Erfolg Durch Resonanz
Erfolg Durch Resonanz
Wolfgang Berger
4. Auflage
Wolfgang Berger
Karlsruhe, Deutschland Bernhard Schmidt
Voestalpine Langenhagen, Deutschland
Linz, Österreich
Springer Gabler
1.–3. Aufl.: © Gabler Verlag | Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler GmbH, Wiesbaden
1996, 1998, 2002, unter dem Titel „Business Reframing“
4. Aufl.: © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung,
die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu-
stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über-
setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
ȱ
6 Vorwort zur 4. Auflage
ȱ
Vorwort zur 1. Auflage 9
ȱ
10 Vorwort zur 1. Auflage
Inhalt
Vorwort zur 4. Auflage ........................................................................................................5
ȱ
12 Inhalt
Literatur ...............................................................................................................................243
ȱ
14 Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft
nicht mehr hinein, und die großen Steine auch nicht. Wenn Sie Aufmerk-
samkeit, Zeit und Energie im Unternehmen mit Nebensächlichkeiten
vergeuden, haben die wichtigen Dinge keinen Platz mehr.
Nehmen Sie die Dinge wichtig, welche die Arbeitsfreude der Menschen
im Unternehmen gefährden könnten: Gehen Sie mit jedem respektvoll
um, fördern Sie jeden in seiner Entwicklung und stellen Sie sicher, dass
die meisten gern zur Arbeit kommen und Spaß dabei haben. Dann wird
der betriebliche Alltag nicht zur Maloche, sondern zu einem Erlebnis für
alle, das setzt Innovationskräfte frei, die Ihre Vorstellungskraft spren-
gen. Setzen Sie Prioritäten. Der Rest ist nur Sand.
Fragen Sie sich, wofür das Bier jetzt noch steht? Es zeigt Ihnen, dass –
egal wie aufreibend der Alltag auch sein mag – immer noch Platz für ein
oder zwei Bierchen ist.
Mit diesen einfachen Grundsätzen hat die ohm-Resonanzschmiede für
Unternehmen in jeweils sehr kurzer Zeit – manchmal in nur wenigen
Tagen – erstaunliche Ergebnisse ausgelöst. Hier einige Beispiele:
– Ein Hersteller von Büromöbelkomponenten war im Würgegriff seiner
großen Kunden, die ihm Bedingungen und Preise diktierten. Die
Nachkalkulation ergab bei fast jedem Auftrag einen Verlust, das Ende
war absehbar. Die Vision des Unternehmers war es, die Abhängigkeit
von seinen Großkunden umzukehren. Das zuvor Undenkbare ist in-
nerhalb von zwei Jahren gelungen. Umsatz und Mitarbeiter haben sich
verdreifacht, ein weiteres Werk im europäischen Ausland wurde er-
richtet.
– Einem Präzisionsteilehersteller war der größte Kunde mit der Hälfte
seines Umsatzes plötzlich weggebrochen. Bei Kurzarbeit optimierte
die Belegschaft die Prozesse, verbesserte die Qualität und führte
wirksame Kontrollen für jeden Schritt der Wertschöpfungskette ein.
Nach drei Jahren kam der Großkunde, der fristlos gekündigt hatte, zu-
rück. Der Umsatz mit ihm wurde seitdem noch größer und viele neue
Kunden kamen hinzu. Der Umsatz vervierfachte sich, die Zahl der
Mitarbeiter verdoppelte sich.
– Eine Beratungsgesellschaft drohte auseinanderzubrechen. Streitig-
keiten zwischen Mitarbeitern, Partnern und Gesellschaftern gefähr-
Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft 15
ȱ
16 Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft
ȱ
18 Einleitung: Verantwortung – das Maß für Gestaltungskraft
1 Managementmoden sind
Modekrankheiten
Zu alten Zeiten regierte der mächtige König Agram ein großes Reich.
Sein Volk lebte in Frieden, Freiheit und Fülle. Eines Tages fiel Agram
vom Pferd und brach sich beide Beine. Den Ärzten gelang es nicht, die
Brüche so zu heilen, dass Agram ohne Krücken laufen konnte. Da verlor
er alle Lebensfreude und vernachlässigte die Staatsgeschäfte. Eine Ver-
sammlung der Ältesten beschloss deshalb, aus Solidarität mit dem König
für jedermann das Gehen an Krücken vorzuschreiben.
Im Laufe der Jahre wurde das Krückengehen so normal, dass es dem
Volk seine Identität gab und sich nur noch wenige ein Leben ohne Krü-
cken vorstellen konnten. Diese wenigen begannen zu ahnen, dass nur der
glücklich sein kann, der die Krücken wegwirft und lernt, auf zwei Beinen
zu laufen. Die Sehnsucht nach einer noch unbekannten Freiheit läutete
ein neues Zeitalter ein, in dem das Krückengehen durch eine neue Dis-
ziplin abgelöst wurde: „leanes“ Laufen.
Die Ökonomie stellt den westlichen Managern ein überschaubares
und handhabbares Krückenarsenal zur Verfügung, mit dem diese laufen
und ihre Unternehmen führen können. Die Produktionsprozesse sind
optimiert, das Marketing ist professionell, das Controlling schaut hinter
die Kulissen, Personalpolitik und Organisation sind schlagkräftig, die
Unternehmensstrategie weist in die Zukunft.
Und dann kommen asiatische Unternehmer und erzielen bei ähnlicher
Qualität und vergleichbarem Personalkostenanteil einen Kostenvorteil
von etwa 40 Prozent. Die im Jahre 1990 veröffentlichte Untersuchung
der weltweiten Autobranche durch das Massachusetts Institute of Tech-
nology wirbelt die satte westliche Welt durcheinander.
In Amerika und Europa werden die Krücken nun so stabil gebaut, dass
die Mitarbeiter damit tanzen können. Innerhalb von fünf Jahren holt der
Westen den Osten ein. Die von John P. Kotter hierfür intonierte Melodie
„The Management of Change“ (Das Management von Veränderungen)
verkürzt die Halbwertszeit von Rezepten zur Anpassung der Unterneh-
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_1,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
20 Managementmoden sind Modekrankheiten
– Just-in-Time-
– Schnittstellenmanagement,
Prozessorganisation, – Performance Improvement,
– Kaizen, – Schnittstellenmanagement,
– Systemischen Management, – Emotionale Effizienz,
– Evolutionäres Management, – Human Capital Management,
– Business Reengineering, – Human Performance
Improvement,
– Komplementäres Manage-
ment, – Management der drei Hori-
zonte,
– Total Quality Management,
– Fraktale Organisation,
– High Speed Navigation,
– Empowerment,
– Organizational Learning,
– Dialog-Management,
– Customer Value Manage-
ment,
– Generatives Management,
– Customer Relationship
– Coopetition, Management,
– Change Management, – Total Customer Care,
– Shareholder Value Manage- – Management by Comple-
ment, ment,
– Human Performance Ma- – Relationship Marketing,
nagement,
– Management strategischer
– Innovationsmanagement, Partnerschaften,
– Simulationsmanagement, – Mass Customization,
– Fixkostenumwandlung, – Diversifikation,
Managementmoden sind Modekrankheiten 21
ȱ
22 Managementmoden sind Modekrankheiten
Lineares Denken geht davon aus, dass jede Wirkung eine Ursache hat
und dass wir die Ursache ändern müssen, wenn uns die Wirkung nicht
gefällt.
ȱ
24 Managementmoden sind Modekrankheiten
Ein Paradigma aufgeben ist ein Akt der Zerstörung der Welt, die
durch das Paradigma geschaffen und erhalten wird. Die Zerstörung
schafft aber auch Raum für ein neues Paradigma und eine neue Welt.
Wenn Sie dieses Buch, das Sie in Händen halten, loslassen, fällt es zu
Boden. Wegen der Schwerkraft? Niemand hat Schwerkraft je gesehen,
niemand hat sie je empirisch nachgewiesen. Die Physiker haben das
Elementarteilchen Graviton, das sie bewirken soll, nicht gefunden; seine
Existenz ist eine plausible Gedankenkonstruktion, mehr nicht.
ȱ
26 Managementmoden sind Modekrankheiten
Deshalb mache ich Ihnen einen anderen Vorschlag: Dieses Buch ist
der Mittelpunkt unseres Universums. Der Mittelpunkt des Universums
kann durch Sie nicht verändert werden. Wenn Sie dieses Buch also fal-
lenlassen, bleibt es trotzdem der Mittelpunkt des Universums. Daraus
folgt, dass die Erde ihm einen Meter entgegengesprungen ist. Sie können
mich nicht widerlegen, denn auf der Basis meines Paradigmas beweist
die dem Buch entgegenspringende Erde meine Theorie.
Die Gravitation ist ein Modell, das vieles erklärt. Aristoteles hat ein
anderes Modell, das erklärt, warum das Buch auf dem Boden landet und
nicht an der Zimmerdecke: Der Kosmos besteht aus den vier Elementen
Erde, Wasser, Luft und Feuer. Dies entspricht den vier Aggregatzustän-
den der modernen Physik: dem festen, dem flüssigen, dem gasförmigen
und dem sehr heißen Plasmazustand.
Neben diesen vier kosmischen Elementen gibt es bei Aristoteles noch
die „quinta essentia“ (das fünfte Element) – die Quintessenz, aus der der
Stein der Weisen besteht. Über die fünfte Essenz kann jedes Element in
jedes andere verwandelt werden; also auch in Gold, wie es die Alchimis-
ten versucht und die Zauberer in alten Märchen tatsächlich geschafft
haben. Dem entspricht in der modernen Physik ein kohärenter Zustand,
bei dem die Atome „im gleichen Rhythmus“ vibrieren. In diesem Zustand
ist die „Essenz“ transparent und setzt durchfließendem Strom keinen
Widerstand entgegen, besitzt also die Supraleitfähigkeit.
Bei Aristoteles hat jedes Element die ihm eigene Tendenz, zu seinem
Ursprung zurückzukehren. Der Ursprung für alles, was von der Erde
genommen ist, ist die Erde. Das irdische Material dieses Buches will
deshalb zur Erde zurückkehren. Das gleiche gilt für das irdische Materi-
al unseres Körpers. Auch er fällt zu Boden und nicht in den Himmel. Wir
finden diese Vorstellung primitiv und sehen nicht, dass zukünftige Ge-
nerationen unser Gravitationsmodell ebenso beschmunzeln werden,
nachdem sie erkannt haben, wie primitiv es ist.
Die industrielle Revolution hat das Gravitationsmodell nicht ge-
braucht. Noch im 19. Jahrhundert glauben die Chemiker, dass gegen-
seitige Affinität die elementaren Atome zusammenhält: Silber löst sich
in Säure auf, weil Säure die Silberteilchen stärker anzieht als die Teil-
chen der gelösten Substanz sich gegenseitig anziehen. Auch mit diesem
Managementmoden sind Modekrankheiten 27
Ein neues Paradigma ist weder besser noch schlechter als ein altes. Es
ist einfach nur neu; es eröffnet neue Möglichkeiten und lässt alte nicht
mehr zu.
ȱ
28 Managementmoden sind Modekrankheiten
nikus reif ist. Sein Modell macht plötzlich alles sehr einfach und redu-
ziert die zuvor nicht mehr beherrschbare Komplexität auf ein Maß, mit
dem wir fertig werden. „Easy is beautiful“ (einfach ist wunderbar). Es ist
nicht nur wunderbar, es funktioniert auch: Krisen sind die Hebammen
der Evolution.
Der Wechsel eines Paradigmas ist so schwer, weil sich niemand frei-
willig selbst aufgibt; auch nicht in der Krise. Wenn also eine Krise das
bisherige Paradigma in Frage stellt, kündigen keineswegs Fanfaren
dessen Überprüfung an. Im Gegenteil: das alte Paradigma wird zur Exis-
tenz- und Seinsgrundlage erklärt. Ketzer werden in Kreuzzügen verfolgt;
wo es machbar ist, mit physischer Gewalt, und wo das nicht machbar ist,
mit administrativer oder wirtschaftlicher Gewalt.
Wir können drei Phasen der Reaktion auf eine solche Krise unter-
scheiden. In der ersten Phase werden die Schwierigkeiten geleugnet:
„Der Deich ist dicht, Wasser ist nicht eingedrungen“, wer es nicht glaubt,
wird in die Berge verbannt. In der zweiten Phase ist der Deich gebrochen
und die Flut überschwemmt das Land. Leugnen funktioniert nicht mehr.
Der Katastrophenschutz wird eingesetzt, um die Deiche zu reparieren
und die Folgen zu lindern. In der Regel wird damit Zeit gewonnen; das
Aussterben wird hinausgezögert, aber nicht verhindert. Erst in der drit-
ten Phase, wenn alle Reparaturkampagnen zusammenbrechen, gewinnen
diejenigen die Oberhand, die sich eine neue paradigmatische Heimat
ausgesucht haben.
Schauen wir uns die ersteȱPhase – die des Leugnens – in der Kirche, in
der Wissenschaft, in der Politik und in den Unternehmen näher an: Im
Jahre 1616 wird Galileo Galilei von der Inquisition angeklagt und ge-
zwungen, die Physik zu leugnen; Johannes Kepler bezieht seinen trotzi-
gen Ausspruch „eppur si muove“ (und sie bewegt sich doch) nicht auf die
Schwalbe am Himmel. Erst im Oktober 1992 wird Galilei durch das
Papsturteil „Galileo, ich verzeihe dir“ gnädig rehabilitiert. Dafür wird
Managementmoden sind Modekrankheiten 29
ȱ
30 Managementmoden sind Modekrankheiten
sorgt für Kontinuität. Die Republik ist nicht an die Person des Präsiden-
ten gebunden; die Verfassung regelt die Nachfolge.
Im Laufe des 21. Jahrhunderts wird auch die Versorgung mit industriell
gefertigten Gütern in den fortgeschrittenen Regionen der Welt von
vier Prozent der Bevölkerung abgedeckt werden.
ȱ
32 Managementmoden sind Modekrankheiten
– solange, bis sie ohnmächtig umfällt. Das Band aber läuft unerbittlich
weiter – ohne sie.
Das Fließband der wirtschaftlichen Entwicklung, mit dem wir Schritt
halten müssen, gehorcht nicht uns, sondern anderen Gesetzen. Unter-
nehmen, Staaten, Körperschaften, Gemeinden, Behörden, Institutionen
und Verbände lassen sich nicht beherrschen, nicht kontrollieren, nicht
führen – sie lassen sich nicht mehr managen. Unsere Krise ist eine Herr-
schaftskrise, eine Kontrollkrise, eine Führungskrise. Herrschaft zer-
bricht, Kontrolle entgleitet, Führung zerrinnt.
Es muss etwas getan werden. Aber selbstverständlich – wegen des ir-
dischen Wohls und des himmlischen Friedens – ohne die eigenen Para-
digmata aufzugeben. „Sie dürfen alles in Frage stellen“, sagt mir ein
Geschäftsführer, um die Grenze messerscharf zu ziehen, „nur mich
nicht.“ Natürlich kann ein Berater genausowenig eine Revolution anzet-
teln, wie ein Hund seinen Herrn enteignen kann. Er ist Teil des Systems,
das nicht mehr funktioniert, und er hilft, es zu stabilisieren.
Søren Kierkegaard erzählt, wie hinter den Kulissen des Theaters ein
Feuer ausbricht und der Clown auf die Bühne tritt, um das Publikum zu
warnen. Die Zuschauer halten sich den Bauch vor Lachen und applaudie-
ren der gelungenen Einlage. Der Clown wird bleich vor Schreck, gestiku-
liert entsetzt und erntet weiter tosenden Beifall – bis es zu spät ist.
Die Zuschauer sind im Theater, sie erwarten eine Vorstellung. Wenn
ihre Erwartung erfüllt wird, ist nicht die Zeit für einen Paradigma-
wechsel. Erst das Feuer im Zuschauerraum klärt die Situation und pro-
duziert die rettende Krise.
Auf der Ebene des Denkens, auf der wir in das Labyrinth gerannt sind,
finden wir nicht wieder heraus. Mit unserem Denken, mit unserem Para-
digma, sind wir noch im Theater. Doch die Wirklichkeit ist uns davonge-
laufen: Wir vergnügen uns inmitten einer großen Feuerbrunst; die Welt
befindet sich im Übergang zur dritten Phase.
Dem Übergang von der ersten Phase – dem Unterdrücken und Leugnen
– zur zweiten Phase im Krisenmanagement – dem Reparaturbetrieb –
entspricht in der Mathematik der Übergang von den Algorithmen zu den
Heuristiken. Algorithmen sind Lösungsverfahren mit Lösungsgarantie.
Heuristiken sind Lösungsverfahren ohne Lösungsgarantie.
ȱ
34 Managementmoden sind Modekrankheiten
lernen, irdische Naturkräfte zu nutzen: Wind und Wasser. Die Kraft des
Windes erleichtert die Fortbewegung; Segelboote ermöglichen die Erfor-
schung der Erde. Die Kraft des Wassers ermöglicht die Bewässerung des
Bodens und damit die Kultivierung neuer Anbauflächen, später auch die
Energiegewinnung.
Vor 300 Jahren geht das Agrarzeitalter zu Ende. Neue Gesetze werden
nutzbar gemacht – Naturgesetze. Maschinen werden erfunden und ver-
ändern die Welt. Wiederum entsteht eine neue Zivilisation: das Indust-
riezeitalter. Es ändern sich die Gesetze, die die Welt regieren. Die meis-
ten Großgrundbesitzer, die den Anschluss verpassen, degenerieren zu
einem verarmten Landadel.
ȱ
36 Managementmoden sind Modekrankheiten
ȱ
38 Managementmoden sind Modekrankheiten
glaubt auch mir nicht.“ Buddha hat das gesagt. Und ich darf ergänzen:
Glauben Sie auch diesem Buch nicht.
Sie können, wenn Sie wollen, die Lehre dieses Buches als eine Theorie
des Managements verstehen, die Ur-Sachen und Wirkungen in der
komplexen, nichtlinearen Welt unserer Unternehmen, Institutionen und
Staaten erklärt. Sie können sie auch als eine Philosophie verstehen, die
die Welt anders sieht.
Eine Theorie kann uns die Wahrheit genausowenig bringen wie eine
Philosophie. Jeder Mensch kann seine Wahrheit nur in sich selbst fin-
den. Theorien sind Welten, die den Bewusstseinszustand ihrer Erfinder
zum Zeitpunkt der Erfindung spiegeln. Jede Welt spiegelt den Bewusst-
seinszustand ihres Schöpfers zum Zeitpunkt der Schöpfung. Wenn das,
was dieses Buch lehrt, eine Theorie ist, dann spiegelt sie meinen Be-
wusstseinszustand zu der Zeit und an dem Ort, wo das Manuskript ent-
standen ist. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger:
Wie jede neue Theorie, ändert auch dieses Buch das Denken. Wie jedes
neue Denken, richtet auch dieses das Handeln der Menschen neu aus.
Und wie immer, wenn Menschen – und besonders die mit einer gewalti-
gen Hebelwirkung ausgestatteten Manager – anders ausgerichtet han-
deln, verändert das auch diesmal die Welt.
Die alten Managementmethoden analysieren und beseitigen
Schwachstellen. Unsere äußeren Probleme spiegeln aber lediglich unse-
ren inneren Zustand – sie sind unser Schatten. Der Fokus auf äußere
Einflussgrößen im Management ist deshalb nicht effizient. Erst die klare
und einheitliche Ausrichtung von Gedanken, Sprache und Glaubenssät-
zen im Unternehmen ist das Fundament für Handlungen, die Durchbrü-
che bewirken. Was für den Wald gilt, gilt auch für die Zukunft: Wie wir
hineinrufen, so schallt es heraus!
Die meisten haben ein Ziel und wissen, was zu tun ist. Die wenigsten
aber wissen, warum sie ihr Ziel auf diesem Weg verfolgen. Wer aber kein
„Warum“ hat, dem fehlt die Kraft zur Größe. Unternehmen und Füh-
rungskräfte, die wissen, wer sie sind und wofür sie existieren, sind die
Schöpfer unserer Zukunft. Managementmoden aber, die nur Symptome
kurieren, sind vermeidbare Modekrankheiten.
PRAXISBEISPIEL 1: Das Problem 39
ȱ
40 Managementmoden sind Modekrankheiten
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_2,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
42 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
trauen können, der uns in der Not hilft. Calvins Gott ist ein Gott der
Allmacht, des Allwissens, der Herrlichkeit, der Größe, der die erbar-
mungslose Vernichtung seiner Feinde und bedingungslosen Gehorsam
fordert.
Allmacht und Allwissen schließen das Wissen um die Zukunft ein und
machen den Menschen zu einem Werkzeug Gottes. In der Tradition alt-
testamentlicher Intoleranz baut Calvin die von Augustin gelehrte Prä-
destination zur doppelten Prädestination aus: Am Ende aller Tage steht
der Mensch vor seinem allmächtigen Richter, der den Daumen entweder
nach oben oder nach unten neigt; nach oben bedeutet Eingang in die
ewige Seligkeit, „Wandel im Licht zur Ehre Gottes“; nach unten bedeutet
Verdammung – bis in alle Ewigkeit.
Wir Menschen sind neugierig: Wir wollen unbedingt schon vor dem
Jüngsten Gericht herausfinden, ob wir verdammt oder auserwählt sind.
Wie? Das ist sehr einfach: Den Auserwählten wird durch das Bewusstsein
der göttlichen Erwählung die Pflicht auferlegt, durch strenge Zucht,
selbstlose Hingabe und äußersten Fleiß ihren Auftrag zu erfüllen. Als
Lohn gewährt Gott seiner „Gemeinde der Heiligen“ schon im irdischen
Leben Erfolg. Um sich des eigenen Auserwähltseins zu vergewissern,
geht es darum, um jeden Preis Erfolg zu haben. Im Angesicht der Ewig-
keit ist der Einsatz dafür eine Investition mit einer unendlich hohen
Rentabilität.
Gewinnsucht und Geschäftsgeist unter dem Deckmantel der Fröm-
migkeit versehen den Reichtum mit einem Heiligenschein. „Wie hoch ist
Ihr Jahreseinkommen?“, fragt mich mein Nachbar, ein amerikanischer
Geschäftsmann, während eines inneramerikanischen Fluges, nachdem
wir uns vorgestellt haben. Ich kann zufrieden sein und bin als fast
gleichwertig akzeptiert.
Die negative Seite der Prädestination versieht sogar die Ausbeutung
mit dem Zertifikat der Unbedenklichkeit: Wem der Erfolg versagt ist, der
ist verdammt. Wen Gott verachtet, den braucht die „Aristokratie der
Frommen“ nicht zu schonen. Das militärische Niederknüppeln von Ar-
beiteraufständen, Menschenhaltung in der Fabrik wie Tierhaltung auf
dem Hof – es ist alles in Ordnung.
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 43
„Ein Sklave kostet 1 000 Dollar und hält nicht lange“, berichtet Jorge
Luis Borges: „Man muss aus der Investition den größtmöglichen Nutzen
ziehen und ihn von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter der Knu-
te des Aufsehers schuften lassen. Manch einer von diesen verdammten
Kreaturen begeht die Undankbarkeit, krank zu werden und zu sterben,
bevor er sich amortisiert hat.“
„Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass
ein Reicher ins Himmelreich komme“, sagt Jesus. Ich hätte mich schä-
men sollen wegen meiner Auskunft im Flugzeug.
Wer sich seines Erfolgs schämt, kann und wird keinen Erfolg haben.
Wem der Erfolg heilig ist, dessen Denken setzt Energien frei, die eine
Explosion auslösen. Erfolg ist das Ergebnis einer klaren und kraftvollen
inneren Programmierung.
ȱ
44 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
Auf keiner der Herrentoiletten finde ich ihn. Hat er sich verirrt? Ich bitte
eine Sekretärin, die Damentoiletten abzusuchen. Auch dort ist er nicht.
Vielleicht sind Toiletten in Japan im Keller? Wir suchen sämtliche Win-
kel des Hochhauses ab und finden ihn nicht. Ich gehe zum Pförtner. Ja,
ein Japaner hat vor einer halben Stunde das Haus verlassen und ist in ein
Taxi gestiegen.
Im Konferenzraum bricht Panik aus. Die Unterlagen, die unser Gast
für die Besprechung mitgebracht hat, liegen aufgeschlagen an seinem
Platz, der Aktenkoffer auf dem Nebenstuhl ist geöffnet. Nur die Briefta-
sche fehlt. Als wir sein Hotel herausgefunden haben, ist er dort bereits
abgereist. Mit 50 Mann „besetzen“ wir den Flughafen, um ihn wieder
„einzufangen“. Vergeblich. Unsere Verwaltung in Japan wird mit Telefo-
naten und Fernschreiben bombardiert: Etwas Unerklärliches sei gesche-
hen; es müsse sich um ein Missverständnis handeln; er möge doch bitte
umgehend anrufen, sofort zurückkommen. Der Umsatz unserer Tochter-
gesellschaft in Japan beträgt einige hundert Millionen Euro.
Es ist alles nutzlos. Sein Büro in Japan betritt er nicht mehr; wir sehen
ihn nie wieder. Ein halbes Jahr später entnehmen wir einer Pressemel-
dung, dass er für unseren gefährlichsten Konkurrenten als Berater tätig
ist, und zwei Jahre später wird uns klar: an jenem denkwürdigen Mon-
tagmorgen haben wir in 30 Minuten eine viertel Milliarde Dollar in den
Sand gesetzt. Wir haben uns benommen wie eine Hure, die dem Papst ein
Angebot macht.
Durch die Globalisierung der Geschäfte gehört interkulturelle Sensi-
tivität inzwischen zum Handwerkszeug. Westliche Manager konver-
tieren zwar nicht zum Buddhismus und asiatische nicht zum Chris-
tentum, aber beide Seiten lernen, wie sie voneinander lernen können.
ȱ
46 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
wo ich aufgewachsen bin, gibt es seit mehr als 1 000 Jahren. Damals weiß
dort niemand von der Existenz Amerikas. Weitere Jahrtausende früher,
als Europa von einer geschlossenen Wald-decke überzogen ist, kleiden
sich die Mitteleuropäer in Felle, wohnen in Höhlen und leben von der
Jagd.
Was tun Sie als Jäger, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, wenn sich im
Gebüsch dieses dichten Waldes etwas bewegt? Ist es ein Bär? Ist es ein
Wolf? Die Wölfe sind so gefährlich, dass die alten germanischen Mär-
chen voller einschlägiger Schauergeschichten sind. Sie wollen das Tier
erlegen und es Ihrer Sippe zum Abendessen bringen. Sie spannen den
Bogen, zielen mit dem Pfeil und wissen, dass es nicht nur um Ihr Abend-
essen geht, sondern um Ihr Leben. Gelingt es Ihnen, das Tier mit dem
ersten Schuss kampfunfähig zu bekommen, sind Sie gerettet und Ihre
Sippe wird satt.
Gelingt es Ihnen nicht, läuft das Spiel umgekehrt. Auch der Wolf oder
Bär möchte überleben und seiner Sippe Menschenfleisch zum Abend-
fressen bringen. Er setzt zum Sprung an, um Sie mit dem ersten
Tatzenhieb niederzuwerfen und zu erledigen. Auch für ihn geht es um
die Alternative: du oder ich.
Die Mathematiker nennen das ein Nullsummenspiel: Der eine kann
nur das gewinnen, was der andere verliert. Die für ein solches Spiel an-
gemessene Strategie ist der Kampf. Jahrtausendealte Erfahrung ist in
unseren genetischen Code eingegangen. Wir benehmen uns noch immer,
wie es gegenüber Raubtieren angebracht war. Das westliche Manage-
mentvokabular ist reich an Kriegsausdrücken:
– Beim Karriereaufstieg einem Rivalen „den Ast absägen“, auf dem er
sitzt: er hat sich auf einen Baumast gerettet, der für Wölfe und Bären
nicht erreichbar ist. Wenn der Ast abgesägt wird, fällt er den wilden
Tieren zum Fraß vor die Pfoten.
– Unser Vorgesetzter hat sich in der Regel vom Ast auf einen Stuhl ge-
rettet; deshalb müssen wir „an seinem Stuhl sägen“, wenn wir seine
Position übernehmen wollen.
– Einen Kollegen „unschädlich machen“, das heißt ihn entschärfen wie
Munition. Dann kann er mir nichts mehr anhaben; ich brauche auf ihn
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 47
ȱ
48 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
schaft und Handel heute die Fortsetzung des Kriegs mit anderen
Mitteln.
– Eine Branche durch „Zollmauern“ schützen. Im Mittelalter sind es die
Tore und Ziehbrücken der Stadtmauern, an denen Wegezoll erhoben
wird; heute sind es Zoll-, Währungs-, Steuer-, Rechts-, Subventions-
und Quotengrenzen.
– „Den Verhandlungspartner in die Enge treiben.“ Ihm Ausweg und
Rückzug versperren, zustechen und dann das Messer in der Wunde
langsam, sehr langsam herumdrehen.
– Eine „schlagkräftige Organisation“ aufbauen. Keine, die funktioniert,
effizient ist, ihrer Aufgabe gerecht wird; sondern eine, die zuschlägt,
draufhaut, reinsticht.
– „Mitarbeitern das Rückgrat brechen.“ Die widerlichste Form des Sie-
ges, bei der der Besiegte vor Schmerz winselnd am Boden liegt und der
Sieger seine Überlegenheit sadistisch auskostet.
– „Mit prall gefüllter Kriegskasse“ Wettbewerber aufkaufen. Nicht etwa
verhandeln, gemeinsame Interessen suchen, einen Ausgleich finden;
sondern einen Überfall inszenieren – so wie wir es mit unserem japa-
nischen Geschäftsführer getan haben.
– „Die Konkurrenz überrollen.“ Ihr die Luft zum Atmen abschnüren, sie
mit massiver Stärke erdrücken, weil es gut für sie ist. Ganz so wie die
Dampfwalze, die eine Henne überrollt, die danach aufsteht, sich
schüttelt und haucht: „Das war ein Hahn!“
Auch das vorherrschende westliche Begrüßungsritual deutet auf ständi-
ge Kampfbereitschaft. Die meisten Europäer reichen sich die rechte
Hand. Rechtshänder kämpfen mit dem rechten Arm und tragen deshalb
die Scheite, aus der sie das Schwert ziehen, links. Mit dem Hinstrecken
der rechten Hand zeigen sie, dass sie nicht zum Schwert greifen, um den
anderen niederzustechen. Die Kultur des Kampfes hat über Jahrtausende
unser Überleben gesichert und war deshalb eine Voraussetzung für un-
sere Evolution. Aber die Bedingungen sind heute andere. Wir spielen
kein Nullsummenspiel mehr, sondern ein anderes Spiel, verhalten uns
aber noch nach den alten Regeln. Wenn wir das nicht ändern, müssen wir
verlieren. Und verlieren heißt hier: verloren gehen.
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 49
ȱ
50 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
ȱ
52 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
serungsgräben und die Verteilung des Wassers sind isoliert nicht mög-
lich. Sie erzwingen Kooperation, Solidarität, Rücksicht. Rück-Sicht ist
das Gegenteil eines Vorwärtsstürmens mit Brachialgewalt, einer Nach-
mir-die-Sintflut-Mentalität. Rück-Sicht heißt zurücksehen und, falls wir
einen Vorsprung haben, den, der hinter uns ist, nachholen, ihm helfen,
ihn nicht allein zurücklassen.
Ohne die erste Stufe des technischen Plagiats durch Japan wäre das
japanische Organisationsmodell nicht entstanden, und die Unternehmen
der Welt würden noch immer in westlicher militärischer Tradition ge-
führt. Wenn es Japan nicht gäbe, müsste es erfunden werden. Ohne die
zweite Stufe des organisatorischen Plagiats durch den Westen würden
entweder japanische Unternehmen inzwischen die gesamte Welt beherr-
schen – ganz so wie die britischen im 19. Jahrhundert – oder es würde
wegen protektionistischer Abwehrfronten keine Weltwirtschaft geben,
sondern einen Handelskrieg, gegen den das, was wir jetzt erleben, ein
Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel ist.
„Es ging ein Sämann aus, zu säen“, zitiert der Apostel Matthäus Jesus:
„Und indem er säte, fiel etliches auf den Weg; da kamen die Vögel und
fraßen’s auf. Etliches fiel in die Steine, und dieweil es nicht Wurzeln
hatte, ward es dürre. Etliches fiel unter die Dornen, und die Dornen
wuchsen auf und erstickten’s. Etliches fiel auf gutes Land und trug
Frucht.“ Frucht – und das heißt Ergebnis unseres Denkens, Erfolg unse-
rer Arbeit, Gewinn unserer Unternehmen – braucht gutes Land, das nur
in einer bestimmten kulturellen Konstellation entsteht.
