Handel 4.0 - Die Digitalisierung Des Handels - Strategien, Technologien, Transformation
Handel 4.0 - Die Digitalisierung Des Handels - Strategien, Technologien, Transformation
Handel 4.0
Die Digitalisierung
des Handels
Strategien, Technologien,
Transformation
Handel 4.0
Rainer Gläß · Bernd Leukert (Hrsg.)
Handel 4.0
Die Digitalisierung des Handels –
Strategien, Technologien, Transformation
Rainer Gläß
GK Software AG, Schöneck,
Deutschland
Bernd Leukert
SAP SE, Walldorf,
Deutschland
Koordination:
Norbert Eder, Leiter Public Affairs & PR, GK Software AG, [email protected]
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Springer Gabler
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Vorwort
Die Digitalisierung der Gesellschaft, der Unternehmen, der privaten Haushalte und nicht
zuletzt die damit verbundenen Implikationen für Menschen in hochspezialisierten und in-
dustrialisierten Gesellschaften bringen massive Veränderungen mit sich. Analysiert man
die Produktivitätsentwicklung der letzten Jahrhunderte, so zeigt sich, dass wir uns aktuell
in einer besonders herausfordernden Phase befinden. Die Digitalisierung ist im engeren
Sinne des Wortes seit Jahrzehnten im Gange. Das erreichte Digitalisierungsniveau und die
technischen Fähigkeiten von Maschinen sind allerdings mittlerweile derart weit fortge-
schritten, dass sie Unternehmen und Gesellschaft gänzlich neue, teilweise bisher undenk-
bare Möglichkeiten eröffnet. Während die Möglichkeiten revolutionär sind, versuchen
sowohl Unternehmen als auch Wissenschaft und Politik, den Wandel möglichst fließend zu
gestalten. Die neue Welle der Digitalisierung ist demnach eher ein evolutionärer Schritt seit
ihrem Beginn, aber dafür mit revolutionären Erwartungen und Ergebnissen.
Diese Entwicklung hat zwei wesentliche Ursachen. Erstens verfügen wir heute über
Infrastruktur, wie etwa flächendeckendes Breitband oder immense und dennoch bezahlba-
re Rechner- und Speicherkapazität, und Technologien wie beispielsweise Mobile, Cloud
oder Analytics, die neue Anwendungen und Geschäftsmöglichkeiten umsetzen können.
Zweitens wird aus einem Potenzial dann ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Mehr-
wert, wenn die Nutzer, also wir alle, für sich einen Mehrwert erkennen und die neuen
Möglichkeiten annehmen. Mit der Einführung der Smartphones zum Beispiel ging eine
Einfachheit in der Bedienbarkeit einher, die sich heute verbreitet hat, wie es kaum jemand
für möglich hielt. Es bleibt für alle mit Informationstechnologien vertrauten Manager die
Erkenntnis, dass die Anwender im Mittelpunkt der digitalen Welt stehen.
Die Voraussetzungen, die zur weiteren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzbar-
machung der Digitalisierung nötig sind, scheinen erfüllt zu sein, denn es sind diverse
technische und ökonomische Gegebenheiten, die zusammen genommen zu einer weiterhin
schnellen wirtschaftlichen Verbreitung beitragen werden:
VI Vorwort
• Aufgrund der Miniaturisierung sind dem Einsatz von Sensoren, Aktoren oder anderen
digitalen Datensendern und -empfängern kaum mehr Grenzen gesetzt. Darüber hinaus
haben die Globalisierung und die Verfügbarkeit von Informationstechnologien zu
einem wirtschaftlichen Effekt geführt, mit dem sich große Skaleneffekte erreichen
lassen. Damit ist die kostengünstige Verfügbarkeit der Hardware und Technologien
möglich, die wiederum zur schnellen Diffusion am Markt und in der Gesellschaft
beigetragen hat.
• In der Industrie führt die Digitalisierung dazu, dass Informationen zunehmend ein
eigenständiger Produktionsfaktor werden. Das Produkt selbst wird zum Träger der
Produkt- und Produktionsinformationen. Die Verknüpfung der physischen mit der
virtuellen Welt ermöglicht eine neue Art der Transparenz über Prozesse und das
Produktleben. Werden diese unstrukturierten Daten mit den strukturierten Daten der
Geschäftswelt verzahnt, eröffnen sich völlig neue Einblicke – und das mittels heutiger
Technologien nahezu in Echtzeit, was einen enormen Spielraum, eine neue Flexibilität
erlaubt.
• Im Konsumentenbereich ist mit der Digitalisierung von Produkten, wie bei Musik
oder Filmen, eine starke Tendenz vom Konsumieren reiner Produkte hin zum Nutzen
von Diensten zu beobachten. Überdies werden Produkte und Dienste immer personali-
sierter und individualisierter angeboten und genutzt, zugeschnitten auf die Bedürfnisse
des Einzelnen.
• Was aus allem voran genannten den bedeutenden Mehrwert darstellt und von überra-
gender Bedeutung ist, ist die Vernetzung all dessen. Sie bildet die Basis für die
Transparenz, Flexibilität und Individualisierung, die wir im Moment erfahren.
Der erste Teil befasst sich mit den Grundlagen der Digitalisierung. Die Digitalisierung
betrifft nicht nur die Gesellschaft oder Unternehmen, sondern vor allem auch den Men-
schen in seinem täglichen Leben.
Dirk Baecker, der Autor des ersten Beitrags, stellt aus soziologischer Perspektive die
wichtige Frage, wie die Digitalisierung unser Denken und unsere Welt verändert, und bildet
die Basis für alle weiteren Betrachtungen.
Der Kunde steht im Mittelpunkt sämtlicher Aktivitäten von Unternehmen. Dies gilt
insbesondere für das digitale Zeitalter, in dem der Kunde individueller als je zuvor bedient
werden möchte und die technischen Möglichkeiten einer weiterentwickelten Form des
Mass Customizing dies auch wirtschaftlich ermöglichen. Der zweite Beitrag widmet sich
dem Kunden in der digitalen Welt. Michael Jahn von der GfK untersucht, welches Kun-
denverhalten wir heute beobachten und welche Entwicklung im digitalen Zeitalter noch zu
erwarten ist.
Im dritten Beitrag geht August-Wilhelm Scheer auf die grundsätzlichen Herausforderun-
gen von Unternehmen auf dem Weg zur Digitalisierung ein. Dabei widmet er sich insbe-
sondere auch Industrie- und Technologieunternehmen, die er seit Jahrzehnten in ihrer
Entwicklung begleitet hat mit besonderer Berücksichtigung der veränderten Geschäftsmo-
delle im Handel.
Tobias Kollmann und Simon Hensellek setzen sich im vierten Beitrag des ersten Teils
mit digitalisierten Unternehmen auseinander. Aus einer reichhaltigen Erfahrungspraxis von
der Gründung von Internetunternehmen bis hin zu deren Erfolg wird aufgezeigt, was den
Unterschied zwischen digitalisierten und traditionellen Unternehmen ausmacht. Diese Be-
trachtung ist vor dem Hintergrund der Überlegung von Christensen et al. (1997) zu
disruptiven Innovationen von enormer strategischer Bedeutung, denn etablierte Unterneh-
men stehen stets vor der Fragestellung, ob sie aus sich selbst heraus wirkliche Innovationen
umsetzen oder nicht doch neue Unternehmen diesen Weg erfolgreicher beschreiten können.
Der fünfte Beitrag bildet die Schnittstelle von allgemeinen Digitalisierungsüberlegun-
gen und Handelsunternehmen. Reinhard Schütte und Thomas Vetter analysieren anhand
einer mehrstufigen Architektur für Industrie-, Handels- und Kundeninformationssystemen,
welche Potenziale die Digitalisierung für Handelsunternehmen eröffnet, um die betriebs-
wirtschaftlichen Aufgaben im Wettbewerb effektiver und effizienter lösen zu können.
Basis für eine Digitalisierung in Handelsunternehmen sind die vorhandenen, die sich in
der Entwicklung befindenden oder noch zu entwickelnden Technologien. Im zweiten Teil
werden daher Technologien der Digitalisierung diskutiert. Im ersten Beitrag dieses Teils
untersucht Michael Gerling die historische Entwicklung des Einsatzes von Technologien
in Handelsunternehmen. Anhand einer vom EHI Retail Institute über Jahre durchgeführten
Befragung von CIOs wird analysiert, welche Bedeutung welchen Technologietrends in der
Vergangenheit und aktuell zugeschrieben wurde und wird.
Antonio Krüger und Gerrit Kahl widmen sich im zweiten Beitrag den neuen Möglich-
keiten, die im DFKI Innovative Retail Labor für den zukünftigen Einsatz von digitalen
VIII Vorwort
Rainer Gläß
Bernd Leukert
Literatur
Inhaltsverzeichnis
The Big Change. Auswirkungen der neuen Technologien von Industrie 4.0.
Neue Wertschöpfungsketten für den Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
August-Wilhelm Scheer
Teil I:
Die Digitalisierung von Gesellschaft,
Wirtschaft und Handel
3
Das Stichwort der Digitalisierung der Gesellschaft ist in aller Munde. Jeder weiß, was
darunter zu verstehen ist. Es spielt an auf eine zunehmende Beteiligung von Computern an
privaten und beruflichen Aktivitäten der Menschen, auf eine zunehmende Durchsetzung
der Infrastruktur der Gesellschaft mit elektronischen Rechnern, auf das Wachsen von Da-
tenspeichern mit dem Versprechen des Gewinns neuartiger Kenntnisse aus raffinierten
statistischen Verfahren („Big Data“), auf die verblüffende Reduktion multimedialer Kom-
munikation mit Bildern, Texten, Tönen und Videos auf einen digitalen 0/1-Code, der diese
Kommunikation überdies vielfach bearbeitbar macht, und nicht zuletzt auf die große Frage,
was den Menschen noch Menschliches bleibt, wenn ihr Intellekt, ihre Wahrnehmung, ihre
Kommunikation, ihr Gedächtnis in die Maschinen auswandern. Bleibt ihnen nur das Ana-
loge? Und was wäre das?
Es bleibt ihnen – diese These werden wir im Folgenden kultur- und sozialtheoretisch
ableiten, medienarchäologisch unterfüttern und unter Bezug auf den noch unzureichenden
Forschungsstand skizzieren – die Beobachtung, Begleitung und Reflexion der Verschaltung
des Digitalen mit dem Analogen. Es bleibt ihnen die Beobachtung, Begleitung und Refle-
xion von Komplexität. Das Feld, auf dem wir versuchen, diese These zu entfalten, ist das
Feld der Kommunikationstheorie, verstanden als Theorie ungeplanter und unzuverlässiger
Effekte der Vernetzung autonomer Agenten und Agenturen. Auf diesem Feld, das ist die
Herausforderung jeder Theorie der Digitalisierung, spielen intelligente Maschinen eine
Rolle der Teilnahme an Kommunikation, die noch vor kurzem nur Menschen zugestanden
worden wäre. Aber es darf daran erinnert werden, dass vor der Humanisierung der Gesell-
schaft durch die Aufklärung auch Geistern und Göttern, Tieren und Pflanzen diese Rolle
zugestanden worden war. Freilich fiel es einst leichter, diese Rolle weit zu fassen, weil man
noch nicht gezwungen war, darüber nachzudenken, was man unter Kommunikation ver-
standen wissen wollte. Heute sind wir gezwungen, darüber nachzudenken, weil wir das
Gefühl haben, an Kommunikation nicht mehr alleine beteiligt zu sein. Und siehe da, dabei
kommen nicht nur „unsichtbare“ Maschinen in den Blick, sondern es wird auch die Aus-
treibung der Geister und Götter, der Tiere und Pflanzen, ja sogar mancher Rituale, Praktiken
und Artefakte zum Thema, die uns einst durchaus etwas zu sagen hatten.
Watzlawick, Beavin und Jackson haben den interessanten Vorschlag gemacht, der Digi-
talkommunikation mit ihrem 0/1-Code und damit Alles-oder-Nichts-Charakter (Boole
1958), die in einer willkürlichen, also gestaltbaren Beziehung zum Gegenstand steht, eine
Analogkommunikation gegenüberzustellen, die nichtbeliebige Ähnlichkeiten zwischen
Kommunikation und Gegenstand etabliert und aufrechterhält (Watzlawick/Beavin/Jackson
1969, S. 61ff.). Und sie haben hinzugefügt, dass die Digitalkommunikation dank ihrer
expliziten Verfügung über Möglichkeiten der Negation zum Aufbau einer nahezu beliebig
komplexen (besser: konnektiven) Syntax fähig ist, während die Analogkommunikation an
die Stelle von Negation, über die sie nicht verfügt, die Widersprüchlichkeit setzt (also die
Komplexität). Tränen der Freude und Tränen des Schmerzes, das Lächeln der Sympathie
und das Lächeln der Verachtung, die geballte Faust der Drohung und die geballte Faust der
Selbstbeherrschung sind Beispiele einer Analogkommunikation (ebd., S. 66), die an die
Stelle einer errechenbaren Schlussfolgerung die Entscheidung eines Beobachters setzt.
Diese Entscheidung ist nicht errechenbar, sondern unbestimmt und deswegen in der Lage,
Geschichte zu schreiben, im Kleinen und im Großen. Ist diese Analogkommunikation die
Domäne des Menschen im digitalen Zeitalter?
Die digitalen Rechner sind (noch) ebenso sehr ein Produkt des menschlichen Intellekts
wie es die Analogkommunikation ist, die dieser Intellekt den Rechnern entgegensetzt. Und
beides verdankt sich einer nicht zuletzt auch sozialen Intelligenz, die mit einer unbestimm-
ten Freiheit der Teilnehmer an Kommunikation, mit autonomen, aber beeinflussbaren Ent-
scheidungen genauso gut rechnen kann wie mit den deduktiven und induktiven Ketten
präziser Präpositionen. Das Problem ist nur, dass wir verschiedene Formen des Rechnens
mit großen Titeln wie „Natur“, „Kultur“, „Technik“, „Ethik“, „Mensch“ und „Gesellschaft“
so scheinbar eindeutig benannt haben, dass wir nicht mehr wissen, dass es sich jeweils um
Formen des Rechnens, der Kommunikation, der Komplexität handelt. Deswegen stellt uns
die „Digitalisierung“ vor die Herausforderung, so viel „Theorie“ zu produzieren, dass wir
die traditionellen Kategorien zur Beschreibung der Lage des Menschen wieder in Fragen
übersetzen können, auf die wir neue Antworten suchen können.
Aber kann es sein, dass wir, um die Einführung digitaler Produktionsverfahren, neuer
Steuerungstechnologien, elektronischer Überwachungstechniken, konnektiver Algorith-
men, ungeordneter Datenspeicher, der Internetrecherche, der Blogosphäre, der Big-Data-
Versprechen usw. zu verstehen, die Frage nach dem Menschen und seiner Gesellschaft
aufwerfen müssen? Kann es sein, dass Handel 2.0, Industrie 4.0, das Cyberspace und das
Internet der Dinge uns nicht nur ingenieurwissenschaftlich, sondern auch sozialtheoretisch
Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? 5
und philosophisch herausfordern? Von Luhmann stammt die Beobachtung, dass der Bild-
schirm des Computers eine Oberfläche darstellt, die mit der undurchschaubaren Tiefe un-
sichtbarer Maschinen auf eine ähnliche Weise konfrontiert, wie es früher nur die Oberfläche
magischer Ornamente mit der Tiefe religiöser Transzendenz vermochte (Luhmann 1997,
S. 304). Die Faszination der Programmierer und Codierer, immer wieder neue Vorgänge zu
automatisieren, ist ebenso wenig Zufall wie der Suchteffekt, den wir im Umgang mit un-
seren Accounts in den Sozialen Netzwerken erfahren, oder das Auftauchen verführerisch
leuchtender angebissener Äpfel auf den Performancebühnen und Elektronikfestivals dieser
Welt. Hier passiert etwas mit uns. Und dem versuche ich im Folgenden etwas nachzugehen.
Etwas Theorie und der eine oder andere Ausflug in die Geschichte der Menschheit sind
dabei nicht zu vermeiden. Wir begreifen, das wäre meine soziologisch und kulturwissen-
schaftlich informierte Ausgangshypothese, nur dann etwas von der Digitalisierung, die sich
längst und praktisch gut vertraut unter unseren Augen abspielt, wenn wir sie im Kontext
früherer Medienepochen beobachten. Wir benötigen eine auch historische Distanz, um uns
aktuellen Phänomenen nähern zu können. Das kann hier nur in einer groben Skizze gesche-
hen, die das Thema nicht erschöpft, sondern für den Typ von Fragestellung wirbt, der
weitere Forschung anregen kann. Wir sagen auch nicht, dass die Einführung elektronischer
Medien dasselbe sei wie die Einführung von Sprache, Schrift und Buchdruck. Aber wir
vermuten, dass sich im Zusammenhang komplexer Beziehungen zwischen Mensch, Ge-
sellschaft, Technik und Kultur im Fall der Einführung und Durchsetzung dieser vier Ver-
breitungsmedien der Kommunikation ähnlich weitreichende Fragen stellen lassen. Deswe-
gen konzentrieren wir uns hier darauf, diesen Typ von Frage vorzustellen und ein wenig
einzuüben. Weiteres muss folgen.
nen, Konventionen und Routinen, die auf die Modalitäten der älteren Verbreitungsmedien
eingestellt sind.
So produziert die Sprache einen Überschusssinn, der über die Wahrnehmung von Kör-
pern, Gesten, Bewegungen und allenfalls einigen Warn- und Trostlauten hinausgeht, und
die Menschheit mit dem Drama konfrontiert, zwischen Wort und Sache unterscheiden
lernen zu müssen, um eine Sprache inklusive ihrer Möglichkeit der Lüge überhaupt hand-
haben zu können. Der Bewältigung des Referenzproblems der Sprache (Deacon 1997)
inklusive der Einführung von Moral und Geheimnis zur Kontrolle der Frage, wer mit wem
worüber reden darf, und zur Markierung dessen, worüber nicht gesprochen werden darf,
verdankt die tribale Gesellschaft ihre Entstehung (Luhmann 1997, S. 230ff.).
In eine weitere Medienepoche treten die Menschheit und ihre Gesellschaft (oder sollte
man sagen: die Gesellschaft und ihre Menschheit?) in dem Moment ein, in dem zunächst
die Schrift und dann die alphabetische Schrift einen neuen Überschusssinn produzieren,
indem sie die Zeithorizonte der Gesellschaft explodieren lassen. Die Schrift ermöglicht
kontrollierbare Zugriffe auf eine differenzierbare Vergangenheit und korrigierbare Zugrif-
fe auf eine noch offene Zukunft, und beides in einer Gegenwart, die beides aushalten
können muss. Schriftgesellschaften sind deswegen historische und – wegen ihres reflexi-
ven, das heißt laufend überprüften Umgangs mit Mythen – „heiße“ Gesellschaften (Lévi-
Strauss 1968). Die Schrift erschließt als lineare und offene Perspektiven eine Vergangenheit
und eine Zukunft, die zuvor in der ewigen Wiederkehr der Erinnerung an die Ahnen zirku-
lär verschlossen waren. Die in einem variierbaren Gedächtnis und in variierbaren Plänen
enthaltene Komplexität der Gesellschaft wird durch Stratifikation aufgefangen, die es er-
laubt, unterschiedlichen Sozialschichten die Orientierung an unterschiedlichen Zeithori-
zonten zuzuordnen. Heterochronotopien sind der Gewinn dieser Lage, doch der Preis dafür
ist die Einrichtung von „Herrschaft“ und damit die Installation asymmetrisierender Beob-
achtung zweiter Ordnung, die die Gesellschaft in der Möglichkeit der Rebellion gegen die
Verhältnisse instabil stabilisiert: Hegels „Herr“, nicht nur beobachtet, sondern bestimmt
durch den „Knecht“, der die Verhältnisse durchschaut, während der Herr sie nur sicherstellt
(Hegel 1807, S. 150f.).
Jede dieser Medienepochen ist durch einen Überschusssinn gekennzeichnet, der die
vorherige Ordnung bedroht und nur in einer neuen Ordnung aufgefangen werden kann.
Andernfalls müsste die Gesellschaft Mittel und Wege finden, das jeweilige neue Verbrei-
tungsmedium der Kommunikation abzulehnen. Tatsächlich begleitet der Versuch der Ab-
lehnung die Einführung jedes neuen Verbreitungsmediums. Seit der Einführung der Schrift
gibt es dafür Beispiele in Hülle und Fülle. Dass Kommunikation „entkörpert“ (so der nicht
zufällige Ausdruck), gilt nicht erst seit der Einführung und Durchsetzung der neuen elekt-
ronischen Kommunikationsmedien oder des Buchdrucks (zu dieser Annahme scheint Pe-
ters 1999 zu neigen), sondern seit der Einführung der Schrift und bereits der Sprache, auch
wenn die Reaktion der Gesellschaft auf die Sprache aus naheliegenden Gründen nicht
dokumentiert ist. Wir können im Nachhinein nur versuchen, die magische, mythologische
und streng topographische Ordnung der Stammesgesellschaft, die uns die ethnologische
und anthropologische Literatur überliefert, auf das Problem der Bewältigung von Über-
Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? 7
schusssinn abzubilden, dessen Lösung sie vermutlich sind. Dieser Mangel an Dokumenta-
tion ändert sich mit dem Auftreten der Schrift, deren Ablehnung etwa durch die Akademie
Platons gut nachlesbar ist (Havelock 1963): Man schaut auf Ägypten, befürchtet ein Erkal-
ten des Gemüts im Medium der bürokratisch verschriftlichten Kommunikation und setzt
dagegen das lebendige Gespräch der mit Herz und Verstand in ihrer jeweiligen Gegenwart
engagierten Menschen (vgl. Luckmann 1984).
Daraus wird ein Topos, der medien- und kulturkritisch bis heute wiederholt wird. Ent-
scheidend ist jedoch, dass die Ablehnung neu auftretender Medien ihrerseits eine Form der
Beobachtung ihrer möglichen Konsequenzen und damit eine Form der Entdeckung mögli-
chen Nutzens ist, auch wenn man diesen dann nur realisieren kann, indem man die Ableh-
nung überwindet und gegen Strukturen der Gesellschaft verstößt. Die Medienevolution der
Gesellschaft findet im Medium der Ablehnung von Medieninnovationen statt. Disruptiv ist
zum Zeitpunkt seines Auftretens jedes dieser Medien. Die von Ökonomen nachgewiesene
Senkung von Transaktionskosten überzeugt immer nur die einen und bedroht die anderen,
deren Renten (im Sinne von David Ricardo) von der Ausbeutung der Transaktionskosten
abhängen. Es hängt von technisch ebenso wie sozial findigen Innovationen ab, ob es ge-
lingt, den Gebrauch eines neuen Mediums in zunächst möglicherweise marginalen, dann
zunehmend zentralen Bereichen der Gesellschaft zu verankern.
Dasselbe gilt für die moderne Buchdruckgesellschaft, die gegen jede Autorität verstößt,
die die Schriftgesellschaft im Umgang mit den Quellen und den Hierarchien mühsam genug
zu einer eindrucksvoll geschlossenen Kosmologie aufgebaut hat. Dass man sich auf dieses
Teufelswerk der beweglichen Lettern (im Gegensatz zu Hand und Sinn der abschreibenden
Mönche, die ihre Kopierarbeit mit Leib und Seele als Gottesdienst verstehen konnten) und
der Massenproduktion von Texten eingelassen hat, konnte zunächst nur dadurch gerecht-
fertigt werden, dass man vorgab, nur die Bibel massenhaft reproduzieren zu wollen und mit
ihr die Erde so zu wässern, wie es sich Gott nicht besser wünschen konnte (Giesecke 1991).
Der Buchdruck galt als Maschine der Kommunikation, das heißt Verbreitung (lat. commu-
nicare: „gemein machen“) der Bibel und weiterer gottesfürchtiger Literatur; und niemand
ahnte, dass das religiöse Angebot nicht ausreichen würde, den Nachschub für die Druck-
maschinen sicherzustellen, die mit einem erheblichen Kapitalaufwand (ein wichtiger Im-
puls für eine allererste industrielle Revolution) in Betrieb genommen worden waren. Der
Humanismus, die Aufklärung und der Gedanke einer Bildung für alle inklusive der dafür
erforderlichen Alphabetisierung kamen gerade recht, den fehlenden Content nachzuliefern
und rezipierbar zu machen.
Auch hier jedoch unterscheiden sich die Absichten und Akzeptanzbedingungen der
Einführung einer Technologie dramatisch von den tatsächlichen Folgen (Bijker/Hughes/
Pinch 1987). Die moderne Gesellschaft benötigte vierhundert Jahre, abgeschlossen erst in
Luhmanns Theorie der modernen Gesellschaft (Luhmann 1997), um ihre eigene Funktio-
nalität nicht mehr nur im Modus einer Rationalität zu begreifen, die die Ontologie und
Metaphysik der Antike allenfalls um eine neue Sachordnung ergänzte (Rombach 1965).
Tatsächlich besteht der neue Überschusssinn der modernen Gesellschaft nicht nur in Auf-
klärung, Vernunft und Bildung, sondern darin, dass, einmal alphabetisiert, liberalisiert,
8 Dirk Baecker
individualisiert und privatisiert (siehe den vielbesprochenen Effekt des stillen Lesens, in
dem ein Individuum erstmals sein eigenes Bewusstsein erfährt), jeder jederzeit alles lesen
und jeden anderen vor dem Hintergrund des Gelesenen, aber nur schwer zu Überprüfenden
kritisieren kann. Die Kritik dynamisiert die Kommunikation der Gesellschaft. Aufklärung,
Vernunft und Bildung sind streng genommen bereits Sekundärinnovationen, die diese re-
gelrecht wildgewordene Kritik in geordnete Bahnen zu lenken haben.
Aber es ist zu spät. Die großartige Idee von Kant, dass man die Kritik kanalisieren kann,
indem man darauf achtet, dass von der Vernunft nur öffentlicher Gebrauch zu machen ist
(auf dass die Aussage eines Gelehrten vor Publikum immer von einem zweiten kontrolliert
werde; Kant 1783), unterstellt dort eine Kontrolle der Kommunikation durch die Interak-
tion (immerhin: nicht mehr durch die Stratifikation), wo sich längst die Funktionssysteme
Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft sowie Organisationssysteme
wie Behörden, Unternehmen, Gerichte, Kirchen, Armeen und Universitäten ausdifferen-
ziert haben, die sich weder durch Interaktion noch durch Schrift kontrollieren lassen, son-
dern eigenen Regeln (auch „Bürokratie“ genannt; vgl. Baecker 2004) der Ermutigung und
Entmutigung von Kritik folgen. Die moderne Gesellschaft wird zur Gesellschaft im Modus
der Kritik an sich selbst, kontrolliert durch Formen der Differenzierung, die Stichworte wie
Demokratie, Marktwirtschaft, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Ästhetik und Methode dazu
nutzen, um Kritik in den jeweiligen Funktionssystemen hochspezifisch und streng selektiv
produktiv werden zu lassen.
Begleitet wird diese Formatierung von Kritik durch eine Individualisierung, die nicht
mehr durch Geburt, Herkunft, Familie und Schicht, sondern durch Medien wie Macht,
Geld, Glauben, Schönheit und Wahrheit sozial bindet und so ein bisher noch nie gesehenes
Maß an loser Kopplung und selbstreferentieller Unruhe in die Gesellschaft einführt (Par-
sons 1980). Einfluss bekommt, wer mit diesen Medien kompetent umgehen kann. Herr-
schaft ist darauf jedoch nur zu begründen, wenn Organisation zu Hilfe kommt. Denn nur
die Organisation kann über Entscheidungen dort exkludieren, wo die Gesellschaft seit der
Französischen Revolution programmatisch allen offenstehen, das heißt jedes Individuum
zumindest prinzipiell in jedes Funktionssystem inkludieren muss (Stichweh 2005; Bohn
2006).
Und all dies, so unsere Hypothese, muss man wissen, wenn man beobachten will, wie
sich „die“ Gesellschaft seit einigen Jahrzehnten auf elektronische Medien einstellt? Ja, ich
denke schon. Und die Begründung dafür ist eine doppelte. Zum einen lassen sich die Ein-
führung von Sprache, Schrift und Buchdruck als Vergleichsfolien nutzen, um die Komple-
xität einer Gesellschaft in der Abstimmung mit Körper, Bewusstsein und natürlicher Um-
welt zu studieren, für deren Modalität die Stichworte Struktur, Kultur, Natur und Technik
nur Anhaltspunkte für eine Forschung liefern, die in der Lage sein muss, jede bis dato für
stabil gehaltene Unterscheidung zu dekonstruieren, das heißt in den Modus ihrer Reflexion
zu versetzen (Latour 1998). Und zum anderen sind alle bisherigen Lösungen für die Prob-
leme, die neue Kommunikationsmedien aufwerfen, nicht etwa obsolet, sobald neue Kom-
munikationsmedien auftreten, sondern bleiben zusammen mit den Problemen, die sie lösen,
weiterhin relevant. Die elektronischen Medien variieren das Referenzproblem der Sprache,
Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? 9
das Zeitproblem der Schrift und das Kritikproblem des Buchdrucks, aber sie schaffen sie
nicht ab. Wir müssen demnach mit evolutionären Lösungen für komplexe Problemlagen
im Kontext weiterhin gültiger Problemlagen und ihrer mühsam erstrittenen Lösungen rech-
nen. Eine Kenntnis der Medienepochen der Gesellschaft ist dazu nicht viel mehr als ein
erster Zugang, der mit seiner Konzentration auf vier und nur vier Medienepochen zwar
kulturwissenschaftlich bewährt, aber historisch eher holzschnittartig verfährt.
Und Überschusssinn, auch das wäre in Rechnung zu stellen, tritt im Kontext nicht nur
neuer Verbreitungsmedien, sondern auch neuer Erfolgsmedien auf. Ebenso nichttrivial wie
auf die Sprache, die Schrift, den Buchdruck und die elektronischen Medien reagiert die
Gesellschaft auch auf die Macht, das Geld, die Wahrheit, den Glauben und die Kunst. Man
wagt sich kaum vorzustellen, welche Aufgaben die soziologische Theorie zu bewältigen
hat, um in der Abstimmung mit Kulturtheorie, Medientheorie, Techniktheorie und Gesell-
schaftstheorie zunächst nicht viel mehr als den Sinn für nichttriviale Lösungen komplexer
Medienlagen in der Evolution der Gesellschaft zu schärfen (Baecker 2014).
Die Dominanz eines Mediums schließt die Existenz anderer Medien nicht aus, sondern ein,
so dass die Probleme, die angesichts neuer Medien zu lösen sind, die Lösung der Probleme
alter Medien voraussetzt und mitführt, aber auch in Frage stellen kann. Wir sprechen von
einer „Medienarchäologie“, um bestimmte Phänomene der Gesellschaft als Produkt über-
einander geschichteter Formen der Bewältigung alter und neuer Medienprobleme beobach-
ten und beschreiben zu können (Baecker 2007a). Nach dem Vorschlag von Foucault wird
„Archäologie“ hier nicht mehr als Wissenschaft der stummen Monumente verstanden,
sondern als eine Wissenschaft, die Serien der Konstruktion lebendiger Phänomene in der
Kontinuität und Diskontinuität ihrer Geschichte nachgeht (Foucault 1969). So ist die Uni-
versität, um ein Beispiel zu wählen, das strukturelle und kulturelle Produkt der Auseinan-
dersetzung mit den Möglichkeiten der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks und muss
sich nun, vor diesem Hintergrund und mit diesen Erfahrungen, mit den Möglichkeiten der
elektronischen Medien auseinandersetzen (vgl. Baecker 2007a, S. 98–115). Man spricht
miteinander, man macht sich Notizen, man publiziert und man vernetzt sich elektronisch,
um die Resonanz auf Themen, Kollegen und Agenden zu kontrollieren. Die Auseinander-
setzung mit neuen Möglichkeiten zwingt dazu, alte Erfahrungen als solche zu reflektieren
und das Verhältnis der Kommunikation in den verschiedenen Medien neu zu justieren.
Verschiedene Experimente dienen dazu, sich alter Erfahrungen zum einen zu vergewissern
und sie zum anderen zugunsten neuer Erfahrungen zu variieren. Die Ablehnung neuer
Medien und ihrer Möglichkeiten ist hierbei ebenso wichtig wie ein möglicherweise zu ra-
sches Verständnis und Ausprobieren, weil beides in Theorie und Praxis, Forschung und
Design, Kritik und Affirmation das Material bereitstellt, dessen man bedarf, um den struk-
turellen und kulturellen Wandel der Gesellschaft zu bewältigen.
10 Dirk Baecker
„Überschusssinn“ bedeutet jeweils, dass ein Medium der Kommunikation mehr Mög-
lichkeiten der Kommunikation bereitstellt, als je aktuell wahrgenommen werden können.
Jede neue Medienepoche muss sich auf diesen Überschusssinn erst einstellen. Und „Ein-
stellen“ heißt nicht, dass der Überschusssinn verschwindet; sondern es heißt, dass Formen
bereitstehen, eben eine Struktur und eine Kultur der Gesellschaft, in denen er aufgegriffen
und reduziert werden kann, ohne ihn als solchen zum Verschwinden zu bringen. Im Gegen-
teil. Jede neue Struktur und Kultur einer neuen Medienepoche misst sich eben daran, dass
sie den Überschusssinn aushält den das Medium trägt, indem sie mit diesem Überschuss-
sinn konstruktiv, das heißt ebenso routiniert wie innovativ, umgehen. Das gilt für Verbrei-
tungsmedien der Kommunikation wie die Schrift, den Buchdruck, die Massenmedien und
die elektronischen Medien ebenso wie für sogenannte Erfolgsmedien der Kommunikation
wie das Geld, die Macht, die Wahrheit, das Recht, die Kunst oder die Liebe. Die Folgen der
Monetarisierung, der Demokratisierung, der Methodologisierung, der Justifizierung, der
Ästhetisierung und der Passionierung sind nicht in dem Moment bewältigt, in dem diesen
Prozessen Einhalt geboten werden kann, sondern in dem Moment, in dem sie im Medium
ihrer Eingrenzung entfaltet werden können.
Und ja, das setzt voraus, die Gesellschaft als eine Form im Medium ihrer Medien zu
begreifen und den Medienbegriff entsprechend zu justieren. Heider hat nicht zufällig für
den Fall von Medien der Wahrnehmung (nämlich orientiert an neuartigen Einsichten zur
Komplexität von Organismus, Gehirn und Bewusstsein) dazu einen wichtigen Vorschlag
gemacht (Heider 1926), dem wir hier jedoch nicht weiter nachgehen können (vgl. Baecker
2005, S. 175ff.).
Und es gilt strukturell wie kulturell. Strukturell muss es eine Gesellschaft aushalten, dass
in anderen Situationen andere Möglichkeiten wahrgenommen werden als in der je aktuellen
Situation, das heißt strukturell muss die Gesellschaft die Verteilung der Kommunikation
sicherstellen. Während die einen zahlen, üben andere Macht aus, lesen Dritte still einen
Roman und züchten wieder andere gefährliche Bakterien in Reagenzgläsern. Während die
einen an wissenschaftlichen Texten arbeiten, schauen die anderen Fernsehen und hadern
die Dritten mit ihrer Liebe. Eine Gesellschaft muss für diese Verteiltheit, die entsprechende
Diversität und Heterogenität, die allenfalls fallweise Synchronisation und den allenfalls
lockeren Zusammenhang des Ganzen einen Sinn haben, einen Sinn für den Überschusssinn,
der je aktuell reduziert werden muss, andernorts und gleich anschließend jedoch unredu-
ziert und damit überfordernd zur Verfügung steht (Luhmann 1971).
Dasselbe gilt kulturell. Kulturell muss eine Gesellschaft in der Lage sein, den Partiku-
larsinn einer Situation mit dem Partikularsinn einer anderen Situation in ein Verhältnis zu
setzen, einen Zusammenhang zu sehen (der ein Zusammenhang der Differenz sein kann),
eine Einheit des Verschiedenen zu erkennen, eine Verdichtung herzustellen. Und wenn wir
hier von einem „Müssen“ sprechen, so ist damit die These gemeint, dass die Gesellschaft
dieses Problem bereits gelöst hat, auch wenn die Theorie damit überfordert sein mag, her-
auszufinden, worin die Lösung besteht. Die Arbeit der Theorie besteht darin, nach funkti-
onalen Anforderungen zu suchen, die die Praxis bereits erfüllt hat. Das ist in der Kulturthe-
orie nicht anders als in anderen Wissenschaften (Malinowski 1944). Und die für den Kul-
Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? 11
turbegriff typische Diffusität weist darauf hin, dass die Problemstellung ungewöhnlich
komplex ist (Luhmann 1995; Baecker 2001a und 2001b). Luhmann schlägt vor, von „Kul-
turformen“ im Umgang mit dem Überschusssinn verschiedener Medienepochen der Ge-
sellschaft zu reden und anzunehmen, dass die Kulturform der antiken Gesellschaft das
aristotelische Telos und der modernen Gesellschaft die cartesianisch unruhige Selbstrefe-
renz ist (Luhmann 1997, S. 410f.). Zur tribalen Gesellschaft äußert er sich in diesem Zu-
sammenhang nicht und für die nächste Gesellschaft sind wir noch auf der Suche nach einer
passenden Kulturform (Baecker 2001c). Ein möglicher Kandidat ist die Idee der Komple-
xität (Cilliers 1998).
Die Kulturform der tribalen Gesellschaft ist möglicherweise die Grenze (Leach 1979),
das heißt die Vorstellung, dass man Kommunikation unter Männern, unter Frauen, unter
Kindern, mit Schamamen, Geistern und Tieren verschiedenen Orten zuweisen kann, um
ihre referentiellen Effekte kontrollieren, aber, wie gesagt, auch ausbeuten zu können. Dann
darf man unter Männern sagen, was man unter Frauen nicht sagen darf, aber es dürfen auch
die Frauen sich darüber lustig machen, was für die Männer bitterer Ernst ist (Hegel 1807,
S. 352f.). Dafür spricht im ethnologischen Material vieles; und dafür spricht auch, dass wir
noch heute einen ausgeprägten Sinn dafür haben, welcher Tonfall wem gegenüber an wel-
chen Orten „angemessen“ ist, wer wen zuerst anspricht, wer wie lange spricht, wer das
Thema wechseln darf und wer nicht usw. Wir tragen die Grenzen der Kommunizierbarkeit
nicht nur mit uns herum, sondern wir respektieren sie, reagieren auf ihre Verletzung mit
Verlegenheit und haben eigene Techniken, mit dieser Verlegenheit wiederum umzugehen
(Goffman 1956).
Auf den Überschusssinn der Schrift, der auch als ein Symbolüberschuss verstanden
werden kann, der vergangene und zukünftige Referenzen in einer jeweiligen Gegenwart
zur Geltung bringt und damit die alten Kontrolltechniken der Verständigung von Angesicht
zu Angesicht („Interaktion“) überfordert, reagiert, so Luhmann, Aristoteles in der Ausein-
andersetzung mit der Frage, ob es in der Vernunft ein „unbegrenztes Fortschreiten“ geben
könne (Aristoteles 1970, 994b), mit der Einführung des Konzepts des Telos (telos, griech.
für „Ziel“, aber auch: „angemessener Platz“). Dieses Konzept ermöglicht es, jedes kom-
munikative Angebot unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob es mit bisherigen Absichten
und Ordnungen (durchaus in deren Ambivalenz) abgestimmt ist oder nicht. Diese Teleolo-
gie, die es nach den Vorstellungen von Aristoteles ermöglicht, unendlichen Reihen von
Ursachen (eine Folge der explodierenden Zeithorizonte) Grenzen gegenüberzustellen, an
denen sich Ideen des Guten, des Vernünftigen und auch der Erkenntnis festmachen lassen
(Aristoteles 1970, 994), ist nur im Rahmen einer Kosmologie möglich, die jeder Psyche,
jedem Oikos und jeder Polis einen angemessenen, wenn auch unter den Bedingungen sub-
lunarer Verhältnisse korrumpierbaren und daher immer wieder neu zu perfektionierenden
Platz zuweist. Diese Teleologie ist zu jedem Zeitpunkt nicht nur diskutierbar und damit der
Rahmen für die Suche nach neuen Zwecken und neuen Mitteln, so sie nur als „passend“,
das heißt der Perfektion des Menschen, seines Hauses und seiner Stadt dienend, dargestellt
werden können (das Tummelfeld der Dialektik und Sophistik, nur mühsam kontrolliert von
der Philosophie). Sondern sie wird in der Naturforschung, wie nicht zuletzt Aristoteles, der
12 Dirk Baecker
anerkannte Delfinexperte seiner Zeit, gezeigt hat, auch außerordentlich produktiv. Denn sie
erlaubt es, jede neue Idee daraufhin zu prüfen, ob sie passt oder nicht. Sie erlaubt es, Argu-
mente zu finden, die für sie sprechen, und Argumente, die gegen sie sprechen. Platons
Formenlehre versucht, die Ideen vor diesem Schicksal der laufenden Neuprüfung zu be-
wahren, arbeitet dieser Prüfung in Wahrheit jedoch nur zu (und gesteht dieses esoterisch,
hinter den verschlossenen Türen der Akademie, durch die Anerkennung einer unbestimm-
ten Zweiheit neben jeder Eins offenbar auch zu, vgl. Oehler 1969). Beides, die Annahme
und die Ablehnung, muss jeweils möglich sein; mit Kulturformen, die nach platonischen
Vorstellungen zur Kunst die Verhältnisse nur zu preisen erlauben, kann man nicht arbeiten.
Sinn kann nur stabilisiert werden, wenn er auch abgelehnt werden und sich dagegen profi-
lieren kann.
Mit den Nachwirkungen teleologischer Vorstellungen haben wir es bis heute ebenso zu
tun wie mit Angemessenheitsvorstellungen für seine Grenzen wahrende Kommunikation
(Steinfeld 1991). Nach wie vor funktionieren zum Beispiel weder die Neurowissenschaften
noch die Betriebswirtschaftslehre (die beiden Leitwissenschaften der vergangenen Jahr-
zehnte, auch das vermutlich kein Zufall) ohne die Annahme zielgeleiteten Handelns, so
sehr die Evolutionstheorie auch dafürsprechen mag, dass sich Handeln eher im Rahmen
eines Begriffs der Drift als der Zielorientierung beschreiben lässt. Auch das ist ein Beleg
dafür, dass die Medienepochen sich überlagern und nicht verdrängen. Wir haben es mit
einer prinzipiellen und extremen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu tun. Vermutlich
ist selbst die menschliche Konstitution allenfalls schräg in diese Ungleichzeitigkeit einge-
lassen. Während unsere praktische Intelligenz sich relativ rasch auf die neuen Verhältnisse
der je aktuellen Medienepoche einlässt, denken wir in den Begriffen der vorherigen und
fühlen wir in den Konzepten und Perzepten (Deleuze 1993, S. 197ff.) der vorvorherigen
Epoche. So ist unser Gemüt gegenwärtig aristotelisch gestimmt; noch immer geben wir die
Suche nach dem richtigen Platz für uns in unserem Leben nicht auf. Gleichzeitig denken
wir durchaus modern in Begriffen einer selbstreferentiell unruhigen Vernunft; wir wechseln
unsere Meinungen so, wie es Montaigne archetypisch für das moderne Individuum in
seinen Essais beschrieben hat (Montaigne 1580, insbes. in der „Apologie des Raimundus
Sebundus“, S. 217–300). Aber weder fühlen wir uns in dieser Welt der elektronischen
Medien wohl noch haben wir die Begriffe, sie zu verstehen. Praktisch jedoch bewegen wir
uns in ihrem ebenfalls nicht zufällig so genannten „Flow“ wie die Fische im Wasser (zur
Kategorie des „Flow“: Csikszentmihaly 1996; und für ein Beispiel Knorr Cetina 2005).
Zur Kulturform einer Gesellschaft, die die moderne Gesellschaft nach der These einer
„nächsten Gesellschaft“ (Drucker 2002), die wir hier verfolgen, bereits beerbt hat, finden
sich bei Luhmann keine so deutlichen Festlegungen wie im Fall der antiken und modernen
Gesellschaft. Das ganze Thema ist bei ihm nicht nur durch Skepsis gegenüber der Mög-
lichkeit einer Kulturtheorie, sondern auch durch eine Ironie gegenüber dieser Art von
Epochenunterscheidungen gerahmt (siehe auch Luhmann 1985; vgl. Gehring 2012 zum
Interesse an „Archäologie“; und Jäger 2004 zur Kritik der Unterscheidung von Medienepo-
chen). Diese Rahmung geschieht dadurch, dass er – untypisch für sein Arbeiten – für die
beiden Kulturformen der antiken und modernen Gesellschaft nicht nur Autorennamen,
Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? 13
sondern sogar Namen „großer“ Autoren nennt: Aristoteles und Descartes. Üblicherwei-
se verlässt sich Luhmann für seine Semantikstudien eher auf unbekanntere Autoren, die
ohne das Bedürfnis einer preiswürdigen Abweichung gleichsam näher am Puls ihrer
zeitgenössischen Diskurse arbeiten und daher eher als Belege für gesellschaftsstrukturelle
Trends gelten können.
Immerhin gibt Luhmann zur Kulturform einer nicht mehr modernen Gesellschaft den
Hinweis, dass sie dem Überschusssinn mitrechnender Computer, der Beschleunigung ent-
sprechender Kontrolloperationen und den gegenüber Schriftrollen, Bibliotheken, Archiven
und Katalogen ein weiteres Mal gesteigerten Gedächtnisleistungen, an denen sich alle In-
formationen messen lassen muss, gewachsen sein muss (Luhmann 1997, S. 411f.). Die
Hypothese einer Epochenschwelle entscheidet sich daran, ob die Einführung elektronischer
Medien auf demselben evolutionären Niveau abgehandelt werden kann wie die Einführung
von Schrift und Buchdruck oder nicht. Luhmanns Würdigung der elektronischen Medien
in der Parallele zur Schrift und zum Buchdruck spricht hier eine deutliche Sprache (ebd.,
S. 302ff.; vgl. Baecker 2007b). Aber welches Konzept käme für eine Kulturform der
nächsten Gesellschaft in Frage? Und wer wäre, wenn man das Spiel der „großen“ Autoren
weiterspielen will, ihr Autor? Die Preisfrage, die man in diesem Sinne ausschreiben könn-
te und die ich auch bereits ausgeschrieben habe (Baecker 2001c), ist bis heute nicht beant-
wortet. Weavers Komplexität, Shannons Information, Batesons Spiel, Spencer-Browns
Form, Luhmanns System?
Wir arbeiten hier grundsätzlich mit einem Verständnis soziologischer Theorie, das darin
besteht, Phänomene einer funktionalen Analyse zu unterziehen und Begriffe dementspre-
chend nach ihrer Leistungsfähigkeit im Zusammenhang einer solchen Analyse zu beurtei-
len. Und wir arbeiten deskriptiv, nicht normativ, das heißt, wir nehmen an, dass im Gegen-
stand Probleme bereits gelöst sind, deren Problemstellung und Lösung durch Beobachtung,
Beschreibung und Erklärung („Theorie“) erst noch herausgefunden werden müssen. Selbst
„Probleme“, die in der Gesellschaft auftreten und als solche beobachtet werden, sind dann
immer schon Lösungen für tieferliegende Probleme. So sind die Probleme der Digitalisie-
rung, mit denen wir uns hier beschäftigen, Probleme der Auseinandersetzung mit Phäno-
menen der Digitalisierung, auf die die Gesellschaft längst reagiert, wenn und insofern sie
sie als Probleme adressiert.
Fraglich ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Rede von einer „Gesellschaft“
oder von verschiedenen Medienepochen dieser „Gesellschaft“. Unter einer Gesellschaft
verstehen wir hier ebenfalls im Anschluss an Luhmann nichts anderes als den Zusammen-
hang einer Regelung von Fortsetzungsbedingungen der Kommunikation. Substantiv und
Singular des Wortes „Gesellschaft“ verweisen nicht auf ein entsprechendes Ding, das sich
in der Welt aufweisen und vorzeigen ließe, sondern auf eine Relation, die in der Sachdi-
mension Fakten, in der Zeitdimension Ereignisse und in der Sozialdimension Adressen
14 Dirk Baecker
miteinander in Beziehung setzt, was immer auch heißt: voneinander unterscheidet. Eine
Gesellschaft ist somit nichts anderes als die Spezifik einer Kombinatorik von Fakten, Er-
eignissen und Adressen: Wirklichkeit, Evolution und Netzwerk. Und dies ist sie für uns,
für die Menschen, die in ihr und mit ihr leben und sie als das konstituieren, was ihnen ihre
knüpfbaren und wieder auflösbaren Bindungen untereinander, ihre Beziehungen jeweils
steigerbarer Abhängigkeit und Unabhängigkeit erklärt. Wir haben es mit einem operatio-
nalen und funktionalen, nicht mit einem substanziellen Begriff der Gesellschaft zu tun. Wir
können auch sagen, dass wir es mit einem Kalkül und nicht mit einem Ganzen und seinen
Teilen zu tun haben. Ein Kalkül errechnet Fortsetzungsmöglichkeiten, ein Ganzes und
seine Teile verführen dazu, nach einer Ordnung zu fragen.
Dieser Kalkül stellt sich auf die jeweiligen Medienkonstellationen ein und wird von neu
auftretenden Medien dazu gezwungen, sich umzustellen. Eine Medientheorie der Gesell-
schaft erlaubt es dementsprechend, zu beobachten und zu beschreiben, wie es diesem
Kalkül gelingt, Fortsetzungsmöglichkeiten der Kommunikation in den verschiedenen Ver-
breitungs- und Erfolgsmedien der Gesellschaft zu errechnen. Der Kalkül wird praktisch
gehandhabt oder gar nicht; und er wird theoretisch mehr oder minder treffend verstanden
und beschrieben oder auch ignoriert. Jede Gesellschaft enthält ihre eigene „Theorie“, inso-
fern jede Kommunikation und jede Handlung ohne minimale Schritte der Generalisierung
von einer Situation zur nächsten nicht auskommen. Soziologen erforschen dies unter dem
Titel einer Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967). Aber keine Gesellschaft ist darauf
angewiesen, dass diese Theorie auch aufgeschrieben wird. Gesellschaft läuft auch ohne
eine Soziologie, deren Texte sich um dieses Aufschreiben bemühen (Baecker 2012). Aber
will man wissen, was die Praxis schon kann, und will man reflektieren, wie kreativ diese
Praxis mit sich selber umgeht und auf welche Fatalitäten sich die Praxis möglicherweise
eingelassen hat, braucht man die Soziologie und damit auch den Streit unter den Theorien
und Methoden, mit deren Hilfe sie sich reproduziert.
Mit elektronischen Medien – Telegraf, Telefon, Radio, Fernsehen, Computer, Internet
– rückt eine Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine in den Blickpunkt, die bisher
nicht zu den prominenten Forschungsgegenständen der Soziologie zählt. Medientheorie
muss ab jetzt auch Techniktheorie heißen (Rammert 1993). Techniktheorie betrifft jedoch
nicht nur elektronische Medien, sondern jede Art von Engführung auf kausal kontrollierte
Prozesse. Elektronische Medien sprengen dieses Paradigma bis jetzt noch nicht, obwohl
die Komplikationen elektronischer Netze in einem Maße zugenommen haben, die es aus-
schließen, von verlässlicher kausaler Kontrolle zu reden. Dennoch sprechen wir noch nicht
von einer „komplexen“ Technik oder Technologie, da wir den Begriff der Komplexität für
Phänomene reservieren, in denen Zustände und Prozesse der Selbstorganisation auftreten:
der Fähigkeit zur Entscheidung im Phänomen für selektive Verknüpfungen dieser oder je-
ner Art (siehe zur Entdeckung und zum Begriff der Komplexität Weaver 1948; Morin 1974;
Luhmann 1997, S. 134ff.). Allerdings ist der Technikbegriff gerade wegen der Phänomene,
die wir in den Blick zu nehmen haben, alles andere als stabil. Längst treten Techniken auf,
die Informationen verarbeiten und daher nicht mehr im klassischen Schema der Mechanik
verstanden werden können (Günther 1963), und längst reden wir von Kultur-„Techniken“,
Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? 15
die nicht nur kausale Vereinfachungen einführen und der Kommunikation diese entlastend
zur Verfügung stellen, sondern rekursiv und selbstbezüglich mit Symbolen arbeiten (Luh-
mann 1997, S. 517ff.; Macho 2008). Kann man annehmen, dass eine Technik, die mecha-
nisch im Medium von Kräften realisiert wird, eher analog, und eine Technologie, die im
Medium von Elektrizität, also der Wechselseitigkeit positiver und negativer Ladungen
(Schelling 1798, S. 528, immerhin schon mit Blick auf Elektrizität, spricht auch hier noch
von „Kräften“), eingerichtet wird, eher digital funktioniert?
Umso sinnvoller ist es, die Mensch-Maschine-Schnittstelle in dem Moment, in dem sie
von elektronischen Medien reformatiert wird, unter dem Problemgesichtspunkt des Über-
schusssinns zu untersuchen. Das ermöglicht uns einen ersten Zugang zum Phänomen der
Digitalisierung, da dieses nur dann zureichend konzipiert ist, wenn es auf die Reformatie-
rung der Maschine und der Interaktion von Mensch und Maschine gleichermaßen bezogen
wird. Digitalisierung, was immer darunter zu verstehen ist, betrifft Maschine, Mensch und
Gesellschaft in sicherlich je unterschiedlicher Weise.
Wir haben es immer noch, wenn nicht zunehmend mit der Topologie von Stimmen
(tribale Gesellschaft 1.0), der Teleologie verschiedener Korporationen und Dynastien (an-
tike Hochkultur 2.0) und der Rationalität unruhiger Funktionssysteme (moderne Gesell-
schaft 3.0) zu tun. Aber diesen überlagert sich die Komplexität einer neuen Verschaltung
von Mensch und Maschine, Körper, Bewusstsein und Gesellschaft, die im Fadenkreuz
analoger und digitaler Verrechnung eher freigesetzt als gezähmt wird (nächste Gesellschaft
4.0). Eine der einfachsten Möglichkeiten, sich dieser Komplexität theoriegeleitet zu nä-
hern, besteht darin, sich auf den Kommunikationsbegriff in der Tiefenschärfe einzulassen,
die er in der soziologischen Systemtheorie inzwischen erhalten hat. Das klingt komplizier-
ter, als es gemeint ist. Gemeint ist dreierlei.
Erstens ist der Kommunikationsbegriff spätestens seit Shannon, Ruesch und Bateson
allgemein genug formuliert, um nicht nur menschliche Teilnehmer, sondern jede Art von
Teilnehmern berücksichtigen zu können, die über eine hinreichende Informationsverarbei-
tungsfähigkeit, ein Gedächtnis und die dadurch bedingte Intransparenz und somit insge-
samt über jene Art von Subjektivität verfügen, die zur Ablehnung ebenso wie zur Annahme
von Kommunikation, beides konditioniert durch die jeweils andere Möglichkeit (das ist die
eigentliche Leistung), befähigt (Shannon 1949; Ruesch/Bateson 1951; vgl. Baecker 2011).
Es können sich demnach, wenn sie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, nicht nur
die Geister, Teufel, Tiere und Pflanzen wieder beteiligen, die der Humanismus so erfolg-
reich aus der Kommunikation unter Menschen vertrieben hat, sondern auch Maschinen.
Mit dem Rückgriff auf einen soziologischen Kommunikationsbegriff ist zweitens ge-
meint, dass man zwischen der Frage, ob Maschinen untereinander kommunizieren können,
und der Frage, ob sie sich an Kommunikation beteiligen können, streng unterscheiden
kann. Für den Fall der Suche nach einer Sozialtheorie der Digitalisierung haben wir es, so
zumindest die Vermutung von Luhmann, nur mit dem zweiten Fall zu tun. Ingenieure ge-
hen davon aus, dass Maschinen auch untereinander kommunizieren können, da sie unter
Kommunikation unter Berufung auf Shannon I den Austausch von Signalen verstehen.
Shannon I ist Shannon in seinem Selbstverständnis, der etwa schreibt: „The fundamental
16 Dirk Baecker
Zeiten ebenfalls zugesprochen worden war. Waren die Maschinen der antiken Hochkultur
und der modernen Gesellschaft möglicherweise kompliziert, aber doch in jedem Fall sicht-
bar (man konnte sie auseinanderlegen, untersuchen und wieder zusammensetzen), so wer-
den die „intelligenten“ Maschinen der elektronischen Medien „unsichtbar“ (Luhmann
1997, ebd.). Ihre Codes, Datenspeicher und Algorithmen können nur unterstellt werden.
Ihre Kenntnis muss man Ingenieuren überlassen; und von diesen hört man, dass sie sich
ihrerseits zunehmend nur noch auf Maschinen verlassen, um weniger den Überblick zu
behalten als vielmehr zumindest punktuell einzelne Prüfungen durchführen zu können.
Dijkstras Diagnose, dass die Leistungen der Computer sowohl den Informatikern als auch
den Mathematikern (die bei ihm noch schlechter wegkommen) von Anfang an konzeptio-
nell davongelaufen sind (a cultural gap, Dijkstra 1986), ist bekannt. Minskys Diktum, “No
computer has ever been designed that is ever aware of what it’s doing, but most of the time
we aren’t either”, ziert eine Ausstellung im Eingangsbereich des Media Lab des Massachu-
setts Institute of Technology in Cambridge (gesehen im Juli 2015).
Digitalisierung als sozialer und kultureller Prozess heißt, dass sich Maschinen an Kom-
munikation beteiligen und dass alle anderen Akteure (Menschen, Organisationen, Teams)
sich darauf einstellen, dass sie sich beteiligen. Maschinen verändern die zu verarbeitenden
Informationen, indem sie aus ihren Codes, Speichern und Algorithmen Konditionierungen
beisteuern an die andere Akteure möglicherweise nicht „gedacht“ haben. Sie machen mit
Mitteilungen auf sich aufmerksam, deren Intention, Autorität, Zeitpunkt und Konditionie-
rung in einem Netzwerk weiterer Beobachter nur schwer, wenn überhaupt zu kontrollieren
ist. Und – ebenso erschütternd wie erleichternd – sie greifen in das Verstehen der Kommu-
nikation ein, indem jede Aktion mit einer Maus, auf einer Tastatur, an einem Bildschirm,
einem Mikrophon, einem Joystick, auf einem Touchscreen oder an welchem Interface auch
immer nur erfolgreich sein kann, wenn weitere Aktionen anschließen können. Denn dann
und nur dann hat die Kommunikation „sich“ verstanden. Das ist erschütternd, denn wir
haben keine Ahnung, welche Prozesse jeweils ermöglichen oder verhindern, dass bestimm-
te Aktionen fortgesetzt werden können. Und es ist erleichternd, denn wir können uns darauf
konzentrieren, uns dem Flow zu überlassen und unsere Aktionen denen anzupassen, die die
Maschine toleriert. Was geht, geht.
