Kurze Einführung in Die Psychologie
Kurze Einführung in Die Psychologie
Kurze Einführung in Die Psychologie
IN DIE PSYCHOLOGIE
Vorbemerkung
Das Schreiben dieser kurzen Einführung in die Psychologie ist mir nicht leicht
gefallen, denn die Psychologie ist keine einheitliche Wissenschaft, sondern ein
Gemenge aus Strömungen, Theorien und Forschungsrichtungen mit einer ebenso
vielfältigen Praxis in zahlreichen Anwendungsfeldern. Wie soll man eine
Orientierung in einem so unübersichtlichen Gebiet vermitteln? Es gibt zwei
Möglichkeiten:
1. Wer von einem psychologischen Ansatz völlig überzeugt ist, der kann eine
gradlinige Abhandlung verfassen, die nur den einen oder anderen kritischen oder
anerkennenden Blick über die Zäune auf andere Richtungen wirft. Aber mit
Sicherheit wird er mit dem Vorwurf der Einseitigkeit konfrontiert, denn er muss
bestimmte Fragestellungen und Themen vernachlässigen.
2. Wer von keinem Ansatz vollständig überzeugt ist, muss eine Einführung in die
Psychologie pluralistisch anlegen, d. h. verschiedene Ansätze referieren und in ihren
Einseitigkeiten und Widersprüchen gegenüberstellen. Die unvermeidliche Kritik an
dieser Konzeption: Man bezieht nicht Stellung, sondern überlässt es den Lesenden,
was sie für richtig halten.
Ich habe den zweiten Weg eingeschlagen. Diese Einführung soll eine schematische
Landkarte der Psychologie anbieten, die nur grobe und oberflächliche Strukturen
abbildet, aber eine erste Orientierung ermöglicht. Die Entscheidung, welcher
psychologischen Richtung man sich zugehörig oder verwandt fühlt, will diese
Einführung niemandem abnehmen.
Der Text wurde als Skript für den Unterricht von Logopädinnen und Logopäden
geschrieben, deshalb sind bevorzugt Themen angesprochen, die mit diesem
Berufsfeld zu tun haben.
Inhaltsverzeichnis
Menschen waren schon immer neugierig auf sich selbst. Schon lange vor
Entstehen einer wissenschaftlichen Psychologie in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts gab es kontroverse Ansichten über die menschliche Natur:
• Gibt es eine Seele oder einen Geist oder lässt sich das Erleben und
Verhalten letztlich rein physikalisch erklären?
• Haben wir einen freien Willen oder ist unser Verhalten vorherbestimmt
(determiniert)?
• Was an unseren Verhalten geht auf vererbte Faktoren zurück und was auf
Umwelteinflüsse?
• Sind die Menschen mehr durch Triebe und Bedürfnisse oder durch Verstand
und Vernunft bestimmt?
• Wie viel unseres psychischen Lebens ist unserem Bewusstsein zugänglich
und wie viele unbewusste Motive und Prozesse sind am Werk?
• Lässt sich menschliches Verhalten mit allgemeinen Gesetzen erklären oder
gibt es nur persönliche Einzigartigkeit und Individualität?
• Wird unser Erleben und Verhalten mehr durch die Vergangenheit oder mehr
durch die gegenwärtigen Lebensumstände bestimmt?
Diese Liste enthält zentrale Fragen für das Selbstverständnis des Menschen. Hat
die Psychologie diese vorwissenschaftlichen Fragen inzwischen geklärt? Nein,
diese Themen stehen nach wie vor auf der Tagesordnung der Psychologie (und
Philosophie) und werden verschieden beantwortet.
Erleben
Die Psychologie befasst sich mit Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen, also mit
"Dingen", die wir direkt als unser psychisches und geistiges Leben erfahren. Für die
Wissenschaft ist das Erleben ein schwieriger Gegenstand: 1. Jeder Mensch hat
Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle nur für sich selbst, sie sind durch
Selbstbeobachtung (Introspektion), aber nicht von außen durch Fremdbeobachtung
zu erfassen. Eine Person kann allerdings sprachlich darüber berichten. 2. Das
Erleben stellt nur einen Bruchteil des psychischen Lebens dar. Bei weitem nicht
alles, was an psychischen Prozessen in einem Organismus abläuft, wird uns auch
bewusst. Beispiel: Bevor wir einen Satz artikulieren, laufen zahlreiche Prozesse ab,
die uns nicht bewusst sind: Aktivierung von Begriffen, Wortfindung, syntaktische
Konstruktion usw.
Verhalten
Die Psychologie befasst sich mit dem offenen Verhalten der Menschen, das
methodisch gut beobachtbar und messbar ist. Viele Psychologen ziehen das Wort
Handeln vor, da damit die Zielgerichtetheit menschlichen Tuns zum Ausdruck
kommt. Psychologen versuchen zu erklären, aufgrund welcher Bedingungen sich
ein Mensch so und nicht anders verhält. Da Handeln zu einem großen Teil soziales
Handeln mit anderen Menschen ist, spielt der Bereich der Kommunikation und
Interaktion eine große Rolle. Das Sprechen wird als verbales Verhalten einbezogen.
Das Verhalten ist sozusagen die Außenseite, das Erleben die Innenseite der
Psychologie.
Werke
Damit sind überdauernde Vergegenständlichungen des menschlichen Handelns und
Erlebens gemeint wie Sachdokumente (Werkzeuge, Bauten, Kleidung) oder
bildliche Dokumente (Zeichnungen, Gemälde, Fotos). Und natürlich gehören dazu
auch die verbalen Dokumente (Tagebücher, Briefe, Reden, Autobiographien). All
dies sind Produkte, die etwas über ihre Erzeuger aussagen, die Rückschlüsse über
sie zulassen. Dokumente sind sozusagen die Fossilien der Psychologie. Die
Werkpsychologie fristet derzeit ein Kümmerdasein in einigen Randbereichen wie
der Interpretation von Kinderzeichnungen oder der problematischen Graphologie.
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Beschreiben
Das sorgfältige Beschreiben ist die Grundlage jeder Wissenschaft. Einige
Psychologen wollen Verhalten und Erleben nur beschreiben, klassifizieren und
vergleichen. Sie wollen die Vielfalt menschlichen Erlebens, Verhaltens und Werkens
erfassen. Diese Einstellung haben z.B. Ethnologen, die eine fremde Kultur verstehen
wollen, ohne in sie einzugreifen oder sie verändern. In der Psychologiegeschichte
vertreten phänomenologische und geisteswissenschaftlich Ansätze diese Position.
Aber die wenigsten Wissenschaftler bleiben beim Beschreiben stehen.
Erklären
Das Beschreiben macht noch keine Aussage über kausale Beziehungen. Die
meisten Psychologen wollen aber Verhalten erklären, d. h. aus Gesetzen und
Bedingungen ableiten. Eine Erklärung folgt einem einfachen Schema: Sie geht von
einer Beobachtung aus (dem zu Erklärenden = Explanandum) und und leitet sie
aus Gesetzen und Randbedingungen ab. Die gesetzmäßigen Zusammenhänge sind
in Theorien des menschlichen Erlebens,Verhaltens und Werkens formuliert.
Vorhersagen
Einen wichtigen Schritt weiter gehen Psychologen, die aus den Erklärungen
Verhalten vorhersagen. Eine Vorhersage kehrt das Schema der Erklärung um: Aus
Gesetzen und vorhandenen Randbedingungen wird ein Verhalten abgeleitet.
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Die Prognose gilt im Allgemeinen als das wichtigste Ziel der Wissenschaft. Man
denke an die Wettervorhersagen der Meteorologie oder die Prognosen über einen
Krankheitsverlauf in der Medizin. In den Sozialwissenschaften handelt es sich
allerdings meist um statistische Prognosen.
Wer als Kind Gewalt erfährt, der wird später selbst gewalttätig. Dieses „Gesetz“ ist widerlegt,
wenn man Menschen findet, die Gewalt erfahren haben, aber friedfertig bleiben. Man kann aber
sagen: Wer als Kind Gewalt erfährt, der wird mir einer bestimmten Wahrscheinlichkeit gewalttätig.
Für einen Einzelfall macht diese statistische Aussage aber eine klare Prognose unmöglich.
Verändern
Wenn brauchbare Erklärungen und Prognosen möglich sind, dann kann man auch
in die Wirklichkeit eingreifen und sie umgestalten. Viele Wissenschaftler wollen die
Wirklichkeit verändern, z.B. Krebs bekämpfen oder Depressionen behandeln. Drei
Arten von Veränderungen sind möglich: 1. die Korrektur problematischer
Entwicklungen, 2. die Förderung von gewünschten Entwicklungen, 3. die Prävention,
um das Eintreten bestimmter Ereignisse zu verhindern. Aber wer entscheidet, was
erwünscht oder unerwünscht, was gefördert oder verhindert werden soll? Alle
drei Veränderungen setzten Entscheidungen über Werte und Normen voraus:
Diese sind entweder gesellschaftlich legitimiert (z.B. Gerechtigkeit,
Chancengleichheit) oder individuelle Werte, denen sich ein Wissenschaftler
verpflichtet fühlt (z.B. vegane Ernährung, Artenschutz).
In der Psychologie stellen die therapeutischen Richtungen Normen auf, wie man sich richtig und
gesund verhalten soll und welche Ziele erstrebenswert sind (z.B. Selbstverwirklichung, Empathie,
Nächstenliebe, Glück, Achtsamkeit). Und sie bieten Maßnahmen an (Interventionen), wie man
diese Ziele erreichen kann. Psychologen können sich aber auch in den Dienst anderer Ziele stellen
und haben das in der Geschichte auch immer wieder getan, z.B. Wehrmachtspsychologen im 3.
Reich oder Werbepsychologen. Der ethische Einwand liegt auf der Hand: Es besteht die Gefahr,
dass sich eine angeblich wertfreie Psychologie vor jeden Karren spannen lässt. Psychologen können
Wissen für eine Einstellungsänderung durch Werbung, für effektive psychische Foltermethoden
oder für die Steigerung von Arbeitsleistungen bereitstellen.
Um diese Basisziele zu erreichen, entwirft der Wissenschaftler Theorien, die er mit
empirischen Methoden an der Wirklichkeit zu bestätigen sucht. Theorie und
Empirie sind die beiden Pfeiler wissenschaftlicher Forschung, denen wir uns in den
nächsten beiden Abschnitten zuwenden.
4. Wissenschaftliche Theorien
Wissenschaftliches Wissen besteht aus mehr oder weniger gut bestätigten
Theorien. Eine Theorie ist ein Gedankengebäude aus Begriffen und Aussagen.
Dabei ist gleichgültig ist, wo die Gedanken einer Theorie herkommen: Erfahrungen,
Beobachtungen, Lektüre, Erzählungen, Schlussfolgerungen, ja sogar Träume und
Gefühle, alles kann zum Bau einer Theorie nützlich sein. Entscheidend ist nicht, wo
die Gedanken herkommen, sondern dass sie methodisch überprüft werden.
Theorien müssen an der Wirklichkeit scheitern können.
Den Begriffen einer Theorie müssen eindeutig Wörter zugeordnet sein. In der
Umgangssprache sind Wörter oft mehrdeutig, in der Wissenschaft müssen sie
möglichst eindeutig gebraucht werden. Die Psychologie untersucht mit dem
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Welchen Status haben Modelle in den Sozialwissenschaften? Ein Modell stellt die
wichtigsten Begriffe und ihre Beziehungen in grafischer Form zusammen, um das
Forschungsfeld zu strukturieren. Ein Modell ist ein Werkzeug der Hypothesen-
bildung, es hat eine heuristische Funktion bei der Suche nach Zusammenhängen.
Ein Modell ist nicht wahr oder falsch, sondern mehr oder weniger adäquat oder
brauchbar. Es ist ein visuelles Hilfsmittel des Denkens.
Verbale Theorie
Eine verbale Theorie ist ein System von Begriffen und Aussagen. Das ist der
Normalfall einer wissenschaftlichen Theorie. Es gibt Theorien, die aus wenigen
Sätzen bestehen und solche, die viele Sätze umfassen. Eine verbale Theorie muss
bestimmte Forderungen erfüllen:
1. Die Fachwörter (Termini) müssen klar definiert sein.
2. Die Aussagen müssen widerspruchsfrei sein.
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Formale Theorien
Hier werden die Zusammenhänge als System von mathematischen Formeln
dargestellt. Formale Theorien gibt es vor allem in der Physik und anderen Natur-
wissenschaften. Formalisierung gilt Hard-core-Wissenschaftlern als die erstrebens-
werte Form einer Theorie.
Auch in der Psychologie wird versucht, menschliches Verhalten in Formeln zu fassen. Ein Beispiel ist
die Rescorla-Wagner-Formel. Sie ist ein mathematisches Modell, mit dem bestimmte Lernprozesse
vorhersagbar sind.
Die Formel sieht sehr exakt aus, aber menschliches Verhalten ist von so vielen Bedingungen
abhängig, dass eine einfache Formel fast nie ein brauchbares Ergebnis ergibt. So ist diese Formel
auch immer wieder abgeändert und erweitert worden.
Formale Theorien sind auch deshalb für Wissenschaftler attraktiv, weil sie
grundsätzlich die Simulation von Wirklichkeit mit Computern ermöglichen.
5. Empirische Methoden
Theorien aufstellen ist die eine Seite der wissenschaftlichen Tätigkeit, sie an der
Wirklichkeit überprüfen die andere Seite. Dies geschieht mit Hilfe empirischer
Methoden. Das Wort „empirisch“ aus dem Griechischen bedeutet „auf Erfahrung
beruhend“, das Wort „Methoden“ bedeutet „der Weg zu etwas hin“.
Empirische Methoden sind Wege zur systematischen und nachvollziehbaren
Gewinnung von Erfahrungen (Erhebung von Daten).
Unter einer Methode wird eine Vorgehensweise verstanden, bei der die
Gewinnung von Erkenntnissen durch Regeln angeleitet ist, so dass sie von anderen
Forschern nachvollzogen werden kann. Nicht methodisch gewonnene Aussagen
bezeichnen wir als spekulativ (z.B. in der Esoterik). Spekulativ bedeutet nicht
unbedingt falsch, sondern nicht methodisch überprüft!
Es gibt viele verschiedene Methoden und Methodenvarianten in der
psychologischen Forschung, die sich aber auf ein paar Grundmethoden
zurückführen lassen.
Erhebungsmethoden
Mit ihnen werden Daten aus der Wirklichkeit erhoben Dazu gehören
systematische Beobachtungen und Befragungen durch Interviews oder Fragebögen.
Diese Methoden sind im Prinzip systematische Ausarbeitungen von Handlungen,
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die wir auch schon im Alltag vollziehen: Wir beobachten unser Umwelt und unsere
Mitmenschen und das Fragen gehört zu den wichtigsten kommunikativen
Handlungen.
Auswertungsmethoden
Mit diesen Methoden werden vorliegende Daten analysiert. Dazu gehören die
Inhaltsanalysen, die verschiedene Merkmale von sprachlichen oder bildlichen
Dokumenten erfassen. Auch das geschieht in unserem Alltag, wenn wir z.B. die
Prospekte von Supermärkten vergleichen, um ein preiswertes Angebot zu finden.
