notwendige. Zwei Lehrlinge wurden zu polizeilichen Vernehmungen
vorgeladen – ihr Frust hatte sie kriminalisiert. Eine inspirierende In-
novation änderte alles schlagartig. Der Betrieb geriet in den Fokus ei-
ner staunenden öffentlichen Aufmerksamkeit und verfünffachte sei-
ne Umsatzrentabilität.
– Bei der Übernahme eines mittelständischen deutschen Unternehmens
durch einen französischen Konzern entluden sich die unterschiedli-
chen Unternehmenskulturen in Spannungen, Machtkämpfen und un-
terschwelliger Obstruktion. Die Akquisition drohte zu einem Flop zu
werden. In mehreren Workshops wurden die unbewussten Vorurteile
erkannt und abgebaut, Verständnis füreinander entwickelt und die
wechselseitige Wahrnehmung durch einfache Regeln neu gestaltet.
Das ermöglichte eine zukunftsfähige und konstruktive Zusammenar-
beit.
– Die Tochtergesellschaft eines Energiekonzerns wollte sich von den
rigiden und aus ihrer Sicht sinnlosen Vorgaben der Muttergesell-
schaft emanzipieren. Das bis dahin brach liegende Potenzial hochqua-
lifizierter Ingenieure erblühte und ließ eine technische Innovation
gedeihen, die dem Unternehmen einen kaum einholbaren Vorsprung
auf dem Markt sicherte. Entwicklungsingenieure konnten frei von bü-
rokratischen Vorgaben denken und arbeiten, der technische Fort-
schritt hat einen Schub erfahren.
– Uneinigkeit in der Geschäftsführung hat auch die Belegschaft gespal-
ten und einen Systemraumhersteller an den Rand seiner Existenz ge-
bracht. Das Ende war sichtbar nahe; die Mitarbeiter und Führungs-

ȱ
16 Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft

kräfte fürchteten um ihre Arbeitsplätze in einer Kleinstadt. In drei


Workshops mit den Führungskräften und einem großen Teil der Be-
legschaft wurde das unmittelbare Führungsvakuum gelöst und die
neue Besetzung der Geschäftsführung auf mittlere Sicht im Einver-
nehmen mit allen geplant. Wenige Jahre später war das Unternehmen
bereits Marktführer in den beiden wichtigsten Produktgruppen – eine
Position, die es zuvor noch nie erreicht hatte.
– Eine meiner früheren Studenten hat ein Softwarehaus gegründet. Mit
den ersten wenigen Mitarbeitern entwickelten wir die Vision für die
ersten Jahre. Nach zwei Jahren was all das erreicht; es ging um eine
neue strategische Ausrichtung. Resonanz-Workshops etwa alle zwei
Jahre haben das Unternehmen zu einem Cloud Computing Spezialis-
ten gemacht, mit von Microsoft und SAP zertifiziertem Rechenzent-
rum und mit eigenen Produkten. „kununu“ hat das Unternehmen als
„Top Company“ ausgezeichnet. Mehr als die Hälfte der DAX-
Unternehmen gehören zu seinen Kunden. Die Ertragslage ist ausge-
zeichnet.
– Der Gründer eines Unternehmens in einem hart umkämpften Markt –
der Verpackungsindustrie – war jung und erfolgreich, er erwirtschaf-
tete einen befriedigenden Gewinn. Er hatte das Gefühl zu jung zu sein,
um sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen und wollte seine Grenzen
erfahren. In einer halbjährigen Zusammenarbeit wurde ein Umfeld
geschaffen, das die besten Fachleute auf dem Markt anzog. Umsatz
und Belegschaft im deutschen Mutterhaus haben sich seitdem ver-
doppelt, ein weiterer Standort im benachbarten Ausland wurde mit
Innenfinanzierung aufgebaut und der Gewinn wuchs weiter.
– Ein Konzern konnte seine Druckerzeugnisse extern günstiger bezie-
hen als von der konzerneigenen Druckerei. Er wollte die Druckerei
schließen und ihren Mitarbeitern betriebsbedingt kündigen. Die Dru-
cker haben ein „staff buy out“ erreicht (eine Übernahme der Druckerei
durch die Belegschaft). Der Konzern hat ihnen den Maschinenpark
zum Buchwert verkauft, sie haben eine Scheune auf dem Land gemie-
tet, dort alles selbst installiert und mit Visions- und Zukunftswork-
shops die weitere unternehmerische Entwicklung erfunden. Die Füh-
rungsfrage wurde im Konsens gelöst, ein neues Werk und
Erweiterungsinvestitionen wurden ohne Fremdkapital finanziert. Das
Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft 17

Unternehmen im Besitz der Belegschaft ist heute – einige Jahre später


– die vielleicht rentabelste Druckerei in ganz Europa.
Der Hersteller von Büromöbelkomponenten hat Verantwortung für seine
unternehmerische Zukunft übernommen. Bei dem Präzisionsteileher-
steller hat die gesamte Belegschaft Verantwortung für die Qualität ihrer
Produkte übernommen. In der Beratungsgesellschaft war jeder verant-
wortlich dafür, die einfachen Regeln einer solidarischen Kooperation zu
beachten. In dem Handwerksbetrieb wollten die Mitarbeiter ihre Lehr-
linge mit der Verantwortung der Älteren vor strafrechtlicher Verfolgung
bewahren. Nach der Akquisition waren beide Seiten verantwortlich für
die Gestaltung einer gemeinsamen Unternehmenskultur. Die techni-
schen Experten der Tochtergesellschaft eines großen Energiekonzerns
haben sich nicht hinter den Vorgaben des Mutterhauses versteckt, son-
dern die Entwicklung ihres Aufgabengebiets verantwortlich gestaltet.
Die Belegschaft des durch eine uneinige Geschäftsführung gelähmten
Systemraumentwicklers hat Verantwortung für die Zukunft des Unter-
nehmens und der eigenen Arbeitsplätze übernommen. Der Softwareun-
ternehmer war verantwortlich für die Entwicklung einer technisch inno-
vativen Zukunft, von der Kunden profitieren. Der junge und erfolgreiche
Unternehmer der Verpackungsindustrie hat sein weiteres Leben und die
vor ihm liegenden Erfahrungen verantwortungsvoll in seine Zuständig-
keit verlagert. Die Belegschaft der stillgelegten Druckerei hat ihr
Schicksal selbst in die Hand genommen.
Verantwortung von jedem für das Ganze ist der Schlüssel zum Erfolg.
Wer sie übernimmt, zieht die Gestaltungskraft an, welche die Entwick-
lung nach seinen Vorstellungen prägt; er wird zum Magneten für das,
was er will. Die konsequente Verankerung der persönlichen Verantwor-
tung für das Ganze bei jedem einzelnen Mitarbeiter ist eines der großen
Geheimnisse, welches Unternehmen den Weg zum Erfolg weist.
Verantwortung ist das Maß für Gestaltungskraft. Wer sich vor ihr
drückt, ist ein Knecht – er wird zum Werkzeug für die Spiele der Meister.
Wer Verantwortung übernimmt, ist ein Meister; er setzt die Arbeit an der
Schöpfung fort. Für die Zukunft unserer Unternehmen ist es entschei-
dend, dass viele ihrer Mitarbeiter und Führungskräfte Meister werden.
Es geht darum, den Prozess zu diesem Ziel mit großer Rigorosität in
Gang zu setzen und die Energie zu halten, die ihn trägt.

ȱ
18 Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft

Sie können die Verantwortung für Ihr Unternehmen übernehmen, die


praktischen Lektionen dieses Buches beherzigen und umsetzen und
damit zum Schöpfer einer Zukunft werden, die Ihr Werk ist. Viele Unter-
nehmer, die dieses Buch gelesen und verarbeitet haben, haben das getan
und ganz allein hinbekommen. Sie können sich dabei aber auch von
„Resonanzschmieden“ unterstützen lassen; das erhöht die Chance, dass
es funktioniert.
Eines aber sollten Sie wissen: Wenn Sie einen Lichtschalter bedienen
wollen, brauchen Sie nicht zu verstehen, was Elektrizität ist und wie sie
funktioniert. Die praktische Umsetzung der Lektionen dieses Buches ist
einfach; seit 1½ Jahrzehnten hat sie sich vielfach bewährt. Es nicht not-
wendig, dass Sie die theoretischen Grundlagen und Hintergründe ver-
stehen, die in den einzelnen Kapiteln erklärt und mit Beispielen erläu-
tert werden; es funktioniert trotzdem.
Vielleicht warten Sie am Schluss dieser Einleitung noch auf eine De-
finition von dem, was „ohm“ eigentlich ist und was die Resonanzschmie-
de tut. Darf ich es mit Jacob Viner halten? Als er gefragt wird, was Öko-
nomie ist, wird er verlegen und antwortet: „Ökonomie ist das, was die
Ökonomen treiben“. Ich möchte an diesen Gedanken anknüpfen, ihn
erweitern und – endlich – definieren: Die Arbeit der ohm-Resonanz-
schmiede für Unternehmen – die Verankerung von Weisheit in Unter-
nehmen – ist das, was durch dieses Buch geschieht.

Managementmoden sind Modekrankheiten 19

1 Managementmoden sind
Modekrankheiten
Zu alten Zeiten regierte der mächtige König Agram ein großes Reich.
Sein Volk lebte in Frieden, Freiheit und Fülle. Eines Tages fiel Agram
vom Pferd und brach sich beide Beine. Den Ärzten gelang es nicht, die
Brüche so zu heilen, dass Agram ohne Krücken laufen konnte. Da verlor
er alle Lebensfreude und vernachlässigte die Staatsgeschäfte. Eine Ver-
sammlung der Ältesten beschloss deshalb, aus Solidarität mit dem König
für jedermann das Gehen an Krücken vorzuschreiben.
Im Laufe der Jahre wurde das Krückengehen so normal, dass es dem
Volk seine Identität gab und sich nur noch wenige ein Leben ohne Krü-
cken vorstellen konnten. Diese wenigen begannen zu ahnen, dass nur der
glücklich sein kann, der die Krücken wegwirft und lernt, auf zwei Beinen
zu laufen. Die Sehnsucht nach einer noch unbekannten Freiheit läutete
ein neues Zeitalter ein, in dem das Krückengehen durch eine neue Dis-
ziplin abgelöst wurde: „leanes“ Laufen.
Die Ökonomie stellt den westlichen Managern ein überschaubares
und handhabbares Krückenarsenal zur Verfügung, mit dem diese laufen
und ihre Unternehmen führen können. Die Produktionsprozesse sind
optimiert, das Marketing ist professionell, das Controlling schaut hinter
die Kulissen, Personalpolitik und Organisation sind schlagkräftig, die
Unternehmensstrategie weist in die Zukunft.
Und dann kommen asiatische Unternehmer und erzielen bei ähnlicher
Qualität und vergleichbarem Personalkostenanteil einen Kostenvorteil
von etwa 40 Prozent. Die im Jahre 1990 veröffentlichte Untersuchung
der weltweiten Autobranche durch das Massachusetts Institute of Tech-
nology wirbelt die satte westliche Welt durcheinander.
In Amerika und Europa werden die Krücken nun so stabil gebaut, dass
die Mitarbeiter damit tanzen können. Innerhalb von fünf Jahren holt der
Westen den Osten ein. Die von John P. Kotter hierfür intonierte Melodie
„The Management of Change“ (Das Management von Veränderungen)
verkürzt die Halbwertszeit von Rezepten zur Anpassung der Unterneh-

ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_1,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
20 Managementmoden sind Modekrankheiten

men an veränderte Bedingungen. Mode kehrt in das Management ein –


im Sinne neuer Farben und Formen, Töne und Tänze, Riten und Rochaden:
– Gemeinkostenwertanalyse, – Entrepreneurial Manage-
ment,
– Lean Production,
– Lernende Organisation,
– Complexity Management,

– Just-in-Time-
– Schnittstellenmanagement,
Prozessorganisation, – Performance Improvement,
– Kaizen, – Schnittstellenmanagement,
– Systemischen Management, – Emotionale Effizienz,
– Evolutionäres Management, – Human Capital Management,
– Business Reengineering, – Human Performance
Improvement,
– Komplementäres Manage-
ment, – Management der drei Hori-
zonte,
– Total Quality Management,
– Fraktale Organisation,
– High Speed Navigation,

– Empowerment,
– Organizational Learning,

– Dialog-Management,
– Customer Value Manage-
ment,
– Generatives Management,
– Customer Relationship
– Coopetition, Management,
– Change Management, – Total Customer Care,
– Shareholder Value Manage- – Management by Comple-
ment, ment,
– Human Performance Ma- – Relationship Marketing,
nagement,
– Management strategischer
– Innovationsmanagement, Partnerschaften,
– Simulationsmanagement, – Mass Customization,
– Fixkostenumwandlung, – Diversifikation,
Managementmoden sind Modekrankheiten 21

– Aktive Portfolio Politik, – Cause Related Management,


– Push Diversifikations – Pay for Performance Strategie,
Strategie,
– Governance Management,
– Outsourcing,
– Compliance Management,
– Total Loyalty Marketing,
– Total Return Wertemanage-
– Focused leadership, ment.
Eine verwirrende Begleitmusik der globalen Sturmfluten einer kurzsich-
tigen Fusionitis und Akquisitionitis – von Rechtsanwälten und Steuer-
experten perfekt vorbereitet und deshalb zum Scheitern verurteilt: Die-
jenigen, auf die es ankommt, um solchen Konzepten zum Erfolg zu
verhelfen – die Menschen mit ihren unterschiedlichen Unternehmens-
kulturen – werden verschachert und spielen deshalb nicht mit.
In dem bunten Strauß der Problemlösungsrezepturen ist Substanz
von elegant etikettierter Verpackungskunst schwer zu unterscheiden.
Wenn es Substanz ist, bringen die Umbrüche, die sie auslösen, dem Inno-
vator Pioniergewinne. Da aber Unternehmen in offenen Gesellschaften
durchsichtig sind, stürzen sich sogleich Heerscharen von Beobachtern
und Beratern auf die Erfolgsgeheimnisse und vermarkten sie.

Die Übertragung eines Erfolgsrezepts auf ganze Branchen oder Wirt-


schaftsräume führt zu gleichförmigen Strategien. Unternehmerischer
Erfolg durch strategische Differenzierung ist dem einzelnen Unter-
nehmen so nicht mehr möglich.

Abnehmender Grenznutzen lässt den Einsatz eines neuen Manage-


mentkonzepts zur Filigranarbeit werden. Imitation macht Überleben zur
Maloche. Der Lebenszyklus neuer Krücken und Konzepte, die Saison der
Mythen und Moden im Management, welche die Unternehmen überrol-
len, wird immer kürzer. Und weil die neuen Probleme, die an jedem neu-
en Konzept kleben, ohne fremde Hilfe kaum lösbar sind, bewirken diese
Modewellen dreierlei:
– sie schaffen ein Maß an Komplexität, das Unternehmen schwer
führbar, Staaten schwer regierbar und unser Leben schwer lebbar
macht – wir leben nicht, wir werden gelebt;

ȱ
22 Managementmoden sind Modekrankheiten

– sie wirbeln Unternehmen, Institutionen und Organisationen durch-


einander, verunsichern ihre Mitarbeiter und setzen die Füh-
rungskräfte einem Druck aus, der an Selbstzerfleischung grenzt;
– sie begründen eine langfristige Abhängigkeit von der Gutachter- und
Beraterzunft und erfüllen damit wohl ihren tieferen Zweck.
Dem Pionier bleibt nur noch ein kleiner relativer Vorteil, weil er mit den
neuen Krücken schon geübter ist, weil er auf seiner Erfahrungskurve mit
dem neuen Konzept schon etwas weiter gerobbt ist – ein schwacher Trost
für den Schweiß, die Risiken und die Tränen, die mit Managementinno-
vationen verbundenen sind. Nach einer Bemerkung von André Gorz
bleibt für den ganz großen Durchbruch dann nur noch eines: „Manage-
ment by Stress“.
Der Begriff „Management“ ist von dem lateinischen „manum agere“
abgeleitet: jemanden an der Hand führen. Auf Krücken läuft sich’s
schlecht alleine. Erich Gutenberg nennt diese Führungsfunktion „dispo-
sitiven Faktor“: die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital werden von
ihm disponiert. Der disponierende Faktor ist das Subjekt, die disponier-
ten Faktoren sind die Objekte; so wie in der Wissenschaft der Forscher
Subjekt und der Forschungsgegenstand sein Objekt ist.
Im östlichen Denken sind Subjekt und Objekt nicht klar unterschie-
den. Im westlichen Denken hat René Descartes das Objekt vom Subjekt
getrennt und dadurch den Manager über die Produktionsfaktoren ge-
stellt, den Wissenschaftler über den Forschungsgegenstand. Wissen-
schaftler und Manager sind von ihren Objekten unabhängig und können
nun auf der Basis objektiver Wahrheit objektive Entscheidungen treffen.
Seitdem erhebt die Wissenschaft den Anspruch auf Unfehlbarkeit – wie
zuvor allein die Religionen.
Seit der Erfindung der Objektivität sind im Namen der Wissenschaft
gefällte Entscheidungen definitionsgemäß richtig – wie zuvor allein die
Entscheidungen der Kirche im Namen Gottes. Um Konflikte mit der
mächtigen und unfehlbaren Römischen Kirche zu umgehen, wird das
Revier der Wissenschaft noch immer dreifach eingezäunt:
– Jedes messbare Phänomen kann grundsätzlich auf eine ebenfalls
messbare Ursache zurückverfolgt werden. Die Uhr darf auseinander
Managementmoden sind Modekrankheiten 23

genommen werden; die Frage nach den Beweggründen des Uhrma-


chers bleibt in geistlicher Hand.
– Nur messbare Ergebnisse sind wissenschaftlich relevante Ergeb-
nisse. Die physikalisch nicht erfassbare Metaphysik, also die Welt
jenseits der Physik, bleibt in der Zuständigkeit der Kirche.
– Die Wissenschaft ist mit dem Geschehen, das sie beobachtet, nicht
verbunden. Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt werden aus-
geklammert und der Kirche überlassen.
Diese Einschränkungen sind in den vergangenen Jahrhunderten kein
Nachteil. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse führen zu technischen
Erfindungen, die die Welt verändern. Technische Erfindungen sind die
Grundlage vieler Unternehmensgründungen. Die industrielle Revolution
ist das Ergebnis einer Synthese der neuen Autorität der Wissenschaft
und praktischer Managementkompetenz. Die Wissenschaft zeigt, wie die
Welt funktioniert. Der Manager übersetzt dieses Wissen in Produkte und
Verfahren, Problemlösungen und Vorgehensweisen, Organisationen und
Strategien.
Im Rationalismus gibt es ein Richtig und ein Falsch; es muss sich be-
weisen lassen, nach Karl Popper falsifizierbar sein. Und für den Fall,
dass es doch ein Vielleicht ist, hat die Mathematik das wunderbare Kon-
zept der Wahrscheinlichkeit erfunden, das auch das Vielleicht quantifi-
ziert.
Dieses Denken wird als linear bezeichnet. Die Welt der klassischen
Physik ist linear: Isaac Newtons Universum ist ein großes mechanisches
Regelwerk. Wenn wir auch jetzt seine letzten Geheimnisse noch nicht
erforscht haben, so ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis wir alles ver-
stehen.

Lineares Denken geht davon aus, dass jede Wirkung eine Ursache hat
und dass wir die Ursache ändern müssen, wenn uns die Wirkung nicht
gefällt.

Auch die Wirtschaftswissenschaft denkt linear. Sie entwickelt Model-


le, deren Funktionen mit Daten gefüttert werden, und errechnet das
Optimum. Die Ökonomie ist eine Optimierungslehre, die uns lehrt, ent-

ȱ
24 Managementmoden sind Modekrankheiten

weder mit einem gegebenen Einsatz das maximale Ergebnis zu erzielen


oder zu einem gewollten Ergebnis mit dem minimalen Einsatz zu kom-
men. Keynesianische und neoklassische Wirtschaftspolitik – die Antipo-
den wirtschaftspolitischer Weltanschauungen – unterscheiden sich in
der Art ihrer linearen Funktionen, nicht aber im Prinzip der Linearität
selbst. In letzter Konsequenz denken alle „Linearisten“ wie Alfons X., der
– wie er meint – guten Rat hätte geben können, hätte Gott ihn bei der
Erschaffung der Welt konsultiert.
Das auf linearem Denken begründete Selbstbewusstsein von Natur-
wissenschaftlern und Managern wird von zwei Seiten her angegriffen:
Zum einen ist nicht sicher, ob es zwischen Ursache und Wirkung eine
eindeutige und klare Beziehung gibt. Die Quantenmechanik von Werner
Heisenberg hat Wirkungen von ihren Ursachen „abgekoppelt“ und die
mechanischen Beziehungen in Newtons berechenbarem Universum zu
einem Sonder- oder Ausnahmefall erklärt. Der Regelfall ist nach Heisen-
berg nicht nur unbestimmt, sondern auch unbestimmbar.
Unsere Alltagserfahrung im Management ist oft, dass wir nicht die
Wirkungen erzielen, die wir beabsichtigt haben; dass die Dinge uns ent-
gleiten; dass wir die Kontrolle über das verlieren, was geschieht.
Zum anderen ist nicht sicher, ob die Wirkung immer nach der Ursache
kommt. Albert Einstein hat Raum und Zeit relativiert. Von einer höheren
Dimension aus gesehen ist Zeit, wie wir sie erleben, gleichzeitig. Unser
Zeitbegriff entspricht dem, was Sie gerade tun: Sie lesen dieses Buch,
Seite für Seite, nacheinander. Eine höhere Dimension erfasst Zeit – also
die Summe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – nicht als Nach-
einander, sondern als Einheit; sie erfasst also das gesamte Buch, das Sie
vor sich haben, gleichzeitig.

Unsere Alltagserfahrung im Management legt manchmal nahe, dass


Wirkungen sich ihre Ursachen suchen; dass ein Ergebnis, das kommen
soll, die Kausalitäten so gestaltet, dass es sich selbst verwirklicht.

Wenn die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung derart ins


Wanken geraten, sprechen wir von nichtlinearen Beziehungen. Die Ma-
thematik versucht, diese durch nichtlineare Funktionen zu beschreiben.
Managementmoden sind Modekrankheiten 25

Für die Wirtschafts- und Managementlehre hat John R. Hicks schon


vor Jahrzehnten vorausgesagt, dass bei Nichtlinearität vom größeren
Teil der ökonomischen Theorie nur noch ein Scherbenhaufen übrig-
bleibt. Weil es keine eindeutigen theoretischen Lösungen gibt, kann die
Wissenschaft dem Management nicht mehr sagen, was wirtschaftlich
von Vorteil ist und was von Nachteil.
Thomas S. Kuhn zeigt, warum unsere heile lineare Welt aus ihrem
Dornröschenschlaf geweckt wird. Er erklärt es mit dem von ihm gepräg-
ten Begriff des Paradigmas. Ein Paradigma ist eine Grundüberzeugung,
die das Fundament unserer Arbeit ist, von uns nicht überprüfbar und
nicht antastbar, gleichsam ihre implizite Voraussetzung. Der wissen-
schaftliche Pragmatismus zu Beginn des Rationalismus, das taktische
Kalkül der Revierabgrenzungen mit der Kirche, hat sich zu einem Para-
digma verfestigt, zur Grundlage unserer Wissenschaft und unseres Ma-
nagements.
Von einem wissenschaftlichen Paradigma abfallen heißt, die Wissen-
schaft, die sich durch dieses Paradigma definiert, nicht mehr betreiben.
Von einem Managementparadigma abfallen heißt, das, was ein Manager
tut, nicht mehr tun. Damit ist der Wissenschaftler kein Wissenschaftler
und der Manager kein Manager mehr.

Solange die Mathematik definiert, dass zwei parallele Geraden sich


nicht schneiden, ist jemand, bei dem sie sich doch schneiden, kein Ma-
thematiker. Und solange das Management der Auffassung ist, dass ein
Manager Vorgesetzter ist, ist jemand, der kein Vorgesetzter ist, kein
Manager. Ein Mathematiker oder ein Manager, der das Paradigma sei-
ner Zunft aufgibt, gibt sich selber auf und ist dann irgend etwas anderes.

Ein Paradigma aufgeben ist ein Akt der Zerstörung der Welt, die
durch das Paradigma geschaffen und erhalten wird. Die Zerstörung
schafft aber auch Raum für ein neues Paradigma und eine neue Welt.
Wenn Sie dieses Buch, das Sie in Händen halten, loslassen, fällt es zu
Boden. Wegen der Schwerkraft? Niemand hat Schwerkraft je gesehen,
niemand hat sie je empirisch nachgewiesen. Die Physiker haben das
Elementarteilchen Graviton, das sie bewirken soll, nicht gefunden; seine
Existenz ist eine plausible Gedankenkonstruktion, mehr nicht.

ȱ
26 Managementmoden sind Modekrankheiten

Deshalb mache ich Ihnen einen anderen Vorschlag: Dieses Buch ist
der Mittelpunkt unseres Universums. Der Mittelpunkt des Universums
kann durch Sie nicht verändert werden. Wenn Sie dieses Buch also fal-
lenlassen, bleibt es trotzdem der Mittelpunkt des Universums. Daraus
folgt, dass die Erde ihm einen Meter entgegengesprungen ist. Sie können
mich nicht widerlegen, denn auf der Basis meines Paradigmas beweist
die dem Buch entgegenspringende Erde meine Theorie.
Die Gravitation ist ein Modell, das vieles erklärt. Aristoteles hat ein
anderes Modell, das erklärt, warum das Buch auf dem Boden landet und
nicht an der Zimmerdecke: Der Kosmos besteht aus den vier Elementen
Erde, Wasser, Luft und Feuer. Dies entspricht den vier Aggregatzustän-
den der modernen Physik: dem festen, dem flüssigen, dem gasförmigen
und dem sehr heißen Plasmazustand.
Neben diesen vier kosmischen Elementen gibt es bei Aristoteles noch
die „quinta essentia“ (das fünfte Element) – die Quintessenz, aus der der
Stein der Weisen besteht. Über die fünfte Essenz kann jedes Element in
jedes andere verwandelt werden; also auch in Gold, wie es die Alchimis-
ten versucht und die Zauberer in alten Märchen tatsächlich geschafft
haben. Dem entspricht in der modernen Physik ein kohärenter Zustand,
bei dem die Atome „im gleichen Rhythmus“ vibrieren. In diesem Zustand
ist die „Essenz“ transparent und setzt durchfließendem Strom keinen
Widerstand entgegen, besitzt also die Supraleitfähigkeit.
Bei Aristoteles hat jedes Element die ihm eigene Tendenz, zu seinem
Ursprung zurückzukehren. Der Ursprung für alles, was von der Erde
genommen ist, ist die Erde. Das irdische Material dieses Buches will
deshalb zur Erde zurückkehren. Das gleiche gilt für das irdische Materi-
al unseres Körpers. Auch er fällt zu Boden und nicht in den Himmel. Wir
finden diese Vorstellung primitiv und sehen nicht, dass zukünftige Ge-
nerationen unser Gravitationsmodell ebenso beschmunzeln werden,
nachdem sie erkannt haben, wie primitiv es ist.
Die industrielle Revolution hat das Gravitationsmodell nicht ge-
braucht. Noch im 19. Jahrhundert glauben die Chemiker, dass gegen-
seitige Affinität die elementaren Atome zusammenhält: Silber löst sich
in Säure auf, weil Säure die Silberteilchen stärker anzieht als die Teil-
chen der gelösten Substanz sich gegenseitig anziehen. Auch mit diesem
Managementmoden sind Modekrankheiten 27

Modell lässt sich im Hochofen Stahl gewinnen, eine Dampfmaschine


konstruieren und ein Motor entwickeln.
Vielleicht hätte das antike Modell sogar Flugzeuge zugelassen; nicht
jedoch die Raumfahrt oder die Landung auf einem anderen Himmelskör-
per. Diese setzt die Befreiung von der Affinität zur Erde voraus, die irdi-
schem Material nach dem Paradigma des Aristoteles nicht möglich ist.
Eine Mondlandefähre muss danach aus Material gebaut sein, das vom
Mond genommen ist. Da es uns aber nicht möglich ist, Material vom
Mond zu nehmen, ohne zuvor auf ihm gelandet zu sein, ist eine Mond-
landung unmöglich.
Dinge, die uns nicht möglich sind, können wir nicht unternehmen.
Wir sind in unseren Paradigmata gefangen. Erst Newtons Gravita-
tionsparadigma macht die Landung auf anderen Himmelskörpern mög-
lich. Der Rest ist Ingenieurskunst, die sich früher oder später entwickeln
muss, wenn das, was sie anstrebt, denkbar, das heißt durch Denken mög-
lich geworden ist.

Ein neues Paradigma ist weder besser noch schlechter als ein altes. Es
ist einfach nur neu; es eröffnet neue Möglichkeiten und lässt alte nicht
mehr zu.

Anthropologen haben zu klären versucht, warum die Hopiindianer


Regenzeremonien veranstalten, und keine zufriedenstellenden Gründe
gefunden. Niemand hat je eine Hypothese geprüft, nach der die
Hopiindianer Regenzeremonien veranstalten, weil sie funktionieren –
weil sie Regen bringen. Da das nach unserem Paradigma nicht möglich
ist, kann es nicht erforscht werden. Sie schmunzeln?
Was treibt uns in ein neues Paradigma? Im dritten Jahrhundert vor
Christus entwickelt Aristarchos ein heliozentrisches Weltmodell und
nimmt damit Kopernikus vorweg. Da das geozentrische Modell keine
Mängel hat, wird er nicht ernst genommen.
Das Ptolomäische System sagt die veränderlichen Positionen von Fix-
sternen und Planeten exakt voraus. Doch mit jeder neuen astrono-
mischen Entdeckung wird es komplizierter und schließlich kaum noch
handhabbar. Das ist die Krise der Astronomie, in der die Zeit für Koper-

ȱ
28 Managementmoden sind Modekrankheiten

nikus reif ist. Sein Modell macht plötzlich alles sehr einfach und redu-
ziert die zuvor nicht mehr beherrschbare Komplexität auf ein Maß, mit
dem wir fertig werden. „Easy is beautiful“ (einfach ist wunderbar). Es ist
nicht nur wunderbar, es funktioniert auch: Krisen sind die Hebammen
der Evolution.
Der Wechsel eines Paradigmas ist so schwer, weil sich niemand frei-
willig selbst aufgibt; auch nicht in der Krise. Wenn also eine Krise das
bisherige Paradigma in Frage stellt, kündigen keineswegs Fanfaren
dessen Überprüfung an. Im Gegenteil: das alte Paradigma wird zur Exis-
tenz- und Seinsgrundlage erklärt. Ketzer werden in Kreuzzügen verfolgt;
wo es machbar ist, mit physischer Gewalt, und wo das nicht machbar ist,
mit administrativer oder wirtschaftlicher Gewalt.

„Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise


durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden“, schreibt Max
Planck, „sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aus-
sterben.“

Wir können drei Phasen der Reaktion auf eine solche Krise unter-
scheiden. In der ersten Phase werden die Schwierigkeiten geleugnet:
„Der Deich ist dicht, Wasser ist nicht eingedrungen“, wer es nicht glaubt,
wird in die Berge verbannt. In der zweiten Phase ist der Deich gebrochen
und die Flut überschwemmt das Land. Leugnen funktioniert nicht mehr.
Der Katastrophenschutz wird eingesetzt, um die Deiche zu reparieren
und die Folgen zu lindern. In der Regel wird damit Zeit gewonnen; das
Aussterben wird hinausgezögert, aber nicht verhindert. Erst in der drit-
ten Phase, wenn alle Reparaturkampagnen zusammenbrechen, gewinnen
diejenigen die Oberhand, die sich eine neue paradigmatische Heimat
ausgesucht haben.
Schauen wir uns die ersteȱPhase – die des Leugnens – in der Kirche, in
der Wissenschaft, in der Politik und in den Unternehmen näher an: Im
Jahre 1616 wird Galileo Galilei von der Inquisition angeklagt und ge-
zwungen, die Physik zu leugnen; Johannes Kepler bezieht seinen trotzi-
gen Ausspruch „eppur si muove“ (und sie bewegt sich doch) nicht auf die
Schwalbe am Himmel. Erst im Oktober 1992 wird Galilei durch das
Papsturteil „Galileo, ich verzeihe dir“ gnädig rehabilitiert. Dafür wird
Managementmoden sind Modekrankheiten 29

jetzt Eugen Drewermann aus dem Kirchendienst entlassen, Ahmed Sal-


man Rushdie vom Ayatollah Khomeini zum Tode verurteilt und die bur-
mesische Oppositionsführerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San
Suu Kyi in Hausarrest gesteckt. Eine Armee von 300 000 Mann fürchtet
sich vor dieser kleinen Frau.
Als Erich Honecker nach dem Scheitern des Kommunismus in der chi-
lenischen Botschaft in Moskau Zuflucht findet und sich als Repräsen-
tant des besseren Deutschland sieht, fragt ihn ein Reporter, ob es denn
vielleicht doch irgend etwas gegeben habe, was in seinem Staat schlech-
ter gewesen sei als im Westen. Honecker muss lange nachdenken: „Ja,
vielleicht, die Versorgung mit Bananen.“ Mit dem gleichen Denken hat
Lord Kelvin die gerade entdeckten Röntgenstrahlen als geschickten
Schwindel bezeichnet.
Viele erfolgreiche Unternehmer arbeiten mit den Verdrängungs-
mechanismen Khomeinis, Kelvins und Honeckers. Der ursprüngliche
Erfolg bestärkt sie, stabilisiert ihr Verhalten und bestätigt ihr Paradig-
ma. Veränderungen, die einen Wechsel erfordern, leugnen und be-
kämpfen sie. Vielfach dient das Recht der Gewalt als Maske. Eine Flut
von Rechtsstreitigkeiten rupft die Streithähne und mästet deren Anwäl-
te. In den Vereinigten Staaten kommt auf 360 Einwohner ein Rechtsan-
walt. Recht zu behalten erscheint wichtiger, als die Existenz des Unter-
nehmens zu sichern. Unternehmen sind vergänglich. Beim Rechthaben
aber geht es wohl um die Existenz des eigenen Egos, und das kommt für
die meisten vor allem anderen.
In der zweiten Phase, der Reparaturphase, befinden sich gegenwärtig
die Wissenschaften, die Politik, die Wirtschaft und die Unternehmen:
Unsere Wissenschaft definiert einen Fisch als etwas, was sie in ihren
Netzen fängt. Die Netze der Wahrheitssuche werden immer enger ge-
knüpft, und unser hehres Ziel ist es, dass irgendwann einmal gar nichts
mehr durch ihre Maschen schlüpft. Dann schöpfen wir mit den Fischen
auch das Meer, mit der Forschung auch das Leben aus.
Ein Paradigmawechsel ist in der Wissenschaft leichter als in der Poli-
tik. Wissenschaftliche Paradigmata können mit ihren Vertretern aus-
sterben. Bei Politikern ist es mit dem Aussterben nicht getan. Die Mo-
narchie ist nicht an die Person des Monarchen gebunden; die Erbfolge

ȱ
30 Managementmoden sind Modekrankheiten

sorgt für Kontinuität. Die Republik ist nicht an die Person des Präsiden-
ten gebunden; die Verfassung regelt die Nachfolge.

Politische Paradigmata schaffen sich Institutionen, die per Definition


recht haben und ihre Schöpfer überdauern. Ein Wechsel des Paradigmas
wird von den Institutionen, die ihm ihre Existenz verdanken, verboten.

Ein neues Paradigma kann sich deshalb nur in einer Revolution


durchsetzen. Und Revolutionen haben nur in der Krise eine Chance:
wenn die Leute Hunger haben. Neben dem Hunger brauchen sie aber
noch genug Kraft . Wo die fehlt, muss sich ein Gemeinwesen solange von
den einmal bestehenden Institutionen aussaugen lassen, bis es mit ih-
nen untergegangen ist.
John Maynard Keynes ist die herausragende Figur bei der Aufarbei-
tung der großen Wirtschaftskrise, die 1929 beginnt und im Zweiten
Weltkrieg endet. Er leitet die britische Delegation bei der Währungs-
konferenz im Jahre 1944 in Bretton Woods, in den Bergen von New
Hampshire. Nach seiner Theorie hätte die Weltwirtschaftskrise durch
Geldschöpfung vermieden werden können. Geldschöpfung, so Keynes,
ersetzt Arbeitslosigkeit durch Inflation. Inflation aber ist eine Droge, die
die Sinne betört und den Körper zersetzt. Als Kritiker Keynes vorhalten,
dass seine Therapie nur kurzfristig wirkt und danach die Arbeitslosigkeit
durch Inflation steigt, beruhigt er: „Langfristig sind wir sowieso alle tot.“
Dies ist das Modell des Borkenkäfers, der sich in seiner kurzen Exis-
tenz fleißig vermehrt und von dem Saft eines großen Baumes ernährt,
der Jahrhunderte überdauern könnte, würde er nicht von dem Schädling
zugrunde gerichtet. Es ist das Modell einer Technologie, die Energie für
wenige Generationen durch die Verbrennung von Fossilien gewinnt,
welche in vielen hundert Millionen Jahren entstanden sind. Es ist das
Modell eines Systems, bei dem 80 Prozent der Energie und der Rohstoffe
der Erde von 20 Prozent der Weltbevölkerung verbraucht werden. Es ist
das Modell eines Denkens, das in fast jeder Sekunde einen Hektar Re-
genwald von der Erdoberfläche verschluckt und den Mageninhalt dem
Bruttosozialprodukt gutschreibt. Es ist das Modell einer Politik, die
unserem Planeten mit dem Plutonium ein Gift hinterlässt, das erst in
700 000 Jahren keinen Schaden mehr anrichten kann.
Managementmoden sind Modekrankheiten 31

Unsere Geschichtsschreibung beginnt vor etwa 3 000 Jahren. Glauben


Sie, dass sich Sicherheitsvorkehrungen über 700 000 Jahre weiterrei-
chen lassen? Meinen Sie, dass wir uns einem sogenannten Sachzwang
beugen dürfen, der dies voraussetzt? Und wenn schon die Logik der Öko-
nomie alle Lebensbereiche durchsetzt: wenn die Folgekosten in den
nächsten 700 000 Jahren korrekt in die Kalkulation eingingen, müssten
wir für unseren Energieverbrauch in einer einzigen Stunde unser gesam-
tes Lebenseinkommen einsetzen.
Auch in den Unternehmen nimmt der Reparaturbetrieb der zweiten
Phase globale Ausmaße an: Das Bestehen im Wettbewerb erzwingt per-
manente Verbesserungen, Beschleunigungen und Kostensenkungen. Vor
200 Jahren haben von 100 Erwachsenen 96 in der Landwirtschaft gear-
beitet und sich selbst und den Rest der Bevölkerung nicht satt bekom-
men. In den Industrieländern sind heute nur noch etwa vier Prozent der
Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, produzieren Überschüsse und
stacheln ihre Politiker zu Handelskriegen an, die die Entwicklungslän-
der arm halten.

Im Laufe des 21. Jahrhunderts wird auch die Versorgung mit industriell
gefertigten Gütern in den fortgeschrittenen Regionen der Welt von
vier Prozent der Bevölkerung abgedeckt werden.

Das lässt eine neue Dreiklassengesellschaft entstehen: Zur Zeit der


industriellen Revolution sind die drei Klassen der Adel, der den Landbe-
sitz ererbt hat; das Bürgertum, das den Kapitalbesitz erarbeitet hat; und
das Proletariat, dessen Arbeit zu Kapital „gerinnt“, wie Karl Marx es
nennt. Heute spielt der Adel als soziale Klasse keine Rolle mehr. Das
Bürgertum ist geblieben: Es besteht aus den Kapitaleignern, die ihren
Besitz ererbt oder durch unternehmerisches Engagement erarbeitet
haben. „Nachfolger“ des Proletariats sind die vermögenslosen Beschäf-
tigten, die einen Arbeitsplatz haben und deren Einkommen von den Kos-
ten des Lebensunterhalts aufgezehrt werden.
Das Wort „Lebensunterhalt“ bringt zum Ausdruck, dass das Leben
durch dieses Einkommen erhalten wird. Mehr nicht. Während oben eine
Klasse weggefallen ist, wird unten eine „angesetzt“: die der Arbeitslosen.
Damit hat sich die Struktur relativ nach unten verschoben.

ȱ
32 Managementmoden sind Modekrankheiten

Der Umverteilungsdruck erzwingt Steuererhöhungen, die Steuer-


erhöhungen lösen eine Kapitalflucht aus, die Kapitalflucht bewirkt
Armut wo im Grund viel zu arbeiten wäre, die Armut führt zu Völker-
wanderungen, die Völkerwanderungen haben eine Abschottung wohl-
habender Regionen zur Folge. Für den Kapitalverkehr sind die Grenzen
gefallen; für die Opfer – die Menschen – werden Grenzen errichtet und
verstärkt.
Wenn wir das alles nicht schon erlebt hätten, würden wir es als eine
noch immer linear denkende Spezies jetzt erfinden. Denn wir lösen die
Fahrkarte für genau diese Reise und glauben, wir könnten die Fahrt nach
den ersten Stationen unterbrechen. Es wird ein böses Erwachen geben,
sobald wir erkennen, dass es unterwegs keine Stationen gibt. Dann wer-
den wir den Steuermann verprügeln, die Lenzklappen öffnen, das Boot
versenken und mit ihm untergehen.
Die Krücke einer künstlichen Beatmung mag den Untergang hinaus-
zögern; aber auch das verlängert nur die Galgenfrist. Wohlstand und
Wohlbefinden klaffen immer weiter auseinander. Die klassische Prä-
misse der Ökonomie, nach der die Mittel begrenzt, die Bedürfnisse aber
unbegrenzt sind, wird zum Strick am Galgen für uns alle. Kenneth
Boulding beschreibt diese Diskrepanz mit den Begriffen „Cowboywirt-
schaft“ für das Industriezeitalter und „Astronautenwirtschaft“ für unse-
re Wirtschaft im dritten Jahrtausend:

Im 20. Jahrhundert wird wirtschaftlicher Erfolg am Bruttosozial-


produkt gemessen. Deshalb sind hohe Produktion und hoher Konsum
gut. Arbeit hingegen ist ein Kostenfaktor, der minimiert, weg-
rationalisiert, abgeschafft wird. Im 21. Jahrhundert muss es umgekehrt
sein: Hohe Produktion und hoher Konsum sind schlecht und müssen
minimiert, der Kreativitätsfaktor Arbeit muss maximiert werden.

Diese neue Form des Wirtschaftens und Arbeitens entspricht einer


Astronautenwirtschaft. Das Bild vom Raumschiff Erde ist nicht neu. Es
bringt das Dilemma zum Ausdruck, in das wir uns hineinmanövriert
haben und das dem der legendären Fließbandarbeiterin Lucy entspricht:
sie kann mit dem Takt des Bandes in einer Schokoladenfabrik nur
Schritt halten, indem sie die Hälfte der Süßigkeiten in ihren Mund stopft
Managementmoden sind Modekrankheiten 33

– solange, bis sie ohnmächtig umfällt. Das Band aber läuft unerbittlich
weiter – ohne sie.
Das Fließband der wirtschaftlichen Entwicklung, mit dem wir Schritt
halten müssen, gehorcht nicht uns, sondern anderen Gesetzen. Unter-
nehmen, Staaten, Körperschaften, Gemeinden, Behörden, Institutionen
und Verbände lassen sich nicht beherrschen, nicht kontrollieren, nicht
führen – sie lassen sich nicht mehr managen. Unsere Krise ist eine Herr-
schaftskrise, eine Kontrollkrise, eine Führungskrise. Herrschaft zer-
bricht, Kontrolle entgleitet, Führung zerrinnt.
Es muss etwas getan werden. Aber selbstverständlich – wegen des ir-
dischen Wohls und des himmlischen Friedens – ohne die eigenen Para-
digmata aufzugeben. „Sie dürfen alles in Frage stellen“, sagt mir ein
Geschäftsführer, um die Grenze messerscharf zu ziehen, „nur mich
nicht.“ Natürlich kann ein Berater genausowenig eine Revolution anzet-
teln, wie ein Hund seinen Herrn enteignen kann. Er ist Teil des Systems,
das nicht mehr funktioniert, und er hilft, es zu stabilisieren.
Søren Kierkegaard erzählt, wie hinter den Kulissen des Theaters ein
Feuer ausbricht und der Clown auf die Bühne tritt, um das Publikum zu
warnen. Die Zuschauer halten sich den Bauch vor Lachen und applaudie-
ren der gelungenen Einlage. Der Clown wird bleich vor Schreck, gestiku-
liert entsetzt und erntet weiter tosenden Beifall – bis es zu spät ist.
Die Zuschauer sind im Theater, sie erwarten eine Vorstellung. Wenn
ihre Erwartung erfüllt wird, ist nicht die Zeit für einen Paradigma-
wechsel. Erst das Feuer im Zuschauerraum klärt die Situation und pro-
duziert die rettende Krise.
Auf der Ebene des Denkens, auf der wir in das Labyrinth gerannt sind,
finden wir nicht wieder heraus. Mit unserem Denken, mit unserem Para-
digma, sind wir noch im Theater. Doch die Wirklichkeit ist uns davonge-
laufen: Wir vergnügen uns inmitten einer großen Feuerbrunst; die Welt
befindet sich im Übergang zur dritten Phase.
Dem Übergang von der ersten Phase – dem Unterdrücken und Leugnen
– zur zweiten Phase im Krisenmanagement – dem Reparaturbetrieb –
entspricht in der Mathematik der Übergang von den Algorithmen zu den
Heuristiken. Algorithmen sind Lösungsverfahren mit Lösungsgarantie.
Heuristiken sind Lösungsverfahren ohne Lösungsgarantie.

ȱ
34 Managementmoden sind Modekrankheiten

Dem Übergang von der zweiten Phase im Krisenmanagement zur drit-


ten – der Anpassung an eine Welt ohne Kausalketten – entspricht in der
Mathematik der Übergang von der Heuristik zu den Fraktalen: Es gibt
keine Lösungen; es gibt keine Optima; es gibt keinen Weg. „There is no
path“, sagt David Whyte. Q. e. d., quod erat demonstrandum (was nach-
zuweisen war), können wir hinzufügen. So schreiben es die Mathemati-
ker unter einen gelungenen Beweis.
Ein Paradigmawechsel führt auf eine neue Ebene der Evolution, und
jeder Evolutionssprung verändert die Gesetze, nach denen das System
funktioniert. Ein solcher Evolutionssprung hat seinen Preis. Er ist unab-
dingbar mit einer Krise verbunden: das Wissen veraltet, die Kausalket-
ten zur Vergangenheit werden unterbrochen, die alten Erfahrungen sind
wertlos. Management findet die Lösung, erreicht das Optimum, weist
den Weg. Wenn es das alles nicht mehr gibt, ist Management kein Mana-
gement mehr, sind Unternehmen keine Unternehmen mehr, sind Staaten
keine Staaten mehr.
Bei diesem uns bevorstehenden Evolutionssprung leistet die Arbeit
der ohm-Resonanzschmiede Navigationshilfe. Es ist nicht die erste Er-
fahrung dieser Art für die Menschheit. Die uns bekannten historischen
Beispiele deuten auf die Gesetze des Wandels:
Vor 10 000 Jahren werden Jäger und Sammler sesshaft und beginnen
mit Ackerbau und Viehzucht. Dies ändert die Gesetze des Lebens und
löst einen Evolutionssprung aus. Mit dem Agrarzeitalter entsteht eine
neue Zivilisation. Die Nomaden, die den Anschluss verpassen, sterben
bis auf wenige Reste aus.

Mit dem Beginn des Agrarzeitalters identifizieren die Menschen sich


nicht mehr – wie die Nomaden – mit ihrem Stamm, sondern mit ihrem
Dorf oder mit ihrer Stadt, der „pólis“.

Vor 5 000 Jahren wird das Agrarzeitalter fortschrittlich. Die Men-


schen lernen, sich ein kosmisches Urprinzip nutzbar zu machen: die
Rotation. Das Rad wird erfunden; das Mühlrad zum Mahlen von Getreide
und das Wagenrad zum Transport von Lasten. Weltreiche entstehen, weil
sie durch die neue Transporttechnik erobert und zusammengehalten
werden können. Vor 2 000 Jahren folgt ein weiterer Schub; die Menschen
Managementmoden sind Modekrankheiten 35

lernen, irdische Naturkräfte zu nutzen: Wind und Wasser. Die Kraft des
Windes erleichtert die Fortbewegung; Segelboote ermöglichen die Erfor-
schung der Erde. Die Kraft des Wassers ermöglicht die Bewässerung des
Bodens und damit die Kultivierung neuer Anbauflächen, später auch die
Energiegewinnung.
Vor 300 Jahren geht das Agrarzeitalter zu Ende. Neue Gesetze werden
nutzbar gemacht – Naturgesetze. Maschinen werden erfunden und ver-
ändern die Welt. Wiederum entsteht eine neue Zivilisation: das Indust-
riezeitalter. Es ändern sich die Gesetze, die die Welt regieren. Die meis-
ten Großgrundbesitzer, die den Anschluss verpassen, degenerieren zu
einem verarmten Landadel.

Mit dem Beginn des Industriezeitalters identifizieren die Menschen


sich nicht mehr mit ihrem Dorf oder ihrer Stadt, sondern mit ihrem
Volk oder ihrer Nation.

Innerhalb des Industriezeitalters hat das Informationszeitalter einen


ähnlichen Stellenwert wie die Erfindung des Rades und die Nutzung von
Wind- und Wasserkraft innerhalb des Agrarzeitalters. Informations- und
Kommunikationstechnik führen das Industriezeitalter zum Zenit, zur
höchsten Reife. Offenbar verläuft die Geschichte mit einer konstanten
Beschleunigungsrate. Gegen Ende einer Zivilisation nimmt die absolute
Geschwindigkeit exponentiell, also mit ständig steigendem Tempo, zu.
Schon heute, nach nur 300 Jahren, ist die Zeit reif, um weitere Urkräfte
der Natur zu nutzen, die Lebensgrundlagen erneut zu ändern und wieder
einen Evolutionssprung auszulösen. Auch der wird eine neue Zivilisation
einläuten, die diesmal global ist.
Wie seine beiden „Vorgänger“, reißt auch der jetzt anstehende Evolu-
tionssprung alten Wahrheiten das Fundament weg und macht sie zu
Mythen. Der Aufstieg auf eine neue Evolutionsstufe ist wie eine Bergbe-
steigung: Das Tal verschwindet nicht, wir haben es hinter uns gelassen,
sehen es von oben und haben unseren Horizont erweitert. Wir erkennen,
dass manche, die noch tiefer klettern, einen Weg nehmen, der nicht wei-
terführt. Wir sehen Zusammenhänge, die uns weiter unten verborgen
gewesen sind. Was von unten ein Labyrinth ohne Ausweg gewesen ist
und uns zur Verzweiflung gebracht hat, erscheint von oben als netter
Spaziergang. Die höhere Perspektive reduziert Komplexität.

ȱ
36 Managementmoden sind Modekrankheiten

Mit dem Beginn der nächsten Evolutionsstufe – in den Unternehmen


einem offenen, humanen und mutigen Führungsstil – identifizieren die
Menschen sich nicht mehr mit ihrem Volk oder ihrer Nation, sondern
mit der Menschheit.

„ohm“ gestaltet die Funktionsweise eines Systems um, ändert seinen


inneren Schaltplan, seine innere Landkarte, passt es an neue Gesetze an,
erhält seine Lebensfähigkeit auf einer höheren Evolutionsstufe, hebt das
Denken auf eine höhere Ebene; es ist evolutionäre Sozialisation, evoluti-
onäre Kooperation.
Die Arbeit nach den Prinzipien der ohm-Resonanzschmiede führt kei-
ne weitere Managementmethode in den Unternehmen ein, keine weitere
Problemlösungstechnik, keine weitere Führungslehre, keine weitere
Verführungskunst, keine weitere Erfolgsgeschichte, keine weitere Krü-
cke, keine weitere Spezialdisziplin – im Gegenteil:
Seit 300 Jahren ist der Fortschritt durch immer tiefere Spezialisie-
rung geschaffen worden. Enger werdende Fachgebiete führen ein Eigen-
leben und igeln sich ein. Wissenschaftliche Suboptimierung berechnet
17 Dezimalstellen und sieht das Wesentliche nicht. Perfektionierte De-
tails machen uns blind für Zusammenhänge. Wir sezieren die Welt mit
einem Skalpell und zerstören sie dabei. Wir laufen mit Scheuklappen
durch die Gegend und sehen den Abgrund neben uns nicht. Fachspra-
chen erschweren Laien den Einblick in fremde Disziplinen. Experten
kultivieren ihre Terminologien, um unzureichende Problemlösungs-
kompetenz zu verschleiern und Herrschaftswissen vor der Kontrolle
durch Außenstehende zu schützen.
Als siebenjähriger Bub erlebe ich, wie das funktioniert. In dem riesi-
gen Forstgarten meines Heimatdorfes stehen die Apfelbäume mit den
besten Früchten, und wir klettern begeistert über den Zaun und bedienen
uns. Eines Tages hängt dort ein Schild: „Achtung! In diesem Garten be-
findet sich ein taraxacum medicinale.“ Der Kinderfresser flößt uns Res-
pekt ein. Die Förstersfamilie kann jetzt ihre Äpfel allein essen. Später,
als ich Latein lerne, suche ich im Wörterbuch nach dem Ungeheuer – es
ist ein wilder Löwenzahn.
Die aktuellen Menschheits- und Managementprobleme sind mit
Scheuklappen nicht lösbar. Komplexe Situationen setzen integratives
Managementmoden sind Modekrankheiten 37

Denken voraus. Integratives Denken erfordert es, miteinander zu reden,


sich gegenseitig zu verstehen, auch fachlich. Niemand kann in allen
relevanten Disziplinen Experte sein. Kommunikation braucht eine ge-
meinsame Sprache, die von allen verstanden wird. Wirkung läuft über
Mitteilung, und Mitteilung bedient sich der Sprache. Wer sich nicht
mitteilt, liefert anderen keinen Beitrag, und wer anderen keinen Beitrag
liefert, ist ein Schmarotzer.
Wer seinen Beitrag nicht klar und verständlich vermitteln kann, soll
deshalb schweigen. „Wenn wir mit Mühe lesen“, schreibt Jorge Luis Bor-
ges, „ist der Autor gescheitert.“ Nicht der Leser.
Den wirtschaftstheoretischen Scherbenhaufen unserer neuen, nichtli-
nearen Welt haben wir angeschaut. Die Scherbenhaufen in anderen
Zweigen der Wissenschaft, im Management von Unternehmen und in der
Führung von Staaten sind kaum kleiner. Doch von nicht beherrschbarer
Komplexität sind die Dinge nur von unten gesehen. Mit linearen Metho-
den ist Nichtlinearität nicht beherrschbar. Mit dem Denken von gestern
können wir morgen nicht mehr leben.
Erinnern Sie sich noch, wie Sie das Radfahren gelernt haben? Wissen
Sie noch, wie Sie einfach nicht verstanden haben, wie Ältere auf diesen
beiden schmalen Rädern nicht umkippen? „Du musst die Balance hal-
ten“, haben Eltern, Geschwister oder Freunde gerufen. Ja, Balance hal-
ten, das ist schlimmer als nichtlineare Gleichungen lösen. Es geht ein-
fach überhaupt nicht. Bis zu dem Augenblick, den wir als Durchbruch
bezeichnen. Das ist der Evolutionssprung. Und wenn wir den beim Rad-
fahren hinter uns haben, hat sich das Problem des Balancehaltens aufge-
löst, und wir verstehen nicht mehr, was daran so schwer gewesen ist.
Schwer sind nur die Dinge, die wir noch nicht kennen oder können. So-
bald wir sie bewältigt haben, sind sie wunderbar und eröffnen uns Mög-
lichkeiten, die wir zuvor nicht haben denken können.
Den Durchbruch beim Balancehalten haben Sie nicht erlangt, indem
Sie ein Seminar besucht, ein Buch gelesen oder einen Berater engagiert
haben. Den Durchbruch können Sie nur erlangen, indem Sie Ihre eigene
Wahrheit finden, die nur Sie verstehen; indem Sie Ihre eigene Welt
schaffen, die nur Ihnen gehört; indem Sie Ihren eigenen Weg ausbreiten,
den nur Sie gehen. „Glaubt nicht den Büchern, glaubt nicht den Lehrern,

ȱ
38 Managementmoden sind Modekrankheiten

glaubt auch mir nicht.“ Buddha hat das gesagt. Und ich darf ergänzen:
Glauben Sie auch diesem Buch nicht.

Sie können, wenn Sie wollen, die Lehre dieses Buches als eine Theorie
des Managements verstehen, die Ur-Sachen und Wirkungen in der
komplexen, nichtlinearen Welt unserer Unternehmen, Institutionen und
Staaten erklärt. Sie können sie auch als eine Philosophie verstehen, die
die Welt anders sieht.

Eine Theorie kann uns die Wahrheit genausowenig bringen wie eine
Philosophie. Jeder Mensch kann seine Wahrheit nur in sich selbst fin-
den. Theorien sind Welten, die den Bewusstseinszustand ihrer Erfinder
zum Zeitpunkt der Erfindung spiegeln. Jede Welt spiegelt den Bewusst-
seinszustand ihres Schöpfers zum Zeitpunkt der Schöpfung. Wenn das,
was dieses Buch lehrt, eine Theorie ist, dann spiegelt sie meinen Be-
wusstseinszustand zu der Zeit und an dem Ort, wo das Manuskript ent-
standen ist. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger:
Wie jede neue Theorie, ändert auch dieses Buch das Denken. Wie jedes
neue Denken, richtet auch dieses das Handeln der Menschen neu aus.
Und wie immer, wenn Menschen – und besonders die mit einer gewalti-
gen Hebelwirkung ausgestatteten Manager – anders ausgerichtet han-
deln, verändert das auch diesmal die Welt.
Die alten Managementmethoden analysieren und beseitigen
Schwachstellen. Unsere äußeren Probleme spiegeln aber lediglich unse-
ren inneren Zustand – sie sind unser Schatten. Der Fokus auf äußere
Einflussgrößen im Management ist deshalb nicht effizient. Erst die klare
und einheitliche Ausrichtung von Gedanken, Sprache und Glaubenssät-
zen im Unternehmen ist das Fundament für Handlungen, die Durchbrü-
che bewirken. Was für den Wald gilt, gilt auch für die Zukunft: Wie wir
hineinrufen, so schallt es heraus!
Die meisten haben ein Ziel und wissen, was zu tun ist. Die wenigsten
aber wissen, warum sie ihr Ziel auf diesem Weg verfolgen. Wer aber kein
„Warum“ hat, dem fehlt die Kraft zur Größe. Unternehmen und Füh-
rungskräfte, die wissen, wer sie sind und wofür sie existieren, sind die
Schöpfer unserer Zukunft. Managementmoden aber, die nur Symptome
kurieren, sind vermeidbare Modekrankheiten.
PRAXISBEISPIEL 1: Das Problem 39

PRAXISBEISPIEL 1: Das Problem


Er legt den Telefonhörer auf und bemerkt nicht, dass Frau Gutmann
hereinkommt und ihn anspricht: „Herr Schneider, was ist los, Sie sind ja
kreidebleich. Ist Ihnen schlecht?“ Er bemerkt nicht, wie der Schock sich
mit heftigen Wellen ausbreitet und auch Frau Gutmann erfasst. Sie
geht erschrocken auf ihn zu, hält einen Meter vor ihm inne und weiß:
das war das Telefongespräch eben. Sie hatte einen Anruf von einem
Herrn des Konzernvorstands durchgestellt. Zehn Minuten, die für Herrn
Schneider wohl den Weltuntergang angekündigt haben.
Seit elf Jahren ist seine Welt auch ihre, sein Aufstieg auch ihrer und
wenn jetzt seine Welt untergeht, ist das auch ihre. Zum ersten Mal in all
den Jahren verliert sie ihre perfekte Beherrschung. Tränen kullern ihre
beiden Wangen herunter, sie hat kein Taschentuch zur Hand und ver-
sucht gerade, sie mit den blanken Händen abzuwischen, als Claudine
Tisch, die Leiterin der Personalentwicklung, durch die offene Tür her-
einschaut, sofort die Situation erfasst und mit „oh, ich glaube, ich stö-
re“ wieder verschwindet. Das Telefon im Vorzimmer klingelt, aber Frau
Gutmann bleibt wie angewurzelt vor ihrem Chef stehen, der zu Stein
erstarrt an seinem Stuhl klebt und – als der Anrufer schon aufgegeben
hat – schmerzverzerrt seinen linken Unterarm anhebt und mit dem
Handrücken andeutet, dass sie hinausgehen möchte. Da werden ihre
Tränen zu einem Sturzbach, schluchzend rennt sie aus dem Zimmer,
schließt die Tür brav hinter sich, krallt ihre Handtasche aus einer
Schublade ihres Schreibtischs, hastet zur Toilette und schließt sich in
einer Kabine ein.
Als sie wieder zu ihrem Schreibtisch kommt, liegt dort ein verschlos-
sener Umschlag, adressiert an Herrn Schneider, Absender Claudine
Tisch. Leise öffnet sie die Tür zu seinem Zimmer einen Spalt und er-
schrickt. Er ist nicht in seinem Büro. Zum ersten Mal seit elf Jahren ist
er rausgegangen, ohne sich bei ihr abzumelden. Sie schleicht an seinen
Schreibtisch und legt ihm den Umschlag hin. Dann ruft sie Frau Tisch
an und berichtet ihr, dass der Brief jetzt auf seinem Schreibtisch liegt.
„Wissen Sie, was passiert ist?“, fragt die. „Nein“, antwortet Frau Gut-
mann. „Ich habe ihm nur mitgeteilt, dass ich gern mit ihm reden würde,
egal worüber“, sagt Frau Tisch und bedankt sich.

ȱ
40 Managementmoden sind Modekrankheiten

Die Konzernleitung in Deutschland hat den von Herrn Schneider ge-


leiteten Geschäftsbereich an den bisher bis aufs Messer bekämpften
französischen Wettbewerber verkauft. „Diese Fusionitis und Ak-
quisitionitis ist doch eine Modekrankheit. Das ist wie Sklavenhandel“,
erklärt Herr Schneider, als Frau Tisch ihm in seiner Besprechungsecke
schräg gegenüber sitzt, „die verkaufen ein Schiff ihrer Flotte an die
Piraten und die Mannschaft gleich mit“, sagt er trotzig, „und dann auch
noch an die Franzosen – diese unseriösen, unpünktlichen Spitzbuben.“
„Soll ich gehen?“, fragt Frau Tisch mit spitzbübischem Charme. Bei
Herrn Schneider paart sich jetzt ohnmächtige Wut mit hilflosem
Schreck. Trotz ihres charmanten Akzents hat er ganz vergessen, dass
sie gebürtige Französin ist. „Darf ich Ihnen jetzt sagen, wie ich die
Deutschen finde?“, fragt sie rein rhetorisch und sagt es auch schon:
„wie kalte, unflexible Dampfwalzen.“ Herr Schneider erstarrt auf sei-
nem Sessel, sein Kopf erglüht wie ein Heißluftballon, Schweißperlen
stehen ihm in der Stirn, er spürt den Blick von Frau Tisch wie einen
spitzen Pfeil in seinem Gesicht, lockert seinen Schlipsknoten, wie wenn
er sich von einer Fessel befreien müsse, öffnet den obersten Kragen-
knopf, schnappt nach Luft und schaut nach unten.
„Herr Schneider“, löst sie die verlegene Situation auf, „ich stehe zu
Ihnen. Sie können sich auf mich verlassen. Sie sehen Ihre neue Lage als
Problem. Vielleicht sind hinter dem Problem Chancen verborgen, die
wir noch nicht erkennen können. Lassen Sie doch einfach los. Wenn Sie
sich innerlich aufbäumen, verlieren Sie nur. Wenn Sie wollen, helfe ich
Ihnen, die Franzosen zu verstehen und mit ihnen klar zu kommen. Es ist
doch egal, von welcher Nation wir sind. Denken Sie doch einfach mal
anders: Diese Situation ist neu. Das Neue ist weder besser noch
schlechter als das Alte, es ist einfach nur neu. Es wird alte Möglichkei-
ten nicht mehr zulassen, aber mit Sicherheit auch neue Möglichkeiten
eröffnen. Vielleicht können Sie daraus mehr machen, als Sie sich jetzt
vorstellen können. Vielleicht können Sie daraus die Chance für sich ma-
chen – und für uns alle.“
Wie ein Ertrinkender schaut Harald Schneider seine Retterin an –
hilflos, dankbar und skeptisch ...

Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 41

2 Integrität ist das einzige Tor


zum Erfolg
Im Jahre 1896 breitet Max Weber eine Europakarte auf seinem Schreib-
tisch aus und markiert die Flächen der industrialisierten Regionen.
Dann schlägt er in seinem Atlas eine andere Europakarte auf und legt sie
daneben. Auf dieser sind die Verbreitungsgebiete der verschiedenen
christlichen Konfessionen eingezeichnet. Sein Blick springt von einer
Karte zur anderen und zurück. Plötzlich durchfährt ihn ein Schock:
Sämtliche Industrieregionen in England, Flandern, Deutschland, der
Schweiz und der Tschechei sind kalvinistisch. Und auch das angelsäch-
sisch-puritanische Nordamerika.
Aus dieser Erkenntnis entwickelt Weber die Theorie der Protestanti-
schen Ethik: Ohne Calvin hätte es die Industrialisierung nicht gegeben.
Seit 10 000 Jahren lebt die Menschheit in einer agrarischen Subsistenz-
wirtschaft auf etwa gleichem Niveau. Warum sollte gerade jetzt und hier
eine Saat aufgehen, die die Lebensumstände dramatisch verändert? So
wie das Zeitalter der Jäger und Sammler hätte auch das Agrarzeitalter
eine Million Jahre dauern können. Zwar hat die Ideologie des Rationa-
lismus der Wissenschaft einen gewaltigen Schub gegeben. Doch Wissen-
schaftler bauen keine Fabriken. Mit ihren Kenntnissen der Metallverar-
beitung hätten die Römer schon vor 2 000 Jahren eine Dampfmaschine
bauen und damit Geräte antreiben können. Was ihnen gefehlt hat, war
ein Calvin.
Jean Calvin leitet nach dem Tod Luthers von Genf aus den europäi-
schen Protestantismus im Kampf gegen die Gegenreformation; aber er
setzt andere Schwerpunkte als Luther. Martin Luther weiß „Wein, Weib
und Gesang“ zu schätzen und unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht
von der Römischen Kirche. Calvin ist Asket, Systematiker und genialer
Organisator. Er verachtet die Kunst, verbannt Orgel und Gesang aus der
Kirche, lässt wertvolle Wandgemälde übertünchen und Kritiker hinrich-
ten. Luther wendet sich gegen Wucher und Zins; Calvin hat dagegen
nichts einzuwenden. Luthers Gott ist ein Gott der Liebe, der Güte, der
Barmherzigkeit, welcher Sünden vergibt; ein Gott, dem wir uns anver-

ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_2,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
42 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

trauen können, der uns in der Not hilft. Calvins Gott ist ein Gott der
Allmacht, des Allwissens, der Herrlichkeit, der Größe, der die erbar-
mungslose Vernichtung seiner Feinde und bedingungslosen Gehorsam
fordert.
Allmacht und Allwissen schließen das Wissen um die Zukunft ein und
machen den Menschen zu einem Werkzeug Gottes. In der Tradition alt-
testamentlicher Intoleranz baut Calvin die von Augustin gelehrte Prä-
destination zur doppelten Prädestination aus: Am Ende aller Tage steht
der Mensch vor seinem allmächtigen Richter, der den Daumen entweder
nach oben oder nach unten neigt; nach oben bedeutet Eingang in die
ewige Seligkeit, „Wandel im Licht zur Ehre Gottes“; nach unten bedeutet
Verdammung – bis in alle Ewigkeit.
Wir Menschen sind neugierig: Wir wollen unbedingt schon vor dem
Jüngsten Gericht herausfinden, ob wir verdammt oder auserwählt sind.
Wie? Das ist sehr einfach: Den Auserwählten wird durch das Bewusstsein
der göttlichen Erwählung die Pflicht auferlegt, durch strenge Zucht,
selbstlose Hingabe und äußersten Fleiß ihren Auftrag zu erfüllen. Als
Lohn gewährt Gott seiner „Gemeinde der Heiligen“ schon im irdischen
Leben Erfolg. Um sich des eigenen Auserwähltseins zu vergewissern,
geht es darum, um jeden Preis Erfolg zu haben. Im Angesicht der Ewig-
keit ist der Einsatz dafür eine Investition mit einer unendlich hohen
Rentabilität.
Gewinnsucht und Geschäftsgeist unter dem Deckmantel der Fröm-
migkeit versehen den Reichtum mit einem Heiligenschein. „Wie hoch ist
Ihr Jahreseinkommen?“, fragt mich mein Nachbar, ein amerikanischer
Geschäftsmann, während eines inneramerikanischen Fluges, nachdem
wir uns vorgestellt haben. Ich kann zufrieden sein und bin als fast
gleichwertig akzeptiert.
Die negative Seite der Prädestination versieht sogar die Ausbeutung
mit dem Zertifikat der Unbedenklichkeit: Wem der Erfolg versagt ist, der
ist verdammt. Wen Gott verachtet, den braucht die „Aristokratie der
Frommen“ nicht zu schonen. Das militärische Niederknüppeln von Ar-
beiteraufständen, Menschenhaltung in der Fabrik wie Tierhaltung auf
dem Hof – es ist alles in Ordnung.
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 43

„Ein Sklave kostet 1 000 Dollar und hält nicht lange“, berichtet Jorge
Luis Borges: „Man muss aus der Investition den größtmöglichen Nutzen
ziehen und ihn von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter der Knu-
te des Aufsehers schuften lassen. Manch einer von diesen verdammten
Kreaturen begeht die Undankbarkeit, krank zu werden und zu sterben,
bevor er sich amortisiert hat.“
„Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass
ein Reicher ins Himmelreich komme“, sagt Jesus. Ich hätte mich schä-
men sollen wegen meiner Auskunft im Flugzeug.

Wer sich seines Erfolgs schämt, kann und wird keinen Erfolg haben.
Wem der Erfolg heilig ist, dessen Denken setzt Energien frei, die eine
Explosion auslösen. Erfolg ist das Ergebnis einer klaren und kraftvollen
inneren Programmierung.

Auf der Basis des römisch-katholischen oder lutherischen Denkens ist


der Ausbruch der industriellen Revolution unmöglich. Auch der Islam,
der Hinduismus, der Buddhismus und die anderen Weltreligionen sind
kein fruchtbarer Boden hierfür. Daraus folgt: ohne Calvin wäre die in-
dustrielle Revolution jetzt nicht geschehen; ohne ihn würde die gesamte
Menschheit weiter so leben, wie sie es Jahrtausende zuvor getan hat.
Nichts, außer ihr eigenes, von Calvin angeregtes Denken, veranlasst sie
gerade jetzt zu diesem Evolutionssprung.
Nachdem die Saat an einer Stelle aufgegangen ist, kann sie sich ver-
mehren und verpflanzt werden. Der Anfang, die Schöpfung, bedarf einer
sehr präzisen gedanklichen Programmierung. Ist die Pflanze stark und
robust, emanzipiert sie sich von ihrem Schöpfer und lässt sich unter
anderen Konstellationen nachzüchten. Die Faktoren, die heute den in-
dustriellen Entwicklungsstand einer Region bestimmen und von Michael
Porter in seiner Untersuchung der Wettbewerbsvorteile von Nationen
nachgewiesen werden, haben mit ihrem Auslöser nichts mehr zu tun.
Als Lehrling in den Jahren 1961 und 1962 gehört es zu meinen Aufga-
ben, fremdsprachige Besucher durch eine deutsche High-Tech-
Maschinenfabrik zu führen. Viele Japaner kommen, denen wir unsere
Anlagen zeigen, weil wir von ihnen Aufträge erhoffen. Manchmal ertappe
ich einen von ihnen, wie er hinter einer Maschine hockt und hastig eine

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44 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

Zigarettenschachtel in seinem Jackett versteckt. Rauchen ist nicht er-


laubt. Photographieren auch nicht. Aber ein Photoapparat passt nicht in
eine Jackentasche; ich schöpfe keinen Verdacht. Wenige Jahre später
lehrt uns die japanische Billigkonkurrenz auf allen Märkten der Welt
das Fürchten. Nachmachen geht ohne Calvin.
Ich predige „Business as usual“ (nur keine Aufregung). Unser techni-
scher Stand ist sehr hoch; unsere Entwicklungsabteilung ist innovativ
und auf ihrem Gebiet wohl die beste der Welt. Diese lächerlichen, längst
veralteten Imitationen aus Fernost haben wir vor zehn Jahren gebaut. An
der Konkurrenz erkennen wir, wie gut wir sind. Wer in den Fußstapfen
anderer läuft, kann sie nie überholen.
Ein Vierteljahrhundert später ist es umgekehrt. Amerikanische und
europäische Manager pilgern nach Ostasien, um das Geheimnis des
dortigen Erfolgs zu studieren; um zu prüfen, ob der eigene Schuh in
japanische Fußstapfen passt. Manch einer kehrt zurück und beginnt, den
Buddhismus zu studieren.
Meine zweite Erfahrung mit Japan ist ein Schock. Ich bin junger As-
sistent in einem Chemieunternehmen, und unsere Tochtergesellschaft in
Japan bereitet uns Sorgen. Wir haben den Geschäftsführer aus Japan
zum Rapport in die Konzernzentrale nach Deutschland gebeten und
sitzen um einen großen ovalen Konferenztisch. Der Gast aus Japan hat
auf der einen Seite Platz genommen, die hohen Konzernherren auf der
anderen. Ich sitze am Rande, wegen des Protokolls. Die Rollen sind ver-
teilt: Betriebsergebnis, Gemeinkosten, Personalfragen, Produktpolitik,
Verkaufsorganisation, Verkaufsförderung – der Begriff Marketing ist
noch nicht geläufig. Jeder analysiert die vorliegenden Informationen auf
seinem Gebiet, fragt nach Ursachen und stellt Lösungen zur Diskussion.
Verhandlungssprache ist Englisch.
Der Herr aus Japan lässt sich nicht festnageln: „well“; „could be“;
„yea“; „we might consider that“; „perhaps a good proposal“ (nun; schon
möglich; hm, ja; darüber könnte man nachdenken; vielleicht ein guter
Vorschlag). Und dann fragt er plötzlich: „Where is the rest-room please?“
(Wo bitte ist die Toilette?) Ich weise ihm den Weg und lasse frischen
Kaffee ins Konferenzzimmer bringen. Dort warten wir lange, sehr lange.
Hat er ein Problem? Ist er ohnmächtig geworden? Ich gehe ihn suchen.
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 45

Auf keiner der Herrentoiletten finde ich ihn. Hat er sich verirrt? Ich bitte
eine Sekretärin, die Damentoiletten abzusuchen. Auch dort ist er nicht.
Vielleicht sind Toiletten in Japan im Keller? Wir suchen sämtliche Win-
kel des Hochhauses ab und finden ihn nicht. Ich gehe zum Pförtner. Ja,
ein Japaner hat vor einer halben Stunde das Haus verlassen und ist in ein
Taxi gestiegen.
Im Konferenzraum bricht Panik aus. Die Unterlagen, die unser Gast
für die Besprechung mitgebracht hat, liegen aufgeschlagen an seinem
Platz, der Aktenkoffer auf dem Nebenstuhl ist geöffnet. Nur die Briefta-
sche fehlt. Als wir sein Hotel herausgefunden haben, ist er dort bereits
abgereist. Mit 50 Mann „besetzen“ wir den Flughafen, um ihn wieder
„einzufangen“. Vergeblich. Unsere Verwaltung in Japan wird mit Telefo-
naten und Fernschreiben bombardiert: Etwas Unerklärliches sei gesche-
hen; es müsse sich um ein Missverständnis handeln; er möge doch bitte
umgehend anrufen, sofort zurückkommen. Der Umsatz unserer Tochter-
gesellschaft in Japan beträgt einige hundert Millionen Euro.
Es ist alles nutzlos. Sein Büro in Japan betritt er nicht mehr; wir sehen
ihn nie wieder. Ein halbes Jahr später entnehmen wir einer Pressemel-
dung, dass er für unseren gefährlichsten Konkurrenten als Berater tätig
ist, und zwei Jahre später wird uns klar: an jenem denkwürdigen Mon-
tagmorgen haben wir in 30 Minuten eine viertel Milliarde Dollar in den
Sand gesetzt. Wir haben uns benommen wie eine Hure, die dem Papst ein
Angebot macht.
Durch die Globalisierung der Geschäfte gehört interkulturelle Sensi-
tivität inzwischen zum Handwerkszeug. Westliche Manager konver-
tieren zwar nicht zum Buddhismus und asiatische nicht zum Chris-
tentum, aber beide Seiten lernen, wie sie voneinander lernen können.

Asien hat dem Westen eine technisch-industrielle Revolution nach-


gemacht, die nur auf kalvinistischem Boden hat entstehen können. Der
Westen hat Asien eine organisatorisch-strategische Revolution nach-
gemacht, die nur auf buddhistischem Boden hat entstehen können.

