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Prof. Dr.-Ing.

Rudolf Baumgart Hochschule Darmstadt


Massivbau University of Applied Sciences

Räumliche Aussteifung im Stahlbetonbau

1. Einleitung
Die Aussteifung von Gebäuden ist grundsätzlich gesehen wichtiger als die Bemessung der
einzelnen Bauteile, da bei Versagen der Aussteifung die Gesamtstandsicherheit des
Gebäudes betroffen ist. Folgende Begriffe werden unterschieden:

Stabilisierende Bauteile wie z.B. Decken oder Rahmenriegel:


Die stabilisierenden Bauteile leiten u.A. die angreifenden horizontalen Lasten (z.B. Wind)
weiter in die aussteifenden Bauteile.

Aussteifende Bauteile (z.B. Stütze, Wand, Kern):


Die aussteifenden Bauteile dienen der Weiterleitung von vertikalen und horizontalen Lasten
in den Baugrund. Außerdem stützen sie mit Hilfe der stabilisierenden Bauteile sonstige
Bauteile ab, die nicht zur Aussteifung benutzt werden, wie z.B. angehängte Stützen.

Bei der Dimensionierung der aussteifenden Bauteile sind immer Verformungen zu


berücksichtigen, die zu zusätzlichen Belastungen führen. Diese können resultieren aus:
a) Bauungenauigkeiten bei der Herstellung wie z.B. abweichende Systemlängen,
Schiefstellung von Stützen, usw.
b) Belastungen: Die Ermittlung der Schnittgrößen infolge Verformungen wird als
Theorie II. Ordnung bezeichnet. Sie ist in der Regel nur bei hohen Druckkräften in
den vertikalen Bauteilen (Stützen, Wände, Kerne) zu berücksichtigen. Die
Bedingungen sind im EC 2 festgelegt.

Die einzelnen aussteifenden Bauteile sind für die inneren Kräfte und Momente zu bemessen,
die sich aus der Schnittgrößenermittlung am Gesamttragwerk ergeben, wobei die
Auswirkungen von Einwirkungen (Lasten) und Imperfektionen (z.B. Schiefstellung) am
Tragwerk als Ganzes mit einzubeziehen sind.

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2. Horizontale Lasten
2.1 Windlasten

Der Ansatz der Windlasten erfolgt nach EC 2 Teil 4. Um die i.A. ungleichmäßige Wirkung
des Windes zu berücksichtigen, muss die Windresultierende um 10 % der Gebäudebreite,
auf die der Wind wirkt, ungünstigst für die betrachtete Dimensionierungsaufgabe nach links
(oben) oder rechts (unten) versetzt werden.

Bild: Windwirkung Windlastverteilung

Die Windlast trifft auf eine Gebäudefront und wird dort je nach Fassadenausbildung mehr
oder weniger direkt über die Fassade in die Deckenscheiben abgetragen. Die Genauigkeit ist
ausreichend, wenn für jedes Geschoss mit einem Einfeldträger zwischen den
Deckenscheiben gerechnet wird (siehe Bild).

DIN EN 1991-1-4/NA, Tabelle NA.B.3: Vereinfachte Böengeschwindigkeitsdrücke für


Bauwerke bis 25 m Höhe

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2.2 Schiefstellung

Für den Grenzzustand der Tragfähigkeit sind ungünstige Auswirkungen möglicher


Imperfektionen (hier: Schiefstellung) des unbelasteten Tragwerks zu berücksichtigen.

2.2.1 Auswirkungen auf die aussteifenden Bauteile

Die Auswirkungen der Imperfektionen dürfen über die Schiefstellung des Tragwerks gegen
die Sollachse um den Winkel Θi = Θ0 ⋅ α h ⋅ α m im Bogenmaß berücksichtigt werden.

Θ0 = 1 Grundwert der Schiefstellung


200
2
0 ≤ αh = ≤1 Abminderungsbeiwert für die Höhe h
lcol
α m = 0,5 ⋅ (1 + 1 m ) Abminderungsbeiwert für die Anzahl der lastabtragenden Bauteile

Hierbei ist m die Anzahl der lotrechten, lastabtragenden, in einem Geschoss


nebeneinanderliegenden Bauteile. Als lastabtragend gelten die Bauteile dann, wenn sie
mind. 70 % der mittleren Längskraft N Ed ,m = FEd / m aufnehmen, worin FEd die Summe aller
Bemessungswerte der einwirkenden Längskräfte in dem betrachteten Geschoß bezeichnet.