In einer „fruchtbaren“ kulturellen Konstellation findet sich immer
auch ein Sämann, der das Geschäft besorgt: ein Unternehmer, ein Mana-
ger, ein Politiker, der die Gunst der Stunde erkennt und ergreift.
Der Stand der globalen Managementkunst ist eine Synthese der tech-
nisch-industriellen europäischen und der organisatorisch-strategi-
schen asiatischen Revolution; er basiert auf dem Reparaturparadigma,
nach dem optimale Entscheidungen unsere Probleme lösen und Auswe-
ge finden.
ȱ
54 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
All das bereitet unseren kollektiven Selbstmord vor. Wir müssen die
Verantwortung des Managements in Wirtschaft und Gesellschaft, in
Kultur und Politik neu definieren: Verantwortung übernehmen heißt:
Ursache sein für das, was geschieht – für alles was geschieht.
Ursache für die industrielle Revolution in Europa ist die Protestanti-
sche Ethik. Ursache für die asiatische Veredelung dieser Revolution sind
die Überlebensbedingungen pazifischer Fischer und Reisbauern. Nie-
mand trägt dafür die Verantwortung. Die Evolution hat es so eingerich-
tet. Die europäischen Protestanten und die pazifischen Fischer haben
vieles im Sinn, aber gewiss nicht Industrialisierung und Wirtschafts-
wachstum; sie sind nicht bewusst Ursache, und sie tragen für das, was
sie auslösen, keine Verantwortung.
Heute wissen wir, was wir tun. Der Evolutionssprung, den wir bewäl-
tigen müssen, wenn wir als Menschheit auf der Erde überleben wollen,
ist von anderer Art wie der von der Jäger-und Sammlerzeit ins Agrarzeit-
alter oder der vom Agrarzeitalter ins Industriezeitalter. Das Ausmaß des
jetzt notwendigen Evolutionssprungs entspricht demjenigen, durch den
sich die Primaten zum homo sapiens entwickelt haben – einem radikal
neuen Bewusstsein, einem radikal neuen Denken.
Die Geschichte lehrt uns, wie das funktioniert. Die Europäer sind so
programmiert, dass sie gar nicht anders können, als die industrielle
Revolution zu erfinden. Die Japaner sind so programmiert, dass sie gar
nicht anders können, als die organisatorische Revolution zu erfinden.
Wir alle müssen uns also jetzt so programmieren, dass wir gar nicht
anders können, als dauerhaft würdige Lebensbedingungen für die ge-
samte Menschheit auf unserem Planeten zu schaffen. Der Evolutions-
sprung besteht darin, dass wir nicht auf einen Calvin oder anderen
Heilsbringer warten, sondern dass wir durch ein neues Denken sehen,
was für das Ganze jetzt getan werden muss, und es tun.
ȱ
56 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
hinter ihm verstecken; wenn wir ihn durch unsere Entscheidungen und
durch unsere Taten wirken lassen. Vielleicht liegt es, nachdem wir uns
zu verantwortungsvollen Mitschöpfern entwickelt haben, dann sogar in
unserer Hand, die Reinkarnation zu bewirken.
Die Idee der Reinkarnation ist sehr alt. Weltreligionen sind auf ihr
aufgebaut, auch das Urchristentum. Der Mensch ist voll und ganz verant-
wortlich für jede seiner Handlungen. Niemand kann ihm Absolution
erteilen, außer er selbst, indem er das, was er angerichtet hat, wieder
ausgleicht – wenn nicht jetzt, dann in späteren Leben. Damit ist nichts in
diesem Leben endgültig.
Die Offenheit der Gegenwart schränkt die Autorität der Kirche ein
und hat zu einem religiösen Separatismus im Westen des Römischen
Reiches geführt. Das Konzil unter Kaiser Justinianus I. hat im Jahre 553
die ökumenische Einheit nur wieder herstellen können, indem es dieje-
nigen Stellen aus der Bibel entfernt hat, die die Reinkarnation als
selbstverständlich voraussetzen.
Sünde heißt auf hebräisch, in der Sprache des Alten Testaments: „das
Lebensziel verfehlen“ und auf aramäisch, in der Muttersprache Jesu:
„von der Einheit getrennt, nicht mehr ganz sein“ – nicht mehr eins mit
dem Ganzen. Eins sein – und dadurch ein Teil des Ganzen – heißt auf
lateinisch „integer“. Fehlende Integrität löst uns von der Einheit, vom
Ganzen und bringt uns ins Verderben.
Die Trennung von der Einheit, die verlorene Integrität, wird im bibli-
schen Gleichnis als Vertreibung aus dem Paradies geschildert. Für die
Verfehlung des Lebensziels steht das Schmachten in der Hölle. Und bei-
des liegt so nah: Machen wir aus der Erde eine Hölle, so verdammen wir
uns selbst und zerstören unsere eigene Zukunft. In unseren zukünftigen
irdischen Existenzen werden wir es dann in dieser Hölle aushalten müs-
sen. Machen wir aus der Erde ein Paradies, so haben wir unsere Vertrei-
bung aus dem Paradies rückgängig gemacht und den Sündenfall ausge-
glichen. In zukünftigen irdischen Existenzen werden wir dann – Eins mit
dem Ganzen – im Paradies leben.
„Der Segen des Herrn macht reich ohne Mühe“, verheißt uns der Pro-
phet Salomo zu alttestamentlicher Zeit für den Fall, dass wir integer
werden. „Das goldene Zeitalter des Menschengeschlechts liegt nicht
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 57
ȱ
58 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
stände. Erst wenn wir aufwachen – nach dem Tod –, erkennen wir, dass es
nur eine irdische Inkarnation war. Nur im Zustand höherer Bewusstheit,
nur von einer größeren Wirklichkeit aus, die über einer beschränkten
Sicht von diesseitigem „Außendienst“ und von jenseitigem „Innen-
dienst“ liegt, sehen wir den Zusammenhang. Unser irdischer Körper und
unser irdischer Verstand filtern unsere Sicht der Realität.
Aus einer solchen höheren Sicht möchte ich Immanuel Kants kate-
gorischen Imperativ weiterentwickeln. „Handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines
Gesetz werde“, fordert Kant: Wenn ich Verträge nicht einhalte, muss ich
wollen können, dass niemand Verträge einhält. Wenn ich stehle oder
lüge, die Versicherung oder das Finanzamt betrüge, verboten parke oder
die Geschwindigkeit überschreite, muss ich wollen können, dass jeder
andere das auch tut.
Aus der Forderung Kants folgt eine formale und auf die anderen be-
zogene Ethik, bei der wir in Sachen Geschwindigkeitsüberschreitung
oder Steuerbetrug vielleicht Einigkeit erzielen können – wenn wir nicht
integer sind, nicht eins mit dem Ganzen, unseren Vorteil heimlich su-
chen, eine umfassende Verantwortung aber nicht annehmen.
Platons Philosophie ist auf das Selbst jedes einzelnen bezogen. Vor
uns selbst können wir uns nicht verstecken. Daraus folgt eine inhaltliche
Ethik, eine umfassende und zeitlich nicht begrenzte Verantwortung des
Menschen. Dieses Paradigma ist es, das den Menschen auf eine höhere
Evolutionsstufe hebt und jeden einzelnen von uns ganz und gar uner-
setzlich im Bewusstsein Gottes macht. Kein anderer kann unseren Teil
ausfüllen. Und wenn wir ihn leer lassen, weil wir unser Potenzial vergeu-
den, wartet die Welt auf unsere Rückkehr – auf ewig, wenn wir es so wollen.
Integrität ist eine Zumutung, wenn wir für kurze Zeit eingeschränkte
Möglichkeiten haben. Wer keine Zukunft hat, kann nicht integer sein.
Stellen Sie einen Tagelöhner an die Hauptkasse einer Bank? Wer mit
großen Summen für nur einen Tag hantiert und sich nicht bedient, ist
ein Trottel. Wer nur ein Leben hat und die gigantische Erbschaft unseres
Planeten nicht verjubelt, ist ein Schwachkopf. Unsere gegenwärtigen
Schwierigkeiten sind Ergebnis des Paradigmas der Einmaligkeit und
Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg 59
unserer Eitelkeit: Trottel oder Schwachköpfe wollen wir nicht sein, und
wir sind es auch nicht.
Dieses Leben ist ein einziger Ton in einer Symphonie der Ewigkeit.
Hier und jetzt kennen wir nur diesen einen Ton, ahnen den Zusam-
menhang nicht und erkennen Schönheit und Größe des Kunstwerks
nicht. Das Vollkommene aber ist in uns – als Bestimmung, als Aufgabe,
als Sein – und bereit, durch uns in die Welt hinauszustrahlen.
Erst das Wissen um die Ewigkeit der Seele macht integer. Es trans-
zendiert Adam Smiths „unsichtbare Hand“ auf eine höhere Evolu-
tionsstufe: Der Bäcker interessiert sich nicht für Ihre Frühstücksbröt-
chen; der Mechaniker nicht für Ihr Auto; der Arzt nicht für Ihre
Gesundheit. Jeder interessiert sich einzig und allein für seinen eigenen
Geldbeutel. Und das Ergebnis: Das Wunderwerk einer funktionierenden
Marktwirtschaft, in der alle mit Kaufkraft ausgestatteten Bedürfnisse
befriedigt werden.
Das Wissen um die Ewigkeit der Seele ist ein Paradigma, das unsere
Welt nicht so lassen kann wie sie ist: Wem nützt Betrug? Wem nützen
unsaubere Geschäfte? Wem nützen gefälschte Bilanzen? Wem nützt die
Unterdrückung politischer Gegner? Wem nützen Gewinne auf Kosten
von Menschenleben? Wem nützt Umsatz auf Kosten der Natur? Wem
nützt wirtschaftliches Wachstum zu Lasten unserer Zukunft? Wem nüt-
zen Mord und Völkermord, wenn wir unsterblich sind? Im Jenseits be-
gegnen die Täter ihren Opfern; sie müssen ihre Schuld durch viele Leben
abtragen – bis ihre Opfer ihnen verziehen haben. In den Worten Jesu:
„Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und
nähme doch Schaden an seiner Seele?“
Die Volksweisheit hat für Schuld gegenüber dem Opfer und Schuld bei
dem Gläubiger ein und dasselbe Wort, weil es zwei sehr ähnliche Dinge
sind: Opfer erhalten Gutschriften auf Kosten des „Kontostands“ der
Täter, die sich langfristig selber opfern. Der Buddhismus und der Hindu-
ismus nennen diesen Kontostand in der wahren jenseitigen Realität
„Karma“. Jede Schuld fällt karmisch auf ihre Verursacher zurück.
Mit dieser Erkenntnis wird unsere Lust am Ausstechen von Rivalen,
der Drang zu siegen, der Impuls, stärker, schneller und besser zu sein,
aufgelöst und verwandelt in einen bedingungslosen Willen zur Ko-
ȱ
60 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
ȱ
62 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
Sorgen und Ihren Kummer abnehmen? Die werden Sie hier nicht brau-
chen, sie könnten Sie daran hindern, Ihr Essen bei uns zu genießen.“ Sie
zögern, Sorgen und Kummer abzugeben, diese Dinge sind Ihnen so sehr
vertraut. Aber das Mädchen sagt, dass sie alles sorgsam aufbewahren
und behüten wird, als Sie es über die Garderobentheke reichen. Sie lä-
chelt, als sie Ihre Sorgen entgegennimmt und gibt Ihnen eine kleine
Quittungsmarke. „Hier ist Ihre Kummerquittung. Zeigen Sie den Zettel
hier vor, wenn Sie diese Dinge wieder mitnehmen wollen, nachdem Sie
bei uns gewesen sind ...“
Sie erwidern das Lächeln des Mädchens hinter der Theke, fühlen sich
nun wohl damit, dass sie Ihre Wertsachen aufbewahrt und freuen sich
auf die Erfahrung des Abendessens.
Das lächelnde Gesicht des Maître De lädt Sie jetzt ein, ihm zu folgen.
Er führt Sie zu Ihrem Lieblingstisch. „Ein gutes Menu beginnt mit ei-
nem Lächeln“, sagt er und sein eigenes wunderschönes Lächeln lässt
den Tisch, an dem Sie mit Ihren Freunden Platz nehmen, in warmem
Licht erstrahlen. Die Energie, die er mit seinem Lächeln geschaffen hat,
ist wie eine verzauberte Wolke, die alles und jeden an Ihrem Tisch
durchdringt. Sie beginnen, sich gegenseitig anzulächeln, und die Ener-
gie dieses Lächelns bleibt, auch als der Maître De gegangen ist.
Bald kommt die Bedienung, grüßt Sie, nimmt Ihre Getränkewünsche
entgegen und erklärt Ihnen den Stil dieses Essens: „Hier und heute ist
ein ganz besonderer Abend für Sie. Wir sind sehr glücklich, dass Sie
hier sind. Wir möchten gern Ihre Zeit bei uns zu einer außerge-
wöhnlichen Erfahrung werden lassen. Unser Küchenchef wird das Menü
ganz nach Ihren Wünschen zusammenstellen und zubereiten. Auch der
anspruchsvollste Gast wird sehen, dass wir seine Wünsche erfüllen.“
Die Energiewolke, die durch den Maître De geschaffen worden ist, be-
ginnt sich aufzulösen. Im gleichen Augenblick lächelt die Kellnerin und
füllt die Energie, die den Tisch einhüllt, wieder auf.
Die Kellnerin überreicht jedem eine Karte. „Lassen Sie mich erklären,
wie unser Menü arrangiert ist, und dann werde ich Ihnen jede Frage be-
antworten, die Sie haben. Das Essen besteht aus sieben Gängen. Im ers-
ten Teil der Karte stehen die Appetizer. Das sind sehr leichte kleine
Schleckereien, die Ihren Magen aufwecken, sodass Sie die späteren
PRAXISBEISPIEL 2: Der Unternehmertag 63
Gänge richtig genießen können. Jeder der drei nächsten Gänge ist zu-
bereitet worden, um den Hauptgang danach richtig zur Geltung zu
bringen. Die beiden letzten Gänge schließlich sind leichte, leckere Des-
serts.“
Nach diesen Erklärungen beginnen Sie die Karte zu studieren, um zu
schauen, worauf Sie Lust haben. Während Sie sie durchblättern, fährt
die Kellnerin fort: „Es gibt viele Spezialitäten, die nicht in der Karte
stehen. Bitte erlauben Sie mir, Ihnen davon zu erzählen. Wir haben ein
besonderes Menü, dessen Vorspeisen Hoffnungen und Träume sind.
Diese Vorspeisen sind leicht, luftig und angenehm und machen über-
haupt nicht satt. Dabei können Sie jeden beliebigen Traum aus Ihren
Fantasien wählen.
Danach folgen drei Gänge mit Aufgaben, die Ihnen das Hauptgericht
wunderbar schmecken lassen. Der zweite Gang beruht auf Angst und
bildet so einen wunderbaren Kontrast zum letzten Gang der Liebe und
auch eine Motivation, die anderen Gänge nicht zurückgehen zu lassen.
Der dritte Gang ist eine schöne Portion Beziehungen, eingelegt in einer
Kommunikations-Soße. Der vierte Gang sind Stachelbeeren des Beur-
teilens, bedeckt mit Blättern aus freiem Willen. Das Hauptgericht ist
eine gut gewürzte üppige Platte mit Leidenschaft, die wir auf der
Grundlage von ,action‘ und gewürzt mit Drama servieren. Die beiden
letzten Gänge sind Zufriedenheit und – zum Abschluss – von köstlichem
Tiramisu bedeckte Liebe. Zwischen den Gängen servieren wir, um den
Magen zu reinigen, jeweils eine kleine Kugel von leichtem Spirituali-
täts-Eis.“
Nachdem Sie nun wissen, welche Art von Gerichten es in diesem Res-
taurant gibt, studieren Sie die Karte sorgfältiger. Wenn Sie an die gro-
ße Auswahl und die vielen Möglichkeiten denken, bekommen Sie richtig
Appetit.
Kurz darauf wählen Sie Ihre Speisefolge aus und die Bedienung ver-
schwindet in der Küche. Jedes Mal, wenn ein Gang aufgetischt wird,
wird Ihnen etwas klar: Wenn Sie nicht ausdrücklich etwas Bestimmtes
bestellen, wird Ihnen das serviert, was der Küchenchef in diesem Au-
genblick gerade zur Hand hat. Was Sie dann bekommen, ist nicht so gut
wie die Gänge à la carte. Schließlich weiß jeder, dass Eifersucht und
ȱ
64 Integrität ist das einzige Tor zum Erfolg
geben“ – sein eigenes Umfeld ändern kann, wenn er es wirklich will und
integer ist. An Beispielen wird demonstriert, was eine klare und einheit-
liche Ausrichtung von Gedanken, Sprache und Glaubenssätzen im Un-
ternehmen bewirkt, wie wir unsere unendlichen Möglichkeiten durch
unser Denken beschränken, warum wir Dinge, die wir nicht denken,
auch nicht erschaffen können, und wie unser Leben und das Geschäfts-
ergebnis von Unternehmen von unseren alten Denk- und Handlungs-
mustern produziert wird.
Jeder geht mit praktischem Handwerkszeug nach Hause, das es ihm
erlaubt, den inneren Schaltplan seines Unternehmens oder Ge-
schäftsbereichs neu auszurichten. Ein Betriebsleiter, der als „Wieder-
holer“ im Kreis sitzt, berichtet, wie er nach einem solchen Unterneh-
mertag seinen Betrieb ganz allein erfolgreich neu ausgerichtet hat, mit
dem Ergebnis, dass die Umsatzrentabilität jetzt fünf Mal so hoch ist
wie zuvor.
Claudine Tisch und Harald Schneider erfahren, warum jeder Füh-
rungswechsel riskant ist und die meisten Fusions- und Akquisitions-
projekte scheitern: Unterschiedliche Resonanzfelder werden zusam-
mengeworfen und es entsteht Schwingungssalat. Als sie den Raum
kurz nach 18.00 Uhr verlassen, haben sie ein gemeinsames Projekt de-
finiert: Die Eingliederung ihres Geschäftsbereichs in den neuen Mut-
terkonzern soll ein Erfolg werden. Führung heißt Verantwortung über-
nehmen. Verantwortung übernehmen heißt Ursache sein für das, was
geschieht. Die beiden sind entschlossen, gemeinsam die Ursache für
diesen Erfolg zu sein.
ȱ
Unternehmen sind nicht für den Markt da 67
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_3,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
68 Unternehmen sind nicht für den Markt da
Menschen suchen die Schuld für ihr Schicksal gern woanders. Die So-
ziologen haben die Suche nach Schuldigen für die Probleme der Men-
schen sogar zu einer Wissenschaft entwickelt.
Was die Mehrheit der Deutschen will und Kurt Schumacher anstrebt,
ist eine demokratische Planwirtschaft. Kein stalinistisches Unrechts-
system, aber auch keine kapitalistische Ausbeutung. Der Verteilungs-
kampf hat das Volk in Rechte und Linke gespalten. Der Kampf zwischen
Rechts und Links hat die Demokratie zerstört. Jetzt ist die Stunde der
Versöhnung, des Ausgleichs, des Kompromisses.
In der Synthese zwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft und
der kommunistischen Zentralverwaltungswirtschaft spiegelt sich die
Synthese zweier historischer Strömungen in Deutschland: des Feuda-
lismus und der Ordnung. Ein Binnenvolk mit vielen unterschiedlichen
Nachbarn – diese Erfahrung verbindet die Deutschen mit den Russen –
sucht Sicherheit in einem starken Staat, der den Mangel behebt, die
Produktion organisiert und den Reichtum verteilt. Der Etatismus der
Bevölkerung empfindet das Privateigentum an Produktionsmitteln, die
durch die Arbeit des Volkes entstanden sind, als ungerecht.
Den Höhepunkt erreicht der deutsche Konservatismus im Jahre 1957.
Das einzige Mal in der Nachkriegsgeschichte gewinnt eine Partei bei
Wahlen zum Deutschen Bundestag die absolute Mehrheit – mit einem
Slogan des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der die
Ängste der Bevölkerungsmehrheit präzise widerspiegelt: „Keine Expe-
rimente!“
Dass Marktwirtschaft ein permanentes Experiment ist, verschweigt
der „alte Fuchs“ Adenauer. Die konservative Christliche Demokratische
Union Deutschlands – die Partei Adenauers und Erhards – beschließt auf
ihrem Ahlener Parteitag im Jahre 1947 die Vergesellschaftung der Pro-
duktionsmittel und die Beschränkung des Privateigentums. Und ein
Unternehmen sind nicht für den Markt da 69
ȱ
70 Unternehmen sind nicht für den Markt da
steller. Seitdem ist eine „Lobby“ für Unternehmen oft wichtiger als ein
Markt; haben „Lobbyisten“ mehr Einfluss auf das Ergebnis als Kunden;
wird die Arbeit, auf die es ankommt, in Politik und Bürokratie verlagert
und dem Wettbewerb entzogen.
So beseitigt der Markt die Knappheit. Auch wenn Claudia Schiffer und
Naomi Campbell ihre Schönheit vermarkten können, hat das viel mit
Knappheit zu tun.
Im Gegensatz zum Kampf, der grundsätzlich schlecht ist, weil er ne-
gative externe Effekte auslöst, ist Wettbewerb grundsätzlich gut, weil er
positive externe Effekte produziert. Wettbewerber, die alle nur ihren
eigenen Vorteil suchen, müssen ihren Kunden niedrigere Preise, höhere
Qualität, bessere Produkte, kürzere Lieferzeiten, wirksamere Problemlö-
sungen, kompetenteren Service oder freundlichere Gesichter bieten,
wenn sie diesen Vorteil finden wollen. Den Kunden ist der Ausgang des
Wettstreits egal; sie profitieren vom Wettbewerb; sie sind die unbeteilig-
ten „lachenden Dritten“.
Es gibt auch Marktformen, die den Wettbewerb behindern. Bei einem
Monopol gibt es nur einen Anbieter bestimmter Waren oder Dienst-
leistungen. Die staatliche Monopolversicherung in einem lateiname-
rikanischen Land bekämpft die Privatisierung in einer Anzeigenkam-
pagne mit dem Argument, private Versicherungen wollten nicht der
Bevölkerung dienen, sondern Gewinne erzielen, die sie ins Ausland
transferieren. Deshalb, so wird gefolgert, beuten Privatunternehmen das
Land aus, Staatsmonopole aber erhalten ihm seinen Reichtum.
Zielgruppe der erfolgreichen Kampagne sind die Wähler, die nicht
verstanden haben, was Gewinn ist und deshalb einer politischen Partei
eine Mehrheit verschaffen, die Staatsmonopole verteidigt. Gewinn ist bei
Wettbewerb ein Maß für die erfolgreiche Beseitigung von Knappheit;
niedrige Gewinne deuten auf große Not.
ȱ
72 Unternehmen sind nicht für den Markt da
ȱ
74 Unternehmen sind nicht für den Markt da
ȱ
76 Unternehmen sind nicht für den Markt da
ȱ
78 Unternehmen sind nicht für den Markt da
ȱ
80 Unternehmen sind nicht für den Markt da
nen Wurzeln sterben ab, ihre Stämme verlieren Stabilität, ihre Anfällig-
keit für Schädlinge steigt. Mehr als die Hälfte des Waldbestands in den
gemäßigten Zonen ist krank.
Sollten wir unseren eigenen Untergang als biologische Art inszenie-
ren, so müssen wir dann wohl unter schwereren Bedingungen wieder von
vorn anfangen – bis wir unsere Lektion gelernt haben. Vieles spricht
dafür, dass es nicht der erste Neuanfang auf unserem Planeten wäre. Die
Geduld Gottes kennt keine zeitliche Grenze. Das Alte Testament berich-
tet von einem Neuanfang nach einer ökologischen Katastrophe – der
Sintflut –, und das Maha bharata berichtet von einer hochtechnisierten
Zivilisation, die wohl vor Zehntausenden von Jahren untergegangenen
ist:
„Aswathama sprach“, ich zitiere verkürzt, „der Diamant, den ich be-
sitze, diese unfehlbare Waffe, wird alle noch ungeborenen Kinder töten.
Käme es jedoch soweit, würde zwölf Jahre lang Dürre das Land befallen.
Die Antardhana-Waffe besaß die Kraft, die Gegner einzuschläfern. Doch
Arjuna feuerte die Waffen ab, denen die Kraft innewohnt, die Vernich-
tung abzuwenden, die Aswathama angestrebt hatte. Die Pfeile, die er mit
dem Ghandiva schoss, hemmten den Regenguss. Die Waffen schossen
hoch in die Lüfte, und Flammen brachen aus ihnen hervor, die dem gro-
ßen Feuer glichen, das die Erde am Ende der Zeitalter verschlingt. Zis-
ternen und Teiche trockneten aus und der Wald zerfiel zu Asche.“
Radioaktive Verstrahlung ist vielleicht gar nicht so neu, chemische
Waffen sind vielleicht gar nicht so erstmalig und die Strategische Ver-
teidigungsinitiative der Vereinigten Staaten ist vielleicht gar nicht so
originell gewesen.
Unsere Technik ermöglicht die Zerstörung der Bedingungen, unter
denen auf der Erde Leben weiter existieren kann. In der Kalkulation
unserer Unternehmen werden aus Kosten Preise gebildet; dabei wird
auch die Natur ökonomischem Kalkül unterworfen. Die Zerstörung der
Natur ergibt dabei das wunderbare Prädikat „rentabel“. Diese Rechnung
beruht auf drei Prämissen. Erstens: Güter werden aus Rohstoffen herge-
stellt, deren Vorrat grenzenlos ist. Zweitens: Der Produktionsprozess
hinterlässt keine Spuren. Und drittens: Der Konsum verzehrt die Güter
vollständig.
ȱ
82 Unternehmen sind nicht für den Markt da
Der Verbrauch von Natur wird als Ertrag verbucht; diese Seite der Bi-
lanz lehrt deshalb: je mehr, desto besser. Arbeitsplätze verursachen
Kosten, die in vielen Ländern durch darauf erhobene Abgaben künstlich
erhöht werden; diese Seite der Bilanz lehrt deshalb: je weniger, desto
besser. Beides zusammen vernichtet Natur und Arbeitsplätze, die Erde
und ihre Menschen.
Vor 100 Jahren ist die soziale Frage als das zentrale Thema der Politik
angepackt worden und hat unsere Verfassungen und Rechtsordnungen,
Parteien und Institutionen geprägt. Die Klassenkämpfer in allen Lagern,
die aus diesem Thema noch nicht herausgewachsen sind, können bei
Albert Einstein nachlesen, wie sie es schaffen können – sie müssen ihre
Probleme mit einer Geschwindigkeit lösen, die höher ist als die des
Lichts. Nach der Relativitätstheorie läuft die Zeit dann in die entgegen-
gesetzte Richtung und bringt sie wieder dorthin, wo sie hingehören: 100
Jahre zurück.
Heute muss die ökologische Frage als das zentrale Thema der Politik
angepackt werden und unsere Verfassungen, Rechtsordnungen und
Institutionen prägen. Eine nachhaltige Entwicklung („Sustainable Deve-
lopment“) der Wirtschaft zerstört nicht das Wunderwerk des Marktme-
chanismus; aber sie zerstört erst recht nicht das Wunderwerk der Natur.
Unser transzendentes Ziel, das sich selbst genügt, darf nicht mehr
Wachstum sein, welches durch eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität
und durch eine Erhöhung der Kapitalproduktivität erreicht wird, son-
dern die Erhaltung des Kapitalstocks des globalen Unternehmens, in
dem wir alle arbeiten – des Unternehmens Menschheit. Dieser Kapital-
stock ist die Natur. Durch drei einfache Grundsätze erhalten wir unser
globales „Grundkapital“:
– Natur darf nur im Rahmen ihrer Erneuerungsfähigkeit verbraucht
werden.
– Die Kosten dieser Erneuerung müssen in die Preiskalkulation einge-
hen und von den Verbrauchern getragen werden.
– Technische Risiken dürfen nur in Kauf genommen werden, wenn sie
versicherbar sind.
Unternehmen sind nicht für den Markt da 83
„Der weiße Mann behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder,
den Himmel, wie Dinge zum Kaufen und Plündern, zum Verkaufen wie
Schafe oder glänzende Perlen“, sagt Seattle, Häuptling der Duwarnish-
Indianer, in einer Rede im Jahre 1855: „Sein Hunger wird die Erde ver-
schlingen und nichts zurücklassen als eine Wüste. Vorübergehend im
Besitz der Macht, glaubt er, er sei schon Gott, dem die Erde gehört. Die
Erde gehört nicht dem Menschen, der Mensch gehört der Erde. Was im-
mer den Tieren geschieht, geschieht bald auch den Menschen. Alle Dinge
sind miteinander verbunden. Die Erde verletzen heißt ihren Schöpfer
verachten. Dies ist das Ende des Lebens und der Beginn des Überlebens.
Wir sind ein Teil der Erde.“
Die Sprache der Erde ist eine andere als die Sprache der Menschen. Die
Sprache der Erde in ihrem Gleichgewicht sind Fülle, Schönheit, Harmo-
nie – und in ihrem Ungleichgewicht Naturkatastrophen.
Es gibt Hoffnung, dass viele von uns sie verstehen lernen und auf sie
hören; dass verantwortungsvolles Unternehmertum sich nicht dem
Markt unterordnet, sondern den Markt der eigenen Vision von einer
besseren Welt unterordnet; dass verantwortungsvolle Politik nicht dem
folgt, was demoskopische Auguren als gerade populär ermitteln und was
der Pöbel will: Aggressionen entladen durch Zerstörung. Marktmecha-
nismen ohne die drei Grundsätze der Nachhaltigkeit zerstören unseren
Planeten.
Das kommunistische Experiment hat ungezählte Opfer gekostet und
ist so kläglich gescheitert, dass sich die Frage, ob es vielleicht falsch
angefangen worden ist, verbietet. Der Kommunismus ist an seinen eige-
nen Widersprüchen zugrunde gegangen. Vielleicht war die intakte Sow-
jetunion militärisch unbesiegbar. Die Frage ist empirisch nicht geklärt
worden, weil viele Menschen in allen Teilen der Welt sich nach Frieden
gesehnt haben, an Frieden gedacht haben und für den Frieden auf die
Barrikaden gegangen sind.
Die Auflösung des kommunistischen Ostblocks ist kein strategischer
Wurf irgendeines durchsetzungsstarken Politikers; sie ist das Ergebnis
starker Gefühle, kraftvoller Gedanken und uneingeschränkten Enga-
gements vieler Bürger auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.
ȱ
84 Unternehmen sind nicht für den Markt da
Von einem Beispiel möchte ich – stellvertretend für viele – hier berich-
ten. Als ich davon höre, bezeichne ich ihn als Illusionisten, der die Reali-
täten verkennt und sinnlos Porzellan zerschlägt; das geteilte Deutsch-
land braucht das Arrangement mit der östlichen Supermacht. Mitten im
Kalten Krieg steht er an dem mit Selbstschussanlagen befestigten
Grenzstreifen, der Berlin zerteilt, und ruft: „Diese Mauer muss weg!“ Er
heißt Ronald Reagan.
Wie jedes politische und wirtschaftliche System in der Menschheits-
geschichte wird auch die Marktwirtschaft an ihren eigenen Wider-
sprüchen zugrunde gehen, nachdem sie die Meere durchkreuzt hat und
die Mannschaft vielleicht nicht sorglos, aber übermütig geworden ist.
Der wirtschaftliche „Sieg“ über den Kommunismus verführt zum Grö-
ßenwahn. Doch es gibt keine Sieger; jeder vermeintliche Sieg leitet einen
Niedergang ein. Obwohl es noch keine greifbare Systemalternative gibt,
ist der Zeitpunkt für die Auflösung des Kapitalismus jetzt.
Wiederum ist es kein strategischer Wurf von Leuten, die Geschichte
machen wollen, sondern Ergebnis der Vision von Unternehmern aus
allen Teilen der Welt. Auch hierzu, stellvertretend für viele, das Beispiel
eines Chemieunternehmers: Als ich den letzten Termin bei ihm habe, ist
er etwa 45 Jahre alt und vom Tode gezeichnet. Der Anblick trifft mich bis
ins Mark. Ich versuche, meine Betroffenheit zu überspielen und berichte
ihm enthusiastisch von meinen unternehmerischen Großtaten.