Um diese Wirkung zu verstehen, müssen wir einige tausend Jahre zu-


rückgehen. Amerikaner erschrecken meist, wenn Europäer oder Asiaten
so weit ausholen. Das Kloster Haydau im nordhessischen Altmorschen,

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46 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

wo ich aufgewachsen bin, gibt es seit mehr als 1 000 Jahren. Damals weiß
dort niemand von der Existenz Amerikas. Weitere Jahrtausende früher,
als Europa von einer geschlossenen Wald-decke überzogen ist, kleiden
sich die Mitteleuropäer in Felle, wohnen in Höhlen und leben von der
Jagd.
Was tun Sie als Jäger, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, wenn sich im
Gebüsch dieses dichten Waldes etwas bewegt? Ist es ein Bär? Ist es ein
Wolf? Die Wölfe sind so gefährlich, dass die alten germanischen Mär-
chen voller einschlägiger Schauergeschichten sind. Sie wollen das Tier
erlegen und es Ihrer Sippe zum Abendessen bringen. Sie spannen den
Bogen, zielen mit dem Pfeil und wissen, dass es nicht nur um Ihr Abend-
essen geht, sondern um Ihr Leben. Gelingt es Ihnen, das Tier mit dem
ersten Schuss kampfunfähig zu bekommen, sind Sie gerettet und Ihre
Sippe wird satt.
Gelingt es Ihnen nicht, läuft das Spiel umgekehrt. Auch der Wolf oder
Bär möchte überleben und seiner Sippe Menschenfleisch zum Abend-
fressen bringen. Er setzt zum Sprung an, um Sie mit dem ersten
Tatzenhieb niederzuwerfen und zu erledigen. Auch für ihn geht es um
die Alternative: du oder ich.
Die Mathematiker nennen das ein Nullsummenspiel: Der eine kann
nur das gewinnen, was der andere verliert. Die für ein solches Spiel an-
gemessene Strategie ist der Kampf. Jahrtausendealte Erfahrung ist in
unseren genetischen Code eingegangen. Wir benehmen uns noch immer,
wie es gegenüber Raubtieren angebracht war. Das westliche Manage-
mentvokabular ist reich an Kriegsausdrücken:
– Beim Karriereaufstieg einem Rivalen „den Ast absägen“, auf dem er
sitzt: er hat sich auf einen Baumast gerettet, der für Wölfe und Bären
nicht erreichbar ist. Wenn der Ast abgesägt wird, fällt er den wilden
Tieren zum Fraß vor die Pfoten.
– Unser Vorgesetzter hat sich in der Regel vom Ast auf einen Stuhl ge-
rettet; deshalb müssen wir „an seinem Stuhl sägen“, wenn wir seine
Position übernehmen wollen.
– Einen Kollegen „unschädlich machen“, das heißt ihn entschärfen wie
Munition. Dann kann er mir nichts mehr anhaben; ich brauche auf ihn
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 47

keine Rücksicht mehr zu nehmen, kann also rück-sichtslos vorgehen –


ohne zurückzuschauen.
– Bei Konflikten „in Deckung gehen“, das heißt: sich verstecken, hinter
anderen, hinter Schutzwällen oder in Schützengräben, nicht offen
vorgehen, nicht kämpfen und dabei die eigenen Stellungen befestigen.
– „Über Leichen gehen“, also alle diejenigen niedermachen, die mir den
Weg zum Ziel versperren, oder, wenn sie schon weiter fortgeschritten
sind, sie von hinten mit einer Kugel erschießen, um dann über Lei-
chenberge hinweg allein ins Ziel einzulaufen.
– Wer „eine Leiche im Keller“ hat – nur eine –, geht diskreter vor: Das
Opfer musste sein, um voranzukommen. Der Zweck ist erhaben und
heiligt die Mittel. Es wird nicht wieder vorkommen. Die Spuren wer-
den ausgelöscht; die Leiche wird versteckt, verscharrt, vergraben und
die Weste in gebleichter Unschuld weiß gewaschen.
– „Der Konkurrenz den Kampf ansagen“, also: sie besiegen. Nicht ge-
winnen, was einen sportlichen Wettkampf bezeichnen würde. Beim
Besiegen geht es um das Ganze.
– „Einen Werbefeldzug führen.“ Nicht informieren, aufklären, zum
Kauf anregen, den Kunden gewinnen, begeistern; sondern die Konkur-
renz bekämpfen, besiegen, vernichten.
– „Mit einer Materialschlacht Marktanteile erobern“ zielt auf mili-
tärischen Geländegewinn, der mit massivem Einsatz von Munition
und Gerät erlangt wird.
– „Eine Preisschlacht“ führen. Der Preis nicht als Ausgleich für Leis-
tung oder als Ergebnis der Kalkulation oder als der Gegenwert, den
der Markt hergibt, sondern als Waffe.
– Manchmal ist es mit einer Schlacht nicht getan: Wir führen einen
ganzen „Preiskrieg“ – einen „totalen Krieg“. Wir zerstören die Bastio-
nen des Gegners und nehmen sein Territorium ein.
– „Eine aggressive Strategie fahren.“ Das Wort Stratege ist vom altgrie-
chischen „strátegos“ (Feldherr) abgeleitet. In Abwandlung eines be-
rühmten Grundsatzes des Generals Karl von Clausewitz, nach dem der
Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, sind Wirt-

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48 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

schaft und Handel heute die Fortsetzung des Kriegs mit anderen
Mitteln.
– Eine Branche durch „Zollmauern“ schützen. Im Mittelalter sind es die
Tore und Ziehbrücken der Stadtmauern, an denen Wegezoll erhoben
wird; heute sind es Zoll-, Währungs-, Steuer-, Rechts-, Subventions-
und Quotengrenzen.
– „Den Verhandlungspartner in die Enge treiben.“ Ihm Ausweg und
Rückzug versperren, zustechen und dann das Messer in der Wunde
langsam, sehr langsam herumdrehen.
– Eine „schlagkräftige Organisation“ aufbauen. Keine, die funktioniert,
effizient ist, ihrer Aufgabe gerecht wird; sondern eine, die zuschlägt,
draufhaut, reinsticht.
– „Mitarbeitern das Rückgrat brechen.“ Die widerlichste Form des Sie-
ges, bei der der Besiegte vor Schmerz winselnd am Boden liegt und der
Sieger seine Überlegenheit sadistisch auskostet.
– „Mit prall gefüllter Kriegskasse“ Wettbewerber aufkaufen. Nicht etwa
verhandeln, gemeinsame Interessen suchen, einen Ausgleich finden;
sondern einen Überfall inszenieren – so wie wir es mit unserem japa-
nischen Geschäftsführer getan haben.
– „Die Konkurrenz überrollen.“ Ihr die Luft zum Atmen abschnüren, sie
mit massiver Stärke erdrücken, weil es gut für sie ist. Ganz so wie die
Dampfwalze, die eine Henne überrollt, die danach aufsteht, sich
schüttelt und haucht: „Das war ein Hahn!“
Auch das vorherrschende westliche Begrüßungsritual deutet auf ständi-
ge Kampfbereitschaft. Die meisten Europäer reichen sich die rechte
Hand. Rechtshänder kämpfen mit dem rechten Arm und tragen deshalb
die Scheite, aus der sie das Schwert ziehen, links. Mit dem Hinstrecken
der rechten Hand zeigen sie, dass sie nicht zum Schwert greifen, um den
anderen niederzustechen. Die Kultur des Kampfes hat über Jahrtausende
unser Überleben gesichert und war deshalb eine Voraussetzung für un-
sere Evolution. Aber die Bedingungen sind heute andere. Wir spielen
kein Nullsummenspiel mehr, sondern ein anderes Spiel, verhalten uns
aber noch nach den alten Regeln. Wenn wir das nicht ändern, müssen wir
verlieren. Und verlieren heißt hier: verloren gehen.
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 49

Die Nullsummenmentalität geht von einer Torte aus, die es zu ver-


teilen gilt, nicht von dem dynamischen Modell eines Sauerteigs, dessen
Ferment sich bei sachgerechter Anwendung vermehrt. Unsere überhol-
ten Spielregeln bringen uns dazu, den Sauerteig aufzuessen, statt ihn
wachsen zu lassen. Wir brauchen neue Spielregeln. Nur ein weiterer
Evolutionssprung kann unsere Zukunft absichern. Eine Management-
kultur des Kampfes ist für beide kämpfenden Parteien lebensgefährlich
und aus übergeordneter Sicht nachteilig.
Einer siegt, ein anderer wird besiegt. Immer geht es dem Besiegten
schlecht. Wenn er überlebt, hat er viel verloren. Manchmal geht es auch
dem Sieger schlecht, weil er verletzt ist oder alles für den Sieg eingesetzt
hat – auch sich selbst. Manchmal geht es dem Sieger tatsächlich besser.
Aber weil der Besiegte Teil seines Umfelds ist, entwickeln sich die Dinge
langfristig oft ganz unerwartet. Der Hass, den der Sieger gesät hat, fällt
auf ihn zurück. Auch ein Sieger kann die Früchte seines Triumphes nicht
auf einem anderen Planeten ernten.
Dann gibt es aber noch die, die mit der Auseinandersetzung gar nichts
zu tun haben: Außenstehende, die sich heraushalten möchten, das aber
nicht immer können. Ein Unternehmen verliert wegen eines politischen
Konflikts seinen Absatzmarkt. Schüler und Berufstätige erreichen we-
gen eines Streiks ihren Arbeitsplatz nicht. Urlaubsreisende sitzen fest.
Ein Krieg lässt eine Rohstoffquelle versiegen und treibt die Preise nach
oben. Verseuchung macht eine Region unbewohnbar. Passagiere, Besat-
zungen, Passanten oder Bankkunden werden entführt, als Geiseln ge-
nommen, ermordet. Die Leidtragenden der Auseinandersetzung sind an
dem eigentlichen Konflikt überhaupt nicht beteiligt.
Die Ökonomen nennen solche immer schmerzhaften Nebenwirkungen
„negative externe Effekte“. Weil jeder Kampf negative externe Effekte
hat, ist die Summe der Auswirkungen eines Kampfes eine Verschlechte-
rung. Dies gilt für jeden Kampf, ganz gleich, ob er bewaffnet oder unbe-
waffnet ist.

Reife Gemeinschaften haben eine gute politische und gesellschaftliche


Ordnung, die ausschließlich kampflose Mechanismen zur Austragung
von Konflikten kennt. Dies gilt auch für Tarifkonflikte.

ȱ
50 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

Der unbewaffnete Arbeitskampf ist ein Fortschritt gegenüber der Lö-


sung von Arbeits- und Tarifkonflikten durch das Militär zu Anfang der
industriellen Revolution. In dieser Zeit entsteht die assoziative Gleich-
setzung von Demokratie und Streikrecht; in dieser Zeit ist sie berechtigt.
Die Verteilung des Reichtums ist die große Frage der letzten beiden
Jahrhunderte, die die politische Rechte von der politischen Linken
trennt, die den Kommunismus als Gegenpol zum Kapitalismus her-
vorbringt, die dramatische innenpolitische Auseinandersetzungen aus-
löst. Die Verteilungsfrage aber ist die Frage eines Spiels, das heute nicht
mehr gespielt wird: eines Nullsummenspiels.
Bei einem innerbetrieblichen Arbeitskampf gibt es, wenn er bis zur
Durchsetzung der einen oder der anderen Position ausgetragen wird,
einen Verlierer, dem das Rückgrat gebrochen, der faktisch versklavt ist.
Mit Verlierern kann eine Unternehmensleitung oder eine Belegschaft
keine großen Projekte angehen, keine Stärke im Wettbewerb entwickeln,
keine Zukunft gestalten. Der Sieg kann langfristig auch dem Sieger
keinen Vorteil bringen, weil Unternehmensleitung oder Belegschaft die
Kuh geschlachtet haben, die sie haben melken wollen.
Bei Flächentarifverträgen und einem Arbeitskampf in einer Branche
oder einem Tarifbezirk trifft dies nicht zu, kann die Solidarität zwischen
der Leitung und der Belegschaft eines Unternehmens erhalten werden.
Aber es gibt negative externe Effekte: Auf beiden Seiten werden die Ent-
scheidungen von Akteuren getroffen, die für die Folgen nicht haften, die
durch den Arbeitskampf ihren Arbeitsplatz, ihr Eigentum, ihre soziale
Existenz nicht verlieren. Die direkten Kosten des Kampfes müssen die
Unternehmen tragen; die indirekten, externen Kosten trägt die unbetei-
ligte Allgemeinheit.
Die Kampfestradition der Jäger ist nicht der einzige Code, der das
Verhalten der Manager weltweit bestimmt. In vielen Völkern dominiert
in der vergleichbaren Geschichtsepoche nicht die Jagd, sondern die Fi-
scherei, die anderen Regeln gehorcht. Versetzen Sie sich in die Haut
eines Fischers auf dem Pazifik. Obwohl seine langen Wellen, haushohen
Wasserfronten und wilden Stürme schrecklich sein können, wird er Stil-
ler Ozean genannt. Mit elf Männern sind Sie an Bord, einen halben Tag
von Ihrem heimatlichen Fischerdorf entfernt. Die See tobt, der Mast ist
gebrochen, Brecher überrollen das Deck, das Schiff droht zu kentern. In
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 51

dieser Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder kehren alle


lebend zurück oder es kehrt keiner lebend zurück. Das ist die Vorge-
schichte der Teamarbeit.
Der Du-oder-ich-Situation des afrikanischen und europäischen Jägers
entspricht auf dem Fischerboot eine Das-Boot-ist-voll-Mentalität: Ehe
wir alle untergehen, opfern wir die Hälfte der Mannschaft, damit die
andere Hälfte überlebt. Das klingt rational, ist aber nicht nur barbarisch,
sondern auch dumm. Die elf Männer sind auf dem Boot, weil jeder von
ihnen gebraucht wird. Der eine ist schwindelfrei und kann bei Sturm in
den Mast klettern, um das zerfetzte Segel herunter zu holen. Der andere
kann lange tauchen und dabei das Ruder unter Wasser richten. Der drit-
te ist kräftig genug, die Netze zu kappen. Ein vierter beherrscht die
Kunst, hohe Wellen so anzusteuern, dass das Boot nicht kentert. Wieder
andere sind flink im Wasserschöpfen, beherrschen die Navigation un-
term Sternenhimmel, haben eine „Wetternase“, können Lieder singen
und Mut machen. Jeder, der fehlt, ist ein Überlebensrisiko für den Rest.
Und wenn das Abenteuer glücklich ausgeht, haben es alle gemeinsam
geschafft und es gibt keinen Feldherrn, der die Ehrenfront abschreitet
und sich salutieren und für den Sieg feiern lässt.
Die Protestantische Ethik hat die Voraussetzungen für die industriel-
le Revolution in Europa vor 300 Jahren geschaffen, die außerhalb des
westlichen Kulturkreises zuerst Japan imitiert hat. Die Tradition der
pazifischen Fischer hat die Voraussetzungen für die organisatorische
Revolution in Japan im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts geschaffen,
die viele westliche Unternehmen imitiert haben.
Die verschiedenen Managementkulturen in Ost und West werden
durch die Nahrungsgewohnheiten verstärkt. Der Anbau von Weizen,
Roggen und Gerste im Westen geschieht auf Feldern, die zum Schutz vor
Eindringlingen mit Steinwällen umgeben werden, die sich zu Stadtmau-
ern entwickeln. Diese Mauern isolieren und bereiten dem Individualis-
mus den Boden. Sie sind nicht vergleichbar mit der chinesischen Mauer,
die – gleich dem Limes der Römer – die gesamte zivilisierte Welt ihrer
Zeit gegen eine barbarische Außenwelt abschirmt.
Der Anbau von Reis im Osten geschieht auf Feldern, die unter Wasser
stehen müssen. Die Terrassierung der Böden, die Anlage von Bewäs-

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52 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

serungsgräben und die Verteilung des Wassers sind isoliert nicht mög-
lich. Sie erzwingen Kooperation, Solidarität, Rücksicht. Rück-Sicht ist
das Gegenteil eines Vorwärtsstürmens mit Brachialgewalt, einer Nach-
mir-die-Sintflut-Mentalität. Rück-Sicht heißt zurücksehen und, falls wir
einen Vorsprung haben, den, der hinter uns ist, nachholen, ihm helfen,
ihn nicht allein zurücklassen.
Ohne die erste Stufe des technischen Plagiats durch Japan wäre das
japanische Organisationsmodell nicht entstanden, und die Unternehmen
der Welt würden noch immer in westlicher militärischer Tradition ge-
führt. Wenn es Japan nicht gäbe, müsste es erfunden werden. Ohne die
zweite Stufe des organisatorischen Plagiats durch den Westen würden
entweder japanische Unternehmen inzwischen die gesamte Welt beherr-
schen – ganz so wie die britischen im 19. Jahrhundert – oder es würde
wegen protektionistischer Abwehrfronten keine Weltwirtschaft geben,
sondern einen Handelskrieg, gegen den das, was wir jetzt erleben, ein
Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel ist.
„Es ging ein Sämann aus, zu säen“, zitiert der Apostel Matthäus Jesus:
„Und indem er säte, fiel etliches auf den Weg; da kamen die Vögel und
fraßen’s auf. Etliches fiel in die Steine, und dieweil es nicht Wurzeln
hatte, ward es dürre. Etliches fiel unter die Dornen, und die Dornen
wuchsen auf und erstickten’s. Etliches fiel auf gutes Land und trug
Frucht.“ Frucht – und das heißt Ergebnis unseres Denkens, Erfolg unse-
rer Arbeit, Gewinn unserer Unternehmen – braucht gutes Land, das nur
in einer bestimmten kulturellen Konstellation entsteht.
In einer „fruchtbaren“ kulturellen Konstellation findet sich immer
auch ein Sämann, der das Geschäft besorgt: ein Unternehmer, ein Mana-
ger, ein Politiker, der die Gunst der Stunde erkennt und ergreift.

Der Stand der globalen Managementkunst ist eine Synthese der tech-
nisch-industriellen europäischen und der organisatorisch-strategi-
schen asiatischen Revolution; er basiert auf dem Reparaturparadigma,
nach dem optimale Entscheidungen unsere Probleme lösen und Auswe-
ge finden.

Mit dieser linearen Zauberkunst bekämpfen wir zum Beispiel


Malariamoskitos in Indonesien mit Pestiziden. Dabei gehen auch her-
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 53

umstreunende Katzen ein und Wespen sowie Insektenpopulationen, die


die landesüblichen malerischen Reetdächer bevölkern. Die Folgen sind
eine Rattenplage, eingestürzte Dächer und der Tod der schwächsten
Malariamoskitos. Die resistenteren Moskitos, die gegen unsere Medi-
kamente immun sind, nehmen den Lebensraum ihrer schwächeren Art-
genossen ein. Jetzt ist wieder die Pharmazie an der Reihe. Die nächste
Runde im Kampf gegen die Natur wird eingeläutet.
Unsere lineare Zauberkunst kann dem chinesischen Milliardenvolk
nicht das Recht absprechen, pro Kopf genau so viel Energie zu ver-
brauchen wie die Nordamerikaner. Dazu müssen 5 000 Atomkraftwerke
gebaut werden. Und damit die Chinesen pro Kopf so viele Autos fahren
können wie andere asiatische oder europäische Völker – und auch das
steht ihnen zu –, muss die Erdatmosphäre den doppelten Kohlendioxyd-
ausstoß verkraften. Ob sie das wohl kann? Unsere Zukunft hängt davon ab.
Unsere Sachzwänge haben uns gefesselt und lassen uns keine andere Wahl.
Würden Sie als Unternehmer auf einer solchen Grundlage strategi-
sche Entscheidungen treffen? Ausgangspunkt jeder soliden Unterneh-
mensstrategie ist eine „Worst-Case-Analyse“: Wir gehen davon aus, dass
„der schlimmste mögliche Fall“ eintritt. Wenn das Unternehmen den
übersteht, können wir es wagen. Das schlimmste Szenario unserer linea-
ren Zauberkunst ist die Zerstörung der Bedingungen, unter denen Men-
schen auf der Erde leben können.
Der Evolutionssprung, der notwendig ist, um diesem Teufelskreis zu
entrinnen, definiert die Rolle des Menschen neu. Er muss über seine
Verantwortung für eine einzelne Fachdisziplin, für ein einzelnes Unter-
nehmen, für einen einzelnen Staat hinauswachsen und Verantwortung
für das Ganze übernehmen: für unseren kleinen Planeten und alles, was
zu ihm gehört. Und zu ihm gehört – wie die Augen zu den meisten von
uns – die Menschheit; die gesamte Menschheit.

Unsere besten Köpfe werden mit den größten Auszeichnungen dazu


motiviert, die kleinsten Details zu erforschen. Unsere besten Unter-
nehmer werden mit den höchsten Gewinnen dazu motiviert, die nied-
rigsten Bedürfnisse zu befriedigen. Unsere besten Politiker werden mit
den eindrucksvollsten Wahlergebnissen dazu motiviert, die kurzfris-
tigsten Partikularinteressen durchzusetzen.

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54 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

All das bereitet unseren kollektiven Selbstmord vor. Wir müssen die
Verantwortung des Managements in Wirtschaft und Gesellschaft, in
Kultur und Politik neu definieren: Verantwortung übernehmen heißt:
Ursache sein für das, was geschieht – für alles was geschieht.
Ursache für die industrielle Revolution in Europa ist die Protestanti-
sche Ethik. Ursache für die asiatische Veredelung dieser Revolution sind
die Überlebensbedingungen pazifischer Fischer und Reisbauern. Nie-
mand trägt dafür die Verantwortung. Die Evolution hat es so eingerich-
tet. Die europäischen Protestanten und die pazifischen Fischer haben
vieles im Sinn, aber gewiss nicht Industrialisierung und Wirtschafts-
wachstum; sie sind nicht bewusst Ursache, und sie tragen für das, was
sie auslösen, keine Verantwortung.
Heute wissen wir, was wir tun. Der Evolutionssprung, den wir bewäl-
tigen müssen, wenn wir als Menschheit auf der Erde überleben wollen,
ist von anderer Art wie der von der Jäger-und Sammlerzeit ins Agrarzeit-
alter oder der vom Agrarzeitalter ins Industriezeitalter. Das Ausmaß des
jetzt notwendigen Evolutionssprungs entspricht demjenigen, durch den
sich die Primaten zum homo sapiens entwickelt haben – einem radikal
neuen Bewusstsein, einem radikal neuen Denken.
Die Geschichte lehrt uns, wie das funktioniert. Die Europäer sind so
programmiert, dass sie gar nicht anders können, als die industrielle
Revolution zu erfinden. Die Japaner sind so programmiert, dass sie gar
nicht anders können, als die organisatorische Revolution zu erfinden.
Wir alle müssen uns also jetzt so programmieren, dass wir gar nicht
anders können, als dauerhaft würdige Lebensbedingungen für die ge-
samte Menschheit auf unserem Planeten zu schaffen. Der Evolutions-
sprung besteht darin, dass wir nicht auf einen Calvin oder anderen
Heilsbringer warten, sondern dass wir durch ein neues Denken sehen,
was für das Ganze jetzt getan werden muss, und es tun.

Wenn Schimpansen die Flugsicherung übernehmen wollen, ist es besser


sie erkennen, dass sie dafür nicht reif sind. Wenn wir Menschen in die
Schöpfung eingreifen wollen, ist es besser wir erkennen, dass unser
Wissen, unser Denken und unser Bewusstsein dafür nicht reif sind.
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 55

Nach heutiger jüdischer, christlicher und islamischer Vorstellung le-


ben wir ein einziges Mal, und dann ist endgültig Schluss. Die Details
dessen, was danach passiert, sind zwischen den einzelnen Religionen
strittig. Diese Endgültigkeit reduziert den zeitlichen Horizont auf weni-
ge Jahrzehnte, Sekunden für die Erdgeschichte. Da die Zeit nach unse-
rem irdischen Tod für immer ohne uns weitergeht, sind wir überfordert,
dafür uneingeschränkte Verantwortung zu übernehmen. Das ist mensch-
lich.
Der Einfluss des Christentums in den traditionell christlichen Län-
dern geht mehr und mehr zurück, und viele sind nicht sicher, ob es über-
haupt einen Gott gibt, dem gegenüber sie sich verantworten müssen. Das
macht es noch schwerer, in dieser kurzen Sekunde die uneingeschränkte
Verantwortung für eine Ewigkeit zu übernehmen. „Carpe diem“ (pflücke
den Tag, lebe jede Stunde) – dieses Motto des römischen Dichters Quin-
tus Horatius Flaccus wird zu der Aufforderung umgedeutet, alles mitzu-
nehmen, was zu holen ist. Auch das ist menschlich.
Weil wir aber menschlich sind, können wir – im Gegensatz zu den Tie-
ren – denken. Blaise Pascal löst die Frage nach Gott mit kristallklarer
Logik: „Nehmen wir an, Gott ist oder ist nicht. Wägen wir Gewinn und
Verlust für den Fall, dass wir darauf setzen, dass Gott ist. Wenn Sie ge-
winnen, gewinnen Sie alles; wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts.
Setzen Sie also ohne zu zögern darauf, dass Gott ist.“
Darf ich den Gedanken Pascals weiterführen? Nehmen wir an, wir le-
ben nur ein einziges Mal oder wir werden immer wieder geboren, „inkar-
nieren“ also immer wieder von neuem. Wägen wir Gewinn und Verlust
für den Fall, dass wir darauf setzen, dass wir immer wieder neu geboren
werden. Wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles. Wenn Sie verlieren,
verlieren Sie nichts, schaffen aber dauerhaft gute Lebensbedingungen
für die jetzige und zukünftige Menschheit auf der Erde.
Sollte sich dann herausstellen, dass es keine Reinkarnation gibt, müs-
sen wir nach unserem Tod Gott umstimmen und sie erfinden, damit wir
die guten Früchte, die wir gesät haben, hier „unten“ noch einmal genie-
ßen können. Gott wird sich bereitwilliger umstimmen lassen, wenn wir
die Verantwortung übernehmen und sie nicht auf ihn schieben; wenn wir
Ursache und damit Schöpfer dieser Entwicklung sind und uns nicht

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56 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

hinter ihm verstecken; wenn wir ihn durch unsere Entscheidungen und
durch unsere Taten wirken lassen. Vielleicht liegt es, nachdem wir uns
zu verantwortungsvollen Mitschöpfern entwickelt haben, dann sogar in
unserer Hand, die Reinkarnation zu bewirken.
Die Idee der Reinkarnation ist sehr alt. Weltreligionen sind auf ihr
aufgebaut, auch das Urchristentum. Der Mensch ist voll und ganz verant-
wortlich für jede seiner Handlungen. Niemand kann ihm Absolution
erteilen, außer er selbst, indem er das, was er angerichtet hat, wieder
ausgleicht – wenn nicht jetzt, dann in späteren Leben. Damit ist nichts in
diesem Leben endgültig.
Die Offenheit der Gegenwart schränkt die Autorität der Kirche ein
und hat zu einem religiösen Separatismus im Westen des Römischen
Reiches geführt. Das Konzil unter Kaiser Justinianus I. hat im Jahre 553
die ökumenische Einheit nur wieder herstellen können, indem es dieje-
nigen Stellen aus der Bibel entfernt hat, die die Reinkarnation als
selbstverständlich voraussetzen.
Sünde heißt auf hebräisch, in der Sprache des Alten Testaments: „das
Lebensziel verfehlen“ und auf aramäisch, in der Muttersprache Jesu:
„von der Einheit getrennt, nicht mehr ganz sein“ – nicht mehr eins mit
dem Ganzen. Eins sein – und dadurch ein Teil des Ganzen – heißt auf
lateinisch „integer“. Fehlende Integrität löst uns von der Einheit, vom
Ganzen und bringt uns ins Verderben.
Die Trennung von der Einheit, die verlorene Integrität, wird im bibli-
schen Gleichnis als Vertreibung aus dem Paradies geschildert. Für die
Verfehlung des Lebensziels steht das Schmachten in der Hölle. Und bei-
des liegt so nah: Machen wir aus der Erde eine Hölle, so verdammen wir
uns selbst und zerstören unsere eigene Zukunft. In unseren zukünftigen
irdischen Existenzen werden wir es dann in dieser Hölle aushalten müs-
sen. Machen wir aus der Erde ein Paradies, so haben wir unsere Vertrei-
bung aus dem Paradies rückgängig gemacht und den Sündenfall ausge-
glichen. In zukünftigen irdischen Existenzen werden wir dann – Eins mit
dem Ganzen – im Paradies leben.
„Der Segen des Herrn macht reich ohne Mühe“, verheißt uns der Pro-
phet Salomo zu alttestamentlicher Zeit für den Fall, dass wir integer
werden. „Das goldene Zeitalter des Menschengeschlechts liegt nicht
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 57

hinter uns, es liegt vor uns“, schreibt Claude Henri de Saint-Simon im


Jahre 1814, „es liegt in der Vervollkommnung der gesellschaftlichen
Ordnung.“ Vielleicht hat die Physik mit dem „string“ (Saite) den fun-
damentalen Naturbaustein entdeckt – die „quinta essentia“ der Alchi-
misten, das Eine, aus dem alles geworden ist und alles werden kann. Ein
String – 100 Trillionen mal kleiner als der Radius eines Atomkerns –
schwingt wie eine Violinsaite und kann je nach Schwingungszustand
alle beobachtbaren Elementarteilchen und Kräfte bilden. Dies wäre „a
theory of everything“ (eine Theorie für alles, was ist).
Der Philosoph Platon lebt von 427 bis 347 vor Christus in Athen. Für
ihn ist der Körper nur „ein zeitweiliger Behälter der Seele, die ewig ist“.
Das Hineingeborenwerden der Seele in einen Körper geschieht von ei-
nem anderen Bewusstseinszustand aus. Der Tod entspricht einem Erwa-
chen und Sich-Erinnern und führt die Seele in die reale Welt zurück, in
der sie beginnt, sich auf eine neue körperliche Existenz vorzubereiten.
Ein Erdenleben ist so etwas wie ein wichtiger Außendienst, der immer
die Gefahr in sich birgt, den Kontakt zur Zentrale zu vernachlässigen, zu
vergessen, zu verlieren.
Weil wir uns an frühere Existenzen in der Regel nicht erinnern, haben
sie so nachhaltigen Einfluss auf unser Jetzt; sie liegen außerhalb unse-
res bewussten Zugriffs, der die Erinnerung deshalb nicht manipulieren,
umdeuten und zur eigenen Rechtfertigung verfälschen kann. In ähnli-
cher Weise geht innerhalb unseres gegenwärtigen Lebens die stärkste
Prägung von unseren Erfahrungen in der frühen Kindheit aus, an die wir
uns am wenigsten erinnern.
Die Beziehung zwischen dem Jenseits und dem Diesseits entspricht
der Beziehung zwischen dem Diesseits und einem nächtlichen Traum.
Während wir träumen, ist der Traum unsere Realität. Wir wissen nicht,
dass wir träumen, und erinnern uns nicht an frühere Träume. Wir müs-
sen erwachen, um zu erkennen, dass es nur ein Traum gewesen ist. Erst
im wachen Zustand sehen wir den Zusammenhang. Solange wir schlafen,
erkennen wir die Wachen nicht; auch um sie zu erkennen, müssen wir
aufwachen.
In unserem irdischen Leben ist es ebenso: Wir wissen nicht, dass es
ein Trancezustand ist, und erinnern uns nicht an frühere Trancezu-

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58 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

stände. Erst wenn wir aufwachen – nach dem Tod –, erkennen wir, dass es
nur eine irdische Inkarnation war. Nur im Zustand höherer Bewusstheit,
nur von einer größeren Wirklichkeit aus, die über einer beschränkten
Sicht von diesseitigem „Außendienst“ und von jenseitigem „Innen-
dienst“ liegt, sehen wir den Zusammenhang. Unser irdischer Körper und
unser irdischer Verstand filtern unsere Sicht der Realität.
Aus einer solchen höheren Sicht möchte ich Immanuel Kants kate-
gorischen Imperativ weiterentwickeln. „Handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines
Gesetz werde“, fordert Kant: Wenn ich Verträge nicht einhalte, muss ich
wollen können, dass niemand Verträge einhält. Wenn ich stehle oder
lüge, die Versicherung oder das Finanzamt betrüge, verboten parke oder
die Geschwindigkeit überschreite, muss ich wollen können, dass jeder
andere das auch tut.
Aus der Forderung Kants folgt eine formale und auf die anderen be-
zogene Ethik, bei der wir in Sachen Geschwindigkeitsüberschreitung
oder Steuerbetrug vielleicht Einigkeit erzielen können – wenn wir nicht
integer sind, nicht eins mit dem Ganzen, unseren Vorteil heimlich su-
chen, eine umfassende Verantwortung aber nicht annehmen.
Platons Philosophie ist auf das Selbst jedes einzelnen bezogen. Vor
uns selbst können wir uns nicht verstecken. Daraus folgt eine inhaltliche
Ethik, eine umfassende und zeitlich nicht begrenzte Verantwortung des
Menschen. Dieses Paradigma ist es, das den Menschen auf eine höhere
Evolutionsstufe hebt und jeden einzelnen von uns ganz und gar uner-
setzlich im Bewusstsein Gottes macht. Kein anderer kann unseren Teil
ausfüllen. Und wenn wir ihn leer lassen, weil wir unser Potenzial vergeu-
den, wartet die Welt auf unsere Rückkehr – auf ewig, wenn wir es so wollen.

Integrität ist eine Zumutung, wenn wir für kurze Zeit eingeschränkte
Möglichkeiten haben. Wer keine Zukunft hat, kann nicht integer sein.

Stellen Sie einen Tagelöhner an die Hauptkasse einer Bank? Wer mit
großen Summen für nur einen Tag hantiert und sich nicht bedient, ist
ein Trottel. Wer nur ein Leben hat und die gigantische Erbschaft unseres
Planeten nicht verjubelt, ist ein Schwachkopf. Unsere gegenwärtigen
Schwierigkeiten sind Ergebnis des Paradigmas der Einmaligkeit und
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 59

unserer Eitelkeit: Trottel oder Schwachköpfe wollen wir nicht sein, und
wir sind es auch nicht.
Dieses Leben ist ein einziger Ton in einer Symphonie der Ewigkeit.
Hier und jetzt kennen wir nur diesen einen Ton, ahnen den Zusam-
menhang nicht und erkennen Schönheit und Größe des Kunstwerks
nicht. Das Vollkommene aber ist in uns – als Bestimmung, als Aufgabe,
als Sein – und bereit, durch uns in die Welt hinauszustrahlen.
Erst das Wissen um die Ewigkeit der Seele macht integer. Es trans-
zendiert Adam Smiths „unsichtbare Hand“ auf eine höhere Evolu-
tionsstufe: Der Bäcker interessiert sich nicht für Ihre Frühstücksbröt-
chen; der Mechaniker nicht für Ihr Auto; der Arzt nicht für Ihre
Gesundheit. Jeder interessiert sich einzig und allein für seinen eigenen
Geldbeutel. Und das Ergebnis: Das Wunderwerk einer funktionierenden
Marktwirtschaft, in der alle mit Kaufkraft ausgestatteten Bedürfnisse
befriedigt werden.
Das Wissen um die Ewigkeit der Seele ist ein Paradigma, das unsere
Welt nicht so lassen kann wie sie ist: Wem nützt Betrug? Wem nützen
unsaubere Geschäfte? Wem nützen gefälschte Bilanzen? Wem nützt die
Unterdrückung politischer Gegner? Wem nützen Gewinne auf Kosten
von Menschenleben? Wem nützt Umsatz auf Kosten der Natur? Wem
nützt wirtschaftliches Wachstum zu Lasten unserer Zukunft? Wem nüt-
zen Mord und Völkermord, wenn wir unsterblich sind? Im Jenseits be-
gegnen die Täter ihren Opfern; sie müssen ihre Schuld durch viele Leben
abtragen – bis ihre Opfer ihnen verziehen haben. In den Worten Jesu:
„Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und
nähme doch Schaden an seiner Seele?“
Die Volksweisheit hat für Schuld gegenüber dem Opfer und Schuld bei
dem Gläubiger ein und dasselbe Wort, weil es zwei sehr ähnliche Dinge
sind: Opfer erhalten Gutschriften auf Kosten des „Kontostands“ der
Täter, die sich langfristig selber opfern. Der Buddhismus und der Hindu-
ismus nennen diesen Kontostand in der wahren jenseitigen Realität
„Karma“. Jede Schuld fällt karmisch auf ihre Verursacher zurück.
Mit dieser Erkenntnis wird unsere Lust am Ausstechen von Rivalen,
der Drang zu siegen, der Impuls, stärker, schneller und besser zu sein,
aufgelöst und verwandelt in einen bedingungslosen Willen zur Ko-

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60 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

operation. Mit dieser Erkenntnis operieren wir ethisch in den schwarzen


Zahlen und sind bereit, mehr von uns zu geben, als wir von anderen
nehmen – und das ist es, was Liebe im christlichen Sinne bedeutet. Mit
dieser Erkenntnis bilden wir eine Glaubensgemeinschaft derer, die um
ihre Verantwortung wissen und danach handeln, und die der chinesische
Weise Kong Qin (Konfuzius), der von 551 bis 479 vor Christus gelebt hat,
so erklärt:
„In alten Zeiten, als die Führer um das Wohlergehen ihrer Untertanen
noch besorgt waren, wollten sie ihre Staaten weise regieren. Um ihre
Staaten weise regieren zu können, strebten sie zuerst danach, ihre Fami-
lien in Ordnung zu bringen. Bei dem Streben nach Ordnung in ihren
Familien, mussten sie bemüht sein, gute Menschen zu werden. Für das
Ziel, gute Menschen zu werden, trachteten sie danach, ihre Herzen zu
reinigen. Beim Trachten nach der Reinigung ihrer Herzen, durften sie
nur noch aufrichtige Gedanken haben. In dem Bemühen um aufrichtige
Gedanken arbeiteten sie an der Vergrößerung ihres Wissens. Und bei der
Vergrößerung ihres Wissens entdeckten sie die Beweggründe für die
Taten der Menschen.
Nachdem sie die Beweggründe für die Taten der Menschen entdeckt
hatten, vergrößerte sich ihr Wissen. Aufgrund ihres großen Wissens
konnten sie nur noch aufrichtige Gedanken haben. Die aufrichtigen
Gedanken reinigten ihre Herzen. Sobald ihre Herzen rein waren, wurden
sie zu guten Menschen. Als gute Menschen gelang es ihnen, ihre Fami-
lien in Ordnung zu bringen. Mit geordneten Familien konnten sie ihre
Staaten weise regieren. Und nachdem ihre Staaten weise regiert wurden,
lebten ihre Untertanen in Wohlergehen und Glück.“
Aus diesem jetzt wiederentdeckten, neuen Denken entsteht, wie Mar-
tin Heidegger es formuliert, „die jetzt erst beginnende Weltzivilisation,
die einst das technisch-wissenschaftliche Gepräge als die einzige Maß-
gabe für den Weltaufenthalt des Menschen überwindet.“ Es ist eine
Weltzivilisation, in der wir uns mit der gesamten Menschheit und ihrem
Planeten identifizieren, in der wir für die Folgen unserer Handlungen bis
zur letzten Konsequenz haften und in der Integrität das einzige Tor zum
Erfolg ist.
PRAXISBEISPIEL 2: Der Unternehmertag 61

PRAXISBEISPIEL 2: Der Unternehmertag


Ein Konferenzhotel in Flughafennähe. Ein schöner lichtdurchfluteter
Raum mit einer durchgehenden Fensterfront. 25 Damen und Herren
Unternehmer und Manager sitzen in einem offenen Stuhlkreis um ei-
nen üppigen Blumenstrauß. Herr Schneider und Frau Tisch haben in der
Runde nebeneinander Platz genommen. Einige blättern in ihren dicken
Tagungsordnern. Auf dem Deckblatt neben den Fotos der Partner der
ohm-Resonanzschmiede stehen ausgefallene Tätigkeitsbezeichnungen:
Gipfelexpeditionsführer, Begeisterungsfeuerwerker, Veränderungs-
navigator, Denkbaumeister, Wildwasserlotse, Visionsgoldschmied, Po-
tenzialverstärker und Ressourcenschürfer. Zwei dieser Exoten leiten
das heutige Seminar.
Lautsprecher füllen den Raum mit den italienischen „Concertos“ in f-
Moll von Jacques Loussiere – eigenwilligen Jazz-Interpretationen Jo-
hann Sebastian Bachs. „Sehen Sie“, flüstert Claudine Tisch ihrem
Nachbarn zu, „bei dieser Musik wissen wir gar nicht mehr, ob sie nun
deutsch oder französisch ist.“ „Aber sie gefällt mir“, bemerkt Herr
Schneider und beide lachen erleichtert. Alle Stühle im Kreis sind be-
setzt, knisternde Neugier liegt in der Luft, es ist 8.55 Uhr, in drei Minu-
ten beginnt der Unternehmertag der ohm-Resonanzschmiede.
Die beiden Referenten stellen sich mit wenigen Sätzen vor, holen
kurz das Einverständnis der Teilnehmer zum Ablauf des Tages ein und
einer der beiden entführt die Runde mit Sphärenklängen im Hinter-
grund – auf eine seltsame Reise:
Gönnen Sie es sich, zu entspannen und finden Sie das Zentrum in
sich. Wenn Sie einen Schutzengel haben, bitten Sie ihn zu kommen,
während wir uns auf eine Reise vorbereiten. Erlauben Sie Ihrem Herzen
sich von den Worten, die jetzt folgen, treiben zu lassen.
Nachdem Sie das Restaurant betreten haben, hören Sie, wie die Tür
hinter Ihnen zufällt. Sie gehen hinein und der Maître De begrüßt Sie
mit einem liebenswürdigen Lächeln. Er freut sich, Sie wiederzusehen
und reicht Ihnen die Hand. Sie sind überrascht, dass er sich an Ihren
Namen erinnert. Er führt Sie zu einem vertrauten freundlichen Gesicht
an der Garderobe. Das Mädchen lächelt und sagt: „Darf ich Ihnen Ihre

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62 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

Sorgen und Ihren Kummer abnehmen? Die werden Sie hier nicht brau-
chen, sie könnten Sie daran hindern, Ihr Essen bei uns zu genießen.“ Sie
zögern, Sorgen und Kummer abzugeben, diese Dinge sind Ihnen so sehr
vertraut. Aber das Mädchen sagt, dass sie alles sorgsam aufbewahren
und behüten wird, als Sie es über die Garderobentheke reichen. Sie lä-
chelt, als sie Ihre Sorgen entgegennimmt und gibt Ihnen eine kleine
Quittungsmarke. „Hier ist Ihre Kummerquittung. Zeigen Sie den Zettel
hier vor, wenn Sie diese Dinge wieder mitnehmen wollen, nachdem Sie
bei uns gewesen sind ...“
Sie erwidern das Lächeln des Mädchens hinter der Theke, fühlen sich
nun wohl damit, dass sie Ihre Wertsachen aufbewahrt und freuen sich
auf die Erfahrung des Abendessens.
Das lächelnde Gesicht des Maître De lädt Sie jetzt ein, ihm zu folgen.
Er führt Sie zu Ihrem Lieblingstisch. „Ein gutes Menu beginnt mit ei-
nem Lächeln“, sagt er und sein eigenes wunderschönes Lächeln lässt
den Tisch, an dem Sie mit Ihren Freunden Platz nehmen, in warmem
Licht erstrahlen. Die Energie, die er mit seinem Lächeln geschaffen hat,
ist wie eine verzauberte Wolke, die alles und jeden an Ihrem Tisch
durchdringt. Sie beginnen, sich gegenseitig anzulächeln, und die Ener-
gie dieses Lächelns bleibt, auch als der Maître De gegangen ist.
Bald kommt die Bedienung, grüßt Sie, nimmt Ihre Getränkewünsche
entgegen und erklärt Ihnen den Stil dieses Essens: „Hier und heute ist
ein ganz besonderer Abend für Sie. Wir sind sehr glücklich, dass Sie
hier sind. Wir möchten gern Ihre Zeit bei uns zu einer außerge-
wöhnlichen Erfahrung werden lassen. Unser Küchenchef wird das Menü
ganz nach Ihren Wünschen zusammenstellen und zubereiten. Auch der
anspruchsvollste Gast wird sehen, dass wir seine Wünsche erfüllen.“
Die Energiewolke, die durch den Maître De geschaffen worden ist, be-
ginnt sich aufzulösen. Im gleichen Augenblick lächelt die Kellnerin und
füllt die Energie, die den Tisch einhüllt, wieder auf.
Die Kellnerin überreicht jedem eine Karte. „Lassen Sie mich erklären,
wie unser Menü arrangiert ist, und dann werde ich Ihnen jede Frage be-
antworten, die Sie haben. Das Essen besteht aus sieben Gängen. Im ers-
ten Teil der Karte stehen die Appetizer. Das sind sehr leichte kleine
Schleckereien, die Ihren Magen aufwecken, sodass Sie die späteren
PRAXISBEISPIEL 2: Der Unternehmertag 63

Gänge richtig genießen können. Jeder der drei nächsten Gänge ist zu-
bereitet worden, um den Hauptgang danach richtig zur Geltung zu
bringen. Die beiden letzten Gänge schließlich sind leichte, leckere Des-
serts.“
Nach diesen Erklärungen beginnen Sie die Karte zu studieren, um zu
schauen, worauf Sie Lust haben. Während Sie sie durchblättern, fährt
die Kellnerin fort: „Es gibt viele Spezialitäten, die nicht in der Karte
stehen. Bitte erlauben Sie mir, Ihnen davon zu erzählen. Wir haben ein
besonderes Menü, dessen Vorspeisen Hoffnungen und Träume sind.
Diese Vorspeisen sind leicht, luftig und angenehm und machen über-
haupt nicht satt. Dabei können Sie jeden beliebigen Traum aus Ihren
Fantasien wählen.
Danach folgen drei Gänge mit Aufgaben, die Ihnen das Hauptgericht
wunderbar schmecken lassen. Der zweite Gang beruht auf Angst und
bildet so einen wunderbaren Kontrast zum letzten Gang der Liebe und
auch eine Motivation, die anderen Gänge nicht zurückgehen zu lassen.
Der dritte Gang ist eine schöne Portion Beziehungen, eingelegt in einer
Kommunikations-Soße. Der vierte Gang sind Stachelbeeren des Beur-
teilens, bedeckt mit Blättern aus freiem Willen. Das Hauptgericht ist
eine gut gewürzte üppige Platte mit Leidenschaft, die wir auf der
Grundlage von ,action‘ und gewürzt mit Drama servieren. Die beiden
letzten Gänge sind Zufriedenheit und – zum Abschluss – von köstlichem
Tiramisu bedeckte Liebe. Zwischen den Gängen servieren wir, um den
Magen zu reinigen, jeweils eine kleine Kugel von leichtem Spirituali-
täts-Eis.“
Nachdem Sie nun wissen, welche Art von Gerichten es in diesem Res-
taurant gibt, studieren Sie die Karte sorgfältiger. Wenn Sie an die gro-
ße Auswahl und die vielen Möglichkeiten denken, bekommen Sie richtig
Appetit.
Kurz darauf wählen Sie Ihre Speisefolge aus und die Bedienung ver-
schwindet in der Küche. Jedes Mal, wenn ein Gang aufgetischt wird,
wird Ihnen etwas klar: Wenn Sie nicht ausdrücklich etwas Bestimmtes
bestellen, wird Ihnen das serviert, was der Küchenchef in diesem Au-
genblick gerade zur Hand hat. Was Sie dann bekommen, ist nicht so gut
wie die Gänge à la carte. Schließlich weiß jeder, dass Eifersucht und

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64 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

Vertrauen niemals zusammen serviert werden. Sie müssen immer nur


selbst auswählen und es der Bedienung sagen. Trotzdem sind viele Leu-
te im Restaurant und einige sogar an Ihrem Tisch, die – weil sie nichts
von dem bestellen, was auf der Karte steht – bekommen, was gerade
übrig ist. Einigen fällt es schwer, sich zu entscheiden, und sie nehmen
einfach das, was gebracht wird.
Am Ende der Mahlzeit kommen die Kellnerin und der Maître De zu-
rück zu Ihrem Tisch. Während dieses für Sie sehr besonderen Menüs
sind beide gelegentlich an Ihrem Tisch gewesen und haben die Ener-
giewolke mit ihrem Lächeln wieder aufgefüllt. Nun ist die Mahlzeit vo-
rüber und beide stehen an Ihrem Tisch und danken Ihnen, dass Sie zum
Essen hier gewesen sind. Sie greifen in Ihre Tasche, um die Kummer-
Quittung herauszuholen, die Sie beim Hereinkommen erhalten haben.
Für einen Augenblick schauen Sie erstaunt auf den Zettel, dann knüllen
Sie ihn in Ihrer Hand zusammen und lassen ihn auf den Tisch fallen. Sie
haben sich entschieden, Ihre Sorgen und Nöte nicht wieder mitzuneh-
men, weil sie jetzt für Sie keine Bedeutung mehr haben. Ein Essen wie
dieses hat Ihre Schwingung verändert. Den Kummer, mit dem Sie her-
eingekommen sind, brauchen Sie jetzt nicht mehr.
Sie wollen schon nach draußen gehen und werfen noch einen kurzen
letzten Blick zurück in das Restaurant. Dort sehen Sie eine andere
Gruppe von Gästen an einem Tisch sitzen und auch den Maître De, wie
er dabei ist, ihnen das wunderbare Menu zu erklären. Einer am Tisch
fragt etwas, was Sie zufällig mitbekommen: „Und was ist, wenn mir ein
Gang, den ich bestellt habe, nicht schmeckt?“ Er lächelt breit und sagt:
„Wir sind hier, um Sie zu bedienen, und wir möchten jedem von Ihnen
das nach seinem Geschmack Beste bringen. Deshalb denken Sie bitte
immer daran: Wenn Sie nicht mögen, was Sie auf dem Teller haben, su-
chen Sie sich einfach etwas anderes aus.“
Damit verlassen Sie das Restaurant und gehen zurück zum Aus-
gangspunkt dieses Ausflugs. Sie spüren ein Lächeln auf Ihrem Gesicht
und Zufriedenheit in Ihrem Herzen – wie wenn Sie gerade von einem
wunderbaren Essen kommen. Und so ist es auch ...
Es folgt ein aufregender Tag voller kurzweiliger Erlebnisse. Jeder in
der Runde spürt die Macht, mit der er seine eigenen „Bestellungen auf-
PRAXISBEISPIEL 2: Der Unternehmertag 65

geben“ – sein eigenes Umfeld ändern kann, wenn er es wirklich will und
integer ist. An Beispielen wird demonstriert, was eine klare und einheit-
liche Ausrichtung von Gedanken, Sprache und Glaubenssätzen im Un-
ternehmen bewirkt, wie wir unsere unendlichen Möglichkeiten durch
unser Denken beschränken, warum wir Dinge, die wir nicht denken,
auch nicht erschaffen können, und wie unser Leben und das Geschäfts-
ergebnis von Unternehmen von unseren alten Denk- und Handlungs-
mustern produziert wird.
Jeder geht mit praktischem Handwerkszeug nach Hause, das es ihm
erlaubt, den inneren Schaltplan seines Unternehmens oder Ge-
schäftsbereichs neu auszurichten. Ein Betriebsleiter, der als „Wieder-
holer“ im Kreis sitzt, berichtet, wie er nach einem solchen Unterneh-
mertag seinen Betrieb ganz allein erfolgreich neu ausgerichtet hat, mit
dem Ergebnis, dass die Umsatzrentabilität jetzt fünf Mal so hoch ist
wie zuvor.
Claudine Tisch und Harald Schneider erfahren, warum jeder Füh-
rungswechsel riskant ist und die meisten Fusions- und Akquisitions-
projekte scheitern: Unterschiedliche Resonanzfelder werden zusam-
mengeworfen und es entsteht Schwingungssalat. Als sie den Raum
kurz nach 18.00 Uhr verlassen, haben sie ein gemeinsames Projekt de-
finiert: Die Eingliederung ihres Geschäftsbereichs in den neuen Mut-
terkonzern soll ein Erfolg werden. Führung heißt Verantwortung über-
nehmen. Verantwortung übernehmen heißt Ursache sein für das, was
geschieht. Die beiden sind entschlossen, gemeinsam die Ursache für
diesen Erfolg zu sein.

ȱ

Unternehmen sind nicht für den Markt da 67

3 Unternehmen sind nicht für den


Markt da
Als die Sekretärin ihm das Schriftstück hereinbringt, versteinert sich
sein Gesicht. Eine Hiobsbotschaft. „Sie wollen uns aushungern“, sagt
Kurt Schumacher, „sie wollen alle Deutschen physisch vernichten.“ Sei-
ne Wut gilt der amerikanischen Besatzungsmacht.
Deutschland ist durch den Zweiten Weltkrieg zerstört und in neuen
Grenzen unter den Siegermächten aufgeteilt. Amerikaner und Briten
sind übereingekommen, ihre Besatzungszonen wirtschaftlich zu einer
„Bizone“ zusammenzuschließen und die Wirtschaftsverwaltung den
Deutschen zu überlassen. Diese haben den von Kurt Schumacher, dem
Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, vorge-
schlagenen Viktor Agratz zum Wirtschaftsdirektor der Bizone gewählt.
Agratz strebt eine demokratische Planwirtschaft an. Der amerikanische
Militärgouverneur legt sein Veto ein und verlangt die Wahl eines kon-
servativen Politikers.
Der Christdemokrat Johannes Semler wird gewählt. In seiner ersten
öffentlichen Ansprache am 4. Januar 1948 attackiert er die amerikani-
sche Besatzungsmacht: „Sie führen absichtlich die größte Hungersnot
herbei, die unser Land seit Jahrhunderten erlitten hat. Zu jeder Zeit des
Kriegs ist die Versorgung der Bevölkerung besser gewesen als jetzt.“ Am
folgenden Tag ist auch Semler durch amerikanisches Dekret entlassen.
Jetzt lässt sich die Besatzungsmacht auf keine Wahl mehr ein und er-
nennt einen Wirtschaftsdirektor. Er ist Berater der amerikanischen
Militärverwaltung in dem süddeutschen Freistaat Bayern und heißt
Ludwig Erhard.
Sprecher fast aller politischen Parteien bedauern diese Ernennung
und verweigern die Zusammenarbeit mit ihm. Die bayerische Staatsre-
gierung versucht die Ernennung Erhards mit einem Disziplinarverfah-
ren wegen Amtspflichtverletzungen rückgängig zu machen; der Landtag
beantragt einen Untersuchungsausschuss. Daraufhin erklärt der ame-
rikanische Kommandant Erhard für immun.

ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_3,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
68 Unternehmen sind nicht für den Markt da

Der Konsens zwischen fast allen politischen Strömungen in Deutsch-


land, von den Kommunisten bis zum konservativen Lager, ist eindeutig:
Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 hat die Marktwirtschaft in letzter
Konsequenz den Zweiten Weltkrieg verursacht. Die Deutschen verdrän-
gen ihren Beitrag zum Aufstieg des Nationalsozialismus.

Menschen suchen die Schuld für ihr Schicksal gern woanders. Die So-
ziologen haben die Suche nach Schuldigen für die Probleme der Men-
schen sogar zu einer Wissenschaft entwickelt.

Was die Mehrheit der Deutschen will und Kurt Schumacher anstrebt,
ist eine demokratische Planwirtschaft. Kein stalinistisches Unrechts-
system, aber auch keine kapitalistische Ausbeutung. Der Verteilungs-
kampf hat das Volk in Rechte und Linke gespalten. Der Kampf zwischen
Rechts und Links hat die Demokratie zerstört. Jetzt ist die Stunde der
Versöhnung, des Ausgleichs, des Kompromisses.
In der Synthese zwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft und
der kommunistischen Zentralverwaltungswirtschaft spiegelt sich die
Synthese zweier historischer Strömungen in Deutschland: des Feuda-
lismus und der Ordnung. Ein Binnenvolk mit vielen unterschiedlichen
Nachbarn – diese Erfahrung verbindet die Deutschen mit den Russen –
sucht Sicherheit in einem starken Staat, der den Mangel behebt, die
Produktion organisiert und den Reichtum verteilt. Der Etatismus der
Bevölkerung empfindet das Privateigentum an Produktionsmitteln, die
durch die Arbeit des Volkes entstanden sind, als ungerecht.
Den Höhepunkt erreicht der deutsche Konservatismus im Jahre 1957.
Das einzige Mal in der Nachkriegsgeschichte gewinnt eine Partei bei
Wahlen zum Deutschen Bundestag die absolute Mehrheit – mit einem
Slogan des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der die
Ängste der Bevölkerungsmehrheit präzise widerspiegelt: „Keine Expe-
rimente!“
Dass Marktwirtschaft ein permanentes Experiment ist, verschweigt
der „alte Fuchs“ Adenauer. Die konservative Christliche Demokratische
Union Deutschlands – die Partei Adenauers und Erhards – beschließt auf
ihrem Ahlener Parteitag im Jahre 1947 die Vergesellschaftung der Pro-
duktionsmittel und die Beschränkung des Privateigentums. Und ein
Unternehmen sind nicht für den Markt da 69

Industrieverband lamentiert in einem Telegramm öffentlich: „Es ist


nicht zu verstehen, dass der Bundeswirtschaftsminister die Industrie
gegen ihren Willen zur Wirtschaftsfreiheit führen und zwingen will.“
Andere europäische Staaten ersetzen die Härte des Marktes, die Will-
kür des Kapitals und die Kälte Calvins durch die Nächstenliebe, die Mil-
de und die Berechenbarkeit des demokratischen Sozialismus. Frankreich
erfindet die „Planification“, eine zentrale Planung wirtschaftlicher
Rahmenbedingungen mit sektoraler Lenkung von Investitions- und Kon-
sumquoten. England, das den Kapitalismus erfunden und mit ihm die
Welt erobert hat, wird sozialistisch regiert. Die britische Laborregierung
folgt dem amerikanischen Kurs in Deutschland nicht freiwillig. Als die
Einführung der Planwirtschaft in der britischen Besatzungszone
Deutschlands erwogen wird, drohen die Vereinigten Staaten mit der
Kündigung der Kriegskredite. Damit sind London die Hände gebunden.
Die Befindlichkeit der Europäer wird am prägnantesten von dem spä-
teren Ausspruch einer Südamerikanerin getroffen, Präsidentengattin
und langjähriges Idol der Argentinier, María Eva Duarte de Perón: „Was
mich am tiefsten schmerzt, ist nicht die Armut, sondern der viele Reich-
tum zur gleichen Zeit.“
Die Verpackung des Wirtschaftssystems für Westdeutschland – das
später auch in Japan eingeführt wird – muss sozialistische Sehnsüchte
der Bevölkerung berücksichtigen. Unter dem Etikett der „Sozialen
Marktwirtschaft“ akzeptieren die Deutschen das amerikanische Konzept
und identifizieren es als „Made in Germany“ (deutsches Erzeugnis). Bei
einem tieferen Glauben an den Weihnachtsmann hätte Erhard es gewiss
Weihnachtsmann-Marktwirtschaft getauft.
Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ besteht aus „Sozial“, „Markt“
und „Wirtschaft“. Wirtschaft, die Übersetzung des altgriechischen
Oikonomiae, besteht aus „oikos“ (das Haus) und „nomos“ (die Vernunft).
Gutes Management nennen wir das heute.
Sozial kommt vom Lateinischen „socius“. Das ist der Begleiter in der
Kutsche eines reichen Römers – Beifahrer, Funktelefon und Autoradio in
einem – der ihm auf den wochenlangen Fahrten Gesellschaft leistet und
ihn vor Raubüberfällen schützt; Staus gibt es noch nicht. Der Begleiter
wird auf der Reise untergebracht und verpflegt, er bezahlt dafür nicht

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70 Unternehmen sind nicht für den Markt da

und kommt auch an sein Ziel. In einem sozialen Wirtschaftssystem wer-


den also diejenigen, die es aus eigener Kraft nicht können, um den Preis
des inneren Friedens auf dem Weg zum Ziel mitgenommen. Die Starken
(Kapitalisten) und die Schwachen (Armen) verpflichten sich zu gegensei-
tiger Solidarität.
Markt schließlich kommt vom Lateinischen „mercatus“. Die Römer
veranstalten Wochenmärkte und Jahrmärkte, wo Verkäufer und Käufer
sich treffen, und entwickeln daraus einen Europäischen Binnenmarkt
von Kleinasien bis zu den Britischen Inseln, in dem eine europäische
Währung – der aureus – 300 Jahre lang inneren Frieden und Wohlstand
sichert. Später, im Mittelalter, werden wieder Geldwechsler gebraucht,
die ihr Geschäft von einer Bank auf dem Marktplatz aus betreiben. Wenn
einer von ihnen nicht ehrlich, nicht integer ist, die Leute seinen Wech-
selkursen nicht mehr vertrauen, seinen Worten nicht mehr glauben
(„credere“ heißt glauben), und er deshalb seinen „Kredit“ (seine Glaub-
würdigkeit) verloren hat, zerstören sie sein Geschäft, zerschlagen seine
Bank und verursachen so seinen Bankrott („banca rotta“ heißt zerschla-
gene Bank).
Der Zerfall des großen römischen Wirtschafts- und Währungsraums
führt zum Zusammenbruch des geordneten Handels, zu Kriegen, zu Cha-
os und zu großem Elend in der Bevölkerung. 1 000 Jahre später, beim
Zerfall einer anderen Weltmacht, die nicht – wie Deutschland und Japan –
von einem besseren System unterworfen worden ist, geht es ähnlich zu.
Die Überlegenheit des besseren Systems beruht darauf, dass seine
Struktur die Entdeckungen der Nationalökonomie konsequenter be-
rücksichtigt. Wettbewerb fördert nach Adam Smith Unternehmen mit
einem absoluten Vorsprung, nach David Ricardo auch Unternehmen mit
einem relativen Vorsprung. Wenn Recht und Politik den Wettbewerb
schützen und fördern, anstatt ihn einzuschränken und zu behindern,
werden Unternehmen angeregt, in tausenden von einzelnen Wettkämp-
fen den allgemeinen Wohlstand zu mehren.
Statt dessen zahlt sich die Fehlleitung unternehmerischer Energien
oft mehr aus: Als der amerikanische Präsident Ulysses S. Grant in der
Lobby des Washingtoner Hotels Willard regelmäßig Erholung von seinen
Amtsgeschäften sucht, wird die Hotelhalle zum Wallfahrtsort für Bitt-
Unternehmen sind nicht für den Markt da 71

steller. Seitdem ist eine „Lobby“ für Unternehmen oft wichtiger als ein
Markt; haben „Lobbyisten“ mehr Einfluss auf das Ergebnis als Kunden;
wird die Arbeit, auf die es ankommt, in Politik und Bürokratie verlagert
und dem Wettbewerb entzogen.

Ein Markt, auf dem Wettbewerb herrscht, belohnt diejenigen am meis-


ten, die zur Beseitigung der Knappheit den größten Beitrag leisten. Da
jeder gern gut belohnt wird, ist der Anreiz groß, zur Beseitigung der
Knappheit beizutragen.

So beseitigt der Markt die Knappheit. Auch wenn Claudia Schiffer und
Naomi Campbell ihre Schönheit vermarkten können, hat das viel mit
Knappheit zu tun.
Im Gegensatz zum Kampf, der grundsätzlich schlecht ist, weil er ne-
gative externe Effekte auslöst, ist Wettbewerb grundsätzlich gut, weil er
positive externe Effekte produziert. Wettbewerber, die alle nur ihren
eigenen Vorteil suchen, müssen ihren Kunden niedrigere Preise, höhere
Qualität, bessere Produkte, kürzere Lieferzeiten, wirksamere Problemlö-
sungen, kompetenteren Service oder freundlichere Gesichter bieten,
wenn sie diesen Vorteil finden wollen. Den Kunden ist der Ausgang des
Wettstreits egal; sie profitieren vom Wettbewerb; sie sind die unbeteilig-
ten „lachenden Dritten“.
Es gibt auch Marktformen, die den Wettbewerb behindern. Bei einem
Monopol gibt es nur einen Anbieter bestimmter Waren oder Dienst-
leistungen. Die staatliche Monopolversicherung in einem lateiname-
rikanischen Land bekämpft die Privatisierung in einer Anzeigenkam-
pagne mit dem Argument, private Versicherungen wollten nicht der
Bevölkerung dienen, sondern Gewinne erzielen, die sie ins Ausland
transferieren. Deshalb, so wird gefolgert, beuten Privatunternehmen das
Land aus, Staatsmonopole aber erhalten ihm seinen Reichtum.
Zielgruppe der erfolgreichen Kampagne sind die Wähler, die nicht
verstanden haben, was Gewinn ist und deshalb einer politischen Partei
eine Mehrheit verschaffen, die Staatsmonopole verteidigt. Gewinn ist bei
Wettbewerb ein Maß für die erfolgreiche Beseitigung von Knappheit;
niedrige Gewinne deuten auf große Not.

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72 Unternehmen sind nicht für den Markt da

Die erleide ich als Zwangskunde des fantasiereichen staatlichen Ver-


sicherungsmonopols: Nach einem Autounfall, wie er beim Eingewöhnen
in eine fremde Verkehrskultur schnell passiert ist, befindet sich das
versicherte Fahrzeug in der Werkstatt. Die Reparatur kann erst begin-
nen, nachdem der Gutachter der Versicherung das Fahrzeug inspiziert
hat. Das dauert sechs Wochen. Nach weiteren vier Wochen liegt das Gut-
achten vor und legt den Wert der Reparatur fest – zum Preisstand des
Unfallzeitpunkts vor zehn Wochen. Nach nochmals zwei Wochen, ein
Vierteljahr nach dem Unfalltag, ist die Reparatur abgeschlossen. Bei
reeller Kalkulation und einer Inflationsrate von etwa 60 Prozent im
Monat, kostet sie mehr als das Vierfache des Betrags, den die Versiche-
rung übernimmt.
Nachdem trotz allem die Verluste der Kraftfahrzeugmonopolversiche-
rung zu hoch geworden sind, werden weitere obligatorische Versi-
cherungen eingeführt, die den Reichtum im Lande halten und die arme
übrige Welt sich selbst überlassen.
Nicht nur staatliche, auch private Monopole sind versucht, sich den
Herausforderungen des Wettbewerbs zu entziehen und das Grundrecht
auf Arbeit um ein Grundrecht auf Faulheit zu ergänzen. Wenn Wettbe-
werbsrecht und Wettbewerbspolitik versagen, ist der Hebel hierzu die
Umkehrung eines klassischen Gesetzes der Ökonomie:
Das von Alfred Marshall entdeckte Ertragsgesetz besagt, dass der
Grenzertrag – der zusätzliche Ertrag, den der Einsatz einer weiteren
Einheit Arbeit oder Kapital bringt – umso geringer ist, je mehr Arbeit
oder Kapital schon eingesetzt sind: Wenn Sie Dünger auf Ihr Feld streu-
en, wird der zusätzliche Ernteertrag durch jeden weiteren Sack geringer;
irgendwann wird ein weiterer Sack mehr schaden, als er nützt, weil er die
Saat erstickt. Das Optimum ist da, wo der letzte zusätzliche Sack gerade
so viel bringt, wie er kostet. Bringt er mehr, können Sie mit einem weite-
ren Sack noch etwas herausholen; bringt er weniger, gewinnen Sie etwas,
wenn Sie diesen letzten Sack weglassen. Das Ertragsgesetz vereitelt
unternehmerische Turmbauten zu Babel.
Wenn Sie Heißhunger auf Pfannkuchen haben, ist der erste Pfann-
kuchen ein Hochgenuss, der zweite ein Genuss, der dritte eine All-
täglichkeit, der vierte eine Anstrengung, der fünfte eine Zumutung, der
sechste ein Scheidungsgrund, der siebte das Ende.
Unternehmen sind nicht für den Markt da 73

Wenn Sie Heißhunger auf Akquisitionen haben, ist es ähnlich: Sie


verschwenden nicht Pfannkuchen, sondern Produktionsfaktoren. Und
Verschwender verschwinden vom Markt, weil sie zu teuer und zu träge
sind.
Im Flugzeugbau ist entdeckt worden, dass die Herstellkosten pro Ein-
heit um so geringer werden, je mehr Flugzeuge schon gebaut sind. Der
„Lerneffekt“ beträgt bei jeder Verdoppelung der Produktionsmenge etwa
20 Prozent. Fallende Stückkosten bei einer Erhöhung der kumulierten
Produktionsmenge sind für viele Produkte und Branchen empirisch
nachgewiesen. Die kumulierte Menge muss sich nicht auf ein Produkt
beziehen; sie kann ein Material, ein Verfahren, einen Markt, einen Dis-
tributionskanal, eine Serviceform, einen Prozess, ein Organisationsmo-
dell betreffen. Unsere Alltagserfahrung bestätigt eine Lernkurve: Was
wir schon oft getan haben, fällt uns leichter.
Der Lerneffekt zeigt, dass es vorteilhaft ist, der erste zu sein und die
Produktion schnell zu steigern, weil der Vorsprung beim Kosten-senken
dann für andere kaum aufzuholen ist. Ein Lerneffekt setzt Innovation
voraus, ohne die es nichts zu lernen gibt. Und eine Kostensenkung setzt
Schnelligkeit voraus, ohne die die finanziellen Vorteile verschlafen wer-
den. Wenn ich der erste und der schnellste bin, besetze ich die strategi-
schen Felder, setze die Maßstäbe, definiere die Regeln, zurre die Normen
fest, präge die Gewohnheiten, diktiere die Preise und überlasse den
Nachzüglern die Brosamen.

Innovation und Schnelligkeit „kippen“ das Ertragsgesetz der Öko-


nomie: Bei höherem Einsatz nimmt der Grenzertrag nicht ab, sondern
zu; „decreasing returns“ (abnehmende Grenzerträge) werden durch
„increasing returns“ (zunehmende Grenzerträge) ersetzt.

Wettbewerb ohne Lerneffekte kann statisch, optimal und gemütlich


dahinplätschern; Lerneffekten ohne Wettbewerb fehlt das Feuer. Wem
niemand auf den Fersen folgt, dem gelingt kein Rekord. Die Verbindung
von Wettbewerb und Lerneffekten ist das magische Mix, das Dynamik
und Veränderungsdruck in der Wirtschaft erzeugt.
Daraus folgt die unternehmerische Binsenweisheit „Wachsen oder
untergehen“. Es ist wie in der Aerodynamik während der Startphase des

ȱ
74 Unternehmen sind nicht für den Markt da

Flugzeugs: wenn es nicht beschleunigt und aufsteigt, stürzt es ab. Bevor


eine gewisse Höhe erreicht ist, ist eine sanfte Landung ausgeschlossen.
Unser marktwirtschaftliches System befindet sich in dieser Phase: Es
gibt kein Zurück, wir müssen den Aufstieg hinter uns kriegen, wenn wir
nicht abstürzen wollen.
Umsatzwachstum erscheint als die strategische Voraussetzung für
unternehmerisches Überleben. Wachstum des Bruttosozialprodukts
erscheint als die taktische Voraussetzung für eine mehrheitsfähige Po-
litik. Die Menschen bringen Opfer dafür, so wie sie früher den Göttern
Opfer gebracht haben. Wirtschaftliches Wachstum ist der transzendente
Selbstzweck, der an die Stelle der großen sakralen Bauwerke vergange-
ner Jahrhunderte getreten ist.
„Also war Salomo ein Herr über alle Königreiche bis an die Grenze
Ägyptens“, berichtet das Alte Testament. „Und Gott gab Salomo große
Weisheit und Verstand und reichen Geist, so viel wie Sand am Strande
des Meeres liegt. Und Salomo sandte zu Hiram und ließ ihm sagen: Siehe,
so habe ich gedacht, ein Haus zu bauen. So befiehl nun, dass man mir
Zedern aus dem Libanon haue und dass Deine Knechte mit meinen
Knechten seien. Also gab Hiram Salomo Zedern und Tannenholz. Salomo
aber gab Hiram jedes Jahr 20 000 Kor Weizen und 20 Kor gestoßenen
Öls. Und Salomo hob Fronarbeit aus von ganz Israel, und ihre Zahl war
30 000 Mann. Und sandte sie auf den Libanon, je einen Monat 10 000,
dass sie einen Monat auf dem Libanon waren und einen Monat daheim.
Und Salomo hatte 70 000, die Last trugen, und 80 000, die da Steine
hieben auf dem Berge. An seinem Hause baute Salomo 13 Jahre.“
Dieses von 3 000 Managern organisierte Großprojekt mit 150 000
zwischenstaatlichen Leiharbeitern zeigt uns das gleiche wie das Mond-
projekt der NASA im Jahre 1961. „Noch vor Ablauf dieses Jahrzehnts
einen Mann zum Mond bringen und sicher auf die Erde zurück“, hat John
F. Kennedy es formuliert. Hochkulturen brauchen etwas Kühnes, das sie
aufregt; etwas Forderndes, das sie vitalisiert; etwas Transzendentes, das
seinen Zweck in sich selbst hat. „Wer ein Warum hat, für das er lebt“,
sagt Friedrich Nietzsche, „der kann jedes Wie ertragen.“
Der transzendente Selbstzweck ist lange Zeit die kriegerische Erobe-
rung um jeden Preis. Auf ihren Altären werden Göttern oder Dämonen
Menschenopfer gebracht. Heute ist daraus für unsere Unternehmen
Unternehmen sind nicht für den Markt da 75

Umsatzwachstum und für unsere Staaten das Wachstum des Bruttosozi-


alprodukts um jeden Preis geworden. Nur Recht und Gesetz sorgen dort,
wo sie durchgesetzt werden können, für Einschränkungen.

Den Wachstumszielen wird alles andere untergeordnet. Und wo die


Macht, die das erzwingt, in Konflikt mit der Vernunft gerät, verspricht
sie vernünftig zu werden, sobald sie sich konsolidiert hat.

Die Wachstumstheorie von Roy F. Harrod, E. D. Domar, John R. Hicks


und Gottfried Bombach – die ökonomische Modetorheit in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts – rechtfertigt und propagiert ein „stetiges,
gleichgewichtiges Wirtschaftswachstum“ und macht aus der Volkswirt-
schaftslehre eine Tischlein-deck-dich-Lehre.
Politiker greifen solche Rettungsringe begeistert auf, ermöglichen sie
ihnen doch, denen, die sie wiederwählen sollen, mehr zu versprechen,
ohne es den anderen, die stillhalten sollen, wegnehmen zu müssen. Seit
der Erfindung des Mehrheitsvotums in den Klöstern des Mittelalters
glauben die Führer umso aufrichtiger an das, was sie sagen, je mehr
Applaus sie dafür erhalten. Und so verirren sie sich leicht – wie Edgar
Allan Poe dazu sagt – „in den Strahlengängen ihrer eigenen Fantasie“.
Diese Strahlengänge sind ein Teufelskreis, der so funktioniert: Unse-
ren zeitlichen Horizont beschränken wir auf diese eine irdische Exis-
tenz, allenfalls noch auf die der direkten Nachkommen, in denen wir
fortzuexistieren glauben. Unseren Selbstwert definieren wir über die uns
hier und jetzt zugefallene Rolle. Die zeitliche Beschränkung und die
Fiktion der Einmaligkeit verabsolutieren die Bedeutung dieser Rolle.
Auf der Ebene der Unternehmen leitet sich daraus das Ziel der Markt-
beherrschung ab, nicht das der Marktbedienung. Die Firma General
Electric hat unter der Bezeichnung „Profit Impact of Market Strategies –
PIMS“ (die Abhängigkeit des Gewinns von der Marktstrategie) eine Stu-
die begonnen, deren Datenbank die Entwicklung tausender Strategi-
scher Geschäftseinheiten verfolgt. Danach ist der Gewinn vor allem an-
deren ein Ergebnis des relativen Marktanteils. Marktbeherrschung
verheißt Monopolgewinne. Die Monopoltheorie erklärt die Gründe für
die Ergebnisse der PIMS-Studie. Marktstrategie will deshalb vor allem
anderen den relativen Marktanteil erhöhen.

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76 Unternehmen sind nicht für den Markt da

Auf globalen Märkten ist das eine globale Optimierungsaufgabe, die


„eine internationale Arbeitsteilung im Unternehmen, ein dezentral auf-
gelöstes Geschäftssystem erfordert“, so Kenichi Ohmae. Ein deutscher
Textilkonzern beschränkt sich auf Unternehmensstrategie und Vertrieb;
das Design verlegt er nach Italien, die Beschaffung nach Großbritannien,
die Produktion nach Brasilien, Vertrieb und Logistik in die Vereinigten
Staaten. Ein südkoreanischer Anlagenbauer beschränkt sich auf Pro-
duktentwicklung und Vertrieb und vergibt Softwarearbeiten nach Indi-
en, die Systemintegration nach Indonesien, die Finanzierung in die Ver-
einigten Staaten und die Produktion nach China.
Unternehmen, die ihre Geschäftsprozesse global optimieren, haben
keine nationale Identität und empfinden deshalb auch keine Solidarität
mit nationalen Problemen. „Someone with capital is ultimately a citizen
of the world“ (Wer Kapital hat, ist letztenendes ein Weltbürger), sagt
Adam Smith. Unternehmen, die ihre Geschäftsprozesse nicht global
optimieren, sind nur noch begrenzt lebensfähig. Unternehmerisches
Überleben erzwingt es, sich über beschäftigungs- und fiskalpolitische
Ziele einzelner Staaten hinwegzusetzen.
Globale Optimierung ist nur jenseits einer bestimmten Unterneh-
mensgröße möglich. Unternehmen, die in diese Größenordnung hin-
einwachsen, beherrschen den Markt; Unternehmen, denen das nicht
gelingt, kämpfen mit zunehmenden Schwierigkeiten. Marktbeherr-
schung kann die Erweiterung des vorhandenen Marktes durch Pro-
duktpolitik erfordern; dies geschieht durch Differenzierung der Pro-
dukte. Marktbeherrschung kann auch die Einführung der vorhandenen
Produkte in neue Märkte erfordern; dies geschieht durch Markt-
erweiterung. Wachstum um jeden Preis heißt für ein Unternehmen, sich
mit den Grenzen der Produktdifferenzierung und der Markterweiterung
nicht zu bescheiden, sondern die finanziellen Möglichkeiten auszu-
schöpfen, um mit neuen Produkten in neue Märkte zu expandieren. Dies
erfordert ein Engagement in neuen, nicht verwandten Geschäftsfeldern:
Diversifikation.
Ein Geschäftsfeld ist dann neu und nicht verwandt, wenn einschlägige
Kompetenz im Unternehmen fehlt. Da deren Entwicklung mehr Zeit
braucht, als der zeitliche Horizont des Managements zugestehen mag,
wird meist durch Akquisitionen oder Fusionen diversifiziert: durch die
Unternehmen sind nicht für den Markt da 77

Übernahme von oder den Zusammenschluss mit anderen Unternehmen.


