Technische Mechnik
Technische Mechnik
Technische Mechnik
Helga Dankert
Technische
Mechanik
Statik, Festigkeitslehre, Kinematik/Kinetik
7. Auflage
Technische Mechanik
Jürgen Dankert ⋅ Helga Dankert
Technische Mechanik
Statik, Festigkeitslehre, Kinematik/Kinetik
Prof. Dr.-Ing. Helga Dankert, geb. 1939, von 1957 bis 1963 Studium des Maschinenbaus an der Technischen
Hochschule Magdeburg, 1967 Promotion zum Dr.-Ing. Von 1971 bis 1981 Dozentin für Technische Me-
chanik an der TH Magdeburg, 1981 bis 1986 verschiedene Tätigkeiten in der Industrie (Vakoma, Hewlett-
Packard). Ab 1986 Professorin für Technische Mechanik an der HAW Hamburg, seit 2002 im Ruhestand.
Prof. Dr.-Ing. habil. Jürgen Dankert, geb. 1941, von 1961 bis 1966 Studium des Maschinenbaus an der
Technischen Hochschule Magdeburg, 1971 Promotion zum Dr.-Ing., 1979 Habilitation. Von 1974 bis 1981
Leiter eines Entwicklungsteams eines FEM-Programmsystems, ab 1981 Industrietätigkeit (Takraf, Hewlett-
Packard). Ab 1987 Professor für Technische Mechanik an der FH Frankfurt a. M., seit 1990 Professor für
Informatik an der HAW Hamburg.
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V
Vorwort
Auf die Frage „Lehrbuch oder Internet?“ gibt es für die Technische Mechanik nur eine Antwort:
„Beides, möglichst oft im Wechselspiel.“ Nach 15-jähriger Erfahrung mit der Kombination Lehr-
buch/Internet hatten wir die 5. Auflage in vielen Passagen völlig neu geschrieben. Die 6. Auflage
berücksichtigte alle Erkenntnisse, die damit speziell hinsichtlich der Frage „Was gehört ins Buch,
was sollte man im Internet ansiedeln?“ zu gewinnen waren. Wir haben uns bemüht, den Umfang
des gedruckten Buchs bei allen Veränderungen nicht zu vergrößern, das Internetangebot ist aller-
dings deutlich umfangreicher geworden (die Anzahl der Internetseiten übersteigt die Anzahl der
Buchseiten erheblich). Die vorliegende 7. Auflage enthält wesentlich mehr Internet-Verweise als
die Vorgänger, insbesondere ist der Bereich TM-interaktiv erheblich erweitert worden.
Die Zielgruppe sind nach wie vor die Studenten aller Ingenieur-Studiengänge an Universitäten
und Fachhochschulen, die Kombination Lehrbuch/Internet gestattet jedoch auch, stets die meist
anspruchsvolleren Probleme der Praktiker mit im Blick zu haben. Und die Ausgangslage ist auch
ungeändert: In keinem anderen Fach muss dem Studenten so früh und so umfassend der gesamte
schwierige Weg der Lösung von Ingenieur-Aufgaben zugemutet werden wie in der Technischen
Mechanik. Er muss Probleme analysieren, das Wesentliche erkennen und ein reales Objekt in ein
physikalisches Modell überführen. Das sich daraus ergebende mathematische Problem muss ge-
löst werden, und die Deutung der Ergebnisse, die wieder den Zusammenhang zum realen Objekt
herstellt, schließt den Kreis.
Auf einem schwierigen Teilstück dieses Weges ist der Computer zu einem starken Helfer ge-
worden. Die Zeit, die früher dem mühsamen Einüben von Lösungsalgorithmen geopfert werden
musste, steht heute für die Problemanalyse und das Studium des Grundlagenwissens zur Verfü-
gung, das Trainieren der (so eleganten wie aufwendigen) grafischen Verfahren gehört der Vergan-
genheit an. Den Bitten zahlreicher Fachkollegen folgend, die Verfahren nicht einfach nur aufzu-
listen, haben wir deutlich mehr Wertungen der Lösungsverfahren aufgenommen, Empfehlungen
auch dann, wenn sie negativ ausfallen („. . . besonders geeignet“, „. . . nicht mehr zeitgemäß“,
„. . . spielt praktisch keine Rolle mehr“, „Koppeltafeln haben ausgedient.“ . . .).
Aber der Computer bleibt für den Ingenieur nur ein Werkzeug. Die eigentlichen Schwierigkeiten,
die im Erfassen der Zusammenhänge, dem Beherrschen von Methoden zur Analyse und Lösung
von Problemen liegen, kann er ihm nicht abnehmen. Er kann ihn aber von dem Ballast befrei-
en, dessen Bewältigung früher häufig so dominierend war, dass der Lernende nicht mehr zum
Kern des Problems vordringen konnte. Der Ingenieur in der Praxis mit den „nicht-akademischen
Problemen“ stand sogar oft vor unüberwindlichen Schwierigkeiten.
Auf keinen Fall darf man das Verstehen der Zusammenhänge durch das Erlernen des Umgangs
mit der Benutzeroberfläche eines Rechenprogramms ersetzen, im Gegenteil: Man sollte den Zeit-
gewinn, den der Computer verschafft, gerade für die intensive Auseinandersetzung mit den häu-
fig nicht ganz einfachen Problemen nutzen. Dieser Zeitgewinn ergibt sich genau dort, wo nach
der Analyse der mechanischen Probleme und der Formulierung des mathematischen Modells der
aufwendige, aber formale Teil der mathematischen Lösung abgearbeitet werden muss. Ein an-
genehmer Nebeneffekt ist, dass der Zwang zur Beschränkung auf die einfachen Probleme, die
VI
der Handrechnung zugänglich sind, entfällt. Der Student kann praxisnahe Probleme lösen, dem
Ingenieur in der Praxis wird damit unmittelbar geholfen.
Weil es aber häufig sogar noch viel einfacher geht, wird eine Frage von Studenten immer öfter
gestellt: „Warum muss ich das denn alles lernen, wenn es mit ein paar Mausklicks so bequem
zu erledigen ist?“ Diese Frage wird von uns an verschiedenen Stellen beantwortet, und wir ge-
hen sogar noch einen Schritt weiter und offerieren über die wesentlich erweiterte Internet-Site
www.TM-interaktiv.de die Möglichkeit, Standardaufgaben der Technischen Mechanik genau auf
diesem Weg zu erledigen, um auf ein in der Vergangenheit oft stark vernachlässigtes Problem
aufmerksam zu machen: Dem Thema „Verifizieren von Computerrechnungen“ widmen wir ein
eigenes Kapitel.
Wir versuchen, das Zusammenspiel „Lehrbuch und Internet“ auf eine neue Stufe zu heben. Das
Lehrbuch enthält alle Themen, die üblicherweise im Grundkurs Technische Mechanik behan-
delt werden und geht an vielen Stellen auch darüber hinaus. Überall dort, wo sich Vertiefungen,
Erweiterungen, Ergänzungen anbieten, bieten wir den „Abzweig ins Internet“ an. Der Leser fin-
det jetzt noch deutlich mehr von solchen Verzweigungspunkten im Text, auch hier gilt: Es wird
ständig erweitert und ergänzt. Den Studenten, die nach dem Grundkurs in Vertiefungsfächern
oder bei Problemen aus der Praxis merken, dass sie noch tiefer in bestimmte Themen eindringen
müssen, soll auf diesem Wege geholfen werden.
Technische Mechanik ist immer auch sehr viel Mathematik. Auch hier versuchen wir zu trennen:
Was zum unmittelbaren Verständnis beiträgt, findet sich im Buch, und auf der Internet-Site „Ma-
thematik für die Technische Mechanik“ werden die mathematischen Grundlagen, Ergänzungen
und Vertiefungen im Sinne der Ingenieur-Mathematik behandelt.
Die Mechanik ist die Lehre von der Bewegung, die leider nach wie vor auf dem Papier nur
sehr schwierig demonstriert werden kann. Deshalb finden sich zu fast allen Mechanismen, die
in diesem Buch beschrieben werden, die passenden Animationen im Internet. Damit wird die
Vorstellung der Bewegung erleichtert, die mathematisch zu formulierenden Bewegungsgesetze,
Diagramme und Differenzialbeziehungen vereinfachen sich dadurch allerdings nicht.
Weil es inzwischen durchaus sinnvoll ist, auch das Smartphone neben dem Lehrbuch liegen zu
haben, findet man von den 215 Internet-Verweisen nun 151 auch als QR-Codes (wir akzeptie-
ren die Abneigung, Adressen über die Tastatur einzugeben). Einen kompakten Überblick aller
Internetangebote findet man unter facebook.com/TechnischeMechanik (QR-Code auf Seite X).
Die im Vorwort übliche Danksagung kann auch für diese Auflage kurz ausfallen. Der Inhalt
entstammt unseren eigenen Vorlesungen, wir haben Text und Zeichnungen eigenhändig in den
Computer gebracht, jede Internetseite selbst erzeugt und jede Programmzeile der bereitgestellten
Programme selbst geschrieben. Bleibt eigentlich nur ein herzlicher Dank an die Studenten und
die Fachkollegen, die sich mit zahlreichen Hinweisen zu den früheren Auflagen geäußert haben,
und an Herrn Thomas Zipsner vom Verlag Springer Vieweg für sein Engagement, dass das Buch
in dieser Form erscheinen kann.
Helga und Jürgen Dankert
Jesteburg, Herbst 2012
E-Mail: [email protected]
VII
Dieser Service bezieht sich auf die Auflagen 5 bis 7. Für Leser älterer Auflagen Bewegungssimulationen, auf die im
wird auf den Link im Menü oben rechts verwiesen. Man kann die passenden Buch verwiesen wird, findet man über
Ergänzungen (inhaltliche Vertiefungen und Erweiterungen, ausführliche diesen Link:
Rechnungen, Scripts für die Mathematik-Programme, Animationen, . . .) auf zwei
Wegen finden:
• Über die Seitennummer in der 5. bis 7. Auflage kommt man direkt zu der
passenden Internet-Seite:
Animationen
• Über ein geeignetes Stichwort wird man zu der passenden Seite oder
eventuell zu einer weiteren Auswahl geführt: Über folgende Links findet man
Aufgabensammlungen ...
Für Studenten, die sich auf eine Klausur vorbereiten, gibt es eine Sammlung von 147 Aufgaben, die die Autoren des Lehrbuchs
ihren eigenen Studenten zugemutet haben, es sind also typische Klausuraufgaben für die ...
Dies ist ein Service zum Buch „Dankert/Dankert: Technische Mechanik“. Es sind Angebote, Grundaufgaben der
Technischen Mechanik direkt interaktiv zu lösen (Maus auf ein Bildchen legen, um genauere Informationen zu erhalten).
2000 N 4000 N
20
50
2 3
1
100 250 250 400 100
2 1
1
Biege- und dehnsteife ebene Rahmen Elastisch gebettete Biegeträger Symm. Matrizeneigenwertproblem
Wenn Sie die grau unterlegten Angebote nutzen wollen, muss auf
Ihrem Computer Java installiert sein („Java Runtime Environment“
JRE).
Natürliche Splines, Bézier-Splines Java kann kostenlos bezogen werden von http://www.java.com.
X
Die Mechanik ist das Paradies der mathematischen Wissenschaften, denn in ihr zeitigt man die Früchte der Mathematik.
Leonardo da Vinci
Dies ist ein Service zum Lehrbuch „Dankert/Dankert: Technische Mechanik“. Das Verständnis für die mathematischen
Verfahren, die in der Technischen Mechanik verwendet werden, ist für die erfolgreiche Anwendung wichtig und hilfreich.
In einem Lehrbuch der Technischen Mechanik kann auf diese Themen nur in begrenztem Umfang eingegangen werden,
weil sonst leicht das Verständnis für die Probleme der Mechanik, die im Allgemeinen für sich schwierig genug sind,
verlorengehen kann. Deshalb wird in dem Buch „Technische Mechanik“ an zahlreichen Stellen auf dieses Internet-Angebot
verwiesen.
• Grundregeln der Matrizenrechnung Die hier aufgeführten Themen aus der Mathematik werden
im Sinne der Ingenieurmathematik behandelt. Im
• Lineare Gleichungssysteme, Matrixinversion Vordergrund stehen Aussagen, Anwendungsempfehlungen,
• Matrizeneigenwertprobleme Beispiele.
• Analyse von Funktionen Herleitungen der Aussagen und Beweise wurden nur dann
• Numerische Integration aufgenommen, wenn aus ihnen Vorteile für das Verständnis
der Aussagen und Anwendungsempfehlungen gezogen
• Gewöhnliche Differenzialgleichungen werden können.
• Differenzenverfahren
Der Zugang ist auch über die Auswahl eines Stichworts aus
• Numerische Integration von Anfangswertproblemen
dem folgenden Angebot möglich:
• „Bugs and Traps“ in Matlab
• Spaß an der Mathematik
http://www.facebook.com/TechnischeMechanik
bietet einen umfassenden Überblick über alle ergänzenden Inter-
netangebote, die zum Lehrbuch „Technische Mechanik"“ exis-
tieren:
Inhaltsverzeichnis
4 Schwerpunkte 29
4.1 Schwerpunkte von Körpern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
4.2 Flächenschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
4.3 Linienschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
4.4 Experimentelle Schwerpunktermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
4.5 Flächenschwerpunkte, Computer-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
4.5.1 Eine durch einen Polygonzug begrenzte ebene Fläche . . . . . . . . . . . 38
4.5.2 Durch zwei Funktionen begrenzte Fläche . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
4.6 Volumen-, Flächen- und Linienlasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
4.7 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
7 Schnittgrößen 93
7.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
7.2 Differenzielle Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
7.3 Ergänzende Aussagen zu den Schnittgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
7.4 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
9 Haftung 133
9.1 Coulombsches Haftungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
9.2 Seilhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
9.3 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
13 Festigkeitsnachweis 173
13.1 Belastungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
13.2 Dauerfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
13.3 Gestaltfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
13.4 Zeitfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
13.4.1 Spannungskollektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
13.4.2 Palmgren-Miner, Gaßner-Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
16 Biegung 215
16.1 Biegemoment und Biegespannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
16.2 Flächenträgheitsmomente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
16.2.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
16.2.2 Einige wichtige Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
16.2.3 Der Satz von Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
16.2.4 Zusammengesetzte Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
16.2.5 Hauptträgheitsmomente, Hauptzentralachsen . . . . . . . . . . . . . . . 227
16.2.6 Formalisierung der Berechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
16.2.7 Durch Polygonzüge begrenzte Flächen, beliebig berandete Flächen . . . 235
16.3 Gültigkeit der Biegespannungsformel, Widerstandsmomente, Beispiele . . . . . . 238
16.4 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
20 Querkraftschub 343
20.1 Ermittlung der Schubspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
20.2 Dünnwandige offene Profile, Schubmittelpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
20.3 Schubspannungen in Verbindungsmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
20.4 Verformungen durch Querkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
20.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
21 Torsion 361
21.1 Torsion von Kreis- und Kreisringquerschnitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
21.2 St.-Venantsche Torsion beliebiger Querschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
21.3 St.-Venantsche Torsion dünnwandiger Querschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . 369
21.3.1 Dünnwandige geschlossene Querschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Inhaltsverzeichnis XV
23 Knickung 405
23.1 Stabilitätsprobleme der Elastostatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
23.2 Stab-Knickung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
23.3 Differenzialgleichung 4. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
23.4 Numerische Lösung von Knickproblemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
23.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
24 Formänderungsenergie 421
24.1 Arbeitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
24.2 Formänderungsenergie für Grundbeanspruchungen . . . . . . . . . . . . . . . . 423
24.3 Satz von M AXWELL und B ETTI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
24.4 Verfahren auf der Basis der Formänderungsenergie . . . . . . . . . . . . . . . . 427
24.5 Statisch bestimmte Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
24.6 Statisch unbestimmte Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
24.7 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
31 Schwingungen 611
31.1 Harmonische Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
31.2 Freie ungedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
31.2.1 Schwingungen mit kleinen Ausschlägen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
31.2.2 Elastische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
31.2.3 Nichtlineare Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619
31.3 Freie gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620
31.4 Erzwungene Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
31.4.1 Schwingungen mit harmonischer Erregung der Masse . . . . . . . . . . 623
31.4.2 Erregung über Feder und Dämpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
31.4.3 Unwuchterregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
31.4.4 Biegekritische Drehzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
31.5 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631
Sachwortverzeichnis 747
Der Begriff Kraft wird aus der Erfahrung gewonnen: Die „Muskelkraft“, mit der man der Ge-
wichtskraft einer Masse entgegenwirkt, um sie am Herabfallen zu hindern - sie im Gleichgewicht
zu halten - gibt ein „Gefühl“ für diesen Begriff. Jede Größe, die mit einer Gewichtskraft ins
Gleichgewicht gesetzt werden kann, ist eine Kraft.
Nach dem N EWTONschen Gravitationsgesetz übt eine Masse auf eine andere Masse eine Anzie-
hungskraft aus. Dies bewirkt, dass eine auf einer Unterlage ruhende Masse m auf diese infolge
der Anziehungskraft der Erdmasse eine Kraft (Gewichtskraft) ausübt. Die Unterlage reagiert auf
die Gewichtskraft mit einer gleich großen Gegenkraft und stellt auf diese Weise einen Gleich-
gewichtszustand her. Wenn keine solche Gegenkraft wirkt, bewegt sich die Masse m infolge
ihrer Gewichtskraft FG mit einer Beschleunigung, die in der Nähe der Erdoberfläche den Wert
g ≈ 9,81 m/s2 (Erdbeschleunigung) hat. Nach dem 2. N EWTONschen Axiom gilt:
FG = mg
1 N = 1 kgm/s2 .
ê Einer Masse m = 1 kg ist also eine Gewichtskraft F = 9,81 kgm/s2 = 9,81 N zuzuordnen.
Wenn bei einem Statikproblem die Masse m gegeben und die Gewichtskraft FG zu berück-
sichtigen ist, so gilt (auf der Erdoberfläche): FG = mg.
ê Die Gewichtskraft ist ein Spezialfall der Gravitationskraft. Nach dem N EWTONschen Gra-
vitationsgesetz gilt für die Anziehungskraft zweier Massen m1 und m2 , deren Mittelpunkte
sich im Abstand r voneinander befinden:
m1 m2
FG = G (1.1)
r2
1kg
9,81N
Abbildung 1.1: Gewichtskraft der Masse m
Beispiel:
Für eine Masse m1 auf der Erdoberfläche (der Abstand zum Erdmittelpunkt beträgt
R= 6373 km, die Erdmasse ist m2 = 5, 97 · 1024 kg) errechnet man
Die Wirkung der stets zum Erdmittelpunkt gerichteten Gewichtskraft kann durch eine Umlenk-
rolle beeinflusst werden, so dass sie an einem anderen Körper in beliebiger Richtung angreift:
Richtungssinn
Betrag
Angriffspunkt
Wirkungslinie
Abbildung 1.2: Eine Kraft wird durch vier Attribute beschrieben (eine Bemerkung zu
diesem Bild findet man unter www.TM-aktuell.de)
Die Masse ist eine skalare Größe, die durch die Angabe eines skalaren Wertes (einschließ-
lich physikalischer Einheit) ausreichend bestimmt ist.
Die Kraft ist eine gerichtete Größe (ein Vektor), die erst ausreichend bestimmt ist durch
Angabe
• eines skalaren Wertes (einschließlich physikalischer Einheit),
• einer Richtung, gekennzeichnet durch die so genannte Wirkungslinie,
• eines Richtungssinns, gekennzeichnet durch die Pfeilspitze,
• eines Angriffspunktes.
1.2 Axiome der Statik 3
Damit ist auch der Rahmen der Gültigkeit für alle Untersuchungen abgesteckt, die nach den
Regeln der Statik angestellt werden. Wenn für ein Problem die Idealisierung „Starrer Körper“
nicht zu rechtfertigen ist (und in der Realität gibt es ein solches Gebilde ja nicht), können die
Fragestellungen nicht mehr allein nach den Regeln der Statik behandelt werden. Für sehr viele
praktisch sehr wichtige Aufgaben kann man jedoch (bei ausgezeichneter Übereinstimmung mit
der Realität) die zu untersuchenden Körper als starr ansehen. Die folgenden vier Axiome sind
die Basis für die Statik der starren Körper, wozu bemerkt werden muss, dass in der technischen
Literatur weder die Anzahl noch die Reihenfolge (im Gegensatz zu den N EWTONschen Axiomen
der Mechanik) einheitlich gehandhabt werden.
Es ist leicht einzusehen, dass dieses Axiom nur für den starren Körper gelten kann: In der Ab-
bildung 1.3 (auf der Seite 4) sei der Hebel ohne Belastung im Gleichgewicht. Werden nun zwei
Kräfte F1 und F2 aufgebracht, so dass
F1 a = F2 b
gilt, bleibt der Hebel im Gleichgewicht, unabhängig davon, ob beide am oberen Holm angrei-
fen (Fall a) oder aber die Kraft F1 entlang ihrer Wirkungslinie verschoben ist und am unteren
Holm angreift (Fall b). Aus der Sicht der Statik unter der Annahme, dass der Hebel starr ist, sind
die beiden Fälle äquivalent. Ein deformierbarer Hebel würde sich aber in beiden Fällen unter-
schiedlich verformen (für eine Verformungsuntersuchung darf eine Kraft also nicht verschoben
werden), sogar das Gleichgewicht könnte (durch Veränderung der Hebelarme bei großer Verfor-
mung) gestört werden.
4 1 Grundlagen der Statik
1 2 2
Abbildung 1.3: Bei Verschiebung einer Kraft entlang ihrer Wirkungslinie bleibt das Gleichgewicht erhalten
2. Axiom (Kräfteparallelogramm): 1
Sonderfall: Wenn F1 und F2 auf der gleichen Wirkungslinie liegen, entartet das Parallelogramm,
und der Betrag von FR ergibt sich aus der Summe bzw. der Differenz der Beträge von F1 und F2 .
3. Axiom (Gleichgewicht):
Man beachte, dass das 3. Axiom auch nur für den starren Körper gelten kann, weil deformierbare
Körper sich natürlich auch bei Einwirkung einer Gleichgewichtsgruppe verformen und außerdem
durch die Verformung die Voraussetzung für den Gleichgewichtszustand zweier Kräfte (gleiche
Wirkungslinie) verloren gehen kann.
4. Axiom (Wechselwirkungsgesetz):
Wird von einem Körper auf einen zweiten Körper eine Kraft ausgeübt, so reagiert dieser mit
einer gleich großen, auf gleicher Wirkungslinie liegenden, aber entgegengesetzt gerichteten
Kraft (N EWTON: actio = reactio).
Das 2. und das 4. Axiom sind nicht an die Voraussetzung des starren Körpers gebunden und sind
auch über die Statik starrer Körper hinaus gültig.
Obwohl Kräfte Vektoren sind, wird in der Technischen Mechanik im Allgemeinen nur mit den
Beträgen der Vektoren gerechnet, wobei natürlich die in der Vektordarstellung enthaltenen In-
formationen (Richtung und Richtungssinn) bei Addition und Subtraktion von Kräften beachtet
werden müssen. Die Richtung wird durch das (im Kapitel 2 erstmalig behandelte) Arbeiten mit
Komponenten, der Richtungssinn durch das Vorzeichen berücksichtigt.
1.3 Das Schnittprinzip 5
Beispiel:
Beim 3. Axiom wird die Gleichheit der Beträge von F1 und F2 bei entgegengesetztem
Richtungssinn gefordert:
F1 = F2 , aber vektoriell: ~1 = −F
F ~2 .
Bei Rechnung mit den Beträgen muss bei der Addition der unterschiedliche Richtungssinn be-
rücksichtigt werden:
F1 + (−F2 ) = F1 − F2 = 0 (Gleichgewicht).
Beispiel 1:
Die beiden auf einer Unterlage gestapelten 1 1
Massen m1 und m2 belasten diese durch ihre Gewichts-
kräfte F1 und F2 . Um die Frage nach den zwischen m1 und 2 2
m2 bzw. zwischen m2 und der Unterlage wirkenden Kräfte
zu beantworten, wird zunächst der Schnitt I-I geführt.
An den beiden Schnittufern werden die Kräfte FI angetragen (entgegengesetzt gerichtet, jedoch
gleicher Betrag und gleiche Wirkungslinie).
6 1 Grundlagen der Statik
Die gegebene Kraft F2 und die am System 1 berechnete Kraft FI = F1 können (2. Axiom) zu (FI +
F2 ) zusammengefasst werden, und diese resultierende Kraft kann mit FII nur im Gleichgewicht
sein (3. Axiom), wenn die folgende Beziehung gilt:
FII = FI + F2 = F1 + F2 .
Wäre nur die Frage nach der Kraft FII zu beantworten gewesen, hät-
te der nebenstehend skizzierte Schnitt genügt, um das „System m1 und 1
m2 “ von allen äußeren Bindungen zu lösen, und man wäre mit entspre-
chenden Überlegungen wie oben zum gleichen Ergebnis gekommen (Zu- 2
sammenfassen von F1 und F2 nach dem 2. Axiom, Gleichgewicht, wenn
FII = F1 + F2 entsprechend Axiom 3).
In diesem Fall wären die zwischen den Massen m1 und m2 wirkenden
Kräfte nicht in die Betrachtung einzubeziehen, weil sie „innere Kräfte
des Systems“ sind und als solche paarweise auftreten und sich in ihrer
Wirkung aufheben. Die Art einer sinnvollen Schnittführung ist also auch Abbildung 1.5: Alter-
von der Fragestellung abhängig. Von besonderer Wichtigkeit ist aber die native Schnittführung
Beachtung der folgenden Regel:
Es ist sinnvoll, zwischen eingeprägten Kräften (vorgegebene Belastung, Gewichtskräfte) und den
durch sie hervorgerufenen (und mit dem Schnittprinzip sichtbar gemachten) Reaktionskräften zu
unterscheiden, obwohl eigentlich auch die eingeprägten Kräfte als Schnittkräfte interpretierbar
sind: Wenn man das Schnittprinzip auch auf die so genannten „Fernkräfte“ (z. B. die Gravita-
tionskräfte) ausdehnt, kann die Gewichtskraft einer Masse als Schnittkraft interpretiert werden,
die erst durch das „Wegschneiden der Erde“ sichtbar wird. An die von der Masse gelösten Erde
muss dann die entsprechende Gegenkraft angetragen werden. Eine solche (durchaus korrekte)
Betrachtungsweise ist in der Technischen Mechanik allerdings nicht üblich.
1.3 Das Schnittprinzip 7
• Der Weg, auf dem die Ergebnisse unter konsequenter Anwendung des Schnittprinzips ge-
funden wurden, erscheint dem Anfänger möglicherweise recht umständlich: „Dass die
obere Masse auf die untere mit ihrer Gewichtskraft drückt und beide gemeinsam auf die
Unterlage mit der Summe ihrer Gewichtskräfte, kann man sich ja wohl auch ohne Schnitt-
prinzip vorstellen.“ Diese Aussage ist richtig. Wenn die Probleme jedoch auch nur etwas
komplizierter werden (folgendes Beispiel), kommt man ohne Anwendung des Schnittprin-
zips nicht mehr aus.
• Die Anwendung des Gleichgewichtsaxioms nach vorheriger Zusammenfassung der Kräfte
mit Hilfe des Kräfteparallelogramms, so dass nur zwei Kräfte auf einer Wirkungslinie
übrig sind, ist tatsächlich umständlich. In den nächsten Kapiteln werden dafür effektivere
Verfahren behandelt. Da es in diesem Abschnitt aber auf das Verständnis des so wichtigen
Schnittprinzips ankommt, soll auch die folgende Aufgabe ausschließlich unter formaler
Anwendung der Axiome gelöst werden.
Beispiel 2:
Auf einer Palette mit der Masse m2 (einschließlich des Bügels)
liegt die Masse m3 . Die Palette ist über den Bügel an dem Seil 1 aufgehängt,
das über zwei Rollen geführt wird und an der Masse m3 befestigt ist.
Gegeben: m2 = 20 kg ; m3 = 50 kg .
1
Die Gewichtskraft des Seils kann vernachlässigt werden.
Man ermittle: a) die Seilkraft FS im Seil 1,
b) die Kraft FN zwischen den Massen m2 und m3 .
3
Hinweis: Man beachte, dass die Seilkraft durch die beiden Rollen nur umge-
lenkt wird und in gleicher Größe auch an der Masse m3 angreift (siehe auch
die Bemerkung zur festen Rolle unter www.TM-aktuell.de). 2
Wäre nur die Seilkraft gefragt, würde die Betrachtung des „Gesamtsystems m2 und m3 “ genügen
(Abbildung 1.6).
Unter Nutzung sämtlicher Axiome (Wechselwirkungsgesetz für das
Freischneiden, Verschieben von Kräften entlang ihrer Wirkungslinien,
Zusammenfassen der Kräfte und Gleichgewicht) kommt man zu
2FS = m2 g + m3 g .
Zur Beantwortung beider Fragestellungen müssen in jedem Fall zwei
Systeme bei einer zusätzlichen Schnittführung (zwischen m2 und m3 )
betrachtet werden (Abbildung 1.7). Dann untersucht man entweder das 3
Gesamtsystem zur Berechnung von FS und eines der beiden Teilsysteme 2
zur Bestimmung von FN bei dann bekanntem FS , oder man betrachtet
nur die beiden Teilsysteme mit den beiden Unbekannten FS und FN , die Abbildung 1.6: Gesamt-
die beiden folgenden Gleichungen liefern: system m2 und m3
8 1 Grundlagen der Statik
FS + FN = m3 g ,
FN + m2 g = FS .
Das sich daraus ergebende allgemeine Ergebnis für die
Kraft zwischen m2 und m3
1
FN = (m3 − m2 )g
2
liefert nur für m3 > m2 positive Werte für FN (nach der in 3
der Schnittskizze angenommenen positiven Richtung für
2
FN : Masse m3 drückt auf die Palette, da die Schnittkraft
immer die Wirkung des weggeschnittenen Teils reprä- Abbildung 1.7: Zwei Teilsysteme
sentiert).
Für m3 < m2 würde das Minuszeichen im Ergebnis auf eine Kraftrichtung entgegen der angenom-
menen hinweisen, was praktisch nur möglich wäre, wenn m3 auf der Palette nicht nur aufliegen
würde, sondern in irgendeiner Weise befestigt wäre.
Mit den gegebenen Zahlenwerten erhält man das Ergebnis:
FS = 343 N ; FN = 147 N .
Lieber Leser, wenn Sie sich als Anfänger auf dem Gebiet der Technischen Mechanik bis hierher
durchgearbeitet haben, spricht das für Sie. Wenn Sie darüber hinaus sogar der Meinung sind,
alles verstanden zu haben, spricht dies für Gründlichkeit, Selbstbewusstsein (oder Leichtfertig-
keit). Leider ist Ihr Eindruck, dass es bis hierher gar nicht so schwierig war, vermutlich
nicht richtig.
Nach den Erfahrungen der Autoren wird das so wichtige Schnittprinzip zu schnell (und damit
sehr leichtfertig) „als verstanden abgehakt“. Deshalb noch einmal zur Erinnerung:
• Erst nach dem Lösen sämtlicher äußerer Bindungen und dem Antragen aller Schnittkräf-
te dürfen Gleichgewichtsbetrachtungen angestellt werden! Haben Sie die schwungvol-
len „Kringel“ um die freigeschnittenen Systeme in den Beispielen registriert? Vielleicht
sollten Sie sich das zur Sicherheit auch (zumindest für einige Zeit) angewöhnen, um zu
sichern, dass ringsherum wirklich keine Bindung mehr besteht.
• Alle Schnittkräfte tauchen paarweise auf (sichtbar erst nach dem Schneiden). Sie haben
an den beiden Schnittufern der beiden Teilsysteme gleiche Wirkungslinie, gleichen Be-
trag, aber entgegengesetzten Richtungssinn. Solange nicht geschnitten wird (und es muss
wirklich nicht jeder mögliche Schnitt geführt werden), heben sich ihre Wirkungen gegen-
seitig auf. Leider können Ihnen, lieber TM-Anfänger, die Autoren versprechen, dass Sie
den Fehler, auch eine innere Kraft in das Gleichgewicht mit aufzunehmen, vermutlich
noch mehrmals machen werden.
Versuchen Sie doch einmal die Lösung der zur Seite 8 gehörenden Aufgabe,
die Sie unter www.TM-aktuell.de finden. Das sollte Ihnen am Ende dieses
Kapitels gelingen (und wenn nicht, finden Sie dort eine detaillierte „Schritt-
für Schritt-Anleitung“).
2 Das zentrale ebene Kraftsystem
2.1 Äquivalenz
Definition:
Zwei Kräftegruppen sind äquivalent, wenn ihre Wirkungen gleich sind. Eine einzige Kraft,
die in diesem Sinne einer Kräftegruppe äquivalent ist, nennt man Resultierende der Kräfte-
gruppe.
Aus dieser Definition (und den Axiomen der Statik) leiten sich alle benötigten Aussagen ab, die
zunächst für einen wichtigen Spezialfall, das Zentrale ebene Kraftsystem mit nur zwei Kräften,
formuliert werden:
ê Die Resultierende zweier Kräfte, deren Wirkungslinien sich in einem Punkt schneiden, wird
nach dem Parallelogrammgesetz (2. Axiom) gefunden, gegebenenfalls nach Verschieben der
Kräfte entlang ihrer Wirkungslinien (1. Axiom) bis zum Schnittpunkt. Man ermittelt so auf
grafischem Wege Betrag und Richtung der Resultierenden.
ê Umkehrung der vorigen Aussage: Eine gegebene Kraft F kann durch eine äquivalente Kräf-
tegruppe zweier Kräfte FI und FII eindeutig ersetzt werden, wenn deren Wirkungslinien I
und II vorgegeben sind und sich mit der Wirkungslinie von F in einem Punkt schneiden
(Kraftzerlegung).
ê Zwei Kräfte, die in einer Ebene liegen, bilden immer ein zentrales Kraftsystem, wenn ihre
Wirkungslinien nicht parallel sind.
ê Zwei Kräfte, deren Wirkungslinien sich in einem Punkt schneiden, sind immer ein ebenes
zentrales Kraftsystem, weil zwei sich schneidende Geraden immer eine Ebene aufspannen.
2
1 1 1
1
2 2
2
Abbildung 2.3: Krafteck ersetzt das Kräfteparallelogramm
Natürlich ist dies nur zur Vereinfachung der Zeichnung erlaubt, weil eine Parallelverschie-
bung einer Kraft nicht gestattet ist.
ê Bei der Kraftzerlegung müssen die Komponenten FI und FII zusammen mit der gegebenen
Kraft F die Figur des Kräfteparallelogramms so ergeben, dass die drei Pfeilspitzen entweder
alle von einem Punkt wegweisen (Variante 1: Abbildung 2.4) oder alle zu einem Punkt
hinweisen (Variante 2: Abbildung 2.5).
ê Bei der analytischen Lösung zur Ermittlung der Resultierenden wählt man zunächst ein
rechtwinkliges Koordinatensystem und zerlegt die gegebenen Kräfte in jeweils zwei Kompo-
nenten in Richtung der Achsen. Die Teilresultierenden in Richtung der beiden Achsen kann
man dann durch Addition der Komponenten aufschreiben (Richtungssinn durch Vorzeichen
berücksichtigen!) und den Betrag der Gesamtresultierenden aus dem Kräfteparallelogramm
der senkrecht aufeinander stehenden Teilresultierenden (Pythagoras) berechnen.
Beispiel:
An einer Öse sind über Umlenkrollen die Massen
m1 und m2 befestigt.
Gegeben: m1 = 50 kg ; α = 45◦ ; 2
m2 = 60 kg ; β = 60◦ .
Die Demonstration grafischer Lösungen (hier und bei einigen nachfolgenden Beispielen)
dient dem Verständnis. Grafische Lösungen dieser Art haben in der Ingenieurpraxis jedoch
keine Bedeutung mehr.
Die grafische Lösung ist im Allgemeinen etwas ungenauer als die analytische Lösung. Die Ge-
nauigkeit kann durch eine entsprechend große Zeichnung verbessert werden.
12 2 Das zentrale ebene Kraftsystem
Grafische Lösung:
2 = 2
2 = 588,6 N
1 = 490,5 N
o
= 14,3
= 662 N
1 = 1
Abbildung 2.6: Die beiden Kräfte werden mit Hilfe des Kraftecks addiert.
1 2
1 3
2
4
4
Abbildung 2.7: Resultierende als Schlusslinie eines Kraftecks mit vier Kräften
Auch hier muss darauf hingewiesen werden, dass das Krafteck nur zur Vereinfachung der
Zeichenarbeit gedacht ist. Der Angriffspunkt der Resultierenden ist natürlich der gemeinsa-
me Schnittpunkt aller Wirkungslinien.
ê Die Zerlegung einer Kraft in mehr als zwei Komponenten, deren Wirkungslinien sich alle
in einem Punkt schneiden (Ersetzen einer Kraft durch ein äquivalentes zentrales Kraftsys-
tem mit mehr als zwei Kräften) ist nicht eindeutig und deshalb im Allgemeinen praktisch
bedeutungslos.
2.2 Gleichgewicht
Ein Körper befindet sich im Gleichgewicht, wenn sich die Wirkungen aller an ihm angreifen-
den Kräfte aufheben. Für das zentrale ebene Kraftsystem leitet sich aus dieser Definition die
Bedingung ab, dass die Resultierende aller Kräfte verschwinden muss:
FR = 0 .
Diese Bedingung muss nicht vektoriell formuliert werden, weil ein Vektor nur dann gleich Null
ist, wenn sein Betrag gleich Null ist. Der Betrag eines Vektors ist wiederum nur dann gleich Null,
wenn jede einzelne Komponente verschwindet. Mit diesen Überlegungen ergeben sich die
Das Gleichgewicht der Kräftegruppe drückt sich grafisch durch ein geschlossenes Krafteck aus.
Man beachte:
ê Die durch die Indizes x und y angedeuteten Richtungen können selbstverständlich beliebig
gewählt werden. Es ist nicht erforderlich, dass die beiden Richtungen senkrecht zueinander
sind. Damit lassen sich die Gleichgewichtsbedingungen für das zentrale ebene Kraftsystem
auch so formulieren:
14 2 Das zentrale ebene Kraftsystem
Die Summe aller Kraftkomponenten in jeder beliebigen Richtung muss gleich Null sein (ge-
nerelle notwendige Bedingung für Gleichgewicht, gilt nicht nur für das zentrale ebene Kraft-
system).
Beispiel:
Wie groß muss die an dem mas-
selosen Seil horizontal angreifende Kraft F
sein, um das durch die Masse m belastete
Seil in der skizzierten Lage zu halten (Skiz-
ze links)?
Gegeben: m = 20 kg ; α = 30◦ .
Freischneiden: Das System wird von äu-
ßeren Bindungen gelöst, indem das schrä-
ge Seil geschnitten wird (rechte Skizze). Da
Seile nur Zugkräfte in Seilrichtung übertra-
gen können, werden die Seilkräfte als Zug-
kräfte (von den Schnittufern wegweisende
Pfeilspitzen) angetragen.
Am freigeschnittenen System wirkt mit der Seilkraft FS und den beiden Kräften F und mg ein
zentrales Kraftsystem, das im Gleichgewicht sein muss.
2.2 Gleichgewicht 15
Grafische Lösung: Das ebene zentrale Kraftsystem mit gegebenem mg und den unbekannten
Kräften F und FS , deren Wirkungslinien jedoch bekannt sind, darf keine Resultierende ergeben:
Das Krafteck aus mg, F und FS muss sich schließen (Abbildung 2.8).
Abbildung 2.8: Varianten 1 (links) und 2 (rechts) des sich schließenden Kraftecks
→ F − FS sin α = 0 , cos
↓ mg − FS cos α = 0 .
sin
Aus der zweiten Gleichung errechnet man
mg
FS = .
cos α
Einsetzen in die erste Gleichung liefert das
bereits angegebene Ergebnis für F.
• Variante 2: Es wird die Gleichgewichtsbedingung für die skizzierte Richtung I-I (senk-
recht zum schrägen Seil, Abbildung 2.9) formuliert:
Ú F cos α − mg sin α = 0 .
16 2 Das zentrale ebene Kraftsystem
2.3 Aufgaben
Aufgabe 2.1:
Die Seile 1 und 2 sind wie skizziert durch die Seil 1
beiden Kräfte F1 und F2 belastet.
Gegeben: F1 = 80 N ; α1 = 70◦ ; α2 = 40◦ ; β = 70◦ .
1
a) Man ermittle für F2 = 120 N die Kräfte in den beiden Sei- 2
2
len. Seil 2
b) Wie groß muss F2 mindestens sein, damit die Konstruktion 1
nicht versagt?
Aufgabe 2.2:
Eine Walze mit der Masse mW
liegt auf einer schiefen Ebene und wird durch ein
Seil 1 gehalten. Sie ist durch ihr Eigengewicht
und über das Seil 2 durch die Gewichtskraft der
Masse m belastet. Seil 2
Seil 1
Gegeben: mW = 120 kg ; m = 40 kg ;
α = 30◦ ; β = 50◦ .
Man ermittle die Seilkräfte in den Seilen 1 und 2.
Hinweis: Von der schiefen Ebene kann auf die
Walze mW nur eine Kraft senkrecht zur Auflage-
fläche übertragen werden.
Bei einem allgemeinen ebenen Kraftsystem schneiden sich die Wirkungslinien der Kräfte nicht
mehr sämtlich in einem Punkt, unter Umständen (parallele Kräfte) schneiden sie sich überhaupt
nicht.
Beispiel:
An einem starren Körper greifen wie skizziert 3
vier Kräfte an. Man ermittle grafisch die Resultierende und
die Lage und Richtung ihrer Wirkungslinie. 4
Gegeben: F1 = 1 kN ; F2 = 2 kN ;
F3 = 2 kN ; F4 = 1, 5 kN ;
2
α = 45◦ ; β = 60◦ ; a = 2m .
1,5
2
= =
1,5
1 2 1
2
4
23
23
= =
14 = 12 34
14
der Winkel αR ≈ 19◦ und die Lage der Wirkungslinie (z. B. durch Angabe der Strecke
yW ≈ 2, 7 m).
• Den Betrag der Resultierenden FR und den Winkel αR (aber nicht die Lage der Wirkungsli-
nie der Resultierenden!) hätte man auch mit Hilfe des Kraftecks wie beim zentralen Kraft-
system finden können.
• Man gelangt zur gleichen Resultierenden, wenn man eine andere Reihenfolge der Zusam-
menfassung zu Teilresultierenden wählt.
Die grafische Ermittlung der Resultierenden eines allgemeinen ebenen Kraftsystems auf die-
se Weise ist recht mühsam. Es gibt Verfahren, die den Zeichenaufwand vermindern (früher
war z. B. das so genannte „Seileckverfahren“ sehr beliebt), denen aber keine praktische Be-
deutung mehr zukommt. Die grafische Behandlung des allgemeinen ebenen Kraftsystems
wird deshalb auch in den folgenden Abschnitten nur in dem Umfang vorgestellt, wie für das
Verständnis daraus Nutzen zu ziehen ist.
3.2 Parallele Kräfte 19
2,14 m
= =
2
1
2 2
1 1
= 7 kN
Abbildung 3.2: Ermittlung der Resultierenden zweier paralleler Kräfte
Man ermittle die Resultierende für dieses Beispiel, indem man für eine der beiden Kräfte F1
oder F2 den Richtungssinn umkehrt (die Strategie bleibt gleich, eventuell benötigt man ein etwas
größeres Blatt Papier). Der Betrag der Resultierenden ergibt sich wie erwartet als Differenz der
Beträge von F1 und F2 (FR = 1 kN), ihre Wirkungslinie ist wieder parallel zu den Wirkungslinien
der gegebenen Kräfte, die Lage der Wirkungslinie (weit links von F1 ) ist wohl etwas überra-
schend.
Wenn man allerdings diese (für das Verständnis recht nützliche) Konstruktion ausgeführt hat,
darf man sich darüber freuen, dass auch diese grafische Lösung keine praktische Bedeutung
mehr hat (die analytische Lösung findet man im Abschnitt 3.5.2).
In einem ganz speziellen Fall gelingt es jedoch nicht, das Kraftsystem durch eine resultierende
Kraft zu ersetzen: Der Versuch, zwei Kräfte mit gleichem Betrag und entgegengesetztem Rich-
tungssinn auf parallelen Wirkungslinien zu einer Resultierenden zusammenzufassen, misslingt.
Der im Abschnitt 3.2 erfolgreich angewendete Trick mit den Hilfskräften führt nur auf ein ande-
res Kräftepaar mit den gleichen Eigenschaften:
Abbildung 3.3: Versuch, zwei gleich große parallele Kräfte zu einer Resultierenden zusammenzufassen
Die Beträge der Kräfte haben sich geändert, auch die Lage und der Abstand der beiden Wir-
kungslinien, die aber nach wie vor parallel sind.
Man nennt zwei auf parallelen Wirkungslinien liegende, gleich große, aber entgegengesetzt
gerichtete Kräfte ein Kräftepaar.
ê Ein Kräftepaar lässt sich nicht zu einer Resultierenden zusammenfassen und hat keine resul-
tierende Kraftwirkung.
ê Ein Kräftepaar versucht, den Körper, an dem es angreift, zu drehen. Ein Maß der Stärke
dieser Drehwirkung ist das Produkt F · a , wobei a der Abstand der beiden Wirkungslinien
ist.
Das Produkt aus dem Betrag der Kräfte und dem Abstand a der Wirkungslinien M = F a
heißt Moment des von den zwei Kräften F gebildeten Kräftepaares.
3.3 Kräftepaar und Moment 21
ê Ein Kräftepaar lässt sich in ein anderes überführen (siehe Abbildung 3.3), wobei sich die
Beträge der Kräfte und der Abstand der Wirkungslinien ändern. Das Moment der beiden
Kräftepaare bleibt dabei jedoch unverändert, wie aus der folgenden Skizze (Abbildung 3.4)
abzulesen ist:
Durch Anbringen der beiden Kräfte FH wird aus dem „Kräftepaar F“ das um den Winkel α
geneigte „Kräftepaar F1 “, wobei sich der Abstand der Wirkungslinien auf den Wert
b = a cos α
= =
=
Abbildung 3.5: Ein Moment kann am starren Körper beliebig in der Ebene verschoben werden.
Ein an einem starren Körper angreifendes Moment darf beliebig in der Ebene verschoben
werden (im Gegensatz zu Kräften, die nur entlang ihrer Wirkungslinie verschoben werden
dürfen).
Mehrere an einem starren Körper angreifende Momente dürfen zu einem resultierenden Mo-
ment addiert werden (bzw. subtrahiert bei entgegengesetztem Drehsinn).
22 3 Das allgemeine ebene Kraftsystem (Äquivalenz)
Beispiel:
Mit Hilfe eines Schraubenziehers soll eine in einem Gewindeloch steckende Schrau-
be festgezogen werden. Als Fall a ist (in der Draufsicht) skizziert, wie der Schraubenzieher
angesetzt wird. Die Schraube kann sich um ihre Längsachse drehen, die durch den Mittelpunkt
des Schraubenkopfes (senkrecht zur Zeichenebene) verläuft. Das auf den Schraubenkopf aufge-
brachte Kräftepaar hat ein Moment M = F b :
= =
Im Fall b wird der Schraubenzieher nicht exakt zentrisch angesetzt, es wird aber das gleiche Kräf-
tepaar aufgebracht. Da das Moment M beliebig in der Ebene verschoben werden kann, ändert
sich an der Drehwirkung um den Mittelpunkt nichts:
= =
Abbildung 3.7: ... doch auch das außermittig angesetzte Werkzeug liefert das gleiche Moment, ...
