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Die Archetypen der


männlichen Seele
2.1 Heiler – 37

2.2 Vater – 44

2.3 Krieger – 53

2.4 Wilder Mann – 60

2.5 Liebhaber – 66

2.6 Mystiker – 72

2.7 König – 84

A. Schick, Selbsterfahrung Mann, Psychotherapie: Praxis,


DOI 10.1007/978-3-662-44175-6_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
36 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Der Begriff der Archetypen wurde von C. G. Jung in die wissen-


schaftliche Diskussion eingeführt. Mit »Archetypen« sind bei ihm
»die Inhalte des kollektiven Unbewußten« gemeint (Jung 1993,
2 S.  8), und sie »stellen das Grundmuster instinktiven Verhaltens
dar« (Jung 1993, S. 46). In der Archetypologie, die dem Männer-
projekt zugrunde liegt, werden Archetypen als Urbilder mensch-
licher Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster verstanden. Diese sind
kulturübergreifende, kollektive innere Bilder, nach denen die Seele
reift und wächst. In der initiatisch-phänomenologischen Männer-
arbeit geht es vor allem um persönliche, individuelle Archetypen
im Unterschied zu archetypischen Symbolen und Konzepten wie
zum Beispiel »Geburt« oder »Anima«. Zudem sind hier weniger
die Archetypen als kollektive Seelenbilder und deren mytholo-
gische Verankerung von Bedeutung, als vielmehr deren Essenz-
aspekte. Unter Essenzaspekten werden die dem gereiften Arche-
typ zugrunde liegenden Seelenqualitäten verstanden. Für jeden
Archetyp arbeitete Walter Mauckner über die Jahre den Essenz-
aspekt heraus, den der Archetyp im Kern repräsentiert (. Tab. 2.1).
Viele archetypische Konzepte, wie beispielsweise der »Kreis«,
sind in ihren Grundmustern nicht bezogen auf die Polarität
»männlich – weiblich«. Einige persönliche Archetypen, wie etwa
der »Vater« oder die »Mutter«, stehen hingegen explizit für das
Männliche bzw. für das Weibliche. Das Entscheidende ist aller-
dings weniger, ob der jeweilige Archetyp weiblich, männlich oder
geschlechtslos ist, sondern, welches Geschlecht die Person hat, die
den Archetyp erfährt. Zentral ist die Beziehung zwischen der er-
fahrenden Person und dem Archetyp. Ein Mann erlebt zum Bei-
spiel den Heiler anders als eine Frau den Heiler bzw. die Heilerin.
Auch den Vater-Archetyp erfährt ein Mann anders als eine Frau,
und entsprechend gilt das für den Mutter-Archetyp. Archetypen
sind – in gewisser Weise – geschlechtslos, und – in gewisser Weise
– auch geschlechtlich. Abhängig davon, wer sich auf die Entde-
ckungsreise zu den Archetypen einlässt, formen sich die Arche-
typen anders aus. Männer und Frauen kommen dabei mit der
jeweiligen männlichen bzw. weiblichen Ausformung der Arche-
typen in Kontakt. Dies gilt auch unabhängig von der sexuellen
Orientierung eines Menschen.
Im Folgenden werden die sieben Archetypen der männlichen
Seele und deren Essenzaspekte vorgestellt, die dem Männerpro-
jekt »Die Heldenreise des Mannes« und dem initiatisch-phänome-
nologischen Therapieansatz insgesamt zugrunde liegen.
2.1 • Heiler
37 2
. Tab. 2.1  Die Archetypen der männlichen Seele und deren Essenzaspekte

Archetypen Qualitäten Essenzas- Körperzentren Verzerrung


(Aspekte) pekte (Chakren)
Spannungsfeld
Heiler – Seelentiefe Mitgefühl Herz – Opfertum
Verletzt sein – – Verletzbarkeit – Selbstmitleid
Ganz sein – Offenheit – Resignation
– Empfindsamkeit – Helfersyndrom
– Empathie
Vater – Männliche Identität Stärke Herz – Abwertung/Überhöhung
Unterstützung – – Unterstützung Wurzelchakra des Weiblichen oder
Herausforderung – Anbindung Männlichen
– Erdung – Macho/Softie
Krieger – Entscheidungskraft Wille Hara – Gewalt
Aggression – – Konfliktfähigkeit – Starrheit
Hingabe – Kontakt – Blinder Gehorsam
– Respekt/Disziplin
– Hingabe
Wilder Mann – Unabhängigkeit Freiheit Wurzelchakra – Verweigerung
Autonomie – – Wildheit – Verneinung
Nähe – Erdverbundenheit – Pseudo-Autonomie
– Risikobereitschaft
– Unkonventionalität
Liebhaber – Leidenschaft Liebe/ – Solarplexus – Sucht
Individualität – – Sexualität Freude – Herz – Exzentrik
Intimität – Eros (Sinnlichkeit)
– Begeisterungsfähigkeit
– Ekstase/Verschmelzung
Mystiker – Wissen/Weisheit Wahrheit/ – Stirn – Manipulation
Wissen – – Intuition Frieden – Scheitel – Rechthaberei
Nichtwissen – Präsenz – Fanatismus
– Spiritualität
– Demut
König – Führerschaft/Autorität Wert – Hals – Herrschsucht
Führung – – Dienst/Verantwortung – Scheitel – Kontrolle
Dienst – Fürsorge – Überverantwortlichkeit
– Fülle – Machtmissbrauch

2.1 Heiler

Der Heiler-Archetyp ist der Archetyp der Verletzlichkeit. Ein


mächtiger, mythologischer Heiler-Archetyp ist der des verletzten
Heilers. Einer der bekanntesten verletzten Heiler ist Chiron, der
griechischen Mythologie nach ein edler, gutherziger, weiser und
38 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

unsterblicher Zentaur, der durch einen vergifteten Pfeil unheilbar


verwundet wurde. Chiron war nicht nur ein Heiler, sondern auch
der Erfinder von Pfeil und Bogen und zudem der Lehrer vieler
2 griechischer Helden wie z. B. Achilles und Herkules. Auch Chris-
tus, der »Heiland«, sowie Schamanen sind archetypische Heiler-
Figuren. Der Essenzaspekt des archetypischen Heilers ist Mitge-
fühl. Verzerrte Aspekte und Ausprägungen des Heiler-Archetyps
sind Selbstmitleid, übertriebene Fürsorge (Helfersyndrom), Re-
signation und Opfertum. Neben der Verletzlichkeit repräsentiert
dieser Archetyp auch Qualitäten wie Empathie, Heilung, Offen-
heit und übergeordnet: Die Bereitschaft, der Wunde zu begeg-
nen. Für viele Menschen unseres Kulturkreises repräsentiert Jesus
Christus den Heiler-Archetyp in seiner reinsten Form, und auch
Mahatma Gandhi kann als Ausdruck dieses Archetypenaspekts
betrachtet werden. Das im gereiften archetypischen Heiler zum
Ausdruck kommende Verletzungs- und Heilungsprinzip ist nicht
nur in Menschen sichtbar, sondern auch in der Natur. So sind auch
Tiere und Pflanzen verletzt und wachsen mit ihren Verletzungen
würdevoll weiter.
»  Eintagsfliege
Auf einem Herbstblatt;
Gibt es etwas Vergänglicheres?
Und obwohl du humpelst
Und nicht weißt wohin,
Lebst du doch in Würde. «
Ralf, Männerprojekt 9

Verletzungen im initiatisch-phänomenologischen Sinne sind


nicht bzw. nur selten als blutende, körperliche Wunden zu verste-
hen, sondern vielmehr als Begrenzungen und psychische Verlet-
zungen, die jeder Mensch erfährt. Diese Verletzungen sind nicht
nur schmerzhaft, störend, einschränkend und so weiter, sondern
auf gewisse Weise auch lebendig und heilsam, indem sie Entwick-
lung anstoßen und Mitgefühl fördern. Der Heiler-Archetyp be-
wegt sich im Spannungsfeld zwischen »verletzt sein« und »heil
sein«. Alle Männer sind auch verletzte Männer, die eine Wun-
de mit sich tragen. Der Heiler steht für diese Wunde, für deren
Bedeutung und für deren Heilungsprozess. Wenn man mit dem
Heiler-Archetyp in Kontakt kommt, dann schwingt die Wirklich-
keit mit, dass alles auf unserem Planeten verletzt und »nicht heil«
ist. Aus einer Heiler-Perspektive betrachtet, ringen alle Menschen
um Heilung, und gleichzeitig bricht immer wieder die Wunde
auf, einhergehend mit Bedrohung und Schmerz. Gerade dieses
2.1 • Heiler
39 2
Spannungsfeld, das gleichzeitige Nebeneinander von Heilung und
Verletzung kommt im Bild des verwundeten, gestorbenen und
wieder auferstandenen Jesus Christus zum Ausdruck. In seiner
Heilsgeschichte wird das Kernprinzip spiritueller Entwicklung,
das »Stirb und Werde« klar beschrieben. Damit etwas heil und
ganz werden kann, muss etwas sterben. Dieses Prinzip ist, öffnet
man erst einmal Herz und Augen dafür, allgegenwärtig. Es zeigt
sich nicht nur im Christentum, sondern beispielsweise auch im
Buddhismus, dessen fundamentale vier Wahrheiten sich um das
Leiden drehen. Eine besonders einprägsame bildliche Darstellung
des archetypischen Heilers ist die im Isenheimer Altar dargestellte
Auferstehung Christi. Das Altargemälde zeigt eindrücklich, dass
beim Heiler nicht die Wunde im Zentrum steht, sondern vielmehr
die »Auferstehung« … mit, trotz, durch und wegen der Wunde.
Die unter dem auferstandenen Christus liegenden verkrümmten
Soldaten in ihren Rüstungen sind als die transzendierten, trans-
formierten Strukturen zu verstehen. Über diesen einengenden
Strukturen und gänzlich von diesen befreit steigt – voll Kraft und
Verzückung – der Heiland auf. Dieses Bild visualisiert das Prin-
zip der »Heilung mit den Wunden«. Die Wunde unterliegt einem
natürlichen Heilungsprozess, und als Erinnerung an die Wunde
bleibt ein Wundmal. Im Wesentlichen geht es darum, die Wunde
– bildlich gesprochen – ans Licht zu holen, damit sie nicht mehr
aus dem Unbewussten heraus wirken muss.
In der Erforschung der Wunde wird deutlich, wie sehr Männer
(und Frauen) häufig ihr ganzes Leben nach der Wunde ausrich-
ten und wie sehr diese ihr Leben prägt. Sie wird in den verschie-
densten Kontexten immer wieder aktualisiert, meldet sich und
erinnert an eine tiefe Wahrheit, auch wenn sie äußerlich geheilt
ist. Individuelle Reaktionen auf Verletzungen sind immer wieder
ein Spiegel dafür, wie weit wir schon gegangen sind, ob und wie
stark wir bei aktuellen Verletzungen weiterhin aus unserer alten,
tiefen Verletzung – der Wunde – heraus agieren, oder inwieweit
hier schon Heilung geschehen ist. Ohne das Prinzip der Wunde
zu kennen und verstanden zu haben, wird uns unsere tiefe Verlet-
zung immer wieder in alte Bahnen und Reaktionsmuster zwingen.
Insofern ist Heilung auch ein Prozess des »Frei werdens« für das
Leben mit der Wunde, ohne dass diese unser Leben bestimmt.
Der Umgang mit Verletzungen ist so gesehen auch ein Parameter
des spirituellen und psychologischen »Entwicklungsstandes«. Um
mit essenziellem Mitgefühl in Kontakt zu kommen, gilt es, die
eigene Wunde zu erforschen. »Der Heiler ist – spirituell und my-
thologisch betrachtet – ein Mann, der seine Wunde und damit das
40 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

‚Stirb und Werde’ in der Tiefe erforscht hat und in Zustimmung


ist zu seinem So-Sein« (Walter Mauckner). Jeder, der sich für den
Heiler-Aspekt zu interessieren beginnt, beginnt sich für das Span-
2 nungsfeld zwischen verletzt sein einerseits und heil sein anderer-
seits zu interessieren. Der Heiler stellt sich dem Grundprinzip,
dass wir in einer verletzlichen und einer verletzten Welt leben.
Verletzung ist ein Ur-Prinzip. Bereits die Geburt ist eine Verlet-
zung im Sinne einer Trennung von der Einheit, und Verletzungen
können auch schon vorgeburtlich stattfinden, wenn beispielswei-
se ungeborene Kinder abgelehnt werden. Obwohl Verletzungen
in jeder Lebensphase stattfinden können, sind frühe Verletzun-
gen meist einschneidender, und spätere Verletzungen häufig nur
Aktualisierungen alter, früher Wunden. Eine gute konzeptionelle
Analogie für dieses Verständnis von Verletzungen ist das Bild ei-
nes Baumes. In den Zweigen und Ästen spiegeln sich die indivi-
duellen Ausformungen unserer Verletzungen wider. Erforschen
wir sie, werden sie sich im Kern ähnlich und führen zum Stamm
und letztlich zu den drei Urverletzungen oder Grundnöten des
Menschen (vgl. Dürckheim 2009, S. 63):
1. die Angst vor dem Tod (wir alle werden sterben),
2. die Verzweiflung am Widersinn (letztlich verstehen wir den
Sinn des Daseins nie ganz),
3. die Trostlosigkeit der Einsamkeit (im Kern sind wir alle allein).

Diese drei Grundverletzungen beziehen sich allesamt auf das Ich,


also auf die Struktur. Erst wenn wir unser Welt-Ich transzendie-
ren, wenn wir erwachen, sind diese Grundnöte keine Grundnöte
mehr und das Leid ist überwunden. Verletzung bezieht sich somit
immer nur auf unsere Form und unsere Struktur. Das Wesen der
Seele, die Essenz, ist hingegen nicht verletzt und nicht verletzlich.
Der Heiler schaut auf diese Ur-Wirklichkeit und tritt mit ihr in
Kontakt und damit aus dem Spannungsfeld von »verletzt sein –
ganz sein« heraus. Er erweitert den Blick auf das Wesentliche, auf
das, was wir hinter allen Wunden sind. Aus diesem Schauen er-
wächst ein tiefes Mitgefühl, weil der Heiler sowohl die Verletzung
als auch den unverletzbaren Wesenskern sieht. Er versteht, dass es
schier unmöglich ist, gänzliche Heilung zu erfahren, weil diese nur
geschehen kann, wenn man ganz und gar auf seinen Wesenskern
Bezug nimmt. Das erst wäre das vollkommene Heil-Sein, und
zwar unabhängig davon, ob der Körper stirbt. Der Heiler kann
sich auf das Wesen beziehen, und daraus erwächst sein großes
Mitgefühl für die Menschen. Er will heilsam sein und dabei helfen,
zum Wesenskern vorzudringen. Diese Energie ist in jedem von
uns angelegt. Wir alle wollen im Grunde das Spannungsfeld des
2.1 • Heiler
41 2
Heilers in das Höhere heben und es transzendieren, sodass wir uns
auf unser essenzielles Wesen beziehen können und in unserem
Leben unabhängig von unseren Verletzungen sind.
Der Urgrund psychischer, spiritueller Verletzungen ist das Ge-
fühl, Wesensanteile verloren zu haben bzw. keinen Zugang mehr
dazu zu haben. Nähern wir uns unserer Verletzung, dann fühlen
wir Schmerz. Der Schmerz ist aber nicht die Verletzung selbst. Die
Erforschung der Wunde führt allerdings meist über das Fühlen des
Schmerzes. Wird der Schmerz in seiner Tiefe erforscht und durch-
drungen, dann gelangt man fast automatisch zur Wunde. Für den
(Selbst-) Erforschungsprozess der Wunde ist eine feine Differen-
zierung notwendig. Es geht hierbei nicht um ein masochistisches,
falsch verstandenes »männliches« »Spüre den Schmerz!«, sondern
um das heilsame Erfühlen und Erforschen der Wunde. Beim Füh-
len des Schmerzes zu bleiben, ist keineswegs gleichbedeutend da-
mit, dem Schmerz anzuhaften, ihn wehleidig zu umkreisen oder
ihn wild auszuagieren. Es geht darum, der Wirklichkeit der Ver-
letzung und der Wunde wach und aufmerksam zuzustimmen und
die Wunde ganz zu fühlen, sie »gänzlich zu nehmen«. Gelingt dies,
kann sich das Erleben komplett ändern. Wird der Raum der Wun-
de betreten, der jenseits des Schmerzes liegt, dann tauchen dort
meist ganz andere Qualitäten auf, die zu erforschen sich lohnt.
Auf diesem Verständnishintergrund dient die Verletzung letztlich
dem Wesen, dem Wesentlichen, dem Mitgefühl, der Freude und
im Kern der Ganzwerdung. »Die Verletzung ist auch ein Tor zur
Seele. Durch die Wunde gelangen wir zur Essenz. Darum spre-
chen wir von der Würde der Wunde, und es ist bedeutsam, der
Wunde zuzustimmen. Über die Zustimmung zur Wunde und das
tiefe Verstehen des ‚Stirb und Werde’ können sich alte Strukturen
und alte Selbstbilder auflösen. Mittels dieser Haltung öffnen sich
neue Räume und Heilung kann geschehen« (Walter Mauckner).
Wenn man die eigene Wunde erforschen möchte, so hilft es,
eine körperliche Entsprechung für sie zu erspüren, sich also auf
die Suche nach einer körperlichen Lokalisierung der Wunde zu
machen. Wenn man seine Wunde eingekreist hat, sprich eine Ah-
nung davon hat, wie und was die eigene Wunde ist, dann besteht
somit der nächste Schritt darin, die körperliche Entsprechung zu
erfühlen und zu erforschen. In den meisten Fällen werden die
körperlichen Entsprechungen der Wunden auf der Chakren-
Achse (z. B. Stirn, Kehle, Bauch, …) wahrgenommen. Die Verlet-
zungen, die im Kontext des Heiler-Archetyps und der gesamten
initiatisch-phänomenologischen Arbeit gemeint sind, sind meist
in der frühen Kindheit (0 bis 3  Jahre) geschehen. Wenn einem
Kind derartige Verletzungen zugefügt werden, wenn es also bei-
42 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

spielsweise Vernachlässigungen, Übergriffe und so weiter erfährt,


so treffen diese Angriffe auf einen offenen Organismus, der auf
derartige Verletzungen unter anderem dadurch reagiert, dass er
2 körperliche Strukturen zum Schutz entwickelt. Erst im weiteren
Entwicklungsverlauf können und werden auch entsprechende
psychische Abwehrstrukturen entwickelt. In der frühen Kindheit
werden Verletzungen jedoch reflexartig über die Ausbildung von
Körperstrukturen abgefangen, woraus sich dann Körperselbstbil-
der entwickeln (vgl. z. B. Lowen 2011). Diese »Reaktionsbildung«
findet auch bei Erwachsenen statt, ist dort aber nicht mehr so stark
ausgeprägt.
Werden die körperlichen Entsprechungen bzw. Ausdrucks-
formen früher Verletzungen erforscht, so kommt man mit dem
dahinterliegenden bzw. darin zum Ausdruck kommenden Thema
in Kontakt. Der Zugang über den Körper ist dabei manchmal di-
rekter und einfacher, als die bloße kognitive Auseinandersetzung
mit der Wunde. Viele Männer nehmen in derartigen Selbsterfor-
schungsprozessen zuerst ein Gefühl der Enge oder des Drucks
wahr und spüren manchmal Platten oder Panzer. »Bleiben« sie bei
dieser körperlichen Wahrnehmung, so verändert sich diese, und
es wird der Mangel gespürt, der sich häufig wie ein Riss, eine Stich-
wunde oder ein tiefes Mangel-Loch anfühlt. »Neben den Erinne-
rungen und Affekten erfährt man die emotionale Verletzung als
eine Wunde« (Almaas 2003, S. 140). Diese Wunde wird sozusagen
»inkorporiert« und nimmt den Charakter einer Öffnung an. Bleibt
man bei dieser Wahrnehmung und erforscht die Wunde auf diese
körperorientierte Weise weiter, wird hinter der Wunde häufig ein
Raum wahrgenommen, ein Raum, den man nur durch das Loch
oder den Riss der Wunde »betreten« kann. »Eine Wunde ermög-
licht es dem Geist oder der Seele einzudringen« (Bly 1993, S. 292).

