Die Archetypen Der Männlichen Seele
Die Archetypen Der Männlichen Seele
2.2 Vater – 44
2.3 Krieger – 53
2.5 Liebhaber – 66
2.6 Mystiker – 72
2.7 König – 84
2.1 Heiler
Beispiel
»Ich wurde schon ganz früh verlassen«, erzählt F., »Meine Eltern
haben sich getrennt und mein Vater ist weggegangen, als ich fünf
war. Ich durfte nie richtig ich selbst sein. Überall wo ich hinkomme,
habe ich das Gefühl, ich bin hier fehl am Platz und gehöre nicht
dazu. Ich bin nicht gewollt«. Als F. diese Verletzung tiefer erforscht,
merkt er, dass sich sein Solarplexusbereich zusammengezogen an-
fühlt. Da sei eine »latente, permanente Spannung im Solarplexus-
bereich zu spüren. Es ist wie eine leichte Übelkeit«. »Wie würdest du
dieses Unwohlsein beschreiben?«, fragt Walter. »Da ist so was, wie
eine Eisenkugel in mir, die aber auch unter Strom steht«, antwortet
F. »Und was ist da drinnen? Was ist noch wahrzunehmen?« fragt
Walter weiter. »Da ist gar kein Raum. Alles ist eng und zusammen-
gezogen«. »Kannst du in die Stahlkugel reinfühlen? Welchen Raum
2.1 • Heiler
43 2
umschließt die Kugel?«, möchte Walter wissen. »Nein, da kann ich
nicht reinfühlen. Da ist nur Enge. Totales Nichts«. »Und wie fühlt
sich Nichts an?« lautet die nächste Frage. »Das ist so zusammenge-
zogen, da kann keiner sein«. »Fühl mal dieses Nichts, diese Enge,
in der nichts und niemand sein kann«, lädt Walter ihn ein. »Bleib
und spüre was geschieht, wenn du gleichzeitig in Kontakt mit mir
und mit der Stahlkugel bleibst«. »Irgendwie ist das traurig«, sagt F.,
und nach einer Weile spricht er weiter, »jetzt, wo ich die Traurigkeit
spüre, kommt da was in Bewegung. Die Trauer sagt: ‚Ich hätte so
gerne Kontakt, ich wäre so gerne dabei’, und wenn ich das ausspre-
che, wird es lebendiger da drin in der Kugel. Es ist jetzt so, als ob
es da drinnen so eine rote Farbe gäbe. Die rote Farbe fühlt sich
lebendig an, sie will sich ausdehnen, will raus. Es ist keine Trauer
mehr, es ist eher ein ‚ich will’, so eine aggressive Kraft, eine Wut.
Ich will hier dabei sein, ich will bei euch sein«. »Wie fühlt sich das
jetzt im Körper an?«, erkundigt sich Walter. »Auch der Körper wird
lebendig, fängt an zu kribbeln. Besonders im Bauch. Auch der Kon-
takt zu den Männern fühlt sich ein wenig anders an. Ich kann den
Kreis mehr wahrnehmen«. F. schaut in die Runde und sagt: »Ich bin
hier. Ich bin auch da«, und an Walter gerichtet: »Aus dem Solarple-
xus strömt eine Kraft in den Körper und in alle Extremitäten. Das
Rot breitet sich aus und mein Solarplexus beginnt zu pulsieren.
Ich kriege eine Lust auf die Welt. Ich will dabei sein und diese Lust
ausdrücken«. »Und wie fühlt sich nun der Körperraum an?«, fragt
Walter weiter nach. »Die Stahlkugel ist weg, und es ist jetzt eine
gelbe Kugel da. Da ist plötzlich viel Raum. Ein heller Raum, der sich
weitet. Der Raum hat eigentlich keine Grenze mehr. Er fühlt sich
grenzenlos an. Ich fühle mich weit, frei und grenzenlos. Ich fühle
mich total verbunden mit allem, so wie Eins, nicht mehr getrennt
und abgelehnt«. »Und wie ist das, wenn du dich jetzt umschaust?«,
lädt Walter ihn ein, weiter im Moment zu bleiben. F. schaut sich um
und lacht, und die Männer lachen zurück.
Das Phänomen der Wunde als Riss oder anders geartete Öffnung
wird und wurde von vielen Dichtern aufgegriffen. Genau da, wo
das Herz bricht, ist es stark. Es geht – im doppelten Wortsinn – um
Aufbruch. Die Wunde bricht auf und über das so entstandene Tor,
kann der Raum der Wunde betreten werden. Die Öffnung wird
somit als Zugang genutzt. Um zum Raum der Wunde zu gelangen,
muss jedoch zuerst der schützende Panzer, die Struktur, einen Riss
bekommen und eine Öffnung erhalten. Durch diese Öffnung kann
dann der Raum der Wunde betreten und Essenz erlebt werden.
Diese ist meist das Gegenteil dessen, was am Anfang der Erfor-
schung gefehlt hat bzw. als Mangel wahrgenommen wurde. In und
durch diesen Prozess der zustimmenden Erforschung der eige-
nen Wunde ist Unterstützung und Heilung plötzlich präsent, und
44 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele
2.2 Vater
Beispiel
Als B. an dem Punkt angelangt ist, seinen Vater zu »nehmen«, platzt
es aus ihm heraus: »Was soll ich denn da nehmen von diesem
Arschloch, diesem Erzeuger?! Der hat sich doch verpisst. Einmal
eine scharfe Liebesnacht mitgenommen und das war’s. Der hat
sich nie mehr gemeldet und Mama hing in den Seilen. Ich konn-
te dann zuhause kucken, wo es lang geht. Und jetzt soll ich hier
den Vater achten? Wofür denn? Was hat der denn beigetragen zu
meiner Entwicklung?! Nichts!« Und V. wirft seinem Vater in einem
Rollenspiel unter Tränen vor: »Du hast dich komplett aus meiner
Erziehung rausgehalten. Hast nie Stellung bezogen und das Feld
gänzlich Mama überlassen. Es ist zum Kotzen, wie du dich auch
in Gesprächen immer verpisst, dicht machst und dich feige hinter
Floskeln versteckst. Am schlimmsten waren jedoch deine Demüti-
gungen, und dass du mich einen Schlappschwanz genannt hast,
kann ich dir nicht verzeihen«.
zieht letztlich nicht nur den Vater, sondern auch die Väter vor
ihm mit ein. Söhne erkennen dann, dass alle Männer vor ihnen
auch verletzte Männer waren, und dass keiner ihrer Ahnen voll-
2 kommen war, sprich, dass sie auch negative Seiten hatten. Alle
Männer vor ihm, und auch er selbst, haben zwei Seiten, für die
ebenfalls zwei Zimmer eingerichtet werden sollten. Der initiati-
sche Prozess besteht in der Hinbewegung auf diese Vaterwirk-
lichkeit, in der das Jungenbewusstsein sterben wird. Eine beson-
dere Herausforderung ist dabei die Auseinandersetzung und die
Begegnung mit der Axt-Seite des Vaters (vgl. hierzu Bly 1993, S.