Es ist kein Zufall, dass Gamification zum Paradigma einer Einübung in die sozialen,
nicht technischen Prozesse der Digitalisierung geworden ist (Pias 2002; Stampfl 2012;
Burke 2014). Spielerisch, das heißt mit einem Blick auf die bewegliche Differenz von
Online und Offline, mit Ein- und Ausklammerungen, die eingesetzt und wieder aufgehoben
werden können, und nicht zuletzt mit einer Suggestion von Folgenlosigkeit, die sich zur
Erprobung zuvor ungeahnter Möglichkeiten ausnutzen lässt, lassen Menschen, Teams und
Organisationen (mit je unterschiedlichen Konditionierungen) sich auf Maschinen und de-
ren Oberflächen ein, um herauszufinden, worauf sich diese Maschinen einlassen.
Der Überschusssinn, den der Umgang mit elektronischen Medien auf diese Art und
Weise produziert, liegt auf der Hand. Jede Imagination von Sinn, die es bisher mit der
Sprache, der Schrift, dem Buchdruck und den Erfolgsmedien Macht, Geld, Wahrheit, Glau-
ben, Kunst und Erziehung zu tun hatte, hat es nun zusätzlich, nicht etwa ausschließlich, mit
Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? 19
dem zu tun, was in elektronischen Medien von der Datenverarbeitung über das Internet und
Onlinenetzwerke bis zu Apps in den Bereichen Handel, Organisation, Erziehung, Bildung,
Geschäft, Partnersuche, Gesundheit, Fitness usw. möglich ist und möglich sein könnte, von
anderen bereits genutzt und von wieder anderen bereits weiterentwickelt wird. Diese Zu-
sätzlichkeit, die es zugleich mit neuen Medien und mit der Rekonfiguration der alten Me-
dien zu tun hat, gilt es soziologisch in den Blick zu nehmen. Sie ist die Problemstellung
einer Sozialtheorie der Digitalisierung im Kontext einer aktuellen Medienepoche, die frü-
here Epochen nicht ablöst, sondern überlagert.
Bei der Kulturform dieser nächsten Gesellschaft eines digitalen Zeitalters kann es sich
schon deswegen nur um die Idee des Spiels im Medium der Komplexität handeln, weil die
Verschaltung analoger und digitaler Prozesse nicht anders als komplex zu denken und nicht
anders als im Spiel zu bewältigen ist. Konnte man für die Maschinen der Antike und der
Moderne annehmen (aber auch das wird zu überprüfen sein), dass sie in einem physikali-
schen Universum realisiert waren, das sich auf das Kontinuum der Kräfte der Mechanik
begrenzen ließ, so haben wir es jetzt mit einem physikalischen Universum zu tun, das
Diskontinuitäten zwischen Organismus, Gehirn, Bewusstsein und Gesellschaft übergreift
und in dieser Form Prozesse ermöglicht, die heterogene Eigendynamiken miteinander
verschalten. Komplexität ist der Name für die Einheit einer Vielfalt (unitas multiplex), die
beide, Einheit wie Vielfalt, auf eine Art und Weise in Anspruch genommen werden, der
gegenwärtig jede Art von „Theorie“ auf die Spur zu kommen versucht (etwa Badiou 1998).
Ich bin mir nicht sicher, ob wir theoretisch darauf vorbereitet sind, Ladungen zu denken,
die Schwellenwerte erreichen können, an denen sie von anderen Ladungen, für die dassel-
be gilt, ausgelöst werden können. Die Freudsche Psychologie mit ihrem Konzept der
Reizabfuhr wäre immerhin ein passendes Paradigma (Freud 1895). Die Kybernetik mit
ihrer Verschaltung von Kommunikation und Kontrolle ist ein zweites (Wiener 1948). Das
Spiel ist ein drittes, wenn und weil es sich auf lineare Kausalität und rekursive Eindeutigkeit
nicht festlegen lässt (Bateson 1972; Baecker 1993).
Im Moment glauben wir noch, dass sich der Prozess der Digitalisierung auf die Einrich-
tung neuer Möglichkeiten der Konnektivität und die Beobachtung dieser Möglichkeiten
unter Gesichtspunkten des Schutzes von Privatheit und der Garantie von Sicherheit begren-
zen lässt (vgl. eher skeptisch auch Schmidt/Cohen 2013). Im Moment können wir uns noch
darauf verlassen, dass der menschliche Organismus, sein Gehirn, unser Bewusstsein, un-
sere Sprache und unsere Gesellschaft uns aus Gründen unseres evolutionären Vorlaufs
dabei begünstigen, die Digitalisierung analog, das heißt im Medium widersprüchlicher
Kopplung, zu rahmen und uns so eine gewisse Form der Kontrolle im Umgang mit den
Maschinen zu lassen, deren Beiträge zur Kommunikation längst geeignet sind, uns zu
kontrollieren. Aber wie lange noch?
20 Dirk Baecker
Fangen wir damit an, die Kybernetik hat es uns gelehrt (Ashby 1958; Glanville 2009-
2014), die Kontrolle von Komplexität als ein komplexes Geschäft der Einrichtung zirkulä-
rer Formen der Konditionierung von Kontrolle zu begreifen (Luhmann 1998), und fangen
wir damit an, uns dabei zu beobachten, wie unsere soziale, emotionale und intellektuelle
Intelligenz sich praktisch längst darauf eingelassen hat, sich in dieser Zirkularität zu bewe-
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24 Dirk Baecker
Autor
Prof. Dr. Dirk Baecker
Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Her-
decke und Dekan der Fakultät für Kulturreflexion – Studium fundamentale ebendort. Stu-
dium der Soziologie und Nationalökonomie in Köln und Paris, Promotion und Habilitation
im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld, Rufe 1996 an die Universität Witten/
Herdecke, 2007 an die Zeppelin Universität und 2015 wiederum an die Universität Witten/
Herdecke. Arbeitsgebiete: soziologische Theorie, Kulturtheorie, Wirtschaftssoziologie,
Organisationsforschung und Managementlehre. Jüngere Publikationen: Studien zur nächs-
ten Gesellschaft (Suhrkamp 2007), Organisation und Störung (Suhrkamp 2011), Neuroso-
ziologie (edition unseld 2014), Kulturkalkül (Merve 2014).
25
Manuel Jahn
Head of Consulting, Geomarketing, GfK SE, Hamburg, Deutschland
[email protected]
„Handel ist Wandel“. Nie schien diese alte Weisheit aktueller. Das große Sterben des letzten
Jahrhunderts, ob das der Tante-Emma-Läden, der Supermärkte, der Fachgeschäfte, der
Warenhäuser oder der Ladenpassagen, scheint eine Randnotiz der Geschichte vor den an-
geführten Umwälzungen dieser Tage. Die Bedrohung komme aus dem Netz. Dem Konsu-
menten stünden online kostengünstigere Einkaufsmöglichkeiten zur Verfügung, was
zwangsläufig zum Austrocknen des stationären Handels führen müsse. Einzelhändler wür-
den zum digitalen Broker, in dem sie dem Verbraucher die Ware direkt vom Distributions-
lager nach Hause zustellen. Der Einzelhandel im engeren Sinne würde sich somit schon
kurzfristig selber abschaffen. Was bleibe, seien vereinzelte Restbestände, die aus Mitleid
und Romantik gerade noch am Leben erhalten werden.
Für besorgte Bürgermeister zählen mögliche Folgen dieses Strukturwandels längst zum
gängigen Bedrohungsrepertoire wie ehedem das Werftensterben. Sie beklagen zunehmen-
de Leerstände und die Verwahrlosung ihrer Innenstädte. Während einschlägige Forschungs-
institute schon kurzfristig 45.000 Läden vor der endgültigen Schließung sehen, warnen
führende Tageszeitungen und Fachmagazine neuerdings vor „Geisterstädten“.
Honorarberater von eCommerce-Unternehmen überbieten sich in Untergangsprognosen
für den stationären Einzelhandel. In diesem Klima der Angst überlegt der eine oder andere
Einzelhändler, aber auch die finanzierende Bank oder der Immobilieninvestor, ob sich ein
weiteres Investment in Läden überhaupt noch lohne. Unabhängig vom Umfang der tatsäch-
lichen aktuellen Bedrohungslage könnte sich ein solches Sentiment in eine realwirtschaft-
liche Großkrise auswachsen – ganz nach dem ökonomischen Prinzip der Self-fulfilling
Prophecy.
In diesem Falle bräuchte selbst der aufgeschlossene, engagierte Omni-Channel-Händler
keinen Gedanken mehr in die weitere Digitalisierung und Modernisierung seiner Ge-
schäftsvorgänge verschwenden. Er würde sich wie ein Kapitän auf dem Segelschiff verhal-
ten, der trotz Optimierung aller Prozesse an Bord keine Charteraufträge mehr erhalten
würde.
Nun kann sich jeder vor seiner Tür überzeugen, dass die Gegenwart bei weitem nicht
so drastisch aussieht und dass es auch im stationären Einzelhandel Erfolge gibt, die sicher
noch etwas länger als ein Jahr tragen werden. Auch gibt es vom Kunden stark nachge-
fragte Konzepte, bei der eine duale Strategie, d. h. eine parallele oder verknüpfte Bespie-
lung von Vertriebskanälen, gut angenommen wird. In dieser Evolutionsphase des Einzel-
handels wächst der Bedarf nach Wissen und konkreten Erkenntnissen, die über die
Bauchmeinung hinausgehen. So haben Einzelhändler, Centerbetreiber, Banken und In-
vestoren ein hohes Interesse daran, einzuschätzen, von welchen Trends welcher Immo-
bilientyp, welches Einzelhandelsformat und welcher Lagebereich in welcher Weise be-
troffen sind.
Das alles entscheidende Konsumentenverhalten darf dabei nicht allein auf die neuen und
perspektivischen Möglichkeiten des Online-Einkaufs hin überprüft und analysiert werden.
Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Ansprüchen an das Einkaufen, die sich ebenfalls im
Wandel befinden, die identifiziert und bewertet werden müssen.
GfK als Deutschlands größtes und weltweit führendes Marktforschungsinstitut beob-
achtet und bewertet im Auftrag von Herstellern, Einzelhändlern und Retail-Investoren die
handels- und handelsimmobilienbezogenen Märkte. Weltweite Verbraucher- und Retailpa-
nels, zahllose Adhoc-Untersuchungen zu Konsum- und Retailtrends sowie Analysen von
Regionen, Standorten und konkreten Handelsimmobilien stehen für ein laufendes Monito-
ring sowie für Regressionsanalysen und Prognosemodelle zur Verfügung.
In diesem Beitrag soll zunächst auf die aktuellen Implikationen auf den stationären
Einzelhandel durch eCommerce hingewiesen sowie eine parallel zu diesem Buch erschie-
nene GfK Online-Prognose bis 2025 dargestellt werden. Es wird gezeigt, dass der Online-
Handel nicht das Ende des stationären Handels bedeutet und dass auch beim eCommerce
ein natürlicher Sättigungsverlauf zu erkennen ist – in einigen Segmenten sind schon jetzt
abflachende Wachstumskurven festzustellen.
Auf dieser Basis wird ein Ausblick auf die weitere Verkaufsflächenentwicklung gegeben
sowie auf voraussichtliche Gewinner und Verlierer der Umschichtungen im Markt.
Abschließend sollen die Veränderungen im Nachfrageverhalten erläutert und in den
Kontext der Online-Entwicklungen eingeordnet werden. Erläutert werden hierzu Trends
zur Art und Weise des Einkaufs selbst – wie Häufigkeit, Umfang, Einbindung in andere
Aktivitäten – sowie die Ausdifferenzierung der Ladenkonzepte und der Einkaufsstandorte
an sich. Dabei wird auf bestehende und perspektivische Verknüpfungen von analogem
Einkaufserlebnis und digitalen Medien verwiesen.
chen Treiber der Online-Dynamik der vergangenen Jahre. In der Wachstumsphase 2009-
2014 konnte der Online-Handel jährlich um durchschnittlich 21 % wachsen.
Im vergangenen Jahr (2015) wurden 8,5 % des gesamten deutschen Einzelhandelsum-
satzes über das Internet abgewickelt. Dabei wird dieser Wert sogar noch durch den in
Deutschland besonders niedrigen Online-Anteil im Lebensmitteleinzelhandel (inklusive
Drogerieartikel) von 1,2 % gedrückt. Bezogen auf den reinen Nonfood-Umsatz betrug der
Online-Anteil in 2014 bereits 15,3 %.
Um eine Prognose über die weitere Entwicklung abgeben und Implikationen für den Ein-
zelhandel formulieren zu können, ist es nicht ausreichend, den Online-Handel als eine
Einheit zu betrachten. Viel zu unterschiedlich sind die Online-Anteile in den einzelnen
Sortimenten, viel zu unterschiedlich auch das Gewicht dieser Sortimente.
Hinsichtlich des Gewichts liegt mit 48,5 % der Lebensmitteleinzelhandel unangefochten
an der Spitze, mit weitem Abstand gefolgt von Produkten aus den Warengruppen Technik
& Medien mit 15,9 % sowie Fashion & Lifestyle mit 11,3 % der gesamten Einzelhandels-
kaufkraft.
Hinsichtlich des aktuellen Online-Anteils liegt die Warengruppe Technik & Medien mit
einem Online-Anteil von 20,9 % bzw. einem Online-Handelsvolumen von 15,1 Mrd. Euro
weit vorn. Allerdings ist hier bereits ein zunehmender Reifegrad festzustellen: Nach dyna-
mischen Wachstumsraten von jährlich 20–30 % von 2011–2013, wurden 2014 nur knapp
28 Manuel Jahn
gen Zielgruppe besonders stark betroffen sind. Der Wettbewerbsdruck aus dem Internet
nimmt besonders für diejenigen Young-Fashion-Händler zu, die selbst keine ausgereifte
Omnichannel-Strategie verfolgen und zugleich auf der Fläche angreifbar sind. Category-
Killer wie Primark verengen den Spielraum zusätzlich. Dies ist beispielsweise Indiz dafür,
dass ein höheres Leerstandsrisiko in Lagen mit hohem Young-Fashion-Anteil besteht als
in Lagen mit höherwertigem Besatz.
Innovation
Der erste Anfangs-Treiber liegt in der Innovationskraft der Unternehmen. Diese lag zu
Beginn in der Entdeckung des Internets als Informationsmedium. Erst später kamen – mit
der Einführung von Web-Shops und deren stetige Verbesserung – innovative Lösungen
zur Nutzung des Internets als Vertriebskanal hinzu. Zuletzt wurde das Wachstum vor allem
durch verbesserten Zugriff infolge der Verbreitung von Smartphones und Tablets getrie-
ben.
Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 31
Marktdurchdringung
Amazon gründete 1998 seine erste Webseite in Deutschland und bald darauf folgten wei-
tere Plattformen wie Ebay oder Buch.de. Die Große Welle der Online-Shop-Eröffnungen
setzte erst mit dem Jahr 2009 ein, als H&M und C&A gerade noch ihre 2007 gegründeten
Online-Shops optimierten und Zalando begann, den Markt aufzumischen. Daraufhin setz-
te ein Wettrennen weiterer Schwergewichte des stationären Einzelhandels um das neue
Marktpotenzial dieses Vertriebskanals ein. Das hatte zur Folge, dass analog zur zunehmen-
den Verbesserung der Internetzugangsmöglichkeiten auch die Verfügbarkeit an Online-
Shops zunahm und sich das Interesse für diese Einkaufsalternative auf immer mehr Käu-
fertypen ausweitete. Nicht zuletzt waren es die Aktivitäten der Ladeneinzelhändler, die
durch ihre Präsenz im Internet das Online-Wachstum ankurbelten. Heute erzielen einzelne,
ursprünglich ausschließlich stationäre Bekleidungseinzelhändler 15-30 % ihrer Umsätze
über das Internet.
Professionalisierung
Die voranschreitende Durchdringung des Online-Markts wäre nicht möglich gewesen,
hätte sich dieser nicht zur gleichen Zeit auch professionalisiert. Unsicherheiten hinsichtlich
Online-Bezahlung wurden durch Services wie PayPal schrittweise ausgeräumt, die Pro-
duktdarstellung optisch und informativ aufgewertet, Liefermöglichkeiten ausgeweitet und
kostenlose Retourenangebote eingeführt. Die damit einhergehende, vom Kunden geforder-
te Zuverlässigkeit und Beschleunigung der Lieferung brachte zugleich starken Wettbe-
werbsdruck unter den Online-Händlern hervor.
Diese drei Treiber stehen in einem wechselwirkenden Kreislauf. Der wachsende Grad
an Professionalisierung erhöht den Wettbewerbsdruck derart, dass die nächste Stufe der
Evolution wiederum den Online-Händlern Vorteile beschert, die innovative Lösungen für
bestehende Servicelücken bieten (z. B. in Hinblick auf Schnelligkeit, Branding, Zuverläs-
sigkeit, Preisvorteil & Bezahlung sowie Logistik) und damit ihre Reichweite (regional,
nach Zielgruppe oder Sortiment) ausbauen können.
Erste Anzeichen dafür, dass diese Dynamik mit zunehmendem Reifegrad nachlässt, sind
bereits am Gesamtmarkt für den Online-Handel erkennbar, der zuletzt „nur noch“ eine
Wachstumsrate von 11 % im Vergleich zu 20–30 % aus den Vorjahren aufweisen konnte. Es
steht allerdings außer Frage, dass es durch Innovationen ausgelöste Wachstumsschübe
geben wird, die wir in unserer Prognose berücksichtigen.
Wir gehen aus den folgenden Gründen von einer natürlichen Wachstumsgrenze des eCom-
merce aus:
Unterschiedliche Konsumententypen
Der Trend zur Betonung der Individualität ist zwar einerseits Wachstumstreiber für den
eCommerce – so ist der Vertrieb von Nischenprodukten eher online lukrativ, da Marktein-
tritts-Barrieren eher gering sind. Andererseits gibt es aus Alters-, Budget- oder Ideologie-
gründen nach wie vor viele „Online-Verweigerer“. Dass auch Massenphänomene nie alle
Verbraucher erreichen können, zeigt beispielsweise ein Vergleich mit der Nutzung von
TV-Geräten, wo es bis heute Personen gibt, die bewusst auf einen Fernseher in der Woh-
nung verzichten. Auch dem Online-Handel sind hinsichtlich der verschiedenen Zielgrup-
pen (Alter, Einkommen, Konsumententypen) gewisse Grenzen gesetzt.
Im Jahr 2014 hatte der eCommerce einen Anteil von 8,5 % am gesamten Einzelhandelsum-
satz. Insgesamt betrachtet ist der deutsche Einzelhandelsmarkt als weitgehend gesättigt zu
34 Manuel Jahn
Technik & Medien wird – nach den Peaks schon in 2008 und 2013 – am stärksten Anteile
am Online-Gesamtumsatz einbüßen: von 38 % in 2015 auf 31 % in 2025. Ursächlich dafür
ist nicht ein geringeres Online-Volumen in diesem Segment, sondern ganz einfach, dass
andere Sortimente im gleichen Zeitraum stärker zulegen werden.
Fashion & Lifestyle hat aktuell seinen Peak-Anteil von 25 % am Online-Volumen bereits
erreicht. Bis 2025 wird der Anteil in etwa konstant bei rund 24 % liegen.
Lebensmittel & Drogerie wird den größten Anteilszuwachs erlangen: Das Sortiment
dürfte sich von derzeit 8 % auf 16 % am Online-Gesamtumsatz verdoppeln, was deutliche
Innovationsschübe in der Logistik bereits impliziert.
Einrichten & Wohnen wächst marginal von 9 % auf 10 %.
Garten & Heimwerken entwickelt sich im Zeitverlauf mit stabilen Anteilen am Online-
Gesamtumsatz.
Sport & Freizeit hat aktuell einen Anteil von 10 % – danach wird der Anteil bis 2025 leicht
zurückgehen, auf 9 % Anteil am gesamten Online-Umsatz.
1.2.4 Learnings
1.3.1 Situation
Im laufenden Jahr 2015 rechnet GfK wiederum mit einem Anstieg der Einzelhandels-
verkaufsfläche um 0,2 % (0,2 Mio. m²) auf rund 118 Mio. m², womit knapp das „Vor-
Schleckerpleiten-Niveau“ aus dem Jahr 2011 erreicht wird. Getrieben wird das Flächen-
wachstum durch die anhaltende Neuentwicklung von Flächen in Einkaufs- und Fachmarkt-
zentren, die anhaltende Nachfrage von Einzelhändlern aus dem Ausland, die Großflächen-
expansion im Möbel- und Baumarktsegment, aber auch durch den aktuell sehr expansiven
Drogeriemarkt bzw. die Tendenz zu größeren Filialen im Lebensmitteleinzelhandel.
Insbesondere Nahversorgungsangebote profitieren schon heute vom laufenden Zuzug
von Migranten. Nach Angaben der Bundesregierung wird der Zuzug auf voraussichtlich
rd. 800.000 Menschen jährlich ansteigen und zumindest in den Hauptzuzugsgebieten die
amtlichen Bevölkerungsprognosen außer Kraft setzen.
Allein die Verkaufsfläche der deutschen Shoppingcenter ist in den letzten 10 Jahren um 3 %
p. a. gewachsen. Somit gehörten die Shoppingcenter zu den Wachstumstreibern der Verkaufs-
flächenentwicklung. Auch wenn die Projektpipeline weniger stark befüllt ist, als in der Vergan-
genheit, geht GfK auch zukünftig von einer weiter steigenden Centerverkaufsfläche aus, da
zukünftig die Erweiterung von bestehenden Centern im Fokus der Betreiber stehen dürfte.
Ebenso zählt die Verkaufsfläche in den zentralen städtischen Einkaufslagen zu den
Wachstumspolen im Einzelhandel. In den Innenstädten der 82 bundesdeutschen Städte mit
mehr als 100.000 Einwohnern ist die Verkaufsfläche im Zeitraum von 2010–2014 um
ca. 7 % gestiegen.
Für die kommenden Jahre geht GfK deshalb insgesamt von einem anhaltenden, aller-
dings gebremsten Flächenwachstum aus, das durchschnittlich bei rund 0,1 % p. a. liegen
1.3.2 Prognose
Ganz wesentlich für den Bedarf an Verkaufsfläche ist die Raumleistung des Handels in
seinen verschiedenen Sortimenten. Mit Prognosen zum Umsatz im stationären wie im
Online-Handel lassen sich somit auch künftige Verkaufsflächen grob prognostizieren. Zu-
sätzlich lassen sich aus vorliegenden georeferenzierten Daten zur Online-Affinität von
Verbrauchern auch regionale Aussagen zu bestehenden bzw. perspektivischen Umsatzan-
teilen – und damit zum effektiven Verkaufsflächenbedarf – ableiten.
Nach einer langen Rückbildungsphase hat sich die durchschnittliche Flächen
produktivität im stationären Einzelhandel in den letzten Jahren zwischen 3.400 und
3.500 Euro pro Quadratmeter eingependelt. Aufgrund der weitgehend ausgeschöpften
Aktuelle GfK-Umfragen bestätigen, dass die „New Shopper“, d. h. die heranwachsenden
und damit zukunftsbestimmenden Konsumenten, als „Digital Natives“ keinesfalls allein
auf Online setzen. Wenngleich Online-Informationen oder der Online-Kauf ganz selbstver-
ständliche Optionen sind, wird den klassischen analogen Angeboten nach wie vor eine hohe
Bedeutung beigemessen. Während die Fülle, aber auch die Widersprüchlichkeit von Infor-
mationen im Internet auch Vertrauen kostet, genießen analoge Kanäle, ob Laden oder
Printmedium, einen grundsätzlich hohen Verbindlichkeitsstatus. Aus dem Verhalten und
den Einstellungen der New Shopper lassen sich die Anforderungen an den Einzelhandel
von morgen wie folgt ableiten:
Die gestiegenen Anforderungen des Verbrauchers an die Einkaufsstätte, die Qualität und
die Verfügbarkeit der Produkte führt zu Anpassungsprozessen in Form von neuen Lageaus-
prägungen sowie neuen Ladenkonzepten. Nach Beobachtungen der GfK reagiert der stati-
onäre Einzelhandel mit folgenden Maßnahmen:
sowie der Treffpunkt- und Freizeitfunktion bieten, profitieren von einer höheren Aufmerk-
samkeit und Frequentierung und sind zudem weniger anfällig für Online-Wettbewerb.
Abb. 12 Showroom von Mini als Ersatz für einen Autoverkaufsraum
Quelle: GfK (2015)
Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 43
1.5.1 Omni-Channeling-Fähigkeit
Schon vor dem Eindringen des Online-Handels hatte der Konsument eine Reihe von Be-
rührungspunkten mit einer Marke oder einem Produkt, bevor er sich zum Kauf entschied.
Hierzu zählten nicht nur die direkten Kontakte zwischen Kunden und Unternehmen in
Form von Anzeigen oder Werbespots, sondern auch die indirekten Kontaktpunkte, an denen
die Meinung Dritter z. B. im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz eingeholt wurde, die nicht
in unmittelbarem Einflussbereich des Unternehmens lag. Da sich dieser Bereich durch das
Anwachsen der Online-Infrastruktur erheblich vergrößert hat, ist eine zielgerichtete Beein-
flussung Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Marketing- und Vertriebsausrichtung im
Einzelhandel.
Initiativen kommen immer wieder aus dem Ausland. Viele der neuen Konzepte strecken
ihre Fühler zunächst in Form von Online-Stores aus, bevor sie in Form von Filialen statio-
när sichtbar werden. Andere gehen genau andersrum vor. Grundsätzlich verfolgen alle
modernen Konzepte eine duale Strategie. Der plötzliche und manchmal auch überraschen-
de Erfolg von Marken und Konzepten, die lange Zeit allgemein als kaum bekannt galten,
zeigt, wie effektiv auch in dem als schwierig bezeichneten deutschen Markt mit geschick-
ter Strategie schnell Aufmerksamkeit erzeugt werden kann. Dabei ist zu beachten ist, dass
Online-Anwendungen nicht allein auf das Angebot eines Online-Shops zurückgeführt wer-
den dürfen. Im Rahmen einer Omni-Channel-Strategie kommen Online-Anwendungen
eine Reihe von Funktionen zu, die neben dem Service und der Warenbestellung auch dem
„Brand-Building“ dienen. Immer wichtiger wird darüber hinaus auch die Verknüpfung des
physischen Besuchs eines Ladenlokals mit Online-Anwendungen sowie sonstigen techno-
logischen Innovationen.
Die wichtigsten Schlagworte sind:
Storytelling
Kommunikationsstrategie von Händlern und Marken, die explizites, aber vor allem impli-
zites Wissen in einer bilderreichen Sprache an die Zielgruppen sendet. Die Geschichten
sind in der Weise konzipiert, dass potenzielle Kunden sich in der erzählten Geschichte
eingebunden oder mindestens angesprochen fühlen. Dies bewirkt, dass der Gehalt der
Botschaft leichter verstanden und angenommen wird. Die Kommunikationsstrategie um-
fasst das Produkt selbst, das Ladengeschäft, aber vor allem die Räume in den werblichen
sowie sozialen Medien. Durch die bessere Steuerung von Informationen im Internet lassen
sich Kampagnen deutlich effektiver und preislich günstiger als in klassischen Medien
verbreiten. Beeindruckende Storytelling-Kampagnen konnten insbesondere kleinere Un-
ternehmen wie Camper oder Birkenstock platzieren, die beide auf ihre Handwerkstradition,
ihren Nachhaltigkeitsanspruch und das Wohl ihrer Kunden abzielten.
44 Manuel Jahn
Augmented Reality
Virtuelle Regale und Anproben, ob Bekleidung, Schuhe oder Möbel. Das Online-Angebot
kann im Ladengeschäft über QR-Codes betrachtet und über Video-Kinetic-Scans in Form
von Bewegtbildern des eigenen Körpers oder einer gewählten Umgebung angepasst und
überprüft werden. Wurden virtuelle Anwendungen bisher noch als technische Spielereien
angesehen, treibt die technische Innovation den Nutzwert an. In Deutschland testet z. B.
Görtz das Virtual Shoe Fitting, Adidas die Virtual Shopping Wall und Lego die Digital Box.
iBeacons
Sender, die mittels BLE (Bluetooth Low Energy) Besucher in oder in der Nähe von bewor-
benen Läden lokalisieren und ihnen ortsabhängige Angebote auf das Smartphone oder
Tablet senden. So wird der Kunde mittels Smartphone- oder Tablet-App gezielt auf Läden
und Angebote in seiner augenblicklichen Nähe aufmerksam gemacht. PayPal plant mit
dieser Technologie darüber hinaus die automatische Bezahlung, ohne mit der Kasse in
Berührung zu kommen.
Mobile Payment
Smartphone-Apps ermöglichen neben der bargeldlosen Paypal Bezahlung ebenso die mo-
bile Online-Bestellung von Waren und Mahlzeiten.
Couponing
Bei Eintritt Rabatt. Auch online-affine Schnäppchenjäger werden wieder zum stationären
Einkäufer. Mittels Smartphone-App nimmt der Nutzer an einem Belohnungsprogramm für
den stationären Einkauf teil. Über die Vergabe von Treuepunkte bei bestimmten Verhaltens-
weisen, z. B. Eintritt in den Laden, Ansteuerung eines Regals, Prüfung eines Produktes und
schließlich dem Kauf. Die App macht dem Kunden zudem maßgeschneiderte Angebote.
Die Anwendungen setzen Sender in den kooperierenden Stores voraus. In den USA setzen
die Nutzer der App Shopkick bei den beteiligten Händlern über 100 Mio. Dollar um, die
ansonsten im Laden nicht umgesetzt worden wären. Kürzlich hat der Anbieter Mastercard
als Partner gewonnen, was zeigt, wie sich eine vermeintliche Spielerei zu einem ernsthaften
Geschäftsmodell entwickelt.
Mobile-/ Online-Beratung
Online-Stationen und Ladenpersonal mit Smartphones oder Tablets ergänzen das Laden-
angebot um das größere Online-Angebot. Ware kann online im eigenen Webshop bestellt
werden, ohne den Kunden fortschicken zu müssen. Der Verkauf mit mobilen Endgeräten
erfordert gut ausgebildete Fachkräfte.
Regelmäßige Umfragen der GfK bestätigen, dass Menschen auf den Besuch physischer
Läden nicht verzichten wollen, gleichwohl auch die Vorteile des Einkaufs im Netz zu
schätzen wissen. Der Online-Kauf ist besonders praktisch, je vergleichbarer und austausch-
barer Waren sind. Verblüffend ist dagegen, wie in gut gemachten Ladenkonzepten Kunden
Spontaneinkäufe tätigen, die vorher nicht geplant waren. Der Online-Kanal ersetzt also per
se nicht das Ladengeschäft, er macht den Markt – wie jeder strukturelle Wandel zuvor auch
– enger. Umsatzverschiebungen ins Netz treffen die Branchen und Anbieter aber nicht
gleichermaßen. Vielmehr wird der Unterschied zwischen guten und schlechten Konzepten
verstärkt: Sehr erfolgreiche Pure-Online-Stores wie Amazon stehen sehr erfolgreichen
Pure-Offline-Stores wie Primark gegenüber.
Grundsätzlich vielversprechend stellt sich die sinnvolle Verknüpfung der jeweiligen
Vorteile beider Sphären, Offline und Online, dar. Zu beobachten ist, dass Omni-Channel-
Konzepte insgesamt an Bedeutung zulegen. Dort, wo Omni-Channeling sinnvoll ist – und
das ist es nicht für jedes Produkt und jede Marke – können Online-Anwendungen den
Absatz stationärer Produkte fördern und umgekehrt.
Nach GfK-Umfragen sieht der Kunde als größten Benefit des Omni-Channeling die
Entscheidungsfreiheit, wann, wo und wie eingekauft werden kann. Händler, die dem Kun-
den die Wahl des bequemsten bzw. vorteilhaftesten Einkaufs überlassen, können auch zu-
rückgehende stationäre Umsätze durch Online-Bestellungen überkompensieren. Die künf-
tige Umsatzstruktur eines traditionellen Retailers nach erfolgreicher Einführung einer
Omni-Channel-Strategie könnte sich wie folgt darstellen:
Daraus ergibt sich, dass eine der wichtigsten Ausgangsfragen der modernen Standort-
wahl ist, welche Rolle oder Funktion der neue Standort im Gesamtbild der Marke erfüllen
soll. GfK geht davon aus, dass die Filialnetzplanung der Zukunft Ladengeschäften noch
differenziertere Funktionen als heute zuweist. Schon heute ist erkennbar, welche Läden
repräsentativen Show Room-Charakter haben, welche Filialen als Flagship die volle Sor-
timentskompetenz zeigen, welche Lagen durch Standardkonzepte belegt werden und wel-
che eher als Abholstationen für die Online-Bestellung fungieren.
Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 47
Jeder Filialtyp hat dabei also eine eigene, klar umrissene Aufgabe und ein eigenes Pro-
fil. Dieses muss durch weitere Detailüberlegungen zur jeweils passenden Verkaufsfläche
und Lage ergänzt werden. Die Frage des modernen Expansionsmanagers lautet also nicht
nur: Wo lohnt sich ein neuer Standort? Sondern: Welcher Standort benötigt welche Shop-
konzepte, um den höchstmöglichen Nutzen für die gesamte Vertriebsstruktur – offline wie
online – zu erzielen? Dabei muss ein kanalübergreifendes Denken in den Vordergrund rü-
cken. Die Maxime muss lauten, den Umsatz eines Unternehmens insgesamt und nicht nur
den eines separaten Kanals zu optimieren.
1.5.3 Flächenbedarfe
Unter dem zunehmenden Einfluss von Omni-Channel-Trends unterscheiden sich die Aus-
stattungs-, Lage- und Flächenanforderungen von Filialen erheblich:
Augmented Reality
Es werden größere Filialen nachgefragt von Einzelhändlern, die Ware mit hoher Emotio-
nalisierung und starkem Markeninhalt verkaufen, somit auch virtuelle Anwendungen ent-
sprechend großzügig räumlich-gestalterisch inszenieren. Es werden kleinere Filialen nach-
gefragt von Einzelhändlern, die Ware mit geringer Emotionalisierung möglichst effizient
anbieten und verkaufen wollen und virtuelle Darstellungen lediglich zur Einsparung von
Fläche nutzen.
Couponing
Stationäre Händler, die mobile Applikationen z. B. für Couponing aktiv in den stationären
Verkaufsprozess implementieren, werden tendenziell eher mit höherer als mit geringerer
Besucherfrequenz zu rechnen haben, da das Marketing über Smartphone-Apps eine höhe-
re Zielgruppentrefferquote als klassische Werbemedien erzielt. Für bestimmte Einzelhänd-
ler können auch wieder gute B- oder Nebenlagen als Standort attraktiv sein, wenn über die
digitalen Hinweisschilder oder die Steuerung der Apps in höherem Maße Zielkunden ge-
wonnen werden. Allerdings: Die verkaufsfördernden Effekte mobiler Anwendungen ste-
cken in Deutschland noch in den Kinderschuhen und werden sich nicht kurzfristig auf die
Flächenproduktivität oder die Standortwahl von Einzelhändlern auswirken.
Autor
Manuel Jahn leitet den Bereich Consulting bei GfK GeoMarketing. Er bringt eine gut
15-jährige Berufserfahrung in der Analyse und Entwicklung von Einzelhandelsimmobilien
mit. Seit 2004 ist er bei GfK tätig und berät die Handelsimmobilienwirtschaft in ganz Eu-
ropa eine umfassende Kenntnis der Situation des Einzelhandels sowie der Handelsimmo-
bilienwirtschaft erlangt. Zuvor war er im Verbund einer deutschen Immobilien- und Invest-
mentbank mit der Entwicklung und Konzeption von Handelsimmobilien befasst, nachdem
er eine Ausbildung zum Bankkaufmann und Studiengänge in Architektur und Stadtplanung
abgeschlossen hatte. Manuel Jahn stellt der Immobilienwirtschaft seine Erfahrung und
Vernetzung auch in der Lehre sowie in zahlreichen Beiratstätigkeiten und Fachbeiträgen
zur Verfügung. Er ist Mitglied im Rat der Immobilienweisen. In der GfK betreut Manuel
Jahn insbesondere Handelsunternehmen, Banken und Investoren im Rahmen anstehender
Investitionsentscheidungen bei der Prüfung, Konzeption und Optimierung von Handelsim-
mobilien sowie der Beurteilung von Standorten und Distributionsnetzen.
51
1.1 Einleitung
Der Terminus Industrie 4.0 (I4.0) ist aus einer Arbeitsgruppe der Forschungsunion zur
Erarbeitung der Vision einer zukünftigen Industriegesellschaft unter Einfluss des Internets
hervorgegangen. Insbesondere ist er von den Leitern dieser Gruppe Prof. Dr. Henning
Kagermann, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster sowie Prof. Dr. W.-D. Lukas geprägt
worden. (Die Forschungsunion ist eine vom BMBF eingerichtete Gruppe von Vertretern
aus Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft zur Erarbeitung von Leitlinien für die High-
Tech-Strategie der Bundesregierung gewesen, der auch der Verfasser angehörte).
Der Begriff soll die durch das Internet ausgelöste vierte industrielle Revolution beschrei-
ben. Die Zählweise wird dabei mit der Erfindung der Dampfmaschine, der Fließbandorga-
nisation, der Automatisierung und nun dem Interneteintritt in die industrielle Organisation
begründet.
Der Begriff Industrie 4.0 (Kurzform I4.0) hat sich rasend schnell verbreitet und in Wis-
senschaft und Praxis als ein herausforderndes Schlagwort durchgesetzt. So haben sich z. B.
die großen Wirtschaftsverbände ZVEI, VDMA und BITKOM unter dem Dach des BDI zur
Erarbeitung einer gemeinsamen Plattform für I4.0 zusammengetan und in nahezu jedem
größeren Industrieunternehmen ist I4.0 ein aktuelles Diskussionsthema. In der USA wird
das Thema von dem Industrial Internet Consortium (IIC), dem die wesentlichen großen
Industrie- und IT-Unternehmen angehören, behandelt. Auch deutsche Unternehmen arbei-
ten im IIC mit.
Die Definitionen für I4.0 sind vielfältig und komplex. Viele erstrecken sich auf über eine
halbe DIN A4 Seite Text und sind sehr technisch ausgerichtet. Häufig wird der Schwer-
punkt einseitig auf die Automatisierung der Fertigung gerichtet, obwohl das Unternehmen
als Ganzes betroffen ist. Die Nutzung neuer Informationstechniken unter Führung des In-
ternets (insbesondere des Internets der Dinge) betrifft aber nicht nur die Industrie, sondern
führt in allen Branchen zu völlig neuen Geschäftsmodellen und Prozessen. Diese Entwick-
lung wird auch als Digitalisierung der Wirtschaft bezeichnet.
Mit dem Begriff „Internet der Dinge“ wird ausgedrückt, dass nicht nur Menschen über
das Internet kommunizieren, sondern auch alle „Dinge“ wie Materialien, Produkte und
Maschinen. Aufgrund der möglichen Vielfalt wird deshalb in diesem Zusammenhang auch
vom „Internet of everything“ gesprochen.
Im ersten Teil dieses Aufsatzes beschreibt der Verfasser anhand des Y-Modells
(s. Abb. 1) grob die Auswirkungen der neuen Technologien in der Industrie (Industrie 4.0),
um dann aufbauend darauf im zweiten Teil zu beleuchten, wie sich Prozesse und Geschäfts-
modelle im Handel durch die neuen Informationstechniken verändern werden (Handel
4.0).
In Abb. 1 bezeichnen die am äußeren Rand des Y-Modells angeordneten Worte die Funk-
tionen und die Balken enthalten die betriebswirtschaftlichen Treiber von I4.0. Außerhalb
sind die wesentlichen mit I4.0 verbundenen Technologien aufgeführt. Der linke Zweig des
Y-Modells kennzeichnet die durch Aufträge getriebenen Geschäftsprozesse eines Indust-
riebetriebes (Vertriebs-, Beschaffungs- und Produktionsaufträge), im Folgenden als Logis-
tik bezeichnet. Der rechte Zweig des Y-Modells bezeichnet die durch das Produkt getrie-
benen (Entwicklungs-) Prozesse. Im unteren Teil des Y-Modells (der Fabrik) finden die
logistischen und produktbezogenen Prozesse zusammen; hier erfolgt die Zuordnung der zu
produzierenden Teile zu den Ressourcen, die zeitnahe Steuerung und die Durchführung der
Fertigung. Auf die drei Prozessbereiche Fabrik, Produktentwicklung sowie Logistik wird
im Weiteren kurz eingegangen.
The Big Change 53
Die wesentliche neue I4.0-Technologie in der Fabrik sind sogenannte Cyber Physical
Systems (CPS). Dieses sind softwareintensive Produktionssysteme, die mit dem Internet
verbunden sind und untereinander sowie mit intelligenten Materialien kommunizieren
können. Materialien werden als intelligent bezeichnet, wenn sie ihre Eigenschaften wie
Qualität und benötigte Fertigungsschritte auf einem Datenträger (chip) mit sich führen.
Über Nutzung von RFID–Technologien können dann die Materialien quasi selbstständig
den Weg durch die Fertigung finden. Fällt ein CPS plötzlich aus, so übernimmt ein anderes
System automatisch dessen Aufgabe. Die hohe Flexibilität der CPS ermöglicht eine starke
Individualisierung der Fertigung, da das Umrüsten des Systems ohne Zeitverlust und damit
ohne Kosten erfolgt. Im optimalen Fall ist damit die Fertigung vom Mengen mit Los
größe = 1 zu den Kosten der Massenproduktion möglich.
Eine weitere wesentliche Technologie ist die kostengünstige Speicherung von Massen-
daten in der Fertigung (big data). Sie wird durch den Preisverfall von Speichermedien und
durch neue „In memory“-Datenbanktechnologien ermöglicht. Durch Sensoren können
Maschinen-, Material- und Umfeldzustände in Echtzeit (realtime) erfasst werden. Analyti-
sche Auswertungsverfahren wollen nicht nur das Verhalten in der Vergangenheit erklären,
sondern den Gegenwartszustand zum sofortigen Eingreifen nutzen und darüber hinaus
Hinweise über ein zu erwartendes zukünftiges Systemverhalten geben. Bekanntestes Bei-
spiel ist das predictive maintenance, bei dem aus dem gegenwärtigen Verhalten des Systems
auf Anomalitäten geschlossen wird, die z. B. zum baldigen Auswechseln einer Komponen-
te raten. Insgesamt führt die Kombination der Technologien zu der Vision der realtime sich
selbst steuernden, extrem dezentralisierten Fabrik (smart factory).
Der rechte obere Teil des Y-Modells kennzeichnet die Entwicklung von Produkten sowie
produktnahen Dienstleistungen. Die gezeigte stärkere Flexibilisierung der Fertigung unter-
stützt eine stärkere Individualisierung der Produkte. Dieses bedeutet, dass die Varianten-
zahl von Erzeugnissen gesteigert werden kann bis hin zur rein kundenindividuellen Ferti-
gung.
Neue Technologien wie 3D-Druck erhöhen die Entwicklungsgeschwindigkeit neuer
Produkte durch die schnellere Entwicklung von Prototypen (rapid prototyping). Konzepte
wie speedfactory von adidas erlauben sogar die kundenindividuelle Fertigung des Lauf-
schuhs nach Scannen der Passform. In einer I4.0 Umgebung mit intelligenten Materialien
und Bearbeitungseinheiten können über die gesamte Lebenszeit eines Produktes alle vor-
genommenen Aktivitäten wie Reparaturen, Wartungen, Änderungen etc. sowie die Einsät-
ze und Einsatzbedingungen des Produktes automatisch erfasst und gespeichert werden.
Dieses führt zum Konzept des transparenten Product Lifecycle Managements (PLM). Die
Auswertung der PLM-Daten durch den Hersteller bringt neue Möglichkeiten für produkt-
nahe Dienstleistungen. Bei der Erfassung von Maschinendaten in der Fabrik wurde bereits
auf die predictive maintenance hingewiesen.
Eine extreme Weiterentwicklung von Wartungsdienstleistungen ist die Übernahme des
Betriebs der produzierten Anlagen durch den Hersteller selbst. Dieses Konzept wird als
BOO = Build, Own, Operate bezeichnet. Der Hersteller kennt seine Maschinen und Anla-
gen am besten und kann über die PLM-Daten ihr Verhalten in Abhängigkeit aller Einsatz-
54 August-Wilhelm Scheer
bedingungen analysieren und ihren Einsatz optimieren. Deshalb liegt es nahe, dass er den
Betrieb der Systeme beim Kunden oder in von ihm eingerichteten Produktionsstätten selbst
vornimmt. Der Kunde kauft dann kein Aggregat mehr, sondern erhält und bezahlt eine
Dienstleistung.
Auch der linke obere Teil des Y-Modells, also die Logistik, wird durch I4.0 stark verän-
dert. Zunächst kann ein Kunde über vielfältige Kanäle (Multi-Channel) wie Standardcom-
puter, Laptops oder Smartphones seinen Auftrag erteilen, stornieren oder ändern. Alle
Kanäle müssen durcheinander benutzbar sein. Der leichte Zugang des Kunden zum Liefe-
ranten führt zusammen mit der Individualisierung zu einem verstärkten Änderungsanfall
und damit zu höheren Anforderungen an die Flexibilität in Fertigung und Produktentwick-
lung. Der Kunde kann dann praktisch bis kurz vor dem Beginn der Fertigung noch seinen
Wunsch gegenüber seiner ursprünglichen Produktdefinition ändern. Die Individualisierung
der Produkte durch höhere Variantenzahl und kundenindividueller Fertigung erhöht die
Zahl der Zulieferer und verringert die Fertigungstiefe des Unternehmens. Das bedeutet,
dass das Logistiknetzwerk des Unternehmens schneller reagieren muss. Die gegenwärtig
anzutreffenden Informationsbeziehungen von Abrufen zwischen Zulieferer und Abnehmer
reichen dann nicht aus. Vielmehr muss das gesamte Liefernetzwerk (supply chain) trans-
parent sein.
Die Beschreibung der drei Ansatzpunkte für I4.0, also Fabrik, Produkt und Logistik,
zeigt deutlich, wie tief die betriebswirtschaftlichen Treiber Individualisierung, Dezentrali-
sierung, Selbststeuerung, Dienstleistungsorientierung und Transparenz Industrieunterneh-
men verändern werden. Nachhaltige Veränderungen durch die neuen I4.0 Technologien
ergeben sich aber auch in vielen anderen Sektoren, wie etwa im Handel. Geschäftsmodelle
im Handel befinden sich bereits seit einiger Zeit im Umbruch. Die Digitalisierung der
Wirtschaft hat durch die Entwicklung des e-commerce sehr früh erste Auswirkungen in der
Branche gezeigt. Weiterhin gilt, dass ausgesuchte Zielgruppen von Kunden mit ihren Be-
dürfnissen hinsichtlich Sortiment, Qualität, Zeit, Verfügbarkeit und Preis im Mittelpunkt
der Aktivitäten eines Händlers stehen. Die Definition von Zielgruppen und deren Bedürf-
nisse haben sich jedoch gravierend verändert.
Der gesellschaftliche Wandel, Änderungen in der Lebensführung und eine zunehmende
Mobilität haben zu einem veränderten Konsumentenverhalten geführt. Man spricht in
diesem Zusammenhang auch von „hybriden Konsumenten“. Die steigende private Verfüg-
barkeit von mobilen Endgeräten und des Internets verstärkt diesen Trend, da deren Nutzung
Raum für situationsbezogene Aspekten wie Spontanität und Selektivität bieten. Im Ergeb-
nis kann der Handel das „beste Angebot“ nicht mehr fest einem Kunden zuordnen. Diesel-
be Person wünscht je nach aktueller persönlicher Situation bedarfsgerechte Angebote über
unterschiedliche Absatzkanäle. Kann der Händler dies nicht bedienen, dann wechselt ein
Kunde schnell zu einem anderen Anbieter.
The Big Change 55
Die geschilderte Situation stellt etablierte Geschäftsmodelle im Handel in Frage und be-
gründet den aktuellen Trend zum Multi-Channel-Commerce und zu individualisierten An-
geboten. Zur Bewältigung der geschilderten Herausforderungen kann die Anwendung der
Technologien von Industrie 4.0 einen erheblichen Nutzen generieren. Zu einem Großteil
werden Geschäftsmodelle dadurch erst möglich. Die im Handel am stärksten beachtete
Technologie im Rahmen von Industrie 4.0 ist die Anwendung von Big Data Lösungen. Sie
bietet vor allem im linken Teil des Y-Modells (Logistik) viele Anwendungsgebiete. In die-
sem Bereich findet auch der größte Teil der Wertschöpfung eines Händlers statt.
Moderne Big Data Anwendungen mit InMemory Technologie ermöglichen eine Echt-
zeit Integration von Daten zu Abverkäufen, Warenbewegungen, Produkt-Lebenszyklen und
Kundenverhalten über alle Vertriebskanäle eines Unternehmens. Diese Integration ist eine
zentrale Voraussetzung für erfolgreichen Multi-Channel-Commerce mit der Flexibilität,
zwischen den Absatzkanälen wechseln zu können. Durch sie wird eine Echtzeit-Steuerung
im operativen Betrieb erst möglich. Herkömmliche Technologien mit tagesaktuellen Batch-
Läufen können dies nicht leisten.
Sind Daten erst einmal zentral und in Echtzeit verfügbar, bilden Sie die Grundlage für
weitere Anwendungsgebiete. Informationen zu Abverkäufen, Individualaufträgen und Be-
standsdaten bilden die Basis für eine automatische Disposition und Beschaffung. Hier
bietet die InMemory Technologie den Vorteil hoher Geschwindigkeit. In Verbindung mit
der Anwendung automatischer Analysen und Prognosen von zukünftigen Verbräuchen,
kommt man so der Vision eines sich in Echtzeit selbst steuernden Unternehmens ein großes
Stück näher. Als kritischer Erfolgsfaktor ist allerdings die Ausgestaltung der Zusammen-
arbeit mit Lieferanten zu sehen. Dieser Punkt wird seit langem unter dem Begriff CPFR –
Collaborative Planning and Forecasting diskutiert.
Für traditionelle Handelsunternehmen ist die Umstellung im Kundenbeziehungsma-
nagement von einer Zielgruppenbetrachtung (1:n) zu einer individuellen Kundenbeziehung
(1:1) ein dramatischer Paradigmenwechsel mit zum Teil erheblichen Anpassungen des
Geschäftsmodells. Als „Best Practice“ kann der Handel das in der Konsumgüterindustrie
entstandene Konzept des Social CRM anwenden, welches auf direkte individuelle Kunden-
beziehungen abzielt.
Hier liegt ein weiteres bedeutendes Anwendungsfeld von Big Data Technologie im
Handel. Neben einer leistungsfähigen Analytik, bieten neue InMemory basierte CRM Sys-
teme die Möglichkeit zur Simulation von Kundenverhalten und Verfahren zur Analyse
unstrukturierter Informationen z. B. aus Sozialen Netzwerken. Eine besondere Herausfor-
derung bildet die Komplexität der verschiedenen Kommunikationskanäle in Kombination
mit verschiedenen Absatzkanälen sowie die relativ große Menge an Kundendaten. Trotz-
dem lohnt sich der Aufbau einer systembasierten Plattform für Social CRM, denn Sie
bietet die Möglichkeit für eine persönliche Ansprache und Interaktion mit Personen. Vor
allem die Bereitstellung von Lösungen für Bewertungen, Empfehlungen sowie die Schaf-
fung einer Community wirken sich auf die Kundenbindung aus.
56 August-Wilhelm Scheer
Das Angebot, sich als Kunde personenbezogen über einen festen „Account“ zu identi-
fizieren, ist für den Händler ein wichtiger Baustein um smarte, individuelle Serviceleistun-
gen und personalisierte Produkte anzubieten. So kann sich ein Kunde im Online-Kanal des
Händlers zu einem angebotenen Produkt in Ruhe informieren, um sich dann über seine ID
direkt einen persönlichen Vorführungstermin mit einem Fachverkäufer in der nächstgele-
genen Filiale zu reservieren. In einem anderen Fall könnten beispielsweise einmalig vom
Kunden aufgenommene Daten zu Körpermaßen und Passform für die Nachbestellung von
individuell gefertigten Textilien genutzt werden, um die Abwicklung beim Hersteller für
alle Beteiligten komfortabler zu gestalten. Der Vielfalt an interessanten Serviceangeboten
sind damit letztlich keine Grenzen gesetzt.
Als Gegenbewegung zu standardisierten Massenprodukten besteht bei den Verbrau-
chern eine steigende Nachfrage an individualisierten Produkten. Ein sehr einfaches und
bekanntes Beispiel ist die Mischung einer Wandfarbe in einem ganz bestimmten Farbton
direkt im nächstgelegenen Bau-Fachmarkt. Für andere Produkte ist die Herstellung und
Beschaffung mit herkömmlichen Produktions- und Logistikverfahren meist zu aufwendig
und teuer. Dies wird sich durch konsequente Anwendung von Industrie 4.0 Technologie im
Produktionsumfeld verändern. Zunehmend wird es möglich sein, Produkte in Kleinstmen-
gen zu vergleichbaren Kosten einer Massenproduktion zu fertigen. Dies eröffnet sowohl
für Händler als auch für Hersteller neue Möglichkeiten im Markt. Der Handel kann diese
zur Kundenbindung nutzen und gleichzeitig über spezielle Angebote eine Differenzierung
zum Wettbewerb erzeugen.
Hier schlagen wir die Brücke zum rechten Teil des Y-Modells (Produkt), in das Pro-
duktdesign. Zielstellung des Händlers ist es, die Individualität zum Verbraucher zu bringen
und für eine korrekte Auftragsannahme, Warenausgabe und Abrechnung zu sorgen. Aus
Sicht des Herstellers ist der zulässige Grad der Produkt-Individualisierung ein entscheiden-
der Faktor. Das Ausmaß an Individualisierung kann z. B. von der Erzeugung einer einfa-
chen Gravur auf einem Standard Objekt bis hin zu einer vollständigen individuellen Ferti-
gung per 3D-Drucker variieren. Je größer die Freiheitsgrade des Kunden beim Design des
Produktes, umso komplexer die Konfiguration. Die Bereitstellung eines nutzerfreundlichen
Produkt-Konfigurators und die korrekte automatische Übertragung in das Fertigungssys-
tem des Herstellers sind damit ganz wesentlich für den Erfolg. Im Rahmen der Forschung
für Industrie 4.0 Anwendungen wird bereits an solchen nutzerfreundlichen Konfiguratoren
gearbeitet.
Ein weiterer Effekt der Anwendung von Industrie 4.0 ist die breitere Verfügbarkeit von
virtuellen Produktdaten oder auch 3D Daten. Diese, ursprünglich für Produktentwicklung
und Product Lifecycle Management erzeugten Daten können zusätzlich zur Visualisierung
auf elektronischen Medien in den Bereichen Marketing und Vertrieb genutzt werden.
Für den Handel eröffnet dies Möglichkeiten für eine bessere Beratung und Kundenbe-
treuung. Selbst gut geschultes Fachpersonal kennt nicht alle Details zu jedem Produkt. Der
Einsatz von virtualisierten Produktinformationen auf Displays oder Mobilgeräten in den
Filialen kann in Verbindung mit einer persönlichen Beratung einen deutlichen Mehrwert
für Kunden bieten. Gerade bei komplexen Produkten ist dies sinnvoll.
The Big Change 57
Ein Handelsunternehmen betreibt zwar keine Produktion, dessen ungeachtet lassen sich
Ansätze von Industrie 4.0 aus dem unteren Teil des Y-Modells (Fabrik) darauf anwenden.
So wird die Nutzung von intelligenten Materialien nicht auf die Fertigung in einem Indus-
triebetrieb beschränkt bleiben. Durch sinkende Kosten und starke Miniaturisierung werden
zunehmend Funk-Chips (RFID-Tags) an Konsumgüterprodukten angebracht sein, um ne-
ben produktbeschreibenden Attributen auch kontinuierlich Daten zum Lebenszyklus des
einzelnen Produktes wie Transport-, Qualitäts- oder Kontrollinformationen zu speichern.
Man spricht in diesem Zusammenhang vom „digitalen Produktgedächtnis“. Diese Daten-
basis können Händler gemeinsam mit Herstellern, Logistikunternehmen und anderen Ser-
vicepartnern zur schnellen Identifikation und Nachverfolgung von Produkten nutzen.
Weitere sinnvolle Anwendungen ergeben sich im Bestands- und Warenmanagement.
Bereits die Durchführung einer Inventur auf Basis von Produkten mit RFID-Tags bringt
positive Effekte. Sie wird bei einigen Textilhändlern bereits heute im Filialbereich ange-
wendet. Werden die Daten des digitalen Produktgedächtnis wie oben beschrieben über Big
Data Lösungen in Echtzeit verarbeitet, ergeben sich hohe Nutzenpotentiale für die Steue-
rung des gesamten Unternehmensnetzwerks im Sinne einer „operational excellence“.