Beispiel
»Ich wurde schon ganz früh verlassen«, erzählt F., »Meine Eltern
haben sich getrennt und mein Vater ist weggegangen, als ich fünf
war. Ich durfte nie richtig ich selbst sein. Überall wo ich hinkomme,
habe ich das Gefühl, ich bin hier fehl am Platz und gehöre nicht
dazu. Ich bin nicht gewollt«. Als F. diese Verletzung tiefer erforscht,
merkt er, dass sich sein Solarplexusbereich zusammengezogen an-
fühlt. Da sei eine »latente, permanente Spannung im Solarplexus-
bereich zu spüren. Es ist wie eine leichte Übelkeit«. »Wie würdest du
dieses Unwohlsein beschreiben?«, fragt Walter. »Da ist so was, wie
eine Eisenkugel in mir, die aber auch unter Strom steht«, antwortet
F. »Und was ist da drinnen? Was ist noch wahrzunehmen?« fragt
Walter weiter. »Da ist gar kein Raum. Alles ist eng und zusammen-
gezogen«. »Kannst du in die Stahlkugel reinfühlen? Welchen Raum
2.1 • Heiler
43 2
umschließt die Kugel?«, möchte Walter wissen. »Nein, da kann ich
nicht reinfühlen. Da ist nur Enge. Totales Nichts«. »Und wie fühlt
sich Nichts an?« lautet die nächste Frage. »Das ist so zusammenge-
zogen, da kann keiner sein«. »Fühl mal dieses Nichts, diese Enge,
in der nichts und niemand sein kann«, lädt Walter ihn ein. »Bleib
und spüre was geschieht, wenn du gleichzeitig in Kontakt mit mir
und mit der Stahlkugel bleibst«. »Irgendwie ist das traurig«, sagt F.,
und nach einer Weile spricht er weiter, »jetzt, wo ich die Traurigkeit
spüre, kommt da was in Bewegung. Die Trauer sagt: ‚Ich hätte so
gerne Kontakt, ich wäre so gerne dabei’, und wenn ich das ausspre-
che, wird es lebendiger da drin in der Kugel. Es ist jetzt so, als ob
es da drinnen so eine rote Farbe gäbe. Die rote Farbe fühlt sich
lebendig an, sie will sich ausdehnen, will raus. Es ist keine Trauer
mehr, es ist eher ein ‚ich will’, so eine aggressive Kraft, eine Wut.
Ich will hier dabei sein, ich will bei euch sein«. »Wie fühlt sich das
jetzt im Körper an?«, erkundigt sich Walter. »Auch der Körper wird
lebendig, fängt an zu kribbeln. Besonders im Bauch. Auch der Kon-
takt zu den Männern fühlt sich ein wenig anders an. Ich kann den
Kreis mehr wahrnehmen«. F. schaut in die Runde und sagt: »Ich bin
hier. Ich bin auch da«, und an Walter gerichtet: »Aus dem Solarple-
xus strömt eine Kraft in den Körper und in alle Extremitäten. Das
Rot breitet sich aus und mein Solarplexus beginnt zu pulsieren.
Ich kriege eine Lust auf die Welt. Ich will dabei sein und diese Lust
ausdrücken«. »Und wie fühlt sich nun der Körperraum an?«, fragt
Walter weiter nach. »Die Stahlkugel ist weg, und es ist jetzt eine
gelbe Kugel da. Da ist plötzlich viel Raum. Ein heller Raum, der sich
weitet. Der Raum hat eigentlich keine Grenze mehr. Er fühlt sich
grenzenlos an. Ich fühle mich weit, frei und grenzenlos. Ich fühle
mich total verbunden mit allem, so wie Eins, nicht mehr getrennt
und abgelehnt«. »Und wie ist das, wenn du dich jetzt umschaust?«,
lädt Walter ihn ein, weiter im Moment zu bleiben. F. schaut sich um
und lacht, und die Männer lachen zurück.

Das Phänomen der Wunde als Riss oder anders geartete Öffnung
wird und wurde von vielen Dichtern aufgegriffen. Genau da, wo
das Herz bricht, ist es stark. Es geht – im doppelten Wortsinn – um
Aufbruch. Die Wunde bricht auf und über das so entstandene Tor,
kann der Raum der Wunde betreten werden. Die Öffnung wird
somit als Zugang genutzt. Um zum Raum der Wunde zu gelangen,
muss jedoch zuerst der schützende Panzer, die Struktur, einen Riss
bekommen und eine Öffnung erhalten. Durch diese Öffnung kann
dann der Raum der Wunde betreten und Essenz erlebt werden.
Diese ist meist das Gegenteil dessen, was am Anfang der Erfor-
schung gefehlt hat bzw. als Mangel wahrgenommen wurde. In und
durch diesen Prozess der zustimmenden Erforschung der eige-
nen Wunde ist Unterstützung und Heilung plötzlich präsent, und
44 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

es kann erfahren werden, dass die Wunde nicht etwas Schlech-


tes und Störendes, sondern vielmehr etwas WUNDErbares ist!
In den poetischen Worten von Almaas (1997), bezogen auf die
2 »verschmelzende Essenz«, ausgedrückt: »Wenn man die Erfah-
rung der schmerzenden Wunde und die Erinnerungen, die mit ihr
verbunden sind, in Ruhe zulässt, dann wird das goldene Elixir aus
ihr fließen, sie heilen und die Leere mit der schönen, süßen Fülle
füllen, die das Herz schmilzt, den Geist leer macht und die Zufrie-
denheit bringt, nach der man gedürstet hat« (S. 140f).
Derartige Prozesse kann man zwar mit Worten beschreiben,
sie können jedoch nur durch eigene Selbsterfahrung in der Tiefe
erfasst und nachvollzogen werden. Ein Schritt auf diese Erfahrung
zu kann – bezogen auf die eigene Wunde – mit einer Inquiry zu
folgenden Fragen gemacht werden:
55 Wie erlebe ich mich als verletzt?
55 Wie habe ich Kontakt zu meiner Wunde?
55 Wann (in welchen Situationen oder Kontexten) spüre ich
meine Wunde?
55 Wie beeinflusst meine Wunde mein Leben und mein
Verhalten?
55 Wie, wodurch, von wem wurde ich verletzt?
55 Was ist die Ursache meiner Wunde?
55 Wie vermeide ich es, meine Wunde zu spüren?
55 Wie erlebe ich mich als »heil«?
55 Wo spüre ich meine Wunde körperlich?
55 Wie fühlt sich meine Wunde an?
55 Welche Gefühle tauchen auf, wenn ich mich meiner Wunde
annähere?

2.2 Vater

Das große Spannungsfeld des Vater-Archetyps ist das zwischen


Unterstützung/Stärkung einerseits und Herausforderung/Bedro-
hung andererseits. Wenn diese beiden Pole in einer »gesunden«
Balance sind, kann der Sohn sich darin mit seinen aggressiven
Anteilen und mit seiner Hingabe gut entfalten. Die Essenz die-
ses Archetyps ist unterstützende Stärke. Der Archetyp des Vaters
ist explizit polar konzipiert. Es gibt eine unterstützende, gesunde,
stärkende, aggressive, haltende Seite und eine herausfordernde,
verletzende, destruktive Seite. Bei der Annäherung an den Vater-
Archetyp geht es letztlich darum, den Vater gänzlich – mit seinen
beiden Seiten – zu »nehmen« und ihn als unterstützende und den
Rücken stärkende Kraft zu erfahren. Hierfür müssen Söhne nach
2.2 • Vater
45 2
Bly (1993) jeweils ein Zimmer für diese beiden Facetten des Vaters
einrichten, denn irgendwann ist es an der Zeit, den Vater nicht
mehr nur zu besuchen, sondern einen Ort vorzubereiten, an dem
er zu Besuch kommen kann. »Wenn wir noch keine zwei Räume
gebaut und eingerichtet haben, können wir nicht erwarten, dass
der Vater, tot oder lebendig, einzieht« (Bly 1993, S. 169). Wenn
Söhne nur ein Zimmer einrichten, dann fehlt die andere Hälfte.
Der Vater wird dann entweder idealisiert oder dämonisiert. Das
polare Prinzip wird beim Vater-Archetyp sehr deutlich, ist aber
auch ein übergeordnetes, allgemeines Prinzip. So haben auch der
König, die Mutter, die Natur und so weiter jeweils diese zwei Sei-
ten und Aspekte. Hinter dem Vater stehen die Ahnen, die unend-
liche Reihe derjenigen, die vor dem Vater waren, und der Vater
ist die Brücke zu dieser Ahnenreihe. Wenn Männer sich also dem
Vater-Archetyp annähern, dann begegnen sie zunächst dem Va-
ter, dann aber auch dem Vater des Vaters und allen Vätern davor
(und auch der Männerreihe hinter dem Vater der Mutter). All die
Männer in dieser Reihe wollen und sollen so genommen werden,
wie sie sind und nicht wie sie sein sollten. Mit dieser umfassenden
Vaterwirklichkeit gilt es, in Kontakt zu kommen. Hierfür ist die
Bereitschaft erforderlich, beiden Seiten des Vaters zu begegnen,
ihn auf diesen Ebenen herauszufordern und sich als Sohn zu stel-
len. Dieser Prozess muss im Übrigen nicht unbedingt leise und
liebevoll verlaufen.

Beispiel
Als B. an dem Punkt angelangt ist, seinen Vater zu »nehmen«, platzt
es aus ihm heraus: »Was soll ich denn da nehmen von diesem
Arschloch, diesem Erzeuger?! Der hat sich doch verpisst. Einmal
eine scharfe Liebesnacht mitgenommen und das war’s. Der hat
sich nie mehr gemeldet und Mama hing in den Seilen. Ich konn-
te dann zuhause kucken, wo es lang geht. Und jetzt soll ich hier
den Vater achten? Wofür denn? Was hat der denn beigetragen zu
meiner Entwicklung?! Nichts!« Und V. wirft seinem Vater in einem
Rollenspiel unter Tränen vor: »Du hast dich komplett aus meiner
Erziehung rausgehalten. Hast nie Stellung bezogen und das Feld
gänzlich Mama überlassen. Es ist zum Kotzen, wie du dich auch
in Gesprächen immer verpisst, dicht machst und dich feige hinter
Floskeln versteckst. Am schlimmsten waren jedoch deine Demüti-
gungen, und dass du mich einen Schlappschwanz genannt hast,
kann ich dir nicht verzeihen«.

Sobald der Sohn beginnt, sich für den Vater zu interessieren,


macht der Sohn eine Bewegung auf den Vater zu. Diese Bewe-
gung muss – initiatisch betrachtet – vom Sohn ausgehen und be-
46 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

zieht letztlich nicht nur den Vater, sondern auch die Väter vor
ihm mit ein. Söhne erkennen dann, dass alle Männer vor ihnen
auch verletzte Männer waren, und dass keiner ihrer Ahnen voll-
2 kommen war, sprich, dass sie auch negative Seiten hatten. Alle
Männer vor ihm, und auch er selbst, haben zwei Seiten, für die
ebenfalls zwei Zimmer eingerichtet werden sollten. Der initiati-
sche Prozess besteht in der Hinbewegung auf diese Vaterwirk-
lichkeit, in der das Jungenbewusstsein sterben wird. Eine beson-
dere Herausforderung ist dabei die Auseinandersetzung und die
Begegnung mit der Axt-Seite des Vaters (vgl. hierzu Bly 1993, S.
55ff), auf der sämtliche Verzerrungen dieses Archetyps wie etwa
übermächtige Väter, schweigende, zurückgezogene Väter, schla-
gende und herrschsüchtige, oder auch übervorsichtige Väter an-
gesiedelt sind (ein sehr eindrückliches Bild für diese pervertierten
Vater-Aspekte ist die Figur des Paten im gleichnamigen Film von
Francis Ford Coppola). Der Axt-Seite des Vaters darf der Sohn
mit der ganzen Wucht seiner eigenen Wirklichkeit begegnen und
dabei nichts außen vor lassen. Auf diese Weise gibt der Sohn dem
Vater die Ehre, sieht ihn in seiner Ganzheit und begegnet ihm in
seiner ganzen Kraft. Gegebenenfalls konfrontiert er ihn in diesem
Prozess mit einer Klage und mit seiner Sehnsucht und so weiter.
Ein Kontakt aus dieser kraftvollen Haltung heraus birgt auch das
Potential, den Vater aus seiner – häufig mit verschiedenen Vorhal-
tungen, Anklagen und Vorwürfen behafteten – Rolle zu entlassen.
Der Sohn verlässt dadurch seine Opferrolle und begegnet dem
Vater mit seiner männlichen Kraft. Er mutet sich ihm komplett
zu. Dieser Vorgang hat ein großes Heilungspotential. Nicht zuletzt
deshalb, weil Männer in dieser Auseinandersetzung mit dem Vater
auch erkennen können, wie ähnlich sie ihm sind. Im Bild von Bly
(1993) ausgedrückt: Der Sohn richtet dem Vater ein Zimmer für
dessen destruktive, negative, verletzende und abwertende Seite ein
und kann in diesem Prozess sein Herz für den Vater entdecken,
weil er dessen Verwundungen und Verletzungen erkennt.
Um in Kontakt mit der essenziellen Stärke des Vater-Archetyps
zu treten, müssen Söhne die Rolle des Opfer-Sohnes hinter sich
lassen und in eine Haltung von »Ich will den Vater! Ich will ihn, so
wie er ist!« gehen. Sie dürfen ihrem »Vaterhunger« nachgeben und
nachgehen. Dabei geht es nicht um eine physikalische Bewegung
auf den echten Vater zu, indem dieser beispielsweise gesucht oder
besucht wird. Entscheidend ist die innere, seelische Bewegung,
unabhängig von der äußeren, räumlichen. Auf einer tiefen Ebene
wird dadurch der Unterschied erkannt zwischen dem So-Sein des
Vaters – mit seinen beiden Seiten »nährender Vater« und »Axt-
Vater« – und der Vaterwirklichkeit, die völlig unabhängig von die-
2.2 • Vater
47 2
ser, wie auch immer ausgeformten Polarität ist. Walter Mauckner
nennt dies die »primäre Vaterwirklichkeit«. Damit ist gemeint,
dass es für den initiatischen Prozess nicht entscheidend ist, ob der
Vater noch lebt oder nicht, ob er ein nährender und unterstützen-
der oder ein strafender und gewalttätiger Vater ist oder war, oder
ob der Sohn den Vater kennt oder nicht. Entscheidend ist nur, dass
er der leibliche Vater ist, durch den das Leben an den Sohn wei-
tergegeben wurde. In diesem vordergründig simplen biologischen
Faktum vermittelt sich viel mehr, als man oberflächlich erkennen
mag. So verbindet uns diese männliche, väterliche Lebensenergie
mit unseren Vorvätern. Die Lebensenergie wurde über tausen-
de von Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben. Die
tiefere Bedeutung des leiblichen Vaters wird vor allem auch in
den Arbeiten von Bert Hellinger sehr deutlich (vgl. z.  B. Weber
1997), die unter anderem aufzeigen, welch teilweise dramatischen,
systemischen Auswirkungen es hat, wenn der leibliche Vater nicht
»genommen« wird. Die Bedeutung der Zieh-, Stief-, Adoptivväter
und Mentoren wird durch das Aufzeigen und Anerkennen dieser
Zusammenhänge in keiner Weise geschmälert, im Gegenteil: Die-
se Männer können dadurch zu mehr Kraft und Angemessenheit
in ihrer wichtigen Rolle finden.
In der Auseinandersetzung mit dem Vater-Archetyp wird im-
mer wieder sicht- und erlebbar, welch positive, heilsame Energien
freigesetzt werden, wenn die Bewegung zum leiblichen Vater voll-
zogen wird, und zwar völlig unabhängig von den realen Gegeben-
heiten. In und durch die Bewegung auf den Vater zu treten häufig
auch die Großväter, Ur-Großväter und so weiter auf, und das er-
forschende Interesse kann sich auch auf die Ahnenreihe richten.
Im Prozess der Annäherung an den Vater-Archetyp verstehen die
Söhne oft erst viele Zusammenhänge und Wechselbeziehungen
zwischen sich selbst und ihrem leiblichen Vater und verschiede-
nen weiteren Vaterfiguren in ihrer Tiefe. Ziel der Auseinanderset-
zung mit dem Vater-Archetyp ist jedoch nicht, den Vater ganz zu
verstehen, ihm zu verzeihen und dann wunderbare Vater-Sohn-
Gespräche mit ihm zu führen (was viele Männer als Konzept mit
sich herumtragen). All das darf natürlich gerne geschehen, ist aber
für den initiatischen Prozess der Anerkennung der primären Va-
terwirklichkeit nicht wesentlich. Stärkend ist nur das Nehmen des
Vaters in seiner Ganzheit, mit all seinen positiven und all seinen
negativen Seiten. Nur auf diesem Weg kommen Männer in Kon-
takt mit der essenziellen Stärke dieses Archetyps. Sie gehen aus
der Konfrontation heraus und in die Stärkeposition hinein, stellen
sich den Vater in den Rücken, und hinter ihm scheinen all die
Ahnen auf, in deren Reihe er steht. Männer reihen sich ein und
48 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

nehmen sich bewusst als ein Glied in einer langen (männlichen)


Ahnenreihe wahr. Die Erfahrung und das Wissen darum, in einer
langen Männer- bzw. Vaterreihe zu stehen, bewirkt eine starke
2 Unterstützung der eigenen Identität als Mann. Dieses Bewusstsein
führt zu einer essentiellen Stärkung i. S. einer fundamentalen Un-
terstützung im Leben.
Durch die Urwahrheit der Vater-Wunde hat der Vater-Arche-
typ eine besondere Nähe zum Archetyp des Heilers. In der Ausei-
nandersetzung mit dem Archetyp »Vater« wird unweigerlich auch
die Vater-Wunde berührt. Jeder Sohn hat eine spezielle Verletzung
durch den Vater erhalten, die in jeder Vatergeschichte deutlich
wird.

Beispiel
»Mein Vater war einfach nie da, er hat sich nie für mich interessiert,
hat nie was gesagt und immer nur geschwiegen«, sagt N., und
S. erzählt: »Mein Vater hat von mir Dinge erwartet, die ich nicht
erfüllen konnte. Leistungsmäßig auf allen Ebenen. Ich sollte den
gleichen Beruf wählen, was ich letztlich auch gemacht habe, und
dann habe ich dauernd zu hören bekommen, dass ich es falsch
mache, dass ich zu wenig mache, und dass ich einfach nicht fähig
bin«. Und immer wieder berichten Männer, dass sie vom Vater ge-
schlagen wurden, dass er die Familie terrorisiert habe, und dass
sie Angst vor ihm hatten. Während die einen unter einem »zu viel«
an Körperkontakt litten, zeigt sich bei anderen die Vaterverletzung
durch ein »zu wenig« an Berührung. »Papa hat mich nie, nicht ein
einziges Mal, in den Arm genommen, gestreichelt oder getragen«,
beschreibt E. seine Vaterwunde und seine tiefe Sehnsucht. Tiefe
Verletzungen kann es aber auch hinterlassen, wenn der Vater als
»totaler Versager« erlebt wurde, wie das bei L. der Fall war. »Vater
hat einfach nichts auf die Reihe gekriegt. Er war ein Komplett-Aus-
fall«. Die andere Seite der Medaille beschreibt C.: »Vater weiß im-
mer alles besser. Vater ist ein Genie, er ist unerreichbar. Er wird von
allen Menschen bewundert und ist richtig berühmt. Ich bin immer
nur der Sohn von …’«.