Das geht schnell. Michael Porter hat nachgewiesen, dass die Wahr-
scheinlichkeit des Misserfolgs bei Akquisitionen und Fusionen sehr
hoch ist. Von 100 Projekten scheitern je nach Gegebenheiten zwischen
55 und 86. Scheitern bedeutet nicht allein unerfüllte Gewinnerwartun-
gen, sondern auch die Vernichtung von Arbeitsplätzen und Steuerquellen.
Globale Strategien opfern die Belegschaften, wo die Standortfaktoren
nicht gut sind. Eine Fremd- oder Innenfinanzierung dieser Strategien
opfert die Kapitaleigner, die ihr finanzielles Engagement nicht persön-
lich kontrollieren wollen oder können, und enteignet sie schleichend.
Viele große Unternehmen sind Zirkusveranstaltungen zur Befriedigung
des Ehrgeizes ihrer Manager.

Der Kommunismus erkennt Kapital als Produktionsfaktor nicht an: es


ist „geronnene Arbeit“. Der Spätkapitalismus erkennt Arbeit als Pro-
duktionsfaktor nicht an: sie ist ein Indiz für nicht ausgeschöpfte Ra-
tionalisierungspotenziale. Unsere virtuelle Marktwirtschaft erkennt
weder Kapital noch Arbeit als Produktionsfaktor an, sondern nur noch
das Management.

Kapitaleigner reagieren entweder, indem sie sich mit ihren finanziel-


len Engagements nicht mehr inhaltlich identifizieren und sich auf den
globalen Anlagemarkt zurückziehen. Die Finanzmärkte haben sich von
den Märkten der Leistungserstellung abgekoppelt und führen ein Eigen-
leben; sie brauchen das produzierende Gewerbe nicht mehr. Der Kapita-
lismus frisst seine Kinder.
Oder die Kapitaleigner reagieren, indem sie das Kapital weder dem
Gesetz des abnehmenden Grenzertrags noch dem Gesetz des zuneh-
menden Grenzertrags unterwerfen, sondern sich damit zunehmende
Grenzlust verschaffen: „Paläste, Gärten, Brüstlein, rote Wangen“,
schwärmt Johann Wolfgang von Goethe.
Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Ganzen ist der Anfang vom
Ende. Indiens großes Sanskritepos Maha bharata berichtet von einer
Tragödie, die den Untergang des Volkes der Kurus ausgelöst hat und
zeigt, dass wir unsere Geschichte solange wiederholen müssen, bis wir
aus ihr gelernt haben: „Ihr Leben glich einem reich mit Gütern beladenen

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78 Unternehmen sind nicht für den Markt da

Schiff, das, nachdem es die Meere durchkreuzt hatte, in einem Flusse


sank, da die Mannschaft sorglos geworden war.“
Aufstieg und Untergang von Völkern, von Staaten und von Unterneh-
men in der sozialen Evolution unterliegen ähnlichen Gesetzen wie Auf-
stieg und Untergang von Arten in der biologischen Evolution. Der Exis-
tenzkampf um das Überleben im Wettbewerb entspricht dem Exi-
stenzkampf um das Überleben in der biologischen Evolution. Denen, die
sich an veränderte Bedingungen nicht anpassen, die sich nicht nach
deren Vorgaben entwickeln, wird keine Unterstützung gewährt:
Vor 400 bis 600 Millionen Jahren wird die wirbellose Tierwelt mehr-
mals vernichtet. Vor 300 bis 400 Millionen Jahren gehen in drei Phasen
verschiedene Gruppen von Meeresorganismen unter. Vor 250 Millionen
Jahren überleben nur etwa zehn Prozent aller marinen Arten. Und auch
in den letzten 200 Millionen Jahren gibt es mehrere Massensterben,
deren letztes, schwerstes und bekanntestes vor 65 Millionen Jahren die
Dinosaurier ausrottet, die die Erde 100-mal länger bevölkert haben als –
bis jetzt – der Mensch.
Die größte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit haben bei keiner die-
ser Tragödien die gerade dominanten Arten. Randgruppen, die sich
schon zuvor in einem für sie feindlichen Umfeld behaupten mussten,
sind robuster und haben bessere Chancen, zu überleben. Beim
Reptiliensterben vor 65 Millionen Jahren sind das die mausgroßen Säu-
ger, die überwiegend unter der Erde leben – unsere Vorfahren.
Keine bisher ausgestorbene Art ist so dominant, dass sie ihren eige-
nen Untergang inszenieren kann. Der Mensch hat als einzige Art eine
Technologie entwickelt, mit der das möglich ist. Seit Beginn der indust-
riellen Revolution steigt der CO2-Gehalt (Kohlendioxydgehalt) in der
Atmosphäre durch die Verbrennung der Fossilien Kohle und Erdöl. Die
CO2-Moleküle verhindern die Hitzeabstrahlung der Erde und erwärmen
ihre Atmosphäre. Dieser „Treibhauseffekt“ wird durch Methan verstärkt,
das von drei Quellen freigesetzt wird: erstens durch die wiederkäuenden
Steaks auf unseren Kuhweiden; zweitens durch unsere wachsenden
Müllhalden; und drittens durch die als Folge der Erwärmung auftauen-
den Tundraböden, die landwirtschaftlich gar nicht nutzbar sind.
Unternehmen sind nicht für den Markt da 79

Die Erwärmung lässt die arktischen Eisschichten schmelzen und


schiebt die Schneegrenze nach oben. Die Gletscher der Erde haben seit
Mitte des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt ein Drittel ihrer Fläche ver-
loren und werden bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts auf ein Zehntel ge-
schrumpft sein. Während Eis und Schnee das einfallende Sonnenlicht
wie ein Spiegel zu 95 Prozent zurückwerfen, tut das dunkelgrüne Meer-
wasser dies nur zu 15 Prozent; statt fünf werden hier 85 Prozent der
Wärme in der Erdatmosphäre festgehalten. In den eisfrei gewordenen
Meereszonen haben wir unsere globale Zentralheizung also 17mal so
hoch eingestellt.
Die Grönlandsee und die Labradorsee östlich und westlich der großen
arktischen Insel kühlen bis jetzt noch das aus dem Süden kommende
warme Ozeanwasser so stark ab, dass es in die Tiefe sinkt, am Meeresbo-
den südwärts strömt und als Tiefenströmung den Indischen und den
Pazifischen Ozean durchfließt, bis es als warmes Oberflächenwasser im
Atlantik wieder nach Grönland fließt. Die Meere um Grönland sind die
Pumpstation eines globalen Strömungssystems, von dem die Klimazo-
nen auf der Erde abhängen. Diese Pumpe gerät durch den arktischen
Temperaturanstieg und das Süßwasser aus abbröckelnden arktischen
und antarktischen Eisfeldern, die die Fläche mittelgroßer Staaten haben,
ins Stocken.
Die entstehenden Kachelöfen in der Arktis und Antarktis versorgen
die Tiefdrucksysteme des Erdklimas mit Energie und erhöhen die Wind-
geschwindigkeiten. Eine Erhöhung der Windgeschwindigkeiten um 20
Prozent bedeutet eine Erhöhung der Windschäden um 70 Prozent. Das
abtauende Polareis erhöht gleichzeitig das globale Meerwasservolumen.
Dieses größere Wasservolumen verursacht zweierlei: zum einen Sturm-
fluten, die küstennahes Tiefland als Siedlungsgebiet zerstören, und zum
anderen – wegen seiner höheren Temperatur – stärkere Verdunstung, die
in Verbindung mit Stürmen Unwetter produziert. Die Unwetter zerstören
durch Erdrutsche und Überschwemmungen auch Bergland und Flusstä-
ler als Siedlungsgebiet.
Eine der großen Rückversicherungsgesellschaften der Welt, bei denen
Versicherungen ihre Risiken rück-, also weiterversichern, spielt Szenari-
en durch, bei denen Millionenstädte aufgegeben werden müssen und
Immobilien in bis zu 60 Kilometer Küstennähe nicht mehr versicherbar

ȱ
80 Unternehmen sind nicht für den Markt da

sind. Klimatologen spielen Szenarien durch, bei denen Siedlungsgebiete


von mehreren hundert Millionen Menschen unbewohnbar werden.
Wärmere Ozeane absorbieren CO2 langsamer; wir haben also den
„rechten Lungenflügel“ unseres Planeten infiziert, der die sauerstoff-
haltige Atmosphäre erhält und dem Tiere und Menschen das Leben ver-
danken. Der „linken Lungenflügel“ könnte das auch allein schaffen,
wenn es ihn noch gäbe. Den „linken Lungenflügel“ haben die großen
Waldflächen in den gemäßigten Klimazonen und die zusammenhän-
genden tropischen Regenwaldzonen gebildet.
Der Chlorgehalt der Atmosphäre hat sich vervielfacht und Fluorkoh-
lenwasserstoffe haben die Ozonschicht ausgedünnt. Das reduziert die
Fähigkeit der Atmosphäre, die kurzwellige, ultraviolett genannte Strah-
lung zu filtern. Als Folge erblinden Forellen und Schafe in Patagonien,
und die Fähigkeit der Pflanzen zur Photosynthese wird beeinträchtigt.
Bei der Photosynthese wird CO2 verarbeitet und Sauerstoff freige-
setzt. Pflanzen atmen Sauerstoff aus; Tiere, wir Menschen, unsere Autos
und Kraftwerke atmen Sauerstoff ein. Dies ist die Basis einer Koevoluti-
on auf der Erde, bei der die Pflanzen nicht auf uns, wir aber auf sie an-
gewiesen sind. Indem wir den Pflanzen die Photosynthese erschweren,
haben wir auch den „linken Lungenflügel“ unseres Planeten infiziert.
Nun könnten wir es noch mit künstlicher Beatmung versuchen und
die langsamere Photosynthese der Pflanzen durch mehr Pflanzen aus-
gleichen. Die einzige Pflanzenmasse, die das leisten kann, sind riesige
Waldflächen. Der größere Teil der tropischen Regenwälder ist durch
Raubbau bereits zerstört; in jeder Sekunde verschwindet ein Hektar
Regenwald von der Erdoberfläche. Bei tropischen Regenwäldern ist eine
Aufforstung nicht möglich, weil dort nur fünf Prozent der Nährstoffe im
Boden, 95 Prozent aber in der Vegetation sind, die sich in Millionen von
Jahren entwickelt hat.
In den gemäßigten Zonen ist es umgekehrt; dort sind 95 Prozent der
Nährstoffe im Boden und fünf Prozent in der Vegetation; dort ist eine
Aufforstung möglich. Die meisten hochentwickelten Industrieländer
liegen in den gemäßigten Zonen und haben mit ihren Abwässern das
Grundwasser verseucht und mit ihrer Abluft den Regen. Der chemisch
saure Regen wäscht die Nährstoffe der Bäume aus dem Boden; ihre fei-
Unternehmen sind nicht für den Markt da 81

nen Wurzeln sterben ab, ihre Stämme verlieren Stabilität, ihre Anfällig-
keit für Schädlinge steigt. Mehr als die Hälfte des Waldbestands in den
gemäßigten Zonen ist krank.
Sollten wir unseren eigenen Untergang als biologische Art inszenie-
ren, so müssen wir dann wohl unter schwereren Bedingungen wieder von
vorn anfangen – bis wir unsere Lektion gelernt haben. Vieles spricht
dafür, dass es nicht der erste Neuanfang auf unserem Planeten wäre. Die
Geduld Gottes kennt keine zeitliche Grenze. Das Alte Testament berich-
tet von einem Neuanfang nach einer ökologischen Katastrophe – der
Sintflut –, und das Maha bharata berichtet von einer hochtechnisierten
Zivilisation, die wohl vor Zehntausenden von Jahren untergegangenen
ist:
„Aswathama sprach“, ich zitiere verkürzt, „der Diamant, den ich be-
sitze, diese unfehlbare Waffe, wird alle noch ungeborenen Kinder töten.
Käme es jedoch soweit, würde zwölf Jahre lang Dürre das Land befallen.
Die Antardhana-Waffe besaß die Kraft, die Gegner einzuschläfern. Doch
Arjuna feuerte die Waffen ab, denen die Kraft innewohnt, die Vernich-
tung abzuwenden, die Aswathama angestrebt hatte. Die Pfeile, die er mit
dem Ghandiva schoss, hemmten den Regenguss. Die Waffen schossen
hoch in die Lüfte, und Flammen brachen aus ihnen hervor, die dem gro-
ßen Feuer glichen, das die Erde am Ende der Zeitalter verschlingt. Zis-
ternen und Teiche trockneten aus und der Wald zerfiel zu Asche.“
Radioaktive Verstrahlung ist vielleicht gar nicht so neu, chemische
Waffen sind vielleicht gar nicht so erstmalig und die Strategische Ver-
teidigungsinitiative der Vereinigten Staaten ist vielleicht gar nicht so
originell gewesen.
Unsere Technik ermöglicht die Zerstörung der Bedingungen, unter
denen auf der Erde Leben weiter existieren kann. In der Kalkulation
unserer Unternehmen werden aus Kosten Preise gebildet; dabei wird
auch die Natur ökonomischem Kalkül unterworfen. Die Zerstörung der
Natur ergibt dabei das wunderbare Prädikat „rentabel“. Diese Rechnung
beruht auf drei Prämissen. Erstens: Güter werden aus Rohstoffen herge-
stellt, deren Vorrat grenzenlos ist. Zweitens: Der Produktionsprozess
hinterlässt keine Spuren. Und drittens: Der Konsum verzehrt die Güter
vollständig.

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82 Unternehmen sind nicht für den Markt da

Der Verbrauch von Natur wird als Ertrag verbucht; diese Seite der Bi-
lanz lehrt deshalb: je mehr, desto besser. Arbeitsplätze verursachen
Kosten, die in vielen Ländern durch darauf erhobene Abgaben künstlich
erhöht werden; diese Seite der Bilanz lehrt deshalb: je weniger, desto
besser. Beides zusammen vernichtet Natur und Arbeitsplätze, die Erde
und ihre Menschen.

Vor 100 Jahren ist die soziale Frage als das zentrale Thema der Politik
angepackt worden und hat unsere Verfassungen und Rechtsordnungen,
Parteien und Institutionen geprägt. Die Klassenkämpfer in allen Lagern,
die aus diesem Thema noch nicht herausgewachsen sind, können bei
Albert Einstein nachlesen, wie sie es schaffen können – sie müssen ihre
Probleme mit einer Geschwindigkeit lösen, die höher ist als die des
Lichts. Nach der Relativitätstheorie läuft die Zeit dann in die entgegen-
gesetzte Richtung und bringt sie wieder dorthin, wo sie hingehören: 100
Jahre zurück.
Heute muss die ökologische Frage als das zentrale Thema der Politik
angepackt werden und unsere Verfassungen, Rechtsordnungen und
Institutionen prägen. Eine nachhaltige Entwicklung („Sustainable Deve-
lopment“) der Wirtschaft zerstört nicht das Wunderwerk des Marktme-
chanismus; aber sie zerstört erst recht nicht das Wunderwerk der Natur.
Unser transzendentes Ziel, das sich selbst genügt, darf nicht mehr
Wachstum sein, welches durch eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität
und durch eine Erhöhung der Kapitalproduktivität erreicht wird, son-
dern die Erhaltung des Kapitalstocks des globalen Unternehmens, in
dem wir alle arbeiten – des Unternehmens Menschheit. Dieser Kapital-
stock ist die Natur. Durch drei einfache Grundsätze erhalten wir unser
globales „Grundkapital“:
– Natur darf nur im Rahmen ihrer Erneuerungsfähigkeit verbraucht
werden.
– Die Kosten dieser Erneuerung müssen in die Preiskalkulation einge-
hen und von den Verbrauchern getragen werden.
– Technische Risiken dürfen nur in Kauf genommen werden, wenn sie
versicherbar sind.
Unternehmen sind nicht für den Markt da 83

„Der weiße Mann behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder,
den Himmel, wie Dinge zum Kaufen und Plündern, zum Verkaufen wie
Schafe oder glänzende Perlen“, sagt Seattle, Häuptling der Duwarnish-
Indianer, in einer Rede im Jahre 1855: „Sein Hunger wird die Erde ver-
schlingen und nichts zurücklassen als eine Wüste. Vorübergehend im
Besitz der Macht, glaubt er, er sei schon Gott, dem die Erde gehört. Die
Erde gehört nicht dem Menschen, der Mensch gehört der Erde. Was im-
mer den Tieren geschieht, geschieht bald auch den Menschen. Alle Dinge
sind miteinander verbunden. Die Erde verletzen heißt ihren Schöpfer
verachten. Dies ist das Ende des Lebens und der Beginn des Überlebens.
Wir sind ein Teil der Erde.“

Die Sprache der Erde ist eine andere als die Sprache der Menschen. Die
Sprache der Erde in ihrem Gleichgewicht sind Fülle, Schönheit, Harmo-
nie – und in ihrem Ungleichgewicht Naturkatastrophen.

Es gibt Hoffnung, dass viele von uns sie verstehen lernen und auf sie
hören; dass verantwortungsvolles Unternehmertum sich nicht dem
Markt unterordnet, sondern den Markt der eigenen Vision von einer
besseren Welt unterordnet; dass verantwortungsvolle Politik nicht dem
folgt, was demoskopische Auguren als gerade populär ermitteln und was
der Pöbel will: Aggressionen entladen durch Zerstörung. Marktmecha-
nismen ohne die drei Grundsätze der Nachhaltigkeit zerstören unseren
Planeten.
Das kommunistische Experiment hat ungezählte Opfer gekostet und
ist so kläglich gescheitert, dass sich die Frage, ob es vielleicht falsch
angefangen worden ist, verbietet. Der Kommunismus ist an seinen eige-
nen Widersprüchen zugrunde gegangen. Vielleicht war die intakte Sow-
jetunion militärisch unbesiegbar. Die Frage ist empirisch nicht geklärt
worden, weil viele Menschen in allen Teilen der Welt sich nach Frieden
gesehnt haben, an Frieden gedacht haben und für den Frieden auf die
Barrikaden gegangen sind.
Die Auflösung des kommunistischen Ostblocks ist kein strategischer
Wurf irgendeines durchsetzungsstarken Politikers; sie ist das Ergebnis
starker Gefühle, kraftvoller Gedanken und uneingeschränkten Enga-
gements vieler Bürger auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.

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84 Unternehmen sind nicht für den Markt da

Von einem Beispiel möchte ich – stellvertretend für viele – hier berich-
ten. Als ich davon höre, bezeichne ich ihn als Illusionisten, der die Reali-
täten verkennt und sinnlos Porzellan zerschlägt; das geteilte Deutsch-
land braucht das Arrangement mit der östlichen Supermacht. Mitten im
Kalten Krieg steht er an dem mit Selbstschussanlagen befestigten
Grenzstreifen, der Berlin zerteilt, und ruft: „Diese Mauer muss weg!“ Er
heißt Ronald Reagan.
Wie jedes politische und wirtschaftliche System in der Menschheits-
geschichte wird auch die Marktwirtschaft an ihren eigenen Wider-
sprüchen zugrunde gehen, nachdem sie die Meere durchkreuzt hat und
die Mannschaft vielleicht nicht sorglos, aber übermütig geworden ist.
Der wirtschaftliche „Sieg“ über den Kommunismus verführt zum Grö-
ßenwahn. Doch es gibt keine Sieger; jeder vermeintliche Sieg leitet einen
Niedergang ein. Obwohl es noch keine greifbare Systemalternative gibt,
ist der Zeitpunkt für die Auflösung des Kapitalismus jetzt.
Wiederum ist es kein strategischer Wurf von Leuten, die Geschichte
machen wollen, sondern Ergebnis der Vision von Unternehmern aus
allen Teilen der Welt. Auch hierzu, stellvertretend für viele, das Beispiel
eines Chemieunternehmers: Als ich den letzten Termin bei ihm habe, ist
er etwa 45 Jahre alt und vom Tode gezeichnet. Der Anblick trifft mich bis
ins Mark. Ich versuche, meine Betroffenheit zu überspielen und berichte
ihm enthusiastisch von meinen unternehmerischen Großtaten.

„Es ist nicht wichtig, was wir verdienen durch das, was wir tun,“ sagt er,
„es kommt ganz allein darauf an, wer wir werden durch das, was wir
tun.“ Und dann fragt er mich: „Haben Sie darüber nachgedacht, wer Sie
sein werden, nachdem Sie diese Ideen umgesetzt haben?“ Das ist das
Vermächtnis von Gerhard Raspé.

Der Prophet Moses berichtet in der Schöpfungsgeschichte, wie die


erste und damals einzige Frau, Eva, Adam verführt. Nicht mit ihrem
Körper, das ist so vorgesehen, sondern – und das ist nicht vorgesehen –
mit einem Apfel. Alles hätten wir vorher haben können; alles, außer die-
sem einen Apfel. Aber wir sind unersättlich. Und so macht Gott das erste
bekannt gewordene Tauschgeschäft mit uns: Wir nehmen den Apfel,
ohne den Preis vorher auszuhandeln. Ein kluger Kaufmann gibt die Frei-
Unternehmen sind nicht für den Markt da 85

heit, auf ein Geschäft auch verzichten zu können, nicht voreilig auf. Eva
und Adam tun es und Gott setzt den Preis fest: Das Paradies.
Der Apfel ist vom Baum der Erkenntnis. Wer Erkenntnis sucht, will in
die göttliche Schöpfungswerkstatt hineinpfuschen. Hätte Gott das da-
mals zugelassen, wäre der Mensch in der Lage gewesen, ebenfalls eine
Welt zu schaffen; denn Erkenntnis ist Kraft, innovative Kraft für einen
Schöpfungsakt. Dies hat Gott verhindert und uns aus der Überflussge-
sellschaft vertrieben. Seitdem bemühen wir uns, „im Schweiße unseres
Angesichts“ und mit dem Startkapital von nur einem Happen Erkennt-
nis, das Paradies zu rekonstruieren.
Voraussetzung für ein irdisches Paradies ist nicht Plackerei, sondern
Reife. Reife kann uns niemand schenken; wir müssen sie uns mit unse-
rer Entwicklung erarbeiten. Reife Menschen verwandeln die Erde in ein
Paradies. Das irdische Paradies schließt blühende und finanziell gesun-
de Unternehmen ein. Für die Transformation, die wir zu leisten haben,
sind sie wichtiger als Staaten, wichtiger auch als Regierungen. Staaten
werden sich überleben.

Unternehmerisches Blühen und Gedeihen entspringt nicht aus wirt-


schaftlichem Wachstum, sondern aus menschlichem Wachstum. Die
einzige Aufgabe der Unternehmen ist es, Menschen Möglichkeiten zur
persönlichen Entwicklung zu verschaffen.

Ent-Wicklung ist ein Prozess des Auswickelns, des Befreiens, des Ab-
werfens von Ballast. Wer hoch ent-wickelt ist, hat nichts zu verbergen,
ist durchsichtig. Er wird von den anderen erkannt, anerkannt für sein
Sein. Dieses Sein strahlt aus, nicht in einen leeren Raum, sondern in die
Gemeinschaft, in die Unternehmen. Es ist wie im Spitzensport: wer auf
die Prämie schielt, hat schon verloren. Wer aber an sich glaubt, muss
gewinnen.
Die Führungslehre redet davon, aus Mit-Arbeitern Mit-Unternehmer
zu machen. Das ist alles Phase zwei: die Reparaturwerkstatt einer linea-
ren Welt, die sich gerade auflöst. Wirkliche Unternehmer sind Schöpfer.
Schöpfer brauchen Mitarbeiter, so wie Gott die Menschen braucht. Un-
ternehmer, die ihre einzige Aufgabe darin sehen, ihren Mitarbeitern
Gelegenheiten zum persönlichen Wachstum, zur persönlichen Entwick-

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86 Unternehmen sind nicht für den Markt da

lung, zum persönlichen Reifwerden zu geben, verwandeln ihr Unterneh-


men in eine Erfüllungsstätte für Lebensaufgaben. Und so machen sie aus
Mitarbeitern nicht Mitunternehmer, sondern Gläubige. Und Glaube – das
wissen wir – kann Berge versetzen.
Klöster sind überaus erfolgreiche Unternehmen, weil hier die Ewig-
keit über dem Heute steht, das Ganze über dem Teil, das Dienen über
dem Verdienen. Wir müssen unsere Unternehmen in Klöster verwandeln,
die im Dienst an den Menschen stehen, welche in ihnen und für sie arbei-
ten. Wir müssen diesen Menschen Gelegenheit geben, ihre Grenzen ken-
nenzulernen, über sich selbst hinauszuwachsen, ihre Lebensaufgabe zu
finden und sie im Unternehmen für die gesamte Menschheit zu verwirk-
lichen. Wir müssen Arbeit als Substanz eines persönlichen Entwick-
lungsprozesses sehen und Projekte als Mosaiksteine in einem kosmi-
schen Tempel. Und wir müssen Unternehmen neu definieren: nicht mehr
als Produktionsstätten für Güter und Dienstleistungen, nicht mehr als
Gewinnmaximierungsinstitutionen, nicht mehr als Selbsterhaltungsmo-
loche – Selbsterhaltung um jeden Preis, auch den des Lebens und Seins
aller Beteiligter, sondern als Erfahrungshorte für Menschen.

Unsere globale Zivilisation ist reicher an Mitteln und ärmer an Zielen


als jedes andere uns bekannte Zeitalter, und unsere globalen Unter-
nehmen kaschieren diesen Mangel, indem sie den Einsatz der Mittel
zum Ziel machen. Die Arbeit der ohm-Resonanzschmiede für Unter-
nehmen zeigt Mitarbeitern und Führungskräften den Auftrag ihrer
Seele für das Leben. Das verleiht der praktischen Arbeit Transzendenz
und öffnet den Durchbruch zu Ergebnissen, die bis dahin nicht denkbar
und deshalb nicht erreichbar waren.

Unternehmer werden dabei zu Künstlern. Dem Künstler ist es nicht


wichtig, was er für seine Leistung bekommt. Er investiert Zeit, Kraft und
Geld nicht in wirtschaftliche Projekte, er steckt alles in seine Abenteuer,
in seine Träume, in sich selbst. Alle großen Menschen, die Bedeutendes
geschaffen haben, sind hoch entwickelt und spiegeln sich in ihrem Werk.
Das allein gibt Kraft und Erhabenheit. Es geht ihnen ganz allein darum,
wer sie durch ihr Werk werden. Sport ist nicht für Medaillen da, Kunst
ist nicht für Auktionen da, und Unternehmen sind nicht für den Markt
da.
PRAXISBEISPIEL 3: Die Vorbereitung 87

PRAXISBEISPIEL 3: Die Vorbereitung


Herr Schneider hat Besuch von seinem zukünftigen Chef, Monsieur
Guérin. Gemeinsam mit Frau Tisch sitzen sie zwei Partnern der ohm-
Resonanzschmiede für Unternehmen gegenüber. „Wir haben M. Guérin
neugierig gemacht nach dem, was wir auf Ihrem Unternehmertag erlebt
haben“, eröffnet Frau Tisch das Gespräch. „Ich schlage vor, wir schil-
dern zunächst unsere Situation und dann präsentieren Sie, was Sie bei-
tragen können, damit das Mutterhaus, das Monsieur Guérin vertritt,
seine strategischen Ziele in unserem Markt erreicht“, sagt Herr
Schneider. Monsieur Guérin schaut gar nicht neugierig, sondern gela-
ngweilt und nippt an seinem Café.
„M. Guérin, wofür würden Sie gern bewundert werden?“, fragt einer
der Resonanzschmiede. Da schiebt der seine Tasse zur Seite und blickt
die beiden Gäste an: „Eigentlich ist diese Übernahme eine ziemlich ver-
rückte Sache. Wir haben es getan, weil wir es getan haben. So genau
kann ich Ihnen das gar nicht sagen, es musste eben etwas geschehen.
Aber eines weiß ich: es ist eine Herausforderung ...“ Herrn Schneider
fällt der Unterkiefer herunter. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her,
als ob er eine Stelle sucht, wo er durchfallen kann. „Haben Sie denn kein
Konzept?“, fragt er verzweifelt. „Natürlich haben wir Konzepte“, ant-
wortet Pierre Guérin. „Konzepte? Wie viele denn?“, kontert Herr
Schneider ganz und gar verwirrt.
„Un moment“, wirft Frau Tisch ein, „für Deutsche ist ein ,Konzept‘
ein Plan, für einen Franzosen ist es eine Idee.“ Mit einem Schlag ist al-
len klar, warum Fusionen und Akquisitionen so riskant sind: Miss-
verstehen produziert Misstrauen – und das ist der große Stolperstein.
Missverständnisse aber sind keine Sache der Sprache, sie sind eine Sa-
che unterschiedlicher Denk- und Verhaltensmuster. Wenn diese Muster
neu und für das Unternehmen einheitlich ausgerichtet werden, löst sich
auch das Misstrauen auf. Damit sind die Erfolgshürden abgebaut –
„abgerüstet“ – und in Erfolgsbausteine verwandelt:

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88 Unternehmen sind nicht für den Markt da

— Es gibt keine guten Entscheidungen und es gibt keine schlechten


Entscheidungen – es gibt nur Entscheidungen. Eine Entscheidung
wird gut, wenn diejenigen, die sie ausführen, sich mit ihr identi-
fizieren. Eine Entscheidung wird schlecht, wenn diejenigen, die sie aus-
führen, sie nicht akzeptieren. Wenn die Mitarbeiter im Mutterhaus und
in der Tochtergesellschaft an die unternehmerischen Entscheidungen
glauben, sind es gute Entscheidungen.
— Es gibt keine erfolgreichen Strategien und es gibt keine erfolglosen
Strategien – es gibt nur Strategien. Eine Strategie wird erfolgreich,
wenn diejenigen, die sie umsetzen, von ihrer Richtigkeit überzeugt
sind. Eine Strategie wird erfolglos, wenn diejenigen, die sie umset-
zen, an ihrer Richtigkeit zweifeln. Wenn die Meinungsmacher von
der Strategie überzeugt sind, dann funktioniert sie auch.
— Es gibt keine erfolgreichen Visionen und es gibt keine erfolglosen
Visionen – es gibt nur Visionen. Eine Vision wird erfolgreich, wenn
sie diejenigen trägt, auf die sie sich bezieht. Eine Vision wird erfolg-
los, wenn sie von denjenigen getragen werden muss, auf die sie sich
bezieht. Wenn Pierre Guérin und seine damit befassten Mitarbeiter
gemeinsam mit Harald Schneider und den Führungskräften der
deutschen Tochtergesellschaft die Vision für diesen Geschäftsbe-
reich entwickeln, können sie diese gemeinsam auf ihre Fahnen
schreiben und die Fahne auch gemeinsam hissen. Der Erfolg einer
Vision – er folgt denen, die von ihr getragen werden, den „Gepäck-
trägern“ aber folgt er nicht. Wer sich von einer Vision tragen lässt,
sucht die Chancen, die sie bietet, und findet sie. Er gewinnt Energie.
Wer eine Vision tragen muss, sucht die Probleme, die an ihr kleben,
und findet sie. Das kostet Energie.
Die meisten wissen, was zu tun ist – sie kennen das Ziel, wo die Vision
verwirklicht ist. Die meisten kennen auch die Strategie, die sie dorthin
führt. „Wir wollen die Nummer 1 auf dem europäischen Markt werden“,
deutet M. Guérin die Vorgabe der Konzernleitung an. Die wenigsten
aber wissen, warum sie auf diesem Weg zu diesem Ziel gehen. Wer aber
kein „warum“ hat, dem fehlt die Kraft. Unternehmen sind nicht für den
Markt da. Unternehmen und Führungskräfte, die wissen, wer sie sind
und wozu sie existieren, setzen die Arbeit an der Schöpfung der Welt
PRAXISBEISPIEL 3: Die Vorbereitung 89

fort. Das sind die Meister. Unternehmen und Führungskräfte, die nicht
wissen, wer sie sind und wozu sie existieren, werden zum Werkzeug für
die Visionen und Strategien der Meister. Das sind die Diener.
„Bon“, schmunzelt Monsieur Guérin schelmisch an Herrn Schneider
gewandt – und keiner der Anwesenden weiß mit Sicherheit, ob es Ernst
ist oder Spaß – „das ,Warum‘ ist in der Zuständigkeit der Konzernspit-
ze. Wir haben Sie gekauft, Sie werden uns dienen. Über alles andere
können wir reden.“ Herr Schneider krallt seine beiden Hände um die
Lehnen seines Stuhls wie ein Ertrinkender um seinen Rettungsring. Mit
Blicken richtet er einen SOS-Schrei an die beiden Resonanzschmiede.
„Monsieur Guérin“, übernimmt einer der beiden den Ball, „le coq, c’est
le seul animal de la basse-cour qui a les pieds dans la merde et pousse
encore ses cocoricos“ (der Hahn ist das einzige Tier auf dem Hof, das
mit den Füßen in der Scheiße steht und dabei noch Kikeriki ruft). Frau
Tisch und Monsieur Guérin lachen herzhaft. Herr Schneider schaut
leicht verwirrt. Er versteht die Anspielung nicht.
„Wenn Sie das so tun“, fährt der Resonanzschmied fort, „haben Sie
einen Misthaufen gekauft. Das ist nicht schlecht, damit können Sie Ih-
ren Konzern düngen. Wenn Sie aber ein fruchtbares Feld haben wollen,
das reiche Ernte bringt, sollten Sie gemeinsam säen und auch gemein-
sam ernten. Wer sich die Frage nach dem ,Warum‘ seiner Aufgabe von
anderen beantworten lässt, der ist außerhalb von sich. Er wird von au-
ßen bewegt – auf der Mistgabel der Konzernleitung. Wer die Frage nach
dem ,Warum‘ seiner Aufgabe selbst beantwortet, der ist bei sich. Seine
Vision verwirklicht sich aus seinem Selbst heraus. Seine Strategie
dorthin funktioniert ,von selbst‘. Meinen Sie nicht, dass Sie Ihre Beleg-
schaft in Deutschland so zu Ihrem Komplizen machen können?“
Monsieur Guérin beginnt, den Schlagabtausch sichtlich zu genießen.
„Wir wollen uns aber nicht auf irgendwelche komischen Dinge ein-
lassen“, bremst Herr Schneider. „Ich glaube, wir können ,complicité‘ mit
Sympathie übersetzen, Herr Schneider“, beschwichtigt Frau Tisch, die
schon beginnt, in eine neue Rolle hineinzuwachsen – die einer Kultur-
Botschafterin, „und das heißt, dass die Franzosen Sie dann mögen.“
Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über sein Gesicht.

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90 Unternehmen sind nicht für den Markt da

Ja, die Franzosen bewundern die Deutschen, mögen sie aber nicht
wirklich. Die Deutschen möchten von den Franzosen aber gar nicht be-
wundert, sie möchten von ihnen geliebt werden. Und wenn ihnen das
nicht gelingt, reagieren sie so empfindlich.
Harald Schneider beobachtet, wie Originalität Monsieur Guérin ein-
fach Spaß bereitet und Pierre Guérin beginnt, die verlässliche Bo-
denständigkeit von Herrn Schneider zu schätzen. Die Beziehungen in
dieser Runde sind geklärt. Frau Tisch hat vorgebaut und in einem sehr
guten Restaurant den schönsten Tisch für fünf Personen reserviert.
„Wir haben noch keinen von den Punkten besprochen, deretwegen wir
heute zusammengekommen sind“, bemerkt Herr Schneider ihr gegen-
über auf dem Weg ins Restaurant. Und er staunt, als das dann zwischen
Dessert und Café und noch immer bei einem ganz besonderen Rotwein
alles scheinbar nebenbei erledigt wird.

Erfahrung ist nicht übertragbar 91

4 Erfahrung ist nicht übertragbar


Als die Damen ihren Vortrag beendet haben, machen die Herren betrete-
ne Gesichter. „Scheiße!“ brummt der General und spricht allen aus der
Seele. „Es ist ein Sicherheitsrisiko“, meint ein Stabsoffizier, „wenn wir
das nicht irgendwie hinkriegen, ist der Zusammenhalt der Allianz ge-
fährdet.“ „Was heißt da hinkriegen?“, erregt sich sein Kollege: „Sollen
wir unseren Leuten etwa beibringen, jedesmal einen Hofknicks zu ma-
chen, wenn sie Engländern auf der Straße begegnen?“
Die beiden Damen haben eine Hiobsbotschaft überbracht: Die Image-
analyse im Auftrage des Pentagon, des Verteidigungsministeriums der
Vereinigten Staaten, hat eine Wunde offengelegt. Amerikanische Solda-
ten sind bei der Bevölkerung der europäischen Staaten, in denen sie
stationiert sind, unbeliebt. Solch ein Ergebnis hat die Herrenrunde er-
wartet, fällt es doch jemandem, dessen Muttersprache Englisch ist, be-
sonders schwer, andere Sprachen zu lernen. Die ersten ungelenken Ver-
suche, es in Brüssel mit Französisch, in Caracas mit Spanisch oder in
Zürich mit Deutsch zu versuchen, werden vom Gegenüber meist mit
flüssigem Englisch vereitelt.
Der Schock, den die Demoskopen auf Dias präsentiert haben, ist ein
anderer: Die höchsten Unbeliebtheitswerte erlangen die amerikanischen
Soldaten nicht etwa in Italien oder in Deutschland, was mit Sprachkur-
sen zu lösen wäre, sondern im englischen „Mutterland“. Dekadenz?
Schicksal? Dummheit? Undank? Frechheit? Der General will es genau
wissen. Er gibt eine weitere Studie in Auftrag, die die Gründe erforschen
soll.
Als die Anthropologin Margaret Mead deren Ergebnisse vorträgt,
sieht sich einer der versammelten älteren Herren in die Zeit seiner ers-
ten großen Liebe zurückversetzt:
Beim Jahresabschlussball im College streift ihr Blick den seinen mit
einem flüchtigen verlegenen Lächeln. Er geht zu ihrem Tisch, verbeugt
sich und führt sie zur Tanzfläche. Sein Herz pocht. Nach dem ersten
Tanz sagt er ihr mit einem vorsichtigen Kuss auf die Wange, dass er sich
einen zweiten wünscht. Sie strahlt. Danach verbringen sie lange Zeit

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W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_4,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
92 Erfahrung ist nicht übertragbar

plaudernd an der Bar, öffnen ihre Herzen, schärfen ihre Sinne, tanzen
wieder, trinken etwas und suchen dann einen gemeinsamen Tisch. Bei
der romantischen Musik des allerletzten, langsamen und nicht endenden
Tanzes wird das Licht schummerig. Sie schmiegt sich zärtlich an ihn, er
drückt sie vorsichtig an sich. Und als sie seinen Hals umklammert als
wollte sie ihn nie mehr loslassen, atmet er viel Mut ein und riskiert die
Frage: „Willst du heute mit mir kommen?“ Die Nacht quillt über vor Ver-
langen, vor Beben, vor Erfüllung.
Biologen nennen das Paarungsverhalten (courtship pattern), und ihre
wesentliche Feststellung hierzu ist wenig verwunderlich: Das Paa-
rungsverhalten ist artspezifisch verschieden. Bei vielen Tieren besteht
es aus drei oder vier präzise definierten Stufen. Wenn die abgehakt sind,
klickt es, und der Arterhaltung ist ein Dienst erwiesen.
Bei den Menschen funktioniert das sehr ähnlich. Allerdings sind es
hier nicht drei oder vier Stufen. Anthropologen haben herausgefunden,
dass es bei allen Rassen und Völkern 30 ebenfalls präzise definierte
Stufen bis zum Klick gibt, dessen Folgen bekannt sind. Die Wahr-
scheinlichkeit einer solchen Abfolge ist naturgemäß in der Lebensphase
besonders hoch, in welcher der vom Propheten Moses überlieferte Rat-
schluss Gottes vom sechsten Schöpfungstag andere menschliche Gedan-
ken überschattet: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“
Viele in Europa stationierte Soldaten aus den Vereinigten Staaten
sind in dieser Lebensphase und folgen dem göttlichen Ratschluss in
Diskotheken, wo sie, so sie in England stationiert sind, jungen Englände-
rinnen begegnen. Engländerinnen sind auch Menschen, sogar solche,
mit denen die sprachliche Verständigung unproblematisch ist. Während
Friedrich Schiller noch „errötend ihren Spuren gefolgt“ wäre, kann ein
Amerikaner heute die „30 Stufen“ zielstrebig angehen: Die erste Stufe ist
– immer und überall – ein Lächeln. Die Juristen bezeichnen so etwas als
notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung: Wer nicht lächelt,
kommt nie zur Stufe zwei. Natürlich ist nicht jedes Lächeln die erste
Sprosse der 30stufigen Leiter. Zum Glück gibt es hunderte anderer guter
Gründe zu lächeln. Auch die letzte Stufe ist – immer und überall – Klick.
Ohne diese biologische Vorgabe wären wir nicht hier. Die unheilvolle
Konfusion entsteht dazwischen: 30 Stufen sind artspezifisch mensch-
lich; auch die erste und die letzte Stufe sind bei allen Menschen gleich.
Erfahrung ist nicht übertragbar 93

Die Reihenfolge der Stufen zwischen Anfang und Ende aber ist nicht art-,
sondern kulturspezifisch.
Den in Lateinamerika und den romanischen Ländern üblichen Begrü-
ßungskuss zwischen den Geschlechtern – in der Rangfolge bald nach
dem Lächeln – gibt es in England nicht. Ein Kuss – ein Kuss, der sich
gewaschen hat – kommt dort kurz vor Stufe 30. Der unverbindliche ame-
rikanische Wangenkuss, von der Engländerin als Einleitung eines rich-
tigen Kusses empfunden, ermuntert sie zu einer interkulturellen Ohrfei-
ge, vertreibt den Amerikaner für immer aus englischen Diskotheken und
zementiert sein Urteil: diese unverschämte englische Arroganz ist
schwer zu überbieten.
Umgekehrt kommt der zärtliche Körperkontakt in Amerika gegen
Schluss. Das leichte Anschmiegen an den Partner ist in England recht
früh an der Reihe und hat nicht viel zu bedeuten – vielleicht nur die Lust
zu einem gemeinsamen Plausch an der Bar anzudeuten. Nach amerika-
nischem Verständnis springt die Engländerin, die vorsichtig die körper-
liche Nähe ihres Partners sucht, gleich auf Stufe 28. Ein Amerikaner, der
das erlebt, ist verdutzt, hält Engländerinnen für Huren, denkt, da es
nichts kostet, dass das hier offenbar ein Sonderangebot ist, sagt „okay,
let’s go baby“ (na gut, dann komm mit, Kleine) und will sie am Arm hinter
sich herzerren. Sie reißt sich los, rennt schreiend davon und gibt bei der
demoskopischen Befragung zu Protokoll: „Amerikaner sind der Ab-
schaum der Menschheit; kaum spreche ich mit einem, schon will er mit
mir ins Bett.“

Eine Kultur ist eine Vereinbarung zwischen Menschen und ihrem Um-
feld; sie wird von den Lebensbedingungen, dem Klima und der Land-
schaft geprägt, formt kollektive Verhaltensnormen und entwickelt
Sprache, Denken und Handeln. Kulturen unterscheiden sich durch die
mentale Programmierung der Menschen. Jedes der Programme ermög-
licht bestimmte Erfahrungen und blockiert andere.

Die mentale Programmierung bezieht sich auf Werte, Wünsche, Glau-


benssätze und Wahrnehmungen, die um einen kulturspezifischen Mit-
telwert streuen und für Außenstehende leichter zu erkennen sind als für
Zugehörige. Der Südseehäuptling Tuiavii aus Tiavea schildert unsere

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94 Erfahrung ist nicht übertragbar

globale Rechts- und Wirtschaftsordnung aus der Distanz des Außenste-


henden (ich zitiere verkürzt): „Der Papalagi (Fremde) hat eine höchst
verschlungene Art zu denken. Er denkt nur für einen und nicht für alle
Menschen. Er sagt: Die Palme ist mein. Weil sie gerade vor seiner Hütte
steht. Die Palme ist aber niemals sein. Niemals. Sie ist Gottes Hand, die
er aus der Erde uns entgegenstreckt. Wir dürfen danach greifen und uns
freuen; aber wir dürfen nicht sagen: Gottes Hand ist meine Hand. ,Lau‘
heißt in unserer Sprache mein und auch dein; es ist ein und dasselbe. Die
Palme wirft ihre Blätter und Früchte ab, wenn sie reif sind. Der Papalagi
lebt so, wie wenn die Palme ihre Blätter und Früchte festhalten wollte: Es
sind meine! Die Palme hat viel mehr Weisheit als ein Papalagi. Das hat
den Papalagi zu einem schwachen, irrenden Menschen gemacht, der das
liebt, was nicht wirklich ist, und der das, was wirklich ist, nicht erkennen
kann.“
Unsere Wirklichkeit ist Ergebnis unseres Denkens, und unser Denken
ist Ergebnis unserer Sprache. Wenn ich einen Gedanken in einer Sprache
nicht ausdrücken kann, können die Menschen, die dieser Sprachkultur
angehören, ihn nicht denken.
Im Japanischen gibt es kein benutzbares Wort für „nein“. Weil Japa-
ner nicht nein sagen können, können sie auch nicht nein denken. Die
hübsche Japanerin, die sich vor einem Verehrer retten will, muss einen
anderen Ausweg finden. Unser japanischer Geschäftsführer, der sein
Gesicht wahren will, findet auch einen anderen Ausweg. Da er nicht nein
sagen kann, entzieht er sich der Situation und verschwindet.
In der deutschen Sprache gibt es das Wort „gemütlich“. In der
deutschsprachigen Denkkultur entstehen bei diesem Wort eine Reihe
von Assoziationen, die an den mitteleuropäischen Lebensraum ge-
koppelt und nicht überall hin übertragbar sind: Es ist Abenddämmerung,
Kerzen brennen am Adventskranz, draußen schneit es, drinnen prasselt
der Kachelofen, die älteste Tochter spielt Mozartsonaten auf dem Kla-
vier, die Mutter reicht selbstgebackene Plätzchen zu Schlagsahne und
Kaffee, der Sohn, im Sofa versunken, blättert in einem Fotoalbum, die
Großmutter strickt einen Pullover, der Vater erzählt, wie es früher war,
die Katze schnurrt auf dem Ofenkissen, die Kirchglocken läuten.
Erfahrung ist nicht übertragbar 95

Der Versuch, das Wort, das dieses alles ausdrückt, ins Portugiesische
oder Arabische zu übersetzen, kann sich immer nur auf einen einzigen
Aspekt von „gemütlich“ beziehen, der in dieser Sprache gedacht werden
kann: Halbdunkel, Kerzenlicht, Tannenzweige, Schnee, Ofen, Musik,
Gebäck, Kaffee, Sessel, Geschichte, Katze, Glocken. Die Reduzierung der
schillernden Farbenpracht des vielschichtigen Begriffs auf einen einzi-
gen Aspekt lässt ihn verarmen und beraubt ihn seines emotionalen Ge-
halts. Eine Übersetzung ist nicht möglich, weil die Erfahrung, die das
Wort gebildet hat, nicht übertragen werden kann. Mit „saudade“ könnte
eine sensible Übertragung von „Gemütlichkeit“ ins Portugiesische ge-
lingen; das heißt Wehmut, Traurigkeit. So ist die mitteleuropäische Ge-
mütlichkeit für Brasilianer.
In der englischen Sprache gibt es das Wort „lean“. „Lean production“
wird in viele Sprachen mit „Schlanke Produktion“ übersetzt; auch das ist
falsch. „Lean“ ist nicht schlank und „production“ nicht Produktion.
Das Concise Oxford Dictionary und das Webster’s Dictionary um-
schreiben „lean“ so: lack of curving contours, absence of excess flesh,
characterized by economy as of style, expression or operation, not
plump, consisting of muscular tissue, containing no fat (ohne runde
Formen, ohne überflüssiges Fleisch, durch Wirtschaftlichkeit im Stil, im
Ausdruck, in der Vorgehensweise gekennzeichnet, nicht schwerfällig,
aus muskulösem fettfreien Gewebe); und „to lean“ so: to rely or depend
on, to incline one’s body against something for support (sich auf etwas
verlassen, von etwas abhängen, sich an etwas anlehnen, sich auf etwas
stützen).
Auch „to produce“ bedeutet vieles, nur nicht produzieren, was „to
manufacture“ heißt. „To produce“ (lat. producere) bedeutet: to give birth
or rise to, to bring about, to form, to cause a sensation, to cause to ac-
crue, to shape to, to yield, to bear (gebären, aufziehen, hervorbringen,
gestalten, verursachen, sich entwickeln lassen, formen, Ertrag bringen,
trächtig sein). „Product“ (lat. productum) bedeutet: a compound not
previously existing in a body (ein vorher noch nicht vorhandener Be-
standteil eines Ganzen). Und schließlich bedeutet „Production“: a lite-
rary or artistic work, the creation of utility (ein literarisches oder künst-
lerisches Werk, die Schaffung von Nutzen).

ȱ
96 Erfahrung ist nicht übertragbar

John Krafcik, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim „International Mo-


tor Vehicle Program“ des „Massachusetts Institute of Technology“ (dem
Projekt, das die Autobranche weltweit untersucht hat), prägt mit Lean
Production einen englischen Begriff, der eine japanische Realität be-
schreiben soll. Diese Realität ist geprägt durch verschwendungsfreie
Wertschöpfung. Die falsche Übersetzung „schlanke Produktion“ löst
fatale Assoziationen aus. Ein Körper wird durch eine Abmagerungskur
schlank, ein Unternehmen durch eine Entlassungskur. Was Übersetzer
alles anrichten können.
Wie die Realität dem Denken und das Denken der Sprache folgt, so ist
die Sprache Ergebnis von Bewegung. Wir bilden uns unsere Realität,
indem wir sie be-greifen, er-fassen, also berühren. Dinge, die wir nicht
durch Veränderung unseres Standorts oder unserer Haltung körperlich
erfahren, können wir nicht be-zeichnen, sie also nicht mit unserem eige-
nen Zeichen bemalen, prägen, gestalten. Wir haben keine Worte dafür.
Und weil unsere Sprache sie nicht be-schreibt, können wir sie uns nicht
vor-stellen, sie nicht in Gedanken vor uns hin stellen.

Wenn wir weiterhin denken, wie wir immer gedacht haben, werden wir
weiterhin so handeln, wie wir immer gehandelt haben. Wenn wir weiter-
hin so handeln, wie wir immer gehandelt haben, werden wir weiterhin
das erschaffen, was wir immer erschaffen haben.

Wenn wir etwas Besseres, etwas Schöneres haben wollen, müssen wir
besser und schöner denken. Besser und schöner denken können wir nur,
wenn wir besser und schöner miteinander und übereinander reden. Das
aber werden wir nur fertig bringen, wenn wir uns zuvor verändert haben.
Und verändern können wir uns nur durch äußere oder innere Bewegung.
Jorge Luis Borges berichtet von den Innovationen, die sich aus einer
starken Bewegung ergeben haben – der erzwungenen Übersiedlung von
Schwarzen nach Amerika: „Pater Bartolomé von Casas hatte großes Mit-
leid mit den Indios, die in den höllischen Arbeitslagern der antilla-
nischen Goldminen krepieren mussten, und schlug Kaiser Karl V. im
Jahre 1517 den Import von Negern vor, die in den höllischen Arbeitsla-
gern der antillanischen Goldminen krepieren sollten – die bemerkens-
werte Eingebung eines Philanthropen mit unzähligen Konsequenzen:
Erfahrung ist nicht übertragbar 97

dem Blues von Handy, dem Erfolg der Pariser Ausstellung des uruguay-
ischen Arztes und Malers Pedro Figari, der wilden Prosa Vicente Rossis,
der historischen Bedeutung Abraham Lincolns, den 500 000 Toten der
Sezessionskriege, den 3,3 Milliarden für Militärpensionen ausgegebenen
Dollars, der Statue des heldenhaften Falucho, der Aufnahme des Verbs
,lynchen‘ in die 13. Auflage des Wörterbuchs der Akademie der spani-
schen Sprache, dem wuchtigen Film Halleluja, der knorrigen Verzierung
des Bajonetts von Soler, Anführer der Mulattenkämpfer vor Montevideo,
der Anmut des Fräuleins von Tal, dem Mörder von Martin Fierro, dem
herzzerreißenden Rumba El Manissero, den von Toussaint Louverture
gefangenen und geköpften Untertanen Napoleons, dem Kreuz und der
Schlange in der Flagge von Haiti, dem Blut der von Voodoo-Anhängern
mit der Machete geköpften Ziegen und der havannischen Mutter des
Tango, dem Candombe.“
Eric Davalo und Patrick Naïm berichten nicht von aufgezwungener,
sondern von unterdrückter Bewegung in einem Laborversuch mit neuge-
borenen Kätzchen: Katzen kommen blind auf die Welt; sie erleben und
erkennen ihr Umfeld zunächst ausschließlich durch Bewegung. Wird
ihnen die Möglichkeit zur Bewegung verwehrt, verkümmern die für die
Erfahrung des Umfelds zuständigen Gehirnzellen; sie können später
nicht mehr aktiviert und genutzt werden. Eine Gruppe neugeborener
Kätzchen ist nach der Geburt gefesselt worden; eine Kontrollgruppe hat
frei herumstolpern können. Nach einer Woche, als alle sehen können,
lösen die Forscher die Fesseln: Die von Anfang an freien Tiere sehen alles
und bewegen sich normal. Die zuvor gefesselten Tiere können mit ihren
Augen nichts anfangen; sie torkeln herum und verhalten sich wie blinde
Tiere.
Manchmal überspringt eine Erfahrung Kulturgrenzen und erobert
fremde Welten, in denen es dafür keine Worte gibt. Die Germanen ken-
nen keine Steinhäuser wie die Römer und haben kein Wort für Mauer.
Nachdem sie römische Mauern gesehen haben, übernehmen sie das la-
teinische Wort „murus“ als Fremdwort. Die Japaner haben kein Wort für
Privatsphäre, die es in ihrer Kultur nicht gibt. Nachdem sie in Amerika
erleben, was das ist, übernehmen sie das englische „privacy“ als Fremd-
wort. Fremdworte, von Portemonnaie bis Software, spiegeln Einflüsse
aus einer anderen Welt: kulturelle Infiltration. Die Erfahrung, die ein

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98 Erfahrung ist nicht übertragbar

Fremdwort prägt, ist in einer anderen Kultur begonnen worden und wird
mit der Übernahme des Wortes nachgeholt. „Die Grenzen unserer Spra-
che sind die Grenzen unserer Welt“, sagt Ludwig Wittgenstein dazu.
Die Sprachen der Menschen, die in den Tropen leben, haben kein Wort
für Schnee und übernehmen es als Fremdwort aus der polnäheren Spra-
che, die ihnen zuerst davon berichtet. Skifahrer kommen mit einem Wort
für Schnee nicht aus; sie unterscheiden mindestens drei Schneearten:
Firn, Bruchharz und Sulz. Ihre Möglichkeiten, ihre Ausrüstung und ihr
Verhalten wird von der Art des Schnees bestimmt, auf den sie sich ein-
stellen müssen. Für Bergführer sind drei bis vier dieser Unterscheidun-
gen nicht genug, sie kennen zwölf verschiedene Arten von Schnee. Eski-
mos kommen auch mit zwölf Worten für Schnee nicht aus; sie haben
dafür 23 verschiedene Bezeichnungen, für jede Schneeart eine. Ohne
diese Unterscheidungen können sie in Grönland nicht leben. Für Senega-
lesen ist das alles „neige“, für Kenianer „snow“, für Angolaner „neve“.
Für sie ist Schnee nur weiß und kalt; sie bauen daraus keine Iglus, tauen
ihn nicht zu Trinkwasser auf, formen damit keine Handbälle, hacken
darunter kein Eis zum Angeln auf und lassen darüber keine Kufen glei-
ten – sie bewegen sich nicht im Schnee.
Wer keinen Wein trinkt, kann Cabernet Sauvignon von Merlot nicht
unterscheiden. Für ihn existiert der Unterschied nicht. Wer keine Nu-
deln isst, kann Spaghetti von Maccaroni von Tortellini von Rigatoni von
Cannelloni von Manicotti von Fusilli von Gnocchi von Fettuccine von
Penne von Linguine von Conchigliette nicht unterscheiden. Für ihn sind
das alles nur Nudeln. Wer nie klassische Musik hört, erkennt zwischen
Händel und Rossini keinen Unterschied, wer nie Rock hört, nicht zwi-
schen Elvis und den Beatles. Wer nie ein Kunstwerk betrachtet, sieht bei
Vincent van Gogh oder Paul Klee nur bunte Farben. Ein irianischer
Hagahai, dem Sie den Sessel zeigen, auf dem Sie jetzt vielleicht sitzen,
sieht keinen Sessel. Für ihn gibt es keinen Sessel. Vielleicht sieht er
einen Opferaltar. Als solchen wird er Ihren Sessel dann bezeichnen; da-
für hat er ein Wort. Damit ist der Sessel in seiner Welt ein Opferaltar.
Ein peruanischer Indiostamm kennt nur vier Zahlen: eins, zwei, drei
und viele. In seiner Kultur hätte eine Wall Street nicht entstehen kön-
nen. In der althochdeutschen Kultur auch nicht: Zala (Zahl) ist ein ein-
gekerbtes Merkzeichen, aus dem sich keine Algebra entwickeln lässt.
Erfahrung ist nicht übertragbar 99

Mehr Zahlen bieten mehr Möglichkeiten. Andere Zahlenmengen – kom-


plexe, natürliche, rationale, reelle – bieten andere Möglichkeiten.
Unterscheidungen erschaffen eine Welt, die es ohne sie nicht gibt; sie
erst lassen uns den Unterschied erleben, den sie schaffen. Dadurch be-
reichern sie das Leben und erhöhen seinen Wert. Nachdem die Sprache
weitere, feinere oder differenziertere Unterscheidungen zur Verfügung
gestellt hat, können wir sie auch denken. Und nachdem wir weiter, feiner
und differenzierter denken können, haben wir die Möglichkeit, auf einer
breiteren Grundlage zu entscheiden und zu handeln: Wir erweitern un-
seren strategischen Spielraum.

Jede wirkliche Innovation beginnt damit, dass wir etwas sehen, was uns
bis dahin verborgen war. Innovationsmanagement ist Unterschei-
dungsmanagement.

Ein Unternehmen mit den Schneeunterscheidungen der Ghanaer


kann keine Skier herstellen; mit den Weinunterscheidungen der Norwe-
ger keinen Rioja anbauen; mit den Nudelunterscheidungen der Nepale-
sen keine Tortellini exportieren; mit den Musikunterscheidungen eines
Taubstummen keine Geigen stimmen; mit den Kunstunterscheidungen
eines Blinden keine Galerie betreiben; mit den Sesselunterscheidungen
eines Hagahai keine Büromöbel entwerfen; mit den Zahlenunter-
scheidungen der Germanen kein Betriebsergebnis errechnen. Wie aber
können wir Unterscheidungen managen? Wie können wir als Schnee-,
Wein-, Nudel-, Musik-, Kunst-, Sessel- oder Zahlenbanausen unser Leben
um Möglichkeiten bereichern, von denen wir jetzt noch nichts ahnen?
Das ist sehr einfach: Wir müssen in Grönland Iglus bauen, in Frankreich
Wein trinken, in Italien Nudeln essen, in Wien ins Konzert gehen, in
Chicago ein Museum besuchen, in Madras das Polsterhandwerk erlernen
und in Tokyo die Terminbörse verfolgen. Wir müssen uns der Erfahrung
aussetzen.
Natürlich, es gibt das Büffeln aus Fachbüchern, die wie Schlafmittel
wirken, und das Pauken bejammernswerter Schüler und Studenten. Max
Horkheimer folgert daraus, dass die Vorlesung an der Hochschule „eine
missglückte Säkularisierung der Predigt“ ist, und der große Meister der
Zeichenkunst, Konstantin Nicolaides, zieht seine Konsequenzen: „Meine

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100 Erfahrung ist nicht übertragbar

Methode besteht einzig und allein darin, die Studenten ihre Erfahrungen
machen zu lassen. Ich versuche, sie anzuregen. Ich führe sie zu den Din-
gen, über die sie nachdenken sollen, zu den Kontakten, die sie suchen
sollen. Wenn die Erfahrungen, die sie dabei gemacht haben, gut und tief
waren, zeige ich ihnen, was es war und warum es dieses Ergebnis ge-
bracht hat.“
Durchschlagend wird die Didaktik aber erst beim Zen-Meister Hakuin.
Als ein Fremder zu ihm kommt und fragt, ob es Himmel und Hölle gibt,
fragt Hakuin zurück: „Wer bist du?“ „Ich bin der oberste Samurai des
Kaisers“, gibt der Fragende sich zu erkennen. „Du, ein Samurai?“ spottet
Hakuin, „dein Gesicht sieht aus wie das eines Lumpen!“ Das ist zu viel
für den Stolz eines Samurai. Er zieht sein Schwert und holt aus. Hakuin
steht ruhig vor ihm und sagt: „Hier tut sich das Tor zur Hölle auf.“ Vom
Blitz der Erkenntnis getroffen, verneigt sich der Samurai vor dem Meis-
ter, der dazu bemerkt: „Und hier öffnet sich das Tor zum Himmel.“
Lernen vermittelt Wissen. Das ist nicht viel wert, weil es ohnehin
schnell veraltet. Erfahrung vermittelt Erkenntnis. Ist die Erfahrung tief
und eindringlich, hält die Erkenntnis ewig. Ist sie nicht tief und ein-
dringlich genug, stehen uns weitere Erfahrungen bevor – bis wir erkannt
haben, was wir erkennen sollen. Der Sinn unseres Lebens ist, dass wir
uns entwickeln, innerlich wachsen, reifen und Erkenntnisse erlangen,
die auf der Festplatte unserer Seele für immer gespeichert bleiben; die
wir ins Jenseits mitnehmen und in nachfolgende körperliche Existenzen;
auf denen wir unsere Zukunft aufbauen können.

Menschen vor Erfahrung schützen heißt, sie vor dem Leben schützen;
ihnen Erfahrung vorenthalten heißt, ihnen Leben vorenthalten. Deshalb
ist es die heiligste Aufgabe der Unternehmen, Menschen Gelegenheit
zu geben, Erfahrungen zu sammeln.

Eindringliche Erfahrungen, solche von Ewigkeitswert, die Spuren in


der Seele hinterlassen, sind entweder mit großem Glück verbunden oder
mit tiefem Leid. „Schlechte“ und „gute“ Erfahrungen sind gleich wertvoll
und notwendig und bringen uns – wenn sie verarbeitet sind – gleicher-
maßen nur Gutes. Der Extrembergsteiger Reinhold Messner sieht es
extremer und sagt, dass er weniger durch seine Erfolge der geworden ist,
Erfahrung ist nicht übertragbar 101

der er ist, als vielmehr durch sein Scheitern. „Verlierer machen andere
Erfahrungen als Sieger“, schreibt er, „immer größere.“
Der reife Manager führt nicht, sondern zeigt die Konsequenzen auf; er
deutet nicht, sondern lehrt zu denken; er leidet nicht mit, sondern hört
zu; er hat also kein Mit-Leid, sondern Mitgefühl; er forciert nicht, son-
dern lässt etwas geschehen; er greift nicht immer gleich ein, sondern
beobachtet. Der Größere hat immer Platz für die Kleineren; er beschützt
den Raum, den sie für ihre Entwicklung brauchen, ganz so wie reife El-
tern ihren Kindern einen geschützten Raum bieten, in dem sie ihre Er-
fahrungen machen können. Das Ergebnis unserer Erfahrung ist nicht
das Entscheidende. Entscheidend ist, wie wir die Erfahrung verarbeiten,
mit ihr umgehen.
Das Spiel der Kinder im Sandkasten ist ihr Beruf, ihre altersgemäße
Berufung, die genauso ernst ist wie die Arbeit der Erwachsenen in ihrem
Beruf. Rudolf Mann nennt Unternehmen „Abenteuerspielplätze für Er-
wachsene“. Kinder bauen Sandpisten mit dem gleichen Ehrgeiz wie El-
tern Asphaltpisten. Sie sind genauso verzweifelt, wenn es misslingt, wie
Eltern, wenn sie fachlich überfordert sind. Sie streiten sich mit der glei-
chen Heftigkeit um Spielsachen wie Eltern um Kompetenzen. Sie schrei-
en genauso verzweifelt zum Himmel, wenn ihr Kunstwerk zerstört wird,
wie Eltern, wenn ihr Unternehmen Konkurs anmeldet. Und alles Jauch-
zen und Jammern, alles Lachen und Weinen, alle Freuden und Leiden
haben nur einen einzigen Zweck: das Kind auf das richtige Leben vorzu-
bereiten.
Kluge Eltern beschützen ihre Kinder nicht vor schlechten Erfahrun-
gen, die sie verkraften können; sie wissen, welchen gewaltigen Reife-
schub zum Beispiel die ersten überstandenen Kinderkrankheiten aus-
lösen. Und sie wissen, dass Lebenserfahrungen, die sie ihren Kindern
vorenthalten, nur aufgeschoben sind und das Erwachsenenleben heftiger
beschweren. Wer als Kind nicht gelernt hat, mit Konflikten umzugehen,
hat es eben noch nicht gelernt und wird sich vielleicht als Erwachsener
mit seinem Umfeld überwerfen. Wer als Kind nicht gelernt hat, zu teilen,
wird es vielleicht in diesem Leben nicht mehr lernen und als Erwachse-
ner sehr allein sein. Wer als Kind nicht gelernt hat, Schmerz auch zu
ertragen, wird vielleicht später daran zerbrechen. Wer die Kindheit nicht
lebt, kann das Leben nicht leben.

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102 Erfahrung ist nicht übertragbar

Das richtige Leben? Welches Leben ist denn richtig und welches
falsch? Ist es nicht mit unserem Erwachsenenleben genauso? Auch wir
bereiten uns doch „nur“ im Sandkasten auf das richtige Leben vor, das
später kommt. Auch unsere Sandburgen sind einzig und allein Spiel-
material, das uns Gelegenheit gibt, Erfahrungen zu sammeln. Auch bei
uns geht es nicht um das Produkt – es sind alles Zwischenprodukte. Die
Erinnerung an unsere Vergangenheit wird uns mit dem ersten Atemzug
zum großen Teil genommen, damit wir ganz präsent sind und uns auf
das Hier und Jetzt konzentrieren; damit wir uns nicht in unsere Ge-
schichte vergraben und dadurch diesem Leben keine Verbindlichkeit
geben, es verpassen und vom Winde verwehen lassen; damit wir die Er-
fahrungen, die für uns vorbereitet werden, ernst nehmen und ausschöp-
fen; damit unser Leben lebenswert ist. Es geht allein um den Weg unse-
rer Entwicklung, den wir vor uns ausbreiten.
Erfahrungen, denen wir Kinder aussetzen sollten, haben wir einge-
schränkt: soweit die Kinder sie verkraften können. Die Grenze wird von
physischen und psychischen Schäden gezogen, die irreparabel sind. Im
Unternehmen wird die Grenze von der Verzinsung des Eigenkapitals
gezogen, die erwirtschaftet werden muss. Alles, was darüber hinaus an
Rücklagen angesammelt wird, ist wie ein Laufstall, in den das Kleinkind
eingezäunt wird: bequem für die Eltern, sie brauchen nicht aufzupassen;
grausam für das Kind, ihm werden die Erfahrungen geraubt, die es bei
der Entdeckung der Wohnung hätte machen können. Und damit wird
ihm ein Stück seiner Zukunft geraubt.
Viele Unternehmen prüfen neue Projekte so lange und so gründlich,
bis nur noch die übrig bleiben, deren Erfolg sicher ist. Dann kommt der
Erfolg; die Gewinne explodieren und werden in der Bilanz versteckt,
damit die Aktionäre nicht habgierig werden. Wo es rechtlich zulässig ist,
werden sie genutzt, um eigene Aktien aufzukaufen: viele Manager träu-
men nicht nur vom mitarbeiterlosen Unternehmen, sondern auch vom
eigentümerlosen Unternehmen. Und sobald sich die Chance bietet, wer-
den die Gewinne eingesetzt, um sich der leidigen Konkurrenz durch
Akquisition zu entledigen. Dieses Szenario kennen wir bereits.
Auf der Strecke bleiben die Mitarbeiter des Unternehmens, die um ih-
re Erfahrungen auch mit riskanteren, weniger sicheren Projekten und
Abenteuern beraubt werden. Diese Erfahrungen sind das größte unter-
Erfahrung ist nicht übertragbar 103

nehmerische Kapital; sie eröffnen Möglichkeiten, die ohne sie nicht


gedacht und nicht verwirklicht werden können. So vernichten Unter-
nehmen ihre Zukunft und inszenieren den Untergang nach fetten Jahren
oft unvermittelt. Fett macht faul, unbeweglich, anfällig und verleitet
dazu, die Abenteuer vom Sofa aus zu erleben, vor dem Fernseher.

Unternehmen, die ihre heilige Aufgabe ernst nehmen und sich als Er-
fahrungshort für Menschen verstehen, betreiben das Projektcon-
trolling anders. Vier Fünftel der neuen Projekte müssen scheitern.
Wenn es weniger sind, wird nicht alles versucht.

Wenn nicht alles versucht wird, werden nur begrenzte Möglichkeiten


ausgeschöpft, die Welt zu verbessern. Wenn wir nur begrenzte Möglich-
keiten ausschöpfen, werden die weiteren unbegrenzten Möglichkeiten
von anderen ausgeschöpft. Und das ist – im Wettbewerb – unser Ende.
Der Cash-flow, den jedes fünfte Projekt produziert, reicht aus, um die
schlechten Erfahrungen bei vier anderen zu finanzieren. Und diese
schlechten Erfahrungen verschaffen dem gesamten Unternehmen einen
Entwicklungsstand, eine Reife und eine Robustheit, die es gegen die
Gefahren in turbulenten Zeiten immunisieren.
So wie es einen Untergangsmechanismus nach fetten Jahren gibt, ha-
ben auch die Tiefpunkte, Katastrophen und Existenzkrisen der mageren
Jahre ihre eigene Dynamik. Jeder andere Punkt liegt definitionsgemäß
höher als der tiefste Punkt. Das heißt, dass jede Veränderung eine Ver-
besserung bringt. Mit dieser Logik macht mir der Personalleiter den
neuen Standort schmackhaft: „Immer wenn Sie woanders hinkommen,
ist es schöner.“
Ökologische Herausforderungen verursachen den Übergang vom Vor-
menschen zum Urmenschen. Nach einer Verschiebung von Kon-
tinentalplatten des heutigen Ostafrika gibt es eine „gute“ Seite mit Wald
und reicher Nahrung und eine „schlechte“ mit Wüste und Steppe. Auf der
guten entwickeln sich unsere Vorfahren zu Affen, auf der schlechten zu
Menschen. Auch der Schmetterling erscheint in dem Augenblick, wo die
Raupe den tiefsten Degenerationspunkt erreicht hat. Jedes Ende schafft
Raum für einen Anfang. Zwischen Sterben und Werden ist kein Unterschied.

ȱ
104 Erfahrung ist nicht übertragbar

„Eine neue Welt wird geboren, die alte vergeht“, steht im MahƗbhƗrata,
„wenn ihr eure Aufgabe erfüllt habt, ist es Zeit für euch, diese Welt zu
verlassen und euch auf eine Reise in eine andere Welt vorzubereiten. Die
Zeit ist der Same des Universums und die Zeit ist mächtig.“ Der hundert-
jährige Ernst Jünger sagt das in einem Interview so: „Niemand stirbt,
bevor er nicht die für ihn vorgesehenen Erfahrungen hinter sich hat;
manch einer aber lebt länger.“

Wenn die Erfahrung ihre Spur hinterlassen hat, führt diese Spur zu ei-
ner höheren Evolutionsstufe. An der Größe der Erfahrung erkennen wir
die Größe des Entwicklungsschritts, den wir bewältigen.

Große Erfahrungen sind immer mit der Lösung großer Probleme ver-
bunden. Große Probleme suchen wir nicht; wir versuchen, sie zu umge-
hen, und träumen vom „dolce vita“, dem süßen, leichten Leben; so wie die
Kinder von Lollipop. Weil das aber nicht die Aufgabe unseres Daseins ist,
sondern Lebens-, Erfahrungs- und Zeitverschwendung, greift eine In-
stanz ein, die wir Schicksal nennen, und stellt uns vor Probleme – und
zwar immer so präzise dosiert, dass wir, wenn wir wollen und uns darum
bemühen, damit fertig werden und daran wachsen können. Wenn wir
nicht wollen, zerbrechen wir daran und sterben. Auch das ist ein Weg. Er
soll etwas langwieriger sein.
Das Schicksal stellt die Hausaufgaben für uns sehr gezielt zusammen.
Im Geschäftsleben bedient es sich finanzieller Rückschläge, in der Kar-
riere dramatischer Einbrüche, im persönlichen Bereich substanz-
zehrender Krisen, im körperlichen Bereich der Krankheit. Es gibt auch
kollektive Hausaufgaben, die ein ganzes Unternehmen, eine ganze Regi-
on, ein ganzes Volk oder einen ganzen Kulturkreis betreffen können:
Verarmung, Abhängigkeit, Bürgerkrieg, Kriminalität, Epidemien. „The
only real question is not one of winning or losing“, schreibt David Whyte,
„but of experiencing life with an ever-increasing depth.“ (Es ist nicht
wichtig, ob wir gewinnen oder verlieren; es kommt ganz allein darauf an,
mit einer immer größeren Tiefe zu leben.)
Unser lineares Denken versucht die Konfrontation mit Problemen
durch Kurieren an Symptomen abzufangen: Mehr produzieren, einen
besseren Anwalt einschalten, sich einer Psychoanalyse unterziehen, zum
Erfahrung ist nicht übertragbar 105

Arzt gehen. Nichtlineares Denken versucht, die Botschaft zu ent-


schlüsseln: Was will das Ereignis, die Krise, das Symptom mir sagen?
Welcher Erfahrung will es mich aussetzen? Warum trifft es mich? Was
soll ich lernen? Nichtlineares Denken geht davon aus, dass Leid aus dem
Widerstand gegen die Realität entsteht; dass wir Leid vermeiden können,
wenn wir unsere Probleme annehmen und überwinden. Als Konsequenz
daraus fordert nichtlineares Denken uns auf, uns selbst zu ändern, wenn
unser Leben uns nicht gefällt. Es gibt keine andere Instanz, die dafür
zuständig ist, denn allein unsere Gedanken bestimmen die Qualität der
Kräfte, die uns leiten und beschützen.
– Rauben Sie Ihren Mitarbeitern, Ihren Kollegen, Ihren Kindern nicht
deren Erfahrungen. Beschützen Sie nicht; helfen Sie nicht; antworten
Sie nur, wenn Sie gefragt werden. Arbeiten Sie an sich. Der Buddhis-
mus warnt sogar vor guten Werken an anderen:
– „Wer Gutes tut, tut es wohl nicht um des Ruhmes willen, aber doch
wird der Ruhm ihm folgen.
– Der Ruhm hat an sich nichts mit Gewinn zu tun, aber doch wird der
Gewinn ihm folgen.
– Der Gewinn hat an sich nichts mit Streit zu tun, aber doch wird sich
Streit an ihn heften.
– Darum hütet Euch davor, Gutes zu tun.“
Jemand will Buddhas Schüler werden und der Meister fragt ihn: „Hast
du schon einmal gestohlen?“ „Nie“, ist die Antwort. „Dann geh hin und
stehle“, sagt Buddha, „und wenn du auch das getan hast, kannst du wie-
derkommen.“ Edith Piaf untermalt das mit ihrem großen Chanson: „Non,
je ne regrette rien“ (Es gibt nichts, gar nichts, was ich bereue). Erfahrung
ist nicht zu ersetzen.
Wir aber versuchen das ständig: Rückschläge ersetzen wir durch Ver-
sicherungspolicen; Kälte durch Heizung; Hitze durch Klimaanlagen;
Bedürfnisse durch Filmfantasien; unternehmerische Wagnisse durch
Pläne; Experimente durch Analysen; Probieren durch Studieren; Proble-
me durch Gutachten; Krankheit durch Medikamente; Tod durch Inten-
sivmedizin. Schmerzen betäuben wir mit Stress, und der Stress betäubt
uns selbst.