55ff), auf der sämtliche Verzerrungen dieses Archetyps wie etwa
übermächtige Väter, schweigende, zurückgezogene Väter, schla-
gende und herrschsüchtige, oder auch übervorsichtige Väter an-
gesiedelt sind (ein sehr eindrückliches Bild für diese pervertierten
Vater-Aspekte ist die Figur des Paten im gleichnamigen Film von
Francis Ford Coppola). Der Axt-Seite des Vaters darf der Sohn
mit der ganzen Wucht seiner eigenen Wirklichkeit begegnen und
dabei nichts außen vor lassen. Auf diese Weise gibt der Sohn dem
Vater die Ehre, sieht ihn in seiner Ganzheit und begegnet ihm in
seiner ganzen Kraft. Gegebenenfalls konfrontiert er ihn in diesem
Prozess mit einer Klage und mit seiner Sehnsucht und so weiter.
Ein Kontakt aus dieser kraftvollen Haltung heraus birgt auch das
Potential, den Vater aus seiner – häufig mit verschiedenen Vorhal-
tungen, Anklagen und Vorwürfen behafteten – Rolle zu entlassen.
Der Sohn verlässt dadurch seine Opferrolle und begegnet dem
Vater mit seiner männlichen Kraft. Er mutet sich ihm komplett
zu. Dieser Vorgang hat ein großes Heilungspotential. Nicht zuletzt
deshalb, weil Männer in dieser Auseinandersetzung mit dem Vater
auch erkennen können, wie ähnlich sie ihm sind. Im Bild von Bly
(1993) ausgedrückt: Der Sohn richtet dem Vater ein Zimmer für
dessen destruktive, negative, verletzende und abwertende Seite ein
und kann in diesem Prozess sein Herz für den Vater entdecken,
weil er dessen Verwundungen und Verletzungen erkennt.
Um in Kontakt mit der essenziellen Stärke des Vater-Archetyps
zu treten, müssen Söhne die Rolle des Opfer-Sohnes hinter sich
lassen und in eine Haltung von »Ich will den Vater! Ich will ihn, so
wie er ist!« gehen. Sie dürfen ihrem »Vaterhunger« nachgeben und
nachgehen. Dabei geht es nicht um eine physikalische Bewegung
auf den echten Vater zu, indem dieser beispielsweise gesucht oder
besucht wird. Entscheidend ist die innere, seelische Bewegung,
unabhängig von der äußeren, räumlichen. Auf einer tiefen Ebene
wird dadurch der Unterschied erkannt zwischen dem So-Sein des
Vaters – mit seinen beiden Seiten »nährender Vater« und »Axt-
Vater« – und der Vaterwirklichkeit, die völlig unabhängig von die-
2.2 • Vater
47 2
ser, wie auch immer ausgeformten Polarität ist. Walter Mauckner
nennt dies die »primäre Vaterwirklichkeit«. Damit ist gemeint,
dass es für den initiatischen Prozess nicht entscheidend ist, ob der
Vater noch lebt oder nicht, ob er ein nährender und unterstützen-
der oder ein strafender und gewalttätiger Vater ist oder war, oder
ob der Sohn den Vater kennt oder nicht. Entscheidend ist nur, dass
er der leibliche Vater ist, durch den das Leben an den Sohn wei-
tergegeben wurde. In diesem vordergründig simplen biologischen
Faktum vermittelt sich viel mehr, als man oberflächlich erkennen
mag. So verbindet uns diese männliche, väterliche Lebensenergie
mit unseren Vorvätern. Die Lebensenergie wurde über tausen-
de von Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben. Die
tiefere Bedeutung des leiblichen Vaters wird vor allem auch in
den Arbeiten von Bert Hellinger sehr deutlich (vgl. z. B. Weber
1997), die unter anderem aufzeigen, welch teilweise dramatischen,
systemischen Auswirkungen es hat, wenn der leibliche Vater nicht
»genommen« wird. Die Bedeutung der Zieh-, Stief-, Adoptivväter
und Mentoren wird durch das Aufzeigen und Anerkennen dieser
Zusammenhänge in keiner Weise geschmälert, im Gegenteil: Die-
se Männer können dadurch zu mehr Kraft und Angemessenheit
in ihrer wichtigen Rolle finden.
In der Auseinandersetzung mit dem Vater-Archetyp wird im-
mer wieder sicht- und erlebbar, welch positive, heilsame Energien
freigesetzt werden, wenn die Bewegung zum leiblichen Vater voll-
zogen wird, und zwar völlig unabhängig von den realen Gegeben-
heiten. In und durch die Bewegung auf den Vater zu treten häufig
auch die Großväter, Ur-Großväter und so weiter auf, und das er-
forschende Interesse kann sich auch auf die Ahnenreihe richten.
Im Prozess der Annäherung an den Vater-Archetyp verstehen die
Söhne oft erst viele Zusammenhänge und Wechselbeziehungen
zwischen sich selbst und ihrem leiblichen Vater und verschiede-
nen weiteren Vaterfiguren in ihrer Tiefe. Ziel der Auseinanderset-
zung mit dem Vater-Archetyp ist jedoch nicht, den Vater ganz zu
verstehen, ihm zu verzeihen und dann wunderbare Vater-Sohn-
Gespräche mit ihm zu führen (was viele Männer als Konzept mit
sich herumtragen). All das darf natürlich gerne geschehen, ist aber
für den initiatischen Prozess der Anerkennung der primären Va-
terwirklichkeit nicht wesentlich. Stärkend ist nur das Nehmen des
Vaters in seiner Ganzheit, mit all seinen positiven und all seinen
negativen Seiten. Nur auf diesem Weg kommen Männer in Kon-
takt mit der essenziellen Stärke dieses Archetyps. Sie gehen aus
der Konfrontation heraus und in die Stärkeposition hinein, stellen
sich den Vater in den Rücken, und hinter ihm scheinen all die
Ahnen auf, in deren Reihe er steht. Männer reihen sich ein und
48 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele
Beispiel
»Mein Vater war einfach nie da, er hat sich nie für mich interessiert,
hat nie was gesagt und immer nur geschwiegen«, sagt N., und
S. erzählt: »Mein Vater hat von mir Dinge erwartet, die ich nicht
erfüllen konnte. Leistungsmäßig auf allen Ebenen. Ich sollte den
gleichen Beruf wählen, was ich letztlich auch gemacht habe, und
dann habe ich dauernd zu hören bekommen, dass ich es falsch
mache, dass ich zu wenig mache, und dass ich einfach nicht fähig
bin«. Und immer wieder berichten Männer, dass sie vom Vater ge-
schlagen wurden, dass er die Familie terrorisiert habe, und dass
sie Angst vor ihm hatten. Während die einen unter einem »zu viel«
an Körperkontakt litten, zeigt sich bei anderen die Vaterverletzung
durch ein »zu wenig« an Berührung. »Papa hat mich nie, nicht ein
einziges Mal, in den Arm genommen, gestreichelt oder getragen«,
beschreibt E. seine Vaterwunde und seine tiefe Sehnsucht. Tiefe
Verletzungen kann es aber auch hinterlassen, wenn der Vater als
»totaler Versager« erlebt wurde, wie das bei L. der Fall war. »Vater
hat einfach nichts auf die Reihe gekriegt. Er war ein Komplett-Aus-
fall«. Die andere Seite der Medaille beschreibt C.: »Vater weiß im-
mer alles besser. Vater ist ein Genie, er ist unerreichbar. Er wird von
allen Menschen bewundert und ist richtig berühmt. Ich bin immer
nur der Sohn von …’«.