Kein Sohn kommt unverletzt durch die Vaterbeziehung (und


auch nicht durch die Mutterbeziehung und letztlich durch keine
Beziehung). Das So-Sein des Vaters wird dazu führen, dass der
Sohn verwundet wird. Er muss diesen Prozess nicht etwa aktiv
unterstützen, aber es ist äußerst förderlich, wenn sich Väter dieses
Prinzips bewusst sind, denn dann kann einiges, was nicht nötig
wäre, vermieden werden bzw., es können entsprechende Wege
und Ventile vorgehalten werden, um Dynamiken und Gefühle auf
konstruktive Weise zum Ausdruck kommen zu lassen. Im Um-
2.2 • Vater
49 2
kehrschluss erlaubt das Wissen um diese initiatischen Zusammen-
hänge nicht, sich rücksichtslos und verletzend zu verhalten, weil es
»ja eh passieren wird«. Es geht – wie in Vielem – um das Bewusst-
sein und das Wissen darum, wie es ist, und darum, das Leben auf
diesem Hintergrund zu leben und andere auf diesem Hintergrund
zu begleiten und bei ihrer Entfaltung zu unterstützen. Das Wis-
sen bzgl. der Vater-Wunde hilft Männern dabei, mit dieser tiefen
Verletzung besser umzugehen und sie in ihrer Wucht heilsam zu
berühren bzw. einen heilsameren Umgang damit zu entwickeln.
Das Verletzungsbewusstsein hilft dabei, »heiler« zu sein. Zudem
hat der Vater-Archetyp auch eine besondere Nähe zum Arche-
typ »König«. Auch der König hat die beschriebenen zwei Seiten,
wobei es beim König-Archetyp in erster Linie um die Essenz von
Wert geht und um Eigenschaften wie Führerschaft und Dienst.
Das Wert-Thema spielt aber insofern deutlich in den Vater-Aspekt
hinein, als dass im Verlaufe des Eintauchens in das Vater-Thema
immer klarer wird, dass der Vater seinen Wert nicht durch das
hat, was er gemacht, geleistet oder nicht geleistet hat, sondern al-
lein dadurch, dass er der leibliche Vater ist. Aus einer initiatischen
Perspektive betrachtet, ändert keine seiner Verhaltensweisen und
keine seiner Leistungen in der Tiefe etwas an seinem Wert. Für
den initiatischen Prozess ist es unerheblich, ob der Vater »gut«
oder »schlecht« war oder ist. Für den psychodynamischen Hin-
tergrund und für das Alltagsleben ist dies jedoch von erheblicher
Bedeutung.
Im Männerprojekt wird das häufig oberflächliche und meist
einseitige Vaterbild »umgeschrieben«, um so essentielle Stär-
ke, Unterstützung und Anbindung zu generieren. Auf dem Weg
zum Mann-Sein über den Kontakt mit der Vater-Qualität ist es
für Männer entscheidend, dass die Liebe des Vaters nicht mit der
Liebe der Mutter verglichen wird. Diese beiden Arten der Lie-
be sind nicht vergleichbar. In der Liebe des Vaters schwingt im-
mer auch seine Aufgabe mit, den Sohn auf die Polarität und die
Herausforderungen in der Welt vorzubereiten. Ein Vater ist auch
dazu da, den Sohn aus der mütterlichen Nestwärme herauszuho-
len in die Welt der Herausforderungen, der Konkurrenz und der
Spannungen. Auch diesen väterlichen Aufgaben gegenüber gilt es,
eine prinzipielle Zustimmung zu entwickeln. In der Trotzphase
und in der Pubertät ist es die Aufgabe des Vaters, seinen Kin-
dern Möglichkeiten zu eröffnen, ihre Affekte zu kanalisieren, sie
in herausfordernde, wachstumsorientierte Situationen zu bringen
und sie dort zu sichern. Auch in den »Sturm und Drang«-Phasen
sind der Vater oder entsprechende Mentoren als Orientierung und
Identifikationsfiguren für den werdenden jungen Mann auf dem
50 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Weg zum Mann-Sein gefragt. Das Männliche kann nur durch das
Männliche kanalisiert und gesteuert werden. Und genau das ist
die Aufgabe des Vaters und ggf. auch eines Mentors, der jedoch
2 im initiatisch-systemischen Sinne nicht gleich bedeutend wie der
leibliche Vater ist.
Der leibliche Vater ist der Schlüssel, das Tor zu den Vorvätern
und letzten Endes zur männlichen Ur-Kraft. Das, was vom Va-
ter kommt, ist schon längst gegeben: Das Leben. Dieses Wunder,
dieses Geschenk wirklich anzunehmen, ist eine Herausforderung,
denn es geht dabei darum, der Wirklichkeit des Vaters mit all
seinen positiven und negativen Seiten, und damit auch seiner he-
rausfordernden, verletzenden und gar quälenden Axt-Seite zu be-
gegnen. Auch die nur als nährend, gütig und unterstützend wahr-
genommenen Väter haben eine Axt-Seite. Nur wenn beide Seiten
gesehen und anerkannt werden, können Söhne beim Vater »an-
kommen«. Stand die Axt-Seite im Vordergrund, ist es oft schwer
vorstellbar, dass dieser reale Vater das Tor zur Kraft der primären
Vaterwirklichkeit sein soll. Es wirkt wie ein unlösbares Paradoxon
und ist meist nur durch eine veränderte Qualität des Schauens lös-
bar. Die Axt-Seite des Vaters bzw. das Annehmen dieser negativen
Seite stellt für Söhne meist eine große Hürde dar, eine Schwelle,
die es zu überschreiten gilt, um sich für die Kraft der primären
Vaterwirklichkeit zu öffnen. Das Tor ist auch hier wieder die Wun-
de, die Vater-Wunde. Die Wirklichkeit, so bedrohlich sie scheint,
hat in der Tiefe eine heilsame Wirkung. Sich dieser Wirklichkeit
zu stellen, die Axt-Seite und die Vater-Wunde ganz zu fühlen und
als Wirklichkeit ganz anzuerkennen, ist erneut eine große Heraus-
forderung, denn eine Stufe in diesem Prozess ist der Kontakt mit
tiefem Schmerz und existenzieller Angst.

Beispiel
In einem intensiven Atemprozess gerät Ch. in eine große Luftnot,
fängt an zu Würgen und beginnt, mit den Füßen seine Unterla-
ge wegzuschieben. Als ihn die Begleiter »erden«, seinen Füßen
Gegendruck geben und ihn halten, presst er heraus: »Ich muss
sterben, es ist so eng, ich halte das nicht aus«. Panik ist in seiner
Stimme. Ch. hat das Gefühl in Lebensgefahr zu sein. Der Körper-
kontakt zu den Begleitern, die ihn halten und stützen, beruhigt
ihn ein wenig. Axel fragt ihn: »Wo bist du?« und Ch. antwortet: »In
einer dunklen, sich zusammenziehenden Glocke, die mich vernich-
tet«. Sobald er den kraftvollen Halt der Begleiter spürt, die nun
mit allen Kräften anpacken müssen, läuft ein Zittern durch seinen
Körper. »Du bist hier, schau mich an und spür den Kontakt zum
Boden. Spürst du den Kontakt zur Erde, spürst du dein Becken auf
dem Boden?« fragt Axel ihn mit fester Stimme. »Ja«, antwortet Ch.
2.2 • Vater
51 2
und wird ruhiger. Langsam entspannt sich sein Körper, und »be-
wacht« von den Begleitern geht seine Atemreise sanft weiter. Ch.
entspannt sich immer mehr, und liegt schließlich erschöpft und
glücklich auf seiner Matte. »Da ist eine Weite, ein tiefer Friede und
eine Geborgenheit«, sagt er. In diesem Zustand verweilt er noch so
lange, wie es braucht.

Eine der vielfältigen Möglichkeiten, der emotionalen Konfronta-


tion mit dem Vater auszuweichen, ist es, dass der Sohn den Va-
ter schützt, indem er dessen Schuld auf sich nimmt, oder indem
er dem Vater großzügig vergibt oder mit ihm leidet. Eine andere
Ausweichvariante besteht darin, dem Vater dessen Schuld aus ei-
ner Opferrolle heraus ewig vorzuhalten, ihn beständig anzuklagen
und über den bösen Vater und sein verletzendes Verhalten zu jam-
mern. »Versöhnung und Heilung findet statt, wenn die Wunde,
die Schläge, die der Vater zugefügt hat, in all ihrer Wirklichkeit
erfasst und gefühlt werden, und wenn dem Vater dadurch die Ehre
gegeben wird, dass wir ihn nicht mehr entschuldigen, sondern ihn
auch in seiner Bedingtheit und Fehlerhaftigkeit achten« (Walter
Mauckner). Wenn der Sohn dem Fehlerhaften des leiblichen Va-
ters in der Tiefe zustimmt, kann er sich an das primäre väterliche
Prinzip anbinden. Die väterliche Liebe ist bedingt. Väter fordern
auch Leistung, setzen Grenzen und bestrafen und fördern so das
Wachstum und das Reifen ihrer Söhne. Selbst die Axt-Seite enthält
einen Wachstumsimpuls, ohne mit dieser Aussage die verletzen-
den und vernichtenden Seiten der Väter entschuldigen oder be-
schönigen zu wollen. Diesen Seiten zuzustimmen, bedeutet nicht,
dass Söhne jegliches negative und verletzende Verhalten des Va-
ters still erdulden sollten. Es geht vielmehr darum, die damit ein-
hergehenden Gefühle von Trauer, Verzweiflung, Wut, Hass bis hin
zu Mord-Energien anzuerkennen; anzuerkennen, dass der Sohn
durch den eigenen Vater verletzt wurde.
»  Father, why have you left me?
What have I done, to deserve this?
Father, why have you left me?
Oh father, why have you left me?
Father, what have I done?
Daddy, why did you leave me?
Daddy, why did you leave me alone?
What the fuck have I done, to deserve this?
Father, I need you to back me up
I need you to back me up
I need you, in my back
I need you, in my back
Cause there´s a hole in my soul
52 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

There´s a hole in my heart


And I need you, I need you
Father, father

2 I hate you
I love you
I miss you «
Perréa (Father – Power, Songlyrics)

Wird die Bewegung auf den Vater zu angetreten, so führt das meist
auch zu einem seelischen Solidaritätskonflikt, denn »auf den Vater
zu« impliziert »von der Mutter weg«. Mütter können die Annä-
herung des Sohnes an den Vater wohlwollend unterstützen oder
machtvoll blockieren. So kennen viele Männer den mütterlichen
Auftrag: »Werde bloß nicht wie dein Vater!« Stimmen Männer
trotzdem sowohl den verletzenden, negativen als auch den näh-
renden, positiven Seiten des Vaters zu, so richten sie ihm die bei-
den Zimmer in ihrer Seele ein. Diese Bewegung bindet die Söhne
rück an die Kraft ihres Vaters und an ihre männlichen Wurzeln.
Auf diese Weise wird der Vater zur Quelle der väterlichen männ-
lichen Energie und die Söhne schöpfen aus dieser Quelle Kraft für
das Leben und ihr Blick wird frei für ihr eigenes Leben.

Beispiel
C., der seinen Vater als »Samenspender« beschimpfte und ihn nie
kennengelernt hatte, machte sich nach dem Seminarabschnitt
zum Vater-Aspekt auf die Suche nach dem unbekannten Vater. Es
dauerte einige Zeit, bis er herausfand, dass sein Vater noch lebte,
und bis er dessen Adresse und Telefonnummer recherchiert hatte.
Dann vergingen wieder einige Tage, bis er den Mut fand, bei ihm
anzurufen. Wider Erwarten legte der Vater nicht auf, als er erfuhr,
wer da am anderen Ende der Leitung war, sondern lud seinen Sohn
ein, zu ihm zu kommen. Am vereinbarten Termin stand C. pünktlich
vor dem Haus seines Vaters, klingelte, und wurde von einem Mann
begrüßt, dem er zum Verwechseln ähnlich sah. Er sah ihm viel ähn-
licher, als all die anderen Familienmitglieder, die im Wohnzimmer
saßen. Als sein Vater ihm von seinem Leben erzählte, erkannte C.
auch in ihren Lebensgeschichten frappierende Ähnlichkeiten. »Wir
lebten und leben unsere Leben unglaublich ähnlich. Wir gehen die
Dinge auf unfassbar ähnliche Weise an. Selbst unsere Macken glei-
chen sich«, berichtete C. »Nun weiß ich, warum ich so bin wie ich
bin, und das macht mich frei loszulassen«.

Im leiblichen Vater repräsentiert sich für den Sohn die archety-


pische Vaterwirklichkeit. Dieser begegnet der Sohn viel unmit-
telbarer in der gelebten Wirklichkeit als bei den anderen arche-
typischen Aspekten. Von der Seelenwirklichkeit bzw. der trans-
2.3 • Krieger
53 2
personalen Wirklichkeit aus betrachtet, macht es allerdings keinen
Unterschied, ob es eine Repräsentanz eines Archetyps im Alltag
tatsächlich gibt oder nicht. Wie alle anderen Archetypen ist auch
der Vater-Archetyp jederzeit in uns anwesend und ein weiterer
Aspekt der männlichen Seele. Im Kontakt mit diesem Archetyp
verbinden wir uns mit dessen Essenz von Stärke und Unterstüt-
zung. Diese Verbindung kann angebahnt werden, indem man sich
– beispielsweise per Inquiry – folgender Fragen annimmt:
55 Wie ist der Kontakt zu meinem Vater?
55 Wie ist mein Vater verletzt?
55 Wie wurde ich von meinem Vater verletzt?
55 Wie ist mein Vater geachtet?
55 Was ist die »dunkle Seite«, die Axt-Seite meines Vaters?
55 Wie ist die »helle Seite« meines Vaters?
55 Wie erlebe ich Stärke in meinem Leben?
55 Habe ich zwei Zimmer für meinen Vater eingerichtet? Wie
sehen diese Zimmer aus?
55 Welche Ähnlichkeiten gibt es zwischen meinem Vater und mir?

2.3 Krieger

Der Krieger-Archetyp steht für Entscheidungs- und Tatkraft, für


das Spannungsfeld zwischen Aggression und Hingabe und für
den Essenzaspekt des Willens. Ein prototypischer Vertreter dieses
Archetyps ist zum Beispiel Nelson Mandela in seiner klaren poli-
tischen Linie und seinem ausgeprägten Willen, seiner Entschei-
dungskraft und seiner Konsequenz. In der Auseinandersetzung
mit dem Krieger-Archetyp ist es wesentlich, den Begriff »Aggres-
sion« (wieder) positiv zu konnotieren, denn Aggression wird von
vielen Männern äußerst negativ belegt. Häufig liegt das nicht nur,
aber auch daran, dass über die Mutterbeziehung bei den Söhnen
ein Anspruch verankert wurde »lieb« zu sein und kein aggressives
Verhalten zu zeigen. Söhne sollen – meist über unbewusste Kanäle
signalisiert – »nette« Männer sein bzw. werden. Aggressive männ-
liche Energie sollte jedoch nicht vorschnell negativ konnotiert,
sondern tiefer verstanden und kanalisiert werden. Der Krieger-
Archetyp ist insofern eine besondere Herausforderung für die
»braven« und »lieben« Männer.
»Die Energie, um die es beim Krieger geht, kommt im Pro-
zess des Laufen-Lernens deutlich zum Ausdruck. Wenn Kinder
damit anfangen, sich nicht mehr nur krabbelnd fortzubewegen,
sondern auf ihren eigenen Beinen zu stehen und zu laufen, dann
fallen sie sehr häufig hin. Mit einer Entschlossenheit und mit ge-
54 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

richteter Energie stehen sie jedoch immer und immer wieder auf,
um neue Gehversuche zu starten. In diesem frühen Lern- und
Lebensprozess wird schon das Spannungsfeld des Krieger-Arche-
2 typs zwischen Aggression einerseits und ausdauernder Hingabe
andererseits erkennbar« (Walter Mauckner). Aggression ist im
initiatisch-phänomenologischen Sinne nicht mit barbarischer
Zerstörungsenergie oder Ähnlichem in Verbindung zu bringen,
sondern mit dem aus dem Lateinischen kommenden aggredior:
heranschreiten, sich nähern. Aggression ist in ihrer Kernbedeu-
tung ein Verhalten, das der Realisierung einer Absicht dient, also
eine Form von gerichteter Energie und Klarheit.
Neben diesem Aspekt ist ein weiteres Kriegerthema »Entschei-
dung«. Krieger im initiatischen Sinne können sowohl entschei-
den, zu handeln, als auch entscheiden, nicht zu handeln, und sie
können auch die Energie einer Nicht-Entscheidung halten. Der
Krieger zeichnet sich somit nicht durch Entscheidungsfreudig-
keit im Sinne von wildem Aktionismus aus, sondern fällt seine
Entscheidungen aus dem essenziellen Willen heraus. Die Frage
danach, was Wille ist oder wie sich Wille anfühlt, ist eine philoso-
phische und spirituelle. In seiner Essenz ist Wille kein kindlicher
»Ich will«-Wille sondern eine Art von Unterstützung, die aus dem
Bauch kommt. Der Sitz des essenziellen Willens ist der Bauch und
nicht der Kopf! Essenzieller Wille ist eine unterstützende, tragende
Kraft, die wir, wenn wir unsere Seele öffnen, als Wille empfinden.
Auf dieser Ebene ist ein Krieger auch vom Soldaten abzugrenzen:
Der Soldat handelt nicht aus dem essenziellen Willen heraus. Sein
Wille ist vielmehr ausgelagert in das System (dessen Befehle er
ausführen muss).
Eine Möglichkeit, sich dem Willensbegriff sowohl inhaltlich als
auch konzeptuell anzunähern, ist Walter Mauckners Unterschei-
dung zwischen rotem, weißem und schwarzem Willen. Roter Wil-
le ist elementar und rücksichtslos. Roter Wille drängt ohne Rück-
sicht auf Verluste auf etwas hin. Verwundungen und Verletzungen
werden dabei in Kauf genommen. Am markantesten wird roter
Wille in der Pubertät sichtbar. »Ich will … und es ist mir sch…
egal, was ihr sagt. Eure blöden Regeln interessieren mich nicht die
Bohne. Ich will …!«. Auch in kindlichen Trotzphasen zeigt sich
roter Wille sehr deutlich im klaren »Nein!« oder »Ich will nicht!«
des Kleinkindes. Der rote Wille ist roh und ungezügelt und bringt
zum Ausdruck, »Ich will …, egal, was du willst!«. Andere Bezeich-
nungen für den roten Willen sind deshalb auch »Ich-Wille« oder
»kleiner Wille«. Auch der weiße Wille ist ein »Ich-Wille«. Aller-
dings ist der weiße Wille nicht so Ich-bezogen, wie der rote Wille,
sondern vielmehr bezogen auf das Gute. Auf diese Weise kann der
2.3 • Krieger
55 2
rote Wille transformiert werden, bleibt aber ein Ich-Wille, der sich
in dem Satz bündeln lässt »Ich will das Gute bzw. das Richtige.«.
Der weiße Wille impliziert, dass man es gut bzw. besser macht als
die anderen (z. B. die Eltern). Ein Krieger, der dem weißen Willen
gemäß handelt, ist eine Art roter Krieger, der die Moral auf seiner
Seite weiß. Illustriert wird dieses Willenskonzept sehr prägnant
in der Geschichte von Parzival (von Eschenbach u. Laurin 2004).
In seiner roten Phase kämpft Parzival gegen den roten Ritter, der
ihn abwertet und beschämt, woraufhin er ihn unfair und in Wut
umbringt. Anschließend lernt er die fairen Regeln des ehrenvollen
Kriegertums und wird zum weißen Ritter. Dem Guten, Richtigen
und Höflichen folgend stellt er auf der Gralsburg dann jedoch die
alles entscheidende Frage nach der Verwundung des Burgherren
nicht. Der weiße Wille begründete letztlich auch die Kreuzzüge,
die um des Guten und Richtigen willen, Unmenschliches zur Fol-
ge hatten. Der schwarze Wille schließlich transzendiert jegliche
Dualität und gehört keinem System mehr an. Dies wird deut-
lich, als Parzival seinem Bruder begegnet (einem schwarz-weiß
gefleckten), den er im Kampf nicht besiegen kann. Er kann sich
mit der alten Methode nicht mehr durchsetzen und wird letzt-
lich initiiert in das Schwarze. Aus dieser Haltung heraus stellt er
dann auf der Gralsburg die entscheidende Frage nach der Wun-
de und führt so Heilung herbei. Handlungen aus dem schwarzen
Willen heraus entspringen somit einer spirituellen Ebene jenseits
des Egos. Deshalb wird der schwarze Wille auch als der »große
Wille« bezeichnet, bei dem man in Kontakt mit der Essenz ist.
Die drei Farben rot, weiß und schwarz und ihre entsprechenden
Bedeutungen finden sich auch im Eisenhans (Bly 1993). Hier reitet
der Königssohn erst ein rotes, dann ein weißes und schließlich
ein schwarzes Pferd. Diese Reihenfolge beschreibt nach Bly »die
männlichen Geheimnisse des Verwundens und Wachsens« (Bly
1993, S. 281) und bildet letztlich eine Entwicklung »von der roten
Intensität über das weiße Engagement zur schwarzen Humanität«
(Bly 1993, S. 284) ab.
Ein gereifter Krieger ist in Kontakt mit dem schwarzen Willen
und fühlt ihn als unterstützende, tragende, ruhende und aufrich-
tende Kraft. Wille ist, wie jeglicher Essenzaspekt, eine potentielle
Energie, und aus essenziellem Willen erwächst Entschlossenheit.
Ein guter visueller Anker für »Entschlossenheit« ist ein Kamel
(und nicht ein feuriges Pferd, was intuitiv eher eine Analogie für
den Krieger-Archetyp sein könnte). Ein Kamel hat in sich das Wil-
lenspotential eines Kriegers, und dieses Energiepotential kommt
in einer großen Entschlossenheit und Ausdauer zum Ausdruck.
»Quelle und Ursprung des Handelns ist also nicht die Entschei-
56 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

dung, sondern eine entsprechende innerliche Ausrichtung. Ent-


scheidungen gründen – im Idealfall – auf Entschlossenheit, und
Entschlossenheit wird von Willen gespeist. Und genau zu dieser
2 Qualität hat der Krieger Kontakt« (Walter Mauckner). Wer aus
dieser Quelle heraus Entscheidungen trifft, kann gezielter wählen
und wird auch bereiter dafür sein, den Preis für die Wahl zu zah-
len. »Wähle und zahle den Preis« ist deshalb eine passende innere
Einstellung für einen initiierten Mann. Die Kraft für die Wahl, die
Entscheidung und das Tragen der Folgen kommt aus dem essen-
ziellen Willen. Die Essenz des Kriegers ist somit dieser essenzielle
Wille und nicht das Entscheiden. Aus dieser Haltung heraus blickt
der Krieger auf sein Leben und schaut kritisch darauf, wie er damit
umgeht … und manchmal erfordert die Nicht-Entscheidung (also
die Entscheidung, sich nicht zu entscheiden) eine viel größere
Entschlossenheit und einen viel stärkeren Kontakt zum essenzi-
ellen Willen als die Entscheidung, sich zu entscheiden und aktiv
zu werden.