Bei komplexen Individualprodukten ist sogar die sichere Speicherung ausgesuchter
Kunden-, Service- und Nutzungsdaten denkbar. Über dieses Instrument können Fachhänd-
ler, z. B. in Zusammenarbeit mit dem Hersteller, einen smarten Kundenservice bieten. Bei
einigen teuren, langlebigen Produkten, wie z. B. dem Automobil, gibt es dies bereits. Ab-
schließend sei hier darauf hingewiesen, dass inzwischen eine Vielzahl von Handelsunter-
nehmen in ausgesuchten Warengruppen vertikal wachsen und somit auch als Hersteller
tätig ist. Führende Lebensmittelhändler stellen z. B. selbst eigene Backwaren, Fleischpro-
dukte, Süßwaren oder auch Getränke her. Auch im Textilhandel gibt es seit langem einen
Trend zur Vertikalisierung. Unternehmen mit solchen vertikalen Geschäftsmodellen kön-
nen ganz besonders von Technologien und Lösungen für Industrie 4.0 profitieren, da sie
die Umsetzung neuer Konzepte sowohl als Fertiger als auch als Händler selbst gestalten
können.
58 August-Wilhelm Scheer
Autor
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. August-Wilhelm Scheer
Vordenker und Wegbereiter der Digitalen Transformation. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. August-
Wilhelm Scheer ist einer der prägendsten Wissenschaftler und Unternehmer der deutschen
Wirtschaftsinformatik und Softwareindustrie. Seine Bücher gehören zu den Standardwer-
ken des Geschäftsprozessmanagements; die von ihm entwickelte Managementmethode
ARIS für Prozesse und IT wird in nahezu allen DAX-, vielen mittelständischen Unterneh-
men und auch international eingesetzt. Er ist Gründer erfolgreicher Software- und Bera-
tungsunternehmen, die er aktiv begleitet. Zu den Unternehmen der Scheer Gruppe zählen
Scheer GmbH, imc AG, Scheer e2e, IS Predict, Backes SRT und Okinlab. Zur Förderung
des anwendungsorientierten Forschungstransfers hat er in 2014 das AWS Institut für digi-
tale Produkte und Prozesse gGmbH gegründet. Als Unternehmer und Protagonist der Zu-
kunftsprojekte „Industrie 4.0“ und „Smart Service World“ der Bundesregierung arbeitet er
aktiv an der Ausgestaltung der Digital Economy. Seit September 2015 ist Prof. Dr. Dr. h. c.
mult. August-Wilhelm Scheer zusammen mit Bundesministerin Prof. Dr. Wanka Vorsitzen-
der der vom BMBF gegründeten IT-Gipfel-Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wis-
senschaft“.
59
1.1 Einleitung
Das relative Kräfteverhältnis in der modernen Geschäftswelt hat sich schon lange von
analog zu digital verlagert und die digitale Transformation erfasst heute sämtliche Ge-
schäftsbereiche vom hoch innovativen Hightech-Sektor bis hin zur klassischen Industrie.
Zahlreiche der aktuell wertvollsten Unternehmen der Welt sind gar sogenannte „Pure Play-
er“, also rein digital ausgerichtete Unternehmen mit ausschließlich elektronischen Wert-
schöpfungsprozessen (z. B. Google, Facebook oder Alibaba). Viele dieser Unternehmen
waren vor nicht zu langer Zeit noch ein Start-Up und konnten seit ihrer Gründung ein
enormes Wachstum generieren. Davon abgesehen haben diese Unternehmen eine Sache
gemein: Ein gut entwickeltes, differenziertes und klar artikuliertes digitales Geschäftsmo-
dell basierend auf elektronischen Wertschöpfungsprozessen als zentraler Punkt ihrer Ge-
schäftsstrategie und somit als Treiber ihres Wettbewerbsvorteils in einer immer komplexer
und dynamischer werdenden Umwelt, die in stetig kürzer werdenden Zyklen durch Inno-
vationen neu geordnet wird.
Eine solch andauernde rapide Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle aufgrund
neuer Technologien und smarter Ideen – im besten Sinne von Schumpeters (Ansatz zur
Ressourcenrekombination und kreativen Zerstörung) sowie Christensens Überlegun-
gen zu disruptiven Innovationen – übt jedoch auch enormen Druck auf etablierte Firmen
und deren etablierte (analoge) Geschäftsmodelle aus. Unternehmen müssen sich der
Herausforderung der digitalen Transformation stellen. Zahlreiche etablierte Theorien
und Indikatoren zur Wertschöpfung von Unternehmen müssen aufgrund des Entstehens
von E-Business hinterfragt und neu gedacht werden. Amit und Zott argumentierten
daher bereits im Jahr 2001, dass das Konstrukt Geschäftsmodell als Analyseebene die
Wertschöpfung über multiple Quellen hinweg vereinigt und daher explizit dazu geeignet
ist, die grundlegende Transformation von analog zu digital erfassen und ausdrücken zu
können.
1.2 Hintergrund
IT ist der entscheidende Treiber von ökonomischem und sozialem Fortschritt im 21. Jahr-
hundert, da durch IT-Innovationen und deren intelligente Nutzung völlig neue Wege der
Geschäftigkeit und Wertschöpfung erschlossen werden können, die über die klassische
Wertschöpfungskette nach Porter (1985) hinaus gehen (Amit, Zott 2001, Kollmann 2014).
Diese neuen Möglichkeiten der Wertschöpfung mittels systematischer Sammlung, Verar-
beitung und Verwertung von Informationen – teilweise oder vollständig unabhängig von
physischen Wertketten – führte zur Entstehung des Konzepts der Net Economy Value Chain
(Weiber, Kollmann 1998) und einem Trend, der die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
neu ordnet: EBusiness. Der Begriff E-Business kann dabei sowohl aus theoretischer als
auch praxisorientierter Sicht definiert werden (Kollmann 2013b, S. 51):
„E-Business ist die Nutzung der Informationstechnologien für die Vorbereitung (Informati-
onsphase), Verhandlung (Kommunikationsphase) und Durchführung (Transaktionsphase) von
Geschäftsprozessen zwischen ökonomischen Partner über innovative Kommunikationsnetz-
werke (theoretische Sichtweise).“
„E-Business ist die Nutzung von innovativen Informationstechnologien, um über den virtuel-
len Kontakt etwas zu verkaufen, Informationen anzubieten bzw. auszutauschen, dem Kunden
Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle 61
eine umfassende Betreuung zu bieten und einen individuellen Kontakt mit den Marktteilneh-
mern zu ermöglichen (praxisorientierte Sichtweise).“
Mit der Entstehung solch neuer Möglichkeiten der Wertschöpfung durch die Nutzung des
E-Business geht stets die Entstehung neuer Gründungsaktivitäten einher, welche sich am
Markt positionieren, um Gewinne durch die Exploration und Exploitation innovativer
Geschäftsideen zu generieren (Amit, Zott 2001). Solch neue Gründungsaktivitäten basie-
rend auf einer innovativen Idee innerhalb der Net Economy werden als E-Entrepreneurship
bezeichnet und spielen eine Pivotrolle für den sozialen und ökonomischen Fortschritt in
unserer Gesellschaft (Kollmann 2014). Es ist daher wichtig, diese neuen Wege der Orga-
nisation, Durchführung und Etablierung von Geschäftstätigkeiten en détail zu verstehen.
Nur so können sie korrekt analysiert, bei Bedarf modifiziert und letztlich erfolgreich über
das gesamte Share- und Stakeholdernetzwerks eines Unternehmens hinweg geteilt werden.
Für Führungskräfte etablierter Unternehmen ist dieses Wissen ebenso essenziell, da sie
besser heute als morgen auf derartige Veränderungen und den steigenden Druck durch neue,
innovative Marktteilnehmer proaktiv reagieren müssen. Da bereits Führungskräfte etab-
lierter Unternehmen der Real Economy Probleme damit haben, die Wertschöpfungslogik
ihres Unternehmens, d. h. ihr Geschäftsmodell, exakt auszudrücken (Linder, Cantrell
2000), wird ihnen dies durch die zunehmende Dynamik mit der Entwicklung des E-Busi-
ness nicht leichter fallen.
Darüber implementieren junge Startups nicht nur häufiger rein digitale Geschäftsmo-
delle basierend auf elektronischen Wertschöpfungsprozessen mit Fokus auf Informationen
(Kollmann 2013b), also digitale Geschäftsmodelle im engeren Sinne, sondern sind auch
häufiger in der Lage, die Idee hinter ihrem digitalen Geschäftsmodell klarer zu artikulieren
(Linder, Cantrell 2001). Trotz extensiver Nutzung des Begriffs „Geschäftsmodell“ sowohl
in der Forschung als auch in der Praxis, fehlt es bis dato aufgrund seiner komplexen Natur
an einem exakten, allgemein akzeptierten Verständnis dieses Begriffs (Linder, Cantrell
2000, Casadesus-Masanell, Ricart 2010, Zott, Amit & Massa 2011). Die am häufigsten
genutzte Definition beschreibt ein Geschäftsmodell als die Logik eines Unternehmens, wie
es agiert und somit wie es nachhaltig Wert für seine Share- und Stakeholder schafft (Zott,
Amit & Massa 2011, Chesbrough, Rosenbloom 2002, Morris, Schindehutte & Allen 2005,
Teece 2010). Die Fähigkeit, das Geschäftsmodell eines Unternehmens zu verstehen und
artikulieren zu können, ist unerlässlich, um Einsicht in die individuellen Strukturen seiner
Geschäftstätigkeit und Wertschöpfung zu erhalten, um zu verstehen, ob und wie es kurz-,
mittel- oder langfristig einen Wettbewerbsvorteil aufbauen kann. Dies ist insbesondere für
solche Geschäftsmodelle wichtig, die auf rein immateriellen, informationsgetriebenen
Wertschöpfungsketten basieren. Ein digitales Geschäftsmodell kann daher definiert werden
als die Logik, wie ein Unternehmen innerhalb der Net Economy agiert und wie es nachhal-
tig Wert schafft durch elektronische, informationsbezogene Prozesse basierend auf und
ermöglicht durch innovative Informationstechnologie.
Intuitiv sind daher bestimmte Differenzen zu klassischen Geschäftsmodellen erkennbar,
die es notwendig machen, ein Rahmenwerk zu schaffen, das explizit für die Generierung
62 Tobias Kollmann • Simon Hensellek
von digitalen Geschäftsmodellen nutzbar ist. Ohne eine solche Basisarchitektur digitaler
Geschäftsmodelle ist selbst die innovativste Idee zum Scheitern am Markt verurteilt. Die
Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle bietet somit ein notwendiges, holistisches
Rahmenwerk, das als generisches Tool speziell für E-Ventures, d. h. junge Unternehmen
mit einer innovativen Geschäftsidee innerhalb der Net Economy sowie zur Rekonfigurati-
on bestehender Geschäftsmodelle im Rahmen hin zur Digitalisierung geschaffen wurde. Es
unterstützt sowohl Unternehmensgründer und Führungskräfte bei der Errichtung, Kontrol-
le und Weiterentwicklung ihrer digitalen Geschäftsmodelle als auch Investoren und andere
Stakeholder dabei, die richtigen Fragen zu stellen, um das Potenzial eines digitalen Ge-
schäftsmodells korrekt evaluieren zu können.
1.3 Rahmenwerk
Der Startpunkt eines jeden digitalen Geschäftsmodells ist eine innovative Idee basierend
auf dem Erkennen und Formulieren eines relevanten Problems, das besser mittels elekt-
ronischer Prozesse gelöst werden kann, als es durch bestehende reale oder elektronische
Prozesse der Fall ist. Bei der Exploration solcher Probleme in der Absicht, innovative
Lösungen zu entwickeln, wird jedoch oftmals der Fehler begangen, dass irrelevante
Probleme bzw. deren Lösung als Basis eines Geschäftsmodells herangezogen werden.
Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle 63
Folglich sind bereits die Basisannahmen eines solchen Modells sowie die darauf aufbau-
ende Systemarchitektur falsch, was regelmäßig zu allzu optimistischen Umsatzprogno-
sen, welche die korrespondierenden Kosten nicht decken können, führt. Ein erfolgreiches
digitales Geschäftsmodell muss dazu fähig sein, ein relevantes Problem in einer superi-
oren Art zu lösen, also schneller, leichter (bequemer) oder günstiger. Dieses Ziel kann
zum einen erreicht werden, indem der gleiche Kundennutzen zu einem günstigeren Preis
oder zum anderen, indem ein höherer Kundennutzen zu einem vergleichsweise identi-
schen Preis geliefert wird. Der resultierende Wert sollte idealerweise einzigartig sein und
kann in Form einer völlig neuartigen innovativen Idee oder aber, was öfter der Fall ist,
in Form einer smarten Idee, die Produkte und Services in einer neuartigen Weise kombi-
niert, angeboten werden (Linder, Cantrell 2001, Galunic, Rodan 1998). Eine spezifische
Eigenschaft von superioren digitalen Geschäftsmodellen ist Skalierbarkeit, weshalb die
dahinterstehende Idee durch ihre Massentauglichkeit ein inhärentes Potenzial aufweisen
muss, schnell skalieren zu können. Daher sollte jedes E-Venture stets die Produktakzep-
tanz und damit verbundene Zahlungsbereitschaft der Kunden von Beginn an konsequent
berücksichtigen.
Die Realisation der Idee erfolgt anschließend mittels der Basis-Informationsprozesse
des sog. Informationsdreisprungs, welcher die Informationssammlung, verarbeitung und
übertragung umfasst (Kollmann 2013b). Die Informationssammlung bezeichnet den ers-
ten Schritt, bei dem relevante Daten als Informationsinput zur weiteren Wertschöpfung
gesammelt werden, um einen nutzbaren Datenbestand aufzubauen. Das Ziel der Infor-
mationssammlung ist eine Effektivitätssteigerung durch eine einfache, schnelle und um-
fassende Gewinnung von Informationen zu den Bedürfnissen potenzieller Kunden. So
können Kundeninformationen aktiv zur Angebotsgestaltung genutzt werden und darauf
basierend individuelle, auf die Kundenwünsche zugeschnittene, Leistungen angeboten
werden. Die Informationsverarbeitung bezeichnet den zweiten Schritt, bei dem die ge-
sammelten Daten bearbeitet und in ein entsprechendes Informationsprodukt für den
Kunden umgewandelt werden. Das Ziel der Informationsverarbeitung ist eine Effizienz-
steigerung, da die einfache, schnelle und umfassende Verarbeitung der Informationen die
Prozesse des Unternehmens verbessern und Kosten reduzieren kann. Die Informations-
übertragung bezeichnet den dritten Schritt, bei dem die erlangten und verarbeiteten In-
formationen gegenüber den Kunden umgesetzt werden und ein wertschaffender Infor-
mationsoutput entsteht. Das Ziel der Informationsverarbeitung ist eine Effektivitätsstei-
gerung, da die einfache, schnelle und umfassende Übertragung der Informationen die
wahrgenommene Vorteilhaftigkeit eines Angebots erhöhen kann. Der Kunde kann dabei
als Informationsempfänger die für ihn individuell relevanten Informationen selektieren
und aktiv auswerten. So kann der das Kauferlebnis bzw. der Kundennutzen in den Berei-
chen Suche, Bewertung (produktbezogen), Problemlösung (dienstleistungsbezogen) er-
höht oder die Transaktionskosten gesenkt werden. Entscheidend für diese Basis-Infor-
mationsprozesse ist, dass ein permanenter und verlässlicher Informationsfluss von einem
Schritt zum nächsten etabliert wird, insbesondere da der Informationsinput stetigen Ver-
änderungen unterliegt.
64 Tobias Kollmann • Simon Hensellek
Ausgehend von diesem Startpunkt muss das spezifische elektronische Angebot geschaf-
fen werden, das den Kunden den unternehmensindividuellen elektronischen Mehrwert
liefert. Der elektronische Mehrwert kann sich dabei unterscheiden hinsichtlich der Fak-
toren Zeit (z. B. Aktualität), Inhalt (z. B. Relevanz) und Form (z. B. Detaillierungsgrad).
Mithin kann ein elektronisches Angebot einen oder auch mehrere der folgenden Mehr-
werte liefern:
Überblick: Ein elektronisches Angebot bietet einen Überblick über eine große Menge
an Daten, deren Sammlung andernfalls sehr aufwendig wäre. Es schafft somit einen Struk-
turierungswert. Beispiel: google.com
Auswahl: Ein elektronisches Angebot bietet die Möglichkeit, gewünschte Informationen,
Produkte oder Leistungen effektiver und / oder effizienter mittels Datenbankabfragen zu
identifizieren. Es schafft somit einen Selektionswert. Beispiel: amazon.com
Vermittlung: Ein elektronisches Angebot bietet einen Mechanismus, um Angebot und
Nachfrage effektiver und / oder effizienter zu vermitteln. Es schafft somit einen Matching-
wert. Beispiel: craigslist.org
Abwicklung: Ein elektronisches Angebot bietet die Möglichkeit, Transaktionen zwischen
Parteien effektiver und / oder effizienter abzuwickeln. Es schafft somit einen Transaktions-
wert. Beispiel: paypal.com
Kooperation: Ein elektronisches Angebot bietet Mechanismen, wodurch verschiedene
Parteien effektiver und / oder effizienter miteinander kooperieren können. Es schafft somit
einen Abstimmungswert. Beispiel: staralliance.com
Austausch: Ein elektronisches Angebot bietet Möglichkeiten, die es den Parteien erlauben,
effektiver und / oder effizienter miteinander zu kommunizieren. Es schafft somit einen
Kommunikationswert. Beispiel: facebook.com
den, sodass hybride Formen entstehen, wie z. B. ein E-Marketplace in Kombination mit
einer integrierten E-Community.
Der Erfolg eines elektronischen Angebots und daraus resultierende Einnahmen können nur
durch die passende Nachfrage generiert werden, welche abhängig vom unternehmensindi-
viduellen Angebot und der genutzten Plattform(en) adressiert werden muss. Folglich muss
die spezifische Zielgruppe mittels einer eingehenden Analyse der Kundenbedürfnisse,
-probleme und -segmente identifiziert werden, welche im Ergebnis zu einer Segregation in
verschiedene Kundenprofile führt. Als nützliche Charakteristika zur Unterscheidung ver-
schiedener Arten von Kunden können anhand des Akzeptanzmodells nach Kollmann
(2013a) deren Einstellung gegenüber, Interaktion mit und Nutzung von einer elektroni-
schen Leistung herangezogen werden. Dem jeweils resultierenden Kundenprofil entspre-
chend, können korrespondierende Marketingansätze abgeleitet werden, um jede Kunden-
gruppe durch eine möglichst individuelle Kombination aus Marketingmaßnahmen wie
Online-Marketing, Suchmaschinenoptimierung (SEO), Suchmaschinenwerbung (SEA),
Social Media Marketing, Viralmarketing oder Marketingkooperationen anzusprechen. Da-
bei zählen auch klassische Marketingmaßnahmen wie das E-Mail-Marketing oder Coupo-
ning zu oft genutzten Optionen, die jedoch gezielt eingesetzt werden müssen, um eine zu
hohe Informationsflut gegenüber dem Kunden zu vermeiden. Die Kombinationen der oben
genannten Maßnahmen unterscheiden sich generell hinsichtlich ihrer Reichweite, Kosten
und Performance. Darüber hinaus liefert dieser Schritt außerdem nützliches Feedback über
die eigenen Kunden und die Wirksamkeit der Marketingmaßnahmen, wodurch das Unter-
nehmen sein spezifisches Angebot verfeinern und somit die Kundenbedürfnisse in höherem
Maße erfüllen kann, was heutzutage immer stärker von Kunden gefordert wird. Die zent-
ralen Fokusbereiche im Marketing eines digitalen Geschäftsmodells korrespondieren wie
folgt in Abhängigkeit von der genutzten elektronischen Plattform(en):
E-Procurement: Supplier Relationship Management und Wissensmanagement
E-Shop: Kundengewinnung, Kundenbewertung und Kundenbindung
E-Marketplace: Kundengewinnung, Kundenmatching und Kundenbindung
E-Community: Mitgliedergewinnung, Mitgliederbewertung und Mitgliederbindung
E-Company: Marktmanagement und Wissensmanagement
Das Marketing im E-Procurement verlangt z. B. einen starken Fokus auf das Supplier Re-
lationship Management (SRM) und Wissensmanagement. Im Gegensatz dazu liegt der
Fokus z. B. im E-Shop Marketing auf Kundengewinnung, -bewertung und -bindung. Kom-
men für die Kundengewinnung allgemein die bereits oben genannten Marketingmaßnah-
men in Frage, nimmt heute auch die Kundenbewertung einen wichtigen Stellenwert ein.
Mittels innovativer und stark informationsgetriebener Methoden wie Data Warehousing
(Aufbau eines Datenpools), Data Mining (multidimensionale Analyse des Datenpools) und
66 Tobias Kollmann • Simon Hensellek
Mit einem elektronischen Angebot und entsprechender Nachfrage an der Hand, muss ein
EVenture in der Lage sein, die notwendige Implementierung im Backend und Frontend
vorzunehmen, um eine Bestellung auf allen Ebenen erfolgreich abwickeln zu können. In
diesem Zusammenhang bezeichnen Geschäftsprozesse die Implementierung von elektro-
nischer Wertschöpfung, ermöglicht durch reale Ressourcen eines E-Ventures. Da digitale
Geschäftsmodelle in hohem Maße informations- und prozessgetrieben sind, müssen solche
Geschäftsprozesse implementiert werden, die optimal der genutzten Plattform(en) und
Technologie(n) gerecht werden. Diese wesentlichen Technologien umfassen Internet, Mo-
bilfunk und interaktives Fernsehen (ITV). Geschäftsprozesse werden unterteilt in Kernpro-
zesse und assoziierte Prozesse, welche wiederum jeweils standardisiert oder individuell
gestaltet sein können, aus deren Kombination superiore Performance resultieren kann.
Hochstandardisierte Prozesse können insbesondere Kostenreduktionen bieten. Individua-
lisierte Prozesse können insbesondere höheren Kundennutzen aufgrund von erfolgreicher
Differenzierung zu Wettbewerbern bieten. Solche Prozesse umfassen die Bereiche E-Sales,
E-Trading, E-Networking, E-Request und ECustomization.
Herausragende digitale Geschäftsmodelle verfügen über leicht skalierbare, erweiterba-
re und anpassbare Softwarearchitekturen, welche es ermöglichen, Skaleneffekte mit nur
einem oder wenigen Basisprozess(en), wie es z. B. bei online Auktionsplattform der Fall
ist, auszunutzen. Dieser Vorteil resultiert daraus, dass insbesondere elektronische Angebo-
te in der Lage sind, mit nur wenigen Basisprozessen eine nahezu unbegrenzte Anzahl an
Nutzern bzw. Kunden zu bedienen. Potenzielle Limitationen bestehen für digitale Ge-
schäftsmodelle in der Regel durch reale Ressourcenbeschränkungen (z. B. Server) sowie
durch Kundengewinnung und betreuung. In der mittleren und langen Frist sind diese jedoch
ebenfalls skalierbar sowie durch innovative Möglichkeiten des Outsourcings (z. B. Web-
hosting, Full-Service-Dienstleister oder Affiliate-Marketing) sogar in gewissem Maße in
der kurzen Frist. Die Komplexität der Wertschöpfung, im Speziellen in langen Wertschöp-
fungsketten über Firmen hinweg, erhöht die Wichtigkeit einer expliziten Fokussierung auf
eine reduzierte Anzahl an wesentlichen Kernprozessen zur Erhöhung des Kundennutzens
nochmals. Dies wiederum erleichtert zudem auch eine Identifizierung von Schwächen in-
nerhalb der Kernprozesse eines Unternehmens. Eine solche Identifizierung und sukzessive
Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle 67
Verbesserung sind essenziell für den Erfolg eines digitalen Geschäftsmodells, da elektro-
nische Prozesse zum Großteil nahezu oder vollständig automatisiert ablaufen und somit
bereits kleine Fehler einen erheblichen Einfluss auf den Unternehmenserfolg haben kön-
nen. Letztlich nehmen auch die Kunden mindestens die Prozesse im Frontend aktiv wahr
und beurteilen ein Unternehmen anhand dessen Prozesssicherheit und qualität. Diese bei-
den Faktoren determinieren somit maßgeblich das Nutzungsverhalten durch die Kunden.
Getrieben von der Virtualität elektronischer Angebote, entsteht durch elektronische Prozes-
se das reale Qualitätsbild eines Unternehmens in der Öffentlichkeit. Kunden beurteilen ein
Unternehmen heutzutage anhand der Prozesskompetenz, welche aus einer erfolgreichen
Implementierung und damit erfolgreichen Transformation der ersten Idee in ein elektroni-
sches Angebot als Kern eines digitalen Geschäftsmodells resultiert.
Jeder der oben behandelten Bereiche eines digitalen Geschäftsmodells ist über seine Im-
plikationen für die Erlös- oder Kostenseite direkt oder indirekt mit der Finanzlage eines
Unternehmens verbunden. Beide Dimensionen sind dabei simultan als integrale Bestand-
teile einer Profitabilitätsanalyse zu berücksichtigen.
Erlöse werden im E-Business sowohl primär durch Kernleistungen (direkt) als auch
sekundär durch Nebenleistungen (indirekt) generiert. Der jeweiligen Produktstrategie eines
Unternehmens entsprechend, resultiert eines der drei folgenden Erlösmodelle:
Singular-Prinzip: Hier existiert eine bezahlte Kernleistung (z. B. Verkauf über EShop) mit
direkt zurechenbaren Erlösen. Eine Nebenleistung ist nicht vorhanden bzw. wird explizit
nicht erzeugt oder monetisiert. Die im Zuge der elektronischen Wertschöpfung generierten
Informationen werden über die Kernleistung hinaus nicht wirtschaftlich genutzt.
Plural-Prinzip: Hier existiert sowohl eine bezahlte Kernleistung (z. B. Vermittlung über
einen E-Marketplace) als auch eine vermarktbare Nebenleistung (z. B. Verkauf von Markt-
daten). Die im Zuge der elektronischen Wertschöpfung generierten Informationen werden
auch über die Kernleistung hinaus nicht wirtschaftlich genutzt.
Symbiose-Prinzip: Hier existiert, ähnlich des Plural-Prinzips, eine Kern- und Nebenleis-
tung, wobei die Kernleistung (z. B. Nutzung einer E-Community) jedoch kostenlos ange-
boten wird, um so die notwendigen Informationen für die Nebenleistung (z. B. personali-
sierte Werbung) zu erhalten. Die im Zuge der elektronischen Wertschöpfung generierten
Informationen werden ausschließlich über die Nebenleistung wirtschaftlich genutzt.
Unabhängig davon, ob es sich um eine Kern- oder Nebenleistung handelt und welches
Erlösmodell gewählt wird, können für digitale Geschäftsmodelle drei typische Erlössyste-
matiken identifiziert werden. In Abhängigkeit von der elektronischen Plattform und dem
unternehmensindividuellen Leistungsangebot (Wirtz 2001), werden diese wie folgt klassi-
fiziert:
Margenmodell: Dieses Modell wird für direkte Verkäufe eigener Leistungen an Kunden
genutzt. Die für die Leistungserstellung notwendigen Kosten werden kalkuliert und um
68 Tobias Kollmann • Simon Hensellek
eine Gewinnmarge erhöht. Diese Summe bildet den Preis der elektronischen Leistung und
ist so zu wählen, dass die Gewinnmarge neben den variablen Kosten auch langfristig die
Fixkosten deckt. Ein typisches Beispiel ist der E-Shop.
Provisionsmodell: Dieses Modell wird insbesondere genutzt, wenn Fremdleistungen an
Kunden über die elektronische Plattform vermittelt werden. Die Erlöse werden hier über
eine erfolgsabhängige Provision erwirtschaftet. Ein typisches Beispiel ist der EMarket-
place. Häufig genutzt wird dieses transaktionsabhängige Modell auch von Affiliate-Pro-
grammen.
Grundgebührmodell: Dieses Modell wird für transaktionsunabhängige elektronische
Leistungen genutzt, bei denen ein Entgelt in Form einer Grundgebühr erhoben wird (z. B.
Registrierungsgebühr, Bereitstellungsgebühr etc.). Dabei kann die Grundgebühr alleinig
oder in Kombination mit transaktionsabhängigen Provisionen (s. o.) als Erlösquelle genutzt
werden. Ein typisches Beispiel ist die E-Community, aber auch neu entstehende Geschäfts-
modelle wie der Abo-Commerce (monatliches Entgelt für wiederkehrende Lieferungen) im
Rahmen von E-Shops nutzen dieses Modell.
Eine eindeutige und präzise Artikulation, wie ein Unternehmen seine Erlöse anhand der
vorgestellten Erlösmodelle und systematiken strukturiert, um stabile Einkommensströme
zu generieren, ist integraler Bestandteil eines erfolgreichen digitalen Geschäftsmodells und
wird daher von Investoren und anderen Stakeholdergruppen regelmäßig verlangt.
Wie intuitiv klar wird, sind die Einkommensströme eines Unternehmens inhärent mit
korrespondierenden Kosten verknüpft, z. B. für das Generieren von Klicks und somit po-
tenziellen Kunden oder das Ausführen eines Auftrags. Die entscheidende Frage „wie viel
kostet uns ein zahlender Kunde?“ impliziert bereits die untrennbare Verbindung zwischen
der Umwandlung von Klicks in einen Kauf mit einem bestimmten Umsatz auf der einen
Seite und die damit verbundenen Kosten für die Generierung der Klicks und Abwicklung
dieses Kaufs auf der anderen Seite. Im Allgemeinen muss ein E-Venture auf der Kostensei-
te sowohl unterscheiden zwischen Startup-Kosten und laufenden Betriebskosten als auch
zwischen fixen und variablen Kosten. Startup-Kosten sind notwendig, um die digitalen
Basissysteme und technologien des (neu gegründeten oder neu ausgerichteten) Unterneh-
mens initial aufzusetzen und sind somit einmalige Kosten. Dahingegen fallen Betriebskos-
ten regelmäßig an, um den laufenden Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Ein wesentli-
ches Merkmal digitaler Geschäftsmodelle besteht darin, dass diverse Formen von klassi-
schen Fixkosten in variable Kosten, die proportional zum Leistungsoutput des Unterneh-
mens sind, transformiert werden können (z. B. EFullfillment oder Web-Traffic). Dies
wiederum führt im Vergleich zu klassischen Geschäftsmodellen zu einer höheren Degres-
sion der Fixkosten sowie zu unterschiedlichen Kostenstrukturen, Kostenbestandteilen und
Kostentreibern. Der positive Effekt durch die Verteilung von fixen Kosten auf einen immer
größeren Output wird als Kostendegressionseffekt bezeichnet und kann zu einem signifi-
kanten Kostenvorteil von digitalen Geschäftsmodellen führen. Dies geht außerdem eng
einher mit der bereits oben beschriebenen Prozesssicht bei der Implementierung einer di-
gitalen Geschäftsidee. Für bestimmte Nicht-Kernprozesse kann ein Unternehmen ferner
Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle 69
Das spezifische Geschäftsmodell bildet den Mittelpunkt der Strategie und Geschäftstätig-
keit eines jeden Unternehmens, kann jedoch über die Zeit aufgrund von Wettbewerbern
oder Technologie und Marktveränderungen abnutzen (Linder, Cantrell 2000). Passiert dies,
schwindet damit auch der aus einem erfolgreichen Geschäftsmodell ursprünglich hervor-
gegangene Wettbewerbsvorteil. Daher müssen Unternehmen mit neuen Entwicklungen
Schritt halten und sich diesen möglichst früh stellen. Ein weit verbreiteter Fehler bei der
Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen ist, dass die eigenen Annahmen als selbst-
verständlich und richtig gelten, was zu einem zu engen Blick auf die komplexe digitale Welt
führt. Zu hohe Umsatz- und zu geringe Kostenschätzungen sind die natürliche Folge und
führen letztlich zum Scheitern vieler innovativer Ideen. Als Gegenmittel und gleichzeitig
Best Practice, sollte jedes E-Venture sorgfältig und stetig sein eigenes digitales Geschäfts-
modell mittels Sensitivitäts- und / oder Szenarioanalysen (re-)evaluieren, um die Effekte
von Variationen interner und externer Parameter auf den Output des Unternehmens aufzu-
decken – sowohl ceteris paribus als auch in Kombination. Der Startpunkt sollte auch hier
wieder die konkrete Idee und Lösung zu einem relevanten Problem stehen, für die Kunden
zu einer Gegenleistung bereit sind. Eine solche Analyse ist insbesondere wichtig für die
Kernprozesse eines Unternehmens, welche dessen spezifische Wertschöpfung ausmachen.
Sie ermöglicht dem Unternehmen somit, kritische Parameter ex ante zu identifizieren sowie
ihre Wirkung zu verstehen und trägt somit der komplexen, dynamischen und unsicheren
Umwelt Rechnung, in der sich jedes digitale Geschäftsmodell heutzutage unweigerlich
bewegt. Manchmal macht lediglich eine kleine, aber smarte Veränderung – z. B. während
solch einer (Re-)Evaluation entdeckt – den Unterschied und lässt ein digitales Geschäfts-
modell einzigartig, innovativ und erfolgreich werden (Kollmann 2014).
70 Tobias Kollmann • Simon Hensellek
Es existiert kaum ein Bereich in der Wirtschaft, der so dynamisch ist, wie die Net Econo-
my. Die Entwicklungen im E-Business können veranschaulicht werden anhand der kon-
sekutiven Konzepte des Web 1.0, Web 2.0 und Web 3.0 sowie deren jeweils korrespondie-
rendem Fokus auf spezifische elektronische Plattformen und Arten der Wertschöpfung.
Obwohl Web 1.0 und Web 2.0 bereits recht weit verbreitete Begriffe und der Literatur sind,
befindet sich die Entwicklung von neuen Möglichkeiten, die Einfluss auf unser Leben
nehmen, noch immer in der Beschleunigungsphase (Kollmann, Lomberg 2010). Darüber
hinaus spielt auch die allgemeine Akzeptanz für innovative Angebote digitaler Geschäfts-
modelle auf Anbieter- und Nachfrageseite eine entscheidende Rolle (Kollmann 2001) 0.
Informationen sind nunmehr als eigenständiger, unerlässlicher Produktionsfaktor anzuse-
hen und die Gesellschaft vollzieht einen neuen Strukturwandel hin zur Informationsge-
sellschaft. Vielversprechende Fokusgebiete beziehen sich insbesondere auf die sogenann-
te Informationsexplosion und den daraus resultierenden Informationswettbewerb (Koll-
mann 2013b).
Dieser Klassifikation entsprechend ist das Web 1.0 der reifste Bereich und umfasst vor-
wiegend die Handelsformen E-Offer, E-Sales und E-Trading auf den Plattformen E-Procu-
rement, E-Shop und E-Marketplace. Neue und innovative digitale Geschäftsmodelle sind
hier nur noch selten anzutreffen. Nichtsdestotrotz existiert auch weiterhin Potenzial, zur
Exploitation mittels verbesserter, nachfrageorientierter Systeme in Bezug auf individuali-
sierte Such- und Matchingprozesse, die Transaktionen unter den Marktteilnehmern effek-
tiver und / oder effizienter gestalten.
Web 2.0 bezieht sich auf Netzwerk- und Beziehungsaspekte und umfasst üblicherweise
ENetworking-Prozesse über E-Community und (kombinierte) E-Marketplace Plattformen.
Die zentrale Problemstellung ist die Ermöglichung von Kontakt zwischen privaten und /
oder geschäftlichen Nutzern. Erfolgreiche Web 2.0 Geschäftsmodelle umfassen Wert-
schöpfungsprozesse im Bereich nutzergenerierter Inhalte (z. B. Facebook, LinkedIn oder
YouTube). Allerdings macht die beständig wachsende Informationsflut, welche von und
für Nutzer generiert wird, es hier mithin schwierig für diese, die gewünschten Informatio-
nen zu finden. Folglich sind solche neuen Technologien und Prozesse vielversprechend,
die den gezielten Zugang zu gewünschten Informationen über individuelle Selektionspro-
zesse anhand von umfassenden Kundenanalysen vereinfachen. Zukunftsfähige digitale
Geschäftsmodelle in diesem Bereich liegen daher im sogenannten Semantic Web.
Die jüngste Entwicklung, das Web 3.0, baut auf dieser Herausforderung mit nachfrage-
orientierten Systemen und Prozessen auf, die explizit die Bedürfnisse der Kunden mitein-
beziehen. Solche Prozesse umfassen E-Request und E-Customization, die über spezifische
E-Desks und kontext-basierte Plattformen abgewickelt werden. Notwendige Elemente, um
ein nachfageorientiertes System aufzusetzen, sind die Identifikation und Spezifizierung der
Nachfrage über passende Such- und Selektionsmechanismen als Basis des unternehmen-
sindividuellen Angebots (Kollmann 2013b). Dies wiederum trägt dazu bei, die Diskrepanz
zwischen Angebot und Nachfrage immer weiter zu vermindern.
Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle 71
1.5 Fazit
Die Relevanz des E-Business für die heutige Gesellschaft und Wirtschaft steht außer Frage,
machen doch die Umsätze im E-Business mittlerweile einen signifikanten Teil der gesam-
ten Wirtschaftsleistung aus und wachsen weiterhin mit zweistelligen Wachstumsraten
(Quinn, Biondi & Penmetcha 2014). Die Digitalisierung der Geschäfts- und Privatwelt
bringt großartige Möglichkeiten mit sich und eröffnet neue Wege zur Exploration und
Exploitation innovativer Ideen, die zunehmend unser tägliches Leben verändern. Gleich-
zeitig baut sie jedoch auch einen enormen Druck auf etablierte Unternehmen auf, die sich
der Herausforderung gegenübergestellt sehen, in einer sich schnell verändernden, komple-
xen Umwelt mit immer kürzeren Produktzyklen zu bestehen. Disruptive Geschäftsmodelle
junger Startups bergen nicht selten das Potenzial, existierende Wettbewerbsvorteile nahezu
über Nacht verschwinden zu lassen und so den Wettbewerb neu zu ordnen. Heute noch
etablierte Geschäftsmodelle können bereits morgen erodieren und Unternehmen – unge-
achtet ihrer Branche, ihres Alters oder ihres Erfolgs – müssen daher die Herausforderung
des E-Business annehmen, um überhaupt Schritt halten zu können.
Literatur
Amit, R.; Zott, C. (2001): Value creation in E-business, in: Strategic Management Journal, Jg. 22,
Nr. 6-7, S. 493-520.
Casadesus-Masanell, R.; Ricart, J.E. (2010): From Strategy to Business Models and onto Tactics, in:
Long range planning, Jg. 43, Nr. 2–3, S. 195-215.
Chesbrough, H.; Rosenbloom, R.S. (2002): The role of the business model in capturing value from
innovation: evidence from Xerox Corporation’s technology spin-off companies, in: Industrial and
Corporate Change, Jg. 11, Nr. 3, S. 529-555.
Galunic, D.C.; Rodan, S. (1998): Resource recombinations in the firm: knowledge structures and
the potential for schumpeterian innovation, in: Strategic Management Journal, Jg. 19, Nr. 12,
S. 1193-1201.
Kollmann, T. (2001): Measuring the acceptance of electronic marketplaces: A study based on a used-
car trading site, in: Journal of Computer-Mediated Communication, Jg. 6, Nr. 2, S. 0-0.
Kollmann, T. (2013a): Akzeptanz innovativer Nutzungsgüter und-systeme: Konsequenzen für die
Einführung von Telekommunikations-und Multimediasystemen, Springer Gabler, Wiesbaden.
72 Tobias Kollmann • Simon Hensellek
Autoren
Prof. Dr. Tobias Kollmann ist Inhaber des Lehrstuhls für E-Business und E-Entrepreneur-
ship an der Universität Duisburg-Essen. Seit 1996 befasst er sich mit wissenschaftlichen
Fragestellungen rund um die Themen Internet, E-Business und E-Commerce. Als Mitgrün-
der von AutoScout24 gehörte er mit zu den Pionieren der deutschen Internet-Gründerszene
und der elektronischen Marktplätze. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Fach- und Praxisbei-
träge zu den Bereichen „E-Entrepreneurship“, „E-Business“ und „Akzeptanz/Marketing
bei neuen Medien“. Als Business Angel finanzierte er über die letzten 15 Jahren zahlreiche
Startups in der Net Economy, wofür er 2012 vom Business Angels Netzwerk Deutschland
e.V. zum „Business Angel des Jahres“ gewählt wurde. Seit 2013 ist er der Vorsitzende des
Beirats „Junge Digitale Wirtschaft“ im BMWi. 2014 beruft ihn der Wirtschaftsminister von
Nordrhein-Westfalen Garrelt Duin zum Beauftragten für die Digitale Wirtschaft in NRW.
Er ist vor diesem Hintergrund ein gefragter Speaker für die Themen „Digitale Wirtschaft“,
„Digitale Transformation“ und „Digitaler Wandel“. Laut dem Magazin Business Punk
(Ausgabe 02/2014) gehört er zu den 50 wichtigsten Köpfen der Startup-Szene in Deutsch-
land.
Simon Hensellek, Master of Science, ist Doktorand am Lehrstuhl für E-Business und E-
Entrepreneurship von Prof. Dr. Tobias Kollmann an der Universität Duisburg-Essen. Er
studierte Management and Economics an der Ruhr-Universität Bochum mit den Schwer-
punkten Accounting, Finance und Controlling. Während seines Studiums absolvierte er
eine Summer School zum interkulturellen Management am Chinesisch-Deutschen Hoch-
schulkolleg der Tongji Universität in Shanghai sowie im Masterstudium ein Auslandsse-
mester an der Utrecht University School of Economics in den Niederlanden mit den
Schwerpunkten Strategie, Corporate Entrepreneurship und Innovationsmanagement. Be-
reits während des Studiums sammelte Herr Hensellek praktische Erfahrungen u. a. im
Strategic Group Controlling der Deutsche Telekom AG, im Bereich Assurance bei der
PricewaterhouseCoopers AG WpG sowie durch die Gründung eines E-Commerce Unter-
nehmens. Er präsentiert aktuelle Forschungsprojekte regelmäßig auf renommierten natio-
nalen und internationalen Konferenzen wie der BCERC oder AOM. Gemeinsam mit Prof.
Dr. Kollmann bietet er außerdem Seminare und Workshops rund um die Themen „E-
Business“, „Digitale Transformation“ und „elektronische Geschäftsmodelle“ an.
75
Die aktuelle Diskussion um die „Moden“1 der „Digitalisierung“ und der „Disruption“2
durch neue Technologien ist aus einer wissenschaftlichen Perspektive als kritisch zu beur-
teilen. Es wird mitunter der Eindruck erweckt, dass es einen kategorischen Unterschied von
digitalen und „analogen“ Unternehmen gibt. Dabei werden seit Jahrzehnten Unternehmen
oder Betriebe als sozio-technische Systeme in der Betriebswirtschaftslehre verstanden.3
Dieses Verständnis von Unternehmen hat auch weiterhin Bestand und es bedarf keiner
Anpassung dieser Definition: es gibt kein ausschließlich digitales Unternehmen. In jedem
Unternehmen sind mindestens die Anteilseigner Individuen oder Institutionen. Somit gibt
es weiterhin in jedem Unternehmen Systemelemente technischer und sozialer Natur. Ers-
tens ist jedes Unternehmen immer auch ein digitales Unternehmen, wenn es auch nur ein
Systemelement technischer Prägung hat. Zweitens ist jedes Unternehmen auch ein soziales
System, da es nicht nur digitale Elemente in einem Unternehmen gibt. Die mittlerweile
1 Unter diesem Rubrum hatten Mertens (1995) und Kieser (1996) Diskussionen in den jeweiligen
Disziplinen (Wirtschaftsinformatik und Betriebswirtschaftslehre) angestoßen, um die durch Be-
rater induszierten Moden von den langfristigen Trends, die für eine Wissenschaft relevant sind,
zu unterscheiden. Vgl. auch als eine neuere Quelle zu der Thematik Steininger, Riedl, Roithmayr,
Mertens (2009). Bei den auch nachfolgend unterstellten Trends ist darauf hinzuweisen, dass die
Verwendung des Worts immer präsupponiert, dass es sich ausschließlich um die Entwicklung in
eine Richtung handelt. Je nach Dauer dieser Entwicklung werden dann Meta-, Mega-, Techno-
logie-, sozio-kulturelle, Konsumtrends (Marketing-Trends) und Mikrotrends unterschieden, vgl.
hierzu u. a. Horx (2010) sowie die dort zitierte Literatur.
2 Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erhob das Wort „Disruption“ zum Manager-Wort
üblich gewordene Rede von den „digitalen Unternehmen“, den „digital players“, etc. kann
daher als kontrafaktisch deklariert werden.
Ungeachtet der wissenschaftlichen Betrachtung, ab wann ein Unternehmen vorrangig
digitaler Natur ist oder nicht, ist das Phänomen der Digitalisierung selbst sehr alt. Jede
zusätzliche Ausdehnung von technischen Elementen im Unternehmen ist der Überlegung
gefolgt, dass die Automatisierung eine betriebswirtschaftliche Zielsetzung von Unterneh-
men ist. Mertens hatte 1995 die „sinnhafte Vollautomatisierung“ als denkmögliches Leit-
bild der Wirtschaftsinformatik propagiert. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung wird die
Digitalisierung (im Sinne der Substitution analoger Elemente oder manueller Tätigkeiten)
der Unternehmen voranschreiten, sofern die ökonomischen Ziele der Unternehmen damit
besser erreicht werden können. Nur aus diesem Grund investieren Unternehmen in die
Veränderung des eigenen Geschäftssystems. Die Digitalisierung ist weniger ein technisches
als ein ökonomisches Phänomen, welches technisch induziert ist.
Sofern die Definition eines Unternehmens auch die sogenannten digitalen Unternehmen
klassifikatorisch mit den nicht digitalen Unternehmen gleichsetzt, so stellt sich die Frage,
ob es einen relevanten Unterschied in der Realität gibt. Die Autoren sind der Überzeugung,
dass es erhebliche Unterschiede gibt. Eine Differenzierung wird erst dann praktikabel,
wenn eine Messung des Digitalisierungsgrades erfolgt, um auf dieser Basis festzulegen, ab
wann ein Unternehmen zu den digitalisierten Unternehmen im engeren Sinne gehört.4
Sämtliche Unternehmen sind – der Definition folgend – mit digitalen Elementen ausgestat-
tet. Die Differenz besteht darin, dass sich die sogenannten digitalen Unternehmen auf ei-
nem signifikant höheren Digitalisierungsgrad befinden als „traditionelle“ Unternehmen.
Der Unterschied zwischen einem weiter und weniger weit digitalisierten Unternehmen
sei durch den Vergleich von Mercedes Benz und Tesla verdeutlicht. Bei Tesla sind die
Produkte, die Autos, so in eine Plattform eingebunden, dass die Fähigkeiten des Autos je-
derzeit durch Softwareupdates verändert werden können. Bei Mercedes Benz ist das nicht
der Fall. In diesem konkreten Fall ist der prozessuale und der produktbezogene Digitalisie-
rungsgrad von Tesla höher als der von Mercedes Benz.
Unter einem digitalen Unternehmen (i. e. S.) verstehen die Verfasser solche Entitäten, die
über ein Geschäftsmodell verfügen, welches von aktuellen oder potenziellen Wettbewerbern
durch digitale Eigenschaften bedroht werden kann. Somit ist ein wesentliches Kriterium für
die Beurteilung der Situation, ob Produkt- oder Prozessinnovationen die wettbewerbliche
Situation des Unternehmens erheblich beeinflussen können. Am offensichtlichsten wird dies
4 Dennim weiteren Sinne gehören sämtliche Unternehmen, die überhaupt ein digitalisiertes Ele-
ment aufweisen, zu den digitalen Unternehmen. Bezüglich der Überlegungen, einen Digitalisie-
rungsgrad zu ermitteln, ist auf die zumeist aus der betrieblichen Praxis stammenden Arbeiten
zu verweisen. Beispielsweise hat McKinsey ein Konzept entwickelt, welches als „digital coef-
ficient“ ermitteln soll, wie das analysierte Unternehmen bezüglich des Digitalisierungsgrades
eingeschätzt werden kann, vgl. McKinsey (2015). Die Ermittlung von Digitalisierungsgraden ist
auch erforderlich, um auf dieser Basis die Distanz zu Wettbewerbern im Rahmen des Benchmar-
king aufzuzeigen (woran die Beratungsbranche ein evidentes Interesse hat).
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 77
für die nachfolgend zu betrachtenden Handelsunternehmen dabei in der Art und Weise, wie
die Unternehmen Kunden in ihren Systemen abgebildet haben. Neben der Digitalisierung von
Prozessen und Produkten existiert damit ein weiteres, gleichfalls den Digitalisierungsgrad
immanent erhöhendes Unterscheidungsmerkmal, welches für die Marktbearbeitung eine enor-
me und daher herausgehobene Rolle spielt: die digitale Repräsentanz des Kunden. In einem
digitalisierten Unternehmen gibt es keine unbekannten Kunden, sondern der Kunde wird mit
seinen Merkmalen, seinen Verhaltensweisen und der Einbindung in einen sozialen Kontext
„virtuell“ repräsentiert. Die virtuelle Repräsentanz führt in den Unternehmen zu umfassenden
Analyseunterfangen, die weit über diejenigen von nicht digitalen Unternehmen hinausgehen.
S. 1ff.
78 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
lich auch die Gewinnsituation noch nicht hinreichend erforscht und in der Praxis zu selten
problematisiert.
Es ist das Kernproblem der Informationstechnologie bei Investitionsentscheidungen,
dass i. d. R. schlechtstrukturierte Entscheidungsmodelle mit Wirkungsdefekten vorlie-
gen.7 Im Regelfall dominieren „Plan-Investitionsentscheidungen“, d. h. es werden Inves-
titionen mit einer pauschalen und fiktiven Wirtschaftlichkeit freigegeben. Daher sind auch
Referenzbesuche in der Praxis so beliebt, da ein Analogieschluss von einem Unternehmen
auf das nächste angenommen wird, auch wenn dieser aus einer situativ-organisationsthe-
oretischen Perspektive kaum zulässig sein dürfte. Dabei ist, unabhängig von der Annahme
zur Wirtschaftlichkeit, bei Projektbeginn und den zugrundeliegenden Softwareprodukten,
vor allem eine Erkenntnis wichtig: Informationssysteme sind im Sinne der Produktions-
faktorenlehre ein Potenzialfaktor. Somit liegt der wirtschaftliche Erfolg des Softwarepro-
dukt-Potenzials in der Nutzungsfähigkeit von Unternehmen und nicht in der potenziellen
Fähigkeit der verfügbaren Technik begründet (und daher kann der soziotechnische Cha-
rakter nicht überbetont werden, denn die technischen Systemelemente alleine führen nicht
zu einem Mehrwert). Es gilt immer, dass das Projekt neben dem Produkt mindestens
gleichrangig ist,8 letztlich wird nach den Erfahrungen der Autoren das Projekt an Bedeu-
tung das Produkt überragen, denn das Produkt ist die notwendige und das Projekt die
hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Einführung eines Softwareproduktes. Vie-
le erfolglose Projekte leiden insbesondere darunter, dass das ausgewählte Produkt am
Ende des Prozesses förmlich deformiert wurde. Dabei könnte auch die Schlussfolgerung
gezogen werden, dass das falsche Produkt ausgewählt wurde. Es handelt sich dabei in der
Regel um Unternehmen, die auch bei anderen Produkten gleichartige Probleme besitzen,
so dass die Vermutung naheliegt, dass in der Projektdurchführung Mängel vorhanden sind.
Projektes eingeführt werden soll. Im Rahmen eines Projektes erfolgen dann Anpassungen und
Modifikationen an den Produkten, die i. d. R. Standardsoftware umfassen und in der neueren
Literatur als Enterprise Systems bezeichnet werden. Nur für den Fall, dass in einem Projekt
Individualsoftware entwickelt wird, fallen Projekt und Produkt zusammen, da erst am Ende des
Projekts das Produkt zur Verfügung steht. Bei der Einführung von Enterprise Systems hingegen
wird das am Beginn des Projektes existente Enterprise Systems Standardprodukt nach Beendi-
gung des Projektes ein anderes sein. Diese Abweichung ist das Ergebnis des Projektes und diesem
zuzuschreiben.
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 79
Sofern ein Unternehmen aus einer produktions- und systemtheoretischen Perspektive be-
trachtet wird, stellt es ein Throughput-System dar, welches eingebettet in Beschaffungs-
und Absatzmärkte agiert (vgl. hierzu Abb. 1).
Bei der Digitalisierung ist zunächst zu beachten, dass die Kunden durch die intensive
Nutzung von Smartphones und anderen Geräten einen Anpassungsdruck auf Unternehmen
ausgeübt haben. Vor 25 Jahren gab es noch keine digitale Fotografie, keine Assistenz- und
Navigationssysteme im Auto, kein World Wide Web und das Smartphone war noch keine
Lebensrealität. Die Lebenswelt9 hat sich erheblich verändert, ohne dass dies den Menschen
vielleicht immer bewusst ist. Die Kommunikations- oder Informationskosten in privaten
Haushalten haben in den letzten Jahrzehnten in ihrer Struktur Verschiebungen erfahren. Die
Leistungsfähigkeit der Kommunikationstechnologien hat enorm zugenommen, weltweite
Telefonate waren früher kaum möglich und mit enormen Kosten verbunden. Heute ist ein
Telefonat oder auch ein videobasiertes Telefonat zu geringen Kosten über das Internet
möglich. Allerdings ist der zeitliche Umfang der Kommunikation über Smartphones im
Allgemeinen (Telefon, Messages, Video, Mail, etc.) angestiegen, so dass die absolute Höhe
der Telekommunikationskosten in vielen – wenn auch nicht sämtlichen – Fällen zugenom-
men hat. Somit drücken die Konsumenten in ihrer Zahlungsbereitschaft auch den Nutzen
aus, den die neuen Technologien mit sich bringen.
Auf diese Entwicklung in privaten Haushalten haben die Unternehmen reagiert, in dem
die Leistungsangebote von ihnen auch immer informationsintensiver geworden sind und
vollständig neue Leistungen offeriert werden, die in der Vergangenheit nicht möglich ge-
wesen, zu teuer oder einfach nur nicht bedacht worden sind. Die Digitalisierung ist damit
über den Kunden zum Veränderungstreiber für die Unternehmen geworden. Hervorzuhe-
ben ist dabei auch die Tendenz der Kunden zur Individualisierung von Produkten,10 die
durch neue Informationstechnologien gefördert wird und weitreichende Herausforderun-
gen für Industrie- und Handelsunternehmen mit sich bringt.
Auf der Ebene der Unternehmen ist die Digitalisierung noch nicht zu Ende, denn auch
die Gesellschaft insgesamt wirkt in ähnlicher Art und Weise auf die Kunden. Somit reicht
die Digitalisierung von einer individuellen Ebene über eine Unternehmens- bis hin zur
gesellschaftlichen Ebene, so dass sich die Spielregeln nicht nur einmalig verändert haben.
Sie werden sich laufend weiter entwickeln, wobei die Veränderungsgeschwindigkeit der
digitalen Ebene höher ist als die der materiellen. Es besteht damit aus Wettbewerbs-Pers-
pektive die Chance einer schnelleren durchschnittlichen Veränderungsgeschwindigkeit des
soziotechnischen Systems Handelsunternehmen. Ob aus Möglichkeiten auch Realitäten
werden, ist dabei offen und obliegt den Change-Management-Fähigkeiten des Manage-
ments und der Mitarbeiter.
Auf der der Individuen und Unternehmen übergeordneten Gesellschaftsebene sind die
Herausforderungen durch die Digitalisierung besonders dramatisch. Dies liegt an zwei hier
besonders hervorzuhebenden Entwicklungen. Erstens erlaubt die jedem zugängliche Infor-
9 Der Begriff der Lebenswelt hat in der Philosophie eine lange Tradition, beginnend vor allem in
der Phänomenologie Husserls. Hier wird der Begriff der Lebenswelt im Habermaschen Sinne
verwendet: vgl. Habermas (1998), S. 348f.
10 Zur Individualisierung der Nachfrage vgl. Reichwald, Piller (2009), S. 23ff. Zur damit verbunden
Anforderung an die Produktion, die in der Literatur unter Mass Customization diskutiert wird,
vgl. ebenda, S. 225ff. Da es sich bei Mass Customization um ein Oxymoron handelt, sei an
dieser Stelle nicht diskutiert, ob die Kombination von Massenfertigung und Individualisierung
überhaupt möglich ist. Unstrittig dürfte in jedem Fall der Wunsch der Nachfrager sein, ein aus
ihrer Sicht individualisiertes Produkt zu erwerben, welches aus Sicht des Anbieters auf möglichst
kostengünstige Weise hergestellt werden sollte.
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 81
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JHQ'LH'LVNXVVLRQEHUGLH'DWHQVFKXW]SUREOHPDWLNEHWULIIWLQHLQHUGLJLWDOLVLHUWHQ*H-
VHOOVFKDIWGLHLQGLYLGXHOOH)UHLKHLWGHV(LQ]HOQHQ$XHUGHPZlUHHVP|JOLFKGDVVEDVLV-
GHPRNUDWLVFKH3ULQ]LSLHQVHKUHLQIDFKXPJHVHW]WZHUGHQN|QQWHQ11 Zweitens sind die im
=XJHGHU'LJLWDOLVLHUXQJ]XHUZDUWHQGHQ$UEHLWVSODW]YHUOXVWHLP%UREHUHLFKGLHQHXHQ
6WXGLHQ]XIROJHQLFKWGXUFKQHXHQWVWHKHQGH$UEHLWVSOlW]HNRPSHQVLHUWZHUGHQN|QQHQ
HLQHHUKHEOLFKH+HUDXVIRUGHUXQJIUGLH:LUWVFKDIWVRUGQXQJ$XVGLHVHP*UXQGHZHUGHQ
bereits Automatisierungsdividenden oder das bedingungslose Grundeinkommen in die
SROLWLVFKH'LVNXVVLRQHLQJHEUDFKW12 Die Reichweite der unterschiedlichen gesellschaftli-
chen Diskussionsfelder, die von der Digitalisierung induziert werden, deuten an, wie sehr
die Digitalisierung auch die gesellschaftliche Ebene betrifft.