ȱ
106 Erfahrung ist nicht übertragbar

Die Ursache des Mangels verschwindet nicht, wenn wir seine Symp-
tome töten: sie bahnt sich einen anderen Weg. Symptome sind Signale,
die uns eine Botschaft übermitteln. Wenn uns die Botschaft nicht ge-
fällt, stellen wir das Signal ab und vergessen die Botschaft. Wir kurieren
Symptome, lenken deren Ursachen um, aber beseitigen sie nicht. Jede
Managementkultur versucht, bestimmten Erfahrungen auszuweichen.
Damit wird ein Gleichgewicht zerstört, und das geschieht immer um den
Preis der Krankheit.
Managerkrankheiten sind Kollektivsymptome, die auf kollektive Pro-
bleme hindeuten. Weil es aber kein globales Managementmodell, kein
weltweit uniformes Managementverhalten gibt, gibt es auch keine globa-
len, sondern nur kulturbedingte Managerkrankheiten. Die Kulturen auf
der Welt sind verschieden und jede produziert ihre eigenen Verdrän-
gungsmechanismen, Symptome und Krankheiten.
Im europäischen Mittelalter wird das Gleichgewicht zerstört, indem
das Denken tabuisiert wird. Wer mit dem Kopf nicht denken darf, also
„kopflos“ ist oder seinen „Kopf verloren“ hat, muss die überschüssige
Energie nach unten verlagern. Das führt zu Unterleibsproblemen, Blind-
darmentzündungen, Bauch- und Magenschmerzen, die das häufigste
Symptom jener Zeit sind. Auf einem Salzburger Friedhof stehen mehrere
Grabsteine, auf denen sie als Todesursache eingemeißelt sind.
Der asketische Puritanismus zerstört das Gleichgewicht, indem er die
Sexualität tabuisiert. Wer seine sexuellen Bedürfnisse verdrängt, muss
die überschüssige Energie nach oben verlagern. Dort kann sie ihm „den
Kopf verdrehen“, manchmal so sehr, dass er für ein Abenteuer „Kopf und
Kragen riskiert“. Ein verdrehter Kopf verursacht Kopfschmerzen – die
nordamerikanische Managerkrankheit. Amerikanische Politiker geraten
über Dinge ins Trudeln, die in Asien oder Europa keine Nachricht wert
sind. Ostasien kennt die Geishakultur, und über Europa schwebt noch
immer der schützende Schatten des antiken Rom. Dort beobachtet ein
germanischer Chronist verzückt, was an amerikanischen Stränden klei-
nen Kindern nicht erlaubt ist: „Die Römerinnen bewegen sich in den
Quellen und Bädern in offenen, durchsichtigen Gewändern. So schwat-
zen sie unter den Augen ihres Gemahls sogar mit Fremden.“
Es gibt zwei Arten von Kopfschmerz. Beim Spannungskopfschmerz
brummt der Schädel; das Blut, das unten verboten ist, schießt nach oben.
Erfahrung ist nicht übertragbar 107

Der Kopf wird umfunktioniert und übernimmt das Anschwellen und


Erröten. Jeder sieht, dass das, was er denkt, nicht gedacht werden darf.
Der „kühle Kopf“ stellt sich erst durch Entspannung ein, also das Gegen-
teil von Anspannung. Spannung durch Ergebnisdruck, Ehrgeiz und Über-
forderung aber ist ein Grundmuster amerikanischen Managements. Vom
Manager wird erwartet, dass er „tough“ (durchsetzungsstark, hart) ist
und „mit dem Kopf durch die Wand“ geht. Das tut natürlich weh.
Die andere Art von Kopfschmerz ist Migräne. Migräne ist ein Orgas-
mus im Kopf, der Kopf wird zum Unterleib umfunktioniert und
„schwirrt“. Die lateinische Bezeichnung für Migräne – hemikranie – deu-
tet an, dass der Schädel dabei in zwei Hälften zerbricht: „hemi“ ist halb
und das altgriechische „kranion“ der Schädel. Der Liebeshunger, der
anders nicht zu befriedigen ist, wird über den Mund gestillt. Wer sich
dabei nicht beherrschen kann, zeigt als Symptom extreme Dick-
leibigkeit, die im gesundheitsbewussten und sportbeflissenen Nord-
amerika bei einer Minderheit aller Rassen häufiger ist als in jeder an-
deren Kultur.
Die japanische Managerkrankheit ist das Magengeschwür. Der Magen
nimmt die Nahrung auf, produziert Magensäure, mit der er sie zersetzt,
assimiliert das, was der Körper verwerten kann, und gibt ab, was er nicht
braucht. Auch hier kann es „Appetit“ zum „Vernaschen“ eines „süßen“
Mädchens geben oder das Brennen im Hals durch eine „scharfe“ Frau.
Aber die Geishas regeln das schon.
Für den japanischen Manager ist etwas anderes entscheidend. Wer
Konflikte leugnen muss, „nein“ nicht sagen und Wut nicht zeigen darf,
der kann seinen Ärger nicht in Aggression umsetzen, nicht durch eine
Explosion auflösen. Auch eine Fischer- und Reisbauernkultur hat ihren
Preis. Der japanische Manager darf nicht zubeißen, denn Beißen ist eine
aggressive Sache. Wenn er an den Problemen „schwer zu kauen“ hätte,
würden sie trotzdem verdaulicher, wenn er sie nur kauen dürfte. Aber
zerkleinern durch Kauen ist gleich dem Beißen tabu. Deshalb werden die
„großen Brocken“, die „schwer zu schlucken“ sind, unzerkaut hinunter-
gewürgt und bleiben dann natürlich „schwer verdaulich“. Mit Flüssigkeit
lässt sich da nachhelfen. Deshalb werden japanische Manager nach Bü-
roschluss im Kollegenkreis gern zu „Schluckspechten“. Das vernebelt die
Wahrnehmung und macht es erträglich.

ȱ
108 Erfahrung ist nicht übertragbar

Das „Sauersein“ führt zur Übersäuerung des Magens, der die Nahrung
nicht verdauen kann und sich deshalb selbst verdauen muss. Ein Ma-
gengeschwür ist nicht etwa eine Wucherung, wie der Name nahelegt,
sondern eine Durchlöcherung der Magenwand, die von ihrer eigenen
Säure zersetzt wird: Selbstzerfleischung. Die Selbstmordrate ist in Japan
die höchste der Welt – bei Schülern und bei Managern.
Die deutschen Managerkrankheiten sind Rückenleiden. Die Wirbel-
säule verbindet Halt mit Beweglichkeit: die Wirbel ermöglichen Stabili-
tät, die Bandscheiben Flexibilität. Als die Vorfahren des Menschen be-
ginnen, sich aufzurichten, eröffnet dies die Chance des besseren
Kontakts zu den Mitmenschen; aber es bringt die Gefahr größerer Ver-
letzlichkeit der Weichteile. Sich zusammenziehen und steif machen
verhärtet die Weichteile und mindert die Verletzungsgefahr. Die germa-
nischen Jäger haben das gebraucht. „Keine Bewegung“, „keine Experi-
mente“: Die Bedeutung der Ordnung in Deutschland, mit einer erwür-
genden Regelungsdichte des geschäftlichen und gesellschaftlichen
Lebens, hat ihre Vorgeschichte.
Mit einem Aufwand an Scharfsinn, Argumenten und Begründungen,
der von den Problemen her unverständlich ist, werden Stellungskriege
geführt. „Was festgelegt, geordnet, durch Tatsachen erhärtet ist, kann
nie die ganze Wahrheit erfassen“, schreibt Boris Pasternak: „Das Leben
schwappt über den Rand jedes Bechers.“ Wem Flexibilität und Urver-
trauen fehlen, dem kann nur eine Organisation Sicherheit geben, in der
er die „Situation im Griff“ und „alle Fäden in der Hand“ hat. Oder er
muss „Management by Champignon“ betreiben. Champignons sind deli-
kate Pilze, die deshalb immer sofort abgeschnitten werden, wenn sie den
Kopf herausstrecken.
Das lateinische Wort „ordo“ bezeichnet die Fadenreihe eines Gewebes.
Soldaten, die in Reih und Glied stehen, sind nicht nur ordentlich aufge-
stellt, sondern auch steif. Die Dressur der äußeren Haltung zerbricht das
Innere des Menschen, welcher der Obrigkeit deshalb keinen Widerstand
mehr entgegensetzen kann. Nachdem ihm auch noch „das Rückgrat
gebrochen“ ist, kann er vor höheren Instanzen oder der Firmenleitung
nur noch „buckeln“ und „kriechen“; oder „Radfahren“ – nach oben bu-
ckeln und nach unten treten.
Erfahrung ist nicht übertragbar 109

Die Überlastung durch Druck von oben führt zu Bandscheibenleiden


oder Ischias. Die Knorpelscheiben zwischen den Wirbeln werden heraus-
gequetscht, drücken auf die Nerven und verursachen Schmerzen. Der
Manager versucht, den Druck durch Überaktivität und zwanghaften
Perfektionismus aufzufangen. Das aber löst die Probleme nicht, sondern
führt zur Ablagerung von Toxinen im Bindegewebe, die Rheuma verursa-
chen. Der Endzustand ist Versteifung und Verkrüppelung. Stur, steif und
starr sind sehr deutsche Charakterzüge; sie klingen sehr nach streben –
und nach sterben.
Wir haben drei Beispiele von Managementkulturen angeschaut und
dazu diejenigen ausgewählt, die das größte Bruttosozialprodukt erwirt-
schaften; es hätten auch 30 oder 300 Beispiele sein können. Kollektiv-
symptome sind Kollektivsignale. Jede kulturelle Erfahrung produziert
bestimmte Probleme, und jedes Problem hat einen Sinn. Das Symptom
hilft uns, den Sinn zu erkennen. Eine einfache Regel lehrt uns, wie das
funktioniert:

Wir müssen beobachten, wozu die Symptome uns zwingen. Statt sie zu
verbiegen, müssen wir uns vor ihnen verbeugen. So beugen wir ihnen
vor und lösen sie auf.

Kopfschmerzen und Migräne zwingen uns, nicht mehr zu denken, weil


wir falsch denken; sie zwingen uns, loszulassen und zu entspannen. Wenn
wir nicht mehr hart, stark und potent sein wollen, verschwindet auch die
Impotenz. Wenn wir den Ehrgeiz aufgeben und uns dem Fluss des Lebens
anvertrauen, uns in ihm treiben lassen, jedes Ereignis als Geschenk akzep-
tieren und schauen, wozu es gut ist, dann sind wir geheilt.
Magengeschwüre zwingen uns, Schonkost zu essen und, wenn wir das
nicht tun, zu erbrechen. Wenn wir die dicken Brocken von Vorgesetzten,
Firma und Kollegen nicht mehr unbesehen herunterschlucken, sondern
ihnen unser Erbrochenes ins Gesicht schleudern, wenn wir zeigen, was
wir nicht mehr verdauen können, wollen und werden und unser Leben so
gestalten, wie es für uns bekömmlich ist, dann sind wir geheilt.
Bandscheibenleiden und Rheuma zwingen uns, im Bett zu liegen,
oder, wenn wir das nicht tun, krumm zu gehen. Wenn wir unsere Un-
beugsamkeit aufgeben, uns freiwillig der Situation beugen, und zwar

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110 Erfahrung ist nicht übertragbar

nicht indem wir versuchen, dem Druck durch Gegendruck standzuhal-


ten, sondern indem wir nachgeben, und das bedeutet in den Knien ein-
knicken oder eben, wenn das nicht genug ist, uns flachlegen, dann sind
wir geheilt.
Unsere äußeren Probleme spiegeln unsere inneren Konflikte. Wir se-
hen das Problem als unseren Gegner und bekämpfen es. Diesen Kampf
können wir nicht gewinnen, weil das Problem unser Schatten ist und wir,
wenn wir unseren Schatten vernichten, uns selbst vernichten.
Der Shintó-Glaube lehrt einen anderen Weg; es ist der Weg (tó) der
Gottheit (shin). Wir Menschen sind in der Polarität gefangen. Zwischen
den Polen entsteht Spannung: plus gegen minus, rechts gegen links,
reich gegen arm, heiß gegen kalt, hoch gegen tief, laut gegen leise, nass
gegen trocken, gut gegen böse, gesund gegen krank. In dieser Spannung
verzehren sich beide Pole. Wir können den anderen Pol nie besiegen, wir
können ihn nur überwinden. Die Methode der Überwindung besteht da-
rin, sich in den Gegenpol zu verwandeln. Wenn Sie im Gegenpol sind,
sich mit ihm versöhnen und identifizieren, seine Gedanken denken und
seine Gefühle fühlen, wenn Sie auf ihn einleuchten, dann gibt es den
Gegenpol nicht mehr – dann haben Sie ihn aufgelöst.
Probleme sind unsere Hausaufgaben. Wenn wir sie nicht annehmen,
müssen wir die Lektion oder die ganze Klassenstufe wiederholen. Es ist
sinnlos, gegen Hausaufgaben zu kämpfen; sie müssen erledigt werden.
Hausaufgaben erledigen heißt, sich in sie hineindenken und hinein-
fühlen, in ihnen aufgehen und leben. „Wer angreift, hat die Schlacht
schon verloren“, sagt Bodidharma, Begründer des Shaolin-Mönchs-
ordens vor 1 500 Jahren. „Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft“, umschreibt
es der chinesische Weise Sun Tsu vor 2 500 Jahren.
Wenn wir unsere Managerkrankheiten „behandeln“, und das heißt weg-
schieben, leugnen, verdrängen, dann vergrößern wir das Problem, bei des-
sen Lösung uns die Krankheit helfen will. Vielleicht haben wir die Krank-
heit erwürgt, aber die Firma eben auch. Vielleicht haben wir den Schatten
beseitigt, aber das Licht eben auch. Vielleicht haben wir die Botschaft
verbrannt, aber den Boten eben auch.
Mit Problemen eins werden, sie annehmen und als Helfer begrüßen,
bedeutet, sich durch Erfahrung seiner Bestimmung nähern. Das gilt für
PRAXISBEISPIEL 4: Das Projektteam 111

jeden einzelnen Menschen, für jede Gruppe von Menschen und für jedes
Unternehmen. Wer anderen Erfahrung abnimmt, raubt ihnen ein Stück
Leben und berauscht sich an einer Illusion: „Schließlich ist er reich ge-
worden“, schreibt Honoré de Balzac, „und er will seinem einzigen Sohn
die gebündelten und geläuterten Erfahrungen vermitteln, die er im Laufe
seines Lebens gegen die Illusionen seiner Jugend eingetauscht hat. Eine
noble letzte Illusion des Alters.“ Erfahrung ist nicht übertragbar.

PRAXISBEISPIEL 4: Das Projektteam


Claudine Tisch ist zur Koordinatorin des Resonanz-Programms benannt
worden und hat damit die Verantwortung für die erfolgreiche Durch-
führung von Change-Management-Projekten, die durch die Übernahme
des Geschäftsbereichs ausgelöst werden. Sie arbeitet eng mit dem
Programmleiter der ohm-Resonanzschmiede zusammen und benutzt
dieses Programm zur Erfüllung der Unternehmensziele auf der Grund-
lage einer neuen Unternehmenskultur, deren Wurzeln Elemente der
deutschen und der französischen nationalen Kultur enthalten.
Der Leiter dieses Programms führt Gespräche mit Führungskräften
aus Frankreich, die für die Übernahme zuständig sind, mit Herrn
Schneiders Führungsmannschaft, dem Betriebsratsvorsitzenden und
weiteren Schlüsselpersonen des Geschäftsbereichs aus Deutschland.
Die Personen, mit denen diese vorbereitenden Gespräche geführt wer-
den, sind von Frau Tisch, Herrn Schneider und Vertretern der Reso-
nanzschmiede gemeinsam ausgewählt worden. Die Gespräche haben
das Ziel, die gegenwärtige Situation und mögliche Zukunftsvisionen
oder Ängste herauszufinden und ein gemeinsames Verständnis für das
aufzubauen, was erreicht werden soll.
Seine Diagnose behält der Programmleiter noch für sich: Die Kon-
zernspitze will die Marktführerschaft in Europa und braucht dazu die-
ses „Bein“ in Deutschland. Sie will die strategische und die operative
Führung übernehmen und den Geschäftsbereich bei sich eingliedern.
Kompromisse werden abgelehnt, weil dann keine Seite bekommt, was
sie will. Die wichtigen Leute des Geschäftsbereichs in Deutschland füh-
len sich verraten und sind vor Angst wie gelähmt. Kurieren an Sympto-
men ist eine Art Beschäftigungstherapie für Führungskräfte.

ȱ
112 Erfahrung ist nicht übertragbar

Diese Akquisition kann nicht gelingen, wenn die Kosten gesenkt, der
Umsatz erhöht, eine Imagekampagne entworfen oder die Fassade er-
neuert wird. Sie kann nur gelingen, wenn nicht nur die Leute aus der
Konzernspitze mit ihren Stäben, sondern auch die davon betroffenen
Mitarbeiter in Deutschland sie akzeptieren und positiv über sie denken.
Diese Gedanken sind die härteste Realität, die es im Unternehmen gibt.
Sie sind das Navigationssystem des Unternehmens und bestimmen
seine Zukunft. Die Selbsteinschätzung überträgt sich auf die Kunden
und die Öffentlichkeit. Je mehr die Führung versucht, das zu verbergen,
desto peinlicher wird es, denn der Markt unterscheidet unbarmherzig
zwischen Sein und Schein.
Es nützt wenig, Schwachstellen zu identifizieren und zu beseitigen.
Wer die Übernahme als Krise versteht, muss lernen, in ihr ein Signal zu
sehen, das eine Botschaft übermittelt. Rückenleiden, Magenschmerzen
oder Krebs sind Beispiele aus der Medizin. Muren, Orkan-oder Hoch-
wasserschäden sind Beispiele aus der Natur. Arbeitslosigkeit, Streiks
und Konjunktureinbrüche sind Beispiele aus der Wirtschaft. Wenn uns
die Botschaft nicht gefällt, stellen wir das Signal ab und vergessen die
Botschaft. Unser Umfeld ist ein Spiegel, der uns zeigt wer wir sind. Un-
sere äußeren Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen spiegeln le-
diglich unsere inneren Konflikte und Schwächen – sie sind unser Schat-
ten. Wenn wir unseren Schatten auslöschen wollen, müssen wir uns
selbst auslöschen.
Der Fokus auf äußere Einflussgrößen im Management ist deshalb
nicht effizient. Erst die klare und einheitliche Ausrichtung von Ge-
danken, Sprache und Glaubenssätzen im Unternehmen ist das Fun-
dament für Durchbrüche. Das Programm soll die Leitung des Ge-
schäftsbereichs befähigen, einvernehmlich mit der Konzernleitung ihre
einzige Aufgabe wahrzunehmen: nicht Aktionen zu planen, zu steuern
und zu kontrollieren, sondern Resonanz zu planen, zu steuern und zu
kontrollieren – den Geschäftsbereich auf die gleiche innere Frequenz ein-
zustimmen, eine Frequenz, die kompatibel mit dem neuen Mutterhaus ist.
Gemeinsam mit Herrn Schneider, Frau Tisch und einem leitenden
Mitarbeiter im Stab von Monsieur Guérin werden „Multiplikatoren“
ausgewählt und eingeladen, an den Workshops teilzunehmen. Bereichs-
PRAXISBEISPIEL 4: Das Projektteam 113

leiter und die voraussichtlichen Leiter von Change-Management-


Projekten sind vollständig vertreten. Darüber hinaus gehören diesem
Kreis unter Einbeziehung des Betriebsrats die maßgeblichen Mei-
nungsbildner des Geschäftsbereichs in Deutschland an und des Stabs
in Frankreich, der die Akquisition vorbereitet hat.
Diese Multiplikatoren werden zu den eigentlichen Resonanzschmie-
den, die diesen Geschäftsbereich von innen her strategisch ausrichten
und in den neuen Mutterkonzern einfügen. Ihre Erfahrung ist nicht
übertragbar. Das ist auch nicht nötig, denn ihre Anziehungskraft zieht
andere in ihren Bann. Sie wirken wie „Salz in der Suppe“ oder wie die
energiegeladenen Photonen in einem Laserstrahl: Nur sieben Prozent
dieser Photonen sind auf einen Punkt ausgerichtet. Die übrigen 93 Pro-
zent sind Herdentierchen, die von der einheitlichen Ausrichtung der
sieben Prozent magnetisch angezogen werden und mitgehen, mitwir-
ken, mitstrahlen.
So ist es auch bei sozialen Prozessen: Im 18. Jahrhundert wollen sie-
ben Prozent der Franzosen die Monarchie abschaffen – sie haben die
Revolution zustande gebracht. Im 19. Jahrhundert sind sieben Prozent
der Nordstaatler in den Vereinigten Staaten gegen die Sklaverei – sie
haben Präsident Abraham Lincoln auf ihrer Seite gehabt und ihre Visi-
on durchgesetzt. Im 20. Jahrhundert sind sieben Prozent der Deutschen
Nazis, sieben Prozent der Russen Kommunisten und sieben Prozent der
Ostdeutschen wollen die Wende – sie alle haben das bewirkt und er-
reicht, was sie wirklich gewollt und wofür sie sich durch ihre Handlun-
gen eingesetzt haben.
Und so ist es auch bei der Akquisition dieses Geschäftsbereichs:
Wenn sieben Prozent der Betroffenen – Meinungsführer, die repräsen-
tativ ausgewählt sind – die Integration in das neue Mutterhaus wirklich
wollen und zu ihrem Projekt machen, wenn diese sieben Prozent ein-
heitlich denken und handeln, entsteht ein Resonanzfeld von hoher At-
traktivität und Anziehungskraft. Die übrigen 93 Prozent können und
werden diesem Sog nicht widerstehen. Das Programm der ohm-Reso-
nanzschmiede bietet Unternehmen einen Denk- und Handlungsraum, in
dem diese neue Ausrichtung konzipiert und vollzogen werden kann.

ȱ

Sachkonflikte gibt es nicht 115

5 Sachkonflikte gibt es nicht


Liebe auf den ersten Blick habe ich schon erlebt, sie hat mich blind ge-
macht. Aber was hier geschieht, stellt alle bisherigen Aufwallungen in
den Schatten: Der Inhaber und Geschäftsführer öffnet die Tür und lässt
mir den Vortritt. Ich sehe in die Runde und erschrecke. Um den Bespre-
chungstisch sitzen fünf Herren und eine Dame, die er mir nacheinander
vorstellt. Als ich dem letzten die Hand geben muss, erstarre ich zu einer
Salzsäule; ein eisiger Schauder läuft über meinen Rücken, eine Gänse-
haut überzieht mein Gesicht, Schweißperlen in meinen Handflächen
verschmieren den Händedruck.
Hass auf den ersten Blick macht nicht blind, sondern scharf. Dieser
gestriegelte Widerling, dieses eiskalte Pokerface, dieser arrogante Ehr-
geizknochen – der, ausgerechnet der, soll firmenintern für mein Projekt
zuständig sein, die Maßnahmen zwischen meinen Beratungsterminen
koordinieren, mir jede Unterstützung gewähren, mich vor Fettnäpfchen
und Fallstricken warnen, mir sämtliche erforderlichen Informationen
beschaffen, immer alles Notwendige veranlassen, Feinabstimmungen
vornehmen, die gemeinsamen Besprechungen organisieren und alle
Zwischenergebnisse dokumentieren.
Der Inhaber überschüttet mich mit Vorschusslorbeeren und erklärt,
warum dieser Kreis, der das Projekt begleiten soll, so und nicht anders
zusammengesetzt ist. Aber mein Kopf schwirrt vor anderen Dingen. Wie
schaffe ich es, den Auftrag jetzt noch abzulehnen? Finde ich Gründe, ein
anderes Mitglied dieser Runde für die Koordination vorzuschlagen?
Habe ich vielleicht einen Kollegen, der kompetenter ist als ich, nachdem
ich genau gesehen habe, worum es geht? Kann ich mich irgendwie der
Situation entziehen?
Ich finde keinen Ausweg, der mich nicht diskreditieren und blamieren
würde, definiere mein Problem als Lernaufgabe und bleibe sitzen. Wenn
es mir in dieser Konstellation schon nicht gelingen kann, meinem Kun-
den zu helfen, so wird doch wenigstens irgendwie und in irgendeinem
Punkt mir weitergeholfen. Erfahrung ist nicht übertragbar; ich muss ins
Wasser springen.

ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_5,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
116 Sachkonflikte gibt es nicht

Herr Paul, so will ich ihn nennen – nur in diesem Fall verschweige ich
den wahren Namen – beschreibt kurz das Problem, das alle kennen, und
visualisiert die Zusammenhänge mit einer Skizze auf dem Flip-chart. Ich
berichte, dass ich vom Inhaber schon so weit vorinformiert worden bin
und schildere die Gedanken, die ich mir bisher darüber gemacht habe,
etwas ausführlicher. Herr Paul macht sich eifrig Notizen, und als ich
fertig bin, legt er los: Punkt für Punkt nimmt er meine Überlegungen
geschickt und sachkundig auseinander, bis von allem, was ich vorge-
schlagen habe, nichts, wirklich gar nichts mehr übrig bleibt.
Die anderen wirken nicht überrascht, vermutlich kennen sie ihn
schon. Nun, wo er fertig ist, zielen alle Blicke auf mich. Ich hole zum
Gegenschlag aus, der sich gewaschen hat: Ich decke Widersprüche in
seinen Ausführungen auf; zeige, wo er keine Ahnung hat; mache deut-
lich, dass er nur alles zerreißen kann, aber noch nicht einen einzigen
konstruktiven Beitrag vorgelegt hat; ernte eine Lachsalve mit dem Hin-
weis, dass noch kein Unternehmen durch professionelle Bedenken-
trägerei Erfolg gehabt hat. Und als ich schließe, sehe ich in viele dezent
freundliche Gesichter.
Bis auf eines. Herr Paul erhebt sich, haut mit der Faust auf den Tisch,
bleibt stehen und wird laut: So etwas habe er in den ganzen vier Jahren
noch nicht erlebt, die er dieser Firma angehöre. Immer sei man an der
Sache orientiert gewesen. Mit jedem im Hause könne man vernünftig
reden. Allen gehe es allein darum, die Firma voranzubringen. Jedes Prob-
lem habe man bisher durch Zusammenarbeit gelöst und nicht durch
Konfrontation. „Und jetzt kommt da einer von draußen und meint, er
kann Schlammschlachten hoffähig machen. Nein. So nicht. Nicht mit
mir.“ Der Inhaber des Unternehmens, ein feiner, zurückhaltender, älte-
rer Herr mit Adleraugen und Lausbuben-backen, hat seine Rolle auf der
Zuschauertribüne still genossen. Nun aber richten sich alle Augen auf
ihn. Er muss Stellung nehmen. Ich wünsche mir sehr, dass er den Auf-
trag an mich zurückzieht.
„Ich habe Ihnen fasziniert zugehört“, sagt er, „hier sind zwei hochka-
rätige Männer aneinandergeraten, jeder von großer Kompetenz. Diese
Art von Auseinandersetzung ist es, die unser Unternehmen auf dem
Markt mit unserer ebenfalls hochkarätigen Konkurrenz bestehen muss.
Wir können deshalb im Hause nicht den Schwanz einziehen, wenn es
Sachkonflikte gibt es nicht 117

einmal heftig wird. Ich will die beste Lösung für unser Problem haben,
die möglich ist. Hier sind zwei Fachleute am Tisch, die ich beide dafür
brauche. Herr Paul, wir werden diese Sitzung in der nächsten Woche
fortsetzen – mit Ihnen. Sie haben die Argumente von Herrn Berger ken-
nengelernt. Bereiten Sie bitte eine Unterlage vor, die jeden einzelnen
Vorschlag schriftlich würdigt und bewertet. Auf Papier kann es ja nicht
so laut werden. Und Herr Berger, Sie bitte ich um das gleiche: eine
schriftliche Würdigung und Bewertung jedes einzelnen Vorschlags von
Herrn Paul. Überlassen Sie beide diese Unterlagen bitte einen Tag vor
der Sitzung meinem Sekretariat; wir werden sie verteilen. Ich danke
Ihnen.“ Ein kurzer Händedruck, kein weiteres Wort, ich werde zum Aus-
gang gewiesen, und er ist verschwunden.
Eine Woche lang sammle ich scharfe Munition, spitze meine Pfeile
und tränke sie in Gift. Meine brillante Analyse denkt jede Idee von Herrn
Paul zu Ende, löst sie in ihren eigenen Widersprüchen auf und kommt
mit knallharter Logik zu dem Ergebnis, dass daraus mein Vorschlag
folgt. Erfreut, erleichtert und erwartungsvoll schicke ich die Unterlage
ab. Jetzt kenne ich ihn, diesmal bin ich vorbereitet, so etwas wird mir
nicht noch einmal passieren. Die Sitzung ist auf neun Uhr früh ange-
setzt. Als ich am Vorabend an meinen Schreibtisch zurückkehre, wartet
dort die Vorlage von Herrn Paul. Noch während ich sie lese, gelingt es
mir nicht mehr, tief durchzuatmen. Meine Stirn wird eiskalt. Ich beiße
mir auf die Unterlippe. Ich verkralle meine Finger ineinander. Ich tram-
pele mit dem rechten Schuh auf meinem linken Fuß herum. Als ich fertig
bin, falle ich zurück in die Stuhllehne, schließe die Augen und sehe
schwarz. In einer brillanten Analyse hat Herr Paul jede meiner Ideen zu
Ende gedacht, sie in meinen eigenen Widersprüchen aufgelöst und ist
mit knallharter Logik zu dem Ergebnis gekommen, dass daraus sein
Vorschlag folgt.
Die Nacht hindurch liege ich wach im Bett. Wenn ich nachgebe, kann
ich den Auftrag auch gleich zurückgeben. Doch dazu ist es jetzt zu spät.
Es wäre eine schreckliche Niederlage. Auch er wird nicht nachgeben. Die
Fronten sind so verhärtet, dass ein Kompromiss unmöglich ist. Von der
Sache her wäre ein Kompromiss ohnehin schlecht. Jede praktikable Lö-
sung verlangt, dass einer von uns besiegt wird und dann entweder doch
noch aussteigt oder gezwungenermaßen dem anderen hilft, dessen Kon-

ȱ
118 Sachkonflikte gibt es nicht

zept umzusetzen. Und das heißt dann wohl eher: insgeheim und mit viel
Geschick dafür sorgt, dass dessen Konzept scheitert. Ich bin ratlos.
Das Frühstück schmeckt nicht. Der Grabenkampf Teil zwei liegt mir
im Magen. Ich will und muss kämpfen und den Firmeninhaber zu einer
Entscheidung zwingen. Und wenn sie gegen mich ausfällt, ist es auch
gut; dann werde ich um Verständnis bitten und den Auftrag zu-
rückgeben. Das ist eine ehrenhafte Niederlage. Als die Runde vollständig
um den Besprechungstisch sitzt, schaue ich Herrn Paul an, Herr Paul
schaut mich an, der Inhaber wirkt etwas abwesend, alle anderen schauen
nach unten, ahnen wie es weitergeht, wissen nicht wie es ausgeht und
wollen sich heraushalten. „Nun?“ eröffnet der Chef den Ring und nach-
dem er betretenes Schweigen erntet: „Möchte jemand etwas sagen?“
Ich hole tief Luft, atme unendlich viel Kraft ein; alle bekommen es mit
und schauen mich erwartungsvoll an. „Ja“, beginne ich, „ich möchte sa-
gen, warum wir so hier nicht weiterkommen. Das hat einen Grund und
der ist, dass ich Sie, Herr Paul, nicht leiden kann.“
Plötzlich sind alle hellwach, sitzen kerzengerade, die Münder geöff-
net, die Pupillen riesengroß, die Hände zu Fäusten geballt, die Knie um
die Stuhlkanten gepresst und halten die Luft an, die unter Hochspan-
nung knistert. Die Blicke blitzen hin und her, von mir zu Herrn Paul, von
Herrn Paul zu mir, und durchbohren uns beide. Ich lehne mich erleich-
tert zurück. Es ist vollbracht. Herr Paul ist versteinert, regungslos, aus-
druckslos, fassungslos, und nachdem er spürt, dass er im Mittelpunkt
steht, schaut er mich lange an, sehr lange, mit stahlhartem Blick, den ich
ertragen muss, direkt in die Augen. Und dann antwortet er: „Und ich Sie
auch nicht.“
Wir müssen die Sitzung verlängern. Den ganzen Tag dauert sie, bis
sieben Uhr am Abend. Und dann liegt das Ergebnis auf dem Tisch: die
beste Lösung des Problems, die möglich ist. Alle haben daran mitgewirkt
und sehr viel beigetragen. Es ist nicht seine Lösung, es ist auch nicht
meine. Das Beste ist besser als alles, was Herr Paul oder ich allein je
zustande gebracht hätten. Keiner von uns hat ahnen können, was mög-
lich ist; keiner von uns hat ohne die Beiträge der anderen auf diese Idee
kommen können. Wir haben eine außergewöhnliche Innovation zustande
gebracht, die alle begeistert.
Sachkonflikte gibt es nicht 119

Nach dem erfolgreichen Abschluss des Projekts trinken Herr Paul und
ich ein Bier darauf, dass wir so gut zusammengearbeitet haben, obwohl
wir uns noch immer nicht leiden können. Ich bin nicht sicher, ob wir bei
diesem Bier ehrlich sind. Wenigstens in diesem Punkt wollen wir viel-
leicht beide nun wirklich nicht nachgeben. Dass ich der Firma die erste
Sitzung und die schriftliche Ausarbeitung berechne, ist nicht ganz kor-
rekt: Am Anfang habe ich gar nicht für das Projekt gearbeitet, sondern
gegen Herrn Paul. „Thema verfehlt“ hätte da unter einem Schulaufsatz
gestanden. Aber nach diesem Maßstab dürften viele Angestellte nur noch
ein Viertel ihres Gehalts bekommen.

Drei Viertel aller Energie, Kraft und Zeit im Management geht in


Machtspiele. Je undramatischer das Spiel, desto brutaler sind die Aus-
wirkungen auf die Kosten.

Dramatik im Spiel drückt auf ein rasches Ende, weil die Situation un-
erträglich ist. Wenn es zwischen Herrn Paul und mir etwas erträglicher
gewesen wäre, hätten wir es monatelang miteinander aushalten können,
ohne ein Ergebnis zu produzieren. Und das ist der Normalfall. Manche
Eheleute halten es Jahrzehnte miteinander aus, weil es ein bisschen
erträglicher als absolut unerträglich ist. Es hätte ja alles noch viel
schlimmer kommen können.
Was läuft eigentlich bei dem Berger-Paul-Spiel ab? Mein Ziel ist es, ei-
nen guten Eindruck zu machen. Sein Ziel ist es auch, einen guten Ein-
druck zu machen. Zwei Leute haben also das gleiche Ziel. Wie bei jedem
Ziellauf geht es nun darum, wer zuerst ankommt und dadurch nicht nur
einen guten, sondern den besten Eindruck macht.
Wie mache ich den besten Eindruck? Das ist sehr klar: ich muss be-
weisen, dass ich recht habe. Wenn sich kein Widerspruch regt, ist es aber
kein Sieg. Wenn ich beweise, dass der Tag hell und die Nacht dunkel ist,
wird niemand widersprechen; deshalb bekomme ich keinen Lorbeer-
kranz. Ein Sieg braucht jemanden, der am Boden liegt. Recht haben
nützt mir deshalb nur, wenn ein anderer Unrecht hat. Deshalb muss ich
Gründe für mein Recht und sein Unrecht finden.
In einer von der Ratio regierten Welt hängen Gründe nicht im Kleider-
schrank, und in einer schwierigen Angelegenheit gibt es sie auch nicht

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120 Sachkonflikte gibt es nicht

von der Stange zu kaufen. Wenn die Sache kompliziert ist, müssen
Gründe erarbeitet werden, bedarf es tiefschürfender Nachweise, Darle-
gungen und Erläuterungen, warum das eine gut und das andere schlecht
ist. Und wenn die Maßanzüge geschneidert sind und sitzen, bin ich zu
einer wirklich fundierten Meinung gekommen, nämlich der, dass ich
recht habe und der andere Unrecht. Mit dieser Meinung bewaffnet gehe
ich in die Besprechung. Da ich recht haben und das heißt siegen will,
„verteidige“ ich sie dort mit meinen guten Gründen, Erklärungen und
Beweisen. Und wenn jemand anders auch einen guten Eindruck machen
will und deshalb eine andere Meinung vertritt, greife ich ihn an. Als
Angriffswaffen dienen Gegenbeweise, Vorwürfe, Verdächtigungen,
Schuldzuweisungen, Recherchen, weitere Analysen, Statistiken, Erhe-
bungen, Gutachten, Absprachen, Durchsetzungsstrategien, Druck, Ver-
lockungen, rhetorische Brillanz und ein großes Arsenal von Geheimwaf-
fen.
Diese „Meinungskriege“ erleben wir zwischen Glaubensgemeinschaf-
ten, wissenschaftlichen Schulen, politischen Parteien, Interessengrup-
pen, unterschiedlichen „Lagern“ im Unternehmen, Anhängern rivali-
sierender Führungskräfte, kurz: zwischen Menschen. Offenbar ist es
menschlich, einen guten Eindruck machen und recht haben zu wollen.
Und offenbar ist es deshalb auch menschlich, Meinungen zu haben. Und
was haben wir von unseren Meinungen, nachdem wir sie „durchgesetzt“
haben? Recht und einen guten Eindruck. Das ist ein Wert an sich.
Was aber hat unser Unternehmen von unseren Meinungen und deren
Siegen? Vielfach höhere Kosten, als wenn es Mitarbeiter ohne Meinun-
gen hätte. „Die Schrift ist unveränderlich“, sagt Franz Kafka dazu, „und
die Meinungen sind oft nur Ausdruck der Verzweiflung darüber.“

Unsere Meinungen sind die überflüssigste aller Kostenarten und der


größte aller Kostenblöcke. In einer klaren Nacht können wir hinausge-
hen und sie den Sternen vorbeten. Vielleicht interessieren die sich da-
für.

Bei der Arbeit haben Meinungen nichts zu suchen, weil sie nichts be-
wirken. Das Berger-Paul-Spiel ist in der Sekunde beendet, in der wir
aufhören, unsere Meinungen auszutauschen, und anfangen, unsere
Sachkonflikte gibt es nicht 121

Beziehung anzuschauen. Obwohl diese Beziehung nicht geklärt wird und


wir sie nicht in einer Gruppentherapie „aufarbeiten“, wie die Aufarbeiter
das nennen, reicht das offene und ungeschminkte Hinschauen und Aus-
sprechen der Beziehung aus, um eine Zusammenarbeit zu ermöglichen,
die vorher undenkbar ist.
Woher kommt diese Wunderwirkung? Wir benutzen unsere Argu-
mente, Begründungen und Erklärungen als Waffen, mit denen wir unse-
re Gegner ins Unrecht setzen, ihnen die Schuld zuschieben. Wenn uns
das gelingt, wir also „Schuldige“ gebrandmarkt haben, betrügen wir uns
selbst. Schuldige versuchen zu verdecken, und damit kommt die Wahr-
heit nicht auf den Tisch. Indem wir behaupten, für die Sache zu kämpfen,
verschütten wir sie. Diese Behauptung ist immer gelogen. Jeder kämpft
immer nur für sich und benutzt Sachen als Ritterrüstung, die ihn unan-
greifbar macht.
In dem Augenblick, wo ich die Beziehung offenlege, kann ich nicht
mehr kämpfen. Jeder durchschaut das Spiel. Ich blamiere mich, wenn ich
es weiterspiele. Die gesamte Dramaturgie und Inszenierung ist darauf
ausgerichtet, einen guten Eindruck zu machen. Alles Recht haben wollen
dient allein diesem Zweck. Aber jetzt plötzlich sind die Spielregeln um-
gekehrt: Wer jetzt noch Recht haben will, ist ein Fiesling, dem es gerade
nicht um die Sache geht, sondern um die Demütigung seines Gegners.
Sogar die Sache lockt er in diesen Hinterhalt und opfert sie seinem Ehr-
geiz oder seiner Eitelkeit. Einen schlechteren Eindruck kann man nicht
hinterlassen.
Sobald die Beziehung sichtbar für alle auf dem Tisch liegt, löst sich
jeder Beziehungskonflikt in ein Sachproblem auf, also in eine Lern-
aufgabe, die es gemeinsam zu bewältigen gilt. Argumente werden nicht
mehr in „pros“ und „contras“ sortiert, sondern jedes Argument ist plötz-
lich ein möglicher Beitrag zur Lösung des Problems. Waffen sind zu
Werkzeugen umgeschmiedet worden. „Konversion“ heißt das bei der
Umpolung der Rüstungsindustrie, die dann aus Teflon keine Raketen-
hitzeschilder, sondern Bratpfannen herstellt; mit Laserstrahlen keine
Bomber, sondern Krebszellen bekämpft; die computergesteuerte Ma-
schinentechnik nicht mehr für Merhava-Panzer einsetzt, sondern für
Merhava-Traktoren, deren Fahrwerk das des amerikanischen Mondautos
ist.

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122 Sachkonflikte gibt es nicht

An einem Sachproblem gibt es nichts zu kämpfen. Es gibt nur Arbeit –


so lange, bis das Problem gelöst ist. Die Lösung gelingt besser und
schneller, je besser und schneller der Verstand der vielen einzelnen, die
zusammen arbeiten, „synergetisiert“ wird. Aber die Technik bleibt die
gleiche wie beim Berger-Paul-Spiel. Es geht immer noch darum, gut da-
zustehen. Das bleibt menschlich. Nur die Methode, zu diesem guten Ein-
druck zu kommen, ist eine andere:

Wir erreichen unsere Ziele nicht durch Kampf, sondern durch die Arbeit
an unseren Beziehungen, die es ermöglichen, gemeinsam ein Ergebnis
zu erzielen. Beziehung ist der Schlüssel für Ergebnisse.

„Kyosei“ heißt das auf japanisch – das harmonische Zusammenwirken


der Menschen untereinander, der Menschen und der Technik, der Men-
schen und der Natur, der Mitarbeiter und des Unternehmens und auch
der Unternehmen untereinander. Wenn Wettbewerber in den Vereinigten
Staaten sich so miteinander absprechen, wie es in Japan üblich ist, kön-
nen sie ihren nächsten Geschäftsbericht im Gefängnis lesen. Nordame-
rika kitzelt Neugründungen hervor und lähmt reife Geschäfte. Japan
veredelt reife Geschäfte und macht aus Neugründungen einen Hürden-
lauf.
Ohne geklärte Beziehungen endet Kooperation in der Sackgasse des
Kampfes. Wir investieren unsere Stärken in das Imponierspiel, den
Kampf, und verlieren Kraft bei dem Versteckspiel, wo es darum geht,
unsere Schwächen zu verbergen. Erst wenn die Beziehungsfrage „abge-
hakt“ ist und es dazu nichts mehr zu fragen gibt, sind wir frei, uns den
Problemen zu widmen und ein Ergebnis zu produzieren. Wenn aber eine
Besprechung mit dem Schwur beginnt, immer und unter allen Umstän-
den sachlich zu bleiben, können Sie förmlich sehen, wie unter dem Tisch
die Messer sachlich gewetzt werden.
Beziehungsfragen sind nicht sachlich, sondern emotional. Gewiss
kann ich tief graben, bis ich herausfinde, warum ich Herrn Paul nicht
leiden kann, und er kann das umgekehrt auch tun. Das ist interessant
und hilfreich für mich und für ihn. Vielleicht ist es sogar für das Unter-
nehmen interessant, aber wenig hilfreich. Über interessante Dinge kön-
nen wir unsere Meinungen haben, unsere und anderer Zeit damit ver-
Sachkonflikte gibt es nicht 123

treiben. Interesse aber bringt keine Ergebnisse. Ergebnisse verlangen


Offenheit gegenüber anderen Menschen, die immer das Fundament einer
Beziehung ist. Eine Beziehung muss nicht gut sein; zwischen Herrn Paul
und mir ist sie immer noch schlecht. Die Offenheit aber hat ein Funda-
ment geschaffen, auf dem sich arbeiten lässt, auf dem Ergebnisse ent-
stehen.
Eine Beziehung zu einem Menschen haben heißt, ihn ohne irgendeine
Bedingung akzeptieren, wie er ist, und als mir gleichwertig anerkennen.
Zur Anerkennung der Gleichwertigkeit des Herrn Paul bin ich gezwun-
gen worden. Wenn wir um diese Gleichwertigkeit bei jedem Menschen
wissen, steht uns ein ganzer Himmel voller Möglichkeiten offen. Jeder,
dem wir so gegenübertreten, wird unsere Offenheit als offene Tür erken-
nen, als Einladung zum Eintreten. Jede uneingeschränkte Anerkennung
ist eine Partnerschaft; vielleicht nur für ein Gespräch während einer
halbstündigen Bahnfahrt; vielleicht für eine längere gemeinsame Unter-
nehmung; vielleicht aber auch für etwas Großes, das wir gemeinsam
leisten können – nur gemeinsam.
Anerkennung wertet unser Gegenüber auf, verleiht ihm also einen
Wert, der vorher nicht vorhanden gewesen ist. Dies ist die schönste Art
der Wertschöpfung. Und an-erkennen bedeutet, dass wir den anderen
erkennen, mehr nicht; dass wir erkennen, wer er ist. Er kann sich nur zu
erkennen geben, wenn er sich öffnet, also in sich hineinschauen lässt.
Den meisten fällt es sehr schwer, das zuzulassen. Das ist okay, aber es
versperrt viele Wege. Zum Beispiel den, auf dem Fundament gegenseiti-
ger Anerkennung gemeinsam etwas zu unternehmen. Doch wenn Sie den
ersten Schritt tun, sich zuerst öffnen und den anderen hineinschauen
lassen, bekommen Sie fast immer eine Gegeneinladung.
Dieses Öffnen darf sich nur auf uns selbst beziehen; nicht auf andere,
nicht auf andere Beziehungskisten, ganz besonders nicht auf die mit
dem Schicksal. Der Frau, die ihren Kummer vor mir ausschütten will,
weil ihr der Mann weggelaufen ist, sage ich, dass ihr genau so einer ge-
genüber sitzt und ihre Geschichte mich deshalb überhaupt nicht interes-
siert. Ich erzähle ihr, worauf ich bei Frauen reagiere. Das findet sie sehr
spannend und erzählt mir, worauf sie bei Männern reagiert. Als die
Bahnfahrt vorüber ist, haben wir beide viel gelernt.

ȱ
124 Sachkonflikte gibt es nicht

Jede Beziehung, die wir uns schaffen, eröffnet uns Möglichkeiten, die es
vorher nicht gegeben hat. Unser „space of possibilities“ (Raum möglicher
Entwicklungen) wird größer. Das Schöpfungspotenzial erweitert sich. Wir
haben Optionen, die vorher nicht da gewesen sind. So entwickeln wir die
Schöpfung weiter. Natürlich können wir nicht alle Möglichkeiten aus-
schöpfen, die uns gegeben sind. Wenn Sie Schauspieler, Elektriker, Gärt-
ner, Finanzbeamter oder Jazzpianist werden können, müssen Sie sich
entscheiden. Wenn Sie aber nur Steuerberater werden können, weil Sie die
elterliche Kanzlei übernehmen müssen, können Sie nicht wählen; andere
haben Ihnen die Entscheidung abgenommen, vorenthalten, geraubt.
Entscheidungsspielraum gibt uns Freiheit, und erst diese Freiheit
bringt kraftvolle Aktionen hervor, die zu Ergebnissen führen. Wir haben
uns entschieden, und wir haften für das Ergebnis. Es ist unsere Aktion,
nicht die von irgend jemand anders. Und deshalb steht es uns auch zu,
das Ergebnis zu genießen. Genießer sind begehrte Menschen. Alle son-
nen sich gern in ihrer Nähe und wollen ein bisschen abbekommen. Das
erweitert ihren „Beziehungshorizont“. Beziehungen sind ein Selbstläufer.
Beziehungen, aus denen Ergebnisse wachsen, sind immer symme-
trisch. Symmetrische Beziehungen bestehen so lange, wie beide Seiten
davon profitieren. Sobald eine Seite auf Dauer mehr gibt als sie nimmt,
entsteht Abhängigkeit. Wer mehr nimmt, ist auf die Gaben des anderen
angewiesen. In dieser Lage wird er den Geber „moralisch“ verpflichten,
ihn nicht im Stich zu lassen. Viele Menschen schreien so nach Aufmerk-
samkeit und verwandeln Bedrohungen in Rechtfertigungen. Die von Eric
Berne erfundene Transaktionsanalyse bezeichnet das als „Poor-me-
Syndrom“ (oh, ich schrecklich Armer, schaut bitte alle her). In Wirklich-
keit aber sind Opfer Menschen, die nicht wach sind. Täter sind wacher
als Opfer; sie helfen, die Opfer aufzuwecken.
Viele können da nicht widerstehen, besonders die nicht, die erst vor
diesem Kontrast groß und stark aussehen. Sobald sie kontrastsüchtig
sind, erscheint die Beziehung symmetrisch und ihre Welt wieder in Ord-
nung; sie sind süchtig danach, mit den Sorgen anderer Leute ihre innere
Leere auszustopfen und bekommen Beklemmungen bei der Vorstellung,
auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Ein „Das tue ich alles nur für
dich“ oder „Für die Firma opfere ich mich auf“ ist ein brutales, egoisti-
sches und scheinheiliges „Kontrolldrama“, wie Melody Beattie es nennt.
PRAXISBEISPIEL 5: Missionsworkshop 125

Dem durch die Aufopferung Abhängigen, der sich allein nun nicht mehr
zu helfen weiß, wird mit vampirischem Eifer Energie ausgesaugt.
Bleibt die Beziehung aber asymmetrisch, wird der, der mehr gibt, aus-
zubrechen versuchen, wenn das in seinem „space of possibilities“ (Raum
möglicher Entwicklungen) liegt. Ein solcher Ausbruch kann nur durch
Macht verhindert werden.

Die Macht hierarchischer Strukturen hält Asymmetrie gegen den Willen


derer aufrecht, die mehr geben – genau wie bei einer militärischen Unter-
werfung. Durchsetzungsstrategien sind Freiheitsberaubungsstrategien.

Unfreie Menschen können gehorchen; sie haben keine andere Wahl.


Aber sie können keine Schöpfer sein. Schöpfung verlangt die Freiheit
einer gleichgewichtigen Beziehung. Macht produziert immer Konflikt.
Und Konflikte sind immer persönlich. Sachkonflikte gibt es nicht.

PRAXISBEISPIEL 5: Missionsworkshop
Die Mitglieder des Resonanzteams – designierte Resonanzschmiede –
Schlüsselpersonen oder „Multiplikatoren“ aus Deutschland und Frank-
reich – kommen an einem Nachmittag in einem schönen, abgelegenen
Tagungshotel in der Natur an, wo sie „in Klausur gehen“ und zweimal
übernachten werden, bevor sie am Abend des übernächsten Tages wie-
der abreisen. Alle – auch Harald Schneider und Claudine Tisch – sind
voller Erwartung, als sie in dem hellen Tagungsraum in einem offenen
Stuhlkreis Platz nehmen. Der Programmleiter und zwei Coachs der
ohm-Resonanzschmiede stellen sich kurz vor und sagen, warum diese
Runde hier zusammengekommen ist:
Gemeinsam soll ein Kulturwandel konzipiert und eingeleitet werden,
der die Integration des deutschen Geschäftsbereichs in den neuen
französischen Mutterkonzern ermöglicht und die Bereitschaft zu sinn-
vollen Änderungen auch in der Konzernzentrale schafft. Der Kultur-
wandel wird sich in Change-Management-Projekten manifestieren, die
teilweise neue Praktiken im Unternehmen einführen und die eine ein-
heitliche strategische Ausrichtung bewirken. Die designierten Leiter
der Projekte sind in dieser Runde versammelt.

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126 Sachkonflikte gibt es nicht

Die Workshops haben einen konzeptionellen Rahmen, der mit „process


over plan“ beschrieben werden kann: Nicht das, was der Programmleiter
mit seinem „design team“ entwickelt hat – der Plan –, steht im Vorder-
grund, sondern das, was gerade geschieht – der Prozess. Die Anwesenden
sagen Diskretion zu; sie verabreden, zu sagen, was sie denken, andere zu ak-
zeptieren, sich an Vereinbarungen zu halten und für ihre Erfahrungen und
die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit die Verantwortung zu übernehmen.
An einem Beispiel zeigt der Programmleiter, was Verantwortung be-
deutet: „Früher haben Sie sich mit ,ich habe keine Zeit gehabt‘ heraus-
reden können. Sie sind ein Sklave der Zeit gewesen. In diesem Kreis hier
sitzen keine Sklaven, sondern die Herren der Zeit. Ab jetzt gilt nur
noch: ,Ich habe mich für etwas anderes entschieden.‘ Und Sie sind für
diese Entscheidung verantwortlich.“
Die Teilnehmer lernen, bei sich und anderen die Stärken zu sehen und
nicht die Schwächen. Das ist wie die erste Übung mit dem Mikroskop, wo
der Biologiestudent zunächst gar nichts sieht und erst einmal lernen
muss, worauf es ankommt und was er erkennen soll. Und die Teilnehmer
lernen, in die Zukunft zu schauen und sich dabei von der Vergangenheit
nicht blenden zu lassen. Erfahrungen folgen den Gedanken. Und wo die
Gedanken sich in den Spinnnetzen der Vergangenheit verheddern, wird
die Zukunft leicht zu einer neuen Auflage der Vergangenheit.
Die Aufmerksamkeit wird weggelenkt von Problemen, denn wer ein
Problem sucht, findet eins. Und wer ein Problem hat, muss sich damit
auseinandersetzen – es bekämpfen. Dieser Kampf kostet Energie. Die
Aufmerksamkeit wird sensibilisiert für Chancen, denn wer Chancen
sucht, findet sie. Und wer Chancen hat, schaut, dass er etwas daraus
macht. Dieses Engagement erschafft Energie.
In diesem ersten Workshop werden die unterbewussten Lebensziele
jedes einzelnen entdeckt. Fast alle wissen, was sie wollen. Die Kon-
zernspitze in Frankreich will die Marktführerschaft in Europa, die Leute
in dem Geschäftsbereich in Deutschland wollen ohne Einschnitte und
mit weitgehender Autonomie weiter leben und arbeiten. Herr Schneider
will seine Position behalten und seine Kompetenzen nicht beschnitten
bekommen. Einige wissen auch wie das zu erreichen ist – auch wenn
sich diese Maßnahmen teilweise gegenseitig widersprechen ...
PRAXISBEISPIEL 5: Missionsworkshop 127

... und nur wenige die Disziplin aufbringen, das zu tun, was getan
werden muss. Kein Mensch kann sein Unterbewusstsein mit Erfolg be-
kämpfen. Deshalb bleibt die Mission eines Unternehmens Utopie, wenn
sie die Lebensziele von Mitarbeitern und Führungskräften nicht be-
rücksichtigt und einbezieht. Mangelnde Disziplin ist ein Hinweis da-
rauf, dass vielleicht nicht das Richtige getan wird, weil kaum jemand
weiß, warum er das will, was er anstrebt. Die Frage nach dem Sinn der
eigenen Existenz und der eigenen Aufgabe wird durch die „Mission“
beantwortet. Unternehmen und Führungskräfte müssen wissen, wer sie
sind und wozu sie existieren. Erst dann können sie entscheiden, was sie
tun und wohin sie gehen wollen.
„Woran erkenne ich, ob das, was ich mir da ausgedacht habe, richtig
ist, ob es wirklich meine Mission ist?“, wird die Frage eines Teilnehmers
aus Frankreich übersetzt. Einer der Coachs zeigt ein kurzes Video aus
einem anderen Unternehmen. Eine Bewerbungsprozedur ist mit Zu-
stimmung der Bewerber aufgenommen worden. Jeder wird nach dem
Produkt des Unternehmens gefragt – eine innovative High-Tech-
Apparatur. Die meisten haben sich sachkundig gemacht und geben
kompetent Auskunft. Dann wird jeder der Bewerber vor die Apparatur
gesetzt und aufgefordert, ein bisschen damit zu spielen. Und das – je-
der jetzt hier in der Runde erkennt es sofort – ist der Augenblick der
Wahrheit: Die meisten Bewerber kommen der Aufforderung etwas un-
sicher und unter sichtlicher Spannung nach. Zwei von ihnen aber strah-
len wie kleine Kinder, denen gerade ihr Lieblingsauto oder ihre Lieb-
lingspuppe gegeben wird, und genießen diese Augenblicke. Alle sind
sich einig: die sind ja verliebt in das Produkt. Dieses starke Gefühl lässt
sich nicht vorspielen.
Für den weiteren Prozess in diesem Workshop ist der Maßstab ge-
setzt. „Erzählen Sie uns, was Sie wirklich, wirklich, wirklich wollen in
Ihrem Arbeitsleben“, fordert der Programmleiter jeden einzelnen auf.
Nach diesem Film kann niemand mehr Theater spielen. Wer es versucht,
dem schallt liebevolles Gelächter aus der Runde entgegen: Das Gesicht
muss strahlen, die Augen müssen leuchten, wenn jemand über seine
Mission spricht. Und – alle wissen es jetzt und haben es gesehen – die-
ses Leuchten kommt von innen, es lässt sich nicht „aufsetzen“.

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128 Sachkonflikte gibt es nicht

Sobald aber die meisten Workshopteilnehmer Ihre Mission gefunden


haben und vor Enthusiasmus strahlen, wenn sie darüber sprechen, sich
also mit ihrer Mission identifizieren – also mit ihr identisch sind – setzt
das die Fantasie, den Willen und die Kraft frei, auch nach ihr zu leben
und zu arbeiten. Wenn die Antworten der Führungskräfte im Unter-
nehmen ähnlich ausgerichtet sind und daraus der Sinn des Unterneh-
mens oder Unternehmensbereichs abgeleitet werden kann, geht die
gesamte Belegschaft mit Freude zur Arbeit und entwickelt diesen un-
bändigen Willen zu tun, was getan werden muss.
Jeder erfüllt entweder seine eigene Mission oder die eines anderen.
Beides ist okay. Die „Multiplikatoren“ – die Schlüsselpersonen, die
„sieben Prozent“, das „Salz in der Suppe“, die „energiegeladenen Laser-
photonen“ – erfüllen ihre eigene Mission; die anderen, die ebenso wich-
tig sind und gebraucht werden, erfüllen die Mission dieser Meinungs-
bildner. „Enthusiasmus kommt von ,en theos‘ (gr.) und das heißt ,in
Gott‘“, sagt der Klausurleiter, „Sie können doch gar nicht anders als
strahlen, wenn der ganze Himmel sie unterstützt. Persönliche Konflikte
kann es bei diesem Hintergrund nicht mehr geben und Sachkonflikte
gibt es sowieso nicht.“
Aus der Mission erwächst die Vision – das, was konkret erreicht wer-
den soll. Die Vision ist ambitiös und zukunftsorientiert; sie reflektiert
die Einzigartigkeit dessen, was in diesem Unternehmensbereich getan
werden will. Sie ist aber auch nachvollziehbar, vernünftig und machbar
und wird aufgebaut auf Konsens, Identifikation und Begeisterung. Rea-
lisierungsbeschränkungen haben darin keinen Platz. Ist die Vision
kraftvoll, begeistert sie alle. Diese Übereinstimmung realisiert die Vision.
Die Frage, die jedem Teilnehmer am Workshop hierzu gestellt wird,
lautet: „Was wäre in unserem Geschäftsbereich sehr gut und erstre-
benswert, ist aber leider ganz und gar unmöglich?“ Die gesammelten
Antworten werden geclustert und zu jedem Cluster wird eine Arbeits-
gruppe gebildet, die klärt, was geschehen muss, damit das Unmögliche
doch möglich wird. Der langfristige Zeithorizont wird dann schrittwei-
se reduziert, bis konkrete, spezifische und messbare Ergebnisse fest-
liegen, die in neun Monaten erreicht sind und das Unternehmen zu der
langfristigen Vision führen.

Organisatorische Macht ist wirkungslos 129

6 Organisatorische Macht ist


wirkungslos
Der Traktor rattert auf einem holprigen Weg zum Rübenfeld. Er zieht
einen Leiterwagen, auf dem 20 fröhliche Kinder sitzen, die ununterbro-
chen schwätzen, obwohl sie sich schon den ganzen Vormittag in der
Schule genug haben erzählen können. Ich bin eines von ihnen und ver-
diene mir mit der Arbeit eines Nachmittags ein kleines Taschengeld und
eine große Wurststulle. Ich bin acht Jahre alt.
Wir sollen die Rüben eines Feldes „verziehen“; das heißt, die maschi-
nell eingesäten Pflänzchen, die jetzt in endlosen Reihen sprießen, so
ausdünnen, dass jede, die stehen bleibt, genug Raum hat, zu einer großen
Rübe heranzuwachsen – einem Rohstoff für die Produktion von Zucker.
Ungefähr alle 20 Zentimeter muss eine Pflanze stehenbleiben und es
darf auch nur eine stehenbleiben. Dazu rutschen wir auf Knien die end-
losen Reihen ab. Die Bezahlung ist nach Akkord. Für jede etwa 200 Meter
lange Reihe gibt es einen Groschen, für den wir uns ein Eis kaufen kön-
nen. Die Wurststullen gibt es fürs bloße Mitmachen; sie sind Fixkosten
des Landwirts.
Das Ausmessen von jeweils 20 Zentimetern mit dem zweimaligen
Spann zwischen Daumen und Zeigefinger zwingt dazu, anzuhalten. Und
das Herausreißen sämtlicher dicht beieinander stehender Pflanzen bis
auf genau eine erfordert den Einsatz beider Hände. Ohne sich zumindest
mit einem Arm nach vorne abzustützen, ist rasche Fortbewegung auf
Knien nicht möglich. Mein Sinn für die Maximierung meines Stunden-
lohns ist früh entwickelt. Ich entdecke, dass ich meine Leistung verdrei-
fachen kann, wenn ich ohne Unterbrechung weiterrutsche, mich dabei
mit der einen Hand abstütze und mit der anderen, während ich mich
fortbewege, die Rübenpflanzen herausreiße, wie sie gerade kommen. Das
ist nicht, wie es sein soll, aber aus der Entfernung ist der Unterschied
nicht zu erkennen.
Plötzlich fährt ein Donnerdrache vom Himmel: „Wolfgang!“ faucht es
über mir so heftig, dass es als Echo aus dem nahen Wald zurückhallt und
aus meinen Knochen Knete macht: „Wenn du so arbeitest, können wir

ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_6,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
130 Organisatorische Macht ist wirkungslos

dich hier nicht gebrauchen. Erstens: für diese drei Reihen bekommst du
gar nichts. Zweitens: morgen Nachmittag bleibst du zu Hause. Und drit-
tens: wenn du danach noch einmal mitkommen willst, darfst du ab sofort
keinen einzigen Fehler mehr machen.“ Waltraud Brehm, die Herrin des
Bauernhofs, hat mich ertappt.
Heute heißt das Qualitätsmanagement.
Alle auf dem Hof haben Respekt vor ihr; sie kontrolliert, ob die Knech-
te den Stall ordentlich ausmisten, die Pferde sauber striegeln und die
Felder sorgfältig eggen; ob die Mägde die Kühe gewissenhaft melken, die
Federbetten ordentlich auslüften und den Brotteig lang genug walzen.
Aber das Feld pflügen, das Heu wenden und uns zum Rübenverziehen
bringen, die Jungtiere sterilisieren, das Korn dreschen und die Jauche-
grube leeren – das alles ist nicht ihr Job. Darum kümmert sich ihr ältes-
ter Sohn und Hoferbe Karlheinz.
Heute heißt das Produktionsmanagement.
Dann gibt es noch die großen Entscheidungen: Wie viele Schweine sol-
len aufgezogen werden? Wie viele Milchkühe werden gebraucht? Soll ein
eigener Zuchtbulle sein? In welchem Verhältnis und auf welchen Feldern
sollen Kartoffeln und Rüben, Roggen und Raps angebaut werden? Wann
sollen die Kartoffeln gesetzt, wann soll das Korn geschnitten, wann die
Mutterkuh gedeckt werden? Um das alles kümmert sich Johannes
Brehm, „der Alte“. Seine Wetternase ist berühmt: Wenn er Regen ankün-
digt, dann kommt Regen; wenn er Frost ankündigt, dann kommt Frost –
absolut sicher. Das ganze Dorf richtet Aussaat- und Erntetermine da-
nach.
Heute heißt das Strategisches Management.
Nun ist es vorgekommen, dass Knechte und Mägde im Stroh der
Scheune Verbotenes miteinander getrieben haben, was auch noch Folgen
hatte, dass Knechte nach einer Schlägerei blutüberströmt sind und Mäg-
de sich die Haare ausgerissen haben. Sogar den Pfarrer hat eine beleidigt
und sich damit gebrüstet, er habe ihr nachgeschaut. Und der Schmied
hat einen der Knechte beschuldigt, ihm mit dem Fuß den Blasebalg be-
schädigt zu haben und seitdem immer weggeschaut, wenn er Johannes
Brehm auf der Straße begegnet ist. In diesen Augenblicken strömender
Organisatorische Macht ist wirkungslos 131

Tränen, großen Schmerzes und tiefer Verzweiflung ist immer Gisela zur
Stelle, die junge Frau von Karlheinz. Bei ihr kann jeder Trost finden, sich
ausheulen, Rat suchen; sie setzt sich zwischen die Streithähne und ver-
söhnt sie; sie hört immer zu, versteht alles, verbindet die Wunden und
findet meist eine Lösung.
Heute heißt das Personalmanagement.
Frederick Taylor überträgt dieses traditionelle Führungsmodell mensch-
licher Produktionsgemeinschaften auf den Industriebetrieb, macht aus
den Mitgliedern der Familie Brehm Funktionsmeister und nennt das gan-
ze Mehrlinienstruktur. Die fachliche Breite, die die Leitung eines Produk-
tionsbetriebs verlangt, überfordert einen einzelnen Meister oder Betriebs-
leiter. Der Arbeiter, der eine Maschine bedient, hat einen Vorgesetzten für
Fragen der Produktionsplanung und Maschinenbelegung, einen für War-
tung und Instandhaltung, einen für Qualität und einen für Personaldinge.
Entscheidungskompetenz und Fachkompetenz sind in einer Hand.
Bei Konflikten wird diese Struktur auf die Probe gestellt. Wenn der
Firma Schadenersatz droht, weil ein Liefertermin nicht eingehalten wird
und der Geschäftsführer den Produktionsplaner zur Rechenschaft zieht,
fällt diesem sicher ein guter Grund ein: „Der Kollege hat einen War-
tungstermin bei der Engpassmaschine gerade zum kritischen Zeitpunkt
angesetzt“, wird er sich herausreden. Der Kollege wird sich hinter dem
Qualitätsbeauftragten verstecken, der die Wartung verlangt hat, weil die
Toleranzen überschritten werden. Der Qualitätsbeauftragte kann den
Schwarzen Peter an den Personalmeister weitergeben: „Dem einzigen
Mann, der die Sache rechtzeitig hätte in Ordnung bringen können, hat er
Urlaub genehmigt.“ Und das nächste Mal, wenn jeder der Vorgesetzten
dem armen Arbeiter an der Maschine eine andere Weisung gibt, denkt
dieser an das „Leck mich am A… “ des Götz von Berlichingen und tut das,
was er für richtig hält. Schon der Apostel Matthäus hat es gewusst:
„Niemand kann zwei Herren dienen.“
Die schlechten Erfahrungen mit der Mehrlinienorganisation in Indus-
triebetrieben haben zur Einlinienorganisation geführt. Jeder hat nur
noch einen Vorgesetzten, der die Gesamtverantwortung trägt. Eine ein-
zige Linie als Dienstweg für Weisungen von oben nach unten, für Be-
schwerden von unten nach oben und als Informationsweg in beiden

ȱ
132 Organisatorische Macht ist wirkungslos

Richtungen – klare Verhältnisse. Der Vorgesetzte hält alle Fäden in der


Hand. Dies überfordert ihn fachlich und zeitlich. Die Überforderung wird
mit einem Konzept gelöst, das sich beim Militär bewährt hat und seit-
dem aus Unternehmen, öffentlichen Verwaltungen und der politischen
Führung nicht mehr wegzudenken ist:
Als Wilhelm I., König in Preußen, einem Entwicklungsland, seinen
General Hellmuth Graf Moltke beauftragt, einen Krieg gegen die Welt-
macht Frankreich vorzubereiten, wird dieser kreidebleich. Das ist ein
Himmelfahrtskommando. Soll es auf Erden Erfolg haben, muss es minu-
tiös vorbereitet sein. Als erstes studiert Moltke vergangene Kriege. Im
Mittelalter gelingt den Türken um Haaresbreite die Islamisierung Euro-
pas. In der entscheidenden Schlacht vor Wien werden die christlichen
Heere vom Prinzen Eugen angeführt. Und im entscheidenden Augenblick
dieser Schlacht, der die religiöse Zukunft Europas besiegelt, steht Prinz
Eugen seinem türkischen Gegenspieler hoch zu Ross gegenüber, zückt
sein langes Schwert und haut mit voller Wucht zu. „Da sieht man zur
Rechten und zur Linken, einen halben Türken herniedersinken“, meldet
der mittelalterliche Kriegsberichterstatter.
„Es hätte ebensogut umgekehrt kommen können“, folgert Graf Molt-
ke. Wir können noch mehr folgern. Von nicht kriegsentscheidendem
Gemetzel abgesehen, ist die Schlacht nach einem Zweikampf und einem
einzigen Toten beendet. Weil der Oberbefehlshaber einer Seite gefallen
ist, flüchtet seine Truppe kopflos. Mein Sohn Fabian hat als Neunjähri-
ger überlegt, wie man auch diesem einen Gefallenen das Leben hätte
retten können: „Statt sich niederzustechen, hätten sie doch um den Sieg
Schach spielen können.“
Die persische Hochkultur hat das getan; sie hat den Krieg mit dem
Schachspiel simuliert und das Simulationsergebnis als kriegsentschei-
dend anerkannt. Wenn der König fällt, ist die Schlacht verloren. Der
Dame ist jede Bewegung erlaubt, um ihn zu verteidigen. Frauen sind oft
die wendigeren Diplomaten, ziemlich unentbehrlich und dürfen dann
alles. Bauern dienen, wie immer in früheren Zeiten, als einfache Solda-
ten. Dieser ganze Tross – das Fußvolk – schiebt die Front langsam nach
vorn. Pferde, die auch über Hindernisse springen können, bleiben den
Edelmännern vorbehalten. Den Läufern, die sich, von Nachschubproble-
men unbelastet, schnell bewegen können, bleibt deshalb der Zugang zu
Organisatorische Macht ist wirkungslos 133

vielen Feldern versperrt. Solange die Bewegungen des Feindes von Hoch-
sitzen, Beobachtungsposten, Wachttürmen aus eingegrenzt werden
können, ist noch Hoffnung auf Sieg. Wenn der letzte Turm einstürzt, ist
das Kampfgeschehen nur noch schwer zu kontrollieren, der König bald
manövrierunfähig – matt gesetzt.
Der preußische König hat nicht vor, seinen Kollegen aus Paris zum
Schachspiel einzuladen. Graf Moltke muss sich etwas anderes einfallen
lassen. „Wenn ich so vorgehe wie Prinz Eugen“, denkt er laut, „hängt der
Ausgang des Kriegs vom Glück eines Augenblicks ab. Wenn der Franzose
den gewinnt, ist das Vaterland verloren. Das dürfen wir nicht riskieren.
Das Wichtigste für die Moral der Truppe ist, dass ich am Leben bleibe.
Und das ist nur gewährleistet, wenn ich mich gar nicht am Kampf betei-
lige, in sichere Distanz auf einen ,Feldherrenhügel‘ zurückziehe, von
dort das Geschehen mit einem ,Feldstecher‘ beobachte und meine Befeh-
le durch schnelle Reiter an die Front schicke.“
Aber auch das allein ist noch riskant: Was nützt es Preußen, wenn der
General überlebt, aber sein Heer von dem übermächtigen Feind über-
rannt wird? Bei diesem Kräfteungleichgewicht muss ein Krieg geplant
werden. Moltke ruft seine fähigsten Generäle zusammen und bildet aus
ihnen einen „Generalstab“. Der Auftrag an den Stab lautet: den Krieg
simulieren – nicht als Kriegsersatz, wie bei den Persern, sondern als
Vorbereitung des Kampfgeschehens. Die Generäle besorgen ihr Geschäft
auch nicht mit Schachfiguren, sondern mit Zinnsoldaten – blauen für die
Franzosen und roten für die Preußen. Aus angerührtem Gips formen sie
auf einer großen Tischplatte eine hügelige Landschaft und überziehen
sie, nachdem der Gips trocken ist, mit grünem Filz – grün wie Wiesen
und Wälder. Dort spielen sie ihre Manöver solange durch, bis sie eine
optimale Angriffsstrategie herausgefunden haben. Deshalb heißt es von
Stäben, die mit Plänen hantieren, statt mit der Wirklichkeit: „Das haben
die sich am grünen Tisch ausgedacht.“
Seit Preußen diesen Krieg gewonnen hat, dadurch neben Österreich
zur innerdeutschen Großmacht aufgestiegen ist und auf dieser Basis
Deutschland geeinigt hat und den deutschen Kaiser stellt, sind Stabsab-
teilungen aus dem Militär, der Politik und den Unternehmen weltweit
nicht mehr wegzudenken – ist aus der Einlinienorganisation eine Stab-
Linien-Organisation geworden.

ȱ
134 Organisatorische Macht ist wirkungslos

Der Stab hat Fachkompetenz, aber keine Entscheidungsgewalt. Damit


kann er den fachlich überforderten Linienvorgesetzten mit Kompetenz
ausstopfen, seine Befugnisse erweitern, seine Kontrolle festigen, seine
Macht vergrößern. Er kann Netzwerke von „egg heads“ (Eierköpfen)
bilden, das Gelbe vom Ei: wenn man sie gegen die Wand wirft, zerplatzen
sie. Den Kopf müssen die ohne Eigelb hinhalten.

Der Stab kann sich zum Wasserkopf aufblasen, zur grauen Eminenz
aufbauen und, wenn es hart auf hart kommt, hinter den in dicken Sta-
peln von Papier versteckten vielschichtigen Wenns und Abers ver-
schanzen.

Procter & Gamble steckt in einer Krise, als sein Corporate Executive
Officer (Vorstandsvorsitzender) montag früh vor seiner Bürotür in der
Hauptverwaltung in Cincinnati von einem Beauftragten des Auf-
sichtsrats erwartet wird, der die Büroschlüssel gegen das Entlassungs-
schreiben tauscht. Als zwei Tage später der Nachfolger das Büro betritt,
hat das obere Management sämtliche externen Termine abgesagt und
harrt angst- oder erwartungsvoll in den Büros. Richard R. Deupree hat
einen klaren Auftrag: er soll Gewinn machen. Wie beginnen Sie Ihren
ersten Arbeitstag in einer Firma, die Sie nicht kennen, mit diesem Ziel?
Der neue Boss legt die Füße auf den Schreibtisch, wie es in Amerika üb-
lich ist, bestellt sich Kaffee, liest das Wallstreet Journal und tut sonst
gar nichts. Er will mal sehen, ob andere etwas tun. Nach einer Viertel-
stunde bringt eine seiner Sekretärinnen eine dicke Mappe mit hausin-
terner Eingangspost. Nach einer weiteren Viertelstunde bringt ein Assis-
tent einen großen Stapel Projektstudien zu geplanten Produkten und
Marketingkonzepten. Nach nochmals 20 Minuten kommt ein anderer
Assistent und stellt sich vor; er hat eine Menge Investitionsanträge un-
term Arm, die er ablegt. Als die zweite Sekretärin mit drei Kilogramm
externer Eingangspost hereinkommt, wundert sie sich: „Und Sie lesen
immer noch Zeitung?“
„Bitte“, sagt ihr neuer Chef, „in einer halben Stunde möchte ich sämt-
liche mir direkt unterstellten Damen und Herren aus der Haupt-
verwaltung hier versammeln, und einen Hausmeister und einen Contai-
ner.“ Nachdem er sich vorgestellt hat, lässt er die Runde schätzen, wie
viele Seiten auf dem voll beladenen Schreibtisch liegen. Man einigt sich
Organisatorische Macht ist wirkungslos 135

auf 3 000. Dann lässt er einen der Herren eine beliebige Seite aufschla-
gen und so vorlesen, dass alle den Inhalt verstehen. Sein Sekundenzeiger
misst die Zeit dafür mit einer Minute. 3 000 Minuten sind ca. 50 Stun-
den – eine ganze Arbeitswoche.
„Ist das nur heute so viel, weil dieser Platz zwei Tage vakant gewesen
ist, die Woche angefangen hat oder noch Monatsanfang ist?“, fragt er die
beiden Sekretärinnen? „Weil wir seit Montag gesammelt haben, ist es
schon etwas mehr“, sagt die ältere von ihnen, „aber so groß ist der Unter-
schied zu normalen Tagen nicht.“ „Gut“, stellt er fest, „da ich nicht vor-
habe, mehr als ein Drittel meiner Arbeitszeit hier im Büro zu verbringen,
werde ich das alles nicht lesen können. Wenn ich es nicht lese, wird es
meine Entscheidungen nicht beeinflussen, und wenn es meine Entschei-
dungen nicht beeinflusst, braucht es auch niemand zu schreiben. Dies
hier ist offenbar eine Firma, deren wichtigstes Produkt beschriebenes
Papier ist. Mit beschriebenem Papier verdienen wir kein Geld, sondern
erhöhen unsere Gemeinkosten. Deshalb nehmen Sie bitte die externe
Post beiseite, darüber reden wir noch, und“ – an den Hausmeister –
„schieben Sie den gesamten Rest in den Container und vernichten ihn im
Reißwolf.“ Und dann gibt er dem Sekretariat noch die Weisung, ab sofort
alle hausinterne Post, die länger als eine Seite ist, ungelesen zu vernich-
ten. „Ich lese nur noch Dinge, die auf eine Seite passen“, formuliert er
seinen Führungsgrundsatz. Zwei Jahre später weist die Bilanz dieser
„one page company“ (Eine-Seite-Firma) einen stolzen Gewinn auf.

Nur die kompakte Information vereitelt Selbstdarstellungsorgien, lässt


die Hand der Leitung über viele Zwischenentscheidungen am Puls des
Geschehens und verhindert, dass die Entwicklung ihnen entgleitet,
dass Sachzwänge aus taktischen oder opportunistischen Gründen von
unten aufgebaut werden und Alternativen verbarrikadieren.

Aber die Stabsabteilungen im größeren Teil der restlichen Welt gibt es


noch immer. Sie haben der Machtausweitung und ihrem Erhalt vor 100
Jahren gedient, als sie erfunden worden sind. Machterhalt ist auch heute
noch das Führungsparadigma. Doch Stabsabteilungen sind ein Kropf am
Hals, und ein Kropf beruht auf Jodmangel im Trinkwasser, einem Mangel
an dem Stoff, mit dem wir Wunden desinfizieren.