Beispiel
Am dritten Tag des Krieger-Abschnitts wirft sich H. vor, dass er
sich »einfach nicht entscheiden« könne und erzählt, dass er seit
einem halben Jahr fremdgehe. Seine Frau wisse inzwischen von
dieser Außenbeziehung und fordere, dass er sie sofort beende. Er
habe das auch versucht, aber es gelinge ihm nicht. Seine Frau zie-
he sich zutiefst verletzt und gekränkt zurück. Inzwischen gebe es
keinen körperlichen Kontakt mehr zu ihr und sie habe auch den
emotionalen Kontakt abgebrochen. Das könne er sehr gut nach-
vollziehen. Er wolle sich aber weder von seiner Frau, noch von
seiner Freundin trennen. Er könne sich einfach nicht entscheiden.
Irgendwie sei ihm die Erfahrung mit der anderen Frau wichtig. Eini-
ge Männer im Kreis äußern, dass sie seine Frau sehr gut verstehen
könnten, und werfen ihm seine Entscheidungsschwäche empört
vor. H. ist verzweifelt. »Wie würdest du denn entscheiden, wenn du
entscheiden würdest«, fragt ihn Walter. »Ich kann mich für keine
entscheiden«. »Wenn weder für die eine noch für die andere, wofür
dann«, möchte Walter wissen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass
ich im Moment keine Entscheidung zwischen diesen beiden Frau-
en treffen will. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, und das ist
meine Schwäche«. Als er sich seine mangelnde Entscheidungskraft
weiter vorwirft, und sich weiterhin selbst beschuldigt, interveniert
Walter, indem er sagt: »Eigentlich hast du dich doch schon ent-
schieden. Du hast dich dafür entschieden, dich jetzt noch nicht zu
entscheiden, weil du noch Zeit brauchst, und ich sehe, wie du um
eine Entscheidung ringst. Es wird vielleicht noch einige Zeit brau-
chen, bist du klarer siehst, für welche Frau du dich entscheiden
willst und kannst«. Als er Walters Rückmeldung nachspürt, weicht
2.3 • Krieger
57 2
H.s vorwurfsvolle Härte einer entspannten Weichheit, die sich auch
auf seinem Gesicht widerspiegelt. Zuhause angekommen teilt er
beiden Frauen mit, dass er sich im Moment nicht für eine der bei-
den entscheiden wolle und könne, und dass er die Folgen dieser
Nicht-Entscheidung bereit sei zu tragen.

Neben »Entscheidung« ist ein weiteres Krieger-Thema »Kontakt«.


»Ein Krieger wählt den Kontakt, und dies ist ein aggressiver Akt.
Ohne Aggression im eigentlichen Wortsinn gibt es keinen Kon-
takt. Und ebenso gilt: Ohne Grenze kein Kontakt sondern Sym-
biose oder Auflösung. Kontakt braucht die Kontaktgrenze. In die-
sem Sinne wählt der Krieger den Kontakt über Aggression und
dies impliziert Hingabe« (Walter Mauckner). Jeder Kampf und
jede kritische Rückmeldung ist somit ein Ringen um Kontakt bzw.
eine Kontaktübung. Gerade für Männer sind offene und ehrliche
Rückmeldungen von großer Bedeutung. Im Spiegel anderer Män-
ner können sie sich betrachten, und auf diese Weise in Kontakt
mit sich selbst kommen. Ein Krieger schaut bewusst in den Spiegel
und holt sich – im übertragenen Sinne – auch ganz bewusst Rück-
meldungen. Er ist bereit dafür, sich zu spiegeln und seine Selbst-
bilder und seine Selbstwahrnehmung im Spiegel von anderen zu
hinterfragen. Im Kontakt und im Spiegel der anderen findet Ent-
wicklung statt. »Der Krieger-Archetyp repräsentiert einiges von
dem, was im Sinne einer neuen und eigentlich ganz alten Män-
nerkultur anzustreben ist: Dass sich Männer dessen bewusst sind,
wie sie wirken« (Walter Mauckner). Der Krieger-Archetyp steht
nicht dafür, unreflektiert den Kontakt und die Konfrontation zu
wählen, sondern dafür, den Kontakt auf dem Hintergrund einer
selbstreflektierten, selbstkritischen und offenen Basis zu wählen.
Hierfür ist eine geöffnete Wahrnehmung (einer der Verbünde-
ten, 7 Abschn. 3.6) nötig, die ein wesentlicher Aspekt des Krieger-
Archetyps ist. Um »einfach da zu sein« und zu schauen, was ist,
ist zudem auch ein ausreichend großes Maß an Disziplin nötig.
Es gilt, die Fixierung aus der Wahrnehmung zu entlassen, und
gleichzeitig fokussiert, geweitet und offen zu schauen. Es geht
um Kontakt mit geöffneter Wahrnehmung und um Bewusst-
seinserweiterung über die Rückmeldung durch andere, um so die
Selbstwahrnehmung zu schärfen. Hier wird die Kunst des Bleibens
und des aktiven Zustimmens (im Unterschied zum »Aushalten«),
die schon bei der Auseinandersetzung mit der Wunde wichtig ist,
wieder zentral. Beim Thema »Kontakt« geht es somit nicht nur um
Kontakt mit anderen, sondern auch um Kontakt zu sich selbst, zur
eigenen Verletzung, zu den eigenen Selbstbildern und so weiter.
Und für diesen Kontakt zu sich selbst brauchen Männer andere
58 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Männer, ein männliches Gegenüber und die Bereitschaft, diesen


Kontakt zu wählen und sich im Spiegel zu betrachten. Im Krieger-
Archetyp kommen viele Prinzipien und Inhalte zum Tragen, die
2 für die gesamte Männerarbeit von großer Bedeutung sind:
1. Die Wirklichkeit, in den Spiegel zu schauen.
2. Entschlossenheit, Disziplin, Ausdauer, Aggression und
Hingabe auf dem Hintergrund von Willen.
3. Dem eigenen Ruf zu folgen und das Leben als Heldenreise zu
begreifen.

Ein initiierter Krieger gibt sich den Naturkräften hin, verbindet


sich mit ihnen und nutzt sie mit klarer Entschiedenheit. Er geht
seinen Weg mit gerichtetem Willen, und er wird auch scheitern.
So bleibt er im Fluss und erlebt die Polarität von Lebendigkeit und
anhaftender Struktur, von »Stirb und Werde«, von Nährendem und
Versagendem. Der Krieger stellt sich diesen Polaritäten, bleibt und
nimmt beide Seiten. Auch in einem Boxkampf hat nur der Kämp-
fer eine Chance, der Hingabe und Zustimmung einerseits und
Aggression andererseits vereint. Wird nicht dynamisch zwischen
diesen Polen gewechselt, ist ein Kampf meist schnell entschieden.
Ein guter Kämpfer bewegt sich leichtfüßig zwischen beiden Polen,
bereit zum Angriff und zum Einstecken. Er ist geschmeidig und
durchlässig. Wie Muhammad Ali tanzt er im Kampf und »spielt«
mit dem Gegner. Wie Muhammad Ali versteht er es, beweglich
auszuweichen, entschieden zuzuschlagen, und wie dieser große
Boxer wird selbst ein reifer Krieger immer wieder auch scheitern
– und dadurch wachsen. Er hat gelernt, seine Aggression gerichtet
auszudrücken, sie zu »halten«, Grenzen zu fühlen und zu wahren.
Ist der Krieger im Mann noch nicht erwacht, so wird er über-
rannt, und der Mann hat kein Gefühl für seine Grenzen. Wenn er
nicht gelernt hat, seinen Raum angemessen zu schützen und zu
halten, kann Gewalttätigkeit die Folge sein, aber auch Aggressi-
onshemmung. Werden Aggressionen dauerhaft unterdrückt, kann
das auch zu einem Omnipotenzgefühl führen, und zu der Angst,
mit seiner Aggression alles zu zerstören. Ein gereifter Krieger ist
bereit, sich völlig hinzugeben und bereit, seine Grenzen mit aller
Kraft und Bestimmtheit zu verteidigen.
»  Deep down at the bottom of my soul
A dainty little boy curled up in a ball
He has got nothing to offer opposition to the void
He just devotes himself to be completely destroyed
He has lost his voice, but all of a sudden he knows that he´s got a
choice
Deep down at the bottom of my soul
2.3 • Krieger
59 2
Out of nothing there´s building up a growl
It´s lust for life and a sudden will
It´s the confident man, that I am still
He recovered his voice, and all of a sudden he knows that he´s got
a choice
Deep down at the bottom of my soul
A proud and wonderful man gracefully standing tall
Willing to defend his borders by all available means
And to expel the violators and especially their wicked queens
He will never again back down, he will never give back sword and
crown «
Perréa (Bottom of my soul, Songlyrics)

Der initiierte Krieger-Mann kennt seine Schattenseiten, also die


Anteile, die er nicht lebt. Mit »Schattenthemen« sind dabei nicht
nur negative Aspekte wie Gewalt oder Despotismus gemeint. Nicht
gelebte Anteile können auch Zartheit und Liebe sein. Die nicht be-
wussten Schatten werden meist in anderen Menschen gesehen und
abgelehnt. Ein wahrer Krieger hat seinen Schatten ans Licht geholt
und ist dadurch ganz geworden. Er weicht auch seiner Wunde nicht
(mehr) aus. Die Krieger der Mythologie wiesen meist Verletzungen
auf. Diese Verletzungen haben sie geerdet und vor gefährlichem
Hochmut bewahrt. Solche Krieger delegieren die Verantwortung
für ihre Wunde nicht, verharren nicht in der Opferrolle, sondern
stimmen ihrer Wunde mit Würde zu und übernehmen die Ver-
antwortung dafür, obwohl sie nicht ursächlich für die Verletzung
verantwortlich sind. Dieser Umgang mit der Verletzung ist sehr
kraftvoll. Ein entwickelter Krieger stellt sich auch kraftvoll dem
Kontakt, der an der Grenze stattfindet. Er kann auch die damit ein-
hergehende Unsicherheit aushalten, ohne zu agieren. Mit dem in-
neren Schwert trennt er auf klare Weise Mut und Risikobereitschaft
von Leichtsinn und selbstschädigendem Verhalten. Er trennt das
Fühlen von aggressiver Energie vom Ausagieren seiner Wut. Er
weiß zu unterscheiden, ob er in einer Beziehung aus Liebe bleibt
oder aus Angst vor dem Alleinsein, und er ist bereit, sich ganz
auf das Alleinsein einzulassen und sich zu trennen. Erst wenn wir
das, was wir wollen, auch loslassen können, finden wir zu unserer
wahren Stärke und es entsteht Kontakt zum essenziellen Willen.
Folgende Aussagen bündeln das Wesen des archetypischen
Kriegers, wie er in der initiatisch-phänomenologischen Arbeit
verstanden wird:
55 »Gib niemals einem Mann, der nicht tanzen kann, ein
Schwert« (Bly 1993, S. 207)
55 »Mythologisch betrachtet, erheben die Krieger ihr Schwert,
um den König zu verteidigen« (Bly 1993, S. 207f)
60 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

55 »Die inneren Krieger, …, überschreiten die Grenze nicht in


aggressiver Absicht; sie sind da, um die Grenze zu verteidi-
gen« (Bly 1993, S. 208)
2 55 »Ohne Schwert kein Eros« (Bly 1993, S. 231)
55 »Das innere Kriegertum ist … gleichbedeutend mit einer
Wachheit der Seele, die einen Menschen davor schützt, in Kup-
ferdraht verwandelt zu werden, und die uns vor Beschämern
schützt, unbewußten Kämpfern, feindseligen Menschen und
gierigen Wesen in unserem Inneren« (Bly 1993, S. 248)
55 »Wenn ein Mensch nie das Schwert hebt, dann bekommt er
vielleicht gute Noten für Freundlichkeit, aber am Ende könn-
te er zum Sklaven … werden« (Bly 1993, S. 248)
55 »Die Kunst des Kriegers ist es, den Schrecken, ein Mensch zu
sein, und das Wunder, ein Mensch zu sein, miteinander im
Gleichgewicht zu halten« (Castaneda 2003, S. 252)

Das Kriegerherz wird genährt und unterstützt vom Hara, »jener


basalen Mitte, die uns zugleich löst, trägt und ‚aufrecht’ sein lässt«
(Dürckheim 2009, S. 131). So kann man sich dem Krieger-Arche-
typ auf der körperlichen Ebene annähern, indem man den Körper
in seiner kraftvollen und elastischen Aufrichtung wahrnimmt und
verbunden mit dem Boden zentriert im Hara verweilt. Auf der
geistigen Ebene kann der Kontakt zum Krieger-Archetyp mittels
der Untersuchung und Erforschung folgender Fragen unterstützt
werden:
55 Wie bin ich ein Kämpfer?
55 Wie lebe ich Aggression?
55 Welche Seiten von mir lebe ich nicht? Was sind meine Schat-
tenseiten?
55 Wie erlebe ich Kontakt?
55 Welche Entscheidungen stehen in meinem Leben an?
55 Wie erlebe ich Hingabe und Zustimmung?
55 Was ist »Wille«?

2.4 Wilder Mann

Viele Männer – jedenfalls Männer einer bestimmten Generation –


denken bei »Wilder Mann« an Rockmusiker. Sie sehen vor ihrem
geistigen Auge, wie Jimi Hendrix seine Gitarre anzündet, wie Pete
Townshend seine Gitarre und die Boxen zertrümmert und wie Jim
Morrison sein Rockstar-Dasein exzessiv auslebte … und daran
starb. Gerade Jim Morrison vereinigt zwar einige Qualitäten, die
dem Archetyp des Wilden Mannes zugeordnet werden können,
2.4 • Wilder Mann
61 2
doch er ist kein »gesunder« Wilder Mann, denn ein Wilder Mann,
der drogensüchtig ist und daran stirbt, ist kein Wilder Mann im
initiatischen Sinne. Zum Wilden Mann gehört, dass er pfleglich
mit sich und der Natur umgeht, auch wenn er risikobereit ist. In-
sofern kommen Wildtiere dem, wofür der Archetyp des Wilden
Mannes steht näher, als wilde Rocker. Wild lebende Tiere gebärden
sich gemeinhin nicht wild, bringen aber – gerade deshalb – viele
Qualitäten, die wir beim Wilden Mann erkennen können proto-
typisch zum Ausdruck. »Das Wilde, das Wild-Sein bezieht sich
nicht auf eine bestimmte äußere Verhaltensform, sondern auf den
Kontakt zu unserer inneren, freien Wesensnatur. Man kann sich
wild und frei die Zähne putzen, wild und frei meditieren oder
wild und frei als Geschäftsmann an der Wall Street arbeiten« (Wal-
ter Mauckner). Es ist deshalb schwer, ein typisches Beispiel für
einen Wilden Mann zu finden. Das Wilde und Freie kann in jedem
Mann wahrgenommen werden, wenn man es in sich selbst schon
erforscht und entdeckt hat. Noch mehr als bei den anderen Arche-
typen besteht beim Wilden Mann die Gefahr, dass bei der erstma-
ligen Auseinandersetzung mit diesem archetypischen Ausdruck
der männlichen Seele Klischees bemüht werden: Der langhaarige
Aussteiger-Freak, der in der Wüste hockt, ein bärtiges, ungepfleg-
tes und stinkendes Wesen, das irgendwo tief in den Wäldern haust
…. Ein Mann mit kraftvollem Kontakt zum Wesen des Wilden
Mannes kann äußerlich jedoch völlig angepasst erscheinen und
ist nicht auf Anhieb an seinem Äußeren oder seinem Verhalten zu
erkennen. Ein Mann, der sich wild gebärdet, muss nicht mit dem
essenziellen Aspekt des Wilden Mannes – Freiheit – in Kontakt
sein. Grundsätzlich geht es bei der Auseinandersetzung mit und
der Annäherung an die männlichen Archetypen nicht darum, der
jeweilige Archetyp zu sein, sondern in Kontakt mit der entspre-
chenden essenziellen Qualität zu kommen (vgl. hierzu auch Bly
1993, S. 314). Verschiedene Männer bringen meist unterschiedli-
che archetypische Qualitäten deutlicher zum Ausdruck als andere,
und die jeweilige Ausdrucksform ist auch vom Kontext abhängig.
So verkörperte Muhammad Ali vor allem außerhalb des Boxrings
viele Qualitäten des Wilden Mannes, wie etwa Unangepasstheit,
Ungezähmtheit, Zivilcourage und Unabhängigkeit.
Das Spannungsfeld des Wilden Mannes liegt zwischen Auto-
nomie und Nähe. Dieses Spannungsfeld ähnelt in seiner Tragweite
dem Spannungsfeld des Krieger-Archetyps (Aggression vs. Hin-
gabe). Als Menschen leben wir grundsätzlich in den Spannungs-
feldern von Autonomie und Nähe und Aggression und Hingabe.
Freiheit ist ein wesentlicher Essenz-Aspekt des Menschseins und
der Menschheit. Das Freiheitsprinzip wird allerdings meist abhän-
62 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