'LH([LVWHQ]YRQ+DQGHOVXQWHUQHKPHQLVWVHLW-DKU]HKQWHQLQGHUZLVVHQVFKDIWOLFKHQ'LV-
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:DUH*HOG.DSLWDOXQG,QIRUPDWLRQLQYLHUXQWHUVFKLHGOLFKHQhEHUEUFNXQJVGLPHQVLRQHQ
aus (vgl. Abb. 2GHUhEHUEUFNXQJGHV5DXPVGXUFKGLHNODVVLVFKHQORJLVWLVFKHQ)XQNWL-
Abb. 2 'LJLWDOLVLHUXQJYRQ+DQGHOVXQWHUQHKPHQ±$QDO\VHDXVHLQHU0DNURSHUVSHNWLYH
Quelle: Eigene Darstellung
11(VVROOKLHUQLFKWHU|UWHUWZHUGHQZDUXPHVJXWH*UQGHIUGLH$EOHKQXQJEDVLVGHPRNUDWLVFKHU
(QWVFKHLGXQJHQLQ'HPRNUDWLHQJLEWXQGGLHUHSUlVHQWDWLYH'HPRNUDWLH]XEHYRU]XJHQLVW
12=XPEHGLQJXQJVORVHQ*UXQGHLQNRPPHQLQHLQHUVSH]LILVFKHQ$XVSUlJXQJYJO:HUQHU
'LH)RUGHUXQJQDFKHLQHP*UXQGHLQNRPPHQ±LQHLQHUQLFKWQlKHUNRQNUHWLVLHUWHQNRQ]HSWL-
RQHOOHQ$XVSUlJXQJ±ZXUGHMQJVWDXFKYRQGHP7HOHNRP9RUVWDQGVYRUVLW]HQGHQ7LPRWKHXV
+|WWJHVVRZLHYRP6$39RUVWDQG%HUQG/HXNHUWHUKREHQ
82 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
onen Transportieren und Umschlagen, die Überbrückung der Zeit durch die klassische Funk-
tion des Lagerns, die Überbrückung der Mengen durch die Funktion des Umschlagens und
die Überbrückung der Qualität durch die Manipulation oder Veredelung der Ware.
Bei den Informationen, die für die Digitalisierung in besonderem Maße geeignet sind,
gilt es zunächst zwischen denen, die das Handelsobjekt oder das Entgeltobjekt begleiten,
und den sonstigen Informationen zu unterscheiden. Letztere Informationsklasse soll hier
zunächst nicht näher betrachtetet werden. Bei den Informationen im Kontext der Beglei-
tung von Handelsobjekten, sind die Überbrückungszwecke, die Handelsunternehmen mit
den die Handelsobjekte begleitenden Informationsobjekten, in jedem Fall digitalisierbar.
Es ist lediglich eine ökonomische Frage, ob es auch faktisch zur Digitalisierung kommt.
Die mitunter geringen Umsetzungsgrade von EDI deuten an, dass es auch nach Jahrzehnten
der Möglichkeiten zur Automatisierung von Prozessen noch nicht hinreichend dazu gekom-
men ist.
Auf der Ebene Geld, den Entgeltobjekten, die den Güterstrom begleiten, gibt es zwar
auch Bereiche, in denen noch analog verfahren wird, allerdings sind bereits heute digitale
Lösungen verfüg- und einsetzbar, so dass der weitgehenden Digitalisierung von Zahlungs-
prozessen jeder Art zur Überwindung von Raum, Zeit, Menge und Qualität dauerhaft keine
Grenzen gesetzt sind. Es deutet sich bereits heute an, dass die Institution Bank aufgrund
der Digitalisierung immer mehr von anderen Institutionen substituiert werden kann.
Sofern die Ebenen Informationen und Geld gleichermaßen der Digitalisierung zugängig
gemacht werden können, bedeutet dieses zunächst, dass einige Ebenen, die traditionell
Handelsunternehmen wahrgenommen haben, zukünftig auch von vielen anderen Unterneh-
men übernommen werden können.
Die dritte und bedeutendste Ebene repräsentiert die originären Zwecke von Handelsun-
ternehmen: die Distribution der Realgüterströme, das Management des Objekts Ware. Die
Zwecke, die Handelsunternehmen in diesen Bereichen weithin zugeschrieben werden, sind
vor allem logistikgeprägt. Dies wird in Abb. 2 durch die Kürzel TUL – für die klassischen
Funktionen Transportieren, Umschlagen, Lagern ausgedrückt. Lediglich bei der Überbrü-
ckungsfunktion „Qualität“ kommt eine spezifische „Warenmanagement“-Aufgabe als
Zweck von Handelsunternehmen zum Ausdruck.
Die Gefahr der Elimination der diversen Überbrückungsfunktionen wurde im Großhan-
del seit Jahrzehnten durch die Definition umfassenderer Leistungsbündel entgegnet (En-
gelhardt, Kleinaltenkamp, Reckenfelderbäumer 1993, S. 399ff.). Leistungsbündel sind die
Kombination von Produkten mit Services, die zusammen genommen für den Kunden des
Großhändlers einen Mehrwert darstellen und daher eine wettbewerbsdifferenzierende Wir-
kung entfalten sollen.
Zusammenfassend lässt sich aus einer Makro-Betrachtung feststellen, dass erstens be-
reits wesentliche Zwecke von Handelsunternehmen digitalisiert oder durch diese maßgeb-
lich beeinflusst werden. Zweitens wird deutlich, dass Handelsunternehmen vor allem durch
die Art und Weise ihrer Logistik Markteintrittsschranken errichten können, bei einer ver-
änderten Konsumentensituation aber wiederum (z. B. beim Online-Handel) die Marktein-
trittsschranke gleichsam zu einer gefährlichen Marktaustrittsschranke werden kann. Aus
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 83
13 Essei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass auch ein vorher digitaler Zustand,
der später auf einem „höheren digitalen Niveau“ etabliert wurde, unter das Wort Digitalisierung
subsumiert werden soll. Es geht bei vielen Digitalisierungsprojekten nicht nur darum, dass ein
ehemals „analoger“ Zustand digitalisiert wird, sondern stattdessen auch die Art und Weise der
Digitalisierung unterschiedlich sein kann. Ein elektronisch eingescanntes Dokument ist für Ar-
chivierungszwecke hinreichend, für eine automatische prozessuale Bearbeitung jedoch nicht,
hierzu sind weitergehende Informationen des Dokuments der Maschine verfügbar zu machen.
84 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
Produktionsfaktoren
objektbezogene
Planung
menschliche Betriebsmittel Werkstoffe
Geschäfts- Arbeitsleistung
leitung
Organisation
beobachten ist. Die Weiterentwicklung maschineller Fähigkeiten, die durch das Zusam-
menwirken von Kinetik, Sensorik, Robotik, Bio-Genetik, Nanotechnologie, usw. entste-
hen, sind beeindruckend. Die ineinander wirkenden Informationen sind dabei in geson-
derten Systemen für die Steuerung der Maschinen erforderlich und nehmen eine immer
größere Bedeutung in der industriellen Fertigung ein. Somit wird im eigentlichen Ferti-
gungsprozess die Rolle und die Wertschöpfung (in der Produktion selbst) durch Anwen-
dungssysteme immer wichtiger.
Zweitens werden die von einem Unternehmen offerierten Absatzleistungen in Form von
Produkten, Services, etc. immer informationsintensiver. Besonders prägnant wird der in-
formationstechnisch induzierte Wertschöpfungsanteil beispielsweise in der Automobilin-
dustrie. Ob ABS-Systeme, Einspritzmotoren, Navigationssysteme, Assistenzsysteme, die
Einbettung von Smartphones in die Steuerung, etc., der Umfang an Embedded Systems
beim Produkt Auto hat längst dazu geführt, dass es sich um ein Leistungsbündel aus infor-
mationstechnischen und traditionell mechanischen Elementen handelt.14
Aus einer Informationssystemperspektive sind die unterschiedlichen Systeme, die im
Kontext der Digitalisierung eine Rolle spielen zu differenzieren. Zunächst ist ein Informa-
tionssystem die Zusammenfassung von einem Organisations- und einem Anwendungssys-
tem, wobei das Anwendungssystem den automatisierten Teil des Informationssystems dar-
14 Diese Tendenz wird besonders in Formulierungen wie „Software with Wings“ für Flugzeuge und
„Code on the road“ für Kraftfahrzeuge deutlich, entnommen Hoch et al. (1999, S. 5) und der dort
zitierten Literatur.
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 85
stellt. In diesem Sinne ist, wie es auch aus Abb. 4 hervorgeht, der erste Schritt zu einem
VWlUNHUGLJLWDOLVLHUWHQ8QWHUQHKPHQGLH9HUODJHUXQJGHU,QIRUPDWLRQDXVGHPOrganisati-
onssystemLQGDV$QZHQGXQJVV\VWHP-HZHLWHUIRUWJHVFKULWWHQGLHVHU3UR]HVVLVWGHVWR
ZHQLJHU,QIRUPDWLRQHQGLHIUHLQHIIHNWLYHVXQGHIIL]LHQWHV:LUWVFKDIWHQLQHLQHP%HWULHE
HUIRUGHUOLFKVLQGVLQGGDQQQLFKWLP$QZHQGXQJVV\VWHPYRUKDQGHQ%HLVSLHOVZHLVHZlUH
GLH$UFKLYLHUXQJYRQ5HFKQXQJHQLQ3DSLHUIRUPHLQHVROFKH0DQDKPH$XFKGLHZHLW-
UHLFKHQGHQ6WDQGDUGLVLHUXQJVEHPKXQJHQXQGHUIROJHGHU*6EHLGHQ1DFKULFKWHQDUWHQ
IU %HVWHOOXQJHQ /LHIHUVFKHLQHQ 5HFKQXQJHQ =DKOXQJHQ %HVWDQGVGDWHQ XQG$EYHU-
NDXIVGDWHQJHK|UHQ]XP0DQDKPHQNDWDORJXPLPPHUPHKUDQDORJH(OHPHQWH]XGLJL-
talisieren.15
Die Analyse der heute noch nicht in einem Anwendungssystem vorhandenen Informa-
WLRQHQ EHOHJW LQ GHU 5HJHO ZLH KRFK GDV 'LJLWDOLVLHUXQJVSRWHQ]LDO LVW 'LH 5HGH YRQ
Ä'LJLWDOLVLHUXQJ³DOVVXEVWDQWLYLHUWH9HUEIRUPXOLHUXQJXQWHUVWHOOWGDVVHVHLQHQ3UR]HVV
eine Aktivität gibt, in der ehemals analoge Informationen durch die Informationstechnik
digitalisiert werden oder die bereits vorhandene digitale Information, die ehemals nur di-
JLWDOJHVSHLFKHUWDEHUQLFKWYHUDUEHLWHWZXUGHHLQHU9HUDUEHLWXQJXQWHU]RJHQZLUG$OV=LHO
der Digitalisierung gilt es dann, die Effektivität oder Effizienz des Betriebs zu steigern.
%HUHLWVGLHVWUXNWXULHUWH'DWHQKDOWXQJELUJWHQRUPH(IIL]LHQ]VWHLJHUXQJVSRWHQWLDOHGLHVHKU
KlXILJQRFKQLFKWJHQXW]WZHUGHQ:HQQGLH$EODJHYRQ,QIRUPDWLRQHQGHV7RS0DQDJH-
PHQWVDOV,QGLNDWRUIUGHQ8PJDQJPLW,QIRUPDWLRQHQJHZHUWHWZLUGVRGUIWHLQGHQ
PHLVWHQ8QWHUQHKPHQHLQHUKHEOLFKHV2SWLPLHUXQJVSRWHQWLDOH[LVWLHUHQ(VJHKWGDEHLXP
15'LH *6/DQGHV 2UJDQLVDWLRQHQ JHK|UHQ ]X HLQHP ZHOWZHLWHQ 2UJDQLVDWLRQVQHW]ZHUN GLH
VLFKDXISULYDWH,QLWLDWLYHKLQIUGLH'HILQLWLRQXQG8PVHW]XQJZHOWZHLWHU6WDQGDUGV]XU9HUEHV-
VHUXQJGHU=XVDPPHQDUEHLW]ZLVFKHQGHQ8QWHUQHKPHQLQGHU:HUWVFK|SIXQJVNHWWHHLQVHW]HQ
YJO*6JOREDOZZZ*6RUJ%HLGHQ6WDQGDUGVZHUGHQGLHMHQLJHQIUGLH,GHQWLIL-
kation, der Kennzeichnung, der Kommunikation und der Prozessgestaltung unterschieden, vgl.
KLHU]XGHQ/HLVWXQJVXPIDQJYRQ*6&RPSOHWHXQWHU*6*HUPDQ\
86 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
keine andere Aufgabe als die, wie Unternehmen im Zeitalter von zunehmend in digitaler
Form gespeicherten Daten ihre Effizienz erhöhen können. Hierzu gehören Strukturen für
die Datenablage auf Fileservern, bei der Mailablage, bei der Bereitstellung der Informati-
onen von wichtigen Sitzungen, der besonders geschätzten PowerPoint-Präsentationen, etc.
Erstaunlicherweise ist der Softwaremarkt für die effiziente Büroorganisation in einer ar-
beitsteiligen Welt nicht besonders umfangreich.
Als Potenzialfaktoren der IT, die eine bessere Zielerreichung von Unternehmen ermög-
lichen, sind die Automatisierung operativer Prozesse (im Sinne der objektbezogenen Ar-
beitsleistung), die Verbesserung der Informationsqualität bei Entscheidungen, die Paralle-
lisierung von Prozessen, die Aufhebung von Restriktionen bei der Aufgabenerfüllung unter
Raum- und Zeitgesichtspunkten sowie die Integration zu nennen (Vgl. Petrovic 1994,
S. 583; Becker, Schütte 2004, S. 50f.). Über diese Wirkungen hinaus gewinnen die mittler-
weile erreichten Fähigkeiten der Anwendungssysteme an Relevanz. Zunehmend lassen sich
Aufgaben von ehemals dem dispositiven Faktor zuzurechnenden Menschen auch der Ma-
schine übertragen, so dass die ehemals unter dem Terminus Automatisierung stehenden
Überlegungen eine besondere Bedeutung erlangt haben, möglicherweise führte dieses auch
zur Verbreitung des Begriffs der Digitalisierung.
Die Möglichkeiten der Informationstechnologie, die wirtschaftlichen Handlungen in
Betrieben zu unterstützen, sind aber weit umfassender. Denn die Technologie führt dazu,
dass auf der Absatzseite neue Leistungen oder vollständig neue interne Leistungserstel-
lungsprozesse möglich werden. Diese Technologien haben dann das Potential, dass sie
disruptiv wirken (Vgl. Christensen 1997). In derartigen Situationen kommt es zu neuartigen
Strukturen und Prozessen. Die Wirkung der Technologien ist dann entweder effektivitäts-
steigernd, wenn ein bestehender Unternehmenszweck auf einem höheren Niveau umgesetzt
wird, oder es wird ein neuer Unternehmenszweck möglich, so dass wirtschaftliche Hand-
lungen neu auszurichten sind, denn nur anhand des Unternehmenszwecks ist die Bewertung
der Handlungen möglich.
Als Fiktion soll folgende Situation unterstellt werden: Alle Informationen der Welt
seien digitalisiert.16 Es seien die Rohdaten, als denkmöglich verfügbare Informationen der
Realität in Systemen zu speichern, wobei die Daten einerseits in eine Klasse von Informa-
tionen und in eine Klasse von Nichtinformationen aufgespaltet werden können (vgl.
Abb. 5). Insbesondere Redundanz- und Qualitätsprobleme wären sicherlich massenhaft
vorhanden, wie dies heute bereits im Internet sichtbar wird. Mit immer weitergehenden
Bestrebungen wäre eine Abnahme der Klasse der Nichtinformation möglich, so dass der
Bereich potentieller Anwendungen in Anwendungssystemen immer weiter ausgedehnt
wird. Die Systeme werden damit für die Menschen die Brillen, mit denen Sie die Welt se-
hen. Dabei wird auch deutlich, dass die technische Separierung unterschiedlicher Datener-
in diesem Artikel nicht gewürdigt, denn es soll sich lediglich um ein fiktives Denkmodell han-
deln, welches einer härteren wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalten würde. Trotzdem ist
der Entwicklungspfad, der aus diesem Modell abgeleitet wird, sehr realistisch.
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 87
Realität
Rohdaten
Redudanz-
Daten probleme
Qualitäts-
Information Keine Information
probleme
'LH(QWIDOWXQJGHU$UFKLWHNWXUHQWODQJGHU:HUWVFK|SIXQJVNHWWHQHUIROJWQDFKHLQHP]ZHL-
dimensionalen Strukturierungsmuster. Die erste Dimension QLPPW HQWVSUHFKHQG HLQHV
Schalenmodells eine Unterscheidung der Aufgabenart vor, die im Kern bei den Stammda-
WHQEHJLQQWRKQHGLHNHLQHUOHL3UR]HVVHP|JOLFKVLQGEHUWHFKQLVFKGRPLQLHUWH$XIJDEHQ
geht, die sehr maschinennah sind, bis hin zu drei unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen
$XIJDEHQDUWHQRSHUDWLYGLUHNWZHUWVFK|SIHQGHDGPLQLVWUDWLYH$XIJDEHQXQG]XOHW]WHQW-
scheidungsorientierte Aufgaben) reicht.
Eine zweite DimensionVSH]LIL]LHUWVLQGGLHHLQ]HOQHQEHWULHEVZLUWVFKDIWOLFKHQ$XIJD-
EHQGLHDXFK]XVDPPHQJHQRPPHQGLH$XVJHVWDOWXQJGHVGLVSRVLWLYHQ)DNWRUVGDUVWHOOHQ
'LHVH ZHUGHQ IU GLH MHZHLOLJH :HUWVFK|SIXQJVVWXIH DXVJHSUlJW VR GDVV HV ]XVDPPHQ
JHQRPPHQ]XHLQ]HOQHQ$QZHQGXQJVV\VWHPDUFKLWHNWXUHQIUGLH,QGXVWULHGHQ*URKDQ-
GHOGHQ(LQ]HOKDQGHOXQGGLH.XQGHQNRPPW'DPLWZLUGGHUSRWHQWLHOOHQ9LHOIDOWIXQNWL-
onaler Anforderungen Rechnung getragen, so dass sich sämtliche funktionale Anforderun-
JHQHLQHUVHLWVV\VWHPDWLVLHUHQODVVHQXQGDQGHUHUVHLWVHLQH9HUGLFKWXQJYRQ)XQNWLRQHQ
P|JOLFKZLUGGLHGHP(QWVFKHLGXQJVWUlJHUVLQQIlOOLJHUVFKHLQW(LQVROFKHU2UGQXQJVUDK-
17 Zu Handelsmarken vgl. Bruhn (2001); Ahlert et al. (2001a); Ahlert, Kenning (2005); Ahlert et
al. (2001b); Ahlert et al. (2009)
90 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
Abb. 7 $UFKLWHNWXUIU,QIRUPDWLRQVV\VWHPHLQ,QGXVWULHXQWHUQHKPHQ
4XHOOH,Q$QOHKQXQJDQ6FKWWH6
'LHEHWULHEVZLUWVFKDIWOLFKSODQHULVFKHQ$XIJDEHQLP5DKPHQGHUDQ.XQGHQDXIWUlJHQ
DXVJHULFKWHWHQ3URGXNWLRQVSODQXQJXQGVWHXHUXQJVRZLHGLHSURGXNWLRQVXQGLQJHQLHXUV-
WHFKQLVFKHQ$XIJDEHQLQGHQVRJHQDQQWHQ&$[7HFKQRORJLHQZHUGHQLQ]ZHLEHUJHRUG-
QHWHQ3UR]HVVNUHLVHQDQJHRUGQHW'DEHLZLUGDXV*UQGHQGHU,QIRUPDWLRQVV\VWHPJHVWDO-
tung der Prozesskreis der technischen Produktentwicklung und Produktumsetzung ober-
halb der Stammdaten angeordnet (2. Ebene),18 und auf diesen Informationen basierend
18'DQQZlUHQGLH%H]HLFKQXQJHQLPHUVWHQ.UHLVÄ3URGXNWHQWZHUIHQ³Ä3URGXNWNRQVWUXLHUHQ³
Ä$XVIKUXQJVSODQ3URGXNWHUVWHOOHQ³Ä1&6WHXHUXQJIU3URGXNWSURJUDPPLHUHQ³Ä0DVFKLQHQ
IU3URGXNWVWHXHUQ³Ä:HUN]HXJHYHUZDOWHQ³Ä/DJHUXQG7UDQVSRUWVWHXHUQ³Ä3URGXNWLQVWDQG-
KDOWHQ³3URGXNWTXDOLWlWVVLFKHUQ³
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 91
werden die planerischen und steuernden Aufgaben der Produktionsplanung und -steuerung
positioniert (3. Ebene). Damit wird anhand der räumlichen Anordnung der technischen und
betriebswirtschaftlichen Aufgaben erkennbar, welche Aufgaben inhaltlich und zeitlich mit-
einander verwoben sind.
Der vierte Kreis repräsentiert die betriebswirtschaftlich-administrativen Aufgaben der
Personalwirtschaft, der Finanzbuchhaltung und der Kosten- und Leistungsrechnung.19 Die-
se Aufgaben nehmen vor allem eine wertmäßige Betrachtung des Ressourcenverbrauchs
der operativen Prozesse vor. Daher besteht bei vielen realen Informationssystem-Land-
schaften zwischen den die operativen Prozesse unterstützenden Systemen und den die be-
triebswirtschaftlich-administrativ unterstützenden Systemen ein Bruch, dessen Auswirkun-
gen anhand des Schalenmodells unmittelbar ersichtlich wird.
Im äußersten, fünften Kreis werden sämtliche Informationen für die übergreifende Ko-
ordination und Steuerung eines Unternehmens dargestellt, die darüber hinaus auch viele
Detailinformationen für einzelne betriebswirtschaftliche Entscheidungsprobleme in Indus-
trieunternehmen umfassen können.
Für Handelsunternehmen wurde nach dem Schalenmodell eine Strukturierung sämtli-
cher Funktionen für die Einzel- und Großhandelsstufe vorgenommen, die zur Durchfüh-
rung der Aufgaben im Handel erforderlich sind. Es lässt sich gut verwenden, um den un-
terschiedlichen Funktionen einen einheitlichen Rahmen zu geben. Die Entwicklung einer
Architektur von Informationssystemen für Aufgaben auf einer Großhandelsstufe20 (vgl.
Abb. 8, untere Teil) basiert zunächst auf den Stammdaten, die die Rahmenbedingungen des
operativen Geschäfts betreffen, insbesondere Artikel, Lieferanten, Kunden, Betriebe und
Konditionen (1 Kreis).
Auf Basis der Stammdaten werden die technischen Aufgabenbereiche abgebildet
(2. Kreis). Dies sind bei Großhandelsunternehmen die Energiesteuerung, die Lagersteue-
rung, die Transportsteuerung, die Instandhaltung und die Qualitätssicherung.21
Auf den Stammdaten basieren auch die betriebswirtschaftlich-operativen Prozesse
(3. Ebene) eines Handelsunternehmens, die aus einer taktischen und operativen Perspekti-
19 Im Rahmen der Architekturentwicklung wurden mit der Finanzbuchhaltung, der Kosten- und
Leistungsrechnung sowie der Personalwirtschaft „alte“ Termini der Betriebswirtschaftslehre ver-
wendet, da der mit den Begriffen intendierte Fokus begrenzt ist. Hingegen wäre beispielsweise
die Verwendung des Wortes Controlling hinsichtlich seiner Extensionalität auf Aufgaben in den
unterschiedlichen Architekturen nicht klar abgrenzbar gewesen.
20 Die Aufgaben auf Großhandelsstufe werden entweder von eigenständigen Großhandelsunterneh-
die Instandhaltung, die Lager- und die Transportsteuerung übernommen. Die Lager- und die
Transportsteuerung wurden bewusst nicht zusammengenommen wie in der Industrie-Informa-
tionssystemarchitektur – in Anlehnung an Scheer – abgebildet. Im Handel sind die Lagersteue-
rung und die Transportsteuerung zwei funktional ausgeprägte Bereiche, die mit vielen mitunter
unterschiedlichen Systemen unterstützt werden.
92 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
22 Die Leistung des Handelsunternehmens besteht darin, den Regalplatz und die Fläche sowie den
Raum innerhalb des Sortiments für Artikel des Lieferanten einzuräumen. Ergänzt werden diese
Kernleistungen durch absatzfördernde Maßnahmen wie Aktionspolitik, Werbung etc. Der Ein-
kaufspreis EKnn (netto netto), der alle sofortigen und nachträglichen Vergütungen beinhaltet,
kann daher nur vor dem Hintergrund der erbrachten Leistungen des Handelsunternehmens aus
Sicht des Industrieunternehmens bewertet werden.
23 Dies wird bewusst so konzipiert, damit die Informationen auch unabhängig von einzelnen Funk-
24 Aufgaben auf der Einzelhandelsstufe werden entweder von eigenen Unternehmen wahrge-
nommen, die kaum Verpflichtungen gegenüber der Großhandelsstufe besitzen, wie dies bei
autonomen Einzelhändlern eines Großhandelsunternehmens der Fall ist. Eine etwas höhere Ab-
hängigkeit haben Einzelhändler, die in einem Kooperationsverbund eingebunden sind, wie Ein-
zelhändler bei der EDEKA oder der Rewe. Die geringste Eigenständigkeit besitzen Filialbetriebe
von mehrstufigen Handelsunternehmen, die zumeist an konzernale Vorgaben gebunden sind
und für die das Koordinationsprinzip der Anweisung – als Wesensmerkmal eines Unternehmens
– gilt. Zur Differenzierung der unterschiedlichen Koordinationsformen, in Abhängigkeit von
den institutionellen Grundformen Markt und Unternehmen (Hierarchie) vgl. Williamson (1990)
sowie als Standardliteratur für die Institutionenökonomie Erlei et al. (2007); Richter, Furobotn
(1999) und in seiner Anwendung auf Organisation und Management Kräkel (1999).
25 Dabei wären die Objekte Kunden, Lieferanten, Betriebe und Lager durchaus mit überlappenden
ellen Gestaltung der verfügbaren Systeme sowie dem technischen State-of-the-Art. So wäre es
beispielsweise auch denkmöglich, dass es nur eine Online-Kasse gibt und eine Zuordnung zu der
hier vorgenommenen Systemklasse „Kasse“ nicht erforderlich wäre. Aufgrund der Anforderung
an einer ubiquitären Nutzung der Architektur wird davon aber abgesehen, denn die unterschiedli-
chen Einsatzsituationen in der Welt lassen eine derartige Gestaltung noch nicht in jedem Fall zu.
Die hier skizzierte Einteilung der Architektur orientiert sich dabei an einer logischen und nicht
technischen Sicht auf die Aufgaben von Handelsunternehmen.
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 95
gie unterteilen lassen.27 Diese beiden technischen Aufgabenarten sind zwingend zu unter-
scheiden, da es im Einzelhandel Technologien gibt, die mit Daten und Applikationen von
einem zentralen System versorgt werden müssen (sog. Peripherieeinheiten, Kasse, MDE,
Waage, Leergutautomat, Elektronische Regaletiketten, Infoterminals, Advanced Displays
etc.), damit diese von den Anwendern genutzt werden können. Dabei werden die Periphe-
reinheiten Offline, d. h. Applikationen und Daten stehen auf dem Peripheriegerät lokal zur
Verfügung, so dass Stamm- und Bewegungsdaten mit dem führenden System zu synchro-
nisieren sind. Eine Alternative zur Offline-Anbindung wäre die Online-Anbindung, bei der
die Applikationen und Daten nur über ein zentrales System bereitgestellt werden. Eine
Zwischenform stellt eine Quasi-Online-Anbindung dar, bei der die Applikationen und
Daten wie im Offline-Fall zur Verfügung stehen und eine Verbindung immer dann online
hergestellt wird, wenn dies aus prozessualen Gründen geboten ist. Somit werden die Vor-
teile von Online-Anbindungen mit der Notwendigkeit einer von zentralen Systemen auto-
nomen Verfügbarkeit von Applikationen verbunden.
Neben den eingesetzten Technologien im Einzelhandel ist zu berücksichtigen, wie der
Anwender auf das zentrale System sowie auf die Peripherieeinheiten zugreift. Somit wer-
den als zweite Klasse technischer Aufgaben die hier als Anwenderzugriffstechnologien
bezeichneten Technologien subsumiert, mit denen Anwender die Funktionalitäten von
Aufgabenbereichen mittels Systemen nutzen. In einer Idealwelt wäre dies nur eine Ober-
fläche wie ein Web-Browser oder eine GUI, über die die Anwender auf die Funktionalitäten
zugreifen. In der Realität werden aber Funktionen auf diversen Endgeräten bereitgestellt,
vor allem auf Mobile Devices, die in den Betrieben mittlerweile umfassende warenwirt-
schaftliche Funktionen wahrnehmen und entweder Online oder Offline gesteuert angebun-
den werden können. Zusätzlich wird es bei größeren Märkten erforderlich, über eine Por-
taloberfläche (idealtypisch) oder diverse Anwendungsoberflächen der unterschiedlichen
Systeme (Warenwirtschaftssystem, Kassensystem, Finanzbuchhaltung, etc.) auf deren
Funktionen zuzugreifen.
Aufgrund der heute üblichen Trennung zwischen Kassensystemen und sonstigen Peri-
pheriegeräten wird hier die technische Anbindung der Kassen an die betriebswirtschaftli-
chen Aufgaben der nächsten Schalenebene auch in einem eigenen Prozessbereich angeord-
net, denn die unterschiedliche Handhabung der Kasse in der informationstechnischen Re-
alität grenzt die Kasse von anderen Peripheriegeräten ab. Aus einer logischen Strukturie-
rungsperspektive heraus wäre aber auch die Kasse nur eine weitere Peripherieeinheit. Bei
den aktuellen Installationen sind die Lösungspakete jedoch zumeist zwischen Peripherie-
steuerung und Kasse getrennt.
Die wesentlichen betriebswirtschaftlich-operativen Aufgaben auf der Einzelhandelsstu-
fe bestehen darin, im Rahmen des Warenmanagements die Einkaufs- und die Vertriebssei-
te im Sinne eines ganzheitlichen Marketings zusammenzuführen (3. Ebene). Es ist auch auf
der Einzelhandelsstufe möglich, und bei selbständig agierenden Unternehmen ohne jede
28 Esmag an dieser Stelle verwundern, warum der Zustellgroßhandel mit einer Architektur für
Einzelhandelsaufgaben abgebildet werden soll. In der Praxis ist das C+C-Geschäft jedoch nur mit
den Aufgaben des Einzelhandels, welche aus Zustellung und Abholung bestehen, abzudecken.
Im Großhandel dominiert die Zustellung meist über die Abholung, auch wenn Abholfunktionen
zu berücksichtigen sind. Im C+C-Bereich sind jedoch auch Verkaufsvorgänge wie im Einzelhan-
delsbereich – bis hin zu vielfältigen Anforderungen an den Kassenprozess sowie die Bedienauf-
gaben – ausgeprägter.
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 97
UHFKQXQJXQG+XPDQ5HVVRXUFH0DQDJHPHQWGLHGLHEHWULHEVZLUWVFKDIWOLFKDGPLQLVWUDWL-
YHQ 3UR]HVVH UHSUlVHQWLHUHQ 'DEHL ZHUGHQ EHUHLWV GLH .UHGLWRUHQ XQG
'HELWRUHQEXFKKDOWXQJ DOV XQWHUVWW]HQGH 3UR]HVVH IDUEOLFK DQDORJ ]X GHQ EHWULHEVZLUW-
VFKDIWOLFKDGPLQLVWUDWLYHQ3UR]HVVHQPDUNLHUWXP]ZLVFKHQGHQZHUWVFK|SIHQGHQXQGGHQ
XQWHUVWW]HQGHQ$XIJDEHQLQGHU(LQ]HOKDQGHOV$UFKLWHNWXU]XXQWHUVFKHLGHQ
Die fünfte EbeneZLHGHUXPDQDORJ]XGHQ$XVIKUXQJHQDXIGHU*URKDQGHOVVWXIH
GLHQWGHU$EELOGXQJYRQHQWVFKHLGXQJVUHOHYDQWHQ,QIRUPDWLRQHQIU3DUWLDOHQWVFKHLGXQJHQ
oder Koordinationsaufgaben im Unternehmen.
Eine weitere Neuerung der mehrstufigen Architektur von Informationssystemen als Wei-
WHUHQWZLFNOXQJGHU$UFKLWHNWXUYRQ+DQGHOVLQIRUPDWLRQVV\VWHPHQGLHGLHJHVDPWH:HUW-
VFK|SIXQJVNHWWHDEELOGHWLVWGLH'HILQLWLRQHLQHU$UFKLWHNWXUIU.XQGHQLQIRUPDWLRQVV\V-
teme (vgl. Abb. 9). Die Zielsetzung der Kunden-Informationssystemarchitektur besteht
darin, sämtliche Informationen und denkmögliche Anwendungen, die im weitesten Sinne
GHV:RUWHVHQWVFKHLGXQJVUHOHYDQWIUHLQHQ.XQGHQVLQGLQHLQHQ5DKPHQHLQ]XRUGQHQ
Zudem wird der Kunde dabei nicht nur als Individuum betrachtet, sondern auch als sozialer
Akteur, der in unterschiedlichen sozialen Netzwerken agiert. Da diese sozialen Netzwerke
zum einen an ökonomischer Relevanz gewonnen haben, zum anderen aber auch besondere
Die nachfolgende Analyse widmet sich dem Problem, in unterschiedlichen Bereichen von
Handelsinformationssystemen bereits heute vorhandene und von den Autoren erwartete
Potenzial zu identifizieren. Es wird dabei präsupponiert, dass zwischen dem aktuellen und
dem möglichen Digitalisierungszustand eines Handelsinformationssystems eine Diskre-
panz besteht, d. h. ein Digitalisierungspotenzial größer null existiert (Problem-Präsupposi-
tion). Außerdem wird davon ausgegangen, dass es Technologien gibt und geben wird, die
31 Vgl.hierzu Ahlert et al. (2010/2011). Aus diesem Grund wird auch auf eine weitere Entfaltung
des Kundenkaufprozesses und alternativer Strukturierungsraster im Rahmen von Kundenent-
scheidungen verzichtet. Dies gilt insb. auch vor dem Hintergrund, dass für die Architekturen von
Industrie-, Handels- und auch Kundeninformationssystemen eine prozessorientierte Perspektive
gewählt wurde, die für die Gestaltung von Informationssystemen von besonderer Bedeutung ist.
100 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
GDV$XVPDGHV'LJLWDOLVLHUXQJVSRWHQ]LDOVGHWHUPLQLHUHQ7HFKQRORJLH3RWHQ]LDO3UlVXS-
SRVLWLRQ'LHGHQQDFKIROJHQGHQ$XVIKUXQJHQ]XJUXQGHOLHJHQGHQ7HFKQRORJLHQGLHLQ
GHU3URJQRVHHLQHVP|JOLFKHQ'LJLWDOLVLHUXQJVSRWHQ]LDOVYRQ,QIRUPDWLRQVV\VWHPHQ(LQ-
gang gefunden haben, sollen vor der Diskussion der Digitalisierungsfelder skizziert wer-
GHQ'DEHLZLUGDXIHLQHP|JOLFKH.ODVVLILNDWLRQRGHU7\SLVLHUXQJYRQ7HFKQRORJLHQNHLQ
:HUWJHOHJW6WDWWGHVVHQVROOH[HPSODULVFKHLQH0F.LQVH\6WXGLHUHIHUHQ]LHUWZHUGHQGLH
LP 6LQQH GHU 7HFKQRORJLH3RWHQ]LDO3UlVXSSRVLWLRQ HLQH ZLFKWLJH 8QWHUVFKHLGXQJ YRU-
nimmt: Die zwischen der Wirkungstiefe der Technologie und der mittel- und langfristigen
(LQWULWWVZDKUVFKHLQOLFKNHLWXQG]XGHPIUGHQ.RQVXPJWHULQGXVWULHXQGKDQGHOVEHUHLFK
HUVWHOOWZXUGH%HQVRQ$UPHUHWDO$XV$EE werden hier vor allem 3D Printings,
Internet of Things, Advanced Robotics, Big Data (damit auch die in der Abbildung geson-
GHUWDXIJH]HLJWH$GYDQFHG0DUNHWLQJ0RELOH:RUOGXQG$UWLILFLDO,QWHOOLJHQFHDOV(QDE-
OHUIUQHXH0|JOLFKNHLWHQIRNXVVLHUW
Dabei werden diese Entwicklungen als Primärtrends identifiziert. Zur Umsetzung wie-
GHUXP KDEHQ VLFK XQWHU DQGHUHP ± KLHU DOV VHNXQGlU EH]HLFKQHWH ± 7UHQGV ZLH &ORXG
&RPSXWLQJ6HQVRUHQXQG$NWXDWRUHQ1DWUOLFKHQ,QWHUIDFHVXQGGHUPDVVLYH$XVEDXYRQ
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GHU+DUGZDUH]XQHKPHQPVVHQ(VZLUGHUVWLQMQJVWHU=HLWGHXWOLFKZHOFKH(QWZLFN-
lungspfade sich relativ zeitnah erfüllen werden, auch wenn die für die Gestaltung der
Systeme bekannten Konzepte wissenschaftlich keine neuen Erkenntnisse darstellen. Aller-
dings kommt es nun aufgrund der neuen Möglichkeiten und des erreichten Digitalisierungs-
niveaus zu umsetzbaren Lösungen. Am deutlichsten wird sich diese Differenz möglicher-
weise bei der Künstlichen Intelligenz zeigen. Eine Teildisziplin der Informatik, die eine
lange Tradition hat und viele Methoden und Lösungsprinzipien bereits in der Vergangenheit
entwickelte, die in naher Zukunft in vielen Anwendungsdomänen einen Durchbruch errei-
chen kann.
Ein Basistrend ist dabei, dass Information und Objekt zusammenwachsen. Dies erfor-
dert auch die Berücksichtigung von ganzheitlichen Ansätzen bei der Anwendungssystem-
gestaltung, wie sie insbesondere in der Integration von Systemen in der Wirtschaftsinfor-
matik zum Ausdruck kommt.
Die Zielsetzung der Integration von Anwendungssystemen hat eine lange Tradition,
allerdings bedarf es zunächst einer begrifflichen Präzisierung was unter Integration ver-
standen werden kann. Integration ist entweder der Prozess des Herstellens eines Ganzen
oder das Ergebnis, das Ganze an sich (Rosemann 1999, S. 5f.). Dabei kann das Ziel der
Integration durch eine Integration im Sinne des Verbindens oder eine Integration im Sinne
der Vereinigung – in unterschiedlichem Maße – erreicht werden.
Bei der Integration im Sinne des Verbindens werden ehemals unverbundene Systeme
durch – die in der Regel – nachträgliche Herstellung von logisch bestehenden Beziehungen
zwischen Systemen hergestellt. Somit liegt vor allem eine datentechnische Kommunikati-
on vor, indem die Systeme über Schnittstellen miteinander verbunden werden, in ihrer
Unabhängigkeit bleiben die Systeme hingegen bestehen. Die Integration im Sinne der
Vereinigung nimmt eine Vereinheitlichung gleichartiger Elemente oder Beziehungen eines
Systems vor, so dass es zu einer Reduktion der Anzahl an Elementen kommt. Die mit der
Integration verbundenen Zielsetzungen sind grundsätzlich:
• Redundanzen reduzieren
• Konsistenz erhöhen
• Aktualität der Information verbessern (und damit die Entscheidungsqualität)
Bei einer Differenzierung zwischen einer Integration im Sinne der Vereinigung und einer
Integration im Sinne des Verbindens einerseits und den unterschiedlichen Integrations-
graden bei einer Wertschöpfungsstufenbetrachtung (vgl. Abb. 11) andererseits gelangt
man zu einer betriebswirtschaftlich-motivierten Perspektive auf den Gegenstandsbereich
der Gestaltung, der für die weitere Analyse auch im Vordergrund stehen soll. Dies ver-
deutlicht dabei auch einmal mehr, analog zu den Ausführungen im Kontext von Abb. 5,
dass die Idee einer einheitlichen Datenbasis nichts an Gültigkeit verloren hat. Dies ist
insbesondere im SAP-Kontext der historischen Entwicklung integrierter Anwendungs-
systeme von R/2 bis zu ERP 6.0 und der technologischen Entwicklung der Hana-Daten-
bank wesentlich, denn die Plattform gestattet nun auch die Speicherung von Massenda-
ten, so dass die ehemals an technischen Limitationen zu scheitern drohende Integrations-
idee neu belebt wird.
102 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
da Millionen von Datensätzen erneut aufgebaut werden müssen. Dies hat seinen Grund in
einer methodisch fehlerhaften, in der Vergangenheit jedoch zwingenden Modellierung bzw.
Nicht-Modellierung der Zeit bei den Stammdaten. Die einzelnen Objekte sind für sich
genommen und besonders in der Zuordnung zu einer Gruppe zeitabhängig. Dies gilt umso
mehr, wenn die Versprechungen des Internet of Things erfüllt werden. Die Eigenschaften
eines Objekts sollten dann immer auch zeitabhängig verfügbar sein in einer informations-
technischen Welt ohne systemtechnische Restriktionen. Die Systeme würden bei der ernst-
haften Berücksichtigung von Anforderungen zu Sensoren und Aktuatoren zu einer vollstän-
dig anderen Abbildung von Stammdaten kommen, da der charakteristische Unterschied
von Stamm- und Bewegungsdaten – mindestens auf der Ebene der Objekte – so entfallen
würde. Diese fundamentale Modifikation von Stammdaten in den Systemen würde auch
eine andere Perspektive auf Kunden ermöglichen, denn auch bei diesen gilt, dass ein Kun-
de nicht zeitunabhängig abgebildet werden sollte, sondern viele seiner Attribute nur zeit-
abhängig interpretiert werden dürften.
teme haben dabei eine nur untergeordnete Rolle eingenommen, denn die Definition der
Anforderungen hat sich vor allem an den Kundenbedürfnissen ausgerichtet, die eine Auto-
matisierung nur in Teilbereichen zugelassen hat. Diese Automatisierungsmöglichkeit ope-
rativer Aufgaben (Preispflege, Listungsanlage und -pflege, etc.) wird zukünftig immer
mehr mit der Entscheidungsautomatisierung einhergehen, die auf der fünften Kreisebene
der IS-Architekturen angeordnet ist. Je mehr Technologien wie der von SAP verfolgte
Ansatz einer In-Memory-Datenbank mit den vielen begleitenden Optimierungsmaßnah-
men umgesetzt werden, desto weniger wird die operative Ebene eine eigenständige Berech-
tigung ohne die Entscheidungsebene besitzen. Daher können die operativen Aufgaben und
die Entscheidungsaufgaben zusammengenommen, erstens einen enormen Effektivitäts-
sprung ermöglichen, der vor allem der Entscheidungsebene (eine Automatisierung der
Entscheidung, des Denkens sozusagen) zuzuordnen wäre. Zweitens wäre der Effizienz-
sprung für die operativen Aufgaben im engeren Sinne möglich, die vor allem aus einer
Automatisierung des Tuns realisiert werden.
Neben den Parametern des Marketing-Mixes gilt ein besonderer Fokus der Logistikpro-
zessoptimierung im Sinne von Supply Chain Steuerungen. Die Logistikkosten vom Liefe-
ranten bis ins Regal des Handelsunternehmens bzw. bis zum Kunden stellen neben den
sonstigen Personalkosten und der Miete die wichtigste Kostenart in Handelsunternehmen
dar. Im Zuge zunehmender Mehrkanalangebote steigt die Bedeutung dieser Kostenkompo-
nente weiter an, denn die Zustellung der Ware zu den Kunden tritt als weitere Kostendi-
mension hinzu (und die Miete wird stattdessen gegenüber einem stationären Handelsunter-
nehmen weniger bedeutend). Die Aufgaben der Logistik in Handelsunternehmen sind lo-
gisch in die beiden Hauptprozesse Beschaffungs- und Distributionslogistik zu differenzie-
ren, die bei einer zeitlichen Synchronisation auch miteinander verwoben sein können.
Bei der distributionslogistischen Prozessgestaltung hat in stationären Handelsunterneh-
men ein statischer – nur in Sonderwochen veränderter – Tourenplan eine besondere Bedeu-
tung. Der Tourenplan wirkt als die logistischen Prozesse steuernder Rahmen, innerhalb
dessen die Optimierung stattfindet.
Neben der Optimierung der taktisch-strategischen Rahmenbedingungen, innerhalb de-
rer die einzelnen Logistikprozesse abgebildet werden, ergeben die Digitalisierungsmög-
lichkeiten durch mobile Technologien, das Internet of Things, Big Data for operations, etc.
eine zeitlich bessere Synchronisationsmöglichkeit von Prozessen zwischen den Handels-
stufen bis hin zu den Endkunden. Auf diese Weise werden beispielsweise in den Einzelhan-
delsbetrieben Personal-Leerkosten vermeidbar, da die Abstimmung von Anlieferung und
Einräumung der Ware in Echtzeit möglich wird. Auch die Art und Weise der Personalein-
satzplanung kann sich viel stärker an den tatsächlichen Erfordernissen in den Betrieben
ausrichten. Die Prozesskette von der Kommissionierung, den Warenausgang und den
Transport bis hin zum Wareneingang im Einzelhandel, der Verräumung der Ware und der
Lagerung dort wird viel bedarfsorientierter und zugleich zielorientierter erfolgen können.
Die Vision, dass die einzelnen Lagerplätze im Einzelhandel genauso verwaltet werden
können wie im Großhandel ist nicht mehr zu weit entfernt und wird die Effizienz der Ein-
räumprozesse verbessern.
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 107
Aufgrund der verfügbaren Daten lassen sich bereits heute oligopolistische Verhaltensan-
nahmen (in Form der Preisführerschaft und des damit verbundenen Verhaltens) bestätigen.
Die heute übliche Verhaltensweise bei Handelsunternehmen, Preise und Sortimente in der
vorhandenen Dimension als durch Menschen beherrschbar einzuschätzen, widerspricht der
tatsächlichen Situation in Handelsunternehmen. Die Verantwortung von vielen tausend
Artikeln in einem Sortimentsbereich ist durch einzelne Verantwortliche nicht wirtschaftlich
möglich, selbst die Verantwortungsreichweite bei Discountern widerspricht den Erkennt-
nissen über die menschlichen Verarbeitungsfähigkeiten. Es wird zumeist unter Verweis auf
die Verhaltensweisen des Unternehmens aus der Vergangenheit oder die Referenzierung
auf den Wettbewerb argumentiert, wobei beide Argumentationsketten nicht zwingend zu
einem optimalen Angebotspreis führen. Die heutige Praxis in Handelsunternehmen ist nicht
rational begründbar und entscheidend dürfte zukünftig sein: es gibt viel effektivere und
effizientere Möglichkeiten unter Einbeziehung intelligenter Algorithmen und der sie unter-
stützenden Applikationssysteme. Ob eine Simulation der Einkaufspreise basierend auf den
Inhaltsstoffen, verknüpft mit der Rohstoffpreisentwicklung, die Kalkulation von Einkaufs-
und Verkaufspreisen für unterschiedliche Mengeneinheiten bei differenten Vertriebsschie-
nen oder eine mengengewichtete Verkaufspreisanalyse der Konkurrenz ist, um eigene
Verkaufspreisnotwendigkeiten der Industrie zu offerieren, die Beispiele sind vielfältig. Die
Sortimentspolitik als, nach Erkenntnissen der Autoren, wirtschaftlich relevanteste Aufgabe
wird ohnehin zu wenig von Systemen unterstützt und es gibt insbesondere für diese Auf-
gabe zu wenig Experten.
Ein weiteres Beispiel für das enorme Potenzial aus der Kombination von Verfügbarkeit
von qualitativ hochwertigen Daten einerseits und der maschinellen Verarbeitbarkeit ande-
rerseits besteht in der Relaxation der Strukturbedingung – beispielsweise in der Logistik,
die wiederum dem taktisch-strategischen Bereich zuzurechnen ist. Die Veränderung der
Strukturbedingungen der Logistik erscheinen den Autoren ein großes Potenzial für die
zukünftige Logistikoptimierung zu bieten, denn die Wirtschaftlichkeit wird bis dato stets
nur im Rahmen der gegebenen Strukturen optimiert, ein darüber hinaus gehendes Opti-
mum ist aktuell vor allem Gegenstand von Analysen von Unternehmensberatungen. Die
modernen IT-Architekturen, wie die der SAP mit ihrem SAP Hana-Ansatz, erlauben aber
auch die gleichzeitige Simulation und Auswertung von großen Datenmengen, die bei-
spielsweise bei einer Variation von Strukturbedingungen entstehen. Somit wird es zukünf-
tig nicht nur vorgegebene Rahmen-Tourenpläne geben, sondern auch – wie beispielswei-
se im SAP Transportation Management vorgesehen – eine strategische Optimierung der
Tourenpläne.
Dabei sind die denkmöglichen Analyseszenarien von Belieferungsplänen, Mindestbe-
ständen, der Veränderung der Sortimente mit Kartongröße und Sortierung, Displays, etc.
kaum Grenzen gesetzt. Dies deutet aber auch zugleich die Radikalität an, mit der die Digi-
talisierung bisherige Arbeits- und vor allem auch Denkweisen in Handelsunternehmen
verändern kann. Der dispositive Faktor, der bisher ausschließlich vom Menschen wahrge-
nommen wird, gerät zukünftig auch in Reichweite der Maschinen. Die Handelsmanager
sollten dies anerkennen und es sich zugleich zu Nutze machen.
Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 109
1.4 Fazit
Seit geraumer Zeit wird von der Digitalisierung quasi als Allzweckwaffe der Zukunft ge-
sprochen, auch wenn die klassischen Aufgaben in Handelsunternehmen keine Veränderung
erfahren haben. Es geht in den nächsten Jahren darum, die bisherige Aufgabenerfüllung auf
ein höheres Niveau zu heben, welches nur mit modernen Instrumenten der Informations-
technologie möglich sein wird. Solange die Handelsunternehmen, die sich wettbewerblich
zumeist in einem Oligopol bewegen, diese Notwendigkeit kollektiv verneinen, so gibt es
für die einzelnen Akteure auch kein Problem. Es sei denn, dass auch außerhalb des Oligo-
pols Wettbewerber existieren, die zu potentielle Konkurrenten werden können. Auch wenn
die Einschätzung in einem engen Oligopol naheliegen könnte, dass eine Warteposition
rational sein könnte, ist dies bei dem auch infolge der Informationstechnologien möglichen
Veränderungsgeschwindigkeit vielleicht zu existenzgefährdend. Erstens sind die Wettbe-
werber, die man (noch) nicht sieht, vielleicht besonders gefährlich und zweitens besteht die
Gefahr, das auch nur ein relevanter Systemwettbewerber die wirtschaftlichen Situationen
im Oligopol erheblich verändern kann. Es verbleibt somit bei der Erschließung des tech-
nologiebedingten Digitalisierungspotenzials keine Alternative zur – durchaus auch fehler-
behafteten – Innovation, denn die Unterlassensalternative dürfte aus Risikoüberlegungen
keine Alternative sein.
Die Digitalisierung führt dazu, dass die traditionellen Funktionen des Handels (räumli-
che Überbrückungsfunktion etc.) nicht als Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen
Wettbewerbern ausreichen – deshalb erscheint es umso wichtiger für Handelsunterneh-
mens, die fundamentalen strategischen Fragen zu beantworten: wer sind meine Kunden und
wie ist eine Differenzierung zur „Online-Konkurrenz“ möglich. Dabei eröffnen die digita-
len Möglichkeiten auch für bestehende Handelsunternehmen bisher nicht erschlossene
Potenziale. Viele neue Entwicklungen im Handel und in der Kundenansprache werden je-
doch technologie-induziert sein – unabhängig, ob es ein stationärer oder ein Online-Händ-
ler ist. Somit bedarf es einer Technologiekompetenz, die entweder zugekauft (Outsour-
cing), eingekauft (Insourcing) oder entwickelt werden muss (Aufbau). Diese Technologie-
kompetenz wird perspektivisch zu den Kernkompetenzen der Handelsunternehmen wer-
den. Neben der Technologiekompetenz werden auch die Stammdatenprozesse (sowohl
Kunden- als auch Produktdaten) bedeutsamer, qualitative und umfassende Stammdaten
sind sowohl für die Effizienzsteigerung bestehender als auch die Effektivität neuer, die
Kundenansprache fokussierender Prozesse wichtiger.
Wenn ein Handelsunternehmen diese notwendigen Voraussetzungen (Technologiekom-
petenz und Stammdatenverbesserung) erfüllt hat, dann bedarf es vor allem der kulturellen
Anpassung, um von einer produktzentrierten zu einer kundenzentrierten Perspektive zu
gelangen und damit auch die hinreichende Voraussetzung für ein erfolgreiches Handelsun-
ternehmen in einer digitalisierten Welt zu schaffen.
110 Reinhard Schütte • Thomas Vetter
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Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen 113
Autoren
Prof. Dr. Reinhard Schütte ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik und in-
tegrierte Informationssysteme an der Universität Duisburg-Essen. Er hat an der Westfäli-
schen Wilhelms-Universität Münster in Wirtschaftsinformatik promoviert und habilitiert
sowie an den Universitäten Münster, Essen, Koblenz und Friedrichshafen geforscht und
gelehrt. Er setzt sich seit 1992 mit der Entwicklung und Einführung von Handelsinforma-
tionssystemen sowie der prozessualen Gestaltung von Handelsunternehmen auseinander.
Er ist Verfasser und Herausgeber diverser Bücher und hat in nationalen und internationalen
Journalen publiziert. Seine Arbeitsgebiete sind Enterprise Systems, die Digitalisierung von
Institutionen, Informationsmodellierung und Wissenschaftstheorie.
Dr. Thomas Vetter, Senior Vice President, leitet die globale Produktmanagement- und
Entwicklungsorganisation für die Bereiche Konsumgüterindustrie, Einzelhandel, Großhan-
del und Life Science bei der SAP SE, dem weltgrößten Anbieter für Unternehmenssoftware
mit Sitz im badischen Walldorf. Nach seiner Promotion in Theoretischer Physik kam Dr.
Thomas Vetter 1994 zur SAP. Er repräsentiert SAP auch im „Arbeitskreis Organisation der
Schmalenbachgesellschaft“, einer angesehenen gemeinnützigen Forschungsgesellschaft.
In dieser Funktion hat er als Mitautor eine Reihe von Publikationen zum Thema Organisa-
tion veröffentlicht.
115
Michael Gerling
Geschäftsführer, EHI Retail Institute e.V., Köln, Deutschland
[email protected]
1.1 Einleitung
Die Bedeutung der Informationstechnik für den Handel ist heute so hoch wie nie zuvor.
Mittlerweile gibt es kaum noch Bereiche, welche die IT nicht durchdringt. Und auch die
strategischen Aufgaben der IT haben sich geändert. Während bis zur Jahrtausendwende die
Rationalisierung im Mittelpunkt der IT-Nutzung stand, steht heute immer mehr der Kun-
dennutzen im Vordergrund. Themen, wie Omni-Channel, Mobile Commerce oder mobiles
Bezahlen stehen heute ganz oben auf den Prioritätenlisten der Handels-IT. Damit reagiert
der Handel auf ein neues Konsumentenverhalten, das in enger Verbindung mit einer immer
stärkeren Nutzung von IT-Systemen durch die Menschen selbst steht.
Jeder Euro kann bekanntlich nur einmal ausgegeben werden. Daher ist es von größter
Wichtigkeit, die richtigen Investitionsentscheidungen bezüglich der Technologien zu tref-
fen. Dabei müssen gegebenenfalls heute schon die Weichen für kommende Technologien
gestellt werden, indem die Infrastruktur entsprechend vorbereitet wird. Bezahlterminal
ohne NFC-Fähigkeit wären heute sicher ein hohes Investitionsrisiko. Wichtig ist, klar zu
unterscheiden, welche Technologien lediglich Strohfeuer sind und welche für das Unter-
nehmen in Zukunft möglicherweise sogar überlebenswichtig sein könnten.
Das EHI beobachtet und dokumentiert seit vielen Jahrzehnten die IT-Trends im deutsch-
sprachigen Handel, seit Beginn dieses Jahrtausends mit einer im zweijährigen Turnus
stattfindenden persönlichen Befragung der IT-Verantwortlichen des Einzelhandels. Mit
jeweils rund 100 persönlichen Interviews zu den wichtigen Themen und Trends rund um
den IT-Einsatz im Handel dokumentiert das EHI damit die jeweils aktuellen Prioritäten und
Investitionsschwerpunkte. Ein Blick zurück zeigt, wie sich die Aufgabe der IT in der Han-
delsbranche verändert hat.
Nachdem die Handels-IT in ihren Anfangsjahren auf die Rationalisierung von Massenda-
tenverarbeitung fokussiert war, begann in den siebziger Jahren mit der Entwicklung der
Artikel-Numerierungssysteme für die Handelsbranche eine neue Zeit. Die Entwicklung des
EAN-systems und die Entscheidung für den Barcode als maschinenlesbares Identifikati-
onssystem waren viele Jahre lang prägend für die IT-Projekte im Handel. Die Einführung
der Scannerkassen hat die Branche nachhaltig geprägt. Der Wegfall der Einzelpreisaus-
zeichnung war eine große Errungenschaft und ein erheblicher Rationalisierungsschritt.
Eng mit dem Scanning verbunden waren aber auch die vielen Möglichkeiten der arti-
kelgenauen Warenwirtschaft, von der Abverkaufsanalyse bis hin zur Bestandsführung.
Sortimentsentscheidungen konnten endlich mit fundierten Daten unterstützt werden, Ab-
satzprognose und automatische Bestellsysteme wurden möglich. Nicht weniger als zwei
Jahrzehnte standen Scanning und die damit verbundenen IT-Themen damit im Mittelpunkt
der IT in der Handelsbranche. Erst zur Einführung des Euro im Januar 2002 entschieden
sich dann auch die Discounter für die Installation von Scannerkassen. Mit steigenden Sor-
timentszahlen entstanden auch im Discount neue Anforderungen an die warenwirtschaftli-
chen Grundlagen.