Weg zum Mann-Sein gefragt. Das Männliche kann nur durch das
Männliche kanalisiert und gesteuert werden. Und genau das ist
die Aufgabe des Vaters und ggf. auch eines Mentors, der jedoch
2 im initiatisch-systemischen Sinne nicht gleich bedeutend wie der
leibliche Vater ist.
Der leibliche Vater ist der Schlüssel, das Tor zu den Vorvätern
und letzten Endes zur männlichen Ur-Kraft. Das, was vom Va-
ter kommt, ist schon längst gegeben: Das Leben. Dieses Wunder,
dieses Geschenk wirklich anzunehmen, ist eine Herausforderung,
denn es geht dabei darum, der Wirklichkeit des Vaters mit all
seinen positiven und negativen Seiten, und damit auch seiner he-
rausfordernden, verletzenden und gar quälenden Axt-Seite zu be-
gegnen. Auch die nur als nährend, gütig und unterstützend wahr-
genommenen Väter haben eine Axt-Seite. Nur wenn beide Seiten
gesehen und anerkannt werden, können Söhne beim Vater »an-
kommen«. Stand die Axt-Seite im Vordergrund, ist es oft schwer
vorstellbar, dass dieser reale Vater das Tor zur Kraft der primären
Vaterwirklichkeit sein soll. Es wirkt wie ein unlösbares Paradoxon
und ist meist nur durch eine veränderte Qualität des Schauens lös-
bar. Die Axt-Seite des Vaters bzw. das Annehmen dieser negativen
Seite stellt für Söhne meist eine große Hürde dar, eine Schwelle,
die es zu überschreiten gilt, um sich für die Kraft der primären
Vaterwirklichkeit zu öffnen. Das Tor ist auch hier wieder die Wun-
de, die Vater-Wunde. Die Wirklichkeit, so bedrohlich sie scheint,
hat in der Tiefe eine heilsame Wirkung. Sich dieser Wirklichkeit
zu stellen, die Axt-Seite und die Vater-Wunde ganz zu fühlen und
als Wirklichkeit ganz anzuerkennen, ist erneut eine große Heraus-
forderung, denn eine Stufe in diesem Prozess ist der Kontakt mit
tiefem Schmerz und existenzieller Angst.
Beispiel
In einem intensiven Atemprozess gerät Ch. in eine große Luftnot,
fängt an zu Würgen und beginnt, mit den Füßen seine Unterla-
ge wegzuschieben. Als ihn die Begleiter »erden«, seinen Füßen
Gegendruck geben und ihn halten, presst er heraus: »Ich muss
sterben, es ist so eng, ich halte das nicht aus«. Panik ist in seiner
Stimme. Ch. hat das Gefühl in Lebensgefahr zu sein. Der Körper-
kontakt zu den Begleitern, die ihn halten und stützen, beruhigt
ihn ein wenig. Axel fragt ihn: »Wo bist du?« und Ch. antwortet: »In
einer dunklen, sich zusammenziehenden Glocke, die mich vernich-
tet«. Sobald er den kraftvollen Halt der Begleiter spürt, die nun
mit allen Kräften anpacken müssen, läuft ein Zittern durch seinen
Körper. »Du bist hier, schau mich an und spür den Kontakt zum
Boden. Spürst du den Kontakt zur Erde, spürst du dein Becken auf
dem Boden?« fragt Axel ihn mit fester Stimme. »Ja«, antwortet Ch.
2.2 • Vater
51 2
und wird ruhiger. Langsam entspannt sich sein Körper, und »be-
wacht« von den Begleitern geht seine Atemreise sanft weiter. Ch.
entspannt sich immer mehr, und liegt schließlich erschöpft und
glücklich auf seiner Matte. »Da ist eine Weite, ein tiefer Friede und
eine Geborgenheit«, sagt er. In diesem Zustand verweilt er noch so
lange, wie es braucht.
2 I hate you
I love you
I miss you «
Perréa (Father – Power, Songlyrics)
Wird die Bewegung auf den Vater zu angetreten, so führt das meist
auch zu einem seelischen Solidaritätskonflikt, denn »auf den Vater
zu« impliziert »von der Mutter weg«. Mütter können die Annä-
herung des Sohnes an den Vater wohlwollend unterstützen oder
machtvoll blockieren. So kennen viele Männer den mütterlichen
Auftrag: »Werde bloß nicht wie dein Vater!« Stimmen Männer
trotzdem sowohl den verletzenden, negativen als auch den näh-
renden, positiven Seiten des Vaters zu, so richten sie ihm die bei-
den Zimmer in ihrer Seele ein. Diese Bewegung bindet die Söhne
rück an die Kraft ihres Vaters und an ihre männlichen Wurzeln.
Auf diese Weise wird der Vater zur Quelle der väterlichen männ-
lichen Energie und die Söhne schöpfen aus dieser Quelle Kraft für
das Leben und ihr Blick wird frei für ihr eigenes Leben.
Beispiel
C., der seinen Vater als »Samenspender« beschimpfte und ihn nie
kennengelernt hatte, machte sich nach dem Seminarabschnitt
zum Vater-Aspekt auf die Suche nach dem unbekannten Vater. Es
dauerte einige Zeit, bis er herausfand, dass sein Vater noch lebte,
und bis er dessen Adresse und Telefonnummer recherchiert hatte.
Dann vergingen wieder einige Tage, bis er den Mut fand, bei ihm
anzurufen. Wider Erwarten legte der Vater nicht auf, als er erfuhr,
wer da am anderen Ende der Leitung war, sondern lud seinen Sohn
ein, zu ihm zu kommen. Am vereinbarten Termin stand C. pünktlich
vor dem Haus seines Vaters, klingelte, und wurde von einem Mann
begrüßt, dem er zum Verwechseln ähnlich sah. Er sah ihm viel ähn-
licher, als all die anderen Familienmitglieder, die im Wohnzimmer
saßen. Als sein Vater ihm von seinem Leben erzählte, erkannte C.
auch in ihren Lebensgeschichten frappierende Ähnlichkeiten. »Wir
lebten und leben unsere Leben unglaublich ähnlich. Wir gehen die
Dinge auf unfassbar ähnliche Weise an. Selbst unsere Macken glei-
chen sich«, berichtete C. »Nun weiß ich, warum ich so bin wie ich
bin, und das macht mich frei loszulassen«.