gig gemacht von Umgebungsbedingungen. Freiheit wird häufig


definiert als »Freiheit von äußeren und inneren Zwängen« und be-
deutet deshalb für viele, das machen zu können, was sie wollen. So
2 betrachtet impliziert das Freiheitsthema eine große Abhängigkeit
… nämlich die Abhängigkeit von Freiheit. Die essenzielle Freiheit,
um die es beim Wilden Mann geht, ist die Freiheit, die wir bereits
in uns haben. Es ist die Freiheit, die wir erleben, wenn wir in Kon-
takt zu unserer freien Wesensnatur sind. Dieses Prinzip des »un-
abhängigen Seins« gilt auch für sämtliche anderen Essenzaspekte.
Die zentrale Frage bei der Auseinandersetzung mit dem Wilden
Mannes lautet: Wie bin ich ein freier Mann? Es gilt zu erkennen,
was Freiheit für jeden Einzelnen bedeutet, wie sehr diese Freiheit
von verschiedensten Bedingungen abhängig gemacht wird, wo wir
frei sind, wie wir unsere Freiheit durch Abhängigkeiten begren-
zen, wie wir uns abhängig machen durch unsere Vorstellungen
von Freiheit und so weiter. Oftmals ist das Streben nach Freiheit
eine unserer größten Abhängigkeiten, und die Idee, dass (essen-
zielle) Freiheit selbst im Gefängnis erlebt werden kann, erscheint
uns völlig absurd.
Auf der Suche nach Freiheit, die sich für jeden Menschen in-
dividuell ausformen kann, brauchen wir eine Wahrnehmung da-
von, wie wir abhängig sind. »Wir sind nur so frei, wie wir unsere
unfreien Abhängigkeiten erkennen und wie wir bereit sind, die-
sen Abhängigkeiten nicht mehr die Macht über unser Handeln
zu geben, sondern unserer freien Wesensnatur zu folgen« (Wal-
ter Mauckner). Folgt man der eigenen Wesensnatur, so erfordert
dies Risikobereitschaft, eine weitere Qualität des Wilden Mannes,
denn »everyone of us has an essential contribution to make, and
we can do so only by taking the risk of being uniquely our own sel-
ves« (Pearson 1989, S. XV). Die Freiheit, so zu sein, wie es uns ent-
spricht, hat somit einen Preis und geht einher mit der Erforschung
unserer Abhängigkeiten von stofflichen und nicht-stofflichen Din-
gen und oft geht es dabei um die grundsätzliche Abhängigkeit
von Anerkennung insbesondere durch das Weibliche. Bei der In-
tegration der Qualitäten des Wilden Mannes spüren die Männer
ihre tiefe Abhängigkeit von der Mutter und allgemein von der
Anerkennung und Bewertung durch Frauen. Sie können erfahren,
dass es einen großen Unterschied zwischen Abhängigkeiten und
frei gewählten Bindungen gibt. Diese Unterscheidung hängt aufs
Engste mit dem Freiheitsbegriff zusammen. »Nur ein Mann, der
alleine sein kann, kann wirklich frei sein, nur ein Mann der frei
ist, kann auch lieben und nur ein freier Mann kann sich binden
und dabei gleichzeitig freie und verbindliche Bindungen einge-
hen« (Mauckner 2008). Zu dieser Erkenntnis kommt man, wenn
2.4 • Wilder Mann
63 2
der Freiheitsbegriff in der Tiefe durchdrungen wird. Das Freiheits-
thema ist somit auch ein Bindungsthema. Männer im Kontakt zur
Essenz des Wilden Mannes verstehen, dass auch gebundene Män-
ner freie Männer sein können, und mehr noch: Dass nur ein freier
Mann Bindungen leben kann, denn ansonsten tendiert er dazu, zu
flüchten oder in unfreien Bindungen zu verharren. Die Heraus-
forderung beim Wilden Mann besteht darin, Bindungen zu leben
ohne die freie Wesensnatur zu verlassen und in Abhängigkeiten zu
geraten. Sehr viele Männer leben in abhängigen Bindungen. Initi-
ierte Männer beenden diese Beziehungen jedoch nicht überstürzt
und unreflektiert, sondern lösen die entsprechende innere Abhän-
gigkeit, um dann entweder frei gewählte Bindungen zu leben oder
sich zu trennen.
Im Zentrum des Wilden-Mann-Prozesses steht die Mutter. In
der Beziehung des Sohnes zur Mutter verschlüsseln sich sehr viele
seiner Abhängigkeiten. Männer leben und erleben Beziehungen
häufig so, wie sie die Mutterbeziehung erlebt haben. Kinder haben
in den ersten Lebensjahren immer eine natürliche und vollkom-
men abhängige Beziehung zu ihrer Mutter. Darin unterscheidet
sich die Beziehung zur Mutter von der zum Vater. Die Abhän-
gigkeit von der Mutter ist deshalb so entscheidend, weil sie pri-
mär und absolut ist. In der Mutter entstehen wir, in der Mutter
wachsen wir, die Mutter nährt uns, und aus ihr kommen wir. Als
Embryo sind wir Teil der Mutter und in dieser Symbiose gänzlich
mit ihr verbunden … immanente und existenzielle Abhängigkeit.
Durch die Mutter leben oder sterben wir. In jeder Mutter steckt
der tiefe Impuls zu nähren, zu beschützen und wachsen zu las-
sen. Diese mütterliche Urkraft wurde über Jahrmillionen von den
Müttern an die Töchter weitergegeben und auch die Söhne haben
Teil an dieser erschaffenden, basalen Energie. Die Bindung an die
Mutter ist eine tiefe, körperliche, psychische und spirituelle Wirk-
lichkeit. Wie Mütter ihre Kinder nähren und wachsen lassen, so
können sie diese auch tief verletzen und ihr Urvertrauen in die
Welt erschüttern. Mütter können ihre Söhne (und natürlich auch
ihre Töchter) auf vielfältige Weise verletzen. So können sie sie mit
gut gemeinter Liebe an sich binden, den Zugang zum Vater blo-
ckieren, ihn abwerten, den Sohn abwerten oder ihn über den Vater
stellen und so weiter. Auch Mütter haben, wie die Väter, eine Axt-
Seite. Diese wahrzunehmen fällt den Söhnen aufgrund der tiefen
ursprünglichen Abhängigkeit und Liebe zu ihr besonders schwer.
Lieber lassen sie Aspekte ihres Selbst sterben, als dass sie das Bild
der nur liebenden, guten und nährenden Mutter in sich sterben
lassen (vgl. z.  B. Gruen 1992). Die Auseinandersetzung mit der
64 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Abhängigkeit von der Mutter bzw. der tiefen Abhängigkeit vom


Weiblichen ist deshalb äußerst zentral und zutiefst heilsam.
Die Voraussetzung für einen heilsamen »Wilder-Mann-Pro-
2 zess« ist die Durchdringung des Freiheitsthemas. Es gilt, einen Ge-
schmack davon zu gewinnen, was »freie Wesensnatur« in der Tiefe
meint. Mit »freier Wesensnatur« ist nicht »Charakterstruktur« ge-
meint. Das ureigene Wesen eines Mannes (und eines jeden Men-
schen) ist frei und wird durch den Charakter gegebenenfalls in
seiner Entfaltung eingeengt. Wie also ist dein Wesen frei, Mann?
Wie würdest du leben, wenn du deinem inneren Wesen folgen
würdest? Wie würdest du dann deine Beziehungen leben? Wie
würdest du dann mit deinen Kindern umgehen? »Wenn wir wirk-
lich auf unser Wesen hören, dann kommen – aus unserem Wesen,
was in uns anwest – auch wesensgemäße Antworten auf unsere
Fragen« (Walter Mauckner). Um in Kontakt mit dem ureigenen
Wesen zu treten, ist eine große Sensibilität nötig, denn dieses wil-
de Wesen ist auch scheu und wir dürfen »dieser scheuen Wesen-
heit nicht auf direktem Weg, gleichsam auf Konfrontationskurs,
zu Leibe rücken« (O´Donohue 2012, S. 140). Kommt man dem
Wilden Mann näher, so kommt man auch in Kontakt mit seiner
Erdverbundenheit, seiner tiefen Verbundenheit mit der Natur, sei-
ner Risikobereitschaft, seiner Unangepasstheit und seinem feinen
Empfinden für Bewegungen in der Natur und in den Menschen.
Diese Qualitäten fehlen dem Barbaren. Eine gesunde, freie und
unkonventionelle Entfaltung der wilden Seelenqualitäten ist häu-
fig aufgrund einschränkender und für die männliche Seele ver-
letzender Kernaussagen der Eltern blockiert. In der Annäherung
an den Wilden Mann stellen sich die Männer der ersten großen,
primären und lebensspendenden Abhängigkeit von der Mutter
und wagen schließlich den Schritt in die eigene freie Wesensnatur.
Manchmal sind die ersten Schritte keine riesigen Sprünge, son-
dern kleine, aber wichtige Bewegungen auf dem Weg.

Beispiel
O. beschließt beispielsweise, seine Briefe nicht mehr widerwillig
und mühsam am Computer zu schreiben, sondern sich ein Diktier-
gerät und ein Spracherkennungsprogramm zu leisten. G. stellt fest,
dass er gar nicht jeden Morgen die Zeitung lesen will, sondern dass
das inzwischen ein lästiges Ritual geworden ist, das ihn fast täglich
in Zeitnot bringt. »Ich will das eigentlich gar nicht, wenn ich mir
das so recht überlege, aber trotzdem mache ich das immer weiter«,
sagt er. Seine Einsicht aufgreifend, erzählt W., dass es bei ihm nicht
die Zeitung, sondern der Fernseher war: »Jeden Abend um viertel
nach acht wurde bei uns die Glotze angemacht. Bereits das Abend-
essen timten wir so, dass wir bis dahin fertig waren. Ohne, dass ich
2.4 • Wilder Mann
65 2
mir dessen bewusst war, war ich ein Sklave des Fernsehprogramms
geworden. Ich schaue zwar immer noch gerne fern, aber inzwi-
schen mache ich immer öfter Abendspaziergänge mit meiner Frau
und überlege, was mir in jedem Augenblick entspricht, anstatt un-
bewusst alten, eingefahrenen Reflexen zu folgen«.

Der Weg zu Unabhängigkeit und Wildheit führt über die Er-


forschung der Abhängigkeiten, wobei Abhängigkeit viele Facet-
ten hat. Offensichtlich sind Abhängigkeiten von Zigaretten, Al-
kohol, Essen, Drogen, Fernsehen, Arbeit, Sexualität, Geld und
so weiter. Es gibt aber auch subtilere Abhängigkeiten, wie etwa
den Wunsch, etwas Besonderes zu sein oder den Wunsch nach
Anerkennung, nach Gesehen werden, nach Fürsorge und nach
Sicherheit. Man(n) kann zudem auch abhängig sein von abwer-
tenden Selbstbildern, von Kritik und von Zurückweisung. Sämt-
liche Abhängigkeiten sind letztlich Strukturen, die sich als Über-
lebensstrategien entwickelt und verfestigt haben. Abhängigkeiten,
und seien sie noch so selbstschädigend und verletzend, vermitteln
ein Gefühl von Sicherheit und von Vertrautheit. Häufig wurzeln
diese Abhängigkeiten in frühkindlichen Erfahrungen und spe-
ziell in den frühen, auch pränatalen Bindungserfahrungen mit der
Mutter. Meist dienen sie dazu, starke Gefühle des Mangels, der
Ohnmacht, der Angst oder der Einsamkeit nicht wahrnehmen zu
müssen. Der gereifte Wilde Mann stellt sich diesen Themen und
Wirklichkeiten. Dafür braucht es Mut, Stärke, Risikobereitschaft
und Wildheit. Die größte Herausforderung des Wilden Mannes
ist es, der Sucht, dem Drang nach Erfüllung, nicht mehr zu folgen,
und stattdessen zu erforschen, was geschieht, wenn er seinen Ab-
hängigkeiten nicht mehr nachgibt. Er benötigt Kontakt zu seiner
inneren Wildheit, damit er die Stärke aufbringt, dem Sog nach Be-
friedigung nicht zu folgen und zu »bleiben«. Bleiben bedeutet hier,
den Kontakt zu seiner freien Wesensnatur aufrechtzuerhalten. Auf
diesem Weg braucht es Verbündete und den persönlichen Mut, an
die Grenzen heranzutreten. »Das kindliche ‚Ich will’ muss sterben,
damit sich die Essenz von Freiheit entfalten kann und wir zu unse-
rer Wesensnatur durchdringen. In unserer Wesensnatur liegt eine
wilde Kraft, die uns wachsen lässt« (Walter Mauckner).
Wie alle archetypischen Qualitäten, so kommen auch die Qua-
litäten des Wilden Mannes nicht nur auf der inneren, mentalen
und emotionalen Ebene, sondern auch körperlich zum Ausdruck.
Die wilde Wesensnatur kann sich beispielsweise in einer freien,
ungehemmten Art zeigen, sich zu bewegen und zu atmen oder
auch in entsprechenden Körperhaltungen und in der Stimme. Im
Kontakt mit den Qualitäten des Wilden Mannes sind wir auch im
66 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Kontakt mit dem unteren Energiezentrum und den Hoden. Der


Wilde Mann ist ein »Hodenmann«. Er sitzt mit seinem Hintern
auf dem Boden und fühlt die Verbindung zur Erde. Er ist sich
2 seines »Unten« bewusst. Er geht mit geöffneten Sinnen durch die
Natur und die Welt. Sein Atem ist frei, er spürt die Feuchtigkeit,
nimmt die Elemente intensiv wahr und ist in fließender, durch-
lässiger Bewegung. »’Wild’ deutet hin auf eine freie, lebendige
Weise zu leben, indem man bewusst, mit allen Sinnen aus einer
elementaren Verbundenheit zum Ganzen im Leben steht« (Walter
Mauckner).
Diese Art von Wildheit kann gepflegt und entwickelt wer-
den, indem man mit geöffneten Sinnen durch die Natur geht und
ganz bewusst wahrnimmt, was man hört, was man sieht, was man
riecht, welchen Geschmack man im Mund hat und was man spürt.
Auf nur drei Sinne bezogen, kann eine entsprechende innere Ein-
stimmung lauten: »Lauschen, Spüren, Schauen«. Mit dieser sinn-
lichen Haltung kann man natürlich nicht nur durch die Natur,
sondern auch durch Städte, über Märkte und letztlich durch das
Leben gehen. Die ganzheitlich fühlende und reflektierende Erfor-
schung folgender Fragen öffnet ebenfalls für die Essenz des Wil-
den Mannes:
55 Wie bin ich wild?
55 Welches Risiko müsste ich eingehen, um »wilder« zu leben?
55 Wie bin ich abhängig?
55 Wie erlebe ich Abhängigkeit vom Weiblichen?
55 Was bedeuten Unabhängigkeit und Freiheit für mich?
55 Was ist der Unterschied zwischen angemessener Bindung
und Abhängigkeit?
55 Welche freien Bindungen und welche unfreien Bindungen
lebe ich?
55 Wie achte ich das Weibliche?
55 Was höre, sehe, rieche, schmecke und spüre ich in diesem
Moment?
55 Wie bin ich frei?
55 Welcher körperlichen Unfreiheiten (Anspannungen, Verhär-
tungen usw.) bin ich mir bewusst?

2.5 Liebhaber

Auch der Liebhaber ist ein sinnlicher Archetyp. Er nimmt die


Dinge auf, kultiviert sie, macht sie zu seiner Leidenschaft, durch-
dringt sie und interessiert sich intensiv für sie. Zentrale Themen
des Liebhabers sind Liebe und Leidenschaft. Der wahre Lieb-
2.5 • Liebhaber
67 2
haber geht so in seiner Liebe und seiner Leidenschaft auf, dass
er alles auf sich nimmt, um dem, was er liebt, zu begegnen und
mit dem, was er liebt, zu verschmelzen. Den Kontakt zu seiner
Leidenschaft stellt er auf sehr individuelle Weise her und lebt ihn
der Welt zugewandt. Die Leidenschaft des Liebhabers kann auf
alles bezogen sein. Auf alle weltlichen Erscheinungen sowie auf
seelische und geistige Wirklichkeiten. Was auch immer es ist, er
möchte mit dem Objekt seiner Liebe verschmelzen und sich daran
berauschen. Nur in diesem Sinne verstehen wir Baudelaire´s Auf-
forderung: »Man muß immer trunken sein. … Es ist die Stunde,
sich trunken zu machen …, macht euch trunken, ohn Unterlaß!
Mit Wein, mit Poesie, mit Tugend, wie es euch gefällt« (1977, S. 172).
Viele große Schriftsteller waren und sind in ihrer glühenden
Leidenschaftlichkeit und ihrer fast besessenen Liebe zur Poesie,
zum Wort (und zum Wein) teilweise prototypische Liebhaberfigu-
ren, und auch viele Künstler und Musiker, wie etwa Michelangelo,
van Gogh, Rembrandt, Mozart und van Beethoven verkörperten
den leidenschaftlichen Aspekt des Liebhaber-Archetyps, indem
sie völlig in ihrer Kunst und ihrer Musik aufgingen. Allgemein
ist bei Künstlern der Liebhaber-Archetyp häufig sehr stark ausge-
prägt und sichtbar. Der archetypische Liebhaber-Begriff ist somit
abzugrenzen vom umgangssprachlichen Begriffsverständnis des
Liebhabers im Sinne einer (außerehelichen) sexuellen Beziehung.
Im archetypischen Kontext ist mit dem Begriff »Liebhaber« ein
»Liebender« gemeint, eine Differenzierung, die in der englischen
Sprache durch die umfassendere Bezeichnung »lover« nicht voll-
zogen wird. Dem Liebhaber-Archetyp sind die Essenzaspekte
Liebe/Freude zugeordnet. Diese sind nicht nur bezogen auf das
Sexuelle, sondern meinen eine umfassendere Liebe und eine um-
fassendere Leidenschaft. Die häufig anzutreffende Trennung zwi-
schen Leidenschaft und Liebe wird im initiatischen Verständnis
des Liebhabers aufgelöst. In jeder Leidenschaftlichkeit ist die Liebe
die Grundlage. Ein prototypischer Liebhaber im initiatischen Sin-
ne ist also nicht ein auf die körperliche Leidenschaft reduzierter
Giacomo Casanova, sondern ein Mann, für den Liebe und Leiden-
schaft verbunden sind. Ein reifer Liebhaber hat sich der Wirklich-
keit von Liebe gestellt und deren Wesen ergründet. Er weiß, was
Liebe und Leidenschaft in der Tiefe für eine Bedeutung (für ihn)
haben. Er hat eine vertiefte Wahrnehmung davon, was Liebe und
Lieben in seinem Leben bedeutet. Liebe hat sehr viele verschiede-
ne Facetten und Ebenen. Wie wir sie erfahren, ist abhängig von
unserem Bewusstsein und unserer Fähigkeit wahrzunehmen.
Der Liebhaber ist in Kontakt mit Eros, der alles durchdringen-
den Liebeskraft, die Gegensätze vereint. Eros als tragende Urkraft
68 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

kann in vielfältiger Weise zum Ausdruck kommen: Als leiden-


schaftliche Liebe, Kreativität, Sexualität, Sinnlichkeit, Schönheit
und Genuss. Sie wirkt zwischen den Dingen und bringt sie zu-
2 sammen. Getragen von dieser Kraft sehnt sich der Liebhaber nach
Einheit, Verschmelzung und Intimität. Er ist zutiefst sinnlich be-
wusst und sensibel für die gesamte materielle Welt in all ihrer
Schönheit und ihrer Lust. Er ist mit den Dingen intim verbunden
und fühlt sich auf gewisse Weise eins mit allem. Der archetypische
Liebhaber denkt mit Herz und Bauch. Farbe, Formen, Klänge,
Tast-, Geruchs- und Geschmacksempfindungen sind sehr wichtig
für ihn. Er will berühren und berührt werden und auf diese Weise
einen genussvollen Kontakt mit der Welt herstellen (vgl. Moore
u. Gillette 1992). Er will sich verbinden mit dem, was er liebt und
wofür sein Feuer brennt. Was auch immer ihn begeistert, er findet
eine Möglichkeit es zu genießen. Dafür ist er auch bereit, kreative
und unkonventionelle Wege zu gehen. Sein Ziel ist es, mit dem
Objekt seiner Hingabe zu verschmelzen. Dabei lösen sich seine
einengenden Ich-Grenzen auf. Dies erlebt er in verschiedensten
Begegnungen beispielsweise mit einer Frau, mit der Kunst, in der
Natur, bei einem Handwerk, im Gebet oder in der Meditation oder
einfach in tiefer Intimität mit seinem Alleinsein.
Im Liebhaberaspekt öffnet sich ein Mann der Welt mit all ih-
rer Schönheit. Der Liebhaber hat erforscht und verstanden, wie
der Magnetismus von Eros in ihm als lebendige Kraft der Liebe
und Freude wirkt. Diese Urkraft wurde im Laufe der Menschheits-
geschichte stark domestiziert, unterdrückt und verboten, indem
es zum Beispiel als Egoismus und Zeitverschwendung betrachtet
wurde und wird, wenn Menschen ihrer Leidenschaft nachgehen
bzw. nachgehen wollen, und das leben, was ihnen Freude macht,
ohne das »Geld verdienen« oder den »Dienst an der Menschheit«
in den Vordergrund zu stellen. Ein gereifter Liebhaber geht je-
doch dem nach, was sich gut anfühlt, was er liebt, was ihm Freude
macht, was ihn begeistert und was seine Leidenschaft weckt. Der
Archetyp des Liebhabers mit seiner leidenschaftlichen Hingabe
und Freude ist bei Männern häufig verletzt und abgewertet. Dies
ist darauf zurückzuführen, dass im Laufe der Zeit eine Spaltung
zwischen Liebhaber und Leidenschaft einerseits und Liebendem
und Liebe andererseits vorgenommen wurde. Der wahre Liebha-
ber hat jedoch verstanden, dass der Ursprung, der tiefe Grund
aller Phänomene, die Liebe ist. Die Liebe ist das, was uns begeis-
tert, führt und trägt. Liebhaber folgen ihrer Vision mit Leiden-
schaft und Begeisterung und nehmen hierbei auch Schmerzen
und Durststrecken in Kauf, sind also keine »puren Egoisten« oder
»pure Hedonisten«. Der reife Liebhaber wird sich nicht sinnlos be-
2.5 • Liebhaber
69 2
trinken, unmäßig essen oder sich gänzlich in seiner Vision verlie-
ren. Er weiß zu dosieren, und er weiß, was ihn wirklich berauscht,
was ihn in seinen Bann schlägt und was ihn anzieht, wie ein Mag-
net. An diesem Punkt kann allerdings auch die Grenze zur Sucht
berührt werden, wenn eine Leidenschaft die Person selbst und
andere Personen schädigt. In Bezug auf die Grenze zwischen Lei-
denschaft und Sucht stellt sich immer die Frage, in welche Form
die Leidenschaft eingebettet ist. So kann der initiierte Liebhaber
durchaus skurrile Leidenschaften pflegen, ist seinen Leidenschaf-
ten aber nicht verfallen. Der Liebhaber bleibt in Kontakt mit sei-
nen Bezugspersonen und geht gleichzeitig in seiner Leidenschaft
auf. Er ist in seiner Art und Weise individuell, wodurch er im
Extremfall auch zum Exzentriker und Außenseiter werden kann
und damit zu einer Verzerrung des Liebhabers.
Viel häufiger, als das leidenschaftliche Verfolgen und Leben
einer Vision, ist, dass Männer ihrer wahren Leidenschaft nicht
folgen und sie teilweise gar nicht kennen.