Auch wenn die Schraube wie im Fall c ungenau gefertigt wurde (Schlitz ist nicht zentrisch,
doch auch dann, wenn die Längsachsen von Kopf und Schaft nicht fluchten) und darüber hinaus
der Schraubenzieher nicht in der Mitte des außermittigen Schlitzes angesetzt wird, ändert sich
nichts an der Momentwirkung um die Drehachse, sofern das aufgebrachte Kräftepaar unverändert
gleich M = F b ist:
= =
Abbildung 3.8: ... und daran ändert sich auch bei einer Ausschuss-Schraube nichts.
3.4 Das Moment einer Kraft 23
Entsprechend dem Richtungssinn einer Kraft hat das Moment einen Drehsinn, der durch das Vor-
zeichen des Moments berücksichtigt wird. Dabei kann ein positiver Drehsinn (wie der positive
Richtungssinn für Kräfte) beliebig festgelegt werden.
Die Definition des Momentes einer Kraft bezüglich eines Punktes ist völlig gleichwertig mit dem
im vorigen Abschnitt behandelten Moment eines Kräftepaares, wie an nachfolgendem Beispiel
deutlich wird:
Beispiel:
Ein auf einen starren Körper wirkendes Kräftepaar habe
das Moment
M = Fa (rechtsdrehend) .
Bezüglich des Punktes A hat die linke Kraft nach der oben gegebenen
Definition keine Momentwirkung, weil der Hebelarm gleich Null ist
(Wirkungslinie geht durch den Punkt), während die rechte Kraft am
Hebelarm a wirkt. Das gesamte Moment der beiden Kräfte ist also
M = F ·0 + F ·a = F ·a.
Da sich das Moment eines Kräftepaares auf keinen speziellen Punkt bezieht, ist auch für den
Punkt B dieselbe Momentwirkung zu erwarten. Während die linke Kraft bezüglich des Punktes
B eine rechtsdrehende Wirkung (ein „rechtsdrehendes Moment“) hat, ist die Wirkung der rech-
ten Kraft bezüglich B linksdrehend, was in der folgenden Gleichung durch ein Minuszeichen
berücksichtigt wird („rechtsdrehende Momente werden - bei diesem Beispiel - als positiv ange-
nommen“). Die linke Kraft hat nach der oben gegebenen Definition den Hebelarm (a + b), die
rechte Kraft den Hebelarm b, so dass man mit B als Bezugspunkt erhält:
M = F(a + b) − Fb = Fa .
24 3 Das allgemeine ebene Kraftsystem (Äquivalenz)
3.5 Äquivalenz
Aus den Überlegungen, die in den Abschnitten 3.1 bis 3.4 angestellt wurden, ergibt sich folgende
sinnvolle Definition für die Äquivalenzbetrachtungen:
Zwei allgemeine ebene Kraftsysteme sind in ihrer Wirkung auf den starren Körper äquivalent,
wenn
• sie die gleiche Kraftwirkung (gleiche Resultierende nach Betrag, Richtung und Rich-
tungssinn) haben
• und ihre Drehwirkungen bezüglich eines beliebigen Punktes gleich sind.
Äquivalenz bedeutet also jeweils gleiche Drehwirkung der beiden Kraftsysteme um jeden Punkt
der Ebene, Intensität und Drehrichtung sind natürlich von Punkt zu Punkt verschieden.
Das allgemeine ebene Kraftsystem kann in jedem Fall auf eine resultierende Kraft oder ein
resultierendes Moment reduziert werden.
3.5.1 Versetzungsmoment
Wenn bei der Reduktion eines allgemeinen ebenen Kraftsystems ein resultierendes Moment übrig
bleibt, darf dieses beliebig in der Ebene verschoben werden. Wenn sich eine resultierende Kraft
ergibt, darf diese nur entlang ihrer Wirkungslinie verschoben werden.
Es ist jedoch auch eine Parallelverschiebung einer Kraft möglich, wenn die sich dadurch ändern-
de Wirkung auf den starren Körper durch Antragen eines Momentes ausgeglichen wird (Verset-
zungsmoment).
Allgemein gilt (für eine beliebige Kraft):
Wenn eine Kraft F parallel zu ihrer Wirkungslinie um die Strecke a verschoben wird, ändert
sich die Gesamtwirkung auf den starren Körper nicht, wenn zusätzlich das Versetzungsmo-
ment F · a angebracht wird.
Die Abbildung 3.10 verdeutlicht dies. Eine Kraft F wird durch eine Gleichgewichtsgruppe auf
paralleler Wirkungslinie ergänzt. Zwei der drei Kräfte F bilden das Kräftepaar F · a:
Abbildung 3.10: Parallelverschiebung einer Kraft muss durch Versetzungsmoment ausgeglichen werden.
3.5 Äquivalenz 25
Bei der grafischen Ermittlung der Resultierenden des allgemeinen ebenen Kraftsystems (Ab-
schnitt 3.1) wurde deutlich, dass Betrag, Richtung und Richtungssinn auch mit Hilfe des Kraft-
ecks (wie beim zentralen ebenen Kraftsystem) ermittelt werden können. Nur die Lage der Wir-
kungslinie in der Ebene ist auf diesem Wege nicht zu bestimmen.
Diese Erkenntnis lässt sich auf das Problem der analytischen Ermittlung der Resultierenden des
allgemeinen ebenen Kraftsystems übertragen. Betrag, Richtung und Richtungssinn ergeben sich
nach den aus dem Abschnitt 2.1 bekannten Formeln:
n n
FRx = ∑ Fix , FRy = ∑ Fiy ,
i=1 i=1 (3.1)
q
2 + F2 FRy
FR = FRx Ry , tan αR = .
FRx
Damit fehlt für die Bestimmung der Lage der Wirkungslinie (ihr Anstieg ist mit αR bekannt) nur
noch ein Punkt. Diesen ermittelt man aus der Forderung, dass ein äquivalentes ebenes Kraftsys-
tem neben der gleichen Kraftwirkung auch die gleiche Drehwirkung (bezüglich eines beliebigen
Punktes) haben muss:
Die Summe aller Momente der Kräfte Fi muss gleich der Momentwirkung der Resultierenden
sein. In der Bedingungsgleichung
n
∑ Fi ai = FR aR (3.2)
i=1
sind dementsprechend die ai die Hebelarme der Kräfte Fi , aR ist der Hebelarm der Resultieren-
den, jeweils also der senkrechte Abstand der Wirkungslinie vom frei zu wählenden Bezugspunkt
(das Lot vom Bezugspunkt auf die Wirkungslinie).
Häufig ist es ratsam, die Kräfte Fi , deren Richtungen nicht den bevorzugten (im Allgemeinen
senkrecht aufeinander stehenden) Bemaßungsrichtungen einer technischen Zeichnung folgen, in
zwei Komponenten zu zerlegen und mit den Komponenten zu rechnen. Man vermeidet so die un-
ter Umständen etwas schwierigen geometrischen Überlegungen zur Ermittlung der Hebelarme.
Der Mehraufwand (doppelte Anzahl von Momentwirkungen) ist unerheblich, weil die Kompo-
nentenzerlegung ohnehin für die Ermittlung des Betrages der Resultierenden erforderlich ist.
Ein entsprechendes Vorgehen bietet sich für die Behandlung der Resultierenden FR in der Mo-
mentenbeziehung an: Man verschiebt sie entlang ihrer Wirkungslinie, bis sie direkt über oder
unter dem Bezugspunkt (oder auch rechts oder links vom Bezugspunkt) liegt. Dafür muss die
Lage der Wirkungslinie irgendwie angenommen werden, weil man ja nur ihre Richtung kennt.
Nun werden auf der rechten Seite der Momentenbeziehung anstelle des Momentes der Resultie-
renden die beiden Momente ihrer Komponenten eingesetzt, wobei nur eine Komponente (infolge
der Art der Verschiebung der Resultierenden) einen von Null verschiedenen Hebelarm hat. Die-
ser Hebelarm ist die einzige Unbekannte in der Momentenbeziehung, nach deren Berechnung
dann auch die Lage der Wirkungslinie von FR bekannt ist. Am nachfolgenden Beispiel (durch
vier Kräfte belastete Scheibe aus dem Abschnitt 3.1) wird dieses Vorgehen demonstriert.
26 3 Das allgemeine ebene Kraftsystem (Äquivalenz)
Wenn die Resultierende eines allgemeinen ebenen Kraftsystems den Betrag FR = 0 hat (keine
resultierende Kraftwirkung), können die Kräfte Fi natürlich immer noch eine resultierende Mo-
mentwirkung haben. Man kann das resultierende Moment aus der Summe der Momentwirkungen
aller Fi bezüglich eines beliebigen Punktes der Ebene berechnen.
Beispiel 1:
An einem starren Körper greifen wie 3
skizziert vier Kräfte an.
4
a) Es ist das resultierende Moment der vier
2
Kräfte bezüglich des Punktes A zu ermitteln.
2
b) Es sind analytisch Betrag, Richtung und
Lage der Wirkungslinie der Resultierenden
FR zu ermitteln. Dabei ist als Bezugspunkt
1,5
für die Momentenbeziehung der Punkt B
zu wählen. Die Lage der Wirkungslinie ist 1
Gegeben: F1 = 1 kN ; F2 = 2 kN ; F3 = 2 kN ; F4 = 1, 5 kN ;
α = 45◦ ; β = 60◦ ; a = 2m .
• Bei der Fragestellung a sind die Hebelarme für die Kräfte F1 und F4 unmittelbar aus der
Skizze abzulesen. Bei den Kräften F2 und F3 kann man die Hebelarme entweder aus geo-
metrischen Überlegungen ermitteln oder die Kräfte in jeweils zwei Komponenten zerlegen
und dann mit den Komponenten rechnen: Das Moment der Kraft F3 wird entweder aus
dem Produkt F3 · a3 (Abbildung 3.11, linkes Bild) oder aus der Summe der Momente der
beiden Komponenten F3 · sin β (am Hebelarm a) und F3 · cos β (am Hebelarm „Null“) er-
mittelt (Abbildung 3.11, rechtes Bild). Beide Varianten führen wegen a3 = a · sin β auf
das gleiche Ergebnis.
3 3 sin
3 cos
2
2
3 = sin
Abbildung 3.11: Hebelarm aus geometrischen Überlegungen oder Zerlegung der Kraft
Aus xA · FR sin 19, 1◦ = −2, 29 kNm ergibt sich xA = −1, 94 m, wobei das Minuszeichen anzeigt,
dass die Wirkungslinie von FR (entgegen der Annahme) links von A liegt.
Beispiel 2:
Für die skizzierten Kräfte F1 und F2 ist die Lage
der Resultierenden FR zu bestimmen (Ergebnis durch Angabe = 3 kN
2
der Koordinate xR ). 1 = 4 kN
Wenn nach unten gerichtete Kräfte als positiv angenommen
werden, kann man mit FR = F1 − F2 = 1 kN zum Beispiel =5m
die Äquivalenzbeziehung für die Momente um den (willkür-
lich gewählten) Angriffspunkt von F1 aufschreiben. Dann geht Abbildung 3.13: Kräfte mit
F1 in die Beziehung gar nicht ein (Hebelarm „Null“), und man entgegengesetztem Richtungssinn
auf parallelen Wirkungslinien
erhält bei (willkürlich) rechtsdrehend positiv angenommenen
Momenten aus
−F2 · 5 m = FR · xR
mit xR = −15 m ein Ergebnis, das durch das Minuszeichen anzeigt, dass die Wirkungslinie der
Resultierenden weit links von F1 liegt. Weil dies etwas schwierig vorstellbar sein mag, zeigt
Abbildung 3.14 zwei Systeme mit diesen äquivalenten Lasten. Die Lager würden, wenn das
Eigengewicht der Träger unberücksichtigt bleiben darf, in beiden Systemen gleiche Kräfte auf-
zunehmen haben (wie solche Lagerreaktionen berechnet werden, wird im Kapitel 5 behandelt).
2 = 3 kN
1= 4 kN
=5m
= 1 kN
= 15 m
Lieber Leser, Sie haben in diesem Kapitel einige wichtige Grundlagen der Technischen Me-
chanik kennengelernt. Trotzdem finden Sie hier anstelle von Übungsaufgaben ein Fazit.
Das hat seinen Grund: Es ist (bis auf wenige Ausnahmen) nicht sinnvoll, Probleme auf der
Basis der Äquivalenz von Kräftesystemen zu lösen. Fast ausschließlich sollte das Gleichge-
wicht von Kraftsystemen die Grundlage für die Lösung von Aufgaben sein. Deshalb gab es
am Ende des Kapitels 2 auch nur Aufgaben, die sich mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingun-
gen lösen ließen.
Die Erfahrung der Autoren hat gezeigt, dass der Anfänger (weil das Thema Äquivalenz immer
am Anfang behandelt wird) die Neigung hat, bei Aufgaben zunächst die gegebenen Kräfte
zu einer Resultierenden zusammenzufassen, um erst danach die unbekannten Kräfte und Mo-
mente zu berechnen. Das ist nicht sinnvoll (im gerade behandelten Beispiel 2 wird man zur
Berechnung der Lagerreaktionen nicht erst die Resultierende ermitteln), und deshalb wird
an dieser Stelle das Üben (Lösen von Aufgaben) durch das Rekapitulieren der wichtigsten
Erkenntnisse zum Thema Äquivalenz aus den Kapiteln 2 und 3 ersetzt.
Es gibt allerdings eine wichtige Ausnahme zu den gerade getroffenen Aussagen: Die Berech-
nung von Schwerpunkten basiert auf den in diesem Kapitel erarbeiteten Grundlagen. Dieses
Thema wird deshalb im folgenden Kapitel behandelt. Danach aber gilt: Die Gleichgewichts-
bedingungen sind die Grundlage zur Lösung fast aller Probleme der Technischen Mechanik.
Die folgenden „wichtigsten Erkenntnisse“ zum Thema Äquivalenz mögen eher banal erscheinen
und sind in dem Sinne zu verstehen, dass sie ständig als Nebenrechnungen und -überlegungen
bei den Aufgaben der Technischen Mechanik auftreten:
ê Das Moment einer Kraft bezüglich eines Punktes ist definiert als Produkt Kraft · Hebelarm
(Abschnitt 3.4). Der Hebelarm ist die kürzeste Verbindung vom Bezugspunkt zur Wirkungs-
linie der Kraft. In der Regel ist es günstiger, unter einem Winkel angreifende Kräfte zunächst
in Komponenten zu zerlegen und dann die Momentwirkungen der beiden Komponenten auf-
zuschreiben (siehe Beispiel 1 im Abschnitt 3.5.2).
ê Ein Moment, das an einem starren Kör-
per angreift, ist (im Gegensatz zu den an-
=
greifenden Kräften) frei in der Ebene ver-
schiebbar (siehe Seite 21).
4 Schwerpunkte
Jeder Körper besteht aus Masseteilen, die der Anziehungskraft (der Erde) unterworfen sind, so
dass Gewichtskräfte wirken.
Der Punkt eines Körpers, durch den die Resultierende aller Gewichtskräfte bei beliebiger
Lage des Körpers hindurchgeht, ist der Schwerpunkt.
Die Berechnung der Lage des Schwerpunktes ist damit identisch mit der Ermittlung der Lage
der Resultierenden eines allgemeinen Kraftsystems mit parallelen Kräften. Andererseits kann
die Gewichtskraft eines Körpers bei Statikproblemen durch eben diese Resultierende berück-
sichtigt werden, wenn die Lage des Schwerpunkts (und damit die Lage der Wirkungslinie dieser
Resultierenden) bekannt ist.
Beispiel:
Drei Quader mit den Massen m1 , m2 und m3 sind
wie skizziert zu einem Körper zusammengefügt. Es ist die
Schwerpunktkoordinate xS zu ermitteln.
Es ist wohl einzusehen (und mit den Integralformeln des fol-
genden Abschnitts natürlich auch zu berechnen), dass der
Schwerpunkt eines Quaders im Symmetrieschnitt (in der
„Mitte“ des Körpers) liegt, so dass die drei Gewichtskräf-
te mit den nachfolgend skizzierten Abständen anzusetzen
sind.
Die Resultierende der drei Gewichtskräfte 3
1 2
FR = (m1 + m2 + m3 ) g
dreht denken muss. Das Bezugskoordinatensystems kann (wie der Momentenbezugspunkt bei
Äquivalenzbetrachtungen) beliebig gewählt werden.
Das behandelte Beispiel hat die Analogie der Schwerpunktberechnung zum Problem der Ermitt-
lung der Resultierenden eines Systems paralleler Kräfte verdeutlicht, so dass man daraus die
Formeln für den aus n Teilmassen zusammengesetzten Körper ableiten kann: In einem beliebi-
gen kartesischen Koordinatensystem haben die Teilmassen mi die Schwerpunktkoordinaten xi , yi
und zi . Dann gelten folgende Formeln zur Berechnung der
1 n 1 n 1 n
xS = ∑ mi xi , yS = ∑ mi yi , zS = ∑ mi zi . (4.1)
mges i=1 mges i=1 mges i=1
Die Gesamtmasse des Körpers mges ist die Summe der Teilmassen mi :
n
mges = ∑ mi . (4.2)
i=1
Voraussetzung für die Anwendung dieser Formeln ist natürlich die Kenntnis der Schwerpunkt-
koordinaten der Teilmassen.
Wenn die Schwerpunktkoordinaten einer Masse nicht bekannt sind, muss diese gegebenenfalls in
sehr viele Teilmassen ∆mi unterteilt werden, im Grenzfall (∆mi → dm, unendlich viele unendlich
kleine Massen) wird die Summe zum bestimmten Integral:
1 1 1
Z Z Z
xS = x dm , yS = y dm , zS = z dm . (4.3)
mges mges mges
V V V
Das Symbol V unter dem Integralzeichen bedeutet „Integral über das gesamte Volumen“, was im
ungünstigsten Fall auf ein dreifaches Integral führt.
Für homogenes Material (Dichte ρ = konst.) kürzt sich die Dichte aus den Formeln heraus, und
man berechnet ausschließlich mit dem Volumen der Körper die
1 n 1 n 1 n
xS = ∑ Vi xi , yS = ∑ Vi yi , zS = ∑ Vi zi . (4.4)
Vges i=1 Vges i=1 Vges i=1
4.2 Flächenschwerpunkte 31
Entsprechend modifizieren sich die Integralformeln für Körper aus homogenem Material:
1 1 1
Z Z Z
xS = x dV , yS = y dV , zS = z dV . (4.5)
Vges Vges Vges
V V V
Wenn man bei einem homogenen Körper den Koordinatenursprung in eine Symmetrieebene le-
gen kann, so ergibt sich für die Koordinatenrichtung senkrecht zur Symmetrieebene die Schwer-
punktkoordinate Null, weil zu jedem Volumenteil an einem positiven „Hebelarm“ ein entspre-
chendes mit negativem Hebelarm vorhanden ist:
Wenn Symmetrieebenen in einem homogenen Körper vorhanden sind, dann liegt der Schwer-
punkt in diesen Ebenen.
1 a0 + a1 h 4R − h h
zS = h zS = zS = (4.6)
4 2a0 + a1 2 3R − h 4
4.2 Flächenschwerpunkte
Für den speziellen Fall eines homogenen flächenhaften Körpers (sehr dünnes Blech mit kon-
stanter Dicke) kann das Volumen aus dem Produkt „Fläche · Dicke“ ermittelt werden. Aus den
Schwerpunktformeln kürzt sich die Dicke dann heraus, und es verbleiben die
1 n 1 n 1 n
xS = ∑ Ai xi , yS = ∑ Ai yi , zS = ∑ Ai zi ,
Ages i=1 Ages i=1 Ages i=1
(4.7)
1 1 1
Z Z Z
xS = x dA , yS = y dA , zS = z dA .
Ages Ages Ages
A A A
32 4 Schwerpunkte
Die Formeln 4.7 gelten für beliebige Flächen im Raum. Besonders wichtig in der Technischen
Mechanik ist jedoch die Ermittlung von Flächenschwerpunkten ebener Flächen, für die dann
natürlich nur zwei Koordinaten bestimmt werden müssen.
Die Ausdrücke in den Zählern der Schwerpunktformeln, die in den Formeln für die Körper-
schwerpunkte Momente (Gewichtskraft · Hebelarm) sind, werden analog dazu als „statische
Momente der Teilflächen“ bezeichnet, die Integrale sind die „statischen Momente der Fläche“.
Statisches Moment einer Fläche: Das statische Moment bezieht sich immer auf eine be-
stimmte Achse, als Sx wird z. B. das auf die x-Achse bezogene statische Moment bezeichnet:
Z
Sx = y dA . (4.8)
A
Beispiel:
Für ein rechtwinkliges Dreieck mit den Katheten a und b sind die Schwerpunktkoor-
dinaten zu ermitteln.
Für die Berechnung der x-Koordinate des Schwerpunkts müssen die differenziell kleinen stati-
schen Momente x · dA integriert werden. Da in einem vertikalen Rechteck an der Stelle x jedes
Flächenelement den gleichen „Hebelarm“ x hat, darf als Flächenelement dA ein Rechteck mit
der Breite dx und der Höhe bx/a (Strahlensatz, mittlere Skizze) verwendet werden. Man erfasst
die gesamte Fläche bei Integration von x = 0 bis x = a. Eine entsprechende Überlegung gilt für
die Berechnung von yS . Mit der Gesamtfläche Ages = ab/2 ergibt sich:
Za a
2 b x3
1 2 b 2
Z
xS = x dA = x x dx = = a ,
Ages ab a ab a 3 x=0 3
A x=0
(4.9)
Zb 2 b
1 2 a 2 y a y3 b
Z
yS = y dA = y (b − y) dy = a − = .
Ages ab b ab 2 b 3 y=0 3
A y=0
Auf gleichem Wege kommt man zu den Schwerpunktformeln für andere ebene Flächen. Für
besonders häufig vorkommende Teilflächen sind die Ergebnisse (Flächeninhalt und Koordinaten
des Schwerpunkts) nachfolgend zusammengestellt.
4.2 Flächenschwerpunkte 33
Dreieck:
h h
yS = A=b (4.10)
3 2
3 3
3
Dreieck in beliebiger Lage:
1 1
2 xS = (x1 + x2 + x3 ) , yS = (y1 + y2 + y3 )
3 3 (4.11)
1
1 2 A = |(x2 − x1 )(y3 − y1 ) − (y2 − y1 )(x3 − x1 )|
1 2
1 2
Bogenlange
Kreissektor:
2 R b 2 R sin α
yS = =
3s 3α
(4.12)
s
A = R = R2 α
2
Kreisabschnitt:
Bogenlange
b3
yS =
6 (R s − R b + b h)
2 R sin3 α
=
3 (α − sin α cos α) (4.13)
1
A= (R s − R b + b h)
2
= R2 (α − sin α cos α)
Mit diesen Formeln kommt man im Allgemeinen aus, so dass die Anwendung der Integral-
formeln für die Schwerpunktberechnung vermieden werden kann. Allgemeine Polygonflächen
34 4 Schwerpunkte
(kompliziert berandete Flächen lassen sich durch Polygone annähern) werden im Abschnitt 4.5
behandelt.
Die in der Praxis wohl häufigste Aufgabe ist die Ermittlung des Schwerpunkts einer Fläche, die
sich aus Teilflächen zusammensetzt, deren Schwerpunkte bekannt sind. Dafür wird folgendes
Vorgehen empfohlen:
ê Die Wahl eines geeigneten Koordinatensystems kann den Aufwand verringern. Wenn der
Ursprung des Koordinatensystems in den Schwerpunkt einer Teilfläche gelegt wird, ver-
schwinden die statischen Momente für diese Teilfläche. Eine andere Empfehlung ist, das
Koordinatensystem so zu legen, dass alle Teilflächenschwerpunkte im ersten Quadranten
liegen (und damit positive Koordinaten haben).
ê Die Gesamtfläche sollte in möglichst wenige Teilflächen so zerlegt werden, dass die Schwer-
punkte dieser Teilflächen bekannt sind.
ê Wenn eine Fläche symmetrisch ist, liegt der
Schwerpunkt auf der Symmetrieachse. Es ge-
nügt aber auch, wenn die statischen Momen-
2 2
te der Teilflächen auf den beiden Seiten ei-
ner Achse gleiche Beträge haben. So kön-
2
2
nen die Schwerpunkte der beiden skizzierten 2
Flächen ohne Rechnung angegeben werden
(Abbildung 4.1).
ê Vielfach ist es sinnvoll, aus einer größeren Abbildung 4.1: Die Lage des Schwerpunkts
Teilfläche eine kleinere auszuschneiden. Sol- ist bei bestimmten Flächen auch ohne Rech-
che Ausschnittflächen gehen mit negativem nung bekannt.
Vorzeichen in die Formeln ein.
ê Für eine größere Anzahl von Teilflächen empfiehlt sich die Berechnung nach folgendem
Tabellenschema:
i Ai xi yi Ai xi Ai yi
∑ Ai ∑ Ai xi ∑ Ai yi
∑ Ai xi ∑ Ai yi
xS = , yS = . (4.14)
∑ Ai ∑ Ai
Für die Tabelle sind nur die Werte Ai , xi und yi der Aufgabe zu entnehmen (die grau un-
terlegten Zellen sind die „Eingabewerte“ für die Rechnung), die Ermittlung aller übrigen
Werte folgt einem formalen Algorithmus (unter www.TM-aktuell.de findet man hierzu eine
Ergänzung).
ê Zu beachten ist (natürlich nicht nur bei der Tabellenrechnung), dass sich die Koordinaten
der Teilflächenschwerpunkte immer auf das gemeinsame Koordinatensystem beziehen.
4.2 Flächenschwerpunkte 35
Beispiel:
Für die skizzierte schraffierte Fläche ist die Lage des Flächenschwerpunktes zu be-
rechnen.
5 4 2
5
2
3
1
3
3
3 4
4
Die Fläche wird in Standardflächen (Rechtecke, Dreiecke, Kreis) unterteilt. Bei der als Abbil-
dung 4.2 skizzierten möglichen Einteilung wurden zwei Rechteckflächen (1 und 3) und drei
Ausschnittflächen (der Kreis 2 und die Dreiecke 4 und 5) gewählt. Für diese Einteilung ergeben
sich unter Verwendung des eingezeichneten Koordinatensystems die Schwerpunktkoordinaten
der Teilflächen, die in der folgenden Tabelle (Abbildung 4.3) zu sehen sind.
Es bietet sich natürlich an, die Zahlen-
rechnung einem geeigneten Programm
zu übertragen. Nebenstehend sieht man
die Realisierung der Berechnung mit
MS-Excel. Die Excel-Datei, die die
auf der Seite 34 zu sehende Tabelle
einschließlich der Formeln 4.14 rea-
lisiert, steht unter www.TM-aktuell.de
zum Download zur Verfügung.
In der Tabellenrechnung wurde der
Faktor a, mit dem jede Abmessung
zu multiplizieren wäre, weggelassen.
Dementsprechend muss man sich al-
le Ergebnisse und Zwischenergebnis-
se mit den Faktoren a (Längen), a2
(Flächen) bzw. a3 (statische Momente) Abbildung 4.3: Berechnung des Flächenschwerpunkts mit
multipliziert denken. MS-Excel
Es soll hier schon darauf hingewiesen werden, dass die Berechnung des Flächenschwerpunkts
die Voraussetzung sein wird für die Ermittlung der Querschnittswerte in der Festigkeitslehre
(wird im Kapitel 16 behandelt). Deshalb sind auch das dafür verfügbare Rechenprogramm und
die Internet-Seite für die Online-Berechnung für die Berechnung von Flächenschwerpunkten
geeignet (beides zu erreichen über www.TM-interaktiv.de).
36 4 Schwerpunkte
4.3 Linienschwerpunkte
Analog zur Definition des Schwerpunkts einer Fläche wird auch der Schwerpunkt einer Linie
definiert. Man kann sich diese Linie als unendlich dünnen massebelegten Draht mit konstantem
Querschnitt vorstellen (Volumen = Länge · Querschnittsfläche), so dass sich die Querschnittsflä-
che aus den allgemeinen Schwerpunktformeln herauskürzt, und man erhält die
Besondere praktische Bedeutung hat der Linienschwerpunkt einer ebenen Kurve: Bei einem
Stanzvorgang zum Beispiel (ein Werkstück wird entlang einer Linie, seiner Berandung, aus ei-
nem Blech herausgetrennt) sollte die Krafteinleitung in das Werkzeug im Linienschwerpunkt der
Berandung des Werkstücks erfolgen, um eine gleichmäßige Scherwirkung zu erzielen.
Natürlich liegt auch der Linienschwerpunkt symmetrischer Kurven auf der Symmetrieachse (auf
einem Geradenstück in der Mitte, im Mittelpunkt eines Kreises usw.).
Mit Hilfe der Integralformel errechnet man die Formel für den
Bogenlange
R sin α b
yS = =R , s = 2Rα . (4.16)
α s
10 10 10
10
Beispiel:
Es ist der Linienschwerpunkt der skizzierten ge- 5
10
5
4.4 Experimentelle Schwerpunktermittlung 37
2
Aus der Formel 4.16 für einen Kreisbogen mit beliebigem Öff-
3
nungswinkel 2 α folgt für den speziellen Fall α = π/2 (Halb-
kreis): 4
r 5
1
yS = 2 ,
π 6 7
so dass z. B. für die Kreisbögen 7 und 10 (gewählte Num- 8
merierung siehe nebenstehende Abbildung 4.4) folgende Teil-
schwerpunkte in die Rechnung eingehen: 9
5
x7 = 20 + 2 · mm = 23, 183 mm ; y7 = 25 mm ;
π 10 2 /
5
x10 = 5 mm ; y10 = −2 · mm = −3, 183 mm . Abbildung 4.4: Nummerierung
π der Linien, Koordinatensystem
Mit dem in Abbildung 4.4 skizzierten Koordinatensystem erhält man schließlich die Koordi-
naten des Linienschwerpunktes aus den Längen l1 bis l10 der Linienstücke 1 bis 10 und deren
Schwerpunktkoordinaten x1 bis x10 bzw. y1 bis y10 (alle bezüglich des einheitlichen Koordina-
tensystems!):
10 10
1 1
xS = li xi = 12, 25 mm ; yS = li yi = 28, 66 mm .
lges ∑
i=1 lges ∑
i=1
So wird der Schwerpunkt des in Abbildung 4.5 dargestellten flächenhaften Körpers experimen-
tell ermittelt, indem das aus einem möglichst schweren Material ausgeschnittene Modell einmal
im Punkt B, zum anderen am Punkt C aufgehängt wird. Die beiden auf das Modell aufgezeichne-
ten Geraden (Verlängerungen der Fäden AB bzw. AC) bestimmen durch ihren Schnittpunkt den
Schwerpunkt der Fläche.
38 4 Schwerpunkte
Eine sehr effektive Methode auch für komplizierte Bauteile ist die Ermittlung des Schwerpunkts
durch „Auswiegen“. Dabei nutzt man die Tatsache aus, dass die Wirkungslinie der Resultieren-
den aller Gewichtskräfte durch den Schwerpunkt des Körpers verläuft.
Beispiel: Feder-
Für das in Abbildung 4.6 skizzierte Pleuel waagen
soll die Schwerpunktermittlung durch Auswiegen erläu-
tert werden.
Die Pleuelstange wird an den Punkten A und B an zwei
Federwaagen aufgehängt, so dass anstelle der Gesamtge-
wichtskraft die beiden Teilkräfte FA und FB gemessen wer-
den. Dieses Kraftsystem muss nun der Gesamtgewichts-
kraft äquivalent sein. Neben
FR = FA + FB
FR xS = FB l .
Eine ebene Fläche sei durch einen geschlossenen Polygonzug mit n Punkten und damit durch
n Geradenstücke begrenzt. Die Punkte werden von 1 bis n so fortlaufend nummeriert, dass bei
einem Umlauf in dieser Reihenfolge die Fläche immer links liegt (Abbildung 4.7).
4.5 Flächenschwerpunkte, Computer-Verfahren 39
1 1 6
∆ A12 = (x1 − x2 )(y1 + y2 ) ,
2 4
5
für die Trapezfläche unter einem beliebigen Geradenstück 2
45
i- j erhält man (negativ)
3
1
∆ Ai j = (xi − x j )(yi + y j ) , (4.17)
2
wobei sich positive Werte für xi > x j und dementsprechend Abbildung 4.7: Polygon
für xi < x j negative Werte ergeben.
Es ist leicht nachzuvollziehen, dass deshalb die Summe aller vorzeichenbehafteten Trapezflä-
chen die von dem Polygonzug eingeschlossene Fläche ergibt. In dieser Summe heben sich alle
Produkte der Punktkoordinaten mit gleichen Indizes heraus, und man erhält die Formel
n
1
A=
2 ∑ (xi yi+1 − xi+1 yi ) , (4.18)
i=1
wobei als Punkt (n + 1) noch einmal Punkt 1 zu verwenden ist (skizziertes Beispiel mit n = 7:
Punkt 8 = Punkt 1).
Eine entsprechende Überlegung liefert die Formeln für die statischen Momente:
n
1
Sx =
6 ∑ (xi yi+1 − xi+1 yi )(yi + yi+1 ) ,
i=1
n
(4.19)
1
Sy =
6 ∑ (xi yi+1 − xi+1 yi )(xi + xi+1 ) .
i=1
Damit können die Schwerpunktkoordinaten der von dem Polygon umschlossenen Fläche nach
den bekannten Formeln ermittelt werden:
Sy Sx
xS = , yS = . (4.20)
A A
Dieser Formelsatz eignet sich hervorragend für die Programmierung selbst auf programmierba-
ren Taschenrechnern, weil die Koordinaten nicht gespeichert werden müssen. Die drei Summen
können gebildet werden, wenn dem Programm bei jeder Eingabe eines Punktes nur noch die
Koordinaten des vorhergehenden Punktes zur Verfügung stehen.
Der Formelsatz ist auch anwendbar auf Flächen, die aus mehreren nicht miteinander verbunde-
nen Teilflächen bestehen, wenn man nach Umfahren der ersten Teilfläche mit einem beliebigen
Punkt der zweiten Teilfläche fortsetzt und nach Umfahren dieser Fläche zum Ausgangspunkt
der ersten Teilfläche zurückkehrt. Auf diese Weise wird die nicht zum Polygonzug gehörende
Verbindungslinie zweimal durchlaufen, so dass sich ihre Anteile zu der Summenformel wegen
40 4 Schwerpunkte
1,8,13,19 14,18
Beispiel: 17
Die skizzierte Fläche (Koordina- Start
Pkt. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
x; y 12;24 0;0 5;0 7;4 17;4 19;0 24;0 12;24 12;14 15;8
Pkt. 11 12 13 14 15 16 17 18 19
x; y 9;8 12;14 12;24 27;24 27;0 31;0 31;24 27;24 12;24
Abbildung 4.8: Die Matlab- Abbildung 4.9: ... und die Rechnung nach den Formeln 4.18 bis
Grafik „versteht“ auch diese Art 4.20 liefert die Ergebnisse (siehe www.TM-aktuell.de)
der Beschreibung von Flächen, ...
4.5 Flächenschwerpunkte, Computer-Verfahren 41
Eine Fläche ist wie skizziert oben und unten durch die
beiden Funktionen yo (x) bzw. yu (x) und seitlich durch
die vertikalen Linien bei a und b begrenzt. Unter der
Voraussetzung, dass in diesem Bereich
yo (x) ≥ yu (x)
Mit der Formel 4.21 für die Gesamtfläche A erhält man die für diesen speziellen Fall sehr nützli-
chen Formeln für den
Flächenschwerpunkt einer Fläche zwischen zwei Funktionen:
Zb Zb
1 1
xS = x (yo − yu ) dx , yS = (y2o − y2u ) dx . (4.23)
A 2A
x=a x=a
Natürlich kann die Integration manchmal etwas mühsam (und für zahlreiche
Funktionen in geschlossener Form sogar unmöglich) sein. Der Wert der For-
meln 4.23 besteht vor allen Dingen darin, dass man sie auch für komplizierte
Funktionen aufschreiben kann, um dann (ausgesprochen mühelos) das Er-
gebnis durch numerische Integration mit dem Computer zu ermitteln (siehe
hierzu www.TM-aktuell.de).
Beispiel:
Eine Fläche wird oben durch die Sinus-Kurve y = sin x und unten durch eine Gerade
begrenzt, die die Sinus-Kurve im Nullpunkt und im ersten Scheitelpunkt schneidet. Da dieser
Scheitelpunkt bei x = π2 liegt, wird die Gerade durch
2
y= x
π
beschrieben. Für die eingeschlossene Fläche sind die Schwerpunktkoordinaten zu berechnen.
42 4 Schwerpunkte
ê In der Regel genügt die numerische Integration, die auch dann möglich
ist, wenn eine analytische Lösung gar nicht existiert. Die Ergebnisse sind
beliebig genau, und man sollte im Zweifelsfall keine Zeit darauf ver-
schwenden, eine exakte Lösung zu erzwingen.
Und was bedeutet das für denjenigen, der sich bemüht, die Grundbegriffe der Techni-
schen Mechanik zu erlernen?
Konzentrieren Sie sich auf die Probleme der Technischen Mechanik, die sind schwierig ge-
nug. Das Mechanik-Problem darf als gelöst gelten, wenn das bestimmte Integral korrekt auf-
geschrieben ist. Für die (in der Praxis natürlich sehr wichtige) Lösung darf man auf die Ver-
fügbarkeit starker Hilfsmittel vertrauen.
Bemerkungen dieser Art werden Sie an verschiedenen Stellen in diesem Buch antreffen,
immer verknüpft mit dem Verweis auf die Internet-Site „Mathematik für die Technische
Mechanik“ (www.TM-Mathe.de). Dort gibt es z. B. auch einen Bereich „Numerische Inte-
gration“.
4.6 Volumen-, Flächen- und Linienlasten 43
F = p0 A
Zb Zb
1
F= q dz , z= q z dz . (4.24)
F
z=a z=a
Als Faustregel darf gelten: Die Resultierende F repräsentiert genau die Fläche, mit der die
Linienlast q(z) symbolisch dargestellt wird, und F greift im Schwerpunkt dieser Fläche an.
Unter anderem werden Linienlasten zur Erfassung der Eigengewichtsbelastung gerader Träger
verwendet. Für den Fall, dass der Querschnitt des Trägers entsprechend A(z) veränderlich ist,
erhält man mit der Dichte ρ und der Erdbeschleunigung g aus der folgenden Formel die
Beispiel 1:
Der Durchmesser der skizzierten Wel- 1 2 3 4 5
le wächst im konischen Abschnitt 2 von D2 auf
D3 und ist im Abschnitt 3 konstant. Für diese bei-
den Abschnitte sind die Funktionen der Linienlas- 2
d2 z2 2
π π 2
A2 (z2 ) = π 2 = D2 + (D3 − D2 ) , A3 (z3 ) = D ,
4 4 l2 4 3
und nach Formel 4.25 ergeben sich die Linienlasten
z2 2
πρg πρg 2
q2 (z2 ) = D2 + (D3 − D2 ) , q3 (z3 ) = D3 .
4 l2 4
Beispiel 2: 1
Für einige besonders häufige Lini-
enlastverläufe sollen Größe und Lage der Resul- 1 /2
=
tierenden (Abbildung 4.12) berechnet werden.
2 /3
Für die skizzierte Dreieckslast mit der Maximal-
intensität q1 ist der Verlauf der Linienlast mit der
gewählten Koordinate durch
0
z 0
q(z) = q1 (4.26)
l =
1 2 0
F= q1 l , z= l . (4.27) =
2 3
/2
Es ist leicht einzusehen, dass für eine konstante
Linienlast bzw. eine Trapezlast die angegebenen 2 /3
Ergebnisse gelten. Dabei ist es sinnvoll, die Tra-
pezlast durch zwei Einzelkräfte (aus konstanter Abbildung 4.12: Dreieckslast, konstante Linien-
Linienlast und Dreieckslast) zu ersetzen. last und Trapezlast
4.7 Aufgaben 45
4.7 Aufgaben
Aufgabe 4.1:
Ein Würfel aus Aluminium
(Dichte: ρAl = 2,70 g/cm3 ) mit einer Kanten-
länge a = 200 mm ist mit einem kleineren
Würfel (Kantenlänge 2a ) aus Eisen (Dichte:
ρFe = 7,85 g/cm3 ) verbunden.
Man ermittle die Koordinaten des Gesamt-
schwerpunkts bezüglich des eingezeichneten
Koordinatensystems.
Aufgabe 4.2:
Der skizzierte homogene Körper besteht aus einer
Halbkugel und einem Kegel.
Für einen gegebenen Radius R ist die Höhe H des Kegels zu er-
mitteln, für die der Gesamtschwerpunkt des Körpers in die Ver-
bindungsfläche von Halbkugel und Kegel fällt.
Aufgabe 4.3:
Für die skizzierten Flächen sind die Koordinaten der Flächenschwerpunkte zu
berechnen.
Liebe Studenten, liebe Schüler, Sie haben natürlich recht mit der Frage, die sich gera-
dezu aufdrängt. Sie haben sich möglicherweise eine Software heruntergeladen oder die
Online-Berechnung von Schwerpunkten getestet (beides wird über www.TM-aktuell.de bzw.
www.TM-interaktiv.de angeboten) und fragen nun: „Warum muss ich das denn alles lernen,
wenn es so bequem mit ein paar Mausklicks zu erledigen ist?“
Sie müssten es auch nicht lernen, wenn Sie „Schwerpunkt-Berechner“ werden wollten (den
Beruf gibt es allerdings nicht). Auch der Auto-Mechaniker, der Pkw-Räder auswuchtet, muss
die im Abschnitt 29.4.2 behandelte Theorie des Auswuchtens nicht beherrschen. Es genügt,
dass seine Maschine „weiß, wie es geht.“
Sie aber wollen einen technischen Beruf erlernen. Wahrscheinlich wollen Sie Ingenieur wer-
den. Und dann gibt es mindestens die beiden folgenden Gründe als Antwort auf die oben
gestellte Frage:
• Sie müssen das Herangehen an Probleme und die Strategien zu ihrer Lösung trainieren,
um später für die Probleme, für die es noch keine Lösung gibt, gerüstet zu sein. Das muss
an ganz einfachen Dingen (wie z. B. Schwerpunktberechnung) geübt werden.
• Man kann bei der Nutzung von Software zur Lösung von Problemen beliebig viel falsch
machen. Deshalb zieht sich auch das schwierige Thema „Verifizieren von Computer-
rechnungen“ wie ein roter Faden durch dieses Buch. Natürlich rechnet der Ingenieur die
Lösungen, die der Computer abliefert, nicht „von Hand“ nach (das geht meistens auch
gar nicht). Aber er braucht ein Gefühl dafür, ob die Lösung richtig sein könnte, und er
muss in der Lage sein, offensichtlich falsche Ergebnisse möglichst sofort zu erkennen.
Von den zahlreichen Strategien dafür ist das Verständnis für die Theorie, die hinter den
Computer-Algorithmen steckt, eine besonders erfolgreiche Methode.
Sie werden bemerkt haben, die typische Motivation für Studenten und Schüler - „Ich muss
das lernen, weil es in der Prüfung drankommt.“ - ist eigentlich nur für diejenigen wichtig, die
die rationalen Argumente nicht einsehen. Zu denen gehören Sie, lieber Leser, ja aber nicht.
Ein Körper befindet sich im Gleichgewicht, wenn sich die Wirkungen aller an ihm angreifenden
Kräfte und Momente aufheben. Aus dieser Forderung ergeben sich die
Man beachte:
ê Die durch die Indizes x und y angedeuteten Richtungen in den Kraft-Gleichgewichtsbedin-
gungen können selbstverständlich beliebig gewählt werden. Es ist nicht erforderlich, dass
die beiden Richtungen senkrecht zueinander sind.
ê Der Bezugspunkt für die Momenten-Gleichgewichtsbedingung kann beliebig in der Ebene
festgelegt werden.
ê Es ist möglich (und vielfach zweckmäßig), eine oder beide Kraft-Gleichgewichtsbedingun-
gen durch zusätzliche Momenten-Gleichgewichtsbedingungen mit anderen Bezugspunkten
zu ersetzen, die bei drei Momenten-Gleichgewichtsbedingungen allerdings nicht auf einer
Geraden liegen dürfen. Bei zwei Momenten-Gleichgewichtsbedingungen dürfen die beiden
Bezugspunkte nicht auf einer gemeinsamen Senkrechten zur Kraft-Gleichgewichts-Rich-
tung liegen.
ê Da drei Gleichgewichtsbedingungen erfüllt werden müssen, dürfen drei Größen unbekannt
sein, die dann mit Hilfe dieser Bedingungen ermittelt werden können.
ê Obwohl theoretisch beliebig viele Gleichgewichtsbedingungen aufgeschrieben werden kön-
nen (z. B. durch Wahl immer neuer Bezugspunkte für das Momenten-Gleichgewicht), kön-
nen doch niemals mehr als drei Unbekannte aus diesen Gleichungen errechnet werden. Zu-
sätzliche Gleichungen können zur Kontrolle der Rechnung nützlich sein.
ê Neben der Freiheit, beliebige Richtungen für die Kraft-Gleichgewichtsbedingungen festzu-
legen, kann auch jeweils der positive Richtungssinn für die Kräfte und der positive Drehsinn
für die Momente für eine Gleichgewichtsbedingung beliebig gewählt werden.
ê In die Kraft-Gleichgewichtsbedingungen gehen alle Einzelkräfte einschließlich der resultie-
renden Kräfte ein, auf die verteilte Belastungen (z. B.: Linienlasten) vorher reduziert werden
2
Beispiel:
Eine rechteckige Scheibe (Ge-
wichtskraft FG ) ist wie skizziert an drei Seilen 1
aufgehängt.
Gegeben: FG = 2 kN ; α = 60◦ .
Man ermittle die Kräfte in den Seilen 1 bis 3. 3
2
Für eine zweite Kraft-Gleichgewichtsbedingung kann man jedoch keine Richtung finden, die
zwei Unbekannte aus der Gleichung heraushält. Im Gegensatz dazu lässt sich die Momenten-
Gleichgewichtsbedingung immer so formulieren, dass nur eine Unbekannte in der Gleichung er-
scheint, indem als Bezugspunkt der Schnittpunkt der Wirkungslinien zweier unbekannter Kräfte
gewählt wird. Für die vorliegende Aufgabe drängt sich der Punkt A in dieser Hinsicht geradezu
auf, und es empfiehlt sich dann durchaus, als dritte Gleichgewichtsbedingung das Momenten-
Gleichgewicht um den Punkt C aufzuschreiben, so dass alle Gleichungen jeweils nur eine Unbe-
kannte enthalten (und Rechenfehler sich nicht fortpflanzen!)1 . Aus den Momentenbeziehungen
Beispiel 1:
Der ungebundene starre Körper hat in
der Ebene drei Freiheitsgrade. Eine starre Bindung
(dreiwertiges Lager) bindet drei Freiheitsgrade. Ei-
ne gelenkige Lagerung (zweiwertiges Lager) bin-
det zwei Freiheitsgrade (Rotation ist möglich).
Beispiel 2:
Wenn die gelenkige Aufhängung sich
in einer Richtung bewegen kann, wird nur ein Frei-
heitsgrad gebunden (einwertiges Lager). Die Kom-
bination eines einwertigen mit einem zweiwertigen
Lager bindet auch drei Freiheitsgrade, und der Kör-
per hat wie bei der Lagerung mit einem dreiwerti-
gen Lager keine Bewegungsmöglichkeit mehr.
Seil
Das Seil kann nur eine Kraft in seiner Längsrich-
tung aufnehmen. Diese wird (wie in der Abbildung
5.1) als Zugkraft angetragen und darf nicht negativ
werden (FS ≥ 0).
Abbildung 5.1: Ein Seil kann nur eine Zugkraft
in seiner Längsrichtung aufnehmen.