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136 Organisatorische Macht ist wirkungslos

Stäbe sind entweder ein Indiz dafür, dass die Vorgesetzten ihre Mit-
arbeiter in der Linie nicht für kompetent halten; dann sollten die Li-
nienmitarbeiter ausgewechselt werden. Oder sie sind ein Indiz dafür,
dass die Unternehmensleitung den Linienvorgesetzten misstraut, sie
sachkundiger kontrollieren will; dann sollten die Linienvorgesetzten
ausgewechselt werden. Oder sie sind schließlich ein Indiz dafür, dass die
Leitung unsicher ist, sich hinter Beratern und Papier verschanzt, um
sich abzusichern; dann muss die Spitze ausgewechselt werden. Der rö-
mische Politiker Cato der Ältere schließt jede seiner großen Reden mit
dem gleichen Satz, bis er sich erfüllt hat: „Ceterum censeo Carthaginem
delendam esse“ (im Übrigen meine ich, dass Carthago zerstört werden
muss). Wenn Sie Unternehmer sind oder „Oberbefehlshaber“ einer ande-
ren Institution, sollten Sie jeden Reorganisationsschritt im Übrigen als
Schritt zur Zerstörung von Stabsabteilungen und Stabspositionen ge-
stalten. Das entschlackt.
Nachdem wir den Grafen Moltke als Programmschleife der Organi-
sationsgeschichte abspeichern können, kommen wir – in anderer Sache –
auf Max Weber zurück. Nicht nur die protestantische Ethik hat er ent-
deckt, auch die Linienorganisation. Nachdem wir die Stäbe in der Orga-
nisation wieder beseitigt haben, wollen wir uns nun daranmachen, auch
noch die Linien in einer Programmschleife der Unternehmensführung
unschädlich zu machen.
Vor der Industrialisierung ist Führung personenorientiert. Die Unter-
nehmer dieser Zeit sind Großgrundbesitzer, deren Vorfahren den Besitz
zum Dank für persönliche Treue von ihrer Obrigkeit geschenkt bekom-
men haben. Aufgaben der kommunalen oder regionalen öffentlichen
Verwaltung werden entweder von diesen oder vom Klerus wahrgenom-
men und selbstverständlich nicht nochmals gesondert vergütet; der
Besitz bringt ja Ertrag. Die Kunst des Lesens und Schreibens ist auf die
Kirchenmänner beschränkt, und das soll auch so bleiben, damit nicht
jeder Untertan zum „Schriftgelehrten“ wird und die Lehre der Kirche an
Hand biblischer Quellen überprüfen kann. Streitigkeiten – Rechtsstrei-
tigkeiten – werden in mündlicher Verhandlung nach Ermessen entschie-
den, und als einziger Nachweis dienen Zeugen.
Max Weber erfindet nun radikale Neuerungen. Diener des Staates
sind Beamte, die für ihre Tätigkeit bezahlt und damit von anderen Be-
Organisatorische Macht ist wirkungslos 137

günstigungen unabhängig werden. Beamte zeichnen sich nicht durch


persönliche Treue aus, sondern durch fachliche Kompetenz. Sie sind
nicht dem Monarchen verpflichtet, sondern dem Gesetz. Alle Vorgänge
werden in Akten schriftlich festgehalten, bleiben damit nachvollziehbar
und nachprüfbar. Für die Bearbeitung der Vorgänge gilt ein Dienstweg,
der einzuhalten ist. Im Rahmen eines Instanzenzugs werden jedem Be-
arbeiter bestimmte Zuständigkeiten und Befugnisse übertragen. Ent-
scheidungen werden unabhängig von der Person nach festen Regeln
getroffen, denen auch die Obrigkeit unterworfen ist.
Es ist das erste Führungsmodell, das nicht vom Militär kommt, son-
dern von einem Wissenschaftler. Es ist das organisatorische Pendant zu
den technischen Erfindungen; das zweite Bein der entstehenden Unter-
nehmen und damit Voraussetzung für die industrielle Entwicklung. „Wir
haben nur die Wahl zwischen Bureaukratisierung und Dilettantisie-
rung“, schreibt Weber; heute sagen wir dazu Professionalität und Stüm-
perei. Bürokratie ist das Synonym für Effizienz.
Cyril Northcote Parkinson sieht das anders; er formuliert zwei be-
rühmte Gesetze. Nach dem ersten wird in einer Bürokratie Arbeit so
lange ausgedehnt, bis sie die verfügbare Zeit ausfüllt. Nach dem zweiten
wächst die Zahl der Beschäftigten einer Behörde mit einer festen Rate
zwischen fünf und sieben Prozent pro Jahr, unabhängig von der Entwick-
lung ihrer Aufgaben. Parkinson hat auch vorgeführt, dass die Zahl der
englischen Kriegsschiffe seit 100 Jahren mit der gleichen Rate abge-
nommen hat, wie die Zahl der Beschäftigten im Marineministerium
gestiegen ist; die beiden Zahlenreihen korrelieren also negativ. Und er
hat ausgerechnet, wann – wenn der Trend sich fortsetzt – die gesamte
englische Bevölkerung im Marineministerium arbeitet und dort nur
noch ein einziges Kriegsschiff verwaltet. Unsere Alltagserfahrung bestä-
tigt Parkinson: Wenn eine Katastrophe geschieht, versichert die Regie-
rung, den Opfern werde „unbürokratisch“ geholfen. Bürokratie funktio-
niert offenbar nicht mehr.
Als Max Weber die Effizienz der Bürokratie nachweist, arbeiten im
preußischen Finanzministerium 27 Personen – der Minister, der Türste-
her, der Kutscher und die Kopisten eingeschlossen. Preußen ist mehr als
die Hälfte des heutigen Deutschland. In dieser Situation nützt ein weite-
rer Beamter mehr, als er kostet. Ökonomen sprechen dann von einem

ȱ
138 Organisatorische Macht ist wirkungslos

positiven Grenznutzen. Auf dem Weg zu einem Marineministerium, das


die gesamte berufstätige Bevölkerung beschäftigt – ob Preußen oder
England spielt hier keine Rolle –, ist irgendwo der Punkt, wo ein weiterer
Beamter gerade so viel bringt, wie er kostet. Dies ist die „optimale
Staatsquote“. Die meisten Staaten der Welt haben diesen Punkt inzwi-
schen überschritten. Wir befinden uns im Zeitalter des Etatismus, in
dem ein zusätzlicher Staatsdiener mehr kostet, als er nützt. Ökonomen
sprechen hier von einem negativen Grenznutzen.
Ein Staat oder ein Unternehmen kann nur funktionieren, wenn seine
Beschäftigten leistungsfähig sind und sich mit seinem Wohl identifi-
zieren. Psychisch gesunde Menschen können sich mit dem Wohl des
Ganzen nur dann identifizieren, wenn sie sich dadurch nicht selbst
schaden. Das ist menschlich, und es ist normal.

Leistungsfähige Menschen sind psychisch normal. Psychisch normale


Menschen sind weder Märtyrer, die sich selbst und ihre eigenen Inte-
ressen zum Wohle des Ganzen opfern, noch Masochisten, die sich selbst
quälen, weil das für andere gut ist.

Sich selbst nicht schaden heißt, sich, wo es möglich ist, selbst nützen.
Wie nützt ein Staatsdiener sich selbst? Das ist kein Staatsgeheimnis: er
muss etwas tun, was ihm eine höhere Besoldungsstufe bringt, was zu
seiner Beförderung führt. Er braucht mehr Mitarbeiter, mehr Budget-
verantwortung, mehr Kompetenzen. Ein Staatsdiener, der weder Maso-
chist noch Märtyrer ist, muss alles tun, was ihm möglich ist, um den
Einfluss des Staates auszuweiten und dadurch die Staatsquote zu erhö-
hen. Und wenn er nicht sehr dumm ist, wird er das auch schaffen, selbst
gegen den erklärten Willen seiner Regierung.
Tancredo Neves, gewählter Präsident Brasiliens, der noch vor seinem
Amtsantritt 1985 verstorben ist, hat diese vertrackte Dynamik erkannt
und mit einem Ministerium für Entbürokratisierung zerbrechen wollen.
Er hätte auch den Teufel zum Papst küren können.

Bürokraten sind wie Bakterien. Bakterien wirken nicht, indem sie


kämpfen, sondern indem sie sich vermehren.
Organisatorische Macht ist wirkungslos 139

Wenn der Grenznutzen des öffentlichen Sektors positiv, die Staats-


quote also unterhalb des Optimums ist, stiftet diese Vermehrung Nut-
zen; sie bewahrt vor Schaden, sorgt für Sicherheit und schafft Ordnung –
so wie es die nützlichen Bakterien in unserem Körper auch tun. Sobald
aber der Grenznutzen des öffentlichen Sektors negativ ist, die Staats-
quote sich also über das Optimum hinaus ausgedehnt hat, richtet diese
Vermehrung Schaden an, werden die Staatsdiener zu schädlichen Bakte-
rien, die das Immunsystem lahmlegen und das Ganze schwächen, zerset-
zen, töten.
In dieser Situation befinden sich viele Staaten der Welt, und deshalb
werden die meisten von ihnen von ihren eigenen Eliten degeneriert,
ausgesaugt, geopfert. „Die Freiheit verringert sich in dem Maße, wie sich
der Staat vergrößert“, diagnostiziert Jean-Jacques Rousseau, und José
Ortega y Gasset schreibt: „Das Skelett frisst das Fleisch um sich herum.“
Um die Unternehmen steht es nur dann besser, wenn sie von den Kräf-
ten des Marktes kontrolliert werden, die unerbittlich sind. Diejenigen
Unternehmen, die nur im Windschatten staatlicher Umzäunungen ge-
deihen, sind schutzlos, wenn der Zaun einstürzt, der Wind zum Orkan
wird und die Krähen ihre Opfer suchen. Die Volkseigenen Betriebe des
kommunistischen Blocks sind ein Beispiel dafür.
Der Kommunismus ist nicht untergegangen, weil er die Freiheit be-
schränkt hat. Er hat die Freiheit beschränken müssen, weil er wirtschaft-
lich erfolglos gewesen ist. Wer Erfolg hat, braucht niemanden einzu-
schränken; alle suchen seine Nähe. Völkerwanderungen, welche die
Wohlstandsfestungen bedrohen, belegen das.
Der Kommunismus ist auch nicht untergegangen, weil er kein Pri-
vateigentum zugelassen hat. Viele Bank- und Versicherungsgesell-
schaften sind durch ihre Eigentümer nicht zu kontrollieren, weil diese
von ihnen abhängen. Die Firma Volkswagen hat die höchsten Wachs-
tumsraten und Gewinne ihrer Geschichte zu einer Zeit erwirtschaftet, als
nicht klar gewesen ist, wem sie gehört. Das Management vieler großer
Unternehmen hat die Eigentümer in eine Art britisches Oberhaus ver-
bannt, mit Pfründen ausgestattet, die satt und trunken machen, und
bleibt Herr des Geschehens mit der Maxime des Imperators Julius Cäsar:
„Lasst dicke Männer um mich sein.“

ȱ
140 Organisatorische Macht ist wirkungslos

Der Kommunismus ist einzig und allein untergegangen, weil er eine


noch höhere Staats- und Bürokratisierungsquote gehabt hat, sich noch
tiefer im Bereich negativen Grenznutzens der Systemdiener verfangen
hat, noch brutaler von schädlichen Bakterien zerfressen worden ist als
der Rest der Welt und dadurch relativ benachteiligt gewesen ist und de-
stabilisiert werden konnte.
Bürokratie ist verfahrensorientiert. Der Bearbeiter ist auf die Vorge-
hensweise festgelegt, auf die Einhaltung der Vorschrift. Wer die Regeln
einhält, hat eine weiße Weste. Für den Funktionär zählt nicht der Erfolg,
sondern die Funktion, die er verabsolutiert, weil sie allein seine berufli-
che Existenz legitimiert. Die Leistung des öffentlichen Sektors geht mit
ihren Kosten in das Sozialprodukt ein. Damit ist Verschwendung vorpro-
grammiert.

Der Verbraucher einer öffentlichen Leistung bezahlt sie nicht und will
sie deshalb erweitert haben; der Träger, der sie bezahlt, entscheidet
nicht und muss sie deshalb erweitern lassen; die Politik oder Verwal-
tung, die entscheidet, verbraucht sie nicht und will sie deshalb mit gu-
tem Gewissen erweitern – und ihren Einfluss auch.

Wettbewerb ist nicht verfahrens-, sondern ergebnisorientiert. Der Er-


folg wird vom Markt beurteilt, auf dem der Bearbeiter sein Gehalt ver-
dienen muss. Die Leistung des privaten Sektors geht nicht mit ihren
Kosten, sondern mit ihren Preisen in das Sozialprodukt ein.
Auch der private Sektor ist bestrebt, seine relative Macht durch sei-
nen Anteil am Sozialprodukt zu vergrößern und die Preise zu erhöhen,
wenn es durchsetzbar ist. Das ist aber nur durchsetzbar, wenn er sein
Angebot verbessert. Dies ist die geheimnisvolle Wirkung von Adams
Smiths „unsichtbarer Hand“, der Antrieb des wirtschaftlichen Erfolgs
der Marktwirtschaften.
Das Schicksal, vor einem Schalter zu stehen, und „das Ideal, hinter ei-
nem Schalter zu sitzen“, wie Kurt Tucholsky es beschreibt, kennzeichnen
eine sterbende Gesellschaft, wenn die Symptome umfassend sind; eine
sterbende Branche, wenn sie auf einen Sektor beschränkt sind; ein ster-
bendes Unternehmen, wenn sie auf eine Firma beschränkt sind.
Organisatorische Macht ist wirkungslos 141

Der Dienstweg, die „Linie“, ist das äußere Kennzeichen der Verfah-
rensorientierung, die von institutioneller Größe erzwungen wird, weil
große Einheiten anders nicht zu steuern sind. Damit wird die organisa-
torische Linie zum Strick, der die Luft abschnürt. So wie ein Paradigma
nicht aufgegeben werden kann, ohne die eigene Existenz aufzugeben,
kann auch auf die Linienverantwortung nicht verzichtet werden, ohne
dass die Unternehmensleitung sich selbst aufgibt. Und weil sie sich
selbst gar nicht aufgeben will, muss sie das Ganze aufgeben.
Eine meiner ehemaligen Studentinnen, Beate, bearbeitet heute den
Auftragseingang in einem Maschinenbauunternehmen. Bevor sie einen
hereinkommenden Auftrag bestätigt, muss sie klären, wann welche Ka-
pazitäten wofür frei sind. Auf der Linie, dem Dienstweg, geht das so: sie
gibt die Frage über den Vertriebsleiter an die Geschäftsleitung. Diese
gibt sie über den Produktionsleiter an den Produktionsplaner. Der gibt
die Antwort über den Produktionsleiter an die Geschäftsleitung. Von
dort gelangt sie dann über den Vertriebsleiter an Beate.
Der Produktionsplaner, Ralf, auch ein ehemaliger Student von mir,
arbeitet zufällig im gleichen Raum wie seine frühere Kommilitonin.
Hätte ihn die Anfrage tatsächlich auf diesem Wege erreicht, würde er
gewiss zu Beate sagen: „Bei dir piept’s wohl.“ Natürlich braucht er das
nicht; sie klärt die Dinge direkt mit ihm, und das ganze Liniengestänge
über ihnen bekommt davon nichts mit.

Die Abläufe funktionieren nicht wegen, sondern trotz der hierarchisch


strukturierten Organisationskästchen, zwischen denen sinnlose Linien
auf Organisationsplänen gezogen sind.

Da die Linien über Informations- und Kooperationsstränge keine


Auskunft geben, reduziert sich ihre Funktion auf die Beurteilung derer,
die unten sind, durch die, die oben sind. Mit einer Beurteilung werden
Urteile gesprochen, die in die Personalentwicklungsplanung eingehen
und damit berufs- und das heißt für viele lebensentscheidend sind.
Woher nimmt ein Vorgesetzter die Kompetenz, die Leistung seiner
Mitarbeiter zu beurteilen? Der einzige, dem diese Kompetenz zusteht, ist
eine Instanz, die nicht mit den Stimmen der Vorgesetzten abstimmt und
auch nicht mit denen der Wähler, sondern mit Kaufkraft: der Markt. Er

ȱ
142 Organisatorische Macht ist wirkungslos

produziert positive externe Effekte und erschafft dadurch echten Mehr-


wert. Bei größeren Unternehmen ist diese „saubere“ Form der Leistungs-
beurteilung durch den Markt nur beim Außendienst möglich, und auch
dort nicht immer.
Unternehmen sind nicht für den Markt da. Deshalb ist es auch da, wo
es möglich wäre, nicht sinnvoll, dem Markt das Urteil zu überlassen. Der
Markt weiß nicht, ob ich mich entwickelt habe; nur ich selber kann das
wissen. Und deshalb kann nur ich meinen Fortschritt beurteilen. Da die
Möglichkeiten, die mir für meine Entwicklung offen stehen, von meinem
Vorgesetzten beeinflusst werden, muss er von mir und seinen anderen
Mitarbeitern beurteilt werden und nicht ich durch ihn.
Dieses Urteil darf keine demoskopische Unverbindlichkeit haben und
„mit Interesse zur Kenntnis genommen“ werden. Die Person des Vorge-
setzten und seine Rolle, die Ausstattung seiner Funktion und die Macht,
die ihm übertragen wird, müssen davon abhängen. Damit wird der Orga-
nisationsplan umgedreht: Vorgesetzte hängen an und unter ihren Mitar-
beitern, weil sie mit ihrer Position von ihnen abhängen. Eine solche
Machtverlagerung nach unten ist ein Nachvollziehen der tatsächlichen
Abhängigkeits- und Kräfteverhältnisse in den Unternehmen, sonst
nichts.
Thomas Peters und Robert Waterman schildern, wie sie dazu gekom-
men sind, nach den Gründen für Spitzenleistungen zu suchen. Nach dem
Mittagessen entscheiden sie, dass sie eine zweite Nacht in Washington
bleiben müssen, und fahren zurück in das Hotel, aus dem sie in der Frü-
he abgereist sind. Als sie auf die Empfangstheke des Hochhauses zuge-
hen, schaut eine der Rezeptionistinnen sie entgeistert an: „Herr Peters,
Herr Waterman, Sie haben heute früh ausgecheckt, was ist passiert,
warum sind Sie wieder hier?“
„Woher kennt sie unsere Namen?“, schießt es den beiden gleichzeitig
durch den Kopf. Wenn eine wildfremde Person, die Sie einmal kurz gese-
hen haben, Sie danach noch mit Ihrem Namen anredet, fühlen Sie sich so
geschmeichelt, dass Sie mit dieser Person mehr zu tun haben wollen. In
dieses Hotel mit dieser wunderbaren Dame am Empfang sind sie seit
dieser schönen Erfahrung immer gegangen.
Organisatorische Macht ist wirkungslos 143

Als sie sich die Bilanz der Hotelgesellschaft anschauen, staunen sie
über den hohen Gewinn. Und nachdem sie Hunderte von Bilanzen aus
vielen Branchen verglichen haben, kommen sie zu ihrem Ergebnis: Hohe
Gewinne werden nur dort erzielt, wo die Mitarbeiter an der Basis der
Unternehmenshierarchie sich am stärksten mit dem Unternehmen iden-
tifizieren. Die, die ganz „unten“ sind, bedienen den Kunden, der die Ge-
hälter von allen bezahlt, fassen das Produkt an, von dem alle leben, oder
verkaufen es und „bringen“ den Umsatz. Alle anderen hantieren nur mit
beschriebenem Papier oder mit Worten. Und „wo man arbeitet, da ist
genug, wo man aber mit Worten umgeht, da ist Mangel“, bestätigt der
Prophet Salomo das Ergebnis des Bilanzvergleichs.
Eine Linienorganisation, in der die Unteren von den Oberen einge-
stellt, beurteilt, befördert, eingefroren und entlassen werden, betreibt
Sklavenhaltung. Denen, die die Arbeit machen und das Geld verdienen,
können wir die Macht nicht vorenthalten, die mit einer Beurteilung ver-
bunden ist und verbunden sein muss.
Gegen diese radikale Form der Mitbestimmung werden Sie viel ein-
zuwenden haben. Ich will versuchen, Ihre Argumente vorwegzunehmen
und einzeln zu entkräften:

X Die Unternehmensspitze ist von den Eigentümern eingesetzt oder auch


mit ihnen identisch; eine Entmachtung der Geschäftsleitung ist iden-
tisch mit einer Enteignung. Das ist Kommunimus durch die Hintertür.
Eine Führung, die nicht von unten bestätigt wird, muss Widerstände
brechen, um sich durchzusetzen. Zerbrochene Mitarbeiter kämpfen mit
Geschick um ihr Überleben; einen Beitrag, der die Zukunft des Unter-
nehmens sichert, können sie nicht mehr leisten. Ein Unternehmen, des-
sen Mitarbeiter nicht zu seiner Zukunft beitragen, hat keine Zukunft.
Macht von oben enteignet die Eigentümer.

X Es gibt einen Verteilungskonflikt zwischen den Produktionsfaktoren


Kapital und Arbeit, der sich im Unternehmen fortsetzt. Wenn Mitarbei-
ter die Macht übernehmen, gehen die Eigentümer leer aus.

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144 Organisatorische Macht ist wirkungslos

Wenn die Mitarbeiter eines Großunternehmens das Kapital nicht ange-


messen bedienen, beschneiden sie ihre Möglichkeiten der Eigenkapitalfi-
nanzierung, die risikoloser und deshalb meistens besser ist als die Finan-
zierung über Fremdkapital. Kompetente Mitarbeiter werden diese Option
nicht verspielen. Und mehr als angemessen werden anonyme Anleger
ohnehin nie bedient. Das hatten wir schon. Wenn es sich um ein kleines
Unternehmen handelt, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind die
Eigentümer im Unternehmen tätig oder nicht. Wenn sie tätig sind, müs-
sen sie für diese Tätigkeit marktgerecht bezahlt werden und können von
ihrer Leitungsposition aus beurteilen, ob die Bedienung des Kapitals
angemessen ist; es gelten die Regeln für große Unternehmen. Oder die
Eigentümer sind nicht im Unternehmen tätig, weil die leitenden Mitar-
beiter eine bessere Wahl getroffen haben. Dann ist eine schleichende
Enteignung schwer zu vermeiden und auch wahrscheinlich. Bei einer
durch ihre Eigentumsrechte nicht absetzbaren Geschäftsführung, die
inkompetent ist, ist diese schleichende Enteignung aber überhaupt nicht
zu vermeiden, also sicher. Deshalb ist die faktische „Übernahme“ durch
eine kompetente Belegschaft der bessere Weg, der auch das Unternehmen
erhält. Untätiges Kapital ist nicht mehr wert, als der Kapitalmarkt her-
gibt. Da der Reichtum durch Köpfe geschaffen wird, ist das auch gerecht.

X Eine Geschäftsleitung muss Wahlkampf betreiben, wenn sie eingesetzt


oder bestätigt werden will; dadurch werden die Unternehmen politi-
siert. Es gibt nur Worte und Mangel und keine Arbeit mehr.
Einstellung, Beurteilung oder Entlassung obliegen nicht der Be-
triebsversammlung oder der Gesamtheit der Beschäftigten, sondern dem
überschaubaren Kreis der direkt zugeordneten Mitarbeiter, die unmit-
telbar von der Personalentscheidung betroffen sind. In diesem Kreis, der
kompetent ist zu beurteilen, wer ihm bei seinen Aufgaben und Proble-
men weiterhelfen kann und wer nicht, ist jeder Versuch, einen Wahl-
kampf zu inszenieren, kontraproduktiv.

X Ein Vorgesetzter, der von seinen Mitarbeitern abhängt, kann keine


harten Entscheidungen gegen die Mitarbeiter treffen; er wird immer
versuchen, nett zu sein und es allen recht machen wollen. So aber kann
ein Unternehmen im Wettbewerb nicht bestehen.
Organisatorische Macht ist wirkungslos 145

Wenn das Unternehmen im Wettbewerb nicht besteht, haben die Mitar-


beiter ihren Arbeitsplatz verloren und sich von ihrem lieben netten Vor-
gesetzten ihr Grab schaufeln lassen. Gute Leute tun das nicht; sie wollen
die Herausforderung und suchen sich einen anspruchsvollen Trainer, der
sie ihnen bietet.

X Es gibt einfach manchmal Dummköpfe, Trittbrettfahrer, Faulenzer,


Schmarotzer, die sich an ein gutes Team dranhängen und von ihm
durchfüttern lassen. Wenn der Vorgesetzte solche Leute nicht ent-
lassen kann, wird das Unternehmen „schwarze Schafe“ nicht los.
Alle Erfahrung bestätigt, dass das Urteil der Kollegen, mit denen wir
täglich zusammenarbeiten, viel härter ist als das der Vorgesetzten; ih-
nen können wir nichts vormachen oder vorspielen; bei ihnen können wir
nicht krankfeiern und die Last auf sie verladen, wenn wir nicht krank
sind; sie können Glanzverpackung von Inhalt, Show von Substanz unter-
scheiden und schwitzen Schmarotzer schneller und härter aus, als alle
Macht von oben das vermag.

X Wenn eine Gruppe sich auf keinen Vorgesetzten einigen kann, mögli-
cherweise auch, weil keine Mehrheit zustande kommt – wer soll dann
Zünglein an der Waage spielen und die Entscheidung übernehmen?
In grundsätzlichen Dingen sind Mehrheitsentscheidungen verboten; sie
führen dazu, dass die unterlegene Minderheit nach Rache sinnt und die
Gruppe sprengt. Entscheidungen müssen einmütig sein, damit jeder sich
mit ihnen identifiziert und ihnen dadurch zum Erfolg verhilft. Die Ent-
scheidung für einen Vorgesetzten muss von der Gruppe so lange offen
gehalten werden, bis Einigkeit herrscht. Wenn der Traumkandidat dann
vergeben ist, ist es eine Erfahrung für alle. Erfahrungen sind ein Wert an
sich. Das hatten wir schon. Wenn der Traumkandidat noch zu haben ist,
wird er Erfolg haben, weil er von allen getragen wird. Hat nur ein einzi-
ger in der Gruppe Zweifel, kann es sein, dass sein Urteil das richtige ist.
Wenn er dabei böswillig ist, muss er ausgeschwitzt werden. Das hatten
wir schon. Wird aber jemand, der guten Willens ist, von einer Gruppe
ausgeschwitzt, weil sie es sich bequem machen will, dann kann er dank-
bar dafür sein. Die Gruppe hat ihn nicht verdient, und seine schlechte

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146 Organisatorische Macht ist wirkungslos

Erfahrung wird ihn woanders viel weiterbringen. Das hatten wir auch
schon.

X Was soll geschehen, wenn eine Gruppe ohne Vorgesetzten auskommen


will? Gegenüber Vorgesetzten oder Kunden kann doch diese ganze an-
tiautoritäre Heerschar nicht jedesmal im Kollektiv auftreten.
Haben Sie sich mit Ihrem Ehe-, Lebens- oder Liebespartner auf einen
Vorgesetzten geeinigt? Wenn ja, okay. Wenn nein, auch okay. Jede Ge-
meinschaft wird sich die Arbeit teilen. Entweder übernimmt der eine das
Haus und der andere den Garten, der eine die Elternabende in der Schule
und der andere den Ärger mit dem Finanzamt, der eine das Geldverdie-
nen und der andere den Haushalt. Oder die gleiche Sache wird mal vom
einen und mal vom anderen erledigt. Entweder delegiert die Gruppe Kon-
takte nach oben auf einen „Hierarchieminister“ und Außenkontakte auf
einen „Außenminister“, ohne dass damit eine Vorgesetztenfunktion
verbunden ist. Oder sie einigt sich, dass das im Wechsel mal der eine und
mal der andere übernimmt. Eine einige Gruppe ist stark. Und diese Stär-
ke hat ihren eigenen Wert, der sehr hoch ist.

X Wenn es unrealistisch oder ungerechtfertigt ist, Führungspositionen


von unten zu besetzen – wie soll dann ein geeigneter Vorgesetzter ex-
tern gefunden, wie sein Vertrag marktgerecht gestaltet und eine ange-
messene Vergütung von den Mitarbeitern festgelegt werden?
„Wir sind ein Super-Power-Team und suchen unseren neuen Chef. Die
Sterne soll er uns vom Himmel holen. Wenn Sie sich das zutrauen, rufen
Sie unseren Personalberater an. Heute noch.“ Na? Und wenn das Gehalt
und die Konditionen nicht stimmen, bleiben die Sterne am Himmel, weil
der Chef, der sie runterholen könnte, nicht zu haben ist. So einfach ist
das.

X Da besteht aber die Gefahr, dass ein solcher Superchef mit einem Ge-
halt angelockt wird, das die Firma sich nicht leisten kann und das
auch die Gehälter der Mitarbeiter nach oben zieht. Das bringt das in-
terne Gefüge durcheinander und schafft Unruhe, besonders bei der
durch die Macht der Mitarbeiter erzwungenen Transparenz.
Organisatorische Macht ist wirkungslos 147

In kleinen Unternehmen kann es das nicht geben, weil eine unangemes-


sene Personalkostenlast Wettbewerbsfähigkeit und Existenz gefährdet.
Das werden Mitarbeiter sich nicht antun. Und in einem großen Unter-
nehmen kann es das auch nicht geben, weil Unternehmen, in denen es
das gibt, nicht mehr lange groß sein werden. Die Zerschlagung der Groß-
unternehmen in viele überschaubare Profit-Center ist die Voraussetzung
für diese Form der Selbstkontrolle. Viele erfolgreiche Große haben diese
Voraussetzung bereits geschaffen und die anderen werden sich beeilen
müssen.

X Es gibt unverzichtbare Stufen der Wertschöpfungskette, denen ein


Erfolg nicht direkt zurechenbar ist und die deshalb über Umlagen fi-
nanziert werden müssen. Da kann doch Selbstkontrolle nicht funktio-
nieren.
Sie können aus jeder internen Dienstleistung ein Profit-Center machen
oder es „outsourcen“ (verselbständigen und auslagern) und die Leistung
einkaufen. Es gibt praktische Beispiele in großer Zahl, die das mit Erfolg
vorführen: für Rechtsabteilung, Organisation, Datenverarbeitung,
Buchhaltung, Revision, Finanzdienstleistungen, Schreibdienst, Perso-
nalberatung, Kantine, Putzkolonne, Fuhrpark, Werksverwaltung, Wach-
dienst, Lagerwesen, Materialwirtschaft, Logistik, Wartung, Instandhal-
tung, Beschaffung, Vorfertigung, Endfertigung, Teilefertigung, Vertrieb,
Export, Werbung. Was übrig bleibt, sind Stabsfunktionen. Das hatten
wir schon. Wo immer Sie kein Profit-Center bilden, schalten Sie den
Markt aus und müssen bürokratisch regieren, und das heißt verschwen-
den. Das hatten wir auch schon.

X Wenn wir alles outsourcen, bleibt von uns nicht mehr viel übrig. Dann
können wir uns auch noch selbst outsourcen und die Firma liquidieren.
Wenn Sie dem Rest der Welt nichts voraus haben, tun Sie es. Dann wird
auf globalen Märkten von Ihnen ohnehin nichts mehr übrig bleiben.
Wenn Sie aber dem Rest der Welt etwas voraus haben, konzentrieren Sie
sich darauf, machen Sie aus dem Vorteil Ihr strategisches Kerngeschäft,
rutschen Sie in Ihrer Kernkompetenz auf der Lernkurve so schnell und
so weit es geht nach oben. Dann kann Sie auf diesem Gebiet niemand

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148 Organisatorische Macht ist wirkungslos

mehr einholen. So bleiben oder werden Sie ein Sieger. Und nur so ist da,
wo Sie sind, oben.

X Es ist riskant, ganz auf ein einziges Geschäft zu setzen. Diversifi-


zierung wird doch auch als eine Versicherung betrieben – gegen
schlechte Zeiten in diesem Markt, in dieser Branche, in diesem Ge-
schäftszweig.
Diversifizieren ist ein Investmentgeschäft. Wenn es da etwas gibt, das
Sie besser können als andere, betreiben Sie eine Investmentbank oder
einen Anlagefonds. Wenn es das nicht sein soll, gibt es nur zwei Mög-
lichkeiten: Entweder hat der Erfolg in Ihrem Kerngeschäft Sie übermütig
gemacht und Sie wollen Ihr Erfolgsrezept übertragen; dann wird Ihr
Turmbau zu Babel bald einstürzen, denn Erfolgsrezepte beruhen auf
Erfahrung, und Erfahrung ist nicht übertragbar. Das hatten wir schon.
Oder Sie wollen von Ihrem Misserfolg ablenken, Ihre Probleme verste-
cken und sich noch schnell in eine bessere Welt einkaufen; diese verbrei-
tete Managerkrankheit ist die Weigerung, Probleme als Lernaufgaben
anzunehmen – ein Integritätsproblem. Integrität aber ist das einzige Tor
zum Erfolg. Das hatten wir auch schon.

Ein Vorgesetzter, der von seinen Mitarbeitern nicht „getragen“ wird,


muss gegen sie kämpfen. Dieser Machtkampf – ein Nullsummenspiel –
wird um mentale Energie geführt. Die negativen externen Effekte erlei-
det das Unternehmen. Der Sieger fühlt sich gut wie jeder Blutsauger. Der
Verlierer ist ausgelaugt, impotent, für das Unternehmen wertlos.

Vorgesetzte, die mit organisatorischer Macht regieren, können dies


nur, indem sie ihre Mitarbeiter dominieren. Wer sich über andere Men-
schen stellt, saugt deren Energie aus. Diese Energie gibt den Vorge-
setzten Selbstsicherheit, Stärke und Macht. Es ist eine Infusionslösung
mit dem Knochenmark derer, die ihnen unterstellt sind.

Organisatorische Macht hebt Vorgesetzte auf einen Heldensockel, der


über den ausgebrannten Seelen ihrer Mitarbeiter errichtet wird. Für das
Unternehmen ist sie wirkungslos.
PRAXISBEISPIEL 6: Coaching „Commitment“ 149

PRAXISBEISPIEL 6: Coaching „Commitment“


Coaching geht davon aus, dass jeder Mensch besondere Fähigkeiten
und Kapazitäten besitzt, die durch Unterstützung, Anerkennung und
Ermutigung sichtbar werden. Der Coach ist jemand, der einen anderen
bei der Erzielung von Spitzenleistungen partnerschaftlich unterstützt.
Dabei geht es darum herauszufinden, wo diese Fähigkeiten liegen, und
wie sie im Unternehmen organisatorisch eingebettet werden können,
um sich zu entfalten.
Die Coaching-“Technik“ ist für Spitzensportler entwickelt worden.
Früher haben die Trainer ihren Stars gezeigt was sie tun und wie sie es
tun sollten. Damit war die Verantwortung beim Trainer, der seinem
Schützling gesagt hat, was gut und was schlecht ist. Der Trainer hat
versucht, das Verhalten des Sportlers zu verbessern. Der Sportler hat
die Rat-Schläge seines Lehrers befolgt, also gar keine eigene Verant-
wortung übernommen – und er hat hart daran gearbeitet, den Ist-Zu-
stand dem Soll-Zustand anzunähern. Aber Ratschläge sind auch Schlä-
ge. Mit ihnen kann der Trainer drillen, nicht aber befähigen.
W. Thimothy Gallwey beschreibt in dem Buch „The Inner Game of
Tennis“, wie er Tennisspielern zum Sieg verhilft: nicht indem er den
Aufschlag mit der Vorhand verändert, nicht indem er den Rückhand-
schlag verbessert und nicht indem er verbissen an den Dingen des Ten-
nisspiels arbeitet, die noch nicht perfekt sind – und fast immer sind das
Dinge, die dem Spieler besonders schwer fallen. Das Geheimnis des gu-
ten Spiels liegt darin nicht zu denken, nicht zu bewerten, sondern ein-
fach präsent zu sein und den Ball zu beobachten. Während der Tennis-
trainer früher ein Verhaltenslehrer war, so ist der Tenniscoach jetzt ein
Beobachtungsförderer. Lernen ist früher Konditionieren gewesen – ein
Unterdrücken von Unzulänglichkeiten und Schwächen. Lernen ist jetzt
Entwickeln – ein Auswickeln, ein Freilegen von besonderen Fähigkeiten
und Stärken.
Wer präsent ist und schaut, was geschieht, kann dann entscheiden,
wie er darauf reagiert. Diese Entscheidung ist nicht ein Verbessern von
etwas Schlechtem, sondern ein Ausprobieren der eigenen Möglich-
keiten, ein Austesten der eigenen Stärken. Und was herauskommt, ist

ȱ
150 Organisatorische Macht ist wirkungslos

kein von einer Vorlage kopiertes Schema, sondern ein eigener Stil – in
freier Entscheidung aufgebaut auf den eigenen Stärken. Und wenn das
Ergebnis dem Spieler nicht gefällt, kann er das nächste Mal anders rea-
gieren, sich anders entscheiden – wie es der Maître De in dem „Restau-
rant“ auf dem Unternehmertag der ohm-Resonanzschmiede empfohlen
hat – und, wenn er will, so lange probieren, bis sein Stil unschlagbar ge-
worden ist.
In dem ersten Coachinggespräch erklärt der Coach der Resonanz-
schmiede jedem Mitglied des Multiplikatoren-Teams, dass das Engage-
ment („commitment“) für die Ziele dieses Programms im Unternehmen
nur dann wirken kann, wenn jeder der Resonanzschmiede keine
„Schmuddelecken“ in seinem eigenen Leben hat und in keinem Bereich
seines Lebens unter Druck steht – wenn es ihm also auch persönlich gut
geht. In Gesprächen unter vier Augen stellt der Coach jedem einige per-
sönliche Fragen, um das zu klären:
1. Leben Sie so, wie Sie es brauchen?
2. Haben Sie in der Regel genug Zeit?
3. Gefällt Ihnen Ihr Arbeitsplatz/Arbeitsraum?
4. Sind Sie oft gestresst?
5. Fühlen Sie sich in Ihrer Wohnung wohl?
6. Erfüllen Sie Ihre finanziellen Verpflichtungen?
7. Haben Sie regelmäßig Freizeit?
8. Leiden Sie unter irgendetwas/irgendjemandem?
9. Haben Sie Feinde?
10. Haben Sie Freunde?
Die anonymen Ergebnisse dieser Befragung werden miteinander ver-
glichen und bilden so eine Übersicht über vorhandene Freiräume oder
mögliche Blockaden und eine Richtschnur für die weitere Entwicklung.
Jeder der Teilnehmer hat bei diesem ersten Beispiel erlebt, dass gutes
Coaching nicht aus Antworten besteht, sondern aus Fragen und dass
erfolgreiches Coaching sich nicht mit Schwächen beschäftigt, sondern
mit den Stärken jedes Einzelnen.
PRAXISBEISPIEL 6: Coaching „Commitment“ 151

In dem ersten Gespräch wird auch mit jedem Einzelnen vereinbart,


welche persönlichen Fähigkeiten, Beziehungen und Möglichkeiten er
einbringt, welche persönliche Verpflichtung („commitment“) oder wel-
ches Projekt er übernimmt, um die in dem zurückliegenden Workshop
entwickelte Mission zu erfüllen. Die weiteren Coachinggespräche wer-
den telefonisch geführt – zu minutengenau festgelegten Zeiten im
Zwei-Wochen-Rhythmus – und unterstützen jeden einzelnen Mul-
tiplikator oder Resonanzschmied darin, die vereinbarten Ergebnisse im
und für das Unternehmen zu erreichen.
Jeder Einzelne sieht, welches sein persönlicher Beitrag zum Erfolg
des Ganzen ist, und er wird von dem Coach so herausgefordert und mit
sich selbst so konfrontiert, dass er Grenzen überschreitet, die ihm bis
dahin unüberwindbar erschienen sind. So lernt er, nicht mit Ver-
bissenheit, sondern mit Engagement auf ein Ziel hinzuarbeiten und bei
Rückschlägen nicht zu resignieren, sondern nach neuen Wegen und
Möglichkeiten zu suchen.
Organisatorische Macht ist wirkungslos. Vielmehr erlebt jeder, dass
nur Klarheit im Denken und Leichtigkeit im Handeln die Kraft hervor-
bringen, die außergewöhnliche Ergebnisse produziert. Jeder gestaltet
seine eigene Zukunft und die des Unternehmens losgelöst von den
Zwängen der Vergangenheit und schöpft sein Potenzial und seine Mög-
lichkeiten bis an seine gegenwärtigen Grenzen aus. Er verstrickt sich
nicht mehr in der Suche nach Gründen und Rechtfertigungen. Er hat
Vertrauen in sich und das Umfeld, das er sich schafft. Er ist seine Mis-
sion und definiert sein Leben, seine Arbeit und seine Zukunft aus ihr
heraus.

ȱ

Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 153

7 Unternehmensplanung ist
Beschäftigungstherapie
Sirenen heulen über den Dächern. Polizeiautos rasen durch die Straßen,
wenden in halsbrecherischen Manövern und donnern wieder zurück. Die
Bewohner schauen ratlos aus den Fenstern. „Da!“ schreit ein Volkspoli-
zist in sein Funkgerät und gestikuliert hektisch in eine Richtung, als ob
es um sein Leben ginge. Mit quietschenden Reifen biegen mehrere Autos
dorthin ab. Eine Minute später kommen zwei von ihnen zurück und set-
zen die Rallye in eine andere Richtung fort. An einer Kreuzung knallt es.
Ein Zusammenstoß. Die Polizeifahrzeuge hasten an der Unfallstelle vor-
bei, als ob sie unsichtbar wäre.
Endlich gibt der Rundfunk eine Warnung durch: „Verlassen Sie die
Häuser nicht. Halten Sie die Außentüren geschlossen. Fahrverbot für alle
Privatfahrzeuge. Warten Sie am Straßenrand in Ihren Autos. Wir mel-
den, wenn die Gefahr vorüber ist.“ Aus dem Raubtiergehege im Ostberli-
ner Tiergarten ist ein Löwe ausgebrochen und rennt durch die Straßen.
Als er auf die Grenzsperren zum Westteil der noch geteilten Stadt zu-
trottet, schauen sich die Grenzsoldaten des kommunistischen Regimes
ratlos an. Ihre Dienstanweisungen schreiben präzise vor, was getan wer-
den muss, wenn ein Mensch sich den Absperrungen nähert. Ein Löwe im
Todesstreifen ist nicht vorgesehen. Und so tun sie das einzige, was Wei-
sungsempfänger in unvorhergedachten Situationen tun können: Nichts.
Sein aufgestauter Bewegungsdrang treibt den Löwen zu einem gewal-
tigen Sprung, mit dem er unverletzt auf der Westseite der Mauer landet.
Die westalliierten Soldaten werden für ihre Verfolgungsjagd dem Kom-
mando eines Raubtierpflegers im Westberliner Zoo unterstellt und
schaffen es, das Tier in einem westlichen Löwenkäfig einzufangen. Bis
zur Klärung der diplomatischen Verwicklungen im Kontrollrat der alli-
ierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs muss es nun hier zunächst
gemeinsam mit seinen Artgenossen versorgt werden.
Als ihm die erste Mahlzeit hereingelegt wird, leckt sich der Ostlöwe
das Maul und verschlingt die bluttriefende Schweinehälfte. Danach

ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_7,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
154 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

schläft er ein, erschöpft von dem ersten aufregenden Tag in seinem


langweiligen Leben. Als er erwacht, wartet schon das nächste Fressen –
ein ganzer Hammel. „Sagt mal“, fragt er da seine Westkollegen, „das ist
ja unglaublich, wie ihr im Kapitalismus schlemmt. Ist heute Feiertag?
Was steht denn an normalen Tagen auf eurer Speisekarte?“ „Neben
Schweinen und Hammeln gibt es auch Kaninchen, Rinder, Pferde, immer
im Wechsel“, bekommt er zur Antwort. „Das ist ja Wahnsinn“, begeistert
er sich, „hier bleibe ich.“
Die Westlöwen wundern sich. „Erzähl uns“, fragen sie ihn, „was be-
kommst du denn im Osten zu fressen?“ Seine wehklagenden Laute er-
weichen die Herzen, als er berichtet: „Morgens Datteln, mittags Nüsse
und abends Bananen.“ „Datteln, Nüsse und Bananen für einen Löwen?
Sind die verrückt da drüben?“, entsetzen sich die Westtiere. „Ja wisst
ihr“, erläutert das Osttier mit dem fahlen Fell, „ich bin zwar ein Löwe,
aber meine Planstelle ist die eines Affen.“
Drei Generationen der halben Menschheit werden geopfert, weil Wla-
dimir Iljitsch Lenin die Konsequenzen der Planwirtschaft zu spät er-
kennt. „Wenn die Arbeiter erst einmal die Macht übernommen haben,
werden sie den alten bourgeoisen bürokratischen Apparat bis auf seine
Grundmauern zerschmettern, bis zu seinen Wurzeln zerfetzen“, sagt er
vor der Oktoberrevolution. „Unsere lebendige Arbeit, die ganze Kraft der
Revolution versinkt in einem toten Meer von Papier, vermodert in einem
fauligen bürokratischen Sumpf, der uns alle aufsaugt“, korrigiert er sich
kurz vor seinem Tod im Jahre 1924 – für ihn noch rechtzeitig, für sein
Volk nicht.
Mao Tse Tung folgert daraus, dass die Bürokratie radikal zerschlagen
werden muss, und er will das mit der chinesischen „Kulturrevolution“
erreichen. Ein Umsturz führt meistens zum Gegenpol des gegenwärtigen
Zustands, und wer den nicht will, sollte mit dem Status quo leben.

Es gibt nur zwei Wege zur Reform einer Gesellschaft und zur Reform
eines Unternehmens: entweder durch Organisation oder durch Wett-
bewerb. Wer beides nicht will, wählt das Chaos.

Die Führungen vieler Großunternehmen aber folgen lieber den Vorbil-


dern Lenins oder Maos. Ergebnispläne, aus denen Kostenpläne und Kos-
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 155

tenpläne, aus denen Personal- oder Stellenpläne abgeleitet werden, sind


die Mittel, mit denen Unternehmensziele auf die einzelne Kostenstelle
heruntergebrochen werden. Im Stellenplan und seinen Stellenbeschrei-
bungen werden die Aufgaben jedes Stelleninhabers so festgelegt und
abgegrenzt, dass auf der Gesamtheit der Stellen die Gesamtheit der Auf-
gaben erledigt wird. Das ist Planwirtschaft par excellence. Und wenn der
Ertrag das nicht mehr zulässt, wird frei nach Mao mit Personalabbau
dazwischen gehauen und Friedrich Nietzsches flotte Aufforderung „was
fällt, das soll man auch noch stoßen“ so umgedeutet, dass auch noch die
gestoßen werden, die gar nicht fallen.
„Gute Leute können wir immer gebrauchen“, ist die Devise, die ich
statt dessen ausgebe. Die Personalabteilung rauft sich die Haare: „Kon-
tinuierliches Verbesserungsprogramm – KVP – heißt doch nicht Kekse
von der Personalabteilung“, versucht sie mich zu bremsen und zetert:
„Wie wollen Sie definieren, wer gut ist? Wie wollen Sie die Einstellungs-
lawine abfangen, die Sie lostreten?“ „Wir fangen einfach mal mit zehn
Leuten an, mit denen wir nichts anzufangen wissen“, entgegne ich. Auf
eine Definition von „gut“ einigen wir uns schnell. Die zehn müssen das
Doppelte dessen einbringen, was sie einschließlich ihrer Arbeitsplätze
kosten. Wenn das Experiment gelingt, soll der Cash-flow, den sie produ-
zieren, die nächste Zehnergruppe finanzieren.
Wir einigen uns auf junge Hochschulabsolventen beliebiger Fachrich-
tungen, die ihr Studium in Rekordzeit abgeschlossen und dabei noch
etwas Außergewöhnliches erreicht haben. Wer in der Ausbildung trödelt,
trödelt auch später, verdient deshalb nur einen Teil seines Gehalts, und
das ist nicht gut. Und wer in den ersten beiden Jahrzehnten seines Le-
bens noch nichts Außergewöhnliches erreicht hat, wird das danach kaum
noch schaffen. Auch das ist nicht gut.
Die Sportpädagogin hat zwei Himalayaexpeditionen überlebt. Dem
Verfahrensingenieur ist eine Erfindung patentiert worden. Der katho-
lische Theologe hat als Lagerarbeiter zwei noch uneheliche Kleinkinder
ernährt. Der Feinwerktechniker hat seinen kranken Vater in dessen
Betrieb vertreten. Die Betriebswirtin aus Schweden hat ihr Studium mit
einem „Dottore“ in Italien abgeschlossen. Der Physiker ist in Etappen
um die Welt gesegelt. Die Architektin hat als Fachpublizistin Aufsehen
erregt. Der Informatiker hat einen Konkurs hinter sich. Der Mediziner

ȱ
156 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

war für eine Hilfsorganisation immer wieder im Südsudan. Der Soziolo-


ge hat als Studentenführer die Weltrevolution vorangebracht; nun muss
er auf Evolution umschalten.
Wir stecken die zehn einzeln und für ein Jahr zur Hälfte als Arbeiter
in die Produktion und zur Hälfte als „Klinkenputzer“ in den Außendienst
und erwarten von ihnen dort originäre Verbesserungsvorschläge bezie-
hungsweise „eigenhändigen“ Umsatz. Da sind es nur noch acht, die un-
sere Erwartungen in diesem Jahr erfüllen. Auf sie wartet ein mit Meta-
plantechnik vollgestopftes etwas abgelegenes Gruppenbüro. „Wir haben
nun nichts mehr für Sie zu tun“, erklären wir, „Ihre Galgenfrist beträgt
18 Monate.“ Ein Jahr später sind bei den Transportkosten im Verkehr
zwischen den Werken weltweit 17 Millionen Dollar eingespart. Das jähr-
liche Einsparvolumen steigt weiter an, nachdem vertragliche Bindungen
gelöst werden können. Der Erfolg basiert auf vier Säulen der Unterneh-
mensentwicklung:
– Die Aufgabe muss einem Team übertragen werden, das sich selbst
organisiert und große Freiheiten in der Gestaltung der Arbeit hat.
Diese Säule nennen wir keine Stellenplanung oder keine Personal-
planung.
– Alleiniger Beurteilungsmaßstab für die Leistung eines Teams ist das
Ergebnis. Ergebnis ist der Ertrag abzüglich der Kosten, die zur Erzie-
lung des Ertrags aufgewendet werden müssen. Diese Säule nennen
wir keine Kostenplanung.
– Weder bei der Festlegung der Gesamtaufgabe noch bei der internen
Kompetenzverteilung darf es fachliche oder ablauforientierte Be-
schränkungen geben. Diese Säule nennen wir keine Aufgabenplanung
oder keine Arbeitsteilung.
– Die klare Aufgabe muss komplex oder die präzise Zielsetzung an-
spruchsvoll sein; Wege zur Erfüllung der Aufgabe oder zur Erreichung
des Ziels dürfen aber nicht vorgegeben werden. Diese Säule schließ-
lich nennen wir keine Maßnahmenplanung.
Zunächst zur Unternehmensentwicklung ohne Stellen- oder Personal-
planung: Eine Stelle ist der Aufgabenbereich einer Person. Der Stellen-
plan definiert diese Bereiche, die Stellenbeschreibungen erläutern sie
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 157

und fügen sie zu einem Ganzen zusammen. Wenn Stellen nicht geplant
und nicht beschrieben werden können, gibt es keine Stellen, und die
kleinste organisatorische Einheit im Unternehmen entfällt. Aus ihr sind
bisher die Instanzen des Organisationsgefüges gebildet worden. Kern-
modul oder Baustein der Organisation wird jetzt das Team oder die Ar-
beitsgruppe. Team, nicht im Sinne von „Toll, ein anderer macht’s“, son-
dern als eine Gruppe, die eine umfassende Aufgabe als Ganzes
übernimmt und dabei sich und die Arbeit selbst organisiert.
„Personal“ – das sind die Maskenträger im griechischen Drama, die
ihr Gesicht verbergen und ihre Rolle anonym spielen, „per sona“ (durch
die Stimme). Der Mensch hinter der Maske ist unsichtbar, man sieht nur
die Pergamentrolle, auf der steht, was er zu tun und zu sagen hat – seine
Stellenbeschreibung. Der Unternehmensleiter ist Theaterregisseur, der
entscheidet, wer wann was wie spielt. Das „Warum“ bleibt er schuldig;
die Aufführung ist Selbstbefriedigung des Regisseurs.
Chester Cooper erzählt, wie er das beim Präsidenten der Vereinigten
Staaten erlebt hat: „Der Präsident gibt die anstehende Entscheidung
bekannt und befragt dann jeden im Raum – Mitglieder der Regierung,
deren Staatssekretäre, Mitarbeiter des Weißen Hauses und des Natio-
nalen Sicherheitsrats: Herr Minister, stimmen Sie der Entscheidung zu?
Ja, Herr Präsident. Herr X, sind Sie einverstanden? Ich bin einverstan-
den, Herr Präsident. Während dieses Spiels fantasiere ich ein Helden-
epos: Wenn ich an der Reihe bin, erhebe ich mich langsam, werfe einen
Blick in die Runde und dann direkt in die Augen des Präsidenten und
sage ruhig und bestimmt: Herr Präsident, meine Herren, ich stimme
ganz entschieden nicht zu. Aber ich werde aus meinen Träumen geris-
sen, als ich die Stimme des Präsidenten sagen höre: Herr Cooper, sind
Sie einverstanden? Und heraus kommt ein: Jawohl, Herr Präsident, ich
bin einverstanden.“
Autorität erdrückt ein Team und macht alle außer der Autoritätsfigur
zu Statisten. Auch Mehrheitsentscheidungen wirken als Sprengsätze.
Wenn Mehrheitsentscheidungen etwas mit Demokratie zu tun haben,
dann darf ein Team keine demokratische Veranstaltung sein; aber sie
haben eigentlich nichts mit Demokratie zu tun. Die Bürger im klassi-
schen Athen, die diese Staatsform entwickelt haben, besprechen ihre
politischen Angelegenheiten auf der Agora (dem Marktplatz) solange, bis

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158 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

eine Übereinkunft erzielt ist. Wahlen, bei denen sich die Mehrheit
durchsetzt, sind das Ende der Demokratie und der Anfang der Diktatur –
einer Diktatur der Mehrheit, bei der die Menschen nicht mehr zuhören
müssen, um sich zu einigen.
Die überstimmte Minderheit wird durch die Niederlage in ihrem
Selbstwert getroffen und identifiziert sich nicht mit dem Ergebnis. Was
tun Sie, nachdem Ihre Argumente, von denen Sie felsenfest überzeugt
sind, von einer Mehrheit Ihres Teams überstimmt worden sind? Wenn
Probleme auftauchen und es nicht so läuft, wie die Mehrheit sich das
vorgestellt hat, werden Sie Ihre Freude verbergen, aber doch strahlen,
wenn der erste von der Gegenfraktion zugibt: „Hätten wir doch auf Sie
gehört“. Wenn Sie selbst Mängel ausbügeln müssen, werden Sie auch bei
gutem Willen überfordert sein, jetzt Ihre ganze Kraft und Fantasie in das
Umgehen der Fehler zu stecken. Ihre Kraft ist in der Niederlage verpufft,
und Ihre Fantasie träumt heimlich, still und leise von Ihrem Triumph:
einem Fiasko der Mehrheit.
Die sachliche Meinungsverschiedenheit ist zu einem persönlichen
Konflikt geworden, weil jede Niederlage in der Sache Ihre Person trifft.
Meine Kinder, damals noch im Grundschulalter, sitzen gemeinsam über
ihren Hausaufgaben. Als ich hinzukomme, sagt mein Sohn, der ältere:
„Papa, die Debora hat Rhythmus total falsch geschrieben.“ Deboras Ge-
sicht läuft rot an, ihr Oberkörper richtet sich kerzengerade auf, ihre
Lungen atmen tief durch, und sie landet den Gegenschlag: „Und du bist
total doof.“
Ich bin aufgerufen, Schiedsrichter zu spielen, schaue mir an, was sie
geschrieben hat, und sage: „Nein, total falsch hat sie das überhaupt nicht
geschrieben; bei diesem schwierigen Wort mit acht Buchstaben hat sie
sieben Buchstaben total richtig geschrieben. Und das ist eine gute Leis-
tung.“ Debora strahlt übers ganze Gesicht, erkundigt sich nach dem
letzten Buchstaben, den sie auch noch richtig schreiben will, und weiß
seitdem, wie Rhythmus im Duden steht.
Die Psychologie nennt das „positive Verstärkung“, die im Gegensatz
zur „negativen Verstärkung“ wirksam Verhalten in die gewünschte Rich-
tung lenkt. Voraussetzung dafür ist eine intakte persönliche Beziehung.
Das hatten wir schon. Diese persönliche Beziehung gerät immer in Ge-
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 159

fahr, wenn eine Mehrheit im Team eine Sachentscheidung gegen die


Überzeugung einer Minderheit durchsetzt.

Über-Zeugung ist Zeugung höheren Grades, also die Gewissheit, dass


der eigene Weg zu einem neuen, einem guten, einem großen Ziel führt.
Wenn Sie eine Über-Zeugung töten, töten Sie die Nachkommen, die von
ihr gezeugt werden können, gleich mit.

Wenn Sie zur Mehrheit gehören, müssen Sie mit der Möglichkeit
rechnen, dass die Minderheit recht hat, und wenn sie nur aus einer ein-
zigen Person besteht. In dem Drama „Twelve angry men“ (Die zwölf Ge-
schworenen) schildert Reginald Rose, wie am Anfang alle Indizien ein-
deutig für Mord sprechen, ein Geschworener seine Zweifel nicht
begründen kann und von den anderen elf unter Druck gesetzt wird. Die
Verhandlung zeigt, wie einer nach dem anderen umfällt, bis schließlich
der Freispruch einstimmig ausgesprochen wird.
Teamarbeit ist nur sinnvoll bei geringem Informationsstand, bei groß-
er Unsicherheit, bei komplexen Aufgaben, bei hohen Anforderungen an
Kreativität. Wenn dagegen die Lösungswege festliegen, der Infor-
mationsstand hoch und der Handlungsrahmen begrenzt ist, die Kom-
plexität gering und die Sachkompetenz vorhanden, wenn es sich um
Routineentscheidungen handelt, kann die Arbeit von einzelnen erledigt
oder automatisiert werden. Arbeitsplätze, die nicht in ein Team inte-
griert werden brauchen, sind leicht wegzurationalisieren.
Wenn es aber bedeutsam ist und vom Gelingen einiges abhängt, wenn
es darum geht, die beste aller möglichen Lösungen zu finden, dürfen Sie
eine Entscheidung erst fällen, wenn auch der letzte einverstanden ist.
Blockadeverhalten ist damit nicht gedeckt. Wer blockiert, intrigiert auf
der Beziehungsebene. Das Problem muss auf dieser Ebene gelöst werden,
notfalls auch durch Trennung. Wenn ein Team aber Zweifel als Blockade
definiert und den leichten, schnellen Weg wählt, wird es seine Aufgaben
nicht gut lösen können und stellt sich selbst in Frage.
Wenn Sie sich zu einer Lösung durchgerungen haben und es trotzdem
hinterher damit Schwierigkeiten gibt, wird Ihr Verhalten anders sein. Es
ist auch Ihre Lösung, Sie identifizieren sich mit ihr, auch Ihr Ruf steht
auf dem Spiel. Sie werden also Ihre ganze Kraft und Fantasie einsetzen,

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160 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

um die Sache trotz der Schwierigkeiten zum Erfolg zu bringen. So wie


Sie, wird es jeder tun. Identifikation jedes einzelnen mit der Entschei-
dung sichert die Richtigkeit der Entscheidung ab und macht sie zu einer
„self-fulfilling prophecy“, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die
sich allein dadurch verwirklicht, dass sie ausgesprochen wird; ganz so
wie allein die Voraussage des Konkurses einer Bank den Konkurs der
Bank bewirkt.
Identifikation aller Akteure mit der Entscheidung macht die Haupt-
aufgaben der vorgesetzten Managementebene überflüssig: die Kontrolle
von Personen und die Kontrolle von Vorgängen. Das Team, das seine
eigene Entscheidung umsetzt, gibt sich selbst auf, wenn es nicht verant-
wortlich vorgeht. Damit verkommt Kontrolle zu einem Dominanz- und
Züchtigungsinstrument, mit dem die Existenzberechtigung einer an-
sonsten leeren und überflüssigen Funktion erhalten wird. Kontrolle
saugt die Energie des Kontrollierten aus und macht den Blutsauger
süchtig. Ohne diese regelmäßige Powerzufuhr ist er nicht existenzfähig.
Dieses Suchtsymptom ist es, was viele Vorgesetzte so verzweifelt an
ihren Funktionen kleben lässt und aus der Machtfrage eine Überlebens-
frage macht, obwohl es sich ohne Macht meist leichter überlebt.
„Arbeit“ heißt auf französisch „le travail“, auf spanisch „el trabajo“,
auf portugiesisch „o trabalho“. Das alles kommt vom lateinischen „tripa-
lium“, einer Peitsche mit drei Lederriemen, an deren Ende jeweils ein
Metallstern angebracht ist – zur Züchtigung von Sklaven. Arbeiter sind
also Sklaven, und Angestellte sind auch nichts Besseres: „An-gestellt“ ist
jemand, der an einen Arbeitsplatz gestellt wird, dort sein Gesicht verber-
gen und „per sona“ seine Rolle erfüllen muss. Die Peitschen sind unter
dem Einfluss des modernen Arbeitsrechts dematerialisiert worden, aber
kaum weniger entwürdigend. Hierarchische Macht über Menschen, wie
sie sich in Personal- und Stellenplänen manifestiert, ist menschenun-
würdig. Die keineswegs sanftere gegenseitige Abhängigkeit von dem
Netzwerk eines Teams dagegen ist – darf ich das sagen? – für Menschen
„artgerecht“.
Wie kann ein Unternehmen die Kosten kontrollieren, wenn es den
meist kritischsten Kostenfaktor, das Personal, nicht planen soll? Keine
Kostenplanung ist unsere zweite Säule der Unternehmensentwicklung.
Kosten dienen dem Umsatz, den sie ermöglichen. Viele Unternehmen
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 161

vergessen, dass maximale Umsätze eine ebenso dumme Zielfunktion


sind wie minimale Kosten. Das ist wie die Eierfrau auf dem Wochen-
markt, die die Eier zehn Prozent unter ihrem Einkaufspreis verkauft.
Wie sie das schafft? Die Menge bringt’s.
Kostenplanung ist die Folge unvernünftiger Unternehmensgrößen.
Wo ein Ergebnis nur Einheiten von Tausenden von Mitarbeitern zuge-
rechnet werden kann, ist Kostenplanung und -kontrolle notwendig.
Technische Prozesse und Verfahren der ersten Phase der Industrialisie-
rung erzwingen große Einheiten. Die informationstechnische Revolution
hat diese Zwänge aufgehoben. Unternehmen, die das organisatorisch
nicht nachvollziehen, verschenken das gewaltige Innovationspotenzial
sich selbst steuernder Teams.
Der Regelmechanismus darf nicht die Hierarchie, sondern muss der
Markt sein – nicht als neuer Sklavenhalter, dem die Unternehmen zu
dienen haben, sondern als eine Instanz, die entscheidet, ob dieses Unter-
nehmen der geeignete Ort für die Entwicklung seiner Mitarbeiter ist.
Entwicklung geschieht nicht im luftleeren Raum; wer anderen keinen
Beitrag leistet, ist ein Schmarotzer. Das hatten wir schon. Der Markt
muss darüber richten, ob dieser Beitrag die weitere Existenz rechtfer-
tigt. Hier wird nichts minimiert und nichts maximiert; es ist ein einfa-
ches „ja“ oder „nein“.

Wenn das Fußvolk die Daten erfasst, die Stäbe daraus Pläne basteln
und die Vorgesetzten auf dieser Basis Entscheidungen treffen, werden
Informations- und Entscheidungsprivilegien dort gebündelt, wo die
Sachkompetenz in der Regel am geringsten ist.

Damit der Markt direkt eingreifen kann, muss der Marktkontakt un-
mittelbar sein. Managementinformationssysteme verhindern diese di-
rekte Tuchfühlung. Wenn die Informationsverdichtung nach oben und
die Befehlsverbreitung nach unten weggefallen ist und zum Beispiel
jeder einzelne Verkäufer auf seine eigenen Zahlen und die aller seiner
Kollegen zugreifen kann, dann wird sein Team zu einer vom Markt di-
rekt gesteuerten Instanz. Computernetze stellen Hierarchien in Frage.
Die Zellen der Organisation sind Teams von sechs bis zwölf Leuten,
die sich selbst steuern, die entscheiden, wer ihr Vorgesetzter wird, und

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162 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

die einen Vertreter in das Leitungsgremium des Profit-Centers entsen-


den, das sich aus sechs bis zwölf Teams zusammensetzt. Daraus ergeben
sich etwa 100 Personen in einem Profit-Center. Das Leitungsgremium
eines Profit-Centers entscheidet, wer sein Geschäftsführer wird, und
über diesem gibt es nur noch Kunden. Eine solche Struktur verleiht auch
großen Unternehmen die Beweglichkeit, die bis jetzt das Privileg der
kleinen Firmen ist.
Eine einheitliche Muttergesellschaft kann, wenn es sein soll, Hunder-
ten oder auch Tausenden solcher Profit-Center exklusiven Service anbie-
ten, exklusive Möglichkeiten einräumen und dafür exklusive Bindungen
verlangen. Leistungsbeurteilungen, Existenzgarantien und Kostenpläne
aber sollten weder zu den Möglichkeiten noch zu den Bindungen gehö-
ren. Cost-Center oder Revenue-Center anstelle von Profit-Centern, Kos-
ten- oder Leistungsvergleichzahlen anstelle von Erfolgsvergleichzahlen
sind immer nur Krücken, die den Markt nicht ersetzen können, sondern
die die Verzückungen der Dekadenz ihre Blüten treiben lassen.
Konrad Lorenz erklärt uns, was natürlich ist: die elfköpfige mensch-
liche Ursozietät, die „Horde“ (Team), die Kleingruppe, in der wir uns
geborgen fühlen, die ein gemeinsames Nomandenleben geführt hat, ist
die ursprünglichste Form der Arbeits- und Lebensgestaltung. Die elfköp-
fige Fußballmannschaft hat tiefe anthropologische Wurzeln. Nach der
Entfremdung durch die Industrialisierung sollten wir auch in unseren
Unternehmen wieder dahin zurückkehren. Strukturen miteinander ver-
netzter Teams und Profit-Center erfüllen die Voraussetzungen der Lek-
tionen dieses Buches und setzen ein gewaltiges Energiepotenzial frei.
Eigenverantwortliche Menschen bauen in einem Unternehmensverbund
an ihrer Zukunft, die ohne Grenzen ist – ohne Grenzen in ihren Entwick-
lungsmöglichkeiten und ohne Grenzen in ihren Aufgaben und Verant-
wortlichkeiten. Dies ist die dritte Säule der Unternehmensentwicklung:
keine Arbeitsteilung.
Als Henry Ford sein erstes Auto montiert, das Modell A, gibt es noch
keine Arbeitsteilung. Der Rahmen liegt auf einer Montageplattform, und
jeder seiner Mitarbeiter kann alles und tut das, was gerade ansteht, fer-
tigt die nächsten Teile vor, passt sie an und montiert sie. Bei den Model-
len C und D werden dann schon mehrere Autos gleichzeitig gebaut, auf
mehreren Montageplattformen, die in einer Reihe angeordnet sind. Mit
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 163

jedem weiteren Modell muss die Montagehalle verlängert werden. Das


„Verkehrschaos“ von Arbeitern, die zum Lager gehen und vom Lager
kommen, nimmt zu und löst die erste Stufe der Arbeitsteilung aus: Ar-
beiter in der Werkstatt fertigen die Teile und Arbeiter in der Montage-
halle montieren sie.
Nachdem Ford in einem Schlachthof in Chicago gesehen hat, wie dort
frisch geschlachtete austropfende Rinder an großen Haken hängen, die
wiederum in eine Kette eingehängt sind, welche sich langsam und konti-
nuierlich an der Bühne vorbeibewegt, auf der die Metzger stehen und
jeweils nur einen einzigen und immer wieder gleichen Arbeitsgang bei
der Zerlegung der Tierhälften verrichten, welche an ihnen vorbeiziehen,
kommt ihm die Idee, auch seine Arbeiter nicht mehr zu den Autos gehen
zu lassen, sondern die Autos an den Arbeitern vorbeizuführen. Er instal-
liert Walzen unter die Montageplattformen, lässt ein Förderband über
sie laufen, das am Ende umgelenkt und unter dem Boden wieder zurück-
geführt wird, und treibt die Anfangs- und Endwalzen mit Elektromotoren
an. Auf das Förderband legt er die Montageplattformen. Die vielleicht 30
Montageteams bauen nun nicht mehr ein Auto komplett zusammen,
sondern übernehmen jeweils nur ein Dreißigstel des Montageablaufs.
Als Ford bei seinem ausgereiften Model T angekommen ist, der legen-
dären Tin Lizzy – bis zum VW-Käfer das meistgebaute Auto der Welt – ist
die Arbeitsteilung so weit fortgeschritten, dass der einzelne Arbeiter
immer nur einige wenige identische Handgriffe an den mit fester Ge-
schwindigkeit an ihm vorbeiziehenden Karossen verrichtet. Das Fließ-
band hat das Zeitalter der Massenproduktion eingeläutet und die Ver-
sorgung breiter Bevölkerungsschichten mit Industrieprodukten
ermöglicht.
„Die Arbeitsteilung“, schreibt Adam Smith 1766, „dürfte die produk-
tiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fördern und verbessern.“
Smith denkt vor, was Ford umsetzt, sieht aber 600 Seiten später schon,
was wir erst heute wieder entdecken: „Mit fortschreitender Arbeitstei-
lung wird die Tätigkeit der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die von
ihrer Arbeit leben, also der Masse des Volkes, nach und nach auf einige
wenige Handgriffe eingeengt. Nun formt aber die Alltagbeschäftigung
ganz zwangsläufig das Verständnis der meisten Menschen. Jemand, der
tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, hat keinerlei Gele-

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164 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

genheit, seinen Verstand zu üben. Denn da Hindernisse nicht auftreten,


braucht er sich über deren Beseitigung keine Gedanken zu machen. Und
so ist es ganz natürlich, dass er verlernt, seinen Verstand zu gebrau-
chen.“
Karl Marx, der andere große Klassiker der Ökonomie, hat daraus seine
Entfremdungstheorie abgeleitet: „Die Arbeit ist dem Arbeiter äußerlich,
das heißt, sie gehört nicht zu seinem Wesen. Er bejaht sich nicht, son-
dern verneint sich in seiner Arbeit, er fühlt sich nicht wohl, sondern
unglücklich, er entwickelt keine freie psychische und geistige Energie,
sondern kasteit seine Physis und ruiniert seinen Geist. Der Arbeiter
fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer
sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er
nicht zu Haus. Seine Arbeit ist nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses,
sondern sie ist ein Mittel, um die Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen.“
Sind Segen und Fluch der Arbeitsteilung die beiden Seiten, die zu ei-
ner Medaille gehören? Schon während des Zweiten Weltkriegs wird in
einem britischen Bergwerk das Gegenteil bewiesen. Bisher hat die erste
Schicht Sprengungen vorbereitet und durchgeführt, die zweite Schicht
Förderbänder montiert und Wände verschalt, die dritte Schicht die Kohle
abgebaut und nach oben gebracht. Jetzt werden Spezialisten aus allen
drei Schichten zu Teams zusammengefasst, die in einem Flözteil die
gesamte Arbeit erledigen, also immer auch beenden, was sie begonnen
haben. Die Ergebnisse sind eindrucksvoll: Nacharbeit wird um 80 Pro-
zent weniger, Fehltage gehen um 60 Prozent zurück, und die Produktivi-
tät steigt um mehr als 20 Prozent.
Aus dieser frühen Erkenntnis werden Jahrzehnte später Führungs-
konzepte abgeleitet, die die Arbeitsteilung reduzieren oder abschaffen
und statt dessen Ganzheitlichkeit, Vielseitigkeit und Abwechslungs-
reichtum bieten: Job Enrichment (Aufgabenbereicherung), Job Enlarge-
ment (Aufgabenerweiterung) und Job Rotation (Aufgabenwechsel).
Job Enrichment bezeichnet die Reduzierung der horizontalen Arbeits-
teilung, die bisher auf verschiedene Hierarchiestufen verteilt ist. Jetzt
gibt es keinen Stab mehr, der denkt, keinen Vorgesetzten mehr, der
lenkt, und keinen Mitarbeiter mehr, der malocht, sondern nur noch ei-
nen Bearbeiter, der seine Aufgabe konzipiert und vorbereitet, die Ent-
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 165

scheidungen auf seinem Gebiet selbst trifft und die Bearbeitung in eige-
ner Verantwortung übernimmt.
„Ich bin viel zu teuer, um Tausende meiner Messdaten selbst einzu-
geben“, sagt mir die Laborantin, „eine Datentypistin kostet nur halb so
viel.“ Ich frage sie, ob sie als Kleinkind hat Spinat essen müssen. Das hat
sie, weil es für kleine Kinder gesund sein soll. Hier die wahre Erklärung:
Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht Louis Pasteur eine Analyse des
Eisengehalts in Europa angebauter Salat- und Gemüsesorten. Die Werte
für Tomaten, Karotten, Rhabarber, Sellerie, Spargel, Rosenkohl, Kopfsa-
lat und Linsen liegen zwischen 0,008 und 0,086 Promille; der Wert für
Spinat liegt bei ungefähr 0,310 Promille, also um ein Vielfaches höher.
Das ist mehr als 100 Jahre her, und noch immer werden Kinder mit Spi-
nat gequält, weil eine Datentypistin vor vier Generationen eine Dezimal-
stelle falsch gesetzt und Pasteur, der den Beitrag gezeichnet hat, nicht
jeden Messwert hat nachprüfen können. Das Messergebnis ist 0,031
Promille gewesen. „Sind Sie auch zu teuer, um Zehntausende von Fami-
lien vor unnötigen Dramen zu bewahren?“, frage ich die Laborantin. Wer
die Daten erfasst hat, dem können Fehler in der Größenordnung bei der
Eingabe nicht unterlaufen, denn die Zahlen sind für ihn nicht tot, son-
dern sprechen, und er versteht, was sie sagen, und sieht, wenn sie lügen.
Job Enrichment verbessert die Qualität.
„Dass wir selbst entscheiden dürfen, ist gut. Wenn wir aber Schreib-
kräfte wegrationalisieren, brauchen wir die doppelte Zahl von Sachbear-
beitern – eine sinnlose Verschwendung“, wehren sich die Mitarbeiter im
Export gegen die Zumutung, ihre Fertigkeit im Bedienen einer Tastatur
mit zehn Fingern nachweisen zu sollen. Nach der Umstellung wird jeder
Exportmarkt von einem Sachbearbeiter mit programmierter Textverar-
beitung vollständig bearbeitet, mit allen Hilfstätigkeiten und allen Ent-
scheidungsfunktionen. Dies führt zu höherem Umsatz und besseren
Ergebnissen ohne einen einzigen zusätzlichen Exportsachbearbeiter,
obwohl sämtliche Schreibkräfte weggefallen sind. Und nach der Einar-
beitungszeit macht es allen auch noch viel mehr Spaß.
„Wir sollen Toiletten putzen? Wissen Sie eigentlich, was Sie da gesagt
haben?“, entrüsten sich die beiden Abteilungsleiter, die sie auch benut-
zen und – ebenso wie alle anderen 50 Leute auf dieser Etage – je eine
Woche im Jahr diesen Dienst tun sollen. Was an Toiletten so „enrichend“

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166 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

(bereichernd) sei, werde ich gefragt. Die Erregung ist so groß, dass das
Kostenargument gar nicht fällt. Was ich ihnen zumute, ist eine Verlet-
zung ihrer Menschenwürde – in dieser Position. „Job Enrichment hat viel
mit Qualität zu tun, viel mit Spaß, aber auch viel mit Menschenwürde für
alle“, entgegne ich. Vielleicht liegt die Entwicklungschance für diese
beiden Abteilungsleiter gerade darin, den Wert von Menschen zu erken-
nen, die nicht Abteilungsleiter sind. „Alle unterhalb des Ranges eines
Fregattenkapitäns sind unreif“, soll der Marinegeneral Elmo Zumwalt
gesagt und damit wohl allein sich selbst die Reife abgesprochen haben.

Wenn wir jedem Mitarbeiter die Chance geben wollen, sich zu entwi-
ckeln und an die Grenzen seiner Möglichkeiten vorzustoßen, müssen
wir unangenehme Arbeiten gleichverteilen und dürfen keine „Sklaven“
für Schmuddelarbeiten halten.

Job Enlargement bezeichnet die Reduzierung der vertikalen Arbeits-


teilung, also die Überwindung fachlicher Spezialisierungen, die Zu-
sammenfassung aufeinander folgender Arbeitsgänge, die Integration
von Abläufen, soweit dies fachlich möglich ist. Für die Ablaufintegration
ist der Begriff „Reengineering“ geprägt worden, obwohl es nichts mit
Technik und viel mit Organisation zu tun hat. In diese Kategorie fällt das
Beispiel aus dem britischen Bergwerk: Soweit es irgend möglich ist,
sollen diejenigen eine Aufgabe beenden, die sie begonnen haben. Dies
schafft Identifikation mit dem Ergebnis, produziert Stolz auf die eigene
Leistung und führt zu zurechenbarer Verantwortlichkeit.
„Crafted with pride and care by“ (Gebaut mit Stolz und Sorgfalt von)
gefolgt von vielen Unterschriften – so habe ich es auf einem großen Mes-
singschild im Maschinenraum eines Ozeandampfers gesehen und mir
vorgestellt, wie gern ich das Schild meiner Familie zeigen würde, wenn
meine Unterschrift dort stünde, wenn ich diese Maschine, diesen Damp-
fer gebaut hätte. In Job Enlargement lebt die alte Handwerksethik wieder
auf: das „Werk“ als Kunstwerk, mit einem ideellen Wert, der nicht in
Geld zu messen ist. Haben Sie schon einmal vor einem Stück Handarbeit
gestanden, das Sie selbst vollendet haben, im Garten, im Haus, am Auto,
und sind einfach stolz gewesen auf diese – in Marktwert vermutlich lä-
cherliche – Leistung? Job Enlargement macht nicht nur Aufgaben größer,
sondern auch Menschen.
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 167

Das gewaltige Innovations- und Einsparungspotenzial von Job En-


largement entsteht durch den großen Überblick, den die Menschen über
die Zusammenhänge bekommen. Als kaufmännischer Lehrling lerne ich
auch die Versandabteilung kennen. Ich frage eine Bearbeiterin nach der
Funktion der Versandformulare. Das weiß sie nicht; sie kann mir nur
zeigen, was sie zu überprüfen und einzutragen hat. Auf meine Frage, wo
diese Formulare herkommen, sagt sie: „Die liegen immer im Eingangs-
korb“, und auf meine Frage, wo die Formulare nach ihrer Bearbeitung
hingehen: „Ich lege sie immer in den Ausgangskorb.“
Eine Unternehmensberatung hat dann für das tausendfache Monats-
gehalt dieser Dame den Versand durchforstet und die Abläufe verbessert.
Ob die Verbesserungen das Beratungshonorar jemals amortisiert haben,
weiß ich nicht. Aber eines ist mir inzwischen klar: Bei Job Enlargement
im Versand hätten die Sachbearbeiter sich diese Verbesserungen an drei
Wochenenden nebenbei ausgedacht.
Nun zu Job Rotation. Ziel des Aufgabenwechsels ist es, Mitarbeiter so
vielseitig wie irgend möglich im Unternehmen einsetzen zu können.
Dazu müssen sie viele sehr unterschiedliche Aufgabenbereiche kennen
lernen, und zwar immer so lange, bis sie in einem Bereich einen eigen-
ständigen Beitrag leisten. Die herkömmliche Auffassung sieht die Ei-
narbeitungszeit als Investition, die sich amortisieren muss; deshalb
werden die Leute dort, wo sie einmal eingearbeitet sind, festgehalten.
Die ohm-Resonanzschmiede sieht jede Arbeitszeit als Entwicklungszeit
für den Menschen. Deshalb soll jemand nur so lange mit einer Aufgabe
betraut bleiben, wie er dort etwas lernen kann.
Der junge Mann, der ganz unabhängig von seiner Ausbildung in der Pro-
duktionsplanung beginnt, wird die Welt nicht verstehen, wenn der Ge-
schäftsführer hereinkommt und das sorgfältig ausgeklügelte Produktions-
programm mit dem Hinweis durcheinanderwirft, dieser vom Außendienst
akquirierte Erstauftrag müsse vorrangig abgewickelt werden. „Außen-
dienstler reisen in der Gegend herum, wohnen in schönen Hotels, essen auf
Firmenkosten und tun nicht viel“, wird er vielleicht denken. Sobald er aber,
zwei Jahre später, selbst in den Außendienst kommt und verkaufen muss
und nach langen vergeblichen Anläufen endlich seinen ersten großen Auf-
trag haben kann – ihn aber nur bestätigen darf, wenn das Produktionspro-
gramm von den Füßen auf den Kopf gestellt wird –, sieht er die Dinge anders.