Beispiel
»Was sind denn eure Leidenschaften, Männer?«, fragt Walter in die
Runde, und als er J. anschaut, sagt dieser: »Ich bin eigentlich ziem-
lich leidenschaftslos.« »Woran hast du denn Freude? Was hat dir
denn früher mal Spaß gemacht?, fragt Walter weiter. »Früher bin
ich viel Motorrad gefahren. Schnitzen tue ich auch gerne«, antwor-
tet J. überlegend. »Richtig schön war eine Motorradtour mit drei
Freunden«, sagt er nach einer Weile, »wir sind damals eine Woche
durch die Toscana gefahren. Das war toll! Wir hatten kaum Gepäck
dabei und sind ziemlich planlos einfach jeden Tag drauflos gefah-
ren«. Je mehr J. erzählt, desto mehr Erlebnisse und Anekdoten fal-
len ihm ein. Er erzählt, wie es war, gemeinsam mit seinen Freunden
Motorrad zu fahren, abends einen Schlafplatz zu finden, morgens
nicht zu wissen, wo man abends schlafen wird, anders als beim
Autofahren »der Straße und der Natur sehr nahe zu sein«. Ohne
dass er es selbst merkt, drückt seine Stimme, sein Gesicht und sein
ganzer Körper immer mehr die Freude aus, die er beim Motorrad-
fahren empfindet. Seine Erzählungen werden immer lebendiger
und mit immer noch leuchtenden Augen sagt er: »Ja, das habe ich
leidenschaftlich gerne gemacht, aber da war ich auch noch jung.
Jetzt geht das alles, allein schon aus Zeitgründen, nicht mehr.«
Zum nächsten Treffen kommt J. mit dem Motorrad und lädt die an-
deren Motorradfahrer aus der Gruppe ein, »doch mal gemeinsam
eine kleine Tour zu machen«.

Archetypische Liebhaber sind sich dessen bewusst, was sie lieben.


Sie gehen keine Beziehung zu einer Frau ein, wenn sie dafür ihre
70 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Leidenschaften verlassen müssten, weil der Preis dafür zu hoch


ist. Viele Männer funktionieren aber genau so und verlassen ihre
Leidenschaften nicht nur, sondern verurteilen sich sogar für diese.
2 Sie werten ihre Leidenschaften ab und versuchen damit – mehr
oder weniger bewusst – ein guter Partner oder Ehemann zu sein.
In dem Moment aber, in dem Männer das verlassen, was sie leiden-
schaftlich lieben, verlieren sie (sich selbst). Und auch der Partner
bzw. die Partnerin verliert (den Partner in seiner Ganzheit), auch
wenn der Mann in der Beziehung bleibt. Indem er das lebt, was er
liebt, würdigt und pflegt er auch die Beziehung. Wenn Männer ihre
Leidenschaft leben, dann können sie erfüllte Liebhaber ihrer Frau
(oder ihres Mannes) sein. Liebhaber spüren das Feuer, das in ihnen
brennt, und sie wissen, dass das gut, verbindend und willkom-
men ist, und dass sie es leben dürfen, weil es Liebe ist und nicht
Trennung bedeutet. In jeder Leidenschaft, auch wenn sie noch so
klein sein mag, brennt ein Feuer, das über die je individuelle Aus-
formung zur Verschmelzung drängt. Dabei spielt es keine Rolle, ob
es sich bei den Leidenschaften um Briefmarkensammlungen, Fuß-
ball, Musik oder den mystischen Weg handelt. Es geht um die An-
erkennung der Leidenschaft, der Liebe und der Freude, die Schiller
in seiner »Ode an die Freude« so wunderbar beschreibt.
»  …
Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur,
Alle Guten, alle Bösen folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod,
Wollust ward dem Wurm gegeben,
und der Cherub steht vor Gott.

Freude heißt die starke Feder in der ewigen Natur;
Freude, Freude treibt die Räder, in der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen, die des Sehers Rohr nicht kennt.
Froh wie seine Sonnen fliegen durch des Himmels prächtigen Plan,
laufet Brüder, eure Bahn, freudig wie ein Held zum Siegen!
…  «
Friedrich Schiller (in Echtermeyer und von Wiese, »Deutsche
Gedichte«, 1988, S. 252)

Der Liebhaber ist ein Wesen der Freude und der Liebe. Und diese
Liebe zeigt sich in der Freude an und in der Natur, in der erotisch-
sexuellen Liebe, in der Liebe zu Gott und in vielen anderen Formen
von Begeisterung und Leidenschaft. Alles wird von dieser einen,
alles durchdringenden Grundkraft, Eros, bewegt, die aus purer
2.5 • Liebhaber
71 2
Lust und aus purem Verlangen Verschmelzung begehrt. Diese –
positiv zu konnotierenden – Begriffe sind abzugrenzen gegen Be-
grifflichkeiten wie »Gier«, die eher den verzerrten Liebhaber-As-
pekt markieren. Ein integrierter Liebhaber kann beispielsweise das
Begehren, das in ihm aufflammt, wenn er eine erotische und schö-
ne junge Frau sieht, genießen, ohne dieses Begehren auszuleben.
Er spürt seine Lust, sein Begehren und sein Verlangen und lässt
diese Energie in sich zirkulieren und muss sie nicht unbedingt aus-
agieren. »Er hat verstanden, wie viel Verzicht nötig ist für wahren
Genuss. Diese Kunst bezieht sich auf viele Bereiche des Lebens, in
denen wir Gefahr laufen, uns in der Leidenschaftlichkeit zu ver-
strömen und uns damit letztlich zu schwächen und zu schaden.
Damit diese Zirkulation geschehen kann, ist ein Fassungsvermö-
gen, Containment, nötig« (Walter Mauckner). Der reife Liebhaber
hat genügend Körper- und Seelenraum für dieses Containment
zur Verfügung, Raum, in dem sich diese leidenschaftliche Energie
ausdehnen kann. Er geht also weniger schnell in die Entladung
und gelangt gerade dadurch auf die ganze Höhe der Lust und fühlt
diese in ihrer unfassbaren Gänze (vgl. hierzu auch Deida 2011). Er
weiß darum, dass der Körper mit sich selbst strömen und zirkulie-
ren, die ganze Lust aufnehmen und sich von Herzen daran freuen
kann. Der Lust ganz zuzustimmen, bedeutet, sie auch ganz neh-
men zu können und dazu braucht es den ganzen Körper und die
ganze Seele. Auf dieser Ebene sind ältere, reife Männer manchmal
im Vorteil und können die beschriebenen Liebhaber-Qualitäten
eher verwirklichen und leben als jüngere Männer.
»Der Liebhaber-Archetyp ist ein explizit polarer Archetyp, der
dem Abenteuer der sexuellen Polarität lustvoll begegnet, der Form
seiner männlichen Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität zustimmt
und sie kultiviert« (Walter Mauckner). Er baut mit dem, was er
begehrt ein polares Verhältnis auf und steht für das Spannungsfeld
zwischen Individualität und Verschmelzung. Für die Verschmel-
zung werden Pole bzw. Polarität benötigt (vgl. Chia 2010; Deida
2011). Der Liebhaber weiß darum, wie er männlicher Pol ist, und
er ist in seiner männlichen Essenz gegründet. Ihren männlich-
phallischen Pol können Männer nur im Kreis und im Spiegel von
Männern aufladen. Dies ist oft ein langwieriger Prozess, denn die
meisten Männer sind von klein auf vom Weiblichen geprägt, in
der Ursprungsfamilie hauptsächlich erzogen vom Weiblichen und
auch in Kindergarten und Schule fast ausschließlich vom Weib-
lichen umgeben. Die Entwicklung zum polar Männlichen ist des-
halb meist schon früh und nachhaltig beeinträchtigt und wird zu-
mindest nicht aktiv vom Männlichen unterstützt und gefördert.
Häufig wird das phallisch-aggressiv Männliche eher als Makel
72 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

betrachtet, der durch viel feminine Präsenz ausgeglichen werden


sollte. Das spannende und erfüllende Abenteuer der Polarität kann
jedoch erst dann entstehen, wenn sowohl der feminine als auch der
2 maskuline Pol ausgeprägt sind. Es geht also um Rückbesinnung auf
die polare Wirklichkeit, die wir essenziell sind. »Sexuelle Anzie-
hungskraft basiert auf der Polarität der Geschlechter, der Kraft der
Leidenschaft, die einen Bogen zwischen dem männlichen und dem
weiblichen Pol spannt« (Deida 2011, S. 13) oder mit Mantak Chia
»der Mann ist Feuer, die Frau ist Wasser« (Chia 2010, S. 160). Eine
reife und gesunde Sexualität ist demnach erst dann gegeben, wenn
der Mann ganz Mann und die Frau ganz Frau sein darf. Es geht um
männliche Identität, Polarität und Essenz. Der reife Liebhaber hat
seine männliche Essenz gefunden und lebt voll und ganz aus ihr.
Er ist als Mann ganz (und als Mensch halb …). Um Einssein und
Einheit zu erfahren braucht er das Weibliche, um polare Männlich-
keit zu erfahren, braucht er das Männliche, braucht er den Kreis
der Männer. »Der Liebhaber ist sich seiner Verletzlichkeit und der
Verletzlichkeit der Welt bewusst (Heiler), seine Liebe ist voll Mit-
gefühl. Er hat die Wirklichkeit von Freiheit und Gebundensein
(Wilder Mann) sowie die Entschlossenheit und Hingabe des Krie-
gers in sich erforscht. Diese archetypischen Qualitäten geben dem
gereiften Liebhaber die Kraft, das zu leben, was er liebt« (Walter
Mauckner). Die Liebe des Liebhabers ist ohne Hintertüren, er liebt
»radikal« (vgl. Lindau 2014). Seine wahre Leidenschaft ist die ele-
mentare Lust auf die Liebe und das Leben selbst, und diese Liebe
so wie das Leben sind jederzeit in ihm selbst anwesend.
Um den eigenen inneren Archetyp des Liebhabers zu erfor-
schen und sich ihm anzunähern, hilft die Beantwortung folgender
Fragen:
55 Welches sind meine Leidenschaften?
55 Wie lebe ich meine Leidenschaften?
55 Wofür begeistere ich mich?
55 Was erfüllt mich mit tiefer Freude?
55 Was oder wen liebe ich und wie fühlt sich diese Liebe an?
55 Wie lebe ich Sexualität?
55 Wie bin ich Mann?
55 Wofür brennt mein inneres Feuer?

2.6 Mystiker

Der Mystiker liebt die Wahrheit und erforscht das Wesen hinter
den vordergründigen Strukturen. Seine Bewegung führt durch
die Struktur hindurch und über sie hinaus. Er interessiert sich
2.6 • Mystiker
73 2
für das, was hinter dem Sichtbaren liegt und öffnet sich für das
wissende Feld. Er stellt sich ganz bewusst der Lücke, dem Raum
des Nicht-Wissens. Die Struktur versucht, uns vor dieser zutiefst
verängstigenden Konfrontation mit dem Nichts zu schützen. Sie
möchte Sicherheit, keine Unsicherheit, sie möchte nicht in die Lü-
cke, sondern am Alten festhalten, da das Sein in der Lücke sie zu-
tiefst verunsichert und deshalb verletzlich und angreifbar macht.
Der gereifte Mystiker ist sich dieser Zusammenhänge bewusst und
sucht die Lücke auf, denn er weiß, dass in der Lücke und in der
damit verbundenen absoluten Ungewissheit die größte Chance
für Entwicklung, Veränderung, Neugeburt und Rückbindung an
das Wesen hinter aller Struktur liegt. Über das damit verbundene
»Stirb und Werde« kann es wieder zur Anbindung an das große
Ganze, das alles trägt, kommen. Um diese große Wahrheit weiß
der Mystiker, und auf diesem Hintergrund sucht er Kontakt zum
Wesen hinter der Struktur. Die Erforschung und das Erleben des
Wesens hinter der Form ist das größte Abenteuer für ihn. Es geht
um den Punkt, an dem man Altbewährtes loslässt und etwas an-
derem – »Gott«, der »Tiefenströmung«, dem »großen Nichts« –
die Führung überlässt. Der Mystiker stellt sich diesem »Nichts«,
dieser Lücke, er tritt über die Schwelle, betritt den Schwellenraum
und begegnet dort dem Nichts in seiner ganzen Fülle.
»Während es beim Archetyp des Magiers mehr um die Beherr-
schung von Kräften und Naturgesetzen geht, steht beim Mystiker
die Begegnung mit dem Raum des Nicht-Wissbaren und mit dem
Mysterium im Zentrum. Ziel ist dabei nicht, das Mysterium zu
lüften, sondern sich an dessen Pracht zu erfreuen und es zu be-
staunen« (Walter Mauckner). In der Tiefe gilt es zu verstehen,
dass es niemals erfasst werden kann, und gleichzeitig ist etwas in
uns, das es auf eine andere Weise bereits kennt und versteht. Der
Mystiker ist bereit, in den immerwährenden Stirb-und-Werde-
Prozess einzutreten. Die Erlangung von Macht oder die Kontrolle
über die Naturgewalten ist ihm kein Anliegen. Vielmehr geht es
ihm um die Hingabe an den Augenblick, an das, was erscheint und
ist. Es geht um tiefe Zustimmung zur Wirklichkeit des Lebens. Die
Zustimmung zu dem, was ist, ist eine Voraussetzung dafür, über
die Formen hinauszugehen und Eins zu werden mit der Kraft,
die alles lenkt. Obwohl der archetypische Mystiker den Wert des
Nicht-Wissens zutiefst anerkennt und versteht, bedeutet das nicht,
dass ein Mystiker unwissend wäre. Auch Sokrates sagte nicht »Ich
weiß, dass ich nichts weiß«, sondern – vom entsprechenden Über-
setzungsfehler befreit – »Ich weiß, dass ich nicht weiß« (ohne das
»s« am »nicht«). Er wollte also nicht zum Ausdruck bringen, dass
er nichts weiß, sondern es ging ihm darum, das zu hinterfragen,
74 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

was man zu wissen meint. Der Mystiker kommt nicht ohne Wis-
sen aus, wobei damit nicht nur Wissen aus Büchern, sondern auch
und vor allem ein phänomenologisches, wahrnehmendes, sich für
2 die Wirklichkeit öffnendes Erfahrungswissen gemeint ist. Für sei-
nen Weg braucht der Mystiker deshalb eine intensive Schulung
und viel Erfahrung, um das zu schauen, was in der Tiefe ist.
Im Mystiker-Archetyp entfaltet sich das Prinzip des »Stirb und
Werde«. Er hat verstanden, dass das Kämpfen gegen die Gedan-
ken, gegen die Strukturen und gegen die Umstände nicht zur Frei-
heit führt, dass es über diesen Weg niemals gelingen kann, hinter
die Formen zu schauen. Es ist ein stetes Ringen darum, herauszu-
finden, wie die dafür nötige Hingabe und das Loslassen geschieht.
So ist der Mystiker zutiefst verbunden mit dem Prinzip des Los-
lassens und der Zustimmung und er beherrscht »die Kunst der
spirituellen Nicht-Einmischung« (O´Donohue 2012, S. 203). Dies
bedeutet allerdings nicht, dass er alles passiv so geschehen lässt,
wie es geschieht. Es ist vielmehr eine hochdifferenzierte Entschei-
dungsfähigkeit und sehr viel Erfahrung nötig, um sich zwischen
den Polen »angemessenes Handeln« einerseits und »geschehen
lassen« andererseits zu bewegen. Das wirft die Frage auf, ob man
zur Essenz des archetypischen Mystikers überhaupt ohne hilfege-
bende Begleitung gelangen kann. »Diese Frage ist nicht eindeutig
zu beantworten, es gibt allerdings deutliche Hinweise darauf, dass
sich das tiefe mystische Wissen um die Seele und die entspre-
chenden Zusammenhänge durch eine angemessene Unterstüt-
zung eher erschließt« (Walter Mauckner). Der Mystiker kann ein
Lehrmeister und Mentor sein. Er versteht es, Krisen seiner Schüler
zu initiatischen Prozessen umzudeuten, deren Wachstumspoten-
tial zu sehen und es zum Wohle des Schülers zu nutzen. Mithilfe
des Mentors kann die Seele des Schülers erkennen, dass und wie
aus Krisen, also dem Kontakt zu Grenzen, Wachstumschancen
gemacht werden können. Dies deshalb, weil der Mystiker-Mentor
tief in die Seelenwirklichkeit des »Stirb und Werde«, der Lücke
und des Übergangs eingedrungen ist. Auf diesem Wissens- und
Erfahrungshintergrund kann er andere in Krisenzeiten gut beglei-
ten, … wenn diese dazu willens sind, wenn also die Zeit reif und
der Schüler bereit ist. Einer der vielen Wege, um die entsprechen-
de Entwicklung auf der Seelenebene zu unterstützen, ist innere
Sammlung, Kontemplation und das Verweilen in der Stille, dem
Nicht-Wissen, der Leere und dem Augenblick. Ein anderer Zu-
gangsweg ist die Meditation, beispielsweise über das Musizieren,
das Nachdenken über ein Thema oder aktive Meditation.
Der Mystiker ist auch ein Forscher und ein Suchender, wobei
das, worum es geht, eigentlich weder gesucht noch gefunden wer-
2.6 • Mystiker
75 2
den kann. Die Haltung, die den Mystiker antreibt, ist weniger eine
Such- als vielmehr eine Öffnungsbewegung, ein offenes Schauen
auf das, was ist. Der Mystiker sehnt sich nach der Wahrheit. Etwas
in ihm weiß um diese Wahrheit und möchte Kontakt zu dieser
tieferen Wahrheit haben. Dieser Teil fragt: »Wer bin ich?«. Der
Mystiker begegnet seinem Forschungsgegenstand zutiefst phä-
nomenologisch. Er betrachtet die Dinge vollkommen unideolo-
gisch und unvoreingenommen und schaut, wie sie sich zeigen.
Das Wort »Kontemplation« ist vom lateinischen Verb »contem-
plari« abgeleitet, was mit »anschauen, betrachten« übersetzt wird.
Kontemplation meint reines Schauen, Wesensschau (Platon, Hus-
serl), Seinsfühlung (Dürckheim) oder das Schauen in das nackte
Sein (Jäger) ohne jede Intention. In der Kontemplation schaut der
Mystiker nach innen, was Denken und Spüren nicht ausschließt.
Das Schauen wird dabei jeglichen Suchens, Wollens und Müssens
entleert, um dem So-Sein so zu begegnen, wie es ist. Mit dieser
Haltung begegnet der Mystiker auch den Abgründen – ohne Ab-
lehnung, sondern in tiefer Anerkennung und ohne Wertung. Und
so tritt er auch dem Tod, dem großen »Stirb und Werde«, dem
großen Übergang entgegen. »Die Selbsterforschung ist in gewis-
ser Weise auch ein mystischer Vorgang, weil wir dem, was wir
Schauen mit Nicht-Wissen begegnen, um darüber zu neuen Er-
kenntnissen zu gelangen. Diese fallen uns zu und können nicht
‚gemacht’ werden, genauso wenig, wie wir ‚Wahrnehmung’ oder
‚Leben’ machen können. Es geschieht einfach, und es ist immer
schon da. Dem Mystiker geht es um die Begegnung mit dem Gött-
lichen ohne moderierenden Intellekt und ohne suchendes Wollen
oder Müssen. Diese forschende Haltung benötigt Schulung, Er-
fahrung und Kompetenz, weil sie im Kern zu einfach, zu rein und
zu unmittelbar ist, als dass wir sie über unsere üblichen Lernorga-
ne begreifen könnten« (Walter Mauckner).
Der Weg zum Mystiker ist eine Wahrnehmungs- und eine
Wissensschulung. Teilaspekte mystischen Wissens finden sich
auch in der Philosophie und der Psychologie und hier vor allem
in der transpersonalen Psychologie wieder, die den überpersön-
lichen Aspekt der menschlichen Psyche betont. Der Mystiker ist
der transpersonale Archetyp und damit auch der Archetyp der
Grenze und des Zwischenraumes. Er hört nicht dort auf, wo die
Strukturen der Psyche wirken, sondern geht darüber hinaus in den
transpersonalen Bewusstseinsraum. Er betritt den Raum, der sich
hinter all den Formen, Gedanken und Gefühlen öffnet. Hierfür
bezieht er sich auf die drei Ebenen der menschlichen Existenz,
76 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

innerhalb derer wir uns permanent bewegen und die sich gegen-
seitig durchdringen:
1. die Ebene der Form bzw. der Materie (z. B. Körper, Gedan-
2 ken, Strukturen, …),
2. die feinstoffliche Ebene (z. B. Essenzthemen, feinstoffliche
Energien, die sich anfühlen können wie flüssige Luft und Ver-
dichtungen, Prana, Orgon, die Aura eines Menschen, …),
3. die Ebene des Unmanifesten bzw. Formlosen.