Zu den Auswertungsmethoden gehören auch die statistischen Verfahren, mit denen
Daten verarbeitet werden. Selbst diese Verfahren sind Systematisierungen
alltäglicher Verhaltensweisen. So können wir sagen, dass unserer Tochter im Schnitt
bessere Noten hat als ihr Bruder (Mittelwert). Zudem sind sie bei ihm sehr breit
gefächert (von 2 bis 6), während die Tochter meist eine 1 oder 2 nach Hause
bringt (Streuung). Unser Gehirn erarbeitet sich andauernd Mittelwerte und
Streuungen, auch ohne dass sie nummerisch berechnet werden.
Quantitative Forschung
Hier werden Merkmale der Wirklichkeit gemessen, Unter Messung wird die
Zuordnung von Zahlen zu den verschiedenen Ausprägungen eines Merkmals
verstanden. Es gibt Messungen auf verschiedenen Niveaus: Von zwei Ausprägungen
eines Merkmals (Geschlecht: weiblich/männlich) bis zu einer präzisen
Verhältnisskala (z.B. Reaktionszeit). Quantitative Daten werden mit statistischen
Verfahren weiterverarbeitet.
Qualitative Forschung
In vielen Fällen liegen Merkmalsausprägungen nicht als Zahlen, sondern als
Beschreibungen vor. Derartige verbale Daten fallen z. B. bei anamnestischen
Interviews, bei Gruppendiskussionen oder in schriftlichen Dokumenten an. Sie
werden meist interpretativ ausgewertet.
Es gab und gibt in der Psychologie Kontroversen über den Wert quantitativer und qualitativer
Daten. Naturwissenschaftlich orientierte Forscher halten Messungen und Berechnungen als
unverzichtbare Grundlage für objektive Erkenntnisse. Humanwissenschaftlich orientierte Forscher
akzeptieren auch "weiche" qualitative Daten und halten sie oft für angemessener. Bei
unvoreingenommener Betrachtung ergänzen sich beide Arten von Daten: Qualitative Erhebungen
sind wichtig bei Problemen, für die eindeutige Hypothesen erst gesucht werden müssen, sie sind
eine Vorstufe jeder quantitativen Erhebung. Zudem gibt es auch zahlreiche Methoden, um
qualitative Daten zu quantifizieren. Entscheidend für den wissenschaftlichen Wert ist nicht die Art
der Daten, sondern ob sie für die jeweilige Fragestellung aussagekräftig sind.
Wir wollen jetzt einen kurzen Blick auf die empirischen Grundmethoden werfen.
Jede der folgenden Methoden gibt es in qualitativen und quantitativen Varianten.
• Soziale Interaktionen
• Sprachliches Verhalten
• nichtsprachliches Verhalten: Mimik, Gestik, Körper“sprache“
• Kleidung und andere Accessoires
• hinterlassene Spuren
• Werke: verbale und bildliche Dokumente
Von der alltäglichen Beobachtung unterscheidet sich die wissenschaftliche
Beobachtung nur graduell. Sie ist zielgerichtet, d.h. sie soll Antworten auf Fragen
geben oder eine Hypothese überprüfen. Damit ist der Wahrnehmende selektiv, er
richtet seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge. Die Beobachtungen werden in
Protokollen festgehalten, oft auch mit Tonband oder Video aufgezeichnet, um eine
spätere kontrollierte Auswertung zu ermöglichen. Als qualitative Methode
behandeln wir die teilnehmende Beobachtung, als quantitative Methode die
systematische Beobachtung.
Teilnehmende Beobachtung
Hier übernehmen die Wissenschaftler aktiv eine Rolle im Feld und werden damit
selbst zum Bestandteil der sozialen Wirklichkeit, die sie untersuchen.
Grundsätzlich können derartige Beobachtungen offen oder verdeckt erfolgen. Bei
offener Beobachtung wissen die Betroffenen im Feld, dass ein Forscher bei ihnen
mitwirkt und dabei Daten erhebt. Bei verdeckter Beobachtung wissen die
Betroffenen im Feld nicht, dass sie Gegenstand einer Untersuchung sind.
Die teilnehmende Beobachtung dient oft in explorativen Untersuchungen der
Generierung von Hypothesen, z.B. in der deskriptiven Feldforschung, wo es darum
geht, andere Kulturen oder Subkulturen von innen kennen zu lernen, z. B. das
Milieu der Banker oder der Prostituierten. Ein Nachteil sind die erheblichen
Anforderungen an den Forscher: Er muss im Feld interagieren und gleichzeitig
beobachten, zusätzlich braucht er ein gutes Gedächtnis für seine anschließenden
Protokolle.
Systematische Beobachtung
Hier tritt der Wissenschaftler von außen an die zu erforschende Wirklichkeit mit
einer klaren Fragestellung oder Hypothese heran, die ihm vorgibt, was genau er
beobachten soll. Er hat vorher ein Beobachtungsschema erstellt, das die Ereignisse
auflistet, die gezählt werden sollen. Die Anwendung des Beobachtungsschemas
setzt voraus, dass jede Unterkategorie für die Beobachtenden klar definiert ist.
Dazu gibt es ein Kodebuch, das an Beispielen jede Kategorie beschreibt. Meist
werden mehrere Beobachtende eingesetzt, welche die Anwendung der Kategorien
in einem Training einüben.
Die systematische Beobachtung dient vor allem der Überprüfung von Hypothesen,
die aus einer Theorie abgleitet oder ad hoc aufgestellt sind. Der Vorteil ist, dass die
Beobachteten im Allgemeinen nicht beeinflusst werden wie bei der teilnehmenden
Beobachtung. Nachteil ist eine Fokussierung bzw. Einengung des Blicks, denn es
wird nur erfasst, was vorher im Beobachtungsschema berücksichtigt wird. Die
strengste Form wissenschaftlicher Beobachtung ist das Experiment.
Neuropsychologische Verfahren
Hier handelt es sich um apparative Beobachtungen, die neuronale Variablen
erfassen, um Zusammenhänge zwischen Prozessen im Gehirn und psychischen
Prozessen zu ergründen. Einige wichtige Verfahren sollen kurz angeführt werden,
ihr Verständnis setzt neuronale Grundkenntnisse voraus.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 14
Tiefeninterview
Diese Interviewform - auch Intensivinterview genannt - wird eingesetzt, um
unbewusste Prozesse und Motive aufzudecken. Das Gespräch muss in einer
vertrauensvollen Atmosphäre stattfinden, der Interviewer/die Interviewerin hat
zwar einen Leitfaden mit Fragen vorbereitet, aber der Ablauf ist offen und wird
den Befragten angepasst, denn gerade spontane Einfälle sind wichtig. Diese Art der
Befragung erfordert eine besonders sensible Gesprächsführung und spezielle
Fragetechniken. Das Tiefeninterveiw hat unverkennbar seinen Ursprung in
psychoanalytischen Ansätzen.
Strukturiertes Interview
Hier sind sowohl die Fragen als auch die möglichen Antworten vorgegeben. Der
oder die Befragte äußert sich und der Interviewer kreuzt die Antwort an (z.B. nur
ja/nein oder einen Punkt auf einer Skala). Der Vorteil dieser Methode liegt auf
Seiten des Forschers, denn er bekommt quantitative Daten, die einfach auswertbar
sind. Der Nachteil liegt aber auf der Hand: Hier dominiert die Theorie des
Forschers, die Versuchspersonen haben keine Möglichkeit, eigene Sichtweisen
einzubringen. Ein Beispiel sind die regelmäßigen Kundenbefragungen der
Deutschen Bahn in den Zügen.
Offene Fragen
Hier ist dem Befragten freigestellt, was er oder sie wie ausführlich antwortet.
Offenen Fragen sind nicht sehr beliebt, denn sie erfordern eine gewisse
Verbalisierungs- und Schreibfähigkeit. Wenn viele Personen frei formulieren, dann
ist die Auswertung für den Forscher schwierig, wenn er eine Verallgemeinerung aus
den verbalen Daten ziehen will.
Geschlossen Fragen
Hier sind die Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Man unterscheidet dabei
Dichtotome Fragen: Es sind zwei Antworten vorgegeben: ja/nein; männlich/
weiblich
Auswahlantwort: Aus mehrere Antworten darf eine angekreuzt werden.
Mehrfachantwortfragen: Aus mehreren Antworten dürfen mehrere angekreuzt
werden
Ratingfragen: Auf eine Skala (meist von 1 bis 5) muss ein Wert angekreuzt
werden.
Fragebögen mit geschlossenen Fragen sind einfach auszuwerten, aber wie bei den
strukturierten Interviews gibt der Forscher vor, was überhaupt geantwortet
werden kann. Viele Fragebögen enthalten deshalb eine Mischung aus geschlossenen
und offenen Fragen. Die Konstruktion von Fragebögen ist nicht so einfach wie es
auf den ersten Blick scheinen mag. Es gibt viele Fehler, die man bei der
Formulierung von Fragen und Antworten sowie beim Aufbau eines Fragebogens
machen kann: für die Zielgruppe unverständliche Formulierungen, Suggestivfragen,
Fragen mit strak wertenden Wörtern, mehrdeutige Fragen usw.
Qualitative Inhaltsanalysen
Sie erinnern an die Methoden der Literaturwissenschaft, mit denen Texte
interpretiert werden. Die qualitativen Inhaltsanalysen sind nicht so gut
nachvollziehbar, aber sie sind wichtig, um überhaupt erst Kategorien, Hypothesen
und letztlich Theorien zu generieren. Diese müssen sich dann an anderen
Dokumenten bewähren.
Quantitative Inhaltsanalyse
Hier werden die Dokumente mit einem vorher festgelegten Kategoriensystem
analysiert. Die Kategorien können aus einer Theorie abgeleitet oder ad-hoc
zusammengestellt sein. Sie müssen trennscharf und erschöpfend sein: Jede
Analyseeinheit (Wort, Satz, Überschrift, Bild) muss eindeutig einer Kategorie
zugeordnet werden. Qualitative Inhaltsanalysen können teilweise auch mit dem
Computer durchgeführt werden.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 16
Lehrbücher
Bischof, Norbert (2008). Psychologie. Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart: Kohlhammer.
Bourne, L. E. & Ekstrand, B.R. (1992). Einführung in die Psychologie. Eschborn bei Frankfurt: Verlag
Dietmar Klotz.
Gerrig, Richard J. & Zimbardo, Philip G. (2008). Psychologie.
Hussy, Walter; Schreier, Margrit & Echterhoff, Gerald (2010). Forschungsmethoden in Psychologie und
Sozialwissenschaften. Heidelberg: Springer.
Myers, David G. (2008). Psychologie. Heidelberg: Springer.
Schütz, Astrid; Brand, Matthias; Selg, Herbert & Lautenbacher, Stefan (2011).(Hg), Psychologie. Eine
Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder. Stuttgart: Kohlhammer.
Lexika
Arnold, W., Eysenck, H.J. & Meili, R. (1971). Lexikon der Psychologie. 3 Bände. Freiburg: Herder.
Asanger, R. & Wenninger, G. (Hg.).(1994). Handwörterbuch Psychologie. Weinheim:
PsychologieVerlagsUnion.
Wirtz, Markus Antonius (Hg.). (2013). Dorsch Psychologisches Wörterbuch. Bern: Huber.
Städler, Th. (2003). Lexikon der Psychologie.Wörterbuch - Handbuch - Studienbuch. Stuttgart: Kröner.
Quellen
Bühler, K. (1927). Die Krise der Psychologie. (Nachdruck 1978. Frankfurt: Ullstein)
Herrmann, Th. (1987). Mechanismen, Felder und Systeme. Psychologische Rundschau, 38, 181-189.
Lauken, Uwe (1974). Naive Verhaltenstheorie. Stuttgart: Klett.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 17
8. Forschungsbericht
Eine Untersuchung wird in einem Forschungsbericht dokumentiert. Dieser muss
so ausführlich sein, dass alle Stadien der Untersuchung für einen Lesenden
nachvollziehbar sind. Das eingesetzte Untersuchungsmaterial muss abgedruckt
sein. Alle erhobenen Rohdaten müssen tabellarisch vorliegen. Der Grund für diese
Ausführlichkeit: Jede Entscheidung des Forschers muss offengelegt werden, um
kritisierbar zu sein. Zudem muss eine Untersuchung grundsätzlich wiederholbar
(=replizierbar) sein, um die Ergebnisse überprüfen zu können. Das sind hohe
Ansprüche, die in der Realität nicht immer eingehalten werden können. Durch
Replikationen sind in den letzten Jahren einige wissenschaftliche Schwindler
aufgeflogen.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 20
Objektivität
Eine Untersuchung ist objektiv, wenn das Ergebnis unabhängig von den
Untersuchenden ist. Man unterscheidet Durchführungsobjektivität, Auswertungs-
objektivität und Interpretationsobjektivität, die gefährdet sein können:
• Des Ergebnis ist vom Verhalten des Versuchsleiters abhängig
(Versuchsleitereffekte), z. B. von seiner Art, Fragen zu stellen.
• Das Ergebnis ist von den Entscheidungen der Auswerter abhängig. Dieser
Punkt gefährdet vor allem qualitative Methoden.
• Das Ergebnis ist von individuellen Einstellungen und Deutungen des
Wissenschaftlers abhängig.
Gute Objektivität ist vor allem durch rigorose Standardisierung der Untersuchung
erreichbar.
Reliabilität
Dieses Gütekriterium betrifft die Zuverlässigkeit des Mess- oder Erhebungs-
instrumentes. Eine Untersuchung ist reliabel, wenn das Erhebungs- bzw.
Messverfahren das zu messende Merkmal genau erfasst. Sicher nachweisbar ist
dies nur durch eine Wiederholung der Erhebung, die bei Reliabilität zu gleichen
Ergebnissen führen muss. Die Reliabilität kann durch folgende Punkte gefährdet
sein:
• Situative Störfaktoren gehen in den Messwert ein, z.B. Grad der Ermüdung
oder Lärmbelästigung bei einer Intelligenzmessung.
• Das Erhebungsinstrument ist nicht sorgfältig konstruiert, z. B. kann eine Frage
mehrdeutig sein.
• Das Erhebungsinstrument beeinflusst die zu messende Variable.
• Die Versuchspersonen interpretieren die Instruktion und damit die Aufgabe
verschieden.
Validität
Die Gültigkeit bzw. Aussagekraft der Ergebnisse ist das wichtigste Gütekriterium.
Man unterscheidet interne und externe Validität.
Interne Validität. Eine Untersuchung ist valide, wenn genau die Merkmale
gemessen werden, die tatsächlich gemessen werden sollen. Hier geht es also um
das Problem einer gültigen Operationalisierung der Variablen. Misst z.B. ein
Intelligenztest tatsächlich Intelligenz oder nur Bildungswissen oder Konzentra-
tionsfähigkeit? Fehlerquellen für die interne Validität sind:
• Das Erhebungsverfahren erfasst überhaupt nicht die Variable, die gemessen
werden soll.
• Es gibt unkontrollierte Variablen, die in das Ergebnis mit eingehen
(Konfundierung).
• Variablen unterliegen zeitlichen Einflüssen, z. B. historischem Wandel oder
Reifung.
Die Absicherung der Validität ist ein komplexer Prozess, auf den hier nicht
eingegangen werden kann.
Externe Validität. Eine Untersuchung ist extern valide, wenn die Ergebnisse über
die Untersuchung hinaus verallgemeinerbar sind. Die externe Validität kann durch
folgende Punkte gefährdet sein:
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 22
• Die Stichprobe von Versuchspersonen ist nicht repräsentativ, das Ergebnis darf
deshalb auch nicht auf die Population verallgemeinert werden.