„Es ist nicht wichtig, was wir verdienen durch das, was wir tun,“ sagt er,
„es kommt ganz allein darauf an, wer wir werden durch das, was wir
tun.“ Und dann fragt er mich: „Haben Sie darüber nachgedacht, wer Sie
sein werden, nachdem Sie diese Ideen umgesetzt haben?“ Das ist das
Vermächtnis von Gerhard Raspé.
heit, auf ein Geschäft auch verzichten zu können, nicht voreilig auf. Eva
und Adam tun es und Gott setzt den Preis fest: Das Paradies.
Der Apfel ist vom Baum der Erkenntnis. Wer Erkenntnis sucht, will in
die göttliche Schöpfungswerkstatt hineinpfuschen. Hätte Gott das da-
mals zugelassen, wäre der Mensch in der Lage gewesen, ebenfalls eine
Welt zu schaffen; denn Erkenntnis ist Kraft, innovative Kraft für einen
Schöpfungsakt. Dies hat Gott verhindert und uns aus der Überflussge-
sellschaft vertrieben. Seitdem bemühen wir uns, „im Schweiße unseres
Angesichts“ und mit dem Startkapital von nur einem Happen Erkennt-
nis, das Paradies zu rekonstruieren.
Voraussetzung für ein irdisches Paradies ist nicht Plackerei, sondern
Reife. Reife kann uns niemand schenken; wir müssen sie uns mit unse-
rer Entwicklung erarbeiten. Reife Menschen verwandeln die Erde in ein
Paradies. Das irdische Paradies schließt blühende und finanziell gesun-
de Unternehmen ein. Für die Transformation, die wir zu leisten haben,
sind sie wichtiger als Staaten, wichtiger auch als Regierungen. Staaten
werden sich überleben.
Ent-Wicklung ist ein Prozess des Auswickelns, des Befreiens, des Ab-
werfens von Ballast. Wer hoch ent-wickelt ist, hat nichts zu verbergen,
ist durchsichtig. Er wird von den anderen erkannt, anerkannt für sein
Sein. Dieses Sein strahlt aus, nicht in einen leeren Raum, sondern in die
Gemeinschaft, in die Unternehmen. Es ist wie im Spitzensport: wer auf
die Prämie schielt, hat schon verloren. Wer aber an sich glaubt, muss
gewinnen.
Die Führungslehre redet davon, aus Mit-Arbeitern Mit-Unternehmer
zu machen. Das ist alles Phase zwei: die Reparaturwerkstatt einer linea-
ren Welt, die sich gerade auflöst. Wirkliche Unternehmer sind Schöpfer.
Schöpfer brauchen Mitarbeiter, so wie Gott die Menschen braucht. Un-
ternehmer, die ihre einzige Aufgabe darin sehen, ihren Mitarbeitern
Gelegenheiten zum persönlichen Wachstum, zur persönlichen Entwick-
ȱ
86 Unternehmen sind nicht für den Markt da
ȱ
88 Unternehmen sind nicht für den Markt da
fort. Das sind die Meister. Unternehmen und Führungskräfte, die nicht
wissen, wer sie sind und wozu sie existieren, werden zum Werkzeug für
die Visionen und Strategien der Meister. Das sind die Diener.
„Bon“, schmunzelt Monsieur Guérin schelmisch an Herrn Schneider
gewandt – und keiner der Anwesenden weiß mit Sicherheit, ob es Ernst
ist oder Spaß – „das ,Warum‘ ist in der Zuständigkeit der Konzernspit-
ze. Wir haben Sie gekauft, Sie werden uns dienen. Über alles andere
können wir reden.“ Herr Schneider krallt seine beiden Hände um die
Lehnen seines Stuhls wie ein Ertrinkender um seinen Rettungsring. Mit
Blicken richtet er einen SOS-Schrei an die beiden Resonanzschmiede.
„Monsieur Guérin“, übernimmt einer der beiden den Ball, „le coq, c’est
le seul animal de la basse-cour qui a les pieds dans la merde et pousse
encore ses cocoricos“ (der Hahn ist das einzige Tier auf dem Hof, das
mit den Füßen in der Scheiße steht und dabei noch Kikeriki ruft). Frau
Tisch und Monsieur Guérin lachen herzhaft. Herr Schneider schaut
leicht verwirrt. Er versteht die Anspielung nicht.
„Wenn Sie das so tun“, fährt der Resonanzschmied fort, „haben Sie
einen Misthaufen gekauft. Das ist nicht schlecht, damit können Sie Ih-
ren Konzern düngen. Wenn Sie aber ein fruchtbares Feld haben wollen,
das reiche Ernte bringt, sollten Sie gemeinsam säen und auch gemein-
sam ernten. Wer sich die Frage nach dem ,Warum‘ seiner Aufgabe von
anderen beantworten lässt, der ist außerhalb von sich. Er wird von au-
ßen bewegt – auf der Mistgabel der Konzernleitung. Wer die Frage nach
dem ,Warum‘ seiner Aufgabe selbst beantwortet, der ist bei sich. Seine
Vision verwirklicht sich aus seinem Selbst heraus. Seine Strategie
dorthin funktioniert ,von selbst‘. Meinen Sie nicht, dass Sie Ihre Beleg-
schaft in Deutschland so zu Ihrem Komplizen machen können?“
Monsieur Guérin beginnt, den Schlagabtausch sichtlich zu genießen.
„Wir wollen uns aber nicht auf irgendwelche komischen Dinge ein-
lassen“, bremst Herr Schneider. „Ich glaube, wir können ,complicité‘ mit
Sympathie übersetzen, Herr Schneider“, beschwichtigt Frau Tisch, die
schon beginnt, in eine neue Rolle hineinzuwachsen – die einer Kultur-
Botschafterin, „und das heißt, dass die Franzosen Sie dann mögen.“
Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über sein Gesicht.
ȱ
90 Unternehmen sind nicht für den Markt da
Ja, die Franzosen bewundern die Deutschen, mögen sie aber nicht
wirklich. Die Deutschen möchten von den Franzosen aber gar nicht be-
wundert, sie möchten von ihnen geliebt werden. Und wenn ihnen das
nicht gelingt, reagieren sie so empfindlich.
Harald Schneider beobachtet, wie Originalität Monsieur Guérin ein-
fach Spaß bereitet und Pierre Guérin beginnt, die verlässliche Bo-
denständigkeit von Herrn Schneider zu schätzen. Die Beziehungen in
dieser Runde sind geklärt. Frau Tisch hat vorgebaut und in einem sehr
guten Restaurant den schönsten Tisch für fünf Personen reserviert.
„Wir haben noch keinen von den Punkten besprochen, deretwegen wir
heute zusammengekommen sind“, bemerkt Herr Schneider ihr gegen-
über auf dem Weg ins Restaurant. Und er staunt, als das dann zwischen
Dessert und Café und noch immer bei einem ganz besonderen Rotwein
alles scheinbar nebenbei erledigt wird.
Erfahrung ist nicht übertragbar 91
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_4,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
92 Erfahrung ist nicht übertragbar
plaudernd an der Bar, öffnen ihre Herzen, schärfen ihre Sinne, tanzen
wieder, trinken etwas und suchen dann einen gemeinsamen Tisch. Bei
der romantischen Musik des allerletzten, langsamen und nicht endenden
Tanzes wird das Licht schummerig. Sie schmiegt sich zärtlich an ihn, er
drückt sie vorsichtig an sich. Und als sie seinen Hals umklammert als
wollte sie ihn nie mehr loslassen, atmet er viel Mut ein und riskiert die
Frage: „Willst du heute mit mir kommen?“ Die Nacht quillt über vor Ver-
langen, vor Beben, vor Erfüllung.
Biologen nennen das Paarungsverhalten (courtship pattern), und ihre
wesentliche Feststellung hierzu ist wenig verwunderlich: Das Paa-
rungsverhalten ist artspezifisch verschieden. Bei vielen Tieren besteht
es aus drei oder vier präzise definierten Stufen. Wenn die abgehakt sind,
klickt es, und der Arterhaltung ist ein Dienst erwiesen.
Bei den Menschen funktioniert das sehr ähnlich. Allerdings sind es
hier nicht drei oder vier Stufen. Anthropologen haben herausgefunden,
dass es bei allen Rassen und Völkern 30 ebenfalls präzise definierte
Stufen bis zum Klick gibt, dessen Folgen bekannt sind. Die Wahr-
scheinlichkeit einer solchen Abfolge ist naturgemäß in der Lebensphase
besonders hoch, in welcher der vom Propheten Moses überlieferte Rat-
schluss Gottes vom sechsten Schöpfungstag andere menschliche Gedan-
ken überschattet: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“
Viele in Europa stationierte Soldaten aus den Vereinigten Staaten
sind in dieser Lebensphase und folgen dem göttlichen Ratschluss in
Diskotheken, wo sie, so sie in England stationiert sind, jungen Englände-
rinnen begegnen. Engländerinnen sind auch Menschen, sogar solche,
mit denen die sprachliche Verständigung unproblematisch ist. Während
Friedrich Schiller noch „errötend ihren Spuren gefolgt“ wäre, kann ein
Amerikaner heute die „30 Stufen“ zielstrebig angehen: Die erste Stufe ist
– immer und überall – ein Lächeln. Die Juristen bezeichnen so etwas als
notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung: Wer nicht lächelt,
kommt nie zur Stufe zwei. Natürlich ist nicht jedes Lächeln die erste
Sprosse der 30stufigen Leiter. Zum Glück gibt es hunderte anderer guter
Gründe zu lächeln. Auch die letzte Stufe ist – immer und überall – Klick.
Ohne diese biologische Vorgabe wären wir nicht hier. Die unheilvolle
Konfusion entsteht dazwischen: 30 Stufen sind artspezifisch mensch-
lich; auch die erste und die letzte Stufe sind bei allen Menschen gleich.
Erfahrung ist nicht übertragbar 93
Die Reihenfolge der Stufen zwischen Anfang und Ende aber ist nicht art-,
sondern kulturspezifisch.
Den in Lateinamerika und den romanischen Ländern üblichen Begrü-
ßungskuss zwischen den Geschlechtern – in der Rangfolge bald nach
dem Lächeln – gibt es in England nicht. Ein Kuss – ein Kuss, der sich
gewaschen hat – kommt dort kurz vor Stufe 30. Der unverbindliche ame-
rikanische Wangenkuss, von der Engländerin als Einleitung eines rich-
tigen Kusses empfunden, ermuntert sie zu einer interkulturellen Ohrfei-
ge, vertreibt den Amerikaner für immer aus englischen Diskotheken und
zementiert sein Urteil: diese unverschämte englische Arroganz ist
schwer zu überbieten.
Umgekehrt kommt der zärtliche Körperkontakt in Amerika gegen
Schluss. Das leichte Anschmiegen an den Partner ist in England recht
früh an der Reihe und hat nicht viel zu bedeuten – vielleicht nur die Lust
zu einem gemeinsamen Plausch an der Bar anzudeuten. Nach amerika-
nischem Verständnis springt die Engländerin, die vorsichtig die körper-
liche Nähe ihres Partners sucht, gleich auf Stufe 28. Ein Amerikaner, der
das erlebt, ist verdutzt, hält Engländerinnen für Huren, denkt, da es
nichts kostet, dass das hier offenbar ein Sonderangebot ist, sagt „okay,
let’s go baby“ (na gut, dann komm mit, Kleine) und will sie am Arm hinter
sich herzerren. Sie reißt sich los, rennt schreiend davon und gibt bei der
demoskopischen Befragung zu Protokoll: „Amerikaner sind der Ab-
schaum der Menschheit; kaum spreche ich mit einem, schon will er mit
mir ins Bett.“
Eine Kultur ist eine Vereinbarung zwischen Menschen und ihrem Um-
feld; sie wird von den Lebensbedingungen, dem Klima und der Land-
schaft geprägt, formt kollektive Verhaltensnormen und entwickelt
Sprache, Denken und Handeln. Kulturen unterscheiden sich durch die
mentale Programmierung der Menschen. Jedes der Programme ermög-
licht bestimmte Erfahrungen und blockiert andere.
ȱ
94 Erfahrung ist nicht übertragbar
Der Versuch, das Wort, das dieses alles ausdrückt, ins Portugiesische
oder Arabische zu übersetzen, kann sich immer nur auf einen einzigen
Aspekt von „gemütlich“ beziehen, der in dieser Sprache gedacht werden
kann: Halbdunkel, Kerzenlicht, Tannenzweige, Schnee, Ofen, Musik,
Gebäck, Kaffee, Sessel, Geschichte, Katze, Glocken. Die Reduzierung der
schillernden Farbenpracht des vielschichtigen Begriffs auf einen einzi-
gen Aspekt lässt ihn verarmen und beraubt ihn seines emotionalen Ge-
halts. Eine Übersetzung ist nicht möglich, weil die Erfahrung, die das
Wort gebildet hat, nicht übertragen werden kann. Mit „saudade“ könnte
eine sensible Übertragung von „Gemütlichkeit“ ins Portugiesische ge-
lingen; das heißt Wehmut, Traurigkeit. So ist die mitteleuropäische Ge-
mütlichkeit für Brasilianer.
In der englischen Sprache gibt es das Wort „lean“. „Lean production“
wird in viele Sprachen mit „Schlanke Produktion“ übersetzt; auch das ist
falsch. „Lean“ ist nicht schlank und „production“ nicht Produktion.
Das Concise Oxford Dictionary und das Webster’s Dictionary um-
schreiben „lean“ so: lack of curving contours, absence of excess flesh,
characterized by economy as of style, expression or operation, not
plump, consisting of muscular tissue, containing no fat (ohne runde
Formen, ohne überflüssiges Fleisch, durch Wirtschaftlichkeit im Stil, im
Ausdruck, in der Vorgehensweise gekennzeichnet, nicht schwerfällig,
aus muskulösem fettfreien Gewebe); und „to lean“ so: to rely or depend
on, to incline one’s body against something for support (sich auf etwas
verlassen, von etwas abhängen, sich an etwas anlehnen, sich auf etwas
stützen).
Auch „to produce“ bedeutet vieles, nur nicht produzieren, was „to
manufacture“ heißt. „To produce“ (lat. producere) bedeutet: to give birth
or rise to, to bring about, to form, to cause a sensation, to cause to ac-
crue, to shape to, to yield, to bear (gebären, aufziehen, hervorbringen,
gestalten, verursachen, sich entwickeln lassen, formen, Ertrag bringen,
trächtig sein). „Product“ (lat. productum) bedeutet: a compound not
previously existing in a body (ein vorher noch nicht vorhandener Be-
standteil eines Ganzen). Und schließlich bedeutet „Production“: a lite-
rary or artistic work, the creation of utility (ein literarisches oder künst-
lerisches Werk, die Schaffung von Nutzen).
ȱ
96 Erfahrung ist nicht übertragbar
Wenn wir weiterhin denken, wie wir immer gedacht haben, werden wir
weiterhin so handeln, wie wir immer gehandelt haben. Wenn wir weiter-
hin so handeln, wie wir immer gehandelt haben, werden wir weiterhin
das erschaffen, was wir immer erschaffen haben.
Wenn wir etwas Besseres, etwas Schöneres haben wollen, müssen wir
besser und schöner denken. Besser und schöner denken können wir nur,
wenn wir besser und schöner miteinander und übereinander reden. Das
aber werden wir nur fertig bringen, wenn wir uns zuvor verändert haben.
Und verändern können wir uns nur durch äußere oder innere Bewegung.
Jorge Luis Borges berichtet von den Innovationen, die sich aus einer
starken Bewegung ergeben haben – der erzwungenen Übersiedlung von
Schwarzen nach Amerika: „Pater Bartolomé von Casas hatte großes Mit-
leid mit den Indios, die in den höllischen Arbeitslagern der antilla-
nischen Goldminen krepieren mussten, und schlug Kaiser Karl V. im
Jahre 1517 den Import von Negern vor, die in den höllischen Arbeitsla-
gern der antillanischen Goldminen krepieren sollten – die bemerkens-
werte Eingebung eines Philanthropen mit unzähligen Konsequenzen:
Erfahrung ist nicht übertragbar 97
dem Blues von Handy, dem Erfolg der Pariser Ausstellung des uruguay-
ischen Arztes und Malers Pedro Figari, der wilden Prosa Vicente Rossis,
der historischen Bedeutung Abraham Lincolns, den 500 000 Toten der
Sezessionskriege, den 3,3 Milliarden für Militärpensionen ausgegebenen
Dollars, der Statue des heldenhaften Falucho, der Aufnahme des Verbs
,lynchen‘ in die 13. Auflage des Wörterbuchs der Akademie der spani-
schen Sprache, dem wuchtigen Film Halleluja, der knorrigen Verzierung
des Bajonetts von Soler, Anführer der Mulattenkämpfer vor Montevideo,
der Anmut des Fräuleins von Tal, dem Mörder von Martin Fierro, dem
herzzerreißenden Rumba El Manissero, den von Toussaint Louverture
gefangenen und geköpften Untertanen Napoleons, dem Kreuz und der
Schlange in der Flagge von Haiti, dem Blut der von Voodoo-Anhängern
mit der Machete geköpften Ziegen und der havannischen Mutter des
Tango, dem Candombe.“
Eric Davalo und Patrick Naïm berichten nicht von aufgezwungener,
sondern von unterdrückter Bewegung in einem Laborversuch mit neuge-
borenen Kätzchen: Katzen kommen blind auf die Welt; sie erleben und
erkennen ihr Umfeld zunächst ausschließlich durch Bewegung. Wird
ihnen die Möglichkeit zur Bewegung verwehrt, verkümmern die für die
Erfahrung des Umfelds zuständigen Gehirnzellen; sie können später
nicht mehr aktiviert und genutzt werden. Eine Gruppe neugeborener
Kätzchen ist nach der Geburt gefesselt worden; eine Kontrollgruppe hat
frei herumstolpern können. Nach einer Woche, als alle sehen können,
lösen die Forscher die Fesseln: Die von Anfang an freien Tiere sehen alles
und bewegen sich normal. Die zuvor gefesselten Tiere können mit ihren
Augen nichts anfangen; sie torkeln herum und verhalten sich wie blinde
Tiere.
Manchmal überspringt eine Erfahrung Kulturgrenzen und erobert
fremde Welten, in denen es dafür keine Worte gibt. Die Germanen ken-
nen keine Steinhäuser wie die Römer und haben kein Wort für Mauer.
Nachdem sie römische Mauern gesehen haben, übernehmen sie das la-
teinische Wort „murus“ als Fremdwort. Die Japaner haben kein Wort für
Privatsphäre, die es in ihrer Kultur nicht gibt. Nachdem sie in Amerika
erleben, was das ist, übernehmen sie das englische „privacy“ als Fremd-
wort. Fremdworte, von Portemonnaie bis Software, spiegeln Einflüsse
aus einer anderen Welt: kulturelle Infiltration. Die Erfahrung, die ein
ȱ
98 Erfahrung ist nicht übertragbar
Fremdwort prägt, ist in einer anderen Kultur begonnen worden und wird
mit der Übernahme des Wortes nachgeholt. „Die Grenzen unserer Spra-
che sind die Grenzen unserer Welt“, sagt Ludwig Wittgenstein dazu.
Die Sprachen der Menschen, die in den Tropen leben, haben kein Wort
für Schnee und übernehmen es als Fremdwort aus der polnäheren Spra-
che, die ihnen zuerst davon berichtet. Skifahrer kommen mit einem Wort
für Schnee nicht aus; sie unterscheiden mindestens drei Schneearten:
Firn, Bruchharz und Sulz. Ihre Möglichkeiten, ihre Ausrüstung und ihr
Verhalten wird von der Art des Schnees bestimmt, auf den sie sich ein-
stellen müssen. Für Bergführer sind drei bis vier dieser Unterscheidun-
gen nicht genug, sie kennen zwölf verschiedene Arten von Schnee. Eski-
mos kommen auch mit zwölf Worten für Schnee nicht aus; sie haben
dafür 23 verschiedene Bezeichnungen, für jede Schneeart eine. Ohne
diese Unterscheidungen können sie in Grönland nicht leben. Für Senega-
lesen ist das alles „neige“, für Kenianer „snow“, für Angolaner „neve“.
Für sie ist Schnee nur weiß und kalt; sie bauen daraus keine Iglus, tauen
ihn nicht zu Trinkwasser auf, formen damit keine Handbälle, hacken
darunter kein Eis zum Angeln auf und lassen darüber keine Kufen glei-
ten – sie bewegen sich nicht im Schnee.
Wer keinen Wein trinkt, kann Cabernet Sauvignon von Merlot nicht
unterscheiden. Für ihn existiert der Unterschied nicht. Wer keine Nu-
deln isst, kann Spaghetti von Maccaroni von Tortellini von Rigatoni von
Cannelloni von Manicotti von Fusilli von Gnocchi von Fettuccine von
Penne von Linguine von Conchigliette nicht unterscheiden. Für ihn sind
das alles nur Nudeln. Wer nie klassische Musik hört, erkennt zwischen
Händel und Rossini keinen Unterschied, wer nie Rock hört, nicht zwi-
schen Elvis und den Beatles. Wer nie ein Kunstwerk betrachtet, sieht bei
Vincent van Gogh oder Paul Klee nur bunte Farben. Ein irianischer
Hagahai, dem Sie den Sessel zeigen, auf dem Sie jetzt vielleicht sitzen,
sieht keinen Sessel. Für ihn gibt es keinen Sessel. Vielleicht sieht er
einen Opferaltar. Als solchen wird er Ihren Sessel dann bezeichnen; da-
für hat er ein Wort. Damit ist der Sessel in seiner Welt ein Opferaltar.
Ein peruanischer Indiostamm kennt nur vier Zahlen: eins, zwei, drei
und viele. In seiner Kultur hätte eine Wall Street nicht entstehen kön-
nen. In der althochdeutschen Kultur auch nicht: Zala (Zahl) ist ein ein-
gekerbtes Merkzeichen, aus dem sich keine Algebra entwickeln lässt.
Erfahrung ist nicht übertragbar 99
Jede wirkliche Innovation beginnt damit, dass wir etwas sehen, was uns
bis dahin verborgen war. Innovationsmanagement ist Unterschei-
dungsmanagement.
ȱ
100 Erfahrung ist nicht übertragbar
Methode besteht einzig und allein darin, die Studenten ihre Erfahrungen
machen zu lassen. Ich versuche, sie anzuregen. Ich führe sie zu den Din-
gen, über die sie nachdenken sollen, zu den Kontakten, die sie suchen
sollen. Wenn die Erfahrungen, die sie dabei gemacht haben, gut und tief
waren, zeige ich ihnen, was es war und warum es dieses Ergebnis ge-
bracht hat.“
Durchschlagend wird die Didaktik aber erst beim Zen-Meister Hakuin.
Als ein Fremder zu ihm kommt und fragt, ob es Himmel und Hölle gibt,
fragt Hakuin zurück: „Wer bist du?“ „Ich bin der oberste Samurai des
Kaisers“, gibt der Fragende sich zu erkennen. „Du, ein Samurai?“ spottet
Hakuin, „dein Gesicht sieht aus wie das eines Lumpen!“ Das ist zu viel
für den Stolz eines Samurai. Er zieht sein Schwert und holt aus. Hakuin
steht ruhig vor ihm und sagt: „Hier tut sich das Tor zur Hölle auf.“ Vom
Blitz der Erkenntnis getroffen, verneigt sich der Samurai vor dem Meis-
ter, der dazu bemerkt: „Und hier öffnet sich das Tor zum Himmel.“
Lernen vermittelt Wissen. Das ist nicht viel wert, weil es ohnehin
schnell veraltet. Erfahrung vermittelt Erkenntnis. Ist die Erfahrung tief
und eindringlich, hält die Erkenntnis ewig. Ist sie nicht tief und ein-
dringlich genug, stehen uns weitere Erfahrungen bevor – bis wir erkannt
haben, was wir erkennen sollen. Der Sinn unseres Lebens ist, dass wir
uns entwickeln, innerlich wachsen, reifen und Erkenntnisse erlangen,
die auf der Festplatte unserer Seele für immer gespeichert bleiben; die
wir ins Jenseits mitnehmen und in nachfolgende körperliche Existenzen;
auf denen wir unsere Zukunft aufbauen können.
Menschen vor Erfahrung schützen heißt, sie vor dem Leben schützen;
ihnen Erfahrung vorenthalten heißt, ihnen Leben vorenthalten. Deshalb
ist es die heiligste Aufgabe der Unternehmen, Menschen Gelegenheit
zu geben, Erfahrungen zu sammeln.
der er ist, als vielmehr durch sein Scheitern. „Verlierer machen andere
Erfahrungen als Sieger“, schreibt er, „immer größere.“
Der reife Manager führt nicht, sondern zeigt die Konsequenzen auf; er
deutet nicht, sondern lehrt zu denken; er leidet nicht mit, sondern hört
zu; er hat also kein Mit-Leid, sondern Mitgefühl; er forciert nicht, son-
dern lässt etwas geschehen; er greift nicht immer gleich ein, sondern
beobachtet. Der Größere hat immer Platz für die Kleineren; er beschützt
den Raum, den sie für ihre Entwicklung brauchen, ganz so wie reife El-
tern ihren Kindern einen geschützten Raum bieten, in dem sie ihre Er-
fahrungen machen können. Das Ergebnis unserer Erfahrung ist nicht
das Entscheidende. Entscheidend ist, wie wir die Erfahrung verarbeiten,
mit ihr umgehen.
Das Spiel der Kinder im Sandkasten ist ihr Beruf, ihre altersgemäße
Berufung, die genauso ernst ist wie die Arbeit der Erwachsenen in ihrem
Beruf. Rudolf Mann nennt Unternehmen „Abenteuerspielplätze für Er-
wachsene“. Kinder bauen Sandpisten mit dem gleichen Ehrgeiz wie El-
tern Asphaltpisten. Sie sind genauso verzweifelt, wenn es misslingt, wie
Eltern, wenn sie fachlich überfordert sind. Sie streiten sich mit der glei-
chen Heftigkeit um Spielsachen wie Eltern um Kompetenzen. Sie schrei-
en genauso verzweifelt zum Himmel, wenn ihr Kunstwerk zerstört wird,
wie Eltern, wenn ihr Unternehmen Konkurs anmeldet. Und alles Jauch-
zen und Jammern, alles Lachen und Weinen, alle Freuden und Leiden
haben nur einen einzigen Zweck: das Kind auf das richtige Leben vorzu-
bereiten.
Kluge Eltern beschützen ihre Kinder nicht vor schlechten Erfahrun-
gen, die sie verkraften können; sie wissen, welchen gewaltigen Reife-
schub zum Beispiel die ersten überstandenen Kinderkrankheiten aus-
lösen. Und sie wissen, dass Lebenserfahrungen, die sie ihren Kindern
vorenthalten, nur aufgeschoben sind und das Erwachsenenleben heftiger
beschweren. Wer als Kind nicht gelernt hat, mit Konflikten umzugehen,
hat es eben noch nicht gelernt und wird sich vielleicht als Erwachsener
mit seinem Umfeld überwerfen. Wer als Kind nicht gelernt hat, zu teilen,
wird es vielleicht in diesem Leben nicht mehr lernen und als Erwachse-
ner sehr allein sein. Wer als Kind nicht gelernt hat, Schmerz auch zu
ertragen, wird vielleicht später daran zerbrechen. Wer die Kindheit nicht
lebt, kann das Leben nicht leben.
ȱ
102 Erfahrung ist nicht übertragbar
Das richtige Leben? Welches Leben ist denn richtig und welches
falsch? Ist es nicht mit unserem Erwachsenenleben genauso? Auch wir
bereiten uns doch „nur“ im Sandkasten auf das richtige Leben vor, das
später kommt. Auch unsere Sandburgen sind einzig und allein Spiel-
material, das uns Gelegenheit gibt, Erfahrungen zu sammeln. Auch bei
uns geht es nicht um das Produkt – es sind alles Zwischenprodukte. Die
Erinnerung an unsere Vergangenheit wird uns mit dem ersten Atemzug
zum großen Teil genommen, damit wir ganz präsent sind und uns auf
das Hier und Jetzt konzentrieren; damit wir uns nicht in unsere Ge-
schichte vergraben und dadurch diesem Leben keine Verbindlichkeit
geben, es verpassen und vom Winde verwehen lassen; damit wir die Er-
fahrungen, die für uns vorbereitet werden, ernst nehmen und ausschöp-
fen; damit unser Leben lebenswert ist. Es geht allein um den Weg unse-
rer Entwicklung, den wir vor uns ausbreiten.
Erfahrungen, denen wir Kinder aussetzen sollten, haben wir einge-
schränkt: soweit die Kinder sie verkraften können. Die Grenze wird von
physischen und psychischen Schäden gezogen, die irreparabel sind. Im
Unternehmen wird die Grenze von der Verzinsung des Eigenkapitals
gezogen, die erwirtschaftet werden muss. Alles, was darüber hinaus an
Rücklagen angesammelt wird, ist wie ein Laufstall, in den das Kleinkind
eingezäunt wird: bequem für die Eltern, sie brauchen nicht aufzupassen;
grausam für das Kind, ihm werden die Erfahrungen geraubt, die es bei
der Entdeckung der Wohnung hätte machen können. Und damit wird
ihm ein Stück seiner Zukunft geraubt.
Viele Unternehmen prüfen neue Projekte so lange und so gründlich,
bis nur noch die übrig bleiben, deren Erfolg sicher ist. Dann kommt der
Erfolg; die Gewinne explodieren und werden in der Bilanz versteckt,
damit die Aktionäre nicht habgierig werden. Wo es rechtlich zulässig ist,
werden sie genutzt, um eigene Aktien aufzukaufen: viele Manager träu-
men nicht nur vom mitarbeiterlosen Unternehmen, sondern auch vom
eigentümerlosen Unternehmen. Und sobald sich die Chance bietet, wer-
den die Gewinne eingesetzt, um sich der leidigen Konkurrenz durch
Akquisition zu entledigen. Dieses Szenario kennen wir bereits.
Auf der Strecke bleiben die Mitarbeiter des Unternehmens, die um ih-
re Erfahrungen auch mit riskanteren, weniger sicheren Projekten und
Abenteuern beraubt werden. Diese Erfahrungen sind das größte unter-
Erfahrung ist nicht übertragbar 103
Unternehmen, die ihre heilige Aufgabe ernst nehmen und sich als Er-
fahrungshort für Menschen verstehen, betreiben das Projektcon-
trolling anders. Vier Fünftel der neuen Projekte müssen scheitern.
Wenn es weniger sind, wird nicht alles versucht.
ȱ
104 Erfahrung ist nicht übertragbar
„Eine neue Welt wird geboren, die alte vergeht“, steht im MahƗbhƗrata,
„wenn ihr eure Aufgabe erfüllt habt, ist es Zeit für euch, diese Welt zu
verlassen und euch auf eine Reise in eine andere Welt vorzubereiten. Die
Zeit ist der Same des Universums und die Zeit ist mächtig.“ Der hundert-
jährige Ernst Jünger sagt das in einem Interview so: „Niemand stirbt,
bevor er nicht die für ihn vorgesehenen Erfahrungen hinter sich hat;
manch einer aber lebt länger.“
Wenn die Erfahrung ihre Spur hinterlassen hat, führt diese Spur zu ei-
ner höheren Evolutionsstufe. An der Größe der Erfahrung erkennen wir
die Größe des Entwicklungsschritts, den wir bewältigen.
Große Erfahrungen sind immer mit der Lösung großer Probleme ver-
bunden. Große Probleme suchen wir nicht; wir versuchen, sie zu umge-
hen, und träumen vom „dolce vita“, dem süßen, leichten Leben; so wie die
Kinder von Lollipop. Weil das aber nicht die Aufgabe unseres Daseins ist,
sondern Lebens-, Erfahrungs- und Zeitverschwendung, greift eine In-
stanz ein, die wir Schicksal nennen, und stellt uns vor Probleme – und
zwar immer so präzise dosiert, dass wir, wenn wir wollen und uns darum
bemühen, damit fertig werden und daran wachsen können. Wenn wir
nicht wollen, zerbrechen wir daran und sterben. Auch das ist ein Weg. Er
soll etwas langwieriger sein.
Das Schicksal stellt die Hausaufgaben für uns sehr gezielt zusammen.