2.3 Krieger
richteter Energie stehen sie jedoch immer und immer wieder auf,
um neue Gehversuche zu starten. In diesem frühen Lern- und
Lebensprozess wird schon das Spannungsfeld des Krieger-Arche-
2 typs zwischen Aggression einerseits und ausdauernder Hingabe
andererseits erkennbar« (Walter Mauckner). Aggression ist im
initiatisch-phänomenologischen Sinne nicht mit barbarischer
Zerstörungsenergie oder Ähnlichem in Verbindung zu bringen,
sondern mit dem aus dem Lateinischen kommenden aggredior:
heranschreiten, sich nähern. Aggression ist in ihrer Kernbedeu-
tung ein Verhalten, das der Realisierung einer Absicht dient, also
eine Form von gerichteter Energie und Klarheit.
Neben diesem Aspekt ist ein weiteres Kriegerthema »Entschei-
dung«. Krieger im initiatischen Sinne können sowohl entschei-
den, zu handeln, als auch entscheiden, nicht zu handeln, und sie
können auch die Energie einer Nicht-Entscheidung halten. Der
Krieger zeichnet sich somit nicht durch Entscheidungsfreudig-
keit im Sinne von wildem Aktionismus aus, sondern fällt seine
Entscheidungen aus dem essenziellen Willen heraus. Die Frage
danach, was Wille ist oder wie sich Wille anfühlt, ist eine philoso-
phische und spirituelle. In seiner Essenz ist Wille kein kindlicher
»Ich will«-Wille sondern eine Art von Unterstützung, die aus dem
Bauch kommt. Der Sitz des essenziellen Willens ist der Bauch und
nicht der Kopf! Essenzieller Wille ist eine unterstützende, tragende
Kraft, die wir, wenn wir unsere Seele öffnen, als Wille empfinden.
Auf dieser Ebene ist ein Krieger auch vom Soldaten abzugrenzen:
Der Soldat handelt nicht aus dem essenziellen Willen heraus. Sein
Wille ist vielmehr ausgelagert in das System (dessen Befehle er
ausführen muss).
Eine Möglichkeit, sich dem Willensbegriff sowohl inhaltlich als
auch konzeptuell anzunähern, ist Walter Mauckners Unterschei-
dung zwischen rotem, weißem und schwarzem Willen. Roter Wil-
le ist elementar und rücksichtslos. Roter Wille drängt ohne Rück-
sicht auf Verluste auf etwas hin. Verwundungen und Verletzungen
werden dabei in Kauf genommen. Am markantesten wird roter
Wille in der Pubertät sichtbar. »Ich will … und es ist mir sch…
egal, was ihr sagt. Eure blöden Regeln interessieren mich nicht die
Bohne. Ich will …!«. Auch in kindlichen Trotzphasen zeigt sich
roter Wille sehr deutlich im klaren »Nein!« oder »Ich will nicht!«
des Kleinkindes. Der rote Wille ist roh und ungezügelt und bringt
zum Ausdruck, »Ich will …, egal, was du willst!«. Andere Bezeich-
nungen für den roten Willen sind deshalb auch »Ich-Wille« oder
»kleiner Wille«. Auch der weiße Wille ist ein »Ich-Wille«. Aller-
dings ist der weiße Wille nicht so Ich-bezogen, wie der rote Wille,
sondern vielmehr bezogen auf das Gute. Auf diese Weise kann der
2.3 • Krieger
55 2
rote Wille transformiert werden, bleibt aber ein Ich-Wille, der sich
in dem Satz bündeln lässt »Ich will das Gute bzw. das Richtige.«.
Der weiße Wille impliziert, dass man es gut bzw. besser macht als
die anderen (z. B. die Eltern). Ein Krieger, der dem weißen Willen
gemäß handelt, ist eine Art roter Krieger, der die Moral auf seiner
Seite weiß. Illustriert wird dieses Willenskonzept sehr prägnant
in der Geschichte von Parzival (von Eschenbach u. Laurin 2004).
In seiner roten Phase kämpft Parzival gegen den roten Ritter, der
ihn abwertet und beschämt, woraufhin er ihn unfair und in Wut
umbringt. Anschließend lernt er die fairen Regeln des ehrenvollen
Kriegertums und wird zum weißen Ritter. Dem Guten, Richtigen
und Höflichen folgend stellt er auf der Gralsburg dann jedoch die
alles entscheidende Frage nach der Verwundung des Burgherren
nicht. Der weiße Wille begründete letztlich auch die Kreuzzüge,
die um des Guten und Richtigen willen, Unmenschliches zur Fol-
ge hatten. Der schwarze Wille schließlich transzendiert jegliche
Dualität und gehört keinem System mehr an. Dies wird deut-
lich, als Parzival seinem Bruder begegnet (einem schwarz-weiß
gefleckten), den er im Kampf nicht besiegen kann. Er kann sich
mit der alten Methode nicht mehr durchsetzen und wird letzt-
lich initiiert in das Schwarze. Aus dieser Haltung heraus stellt er
dann auf der Gralsburg die entscheidende Frage nach der Wun-
de und führt so Heilung herbei. Handlungen aus dem schwarzen
Willen heraus entspringen somit einer spirituellen Ebene jenseits
des Egos. Deshalb wird der schwarze Wille auch als der »große
Wille« bezeichnet, bei dem man in Kontakt mit der Essenz ist.
Die drei Farben rot, weiß und schwarz und ihre entsprechenden
Bedeutungen finden sich auch im Eisenhans (Bly 1993). Hier reitet
der Königssohn erst ein rotes, dann ein weißes und schließlich
ein schwarzes Pferd. Diese Reihenfolge beschreibt nach Bly »die
männlichen Geheimnisse des Verwundens und Wachsens« (Bly
1993, S. 281) und bildet letztlich eine Entwicklung »von der roten
Intensität über das weiße Engagement zur schwarzen Humanität«
(Bly 1993, S. 284) ab.
Ein gereifter Krieger ist in Kontakt mit dem schwarzen Willen
und fühlt ihn als unterstützende, tragende, ruhende und aufrich-
tende Kraft. Wille ist, wie jeglicher Essenzaspekt, eine potentielle
Energie, und aus essenziellem Willen erwächst Entschlossenheit.
Ein guter visueller Anker für »Entschlossenheit« ist ein Kamel
(und nicht ein feuriges Pferd, was intuitiv eher eine Analogie für
den Krieger-Archetyp sein könnte). Ein Kamel hat in sich das Wil-
lenspotential eines Kriegers, und dieses Energiepotential kommt
in einer großen Entschlossenheit und Ausdauer zum Ausdruck.