Alternativ darf die Schiefstellung durch äquivalente Horizontalkräfte ersetzt werden.

Bild: Äquivalente Horizontalkraft aus Schiefstellung

Hi
Die äquivalente Horizontalkraft Hi am Knoten i ergibt sich aus: = tan Θi
G
Für kleine Winkel gilt: tan Θi ≈ Θi Daraus folgt: H i = G ⋅ Θi

Somit kann für jedes Geschoss eine äquivalente Horizontalkraft Hi berechnet werden, die
durch den Schwerpunkt der vertikalen Geschosslast gehen muss.

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2.2.2 Auswirkungen auf die stabilisierenden Bauteile

Bauteile, die Stabilisierungskräfte auf die aussteifenden Bauteile übertragen, sind für die
Aufnahme einer zusätzlichen Horizontalkraft bei ungünstigster Annahme der Schiefstellung
zu bemessen:

Bild 5.1 EC2: Aussteifungssystem Geschossdecke Dachdecke

0,008 0,008
Geschossdecken: Θi = Dachdecken: Θi =
2m m

NA: Der Winkel bei Geschossdecken darf nicht halbiert werden!

m ist hierbei die Anzahl der auszusteifenden Tragwerksteile im Geschoss. Die anzusetzende
Horizontalkraft resultierend durch ein Aussteifungselement (z.B. eine Stütze) ergibt sich
somit zu H fd = ( N a + N b ) ⋅ Θi

Na und Nb sind die Bemessungswerte der Normalkräfte in den anschließenden


Stützen/Wänden. Hfd braucht für die Bemessung der aussteifenden Bauteile nicht angesetzt
zu werden, da sich alle H-Kräfte in der Summe in etwa neutralisieren.

Für die Bemessung des Stabilisierungsbauteils ist Hfd als eigenständige Einwirkung zu
betrachten, d.h. Hfd darf nicht durch Kombinationsbeiwerte abgemindert werden, da diese
bereits in den Normalkräften berücksichtigt sind.

Bild: Stabilisierungskraft

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2.3 Zwang

Zwang kann infolge von vielen verschiedenen Umständen entstehen und ist bei der
Bemessung zu berücksichtigen. Das folgenden Bild zeigt ein typisches Beispiel für Zwang:
Zwei Kerne werden wegen Kopplung durch Decken infolge abfließender Hydratationswärme
und Schwinden zusätzlich beansprucht.

Bild: Belastung infolge Zwang

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2.4 Erdbebenlasten

Die Berechnung der Tragwerke infolge Erdbeben ist im Eurocode 8 geregelt. Im


Allgemeinen wird hierfür eine dynamische Berechnung mit Hilfe von FEM-Programmen
gemacht, indem die Massen der Decken als Punktmassen zusammengefasst werden.

Für einfache Fälle kann alternativ eine statische Berechnung mit statischen Ersatzlasten
gemacht werden. Der Ansatz der statischen Ersatzlasten je Geschoss ist der o.g. Norm zu
entnehmen.

Bild: Punktmassen bzw. statische Ersatzlasten für Erdbebenberechnungen

2.5 Sonstige Lasten

Weitere horizontale Lasten sind z.B. Erd- und Wasserdruck, dynamische Lasten infolge von
Maschinenschwingungen, usw.

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3. Aussteifungselemente
3.1 Auswahl

Das unten stehende Bild zeigt einen Vergleich der Steifigkeiten von einem Kern (schubfeste
Verbindung der Wände), von einzelnen Wänden gleich groß wie der Kern, und von einer
einzelnen Wand um ihre schwache Achse.