Der Stab ist sowohl mit dem Körper als auch mit
Stab
einem Festpunkt gelenkig verbunden und kann nur
eine Kraft in seiner Längsrichtung aufnehmen. Die-
se wird (wie in der Abbildung 5.2) als Zugkraft an-
getragen und darf auch negativ werden.
Abbildung 5.2: Ein Stab kann eine Zug- oder
eine Druckkraft aufnehmen.
50 5 Gleichgewicht des ebenen Kraftsystems
Ist der Körper über eine Hülse auf einer Schiene ge-
lagert (Abbildung 5.7), so werden eine Kraft senk-
recht zur Schiene und ein Moment, das die Rotation
verhindert, übertragen.
Abbildung 5.7: Eine Hülse auf einer Schiene
kann eine Kraft und ein Moment aufnehmen.
5.2 Lager und Lagerreaktionen in der Ebene 51
In der technischen Praxis kommen natürlich die verschiedensten Realisierungen für Lagerungen
vor, die bei ebenen Problemen dann immer als ein-, zwei- oder dreiwertiges Lager idealisiert
werden müssen, z. B.:
ê Gleitlager und Wälzlager werden im Allgemeinen als Loslager angesehen; wenn sie auch
axiale Kräfte aufnehmen können, als Festlager. Diese Idealisierung geht also davon aus,
dass sie keine Momente aufnehmen, was exakt natürlich nur für Pendellager gilt. Bei der
Lagerung einer Welle muss allerdings immer auch für die Aufnahme axialer Lasten gesorgt
werden. Dies geschieht durch Auswahl entsprechender Lager oder andere konstruktive Maß-
nahmen, die in der Regel nur Kräfte mit einem Richtungssinn aufnehmen können. Bei zwei
Lagerungen dieser Art wird dann eines der beiden Lager als Festlager modelliert.
Einspannung
Loslager Festlager
Abbildung 5.11: Typische Lagerungen eines starren Körpers in der Ebene (oben) und die zugehörigen
Schnittskizzen zur Berechnung der Lagerreaktionen (unten)
Für die ein-, zwei- und dreiwertigen Lager werden (unabhängig von der technischen Realisie-
rung) die in der Abbildung 5.11 verwendeten Symbole vereinbart.
Die Kräfte und Momente, die von den Lagern auf den starren Körper aufgebracht werden (Lager-
reaktionen), sind im Allgemeinen zunächst unbekannt und werden mit Hilfe der Gleichgewichts-
bedingungen berechnet. Dafür sollten unbedingt Schnittskizzen angefertigt werden, in denen die
weggeschnittenen Lager durch die Lagerreaktionen ersetzt werden (siehe Abbildung 5.11).
Wenn durch die Lagerung eines starren Körpers in der Ebene seine drei Bewegungsmöglichkei-
ten behindert werden, so bleibt er auch unter Belastung in Ruhe. Dafür ist mindestens eine der
drei folgenden Kombinationen von Lagern erforderlich:
• Ein dreiwertiges Lager oder
• ein einwertiges und ein zweiwertiges Lager oder
• drei einwertige Lager.
Bei gegebener Belastung können für diese drei Kombinationen von Lagern für den starren Körper
die Lagerreaktionen aus den drei Gleichgewichtsbedingungen berechnet werden. Dieser Fall hat
besondere praktische Bedeutung:
Ein Körper ist statisch bestimmt gelagert, wenn alle Lagerreaktionen allein aus den Gleich-
gewichtsbedingungen berechnet werden können.
5.3 Statisch bestimmte Lagerung 53
Ist der starre Körper durch mehr als drei Bindungen gefesselt, so liegt ein statisch unbestimmtes
Problem vor, das mit den für die Statik getroffenen Annahmen (starrer Körper) nicht zu lösen
ist. Unter Einbeziehung der Verformbarkeit der Körper (wird in der Festigkeitslehre behandelt)
können auch für statisch unbestimmt gelagerte Körper die Lagerreaktionen berechnet werden.
Beispiel 1:
Die in Abbildung 5.12
skizzierten Tragwerke mit
statisch bestimmter Lage-
rung gestatten die Berech-
nung sämtlicher (drei) La-
gerreaktionen ausschließ-
lich über Gleichgewichts-
betrachtungen.
Abbildung 5.14: Statisch unterbestimmte Lagerung. Mit den gestrichelt gezeichneten Lagen wird ange-
deutet, dass trotz der Lagerung eine Starrkörperbewegung möglich ist (Bewegung ohne Verformung).
54 5 Gleichgewicht des ebenen Kraftsystems
Aus der Tatsache, dass eine der eingangs (auf Seite 52) genannten Lagerkombinationen (ein drei-
wertiges, ein ein- und ein zweiwertiges oder drei einwertige Lager) den starren Körper bindet,
kann noch nicht zwingend auf die statische Bestimmtheit der Lagerung geschlossen werden (drei
Bindungen sind dafür notwendige, nicht auch hinreichende Bedingung, siehe nachfolgendes Bei-
spiel).
Beispiel 4:
Es ist sofort zu sehen (Abbildung 5.15), dass der durch
drei Loslager gebundene Träger sich noch horizontal bewe-
Abbildung 5.15: Drei einwertige
gen kann. Die Kraft-Gleichgewichtsbedingung in horizonta-
Lager sind keine Garantie für sta-
ler Richtung ist statisch nicht erfüllbar. tisch bestimmte Lagerung
Beispiel 5:
Schwieriger zu erkennen ist, dass dem
durch ein Festlager und ein Loslager gefesselten Rahmen
(Abbildung 5.16) noch eine (unendlich kleine) Rotation um
den Punkt A möglich ist, weil keine der Lagerreaktionen ein
Moment um diesen Punkt erzeugen kann. Aber auch dieser
Sonderfall äußert sich durch unerfüllbare Gleichungen. Die Abbildung 5.16: Schwierig zu er-
Summe aller Momente um Punkt A z. B. führt auf kennen: Statisch unbestimmtes Sys-
tem, weil unendlich kleine Drehun-
A' F a = 0 . gen um den Punkt A möglich sind
Der statisch bestimmt gelagerte Körper ist in der technischen Praxis nicht etwa die zufällige
Ausnahme (unter den unendlich vielen Möglichkeiten, einen Körper zu lagern). Zahlreiche
Vorteile sprechen dafür, statisch bestimmte Lagerungen zu bevorzugen, z. B.:
• Die Lagerreaktionen statisch bestimmt gelagerter Körper sind mit den Mitteln der Sta-
tik (und damit besonders einfach) zu berechnen.
• Fertigungsungenauigkeiten führen bei statisch bestimmter Lagerung weder zu Span-
nungen im Bauteil noch zu einem völlig veränderten Tragverhalten (dies demonstrieren
die beiden nachfolgenden Beispiele).
• Thermische Dehnungen (z. B. durch Temperaturerhöhung) können sich bei statisch be-
stimmter Lagerung frei ausbilden und führen nicht zu inneren Spannungen im Bauteil
(dies wird ausführlich im Abschnitt 14.3 behandelt).
Beispiel 6:
Der zweifach gelagerte gerade Träger der Abbildung 5.17 stellt sich bei geringer
Absenkung einer Stütze etwas schräg, was zu keiner nennenswerten Änderung der Lagerreaktio-
nen führt, während der dreifach gelagerte Träger einer Stützenabsenkung nur durch Verbiegung
(verbunden mit inneren Spannungen) folgen kann:
5.3 Statisch bestimmte Lagerung 55
Abbildung 5.17: Fertigungsungenauigkeit bei statisch bestimmter Lagerung (oben) → kein Problem,
bei statisch unbestimmter Lagerung (unten) → Verformung und innere Spannungen
Beispiel 7:
Ein an drei Seilen aufgehängter Körper (Abbildung 5.18) belastet die Seile ein-
deutig (z. B. errechnet man: FS3 = F2G ). Die Seilkräfte ändern sich kaum, wenn eines der Seile
etwas länger (oder kürzer) ist und der Körper etwas schräg hängt (in Abbildung 5.18 als Fall a
rechts dargestellt).
1 2 3 1 2 3
3 =
2
Abbildung 5.18: Statisch bestimmte Aufhängung: Die Seilkräfte sind weitgehend unabhängig von kleinen
Ungenauigkeiten der Seillängen.
Durch Anbringen eines vierten Seiles (Abbildung 5.19) ändert sich das Tragverhalten grund-
legend, wenn eines der Seile nicht exakt die vorgeschriebene Länge hat, weil der Körper der
Längenänderung nicht durch Schrägstellung folgen kann, beispielsweise: Wenn Seil 4 etwas zu
lang ist (Fall b), trägt es nicht mit, und die Seilkräfte 1 bis 3 haben die gleichen Werte wie im Fall
a. Ist dagegen Seil 3 etwas zu lang (Fall c), muss Seil 4 die gesamte Gewichtskraft aufnehmen:
1 2 4 3 1 2 4 3 1 2 4 3
3 = 4= 0 = S3 = 0
2 S4
Abbildung 5.19: Statisch unbestimmte Aufhängung: Keine (Fall b) bzw. drastische Änderung (Fall c) der
Seilkräfte (im Vergleich mit der Aufhängung an drei Seilen) bei kleinen Ungenauigkeiten der Seillängen.
56 5 Gleichgewicht des ebenen Kraftsystems
Beispiel 8:
Wenn zwei Menschen einen Gegen-
stand (z. B. eine Leiter, Abbildung 5.20) tragen, hat
jeder eindeutig eine anteilige Last zu bewältigen. Ein
dritter „Träger“ könnte schummeln (oder es schum-
meln sogar zwei auf Kosten des dritten).
Abbildung 5.20: Eindeutige Lastverteilung
Beispiel 9:
Der skizzierte gerade Träger ist durch
die Linienlast q0 und die Einzelkraft F belastet. Er ist Seil
0
0,3
bei A gelenkig gelagert und wird zusätzlich durch ein
Seil gehalten.
Gegeben: l , q0 , F = 3q0 l . 0,4
Nach dem Freischneiden des Trägers können die Unbekannten z. B. durch Momenten-Gleich-
gewicht um die Punkte A, B und C unabhängig voneinander berechnet und könnten durch eine
weitere Gleichgewichtsbeziehung (z. B.: Summe aller Vertikalkräfte) kontrolliert werden:
0,6
0,3
A' q0 · 0, 6l · 0, 7l + Fl − FS · 0, 4l sin α = 0 0
B' q0 · 0, 6l · 0, 7l + Fl − FAH · 0, 3l =0
C' q0 · 0, 6l · 0, 3l + F · 0, 6l + FAV · 0, 4l = 0 0,4
Die benötigte Winkelfunktion kann unmittelbar aus der Geometrie abgelesen werden:
0, 3l 3
sin α = p = ,
0, 09 l 2 + 0, 16 l 2 5
Beispiel 10:
Das in Abbildung 5.21 skizzierte Modell eines Krans ist durch seine Eigenge-
wichtskraft FK und die Last FG belastet. Es ist bei A durch ein Festlager, bei B durch ein Loslager
abgestützt. Das Seil, an dem die Last FG hängt, ist im Fall a am Kran befestigt, im Fall b außer-
halb des Krans am Boden (technische Realisierung z. B.: Die Winde, die die Last hebt, befindet
sich im Kran bzw. außerhalb des Krans).
5.3 Statisch bestimmte Lagerung 57
Abbildung 5.21: Modell eines Krans mit unterschiedlicher Befestigung der Last
Gegeben: FK = 2 kN ; FG = 1 kN ; a = 0, 2 c ; b = 0, 7 c ; d = 0, 5 c .
Man bestimme für beide Varianten die Lagerreaktionen bei A und B.
Die unterschiedlichen Befestigungen des Seils zwingen zu unterschiedlichen Schnittführungen
(Abbildung 5.22). Um ein „von äußeren Bindungen freies System“ zu erreichen, muss bei der
Variante a das Seil überhaupt nicht geschnitten werden. Bei der Variante b dagegen muss auch
das Seil von der Unterlage gelöst werden, so dass eine zusätzliche Belastung durch FG entsteht.
Abbildung 5.22: In Abhängigkeit von der Befestigung des Seils muss unterschiedlich geschnitten werden.
Beispiel 11:
Ein Motor und eine Arbeitsmaschine 1,5
sind auf einem gemeinsamen Fundament (Fundament- 2 2
1
masse: mF ) gelagert und belasten dieses durch die 2
1
Momente M1 und M2 und die Gewichtskräfte ihrer
3
1
Massen m1 und m2 . 3
3
Gegeben: α = 45◦ ; β = 20◦ ;
m2 = 2m1 ; mF = 4m1 ;
3
1 2
M1 = m1 ga ; M2 = 3m1 ga .
Gesucht: Kräfte in den Stäben 1, 2 und 3. 3 3
1 m1 g cot α
F3 = = 5, 789 m1 g
2 cos β (3 − 4 cot α) + 3 sin β cot α
und damit: F1 = 0, 297 m1 g ; F2 = −7, 396 m1 g .
2 Auch wenn die Lösung „von Hand“ für dieses Problem durchaus noch zumutbar ist, soll schon hier auf Abschnitt
6.3 (Lineare Gleichungssysteme) verwiesen werden. Unter www.TM-aktuell.de findet man außerdem die Lösung des
Gleichungssystems für das hier behandelte Beispiel 11 mit Hilfe unterschiedlicher Software-Produkte.
5.4 Aufgaben 59
5.4 Aufgaben
Aufgabe 5.1:
Für den skizzierten Träger
sind die Lagerreaktionen bei A und B zu 7 0
3 0
ermitteln.
Gegeben: a = 220 mm ; b = 800 mm ;
c = 210 mm ; d = 270 mm ;
q0 = 1 N/mm ; F = 2 kN .
Aufgabe 5.2:
Der skizzierte Hebel ist bei A gelenkig gelagert und
wird zusätzlich durch ein über eine Umlenkrolle geführtes Seil ge-
halten (die Hinweise auf Seite 60 können sicher hilfreich sein).
Gegeben: a, F .
Gesucht: Komponenten der Lagerkraft bei A.
Aufgabe 5.3: 1
Eine starre Kreisscheibe ist durch
ihre im Mittelpunkt angreifende Eigengewichts-
kraft und die Momente M1 , M2 und M3 belastet.
2 2
Gegeben: M1 = 120 Nm ; M2 = 180 Nm ; 1 3
45 o 45 o
M3 = 200 Nm ; FG = 200 N ;
R = 0, 3 m .
3
Gesucht: Stabkräfte in den Stäben 1, 2 und 3.
Aufgabe 5.4:
Das skizzierte statische Modell eines Hub-
werks ist durch seine Eigengewichtskraft FK und die Mas-
sen m1 und m2 belastet.
Die Masse m2 hängt an einem Seil, das am Hubwerk be-
festigt ist, m1 ist über ein Seil an einer Wand außerhalb des
Hubwerks befestigt.
Gegeben: FK = 3 kN ; 1
m1 = 50 kg ; m2 = 150 kg . 2
Lieber Leser, das war ein ganz wichtiges Kapitel, hoffentlich haben Sie es bemerkt. Mit
dem Verständnis des gerade behandelten Stoffs (und besonders der Beispiele und Aufgaben)
entscheidet sich für den Anfänger nach der Erfahrung der Autoren der zukünftige Erfolg
(bzw. Misserfolg) im Umgang mit der Technischen Mechanik.
Das Problem besteht nicht in dem durch die Kapitelüberschrift vorgegebenen Thema (die
Theorie zum Gleichgewicht des ebenen Kraftsystems wurde schließlich komplett auf der
einen Seite 47 behandelt), es sind die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen und das Zu-
sammenspiel der Theorie mit dem bereits in den vorangegangenen Kapiteln behandelten
Stoff. Die Vorteile statisch bestimmter Systeme sollten Ihnen deutlich geworden sein. Dieses
Thema wird allerdings im folgenden Kapitel noch einmal ausführlich aufgegriffen.
Viel wichtiger ist das Verständnis für die Anwendung des Schnittprinzips,
unabdingbare Voraussetzung auch für die Lösung der vier Aufgaben die-
ses Abschnitts. Es gibt ein ausführlich kommentiertes Beispiel zu diesem
Thema im Internet unter www.TM-aktuell.de. Auf die wichtigsten Beson-
derheiten wird nachfolgend noch einmal hingewiesen werden.
ê Bei der Lösung der Aufgabe 5.1 schneidet man einfach die beiden Lager weg, trägt die
insgesamt drei Komponenten der Lagerreaktionen an und schreibt die drei Gleichgewichts-
bedingungen auf. Bei der Aufgabe 5.3 dagegen bringt das Wegschneiden der drei Festlager
keinen Erfolg, denn dann hat man insgesamt sechs Unbekannte. Hier muss man durch die
Stäbe schneiden, um nur drei unbekannte Stabkräfte zu bekommen.
Beides wurde im Beispiel 9 demonstriert, wo das mit dem starren Körper verbundene Fest-
lager A weggeschnitten wurde, zum anderen wurde das Seil geschnitten (und nicht etwa das
Festlager B gelöst), so dass sich 3 Unbekannte ergaben.
ê Um zielführende Schnitte für die Aufgaben 5.2 und 5.4 zu fin-
den, muss man das Beispiel 10 verstanden haben. Weil dieses
Beispiel exemplarischen Charakter hat, wurde auf Seite 57 eine
„komplette“ Schnittskizze angegeben (dies ist nicht üblich und
wird auch bei folgenden Aufgaben nicht mehr praktiziert). Man
sieht nicht nur die freigeschnittenen Systeme, sondern auch die
weggeschnittenen Lager, an denen die Lagerreaktionen mit je-
weils umgekehrtem Richtungssinn als Lagerkräfte wirken. So
wird deutlich, dass die Seilkraft als Belastung des Systems ein- Abbildung 5.23: Schnitt-
geht, wenn das Seil „an der Außenwelt“ befestigt ist. skizze für die Aufgabe 5.2
ê Feste Rollen lenken Seilkräfte nur um. Deshalb ist die Seilkraft FS im Beispiel 10 gleich der
Gewichtskraft FG , und die Schnittskizze für Aufgabe 5.2 (Abbildung 5.23) zeigt, dass am
starren Körper die Seilkraft FS zweimal in gleicher Größe angetragen werden muss.
ê Die immer wieder auftauchende Frage, ob man denn nicht auch beim Fall a des Beispiels
10 das Seil zerschneiden könnte, kann durchaus mit „Ja“ beantwortet werden. Allerdings
muss man dann auch die (gleich große) Gegenkraft antragen, und dann wirken am Kran
zwei Kräfte FS , die im Gleichgewicht sind und summarisch also keine Wirkung haben.
6 Ebene Systeme starrer Körper
Abbildung 6.1: Das Anbringen einer zusätzlichen (gestrichelt gezeichneten) Stütze würde zu einer statisch
unbestimmten Lagerung führen und verbietet dich deshalb.
Wenn man nun zwei Brückenteile baut (Abbildung 6.2), das rechte Teilstück bei B und C lagert
und für das linke Teilstück eine zusätzliche Stütze G vorsieht, entstehen zwei statisch bestimmt
gelagerte Teilsysteme.
Es ist sicher einzusehen, dass die Teilsysteme auch dann noch statisch bestimmt gelagert sind,
wenn der linke Teil nicht mehr auf der Zusatzstütze, sondern auf einem auf dem rechten Teil
angebrachten Festlager (in der Abbildung 6.2 bereits eingezeichnet) gestützt wird, denn
• für den linken Teil ändert sich damit nichts und
• der rechte Brückenteil wird zwar durch zusätzliche Kräfte bei G belastet (in der Abbil-
dung 6.2 bereits gestrichelt angedeutet), aber zusätzliche Kräfte ändern an der statischen
Bestimmtheit nichts, da diese nur durch die Lagerung beeinflusst wird.
Abbildung 6.3: Eine Brücke mit drei Stützen und einem Gelenk ist ein statisch bestimmt gelagertes System.
Fazit: Das in der Abbildung 6.3 dargestellte Gesamtsystem mit einem Festlager, zwei Loslagern
und dem Gelenk G ist statisch bestimmt.
Träger auf mehreren Stützen, die durch Einfügen von Gelenken zu statisch bestimmten Trä-
gern wurden, werden Gerber-Träger genannt (nach G. H. G ERBER, 1832 - 1912, auf den
diese Idee zurückgeht).
Gerber-Träger haben alle im Abschnitt 5.3 diskutierten Vorteile. An dem in Abbildung 6.3 skiz-
zierten Beispiel wird deutlich, dass z. B. eine Absenkung der Mittelstütze nicht zu einer Verbie-
gung der Träger führt, weil die beiden Trägerteile der Absenkung folgen können, indem sie eine
etwas schräge Lage einnehmen.
Es ist üblich, einen Gerber-Träger mit Hilfe der bereits vereinbarten Lagersymbole und einem
kleinen Kreis als Symbol für ein Gelenk darzustellen (Abbildung 6.4).
Natürlich können auch mehrere zusätzliche Lager durch weitere Gelenke ausgeglichen werden.
Die beiden in der Abbildung 6.5 skizzierten Systeme sind wie das bereits betrachtete Beispiel
statisch bestimmte Tragwerke.
1 2
1 2
Abbildung 6.5: Zwei Varianten von Gerber-Trägern: Das unten zu sehende Beispiel hat im Brückenbau
den Vorteil, dass das Mittelstück erst am Ende der Bauarbeiten eingehängt werden muss.
6.1 Statisch bestimmte Systeme 63
Zu den unbekannten Lagerreaktionen kommen für jedes zerschnittene Gelenk noch zwei unbe-
kannte Gelenkkraftkomponenten hinzu, für die nun aber auch eine größere Anzahl von Gleichun-
gen zur Verfügung steht. Ein solches System kann nur statisch bestimmt sein, wenn die Anzahl
der Gleichungen mit der Anzahl der Unbekannten übereinstimmt.
Diese Bedingung ist für alle bisher betrachteten Systeme erfüllt. Es ist eine notwendige Bedin-
gung (wenn sie nicht erfüllt ist, kann das System nicht statisch bestimmt sein), sie ist aber nicht
hinreichend.
1 2
Abbildung 6.7: Ein Gerber-Träger, der die notwendige Bedingung für die statische Bestimmtheit erfüllt,
ist durchaus nicht immer tragfähig.
Für den in Abbildung 6.7 oben skizzierten Gerber-Träger ist die notwendige Bedingung für
die statische Bestimmtheit erfüllt, dieses Gelenksystem ist aber als Tragwerk untauglich. Das
rechte Teilsystem ist statisch unbestimmt gelagert (als starrer Körper kann es zum Beispiel einer
Stützenabsenkung nicht folgen), während die beiden linken Teile statisch unterbestimmt gelagert
(und damit als Starrkörper beweglich) sind. Schon durch sein Eigengewicht würde ein solches
Gelenksystem als Tragwerk versagen.
Es kommt also (wie beim einzelnen starren Körper) nicht nur auf die Anzahl der Bindungen an.
Die Sonderfälle, bei denen trotz Erfüllung des notwendigen Kriteriums (gleiche Anzahl unbe-
kannter Kräfte und Gleichgewichtsbedingungen) das System nicht statisch bestimmt ist, äußern
sich durch Widersprüche in den Gleichungen. Diese Aussage ist leider nicht umkehrbar: Die
meisten Widersprüche in Gleichgewichtsbedingungen werden nicht vom mechanischen System,
sondern von dem, der es berechnen will, verursacht.
Hinweis zur Wortwahl: Bei Aufgabenstellungen der Praxis sind häufig Lager- oder Gelenkkräfte
vorgegeben und gefragt sind zulässige Belastungen oder Abmessungen, so dass die vorgegebe-
nen Werte nicht überschritten werden. Es ist deshalb nicht ganz korrekt, von den „unbekannten
Lager- und Gelenkkräften“ zu reden, genauer ist die dafür übliche Bezeichnung Zwangskräfte.
Für denjenigen, dem die hier angestellten Überlegungen neu sind, ist aber sicher die „nicht ganz
saubere“ Bezeichnungsweise zunächst verständlicher.
Beispiel 2:
Für den skizzierten einfachen Gerber-
Träger sind die Lager- und Gelenkkräfte zu bestim-
men.
Gegeben: F . 2 1,5 2,5
Das System wird von den Lagern gelöst und am Gelenk G zerschnitten. Es entstehen die beiden
Teilsysteme I und II mit insgesamt 6 unbekannten Kräften. Der Richtungssinn der Kräfte kann
beliebig angenommen werden, es ist aber unbedingt darauf zu achten, dass die beiden Kompo-
nenten der Gelenkkraft FGH und FGV an den beiden Schnittufern des Gelenks (in den Teilsyste-
men I und II) in entgegengesetzte Richtungen angetragen werden müssen (Schnittprinzip!).
6.1 Statisch bestimmte Systeme 65
→ FGH = 0 ⇒ FGH = 0
2
I: A' F · 2a − FGV · 3a = 0 ⇒ FGV = F
3
1
G' FA · 3a − F · a = 0 ⇒ FA = F
3
← FGH + FCH = 0 ⇒ FCH = 0
16
II : C' FB · 2, 5a − FGV · 4a = 0 ⇒ FB = F
15
2
B& FGV · 1, 5a + FCV · 2, 5a = 0 ⇒ FCV =− F
5
Das Minuszeichen im Ergebnis für FCV deutet an, dass diese Kraft (im Gegensatz zur willkürli-
chen Annahme) nach unten gerichtet ist.
Beispiel 3:
Als statisches Modell für
die Berechnung von Achslasten und der
Belastung der Kupplung dient für den
in der Abbildung 6.8 skizzierten Pkw
mit einachsigem Anhänger der Gerber-
Träger. Das System ist statisch bestimmt,
wenn die auf die Hinterräder wirkende
Handbremse angezogen ist, wodurch ei-
nes der drei Lager zum Festlager wird Abbildung 6.8: Gerber-Träger als statisches Modell für die
(auf die Achslasten, die nur durch verti- Berechnung von Achslasten und Belastung der Anhänger-
Kupplung
kal gerichtete Kräfte verursacht werden,
hat dies ohnehin keinen Einfluss).
Die Betrachtung beschränkt sich in diesem Kapitel natürlich auf das ebene Problem, womit Achs-
lasten (und nicht die Kräfte an einem Rad) berechnet werden können.
66 6 Ebene Systeme starrer Körper
Beispiel 4:
Während ein zweiachsi-
ges Fahrzeug statisch bestimmt gelagert
ist, ist für die drei Achsen eines Ge-
spanns (Beispiel 3) ein Gelenk erforder-
lich, um Fahrbahnunebenheiten auszu-
gleichen. Für den Lkw mit einem zwei-
achsigen Anhänger (Abbildung 6.9) wird
die statische Bestimmtheit erst durch Abbildung 6.9: Vier Achsen erfordern zwei Gelenke, um
zwei Gelenke hergestellt. Bodenunebenheiten auszugleichen.
Beispiel 5:
Schienenfahrwerke von
Kranen und Förderanlagen werden häufig
mit sehr vielen Rädern (manchmal mehr
als 100 pro Schiene) ausgestattet, um die
großen Lasten möglichst gleichmäßig
zu verteilen. Das in Abbildung 6.10
skizzierte statische Modell eines solchen
Fahrwerks mit 8 Rädern verdeutlicht,
wie die Last F jeweils über eine Traverse
(gleichmäßig) auf zwei darunter liegende 1 2
Traversen verteilt wird. 3 6
5
Für die Bestimmung der 12 Gelenkkraft- 4
komponenten (6 Gelenke G1 bis G6 ) und
8 Lagerreaktionen (8 ungebremste Räder
→ 8 Loslager) stehen an 7 Teilsystemen Abbildung 6.10: Die Last F wird über insgesamt 7 Tra-
I bis V II insgesamt 7 · 3 = 21 Gleichge- versen so verteilt, dass jedes Rad eine Kraft F/8 auf die
wichtsbedingungen zur Verfügung (eine Schiene überträgt.
mehr als erforderlich1 , weil das Modell in
horizontaler Richtung beweglich ist).
Wegen der Symmetrie verteilt sich die Kraft F gleichmäßig (jeweils F8 ) auf
die Räder. Solche Fahrwerke werden deshalb gern mit einer Radanzahl aus-
gestattet, die eine Zweierpotenz ist, weil die Traversen dann die Kräfte über
jeweils gleiche Abmessungen links und rechts in gleicher Größe übertragen.
Dass das Ziel, gleichen Lastanteil für jedes Rad zu erzielen, auch erreicht werden kann, wenn
die Radanzahl keine Zweierpotenz ist, wird an einem Beispiel aus der Praxis im Internet gezeigt
(www.TM-aktuell.de).
1 Wenn formal die Anzahl verfügbarer Gleichgewichtsbedingungen größer ist als die Anzahl der Unbekannten, ändert
sich an der statischen Bestimmtheit des Systems dann nichts, wenn die gleiche Anzahl von Gleichgewichtsbedingun-
gen von vornherein erfüllt ist (hier ist es das Horizontalkraft-Gleichgewicht am Gesamtsystem). Dieser Fall wird am
Beispiel 8 noch einmal ausführlich erläutert.
6.1 Statisch bestimmte Systeme 67
Beispiel 6:
Das in der Abbildung 6.11 skizzierte Mo-
dell des Zuggeschirrs für einen von zwei Pferden gezogenen
Wagen demonstriert die mittels Gelenksystem erzwungene
gleichmäßige Belastung (ähnlich dem Prinzip des Kranfahr-
werks im Beispiel 5): Beide Pferde müssen exakt die gleiche
Zugkraft aufbringen und jedes Pferd wird „symmetrisch“ be-
lastet. Abbildung 6.11: Zuggeschirr eines
„Zweispänners“ in der Draufsicht
Beispiel 7:
Wellen, die mehr als zweifach gelagert werden müssen, sollten durch Gelenke geo-
metrische Ausgleichsmöglichkeiten (von Montageungenauigkeiten, Verschleiß, ...) gegeben wer-
den, dreifach gelagerten Wellen z. B. durch eine elastische Kupplung, vierfach gelagerten Wellen
durch Zwischenschaltung einer Kardanwelle.
Dies ist aus konstruktiven Gründen nicht immer möglich. Die Kurbelwelle eines Sechszylinder-
Kolbenmotors z. B. muss mehrfach gelagert werden, und ausgleichende Gelenke können nicht
vorgesehen werden. In diesen Fällen sind die Anforderungen an die Fertigungsgenauigkeit ex-
trem hoch.
Beispiel 8:
Die Abbildung 6.12 zeigt eine
20 130 40
handelsübliche Gripzange. Die spezielle Kon-
struktion dieser Zange ermöglicht das Zusam-
menhalten von Montageteilen, ohne ständig äu-
ßere Kräfte aufbringen zu müssen. Diese Eigen-
40
schaft spielt aber für die hier anzustellenden Be-
trachtungen keine Rolle.
5
Die Zange ist durch die beiden Kräfte F belastet.
Man bestimme für die in der Darstellung ange- 100 40 50
gebenen Abmessungen die Kraft FW , die auf das
Werkstück aufgebracht wird. Abbildung 6.12: Handelsübliche Gripzange
Gegeben: F .
• Bei der Untersuchung der statischen Bestimmtheit der Zange stellt man fest, dass für die
vier Teile der Zange (siehe Schnittskizze in Abbildung 6.13) insgesamt zwölf Gleich-
gewichtsbeziehungen aufgeschrieben werden können, denen nur neun Unbekannte (8 Ge-
lenkkraftkomponenten an vier Gelenken und die gesuchte Kraft FW ) gegenüberstehen. Das
liegt daran, dass die Zange selbst nicht gelagert ist (also in der Ebene noch drei Freiheits-
grade hat). In der Aufgabenstellung ist dies bereits berücksichtigt, da die beiden Kräfte,
die die Zange belasten, ein Gleichgewichtssystem bilden: Die drei Gleichgewichtsbezie-
hungen am Gesamtsystem sind bereits erfüllt.
68 6 Ebene Systeme starrer Körper
Wenn man die Aufgabe abändert, indem man eine der beiden Kräfte durch eine Einspan-
nung (mit drei unbekannten Lagerreaktionen) ersetzt, wäre das Defizit an Unbekannten
beseitigt (siehe Abbildungen 6.17 und 6.18 auf der Seite 79). Als Ergebnis dieser Aufga-
be würde man als vertikale Lagerreaktion wieder F erhalten, während die beiden übrigen
Lagerreaktionen (Horizontalkomponente und Einspannmoment) gleich Null wären.
• Mit einigem Geschick lässt es sich vermeiden, dass bei der Berechnung der Zange sämt-
liche neun Unbekannten in die Rechnung eingehen. Es kommt darauf an, einen Satz von
Gleichgewichtsbedingungen zu finden, so dass die Anzahl der Gleichungen mit der Anzahl
der Unbekannten übereinstimmt. Vier Gleichungen mit vier Unbekannten sind nach dem
bisher behandelten Berechnungsverfahren möglich, im nächsten Abschnitt wird gezeigt,
dass sogar zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten genügen.
dem Momentengleichgewicht um 3
2
3
das Gelenk 1 am Teilsystem II
2
4
40F2H − 80F2V = 0
2
und dem Momentengleichgewicht 4
4
um das Gelenk 4 des Teilsystems 2
4
III
Die nicht gefragten Kräfte F1V , F2V und F2H werden eliminiert, indem sie aus den letzten drei
Gleichungen (in Abhängigkeit von F) berechnet und in die erste Gleichung eingesetzt werden.
Man erhält für die auf das Werkstück ausgeübte Kraft
FW = 11, 4 F .
Dieses Beispiel mag schwierig erscheinen. Deshalb wird es noch mehrmals aufgegriffen, um
einerseits mit dem vorteilhaften Ausnutzen der Eigenschaften eines speziellen Teils der Zange die
Rechnung erheblich zu vereinfachen, andererseits eine Strategie vorzustellen, um für Aufgaben
dieser Art eine möglichst sichere Lösung mit dem Computer zu erreichen.
6.1 Statisch bestimmte Systeme 69
Beispiel 9:
Das skizzierte zusammengesetzte System ist
durch die Gewichtskraft FG der an einem Seil hängenden
Masse belastet. Man ermittle die Lagerreaktionen bei A
und B und die Gelenkkraftkomponenten am Gelenk G.
Gegeben: a , FG .
3
Um bei dieser Aufgabe die Teilsysteme freizuschneiden,
muss auch das Seil geschnitten werden. Da eine Rolle ei-
ne Kraft nur umlenkt, wird als Seilkraft auch im horizon-
talen Teil des Seils die Gewichtskraft FG angesetzt. Man
2
könnte natürlich auch die Rolle selbst noch freischnei-
den (Schneiden im Lagerzapfen, einem „Gelenk“). Das
Momentengleichgewicht um den Rollenmittelpunkt wür- 2
de dann auch die Seilkraft FS = FG ergeben.
Bei ungeschickter Auswahl der
sechs Gleichgewichtsbeziehun-
gen an den Teilsystemen I und II
kann das Auflösen der Gleichun-
gen aufwendig werden. Deshalb =
gilt folgende Empfehlung für
=
Systeme mit zwei Festlagern
und einem Gelenk (so genann-
ten Dreigelenksystemen): Man
schreibt zunächst die Momenten-
Gleichgewichtsbedingungen um
die Lager A und B (an den beiden
Teilsystemen) auf und erhält ein
Gleichungssystem mit nur zwei
Unbekannten, aus dem die Gelenk-
kraftkomponenten berechnet werden
können. Hier errechnet man aus
I : B' FG · 6a − FG · 3a + FGV · 2a − FGH · 2a = 0 ,
II : A' FG · a − FGH · 5a − FGV · 3a = 0
die Gelenkkraftkomponenten
11 13
FGH =FG , FGV = − FG
16 16
und aus den Kraft-Gleichgewichtsbedingungen die Lagerreaktionen
5 13 5 29
FAH = FG , FAV = − FG , FBH = FG , FBV = FG .
16 16 16 16
Zum extrem wichtigen Thema „Anwendung des Schnittprinzips bei Systemen starrer Körper“
findet man unter www.TM-aktuell.de ein ausführlich kommentiertes Beispiel.
70 6 Ebene Systeme starrer Körper
Definition:
Ein Stab ist in einem System starrer Körper mit genau zwei Gelenken mit den anderen Teilen
des Systems verbunden. Nur über diese Gelenke werden Kräfte in den Stab eingeleitet.
0
Beispiel 1:
Für das zusammengesetzte 3
1
System, das zwei Stäbe als Verbindungs- Stab 1
elemente enthält, sind die Lagerreaktio- Stab 2
nen in den Lagern A und B zu ermitteln. 4
2
Gegeben: a , q0 . /2
Für die Berechnung der 12 unbekannten Lager- und Gelenkkräfte (4 Lagerreaktionen der beiden
Festlager, 8 Gelenkkraftkomponenten in den 4 Gelenken) stehen bei 4 Teilsystemen insgesamt
12 Gleichgewichtsbedingungen zur Verfügung: Das System ist statisch bestimmt.
Die Rechnung vereinfacht sich wesentlich, wenn man berücksichtigt, dass 1
zwei Teile des Systems die Kriterien erfüllen, die sie nach der eingangs ge-
gebenen Definition als Stab ausweisen. Dies soll am Beispiel des Stabes 1
1
(Abbildung 6.14) erläutert werden. Nach Herausschneiden aus dem Gesamt-
system und Antragen der Gelenkkräfte erkennt man, dass das vertikale Kraft-
Gleichgewicht 2
FG1,V = FG2,V
2
liefert. Die Momenten-Gleichgewichtsbedingungen um die Gelenkpunkte
führen auf: Abbildung 6.14:
FG1,H = 0 ; FG2,H = 0 . Stab 1
Entsprechende Ergebnisse würde man auch für den Stab 2 erhalten, wenn man die Gelenkkraft-
komponenten in Stablängsrichtung bzw. senkrecht dazu anträgt. Allgemein gilt:
Ein Stab kann nur eine Kraft in Richtung der Verbindungslinie seiner beiden Gelenke über-
tragen (diese Aussage gilt auch für das Seil, siehe Bemerkung auf Seite 72).
Man nutzt diese Erkenntnis, indem man den Stab nicht als Teilsystem, sondern als Verbindungs-
element behandelt: Der Stab wird geschnitten, und die Stabkraft wird (in Stablängsrichtung) als
Schnittkraft angetragen (anstelle von vier Gelenkkraftkomponenten). Es ist üblich, Stabkräfte
stets als Zugkräfte (Pfeilspitze weist vom Schnittufer weg) anzutragen (siehe Schnittskizze in
der Abbildung 6.15).
Das Gleichungssystem für dieses Beispiel lässt sich auch bei geschickter Wahl der Momenten-
bezugspunkte nicht so aufschreiben, dass an einem Teilsystem eine Unbekannte direkt berechnet
werden kann, weil an jedem Teilsystem vier Kräfte unbekannt sind.
6.2 Stäbe und Seile als Verbindungselemente 71
FAH = −1, 875 q0 a ; FAV = 2, 250 q0 a ; Abbildung 6.15: Schnittskizze: Nicht die Gelenke werden
FBH = 1, 875 q0 a ; FBV = 0, 750 q0 a . geschnitten, sondern die Stäbe
Beispiel 2:
Das Problem der bereits im vorigen Abschnitt behandelten Gripzange ist unter
Ausnutzung der Tatsache zu lösen, dass ein Element der Zange ein Stab ist. Man untersuche
außerdem den Einfluss der einzelnen Abmessungen auf das Ergebnis.
Gegeben: F , b, c, d , e, f , g, h.
Betrachtet werden nur der obere und der untere Zangenhebel. Beide sind durch einen Stab ver-
bunden und über je ein Gelenk mit dem vierten Teilsystem. An den beiden Verbindungsgelenken
3 und 4 treten je zwei unbekannte Gelenkkräfte auf, die dann nicht in die Rechnung gelangen,
72 6 Ebene Systeme starrer Körper
Die in diesem Abschnitt für den Stab angestellten Überlegungen gelten sinngemäß auch für Seile
unter Beachtung folgender Besonderheit:
Ein Seil als Verbindungselement in einem System starrer Körper wird genauso wie ein Stab
behandelt. Da Seile jedoch nur auf Zug belastet werden können, dürfen die Seilkräfte nicht
negativ werden (FS ≥ 0). Eine negative Seilkraft ist ein sicheres Indiz für einen Fehler (in der
Konstruktion oder in der Rechnung).
6.3 Lineare Gleichungssysteme 73
Hier soll nur demonstriert werden, wie man die Gleichgewichtsbedingungen für die Computer-
rechnung vorbereitet (man beachte die Informationen in der Box unten).
Es ist üblich (und als Vorbereitung für die Computerrechnung empfehlenswert), das Gleichungs-
system in Matrixschreibweise (mit der Koeffizientenmatrix A, dem Vektor der Unbekannten x und
dem Vektor der rechten Seite b) zu formulieren. Die Information, die ein solches Gleichungssys-
tem beschreibt (und einem Rechenprogramm eingegeben werden muss), besteht aus
• der Anzahl der Gleichungen n (hier: n = 3),
• den n · n Koeffizienten der Unbekannten (wenn Unbekannte in einer Gleichung nicht vor-
kommen, haben die zugehörigen Koeffizienten den Wert Null),
• den n bekannten Werten auf der rechten Seite (natürlich könnte man diese auch links vom
Gleichheitszeichen anordnen, aber der Begriff „rechte Seite“ ist gebräuchlich).
Das Ziel der Berechnung ist der Vektor der Unbekannten x. Für
x1 2
das betrachtete Beispiel ergibt sich das nebenstehend angegebene
x = x2 = 3 .
Ergebnis.
x3 4
Beispiel 1:
Für das im Abschnitt 6.2 einleitend behandelte Beispiel 1 soll das Gleichungssys-
tem für die Computerrechnung aufbereitet werden.
/2 3 /2
2
1
3 0
3
4
3 /2
1 2
Die Anteile, die mit keiner Unbekannten gekoppelt sind (enthalten alle den Faktor q0 a), werden
auf die rechte Seite gebracht, und man erhält (Lösung siehe www.TM-aktuell.de):
1 0 0 0 0 − cos α FAH 0
0
1 0 0 −1 − sin α FAV 3
0 3 0 0 −2 0 FBH 4, 5
= q0 a .
0 0 1 0 0 cos α FBV 0
0 0 0 1 1 sin α FS1 0
0 0 0 −1, 5 1 0 FS2 0
↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑
FAH FAV FBH FBV FS1 FS2
ê Die Reihenfolge der Kräfte im Vektor der Unbekannten und die Reihenfolge der Gleichun-
gen können beliebig gewählt werden. Nach der Festlegung der Reihenfolge korrespondieren
die Elemente der i-ten Spalte der Koeffizientenmatrix mit dem i-ten Element im Vektor der
Unbekannten (wie in der Matrixbeziehung durch die Pfeile angedeutet).
ê Die Elemente der Koeffizientenmatrix sind Zahlenwerte, weil die beiden Momenten-Gleich-
gewichtsbedingungen durch a dividiert wurden und der Winkel α aus der Skizze der Aufga-
benstellung entnommen werden kann (α = 45◦ ).
ê Auch der Vektor der rechten Seite enthält nur noch Zahlenwerte, nachdem q0 a als gemein-
samer Faktor aller Elemente ausgeklammert wurde. Damit stehen die 36 Zahlenwerte der
Koeffizientenmatrix und die 6 Zahlenwerte des Vektors der rechten Seite als Eingabewerte
für eine rein numerische Rechnung bereit. Man beachte, dass dann trotz reiner Zahlenrech-
nung das Problem (zum Teil) parametrisiert wurde: Das Ergebnis gilt für beliebiges q0 a.
Natürlich müssen die 6 Zahlenwerte, die die Computerrechnung als Ergebnis (Vektor der
Unbekannten) liefert, noch mit dem Faktor q0 a multipliziert werden.
ê Typisch für Probleme der Statik ist, dass die Koeffizientenmatrix des Gleichungssystems die
Geometrie des Systems widerspiegelt (sie ändert sich, wenn man die Abmessungen oder
Winkel ändert). Der Vektor der rechten Seite dagegen enthält die gegebene Belastung.
ê Bei mehreren Lasten ist es empfehlenswert, für jede Last eine eigene
rechte Seite vorzusehen. Der Vorbereitungsaufwand wird dadurch kaum
größer, der Mehraufwand für die Berechnung (ohnehin für den Compu-
ter) ist minimal, aber es ergibt sich ein wichtiger Vorteil: Im Ergebnis ist
sichtbar, welche Anteile die einzelnen Lasten an den errechneten Größen
haben. Unter www.TM-aktuell.de findet man dafür ein Beispiel.
Programme mit den Fähigkeiten zur symbolischen Mathematik erledigen Probleme der Art von
Beispiel 1 mühelos. Die Grenzen, die sich dabei ergeben, werden einerseits von der Größe des
Gleichungssystems, andererseits aber auch von der Überschaubarkeit (für den Menschen) von
komplizierten Ergebnissen mit mehreren Parametern gesetzt.
Beispiel 2:
Die skizzierte Arbeitsbühne ist
durch die Kraft F belastet. Man ermittle Seil
die durch F hervorgerufenen Lagerreaktio- 4
nen bei A, die Kräfte in den Stäben 1 und 2
1
und die Seilkraft FS .
2
Gegeben: a , F , α = 50◦ . 2
4 2 8
Entsprechend nebenstehender
Schnittskizze lassen sich die
6 Gleichgewichtsbedingungen
1
an den beiden Teilsystemen
formulieren. Zur Vereinfachung 2
In der Matrix-Form 6.1 kann das Gleichungssystem einem Programm mit der Fähigkeit zur sym-
bolischen Rechnung angeboten werden. Das Ergebnis erscheint dann in Abhängigkeit von den
vier Parametern α, β , F und a.
Für ein Programm, das nur numerisch rechnen kann, sollten folgende Veränderungen vorgenom-
men werden:
• Auf der rechten Seite wird der Faktor F ausgeklammert.
• Die dritte und die letzte Gleichung werden durch a dividiert, so dass in der Koeffizienten-
matrix nur Zahlenwerte verbleiben und im Vektor der Unbekannten auf der letzten Position
MA
a steht.
6.3 Lineare Gleichungssysteme 77
Auf diese Weise ist die Lösung dann immerhin noch teilweise parametrisiert (gilt für beliebiges F
und beliebiges a). Die Winkel allerdings müssen vor der numerischen Rechnung als Zahlenwerte
vorgegeben werden:
π
α = 50 ; β = arctan 0, 5 ;
180
cos β cos β cos α 0 0 0 F1 0
sin β sin β sin α 0 0 0 F2 1
(6.2)
0 cos β −8 sin α 0 0 0 FS −4
= F.
cos β cos β 0 1 0 0 FAH 0
sin β sin β 2 sin α 0 −1 0 FAV 0
1 MA
cos β 0 0 2 4 1 a 0
Fazit: Die symbolische Berechnung liefert allgemeine Ergebnisse, die allerdings recht unüber-
sichtlich werden können. Sie eignen sich jedoch sehr gut für eine Auswertung spezieller Abhän-
gigkeiten, z. B. für die Darstellung einer Funktion FS (α, β ). Im Allgemeinen genügt die nume-
rische Berechnung, bei der eine teilweise Parametrisierung der Ergebnisse in der Regel möglich
ist. Für sehr große Gleichungssysteme ist sie ohnehin die einzige praktikable Alternative.
Die Lösung des Beispiels 2 und eine Reihe weiterer Beispiele sowohl mit symbolischer als auch
numerischer Berechnung findet man unter www.TM-aktuell.de. Dort wird auch gezeigt, dass alle
78 6 Ebene Systeme starrer Körper
Aussagen auch schon für kleinere Probleme gelten (z. B.: Beispiel 11 auf Seite 58), andererseits
die symbolische Berechnung durchaus auch für größere Systeme noch funktioniert.