»Quelle und Ursprung des Handelns ist also nicht die Entschei-
56 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele
Beispiel
Am dritten Tag des Krieger-Abschnitts wirft sich H. vor, dass er
sich »einfach nicht entscheiden« könne und erzählt, dass er seit
einem halben Jahr fremdgehe. Seine Frau wisse inzwischen von
dieser Außenbeziehung und fordere, dass er sie sofort beende. Er
habe das auch versucht, aber es gelinge ihm nicht. Seine Frau zie-
he sich zutiefst verletzt und gekränkt zurück. Inzwischen gebe es
keinen körperlichen Kontakt mehr zu ihr und sie habe auch den
emotionalen Kontakt abgebrochen. Das könne er sehr gut nach-
vollziehen. Er wolle sich aber weder von seiner Frau, noch von
seiner Freundin trennen. Er könne sich einfach nicht entscheiden.
Irgendwie sei ihm die Erfahrung mit der anderen Frau wichtig. Eini-
ge Männer im Kreis äußern, dass sie seine Frau sehr gut verstehen
könnten, und werfen ihm seine Entscheidungsschwäche empört
vor. H. ist verzweifelt. »Wie würdest du denn entscheiden, wenn du
entscheiden würdest«, fragt ihn Walter. »Ich kann mich für keine
entscheiden«. »Wenn weder für die eine noch für die andere, wofür
dann«, möchte Walter wissen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass
ich im Moment keine Entscheidung zwischen diesen beiden Frau-
en treffen will. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, und das ist
meine Schwäche«. Als er sich seine mangelnde Entscheidungskraft
weiter vorwirft, und sich weiterhin selbst beschuldigt, interveniert
Walter, indem er sagt: »Eigentlich hast du dich doch schon ent-
schieden. Du hast dich dafür entschieden, dich jetzt noch nicht zu
entscheiden, weil du noch Zeit brauchst, und ich sehe, wie du um
eine Entscheidung ringst. Es wird vielleicht noch einige Zeit brau-
chen, bist du klarer siehst, für welche Frau du dich entscheiden
willst und kannst«. Als er Walters Rückmeldung nachspürt, weicht
2.3 • Krieger
57 2
H.s vorwurfsvolle Härte einer entspannten Weichheit, die sich auch
auf seinem Gesicht widerspiegelt. Zuhause angekommen teilt er
beiden Frauen mit, dass er sich im Moment nicht für eine der bei-
den entscheiden wolle und könne, und dass er die Folgen dieser
Nicht-Entscheidung bereit sei zu tragen.
Beispiel
O. beschließt beispielsweise, seine Briefe nicht mehr widerwillig
und mühsam am Computer zu schreiben, sondern sich ein Diktier-
gerät und ein Spracherkennungsprogramm zu leisten. G. stellt fest,
dass er gar nicht jeden Morgen die Zeitung lesen will, sondern dass
das inzwischen ein lästiges Ritual geworden ist, das ihn fast täglich
in Zeitnot bringt. »Ich will das eigentlich gar nicht, wenn ich mir
das so recht überlege, aber trotzdem mache ich das immer weiter«,
sagt er. Seine Einsicht aufgreifend, erzählt W., dass es bei ihm nicht
die Zeitung, sondern der Fernseher war: »Jeden Abend um viertel
nach acht wurde bei uns die Glotze angemacht. Bereits das Abend-
essen timten wir so, dass wir bis dahin fertig waren. Ohne, dass ich
2.4 • Wilder Mann
65 2
mir dessen bewusst war, war ich ein Sklave des Fernsehprogramms
geworden. Ich schaue zwar immer noch gerne fern, aber inzwi-
schen mache ich immer öfter Abendspaziergänge mit meiner Frau
und überlege, was mir in jedem Augenblick entspricht, anstatt un-
bewusst alten, eingefahrenen Reflexen zu folgen«.
2.5 Liebhaber
Beispiel
»Was sind denn eure Leidenschaften, Männer?«, fragt Walter in die
Runde, und als er J. anschaut, sagt dieser: »Ich bin eigentlich ziem-
lich leidenschaftslos.« »Woran hast du denn Freude? Was hat dir
denn früher mal Spaß gemacht?, fragt Walter weiter. »Früher bin
ich viel Motorrad gefahren. Schnitzen tue ich auch gerne«, antwor-
tet J. überlegend. »Richtig schön war eine Motorradtour mit drei
Freunden«, sagt er nach einer Weile, »wir sind damals eine Woche
durch die Toscana gefahren. Das war toll! Wir hatten kaum Gepäck
dabei und sind ziemlich planlos einfach jeden Tag drauflos gefah-
ren«. Je mehr J. erzählt, desto mehr Erlebnisse und Anekdoten fal-
len ihm ein. Er erzählt, wie es war, gemeinsam mit seinen Freunden
Motorrad zu fahren, abends einen Schlafplatz zu finden, morgens
nicht zu wissen, wo man abends schlafen wird, anders als beim
Autofahren »der Straße und der Natur sehr nahe zu sein«. Ohne
dass er es selbst merkt, drückt seine Stimme, sein Gesicht und sein
ganzer Körper immer mehr die Freude aus, die er beim Motorrad-
fahren empfindet. Seine Erzählungen werden immer lebendiger
und mit immer noch leuchtenden Augen sagt er: »Ja, das habe ich
leidenschaftlich gerne gemacht, aber da war ich auch noch jung.
Jetzt geht das alles, allein schon aus Zeitgründen, nicht mehr.«
Zum nächsten Treffen kommt J. mit dem Motorrad und lädt die an-
deren Motorradfahrer aus der Gruppe ein, »doch mal gemeinsam
eine kleine Tour zu machen«.
Der Liebhaber ist ein Wesen der Freude und der Liebe. Und diese
Liebe zeigt sich in der Freude an und in der Natur, in der erotisch-
sexuellen Liebe, in der Liebe zu Gott und in vielen anderen Formen
von Begeisterung und Leidenschaft. Alles wird von dieser einen,
alles durchdringenden Grundkraft, Eros, bewegt, die aus purer
2.5 • Liebhaber
71 2
Lust und aus purem Verlangen Verschmelzung begehrt. Diese –
positiv zu konnotierenden – Begriffe sind abzugrenzen gegen Be-
grifflichkeiten wie »Gier«, die eher den verzerrten Liebhaber-As-
pekt markieren. Ein integrierter Liebhaber kann beispielsweise das
Begehren, das in ihm aufflammt, wenn er eine erotische und schö-
ne junge Frau sieht, genießen, ohne dieses Begehren auszuleben.
Er spürt seine Lust, sein Begehren und sein Verlangen und lässt
diese Energie in sich zirkulieren und muss sie nicht unbedingt aus-
agieren. »Er hat verstanden, wie viel Verzicht nötig ist für wahren
Genuss. Diese Kunst bezieht sich auf viele Bereiche des Lebens, in
denen wir Gefahr laufen, uns in der Leidenschaftlichkeit zu ver-
strömen und uns damit letztlich zu schwächen und zu schaden.