Im Geschäftsleben bedient es sich finanzieller Rückschläge, in der Kar-
riere dramatischer Einbrüche, im persönlichen Bereich substanz-
zehrender Krisen, im körperlichen Bereich der Krankheit. Es gibt auch
kollektive Hausaufgaben, die ein ganzes Unternehmen, eine ganze Regi-
on, ein ganzes Volk oder einen ganzen Kulturkreis betreffen können:
Verarmung, Abhängigkeit, Bürgerkrieg, Kriminalität, Epidemien. „The
only real question is not one of winning or losing“, schreibt David Whyte,
„but of experiencing life with an ever-increasing depth.“ (Es ist nicht
wichtig, ob wir gewinnen oder verlieren; es kommt ganz allein darauf an,
mit einer immer größeren Tiefe zu leben.)
Unser lineares Denken versucht die Konfrontation mit Problemen
durch Kurieren an Symptomen abzufangen: Mehr produzieren, einen
besseren Anwalt einschalten, sich einer Psychoanalyse unterziehen, zum
Erfahrung ist nicht übertragbar 105
ȱ
106 Erfahrung ist nicht übertragbar
Die Ursache des Mangels verschwindet nicht, wenn wir seine Symp-
tome töten: sie bahnt sich einen anderen Weg. Symptome sind Signale,
die uns eine Botschaft übermitteln. Wenn uns die Botschaft nicht ge-
fällt, stellen wir das Signal ab und vergessen die Botschaft. Wir kurieren
Symptome, lenken deren Ursachen um, aber beseitigen sie nicht. Jede
Managementkultur versucht, bestimmten Erfahrungen auszuweichen.
Damit wird ein Gleichgewicht zerstört, und das geschieht immer um den
Preis der Krankheit.
Managerkrankheiten sind Kollektivsymptome, die auf kollektive Pro-
bleme hindeuten. Weil es aber kein globales Managementmodell, kein
weltweit uniformes Managementverhalten gibt, gibt es auch keine globa-
len, sondern nur kulturbedingte Managerkrankheiten. Die Kulturen auf
der Welt sind verschieden und jede produziert ihre eigenen Verdrän-
gungsmechanismen, Symptome und Krankheiten.
Im europäischen Mittelalter wird das Gleichgewicht zerstört, indem
das Denken tabuisiert wird. Wer mit dem Kopf nicht denken darf, also
„kopflos“ ist oder seinen „Kopf verloren“ hat, muss die überschüssige
Energie nach unten verlagern. Das führt zu Unterleibsproblemen, Blind-
darmentzündungen, Bauch- und Magenschmerzen, die das häufigste
Symptom jener Zeit sind. Auf einem Salzburger Friedhof stehen mehrere
Grabsteine, auf denen sie als Todesursache eingemeißelt sind.
Der asketische Puritanismus zerstört das Gleichgewicht, indem er die
Sexualität tabuisiert. Wer seine sexuellen Bedürfnisse verdrängt, muss
die überschüssige Energie nach oben verlagern. Dort kann sie ihm „den
Kopf verdrehen“, manchmal so sehr, dass er für ein Abenteuer „Kopf und
Kragen riskiert“. Ein verdrehter Kopf verursacht Kopfschmerzen – die
nordamerikanische Managerkrankheit. Amerikanische Politiker geraten
über Dinge ins Trudeln, die in Asien oder Europa keine Nachricht wert
sind. Ostasien kennt die Geishakultur, und über Europa schwebt noch
immer der schützende Schatten des antiken Rom. Dort beobachtet ein
germanischer Chronist verzückt, was an amerikanischen Stränden klei-
nen Kindern nicht erlaubt ist: „Die Römerinnen bewegen sich in den
Quellen und Bädern in offenen, durchsichtigen Gewändern. So schwat-
zen sie unter den Augen ihres Gemahls sogar mit Fremden.“
Es gibt zwei Arten von Kopfschmerz. Beim Spannungskopfschmerz
brummt der Schädel; das Blut, das unten verboten ist, schießt nach oben.
Erfahrung ist nicht übertragbar 107
ȱ
108 Erfahrung ist nicht übertragbar
Das „Sauersein“ führt zur Übersäuerung des Magens, der die Nahrung
nicht verdauen kann und sich deshalb selbst verdauen muss. Ein Ma-
gengeschwür ist nicht etwa eine Wucherung, wie der Name nahelegt,
sondern eine Durchlöcherung der Magenwand, die von ihrer eigenen
Säure zersetzt wird: Selbstzerfleischung. Die Selbstmordrate ist in Japan
die höchste der Welt – bei Schülern und bei Managern.
Die deutschen Managerkrankheiten sind Rückenleiden. Die Wirbel-
säule verbindet Halt mit Beweglichkeit: die Wirbel ermöglichen Stabili-
tät, die Bandscheiben Flexibilität. Als die Vorfahren des Menschen be-
ginnen, sich aufzurichten, eröffnet dies die Chance des besseren
Kontakts zu den Mitmenschen; aber es bringt die Gefahr größerer Ver-
letzlichkeit der Weichteile. Sich zusammenziehen und steif machen
verhärtet die Weichteile und mindert die Verletzungsgefahr. Die germa-
nischen Jäger haben das gebraucht. „Keine Bewegung“, „keine Experi-
mente“: Die Bedeutung der Ordnung in Deutschland, mit einer erwür-
genden Regelungsdichte des geschäftlichen und gesellschaftlichen
Lebens, hat ihre Vorgeschichte.
Mit einem Aufwand an Scharfsinn, Argumenten und Begründungen,
der von den Problemen her unverständlich ist, werden Stellungskriege
geführt. „Was festgelegt, geordnet, durch Tatsachen erhärtet ist, kann
nie die ganze Wahrheit erfassen“, schreibt Boris Pasternak: „Das Leben
schwappt über den Rand jedes Bechers.“ Wem Flexibilität und Urver-
trauen fehlen, dem kann nur eine Organisation Sicherheit geben, in der
er die „Situation im Griff“ und „alle Fäden in der Hand“ hat. Oder er
muss „Management by Champignon“ betreiben. Champignons sind deli-
kate Pilze, die deshalb immer sofort abgeschnitten werden, wenn sie den
Kopf herausstrecken.
Das lateinische Wort „ordo“ bezeichnet die Fadenreihe eines Gewebes.
Soldaten, die in Reih und Glied stehen, sind nicht nur ordentlich aufge-
stellt, sondern auch steif. Die Dressur der äußeren Haltung zerbricht das
Innere des Menschen, welcher der Obrigkeit deshalb keinen Widerstand
mehr entgegensetzen kann. Nachdem ihm auch noch „das Rückgrat
gebrochen“ ist, kann er vor höheren Instanzen oder der Firmenleitung
nur noch „buckeln“ und „kriechen“; oder „Radfahren“ – nach oben bu-
ckeln und nach unten treten.
Erfahrung ist nicht übertragbar 109
Wir müssen beobachten, wozu die Symptome uns zwingen. Statt sie zu
verbiegen, müssen wir uns vor ihnen verbeugen. So beugen wir ihnen
vor und lösen sie auf.
ȱ
110 Erfahrung ist nicht übertragbar
jeden einzelnen Menschen, für jede Gruppe von Menschen und für jedes
Unternehmen. Wer anderen Erfahrung abnimmt, raubt ihnen ein Stück
Leben und berauscht sich an einer Illusion: „Schließlich ist er reich ge-
worden“, schreibt Honoré de Balzac, „und er will seinem einzigen Sohn
die gebündelten und geläuterten Erfahrungen vermitteln, die er im Laufe
seines Lebens gegen die Illusionen seiner Jugend eingetauscht hat. Eine
noble letzte Illusion des Alters.“ Erfahrung ist nicht übertragbar.
ȱ
112 Erfahrung ist nicht übertragbar
Diese Akquisition kann nicht gelingen, wenn die Kosten gesenkt, der
Umsatz erhöht, eine Imagekampagne entworfen oder die Fassade er-
neuert wird. Sie kann nur gelingen, wenn nicht nur die Leute aus der
Konzernspitze mit ihren Stäben, sondern auch die davon betroffenen
Mitarbeiter in Deutschland sie akzeptieren und positiv über sie denken.
Diese Gedanken sind die härteste Realität, die es im Unternehmen gibt.
Sie sind das Navigationssystem des Unternehmens und bestimmen
seine Zukunft. Die Selbsteinschätzung überträgt sich auf die Kunden
und die Öffentlichkeit. Je mehr die Führung versucht, das zu verbergen,
desto peinlicher wird es, denn der Markt unterscheidet unbarmherzig
zwischen Sein und Schein.
Es nützt wenig, Schwachstellen zu identifizieren und zu beseitigen.
Wer die Übernahme als Krise versteht, muss lernen, in ihr ein Signal zu
sehen, das eine Botschaft übermittelt. Rückenleiden, Magenschmerzen
oder Krebs sind Beispiele aus der Medizin. Muren, Orkan-oder Hoch-
wasserschäden sind Beispiele aus der Natur. Arbeitslosigkeit, Streiks
und Konjunktureinbrüche sind Beispiele aus der Wirtschaft. Wenn uns
die Botschaft nicht gefällt, stellen wir das Signal ab und vergessen die
Botschaft. Unser Umfeld ist ein Spiegel, der uns zeigt wer wir sind. Un-
sere äußeren Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen spiegeln le-
diglich unsere inneren Konflikte und Schwächen – sie sind unser Schat-
ten. Wenn wir unseren Schatten auslöschen wollen, müssen wir uns
selbst auslöschen.
Der Fokus auf äußere Einflussgrößen im Management ist deshalb
nicht effizient. Erst die klare und einheitliche Ausrichtung von Ge-
danken, Sprache und Glaubenssätzen im Unternehmen ist das Fun-
dament für Durchbrüche. Das Programm soll die Leitung des Ge-
schäftsbereichs befähigen, einvernehmlich mit der Konzernleitung ihre
einzige Aufgabe wahrzunehmen: nicht Aktionen zu planen, zu steuern
und zu kontrollieren, sondern Resonanz zu planen, zu steuern und zu
kontrollieren – den Geschäftsbereich auf die gleiche innere Frequenz ein-
zustimmen, eine Frequenz, die kompatibel mit dem neuen Mutterhaus ist.
Gemeinsam mit Herrn Schneider, Frau Tisch und einem leitenden
Mitarbeiter im Stab von Monsieur Guérin werden „Multiplikatoren“
ausgewählt und eingeladen, an den Workshops teilzunehmen. Bereichs-
PRAXISBEISPIEL 4: Das Projektteam 113
ȱ
Sachkonflikte gibt es nicht 115
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_5,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
116 Sachkonflikte gibt es nicht
Herr Paul, so will ich ihn nennen – nur in diesem Fall verschweige ich
den wahren Namen – beschreibt kurz das Problem, das alle kennen, und
visualisiert die Zusammenhänge mit einer Skizze auf dem Flip-chart. Ich
berichte, dass ich vom Inhaber schon so weit vorinformiert worden bin
und schildere die Gedanken, die ich mir bisher darüber gemacht habe,
etwas ausführlicher. Herr Paul macht sich eifrig Notizen, und als ich
fertig bin, legt er los: Punkt für Punkt nimmt er meine Überlegungen
geschickt und sachkundig auseinander, bis von allem, was ich vorge-
schlagen habe, nichts, wirklich gar nichts mehr übrig bleibt.
Die anderen wirken nicht überrascht, vermutlich kennen sie ihn
schon. Nun, wo er fertig ist, zielen alle Blicke auf mich. Ich hole zum
Gegenschlag aus, der sich gewaschen hat: Ich decke Widersprüche in
seinen Ausführungen auf; zeige, wo er keine Ahnung hat; mache deut-
lich, dass er nur alles zerreißen kann, aber noch nicht einen einzigen
konstruktiven Beitrag vorgelegt hat; ernte eine Lachsalve mit dem Hin-
weis, dass noch kein Unternehmen durch professionelle Bedenken-
trägerei Erfolg gehabt hat. Und als ich schließe, sehe ich in viele dezent
freundliche Gesichter.
Bis auf eines. Herr Paul erhebt sich, haut mit der Faust auf den Tisch,
bleibt stehen und wird laut: So etwas habe er in den ganzen vier Jahren
noch nicht erlebt, die er dieser Firma angehöre. Immer sei man an der
Sache orientiert gewesen. Mit jedem im Hause könne man vernünftig
reden. Allen gehe es allein darum, die Firma voranzubringen. Jedes Prob-
lem habe man bisher durch Zusammenarbeit gelöst und nicht durch
Konfrontation. „Und jetzt kommt da einer von draußen und meint, er
kann Schlammschlachten hoffähig machen. Nein. So nicht. Nicht mit
mir.“ Der Inhaber des Unternehmens, ein feiner, zurückhaltender, älte-
rer Herr mit Adleraugen und Lausbuben-backen, hat seine Rolle auf der
Zuschauertribüne still genossen. Nun aber richten sich alle Augen auf
ihn. Er muss Stellung nehmen. Ich wünsche mir sehr, dass er den Auf-
trag an mich zurückzieht.
„Ich habe Ihnen fasziniert zugehört“, sagt er, „hier sind zwei hochka-
rätige Männer aneinandergeraten, jeder von großer Kompetenz. Diese
Art von Auseinandersetzung ist es, die unser Unternehmen auf dem
Markt mit unserer ebenfalls hochkarätigen Konkurrenz bestehen muss.
Wir können deshalb im Hause nicht den Schwanz einziehen, wenn es
Sachkonflikte gibt es nicht 117
einmal heftig wird. Ich will die beste Lösung für unser Problem haben,
die möglich ist. Hier sind zwei Fachleute am Tisch, die ich beide dafür
brauche. Herr Paul, wir werden diese Sitzung in der nächsten Woche
fortsetzen – mit Ihnen. Sie haben die Argumente von Herrn Berger ken-
nengelernt. Bereiten Sie bitte eine Unterlage vor, die jeden einzelnen
Vorschlag schriftlich würdigt und bewertet. Auf Papier kann es ja nicht
so laut werden. Und Herr Berger, Sie bitte ich um das gleiche: eine
schriftliche Würdigung und Bewertung jedes einzelnen Vorschlags von
Herrn Paul. Überlassen Sie beide diese Unterlagen bitte einen Tag vor
der Sitzung meinem Sekretariat; wir werden sie verteilen. Ich danke
Ihnen.“ Ein kurzer Händedruck, kein weiteres Wort, ich werde zum Aus-
gang gewiesen, und er ist verschwunden.
Eine Woche lang sammle ich scharfe Munition, spitze meine Pfeile
und tränke sie in Gift. Meine brillante Analyse denkt jede Idee von Herrn
Paul zu Ende, löst sie in ihren eigenen Widersprüchen auf und kommt
mit knallharter Logik zu dem Ergebnis, dass daraus mein Vorschlag
folgt. Erfreut, erleichtert und erwartungsvoll schicke ich die Unterlage
ab. Jetzt kenne ich ihn, diesmal bin ich vorbereitet, so etwas wird mir
nicht noch einmal passieren. Die Sitzung ist auf neun Uhr früh ange-
setzt. Als ich am Vorabend an meinen Schreibtisch zurückkehre, wartet
dort die Vorlage von Herrn Paul. Noch während ich sie lese, gelingt es
mir nicht mehr, tief durchzuatmen. Meine Stirn wird eiskalt. Ich beiße
mir auf die Unterlippe. Ich verkralle meine Finger ineinander. Ich tram-
pele mit dem rechten Schuh auf meinem linken Fuß herum. Als ich fertig
bin, falle ich zurück in die Stuhllehne, schließe die Augen und sehe
schwarz. In einer brillanten Analyse hat Herr Paul jede meiner Ideen zu
Ende gedacht, sie in meinen eigenen Widersprüchen aufgelöst und ist
mit knallharter Logik zu dem Ergebnis gekommen, dass daraus sein
Vorschlag folgt.
Die Nacht hindurch liege ich wach im Bett. Wenn ich nachgebe, kann
ich den Auftrag auch gleich zurückgeben. Doch dazu ist es jetzt zu spät.
Es wäre eine schreckliche Niederlage. Auch er wird nicht nachgeben. Die
Fronten sind so verhärtet, dass ein Kompromiss unmöglich ist. Von der
Sache her wäre ein Kompromiss ohnehin schlecht. Jede praktikable Lö-
sung verlangt, dass einer von uns besiegt wird und dann entweder doch
noch aussteigt oder gezwungenermaßen dem anderen hilft, dessen Kon-
ȱ
118 Sachkonflikte gibt es nicht
zept umzusetzen. Und das heißt dann wohl eher: insgeheim und mit viel
Geschick dafür sorgt, dass dessen Konzept scheitert. Ich bin ratlos.
Das Frühstück schmeckt nicht. Der Grabenkampf Teil zwei liegt mir
im Magen. Ich will und muss kämpfen und den Firmeninhaber zu einer
Entscheidung zwingen. Und wenn sie gegen mich ausfällt, ist es auch
gut; dann werde ich um Verständnis bitten und den Auftrag zu-
rückgeben. Das ist eine ehrenhafte Niederlage. Als die Runde vollständig
um den Besprechungstisch sitzt, schaue ich Herrn Paul an, Herr Paul
schaut mich an, der Inhaber wirkt etwas abwesend, alle anderen schauen
nach unten, ahnen wie es weitergeht, wissen nicht wie es ausgeht und
wollen sich heraushalten. „Nun?“ eröffnet der Chef den Ring und nach-
dem er betretenes Schweigen erntet: „Möchte jemand etwas sagen?“
Ich hole tief Luft, atme unendlich viel Kraft ein; alle bekommen es mit
und schauen mich erwartungsvoll an. „Ja“, beginne ich, „ich möchte sa-
gen, warum wir so hier nicht weiterkommen. Das hat einen Grund und
der ist, dass ich Sie, Herr Paul, nicht leiden kann.“
Plötzlich sind alle hellwach, sitzen kerzengerade, die Münder geöff-
net, die Pupillen riesengroß, die Hände zu Fäusten geballt, die Knie um
die Stuhlkanten gepresst und halten die Luft an, die unter Hochspan-
nung knistert. Die Blicke blitzen hin und her, von mir zu Herrn Paul, von
Herrn Paul zu mir, und durchbohren uns beide. Ich lehne mich erleich-
tert zurück. Es ist vollbracht. Herr Paul ist versteinert, regungslos, aus-
druckslos, fassungslos, und nachdem er spürt, dass er im Mittelpunkt
steht, schaut er mich lange an, sehr lange, mit stahlhartem Blick, den ich
ertragen muss, direkt in die Augen. Und dann antwortet er: „Und ich Sie
auch nicht.“
Wir müssen die Sitzung verlängern. Den ganzen Tag dauert sie, bis
sieben Uhr am Abend. Und dann liegt das Ergebnis auf dem Tisch: die
beste Lösung des Problems, die möglich ist. Alle haben daran mitgewirkt
und sehr viel beigetragen. Es ist nicht seine Lösung, es ist auch nicht
meine. Das Beste ist besser als alles, was Herr Paul oder ich allein je
zustande gebracht hätten. Keiner von uns hat ahnen können, was mög-
lich ist; keiner von uns hat ohne die Beiträge der anderen auf diese Idee
kommen können. Wir haben eine außergewöhnliche Innovation zustande
gebracht, die alle begeistert.
Sachkonflikte gibt es nicht 119
Nach dem erfolgreichen Abschluss des Projekts trinken Herr Paul und
ich ein Bier darauf, dass wir so gut zusammengearbeitet haben, obwohl
wir uns noch immer nicht leiden können. Ich bin nicht sicher, ob wir bei
diesem Bier ehrlich sind. Wenigstens in diesem Punkt wollen wir viel-
leicht beide nun wirklich nicht nachgeben. Dass ich der Firma die erste
Sitzung und die schriftliche Ausarbeitung berechne, ist nicht ganz kor-
rekt: Am Anfang habe ich gar nicht für das Projekt gearbeitet, sondern
gegen Herrn Paul. „Thema verfehlt“ hätte da unter einem Schulaufsatz
gestanden. Aber nach diesem Maßstab dürften viele Angestellte nur noch
ein Viertel ihres Gehalts bekommen.
Dramatik im Spiel drückt auf ein rasches Ende, weil die Situation un-
erträglich ist. Wenn es zwischen Herrn Paul und mir etwas erträglicher
gewesen wäre, hätten wir es monatelang miteinander aushalten können,
ohne ein Ergebnis zu produzieren. Und das ist der Normalfall. Manche
Eheleute halten es Jahrzehnte miteinander aus, weil es ein bisschen
erträglicher als absolut unerträglich ist. Es hätte ja alles noch viel
schlimmer kommen können.
Was läuft eigentlich bei dem Berger-Paul-Spiel ab? Mein Ziel ist es, ei-
nen guten Eindruck zu machen. Sein Ziel ist es auch, einen guten Ein-
druck zu machen. Zwei Leute haben also das gleiche Ziel. Wie bei jedem
Ziellauf geht es nun darum, wer zuerst ankommt und dadurch nicht nur
einen guten, sondern den besten Eindruck macht.
Wie mache ich den besten Eindruck? Das ist sehr klar: ich muss be-
weisen, dass ich recht habe. Wenn sich kein Widerspruch regt, ist es aber
kein Sieg. Wenn ich beweise, dass der Tag hell und die Nacht dunkel ist,
wird niemand widersprechen; deshalb bekomme ich keinen Lorbeer-
kranz. Ein Sieg braucht jemanden, der am Boden liegt. Recht haben
nützt mir deshalb nur, wenn ein anderer Unrecht hat. Deshalb muss ich
Gründe für mein Recht und sein Unrecht finden.
In einer von der Ratio regierten Welt hängen Gründe nicht im Kleider-
schrank, und in einer schwierigen Angelegenheit gibt es sie auch nicht
ȱ
120 Sachkonflikte gibt es nicht
von der Stange zu kaufen. Wenn die Sache kompliziert ist, müssen
Gründe erarbeitet werden, bedarf es tiefschürfender Nachweise, Darle-
gungen und Erläuterungen, warum das eine gut und das andere schlecht
ist. Und wenn die Maßanzüge geschneidert sind und sitzen, bin ich zu
einer wirklich fundierten Meinung gekommen, nämlich der, dass ich
recht habe und der andere Unrecht. Mit dieser Meinung bewaffnet gehe
ich in die Besprechung. Da ich recht haben und das heißt siegen will,
„verteidige“ ich sie dort mit meinen guten Gründen, Erklärungen und
Beweisen. Und wenn jemand anders auch einen guten Eindruck machen
will und deshalb eine andere Meinung vertritt, greife ich ihn an. Als
Angriffswaffen dienen Gegenbeweise, Vorwürfe, Verdächtigungen,
Schuldzuweisungen, Recherchen, weitere Analysen, Statistiken, Erhe-
bungen, Gutachten, Absprachen, Durchsetzungsstrategien, Druck, Ver-
lockungen, rhetorische Brillanz und ein großes Arsenal von Geheimwaf-
fen.
Diese „Meinungskriege“ erleben wir zwischen Glaubensgemeinschaf-
ten, wissenschaftlichen Schulen, politischen Parteien, Interessengrup-
pen, unterschiedlichen „Lagern“ im Unternehmen, Anhängern rivali-
sierender Führungskräfte, kurz: zwischen Menschen. Offenbar ist es
menschlich, einen guten Eindruck machen und recht haben zu wollen.
Und offenbar ist es deshalb auch menschlich, Meinungen zu haben. Und
was haben wir von unseren Meinungen, nachdem wir sie „durchgesetzt“
haben? Recht und einen guten Eindruck. Das ist ein Wert an sich.
Was aber hat unser Unternehmen von unseren Meinungen und deren
Siegen? Vielfach höhere Kosten, als wenn es Mitarbeiter ohne Meinun-
gen hätte. „Die Schrift ist unveränderlich“, sagt Franz Kafka dazu, „und
die Meinungen sind oft nur Ausdruck der Verzweiflung darüber.“
Bei der Arbeit haben Meinungen nichts zu suchen, weil sie nichts be-
wirken. Das Berger-Paul-Spiel ist in der Sekunde beendet, in der wir
aufhören, unsere Meinungen auszutauschen, und anfangen, unsere
Sachkonflikte gibt es nicht 121
ȱ
122 Sachkonflikte gibt es nicht
Wir erreichen unsere Ziele nicht durch Kampf, sondern durch die Arbeit
an unseren Beziehungen, die es ermöglichen, gemeinsam ein Ergebnis
zu erzielen. Beziehung ist der Schlüssel für Ergebnisse.
ȱ
124 Sachkonflikte gibt es nicht
Jede Beziehung, die wir uns schaffen, eröffnet uns Möglichkeiten, die es
vorher nicht gegeben hat. Unser „space of possibilities“ (Raum möglicher
Entwicklungen) wird größer. Das Schöpfungspotenzial erweitert sich. Wir
haben Optionen, die vorher nicht da gewesen sind. So entwickeln wir die
Schöpfung weiter. Natürlich können wir nicht alle Möglichkeiten aus-
schöpfen, die uns gegeben sind. Wenn Sie Schauspieler, Elektriker, Gärt-
ner, Finanzbeamter oder Jazzpianist werden können, müssen Sie sich
entscheiden. Wenn Sie aber nur Steuerberater werden können, weil Sie die
elterliche Kanzlei übernehmen müssen, können Sie nicht wählen; andere
haben Ihnen die Entscheidung abgenommen, vorenthalten, geraubt.
Entscheidungsspielraum gibt uns Freiheit, und erst diese Freiheit
bringt kraftvolle Aktionen hervor, die zu Ergebnissen führen. Wir haben
uns entschieden, und wir haften für das Ergebnis. Es ist unsere Aktion,
nicht die von irgend jemand anders. Und deshalb steht es uns auch zu,
das Ergebnis zu genießen. Genießer sind begehrte Menschen. Alle son-
nen sich gern in ihrer Nähe und wollen ein bisschen abbekommen. Das
erweitert ihren „Beziehungshorizont“. Beziehungen sind ein Selbstläufer.
Beziehungen, aus denen Ergebnisse wachsen, sind immer symme-
trisch. Symmetrische Beziehungen bestehen so lange, wie beide Seiten
davon profitieren. Sobald eine Seite auf Dauer mehr gibt als sie nimmt,
entsteht Abhängigkeit. Wer mehr nimmt, ist auf die Gaben des anderen
angewiesen. In dieser Lage wird er den Geber „moralisch“ verpflichten,
ihn nicht im Stich zu lassen. Viele Menschen schreien so nach Aufmerk-
samkeit und verwandeln Bedrohungen in Rechtfertigungen. Die von Eric
Berne erfundene Transaktionsanalyse bezeichnet das als „Poor-me-
Syndrom“ (oh, ich schrecklich Armer, schaut bitte alle her). In Wirklich-
keit aber sind Opfer Menschen, die nicht wach sind. Täter sind wacher
als Opfer; sie helfen, die Opfer aufzuwecken.
Viele können da nicht widerstehen, besonders die nicht, die erst vor
diesem Kontrast groß und stark aussehen. Sobald sie kontrastsüchtig
sind, erscheint die Beziehung symmetrisch und ihre Welt wieder in Ord-
nung; sie sind süchtig danach, mit den Sorgen anderer Leute ihre innere
Leere auszustopfen und bekommen Beklemmungen bei der Vorstellung,
auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Ein „Das tue ich alles nur für
dich“ oder „Für die Firma opfere ich mich auf“ ist ein brutales, egoisti-
sches und scheinheiliges „Kontrolldrama“, wie Melody Beattie es nennt.
PRAXISBEISPIEL 5: Missionsworkshop 125
Dem durch die Aufopferung Abhängigen, der sich allein nun nicht mehr
zu helfen weiß, wird mit vampirischem Eifer Energie ausgesaugt.
Bleibt die Beziehung aber asymmetrisch, wird der, der mehr gibt, aus-
zubrechen versuchen, wenn das in seinem „space of possibilities“ (Raum
möglicher Entwicklungen) liegt. Ein solcher Ausbruch kann nur durch
Macht verhindert werden.
PRAXISBEISPIEL 5: Missionsworkshop
Die Mitglieder des Resonanzteams – designierte Resonanzschmiede –
Schlüsselpersonen oder „Multiplikatoren“ aus Deutschland und Frank-
reich – kommen an einem Nachmittag in einem schönen, abgelegenen
Tagungshotel in der Natur an, wo sie „in Klausur gehen“ und zweimal
übernachten werden, bevor sie am Abend des übernächsten Tages wie-
der abreisen. Alle – auch Harald Schneider und Claudine Tisch – sind
voller Erwartung, als sie in dem hellen Tagungsraum in einem offenen
Stuhlkreis Platz nehmen. Der Programmleiter und zwei Coachs der
ohm-Resonanzschmiede stellen sich kurz vor und sagen, warum diese
Runde hier zusammengekommen ist:
Gemeinsam soll ein Kulturwandel konzipiert und eingeleitet werden,
der die Integration des deutschen Geschäftsbereichs in den neuen
französischen Mutterkonzern ermöglicht und die Bereitschaft zu sinn-
vollen Änderungen auch in der Konzernzentrale schafft. Der Kultur-
wandel wird sich in Change-Management-Projekten manifestieren, die
teilweise neue Praktiken im Unternehmen einführen und die eine ein-
heitliche strategische Ausrichtung bewirken. Die designierten Leiter
der Projekte sind in dieser Runde versammelt.
ȱ
126 Sachkonflikte gibt es nicht
... und nur wenige die Disziplin aufbringen, das zu tun, was getan
werden muss. Kein Mensch kann sein Unterbewusstsein mit Erfolg be-
kämpfen. Deshalb bleibt die Mission eines Unternehmens Utopie, wenn
sie die Lebensziele von Mitarbeitern und Führungskräften nicht be-
rücksichtigt und einbezieht. Mangelnde Disziplin ist ein Hinweis da-
rauf, dass vielleicht nicht das Richtige getan wird, weil kaum jemand
weiß, warum er das will, was er anstrebt. Die Frage nach dem Sinn der
eigenen Existenz und der eigenen Aufgabe wird durch die „Mission“
beantwortet. Unternehmen und Führungskräfte müssen wissen, wer sie
sind und wozu sie existieren. Erst dann können sie entscheiden, was sie
tun und wohin sie gehen wollen.
„Woran erkenne ich, ob das, was ich mir da ausgedacht habe, richtig
ist, ob es wirklich meine Mission ist?“, wird die Frage eines Teilnehmers
aus Frankreich übersetzt. Einer der Coachs zeigt ein kurzes Video aus
einem anderen Unternehmen. Eine Bewerbungsprozedur ist mit Zu-
stimmung der Bewerber aufgenommen worden. Jeder wird nach dem
Produkt des Unternehmens gefragt – eine innovative High-Tech-
Apparatur. Die meisten haben sich sachkundig gemacht und geben
kompetent Auskunft. Dann wird jeder der Bewerber vor die Apparatur
gesetzt und aufgefordert, ein bisschen damit zu spielen. Und das – je-
der jetzt hier in der Runde erkennt es sofort – ist der Augenblick der
Wahrheit: Die meisten Bewerber kommen der Aufforderung etwas un-
sicher und unter sichtlicher Spannung nach. Zwei von ihnen aber strah-
len wie kleine Kinder, denen gerade ihr Lieblingsauto oder ihre Lieb-
lingspuppe gegeben wird, und genießen diese Augenblicke. Alle sind
sich einig: die sind ja verliebt in das Produkt. Dieses starke Gefühl lässt
sich nicht vorspielen.
Für den weiteren Prozess in diesem Workshop ist der Maßstab ge-
setzt. „Erzählen Sie uns, was Sie wirklich, wirklich, wirklich wollen in
Ihrem Arbeitsleben“, fordert der Programmleiter jeden einzelnen auf.
Nach diesem Film kann niemand mehr Theater spielen. Wer es versucht,
dem schallt liebevolles Gelächter aus der Runde entgegen: Das Gesicht
muss strahlen, die Augen müssen leuchten, wenn jemand über seine
Mission spricht. Und – alle wissen es jetzt und haben es gesehen – die-
ses Leuchten kommt von innen, es lässt sich nicht „aufsetzen“.
ȱ
128 Sachkonflikte gibt es nicht
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_6,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
130 Organisatorische Macht ist wirkungslos
dich hier nicht gebrauchen. Erstens: für diese drei Reihen bekommst du
gar nichts. Zweitens: morgen Nachmittag bleibst du zu Hause. Und drit-
tens: wenn du danach noch einmal mitkommen willst, darfst du ab sofort
keinen einzigen Fehler mehr machen.“ Waltraud Brehm, die Herrin des
Bauernhofs, hat mich ertappt.