Beispiel 3:
Für die in den Abschnitten 6.1 und 6.2 untersuchte Gripzange wurde dort mit 4
bzw. 2 Gleichgewichtsbedingungen die Kraft am Zangenmaul berechnet. Dafür musste man sehr
geschickt vorgehen, was leider nicht immer gelingt. Glücklicherweise kann man bei solchen
Aufgaben „Geschicklichkeit durch Aufwand ersetzen“ und letzteren weitgehend dem Computer
übertragen. Dies soll an einer neuen Schnittskizze (Abbildung 6.17) diskutiert werden:
• Diese Schnittskizze berücksichtigt nicht, dass Teil II ein Stab ist. Natürlich ist es eigentlich
nicht sinnvoll, an diesem Teilsystem mit 4 Unbekannten zu operieren, wenn eine (Stab-
kraft FS ) genügen würde. Beim Aufschreiben der Gleichgewichtsbedingungen zeigt sich
aber der Vorteil dieser Variante: Alle Kraftkomponenten haben Horizontal- oder Vertikal-
richtung, und in die Gleichgewichtsbedingungen gehen keine Winkelfunktionen ein.
• Wenn man auch nicht darüber nachdenken möchte, wie man die Anzahl der Gleichungen
möglichst gering halten kann, muss man für die 9 Unbekannten 9 Gleichgewichtsbedin-
gungen bereitstellen, z. B. je drei Bedingungen für die Teile I, II und IV (von den maximal
6.3 Lineare Gleichungssysteme 79
1 3
1
3
1
1
3
2 2
3
4
2
2
4 4
2
4
4
2
4
Abbildung 6.18: Die Gegenkraft am unteren
Griff wird durch eine starre Einspannung er-
setzt. Die drei Lagerreaktionen werden als zu-
sätzliche „Unbekannte“ betrachtet, deren Er-
Abbildung 6.17: Schnittskizze für „Denkfaule“ gebnisse bekannt sind (Kontrollmöglichkeit!).
6.4 Fachwerke
Der beidseitig gelenkig gelagerte Stab, in den die Belastung allein über die Gelenke eingeht,
kann nur eine Zug- bzw. Druckkraft (Kraft in Stablängsrichtung) übertragen (vgl. Abschnitt 6.2).
Diese Eigenschaft gestat-
tet ein materialsparendes
(gewichtsparendes) Konstru-
ieren, weil ein Stab gegen
die reine Längsbelastung sehr
widerstandsfähig ist. Es ist
deshalb naheliegend, Kon-
struktionen ausschließlich aus
Stäben zusammenzusetzen. Abbildung 6.19: Fachwerke mit einfachem Aufbau
Man nennt solche Konstruktionen Fachwerke. Die Gelenkpunkte, an denen die Stäbe eines Fach-
werks zusammenstoßen, heißen Knoten.
Beide Voraussetzungen sind praktisch nicht erfüllbar. Die Knoten werden sogar meist durch star-
re Knotenbleche realisiert, mit denen die Stäbe fest verbunden sind (verschweißt, verschraubt, ...).
Das Eigengewicht der Stäbe verhindert in jedem Fall, dass die Belastung des Fachwerks nur über
die Knoten erfolgt.
Aber auch die realen Fachwerke haben im Allgemeinen die eingangs beschriebenen vorteilhaften
Eigenschaften, und sie dürfen bei guter Annäherung an die Realität so berechnet werden, als
würden sie die Kriterien des idealen Fachwerks erfüllen.
Fachwerke mit einfachem Aufbau werden konstruiert, indem man ein Basisdreieck jeweils durch
zwei neue Stäbe und einen neuen Knoten um ein Dreieck erweitert. Auf diese Weise entsteht
ein starres (und damit tragfähiges) ebenes Gebilde. Wenn ein so entstandenes Fachwerk statisch
bestimmt gelagert wird (z. B. durch ein Festlager und ein Loslager), erhält man ein statisch be-
stimmtes Fachwerk.
Die beiden in der Abbildung 6.19 skizzierten Fachwerke sind nach dieser Bildungsvorschrift
entstanden. Es sind statisch bestimmte Fachwerke.
Da im Abschnitt 6.2 die Berücksichtigung von Stäben bereits behandelt wurde, stehen die Grund-
lagen für die Berechnung von Fachwerken zur Verfügung. Da diese ausschließlich aus (mögli-
cherweise sehr vielen) Stäben bestehen, empfiehlt sich eine Systematisierung. Die einfachste
Methode, Stabkräfte und Lagerreaktionen eines Fachwerks zu berechnen, ist das
6.4 Fachwerke 81
Knotenschnittverfahren:
• Alle an einen Knoten angrenzenden Stäbe werden geschnitten (Rundumschnitt).
• Die Stabkräfte werden angetragen (als Zugkräfte, Pfeilspitzen weisen vom Schnittufer
weg).
• Für das so entstandene zentrale ebene Kraftsystem werden die beiden Gleichgewichts-
bedingungen formuliert.
Bei einem Fachwerk mit k Knoten ergeben sich 2·k Gleichungen. Nur dann, wenn die Anzahl der
Unbekannten (Stabkräfte und Lagerreaktionen) mit der Anzahl der Gleichgewichtsbedingungen
übereinstimmt, kann das Fachwerk statisch bestimmt sein.
Es ist ein notwendiges (für die Feststellung der statischen Bestimmtheit nicht hinreichendes) Kri-
terium, weil es Sonderfälle, wie sie in den vorangegangenen Abschnitten diskutiert wurden, nicht
ausschließen kann. Für die beiden in der Abbildung 6.19 skizzierten Fachwerke mit einfachem
Aufbau ist dieses Kriterium selbstverständlich erfüllt.
Fachwerke können statisch unbe-
stimmt sein (und sich damit der
Berechnung im Rahmen der Sta-
tik entziehen), obwohl sie äußer-
lich statisch bestimmt gelagert sind:
Man sieht sofort, dass das Kriteri-
um für die statische Bestimmtheit
für die in der Abbildung 6.20 skiz-
Abbildung 6.20: Statisch unbestimmte Fachwerke
zierten Fachwerke nicht erfüllt ist
(beim linken Fachwerk stehen z. B.
für 6 Stabkräfte und 3 Lagerreaktio-
nen nur 8 Gleichgewichtsbedingun-
gen an den 4 Knoten zur Verfügung).
Beide Fachwerke können auch nicht
nach dem Bildungsgesetz für Fach-
werke mit einfachem Aufbau ent-
standen sein. Abbildung 6.21: Fachwerke mit nicht einfachem Aufbau
Im Gegensatz dazu gibt es Fachwerke mit nicht einfachem Aufbau, die statisch bestimmt sind:
Während das linke Fachwerk in der Abbildung 6.21 auch ohne die Lager ein starres System ist
(und dementsprechend äußerlich statisch bestimmt gelagert werden muss), ist das rechte Fach-
werk ohne die Lager in sich beweglich, was durch eine entsprechende Lagerung ausgeglichen
werden muss (man nennt diese Lagerung äußerlich statisch unbestimmt). Ohne Berechnung der
Stabkräfte wäre für dieses Fachwerk die Ermittlung der Lagerreaktionen unmöglich.
82 6 Ebene Systeme starrer Körper
6.4.2 Berechnungsverfahren
Das wichtigste (und für alle statisch bestimmten Fachwerke anwendbare) Berechnungsverfahren
ist das bereits beschriebene Knotenschnittverfahren. Dabei kann die Anzahl der Gleichungen für
die Bestimmung der Stabkräfte und Lagerreaktionen sehr groß werden.
Deshalb sollten folgende Möglichkeiten der Verringerung des Gesamtaufwands beachtet werden:
• Bei äußerlich statisch bestimmter Lagerung können die Lagerreaktionen unabhängig von
den Stabkräften bestimmt werden: Nach dem Freischneiden von den äußeren Bindungen
werden die drei Gleichgewichtsbedingungen des allgemeinen ebenen Kraftsystems formu-
liert.
• Bei Fachwerken mit einfachem Aufbau ist es (nach vorheriger Ermittlung der Lagerreak-
tionen) möglich, so von Knoten zu Knoten voranzugehen, dass an dem gerade betrachteten
Knoten nur zwei Stabkräfte unbekannt sind, die aus den beiden Gleichgewichtsbedingun-
gen direkt berechnet werden können.
• Vielfach befinden sich in Fachwerken so genannte Nullstäbe (Blindstäbe Ù Stäbe, die
keine Stabkräfte aufnehmen). Wenn diese nach den folgenden so genannten Nullstab-
Kriterien erkannt werden können, wird ihnen sofort die Stabkraft FS = 0 zugeordnet:
Eine unbelastete Ecke (genau zwei Stäbe, keine äußere Kraft, auch
kein Lager) besteht immer aus zwei Nullstäben, weil in die Gleich- Nullstabe
gewichtsbedingung senkrecht zu einem Stab nur die entsprechende
Komponente der anderen Stabkraft eingehen würde.
An einer belasteten Ecke (genau zwei Stäbe, äußere Kraft in Richtung
eines Stabes) ist der nicht in Richtung der äußeren Kraft verlaufende Nullstab
Stab ein Nullstab, weil in die Gleichgewichtsbedingung senkrecht zur
äußeren Kraft nur die entsprechende Komponente dieses Stabes ein-
gehen würde.
An einem Knoten mit genau drei Stäben ohne äußere Kraft (auch kein
Lager) ist dann, wenn zwei Stäbe die gleiche Richtung haben, der drit-
te Stab ein Nullstab.
Nullstab
Obwohl Nullstäbe keine Kräfte aufnehmen, dürfen sie nicht aus der
Konstruktion entfernt werden, da sie für die Stabilität (und die stati- Abbildung 6.22: Null-
sche Bestimmtheit) mitverantwortlich sein können. stab-Kriterien
Neben dem Knotenschnittverfahren gibt es zahlreiche andere Verfahren zur Ermittlung der
Stabkräfte von Fachwerken. Die früher sehr beliebten grafischen Verfahren (insbesondere
der so genannte C REMONA-Plan) haben heute keine praktische Bedeutung mehr. Auch ande-
re Berechnungsverfahren werden kaum noch verwendet, weil der einzige Nachteil des Kno-
tenschnittverfahrens, das unter Umständen sehr große lineare Gleichungssystem, bei Verwen-
dung des Computers unbedeutend geworden ist.
6.4 Fachwerke 83
Für spezielle Fragestellungen (Berechnung nur weniger Stabkräfte eines größeren Fachwerks)
kann allerdings das so genannte Rittersche Schnittverfahren (nach A. R ITTER, 1826 - 1908)
nützlich sein: Wenn ein Fachwerk durch einen Schnitt, der genau drei Stäbe schneidet, in zwei
Teilsysteme zerfällt, können die Stabkräfte der geschnittenen Stäbe berechnet werden, wenn
• die drei geschnittenen Stäbe nicht alle parallel liegen und sich die Wirkungslinien ihrer
Stabkräfte nicht alle in einem Punkt schneiden und
• an mindestens einem der beiden Teilsysteme alle äußeren Kräfte bekannt sind (Lagerreak-
tionen z. B. vorab berechnet werden konnten).
Für die Berechnung der Stabkräfte an einem Teilsystem stehen dann die drei Gleichgewichts-
bedingungen des ebenen Kraftsystems zur Verfügung. Durch geschickte Wahl der Momenten-
Bezugspunkte (Schnittpunkt der Richtungen von zwei geschnittenen Stäben) entstehen beson-
ders einfache Bestimmungsgleichungen für die gesuchten Stabkräfte (nachfolgendes Beispiel 2).
Beispiel 1:
Für das skizzierte Fachwerk sind die Stab-
kräfte der Stäbe 1 bis 13 nur durch Anwendung der Kri-
2
terien für Nullstäbe zu ermitteln.
1 3 4
Gegeben: F . 2
3
5
9 6
Die zahlreichen Nullstäbe dieses Fachwerks sind alle 10
3
8
ohne Rechnung allein durch Auswertung der behandel-
2
11
ten drei Nullstab-Kriterien zu erkennen. Dabei sind die 7 13
12
Bedingungen zum Teil erst dann erfüllt, wenn bereits
6
3 4 8
Beispiel 2: 5
Man ermittle die 9
3 7 11
2
1 12
6 10
Stabkräfte in den Stäben 8, 9, 10, 2 13
11, 13.
2
Gegeben: F .
6 3 3 6
Die günstigste Lösungsvariante ist ein Ritterscher Schnitt durch die Stäbe 8, 9 und 10, nachdem
man vorher am Gesamtsystem die Lagerreaktionen mindestens eines der beiden Lager ermittelt
hat. Anschließend werden die Kräfte in den Stäben 11 und 13 durch einen Knotenschnitt sichtbar
gemacht und berechnet.
Aus dem Momenten-Gleichgewicht am Gesamtsystem um den Punkt A berechnet man die La-
gerkraft FB :
13
3F · 4a + F · (6a + 9a + 12a) − FB · 18a = 0 ⇒ FB = F .
6
Am nebenstehend abgebildeten Teilsystem soll ver-
deutlicht werden, dass die drei Stabkräfte des Ritter- 8
Schnitts aus drei voneinander unabhängigen Glei-
9 11 12
chungen berechnet werden können.
In das Vertikalkraft-Gleichgewicht geht nur die 10 13
↑ FS9 sin α + FB −F = 0
C& FS8 · 2a + FB · 6a = 0
D' F · 3a + FS10 · 2a − FB · 9a = 0
2a √2
Mit sin α = √ = 13
erhält man die drei Stabkräfte
4a2 +9a2
9 11
→ −FS9 cos α − FS10 + FS13 cos β = 0
↑ FS9 sin α + FS11 − FS13 sin β = 0
10
die Stabkräfte 13
FS11 = 3, 33 F ; FS13 = 6, 85 F .
6.4 Fachwerke 85
Beispiel:
Am Beispiel des nebenstehend
skizzierten Modells eines Krans
sollen einige Probleme disku- 1
tiert werden, die für die Berech-
nung komplizierterer Fachwer-
ke typisch sind. 3
2
Mit 29 Knoten und 55 Stäben
(das Seil, das den Ausleger hält,
wird wie ein Stab betrachtet)
ist es im Vergleich mit entspre-
4
chenden Problemen der techni-
schen Praxis ein relativ einfa-
ches Modell.
4
5 1
FAH = F ; FAV = F ; FB = F .
6 6
• Die Berechnung der Stabkräfte kann z. B. an der Spitze des Turms star-
ten: Ein Rundumschnitt um den Knoten J gestattet die Berechnung der
Stabkräfte FS1 und FS2 . 1
2
Mit der dann bekannten Stabkraft FS2 können am Knoten L die Stabkräfte
FS3 und FS6 berechnet werden. Anschließend findet man am Knoten K mit 2
4 angeschlossenen Stäben wieder nur zwei unbekannte Kräfte, und dieses
3
Vorgehen wird erst am Knoten D gestoppt, weil dort 3 unbekannte Kräfte
6
auftreten.
• Am Ausleger kann man auf diesem Wege nur die beiden Stabkräfte an der Spitze (Knoten E)
berechnen, an den Knoten G und H tauchen dann 3 Unbekannte auf.
• Mit Ritterschen Schnitten kommt man weiter. In der Abbildung 6.24 sind die Vorschläge
RS1 bis RS4 für sinnvolle Schnittführungen eingezeichnet.
86 6 Ebene Systeme starrer Körper
Empfehlenswert für die Berechnung der Stabkräfte des in Abbildung 6.25 dargestellten Portals
ist folgende Strategie:
Neben den 17 Stabkräften werden auch die 3 Lagerreaktionen als „Unbekannte“ in die Berech-
nung einbezogen. Dafür sind an den 10 Knoten (einschließlich der beiden Knoten bei A und B)
insgesamt 20 Gleichgewichtsbedingungen zu formulieren. Die Lösung kann dann recht wirksam
durch den Vergleich mit den bereits bekannten Lagerreaktionen kontrolliert werden.
Dem Leser wird empfohlen, die besprochenen Schritte nachzuvollziehen und schließlich für das
Portal das Gleichungssystem zu formulieren und mit einem geeigneten Programm zu lösen (unter
www.TM-aktuell.de findet man diese Lösung Schritt für Schritt). Dabei taucht ein hier gerade
noch beherrschbares neues Problem auf:
Ein System mit 20 Gleichungen (Portal in Abbildung 6.25) wird durch 420 Werte beschrie-
ben. Wer die oben angestellten Überlegungen (Zerlegung in Teilprobleme) nicht nachvollziehen
möchte und das gesamte System nach dem Knotenschnittverfahren behandeln will (Nachden-
ken durch Aufwand ersetzen!), muss sich für das Gleichungssystem mit 58 Unbekannten um
insgesamt 3422 Werte kümmern.
Diese Schwierigkeit kann nur umgangen werden, wenn auch das Aufstellen des Gleichungssys-
tems im Computer durchgeführt wird. Dafür ist ein spezielles Programm erforderlich, in das die
Information eingegeben wird, die die Aufgabe eindeutig beschreibt. Allgemein gilt:
Abbildung 6.26: Auch bei Nutzung komfortabler Software immer zwingend: Verifikation der Ergebnisse
Ein aus drei (starren) Fachwerkstäben gebildetes Dreieck ist ein starrer Körper (Abbildung
6.27). Wenn an ein solches Dreieck ein weiteres Dreieck aus genau zwei neuen Stäben und einem
neuen Knoten angefügt wird (Abbildung 6.28), entsteht ein neuer starrer Körper („Fachwerk mit
einfachem Aufbau“, vgl. Abschnitt 6.4.1).
Es ist also möglich, jedes sta-
tisch bestimmte Starrkörper-
system als Fachwerk zu mo-
dellieren, indem jeder einzel-
ne starre Körper durch ein
Fachwerk mit einfachem Auf-
bau ersetzt wird. Diese Aus- Abbildung 6.27: Ein
Dreieck, das aus drei
sage kann sowohl für die Aus-
(starren) Fachwerkstä- Abbildung 6.28: Jedes weitere Dreieck
legung der Konstruktion als
ben gebildet wird, ist muss genau einen neuen Knoten und
auch für die Berechnung mit ein starrer Körper zwei neue Stäbe erzeugen
Vorteil genutzt werden:
ê Wenn ein Programm zur Berechnung statisch bestimmter Fachwerke verfügbar ist (wie z. B.
auf der Seite 88 demonstriert), kann das Starrkörpersystem sehr einfach modelliert und be-
rechnet werden.
ê Die Modellierung starrer Körper als Fachwerke gibt den Kraftfluss vor, wie die belastenden
Kräfte durch das System auf die Lager übertragen werden. Durch Variantenrechnungen (und
Vergleich der sich ergebenden Stabkräfte) kann nach günstigen Geometrien gesucht werden.
Gegebenenfalls kann dann das System tatsächlich als Fachwerk gebaut werden, oder die
starren Körper werden gewichtsparend konstruiert und durch Rippen nur dort verstärkt, wo
im Modell die Fachwerkstäbe lagen. Beides führt zu leichteren Konstruktionen.
Dies wird nachfolgend an zwei Beispielen demonstriert (weitere Beispiele findet man unter
www.TM-aktuell.de). Dabei wird allgemein folgende Vorgehensweise empfohlen:
• Eventuell vorhandene Linienlasten werden durch statisch äquivalente Einzellasten ersetzt.
• An jedem Starrkörper werden an allen markanten Punkten (Lastangriffspunkte, Lager, Ge-
lenke, ...) Knoten vorgesehen.
• Die Knoten werden durch Stäbe verbunden, die für jeden Starrkörper ein „Fachwerk mit
einfachem Aufbau“ ergeben.
Beispiel 1:
Die Abbildung 6.29 zeigt das Starrkörpersystem, das als Beispiel 1 im Abschnitt
6.2 berechnet wurde, und die Abbildung 6.30 zeigt das zugehörige Fachwerk-Modell: Die bei-
den Stäbe des Starrkörpersystems sind Stäbe geblieben, die beiden Festlager haben sich auch
nicht verändert. Der obere Träger hat vier markante Punkte (Festlager, zwei Anschlussstellen
der Stäbe und den Angriffspunkt der Resultierenden der Linienlast), der untere Träger nur drei
markante Punkte. Diese sind jeweils die Ausgangspunkte für die zu erzeugenden Dreiecke.
90 6 Ebene Systeme starrer Körper
1 3
Stab 1
Stab 2
4
Der in der Abbildung 6.31 zu sehende Ausschnitt des Bildschirm-Schnappschusses mit den Er-
gebnissen zeigt, dass man genau die Werte der Starrkörperberechnung aus dem Abschnitt 6.2
erhält.
Abbildung 6.31: Ergebnis der Berechnung des Systems der Abbildung 6.30
Beispiel 2:
Das links dar-
gestellte Starrkörpersystem
(Rechnung siehe Seite 69)
soll als Fachwerk modelliert
werden. Rechts sieht man das
3
Die beiden hier gezeigten Beispiele und weitere (zum Teil wesentlich kompliziertere) Starrkör-
persysteme, die als Fachwerke berechnet werden, findet man unter www.TM-interaktiv.de.
6.5 Aufgaben 91
6.5 Aufgaben
Aufgabe 6.1:
Man ermittle für das nebenstehend abgebildete zusam-
mengesetzte System die Auflager- und Gelenkkraftkomponenten.
Gegeben: F .
Hinweis: Die Vertikalkomponenten der Lagerkräfte lassen sich auch oh-
ne Zerschneiden des Verbindungsgelenkes am Gesamtsystem ermitteln,
die Horizontalkomponenten allerdings nicht.
Die Gleichgewichtsbedingungen am Gesamtsystem sind meist beson-
ders einfach aufzuschreiben und immer eine recht wirksame Kontrolle
für die errechneten Ergebnisse. /2 /2
3
Man berechne die Lagerreaktionen bei A und die Kräfte in
dem Gelenk G.
1
3 2 2 2
Aufgabe 6.3:
Zwei Massen m1
und m2 sind wie skizziert an Seilen 3 4
aufgehängt. Die Seilmassen können
vernachlässigt werden, so dass das 2
2
Aufgabe 6.4:
Das nebenstehend skizzierte Hubwerk ist
durch die Gewichtskraft des Motors F = mg und die Ge-
wichtskraft der Masse M belastet. Es sind die Lagerreaktio-
4
nen bei A und B zu berechnen.
M
Gegeben: a ; M ; m = .
2
8
Aufgabe 6.5:
Für die nachstehend skizzierten Fachwerke =
7
sind für alle Stäbe, die mit Ziffern bezeichnet sind, die Stab-
kräfte zu berechnen.
Für die Fachwerke 2 und 4 sind zusätzlich die für die Com-
puterrechnung aufbereiteten Gleichungssysteme zur Be-
2 4
rechnung sämtlicher Stabkräfte aufzustellen.
7 2
18 19
8 1
5 3
14 15 16 17
9 4
5 6 7 8 9 10 11 13 6
12
10
1 2 3 4
2 2
Fachwerk 2 (www.TM-aktuell.de)
Fachwerk 1 Gegeben: F
Gegeben: F = 10 kN
1
4
4
5 6
1 7
8 2 3
10
3
2 11 1
2 9
12 14
2
13
3
3 2 2 4
Fachwerk 5
Fachwerk 3 Gegeben: F = 3 kN
Gegeben: α = 30◦ β = 20◦ ;
F = 5 kN . Fachwerk 4 (www.TM-aktuell.de)
Gegeben: F
7.1 Definitionen
Im Folgenden werden ausschließlich Tragelemente betrachtet, bei
denen eine der drei Abmessungen deutlich größer ist als die bei-
den anderen (Stäbe, Balken, Rahmen, ...), gefragt wird nach den
inneren Beanspruchungen. Dies dient der Vorbereitung der Verfor-
mungsberechnung und der Untersuchung der Tragfähigkeit in der
Festigkeitslehre. In diesem Kapitel wird das ebene Problem behan-
delt.
So wie an einer Einspannung als Lagerreaktionen zwei Kraftkom-
ponenten und ein Einspannmoment auftreten, sind auch bei einem
Schnitt an beliebiger anderer Stelle des Trägers zwei Kraftkompo-
nenten und ein Moment erforderlich, um Gleichgewicht für den ab- Abbildung 7.1: Schnittgrö-
geschnittenen Teil zu ermöglichen: Man kann sich am starren Trä- ßen darf man sich wie Lager-
ger jedes Teilstück als starr eingespannt am Restsystem vorstellen. reaktionen an einer starren
Diese „Einspannreaktionen“ an einer Schnittstelle heißen Einspannung vorstellen.
Das Schnittufer auf der Koordinatenseite wird als positives Schnittufer, das andere als negatives
Schnittufer bezeichnet.
Positives Negatives
Schnittufer Schnittufer
2
2
1
3
1 2
1
Abbildung 7.2: Definition von Bezugsfaser und Ko-
ordinaten für einen geraden Träger und einen Rahmen
Natürlich muss in jedem Bereich ein Schnitt gelegt werden, und nach dem Antragen aller Kräfte
und Momente an einem der beiden Teilsysteme sind dann die drei Gleichgewichtsbedingungen
aufzuschreiben. Die daraus gewonnenen Funktionen für die Schnittgrößen gelten immer nur in-
nerhalb des betrachteten Bereichs.
Es ist meist bequemer, für jeden Bereich eine eigene Koordinate zu definieren. Viele der nachfol-
gend angestellten Überlegungen zu den Schnittgrößenverläufen und auch mehrere Anwendungen
in der Festigkeitslehre vereinfachen sich erheblich, wenn man folgende Empfehlungen beachten
kann:
ê Bei Definition mehrerer Koordinaten sollten diese vom Beginn bis zum Ende des Tragwerks
alle (in Trägerlängsrichtung) gleichsinnig gerichtet sein:
2 0 2 0
3 3
4
1 1
1 0
1 2 3 4
3 3
3
1 3 0
3
3 3
3
Abbildung 7.6: Immer das einfachere Teilsystem betrachten. Für den Bereich 0 ≤ z3 ≤ c empfiehlt sich das
rechte Teilsystem (das Gelenk muss dabei als nicht existent angesehen werden).
Wenn nur der aktuelle Bereich in die Gleichgewichtsbetrachtungen einbezogen werden soll, müs-
sen unbedingt die Schnittgrößen am Bereichsanfang bzw. -ende angetragen werden:
2 2=
= 3 3
2 2 3
3 3
2
=
2
3 3 3
Abbildung 7.7: Vorsicht bei Betrachtung nur des aktuellen Bereichs, denn dann wurden zwei Schnitte
gelegt! Hier kann man das mit Vorteil nutzen, wenn die Gelenkkräfte bekannt sind.
Während am rechten Teil in diesem Fall (bei vorher ohnehin zu berechnenden Gelenkkräften)
die Schnittgrößen besonders einfach zu ermitteln sind, wird von der Formulierung der Gleich-
gewichtsbedingungen am linken Teilsystem, an dem die Schnittgrößen am Ende des Bereichs
0 ≤ z2 ≤ b zu berücksichtigen sind, abgeraten.
Einen sehr guten Überblick über die innere Beanspruchung eines Tragwerks liefert die grafische
Darstellung der Schnittgrößenverläufe. Dazu wird vereinbart, dass die Funktionswerte direkt
über der geometrischen Darstellung des Tragwerks gezeichnet werden, positive Werte werden
7.1 Definitionen 97
„nach oben“ angetragen (bzw. auf der der Bezugsfaser gegenüberliegenden Seite). Dies ergibt
beispielsweise die folgenden Darstellungen (Hinweis: Nach Durcharbeitung des Abschnitts 7.3
sollte man in der Lage sein, die Darstellung der Schnittgrößenverläufe für beide Beispiele ohne
größere Rechnung zu bestätigen):
/2 /2
1 2
/2 /2
+
2
2
+
2
+ +
1 +
2 1
2
+
1
+
4
+
1
2
Abbildung 7.8: Zwei Beispiele für die grafische Darstellung von Schnittgrößen
Die in den linken drei Skizzen der Abbildung 7.8 eingetragenen Koordinatenpfeile für FN , FQ
und Mb werden im Allgemeinen nicht gezeichnet und zukünftig stets weggelassen.
Unter Beachtung aller Vereinbarungen können die Schnittgrößen nach dem Festlegen von Koor-
dinaten und Bezugsfaser immer entsprechend der Darstellung einer der beiden folgenden Vari-
anten an einem Schnittufer angetragen werden (auf ein beliebiges Schnittufer kann immer eines
der beiden Bilder so gelegt werden, dass Koordinate und Bezugsfaser „passen“):
Die nebenstehend zu
sehende Definition po-
sitiver Schnittgrößen
ist die Basis für alle
ebenen Biegeprobleme
gerader Träger. Positives Schnittufer Negatives Schnittufer
98 7 Schnittgrößen
Beispiel:
Für den skizzierten Träger mit einer Einzel-
last ermittle man analytisch den Normalkraft-, Querkraft-
und Biegemomentenverlauf und stelle die Verläufe gra-
fisch dar. 2 /3 /3
Gegeben: F = 60 N ; α = 30◦ ; l = 10 cm .
Daraus ergeben sich die Schnittgrößenverläufe in analytischer Darstellung, die in den Skizzen
grafisch dargestellt sind (die Formeln gelten jeweils für den Bereich, den die entsprechende Ko-
ordinate erfasst: 0 ≤ z1 ≤ 2l/3 bzw. 0 ≤ z2 ≤ l/3):
1
FN1 = −52, 0 N ; FQ1 = 10, 0 N ; Mb1 = 6 Fz1 ;
1 l
FN2 = 0 ; FQ2 = −20, 0 N ; Mb2 = 3 F 3 − z2 .
Für FN und FQ ergeben sich an der Übergangsstelle Sprünge im Verlauf, der Biegemomentenver-
lauf Mb hat dort in diesem Fall sein Maximum, das man wie folgt berechnen kann:
Die Schnittgrößen verändern sich von der Stelle z bis zur Stelle (z + ∆z) um ∆FN , ∆FQ bzw.
∆Mb . Das Kräftegleichgewicht in vertikaler Richtung und das Momentengleichgewicht um den
Mittelpunkt des Elements liefern:
↓ q ∆z + ∆FQ = 0 ,
∆z
M' −∆Mb + FQ ∆z + ∆FQ =0.
2
Nach Division beider Gleichungen durch ∆z ergibt der Grenzübergang
∆FQ dFQ ∆Mb dMb
∆z → 0 und damit → , → und ∆FQ → 0
∆z dz ∆z dz
die
Diese beiden Formeln können zur Kontrolle der aus den Gleichgewichtsbedingungen ermittelten
Querkraft- und Momentenverläufe benutzt werden. Darüber hinaus lassen sich aus ihnen folgen-
de Aussagen ableiten:
Da die Ableitung von FQ der Intensität der Linienlast proportional ist, ist der Querkraftverlauf in-
nerhalb eines Bereichs ohne Linienlast konstant (an den Bereichsgrenzen, an denen Einzelkräfte
eingeleitet werden, ändert sich die Querkraft sprunghaft).
Die Größe der Querkraft ist an jeder Stelle gleich dem Anstieg der Kurve des Momentenverlaufs:
• Positive Querkraft Ù positiver Anstieg der Mb -Kurve,
• negative Querkraft Ù negativer Anstieg der Mb -Kurve,
• konstante Querkraft Ù linearer Verlauf der Mb -Kurve.
100 7 Schnittgrößen
Beispiel 1:
Für den nebenstehend skizzierten Träger er-
mittle man
0
a) den Querkraftverlauf und den Biegemomentenverlauf
analytisch,
/2 /2
b) die grafische Darstellung des Querkraftverlaufs und
des Biegemomentenverlaufs, Gegeben: l, q0 .
c) Ort und Größe des absolut größten Biegemoments.
3 3 1 2
FQ1 = 8 q0 l − q0 z1 ; Mb1 = 8 q0 lz1 − 2 q0 z1 ;
1 1 l
FQ2 = − 8 q0 l ; Mb2 = 8 q0 l 2 − z2 .
Die Funktionen erfüllen selbstverständlich in beiden Berei-
chen die differenziellen Beziehungen 7.1. Die nebenstehend 3
0
skizzierten Funktionsverläufe bestätigen folgende verallge- 8
1
meinerungsfähigen Aussagen: + 8 0
• Der Momentenverlauf hat keinen Knick (auch nicht am Übergang vom quadratischen zum
linearen Funktionsverlauf), wenn die Querkraft sich nicht sprunghaft ändert.
Die beiden letzten Aussagen folgen daraus, dass die Querkraft die erste Ableitung des Biegemo-
ments ist.
Zur Beantwortung der Frage nach dem absolut größten Biegemoment müssen sowohl die rela-
tiven Extremwerte des Moments in den Bereichen mit Linienlast als auch die Momente an den
Bereichsgrenzen bereitgestellt und miteinander verglichen werden. Im vorliegenden Fall ist der
relative Extremwert betragsmäßig größer als das Moment am Übergang vom ersten zum zwei-
ten Bereich. Den Ort des relativen Extremwertes ermittelt man durch das Nullsetzen der ersten
Ableitung von Mb1 (z1 ). Es ist also die Nullstelle der Querkraft:
3
FQ1 (z̄1 ) = 0 ⇒ 8 l − z̄1 = 0 ⇒ z̄1 = 38 l .
Einsetzen in die Momentenfunktion liefert das relative (hier gleichzeitig absolute) Extremum:
9 2
Mb,max = Mb1 (z̄1 ) = 128 q0 l .
Beispiel 2:
Für den nebenstehend skizzierten Rahmen
sind zu ermitteln:
a) Schnittgrößenverläufe (FN , FQ und Mb ) analytisch,
b) grafische Darstellung der Schnittgrößenverläufe,
c) Ort und Größe des absolut größten Biegemoments.
Gegeben: l, F.
Am Gesamtsystem werden die Lagerreaktionen berechnet
und die vier Koordinaten zur Ermittlung der Schnittgrö-
ßen festgelegt. Die Bezugsfaser wird auf die Innenseite
des Rahmens gelegt.
2
Die nebenstehende Skizze zeigt die Definition der Lager-
reaktionen. Das Kraftgleichgewicht in horizontaler Rich-
tung und die Momenten-Gleichgewichtsbedingungen um 4
3
A und C liefern die Lagerreaktionen:
FAH = F ; FAV = 61 F ; FB = 56 F .
Die Schnittgrößen werden an möglichst einfachen Teil-
systemen ermittelt: Für die ersten beiden Bereiche werden
jeweils die linken Teilsysteme mit positiven Schnittufern 1
und für den dritten und vierten Bereich jeweils die rechten
Teilsysteme mit negativen Schnittufern gewählt.
102 7 Schnittgrößen
a) Im Bereich 0 ≤ z1 ≤ l (Abbildung
7.10) ergibt sich: 2
2
1 2
FN1 = −FAV = − 61 F ;
1
FQ1 = FAH = F ; 2
1
Mb1 = FAH z1 = Fz1 . 1
3
ändert sich sprunghaft an
der Einleitungsstelle der
Kraft F:
Schließlich erhält man für den vierten Bereich 0 ≤ z4 ≤ l/2 (Abbildung 7.11, rechte Skizze):
5 l 1 z4
FN4 = −FB = − F ; FQ4 = −F ; Mb4 = F − z4 = Fl − .
6 2 2 l
7.3 Ergänzende Aussagen zu den Schnittgrößen 103
+
6 + 2
+
+ 19
18 +
5
b) 6
+
5
6
6
c) Für die Bestimmung des absolut größten Biegemoments ist keine Extremwertbetrachtung
erforderlich. Da nur linear veränderliche Momentenverläufe vorliegen, genügt der Vergleich
aller Momente an den Bereichsgrenzen. Das absolut größte Moment tritt im horizontalen
Bereich des Rahmens unter der Kraft F (bei z3 = 0) auf und beträgt Mb,max = 1, 06Fl.
Eine Einzelkraft am Trägeranfang bewirkt einen Sprung „von Null auf die Größe dieser
Kraft“, eine Einzelkraft am Trägerende einen entsprechenden Sprung „auf den Wert Null“.
In Bereichen mit konstanter Linienlast ist die Querkraft linear veränderlich.
Diese Aussagen gestatten es häufig, den Querkraftverlauf ohne Rechnung zu ermitteln, was
mit den beiden folgenden Beispielen demonstriert wird.
104 7 Schnittgrößen
Beispiel 1: 12 3
Die vertikalen Lagerreaktionen des skizzier-
ten Trägers errechnen sich zu
FAV = 7F ; FB = 8F . 2
Dementsprechend beginnt der Querkraftverlauf am linken
Rand mit FQ = 7F, positiv, weil der „Sprung von Null“ der 12 3
Richtung von FAV folgt, bleibt konstant bis zum Sprung
um 12F nach unten auf den Wert −5F, bleibt konstant,
bis er um den Betrag von FB auf 3F springt, um schließlich
am rechten Rand, der dort angreifenden Kraft 3F folgend,
7 3
„auf Null zu springen“. Der Querkraftverlauf kann oh- +
ne Rechnung gezeichnet werden, am rechten Rand ergibt +
sich sogar noch eine Kontrolle des Kräfte-Gleichgewichts. 5
Beispiel 2:
Für den nebenstehend dargestellten Träger
führen nach Berechnung der Lagerreaktionen folgende /2 /2
Überlegungen zur grafischen Darstellung des Querkraft-
verlaufs: 0
Beispiel 3:
Da die Biegemomente an den Ecken des nachstehend skizzierten Rahmens (ohne
vorherige Ermittlung der Lagerreaktionen) berechnet werden können, wenn die vertikalen Ab-
schnitte an den Ecken geschnitten werden, kann man den Momentenverlauf sofort zeichnen: Der
lineare Verlauf im horizontalen Teil ist durch die bekannten Werte an den Ecken (Biegemoment
ändert seinen Wert dort nicht!) eindeutig bestimmt.
60 o
+
2
1
+ 2
3 2
Abbildung 7.14: Zeichnen des Momentenverlaufs ohne Rechnung und ohne Kenntnis der Lagerreaktionen
Der Biegemomentenverlauf hat relative Extremwerte an allen Punkten, an denen der Querkraft-
verlauf das Vorzeichen wechselt.
ê Für die Beurteilung der Haltbarkeit eines Trägers hat das absolute Maximum des Biegemo-
ments |Mb |max eine besondere Bedeutung. Dies kann nur auftreten
• in Bereichen, in denen eine Linienlast wirkt oder
• an den Bereichsgrenzen.
Wenn keine Linienlast vorhanden ist, kann |Mb |max nur auftreten an
• Einleitungsstellen von Einzelkräften oder Einzelmomenten,
Beispiel 4:
Für den nebenstehend dargestellten Träger
ist das Biegemoment am freien Trägerende und am La-
ger A jeweils Null. In den beiden Bereichen muss wegen 2
des Fehlens einer Linienlast ein linearer Verlauf vorliegen,
das Moment am Punkt B ist Mb,B = −Fa, wobei das Vor-
zeichen aus der Anschauung gewonnen werden kann (die
untere Faser wird offensichtlich gedrückt).
Beispiel 5: =2
In beiden Bereichen hat der skizzierte Trä-
ger einen linearen Momentenverlauf. Am freien Ende ist
das Biegemoment Null. Wenn das auf den Träger wirken-
de Einspannmoment bei A rechtsdrehend positiv gewählt 2
wird (wie das Biegemoment vereinbarungsgemäß gewählt
werden muss), ergibt es sich zu +
MA = 2Fa − F · 3a = −Fa . =
Mit diesem Wert startet der Verlauf bei A, verläuft linear Abbildung 7.15: Sprünge im Mo-
bis zur Einleitungsstelle des Moments und nach dem da- mentenverlauf sind nur an Einlei-
durch bedingten Sprung wieder linear bis zum Wert Null tungsstellen von Momenten mög-
am Trägerende und kann also nur den skizzierten Verlauf lich.
haben.
ê Die freie Verschiebbarkeit eines am starren Körper angreifenden Moments darf selbstver-
ständlich erst nach dem Freischneiden genutzt werden. Es ist sicher klar, dass für den Verlauf
des Biegemoments der Angriffspunkt des äußeren Moments einen wesentlichen Einfluss hat.
Beispiel 6:
Zur Darstellung des Mo-
mentenverlaufs für den skizzierten Ger-
berträger werden folgende Erkenntnisse
genutzt: 2
• Das Biegemoment ist an den Punkten
A, G und C gleich Null.
+
• Die vertikale Lagerkraftkomponente
1
bei A hat den Wert FAV = F/2, weil 2
F in der Mitte von AG angreift. Mit
dieser Lagerkraft ist das Moment un-
ter der Last F bekannt.
• Die Verbindungsgerade von diesem Wert durch das Gelenk G bis zum Lager B (erst hier darf
ein Knick im Momentenverlauf auftreten) liefert das Moment an dieser Stelle, und es kann
die letzte Verbindungsgerade zum Punkt C gezeichnet werden.
7.4 Aufgaben 107
Beispiel 7:
Als Beispiel 2 (auf Seite 104) wurde für einen Träger mit einer Linienlast der
Querkraftverlauf ermittelt. Da die Querkraft-Funktion als Ableitung der Funktion des Biegemo-
ments in jedem Punkt ein Maß für den Anstieg der Biegemomenten-Funktion ist, kann diese
vielfach (zumindest qualitativ) bei bekanntem Querkraftverlauf unter Ausnutzung der übrigen
bereits benutzten Aussagen gezeichnet werden. Im Einzelnen werden für dieses Beispiel folgen-
de Erkenntnisse herangezogen (realisiert in Abbildung 7.16):
• Das Biegemoment ist an den Trägerrändern
0
(Punkte ¬) gleich Null.
• Die Kurve des Momentenverlaufs ist im linken
Bereich (linearer Querkraftverlauf) eine quadra- /2 /2
tische Parabel , im rechten Bereich hat Mb
einen linearen Verlauf ®. 3
0
8 1
• An der Übergangsstelle vom linken zum rech- + 8
0
7.4 Aufgaben
Aufgabe 7.1:
Der skizzierte Träger ist durch eine kon-
stante Linienlast mit der Intensität q0 und eine Einzelkraft 0
F = 4 q0 a belastet. Man ermittle 30 o
Aufgabe 7.2:
Für den Gerber-Träger ermittle man:
a) Schnittgrößenverläufe (Normalkraft, Querkraft, Bie- 0
gemoment) analytisch, 2
b) grafische Darstellung der Schnittgrößenverläufe,
c) Ort und Größe des absolut größten Biegemoments.
Gegeben: a ; q0 ; F = q0 a .
108 7 Schnittgrößen
Aufgabe 7.3:
Für den skizzierten Rahmen ermittle man:
0
a) Lagerreaktionen bei A und B,
3
b) Schnittgrößenverläufe (Normalkraft, Querkraft, Bie-
gemoment) analytisch,
c) grafische Darstellung der Schnittgrößenverläufe,
d) Ort und Größe des absolut größten Biegemoments.
2
Gegeben: a ; q0 ; F = 2 q0 a . 5
Aufgabe 7.4:
Ein Tragwerk mit einem Gelenk G ist bei 0 =4 0
A durch ein Loslager gestützt und bei B starr eingespannt.
Es trägt die Linienlast q0 und die Kraft F = 4 q0 a. Man
ermittle:
a) Lagerreaktionen bei A und B,
b) Schnittgrößenverläufe (Normalkraft, Querkraft, Bie-
gemoment) analytisch,
2
c) grafische Darstellung der Schnittgrößenverläufe,
d) Ort und Größe des absolut größten Biegemoments.
Aufgabe 7.5:
Der skizzierte Rahmen ist durch
eine konstante Linienlast und zwei Einzelkräfte
belastet. Man ermittle:
a) Lagerreaktionen bei A und B,
b) Schnittgrößenverläufe (Normalkraft, Quer- 0
kraft, Biegemoment) im Bereich der Linien-
last analytisch,
c) grafische Darstellung der Schnittgrößenver-
2
Wenn die Wirkungslinien der Kräfte nicht mehr alle in einer Ebene liegen oder die Drehachsen
der Momente nicht alle senkrecht zur Ebene der Kräfte gerichtet sind, liegt ein räumliches Pro-
blem vor. In solchen Fällen sollte zunächst überprüft werden, ob die Betrachtung in mehreren
Ebenen (und damit die Lösung mehrerer Teilaufgaben) möglich ist. Erst dann, wenn dies nicht
gelingt, sollte man die Aufgabe als räumliches Problem auffassen.
Eine Kräftegruppe wird als zentrales Kraftsystem bezeichnet, wenn sich die Wirkungslinien aller
Kräfte in einem Punkt schneiden.
Da durch zwei sich schneidende Geraden eine Ebene aufgespannt wird, kann man für jeweils
zwei Kräfte in dieser Ebene nach den Regeln des zentralen ebenen Kraftsystems verfahren (z. B.
ein Kräfteparallelogramm konstruieren). Aus dieser Überlegung folgt, dass zur Ermittlung der
Resultierenden auch die Vereinfachung der Konstruktion in Form des Kraftecks auf das räum-
liche Problem übertragen werden kann. Allerdings lässt sich ein „räumliches Krafteck“ in der
Zeichenebene nur schwierig darstellen.
Die Formeln des ebenen Problems 2.2 müssen nur um die dritte Komponente erweitert werden,
und man gewinnt die Formeln zur
Die Richtung der Resultierenden lässt sich zum Beispiel durch die Angabe der Winkel, die sie
mit den Achsen eines kartesischen Koordinatensystems bildet, beschreiben:
Die Winkel αx , αy und αz werden in den von der x-, y-, bzw. z-Achse
und der Kraft FR aufgespannten Ebenen gemessen. Obwohl immer Glei-
chung 8.3 gilt, ist die Lage eines Vektors im Raum erst eindeutig be-
stimmt durch die Angabe der drei cos-Werte (Richtungskosinusse -
schreibt sich tatsächlich mit k, und der lustig klingende Plural ist auch
richtig), weil aus 8.3 die für die Lage des Vektors wichtigen Vorzeichen
der cos-Werte nicht zu entnehmen sind.
Die Abbildung 8.1 verdeutlicht am Beispiel, wie diese Winkel gemessen
werden: Der Winkel αx liegt in der Ebene, die von der x-Achse und FR
aufgespannt wird. Man verwendet zweckmäßig diese Winkel auch für Abbildung 8.1: Bei-
die Zerlegung einer Kraft in ihre drei Komponenten. spiel für einen Win-
Ein zentrales Kraftsystem befindet sich im Gleichgewicht, wenn die Re- kel, für den der Rich-
sultierende aller Kräfte gleich Null ist. Da ein Vektor im Raum nur ver- tungskosinus angege-
ben wird
schwindet, wenn jede Komponente Null ist, folgen daraus die drei
ê Aus der Forderung nach Gleichgewicht können also beim zentralen räumlichen Kraftsystem
drei Unbekannte ermittelt werden.
ê Die Schwierigkeit, schon einfache räumliche Konstruktionen anschaulich zu erfassen, legt
es nahe, wesentlich formaler als beim ebenen Problem vorzugehen: Man ermittelt eine Kom-
ponente eines räumlichen Kraftvektors aus dem Produkt „Betrag des Vektors · Richtungsko-
sinus“, wobei der Richtungskosinus im Allgemeinen aus der Geometrie des Systems folgt.
ê Typisches Vorgehen bei der Lösung von Aufgaben: Man schreibt einen beliebigen Vektor
auf, der aber die Richtung der Kraft haben muss. Dieser Vektor wird durch seine Länge
(seinen Betrag) dividiert und man erhält den Vektor der Richtungskosinusse. Da dieser we-
gen 8.3 ein Einheitsvektor ist, wird er nach Multiplikation mit dem (bekannten oder un-
bekannten) Betrag der in diese Richtung wirkenden Kraft zum Kraftvektor. Die Gleichge-
wichtsbedingungen 8.4 beziehen sich dann jeweils auf die Komponenten der so ermittelten
Kraftvektoren.
ê Wenn man sich auf ein einmal festgelegtes Koordinatensystem bezieht, ergeben sich die
Richtungskosinusse eines Vektors (formal und vorzeichensicher) aus der Vorschrift „Kom-
ponente dividiert durch Betrag des Vektors“.