Damit diese Zirkulation geschehen kann, ist ein Fassungsvermö-
gen, Containment, nötig« (Walter Mauckner). Der reife Liebhaber
hat genügend Körper- und Seelenraum für dieses Containment
zur Verfügung, Raum, in dem sich diese leidenschaftliche Energie
ausdehnen kann. Er geht also weniger schnell in die Entladung
und gelangt gerade dadurch auf die ganze Höhe der Lust und fühlt
diese in ihrer unfassbaren Gänze (vgl. hierzu auch Deida 2011). Er
weiß darum, dass der Körper mit sich selbst strömen und zirkulie-
ren, die ganze Lust aufnehmen und sich von Herzen daran freuen
kann. Der Lust ganz zuzustimmen, bedeutet, sie auch ganz neh-
men zu können und dazu braucht es den ganzen Körper und die
ganze Seele. Auf dieser Ebene sind ältere, reife Männer manchmal
im Vorteil und können die beschriebenen Liebhaber-Qualitäten
eher verwirklichen und leben als jüngere Männer.
»Der Liebhaber-Archetyp ist ein explizit polarer Archetyp, der
dem Abenteuer der sexuellen Polarität lustvoll begegnet, der Form
seiner männlichen Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität zustimmt
und sie kultiviert« (Walter Mauckner). Er baut mit dem, was er
begehrt ein polares Verhältnis auf und steht für das Spannungsfeld
zwischen Individualität und Verschmelzung. Für die Verschmel-
zung werden Pole bzw. Polarität benötigt (vgl. Chia 2010; Deida
2011). Der Liebhaber weiß darum, wie er männlicher Pol ist, und
er ist in seiner männlichen Essenz gegründet. Ihren männlich-
phallischen Pol können Männer nur im Kreis und im Spiegel von
Männern aufladen. Dies ist oft ein langwieriger Prozess, denn die
meisten Männer sind von klein auf vom Weiblichen geprägt, in
der Ursprungsfamilie hauptsächlich erzogen vom Weiblichen und
auch in Kindergarten und Schule fast ausschließlich vom Weib-
lichen umgeben. Die Entwicklung zum polar Männlichen ist des-
halb meist schon früh und nachhaltig beeinträchtigt und wird zu-
mindest nicht aktiv vom Männlichen unterstützt und gefördert.
Häufig wird das phallisch-aggressiv Männliche eher als Makel
72 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele
2.6 Mystiker
Der Mystiker liebt die Wahrheit und erforscht das Wesen hinter
den vordergründigen Strukturen. Seine Bewegung führt durch
die Struktur hindurch und über sie hinaus. Er interessiert sich
2.6 • Mystiker
73 2
für das, was hinter dem Sichtbaren liegt und öffnet sich für das
wissende Feld. Er stellt sich ganz bewusst der Lücke, dem Raum
des Nicht-Wissens. Die Struktur versucht, uns vor dieser zutiefst
verängstigenden Konfrontation mit dem Nichts zu schützen. Sie
möchte Sicherheit, keine Unsicherheit, sie möchte nicht in die Lü-
cke, sondern am Alten festhalten, da das Sein in der Lücke sie zu-
tiefst verunsichert und deshalb verletzlich und angreifbar macht.
Der gereifte Mystiker ist sich dieser Zusammenhänge bewusst und
sucht die Lücke auf, denn er weiß, dass in der Lücke und in der
damit verbundenen absoluten Ungewissheit die größte Chance
für Entwicklung, Veränderung, Neugeburt und Rückbindung an
das Wesen hinter aller Struktur liegt. Über das damit verbundene
»Stirb und Werde« kann es wieder zur Anbindung an das große
Ganze, das alles trägt, kommen. Um diese große Wahrheit weiß
der Mystiker, und auf diesem Hintergrund sucht er Kontakt zum
Wesen hinter der Struktur. Die Erforschung und das Erleben des
Wesens hinter der Form ist das größte Abenteuer für ihn. Es geht
um den Punkt, an dem man Altbewährtes loslässt und etwas an-
derem – »Gott«, der »Tiefenströmung«, dem »großen Nichts« –
die Führung überlässt. Der Mystiker stellt sich diesem »Nichts«,
dieser Lücke, er tritt über die Schwelle, betritt den Schwellenraum
und begegnet dort dem Nichts in seiner ganzen Fülle.
»Während es beim Archetyp des Magiers mehr um die Beherr-
schung von Kräften und Naturgesetzen geht, steht beim Mystiker
die Begegnung mit dem Raum des Nicht-Wissbaren und mit dem
Mysterium im Zentrum. Ziel ist dabei nicht, das Mysterium zu
lüften, sondern sich an dessen Pracht zu erfreuen und es zu be-
staunen« (Walter Mauckner). In der Tiefe gilt es zu verstehen,
dass es niemals erfasst werden kann, und gleichzeitig ist etwas in
uns, das es auf eine andere Weise bereits kennt und versteht. Der
Mystiker ist bereit, in den immerwährenden Stirb-und-Werde-
Prozess einzutreten. Die Erlangung von Macht oder die Kontrolle
über die Naturgewalten ist ihm kein Anliegen. Vielmehr geht es
ihm um die Hingabe an den Augenblick, an das, was erscheint und
ist. Es geht um tiefe Zustimmung zur Wirklichkeit des Lebens. Die
Zustimmung zu dem, was ist, ist eine Voraussetzung dafür, über
die Formen hinauszugehen und Eins zu werden mit der Kraft,
die alles lenkt. Obwohl der archetypische Mystiker den Wert des
Nicht-Wissens zutiefst anerkennt und versteht, bedeutet das nicht,
dass ein Mystiker unwissend wäre. Auch Sokrates sagte nicht »Ich
weiß, dass ich nichts weiß«, sondern – vom entsprechenden Über-
setzungsfehler befreit – »Ich weiß, dass ich nicht weiß« (ohne das
»s« am »nicht«). Er wollte also nicht zum Ausdruck bringen, dass
er nichts weiß, sondern es ging ihm darum, das zu hinterfragen,
74 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele
was man zu wissen meint. Der Mystiker kommt nicht ohne Wis-
sen aus, wobei damit nicht nur Wissen aus Büchern, sondern auch
und vor allem ein phänomenologisches, wahrnehmendes, sich für
2 die Wirklichkeit öffnendes Erfahrungswissen gemeint ist. Für sei-
nen Weg braucht der Mystiker deshalb eine intensive Schulung
und viel Erfahrung, um das zu schauen, was in der Tiefe ist.
Im Mystiker-Archetyp entfaltet sich das Prinzip des »Stirb und
Werde«. Er hat verstanden, dass das Kämpfen gegen die Gedan-
ken, gegen die Strukturen und gegen die Umstände nicht zur Frei-
heit führt, dass es über diesen Weg niemals gelingen kann, hinter
die Formen zu schauen. Es ist ein stetes Ringen darum, herauszu-
finden, wie die dafür nötige Hingabe und das Loslassen geschieht.