Bild: Vergleich von Steifigkeiten

Kern: I y = 3,10 ⋅ 3,10³ / 12 − 2,50 ⋅ 2,50³ / 12 = 4,44m 4


Einzelwände: I y = 2 ⋅ 0,30 ⋅ 3,10³ / 12 + 2 ⋅ 3,10 ⋅ 0,30³ / 12 = 1,5035m 4
Wand in Querrichtung: I y = 3,10 ⋅ 0,30³ / 12 = 0,006975m 4

Man kann eindeutig erkennen, dass Profile (hier der Kern) wesentlich höhere Steifigkeiten
bringen als einzelne Wände. Weiterhin ist offensichtlich, dass eine Wand um ihre schwache
Achse eine Steifigkeit hat, die im Vergleich zur starken Achse vernachlässigbar klein ist.
Deswegen werden Wände für die Aussteifung rechnerisch nur in Richtung ihrer
starken Achse angesetzt.

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3.2 Elemente
Das folgende Bild zeigt einige grundsätzliche Möglichkeiten, wie eine Aussteifung konstruiert
werden kann. Welche davon letztendlich gewählt wird, hängt von vielen Faktoren ab wie z.B.
der Gebäudeart, den architektonischen Anforderungen, der Nutzungsart, usw.

Bild: Grundsätzliche Aussteifungsmöglichkeiten

Die Wandscheibe ist das am häufigsten genutzte Element zur Aussteifung aufgrund ihrer
relativ großen Steifigkeit in Wandrichtung, Wandprofile sind noch besser (s.o.). Rahmen
werden v.a. dann genutzt, wenn möglichst große und flexible Raumgestaltung gefordert wird;
nachteilig wirkt sich die geringe Steifigkeit aus. Fachwerke sind wirtschaftlicher als Rahmen,
bringen aber wieder Einschränkungen bei der Raumnutzung z.B. durch störende
Diagonalen. Sog. gegliederte Wandscheiben sind ein Kompromiss zwischen großer
Steifigkeit und Gestaltung, hierfür müssen Ersatzsteifigkeiten berechnet werden.

Bild: Beispiele von Aussteifungssystemen

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4. Berechnung der stabilisierenden Bauteile


Im Stahlbetonbau sind die stabilisierenden Bauteile bei Gebäuden fast immer
Stahlbetondecken, weswegen hier nur darauf eingegangen wird. Andere stabilisierende
Bauteile sind fast immer stabförmig, d.h. sie werden wie Stützen behandelt.

Decken sind normalerweise Plattentragwerke, wenn sie Stabilisierungskräfte übertragen


wirken sie wie Scheiben. Da die Deckengrundrisse fast immer unregelmäßig sind und
Öffnungen enthalten, ist es heute sinnvoll, eine Scheibenberechnung mit Hilfe eines FEM-
Programms zu machen. Dadurch erhält man alle zugbelasteten Stellen sehr genau und kann
dort entsprechend Bewehrung vorsehen, die zusätzlich zur Plattenbewehrung einzulegen
ist.

Alternativ zur FEM-Berechnung bieten sich auch Fachwerkmodelle an, mit deren Hilfe man
bei sinnvoller Systemwahl ebenfalls die erforderliche Zugbewehrung ermitteln kann.

Bild: Einfaches Beispiel für ein Fachwerkmodell

In sehr einfachen Fällen (bei entsprechenden Abmessungen) reicht unter Umständen schon
eine Berechnung als Einfeld- bzw. Durchlaufträger aus.

Bild: Berechnung als Einfeldträger

Ein Stabilitätsversagen der Decken ist nicht zu erwarten, da die Decken an vielen Stellen
durch Wände und Stützen gegen ausknicken gesichert sind und die Belastungen sehr gering
sind.

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5. Berechnung der aussteifenden Bauteile


5.1 Feststellen der Berechnungsmethode

Zu Beginn muss festgestellt werden, ob die Berechnung nach Theorie I. oder II. Ordnung zu
führen ist. Allgemein ist eine Berechnung nach Theorie II. Ordnung erforderlich, wenn durch
den Einfluss der Verformungen die Tragfähigkeit um mehr als 10% reduziert wird.