Heute heißt das Qualitätsmanagement.
Alle auf dem Hof haben Respekt vor ihr; sie kontrolliert, ob die Knech-
te den Stall ordentlich ausmisten, die Pferde sauber striegeln und die
Felder sorgfältig eggen; ob die Mägde die Kühe gewissenhaft melken, die
Federbetten ordentlich auslüften und den Brotteig lang genug walzen.
Aber das Feld pflügen, das Heu wenden und uns zum Rübenverziehen
bringen, die Jungtiere sterilisieren, das Korn dreschen und die Jauche-
grube leeren – das alles ist nicht ihr Job. Darum kümmert sich ihr ältes-
ter Sohn und Hoferbe Karlheinz.
Heute heißt das Produktionsmanagement.
Dann gibt es noch die großen Entscheidungen: Wie viele Schweine sol-
len aufgezogen werden? Wie viele Milchkühe werden gebraucht? Soll ein
eigener Zuchtbulle sein? In welchem Verhältnis und auf welchen Feldern
sollen Kartoffeln und Rüben, Roggen und Raps angebaut werden? Wann
sollen die Kartoffeln gesetzt, wann soll das Korn geschnitten, wann die
Mutterkuh gedeckt werden? Um das alles kümmert sich Johannes
Brehm, „der Alte“. Seine Wetternase ist berühmt: Wenn er Regen ankün-
digt, dann kommt Regen; wenn er Frost ankündigt, dann kommt Frost –
absolut sicher. Das ganze Dorf richtet Aussaat- und Erntetermine da-
nach.
Heute heißt das Strategisches Management.
Nun ist es vorgekommen, dass Knechte und Mägde im Stroh der
Scheune Verbotenes miteinander getrieben haben, was auch noch Folgen
hatte, dass Knechte nach einer Schlägerei blutüberströmt sind und Mäg-
de sich die Haare ausgerissen haben. Sogar den Pfarrer hat eine beleidigt
und sich damit gebrüstet, er habe ihr nachgeschaut. Und der Schmied
hat einen der Knechte beschuldigt, ihm mit dem Fuß den Blasebalg be-
schädigt zu haben und seitdem immer weggeschaut, wenn er Johannes
Brehm auf der Straße begegnet ist. In diesen Augenblicken strömender
Organisatorische Macht ist wirkungslos 131
Tränen, großen Schmerzes und tiefer Verzweiflung ist immer Gisela zur
Stelle, die junge Frau von Karlheinz. Bei ihr kann jeder Trost finden, sich
ausheulen, Rat suchen; sie setzt sich zwischen die Streithähne und ver-
söhnt sie; sie hört immer zu, versteht alles, verbindet die Wunden und
findet meist eine Lösung.
Heute heißt das Personalmanagement.
Frederick Taylor überträgt dieses traditionelle Führungsmodell mensch-
licher Produktionsgemeinschaften auf den Industriebetrieb, macht aus
den Mitgliedern der Familie Brehm Funktionsmeister und nennt das gan-
ze Mehrlinienstruktur. Die fachliche Breite, die die Leitung eines Produk-
tionsbetriebs verlangt, überfordert einen einzelnen Meister oder Betriebs-
leiter. Der Arbeiter, der eine Maschine bedient, hat einen Vorgesetzten für
Fragen der Produktionsplanung und Maschinenbelegung, einen für War-
tung und Instandhaltung, einen für Qualität und einen für Personaldinge.
Entscheidungskompetenz und Fachkompetenz sind in einer Hand.
Bei Konflikten wird diese Struktur auf die Probe gestellt. Wenn der
Firma Schadenersatz droht, weil ein Liefertermin nicht eingehalten wird
und der Geschäftsführer den Produktionsplaner zur Rechenschaft zieht,
fällt diesem sicher ein guter Grund ein: „Der Kollege hat einen War-
tungstermin bei der Engpassmaschine gerade zum kritischen Zeitpunkt
angesetzt“, wird er sich herausreden. Der Kollege wird sich hinter dem
Qualitätsbeauftragten verstecken, der die Wartung verlangt hat, weil die
Toleranzen überschritten werden. Der Qualitätsbeauftragte kann den
Schwarzen Peter an den Personalmeister weitergeben: „Dem einzigen
Mann, der die Sache rechtzeitig hätte in Ordnung bringen können, hat er
Urlaub genehmigt.“ Und das nächste Mal, wenn jeder der Vorgesetzten
dem armen Arbeiter an der Maschine eine andere Weisung gibt, denkt
dieser an das „Leck mich am A… “ des Götz von Berlichingen und tut das,
was er für richtig hält. Schon der Apostel Matthäus hat es gewusst:
„Niemand kann zwei Herren dienen.“
Die schlechten Erfahrungen mit der Mehrlinienorganisation in Indus-
triebetrieben haben zur Einlinienorganisation geführt. Jeder hat nur
noch einen Vorgesetzten, der die Gesamtverantwortung trägt. Eine ein-
zige Linie als Dienstweg für Weisungen von oben nach unten, für Be-
schwerden von unten nach oben und als Informationsweg in beiden
ȱ
132 Organisatorische Macht ist wirkungslos
vielen Feldern versperrt. Solange die Bewegungen des Feindes von Hoch-
sitzen, Beobachtungsposten, Wachttürmen aus eingegrenzt werden
können, ist noch Hoffnung auf Sieg. Wenn der letzte Turm einstürzt, ist
das Kampfgeschehen nur noch schwer zu kontrollieren, der König bald
manövrierunfähig – matt gesetzt.
Der preußische König hat nicht vor, seinen Kollegen aus Paris zum
Schachspiel einzuladen. Graf Moltke muss sich etwas anderes einfallen
lassen. „Wenn ich so vorgehe wie Prinz Eugen“, denkt er laut, „hängt der
Ausgang des Kriegs vom Glück eines Augenblicks ab. Wenn der Franzose
den gewinnt, ist das Vaterland verloren. Das dürfen wir nicht riskieren.
Das Wichtigste für die Moral der Truppe ist, dass ich am Leben bleibe.
Und das ist nur gewährleistet, wenn ich mich gar nicht am Kampf betei-
lige, in sichere Distanz auf einen ,Feldherrenhügel‘ zurückziehe, von
dort das Geschehen mit einem ,Feldstecher‘ beobachte und meine Befeh-
le durch schnelle Reiter an die Front schicke.“
Aber auch das allein ist noch riskant: Was nützt es Preußen, wenn der
General überlebt, aber sein Heer von dem übermächtigen Feind über-
rannt wird? Bei diesem Kräfteungleichgewicht muss ein Krieg geplant
werden. Moltke ruft seine fähigsten Generäle zusammen und bildet aus
ihnen einen „Generalstab“. Der Auftrag an den Stab lautet: den Krieg
simulieren – nicht als Kriegsersatz, wie bei den Persern, sondern als
Vorbereitung des Kampfgeschehens. Die Generäle besorgen ihr Geschäft
auch nicht mit Schachfiguren, sondern mit Zinnsoldaten – blauen für die
Franzosen und roten für die Preußen. Aus angerührtem Gips formen sie
auf einer großen Tischplatte eine hügelige Landschaft und überziehen
sie, nachdem der Gips trocken ist, mit grünem Filz – grün wie Wiesen
und Wälder. Dort spielen sie ihre Manöver solange durch, bis sie eine
optimale Angriffsstrategie herausgefunden haben. Deshalb heißt es von
Stäben, die mit Plänen hantieren, statt mit der Wirklichkeit: „Das haben
die sich am grünen Tisch ausgedacht.“
Seit Preußen diesen Krieg gewonnen hat, dadurch neben Österreich
zur innerdeutschen Großmacht aufgestiegen ist und auf dieser Basis
Deutschland geeinigt hat und den deutschen Kaiser stellt, sind Stabsab-
teilungen aus dem Militär, der Politik und den Unternehmen weltweit
nicht mehr wegzudenken – ist aus der Einlinienorganisation eine Stab-
Linien-Organisation geworden.
ȱ
134 Organisatorische Macht ist wirkungslos
Der Stab kann sich zum Wasserkopf aufblasen, zur grauen Eminenz
aufbauen und, wenn es hart auf hart kommt, hinter den in dicken Sta-
peln von Papier versteckten vielschichtigen Wenns und Abers ver-
schanzen.
Procter & Gamble steckt in einer Krise, als sein Corporate Executive
Officer (Vorstandsvorsitzender) montag früh vor seiner Bürotür in der
Hauptverwaltung in Cincinnati von einem Beauftragten des Auf-
sichtsrats erwartet wird, der die Büroschlüssel gegen das Entlassungs-
schreiben tauscht. Als zwei Tage später der Nachfolger das Büro betritt,
hat das obere Management sämtliche externen Termine abgesagt und
harrt angst- oder erwartungsvoll in den Büros. Richard R. Deupree hat
einen klaren Auftrag: er soll Gewinn machen. Wie beginnen Sie Ihren
ersten Arbeitstag in einer Firma, die Sie nicht kennen, mit diesem Ziel?
Der neue Boss legt die Füße auf den Schreibtisch, wie es in Amerika üb-
lich ist, bestellt sich Kaffee, liest das Wallstreet Journal und tut sonst
gar nichts. Er will mal sehen, ob andere etwas tun. Nach einer Viertel-
stunde bringt eine seiner Sekretärinnen eine dicke Mappe mit hausin-
terner Eingangspost. Nach einer weiteren Viertelstunde bringt ein Assis-
tent einen großen Stapel Projektstudien zu geplanten Produkten und
Marketingkonzepten. Nach nochmals 20 Minuten kommt ein anderer
Assistent und stellt sich vor; er hat eine Menge Investitionsanträge un-
term Arm, die er ablegt. Als die zweite Sekretärin mit drei Kilogramm
externer Eingangspost hereinkommt, wundert sie sich: „Und Sie lesen
immer noch Zeitung?“
„Bitte“, sagt ihr neuer Chef, „in einer halben Stunde möchte ich sämt-
liche mir direkt unterstellten Damen und Herren aus der Haupt-
verwaltung hier versammeln, und einen Hausmeister und einen Contai-
ner.“ Nachdem er sich vorgestellt hat, lässt er die Runde schätzen, wie
viele Seiten auf dem voll beladenen Schreibtisch liegen. Man einigt sich
Organisatorische Macht ist wirkungslos 135
auf 3 000. Dann lässt er einen der Herren eine beliebige Seite aufschla-
gen und so vorlesen, dass alle den Inhalt verstehen. Sein Sekundenzeiger
misst die Zeit dafür mit einer Minute. 3 000 Minuten sind ca. 50 Stun-
den – eine ganze Arbeitswoche.
„Ist das nur heute so viel, weil dieser Platz zwei Tage vakant gewesen
ist, die Woche angefangen hat oder noch Monatsanfang ist?“, fragt er die
beiden Sekretärinnen? „Weil wir seit Montag gesammelt haben, ist es
schon etwas mehr“, sagt die ältere von ihnen, „aber so groß ist der Unter-
schied zu normalen Tagen nicht.“ „Gut“, stellt er fest, „da ich nicht vor-
habe, mehr als ein Drittel meiner Arbeitszeit hier im Büro zu verbringen,
werde ich das alles nicht lesen können. Wenn ich es nicht lese, wird es
meine Entscheidungen nicht beeinflussen, und wenn es meine Entschei-
dungen nicht beeinflusst, braucht es auch niemand zu schreiben. Dies
hier ist offenbar eine Firma, deren wichtigstes Produkt beschriebenes
Papier ist. Mit beschriebenem Papier verdienen wir kein Geld, sondern
erhöhen unsere Gemeinkosten. Deshalb nehmen Sie bitte die externe
Post beiseite, darüber reden wir noch, und“ – an den Hausmeister –
„schieben Sie den gesamten Rest in den Container und vernichten ihn im
Reißwolf.“ Und dann gibt er dem Sekretariat noch die Weisung, ab sofort
alle hausinterne Post, die länger als eine Seite ist, ungelesen zu vernich-
ten. „Ich lese nur noch Dinge, die auf eine Seite passen“, formuliert er
seinen Führungsgrundsatz. Zwei Jahre später weist die Bilanz dieser
„one page company“ (Eine-Seite-Firma) einen stolzen Gewinn auf.
ȱ
136 Organisatorische Macht ist wirkungslos
Stäbe sind entweder ein Indiz dafür, dass die Vorgesetzten ihre Mit-
arbeiter in der Linie nicht für kompetent halten; dann sollten die Li-
nienmitarbeiter ausgewechselt werden. Oder sie sind ein Indiz dafür,
dass die Unternehmensleitung den Linienvorgesetzten misstraut, sie
sachkundiger kontrollieren will; dann sollten die Linienvorgesetzten
ausgewechselt werden. Oder sie sind schließlich ein Indiz dafür, dass die
Leitung unsicher ist, sich hinter Beratern und Papier verschanzt, um
sich abzusichern; dann muss die Spitze ausgewechselt werden. Der rö-
mische Politiker Cato der Ältere schließt jede seiner großen Reden mit
dem gleichen Satz, bis er sich erfüllt hat: „Ceterum censeo Carthaginem
delendam esse“ (im Übrigen meine ich, dass Carthago zerstört werden
muss). Wenn Sie Unternehmer sind oder „Oberbefehlshaber“ einer ande-
ren Institution, sollten Sie jeden Reorganisationsschritt im Übrigen als
Schritt zur Zerstörung von Stabsabteilungen und Stabspositionen ge-
stalten. Das entschlackt.
Nachdem wir den Grafen Moltke als Programmschleife der Organi-
sationsgeschichte abspeichern können, kommen wir – in anderer Sache –
auf Max Weber zurück. Nicht nur die protestantische Ethik hat er ent-
deckt, auch die Linienorganisation. Nachdem wir die Stäbe in der Orga-
nisation wieder beseitigt haben, wollen wir uns nun daranmachen, auch
noch die Linien in einer Programmschleife der Unternehmensführung
unschädlich zu machen.
Vor der Industrialisierung ist Führung personenorientiert. Die Unter-
nehmer dieser Zeit sind Großgrundbesitzer, deren Vorfahren den Besitz
zum Dank für persönliche Treue von ihrer Obrigkeit geschenkt bekom-
men haben. Aufgaben der kommunalen oder regionalen öffentlichen
Verwaltung werden entweder von diesen oder vom Klerus wahrgenom-
men und selbstverständlich nicht nochmals gesondert vergütet; der
Besitz bringt ja Ertrag. Die Kunst des Lesens und Schreibens ist auf die
Kirchenmänner beschränkt, und das soll auch so bleiben, damit nicht
jeder Untertan zum „Schriftgelehrten“ wird und die Lehre der Kirche an
Hand biblischer Quellen überprüfen kann. Streitigkeiten – Rechtsstrei-
tigkeiten – werden in mündlicher Verhandlung nach Ermessen entschie-
den, und als einziger Nachweis dienen Zeugen.
Max Weber erfindet nun radikale Neuerungen. Diener des Staates
sind Beamte, die für ihre Tätigkeit bezahlt und damit von anderen Be-
Organisatorische Macht ist wirkungslos 137
ȱ
138 Organisatorische Macht ist wirkungslos
Sich selbst nicht schaden heißt, sich, wo es möglich ist, selbst nützen.
Wie nützt ein Staatsdiener sich selbst? Das ist kein Staatsgeheimnis: er
muss etwas tun, was ihm eine höhere Besoldungsstufe bringt, was zu
seiner Beförderung führt. Er braucht mehr Mitarbeiter, mehr Budget-
verantwortung, mehr Kompetenzen. Ein Staatsdiener, der weder Maso-
chist noch Märtyrer ist, muss alles tun, was ihm möglich ist, um den
Einfluss des Staates auszuweiten und dadurch die Staatsquote zu erhö-
hen. Und wenn er nicht sehr dumm ist, wird er das auch schaffen, selbst
gegen den erklärten Willen seiner Regierung.
Tancredo Neves, gewählter Präsident Brasiliens, der noch vor seinem
Amtsantritt 1985 verstorben ist, hat diese vertrackte Dynamik erkannt
und mit einem Ministerium für Entbürokratisierung zerbrechen wollen.
Er hätte auch den Teufel zum Papst küren können.
ȱ
140 Organisatorische Macht ist wirkungslos
Der Verbraucher einer öffentlichen Leistung bezahlt sie nicht und will
sie deshalb erweitert haben; der Träger, der sie bezahlt, entscheidet
nicht und muss sie deshalb erweitern lassen; die Politik oder Verwal-
tung, die entscheidet, verbraucht sie nicht und will sie deshalb mit gu-
tem Gewissen erweitern – und ihren Einfluss auch.
Der Dienstweg, die „Linie“, ist das äußere Kennzeichen der Verfah-
rensorientierung, die von institutioneller Größe erzwungen wird, weil
große Einheiten anders nicht zu steuern sind. Damit wird die organisa-
torische Linie zum Strick, der die Luft abschnürt. So wie ein Paradigma
nicht aufgegeben werden kann, ohne die eigene Existenz aufzugeben,
kann auch auf die Linienverantwortung nicht verzichtet werden, ohne
dass die Unternehmensleitung sich selbst aufgibt. Und weil sie sich
selbst gar nicht aufgeben will, muss sie das Ganze aufgeben.
Eine meiner ehemaligen Studentinnen, Beate, bearbeitet heute den
Auftragseingang in einem Maschinenbauunternehmen. Bevor sie einen
hereinkommenden Auftrag bestätigt, muss sie klären, wann welche Ka-
pazitäten wofür frei sind. Auf der Linie, dem Dienstweg, geht das so: sie
gibt die Frage über den Vertriebsleiter an die Geschäftsleitung. Diese
gibt sie über den Produktionsleiter an den Produktionsplaner. Der gibt
die Antwort über den Produktionsleiter an die Geschäftsleitung. Von
dort gelangt sie dann über den Vertriebsleiter an Beate.
Der Produktionsplaner, Ralf, auch ein ehemaliger Student von mir,
arbeitet zufällig im gleichen Raum wie seine frühere Kommilitonin.
Hätte ihn die Anfrage tatsächlich auf diesem Wege erreicht, würde er
gewiss zu Beate sagen: „Bei dir piept’s wohl.“ Natürlich braucht er das
nicht; sie klärt die Dinge direkt mit ihm, und das ganze Liniengestänge
über ihnen bekommt davon nichts mit.
ȱ
142 Organisatorische Macht ist wirkungslos
Als sie sich die Bilanz der Hotelgesellschaft anschauen, staunen sie
über den hohen Gewinn. Und nachdem sie Hunderte von Bilanzen aus
vielen Branchen verglichen haben, kommen sie zu ihrem Ergebnis: Hohe
Gewinne werden nur dort erzielt, wo die Mitarbeiter an der Basis der
Unternehmenshierarchie sich am stärksten mit dem Unternehmen iden-
tifizieren. Die, die ganz „unten“ sind, bedienen den Kunden, der die Ge-
hälter von allen bezahlt, fassen das Produkt an, von dem alle leben, oder
verkaufen es und „bringen“ den Umsatz. Alle anderen hantieren nur mit
beschriebenem Papier oder mit Worten. Und „wo man arbeitet, da ist
genug, wo man aber mit Worten umgeht, da ist Mangel“, bestätigt der
Prophet Salomo das Ergebnis des Bilanzvergleichs.
Eine Linienorganisation, in der die Unteren von den Oberen einge-
stellt, beurteilt, befördert, eingefroren und entlassen werden, betreibt
Sklavenhaltung. Denen, die die Arbeit machen und das Geld verdienen,
können wir die Macht nicht vorenthalten, die mit einer Beurteilung ver-
bunden ist und verbunden sein muss.
Gegen diese radikale Form der Mitbestimmung werden Sie viel ein-
zuwenden haben. Ich will versuchen, Ihre Argumente vorwegzunehmen
und einzeln zu entkräften:
ȱ
144 Organisatorische Macht ist wirkungslos
X Wenn eine Gruppe sich auf keinen Vorgesetzten einigen kann, mögli-
cherweise auch, weil keine Mehrheit zustande kommt – wer soll dann
Zünglein an der Waage spielen und die Entscheidung übernehmen?
In grundsätzlichen Dingen sind Mehrheitsentscheidungen verboten; sie
führen dazu, dass die unterlegene Minderheit nach Rache sinnt und die
Gruppe sprengt. Entscheidungen müssen einmütig sein, damit jeder sich
mit ihnen identifiziert und ihnen dadurch zum Erfolg verhilft. Die Ent-
scheidung für einen Vorgesetzten muss von der Gruppe so lange offen
gehalten werden, bis Einigkeit herrscht. Wenn der Traumkandidat dann
vergeben ist, ist es eine Erfahrung für alle. Erfahrungen sind ein Wert an
sich. Das hatten wir schon. Wenn der Traumkandidat noch zu haben ist,
wird er Erfolg haben, weil er von allen getragen wird. Hat nur ein einzi-
ger in der Gruppe Zweifel, kann es sein, dass sein Urteil das richtige ist.
Wenn er dabei böswillig ist, muss er ausgeschwitzt werden. Das hatten
wir schon. Wird aber jemand, der guten Willens ist, von einer Gruppe
ausgeschwitzt, weil sie es sich bequem machen will, dann kann er dank-
bar dafür sein. Die Gruppe hat ihn nicht verdient, und seine schlechte
ȱ
146 Organisatorische Macht ist wirkungslos
Erfahrung wird ihn woanders viel weiterbringen. Das hatten wir auch
schon.
X Da besteht aber die Gefahr, dass ein solcher Superchef mit einem Ge-
halt angelockt wird, das die Firma sich nicht leisten kann und das
auch die Gehälter der Mitarbeiter nach oben zieht. Das bringt das in-
terne Gefüge durcheinander und schafft Unruhe, besonders bei der
durch die Macht der Mitarbeiter erzwungenen Transparenz.
Organisatorische Macht ist wirkungslos 147
X Wenn wir alles outsourcen, bleibt von uns nicht mehr viel übrig. Dann
können wir uns auch noch selbst outsourcen und die Firma liquidieren.
Wenn Sie dem Rest der Welt nichts voraus haben, tun Sie es. Dann wird
auf globalen Märkten von Ihnen ohnehin nichts mehr übrig bleiben.
Wenn Sie aber dem Rest der Welt etwas voraus haben, konzentrieren Sie
sich darauf, machen Sie aus dem Vorteil Ihr strategisches Kerngeschäft,
rutschen Sie in Ihrer Kernkompetenz auf der Lernkurve so schnell und
so weit es geht nach oben. Dann kann Sie auf diesem Gebiet niemand
ȱ
148 Organisatorische Macht ist wirkungslos
mehr einholen. So bleiben oder werden Sie ein Sieger. Und nur so ist da,
wo Sie sind, oben.
ȱ
150 Organisatorische Macht ist wirkungslos
kein von einer Vorlage kopiertes Schema, sondern ein eigener Stil – in
freier Entscheidung aufgebaut auf den eigenen Stärken. Und wenn das
Ergebnis dem Spieler nicht gefällt, kann er das nächste Mal anders rea-
gieren, sich anders entscheiden – wie es der Maître De in dem „Restau-
rant“ auf dem Unternehmertag der ohm-Resonanzschmiede empfohlen
hat – und, wenn er will, so lange probieren, bis sein Stil unschlagbar ge-
worden ist.
In dem ersten Coachinggespräch erklärt der Coach der Resonanz-
schmiede jedem Mitglied des Multiplikatoren-Teams, dass das Engage-
ment („commitment“) für die Ziele dieses Programms im Unternehmen
nur dann wirken kann, wenn jeder der Resonanzschmiede keine
„Schmuddelecken“ in seinem eigenen Leben hat und in keinem Bereich
seines Lebens unter Druck steht – wenn es ihm also auch persönlich gut
geht. In Gesprächen unter vier Augen stellt der Coach jedem einige per-
sönliche Fragen, um das zu klären:
1. Leben Sie so, wie Sie es brauchen?
2. Haben Sie in der Regel genug Zeit?
3. Gefällt Ihnen Ihr Arbeitsplatz/Arbeitsraum?
4. Sind Sie oft gestresst?
5. Fühlen Sie sich in Ihrer Wohnung wohl?
6. Erfüllen Sie Ihre finanziellen Verpflichtungen?
7. Haben Sie regelmäßig Freizeit?
8. Leiden Sie unter irgendetwas/irgendjemandem?
9. Haben Sie Feinde?
10. Haben Sie Freunde?
Die anonymen Ergebnisse dieser Befragung werden miteinander ver-
glichen und bilden so eine Übersicht über vorhandene Freiräume oder
mögliche Blockaden und eine Richtschnur für die weitere Entwicklung.
Jeder der Teilnehmer hat bei diesem ersten Beispiel erlebt, dass gutes
Coaching nicht aus Antworten besteht, sondern aus Fragen und dass
erfolgreiches Coaching sich nicht mit Schwächen beschäftigt, sondern
mit den Stärken jedes Einzelnen.
PRAXISBEISPIEL 6: Coaching „Commitment“ 151
ȱ
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 153
7 Unternehmensplanung ist
Beschäftigungstherapie
Sirenen heulen über den Dächern. Polizeiautos rasen durch die Straßen,
wenden in halsbrecherischen Manövern und donnern wieder zurück. Die
Bewohner schauen ratlos aus den Fenstern. „Da!“ schreit ein Volkspoli-
zist in sein Funkgerät und gestikuliert hektisch in eine Richtung, als ob
es um sein Leben ginge. Mit quietschenden Reifen biegen mehrere Autos
dorthin ab. Eine Minute später kommen zwei von ihnen zurück und set-
zen die Rallye in eine andere Richtung fort. An einer Kreuzung knallt es.
Ein Zusammenstoß. Die Polizeifahrzeuge hasten an der Unfallstelle vor-
bei, als ob sie unsichtbar wäre.
Endlich gibt der Rundfunk eine Warnung durch: „Verlassen Sie die
Häuser nicht. Halten Sie die Außentüren geschlossen. Fahrverbot für alle
Privatfahrzeuge. Warten Sie am Straßenrand in Ihren Autos. Wir mel-
den, wenn die Gefahr vorüber ist.“ Aus dem Raubtiergehege im Ostberli-
ner Tiergarten ist ein Löwe ausgebrochen und rennt durch die Straßen.
Als er auf die Grenzsperren zum Westteil der noch geteilten Stadt zu-
trottet, schauen sich die Grenzsoldaten des kommunistischen Regimes
ratlos an. Ihre Dienstanweisungen schreiben präzise vor, was getan wer-
den muss, wenn ein Mensch sich den Absperrungen nähert. Ein Löwe im
Todesstreifen ist nicht vorgesehen. Und so tun sie das einzige, was Wei-
sungsempfänger in unvorhergedachten Situationen tun können: Nichts.
Sein aufgestauter Bewegungsdrang treibt den Löwen zu einem gewal-
tigen Sprung, mit dem er unverletzt auf der Westseite der Mauer landet.
Die westalliierten Soldaten werden für ihre Verfolgungsjagd dem Kom-
mando eines Raubtierpflegers im Westberliner Zoo unterstellt und
schaffen es, das Tier in einem westlichen Löwenkäfig einzufangen. Bis
zur Klärung der diplomatischen Verwicklungen im Kontrollrat der alli-
ierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs muss es nun hier zunächst
gemeinsam mit seinen Artgenossen versorgt werden.
Als ihm die erste Mahlzeit hereingelegt wird, leckt sich der Ostlöwe
das Maul und verschlingt die bluttriefende Schweinehälfte. Danach
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_7,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
154 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
Es gibt nur zwei Wege zur Reform einer Gesellschaft und zur Reform
eines Unternehmens: entweder durch Organisation oder durch Wett-
bewerb. Wer beides nicht will, wählt das Chaos.
ȱ
156 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
und fügen sie zu einem Ganzen zusammen. Wenn Stellen nicht geplant
und nicht beschrieben werden können, gibt es keine Stellen, und die
kleinste organisatorische Einheit im Unternehmen entfällt. Aus ihr sind
bisher die Instanzen des Organisationsgefüges gebildet worden. Kern-
modul oder Baustein der Organisation wird jetzt das Team oder die Ar-
beitsgruppe. Team, nicht im Sinne von „Toll, ein anderer macht’s“, son-
dern als eine Gruppe, die eine umfassende Aufgabe als Ganzes
übernimmt und dabei sich und die Arbeit selbst organisiert.
„Personal“ – das sind die Maskenträger im griechischen Drama, die
ihr Gesicht verbergen und ihre Rolle anonym spielen, „per sona“ (durch
die Stimme). Der Mensch hinter der Maske ist unsichtbar, man sieht nur
die Pergamentrolle, auf der steht, was er zu tun und zu sagen hat – seine
Stellenbeschreibung. Der Unternehmensleiter ist Theaterregisseur, der
entscheidet, wer wann was wie spielt. Das „Warum“ bleibt er schuldig;
die Aufführung ist Selbstbefriedigung des Regisseurs.
Chester Cooper erzählt, wie er das beim Präsidenten der Vereinigten
Staaten erlebt hat: „Der Präsident gibt die anstehende Entscheidung
bekannt und befragt dann jeden im Raum – Mitglieder der Regierung,
deren Staatssekretäre, Mitarbeiter des Weißen Hauses und des Natio-
nalen Sicherheitsrats: Herr Minister, stimmen Sie der Entscheidung zu?
Ja, Herr Präsident. Herr X, sind Sie einverstanden? Ich bin einverstan-
den, Herr Präsident. Während dieses Spiels fantasiere ich ein Helden-
epos: Wenn ich an der Reihe bin, erhebe ich mich langsam, werfe einen
Blick in die Runde und dann direkt in die Augen des Präsidenten und
sage ruhig und bestimmt: Herr Präsident, meine Herren, ich stimme
ganz entschieden nicht zu. Aber ich werde aus meinen Träumen geris-
sen, als ich die Stimme des Präsidenten sagen höre: Herr Cooper, sind
Sie einverstanden? Und heraus kommt ein: Jawohl, Herr Präsident, ich
bin einverstanden.“
Autorität erdrückt ein Team und macht alle außer der Autoritätsfigur
zu Statisten. Auch Mehrheitsentscheidungen wirken als Sprengsätze.
Wenn Mehrheitsentscheidungen etwas mit Demokratie zu tun haben,
dann darf ein Team keine demokratische Veranstaltung sein; aber sie
haben eigentlich nichts mit Demokratie zu tun. Die Bürger im klassi-
schen Athen, die diese Staatsform entwickelt haben, besprechen ihre
politischen Angelegenheiten auf der Agora (dem Marktplatz) solange, bis
ȱ
158 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
eine Übereinkunft erzielt ist. Wahlen, bei denen sich die Mehrheit
durchsetzt, sind das Ende der Demokratie und der Anfang der Diktatur –
einer Diktatur der Mehrheit, bei der die Menschen nicht mehr zuhören
müssen, um sich zu einigen.
Die überstimmte Minderheit wird durch die Niederlage in ihrem
Selbstwert getroffen und identifiziert sich nicht mit dem Ergebnis. Was
tun Sie, nachdem Ihre Argumente, von denen Sie felsenfest überzeugt
sind, von einer Mehrheit Ihres Teams überstimmt worden sind? Wenn
Probleme auftauchen und es nicht so läuft, wie die Mehrheit sich das
vorgestellt hat, werden Sie Ihre Freude verbergen, aber doch strahlen,
wenn der erste von der Gegenfraktion zugibt: „Hätten wir doch auf Sie
gehört“. Wenn Sie selbst Mängel ausbügeln müssen, werden Sie auch bei
gutem Willen überfordert sein, jetzt Ihre ganze Kraft und Fantasie in das
Umgehen der Fehler zu stecken. Ihre Kraft ist in der Niederlage verpufft,
und Ihre Fantasie träumt heimlich, still und leise von Ihrem Triumph:
einem Fiasko der Mehrheit.
Die sachliche Meinungsverschiedenheit ist zu einem persönlichen
Konflikt geworden, weil jede Niederlage in der Sache Ihre Person trifft.