So ist der Mystiker zutiefst verbunden mit dem Prinzip des Los-
lassens und der Zustimmung und er beherrscht »die Kunst der
spirituellen Nicht-Einmischung« (O´Donohue 2012, S. 203). Dies
bedeutet allerdings nicht, dass er alles passiv so geschehen lässt,
wie es geschieht. Es ist vielmehr eine hochdifferenzierte Entschei-
dungsfähigkeit und sehr viel Erfahrung nötig, um sich zwischen
den Polen »angemessenes Handeln« einerseits und »geschehen
lassen« andererseits zu bewegen. Das wirft die Frage auf, ob man
zur Essenz des archetypischen Mystikers überhaupt ohne hilfege-
bende Begleitung gelangen kann. »Diese Frage ist nicht eindeutig
zu beantworten, es gibt allerdings deutliche Hinweise darauf, dass
sich das tiefe mystische Wissen um die Seele und die entspre-
chenden Zusammenhänge durch eine angemessene Unterstüt-
zung eher erschließt« (Walter Mauckner). Der Mystiker kann ein
Lehrmeister und Mentor sein. Er versteht es, Krisen seiner Schüler
zu initiatischen Prozessen umzudeuten, deren Wachstumspoten-
tial zu sehen und es zum Wohle des Schülers zu nutzen. Mithilfe
des Mentors kann die Seele des Schülers erkennen, dass und wie
aus Krisen, also dem Kontakt zu Grenzen, Wachstumschancen
gemacht werden können. Dies deshalb, weil der Mystiker-Mentor
tief in die Seelenwirklichkeit des »Stirb und Werde«, der Lücke
und des Übergangs eingedrungen ist. Auf diesem Wissens- und
Erfahrungshintergrund kann er andere in Krisenzeiten gut beglei-
ten, … wenn diese dazu willens sind, wenn also die Zeit reif und
der Schüler bereit ist. Einer der vielen Wege, um die entsprechen-
de Entwicklung auf der Seelenebene zu unterstützen, ist innere
Sammlung, Kontemplation und das Verweilen in der Stille, dem
Nicht-Wissen, der Leere und dem Augenblick. Ein anderer Zu-
gangsweg ist die Meditation, beispielsweise über das Musizieren,
das Nachdenken über ein Thema oder aktive Meditation.
Der Mystiker ist auch ein Forscher und ein Suchender, wobei
das, worum es geht, eigentlich weder gesucht noch gefunden wer-
2.6 • Mystiker
75 2
den kann. Die Haltung, die den Mystiker antreibt, ist weniger eine
Such- als vielmehr eine Öffnungsbewegung, ein offenes Schauen
auf das, was ist. Der Mystiker sehnt sich nach der Wahrheit. Etwas
in ihm weiß um diese Wahrheit und möchte Kontakt zu dieser
tieferen Wahrheit haben. Dieser Teil fragt: »Wer bin ich?«. Der
Mystiker begegnet seinem Forschungsgegenstand zutiefst phä-
nomenologisch. Er betrachtet die Dinge vollkommen unideolo-
gisch und unvoreingenommen und schaut, wie sie sich zeigen.
Das Wort »Kontemplation« ist vom lateinischen Verb »contem-
plari« abgeleitet, was mit »anschauen, betrachten« übersetzt wird.
Kontemplation meint reines Schauen, Wesensschau (Platon, Hus-
serl), Seinsfühlung (Dürckheim) oder das Schauen in das nackte
Sein (Jäger) ohne jede Intention. In der Kontemplation schaut der
Mystiker nach innen, was Denken und Spüren nicht ausschließt.
Das Schauen wird dabei jeglichen Suchens, Wollens und Müssens
entleert, um dem So-Sein so zu begegnen, wie es ist. Mit dieser
Haltung begegnet der Mystiker auch den Abgründen – ohne Ab-
lehnung, sondern in tiefer Anerkennung und ohne Wertung. Und
so tritt er auch dem Tod, dem großen »Stirb und Werde«, dem
großen Übergang entgegen. »Die Selbsterforschung ist in gewis-
ser Weise auch ein mystischer Vorgang, weil wir dem, was wir
Schauen mit Nicht-Wissen begegnen, um darüber zu neuen Er-
kenntnissen zu gelangen. Diese fallen uns zu und können nicht
‚gemacht’ werden, genauso wenig, wie wir ‚Wahrnehmung’ oder
‚Leben’ machen können. Es geschieht einfach, und es ist immer
schon da. Dem Mystiker geht es um die Begegnung mit dem Gött-
lichen ohne moderierenden Intellekt und ohne suchendes Wollen
oder Müssen. Diese forschende Haltung benötigt Schulung, Er-
fahrung und Kompetenz, weil sie im Kern zu einfach, zu rein und
zu unmittelbar ist, als dass wir sie über unsere üblichen Lernorga-
ne begreifen könnten« (Walter Mauckner).
Der Weg zum Mystiker ist eine Wahrnehmungs- und eine
Wissensschulung. Teilaspekte mystischen Wissens finden sich
auch in der Philosophie und der Psychologie und hier vor allem
in der transpersonalen Psychologie wieder, die den überpersön-
lichen Aspekt der menschlichen Psyche betont. Der Mystiker ist
der transpersonale Archetyp und damit auch der Archetyp der
Grenze und des Zwischenraumes. Er hört nicht dort auf, wo die
Strukturen der Psyche wirken, sondern geht darüber hinaus in den
transpersonalen Bewusstseinsraum. Er betritt den Raum, der sich
hinter all den Formen, Gedanken und Gefühlen öffnet. Hierfür
bezieht er sich auf die drei Ebenen der menschlichen Existenz,
76 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele
innerhalb derer wir uns permanent bewegen und die sich gegen-
seitig durchdringen:
1. die Ebene der Form bzw. der Materie (z. B. Körper, Gedan-
2 ken, Strukturen, …),
2. die feinstoffliche Ebene (z. B. Essenzthemen, feinstoffliche
Energien, die sich anfühlen können wie flüssige Luft und Ver-
dichtungen, Prana, Orgon, die Aura eines Menschen, …),
3. die Ebene des Unmanifesten bzw. Formlosen.
Man durchbricht die Wand mit Türen und Fenstern, damit ein
Haus entstehe:
Auf dem Nichts daran beruht des Hauses Brauchbarkeit.
2 «
Darum: Das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Brauchbarkeit.
Laotse (in »Tao te king. Das Buch des alten Meisters vom Sinn und
Leben«, 2010, S. 21)
Das Wesen vieler Dinge macht letztlich die Leere bzw. das Nichts
aus. Ein Glas wird vor allem dadurch zum Glas, dass es Raum
umgibt, der gefüllt werden kann, und es sind »die Löcher, die
die Schönheit von Spitze ausmachen« (O´Donohue 2012, S.60).
Wie der Mystiker interessieren sich auch die Naturwissenschaften
immer mehr für die »Leere« und das »Nichts« und das riesige
Potential, das im Vakuum verborgen liegt, die Energie, die aus
dem »Nichts« entsteht. Um diesem Nichts möglichst nahe zu sein,
wohnt der Mystiker an der Grenze und betritt den Grenzraum.