In den neunziger Jahren verlagerte sich der Fokus der Handels-IT dann auf die vertikale
Optimierung der Lieferkette. Efficient Consumer Response (ECR) war das Schlagwort
dieses Jahrzehnts. Dabei ging es vor allem um Effizienzsteigerungen durch eine optimale
Verzahnung der IT-Systeme und der Logistik in der Handelsbranche. Im Lebensmittelhan-
del war hier Wal-Mart der Vorreiter für optimal abgestimmte Informations- und Warenströ-
me zwischen Industrie und Handel und auch für die Nutzung von Daten zur Steuerung der
Geschäftsprozesse. Wal-Mart verfügte Anfang der 90er Jahre über eine Data Warehouse
mit einem Datenvolumen von mehr als 10 Terrabyte. Heute wird man über diese Speicher-
kapazität nur müde lächeln, damals war das aber eine Sensation. Wal-Mart speicherte nicht
nur artikelgenaue Absätze pro Tag und Filiale, sondern auch komplette Bondaten und
hinterlegte für einzelne Artikel Soll-Absatzverläufe mit automatisierten Alarmsystemen bei
Abweichungen von den erwarteten Absatzkurven. Das war der Beginn einer zunehmenden
analytischen Entscheidungsfindung in der Handelsbranche.
Elektronischer Datenaustausch (EDI) war eines der ganz großen Themen der Branche.
Heute ist der elektronische Austausch von Bestell-, Liefer- und Rechnungsdaten für viele
Unternehmen gängige Praxis, viele andere elektronische Nachrichtenstandards wie zum
Beispiel zur Lieferavisierung sind aber bis heute immer noch kaum verbreitet, obwohl alle
dafür notwendigen Standards seit langem vorhanden sind.
Im Fashionbereich waren es H&M oder die Inditex-Gruppe (Zara u. a.), die mit ihrer
vertikalen Integration vom Rohstoff bis zum Laden den Ton angaben, und dies auch heute
Vom Barcode zu Mobile Commerce 119
noch tun. Sie haben gezeigt, dass die Geschwindigkeit der Lieferkette durch geschickte
Organisation erheblich erhöht werden kann. Die Zeit wischen Kollektionsentwicklung und
Filialbestückung konnte erheblich verkürzt, das Risiko von Überbeständen deutlich ge-
senkt werden. Während in der Branche von der Produktidee bis zur Filialbestückung im
Durchschnitt noch 18 Monate vergingen, schafften die führenden Unternehmen es, eine
Produktidee innerhalb von 14 Tagen in die Läden zu bringen. Bis heute setzen diese Un-
ternehmen weltweit die Maßstäbe in Sachen vertikale Integration.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war dann nach einer kurzen Phase der Interneteuphorie die
Radiofrequenzidentifikationstechnik (RFID) das vorherrschende Thema. Die Ablösung der
Barcodes durch Chip und Antenne versprach gravierende Vorteile. Allen voran stand hier
natürlich die Vision des automatischen Checkouts, besonders in Branchen wie dem Lebens-
mittelhandel. Nur den prallgefüllten Einkaufswagen durch eine Schleuse schieben, die
Registrierung der Artikel vollkommen ohne Kassenkraft, Check-Out in Sekundenschnelle,
so die Vision der Branche.
Doch die große Euphorie war bald verschwunden. Die Massentauglichkeit von RFID
auf geringwertigen Artikeln konnte bisher nicht hergestellt werden und ist auch auf abseh-
bare Zeit nicht zu erwarten. Zwar ist heute technisch fast alles möglich, wirtschaftlich
lassen sich RFID-Tags aber nur auf entsprechend hochwertigen Produkten sinnvoll nutzen.
Heute findet sich diese Technologie vor allem im Bereich logistischer Anwendungen, also
als Kennzeichnung von Containern oder Paletten, oder aber auf hochwertigen Einzelarti-
12%
keln, also zum Beispiel im Handel mit Bekleidung. So sehen heute 70 Prozent der Unter-
nehmen keine Einsatzmöglichkeiten für die RFID-Technik, im Bereich höherwertiger Gü-
ter liegt dieser Anteil bei rund 60 Prozent. Vor allem die Kombination aus Warensicherung
und Identifizierung mit Hilfe einer Technik ist hier sehr vorteilhaft. Im Bereich Lebensmit-
tel oder anderer schnell drehender Konsumgüter beschränken sich die wenigen Anwendun-
gen auf logistische Prozesse im Hintergrund.
Mit Beginn dieses Jahrtausends veränderte sich der Fokus der IT-Projekte im Handel radi-
kal. Nicht mehr Rationalisierung und Effizienzsteigerung waren das Hauptziel des IT-
Einsatzes, vielmehr rückte der Kundenutzen von IT-Projekten stärker in den Vordergrund.
Sehr deutlich wurde diese Trendwende in den Jahren 2006 und 2007. Hier formulierten die
IT-Verantwortlichen erstmals, dass die Erschließung neuer Absatzchancen, der Ausbau von
Kundenservices oder die Ausrichtung von Vertriebskonzepten auf die Anforderungen von
Zielgruppen im Fokus der IT-Projekte stehen.
Diese Ausrichtung der Handels-IT auf den Kundennutzen hat sich in den letzten Jahren
immer weiter verstärkt. Heute steht die Integration von stationären Geschäften mit der
Online-Welt ganz oben auf der Prioritätenliste der IT-Verantwortlichen. Omni-Channel und
Mobile Commerce werden als die mit Abstand wichtigsten technologischen Trends der
nächsten Jahre gesehen. Big Data bzw. Analytics und InMemory-Technologie werden
gleichzeitig stark an Bedeutung gewinnen. Auch Cloud-Computing wird zunehmend als
wesentlicher Trend der kommenden Jahre identifiziert.
Prozessoptimierung / SCM 61
Ausweisen Kundenservice 32
Zentralisierung / Standardisierung 24
Profilierung Vertriebskonzepte 21
0 10 20 30 40 50 60 70
Abb. 2 Strategische Aufgaben der IT – EHI Erhebung 2007
Quelle: EHI Retail Institute
Vom Barcode zu Mobile Commerce 121
Omni-Channel 63
Mobile Devices / Mobile Anwendungen 57
Big Data / Analytics 34
Cloud 31
Mobile Payment 26
In-Memory-Technologie / Realtime Analytics 25
Internet of Things / M-to-M-Kommunikation 12
IT Security 9
Digital Signage 8
Socialising 6
Beacons 6
RFID 6
Virtualisierung 5
SOA 3
IP Telefonie 2
0 10 20 30 40 50 60 70
Abb. 3 Technologische Trends 2015 – Einschätzung der wichtigsten technologischen Entwicklun-
gen der kommenden zwei Jahre
Quelle: EHI Retail Institute
Abb. 4 Wichtige IT-Projekte 2015 – Anstehende wichtige IT-Projekte in den nächsten zwei Jahren
Quelle: EHI Retail Institute
122 Michael Gerling
Die Verknüpfung von Informations-, Beratungs-, Kauf-, Bestell-, Liefer-, Abhol- und
Bezahlprozessen zwischen den stationären Geschäften und den Online-Shops ist heute
Kern der strategischen IT-Projekte im Handel. Die Investitionspläne vieler Handelsunter-
nehmen werden in den nächsten zwei Jahren durch diese Aufgabe dominiert. Dies gilt al-
lerdings vor allem für die mittleren bis großen Unternehmen der Handelsbranche. Für sie
wird es zukünftig üblich sein, die Kunden über Geschäfte, aber auch über Online-Shops zu
bedienen, und die Prozesse werden nahtlos miteinander verzahnt sein.
Allerdings werden die Kernelemente der Handels-IT dadurch nicht ersetzt, sie werden
vielmehr verändert beziehungsweise ergänzt. Die Erneuerung und Optimierung der Waren-
wirtschaft steht also nach wie vor im Fokus der IT-Abteilungen. Gleiches gilt für Stamm-
daten- und Supply Chain Management (SCM) und Customer Relationship Management
(CRM)-Projekte, für die Erneuerung von Kassensoft- und -hardware.
Im Rahmen der Omni-Channel-Strategien wird die Optimierung der Kanalintegration aus
organisatorischer Sicht von 51 Prozent der Unternehmen als wichtigste Herausforderung
angesehen, gefolgt von technischer Systemverknüpfung, Realtime-Anbindung und Stamm-
datenmanagement. Hier gibt es allerdings aktuell noch viel zu tun. Nur jedes zehnte Unter-
nehmen ist heute mit dem Stand der Integration der Geschäftsprozesse zwischen Läden und
Online-Shops zufrieden, knapp jedes zweite Unternehmen sieht sich aber auf gutem Wege.
In dem Kontext ist auch die Wechselwirkung mit Big Data/Analytics und In-Memory-
Technologie/Realtime Analytics zu sehen. Denn durch Omni-Channel und mobile Techno-
logien fallen immer mehr unstrukturierte Daten – bspw. aus sozialen Netzwerken – in im-
mer kürzerer Zeit an. Um die Kundenbedürfnisse besser zu verstehen und zeitnah auf
diese zu reagieren, müssen die anfallenden Datenmengen analysiert werden. Die Ergebnis-
se dieser Analysen müssen dann auf unterschiedlichen Kanälen bereitgestellt werden. Dies
bedeutet große Anforderungen an die entsprechende Infrastruktur und Technologien, um
Realtime-Verarbeitung zu ermöglichen.
Es sollte aber beachtet werde, dass der Begriff „Big Data“ nicht nur die Verarbeitung
von großen Datenmengen bedeutet. Warenkorbanalysen werden bspw. seit Jahren vom
Handel durchgeführt. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich um unstrukturierte Daten aus
unterschiedlichen Quellen handelt, um ggfs. vorausschauende Analysen des Kundenver-
haltens zu generieren.
Die IT-Budgets im Handel wurden in den vergangenen Jahren tendenziell erhöht. Die IT-
Budgets in Prozent vom Nettoumsatz sind im Vergleich zu 2013 deutlich auf durchschnitt-
lich 1,24 Prozent angestiegen. Auch im Rückblick der letzten 5 Jahre kann deutlich beob-
achtet werden, dass der Anteil der Unternehmen mit sehr niedrigen IT-Budgets stark zu-
rückgeht, während immer mehr Unternehmen über Budgets von mehr als 1,25 Prozent vom
Nettoumsatz verfügen. 40 Prozent der Unternehmen erwarten auch in den kommenden
Jahren steigende IT-Budgets.
Vom Barcode zu Mobile Commerce 123
45 44 43
41 40
40
35
35 32
30
2011
25 22 2013
20 2015
15
15 13
10 9
5
5 2
0
0,3 % - 0,5 % 0,5 % - 0,8 % 0,8 % - 1,25 % über 1,25 %
Abb. 5 Entwicklung der IT-Budgets von 2011 bis 2015
Quelle: EHI Retail Institute
Verändert hat sich in den letzten Jahrzehnten sicherlich auch der Einsatz von Standardsoft-
ware im Handel. Jedes dritte Unternehmen hat heute noch eine eigenentwickelte Waren-
wirtschaftslösung im Einsatz. Dieser Anteil wird künftig voraussichtlich auf etwa 20 Pro-
zent zurückgehen. Nur jedes fünfte Unternehmen wird dann noch eine selbstentwickelte
Warenwirtschaftslösung im Einsatz haben.
124 Michael Gerling
Nennungen in Prozent
70
60
60
52
50 Kein signifikanter Anteil
Eigenentwicklung
40
34
Mindestens eine Kernapplikation
30 28 Eigenentwicklung
0
Heute Künftig
Abb. 6 Standard vs. Eigenentwicklung – IT-System ab 2015
Quelle: EHI Retail Institute
Bei den übrigen IT-Systemen betreiben 34 Prozent der Firmen noch mindestens eine
Kernapplikation in Eigenentwicklung, auch hier ist mit einem sich fortsetzenden Trend in
Richtung Standards zu rechnen. Damit setzt sich zunächst fort, was schon seit vielen Jahren
an der Tagesordnung ist. Wo immer es möglich ist, soll Standardsoftware eingesetzt wer-
den. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich die Softwareentwicklung natürlich
auch mit großem Tempo weiterentwickelt. So könnte in einigen Jahren auch eine Trendum-
kehr zu Gunsten von Eigenentwicklungen einsetzen.
Sehr zurückhaltend war der Handel über viele Jahre im Hinblick auf den Einsatz von
Cloud-Lösungen. Dies scheint sich nun allerdings zu ändern. Cloud-Computing im Handel
gewinnt an Bedeutung. Für 14 Prozent der Handelsunternehmen sind Cloud Services be-
reits jetzt ein wichtiger Bestandteil der IT-Strategie, weitere 34 Prozent gehen von einer
stark steigenden Bedeutung in den kommenden Jahren aus. Bei kritischen Prozessen sind
die Unternehmen generell aber weiter zurückhaltend gegenüber Cloud-Lösungen, bei An-
wendungen wie zum Beispiel E-learning sind Cloud-Lösungen dagegen heute quasi Stan-
dard.
Vom Barcode zu Mobile Commerce 125
Vor allem in den Geschäften wird deutlich, dass der Handel die IT immer stärker nutzt, um
dem Kunden mehr und bessere Services bieten zu können. Viele Technologien, die schon
seit Jahrzehnten im Markt sind, stehen jetzt vor dem Serieneinsatz. Jeder dritte Händler mit
schnell drehenden Konsumgütern bietet bereits heute Self-Checkout oder Self-Scanning in
zumindest einigen Pilotmärkten an. Diese Unternehmen werden die Zahl der Installationen
weiter ausbauen und weitere 13 Prozent der Unternehmen planen einen erstmaligen Ein-
satz. Damit bestätigt sich hier der Trend einer langsamen aber stetigen Marktdurchdrin-
gung, auch, wenn die meisten Projekte heute noch Einzelinstallationen sind.
Ähnliches gilt für Elektronische Regaletiketten (ESL). Diese sind bei 13 Prozent der
Händler mit schnell drehenden Konsumgütern im Einsatz, konkrete Projektplanungen gibt
es bei weiteren 10 Prozent. Bei 37 Prozent der Firmen steht die Technologie unter ständiger
Beobachtung, ein zukünftiger Einsatz ist dort durchaus denkbar. Auch diese Technik scheint
also weitere Verbreitung zu finden.
Kostengünstig und einfach zu installieren ist die Beacon-Technik. Beacons sind kleine
Sender, die Signale über kurze Entfernungen hinweg übertragen können. Diese Signale
starten dann zum Beispiel Informationsprozesse auf Mobiltelefonen und informieren so
über besondere Leistungen oder Angebote in unmittelbarer Nähe zum Standort des Kun-
den. Einige Unternehmen haben bereits konkrete Anwendungen im Einsatz (15 Prozent),
andere planen dieses (11 Prozent).
Auch die Verknüpfung von Ladengeschäften und Online-Shops beeinflusst die Technik
investitionen in den Geschäften. Mobile Endgeräte spielen dabei eine wesentliche Rolle,
auf Seiten der Kunden, aber auch beim Personal im Handel. Zum einen müssen die Mitar-
beiter der Unternehmen Zugang zu kanalübergreifenden Informationen erhalten (Verfüg-
barkeiten, aktuelle Konkurrenzpreise, Produktdetails). Andererseits müssen Beratungsleis-
tungen und Bestellungen im Webshop auf mobilen Geräten ermöglicht werden. Dies kann
auch mit Escorted Shopping kombiniert werden, bei dem der Mitarbeiter den Kunden ab-
teilungsübergreifend begleitet.
Gleichzeitig sind die mobilen Geräte der Kunden bereits heute wichtige Berater. Die
Smartphones und Tablets werden bei einer Kaufentscheidung zu Rate gezogen – sei es um
Produktdetails oder Konkurrenzpreise abzurufen oder aber die Rezensionen anderer Käufer
bzw. die Meinung der Freunde über soziale Netzwerke einzuholen. Selbstverständlich kann
das Bezahlen am Checkout ebenfalls über das mobile Gerät des Kunden abgewickelt wer-
den. Damit all diese Services in Zukunft reibungslos genutzt werden können, werden die
Geschäfte ihren Kunden in Zukunft zwingend ein leistungsfähiges und frei zugängliches
WLAN anbieten müssen.
Das dabei auch die Kasse ihr Aussehen verändert, ist unbestritten. Die Kasse wird mo-
biler und sie wird immer mehr Funktionen übernehmen. Jedes zweite Unternehmen arbei-
tet zurzeit an einer mobilen Kassenlösung. Touchscreens werden die Kasse der Zukunft
bestimmen, egal, ob stationär oder mobil, egal ob Lebensmittel oder Schuhe. Ausgestattet
mit NFC-Schnittstellen sind die Kassen schon heute auf berührungsloses Bezahlen, per
126 Michael Gerling
23%
Consumer-Tablets im Einsatz
38%
Karte oder per Mobiltelefon eingestellt. Und auch der Kassenbon wird so in Zukunft viel-
leicht nicht mehr gedruckt, sondern direkt als Datensatz zum Kunden gelangen.
Die Handelsunternehmen sehen sich mit dem Thema „Always Online“ konfrontiert. Die
dafür genutzte Technologie (Tablet, Smartphone, Wearable) ist für den Verbraucher dabei
zweitrangig. Dies gilt zunehmend auch für nicht menschengesteuerte Devices - SmartHome,
Autos, Parkplätze etc. Permanent werden Informationen aus der Umwelt übermittelt und
auch überall erwartet. Gleichzeitig werden aber auch Informationen von der Umwelt abge-
fragt. Bspw. können mittels der WLAN-Funktion der Smartphones die Laufwege der Kun-
den im Store schon heute verfolgt werden. Was früher Alleinstellungsmerkmal der Online-
händler war, ist nun in allen Verkaufskanälen möglich.
1.10 IT-Sicherheit
Doch die zunehmende Vernetzung birgt auch Risiken. Auf die Frage nach den technologi-
schen Trends führen neun Prozent aller Unternehmen das Thema IT-Security auf. Nicht erst
durch die Omni-Channel-Strategien der stationären Händler wird diesem Thema immer
mehr Bedeutung beigemessen. Längst sind nicht mehr nur Finanzdaten bzw. Kundendaten
für Hacker von Interesse. Begehrlichkeiten wecken mittlerweile auch Produktinformatio-
nen, Preis- und Konditionsinformationen, Strategiepapiere oder Personaldaten. Auch das
von der Bundesregierung verabschiedete IT-Sicherheitsgesetz verstärkt – zumindest im
Lebensmittelhandel – die Fokussierung auf Fragen der IT-Sicherheit im Unternehmen. Dies
ist ein gewaltiges Gebiet, das die Branche in den nächsten Jahren sicher sehr intensiv be-
schäftigen wird.
Vom Barcode zu Mobile Commerce 127
Autor
Michael Gerling, geboren 1964, arbeitete nach seinem sein Studium an der Universität
Münster mit Abschluss zum Diplom-Kaufmann ab, in Unternehmen und Institutionen der
Handelsbranche, u. a. Edeka, DHI-Deutsches Handelsinstitut, EHI Retail Institute. Seit
1999 ist Michael Gerling Geschäftsführer EHI Retail Institute. Er ist hat zahlreiche ehren-
amtliche Tätigkeiten, u. a.: Geschäftsführer, MLF – Mittelständische Lebensmittel-Filial-
betriebe e.V., Mitglied des Beirats von EuroShop und EuroCIS, Vertreter des EHI im
Aufsichtsrat von GS1 Germany und Jurymitglied „Supermarkt des Jahres“ sowie Vorstand
der EHI-Stiftung.
129
Getrieben durch die allgegenwärtige Bestellmöglichkeit und die Möglichkeit der Akquise
spezifischer Produktinformationen unterschiedlichster Artikel im Onlinehandel, sind die
Erwartungen an Datentransparenz und Dienstleistungen deutlich gestiegen. Dies zeigt sich
unter anderem auch daran, dass Kunden heutzutage bereits vor dem Betreten eines Ge-
schäfts sich über das gewünschte Produkt im Internet informieren und somit teilweise mehr
Produktinformationen als die Verkäufer im Geschäft aufweisen. Dennoch möchten sie auch
dort weitere qualifizierte Informationen und eine individualisierte Beratung erhalten. Um
diesen Kundenbedürfnissen gerecht zu werden, müssen immer mehr auf den jeweiligen
Kunden zugeschnittene Dienstleistungen und vorselektierte Produktinformationen im
Markt zur Verfügung gestellt werden. Zu diesem Zweck müssen die Märkte digitalisiert
werden, um einerseits Kundeninteraktionen zu erfassen und darüber potenzielle Kunden-
bedürfnisse abzuleiten und um andererseits eine Schnittstelle zu Daten und Diensten be-
reitzustellen, wie sie aktuell zum Teil im Online-Handel vorzufinden sind. Betrachtet man
den Einkaufsprozess als Gesamtkonzept, gibt es für die einzelnen Aktionen unterschiedli-
che technologische Umsetzungsmöglichkeiten, die abhängig von der technischen Ausstat-
tung des Ladens und der Kunden in mobilen Applikationen eingesetzt werden können.
Hierzu muss die Kundenapplikation interoperabel in die Infrastruktur des Geschäfts einge-
bunden werden. Welche Vorteile eine solche Integration mit sich bringen und wie ein
durchgängiges Einkaufserlebnis mittels einer instrumentierten Einzelhandelsumgebung
geschaffen werden kann, wird im Innovative Retail Laboratory prototypisch umgesetzt und
evaluiert. Durch die Vernetzung der integrierten Sensoren und Aktuatoren können neuarti-
ge Dienste für den Handel der Zukunft realisiert werden, die dem Kunden einen erlebnis-
reichen Einkauf ermöglichen.
Die kommerzielle Verwendung von Sensoren und Aktuatoren in privaten und öffentlichen
Umgebungen schreitet rasant voran. Dies ist unter anderem der Miniaturisierung und stei-
gender preislicher Attraktivität geschuldet. Durch den intelligenten Einsatz dieser Techno-
logien sollen primär Menschen in ihrem Alltag unterstützt und Prozesse soweit wie möglich
automatisiert werden. Sensoren und Aktuatoren werden dabei miteinander verknüpft und
durch Dienste angesteuert, welche außerdem die erfassten Informationen auswerten. Eine
solche Umgebung, welche mit Sensoren und Aktuatoren instrumentiert ist, wird als Smar-
te Umgebung bezeichnet. Die erfassten Sensordaten werden hierbei mittels entsprechender
Dienste verarbeitet, welche daraufhin die jeweiligen Aktuatoren ansteuern. Neben der in-
strumentierten Umgebung müssen auch Produkte erfasst werden, um auf Kundenaktionen
adäquat reagieren zu können. Insbesondere stellt hier eine eineindeutige Produktidentifi-
kation des Internet der Dinge einen Vorteil dar, um eine transparente und instanzspezifische
Informationsaufbereitung und -darstellung zu gewährleisten. Eine zusätzliche Informati-
onsquelle stellt Daten zur Herstellung, Transport und der Lagerung solcher individuell
erfassbaren Produktinstanzen dar. Als Möglichkeit für die Speicherung solcher Daten kann
das Konzept digitaler Produktgedächtnisse herangezogen werden, welche alle produktspe-
zifischen Informationen umfassen.
Eine Smarte Umgebung zeichnet sich dadurch aus, dass sie Wissen über die Umgebung
und deren Nutzer erfassen kann, um dieses erlebnisfördernd anzuwenden. Der Begriff kann
daher folgendermaßen definiert werden:
Eine smarte Umgebung hat die Fähigkeit, Wissen über die Umgebung und deren Einwohner zu
erwerben und dieses anzuwenden, um deren Erlebnis in dieser Umgebung zu steigern (Cook
un Das 2004).
Eine Illustration einer solchen Smarten Umgebung ist in Abb. 1 am Beispiel einer Super-
marktumgebung zu sehen. In der Grafik sind diverse Sensoren und Aktuatoren, welche
bereits heute oder in naher Zukunft eingesetzt werden, dargestellt. Als Sensoren in der
Umgebung sind hierbei exemplarisch Kamerasysteme und Schranken, basierend auf Funk-
technologie, zu nennen. Beide Sensoren werden beispielsweise zum Diebstahlschutz ein-
gesetzt. Ein instrumentierter Einkaufswagen kann alle Produkte erfassen, welche sich in
seinem Korb befinden sowie seine Position ermitteln und weiter kommunizieren. Für die
Der technologische Fortschritt im Handel getrieben durch Erwartungen der Kunden 131
Informationsübertragung kann hierbei auf WLAN oder andere Funkprotokolle, wie Blue-
tooth Low Energy (BLE) zurückgegriffen werden. Eine spezielle Form der Informations-
übertragung via BLE stellen iBeacons dar, welche durch Apple entwickelt wurden (New-
man 2014). Diese ermöglichen eine Notifikation der Geräte, die sich in ihrem Umkreis
befinden und ermöglichen dadurch eine Positionierung oder können als Informationstrig-
ger dienen. Des Weiteren sind auf Seiten der Aktuatoren Licht, Lautsprecher, Bildschirme,
Drucker, funkende Produkte und elektronische Preisauszeichnung zu nennen. Die Displays
werden oftmals als Werbemöglichkeit verwendet. Funkende Produkte können beispiels-
weise mit einem RFID-Tag oder einem Temperatursensor ausgestattet sein. Neben der In-
strumentierung der Umgebung können auch Kunden Sensoren und Aktuatoren mit in den
Markt einbringen. Neben Smartphones, welche über mehrere Sensoren und Aktuatoren
verfügen sind auch Smart Watches und Smart Glasses immer mehr im Kommen.
Als Erweiterung von Smarten Umgebungen durch die Verknüpfung der Sensor-Aktua-
tor-Netzwerke mit dem Cyberspace entstehen Cyber-Physische Systeme (CPS). Dies be-
deutet, dass von den Sensoren erfasste Daten in Kombination mit weltweit verfügbaren
Informationen und Diensten ausgewertet und gespeichert werden. Basierend hierauf inter-
agieren die CPS aktiv oder reaktiv mit der physischen sowie mit der digitalen Welt (acatech
2011). Unter anderem werden CPS als Weiterentwicklung im industriellen Umfeld gese-
hen, was unter dem Begriff Industrie 4.0 bekannt ist (Kagermann und Wahlster 2011; Ka-
germann et al. 2012). Die Möglichkeit des Datenaustauschs zwischen den Maschinen, die
Einbeziehung von weltweiten Informationen und die neuartigen Mensch-Maschine-Kom-
132 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
Für die Verknüpfung von Objekten mit Informationen aus dem Cyberspace wird eine ein-
deutige Identifikation der physischen Objekte benötigt. Die Grundbausteine hierzu werden
im Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) behandelt. Das Ziel des IoT liegt darin, dass
man von überall zu jeder Zeit auf alle Daten aller Objekte zugreifen kann (Infso D.4 Net-
worked Enterprise & RFID et al. 2008). Dabei steht im Vordergrund, dass die Informatio-
nen der Objekte miteinander verknüpft werden können, um smartere Systeme zu erhalten,
die darauf aufbauend autonomes und adaptives Verhalten aufweisen können. Das IoT ist in
drei Ansätze unterteilt, welche sich orientieren nach: dem Ding, dem Internet und der Se-
mantik (Atzori et al. 2010). Die Dinge bedürfen hierbei einer eindeutigen Identifizierung
mit Hilfe geeigneter Technologien, die entweder mit optischen Verfahren arbeiten (z. B.
zweidimensionale Barcodes) oder mittels Funktechnologie (z. B. RFID). Um eine mög-
lichst allgemeingültige Identifizierung zu erreichen, müssen entsprechende Standards ent-
134 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
Mit Hilfe einer eineindeutigen Identifikation, wie sie mit dem Internet der Dinge angestrebt
ist, können alle Informationen, die zu einem Objekt während seines Lebenszyklus erfasst
werden, diesem zugeordnet und digital persistent gespeichert werden. Beispielsweise ist
dies relevant, um Kunden Informationen zur Herkunft und Verarbeitung anzubieten. Hier-
durch entstehen sogenannte digitale Objektgedächtnisse, die in Form eines Tagebuchs alle
auftretenden Informationen zu einem Objekt speichern (Kröner et al. 2013). Durch diese
Zugriffsmöglichkeit wird gleichzeitig eine Transparenz geschaffen, die es ermöglicht, alle
objektspezifischen Informationen zu jeder Zeit einzusehen, insofern ein Zugriff auf das
digitale Objektgedächtnis gewährt ist. Dadurch entsteht eine Verknüpfung der physischen
Instanz mit virtuellen Informationen (Kim et al. 2009). Einen solchen Ansatz verfolgt bei-
spielsweise fTrace1 bereits in der Praxis. Über diesen Ansatz können produktspezifische
1 http://www.ftrace.com/de/de
Der technologische Fortschritt im Handel g etrieben durch Erwartungen der Kunden 135
Während die Digitalisierung oftmals vorwiegend im Blick auf positive Effekte in den Pro-
zessen der Händler umgesetzt wird und darüber einen Einfluss auf die Kundenzufriedenheit
mit sich bringt, können auf Basis einer solchen Infrastruktur neuartige Dienste entwickelt
werden, die dem Kunden einen direkten Mehrwert bieten. Wie bereits in Abb. 1 dargestellt,
sind viele Sensoren und Aktuatoren in der Befugnis der Händler. Jedoch bringen auch die
Kunden ihre eigenen Geräte mit und stellen durch ihre Bedürfnisse die Händler vor immer
schwierigere Aufgaben. Die Bedürfnisse reichen von der Voraussetzung, dass der Handel
einen kostenlosen Internetzugang bereitstellt, den der Kunde nutzen kann, bis hin zu mög-
lichst personalisierten Dienstleistungen, wie beispielsweise einer Navigationsanwendung.
Neben der Dienstbereitstellung stellt auch die Nutzung und Speicherung von Kundendaten
durch den Händler einen wichtigen Aspekt dar, der offensiv dem Kunden transparent dar-
gestellt werden sollte, um ein höchstmögliches Kundenvertrauen aufzubauen. Betrachtet
man in diesem Fall einen Einkaufsprozess, so kann man entsprechende Module identifizie-
ren, welche mittels entsprechender Technologien umgesetzt werden können. Eine systema-
tische Übersicht über die Abhängigkeiten zwischen Prozessschritt, Modul und Technologie
kann dem Händler als Entscheidungsgrundlage dienen, welche Digitalisierung er umsetzen
136 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
möchte. Durch die allgegenwärtige Zugriffsmöglichkeit auf Informationen sowie der In-
ternetpräsenzen der Händler werden Brüche zwischen der Online- und Offline-Welt einfach
von den Kunden erfasst und können zu Verärgerungen führen. Um solche Brüche zu ver-
meiden und dem Kunden ein ganzheitliches Einkaufserlebnis über alle angebotenen Kanä-
le zu bieten, müssen diese miteinander verschmolzen werden.
Die Einführung von technischen Innovationen im Handel verschafft neben der innerbe-
trieblichen Optimierung auch dem Kunden viele Vorteile während des gesamten Einkaufs-
prozesses. Dies fängt bereits bei der Nutzung der Einkaufsliste an und endet bei der Bezah-
lung. Insgesamt wurden sieben verschiedene Aufgaben identifiziert, die durch den Einsatz
von technologischen Innovationen maßgeblich verbessert werden können (Paradowski und
Krüger 2013). In Frage kommen hierfür die Technologien RFID, NFC, Barcode, kabellose
Netzwerke und Bilderkennungsverfahren (siehe Abb. 2). Bluetooth ist hierbei unter den
kabellosen Netzwerken subsumiert und daher nicht explizit aufgeführt.
Die Erstellung der Einkaufsliste kann automatisch aus Informationen in einem digital
erfassten Haushaltsbuch (Altmeyer et al. 2016) generiert und beispielsweise im Markt an
einen Einkaufsassistenten des Händlers übermittelt werden (Shopping List Management).
Im Markt können Lokalisierungsverfahren dem Kunden helfen, sich im Markt zu orien-
tieren und Produkte einfacher zu finden (Orientation). Am Produkt selber können mittels
verschiedenster Technologien wie Barcode, RFID/NFC oder Bilderkennung Produktin-
formationen abgerufen werden (Product Information Procurement). Das anschließende
funktion, Risiken in sich birgt, da der Verkaufsprozess einem Bruch unterworfen wird. Die
Wertschöpfung entsteht erst durch die Kombination verschiedener digitaler Dienste, die
über das mobile Gerät dem Kunden zur Verfügung stehen.
bedürfnisse auch hier so weit, dass dem Kunden möglichst auf ihn zugeschnittene Ange-
bote und Informationen bereitgestellt werden. Um dies ebenfalls zu realisieren, muss die
Digitalisierung des Ladens so weit vorangeschritten sein, dass eine persönliche Ansprache,
wie sie früher in den kleineren Geschäften in örtlichen Gebieten stattgefunden hat, auch
mittels der verwendeten Technologie ermöglicht werden kann.
Aufgrund der fortlaufenden Entwicklung kostengünstiger Sensoren wird die stationäre
Handelsumgebung auch zukünftig eine Veränderung erfahren. Die Sensoren und Aktuato-
ren ermöglichen hierbei Konzepte, welche bereits im Onlinehandel erprobt sind, wie Pro-
duktempfehlungen oder -vergleiche auf die physische Fläche zu portieren. Dabei können
die Vorteile des „Offlinehandels“, welcher unter anderem in der sozialen Komponente liegt,
durch digitale Assistenzfunktionen ergänzt werden. Hierbei ist es auch wichtig, dass eine
direkte, personalisierte Kundenansprache erfolgt, da eine Massenkommunikation, wie z. B.
mittels Faltblattwerbung, in den letzten Jahren an Attraktivität verloren hat (Krüger et al.
2014). Um eine solche personalisierte Ansprache zu realisieren, bedarf es den aktuellen
Kontext des Kunden zu erfassen, was ausschließlich durch eine vernetzte Umgebung rea-
lisiert werden kann. Die erfassten Kontextinformationen können anschließend durch indi-
viduell angepasste Dienste verarbeitet und zur Nutzung in adaptiven Assistenzsystemen,
wie beispielsweise Dialogberatern, oder zur Generierung kontextbasierter Werbeinforma-
tionen eingesetzt werden (Kahl et al. 2010). Diese und weitere Ansätze wurden in einer
instrumentierten Handelsumgebung prototypisch umgesetzt, dem Innovative Retail Labo-
ratory (IRL).
Das IRL ist eine agile Cyber-Physische Handelsumgebung, welche in Kooperation mit der
deutschen Einzelhandelskette Globus SB-Warenhaus Holding GmbH & Co. KG und dem
Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) betrieben wird
(Spassova et al. 2009; Krüger et al. 2010). Seit dem Beginn im Oktober 2007 wird in einer
Laborumgebung eine Supermarktatmosphäre nachempfunden, die mit Sensoren, Aktuato-
ren und entsprechenden Diensten angereichert ist. In dieser Laborumgebung werden Fra-
gestellungen aufgegriffen, welche den zukünftigen Einkauf umfassen. Insbesondere wer-
den neuartige Interaktionsparadigmen in öffentlichen Umgebungen mittels eingebetteter
Sensorik in Form von Demonstratoren untersucht und erprobt. Hierbei wird betrachtet,
inwieweit Vorteile aus dem Online-Handel mittels geeigneter Sensorik, Aktuatorik und
Dienstleistungssysteme auch auf einer physischen Handelsfläche umgesetzt werden kön-
nen. Neben der Informationsakquise spielt die personalisierte Aufbereitung und Darbietung
von Informationen eine wichtige Rolle, um dem Bedürfnis nach individueller Beratung
durch die Kunden gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang werden Grundvorausset-
zungen für die Akzeptanz und einen effizienten Einsatz von Assistenzsystemen anhand von
Prototypen evaluiert. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die Systeme Zugriff auf
140 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
alle relevanten Sensorinformationen haben, um den aktuellen Kontext der Umgebung so-
wie des Benutzers zu erfassen und damit eine entsprechende Auswertung und Reaktion zu
realisieren sowie um alle möglichen Potenziale auszuschöpfen.
Bei der Auswahl der umgesetzten Szenarien werden unterschiedliche Herangehenswei-
sen betrachtet. Unter anderem werden identifizierte Probleme durch Händler oder auch
Handelspartner aufgegriffen, daraus neuartige Konzepte entwickelt sowie prototypisch
umgesetzt, welche mittels geeigneter Digitalisierung eine Minimierung der Problematik
ermöglichen. Ein anderer wichtiger Punkt bei der Identifikation und Analyse potenzieller
Optimierungspotenziale ist die Betrachtung der aktuellen Einkaufsprozesse aus Kunden-
sicht. Basierend auf daraus gewonnenen Erkenntnissen werden wiederum erweiterte Kon-
zepte entworfen und in Form von Demonstratoren umgesetzt. Dabei wird jeweils die be-
stehende Infrastruktur an Sensoren, Aktuatoren und existierender Dienstleistungen mitver-
wendet, um mittels der bestehenden Digitalisierung Synergieeffekte nutzen zu können. Die
Evaluation der Prototypen erfolgt in Form von Benutzerstudien, Expertenanalysen und
durch Feedback bei der Präsentation an unterschiedlichste potenzielle Nutzer. Aus dem
Feedback und Gesprächen können neue Kundenbedürfnisse abgeleitet und bei späteren
Konzepterstellungen eingebunden werden.
Betrieben wird das IRL als sogenanntes Living Lab, was bedeutet, dass immer wieder
neue Aspekte und Demonstratoren hinzukommen, worauf die existierenden Dienste mög-
licherweise angepasst werden müssen. Hierdurch entsteht eine agile Struktur von Kompo-
nenten, Daten und Kommunikationskanälen, welche mit der Zeit erweitert und verändert
wird. Das IRL umfasst eine Vielzahl von Sensoren und Aktuatoren, die den Kontext der
Umgebung und somit auch Veränderungen erfassen bzw. zu Änderungen des Umgebungs-
zustands führen. Die erfassten Daten werden durch entsprechende Dienste ausgewertet,
welche ebenso die Aktuatoransteuerung übernehmen. Abb. 3 zeigt einige dieser Kompo-
nenten. Teilweise umfassen physische Geräte sowohl Sensoren als auch Aktuatoren. Im
Speziellen sind hierbei Smartphones zu erwähnen, die als Endgeräte der Kunden sowie der
Mitarbeiter betrachtet werden. Aus diesem Grund können sie als persönliche Geräte ange-
sehen werden, die unterschiedlichste private Informationen umfassen, welche bei den ent-
wickelten Assistenzfunktionalitäten unter Berücksichtigung der Privatsphäre eingebunden
werden können.
Um den Handel der Zukunft zu betrachten, wird im IRL eine komplette Customer Jour-
ney abgebildet und darüber gezeigt, welche Potenziale eine Digitalisierung des Handels
bieten kann. Betrachtet man eine typische Customer Journey, ist festzustellen, dass viele
Touchpoints nicht im Geschäft, sondern bereits im Vorfeld, insbesondere zu Hause, vor-
kommen. Aus diesem Grund sowie basierend auf den Bestrebungen der Kanalverschmel-
zung, muss daher auch das private Umfeld der Kunden betrachtet werden, um den Handel
der Zukunft abzubilden. Der Einkauf beginnt mit der Vorbereitung, welche oftmals die
Erstellung einer Einkaufsliste umfasst, beinhaltet den eigentlichen Einkauf und die Nach-
bereitung, welche die ordnungsgemäße Verstauung der Produkte integriert. Um diese Re-
präsentation zu unterstützen, umfasst das IRL neben einer instrumentierten Supermarktum-
gebung einen Heimbereich und kann darüber die Verknüpfung zwischen den verschiedenen
Phasen einer Customer Journey abbilden.
von mymuesli2, bei dem man die Zusammensetzung des eigenen Müslis eigenständig
spezifizieren kann.
Bei der Entscheidung, welche Produkte gekauft werden sollen, spielen zunehmend im-
mer spezifischere Parameter mit ein. Beispielsweise möchte sich eine zunehmende Anzahl
an Personen gesund und/oder vegetarisch ernähren und zieht sozioökonomische Produkt-
kriterien, wie z. B. Regionalität oder menschenwürdige Arbeitsbedingungen, bei der Pro-
duktselektion in Betracht. Ebenso spielen soziale Netzwerke und Referenzen weiterer Kun-
den sowie kollaboratives Filtern („Kunden kauften auch“) eine zunehmend wichtigere
Rolle, um neue, bisher unbekannte Produkte zu explorieren, die zu den eigenen Vorlieben
passen könnten. Solche Anwendungen sind unter anderem bei Amazon zu finden, wo bei-
spielsweise Buchempfehlungen auf diese Art kundenorientiert generiert und präsentiert
werden. Während diese Informationen bei der eigentlichen Produktauswahl relevant sind,
spielen sie zunehmend auch bei der Einkaufsvorbereitung eine wichtige Rolle, insbesonde-
re, wenn Einkäufe von einzelnen Personen für eine größere Gruppe getätigt werden sollen.
Dies umfasst eine möglichst präzise Produktidentifikation auf Einkaufslisten, so dass es
beim Einkaufen selbst zu keiner Frage hinsichtlich der richtigen Produktauswahl kommt.
Einen Indikator zur Identifikation von Kundenpräferenzen stellt die Einkaufshistorie
dar. Während im Online-Handel aufgrund der Registrierung vor dem Kauf die Zuordnung
der Käufe zu den jeweiligen Kunden sichergestellt und diesen als Dienstleistung präsentiert
werden kann, wie beispielsweise im Amazon-Konto alle Käufe der vergangenen Jahre
nachverfolgt werden können, ist dies im Offline-Handel in der Regel nicht möglich. Be-
strebungen aus dem Omni-Channel zeigen jedoch auch in diesem Segment Fortschritte. So
können heutzutage Einkäufe im Elektronikmarkt Mediamarkt über deren Applikation ein-
gesehen werden. Die Zuordnung der Käufe zum Kundenkonto erfolgt hierbei über die je-
weilige Kundenkarte. Jedoch werden im Allgemeinen die Informationen aus den Kunden-
karten ausschließlich für interne Verarbeitungen und Statistiken verwendet und nicht dem
Kunden wieder zur Verfügung gestellt. Ebenso sperren die aktuellen Geschäftsmodelle die
Möglichkeit, Daten kundenkartenanbieterübergreifend zusammenzutragen und verwehren
dem Kunden hierdurch die Möglichkeit, seine gesamten Einkäufe zu analysieren.
Ein weiterer Trend, welcher basierend auf Kundenbedürfnissen und -erwartungen mit-
tels einer geeigneten Digitalisierung im Wandel ist, ist die Versendung von angepassten
Angeboten. Aktuell werden hauptsächlich allgemeine Produktangebote in die Haushalte
versendet. Unter Berücksichtigung von einer entsprechenden Zielgruppenanalyse und Pre-
cision Retailing nehmen solche Ansätze immer mehr ab. Durch gezielte und personenori-
entierte Angebotserstellung werden diese zu einem Mehrwertdienst und nicht mehr als
Spam seitens der Kunden angesehen. Ebenso können kundenorientierte Bundleangebote
generiert und in Form von individualisierten Coupons zur Verfügung gestellt werden.
Um die Potenziale der Digitalisierung bei der Einkaufsvor- und -nachbereitung zu prä-
sentieren, wurde im IRL der Kühlschrank als Demonstratorplattform gewählt. Dieser ist
oftmals ein sozialer Knotenpunkt in häuslichen Gemeinschaften, zu dem alle Bewohner
2 http://www.mymuesli.com
Der technologische Fortschritt im Handel g etrieben durch Erwartungen der Kunden 143
Zugriff haben. Am IRL wurde der Kühlschrank mit einem Touchdisplay, welches in die Tür
integriert wurde, und RFID-Antennen im Inneren instrumentiert. Sobald ein Produkt in den
Kühlschrank gelegt bzw. aus diesem entnommen wird, wird dies mittels der RFID Sensoren
erfasst. Hierzu wurden die Produkte prototypisch mit entsprechenden Tags ausgestattet. Die
verbaute Sensorik ermöglicht es, alle im Kühlschrank befindlichen Produkte zu erfassen,
die mit mindestens einem RFID-Tag versehen wurden. Zukünftig können anstelle von
RFID die Produkte mittels optischer Erkennung, z. B. mittels Watermarking3, erfasst und
damit das Szenario realistisch umsetzbar werden. Gemäß dem Konzept von digitalen Ob-
jektgedächtnissen können alle Informationen zum Produktlebenszyklus abgerufen werden,
sobald das Produkt in den Kühlschrank gelegt wird. Basierend auf diesen Informationen
werden Dienste, wie die Darstellung aller im Kühlschrank befindlichen Produkte und die
Visualisierung grafisch aufbereiteter digitaler Produktgedächtnisse, angeboten, ohne dass
dieser geöffnet werden muss. Ebenso können diese Informationen mittels entsprechender
Cloud-Dienste unter Einhaltung eines Zugriffs- und Rechtesystems überall zugänglich
gemacht werden. Des Weiteren findet ein automatischer Abgleich der Mindesthaltbarkeits-
daten (MHD) mit dem aktuellen Datum statt, dessen Ergebnis ebenfalls visuell auf dem
Kühlschrankdisplay dargestellt wird. Neben dem MHD wird auch die empfohlene Lage-
rungstemperatur aus dem Objektgedächtnis geladen, um abzugleichen, ob die Produkte in
der geeigneten Temperaturzone gelagert werden und andernfalls eine proaktive Warnung
anzuzeigen. Zudem kann über eine digitale Version eines Faltblatts eine Einkaufsliste er-
stellt und angepasst werden. Diese wiederum wird im entsprechenden Benutzerprofil hin-
terlegt, so dass sie von mobilen Endgeräten abgerufen und dargestellt werden kann. Jede
Veränderung der Liste wird hierbei im Benutzerprofil automatisch angepasst. Somit ist eine
Synchronisation der Einkaufsliste auf unterschiedlichen Endgeräten, wie beispielsweise
Kühlschrank und Smartphone, möglich. Bei der Generierung der Liste wird gleichzeitig
erfasst, wer den Eintrag ergänzt hat, so dass diese Information bei der späteren Kaufent-
scheidung mitberücksichtigt werden kann.
Während die Funktionalität des Kühlschranks vorwiegend für den Kunden relevant ist,
können die Daten auch einen Mehrwert für den Handel bieten. Beispielsweise kann eine
solche Einkaufsliste auch als Grundlage einer Click and Collect-Variante hergenommen
werden oder eine Online-Bestellung samt Lieferung zur Folge haben. Das solche einfachen
Möglichkeiten der Bestellung relevant sind, zeigt auch die Entwicklung der Amazon Dash
Buttons. Hierüber kann ein Kunde mit nur einem Druck eines entsprechenden Knopfes ein
zugehöriges Produkt nachbestellen. Da die Knöpfe keine kabelgebundene Infrastruktur
benötigen, können diese dort platziert werden, wo der Bedarf einer Nachbestellung erfasst
wird. Beispielsweise kann der Knopf zur Nachbestellung von Waschpulver in der Nähe der
Waschmaschine angebracht werden. Dies zeigt das Bedürfnis der einfachen und möglichst
schnellen Bestellmöglichkeit.
Im Bereich der Einkaufsnachbereitung wurde im IRL das Konzept eines digitalen Haus-
haltsbuchs erstellt und prototypisch umgesetzt. Einem stetig wachsenden Personenkreis
3 https://nrf.com/news/technology/beyond-qr-codes
144 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
reicht es heute nicht mehr aus, Tätigkeiten nur auszuführen ohne weitere Funktionalitäten
damit zu verbinden. Stattdessen existiert der Wunsch, diese genau quantifizieren zu kön-
nen, Zusatzinformationen abzuleiten und auch nach Monaten noch rückblickend zu be-
trachten. Das Ziel dieser „Quantified Self“-Bewegung (Marcengo und Rapp 2013) ist der
Erkenntnisgewinn durch Aufzeichnung, Exploration und Analyse dieser Daten, etwa zu den
Themen Nachhaltigkeit und Gesundheit. Die (Einzel-) Handelsdomäne nimmt in diesem
Zusammenhang eine wichtige Rolle ein. Umfrageergebnisse haben gezeigt, dass ein Fi-
nanzmanagement in Form eines digitalen Haushaltsbuchs für viele einen attraktiven Mehr-
wertdienst darstellen würde, der aktuell trotz vieler Desktop- und mobiler Lösungen nur
unzureichend adressiert ist (Hälsig et al. 2015; Kerber et al. 2014). Die Datenerfassung für
ein solches Haushaltsbuch ist jedoch sehr aufwändig, da alle Positionen des Einkaufs pri-
mär manuell digitalisiert werden müssen, um Analysen durchführen und weitere Dienst-
leistungen darauf aufbauen zu können. Um diese manuellen Eingriffe zu minimieren,
wurde eine Smartphone-Applikation erstellt, mit welcher der Kunde ein Foto seines Ein-
kaufs macht (Altmeyer et al. 2016). Die Software analysiert das Foto und extrahiert Infor-
mationen zum Geschäft, der Gesamtsumme und den Einzelpositionen auf der Rechnung
mittels Texterkennung (OCR). Da bei Kassenzetteln unterschiedliche Layouts und Schrift-
arten eingesetzt werden, ist die automatische Erfassung der Daten relativ komplex. Hinzu
kommt, dass die aufgenommenen Bilder oftmals nicht optimal sind. Um trotz dieser
schwierigen Voraussetzungen korrekte Ergebnisse zu liefern, wird bei einer unsicheren
Erkennung eine Aufgabe an eine „Crowd“ gesendet, die die Verifikation bzw. Korrektur
der Daten vornimmt. Durch diesen Ansatz ist man geschäftsungebunden und kann alle
Daten seiner Einkäufe bis auf Produktebene digital erfassen. Auf der daraus resultierenden
Datenbasis können weitere Mehrwertdienste angeschlossen werden. Neben der Darstellung
der Ausgaben kann erfasst werden, wenn Produkte in einem regelmäßigen Turnus gekauft
werden, um darüber ein Einkaufslisten-Template zu generieren. Zudem können verschie-
dene weitere Analysen repräsentiert werden, wie z. B. eine prozentuale Einteilung der ge-
kauften Lebensmittel in die Kategorien der DGE-Ernährungspyramide, zur initialen Re-
präsentation eines IST-SOLL-Abgleichs hinsichtlich einer gesunden Ernährung.
schriebene Wege, wie es beispielsweise Möbelhäuser oftmals praktizieren, ist eine Verän-
derung in Richtung niedrigerer Verkaufsregale und offenerer Strukturen zu erkennen. Dies
ermöglicht es den Kunden, sich schneller zu orientieren und kürzere Wege zu nehmen. Der
technologische Fortschritt kann jedoch auch in diesem Segment einen weiteren Vorteil
bieten. So wurden in einigen Märkten, wie beispielsweise der Toom-Baumarktkette, auto-
matisch fahrende Roboter der Firma Metra Labs getestet, die Kunden autonom zu ge-
wünschten Produkten führen konnten (Gross et al. 2008). Andere technologische Umset-
zungen zielen auf Applikationen ab, die sich die Kunden auf ihren eigenen Smartphones
installieren können und die wie ein Navigationssystem für die Kunden in den Märkten
fungieren. Neben der genauen Verortung der Produkte und einer digitalisierten Marktkarte
muss hierbei die aktuelle Position der Kunden ermittelt werden. Bei den Möglichkeiten der
technologischen Umsetzung eines Positionierungssystems sind Faktoren wie Genauigkeit
und Kosten zu beachten. Für eine Positionierung auf wenige Meter können Systeme basie-
rend auf BLE (Beacon-Technologie) oder WLAN verwendet werden, wobei diese Techno-
logien potenziell bereits in den Märkten vorliegen oder mit verhältnismäßig geringen Kos-
ten nachgerüstet werden können. Wird jedoch eine genauere Lokalisation benötigt, so
müssen kostenintensivere Lösungen eingesetzt werden, wie beispielsweise Quuppa4, ein
Positionierungssystem auf Basis von Bluetooth 4.0. Weitere Entwicklungen in diesem
Bereich sehen eine Positionierung auf optischer Basis vor. Beispielsweise können über die
Frequenz von LED-Leuchten Daten übermittelt werden (Haas et al. 2016). Dies kann ein-
gesetzt werden, um über das Smartphone eine Positionierung umzusetzen, welche verhält-
nismäßig kostengünstig und gleichzeitig sehr präzise ist.5
4 http://quuppa.com
5 http://www.philips.com/a-w/about/news/archive/standard/news/press/2015/20150521-Where-
are-the-discounts-Carrefours-LED-supermarket-lighting-from-Philips-will-guide-you.html
146 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
Als Plattform zur Präsentation von Technologie und Assistenzfunktionalität zur Orien-
tierung im Supermarkt wurde im IRL der Einkaufswagen gewählt. Unter anderem kann
man hierbei von Kunden gewünschte Dienste umsetzen, wie die Darstellung der Einkaufs-
liste, die Visualisierung der sich im Wagen befindlichen Produkte samt Preisinformationen
und ein beschleunigtes Checkout an der Kasse (Kourouthanassis et al. 2002). Der prototy-
pisch umgesetzte IRL SmartCart umfasst funkbasierte Sensorik in Form von RFID und
NFC, einen Fingerabdrucksensor, einen digitalen Kompass sowie ein Touchdisplay. Diese
Sensoren und Aktuatoren sind an ein integriertes Netbook angeschlossen und werden durch
Batterien mit Strom versorgt (Kahl et al. 2011). Zudem ist ein Quuppa-Sender zur Positi-
onserkennung am Wagen angebracht. Der Prototyp ist in Abb. 4 dargestellt.
Basierend auf dieser Instrumentierung werden mehrere Dienste angeboten. Durch die
Verknüpfung mit dem Warenwirtschaftssystem können die Produktpositionen im Markt
erfasst werden. In Kombination mit der aktuellen Position des Wagens und einer digitalen
Marktkarte kann dies genutzt werden, um eine Navigation zu Produkten im Markt zu rea-
lisieren. Hierbei werden die Einträge der am IRL SmartCart geladenen Einkaufsliste als
Ziele verwendet. Um die Einkaufsliste auf den Einkaufswagen zu laden, muss der Benutzer
sich lediglich an diesem authentifizieren, woraufhin sein Benutzerprofil inklusive der er-
stellten Liste automatisch geladen wird. Des Weiteren wird die Position des Einkaufswa-
gens mittels des Quuppa-Systems konstant ermittelt. Diese Informationen werden in Diens-
ten verwendet, welche dem Benutzer nach dem Einloggen zur Verfügung stehen (siehe
Abb. 5 (links)). Gerade in großen Supermärkten, wie beispielsweise Baumärkten, ist das
Finden gewünschter Produkte nicht einfach. Hier stellt eine Navigationsanweisung einen
gewinnbringenden Vorteil dar. Neben einer aktiven Navigation zu einem Produkt (siehe
Abb. 5 (Mitte)) gibt es auch die Möglichkeit einer passiven Navigation. Im letzteren Fall
werden keine Pfeile zum Ziel dargestellt. Anstelle dessen wird die Umgebung des Kunden
präsentiert, welche mit entsprechenden Markierungen angereichert wird, wenn Produkte
seiner Einkaufsliste in diesem Kartenausschnitt zu finden sind. Dies hat den Grund, dass
viele Kunden den Markt bereits kennen und wissen, wo sich die Produkte befinden, so dass
sie keine Navigationsanweisung benötigen und diese eher als störend empfinden würden.
Jedoch kann es auch hier vorkommen, dass an einem Regal vorbeigegangen wird, in dem
sich ein zu kaufendes Produkt befindet. Sobald dies festgestellt wird, muss der Kunde
wieder zurückgehen, um dieses Produkt zu kaufen. In diesem Fall dient die passive Navi-
gation einer Erinnerungsfunktion, um unnötige Wege zu vermeiden. Diese Navigationsun-
terstützung hat zudem den Vorteil, dass die Kunden nicht von der Umgebung abgelenkt
werden, da sie nicht ständig darauf fokussiert sind, Navigationsanweisungen zu folgen. In
einer Studie wurde gezeigt, dass selbst wenn Produkte oder andere Landmarken als Infor-
mationen für die Supermarktnavigation verwendet werden, die Umgebung während der
Navigation von den Kunden nicht bewusst wahrgenommen wird (Nurmi et al. 2011). Die-
ses ist jedoch für den Handel wichtig, da zusätzliche Umsätze durch Spontaneinkäufe von
Produkten gemacht werden.
Als weiteren Dienst bietet der IRL SmartCart die Darstellung des Wageninhalts samt
Preisinformationen an, wie in Abb. 5 (rechts) zu sehen. Schließlich existiert das Konzept,
Spiele auf dem Display zu ermöglichen (Kahl et al. 2009). Diese können Produkte mit
einbeziehen, die sich aktuell im Wagen befinden, und sind für Kleinkinder gedacht, die im
Kindersitz des Wagens sitzen. Dies hat den Vorteil, dass die Kinder die Produkte und damit
Objekte im Spiel bereits kennen oder spielerisch kennenlernen. Die realistische Umsetzung
eines solchen Einkaufswagens ist zu teuer und im aktuellen Prototypenstatus nicht praxist-
auglich. Dennoch ermöglicht der IRL SmartCart die positive Evaluation der genannten
Dienstleistungen. Aktuell wird an einer analogen Umsetzung geforscht, welche diese
Dienste als App auf einem Smartphone oder Tablet bereitstellt, das in eine Vorrichtung am
Griff des Einkaufswagens eingeklemmt werden kann.
Neben dem IRL SmartCart stellt der Artikelfinder ein weiteres Orientierungssystem für
Kunden im Markt dar, welcher bereits seinen Weg aus dem Labor in den richtigen Super-
markt gefunden hat. Über eine direkte Anbindung an das Warenwirtschaftssystem des
Markts wird die aktuelle Verräumung der Produkte erfasst und mit einer semantisch anno-
tierten Karte verknüpft. Über ein großes Touchinterface können Kunden hierüber Informa-
tionen zu der Platzierung von Produkten im Markt erhalten (siehe Abb. 6). Dies funktioniert
über zwei Varianten: Einerseits können Kunden explorativ den Markt erkunden, indem sie
auf einen Bereich in der interaktiven Karte klicken, daraufhin angezeigt bekommen, welche
Regale sich darin befinden und nach einem weiteren Klick auf ein Regal, die darin enthal-
tenen Produkte durchstöbern. Andererseits kann über eine Suchmaske ein gewünschtes
Produkt angegeben werden. Durch einen Klick auf ein gefundenes Ergebnis wird in der
Karte angezeigt, wo sich das Produkt bzw. das zugehörige Regal befindet. Jedoch auch
ohne eine Interaktion bietet die dargestellte Karte eine Orientierungshilfe, indem die Kun-
den eine Übersicht erhalten, wo welche Bereiche im Markt verortet sind. Wird eine Pro-
duktplatzierung verändert, wird dies entsprechend im Warenwirtschaftssystem hinterlegt
und somit die Darstellung im Artikelfinder automatisch angepasst. Als Weiterentwicklung
des Artikelfinders als Kiosk-Anwendung gibt es bereits eine erste Darstellung für mobile
Endgeräte.
mittlerweile auch mehrfarbige Etiketten bieten sie einen starken Kontrast und sind dadurch
von den Kunden genauso gut erkennbar wie Papieretiketten. Zudem haben ESL den Vorteil,
dass diese über das zentrale Warenwirtschaftssystem angesteuert und somit die Preise mit
der Kasse synchronisiert werden können. Neben den ESL stellen Werbedisplays in den
Märkten einen visuellen Touchpoint zu den Kunden dar. Darüber kann man analog zum
Radio zu jeder Zeit anhand der Käufergruppe zielorientierten Inhalt einspielen und damit
ein erstes Target Marketing Konzept umsetzen.