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168 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

Aber noch etwas ist anders: Mit seinen guten Beziehungen braucht er
nicht den Geschäftsführer einzuschalten und die Produktion von oben
vergewaltigen lassen. Nein, noch vom Kunden aus ruft er direkt in der
Produktionsplanung an, erklärt seinen früheren Kollegen, dass er weiß,
was er ihnen zumutet, sie aber vielleicht nicht ahnen können, worum es
geht, und bittet sie darum, doch eine Lösung zu finden. Vielleicht fordern
die ihn auf, mit dem Kunden eine Kaffeepause einzulegen, rufen dann
zurück und fragen, ob es nicht doch eine Woche später sein darf; das
wäre mit Klimmzügen zu ermöglichen. Und wenn der Neukunde es zu
schätzen weiß, dass nicht alte Kontakte wegen neuer vernachlässigt
werden, kann er sich vielleicht auf diese eine Woche Verzögerung des
Liefertermins einlassen.

Job Rotation schafft ein Beziehungs- und Kompetenzgeflecht im Un-


ternehmen, das flexibel, informell und robust macht. Es identifiziert die
Mitarbeiter nicht mit einer Funktion oder Fachdisziplin, sondern mit
dem Unternehmen. Und es führt zu Selbstregelungsprozessen, die Ent-
scheidungen und Eingriffe durch Vorgesetzte überflüssig machen.

Die Selbstorganisation sowohl routinemäßiger Abläufe als auch stän-


dig notwendiger Verbesserungen, die sich aus einer so weit wie möglich
reduzierten Arbeitsteilung ergibt, macht nicht nur Planung und Kontrol-
le überflüssig; sie eliminiert auch den ausufernden Beratungsbedarf zur
Verbesserung von Abläufen, welche sich jetzt von selbst ergeben. Und sie
reduziert die Aufgaben von Vorgesetzten; für Großunternehmen heißt
das: sie reduziert die Zahl der Vorgesetzten. Die Mitarbeiter können es
jetzt mit Moshé Feldenkrais halten: „Wenn du weißt, was du tust, kannst
du tun, was du willst.“
Unsere vierte und letzte Säule der Unternehmensentwicklung – keine
Maßnahmenplanung – bedeutet: Identifikation allein mit einem Ziel.
Friedrich II., König in Preußen, weiß nicht, wie er die sich abzeichnenden
Kriege gegen die Königreiche Sachsen und Österreich gewinnen soll;
aber er schafft es, dass seine Soldaten sich mit seinem Ziel identifizie-
ren. Diese Identifikation macht Preußen zum Sieger. Gottlieb Duttweiler
weiß nicht, wie er die Schweizer Bevölkerung mit besseren, frischeren
und billigeren Lebensmitteln versorgen soll; aber er schafft es, dass
seine Belegschaft sich mit seinem Ziel identifiziert. Diese Identifikation
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 169

macht Migros zum marktbeherrschenden Lebensmittelhändler. John F.


Kennedy weiß nicht, wie die Vereinigten Staaten innerhalb von zehn
Jahren eine bemannte Mondlandung erreichen sollen; aber er schafft es,
dass sein Land sich mit seinem Ziel identifiziert. Diese Identifikation
bringt Amerikaner auf den Mond.

Das Ergebnis ist vor allen einzelnen Maßnahmen da, die es verursachen.
Die Ursache-Wirkungs-Kausalität hat sich umgekehrt. Die Wirkung ist
der Magnet, der die Ursachen anzieht, die sie braucht, um sich zu ver-
wirklichen.

Vielleicht haben Sie Gegenbeispiele, wo von Ihnen gewollte Wirkun-


gen ganz andere Ursachen angezogen haben. Es ist alles eine Frage der
Integrität. Vielleicht sind Sie ein Magnet für Scheiße.
Carl Friedrich Gauß wird gefragt, wie er zu seinen Ergebnissen ge-
kommen ist. „Meine Resultate habe ich längst“, antwortet er, „ich weiß
nur noch nicht, wie ich zu ihnen gelangen soll.“ Galileo Galilei, der auch
das Fernrohr erfunden hat, fängt es geschickter an. Er behauptet, er
habe das Instrument aufgrund mathematischer Berechnungen konstru-
iert. Johannes Kepler hat dargelegt, dass Galilei keine optischen Kennt-
nisse gehabt hat und deshalb solche Berechnungen nicht hat durchfüh-
ren können. Die Berechnung ist von anderer Art gewesen: aufgrund
seiner Behauptung ist Galileis Gehalt verdreifacht worden.
Pläne können sich nur auf den Stand unseres Wissens beziehen und
ausgetrampelte Pfade weisen, wie einer Herde Vieh. Joseph Schumpeter
bezeichnet diese Trampelpfade als „die Konkurrenz innerhalb eines
starren Systems unveränderter Bedingungen“ und sagt von ihr, dass sie
alle Aufmerksamkeit monopolisiert und unsere Entwicklung blockiert.
In Wirklichkeit, so Schumpeter, zählt nur „die Konkurrenz der neuen
Ware, der neuen Technik, der neuen Versorgungsquelle, des neues Orga-
nisationstypus“, die die bestehenden Firmen in ihren Grundlagen, in
ihrem Lebensmark trifft. Es sind Problemlösungen, die wir nicht planen
können, weil wir nicht wissen, dass sie möglich sind. Wenn sie gefunden
werden, ist es ein Durchbruch.

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170 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

Durchbrüche geschehen auf Feldern, von denen wir nicht wissen, dass
wir nichts davon wissen, auf denen unser Nichtwissen für uns nicht
existiert. Wir können sie nicht planen, weil sie nach unseren gegenwär-
tigen Wissensgrundlagen nicht existieren.

Unternehmensplanung muss auf Wissensgrundlagen aufbauen, die in


der Vergangenheit gründen. Die Vergangenheit eines Unternehmens
wird von seinem Jahresabschluss gespiegelt – einem Überbleibsel der
Bestandsaufnahme nach der Ernte. Wer daraus seine Zukunft ableitet,
verhält sich wie der Autofahrer, dessen Frontscheibe beschlagen ist und
der deshalb mit Hilfe der Rückspiegel fährt.
Glauben Sie, dass vor 200 Jahren viele Leute an die Entwicklung von
Flugzeugen gedacht haben: „Sind Sie schon erfunden?“ „Noch nicht; aber
habt Geduld, einige technische Voraussetzungen fehlen noch; in 100
Jahren, vielleicht, ist es soweit.“
Von Johannes Kepler bis Albert Einstein, von David Ricardo bis Milton
Friedman, von Elton Mayo bis Peter Drucker – immer, wie bei Gauß, exis-
tiert das Ergebnis vor dem Nachweis. Newton soll es auf einer Blumen-
wiese gefunden haben, Einstein im Wald, Mayo in den Bergen.
Unternehmensplanung unterstellt eine Ursache-Wirkungs-Folge. Das
ist das klassische Wissenschaftsparadigma, welches diejenige Seins-
ebene ausblendet, in der Wirkungen, Ziele und Berufungen entstehen,
welche die Ursachen zu sich rufen, an sich ziehen. Planung ist die Hoff-
nung, dass es klappt, und das Wissen, dass es schiefgeht.
Wenn wir etwas wollen, hebeln wir die Ursache-Wirkungs-Folge aus
und gestalten die Umstände so, dass sie das beabsichtigte Ergebnis ver-
ursachen. Wollen ist die schöpferische Gestaltungskraft. Die Resonanz-
lehre für Unternehmen geht deshalb von einer Wirkungs-Ursache-Folge
aus, von einer „Kausalität“ in entgegengesetzter Richtung.
Im Westen Nordamerikas stehen Jahrtausende alte Sequoias, 100 Me-
ter hohe Baumgiganten mit einem Stammumfang von etwa 30 Metern.
Der älteste Sequiadendron Giganteum ist 4 900 Jahre alt geworden und
im Jahre 1993 an den Folgen der brachialen Datierungsversuche eines
Doktoranden der Forstwissenschaft eingegangen. Auf einer Bergtour
raste ich allein in einem Sequoiawald, lehne mich an einen der rotbrau-
nen, knorrigen, feuerfesten Stämme und spüre, wie leise, langsam und
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 171

sanft eine wunderbare Energie meinen ganzen Körper durchströmt,


schöner, als ich es je in den Armen einer Frau erlebt habe; wie ein Kraft-
feld mich erhebt und ergreift, erhöht und erhellt; wie ein Blitz meinen
Geist durchfährt und ich die Resonanzlehre für Unternehmen vollstän-
dig, ganz und gleichzeitig sehe – dieses Buch, in dem ich „mit der Mühe
und Arbeit einer Menschenhand“, wie Ernst Wiechert es umschreibt, das
ausbreite, was Gott in dem Bruchteil einer Sekunde vorgesehen hat.
Wie könnten wir Menschen sein, wäre die Erde von alten Wäldern
überzogen, die auf viele von uns die Kraft übertragen, welche unsere
Probleme in kosmischer Harmonie löst? Wie könnten wir Menschen sein,
wenn wir, statt zu planen und zu kämpfen, uns von dieser Kraft tragen
ließen? Wie könnten wir Menschen sein, wenn wir, aufgeladen mit dieser
Urenergie, den Göttern näher kämen?
Statt dessen bewerten wir den Baum nach dem Marktwert seines Hol-
zes, wie wenn der Mensch nach dem Gewicht seines Fleisches zu be-
werten wäre, ein Rembrandt nach dem Wert der Ölfarbe oder die Soft-
ware nach dem Materialpreis der Diskette. Statt dessen quälen wir uns
auf dem Niveau des Kannibalismus in den Fesseln unseres alten Para-
digmas und erforschen die Ursachen.
Die Ursache der Resonanzlehre für Unternehmen ist vielleicht die Re-
gierung der Vereinigten Staaten, die in ihren Nationalparks die Sequoias
erhält. Vielleicht aber auch die deutsche Hochschule, an der ich arbeite
und die mir die Zeit zum Schreiben dieses Buches gegeben hat. Sicher-
lich haben, wie es sich für einen Zeugungsakt gehört, beide Dinge zu-
sammenkommen müssen. Aber die ganze Synergie zwischen einer Re-
gierung und einer Hochschule hätte nichts gebracht, wenn mein Vater
und meine Mutter sich nicht ineinander verliebt hätten. Wie das ge-
kommen ist? Der Zug hatte Verspätung, sie hat auf dem Bahnsteig ge-
wartet und fürchterlich gefroren. Forschen wir also weiter, warum der
Zug Verspätung hatte. Das lässt sich nicht mehr ermitteln. Also forschen
wir weiter in der Entstehungsgeschichte meines Vaters. Die Vorfahren
aller deutschen „Bergers“ (französisch „Schäfer“) sind Hugenotten, die
der König von Frankreich wegen ihres Glaubens vertrieben und die
Preußen, wo „jeder nach seiner Fasson“ hat selig werden können, aufge-
nommen hat. Wir können bis zu Adam und Eva zurückgehen, ohne die
selbst Frankreich keinen König gehabt hätte.

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172 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

Ursachenforschung ist Geschichtsschreibung: die ausführliche Dar-


stellung von Begebenheiten, die sich niemals ereignet haben. Die Lekti-
on daraus ist Maßnahmenplanung: „Je planvoller wir dabei vorgehen, um
so wirkungsvoller trifft uns“, so Friedrich Dürrenmatt, „der Zufall.“

Resonanzforschung ist Wirkungsforschung: die verantwortungsvolle


Setzung der Ziele, die den Reifeprozess der Menschheit voranbringen.
Die Lektion daraus ist: mit feinen Antennen die Signale aus der
Seinsebene empfangen, welche Ursachen und Zufälle so gestaltet, dass
sie die vorgesehenen Wirkungen produzieren.

Als ich bei einer anderen Bergtour in der wilden wuchtigen Schönheit
der Sierra Nevada an einem Gebirgssee ausruhe, überwältigt mich ein
neues Sequoia-Erlebnis. „Vielmehr ist da mein Geist getroffen worden,
von einem Blitz, der seinen Wunsch erfüllte“, beschreibt Dante Alighieri
solche Sternsekunden. Ich sehe mein bisheriges Leben wie einen Film
vor mir ablaufen, wieder sekundenschnell, mit seinen Freuden und Dra-
men, Episoden und Warteschleifen, Triumphen und Untergängen, die
alle ein einziges Ziel verfolgen: mich hier und jetzt so zu haben, wie ich
durch sie geworden bin – vorbereitet auf und bereit für dieses Buch.
Ich erzittere vor der Unerbittlichkeit, der Präzision und der Reichwei-
te dieser Dispositionen und denke an die Weisheit des Tao: Von allen
Elementen soll der Weise das Wasser zu seinem Lehrer wählen. Wasser
ist weich und zerstört, was hart ist. Wasser gibt nach und erobert alles.
Wasser folgt planlos seinem Gesetz und gewinnt immer. Unternehmens-
planung ist Beschäftigungstherapie.

PRAXISBEISPIEL 7: Change-Management-Workshop
Die Aktivitäten, die jeder Einzelne während der vorangegangenen
Coachingphase entwickelt und erprobt hat, werden jetzt abgestimmt
und in ein „gebündeltes Vorgehen“ integriert. Es werden Projekte auf-
gesetzt, die jeder allein oder gemeinsam mit anderen nach Abschluss
des Change-Management-Workshops beginnt, und die das konkrete
Ergebnis bei Abschluss des Resonanzprogramms bewirken.
PRAXISBEISPIEL 7: Change-Management-Workshop 173

Die Absicht dieses Workshops ist es, einen Kulturwandel einzuleiten,


der die bisherige Kultur des Geschäftsbereichs so umgestaltet, dass sie
in das neue Umfeld des französischen Konzerns passt und dass verblei-
bende Spannungen nicht destruktiv, sondern befruchtend wirken. Die
drei Säulen, auf denen dieser Wandel ruht, sind Kommunikation, Krea-
tivität und Lernen. Diese Säulen werden durch Vortrag in Verbindung
mit einem interaktiven Dialog in jeweils drei Schritten errichtet:
1. eine Unterscheidung wird erlernt (das ist eine Einsicht, die durch
einen kognitiven Prozess bewirkt wird)
2. aus der Unterscheidung wird eine Praktik abgeleitet (die Konse-
quenzen der Unterscheidung werden auf die Handlungsebene über-
tragen)
3. diese Praktik wird auf konkrete Unternehmenssituationen ange-
wandt und geübt (sie wird in die Unternehmensrealität integriert).
Es ist nutzlos, eine neue Kultur zu deklarieren, sie muss gelebt und das
heißt durch neue Praktiken ausgedrückt werden. Die leitenden Herren
aus Frankreich erleben, dass die Deutschen die Franzosen zwar lieben,
sie aber nicht ganz ernst nehmen. Ihnen ist es aber vollkommen un-
wichtig, ob sie von den Deutschen „geliebt“ werden; sie möchten von
ihnen ernst genommen werden. Wo das nicht geschieht, reagieren sie
mit Autorität und spielen ihre Macht auf eine Art und Weise aus, die
von den Deutschen mit Boykott gekontert wird.
In der Konzernzentrale wird jetzt für den Umgang mit den schwieri-
gen Deutschen eine einfache Regel eingeführt. Bei jedem Vorschlag
aus Deutschland werden vier Fragen gestellt:
— „A quoi ça sert?“ (Was ist der Nutzen?)
— „Combien ça coûte?“ (Wie viel kostet es?)
— „Qui paie?“ (Wer trägt die Kosten?) und
— „Combien ça rapporte?“ (Wie viel bringt es unterm Strich?)
Nachdem das eingeführt worden ist, sehen die Führungskräfte aus
Deutschland ihre französischen Kollegen plötzlich als kompetent und
professionell an – eben als „deutsch“. Das ist es, was sich die Franzosen
im Herzen schon immer gewünscht haben.

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174 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

Und in dem deutschen Geschäftsbereich lernen die Verantwortli-


chen, die nüchterne Ergebnisorientierung durch drei „r“ – ganz neue
Verführungskünste – zu ersetzen:
— „le rêve“ (der Traum: worin liegt das Fantastische?),
— „le risque“ (das Risiko: wenn’s sicher ist, ist’s ja langweilig) und
— „le rire“ (das Lachen: es muss einfach Spaß machen).
Manch einer der deutschen Führungskräfte staunt, dass in der Nation
der kristallklaren Ratio und der „planification“ (der Lenkung der Wirt-
schaft von oben) Spontaneität einen so hohen Stellenwert hat und ein
derart „unvernünftiger“ Leitsatz gilt: Unternehmensplanung ist Be-
schäftigungstherapie für Führungskräfte. Nachdem sie aber gelernt
haben, mit diesen drei magischen „r“ zu spielen, spüren sie, wie gern die
Franzosen plötzlich mit ihnen zusammenarbeiten. Das ist es, was sich
die Deutschen im Herzen schon immer gewünscht haben.
Die Beteiligten erfahren, wie sie in einer neuen binationalen Unter-
nehmenskultur selbstbestimmte Prozesse gestalten, von allen unter-
stütze Strukturen entwerfen und kraftvolle Systeme einsetzen können.
Sie erfahren, wie sie Rahmenbedingungen für außergewöhnliche Er-
gebnisse schaffen, das Kreativitätspotenzial vergrößern und die Pro-
duktivität erhöhen können. Sie entwickeln eine große Zukunft für den
Geschäftsbereich. Sie lernen, mental Energie zu bündeln und neuronale
„Magnetfelder“ mit umgekehrter Kausalität aufzubauen: Nicht Ursa-
chen produzieren Wirkungen, sondern Wirkungen ziehen die Ursachen
an, die sie zu ihrer Verwirklichung brauchen.
Die drei „Attraktoren“ einer solchen Umpolung der Kausalität sind:
1. Verantwortung
Das ist die Fähigkeit, Anforderungen und Herausforderungen anzu-
nehmen. „Ver-antwort-ung“ heißt, dass wir die Antwort finden müs-
sen, auf die Fragen, die das Leben stellt. Es ist keine moralische Last,
sondern eine Folge von Freiheit und Integrität.
PRAXISBEISPIEL 7: Change-Management-Workshop 175

2. Achtung
Achtung entsteht, wenn wir uns selbst und andere jenseits aller Ur-
teile und Vorurteile neu sehen. „Achtung“ (Acht geben) umfasst
aufmerksames Sehen. Niemand muss sich Achtung verdienen, jedem
soll sie ohne Vorbedingung geschenkt werden.
3. Anerkennung
Anerkennung ist eine menschliche Qualität, durch die der „Wert“ ei-
nes anderen Menschen erkannt wird – nicht nur der Wert dessen, der
er ist, sondern auch der Wert seines Potenzials – also des Menschen,
der er werden kann. Es ist eine notwendige Grundlage für Enthusi-
asmus und Selbstbewusstsein, und damit für Außergewöhnlichkeit.
Die durch diese Attraktoren ausgelösten Aktivitäten für den Wandel
stecken Außenstehende an. Jeder Teilnehmer erlebt, wie er seine Um-
gebung allein dadurch verwandeln kann, dass er integer, authentisch
und sichtbar die gemeinsame Mission ist. Weil dann sein Umfeld ihn
mit seiner Mission identifiziert und sich so auf ihn bezieht, entstehen
die Bedingungen, die das Ergebnis „von selbst“ – aus dem eigenen
Selbst heraus – verwirklichen.

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Mitarbeiter sind Resonanzkörper 177

8 Mitarbeiter sind Resonanzkörper


Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes strahlen üppige Blumensträuße.
Auf den Tischen entlang der Fensterfront schmachten einsame Cham-
pagnergläser. Innerhalb weniger Minuten füllt sich der Raum mit vielen
Herren und wenigen Damen. Sie wechseln hin und her, haben mal die-
sem, mal jenem etwas zu sagen, stehen redend und lachend in kleinen
Gruppen. Alle sind sehr entspannt, bis auf einen. Ich habe Lampenfieber.
Mein erster Karrieresprung steht bevor. Abteilungsleiter soll ich wer-
den, nachdem mein Vorgänger in den Ruhestand verabschiedet worden
ist. Und dieser Abschied wird hier gefeiert. Der Personalleiter wird spre-
chen, ein Mitglied des Vorstands hat sich angekündigt, der Jubilar ist da,
und ich – sein designierter Nachfolger – soll auch etwas sagen. Es ist
mein erster feierlicher Stehkonvent.
Als der Herr vom Vorstand eintritt, wird es still. Mit großen Schritten
geht er auf den Jubilar zu, schüttelt unter Fotoblitzen lange und fröhlich
dessen Hand und ergreift das Wort: Ein engagierter Mitarbeiter sei er
gewesen, vorbildlich in der Menschenführung, unermüdlich in der Erfül-
lung seiner Aufgaben, nie habe er sich in den Vordergrund gedrängt,
seine persönlichen Interessen habe er überall zurückgestellt, zu jeder
Zeit sei er eine solide Stütze für das Unternehmen gewesen, immer habe
man sich auf ihn verlassen können, viele hätten sich an ihm ein Beispiel
genommen, als junger Diplom-Ingenieur mit 25 Jahren habe er in einem
Zweigwerk begonnen, über 40 Jahre habe er der Firma treu gedient, nur
zweimal in vier Jahrzehnten sei er krank gewesen, Aufbauarbeit habe er
geleistet, bei all seinen bewundernswerten Leistungen sei er sehr be-
scheiden geblieben, sein Ausscheiden werde eine schwer zu schließende
Lücke hinterlassen, er werde uns allen sehr fehlen.
Danach spricht der Personalchef, und dann bin ich an der Reihe. Seit
zwei Wochen habe ich Tag und Nacht gegrübelt, wie ich es anfangen
kann. Kurz soll es werden, heiter und entspannt Die Leute sollen etwas zu
lachen haben. Ich bin noch keine 30 Jahre alt und kann mir nicht vorstel-
len, 40 Jahre lang bei der gleichen Firma zu bleiben. Ich bin noch nicht
verheiratet und kann mir auch nicht vorstellen, 40 Jahre lang bei der
gleichen Frau zu bleiben. Nach einigen launigen Vorbemerkungen stelle

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W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_8,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
178 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

ich meinem Vorgänger also die Frage: „Haben Sie, lieber Herr Döring, in
diesen 40 Jahren eigentlich nie an Scheidung – von der Firma – gedacht?“
Die Gesellschaft lacht gequält. Der Witz ist schlecht angekommen.
Meine Knie zittern. Ich suche Halt und kralle mich an ein Cham-
pagnerglas.
Und dann kommt Martin Döring. „Mein lieber Herr Doktor Berger“,
sagt er und legt seine Hand väterlich auf meine Schulter, „das ist eine
interessante Frage.“ Während sein Blick aus dem Fenster schweift, fährt
er fort: „Und ich muss Ihnen ehrlich sagen, wenn Sie mich das vor einem
Jahr gefragt hätten, hätte ich Ihnen nicht ehrlich geantwortet. Heute
brauche ich zum ersten Mal seit 40 Jahren nicht mehr diplomatisch zu
sein. Wenn ich hier herausgehe, bin ich ein freier Mann, und deshalb
kann ich jetzt die Wahrheit sagen, die keiner von Ihnen kennt. Ich werde
also Ihre Frage offen und ehrlich beantworten: An Scheidung habe ich in
diesen 40 Jahren nie gedacht – aber an Mord.“
Die Wahrheit ist schlimmer, als Marx prophezeit hat. Was beim Un-
ternehmen Staat offensichtlich ist, ist in den Führungsetagen unserer
Wirtschaftsunternehmen nicht anders: Der größere Teil der Energie der
Führungskräfte wird nicht in die Lösung von Problemen gesteckt, son-
dern in die Lösung von Machtfragen. Und was bei der Bevölkerung unse-
rer Staaten offensichtlich ist, ist auch in den Belegschaften unserer
Unternehmen nicht anders: Unsere Staaten sind zu Institutionen ver-
kommen, mit deren Hilfe jeder versucht, auf Kosten von anderen zu le-
ben. Unsere Unternehmen sind zu Institutionen verkommen, mit deren
Hilfe jeder versucht, auf Kosten von anderen Geld zu verdienen.
Auf Kosten von anderen bedeutet, mit deren Energie. Wer anderer
Energie „verbrennt“, lässt sein eigenes Potenzial ungenutzt. Diese ande-
ren – ausgebrannt und körperlich anwesend – sind nur mit einem Bruch-
teil ihres eigenen Selbst präsent. Viele Großunternehmen könnten 100
Millionen Dollar im Jahr einsparen, wenn die körperliche Anwesenheit
minimal häufiger und die Fehlzeitenquote um nur ein Prozent niedriger
wäre. Viele Großunternehmen könnten einige Milliarden Dollar im Jahr
einsparen, wenn die mentale Anwesenheit vollständig, ganz, integer
wäre; wenn jeder einzelne im Unternehmen für das Ganze die volle Ver-
antwortung übernähme.
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 179

Verantwortung übernehmen heißt, Ursache sein für das, was geschieht.


Die Synergie der Kräfte, die freigesetzt werden, wenn jeder im Unter-
nehmen voll und ganz anwesend ist, löst innovative Explosionen aus.

Das Gegenteil einer solchen innovativen Explosion ist der Tod. Was
bedeutet der Tod unseres Körpers physikalisch und chemisch? Unser
menschlicher Körper besteht zu mehr als zwei Dritteln aus Wasser, und
nach dem Tod tut dieses Wasser das, was Wasser – elementspezifisch –
tut: es verdunstet, verfließt, versickert. Solange wir aber leben und unse-
re 50 oder 70 Liter auf die Waage stellen, steht die Waage trotzdem nicht
unter Wasser. Leben ist eine Kraft, die Wasser dazu bringt, etwas Was-
serunspezifisches zu tun, etwas, was Wasser nicht tut, wenn es sich
selbst überlassen ist.
Der Unterschied zwischen Leben und Tod besteht darin, dass beim
Tod die einzelnen Substanzen unseres Körpers ihren eigenen Gesetzen
folgen, während sie sich beim Leben den Gesetzen des Lebens unterord-
nen. Bricht ein Element oder eine Zelle aus diesem Lebensgesetz aus und
fügt sich nicht mehr in das Ganze, ist es eine Krebszelle, die durch ihren
eigenen dem Ganzen übergeordneten Wachstums- und Überlebenswillen
das Ganze schwächt oder sogar vernichtet.
Das ist die Situation in unseren Unternehmen und Staaten. Jeder
sieht sein eigenes Wohl und Fortkommen, seine eigene Sicherheit und
Macht zuerst und ordnet, wenn er kann, das Ganze dem unter; dient dem
Ganzen also nur soweit, wie seine eigenen Interessen dadurch nicht
beeinträchtigt werden. Managementsysteme schützen die Machthaber,
indem sie ihnen – so Frederick Herzberg – die Möglichkeit zu einem „kick
in the ass“ (Tritt in den Hintern) geben. „Wollen hätten wir schon mögen,
nur dürfen haben wir uns nicht getraut“, sagen die Mitarbeiter dann mit
Karl Valentien und ziehen sich zur Hälfte in ihr Schneckenhaus zurück.
Mit einem Füllhorn von Motivationstechniken werden sie von dort
wieder herausgelockt. Reinhard Sprenger zeigt, dass das alles nur Dro-
gen sind, die Strohfeuer flackern lassen, eine Abschöpfungsmentalität
produzieren, aber keine Identifikation mit der Aufgabe. „Heerscharen
demotivierter Misserfolgsvermeider“ identifizieren sich mit der Beloh-
nung und arbeiten, um danach zu leben. Wenn wir beobachten, welches
Organisationstalent, welchen Ideenreichtum und welches Engagement

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180 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

„graue Mäuse“ in Betrieb oder Büro nach der „Arbeit“ im Verein, im


Freundeskreis, in der Familie entfalten, wo sie ihr Leben leben können,
müssen wir uns fragen, warum die Unternehmen für einen Bruchteil
dieses Einsatzes ein ganzes Gehalt bezahlen.
Unternehmer fragen sich das auch und setzen deshalb auf Personal-
abbau, also den Abbau dieses gewaltigen Innovationspotenzials, statt
auf seine Entwicklung; und auch Sprenger erklärt nicht, wie die von ihm
geforderte „verführungsfreie Unternehmenskultur“ zu haben ist. Um
dies zu ergründen, müssen wir historische Beispiele studieren.
Hans Christian Altmann beschreibt Erfolgsstrategien großer Perso-
nen der Geschichte. Ein Beispiel ist Friedrich der Große, König in Preu-
ßen. Er erfährt, dass sein Feind, der König von Sachsen, die Stärke seiner
Armee von 17 000 auf 40 000 Mann erhöht hat, dass Österreich sogar 73
000 ins Feld schicken wird und mit seinen Verbündeten von drei Seiten
angreifen will, um die kleine preußische Armee von 43 000 Mann zu
schlagen. Das letzte Mal hat er den zurückflutenden Truppen noch sein
berühmtes „Kerle, wollt ihr ewig leben?“ entgegengeschrien; jetzt geht es
nicht nur um das Leben der Soldaten, sondern um die Existenz des Kö-
nigreichs.
„Sie wissen, meine Herren“, sagt er zu den Offizieren – ich zitiere ver-
kürzt – „dass ein Teil von Schlesien und die Hauptstadt der Provinz mit
allen Kriegsvorräten verlorengegangen ist. Ich setze mein unbegrenztes
Vertrauen in Ihren Mut, Ihre Standhaftigkeit und Ihre Vaterlandsliebe,
die Sie bei so vielen Gelegenheiten bewiesen haben. Es ist fast keiner
unter Ihnen, der sich nicht durch eine ehrenvolle Handlung ausgezeich-
net hätte. Die Entscheidung rückt heran und es ist hier nicht die Frage
von der Anzahl der Feinde noch von der Stärke ihrer Stellung. Alles dies
wird die Herzhaftigkeit meiner Truppen zu überwinden wissen. Wir
müssen den Feind schlagen. Wenn Sie übrigens bedenken, dass Sie
Preußen sind, werden Sie sich dieses Vorzugs nicht unwürdig machen
wollen. Ich rechne auf Ihre Hilfe und den Sieg. Sollte aber einer unter
Ihnen sein, der davor zurückschreckt, die letzte Gefahr mit mir zu teilen,
der kann noch heute seinen Abschied erhalten ohne den geringsten Vor-
wurf von mir zu erleiden.“
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 181

Was gibt den preußischen Soldaten die Kraft, ihre hoch überlegenen
Feinde zu besiegen? Was bringt Soldaten im Krieg dazu, ihr Leben zu
riskieren? Was motiviert Soldaten zu dem höchsten möglichen Einsatz,
wo doch Mitarbeiter unter normalen Umständen kaum bereit sind, einen
freien Tag einzusetzen? Psychologen haben dies am Beispiel des Viet-
namkriegs untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es
nicht mehr die Loyalität zu dem höchsten Repräsentanten des eigenen
Staates – in Preußen ein König – ist; nicht mehr das Vaterland; nicht
mehr die Fahne; nicht die Sache der Freiheit, nicht die der Demokratie;
nicht Familie, Braut oder Freunde zu Hause; sondern einzig und allein
die Solidarität in der kämpfenden Kleingruppe. Jeder ist hier auf den
anderen angewiesen, auf Leben oder Tod; niemand lässt den anderen im
Stich, unter überhaupt keinen Umständen.
Wodurch entsteht diese Solidarität, und warum ist sie offensichtlich
bei den Preußen stärker gewesen als bei Sachsen und Österreichern; bei
den nordvietnamesischen Vietkong stärker als bei amerikanischen Sol-
daten, bei afghanischen oder tschetschenischen Kämpfern stärker als
bei sowjetischen oder russischen Soldaten?
Nach der gängigen Antwort der Führungslehre produziert Leadership
(Führung) Qualifikation und Kompetenz – Leistungspotenzial – bei den
Geführten. Das Vorbild des Führers – wie im Beispiel des preußischen
Königs – verwandelt dieses Potenzial in Leistungsbereitschaft. Und dann
braucht nur noch eine Gelegenheit vorbeizuschauen und der Wille ist da,
das Potenzial auch einzusetzen. Das ist wie die Geschichte vom König-
reich, das gerettet wird, weil die Schlacht gewonnen wird; von der
Schlacht, die gewonnen wird, weil der Reiter Dienst tut; von dem Reiter,
der Dienst tut, weil sein Pferd bereit steht; von dem Pferd, das bereit
steht, weil der Schmied ihm neue Hufen eingesetzt hat; von den neuen
Hufen, die halten, weil die Nägel passen. Das ist Ursachenforschung. Das
hatten wir schon.
In Wahrheit läuft die Geschichte anders herum: Weil der Nagel fehlt,
geht das Hufeisen verloren; weil das Hufeisen fehlt, geht das Pferd verlo-
ren; weil das Pferd fehlt, geht der Reiter verloren; weil der Reiter fehlt,
geht die Schlacht verloren; weil die Schlacht verloren ist, geht das König-
reich verloren. Und warum hat der Nagel gefehlt? Auch das hatten wir
schon – die Antwort ist einfach: Weil das Königreich verlorengehen soll

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182 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

und weil diese Wirkung sich die Ursachenkette zu ihrer Selbstverwirkli-


chung schafft. Die Untertanen sind nicht qualifiziert und kompetent, um
ihren König auf dem Thron zu halten.
Der Begriff „Qualifikation“ hat eine doppelte Wurzel im Lateinischen:
„qualis“ (wie beschaffen) und „facere“ (machen). Er fragt also danach,
wie jemand gemacht worden ist, wie er beschaffen ist, welches seine
Eigenschaften sind. Nach dem Wissen fragt er nicht.
Der Begriff „Kompetenz“ leitet sich aus dem lateinischen „competere“
(entsprechen) ab. Für die „Entsprechung“ gibt es moderne Begriffe mit
übertragener Bedeutung, wie „Strickmuster“ oder „Wellenlänge“ im
deutschen, „chemistry“ (Chemie) im englischen. Auch Kompetenz nimmt
auf das Wissen keinen Bezug.
Nicht einmal der Begriff „Information“ hat etwas mit Wissen zu tun:
„in formatica“ heißt, von innen her geformt, aus dem inneren Bewusst-
sein heraus gebildet, also nicht von Eltern, Lehrern, Professoren und
anderen Besserwissern vermittelt. Daraus folgt: Leistungspotenzial
entsteht und verwandelt sich in Leistungsbereitschaft, wenn Mitarbeiter
chemisch so „zusammengesetzt“ sind wie ihre Vorgesetzten, wenn sie
auf der gleichen Wellenlänge „funken“, wenn sie die gleiche innere Prä-
gung oder Frequenz haben.

Die Aufgabe der Führung ist nicht das Planen und Steuern, das Ent-
scheiden und Kontrollieren, das Handeln und Agieren. Die Aufgabe der
Führung besteht einzig und allein darin, das ganze Unternehmen auf
die gleiche innere Frequenz einzustimmen – Resonanz zu schaffen.

Rupert Sheldrake spricht davon, dass die Materie von Feldern getra-
gen wird, die alles durchdringen, die – im Gegensatz zu elektromagneti-
schen Feldern – durch Raum oder Zeit nicht beschränkt werden, und die
er „morphogenetisch“ nennt. Diese Felder gestalten nach Sheldrake
sowohl die Form als auch das Verhalten von Systemen und Organismen.
Ein Körper, jeder materielle Körper, ganz gleich ob es ein Fels, ein Baum
oder ein Vogel ist, ein Planet, ein Fixstern oder eine Galaxie, eine Statue,
ein Symphonieorchester oder ein einzelner Mensch – jeder Körper ist ein
Resonanzkörper für Signale von außen, die er moduliert.
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 183

Je höher ein Körper entwickelt ist, desto weniger massiv ist er und
desto höher ist die Frequenz seiner Eigenschwingung, seine Energie. Wir
halten einen Felsen deshalb für weniger entwickelt als einen Baum,
einen Baum für weniger entwickelt als uns Menschen, uns Menschen für
weniger entwickelt als ein morphogenetisches Feld, ein morphogeneti-
sches Feld für weniger entwickelt als die physikalisch nicht mehr „greif-
bare“ Schwingungsebene, auf die sämtliche Felder aufmoduliert sind
und die wir Gott nennen.
Francisco Varela erforscht die Schwingungsfrequenz der Neuronen
von Gehirnen. Neuronen sind Nervenzellen, die Elemente des Zentralen
Nervensystems. Fünf Milliarden Neuronen bilden das Zentrale Nerven-
system des Menschen; sie empfangen Signale von anderen Neuronen,
integrieren diese Signale, produzieren und übermitteln elektrische Ner-
venimpulse.
Der Zellkern vollführt biochemische Transformationen, die von den
Dendriten (den „Ästen“ der Zelle) angeregt werden. Die Dendriten sind
Rezeptoren, die in einem Feld schwingen, das über die Grenzen der
Schädeldecke, über die Grenzen des Körpers weit hinausgeht. Neuronale
Felder sind diejenigen Bestandteile morphogenetischer Felder, die sich
auf die Gehirnaktivität beziehen. In einem neuronalen Feld existiert
jeder Gedanke und jedes Gefühl als eine elektromagnetische Einheit.
William McDougall hat im Jahre 1920 in Cambridge, Massachusetts,
Ratten trainiert, durch ein Wasserlabyrinth zum Ausgang zu finden.
Nach mehreren Rattengenerationen haben die Tiere gelernt, diese Auf-
gabe zehnmal schneller zu lösen als die erste Generation. Der „Lernpe-
gel“ jeder Generation wird also offenbar irgendwie gespeichert und an
die nächste Generation weitergegeben, die dann gleich bei diesem höhe-
ren Niveau „einsteigt“. McDougall hat zunächst die Vererbungslehre
bemüht, um dieses Ergebnis zu erklären. Danach wären nicht nur Eigen-
schaften, sondern auch Lernerfolge vererbbar. Ehrgeizige Eltern müss-
ten für ihre noch nicht geborenen Kinder „vorarbeiten“ können.
Nach vielen amerikanischen Labyrinthrattengenerationen wird das
gleiche Experiment von McDougalls Kollegen in Australien wiederholt.
Die erste Generation australischer Labyrinthratten erreicht auf Anhieb
die Zeit der letzten amerikanischen Generation. Da gibt es nur zwei mög-

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184 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

liche Erklärungen: Entweder macht Australien intelligenter oder Verhal-


ten wird durch einen Mechanismus außerhalb von Vererbungsketten,
Trainingsprogrammen und dem unmittelbaren Vorbild übertragen.
Nehmen wir an, dass Australien doppelt so intelligent macht wie der
Rest der Welt und dass dies die doppelte Leistung – im Falle der Ratten
Labyrinthdurchschwimmgeschwindigkeit – bewirkt. Damit werden die
Australier zufrieden sein. Doch ihre Ratten sind nicht doppelt, sondern
zehnmal so pfiffig. Dass Australien zehnmal so intelligent macht, wer-
den die Australier selber nicht glauben. Also werden sämtliche Ratten
dieser Erde von einem neuronalen Feld „getragen“, das ihr Verhalten
steuert und in das die Entwicklung einzelner Rattenpopulationen ohne
räumliche Beschränkungen einfließt.
Haben Sie schon einmal einen Vogelschwarm am Himmel beobachtet?
Hunderte oder Tausende von Vögeln fliegen in die gleiche Richtung und
ändern plötzlich diese Richtung im Bruchteil einer Sekunde im identi-
schen Winkel. Zeitlupenfilme zeigen 50 000 Vögel, die in weniger als
einer siebzigstel Sekunde synchron abschwenken. Bei jedem solchen
Manöver bleiben einige Vögel „auf der Strecke“, machen den gemeinsa-
men Schwenk nicht mit, merken, dass sie nicht mehr zum Schwarm ge-
hören, flattern verzweifelt, um den Anschluss zu finden, den einige von
ihnen schaffen und andere nicht, die dann, wieder gemeinsam, einen
neuen kleinen Schwarm der zu spät Gekommenen bilden, der – frei nach
Michail Gorbatchow – vom Leben bestraft wird.
Haben Sie schon einmal einen Menschenschwarm beobachtet? Hun-
derte oder Tausende Teenager, die im Angesicht ihrer Idole von „Take
That“ die Besinnung verlieren; Hunderttausende ausgewachsener Män-
ner und Frauen, die unter den Augen ihres Führers „Sieg Heil“ schreien;
Horden von Randalierern, die ohne die Kontrolle durch ihr Bewusstsein
durch die Innenstadt trampeln und Schaufensterscheiben zertrümmern;
ein Saal voller Parteigänger, die nach der Rede ihres Helden in Begeiste-
rungsstürme ausbrechen; eine Menschenmenge von Fanatikern, die sich
durch ihre Parolen selbst in ein ekstatisches Hochgefühl hineinsteigert;
eine Zuschauertribüne bei einem Fußballänderspiel, wo die Fans sich
selbst vergessen und – endlich – der Sport die Fortsetzung des Krieges
mit anderen Mitteln ist?
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 185

Menschenschwärme, Vogelschwärme, Heuschreckenschwärme, Ter-


mitenschwärme, Fischschwärme, Delphinschwärme – alle Schwärme
verhalten sich wie Schleimpilze, eine Amöbenart, die als Einzelzeller
lebt, bei knapper Nahrung aber eine Chemikalie ausscheidet, die andere
Amöben veranlasst, sich zu versammeln und ihre synchronen Bewegun-
gen bis zu dem Punkt zu verstärken, wo ein zusammenhängendes Gebil-
de sich auf dem Waldboden fortbewegt. Schwärme verkörpern, wie Amö-
ben, individuelles und kollektives Verhalten zugleich.
Die Gleichartigkeit des Verhaltens wird bei Pflanzen chemisch gesteu-
ert, bei höheren Tieren und Menschen dagegen neuronal – und das heißt
chemisch und elektromagnetisch. Biochemische und neuronale Reaktio-
nen sind eingebettet in ein gattungs- oder artspezifisches Feld, das sämt-
liche Individuen umfasst, deren Neuronen – bei Lebewesen mit Gehirn-
funktionen – synchron schwingen.

Synchrone Schwingung in einem einheitlichen neuronalen Feld ist das


neurologische Korrelat von gelebter Harmonie, solidarischer Gemein-
schaft und emotionaler Zusammengehörigkeit.

Sind Sie schon einmal durch die Eingangstür eines Unternehmens ge-
gangen und haben sofort – noch bevor Ihnen der erste Mensch begegnet
ist – gespürt, dass Sie da nicht hingehören? Sind Sie schon einmal in
einen Laden, in ein Restaurant, in eine Galerie, in eine Kirche gekommen
und haben sofort gespürt, dass Sie hier gern bleiben möchten? Sind Sie
schon einmal in eine Stadt gekommen und haben sofort gewusst, dass
Sie hier nie wohnen könnten; oder auch dass Sie hier am liebsten bleiben
würden, wenn es sich nur einrichten ließe? Sind Sie schon einmal über
eine Landesgrenze gefahren und haben sofort gemerkt, dass Sie sich hier
wohl fühlen, eigentlich hier hingehören; oder umgekehrt, dass Sie, wenn
es nicht sein muss, in dieses Land nicht wieder fahren wollen? Sind Sie
schon einmal einem Menschen begegnet und haben „auf den ersten
Blick“ gesehen, dass Sie mit ihm „können“, dass die Zusammenarbeit
oder Verhandlung, die gemeinsame Reise oder Unternehmung angenehm
sein wird? Nalini Ambady und Robert Rosenthal haben nachgewiesen,
dass unser „erster Eindruck“ – unser intuitiver erster Blick nach nur 30
Sekunden – in 70 Prozent aller Fälle mit unserem Urteil nach sorgfälti-
ger Prüfung identisch ist.

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186 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

Es ist nie der erste Blick, und Ihre Augen sehen gar nichts. Ihre Neu-
ronen erkennen, dass die Neuronen des oder der anderen auf der glei-
chen Welle schwimmen oder dass die Schwingung in dem Raum, in dem
Menschen nicht sein müssen, Ihrer Eigenfrequenz entspricht; Sie sind in
ein Ihrer Eigenschwingung entsprechendes neuronales Feld eingetaucht
oder Sie sind von einem nicht kompatiblen neuronalen Feld abgestoßen
worden. Und diese Kraft ist stärker als Ihr Verstand, als Ihr Wille, als Sie
selbst.
Als rationaler Mensch können Sie die Kraft dieser Wellen bekämpfen.
Dazu benötigen Sie extreme Energie – wie jedes Schiff, das gegen starke
Strömung voranstampft und nach jedem „Schritt“ ein Bugwasser abfan-
gen muss, welches den Rumpf zuerst nach oben wölbt, danach, wie bei
einer Kraftprobe, mit der Nase nach unten presst und eintaucht, und
schließlich, wie aus Protest gegen solche Verachtung des göttlichen
Willens, an seinen Seiten gen Himmel spritzt, nach Hilfe schreiend für
den nächsten Schritt. Vielleicht schaffen Sie es.
Neuronale Führung aber ist anders: sie nutzt den Schwung der Welle
und lässt sich von ihr tragen; ohne Kampf, ohne Krampf, ohne Kraft. Dies
ist die Strategie des Delphins. Es ist eine Strategie feiner Antennen, die
die Feldschwingung empfängt, sie vielleicht moduliert, vielleicht aber
auch nicht, und in ihr „fährt“ – gemeinsam mit allen, die auch darin
„schwimmen“, die also synchron schwingen.
Wie entsteht synchrone Schwingung? Beginnen wir mit dem kleinsten
Nenner des Gleichklangs: dem zwischen zwei Menschen. Wissen Sie,
welche politische Partei Ihre Eltern wählen oder gewählt haben? 90 Pro-
zent der Ehepaare, die länger als zehn Jahre verheiratet sind, haben syn-
chrones Wahlverhalten. Wissen Sie noch, als Sie eine vielversprechende
Bekanntschaft gemacht haben, aus der eine Partnerschaft geworden ist
oder vielleicht noch werden könnte? Ist Ihre erste Frage die nach dem
Wahlverhalten gewesen, und haben Sie ihm oder ihr sofort den Rücken
zugekehrt, als dies mit Ihrer eigenen Parteienpräferenz nicht übereinge-
stimmt hat? So müsste es sein, wenn wir die spätere 90prozentige Über-
einstimmung beim Wahlverhalten, bei den Essens- und Trinkgewohnhei-
ten, beim Einrichtungsgeschmack und – schauen Sie sich die Photos
Ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern an – im Gesichtsausdruck rational
und repressionsfrei erklären wollen.
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 187

Das wollen wir aber nicht, weil es so nicht ist: Synchrone neuronale
Schwingungen zwischen zwei Menschen entstehen dadurch, dass sie
Zeit miteinander verbringen. Synchrone Schwingungen zwischen zehn,
hundert, tausend oder Millionen von Menschen entstehen auch dadurch,
dass sie Zeit miteinander verbringen.
Da wir mit Ratten, wenn es sich einrichten lässt, keine Zeit verbrin-
gen, entstehen zwischen ihnen und uns Menschen auch keine synchro-
nen Schwingungen. Bei Haustieren ist das schon anders und auch bei
Pflanzen, obwohl diese kein Gehirn haben. Peter Tompkins und Christo-
pher Bird (Vogel) – der Name soll wirklich Zufall sein – berichten, dass
nicht nur Mitarbeiter Resonanzkörper sind, sondern auch Pflanzen. Ein
an einen Philodendron angeschlossener Polygraph (Lügendetektor) hat
extrem ausgeschlagen, als der Eigentümer der Pflanze nur gedacht hat,
ob der Detektor wohl reagieren würde, wenn er ein Blatt der Pflanze mit
seinem Feuerzeug anzünden würde.
Neuronale Felder bilden sich auch innerhalb der Tierwelt zwischen
Arten, die miteinander leben und – obwohl man hier nicht mehr von Neu-
ronen sprechen kann – innerhalb von Pflanzengattungen. Bei Experi-
menten, die nach dem Philodendron-Ereignis durchgeführt worden sind,
vernichtet ein Forscher absichtlich eine von zwei identischen Pflanzen.
Anschließend nähern sich sechs verschiedene Labormitarbeiter der an
einen Polygraphen angeschlossenen überlebenden Pflanze; der „Killer“
der Schwesterpflanze ist einer von ihnen. Bei ihm zeigt der Pflanzen-
Polygraph jedesmal einen messbaren Ausschlag, bei den anderen rea-
giert er nicht. Pflanzen stoßen also „Hilfeschreie“ aus, mit denen sie
Angst signalisieren.
Neuronale und morphogenetische Felder bilden den „Raum“ für einen
evolutionären Entwicklungsverbund, der die Grenzen von Arten über-
schreiten kann. Blumen sind auf die Befruchtung durch Bienen einge-
richtet, die vom Nektar der Blumen leben. Koevolution heißt das in der
Biologie. Und Koevolution findet immer auch zwischen Menschen mit
ähnlichen neuronalen Schwingungen statt.
Wenn Sie in einem Team Koevolution wollen, müssen Sie die Leute
zusammenstecken. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, je geringer
die Außenkontakte sind und je homogener die Teamzusammensetzung

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188 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

schon zu Anfang ist, desto schneller und intensiver „schwingt“ das Team
synchron. Homogenität von Anfang an bedeutet, dass ein partieller
Gleichklang nicht erst entstehen muss, sondern schon vorhanden ist. Da
eine Zusammenarbeit unter solchen Vorzeichen angenehm ist, wird sie
leicht zum Selbstzweck. Manchmal ist der Gleichklang so stark, dass
sein Rhythmus das Unternehmen durcheinanderbringt, weil es nicht der
Unternehmensrhythmus ist, weil das Team seine eigenen Ziele verfolgt
und nicht die des Unternehmens. „Wenn Sie uns auseinander reißen,
kündigen wir alle gemeinsam.“ Wenn ein Teamleiter das sagt, haben Sie
eine Tretmine, die entschärft werden muss.

Wenn „kollektives Teambewusstsein“ und „kollektives Unterneh-


mensbewusstsein“ inkohärent sind, ist das Team ein Sprengsatz, der
für das Unternehmen gefährlich werden kann. Wenn kollektives Regio-
nalbewusstsein und kollektives Nationalbewusstsein inkohärent sind,
ist die Region ein Sprengsatz, der für die Nation gefährlich werden
kann. „Kohärenz“ ist in der Physik die Gleichschwingung von Wellen.

Interkulturelle Differenzen – nach Geert Hofstede verschiedene „kol-


lektive mentale Programmierungen“ – sind unterschiedliche neuronale
Schwingungsmuster, die durch Zusammensein, durch miteinander Le-
ben entstehen. Ein einheitlicher Lebensraum fordert und fördert homo-
gene Verhaltensmuster, indem er einheitliche Überlebensanforderungen
stellt. In großen, selbst einsprachigen Nationen mit geringer Mobilität,
wie zum Beispiel Deutschland, ergibt sich daraus eine ausgeprägte regio-
nale Differenzierung der Lebensgewohnheiten, Mentalitäten, Schwin-
gungen, die auch durch formal vereinheitlichte Regelungen nicht auf-
gehoben werden kann, wenn es sich nicht aus einem sich vereinheitli-
chenden Schwingungsfeld herauskristallisiert.
Das deutsche Bundesland Baden-Württemberg ist aus den beiden tra-
ditionellen Einheiten Baden und Württemberg zusammengesetzt, die
trotz ihrer unterschiedlichen Dialekte seit zwei Generationen einheitlich
regiert und verwaltet werden. Baden ist die Wiege der deutschen Demo-
kratie im 19. Jahrhundert. Wenn Sie in eine badische Behörde kommen,
werden Sie meistens „Was wolle Sie?“ gefragt. Im württembergischen
Landesteil dagegen klingen mit dem Vorwurf „Wolle Sie was?“ noch im-
mer monarchistische Traditionen durch.
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 189

Jeder Autofahrer kennt das Schild, das am Ende einer Einbahnstraße


anzeigt, dass Autos nur in der Gegenrichtung durch diese Straße fahren
dürfen. Dieses Verkehrsschild ist in allen Ländern, in denen ich Auto
gefahren bin, gleich. Als ich in Montevideo in der richtigen Richtung
durch eine Einbahnstraße fahre, kommt mir ein Auto entgegen. Ich betä-
tige die Lichthupe. Der entgegenkommende Autofahrer betätigt auch die
Lichthupe. Ich kurbele das Fenster herunter und halte an. Der andere
kurbelt auch das Fenster herunter und hält an. „Dies hier ist eine Ein-
bahnstraße“, sage ich. „Ich weiß“, bekomme ich zur Antwort. „Aber in
meine Richtung“, versuche ich aufzuklären.
„Ich weiß“, sagt der andere. Meine Fassungslosigkeit droht zu explo-
dieren: „Warum aber fahren Sie dann in der falschen Richtung?“ „Esta
calle está mal flechada; así es contra la costumbre de la gente“ (Die
Schilder in dieser Straße sind falsch aufgestellt; so ist das gegen die
Gewohnheit der Leute), muss ich mich belehren lassen.
In einem einheitlichen Feld fühlen sich die Einzelwesen, die darin
sind – in unserem Fall Menschen – zusammengehörig. Dieses Zusammen-
gehörigkeitsgefühl bildet eine höhere Schwingung, die die Unterschiede
der „Subkulturen“ überlagert und so das Ganze erhöht. Afroamerikaner,
Angloamerikaner, Latinoamerikaner und asiatische Amerikaner in den
Vereinigten Staaten fühlen sich zuerst als Bewohner ihres Landes und
danach als Angehörige einer bestimmten ethnischen Gruppe. Die Hete-
rogenität in einem großen, einheitlichen Wirtschaftsraum gibt dem Land
seine innovative Dynamik.
Die Vegetation des tropischen Regenwalds ist schöner als eine Gras-
steppe. Eine Melodie ist schöner als ein einziger Ton. Ein Werk Chagalls
ist schöner als eine uniweiße Wand. Ein vereinheitlichtes, aber hetero-
genes Schwingungsfeld ist vielseitiger und lebendiger, reicher und üppi-
ger, sensibler und robuster als ein homogenes.
Wenn wir zwei gattungsgleiche Protozoen (einzellige Lebewesen) zu-
sammen in ein Reagenzglas tun und mit Nahrung versorgen, überleben
sie nicht. Wenn wir zwei gattungsungleiche Protozoen zusammen in ein
Reagenzglas tun und mit Nahrung versorgen, überleben sie. Wegen der
vermehrten Kombinationsmöglichkeiten bietet Vielfalt Entwicklungs-
möglichkeiten und damit Überlebenschancen, die unter homogenen

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190 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

Bedingungen unmöglich sind. Je größer die Vielfalt in einem einheitli-


chen neuronalen Feld, desto größer, reicher und vielfältiger sind die
Zukunftschancen. Die 100 Tier- und Pflanzenarten, die täglich auf der
Erde aussterben, reduzieren die Heterogenität, Robustheit und Anpas-
sungsfähigkeit des Lebens auf unserem Planeten.
Die heterogene Zusammensetzung eines Teams fördert die Kreativi-
tät. Wenn die Heterogenität sich auf möglichst viele Merkmale bezieht –
Alter, Rasse, Religion, Temperament, Geschlecht, Ausbildung, Erfah-
rung, Betriebszugehörigkeit – ist die Kreativität maximal. Heterogenität,
die funktioniert, ist um ein Vielfaches fruchtbarer als Homogenität; aber
sie ist auch anstrengend. Und interkulturelle Manager wissen das.
Sobald es der Europäischen Union mit ihrer großen Zahl von Traditio-
nen, Mentalitäten und Sprachen gelingt, aus ihrer Vielfalt nicht einen
faden Eintopf zu administrieren, aus dem man die Unterschiede nicht
mehr herausschmeckt, sondern sie zu einem prächtigen, blühenden,
bunten Strauß zu binden, der erst als Ganzes betörend duftet und
strahlt, erwächst aus dieser Vielfalt Kraft, Freude und Vitalität. Ein
Sprichwort der deutschen Sprache sagt, dass „viele Köche den Brei ver-
derben“. Das stimmt, wenn die Köche gegeneinander arbeiten. Aus sol-
chen Vorgaben ist das autoritäre Führungsmodell und das totalitäre
Staatsmodell entstanden. In einem bunten Europa, das von einer einheit-
lichen höheren Schwingung überlagert wird und sich zusammengehörig
fühlt, wird das deutsche Sprichwort durch ein spanisches ersetzt, das die
familiären Strukturen der Südeuropäer anders – tragfähiger – prägt als
die der Mitteleuropäer: „Cuatro ojos ven más que dos“ (Vier Augen sehen
mehr als zwei).
Als nach dem Beitritt Schwedens und Finnlands zur Europäischen
Union zusammen mit Dänemark drei skandinavische Länder Vertreter in
die Brüsseler Kommission entsenden, werden erstmals seit Bestehen
dieser Gemeinschaft von ihren Ländern benannte Kommissions-
mitglieder vom Europäischen Parlament nicht bestätigt – skandina-
vische Vertreter. Das bis dahin von mediterraner Selbstdarstellungs-
kunst dominierte Europa hat die skandinavische Offenheit nicht
gekannt und die Auskunft „das weiß ich nicht“ in der Befragung durch
die Abgeordneten nicht als Aufforderung zu einem ehrlichen Gespräch
interpretiert, sondern als Inkompetenz.
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 191

Jedes Volk in Europa hat seine Stärken. Die Improvisationsgabe der


Italiener, die Brillanz der Franzosen, der Pragmatismus der Briten, die
Verbindlichkeit der Portugiesen, die Aufrichtigkeit der Finnen, der Per-
fektionismus der Deutschen, die Offenheit der Holländer, die Über-
schwenglichkeit der Griechen, die Solidarität der Schweden, die Beharr-
lichkeit der Dänen, die Kompromissfähigkeit der Belgier und Luxem-
burger, die Grundsätzlichkeit der Spanier, die Tiefgründigkeit der Iren,
der Charme der Österreicher – dies alles ergibt, wenn es erhalten bleibt
und zusammenwächst, ein starkes Orchester.
Und wenn es gut spielt, kann es der gesamten Menschheit als Modell
dienen und jeden Bürger dieser Welt zu jemandem entwickeln, dessen
erste und vorrangige Identität die eines Weltbürgers ist; dessen zweite,
nachrangige Identität die des Mitglieds einer ethnischen Gruppe oder
eines Volkes ist – was sich nicht mehr durch Nationen oder Staaten ma-
nifestieren muss – und dessen dritte Schwingungs- und Identitätsebene
die des Mitarbeiters in einem Unternehmen oder des Bürgers in einer
Gemeinde ist.
Noch ist es oft umgekehrt. Ein Balinese ist zuerst Balinese, dann In-
donesier, dann Asiate. Ein Ewe ist zuerst Ewe, dann Ghanaer, dann Afri-
kaner. Ein Schotte ist zuerst Schotte, dann Brite, dann Europäer. Die
einzigen großen Staaten, die die primäre Identifikation ihrer Bewohner
auf sich ziehen, sind die drei großen gemischtrassigen Modelle: Brasili-
en, die Vereinigten Staaten von Amerika und Südafrika.
Alle aber übersehen sie gleichermaßen, was Edgar Mitchell bewegt, als
er unseren wunderschönen blauen Planeten an einem dunklen schwarzen
Himmel vom Mond aus über sich strahlen sieht: „Dieser harmonisch und
friedlich wirkende Himmelskörper gibt mir ein starkes Heimatgefühl, ein
Gefühl des Seins und Einsseins; unmittelbares Weltbewusstsein möchte
ich es nennen. Und wenn du zurückkommst, fühlst du dich nicht mehr als
Bürger der Vereinigten Staaten, sondern als Bürger der Erde.“ Russell
Schweikart drückt es so aus: „Dir wird klar, auf diesem kleinen Ding dort
befindet sich alles, was dir etwas bedeutet, alles, was es gibt an Geschich-
te und Musik, Dichtung und Kunst, Tod, Geburt und Liebe, Tränen, Freu-
den und Spielen – alles auf der winzigen Kugel dort. Du erkennst, dass du
ein Stück davon bist, dass du dazugehörst. Dieses Erlebnis ändert dein
Verhältnis zur Erde und zu allen Formen von Leben auf ihr.“

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192 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

Weltraumerlebnisse verwandeln Identität und schaffen eine neue De-


finition von „zu Hause“. Das einheitliche neuronale Feld der irdischen
Humanität ist auf dem Mond entstanden und breitet sich seitdem lang-
sam aber spürbar als hochfrequenter Schleier über die Erde. Distanz
läutert. Der Blick von außen klärt vieles. Mahatma Gandhi bewirkt die
Befreiung Indiens von Afrika aus – in Gedanken. Charles de Gaulle be-
wirkt die Lösung Frankreichs von Algerien von England aus – in Gedan-
ken. Nelson Mandela bewirkt die innere Einigung Südafrikas vom Ge-
fängnis aus – in Gedanken. Dass Helden im Exil durch ein einheitliches
neuronales Feld mit ihrer heimatlichen Gemeinschaft gestärkt werden,
ist ein wiederkehrendes Muster in der Geschichte.
Das „Eintauchen“ in ein größeres, höherfrequentes Schwingungsfeld
setzt voraus, dass das individuelle Schwingungsfeld nicht so dominant,
so laut, so schrill ist, dass darüber nichts anderes bestehen kann. Schril-
le Frequenzen sind nicht integrierbar. Nähe allein begründet kein ein-
heitliches Schwingungsfeld, sondern erst das gemeinsame Verbringen
von Zeit, die gemeinsame Aktivität, die gemeinsame Aufgabe.

Ein Nebeneinander bei Heterogenität ist eine subtile Balance, die sich
gern zum Miteinander neigt, aber auch leicht zum Gegeneinander.

Nähe ohne Gemeinsamkeit betont Schwingungsdifferenzen, hebt sie


hervor, kann sie unerträglich machen. Unverständnis und Rivalitäten
zwischen Volks-, Sprach- und Religionsgruppen, Rassen, benachbarten
„Erzfeinden“, Nachbarregionen und -gemeinden, sozialen Klassen, ver-
schiedenen Bildungsschichten, Berufs- oder Freizeitgruppen, politischen
Parteien, Fraktionen, Belegschaften, Abteilungen, Familien mit anderen
Traditionen und Generationen mit anderem Selbstverständnis belegen
dies. „Die meisten von euch sind daran gewöhnt, ihren Hass gegen jene
zu richten, die in eurer Nähe sind“, begründet der jugoslawische Arzt
Max Löwenfeld seine Auswanderung nach Frankreich in einem Brief an
einen Freund in Sarajewo im Jahre 1920.
Miteinander bei Heterogenität und interkultureller Gärung ist die Er-
folgsformel für Staatengemeinschaften und für Unternehmen. Wenn
zwei Menschen von Anfang an gleicher Meinung sind, hat einer der bei-
den die alleinige Funktion, das Ego des anderen zu stärken. Wer solche
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 193

Verstärkung braucht, ist ein Minderwicht. Deshalb ist in einem Team


einer von zwei Homogenzlern überflüssig.
Ein Team kann ich zusammensperren, meist aber keine ganze Beleg-
schaft. Wie erreiche ich da heterogenes Miteinander? Die Psychologie
hat entdeckt, dass es Distanzzonen gibt. Deren verhaltensbiologische
Wurzel ist das Revier, in das, wenn es meines ist, Fremde nicht ohne
meine Erlaubnis eindringen dürfen. Wenn sie es doch tun, ist es eine
Kampfansage. Unser heutiges Revier ist unser Zimmer, unsere Woh-
nung, unser Garten, unser Arbeitsplatz.
Will ein Fremder in mein Revier eindringen, dann muss er sich zuvor
meine Erlaubnis holen. Wenn ein Fremder ungebeten in Ihre Wohnung
kommt, dann rufen Sie die Polizei. Und wenn er sich Ihnen auf 20 Zenti-
meter nähert, schreien Sie um Hilfe. Er ist in Ihre Intimzone eingedrun-
gen. So schön das ist, wenn die es tun, mit denen wir gerne intim sind, so
schrecklich ist es, wenn andere sich dazu erdreisten. „Den Königen er-
laubt die Gottheit leicht, was sie bei Lumpen nur abscheulich findet“,
sagt Edgar Allan Poe dazu.
So wie für Intimitäten, gibt es auch für Arbeitsbesprechungen, für
Konferenzen und für Tagungen optimale Teilnehmerzahlen und op-
timale Distanzzonen. Wo diese missachtet werden – besonders häufig im
politischen Betrieb –, muss die Veranstaltung zur effektlosen Show ent-
arten. Dies ist neben der Bürokratie ein weiterer Grund für die Ineffi-
zienz der meisten internationalen Organisationen.
Gewiss sind Sie schon oft mit anderen Leuten in einem Aufzug gefah-
ren. Starre Blicke nageln sich an die Decke oder durchbohren den Boden;
die anderen in der engen Kabine evaporieren (lösen sich in Luft auf) und
existieren nicht mehr; die Atmosphäre erklirrt vor eisigem Schweigen.
Endlich öffnet sich die Tür, alles drängt hinaus, erhellt den Blick, atmet
erleichtert durch und setzt sein munteres Geplauder fort. Aufzüge sind
kommunikative Gefrierschränke, weil Menschen, mit denen Sie nicht
intim sind, in Ihre Intimzone eindringen. Und damit ganz klar bleibt,
dass das nichts zu bedeuten hat, vereisen Sie die Beziehungen für diese
Zeit; das heißt, sie reduzieren Ihre Frequenz, Ihre Energie, Ihre Attrakti-
vität. Niedere Frequenzen entsprechen negativen Gedanken, Einstellun-
gen, Stimmungen.

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194 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

Damit finden die meisten nicht geplanten informellen Begegnungen


im Unternehmen auf vereistem Gelände statt, obwohl sie als Schmier-
stoff, wenn es quietscht, als Dämmstoff, wenn es klemmt oder als Gär-
stoff, wenn es stockt, von größerer Innovationskraft sind als alle Schil-
der mit Qualitätsslogans, als alle professionellen Kommunikationstech-
niken, als alle effizient geplanten und straff moderierten Besprechungen
zusammen. Reißen Sie Ihre Aufzüge heraus und bauen Sie Rolltreppen
ein. Das bringt den gleichen Effekt wie ein Betriebsausflug in jedem
Monat.
Jeff S. Wyles, Allan C. Wilson und Joseph G. Kunkel beweisen es: Sing-
vögel sind, gemessen an ihrem relativen Gehirngewicht, die intelligen-
testen Tiere. Eine neukaledonische Krähenart bastelt standardisiertes
sägeförmiges Arbeitsgerät, was der Entwicklungsstufe der Menschen der
frühen Altsteinzeit entspricht. Vögel haben sich erst seit 70 Millionen
Jahren entwickelt. Die Säuger haben einen vielfach längeren „Vorlauf“
gehabt und vielfach mehr Generationen ausprobieren können, was funk-
tioniert und was nicht. Was haben die Vögel den Säugern voraus, dass sie
sich so viel schneller entwickeln?
Der englische Landwirt Arthur Picton ist nicht gut auf sie zu spre-
chen. Er deckt die Kannen, in denen er die Milch seiner Kühe verkauft,
mit Aluminiumfolie ab und stellt sie an den Straßenrand, wo ein Molke-
reifahrzeug sie abholt. Immer wieder erlebt er, wie Vögel die Deckel
durchpicken und von der Milch trinken. Wenn es danach regnet, verwäs-
sert die Milch. Die Biochemiker wundern sich, dass Vögel Milch verdau-
en können, fehlen ihrer Darmflora doch die Enzyme, die Lactose (Milch-
zucker) abbauen. Deshalb fangen sie ein paar dieser Vögel ein, um die
Sache zu erforschen.
Auch der Darmflora des Menschen fehlen nach dem Säuglingsalter
ursprünglich die Enzyme, die Lactose abbauen. Als aber vor 10 000 Jah-
ren einige Völker in Nordeuropa und Afrika mit der Viehzucht beginnen
und nicht nur das Fleisch, sondern auch die Milch der Tiere verwerten,
entwickelt die Darmflora dieser Völker – nur dieser – die dazu erforderli-
chen Fermente. Die Darmanalyse bei Vögeln der britischen Insel bringt
nun ein erstaunliches Ergebnis. Die Darmschleimhaut aller untersuch-
ten Meisen hat innerhalb weniger Jahrzehnte die genetische Mutation
vollbracht, für die die Milchtrinker unter den Menschen Jahrhunderte
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 195

oder Jahrtausende gebraucht haben. Aber in der Darmschleimhaut kei-


ner der untersuchten Sperlinge konnte ein Ferment zum Abbau von
Lactose nachgewiesen werden.
Arthur Picton hat nun den Unterschied zwischen Meisen und Sper-
lingen studieren müssen, sich mit dem Fernglas auf die Lauer gelegt und
den Forschern berichtet: „Mal sind die Milchräuber Meisen, mal sind es
Buchfinken – eine Sperlingsgattung.“ Einen von Pictons Buchfinken
einzufangen ist nicht gelungen. Aber der Unterschied zwischen beiden
Vogelarten enthält die Lösung des Rätsels. Buchfinken sind Reviervögel,
Meisen haben kein Revier, sondern fliegen in neugierigen kleinen Grup-
pen überall herum und schauen, wo es etwas „zu holen“ gibt.
In der Zoologie ist ein Revier ein begrenztes Gebiet innerhalb des art-
spezifischen Lebensraums, welches das Tier als eigenes Territorium
betrachtet, markiert und verteidigt. Die Anwesenheit eines Revierbe-
sitzers schließt die Anwesenheit artgleicher Konkurrenten aus. Wer sein
eigenes Revier besetzt hält, wird dadurch daran gehindert, sich in frem-
den Revieren herumzutreiben. Arthur Pictons Buchfinken haben seine
Milchkannen genauso zu knacken gelernt wie seine Meisen. Das Wissen
seiner Buchfinken ist als Herrschaftswissen in ihrem Revier geblieben.
Das Wissen seiner Meisen hat sich innerhalb kurzer Zeit über die ganze
britische Insel verbreitet; Millionen von Meisen haben davon profitiert
und dadurch ihre Population im Vergleich zu den Buchfinken vertau-
sendfachen können.

In turbulenten Zeiten haben nur solche Systeme Überlebenschancen,


bei denen jedes Element des Ganzen Veränderungen schnell aufnimmt
und verarbeitet, kreative Konsequenzen daraus zieht und diese mit der
Gemeinschaft abstimmt.

Eine schnelle Aufnahme und Verarbeitung von Veränderungen und


ihre Abstimmung setzt voraus, dass die Empfangsfrequenz der Sen-
defrequenz entspricht. Unser Körper zum Beispiel erfüllt diese Vor-
aussetzung. Eine Hautverletzung ist augenblicklich dem ganzen Körper
bekannt, und alle Subsysteme reagieren blitzartig mit angemessenen
Konsequenzen.

ȱ
196 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

In unseren Unternehmen steht das Wissen einer beliebigen Zelle


nicht sofort dem gesamten Organismus zur Verfügung, weil Informatio-
nen nicht auf den Frequenzen verbreitet werden, auf die die Empfänger
eingestellt sind und weil Störsender die Botschaften verzerren. Reso-
nanz setzt voraus, dass Sender und Empfänger sich aufeinander einstel-
len, sich aufeinanderzubewegen. „Bewegung ist das zentrale Konzept des
Lebens; Lebewesen erschließen sich ihr Umfeld durch Bewegung“, sagt
Francisco Varela; sie verbreiten ihre Schwingungsfrequenz und erleben
andere Frequenzen durch Bewegung.
Die Chaos-Theorie kennt den Begriff der „dissipativen Struktur“. Dis-
sipation ist Auseinanderfallen, Struktur ist Zusammenhalt. Eine dissi-
pative Struktur integriert ständig Strömungen und Einflüsse ihres Um-
felds und sichert so ihre Existenz.

Netzwerke kleiner überschaubarer Gruppen, die sich aufeinander „ein-


schwingen“, sind dissipative Strukturen; sie sind das Organi-
sationsmodell der Zukunft. Die Menschen in den Gruppen sind Reso-
nanzkörper; sie schwingen – wie Stimmgabeln – wenn sie in ihrer
Frequenz angesprochen werden.

Wir Menschen verteidigen seit unseren Anfängen in der Steinzeit un-


ser Revier wie die Buchfinken. Die organisatorischen Trennwände in
unseren Unternehmen sind solche steinzeitlichen Relikte. Wenn wir das
nicht ändern, werden die Meisen mit ihrem ohnehin höheren Entwick-
lungstempo uns eines Tages überholen und uns dann als ihnen fast
ebenbürtige Arbeitstiere gut einzusetzen wissen. Für die Gescheiten
unter uns ist das nicht tragisch – die werden dann wohl als Meisen wie-
dergeboren, Resonanz statt Aktion schaffen und Milliarden von Stimm-
gabeln schwingen lassen.
PRAXISBEISPIEL 8: Coaching Implementation 197

PRAXISBEISPIEL 8: Coaching Implementation


Das Coaching in dieser Phase vermittelt die Erkenntnis, dass das eige-
ne Umfeld das eigene Selbst spiegelt, dass wir selbst wachsen und uns
entwickeln müssen, wenn unser Umfeld uns nicht gefällt. Indem die
Teilnehmer die Freiheit entdecken, das zu tun, werden sie zu kraftvollen
Menschen, die nicht mehr von Umständen getrieben werden, sondern
die die Umstände gestalten, in denen sie leben und arbeiten. Die Mit-
glieder des Resonanzteams lernen, sich selbst nicht mehr als Opfer von
Umständen zu sehen, sondern als Ursache für alles, was ihnen zustößt
und für alles, was um sie herum geschieht – sie lernen, „Resonanzkör-
per“ zu werden.
Die Strukturen der Pannen und Hürden, die den Einzelnen bei seinen
Aktionen behindern, werden herausgearbeitet. Daraus werden Lek-
tionen für das weitere Vorgehen abgeleitet. Dabei zeigt sich auch, dass
diejenigen, die keine Pannen und Hürden erlebt haben – bei denen alles
„glatt“ gelaufen ist – bei ihren selbstgewählten Zielen und Aufgaben
und den daraus abgeleiteten Ergebnissen unter ihrem Potenzial und
unter ihren Möglichkeiten geblieben sind.
Krisen sind die Hebammen der Entwicklung. Wer sich bescheidene
Ziele setzt, wird auf dem Weg dorthin keine Krise erleben, sich aber
auch nicht entwickeln. Weil das nicht der Sinn der Resonanzlehre ist,
werden die Ziele von zwei Projekten, bei denen alles allzu reibungslos
klappt, in einem Fall erweitert und vergrößert und in einem anderen Fall
ganz neu vereinbart.
So wie ein Dirigent eine Symphonie aus einem Orchester „heraus-
holt“, sieht der Coach die Größe jedes einzelnen Teammitglieds und
bringt sie in ihm hervor. Weil er jeden als großartig ansieht, traut er
ihm auch außergewöhnliche Ergebnisse zu. Ergebnisse setzen voraus,
dass die übernommenen Aufgaben und Projekte bis zum Ende erledigt
werden – über alle Niederlagen und Widerstände hinweg.

ȱ
198 Mitarbeiter sind Resonanzkörper

Viele Mitarbeiter des Geschäftsbereichs glauben, dass sie zu viel ar-


beiten müssen. Die Coachingsitzungen bestätigen aber eine Erkenntnis
der Evolutionsbiologie: Der Mensch ist auf Anstrengung programmiert
und nicht auf das Schlaraffenland. Die deutschen Mitglieder im Team
verbinden Leistung mit Anstrengung. Die französischen Resonanz-
schmiede verbinden Ergebnisse mit Lust. In der gemeinsamen Arbeit
erleben beide Seiten, dass Lust ohne Anstrengung schal und Anstren-
gung ohne Lust frustrierend ist. Erst die Einheit von Anstrengung und
Lust ermöglicht Leistung. Die Lösung eines Problems, die Bewältigung
einer Aufgabe oder Gefahr ist immer auch mit Lust verbunden.
In der sich jetzt entwickelnden neuen, binationalen Unternehmens-
kultur verbinden sich Lust und Anstrengung. Aus der Lösung von Prob-
lemen, dem Meistern von Risiken und dem Verwandeln von Unsicher-
heit in Sicherheit entsteht ein gesteigertes Hochgefühl, ein Aufgehen
in einer Tätigkeit oder Aufgabe – das, was Milhaly Csikszentmihalyi
„Flow“ nennt. Die Teilnehmer erreichen ihre Ziele schneller und wirk-
samer. Alles wird plötzlich möglich – auch was zuvor noch unmöglich
erschienen ist. Dabei werden nicht alte Wunden geleckt, sondern losge-
löst von vergangenen Beschränkungen die Bausteine für eine große
Zukunft des gemeinsamen Unternehmens bearbeitet.
Die Resonanzlehre vermittelt das Handwerkzeug, die Sensibilität
und die Energie, die notwendig sind, um eigene Probleme ohne fremde
Hilfe zu lösen. Das Programm der ohm-Resonanzschmiede mobilisiert
die unternehmenseigenen Kräfte und Potenziale, die die Akquisition
zum Erfolg werden lassen.
Für den Fall, dass die Übereinstimmung zwischen dem deutschen
Geschäftsbereich und dem französischen Mutterhaus über die ge-
meinsame Zukunft aufgeweicht wird, ist ein Follow-up-Coaching ver-
einbart. Übereinstimmung verstärkt die Realität ebenso wie Wi-
derstand. Deshalb kann es sinnvoll sein, dass die Resonanzschmiede
auf beiden Seiten von einem Coach der ohm-Resonanzschmiede befris-
tet auch noch nach Abschluss des Programms unterstützt werden.

Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 199

9 Unternehmer sind
Neuronenkraftwerke
Die Zeichnungen haben sie geliefert. Toleranzen und Spezifikationen
haben sie vorgegeben. Liefermengen und -daten wollen sie mitteilen, wie
es ihnen passt. Lieferkonditionen und Preise haben sie diktiert. Und
zwei Möglichkeiten haben sie offen gelassen: „Entweder Sie unter-
schreiben diesen Vertrag, oder Sie unterschreiben keinen Vertrag.“ Der
Rahmenvertrag beschert dem Unternehmen trotz einer harten Rationali-
sierungskur einen ordentlichen Verlust. Wolf Veyhl ist im Würgegriff
seiner großen Kunden. Er führt sein Unternehmen weiter, um die Ar-
beitsplätze seiner Mitarbeiter zu erhalten.
„Wir müssen die Abhängigkeit umkehren;“ das ist sein Traum, als er
in einem Workshop mit seiner Führungsmannschaft berät, wie es wei-
tergehen soll. „Das ist doch ganz und gar unmöglich“, lautet der Ein-
wand, der schwer zu widerlegen ist. „Es gibt Dutzende von Alternativen
zu uns in Ländern, wo die Kosten niedriger sind“, ergänzt der Leiter des
Rechnungswesens, „Zulieferer können die Bedingungen nie diktieren.“
Ich kann ihn mit einer Parabel verunsichern: Ein Fisch fragt die
Schildkröte: „Erzähl mir, wie es auf dem Land ist. Ist es dort sehr salzig?“
„Nein“, antwortet die Schildkröte, „dort ist es überhaupt nicht salzig.“
„Sind da starke Strömungen?“, fragt der Fisch weiter. „Nein“, sagt die
Schildkröte, „da sind gar keine Strömungen.“ „Gibt es Riesenfische?“,
möchte der Fisch wissen. „Nein“, lautet die Auskunft der Schildkröte,
„dort gibt es überhaupt keine Fische.“ „Schwimmen die Landtiere schnel-
ler?“, wundert sich der Fisch. „Nein“, belehrt die Schildkröte, „Landtiere
schwimmen überhaupt nicht.“ „Kann ich da tief tauchen?“, fragt der
Fisch weiter. Die Schildkröte muss ihn wieder enttäuschen: „Nein, da
kannst du überhaupt nicht tauchen.“ Der Fisch weiter: „Ist es auf Grund
dort auch immer dunkel?“ „An Land gibt es keinen Grund“, sagt die
Schildkröte. „Sieht man dort auch manchmal Schiffsrümpfe über sich?“,
fragt der Fisch. „An Land sieht man keine Schiffsrümpfe“, sagt die
Schildkröte. „Sinken die dort immer gleich in die Tiefe?“, wundert sich
der Fisch. „An Land kann nichts in die Tiefe sinken“, erklärt die Schild-

ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_9,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
200 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

kröte. „Überschlagen sich die Wellen dort oft?“, fragt der Fisch nun. „An
Land gibt es gar keine Wellen“, antwortet die Schildkröte. „Ist das Meer
dort immer ruhig?“, wundert sich der Fisch. „An Land gibt es auch kein
Meer“, sagt die Schildkröte. Endlich versteht der Fisch, was das ist, wo-
von ihm die Schildkröte erzählt – das, wo es nichts von dem gibt, was ist.
„Das Land“, sagt er, „das gibt es überhaupt nicht.“
„Wenn es das nicht gibt, müssen wir es erfinden“, sagt Wolf Veyhl,
„ich weiß nicht, wie es gehen soll, aber ich will es, und deshalb wird es
gehen.“ In zwei langen Brainstormings mit seinem Führungskreis darf
die Frage, ob es geht, nicht gestellt werden. Alle Äußerungen müssen
dazu beitragen, wie es gehen kann, muss und wird. Am Ende steht das
Konzept. Veyhl besucht seine großen Kunden und gewinnt die meisten
dafür, zu einer „Zukunftswoche“ in sein Werk zu kommen, um gemein-
sam ein Zukunftsprodukt zu entwickeln.
Die Experten verstehen ihr Handwerk. Die Synergie zwischen ihnen
bringt rasche Ergebnisse. Nach dem ersten Tag hängt das Produkt der
Zukunft als Skizze auf einer Packpapierbahn an der Wand. Einige wollen
abreisen, werden aber an ihr Versprechen erinnert, eine Woche zu blei-
ben; ein Festessen am Abend und eine „große Überraschung“ am nächs-
ten Tag halten sie fest.
Als die Gäste am nächsten Morgen in den Besprechungsraum treten,
ist es wie bei einem Kindergeburtstag: „Toll!“, „Ja, aber!“, „Nein!“, „Un-
glaublich!“, „Großartig!“, „Wunderbar!“, „Wahnsinn!“, „Wow!“, können
sie sich kaum beruhigen. Da steht das Produkt der Zukunft in voller
Pracht und Größe – zwei Kubikmeter aus Metall, Kunststoff und Glas
perfekt gearbeitet. Sofort beginnen die Herren mit dem, was alle mit
einem großen, neuen Spielzeug tun: sie fassen es an, setzen sich davor
und dahinter, kriechen darunter, kippen es um, prüfen Details, nehmen
es auseinander, setzen es wieder zusammen. Auch für Experten ist zwi-
schen Zeichnung und Prototyp ein großer Unterschied. Allen macht es
einen Riesenspaß, den ganzen Tag lang die Konstruktion zu verbessern,
bis sie am Abend auf Papier makellos erscheint.
Beim Festessen des zweiten Abends bekommen einige ein schlechtes
Gewissen und möchten die Techniker dazu einladen. Aber die haben
keine Zeit. Diesmal ist es keine Überraschung mehr; aber auch Vorfreude
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 201

ist schön. Niemand will jetzt vorzeitig abreisen. Die Perfektionierung


des zweiten Prototyps am nächsten Tag zeigt, dass ein einziges Modell
nicht den gesamten Markt abdecken kann, und so bilden sich zwei Ent-
wicklungsgruppen – für eine Standardausführung und für eine Luxus-
ausführung –, die beide am Ende der Woche fertig sind und alle Anforde-
rungen und bereits sichtbaren Trends berücksichtigen.
Wo werden die Einkaufs- und Entwicklungschefs, die dort versammelt
gewesen sind, nach dieser Woche wohl die Zwischenerzeugnisse für ihr
Endprodukt beschaffen? Natürlich werden sie ihre Modelle haben wol-
len; die, die sie selbst entwickelt haben und die alle Merkmale aufweisen,
die sie sich wünschen. Und natürlich werden sie, weil sie zu dieser groß-
artigen Umsatzausweitung ihres Kunden kräftig beigetragen haben,
Preisnachlässe haben wollen. Preiszugeständnisse erhalten sie auch –
gegen das Versprechen, im nächsten Jahr zu einer weiteren Zukunftswo-
che in das Werk ihres Kunden zu kommen. „Ist die Zukunft schon vor-
bei?“, fragt einer. „Die geht erst richtig los, das nächste Mal mit noch
größeren Überraschungen“, antwortet Veyhl.
Damit hat niemand gerechnet. Als die Runde ein Jahr später in das
Besprechungszimmer tritt, steht kein neues Modell in der Mitte, sondern
die Wände sind mit Packpapierbahnen voller Zahlen behängt – mit der
Kalkulation von Wolf Veyhl für alle gelieferten Zwischenprodukte und
mit seinem Gewinn bei jedem Produkt. „Wenn Sie mir den lassen, abso-
lut und in Prozent vom Umsatz“, erklärt er seinen verdutzten Zuhörern,
„dann können Sie jetzt hier im Hause treiben, was Sie wollen; alle Kos-
tensenkungen, die Sie möglich machen, werde ich im Preis an Sie wei-
tergeben.“ Einige der Gäste telefonieren gleich Verstärkung herbei, und
was folgt, ist die beste und billigste Betriebsberatung, die sich denken
lässt. Was aus den Preissenkungen folgt, die sich daraus ergeben, ist
leicht zu sehen: Wolf Veyhl wird faktisch Monopolist. In den Wertschöp-
fungspartnerschaften mit seinen Großkunden hat sich die Abhängigkeit
umgekehrt.
„Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht. Wer sich nicht selbst
befiehlt, bleibt stets ein Knecht. Wer sein selbst Meister ist und sich
beherrschen kann, dem ist die weite Welt und alles untertan“, sagt Goe-
the dazu. Was aber ist es, das die weite Welt dem Willen des Herrn Veyhl
untertan werden lässt? Wie kann er sich selbst befehlen, die Gesetze des

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202 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

Marktes umzukrempeln? Wie kann er seinen Markt seinem Willen un-


terwerfen?
Nach dem noch immer vorherrschenden Ursache-Wirkungs-Paradig-
ma der Physik ist der tatsächliche Lauf der Dinge die Folge von Zufalls-
ereignissen, welche mit naturgesetzlichen Mechanismen aus gegebenen
Anfangsbedingungen das auswählen, was Realität wird. Dass ein Herr
Veyhl die Wirkung festlegt und dann den Lauf der Dinge so gestaltet,
dass die von ihm gewollte Wirkung auch eintritt, darf es danach nicht
geben. Sein Wille kann allenfalls Zufallsgenerator spielen, also das tun,
was eine spezielle Apparatur oder Software eine Ziffernreihe generieren
lässt, bei der jede Ziffer unseres Zahlensystems mit der gleichen Wahr-
scheinlichkeit erscheint. Der Kosmos – ein gigantisches Lottounternehmen.
Das kollektive neuronale Feld, das die Sprache und das Denken
schafft, weist mit dem Begriff „Wahrscheinlichkeit“ auf das, was wahr
ist. Wahr-schein-lich ist nur der Schein der Wahrheit, also der Irrtum Die
Wahrheit liegt hinter der Grenze, bis zu der die Wahrnehmung unserer
Sinne, unserer Instrumente und unseres Intellekts reicht. „Wir Kaufleu-
te rechnen nicht, wie Sie vielleicht glauben könnten“, sagt Emil Rathe-
nau, „sondern wir lernen, unsere wirklich erfolgreichen Einfälle als et-
was zu betrachten, das jeder Berechnung spottet.“
Unser heutiges physikalisches Weltbild, das unfertig ist wie jedes sei-
ner Vorgänger, geht davon aus, dass die Zeitachse in zwei Richtungen
zeigt. In der einen Richtung wird es immer einfacher, in der anderen
immer komplexer. Die Richtung zu größerer Einfachheit nennen wir
Vergangenheit, die Richtung zu größerer Komplexität nennen wir Zu-
kunft. Unsere Zeit hat vor 10 bis 15 Milliarden – also vor mehr als 1010 –
Jahren mit dem Urknall begonnen. Seit ihrer Entstehung fliegen die
Galaxienhaufen unseres Universums explosionsartig auseinander. Der
Anfangszustand, bei dem die gesamte universale Energie und Masse in
einem Punkt konzentriert ist, ist sehr einfach. Heute, wo allein unsere
Galaxie etwa 100 Milliarden Sonnen umfasst und wo es Haufen mit bis
zu 1 000 Galaxien gibt, ist das Universum schon etwas komplexer. Und
35
diese Entwicklung soll noch 10 Jahre so weiter gehen; das ist eine Jah-
11 10
reszahl mit 35 Nullen. Allein 10 Jahre sind zehnmal so lang wie 10 und
12 11
10 zehnmal so lang wie 10 . Unser Universum ist noch im Embryonal-
zustand.
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 203

In 1035 Jahren – so lehrt die Physik – wird sich die Zeitachse um 180
Grad drehen und die Kontraktion des Universums einleiten; vielleicht bis
wieder die gesamte Energie und Masse in einem Punkt vereinigt ist, der
dann andere Eigenschaften haben wird als der letzte und deshalb den
nächsten Urknall mit anderen Anfangsbedingungen auslöst als denen
des letzten Urknalls. Die Erfahrung unseres jetzigen Universums ist in
den Anfangsbedingungen konzentriert. Die praktischen Konsequenzen
eines Drehens der Zeitachse kennen wir nicht. Aber eines scheint klar:
Wir sollten die nächsten 1035 Jahre genießen.
Vielleicht aber dreht sich die Zeitachse gar nicht; vielleicht „läuft“ die
Zeit immer weiter und wir müssen eine Unvorstellbarkeit durch eine
andere Unvorstellbarkeit ersetzen: Versetzen Sie sich in die Lage eines
zweidimensionalen Wesens, einer Wanze, die so platt ist, dass sie keine
Höhe hat. Für dieses Wesen – nennen wir es Zwenze – gibt es nur lang
und breit; Höhe kann eine Zwenze nicht denken, also existiert Höhe für
sie nicht. Mit solch einer Zwenze sind Sie dreidimensionaler Mensch an
einem Strand, blicken zum Horizont, wo der Himmel im Meer versinkt,
und erzählen ihr, dass sie, wenn sie zum Horizont hin sehr lange immer
geradeaus schwimmt, fährt oder fliegt, irgendwann wieder hier, am Aus-
gangspunkt, ankommen wird. Das kann die Zwenze sich nicht vorstellen,
denn dass sich eine Fläche an ihren Enden nach unten neigen und so die
Erdkugel formen kann, gibt es in einer zweidimensionalen Welt nicht.
Erst durch die Einführung der dritten Dimension können Sie sich von
einem Ausgangspunkt immer weiter entfernen und dadurch wieder zu
ihm zurückkommen.
Wir sind dreidimensionale Zwenzen. Wenn ein vierdimensionales We-
sen uns erzählt, dass wir nach einem unvorstellbar langen Gerade-
ausflug in unseren dreidimensionalen Weltraum hinein, bei dem wir nie
umkehren, irgendwann einmal wieder auf der Erde ankommen werden,
können wir das nicht denken. Erst durch die Einführung der vierten
Dimension können wir uns von unserem Ausgangspunkt immer weiter
entfernen und dadurch wieder zu ihm zurückkommen. Und wenn dieses
vierdimensionale Wesen uns weiter erzählt, dass unser Universum,
nachdem es unvorstellbar lange explodiert ist, ohne dass die Zeitachse
sich dreht, wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückfindet, bei dem alle
Energie und Materie in einem Punkt konzentriert ist, können wir auch

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204 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

das nicht denken. „Da herrschet Well auf Welle kraftbegeistet; Zieht sich
zurück, und es ist nichts geleistet.“ Vielleicht hat Goethe dabei an mehr
gedacht als an das Meer.

Was wir nicht denken können, kann für uns nicht existieren. Materie
muss sich so verhalten, wie es das Denken des Wissenschaftlers zu-
lässt, der sie erforscht. Jede Frage, die wir stellen, enthält die Antwort.

Ein Tier fragt nicht nach Gott; also existiert er für ein Tier nicht. Ein
Analphabet fragt nicht nach der Quantenmechanik; also existiert sie für
einen Analphabeten nicht. Ein Materialist fragt nicht nach dem Geist;
also existiert er für einen Materialisten nicht. Ein Einfaltspinsel fragt
nicht nach der vierten Dimension; also existiert sie für einen Einfalts-
pinsel nicht. Ein Fisch kann die Schildkröte gar nicht nach dem Land
fragen, weil es das Land für ihn nicht gibt. Wer die Freiheit nicht kennt,
kann nicht nach ihr fragen. Und wer in seiner Ratio gefangen ist, kann
nicht fragen, wie er Kausalketten umkehren kann. Da diese Frage un-
denkbar ist, kann und wird sie nicht gestellt werden.
Der dritte Geburtstag ist der erste, den meine Tochter Debora bewusst
erlebt. Bald darauf habe ich Geburtstag, und sie fragt mich, ob ich auch
drei Jahre alt werde. „Nein, ich bin ja älter als du“, erkläre ich ihr. Da
erhebt sie drei Finger ihrer rechten Hand und fügt einen vierten hinzu.
„Wirst du so alt?“, fragt sie. „Nein, noch älter“, antworte ich. Nun spreizt
sie alle fünf Finger der Hand und meint: „Aber so alt.“ Als das immer
noch nicht genug ist, fällt es ihr schwer zu glauben, dass sie offenbar
einen wirklich uralten Vater hat. Also geht es weiter mit einem sechsten
Finger von der linken Hand, mit einem siebten, achten und neunten
Finger, bis sämtliche Finger beider Hände im Einsatz sind. Aber ich
muss sie sehr enttäuschen. „Ich bin noch viel, viel älter“, sage ich. Ratlos
schaut sie auf die zehn Finger ihrer beiden Hände – die biologische Basis
des dekadischen Zahlensystems – und sagt: „Das geht doch gar nicht.“
Weiter kann sie mit drei Jahren nicht fragen. Weiter können wir alle
nicht fragen, nur unsere Finger haben sich vermehrt. Das aber ändert
nichts daran, dass wir Dinge, nach denen wir fragen, zuvor gedacht ha-
ben müssen, und dass es Dinge, die wir nicht denken können, für uns
nicht gibt. Es ist nicht der Bereich unseres Nichtwissens – den können
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 205

wir erforschen, weil wir wissen, dass wir davon nichts wissen. Es ist der
Bereich unseres Nichtseins. Durch Fragen, die wir bisher nicht gestellt
haben, können wir unser Bewusstsein erweitern, unser Sein vergrößern,
unsere Existenz erhöhen.

Die Frage erschafft das, wonach gefragt wird, im Denken. Das Denken
erschafft das, woran gedacht wird, in der Wirklichkeit. Indem wir nach
etwas fragen, erdenken wir es und bringen es hervor. Wir erschaffen
den Bereich unseres Nichtseins dadurch, dass uns unser Nichtwissen
darüber bewusst wird.

Überregulierung stellt die Funktionstüchtigkeit in Frage und produ-


ziert den Zusammenbruch. Übervorsorge stellt die Gesundheit in Frage
und produziert Krankheit. Überversicherung stellt die Sicherheit in
Frage und produziert Unsicherheit. Überbehütung stellt die Eigen-
ständigkeit in Frage und produziert Hilflosigkeit. Überkontrolle stellt
die Ehrlichkeit in Frage und produziert Betrug. Überaktivität stellt den
Erfolg in Frage und produziert das Scheitern. „Fragen sind Wege zu
einer Antwort“, sagt Martin Heidegger.
Im griechischen Drama werden die Helden immer Opfer des Schick-
sals, das sie durch alles Mühen in jeder Wendung der Handlung zu ver-
meiden trachten. In unserem Alltag spielen wir das griechische Drama
seit 2 000 Jahren weiter, weil wir nicht hören wollen, wovon der Prophet
Hiob berichtet: „Was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und
was mich sorgte, hat mich getroffen.“
„Machet euch die Erde untertan“, hat Gott uns aufgefordert. Die Über-
setzung stammt nicht von ihm, und die Berechtigung zum Raubbau, die
wir daraus ableiten, hätte anders gelautet. Was wir tun sollen, ist etwas
anderes: Wir sollen das Gesetz des Handelns in die Hand nehmen, wir
sollen Verantwortung übernehmen und die Wirkungen festlegen, die wir
haben und mit deren Konsequenzen wir leben wollen. „Wir müssen die
Abhängigkeit umkehren. Ich weiß nicht, wie es geht, aber ich will es, und
deshalb wird es gehen“, sagt Wolf Veyhl. Das ist Unternehmergeist, das
ist Schöpfergeist.
Die von uns gewollten Wirkungen verwirklichen sich selbst und ge-
stalten die Ursachen, die sie hierzu brauchen. Die Gesetze, nach denen

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206 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

dies funktioniert, sind uns vorgegeben, naturgegeben, wir können auch


sagen kosmisch gegeben. Die Anfangsbedingungen, von denen aus diese
Gesetze wirken, setzen wir bei jedem Schöpfungsakt selbst; sie sind das
Werk des Unternehmers, der die Schöpfung vollbringen will.
Viele Menschen verstehen diesen Mechanismus nicht und meinen, sie
können die Gesetze gestalten. Der Kommunismus will die Gesetze än-
dern, die das menschliche Verhalten steuern. Der Sozialstaat will die
Gesetze ändern, nach denen Reichtum verteilt wird. Die Unter-
nehmensstrategie will die Gesetze ändern, nach denen der Markt funkti-
oniert. Die Unternehmensorganisation will die Gesetze ändern, die kom-
plexe Systeme steuern. Die Führungslehre will die Gesetze ändern, unter
denen Mitarbeiter Leistung bringen. Die Rezepturen haben hohe Wellen
geschlagen, aber auf Dauer nicht viel bewirkt. Resonanz ändert keine
Gesetze, sondern unterwirft sich ihnen, arbeitet nicht gegen, sondern
durch sie.
Es gibt Menschen, die nach dem letzten Schritt auf einen Abgrund zu
noch einen weiteren Schritt tun, weil sie meinen, bei ihnen werde die
Schwerkraft eine Ausnahme machen. Die Menschheit als Ganzes hat
gerade diesen letzten Schritt getan und überlegt nun wohl noch, ob sie
den allerletzten wagen kann. Das Gesetz kennt keine Ausnahme. Was wir
da tun, sind alles Versuche, in den Teil der Schöpfung einzugreifen, der
uns vorgegeben ist; und er zieht unsere Aufmerksamkeit von den Schöp-
fungsmöglichkeiten ab, die uns überlassen sind: die Gestaltung der An-
fangsbedingungen für unser Werk.
Die Physik beschreibt die Anfangsbedingungen unseres Universums.
Wäre dabei die Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie nicht gele-
gentlich verletzt worden, wäre der Kosmos nicht entstanden. Hätte sich
der Wasserstoff minimal langsamer in Helium umgewandelt, wäre das
Universum überwiegend Wasserstoff geblieben; hätte er sich minimal
schneller umgewandelt, wäre es überwiegend zu Helium geworden; in
beiden Fällen hätten Sterne nicht entstehen können. Wäre die starke
Wechselwirkung, welche die sich gegenseitig abstoßenden Protonen und
Neutronen im Atomkern zusammenhält, minimal stärker, würden die
Elementarteilchen aufeinanderstürzen. Die Masse unseres Sonnensys-
tems hätte in einem Apfel Platz. Wäre die starke Wechselwirkung mini-
mal schwächer, würden die Atomkerne auseinander fliegen und Materie
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 207

könnte sich nicht bilden. Gleiches gilt für die schwache Wechselwirkung,
die die Elektronen auf ihrer Umlaufbahn um den Atomkern hält und sie
weder auf ihn stürzen noch davonfliegen lässt. Wäre das Verhältnis von
Elektronen-und Protonenmasse nur geringfügig anders, könnten kom-
plexe Moleküle nicht entstehen.
Hätten sich nicht irgendwo sehr niedrige Temperaturen gebildet, die
auf der Erde nur etwa 300 Grad Celsius über dem absoluten Nullpunkt
liegen – nach oben geht die Skala um 100 Millionen Grad weiter –, wäre
eine Chemie nicht entstanden, weil bei der Temperatur der Sterne die
Atome vermutlich auseinander gerissen werden. Hätte die chemische
Evolution nicht einen ganz bestimmten Verlauf genommen und auf der
Erde den Salzgehalt der Meere mit genau dreieinhalb Prozent und den
Sauerstoffgehalt der Atmosphäre mit genau 21 Prozent festgelegt, so
wäre eine Biologie nicht möglich gewesen. Wäre der Atmosphäre nicht
eine geringe Menge von Ammoniak beigemischt, so könnte sie die Ton-
nen von Salpetersäure, die bei einem Gewitter entstehen, nicht neutrali-
sieren, und der Säuregehalt des Regens und der Böden wäre lebensfeind-
lich. Hätte die Ozonschicht in der Atmosphäre nicht genau die
vorgegebene Konzentration, würde die kosmische Utraviolettstrahlung
das Leben vernichten.
Hätte der überwiegende Teil der Erdoberfläche nicht seit Jahrmillio-
nen die optimale Temperatur zwischen 15 und 35 Grad Celsius, so hätte
höheres Leben sich nicht entwickeln können. Hätte die biologische Evo-
lution unsere Körpertemperatur nicht auf 36,8 Grad Celsius eingestellt,
so wäre die notwendige konstante „Betriebstemperatur“ für das mensch-
liche Gehirn nicht gegeben und dieses Organ hätte sich nicht bilden
können. Bei 36,8 Grad Celsius ist die molekulare Struktur des Wassers
in seiner höchsten Labilität. Wasser schafft und erhält Leben, kodiert
unsere Gene und trägt alle Materie. 67 Prozent der physischen Substanz
unseres Körpers bestehen aus Wasser. 67 Prozent der physischen Sub-
stanz unseres Planeten bestehen aus Wasser.
Die „Gateway Events“ (Anfangsbedingungen) umfassen vielleicht die
Möglichkeiten vieler verschiedener Physiken, und es ist die Physik ent-
standen, die diesen Kosmos hat werden lassen. Die Physik umfasst ge-
wiss die Möglichkeiten vieler verschiedener Chemien, und es ist unsere
Chemie entstanden. Die Chemie umfasst eine praktisch unendliche

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208 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

Bandbreite an möglichen Biologien, und es ist unsere irdische biologi-


sche Evolution herausgekommen. Diese Biologie umfasst eine große
Zahl denkbarer Psychologien, und die Psychologie, nach der wir funktio-
nieren, umfasst wiederum eine ungeheuer große Zahl von Modellen,
nach denen Menschen zusammenleben können; die wenigen aller mögli-
chen Ausprägungen, die gelebt worden sind, werden – soweit bekannt –
von der Geschichte beschrieben und von den Politik-, Rechts-, Wirt-
schafts- und Sozialwissenschaften analysiert.
Die herrschende Lehre der Naturwissenschaften geht heute noch da-
von aus, dass die Weichenstellungen bei jeder Gabelung der kosmischen
Evolution, die jeweils einen weiteren Entwicklungspfad wählt und eine
Unzahl anderer auch möglicher Entwicklungspfade verwirft, zufällig
sind. Danach wäre auch unsere Existenz auf einem kleinen Planeten, der
aus den gleichen chemischen Elementen zusammengesetzt ist wie wir
Menschen und um eine kleine Sonne am Rande der Milchstraße kreist,
die zu einem kleinen Galaxienhaufen gehört, Ergebnis einer Kette von
Zufällen. So lang muss diese Kette seine, dass ihr Ergebnis als unwahr-
scheinlich bezeichnet werden muss.

Wenn der Schein der Wahrheit – der Irrtum – wahrscheinlich ist, deutet
die Existenz des Unwahrscheinlichen auf die Wahrheit.

Die anthropische Schule der Kosmologie nimmt an, dass die Wei-
chenstellungen in der kosmischen Evolution bewusst eingerichtet wer-
den; dass alle physikalischen Konstanten, chemischen Reaktionen, geo-
logischen und biologischen Prozesse präzise so eingestellt, alle Weichen
gezielt so gestellt werden, dass sie das Ergebnis produzieren, das sich
daraus ergeben soll. Einstein hat dieses Prinzip prägnant formuliert:
„Gott würfelt nicht.“
„That idea seems to me so ridiculous as to merit no further discussi-
on“ (Diese Vorstellung erscheint mir derart lächerlich, dass sie keine
weitere Diskussion verdient); mit diesen Worten zertrampelt Murray
Gell-Mann die zarten Pflänzchen der naturwissenschaftlichen For-
schung, die als einzige überleben werden, und wirft die fällige Synthese
von Physik und Metaphysik, von Rationalismus und Mystik um eine
Generation zurück. „Es ist nämlich Unerzogenheit, keinen Blick zu ha-
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 209

ben dafür, mit Bezug worauf es nicht nötig ist, einen Beweis zu suchen,
in Bezug worauf dies nicht nötig ist“, würde Heidegger das tadeln. Deut-
licher: Wer keinen Blick hat für die Grenze zwischen dem, was beweis-
bar, und dem, was denkbar ist, ist unreif.
Die Burgen der kleinen roten Waldameise sind so groß, dass die Tier-
chen im Inneren an dem von ihnen selbst ausgeschiedenen Kohlendio-
xyd ersticken müssten. Die bautechnische Optimierung bewirkt aber
nicht nur eine thermische Konvektion im Hausinneren, sondern auch
konstante Luftfeuchtigkeit, Schutz vor Überschwemmung, vor Aus-
trocknung und vor extremen heißen und kalten Außentemperaturen.
„Im Winter sind die Möwen in Woods Hall meine wichtigste Gesell-
schaft“, erzählt Albert Szent-Györgyi. „Die Silbermöwen haben einen
roten Fleck auf dem Schnabel. Dieser rote Fleck hat eine wichtige Bedeu-
tung, denn die Möwe füttert ihre Jungen, indem sie Fische fängt und den
gefangenen Fisch verschluckt. Wenn sie ins Nest zurückkehrt, klopfen
die hungrigen Möwenjungen an den roten Fleck. Dadurch wird bei der
Mutter ein Brechreiz ausgelöst, und das Junge nimmt den Fisch aus
ihrem Kropf. Wie konnte sich ein solches System entwickeln? Der rote
Fleck wäre sinnlos ohne den komplexen Nervenmechanismus des klop-
fenden Jungen und der erbrechenden Mutter. Alles dieses musste gleich-
zeitig entwickelt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es als zufällige
Mutation geschah, ist gleich Null.“
Auf einer Segeltour in der Karibik kommen wir an einem Schiffswrack
vorbei, das fern jeder Insel auf flachem Grund aufgelaufen ist. Auf dem
rostigen Deck liegen noch Scherben edlen Geschirrs, und an jeder Stelle
des Wracks, wo der Rost tief genug ist, um winzigen Wurzeln Halt zu ge-
ben, breiten sich Gräser, Moos, Kakteen und andere Pflänzchen aus. In der
Sierra Nevada gibt es blanke Felsblöcke, die so gewaltig sind, dass sich ein
Teil Manhattans in ihnen verstecken könnte. Aus jedem winzigen Haarriss
im Fels sprießen kleine Pflanzen, und aus jeder Ritze, in die sich eine Wur-
zel klemmen kann, wachsen vom Wind zersauste Sträucher und Bäume.
Wenn wir diesen unbändigen Existenzwillen des Lebens in den Kos-
mos übertragen, können wir annehmen, dass auf vielen der nach einer
Hochrechnung von David Hughes vier Milliarden erdähnlichen Planeten
der Milchstraße und denen in anderen Galaxien irgendwann einmal

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210 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

Leben entsteht, dass dies vielleicht der Sinn jedes Planeten ist, und dass
es der Sinn jeder Sonne ist, irgendwann in ihrem Orbit höheres Leben
werden zu lassen; dass das ganze Universum nur dafür explodiert und
Leben der Sinn seiner Existenz ist. „Anzunehmen, die Erde sei der einzig
bewohnte Himmelskörper, ist so absurd wie der Gedanke, dass auf einem
mit Hirse besäten Feld nur ein einziges Saatkorn aufgeht“, schreibt
Metrodorus vor zweieinhalb Jahrtausenden. „Es ist erstaunlich, in wel-
chem Maße die Natur auf Sicherheit bedacht ist und nicht auf Effizienz“,
berichtet Ernst Jünger von seiner Amazonasreise. Überlebenssicherheit
ist die biologische Konstruktionsmaxime; vermutlich auch die kosmi-
sche; und ganz gewiss die unternehmerische.
Würden wir als Unternehmer alle Möglichkeiten errechnen oder aus-
probieren, um diejenigen zu finden, die funktionieren und Ergebnisse
produzieren, so würden wir uns nach Auffassung des „accidental
materialism“ (des Roulette spielenden Materialismus) – so will ich die
Theorie nennen, die den kosmischen und den irdischen Entwicklungs-
prozess mit Zufallsereignissen erklärt – evolutionsgerecht verhalten. Ein
solches „evolutionäres Management“ aber wäre tödlich.
Stellen Sie sich vor, Sie sind nicht in der Branche tätig, in der Sie ar-
beiten, sondern sind Langstreckenläufer von Beruf und nehmen an dem
entscheidenden Wettrennen teil. Die Regeln sind brutal: Alle außer dem
ersten Sieger werden getötet. Der Sieger erhält eine hohe Prämie: 100
Jahre lang, wenn er so lange will und kann, jeden Tag alles, was er
braucht und was gut für ihn ist. Und stellen Sie sich weiter vor, dass Sie
gegen eine Million trainierter Konkurrenten antreten und als erster
durchs Ziel laufen. Sind Sie erleichtert, zufrieden und stolz? Ja, das kön-
nen Sie sein. Neun Monate vor Ihrem Geburtstag haben Sie genau diesen
Lauf gegen eine Million Mitbewerber gewonnen. Sie sind ein Sieger.
Stellen Sie sich weiter vor, dass Sie als Familienunternehmer alles
einmal ausprobieren wollen. Eine Million Kinder schaffen Sie nicht. Oder
dass Sie als kommerzieller Unternehmer alles einmal ausrechnen wol-
len. Wenn die natürliche Auslese jede mögliche Kombination der Gene
von Algen erproben will, muss sie 10300 Kombinationen untersuchen,
berichtet M. Mitchell Waldrop. Wenn jedes Elementarteilchen im Kos-
mos ein Supercomputer wäre, der seit dem Urknall nichts anderes be-
rechnet hätte, gäbe es noch immer keine Lösung – für Algen.
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 211

Das bedeutet: als Mitschöpfer, als Unternehmer, können wir unserem


Sein nur Sinn geben, indem wir die Anfangsbedingungen für unser Werk
weder durch Probieren noch durch Berechnen finden, sondern durch die
Verbindung mit einer Bewusstseinsebene, in der höhere Weisheit als die
unsere gespeichert und abrufbar ist – durch Intuition.
Lateinisch „intueri“ heißt hineinschauen. „Yogastah Kurn Karmani“
(Gegründet im Sein handle) lautet die Sanskritweisheit, die sagt, wo
hinein: gegründet in Ihrem eigenen Sein. Intuition heißt, in sich selbst
hineinschauen, von einem aktiven zu einem rezeptiven Funktionsmodus
umschalten, einen niedrigen Reizzustand der Nerven mit hoher Wach-
samkeit kombinieren, vom Bewusstsein ins Unterbewusstsein abtau-
chen, in dem die Neuronen auf der sogenannten Alphafrequenz schwin-
gen und die physisch ausgerichteten Persönlichkeitsmerkmale mit dem
inneren Selbst verbinden. Je länger der Hebel, desto weniger wahrnehm-
bar ist seine Bewegung. „Auf den tieferen Ebenen werden die zum Inter-
ferenzmuster beitragenden Wellen zunehmend universaler“, schreibt
Philip Goldberg. Henry David Thoreau sagt es direkter: „Das Unbewusste
des Menschen ist das Bewusstsein Gottes.“
Mit dem Begriff „Sensitivität für schwache Signale“ verdrängt die be-
triebswirtschaftliche Literatur, dass die erfolgreichen Unternehmer eher
auf Conan Doyle hören als auf Erich Gutenberg: „Gibt es noch etwas,
worüber ich Bescheid wissen sollte? Den merkwürdigen Vorfall mit dem
Hund letzte Nacht?“, fragt Sherlock Holmes. „Der Hund hat sich nicht
gerührt letzte Nacht“, beruhigt ihn sein Diener. „Das ist der merkwürdi-
ge Vorfall“, sagt Sherlock Holmes.
Es gibt Verfahren, mit denen die Intelligenz von Menschen gemessen
wird. Das Ergebnis dieser Tests ist der Intelligenzquotient. Über 100 ist
ordentlich; für unter 100 muss man sich schämen. „Euch geht’s gut, Ihr
seid blöd“, will Fritz Schallinger, einer meiner genialen Mathematikleh-
rer, das Urteil dieses Tests über uns einmal vorwegnehmen. Wir fragen
ihn, wie er „blöd“ definiert, woraus er sein Ergebnis ableitet und wie er es
beweisen will. Da schmunzelt er und gibt zu, dass blöd wohl das Gegen-
teil von intelligent sei, dass er aber nicht wisse, wie intelligent definiert
sei und dass es uns – nachdem wir so pfiffig gefragt haben – vielleicht
doch nicht besser gehe als ihm. Später, als Student, erfahre ich, wie In-
telligenz definiert ist: Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst.

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212 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

Eine für einen statistischen Schluss ausreichend große Grundgesamt-


heit erfolgreicher amerikanischer Spitzenmanager ist bereit gewesen,
sich einem Intelligenztest zu unterziehen. Das Ergebnis ist erstaunlich:
Die erfolgreichen Unternehmer sind nicht unterdurchschnittlich intel-
ligent; sie sind aber auch nicht überdurchschnittlich intelligent. Durch-
schnitt sind sie bei diesem Test. Spitze sind sie nur bei den Bilanzen, die
sie vorlegen. Zur Erklärung wird Roger Sperry bemüht: Die linke Hälfte
unseres Gehirns ist primär zuständig für Sprache, Logik und Analyse –
all das, was wir gern „Verstand“ nennen. Die rechte Hälfte unseres Ge-
hirns ist primär zuständig für nichtverbale Kommunikation, Gefühle
und das Unterbewusste – all das, was wir gern „Intuition“ nennen.

Solange ein Vorfall „merkwürdig“ ist, kümmert sich die rechte Gehirn-
hälfte darum. Sobald wir die Merkwürdigkeit verstanden haben, über-
nimmt ihn die linke Gehirnhälfte. Amateure hören Musik mit der rech-
ten, professionelle Musiker mit der linken Gehirnhälfte.

Im Unternehmen können Dinge, die klar sind, analysiert und berech-


net werden; sie sind Routine. Ein Unternehmer wird dann nicht mehr
gebraucht. Die Harvard Business Review hat daraus eine wunderbare
Schlagzeile getextet: „Plan left and decide right“ (Planen Sie links, und
entscheiden Sie rechts).
Dummheit ist, wie Intelligenz, auch links. Entscheidung, Unterneh-
mertum ist rechts. Da der Intelligenztest überwiegend Fähigkeiten der
linken Gehirnhälfte misst, ist es kein Wunder, dass erfolgreiche Unter-
nehmer nur durchschnittlich intelligent sind; ihre Stärken müssen
rechts liegen.
Diese Einsicht hat zu einer weiteren Testserie mit den erfolgreichen
Unternehmern und der Frage geführt: Sind ihre Gehirne rechtslastig?
Die meisten von ihnen sind Männer, die damit die Ausnahmen bei ihrem
Geschlecht wären – während die Gehirne der meisten Frauen rechtslastig
sind, sind die der meisten Männer linkslastig. Margaret Thatcher hat
diesen Tatbestand auf ihre Art gewürdigt: „Wenn Sie etwas erklärt haben
wollen, fragen Sie einen Mann. Wenn Sie etwas erledigt haben wollen,
fragen Sie eine Frau.“
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 213

Das Ergebnis der zweiten Testreihe ist auch wieder erstaunlich: Die
Gehirne der erfolgreichen männlichen Unternehmer sind entgegen der
Mehrheit der Männer nicht linkslastig, und die Gehirne der erfolgrei-
chen weiblichen Unternehmer sind entgegen der Mehrheit der Frauen
nicht rechtslastig. Erfolgreiche Unternehmer beiderlei Geschlechts ha-
ben eine sehr ausgeglichene Gehirnaktivität mit einer ungewöhnlich
starken Ausprägung des corpus callosum – des Balkens, der die beiden
Hälften der Großhirnrinde miteinander verbindet, über den sie kommu-
nizieren. Er enthält 200 Millionen Nervenfasern, von denen jede bis zu 1
000 Impulse pro Sekunde abgeben kann; das sind, wenn wir unser Po-
tenzial ausnutzen, insgesamt 200 Milliarden Informationen pro Sekun-
de, die Intuition mit Ratio abgleichen.
Merkwürdige Vorfälle werden also aufmerksam registriert, emotional
betastet, berochen, geschmeckt und dann erst mit dem Verstand gefiltert
und bewertet. Cerebrales Gleichgewicht ist sicher auch in der Politik das
hervorstechende Merkmal großer Führerpersönlichkeiten und außerge-
wöhnliche Intelligenz – wie bei den großen Unternehmern – wohl eher
kontraproduktiv. Wer sehr intelligent ist, spricht nicht die Sprache des
Volkes, dem Martin Luther „aufs Maul geschaut“ hat, und kann deshalb
nicht mit ihm reden, ihm seine Entscheidungen nicht vermitteln, kommt
nicht an. Oft kann er auch gar nicht entscheiden. Mein Statistiklehrer an
der Universität, ein bedeutender Ordinarius der Mathematik, ist mehr-
fach durch die Fahrprüfung gefallen, bevor er es hat aufgeben müssen.
Seinen Berechnungen ist jedesmal ein anderes Fahrzeug – oder der Fahr-
lehrer mit der Notbremse – zuvorgekommen.
Konrad Adenauer hat – Linguisten haben das herausgefunden – einen
aktiven Wortschatz von 400 Wörtern gehabt; jeder mittlere Schulab-
gänger hat um die 2 000. Als ihm aber die Vertreter der Siegermächte des
Zweiten Weltkriegs die Urkunden zur Anerkennung eines westdeutschen
Staates überreichen wollen und er auf einen Teppich zugeht, auf dessen
Kante ihn die hohen Herren aufgereiht erwarten, bleibt er nicht auf dem
Holzfußboden vor ihnen stehen, sondern geht auf dem Teppich um die
Sieger herum, die sich umdrehen müssen, um ihn – nun auch mit Tep-
pichunterlage – ebenbürtig zu begrüßen.
Alle Analysen seiner Berater sprechen dagegen, McDonald’s zu kau-
fen. Ray Kroc berichtet, was er nach der Besprechung getan hat: „Ich

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214 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

habe die Tür zu meinem Büro geschlossen“, die in Amerika sonst immer
offen steht, „bin fluchend hin und her gerannt, habe Gegenstände aus
dem Fenster geworfen und dann meinen Anwalt angerufen und ihm ge-
sagt: Kaufen! Ich hatte es in den Knochen.“
Otto Loewi ist es jahrelang nicht gelungen, die Rolle der Chemie bei
der Übermittlung von Nervenimpulsen zu beweisen. Dann berichtet er
von einer Nacht: „Ich erwache, schalte das Licht ein, kritzele ein paar
Worte auf ein Stück Papier und schlafe wieder ein. In der Frühe geht mir
auf, dass ich während der Nacht etwas sehr Wichtiges notiert habe, doch
ich bin nicht imstande, mein Gekritzel zu lesen. In der nächsten Nacht
gegen drei kommt die Idee wieder. Es ist der Entwurf eines Experi-
ments.“ Die Entdeckung, die sich daraus ergibt – eines der klarsten, ein-
fachsten und prägnantesten Experimente in der Geschichte der Bioche-
mie –, wird mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Das berühmteste „Heureka“ (altgriechisch: ich habe es gefunden) ist
das des antiken Mathematikers Archimedes. Sein König will wissen, ob
eine ihm geschenkte Krone aus massivem Gold oder nur vergoldet ist.
Die Waage zeigt das Gewicht der Krone an. Das spezifische Gewicht von
Gold ist bekannt. Um die Frage zu beantworten, muss man das Volumen
kennen. Dies von einem so komplizierten Gebilde auszurechnen, ist
selbst Archimedes nicht möglich. Die „zündende“ Idee kommt ihm –
kommt zu ihm – als er in die Badewanne steigt und beobachtet, wie sich
dadurch der Wasserpegel erhöht. Mit dieser Technik erhält er das Volu-
men der Krone und kann die Frage des Königs beantworten.
Mozart berichtet, dass er die Musikstücke, die er komponiert, bevor er
sie niederschreibt, hört, und zwar nicht vom Anfang bis zum Schluss wie
wir im Konzertsaal, sondern das ganze Stück gleichzeitig, in einem ein-
zigen Augenblick. Rossini liegt beim Komponieren im Bett, kritzelt seine
Blätter so schnell voll, wie die Feder nur über das Papier gleiten kann,
und wirft sie auf den Boden. Seine Helfer müssen das geschmierte Chaos
aufsammeln und die Mosaikstücke zusammensetzen. Als Bach gefragt
wird, woher er seine Melodien nehme, sagt er: „Das Problem ist nicht, sie
zu finden; das Problem ist, nicht auf sie zu treten.“ Als Michelangelos
Skulpturen bewundert werden, wiegelt er ab: „Die Figuren sind schon im
Stein. Ich muss nur noch abtragen, was nicht dazu gehört.“
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 215

Der Unternehmer, der mit dem Verstand allein regiert, tut das, was in
der Unternehmensstrategie als optimal gepriesen wird: er kontrolliert
sein Umfeld und gestaltet es nach seinen Bedürfnissen. So sind die Pla-
nungs- und Kontrollinstrumentarien entstanden; so wird Lobbying (das
Herumschwänzeln um die Mächtigen) getrieben; unter diesem Gesichts-
punkt ist Macht effizient.

Fernab jedes Konsenses ist Macht die einzige Möglichkeit, zu einer


Entscheidung zu kommen. Gefräßigkeit setzt Effizienz mit Intoleranz
gleich.

Auf dieser linkslastigen rationalen Basis entstehen auch all die wun-
derbaren Voraussagen über das, was die Zukunft bringt. „Wir werden die
Sahara mit so viel Regen versorgen, dass sie wieder bewohnbar wird“,
sagt der Physiker Hermann Oberth im Jahre 1963. Mit gewaltigen Spie-
geln im Weltall will er Landstriche künstlich erwärmen und dadurch
Winde, Tiefdruckgebiete und Regen steuern. „Wir können bis 1984 unse-
re Lebensmittel ohne Tiere und Pflanzen in chemischen Fabriken her-
stellen“, meint der Biologe C. H. Waddington 1964. „Spätestens 1980
werden Tausende von Menschen in gigantischen Weltraumstädten woh-
nen“, meint der Physiker Gerald K. O’Neill 1957. Der Babymond des Inge-
nieurs Darrell C. Romick hat nach dreieinhalb Jahren Bauzeit fertig sein
sollen. „Wir werden das Erbgut von Affen so verändern, dass sie als Ern-
tearbeiter einsetzbar sind; das der Vögel so, dass sie Früchte sortieren
können“, meint der Psychologe Burrhus F. Skinner. „Im Jahre 2050 wird
die Lebenserwartung des Menschen auf 130 Jahre gestiegen sein; der
Mensch wird die Baupläne von Zellen kennen und beschädigte Organe
nachwachsen lassen“, meinen maßgebliche Mediziner um 1960.
Fünf Jahre später berichtet Nigel Calder im „New Scientist“, dass der
Gütertransport auf den Weltmeeren spätestens 1985 von atomgetrie-
benen U-Booten besorgt wird, unangefochten von Stürmen und Seegang.
Olaf Helmer von der kalifornischen Denkfabrik „Rand Corporation“ geht
zur gleichen Zeit davon aus, dass bis 1990 nicht nur der Mond, sondern
auch der Mars besiedelt wird. IBM geht 1950 davon aus, dass es in den
Vereinigten Staaten niemals mehr als 18 Computer geben wird. Digital
Equipment – Wegbereiter der dezentralisierten Datenverarbeitung –
sieht 1977 keinen Grund, weshalb Kunden jemals einen Computer zu

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216 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

Hause haben sollten. Im Jahre 1900 schätzt Daimler-Benz den Weltmarkt


für Autos langfristig auf eine Million, weil mehr geeignete Chauffeure
nicht verfügbar sein werden.
Die Entwicklung der Mikroelektronik, der Informations- und Kom-
munikationstechnik, die unsere Welt tatsächlich aus den Angeln geho-
ben hat, die Begrenztheit der Rohstoffe, die ökologische Frage, die Auf-
lösung des Ostblocks und den wieder auferstehenden Regionalismus hat
kein Futurologe vorausgesehen.
Unser Denken um Zukünftiges ist notwendig immer in der Gegenwart
verhaftet. Die Zukunftsforscher haben drei Dinge nicht bedacht:
Zum einen hat die Wissenschaft die Materie bis zu Quarks und
Strings zerlegt, aber keinem der „dummen“ und identischen elementaren
Bausteine, aus denen alle Materie zusammengesetzt ist, Leben zuordnen
können. Und zum zweiten ist diese Technik dabei, dem Menschen das
Leben zu nehmen, ihn zu einem Roboter zu machen. Karel Capek hat das
tschechische Wort Roboter (Sklave) im Jahre 1921 in einem Bühnenstück
eingeführt. Die Technik gehört nicht uns, wir gehören der Technik und
werden von ihr aufgefressen. Und zum dritten lässt sich die Zukunft
nicht aus der Gegenwart ableiten. Hätte man 1870 die Zunahme von
Pferdemist in Paris extrapoliert, wäre die Stadt heute unter einer fünf
Meter dicken Mistschicht begraben.
Nur demjenigen Unternehmer gehört sein Unternehmen, der mit sei-
nem gesamten neuronalen Potenzial regiert. Für ihn ist die Zeit der
Fluss, an dem er angeln geht. Und da wir nie zweimal an dem gleichen
Fluss angeln können – jedesmal fließt anderes Wasser darin –, müssen
wir mit dem Fluss leben, das heißt, uns mit ihm wandeln. Wer lange lebt,
muss viele Veränderungen mitmachen, und wer das nicht will, lebt nicht
lange. Wir können nur solche Veränderungen erleben, die wir ertragen
können; die, die wir nicht mehr ertragen können, töten uns. Ein chinesi-
sches Sprichwort drückt es so aus: „Der Wind wird, was erstarrt ist, zu
Sand zermahlen und hinwegwehen.“
Offen für die Eindrücke von außen und von innen, beide über den cor-
pus callosum abgleichen und auf den ersten Blick durchschauen – das ist
unternehmerische Kunst. Der wohl erfolgreichste Samurai, Miyamoto
Musashi, formuliert sie im Jahre 1643 in drei Grundsätzen:
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 217

– Halte dich nicht mit nutzlosen Beschäftigungen auf.


– Vernachlässige nie deine Aufmerksamkeit auch gegenüber den
kleinsten Dingen.
– Bemühe dich, das Wesen auch dessen zu erkennen, was unsichtbar
bleibt.
Wer so lebt, wird zu dem, was die Chaosmathematik „Attraktor“ nennt,
zu dem, wohin in einer nichtlinearen Welt alles strebt, was alle Bahnen
anzuziehen scheint und das System gleichsam in sich hineinsaugt. Tur-
bulenzen entstehen, weil alle Elemente eines Ganzen voneinander ab-
hängen und die vielen Rückkoppelungen immer neue Elemente hervor-
bringen. Bei Turbulenzen entstehen in großem Abstand vom
Gleichgewicht dissipative Strukturen, die ihre Identität nur dadurch
behalten können, dass sie Strömungen und Einflüsse aus ihrer Umge-
bung in sich aufnehmen – von außen und von innen.
Der Attraktor repräsentiert die Grundschwingung des Systems, er
baut um sich ein Feld auf, das sich wegen seiner Attraktivität auf seine
Umgebung überträgt und sie in seiner Frequenz schwingen, erklingen
lässt. Dies erklärt, warum wir in verschiedenen Umgebungen verschie-
den denken, uns anders verhalten, anders sind. Trotzdem beherrscht der
Attraktor das System nicht. Es ist ein iterativer Prozess, bei dem jeder
von jedem beeinflusst wird. Der Attraktor saugt alle Strömungen auf und
integriert sie in sein Schwingungsfeld. Große Politiker, große Führer,
große Unternehmer sind immer Attraktoren, denn „das Geheimnis der
großen Politik ist“, wie Johann Gottlieb Fichte sagt, „einfach dem Aus-
druck zu geben, was ist.“
Ein Attraktor ist ein Neuronenkraftwerk. Sein Klang bannt das Sys-
tem im Einklang mit den Gesetzen einer Zivilisation, die nach einem
durch Resonanz ausgelösten Evolutionssprung höher entwickelt ist als
die unsere heute; die einen Einklang herstellt zwischen dem neuronalen
Feld des eigenen Unternehmens und der Menschheit, ihrer Dichtung und
ihrer Philosophie, ihrer Religion und ihrer Wissenschaft; die in diesem
Einklang die Menschheit zu einer Einheit verschmelzen lässt.

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218 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

Das Maß für die Absorptionsfähigkeit von Veränderungen heißt Tole-


ranz; sie ist offen für das, was anders ist und ehrt Unterschiede, statt
sie zu fürchten. Weil Toleranz Veränderungen absorbiert, statt sie zu
bekämpfen, ist sie auch ein Maß für Überlebensfähigkeit.

Diese neue überlebensfähige Welt – und ich darf ein Wort von James P.
Womack übernehmen – „wird völlig anders und sehr viel besser sein.“
Diese Welt schwingt nicht gegen die Natur, sondern mit ihr und dem
Kosmos, in den sie eingebettet ist. Diese Welt ersetzt Macht durch Liebe,
Strategie durch Schwingung, Kampf durch Klang, Zoff durch Zauberei.
Und Johann Wolfgang Goethe beschreibt sie so: „Da fassen Geister, wür-
dig, tief zu schauen, zum Grenzenlosen grenzenlos Vertrauen.“
Verwurzelt im eigenen Unbewussten und damit im Bewusstsein Got-
tes, werden wir zu verantwortungsvollen Schöpfern. Unsere Wirklichkeit
ist eine Funktion unseres Denkens; unser Denken ist eine Funktion un-
serer Sprache, und unsere Sprache ist eine Funktion unserer Kommuni-
kation. Diese neuronalen Kraft, welche die Welt aus Über-Zeugung –
einer Zeugung höheren Grades – in Schwingung versetzt, verleiht der
Komplexität die Einfachheit eines Samenkorns und der Relativität von
Sein und Zeit eine Hebelkraft, die uns alle – so wie diese junge Dame –
entrückt, beglückt, verzückt:

Ramona Picht
ist sehr diskret
und schneller als Licht,
wenn es schon spät.
Und sie geht aus
in einer Nacht
und kommt nach Haus
am Vortag um acht.
PRAXISBEISPIEL 9: Konsolidierungsworkshop 219

PRAXISBEISPIEL 9: Konsolidierungsworkshop
In dem abschließenden Workshop erkennen die Teilnehmer, dass immer
dann, wenn sie bei der Umsetzung Rückschläge erleben, sie selbst die
Ursache dafür sind. Sie lernen, ihre Gedanken und Gefühle über das Auf
und Ab des Alltags zu erheben und – gleichsam magnetisch – an die ei-
gene Vision zu binden. Und sie sehen, wie alles, was um sie herum ge-
schieht, durch ihre eigene Sicht der Dinge die Bedeutung gewinnt, die
es für sie hat. Die Kunst, mit einer neuen Sicht die Welt zu verändern,
mit einer neuen Landkarte die Landschaft umzugestalten, ist die hohe
Kunst der Resonanzschmiede – die Kunst der Meister in dieser Disziplin.
Der Konsolidierungsworkshop fördert die Klarheit im Denken und
die Leichtigkeit im Handeln. Erst diese Kombination bringt die Kraft
hervor, die außergewöhnliche Ergebnisse auch absichert. Jedes Team-
mitglied sieht, wie es seine Zukunft und die des Unternehmens losge-
löst von den Zwängen der Vergangenheit gestalten kann.
Das Einüben neuer Praktiken, mit denen die neue Unternehmenskul-
tur gefestigt wird, nimmt großen Raum ein. Die Teilnehmer erleben,
dass jemand etwas sagt, ein anderer aber etwas ganz anderes hört, dass
jemand etwas schreibt, ein anderer aber etwas ganz anderes liest. Et-
was sagen oder schreiben stellt nicht sicher, dass es auch gehört oder
gelesen wird. Kommunikation hängt nicht von dem ab, was an Informa-
tion übermittelt wird, sondern von dem, was in der Person geschieht,
die die Information empfängt.
Nach diesem „Meisterkurs“ werden das eigene Potenzial und die ei-
genen Möglichkeiten bis an die gegenwärtigen Grenzen ausgeschöpft.
Kein Resonanzschmied verstrickt sich länger in der Suche nach Grün-
den oder sonnt sich in Rechtfertigungen. Die meisten sind zu unter-
nehmerischen Neuronenkraftwerken geworden. Jeder im Team hat Ver-
trauen in sich und das Umfeld, welches das Team gemeinsam
geschaffen hat. Jeder ist die gemeinsame Vision und definiert seine
Arbeit, seine Zukunft und sein Leben aus ihr heraus.

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220 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

Ein Anliegen dieses Programms – über den Geschäftsbereich in


Deutschland Anerkennung, Würde und Sinn in den Konzern einzufüh-
ren und über die Konzernzentrale in Frankreich Freude, Lust und Ge-
nuss in der Tochtergesellschaft in Deutschland zu etablieren – geht von
verhaltensbiologischen Grundlagen aus: Bergsteiger, Marathonläufer,
Skifahrer und Hochseesegler kennen den „Flow“ ebenso wie Konzertso-
listen, Wahlkämpfer und Hobbyhandwerker. Der Urmensch musste 30
Kilometer am Tag laufen, um sich zu ernähren – nicht auf präparierten
Wegen und nicht mit luftgefederten Wanderschuhen.
Herkömmliche Organisationsmodelle konzentrieren „Flow“ auf die
Unternehmensspitze, die sich mit der unternehmerischen Vision identi-
fiziert, und lassen das „Dynamit“ der meisten Mitarbeiter nach innen
explodieren: in Frustration, Resignation und Aggression.
Aber es gibt doch überhaupt keinen Unterschied zwischen einem
Genie und den meisten Mitarbeitern in diesem Geschäftsbereich oder
in der Konzernzentrale. Der einzige Unterschied ist, dass ein Genie im-
mer nur das tut, was es wirklich will, während die meisten unserer Un-
ternehmer den meisten ihrer Mitarbeiter diese Gelegenheit nicht ge-
ben. Als die Verantwortlichen im Rahmen dieses Resonanzprogramms
das erkannt haben und beginnen, die Lehren daraus umzusetzen, ent-
stehen Dinge, die sich keiner der Beteiligten vorher hat vorstellen kön-
nen.
Zum Ausklang dieses letzten Workshops ertönt „The Köln Concert“
von Keith Jarrett aus dem Lautsprecher und der Programmleiter zitiert
den großen Pianisten:
„Unsere Gesellschaft hat entschieden, was ihr wichtig ist: Äußerlich-
keiten. So überrascht es nicht, dass kaum jemand die Substanz sieht.
Ob wir sie aber sehen oder nicht – Fassaden, Stile, Wegwerfartikel sind
eine Lüge. Ob wir an den Gehalt glauben oder nicht, es gibt keine Ober-
fläche, unter der nichts ist. Und ob wir unsere Kleidung oder unsere
Persönlichkeit nehmen, sie sind kein Teil von uns. Nicht wenn wir allein
sind, allein mit uns. Und nicht wenn wir an der Schöpfung mitwirken
und sie verstehen wollen.
PRAXISBEISPIEL 9: Konsolidierungsworkshop 221

Die meisten Menschen, die an etwas glauben, werden von ihrem


Glauben eingesperrt, sodass neue Dinge oder neue Realitäten nicht an
sie herankommen. Sie haben Orientierung durch ihre Substanz – ihren
Glauben.
Diejenigen von uns aber, die ihr Glaubenssystem erfolgreich in Fra-
ge gestellt und abgelegt haben, haben offenbar nicht nur ihre Substanz
aufgegeben, sondern auch ihr Wissen um die Existenz der Substanz.
So haben wir das Wissen von der Einheit verloren. Wir können darü-
ber nachdenken und darüber reden, aber wir wissen es nicht mehr. Die
Folge davon ist, dass wir einen großen Teil unserer Welt zerstört haben,
nicht weil wir glauben, dass es Dinge gibt, die voneinander getrennt
sind, sondern weil uns das intuitive Wissen um das Wesentliche verlo-
ren gegangen ist – eine Folge des Verlusts des Glaubens.
Unser Überleben ist auch von der Einheit getrennt (d. h. unabhängig
von dem Leben in irgendeiner anderen Welt). Das ist so, obwohl wir uns
der Zerbrechlichkeit unserer Umwelt zunehmend bewusst werden, denn
dieses Bewusstsein ist uns von der Wissenschaft aufgezwungen wor-
den und nicht von unserem eigenen intuitiven Wissen. Wir glauben an
die Wissenschaft, die nichts anderes ist als der Glaube an den Glauben
von jemand anders an Dinge, die von der Einheit getrennt sind. Die
Wissenschaft hat die Schuld und das Verdienst und so können wir uns
beruhigt zurücklehnen und hoffen, dass alles schon gut ausgehen wird.
Die Wissenschaft ist eine Betrachtungsweise von genau einem Stand-
punkt aus.
Wie seltsam, dass das griechische Wort ,a-tom‘ das gleiche bedeutet
wie Individuum auf Lateinisch: unteilbar. Die Erfinder dieser Worte
kannten noch keine Atomspaltung und noch keine Schizophrenie.
Es scheint, als müssten wir immer das tun, das als nächstes kommt.
Und wenn das nächste dann Realität ist, halten wir es für berechtigt,
weil es existiert. Sind wir so stolz auf unseren menschlichen Erfin-
dungsgeist, dass wir die menschliche Gabe, sich selbst in Frage zu stel-
len, vergessen haben? Bewusstheit bedingt Ethik. Wissen bedingt Wis-
senschaft.

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222 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

Der Mangel an Bewusstheit darüber, was unsere Welt wirklich ist (ih-
re Substanz), macht Wissenschaft möglich, weil ihre Entdeckungen ge-
trennt von der Einheit sind und sich auf die Welt beziehen, wie sie von
der Wissenschaft definiert ist. So ist unsere Gesellschaft eine sich
selbst rechtfertigende Maschine geworden, die ist was sie tut.“
Für die Teilnehmer bedankt sich Claudine Tisch und resümiert die
Essenz des Programms mit den prägnanten Worten von Jacques Sigot:
„Ni Dieu
Ni Maître
Mais toi
Mais vous
Et tous les autres
Sans Dieu
Sans Maître“
(Weder Gott noch Meister, aber du, aber ihr und alle anderen – ohne
Gott, ohne Meister.) Das ist – so haben wir es eindrucksvoll erlebt – das
Geheimnis von Resonanz. Und jetzt sind wir die Schöpfer der Zukunft
unseres Unternehmens. Danke, danke, danke!“
Die Stille nach diesen Worten ermöglicht Schöpfung und richtet die
Existenz des Unternehmens neu aus. Die neue Existenz verwandelt das
Umfeld und gestaltet die Umstände günstig. Wirkungen, die gewollt
sind, ziehen die Ursachen an, welche sie zu ihrer Verwirklichung brauchen.
Der Mutterkonzern in Frankreich und der Geschäftsbereich in
Deutschland sind auf gutem Wege, eine Einheit zu werden, mit einer
kulturellen Identität, die nicht mehr französisch ist und nicht mehr
deutsch, sondern europäisch:
In der alten Kultur des deutschen Geschäftsbereichs ist gearbeitet
worden, um Geld zu verdienen. In der neuen Kultur wird jetzt gear-
beitet, um etwas zu bewirken. Früher sind Abläufe von Organisatoren
gestaltet worden. Jetzt werden Abläufe von denen gestaltet, die sie
durchführen. Früher sind Entscheidungsbefugnisse hierarchisch be-
dingt gewesen. Jetzt sind Entscheidungsbefugnisse durch Kompetenz
bedingt. Der Zugang zum Potenzial jedes Einzelnen, der Stolz eines je-
den auf den eigenen Beitrag ist der Schlüssel zur Produktivität.
PRAXISBEISPIEL 9: Konsolidierungsworkshop 223

In der alten Kultur des französischen Mutterunternehmens war Hier-


archie Machtstruktur und Kooperation weisungsorientiert, die Unteren
waren von den Oberen abhängig, Mitarbeiterinteressen und Unterneh-
mensinteressen waren sehr unterschiedlich. Die Unternehmensleitung
hat versucht, Erfolg durch Vorgaben zu erzwingen. Stäbe haben ge-
plant, Vorgesetzte haben entschieden und das „Fußvolk“ hat die Ent-
scheidungen ausgeführt. In der neuen Kultur ist Hierarchie Unterstüt-
zungsstruktur und die Oberen hängen von den Unteren ab. Mitarbeiter-
interessen und Unternehmensinteressen sind zwar nicht kongruent,
aber doch auch nicht mehr gegensätzlich und jeder wirkt an den Ent-
scheidungen mit, zu denen er kompetent beitragen kann.
Viele Mitarbeiter übernehmen gern Verantwortung und sind auf gu-
tem Wege, sich in ihrer Arbeit selbst zu verwirklichen. Die Teilnehmer
der Workshops, die auch gecoacht worden sind, sind dabei am weites-
ten fortgeschritten. Im Unternehmen entsteht – für fast alle spürbar –
ein attraktives Resonanzfeld mit „magnetischer“ Kraft.
Ein Folgeworkshop ist für die Fälle vereinbart, dass für die Mehrheit
der Mitarbeiter und Vorgesetzten des Unternehmens die Klarheit und
Präzision der gemeinsamen Mission neu belebt werden muss, dass neue
außergewöhnliche Situationen eintreten, die die eingepflanzten
„Selbstheilungskräfte“ überfordern, oder dass die Strategie des deut-
schen Unternehmensteils in einen neuen geänderten Rahmen des fran-
zösischen Mutterhauses eingefügt werden soll. Auch zur Ausbreitung
von Resonanz in anderen Teilen des Unternehmens sind Folgework-
shops vorgesehen.

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Visionen wirken stärker als Dynamit 225

10 Visionen wirken stärker


als Dynamit
„Der König von Großbritannien hat die Rechtsprechung behindert. Er hat
Richter von seinem Willen abhängig gemacht. Er hat eine Vielzahl neuer
Verwaltungen eingerichtet und Schwärme von Beamten entsandt, um
unser Volk zu schikanieren und sein Vermögen zu verzehren. Er hat
unsere Meere geplündert, unsere Küsten verwüstet, unsere Städte ver-
brannt und das Leben unseres Volkes zerstört.
Wir, das Volk der Vereinigten Staaten von Amerika, verfügen und er-
richten diese Verfassung, um eine vollkommene Union zu bilden, Ge-
rechtigkeit zu schaffen, in innerem Frieden zu leben, eine gemeinsame
Verteidigung zu ermöglichen, den allgemeinen Wohlstand zu fördern
und die Segnungen der Freiheit für uns und unsere Nachkommen zu
sichern.
Wir glauben, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von
ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten wie Leben, Freiheit und
dem Streben nach Glück ausgestattet sind. Im festen Glauben an den
Schutz der göttlichen Vorsehung verbürgen wir einander unser Leben,
unser Vermögen und unsere geheiligte Ehre.“
Das ist – ich habe verkürzt zitiert – eine starke Vision von Verfas-
sungsvätern. „Im Anfang war das Wort“, definiert der Apostel Johannes
den Urknall – ganz so wie bei der amerikanischen Verfassung. Das Wort
des Schöpfers oder der Schöpfer produziert die Gedanken, die neurona-
len Felder, welche die Realität schaffen. Schöpfungsgeschichten sind
Parabeln, die das Sein so darstellen, dass es vom Bewusstseinszustand
ihrer Kultur aufgenommen werden kann. Die Schöpfungsgeschichte
unserer Physik ist auch eine solche Parabel, mehr nicht; sie schildert uns
die Geschichte bis dahin, „wo der wissenschaftliche Straßenbau gerade
sein vorläufiges Ende gefunden hat“, wie Carl Gustav Jung es ausdrückt.
Die Ontologie Ludwig Wittgensteins, die das Sein aus dem Denken und
das Denken aus der Sprache ableitet, ist der Religion so nahe wie der
Physik. „Und Gott sprach:“, berichtet der Prophet Moses, „Es werde
Licht! Und es ward Licht.“

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W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_10,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
226 Visionen wirken stärker als Dynamit

„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter“, schreibt Franz Kafka und er-
klärt, dass dies nur der unterste Türhüter ist, von Pforte zu Pforte aber
neue Türhüter stehen. „Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal
ich mehr vertragen“, sagt der unterste Türhüter.
Und jetzt denken Sie bitte nicht mehr an die amerikanische Verfas-
sung und nicht mehr an Kafka, sondern an das Buch „Erfolg durch Reso-
nanz – Die unternehmerische Genialität entfachen: offen, human, mu-
tig“, das ist handfester; Sie haben es in Ihren Händen. Stellen Sie sich
vor, dass dieses Buch sich plötzlich vor Ihren Augen vergrößert, aus-
dehnt und den ganzen Raum ausfüllt, in dem Sie es gerade lesen. Das
Buch dehnt sich noch weiter aus und füllt das ganze Haus aus, schließ-
lich den ganzen Ort, in dem das Haus steht, die ganze Region, das ganze
Land, den ganzen Kontinent, die ganze Erde, unser Sonnensystem, die
Milchstraße, den Galaxienhaufen, mit dem die Milchstraße sich syn-
chron bewegt und – das gesamte Universum. Können Sie sehen, dass
dann zwischen dem Buch und dem Universum kein Unterschied mehr
ist; dass dieses Buch das Universum ist; dass – entsprechend der „herme-
tischen“ Weisheit des ägyptischen Gottes Hermes Trismegistos – „Alles
in Einem und das Eine in Allem“ ist?

Wenn Sie sich mit einer Vision identifizieren, mit ihr identisch sind,
dann sind Sie kein Paket aus Fleisch, Knochen und Eitelkeit mehr, dann
sind Sie Ihre Vision. Ihre Vision sprengt die Grenzen Ihres Körpers und
macht Sie größer als Ihren Körper. Wie groß Sie sind und wie lange Sie
so groß bleiben, hängt von der Größe und der Kraft Ihrer Vision ab.

Die Vision ist umfassender, weiter, weniger dicht als der Körper; sie
schwingt höher und durchdringt, wenn sie groß ist, viele Körper, viele
Gehirne, bestimmt deren Denken und Handeln; ganz so wie unser Den-
ken, wenn es groß ist, die nicht denkende Materie, die dichter ist und
tiefer schwingt, beherrscht und gestaltet. Die Visionen großer Unter-
nehmer tragen ein Weltunternehmen 100 Jahre lang. Die Visionen großer
Verfassungsväter tragen eine Weltmacht mehrere Jahrhunderte. Die
Visionen großer Religionsschöpfer tragen ihre Anhänger Jahrtausende.
Die Vision Gottes trägt das für uns erkennbare Universum Milliarden
Milliarden Jahre.
Visionen wirken stärker als Dynamit 227

Wenn die Religion von einem Himmel spricht, der oben ist, so meint
sie damit nicht die blaue Atmosphäre, die die Erde umgibt und deshalb
sowohl oben als auch unten ist; sie meint damit keine „himmlische“
Galaxie irgendwo in der Weite des Alls, sondern eine höhere Frequenz,
die die tieferen Schwingungen überlagert. Und wenn die Religion von
einer Hölle spricht, die unten ist, so meint sie damit nicht den glühenden
Kern unseres Planeten, sondern eine tiefere Frequenz, welche sich in
dem gleichen Raum befindet. „Hoch“ assoziieren wir mit hell und „tief“
mit dunkel. Beides, das himmlische Licht und die höllische Finsternis,
ist hier. Und wo wir uns befinden, hängt von dem Feld ab, das wir um uns
bilden. Es liegt an uns, so zu denken, so zu sein, so auszustrahlen, dass
da, wo wir sind, oben ist.
Bei Heiligen wird das phosphoreszierende Leuchten in der unmittel-
baren Umgebung des Körpers mit einem Heiligenschein dargestellt; er
symbolisiert ein Feld, das jeden Menschen umgibt, aber nicht bei jedem
heilig ist und das mit einem von dem russischen Ingenieurehepaar
Kirlian entwickelten und nach ihm Kirlian-Fotografie benannten Verfah-
ren farbig aufgenommen und reproduziert werden kann. Hass und Liebe,
Leiden und Freuden, Schwächen und Kräfte werden dort sichtbar. Viele,
vor allem Frauen, können in entspanntem Zustand diese „Aura“ der
Menschen sehen; sie können sehen, wie heilig oder wie unheilvoll sie
sind. Nicht nur Frauen, deren Frequenzbandbreite bis in den „Himmel“
reicht, Göttinnen können das auch.
Die Aura zeigt denjenigen Teil unseres Schwingungsfelds, der unsere
Gefühle wiederspiegelt. Gefühle sind das Produkt unseres Denkens. Und
unser Denken ist die Wurzel unserer Sprache und damit auch unserer
Realität. Auf einer höheren Bewusstseins- oder Schwingungsebene ist es
nicht geheim, sondern immer sofort sichtbar, weil es sich auf dieser
Ebene sofort verwirklicht. Gefühle, Sprache und unsere physische Reali-
tät sind Ausdrucksmittel unseres Denkens; nur das Material, aus dem
diese Realität besteht, ist verschieden.
Die physischen Formen sind eine Tarnung, und unsere fünf Sinne
sind auf die Wahrnehmung dieser Tarnung spezialisiert und sehen die
Wirklichkeit hinter ihr nicht. „Meinst du wohl, dass dergleichen Men-
schen von sich selbst und von einander je etwas anderes gesehen haben
als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende

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228 Visionen wirken stärker als Dynamit

Wand der Höhle wirft?“ umschreibt Platon unsere materialistische Illu-


sion. Diese höhere und umfassendere Wirklichkeit können wir uns als
elektromagnetische oder thermische Realität vorstellen, in der jeder
Gedanke augenblicklich so sichtbar ist wie unsere wechselnde Kleidung;
in der die Stärke eines Gefühls die Intensität der Kommunikation be-
stimmt; in der telepathische Kräfte wirken und das verwirklichen – be-
wirken –, was sie fühlen.
Die Wurzeln der neuronalen Felder, in denen wir schwingen, sind die
Gefühle derjenigen Menschen, die diese Felder am stärksten prägen oder
geprägt haben. Jeder, der in einem Feld „schwimmt“, beeinflusst es mit
und verursacht kleine Wellen. Viele Leute verursachen Wellensalat,
manche auch einen grauenvollen Wellensalat. Andere verursachen eine
stetige Brandung und wieder andere Strumfluten oder Gezeiten. In sol-
cher Gestaltungskraft liegt die Aufgabe des homo sapiens. „Das Zweifeln
macht Menschen, das heißt Kinder des Elends; der Glaube aber macht
Gotteskinder und Wundertäter“, sagt Martin Luther dazu, und Friedrich
Schleiermacher: „Das ist des Menschen Ruhm, zu wissen, dass sein Ziel
unendlich ist.“
Diejenigen, die das wissen, sind die kraftvollen Visionäre, die großen
Unternehmer, die Transformatoren der Energien zwischen den Welten,
deren Gefühle überkommene Vorstellungen sprengen, deren Glaube
Berge versetzt, deren Denken die Welt nach ihren Bildern gestaltet und
deren Taten eine neue physische Realität schaffen. „Nichts ist der Ruhm,
die Tat ist alles“, beschreibt Goethe sie; das Plagiat von Karl Marx soll-
ten wir nicht mehr zitieren.
„Panta rhei“ (alles ist im Fluss) erkennt Heraklit aus Ephesos. Alles,
was wir als Schöpfung erkennen, auch alle Materie, ist Schwingung in
einem bestimmten Frequenzbereich. Alles, was ist, existiert nur durch
seinen „Fluss“, durch seine Schwingung. Würden die Anziehungskräfte
des Atomkerns und der Elektronen nicht durch die Fliehkraft ihrer Be-
wegung im Gleichgewicht gehalten, stürzten sie aufeinander und es wäre
nichts mehr. Es sind nicht die Elementarteilchen, aus denen Materie
besteht, es ist deren Bewegung.
Der Durchmesser eines Atoms misst etwa einen millionstel Millime-
ter. Wenn wir den Kern des Atoms auf eine Murmel mit einem Durch-
Visionen wirken stärker als Dynamit 229

messer von einem Zentimeter vergrößern, entspricht die Größe der


Elektronen einem Sandkorn, das im Abstand von 100 Metern mit annä-
hernder Lichtgeschwindigkeit um den Atomkern rast. Das ist wie ein
Propeller oder Ventilator, der, sobald er sich mit Lichtgeschwindigkeit
dreht, für uns als feste Scheibe zu sehen ist. Die Bewegung produziert
die Illusion der Festigkeit, die uns zu umgeben scheint.
Ein Gegenstand mit mittlerer Umdrehungsgeschwindigkeit – ein
Flugzeugpropeller oder Ventilator – ist für uns unsichtbar wie das, was
die Physik „dunkle Materie“ nennt. Dunkle Materie ist Materie in einem
anderen Schwingungsbereich als dem, der von unseren Frequenzen aus
zugänglich, beobachtbar, erfassbar ist.
„Unser“ Universum baut seine „wave function“ (Wellenfunktion), wie
Stephen Hawking es nennt, in dem gleichen leeren Raum auf wie das
Universum aus dunkler Materie. Beide koexistieren sehr ähnlich, wie
verschiedene biologische Arten, die nebeneinander den gleichen Lebens-
raum bewohnen und sich gegenseitig nicht beeinträchtigen, weil – das ist
die Definition einer Art und ihr Unterscheidungsmerkmal – eine natürli-
che genetische Verbindung zwischen ihnen nicht möglich ist. Die Bibel
sagt „und er erkannte sie“, wenn zwei Menschen sich genetisch verbin-
den, sich fortpflanzen. Die Universen in für uns unzugänglichen Fre-
quenzen sind für uns nicht „erkennbar“, also von anderer kosmischer
„Art“ als unser Universum. Deshalb können sie im gleichen „Lebens-
raum“ koexistieren.
Der Physiker Hugh Everett spricht von vielen Welten, „that are all
equally real“ (die alle gleichermaßen real sind), und streicht dabei den
Begriff der Wahrscheinlichkeit aus seinem Wortschatz. Seine Fachkol-
legen, die das nicht verstehen, interpretieren dies als „many histories, all
treated alike by the theory except for their different probabilities“ (viele
theoretisch gleichwertige Abläufe, allerdings mit unterschiedlichen
Wahrscheinlichkeiten), so Murray Gell-Mann. Everett kann sich post-
hum gegen diese Verfälschung nicht mehr wehren.
Das Maß für Frequenz ist nach Heinrich Rudolf Hertz benannt; es
misst die Zahl der Schwingungen pro Sekunde. Unser Gehör erfasst
Schallwellen von 40 bis 14 000 Hertz. Elefanten haben eine tiefere, Mäu-
se eine höhere akustische Frequenzspanne. Schallfrequenzen, die wir

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230 Visionen wirken stärker als Dynamit

nicht hören, sind gleichermaßen real. Unsere Augen sehen Licht in einem
14
sehr schmalen Frequenzband zwischen 10 und 1015 Hertz. Das tiefere
ultrarote und das höhere ultraviolette Strahlenspektrum sehen wir
nicht, aber es ist gleichermaßen real. Das Spektrum elektromagnetischer
Wellen, die wir weder hören noch sehen, aber mit Antennen empfangen
und manchmal körperlich empfinden können, ist nicht begrenzt; ihre
Realität ist von der Wahrnehmung unserer Technik und unserer Sinne
unabhängig.