In diesem Zwischenraum, in dieser Lücke trifft er auf das reine
Nicht-Wissen. Im Grunde ist jeder Moment eine solche nicht-
fassbare Lücke. Es gibt kleine Lücken – wie etwa die in einem
Gesprächsfluss oder die zwischen Ein- und Ausatmen – und es
gibt große Lücken, bei denen man zutiefst mit Nicht-Wissen kon-
frontiert wird. Und je weiter der Mystiker reist, desto größeren
Lücken begegnet er. Die große Lücke, die große Leere bringt uns in
Kontakt mit dem großen Nicht-Wissen und damit mit dem Gött-
lichen, was jenseits der Form ist. Der reife Mystiker kann diese
große Leere berühren und verspürt eine große Sehnsucht nach
dieser Berührung und danach, in der großen Leere aufzugehen.
Der Mystiker ist somit auch der Archetyp der Spiritualität. Eine
seiner zentralen Fragen lautet daher: Wie bin ich spirituell?, wobei
Spiritualität nicht nur auf diesen großen, leeren Raum bezogen
gemeint ist, sondern sich auch auf dem Marktplatz des täglichen
Lebens abspielt. Spiritualität ist, wie die Lücke oder das Nichts,
allgegenwärtig und immer anwesend. Wie der Himmel, auf dem
die Wolken vorüberziehen.
Im Kontakt mit der großen Leere, dem Nichts und dem Nicht-
Wissen kommt etwas zum Ende, nämlich all das, was als Ich-Struk-
tur bezeichnet werden kann. Diese löst sich auf in den Augenblick,
denn der Kontakt zur großen Leere kann nur im Jetzt stattfinden.
Jenseits aller Formen gibt es keine Vergangenheit und keine Zu-
kunft und auch kein Ich mehr. Bewegt man sich auf der mittleren
Ebene des Seins, dann gibt es dort noch ein Ich. Essenzerleben
wird dann zwar als unabhängig von den konkreten Umständen
wahrgenommen, aber immer noch von einer Person. »Im Kon-
takt zum Unmanifesten zeigen sich hingegen eher Erfahrungen
des ‚es geschieht ohne mich’. Auf der großen Leinwand der reinen
Präsenz passiert dann einfach, was passiert, und das ist das große
2.6 • Mystiker
79 2
Mysterium, die große Frucht, um die sich alles dreht, und die jeder
Mensch bereits in sich trägt« (Walter Mauckner). Auf dieses Mys-
terium, auf diese Vollkommenheit richtet sich das Interesse des
Mystikers. Jenseits von Raum und Zeit, jenseits der Form, ohne es
besitzen zu können, weil es nichts mehr gibt, auf das man zugrei-
fen könnte. Es ist einfach. Ein unmittelbarer Seinskontakt. In sich
leer und trotzdem von einer unbeschreiblichen Fülle. Das ist das
Mysterium und daher kommt der Name »Mystiker«. Der Mystiker
sucht den Kontakt zum Mysterium. Das setzt voraus, dass er bereit
ist, Prozesse zu durchlaufen, in denen sein Ich mehr und mehr aus
dem Zentrum des Universums entfernt wird und sich letztlich auf-
löst. Lösen sich die Ichstrukturen aus ihrer Fixierung und öffnet
sich unsere Wahrnehmung, entsteht Kontakt zu dem Raum hin-
ter all unseren Konzepten, Meinungen und Absichten. Auf einer
hohen Ebene können wir diese Wirklichkeit erfahren als Leere,
Formloses, Nondualität oder Einheit. Hier ist jede Trennung auf-
gehoben. Ein vom Ganzen getrenntes, separates Ich existiert nicht
mehr. Menschen, die diese Ebene verwirklicht haben, können als
»erwacht« oder »erleuchtet« bezeichnet werden. So lässt sich der
Weg des Mystikers auch als die »Aufhebung von Trennung« be-
schreiben. Die Trennung zwischen »Ich« und »Du«, »gut« und
»schlecht«, »richtig« und »falsch« und zwischen allen Dualitäten
und vermeintlichen Gegensätzen wird aufgehoben, und es wird
Einheit und Eins-Sein erlebt. Diese Erfahrung hat jeder Mensch
schon einmal gemacht, auch wenn es nur Sekunden oder Momen-
te waren. Der Mystiker begegnet den Paradoxien des Lebens und
erkennt in ihnen die Wahrheit der Nondualität, die Einheit hinter
den scheinbaren Gegensätzen. Er sieht, dass Leben und Tod in et-
was Größeres eingebettet sind, etwas Größeres, aus dem das Leben
kommt und wohin das Leben geht.
Der mystische Weg und die jeweiligen Erfahrungen und Ein-
sichten werden in unterschiedlichen Traditionen und Religio-
nen sehr ähnlich beschrieben. Ob Zen (mystische Tradition des
Buddhismus), Kontemplation (mystische Tradition des Christen-
tums), Kabbala (mystische Tradition des Judentums) oder Sufis-
mus (mystische Tradition des Islam), unabhängig vom jeweiligen
Zugangsweg kommen die Mystiker jeweils zu sehr ähnlichen Er-
fahrungen und beschreiben diese jeweils mit ähnlichen Worten
und Inhalten. Während sich die Religionen teilweise erbitterte
Schlachten liefern, haben die mystischen Traditionen der ver-
schiedenen Religionen somit sehr enge Verbindungen miteinan-
der. Es geht im Kern immer um die Aufhebung von Trennung und
um ein Einheitserlebnis, was jedoch nicht regressiv und »infantil«
i. S. von »Rückentwicklung in den Mutterleib« ist. Ken Wilber
(2011) hat diesbezüglich eine sehr hilfreiche und klare Unterschei-
80 Kapitel 2 • Die Archetypen der männlichen Seele
2.7 König
Beispiel
Am Abend soll es ein Feuer für die Männer geben. Ich beobach-
te, wie Axel hierfür die Vorbereitungen trifft. Jedes Stück Holz
bekommt seinen Platz. Fast scheint es so, als ob er im stummen
Zwiegespräch von jedem Holzscheit erfragt, wohin es wolle.
Selbstvergessen und gleichzeitig konzentriert schichtet er Scheit
für Scheit auf, justiert nach, nimmt einen Scheit wieder weg, er-
setzt ihn durch einen anderen, prüft sein Werk immer wieder, und
erst wenn er zufrieden ist, macht er weiter. »Wie ein Künstler vor
seiner Leinwand«, denke ich. Axel arbeitet so liebevoll und für-
sorglich, versunken in die Arbeit, mit einer Sorgfalt, einer Hinga-
be, einer Leichtigkeit, Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, die
mich beeindruckt. »Das Feuer für die Männer soll schön werden«,
scheint er zu denken, und ich vermag nicht zu unterscheiden, ob
2.7 • König
87 2
er es für die Männer oder für sich selbst macht. Er macht es für sich
und für die Männer! Er macht das, was ihm gemäß ist, und indem
er das tut, leistet er seinen Dienst an der Gemeinschaft. So sieht
königliches Dienen aus.