Im religiösen Kontext wird die mittlere Ebene auch als »Heiliger


Geist« bezeichnet. Das ist das, was zwischen der Form und dem
Formlosen wirksam wird. Hier kann etwas vermittelt werden, was
auf der Ebene der Form nicht vermittelbar ist. Die dritte Ebene ist
letztlich das Ziel der mystischen Bewegung, bei der es um Kontakt
zum Formlosen und die Wahrnehmung des Formlosen – auch als
»göttliches Prinzip, »Gott« oder »Nondualität« bezeichnet – geht.
Auf dieser Ebene kommt man mit Aspekten von Leere und Raum
in Kontakt. Raum, der sich grenzenlos ausdehnt und der keinen
Inhalt mehr hat. Raum, Leere, Weite, Stille, der innere Körper
und das Hier und Jetzt werden von Tolle (2005) als Portale zum
Unmanifesten bezeichnet. Auch der Körper hat – wie alles an-
dere auch – Anteile am Formlosen. Der Körper ist nicht nur das
Grobstoffliche, sondern auch das Feinstoffliche und das Formlose.
Millionen und Milliarden Teilchen fliegen permanent durch uns
hindurch. Der größte Teil unseres Körpers ist, auf zellulärer Ebe-
ne betrachtet, Raum bzw. Leere, und trotzdem ist er solide und
fest. Auf der Ebene des Unmanifesten gibt es nur das Hier und
Jetzt, keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur reine
Präsenz und Wahrnehmung. Ein Punkt, an dem die reine Präsenz
niemanden mehr hat, der sie wahrnimmt. Die vollkommene Lee-
re. Für diese Bereiche und Phänomene interessiert sich der Mys-
tiker. Er erforscht diese und ist ein Grenzgänger. Ein besonderer
Zwischenraum bzw. Zwischenzustand ist der Zeitraum zwischen
Tod und Wiedergeburt, eine Lücke, die als »Bardo« bezeichnet
wird (vgl. Rinpoche 2007, S. 30 ff). Aus buddhistischer Perspektive
besteht letztlich unsere gesamte Existenz aus einer Abfolge sich
ständig verändernder Übergangsrealitäten. Es gibt mehr Lücken
als stabile, feste Zustände. Feste Zustände sind so gesehen Illusio-
nen. Die Ich-Struktur möchte feste Zustände und versucht bildlich
gesprochen von festen, stabilen Zuständen über die Lücke hinweg
in weitere feste Zustände zu springen, um so das Gefühl von Si-
cherheit und Stabilität aufrechtzuerhalten. Für einen gelingenden
Bewusstseinsentfaltungsprozess ist es allerdings nötig, sich in die
Dimensionen der ständigen Veränderung hinein zu weiten. Wenn
2.6 • Mystiker
77 2
das geschieht, kommen wir unweigerlich in Kontakt mit Lücken.
Die Einsicht, doch nicht der zu sein, der man glaubte zu sein, kon-
frontiert einen beispielsweise mit einer Lücke. Das Alte ist nicht
mehr da oder nicht mehr haltbar und das Neue ist noch nicht
greifbar oder wahrnehmbar. Wir sind umgeben von und einge-
bettet in derartige Lücken. So wissen wir – wenn wir einmal genau
hinschauen und hinspüren – beim Sprechen nicht, was wir gleich
als nächstes sagen werden, und wir wissen letztlich auch nicht,
was in der nächsten Sekunde passieren wird. Das gesamte Leben
ist so betrachtet ein einziger »Lückenprozess«: Wenn wir einen Job
aufgeben (oder verlieren) und noch keinen neuen haben, dann be-
finden wir uns in einer Lücke. Wenn wir uns abends schlafen legen
und morgens aufwachen, dann ist dazwischen eine Lücke. Wir
atmen ein und wieder aus. Zwischen Ein- und Ausatmen ist eine
Lücke. Je genauer wir hinschauen, je mehr wir auf den Augenblick
und den Moment fokussieren, desto mehr können wir erfahren,
wie häufig »nichts« passiert. Wenn wir still werden, merken wir,
wie viele Lücken auch im Erleben da sind. So wie auch der Körper
genau betrachtet viel mehr Lücke und »Nichts« ist als feste Materie
oder mit Heraklit ausgedrückt: »panta rhei – alles fließt«. Sobald
wir genauer hinschauen, werden wir feststellen, dass alles in Be-
wegung ist, und dass es stabile Zustände, so wie wir sie empfinden
und wollen, gar nicht wirklich gibt. Trotz allem gibt es natürlich
Festigkeiten und Stabilitäten. Auf dem Weg der Kontemplation
kann es beispielsweise zu Wahrnehmungen des Körpers als leeren
Raum bei gleichzeitiger Festigkeit kommen. Eine der vielen Para-
doxien, auf die der Mystiker auf seiner Reise stößt. Kann etwas
fest und gleichzeitig formlos sein? Kann etwas voll und zur selben
Zeit auch leer sein? Fragen, denen sich unser Normalbewusst-
sein kaum stellen kann. Das Lücken- bzw. Bardo-Phänomen ist
per Verstand nur sehr rudimentär erfass- und abbildbar. Über das
stille Sitzen und die Kontemplation mag man hingegen erfahren,
dass unser vermeintlich unablässiger Fluss an Gedanken gar nicht
unaufhörlich strömt, sondern dass es viel mehr Lücken zwischen
den Gedanken gibt, als Gedanken selbst. Letztlich sind die Lü-
cken, das »Nichts«, die Stille viel entscheidender, als man auf den
ersten Blick denkt – ein Prinzip, was auch in der Musik sehr ex-
plizit genutzt wird, und was Laotse sehr eindrücklich folgender-
maßen beschreibt:

»  Dreißig Speichen treffen sich in einer Nabe:


Auf dem Nichts daran (dem leeren Raum) beruht des Wagens
Brauchbarkeit.
Man bildet Ton und macht daraus Gefäße:
Auf dem Nichts daran beruht des Gefäßes Brauchbarkeit.
78 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Man durchbricht die Wand mit Türen und Fenstern, damit ein
Haus entstehe:
Auf dem Nichts daran beruht des Hauses Brauchbarkeit.

2 «
Darum: Das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Brauchbarkeit. 
Laotse (in »Tao te king. Das Buch des alten Meisters vom Sinn und
Leben«, 2010, S. 21)

Das Wesen vieler Dinge macht letztlich die Leere bzw. das Nichts
aus. Ein Glas wird vor allem dadurch zum Glas, dass es Raum
umgibt, der gefüllt werden kann, und es sind »die Löcher, die
die Schönheit von Spitze ausmachen« (O´Donohue 2012, S.60).
Wie der Mystiker interessieren sich auch die Naturwissenschaften
immer mehr für die »Leere« und das »Nichts« und das riesige
Potential, das im Vakuum verborgen liegt, die Energie, die aus
dem »Nichts« entsteht. Um diesem Nichts möglichst nahe zu sein,
wohnt der Mystiker an der Grenze und betritt den Grenzraum.
In diesem Zwischenraum, in dieser Lücke trifft er auf das reine
Nicht-Wissen. Im Grunde ist jeder Moment eine solche nicht-
fassbare Lücke. Es gibt kleine Lücken – wie etwa die in einem
Gesprächsfluss oder die zwischen Ein- und Ausatmen – und es
gibt große Lücken, bei denen man zutiefst mit Nicht-Wissen kon-
frontiert wird. Und je weiter der Mystiker reist, desto größeren
Lücken begegnet er. Die große Lücke, die große Leere bringt uns in
Kontakt mit dem großen Nicht-Wissen und damit mit dem Gött-
lichen, was jenseits der Form ist. Der reife Mystiker kann diese
große Leere berühren und verspürt eine große Sehnsucht nach
dieser Berührung und danach, in der großen Leere aufzugehen.
Der Mystiker ist somit auch der Archetyp der Spiritualität. Eine
seiner zentralen Fragen lautet daher: Wie bin ich spirituell?, wobei
Spiritualität nicht nur auf diesen großen, leeren Raum bezogen
gemeint ist, sondern sich auch auf dem Marktplatz des täglichen
Lebens abspielt. Spiritualität ist, wie die Lücke oder das Nichts,
allgegenwärtig und immer anwesend. Wie der Himmel, auf dem
die Wolken vorüberziehen.
Im Kontakt mit der großen Leere, dem Nichts und dem Nicht-
Wissen kommt etwas zum Ende, nämlich all das, was als Ich-Struk-
tur bezeichnet werden kann. Diese löst sich auf in den Augenblick,
denn der Kontakt zur großen Leere kann nur im Jetzt stattfinden.
Jenseits aller Formen gibt es keine Vergangenheit und keine Zu-
kunft und auch kein Ich mehr. Bewegt man sich auf der mittleren
Ebene des Seins, dann gibt es dort noch ein Ich. Essenzerleben
wird dann zwar als unabhängig von den konkreten Umständen
wahrgenommen, aber immer noch von einer Person. »Im Kon-
takt zum Unmanifesten zeigen sich hingegen eher Erfahrungen
des ‚es geschieht ohne mich’. Auf der großen Leinwand der reinen
Präsenz passiert dann einfach, was passiert, und das ist das große
2.6 • Mystiker
79 2
Mysterium, die große Frucht, um die sich alles dreht, und die jeder
Mensch bereits in sich trägt« (Walter Mauckner). Auf dieses Mys-
terium, auf diese Vollkommenheit richtet sich das Interesse des
Mystikers. Jenseits von Raum und Zeit, jenseits der Form, ohne es
besitzen zu können, weil es nichts mehr gibt, auf das man zugrei-
fen könnte. Es ist einfach. Ein unmittelbarer Seinskontakt. In sich
leer und trotzdem von einer unbeschreiblichen Fülle. Das ist das
Mysterium und daher kommt der Name »Mystiker«. Der Mystiker
sucht den Kontakt zum Mysterium. Das setzt voraus, dass er bereit
ist, Prozesse zu durchlaufen, in denen sein Ich mehr und mehr aus
dem Zentrum des Universums entfernt wird und sich letztlich auf-
löst. Lösen sich die Ichstrukturen aus ihrer Fixierung und öffnet
sich unsere Wahrnehmung, entsteht Kontakt zu dem Raum hin-
ter all unseren Konzepten, Meinungen und Absichten. Auf einer
hohen Ebene können wir diese Wirklichkeit erfahren als Leere,
Formloses, Nondualität oder Einheit. Hier ist jede Trennung auf-
gehoben. Ein vom Ganzen getrenntes, separates Ich existiert nicht
mehr. Menschen, die diese Ebene verwirklicht haben, können als
»erwacht« oder »erleuchtet« bezeichnet werden. So lässt sich der
Weg des Mystikers auch als die »Aufhebung von Trennung« be-
schreiben. Die Trennung zwischen »Ich« und »Du«, »gut« und
»schlecht«, »richtig« und »falsch« und zwischen allen Dualitäten
und vermeintlichen Gegensätzen wird aufgehoben, und es wird
Einheit und Eins-Sein erlebt. Diese Erfahrung hat jeder Mensch
schon einmal gemacht, auch wenn es nur Sekunden oder Momen-
te waren. Der Mystiker begegnet den Paradoxien des Lebens und
erkennt in ihnen die Wahrheit der Nondualität, die Einheit hinter
den scheinbaren Gegensätzen. Er sieht, dass Leben und Tod in et-
was Größeres eingebettet sind, etwas Größeres, aus dem das Leben
kommt und wohin das Leben geht.
Der mystische Weg und die jeweiligen Erfahrungen und Ein-
sichten werden in unterschiedlichen Traditionen und Religio-
nen sehr ähnlich beschrieben. Ob Zen (mystische Tradition des
Buddhismus), Kontemplation (mystische Tradition des Christen-
tums), Kabbala (mystische Tradition des Judentums) oder Sufis-
mus (mystische Tradition des Islam), unabhängig vom jeweiligen
Zugangsweg kommen die Mystiker jeweils zu sehr ähnlichen Er-
fahrungen und beschreiben diese jeweils mit ähnlichen Worten
und Inhalten. Während sich die Religionen teilweise erbitterte
Schlachten liefern, haben die mystischen Traditionen der ver-
schiedenen Religionen somit sehr enge Verbindungen miteinan-
der. Es geht im Kern immer um die Aufhebung von Trennung und
um ein Einheitserlebnis, was jedoch nicht regressiv und »infantil«
i.  S. von »Rückentwicklung in den Mutterleib« ist. Ken Wilber
(2011) hat diesbezüglich eine sehr hilfreiche und klare Unterschei-
80 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

dung vorgenommen. Er spricht von der Prä/Trans-Verwechslung,


womit er meint, dass viele diesbezügliche Missverständnisse und
Irritationen auf einer Verwechslung prärationaler bzw. präperso-
2 naler und transrationaler bzw. transpersonaler Phänomene be-
ruhen. Präpersonale Prozesse sind regressive, infantile Prozesse,
während transpersonale Prozesse echte mystische, kontemplati-
ve und reife Erfahrungen sind. Mittels transrationaler Prozesse
werden die engen Ich-Formen in die Erweiterung hinein trans-
zendiert. Das eine ist eher ein Rückzug aus der Wirklichkeit, das
andere eher ein vertiefter, offener Einstieg in die Wirklichkeit. Das
eine ist eher verengend und regressiv während das andere eher
Bewusstseins-entwickelnd, öffnend, herausfordernd, grenzerfah-
rend und erweiternd ist.
»Da sich der Mystiker mit der Frage nach dem ‚Wer bin ich’
beschäftigt und sich fragt ‚Wer bin ich als dieses Körper-Seelen-
Geist-Wesen?’, ist er der transpersonalste Archetyp auf dem Weg
des nach innen gerichteten Wissens. Er stößt immer wieder in die
Tiefe und an die Grenzen seines Menschseins vor und erforscht
die dabei auftauchenden Bewusstseinsräume, um letztlich damit
auf dem Marktplatz des Lebens zu landen, wohin die Reise des
Mystikers zielt« (Walter Mauckner). Zen-buddhistisch auf den
Punkt gebracht: »Vor der Erleuchtung: Holz hacken und Wasser
tragen. Nach der Erleuchtung: Holz hacken und Wasser tragen«.
Besonders schön bringt diesen Aspekt die Geschichte vom Ochsen
und seinem Hirten zum Ausdruck (Tsujimmura u. Buchner 2013).
Erst macht sich der Hirte verzweifelt und erfolglos auf die Suche
nach seinem verlorenen Ochsen und gibt am Abend erfolglos auf.
Am nächsten Morgen findet er dann die Spur seines Ochsens,
und schließlich findet er auch den Ochsen selbst. Seine Wildheit
ist aber kaum zu bremsen und nur unter großen Mühen gelingt
es dem Hirten, den Ochsen zu fangen. Nun muss er den Ochsen
mit Peitsche und Zügel langmütig zähmen. Erst als das gelungen
ist, folgt er dem Hirten sanftmütig und aus freien Stücken. Auf
dem Rücken des Ochsens sitzend, reitet er gelassen und müßig
zurück nach Hause, spielt dabei fröhlich auf der Flöte und singt
ein ausgelassenes Lied. Endlich heimgekehrt, gibt es keinen Och-
sen mehr. Ruhig schlummert der Hirte und hat seine jetzt nutzlose
Peitsche und die Zügel weggeworfen. Dann sind »Peitsche und
Zügel, Ochse und Hirt … spurlos zu Nichts geworden. In den wei-
ten und blauen Himmel reicht niemals ein Wort, ihn zu ermessen.
Wie könnte der Schnee auf der rötlichen Flamme des brennenden
Herdes verweilen? Erst wenn ein Mensch in diesen Ort gelangt ist,
kann er den alten Meistern entsprechen« (Tsujimmura u. Buch-
ner 2013, S.  41). Schließlich ist er in den Grund und Ursprung
2.6 • Mystiker
81 2
zurückgekehrt. »In seiner Hütte sitzt er und sieht keine Dinge da
draußen. Grenzenlos fließt der Fluss, wie er fließt. Rot blüht die
Blume, wie sie blüht« (Tsujimmura u. Buchner 2013, S. 45). Die
Geschichte endet damit, dass der Hirte mit offenen Händen, nack-
tem Oberkörper und nackten Füßen auf den Markt zurückkehrt,
»das Gesicht mit Erde beschmiert, der Kopf mit Asche über und
über bestreut. Seine Wangen überströmt von mächtigem Lachen.
Ohne Geheimnis und Wunder zu mühen, läßt er jäh die dürren
Bäume erblühen« (Tsujimmura u. Buchner 2013, S. 49).
Die Geschichte vom Ochsen und dem Hirten verdeutlicht,
dass der Mystiker auf seinem Weg zur Wahrheit viele verschiedene
Stufen durchläuft. Immer wieder zieht er sich in sich zurück und
wird still, um dann aber auf dem Marktplatz des Lebens weiter-
hin im Kontakt mit der inneren Stille anzukommen und »ohne
Geheimnis und Wunder« Wachstum und Schönheit zu bewirken.
Erst gilt es aber, in sich gänzlich still zu werden, hinter all die Be-
wegungen zu gehen und dort zu schauen, wer wir wirklich und
im Kern sind. Dies kann nur geschaut werden in dem grenzen-
losen, transpersonalen Bewusstseinsraum hinter allen Strukturen
und Formen. Um dorthin zu gelangen, ist die Stille ein zentrales
Portal, wobei Stille und Leere ineinander übergehen. Wenn es leer
wird, wird es still. Und die Stille, die hier gemeint ist, hat nichts
mit physikalischer Stille bzw. Geräuschen im Außen zu tun, son-
dern ist ein inneres Bewusstseinsphänomen, eine Stille jenseits
von laut und leise. Um zu dieser Art der Stille zu gelangen, ist es
meist förderlich, den Marktplatz immer wieder zu verlassen und
sich in Stille zu üben. Es geht dabei aber nicht darum, die Stille
herzustellen, sondern darum, die innerliche Stille, die bereits da
ist, zu entdecken. Wir sind die Stille, wir sind die Leere, wir sind
dieser transpersonale Bewusstseinsraum, und dem Mystiker geht
es darum, dies auch auf dem Marktplatz des Lebens zu sein …
oder in der Zurückgezogenheit eines Klosters. Hier, wie bei vielen
– wenn nicht bei allen – Dingen geht es um eine Ausgewogenheit
und um das richtige Timing: Wann ist es Zeit, auf den Marktplatz
zu gehen und seine Einsichten mitzuteilen, und wann ist es Zeit,
diese für sich zu behalten? Zarte, kleine und kostbare Erfahrun-
gen dürfen gerne erst einmal eine Weile gepflegt, bewundert und
weiter erforscht werden, bevor sie vorschnell auf dem Marktplatz
präsentiert werden. Insofern ist der Mystiker kein Mensch, der ein
Wissen hat, das nur einem eingeweihten, begrenzten Personen-
kreis zugänglich sein soll, sondern vielmehr ein weiser Mensch,
der sein Wissen teilt und damit eine Wirkung entfaltet. Ziel ist
nicht eine Mystifizierung spiritueller Erfahrungen oder die Um-
hüllung zutiefst menschliche Erfahrungen mit einem Schleier des
82 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Geheimnisvollen. Der Mystiker hat sich lediglich in ein Wissen so