Meine Kinder, damals noch im Grundschulalter, sitzen gemeinsam über
ihren Hausaufgaben. Als ich hinzukomme, sagt mein Sohn, der ältere:
„Papa, die Debora hat Rhythmus total falsch geschrieben.“ Deboras Ge-
sicht läuft rot an, ihr Oberkörper richtet sich kerzengerade auf, ihre
Lungen atmen tief durch, und sie landet den Gegenschlag: „Und du bist
total doof.“
Ich bin aufgerufen, Schiedsrichter zu spielen, schaue mir an, was sie
geschrieben hat, und sage: „Nein, total falsch hat sie das überhaupt nicht
geschrieben; bei diesem schwierigen Wort mit acht Buchstaben hat sie
sieben Buchstaben total richtig geschrieben. Und das ist eine gute Leis-
tung.“ Debora strahlt übers ganze Gesicht, erkundigt sich nach dem
letzten Buchstaben, den sie auch noch richtig schreiben will, und weiß
seitdem, wie Rhythmus im Duden steht.
Die Psychologie nennt das „positive Verstärkung“, die im Gegensatz
zur „negativen Verstärkung“ wirksam Verhalten in die gewünschte Rich-
tung lenkt. Voraussetzung dafür ist eine intakte persönliche Beziehung.
Das hatten wir schon. Diese persönliche Beziehung gerät immer in Ge-
Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie 159
Wenn Sie zur Mehrheit gehören, müssen Sie mit der Möglichkeit
rechnen, dass die Minderheit recht hat, und wenn sie nur aus einer ein-
zigen Person besteht. In dem Drama „Twelve angry men“ (Die zwölf Ge-
schworenen) schildert Reginald Rose, wie am Anfang alle Indizien ein-
deutig für Mord sprechen, ein Geschworener seine Zweifel nicht
begründen kann und von den anderen elf unter Druck gesetzt wird. Die
Verhandlung zeigt, wie einer nach dem anderen umfällt, bis schließlich
der Freispruch einstimmig ausgesprochen wird.
Teamarbeit ist nur sinnvoll bei geringem Informationsstand, bei groß-
er Unsicherheit, bei komplexen Aufgaben, bei hohen Anforderungen an
Kreativität. Wenn dagegen die Lösungswege festliegen, der Infor-
mationsstand hoch und der Handlungsrahmen begrenzt ist, die Kom-
plexität gering und die Sachkompetenz vorhanden, wenn es sich um
Routineentscheidungen handelt, kann die Arbeit von einzelnen erledigt
oder automatisiert werden. Arbeitsplätze, die nicht in ein Team inte-
griert werden brauchen, sind leicht wegzurationalisieren.
Wenn es aber bedeutsam ist und vom Gelingen einiges abhängt, wenn
es darum geht, die beste aller möglichen Lösungen zu finden, dürfen Sie
eine Entscheidung erst fällen, wenn auch der letzte einverstanden ist.
Blockadeverhalten ist damit nicht gedeckt. Wer blockiert, intrigiert auf
der Beziehungsebene. Das Problem muss auf dieser Ebene gelöst werden,
notfalls auch durch Trennung. Wenn ein Team aber Zweifel als Blockade
definiert und den leichten, schnellen Weg wählt, wird es seine Aufgaben
nicht gut lösen können und stellt sich selbst in Frage.
Wenn Sie sich zu einer Lösung durchgerungen haben und es trotzdem
hinterher damit Schwierigkeiten gibt, wird Ihr Verhalten anders sein. Es
ist auch Ihre Lösung, Sie identifizieren sich mit ihr, auch Ihr Ruf steht
auf dem Spiel. Sie werden also Ihre ganze Kraft und Fantasie einsetzen,
ȱ
160 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
Wenn das Fußvolk die Daten erfasst, die Stäbe daraus Pläne basteln
und die Vorgesetzten auf dieser Basis Entscheidungen treffen, werden
Informations- und Entscheidungsprivilegien dort gebündelt, wo die
Sachkompetenz in der Regel am geringsten ist.
Damit der Markt direkt eingreifen kann, muss der Marktkontakt un-
mittelbar sein. Managementinformationssysteme verhindern diese di-
rekte Tuchfühlung. Wenn die Informationsverdichtung nach oben und
die Befehlsverbreitung nach unten weggefallen ist und zum Beispiel
jeder einzelne Verkäufer auf seine eigenen Zahlen und die aller seiner
Kollegen zugreifen kann, dann wird sein Team zu einer vom Markt di-
rekt gesteuerten Instanz. Computernetze stellen Hierarchien in Frage.
Die Zellen der Organisation sind Teams von sechs bis zwölf Leuten,
die sich selbst steuern, die entscheiden, wer ihr Vorgesetzter wird, und
ȱ
162 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
ȱ
164 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
scheidungen auf seinem Gebiet selbst trifft und die Bearbeitung in eige-
ner Verantwortung übernimmt.
„Ich bin viel zu teuer, um Tausende meiner Messdaten selbst einzu-
geben“, sagt mir die Laborantin, „eine Datentypistin kostet nur halb so
viel.“ Ich frage sie, ob sie als Kleinkind hat Spinat essen müssen. Das hat
sie, weil es für kleine Kinder gesund sein soll. Hier die wahre Erklärung:
Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht Louis Pasteur eine Analyse des
Eisengehalts in Europa angebauter Salat- und Gemüsesorten. Die Werte
für Tomaten, Karotten, Rhabarber, Sellerie, Spargel, Rosenkohl, Kopfsa-
lat und Linsen liegen zwischen 0,008 und 0,086 Promille; der Wert für
Spinat liegt bei ungefähr 0,310 Promille, also um ein Vielfaches höher.
Das ist mehr als 100 Jahre her, und noch immer werden Kinder mit Spi-
nat gequält, weil eine Datentypistin vor vier Generationen eine Dezimal-
stelle falsch gesetzt und Pasteur, der den Beitrag gezeichnet hat, nicht
jeden Messwert hat nachprüfen können. Das Messergebnis ist 0,031
Promille gewesen. „Sind Sie auch zu teuer, um Zehntausende von Fami-
lien vor unnötigen Dramen zu bewahren?“, frage ich die Laborantin. Wer
die Daten erfasst hat, dem können Fehler in der Größenordnung bei der
Eingabe nicht unterlaufen, denn die Zahlen sind für ihn nicht tot, son-
dern sprechen, und er versteht, was sie sagen, und sieht, wenn sie lügen.
Job Enrichment verbessert die Qualität.
„Dass wir selbst entscheiden dürfen, ist gut. Wenn wir aber Schreib-
kräfte wegrationalisieren, brauchen wir die doppelte Zahl von Sachbear-
beitern – eine sinnlose Verschwendung“, wehren sich die Mitarbeiter im
Export gegen die Zumutung, ihre Fertigkeit im Bedienen einer Tastatur
mit zehn Fingern nachweisen zu sollen. Nach der Umstellung wird jeder
Exportmarkt von einem Sachbearbeiter mit programmierter Textverar-
beitung vollständig bearbeitet, mit allen Hilfstätigkeiten und allen Ent-
scheidungsfunktionen. Dies führt zu höherem Umsatz und besseren
Ergebnissen ohne einen einzigen zusätzlichen Exportsachbearbeiter,
obwohl sämtliche Schreibkräfte weggefallen sind. Und nach der Einar-
beitungszeit macht es allen auch noch viel mehr Spaß.
„Wir sollen Toiletten putzen? Wissen Sie eigentlich, was Sie da gesagt
haben?“, entrüsten sich die beiden Abteilungsleiter, die sie auch benut-
zen und – ebenso wie alle anderen 50 Leute auf dieser Etage – je eine
Woche im Jahr diesen Dienst tun sollen. Was an Toiletten so „enrichend“
ȱ
166 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
(bereichernd) sei, werde ich gefragt. Die Erregung ist so groß, dass das
Kostenargument gar nicht fällt. Was ich ihnen zumute, ist eine Verlet-
zung ihrer Menschenwürde – in dieser Position. „Job Enrichment hat viel
mit Qualität zu tun, viel mit Spaß, aber auch viel mit Menschenwürde für
alle“, entgegne ich. Vielleicht liegt die Entwicklungschance für diese
beiden Abteilungsleiter gerade darin, den Wert von Menschen zu erken-
nen, die nicht Abteilungsleiter sind. „Alle unterhalb des Ranges eines
Fregattenkapitäns sind unreif“, soll der Marinegeneral Elmo Zumwalt
gesagt und damit wohl allein sich selbst die Reife abgesprochen haben.
Wenn wir jedem Mitarbeiter die Chance geben wollen, sich zu entwi-
ckeln und an die Grenzen seiner Möglichkeiten vorzustoßen, müssen
wir unangenehme Arbeiten gleichverteilen und dürfen keine „Sklaven“
für Schmuddelarbeiten halten.
ȱ
168 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
Aber noch etwas ist anders: Mit seinen guten Beziehungen braucht er
nicht den Geschäftsführer einzuschalten und die Produktion von oben
vergewaltigen lassen. Nein, noch vom Kunden aus ruft er direkt in der
Produktionsplanung an, erklärt seinen früheren Kollegen, dass er weiß,
was er ihnen zumutet, sie aber vielleicht nicht ahnen können, worum es
geht, und bittet sie darum, doch eine Lösung zu finden. Vielleicht fordern
die ihn auf, mit dem Kunden eine Kaffeepause einzulegen, rufen dann
zurück und fragen, ob es nicht doch eine Woche später sein darf; das
wäre mit Klimmzügen zu ermöglichen. Und wenn der Neukunde es zu
schätzen weiß, dass nicht alte Kontakte wegen neuer vernachlässigt
werden, kann er sich vielleicht auf diese eine Woche Verzögerung des
Liefertermins einlassen.
Das Ergebnis ist vor allen einzelnen Maßnahmen da, die es verursachen.
Die Ursache-Wirkungs-Kausalität hat sich umgekehrt. Die Wirkung ist
der Magnet, der die Ursachen anzieht, die sie braucht, um sich zu ver-
wirklichen.
ȱ
170 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
Durchbrüche geschehen auf Feldern, von denen wir nicht wissen, dass
wir nichts davon wissen, auf denen unser Nichtwissen für uns nicht
existiert. Wir können sie nicht planen, weil sie nach unseren gegenwär-
tigen Wissensgrundlagen nicht existieren.
ȱ
172 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
Als ich bei einer anderen Bergtour in der wilden wuchtigen Schönheit
der Sierra Nevada an einem Gebirgssee ausruhe, überwältigt mich ein
neues Sequoia-Erlebnis. „Vielmehr ist da mein Geist getroffen worden,
von einem Blitz, der seinen Wunsch erfüllte“, beschreibt Dante Alighieri
solche Sternsekunden. Ich sehe mein bisheriges Leben wie einen Film
vor mir ablaufen, wieder sekundenschnell, mit seinen Freuden und Dra-
men, Episoden und Warteschleifen, Triumphen und Untergängen, die
alle ein einziges Ziel verfolgen: mich hier und jetzt so zu haben, wie ich
durch sie geworden bin – vorbereitet auf und bereit für dieses Buch.
Ich erzittere vor der Unerbittlichkeit, der Präzision und der Reichwei-
te dieser Dispositionen und denke an die Weisheit des Tao: Von allen
Elementen soll der Weise das Wasser zu seinem Lehrer wählen. Wasser
ist weich und zerstört, was hart ist. Wasser gibt nach und erobert alles.
Wasser folgt planlos seinem Gesetz und gewinnt immer. Unternehmens-
planung ist Beschäftigungstherapie.
PRAXISBEISPIEL 7: Change-Management-Workshop
Die Aktivitäten, die jeder Einzelne während der vorangegangenen
Coachingphase entwickelt und erprobt hat, werden jetzt abgestimmt
und in ein „gebündeltes Vorgehen“ integriert. Es werden Projekte auf-
gesetzt, die jeder allein oder gemeinsam mit anderen nach Abschluss
des Change-Management-Workshops beginnt, und die das konkrete
Ergebnis bei Abschluss des Resonanzprogramms bewirken.
PRAXISBEISPIEL 7: Change-Management-Workshop 173
ȱ
174 Unternehmensplanung ist Beschäftigungstherapie
2. Achtung
Achtung entsteht, wenn wir uns selbst und andere jenseits aller Ur-
teile und Vorurteile neu sehen. „Achtung“ (Acht geben) umfasst
aufmerksames Sehen. Niemand muss sich Achtung verdienen, jedem
soll sie ohne Vorbedingung geschenkt werden.
3. Anerkennung
Anerkennung ist eine menschliche Qualität, durch die der „Wert“ ei-
nes anderen Menschen erkannt wird – nicht nur der Wert dessen, der
er ist, sondern auch der Wert seines Potenzials – also des Menschen,
der er werden kann. Es ist eine notwendige Grundlage für Enthusi-
asmus und Selbstbewusstsein, und damit für Außergewöhnlichkeit.
Die durch diese Attraktoren ausgelösten Aktivitäten für den Wandel
stecken Außenstehende an. Jeder Teilnehmer erlebt, wie er seine Um-
gebung allein dadurch verwandeln kann, dass er integer, authentisch
und sichtbar die gemeinsame Mission ist. Weil dann sein Umfeld ihn
mit seiner Mission identifiziert und sich so auf ihn bezieht, entstehen
die Bedingungen, die das Ergebnis „von selbst“ – aus dem eigenen
Selbst heraus – verwirklichen.
ȱ
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 177
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_8,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
178 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
ich meinem Vorgänger also die Frage: „Haben Sie, lieber Herr Döring, in
diesen 40 Jahren eigentlich nie an Scheidung – von der Firma – gedacht?“
Die Gesellschaft lacht gequält. Der Witz ist schlecht angekommen.
Meine Knie zittern. Ich suche Halt und kralle mich an ein Cham-
pagnerglas.
Und dann kommt Martin Döring. „Mein lieber Herr Doktor Berger“,
sagt er und legt seine Hand väterlich auf meine Schulter, „das ist eine
interessante Frage.“ Während sein Blick aus dem Fenster schweift, fährt
er fort: „Und ich muss Ihnen ehrlich sagen, wenn Sie mich das vor einem
Jahr gefragt hätten, hätte ich Ihnen nicht ehrlich geantwortet. Heute
brauche ich zum ersten Mal seit 40 Jahren nicht mehr diplomatisch zu
sein. Wenn ich hier herausgehe, bin ich ein freier Mann, und deshalb
kann ich jetzt die Wahrheit sagen, die keiner von Ihnen kennt. Ich werde
also Ihre Frage offen und ehrlich beantworten: An Scheidung habe ich in
diesen 40 Jahren nie gedacht – aber an Mord.“
Die Wahrheit ist schlimmer, als Marx prophezeit hat. Was beim Un-
ternehmen Staat offensichtlich ist, ist in den Führungsetagen unserer
Wirtschaftsunternehmen nicht anders: Der größere Teil der Energie der
Führungskräfte wird nicht in die Lösung von Problemen gesteckt, son-
dern in die Lösung von Machtfragen. Und was bei der Bevölkerung unse-
rer Staaten offensichtlich ist, ist auch in den Belegschaften unserer
Unternehmen nicht anders: Unsere Staaten sind zu Institutionen ver-
kommen, mit deren Hilfe jeder versucht, auf Kosten von anderen zu le-
ben. Unsere Unternehmen sind zu Institutionen verkommen, mit deren
Hilfe jeder versucht, auf Kosten von anderen Geld zu verdienen.
Auf Kosten von anderen bedeutet, mit deren Energie. Wer anderer
Energie „verbrennt“, lässt sein eigenes Potenzial ungenutzt. Diese ande-
ren – ausgebrannt und körperlich anwesend – sind nur mit einem Bruch-
teil ihres eigenen Selbst präsent. Viele Großunternehmen könnten 100
Millionen Dollar im Jahr einsparen, wenn die körperliche Anwesenheit
minimal häufiger und die Fehlzeitenquote um nur ein Prozent niedriger
wäre. Viele Großunternehmen könnten einige Milliarden Dollar im Jahr
einsparen, wenn die mentale Anwesenheit vollständig, ganz, integer
wäre; wenn jeder einzelne im Unternehmen für das Ganze die volle Ver-
antwortung übernähme.
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 179
Das Gegenteil einer solchen innovativen Explosion ist der Tod. Was
bedeutet der Tod unseres Körpers physikalisch und chemisch? Unser
menschlicher Körper besteht zu mehr als zwei Dritteln aus Wasser, und
nach dem Tod tut dieses Wasser das, was Wasser – elementspezifisch –
tut: es verdunstet, verfließt, versickert. Solange wir aber leben und unse-
re 50 oder 70 Liter auf die Waage stellen, steht die Waage trotzdem nicht
unter Wasser. Leben ist eine Kraft, die Wasser dazu bringt, etwas Was-
serunspezifisches zu tun, etwas, was Wasser nicht tut, wenn es sich
selbst überlassen ist.
Der Unterschied zwischen Leben und Tod besteht darin, dass beim
Tod die einzelnen Substanzen unseres Körpers ihren eigenen Gesetzen
folgen, während sie sich beim Leben den Gesetzen des Lebens unterord-
nen. Bricht ein Element oder eine Zelle aus diesem Lebensgesetz aus und
fügt sich nicht mehr in das Ganze, ist es eine Krebszelle, die durch ihren
eigenen dem Ganzen übergeordneten Wachstums- und Überlebenswillen
das Ganze schwächt oder sogar vernichtet.
Das ist die Situation in unseren Unternehmen und Staaten. Jeder
sieht sein eigenes Wohl und Fortkommen, seine eigene Sicherheit und
Macht zuerst und ordnet, wenn er kann, das Ganze dem unter; dient dem
Ganzen also nur soweit, wie seine eigenen Interessen dadurch nicht
beeinträchtigt werden. Managementsysteme schützen die Machthaber,
indem sie ihnen – so Frederick Herzberg – die Möglichkeit zu einem „kick
in the ass“ (Tritt in den Hintern) geben. „Wollen hätten wir schon mögen,
nur dürfen haben wir uns nicht getraut“, sagen die Mitarbeiter dann mit
Karl Valentien und ziehen sich zur Hälfte in ihr Schneckenhaus zurück.
Mit einem Füllhorn von Motivationstechniken werden sie von dort
wieder herausgelockt. Reinhard Sprenger zeigt, dass das alles nur Dro-
gen sind, die Strohfeuer flackern lassen, eine Abschöpfungsmentalität
produzieren, aber keine Identifikation mit der Aufgabe. „Heerscharen
demotivierter Misserfolgsvermeider“ identifizieren sich mit der Beloh-
nung und arbeiten, um danach zu leben. Wenn wir beobachten, welches
Organisationstalent, welchen Ideenreichtum und welches Engagement
ȱ
180 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
Was gibt den preußischen Soldaten die Kraft, ihre hoch überlegenen
Feinde zu besiegen? Was bringt Soldaten im Krieg dazu, ihr Leben zu
riskieren? Was motiviert Soldaten zu dem höchsten möglichen Einsatz,
wo doch Mitarbeiter unter normalen Umständen kaum bereit sind, einen
freien Tag einzusetzen? Psychologen haben dies am Beispiel des Viet-
namkriegs untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es
nicht mehr die Loyalität zu dem höchsten Repräsentanten des eigenen
Staates – in Preußen ein König – ist; nicht mehr das Vaterland; nicht
mehr die Fahne; nicht die Sache der Freiheit, nicht die der Demokratie;
nicht Familie, Braut oder Freunde zu Hause; sondern einzig und allein
die Solidarität in der kämpfenden Kleingruppe. Jeder ist hier auf den
anderen angewiesen, auf Leben oder Tod; niemand lässt den anderen im
Stich, unter überhaupt keinen Umständen.
Wodurch entsteht diese Solidarität, und warum ist sie offensichtlich
bei den Preußen stärker gewesen als bei Sachsen und Österreichern; bei
den nordvietnamesischen Vietkong stärker als bei amerikanischen Sol-
daten, bei afghanischen oder tschetschenischen Kämpfern stärker als
bei sowjetischen oder russischen Soldaten?
Nach der gängigen Antwort der Führungslehre produziert Leadership
(Führung) Qualifikation und Kompetenz – Leistungspotenzial – bei den
Geführten. Das Vorbild des Führers – wie im Beispiel des preußischen
Königs – verwandelt dieses Potenzial in Leistungsbereitschaft. Und dann
braucht nur noch eine Gelegenheit vorbeizuschauen und der Wille ist da,
das Potenzial auch einzusetzen. Das ist wie die Geschichte vom König-
reich, das gerettet wird, weil die Schlacht gewonnen wird; von der
Schlacht, die gewonnen wird, weil der Reiter Dienst tut; von dem Reiter,
der Dienst tut, weil sein Pferd bereit steht; von dem Pferd, das bereit
steht, weil der Schmied ihm neue Hufen eingesetzt hat; von den neuen
Hufen, die halten, weil die Nägel passen. Das ist Ursachenforschung. Das
hatten wir schon.
In Wahrheit läuft die Geschichte anders herum: Weil der Nagel fehlt,
geht das Hufeisen verloren; weil das Hufeisen fehlt, geht das Pferd verlo-
ren; weil das Pferd fehlt, geht der Reiter verloren; weil der Reiter fehlt,
geht die Schlacht verloren; weil die Schlacht verloren ist, geht das König-
reich verloren. Und warum hat der Nagel gefehlt? Auch das hatten wir
schon – die Antwort ist einfach: Weil das Königreich verlorengehen soll
ȱ
182 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
Die Aufgabe der Führung ist nicht das Planen und Steuern, das Ent-
scheiden und Kontrollieren, das Handeln und Agieren. Die Aufgabe der
Führung besteht einzig und allein darin, das ganze Unternehmen auf
die gleiche innere Frequenz einzustimmen – Resonanz zu schaffen.
Rupert Sheldrake spricht davon, dass die Materie von Feldern getra-
gen wird, die alles durchdringen, die – im Gegensatz zu elektromagneti-
schen Feldern – durch Raum oder Zeit nicht beschränkt werden, und die
er „morphogenetisch“ nennt. Diese Felder gestalten nach Sheldrake
sowohl die Form als auch das Verhalten von Systemen und Organismen.
Ein Körper, jeder materielle Körper, ganz gleich ob es ein Fels, ein Baum
oder ein Vogel ist, ein Planet, ein Fixstern oder eine Galaxie, eine Statue,
ein Symphonieorchester oder ein einzelner Mensch – jeder Körper ist ein
Resonanzkörper für Signale von außen, die er moduliert.
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 183
Je höher ein Körper entwickelt ist, desto weniger massiv ist er und
desto höher ist die Frequenz seiner Eigenschwingung, seine Energie. Wir
halten einen Felsen deshalb für weniger entwickelt als einen Baum,
einen Baum für weniger entwickelt als uns Menschen, uns Menschen für
weniger entwickelt als ein morphogenetisches Feld, ein morphogeneti-
sches Feld für weniger entwickelt als die physikalisch nicht mehr „greif-
bare“ Schwingungsebene, auf die sämtliche Felder aufmoduliert sind
und die wir Gott nennen.
Francisco Varela erforscht die Schwingungsfrequenz der Neuronen
von Gehirnen. Neuronen sind Nervenzellen, die Elemente des Zentralen
Nervensystems. Fünf Milliarden Neuronen bilden das Zentrale Nerven-
system des Menschen; sie empfangen Signale von anderen Neuronen,
integrieren diese Signale, produzieren und übermitteln elektrische Ner-
venimpulse.
Der Zellkern vollführt biochemische Transformationen, die von den
Dendriten (den „Ästen“ der Zelle) angeregt werden. Die Dendriten sind
Rezeptoren, die in einem Feld schwingen, das über die Grenzen der
Schädeldecke, über die Grenzen des Körpers weit hinausgeht. Neuronale
Felder sind diejenigen Bestandteile morphogenetischer Felder, die sich
auf die Gehirnaktivität beziehen. In einem neuronalen Feld existiert
jeder Gedanke und jedes Gefühl als eine elektromagnetische Einheit.
William McDougall hat im Jahre 1920 in Cambridge, Massachusetts,
Ratten trainiert, durch ein Wasserlabyrinth zum Ausgang zu finden.
Nach mehreren Rattengenerationen haben die Tiere gelernt, diese Auf-
gabe zehnmal schneller zu lösen als die erste Generation. Der „Lernpe-
gel“ jeder Generation wird also offenbar irgendwie gespeichert und an
die nächste Generation weitergegeben, die dann gleich bei diesem höhe-
ren Niveau „einsteigt“. McDougall hat zunächst die Vererbungslehre
bemüht, um dieses Ergebnis zu erklären. Danach wären nicht nur Eigen-
schaften, sondern auch Lernerfolge vererbbar. Ehrgeizige Eltern müss-
ten für ihre noch nicht geborenen Kinder „vorarbeiten“ können.
Nach vielen amerikanischen Labyrinthrattengenerationen wird das
gleiche Experiment von McDougalls Kollegen in Australien wiederholt.
Die erste Generation australischer Labyrinthratten erreicht auf Anhieb
die Zeit der letzten amerikanischen Generation. Da gibt es nur zwei mög-
ȱ
184 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
Sind Sie schon einmal durch die Eingangstür eines Unternehmens ge-
gangen und haben sofort – noch bevor Ihnen der erste Mensch begegnet
ist – gespürt, dass Sie da nicht hingehören? Sind Sie schon einmal in
einen Laden, in ein Restaurant, in eine Galerie, in eine Kirche gekommen
und haben sofort gespürt, dass Sie hier gern bleiben möchten? Sind Sie
schon einmal in eine Stadt gekommen und haben sofort gewusst, dass
Sie hier nie wohnen könnten; oder auch dass Sie hier am liebsten bleiben
würden, wenn es sich nur einrichten ließe? Sind Sie schon einmal über
eine Landesgrenze gefahren und haben sofort gemerkt, dass Sie sich hier
wohl fühlen, eigentlich hier hingehören; oder umgekehrt, dass Sie, wenn
es nicht sein muss, in dieses Land nicht wieder fahren wollen? Sind Sie
schon einmal einem Menschen begegnet und haben „auf den ersten
Blick“ gesehen, dass Sie mit ihm „können“, dass die Zusammenarbeit
oder Verhandlung, die gemeinsame Reise oder Unternehmung angenehm
sein wird? Nalini Ambady und Robert Rosenthal haben nachgewiesen,
dass unser „erster Eindruck“ – unser intuitiver erster Blick nach nur 30
Sekunden – in 70 Prozent aller Fälle mit unserem Urteil nach sorgfälti-
ger Prüfung identisch ist.
ȱ
186 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
Es ist nie der erste Blick, und Ihre Augen sehen gar nichts. Ihre Neu-
ronen erkennen, dass die Neuronen des oder der anderen auf der glei-
chen Welle schwimmen oder dass die Schwingung in dem Raum, in dem
Menschen nicht sein müssen, Ihrer Eigenfrequenz entspricht; Sie sind in
ein Ihrer Eigenschwingung entsprechendes neuronales Feld eingetaucht
oder Sie sind von einem nicht kompatiblen neuronalen Feld abgestoßen
worden. Und diese Kraft ist stärker als Ihr Verstand, als Ihr Wille, als Sie
selbst.
Als rationaler Mensch können Sie die Kraft dieser Wellen bekämpfen.
Dazu benötigen Sie extreme Energie – wie jedes Schiff, das gegen starke
Strömung voranstampft und nach jedem „Schritt“ ein Bugwasser abfan-
gen muss, welches den Rumpf zuerst nach oben wölbt, danach, wie bei
einer Kraftprobe, mit der Nase nach unten presst und eintaucht, und
schließlich, wie aus Protest gegen solche Verachtung des göttlichen
Willens, an seinen Seiten gen Himmel spritzt, nach Hilfe schreiend für
den nächsten Schritt. Vielleicht schaffen Sie es.
Neuronale Führung aber ist anders: sie nutzt den Schwung der Welle
und lässt sich von ihr tragen; ohne Kampf, ohne Krampf, ohne Kraft. Dies
ist die Strategie des Delphins. Es ist eine Strategie feiner Antennen, die
die Feldschwingung empfängt, sie vielleicht moduliert, vielleicht aber
auch nicht, und in ihr „fährt“ – gemeinsam mit allen, die auch darin
„schwimmen“, die also synchron schwingen.
Wie entsteht synchrone Schwingung? Beginnen wir mit dem kleinsten
Nenner des Gleichklangs: dem zwischen zwei Menschen. Wissen Sie,
welche politische Partei Ihre Eltern wählen oder gewählt haben? 90 Pro-
zent der Ehepaare, die länger als zehn Jahre verheiratet sind, haben syn-
chrones Wahlverhalten. Wissen Sie noch, als Sie eine vielversprechende
Bekanntschaft gemacht haben, aus der eine Partnerschaft geworden ist
oder vielleicht noch werden könnte? Ist Ihre erste Frage die nach dem
Wahlverhalten gewesen, und haben Sie ihm oder ihr sofort den Rücken
zugekehrt, als dies mit Ihrer eigenen Parteienpräferenz nicht übereinge-
stimmt hat? So müsste es sein, wenn wir die spätere 90prozentige Über-
einstimmung beim Wahlverhalten, bei den Essens- und Trinkgewohnhei-
ten, beim Einrichtungsgeschmack und – schauen Sie sich die Photos
Ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern an – im Gesichtsausdruck rational
und repressionsfrei erklären wollen.
Mitarbeiter sind Resonanzkörper 187
Das wollen wir aber nicht, weil es so nicht ist: Synchrone neuronale
Schwingungen zwischen zwei Menschen entstehen dadurch, dass sie
Zeit miteinander verbringen. Synchrone Schwingungen zwischen zehn,
hundert, tausend oder Millionen von Menschen entstehen auch dadurch,
dass sie Zeit miteinander verbringen.
Da wir mit Ratten, wenn es sich einrichten lässt, keine Zeit verbrin-
gen, entstehen zwischen ihnen und uns Menschen auch keine synchro-
nen Schwingungen. Bei Haustieren ist das schon anders und auch bei
Pflanzen, obwohl diese kein Gehirn haben. Peter Tompkins und Christo-
pher Bird (Vogel) – der Name soll wirklich Zufall sein – berichten, dass
nicht nur Mitarbeiter Resonanzkörper sind, sondern auch Pflanzen. Ein
an einen Philodendron angeschlossener Polygraph (Lügendetektor) hat
extrem ausgeschlagen, als der Eigentümer der Pflanze nur gedacht hat,
ob der Detektor wohl reagieren würde, wenn er ein Blatt der Pflanze mit
seinem Feuerzeug anzünden würde.
Neuronale Felder bilden sich auch innerhalb der Tierwelt zwischen
Arten, die miteinander leben und – obwohl man hier nicht mehr von Neu-
ronen sprechen kann – innerhalb von Pflanzengattungen. Bei Experi-
menten, die nach dem Philodendron-Ereignis durchgeführt worden sind,
vernichtet ein Forscher absichtlich eine von zwei identischen Pflanzen.
Anschließend nähern sich sechs verschiedene Labormitarbeiter der an
einen Polygraphen angeschlossenen überlebenden Pflanze; der „Killer“
der Schwesterpflanze ist einer von ihnen. Bei ihm zeigt der Pflanzen-
Polygraph jedesmal einen messbaren Ausschlag, bei den anderen rea-
giert er nicht. Pflanzen stoßen also „Hilfeschreie“ aus, mit denen sie
Angst signalisieren.
Neuronale und morphogenetische Felder bilden den „Raum“ für einen
evolutionären Entwicklungsverbund, der die Grenzen von Arten über-
schreiten kann. Blumen sind auf die Befruchtung durch Bienen einge-
richtet, die vom Nektar der Blumen leben. Koevolution heißt das in der
Biologie. Und Koevolution findet immer auch zwischen Menschen mit
ähnlichen neuronalen Schwingungen statt.
Wenn Sie in einem Team Koevolution wollen, müssen Sie die Leute
zusammenstecken. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, je geringer
die Außenkontakte sind und je homogener die Teamzusammensetzung
ȱ
188 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
schon zu Anfang ist, desto schneller und intensiver „schwingt“ das Team
synchron. Homogenität von Anfang an bedeutet, dass ein partieller
Gleichklang nicht erst entstehen muss, sondern schon vorhanden ist. Da
eine Zusammenarbeit unter solchen Vorzeichen angenehm ist, wird sie
leicht zum Selbstzweck. Manchmal ist der Gleichklang so stark, dass
sein Rhythmus das Unternehmen durcheinanderbringt, weil es nicht der
Unternehmensrhythmus ist, weil das Team seine eigenen Ziele verfolgt
und nicht die des Unternehmens. „Wenn Sie uns auseinander reißen,
kündigen wir alle gemeinsam.“ Wenn ein Teamleiter das sagt, haben Sie
eine Tretmine, die entschärft werden muss.
ȱ
190 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
ȱ
192 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
Ein Nebeneinander bei Heterogenität ist eine subtile Balance, die sich
gern zum Miteinander neigt, aber auch leicht zum Gegeneinander.