Beispiel 1:
Zwei Stäbe 1 und 2 sind an einer Wand befestigt und werden durch den vertikalen
Stab 3 gehalten (Abbildung 8.2). Man berechne die Stabkräfte FS1 , FS2 und FS3 .
Die vier Kräfte F, FS1 , FS2 und FS3 müssen ein Gleichgewichtssystem bilden (natürlich können
auch Stäbe im Raum nur Kräfte in Stablängsrichtung aufnehmen, vgl. die Definition des Stabs
im Abschnitt 6.2 auf Seite 70).
8.1 Zentrales Kraftsystem 111
~c1 = − √114
√2
x & − √214 FS1 − √2 FS2 = −F , ~c2 =
17
17
3 3
y % − √114 FS1 + √2 FS2 = 0 − 14
√ − 17
√
17
− √214 − √217
z↑ − √314 FS1 − √3
17
FS2 + FS3 = 0
~FS1 = 1 √2
− √14 FS1 , ~FS2 = F
17 S2
Die Lösung dieses Gleichungssystems liefert: − √314 − √317
√ √
14 17
FS1 = 3 F, FS2 = 6 F, FS3 = 23 F . Abbildung 8.3: Geometrievektoren Ù Rich-
tungskosinusse Ù Kraftvektoren
ê Auch wenn die vektorielle Behandlung des Problems schließlich doch auf die Lösung eines
Gleichungssystems der Komponenten-Gleichungen führt, sollte man den formalen Weg über
die Richtungskosinusse immer dann gehen, wenn man an die Grenze seines räumlichen
Vorstellungsvermögens gelangt.
Bei dieser einfachen Aufgabe könnte man natürlich noch den „anschaulichen Weg“ dem forma-
len Weg vorziehen. Dieser führt vielfach über die Betrachtung des Problems in unterschiedlichen
Ebenen sehr schnell zu Teillösungen.
112 8 Räumliche Probleme
Die Lösung des Beispiels 1 mit dem „anschaulichen Weg“, bei dem nacheinander in drei Ebenen
gearbeitet wird, findet man mit ausführlicher Diskussion unter www.TM-aktuell.de. Das verall-
gemeinerungsfähige Fazit ist:
ê Die Berechnung räumlicher Probleme durch Betrachten in unterschiedlichen Ebenen (der
Versuch, den „anschaulichen Weg“ zu gehen) ist häufig unübersichtlich, schlecht forma-
lisierbar und damit auch fehleranfällig. Formaler und damit weniger fehleranfällig ist das
Rechnen mit Vektoren, zumindest die formale Ermittlung der Richtungskosinusse ist emp-
fehlenswert. Zwei Gründe können jedoch für eine Abweichung von dieser Empfehlung spre-
chen:
• Für den (konservativen) Konstrukteur, der mit seiner technischen Zeich-
nung ohnehin „zweidimensional in verschiedenen Ebenen denkt“, kann
auch die Berechnung auf diese Art einfacher sein.
• Quasiebene Probleme (wie das folgende Beispiel 2) sind in jedem Falle
Kandidaten für eine Betrachtung in mehreren Ebenen.
Beispiel 2:
Ein flächenhafter Körper (Blech) mit
einer Symmetrieachse soll an den Punkten A, B und
C an gleich langen Seilen mit Hilfe eines Krans trans-
portiert werden. Die Seile werden jeweils an den
Punkten A, B und C und am Kranhaken befestigt.
Gegeben: FG (Gewicht des Blechs),
1
l (Länge eines Seils), 2
c1 , c2 (Blechabmessungen),
xS (Lage des Schwerpunkts),
Man ermittle die Seilkräfte FSA , FSB und FSC , die sich beim Anheben des Blechs einstellen.
Beim Anheben des Blechs stellt sich die Gleich-
gewichtslage so ein, dass der Schwerpunkt S des
Blechs senkrecht unter dem Aufhängepunkt liegt.
Man beachte den Unterschied zu allen bisher be-
handelten Aufgaben: Die Geometrie des Gleichge-
wichtszustandes ist nicht direkt vorgegeben, ihre Er-
mittlung macht sogar einen nicht unerheblichen Auf-
wand bei der Lösung der Aufgabe aus.
Wegen der Symmetrie sind die Seilkräfte FSA und FSB
gleich, alle übrigen Kräfte liegen in der Ebene ECD.
Es empfiehlt sich also, zunächst die Ebene ABD zu
betrachten, um die Komponenten zu berechnen, die
FSA und FSB in der Ebene ECD haben, um anschlie-
ßend ein rein ebenes Problem in dieser Ebene behan-
deln zu können.
8.1 Zentrales Kraftsystem 113
Nachdem einmal der angegebene Formelsatz definiert wurde, können automatisch sämtliche For-
meln immer wieder für beliebige Eingabewerte ausgewertet werden.
8.2 Räumliche Fachwerke 115
Auch hier gilt: Die Erfüllung dieser notwendigen Bedingung ist keine Garantie für die Trag-
fähigkeit des Fachwerks. Untaugliche Konstruktionen äußern sich durch Widersprüche in den
Gleichgewichtsbedingungen.
Das schon für ebene Fachwerke universell einsetzbare Knoten-
schnittverfahren (siehe Seite 81) muss für die räumlichen Fach- Knoten
werke nur leicht modifiziert werden: Rundumschnitte um sämt-
liche Knoten, so dass alle an den Knoten angrenzenden Stäbe
geschnitten werden, liefern zentrale räumliche Kraftsysteme, und
für jeden Knoten können drei Gleichgewichtsbedingungen formu-
liert werden. Dabei sollte man konsequent an jedem Knoten für Knoten
jeden Stab nach folgendem Algorithmus vorgehen:
Die Lage eines Stabes S im Fachwerk und seine Länge lS wer-
den eindeutig durch die Koordinaten seiner beiden Knoten fest-
gelegt (Abbildung 8.6). Das kartesische Koordinatensystem, auf
das sich diese Angaben beziehen, kann beliebig gewählt werden.
Die in Stablängsrichtung wirkende Stabkraft (mit dem Betrag FS )
wird an beiden Knoten als Zugkraft angetragen (Pfeilspitze weist Abbildung 8.6: Stab S mit den
vom Knoten weg). Der Kraftvektor am Knoten i kann dann mit Knoten i und j
Hilfe der Richtungskosinusse aufgeschrieben werden:
x j − xi
~FS = y j − yi FS mit lS = (x j − xi )2 + (y j − yi )2 + (z j − zi )2 .
q
(8.5)
lS
z j − zi
Man beachte: Die Richtungskosinusse (Quotient aus Koordinatendifferenz und Stablänge) wer-
den ausschließlich aus den geometrischen Informationen (Knotenkoordinaten) gewonnen. Am
Knoten j hat die Stabkraft gerade die entgegengesetzte Richtung, was sich durch Umkehrung
der Koordinatendifferenzen bei der Berechnung der Richtungskosinusse automatisch ergibt, so
dass man folgende einfache Regel für das Aufschreiben des Stabkraft-Vektors des Stabes S am
Knoten i formulieren kann:
116 8 Räumliche Probleme
ê Für jeden Stab S am Knoten i kann der Stabkraft-Vektor nach 8.5 aufgeschrieben werden,
wenn der andere zum Stab S gehörende Knoten als Knoten j betrachtet wird.
Mit dem Stabkraft-Vektor sind die drei Komponenten in Richtung der gewählten Koordinaten
gegeben, und mit allen an einem Knoten angreifenden Stabkräften können die drei Gleichge-
wichtsbedingungen für den Knoten formuliert werden.
Beispiel
Das abgebildete Fachwerk
besteht aus fünf Stäben, die in der Ho-
rizontalebene als Rechteck mit einer
Diagonalen angeordnet sind, und vier
weiteren Stäben, die zu einem Knoten
zusammenlaufen, der senkrecht über 3
4
dem Mittelpunkt des Rechtecks in der
Horizontalebene liegt. 1 2
3
Das Fachwerk ist durch drei Stä- 5
be (einwertige Lager) bei B, C und
9
D gelagert und im Punkt A durch
ein räumliches Festlager (kann drei 3 6
Kraftkomponenten aufnehmen) abge- 1 7
stützt. An einer Ecke des Fachwerkes 3
8
werden die Kräfte F1 , F2 und F3 ein- 2
2
geleitet.
Gegeben: F1 , F2 , F3 , a .
Man berechne die Stabkräfte der Stäbe 1 bis 9, die Kräfte in den Lagerstäben und die Lagerreak-
tionen bei A.
Für die 15 Unbekannten (9 Stabkräfte, 3 Kräfte in den Lagerstäben und 3 Kraftkomponenten am
Lager A) stehen an jedem der Knoten I bis V drei Gleichgewichtsbedingungen zur Verfügung:
Die notwendige Bedingung für die statische Bestimmtheit ist erfüllt. Mit dem Koordinatensys-
tem, dessen Ursprung im Knoten I liegt (Skizze neben der Tabelle), haben die 5 Knoten die in
der folgenden Tabelle zusammengestellten Koordinaten:
I II III IV V
3,5
x 0 a 0 2a 2a
y 0 1, 5a 3a 0 3a
2 3 z 0 3a 0 0 0
Die Abbildung 8.7 zeigt die Rundumschnitte um alle fünf Knoten. Das Aufstellen der Gleich-
gewichtsbedingungen soll am Beispiel des Knotens I erläutert werden:
8.2 Räumliche Fachwerke 117
mit l1 = 3, 5a. 1 2 7
6
7
Für die Stabkraft des Stabs 6 muss
8
8.5 mit
√ Knoten V als Knoten j und 2
l6 = 13 a formuliert werden. Mit 8
1 2 1 0
~FS1 = 1, 5 FS1 ,
FS6
~FS6 = 3 √ , ~FS8 = 0 FS8 , ~FS9 = 1 FS9 .
3, 5 13
3 0 0 0
Nun können die drei Gleichgewichtsbedingungen für den Knoten I aufgeschrieben werden:
1 √2
x& 3,5 FS1 + 13
FS6 + FS8 = −F1
1,5 √3
y% 3,5 FS1 + 13
FS6 + FS9 = F2
3
z↑ 3,5 FS1 = F3
Auf gleichem Wege kommt man zu den Gleichgewichtsbedingungen der übrigen Knoten. Für
den Knoten II ergibt sich:
1 1 1 1
x& − 3,5 FS1 + 3,5 FS2 + 3,5 FS3 − 3,5 FS4 =0
y% − 1,5
3,5 FS1 − 1,5
3,5 FS2 + 1,5
3,5 FS3 + 1,5
3,5 FS4 =0
3 3 3 3
z↑ − 3,5 FS1 − 3,5 FS2 − 3,5 FS3 − 3,5 FS4 + FB = 0
Diese fünfzehn Gleichungen lassen sich durchaus noch „per Handrechnung“ lösen: Stab 4 ist ein
Nullstab (als einziger Stab am Knoten III, der nicht in der Horizontalebene liegt) und damit auch
Stab 5. Das Ergebnis für FS1 ist aus dem „z-Gleichgewicht“ des Knotens I abzulesen, und mit
diesen bekannten Kräften entkoppeln sich die Gleichungen so, dass maximal 2 Gleichungen mit
2 Unbekannten als „System“ zu behandeln sind.
Wenn die Aufgabe nur unwesentlich komplizierter wird, gilt das natürlich nicht mehr, und man
sollte für die Lösung des Gleichungssystems den Computer bemühen. Für das behandelte Bei-
spiel findet man unter www.TM-aktuell.de die Lösung mit verschiedenen Software-Produkten.
Bei Nutzung einer Software, die symbolisch rechnen kann, erscheint das Er-
gebnis in Abhängigkeit von den Kräften F1 , F2 und F3 (Ergebnis mit Maple
siehe Abbildung 8.8). Aber auch eine rein numerische Rechnung kann das
Ergebnis ohne Vorgabe von Zahlenwerten für die Belastung erzeugen. Da-
für muss die rechte Seite des Gleichungssystems wie folgt in drei Vektoren
zerlegt werden (Ergebnis mit Matlab siehe Abbildung 8.9):
−F1 −1 0 0
F 0 1 0
1 2 1
3,5 . . . 0 FS1 3,5 . . . 0 FS1
F 0 0 1
. . . . 3 . . .
.
.. . . .. .. = 0 Ù .. . . .. .. = 0 F1 + 0 F2 +
0 F3
.. .. .. ..
0 ... 1 FD 0 ... 1 FD
. . . .
0 0 0 0
FS1 1.166666667 F3
FS2
0.
FS3 1.166666667 F3
FS4
0.
FS5
0.
FS6
−0.6009252128 F3
FS7
0.1219442305 10−9 F3
FS8 = −1. F1
0.1219442305 10−9 F3 + F2
FS9
FA1
−1. F1
FA2
0.1219442305 10−9 F3
FA3
0.
FB 2. F3
0.1219442305 10−9 F3 + F2
FC
FD −1. F3
Abbildung 8.8: Das Ergebnis der symbolischen Abbildung 8.9: Das Ergebnis der numerischen
Berechnung mit Maple enthält die Kräfte F1 , F2 Berechnung mit Matlab besteht aus drei Vektoren,
und F3 als Symbole (die sehr kleinen Zahlenwerte die mit F1 , F2 bzw. F3 multipliziert und dann ad-
resultieren aus Rundungsfehlern). diert werden müssen.
8.3 Allgemeines Kraftsystem 119
8.3.1 Momente
An drei einfachen Beispielen wird die Verschiebbarkeit von Momenten und die Möglichkeit der
Zusammenfassung von Momenten zu einem resultierenden Moment untersucht:
1 1 1
2 2
2
Abbildung 8.10: Getriebegehäuse als „Black box“, die Wirkungen an Antriebs- und Abtriebswelle werden
durch Momente repräsentiert, über das „Innenleben“ des Getriebes ist nichts bekannt
Für die drei in Abbildung 8.10 dargestellten Getriebegehäuse sollen jeweils die resultierenden
Belastungen ermittelt werden, die von ihnen auf die Fundamente aufgebracht werden (benötigt
z. B. für die Auslegung der Fundamentschrauben). Neben dem Eigengewicht, das hier nicht be-
trachtet werden soll, besteht die Belastung nur aus den Drehmomenten der beiden Wellen, die in
das Getriebegehäuse hineingehen. Nach dem „Wegschneiden der Wellen“ müssen die (von den
Wellen auf das Gehäuse wirkenden) Momente M1 und M2 angetragen werden (Erinnerung an das
Schnittprinzip: Was im Inneren des Getriebegehäuses passiert, ob und wie viel Stirnräder, Kegel-
räder, ob überhaupt Zahnräder oder Reibräder oder Keilriemen die Drehbewegung umformen, ist
für diese Betrachtung völlig unerheblich).
Im Fall a liegen die beiden Momente in einer Ebene. Dieses Problem wurde bereits im Abschnitt
3.3 behandelt: Momente dürfen beliebig in der Ebene verschoben und damit natürlich auch ad-
diert (bei entgegengesetztem Drehsinn subtrahiert) werden. Die resultierende Belastung ist das
resultierende Moment
MR = M1 + M2 .
120 8 Räumliche Probleme
2
Abbildung 8.11: Bei der Verschiebung eines Kräftepaars in
eine parallele Ebene ändert sich seine Wirkung nicht
Im Fall b liegen die beiden Momente in unterschiedlichen (aber parallelen) Ebenen. Es wird
deshalb zunächst untersucht, ob und unter welchen Voraussetzungen z. B. das Moment M2 in die
Ebene des Momentes M1 verschoben werden darf. Dazu werden entsprechend Abbildung 8.11
einige erlaubte Operationen (auf der Basis der Axiome der Statik) ausgeführt:
• Moment M2 wird durch ein beliebiges (statisch äquivalentes) Kräftepaar ersetzt: M2 = Fa.
• In einer parallelen Ebene wird ein Gleichgewichtssystem aus vier gleich großen Kräften F
ergänzt, dessen Wirkung auf den starren Körper natürlich statisch neutral ist.
• Schließlich werden je zwei Kräfte der beiden Ebenen zu einer Resultierenden zusammen-
gefasst: Die in der Skizze mit einem Stern gekennzeichneten Kräfte haben gleichen Rich-
tungssinn und gleichen Betrag und liegen auf parallelen Wirkungslinien. Ihre Resultierende
2F ∗ liegt in einer Mittelebene zwischen den Ebenen, in denen die beiden Kräfte F ∗ liegen.
In gleicher Weise werden die beiden mit einem Querstrich gekennzeichneten Kräfte zu-
sammengefasst. Die beiden neuen Resultierenden in der Mittelebene sind gleich groß und
entgegengesetzt gerichtet, so dass sich ihre Wirkungen aufheben. Es bleibt ein Kräftepaar in
der zur ursprünglichen Ebene parallelen Ebene übrig: M2 darf in die Ebene des Moments M1
verschoben werden, und das Ergebnis dieser Überlegungen darf verallgemeinert werden:
Am starren Körper darf ein Moment entlang der Drehachse und parallel zu dieser verschoben
werden, die Richtung der Drehachse und die Drehrichtung bleiben jedoch erhalten.
Am starren Körper angreifende Momente sind also wesentlich „beweglicher“ als Kräfte. Da M2
in die Ebene von M1 und innerhalb dieser Ebene dann auch noch beliebig verschoben werden
darf, ergibt sich die resultierende Belastung auch im Fall b zu
MR = M1 + M2 .
Festzuhalten ist, dass diese besonders einfache Art der Zusammenfassung zweier Momente zu
einem resultierenden Moment die Parallelität der Drehachsen der Momente voraussetzt.
Diese Bedingung ist im Fall c nicht mehr erfüllt. Nach den bereits bekannten Aussagen ist die
Frage, ob sich die beiden Drehachsen der Momente in einem Punkt schneiden, natürlich belang-
los, weil die Momente ja innerhalb der Ebenen, in denen sie wirken, ohnehin beliebig verscho-
ben werden dürfen. Die Möglichkeit, diese beiden Momente zu einem resultierenden Moment
zusammenzufassen, wird mit nachfolgendem Gedankenexperiment untersucht:
8.3 Allgemeines Kraftsystem 121
1 1 1
1 2
2 2 2
1
2 2
Damit ist auch der Betrag des resultierenden Moments für den Fall c bekannt:
q q q
MR = FR a = F12 + F22 a = F12 a2 + F22 a2 = M12 + M22 .
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass bei den vorangegangenen Überlegun-
gen gar nicht vorausgesetzt werden musste, dass die beiden Ebenen senkrecht zueinander sind.
Die Kräfte, die das resultierende Kräftepaar bilden, entstanden vielmehr nach dem bekannten
Parallelogrammgesetz.
Da zwei Ebenen, die nicht parallel sind (der Spezialfall paralleler Ebenen ist ohnehin beson-
ders einfach, siehe Fall b), als Schnittlinie immer eine Gerade haben, ist damit das Problem der
Zusammenfassung von Momenten zu einem resultierenden Moment allgemein gelöst:
Momente addieren sich ganz ähnlich wie Kräfte, und es ist deshalb naheliegend, auch die Mo-
mente als Vektoren zu definieren, zumal sie alle Eigenschaften von Vektoren aufweisen. Wie eine
Kraft ist ein Moment gekennzeichnet durch einen Betrag (gemessen z. B. in der Maßeinheit Nm),
eine Richtung (Richtung der Drehachse) und einen Richtungssinn (Drehsinn).
122 8 Räumliche Probleme
Die im Abschnitt 3.4 eingeführte Definition für das Moment einer Kraft bezüglich eines Punktes
(„Moment = Kraft · Hebelarm“) und der Begriff Hebelarm (kürzeste Verbindung vom Bezugs-
punkt zur Wirkungslinie der Kraft) bleiben auch bei dreidimensionaler Betrachtung gültig. Al-
lerdings können die damit verbundenen geometrischen Überlegungen recht kompliziert werden,
zumal eine Frage hinzukommt: In welcher Ebene wirkt das Moment bzw. welche Lage nimmt
die Drehachse im Raum ein?
Bei ebenen Problemen ist die Antwort klar: Kraft, Hebelarm und das durch die Kraft hervorge-
rufene Moment liegen in der Ebene, die Drehachse des Moments steht senkrecht auf der Ebene
(und ist deshalb auch in den Skizzen nicht zu sehen). Nach den Betrachtungen im vorigen Ab-
schnitt ist einsehbar, dass auch diese Aussage auf das räumliche Problem übertragen werden
kann:
Das Moment, das eine Kraft bezüglich eines Punktes hervorruft, wirkt in der Ebene, die von
der Wirkungslinie der Kraft und dem Hebelarm aufgespannt wird. Seine Drehachse steht senk-
recht zu dieser Ebene.
Die Verschiebung einer Kraftkomponente, die zur x-Achse parallel ist, in den Nullpunkt erzeugt
also zwei Komponenten des Versetzungsmoments um die beiden anderen Achsen. Die Moment-
wirkung der Komponente Fx bezüglich des Nullpunktes ist das aus diesen beiden Komponenten
zu bildende Moment.
Entsprechende Ergebnisse erhält man bei der Untersuchung der Momentwirkung der beiden an-
deren Kraftkomponenten. Wenn die Momentkomponenten, deren Pfeilspitzen in Richtung der
Koordinatenachsen zeigen, als positiv angenommen werden, können die Ergebnisse dieser Über-
legungen zusammengefasst werden zu den
Mx = Fz ry − Fy rz , My = Fx rz − Fz rx , Mz = Fy rx − Fx ry . (8.6)
ê Das durch die drei Komponenten 8.6 definierte Moment (der Momentvektor) ist das Moment
einer Kraft bezüglich eines Punktes.
ê Eine einzelne Komponente (Momentvektor in Richtung einer Koordinatenachse) ist das Mo-
ment einer Kraft bezüglich einer Achse. Da die Lage der Bezugsachsen im Allgemeinen be-
liebig festgelegt werden darf, kann häufig ausgenutzt werden, dass eine Kraft kein Moment
bezüglich einer Achse hat, wenn
• die Wirkungslinie der Kraft parallel zur Achse verläuft (Fx hat z. B. keine Momentwir-
kung um die x-Achse) oder
• die Wirkungslinie der Kraft die Achse schneidet, weil dann der Hebelarm Null ist.
Die durch 8.6 gegebenen Komponenten des Momentvektors lassen sich formal (und damit bei
komplizierter Geometrie wesentlich übersichtlicher) mit Hilfe des Vektorprodukts ermitteln: Die
drei Koordinaten des Kraftangriffspunktes werden zum Ortsvektor zusammengefasst. Dann er-
hält man das
ê Das Vektorprodukt ist nicht kommutativ (Reihenfolge der Faktoren darf nicht vertauscht
werden). Wenn die in 8.7 angegebene Reihenfolge der Faktoren gewählt wird, ergibt sich der
Momentvektor automatisch mit der durch die Rechtsschraubenregel definierten Richtung.
ê Das Vektorprodukt errechnet man z. B. nach der Determinantenregel. Mit den Einheitsvek-
toren ~ex , ~ey und ~ez in Richtung der drei Koordinatenachsen gilt (man erkennt, dass die Kom-
ponenten des Momentvektors identisch sind mit denen, die entsprechend 8.6 aus der An-
schauung gewonnen wurden):
8.3 Allgemeines Kraftsystem 125
Mx ~ex ~ey ~ez
~ = My =~r × ~F = rx ry rz
M (8.8)
Mz F F F
x y z
= ~ex (ry Fz − rz Fy ) + ~ey (rz Fx − rx Fz ) + ~ez (rx Fy − ry Fx ) .
Beispiel 1:
An einem Quader mit den Abmessun-
gen a, b und c greifen wie skizziert drei Kräfte an.
Gegeben: a , b , c , F1 , F2 , F3 .
a) Man berechne das resultierende Moment der drei
Kräfte bezüglich des Punktes A. 2
a) In dem gewählten (und in der Skizze angedeuteten) Koordinatensystem liegen alle Kräfte
parallel zu den Achsen, so dass ihre Momentwirkungen aus der Anschauung aufgeschrieben
werden könnten. Es wird trotzdem der formale Weg über das Vektorprodukt gewählt (und die
Anschauung dient der Kontrolle):
~ex ~ey ~ez ~ex ~ey ~ez ~ex ~ey ~ez
~ res,A = a 0
M 0 + a 0 c + 0 b c
0 0 −F F 0 0 0 F 0
1 2 3
−F3 c
= ~ey a F1 + ~ey c F2 − ~ex c F3 = F1 a + F2 c .
0
Der resultierende Momentvektor hat keine z-Komponente, weil die Wirkungslinie von F1
parallel zur z-Achse liegt und die Wirkungslinien von F2 und F3 die z-Achse schneiden.
b) Die Momentwirkungen der drei Kräfte um die Achse A-B (Raumdiagonale des Quaders) sind
anschaulich nur mühsam zu ermitteln. Auch hier empfiehlt sich die Vektorrechnung: Der re-
sultierende Momentvektor hat dann keine Komponente in Richtung der Achse A-B, wenn er
senkrecht auf ihr steht. Zwei Vektoren sind dann senkrecht zueinander, wenn ihr Skalarpro-
dukt (Summe der Produkte der Vektorkomponenten) verschwindet. Das Skalarprodukt aus
dem Vektor der Raumdiagonalen d~ und dem resultierenden Momentvektor liefert:
−F3 c
~ res,A = [ a b c ]T · F1 a + F2 c = −F3 ca + (F1 a + F2 c)b = 0 Ù F3 = b F1 + b F2 .
d~ T · M
c a
0
126 8 Räumliche Probleme
Im Unterschied zum allgemeinen ebenen Kraftsystem, das immer auf eine resultierende Kraft
oder ein resultierendes Moment reduziert werden kann (Abschnitt 3.5), lässt sich das all-
gemeine räumliche Kraftsystem im Allgemeinen nur auf eine resultierende Kraft und ein
resultierendes Moment reduzieren.
Durch geeignete Parallelverschiebung der resultierenden Kraft kann man immer ein zusätzliches
Versetzungsmoment so erzeugen, dass bei der Addition mit dem vorhandenen resultierenden
Moment schließlich die resultierende Kraft und das resultierende Moment die gleiche vektorielle
Richtung haben. Man nennt ein solches Paar Dyname (Kraftschraube). Diese Zusammenfassung
liefert jedoch außer einer gewissen Anschaulichkeit der Gesamtwirkung einer Kräftegruppe auf
den starren Körper im Allgemeinen kaum nennenswerte Vorteile.
Ein starrer Körper befindet sich unter der Wirkung eines allgemeinen räumlichen Kraftsystems
im Gleichgewicht, wenn weder eine resultierende Kraft noch ein resultierendes Moment auf ihn
wirken. Da ein Vektor nur dann verschwindet, wenn jede Komponente für sich Null ist, können
die Gleichgewichtsbedingungen zum Beispiel so formuliert werden:
ê Summe aller Kraftkomponenten in Richtung von drei zueinander orthogonalen Achsen gleich
Null (3 Gleichungen) und
ê Summe aller Momente um drei zueinander orthogonale Achsen gleich Null (3 weitere Glei-
chungen).
Natürlich sind die Richtungen für die Kraft-Gleichgewichtsbedingungen und die Achsen für die
Momenten-Gleichgewichtsbedingungen frei wählbar, sie müssen auch nicht unbedingt orthogo-
nal zueinander sein. Auch darf man wie beim ebenen Problem die Kraft-Gleichgewichtsbedin-
gungen durch zusätzliche Momenten-Gleichgewichtsbedingungen ersetzen.
Es gibt aber wie beim ebenen Problem einige Einschränkungen dieser Freiheiten (z. B. dürfen
nicht drei parallele Momenten-Bezugsachsen gewählt werden), deren Nichtbeachtung auf Glei-
chungssysteme mit singulärer Koeffizientenmatrix führen, die dann nicht eindeutig lösbar sind.
Bei der Handrechnung ist dies unbedeutend: Wenn es bei der Lösung bemerkt wird, muss ei-
ne zusätzliche Gleichgewichtsbedingung formuliert werden. Für die Computerrechnung ist dies
ein sehr unangenehmer Effekt. Ein absolut sicherer Weg, für ein statisch bestimmtes Problem
ein lösbares Gleichungssystem zu erhalten, ist: Man wählt drei senkrecht aufeinander stehende
Richtungen und formuliert die folgenden
8.3 Allgemeines Kraftsystem 127
ê Im allgemeinen Fall des räumlich belasteten und gelagerten Körpers können also sechs un-
bekannte Größen aus sechs Gleichgewichtsbedingungen berechnet werden.
ê Für die Formulierung der Momenten-Gleichgewichtsbedingungen bezüglich der drei Ach-
sen wird auf die Formeln 8.6 verwiesen. Bei komplizierter Geometrie sollte man sogar das
vektorielle Aufschreiben der Momente nach 8.7 bevorzugen.
Beispiel 2:
Das aus 9 Stäben gebildete Raumfachwerk 3
1
(Rechteck mit einem Diagonalstab als Basisebene und
2
vier Seitenstäbe) ist ein starrer Körper (vgl. das Bei-
spiel im Abschnitt 8.2), der statisch bestimmt durch sechs
Stützstäbe gelagert wird.
Gegeben: F1 = F2 = F3 = F , a . 3
Zu berechnen sind die Kräfte in den Lagerstäben A bis F.
Durch das Schneiden der Stützstäbe wird der starre Kör-
per von äußeren Bindungen getrennt. An den Schnittstel- 3
2
len werden die Stabkräfte als Zugkräfte angetragen. Da
das Fachwerk bei der Berechnung der Lagerreaktionen
wie ein starrer Körper behandelt wird, genügt es, seine
Geometrie vereinfacht zu erfassen (Abbildung 8.17).
Beispiel 3:
Die beiden Zahnräder mit den Teil-
kreisdurchmessern d1 und d2 des skizzierten Stirn-
radgetriebes besitzen eine Geradverzahnung. Das
Verhältnis der radial zu übertragenen Kraft Fr zur 1
1
tangential zu übertragenen Umfangskraft Fu ist
durch Fr
= tan 20◦
Fu
gegeben. Die Welle AB wird durch das Antriebs- 2
moment M1 belastet.
2
a
Gegeben: d1 , d2 , M1 , = 0, 8 .
b
Man ermittle
a) Fr und Fu ,
b) das Abtriebsmoment M2 ,
c) die resultierende Lagerkraft bei B.
20 o
Die Getriebewellen werden freigeschnitten und
sämtliche an ihnen wirkenden Kräfte und Momente
angetragen (Skizze unten rechts).
Mindestens ein Lager pro Welle müsste drei Lagerkraftkomponenten aufnehmen können. Da
keine Längsbelastung in Wellenrichtung wirkt, wird hier auf die dritte Komponente verzichtet.
a) Das Momenten-Gleichgewicht um eine Achse, die durch
die Mittellinie der oberen Welle verläuft, und die gege-
1
bene Beziehung zwischen Radial- und Umfangskraft lie- 1
fern: 2
d1 M1
M1 − Fu = 0 Ù Fu = 2 ,
2 d1
Fr M1 M1
= tan 20◦ Ù Fr = 2 tan 20◦ = 0, 728 .
Fu d1 d1
2
b) Mit der bekannten Umfangskraft am unteren Zahnrad lie- 2
fert das Momenten-Gleichgewicht um die Achse der un-
teren Welle das Abtriebsmoment: 2
d2 d2
M2 − Fu = 0 Ù M2 = M1 .
2 d1
c) Die Komponenten der Lagerkraft des Lagers B gewinnt man aus zwei Momenten-Gleichge-
wichtsbedingungen um eine horizontale bzw. vertikale Achse im Punkt A:
q
Fr a + FBV (a + b) = 0 , Fu a − FBH (a + b) = 0 , FR = FBH 2 + F2 ,
BV
M1 a M1 a M1
FBV = −2 tan 20◦ , FBH = 2 Ù FB = 0, 946 .
d1 a + b d1 a + b d1
8.4 Schnittgrößen 129
8.4 Schnittgrößen
Da bei einem allgemeinen räumlichen Kraftsystem Gleichgewicht nur bei Erfüllung von sechs
Gleichgewichtsbedingungen hergestellt werden kann, sind in einem beliebigen Schnitt sechs
Schnittgrößen anzutragen, die mit dem Kraftsystem des abgeschnittenen Trägerteils wieder eine
Gleichgewichtsgruppe bilden. Es sind drei Schnittkräfte und drei Schnittmomente.
Ein Rechtssystem (x, y und z wie „Daumen,
Zeigefinger, Mittelfinger der rechten Hand“)
wird so eingeführt, dass die z-Achse (wie
beim ebenen Problem) in Richtung der Trä-
gerlängsachse liegt (Abbildung 8.18). Die
Schnittgrößen werden nun so definiert, dass
sie sowohl in der y-z-Ebene als auch in der
x-z-Ebene mit der Definition für das ebene
Problem übereinstimmen.
Dazu muss man sich die beim ebenen Pro-
blem eingeführte Bezugsfaser jeweils auf
der Seite des Trägers vorstellen, zu der die
Abbildung 8.18: Schnittgrößen am Träger im Raum
y- bzw. die x-Achse zeigt (in der Skizze also
„unten“ bzw. „vorn“).
Diese fünf Schnittgrößen sind vom ebenen Problem her bekannt. Ein um die Trägerlängsachse
drehendes Moment ist jedoch neu:
• Als sechste Schnittgröße wird das Torsionsmoment Mt definiert, dessen Pfeilspitzen (wie
die Pfeilspitze der Normalkraft) stets vom Schnittufer weg zeigen.
Bei der Definition der Schnittgrößen ist ein Kompromiss unumgänglich: Dem Nachteil der hier
gewählten Vereinbarung, dass nur fünf Schnittgrößen am positiven Schnittufer mit ihren Pfeil-
spitzen den gewählten Koordinatenrichtungen folgen, während Mby der y-Achse entgegengerich-
tet ist, steht der Vorteil gegenüber, dass die Definition in den beiden Ebenen x-z und y-z gleiche
Richtungen für die Schnittgrößen zeigt. Es ist deshalb oft ratsam, das räumliche Problem durch
Betrachtung von zwei ebenen Problemen zu behandeln, wobei das im ebenen Fall nicht auftre-
tende Torsionsmoment nicht vergessen werden darf.
130 8 Räumliche Probleme
Ein Vergleich der nachfolgend in den beiden Ebenen gezeichneten Schnittgrößen für das räum-
liche Problem mit der Definition für das zweidimensionale Problem auf Seite 97 zeigt die Über-
einstimmung:
Ebene Ebene
Abbildung 8.19: Die Definition der Schnittgrößen für den räumlich belasteten Träger stimmt in beiden
Ebenen mit der Definition für das ebene Problem (Abschnitt 7.1) überein.
Beispiel:
Ein zweifach abge-
winkeltes Tragwerk ABCD ist bei
C durch ein „räumliches Festla- 2 3
ger“ (kann Kraftkomponenten in 0
drei Richtungen aufnehmen) und
die drei Stäbe 1, 2 und 3 gelagert.
1
Die Teile AB und BC bzw. BC und
CD stehen jeweils senkrecht auf-
einander, ebenso die Ebenen ABC
2
und BCD.
1,5
Gegeben: a , q0 , F = q0 a .
Man ermittle die Lagerkräfte bei C und die Stabkräfte FS1 , FS2 und FS3 sowie die Schnittgrößen-
verläufe in den Abschnitten AB, BC und CD.
Die sechs Lagerreaktionen (drei Kraftkomponenten am festen Lager und drei Stabkräfte) werden
mit Hilfe von sechs Gleichgewichtsbeziehungen am Gesamttragwerk ermittelt. Für die Kräfte
am Festlager deuten die Indizes die Raumrichtung eines Stabes an (z. B.: Index 1 - Lagerkraft-
komponente des Lagers C parallel zu Stab 1). Die Ergebnisse sind:
8.5 Aufgaben
Aufgabe 8.1:
Für das skizzierte
3
Fachwerk sind die Stabkräfte in den
1
Stäben 1 bis 9 zu berechnen. 2
Gegeben: F1 = F2 = F3 = F , a .
4
Die Kräfte in den Lagerstäben A bis F wurden bereits im
Beispiel 2 des Abschnitts 8.3.3 ermittelt. Unter Benut- 1 3
zung der dort angegebenen Ergebnisse ist die Berech- 9 5
3
nung der Stabkräfte „von Hand“ durchaus zumutbar. 2 6
Alternativ dazu kann ein lineares Gleichungssystem for- 7
muliert und mit einem geeigneten Programm gelöst wer- 8 3
2
den. In diesem Fall ist das Einbeziehen der Lagerstä-
be in die Rechnung empfehlenswert (Gleichungssystem
mit 15 Unbekannten), weil dann das Ergebnis sehr wir-
kungsvoll über die „bekannten Unbekannten“ kontrol-
liert werden kann (siehe www.TM-aktuell.de).
Aufgabe 8.2:
Es sind zwei Varianten eines räumlichen Fachwerkknotens zu untersuchen. Ge-
geben sind die Länge a und die Kraft F, zu bestimmen sind die Stabkräfte FS1 , FS2 und FS3 .
1 3 1 3
3
3
2 2
2 2
Variante Variante
132 8 Räumliche Probleme
Aufgabe 8.3:
Man berechne für die Kurbelwellen I und II für die in den Abbildungen 8.20
bzw. 8.21 dargestellten Lagen
a) das Abtriebsmoment MA ,
b) die Lagerreaktionen bei A und C (Kurbelwelle I) bzw. A und D (Kurbelwelle II),
c) die Torsionsmomente in allen Abschnitten (mit grafischer Darstellung).
Gegeben: F , β , a , b .
2
2
2
2
2
2
Aufgabe 8.4:
Eine Getriebewelle ist mit den gerad- 1
verzahnten Rädern 1 und 2 besetzt. Zwischen radia-
ler Zahnkraft Fr und Umfangskraft Fu besteht über den 1
Zahneingriffswinkel α = 20◦ der Zusammenhang
Fr = Fu tan α . 1
Es gibt nun einen Grenzwinkel α = ρ0 , bei dem die Masse zu rutschen beginnt. Aus den Ergeb-
nissen für die nur durch ihr Eigengewicht belastete Masse liest man ab:
FH
= tan α ,
FN
und somit erhält man für den Grenzfall α = ρ0 :
FH,max = FN tan ρ0 = µ0 FN (mit µ0 = tan ρ0 ) .
Dieses Ergebnis lässt sich auch auf Körper, die nicht nur durch ihr Eigengewicht belastet sind,
erweitern, und man erhält (nach C. A. de C OULOMB, 1736 - 1806) das
C OULOMBsche Haftungsgesetz:
Die maximale Haftkraft zwischen zwei sich berührenden Flächen ist der zwischen diesen
Flächen wirkenden Normalkraft (Druckkraft) proportional:
|FH,max | = µ0 FN . (9.1)
ê Die Absolutstriche bei FH,max im C OULOMBschen Haftungsgesetz deuten an, dass der Ma-
ximalwert natürlich für beliebige Richtungen gilt.
ê Der Haftungskoeffizient µ0 ist sowohl vom Material der sich berührenden Flächen als auch
von deren Oberflächenbeschaffenheit abhängig.
Man beachte unbedingt ganz genau, was das C OULOMBsche Haftungsgesetz aussagt:
Mit µ0 FN ist die obere Grenze für die Haftkraft gegeben. Die tatsächlich wirkende Haftkraft
FH wird immer aus einer Gleichgewichtsbedingung berechnet, und es muss gelten:
FH ≤ FH,max . (9.2)
Da die Nichtbeachtung dieser Aussage einer der häufigsten Fehler bei der Behandlung von Haf-
tungsproblemen ist, soll sie an dem folgenden kleinen Beispiel noch einmal verdeutlicht werden:
Beispiel 1:
Eine Masse m wird von einer Kraft F so
gegen eine vertikale Wand gedrückt, dass sie nicht ab-
wärts rutscht. Unter dieser Voraussetzung (F ist groß
genug, um ein Abrutschen zu verhindern!) gilt immer
FH = mg ,
unabhängig davon, wie groß die Kraft F tatsächlich ist. Abbildung 9.3: Im Ergebnis FH = mg
F beeinflusst nur die Normalkraft FN , und diese setzt kommen weder die Kraft F noch der Haf-
(C OULOMBsches Haftungsgesetz) das obere Limit für tungskoeffizient µ0 vor
die Haftungskraft FH .
Wenn FH den maximal möglichen Wert überschreitet, beginnt der Körper zu rutschen, wobei
in der Berührungsfläche Gleitreibung auftritt. Die Untersuchung der Bewegung mit der Rei-
bungskraft FR als Bewegungswiderstand ist nicht Gegenstand der Statik und wird in der Kinetik
behandelt1 .
Es muss noch darauf hingewiesen werden, dass der Haftungskoeffizient µ0 nur mit großer Vor-
sicht aus Tabellen entnommen werden sollte. Neben dem Material der sich berührenden Flächen
und deren Oberflächenbeschaffenheit (Rauigkeit, trockene oder geschmierte Flächen) haben auch
Temperatur, Feuchtigkeit, unter Umständen auch die Größe der Normalkraft einen nicht in je-
dem Fall zu vernachlässigenden Einfluss auf diesen Koeffizienten. So findet man zum Beispiel
für die Reibpaarung Stahl-Stahl in verschiedenen Lehr- und Tabellenbüchern Werte im Bereich
µ0 = 0, 1 . . . 0, 8. Der Praktiker sollte bei höheren Genauigkeitsanforderungen an die Rechnung
µ0 gegebenenfalls experimentell bestimmen.
1 Die Autoren sind ganz bewusst (aus didaktischen Gründen) von der speziell in Physik-Lehrbüchern (aber auch Lehrbü-
chern zur Technischen Mechanik) üblichen Behandlung von „Haft- und Gleitreibung“ in einem Kapitel abgewichen,
weil für die beiden Phänomene sehr ähnliche Formeln gelten und beide mit dem Namen C OULOMB verknüpft sind,
aber die Berechnungsstrategien sich drastisch unterscheiden: Die Gleitreibungskraft wird nach einer Formel berech-
net, die Haftungskraft aus einer Gleichgewichtsbedingung! Die Gleitreibungskraft ist ein Bewegungswiderstand, die
Haftungskraft (das Wort „Haftreibung“ sollte man vermeiden) ist eine Lagerreaktion.
9.1 Coulombsches Haftungsgesetz 135
Beispiel 2:
Die Masse m auf einer schiefen Ebene ist durch ihre
Gewichtskraft und eine zusätzliche Kraft F belastet.
Gegeben: m = 20 kg ; α = 30◦ ; β = 15◦ ; µ0 = 0, 2 .
a) Für F = 150 N ist die Haftkraft FH zwischen der Masse und der schiefen Ebene zu berechnen.
b) Wie groß darf die Kraft F maximal werden, ohne dass die Masse m zu rutschen beginnt?
c) Wie groß muss die Kraft F mindestens sein, damit die Masse m nicht rutscht?
Die Masse wird freigeschnitten (von der schiefen Ebene gelöst, Normal-
kraft und Haftkraft werden angetragen), und das Kräftegleichgewicht wird
in Richtung der Normalkraft und in Richtung der Haftkraft formuliert:
FN − mg cos α − F cos(90◦ − α − β ) = 0 ,
FH − mg sin α + F sin(90◦ − α − β ) = 0 .
FN = mg cos α + F sin(α + β ) .
Diese Kraft bestimmt die absolute obere Grenze für FH . Aufwärtsrutschen kann nur durch
eine Haftkraft vermieden werden, die entgegen der in der Skizze getroffenen Annahme wirkt.
Deshalb ist der Grenzfall durch
−FH,max = µ0 FN
gegeben. Einsetzen der für FN und FH bereits ermittelten Beziehungen ergibt:
sin α + µ0 cos α
Fmax = mg = 233 N .
cos(α + β ) − µ0 sin(α + β )
c) Abwärtsrutschen wird durch eine Haftkraft vermieden, die den in der Skizze eingetragenen
Richtungssinn hat. Also ist dafür der Grenzfall durch
FH,max = µ0 FN
gegeben, und man errechnet durch Einsetzen von FN und FH :
sin α − µ0 cos α
Fmin = mg = 75, 6 N .
cos(α + β ) + µ0 sin(α + β )
136 9 Haftung
ê Man beachte, dass die bei gegebener Belastung (Fragestellung a des Beispiels 2) berech-
nete Haftkraft aus einer Gleichgewichtsbetrachtung ermittelt wurde. Das C OULOMBsche
Haftungsgesetz wurde nur für die Grenzzustände (Fragestellungen b und c) herangezogen.
ê Der tatsächliche Richtungssinn der Haftkraft (wie bisher der Richtungssinn von Lagerreak-
tionen) ist selbst bei einer so einfachen Aufgabe nicht mit Sicherheit vorherzusagen. Wie
bei den Lagerreaktionen wird eine „falsche“ Annahme durch das Vorzeichen des Ergebnis-
ses korrigiert (Fragestellung a).
ê Die Absolutstriche für die Haftkraft im C OULOMBschen Haftungsgesetz 9.1 zwingen immer
dann, wenn ein Verlassen der Ruhelage in unterschiedlichen Richtungen möglich ist, zur
Untersuchung der Grenzzustände für jeden Richtungssinn, den die Haftkraft haben kann (im
Beispiel 2 durch beide möglichen Vorzeichen von FH realisiert).
ê Obwohl die an dem Körper angreifenden Kräfte ein allgemeines ebenes Kraftsystem dar-
stellen, wurden nur zwei Gleichgewichtsbedingungen formuliert, weil nur zwei Unbekannte
zu berechnen waren. Die dritte Unbekannte ist die Lage der Wirkungslinie der Normalkraft,
die aus einer Momenten-Gleichgewichtsbedingung berechnet werden könnte, aber im All-
gemeinen nicht interessiert (Normalkraft und Haftkraft sind ja ohnehin selbst Resultierende
von Flächenkräften, die über die Haftfläche verteilt sind).
Beispiel 3:
Ein Seil hält eine Walze auf einer schiefen Ebe-
ne. Man ermittle
a) die Kräfte zwischen der Walze und der schiefen Ebene
und die Kraft im Seil,
b) den minimalen Haftungskoeffizienten, der ein Rutschen
der Walze vermeidet.
Gegeben: m ; R = 1, 5 r ; α = 15◦ .
Der erforderliche Haftungskoeffizient, der gerade noch ein Rutschen verhindert2 , ergibt sich aus
2 In den Vorlesungen der Autoren provozierte diese Aufgabe immer den Zwischenruf: „Aber die Walze rollt doch
ohnehin einfach abwärts.“ Sie tut es nicht, wie sollte sie auch, es sei denn, sie rutscht. Rollen bedeutet ja Drehung
um den Auflagepunkt, und gerade dies wird durch das Seil verhindert. Wer es trotzdem nicht einsieht, sollte in tiefes
Nachdenken verfallen, ein Modell bauen, einfach den Gleichgewichtsbedingungen glauben oder sich trösten: Rollen
wird in der Kinetik noch ausführlich behandelt werden.
9.2 Seilhaftung 137
ê Ein letztes Mal soll auf den Unterschied aufmerksam gemacht werden: Wenn vorausgesetzt
wird, dass kein Rutschen eintritt, werden die Kräfte ausschließlich aus Gleichgewichtsbedin-
gungen ermittelt. Für die Fragestellung a ist es unwichtig, ob das Rutschen durch Haftung
oder formschlüssig (z. B.: Zahnrad auf Zahnstange) verhindert wird. Das C OULOMBsche
Haftungsgesetz ist nur für den Grenzfall (Fragestellung b) zuständig.