Die Kräfte im Kosmos wirken unabhängig davon, ob wir sie mit unseren
Sinnen oder unserer Technik erkannt haben, jemals erkennen werden
oder überhaupt erkennen können.

Der physikalische Mechanismus, mit dem sich neuronale Felder aus-


breiten, mit dem Gefühle und Gedanken übertragen werden, ist nicht
erforscht. Entweder sind es noch unbekannte Elementarteilchen oder
bereits bekannte: Neutrinos, die mit annähernder Lichtgeschwindigkeit
ihre Bahnen ziehen. Neutrinos sind „freie“ Elektronen, die sich von der
elektromagnetischen Kraft und von der nuklearen Wechselwirkung –
und damit von einem Atomkern – befreit haben. Würde ein
Neutrinostrahl durch einen Bleiklotz von einem Lichtjahr Dicke
hindurchschießen, bliebe lediglich jedes tausendste Teilchen darin ste-
cken. Natürlich sind Planeten, Sonnen und alle anderen Klötze für diese
Teilchen kein Hindernis. „Unser“ leeres Weltall ist ein „Elementarteil-
chensee“, der in jedem Kubikzentimeter 200 Neutrinos enthält.
Die Energie eines Atomkerns, seine Kernenergie, entspricht, wenn sie
freigesetzt wird, 25 000 000 000 Kilowattstunden. Die Neutrinoenergie
ist schon „befreit“, und ihre Hebelwirkung, wenn sie durch Gefühle und
Gedanken auf eine Vision ausgerichtet wird, ist stärker und dauerhafter.
Neutrinos reisen für immer durch den Kosmos, hören also nie auf, unse-
re Gefühle, Gedanken und Visionen dort zu verbreiten, wo sie auf Reso-
nanz stoßen.
Diese Resonanz nennt die antike Philosophie „sympatheia ton holon“
(Gleichklang mit dem Ganzen); Platon nennt sie „eide“ (Gestalten), deren
„eidola“ (Schatten) die von uns wahrgenommene Realität bilden; Hippo-
krates von Chios „conflatio“ (Zusammenfließen); die mittelalterlich Na-
Visionen wirken stärker als Dynamit 231

turphilosophie nennt sie „correspondentia“ (Entsprechung); Johannes


Kepler „angeborene Ideen“; Gottfried Wilhelm Leibniz „Synchronismus“;
Immanuel Kant „intellectus archetypus“ (der eingepflanzte Intellekt);
Arthur Schopenhauer „prima causa“ (Ur-Sache); Niels Bohr „Korrespon-
denz“; Carl Gustav Jung „Synchronizität“; die deutsche Sprache „Wellen-
länge“ und die englische „chemistry“ (Chemie).
„Nur mit dem Herzen können wir sehen“, umschreibt es Antoine de
Saint-Exupéry, und Konfuzius folgert: „Meine ganze Lehre, in einem
Satz zusammengefasst, ist: Lass nichts Böses in deinen Gedanken sein.“
Schauen Sie erneut dieses Buch an, aber nicht diese Seite, sondern
das Buch als Ganzes, als „holon“, holistisch. Jetzt stellen Sie sich vor,
dass es vor Ihren Augen so klein wird wie Ihr Daumen; dann noch klei-
ner, so wie ein Neuron Ihres Gehirns, wie ein Atom, wie ein Atomkern
und schließlich wie ein Neutrino; aber trotzdem ist es immer noch das
ganze Buch mit seinem gesamten Inhalt. Wir haben gesehen, dass es mit
dem Universum identisch sein kann. Jetzt haben wir das Bewusstsein
des Universums in einem einzigen Neutrino konzentriert.
In jeder Sekunde jagen Millionen von Neutrinos durch unseren Kör-
per, durch unser Gehirn und hinterlassen dort ihre Spuren, wenn diese
mit unserer neuronalen Schwingung synchron sind. Und in jeder Sekun-
de laden wir diese gleichen Millionen von Neutrinos auf, stimmen sie
nach unserer Frequenz und schicken sie auf ihre Bahnen um und durch
die Erde und andere Himmelskörper in die Weiten des Alls.
Stimmgabeln können nur ihre Eigenschwingung „hören“, andere Fre-
quenzen existieren für sie nicht. Klangkörper können in einer Bandbrei-
te von Frequenzen schwingen und ihre Schwingung ausbreiten. Unsere
Gedanken laden die Neutrinos auf und bestimmen das Frequenzband der
Klangkörper, welche im Kosmos nicht diejenigen Kräfte ertönen lassen,
die sie aufladen möchten, sondern diejenigen Kräfte, die ihnen entspre-
chen, die so sind wie sie, mit denen sie harmonieren.
Neutrinos sind die Elementarteilchen, mit denen der Zu-fall auf die
Menschen zufällt, sich auf diejenigen zubewegt, die mit dem Ereignis,
das sie trifft, synchron schwingen; es sind die Elementarteilchen, mit
denen Ein-fälle bei den Menschen einfallen, welche sie anziehen; es sind
die Elementarteilchen, die den Menschen ein-leuchten, denen das ein-

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232 Visionen wirken stärker als Dynamit

leuchtet, womit sie synchron schwingen; es sind die Elementarteilchen,


die Intuitionen an diejenigen Menschen übertragen, die ihre Antennen
auf diese Frequenz eingestellt haben; es sind die Elementarteilchen, die
Goethe ahnt, wenn er sagt: „Wir haben alle etwas von elektrischen und
magnetischen Kräften in uns und üben wie ein Magnet selber eine an-
ziehende und abstoßende Gewalt aus, je nachdem ob wir mit etwas Glei-
chem oder Ungleichem in Berührung kommen.“
Neutrinos können als „Blitze“ mehrere Menschen gleichzeitig anre-
gen und so die berühmten Koinzidenzen auslösen: neue Ideen, Erfindun-
gen, Patente, die „in der Luft liegen“ und deshalb von mehreren Men-
schen unabhängig voneinander zur gleichen Zeit entwickelt werden. Die
Null wird in Indien und im Reich der klassischen Maya gleichzeitig ein-
geführt. Das Telefon wird von Philipp Reis und von Graham Bell gleich-
zeitig erfunden. Das dynamoelektrische Prinzip wird von Werner Sie-
mens und von Charles Wheatstone gleichzeitig ausgearbeitet. Der erste
Halbleiterschaltkreis wird von Jack Kilby und von Robert Noyce gleich-
zeitig realisiert. Der Aidsvirus wird von Jean-Luc Montagnier und von
Robert Gallo gleichzeitig entdeckt.
Ein weiteres Elementarteilchen neben dem Elektron ist das Photon.
Photonen haben eine Präferenz für identische Zustände; wir können
sagen, sie sind „Herdentierchen“, die sich durch „Light amplification by
stimulated emission of radiation“ – Laser – (Verstärkung von Licht durch
stimulierte Strahlenemission) mit identischer Geschwindigkeit in die
gleiche Richtung bewegen und so den Laserstrahl bilden, der medizini-
sche Operationen durchführen, Raketen in der Luft sprengen und Stahl
zerschneiden kann. In der Lasertechnik müssen nur etwa sieben Prozent
der Photonen auf ein Ziel ausgerichtet sein, um ein Feld zu bilden, aus
dem die übrigen 93 Prozent nicht ausbrechen können.
Bei sozialen Feldeffekten müssen nur etwa sieben Prozent der Men-
schen auf ein Ziel ausgerichtet sein, um ein Feld zu bilden, aus dem die
übrigen 93 Prozent nicht ausbrechen können. Die 93 Prozent sind „Mit-
läufer“, in Jungs „kollektivem Unbewussten“ gefangen.

Der Aufbau eines sozialen Feldes erfolgt nicht durch verbissenes Wol-
len, nicht durch kämpferischen Ehrgeiz und nicht durch hektische Be-
triebsamkeit, sondern durch die Kraft der Stille.
Visionen wirken stärker als Dynamit 233

Eine Methode, die diese Kraft hervorbringt, ist die Meditation. Mehr
als 150 wissenschaftliche Untersuchungen weisen die Wirkung der Zen-
Meditation und mehr als 1 000 Untersuchungen die Wirkung der Trans-
zendentalen Meditation auf ein soziales Feld schon bei einer Mitwirkung
von nur einem Prozent der Bevölkerung nach. Während einer Reihe gut
dokumentierter Experimente ist die Kriminalitätsrate in mehreren asia-
tischen und amerikanischen Großstädten um etwa zehn Prozent gesun-
ken. Sieben Prozent gleich ausgerichteter Visionäre in einer menschli-
chen Gemeinschaft – einem Unternehmen, einer Institution, einem Staat
– sind diese Gemeinschaft. „Wir sind das Volk“, rufen die Mitglieder von
Bürgerbewegungen zu Recht, als sie von Leipzig aus den Kommunismus
in Ostdeutschland hinwegfegen. Eine Sprengladung Dynamit ist ein
Heuhaufen dagegen.
Denken ist die Wurzel von Kommunikation, von Sprache, von Gefüh-
len und von Realität; es gestaltet die Welt. Eine klare und präzise Aus-
richtung, die aus unserer Verantwortung für das Ganze erwächst und
ihre Kraft für die Entwicklungsmögichkeiten aller Menschen einsetzt –
das ist es, was Leben lebenswert macht.

Die Flut banaler Texte, trockener Daten und egozentrischer Spiegel-


fechtereien, die unsere Köpfe heiß und unsere Herzen kalt lassen, ge-
stalten nicht, sondern verwässern, verwirren, verseuchen.

Sämtliche „paperwork reduction acts“ (Programme zum Abbau von


Bürokratie) der Vereinigten Staaten erhöhen die Papierflut und ver-
größern die Probleme. Die „tramites“ (Verwaltungsvorgänge) in der ibe-
rischen Welt zwingen die Bevölkerung, mehr zu „tramitar“ (in den Fall-
stricken der Behörden zu verzweifeln) als zu arbeiten. Die Verordnungen
zum europäischen Bananenmarkt regeln mit 3 724 855 Worten – einem
Beschäftigungsprogramm für Heerscharen von Bürokraten – einen ein-
zigen Aspekt des Bananenmarktes. Die zehn Gebote Gottes, wie sie vom
Propheten Moses überliefert und erlassen worden sind, regeln mit 279
Worten sämtliche Lebensbereiche der Menschen. Das ist kraftvoll. Wir
wollen nicht verwaltet werden wie ein Vorgang, wir wollen nicht funkti-
onieren wie ein Funktionär, wir wollen nicht regiert (aus dem lateini-
schen: „gelenkt“) werden wie ein Esel,

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234 Visionen wirken stärker als Dynamit

– wir wollen geliebt und anerkannt werden,


– wir wollen über uns selbst bestimmen, und
– wir suchen einen Sinn hinter dem, was wir tun.

Liebe, Würde und Sinn sind die zentralen Forderungen einer Revolution
durch Resonanz, welche die „liberté, égalité et fraternité“ (Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit) der Französischen Revolution in die Un-
ternehmen bringen.

Liebe hängt mit Freude zusammen, auch mit der Freude, ein Problem
zu lösen, eine Aufgabe zu bewältigen, eine Gefahr zu bestehen. Würde
hängt mit Anstrengung zusammen, auch mit der Anstrengung der Ver-
antwortung, der Leistung, des Risikos. Sinn hängt mit Gott zusammen,
mit dem, was wir werden können, was wir werden wollen und was wir
daraus machen. „Der Mensch kann nicht leben“, sagt Franz Kafka, „ohne
ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich.“
Sie sitzen jetzt irgendwo und lesen dieses Buch. Stellen Sie sich vor,
sämtliche Feuer-und Alarmsirenen heulen. Sie schalten das Radio ein
und hören: „Verlassen Sie nicht Ihr Haus, schließen Sie Fenster und
Türen. Dichten Sie Außenkanten und -öffnungen mit Klebestreifen ab. Es
besteht Vergiftungs- und Lebensgefahr. Lassen Sie das Radio einge-
schaltet, wir informieren Sie.“ Das steigert Ihre Präsenz, Ihre Energien,
Ihre Kraft. Krise ist auf chinesisch wei chi. „Wei“ heißt Vorsicht, Gefahr
und „chi“ Gelegenheit zur Veränderung. Unsere gegenwärtige Krise ist
die Chance. Ohne sie wären wir verloren.
Die Krise schlägt uns vor, Energien, Kräfte und Zauberkünste einzu-
setzen, um uns zu entwickeln. Wenn uns das gelingt, wird der Planet
Erde von selbst, von unserem Selbst, geheilt werden. Dann haben wir uns
von kleinen Zauberern der zweiten Phase – der Phase des Reparaturbe-
triebs der Industriegesellschaft – zu großen Zauberern entwickelt.
Der kleine Zauberer hat Hunger und zaubert sich seine Lieblings-
mahlzeit. Aber die Früchte sind vertrocknet, weil der Fluss versiegt ist.
Daraufhin unternimmt der große Zauberer, dem auch das Wetter ge-
horcht, eine beschwerliche Wanderung zur Quelle, wo die guten Früchte
wachsen, und bringt sie dem kleinen Zauberer. Dieser schaut seinen
PRAXISBEISPIEL 10: Das Schlussgespräch 235

Meister fassungslos an: „Warum hast du nicht einfach Regen gezau-


bert?“ „Das habe ich früher getan“, antwortet der große Zauberer, „aber
die Folgen sind entsetzlich.“
Wir müssen von kleinen Zauberern, die sich von der Lösung eines De-
tailproblems zur nächsten schwingen, zu großen Zauberern werden – zu
in ihrem Selbst verwurzelten und für das Ganze verantwortlichen plane-
taren Unternehmern. Die große unternehmerische Aufgabe, die jetzt
ansteht, ist eine rückstandsfreie und rohstoffunabhängige Energiege-
winnung mit der Leistungsfähigkeit von Turbinen und Triebwerken, von
Verbrennungsmotoren und Atomkraftwerken. Das Unternehmen, das
dies erreicht, wird sich Staaten „untertan“ machen, sie auflösen können.
Bei einem dritten Sequoia-Erlebnis habe ich gesehen, wie wir dieses
Ziel erreichen. Wir dürfen unter den vielen Bäumen, wo wir uns verirrt
haben, nicht den Wald suchen. Wir müssen zur Quelle gehen, wo der
Wald uns findet. Zur Quelle kommen wir gegen den Strom, bergauf.
Kommen Sie mit?

PRAXISBEISPIEL 10: Das Schlussgespräch


„Die deutsche Krähe versucht, eine Muschel aufzupicken, doch es ge-
lingt ihr nicht. Die französische Krähe rät ihr, mit der Muschel im
Schnabel in die Höhe zu fliegen und sie von dort auf einen Felsen fallen
zu lassen, damit sie zerbricht“, so wandelt Monsieur Guérin eine Ge-
schichte des griechischen Dichters Äsop ab, als er nach Abschluss des
Programms mit einem Vertreter der ohm-Resonanzschmiede für Un-
ternehmen zur Schlussbesprechung zusammenkommt.
„Und dann wollten wir unten warten und mit dem Inhalt der Muschel
davon fliegen“, gesteht er seine ursprünglichen Pläne. „Wir haben von
Ihnen gelernt, dass wir damit die Schwächen der Deutschen ausgenutzt
und uns selbst geschadet hätten. Wir haben von Ihnen gelernt, die
Grenzen unseres Gesichtskreises nicht für die Grenzen der Welt zu hal-
ten und die Deutschen zu befruchten – oder uns von ihnen befruchten
zu lassen – wie man es nimmt. Das ist eine aufregende neue Erfahrung,
die Ergebnisse produziert, die wir vorher nicht für möglich gehalten
hätten, und die Spaß macht. Danke.“

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236 Visionen wirken stärker als Dynamit

„Sie haben Ihre deutsche Akquisition erfolgreich integriert, weil Sie


Ihr Unternehmen transformiert haben“, antwortet der Vertreter der
ohm-Resonanzschmiede für Unternehmen, „und Sie haben Ihr Unter-
nehmen erfolgreich transformiert, weil Sie etwas aufgegeben haben.
Ihr ,Meer‘ ist für Sie genauso unsichtbar gewesen wie das Wasser für
den Fisch. Ihr Erfolg hat damit begonnen, dass Sie Ihre deutschen Part-
ner geschätzt haben, ohne sie ändern zu wollen. Die Realität ist von Ih-
rer Wahrnehmung abhängig. Sie haben begonnen, anders zu denken,
und allein dadurch neue Möglichkeiten geschaffen. Jetzt spüren Sie die
Energie dieser Möglichkeiten. Sie sind die Quelle dieses Erfolgs. Ich
gratuliere Ihnen!“

Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung 237

Fazit: Resonanz – das Geheimnis


der Schöpfung
Es ist 1932. Die Last National Bank ist ein blühendes Unternehmen, er-
tragreich und liquide. Cartwright Millingville, der Präsident, ist stolz auf
seine Erfolge – bis zu einem Mittwoch. Als er die Bank betritt, ist irgend-
etwas merkwürdig. Das leise Summen des Geschäftsbetriebs hat sich in
ein seltsames Schrillen vieler Stimmen verwandelt. Es ist der Anfang
dessen, was als Schwarzer Mittwoch endet – der letzte Mittwoch der Last
National Bank.
Die stabile Finanzstruktur der Bank war von einem Netz von Definiti-
onen der Situation abhängig gewesen: vom Glauben an die Gültigkeit des
verzahnten Systems finanzieller Versprechungen, nach denen die Men-
schen ihr Leben organisieren. Die Definition einer Situation ist Teil der
Situation selbst und beeinflusst die weitere Entwicklung. Das Gerücht
über die Insolvenz von Millingvilles Bank hat zu seiner eigenen Erfül-
lung geführt.
Das Gerücht wird zu einer sich selbst erfüllenden Voraussage, die eine
Situation zunächst falsch definiert und dadurch das Verhalten der Men-
schen ändert. Das lässt die ursprünglich falsche Vorstellung richtig
werden. Wie wir auf bestimmte Dinge reagieren, hängt von der Bedeu-
tung ab, die wir den Ereignissen geben. Die Bedeutung von allem ist die
Bedeutung, die wir ihm geben. Wir erfinden die Bedeutungen, handeln
dem entsprechend und das hat reale Konsequenzen. Die Bedeutungen –
ihre Wurzeln – aber sind etwas, wofür wir uns entschieden haben. Immer
hätten wir uns auch anders entscheiden können.
In jeder konkreten Situation steht es dem Management und der Be-
legschaft des Unternehmens frei, der Situation eine – oder auch eine
andere – Bedeutung zu geben. Wir können uns in aller Regel nicht aussu-
chen, ob es regnet oder die Sonne scheint. Aber wir können in beiden
Fällen betrübt sein oder uns darüber freuen; es ist unsere Entscheidung.
Bei dem, was aus dieser Entscheidung folgt, ist es wie in der Liebe: Unse-
re Glaubenssysteme, Wünsche und Leidenschaften treiben uns an und
erschaffen das, was geschieht.

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W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5,
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238 Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung

Das Wetter ist veränderlich und muss so sein. Bilanzen und Ergebnis-
se unserer Unternehmen sind veränderlich und müssen so sein. Wenn
sie in Fels gemeißelt wären, würde die Welt still stehen und sich nicht
drehen. Ist es nicht erstaunlich, dass alles im Universum – von Neutro-
nen, Protonen, Atomkernen, Elektronen, Moleküle, Planeten, Moden,
Sonnen, Galaxien bis zu Galaxienhaufen – sich ununterbrochen dreht?
Die Frage, warum sich alles im Universum unaufhörlich dreht, hat die
Physik bisher nicht beantwortet. Wir können nur feststellen, dass es so
ist und dass wir uns – ob wir wollen oder nicht – mitdrehen müssen. Le-
ben ist Bewegung und erfolgt in Zyklen. So wie wir uns im Rahmen der
vielen sich überlagernden Drehungen und Zyklen bewegen, erschaffen
wir unsere Welt – unsere Zukunft.
Die Physik unterscheidet zwischen Teilchen und Feldern. Teilchen
(zum Beispiel Quarks oder Neutrinos) existieren zu einer bestimmten
Zeit an einem bestimmten Ort. Felder werden zum Beispiel durch den
Elektromagnetismus gebildet oder durch Kernkräfte, die die Elektronen
auf ihren Bahnen um den Atomkern halten. Felder existieren ohne räum-
liche oder zeitliche Begrenzungen; sie lassen sich nicht direkt beobach-
ten, sondern nur an ihren Wirkungen erkennen. Die aus Elementarteil-
chen gebildete Materie spielt im Universum eine untergeordnete Rolle;
entscheidend sind die Felder und ihre Schwingungsmuster.
Alle Versuche, Schwierigkeiten mit äußeren Mitteln zu lösen oder Er-
folg mit Sachmitteln zu erzwingen, funktionieren nicht. Der Fokus auf
äußere Einflussgrößen im Management ist nicht effizient. Unsere äußere
Welt spiegelt immer nur unseren inneren Zustand – unser Bewusstsein.
Bewusstsein hat „Feldcharakter“. Es ist die ganzheitliche Qualität al-
ler neuronalen Elemente und ihrer Interaktionen. Resonanz ist das Maß
für die Gleichschwingung von Wellen zwischen Feldern. Körper im glei-
chen Schwingungszustand sind miteinander „in Resonanz“ und bilden
ein Feld, das bei Gleichschwingung sowohl ausstrahlt als auch anzieht.
Resonanz richtet den inneren Schaltplan von Unternehmen neu aus. Der
Erfolg – er folgt dann, er fällt dem Unternehmen zu: Zu-fall.
Die Gleichartigkeit des Verhaltens wird bei Pflanzen chemisch ge-
steuert, bei Tieren und Menschen neuronal, und das bedeutet elektro-
magnetisch und chemisch. 1018 (= 1.000.000.000.000.000.000) chemi-
Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung 239

sche Reaktionen pro Sekunde werden in unserem Körper von sich über-
lagernden Schwingungen gesteuert, auf deren Empfang wir eingestellt
sind und die wir modulieren. Jeder lebende Organismus ist ein organi-
scher Sensor, der elektromagnetische Wellen
– empfängt,
– aussendet,
– ihnen Widerstand entgegensetzt,
– oder sie verstärkt.
Eingebettet in das Hintergrundrauschen der ganzen Welt empfangen wir
nur das, was unserer Frequenz und unserem Zeitmuster entspricht. Der
Rest wird nicht „wahr-genommen“; er fließt durch uns hindurch wie Rund-
funk- oder Fernsehfrequenzen durch ein Gerät, das darauf nicht einge-
stellt ist. Wenn wir aber in „unserer Frequenz“ angesprochen oder ange-
regt werden, können wir uns diesem Einfluss kaum entziehen; wir reagie-
ren dann zum Beispiel wie eine Geige, die mit den angeregten Saiten klingt.
Mit unserem Leben schwimmen wir in einem reißenden Strom. Dieser
Strom ist die Zeit. Die Qualität der Zeit ist stärker als wir. Jeder Mensch
hat in der Zeit, die er auf der Erde verbringt, eine Aufgabe. Glück und
Erfüllung kann nur der erleben, der diese Lebensaufgabe kennt und sich
ihr verschreibt. Zwei Voraussetzungen müssen für diejenigen erfüllt
sein, die dieses Ziel erreichen wollen:
1. Freiheit
Es scheint, als ob viele von uns von einem großen Regisseur im Him-
mel für die Hauptrolle in einem Drama engagiert sind – dem Drama
unseres eigenen Lebens. Es ist ein Drama in drei Akten: Hoffnung,
Enttäuschung und Resignation. Nur wer diesem Teufelskreis ent-
rinnt und sich von der magnetischen Kraft von Angst befreit, kann
dem Unternehmen nützen.
2. Freude
Verantwortlich für Freude sind Moleküle in unserem Gehirn, die
Neuronen. Sie sind wie ein Spiegel, in den wir schauen und in dem
wir uns selbst sehen. Nicht das, was geschieht, bereitet uns Sorgen,
sondern die Bedeutung, die wir dem Geschehen geben. Wenn wir uns

ȱ
240 Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung

freuen, erhöhen wir die Schwingungsfrequenz der Neuronen und


verwandeln sie in Kraftfelder, die die Wege vor uns ausbreiten, die
wir gehen wollen. Wenn die Arbeit Mitarbeitern Freude bereitet, wer-
den sie einen großen Beitrag leisten können, um die Ziele des Unter-
nehmens zu erreichen.
Die Quantenphysik definiert Möglichkeiten. Welche der unendlich vielen
physikalischen Möglichkeiten tatsächlich geschehen und sich verwirkli-
chen, entscheiden wir selbst über unser Bewusstsein. Wenn das Be-
wusstsein der Mitarbeiter und Führungskräfte eines Unternehmens in
Freiheit durch Freude geprägt ist, können sie – wenn es ihre Lebensauf-
gabe ist – den Sinn ihres Lebens in diesem Unternehmen erfüllen.
Dies ist die Basis für Handlungen durch Resonanz, die einen Kultur-
wandel auslöst. Das Unternehmen wird ein attraktiver Arbeitgeber für
die besten Fachkräfte, die verfügbar sind. Alle setzen sich mit vollem
Engagement für das Unternehmen und seine Ziele ein. Die Ergebnisse,
die wir produzieren, basieren zu 30 Prozent auf unserem Können und zu
70 Prozent auf unserer inneren Kraft. Diese Kraft macht das Unterneh-
men auf dem Markt unschlagbar und sichert ihm eine gute Zukunft.
Außergewöhnliche Leistungen entstehen nicht, weil Führungskräfte
die Leistungsträger motivieren oder ihnen bestimmte Bedingungen
erfüllen. Es ist umgekehrt: Leistungsbereite Mitarbeiter schaffen sich
die Bedingungen, die sie für ihre Spitzenleistungen brauchen. Die Iden-
tifikation der Leistungsträger mit ihrer Aufgabe kommt nicht von au-
ßen, sondern von innen.
Bei den erfolgreichen Unternehmen setzen sich die untersten Mitar-
beiter in der Hierarchie engagiert für die Unternehmensziele ein. Die
meisten Mitarbeiter arbeiten an der Grenze ihres Potenzials und die
Bewältigung ihrer Aufgaben macht ihnen richtig Spaß – sie freuen sich
auf die Arbeit.
Es gibt keine richtigen Entscheidungen und es gibt keine falschen
Entscheidungen; es gibt nur Entscheidungen. Entscheidungen werden
falsch und sind dann Kraftstaubsauger, wenn diejenigen, die sie ausfüh-
ren sollen, sie innerlich ablehnen. Entscheidungen werden richtig und
sind dann Energiebomben, wenn diejenigen, die danach arbeiten sollen,
sich mit ihnen identifizieren.
Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung 241

Die härteste Realität in Unternehmen sind nicht die Zahlen der Bilanz
oder der Gewinn- und Verlustrechnung, ist nicht das Anlagevermögen,
sind nicht Marken, Patent- und Lizenzrechte, nicht Marktanteile oder
der gute Ruf. Die härteste Realität ist das, was die Mitarbeiter über die-
ses, „ihr“ Unternehmen denken. Gedanken und Gefühle sind elektro-
magnetische Einheiten, denen die Wahrnehmung gehorcht. Aus Gedan-
ken und Überzeugungen ergibt sich praktisch alles andere wie „von
selbst“. Das ist das Geheimnis der Resonanz.
Der Leiter einer Himalaja-Expedition berichtet: „Bis wir wirklich ent-
schlossen sind, gibt es Zögern, die Möglichkeit des Rückzugs – immer
Wirkungslosigkeit. Bei allen Arten von initiativem Handeln gibt es eine
elementare Wahrheit, deren Missachtung ungezählte Ideen und hervor-
ragende Pläne zerstört:
In dem Moment, in dem wir uns unwiderruflich entschieden haben,
kommt auch die Vorsehung ins Spiel. Alle möglichen Dinge, die sonst
niemals aufgetaucht wären, sind plötzlich da und unterstützen uns. Ein
ganzer Strom von Ereignissen entspringt der Entschlossenheit, die uns
unvorhergesehene Umstände, Begegnungen und materielle Fördermittel
eröffnet, von denen vorher kein Mensch auch nur hätte träumen kön-
nen.“
Das erinnert uns an eine tiefe Einsicht von Goethe: „Was immer du
tun kannst, oder wovon du träumst, es zu können, fange es an. Ent-
schlossenheit hat den Genius, die Macht und den Zauber in sich“.

ȱ

Literatur 243

Literatur
Theorie und Praxis der Resonanzlehre können sich nicht hinter her-
kömmlichen Referenzen verstecken. Bis auf die Zitate trage ich die Ver-
antwortung allein. Zweifler, Sucher und Versucher werden einzelne As-
pekte vertiefen wollen. Dafür habe ich gemeinsam mit dem Ressourcen-
schürfer der ohm-Resonanzschmiede für Unternehmen Dr. rer. nat. Klaus
Schenck einige Empfehlungen zur weiteren Lektüre zusammengestellt
und kommentiert.
Die Bausteine der Resonanzlehre finden Sie dort nicht. Was ich zu sa-
gen habe, steht in diesem Buch. Und worüber wir nicht reden können,
darüber sollen wir schweigen. Die Statik der Methode der Resonanz-
schmiede können Sie logisch ableiten, ohne jeden Stein zu zählen, jeden
Balken zu berechnen. Wollen Sie das Haus deshalb niederbrennen? Der
Scheiterhaufen der Erbsenzähler wird zum Denk- und Mahnmal werden.
Das Feuer wird weit leuchten und nicht zu löschen sein.

1. Managementmoden sind Modekrankheiten

RICHARD KOCH: Die Powergesetze des Erfolgs. Was die Wirtschaft von
den Naturwissenschaften lernen kann. Campus Verlag, Frankfurt a.
M. 2001 (Original: The Power Laws. The Science of Success).
Biologische, physikalische und nicht-lineare Gesetzmäßigkeiten sind auf
die Geschäftswelt übertragbar und wir können daraus Schlussfolgerun-
gen ableiten. Das Universum ist rastlos, dynamisch und verändert sich
ständig. Unternehmen müssen rastlos, dynamisch und bereit zu ständi-
ger Veränderung sein, wenn sie eine Zukunft haben wollen. Manage-
mentmoden sind kurzatmig und vergänglich. Managementweisheit hat
sich seit antiken Zeiten nicht verändert; sie gilt ewig und bestätigt was
wir jetzt durch Analogschlüsse aus den Naturwissenschaften wieder
entdecken.
Erst nach Fertigstellung dieses Buches bin ich auf die Arbeiten von
Richard Koch gestoßen (neben den Powergesetzen auch „Das 80/20 Prin-
zip“) und habe die Nähe seines und meines Denkens entdeckt: Die Not-

ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
244 Literatur

wendigkeit der strategischen Differenzierung ist bei mir aus dem Gesetz
abnehmenden Grenznutzens abgeleitet, bei Koch aus seinem „cccc =
complete competitors cannot coexist“.

IVAN ILLICH: Die Nemesis der Medizin. C. H. Beck, München 2007.


An Cholera, Typhus und Tuberkulose sehen wir, dass die Medizin Krank-
heiten nicht bekämpft – im Gegenteil: Die moderne Medizin bedroht die
Gesundheit der Menschen. Alljährlich sterben in deutschen Kranken-
häusern 30.000 Menschen an Infektionen, die sie sich dort erst zugezo-
gen haben. Die Medizin schafft ständig neue Möglichkeiten und ver-
schiebt psychisch bedingte Symptome in immer dramatischere
physische Krankheitsbilder. Die Folge ist eine Kostenexplosion, keine
Gesundheitsexplosion.
Analog können wir feststellen, dass Managementmoden Modekrank-
heiten in den Unternehmen auslösen, die von der Beraterzunft erst ge-
schaffen werden. Die Folge ist eine Honorarexplosion, keine Effizienz-
explosion.

TOM DEMARCO: Spielräume. Projektmanagement jenseits von Burn-


out, Stress und Effizienzwahn. Carl Hanser Verlag, München und
Wien 2001 (Original: Slack – Getting Pat Burnout, Busywork, and the
Myth of Total Efficiency).
Unternehmen, die alle Spielräume reduzieren und alles perfekt regeln,
werden bewegungsunfähig wie eine Bürokratie, vor deren „Dienst nach
Vorschrift“ wir uns fürchten. Es gibt keine Vorschrift, die alle Eventuali-
täten abdeckt. Immer werden Menschen gebraucht, die flexibel reagieren
können und auch dürfen. Effizienzwahn reduziert die Effizienz, weil er
die Lern- und Veränderungsfähigkeit lähmt. Risikovermeidung ist die
Flucht vor der Chance.

KARL R. POPPER: Alles Leben ist Problemlösen. Piper, München 1994


Der Begründer der modernen Wissenschaftstheorie gibt in philosophi-
schen Aufsätzen zu Naturerkenntnis, Geschichte, Demokratie, Politik
und Frieden Erklärungen, die durch besondere Anfangsbedingungen
Literatur 245

allein nicht möglich sind, sondern immer eines allgemeinen Gesetzes


bedürfen. Nach Poppers Logik der Forschung ist der Beweis der Wahr-
heit einer Aussage nicht möglich, sondern nur der Beweis, dass eine
Aussage nicht wahr ist. Daraus folgt: 1. Eine Aussage hat solange als
wahr zu gelten, wie sie nicht widerlegt ist; und 2. Nicht widerlegbare oder
„falsifizierbare“ Aussagen sind unzulässig.
Die Aussagen in diesem Buch, die der herrschenden Lehre widerspre-
chen sind – so meine ich – falsifizierbar und damit nach Popper zulässig.

2. Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg

MARSHALL B. ROSENBERG: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache


des Lebens. Jungfermann Verlag, Paderborn 2005 (Original: Nonvio-
lent Communication. A Language of Life)
Der Schüler von Carl Rogers und Klassiker der „gewaltfreien Kommuni-
kation” (die mit „achtsamer Kommunikation“ wohl besser übersetzt
wäre), zeigt, wie viel Detail und Tiefgang hinter der auf den ersten Blick
einfachen Formel von „Beobachten – Einfühlen – Bedürfnisse erkennen –
Bitten” steckt, und hinter der Aufforderung, Gott in jedem anderen Men-
schen zu sehen. Die meisten Menschen spielen „Wer hat Recht?“; die
wenigsten „Wie können wir unser Leben bereichern?“ Wir sind aufrichtig
und integer, wenn wir, unsere Beziehungen und unsere Welt in Harmo-
nie mit unseren Werten sind.
Acht- und einfühlsame Kommunikation hat auch viel mit interkultu-
reller Kompetenz zu tun, die in diesem Kapitel beleuchtet wird. Holz-
hammermethoden sind immer unwirksam und kontraproduktiv.

THOMAS LEIF: Beraten und verkauft. Bertelsmann, München 2006


Ein gründlich recherchierter Einblick in die Arbeitsweise der großen
Unternehmensberatungsfirmen und ihre Auswirkungen auf Wirtschaft,
Politik und öffentliche Verwaltungen. „In einem sehr konkreten Sinne
rückt heute die intellektuelle Eroberung an die Stelle der geografischen
Unterwerfung“ hat Lester Thurow diagnostiziert. Immanuel Kant hätte
die Arbeit der Unternehmensberatungen als Anleitung zur Unmündig-

ȱ
246 Literatur

keit gesehen – als „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Lei-
tung eines anderen zu bedienen“.
Die ohm-Resonanzschmiede für Unternehmen ist keine Unterneh-
mensberatung, sondern löst als Katalysator Prozesse aus, die ohne ihr
Zutun unwahrscheinlich sind. Dieser Prozess wirft die Menschen im
Unternehmen auf sich selbst zurück und setzt das Potenzial frei, das
vorhanden, oft aber verschüttet ist. Führungskräfte und Mitarbeiter
erfahren dabei die Grenzen ihres Potenzials.

W. TIMOTHY GALLWEY: The Inner Game of Work. Random House, New


York 2000.
Eine innere Stimme versucht, uns soziale Zwänge als das einzig Richtige
einzureden. Dieses faszinierende Buch befreit uns hiervon. Das setzt
voraus, dass wir integer und mit uns selbst im Reinen sind. Coaching
kann eine Hilfe auf dem Weg dorthin sein – auf einem Weg mit urteils-
freier Wahrnehmung und Vertrauen über den Umgang mit unseren
Wünschen und Ambitionen, sowie über die Freude, die sich aus dieser
Meisterschaft ergibt.
Bei den Praxisbeispielen in diesem Buch sind Kleingruppenwork-
shops und individuelles Coaching durch die Authentizität des Seins
verzahnt.

JORGE LUIS BORGES: Obras completas. Historia universal de la infamia.


Emecé Editores, Buenos Aires 1954.
Borges Kurzgeschichten sind sprachliche Meisterwerke, inhaltliche
Kraftwerke und historische Präzisionswerke. Den meisten lateinameri-
kanischen Gebildeten gilt Borges als der beste Dichter spanischer Spra-
che im 20. Jahrhundert. Führung ohne Prinzipien, Genuss ohne Gewis-
sen, Reichtum ohne Arbeit, Handel ohne Moral und Wissenschaft ohne
Menschlichkeit sind – frei nach Mahatma Gandhi – die Grundlagen von
Schande oder auch von Verbrechen.
Das Borges-Zitat in diesem Kapitel und die Zitate in späteren Kapiteln
stammen aus der Universalgeschichte der Ehrlosigkeit; die Übersetzun-
gen sind von mir.
Literatur 247

3. Unternehmen sind nicht für den Markt da

CHANDRAN NAIR: Der große Verbrauch. Warum das Überleben unseres


Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt. Riemann Ver-
lag, München 2011
Der in Malaysia geborene Sohn indischer Auswanderer ist Biochemiker
und leitet den Thinktank „Global Institute For Tomorrow“. Weil Asien
dem westlichen Vorbild nicht folgen darf, besitzt es das Potenzial, den
Kapitalismus neu zu erfinden und ihm ein nachhaltiges Gesicht zu ge-
ben. Die amerikanisch-europäische Dominanz neigt sich ihrem Ende zu.
Dieses Buch zeigt neue Perspektiven zum Sinn von Unternehmen auf,
die uns aus der Sackgasse herausführen können, in welche eine Verabso-
lutierung des Marktes uns geführt hat.

JARED DIAMOND: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder unter-


gehen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2005 (Original: Collapse. How Socie-
ties Choose to Fail or Succeed)
Eine Analyse der unterschiedlichen Arten des oft überraschend kurzfris-
tigen Niedergangs von Gesellschaften. Historische Beispiele sind die
Osterinseln, Pitcairn, Anasazi, Maya und die Wikinger in Grönland. Ak-
tuelle Beispiele sind Ruanda, Haiti und Montana. Aber es gibt nachhalti-
ge Gegenbeispiele in Neuguinea, Tikopia, Tokugawa/Japan u.a. und da-
raus lassen sich Gesetzmäßigkeiten und Handlungsoptionen ableiten.
Die Frage im Zusammenhang mit diesem Buch ist, ob unsere gegen-
wärtige, den Markt verabsolutierende Form des Kapitalismus ein Modell
ist, das zum Aussterben verdammt ist, weil es an seinen eigenen Wider-
sprüchen zugrunde gehen könnte.

LUCY KELLAWAY: Depptop. Ein Büro-Roman. Scherz/S. Fischer Frank-


furt a. M., 2006 (Original: Who moved my blackberry?)
Eine schaurig-schöne, durchgehend in e-Mail- Format geschriebene Sati-
re über die opportunistische Mischung von schönfärberischer Selbstdar-
stellung, Tricksereien und der Zuweisung von Sündenbockrollen, die der
Markt manchmal hervorbringt.

ȱ
248 Literatur

Auch Business Coaching tendiert oft dazu, die Vorgaben des Marktes
als quasi göttlich zu betrachten und ihnen die Menschen unterzuordnen.
Die Botschaft dieses Buches ist eine andere.

GARETH MORGAN: Images of Organization. Sage Publications, Thou-


sand Oaks/USA 1995
Eine umfassende Darstellung exemplarischer “Metaphern” oder Per-
spektiven zur Beschreibung von Organisationen. Je nach diesen Vorga-
ben kann eine Diagnose oder die Auswahl passender Interventionen sehr
unterschiedlich ausfallen. Ein brillanter, tiefgründiger Klassiker, der
zeigt, wie wir das erschaffen, was wir wahrnehmen, z. B. die Organisati-
on als Maschine, als Organismus, als Gehirn, als Kultur, als Gefängnis
oder als Machtinstrument.
Gareth Morgan hat auf die praktische Arbeit der ohm-Resonanz-
schmiede prägenden Einfluss gehabt.

4. Erfahrung ist nicht übertragbar

CHIP HEATH, DAN HEATH: Switch. How to change when change is hard.
Random House Business Books, London 2010
Die eingängige Metapher vom Reiter (der für die Ratio steht), vom Ele-
fanten (der die Emotionalität symbolisiert) und vom Pfad (der mit Leit-
planken versehen ist). Am besten werden alle zugleich als Adressaten
von Veränderungsinterventionen genutzt. Ein mit vielen Geschichten
und Beispielen garnierter Bestseller in den USA, der aufzeigt, wo und
wann Veränderungen funktionieren, aber auch wo und wann sie zum
Scheitern verurteilt sind.
Der Schmied verformt das Eisen. Der Resonanzschmied verändert das
Schwingungsfeld im Unternehmen. Die ohm-Resonanzschmiede für
Unternehmen tut das offen, human und mutig. Veränderer aller Art pro-
fitieren auch von dem Heath-Buch.
Literatur 249

MATTHIAS ZUR BONSEN: Leading with Life. Lebendigkeit im Unterneh-


men freisetzen und nutzen. Gabler, Wiesbaden 2009
Eine Beschreibung der Möglichkeiten, Selbstorganisationsprozesse
(„Muster des Lebens“) zu verstehen und methodisch für die Ausrichtung
von Unternehmen einzusetzen – zum Nutzen der Gemeinschaft („Genui-
ne Contact“). Die Methoden hierzu sind Dialog, „Open Space“ und „Dy-
namic Facilitation“.
Gewöhnliches Licht ist inkohärent. Ein Laserstrahl ist kohärent. Un-
ser normales Denken ist inkohärent. Wenn die Menschen in einem Un-
ternehmen kohärent denken, haben ihre Gedanken eine unglaubliche
Kraft; sie drängen auf Manifestation. Das ist das Geheimnis unserer
Resonanzworkshops.

PETER KRUSE: next practice – Erfolgreiches Management von Instabili-


tät. Veränderung durch Vernetzung. Gabal, Offenbach 2009
Erkenntnisse und Praxisregeln für das Wahrnehmen von und Navigieren
in komplexen Situationen (Organisationen, Märkten etc.) und das Mana-
gement von Instabilität mit Netzwerkintelligenz. Es gibt gültige Grund-
prinzipien bei Veränderungsprozessen, die beachtet werden müssen,
wenn diese Prozesse erfolgreich gemanagt werden sollen, z. B. die Unter-
scheidung zwischen Funktionsoptimierung und Musterwechsel. Die
Verteidigung persönlicher Ressourcen und Machtbereiche lähmt die
Entwicklung und kann die unternehmerische Existenz bedrohen.
Kruses Ansatz ist kompatibel mit der Arbeitsweise der ohm-
Resonanzschmiede für Unternehmen.

STEVEN D. LEVITT, STEPHEN J. DUBNER: Freakonomics. A rogue economist


explores the hidden side of everything. Harpercollings, New York
2006
Die Autoren – Ökonomen – stellen Fragen, die in der Ökonomie nicht
üblich sind und beantworten sie mit dem Methodenkasten der Ökono-
mie. Damit eröffnen sie einen ungewöhnlichen Zugang zur Verhaltens-
ökonomie – einem Gebiet mit gegenwärtig beachtlichen wissenschaftli-
chen Fortschritten.

ȱ
250 Literatur

In der ohm-Resonanzschmiede für Unternehmen beziehen wir uns auf


den Philosophen Ludwig Wittgenstein: Unsere Fragen markieren die
Grenzen unserer Welt. In unserer praktischen Arbeit stellen wir Fragen,
die bisher nicht denkbar waren und eröffnen so konkrete Möglichkeiten,
die bis dahin nicht denkbar waren.

GUSTAV BERGMANN: Die Kunst des Gelingens. Wege zum Vitalen Unter-
nehmen. Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 2001
Möglichkeiten zur Gestaltung nachhaltig vitaler Organisationen werden
entlang eines achtphasigen „Lern- und Lösungszyklus“ präsentiert und
von „problemerzeugenden Pseudolösungen“ abgegrenzt – vor dem theo-
retischen Hintergrund aus Systemtheorie, Konstruktivismus, Evolution,
Gestalt und Persönlichkeitstypologien. Die Wirklichkeit wird zunächst
aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und beschrieben und zu
einer Wirklichkeit mit gemeinsamer Basis (Common Ground) und ge-
meinsamen Zukunftsbildern (Visionen) geformt.
Die Arbeit von Bergmann hat die Vorgehensweise der ohm-Resonanz-
schmiede für Unternehmen befruchtet.

M. & J. F. HARTKEMEYER, L. FREEMAN DHORITY: Miteinander Denken. Das


Geheimnis des Dialogs. Klett-Cotta Stuttgart 2003 und DAVID BOOHM:
Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussion. Klett-Cotta,
Stuttgart 2002.
Lernen aus Erfahrung kann darin bestehen, dass wir Gedanken, die wir
für die Wahrheit gehalten haben, durch Gedanken ersetzen, die wir ha-
ben wollen. Dabei lehrt uns die Erfahrung, dass „die Wahrheit nicht in
der Mitte (liegt), sondern rundherum wie ein Sack, der mit jeder neuen
Meinung, die man hineinstopft, seine Form ändert, aber immer fester
wird!“ (Robert Musil).
Unsere Resonanzworkshops vermitteln diese Erfahrung und erschaf-
fen so eine neue Wahrheit – eine neue Realität im Unternehmen. Dieses
Buch führt in das entsprechend Denken ein.
Literatur 251

DAVID WHYTE: The Heart Aroused. Poetry and the Preservation of the
Soul in Corporate America. Bantam Doubleday Dell, New York 1994.
Der Literat und Kenner von „Corporate America“ behandelt tiefgründig
und besinnlich das Spannungsfeld zwischen der ewigen Seele und dem
termingebundenen Management, zwischen dem Feuer der Innovation
und dem Frost der Konsolidierung, zwischen der Weisheit der Mythen
und den Zwängen der Arbeitswelt, zwischen der Kraft des Herzens und
der Verzweiflung durch Umstände, zwischen dem Sein, das immer währt
und dem Handeln, das vergeht.
Das Whyte-Zitat in diesem Kapitel stammt aus einer Dichterlesung
vom 15. Mai 1995 in London.

5. Sachkonflikte gibt es nicht

ANITA VON HERTEL: Professionelle Konfliktlösung. Führen mit Mediati-


onskompetenz. Campus, Frankfurt a. M. 2005
Ein exzellentes Lehrbuch zur Lösung von Konflikten mit einer großen
Vielfalt der Quellen, Breite und Tiefe der Abhandlung, erfahrungsbe-
währter Praxisnähe und zugleich sprudelnder Lebendigkeit.
Wenn wir in der ohm-Resonanzschmiede Mediationsaufgaben lösen,
tun wir das auf der Grundlage der von Anita von Hertel entwickelten
Bausteine und mit Schritten, die sie ALPHA-Struktur nennt.

GUNTER DUECK: Topothesie. Springer, Heidelberg 2005


Topothesie ist die lebhafte Schilderung einer wunderschönen, vorge-
stellten Welt. Duecks Meisterwerk mit gewaltigem philosophischem
Tiefgang krönt die beiden vorangegangenen Werke seiner Sinn-des-
Lebens-Trilogie (Omnisophie und Supramanie). Er schildert unterschied-
liche Arten von Menschen: wahre, richtige, natürliche, autarke, normso-
ziale und fühlende und zeigt, was aus diesen werden könnte – und was
unter den normierenden Bedingungen normaler Erziehung und späterer
Behandlung meist stattdessen aus ihnen wird.

ȱ
252 Literatur

In der praktischen Arbeit der ohm-Resonanzschmiede setzen wir


nicht die Dueck’sche Typologie ein, sondern das „Human Brain
Dominance Instrument“ (hbdi) zur Analyse von Gehirndominanz und
Denkstilen.

DAVID A. SCHMALTZ: The Blind Men and the Elephant. Mastering


Project Work. How to transform fuzzy responsibilities into meaning-
ful results. Berrett-Koehler, San Francisco 2002
Wo immer einer der blinden Männer den Elefanten berührt (Bauch, Bein,
Kopf, Rüssel, Stoßzahn, Schwanz) erfährt er eine andere Realität. Oft löst
das Glaubenskriege aus, die wir in der Wissenschaft, in der Politik und
in unseren Unternehmen führen.
Das von Schmaltz beschriebene Gleichnis geht auf ein berühmtes Ge-
dicht von John Godfrey Saxe (1816 – 1887) zurück: „The Blind Men and
the Elephant“. In unseren Resonanzworkshops erwecken wir es mit
Kurzfilmen aus ganz anderen Bereichen zum Leben. So wird die Bereit-
schaft ausgelöst, Dinge in Frage zu stellen und die Perspektive zu wech-
seln.

The Blind Men and the Elephant


It was six men of Indostan
To learning much inclined,
Who went to see the Elephant
(Though all of them were blind)
That each by observation
Might satisfy his mind.
The First approached the Elephant,
And happening to fall
Against his broad and sturdy side,
At once began to brawl:
“God bless me but the Elephant
Is very like a wall.”
Literatur 253

The Second, feeling of the tusk,


Cried, “Ho! What have we here
So very round and smooth and sharp?
To me ’tis mighty clear
This wonder of an Elephant
Is very like a spear!”
The Third approached the animal,
And happening to take
The squirming trunk within his hands,
Thus boldly up and spake:
“I see,” quoth he, “The Elephant
Is very like a snake!”
The Fourth reached out an eager hand,
And felt around the knee,
“What most this wondrous beast is like
Is mighty plain,” quoth he;
“’tis clear enough the Elephant
Is very like a tree!”
The Fifth who chanced to touch the ear,
Said: “E’en the blindest man
Can tell what this resembles most;
Deny the fact who can,
This marvel of an Elephant
Is very like a fan!”
The Sixth no sooner had begun
About the beast to grope,
Than, seizing on the swinging tail
That fell within his scope,
“I see,” quoth he, “the Elephant
is very like a rope!”
And so these men of Indostan
Disputed loud and long,
Each of his own opinion
Exceeding stiff and strong,
Though each was partly in the right,
And all were in the wrong!

ȱ
254 Literatur

Moral
So oft in theologic wars,
The disputants, I ween,
Rail on in utter ignorance
Of what each other mean,
And prate about an Elephant
Not one of them has seen!
John Godfrey Saxe (1816–1887)

FRIEDEMANN SCHULZ VON THUN, JOHANNES RUPPEL, ROSWITHA STRATMANN:


Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte.
Rowohlt, Reinbek 2000
Das Taschenbuch komprimiert die besten Modelle und Werkzeuge aus
Schulz von Thuns dreibändigem Klassiker „Miteinander reden 1, 2 und 3“
(1981, 1989, 1998) gebrauchsgerecht auf 190 Seiten.
Bei Kommunikationstrainings bieten diese Modelle eine eingängige
Unterstützung, aus der sich didaktisch wirksame Übungen ableiten
lassen.

6. Organisatorische Macht ist wirkungslos

FRIEDRICH GLASL, TRUDE KALCHER, HANNES PIBER (HRSG.): Professionelle


Prozessberatung. Das Trigon-Modell der sieben OE-Basisprozesse.
Haupt, Bern & Freies Geistesleben, Stuttgart 2005
Ein detailreiches, theoretisch fundiertes und praxisnahes Kompendium
zur Organisationsentwicklung und zum Change Management mit nütz-
lichen Modellen auf der Basis eines ganzheitlichen Menschenbildes.
Die ohm-Resonanzschmiede betreibt Organisationsentwicklung für
Unternehmen. Das von Glasl, Kalcher und Piber herausgegebene Werk
ist eine der Quellen, aus denen wir schöpfen.
Literatur 255

ROSWITA KÖNIGSWIESER, MARTIN HILLEBRAND: Einführung in die syste-


mische Organisationsberatung. Carl Auer, Heidelberg 2005
Das Wichtigste zum Thema, kurz, kompakt und komplex. Eine empfeh-
lenswerte Lektüre. Die umfassende Darstellung mit theoretischem Hin-
tergrund und Praxisbeispielen ist das Ausgangswerk von ROSWITA
KÖNIGSWIESER, UWE CICHY, GERHARD JOCHUM (HRSG.): SIMsalabim. Verän-
derung ist keine Zauberei. Systemisches IntegrationsManagement.
Klett-Cotta Stuttgart 2001. Harte Fakten und weiche Einflussgrößen,
Strategie, Struktur und Kultur werden miteinander vernetzt, weiterent-
wickelt und um eine „Logik von Unternehmensveränderungen“ und eine
„cultural due diligence“ ergänzt.
Die Werke von Königswieser haben unsere Methodik angeregt und be-
reichert.

ROMAN PICHLER: Scrum. Agiles Projektmanagement erfolgreich einset-


zen. dpunkt verlag, Heidelberg 2008
„Scrum“ ist ein agiles Managementframework, das sich auf alle Arten
der Softwareentwicklung anwenden lässt und Kundenzufriedenheit,
sowie Wertschöpfung steigert. Mit klarer Sprache und Struktur führt der
Autor in Scrum ein, gibt einen fundierten Überblick und praxisnahe
Anleitungen für den Einsatz der Methodik.
Die Haltung dahinter ist das Wissen, dass organisatorische Macht
wirkungslos ist. Die Softwareentwicklung hat hierbei eine Vorreiter-
funktion und die Lektionen sind auf andere Managementfelder über-
tragbar.

REINHARD K. SPRENGER: Vertrauen führt. Campus, Frankfurt a. M. 2002


Ein Essay über Vertrauen, das mit unkonventioneller Argumentation
darlegt was es ist, was es nicht ist, wozu es dient und wie man es prakti-
ziert. Das klassische Kultbuch von REINHARD K. SPRENGER: Mythos Moti-
vation. Wege aus einer Sackgasse. Campus Frankfurt a. M. 1995. Auch
nach über 15 Jahren ist es noch eine aktuelle und eloquente Diagnose die
vermeintliche „Motivation“ als Eigentor entlarvt – als eine Verführungs-
technik, die innere Kündigung und Burn-Out-Symptome verursacht. Die

ȱ
256 Literatur

Incentive-Branche hebt durch Bedrohen, Bestrafen, Bestechen und Be-


lohnen das Reiz- und Anspruchsniveau und produziert eine Abschöp-
fungsmentalität, welche die Selbstachtung der Abgewerteten untergräbt
und den Unternehmen schadet.
Die ohm-Resonanzlehre geht davon aus, dass Leistung nicht durch
Motivation entsteht, sondern aus dem Inneren jedes Einzelnen – durch
die Gelegenheit zu persönlichem Wachstum, die wir als die tiefere Exis-
tenzberechtigung der Unternehmen sehen.

MARTIN GERBER, HEINZ GRUNER: FlowTeams – Selbstorganisation in Ar-


beitsgruppen (Orientierung 108). Credit Suisse, Goldach/CH 1999
Ein Arbeitsbuch, das nicht auf organisatorische Macht vertraut, sondern
bei Besprechungen und Teamwork eine andere, wirksame Vorgehens-
weise einführt, die von den Gesetzmäßigkeiten sich selbst organisieren-
der Systeme in der Natur abgeleitet ist.
Teamarbeit ist eine zentrale Säule der Methode der ohm-Resonanz-
schmiede für Unternehmen.

M. MITCHELL WALDROP: Complexity – The Emerging Science at the Edge


of Order and Chaos. Simon & Schuster, New York 1993
Moleküle bilden Zellen, Neuronen bilden Gehirne, Arten bilden Ökosys-
teme, Wirtschaftssubjekte bilden Wirtschaftssysteme, Bürger bilden
Staaten. Seit dem Urknall nimmt die Komplexität zu und wir befinden
uns erst am Anfang. Der Physiker Waldrop gibt einen Überblick über den
Stand der interdisziplinären Komplexitätsforschung, wie sie insbeson-
dere am Santa Fe Institute in New Mexico, USA, betrieben wird.
Verschiedene Arbeiten zur Komplexitätsforschung haben das Gedan-
kengebäude der Resonanzlehre beeinflusst, ohne dass die Spuren kon-
kret nachzuzeichnen sind. Neben Waldrops Buch gehören hierzu: STUART
A. KAUFFMAN: At Home in the Universe; MICHAEL F. BARNSLEY: Fractals
Everywhere; JOHN BRIGGS, F. DAVID PEAT: Turbulent Mirror – An Illustrated
Guide to Chaos Theory & the Science of Wholeness; und JOHN HOLLAND:
Hidden Order – How Adaptation Builds Complexity.
Literatur 257

7. Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie

KLAUS SCHENCK: Krisen – Merkmale, Reaktionen und Lösungsstrate-


gien. In: Lutz Becker, Johannes Erhardt, Walter Gora (Hrsg.): Führen
in der Krise. Symposion Publishing, Düsseldorf 2009
Elemente der Krise sind Zeitdruck, Gefahr, kein Spielraum, eilbedürftige
Entscheidungen und – vielleicht – eine Chance, falls wir die Krise überle-
ben. Der Molekularbiologe, Hochschullehrer, Innovationsmanager und
Ressourcenschürfer der ohm-Resonanzschmiede zeigt, dass unsere Re-
aktionen in der Krise biologisch angelegt sind, welche Methode der Lö-
sungsorientierung in der Krise funktioniert und wie die Konzentration
auf Engpässe (Theory of Contraints) uns hilft, Krisen zu bestehen.
Know-how und Erfahrung des Autors stehen in der ohm-Resonanz-
schmiede für Unternehmen zur Verfügung.

DOMENICO LEPORE, ODED COHEN: Deming and Goldratt. The Theory of


Constraints and the System of Profound Knowledge. North River
Press, Great Barrington MA/USA 1999
Die Autoren verbinden die „Theory of Contraints“ (Die Theorie der be-
grenzten Möglichkeiten) und das „Total Quality Management (TQM)“ zu
einem einheitlichen Konzept. Das Engpass-Denken von Eliyahu M.
Goldratts wird genutzt, um die Prozesskontrolle von W. Edwards Deming
auf kritische Punkte zu fokussieren und so ohne zusätzlichen Aufwand
noch wirksamer zu machen.
Einige der zentralen Punkte von Leopore und Cohen sind auch zentra-
le Bestandteile unserer Resonanzarbeit in Unternehmen, z. B. dass Angst
jede vernünftige Lösung blockiert, dass in komplexen Systemen die Ur-
sache-Wirkungskette umgekehrt sein kann, dass Verbesserungen, die
sich nicht auf den Engpass auswirken, Zeitverschwendung sind.

ȱ
258 Literatur

KURT G. BLÜCHEL, HELGE SIEGER (HRSG.): Krisenmanagerin Natur. Was


Wirtschaft und Gesellschaft vom erfolgreichsten Unternehmen aller
Zeiten lernen können. DWC Medien, München 2009
Zehn Autoren lassen sich von der Bionik für eine nachhaltige Technolo-
gie- und Organisationsentwicklung inspirieren.
Die Schöpfung entwickelt das Universum seit Milliarden von Jahren
auf eine Art Selbstorganisation. Soweit wir es wissenschaftlich erkennen
können, ist dieser Prozess nicht geplant. Resonanz ist ein bedeutsames
Instrument der Schöpfung. Auch die Resonanzlehre überträgt aus der
Bionik abgeleitete Weisheit auf die Unternehmensentwicklung.

KENNETH BLANCHARD, PATRICIA ZIGARMI, DEA ZIGARMI, WILLLIAM ONCKEN


JR., HAL BURROWS, DOONALD CAREW, EUNICE PARISI-CAREW: Das Minuten-
Manager-Buch. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2007
Millionenfach verkaufte, verhaltenspsychologisch fundierte, eingängige
Managementfabel über die Wirksamkeit von präzise gestalteten Zielen,
Lob und Tadel, wenn sie mit Respekt für die Person verbunden werden.
Der Dreifachband enthält die einzelnen Bücher zu Führungsstilen, zum
Klammer-Affen und zu Hochleistungs-Teams. Blanchard hat den legen-
dären Spruch „catch them doing something right“ geprägt.
Die locker, kurz und prägnant formulierten Tipps sind das „kleine
Einmaleins“ auch unserer Arbeit.

ROSAMUND STONE ZANDER, BENJAMIN ZANDER: The Art of Possibility.


Transforming Professional and Personal Life. Penguin, New York
2002
Die zauberhafte Einladung einer Therapeutin und eines Dirigenten zu
einer Reise in das unbegrenzte Land der Möglichkeiten, jenseits der
Grenzen unserer alltäglichen Gewohnheitssichtweisen. Mit den vorge-
stellten „12 practices“ lassen sich Hindernisse auf dieser Reise leicht und
gewinnbringend überwinden.
Benjamin Zander bringt als Dirigent Nichtprofis zu Höchstleistungen.
Das ist auch das Geheimnis der Erfolge der ohm-Resonanzschmiede für
Literatur 259

Unternehmen, denn wenn wir strenge Maßstäbe anlegen, sind wir alle
Nichtprofis. Seine Frau beleuchtet die Hintergründe. Ein außergewöhnli-
ches Buch, das den Leser beeindruckt und unsere Arbeit beeinflusst hat.

STEPHEN HAWKING: Die illustrierte Kurze Geschichte der Zeit. Rowohlt,


Reinbek 2000 (Original: The Illustrated A Brief History of Time)
Die Grafisch wunderbar ergänzte, brillante Darstellung eines schwieri-
gen Themas von einem ungewöhnlichen Physiker: Zeit entsteht durch
die Ausdehnung des Raumes seit dem Urknall. Nach einer langen Zeit
der Ausdehnung wird das Universum kollabieren und die Zeitachse in die
Gegenrichtung laufen. Das bedeutet nicht, dass Spiegeleier sich wieder
in rohe Eier verwandeln, aber, dass die zunehmende Komplexität, die
Bedingung für Entwicklung ist und Leben hervorbringt, sich in einfache
Strukturen auflöst.
Die Vergangenheit haben wir irgendwie bewältigt und „abgelegt“. Le-
ben ist eine Wanderung auf dem Grat zwischen Vergangenheit und Zu-
kunft, den wir Gegenwart nennen, sowie zwischen Ordnung und Chaos,
den wir Entwicklung nennen. Dieser Grundgedanke der Resonanzlehre
ist von Hawking angeregt.

8. Mitarbeiter sind Resonanzkörper

JOSEPH CAMPBELL: Das bist du. Die spirituelle Bedeutung biblischer


Geschichten, Wunder und Gleichnisse. Ansata/Econ Ullstein List
München 2002 (Original: „Thou Art That – Transforming religious
metaphor) und JOSEPH CAMPBELL: Der Hero in tausend Gestalten. In-
selverlag, Frankfurt 1999 (Original: The Hero with a Thousand Faces)
Der bekannte Mythenforscher packt Mythologie, Religion, Schöpfungs-
geschichte – und damit die menschlichen Psyche und Spiritualität – in
das Muster einer „Heldenreise“. Grundlegende Bücher des wohl bekann-
testen Mythenforschers im 20. Jahrhundert. Campbell lädt uns ein, bibli-
sche Themen nicht historisch-wörtlich falsch zu verstehen, sondern als
Ausdruck psychischer Entwicklungsvorgänge und spiritueller Meta-
phern zu begreifen.

ȱ
260 Literatur

Campbells Weg zur Weisheit hat Ähnlichkeiten mit meinem Weg:


Nichts auf der Erde ist neu. Alle Menschen funktionieren oder „ticken“
ähnlich. Die Grundstruktur der „Heldenreise“ findet sich in allen Mythen
wieder und auch in jedem von uns: Wir leben unser Leben vor uns hin
und dann ergeht der Ruf an den Helden …

FRANCISCO J. VARELA: Autonomy and autopoises. In: G. ROTH & H.


SCHWENGLER (EDS.): Self-organizing systems. Campus, Frankfurt und
New York 1981. HUMBERTO R. MATURANA, FRANCISCO J. VARELA: El árbol
del conocimiento, Secretario General de la OAS, Santiago de Chile
1987 und FRANCISCO J. VARELA, EVAN THOMPSON, ELEANOR ROSCH: The
Embodied Mind – Cognitive Science and Human Experience. The MIT
Press, Cambridge MA/USA 1993.
Das „Gesetz des Dschungels“ der klassischen Evolutionslehre und der
klassischen Wirtschaftslehre muss den Maximen von Kooperation und
Toleranz weichen, die allein das Überleben des Menschen auf der Erde
zulassen: „Die Welt, die jedermann sieht, ist nicht die Welt, sondern eine
Welt, die wir mit anderen hervorbringen… Dies impliziert eine Ethik, die
unentrinnbar ist.“ Das neue Verständnis elementarer Lebensvorgänge
stellt unser tradiertes Weltverständnis in Frage. Der Neurologe Varela,
vormaliger Forschungsdirektor der École Polytechnique de Paris, ist ein
führender Repräsentant der naturwissenschaftlichen Revolution, die am
Ende des 20. Jahrhunderts die Biologie erschüttert hat. Das wissen-
schaftliche Erdbeben in dieser Disziplin ist vergleichbar mit dem der
Physik zu Anfang des Jahrhunderts.
Meine Ausführungen zu neuronalen Schwingungen in diesem Buch
beziehen sich auf Forschungsergebnisse von Varela. Weitere Quellen
sind: PETER TOMPKINS, CHRISTOPHER BIRD: The Secret Life of Plants; und
RUPERT SHELDRAKE: A New Science of Life – The Hypothesis of Formative
Causation. Die Singvögelstudie, auf die ich mich beziehe, stammt von
den Zoologen JEFF S. WYLES, JOSEPH G. KUNKEL, AND ALLAN C. WILSON: Birds,
behavior, and anatomical evolution. In: Proceedings of the National
Academy of Science, U. S. A., Vol. 80, pp. 4394-4397, July 1983.
Literatur 261

FELIX VON CUBE: Lust an Leistung. Die Naturgesetze der Führung. Piper
München 2006 ist eine Fortsetzung von FELIX VON CUBE, D. ALSHUTH:
Fordern statt Verwöhnen. Neue Erkenntnisse der Verhaltensbiologie
in der Führung. München 1989.
Von Konrad Lorenz, dem Klassiker der Erforschung des Tierverhaltens,
haben von Cube und Alshuth das Konzept des „Appetenzverhaltens“
übernommen – das urgewaltige Streben jedes Lebewesens nach Erfül-
lung seines genetischen Programms. Von Milhaly Csikszentmihalyi
haben sie den Begriff des „Flow“ übernommen – ein gesteigertes Hochge-
fühl, das sich aus der Verbindung vom Lust und Anstrengung ergibt, dem
völligen Aufgehen in einer Aufgabe. Die Zuordnung von Anstrengung zu
Arbeit und von Lust zu Freizeit ist ein Verstoß gegen evolutionäre Gesetze.
Resonanzarbeit optimiert Leistung durch Herausforderung und Aner-
kennung. Mitarbeitern werden immer wieder neue Aufgaben zur Lösung
übertragen – seien es andersartige oder schwierigere – oder ihnen wird
Gelegenheit gegeben, selbst neue Probleme zu finden.

9. Unternehmer sind Neuronenkraftwerke

DONALD KRAUSE: Die Kunst des Krieges für Führungskräfte. Sun Tzus
alte Weisheit – aufbereitet für die heutige Geschäftswelt. Wirt-
schaftsverlag C. Ueberreuter Wien 1996 und MIYAMOTO MUSASHI: Das
Buch der fünf Ringe. Econ, Düsseldorf 1993
2.500 alte chinesische Texte enthalten nützliche Hinweise zu Führungs-
kompetenz, Strategie, Organisation, Konkurrenzkampf und Kooperati-
on. Krause bereitet Sun Tzus „13 Gebote der Kriegskunst“ für heutige
Leser auf. Erleuchtung bedeutet im Zen-Buddhismus nicht Verhaltens-
änderung, sondern die Anerkennung der kosmischen Gesetze. Diese
Gesetze werden durch Selbstverwirklichung erkannt. Musashi, ein Wei-
ser des Schwertes, ist nie besiegt worden. Im Jahre 1643 schreibt
Musashi je ein Buch zu jedem der fünf „Prinzipien eines Kriegers“, die
den kosmischen Elementen der antiken griechischen Philosophie ent-
sprechen und überträgt seine Weisheit auf die Kunst des Zimmermanns,
des Fischers, des Bauern und des Kaufmanns.

ȱ
262 Literatur

Die aus den Naturwissenschaften abgeleiteten Erkenntnisse dieses


Buches decken sich mit diesen alten Weisheiten. Wir können Musashis
„Tugenden der Schwertkunst“ auf das Management übertragen.

MIHALY CSIKSZENTMIHALY: Flow im Beruf. Klett-Cotta, Stuttgart 2004


(Original: Good Business. Leadership, Flow, and the Making of
Meaning)
Der Erfinder des „Flow“ – des befriedigten Aufgehens in der Arbeit, des
Aufgehens in der Bewältigung einer selbst gestellten Aufgabe – hat Fir-
menchefs zu ihren Ansichten, Werten und Prinzipien befragt und kommt
zu dem Ergebnis, dass nachhaltiger Unternehmenserfolg mit einer strik-
ten Orientierung am Gemeinwohl und an der Entwicklung der beteiligten
Menschen verbunden ist und dann auch bei den Mitarbeitern „Flow“
auslöst.
Die ohm-Resonanzschmiede für Unternehmen kann diese Erkenntnis
seit Anbeginn ihrer Tätigkeit bestätigen.

RICARDO SEMLER: Das Semco-System. Management ohne Manager. Das


neue revolutionäre Führungsmodell. Silhelm Heyne Verlag, München
1995 (Original: Maverick: The Success Story behind the World’s most
unusual Workplace)
Die Autobiographische Geschichte des turbulenten Wandels eines Un-
ternehmens mit 3.000 Mitarbeitern in mehreren Etappen. Semler hat
vermeintliche Managementwahrheiten zuerst auf den Prüfstand, dann
auf den Kopf gestellt und ist mit nachhaltigem Erfolg bestätigt wurde:
„Wir haben festgestellt, dass das traditionelle System nicht funktioniert.
Das war der Anreiz, etwas anderes zu suchen… Jeder, den es wirklich
interessiert, ist hergekommen, um zu sehen, ob es wahr ist. Aber unsere
Zahlen sind über jeden Zweifel erhaben.“
Seit der Umstellung des Unternehmens sind die Gewinne von $ 35 Mio.
auf $ 220 gestiegen. Die Fluktuationsrate ist unter einem Prozent. Die
Vorgehensweise des Brasilianers Ricardo Semler ist der unserer ohm-
Resonantschmiede für Unternehmen sehr ähnlich; auch die Ergebnisse
sind vergleichbar.
Literatur 263

JÜRGEN FUCHS: Das Märchenbuch für Manager. FAZ-Institut, Frankfurt


2007
Teils traditionelle, teils um- oder ganz neu gedichtete Märchen und Fa-
beln, die uns ermutigen und zum Perspektivwechsel einladen – über
Menschen, Arbeit, Computer, Macht, Mut, Zukunft, Globalisierung, Poli-
tik, Kunden und was Manager sonst noch so beschäftigt.
In unserer Arbeit in Unternehmen setzen wir immer Geschichten ein,
weil sie die Herzen der Menschen leichter öffnen als theoretische Erläu-
terungen. Das Märchenbuch für Manager eröffnet Ihnen die Möglich-
keit, das auch ohne uns zu tun.

10. Visionen wirken stärker als Dynamit

JOHN P. KOTTER, HOLGER RATHGEBER: Das Pinguin-Prinzip. Wie Verän-


derung zum Erfolg führt. Droemer, München 2006 (Original: Our
Iceberg is Melting)
Acht Schritte aus den Bestsellern „A Force for Change“, „Leading Chan-
ge” und „The Heart of Change” zu einer illustrierten Fabel destilliert und
vereinfacht wie ein Bilderbuch für Kinder.
Unsere Unternehmen werden „overmanaged but underled“ (zu viel
Führungstechnik, zu wenig Führungskunst). Weitere Modelle der Füh-
rungskunst sind aus evolutionärer Sicht von ERVIN LASZLO, CHRISTPHER
LASZ-LO, PRINZ ALFRED VON LIECHTENSTEIN; aus psychologischer Sicht von
DUDLEY LYNCH, PAUL KORDIS; aus strategischer Sicht von RUDOLF MANN;
und aus organisatorischer Sicht von HANS-JÜRGEN WARNECKE. Die Bemer-
kung zum Management von Veränderungen in diesem Buch beziehen
sich auf Kotter; die zu Delphin-Strategien auf Lynch und Kordis.

ALAN VAUGHAN: Incredible Coincidence – The Baffling World of Syn-


chronicity, in: C. G. JUNG: Synchronizität, Akausalität und Okkultis-
mus. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1990
Während in der Psychologie Freuds das Lustprinzip im Mittelpunkt
steht, ist es bei Adler der Machthunger und bei Jung das Konzept von der

ȱ
264 Literatur

immer neuen Wiedergeburt der Seele. Haben sich die psychologischen


Schulen ihre Meister nach den Namen ausgesucht, die zugleich ihrem
Programm als Schlagzeile dienen könnten? Zu einer Zeit, wo der Glaube
an die Kausalität absolut war, unterstellt ARTHUR SCHOPENHAUER in sei-
ner Abhandlung „Transcendente Spekulation über die anscheinende
Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen“ solche Wirkungen. Jung
leitet daraus sein Prinzip der „Synchronizität“ ab, das sich der Überprü-
fung durch das Experiment entzieht, weil die Natur im Experiment nicht
aus der unbeschränkten Ganzheit schöpfen kann, sondern „sterilisiert“
wird.
Die Resonanzlehre integriert Synchronizität in die praktische Arbeit
in und mit Unternehmen.

GERD GIGERENZER: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbe-


wussten und die Macht der Intuition. Goldmann, München 2008
Als „Wissenschaftsbuch“ ausgezeichnete, gründlich recherchierte, ver-
ständlich und anregend formulierte Zusammenfassung zum Stand des
Wissens über Intuition: Wann und wie sie funktioniert, wie und wozu wir
sie – auch bewusst – nutzen können. Das Herz hat seine Gründe, die der
Verstand nicht kennt.
Vielleicht behindern Kafkas „Türhüter“ das Wirken unerwünschter
Kausalitäten und vielleicht ist dies der Grund für das erstaunliche Er-
gebnis eines Forschungsprojekts theoretischer Ökonomen aus Modena,
Bocconi und Stanford: DAVID LANE, FRANCO MALERBA, ROBERT MAXFIELD,
AND LUIGI ORSENIGO: Choice and Action. Santa Fe Institute Research Pa-
per 95-01-004:

„Just doing seems clearly superior to rational choice“ (Spontanes Han-


deln führt zu deutlich besseren Ergebnissen als rationales Abwägen).



Der Autor 265

Der Autor
Wolfgang Berger schreibt, arbeitet und
lebt in der Südpfalz. Er ist wissen-
schaftlicher Beirat der ohm-Resonanz-
schmiede für Unternehmen (www.reso-
nanzschmiede.de) und als Vortragender
im deutschen Sprachraum gefragt.
Zuvor war er neun Jahre Professor für
Betriebswirtschaftslehre in Deutschland
und „Adjunct Professor of International
Management“ in den USA. 20 Jahre hat
er als Manager in verschiedenen leiten-
den Positionen und Industriezweigen
gearbeitet, unter anderem als Ge-
schäftsführer, Vorstand und Aufsichts-
rat. Er hat teilweise langjährige Arbeitserfahrung in Frankreich, Ghana,
Deutschland, Indien, Argentinien und den Vereinigten Staaten.
Berger ist „gelernter“ Philosoph und Ökonom, Dr. phil. und Dr. rer.
pol., ausgebildet in Frankreich und den USA, promoviert an der Freien
Universität Berlin und an der Technischen Universität Berlin, aufge-
wachsen in Nordhessen und geboren 1941 in Kassel.
„Aber“, so sagt er, „da innerhalb von zwei Jahren jedes Atom in mei-
nem Körper ausgetauscht wird, ist von dem, der ich einmal war, nichts
mehr übrig. Meinen Weg zu der in diesem Buch vorgestellten Resonanz-
lehre habe ich mit der Erfahrung von Jahrzehnten gepflastert. Mit die-
sem Buch haben Sie eine Bewusstseinsneutronenbombe in der Hand.
Damit können Sie die Pflastersteine weglassen.“
Seine direkte, private E-Mail-Adresse: [email protected]


ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012

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