weit vertieft, dass er an die Grenzen dieses Wissens gekommen ist
und darüber nun etwas weiß, was für andere mystisch erscheinen
2 mag, weil sie es mit dem logisch, diskursiven Verstand nicht er-
fassen können.
Der Nimbus des Geheimwissens, der die Mystik umweht, liegt
darin begründet, dass mystisches, und vor allem magisches Wis-
sen lange Zeit nur einem kleinen Personenkreis zugänglich ge-
macht wurde, um zu verhindern, dass es missverstanden und miss-
braucht werden, und zum Schaden der Menschen führen könnte.
»Dies ist zunehmend weniger nötig, weil wir inzwischen in einem
anderen Bewusstseinsfeld leben, und weil es beim Mystiker nicht
um Beherrschung und Kontrolle potentiell gefährlicher Naturge-
walten u. ä. geht, sondern um Hingabe und eine Bewegung in die
Tiefe des Menschseins. Eine Geheimhaltung mystischen Wissens
ist auf dieser Ebene nicht nötig, weil es keine Geheimnisse gibt,
die verborgen gehalten werden müssten. Trotz allem ist ein ge-
wisses Maß an Zurückhaltung gut, weil mystische Erfahrungen
gemeinhin erstmals in einem Umfeld gemacht werden, wo solche
Erfahrungen willkommen sind und verstanden werden. Werden
sie zu schnell in Situationen hinein getragen, in denen hierfür kein
Verständnis und keine Wertschätzung vorhanden ist, so trägt das
keine guten Früchte. Es kann zu Missverständnissen, Abwertun-
gen und zu unguten Gefühlen bei allen Beteiligten führen. Der
Austausch über Mystiker-Themen braucht ein Feld der Achtung
und des tieferen Verstehens, damit die Erfahrungen und Einsich-
ten auch fruchtbar werden können« (Walter Mauckner).
Die zentrale Frage des Mystikers bezieht sich nicht direkt auf
das Du, sondern auf das Ich. Die Frage »Wer bin ich?« stellt dabei
allerdings keine egozentrische Nabelschau dar, sondern ist eine
Tür hin zur großen Frage nach der Essenz des Menschseins. Der
Mystiker ist wissbegierig, erlangt darüber immer mehr und um-
fassenderes Wissen, um zu der Einsicht zu gelangen, dass er weiß,
dass er nicht weiß. Auf der Suche nach Wissen landet der Mystiker
letztlich beim Nicht-Wissen, und damit bei der vielleicht höchsten
Form des Wissens. Dem Mystiker geht es um den Kontakt mit
dem Nicht-Wissen. Dieser Aspekt steckt auch hinter dem Bon-
mot, »man soll eine gute Frage vor schnellen Antworten schüt-
zen«, oder wie es Rilke in seinen Briefen an einen jungen Dichter
ausdrückt: »… ich möchte Sie, …, bitten, …, Geduld zu haben
gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fra-
gen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie
jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden
2.6 • Mystiker
83 2
können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich da-
rum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben
Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die
Antwort hinein« (Rilke 1929, S. 21).
Für den Mystiker gehören Licht und Schatten, das »Gute« und
das »Böse« zusammen. Das Licht entfaltet seine Strahlkraft in
der Schwärze, in der tiefen, samtenen Schwärze. Der Mystiker ist
bereit, diesen schwarzen Raum zu betreten. So ist auch die dem
Mystiker zugeordnete Farbe ein tiefes, fast schwarzes Blau. Der
Essenzaspekt des Mystiker-Archetyps ist Frieden und Wahrheit.
Der vollendete Mystiker ist durch den Tod hin zum ewigen Leben
gegangen. Dieser umfassende Mystikerprozess wird in der Chris-
tusgeschichte versinnbildlicht. Christus ist – über die verschiede-
nen Religionen hinweg – eine archetypische Figur für den hohen
Mystiker, der die vollendete Transformation, das vollendete »Stirb
und Werde«, die vollendete Heldenreise, die vollendete Initiation
durchlaufen hat. Die Christusgeschichte versinnbildlicht den Ich-
Tod, den Prozess, über das irdische Leben hinauszugehen, es zu
transzendieren und auf einer höheren Ebene wiedergeboren zu
werden. Hierin kommt die Vollendung des Mystikers im Heiligen
zum Ausdruck. Der Heilige, verstanden als derjenige, der wahr-
haftig heil geworden ist, als derjenige, der das Ich und das Leiden
überwunden hat.
Ein Mystiker kann auch dem begegnen, was der christliche
Mystiker Johannes vom Kreuz als »dunkle Nacht der Seele« be-
zeichnet hat. Hiermit meint er den Transformationsprozess, der
schließlich zur »unio mystica«, zur Liebesvereinigung mit Gott
führt (v. Kreuz 1995). Auf dieser Reise wird der Mystiker mit tiefen
Themen konfrontiert, wie dem Widerstand gegen das Leben, den
dämonischen Kräften, dem luziferischen Prinzip oder der Auf-
lehnung gegen Gott. Diese Konfrontation und diese Auseinander-
setzung ist wichtig für das Wachstum der Seele. Wenn sich die
dunkle Nacht der Seele öffnet, findet ein tiefer Reinigungsprozess
statt, im Verlaufe dessen die dualistische Betrachtungsweise aufge-
hoben wird und tiefes Urvertrauen und tiefer Friede jenseits aller
Konzepte erwächst. An diesem Punkt stimmt der Mystiker dem
Entsetzlichen genauso zu, wie dem Wunderbaren, weil er keinen
Unterschied mehr macht und die Dualität aufgelöst ist. Er ist – be-
zogen auf die drei Willensebenen (7 Abschn. 2.3) – beim schwarz
angekommen und spaltet nicht mehr in »richtig« und »falsch«
und so weiter, sondern ist aus den dualen Kategorien herausge-
treten. Er nimmt die allgegenwärtige Präsenz wahr, die wie eine
große Leinwand ist und weder erlangt noch vermieden werden
kann. Präsenz ist allumfassend und hat nichts mit Konzentration,
84 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

aber alles mit Öffnung und Erweiterung des Bewusstseins zu tun.


In der Kontemplation, der Innenschau und der Selbsterforschung
des Mystikers geht es um Sein statt um Tun. Eine wesentliche
2 und interessante Mystikerfrage lautet daher: Was geschieht, wenn
nichts geschieht? Weitere Fragen, die den Mystiker-Archetyp er-
schließen helfen, lauten:
55 Welches Wissen habe ich?
55 Wie nutze ich meine Intuition in verschiedenen Feldern?
55 Wie bin ich ein spiritueller Mann?
55 Was ist meine Haltung zu Tod und Sterben?
55 Wie erlebe ich das »Stirb und Werde«?
55 Womit komme ich in Kontakt, wenn ich still werde?
55 Was geschieht in der Lücke zwischen Ein- und Ausatmen?
55 Kann etwas gleichzeitig voll und leer sein?
55 Woher kommen diese (meine) Fragen und wer beantwortet sie?

2.7 König

Wert und Fülle, Autorität und Führerschaft, Verantwortung und


Dienst, das sind die wesentlichen drei Bereiche des archetypischen
Königs. Im Kern all dessen steht das Wert-Thema. Wert ist die
Essenz des König-Archetyps. Kein König ohne Wert. »Wert ist ein
Essenzaspekt, der sich sehr persönlich anfühlt, wie das Persön-
lichste, das wir sind. Persönliche Essenz ist nicht gleichzusetzen
mit ‚Persönlichkeit’. Große Königsfiguren und Meister waren und
sind allesamt sehr persönlich ohne von der Struktur ihrer Persön-
lichkeit überformt zu sein. Persönliche Essenz kommt dem nahe,
was man als Wert bezeichnen kann. Wert ist etwas, was wir sind,
jenseits aller Errungenschaften, aller Erfolge und all unserer guten
Taten. Sowohl dem Gewalttäter im Gefängnis als auch einem im
sozialen Dienst aufgehenden Menschen ist das essenzielle Wert-
Sein und die Würde innewohnend. Diesem Wert kann weder
etwas hinzugefügt noch etwas weggenommen werden« (Walter
Mauckner). Dieses Verständnis von Wert steht dem gängigen
Werteverständnis in gewisser Weise diametral entgegen. Es ist fast
eine Unverschämtheit und ein Affront gegen den Teil in uns, der
seinen Weg mit so viel Anstrengung geht oder gegangen ist, um
Wert zu sein bzw. zu haben. Wert kann jedoch nicht erreicht wer-
den, denn der Versuch, etwas zu erreichen, was wir bereits sind, ist
im Kern zum Scheitern verurteilt. Wert ist und war immer da. Da-
her ist klar zu unterscheiden zwischen »Wert haben« und »Wert
sein. »Wert« ist, wie jeder andere Essenzaspekt, unabhängig von
Äußerlichkeiten (Umständen, Errungenschaften, Situationen, …).
2.7 • König
85 2
Essenzieller Wert ist unabhängig davon, was eine Person in diesem
Leben repräsentiert. Unabhängig davon ist jede Person wert. Das
mag einerseits eine »frohe Botschaft« sein, stellt auf der anderen
Seite aber auch eine Bedrohung und Infragestellung all der bishe-
rigen Bemühungen dar, sich Wert zu »verschaffen«. Viele gesell-
schaftliche Strömungen führen bereits ab der frühesten Kindheit
zu einer Erziehung in Richtung »Wert haben«. »Wenn diese Unter-
scheidung zwischen ‚Sein’ und ‚Haben’ in der Tiefe begriffen wird,
kann dies ein Gefühl von Traurigkeit hervorrufen. Die Männer
erkennen, wie viel Einsatz, Mühe und Anstrengungen sie aufge-
bracht haben, etwas zu erreichen, was sie bereits sind. Die korrekte
Bezeichnung des König-Themas ist daher ‚Wert-Sein’. Nur aus die-
sem Wert-Sein heraus ist es möglich, sein ureigenes Lebenshaus
zu gestalten. Nicht das Lebenshaus schafft also den Wert, es mag
allerdings ein Ausdruck des eigenen Wert-Seins sein. Ob es eine
Hütte oder ein Palast ist: Alles ist gleichwertig. Im Erleben und im
Alltag machen wir unseren Wert jedoch immer wieder abhängig
von äußeren Errungenschaften oder der Beachtung durch andere
und so weiter« (Walter Mauckner).
In der Erforschung des Essenzprinzips »Wert« wird nicht nur
dessen Fülle, sondern wie bei allen Selbsterforschungen von Es-
senzen, auch dessen Mangel untersucht. Immer wieder geht es um
die Fragen: Wie fühlt sich Wert-Sein an?, Wie fühlt sich Mangel an
Wert an?, Wie fühlt sich der Wert an, der unabhängig von anderen
und anderem da ist? Erst wenn dieser Wert in der Seele empfun-
den wird, sind die anderen Aspekte des archetypischen Königs wie
Autorität/Führerschaft und Verantwortung/Dienst gegründet und
geerdet. Fußen diese Aspekte nicht im Wert-Sein, so besteht die
Gefahr, Macht und Führerschaft über »Wert haben« zu erzwingen
und so eine Verzerrung des archetypischen Königs zu realisieren.
Nur aus einer auf Wert-Sein begründeten Autorität kann wahre
Verantwortung und wirklicher Dienst entstehen. Dienst erwächst
letztendlich aus dem Wert-Sein und nicht aus dem oberflächli-
chen Konzept, das wir meist von »Dienst« haben: Ich tue etwas
Gutes, damit ich ein wertvoller Mensch bin. Der Begriff »wertvoll«
ist deshalb in Zusammenhang mit dem König-Archetyp in ge-
wisser Weise irreführend, weil er eher auf »Wert haben« verweist.
Eine bedeutsame »Königs-Frage« ist, wie sich Wert im eigenen
Leben manifestiert. Der König-Archetyp ist auch der Archetyp der
Manifestation. Er ist ein Archetyp, bei dem es um die Umsetzung
in der Welt geht. Ein König ist nie unabhängig von seinem Volk
und seinem Reich (seinem Lebenshaus) zu sehen. Er wirkt nicht
in der Zurückgezogenheit. Der König-Archetyp steht für Dienst,
Verantwortung, Führung, Fürsorge und praktisches Handeln. Das
86 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

Spannungsfeld, in dem sich der archetypische König bewegt, ist


das zwischen Führerschaft und Dienst. Könige dienen in ihrer
Führerschaft. Ohne Führung zu übernehmen, können sie ihren
2 Dienst nicht wirklich tun. In erster Linie bedeutet die Übernahme
von Führung für den König-Archetyp, Führerschaft für sein eige-
nes Leben zu übernehmen, für die eigenen Belange und für das,
was ihn in der Tiefe ausmacht. Für dieses »Ureigene« übernimmt
er die Verantwortung und die Führung. Der Archetyp des Königs
steht letztlich also nicht für den Dienst an einer Sache oder den
Dienst für jemand anderen. Wahrer, also auf Wert-Sein basieren-
der Dienst, ist ein Dienst auf dem Hintergrund des Ureigenen. Ein
König dient mit, durch, bzw. über sein Ureigenes dem Großen und
Ganzen. Dem Ureigenen zu folgen ist also kein Egoismus, sondern
ein großer Dienst an der Gemeinschaft. Dies hat der gereifte König
in der Tiefe verstanden, und er lebt entsprechend dieser Haltung
und dieses Verständnisses. Alte und tief verwurzelte Haltungen
wie »verleugne dich selbst, um wahrlich Gutes zu tun« oder »Ge-
ben ist seliger denn Nehmen« werden vom König-Archetyp somit
uminterpretiert und in ein anderes Licht gerückt, oder wirklich
verstanden. Er hat das Vertrauen, in sich selbst wert zu sein, und
das Vertrauen, dass dieser Wert über das Ureigene in den Dienst
an der Gemeinschaft genommen wird. Er hat die – bei vielen Men-
schen tief eingeprägte – Haltung, anders sein zu müssen, um wert-
voll zu sein, abgelegt. Ein gereifter König hat eine diesbezügliche
Montagepunktverschiebung vollzogen (vgl. Castaneda 2008), sein
Ureigenes gefunden, es erforscht, und er folgt diesem inneren Ruf
und damit seiner Bestimmung. Er lebt aus der Fülle und in dem
Wissen, dass kein Mangel herrscht. Auf diesem Hintergrund stellt
er sich in den Dienst am Großen und Ganzen und lebt sein Leben
gleichzeitig selbstbestimmt.

Beispiel
Am Abend soll es ein Feuer für die Männer geben. Ich beobach-
te, wie Axel hierfür die Vorbereitungen trifft. Jedes Stück Holz
bekommt seinen Platz. Fast scheint es so, als ob er im stummen
Zwiegespräch von jedem Holzscheit erfragt, wohin es wolle.
Selbstvergessen und gleichzeitig konzentriert schichtet er Scheit
für Scheit auf, justiert nach, nimmt einen Scheit wieder weg, er-
setzt ihn durch einen anderen, prüft sein Werk immer wieder, und
erst wenn er zufrieden ist, macht er weiter. »Wie ein Künstler vor
seiner Leinwand«, denke ich. Axel arbeitet so liebevoll und für-
sorglich, versunken in die Arbeit, mit einer Sorgfalt, einer Hinga-
be, einer Leichtigkeit, Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, die
mich beeindruckt. »Das Feuer für die Männer soll schön werden«,
scheint er zu denken, und ich vermag nicht zu unterscheiden, ob
2.7 • König
87 2
er es für die Männer oder für sich selbst macht. Er macht es für sich
und für die Männer! Er macht das, was ihm gemäß ist, und indem
er das tut, leistet er seinen Dienst an der Gemeinschaft. So sieht
königliches Dienen aus.

Archetypische Königsgestalten wie beispielsweise König Artus


sind aufrechte, väterliche, würdevolle Männer mit einer gewissen
Strenge. Sie geben Struktur, übernehmen Führung und dienen kö-
niglich. Sie sind zudem nicht allein, sondern haben eine Königin,
Berater, Krieger und ein Volk um sich. Entscheidungen müssen sie
in letzter Konsequenz aber alleine treffen und übernehmen dafür
auch die Verantwortung. Der Archetyp des Königs repräsentiert
den reifen, integrierten Mann, der sich bewusst ist, dass er von An-
fang an Wert ist, und der dieses Wert-Sein ganz selbstverständlich
lebt. Dieser Haltung widerspricht es nicht, durch Leistung etwas
aufzubauen und das als wertvoll zu erachten. Ein gereifter Kö-
nig macht an derartigen Errungenschaften und Leistungen jedoch
nicht seinen Wert fest. Aus dem tiefen und selbstverständlichen
Gefühl heraus, wert zu sein, kann auch ein Gefühl von natür-
lichem Stolz entstehen. Diese Art von Stolz erwächst einem ge-
öffneten Herzen, in dem Stolz, Dankbarkeit und Wert-Erleben
untrennbar miteinander verbunden sind. Der König-Archetyp ist
in Kontakt mit seinem Ureigenen, er folgt seinem ureigenen roten
Faden und seiner ganz individuellen Bestimmung. Seinem Urei-
genen ist er begegnet, indem er aufmerksam nach innen lauschte
und seiner inneren Führung vertraut hat. »Im Ureigenen wird er
in den Dienst genommen und findet vom Ich zum Du« (Walter
Mauckner). Dem Ureigenen zu folgen ist kein einmaliger Vorgang,
den es endlich zu erreichen gilt. Es setzt einen achtsamen Um-
gang mit sich selbst voraus, ein waches Gewahrsein für die eigene
innere Wirklichkeit und ein tiefes Gefühl von unbedingtem Wert.
Neben »Wert-Sein« ist auch »Fülle« ein Essenzaspekt des
Königs. Erfüllt von Wert-Sein und dem Ureigenen ist er frei dafür,
innere Fülle zu erleben, unabhängig davon, ob er viel oder we-
nig besitzt. In diesem Archetyp kommen viele Essenzaspekte der
anderen Archetypen zur Geltung. »Ein Mann mit Kontakt zum
König-Archetyp vereinigt die Essenzaspekte aller vorgenannten
Archetypen: Er kennt seine Verletzung, bleibt dadurch geerdet
und ist mitfühlend (Heiler). Er ist mit seiner männlichen Kraft in
Kontakt (Vater). Er kann Entscheidungen treffen und auch kämp-
ferisch auftreten (Krieger). Er ist wild, mutig, und bereit Risiken
einzugehen (Wilder Mann). Er ist frei, leidenschaftlich zu leben
(Liebhaber), und er kann sich auf Wissen und Bewusstheit über
sein inneres Wesen und über menschliche Entwicklung beziehen
88 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele

(Mystiker). Seine Führerschaft erwächst aus seinem Wert-Sein.


Erst der Kontakt zum inneren Wert macht ihn frei dafür, andere zu
führen, ohne dabei Gefahr zu laufen, aus dieser Führung Bestäti-
2 gung für sein Ego zu ziehen und andere zu missbrauchen« (Walter
Mauckner). Führerschaft und Dienst sind zwei Seiten einer Medail-
le. Diese kommen besonders dann zum Ausdruck, wenn mit der
beschriebenen Königshaltung Mentorenschaft übernommen wird.
Ein Mentor gibt Führung, lehrt und begleitet. Er gibt mehr als er
bekommt und weiß darum. Der König-Archetyp steht zudem auch
für das Wesen von Freundschaft. Freundschaft als tiefe Freundlich-
keit des Herzens gegenüber den Mitmenschen und der Natur, und
Freundschaft, die ihren Ausdruck in Männerfreundschaften findet,
in der sich zwei Gleichrangige begegnen und vielleicht ihren Anam
Ċara, ihren Seelenfreund, finden (vgl. O´Donohue 2012).
Eine Inquiry zum König-Archetyp kann die Erforschung fol-
gender Fragen umfassen:
55 Wie bin ich Wert?
55 Was ist der Unterschied zwischen Wert-Sein und Wert-
Haben?
55 Wie mache ich meinen Wert von Erfolg und Bestätigung
abhängig?
55 Wie erlebe ich Fülle?
55 Wie übernehme ich Führerschaft für mein eigenes Leben?
55 Wie diene ich?
55 Was bedeutet Freundschaft für mich?
55 Wie gestalte ich mein Lebenshaus?
http://www.springer.com/978-3-662-44174-9

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