9.2 Seilhaftung
An einer frei drehbar gelagerten Umlenkrolle, über die ein Seil geführt ist (Abbildung 9.4, lin-
kes Bild), kann sich das statische Gleichgewicht nur einstellen, wenn die Seilkräfte in den beiden
Seilabschnitten 1 und 2 gleich sind. Wird die Umlenkrolle jedoch arretiert (Abbildung 9.4, rech-
tes Bild), so kann das Momenten-Gleichgewicht auch bei unterschiedlichen Seilkräften erfüllt
sein, da auch die Arretierung eine tangential gerichtete Kraft FB auf die Rolle aufbringen kann.
1 2 1 2
1 2 1 2
Abbildung 9.4: Die Momenten-Gleichgewichtsbedingungen um die Drehpunkte A erzwingen bei der frei
drehbaren Rolle gleiche Seilkräfte, bei der arretierten Rolle sind unterschiedliche Seilkräfte möglich.
Damit bei unterschiedlichen Seilkräften das Seil nicht über die arretier- 0
Auch diese Kräfte ändern sich mit dem Winkel ϕ, und an das herausgeschnittene Seilelement
werden nur die auf dieses Stück wirkenden Anteile ∆FN und ∆FH angetragen. In Richtung dieser
beiden Kräfte werden nun die Kraft-Gleichgewichtsbeziehungen formuliert:
∆ϕ ∆ϕ
∆FN − 2 FS sin − ∆FS sin =0 ,
2 2
∆ϕ
∆FH − ∆FS cos =0 .
2
Da die maximal übertragbare Haftkraft wirken soll, darf in der zweiten Gleichung ∆FH durch
∆FH = µ0 ∆FN
ersetzt werden. Anschließend werden die erste Gleichung durch ∆ϕ2 und die zweite Gleichung
durch ∆FS dividiert. Dann liefert der Grenzübergang ∆ϕ → 0, ∆FS → 0, ∆FN → 0 und damit
Nach Trennung der Veränderlichen FS und ϕ wird auf beiden Seiten über den gesamten Bereich
der Seilumschlingung integriert. Die Integrale in der entstehenden Gleichung
ZFS2 Zα
dFS
= µ0 dϕ
FS
FS1 ϕ=0
Die so errechnete Kraft FS2 ist die Maximalkraft, die aufgebracht werden darf, um statisches
Gleichgewicht zu garantieren. Sie ist (im Allgemeinen deutlich) größer als FS1 . Natürlich ist auch
bei einer kleineren Kraft FS2 Gleichgewicht möglich. Wenn FS2 kleiner wird als FS1 , ändern sich
die Richtungen der Haftkräfte zwischen Seil und Zylinder, und man ermittelt auf entsprechendem
Wege die Minimalkraft, für die statisches Gleichgewicht noch möglich ist.
Bei konstantem Haftreibungskoeffizienten µ0 kann ein Seil, das mit dem Umschlingungs-
winkel α um einen Zylinder gelegt ist, nur im statischen Gleichgewicht sein, wenn für die
Seilkräfte folgende Ungleichung erfüllt ist:
FS1 e−µ0 α ≤ FS2 ≤ FS1 e µ0 α . (9.3)
Beispiel 1:
Ein Lederriemen wird n-mal um ei- 90 o
ne runde Haltestange aus Holz geschlungen. Das
frei herabhängende Ende ist nur durch die Ge- 0
wichtskraft seiner Masse m1 belastet. Am ande-
ren Ende des Riemens greift horizontal die Kraft 1
F an, so dass der gesamte Umschlingungswinkel
α = 2πn + π2 beträgt. 1
Gegeben: F = 4 kN ; m1 = 200 g ; µ0 = 0, 5 .
Wie viel Umschlingungen n sind erforderlich, um Abbildung 9.5: Western-Film: Das parkende
mit der geringen Gewichtskraft des frei herab- Pferd vor dem Saloon versucht, sich mit F zu
hängenden Teils der Kraft F das Gleichgewicht befreien, der zechende Cowboy vertraut auf m1 g
und die Seilhaftung.
zu halten?
Zwischen den beiden Kräften F und m1 g besteht bei größtmöglicher Haftungswirkung der Zu-
sammenhang
F = m1 g e µ0 α .
Umstellen dieser Beziehung nach α (Division durch m1 g und Logarithmieren) liefert den erfor-
derlichen Umschlingungswinkel und damit das gesuchte n:
1 F α 1
α= ln = 15, 24 ; n = − = 2, 18 .
µ0 m1 g 2π 4
Da n ganzzahlig sein muss, würde man n = 3 (und damit α = 6, 5π) wählen. Damit kann dann
sogar einer Kraft F = 53 kN das Gleichgewicht gehalten werden.
ê Durch das sehr starke Ansteigen der Exponentialfunktion mit größer werdendem Argument
werden die schon bei wenigen Umschlingungen mit geringer Gegenkraft zu haltenden Kräf-
te außerordentlich groß (F = 53 kN im behandelten Beispiel ist mehr als das 27000-fache
der Gegenkraft m1 g = 200 g · 9, 81 m/s2 = 1, 962 N). Es ist also auch kein Kunststück, wenn
ein Matrose einen Ozeanriesen am Tau festhält, wenn er dieses mehrmals um einen Poller
geschlungen hat.
140 9 Haftung
Beispiel 2:
Die Bremsscheibe einer Bandbremse 2
wird durch das Drehmoment M0 belastet (Haftungs-
koeffizient zwischen Bremsscheibe und Band ist µ0 ).
0
Durch die Kraft F soll die Scheibe im Ruhezustand
gehalten werden.
Gegeben: M0 = 300 Nm ; a = 20 cm ; µ0 = 0, 4 . 0
a 1 π 7π
sin β = = → β= → α = π +β = .
2a 2 6 6
Im Momenten-Gleichgewicht an der Scheibe um den Punkt C
FS a + M0 − FS∗ a = 0
werden mit den bereits angegebenen Beziehungen alle Kräfte durch F ersetzt, und man erhält:
2 M0 1
F = F1 = = 300 N .
3a e µ0 67 π − 1
Für diesen Drehsinn ist die Bremse besonders geeignet. Bei entgegengesetztem Drehsinn geht
M0 in das Momenten-Gleichgewicht mit anderem Vorzeichen ein, und für die Bandkräfte gilt:
FS = FS∗ e µ0 α .
9.3 Aufgaben
Aufgabe 9.1:
Für die skizzierte Bremse ist die Kraft F zu
berechnen, die dem an der Scheibe angreifenden Moment M0
das Gleichgewicht hält
0
a) für die skizzierte Drehrichtung von M0 ,
0
b) bei entgegengesetzter Drehrichtung von M0 .
c) Man untersuche, ob Selbsthemmung möglich ist (ob bei
bestimmten Parameterkombinationen das System auch bei
F = 0 im Gleichgewicht sein kann).
Gegeben: a , b , c , R , M0 , µ0 .
Aufgabe 9.2:
Der skizzierte Riegel kann sich auf der verti-
kalen Stange bewegen, da der Durchmesser der Hülse gering-
fügig größer ist als der Durchmesser der Stange. Der Riegel ist
nur durch seine im Schwerpunkt S angreifende Gewichtskraft
belastet.
Gegeben: a, h, d.
Wie groß muss µ0 mindestens sein, damit infolge der Selbst-
hemmung ein Abwärtsgleiten des Riegels vermieden wird?
Hinweis: An der oberen und an der unteren Kante der Hülse
liegt der Riegel an der Stange an. Dort treten Normalkräfte
auf, die gegen eine Abwärtsbewegung Haftkräfte erzeugen.
Die (nicht vorgegebene) Gewichtskraft des Riegels darf für
die Rechnung in beliebiger Größe angenommen werden. Im
Ergebnis wird sie nicht erscheinen.
Aufgabe 9.3:
Das skizzierte System ist nur durch
die Kraft F belastet.
Gegeben: a, b, c, l, α , F .
Wie groß muss der Haftungskoeffizient zwischen
dem Gleitstein A und der Unterlage mindestens
sein, damit das System in Ruhe bleibt?
142 9 Haftung
Aufgabe 9.4:
Ein Seil wird über zwei fest- 01
stehende Zylinder mit unterschiedlicher Rau-
igkeit geführt. Es soll so belastet werden, dass
es nicht über die Zylinder rutscht.
1
Wie groß muss die Kraft F2 mindestens sein 2
(F2,min ) und wie groß darf sie maximal sein
(F2,max ), um ein Rutschen des Seils über die
Zylinder zu vermeiden?
Gegeben: F1 = 100 N ; µ01 = 0, 4 ; α = 25◦ ; 02
µ02 = 0, 3 ; β = 40◦ .
Lieber Leser, bei der Behandlung des Stoffs des Kapitels 9 haben die Autoren in ihren Vor-
lesungen immer wieder einige Irritationen bei den Studenten bemerkt, die offensichtlich da-
durch verursacht wurden, dass das Thema „Haftung und Reibung“ auch im Physikunterricht
in der Schule bereits (und möglicherweise ganz anders) behandelt wurde. Deshalb hier noch
folgende Bemerkungen:
Auf der Seite 133 erschien zum ersten Mal eine schiefe Ebene, die in der Vorlesung regel-
mäßig den Zwischenruf auslöste: „In der Physik war da immer noch eine Hangabtriebskraft.
Wo ist denn die geblieben?“ Die ist natürlich nicht verschwunden, es ist die in Hangrichtung
wirkende Komponente der Gewichtskraft der Masse, und wenn man die Gewichtskraft ange-
tragen hat, dann darf man keine zusätzliche Hangabtriebskraft berücksichtigen, und weil man
die Gewichtskraft sowieso berücksichtigen muss, gilt der Vorschlag: Vergessen Sie einfach
den Begriff „Hangabtriebskraft“.
In diesem Buch wurde bisher nur die Haftung behandelt, die Reibung (zwischen zwei Kör-
pern, bei denen mindestens einer sich bewegt) kommt erst viel später (wenn sich die Körper
tatsächlich bewegen). Warum das ganz anders als im Physikunterricht gehandhabt wird (dort
wird sogar oft gleich die „Rollreibung“ mit behandelt, das ist allerdings wieder ganz was
anderes), wurde in der Fußnote auf Seite 134 erklärt. Wenn Sie die überlesen haben, soll-
ten Sie noch einmal zurückblättern. Manchmal stehen in Fußnoten ganz besonders wichtige
Informationen.
10 Elastische Lager
Im Gegensatz zum starren Stab können sich jedoch die Endpunkte einer Feder relativ zueinander
verschieben (sehr häufig ist der skizzierte Fall, bei dem ein Endpunkt unverschiebbar ist). Diese
Verschiebung erfolgt entlang der Wirkungslinie der übertragenen Kraft.
ê Das für die Feder verwendete Symbol ist der Schraubenfeder nachgebildet, die im Allge-
meinen auch Querbelastungen übertragen kann. Deshalb ist die Modellvorstellung „Schrau-
benfeder“ nicht besonders gut. Man sollte das Symbol besser als „elastischen Stab“ interpre-
tieren (selbst dann, wenn die technische Realisierung tatsächlich eine Schraubenfeder ist).
Für Federn, die durch eine Zugkraft belastet sind, ist die Modellvorstellung „Gummiband“
besonders zutreffend. Da die Frage, wie die Feder die Kraft von einem Federendpunkt zum
anderen überträgt, für die nachfolgenden Betrachtungen völlig unerheblich ist, sollte man
sich schon deshalb nicht mit der Modellvorstellung „Schraubenfeder“ belasten, weil für die-
se die Kraftübertragung relativ kompliziert ist.
Der Zusammenhang zwischen der von der Feder übertragenen Federkraft Fc und der relativen
Verschiebung der beiden Federendpunkte zueinander (Federweg f ) heißt Federgesetz und kann
mit der Federzahl c in der Form
Fc = c f (10.1)
aufgeschrieben werden. Die Federzahl c hat die Dimension „Kraft/Länge“ und kann experimen-
tell (Aufbringen definierter Lasten und Messen des Federweges) oder rechnerisch (mit den Mit-
teln der Festigkeitslehre) bestimmt werden.
Analog dazu wird der Widerstand gegen eine Verdrehung durch eine so genannte Drehfeder
(auch: Torsionsfeder) symbolisiert. Das Federgesetz dafür verknüpft den Verdrehwinkel ϕ mit
dem von der Drehfeder aufgenommenen Moment Mc über die Drehfederzahl cT (Dimension:
„Kraft · Länge“):
Mc = cT ϕ . (10.2)
Auch für die Drehfeder ist die praktische Realisierung durch einen
Stab eine sinnvolle Vorstellung: Ein senkrecht zur Zeichenebene be-
festigter elastischer Torsionsstab (vgl. hierzu Kapitel 21), der an sei-
nem anderen Ende starr eingespannt ist, entspricht auch den in der
technischen Praxis gebräuchlichen Torsionsfedern. Abbildung 10.2: Drehfeder
Im Allgemeinen sind die Federzahlen vom Federweg abhängig (eine Feder wird bei Änderung
des Federweges „weicher“ oder „steifer“). Der in der technischen Praxis mit Abstand wichtigste
Sonderfall ist jedoch die so genannte
Lineare Feder:
Wenn in den Federgesetzen die Federzahl c bzw. die Drehfederzahl cT konstant (unabhän-
gig vom Federweg) sind, spricht man von linearen Federn bzw. linearen Drehfedern mit der
Federkonstanten c bzw. der Drehfederkonstanten cT .
Für lineare Federn gilt: Die Federkraft ist proportional zum Federweg. Analog dazu gilt für
lineare Drehfedern: Das Federmoment ist proportional zum Verdrehwinkel.
1 2
1
= 2
=
1 2
1 2 1 2
=
2
+ =
1 2
Abbildung 10.4: Reihenschaltung (links) und Parallelschaltung (rechts) zweier Federn
Bei der Parallelschaltung sind die Federwege gleich (und natürlich gleich dem der Ersatzfeder),
die Federkräfte müssen mit der äußeren Belastung im Gleichgewicht sein:
Für statisch bestimmt gelagerte Systeme starrer Körper ändert sich also für die Berechnung der
Lagerreaktionen und der Federkräfte nichts gegenüber dem bisher praktizierten Verfahren (Frei-
schneiden, Gleichgewichtsbedingungen), wenn diese Voraussetzung erfüllt ist.
146 10 Elastische Lager
Beispiel 1:
Der bei A durch ein Festlager und am an-
deren Ende durch eine Feder gestützte Träger trägt die 0
konstante Linienlast q0 .
In der Schnittskizze sind neben der Resultierenden der
Linienlast die beiden Lagerkraftkomponenten bei A
und die Federkraft eingezeichnet. Aus dem Momenten-
Gleichgewicht um den Punkt A errechnet man (wie eine
Lagerreaktion) die Federkraft
1
FC = q0 l .
2 0
Für die Längenänderung der Feder gilt
FC q0 l
f= = ,
c 2c
wobei bei gegebenen Größen überprüft werden muss,
ob dieser Wert wirklich klein im Vergleich mit den üb- 2
rigen Abmessungen (hier: Länge l) ist.
Man erkennt, dass das Verhältnis lf durch das Verhältnis „Belastung/Federzahl“ bestimmt wird
(siehe oben: Der Begriff steif ist relativ zur Belastung zu verstehen).
Bei statisch bestimmten Federabstützungen mit steifen Federn können die Federkräfte wie
Lagerkräfte bei starren Lagern ermittelt werden.
Es ist bei Systemen starrer Körper, die (wenigstens teilweise) auf Federn gelagert sind, auch
möglich, die Lagerreaktionen und die Federkräfte zu berechnen, wenn die Lagerung insgesamt
statisch unbestimmt ist. Da die Gleichgewichtsbedingungen dafür bekanntlich nicht ausreichen,
müssen zusätzlich Verformungsbetrachtungen angestellt werden.
Dabei werden bei steifen Federn die Gleichgewichtsbedingungen nach wie vor am unverformten
System formuliert. Diese für die weitaus meisten praktischen Probleme gerechtfertigte Vereinfa-
chung ist die
Theorie 1. Ordnung:
Die Gleichgewichtsbedingungen werden am unverformten System formuliert. Bei den am
verformten System anzustellenden Verformungsbetrachtungen dürfen die wegen der Kleinheit
der Verformungen gerechtfertigten geometrischen Vereinfachungen genutzt werden.
Es wird sich zeigen, dass die Theorie 1. Ordnung im Regelfall völlig ausreichend ist. Es gibt
im Wesentlichen zwei Gründe, die ein Abweichen von dieser Theorie erforderlich machen kön-
nen: Wenn (z. B. bei Systemen mit weichen Federn) die Verformungen in die Größenordnung
der Abmessungen des Systems kommen, ist eine genauere Rechnung geboten (Abschnitt 10.3),
andererseits gibt es Phänomene, die auch bei kleinen Verformungen mit der Theorie 1. Ordnung
nicht zu erfassen sind (Abschnitt 10.4).
10.2 Gleichgewicht bei steifen Federn 147
Beispiel 2:
Der skizzierte Träger ist durch ein Festla- 0
ger und zwei Federn gestützt und durch eine konstante
Linienlast belastet. Man ermittle die Kräfte in den bei-
den Federn.
1 2
Die drei Gleichgewichtsbedingungen sind für die Be-
rechnung der vier Unbekannten (zwei Lagerkraftkom-
ponenten bei A und zwei Federkräfte) nicht ausrei- 1
chend. Da die beiden Lagerkraftkomponenten nicht
gefragt sind, wird auf das Aufschreiben der Kraft-
Gleichgewichtsbedingungen verzichtet, und es wird
nur das Momenten-Gleichgewicht um den Punkt A for-
muliert (Einsparen von zwei Gleichungen bei gleich- 0
zeitigem Heraushalten von zwei - nicht gefragten - Un-
bekannten aus der Rechnung):
1 2
q0 l 2
A' − FC1 l1 − FC2 l = 0 . 2
2
Diese eine Gleichung enthält aber immer noch eine 1
ê Der in den Abschnitten 5.3 und 6.1 ausführlich diskutierte Nachteil statisch unbestimmter
Lagerung, bei Fertigungsungenauigkeiten und Verschleiß zu völlig verändertem Tragverhal-
ten führen zu können, kann durch Lagerung auf Federn beseitigt werden, wenn eine solche
Lagerung der Funktion des Bauteils gerecht wird.
ê Es ist sicher einsehbar, dass auch eine größere Anzahl von Federn nicht zu prinzipiellen
Schwierigkeiten bei der Berechnung der Federkräfte führt: Für jede zusätzliche Feder kann
eine weitere Verformungsbedingung formuliert werden. Allgemein gilt als Strategie für die
Beispiel:
Ein starrer Stab
(Masse m, Länge l, Ge-
0
Das System ist statisch bestimmt gelagert. Trotzdem taucht neben den beiden Lagerkraftkompo-
nenten und der Federkraft als vierte Unbekannte der Winkel β auf.
Um die Erläuterung (und auch das Aufschreiben der
Beziehungen) zu vereinfachen, sind in der nebenste-
0
henden Schnittskizze zusätzlich die Längen a und b
und der Winkel δ eingetragen, die aber durch die ge-
gebenen Größen und die Unbekannte β ausgedrückt
werden können. Für a und b entnimmt man der Skiz-
ze die folgenden Beziehungen und kann damit auch
die Gesamtlänge der gedehnten Feder l ∗ aufschrei-
ben:
q
a = l cos β , b = l sin β , l∗ = (l − a)2 + (l0 + b)2 .
Für den Winkel δ lassen sich die beiden benötigten Winkelfunktionen angeben:
l −a l0 + b
sin δ = , cos δ = .
l∗ l∗
Der Federweg ist die Differenz aus der Länge der gedehnten Feder l ∗ und ihrer Länge im unbe-
lasteten Zustand l0 , so dass die Federkraft als
FC = c(l ∗ − l0 )
aufgeschrieben werden kann.
Man beachte, dass als einzige Unbekannte β in diesem Formelsatz vorkommt und bei bekanntem
β auch die Federkraft berechnet werden könnte. Die Lagerkraftkomponenten bei A sind nicht
gefragt und werden aus der Rechnung durch Verzicht auf die beiden Kraft-Gleichgewichtsbedin-
gungen herausgehalten. Als Bestimmungsgleichung für β wird das Momenten-Gleichgewicht
um den Punkt A formuliert (FC in zwei Komponenten zerlegen):
a
A' mg − FC a cos δ − FC b sin δ = 0 .
2
Das Einsetzen der bereits angegebenen Bezie- a b
hungen in die Gleichung, damit diese nur noch = cos β , = sin β ,
l s l
β als unbekannte Größe enthält, ist nicht erfor-
l∗ l0 b 2
derlich, da ihre Lösung ohnehin dem Compu-
a 2
= 1− + + ,
ter übertragen wird, dem dann der Formelsatz l l l l
(in der aufgeschriebenen Reihenfolge) eingege- 1 − a/l l0 /l + b/l
ben wird. Sinnvoll ist es dagegen, die Anzahl sin δ = , cos δ = ,
l ∗ /l l ∗ /l
der vorzugebenden Parameter auf ein Minimum ∗
FC cl l l0
zu begrenzen. Wenn man die geometrischen Be- = − ,
mg mg l l
ziehungen durch die Länge l und die Feder-
kraft durch mg dividiert (und die Momenten- 1 a FC a b
− cos δ + sin δ = 0 .
Gleichgewichtsbeziehung durch beide Größen), 2 l mg l l
erhält man den nebenstehenden Formelsatz. Abbildung 10.5: Gleichung als Formelsatz
150 10 Elastische Lager
Man beachte, dass der in Abbildung 10.5 dargestellte Formelsatz nur eine Gleichung (die Be-
stimmungsgleichung für β ) repräsentiert. Weil er ausschließlich dimensionslose Größen enthält,
kommt man mit nur zwei Parametern ( mgcl
und ll0 ) anstelle der vier gegebenen Größen aus.
Für die Lösung der nichtlinearen Gleichung, die durch den Formelsatz be-
schrieben wird, bedient man sich natürlich eines geeigneten Programms,
mit dem die Nullstellen einer Funktion bestimmt werden können (unter
www.TM-aktuell.de findet man die Lösung mit verschiedenen Software-
Produkten). Die letzte Gleichung wird als Funktion f (β ) eingegeben. Ihre
Nullstellen sind die gesuchten Gleichgewichtslagen.
ê Schon dieses relativ einfache Problem führt auf eine Funktion, die sinnvollerweise nicht
mehr in einer Zeile aufgeschrieben wird (obwohl es durchaus noch möglich wäre). Die Be-
rechnung eines Funktionswertes für einen Wert β geschieht durch Auswerten des gesamten
Formelsatzes (in der angegebenen Reihenfolge), bis f (β ) schließlich aus
1 a FC a b
f (β ) = − cos δ + sin δ
2 l mg l l
berechnet werden kann.
ê Ob eine nichtlineare Gleichung überhaupt eine (reelle) Lösung hat (ob f (β ) eine Nullstelle
hat), wenn ja, wie viele Lösungen möglich und ob bei mehreren Lösungen alle von prak-
tischem Interesse sind, kann allgemein nicht entschieden werden. Natürlich ist für das be-
handelte Problem unter der Voraussetzung, dass die Feder die Belastung ertragen kann (und
nicht bricht), in jedem Fall eine Gleichgewichtslage im Bereich
0◦ < β < 90◦
zu erwarten. Da β nur als Argument der periodischen Winkelfunktionen sin und cos auftritt,
ist auch klar, dass die Funktion unendlich viele Nullstellen hat, von denen allenfalls die im
Bereich 0◦ ≤ β ≤ 360◦ interessant sind.
Die Funktion hat im untersuchten Bereich vier Nullstellen (mögliche Gleichgewichtslagen), auch
die erwartete bei
β0 = 28, 4◦ .
Eine Diskussion der drei übrigen Gleichgewichtslagen erfolgt im nachfolgenden Abschnitt.
10.4 Beurteilung der Gleichgewichtslagen 151
Das Phänomen instabiler Gleichgewichtslagen kann natürlich nur auftreten, wenn das System
noch Bewegungsmöglichkeiten hat (z. B. dadurch, dass ein möglicher Freiheitsgrad nicht durch
ausreichende Lagerung behindert ist).
Wenn ein starres System mit starren Lagern mindestens statisch bestimmt gelagert ist, hat es
keine Bewegungsmöglichkeit mehr. Seine Gleichgewichtslage ist immer stabil.
Bei elastischen Lagern muss also auch bei Erfüllung der Gleichgewichtsbedingungen stets über-
legt werden, ob die Gleichgewichtslage stabil ist. Instabile Gleichgewichtslagen von Konstruk-
tionen sind im Allgemeinen nicht akzeptabel.
Beispiel 1:
Der skizzierte vertikale Stab ist
in einem Festlager gelagert und wird durch
eine Feder gestützt. Er trägt nur die vertikal
gerichtete Kraft F.
In der skizzierten (nicht ausgelenkten) Lage
sind die Gleichgewichtsbedingungen erfüllt.
1
Zu jeder Kraft F > Fkr wird also mindestens eine mögliche (ausgelenkte) Gleichgewichtslage
existieren, die aber im Allgemeinen nicht interessiert. Viel wichtiger ist die Antwort auf die
Frage nach der kritischen Kraft, bei deren Überschreitung solche Gleichgewichtslagen möglich
sind.
Dazu müssen die Gleichgewichtsbedingungen in der ausgelenk-
ten Lage formuliert werden. Dabei darf man annehmen, dass die
Auslenkung sehr klein ist, weil ja gerade der Grenzzustand (die
Größe der kritischen Kraft) gesucht ist. Die Federkraft wird des-
halb horizontal angetragen und wirkt am (näherungsweise) un-
veränderten Hebelarm l1 , und der Hebelarm der Kraft Fkr darf
durch
l sin β ≈ lβ
1
angenähert werden.
Die Auswertung des Momenten-Gleichgewichts um den Lager-
punkt A liefert mit den genannten Vereinfachungen:
A' Fkr lβ − FC l1 = 0 .
Auch beim Aufschreiben der Federkraft
FC = l1 β c
wird die Kleinheit der Auslenkung vereinfachend ausgenutzt. Nach Einsetzen in die Gleichge-
wichtsbedingung erhält man nach Umstellen der Gleichung die kritische Kraft
cl12
Fkr = .
l
Wenn diese Kraft überschritten wird, sind also auch Gleichgewichtslagen mit β 6= 0 möglich,
und die nicht ausgelenkte (Gleichgewichts-)Lage ist instabil, weil der Stab bei der geringsten
Störung nicht durch die Feder in diese Lage zurückgeführt wird.
Das am Beispiel 1 demonstrierte Vorgehen zur Ermittlung der kritischen Kraft basiert auf der
Theorie 2. Ordnung:
Die Gleichgewichtsbedingungen werden am verformten System formuliert. Die Verformun-
gen werden aber als so klein vorausgesetzt, dass für das Aufschreiben der Gleichgewichtsbe-
dingungen und der Verformungsbetrachtungen die entsprechenden geometrischen Vereinfa-
chungen genutzt werden dürfen.
Auf diese Weise können kritische Belastungen berechnet werden (Belastungen, für die ausge-
lenkte Gleichgewichtslagen existieren). Die (meist ohnehin nicht interessierenden) Gleichge-
wichtslagen erhält man allerdings bei diesem Vorgehen nicht.
Für das behandelte Beispiel 1 bedeutet dies, dass der Winkel β , der die ausgelenkte Gleichge-
wichtslage beschreibt, nach der Theorie 2. Ordnung nicht berechnet werden kann. Man erhält
auch keine Aussage darüber, ob es mehrere Gleichgewichtslagen dieser Art gibt und ob diese
stabil oder instabil sind.
10.4 Beurteilung der Gleichgewichtslagen 153
Wenn die Beantwortung auch dieser Fragen erwünscht ist, muss auf die Vereinfachungsmöglich-
keiten der Theorie 2. Ordnung verzichtet werden, und man rechnet nach der
Theorie 3. Ordnung:
Bei der Formulierung der Gleichgewichtsbedingungen am verformten System und bei allen
Verformungsbetrachtungen werden große Verformungen angenommen, so dass die geometri-
schen Verhältnisse exakt erfasst werden.
Nach dieser Theorie können auch die möglichen Gleichgewichtslagen ermittelt werden.
Das Beispiel des Abschnitts 10.3 ist nach dieser Theorie berechnet worden, weil die Verformun-
gen bei weichen Federn natürlich nicht als klein angenommen werden dürfen. Die Rechnung
ergab 4 mögliche Gleichgewichtslagen (Abbildung 10.7):
01
02 03 04
β01 = 28, 4◦ β02 = 174◦ β03 = 270◦ β04 = 305◦
Abbildung 10.7: Vier Gleichgewichtslagen sind möglich (Beispiel aus Abschnitt 10.3)
Die Gleichgewichtslage β01 ergibt sich beim Einhängen des Stabes in die Feder und ist sicher
stabil. Bei der Gleichgewichtslage β03 ist wegen ll0 = 1 (Stablänge = Länge der entspannten
Feder) die Feder entspannt und stabilisiert nur die vertikale Lage, in der das Lager die gesamte
Gewichtskraft aufnimmt. Um über die Stabilität aller Gleichgewichtslagen eine Aussage treffen
zu können, soll das Beispiel zunächst leicht modifiziert behandelt werden:
Beispiel 2:
0
Der bei A in einem Festlager und zusätzlich mit einer weichen Feder gelagerte Stab ist durch
sein Eigengewicht und ein Moment M belastet (alle übrigen Größen entsprechen den Werten des
Beispiels im Abschnitt 10.3). Es ist das Moment M(β ) zu ermitteln, das den Stab in einer durch
den Winkel β bestimmten Lage im Gleichgewicht hält.
154 10 Elastische Lager
M(β )
M ∗ (β ) =
mgl
1 a FC a b
= f (β ) = − cos δ + sin δ .
2 l mg l l
Man kann also diese Funktionswerte als zusätzlich auf-
zubringende Momente M ∗ deuten, um den Stab in einer
durch β vorgegebenen Gleichgewichtslage zu halten.
Die nebenstehende Abbildung 10.8 gilt für die spezi-
cl
elle Parameterkombination mg = 1 und ll0 = 1.
Damit bieten sich folgende Überlegungen zur Stabilität
Abbildung 10.8: Die Funktionswerte sind
der vier Gleichgewichtslagen an, die für M = 0 möglich
proportional dem Moment M(β ), das den
sind und hier für die beiden Lagen β01 und β02 ange-
Stab im Gleichgewicht hält
stellt werden sollen:
ê Wenn in der Gleichgewichtslage β01 ein kleines positives (linksdrehendes) Moment aufge-
bracht wird, dreht sich der Stab in eine Lage β < β01 und nimmt die bei diesem Moment
mögliche Gleichgewichtslage ein.
ê Wenn in der Gleichgewichtslage β02 ein kleines positives (linksdrehendes) Moment auf-
gebracht wird, dreht sich der Stab in eine Lage β < β02 , wo allerdings nur bei negativem
(rechtsdrehendem) Moment Gleichgewicht möglich ist, so dass diese Störung zu einem Ab-
wandern bis über die Gleichgewichtslage β01 hinaus (in den Bereich positiver Momente)
führt. Die Gleichgewichtslage β02 ist im Gegensatz zur Gleichgewichtslage β01 instabil.
ê Entsprechende Überlegungen ergeben, dass die Gleichgewichtslage β03 wieder stabil und
die Gleichgewichtslage β04 instabil ist, und diese Erkenntnisse lassen sich wie folgt verall-
gemeinern:
0
Beispiel 3:
Für den
nebenstehend
abgebildeten Stab ist das
cl
kritische Verhältnis mg zu bestimmen, bei dem die vertikale
kr
Stablage instabil wird.
Da nur die Ermittlung der kritischen Belastung gefragt ist,
kann nach der Theorie 2. Ordnung gerechnet werden. Das
/2
Momenten-Gleichgewicht um den Lagerpunkt am verformten
System (sehr kleine Auslenkung, siehe untere Skizze) liefert
l
FC l − mgδ =0 .
2
Mit der Federkraft FC = cδ l erhält man daraus den kritischen
Wert:
cl
= 0, 5 .
mg kr
/2
Das Ergebnis des Beispiels 3 gestattet eine weitere Aussage
zum Beispiel 2:
cl
Für mg = 0, 5 wird die vertikale Gleichgewichtslage instabil. Da stabile und instabile Gleichge-
wichtslagen einander abwechseln, entfallen die beiden für das Beispiel 2 ermittelten instabilen
Gleichgewichtslagen. Es gibt insgesamt nur zwei mögliche Gleichgewichtslagen.
10.5 Aufgaben
Aufgabe 10.1:
Eine starre Stahlstange (Dichte ρ)
mit konstantem Querschnitt A ist unten in einem
Festlager gelagert und durch eine Drehfeder ge-
stützt. Es ist die kritische Länge der Stange zu er-
mitteln, bei der die Drehfeder die senkrechte Lage
(Skizze rechts) nicht mehr garantieren kann.
Zunächst wird die Drehfederkonstante cT experi-
mentell ermittelt: An einem Stab der Länge l wird
die Kraft F aufgebracht (linke Skizze), die eine
Verdrehung des Stabs um den Winkel α hervorruft
(mittlere Skizze).
a) Wie groß ist die Drehfederkonstante cT (dabei sollte das Moment infolge des Eigenge-
wichts des schräg stehenden Stabes nicht vernachlässigt werden)?
b) Wie groß ist die kritische Länge lkr (Stab nur durch Eigengewicht belastet)?
Gegeben: F = 100 N ; ρ = 7, 85 g/cm3 ; l = 1 m ; A = 20 cm2 ; α = 4, 8◦ .
156 10 Elastische Lager
Aufgabe 10.2:
Für den dargestellten starren Stab mit elastischer
Abstützung bestimme man den kritischen Wert Fkr der Kraft F, bei
dem die vertikale Gleichgewichtslage instabil wird.
Gegeben: l , c1 , c2 .
1 2
Aufgabe 10.3:
Zwei Federn mit den Federkonstanten c1
und c2 und den Längen l1 und l2 im unbelasteten Zustand
halten eine Masse m in einer glatten (reibungsfreien) Füh-
rung (die Skizze zeigt die Federn im unbelasteten Zustand und 1
1
nicht die Gleichgewichtslage des Systems).
2
Gegeben: c1 , c2 , l1 , l2 , m , α .
Man ermittle die Gleichgewichtslage lx1 > 0 der Masse m (wie
in der unteren Skizze angedeutet) für die Parameterkombina- 2
tionen
c1 l1 c2 l2 l1
a) mg =1, mg =0, l2 = 1 , α = 60◦ ,
c1 l1 c2 l2 l1
b) mg =0, mg =1, l2 = 1 , α = 45◦ ,
c1 l1 c2 l2 l1
c) mg =5, mg =5, l2 = 1 , α = 45◦ . 1
Aufgabe 10.4: 2
Das System der Aufgabe 10.3 ist für die glei-
chen Parameterkombinationen a, b und c auf weitere Gleich-
gewichtslagen (im negativen Bereich von x) zu untersuchen.
Die Stabilität der ermittelten Gleichgewichtslagen ist festzu-
stellen.
Aufgabe 10.5:
Man ermittle für das System des Beispiels im Abschnitt 10.3 die möglichen
Gleichgewichtslagen für die Parameterkombination
cl l0
= 0, 5 , =1
mg l
und untersuche die Gleichgewichtslagen auf Stabilität.
Für die Berechnung der Kräfte, die von Seilen und Ketten übertragen werden, wird folgende
idealisierende (mit der Praxis gut übereinstimmende) Annahme getroffen:
Seile und Ketten können ausschließlich Zugkräfte übertragen, die in jedem Punkt die Richtung
der Tangente der Seil- bzw. Kettenlinie haben.
Da Seile und Ketten weder Querkräfte noch Biegemomente übertragen können, bezeichnet
man sie als biegeschlaff. Die durch die Zugkräfte hervorgerufenen Verformungen sind klein
und können für die statischen Untersuchungen vernachlässigt werden: Die Seile und Ketten
werden als dehnstarr behandelt.
Da Seile und Ketten auf gleiche Weise idealisiert werden, wird im Folgenden nur noch von Seilen
gesprochen. Alle Aussagen gelten auch für Ketten.
Überwiegt die äußere Belastung deutlich gegenüber dem Eigenge-
wicht des Seils, dann kann das Eigengewicht vernachlässigt wer-
den. Wenn ein solches Seil nur durch Einzelkräfte belastet wird,
Seil
nimmt es (zumindest abschnittsweise) die Form einer Geraden an.
Die Seilkräfte können dann wie Stabkräfte bzw. Lagerkräfte be-
rechnet werden. So nimmt beim System der Abbildung 11.1 (die Abbildung 11.1: Tragfähiges
Linienlast wirkt auf den Träger, auf das Seil wirkt eine Einzelkraft) System
das Seil die Hälfte der Resultierenden der Linienlast auf. Das Sys-
tem der Abbildung 11.2 ist dagegen nicht tragfähig, weil das Seil
eine Druckkraft aufnehmen müsste.
Seil
Während die inneren Kräfte in einem Seil immer in der Längsrich-
tung des Seils liegen, können äußere Kräfte das Seil durchaus in
Querrichtung belasten. Wenn das Eigengewicht des Seils vernach-
lässigt werden kann, können die Seilkräfte in den beiden geraden Abbildung 11.2: System ist
Teilen des (straff gespannten) Seils wie die Kräfte an einem Fach- nicht tragfähig.
werkknoten berechnet werden.
Das in Abbildung 11.3 skizzierte Beispiel zeigt eine sehr klei-
ne Rolle, die die Last F trägt, auf einem gewichtslosen Seil.
Sie stellt sich so ein, dass rechter und linker Winkel des ge-
spannten Seils gleich groß sind (Gleichgewichtslage der Rol-
le). Die beiden Seilkräfte sind in diesem Fall gleich:
F Abbildung 11.3: Konstante Seil-
FS = . kraft bei masselosem Seil
2 sin α
Ist das Eigengewicht gegenüber der äußeren Belastung nicht zu vernachlässigen (z. B. bei Seil-
bahnen), oder ist es die dominierende Belastung (Hochspannungsleitungen), so stellt sich in der
Regel infolge der Biegeschlaffheit des Seils eine Seilkurve ein (bei Ketten ist der Ausdruck Ket-
tenlinie gebräuchlich). Die Größe der Seilkraft ist dann nicht mehr konstant, sondern von der
Form der sich einstellenden Kurve, insbesondere von ihrem Anstieg, abhängig.
An den Schnittufern müssen die Seilkraft FS bzw. die um den (differenziell kleinen) Betrag dFS
vergrößerte Seilkraft angetragen werden, die mit dem Eigengewicht des Elements im Gleichge-
wicht sein müssen. Das Kräfte-Gleichgewicht in vertikaler Richtung führt auf
dFS = ρgAS dz ,
und die Integration dieser Beziehung liefert bei konstantem Seilquerschnitt AS :
FS = ρgAS z +C .
Die Integrationskonstante wird aus der Randbedingung FS (z = 0) = 0 zu C = 0 be-
stimmt. Wenn, wie nebenstehend skizziert, zusätzlich eine Einzelkraft F0 am unteren
Seilende angreift, dann errechnet sich die Integrationskonstante aus FS (z = 0) = F0 0
zu C = F0 .
Die Abbildung 11.5 zeigt ein an zwei Punkten aufgehängtes Seil unter Eigengewichtsbelastung,
aus dem ein Element herausgeschnitten wurde. Das Koordinatensystem wurde (willkürlich) in
einen Festpunkt des Seils gelegt.
+
Abbildung 11.5: Kräfte am differenziell kleinen Element des Seils unter Eigengewicht
Da auf das Element die Resultierende seines verteilten Gewichts q = ρgAS (Gewicht pro Länge,
vgl. Seite 43) wirkt, müssen die Seilkräfte am rechten und linken Schnittufer unterschiedlich groß
11.1 Das Seil unter Eigengewicht 159
sein. Es wird deshalb in positiver Koordinatenrichtung x ein (differenziell kleiner) Zuwachs an-
gesetzt. Stellvertretend für die tangential gerichteten Seilkräfte wurden jeweils deren Horizontal-
und Vertikalkomponente eingezeichnet. Das Gleichgewicht in x-Richtung liefert
dFSH = 0 ⇒ FSH = konstant ,
so dass folgende Aussage getroffen werden kann:
Der Horizontalzug (horizontale Komponente der Seilkraft) ist in einem nur durch sein Eigen-
gewicht belasteten Seil konstant.
ê In der Funktion 11.1 sind noch drei Größen unbestimmt, die beiden Integrationskonstanten
C1 und C2 und der Horizontalzug FSH .
ê Diese drei Unbekannten können z. B. berechnet werden aus zwei Randbedingungen (Lage
der Seilaufhängepunkte A und B) und der Bedingung, dass die (vorgegebene) Länge des
(dehnstarren) Seils der Bogenlänge der Funktion y(x) zwischen den Punkten A und B ent-
sprechen muss.
160 11 Seilstatik, Kettenlinien, Stützlinien
Beispiel 1:
Für das skizzierte Seil ermittle man
a) die Funktion der Seillinie,
b) den Horizontalzug,
c) die maximale Seilkraft.
Gegeben: Seillänge L , xB , yB , q (Gewicht/Länge).
Für das (ohne Einschränkung der Allgemeinheit willkürlich im Punkt A) festgelegte Koordina-
tensystem erhält man aus den Randbedingungen die beiden Gleichungen:
FSH
y(x = 0) = 0 ⇒ C2 = − coshC1 ,
q
FSH q
y(xB ) = yB ⇒ yB = cosh xB +C1 − coshC1 .
q FSH
Die Länge L des Seils muss gleich der Bogenlänge der Seilkurve zwischen A und B sein:
ZxB q ZxB
s
0 2 2 q
L= 1 + y dx = 1 + sinh x +C1 dx
FSH
x=xA =0 x=0
FSH q
= sinh xB +C1 − sinhC1 .
q FSH
Diese drei Gleichungen sind ein (recht unangenehmes, weil nichtlineares) Gleichungssystem für
die drei Unbekannten C1 , C2 und FSH . Die Integrationskonstante C2 kommt nur in der ersten
Gleichung vor, so dass es sich anbietet, zunächst aus den beiden letzten Gleichungen C1 und FSH
zu berechnen. Diese lassen sich mit Hilfe der Beziehungen
cosh α − cosh β = 2 sinh α+β 2 sinh α−β
2 ,
sinh α − sinh β = 2 sinh α−β 2 cosh α+β2 , cosh2 α − sinh2 α = 1
so umformen, dass die Konstante C1 in Abhängigkeit von FSH in einer Gleichung erscheint und
in der zweiten Gleichung nur noch die Unbekannte FSH vorkommt:
y 2
B q FSH q xB
C1 = artanh − xB , 2 sinh + y2B − L2 = 0 .
L 2 FSH q 2 FSH
Aus der letzten Gleichung kann FSH (numerisch) berechnet werden, und damit errechnet man
dann C1 und C2 . Es ist empfehlenswert, vorher die letzte Gleichung durch L2 und die Gleichung
für C2 durch L zu dividieren und mit den dimensionslosen Unbekannten
FSH C2
F̄SH = , C1 , C̄2 =
qL L
weiterzurechnen (F̄SH ist der auf das Gesamtgewicht des Seils bezogene Horizontalzug). Dann
kommt man (anstelle der vier gegebenen Größen) mit den beiden Parametern
xB yB
x̄B = , ȳB =
L L
11.1 Das Seil unter Eigengewicht 161
Beispiel 2:
Das skizzierte Seil ist an zwei Punkten ge-
lagert und durch sein Eigengewicht q (Gewicht/Länge) 1 2
und eine zusätzliche Einzelkraft F belastet. 1 2
Gegeben: Seillänge L , a , b , c , F , α , q .
Es sind die Bestimmungsgleichungen für die Berech-
nung der Integrationskonstanten zu formulieren.
An der Krafteinleitungsstelle müssen die (tangential zur Seilkurve gerichteten) Seilkräfte in den
beiden Abschnitten mit der äußeren Kraft im Gleichgewicht sein. Das ist nur möglich, wenn
die Seillinie an dieser Stelle einen Knick hat. Die Seillinie muss deshalb in beiden Abschnitten
gesondert aufgeschrieben werden, wofür wie skizziert auch zwei unterschiedliche Koordinaten-
systeme gewählt werden.
Natürlich gilt in beiden Abschnitten die allgemeine Form der Seillinie 11.1, die unter der Vor-
aussetzung (Seil trägt nur sein Eigengewicht) hergeleitet wurde, die auch bei dieser Aufgabe für
jeden Abschnitt gilt. Allerdings müssen unterschiedliche Integrationskonstanten und auch unter-
schiedliche Werte für den Horizontalzug angesetzt werden:
FSH1 q FSH2 q
y1 = cosh x1 +C1 +C2 , y2 = cosh x2 +C3 +C4 .
q FSH1 q FSH2
Für die Berechnung der sechs Unbekannten FSH1 , FSH2 , C1 , C2 , C3 , C4 stehen die folgenden
Bedingungsgleichungen zur Verfügung:
y1 (x1 = 0) = 0 , y2 (x2 = b) = c
(Seillinien müssen durch die Lagerpunkte gehen). An der Übergangsstelle gilt:
y1 (x1 = a) = y2 (x2 = 0)
(Seillinien müssen am Kraftangriffspunkt zusammenlaufen). Außerdem muss an diesem Punkt
das Kräfte-Gleichgewicht in horizontaler Richtung
FSH1 + F sin α = FSH2
und in vertikaler Richtung (vertikale Seilkraftkomponente = Horizon- 2
talzug · Anstieg der Seilkurve) erfüllt sein:
FSH1 y1 0 (x1 = a) + F cos α = FSH2 y2 0 (x2 = 0) . 1
Die letzte Bedingung ergibt sich aus der Forderung, dass die Summe
beider Seillinienlängen die vorgegebene Gesamt-Seillänge L ergibt:
Za q Zb q
L= 1 + y1 0 2 dx1 + 1 + y2 0 2 dx2 .
x1 =0 x2 =0
In diese sechs Beziehungen müssen die oben angegebenen Funktionen y1 und y2 eingesetzt wer-
den, und es entsteht ein nichtlineares Gleichungssystem, dessen Lösung man dem Computer
überantworten sollte. Die Lösungen sind im Bereich positiver Werte für FSH1 und FSH2 zu su-
chen (formal gibt es auch eine Lösung im Bereich negativer Werte).
11.2 Das Seil unter konstanter Linienlast 163
Der Horizontalzug (horizontale Komponente der Seilkraft) ist in einem durch eine konstante
Linienlast belasteten Seil konstant.
dFSV
dFSV − q0 dx = 0 ⇒ = q0 ,
dx
FSV d FSV 1 dFSV q0
tan ϕ = y 0 = ⇒ 00
y = = = .
FSH dx FSH FSH dx FSH
Durch zweimaliges Integrieren gewinnt man daraus die
ê Die Funktion der Seillinie ist für den Lastfall „Konstante Linienlast“ eine quadratische Para-
bel. Sie enthält drei Unbekannte, die beiden Integrationskonstanten und den Horizontalzug.
ê Die Unbekannten errechnen sich aus den Randbedingungen (Lage der Seilaufhängepunkte)
und z. B. aus der Bedingung, dass die vorgegebene Länge des dehnstarren Seils der Bogen-
länge der Funktion y(x) zwischen den Aufhängepunkten entsprechen muss.
164 11 Seilstatik, Kettenlinien, Stützlinien
Wenn das Koordinatensystem in den Aufhängepunkt A des Seils gelegt wird und der Aufhänge-
punkt B dann die Koordinaten xB und yB hat, lauten die Randbedingungen:
y(x = 0) = 0 ⇒ C2 = 0 ,
q0 2 yB q0 xB
y(x = xB ) = yB ⇒ yB = x +C1 xB ⇒ C1 = − .
2 FSH B xB 2 FSH
Die Bedingungsgleichung für die Länge der Seillinie führt auf das Integral:
ZxB q ZxB
s 2
q0
Z
0 2
L = ds = 1 + y dx = 1+ x +C1 dx .