Da dies nur mit sehr hohem Rechenaufwand festgestellt werden kann, sind im EC 2 einfache
Kriterien festgelegt, durch die eine Quasi-Unverschieblichkeit bescheinigt werden kann:

Durch Wandscheiben oder Kerne ausgesteifte Tragwerke gelten als unverschieblich,


wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

a) bei annähernd symmetrischer Anordnung der aussteifenden Bauteile:

FV ,Ed ⋅ L2 ns
≤ 0,31 ⋅ (5.1.1)
Ecd ⋅ I c ns + 1,6

b) zusätzlich bei nicht annähernd symmetrischer Anordnung der aussteifenden Bauteile:

1 ns
≤ 0,31 ⋅ (5.1.2)
1 Ecd ⋅ I ω 1 Gcd ⋅ I t 
2
ns + 1,6
 ⋅ + ⋅ 
 L ∑ (FV ,Ed , j ⋅ rj ² ) 2,28 ∑ (FV ,Ed , j ⋅ rj ² ) 
Ecd = Ecm 1,2 Bemessungswert des Elastizitätsmoduls von Beton
Gcd = Ecd [2 ⋅ (1 + µ )] Bemessungswert des Schubmoduls von Beton, μ = 0,2.
ns Anzahl der Geschosse
L Gesamthöhe des Tragwerks ab der Einspannung (z.B. im Fundament oder in
einem steifen Kellerkasten)
rj Abstand der Stütze j vom Schubmittelpunkt des Gesamtsystems
FV , Ed Summe aller charakteristischen Vertikallasten
FV , Ed , j Charakteristische Vertikallast des Bauteils j (aussteifend und auszusteifend)
Ecd ⋅ I c Summe der Biegesteifigkeiten aller vertikalen aussteifenden Bauteile in der
betrachteten Richtung im Zustand I.
Ecd ⋅ I ω Summe der Wölbsteifigkeiten aller gegen Verdrehung aussteifenden Bauteile
( )
Ecd ⋅ I ω = ∑ Ecd ,i I y ,i ⋅ y M ,i + I x ,i ⋅ xM ,i − 2 ⋅ I xy ,i ⋅ xM ,i ⋅ y M ,i + ∑ Ecd ,i ⋅ I ω ,i
2 2

Gcd ⋅ I t Summe der Torsionssteifigkeiten aller gegen Verdrehung aussteifenden


Bauteile (St. Venant´sche Torsionssteifigkeit)

Wenn die aussteifenden Bauteile im Grenzzustand der Tragfähigkeit ungerissen sind,


dann darf der Faktor 0,31 auf 0,62 verdoppelt werden. Die aussteifenden Bauteile dürfen als
nicht gerissen angenommen werden, wenn die Betonzugspannungen den Wert fctm nicht
überschreiten.

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Eine annähernd symmetrische Anordnung (Gleichung (5.1.1)) darf nur unter Einhaltung aller
folgenden Bedingungen angenommen werden:

• Ein ausreichender Torsionswiderstand ist vorhanden, d. h., das Tragwerk ist


annähernd symmetrisch.
• Die Schubkraftverformungen am Gesamttragwerk sind vernachlässigbar (wie in
Aussteifungssystemen überwiegend aus Wandscheiben ohne große Öffnungen),
• Die Aussteifungsbauteile sind starr gegründet, d. h., Verdrehungen sind
vernachlässigbar.
• Die Steifigkeit der Aussteifungsbauteile ist entlang der Höhe annähernd konstant.
• Die gesamte vertikale Last nimmt pro Stockwerk annähernd gleichmäßig zu.

Das folgende Bild zeigt mögliche, gute, schlechte und falsche Aussteifungen:

Bild: Anordnung von Aussteifungselementen im Grundriss

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5.2 Statisch bestimmte Aussteifung

Grundsätzlich verteilen die Decken eines Gebäudes alle Horizontallasten auf alle im
Gebäude vorhandenen aussteifenden Bauteile. Wie oben gesehen zählen z.B. Stützen oder
Wände in Querrichtung wegen zu geringer Steifigkeit nicht mit.

Das folgende Bild zeigt eine typische statisch bestimmte Aussteifungskonfiguration mit 3
Wänden: Wie man sieht handelt es sich um ein ebenes Gleichgewichtsproblem, so dass klar
ist, dass eine statisch bestimmte Aussteifung mind. 3 Wandscheiben vorhalten muss. Eine
Berechnung der Kräfte auf die einzelnen Wände kann mit den 3 Gleichgewichtsbedingungen
(Summe H/V/M = 0) erfolgen.