Im Lebensmitteleinzelhandel spielt die Mindesthaltbarkeit zum Teil einen Einfluss auf
die Preiswahl der Produkte. So werden Produkte, die nur noch kurze Zeit haltbar sind,
oftmals vergünstig angeboten. Hierzu werden die Preise manuell auf die Produkte geklebt
und manuell im Kassiervorgang eingegeben. Dieser Vorgang kann mittels Digitalisierung
und einer individuellen Identifikationsmöglichkeit eines Produkts automatisiert werden.
Mittels einer eineindeutigen Identifikation von IoT-Produkten können neben Nährwert-
angaben und Inhaltsstoffen auch weitere Informationen, wie z. B. Mindesthaltbarkeitsda-
ten (MHD), abgerufen und in den Diensten verwendet werden. Beispielsweise kann dies
dazu eingesetzt werden, um die Preise abhängig vom MHD der Produkte dynamisch
anzupassen. Um solche Änderungen direkt in die Umgebung zu transferieren, werden im
IRL elektronische Preisauszeichnungen (ESL) eingesetzt, welche vom System verändert
werden können. Dazu wird von einem Dienst aus dem Warenwirtschaftssystem heraus
die Datengrundlage entnommen, die zur Erstellung des Inhalts eines Preisetiketts notwen-
dig ist (Kahl 2013). Anschließend wird anhand eines Templates das Etikett erstellt und
als Bild zum ESL transferiert. Preisänderungen werden dazu durch einen manuellen
Eingriff oder durch Automatismen initiiert, woraufhin automatisch das neue Preisschild
generiert und an das entsprechende ESL verschickt wird. Neben der Darstellung von
Preisinformationen können ESL auch zur Darstellung weiterer Informationen eingesetzt
werden, wie beispielsweise als Navigationshinweis, indem ein Pfeil in Richtung des ge-
suchten Produkts visualisiert wird oder indem Bundelangebote nach einer Kundeninter-
aktion visuell hervorgehoben werden. Hierfür wird im IRL die Entnahme eines Produkts
mittels RFID oder optisch ohne weitere Instrumentierung der Produkte erfasst. Existiert
zu dem herausgenommenen Produkt ein Bundleangebot und befindet sich das zugehörige
Produkt in direkter Umgebung, wird auf dessen ESL der Spezialpreis angezeigt. Durch
die Veränderung im Blickfeld des Kunden wird dessen Aufmerksamkeit zu diesem Pro-
dukt gelenkt.
Alternativ zu ESL können auch Displays oder Projektionen der Preisdarstellung dienen.
Der Vorteil hierbei liegt darin, dass der Inhalt häufiger gewechselt werden kann. Am IRL
wurde eine Obstschräge in der Art instrumentiert, dass sie erkennt, welches Obst bzw.
Gemüse an welcher Stelle steht. Hierfür können RFID-Etiketten in den standardisierten
Obst- und Gemüsekisten hergenommen werden, die bereits heutzutage zur Wartung ver-
wendet werden. Das angeschlossene Display adaptiert sich automatisch, sobald eine Kiste
entfernt oder eine neue auf der Obstschräge platziert wird. Dabei wird an der entsprechen-
den Stelle die Warenauszeichnung angepasst. Die deklarationspflichtigen Informationen,
wie Preis, Herkunftsland, Handelsklasse und Produktbezeichnung werden hierbei kontinu-
150 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
ierlich dargestellt. Daneben gibt es eine Slideshow, die weitere Informationen wie z. B.
Abbildungen zur Präsentation der Regionalität, ein Produktquerschnitt und durchschnittli-
che Nährwertangaben, umfasst. Neben der Orientierung, um welche Produkte es sich bei
der Auszeichnung handelt, stellt dies eine erweiterte Informationsdarstellung und Produkt-
transparenz dar, die von vielen Kunden gewünscht ist und ein Kundenbindungsfaktor
darstellen kann. Analog zu ESL kann bei einer solchen Darstellung eine automatisierte
Adaption auf Preisänderungen umgesetzt werden. Insbesondere im Segment von Obst und
Gemüse kann eine automatische Preisanpassung hilfreich sein. Diese Produkte befinden
sich auf der Verkaufsfläche in der Regel nicht in ihrer optimalen Lagertemperatur. Erfasst
das System kurz vor dem Wochenende, dass noch eine große Menge an Erdbeeren auf
Lager ist, die nach aktueller Verkaufsprognose nicht abverkauft werden, kann der Preis
durch das System automatisch reduziert und dadurch ein erhöhter Kaufanreiz geschaffen
werden. Der richtige Zeitpunkt einer solchen Anpassung muss das System basierend auf
historischen Daten sowie der Fusion unterschiedlichster Sensordaten mittels intelligenter
Algorithmen der Abverkaufsprognose ermitteln.
Frischetheken stellen eine besondere Form für eine möglichst personalisierte Kunden-
ansprache dar, bei der dem Kunden durch Verkäufer Empfehlungen geboten und bei der
Produktauswahl geholfen wird. Bei der Kommunikation zwischen Kunden und Verkäufern
werden bei Theken oftmals Zeigegesten verwendet, um gewünschte Produkte zu spezifi-
zieren. Im IRL werden solche Zeigegesten mittels einer entsprechenden Digitalisierung
optisch durch eine 3D-Tiefenkamera erkannt. Basierend auf einem 3D-Modell der Theke,
welches auch die einzelnen Produktplatzierungen umfasst, wird das Produkt ermittelt, auf
welches der Kunde gerade zeigt. Dieses wird an die elektronische Waage versendet, wor-
aufhin das Produkt sowohl dem Kunden als auch dem Verkäufer auf den beiden Displays
der Waage präsentiert wird. Neben Produktinformationen bekommt der Verkäufer weiter-
führende Daten, anhand derer er den Kunden kompetent beraten kann, wie beispielsweise
eine Weinempfehlung zu einem Käse. Neben der Reduktion von Rückfragen, auf welches
Produkt der Kunde zeigt, werden hierbei die Verkaufsprozesse verändert. Beispielsweise
sieht der Verkäufer bereits beim Zeigen auf ein Produkt zugehörige Informationen und kann
diese bei einem Verkaufsgespräch gewinnbringend integrieren und darüber seine Kompe-
tenz widerspiegeln. Heutzutage werden solche Informationen erst präsentiert, wenn die
zugehörige Identifikationsnummer an der Waage eingegeben wird. Ebenso können dem
Kunden passende Informationen, wie Rezeptvorschläge oder weitere Käsevorschläge, an-
gezeigt werden. Die Alternativvorschläge können hierbei von der Analyse abgeleitet wer-
den, welche Käse oft zusammen gekauft werden. Auch dies erfolgt im IRL zu dem Zeit-
punkt, an dem der Kunde seine Aufmerksamkeit auf das aktuelle Produkt legt und sich nicht
bereits in der Auswahl des nächsten Produkts befindet.
Während Kunden personalisierte Dienstleistungen fordern, bestehen sie gleichzeitig auf
den Schutz ihrer Privatsphäre. Daher muss man bei der Darstellung von Informationen
zwischen drei Displayklassen unterscheiden. Während öffentliche Displays die Darstellung
von allgemeinen Informationen zulassen, sollten darauf keine privaten personenbezogenen
Informationen dargestellt werden, da diese auch für andere sichtbar sind. Bei halböffentli-
Der technologische Fortschritt im Handel g etrieben durch Erwartungen der Kunden 151
chen Displays, wie beispielsweise einem Display, welches an einem Einkaufswagen ange-
bracht ist, können teilweise private Informationen bei der Visualisierung verwendet wer-
den. Während Kunden in der Regel die Einzigen sind, die Einblicke auf das Display haben,
gibt es auch Zeitpunkte, bei dem andere Personen auf das Display schauen können, wie
beispielsweise wenn der Wagen stehen gelassen wird, um ein Produkt aus dem Regal zu
nehmen. Schließlich gibt es noch die Klasse der privaten Displays, die in der Regel durch
die Smartphones der Kunden dargestellt werden und nicht von Dritten eingesehen werden
können. Aus diesem Grund kann ein Abgleich von allgemeinen Produktinformationen mit
dem persönlichen auf dem Smartphone hinterlegten Benutzerprofil erfolgen und Zusatzin-
formationen mittels erweiterter Realität präsentiert werden, wie in Abb. 7 zu sehen (Löch-
tefeld et al. 2010). Im IRL kann man über eine spezielle App sein Benutzerprofil anlegen,
in welchem spezifiziert wird, auf welche der 14 ausweispflichtigen Allergene man aller-
gisch reagiert. Geht man mit der Kamera über die Produkte, wird als virtuelle Überblen-
dung angezeigt, ob man diese bedenkenlos kaufen kann. Wird ein grüner Haken angezeigt,
enthält das Produkt kein vom Benutzer selektiertes Allergen. Bei einem orangenen Kreuz
sind ausschließlich Spuren mindestens eines angegebenen Allergens enthalten. Bei einem
roten Kreuz ist eine Übereinstimmung der Allergieeinstellung gefunden, so dass dieses
Produkt nicht vom Kunden gekauft werden sollte. Möchte man nähere Informationen er-
halten, warum ein Kreuz dargestellt wurde, kann man die Kamera näher an das Produkt
führen, woraufhin eine visuelle Erklärung in Form von eingefärbten Icons als leicht ver-
152 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
ständliche Repräsentanten der Allergene dargestellt wird. Geht man noch näher an das
Produkt, werden alle enthaltenen Allergene dargestellt. Hintergrund dieser Art der Infor-
mationsrepräsentation ist, dass es in der Regel für Kunden ausreichend ist zu wissen, ob
das Produkt Allergene enthält, gegen die man reagiert, um seine Kaufentscheidung zu
treffen. Hinsichtlich einer Transparenz kann man über die Metapher einer semantischen
Lupe auch die Zusammenhänge der Darstellung einsehen.
Der Kassenbereich stellt in der Regel den Abschluss eines Einkaufs im Supermarkt dar und
kann nach einem positiven Einkaufserlebnis einen bleibenden negativen Eindruck hinter-
lassen, sofern es hier zu ungewünschten Ereignissen, wie beispielsweise lange Wartezeiten,
kommt. Aus diesem Grund ist es den Kunden ein Bedürfnis, dass insbesondere dieser Be-
reich durch moderne Technologien revolutioniert wird. Seitens der Händler werden hierzu
verschiedene Alternativen ausgetestet, welche von Self-Checkout bis zu Self-Scanning
reichen. Während beim Self-Checkout die Kunden am Ende des Einkaufs in einem dedi-
zierten Kassenbereich alle Produkte noch einmal einzeln scannen, erfassen die Kunden die
Produkte beim Self-Scanning bereits während des Einkaufs, indem sie entweder ein vom
Geschäft zur Verfügung gestelltes Gerät oder das eigene Smartphone mit einer speziellen
App verwenden. Vorteil beim Self-Scanning ist, dass die Produkte im Kassenbereich nicht
erneut aus dem Wagen genommen werden müssen. Beide Varianten benötigen in der Regel
länger als die standardisierte Methode, bei der ein Kassierer die Produkte scannt. Jedoch
ist die gefühlte Dauer kürzer, da keine Wartezeiten entstehen, was somit zu einem positiven
Einkaufserlebnis beitragen kann.
Im IRL wurde eine weitere Möglichkeit umgesetzt, welche die Digitalisierung der Pro-
dukte verwendet, um eine einfache Produkterfassung an der Kasse zu realisieren. Diese
erfolgt am Easy Checkout aufgrund der Instrumentierung der Produkte mit RFID-Tags
automatisch. Der Kunde bekommt auf einem Display an der Kasse die gescannten und zu
zahlenden Produkte angezeigt. Bezahlt werden kann über biometrische Sensorik (Finger-
abdruck) oder über NFC, basierend auf dem Verfahren einer kontaktlosen Kreditkarte,
welche beispielsweise im Autoschlüssel des Kunden integriert sein kann. Die unterschied-
lichen Bezahlverfahren werden im Hintergrund gleich gestaltet, so dass eine Erweiterung
durch zusätzliche Bezahlverfahren einfach möglich ist und für den Kunden keine Hürde
darstellt. Nach der Bezahlung werden der Druck des Kassenbons und das Öffnen des Aus-
gangstors angestoßen. Neben der Bezahlung in einem festgelegten Bereich (Kassenzone)
können die Produkte auch mittels mobiler Bezahlverfahren (Mobile Payment) im Markt
bezahlt werden (Kahl und Paradowski 2013). Hierbei wird der zu zahlende Betrag nach
expliziter Aufforderung durch den Kunden über die NFC-Schnittstelle vom Einkaufswagen
an das mobile Endgerät des Kunden gesendet. Dort kann die Überweisung des entsprechen-
den Betrags ausgelöst werden, woraufhin ein Bestätigungscode zurückgeschickt wird,
welcher anschließend vom Smartphone an den Einkaufswagen transferiert wird. Daraufhin
Der technologische Fortschritt im Handel g etrieben durch Erwartungen der Kunden 153
werden die entsprechenden Produkte als gekauft markiert, was in deren digitalen Objekt-
gedächtnissen vermerkt wird, und ihre Sicherheitsetiketten deaktiviert, so dass beim Ver-
lassen des Marktes kein Alarm ausgelöst wird (Kahl et al. 2013). In diesem Szenario kann
zu jeder Zeit und Position im Markt der Kauf abgeschlossen werden, unabhängig von
spezifischen Kassenzonen.
1.4 Zusammenfassung
Kunden haben immer größere Bedürfnisse, die zum Teil aus dem Online-Handel her ent-
standen sind. Eine Digitalisierung der Märkte kann hierbei unterstützend eingesetzt wer-
den, um genau diesen Bedürfnissen nachzukommen. Insbesondere beim aktuellen Trend
der Verschmelzung digitaler und analoger Einkaufswelten müssen die Märkte mit unter-
schiedlicher Sensorik und Aktuatorik ausgestattet werden, um einen reibungslosen, ka-
nalübergreifenden und erlebnisreichen Einkauf zu ermöglichen. Auch wenn die Zahl der
Onlinebestellungen stetig steigt, wird der Offline-Handel nicht aussterben. Insbesondere
durch die Vorteile einer persönlichen Verkaufsberatung durch einen Mitarbeiter, Erfassung
der Haptik von Produkten und der direkten Mitnahmemöglichkeit wird es zukünftig wei-
terhin physische Geschäfte geben, die jedoch auch teilweise mit Webshops konkurrieren
müssen. Im Online-Handel selbst müssen Händler oftmals in erster Linie ein Vertrauen
aufbauen, um eine entsprechende Kundenbindung zu unterstützen. Hier hat der Offline-
Handel durch die persönliche Ansprache einen Vorteil. Daher zeichnet sich immer mehr ab,
dass der Omni-Channel-Handel zukünftig an Bedeutung gewinnt. Während immer mehr
stationäre Händler einen Webshop anbieten, eröffnen immer mehr Online-Händler ein
physisches Geschäft, um einen direkten Kundenkontakt zu ermöglichen.
Neben der Produkttransparenz fordern Kunden den Zugriff auf zusätzliche Informatio-
nen, wie Testberichte oder Rückmeldungen aus dem eigenen sozialen Netzwerk. Hierzu
müssen die entsprechenden Infrastrukturen im Geschäft geschaffen werden, um diese Käu-
fergruppe nicht zu verlieren. Des Weiteren werden persönliche Ansprachen mit personali-
sierten Dienstleistungen gefordert. Mittels personalisierter Assistenzfunktionalitäten kann
ein Mehrwert geschaffen werden, der zu mehr Spaß während des Einkaufens, einer höheren
Kundenzufriedenheit und damit zu einer stärkeren Kundenbindung führen kann. Insbeson-
dere müssen die Kundenprozesse vereinfacht und in Richtung des Omni-Channels harmo-
nisiert werden. Während viele Händler eine Digitalisierung aus Kostengründen eher ableh-
nen, können erste zielgerichtete Instrumentierungen bereits einen gewinnbringenden Vor-
teil bringen, der in einer weiteren Entwicklungsstufe ausgebaut werden kann. Prototypische
Umsetzungen und Evaluationen von Assistenzfunktionalitäten im IRL zeigen, dass eine
Digitalisierung einen positiven Einfluss sowohl auf die Märkte als auch die Kunden haben
kann. Grundvoraussetzung für solche Systeme ist eine entsprechende Datenbasis, deren
Erfassung, Wartung und Erweiterung weiter vorangetrieben werden muss.
154 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
Literatur
acatech, editor (2011): Cyber-Physical Systems: Innovationsmotor für Mobilität, Gesundheit, Ener-
gie und Produktion. acatech POSITION. Springer, Berlin.
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156 Gerrit Kahl • Antonio Krüger
Autoren
Dr. Gerrit Kahl – Nach seinem Informatikstudium an der Universität des Saarlandes ist
Dr. Gerrit Kahl seit November 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen For-
schungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) und befasst sich vorwiegend mit
Themen rund um den Handel der Zukunft. Er war maßgeblich an der Konzeption und dem
Aufbau des Innovative Retail Laboratory beteiligt, welches vom DFKI in Kooperation mit
dem Einzelhändler Globus betrieben wird. Als technischer Leiter war er für die System-
und Kommunikationsinfrastruktur des Labors zuständig. Seit Mai 2014 hat er die Aufgaben
der Laborleitung übernommen und ist insbesondere für das Innovationspartnerschaftspro-
gramm zuständig, welches im Juli 2015 etabliert wurde.
Prof. Dr. Antonio Krüger ist wissenschaftlicher Direktor des Innovative Retail Laborato-
ry (IRL) des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI) in
Saarbrücken. Das IRL wurde 2007 vom DFKI gemeinsam mit der Globus Warenhaus
Holding gegründet und hat sich seitdem zu einem der führenden IT-Forschungsinstitute
entwickelt, in dem wichtige Zukunftsthemen des Handels untersucht und voraus gedacht
werden. Gleichzeitig ist Professor Krüger seit 2009 ordentlicher Professor für Informatik
an der Universität des Saarlandes, wo er das Fach „Künstliche Intelligenz im Handel“
vertritt. Davor war er Professor an der Universität Münster und geschäftsführender Direk-
tor des Instituts für Geoinformatik (seit 2004). Er ist Mitbegründer der Saarbrücker Tech-
nologie-Firma Eyeled GmbH, welche sich auf die Entwicklung mobiler und ubiquitärer
Informationssysteme spezialisiert hat.
157
1.1 Einleitung
Die Digitalisierung schreitet auch im Handel unaufhaltsam voran. Seit jeher hat der Handel
auf eine intelligente Nutzung von Technologie gesetzt – die Margen des Geschäfts erfor-
dern ein besonders klares Verständnis des Geschäftsnutzens, bevor weitreichende Investi-
tionen getätigt werden – und umgekehrt wird gezielt investiert, sobald sich dadurch klare
Vorteile in Wettbewerbs- und Kostenposition ergeben. In derselben Weise erfolgt derzeit
die Digitalisierung der Geschäftssysteme des Handels. Natürlich besteht im Vergleich zu
vorhergegangenen Technologisierungsschritten eine besondere Herausforderung: Die Ge-
schwindigkeit, mit der etablierte ebenso wie neue Wettbewerber bestehende Geschäftsmo-
delle angreifen und erfolgreich in Frage stellen, ist um ein Vielfaches höher als in der
Vergangenheit.
Neben den schrittweisen Verbesserungen in einzelnen Teilen des Geschäftssystems
wurde im Handel auch früh ein weiterer, ganz entscheidender Werthebel entdeckt: Die
Integration über die gesamte Wertschöpfungskette, die zu wesentlichen Fortschritten in den
Kosten von Logistik, Lagerhaltung und Einkauf geführt hat, und über eine schnellere Lie-
ferfähigkeit und Warenverfügbarkeit auch ganz entscheidend zu mehr Absatz beigetragen
hat. Die dafür notwendigen Investitionen konnten natürlich von großen Unternehmen bes-
ser geschultert werden, so dass sich dort tendenziell eine bessere Gesamtintegration findet.
In der anstehenden Welle der Digitalisierung bietet dieser höhere Integrationsgrad eine
neue Chance für diese Unternehmen: Im Idealfall können sie auf einer weit gehend integ-
rierten Datenbasis aufsetzen, die es erlaubt, Geschäftsprozesse aus Kundensicht neu zu
durchdenken und eine neue Anwendungslogik schnell zu implementieren, ohne die dafür
erforderliche Dateninfrastruktur erst schaffen zu müssen – von den konzeptionellen Anfor-
derungen einer unternehmensweiten Datenintegrität ganz zu schweigen. Dies schafft dann
die Voraussetzung für die zusätzliche Berücksichtigung externer Daten, die weitere Rück-
schlüsse auf Kundenpräferenzen und -verhalten erlauben.
Als Ergebnis dieser Bemühungen steht ein Geschäftsmodell in Aussicht, das auf deutlich
verbessertem Kundennutzen basiert und diesen zu sehr wettbewerbsfähigen Kosten zu
liefern vermag. Neben der verbesserten Verfügbarkeit eines breiten Warensortiments liegt
dabei ein Schwerpunkt des zukünftigen Kundennutzens in einer weiteren Automatisierung
der Kundeninteraktion. In der Tat ist die Schnittstelle zum Kunden der zentrale Ausgangs-
punkt der meisten Digitalisierungsstrategien und ein wesentliches Merkmal der Digitali-
sierung im Vergleich zu bisherigen Technologisierungsschritten ist das konsequente Neu-
denken von Geschäftsprozessen aus Kundensicht. Am Fallbeispiel des Lebensmitteleinzel-
handels soll dabei eine mögliche Entwicklung skizziert werden, die insbesondere auch die
erheblichen Potenziale solcher Verbesserungen aufzeigt.
Allerdings ist zur Erschließung dieser Potenziale eine deutliche Steigerung der Leis-
tungsfähigkeit der Informationstechnologie erforderlich – und das von der Basisinfrastruk-
tur bis hin zu den IT-internen Abläufen und der Steuerung von Investition im Schulter-
schluss von Fachbereich und IT. Im Anschluss an das Fallbeispiel sollen daher die notwen-
digen technologischen Voraussetzungen für die weitere Digitalisierung skizziert werden,
zusammen mit den kritischen Faktoren für eine erfolgreiche Umsetzung.
Abb. 1 Ist-Situation
Quelle: McKinsey
Die Ausgangslage in einem typischen kleineren Supermarkt ist heute durch wenig direkte
Kundeninteraktion und wenig Hilfestellung beim Einkauf gekennzeichnet (Abb. 1). Es gibt
keine Begrüßung; außerhalb spezieller Servicefunktionen stehen Mitarbeiter für Fragen zur
Verfügung, die sie neben ihren anderen Tätigkeiten beantworten. Die Produktpräsentation
ist statisch, Informationen für den Käufer sind nur schwer erkenntlich. Substanzieller Ar-
beitsaufwand entfällt auf die Betreuung der Kassen und auf Verwaltungsfunktionen. Wa-
renannahme, Lagerführung und Regalauffüllung machen den Hauptteil des Aufwands aus.
Kundeninteraktion und das Betreiben des Markts laufen weitgehend nebeneinander her.
160 Stefan Spang
In einem Zwischenschritt lässt sich auf Basis verfügbarer Technologien die Kundeninter-
aktion drastisch verbessern (Abb. 2). Beginnend mit einer persönlichen Begrüßung wird
während des ganzen Einkaufsprozesses der Kunde mit zusätzlichen Informationen ver-
sorgt, die in direktem Bezug zu seinem persönlichen Profil stehen. Personalisierte Sonder-
angebote zielen auf eine verbesserte Kundenausschöpfung. Automatisierte Einkaufswagen
bieten eine Navigationshilfe durch den Markt, Produktinformationen werden angereichert
dargestellt und um Daten aus dem Netz und Social Media ergänzt. Ebenso können Kunden
unmittelbar Feedback zurückspielen. Die Preisauszeichnung erfolgt digital, die Regalbe-
füllung ist automatisiert. Automatisiert sind auch Nebentätigkeiten wie die Marktreinigung.
Ein solcher Zwischenstand bringt sicher einen deutlichen Fortschritt in der Gestaltung
des Einkaufserlebnisses. Im Grunde handelt es sich jedoch lediglich um eine automatisier-
te Variante des althergebrachten Einkaufsprozesses.
Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 161
Durch ein Neudenken des Einkaufsprozesses lassen sich jedoch noch wesentlich weiter
reichende Verbesserungen erzielen (Abb. 3). Die Waren werden hier weitgehend digital
präsentiert, ergänzt um vielfältige Zusatzinformationen. Parallel dazu läuft eine Logistik
im Hintergrund, die für den Filialkauf die ausgewählten Waren konfektioniert und dem
Kunden an einer Abholstation zugänglich macht. Abrechnung und Bezahlung erfolgen
fortlaufend beim Checkout. In einem solchen Modell ist in erster Linie nur noch ca. ein
Viertel der Verkaufsfläche erforderlich. Durch die weit reichende Automatisierung der
Logistik sind auch wesentlich weniger Mitarbeiter nötig und die verbleibenden können sich
intensiver um die direkte Kundeninteraktion kümmern. Für den Kunden verbindet sich die
Bequemlichkeit und der Informationsreichtum des Online-Shopping mit der unmittelbaren
Verfügbarkeit des stationären Handels.
162 Stefan Spang
Die vorgesehenen Verbesserungen haben Auswirkungen auf jeder Ebene – von der einzel-
nen Aufgabe bis hin zur Gesamtheit der Kunden.
Auf der Ebene der einzelnen Aufgabe erfolgt die vollständige Automatisierung von
Kasse, Regalbefüllung und Reinigung, was allein schon eine Einsparung von 65 % der
entsprechenden Arbeitsstunden bedeutet. Die frei gewordene Arbeitszeit kann dann für
Aktivitäten mit einem höheren Wertbeitrag genutzt werden, z. B. für direkte Kundenkon-
takte.
Auf der Ebene der Prozesse ergibt sich ein um 60 bis 65 % geringerer Personalbedarf
für die gesamte Filiale. Damit ergibt sich auch eine geringere Personalschwankung und
damit geringere Abhängigkeiten von Teilzeitkräften in Spitzenzeiten. Durch gezielte Nut-
zung von Big Data, also Analysen aller zum aktuellen Zeitpunkt verfügbarer Kundeninfor-
mationen, lassen sich individuelle Produktempfehlungen und gezielte Aktionen gestalten,
die auf einen deutlichen Mehrabsatz abzielen. Und schließlich ergeben sich erhebliche
Potenziale aus einer effektiveren Preisgestaltung.
Für das gesamte Unternehmen ergibt sich über ein Portfolio von Märkten eine zwei- bis
dreimal höhere Flächenproduktivität und entsprechend um 60 bis 80 % geringere Investi-
tionen auf Grund der kleineren Flächen. Bestände lassen sich weiter reduzieren und die
Unterscheidung zwischen Filial- und Online-Kauf schwindet weiter.
Für die Gesamtheit der Kunden ergibt sich dadurch zunächst ein einfacheres und beque-
meres Kundenerlebnis, mit wesentlich verkürztem Zeitbedarf. Gleichzeitig wird den Kun-
den ein besseres Sortiment zu besseren Preisen geboten, mit der jederzeit verfügbaren
Möglichkeit, weitere Komfortelemente hinzuzuwählen, wie z. B. die Lieferung nach Hau-
se. Und nicht zuletzt eröffnet der geringere Flächenbedarf die Möglichkeit, die Gestaltung
des Filialnetzes zu überarbeiten und die Flächenpräsenz zu erhöhen.
Das Fallbeispiel verdeutlicht das beträchtliche Potenzial einer weiteren Digitalisierung
des Handels. Allerdings bestehen auch vielfältige Herausforderungen auf dem Weg zu ei-
nem solchen Zielzustand. Zum einen sind substanzielle Investitionen erforderlich – und das
in deutlich kürzerer Zeit als gewohnt, getrieben durch eine besonders hohe Wettbewerbs-
dynamik. Zudem haben sich das Einkaufsverhalten und die Serviceerwartungen der Kun-
den drastisch verändert. Dies alles geschieht bei weiter steigendem Margendruck, der auch
von der IT einen erkennbaren Beitrag zur Optimierung verlangt. Und die Welle der Inno-
vationen trifft oftmals auf eine IT-Funktion, die aus einer Welt schwerfälliger Backoffice-
systeme kommt und nicht auf schnelle, iterative Innovation ausgerichtet ist.
Damit ergeben sich drei Hauptschwierigkeiten, die auf dem Weg zu einer erfolgreichen
Digitalisierung zu bewältigen sind: Zuvorderst müssen Zeit und Kosten für die Bereitstel-
lung neuer Lösungen reduziert werden. Darüber hinaus müssen die neuen Erwartungen an
die Servicelevel in der digitalen Ära erfüllt werden. Und schließlich gilt es, die Betriebs-
kosten bestehender Anwendungen weiter zu minimieren. Die Summe dieser Anforderun-
gen erfordert ein neues Modell, eine „Next Generation IT“.
Die technologische Entwicklung der D
igitalisierung im Handel 163
Viele IT-Organisationen sind heute nur unzureichend auf die zukünftigen Anforderungen
ausgerichtet:
Insgesamt lassen sich durch eine solche Next Generation IT nicht nur Zeit und Kosten
für die Bereitstellung neuer Lösungen reduzieren, sondern auch die neuen, deutlich höheren
Servicelevels der digitalen Ära erfüllen sowie die Betriebskosten bestehender Anwendun-
gen minimieren.
Konkret ergeben sich Verbesserungen in allen relevanten Dimensionen der IT-Leis-
tungsfähigkeit:
• Wertbeitrag durch die IT: Lag in der Vergangenheit der Fokus vorrangig auf
Backofficeanwendungen, so steht nun die im Wettbewerb differenzierende Funktiona-
lität im Vordergrund. Dementsprechend steigt auch der Anteil der IT-Ausgaben für
geschäftsrelevante Innovationen von unter 5 % auf 10 bis 25 %.
• Agilität: Üblicherweise wurden in großen Systembetrieben bislang ein bis drei
Releases pro Jahr eingeführt. Zukünftig lässt sich diese Zahl auf neun bis zwölf
Releases im Jahr steigern, mit der gleichzeitigen Möglichkeit, abgegrenzte Funktiona-
lität fortlaufend einzuführen. In der Produktionsumgebung lässt sich die Zeit von
Code Complete bis zur Produktion auf 1/5 bis 1/10 reduzieren.
• Qualität: Verfügbarkeit, Sicherheit und Skalierbarkeit für kritische Anwendungen
werden drastisch verbessert. Die Fehlerrate sinkt auf 20 bis 45 % des Ausgangszu-
stands.
• Effizienz: Selbst in gut geführten Organisationen wird zwischen Run und Change
selten ein besseres Verhältnis als 70:30 erzielt. Mit einer konsequent umgesetzten
Next Generation IT sollte sich dieses Verhältnis in Richtung von 50:50 entwickeln.
Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 165
Eine kundenorientierte Architektur im Sinne der Next Generation IT ist durch vier Haupt-
merkmale gekennzeichnet, die die klassische Kern-IT mit Anwendungen und spezieller
Infrastruktur ergänzen und erweitern (Abb. 5).
Eine solche Architektur lässt sich optimal auf das veränderte Kundenverhalten ausrichten.
Kanalübergreifendes Shopping hat sich mittlerweile in fast allen Branchen durchgesetzt,
zumindest in der simplen Variante Online-Informationsbeschaffung und stationärer Kauf.
Immer mehr kommen mobile Plattformen zum Zuge (digital wird zusehends zu „mobile
first“) und Social Media sind unmittelbar in den Prozess der Kaufentscheidung eingebun-
den. Insgesamt soll der Einkaufsprozess bequemer, schneller und flexibler werden, dabei
personalisiert und damit relevant sowie erlebnisorientiert. Die Sicherheit persönlicher Da-
ten und Transaktionen ist eine Nebenbedingung, die immer mehr an Gewicht gewinnt. Eine
kundenorientierte Architektur erfüllt die sieben Kernvoraussetzungen für ein solches Ein-
kaufserlebnis:
• Über alle Kanäle hinweg wird ein einheitliches Bild des Unternehmens für den
Kunden geschaffen.
• Services zum Markenerlebnis, die die Kaufentscheidung unterstützen, sind überall
bequem zugänglich.
• Personalisierung und Empfehlungen in Echtzeit können auf Basis gebündelter,
umfassender Kenntnisse über die Kunden geleistet werden.
• Der Produktkatalog ist komplett digitalisiert.
• Bestandsübersichten können kanalübergreifend in Echtzeit erzeugt, Bestellungen und
Retouren darüber flexibel gesteuert werden.
Die technologische Entwicklung der D
igitalisierung im Handel 167
• Ein wechselseitiger Dialog mit den Kunden hilft dabei, Produkte und die Marke zu
bewerben und Feedback sowie Erwartungen abzufragen.
• Leicht verfügbare, sichere Services bieten zu jedem Zeitpunkt ein starkes Markener-
lebnis.
Aus einem nach diesen Grundsätzen gesteuerten Technologieeinsatz ergeben sich auch
neue Geschäftspotenziale. Über ein „endloses Regal“ können auch nicht bevorratete Pro-
dukte verkauft werden, Social Media lassen sich für virales Marketing nutzen, Kundenkon-
takte lassen sich kostengünstig vervielfachen und Kundenfeedback kann direkt in die Pro-
duktgestaltung einfließen.
Der entscheidende Vorgehenshebel für die Implementierung einer Two Speed IT sind
Agile-Entwicklungsansätze (Abb. 7). Wo nach einem klassischen Wasserfallansatz ein bis
drei Jahre für die Bereitstellung wesentlicher Funktionalitätsblöcke benötigt wurden, sollen
mit Hilfe von Agile Development produktionsbereite Funktionalitäten schon nach wenigen
Wochen übergeben werden können.
Ein wesentlicher Aspekt eines agilen Entwicklungsansatzes umfasst die Einrichtung so
genannter DevOps-Teams zur Minimierung der Time to Market. Dabei handelt es sich um
funktionsübergreifende Teams über Entwicklung und Produktion hinweg, die gemeinsam
kontinuierlich mit Hilfe automatisierter Werkzeuge für Entwicklung, Test und Implemen-
tierung kleine Releases bereitstellen. In der Praxis von Unternehmen wie Google, Amazon,
Facebook und LinkedIn haben sich dabei als wesentliche Vorteile neben dem höheren
Entwicklungstempo und damit kürzerer Time to Market auch stabilere Umgebungen und
qualitativ bessere Releases ebenso herausgestellt wie ein verbesserter Automatisierungs-
grad und eine höhere Zuverlässigkeit. Quantitativ haben sich über eine Reihe von Unter-
nehmen hinweg Verbesserungen in der Anwendungsentwicklung und -wartung von 22 bis
35 % bei der Produktivität, 20 bis 45 % bei der Qualität (gemessen in Events pro Server)
und 10 bis 25 % in der Zykluszeit (durchschnittliche Problemlösungszeit) ergeben. Für die
Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 169
Mit der erhöhten Leistungsfähigkeit der Entwicklungsansätze muss auch die Bereitstellung
der Infrastruktur Schritt halten. Hierzu ist es unerlässlich, dass die Infrastruktur weitgehend
automatisiert bereitgestellt wird und die Entwicklung in vorgegebenem Ausmaß die Bereit-
stellung direkt beeinflussen kann (Abb. 9). Entwickler müssen in der Lage sein, aus einer
kleinen Anzahl von Optionen von Plattformen auszuwählen, die dann dynamisch bereitge-
stellt werden. Diese Umgebungen können von den Entwicklern online konfiguriert werden,
um nicht nur optimale Servicelevel anbieten, sondern auch die beste ökonomische Ent-
scheidung für die Plattformbereitstellung treffen zu können.
170 Stefan Spang
Erst das stringente Zusammenspiel der vier bislang beschriebenen Komponenten einer
Next Generation IT verspricht Aussicht auf Erschließung der beträchtlichen Potenziale.
Damit stellt sich für die meisten Unternehmen die Herausforderung, diese Summe an Neu-
erungen mit ihren momentan vorhandenen Fähigkeiten in die bestehende Landschaft ein-
zufügen.
Zur erfolgreichen Umsetzung einer Next Generation IT müssen nicht nur neue Verfahrens-
weisen eingeführt werden, sondern es sind auch in der Breite neue Technologien erforder-
lich. Von der Datenhaltung bis zur Kundenschnittstelle bieten sich in immer schnellerer
Folge neue Werkzeuge an, die jeweils einen wahren Leistungssprung gegenüber etablierten
Technologien versprechen. Allerdings lässt sich die Flut an Innovationen nur beherrschen,
wenn die entsprechenden Mitarbeiterfähigkeiten in ausreichendem Maß vorhanden sind.
Realistisch ist das nur über ein breites Netz von Partnerschaften mit Technologielieferanten
und spezialisierten Dienstleistern zu bewerkstelligen. Das Management eines solchen Port-
Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 171
folios von Partnerschaften wird damit zu einer notwendigen Kernkompetenz für eine er-
folgreiche Digitalisierung.
1.3.6 Kostenoptimierung
Wie schon bei den einzelnen Elementen angesprochen, bietet die Summe der Optimie-
rungshebel ein ganz erhebliches Einsparpotenzial (Abb. 10). Die drei Hauptthemen Be-
darfsrationalisierung, Optimierung der Bereitstellung sowie Vereinfachung der IT-Land-
schaft sorgen mit Einsparungen von 20 bis 40 % der gesamten IT-Ausgaben dafür, dass die
Investition in eine Next Generation IT sich schon allein aus einer Kostenperspektive lohnt
– eine hervorragende Ausgangsbasis, um die noch weit darüber hinaus reichenden Vorteile
auf der Absatz- und Wareneinstandsseite zu erschließen.
Dabei sind die Potenziale ähnlich über ADM und Infrastruktur verteilt. Hinsichtlich des
erforderlichen Zeithorizonts für die Umsetzung lässt sich bereits ein Drittel schon innerhalb
des ersten Jahres nach Umsetzung erzielen, was auch die Finanzierung der erforderlichen
Anfangsinvestitionen erleichtert. Die kompletten Potenziale sollten nach zwei bis vier
Jahren realisiert sein.
172 Stefan Spang
Gerade auf der Anwendungsseite erfordert diese zügige Potenzialumsetzung auch eine
gezielte Steuerung des Innovationsportfolios mit einem klaren Schwerpunkt auf schnellem
Experimentieren mit minimalen Investitionen. Dazu sollten Mittel außerhalb des üblichen
Planungs- und Budgetierungsprozesses bereitgestellt werden, die dann auf der Basis regel-
mäßiger intensiver Bewertungen von den Top-Führungskräften freigegeben werden.
Der beschriebene Pfad zur erfolgreichen Digitalisierung im Handel erscheint klar. Dennoch
ist für eine erfolgreiche Umsetzung eine ganze Reihe von Voraussetzungen kritisch. Diese
Voraussetzungen beziehen sich nicht nur auf die erforderlichen Technologieinvestitionen
und die dafür erforderlichen Fähigkeiten und Kapazitäten, sondern auch auf kulturelle und
soziale Hürden, sowohl bei den Kunden als auch im Unternehmen.
1.4.1 Technologieinvestitionen
Die technologische Schlüsselvoraussetzung für die Digitalisierung ist die effiziente Integ-
ration eines breiten Spektrums von Unternehmens- und Kundendaten in ein Datenmanage-
ment-Ökosystem, um den zentralen Zugang, die einheitliche Struktur, die Sicherheit und
Die technologische Entwicklung der D
igitalisierung im Handel 173
den Datenschutz zu gewährleisten. Dabei soll Ökosystem hier als die Kombination von
Technologieplattform und dazugehöriger Managementprozesse verstanden werden. Erst
mit einer system- und datenquellenübergreifenden Integration der gesamten Supply Chain
lassen sich die Potenziale auf der Anwendungsseite voll erschließen.
Ein weiteres wesentliches Investitionsfeld ist die Technologie an der Kundenschnittstel-
le. Mobile Anwendungen und Zugangssysteme, die sich nahtlos in die Erlebniswelt der
Kunden einfügen, können hier die Basis für eine echte Differenzierung im Wettbewerb
schaffen.
Auf Grund der Dynamik in der technologischen Entwicklung wird es im Sinne des oben
beschriebenen Experimentierens erforderlich sein, Ressourcen für den Test vielfältiger
Pilotlösungen in diesen beiden Investitionsfeldern systematisch bereitzustellen.
1.4.2 Unternehmensfähigkeiten
Wie bereits ausgeführt, erfordert die erfolgreiche Digitalisierung neue Fähigkeiten und
Kompetenzen im Unternehmen. Das erfolgreiche Innovations- und Implementierungsteam
der Digitalisierung bringt Technologieexperten als Multiplikatoren für die Einführung
extern verfügbarer Systeme und Technologien mit Entwicklern, die in den neuesten ADM-
Methoden erfahren sind, und einem speziellen Anwender-Support zusammen, der auf Ba-
sis profunder Technologiekenntnisse dafür sorgt, dass die initialen Investitionen auch an-
gemessen umgesetzt werden. Erfahrungsgemäß besteht eines der drastischsten Risiken für
das Scheitern eines Digitalisierungsprogramms in einer unzureichenden Ausbildung, An-
leitung und Einübung der neuen Verfahren und Prozesse. Auf Grund der tief greifenden
Veränderungen in der vertrauten Prozesslandschaft ist das Einführungs- und Change Ma-
nagement auf Anwenderseite eine der größten Herausforderungen, die leider allzu oft nicht
ausreichend berücksichtigt wird.
Und auch wenn die Potenziale der Digitalisierung für alle Spieler erheblich sind, so
erfordern doch die notwendigen Anfangsinvestitionen eine Mindestgröße des Unterneh-
mens, die es kleinen oder regionalen Spielern erschweren wird, an der Entwicklung voll zu
partizipieren. Hier bietet sich für die führenden Unternehmen eine echte Chance, neue
Positionen auszubauen; kleinere Spieler müssen für sich geeignete Nischen- und Angriffs-
strategien entwickeln.
1.4.3 Kundenakzeptanz
Die Erwartungen und Bedürfnisse der Kunden sind der systematische Ausgangspunkt aller
Anstrengungen zur Digitalisierung. Dabei darf aber nicht verkannt werden, dass die ver-
schiedenen Kundensegmente sehr unterschiedlich auf die Digitalisierung reagieren. Und
werden die Kundenerwartungen nicht erfüllt, besteht im dynamischen Wettbewerbsumfeld
ein großes Risiko der Abwanderung von Kunden. Daher ist bei allen Neueinführungen von
174 Stefan Spang
Prozessen, Zugangswegen und Formaten auch neben der technischen Lauffähigkeit der
Erfolg bei den Kunden sehr viel systematischer und intensiver zu beobachten als in der
Vergangenheit.
Einen wesentlichen Einfluss auf die Kundenakzeptanz hat dabei sicherlich die Frage
der Datensicherheit. Spektakuläre Beispiele von Datendiebstählen in jüngster Vergangen-
heit und die hohe mediale Aufmerksamkeit für diese Vorfälle lassen erkennen, dass der
Schutz vor Missbrauch von Kundendaten eine ganz besondere Priorität bekommen muss.
Und auch hier handelt es sich nach aller Erfahrung nicht nur um ein technisches Problem,
sondern in mindestens ebenso großem Ausmaß um eine Frage der gesamten Datenarchi-
tektur und der Organisation. Dabei sollten die Unternehmen im eigenen Interesse sicher-
stellen, dass sie dieses Thema von Anbeginn mit der gebotenen Aufmerksamkeit behan-
deln und damit eine solide Grundlage für die Zusammenarbeit mit den Regulatoren
schaffen.
Insgesamt zeichnet sich damit ein sehr viel versprechendes Bild für eine Digitalisierung
im Handel ab. Allerdings werden Unternehmen auf diesem Entwicklungspfad mit einer
Vielzahl neuer Herausforderungen konfrontiert. Die erfolgreiche Umsetzung wird somit
davon abhängen, wie gut ein Unternehmen diese Komplexität angehen und beherrschen
kann.
Die technologische Entwicklung der D
igitalisierung im Handel 175
Autor
Dr. Stefan Spang ist Director im Düsseldorfer Büro von McKinsey & Company. Seit
seinem Start bei McKinsey & Company in 1992 hat er führende Klienten aus verschiedenen
Industriebereichen zu den Themen Information Technology Strategy, Organisation und
Performance Management betreut und zuletzt 8 Jahre lang die weltweite Einheit für IT-
Beratung von McKinsey, das Business Technology Office, geleitet. Darüber hinaus hat
er eine Vielzahl von Finanzinstitutionen in Europa beraten (neben Deutschland insbeson-
dere in UK, der Schweiz und New York) und ist Mitglied im Führungsteam der europäi-
schen Banking Practice von McKinsey & Company. Stefan Spang hat am MBA-Programm
(1986/87) der University of Michigan, Ann Arbor, teilgenommen, erlangte ein Diplom in
Betriebswirtschaft (1989) und promovierte zum Thema Informationssysteme (1992) an der
Universität Saarbrücken.
177
Ertragsmanagement im Wandel –
Potentiale der In-Memory Technologie
Rainer Schlosser
Hasso Plattner Institute for Software Systems Engineering, Potsdam, Deutschland
[email protected]
1.1 Einleitung
Kaum eine technologische Entwicklung der letzten fünf bis zehn Jahre hat die Datenverar-
beitung in der softwaregestützten Unternehmenssteuerung so radikal beeinflusst wie die
In-Memory Technologie. Mit dieser wird ein Verfahren bezeichnet, bei dem sämtliche
anfallende Geschäftsvorfälle (Buchungsbelege, Stammdaten, etc.) vollständig im schnellen
Hauptspeicher eines Datenbanksystems gehalten und somit direkt verarbeitet und ausge-
wertet werden können, ohne dass wie bisher auf einen um ein Vielfaches langsameren
Festplattenspeicher zurückgegriffen werden muss. Dank Ausnutzung modernster Mehr-
kern-Rechnerarchitekturen und einer speziell ausgerichteten Organisation der Datensätze
im Hauptspeicher, können komplexe Datenanalysen um Größenordnungen beschleunigt
werden. Was vorher Stunden gedauert hat, geht nun in Sekunden.
Doch was sind die Ursachen und Auswirkungen dieses gewaltigen Leistungssprunges?
Datenbanksysteme haben als Herzstück software-basierter Unternehmenssoftware in den
vergangenen Jahren meist nur inkrementelle Verbesserungen erfahren und sind nicht durch
disruptive Neuerungen in den Vordergrund getreten, wie es bei der In-Memory Technologie
und der Diskussion um innovative Anwendungen derzeit zu beobachten ist. Hier kamen
verschiedene Entwicklungsströme zusammen, die sich gegenseitig potenzieren: Zum einen
hochmoderne Hardwaresysteme, die mit Hauptspeichervolumen von mehreren Terabytes
aufwarten, Daten mit hunderten von Recheneinheiten parallel verarbeiten können und
heute zu vergleichsweise geringen Anschaffungskosten in der Breite erhältlich sind. Zum
anderen wurde bei der Entwicklung der In-Memory Technologie radikal mit traditionellen
Verfahren der Datenorganisation gebrochen, die über Jahrzehnte hinweg zur Leistungsop-
timierung schreib-intensiver Anwendungen (und aufgrund mangelnder Rechenkapazität)
Einzug in die Systeme und Lehrbücher gehalten haben, und zu einer oft nur schwer zu
beherrschenden Komplexität in der Unternehmenssoftware führten.
Mit der In-Memory Technologie steht also eine neue Generation von hauptspeicherbasier-
ten Datenbanken zur Verfügung, die die Art und Weise, wie wir aus großen Datenmengen
Mehrwert schaffen können, nachhaltig verändern wird. Wie erwähnt ist der maßgebliche
Treiber dafür der enorme Zugewinn an Geschwindigkeit, also die Möglichkeit, relevante
Kennzahlen aus einer große Datenmenge in Sekundenschnelle zu ermitteln. In der Kon-
sequenz können die meisten der bisher aus Performanzgründen getrennt laufenden Sys-
teme für Reporting, Planung, oder Optimierung konsolidiert werden und auf einer ge-
meinsamen transaktionalen Datenbasis ohne Redundanzen und Inkonsistenzen arbeiten.
Allerdings stellt die bloße Beschleunigung existierender Applikationen und Standardaus-
wertungen allein oftmals noch keinen großen Mehrwert für ein Unternehmen dar. Die
wohl entscheidenden Vorteile der In-Memory Technologie kommen erst dann vollständig
zum Tragen, sobald neuartige Anwendungen und Prozesse an die speziellen Eigenschaf-
ten dieser Technologie ausgerichtet werden. So werden In-Memory-basierte Anwendun-
gen einen bisher nie erreichten Grad an Interaktivität und Flexibilität bieten. Die Art und
180 Matthias Uflacker • Rainer Schlosser • Christoph Meinel
Weise, wie der Nutzer mit der Datenbasis eines Unternehmens interagiert und welche
Fragen er stellen kann, wird nicht mehr durch starre und vordefinierte (oftmals nächtliche)
Auswertungsläufe limitiert sein, sondern wird die gewohnten Nutzungsmuster von Goog-
le und Co. annehmen. Aufgrund der geringen Antwortzeiten liegen zwischen Frage, Ant-
wort und Folgefrage nur Sekunden. Ergebnisse sind stets aktuelle, Veränderungen lassen
sich beobachten, nachvollziehen und auf Basis mathematischer Modelle vorhersagen.
Eine neue Qualität von intelligenten und prädiktiven Anwendungen steht in den Startlö-
chern.
Der verbleibende Teil dieses Kapitels stellt einen Ausblick dar, wie Anwendungen und
Prozesse im digitalisierten Handel von der In-Memory Technologie profitieren. Ein beson-
deres Augenmerk wird dabei auf das Ertragsmanagement gelegt.
Im Zentrum des modernen Ertragsmanagements steht die Analyse der Kunden und ihres
Nachfrageverhaltens. Dabei stehen Unternehmen vor der Herausforderung, große Mengen
an Abverkaufsdaten zu konsolidieren und zu verwalten. Gesammelte historische Verkaufs-
daten werden mit dem Ziel ausgewertet, Rückschlüsse auf das Entscheidungsverhalten von
Kunden zu ziehen und somit verlässliche Nachfrageprognosen zu treffen. Dieser Prozess
der Informationsgewinnung wird oft als Data-Mining bezeichnet.
Die gespeicherten Informationen darüber, welche Artikel Kunden wann und wo erwor-
ben haben machen detaillierte Analysen von Warenkörben möglich, wobei saisonale, geo-
Ertragsmanagement im Wandel – Potentiale der In-Memory Technologie 181
grafische, bis hin zu tageszeitliche Aspekte untersucht werden können (vgl. Abb. 1). Den-
noch geschieht dies bisher vornehmlich auf Basis von vorbereiteten Aggregaten und ent-
lang typischer Dimensionen wie z. B. Produktkategorie oder Region. Eine detailliertere
Sicht auf Produkt-, Markt-, oder Warenkorbebene oder ein interaktives Erkunden von
Zusammenhängen zwischen diesen Dimensionen ist aufgrund der Voraggregation und der
damit verloren gegangenen Information nicht mehr möglich. Besonders im Einzelhandel,
wo Milliarden einzelner Produktkäufe erfasst und verarbeitet werden müssen, kommen
herkömmliche Analyseverfahren schnell an ihre Grenzen.
Am HPI wurde mit Hilfe der In-Memory Technologie ein Prototyp entwickelt, mit
dem Abverkaufsdaten interaktiv analysiert und die Planung und Auswertung von Wer-
beaktionen im Einzelhandel unterstützt werden können. Hierbei wurde gezeigt, dass
auch auf großen Datenmengen mit mehr als 8 Milliarden Einzelposten eine uneinge-
schränkte und interaktive Analyse ohne vorberechnete Aggregate in Sekundenschnelle
möglich ist.
Die in den Daten enthaltenen Informationen können so auf vielfältige Weise genutzt
werden. Händler können z. B. ihre Angebotspalette maßgeschneidert auf die aktuelle Nach-
frage der Kunden anpassen. Grundlage dafür sind Warenkorbanalysen und die Information
darüber, welche Produkte derzeit oft zusammen gekauft werden (vgl. Abb. 2). Dabei wer-
den üblicherweise Assoziationsregeln wie z. B. der apriori Algorithmus eingesetzt. Derar-
tige Analysen sind vor allem für die Erstellung von Produktempfehlungen nützlich, erlau-
ben aber auch eine optimierte Auswahl und Anordnung der Waren im Geschäft.
182 Matthias Uflacker • Rainer Schlosser • Christoph Meinel
Limes
Average Basket Value: $33,7
Bread
Average Basket Value: $33,24
Ice Cubes
Average Basket Value: $34,79
Vanilla Cola 34 FL OZ
Average Basket Value: $18,82
Abb. 2 Beispiel einer Warenkorbanalyse; Darstellung von Produkten welche oft zusammen mit ei-
nem bestimmten Produkt gekauft werden und Angabe der assoziierten durchschnittlichen Warenkorb-
werte.
Quelle: Hasso-Plattner-Institut
Ein verbreiteter Ansatz für die Erfassung des Nachfrageverhaltens ist es, die heterogene
Menge an Kunden anhand von Ähnlichkeiten im Kaufverhalten in bestimmte Klassen
einzuteilen (Kundensegmentierung). Dabei werden vor allem sogenannte Clustering-Al-
gorithmen eingesetzt. Zu den mathematischen Standardverfahren in diesem Bereich gehö-
ren beispielsweise K-means-Verfahren, K-Nearest-Neighbors, Density Search Methods,
Tree-Based Methods, und Support Vector Machines. Auf Basis der Zuordnung eines Kun-
den zu einem bestimmten Kundensegment kann dann auf sein Kaufverhalten geschlossen
werden.
Weiterführende Analysen zielen auf die Quantifizierung des Entscheidungsverhaltens
bestimmter Kundengruppen ab. Dabei geht es um die Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten
mit denen sich Kunden für Produkte einer bestimmten Klasse entscheiden (vgl. Customer
Ertragsmanagement im Wandel – P
otentiale der In-Memory Technologie 183
Choice). Dabei werden u. a. logit oder probit Modelle verwendet, vgl. z. B. Ackay et al.
(2010). Durch den induzierten Wettbewerb zwischen ähnlichen Gütern hängt die Kauf-
wahrscheinlichkeit einzelner Produkte neben dem „eigenen“ Preis auch von den Preisen
verwandter Produkte ab. Um das Käuferverhalten zu erfassen und zu antizipieren, gilt es
derartige Substitutionseffekte in der Nachfrage ähnlicher Produkte zu messen (vgl. auch
Kreuzpreiselastizitäten). Auf Basis der Quantifizierung der Wechselwirkungen zwischen
Produkten ist es dann möglich Marketingmaßnahmen gezielt und effektiv einzusetzen, vgl.
Abschnitt 1.3.5.
Aktuell beschäftigen sich Wissenschaftler am Hasso-Plattner-Institut mit der Analyse
personenbezogener Abverkaufsdaten im Einzelhandel. Ziel ist es, Kundengruppen auf-
grund ihrer Kaufhistorie zu identifizieren und ihr Nachfrageverhalten zu beschreiben. So
konnten bereits auf Basis der In-Memory Datenbank SAP HANA Verfahren implementiert
werden, die direkt auf den vorliegenden Einzelpostendaten aussagekräftige Kundengrup-
pen in kürzester Zeit ermitteln und analysieren. Weitere Auswertungen beschäftigen sich
mit der Schätzung von Substitutionseffekten und Preiselastizitäten. Mit Hilfe der in SAP
HANA integrierten Funktions-Bibliothek „Predictive Analysis Library“ (PAL) können
dabei die oben erwähnten Standardverfahren direkt und ohne großen Programmieraufwand
angewendet werden.
Ein weiterer Trend im digitalen Handel ist die Auswertung personalisierter Daten (Kunden-
konten im Online-Handel, Treueprogramme im Einzelhandel, etc.). Die Möglichkeit der
Zuordnung von individuellen Kunden und Verkaufsdaten erlaubt Nachfrageanalysen (vgl.
Abschnitt 1.3.1–1.3.2) auf Kundenebene. Für jeden Kunden können charakteristische Grö-
ßen bestimmt werden, die das Profil des Kunden bzw. sein typisches Einkaufsverhalten
beschreiben.
Diese Informationen können u. a. genutzt werden um Kunden Produkte vorzuschlagen,
welche innerhalb der Kundengruppe (Cluster) mit ähnlichem Kaufverhalten beliebt sind.
Um Werbeaktionen gezielt einzusetzen, können ebenso Kunden identifiziert werden, wel-
che einer bestimmten Zielgruppe angehören.
Darüber hinaus ist es auch möglich, die Effektivität individualisierter Angebote (z. B.
Produktempfehlungen, Rabatte, Bonusprogramme, etc.) zu bestimmen und zu optimieren.
Auf Basis der Information darüber, welche Angebote von welchem Kundentyp bereits
angenommen wurden, können profilspezifische Annahmewahrscheinlichkeiten für ver-
schiedene Angebote geschätzt werden (vgl. logit model, demand learning). Aufgrund der
individuellen Charakteristik eines Kunden kann dann z. B. das Angebot mit der höchsten
Annahmewahrscheinlichkeit oder dem höchsten erwarteten Verkaufsgewinn vorgeschla-
gen werden. Von diesen Möglichkeiten können sowohl der Verkäufer als auch der Kunde
profitieren.