FSH
x=0 x=0
Wenn die aus den Randbedingungen errechnete Beziehung für C1 eingesetzt wird, ergibt sich
eine (nichtlineare) Gleichung für den Horizontalzug FSH :
FSH p p
L= A 1 + A2 + arsinhA − B 1 + B2 − arsinhB
2 q0
yB q0 xB yB q0 xB
mit A = + , B= − .
xB 2 FSH xB 2 FSH
Diese Gleichung wird numerisch gelöst, danach kann die noch fehlende Integrationskonstante
C1 berechnet werden. Damit ist die Seillinie bekannt. Die Kräfte im Seil berechnen sich nach:
0 q0
FSV = FSH tan ϕ = FSH y = FSH x +C1 ,
FSH
s 2 (11.5)
q0
q
2 2
FS = FSH + FSV = FSH 1 + x +C1 .
FSH
Die Schwierigkeit bei der Lösung von Aufgaben besteht im Allgemeinen im Berechnen des
Horizontalzuges FSH . Bei bekanntem FSH sind dann die Integrationskonstanten und damit die
Seillinie und die Seilkräfte sofort aufzuschreiben.
Die Berechnung von FSH bei vorgegebener Seillänge L (wie oben angegeben) ist sicher die auf-
wendigste (allerdings wohl praktisch wichtigste) Variante. Da die angegebene Beziehung für die
Seillänge, aus der FSH bestimmt wird, ohnehin numerisch gelöst wird, ist ihr etwas kompliziertes
Aussehen bedeutungslos. Das nachfolgende Beispiel zeigt, dass eine andere Zusatzbedingung
auf eine einfachere Bestimmungsgleichung für den Horizontalzug führt.
11.2 Das Seil unter konstanter Linienlast 165
Beispiel 1:
Für ein Seil mit flachem Durchhang, dessen 0
Lager auf gleicher Höhe liegen, ist die Abhängigkeit der
maximalen Seilkraft vom Durchhang fmax zu ermitteln.
Gegeben: q0 , fmax , xB .
Aus der Seillinie 11.4 ermittelt man mit den beiden Randbedingungen
y(x = 0) = 0 und y(x = xB ) = 0
die Integrationskonstanten
q0 xB
C2 = 0 , C1 = −
2 FSH
und damit die Seillinie
q0
y= (x2 − xB x) .
2 FSH
Der maximale Durchhang tritt in der Mitte des Seiles auf. Aus dieser Bedingung ergibt sich der
Horizontalzug im Seil:
xB q0 xB2 q0 xB2
y 2 = − f max ⇒ fmax =
8 FSH
⇒ FSH =
8 fmax
.
Die maximale Seilkraft tritt an den Lagern auf, weil dort der Anstieg der Seilkurve am größten
ist. Aus 11.5 folgt mit x = 0:
q0 xB
q q
2
FS, max = FSH 1 +C1 = xB2 + 16 fmax
2 .
8 fmax
• Bei bekanntem Horizontalzug kann man auch die Seillänge aufschreiben, die natürlich bei
dieser Aufgabe schon durch die Geometrie (der quadratischen Parabel) gegeben ist:
xB2
1 4 fmax
q
L= xB2 + 16 fmax
2 + arsinh .
2 8 fmax xB
166 11 Seilstatik, Kettenlinien, Stützlinien
Bei der numerischen Auswertung der nichtlinearen Gleichung für FSH (z. B. bei vorgegebener
Seillänge) ergibt sich stets auch eine negative Lösung (gilt auch für die exakte Erfassung des
Eigengewichts, Abschnitt 11.1), die natürlich für Seile nicht sinnvoll ist. Die Kurve y(x), die sich
mit dieser Lösung ergibt, wird als Stützlinie bezeichnet. Sie beschreibt die Form eines Trägers,
der durch die Belastung ausschließlich auf Druck belastet wird (keine Biegemomente, keine
Querkraft).
Da in einem solchen Träger wie beim Seil als Schnittgröße nur eine Normalkraft wirkt, über-
trägt er die Belastung wesentlich günstiger als ein gerader Träger. Dieser Effekt wurde schon im
Mittelalter im Bauwesen (Brückenbau, Gewölbe) ausgenutzt.
Beispiel 2:
Ein Bogenträger soll eine Brücke
tragen (konstante Linienlast q0 ). Die Lage der
Stützgelenke liegt durch das Geländeprofil fest.
Welche Form muss er haben, damit er nur durch
Druckkräfte belastet ist, die den vorgegebenen
Wert FS, max an keiner Stelle überschreiten.
Gegeben: q0 , xB , yB < 0 , FS, max .
Wenn der Träger nur Druckkräfte aufnehmen soll,
muss er die Form der Stützlinie haben. Diese ent- 0
spricht der mathematischen Funktion der Seillinie
mit negativem FSH . Für die Funktion 11.4 ermit-
Abbildung 11.9: Die Stützlinie ist die ideale
telt man mit den Randbedingungen y(x = 0) = 0 Form eines Trägers für konstante Linienlast.
und y(x = xB ) = yB die Integrationskonstanten
yB q0 xB
C2 = 0 , C1 = − .
xB 2 FSH
Die größte innere Kraft (Druckkraft) tritt (wie beim Seil) an der Stelle des größten Anstiegs der
Stützlinie auf, im vorliegenden Fall am Lager B. Die resultierende Kraft FS nach 11.5 wird mit
x = xB und FS = FS, max zur Bestimmungsgleichung für die Horizontalkraft:
1 2 2 2
2 q0 yB 4 q0 xB − FS, max
FSH + 2 FSH + 2 = 0 .
1 + yxBB 1 + yxBB
Diese quadratische Gleichung hat eine positive und eine negative Lösung. Für die gesuchte Stütz-
linie muss die Horizontalkraft negativ sein. Mit der negativen Lösung der Gleichung
v "
u 2 #
1 u
t 2 yB
FSH = − 2 q0 yB + 4 FS, max 1 + x − q20 xB2
yB B
2 1 + xB
und den Integrationskonstanten kann die Gleichung der Stützlinie aufgeschrieben werden:
1 q0 2 yB q0 xB
y= x + − x .
2 FSH xB 2 FSH
12 Grundlagen der Festigkeitslehre
Die Festigkeitslehre untersucht die inneren Kräfte in Bauteilen und die daraus resultierenden
Beanspruchungen und Verformungen:
ê Durch Vergleich mit Materialkennwerten, die durch Versuche ermittelt werden (Werkstoff-
kunde), kann man das wichtige Problem der Dimensionierung lösen.
ê Die wichtigsten Methoden zur Festlegung der Abmessungen von Bauteilen sind
• die Dimensionierung auf Festigkeit durch Vergleich der Beanspruchung mit den zuläs-
sigen Beanspruchungen („Kann das Bauteil die Belastung ertragen, ohne zerstört zu
werden?“) und
• die Dimensionierung auf Steifigkeit („Bleiben die Verformungen infolge der Belastung
innerhalb der tolerierten Grenzwerte?“).
ê Weil in der Festigkeitslehre auch die Verformungen der Bauteile betrachtet werden, muss
man das Modell des „starren Körpers“ aufgeben. Die statischen Gleichgewichtsbedingun-
gen dürfen jedoch (bis auf wenige Ausnahmen) am unverformten System aufgestellt wer-
den (Theorie 1. Ordnung, vgl. Abschnitt 10.2): Die Berechnung von Lagerreaktionen und
Schnittgrößen wird also im Allgemeinen so ausgeführt, wie es aus der Statik starrer Körper
bekannt ist.
12.1 Beanspruchungsarten
Die vielfältigen Möglichkeiten der Beanspruchung von Bauteilen lassen sich klassifizieren. Die
in der technischen Praxis wichtigsten werden in den nachfolgenden Abbildungen 12.1 bis 12.6
an einigen einfachen Beispielen vorgestellt:
Abbildung 12.1: Bei der Zugbe- Abbildung 12.2: Auch bei Abbildung 12.3: Von Biegebe-
anspruchung liegt die Wirkungs- der Druckbeanspruchung liegt anspruchung wird gesprochen,
linie der Kräfte in der Richtung die Wirkungslinie der Kräfte wenn im Bauteil Biegemomen-
der Stabachse. Es gibt Bauteile, in Richtung der Stabachse. Es te auftreten. Die Biegebeanspru-
die ausschließlich auf Zug bean- gibt Materialien, die (fast) aus- chung ist im Allgemeinen mit ei-
sprucht werden können, z. B. Sei- schließlich Druckbeanspruchung ner Schubbeanspruchung infolge
le und Ketten. ertragen, z. B. Beton. der Querkraft gekoppelt.
=
Blech beim Stanzvorgang
Niet
Abbildung 12.4: Bei der Tor- Abbildung 12.5: Bei der Schub- Abbildung 12.6: Schlanke
sionsbeanspruchung werden die oder Scherbeanspruchung liegen Druckstäbe können instabil
Querschnitte des Bauteils durch die Kräfte auf parallelen Wirkungs- werden und senkrecht zur Be-
Torsionsmomente belastet, die linien und sind entgegengesetzt ge- lastungsrichtung ausweichen.
um die Längsachse des Sta- richtet. Eine reine Scherbeanspru- Dieser als Knickung bezeich-
bes drehen. Diese versuchen, die chung liegt vor, wenn die Wir- nete Beanspruchungsfall kann
Querschnitte relativ zueinander kungslinien sehr dicht (theoretisch nicht mehr mit der Theorie 1.
zu verdrehen. unendlich dicht) beieinander liegen. Ordnung behandelt werden.
ê Ein durch die Kraft F belastetes Seil der Länge l wird beansprucht durch die (innere) Kraft
FS und verformt (verlängert) um die Länge ∆l (Abbildung 12.7).
Um die Beanspruchung und die Verformung von den Abmessungen (Querschnitt A und Län-
ge l des Seils) unabhängig zu machen, wird als Maß für die Beanspruchung die auf die Quer-
schnittsfläche bezogene innere Kraft, die Spannung, definiert, und die Verformung wird auf die
Gesamtlänge l bezogen und als Dehnung bezeichnet:
12.2 Spannungen und Verzerrungen 169
FS ∆l
Spannung: σ= (12.1) Dehnung: ε= (12.2)
A l
Die Spannung ist wie die Kraft ein Vektor, der nicht
unbedingt senkrecht zur Querschnittsfläche gerichtet
sein muss. Es ist üblich, einen solchen allgemeinen
Spannungsvektor in Komponenten zu zerlegen: Die = +
Normalspannung σ ist senkrecht zur Querschnittsflä-
che gerichtet, die Schubspannung τ (Scherspannung)
liegt in der Querschnittsfläche (Abbildung 12.8).
Es ist einleuchtend, dass man im allgemeinen Fall Abbildung 12.8: Der Spannungsvektor
zweckmäßig mit zwei (senkrecht zueinander stehen- wird zerlegt in Normalspannung und
den) Schubspannungskomponenten in der Schnittflä- Schubspannung.
che rechnet.
Analog zur Dehnung ε (hervorgerufen durch die Nor-
malspannung σ ) definiert man die durch die Schub-
spannung τ hervorgerufenen Gleitung γ (Gleitwinkel,
Abbildung 12.9).
ê Die Dimension der Spannung ergibt sich aus
dem Quotienten „Kraft/Fläche“, gesetzliche Ein- Abbildung 12.9: Die Schubspannung er-
zeugt einen Gleitwinkel.
heit ist
N
1 2 = 1 Pa (Pascal) ,
m
in der technischen Praxis üblich (und erlaubt1 ) ist
N
1 = 1 MPa (Mega-Pascal) ,
mm2
veraltet, aber in alten Berechnungsunterlagen vielfach noch anzutreffen:
kp 9, 81 N N
= 1 ≈ 0, 1 .
cm2 100 mm2 mm2
ê Die Dehnung ε ist dimensionslos, in der Praxis teilweise üblich ist eine Angabe in % (z. B.:
ε = 0, 03 =
b 3%), die Gleitung (als Winkel im Bogenmaß) ist ebenfalls dimensionslos.
Bei den vorangegangenen Betrachtungen wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass sich die
Spannung unabhängig von der Lasteinleitung gleichmäßig über den Querschnitt verteilt. Ähnli-
che (natürlich streng genommen nicht gültige) Annahmen werden auch bei nachfolgenden Über-
legungen häufig getroffen werden müssen.
Tatsächlich ergibt sich in unmittelbarer Nähe der Lasteinleitung ein recht komplizierter Span-
nungszustand. Man darf aber annehmen, dass in „genügend großem Abstand“ von dieser Stelle
die durch die Art der Lasteinleitung verursachten Effekte abgeklungen sind.
1 Eigentlich ist es nicht erlaubt, denn die SI-Konvention lässt Präfixe wie m (Milli) oder M (Mega) nur im Zähler von
Brüchen zu. Aber weil man sich dort, wo N/mm2 steht, immer die korrekte Einheit MPa denken darf, ist es nicht
wirklich falsch und natürlich nicht so lästig wie das in Amerika wohl unausrottbare 1 lb/in2 = 1 psi ≈ 6,89476 kPa.
170 12 Grundlagen der Festigkeitslehre
Homogener Spannungszustand
in "genugender" Entfernung
von der Lasteinleitung
Diese Vereinfachung wird nach dem französischen Physiker BARRÉ DE S T. V ENANT (1797 -
1886) als Prinzip von St. Venant bezeichnet. Für anspruchsvollere Berechnungen muss man ge-
gebenenfalls zusätzlich eine genauere Untersuchung der Spannungsverhältnisse an den Lastein-
leitungsstellen durchführen.
0
ist. Aufgabe der Werkstoffkunde ist es unter ande-
rem, für die Materialien die Kennwerte experimen-
Abbildung 12.11: Der Probestab für den Zug-
tell zu ermitteln. versuch ist genormt.
Das wichtigste Experiment dafür ist der so genannte Zugversuch, dessen Ablauf in DIN EN
10002 (früher: DIN 50145) genormt ist. Wegen der Wichtigkeit der daraus für die Festigkeits-
lehre zu gewinnenden Ergebnisse wird dieser Versuch kurz beschrieben:
Ein genormter Stab (Abbildung 12.11) wird in einer
Zerreißmaschine zügig (nicht stoßartig) belastet. Da-
bei zeichnet die Maschine sowohl die Kraftzunahme als
auch die Verlängerung einer Messstrecke l0 auf.
Schließlich erhält man als wichtigstes Ergebnis das
Spannungs-Dehnungs-Diagramm (Abbildung 12.12),
in dem die Spannung AF0 (A0 ist die Querschnittsfläche
des unverformten Stabes) über der Dehnung ε = ∆l l0 auf-
getragen ist. Diese Kurven sehen für verschiedene Ma-
terialien sehr unterschiedlich aus. Ihr Verlauf wird hier Abbildung 12.12: Spannungs-Dehnungs-
Diagramm
am Beispiel des Diagramms für Baustahl diskutiert:
ê Bis zu einer Spannung σP (Proportionalitätsgrenze) verläuft die Kurve linear, und es gilt
σ =Eε
mit dem Proportionalitätsfaktor E, der den Anstieg der Geraden repräsentiert. Dieser Faktor
wird Elastizitätsmodul genannt, für Stahl hat er z. B. den Wert EStahl = 2, 1 · 105 N/mm2 .
12.3 Der Zugversuch 171
ê Die Elastizitätsgrenze σE (sehr nahe bei σP ) kennzeichnet den Punkt, bis zu dem bei nach-
folgender Entlastung keine bleibenden Verformungen des Stabes gemessen werden.
ê Für die Beurteilung der Tragfähigkeit einer Konstruktion ist die Streckgrenze Re (früher:
σS bzw. Fließgrenze σF ) besonders wichtig. Beim Erreichen dieser Spannung beginnt eine
Verschiebung der Kristallgitter im Material, so dass unter Umständen selbst bei abfallender
Spannung eine weitere Dehnung verzeichnet wird.
Für zahlreiche Materialien (z. B. hochfeste Stähle) zeigt sich diese Grenze im Spannungs-
Dehnungs-Diagramm nicht so deutlich. Da mit der Streckgrenze (unter Berücksichtigung
von Sicherheitsfaktoren) die zulässigen Spannungen festgelegt werden, wird dann ersatz-
weise die so genannte R p 0,2 -Grenze bestimmt. Dies ist die Spannung, bei der die Probe nach
Entlastung eine bleibende (plastische) Dehnung von 0,2% (ε = 0, 002) behält.
ê Nach dem Fließen setzt die so genannte Kaltverfestigung ein, die eine weitere Steigerung
der Belastung ermöglicht, bis sich bei der Spannung Rm eine Einschnürung des Querschnitts
der Probe zeigt, die zum Bruch führt (Rm - Bruchspannung, früher: σB ).
Für die sehr häufig verwendeten Baustähle wurde früher die Bruchspannung zur Kennzeich-
nung verwendet: Der Stahl St37 hat eine Bruchspannung von Rm = 370 N/mm2 (bei ei-
ner Streckgrenze Re = 240 N/mm2 ), für St52 gilt Rm = 520 N/mm2 für die Bruchspannung
und Re = 320 N/mm2 für die Streckgrenze. In den neueren Euronorm-Bezeichnungen (z. B.:
S235JR bzw. S355JO) steckt die Information über die R p 0,2 -Grenze.
Beispiel 1:
Ein Traggestell mit n Personen (durchschnittliche Masse pro Person: 75 kg, Masse
des Traggestells ebenfalls 75 kg) soll an einem Draht aus S355JO (St52) aufgehängt werden.
Bei welchem Drahtdurchmesser würde in dem Draht gerade die Bruchspannung hervorgerufen
werden?
Die Spannung im Draht ergibt sich aus dem Quotienten des Gesamtgewichts und der Quer-
schnittsfläche des Drahtes. Diese Spannung soll gerade die Bruchspannung erreichen:
(n + 1) · 75 kg · 9, 81 m
Rm = .
π d2 s2
4
Beispiel 2:
Wie lang darf ein an einem Punkt aufgehängter Draht aus Stahl (S235JR, frühere
Bezeichnung: St37) mit konstantem Querschnitt und einer Dichte ρ = 7, 85 g/cm3 maximal sein,
um nicht schon durch sein Eigengewicht zu reißen (Berechnung der so genannten Reißlänge).
172 12 Grundlagen der Festigkeitslehre
Die größte innere Kraft tritt am Aufhängepunkt auf (Gesamtgewicht des Drahtes), und bei kon-
stantem Drahtquerschnitt findet man dort auch die maximale Spannung:
ρglA
σmax = , σmax = Rm .
A
Durch Umstellen der Gleichung erhält man die Reißlänge:
Rm 370 N cm3 s2
lReiß = = = 4, 805 km .
ρg 7, 85 · 9, 81 mm2 g m
Die pragmatische (und durchaus zu empfehlende) Vorgehensweise, Bauteile auf der Basis
einer zulässigen Spannung zu dimensionieren, darf in der Regel kein Ersatz sein für den an-
schließenden Festigkeitsnachweis unter Berücksichtigung möglichst aller Einflüsse.
13.1 Belastungsarten
Die mit dem Zugversuch gewonnenen Ergebnisse gelten nur für (zügig aufgebrachte und da-
nach) ruhende Belastung, auch statische Belastung genannt. Bewegte Maschinenbauteile sind
jedoch dynamischer Belastung unterworfen. Folgende Skizzen verdeutlichen die wichtigsten Be-
lastungsarten, wobei die Änderung der Spannung im Bauteil als Funktion der Zeit aufgetragen
ist (Abbildungen 13.1 und 13.2):
Abbildung 13.1: Eine statische Belastung (linkes Bild) wird zügig aufgebracht und bleibt dann konstant,
die schwingende Belastung ändert ihre Intensität ständig um einen Mittelwert.
Abbildung 13.2: Eine stoßartige Belastung (linkes Bild) wird plötzlich aufgebracht und pendelt sich da-
nach auf einen Endwert ein, die stochastische Belastung (rechtes Bild) ist völlig unregelmäßig.
Für die Behandlung der statischen Belastung sind die aus dem Zugversuch zu gewinnenden
Erkenntnisse ausreichend. Man dimensioniert unter Beachtung eines Sicherheitsfaktors S je nach
Materialverhalten bei Versagen infolge großer bleibender Formänderungen nach einer aus der
Streckgrenze Re (bzw. der R p, 0,2 -Grenze) ermittelten zulässigen Spannung
Re
σzul = , (13.1)
SF
bei Versagen durch Trennbruch (spröde Materialien) nach einer aus der Bruchspannung Rm er-
mittelten zulässigen Spannung:
Rm
σzul = . (13.2)
SB
Diese Formeln gelten für eine gleichmäßige Spannungsverteilung im Querschnitt. Die anzuset-
zenden Sicherheitsbeiwerte hängen in hohem Maße von der Erfahrung, branchenüblichen Wer-
ten, Vorschriften für spezielle Konstruktionen und den zu erwartenden Folgen bei einem Versa-
gen der Konstruktion ab. Auch die Kosten können von hohen Sicherheitsbeiwerten sowohl nega-
13.2 Dauerfestigkeit 175
tiv (höhere Materialkosten) als auch positiv (geringerer Prüf- und Wartungsaufwand) beeinflusst
werden. Gebräuchliche Werte sind:
SF = 1, 2 . . . 2 bzw. SB = 2 . . . 4 . (13.3)
Bei dynamischer Belastung tritt nach einer hohen Lastwechselzahl ein Bruch vielfach schon bei
Maximalspannungen auf, die weit unter der Streckgrenze (und noch weiter unter der Bruchspan-
nung) liegen („Zerrüttung“ des Materials). Dieser Belastungsfall kann nicht mit den aus dem
Zugversuch gewonnen Erkenntnissen behandelt werden, es werden die Resultate der im Folgen-
den beschriebenen Dauerfestigkeitsversuche benötigt. Hier werden zunächst nur die wichtigsten
Begriffe dieser Belastungsart bei konstanten Amplituden erläutert:
• die Unterspannung σu ,
• die mittlere Spannung
σm = 12 (σo + σu )
• und den Spannungsausschlag
σa = σo − σm = σm − σu 1 Lastspiel
13.2 Dauerfestigkeit
Für die Untersuchung des Verhaltens von Werkstoffen bei dynamischer Beanspruchung werden
Dauerfestigkeitsversuche durchgeführt.
Bei einer bestimmten Mittelspannung σm werden die Proben ständigen Lastwechseln mit Span-
nungsausschlägen σa unterworfen. Die Anzahl der Lastwechsel wird gezählt und die so genannte
Bruchlastwechselzahl registriert. Dies wird (bei gleichem σm ) für viele verschiedene σa wieder-
holt. Wenn man den Spannungsausschlag σa in einem Diagramm über der Anzahl von Lastwech-
seln, die von der Probe bei diesem Spannungsausschlag bis zum Bruch ertragen wurden, aufträgt,
ergibt sich die nach AUGUST W ÖHLER (1819 - 1914) benannte Wöhlerkurve (Abbildung 13.4).
Es ist üblich (und sinnvoll), die Abszisse, auf der die Lastwechselzahl N aufgetragen wird, loga-
rithmisch zu teilen.
176 13 Festigkeitsnachweis
Die wichtigste Erkenntnis aus den Dauerfestigkeitsversuchen ist, dass die Proben, die ei-
ne gewisse Anzahl von Lastwechseln ohne Bruch überstanden haben (z. B. für Stahl etwa
2.000.000 . . . 10.000.000 Lastwechsel), auch bei Fortsetzung des Versuchs nicht versagen.
Die Abszisse kennzeichnet den statischen Lastfall, der Punkt auf der Ordinate die Wechselfes-
tigkeit, die jeweils unter 45◦ zu den Achsen liegenden Geraden schneiden die Haigh-Kurve bei
der halben Schwellfestigkeit (Zug bzw. Druck).
Der Versuchsaufwand zur Ermittlung der Dauerfestigkeitsschaubilder ist außerordentlich groß,
zumal sich die meisten Materialien bei Zug, Biegung und Torsion (zum Teil auch bei Druck
anders als bei Zug, z. B. Grauguss) unterschiedlich verhalten, so dass für diese Belastungen ge-
sonderte Versuche gefahren werden müssen. Die ermittelten Spannungen werden durch einen zu-
sätzlichen Index gekennzeichnet, z. B. sind mit σbW und τtW die Wechselfestigkeiten bei Biege-
und Torsionsbeanspruchung gemeint.
Die wichtigsten Ergebnisse der Versuche zur Ermittlung der Festigkeitseigenschaften von Werk-
stoffen (Wechselfestigkeit, Schwellfestigkeit, Streckgrenze) findet man in Tabellen in einschlä-
gigen Handbüchern. Es ist üblich, das reale Dauerfestigkeitsschaubild mit diesen drei Werten
anzunähern, indem die gekrümmten Kurven durch Geraden ersetzt werden.
13.3 Gestaltfestigkeit
Die tatsächlich in einem Bauteil auftretende Spannung kann (durch recht unterschiedliche Ein-
flüsse bedingt) höher sein als die errechnete. Die wichtigsten Einflüsse, die zu solchen Abwei-
chungen führen, sind genauer untersucht worden, man kennt Versuchsergebnisse und Erfahrungs-
werte, die berücksichtigt werden können (Bauteilgröße, Oberflächenbeschaffenheit, Eigenspan-
nungen, Härtung, . . .). Die trotzdem stets verbleibenden Unsicherheiten müssen durch Sicher-
heitsfaktoren erfasst werden.
Hier soll nur der wichtigste Einflussfaktor, die so genannte Kerbwirkung, kurz behandelt werden.
Querschnittsänderungen in einem Bauteil führen zu Spannungsspitzen, die rechnerisch nur mit
erheblichem Aufwand ermittelt werden können. Sie werden deshalb durch die Formzahlen αk
(für statische Belastung) und die Kerbwirkungszahlen βk (für dynamische Belastung) erfasst.
Mit der Formzahl αk korrigiert man „eigentlich falsche Voraussetzungen“ bei der Spannungsbe-
rechnung. Bei den in der Abbildung 13.7 zu sehenden Beispielen dürfte man nicht voraussetzen,
dass sich in der Nähe der Kerben eine gleichmäßige Spannungsverteilung einstellt. Zur Vereinfa-
chung der Berechnung tut man es doch, rechnet die so genannte Nennspannung σn mit einfachen
178 13 Festigkeitsnachweis
= 2
/4
Nennspannungen unter Tatsachliche Span-
der Annahme einer nungsverteilung mit
konstanten Spannungs- der Spannungsspitze
Welle mit Kerbe verteilung
Formeln aus und korrigiert diese dann mit der Formzahl αk , um die Spannungsspitze zu erfassen.
Für die Formzahlen gilt stets
αk ≥ 1 .
Versuche haben ergeben, dass die Kerbwirkung bei dynamischer Beanspruchung nicht so groß
ist wie bei statischer Belastung. Damit gilt für die als
13.4 Zeitfestigkeit 179
definierte Kerbwirkungszahl βk :
1 ≤ βk ≤ αk .
Die Ermittlung der βk -Werte ist schwierig und aufwendig. Wenn keine geeigneten Werte für die
Kerbwirkungszahl zur Verfügung stehen, was in der technischen Praxis eher die Regel als die
Ausnahme ist, dann liegt man mit der Annahme
βk = αk
auf der sicheren Seite.
13.4 Zeitfestigkeit
Bei den Überlegungen zur Dauerfestigkeit im Abschnitt 13.2 waren stets konstante Amplituden
für die schwingende Belastung angenommen worden. Man darf die dort gewonnenen Ergeb-
nisse natürlich auch verwenden, wenn man „konstante Amplitude“ durch „maximale Amplitu-
de“ ersetzt. Doch spätestens dann, wenn die maximalen Amplituden nicht sehr häufig auftreten,
führt die Dauerfestigkeitsrechnung oft zur Überdimensionierung. In diesem Fall und immer dann,
wenn die Lebensdauer eines Bauteils (und damit die Anzahl der zu ertragenden Lastwechsel) ab-
schätzbar ist oder gewollt begrenzt wird, jedoch auch, wenn Material- und Gewichtseinsparungen
im Vordergrund stehen (Leichtbau), wird nach den Regeln der Zeitfestigkeit dimensioniert.
Die Wöhlerkurve zeigt, dass höhere Spannungsausschläge durchaus für eine begrenzte Zahl von
Lastwechseln ertragbar sind. Die Überlegungen zur Zeitfestigkeit gehen nun davon aus, dass je-
der Spannungsausschlag einen „gewissen Schadensbeitrag“ liefert und sich die einzelnen Scha-
densbeiträge summieren, bis nach einer bestimmten Zeit das Versagen des Bauteils eintritt. Die
von dem Bauteil zu ertragenden Belastungen werden dafür in so genannten Spannungskollektiven
zusammengefasst, deren Wirkung auf das Bauteil abgeschätzt werden kann.
13.4.1 Spannungskollektive
Man kann für typische Beanspruchungssituationen von Bauteilen (ein Auto fährt über eine länge-
re Strecke über unterschiedliche Straßen, Flugzeuge starten oder landen, . . .) die Spannungs-Zeit-
Diagramme durch Aufzeichnungen ermitteln. Dabei ergeben sich unterschiedliche Amplituden,
vielfach darf die Belastung als „stochastisch“ bezeichnet werden. Wenn eine ausreichende Men-
ge solcher Untersuchungen vorliegt, darf man daraus auf die während seiner Lebensdauer zu
ertragenden Belastungen des Bauteils schließen.
180 13 Festigkeitsnachweis
Das „Auszählen“ ist übrigens kein ganz einfacher Vorgang1 , weil im Gegensatz zur harmonisch
schwingenden Belastung (Abbildung 13.3 auf Seite 175) nicht jedem Lastspiel eindeutig genau
eine Ober- und eine Unterspannung zugeordnet werden kann.
Die Anzahl der Lastwechsel ni , die zu den Klassen gehören, die über der Dauerfestigkeit liegen,
müssen im Bereich der Zeitfestigkeit natürlich links von der Wöhlerkurve (Abbildung 13.4 auf
Seite 176) liegen. Das genügt aber nicht, denn die Lastwechsel, die zu den höheren Klassen
gehören, haben ja mindestens das gleiche Schädigungspotenzial, so dass gefordert werden muss,
dass die Summe der Lastwechsel einer bestimmten Klasse und aller höheren Klassen kleiner als
die der ertragbaren Lastwechsel dieser Klasse ist.
Das Spannungskollektiv muss also (wie in Abbildung 13.9 zu sehen) komplett links von der
Wöhlerlinie liegen.
Spannungskollektive zeigen häufig einander ähnelnde Kurvenverläufe, die die Definition von
Normkollektiven (z. B.: Normalverteilung, Geradlinienverteilung) nahelegen. Auf diese Weise
können aufwendige Versuchsreihen immer dann vermieden werden, wenn man die wichtigsten
Kenngrößen des Kollektivs (z. B. funktionaler Verlauf, Umfang und Höchstwert) zumindest ab-
schätzen kann.
1 „Es wird ausgezählt“, klingt viel einfacher als es ist. Was eine „Spannungsspitze“ ist, wäre einfach zu definieren, wenn
jedem Maximum eindeutig das Minimum eines Lastspiels folgen würde. Genau das ist aber nicht der Fall, und deshalb
sind eine Reihe von Klassierungsverfahren entwickelt worden, die diesen Prozess nach jeweils eindeutig definierten
Regeln ablaufen lassen (Rainflow-Verfahren, Reservoir-Methode, . . .). Natürlich gibt es geeignete Software, die das
Zählen übernimmt.
13.4 Zeitfestigkeit 181
Auf der Basis der Untersuchungen von A RVID PALMGREN und M ILTON A. M INER basiert die
als Hypothese von Palmgren und Miner bezeichnete Annahme, dass jede Spannungsamplitude
σi eines Spannungskollektivs entsprechend der Häufigkeit ni ihres Auftretens zum Versagen des
Bauteils beiträgt. Aus der Wöhlerkurve (Abbildung 13.4 auf Seite 176) ist zu entnehmen, dass
die Spannungsamplitude σi maximal Ni -mal ertragen werden kann, und deshalb setzt man die
tatsächlich aufgetretene Anzahl mit dieser Anzahl ins Verhältnis zum so genannten Teilschädi-
gungsquotienten Nnii .
Wären alle Spannungsamplituden gleich, dürfte dieser Quotient den Wert 1 nicht übersteigen.
Damit erscheint die so genannte Miner-Regel zumindest plausibel, die für ein Spannungskollektiv
fordert, dass die Summe aller Teilschädigungsquotienten kleiner oder gleich 1 sein muss:
n1 n2 n3 ni
+ + +... = ∑ ≤ 1 . (13.4)
N1 N2 N3 i Ni
Spannungsamplituden unterhalb der Dauerfestigkeit liefern keinen Beitrag zu dieser Formel, weil
ihre ertragbare Anzahl unendlich ist. Man beachte, dass auch die Reihenfolge der Schadensbei-
träge (bei dieser Theorie) keine Rolle spielt.
Wenn die Summe der Teilschädigungsquotienten für ein Spannungskollektiv nach der Miner-
Regel 13.4 einen Wert deutlich kleiner als 1 liefert, kann man angeben, wie oft dieses Span-
nungskollektiv von dem Bauteil ertragen wird. Damit ist eine Lebensdauerabschätzung möglich.
Die auch als Original-Miner-Regel bezeichnete Formel 13.4 liefert allerdings in der Regel (zu)
optimistische Werte, so dass sich in den einschlägigen Berechnungsvorschriften verschiedene
Modifikationen dieser Formel finden.
Ein alternatives Vorgehen ist nach einem Vorschlag von E. G ASSNER bei Bezug auf ein bestimm-
tes Normkollektiv möglich. Dieses kann als Basis für Versuchsreihen ähnlich derer zur Ermitt-
lung von Wöhlerkurven dienen: Die Probe wird (wiederholt) einer schwingenden Belastung mit
Amplituden entsprechend dem Normkollektiv unterworfen. Es ist üblich, den Höchstwert eines
Normkollektivs als charakteristische Größe für die Darstellung zu verwenden, so dass die sich
ergebenden Gaßner-Kurven im entsprechenden Diagramm rechts von den Wöhlerkurven liegen
(Probe kann mehr Lastwechsel ertragen, weil ein sehr großer Anteil mit kleineren Amplituden
erfolgt).
Die Abbildung 13.10 zeigt den Unterschied zwischen der Ermittlung eines Punktes der Wöhler-
linie und eines Punktes einer Gaßnerlinie:
• Für die Bestimmung der Wöhlerlinie wird (bei einer festen Mittelspannung) eine schwin-
gende Belastung mit konstantem maximalen Schwingungsausschlag σa aufgebracht. Diese
Belastung kann man als Rechteckkollektiv bezeichnen, das so oft wiederholt aufgebracht
wird, bis die Probe nach NW Lastwechseln bricht.
• Für die Bestimmung der Gaßnerlinie wird (bei ebenfalls fester Mittelspannung) eine schwin-
gende Belastung mit wechselnden Amplituden σa aufgebracht, die ein ganz bestimmtes
Normkollektiv nachbilden. Auch diese Belastung wird so oft wiederholt aufgebracht, bis die
182 13 Festigkeitsnachweis
Wöhlerlinie Gaßnerlinie
Rechteck- Norm-
kollektiv kollektiv
Abbildung 13.10: Ermittlung eines Punktes der Wöhlerlinie und eines Punktes einer Gaßnerlinie
Probe nach NG Lastwechseln bricht. Weil die maximale Amplitude σa, max als charakteristi-
sche Größe im Diagramm erscheint, liegt die Gaßnerlinie weiter rechts, weil die zahlreichen
kleineren Amplituden nicht so stark schädigen. Die so zu ermittelnde Gaßnerlinie gilt genau
für das Normkollektiv, das mit dem Versuch abgebildet wurde.
Wenn eine passende Gaßner-Kurve bekannt ist, kann der direkte Vergleich mit dem aktuellen
Spannungskollektiv die Schadensakkumulations-Rechnung ersetzen.
Fazit:
Das Gebiet der Betriebsfestigkeit ist ein so weites Feld, dass es einen ei-
genen Wissenschaftszweig darstellt. Es wird in der Regel auch nicht unter
der Überschrift „Technische Mechanik“ gelehrt. Hier sollte nur ein kleiner
Einblick gegeben werden (vgl. auch www.TM-aktuell.de), weil es mit der
Technischen Mechanik naturgemäß besonders eng verzahnt ist.
Es ist darüber hinaus ein Gebiet, das sich in den letzten Jahren besonders schnell entwickelt hat,
wobei die Wichtigkeit für die Praxis der Motor der Entwicklung war und ist. Von den zahlrei-
chen Richtlinien und Normen, die auf diesem Wege entstanden sind und ständig weiter entste-
hen, seien hier nur die FKM-Richtlinie Festigkeitsnachweis (Maschinenbau) und der Eurocode 3
(Stahlbau) genannt.
14 Zug und Druck
FN
Normalspannung infolge der Normalkraft FN : σ= . (14.2)
A
Mit dem Hookeschen Gesetz 12.3 können die durch die Spannung hervorgerufenen Dehnungen
berechnet werden, die im Allgemeinen auch von der Längskoordinate z abhängig sind. Die Deh-
nungen korrespondieren mit den Längsverschiebungen w, wie es die Abbildung 14.2 für ein
differenziell kleines Element zeigt („Dehnung = Verlängerung/Ursprungslänge“). Damit kann
der Zusammenhang von Dehnung, Normalkraft und Längsverschiebung formuliert werden:
σ (z) FN (w + dw) − w dw
ε(z) = = = = = w0 (z) ⇒ EA w0 = FN . (14.3)
E EA dz dz
Bei konstantem ε kann aus der Dehnung die Verlängerung des Sta-
bes der Länge l nach
∆l = ε l (14.4)
(siehe Formel 12.2 auf Seite 169) ermittelt werden, für veränderli-
ches ε(z) ergibt sich die Verlängerung ∆l aus der Integration über
die Dehnung: Z
∆l = ε(z) dz . (14.5)
l
Abbildung 14.2: Element
Für den sehr wichtigen Sonderfall, dass sowohl die Normalkraft FN der Länge dz mit Längsver-
als auch die Querschnittsfläche A zumindest in einem Bereich eines schiebungen w und w + dw
Stabes konstant sind, erhält man aus den Formeln 14.3 und 14.4 die
Formel für die
Längenänderung eines Stababschnitts mit der konstanten Normalkraft FN und der konstanten
Dehnsteifigkeit EA:
FN l
∆l = . (14.6)
EA
Beispiel 1:
Ein Stab mit stückweise konstantem
1 Querschnitt (Skizze links) trägt die Kräfte F1 und
1 1
1 F2 , sein Eigengewicht kann vernachlässigt werden.
Man berechne
1
FN1 F1
σ1 = = − = −150 N/mm2 .
A1 A1
Die Spannung im unteren Abschnitt soll die gleiche Größe haben. Aus dieser Forderung ergibt
sich die Querschnittsfläche A2 :
FN2 F1 + F2 F1 + F2
σ2 = =− = σ1 ⇒ A2 = − = 140 mm2 .
A2 A2 σ1
Die Absenkungen der Querschnitte ¬ und ergeben sich aus den Längenänderungen der unter
den Querschnitten liegenden Stabbereiche:
(F1 + F2 )l2 F1 l1
w2 = −∆l2 = = 0, 286 mm ; w1 = −∆l1 − ∆l2 = + w2 = 0, 500 mm .
E2 A2 E1 A1
Beispiel 2:
Ein Stahlstab (Dichte ρ) mit Kreisquerschnitt ist durch die
Kraft F belastet. Man ermittle jeweils unter Vernachlässigung bzw. bei Be-
rücksichtigung des Eigengewichts
a) den erforderlichen Durchmesser bei einer zulässigen Spannung
von σzul = 200 N/mm2 ,
b) die Verlängerung des Stabes bei einem gewählten Durchmesser
von dgew = 16 mm .
Gegeben: F = 40 kN ; l = 4 m ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 ; ρ = 7, 85 g/cm3 .
Für die Normalkraft gilt ohne Berücksichtigung des Eigengewichts:
FN = F
und bei Berücksichtigung des Eigengewichts (vgl. Seite 43):
FN = F + ρgAz = F + qe z mit qe = ρgA .
Die erforderlichen Durchmesser werden bestimmt, indem die maximale
Spannung gleich der zulässigen Spannung gesetzt wird. Bei Vernachläs-
sigung des Eigengewichts ist die Spannung im gesamten Stab gleich:
s
FN F F 4F F
σ= = ⇒ = 2 = σzul ⇒ der f ,1 = 2 = 15, 96 mm .
A A Aer f ,1 πder f ,1 πσzul
Bei der Ermittlung der Stabverlängerung kann bei Vernachlässigung des Eigengewichts wegen
der konstanten Dehnung (folgt aus der konstanten Spannung bei konstantem Querschnitt) mit der
Formel 14.6 gearbeitet werden:
FN l 4Fl
∆l1 = = 2
⇒ ∆l1 = 3, 79 mm .
EA Eπdgew
Bei Berücksichtigung des Eigengewichts muss entsprechend 14.5 integriert werden:
Zl
σ FN F qe
∆l2 = ε(z) dz ; ε(z) = = = + z ;
E EA EA EA
z=0
Zl
F qe Fl qe 2 Fl ρg 2
∆l2 = + z dz ; ∆l2 = + l = + l = 3, 79 mm .
EA EA EA 2EA EA 2E
z=0
Der Einfluss des Eigengewichtes ist auch bei der Stabverlängerung wie bei der Dimensionierung
bei diesem Beispiel zu vernachlässigen.
Beispiel 1:
Ein starrer Körper mit der Gewichtskraft F ist an 1
den beiden elastischen Seilen 1 und 2 aufgehängt und wird au-
1
Gegeben: F = 8 kN ; l1 = 60 cm ; A1 = 36 mm2 ;
FG = 5 kN; l2 = 30 cm ; A2 = 12 mm2 .
Die Seilkraft im Seil 3 ist gleich der Gewichtskraft FG , die drei aufwärts gerichteten Seilkräfte
müssen mit der Kraft F im Gleichgewicht sein:
FS1 + FS2 + FG − F = 0 .
Die schon genannte Verformungsbedingung (Gleichheit der Seilverlängerungen) führt unter Ver-
wendung von 14.6 zur zweiten Gleichung für die beiden unbekannten Seilkräfte:
FS1 l1 FS2 l2 A1 l2
∆l1 = ∆l2 ⇒ = ⇒ FS1 = FS2 .
EA1 EA2 A2 l1
Mit den gegebenen Größen errechnet man aus diesen beiden Gleichungen:
Beispiel 2:
Ein starrer Körper (Gewicht FG ) ist bei A gelenkig gelagert und außerdem im Fall
a an den elastischen Seilen 1 und 2, im Fall b an einem über zwei Rollen geführten Seil 3
aufgehängt. Alle Seile haben den gleichen Elastizitätsmodul E und den gleichen Querschnitt A.
Man berechne die Spannungen in den drei Seilen und die Verlängerung ∆l1 des Seils 1.
Gegeben: FG = 240 N ; a = 5 cm ; l = 6 cm ; A = 0, 5 mm2 ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
1 2 3
2 2 2 2
1 2 3 3
2 2 2 2
a) Das Momentengleichgewicht um den Punkt A ist die erste Bestimmungsgleichung für die
unbekannten Seilkräfte FS1 und FS2 (auf weitere Gleichgewichtsbedingungen wird verzichtet,
weil die Lagerkräfte bei A nicht gefragt sind):
a FG
FG − FS1 a − FS2 2a = 0 ⇒ FS1 + 2 FS2 = .
2 2
188 14 Zug und Druck
Die zweite Gleichung ergibt sich aus einer Verformungsbetrachtung: Da nur die Seile elas-
tisch sind, kann sich der starre Körper nur um den Punkt A drehen und eine Schrägstellung
einnehmen. Es müssen sich also die Längenänderungen der Seile 1 und 2 wie ihre Abstände
zum Drehpunkt A verhalten:
∆l2 2a FS2 l FS1 l
= ⇒ ∆l2 = 2 ∆l1 ⇒ =2 ⇒ FS2 = 2FS1 .
∆l1 a EA EA
Die beiden Gleichungen (Momentengleichgewicht und Verformungsbedingung) liefern:
FG FG
FS1 = = 24 N ; FS2 = = 48 N .
10 5
Daraus ergeben sich die gesuchten Spannungen und die Verlängerung des Seiles 1:
FS1 FS2 FS1 l
σ1 = = 48 N/mm2 ; σ2 = = 96 N/mm2 ; ∆l1 = = 0, 0137 mm .
A A EA
b) Die Seilkraft FS3 kann, weil das System statisch bestimmt ist, ohne Verformungsbetrachtun-
gen direkt aus einer Momentenbetrachtung um den Lagerpunkt A errechnet werden:
a FG
FG − FS3 a − FS3 2a = 0 ⇒ FS3 = = 40 N .
2 6
Daraus ergibt sich die Spannung in diesem Seil:
FS3
σ3 = = 80 N/mm2 .
A
Bei einer Temperaturerhöhung um ∆T dehnt sich ein Stab zusätzlich zur elastischen Dehnung
um die Temperaturdehnung
εt = αt ∆T (14.7)
mit dem Temperaturausdehnungskoeffizienten αt (Dimension: K− 1 , „1 durch Kelvin“), für Stahl
gilt z. B.: αt = 1, 2 · 10− 5 K− 1 .
Die Gesamtdehnung eines durch eine Normalkraft FN belasteten Stabes, der zusätzlich einer
Temperaturerhöhung ∆T unterworfen ist, errechnet sich nach
σ
εges = + αt ∆T . (14.8)
E
FN
Darin ist σ die durch die Normalkraft FN hervorgerufene Spannung σ = .
A
ê Man beachte: Die Temperaturdehnung erfolgt stets spannungsfrei. Temperaturspan-
nungen werden nur bei behinderter thermischer Dehnung hervorgerufen. Dies ist nur
bei statisch unbestimmten Systemen möglich. In statisch bestimmten Stabwerken treten
keine Temperaturspannungen auf.
14.3 Temperatureinfluss, Fehlmaße 189
Beispiel 1:
Wenn ein Stab
(oder mehrere oder alle Stäbe) 1 2 1 2 4 5
4
des statisch bestimmten Stab-
werks (linkes System) erwärmt
3 3
wird, kann er sich spannungs-
frei ausdehnen. Die übrigen
Stäbe reagieren wie ein Getrie- Abbildung 14.3: Statisch bestimmtes System (links) und statisch un-
be mit einem Freiheitsgrad. bestimmtes System (rechts)
Wenn bei dem statisch unbestimmten Stabwerk (rechtes Stabwerk in Abbildung 14.3) z. B. der
Stab 3 eine Wärmedehnung erfährt, verspannt er die beiden Stabzweischläge 1-2 und 4-5, und
in allen fünf Stäben werden Spannungen hervorgerufen. Dies gilt auch bei Erwärmung jedes
anderen Stabes, auch bei gleichmäßiger Erwärmung des gesamten Stabwerks.
Beispiel 2:
Der skizzierte Stab wurde bei 0◦ C zwischen den star-
ren Lagern A und C montiert.
/3
a) Man ermittle die Spannungen in den Teilen 1 und 2 bei einer 1
1
Temperaturerhöhung auf +40◦ C.
b) Welche Kraft F müsste bei B (senkrecht nach unten) aufgebracht
werden, so dass bei +40◦ C in den Teilen 1 und 2 die Spannungen
gleich sind? 2
2
c) Welche Spannungen ruft die unter b errechnete Kraft bei 0◦ C
hervor?
Gegeben: A1 = 16 cm2 ; αt = 1, 2 · 10− 5 K− 1 ;
A2 = 4 A1 ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
Der Stab ist statisch unbestimmt gelagert (zwei Einspannungen). Durch die spezielle Belastung
werden jedoch nur Kräfte in vertikaler Richtung übertragen. Für die Berechnung der vertikalen
Lagerkräfte in den Punkten A und C steht nur die Gleichgewichtsbeziehung „Summe aller Kräfte
in vertikaler Richtung“ zur Verfügung, so dass sich dieses System als einfach statisch unbestimmt
erweist. Es ist also eine Verformungsbetrachtungen erforderlich.