• Die Untersuchungssituation ist zu künstlich. In diesem Fall spricht man von
mangelnder ökologischer Validität einer Untersuchung.
Die Gütekriterien hängen voneinander ab: Wenn die Reliabilität schlecht ist, dann
kann auch die interne und externe Validität nicht gut sein. Keine Untersuchung
kann alle Gütekriterien perfekt erfüllen.
Quellen
Ballstaedt, St.-P. & Friedrich, Felix (2010). Wissenschaftliches Arbeiten. Einführung in qualitative und
quantitative Forschungsmethoden. Studienbrief für die Europäische Fernhochschule Hamburg
GmbH.
Bock, Michael (1978). Überschriftsspezifische Selektionsprozesse bei der Textverarbeitung. Archiv für
Psychologie 130, 75-93.
Bortz, Jürgen & Döring, Nicola (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und
Sozialwissenschaftler. Heidelberg: Springer Medizin Verlag.
Hussy, Walter; Schreier, Margrit & Echterhoff, Gerald (2010). Forschungsmethoden in Psychologie und
Sozialwissenschaften. Heidelberg: Springer.
!
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 23
Forschungsstrategien und
Untersuchungspläne
In komplexen empirischen Untersuchungen werden Erhebungsmethoden der
Beobachtung, Befragung und Inhaltsanalyse und statistische Auswertungsmethoden
miteinander kombiniert. Man spricht dann von Forschungsansätzen und
Untersuchungsplänen. Einige verbreitete Forschungsansätze werden nachfolgend
kurz vorgestellt: Experimente, Evaluationsstudien, Längsschnittstudien, Fallstudien
(Kasuistik), Tests, Computersimulation.
1. Experimente
Das Experiment ist die strengste Form einer wissenschaftlichen Untersuchung. Es
dient der Überprüfung von Hypothesen und dient der Erforschung kausaler
Zusammenhänge zwischen einer oder mehreren unabhängigen und einer oder
mehrerer abhängigen Variablen. Der Wissenschaftler schafft im Experiment
künstlich eine Situation im Labor, in der er möglichst alle Bedingungen
kontrollieren kann: Entweder hält er sie konstant oder er verändert sie
systematisch. In einem Experiment werden meist Gruppen von Versuchspersonen
über Mittelwerte miteinander verglichen.
unabhängige Variable/n (UV): Sie wird/werden vom Forscher variiert, um ihren
Einfluss auf die abhängige Variable/n zu erheben (Beispiel: Alkoholkonsum)
abhängige Variable/n (AV): Sie wird/werden erhoben, um den Zusammenhang
zur unabhängigen Variable/n zu erfassen (Beispiel: Reaktionsgeschwindigkeit)
Das Ergebnis eines Experiment stellt die UV als Funktion der AV dar: AV = f (UV).
Im Beispiel: Die Reaktionsgeschwindigkeit wird in Abhängigkeit vom
Alkoholkonsum erhoben, um die Frage zu beantworten: Wie wirkt Alkoholkonsum
auf die Reaktionsgeschwindigkeit.
Experimente sind in den Naturwissenschaften die entscheidende Methode, in den
Sozialwissenschaften sind sie aber umstritten. Vor allem drei Argumente werden
angeführt:
1. Anders als in der Physik oder Chemie sind nie alle Variablen kontrollierbar, da
Menschen ihre Lebensgeschichte, Gedanken und Gefühle in die Situation
einbringen. Versuchspersonen können eine Untersuchung z. B. auch bewusst
verfälschen. Die Befunde aus einem Experiment sind also selten eindeutig
interpretierbar bzw. auf die unabhängige Variable zurückführbar.
2. Die Befunde eines Experiments im psychologischen Labor sind wegen der
eingeschränkten Situation für das wirkliche Leben nicht repräsentativ, die Befunde
sind methodische Artefakte, d.h. kommen nur durch experimentelle Situation
zustande. Ob diese Kritik zutrifft ist nur von Fall zu Fall zu entscheiden. Der
Experimentator muss darauf bedacht sein, trotz Bedingungskontrolle eine nicht zu
künstliche, ökologisch untaugliche Situation zu schaffen.
3. Gegen Experimente mit Menschen werden ethische Bedenken angebracht: Da
der Forscher die Situation kontrolliert, übt er Macht über seine Versuchspersonen
aus, die oft gar nicht wissen, um was es eigentlich geht (Blindversuch). Die
Versuchspersonen werden ohne Wissen und Einsicht in die Situation manipuliert,
deshalb ist die Durchführung von Experimenten ethisch nicht verantwortbar.
Diesem Kritikpunkt wird durch berufsethische Verpflichtungen begegnet, die jede
Schädigung eines Probanden verbieten (erfreulicherweise sind psycholinguistische
Experimente meist harmlos).
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 24
2. Evaluationsstudien
Hier geht es um eine empirisch fundierte Bewertung von durchgeführten
Maßnahmen. Es wird überprüft, ob die Ziele einer Intervention tatsächlich erreicht
wurden. Evaluationen finden im Bildungs- und im Gesundheitswesen statt. Schauen
wir uns einige Beispiele an:
• Hochschulen sind verpflichtet, die Qualität von Lehrveranstaltungen
regelmäßig zu evaluieren.
• Studiengänge müssen akkreditiert werden, was eine Bewertung der
Inhalte, der Dozenten und der Studierbarkeit umfasst.
• Die PISA- oder die IGLU-Studien sind Evaluationen des Schulsystems
eines Landes im Vergleich zu anderen Ländern
• Die Erfolge verschiedener Psychotherapien werden auf den Prüfstand
gestellt, um zu entscheiden, ob sie von den Kassen gezahlt werden
sollen.
Bei der summativen Evaluation werden die Auswirkungen einer Maßnahme am
Abschluss untersucht. Bei der formativen Evaluation wird die Umsetzung von
Maßnahmen fortlaufend überprüft (Begleitforschung). Die formative Evaluation ist
eine Rückmeldung über den ablaufenden Prozess, die noch zu einer Umsteuerung
führen kann.
Evaluationen sind meist Auftragsforschung. Da es letztlich um eine Bewertung geht,
die Konsequenzen nach sich zieht, ist die Unparteilichkeit der Forschung von
großer Bedeutung. Bei den Betroffenen ist Evaluation deshalb meist unbeliebt,
obwohl sie oft Chancen für eine Verbesserung bedeutet.
3. Längsschnittstudien
Dieser Forschungsansatz ist vor allem in der Entwicklungspsychologie und der
Soziologie verbreitet, um Veränderungen über längere Zeiträume zu erfassen. Dazu
wird eine Erhebung derselben Variablen in einer Reihe von Zeitpunkten
durchgeführt. Man unterscheidet drei Typen:
Trend-Studie (Survey). Hier werden die Variablen zu jedem Zeitpunkt an einer
neuen, aber vergleichbaren Stichprobe untersucht, um langfristige gesellschaftliche
Trends zu ermitteln. Beispiele: Die Erhebung der Zufriedenheit der Bahnkunden;
fortlaufende Erhebung des Investitionsklimas.
Panel-Studie. Hier wird immer dieselbe Stichprobe untersucht. Dazu muss der
Forscher die Versuchspersonen bei der Stange halten und eventuell Ausfälle
ersetzen. Ziel ist es hier, individuelle Veränderungen zu erfassen. Beispiel:
Gedächtnisleistungen werden werden über die Lebensspanne erhoben
Kohortenstudie. Hier wird eine Gruppe von Personen untersucht, die durch ein
prägendes Ereignis definiert ist. Beispiel: Frauen, bei denen während der Geburt
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4. Kasuistik, Fallstudien
Im klinischen Bereich spielt die Fallstudie oder kasuistische Studie (lat. casus =
Einzelfall, n = 1) eine wichtige Rolle: Eine Person wird ausführlich und oft über
einen längeren Zeitraum (Längsschnitt- oder Verlaufsuntersuchung) regelmäßig
beobachtet und mit verschiedenen Methoden ausführlich untersucht. Eine
Fallstudie liefert zunächst eine sorgfältige und breit angelegte Beschreibung, die die
Gesamtpersönlichkeit und das soziale Umfeld mit einbezieht. Auch eine Fallstudie
muss prinzipiell wiederholbar angelegt sein, auch wenn eine zweite Untersuchung
selten erfolgt. Die wissenschaftliche Auswertung von Fallstudien kann verschieden
aussehen.
1. Jeder untersuchte Patient wird als einzigartiger Fall aufgefasst, der einer eigenen
Erklärung bedarf. Obwohl sicher jeder Fall eine einmalige Konstellation darstellt,
bleiben Beschreibungen ohne Verallgemeinerung wissenschaftlich unbefriedigend.
Bei sehr seltenen Syndromen liegen jedoch oft nur vereinzelte Fallstudien vor.
2. Da sich Befunde an einem Einzelfall nicht problemlos verallgemeinern lassen,
dient die Fallstudie der Hypothesenfindung, die dann Untersuchungen an Gruppen
nach sich zieht. Explorative Einzelfallstudien und systematische Experimente
können sich so ergänzen.
3. Mehrere Einzelfallstudien werden verglichen und zusammengefasst, indem die
Gemeinsamkeiten verallgemeinert werden (Aggregation). Hier liegt das Problem in
der Entscheidung, welcher Fall in die Gruppe aufgenommen wird und welcher
nicht.
Sorgfältige Fallstudien tragen im sprachpathologischen Bereich erheblich zu
unserem Wissen über die kognitive Verarbeitung bei, indem Unterschiede und
Ähnlichkeiten zwischen Patienten durch präzise Aufgabenstellungen ermittelt
werden. Man unterscheidet folgende Befundmuster:
Assoziation. Ein Patient Z, der bei der Aufgabe 1 beeinträchtigt ist, zeigt auch
Beeinträchtigungen bei den Aufgaben 2, 3 und 4. Auch wenn man mehrere
Patienten mit diesem Befundmuster findet, ist bei der Interpretation Vorsicht
geboten. Es kann sein, dass die Assoziation nicht durch gleich beteiligte Prozesse,
sondern allein anatomisch erklärbar ist: Der Gewebeausfall umfasst anatomisch
angrenzende Gebiete, die aber funktional nichts miteinander zu tun haben.
Einfache Dissoziation. Ein Patient X ist bei der Aufgabe 1 beeinträchtigt, zeigt
aber eine normale Leistung bei der Aufgabe 2. Beispiel: Ein Patient kann keine
Wörter lesen, aber Gesichter bekannter Persönlichkeiten erkennen. Diese
Dissoziation zwischen Lesefähigkeit und Gesichtserkennung kann darauf
zurückgeführt werden, dass beide Leistungen "nichts miteinander zu tun haben",
d.h., dass ihnen verschieden Verarbeitungsprozesse zugrundeliegen. Leider ist das
aber nur eine denkbare Interpretation. So wäre es auch möglich, dass an beiden
Aufgaben dieselben Verarbeitungsprozesse beteiligt sind, aber die Aufgabe 2
wesentlich einfacher ist und deshalb noch bewältigt wird. Eine einfache
Dissoziation ist also noch mehrdeutig.
Doppelte Dissoziation. Im Vergleich zum Patienten X findet sich ein Patient Y, der
bei der Aufgabe 1 nicht beeinträchtigt ist, aber schlechte Leistungen bei der
Aufgabe 2 zeigt. Dieses doppelte Befundmuster ist nun ein wichtiger Indikator
dafür, dass kognitive Prozesse, die der Leistung in Aufgabe 1 zugrunde liegen nicht
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 26
5. Testverfahren
Ein Test kann als eine standardisierte empirische Untersuchung aufgefasst werden,
bei der Fragestellung, Messverfahren, Datenerhebung, Auswertung und
Interpretation festgelegt sind. Tests werden als Routineverfahren für immer
wiederkehrende Erhebungen in der Praxis (Diagnostik) und der Forschung
entwickelt, z. B. von Variablen wie Intelligenz oder Konzentrationsfähigkeit, in der
Logopädie aktiver Wortschatz oder Wortverstehen. Tests zu mehreren Leistungen
werden zu einer Testbatterie zusammengefasst. Der Allgemeine Deutsche
Sprachtest (ADST) setzt sich z. B. aus sechs Untertest zusammen: Textverstehen,
Wortschatz, Wortbildung, Satzgrammatik, Lau-Buchstaben-Koordination,
Rechtschreibung. Die einzelnen Aufgaben in einem Text werden Items genannt.
Test werden aufwändig entwickelt, meist auf der Grundlage einer gut bestätigten
Theorie. Sie werden zunächst an einer großen Stichprobe eingesetzt, um die
Verteilung der Variablen in der Population zu bestimmen. Testverfahren müssen
statistisch ermittelte Werte für Objektivität, Reliabilität und Validität erfüllen. Beim
Einsatz bei einer Person kann dann die Leistung mit dieser Normstichprobe
verglichen werden.
Mit Hilfe von Tests lässt sich der aktuelle psychische Zustand erfassen, z. B.
Leistungen der Intelligenz, des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, der
Sensumotorik oder der Affektivität. Ausmaß und Beschaffenheit einer Störung
lassen sich durch Tests objektivieren. In der Sprachpsychologie werden Test
eingesetzt, die folgende Fertigkeiten messen: Lesefähigkeit, Benennen,
Sprachverständnis, Nachsprechen, Schreiben nach Diktat.
Mit wiederholter Testung (Längsschnittuntersuchung) lassen sich Veränderungen
des psychischen Zustands erheben. Das ist z. B. für die Evaluation von
therapeutischen oder rehabilitativen Maßnahmen wichtig: Die Leistungen vor und
nach der Behandlung werden verglichen. Bei Verlaufsuntersuchungen wird an
mehreren Zeitpunkten getestet, wobei nicht dieselben Testformen zur Anwendung
kommen, sondern Paralleltests eingesetzt werden.
Test sind für die berufliche Praxis der Logopädie unverzichtbar, folgende Test
werden z.B. oft eingesetzt:
! Allgemeiner Deutscher Sprachtest (ADST): Textverstehen, Wortschatz,
Wortbildung, Satzgrammatik, Lau-Buchstaben-Koordination, Rechtschreibung
! Aachener Aphasietest (AAT): Diagnose von Aphasien infolge erworbener
Hirnschäden
! Aktiver Wortschatztest (AWST): Erfassung des expressiven Wortschatzes
! Sprachentwicklungstests (SETK-2, 3-5, 5-10): Erfassung rezeptiver und
produktiver Sprachverarbeitung in verschiedenen Altersgruppen
! Patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen (PDSS):
Erfassung von 23 rezeptiven und produktiven Variablen
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 27
Tests müssen aber verantwortungsvoll eingesetzt werden. Es geht nicht nur darum,
in einer Tabelle einen Testwert nachzuschlagen, sondern das Testhandbuch muss
gelesen werden, um die Aussagekraft des Testwerts einschätzen zu können.