184 Matthias Uflacker • Rainer Schlosser • Christoph Meinel
Die Auswertung von Daten hat zusätzlich auch eine dynamische Komponente. Die Tatsa-
che, dass stetig (oft sekündlich) neue Verkaufsdaten anfallen, stellt hohe Anforderungen an
das Datenmanagement. Ein schnelles, optimiertes Datenmanagement erlaubt aktuelle Ana-
lysen und Forecasts bis hin zu selbstlernenden Strategien (vgl. machine learning). Dabei
werden stetig aktuellste Daten verwendet um charakteristische Nachfrageparameter zu
schätzen. Durch den Einsatz automatisierter adaptiver Schätzungen lassen sich diese Para-
meter regelmäßig aktualisieren.
Liegen nur wenige Verkaufsdaten vor, d. h. ist die Nachfrage noch weitestgehend unbe-
kannt (z. B. bei Einführung eines neuen Produkts), stoßen diese Verfahren an ihre Grenzen.
In diesem Fall besteht ein möglicher Ansatz darin, verschiedene potentielle Nachfragesze-
narien zu unterstellen – etwa „gut“, „mittel“ und „schlecht“ – und auf Basis des beobach-
teten Abverkaufs Rückschlüsse auf das real vorliegende Nachfrageszenario zu ziehen. Die
korrespondierende Wahrscheinlichkeitsverteilung dafür, welches der unterstellten Nach-
frageszenarien tatsächlich vorliegt, lässt sich regelmäßig unter Einbeziehung neuer Ver-
kaufsdaten aktualisieren (vgl. Bayesian learning). Auch Änderungen im Nachfrageverhal-
ten können so erfasst und berücksichtigt werden. Dabei ist es sinnvoll, anstelle der gesam-
ten Verkaufshistorie lediglich eine bestimmte zurückliegende Zeitspanne für Schätzungen
zugrunde zu legen (vgl. moving average, rolling window).
Alle adaptiven Prognoseverfahren basieren schließlich auf einem Zyklus in dem sich
„beobachten“ und „schätzen“ abwechseln. Dabei spielt im Endeffekt die Aktualität der
Ertragsmanagement im Wandel – P
otentiale der In-Memory Technologie 185
Daten und die Geschwindigkeit der Nachfrageprognosen die entscheidende Rolle. Die In-
Memory Datenbank-Technologie ist prädestiniert für derartige Aufgaben. Die dynamische
Aggregation relevanter Attribute ist extrem schnell und die Algorithmen können direkt auf
den Daten angewandt werden. Dafür stehen auch ausgereifte Softwarepakete zur Verfü-
gung (z. B. R-Integration in SAP HANA).
Preis und Werbung stellen die wohl wichtigsten Triebfedern des Handels dar. Durch die
Wahl von Preisen und Werbemaßnahmen lassen sich Verkaufsanzahlen und Umsätze ent-
scheidend beeinflussen.
Während in vielen Anwendungen Preise über die Zeit konstant gesetzt werden (z. B.
Lebensmittel), ist es in einer zunehmenden Anzahl von Branchen üblich, Preise über die
Zeit hinweg zu ändern. Gerade im elektronischen Handel findet diese dynamische Preis-
festsetzung immer mehr Verbreitung, da die Kosten für Preisänderungen vernachlässigbar
klein sind. Klassische Beispiele prominenter Branchen, welche dynamische Preissetzung
anwenden, sind vor allem Hotels und Fluggesellschaften. Einen Überblick über die aktu-
elle Forschungsliteratur im Bereich dynamischer Preissetzungs- bzw. Werbemodelle findet
sich z. B. in Chen und Chen (2015) und Huang et al. (2012).
Die „richtige“ Wahl dieser Steuerungsgrößen ist jedoch alles andere als trivial. Hinzu
kommt, dass der Verkauf von Produkten i. A. über eine gewisse Zeitspanne erfolgt; es gilt
somit Verkaufsprozesse geeignet zu steuern. Darüber hinaus sind Verkäufe typischer Wei-
se stochastisch, d. h. Verkaufsergebnisse und Gewinne sind nicht exakt vorhersehbar. Im
Allgemeinen ist es das Ziel, Preis- und/oder Werbeentscheidungen so zu treffen, dass die
zu erwartenden Gewinne möglichst groß sind. Zudem können aber auch Risikoaspekte
(Minimalziele, cashflows, value at risk, Risikoaversion, etc.) bei der Entscheidungsfindung
berücksichtigt werden. Dass die Nachfrage je nach Anwendung auch noch von der Zeit
(saisonale Effekte, verderbliche Produkte, etc.) oder den Verkaufsanzahlen selbst durch
Ansteckungs- oder Sättigungseffekte (word-of-mouth, Bass-Modell, etc.) abhängen kann
(vgl. z. B. Helmes et al. (2013)), zeigt die Komplexität von Verkaufsproblemen. I. A. ist es
daher praktisch kaum noch möglich, Marketing-Entscheidungen ohne die Unterstützung
von Modellen zu treffen. Mit dem Einsatz solcher Modelle können etwa Preise in Abhän-
gigkeit davon, wie sich (zufällige) Verkaufsprozesse entwickeln, automatisiert an die ak-
tuelle „Verkaufssituation“ angepasst werden. Derartige Verkaufssituationen sind dabei u. a.
gekennzeichnet durch die Restverkaufszeit und die Menge der noch zu verkaufenden Arti-
kel eines Produktes.
Die Analyse des Kaufverhaltens und das Schätzen von Verkaufswahrscheinlichkeiten
bilden den Grundstein für theoretische Modelle (vgl. z. B. Schlosser (2015)). Nur auf
Basis der Kenntnis wie sich bestimmte Preise oder Werbemaßnahmen auf die Nachfrage
auswirken, ist es möglich geeignete dynamische Optimierungsmodelle aufzustellen, mit
deren Hilfe koordinierte Preis- bzw. Werbestrategien berechnet werden können. Ausgangs-
186 Matthias Uflacker • Rainer Schlosser • Christoph Meinel
punkt ist dabei auf Basis von Verkaufsdaten die Wirkung von Preisnachlässen oder spezi-
ellen Werbemaßnahmen (z. B. in Form von Prospekten, TV/Radio, Internetwerbung, etc.)
zu messen und Zusammenhänge zwischen Marketing-Entscheidungen und Absatzmengen
herzustellen.
In einem zweiten Schritt gilt es je nach Anwendungsfall maßgeschneiderte Modelle
aufzustellen. Diese bilden vornehmlich die Zusammenhänge von potentiellen Entscheidun-
gen und deren Wirkung auf den zu steuernden Verkaufsprozess ab. Zumeist werden dabei
sogenannte Markovmodelle in diskreter Zeit verwendet, da die Bestimmung optimaler
Handlungsstrategien für diese Modelle mittels Standardverfahren möglich ist (vgl. Wert-
oder Politikiteration). Je nach Komplexität der aufgestellten Modelle kann deren Lösung
numerisch jedoch sehr aufwendig sein, so dass Rechenleistung zu einem wichtigen Faktor
wird (Parallelisierung). Generell ist für die Güte der berechneten Handlungsstrategien je-
doch die datenbasierte Quantifizierung des zu erwartenden Nachfrageverhaltens bzw. der
Verkaufswahrscheinlichkeiten entscheidend.
Aktuelle Arbeiten am Hasso-Plattner-Institut beschäftigen sich mit der Erstellung ent-
scheidungsunterstützender Modelle im Bereich der dynamischen Preissetzung. Zur Kalib-
rierung werden POS-Verkaufsdaten (vgl. Abschnitt 1.3.1) verwendet. Da diese Phasen
enthalten, in denen bestimmte Produkte zu unterschiedlichen Preisen angeboten wurden,
können die Auswirkungen von Preisänderungen auf die Verkaufszahlen gemessen werden.
Ebenso lässt sich die Wirkung von produktspezifischen Werbemaßnahmen in den Verkaufs-
zahlen beobachten und quantifizieren. Wichtige Kenngrößen wie Preis- oder Werbeelasti-
zitäten konnten so geschätzt und für die Kalibrierung dynamischer Preissetzungsmodelle
genutzt werden. Ziel ist es, diese Modelle weiter zu verfeinern und die berechneten Strate-
gien im praktischen Einsatz zu testen.
In den meisten Märkten befinden sich Verkäufer in einer Wettbewerbssituation. Durch den
digitalen Handel und die wachsende Zahl von Preisvergleichsportalen im Internet ist es für
Kunden leichter geworden Preise miteinander zu vergleichen (z. B. Amazon Marketplace).
Die Verkaufsergebnisse hängen damit typischer Weise neben den eigenen Preisen auch von
den Preisen bzw. Strategien der Konkurrenten ab. Bei der dynamischen Wahl des Verkaufs-
preises sind folglich (neben der Größen wie der eigenen Restverkaufsmenge) auch die
aktuellen Angebotspreise der Mitwettbewerber zu berücksichtigen (vgl. Verkauf von Flug-
tickets). Sowohl die Realisierung eigener Verkäufe als auch Preisänderungen von Konkur-
renten können dazu führen, dass der eigene Verkaufspreis angepasst werden muss/sollte.
Je länger die Reaktionszeit auf derartige „Events“ ist, desto schlechter passt i. A. die getrof-
fene Entscheidung zur dann aktuellen Situation und wirkt sich negativ auf die Verkaufser-
gebnisse aus. Die Reaktionszeit und die Berechnung optimaler (Preis-) Reaktionen spielen
daher eine entscheidende Rolle. Die Zeitspanne zwischen dem Auftreten eines Events und
der zugehörigen Reaktion setzt sich dabei i. A. wie folgt zusammen:
Ertragsmanagement im Wandel – P
otentiale der In-Memory Technologie 187
Literatur
Ackay, Y.; Natarajan, H. P.; Xu, S. H. (2010): Joint Dynamic Pricing of Multiple Perishable Products
under Consumer Choice. In: Management Science 56 (8), S. 1345-1361.
Chen, M.; Chen, Z.-L. (2015): Recent Developments in Dynamic Pricing Research: Multiple Pro-
ducts, Competition, and Limited Demand Information. In: Production and Operations Manage-
ment 24 (5), S. 704-731.
Helmes, K.; Schlosser, R.; Weber, M. (2013): Dynamic Advertising and Pricing in a Class of General
New-Product Adoption Models. In: European Journal of Operational Research 229 (2), S. 433-
443.
Huang, J.; Leng, M.; Liang, L. (2012): Recent Developments in Dynamic Advertising Research. In:
European Journal of Operational Research 220 (3), S. 591-609.
Plattner, H. (2014): A Course in In-Memory Data Management. Second Edition, Springer, Berlin,
Heidelberg.
Schlosser, R. (2015): Dynamic Pricing with Time-Dependent Elasticities. In: Journal of Revenue and
Pricing Management, forthcoming.
Talluri, K. T.; van Ryzin, G. (2004): The Theory and Practice of Revenue Management, Kluver
Academic Publishers, Boston.
Ertragsmanagement im Wandel – P
otentiale der In-Memory Technologie 189
Autoren
Dr. Matthias Uflacker ist stellvertretender Leiter des Fachgebiets „Enterprise Platform
and Integration Concepts“ von Prof. Dr. Hasso Plattner am Hasso-Plattner-Institut für
Softwaresystemtechnik (HPI) an der Universität Potsdam. Er studierte Informatik an der
Universität Oldenburg und der Monash University Melbourne mit Schwerpunkten in der
Architektur und Spezifizierung komplexer Softwaresysteme. Im Anschluss promovierte er
am Hasso-Plattner-Institut unter Leitung von Prof. Dr. Hasso Plattner zu Fragestellungen
in der Bewertung und Optimierung global verteilter Softwareentwicklungsprozesse. Mit
Abschluss der Promotion wechselte er 2011 an das neugegründete SAP Innovation Center
in Potsdam, wo er neuartige Anwendungskonzepte für Unternehmenssoftware voranbrach-
te und umsetzte. 2013 kehrte er zurück an das Hasso-Plattner-Institut, wo er am Lehrstuhl
von Prof. Plattner die Lehr- und Forschungsaktivitäten im Bereich moderner Unterneh-
menssoftware verantwortet.
Prof. Dr. Dr. Christoph Meinel ist CEO und wissenschaftlicher Direktor des Hasso-
Plattner-Instituts für Softwaresystemtechnik (HPI) an der Universität Potsdam und Inhaber
des Lehrstuhls für „Internet-Technologien und –Systeme“. Er lehrt in den Bachelor- und
Masterstudiengängen „IT-Systems Engineering“ am HPI und auf der von seinem Team
entwickelten MOOC-Plattform openHPI, betreut zahlreiche Promotionsprojekte und ist
Teacher an der „HPI School of Design Thinking“. Seine besonderen Forschungsinteressen
liegen in den Bereichen Security Engineering, Knowledge Engineering und Web 3.0 – Se-
mantic, Social, Service Web. Daneben ist er wissenschaftlich aktiv auf dem Gebiet der
Innovationsforschung im Bereich des Design Thinking. Früher standen Effiziente Algorith-
men und Komplexitätstheorie im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Forschungen.
Christoph Meinel ist Autor bzw. Co-Autor von 18 Büchern, Anthologien sowie zahlreicher
Tagungsbände. Er hat mehr als 450 Publikationen in wissenschaftlichen Journalen und auf
internationalen Konferenzen veröffentlicht und hält eine Reihe internationaler Patente. Er
ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech, Direktor des
HPI-Stanford Design Thinking Research Programms, Gastprofessor an der TU Peking und
in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien und Aufsichtsräten tätig.
191
Bernd Leukert
Mitglied des Vorstands, SAP SE, Walldorf, Deutschland
[email protected], CC an: [email protected]
Rainer Gläß
CEO, GK SOFTWARE AG, Schöneck, Deutschland
[email protected], CC an: [email protected]
1.1 Einleitung
1 Diese Tendenz wird in der Literatur als Shared Economy bezeichnet (vgl. Botsman 2011). In
diesem Zusammenhang beleuchtet Riffkin mögliche Konsequenzen einer Gesellschaft „mit Null-
Grenzkosten“ (vgl. Riffkin 2014).
Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 195
Analytics, Mobile World und Beacons. Das folgende Unterkapitel geht detaillierter auf
diese für die Branche am meisten relevanten Trends ein. Darüber hinaus sind weitere
Trends zu beobachten und weitere Technologien vorhanden, die ebenfalls Auswirkungen
auf die Handelsbranche haben. In unserer Betrachtung beschränken wir uns jedoch bewusst
auf die vier genannten Trends, da diese Veränderungen und Innovationen für die gesamte
Branche nach sich ziehen werden. Dabei werden jeweils Herausforderungen und Chancen
der jeweiligen Technologien betrachtet, um daraus eine Einschätzung für Handelsunterneh-
men ableiten zu können. Ziel der Betrachtung ist es, relevante Trends und Technologien
herauszuarbeiten und die Bedeutung für Handelsunternehmen darzustellen.
1.2.1 Cross-Channel-Commerce
Die digitale Revolution verändert die Handelslandschaft nachhaltig. Seit Jahren sind stei-
gende Um- und Absätze im Online-Handel zu beobachten. Durch die zunehmende Vernet-
zung der Konsumenten mit mobilen Endgeräten eröffnen sich neue Möglichkeiten für den
Konsum und die Interaktion sowohl zwischen Kunden untereinander, als auch zwischen
Kunden und Herstellern oder Händlern.
Daraus resultieren zum Teil neue Geschäftsmodelle, welche mitunter ausschließlich
online-basiert gestaltet sind. Die Etablierung dieser neuen Geschäftsmodelle üben einen
erheblichen Druck auf konventionelle, stationäre Händler aus, die sich einer neuen Wett-
bewerbssituation gegenübersehen und entsprechend agieren und reagieren müssen. Auf-
grund dieser anhaltenden Entwicklung kommt es daher zu dynamischen Anpassungspro-
zessen, sowohl auf Seiten der Internet Pure Player, als auch auf Seiten des stationären
Handels am Point of Sale (PoS). Deshalb investieren stationäre Händler verstärkt in Online-
Shops und weiten online-basierte Angebote auf Filialen und Showrooms aus (BITKOM
2015, S. 4). „Ziel dieser Maßnahmen ist, Kunden möglichst immer und überall abzuholen
und bis zum Kauf kanalübergreifend zu begleiten“ (BITKOM 2015, S. 4). Da die Kunden
heutzutage immer und überall Zugang zu umfassenden Informationen wie beispielsweise
Preisvergleiche und Produktbewertungen haben, zwingt diese neue Transparenz die Händ-
ler zum Überdenken ihrer bisherigen Geschäftskonzepte.
Um weiterhin am Markt bestehen zu können, ist „ein möglichst nahtloses Ineinander-
greifen der eigenen Informations- und Einkaufskanäle [...] dafür unabdingbar, einherge-
hend mit Investitionen
in verbesserte Fulfillment-Prozesse und ein konsistentes Datenma-
nagement für Produkt-, Transaktions- und Kundendaten“ (BITKOM 2015, S. 4).
Durch eine Vielzahl von Begriffen einschließlich Omni- oder Multi-Channel wird ver-
sucht, diese Entwicklungstendenzen zu erfassen. Die Autoren schließen sich allerdings dem
Tenor des Bitkom Thesenpapiers zum Cross-Channel-Commerce an. In diesem Thesenpa-
pier führen die Autoren an, dass die Begriffe „nur unterschiedliche Aspekte des gleichen
Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 197
Phänomens betonen“ (BITKOM 2014, S. 1) und sie deshalb „durchgängig den Begriff
Cross-Channel-Commerce verwenden“ (BITKOM 2014, S. 1). Der Begriff Cross-Chan-
nel-Commerce beschreibt also keine einzelne Technologie, sondern vielmehr „die Verzah-
nung von mehreren Marketing-, Verkaufs- und After-Sales-Kanälen zu einem integrierten
und nahtlosen Einkaufserlebnis für Kunden“ (BITKOM 2015, S. 32).
Das Ziel ist es, dem Kunden einen „geschlossenen Auftritt der Marke, inklusive konsis-
tenter Preise, Produktsortimente und -informationen auf allen Kanälen“ (BITKOM 2015,
S. 4) zu bieten und dadurch alle individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Da die Kunden
sehr flexibel in der Inanspruchnahme der unterschiedlichen Kanäle agieren, werden weit-
reichende Anforderungen an die Händler gestellt. Das als ‚Research Online, Purchase
Offline‘ (ROPO) bezeichnete Verhalten, bei dem die Kunden sich online über die Produk-
te informieren, diese jedoch erst im Rahmen einer zusätzlichen individuellen Beratung
stationär kaufen, stellt die Händler und insbesondere die Mitarbeiter vor zusätzliche Her-
ausforderungen. Da die Informationstransparenz und die Abrufgeschwindigkeit dieser In-
formationen noch nie so hoch war wie heutzutage, müssen auch die Mitarbeiter unmittelbar
auf entsprechende Informationssysteme zugreifen können. Somit sind „die Herausforde-
rungen von Cross-Channel-Commerce für Händler [...] nicht nur technisch-funktionaler
Natur, sondern betreffen auch organisatorisch-strukturelle Aspekte eines Unternehmens“
(BITKOM 2015, S. 4).
Um langfristig am Markt bestehen zu können, ist ein ganzheitliches Auftreten der Unter-
nehmen den Kunden gegenüber essentiell. „Erst indem ein einheitliches Kundenerlebnis
geschaffen wird, welches die Möglichkeiten der digitalen Revolution zu nutzen weiß, können
Einzelhändler langfristig wettbewerbsfähig und umsatzstark bleiben“ (BITKOM 2015, S. 5).
Diese Aspekte stellen besonders die stationären Händler vor enorme Herausforderungen,
denn oftmals sind ihre Organisationsstrukturen über Jahrzehnte gewachsen und daher nur mit
großem Aufwand anpassbar, um in angemessener Zeit flexibel auf die massiven Veränderun-
gen der Digitalisierung zu reagieren. „Für viele Handelsunternehmen, auch für deren Partner
und Dienstleister, bedeutet das tiefgreifende Eingriffe in etablierte interne Prozesse, die
Unternehmenskultur und somit in die Unternehmens-DNA“ (BITKOM 2014, S. 2). So ver-
fügen sie zudem oftmals nicht über die entsprechenden Ressourcen und das entsprechende
Know-How, um ein über alle Kanäle interagierendes System zu schaffen und umfassend zu
betreuen. Doch genau dies erwarten Kunden in der heutigen Zeit, denn „mehr denn je domi-
niert der Endkunde die Wahl des Kommunikationsweges und nutzt zunehmend digitale
Formen der Kontaktaufnahme“ (Agnischock et al. 2015, S. 4). Sollte es bei den kanalüber-
greifenden Service-Angeboten zu Komplikationen kommen, werden die Kunden nicht mehr
bereit sein, das Vernachlässigen dieser heutigen Basisanforderungen zu tolerieren.
Nach Kpmg (2015, S. 9) werden diesen Herausforderungen somit durch große Investi-
tionsvorhaben in den nächsten Jahren Rechnung getragen, denn „[h]ier gibt es aktuell und
in unmittelbarer Zukunft in nahezu allen Unternehmen bedeutende IT-Projekte“ (KPMG
2015, S. 9).
Mit Hilfe des Cross-Channel-Ansatzes sollen alle anfallenden Daten der jeweiligen
Kanäle zusammengeführt werden und somit die Erstellung umfassender Kundenprofile
198 Bernd Leukert • Rainer Gläß
Mobile World ist ein weitgefasster Begriff, der sich in weitere Teiltrends aufteilen lässt.
Wirtz (2016, S. 76) beschreibt verschiedene Anwendungen, die dem Begriff Mobile World
zugeordnet werden können. Dazu gehören Mobile Software, Mobile Browsing, Mobile
Search, Mobile Information, Mobile Entertainment, Mobile Navigation, Mobile Commer-
ce, Mobile Communication, Location-Based Services, Mobile Payment, Mobile Adverti-
Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 199
sing und Mobile Telemetrie (Wirtz 2016, S. 76). Bei genauerer Betrachtung kann zwischen
Anwendungen für den Business-to-Customer (B2C), Business-to-Employee (B2E) oder
Business-to-Business (B2B) Bereich unterschieden werden. Somit kann die Mobile World
„das gesamte Gestaltungsfeld eines Unternehmens umfassen. Dazu gehören die Beziehun-
gen zu Endkunden [...], anderen Unternehmen [...] und den eigenen Mitarbeitern“ (Berger
und Lehner 2002, S. 86).
Im Bereich B2C kann das Mobile Payment eingeordnet werden. Das beinhaltet „Trans-
aktionen, die vom Kunden unter Nutzung seines mobilen Endgerätes initiiert werden“
(BITKOM 2015, S. 18), „wobei der Betrag entweder direkt vom Konto des Konsumenten
abgebucht oder zur monatlichen Telefonabrechnung hinzuaddiert wird“ (Berger und Leh-
ner 2002, S. 89). Das Ziel im Bereich von B2C ist es, neue Zielgruppen anzusprechen und
die bereits vorhandenen Kunden besser an das Unternehmen zu binden (Ivanochko et al.
2015, S. 3).
Bei B2E und B2B sind vor allem mobile Geschäftsanwendungen relevant. Während der
B2B-Bereich „zur Unterstützung von Transaktionen zwischen Unternehmen“ (Berger und
Lehner 2002, S. 86) dient, wird B2E genutzt, um den internen Arbeitsprozess effizienter zu
gestalten (Ivanochko et al. 2015, S. 3). Die zentralen Ziele von mobilen Geschäftsanwen-
dungen im Bereich B2B und B2E sind die Verbesserung der Informationsqualität sowie der
Informationsverfügbarkeit. Auch die Verbesserung der Prozessgeschwindigkeiten und der
Erhöhung der Effizienz sind relevante Ziele für Handelsunternehmen (Ivanochko et al.
2015, S. 3). In diesem Zusammenhang stellen mobile B2B-Marktplätze, Anwendungen für
Supply Chain Management und Telemetrie die wichtigsten Anwendungsszenarien dar
(Berger und Lehner 2002, S. 88).
Eine zentrale Herausforderung der ,Mobile World‘ liegt vor allem darin, die Akzeptanz
der Endkunden für mobile Anwendungen zu stärken. Bisher gibt es bereits zahlreiche An-
wendungsszenarien für den Einsatz von mobilen Endgeräten im Handel. Z. B. haben „[i]n
Deutschland […] viele Einzelhändler Mobile Payment bereits implementiert“ (KPMG
2015, S. 48). Allerdings haben sich die meisten Versuche von Handelsunternehmen bislang
noch nicht bewährt, denn oftmals haben „[d]ie Konsumenten […] Mobile Payment noch
nicht in ihren Alltag integriert“ (KPMG 2015, S. 50). Auch Bitkom (2015, S. 18) bestätigt
diese Aussage, denn „in Deutschland [hat sich] bis heute keine flächendeckende Nutzung
ergeben. Zahlvorgänge mit dem Smartphone sind daher in Deutschland bis heute ein Ni-
schenphänomen“. Vor allem in Deutschland sind Vertrauen in Datensicherheit und der
Datenschutz wichtige Kriterien bei der Akzeptanz neuer Anwendungen (BITKOM 2015,
S. 21). Das Vertrauen der Nutzer in die neuen Anwendungen hängt daher stark von den
dahinterstehenden Unternehmen und Technologien ab, die die Sicherheitsbedenken aus-
räumen und jegliche Risiken minimieren können. Eine klare Kommunikation des Nutzens
und Mehrwerts für den Verbraucher kann darüber hinaus unterstützend wirken, um die
Anwendungen attraktiv zu machen. Denn „[h]at ein Produkt einen besonders hohen Mehr-
wert, so sind [... die Kunden] bereit, auch sensible Daten preiszugeben“ (KPMG 2015, S.
48). Karlsson und Taga (2006, S. 73) stimmen dem zu, denn „durch unklares Marketing,
nicht ausreichend kommunizierten Nutzen für den Kunden, mangelnder Standardisierung
200 Bernd Leukert • Rainer Gläß
der verschiedenen Systeme sowie fehlende Partnerschaften“ auf Seiten der Handelsunter-
nehmen ist der Markt für Mobile Payment „bisher hinter den Erwartungen der Analysten
zurückgeblieben“ (Karlsson und Taga 2006, S. 73).
Eine weitere Herausforderung für Handelsunternehmen ist, dass „Unternehmen ihre
Aktivitäten im Bereich der mobilen Anwendungen und Lösungen eher reaktiv auf Impulse
von außen ausrichten als an einer langfristigen ausgerichteten Strategie“ (Böhm 2016,
S. 390). Dabei sollte die mobile Strategie des jeweiligen Handelsunternehmens „als Teil-
menge der IT-Strategie verstanden werden, die sich mit Entscheidungstatbeständen zum
Einsatz von mobilen Lösungen in Unternehmen befasst“ (Böhm 2016, S. 390).
Trotz der genannten Herausforderungen in der Mobile World können Unternehmen bei
einem zielgerichteten Einsatz von mobilen Geräten neue Potenziale ausschöpfen. So kön-
nen bisherige Medienbrüche vermieden werden, denn „Daten können direkt vor Ort erfasst
werden ohne auf stationäre IuK-Technologien angewiesen zu sein [...]. Auf diesem Weg
lassen sich die operative und administrative Effizienz erhöhen“ (Berger und Lehner 2002,
S. 93). Durch diese Möglichkeit der Flexibilität können Handelsunternehmen „B2B-Ko-
operationen unterstützen, wo diese aufgrund von mobile Bestandteilen in den Geschäfts-
prozessen bisher nur schwer möglich waren“ (Berger und Lehner 2002, S. 93).
Durch den Erhalt neuer Daten und Informationen anhand der Nutzung mobiler Endge-
räte ist auch „eine effizientere, direktere Kundenkommunikation sowie eine Imageverbes-
serung möglich“ (KPMG 2015, S. 48). Diese Verbesserung des Kundendialogs kann durch
die Möglichkeit eines Einsatzes von „Tablets für eine multimediale und interaktivere IT-
Unterstützung“ (Böhm 2016, S. 386) unter anderem im Vertrieb erreicht werden.
Des Weiteren sehen Kpmg (2015, S. 48) und Bitkom (2015, S. 19) eine Verbesserung
der Durchlaufzeiten am PoS. „Die Transaktionsgeschwindigkeit und die einfache Handha-
bung der kontaktlosen Übertragung bringen insbesondere in Umgebungen, in denen es auf
einen hohen Durchsatz ankommt, erhebliche Vorteile mit sich, z. B. im Supermarkt zu
Stoßzeiten“ (BITKOM 2015, S. 19). Diese effizienteren Durchlaufzeiten führen zu Kos-
tenreduzierungen (KPMG 2015, S. 48). Die Erhöhung der Effizienz bildet somit eine
weitere zentrale Chance für Handelsunternehmen.
Die Mobile World wurde erst dadurch ermöglicht, dass „Smartphones zu allgegenwär-
tigen Begleitern geworden“ (Böhm 2016, S. 377) sind. Für Handelsunternehmen bieten
sich somit vielfältige Möglichkeiten für einen Einsatz im B2C-, B2E- und B2B-Bereich.
Nichtsdestotrotz existieren einige Herausforderungen, die das Wachstum der Mobile World
bisher begrenzt haben. Die Akzeptanzrate neuer Anwendungen kann durch eindeutige,
überzeugende Kommunikation des Mehrwerts für den Kunden gesteigert werden. Durch
die Integration mobiler Anwendungsszenarien generieren die Handelsunternehmen parallel
einen Mehrwert für sich selbst, der sich in neu gewonnener Flexibilität, einer Verbesserung
der Kundenbeziehung und einer Effizienzsteigerung äußert.
Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 201
1.2.3 Beacons
Bei Beacons handelt es sich um kleine, autarke Sendeeinheiten mit Batteriebetrieb, welche
kontinuierlich ein Signal von Informationen aussenden, die eine eindeutige Identifikation
der Hardware ermöglichen.
Dabei wird das Wort Beacon als Synonym für die Bezeichnung iBeacon genutzt, ein
Markenname der Firma Apple Inc., die unter diesem Namen im Jahr 2013 ein Anwendungs-
szenario des offenen Bluetooth Low Energy Standards veröffentliche. Dabei werden beide
Begriffe meist sowohl für den technologischen Standard als auch für die Hardware benutzt.
Der Bluetooth Low Energy (BLE) Standard, auch bekannt als Bluetooth Smart, begann
als Teil der Bluetooth 4.0 Core Spezifikation. Von Anfang an lag der Fokus darauf, einen
Radio Standard mit einem geringstmöglichen Energieverbrauch zu entwickeln, der sehr
günstig und unkompliziert ist und eine geringe Bandbreite nutzt (Townsend 2014, S. 3).
Auch wenn der Standard eigentlich mehre Modi der Verwendung vorsieht, ist für die
Beacon-Technologie der Modus des Advertising der Wichtigste. In diesem Modus agiert
die Hardware als reine Sendestation, daher auch Beacon vom englischen Wort für Leucht-
turm.
Die Verbreitung der BLE-Technologie auf mobilen Endgeräten ist inzwischen eine Art
Standardmerkmal geworden. So wiesen schon Mitte 2014 alle der zehn meistverkauften
Smartphone-Modelle auf dem deutschen Markt Unterstützung für BLE auf (vgl. Hassa
2014).
Die Hardware deckt ihre Stromversorgung meistens mit Batterien. Zudem gibt es Sen-
der, die über eine konstante Stromversorgung (über USB oder direkten Anschluss ans
Stromnetzt) verfügen. Vorteil dieser Hardware gegenüber anderen ähnlichen Technologien
(wie WiFi oder GSM) sind die geringen Kosten der Hardware.
Die BLE-Technologie ermöglicht zahlreiche Anwendungsfälle im Einzelhandel. So
nennen dudhane und PitamBare (2015) drei grundlegende Vorteile der BLE Technologie
für den Handel: Analyse der Kunden (Customer Analytics), operationelle Analyse (Opera-
tional Analytics) und Steigerung des Umsatzes (Revenue Improvement).
Eine konkrete Umsetzung dieser Vorteile findet sich bei Böpple et al. (2015), wo fol-
gende Einsatzmöglichkeiten von BLE Beacons im Einzelhandel beispielhaft vorgeschla-
genen werden:
• Aufzeichnen von Kundenverhalten und Verknüpfung dieses mit Profildaten aus dem
Onlinegeschäft, ermöglicht eine Analyse der Produktpräferenzen, Einkaufsgewohn-
heiten sowie personalisierter Ansprache im Online- und Offlinekanal.
• Personalisierter Einkaufsassistent ermöglicht eine personalisierte Ansprache des
Kunden bei Betreten und während seines Weges durch das Ladengeschäft.
• Indoor-Navigationssystem erlaubt es durch ein Lotsensystem den Kunden zu einem
gesuchten Produkt innerhalb des Ladens zu führen.
• Kundenbindungsprogramme ermöglichen automatisierte und personalisierte Bonus-
punkte und Rabatte, welche eine noch einfachere Teilnahme an Bonusprogrammen für
Kunden ermöglichen, als bestehende Programme.
• Kontextsensitive Zusatzinformationen ermöglichen es dem Kunden Produktinformati-
onen auszuspielen.
• Gutscheine und persönliche Ansprache außerhalb des Ladengeschäftes sollen zusam-
men mit interaktiven Schaufenstern zu spontaner Kundenansprache führen.
Die BLE- oder Beacon-Technologie zeichnet sich aufgrund ihrer zahlreichen Anwendungs-
felder, ihrer Einfachheit und der Verbreitung kompatibler Endgeräte für den Einsatz im
Einzelhandel aus. Die Technologien bringen drei Risiken mit sich: die Akzeptanz der
Technologie auf Seiten der Nutzer, das Investitionsrisiko des Händlers und die Komplexi-
tät der Integration in bestehende Systeme.
Nutzer akzeptieren Technologien dann, wenn sie einen Mehrwert erfahren beziehungs-
weise der Mehrwert als höher eingestuft wird als Risiken der Nutzung. Daher bietet sich
an, die oben genannten Einsatzgebiete für den Handel mit einem Kundenbindungspro-
gramm zu verknüpfen. Im datenschutzrechtlichen Aspekt einer solchen Profilbildung ist
ein Risiko für alle Beteiligten zu sehen, da die Frage, ob Beacons in datenschutzrechtlich
zulässiger Weise eingesetzt werden, nicht pauschal zu beantworten ist (Venzke-Caprarese
2014, S. 544), sondern einer tiefgreifenden Analyse bedarf.
Bei der Investition in eine flächendeckende Ausrollung einer Beacon-Lösung im Handel
sind die Kosten der Hardware zu vernachlässigen. Vielmehr muss das Augenmerk auf die
Total Cost of Ownership gerichtet werden. Bei einer Gesamtbetrachtung sind vor allem War-
tungs- und Unterhaltungskosten zu berücksichtigen, die beispielsweise bei einer batteriebe-
triebenen Lösung in einem sechs- bis zwölfmonatigen Rhythmus anfallen. Auch müssen für
eine Indoor-Navigation die Prozesse innerhalb der Filialen angepasst werden, damit eine
Umlagerung eines Produktes der mobilen Applikation bekannt wird. Dies benötigt beispiel-
weise eine Integration in bestehende Warenwirtschafts- oder ERP-Systeme. Diese Integration
ist ebenfalls Voraussetzung für Anwendungsfälle, die eine Identifikation der Nutzer erfordert.
Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 203
gartner (2014) sieht in der Beacon-Technologie eine von zehn Technologien und Fä-
higkeiten, die entscheidend für Organisationen sind, um das volle Potential der Mobilität
als Teil ihrer digitalen Geschäftsstrategie auszuschöpfen.
Für den Handel ergibt sich mit der Beacon-Technologie die Möglichkeit, das In-Store-
Erlebnis völlig neu zu definieren und zu individualisieren. Die Herausforderung besteht
darin, die Technologie in bestehende Systeme und Prozesse zu integrieren.
men gegenüberstehen, eingegangen. Im Anschluss daran werden die Chancen der In-Me-
mory-Technologie im Einzelhandel näher erörtert.
Eine empirische Untersuchung der Aberdeen Group zum Thema Big Data hat gezeigt,
dass etwa die Hälfte der befragten 196 Unternehmen die größten Probleme von Big Data
in (1) den niedrigen Verarbeitungsgeschwindigkeiten der Analysesysteme, (2) der Frag-
mentierung der Daten in Silo-Systemen sowie (3) der Nicht-Verfügbarkeit von analyserele-
vanten Daten sehen (Aberdeen 2012, S. 2). Diese Herausforderungen sind auf die Handels-
domäne übertragbar. Während In-Memory-Systeme in IT-Landschaften eingesetzt werden
können, um die Datenverarbeitung rapide zu beschleunigen, erfordern sie das Vorhanden-
sein einer integrierten Dateninfrastruktur, die den Zugriff auf alle analyserelevanten Daten
erlaubt. Vor der Erwägung einer Migration in Richtung In-Memory-Architektur müssen
sich Handelsunternehmen daher zunächst mit der Integration der Dateninfrastruktur ausei-
nandersetzen.
Im Zuge dessen muss das in Forschung und Praxis vielfach diskutierte Thema der Da-
tenqualität beleuchtet werden. Eine Studie im Zentralverband gewerblicher Verbundgrup-
pen aus dem Jahr 2008 zeigt, dass die Datenqualität in knapp 75 % der befragten Handels-
unternehmen mittelmäßig bis schlecht ist (Becker et al. 2008).
Daher ist es essentiell, dass die IT der Handelsunternehmen, insbesondere im Hinblick
auf die Warenwirtschaft, auf ein zeitgemäßes Niveau gebracht wird. Die IM-DBMS erfah-
ren in jüngster Vergangenheit zunehmende Aufmerksamkeit durch Forschung und Praxis.
In Gartners Hype-Cycle-Studie aus dem Jahr 2014 befanden sich IM-DBMS in der Pha-
se der Desillusionierung. In-Memory Analytics standen gerade am Beginn der Aufklä-
rungsphase (Gartner 2014). Heute nehmen In-Memory Technologien zunehmend konkrete
Formen an. IM-DBMS zeichnen sich durch hauptspeicherresidente Datenbanken, Multi-
Core-Prozessor-Verarbeitung und analyseorientierte Verwaltungsalgorithmen aus. Durch
diese Konstellation technischer Faktoren erlauben sie Datenverarbeitungsgeschwindigkei-
ten, die um ein Vielfaches höher sind als die Verarbeitungsraten, die durch die heute vor-
herrschenden, traditionellen Datenbankmanagement-Systeme möglich sind. In der Konse-
quenz ermöglichen IM-DBMS annähernd in Echtzeit durchgeführte Daten-Analysen und
die Aufhebung einer Trennung von analytischen und transaktionalen Systemen, wie es die
als Standardkonzept betrachtete Data-Warehouse-Architektur mit dem analytisch ausge-
richteten OLAP-System und dem transaktional ausgerichteten OLTP-System vorsieht
(Knabke und Olbrich 2015, S. 189–193).
Durch ihre Marktführerschaft im Bereich der betriebswirtschaftlichen Standardsoftware
gilt insbesondere die SAP SE mit ihrer In-Memory-Plattform SAP HANA® als Vorreiter
dieser Entwicklung (Plattner und Leukert 2015, S. 3–5). In dem Bestreben, die gesamte
Business Suite in die SAP Business Suite for SAP HANA zu migrieren, werden zurzeit
einige Anwendungen der Handelsdomäne neu konzipiert und entwickelt, darunter das SAP
Customer Activity Repository sowie die angegliederte Sortiments- und Bedarfsplanungs-
software (SAP SE 2015).
Handelsunternehmen können in mehrfacher Hinsicht von den Potentialen von IM-
DBMS profitieren. Einerseits führen die kürzeren Antwortzeiten sowie die Zusammen-
Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 205
so dass eine hohe Ausfallsicherheit und Stabilität zwingend sind. Außerdem gilt es zu be-
achten, dass in Handelsunternehmen die Existenz eines Systems an sich als Mehrwert be-
trachtet werden kann. Die Wirtschaftlichkeit von Systemen rückt zunehmend in das Zent-
rum unternehmerischen Interesses. Es bedarf somit für die Softwareprodukte einer nach-
vollziehbaren Nutzenpotentialeinschätzung, damit eine organisatorisch erfolgreiche Imple-
mentierung sichergestellt werden kann.
1.4 Ausblick
Der Einsatz und der Nutzen von bestimmten Trends unterscheiden sich zwischen den Be-
reichen der Handelsbranche. Für ein Unternehmen bringt der Einsatz einer ausgewählten
Technologie einen größeren Nutzen als für ein anderes Unternehmen. Diese Unterschiede
variieren bereits innerhalb einer Branche und können zudem zwischen verschiedenen Län-
dern variieren. „Geschäftsmodelle, die in anderen Ländern funktionieren, müssen sich nicht
zwangsweise auch hierzulande durchsetzen“ (BITKOM 2015, S. 21). Aus diesem Grund
sollten Handelsunternehmen prüfen, ob der Einsatz neuer Technologien die langfristigen
Unternehmensziele unterstützt.
Auch wenn die Unternehmen aus einer Vielzahl von innovativen Technologien wählen
können, die eine Vielzahl von Potentialen und Nutzungsmöglichkeiten versprechen, kann
die Entscheidung für den Einsatz einer Technologie nur individuell für jedes Handelsun-
ternehmen getroffen werden. Dabei sollte beachtet werden, welchen Einfluss die Entschei-
dung für eine Technologie auf die Strategie eines Unternehmens hat. Insbesondere müssen
hierbei Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die Integration im Sinne einer ein-
heitlichen IT-Strategie berücksichtigt werden.
In wenigen Jahren können die heutigen Trends bereits in den Handelsunternehmen
etabliert sein, wobei in einigen Ländern die Technologieaffinität ausgeprägter ist. Inwie-
weit diese Tendenzen, auch in Form eines veränderten Kundenverhaltens, die Handelsun-
ternehmen verändern, ist vom kulturellen Umfeld ebenso abhängig wie vom Wettbewerbs-
umfeld. Es ist denkbar und wahrscheinlich, dass sich viele Trends nicht durchsetzen wer-
den. Ein Grund dafür kann sein, dass neue Trends entstehen und bestehende abgelöst
werden. Diese schwere Prognostizierbarkeit macht es für Unternehmen schwierig, eine
Entscheidung für oder gegen eine Technologie zu treffen, denn der Nutzen einer Techno-
logie ist kontextabhängig. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass nicht die Entscheidung für
eine Technologie die Wirtschaftlichkeit fördert, sondern der Einsatz der Technologie im
Unternehmen, bei Kunden und bei Lieferanten. Sowohl Einführung als auch Einsatz brin-
gen Hürden für die Organisationen mit sich, die sie Schritt für Schritt überwinden müssen.
Dabei müssen sie die strategische Ausrichtung, den organisationalen Kontext und letztlich
jeden einzelnen Mitarbeiter und Kunden in Betracht ziehen, und mit hoher Geschwindig-
keit. Für diese Aufgaben bedarf es der notwendigen und nachhaltigen Aufmerksamkeit im
Unternehmen. Diese Mentalitätsfrage und das Innovationsbewusstsein sowie die Offenheit
für Flexibilität scheinen weit wichtiger für den Erfolg zu sein als die einmalige Entschei-
Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 209
dung für eine bestimmte Technologie. Technologien ermöglichen das Potential, aus dem
Unternehmen in einer digitalisierten Wirtschaft den Mehrwert für ihre Kunden und Mitar-
beiter schöpfen können. Und das bildet letztlich die Grundlage für wirtschaftliche und
gesellschaftliche Weiterentwicklung.
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Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 211
Autoren
Bernd Leukert ist Mitglied des Vorstands der SAP SE mit globaler Verantwortung für die
Entwicklung und Auslieferung aller Produkte des SAP-Portfolios. Dazu gehören die tech-
nologische Grundlage sämtlicher SAP-Produkte und die gesamte Entwicklung von Anwen-
dungen für Geschäftsbereiche. Zudem leitet er strategische Innovationsinitiativen und er-
schließt gemeinsam mit der Entwicklungs- und der Vertriebsorganisation neue Wachstums-
möglichkeiten für SAP, unter anderem in den Bereichen Internet der Dinge, Industrie 4.0
und SAP S/4HANA. Leukert zeichnet außerdem verantwortlich für User Experience und
das Design der Benutzeroberflächen von SAP-Software. Neben seiner Tätigkeit für SAP
ist er Mitglied des Market Strategy Board der Internationalen Elektrotechnischen Kommis-
sion und im Lenkungskreis für Industrie 4.0 der deutschen Bundesregierung.
Rainer Gläß ist CEO der GK Software AG. Er gründete die Firma gemeinsam mit seinem
Partner Stephan Kronmüller im Jahr 1990 und führte sie vom kleinen 2-Mann-Startup bis
zur heutigen weltweiten Marktführerschaft für integrierte Retail-Software. Das börsenno-
tierte Technologieunternehmen ist weltweit tätig und hat mehr als 800 Mitarbeiter. Für
seine außerordentlichen Leistungen wurde Rainer Gläß mit zahlreichen Preisen geehrt,
unter anderem erhielt er 2010 die Auszeichnung als „Entrepreneur des Jahres“. Seit 2015
ist Rainer Gläß Mitglied des nationalen IT-Gipfels der Bundesregierung zum Thema Digi-
talisierung der Dienstleistungsbranchen.
213
Gero Becker
IFH Institut für Handelsforschung GmbH, Köln, Deutschland
[email protected]
1.1 Einleitung
tionenverschiebung, die mit sich bringt, dass der Handel aus einer Funktionen- und nicht
aus einer Institutionenperspektive betrachtet wird, kann in vier Möglichkeiten ausgelebt
werden (Reinartz/Käuferle 2014b, S. 47):
Vielfach diskutiert werden als Folge der Digitalisierung auch Entwicklungen, die am Han-
del vorbeigehen bzw. neue Vertragspartner hervorbringen: So entscheiden sich Hersteller
vermehrt für den Direktvertrieb und schließen den Handel als Intermediär sukzessive aus
der Wertschöpfungskette aus (Disintermediation). Gleichzeitig werden zunehmend Akteu-
re auf den Plan gerufen, die sich auf die Bereitstellung hierfür benötigter Systeme und
Prozesse spezialisierten. Versanddienstleister, Payment-Service-Provider, E-Commerce-
Software-Anbieter, Markplätze usw. traten hervor und agieren ihrerseits als neue (zusätz-
liche) Intermediäre am Markt (Reintermediation).
Die zentrale Herausforderung der Wertschöpfung im Handel ist dabei, sich kontinuier-
lich an die sich veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, insbesondere im Sinne einer
stetigen Veränderung von Konsumentenbedürfnissen, technologischen Entwicklungen und
wettbewerbsspezifischen Marktgegebenheiten. Durch die Wettbewerbs- und Umweltdyna-
Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 215
„A systematic approach to identifying architectures for business models can be based on value
chain de-construction and re-construction, that is identifying value chain elements, and iden-
tifying possible ways of integrating information along the chain.”
Die Tatsache, dass Unternehmen, die nicht in der Lage sind, ihr Geschäftsmodell den sich
ändernden Umständen einer digitalisierten (Handels-)Welt anzupassen, mittelfristig aus
dem Markt verdrängt werden, wird oftmals als digitaler Darwinismus beschrieben. Diese
evolutorische Entwicklung äußert sich allerdings nicht nur auf unternehmensindividueller
Ebene, sondern hat unternehmensübergreifende Strukturveränderungen zur Folge (Kreut-
zer/Land 2013). Inwiefern die einzelnen Geschäftsmodelle heute bereits von diesen Ent-
wicklungen verändert wurden, hängt zu großen Teilen von der jeweiligen Branche ab.
Während insbesondere die Branchen Fashion & Accessoires sowie CE & Elektro bereits
einen fortgeschrittenen Reifegrad in Bezug auf die durch die Digitalisierung induzierten
Entwicklungen erreicht haben, liegen andere Branchen wie beispielsweise die FMCG- oder
die Möbelbranche weit zurück (ECC Köln 2015b, S. 14). Begründet ist dies sowohl in der
Produktbeschaffenheit als auch in der Verhandlungsmacht der jeweiligen Händler und
Hersteller: Produkte der CE-Branche sind zum Beispiel häufig durch starke Herstellermar-
ken geprägt und unter anderem auf Grundlage technischer Daten online gut abzubilden,
wodurch sie für den Online-Direktvertrieb prädestiniert erscheinen. Das spiegelt sich auch
im Marktanteil von Online-Shops der Hersteller sowie dem Reifegrad des Sortimentsbe-
reiches im Online-Handel wider (vgl. Abb. 2). Bei Möbeln hingegen sind die Händlermar-
ken denen der Hersteller vielfach überlegen. Außerdem spielt das aktive Ausprobieren bei
Möbelstücken häufig noch eine deutlich wichtigere Rolle, wodurch die Digitalisierung der
Möbelbranche erst seit Kurzem eine Dynamik entwickelt.
Die immensen Veränderungen, die mit der Digitalisierung auf den Handel einwirken,
sind auf volkswirtschaftlich aggregierter Ebene weitestgehend klar (vgl. Eichholz-Klein/
Preißner/Brylla 2014, S. 17ff.). Die „zunehmende Homogenität von Produkten und Dienst-
leistungen, stagnierende bzw. schrumpfende Märkte und eine zunehmende Wettbewerbsin-
tensität“ führen laut Schallmo (2013, S. 1) zu einem steigenden Preis- und Margendruck
und zwingen Unternehmen zu einer Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb. Die ge-
sättigten Märkte lassen eine Differenzierung durch die inkrementelle Optimierung beste-
hender Geschäftspraktiken allerdings kaum zu. Die nahezu einzig verbleibende Art der
Differenzierung ergibt sich daher aus der Innovation von neuen Geschäftsmodellen, für die
das Internet als Katalysator dient. Die daraus resultierenden Folgen für den Handel sind
216 Eva Stüber • Kai Hudetz • Gero Becker
drastisch: Gemäß einer Prognose des IFH Köln werden bis zum Jahr 2020 bis zu 78.000
bzw. 30 Prozent aller stationären Geschäftsstellen aus dem Markt ausscheiden (IFH Köln
2014b). Weitere 40 Prozent werden sich der Studie zufolge nur behaupten können, „wenn
es ihnen gelingt, ihr Geschäftsmodell grundlegend zu verändern [und den] online getriebe-
nen Anforderungen der Kunden gerecht“ (ECC Köln und Mücke Sturm & Company 2014)
zu werden. Somit ist nicht nur der Online-Handel gefordert, neue Geschäftsmodelle zu
Die klassische auf Porter (1980) zurückgehende Wertschöpfungskette (vgl. Abb. 4) be-
schreibt den Zusammenhang (potenziell) wertschöpfender Aktivitäten von der Eingangs-
logistik über die Produktion, das Marketing, den Vertrieb, die Ausgangslogistik bis hin zum
Kundendienst. Diese aufeinander aufbauenden, primären Tätigkeiten sind laut Porter
Ursprung potenzieller Wettbewerbsvorteile und durch individuelle Gewinnspannen, die
sich aus der Differenz geschaffener Werte und der vorgelagerten Kosten ergeben, gekenn-
zeichnet. Die (potenziell) wertschöpfenden Primärtätigkeiten werden dem Modell zufolge
durch die Unternehmensinfrastruktur, die Personalwirtschaft, die Technologieentwicklung
sowie durch die Beschaffung unterstützt.
Die einzelnen Primäraktivitäten können dabei sowohl von einem einzigen Unterneh-
men, als auch von mehreren, miteinander kooperierenden Unternehmen durchgeführt wer-
den. Klassischerweise hat der Handel in diesem Zusammenhang die späteren, marktseiti-
gen Primäraktivitäten vieler Hersteller übernommen und somit einen integralen Bestandteil
vieler Wertschöpfungsketten ausgemacht. Der Handel schaffte durch die Spezialisierung
auf Raumüberbrückungsleistungen, Präsenz- und Erhältlichkeitsleistungen, Sortiments-
leistungen, Beratungsleistungen sowie Leistungen in der Nachkaufphase (Müller-Hage-
dorn 1998, S. 108–110) eine vergleichsweise hohe Effizienz bei den absatzseitigen Aktivi-
täten und ermöglichte in diesem Bereich Gewinnspannen, die für Hersteller aufgrund ihrer
divergierenden Kernkompetenzen kaum zu erreichen waren. Hersteller wiederum konnten
durch die Konzentration auf ihre Kernkompetenzen in der Produktion ebenfalls Speziali-
sierungsgewinne realisieren, was dazu führte, dass die Aufteilung in Produktion und Dis-
tribution in aller Regel eine global maximale Wertschöpfung bzw. eine Win-Win-Situation
für Händler und Hersteller bedeutete.
218 Eva Stüber • Kai Hudetz • Gero Becker
Um das Ausmaß des Einflusses des Online-Handels auf die Wertschöpfung zu erfassen,
haben alBers und Peters (1997) eine Wertschöpfungskette des Handels mit distributori-
schem Bezug definiert (vgl. Abb. 5). Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass
sich nicht nur branchen- und betriebstypenspezifische Unterschiede in der Wertschöp-
fungskette bemerkbar machen, sondern auch insbesondere vertriebstypenspezifische Be-
sonderheiten und eine systematische Betrachtung der Auswirkungen im Zuge der Entbün-
delung der wertschöpfenden Tätigkeiten möglich ist. Während zunächst beispielsweise
Wirtschaftssubjekte aus anderen Bereichen (z. B. Logistikdienstleister) Wertschöpfungs-
funktionen übernehmen bzw. diese sogar von Konsumenten getragen werden, können die
Autoren in einer Folgebetrachtung im Jahr 2008 aufzeigen, dass die Entwicklungen durch
den Einsatz neuer Technologien und ein sich veränderndes Konsumentenverhalten noch
verstärkt worden sind. Insbesondere die Kernfunktionen des Sortiments- und Informations-
management sind von der Entbündelung durch Infomediäre betroffen, womit dem Handel
wesentliche wertschöpfende Tätigkeiten genommen wurden. Durch Social Media und die
immer aktiveren und sich zunehmend selbst organisierenden Konsumenten ist dieser Trend
vorangetrieben worden. Aber auch im Bereich der finanziellen Transaktionen, welcher
durch EC- und Kreditkarten im Rahmen des bargeldlosen Bezahlens schon länger von
branchenfremden Akteuren dominiert wird, kann ein weiteres Entkräften des Handels fest-
gestellt werden (Peters, Albers und Schäfer 2008).
Die klassische Wertschöpfungskette wird zunehmend virtuell abgebildet und durch neue
Prozesse ergänzt, um den Veränderungen durch die Digitalisierung gerecht zu werden.
sCheer und loos (2002) konstatieren im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern „die
informationsbasierte Wertschöpfungskette im Rahmen ihrer Prozesse zusätzliche Werte
schaffen kann“, dass „sich unterschiedlich starke Ausprägungen der eigentlichen Digitali-
Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 219
sierung der Wertschöpfung unterscheiden“ lassen und hierdurch das Kontinuum zwischen
der physischen und der virtuellen Wertschöpfungskette beschrieben würde. In seiner höchs-
ten Form ermögliche „die IKT in der virtuellen Wertschöpfungskette die Realisierung
neuartiger Geschäftsmodelle und veränderter bzw. neuer Leistungen“, die in einer rein
physischen Wertschöpfungskette nicht möglich wären. In Bezug auf den Handel lässt sich
dieser unterschiedliche Einfluss der Digitalisierung auf den Transformationsumfang von
Geschäftsmodellen einzelner Branchen auch in der Praxis erkennen. So sind Branchen, in
denen beispielweise auch die eigentlichen Produkte durch die Digitalisierung grundlegend
transformiert werden (z. B. Buchbranche) durch einen noch weitreichenderen (oder zumin-
dest schnelleren) Strukturwandel gekennzeichnet als Branchen, deren Kernleistungen wei-
terhin auf physischen Produkten oder Dienstleitungen beruhen.
Das Thema Wertschöpfung hat sich somit weiter zu einem äußerst vielschichtigen und
vernetzten Thema entwickelt. Durch eine Vielzahl an strategischen Stellschrauben kann die
Wertschöpfungsleistung eines Händlers gesteigert werden: beispielsweise Management
von Innovationen, Multi-Channel-Vertrieb, Einsatz von Handelsmarken, Preismanage-
ment, Kundenintegration bzw. Shopper Marketing bzw. generell vorteilhafte Ausnutzung
der Digitalisierung (Reinartz/Käuferle 2014a, S. 8). So haben graF und sChneider (2015)
aktuell die traditionelle Wertschöpfungskette an die neuen Begebenheiten des Online-
Handels angepasst und eine auf Porter basierende „Wertschöpfungskette im Online-Han-
del“ entwickelt (vgl. Abb. 5).
Dabei übernehmen sie die Darstellungsweise von Porter und unterteilen die Wert-
schöpfung in primäre und unterstützende Aktivitäten. Inhaltlich unterscheiden sich diese
mitunter jedoch grundlegend von ihrem Ursprungskonzept, womit graF und sChneider
den fundamentalen Unterschieden gerecht werden. Die neuen unterstützenden Aktivitäten
220 Eva Stüber • Kai Hudetz • Gero Becker
sehen sie zum Beispiel in Web-Analytics und Business Intelligence sowie dem Aufbau und
der Weiterentwicklung einer E-Commerce-Plattform. Die Darstellung ermöglicht eine
strukturierte Betrachtung der im Online-Handel ablaufenden Wertschöpfungsprozesse.
Allerdings bietet auch sie keinen Erklärungsansatz dafür, wie sich durch die Digitalisierung
grundlegend unterschiedliche Geschäftsmodelle herausbilden. Da der Online-Handel ein
wesentlicher Treiber der Entwicklung zum Multi-Channel-Handel ist, sind die Auswirkun-
gen von diesem auf die Wertschöpfung ebenso relevant (Hudetz/Stüber 2014, S. 210f.).
„Das eigentliche Nutzenversprechen an den oder die Kunden kann nicht formuliert werden.