Bild: Statisch bestimmte Aussteifung

Im nächsten Bild kann man erkennen, dass es hierfür Ausnahmen gibt: Wenn 3
Wandscheiben parallel sind, dann ist die Steifigkeit quer zu den Wänden fast = 0, d.h. das
System ist instabil gegen horizontales Verschieben. Wenn sich die Wirkungslinien der 3
Wandscheiben in einem Punkt schneiden, dann ist das System instabil gegen verdrehen um
diesen Punkt.

Bild: Ausnahmen bei 3 Wandscheiben

Abschließend soll noch bemerkt werden, dass eine Aussteifung auch mit mehr als 3 Wänden
statisch bestimmt sein kann: Wenn z.B. 2 Wände hintereinander stehen, dann können diese
wie eine Wand betrachtet werden (nur eine Kraftwirkungslinie), die berechnete Kraft wird
dann entsprechend der Steifigkeiten auf die einzelnen Wände verteilt (siehe unten).

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5.3 Statisch unbestimmte Aussteifung

Zur Vereinfachung wird zunächst nur eine Aussteifung mit Wänden in einer Richtung
betrachtet, bei der die resultierende Belastung H durch einen Punkt M, den
Schubmittelpunkt geht. In diesem Fall erfährt die Deckenscheibe nur eine Verschiebung in
Lastrichtung, keine Verdrehung.

Bild: Statisch unbestimmte Aussteifung in einer Richtung

Pi ⋅ h ³
Die Kopfverschiebung der Scheibe i (Kragarm) ist fi = (1)
3 ⋅ EI i
Gleichgewicht an der Decke H = ∑ Pi (2)

Da die Decke keine Verdrehung erfährt, muss die Kopfverschiebung aller Wände gleich groß

sein: f = fi
Pi ⋅ l ³ P ⋅ l³
= k
P P
⇒ k = i =
∑P i
(3)
3 ⋅ EI i 3 ⋅ EI k EI k EI i ∑ EI i
Gleichung (3) nach Pi aufgelöst und in Gleichung (2) eingesetzt ergibt die Belastung der
EI i
Wandscheibe i: Pi = H ⋅
∑ EI i
Das bedeutet, dass sich die Last H im Verhältnis der Biegesteifigkeiten der Wände auf
diese verteilt.

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Da definitionsgemäß keine Verdrehung stattfindet, wenn die Resultierende durch den


Schubmittelpunkt M geht, kann dieser sehr einfach mittels Gleichgewicht berechnet
werden. Dies wird für eine Richtung am folgenden Bild erläutert.

Bild: Berechnung des Schubmittelpunktes

Gleichgewicht: ∑ M = 0 :⇒ H ⋅ x = ∑ a y m i ⋅ Pi
∑ Y = 0 :⇒ H = ∑ P y i

Daraus folgt: xm =
∑ a ⋅ P = ∑ a ⋅ EI
i i i i

∑P i ∑ EI i

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Wenn die resultierende Horizontallast H nicht durch den Schubmittelpunkt M geht


(Normalfall), dann erfährt die Deckenscheibe zusätzlich eine Verdrehung. H kann dann
in den Schubmittelpunkt verschoben werden, indem man als Ersatz ein Moment M=H*e
ansetzt. Dadurch lässt sich die Berechnung der Wandbelastungen in 2 Anteile aufteilen: Den
Verschiebungsanteil infolge H durch den Schubmittelpunkt und den Verdrehungsanteil
infolge M um den Schubmittelpunkt.

Bild: Verdrehungsanteile infolge Versatzmoment

Mit der Annahme einer starren Deckenscheibe folgt, dass die Verdrehung für alle
fi f e
Wandscheiben konstant ist: = k ⇒ fi = fk ⋅ i (4)
ei e k ek
Zunächst wird das Versatzmoment M nur den Wandscheiben in y-Richtung zugewiesen.
Gleichgewicht: ∑
M = 0 :⇒ M = Pk ⋅ ek ∑ (5)

Die Kopfverschiebung eines Kragarms (1) eingesetzt in Gleichung (4) ergibt:


Pi ⋅ l ³ P ⋅ l ³ ei EI ⋅ e
= k ⋅ ⇒ Pk = Pi ⋅ k k (6)
3 ⋅ EI i 3 ⋅ EI k ek EI i ⋅ ei

Gleichung (6) eingesetzt in Gleichung (5) ergibt:


Pi M ⋅ EI i ⋅ ei
M = ⋅ ∑ EI k ⋅ ek ² ⇒ Pi = (7)
EI i ⋅ ei ∑ EI k ⋅ ek ²
Bis jetzt wurden nur die Wandscheiben in einer Richtung betrachtet. Bei mehr als einer
Wandscheibe in der anderen Richtung tragen diese ebenfalls zur Aufnahme des Momentes
bei, sodass Gleichung (7) erweitert und je Richtung indiziert werden muss:
M ⋅ EI xi ⋅ e xi
Pyi = (8)
∑ EI xk ⋅ e xk ² + ∑ EI yk ⋅ e yk ²

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Unter zusätzlicher Berücksichtigung der Verschiebungsanteile ergibt sich dann die folgende
endgültige Kraftverteilung auf die Wandscheiben für eine Last in y-Richtung:

EI xi EI xi ⋅ e xi
Pyi = H y ⋅ +M ⋅
∑ EI xk ∑ EI xk ⋅ e xk ² + ∑ EI yk ⋅ e yk ²
EI yi ⋅ e yi
Pxi = M ⋅
∑ EI xk ⋅ e xk ² + ∑ EI yk ⋅ e yk ²

Bei einer Belastung Hx in x-Richtung sind die Indices x und y zu vertauschen.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Herleitung ohne Berücksichtigung der
Trägheitsmomente Ixy, IT und der Wölbsteifigkeit Iω der Einzelelemente gemacht wurde,
um die Übersichtlichkeit zu wahren. Eine genauere Darstellung der Herleitung mit
Berücksichtigung aller Querschnittswerte kann dem Aufsatz [1] von Beck/Schäfer
entnommen werden.

Wie man unschwer erkennen kann, bietet es sich an, die lastunabhängigen nur vom
Querschnitt abhängigen Anteile in den obigen Gleichungen separat auszuwerten. Weiterhin
ist es sinnvoll, die Wandlasten für eine „Normlast“ von 100 kN zu ermitteln, so dass die
Ergebnisse im Prinzip die prozentuale Verteilung der Wind- oder Schiefstellungslasten
darstellen.

Somit ergeben sich die folgenden lastunabhängigen Anteile je Richtung:

EI yi EI xi
Verschiebungsanteile: wxi = wyi =
∑ EI yk ∑ EI xk
EI yi ⋅ e yi EI xi ⋅ exi
Verdrehungsanteile: d xi = d yi =
∑ EI xk ⋅ exk ² + ∑ EI yk ⋅ e yk ² ∑ EI xk ⋅ exk ² + ∑ EI yk ⋅ e yk ²
Die Wandlasten ergeben sich dann

für eine Last in x-Richtung: Pxi = H x ⋅ wxi + M ⋅ d xi Pyi = M ⋅ d yi

für eine Last in y-Richtung: Pyi = H y ⋅ wyi + M ⋅ d yi Pxi = M ⋅ d xi

Außerdem muss festgestellt werden, dass Torsions- und Wölbsteifigkeit praktisch nur zum
Tragen kommen, wenn nur ein einzelnes Bauteil wie z.B. ein Kern die gesamte Aussteifung
ausmacht. Bei Aussteifungselementen innerhalb einer Gruppe von verstreut angeordneten
Elementen können Torsions- und Wölbsteifigkeit kaum wirksam werden, da dem einzelnen
Element die Verdrehung des Gesamtsystems aufgezwungen wird, d.h. die Belastung aus
Verdrehung des Gesamtsystems wird im Wesentlichen über Biegung der Einzelelemente
abgetragen.

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5.4 Bemessung der Aussteifungselemente

Die Aussteifungselemente sind i.A. Wände oder Profile aus Wänden, die durch die
Deckenscheiben verbunden sind. Wenn kein Nachweis am Gesamtsystem nach Theorie II.
Ordnung erforderlich ist, dann besteht in Tragrichtung der Wände keine Gefahr von
Stablilitätsversagen. Das bedeutet, dass folgende Nachweise zu führen sind:
- Im Grenzzustand der Tragfähigkeit ist nachzuweisen, dass der Beton nicht auf Druck
versagt (u.U. mit Druckbewehrung verstärken).
- Im Grenzzustand der Tragfähigkeit ist nachzuweisen, dass der Stahl nicht auf Zug
versagt.
- Im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit ist nachzuweisen, dass die
Betonzugspannung die Größe fctm nicht überschreitet.