1. Allgemeine Psychologie
Gegenstand/Themen
Die Allgemeine Psychologie befasst sich mit den Grundlagen des Erlebens und
Verhaltens, die allen Menschen gemeinsam sind. Diese Disziplin stellt sozusagen
den Kernbestand psychologischen Wissens dar. Themen:
Wahrnehmen in allen Sinnesmodalitäten
Vorstellen
Begriffe
Erinnern, Wissen
Sprechen und Sprachverstehen
Lernen
Denken und Problemlösen
Fühlen, Emotionen
Motivation
Psychomotorik
Handeln
Die allgemeine Psychologie grenzt sehr eng an die Neurobiologie, denn die
grundlegenden psychischen Funktionen können nur mit Bezug auf das
Nervensystem zufriedenstellend untersucht werden. Mit der Sprachpsychologie
(oder Psycholinguistik) und der Psychomotorik stellt die allgemeine Psychologie
das theoretische Herzstück für die Arbeit des Logopäden dar.
Anwendungen
Die Allgemeine Psychologie spielt in alle Anwendungsfelder hinein. Was die
Logopädie betrifft, sind zwei Bereiche wichtig:
Einmal kann man Sprachtherapie als angewandte Psycholinguistik auffassen. Nur
wer weiss, wie Sprechen und Verstehen genau funktionieren, kann auch
therapeutisch sinnvoll in diesen Prozess eingreifen.
Ein zweiter wichtiger Bereich ist die Lerntheorie, denn jede Form von Therapie ist
ein Prozess des Umlernens und Neulernens. Aus der Lerntheorie sind wichtige
Methoden der Beeinflussung von Verhalten abgeleitet, z. B. die Konditionierung
durch Verstärkung.
2. Sozialpsychologie
Gegenstand/Themen
Sozialpsychologen befassen sich mit dem Erleben und Verhalten in Abhängigkeit
von sozialen und gesellschaftlichen Prozessen. Sie interessieren die Einflüsse auf
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 29
Erleben und Verhalten, die von der Anwesenheit der Anderen ausgehen. Die
Sozialpsychologie hat damit eine große Nähe zur Soziologie. Themen:
soziale Motive: Anerkennung, Sympathie, Antipathie
Kommunikation und Interaktion
Gruppenprozesse
Rolle und Status, Führung
soziale Einstellungen,Vorurteile
soziale Konflikte
Kooperation und Teamarbeit
Konformität und Abweichung
aggressives und prosoziales Verhalten
kollektives Verhalten
Das zentrale Problem der Sozialpsychologie betrifft die Spannung zwischen
Individuum und Gesellschaft. Es gibt Psychologen, die davon ausgehen, dass der
Mensch vom embryonalen Dasein an durch Beziehungen zu anderen Menschen
und der umgebenden Gemeinschaft so geprägt wird, dass jede Psychologie
eigentlich Sozialpsychologie ist. Das Individuum ist ein Niederschlag sozialer
Beziehungen. Demgegenüber gibt es aber auch Individuen, welche die Gesellschaft
meiden und sich nicht vereinnahmen lassen. In ihrer Ablehnung bleiben sie
allerdings auf die Gesellschaft bezogen.
Anwendungen
Die Sozialpsychologie ist als Reaktion auf gesellschaftliche Probleme und Konflikte
entstanden. Die bekannteste Anwendung ist wahrscheinlich die Gruppendynamik .
Hier geht es um Wissen über soziale Prozesse in Kleingruppen (2 bis höchstens 30
Personen) und deren Beeinflussung. Dieses Wissen wird für effektive
Arbeitsgruppen und therapeutische Gruppen (z. B. Selbsterfahrungsgruppen )
nutzbar gemacht.
Für den Umgang mit Patienten und Angehörigen ist die Beherrschung von Formen
der Gesprächsführung wichtig. Meist wird die nicht-direktive Methode angewandt.
Mit einem Bündel an eingeübten Verhaltensweisen versucht der Therapeut, eine
Klima von Einfühlung und Verständnis zu schaffen, die es dem Patienten oder
Angehörigen ermöglicht, seine eigenen Möglichkeiten zur Lösung seiner Probleme
zu finden.
3. Persönlichkeitspsychologie
Gegenstand/Themen
Diese Disziplin wird auch Differentielle Psychologie genannt, da sie sich mit den
Unterschieden (= Differenzen) der Menschen befasst. Sie untersucht Erleben und
Verhalten, wie es sich individuell in einer Persönlichkeit oder einem Charakter
ausprägt. Verschiedene Menschen können sich in einer Situation sehr
unterschiedlich verhalten, aber im Verhalten eines einzelnen Menschen findet man
Regelmäßigkeiten. Themen:
Bedürfnisse, Motive und Interessen
Eigenschaften
Begabungen, Intelligenz
Identität und Selbst
Persönlichkeitstypen und -diagnostik
Ein Problem der Persönlichkeitspsychologie wirft die Frage auf: Gibt es über die
Lebenszeit und über zahlreiche Situationen überhaupt so etwas wie eine stabile
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 30
Persönlichkeit? Es ist auch denkbar, dass wir nur verschiedene soziale Rollen
spielen, hinter denen kein überdauerndes Selbst zu finden ist.
Anwendungen
Die Persönlichkeitspsychologie bietet Wissen über den Bereich, den man
alltagssprachlich Menschenkenntnis nennt. Hier komme es auf die Einschätzung
von Unterschieden zwischen Personen an. Das hauptsächliche Anwendungsgebiet
sind Tests in verschiedenen Bereichen wie Sport, Kriminologie, Berufswahl usw.
Diese Disziplin der Psychologie spielt in der Sprachtherapie nur eine
untergeordnete Rolle.
4. Entwicklungspsychologie
Gegenstand/Themen
Diese Diszipin betrachtet alle bisher genannten Themen unter dem Aspekt ihrer
Entwicklung und Veränderung im Laufe des Lebens. Während sich früher die
Entwicklungspsychologen vor allem mit der Entwicklung bis zum Erwachsenenalter
beschäftigt haben, untersucht heute diese Disziplin die gesamte Lebensspanne:
Säuglingsalter, Kindheit, Adoleszens, Erwachsenen- und Seniorenalter. Auch im
Erwachsenenalter finden wichtige Veränderungen im Erleben und Verhalten statt.
Themen:
motivationale Entwicklung
emotionale Entwicklung
kognitive Entwicklung
Sprachentwicklung
moralische Entwicklung
Ein zentrales Problem für die Entwicklungspsychologie betrifft die Auswirkungen
von Anlage und Umwelt. Die Anlagen entfalten sich in Prozessen der Reifung, die
Umwelt prägt das Individuum in Prozessen des Lernens. Obwohl es heute keine
reinen Anlage- und Umwelttheoretiker gibt, macht es doch einen Unterschied, von
welchen Bedingungen man ausgeht:
Endogenistische Ansätze räumen den biologischen Anlagen eine Dominanz ein,
die durch Umweltbedingungen nur in Grenzen modifiziert werden kann.
Exogenistische Ansätze räumen der Umwelt die wichtigere Rolle ein. Einflüsse
der Anlagen werden davon völlig überformt und kanalisiert.
Dialektische Ansätze gehen von eine Interaktion von Anlage und Umwelt aus. Der
Mensch gestaltet seine Umwelt und diese wirkt auf ihn wieder zurück.
Die Entwicklungspsychologie hat eine eigene Methodik entwickelt. In
Querschnittsuntersuchungen werden mehrere Stichproben verschiedenen Alters
miteinander verglichen und die Unterschiede als Entwicklung interpretiert. In
Längsschnittuntersuchungen werden Einzelpersonen oder eine Stichprobe über
einen längeren Zeitraum wiederholt untersucht.
Anwendungen
Der Entwicklungspsychologie steht die Pädagogische Psychologie als angewandte
Disziplin zur Seite. Sie befasst sich mit der Weitergabe von Erleben, Verhalten und
deren Hervorbringungen in der Gesellschaft, es geht um Erziehung, Lehren und
Lernen. Wichtige Unterdisziplinen sind die Sozialpädagogik und die
Sonderpädagogik., zu letzterer gehört auch die Sprachheilpädagogik.
Da Logopädinnen und Logopäden viel mit sprachgestörten Kindern zu tun haben,
ist pädagogisches Wissen nützlich, z. B. zu Methoden des Lehrens und Lernens
(Didaktik) und der Erziehung.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 31
5. Klinische Psychologie
Gegenstand/Themen
Diese Disziplin befasst sich mit den Störungen und Erkrankungen des Erlebens
und Verhaltens, die aus psychosozialen oder organischen Gründen entstehen
können. Das Wort "klinisch" hat dabei die alte griechische Bedeutung "die
Behandlung von Kranken betreffend". Wie man an den folgenden Themen sieht, ist
die klinische Psychologie
psychische Krankheit und Gesundheit
Entstehung von Störungen (Ätiologie)
Epidemiologie
pathologische Entwicklungen
Klassifikation von Störungen (z.B. Neurosen, Psychosen)
Diagnostik
Therapeutische Interventionen
Coping
Rehabilitation
Ein zentrales Problem der klinischen Psychologie ist die Unterscheidung und der
Übergang von normal und abnorm, gesund und krank. Diese Kategorien sind
wichtig, da sie festlegen, wer in einer Gesellschaft als gestört bezeichnet und mit
welchem Zielsetzungen er behandelt wird. Auch in der Logopädie stellt sich das
Problem, ab wann eine sprachliche Abweichung behandlungsbedürftig ist.
Bei der statistischen Norm wird das Verhalten einer Person auf eine bestimmte
Häufigkeitsverteilung bezogen, weicht das Verhalten stark vom Mittelwert ab, wird
es als "abnorm" bezeichnet.
Bei der Wertnorm greift man auf Kriterien der Gesellschaft zurück, die bestimmte
Abweichungen toleriert, andere aber nicht. Die Werte können innerhalb einer
pluralistischen Gesellschaft von Gruppe zu Gruppe recht unterschiedlich sein.
Das Normproblem ist nicht lösbar, aber unumgänglich, denn therapeutisches
Handeln in der klinischen Psychologie ist immer zielorientiert. Soll-Zustände
kommen aber ohne Wertvorstellungen nicht aus. Viele therapeutische Richtungen
haben eine wertbezogene Vorstellung von einem psychisch gesunden Menschen.
Anwendungen
Klinische Psychologie ist mehr als die anderen Disziplinen eine angewandte
Wissenschaft. Weitaus die größte Anzahl an Psychologen arbeitet im klinischen
Feld. Auch die Arbeit der Logopädin oder des Logopäden gehört in den klinischen
Bereich:
Eine Anwendung ist die Psychodiagnostik vor allem von Sprachentwicklungs-
störungen und Aphasien, die aber oft mit kognitiven und emotionalen Störungen
verbunden sind. Dafür wurden Test entwickelt (z. B. der Aachener-Aphasie-Test),
deren Anwendung und Auswertung beherrscht werden müssen.
Die zahlreichen therapeutischen Interventionen bei zentralen und peripheren
Sprach- und Sprechstörungen greifen immer stärker auf allgemein- und
sprachpsychologisches Wissen zurück.
Ein weiterer klinischer Arbeitsbereich ist die Beratung der Patienten und der
Angehörigen als Hilfe, um Probleme zu verstehen und zu bewältigen. Hier sind
Methoden der nicht-direktiven Gesprächsführung von Bedeutung.
Bei der Prävention geht es um Maßnahmen, die der Entstehung von psychischen
Fehlentwicklungen vorbeugen. Effektive Prävention setzt voraus, dass man weiss,
welche Bedingungen zu bestimmten Störungen führen.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 32
Literatur
Aronson, E. (1994). Sozialpsychologie. Menschliches Verhalten und gesellschaftlicher Einfluß.
Heidelberg: Spektrum.
Bourne, L. E. & Ekstrand, B.R. (1992). Einführung in die Psychologie. Eschborn bei Frankfurt: Verlag
Dietmar Klotz.
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Dörner, D. & Selg, H. (Hg.) (1996). Psychologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen und
Anwendungsfelder. Stuttgart: Kohlhammer.
Fissini, H.-J. (1991). Persönlichkeitspsychologie. Auf der Suche nach einer Wissenschaft. Ein
Theorienüberblick. Göttingen: Hogrefe.
Lauken, U. (1974). Naive Verhaltenstheorie. Stuttgart: Klett
Lück, H.E. (1991). Geschichte der Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer. (Grundriß der Psychologie,
Band 1)
Nolting, H.-P. & Paulus, P. (1992). Pädagogische Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer (Grundriß der
Psychologie, Band 20)
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Psychologie Verlags Union.
Schenk-Danziger, L. (1988). Entwicklungspsychologie. Wien: Österreichischer Bundesverlag.
Spada, H. (Hg.).(1992). Lehrbuch Allgemeine Psychologie. Bern: Verlag Hans Huber.
Straub, J., Kempf, W. & Werbik, H. (1997). Psychologie. Eine Einführung. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag.
Thomae, H. & Feger, H. (1969). Hauptströmungen der neueren Psychologie. Bern/Stuttgart: Verlag
Hans Huber.
Weidenmann, B. & Krapp, A. (1994). Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch. München/Weinheim:
PsychologieVerlagsUnion.
Witte, E.H. (1994). Lehrbuch Sozialpsychologie. Weinheim: Beltz, PsychologieVerlags Union.
Lexika
Asanger, R. & Wenninger, G. (Hg.).(1994). Handwörterbuch Psychologie. Weinheim:
PsychologieVerlagsUnion.
Wirtz, A. & Strohmer, J. (2013): Dorsch Lexikon der Psychologie. Bern: Hans Huber.
Städler, Th. (1998). Lexikon der Psychologie.Wörterbuch - Handbuch - Studienbuch. Stuttgart: Kröner
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 33
Biologische Psychologie
1. Zur Geschichte
Die Biopsychologie spielt seit der Entstehung einer wissenschaftlichen Psychologie
eine Rolle. Ein Hauptwerk ihres Begründers, Wilhelm Wundt, trägt 1873 den Titel
"Grundzüge der Physiologischen Psychologie" (Physiologie = Wissenschaft von den
Lebensfunktionen) Als eine Hauptströmung hat sich die biologische Psychologie
damals in den deutschsprachigen Ländern nicht etablieren können, da in der
Psychologie eine geisteswissenschaftliche Orientierung vorherrschte. 1933 bis
1945 wurden zudem die bedeutendsten Vertreter einer biologischen Psychologie
vertrieben.
In der anglo-amerikanischen Psychologie ist die Biopsychologie eine wichtige
Hauptströmung in Verbindung mit den Neurowissenschaften und der
Verhaltensbiologie. Ein wichtiges Buch hat D. O. Hebb 1949 geschrieben "The
organization of behavior". Er legt die erste umfassende Theorie vor, wie komplexe
Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Erinnerungen durch Aktivitäten der
Hirnzellen hervorgerufen werden.
In den letzten Jahren hat die biologische Psychologie durch die Fortschritte in den
Neurowissenschaften einen dramatischen Aufschwung genommen.
2. Grundsätzliche Annahmen
Die biologische Psychologie erforscht die Zusammenhänge zwischen neuronalen
und physiologischen Prozessen sowie dem Erleben und Verhalten. Dabei werden
die Prozesse aller Organe des Körpers, nicht nur des Gehirns betrachtet
(Birbaumer & Schmidt, 1996, S. 3). Das Gehirn ist zwar das oberste Steuerorgan
aller Körperfunktionen, aber es ist von der Funktion anderer Organe abhängig.
Themen der biologischen Psychologie sind zum Beispiel Motivation, Emotion,
Wahrnehmung, Schmerz, Aufmerksamkeit, Schlaf, Lernen, Bewegung. Die
Psychologie wird als eine Disziplin der Humanbiologie gesehen, die sich mit dem
Erleben und Verhalten befasst.