Auch die Einbeziehung verschiedener Beteiligter, wie Kunden und Partner mit dem jewei-
ligen Nutzenpotenzial, kann nicht ausgedrückt werden. Bereits bei Betrachtung von realen
Dienstleistungen wird dieses Modell schwer zu handhaben. Hinzu kommt, dass sich die For-
mulierung einer geeigneten Sicht über die Wertschöpfungskette mit allen beteiligten Rollen für
viele innovative Unternehmen als sehr schwierig herausstellt (Beispiel: eBay).“ (Fraunhofer
IAO 2010, S. 14)
Wertschöpfung im Multi-Channel-Handel
Kundenzufriedenheit Kundenbindung
Kosteneinsparung/ Differenzierungs-
Vertrauen Markterweiterung
Ertragserhöhung möglichkeiten
BMC zugrunde legen, liest sich dabei wie die Beschreibung des im Handel seit einigen
Jahren stattfindenden Strukturwandels:
Gemäß Osterwalder und Pigneur (2011, S. 18) hat ein Geschäftsmodell die Aufgabe, das
Grundprinzip zu beschreiben, „nach dem eine Organisation Werte schafft, vermittelt und
erfasst.“ Die BMC beschreibt Geschäftsmodelle dabei anhand von neun Bausteinen, die
sich ihrerseits in effizienzorientierte (linke Hälfte der Canvas) und wertorientierte Baustei-
ne (rechte Hälfte) unterteilen lassen. Das Fundament bildet der Gewinn, der sich implizit
aus den Bausteinen „Kostenstruktur“ und „Einnahmequellen“ ergibt. Das durch das Ge-
schäftsmodell erzeugte Wertangebot bildet das Herzstück der BMC, da es quasi die „Exis-
tenzberechtigung“ des Geschäftsmodells darstellt. Schlüsselpartner, Schlüsselaktivitäten
und Schlüsselressourcen sind die ressourcenseitigen Bausteine, die zur Erreichung des
Wertangebots erforderlich sind. Marktseitig ist die BMC durch (Kommunikations- und
Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 223
Osterwalder und Pigneur haben in ihren Ausführungen zur BMC unterschiedliche Un-
ternehmenskonzepte, wie das der Entflechtung, des Long Tail, der Multi-Sided Platforms,
Free als Geschäftsmodell sowie Open Business Models auf die BMC angewendet und
gezeigt, wie sich Geschäftsmodelle anhand der BMC und bewährter betriebswirtschaftli-
cher Konzepte in charakteristische Muster mit „ähnlichen Merkmalen, ähnlichen Anord-
nungen von Geschäftsmodellbausteinen oder ähnlichen Verhaltensweisen“ (Osterwalder/
Pigneur 2011, S. 59) einordnen lassen. Hiermit liefern sie ebenso wie Wirtz einen Ansatz,
um unterschiedliche Geschäftsmodelle zu systematisieren und zu klassifizieren. Oster-
walder und Pigneur fokussieren bei ihrer Klassifizierung allerdings stärker auf die Inter-
dependenzen der verschiedenen Bausteine und klassifizieren die Geschäftsmodelle eher
anhand von Strukturen als anhand der Eigenschaften einzelner Komponenten. Darüber
hinaus gewährt die eher strukturorientierte Klassifizierung von Osterwalder und Pigneur
mehr Flexibilität bei der Identifizierung von Parallelen zwischen unterschiedlichen Ge-
schäftsmodellen als die anhand von vier Leistungskriterien relativ eng gefasste Systematik
von Wirtz. Aus diesen Gründen wird sie nachfolgend angewendet.
1.3.1 Überblick
Im Nachfolgenden soll anhand unterschiedlicher Beispiele gezeigt werden, wie sich inno-
vative Geschäftsmodelle entwickelt haben. Geschäftsmodellinnovationen sind gemäß Os-
terwalder und Pigneur die Folge der Veränderung einer oder mehrerer Geschäftsmodell-
bausteine. Auf Grundlage der BMC und der dahinterliegenden Systematik lassen sich dabei
vier Epizentren der Geschäftsmodellinnovation unterscheiden (vgl. Osterwalder und Pig-
neur 2011, S. 142f.):
1 Am 15.07.2015 wurde bekannt gegeben, dass das Start-up Shopwings seine Aktivitäten in
Deutschland einstellt.
Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 227
änderten Kundenbedürfnisse drücken sich dadurch aus, dass Konsumenten zunehmend se-
lektiv kaufen, also je nach Situation und Bedarf entweder im Online-Shop oder im stationä-
ren Ladengeschäft einkaufen und dabei im Laufe ihrer Customer Journey zwischen den
Kanälen wechseln, um die Vorteile beider Kanäle zu nutzen. Die logische Konsequenz
dieser Veränderung der Kundenbedürfnisse ist die Verschmelzung der verschiedenen Kanä-
le und der Schaffung eines neuen Wertangebotes in Form eines kanalübergreifend integrier-
ten Einkaufserlebnisses (vgl. ECC Köln 2015a). So hat die Media Saturn-Gruppe ihr Ver-
triebskonzept beispielsweise auf den Online-Kanal ausgeweitet und mit verknüpfenden
Services die Integration der verschiedenen Kanäle vorangetrieben. Diese Erweiterung des
bestehenden Geschäftsmodells vom Einkanalvertrieb hin zum Multi-Channel- bzw. Cross-
Channel-Handel hat darüber hinaus noch weitergehenden Einfluss auf andere Geschäftsmo-
dellkomponenten. So ist zwangsläufig auch eine Adaption im Bereich der Schlüsselpartner,
-ressourcen und -aktivitäten erforderlich, was wiederum einen Einfluss auf die Kostenstruk-
tur des Unternehmens hat. Gleichzeitig ist jedoch auch mit einer Veränderung der Einnah-
mequellen zu rechnen. Verschiedene Studien haben beispielsweise gezeigt, dass der Multi-/
Cross-Channel-Vertrieb zu durchschnittlich höheren Warenkörben führt als der Vertrieb
über nur einen Kanal. Eine gegenseitige Kannibalisierung der unterschiedlichen Kanäle
findet also lediglich zu einem gewissen Teil statt, wodurch die Gesamteinnahmen im Mehr-
kanalvertrieb tendenziell steigen (z. B. ECC Köln 2013; Accenture/GfK 2015, S. 9).
Eine weitere durch den Kunden getriebene Geschäftsmodellinnovation sind Online-
Shopping-Clubs. Dem Kundenbedürfnis nach Exklusivität und einer individuellen, perso-
nalisierten Ansprache entgegnen Shopping-Clubs mit einem (scheinbar) limitierten und
registrierungspflichtigen Zugang. Der Shopping-Club Westwing beispielsweise unter-
scheidet sich von anderen Online-Shops der Branche Wohnen & Einrichten dadurch, dass
eine persönlichere Kundenbeziehung ermöglicht wird. Dieser grundlegende Unterschied
im Wertangebot wirkt sich auf das gesamte Geschäftsmodell aus. Anstatt dem Kunden als
rein effizientem Transaktionspartner zu begegnen, wird ihm im Kern Emotionalität und
Inspiration geboten, die er durch den Produktkauf in sein eigenes Wohnerlebnis transferie-
ren kann.
2 Die Geschäftsmodelle der Betreiber von Sharing-Plattformen unterscheiden sich zwar in ver-
schiedenen Bausteinen grundlegend von „typischen“ Einzelhandelsgeschäftsmodellen, da der
Ursprungsgedanke aber dem „Mieten statt Kaufen“-Prinzip zugerechnet werden kann, wird das
Epizentrum dieser Geschäftsmodellinnovation in der veränderten Einnahmequelle verortet, wenn-
gleich auch eine Verortung in dem veränderten Wertangebot für den Konsumenten denkbar wäre.
Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 229
tale Plattformen, die sich die Vermittlung von Vermietern und Mietern bzw. das eigene
Vermieten zum Ziel gesetzt haben. Was vor vielen Jahren schon in vereinzelten Branchen
üblich war, erhielt mit den gesenkten Transaktionskosten des Internets neuen Nährboden.
Inzwischen haben sich quasi für jede Produktsparte Geschäftsmodelle entwickelt, die sich
von bestehenden Geschäftsmodellen im Kern dadurch differenzieren, dass ihre Einnahme-
quellen nicht aus Verkaufserlösen, sondern aus Mieteinnahmen bzw. Provisionen bestehen.
Von Sharing Angeboten im Fashion-Bereich (z. B. kleiderei.com), über Fahrdienste (z. B.
Uber) bis hin zum „Unterkunft-Sharing“ (z. B. Airbnb). Für den Konsumenten ergeben sich
hierdurch zwangsläufig andere Wertangebote: Anstatt sich durch einen (teuren) Produkt-
kauf dauerhaft für ein bestimmtes Produkt zu entscheiden, teilt er sich mit anderen Konsu-
menten einen quasi unbegrenzten Kleiderschrank, findet weltweit und jederzeit einen „pri-
vaten“ Chauffeur und kann auf der gesamten Welt in wechselnden Privatunterkünften
übernachten.
Doch nicht nur in der Share Economy gewinnen Plattformbetreiber durch die Digita-
lisierung an Bedeutung. (Multi-Sided) Plattformen treten auch im herkömmlichen Han-
del zunehmend in Erscheinung. Sie treten dabei nur – oder zumindest teilweise – als
Vermittler auf und sind dadurch gekennzeichnet, „zwei oder mehrere unterschiedliche,
aber voneinander abhängige Kundengruppen zusammen“ (Osterwalder und Pigneur
2011, S. 81) zu führen. Die Wertschöpfung entsteht im Wesentlichen dadurch, die Inter-
aktion zwischen den beiden Kundengruppen zu ermöglichen. Häufig wird dabei sogar
nur eine der beiden Kundengruppen direkt „zur Kasse gebeten“. Die andere dient dazu,
die Attraktivität für die zahlende Kundengruppe zu erhöhen und wird nicht selten sogar
durch besondere Anreize angelockt, um dem Unternehmen sogenannte Netzwerkeffekte
zu ermöglichen.
Zudem war es durch die Digitalisierung von Produkten (z. B. im Bereich Bücher &
Medien) möglich, vollkommen neue Kosten- und Einnahmesituationen zu schaffen, die
Auswirkungen auf das komplette Geschäftsmodell haben. So vereinnahmen E-Books im
Jahr 2014 bereits 4,3 Prozent des Buchhandelsumsatzes – 2012 lag der Anteil noch bei
2,4 Prozent (Börsenverein des Deutschen Buchhandels, 2014/2015). Gänzlich neue
Möglichkeiten werden auch durch die Möglichkeit des 3D-Drucks entstehen, bei wel-
chem der Kunde selbst zum Produzent wird. „Letztlich könnte die 3D-Druck-Bewegung
größere Auswirkungen auf den Einzelhandel als auf die Produktion haben“, heißt es in
Fachkreisen. „Dadurch, dass man die Mittel, um Gegenstände auszudrucken, zu Hause
hat, wird sich die Art, Dinge zu kaufen, radikal verändern. Eines der Modelle für die
Zukunft ähnelt iTunes. Dort lädt man digitale Designs wie heute Lieder und Filme“
(Balsuto 2013).
1.4 Fazit
innovative Geschäftsmodelle hervor und erfordert gleichzeitig die Adaption von bestehen-
den Geschäftsmodellen an die sich rasant wandelnden Umweltbedingungen. Hierzu gehört
es insbesondere auch, tradierte Betrachtungsweisen über die Art und Weise der eigenen
Wertschöpfung kritisch zu hinterfragen. Zahlreiche Geschäftsmodelle zeigen längst, dass
das Denken in klassischen Wertschöpfungsketten oftmals überholt ist. In vielen Fällen sind
heutzutage genau solche Unternehmen erfolgreich, die über die interne Prozesseffizienz
hinausdenken und die Chancen der Digitalisierung nutzen, um sich in neuartiger Form in
ihrer Unternehmensumwelt zu positionieren und Kundenbedürfnisse auf neue Weise zu
bedienen. Das Internet und damit einhergehenden Technologien bieten den Nährboden, um
neue Verbindungen zwischen bestehenden Wertschöpfungselementen zu knüpfen und die
tradierte Prozesssicht aufzubrechen. Elsner et al. (2014, S. 201) weisen darauf hin, dass
ein besonderes Augenmerk auf die „technische Mobilisierung von Informationsbereit
stellung/-gewinnung und Kaufgelegenheiten zu legen [sei]“.
Für Konsumenten bietet dies viele Vorteile, die sich in Transparenz, Convenience und
Service zeigen. Für Händler bringt dies Herausforderungen im wirtschaftlichen, organisa-
torischen und kulturellen Bereich mit sich. Bestehende Geschäftsmodelle versagen im
Zeitalter der Digitalisierung, da sie lediglich ein Spiegelbild der Organisation sind, welche
nicht mit den benötigten Fähigkeiten ausgestattet ist: So bringen starre Organisationen nur
starre Geschäftsmodelle hervor (Graf 2015). Während neue Player mit digitalen und inno-
vativen Geschäftsmodellen in den Markt eintreten, sind bestehende Unternehmen gefor-
dert, ihr Geschäftsmodell den Bedingungen einer digitalisierten Welt anzupassen. Die
Geschäftsmodellbetrachtung, wie sie etwa die Business Model Canvas ermöglicht und wie
sie bis vor einigen Jahren vorzugsweise von jungen Start-ups praktiziert wurde, eignet sich
insbesondere auch für etablierte Unternehmen, um das Grundprinzip, nach dem Werte
geschaffen, vermittelt und erfasst werden (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011) in einem
Gesamtgefüge aus internen und externen Rahmenbedingungen kritisch zu hinterfragen und
gegebenenfalls anzupassen.
„Wir sind genial darin, Prozesse und Produktivität zu optimieren. Für die Zukunft müssen wir
uns besser darauf verstehen, Geschäftsmodelle zu verbinden. Diese Vernetzung macht einen
Großteil des Erfolgs der Amerikaner aus.“ (Höttges 2015, S. 46).
„Alles, was digital sein kann, wird digital werden. Kein Unternehmen, kein Produkt ist davon
ausgenommen. Unternehmer sollten deshalb ihr Geschäftsfeld zumindest online erweitern.
Besser noch, sie etablieren neue digitale Geschäftsmodelle.“ (Hinrichs 2015).
Geschäftsmodelle in der Zukunft können und werden daher ganz anders geartet sein. Erste
Ansätze zeigen sich beispielsweise bei den folgenden Innovationen:
Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 231
• Predictive Shipping: Amazon experimentiert mit der Bereitstellung von Waren, die in
einem Liefergebiet häufig bestellt werden, ohne vorherige Bestellung und ermöglicht
damit einen unmittelbaren Zugriff für die Konsumenten.
• Autonomes Fahren: Selbstständig fahrende Autos ermöglichen dem „Fahrer“ die Zeit
im Auto für alternative Tätigkeiten zu nutzen. Außerdem laufen Tests mit Autos als
autonome Lieferboxen.
• Spracherkennung: Die (Nach-)Bestellung von Produkten per Spracherkennung soll
den Einkaufsprozess weiter vereinfachen.
• Lösungen wie Shopcloud, die ein übergeordnetes Frame für Online-Bestellungen
bieten und damit auch durch die Datenflut eine große Macht über die Konsumenten
bekommen.
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Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 233
Autoren
Dr. Eva Stüber ist Leiterin Research und Consulting am IFH Köln. Sie beschäftigt sich
schwerpunktmäßig mit Fragestellungen des Cross-Channel-Managements sowie der Digi-
talisierung im Handel und Innovationen. Am IFH Köln ist sie seit 2012, zuvor in der Funk-
tion als Senior Projektmanagerin ECC Köln. Auch zuvor während ihres Diplom-Studiums
der Betriebswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken und ihrer Tä-
tigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der BTU Cottbus hatte sie zahlreiche Berüh-
rungspunkte mit dem Handel allgemein und speziell dem E-Commerce. In ihrer Promotion
hat sie sich empirisch mit der „Personalisierung im Internethandel“ beschäftigt.
Dr. Kai Hudetz ist seit August 2009 Geschäftsführer der IFH Institut für Handelsforschung
GmbH Köln. Zuvor leitete er das dort angesiedelte E-Commerce-Center (ECC Köln),
dessen Gründung er 1999 mitinitiierte. Mit seiner langjährigen Expertise ist Dr. Hudetz
einer der gefragtesten E-Commerce-Experten in Deutschland. Als Autor von Studien und
zahlreichen Fachartikeln beschäftigt er sich mit aktuellen Fragen des Handels im digitalen
Zeitalter. Neben seiner Tätigkeit als Gastdozent an verschiedenen Hochschulen, ist Kai
Hudetz gefragter Speaker und Moderator auf hochkarätigen Branchenevents. Darüber hi-
naus ist Dr. Hudetz Mitglied in verschiedenen Aufsichts- und Beiräten.
Gero Becker ist seit September 2015 Junior Projektmanager am IFH Köln und der dort
angesiedelten Marke ECC Köln. Am IFH Köln beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit
den Themen Customer-Journey-Benchmarking und Erfolgsfaktoren im E-Commerce. In
seinem wirtschaftswissenschaftlichen Bachelorstudium an der Universität zu Köln und
seinem Masterstudium „Corporate Development and Strategy“ an der RWTH Aachen und
der University of Essex hat er einen besonderen Fokus auf unternehmensstrategische Fra-
gestellungen aus der Welt des Handels gelegt. Parallel zu seinem Studium war er bereits
seit 2013 als studentischer Mitarbeiter, Praktikant und Masterand am IFH Köln tätig.
235
August Harder
CIO, Coop Schweiz, Basel, Schweiz
[email protected], CC an: [email protected]
Wer in der Schweiz „Coop“ hört, denkt sofort an den Supermarkt um die Ecke. Doch Coop
ist weit mehr als das: Neben den über 800 Supermärkten führt Coop im Schweizer Detail-
handel (Einzelhandel) zahlreiche Fachformate, die oftmals nicht das Coop-Logo tragen.
Beispielsweise gehören Interdiscount, die Nummer eins im Schweizer Markt für Unterhal-
tungselektronik, The Body Shop Switzerland und Christ, die größte Uhren- und Schmuck-
kette der Schweiz, zur Coop-Gruppe. Tab. 1 gibt einen Überblick über die Fachformate der
Coop-Gruppe.
Die Coop-Gruppe ist darüber hinaus auch in der Produktion und mit der Transgourmet
Holding AG im nationalen und internationalen Abhol- und Belieferungsgroßhandel tätig.
Auf die Sparte Großhandel/Produktion wird jedoch an dieser Stelle nicht näher eingegan-
gen, da der Fokus des vorliegenden Beitrags auf den Detailhandel gelegt wird.
Viele Formate der Coop-Gruppe verfügen neben den stationären Verkaufsstellen über
einen E-Shop und zum Teil auch über einen Mobile-Shop. Außerdem gibt es sogenannte
Pure-Player wie Microspot.ch (Schwerpunkt Unterhaltungselektronik) und Nettoshop.ch
(Schwerpunkt Elektrohaushaltsgeräte). Durch die Vielfalt der Formate und Absatzkanäle
bieten sich zahlreiche Möglichkeiten für Verknüpfungen zwischen verschiedenen Absatz-
kanälen und über Formate hinweg, wie folgende Beispiele zeigen:
• Ein Kunde bestellt online ein iPad beim Pure-Player Microspot.ch und holt es nach
der Arbeit in einem Coop-City-Warenhaus ab.
• Am Tag vor Ferienende bestellen Kunden bei coop@home frische Lebensmittel und
holen diese nach Ankunft am Flughafen Zürich spätabends an der Pick-up-Station im
Flughafen ab.
• Ein in der nahegelegenen Interdiscount-Filiale ausverkaufter Fernseher wird in der
Filiale bestellt und nach Hause geliefert.
• In einer Filiale der Import Parfümerie ist das Parfum nicht mehr in der Wunschgröße
des Kunden vorhanden. Der Verkäufer kann über die Kasse eine Kundenbestellung
aufgeben und diese wird dem Kunden per Express-Paket nach Hause geliefert.
• Im Bau-und-Hobby-Online-Shop kann der Kunde den aktuellen Bestand der Produkte
abrufen und diese entweder direkt nach Hause oder zur Abholung in die Filiale
bestellen.
Toptip Einrichtungshaus x x
Lumimart Lampenmarkt x x
Coop@home Online-Supermarkt x
Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 237
Vor diesem Hintergrund hat sich Coop die Frage gestellt, welcher der zum Teil synonym
verwendeten Begriffe Multi-Channel, Cross-Channel und Omni-Channel die Situation bei
Coop am besten beschreibt und ist zu folgender Unterscheidung gelangt:
• Multi-Channel: Der Kunde kann zwischen mehreren Kanälen wählen, die aber nicht
miteinander verknüpft sind. Dies spiegelt die Ausgangssituation vieler E-Shops bei
Coop wieder, da zu Beginn die Anstrengungen zunächst auf den Aufbau der neuen
Absatzkanäle und deren Logistikprozesse gelegt wurden.
• Cross-Channel: Die unterschiedlichen Absatzkanäle sind miteinander verbunden und
die Kunden können während einer Transaktion mehrere Kanäle nutzen, z. B. Artikel
bei Interdiscount online bestellen und in einer Interdiscount Filiale abholen oder einen
online bestellten Wein mit Korkton in einem Coop Supermarkt umtauschen. Diese
Beispiele zeigen, dass bei Coop Cross-Channelling schon weit verbreitet ist. Dass die
physischen und online Kanäle eines Formats jeweils der gleichen Führungsperson
unterstellt sind, erleichtert dabei die Ausgestaltung der Zusammenarbeit.
• Omni-Channel: Die Verbindung der verschiedenen Absatzkanäle ist beim Omni-
Channel Commerce so gestaltet, dass für die Kunden in allen Kanälen ein einheitli-
ches Einkaufserlebnis gewährleistet ist und sie nahtlos zwischen verschiedenen
Kanälen wechseln können. Grundlage hierfür sind IT-Systeme, die aus allen Kanälen
die gleiche Sicht auf Artikel, Bestände und Kundendaten zulassen. Beispielsweise
kann heute ein Kunde bei Coop im E-Shop von Mondovino Wein kaufen, diesen
Warenkorb dann in den E-Shop Coop@home übertragen, um zusätzlich Lebensmittel
einzukaufen und den Einkauf ein paar Stunden später an der Pick-up-Station einer
physischen Filiale abzuholen. Zurzeit laufen bei Coop zahlreiche IT-Projekte, die die
Voraussetzungen für weitere Omni-Channel-Prozesse schaffen.
238 August Harder
Angesichts der Vielzahl an Absatzkanälen und Formaten, die jeweils nur den vergleichbar
kleinen Schweizer Markt bedienen – und dies noch dreisprachig – steht die IT von Coop
vor besonderen Herausforderungen, um die IT-Kosten möglichst tief zu halten. Eine Mul-
tiplikation bestehender und bewährter Prozesse in andere Länder – wie dies bei bekannten
Onlineplattformen häufig angewandt wird – ist für Coop aufgrund der regionalen Gebun-
denheit nicht möglich. Die Antwort darauf ist eine weitgehende Standardisierung bei den
zugrunde liegenden IT-Systemen.
Standardisierung bedeutet, dass möglichst viele Formate die gleichen IT-Systeme ver-
wenden. Individuelle Lösungen sind nur zugelassen, wo dies aufgrund spezifischer ge-
schäftlicher Anforderungen notwendig ist. In der praktischen Umsetzung bedeutet dies,
dass die zentralen Systeme ERP, Lagerverwaltungssystem, Kassen, Filialwarenwirtschaft
und Personaleinsatzplanung so konzipiert wurden, dass sie die zentralen Anforderungen
aller Formate erfüllen. Dabei werden auch Zusatzanforderungen von einzelnen Formaten
im gemeinsamen System umgesetzt. Oft kommen diese Zusatzfunktionen zu einem späte-
ren Zeitpunkt auch in anderen Formaten zum Einsatz. So waren Kundenbestellungen in den
Filialen zu Beginn nur eine Anforderung des Möbelmarkts Toptip, des Baumarkts Coop
Bau+Hobby und bei Christ Uhren & Schmuck. Mit zunehmender Verbreitung von virtuel-
len Zusatzsortimenten werden in immer mehr Formaten Kundenbestellungen getätigt. Ha-
ben die einzelnen Fachformate darüber hinaus sehr individuelle, geschäftsspezifische An-
forderungen, werden diese mit separaten Lösungen umgesetzt. Abb. 1 veranschaulicht
dieses Prinzip.
Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 239
Bei der Einführung eines neuen zentralen Systems kommt jeweils eine Art Pionierme-
thode zum Einsatz: Das neue System wird dabei jeweils zunächst für ein einzelnes Format
umgesetzt – meist für die Supermärkte. Sobald dieses System erfolgreich läuft, wird mit
der Umsetzung beim nächsten Format begonnen. Dieses Vorgehen wird immer weiterge-
führt, wobei die Projekte mit zunehmender Erfahrung stärker parallelisiert werden können.
Der Funktionsumfang des Standardsystems wächst dabei zunehmend.
Im folgenden Kapitel wird anhand von drei Beispielen aufgezeigt, wie aufgrund der
Tatsache, dass bei Coop die zentralen IT-Systeme standardisiert sind, neue digitale Ange-
bote multipliziert und in weiteren Formaten verbreitet werden können.
jeder einzelne Coupon – die Kunden können heute für jeden Einkauf bis zu fünf Coupons
aktivieren – an der Kasse vom Smartphone abgescannt werden muss, keine Chance. Zu
groß wäre der Zeitverlust an der Kasse, wenn die Kunden ihr Smartphone herausholen und
nacheinander fünf Coupons abscannen lassen würden. Bei Coop konnte mit Digital Cou-
poning eine Beschleunigung des Check-out-Prozesses, im Vergleich zum Einsatz von Cou-
pons in Papierform, erzielt werden. Abb. 2 zeigt noch einmal das Zusammenspiel zwischen
Kasse und CRM-System bei Digital Couponing auf. Nach dem Scannen des Barcodes der
Supercard wird diese Kundenkartennummer an das CRM-System übertragen (1.). Das
CRM-System gibt als Antwort den Punktestand und die vom Kunden vorher aktivierten
Coupons zurück (2.). Die Rabattberechnung basiert dabei auf den im Kassensystem für die
Coupons hinterlegten Konditionen; analog denen des Print-Coupons. Die Kasse meldet
anschließend die eingelösten Coupons via Backoffice-Rechner (3.) an das CRM-System
zurück (4.). Anschließend werden die Statusänderungen bei den Coupons auf der Websei-
te oder App der Kunden nachgeführt: In der Rubrik Eingelöst erscheinen die beim Einkauf
verwendeten Coupons. Die Coupons, die aktiviert, aber nicht verwendet wurden – weil z. B.
das rabattierte Produkt nicht gekauft wurde – stehen weiterhin zur Verfügung.
Im Frühjahr 2013 konnte eine Closed User Group die ersten Coupons testen. Am 1. Juni
2013 wurde Digital Couponing im Bereich Supermarkt mit der Bezeichnung digitale Bons
für diejenigen Kunden lanciert, die Mitglieder des „Hello Family Clubs“ sind. Das ist ein
Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 241
spezieller Club für Familien mit Kindern, der seinen Mitgliedern zusätzliche Vorteile und
Informationen innerhalb der Community bereitstellt. Nachdem erste Erfahrungen gesam-
melt wurden, konnten aufgrund der Tatsache, dass fast alle Formate das gleiche Kassen-
system einsetzen, bereits zwei Monate später Coupons der Warenhäuser Coop City und der
Baumarkt-Kette Coop Bau+Hobby aufgeschaltet werden und nochmals drei Monate später
auch für die Fachformate Import Parfumerie, Toptip (Möbel), Lumimart (Lampen), Christ
(Uhren und Schmuck) und Fust (Elektrohaushaltsgeräte). Dabei erfolgte für Fust zum
ersten Mal die Anbindung an ein zusätzliches Kassensystem. Im August 2014 kamen die
Coop Restaurants und im Juni 2015 die Convenience-Shops Coop Pronto hinzu.
Die Modularität der Couponing-Lösung ermöglichte es Coop, die digitalen Coupons
nicht nur schnell vom Supermarkt auf andere Fachformate auszuweiten, sondern diese auch
mit überschaubarem Aufwand für andere Vorteil-Clubs einzuführen:
1.3.1.2 Check-out-Couponing
Beim Check-out-Couponing erhalten die Kunden zusätzlich zum Kassenbon einen Coupon
in Papierform, den sie beim nächsten Einkauf einlösen können (siehe Abb. 3). Auch hier
hat Coop eine Lösung angestrebt, die vollständig in die bestehende Kassenlösung integriert
ist, damit keine Schnittstellen zu zusätzlicher Software und Hardware erforderlich sind.
Möglich sind zwei Arten von Check-out-Coupons: Einerseits Check-out-Coupons, die al-
len Kunden angeboten werden und oft an Bedingungen wie den Kauf eines bestimmten
Produkts oder das Überschreiten eines Einkaufsbetrags geknüpft sind. Diese Check-out-
Coupons werden über das Promotionswesen aktiviert. Andererseits individuelle Coupons,
die aber für bestimmte Kundensegmente und nicht für einzelne Kunden ausgegeben wer-
den.
Die individuellen Check-out-Coupons wurden bei Coop sozusagen als Nebenprodukt
des Digital Couponings eingeführt: Ein Check-out-Coupon ist dabei nichts Anderes als ein
für die Kunden nicht sichtbarer, versteckter Coupon, der ihnen zentral aufgrund einer be-
stimmten Eigenschaft (z. B. Kauf von Produkten der Bio-Linie Naturaplan in den letzten
vier Wochen) zugewiesen wurde. Beim Scannen der Supercard kommen dann nicht nur die
von den Kunden ausgewählten Coupons zum Einsatz, sondern die Kasse wird gleichzeitig
angewiesen, nach dem Drucken des Kassenbons zusätzlich einen Check-out-Coupon aus
dem gleichen Kassenbondrucker auszugeben.
kommt (4.). SAP POS DM erkennt aus den Kassenboninformationen, ob ein Versand des
Kassenbons per E-Mail von dem Kunden erwünscht ist und stößt den Versand der Kassen-
bons per E-Mail an, wobei es die dafür benötigten Kundeninformationen wie Anrede, Name
und E-Mail-Adresse vom CRM-System bezieht.
Die genannten Beispiele zeigen auf, dass während einer Kassentransaktion das CRM-
System eine Reihe von Daten an die Kasse sendet. Hierbei werden alle Informationen in
einer einzigen Antwort an die Kasse übermittelt. Diese Antwort umfasst heute den Punk-
testand der Kunden sowie – falls relevant – selbst aktivierte Digital Coupons, Angebote der
Kundenclubs, zugewiesene Check-out-Coupons und Informationen zum Druck des Kas-
senbons (siehe Abb. 5). Dieser Ansatz wurde gewählt, um den Check-out-Prozess so schnell
wie möglich zu gestalten, da eine größere Datentransaktion schneller ist als viele kleine
Transaktionen.
Die Entwicklungen gehen weiter und weitere digitale Services sind in Arbeit. Zudem
wird der Prozess am Check-out weiter digitalisiert, in dem die Supercard bis Ende 2015 in
Mobile Payment-Lösungen integriert wird, die das Vorweisen der Supercard an der Kasse
vereinfachen. Dies ist zum Beispiel bei Twint, einer Payment-Lösung der Postfinance (ein
Tochterunternehmen der Schweizer Post), der Fall. Anstelle des Abscannes des Barcodes
auf der Supercard halten die Kunden ihr Smartphone an spezielle Lesegeräte mit Beacon-
Technologie. Dadurch wird der Kasse das Twint-Konto des Kunden übermittelt, woraufhin
die Kasse vom Twint- und CRM-System die Supercardnummer des Kunden und die Pay-
ment-Informationen bezieht.
1.3.2 E-Shops
Coop Remote Ordering – unter diesem Namen hat Coop im August 2001 den ersten E-Shop
eröffnet. Damals konnten die Kunden aus 3‘500 Supermarktartikeln wählen und im Online
Shop oder via Telefon und Fax mit Hilfe eines Papierkatalogs bestellen.
Seither wurde dieser E-Shop ständig weiterentwickelt und im Jahr 2006 auch in
coop@home umbenannt. Heute umfasst das Sortiment 13‘000 Artikel und 1‘200 Jahr-
gangsweine. 128 eigene Auslieferfahrzeuge ermöglichen in den Schweizer Ballungszent-
ren (je nach Bestellzeitpunkt) eine Belieferung am gleichen Tag in einem bestimmten
Zeitfenster. Weitere Optionen sind der Versand per Paketdienst für Gebiete außerhalb der
Ballungszentren und Artikel aus dem Blumen- und Geschenkeshop sowie die Abholung in
einer von aktuell 13 Pick-up-Stationen.
Der E-Shop von coop@home bildete die Basis für die Entwicklung weiterer E-Shops
bei Coop. Mit einer universellen E-Shop-Plattform – einer Art Baukasten für E-Shops –
wurde eine Reihe von Zielen verfolgt:
Der Aufbau der E-Shop-Plattform ist in Abb. 7 vereinfacht dargestellt: Der Shop Backbone
umfasst Tools wie eine Recommendation Engine (RE), die individuelle Kundenempfeh-
lungen erstellt, das Digitale Asset Management (DAM), das digitale Dateien wie Bilder
und Videos verwaltet, Systeme für Suche und Katalognavigation, Content-Management-
Systeme, Tools für Web-Analytics und vieles mehr.
Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 245
Des Weiteren weist der Shop Backbone den Integration Layer auf, der alle Module
enthält, die dem E-Shops grundsätzlich zur Verfügung stehen (in Abb. 7 als Rechtecke
dargestellt). Dazu gehört eine Vielzahl an Funktionsbausteinen entlang des gesamten On-
line-Einkaufsprozesses von der Bedürfnisaktivierung, über die Informationssuche bis hin
zu verschiedenen Bezahlprozessen.
Die Shop Frontends umfassen sowohl die benötigten Module aus dem gemeinsamen
Baukasten sowie individuelle Module, mit denen die spezifischen Anforderungen der je-
weiligen E-Shops abgedeckt werden. Ein Beispiel für eine individuelle Anforderung ist der
Parfum Finder der Import Parfumerie. Werden für einen neuen E-Shop Module gebaut, die
auch von anderen E-Shops gebraucht werden könnten, werden diese anschließend in den
Common Layer eingebettet, so dass dieser stetig umfassender wird.
Das CRM- und PIM-Layer umfasst Systeme zur Verwaltung der Kunden-, Auftrags- und
Katalogdaten.
Die Frontend und Backend-Komponenten interagieren schließlich mit diversen ERP-
Systemen im Hinblick auf die logistische und finanzielle Abwicklung der Transaktionen
als auch mit Business Intelligence (BI) -Systemen.
Die Schaffung dieser universellen E-Shop-Plattform ermöglichte es Coop, im Frühjahr
2011 innerhalb weniger Monate vier weitere E-Shops für die Fachformate Import Parfu-
merie, The Body Shop Switzerland, Toptip (Möbel) und Lumimart (Lampen) zu entwickeln
und innert weniger Wochen zu lancieren. Die Import Parfumerie und Toptip hatten zu
diesem Zeitpunkt zwar bereits bestehenden E-Shops, doch hätte ein Update dieser Shops
mehr Aufwand verursacht als eine Multiplikation auf Basis der E-Shop-Plattform. Zudem
246 August Harder
wäre eine nahtlose Integration in die ERP-Backend-Prozesse der anderen Plattformen nicht
möglich gewesen. Mit der Coop E-Shop-Plattform sind die Kundenaufträge und -Prozesse
in die Coop-Standard-ERP-Prozesse eingebunden und folgen dem identischen Weg des
Kundenauftrags, wie er im stationären Handel dieser Formate verwendet wird. D. h. für den
Online-Kundenauftrag muss nicht ein spezieller, eigener, neuer Logistikprozess entwickelt
werden, sondern der Bestehende kann genutzt werden. Dies erhöht zum einen die Prozess-
sicherheit, zum anderen müssen keine wesentlichen Change-Prozesse in den Filialen ge-
schult werden.
Die letzten beiden E-Shops, die auf der Grundlage der gemeinsamen Plattform hinzu-
kamen, waren der Weinclub Mondovino im Mai 2014 sowie der E-Shop der Baumarkt-
Kette Coop Bau+Hobby im Juni 2014. Die übrigen E-Shops innerhalb der Coop-Gruppe
basieren auf individuellen Lösungen, was aber jeweils historisch oder auf Grund von Joint
Ventures begründet ist.
Im Jahr 2002 wurde mit wap.coop.ch ein erstes Angebot für Smartphones lanciert. Sechs
Jahre später, im Dezember 2008, kam die erste mobile App für das Betriebssystem iOS
hinzu. Diese App umfasste damals die Funktionsbereiche Standortsuche, aktuelle Angebo-
te, Rezepte, Einkaufsliste und Informationen zur Supercard und dem Punktestand.
Mittlerweile ist die Zahl der Apps, die von der zentralen Informatikabteilung betreut
werden, auf 15 bzw. 24 angestiegen, da fast jede App als iOS- und Android-Version ver-
fügbar ist. Weitere Apps wurden von den Fachformaten, die kein Coop Logo verwenden
und jeweils ein individuelles Corporate Branding haben, erstellt. Die hohe Zahl der Apps
liegt darin begründet, dass Coop für die mobilen Apps eine Spezialisierungsstrategie ge-
wählt hat: Neben der zentralen Coop Supermarkt-App bieten viele kleine und schlanke
Apps dedizierte Funktionen im jeweiligen Bereich. In Tab. 2 sind die Apps und ihre wich-
tigsten Funktionen dargestellt:
Wie auch bei den Online-Shops verfolgt Coop auch bei den Apps eine Plattformstrategie.
Diese ist schematisch in Abb. 8 dargestellt.
248 August Harder
Diese Module werden jeweils entsprechend der Gestaltung der jeweiligen App angepasst,
wie das Beispiel in Abb. 9 zeigt. Schließlich umfasst jede App individuelle Funktionen wie
der Weinberater (z. B. welcher Wein passt zum Essen) in der App Mondovino oder die Self
Scanning-Funktion in der App Passabene. Da aber für das Grundgerüst auf die Bausteine
der App-Plattform zurückgegriffen werden kann, ist bei der Lancierung von neuen Apps
eine schnelle Time-to-Market gewährleistet, nur das Design und die spezifischen Funktio-
nen müssen entwickelt werden.
Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 249
Abb. 9 Unterschiedliche Gestaltung des Moduls Superpunkte-Angebote in den Apps Supercard und
Hello Family (Android-Version)
Quelle: Eigene Screenshots
Coop hat durch die starke Standardisierung in den Bereichen Kasse, Digitale Services, E-
Shops, Apps und bei den zentralen Systemen viele Vorteile gewonnen und kann auch in
Zukunft von den integrierten Plattformen profitieren. Da der Schweizer Markt sehr klein
ist und die drei Landessprachen zusätzliche Herausforderungen stellen, ist es für einen
Anbieter nicht einfach, die Investitionen zu amortisieren. Vor diesem Hintergrund bieten
die Plattformstrategien der Coop-Gruppe die Möglichkeit, horizontale Synergien zu erzie-
len. Außerdem ermöglicht diese Strategie – wie oben in vielen Beispielen aufgezeigt – neue
Lösungen mit einer kurzen Time-to-Market einzuführen und erlaubt branchenübergreifen-
de Lerneffekte zu erzielen.
Es ist jedoch eine Herausforderung, den unterschiedlichen individuellen Bedürfnissen
der Fachformate trotz Standardisierung Rechnung zu tragen, da sie oft mit Pure Playern
oder mit Filialen internationaler Ketten in Konkurrenz stehen.
250 August Harder
Das Angebot an digitalen Services wird bei Coop laufend erweitert. Im Fokus stehen in
den nächsten zwei Jahren unter anderem Lösungen, die das Angebot in den physischen
Filialen noch stärker mit digitalen Services ergänzen, um den Kunden das Beste aus beiden
Welten zu bieten. Neue Userinterfaces, die zunehmende Verbreitung von 3D-Printing und
Robotern am Point-of-Sale sowie die Entwicklungen beim Einsatz von künstlicher Intelli-
genz bieten Coop auch in Zukunft spannende Herausforderungen.
Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 251
Autor
August Harder ist seit 1998 CIO der Coop-Gruppe. Coop ist in der Schweiz im Einzel-
handel und europaweit im Grosshandel tätig und hat ca. 80.000 Mitarbeitende. Neben
seiner Rolle als CIO war August Harder fast 15 Jahre für den Aufbau und Betrieb des Le-
bensmittel Online-Shops von Coop verantwortlich. August Harder leitet ausserdem das IT
Commitee des Consumer Goods Forum und ist Präsident des Verbands Elektronischer
Zahlungsverkehr.
253
Torsten Toeller
Vorstandsvorsitzender, Fressnapf Holding SE, Krefeld, Deutschland
[email protected], CC an: [email protected]
Die zunehmende Digitalisierung führt für den Handel vor allem zu einer stärkeren Eman-
zipation der Kunden. Vor Beginn der Digitalisierung gab es im Handel insbesondere im
Hinblick auf Preise und Sortimente eine stark asynchrone Wissensverteilung zwischen
Kunden und Händlern. Durch die Recherche- und Informationsmöglichkeiten im Internet
ist für die Kunden eine deutlich höhere Transparenz entstanden. Der in diesem Sinne gut
informierte Kunde vermag die Angebote des einzelnen Händlers daher im Vergleich zu
seinen Wettbewerbern besser zu bewerten als in der Vergangenheit.
Der primär preisbewusste Kundentyp erwartet, dass er die Produkte, für die er sich inter-
essiert, grundsätzlich kanalunabhängig und auch unabhängig vom einzelnen Händler zum
Besten am Markt verfügbaren Preis erwerben kann. Im Hinblick auf die Sortimentsgestaltung
hat der informierte Kunde eine breite Informationsbasis über das generell am Markt verfüg-
bare Angebot, ist aber im Zweifel auf der Suche nach kompetenter Beratung, um aus dem
großen Angebot das für ihn am besten passende Produkt zu identifizieren. Beide Effekte
führen für die Händler, die wie Fressnapf traditionell aus dem stationären Handel kommen,
zu zwei wesentlichen strategischen Fragestellungen: Wie kann es gelingen, dem Preisdruck
auszuweichen, ohne die Bestpreis-Erwartung der Kunden zu enttäuschen, und wie kann sich
der Händler für den Kunden als Beratungsexperte für das große Angebot positionieren.
Neben den genannten Kern-Fragestellungen zu Preisen und Sortimenten ändert sich
durch die laufende Digitalisierung ebenfalls die Erwartung der Kunden, welche generellen
Geschäftsfähigkeiten ein Unternehmen bieten muss. Die 24/7 Verfügbarkeit von Informa-
tionen zum Angebot des Handels – z. B. aktuelle Warenbestände in den stationären Ver-
kaufsstellen, ausgiebige und personalisierte Produktinformationen – gehört ebenso dazu,
wie die problemlose Abwicklung von Retouren und Umtauschwünschen über alle Kunden-
kontaktpunkte, stationär sowie online.
Die Veränderung des Geschäftsmodells stellt sich eher evolutionär als revolutionär dar. Der
größte Teil des Umsatzes im Markt wird mit Verbrauchsgütern wie Streu oder Futter ge-
macht. In diesen Segmenten werden Kaufentscheidungen der Kunden überwiegend durch
Markenbindung und Convenience beeinflusst. Dadurch wird das Instrument der Kunden-
bindung mittels gezielter Ansprache zum entscheidenden Faktor. Während die personali-
sierte Ansprache im Online-Kanal durch die Registrierung des Kunden in Kombination mit
modernen Techniken (z. B. Recommendation-Engines) relativ einfach möglich ist, müssen
im stationären Handel über Loyalty-Ansätze erst noch die Grundlagen erarbeitet werden.
Um auf diesem Feld schnell Erfolge erzielen zu können, ist Fressnapf eine Partnerschaft
mit PAYBACK eingegangen und nutzt das PAYBACK Modell konsequent kanalübergrei-
fend für Target-Marketing und um zusätzliche Frequenzen zu generieren. Darüber hinaus
will Fressnapf die Loyalität der Kunden gegenüber PAYBACK nutzen, um diese für den
Fachhandel zu begeistern und zu binden.
Das Betreiben eines Online-Kanals mit Webshop und Paketversand ist nur der Ausgangs-
punkt, um mit den Kundenerwartungen Schritt zu halten. Zuallererst bietet ein Online-
Kanal die Möglichkeit, das für die Kunden angebotene Sortiment mit relativ wenigen Re-
striktionen auszuweiten. Über die Integration in den stationären Handel kann diese Erwei-
terung auch auf der Fläche zur Verfügung gestellt werden.
Mit der zunehmenden Digitalisierung des Handels über alle Sparten und Handelsseg-
mente hinweg nimmt auch der Umfang an kanalübergreifenden Geschäftsfähigkeiten zu,
die der moderne Kunde als selbstverständlich erwartet. Hier sind insbesondere Service-
funktionen wie Click & Collect oder auch Annahme von Online-Retouren im stationären
Kanal zu benennen.
Die Digitalisierung im Handel ist nicht neu. Die Digitalisierung ist seit den 70er Jahren mit
der Einführung von ERP, dem elektronischem Warenwirtschaftssystem, neuen Technolo-
gien wie das Scannen Anfang der 90er Jahre, dem CRM oder Product Information Manage-
ment-Systeme aus den 90er Jahre eine permanente Erscheinung im Handel.
Das neue an Handel 4.0 ist, dass neben der grundsätzlichen technischen und fachlichen
Integration der einzelnen Handelsstufen und –formate besteht der wesentliche Unterschied
zur Vergangenheit in den heute möglichen Verarbeitungsgeschwindigkeiten, auch bei sehr
großen Datenvolumina. Beispielsweise die von den Kunden erwartete Information über die
256 Torsten Toeller
Bestandssituation eines Produkts in einem Fressnapf-Markt kann nur über eine saubere,
geschlossene Warenwirtschaft erreicht werden. Gleichzeitig ist diese Information nur dann
von Nutzen, wenn sie eine sehr hohe Aktualität (near realtime) hat.
Im Bereich der Kundenansprache erlauben die neuen Fähigkeiten vor allem eine geziel-
te Auswahl und Segmentierung des Kundenbestands und stellen damit einen Riesenhebel
zur Verbesserung der Marketingeffizienz dar.
Auf der technischen Seite hat Fressnapf in den letzten Jahren massiv in den Neuaufbau
einer zentralen, hochintegrierten Systemlandschaft investiert. Parallel dazu sind die vor-
mals getrennten Zweige für den Online-Handel und das stationäre Kerngeschäft auch or-
ganisatorisch integriert worden. Auf dieser Basis sind die generellen Voraussetzungen für
eine Fortsetzung der Digitalisierung sehr gut. Fressnapf steht vor der Herausforderung, die
digitale Transformation sowohl online als auch stationär anzusetzen. Nach der Umstellung
auf SAP wurden im letzten Jahr mehr als 850 deutsche Märkte mit dem neuen GK-Kassen-
system ausgestattet. Gleichzeitig wurde der Online-Shop auf eine neue Plattform gehoben
und die Logistik auf einen neuen Dienstleister umgestellt. Der Internationale Roll-out
findet derzeit statt.
Unser Masterplan orientiert sich nicht an der Digitalisierung sondern primär an den Be-
dürfnissen unserer Kunden. In unserer Strategie CHALLENGE 2020 haben wir gemäß
unserer Vision „Happier Pets. Happier People.“ all unsere Aktivitäten darauf ausgerichtet,
unsere Kunden davon zu überzeugen, dass wir der beste Partner sind, um das Zusammen-
leben von Mensch und Tier einfacher, besser und glücklicher zu machen. Unsere Kunden
denken nicht in Kanälen, sondern in Lösungen. Deshalb gibt Fressnapf seine Kunden die
Möglichkeit über alle Kanäle hinweg 24/7 Zugriff auf das Sortiment und die Beratung zu
bekommen. Ausgehend vom Fundament exzellenter Handelsprozesse wollen wir über
gezielte Kundenbindung und zusätzliche Dienstleistungsangebote mit echtem Kundennut-
zen weiter profitabel wachsen. Insofern begreifen wir die Digitalisierung als Werkzeug,
diesen strategischen Ansatz zu unterstützen, aber sie ist definitiv kein Selbstzweck.
Neben Veränderungen des Geschäftsmodells und der IT-Landschaft muss auch die Unterneh-
menskultur auf ein sich wandelndes Umfeld eingestellt werden. Eine besondere Herausforde-
rung für die Digitalisierung der Dienstleistungsbranche ist der „Change Prozess“ nach innen
Die Digitalisierungsperspektive bei Fressnapf 257
in Bezug auf Strukturen und Mitarbeiter. Die Herausforderungen sind unter anderem die
Größe der Organisationen oder zum Teil eine große Anzahl nicht-akademischer Mitarbeiter.
Tatsächlich scheint der mentale Veränderungsprozess für eine Unternehmensorganisa-
tion die größte Herausforderung bei der Begegnung mit den aktuellen Veränderungen der
Handelslandschaft zu sein. Organisatorische Strukturen lassen sich nicht immer vollständig
und friktionsfrei anpassen, so dass es unumgänglich ist, die Mitarbeiter auf allen Ebenen
des Unternehmens zu erreichen und wirklich von der Notwendigkeit und Richtung der
begonnenen Veränderungen zu überzeugen. Die aufbauorganisatorische Integration des
Online-Kanals in die Unternehmensfunktionen ist für die Unternehmenszentrale gut zu
bewerkstelligen. In seinem größten Teil-Markt Deutschland ist Fressnapf überwiegend als
Franchise-System erfolgreich. Hier ist es ungleich schwieriger, die große Zahl an wirt-
schaftlich selbständigen Franchise-Unternehmern zu überzeugen und ihnen die Unaus-
weichlichkeit aber auch die Chancen einer Erweiterung des Handelsangebots im Netz zu
vermitteln. Fressnapf entwickelt sich zu einem Cross-Channel-Retailer. Die Win-Situation
für den Kunden liegt auf der Hand. Dass es auch für den stationären Handel zu einer Win-
Win-Situation wird, dafür müssen wir als Zentrale sorgen. Fressnapf ist als Geschäftsmo-
dell über den permanenten Ausgleich der Interessen der beteiligten Partner groß und erfolg-
reich geworden. In diesem Geiste wollen wir auch das nächste, das digitale Kapitel der
Unternehmensgeschichte fortschreiben.
1.10 Trennung von Daten und Produkten – Smart Services für den
Handel?
Sehr neu ist für die Handelsunternehmen auch die heute mögliche Trennung von Daten und
Produkten und so die Möglichkeit zur Analyse, Auswertung und die Nutzung der Daten für
neue Dienstleistungen (sog. „Smart Services“). Produktunabhängige Daten können in
Cloud-Zentren anonym verarbeitet werden und Grundlage für neue, intelligente Dienste
sein. Bis jetzt haben wir noch nicht die wirklich zündenden Ideen für innovative neue
Dienstleistungen unter Nutzung der neuen digitalen Möglichkeiten gefunden. Ansätze zur
Verbesserung der Kundenberatung sind hier recht vielversprechend, aber noch nicht aus-
gereift. Voraussetzung für solche Beratungsansätze ist die genaue Kenntnis der Kundensi-
tuation, wobei neben Informationen über den Tierhalter vor allem möglichst genaue Infor-
mationen über sein Haustier von Interesse sind.
Innerhalb von Handel 4.0 werden auch „Kollaborative Geschäftsmodelle“ (Shared Econo-
my), also unternehmensübergreifende Wertschöpfungsketten diskutiert. Unternehmen ar-
beiten zusammen, bieten z. B. gemeinsame Plattformen an (z. B. ein gemeinsames mobiles
Payment-System). Dies ist für den Handel ebenfalls Neuland, da die Unternehmen der
258 Torsten Toeller
Branchen traditionell eher weniger miteinander arbeiten. Noch steht Wettbewerb vor Ko-
operation. Gibt es bei Fressnapf Überlegungen zu kooperativen Geschäftsmodellen?
Die bereits genannte Partnerschaft von Fressnapf bei PAYBACK ist ein gutes Beispiel
für ein kollaboratives Geschäftsmodell. Das Beispiel zeigt, dass Fressnapf keine Berüh-
rungsängste hat, in gemeinsam genutzten Datenpools Nutzenpotenziale für alle Beteiligten
verfügbar zu machen.
Insbesondere wenn es in den Bereich echter Dienstleistungsfunktionen für unsere Kun-
den geht, wie z. B. Hundefriseure oder auch tierärztliche Versorgung, können wir uns auch
in unserem Kerngeschäft weitere und neue Kooperationsmodelle gut vorstellen, wenn es
sich anbietet auch mit Nutzung zusätzlicher digitaler Funktionen und Werkzeuge.
Ein großes Thema sind digitale Marketingkonzepte und Kundenprofile. Sie werden in
Zukunft eine wichtige Rolle spielen, um den Kunden optimalen Service bieten zu können
und den Kunden individuelle Ansprachen zu bieten. Dahinter stehen Data Analytics in
Verbindung mit Datenschutz und Privacy. Für Kunden bedeutet das Digitalmarketing-
Konzepte und personalisierte Ansprache.
Fressnapf wird seine Direktansprache an die Kunden weiter ausbauen. Hierzu haben wir
über unser Kundenbindungsprogramm „Welpenclub“ bereits in der Vergangenheit gezielt
Neuhundebesitzer angesprochen, hauptsächlich aus dem stationären Kanal heraus. Über
den Online-Kanal und zusätzlich entstehende Kundeninformationen am Point-of-Sale kön-
nen und wollen wir in der Zukunft noch besser die Bedürfnisse unserer Kunden ansprechen.
Traditionelle Marketinginstrumente wie Handzettel und Fernsehwerbung haben bei einer
Struktur mit weniger als 50 % der Haushalte, in denen Tiere gehalten werden, eine zu gro-
ße Streuwirkung. Über eine gezielte Selektion und Kundenansprache wollen wir es in
Zukunft schaffen, die Bedürfnisse unserer Kunden noch stärker zu identifizieren und ent-
sprechend zu bedienen. Die Kooperation mit PAYBACK ist hierfür ein wichtiger Meilen-
stein. 42 % der PAYBACK Kunden sind Tierbesitzer über gezielte Bonuspunkte-Aktionen
bietet Fressnapf zukünftig gezielte Kaufanreize und steigert so Loyalität.
Unser Fokus für die nächste Zeit liegt in der Bereitstellung von Cross-Channel-Services
für unsere Kunden. Der Digitale-POS verbindet schon heute online und offline. Denn be-
reits jetzt können aus den Fressnapf-Märkten heraus Artikel aus dem Online-Shop bestellt
werden, entweder zum Versand nach Hause oder auch zur Abholung im Markt. Wir planen
weiterhin Bestandsinformationen aus unseren Märkten im Online-Shop inklusive Reser-
vierungsfunktion verfügbar zu machen genauso wie die Online-Retoure auch im Markt
zurückgeben zu können.
Die Digitalisierungsperspektive bei Fressnapf 259
Autor
Torsten Toeller (50) wurde in Köln geboren und absolvierte in Rekordzeit Abitur, Ausbil-
dung zum Einzelhandelskaufmann und Studium der Betriebswirtschaftslehre. 1990 grün-
dete er das Unternehmen Fressnapf, Europas größter Fachmarkt für Tiernahrung und -zu-
behör. Heute ist Fressnapf | MAXI ZOO mit über 1.400 Fachmärkten in zwölf Ländern
vertreten und erwirtschaftete 2014 rund 1,67 Milliarden Euro. Neben seinen beruflichen
Tätigkeiten bei Fressnapf engagiert er sich als Mitglied in diversen Aufsichtsräten/Beirä-
ten. Für seine unternehmerischen Leistungen wurde er unter anderem mit dem „Entrepre-
neur des Jahres“, dem „Franchisegeber des Jahres“ und dem „Goldenen Zuckerhut“ ausge-
zeichnet. 2008 erhielt Toeller mit Fressnapf die Auszeichnung „Pet Retailer of the Year“
und 2010 den „Global PETS Award“ sowie den „Deutschen Handelspreis“. 2015 wurde
Fressnapf zum dritten Mal mit den F&C Franchise Award in Gold ausgezeichnet.
Handel 4.0 – Die Digitalisierung des Handels
Dieses Buch führt in die digitale (R)evolution der Wirtschaft am Beispiel des Dienst-
leistungssektors Handel ein und stellt Strategien sowie neue Technologien für eine
erfolgreiche Gestaltung der digitalen Transformation vor. Unter dem Stichwort „Handel
4.0“ diskutieren Autoren aus Wissenschaft und Praxis, wie eine traditionelle Branche
durch die Digitalisierung neben neuen Konkurrenten vor allem neue Chancen erhält,
mit innovativen Dienstleistungen ihre Kunden neu zu begeistern. Dabei spielen die
Auswirkungen auf Geschäftsmodelle, Wertschöpfungsketten, Prozesse und Technologien
eine genauso große Rolle wie die eigene Transformation der Unternehmen und ihrer
Mitarbeiter. Das rasante Wachstum des Online-Handels zwingt Unternehmen, tradi-
tionelle Geschäftsmodelle zu überdenken. Multi- oder Omni-Channel sind Themen,
mit denen sich auch rein stationäre Handelsunternehmen beschäftigen müssen, um
am Markt bestehen zu können. Eine intelligente Kombination stationärer Elemente mit
Online-Inhalten ist ein Schlüssel, um im digitalen Konkurrenzkampf wettbewerbsfähig
zu bleiben. Aufgezeigt werden mögliche Wege hin zu einer erfolgreichen Transformation
und gelungene Beispiele namhafter nationaler und internationaler Handelsunternehmen.
Die Kombination aus aktuellen Forschungsergebnissen und Best Practices machen diese
Einführung in das Thema Handel 4.0 zu einer lohnenswerten Lektüre für Praktiker
und Forscher.
Der Inhalt
• Digitalisierung als Denkhaltung
• Analysen, Herausforderungen und Auswirkungen der Digitalisierung
der Wirtschaft
• Marktentwicklung, Kundenverhalten und -erwartungen im
Dienstleistungssektor
• Strategien für digitalisierte Geschäftsmodelle und Unternehmensentwicklung
• Technologien für die Digitalisierung im Handel
• Internationale Trends der digitalen Transformation im Handel
• Transformation des Handels zu digitalisierten Unternehmen
Die Herausgeber
Rainer Gläß ist Gründer und CEO der GK Software AG.
Bernd Leukert ist Mitglied des Vorstands der SAP SE mit globaler Verantwortung für
die Entwicklung und Auslieferung aller Produkte des SAP-Portfolios.
ISBN 978-3-662-53331-4
9 783662 533314