ȱ
194 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
ȱ
196 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
ȱ
198 Mitarbeiter sind Resonanzkörper
9 Unternehmer sind
Neuronenkraftwerke
Die Zeichnungen haben sie geliefert. Toleranzen und Spezifikationen
haben sie vorgegeben. Liefermengen und -daten wollen sie mitteilen, wie
es ihnen passt. Lieferkonditionen und Preise haben sie diktiert. Und
zwei Möglichkeiten haben sie offen gelassen: „Entweder Sie unter-
schreiben diesen Vertrag, oder Sie unterschreiben keinen Vertrag.“ Der
Rahmenvertrag beschert dem Unternehmen trotz einer harten Rationali-
sierungskur einen ordentlichen Verlust. Wolf Veyhl ist im Würgegriff
seiner großen Kunden. Er führt sein Unternehmen weiter, um die Ar-
beitsplätze seiner Mitarbeiter zu erhalten.
„Wir müssen die Abhängigkeit umkehren;“ das ist sein Traum, als er
in einem Workshop mit seiner Führungsmannschaft berät, wie es wei-
tergehen soll. „Das ist doch ganz und gar unmöglich“, lautet der Ein-
wand, der schwer zu widerlegen ist. „Es gibt Dutzende von Alternativen
zu uns in Ländern, wo die Kosten niedriger sind“, ergänzt der Leiter des
Rechnungswesens, „Zulieferer können die Bedingungen nie diktieren.“
Ich kann ihn mit einer Parabel verunsichern: Ein Fisch fragt die
Schildkröte: „Erzähl mir, wie es auf dem Land ist. Ist es dort sehr salzig?“
„Nein“, antwortet die Schildkröte, „dort ist es überhaupt nicht salzig.“
„Sind da starke Strömungen?“, fragt der Fisch weiter. „Nein“, sagt die
Schildkröte, „da sind gar keine Strömungen.“ „Gibt es Riesenfische?“,
möchte der Fisch wissen. „Nein“, lautet die Auskunft der Schildkröte,
„dort gibt es überhaupt keine Fische.“ „Schwimmen die Landtiere schnel-
ler?“, wundert sich der Fisch. „Nein“, belehrt die Schildkröte, „Landtiere
schwimmen überhaupt nicht.“ „Kann ich da tief tauchen?“, fragt der
Fisch weiter. Die Schildkröte muss ihn wieder enttäuschen: „Nein, da
kannst du überhaupt nicht tauchen.“ Der Fisch weiter: „Ist es auf Grund
dort auch immer dunkel?“ „An Land gibt es keinen Grund“, sagt die
Schildkröte. „Sieht man dort auch manchmal Schiffsrümpfe über sich?“,
fragt der Fisch. „An Land sieht man keine Schiffsrümpfe“, sagt die
Schildkröte. „Sinken die dort immer gleich in die Tiefe?“, wundert sich
der Fisch. „An Land kann nichts in die Tiefe sinken“, erklärt die Schild-
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_9,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
200 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
kröte. „Überschlagen sich die Wellen dort oft?“, fragt der Fisch nun. „An
Land gibt es gar keine Wellen“, antwortet die Schildkröte. „Ist das Meer
dort immer ruhig?“, wundert sich der Fisch. „An Land gibt es auch kein
Meer“, sagt die Schildkröte. Endlich versteht der Fisch, was das ist, wo-
von ihm die Schildkröte erzählt – das, wo es nichts von dem gibt, was ist.
„Das Land“, sagt er, „das gibt es überhaupt nicht.“
„Wenn es das nicht gibt, müssen wir es erfinden“, sagt Wolf Veyhl,
„ich weiß nicht, wie es gehen soll, aber ich will es, und deshalb wird es
gehen.“ In zwei langen Brainstormings mit seinem Führungskreis darf
die Frage, ob es geht, nicht gestellt werden. Alle Äußerungen müssen
dazu beitragen, wie es gehen kann, muss und wird. Am Ende steht das
Konzept. Veyhl besucht seine großen Kunden und gewinnt die meisten
dafür, zu einer „Zukunftswoche“ in sein Werk zu kommen, um gemein-
sam ein Zukunftsprodukt zu entwickeln.
Die Experten verstehen ihr Handwerk. Die Synergie zwischen ihnen
bringt rasche Ergebnisse. Nach dem ersten Tag hängt das Produkt der
Zukunft als Skizze auf einer Packpapierbahn an der Wand. Einige wollen
abreisen, werden aber an ihr Versprechen erinnert, eine Woche zu blei-
ben; ein Festessen am Abend und eine „große Überraschung“ am nächs-
ten Tag halten sie fest.
Als die Gäste am nächsten Morgen in den Besprechungsraum treten,
ist es wie bei einem Kindergeburtstag: „Toll!“, „Ja, aber!“, „Nein!“, „Un-
glaublich!“, „Großartig!“, „Wunderbar!“, „Wahnsinn!“, „Wow!“, können
sie sich kaum beruhigen. Da steht das Produkt der Zukunft in voller
Pracht und Größe – zwei Kubikmeter aus Metall, Kunststoff und Glas
perfekt gearbeitet. Sofort beginnen die Herren mit dem, was alle mit
einem großen, neuen Spielzeug tun: sie fassen es an, setzen sich davor
und dahinter, kriechen darunter, kippen es um, prüfen Details, nehmen
es auseinander, setzen es wieder zusammen. Auch für Experten ist zwi-
schen Zeichnung und Prototyp ein großer Unterschied. Allen macht es
einen Riesenspaß, den ganzen Tag lang die Konstruktion zu verbessern,
bis sie am Abend auf Papier makellos erscheint.
Beim Festessen des zweiten Abends bekommen einige ein schlechtes
Gewissen und möchten die Techniker dazu einladen. Aber die haben
keine Zeit. Diesmal ist es keine Überraschung mehr; aber auch Vorfreude
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 201
ȱ
202 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
In 1035 Jahren – so lehrt die Physik – wird sich die Zeitachse um 180
Grad drehen und die Kontraktion des Universums einleiten; vielleicht bis
wieder die gesamte Energie und Masse in einem Punkt vereinigt ist, der
dann andere Eigenschaften haben wird als der letzte und deshalb den
nächsten Urknall mit anderen Anfangsbedingungen auslöst als denen
des letzten Urknalls. Die Erfahrung unseres jetzigen Universums ist in
den Anfangsbedingungen konzentriert. Die praktischen Konsequenzen
eines Drehens der Zeitachse kennen wir nicht. Aber eines scheint klar:
Wir sollten die nächsten 1035 Jahre genießen.
Vielleicht aber dreht sich die Zeitachse gar nicht; vielleicht „läuft“ die
Zeit immer weiter und wir müssen eine Unvorstellbarkeit durch eine
andere Unvorstellbarkeit ersetzen: Versetzen Sie sich in die Lage eines
zweidimensionalen Wesens, einer Wanze, die so platt ist, dass sie keine
Höhe hat. Für dieses Wesen – nennen wir es Zwenze – gibt es nur lang
und breit; Höhe kann eine Zwenze nicht denken, also existiert Höhe für
sie nicht. Mit solch einer Zwenze sind Sie dreidimensionaler Mensch an
einem Strand, blicken zum Horizont, wo der Himmel im Meer versinkt,
und erzählen ihr, dass sie, wenn sie zum Horizont hin sehr lange immer
geradeaus schwimmt, fährt oder fliegt, irgendwann wieder hier, am Aus-
gangspunkt, ankommen wird. Das kann die Zwenze sich nicht vorstellen,
denn dass sich eine Fläche an ihren Enden nach unten neigen und so die
Erdkugel formen kann, gibt es in einer zweidimensionalen Welt nicht.
Erst durch die Einführung der dritten Dimension können Sie sich von
einem Ausgangspunkt immer weiter entfernen und dadurch wieder zu
ihm zurückkommen.
Wir sind dreidimensionale Zwenzen. Wenn ein vierdimensionales We-
sen uns erzählt, dass wir nach einem unvorstellbar langen Gerade-
ausflug in unseren dreidimensionalen Weltraum hinein, bei dem wir nie
umkehren, irgendwann einmal wieder auf der Erde ankommen werden,
können wir das nicht denken. Erst durch die Einführung der vierten
Dimension können wir uns von unserem Ausgangspunkt immer weiter
entfernen und dadurch wieder zu ihm zurückkommen. Und wenn dieses
vierdimensionale Wesen uns weiter erzählt, dass unser Universum,
nachdem es unvorstellbar lange explodiert ist, ohne dass die Zeitachse
sich dreht, wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückfindet, bei dem alle
Energie und Materie in einem Punkt konzentriert ist, können wir auch
ȱ
204 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
das nicht denken. „Da herrschet Well auf Welle kraftbegeistet; Zieht sich
zurück, und es ist nichts geleistet.“ Vielleicht hat Goethe dabei an mehr
gedacht als an das Meer.
Was wir nicht denken können, kann für uns nicht existieren. Materie
muss sich so verhalten, wie es das Denken des Wissenschaftlers zu-
lässt, der sie erforscht. Jede Frage, die wir stellen, enthält die Antwort.
Ein Tier fragt nicht nach Gott; also existiert er für ein Tier nicht. Ein
Analphabet fragt nicht nach der Quantenmechanik; also existiert sie für
einen Analphabeten nicht. Ein Materialist fragt nicht nach dem Geist;
also existiert er für einen Materialisten nicht. Ein Einfaltspinsel fragt
nicht nach der vierten Dimension; also existiert sie für einen Einfalts-
pinsel nicht. Ein Fisch kann die Schildkröte gar nicht nach dem Land
fragen, weil es das Land für ihn nicht gibt. Wer die Freiheit nicht kennt,
kann nicht nach ihr fragen. Und wer in seiner Ratio gefangen ist, kann
nicht fragen, wie er Kausalketten umkehren kann. Da diese Frage un-
denkbar ist, kann und wird sie nicht gestellt werden.
Der dritte Geburtstag ist der erste, den meine Tochter Debora bewusst
erlebt. Bald darauf habe ich Geburtstag, und sie fragt mich, ob ich auch
drei Jahre alt werde. „Nein, ich bin ja älter als du“, erkläre ich ihr. Da
erhebt sie drei Finger ihrer rechten Hand und fügt einen vierten hinzu.
„Wirst du so alt?“, fragt sie. „Nein, noch älter“, antworte ich. Nun spreizt
sie alle fünf Finger der Hand und meint: „Aber so alt.“ Als das immer
noch nicht genug ist, fällt es ihr schwer zu glauben, dass sie offenbar
einen wirklich uralten Vater hat. Also geht es weiter mit einem sechsten
Finger von der linken Hand, mit einem siebten, achten und neunten
Finger, bis sämtliche Finger beider Hände im Einsatz sind. Aber ich
muss sie sehr enttäuschen. „Ich bin noch viel, viel älter“, sage ich. Ratlos
schaut sie auf die zehn Finger ihrer beiden Hände – die biologische Basis
des dekadischen Zahlensystems – und sagt: „Das geht doch gar nicht.“
Weiter kann sie mit drei Jahren nicht fragen. Weiter können wir alle
nicht fragen, nur unsere Finger haben sich vermehrt. Das aber ändert
nichts daran, dass wir Dinge, nach denen wir fragen, zuvor gedacht ha-
ben müssen, und dass es Dinge, die wir nicht denken können, für uns
nicht gibt. Es ist nicht der Bereich unseres Nichtwissens – den können
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 205
wir erforschen, weil wir wissen, dass wir davon nichts wissen. Es ist der
Bereich unseres Nichtseins. Durch Fragen, die wir bisher nicht gestellt
haben, können wir unser Bewusstsein erweitern, unser Sein vergrößern,
unsere Existenz erhöhen.
Die Frage erschafft das, wonach gefragt wird, im Denken. Das Denken
erschafft das, woran gedacht wird, in der Wirklichkeit. Indem wir nach
etwas fragen, erdenken wir es und bringen es hervor. Wir erschaffen
den Bereich unseres Nichtseins dadurch, dass uns unser Nichtwissen
darüber bewusst wird.
ȱ
206 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
könnte sich nicht bilden. Gleiches gilt für die schwache Wechselwirkung,
die die Elektronen auf ihrer Umlaufbahn um den Atomkern hält und sie
weder auf ihn stürzen noch davonfliegen lässt. Wäre das Verhältnis von
Elektronen-und Protonenmasse nur geringfügig anders, könnten kom-
plexe Moleküle nicht entstehen.
Hätten sich nicht irgendwo sehr niedrige Temperaturen gebildet, die
auf der Erde nur etwa 300 Grad Celsius über dem absoluten Nullpunkt
liegen – nach oben geht die Skala um 100 Millionen Grad weiter –, wäre
eine Chemie nicht entstanden, weil bei der Temperatur der Sterne die
Atome vermutlich auseinander gerissen werden. Hätte die chemische
Evolution nicht einen ganz bestimmten Verlauf genommen und auf der
Erde den Salzgehalt der Meere mit genau dreieinhalb Prozent und den
Sauerstoffgehalt der Atmosphäre mit genau 21 Prozent festgelegt, so
wäre eine Biologie nicht möglich gewesen. Wäre der Atmosphäre nicht
eine geringe Menge von Ammoniak beigemischt, so könnte sie die Ton-
nen von Salpetersäure, die bei einem Gewitter entstehen, nicht neutrali-
sieren, und der Säuregehalt des Regens und der Böden wäre lebensfeind-
lich. Hätte die Ozonschicht in der Atmosphäre nicht genau die
vorgegebene Konzentration, würde die kosmische Utraviolettstrahlung
das Leben vernichten.
Hätte der überwiegende Teil der Erdoberfläche nicht seit Jahrmillio-
nen die optimale Temperatur zwischen 15 und 35 Grad Celsius, so hätte
höheres Leben sich nicht entwickeln können. Hätte die biologische Evo-
lution unsere Körpertemperatur nicht auf 36,8 Grad Celsius eingestellt,
so wäre die notwendige konstante „Betriebstemperatur“ für das mensch-
liche Gehirn nicht gegeben und dieses Organ hätte sich nicht bilden
können. Bei 36,8 Grad Celsius ist die molekulare Struktur des Wassers
in seiner höchsten Labilität. Wasser schafft und erhält Leben, kodiert
unsere Gene und trägt alle Materie. 67 Prozent der physischen Substanz
unseres Körpers bestehen aus Wasser. 67 Prozent der physischen Sub-
stanz unseres Planeten bestehen aus Wasser.
Die „Gateway Events“ (Anfangsbedingungen) umfassen vielleicht die
Möglichkeiten vieler verschiedener Physiken, und es ist die Physik ent-
standen, die diesen Kosmos hat werden lassen. Die Physik umfasst ge-
wiss die Möglichkeiten vieler verschiedener Chemien, und es ist unsere
Chemie entstanden. Die Chemie umfasst eine praktisch unendliche
ȱ
208 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
Wenn der Schein der Wahrheit – der Irrtum – wahrscheinlich ist, deutet
die Existenz des Unwahrscheinlichen auf die Wahrheit.
Die anthropische Schule der Kosmologie nimmt an, dass die Wei-
chenstellungen in der kosmischen Evolution bewusst eingerichtet wer-
den; dass alle physikalischen Konstanten, chemischen Reaktionen, geo-
logischen und biologischen Prozesse präzise so eingestellt, alle Weichen
gezielt so gestellt werden, dass sie das Ergebnis produzieren, das sich
daraus ergeben soll. Einstein hat dieses Prinzip prägnant formuliert:
„Gott würfelt nicht.“
„That idea seems to me so ridiculous as to merit no further discussi-
on“ (Diese Vorstellung erscheint mir derart lächerlich, dass sie keine
weitere Diskussion verdient); mit diesen Worten zertrampelt Murray
Gell-Mann die zarten Pflänzchen der naturwissenschaftlichen For-
schung, die als einzige überleben werden, und wirft die fällige Synthese
von Physik und Metaphysik, von Rationalismus und Mystik um eine
Generation zurück. „Es ist nämlich Unerzogenheit, keinen Blick zu ha-
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 209
ben dafür, mit Bezug worauf es nicht nötig ist, einen Beweis zu suchen,
in Bezug worauf dies nicht nötig ist“, würde Heidegger das tadeln. Deut-
licher: Wer keinen Blick hat für die Grenze zwischen dem, was beweis-
bar, und dem, was denkbar ist, ist unreif.
Die Burgen der kleinen roten Waldameise sind so groß, dass die Tier-
chen im Inneren an dem von ihnen selbst ausgeschiedenen Kohlendio-
xyd ersticken müssten. Die bautechnische Optimierung bewirkt aber
nicht nur eine thermische Konvektion im Hausinneren, sondern auch
konstante Luftfeuchtigkeit, Schutz vor Überschwemmung, vor Aus-
trocknung und vor extremen heißen und kalten Außentemperaturen.
„Im Winter sind die Möwen in Woods Hall meine wichtigste Gesell-
schaft“, erzählt Albert Szent-Györgyi. „Die Silbermöwen haben einen
roten Fleck auf dem Schnabel. Dieser rote Fleck hat eine wichtige Bedeu-
tung, denn die Möwe füttert ihre Jungen, indem sie Fische fängt und den
gefangenen Fisch verschluckt. Wenn sie ins Nest zurückkehrt, klopfen
die hungrigen Möwenjungen an den roten Fleck. Dadurch wird bei der
Mutter ein Brechreiz ausgelöst, und das Junge nimmt den Fisch aus
ihrem Kropf. Wie konnte sich ein solches System entwickeln? Der rote
Fleck wäre sinnlos ohne den komplexen Nervenmechanismus des klop-
fenden Jungen und der erbrechenden Mutter. Alles dieses musste gleich-
zeitig entwickelt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es als zufällige
Mutation geschah, ist gleich Null.“
Auf einer Segeltour in der Karibik kommen wir an einem Schiffswrack
vorbei, das fern jeder Insel auf flachem Grund aufgelaufen ist. Auf dem
rostigen Deck liegen noch Scherben edlen Geschirrs, und an jeder Stelle
des Wracks, wo der Rost tief genug ist, um winzigen Wurzeln Halt zu ge-
ben, breiten sich Gräser, Moos, Kakteen und andere Pflänzchen aus. In der
Sierra Nevada gibt es blanke Felsblöcke, die so gewaltig sind, dass sich ein
Teil Manhattans in ihnen verstecken könnte. Aus jedem winzigen Haarriss
im Fels sprießen kleine Pflanzen, und aus jeder Ritze, in die sich eine Wur-
zel klemmen kann, wachsen vom Wind zersauste Sträucher und Bäume.
Wenn wir diesen unbändigen Existenzwillen des Lebens in den Kos-
mos übertragen, können wir annehmen, dass auf vielen der nach einer
Hochrechnung von David Hughes vier Milliarden erdähnlichen Planeten
der Milchstraße und denen in anderen Galaxien irgendwann einmal
ȱ
210 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
Leben entsteht, dass dies vielleicht der Sinn jedes Planeten ist, und dass
es der Sinn jeder Sonne ist, irgendwann in ihrem Orbit höheres Leben
werden zu lassen; dass das ganze Universum nur dafür explodiert und
Leben der Sinn seiner Existenz ist. „Anzunehmen, die Erde sei der einzig
bewohnte Himmelskörper, ist so absurd wie der Gedanke, dass auf einem
mit Hirse besäten Feld nur ein einziges Saatkorn aufgeht“, schreibt
Metrodorus vor zweieinhalb Jahrtausenden. „Es ist erstaunlich, in wel-
chem Maße die Natur auf Sicherheit bedacht ist und nicht auf Effizienz“,
berichtet Ernst Jünger von seiner Amazonasreise. Überlebenssicherheit
ist die biologische Konstruktionsmaxime; vermutlich auch die kosmi-
sche; und ganz gewiss die unternehmerische.
Würden wir als Unternehmer alle Möglichkeiten errechnen oder aus-
probieren, um diejenigen zu finden, die funktionieren und Ergebnisse
produzieren, so würden wir uns nach Auffassung des „accidental
materialism“ (des Roulette spielenden Materialismus) – so will ich die
Theorie nennen, die den kosmischen und den irdischen Entwicklungs-
prozess mit Zufallsereignissen erklärt – evolutionsgerecht verhalten. Ein
solches „evolutionäres Management“ aber wäre tödlich.
Stellen Sie sich vor, Sie sind nicht in der Branche tätig, in der Sie ar-
beiten, sondern sind Langstreckenläufer von Beruf und nehmen an dem
entscheidenden Wettrennen teil. Die Regeln sind brutal: Alle außer dem
ersten Sieger werden getötet. Der Sieger erhält eine hohe Prämie: 100
Jahre lang, wenn er so lange will und kann, jeden Tag alles, was er
braucht und was gut für ihn ist. Und stellen Sie sich weiter vor, dass Sie
gegen eine Million trainierter Konkurrenten antreten und als erster
durchs Ziel laufen. Sind Sie erleichtert, zufrieden und stolz? Ja, das kön-
nen Sie sein. Neun Monate vor Ihrem Geburtstag haben Sie genau diesen
Lauf gegen eine Million Mitbewerber gewonnen. Sie sind ein Sieger.
Stellen Sie sich weiter vor, dass Sie als Familienunternehmer alles
einmal ausprobieren wollen. Eine Million Kinder schaffen Sie nicht. Oder
dass Sie als kommerzieller Unternehmer alles einmal ausrechnen wol-
len. Wenn die natürliche Auslese jede mögliche Kombination der Gene
von Algen erproben will, muss sie 10300 Kombinationen untersuchen,
berichtet M. Mitchell Waldrop. Wenn jedes Elementarteilchen im Kos-
mos ein Supercomputer wäre, der seit dem Urknall nichts anderes be-
rechnet hätte, gäbe es noch immer keine Lösung – für Algen.
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 211
ȱ
212 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
Solange ein Vorfall „merkwürdig“ ist, kümmert sich die rechte Gehirn-
hälfte darum. Sobald wir die Merkwürdigkeit verstanden haben, über-
nimmt ihn die linke Gehirnhälfte. Amateure hören Musik mit der rech-
ten, professionelle Musiker mit der linken Gehirnhälfte.
Das Ergebnis der zweiten Testreihe ist auch wieder erstaunlich: Die
Gehirne der erfolgreichen männlichen Unternehmer sind entgegen der
Mehrheit der Männer nicht linkslastig, und die Gehirne der erfolgrei-
chen weiblichen Unternehmer sind entgegen der Mehrheit der Frauen
nicht rechtslastig. Erfolgreiche Unternehmer beiderlei Geschlechts ha-
ben eine sehr ausgeglichene Gehirnaktivität mit einer ungewöhnlich
starken Ausprägung des corpus callosum – des Balkens, der die beiden
Hälften der Großhirnrinde miteinander verbindet, über den sie kommu-
nizieren. Er enthält 200 Millionen Nervenfasern, von denen jede bis zu 1
000 Impulse pro Sekunde abgeben kann; das sind, wenn wir unser Po-
tenzial ausnutzen, insgesamt 200 Milliarden Informationen pro Sekun-
de, die Intuition mit Ratio abgleichen.
Merkwürdige Vorfälle werden also aufmerksam registriert, emotional
betastet, berochen, geschmeckt und dann erst mit dem Verstand gefiltert
und bewertet. Cerebrales Gleichgewicht ist sicher auch in der Politik das
hervorstechende Merkmal großer Führerpersönlichkeiten und außerge-
wöhnliche Intelligenz – wie bei den großen Unternehmern – wohl eher
kontraproduktiv. Wer sehr intelligent ist, spricht nicht die Sprache des
Volkes, dem Martin Luther „aufs Maul geschaut“ hat, und kann deshalb
nicht mit ihm reden, ihm seine Entscheidungen nicht vermitteln, kommt
nicht an. Oft kann er auch gar nicht entscheiden. Mein Statistiklehrer an
der Universität, ein bedeutender Ordinarius der Mathematik, ist mehr-
fach durch die Fahrprüfung gefallen, bevor er es hat aufgeben müssen.
Seinen Berechnungen ist jedesmal ein anderes Fahrzeug – oder der Fahr-
lehrer mit der Notbremse – zuvorgekommen.
Konrad Adenauer hat – Linguisten haben das herausgefunden – einen
aktiven Wortschatz von 400 Wörtern gehabt; jeder mittlere Schulab-
gänger hat um die 2 000. Als ihm aber die Vertreter der Siegermächte des
Zweiten Weltkriegs die Urkunden zur Anerkennung eines westdeutschen
Staates überreichen wollen und er auf einen Teppich zugeht, auf dessen
Kante ihn die hohen Herren aufgereiht erwarten, bleibt er nicht auf dem
Holzfußboden vor ihnen stehen, sondern geht auf dem Teppich um die
Sieger herum, die sich umdrehen müssen, um ihn – nun auch mit Tep-
pichunterlage – ebenbürtig zu begrüßen.
Alle Analysen seiner Berater sprechen dagegen, McDonald’s zu kau-
fen. Ray Kroc berichtet, was er nach der Besprechung getan hat: „Ich
ȱ
214 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
habe die Tür zu meinem Büro geschlossen“, die in Amerika sonst immer
offen steht, „bin fluchend hin und her gerannt, habe Gegenstände aus
dem Fenster geworfen und dann meinen Anwalt angerufen und ihm ge-
sagt: Kaufen! Ich hatte es in den Knochen.“
Otto Loewi ist es jahrelang nicht gelungen, die Rolle der Chemie bei
der Übermittlung von Nervenimpulsen zu beweisen. Dann berichtet er
von einer Nacht: „Ich erwache, schalte das Licht ein, kritzele ein paar
Worte auf ein Stück Papier und schlafe wieder ein. In der Frühe geht mir
auf, dass ich während der Nacht etwas sehr Wichtiges notiert habe, doch
ich bin nicht imstande, mein Gekritzel zu lesen. In der nächsten Nacht
gegen drei kommt die Idee wieder. Es ist der Entwurf eines Experi-
ments.“ Die Entdeckung, die sich daraus ergibt – eines der klarsten, ein-
fachsten und prägnantesten Experimente in der Geschichte der Bioche-
mie –, wird mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Das berühmteste „Heureka“ (altgriechisch: ich habe es gefunden) ist
das des antiken Mathematikers Archimedes. Sein König will wissen, ob
eine ihm geschenkte Krone aus massivem Gold oder nur vergoldet ist.
Die Waage zeigt das Gewicht der Krone an. Das spezifische Gewicht von
Gold ist bekannt. Um die Frage zu beantworten, muss man das Volumen
kennen. Dies von einem so komplizierten Gebilde auszurechnen, ist
selbst Archimedes nicht möglich. Die „zündende“ Idee kommt ihm –
kommt zu ihm – als er in die Badewanne steigt und beobachtet, wie sich
dadurch der Wasserpegel erhöht. Mit dieser Technik erhält er das Volu-
men der Krone und kann die Frage des Königs beantworten.
Mozart berichtet, dass er die Musikstücke, die er komponiert, bevor er
sie niederschreibt, hört, und zwar nicht vom Anfang bis zum Schluss wie
wir im Konzertsaal, sondern das ganze Stück gleichzeitig, in einem ein-
zigen Augenblick. Rossini liegt beim Komponieren im Bett, kritzelt seine
Blätter so schnell voll, wie die Feder nur über das Papier gleiten kann,
und wirft sie auf den Boden. Seine Helfer müssen das geschmierte Chaos
aufsammeln und die Mosaikstücke zusammensetzen. Als Bach gefragt
wird, woher er seine Melodien nehme, sagt er: „Das Problem ist nicht, sie
zu finden; das Problem ist, nicht auf sie zu treten.“ Als Michelangelos
Skulpturen bewundert werden, wiegelt er ab: „Die Figuren sind schon im
Stein. Ich muss nur noch abtragen, was nicht dazu gehört.“
Unternehmer sind Neuronenkraftwerke 215
Der Unternehmer, der mit dem Verstand allein regiert, tut das, was in
der Unternehmensstrategie als optimal gepriesen wird: er kontrolliert
sein Umfeld und gestaltet es nach seinen Bedürfnissen. So sind die Pla-
nungs- und Kontrollinstrumentarien entstanden; so wird Lobbying (das
Herumschwänzeln um die Mächtigen) getrieben; unter diesem Gesichts-
punkt ist Macht effizient.
Auf dieser linkslastigen rationalen Basis entstehen auch all die wun-
derbaren Voraussagen über das, was die Zukunft bringt. „Wir werden die
Sahara mit so viel Regen versorgen, dass sie wieder bewohnbar wird“,
sagt der Physiker Hermann Oberth im Jahre 1963. Mit gewaltigen Spie-
geln im Weltall will er Landstriche künstlich erwärmen und dadurch
Winde, Tiefdruckgebiete und Regen steuern. „Wir können bis 1984 unse-
re Lebensmittel ohne Tiere und Pflanzen in chemischen Fabriken her-
stellen“, meint der Biologe C. H. Waddington 1964. „Spätestens 1980
werden Tausende von Menschen in gigantischen Weltraumstädten woh-
nen“, meint der Physiker Gerald K. O’Neill 1957. Der Babymond des Inge-
nieurs Darrell C. Romick hat nach dreieinhalb Jahren Bauzeit fertig sein
sollen. „Wir werden das Erbgut von Affen so verändern, dass sie als Ern-
tearbeiter einsetzbar sind; das der Vögel so, dass sie Früchte sortieren
können“, meint der Psychologe Burrhus F. Skinner. „Im Jahre 2050 wird
die Lebenserwartung des Menschen auf 130 Jahre gestiegen sein; der
Mensch wird die Baupläne von Zellen kennen und beschädigte Organe
nachwachsen lassen“, meinen maßgebliche Mediziner um 1960.
Fünf Jahre später berichtet Nigel Calder im „New Scientist“, dass der
Gütertransport auf den Weltmeeren spätestens 1985 von atomgetrie-
benen U-Booten besorgt wird, unangefochten von Stürmen und Seegang.
Olaf Helmer von der kalifornischen Denkfabrik „Rand Corporation“ geht
zur gleichen Zeit davon aus, dass bis 1990 nicht nur der Mond, sondern
auch der Mars besiedelt wird. IBM geht 1950 davon aus, dass es in den
Vereinigten Staaten niemals mehr als 18 Computer geben wird. Digital
Equipment – Wegbereiter der dezentralisierten Datenverarbeitung –
sieht 1977 keinen Grund, weshalb Kunden jemals einen Computer zu
ȱ
216 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
ȱ
218 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
Diese neue überlebensfähige Welt – und ich darf ein Wort von James P.
Womack übernehmen – „wird völlig anders und sehr viel besser sein.“
Diese Welt schwingt nicht gegen die Natur, sondern mit ihr und dem
Kosmos, in den sie eingebettet ist. Diese Welt ersetzt Macht durch Liebe,
Strategie durch Schwingung, Kampf durch Klang, Zoff durch Zauberei.
Und Johann Wolfgang Goethe beschreibt sie so: „Da fassen Geister, wür-
dig, tief zu schauen, zum Grenzenlosen grenzenlos Vertrauen.“
Verwurzelt im eigenen Unbewussten und damit im Bewusstsein Got-
tes, werden wir zu verantwortungsvollen Schöpfern. Unsere Wirklichkeit
ist eine Funktion unseres Denkens; unser Denken ist eine Funktion un-
serer Sprache, und unsere Sprache ist eine Funktion unserer Kommuni-
kation. Diese neuronalen Kraft, welche die Welt aus Über-Zeugung –
einer Zeugung höheren Grades – in Schwingung versetzt, verleiht der
Komplexität die Einfachheit eines Samenkorns und der Relativität von
Sein und Zeit eine Hebelkraft, die uns alle – so wie diese junge Dame –
entrückt, beglückt, verzückt:
Ramona Picht
ist sehr diskret
und schneller als Licht,
wenn es schon spät.
Und sie geht aus
in einer Nacht
und kommt nach Haus
am Vortag um acht.
PRAXISBEISPIEL 9: Konsolidierungsworkshop 219
PRAXISBEISPIEL 9: Konsolidierungsworkshop
In dem abschließenden Workshop erkennen die Teilnehmer, dass immer
dann, wenn sie bei der Umsetzung Rückschläge erleben, sie selbst die
Ursache dafür sind. Sie lernen, ihre Gedanken und Gefühle über das Auf
und Ab des Alltags zu erheben und – gleichsam magnetisch – an die ei-
gene Vision zu binden. Und sie sehen, wie alles, was um sie herum ge-
schieht, durch ihre eigene Sicht der Dinge die Bedeutung gewinnt, die
es für sie hat. Die Kunst, mit einer neuen Sicht die Welt zu verändern,
mit einer neuen Landkarte die Landschaft umzugestalten, ist die hohe
Kunst der Resonanzschmiede – die Kunst der Meister in dieser Disziplin.