Die biologische Psychologie geht davon aus, dass alles Erleben und Verhalten
vollständig an Gehirnaktivitäten gebunden ist. Die meisten Biopsychologen sehen
einen Zusammenhang nur in einer Richtung: Neuronale Prozesse bringen Erleben
hervor, aber Erleben kann nicht neuronale Prozesse hervorbringen, da es ohne
diese überhaupt nicht existieren kann.
Eine andere Ansicht vertritt der Interaktionismus: Hier wirkt eine Psyche auf das
Gehirn ein, benutzt es als ein Instrument, vgl. den Titel von Popper & Eccles, Das
Ich und sein Gehirn).
Zu den wichtigsten Teildisziplinen der Biopsychologie gehören die Psycho-
physiologie, die Neuropsychologie und die Psychopharmakologie:
Psychophysiologie. In dieser Disziplin geht es um Zusammenhänge zwischen
Erleben und Verhalten sowie physiologischen und biochemischen Prozessen. Es gibt
zahlreiche gut messbare körperliche Phänomene, die mit psychischen Prozessen
zusammenhängen: Pulsfrequenz, Hautwiderstand, Muskelspannung, Blutdruck,
Pupillenweite, Augenbewegungen (REM), Magenmotilität, Hormonausschüttung und
viele andere mehr. Diese können einerseits als Indikatoren für psychische Prozesse
dienen, andererseits kann man versuchen, über sie die psychischen Prozesse zu
beeinflussen (z.B. Biofeedback). Die psychophysiologische Forschung leistet einen
Brückenschlag zwischen Medizin und Psychologie.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 34
3. Bevorzugte Methoden
Die biologische Psychologie ist naturwissenschaftlich ausgerichtet, ohne ein Labor
kann kein Biopsychologe arbeiten.
Experimente. Die hauptsächliche Methode ist das Experiment. Dabei dienen für
zahlreiche Fragen Tiere als Versuchsobjekte: Ratten, Hunde, Katzen und vor allem
Affen, da sich deren Gehirne im strukturellen Aufbau vom menschlichen Gehirn
nur wenig unterscheiden. Die biologische Psychologie ist auf Tierversuche
angewiesen, um brauchbare Hypothesen für das menschliche Erleben und
Verhalten aufstellen zu können. Wenn - meist aus ethischen Gründen - keine
Experimente möglich sind, werden Quasi-Experimente und Fallstudien
durchgeführt.
Quasi-Experimente. Hier manipuliert und kontrolliert der Experimentator keine
Bedingungen, sondern greift vorhandene Unterschiede auf. So kann man z. B. eine
Gruppe von Gewohnheitstrinkern mit einer Gruppe Abstinenzler in bestimmten
kognitiven Leistungen vergleichen. Aber man kann Versuchspersonen nicht
jahrelang im Labor trinken lassen oder vom Alkohol fern halten, um diesen
Gruppenvergleich unter experimentellen Bedingungen durchzuführen.
Fallstudien. Es werden einzelne - oft seltene - Krankheitsbilder ausführlich
dokumentiert, d.h. beschrieben und getestet. Dadurch ergeben sich breitere und
tiefere Einsichten, die zu interessanten Hypothesen führen können.
Nichtinvasive Messungen. Die biologische Psychologie arbeitet mit zahlreichen
Verfahren, die biologische Vorgänge registrieren und messen. Dazu gehören z. B.
das Elektroencephalogramm (EEG), die Messung des Hautwiderstandes, der
Muskelspannung, der kardiovaskulären Aktivität, die Registrierung von
Augenbewegungen u. v. m.
Invasive Techniken. Früher wurden oft Teile tierischer Gehirne zerstört, um die
Auswirkung der Schädigung zu beobachten (Läsionsmethode). Oder es wurden
Gehirnteile elektrisch oder chemisch stimuliert, um Hinweise auf ihre Funktion zu
bekommen. Nicht zuletzt diese Methoden und die Psychochirurgie haben den
Neuropsychologen den Ruf von Frankensteins Schülern eingebracht.
Bildgebende Techniken. Diese Verfahren erlauben eine nichtinvasive Messung von
Gehirnaktivitäten und Prozessen in anderen Organen. Es gibt eine Reihe von
Methoden, die unterschiedlich visualisierte Schnittbilder durch Organe erlauben:
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 35
4. Anwendungen
Die Anwendungen der biologischen Psychologie liegen vorwiegend im klinischen
Bereich und haben immer wieder Kontroversen ausgelöst.
Psychochirurgie. In den Anfängen hat man recht unbefangen in den Gehirnen von
Kranken herumgeschnitten. Traurige Berühmtheit hat die präfrontale Lobotomie
erreicht, bei der bilateral der präfrontale Cortex vom übrigen Großhirn
abgetrennt wird. Heute ist man bedeutend vorsichtiger geworden. Eingriffe werden
nur noch sehr gezielt und computergesteuert vorgenommen. So z.B. die
Koagulation (=Einschmelzung) von motorischen Kernen zur Behandlung des
Parkinsonismus (die sich auch nicht bewährt hat). Ein aktuelles Thema ist die
Implantation embryonalen Hirngewebes, um degenerierte Hirnteile wieder
aufzubauen.
Pharmakologie. Die ersten Medikamente mit einer Wirkung auf Erleben und
Verhalten wurden eher zufällig entdeckt. Ihre Wirkung konnte man sich nicht
erklären und dies gilt auch heute noch für etliche Psychopharmaka. Inzwischen hat
die Neurochemie wichtige Fortschritte gemacht, um die Funktionen von
Neurotransmittern und von Hormonen aufzuklären. Trotzdem bleibt die
medikamentöse Behandlung von psychischen Störungen wie Neurosen und
Psychosen umstritten, wenn sie eine Psychotherapie ersetzt.
Biofeedback-Therapie. Bei dieser Behandlungsmethode geht es darum,
Funktionen des autonomen Nervensystems unter Kontrolle zu bekommen, z. B.
Steigerung oder Senkung der Herzfrequenz, des Blutdrucks, der Muskelspannung,
sogar hirnelektrischer Potentiale. Der Patient bekommt z. B. durch einen Signalton
rückgemeldet, wenn eine gewünschte Blutdrucksenkung eintritt. Diese
Rückmeldung verstärkt die ihm selbst nicht bewussten physiologischen Prozesse
und bringt sie so unter seine Kontrolle.
Mit Menschen sind derartige Experimente natürlich nicht möglich. Aber bereits in
harmloseren Situationen zeigen sich ähnliche Verhaltensweisen. Gibt man
Versuchspersonen z. B. unlösbare Aufgaben (was sie nicht wissen), so verzagen sie
bald und trauen sich nichts mehr zu. Wer sich in einer unbeeinflussbaren Situation
fühlt, der gibt auf: "Es ist aussichtslos, mir ist nicht zu helfen!"
Burnout. In neuerer Zeit wird das Phänomen des Ausgebrannt-Seins untersucht,
das besonders bei helfenden Berufen zu finden ist. Es entsteht bei anhaltender
Überbeanspruchung und dem Gefühl, doch nichts bewirken zu können.
Erschöpfung. Bei anhaltendem Stress und unter extremen Bedingungen können die
Ressourcen zur Situationsbewältigung erschöpft werden, die Person kann sogar
sterben (psychogener Tod). Dieser Fall tritt allerdings selten ein.
genetisches Erbe mit sich trägt, das auch Erleben und Verhalten bestimmt. Die
biologische Psychologie ist die damit Grundlage jeder psychologischen Forschung,
die davon ausgeht, dass alles Erleben und Verhalten physiologische und neuronale
Grundlagen hat (und der Behaviorismus, die kognitive Psychologie und auch
Sigmund Freud würden dies auch akzeptieren).
Der biologische Ansatz bringt es aber mit sich, dass gesellschaftliche und kulturelle
Bedingungen des Erlebens und Verhaltens oft aus dem Blickfeld geraten oder nur
eine Randbedingung darstellen. Eine Sozialpsychologie innerhalb der biologischen
Psychologie behandelt vor allem sexuelle und aggressive Interaktionen. In
kritischer Absicht spricht man von Biologismus, wenn der Mensch auf ein rein
biologisches Wesen reduziert wird.
Die Betonung der biologischen Bedingungen des Erlebens und Verhaltens führt
wohl auch dazu, die Behandlung von Störungen als die Reparatur körperlicher
Schäden anzusehen. Es ist sicher kein Zufall, dass in der Psychochirurgie und der
Psychopharmakologie oft recht sorglos experimentiert wurde und vermutlich auch
noch wird. Die biologische Psychologie hat teilweise eine inhumane Geschichte,
sowohl was Tierversuche als auch was Experimente mit Menschen betrifft.
Literatur
Birbaumer, N. & Schmidt, R.F. (1990). Biologische Psychologie. Berlin: Springer.
Canavan, A. & Sartory (1990). Klinische Neuropsychologie. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Enke.
Ellis, A.W. & Young, A.W. (1991). Einführung in die kognitive Neuropsychologie. Bern: Hans Huber.
Hartje, W. & Poeck, K. (1997)(Hg.). Klinische Neuropsychologie. Stuttgart: Thieme.
Kolb, B. & Whishaw, I.Q. (1996). Neuropsychologie. Heidelberg: Spektrum.
Nitsch, J, (1981).(Hg), Stress. Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen. Bern: Huber.
Pinel, J.P. (1997). Biopsychologie. Eine Einführung. Heidelberg: Spektrum.
Seligman, M.E.P. (1975). Helplessness. San Francisco: Freeman.
Semmer, N. (1994). Streß. In: R. Asanger & G. Wenniger (Hg.), Handwörterbuch Psychologie.
Weinheim: PsychologieVerlagsUnion, S. 744-752.
_________________________________________________________________________________
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 39
Behaviorismus,
Verhaltenspsychologie
1. Zur Geschichte
Der Behaviorismus hat nach einer Reihe von Vordenkern eine "Geburtsstunde": Im
Jahr 1913 veröffentlicht John Watson den programmatischen Aufsatz "Psychology
as the Behaviorist views it". Die Psychologie soll nach dem Ideal der
Naturwissenschaften ausgerichtet sein. Für viele Jahrzehnte wird der
Behaviorismus zur dominierenden Richtung der Psychologie in den USA. Wichtige
Vertreter waren C.L.Hull (1884-1952) und vor allem B.F. Skinner (1904-1990). Der
radikale Behaviorismus spaltetet sich bald in zahlreiche gemäßigte neo-
behavioristische Ansätze auf. In Deutschland ist der Behaviorismus nicht so
verbreitet, hat aber erheblichen Einfluss auf die Methodologie und vor allem auf
die Lerntheorie.
2. Grundsätzliche Annahmen
Gegenstand der Forschung ist nur das beobachtbare Verhalten (engl. = behavior).
Dazu zählen auch messbare physiologische Reaktionen (Hautwiderstand,
Anspannung, Herzschlag). Sprachliche Äußerungen werden als "verbal behavior"
bezeichnet. Das Innenleben wird als "black box" behandelt: Man gibt Reize (Stimuli
= S) vor und registriert Reaktionen (R) darauf. Was zwischen Reiz und Reaktion
liegt, bleibt unerforschbar im Dunkeln, z.B. bewusste Gefühle und Erlebnisse.
Zentrales Thema des Behaviorismus ist das Lernen, hier verstanden als Änderung
in der Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhaltensweisen. Das gesamte Verhalten
wird als Aufbau von S-R-Verbindungen gesehen. Die Betonung des Lernens gipfelt
in einer extremen Milieutheorie: Für das menschliche Verhalten sind vor allem
Umwelteinflüsse maßgeblich. Das bedeutet, dass der Mensch weitgehend erzieh-
und formbar ist.
3. Bevorzugte Methoden
Entsprechend der naturwissenschaftlichen Orientierung ist das Experiment im
psychologischen Labor die wichtigste Forschungsmethode: Es werden Reize
geboten und die Reaktionen gemessen. Als unwissenschaftlich abgelehnt wird die
Introspektion, da sie nicht intersubjektiv zugänglich ist.
Da der Mensch als biologisches Wesen gesehen wird, das sich in vielen Bereichen
kaum vom Tier unterscheidet, sind auch Tiere als Versuchsobjekte möglich, um das
menschliche Verhalten zu erforschen. Das trägt dem Behaviorismus den
Schimpfnamen „Rattenpsychologie“, obwohl auch Katzen, Hunde und Tauben
beliebte Versuchstiere waren.
4. Anwendungen
Der Behaviorismus hat zwei Anwendungsgebiete, die beide mit dem Lernen zu tun
haben:
Verhaltenstherapie. Eine psychische Störung wird als dysfunktionaler
Lernprozess angesehen, der rückgängig gemacht werden kann. Die Psychotherapie
richtet sich dabei nach den Lerngesetzen, die man gefunden hat. Wichtige
Verfahren sind: Systematische Desensibilisierung und Aversionstherapie. Vor allem
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 40
bei klar umgrenzten Störungen wie Ängsten, Zwängen, Tics hilft die
Verhaltenstherapie in relativ kurzer Zeit. Sie wird vor allem von der Psychoanalyse
mit dem Argument abgelehnt, dass sie nur an den Symptomen herumdoktert, aber
die tieferliegenden Konflikte nicht behebt.
Programmierter Unterricht. Entsprechend der Bedeutung der Umwelt vertritt
der Behaviorist eine optimistische Lerntechnologie: Es kommt nur darauf an, die
Lernumgebung richtig zu gestalten, um erfolgreiche Lernprozesse anzuregen. Im
programmierten Unterricht wird der Lernstoff in kleine Häppchen aufgeteilt. Nach
jedem bekommt der Lernende eine Aufgabe, die er meist lösen kann, um ein
Erfolgserlebnis zu bekommen. Dieses Prinzip findet man in Lehrbüchern und in
computerbasierten Lernprogrammen (CBT) realisiert.
Terminologie
Unkonditionierter Reiz (US): Reiz der eine bestimmte (angeborene) Reaktion
auslöst (UR).
Unkonditionierte Reaktion (UR). Angeborene Reaktion (Reflex) auf einen
bestimmten US.
Neutraler Reiz (NS): Reiz, der ursprünglich nichts mit UR zu tun hat.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 41
Konditionierter Reiz (CS): Ursprünglicher NS, der jetzt einen ähnliche Reaktion
wie UR auslöst.
Konditionierte Reaktion (CR): Reaktion auf einen CS, die jedoch meist
schwächer ausfällt als UR.
Schematisch kann man eine klassische Konditionierung jetzt so darstellen:
1. US ➜ UR unbedingte S-R-Verbindung
2. US ➜ UR Konditionierung
NS
3. CS ➜ CR bedingte S-R-Verbindung
Reizgeneralisierung. Ist eine bedingte S-R-Verbindung ausgebildet, dann können
auch CS ähnliche Reize CR auslösen, z.B. ein hellerer Glockenton. Je mehr
allerdings der Reiz vom ursprünglichen CS abweicht, desto schwächer wird CR.
Reizdiskrimination. Hier werden zwei ähnliche NS dargeboten, aber nur mit
einem der US gekoppelt. Auf diese Weise wird UR nur auf einen genau definierten
Reiz ausgelöst. Beispiel: Bei Darbietung eines Kreises folgt UR, bei Darbietung
einer Ellipse nicht. Werden beide Reize immer mehr angenähert, so führt dies zu
experimentellen Neurosen.