Ein Stabilitätsversagen kann aber trotzdem in Querrichtung der Wand in Form von Beulen
auftreten, d.h. die Wand knickt im Bereich hoher Druckkräfte aus. Um dies zu vermeiden,
kann näherungsweise eine Stützenbemessung in Wandquerrichtung im Bereich hoher
Druckkräfte gemacht werden (z.B. mit einer Stützenbreite von 1 m).

Das folgende Bild zeigt den typischen Belastungsfall einer aussteifenden Wand und die
zugehörigen Schnittgrößen und Spannungen am Wandfuß:

Die praktische Vorgehensweise für die jeweils ungünstigste Einwirkungskombination kann so


aussehen:
- Biegebemessung für N+M mit Interaktionsdiagramm für symmetrische Bewehrung
oder kd-Tafeln bei unsymmetrischer und nicht zu hoher Belastung. Alternativ kann bei
geringer Wandbelastung die Zugkraft Z mit Stahl abgedeckt ( As = Z f yd ) und die
Druckseite nachgewiesen (Betondruckspannung ≤ f cd ) werden.
- Schubbemessung für V
- Knicknachweis um die schwache Achse der Wand für die Last im Randbereich der
Druckspannungsfläche.

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6. Besonderheiten
6.1 „Steifer Kellerkasten“
Häufig ist das Kellergeschoss eines Gebäudes durch fast öffnungsfreie Umfassungswände
und/oder durch eine größere Anzahl von Längs-, Quer- und Treppenhauswänden
ausgesteift. In Verbindung mit der Kellerdecke entsteht so ein nur sehr gering verformbarer
"steifer Kasten". In diesen Fällen darf die Einspannhöhe L von der Oberkante der
Kellerdecke aus angenommen werden.

Bild: Einspannung einer Wandscheibe in ein steifes Kellergeschoß

Das dadurch entstehende statische System führt zu großen Querkräften in den


aussteifenden Wandscheiben und in der Kellerdecke. Die meist sehr große horizontale
Auflagerkraft CEd,B muss über die Kellerdecke in die aussteifenden Wände des
Kellergeschosses weiter geleitet werden.

6.2 Über die Wandhöhe veränderliche Steifigkeiten


Wenn die Steifigkeit einer Wandscheibe über die Höhe veränderlich oder z.B. durch
Öffnungen gestört ist, dann kann näherungsweise mit einer Ersatzsteifigkeit gearbeitet
werden. Diese ergibt sich aus der Bedingung, dass die Verschiebung der Ersatzscheibe mit
der wahren Verschiebung möglichst gut übereinstimmt. Als erste Näherung reicht die
Übereinstimmung der Kopfverschiebung aus. Wenn die Schubsteifigkeit mit einbezogen
werden soll (z.B. bei großen Öffnungen), dann kann ein weiterer Vergleichswert in einer
anderen Höhe (h2 im Bild) einbezogen werden.

Bild 6.2: a) Scheibe mit Öffnungen b) Scheibe mit veränderlichem Querschnitt

Wenn die Scheibengeometrie sehr ungleichmäßig ist, dann sollte mittels FEM-Berechnung
eine genauere Berechnung gemacht werden.

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7. Literatur
[1] DIN EN 1992-1-1 Eurocode 2, Allgemeine Bemessungsregeln und Regeln für den
Hochbau, Beuth Verlag GmbH, 10772 Berlin

[2] DIN EN 1992-1-1/NA Eurocode 2, Allgemeine Bemessungsregeln und Regeln für den
Hochbau, Beuth Verlag GmbH, 10772 Berlin

[3] Eurocode 2 für Deutschland, Kommentierte Fassung, Ernst&Sohn, Berlin

[4] Schneider Bautabellen für Ingenieure, neueste Auflage.

[5] Heft 600 DAfStb, Beuth-Verlag, Berlin

[6] Beck/Schäfer: Die Berechnung von Hochhäusern durch Zusammenfassung aller


aussteifender Bauteile zu einem Balken. Der Bauingenieur Heft 3 1969.

[7] König/Liphardt, Hochhäuser aus Stahlbeton.

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