Der Konsolidierungsworkshop fördert die Klarheit im Denken und
die Leichtigkeit im Handeln. Erst diese Kombination bringt die Kraft
hervor, die außergewöhnliche Ergebnisse auch absichert. Jedes Team-
mitglied sieht, wie es seine Zukunft und die des Unternehmens losge-
löst von den Zwängen der Vergangenheit gestalten kann.
Das Einüben neuer Praktiken, mit denen die neue Unternehmenskul-
tur gefestigt wird, nimmt großen Raum ein. Die Teilnehmer erleben,
dass jemand etwas sagt, ein anderer aber etwas ganz anderes hört, dass
jemand etwas schreibt, ein anderer aber etwas ganz anderes liest. Et-
was sagen oder schreiben stellt nicht sicher, dass es auch gehört oder
gelesen wird. Kommunikation hängt nicht von dem ab, was an Informa-
tion übermittelt wird, sondern von dem, was in der Person geschieht,
die die Information empfängt.
Nach diesem „Meisterkurs“ werden das eigene Potenzial und die ei-
genen Möglichkeiten bis an die gegenwärtigen Grenzen ausgeschöpft.
Kein Resonanzschmied verstrickt sich länger in der Suche nach Grün-
den oder sonnt sich in Rechtfertigungen. Die meisten sind zu unter-
nehmerischen Neuronenkraftwerken geworden. Jeder im Team hat Ver-
trauen in sich und das Umfeld, welches das Team gemeinsam
geschaffen hat. Jeder ist die gemeinsame Vision und definiert seine
Arbeit, seine Zukunft und sein Leben aus ihr heraus.
ȱ
220 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
ȱ
222 Unternehmer sind Neuronenkraftwerke
Der Mangel an Bewusstheit darüber, was unsere Welt wirklich ist (ih-
re Substanz), macht Wissenschaft möglich, weil ihre Entdeckungen ge-
trennt von der Einheit sind und sich auf die Welt beziehen, wie sie von
der Wissenschaft definiert ist. So ist unsere Gesellschaft eine sich
selbst rechtfertigende Maschine geworden, die ist was sie tut.“
Für die Teilnehmer bedankt sich Claudine Tisch und resümiert die
Essenz des Programms mit den prägnanten Worten von Jacques Sigot:
„Ni Dieu
Ni Maître
Mais toi
Mais vous
Et tous les autres
Sans Dieu
Sans Maître“
(Weder Gott noch Meister, aber du, aber ihr und alle anderen – ohne
Gott, ohne Meister.) Das ist – so haben wir es eindrucksvoll erlebt – das
Geheimnis von Resonanz. Und jetzt sind wir die Schöpfer der Zukunft
unseres Unternehmens. Danke, danke, danke!“
Die Stille nach diesen Worten ermöglicht Schöpfung und richtet die
Existenz des Unternehmens neu aus. Die neue Existenz verwandelt das
Umfeld und gestaltet die Umstände günstig. Wirkungen, die gewollt
sind, ziehen die Ursachen an, welche sie zu ihrer Verwirklichung brauchen.
Der Mutterkonzern in Frankreich und der Geschäftsbereich in
Deutschland sind auf gutem Wege, eine Einheit zu werden, mit einer
kulturellen Identität, die nicht mehr französisch ist und nicht mehr
deutsch, sondern europäisch:
In der alten Kultur des deutschen Geschäftsbereichs ist gearbeitet
worden, um Geld zu verdienen. In der neuen Kultur wird jetzt gear-
beitet, um etwas zu bewirken. Früher sind Abläufe von Organisatoren
gestaltet worden. Jetzt werden Abläufe von denen gestaltet, die sie
durchführen. Früher sind Entscheidungsbefugnisse hierarchisch be-
dingt gewesen. Jetzt sind Entscheidungsbefugnisse durch Kompetenz
bedingt. Der Zugang zum Potenzial jedes Einzelnen, der Stolz eines je-
den auf den eigenen Beitrag ist der Schlüssel zur Produktivität.
PRAXISBEISPIEL 9: Konsolidierungsworkshop 223
ȱ
Visionen wirken stärker als Dynamit 225
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5_10,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
226 Visionen wirken stärker als Dynamit
„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter“, schreibt Franz Kafka und er-
klärt, dass dies nur der unterste Türhüter ist, von Pforte zu Pforte aber
neue Türhüter stehen. „Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal
ich mehr vertragen“, sagt der unterste Türhüter.
Und jetzt denken Sie bitte nicht mehr an die amerikanische Verfas-
sung und nicht mehr an Kafka, sondern an das Buch „Erfolg durch Reso-
nanz – Die unternehmerische Genialität entfachen: offen, human, mu-
tig“, das ist handfester; Sie haben es in Ihren Händen. Stellen Sie sich
vor, dass dieses Buch sich plötzlich vor Ihren Augen vergrößert, aus-
dehnt und den ganzen Raum ausfüllt, in dem Sie es gerade lesen. Das
Buch dehnt sich noch weiter aus und füllt das ganze Haus aus, schließ-
lich den ganzen Ort, in dem das Haus steht, die ganze Region, das ganze
Land, den ganzen Kontinent, die ganze Erde, unser Sonnensystem, die
Milchstraße, den Galaxienhaufen, mit dem die Milchstraße sich syn-
chron bewegt und – das gesamte Universum. Können Sie sehen, dass
dann zwischen dem Buch und dem Universum kein Unterschied mehr
ist; dass dieses Buch das Universum ist; dass – entsprechend der „herme-
tischen“ Weisheit des ägyptischen Gottes Hermes Trismegistos – „Alles
in Einem und das Eine in Allem“ ist?
Wenn Sie sich mit einer Vision identifizieren, mit ihr identisch sind,
dann sind Sie kein Paket aus Fleisch, Knochen und Eitelkeit mehr, dann
sind Sie Ihre Vision. Ihre Vision sprengt die Grenzen Ihres Körpers und
macht Sie größer als Ihren Körper. Wie groß Sie sind und wie lange Sie
so groß bleiben, hängt von der Größe und der Kraft Ihrer Vision ab.
Die Vision ist umfassender, weiter, weniger dicht als der Körper; sie
schwingt höher und durchdringt, wenn sie groß ist, viele Körper, viele
Gehirne, bestimmt deren Denken und Handeln; ganz so wie unser Den-
ken, wenn es groß ist, die nicht denkende Materie, die dichter ist und
tiefer schwingt, beherrscht und gestaltet. Die Visionen großer Unter-
nehmer tragen ein Weltunternehmen 100 Jahre lang. Die Visionen großer
Verfassungsväter tragen eine Weltmacht mehrere Jahrhunderte. Die
Visionen großer Religionsschöpfer tragen ihre Anhänger Jahrtausende.
Die Vision Gottes trägt das für uns erkennbare Universum Milliarden
Milliarden Jahre.
Visionen wirken stärker als Dynamit 227
Wenn die Religion von einem Himmel spricht, der oben ist, so meint
sie damit nicht die blaue Atmosphäre, die die Erde umgibt und deshalb
sowohl oben als auch unten ist; sie meint damit keine „himmlische“
Galaxie irgendwo in der Weite des Alls, sondern eine höhere Frequenz,
die die tieferen Schwingungen überlagert. Und wenn die Religion von
einer Hölle spricht, die unten ist, so meint sie damit nicht den glühenden
Kern unseres Planeten, sondern eine tiefere Frequenz, welche sich in
dem gleichen Raum befindet. „Hoch“ assoziieren wir mit hell und „tief“
mit dunkel. Beides, das himmlische Licht und die höllische Finsternis,
ist hier. Und wo wir uns befinden, hängt von dem Feld ab, das wir um uns
bilden. Es liegt an uns, so zu denken, so zu sein, so auszustrahlen, dass
da, wo wir sind, oben ist.
Bei Heiligen wird das phosphoreszierende Leuchten in der unmittel-
baren Umgebung des Körpers mit einem Heiligenschein dargestellt; er
symbolisiert ein Feld, das jeden Menschen umgibt, aber nicht bei jedem
heilig ist und das mit einem von dem russischen Ingenieurehepaar
Kirlian entwickelten und nach ihm Kirlian-Fotografie benannten Verfah-
ren farbig aufgenommen und reproduziert werden kann. Hass und Liebe,
Leiden und Freuden, Schwächen und Kräfte werden dort sichtbar. Viele,
vor allem Frauen, können in entspanntem Zustand diese „Aura“ der
Menschen sehen; sie können sehen, wie heilig oder wie unheilvoll sie
sind. Nicht nur Frauen, deren Frequenzbandbreite bis in den „Himmel“
reicht, Göttinnen können das auch.
Die Aura zeigt denjenigen Teil unseres Schwingungsfelds, der unsere
Gefühle wiederspiegelt. Gefühle sind das Produkt unseres Denkens. Und
unser Denken ist die Wurzel unserer Sprache und damit auch unserer
Realität. Auf einer höheren Bewusstseins- oder Schwingungsebene ist es
nicht geheim, sondern immer sofort sichtbar, weil es sich auf dieser
Ebene sofort verwirklicht. Gefühle, Sprache und unsere physische Reali-
tät sind Ausdrucksmittel unseres Denkens; nur das Material, aus dem
diese Realität besteht, ist verschieden.
Die physischen Formen sind eine Tarnung, und unsere fünf Sinne
sind auf die Wahrnehmung dieser Tarnung spezialisiert und sehen die
Wirklichkeit hinter ihr nicht. „Meinst du wohl, dass dergleichen Men-
schen von sich selbst und von einander je etwas anderes gesehen haben
als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende
ȱ
228 Visionen wirken stärker als Dynamit
ȱ
230 Visionen wirken stärker als Dynamit
nicht hören, sind gleichermaßen real. Unsere Augen sehen Licht in einem
14
sehr schmalen Frequenzband zwischen 10 und 1015 Hertz. Das tiefere
ultrarote und das höhere ultraviolette Strahlenspektrum sehen wir
nicht, aber es ist gleichermaßen real. Das Spektrum elektromagnetischer
Wellen, die wir weder hören noch sehen, aber mit Antennen empfangen
und manchmal körperlich empfinden können, ist nicht begrenzt; ihre
Realität ist von der Wahrnehmung unserer Technik und unserer Sinne
unabhängig.
Die Kräfte im Kosmos wirken unabhängig davon, ob wir sie mit unseren
Sinnen oder unserer Technik erkannt haben, jemals erkennen werden
oder überhaupt erkennen können.
ȱ
232 Visionen wirken stärker als Dynamit
Der Aufbau eines sozialen Feldes erfolgt nicht durch verbissenes Wol-
len, nicht durch kämpferischen Ehrgeiz und nicht durch hektische Be-
triebsamkeit, sondern durch die Kraft der Stille.
Visionen wirken stärker als Dynamit 233
Eine Methode, die diese Kraft hervorbringt, ist die Meditation. Mehr
als 150 wissenschaftliche Untersuchungen weisen die Wirkung der Zen-
Meditation und mehr als 1 000 Untersuchungen die Wirkung der Trans-
zendentalen Meditation auf ein soziales Feld schon bei einer Mitwirkung
von nur einem Prozent der Bevölkerung nach. Während einer Reihe gut
dokumentierter Experimente ist die Kriminalitätsrate in mehreren asia-
tischen und amerikanischen Großstädten um etwa zehn Prozent gesun-
ken. Sieben Prozent gleich ausgerichteter Visionäre in einer menschli-
chen Gemeinschaft – einem Unternehmen, einer Institution, einem Staat
– sind diese Gemeinschaft. „Wir sind das Volk“, rufen die Mitglieder von
Bürgerbewegungen zu Recht, als sie von Leipzig aus den Kommunismus
in Ostdeutschland hinwegfegen. Eine Sprengladung Dynamit ist ein
Heuhaufen dagegen.
Denken ist die Wurzel von Kommunikation, von Sprache, von Gefüh-
len und von Realität; es gestaltet die Welt. Eine klare und präzise Aus-
richtung, die aus unserer Verantwortung für das Ganze erwächst und
ihre Kraft für die Entwicklungsmögichkeiten aller Menschen einsetzt –
das ist es, was Leben lebenswert macht.
ȱ
234 Visionen wirken stärker als Dynamit
Liebe, Würde und Sinn sind die zentralen Forderungen einer Revolution
durch Resonanz, welche die „liberté, égalité et fraternité“ (Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit) der Französischen Revolution in die Un-
ternehmen bringen.
Liebe hängt mit Freude zusammen, auch mit der Freude, ein Problem
zu lösen, eine Aufgabe zu bewältigen, eine Gefahr zu bestehen. Würde
hängt mit Anstrengung zusammen, auch mit der Anstrengung der Ver-
antwortung, der Leistung, des Risikos. Sinn hängt mit Gott zusammen,
mit dem, was wir werden können, was wir werden wollen und was wir
daraus machen. „Der Mensch kann nicht leben“, sagt Franz Kafka, „ohne
ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich.“
Sie sitzen jetzt irgendwo und lesen dieses Buch. Stellen Sie sich vor,
sämtliche Feuer-und Alarmsirenen heulen. Sie schalten das Radio ein
und hören: „Verlassen Sie nicht Ihr Haus, schließen Sie Fenster und
Türen. Dichten Sie Außenkanten und -öffnungen mit Klebestreifen ab. Es
besteht Vergiftungs- und Lebensgefahr. Lassen Sie das Radio einge-
schaltet, wir informieren Sie.“ Das steigert Ihre Präsenz, Ihre Energien,
Ihre Kraft. Krise ist auf chinesisch wei chi. „Wei“ heißt Vorsicht, Gefahr
und „chi“ Gelegenheit zur Veränderung. Unsere gegenwärtige Krise ist
die Chance. Ohne sie wären wir verloren.
Die Krise schlägt uns vor, Energien, Kräfte und Zauberkünste einzu-
setzen, um uns zu entwickeln. Wenn uns das gelingt, wird der Planet
Erde von selbst, von unserem Selbst, geheilt werden. Dann haben wir uns
von kleinen Zauberern der zweiten Phase – der Phase des Reparaturbe-
triebs der Industriegesellschaft – zu großen Zauberern entwickelt.
Der kleine Zauberer hat Hunger und zaubert sich seine Lieblings-
mahlzeit. Aber die Früchte sind vertrocknet, weil der Fluss versiegt ist.
Daraufhin unternimmt der große Zauberer, dem auch das Wetter ge-
horcht, eine beschwerliche Wanderung zur Quelle, wo die guten Früchte
wachsen, und bringt sie dem kleinen Zauberer. Dieser schaut seinen
PRAXISBEISPIEL 10: Das Schlussgespräch 235
ȱ
236 Visionen wirken stärker als Dynamit
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
238 Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung
Das Wetter ist veränderlich und muss so sein. Bilanzen und Ergebnis-
se unserer Unternehmen sind veränderlich und müssen so sein. Wenn
sie in Fels gemeißelt wären, würde die Welt still stehen und sich nicht
drehen. Ist es nicht erstaunlich, dass alles im Universum – von Neutro-
nen, Protonen, Atomkernen, Elektronen, Moleküle, Planeten, Moden,
Sonnen, Galaxien bis zu Galaxienhaufen – sich ununterbrochen dreht?
Die Frage, warum sich alles im Universum unaufhörlich dreht, hat die
Physik bisher nicht beantwortet. Wir können nur feststellen, dass es so
ist und dass wir uns – ob wir wollen oder nicht – mitdrehen müssen. Le-
ben ist Bewegung und erfolgt in Zyklen. So wie wir uns im Rahmen der
vielen sich überlagernden Drehungen und Zyklen bewegen, erschaffen
wir unsere Welt – unsere Zukunft.
Die Physik unterscheidet zwischen Teilchen und Feldern. Teilchen
(zum Beispiel Quarks oder Neutrinos) existieren zu einer bestimmten
Zeit an einem bestimmten Ort. Felder werden zum Beispiel durch den
Elektromagnetismus gebildet oder durch Kernkräfte, die die Elektronen
auf ihren Bahnen um den Atomkern halten. Felder existieren ohne räum-
liche oder zeitliche Begrenzungen; sie lassen sich nicht direkt beobach-
ten, sondern nur an ihren Wirkungen erkennen. Die aus Elementarteil-
chen gebildete Materie spielt im Universum eine untergeordnete Rolle;
entscheidend sind die Felder und ihre Schwingungsmuster.
Alle Versuche, Schwierigkeiten mit äußeren Mitteln zu lösen oder Er-
folg mit Sachmitteln zu erzwingen, funktionieren nicht. Der Fokus auf
äußere Einflussgrößen im Management ist nicht effizient. Unsere äußere
Welt spiegelt immer nur unseren inneren Zustand – unser Bewusstsein.
Bewusstsein hat „Feldcharakter“. Es ist die ganzheitliche Qualität al-
ler neuronalen Elemente und ihrer Interaktionen. Resonanz ist das Maß
für die Gleichschwingung von Wellen zwischen Feldern. Körper im glei-
chen Schwingungszustand sind miteinander „in Resonanz“ und bilden
ein Feld, das bei Gleichschwingung sowohl ausstrahlt als auch anzieht.
Resonanz richtet den inneren Schaltplan von Unternehmen neu aus. Der
Erfolg – er folgt dann, er fällt dem Unternehmen zu: Zu-fall.
Die Gleichartigkeit des Verhaltens wird bei Pflanzen chemisch ge-
steuert, bei Tieren und Menschen neuronal, und das bedeutet elektro-
magnetisch und chemisch. 1018 (= 1.000.000.000.000.000.000) chemi-
Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung 239
sche Reaktionen pro Sekunde werden in unserem Körper von sich über-
lagernden Schwingungen gesteuert, auf deren Empfang wir eingestellt
sind und die wir modulieren. Jeder lebende Organismus ist ein organi-
scher Sensor, der elektromagnetische Wellen
– empfängt,
– aussendet,
– ihnen Widerstand entgegensetzt,
– oder sie verstärkt.
Eingebettet in das Hintergrundrauschen der ganzen Welt empfangen wir
nur das, was unserer Frequenz und unserem Zeitmuster entspricht. Der
Rest wird nicht „wahr-genommen“; er fließt durch uns hindurch wie Rund-
funk- oder Fernsehfrequenzen durch ein Gerät, das darauf nicht einge-
stellt ist. Wenn wir aber in „unserer Frequenz“ angesprochen oder ange-
regt werden, können wir uns diesem Einfluss kaum entziehen; wir reagie-
ren dann zum Beispiel wie eine Geige, die mit den angeregten Saiten klingt.
Mit unserem Leben schwimmen wir in einem reißenden Strom. Dieser
Strom ist die Zeit. Die Qualität der Zeit ist stärker als wir. Jeder Mensch
hat in der Zeit, die er auf der Erde verbringt, eine Aufgabe. Glück und
Erfüllung kann nur der erleben, der diese Lebensaufgabe kennt und sich
ihr verschreibt. Zwei Voraussetzungen müssen für diejenigen erfüllt
sein, die dieses Ziel erreichen wollen:
1. Freiheit
Es scheint, als ob viele von uns von einem großen Regisseur im Him-
mel für die Hauptrolle in einem Drama engagiert sind – dem Drama
unseres eigenen Lebens. Es ist ein Drama in drei Akten: Hoffnung,
Enttäuschung und Resignation. Nur wer diesem Teufelskreis ent-
rinnt und sich von der magnetischen Kraft von Angst befreit, kann
dem Unternehmen nützen.
2. Freude
Verantwortlich für Freude sind Moleküle in unserem Gehirn, die
Neuronen. Sie sind wie ein Spiegel, in den wir schauen und in dem
wir uns selbst sehen. Nicht das, was geschieht, bereitet uns Sorgen,
sondern die Bedeutung, die wir dem Geschehen geben. Wenn wir uns
ȱ
240 Fazit: Resonanz – das Geheimnis der Schöpfung
Die härteste Realität in Unternehmen sind nicht die Zahlen der Bilanz
oder der Gewinn- und Verlustrechnung, ist nicht das Anlagevermögen,
sind nicht Marken, Patent- und Lizenzrechte, nicht Marktanteile oder
der gute Ruf. Die härteste Realität ist das, was die Mitarbeiter über die-
ses, „ihr“ Unternehmen denken. Gedanken und Gefühle sind elektro-
magnetische Einheiten, denen die Wahrnehmung gehorcht. Aus Gedan-
ken und Überzeugungen ergibt sich praktisch alles andere wie „von
selbst“. Das ist das Geheimnis der Resonanz.
Der Leiter einer Himalaja-Expedition berichtet: „Bis wir wirklich ent-
schlossen sind, gibt es Zögern, die Möglichkeit des Rückzugs – immer
Wirkungslosigkeit. Bei allen Arten von initiativem Handeln gibt es eine
elementare Wahrheit, deren Missachtung ungezählte Ideen und hervor-
ragende Pläne zerstört:
In dem Moment, in dem wir uns unwiderruflich entschieden haben,
kommt auch die Vorsehung ins Spiel. Alle möglichen Dinge, die sonst
niemals aufgetaucht wären, sind plötzlich da und unterstützen uns. Ein
ganzer Strom von Ereignissen entspringt der Entschlossenheit, die uns
unvorhergesehene Umstände, Begegnungen und materielle Fördermittel
eröffnet, von denen vorher kein Mensch auch nur hätte träumen kön-
nen.“
Das erinnert uns an eine tiefe Einsicht von Goethe: „Was immer du
tun kannst, oder wovon du träumst, es zu können, fange es an. Ent-
schlossenheit hat den Genius, die Macht und den Zauber in sich“.
ȱ
Literatur 243
Literatur
Theorie und Praxis der Resonanzlehre können sich nicht hinter her-
kömmlichen Referenzen verstecken. Bis auf die Zitate trage ich die Ver-
antwortung allein. Zweifler, Sucher und Versucher werden einzelne As-
pekte vertiefen wollen. Dafür habe ich gemeinsam mit dem Ressourcen-
schürfer der ohm-Resonanzschmiede für Unternehmen Dr. rer. nat. Klaus
Schenck einige Empfehlungen zur weiteren Lektüre zusammengestellt
und kommentiert.
Die Bausteine der Resonanzlehre finden Sie dort nicht. Was ich zu sa-
gen habe, steht in diesem Buch. Und worüber wir nicht reden können,
darüber sollen wir schweigen. Die Statik der Methode der Resonanz-
schmiede können Sie logisch ableiten, ohne jeden Stein zu zählen, jeden
Balken zu berechnen. Wollen Sie das Haus deshalb niederbrennen? Der
Scheiterhaufen der Erbsenzähler wird zum Denk- und Mahnmal werden.
Das Feuer wird weit leuchten und nicht zu löschen sein.
RICHARD KOCH: Die Powergesetze des Erfolgs. Was die Wirtschaft von
den Naturwissenschaften lernen kann. Campus Verlag, Frankfurt a.
M. 2001 (Original: The Power Laws. The Science of Success).
Biologische, physikalische und nicht-lineare Gesetzmäßigkeiten sind auf
die Geschäftswelt übertragbar und wir können daraus Schlussfolgerun-
gen ableiten. Das Universum ist rastlos, dynamisch und verändert sich
ständig. Unternehmen müssen rastlos, dynamisch und bereit zu ständi-
ger Veränderung sein, wenn sie eine Zukunft haben wollen. Manage-
mentmoden sind kurzatmig und vergänglich. Managementweisheit hat
sich seit antiken Zeiten nicht verändert; sie gilt ewig und bestätigt was
wir jetzt durch Analogschlüsse aus den Naturwissenschaften wieder
entdecken.
Erst nach Fertigstellung dieses Buches bin ich auf die Arbeiten von
Richard Koch gestoßen (neben den Powergesetzen auch „Das 80/20 Prin-
zip“) und habe die Nähe seines und meines Denkens entdeckt: Die Not-
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012
244 Literatur
wendigkeit der strategischen Differenzierung ist bei mir aus dem Gesetz
abnehmenden Grenznutzens abgeleitet, bei Koch aus seinem „cccc =
complete competitors cannot coexist“.
ȱ
246 Literatur
keit gesehen – als „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Lei-
tung eines anderen zu bedienen“.
Die ohm-Resonanzschmiede für Unternehmen ist keine Unterneh-
mensberatung, sondern löst als Katalysator Prozesse aus, die ohne ihr
Zutun unwahrscheinlich sind. Dieser Prozess wirft die Menschen im
Unternehmen auf sich selbst zurück und setzt das Potenzial frei, das
vorhanden, oft aber verschüttet ist. Führungskräfte und Mitarbeiter
erfahren dabei die Grenzen ihres Potenzials.
ȱ
248 Literatur
Auch Business Coaching tendiert oft dazu, die Vorgaben des Marktes
als quasi göttlich zu betrachten und ihnen die Menschen unterzuordnen.
Die Botschaft dieses Buches ist eine andere.
CHIP HEATH, DAN HEATH: Switch. How to change when change is hard.
Random House Business Books, London 2010
Die eingängige Metapher vom Reiter (der für die Ratio steht), vom Ele-
fanten (der die Emotionalität symbolisiert) und vom Pfad (der mit Leit-
planken versehen ist). Am besten werden alle zugleich als Adressaten
von Veränderungsinterventionen genutzt. Ein mit vielen Geschichten
und Beispielen garnierter Bestseller in den USA, der aufzeigt, wo und
wann Veränderungen funktionieren, aber auch wo und wann sie zum
Scheitern verurteilt sind.
Der Schmied verformt das Eisen. Der Resonanzschmied verändert das
Schwingungsfeld im Unternehmen. Die ohm-Resonanzschmiede für
Unternehmen tut das offen, human und mutig. Veränderer aller Art pro-
fitieren auch von dem Heath-Buch.
Literatur 249
ȱ
250 Literatur
GUSTAV BERGMANN: Die Kunst des Gelingens. Wege zum Vitalen Unter-
nehmen. Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 2001
Möglichkeiten zur Gestaltung nachhaltig vitaler Organisationen werden
entlang eines achtphasigen „Lern- und Lösungszyklus“ präsentiert und
von „problemerzeugenden Pseudolösungen“ abgegrenzt – vor dem theo-
retischen Hintergrund aus Systemtheorie, Konstruktivismus, Evolution,
Gestalt und Persönlichkeitstypologien. Die Wirklichkeit wird zunächst
aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und beschrieben und zu
einer Wirklichkeit mit gemeinsamer Basis (Common Ground) und ge-
meinsamen Zukunftsbildern (Visionen) geformt.
Die Arbeit von Bergmann hat die Vorgehensweise der ohm-Resonanz-
schmiede für Unternehmen befruchtet.
DAVID WHYTE: The Heart Aroused. Poetry and the Preservation of the
Soul in Corporate America. Bantam Doubleday Dell, New York 1994.
Der Literat und Kenner von „Corporate America“ behandelt tiefgründig
und besinnlich das Spannungsfeld zwischen der ewigen Seele und dem
termingebundenen Management, zwischen dem Feuer der Innovation
und dem Frost der Konsolidierung, zwischen der Weisheit der Mythen
und den Zwängen der Arbeitswelt, zwischen der Kraft des Herzens und
der Verzweiflung durch Umstände, zwischen dem Sein, das immer währt
und dem Handeln, das vergeht.
Das Whyte-Zitat in diesem Kapitel stammt aus einer Dichterlesung
vom 15. Mai 1995 in London.
ȱ
252 Literatur
ȱ
254 Literatur
Moral
So oft in theologic wars,
The disputants, I ween,
Rail on in utter ignorance
Of what each other mean,
And prate about an Elephant
Not one of them has seen!
John Godfrey Saxe (1816–1887)
ȱ
256 Literatur
ȱ
258 Literatur
Unternehmen, denn wenn wir strenge Maßstäbe anlegen, sind wir alle
Nichtprofis. Seine Frau beleuchtet die Hintergründe. Ein außergewöhnli-
ches Buch, das den Leser beeindruckt und unsere Arbeit beeinflusst hat.
ȱ
260 Literatur
FELIX VON CUBE: Lust an Leistung. Die Naturgesetze der Führung. Piper
München 2006 ist eine Fortsetzung von FELIX VON CUBE, D. ALSHUTH:
Fordern statt Verwöhnen. Neue Erkenntnisse der Verhaltensbiologie
in der Führung. München 1989.
Von Konrad Lorenz, dem Klassiker der Erforschung des Tierverhaltens,
haben von Cube und Alshuth das Konzept des „Appetenzverhaltens“
übernommen – das urgewaltige Streben jedes Lebewesens nach Erfül-
lung seines genetischen Programms. Von Milhaly Csikszentmihalyi
haben sie den Begriff des „Flow“ übernommen – ein gesteigertes Hochge-
fühl, das sich aus der Verbindung vom Lust und Anstrengung ergibt, dem
völligen Aufgehen in einer Aufgabe. Die Zuordnung von Anstrengung zu
Arbeit und von Lust zu Freizeit ist ein Verstoß gegen evolutionäre Gesetze.
Resonanzarbeit optimiert Leistung durch Herausforderung und Aner-
kennung. Mitarbeitern werden immer wieder neue Aufgaben zur Lösung
übertragen – seien es andersartige oder schwierigere – oder ihnen wird
Gelegenheit gegeben, selbst neue Probleme zu finden.
DONALD KRAUSE: Die Kunst des Krieges für Führungskräfte. Sun Tzus
alte Weisheit – aufbereitet für die heutige Geschäftswelt. Wirt-
schaftsverlag C. Ueberreuter Wien 1996 und MIYAMOTO MUSASHI: Das
Buch der fünf Ringe. Econ, Düsseldorf 1993
2.500 alte chinesische Texte enthalten nützliche Hinweise zu Führungs-
kompetenz, Strategie, Organisation, Konkurrenzkampf und Kooperati-
on. Krause bereitet Sun Tzus „13 Gebote der Kriegskunst“ für heutige
Leser auf. Erleuchtung bedeutet im Zen-Buddhismus nicht Verhaltens-
änderung, sondern die Anerkennung der kosmischen Gesetze. Diese
Gesetze werden durch Selbstverwirklichung erkannt. Musashi, ein Wei-
ser des Schwertes, ist nie besiegt worden. Im Jahre 1643 schreibt
Musashi je ein Buch zu jedem der fünf „Prinzipien eines Kriegers“, die
den kosmischen Elementen der antiken griechischen Philosophie ent-
sprechen und überträgt seine Weisheit auf die Kunst des Zimmermanns,
des Fischers, des Bauern und des Kaufmanns.
ȱ
262 Literatur
ȱ
264 Literatur
Der Autor 265
Der Autor
Wolfgang Berger schreibt, arbeitet und
lebt in der Südpfalz. Er ist wissen-
schaftlicher Beirat der ohm-Resonanz-
schmiede für Unternehmen (www.reso-
nanzschmiede.de) und als Vortragender
im deutschen Sprachraum gefragt.
Zuvor war er neun Jahre Professor für
Betriebswirtschaftslehre in Deutschland
und „Adjunct Professor of International
Management“ in den USA. 20 Jahre hat
er als Manager in verschiedenen leiten-
den Positionen und Industriezweigen
gearbeitet, unter anderem als Ge-
schäftsführer, Vorstand und Aufsichts-
rat. Er hat teilweise langjährige Arbeitserfahrung in Frankreich, Ghana,
Deutschland, Indien, Argentinien und den Vereinigten Staaten.
Berger ist „gelernter“ Philosoph und Ökonom, Dr. phil. und Dr. rer.
pol., ausgebildet in Frankreich und den USA, promoviert an der Freien
Universität Berlin und an der Technischen Universität Berlin, aufge-
wachsen in Nordhessen und geboren 1941 in Kassel.
„Aber“, so sagt er, „da innerhalb von zwei Jahren jedes Atom in mei-
nem Körper ausgetauscht wird, ist von dem, der ich einmal war, nichts
mehr übrig. Meinen Weg zu der in diesem Buch vorgestellten Resonanz-
lehre habe ich mit der Erfahrung von Jahrzehnten gepflastert. Mit die-
sem Buch haben Sie eine Bewusstseinsneutronenbombe in der Hand.
Damit können Sie die Pflastersteine weglassen.“
Seine direkte, private E-Mail-Adresse: [email protected]
ȱ
W. Berger, Erfolg durch Resonanz, DOI 10.1007/978-3-8349-7171-5,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2012