Konditionierte Angst
Die klassische Konditionierung hat vor allem Bedeutung, weil auch emotional-
motivationale Reaktionen an unterschiedliche neutrale Reize gekoppelt werden
können. So kann der Erwerb von Gefühlen wie Angst oder Ekel auf bestimmte
Reize erklärt werden.
Terminologie
Zur Beschreibung wird folgende Terminologie eingeführt: Verhalten kann durch
Verstärkung gefördert und durch Bestrafung unterdrückt werden. Beide
Maßnahmen wirken interessanterweise auf das zuletzt durchgeführte Verhalten
zurück!
Positive Verstärkung: Die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens wird erhöht , wenn
ein angenehmer Reiz folgt.
Negative Verstärkung: Die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens wird erhöht,
wenn ein unangenehmer Reiz entfernt wird.
Bestrafung Typ 1: Die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens wird verringert, wenn
ein unangenehmer Reiz folgt.
Bestrafung Typ 2: Die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens wird verringert, wenn
ein angenehmer Reiz entfernt wird.
Primäre Verstärker: Sie befriedigen physiologische Bedürfnisse wie Hunger, Durst,
Sex.
Sekundäre Verstärker: Sie wirken ursprünglich nicht verstärkend, sondern
werden erst durch wiederholtes Zusammenkommen mit primären Verstärkern
selbst zu Verstärkern. Beispiel: Geld.
Kontinuierliche Verstärkung: Jedes Auftreten des erwünschten Verhaltens wird
verstärkt. Kontinuierliche Verstärkung führt sehr rasch zu Erhöhung der
Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens.
Intermittierende Verstärkung: Nicht jedes Auftreten des erwünschten Verhaltens
wird verstärkt, sondern nur Reaktionen nach einer bestimmten Zeitdauer
(Intervallplan) oder nach einer bestimmten Anzahl (Quotenplan). Intermittierende
Verstärkung führt zu löschungsresistenterem Verhalten.
Verbale Konditionierung
Die Behavioristen fassen Sprechen als verbales Verhalten auf, das ebenfalls
konditioniert werden kann. So lässt sich mit dem operanten Konditionieren das
Sprechverhalten eines Menschen beeinflussen, z.B kann die Wortwahl durch
Verstärkung bestimmter Wörter gezielt verändert werden. Die Versuchsperson
soll frei Wörter produzieren, von denen nur eine bestimmte Kategorie (z.B.
Wörter im Plural, Verben, Wörter für Lebewesen) durch ein "mhm" oder "gut" des
Versuchsleiters oder einen neutralen Ton beachtet werden. Dies führt zu einem
vermehrten Produktion der jeweiligen Wortkategorie, ohne dass die Verstärkung
der Versuchsperson bewusst sein muss (Greenspoon, 1955). Diese Resultate sind
besonders für die Psychotherapie-Forschung interessant. In Untersuchungen
konnte wiederholt gezeigt werden, dass das Verhalten des Therapeuten Art und
Inhalt der sprachlichen Äußerungen beeinflusst. So können z.B. Äußerungen über
Gefühle oder über Konflikte bewusst oder unbewusst verstärkt werden.
Literatur
Anderson, J. R. (1995). Learning and memory. An integrated approach. New York: John Wiley & Sons.
Bandura, A. (1979). Sozialkognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett.
Bredenkamp, J. & Wippich, W. (1977). Lern- und Gedächtnispsychologie. Band I. Stuttgart.
Kohlhammer.
Edelmann, W. (1993), Lernpsychologie. Eine Einführung. Weinheim: Psychologie VerlagsUnion.
Foppa, K. (1965). Lernen, Gedächtnis, Verhalten. Ergebnisse und Probleme der Lernpsychologie.
Greenspoon, J. (1955). The reinforcing effect of two spoken sounds on the frequency of two responses.
American Journal of Psychology, 68, 409-416.
Skinner, B.F. (1948) Walden Two. Deutsch: Futurum Zwei. Die Vision einer aggressionsfreien
Gesellschaft. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt.
Spada, H., Ernst, A.M. & Ketterer, W. (1992). Klassische und operante Konditionierung. In H. Spada,
Allgemeine Psychologie. Bern/Stuttgart: Huber, 323-372.
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Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 44
Kognitive Psychologie
Die Menschen werden nicht durch die Ereignisse,
sondern durch ihre Sicht der Ereignisse beunruhigt.
Epiktet
1. Zur Geschichte
Die kognitive Psychologie hat zahlreiche Vorläufer innerhalb der traditionellen
Allgemeinen Psychologie. Die sogenannte Kognitive Wende in der amerikanischen
Psychologie wird um 1960 angesetzt, als wichtiges Datum gilt das Erscheinen eines
Buches von Ulric Neisser "Cognitive Psychology" im Jahre 1967. Darin bündelt der
Autor vorliegende Untersuchungen und Ideen zu einem einheitlichen kognitiven
Ansatz. Dabei dient ursprünglich der Computer als Modell, den Menschen als
informationsverarbeitendes Wesen zu analysieren. Heute bilden die Kognitivisten
eine umfangreiche Gruppe in allen Teildisziplinen der Psychologie, es gibt also
kognitive Sozialpsychologen, Persönlichkeitspsychologen und
Entwicklungspsychologen (z. B. Piaget). Allerdings bildet die kognitive Psychologie
keinen einheitlichen Block, sondern umfasst verschiedene Theorien, denen jedoch
einige Grundorientierungen gemeinsam sind.
2. Grundsätzliche Annahmen
Informationsverarbeitung. Die Kognitive Psychologie befasst sich mit den
Prozessen und Strukturen des Wissenserwerbs oder der menschlichen Informations-
verarbeitung (lat. cognoscere = wahrnehmen, erkennen, erfahren). Aspekte der
kognitiven Aktivität sind:
! Wahrnehmen: Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken, Fühlen
! Aufmerksamkeit
! Vorstellen (in allen Sinnesmodalitäten)
! Kategorisierung und Begriffsbildung
! Zeichengebrauch: Sprechen, Sprachverstehen (und andere Zeichensysteme)
! Behalten, Erinnern (Gedächtnis)
! Lernen, Wissenserwerb, Wissensrepräsentation
! Denken, Problemlösen
! Planen, Entscheiden
! Handeln
! Selbstkontrolle ("Wille")
In dieser Liste tauchen vor allem Themen der allgemeinen Psychologie auf
Eigentlich fehlt nur die Motivation, die einen blinden Fleck in der kognitiven
Psychologie darstellt. Auch die Sprachfähigkeit, also Sprechen bzw. Schreiben und
Sprachverstehen, findet unter dem Dach der kognitiven Psychologie Platz.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die kognitive Psychologie den
menschlichen Verstand oder die menschliche Intelligenz untersucht.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 45
3. Bevorzugte Methoden
Der kognitive Psychologe bzw. die kognitive Psychologin forscht vorwiegend mit
Experimenten, vor allem bei den Themen wie Wahrnehmung, Lernen und
Gedächtnis. Aber sie benutzen auch andere empirische Methoden, wenn es der
Gegenstand erfordert, z.B. Interviews, Fragebögen usw. Dabei sind introspektive
Berichte als Daten zugelassen, z. B. Selbstbeobachtungen beim Denken und
Problemlösen (Methode des lauten Denkens)
Eine methodische Besonderheit der kognitiven Psychologie sind Computer-
simulationen, um geistige Leistungen aufzuschlüsseln. Man spricht von simulativen
Methoden (simulare lat. = nachahmen) oder von maschineller Empirie, wenn
Hypothesen mit dem Computer überprüft werden. Die psychologische Validität
( = Gültigkeit) der Befunde derartiger Untersuchungen stellt jedoch oft ein
Problem dar.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 46
4. Anwendungen
Die kognitive Psychologie war von Anfang an anwendungsorientiert und hat in
zahlreichen Praxisbereichen zu Neuorientierungen geführt. Dabei geht es
verständlicherweise stets um die Förderung oder Veränderung von Prozessen der
Informationsaufnahme und -verarbeitung.
Lehren und Lernen. Die größte Wirkung hat die kognitive Psychologie auf
Methoden des Unterrichts und auf die Förderung des Lernens. Es gibt eine
kognitiv orientierte Didaktik für traditionelle bis zu multimedialen
Lernumgebungen. Die Lernenden werden als aktive, selbstorganisierende Personen
gesehen, denen nur Anregungen und Lernmöglichkeiten bereitgestellt werden
müssen. Für spezielle Probleme wurden Trainings für Lern-, Denk- und
Gedächtnisstrategien entwickelt. Ein besonders umfangreiches Forschungsfeld ist
das Lesen und Textverstehen. Lesen ist eine kulturell wichtige Form der
Informationsaufnahme und -verarbeitung, die sich von der Buchstabenerkennung
bis zur Interpretation aus zahlreichen mentalen Prozessen zusammensetzt. Die
kognitive Psychologie hat einerseits Anregungen für das Lesenlernen und die
Leseförderung erbracht, andererseits wurden Erkenntnisse über die lernwirksame
Gestaltung von Lehrmaterial gesammelt.
Künstliche Intelligenz. Die kognitive Psychologie hat mit dazu beigetragen, dass
bestimmte geistige Leistungen von Maschinen übernommen werden, z. B. von
Expertensystemen. In zentralen Bereichen ist die Forschung derzeit in vollem
Gange, z. B. bei sprachverarbeitenden Computern oder bei sehenden Robotern.
Bei diesen Leistungen sind die technischen Systeme bisher dem menschlichen
Gehirn unterlegen. Die Erforschung von Struktur und Funktion der menschlichen
Intelligenz zeigt aber die Richtung auf, wie die künstliche Intelligenz verbessert
werden kann.
Psychotherapie. Die kognitive Psychologie hat zu Neuorientierungen im Bereich
der Psychotherapie geführt. Psychische Störungen werden als verfehlte oder
einseitige Informationsverarbeitung gesehen. Entsprechend besteht die Therapie
darin, den Patienten kognitiv umzustrukturieren. Aus diesem Anwendungsfeld in
der klinischen Psychologie stammt das folgende ausgewählte Thema.
einer Kette von Enttäuschungen und Niederlagen führt. Die Welt wird als
Jammertal gesehen.
! Negative Zukunftserwartungen. Der depressive Mensch nimmt an, dass seine
derzeitigen Schwierigkeiten und Enttäuschungen ewig weitergehen werden, er
sieht kein Licht am Ende des Tunnels. Wenn er doch eine Aufgabe übernimmt
oder sich ein Ziel setzt, erwartet er einen Fehlschlag (Misserfolgsorientierung).
Das Zusammenwirken diese negativen Welt"sicht" führt zu Schuldgefühlen,
Hoffnungslosigkeit, Rückzug, Passivität und selbstdestruktiven Tendenzen bis zum
Suizid.
Kognitive Fehler. Dieses einseitige Erleben wird auf ein starres Verarbeitungs-
muster, ein Schema zurückgeführt, das alle Erfahrungen "nach Schema F"
vereinnahmt. Dieses feste Schema kann das Denken vollständig dominieren. Einige
für depressive Personen typische kognitive Fehler erhalten das Schema und
scheinen es immer wieder zu bestätigen:
! Selektive Verallgemeinerungen, die nur ein Detail aus einer Situation
berücksichtigen und alle anderen Aspekte ignorieren.
! Übergeneralisierungen, die aus einer oder wenigen Erfahrungen eine allgemeine
Schlussfolgerung ziehen, die auf alle ähnlichen Situationen angewendet wird.
! Über- oder Unterschätzung: Erlebnisse werden in ihrer Bedeutung entweder
völlig überbewertet oder heruntergespielt.
! Personalisierung als Neigung, äußere Ereignisse auf sich zu beziehen, auch wenn
es keinerlei Grundlage dafür gibt (Wahnvorstellungen).
! Willkürliche Schlussfolgerungen, für die es keine Belege oder sogar Gegenbelege
gibt.
! Verabsolutiertes, dichotomes Denken, das alle Erfahrungen in zwei sich
ausschließende Kategorien einordnet: Makellos oder mangelhaft, sauber oder
schmutzig, heilig oder sündhaft, Huren oder Madonnen, alles oder nichts.
Bei schweren depressiven Zuständen wird der Patient völlig von automatischen,
sich ständig wiederholenden Gedanken okkupiert, so dass er sich auf andere
Dinge nicht mehr konzentrieren kann. Die Kognitionen können von äußeren
Anreizen so unabhängig werden, dass das Individuum auf Änderungen in seiner
unmittelbaren Umgebung nicht mehr reagiert. Der/die Patient/in lebt in einer
eigenen, für Außenstehende fremden und irrationalen Welt.
bemühen, durch intensive und gezielte Befragung Zugang zur kognitiven Welt des
Patienten zu bekommen. Der Patient muss sich in Selbstbeobachtung üben,
Selbstbefragungen durchführen und Aufzeichnungen machen, dabei helfen auch
Strichlisten oder Tabellen. Dies dient dazu, seine negative Gedankenwelt in ihrer
"Psychologik" zu erforschen. Er muss automatische Gedanken und Vorstellungen
erkennen und ihren Realitätsgehalt überprüfen. Wenn z. B. ein Patient widrige
Vorkommnisse seiner persönlichen Unfähigkeit zuschreibt, wird eine Technik der
Reattribuierung angewendet, damit der Patient andere Ursachen für seine
Probleme anerkennt.. Wichtig ist die Suche nach alternativen Erklärungen und
Problemlösungen, die in der Vorstellung durchgespielt und geübt werden (mentales
Training).
Verhaltensbezogene Techniken. Sie dienen der direkten Veränderung von
Verhaltensweisen und sind nicht viel anders als in der Verhaltenstherapie:
wöchentliche oder tägliche Aktivitätspläne, gestufte Aufgaben, Selbst-
behauptungstraining im Rollenspiel, Einbeziehen von Bezugspersonen usw. Diese
Techniken sollen den Patienten zu neuen positiven Erfahrungen verhelfen. Ziel
dieser Techniken ist also nicht primär die Änderung des Verhaltens, sondern sie
sind ein Mittel zur kognitiven Veränderung.
Die Therapie beginnt meist mit verhaltensbezogenen Techniken, um den Patienten
zu aktivieren und die negativen Bewertungen seiner Fähigkeiten zu verändern. Erst
später erfolgt dann eine direkte Auseinandersetzung mit den kognitiven
Komponenten durch kognitive Techniken. Eine Therapie besteht aus etwa 15 bis 25
Sitzungen. Für die Zwischenzeiten bekommen die Patienten "Hausaufgaben", sie
müssen schriftliche Notizen machen, Tagespläne aufstellen oder Bewertungsbögen
ausfüllen.
der Mensch in der kognitiven Psychologie vom Denken bestimmt wird, nicht von
Motiven, Gefühlen und Konflikten.
Die kognitive Psychologie ist Teil einer interdisziplinären Cognitive Science oder
Kognitionswissenschaft, die in den letzten Jahren aus verschiedenen Disziplinen
zusammenwächst: Neurowissenschaften, Ethologie, Künstliche-Intelligenz-
Forschung, Linguistik, Anthropologie (Gardner, 1989). Alle diese Wissenschaften
bemühen sich um eine alte Frage: Was ist der menschliche Geist?
Literatur
Anderson, J. R. (1996). Kognitive Psychologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Ballstaedt, St.-P. (1997). Wissensvermittlung: Die Gestaltung von Lernmaterial. Weinheim:
PsychologieVerlagsUnion.
Banyard, P. et al. (1995). Einführung in die kognitive Psychologie. München/Basel: Reinhardt.
Barsalou, L.W. (1992). Cognitive Psychology. An overview for cognitive scientists. Hillsdale: NJ:
Erlbaum.
Beck, A.T. (1979). Wahrnehmung der Wirklichkeit und Neurose. Kognitive Psychotherapie emotionaler
Störungen. München: Pfeiffer.
Beck, A.T. et al. (1981). Kognitive Therapie der Depression. Deutsche Ausgabe hg. von M. Hautzinger.
München: Urban & Schwarzenberg.
Gardner, H. (1989). Dem Denken auf der Spur. Der Weg der Kognitionswissenschaft. Stuttgart: Klett-
Cotta.
Gold, P. & Engel, A. K. (1998).(Hg.), Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Klix, F. (1992). Die Natur des Verstandes. Göttingen: Hogrefe.
Lindsay, P.H. & Norman, D.A. (1981). Einführung in die Psychologie. Informationsaufnahme und -
verarbeitung beim Menschen. Berlin: Springer.
Neisser, U. (1974). Kognitive Psychologie. Stuttgart: Klett.
Neisser, U. (1979). Kognition und Wirklichkeit. Prinzipien und Implikationen der kognitiven Psychologie.
Stuttgart: Klett-Cotta.
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Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 50
Psychoanalyse,
tiefenpsychologische Ansätze
1. Zur Geschichte
Die Psychoanalyse hat etliche - vor allem philosophische - Vordenker: Herbart,
Schopenhauer, Nietzsche, Eduard von Hartmann, Fechner, um nur einige Namen zu
nennen. Der psychoanalytische Ansatz ist jedoch das Werk eines Mannes, der die
Vorläufer gar nicht immer gelesen hatte: Sigmund Freud (1856 - 1939). Als
Geburtsdatum der Psychoanalyse wird oft 1899, die Fertigstellung seines Buches
"Die Traumdeutung" angegeben (Druckdatum 1900). Freud hat seine Theorie
immer wieder neuen Erfahrungen und Erkenntnissen angepasst, war aber recht
starrsinnig, wenn seine Schüler abweichende Ansichten formulierten. Schon zu
Lebzeiten Freuds hat sich die Psychoanalyse in zahlreiche tiefenpsychologische
Schulen aufgespalten, einige sind im Abschnitt 2.8. kurz dargestellt. Die
Psychoanalyse hat einen überaus große Wirkung auf alle wissenschaftlichen und
gesellschaftlichen Bereiche ausgeübt, vor allem hat sie die Künste beflügelt. Viele
psychoanalytische Konzepte sind in das Alltagsvokabular übergegangen:
Verdrängung, Komplex, Aggression, Sublimierung usw.
2. Grundannahmen
Die Psychoanalyse bildet ein recht unübersichtliches Feld. Wir können hier nur die
zentralen Postulate anführen (vgl. Heiss, 1964, Rapaport, 1970, Laplanche &
Pontalis, 1972, Goeppert, 1976).
2.2 Ergänzungsreihen
Jedes Verhalten und Erleben lässt sich durch ein Zusammenwirken von
dispositionellen (angeborenen wie erworbenen) und aktuellen Faktoren erklären.
Jede psychologische Erklärung muss einen Zusammenhang mit der physischen und
sozialen Umwelt einbeziehen.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 51
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Thanatos (Destrudo) Auflösung
Aggressionstrieb Zerstörung
Todestrieb
Jedes Verhalten und Erleben läßt sich letztlich aus einer Mischung dieser
Grundtriebe ableiten. Dabei wird deutlich, dass die Begriffe Sexualität und
Aggression viel umfangreicher gedacht sind als üblich.
Die Triebe erfahren in der Ontogenese eine Entwicklung in folgenden Phasen:
Orale Phase (1. Lebensjahr). Im Zentrum steht der Lustgewinn durch
Stimulation der Mundregion: Saugen, Nuckeln, Lecken, Lutschen, Schlucken. Die
aggressiven Anteile äußern sich durch Beißen, Ausspucken, Festhalten.
Anale Phase (2. u. 3. Lebensjahr). Die erogene Zone ist jetzt die Afterregion.
Lustgewinn wird aus der Darmentleerung und dem Zurückhalten gezogen. Die
aggressiven Anteile äußern sich in der Machtausübung durch Verweigern in der
Sauberkeitserziehung
Phallische Phase (3. bis 6. Lebensjahr). Jetzt wird die Genitalregion zur
erogenen Zone. Lustgewinn wird nach Freud vor allem aus dem Spiel mit dem
Penis gezogen, während das Mädchen einen Penisneid entwickelt. Diese Phase
endet für den Jungen mit dem Ödipus-Konflikt: Er verliebt sich in die Mutter und
erlebt den Vater als übermächtigen Rivalen. Das Mädchen verliebt sich - nach der
Loslösung von der Mutter - in den Vater, die Mutter wird jetzt zur Nebenbuhlerin
(Elektra-Konflikt). Da die Konflikte nicht lösbar sind, wird die Sexualität verdrängt.
Latenzzeit (bis zur Pubertät). Tote Hose, die Sexualität ruht (lat. latent =
verborgen). In dieser Zeit werden kognitive und soziale Fertigkeiten erworben. Die
Heranwachsenden setzen sich mit kulturellen Werten auseinander.
Genitale Phase (ab Pubertät). Alle erogenen Zonen werden wieder aktiviert, die
Partialtriebe verschmelzen unter dem "Primat der Genitalität": Küssen, anales und
genitales Betasten und Streicheln, Eindringen, Hingeben, Zurückhalten, Loslassen,
alle Befriedigungsmöglichkeiten werden im Umfeld des Koitus gebündelt.
Nach Ablauf dieser Phasen ist die Persönlichkeit in den wesentlichen Zügen
festgelegt. Ungelöste Konflikte führen zu bestimmten Persönlichkeitsstrukturen,
die das ganze Leben beibehalten werden.
2.6 Triebbesetzung
Bestimmte Energiequantitäten der Triebe besetzen die psychischen
Repräsentanten von Triebobjekten. Sie sind stets auf andere Objekte verschiebbar.
Besetzung. Betrag an psychischer Energie, der auf einen psychischen
Repräsentanten einer Person oder eines Gegenstandes gerichtet ist. Wichtig:
Besetzt werden Begriffe, Erinnerungen, Gedanken, nicht die äußeren Objekte!
Wenn z. B. eine Person stirbt, kann die Besetzung erhalten bleiben.
Fixierung. Starke und daher oft rigide Besetzung. Beispiel: Ein Junge bleibt auf die
Mutter fixiert und es ist ihm deshalb später unmöglich, Libido auf eine andere Frau
zu übertragen.
Regression. Rückkehr zu einem in der Entwicklung früheren Triebobjekt.
Regression setzt gewöhnlich Fixierung voraus. Beispiel: Autoerotismus bei
Erwachsenen. Es gibt eine "Regression im Dienste des Ich" (z. B. orale
Befriedigungen durch Essen und Trinken, Kuscheln).
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 53
Mit diesen Begriffen wird der Energiehaushalt der Psyche beschrieben. Dies
geschieht analog den physikalischen Prinzipien der Energieerhaltung.
3. Bevorzugte Methoden
Die Psychoanalyse baut auf einer kasuistischen Basis auf, d. h. der intensiven
Auseinandersetzung mit einzelnen klinischen Fällen. Die hauptsächliche
Erkenntnisquelle ist Material aus therapeutischen Gesprächen, in denen
biografische Erinnerungen, Traumdeutungen und freie Assoziationen eine zentrale
Rolle spielen. Diese werden vom Analytiker interpretiert (gedeutet).
Aufzeichnungen und Evaluation von Therapien lehnte Freud ab. Ebenso war er
gegen experimentelle Untersuchungen und standardisierte Tests, da sie seiner
Ansicht dem psychischen Leben nicht gerecht werden.
Freud war der Überzeugung, dass diese empirische Basis nur eine vorläufige
Notlösung ist, bis man die Psychoanalyse mit physiologischen und neuro-
psychologischen Methoden bestätigen kann.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 55
4. Anwendungen: Psychotherapie
Das wichtigste praktische Feld ist die Psychotherapie, vor allem von Neurosen,
später auch anderen klinischen Störungen. Dabei zielt die Behandlung nicht primär
auf eine Beseitigung der störenden Symptome, sondern auf eine Umwandlung der
Persönlichkeit. Dies ist ein Grund, warum eine große Analyse sich oft über Jahre
hinzieht.Eine psychoanalytische Behandlung umfasst zwei Komponenten:
Nacherleben und Einsicht:
Nacherleben: In der Vergangenheit nicht bewältigte Konflikte werden in einer
Übertragung auf auf den Analytiker wiederbelebt und aufgearbeitet (kathartisches
Nacherleben).
Einsicht: In der Aufarbeitung der Vergangenheit bekommt der Patient Einsicht in
seine Gewordenheit und damit die Möglichkeit, sich zu verändern.
Nacherleben und Einsicht sollen in Richtung auf eine Emanzipation der Person von
unbewussten und einengenden Bedingungen zusammenwirken.
Neben der Psychotherapie sind psychoanalytische Konzepte in vielen anderen
praktischen Bereichen angewandt worden. Vor allem in der psychosexuellen
Erziehung oder im Umgang mit Gewalt und Aggression.
Konversion. Ein Konflikt wird nicht psychisch durch das Ich bearbeitet, sondern in
somatische Symptome umgesetzt. Beispiele: Lähmungen, Schmerzen,
psychosomatische Krankheiten. Hier drücken sich die verdrängten Inhalte im
Körper aus.
Verschiebung. Bedürfnisse und Triebe werden auf ein Ersatzobjekt verschoben.
Rationalisierung. Triebhaften Gefühlen, Gedanken oder Handlungen wird eine
„vernünftige“ und moralisch akzeptable Begründung unterschoben.
Sublimierung. Neutralisierung libidinöser oder aggressiver Energien
(Desexualisierung, Desaggressivierung), die dann anderen Zielen zugeführt wird,
z.B. geistigen oder künstlerischen Tätigkeiten. Sublimierung ist nach Freud eine
Voraussetzung für jede Gesellschaft und Kultur.
Die Abwehrmechanismen sind einerseits notwendige Schutzmaßnahmen des Ich,
um mit Triebregungen fertig zu werden. Andererseits sind sie aber auch Zeichen
einer Ichschwäche und eine Quelle von Fehlentwicklungen. Am gefährlichsten ist
die Verdrängung, da sich verdrängte Inhalte in neurotischen und psychotischen
Symptomen ausdrücken. Die anderen Abwehrformen verhindern aber ebenfalls,
dass sich eine Person mit ihren Triebregungen auseinandersetzt. Hier zeigt sich,
dass bei Freud die Grenzen zwischen normalem und pathologischem Erleben und
Verhalten fließend sind.
! Sie fördert die Selbstreflexion des Menschen, vor allem über seine irrationalen,
"triebhaften" Anteile.
! Sie wirkt durch das Aufdecken von unbewussten Motiven und das
Durchschauen von Personen interessant und spannend.
! Sie sieht den Menschen als ein Wesen, das seinen Charakter durch Konflikte
entwickelt.
! Sie stellt einen engen Zusammenhang zwischen individuellem Leben und der
umgebenden Gesellschaft her.
! Sie löst die Grenzen zwischen normalem und pathologischen Verhalten und
Erleben auf.
In der Wissenschaft darf keine Aussage und keine Theorie ausgeschlossen werden.
Sie muss sich aber der empirischen Überprüfung stellen, die mit verschiedenen
Methoden erfolgen kann. Hier besteht für die Psychoanalyse erheblicher Nachhol-
bedarf.
Am strittigsten ist sicher die psychoanalytische Therapie. Es sind viele
Behandlungsmethoden entwickelt worden, die schneller und gezielter helfen. Die
passive Haltung des Analytikers, der nur deuten darf, und der hohe Anspruch einer
Persönlichkeitsänderung können zu einer unendlichen Analyse führen. Auch die
Abschottung vor jeder Kontrolle oder Evaluation ist eine Schwäche der
psychoanalytischen Behandlung.
Literatur
Für an der Psychoanalyse Interessierte empfiehlt sich auf jeden Fall die Lektüre
der Schriften von Freud, die zwar nicht immer leicht verständlich sind, aber durch
ihre Sprache beeindrucken. Sehr geeignet ist die Studienausgabe im S. Fischer
Verlag, die im ersten Band die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
enthält. Alle wichtigen Schriften gibt es auch als Taschenbücher.
Brenner, C. (1968), Grundzüge der Psychoanalyse. Frankfurt: Fischer.
Goeppert, S. (1976). Grundkurs Psychoanalyse. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt.
Freud, Anna. (1936) Das Ich und die Abwehrmechanismen. München: Kindler.
Heiss, R. (1964). Allgemeine Tiefenpsychologie. Bern/Stuttgart: Hans Huber.
Hoffmann, S. O. (1994). Psychoanalyse. In R. Asanger & G. Wenninger (Hg.), Handwörterbuch
Psychologie. Weinheim: PsychologieVerlagsUnion, S. 579-586.
Kriz, J. (1994). Grundkonzepte der Psychotherapie. Eine Einführung. Weinheim:
PsychologieVerlagsUnion.
Kurz, Frieda (1993). Zur Sprache kommen. Psychoanalyisch orientierte Sprachtherapie mit Kindern.
München: Ernst Reinhardt Verlag.
Laplanche, J. & Pontalis, J.-B. (1973). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Loch, W. (Hg.).(1983). Die Krankheitslehre der Psychoanalyse. Stuttgart: Hirzel.
Rapaport, D. (1970). Die Struktur der psychoanalytischen Theorie. Stuttgart: Klett.
Kraiker, Ch. (1980). Psychoanalyse, Behaviorismus, Handlungstheorie, Theoriekonflikte in der
Psychologie. München: Kindler.
Laplanche, J. & Pontalis, J.B. (1972). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Miller, D.R. & Swanson, G.E. (1966). Inner conflict and defense. New York: Schocken Books.
Wyss, D. (1961). Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht.
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Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 58
Humanistische Psychologie
1. Zur Geschichte
Unter dem Etikett Humanistische Psychologie werden verschiedene Ansätze
gebündelt, die sich in den Vereinigten Staaten als "Dritte Kraft" neben
Behaviorismus und Psychoanalyse herausgebildet haben. "Immer mehr Menschen
beschäftigten sich angesichts der wachsenden persönlichen, zwischenmenschlichen
und kulturellen Entfremdung durch die rasante Technologieentwicklung,
zunehmende atomare Bedrohung und steigende Umweltzerstörung mit der Frage
nach dem Sinn und Wert des Lebens" (Hinte & Runge, 1994. 300). Die
humanistischen Psychologen suchen Antworten auf diese Frage. Als Geburtsstunde
lässt sich 1962 die Gründung der "American Association of Humanistic Psychology
(AAHP)" angeben. Zu den Gründungsmitgliedern gehören Abraham Maslow, Carl
Rogers, Rollo May und die deutsche Psychologin Charlotte Bühler.
In Deutschland hat die humanistische Psychologie zwar deutliche Spuren in
verschiedenen Praxisfeldern hinterlassen, die akademische Breitenwirkung war
bisher jedoch gering. Erst seit einigen Jahren werden humanistische Ansätze
aufgegriffen und weiterentwickelt. 1990 wurde die "Neue Gesellschaft für
Psychologie (NGfP)" und 1992 ihre Zeitschrift "Journal für Psychologie" gegründet.
Damit haben humanistische Ansätze auch in Deutschland eine akademische
"Infrastruktur" aufgebaut.
2. Grundannahmen
Sache mit Ehrfurcht und Liebe gegenüberzutreten, Zweifel und Misstrauen aber
gegebenenfalls zunächst vor allem gegen die Voraussetzungen und Begriffe zu
richten, mit denen man das Gegebene bis dahin zu fassen suchte."
Östliche Philosophie. Auch Inhalte östlicher Philosophie sind von humanistischen
Psychologen aufgegriffen worden: Erich Fromm, Fritz Perls und Carl Rogers haben
sich mit Buddhismus, Taoismus und Zen beschäftigt.
befriedigt werden, bevor ein höheres Bedürfnis aktiviert wird und das Handeln
bestimmt. Hier eine nähere Beschreibung der Motivgruppen:
Physiologische Bedürfnisse: Hunger, Durst, Sexualität. Sie werden als drängend
erlebt (auch Mangelbedürfnisse).
Sicherheit: Schutz vor Schmerz, Angst, Furcht; Bedürfnis nach Ordnung und
Gesetzlichkeit.
Soziale Bindungen: Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit, sozialer Anschluß,
Identifikation.
Selbstachtung: Leistung, Geltung, Zustimmung, Akzeptanz.
Selbstverwirklichung: Wachstum, Entfaltung aller Fähigkeiten, persönliche
Identität, Sinnstiftung,Verantwortung, Glück.
Selbstverwirklichung und persönliche Identität sind die höchsten Ziele
menschlichen Strebens. Sie werden nur erreicht, wenn die darunter liegenden
Motivklassen befriedigt sind ("Erst kommt das Fressen, dann die Moral"). Allerdings
werden Bedürfnisse oft durch ungünstige gesellschaftliche und soziale
Lebensumstände behindert.
Verantwortung. Der Mensch, der sich selbstverwirklicht, wird als kreativ und frei
beschrieben. Er allein trägt die Verantwortung für sein Leben und kann diese nicht
an andere Menschen delegieren. Er selbst muss seinem Leben Sinn und
Orientierung geben. Hier klingt deutlich existenzphilosophisches Gedankengut an,
allerdings in einer optimistischen Variante: Der Mensch wird als "konstruktiv und
vertrauenswürdig" angesehen (Rogers, 1970, 193). Die Wertorientierung und die
Suche nach Lebenssinn trennen den Menschen grundsätzlich von anderen
Lebewesen.
Bewusstheit (awareness). Hiermit wird ein Zustand der Offenheit und
Aufmerksamkeit für das aktuelle Geschehen verstanden. Das Erleben in der
Gegenwart ist der Ausgangspunkt für Veränderung und Selbstverwirklichung.
"Nichts existiert außer dem Hier-und-Jetzt. Das Jetzt ist die Gegenwart, ist das
Phänomen, die Erscheinung, ist das, dessen du gewahr bist, ist der Moment, in dem
du deine sogenannten Erinnerungen und deine sogenannten Antizipationen mit dir
herumträgst. Ob du dich erinnerst oder vorwegnimmst, du tust es jetzt. Die
Vergangenheit ist nicht mehr. Die Zukunft ist noch nicht" (Perls, 1974, 49).
Das bewusste Leben in der Gegenwart ist vor allem eine Abkehr von der
rückwärtsgewandten Psychoanalyse. Egal was aus einem Menschen geworden ist,
seine Konflikte können nur in der Gegenwart bearbeitet und aufgelöst werden.
3. Bevorzugte Methoden
Alle Methoden, die den Menschen manipulieren, analysieren und auf bestimmte
Reaktionen reduzieren, werden abgelehnt. Bevorzugt werden "weiche" qualitative
Methoden wie Selbstbeobachtung, teilnehmende Beobachtung, Interviews. Der
Auswertung von Werken wie Tagebücher, Briefe, Bilder wird eine größere
Bedeutung als in den anderen psychologischen Strömungen zugemessen. Bei den
qualitativen Methoden stehen nicht exakte Messung und statistische Auswertung im
Vordergrund, sondern eine möglichst breite Erfassung von Erleben, Verhalten und
Werken. Der humanistische Psychologe sieht sich nicht als distanzierter
Wissenschaftler, sondern als engagierter Teilnehmer in einem gemeinsamen
Forschungsprozess. Es gibt also keine Versuchspersonen, sondern gemeinsam an
Veränderungen arbeitende Partner. Der Wissenschaftler muss sich dabei der
politischen Dimensionen seiner Forschungen bewusst sein und er muss engagiert
Stellung beziehen.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 61
4. Anwendungen
Die humanistische Psychologie hat in vielen sozialen Praxisfeldern ihre Spuren
hinterlassen.
Psychotherapie. Innerhalb der humanistischen Psychologie wurden Therapie-
formen entwickelt, die vor allem der Selbstfindung und -verwirklichung dienen
sollen, z. B. Gestaltherapie, Sensitivity Training, Klienten- oder personenzentrierte
Psychotherapie Die aus letzterer in Deutschland entstandene Gesprächstherapie
hat sich neben der Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse etabliert (Tausch,
1968, s. Abschnitt 5). Diese Richtung ist sehr um empirische Fundierung, Kontrolle
der Therapie und Evaluation der Erfolge bemüht.
Gruppendynamik. Zur Arbeit mit Gruppen haben sich Verfahren aus der
humanistischen Psychologie in der psychosozialen Praxis etabliert, so z. B.
Selbsterfahrungsgruppen, Themenzentrierte Interaktion (TZI), Workshops,
Kommunikationstraining. Dabei geht es primär um alltägliche, nicht therapeutische
Prozesse. Hier ist ein gewisser Wildwuchs entstanden, da die Kommerzialisierung
Konkurrenz und Aufsplitterung begünstigt. Es wurden zahllose gruppendynamische
Übungen entwickelt, von denen nicht alle einen seriösen wissenschaftlichen
Hintergrund aufweisen können,
Organisationsentwicklung. Hier geht es um die Gestaltung von Unternehmen,
Betrieben und Non-Profit-Institutionen (z.B. Schulen, Gefängnisse). Die
psychologischen Tätigkeiten sind Consulting (Beratung), Coaching (Betreuung) und
Training (Einübung), um Veränderungen zu erreichen, die von allen Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen als sinnvoll erachtet und auch getragen werden. Die
humanistische Psychologie hat etliche Management-Konzepte beeinflusst:
Lernende Organisation, Unternehmenskultur, Human resources u.a.m.
6. Bewertung
Die humanistische Psychologie verbreitet ein sympathisches und positives
Menschenbild und kommt besonders bei Personen gut an, die sich mit
psychosozialen Problemen und persönlichen Konflikten auseinandersetzen. Die
Anerkennung jedes Menschen als eigenständige Person, die individuelle, soziale,
kulturelle und ethische Verwirklichung anstrebt, ist eine Position, die für viele
Menschen auch eine philosophische Orientierung bietet. An kritischen Einwänden
gegen die humanistische Bewegung hat es von Anfang an nicht gefehlt:
1. Die Humanistische Psychologie greift wahllos in die philosophische Tradition
und bedient sich mit verschiedenen theoretischen Bestandteilen, die in der
psychologischen Praxis dann aber kaum noch zu finden sind.
2. Die zentralen Begriffe der humanistischen Psychologie werden als zu unscharf
und vorwissenschaftlich bezeichnet: Selbstverwirklichung, Freiheit, Ganzheitlichkeit
usw. Die Theorien sind schwammig formuliert und deshalb schwer überprüfbar.
3. Die Bevorzugung von qualitativen Methoden wird von naturwissenschaftlich
orientierten Psychologen als problematisch angesehen. Die humanistische
Psychologie macht oft den Eindruck einer geisteswissenschaftlichen Disziplin. Der
Übergang zu esoterischen und spekulativen Ansätzen ist fließend.
4. An manchen humanistischen Richtungen wird eine zu starke Betonung der
Gefühle und eine anti-intellektuelle Haltung kritisiert: Es werde für eine
lustbetonte (hedonistische), alles Rationale ablehnende Lebensweise plädiert, die
Handeln nur an momentanen Gefühlen ausrichtet: "Verliert den Kopf und kommt
zu euren Sinnen", so eine Maxime von Fritz Perls.
5. Ein letzter Kritikpunkt betrifft die starke Konzentration auf die einzelne Person,
die sich vor allem mit der eigenen Selbstverwirklichung befasst. Hierin wird eine
bildungsbürgerliche und apolitische Grundhaltung gut situierter Schichten gesehen,
die Zeit und Geld zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit aufwenden können.
Bei aller Kritik besteht aber kein Zweifel daran, dass die humanistische Psychologie
Themen behandelt, die andere psychologische Richtungen vernachlässigen oder
aussparen.
Literatur
Bühler, Ch. & Allen, M. (1982). Einführung in die humanistische Psychologie. Stuttgart: Ernst Klett.
Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 63
Hinte, W. & Runge, R. (1994). Humanistische Psychologie. In R. Ansanger &. G. Wenninger (Hg.),
Handwörterbuch Psychologie. Weinheim: PsychologieVerlags Union, S. 300-306.
Maslow, A. H. (1954). Motivation and personality. New York: Harper.
Metzger, W. (1963). Psychologie. Darmstadt: Steinkopf.
Quitmann, H. (1996). Humanistische Psychologie. Psychologie, Philosophie, Organisationsentwicklung.
Göttingen: Hogrefe.
Perls, F. (1974). Gestalttherapie in Aktion. Stuttgart: Klett-Cotta.
Rogers, C.R. (1991). Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Frankfurt am
Main: Fischer.
Tausch, R. (1968). Gesprächspsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
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Ballstaedt: Kurze Einführung in die Psychologie 64
Böse Zungen behaupten, die Psychologie sei eine Wissenschaft, die Fragen beanwortet, die
niemand gestellt hat, da entweder die Antworten längst bekannt sind oder die Fragen niemanden
interessieren.
Manfred Dörner
geprägt, es gibt keine gleichbleibende menschliche Natur. Wenn wir den Menschen
erforschen wollen, dann müssen wir Geschichte und unterschiedliche Kulturen
studieren. Einen Menschen des Mittelalters oder aus einer indianischen Kultur
können wir nur im Kontext seiner sozialen und historischen Bedingungen
verstehen. Immer wieder wurde der Psychologie der Vorwurf gemacht, sie erkläre
gesellschaftliche Phänomene psychologisch und neutralisiere sie sie damit politisch.
Wenn z.B. aggressives Verhalten Ausdruck eines biologischen Triebes ist, wird der
Blick von gesellschaftlichen Bedingungen der Gewalt abgelenkt.
Diesen Konflikt könnte man ganz pragmatisch lösen: Es gibt interessante und
wichtige Fragen zum Erleben und Verhalten von Menschen. Welche Disziplin sie
bearbeitet, ist eigentlich gleichgültig. In diesem Sinne haben sich einige Disziplinen
zur Cognitive Science zusammengeschlossen, um das intelligente Verhalten des
Menschen interdisziplinär zu erforschen. Einer derartigen Lösung widerspricht
aber das universitäre System der wissenschaftlichen Disziplinen, die die Realität in
Fakultäten, Fächer und Lehrstühle aufgeteilt haben.
Psychologie einer vertritt, hängt auch davon ab, was er selbst für ein Mensch ist.
Einige psychologische Richtungen übernehmen direkt philosophische Menschen-
bilder: so gibt es eine phänomenologische Psychologie oder eine existentialistische
Psychologie. Aber ein guter Psychologe ist sicher kein sturer Anhänger einer
Richtung oder Schule, sondern kann mehrperspektivisch und mehrdimensional
denken und zahlreiche Bedingungen berücksichtigen. Und er wird seine
Forschungsmethode der jeweiligen Fragestellung anpassen.
Contra
1. Die Anwendung von Psychologie ist verfrüht, da noch ein großer Graben
zwischen Grundlagen und Praxis liegt. Es gibt bisher keine Theorien, die
vergleichbar wie in der Physik - eindeutige Erklärungen und Prognosen erlauben.
Ein Beispiel bietet die Psychotherapie: Zahlreiche Richtungen suchen auf dem
Psychomarkt nach Kundschaft. Ihre wissenschaftliche Basis ist oft dürftig, ihre
Effektivität ist nicht untersucht. Die Quacksalber in der Medizin haben hier
Nachfolger gefunden.
2. Jede Anwendung von Psychologie ist manipulativ und deshalb ethisch nicht
vertretbar. Die Psychologen sind stets in der Gefahr, sich in Abhängigkeit von
fremden Zielen zu begeben. Die Rolle des Psychologen ist schwer durchschaubar
und entzieht sich oft der gesellschaftlichen Kontrolle. Beispiel: Die
Professionalisierung der deutschen Psychologie war z. B. im Nationalsozialismus
eng mit politischen und militärischen Zielen verbunden (Testtheorie, Auslese,
Rassentheorie, Persönlichkeitsbildung).
Pro
1. Je komplexer die modernen Gesellschaften werden, desto mehr psychische
Störungen treten auf. Professionelle Hilfe ist notwendig, um mit Phänomenen wie
Drogenabhängigkeit, Altersproblemen, Identitätskrisen, Psychosen usw. fertig zu
werden. Der Bedarf an psychologischer Beratung, Therapie und Prävention ist groß
und nimmt weiter zu. Es wäre inhuman, das psychologische Wissen nicht zum
Nutzen der Menschen anzuwenden.
2. Die Psychologie hat einen aufklärerischen und emanzipatorischen Effekt: Wenn
wir die Bedingungen des menschlichen Verhaltens durchschauen, können wir uns
selbst und unser Zusammenleben besser steuern und zufrieden stellender
gestalten. Die Anwendung psychologischen Wissens ist notwendig, damit die
Menschheit die anstehenden Herausforderungen der Globalisierung, der Ökologie
und der Ökonomie bestehen kann.
Schlusswort
Dieses abschließende Kapitel sollte die Spannungsfelder aufzeigen, in denen die
psychologische Forschung und Praxis steht. Eindeutige Antworten sind nicht
möglich, aber es ist wichtig, sich der problematischen Fragen bewusst zu sein, die
mit psychologischen Wissens verbunden sind.
Literatur
Bungard, W. et al. (1996). Perspektiven der Psychologie. Eine Standortbestimmung. Weinheim:
PsychologieVerlagsUnion.
Geuter, U. (1988). Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Herrmann, Th. (1979). Psychologie als Problem. Herausforderungen der psychologischen
Wissenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta.
Lück, H. E. (1991). Geschichte der Psychologie.Strömungen, Schulen, Entwicklungen. Stuttgart:
Kohlhammer.
Neel, Ann F. (1974). Handbuch der psychologischen Theorien. München: Kindler.
Pongratz, L.J. (1984). Problemgeschichte der Psychologie. Bern/München: A. Francke Verlag
Riegel, K. F. (1981). Psychologie, mon amour. Ein Gegentext. München: Urban & Schwarzenberg.
Rosenthal, B.G. (1974). Von der Armut der Psychologie - und wie ihr abzuhelfen wäre. Stuttgart: Ernst
Klett.
Schmidt, Nicole D. (1995). Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und
Perspektiven. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
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