Dies sind die beiden Bestimmungsgleichungen, aus denen die Lagerreaktionen (und damit
die Schnittgrößen und die Spannungen) berechnet werden können.
In der Verformungsbedingung werden die beiden Verlängerungen entsprechend
∆l1 + ∆l2 = ε1 31 l + ε2 23 l = 0
durch die Dehnungen ausgedrückt, die sich jeweils aus einem thermischen Anteil (verursacht
durch ∆T ) und einem elastischen Anteil (verursacht durch die Normalkräfte in den beiden
Abschnitten) zusammensetzen. Die Dehnungen müssen also durch 14.8 ersetzt werden, die
beiden Spannungen σ1 und σ2 werden entsprechend
FN1 FN2
σ1 = und σ2 =
A1 A2
durch die Normalkräfte ausgedrückt, und diese können (Gleichgewicht, Schnittskizzen auf
der Seite 189) durch die Lagerreaktionen
FN1 = FA , FN2 = FA
ersetzt werden. Es ergibt sich folgende Rechnung:
σ l σ 2
1 2
+ αt ∆T + + αt ∆T l=0 ⇒
E 3 E 3
FN1 FN2 3 FA
+2 + 3αt ∆T = 0 ⇒ = −3αt ∆T ⇒ FA = −2EA1 αt ∆T .
EA1 EA2 2 EA1
Dabei wurde bereits A2 = 4 A1 (siehe Aufgabenstellung) berücksichtigt. Mit der nun bekann-
ten Lagerkraft FA errechnet man die Spannungen in den Abschnitten 1 und 2:
FA FA
σ1 = = −202 N/mm2 ; σ2 = = −50, 4 N/mm2 .
A1 A2
Stab 1
Beispiel 3:
Das skizzierte System ist bezüglich der äußeren
1
Geometrie und der Dehnsteifigkeit der Stäbe symmetrisch. Der
Stab 2 soll um die Temperaturdifferenz ∆T erwärmt werden. Die Stab 2
dadurch entstehenden Stabkräfte sind zu berechnen.
2
Der Winkel α ist durch die Aufgabenstellung gegeben, es gilt z. B.: cos α = √ 2l2 = 15
17 .
l2 +a2
FS1 FS2
q
∆l1 = l22 + a2 ; ∆l2 = + αt ∆T l2 .
(EA)1 (EA)2
Aus dieser Beziehung und der Gleichgewichtsbedingung errechnen sich die beiden Stabkräfte:
αt ∆T cos2 α 2αt ∆T cos3 α
FS1 = = 5026 N ; FS2 = − = −8870 N .
1 2 cos3 α 1 2 cos3 α
+ +
(EA) 1 (EA)2 (EA) 1 (EA)2
ê Nur durch die Verwendung der Theorie 1. Ordnung (Verschiebungen sind klein gegenüber
den Abmessungen des Systems) bleiben die Beziehungen, aus denen die Stabkräfte berech-
net werden, linear. Erfahrungsgemäß macht diese (für die weitaus meisten praktischen Pro-
bleme gerechtfertigte) Linearisierung dem Anfänger einige Schwierigkeiten.
Für das behandelte sehr einfache Beispiel kann der Fehler, der dabei begangen wird, deutlich
gemacht werden. Die exakte Kompatibilitätsbedingung lautet (Pythagoras):
q 2
l22 + a2 + ∆l1 = (l2 + ∆l2 )2 + a2
bzw. q
∆l1 2 l22 + a2 + ∆l1 = ∆l2 (2l2 + ∆l2 ) .
Wenn in den Klammern die (kleinen) Verlängerungen gegenüber den (im Allgemeinen we-
sentlich größeren) doppelten Stablängen vernachlässigt werden, entsteht daraus mit
l2
∆l1 = ∆l2 q = ∆l2 cos α .
l22 + a2
die aus der Anschauung gewonnene Beziehung.
ê Wenn die Aufgabe auch nur etwas komplizierter als das behandelte Beispiel ist, kann das
Aufschreiben der Kompatibilitätsbedingung „aus der Anschauung“ außerordentlich schwie-
rig bis unmöglich werden. Wäre bei dem behandelten Beispiel die Symmetrie nicht vorgege-
ben, würde sich der Knoten nicht mehr nur horizontal verschieben, und man müsste (neben
zwei Gleichgewichtsbedingungen) eine Bedingung unter Einbeziehung der Verlängerungen
aller Stäbe formulieren. Um praxisrelevante Probleme behandeln zu können, ist deshalb ein
möglichst hoher Formalisierungsgrad der Berechnung anzustreben. Dies wird mit dem im
Kapitel 15 zu behandelnden Verfahren erreicht.
Abschließend wird noch ein Beispiel behandelt, das mit dem Problem der Temperaturdehnung
eng verwandt ist: Wenn ein Stab in eine (statisch unbestimmte) Konstruktion eingebaut wird,
dessen Länge ein Fehlmaß aufweist, so dass er eigentlich „nicht passt“ und nur unter Zwang
eingefügt werden kann, entstehen dadurch Vorspannungen bereits im unbelasteten Tragwerk.
Man kann nun z. B. ein Übermaß ū so interpretieren, als wäre es eine Verlängerung eines Stabes
der Länge l infolge der Temperaturerhöhung dieses Stabes um ∆T , wenn
ū = αt ∆T l
gesetzt wird.
14.3 Temperatureinfluss, Fehlmaße 193
Die so genannte Anfangsdehnung ε0 = ūl kann also wie die Temperaturdehnung zur elastischen
Dehnung hinzugefügt werden, und die Beziehung 14.8 erweitert sich zur Formel für die
Beispiel 4: Stab 1
Es wird ein ähnlicher Stabdreischlag wie im Bei-
spiel 3 betrachtet. Das System trägt keine äußere Belastung,
aber der Stab 2 war infolge einer Fertigungsungenauigkeit vor
dem Einbau um 0, 2% zu kurz. Stab 2
14.4 Aufgaben
Aufgabe 14.1:
Ein Körper ist an zwei Stahlseilen 1 und
2 aufgehängt, die sich durch dessen Gewicht um ∆l1 bzw. Seil 1 Seil 2
∆l2 verlängern. Man berechne
2
1
a) die Zugspannung im Seil 1,
b) die Gewichtskraft FG und die Strecke a bis zu ihrem 2
Angriffspunkt.
Gegeben: ∆l1 = 0, 8 mm ; l1 = 80 cm ; l = 130 cm ;
∆l2 = 1, 2 mm ; l2 = 100 cm ; A1 = 1 mm2 ;
A2 = 2 mm2 ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
Aufgabe 14.2:
Das skizzierte System besteht aus
drei gelenkig miteinander verbundenen Stäben. Der
horizontale Stab zwischen den Lagern A und B hat
stückweise konstanten Querschnitt.
Gegeben: l = 180 mm ; A0 = 9 mm2 ; 2 0 2
0 0
α = 30◦ ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
/3 /3 /3
a) Wie groß ist die bei C angreifende Kraft F, wenn infolge der Verlängerung des horizontalen
Stabes am Lager B eine Verschiebung ∆l = 0, 2 mm (nach rechts) gemessen wird?
b) Bei welcher am Punkt C angreifenden Kraft F = Fmax wird in dem horizontalen Stab die
Bruchspannung Rm = 520 N/mm2 erreicht?
2
1
Aufgabe 14.3:
Eine starre Scheibe ist bei A dreh-
bar gelagert und wird zusätzlich durch zwei elasti- Seil 1
sche Stahlseile mit den Querschnittsflächen A1 bzw.
A2 gehalten. Seil 2 3
Gegeben: F ; A1 = 3A2 .
Es sind die Kräfte in den Seilen zu ermitteln. 2
3
Die Methode der finiten Elemente1 basiert auf der Idee, das zu berechnende Gebilde in eine
(große) Anzahl einfacher (und damit der Berechnung zugängiger) Elemente zu zerlegen und aus
den Elementlösungen unter Berücksichtigung von Kontinuitäts- und Gleichgewichtsbedingun-
gen eine Lösung für das Gesamtsystem zu konstruieren. Diese Bedingungen werden dabei nur
an einer endlichen Zahl von Punkten (so genannten Knoten) formuliert.
Der Vorschlag, physikalische Probleme auf diese Weise zu lösen, wurde erstmals 1943 von dem
Mathematiker R ICHARD C OURANT (1888-1972) gemacht, die Zulässigkeit dieses Vorgehens
wurde mathematisch einwandfrei bewiesen und die Anwendbarkeit in einer Veröffentlichung an
einem Beispiel demonstriert. Der Gedanke wurde jedoch nicht weiter verfolgt, weil vermutlich
die Lösung des sich ergebenden (recht umfangreichen) Gleichungssystems abschreckte.
Auf ganz anderem Wege wurden von verschiedenen Ingenieuren (vorwiegend aus dem Flug-
zeugbau) in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts „Elementlösungen“ zu
„Gesamtlösungen“ zusammengesetzt. Diese eher intuitiv entstandene Methode fand sehr schnell
viele Anwender: Die Methode der finiten Elemente wurde erfolgreich eingesetzt, ohne dass der
mathematische Nachweis für die Richtigkeit des Verfahrens erbracht war.
Erst Ende der sechziger Jahre gelangen die mathematische Absicherung der Finite-Elemente-
Methode und der Nachweis, dass sie mit dem von Courant vorgeschlagenen Verfahren identisch
ist. Anfang der siebziger Jahre erschienen die ersten großen Programmsysteme, deren Einsatz-
möglichkeiten weit über die Aufgabenstellungen der Technischen Mechanik hinausgingen.
Heute ist die Methode der finiten Elemente sicher das am meisten benutzte Verfahren, um na-
turwissenschaftliche und technische Probleme numerisch mit Hilfe des Computers zu lösen. Sie
wird für Festigkeitsuntersuchungen, dynamische Probleme und in der Strömungsmechanik eben-
1 „Ist
es nicht zu früh, die Methode der finiten Elemente schon zum Beginn der Festigkeitslehre zu bringen?“ ist eine
durchaus berechtigte Frage. In der Ingenieurausbildung wird für das Verfahren im Allgemeinen sogar eine speziel-
le Vorlesung nach der Technischen Mechanik reserviert. Die Autoren sind jedoch der festen Überzeugung, dass zu
diesem frühen Zeitpunkt schon alles verfügbar ist, was einen Einstieg in das Verfahren ermöglicht. Und nach dieser
Einführung kann dann bei allen nachfolgenden Themen das Verfahren, das später für fast alle praxisrelevanten Pro-
bleme eingesetzt werden wird, immer „im Hinterkopf präsent sein“. Dem Praktiker, der nachträglich den Einstieg in
dieses wichtige Verfahren sucht, wird damit signalisiert, dass man dafür nicht mehr als die ersten Grundlagen der
Festigkeitslehre benötigt. Und ein recht pragmatischer Grund spricht auch genau für diesen Zeitpunkt: Am Ende des
Kapitels 14 offenbarten die Studenten immer beträchtliche Schwierigkeiten bei der Berechnung der Stabkräfte der
Aufgabe 14.2 („Statik ist ja schon so lange her!“). Da bietet sich die FEM-Einführung im Abschnitt 15.2 mit der
intensiven Wiederholung der Themen Schnittprinzip und Gleichgewicht geradezu an.
so eingesetzt wie in der Thermodynamik, für die Berechnung von Magnetfeldern, in der Gezei-
tentheorie und für die Wettervorhersage.
Man kann sich der Methode der finiten Elemente auf recht unterschiedlichem Wege nähern (siehe
Kapitel 34). Nachfolgend wird sie am Beispiel der Verformungs- und Spannungsberechnung für
Stabwerke aus linear-elastischem Material erläutert. Dies ist der typische „Ingenieur-Einstieg“ .
1 1
Gleichgewicht: U1 +U2 + qe le = 0 . (15.1)
Die Gesamtverschiebung des Knotens 2 ist die Summe aus der Ver-
schiebung des Knotens 1 und der Verlängerung des Elements infol-
ge der Kraft U2 und der Linienlast qe . Letztere wurde im Beispiel
2 des Abschnitts 14.1 für den am oberen Ende eingespannten Stab
berechnet. Das Ergebnis kann direkt von Seite 186 übernommen 2
werden (dort als ∆l2 bezeichnet). Es ist die Aussage zur
2
2
U2 le qe le2
Verformung: u2 = u1 + + . (15.2)
(EA)e 2(EA)e Abbildung 15.1: Einfachstes
Diese beiden Gleichungen lassen sich umschreiben zur finites Element: Gerader Stab
15.2 Fluchtende Stabelemente 197
Element-Steifigkeitsbeziehung:
EA EA 1 EA EA 1
U1 = u1 − u2 − qe le ; U2 = − u1 + u2 − qe le . (15.3)
l e l e 2 l e l e 2
EA EA " # 1
" # − qe le
U1 l e l e u1 2
fe = = − = K e ve − f e,red . (15.4)
EA 1
U2 EA
u2
− qe le
l e l e 2
Mit diesem einfachsten aller Elemente soll nun das einfachste System berechnet werden, das sich
daraus bilden lässt, der aus zwei Elementen a und b bestehende Stab.
Beispiel 1:
Der skizzierte Stab ist an den Punkten I und II durch die
Kräfte FI bzw. FII und zusätzlich durch das Eigengewicht (repräsentiert
durch qa und qb ) belastet und bei III gelagert.
Gegeben: Ea , Aa , la , qa , Eb , Ab , lb , qb , FI , FII .
Berechnet werden sollen die Verschiebungen der Punkte I und II und die
Lagerkraft bei III.
Natürlich ist diese Aufgabe mit elementaren Mitteln der Festigkeitslehre
lösbar, und man kann die Ergebnisse nahezu ohne Rechnung angeben (FIII
muss die Summe aus FI , FII und dem Gesamtgewicht sein, die Verschie-
bung uII entspricht der Längenänderung des Elements b und uI der Summe
der Längenänderungen beider Elemente).
Hier soll jedoch der typische Finite-Elemente-Algorithmus demonstriert werden: Die Punkte I, II
und III werden als Knoten betrachtet, die die äußere Belastung tragen. Auch die Lagerkraft FIII
wird zu den äußeren Kräften gezählt, wie überhaupt alle Knoten zunächst gleichartig behandelt
werden. Die Elemente werden durch Schnitte von den Knoten getrennt. Die Schnitte werden
unendlich dicht neben den Knoten angebracht, so dass diese keine Längenausdehnung haben,
die äußeren Kräfte werden jedoch den Knoten zugeordnet.
Die als Schnittkräfte sichtbar werdenden inneren Kräfte sind nach dem Schnittprinzip der Statik
am Element und am Knoten gleich groß mit entgegengesetztem Richtungssinn anzutragen.
198 15 Der Stab als finites Element
Sie werden an beiden Enden beider Elemente (im Folgenden als Elementkno-
ten bezeichnet und in nebenstehender Schnittskizze als kleine Kreise zu sehen)
entsprechend der in der Abbildung 15.1 gegebenen Definition gleichsinnig
angetragen. Diese Richtung gilt allgemein als positive Kraft- und Verschie-
bungsrichtung. Auch die an den Systemknoten (dicke schwarze Punkte) an-
greifenden äußeren Kräfte und die Knotenverschiebungen werden dann positiv
gezählt, wenn sie in diese Richtung weisen. 1
Es ergeben sich also drei Knoten, für die jeweils das Knotengleich-
gewicht erfüllt sein muss, und zwei Elemente, für die die Element-
Steifigkeitsbeziehungen 15.3 gelten müssen: 1
EA EA 1
U1a = uI − uII − qa la ,
l a l a 2
EA EA 1
U2a = − uI + uII − qa la ,
l a l a 2
EA EA 1
U1b = uII − uIII − qb lb , 2
l b l b 2
EA EA 1
U2b = − uII + uIII − qb lb . 2
l b l b 2
In diesen Element-Steifigkeitsbeziehungen wurden die Kompatibilitätsbedin-
gungen bereits berücksichtigt, indem die Verschiebungen uI , uII und uIII ver-
wendet wurden, so dass die Gleichheit der Verschiebung des Elementknotens
1
2 des Elements a mit der Verschiebung des Elementknotens 1 des Elements
b garantiert ist. Dagegen ist die geometrische Randbedingung (uIII = 0) noch
nicht berücksichtigt.
An den Systemknoten müssen die Element-Knotenkräfte (angetragen mit ent- 1
Alle Belastungen (Kräfte FI , FII und FIII und die reduzierten Elementlasten) werden zum System-
Kraftvektor f, die drei Knotenverschiebungen uI , uII und uIII werden zum System-Verschiebungs-
vektor v zusammengefasst, der Zusammenhang zwischen diesen beiden Vektoren wird dann
durch die System-Steifigkeitsmatrix K beschrieben:
EA
EA
FI + 21 qa la l a − l a 0 uI
EA EA EA EA
1
FII + 2 (qa la + qb lb ) = −
f = −
+ uII = K v .
l a l a l b l b
FIII + 21 qb lb − EA EA
0 l b l b uIII
Die System-Steifigkeitsmatrix K ist (wie die Element-Steifigkeitsmatrizen) symmetrisch (bezüg-
lich der Hauptdiagonalen). Sie ist im Allgemeinen nur spärlich mit von Null verschiedenen Ele-
menten besetzt, hat häufig eine ausgeprägte Bandstruktur (nur in einem schmalen Band rechts
und links von der Hauptdiagonalen sind von Null verschiedene Elemente zu finden), was sich bei
diesem einfachen Beispiel durch die Nullen auf den Positionen k13 und k31 schon andeutet.
In den drei Gleichungen der System-Steifigkeitsbeziehung sind drei Größen unbekannt (die Ver-
schiebungen uI und uII und die Lagerkraft FIII ). Das Gleichungssystem kann nach diesen drei
Größen aufgelöst werden. Um die für die Lösung großer linearer Gleichungssysteme extrem
wichtige Symmetrie der Koeffizientenmatrix zu erhalten, wird folgende Strategie praktiziert:
1.) Die dritte Gleichung (mit der unbekannten Kraft FIII ) wird aus dem Gleichungssystem her-
ausgenommen, gleichzeitig wird die dritte Spalte der Koeffizientenmatrix K entfernt. Dies
ist erlaubt, weil die Verschiebung uIII gleich Null ist (Einarbeitung der bisher unberück-
sichtigten geometrischen Randbedingung). Das verbleibende reduzierte Gleichungssystem
" # " EA
#" #
FI + 12 qa la − EA
l a l a uI
=
FII + 21 (qa la + qb lb ) − EA EA EA
l a l a+ l b uII
hat eine reguläre Koeffizientenmatrix (im Gegensatz zur singulären System-Steifigkeits-
matrix K) und kann nach den unbekannten Verschiebungen aufgelöst werden. Man erhält:
l l 1 l 1
uI = EA a + EA b FI + 2 qa la + EA b FII + 2 (qa la + qb lb ) ;
l 1 l 1
uII = EA b FI + 2 qa la + EA b FII + 2 (qa la + qb lb ) .
Es ist das erwartete Ergebnis (uI ist die Summe der Längenänderungen beider Stabab-
schnitte, uII entspricht der Längenänderung des Elements b).
2.) Die zunächst aus der System-Steifigkeitsbeziehung herausgenommene dritte Gleichung
wird nun bei bekannten Verschiebungen zur Berechnung der noch unbekannten Lagerkraft
FIII verwendet. Mit dem berechneten Wert von uII und uIII = 0 ergibt sich:
FIII + 21 qb lb = − EA
l b uII ⇒ FIII = −FI − FII − qa la − qb lb .
Die besondere Stärke der Finite-Elemente-Methode ist, dass alle an das Ergebnis zu stel-
lenden Forderungen (Berücksichtigung von Materialeigenschaften und Geometrie, Gleichge-
wicht, Kompatibilität, Randbedingungen) durch formale Prozesse mit Matrizen erfüllt werden.
An dem einfachen Beispiel wurden alle wesentlichen Schritte des Finite-Elemente-
Algorithmus sichtbar. Zusammenfassend soll noch einmal auf die Formalisierung des Ablaufs
aufmerksam gemacht werden. Die physikalischen Zusammenhänge in der Struktur werden
durch Einspeichern und Umspeichern der in Matrizen und Vektoren enthaltenen Informatio-
nen berücksichtigt:
ê Die Informationen über die Materialeigenschaften und die Geometrie (Abmessungen der
Elemente) stecken in den Element-Steifigkeitsmatrizen. Diese werden für einen bestimmten
Elementtyp (hier: Stab) nach einem einmal festzulegenden Algorithmus (hier: K e wird durch
Formel 15.4 definiert) aufgebaut.
ê Die Kompatibilität der Verschiebungen der einzelnen Elemente wird über die Knoten er-
reicht, indem die Verschiebungen der Elementknoten durch die Verschiebungen der System-
Knoten ersetzt werden. Die Verschiebungen der Knoten 1 und 2 beider Elemente wurden zu
den Knotenverschiebungen der Knoten I, II und III:
Die rechts mit römischen Zahlen dargestellte so genannte Koinzidenzmatrix beschreibt die
topologische Zusammensetzung der Struktur aus den Elementen.
ê Gleichgewicht zwischen den inneren Kräften und den äußeren Belastungen wird durch das
Einspeichern der Element-Steifigkeitsmatrizen in die System-Steifigkeitsmatrix und das Ein-
speichern der Vektoren der reduzierten Elementlasten und der Knotenkräfte in den System-
Kraftvektor erzielt: In eine Null-Matrix wird zunächst die Element-Steifigkeitsmatrix des
Elements a auf die Positionen gespeichert, die durch die Koinzidenzmatrix vorgegebenen
15.2 Fluchtende Stabelemente 201
werden (betrifft hier die Zeilen bzw. Spalten I und II). Algorithmisch übereinstimmend mit
dem Prozess für die nachfolgenden Elemente ist die Interpretation: Die Matrixelemente wer-
den „zu den Null-Elementen addiert“.
Danach wird die Element-Steifigkeitsmatrix des Elements b eingefügt, indem alle Matrix-
elemente auf die wieder durch die Koinzidenzmatrix bestimmten Positionen (hier: Zei-
len bzw. Spalten II und III) addiert werden. Für das behandelte Beispiel ist die System-
Steifigkeitsmatrix damit komplett:
EA
EA EA
− EA
0 0 0 l a − l a 0 l a l a 0
EA EA EA EA
0 0 0 Ù − EA EA
Ù − l a
0 l a+ l b − l b
l a l a
− EA EA
0 0 0 0 0 0 0 l b l b
Erzeugen der System-Steifigkeitsmatrix durch additives Einspeichern der Element-Steifigkeitsmatrizen
l
" EA
#" # " #
− EA FI + 21 qa la
l a l a uI
=
EA EA EA
FII + 12 (qa la + qb lb )
− l a l a + l b uII
Beispiel 2:
Der nebenstehend skizzierte Stab hat die gleichen Abmes-
sungen und Materialeigenschaften wie im Beispiel 1. Er trägt jedoch nur
eine äußere Kraft FII und ist an den Punkten I und III (statisch unbestimmt)
gelagert (auch das Eigengewicht soll unberücksichtigt bleiben, würde je-
doch die Aufgabe nicht nennenswert komplizierter machen).
Die für das Beispiel 1 aufgebaute System-Steifigkeitsbeziehung kann wie-
der verwendet werden, weil sich die Abmessungen und Materialeigen-
schaften nicht geändert haben. Die beiden geometrischen Randbedingun-
gen
uI = 0 und uIII = 0
werden durch Streichen der ersten und dritten Zeile (Spalte) realisiert, und
das Gleichungssystem degeneriert zu einer einzigen Gleichung:
EA
− EA
l a l a 0 0 FI
− EA EA EA EA
l a l a+ l b − l b uII = FII
− EA EA
0 l b l b
0 FIII
l
h i
EA EA
l a+ l b
uII = FII .
Mit diesem Ergebnis ergeben sich die Kräfte bei I und III (Lagerreaktionen) auch hier aus den
(zunächst gestrichenen) Gleichungen 1 und 3 der System-Steifigkeitsbeziehung:
FII FII
FI = − l
EA ; FIII = − l
EA .
1+ EA a l b 1+ EA b l a
15.3 Ebene Fachwerk-Elemente 203
schiebungen, die durch zwei Komponenten Abbildung 15.2: Verformungsbild eines Fachwerks
beschrieben werden müssen.
An den Knoten, an denen in der Regel mehr als zwei Stäbe zusammenstoßen, wirken natürlich
nicht nur Kräfte in Stablängsrichtung (wie in den Stäben).
Deshalb wird als allgemeines (ebenes) Fachwerk-Element ein
Stab definiert, der eine beliebige Lage in der Ebene einnimmt, 2
zur x-Achse um den Winkel α gedreht ist und an jedem Kno- 2
ten zwei Knotenkräfte Uix und Uiy (i = 1 , 2) übertragen kann 1
(Abbildung 15.3). Die beiden Kraftkomponenten sind natür-
lich nicht unabhängig voneinander, weil ihre Resultierende Ui
in die Stablängsrichtung fallen muss. Es gilt: 1
Entsprechend erhält man durch Multiplikation mit sin α die Knotenkraftkomponente U1y . Da
U2x = −U1x und U2y = −U1y
(Gleichgewicht am Element) gelten muss, sind alle Beziehungen bekannt, die die vier Element-
Knotenkräfte mit den vier Element-Knotenverschiebungen verknüpfen. Sie bilden die
Beispiel:
Für den nebenstehend skizzierten Stabdreischlag
ist der Finite-Elemente-Algorithmus für die Berechnung der 2
Verschiebung des Kraft-Angriffspunkts und die Ermittlung 1 2 2
der Stabkräfte anzugeben. Gegeben sind alle in der Skizze ein-
getragenen Größen (Dehnsteifigkeiten und Längen der Stäbe,
Kraft F und die Winkel β und γ).
1
15.3 Ebene Fachwerk-Elemente 205
Die Stäbe werden als finite Elemente a, b, c aufgefasst, und die Elementknoten 1 und 2 eines
jeden Elements werden den Systemknoten I, II, III und IV zugeordnet. Für jedes Element kann
bei bekanntem Lagewinkel, gegebener Dehnsteifigkeit und Länge die Element-Steifigkeitsmatrix
nach 15.5 aufgeschrieben werden. Dabei ist zu beachten, dass der Winkel α in 15.5 von einer
Parallelen zur x-Achse durch den Elementknoten 1 zum Element gemessen wird, so dass für die
drei Elemente die folgenden Winkel einzusetzen sind:
αa = −β , αb = 0 , αc = γ .
Die System-Steifigkeitsmatrix verknüpft acht äußere Knotenkräfte
(sechs unbekannte Lagerreaktionen an den Festlagern und die äuße-
ren Kräfte in horizontaler und vertikaler Richtung am Knoten IV ) mit
den acht Verschiebungen an den Knoten I, II, III und IV . Es ist al-
so eine 8*8-Matrix, die wie die Element-Steifigkeitsmatrizen in 2*2-
Untermatrizen unterteilt wird (Abbildung 15.5).
Abbildung 15.5: Auch
Die System-Steifigkeitsmatrix wird aus den Element-Steifigkeitsma-
die System-Steifigkeits-
trizen nach dem bekannten Einspeicherungs-Algorithmus (Abschnitt
matrix wird in Blöcke
15.2) aufgebaut. Auf welche Positionen die 2*2-Untermatrizen zu unterteilt. Die gesamte
speichern sind, wird durch die gewählte Zuordnung der Elementkno- erforderliche Information
ten zu den Systemknoten gesteuert. Entsprechend der Nummerierung steckt im rechten oberen
in der Skizze zur Aufgabenstellung gilt dafür nachfolgende Koinzi- Dreieck der Matrix.
denzmatrix:
Element-Knoten System-Knoten Koinzidenzmatrix
Element a : (1 , 2) Ù [ I , IV ] I IV
Element b : (1 , 2) Ù [ II , IV ] Ù II IV
Dies bedeutet zum Beispiel, dass die Untermatrizen (1,1), (1,2) und
(2,2) der Element-Steifigkeitsmatrix des Elements a (siehe Skizze zur
Aufgabenstellung) auf die Positionen (I, I), (I, IV ) und (IV , IV ) der
System-Steifigkeitsmatrix gelangen (nebenstehende Skizze). Nach Auf-
addieren auch der Untermatrizen der Elemente b und c ist die System-
Steifigkeitsmatrix K komplett. Sie definiert den Zusammenhang des
System-Verschiebungsvektors v mit dem System-Kraftvektor f :
k11 k12 k13 k14 k15 k16 k17 k18 0 FIx
k22 k23 k24 k25 k26 k27 k28
0
FIy
k33 k34 k35 k36 k37 k38
0
FIIx
k44 k45 k46 k47 k48 0 FIIy
Kv = = = f . (15.6)
k55 k56 k57 k58 0 FIIIx
k66 k67 k68
0
FIIIy
symm. k77 k78 uIV x 0
k88 uIV y −F
206 15 Der Stab als finites Element
Zur Erinnerung: Der Einspeicherungs-Algorithmus steht für die Erfüllung der Gleichgewichtsbe-
dingungen, wenn in den System-Kraftvektor die äußeren Kräfte mit dem gleichen Richtungssinn
eingefügt werden, der auch für die Elementkräfte gewählt wurde (nach rechts bzw. nach oben).
Deshalb wurde die vertikale Kraftkomponente am Knoten IV mit negativem Vorzeichen in f
eingesetzt.
Die ersten 6 Gleichungen (mit den 6 unbekannten Lagerreaktionen) werden zunächst aus dem
Gleichungssystem herausgenommen. Gleichzeitig werden die ersten 6 Spalten in K gestrichen,
die bei der Multiplikation K v wegen der Nullen auf den ersten 6 Positionen in v (verhinderte
Verschiebungen an den Lagern) ohnehin keinen Beitrag leisten würden (Einarbeiten der geo-
metrischen Randbedingungen durch „Zeilen-Spalten-Streichen“). Es verbleibt das lineare Glei-
chungssystem
k77 k78 uIV x 0
=
k78 k88 uIV y −F
EA 2 EA EA
mit k77 = cos β + + cos2 γ ,
l a l b l c
EA EA
k78 = − sin β cos β + sin γ cos γ , (15.7)
l a l c
EA EA
k88 = sin2 β + sin2 γ ,
l a l c
aus dem die beiden Verschiebungskomponenten des Knotens IV berechnet werden können. An-
schließend lassen sich die 6 Lagerreaktionen bei I, II und III aus den zunächst gestrichenen
Gleichungen ermitteln (einzeln, die Lösung eines weiteren Gleichungssystems ist nicht erforder-
lich), z. B.:
FIx = k17 uIV x + k18 uIV y .
Die Stabkräfte ergeben sich bei nunmehr bekannten Knotenverschiebungen aus den Element-
Steifigkeitsbeziehungen 15.5, die ohnehin für den Aufbau der System-Steifigkeitsmatrix bereit-
gestellt werden mussten. Bei Fachwerken genügt natürlich die Berechnung der Stabkraftkompo-
nenten eines Knotens.
ê Die Berechnung der Knotenverschiebung für das behandelte Beispiel wäre ohne den Finite-
Elemente-Algorithmus (Formulieren der Kompatibilitätsbedingung aus der „Anschauung“)
schwierig und fehleranfällig. Ohne eine Verschiebungsberechnung sind natürlich auch die
Stabkräfte nicht zu ermitteln (statisch unbestimmtes System).
ê Statische Unbestimmtheit erschwert die Finite-Elemente-Rechnung nicht, im Gegenteil: Je
mehr Verschiebungen verhindert sind, desto stärker reduziert sich das Gleichungssystem für
die Verschiebungsberechnung.
ê Die einmal durch die Wahl des Koordinatensystems definierten positiven Richtungen gelten
global: Die vorgegebenen Kräfte und die berechneten Knotenverschiebungen und Knoten-
kräfte sind positiv, wenn ihr Richtungssinn mit den gewählten Koordinatenrichtungen über-
einstimmt.
15.4 Temperaturdehnung, Anfangsdehnung 207
Die Element-Steifigkeitsmatrix und der Vektor der reduzierten Elementlasten infolge der verteil-
ten Belastung qe sind erwartungsgemäß identisch mit denen in Formel 15.4, und Temperatur-
dehnung und Anfangsdehnung ergeben genauso einen Vektor wie die verteilte Belastung qe . Es
ist deshalb naheliegend, alle drei „Elementlasten“ zu einem erweiterten Vektor der reduzierten
Elementlasten zusammenzufassen:
" # " # " #
Fred,1 1 1 −1
f e,red = = qe le + (EA)e (αt ∆T + ε0 )e . (15.9)
Fred,2 2 1 1
Der Finite-Elemente-Algorithmus, wie er in den Abschnitten 15.2 und 15.3 demonstriert wurde,
kann also unverändert bleiben, bei der Erfüllung der Gleichgewichtsbedingungen an den Kno-
ten müssen nur für die Element-Knotenkräfte die durch 15.8 gegebenen erweiterten Ausdrücke
verwendet werden. Der Algorithmus bleibt so formal, wie er beschrieben wurde, und mit Einzel-
kräften (greifen an den Knoten an), Temperatur- und Anfangsdehnungen sowie verteilten Lasten
(Eigengewicht, Fliehkräfte, . . .) wurden am einfachen Beispiel alle praktisch relevanten Belas-
tungen berücksichtigt. Folgende Strategie wird empfohlen:
208 15 Der Stab als finites Element
Auch die anderen an den Knoten i und i + 1 angeschlossenen Elemente können entsprechende
Anteile zu den Knotenlasten liefern. Schließlich gibt es nur noch lastfreie Elemente und Lasten
tragende Knoten.
Diese Regel gilt allgemein. Für das im Abschnitt 15.3 behandelte allgemeine Fachwerk-Element,
dessen Element-Steifigkeitsmatrix durch Gleichung 15.5 gegeben ist, findet man die entspre-
chenden Formeln, indem die durch 15.9 gegebenen Kräfte (wie im Abschnitt 15.3 die Element-
Knotenkräfte) in zwei Komponenten zerlegt werden. Verteilte Lasten qe werden (wie für Fach-
werke üblich) weggelassen, und man erhält den
Vektor der reduzierten Elementlasten infolge Temperatur- und Anfangsdehnungen für das
ebene Fachwerk-Element:
− cos α
Fred,1x
" #
1 − sin α
Fred,1y 1
f e,red =
= qe le
+ (EA)e (αt ∆T + ε0 )e
. (15.10)
Fred,2x 2 1 cos α
Fred,2y sin α
In dieser Formel ist α wieder der Winkel, der von einer Parallelen zur x-Achse durch den Knoten
1 und dem Fachwerk-Stab eingeschlossen wird (vgl. Abschnitt 15.3).
Bei der Berechnung der Stabkräfte (aus den Verschiebungen über die Element-Knotenkräfte)
müssen natürlich die erweiterten Element-Steifigkeitsbeziehungen genutzt werden. Für die fluch-
15.4 Temperaturdehnung, Anfangsdehnung 209
tenden Stabelemente ist das die Gleichung 15.8, die aus der einfachen Element-Steifigkeitsbe-
ziehung 15.4 durch Subtraktion der Zusatzknotenkräfte 15.9 entstand.
u
c2 −c2 −sc
U1x sc 1x Fred,1x
U1y s2 −sc −s2
u1y Fred,1y
fe = = − = K e ve − f e,red (15.11)
u
U2x c2 sc Fred,2x
2x
U2y symm. s 2 u2y Fred,2y
Beispiel:
Das skizzierte (statisch unbestimmte)
Fachwerk ist an den Knoten 2 und 4 durch äußere 2
Kräfte belastet. Stab b wurde unter Zwang einge- 4
2
baut, weil er um ∆b zu lang war. Nach dem Einbau 3
wird Stab a um ∆Ta erwärmt.
Gegeben sind die Dehnsteifigkeiten (EA)i und Län-
gen li für alle Stäbe, der Temperaturausdehnungs-
koeffizient αt des Stabs a und die Werte für ∆b, 1 5
∆Ta , β , γ und F. Es ist der System-Kraftvektor f
für die System-Steifigkeitsbeziehung K v = f anzu-
geben.
Die Technische Mechanik beschäftigt sich ausschließlich mit physikalischen Modellen. Die Ei-
genschaften der real existierenden Bauteile werden zum Teil - wenn für die Untersuchungen
irrelevant - ignoriert (z. B. ihre Farbe) und zu einem großen Teil idealisiert. So betrachtet man in
der Statik z. B. „starre Körper auf idealisierten Lagern unter diskreter Belastung“. Alle Beispiele
und Aufgaben (auch in diesem Buch) sind in diesem Sinne physikalische Modelle. Sie sind ge-
kennzeichnet durch ihre Geometrie, ihre Topologie (welches Bauteil hat mit welchem anderen
Kontakt), die vorgegebene Belastung und Lagerung und ihre Materialeigenschaften. In der Regel
werden diese Modelle (wie die Aufgaben und Beispiele in diesem Buch) durch eine Skizze mit
begleitendem Text beschrieben.
Die Aufgabe der Technischen Mechanik besteht darin, aus einem physikalischen Modell ein
mathematisches Modell zu erzeugen und daraus Lösungen zu gewinnen. Die mathematischen
Modelle können z. B. Gleichungen, Gleichungssysteme, Formeln, Integrale oder Differenzial-
gleichungen sein.
Weil die Empfehlungen für den Umgang mit dem physikalischen bzw. mathematischen Modell
bei Finite-Elemente-Rechnungen etwas anders ausfallen als bei den bisher behandelten Proble-
men, soll hier die Unterscheidung am Beispiel von Systemen, die sich aus elastischen Stäben
zusammensetzen (behandelt in den Abschnitten 15.1 bis 15.4), noch einmal verdeutlicht werden.
Das physikalische Modell Fachwerk wird mit folgenden Informationen definiert:
• Die Geometrie des Systems wird durch die Koordinaten sämtlicher Knoten, bezogen auf ein
beliebiges Koordinatensystem, beschrieben.
• Die Topologie des Systems wird durch eine Koinzidenzmatrix festgelegt, die die Zuordnung
der Knoten aller Elemente zu den Systemknoten enthält. Im Zusammenhang mit der Geo-
metrieinformation sind damit auch wesentliche Element-Abmessungen bekannt.
• In einer Matrix der Element-Informationen werden elementbezogene Parameter (Materialei-
genschaften, Querschnitte, Elementbelastungen wie Temperatur- und Anfangsdehnungen)
zusammengestellt.
• Informationen über die äußeren Knotenlasten beschreiben, welche Knoten durch welche
Kräfte belastet sind.
• Informationen über die geometrischen Randbedingungen legen fest, an welchen Knoten wel-
che Verschiebungen durch Lager verhindert werden.
Aus diesen Informationen wird das mathematische Modell erzeugt:
• Die Abmessungen und Materialeigenschaften eines Elements (hier: Fachwerkstab), die An-
zahl der Elementknoten (hier: 2), die Anzahl der Freiheitsgrade pro Knoten (ebenfalls 2) und
der Zusammenhang zwischen Kräften und Verformungen auf der Basis einer bestimmten
Theorie (hier: Dehnung linear-elastischer Stäbe mit kleinen Verformungen, Theorie 1. Ord-
nung) werden durch die Element-Steifigkeitsbeziehung repräsentiert (z. B. 15.5 und 15.11).
15.5 Physikalische und mathematische Modelle, Nutzung von FEM-Programmen 211
• Ein spezieller Algorithmus ermöglicht die Reduktion von Element-Belastungen (im Ab-
schnitt 15.4: Temperatur- und Anfangsdehnung) auf äußere Knotenlasten. Diese werden mit
den diskreten Lasten an den Knoten zum System-Belastungsvektor zusammengefasst.
• Nach einer sehr einfachen und eleganten Vorschrift werden die Element-Steifigkeitsmatrizen
zur System-Steifigkeitsmatrix zusammengebaut.
• Die (allerdings noch singuläre) System-Steifigkeitsmatrix und der System-Belastungsvektor
definieren die System-Steifigkeitsbeziehung.
• Das Einarbeiten der geometrischen Randbedingungen (verhinderte Verschiebungen, hier
bisher realisiert durch das „Zeilen-Spalten-Streichen“) führt schließlich auf ein lineares
Gleichungssystem mit regulärer Koeffizientenmatrix, dessen Lösung die unbekannten Ver-
schiebungen liefert.
Das mathematische Modell für das physikalische Finite-Elemente-Modell ist bei Problemen der
Elastostatik letztendlich ein (in der Regel sehr großes) lineares Gleichungssystem, dessen Lösung
dem Computer überantwortet werden sollte. Weil aber auch das Erzeugen des Gleichungssystems
im Allgemeinen sehr aufwendig ist, gilt folgende Empfehlung:
Bis auf wenige Ausnahmen sollte bei der Finite-Elemente-Rechnung schon das Erzeugen des
mathematischen Modells (und natürlich danach auch dessen Lösung) von einem Computerpro-
gramm übernommen werden.
An einem ganz kleinen Beispiel, für das man von dieser Regel durchaus noch abweichen kann,
sollen die Unterschiede im Umgang mit den beiden Modellen demonstriert werden.
Stab 1
Beispiel:
Das skizzierte System ist durch eine Kraft F be- 1
lastet. Der Stab 2 soll um die Temperaturdifferenz ∆T er- 1
wärmt werden. Die Verschiebungen des Kraftangriffspunk- Stab 2
tes sind zu berechnen.
2 4
2
Gegeben: EA1 = 5 · 106 N ; a = 320 mm ;
EA2 = 8 · 106 N ; b = 240 mm ; 3
EA3 = 2 · 106 N ; l2 = 450 mm ;
3 Stab 3
αt = 1, 2 · 10− 5 K− 1 ; ∆T = 200 K ;
F = 3000 N . 2
Die Aufgabe hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Beispiel 3 im Abschnitt 14.3 auf Seite 191.
Wegen der fehlenden Symmetrie ist das Beispiel hier jedoch für die analytische Lösung un-
geeignet. Aus der Sicht der Finite-Elemente-Methode ist es jedoch mit dem Beispiel aus dem
Abschnitt 15.3 (Seite 204) weitgehend identisch, weil nur die Belastung erweitert wurde.
Erzeugen und Lösen des mathematischen Modells
Das Erzeugen der 8*8-System-Steifigkeitsmatrix 15.6 braucht hier nicht noch einmal erklärt zu
werden, ebenso wenig die Formeln für die verbleibenden Matrixelemente 15.7 nach der Einar-
beitung der verhinderten Verschiebungen. Im System-Kraftvektor muss auf der Position für die
212 15 Der Stab als finites Element
Horizontalkomponente der Kraft am Knoten 4 der Anteil ergänzt werden, der aus der Erwärmung
des Stabes 2 resultiert. Entsprechend Formel 15.10 ergibt sich:
F4,x = EA2 αt ∆T = 19200 N .
Damit erhält man das mathematische Modell für die Berechnung der Verschiebungskomponenten
des freien Knotens auf der Basis der Formeln 15.7 mit den hier gegebenen Zahlenwerten:
Die Funktion femalg_m liefert natürlich exakt die bereits angegebene Lö-
sung. Diese Art der Lösung bietet sich für Probleme an, bei denen das phy-
sikalische Modell durch einfach zu erzeugende Daten beschrieben werden
kann, bei großen Fachwerken z. B., wenn immer wiederkehrende Felder mit
gleichen Abmessungen aneinandergereiht sind, so dass Koordinaten, Topo-
logie und Steifigkeiten in einer einfachen Programmschleife erzeugt werden
können.
Abbildung 15.8: Interaktive Berechnung eines Fachwerks mit der Methode der finiten Elemente, zu finden
(mit mehreren - auch wesentlich komplizierteren - Beispielen) unter www.TM-interaktiv.de
214 15 Der Stab als finites Element
15.6 Aufgaben
Aufgabe 15.1:
Die Element-
Steifigkeitsmatrizen für die Stäbe 6, 7
und 9 des nebenstehend skizzierten Fach- 1 7 3 2
werks sind aufzustellen und ihr Einspei-
6
chern in die System-Steifigkeitsmatrix 5 3 1
symbolisch anzudeuten, indem die Plätze 8 11
der einzelnen Untermatrizen in der 4 7
9 4
System-Steifigkeitsmatrix gekennzeich- 6
2
net werden. 10
5
Man untersuche, welche Plätze in der
2 2
System-Steifigkeitsmatrix auch dann
nicht besetzt sind, wenn alle Elemente
eingespeichert werden.
Gegeben: F , a , EA (für alle Stäbe gleich groß).
Aufgabe 15.2:
Der skizzierte Stab wurde bei 0◦ C zwischen den
starren Lagern A und C montiert. Man ermittle
/3
1
1
a) die System-Steifigkeitsbeziehung unter Berücksichtigung einer
Temperaturerhöhung um ∆ T = +40◦ C,
b) die Verschiebung des Punktes B durch die Temperaturerhöhung
um ∆ T , 2
2
c) die Kraft am oberen Lager.
Gegeben: A1 = 16 cm2 ; αt = 1, 2 · 10− 5 K− 1 ;
A2 = 4A1 ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
Aufgabe 15.3:
Mit einem geeigneten FEM-Programm (z. B. mit dem Programm „Statisch un-
bestimmte ebene Fachwerke“, zu finden unter www.TM-interaktiv.de) berechne man die Stab-
kräfte des Fachwerks der Aufgabe 15.1 unter Annahme nachfolgender Zahlenwerte.
Gegeben: a = 0, 5 m ; F = 10 kN ; EA = 6, 3 · 107 N .
Weil das Fachwerk statisch unbestimmt ist, kann ein Stab entfernt werden, ohne dass die Tragfä-
higkeit eingebüßt wird.
Weil diese Normalspannungen bei reiner Biegung keine resultierende Kraftwirkung haben dür-
fen, müssen sie in einem Teil des Querschnitts positiv, im anderen Teil negativ sein:
Biegespannungen sind Normalspannungen, die in jedem Querschnitt als Zug- und Druckspan-
nungen vorhanden sind.
Zur Berechnung der Spannungen im Querschnitt (und der Verformung des Trägers) genügen
diese Aussagen jedoch noch nicht. Sie werden durch eine Annahme ergänzt, die erstmals von
JACOB B ERNOULLI (1654 - 1705) formulierte und nach ihm benannte
Am differenziell kleinen Flächenelement dA (Abbildung 16.3) hat die dort angreifende Bie-
gespannung σb die Kraftwirkung σb dA, als Momentwirkung dieser differenziell kleinen Kraft
erhält man um die x-Achse y σb dA und um die y-Achse x σb dA.
ê 1. Äquivalenzbedingung: Die Biegespannung hat keine resultierende Kraftwirkung.
Die differenziell kleinen Kräfte σb dA werden über die Querschnittsfläche integriert:
16.1 Biegemoment und Biegespannung 217
Z Z Z
σb dA = 0 ⇒ c y dA = 0 ⇒ y dA = 0 . (16.1)
A A A
Das sich ergebende Flächenintegral ist das aus der Statik (Formel 4.8 auf Seite 32) bekann-
te statische Moment der Fläche A, das genau dann verschwindet, wenn der Ursprung des
Koordinatensystems im Schwerpunkt der Fläche liegt. Wegen σb = cy gilt also:
In der Schwerpunktfaser (Verbindungslinie der Schwerpunkte aller Querschnitte des Trä-
gers) wirkt keine Biegespannung (neutrale Faser).
Mb Mb
Z Z
y σb dA = Mb ⇒ c y2 dA = Mb ⇒ c= R = . (16.2)
y2 dA Ixx
A A A
Damit ist der Faktor c im Biegespannungsansatz bekannt, und man erhält die
Mb
Biegespannungsformel σb = y (16.3)
Ixx
Z
mit dem Flächenträgheitsmoment Ixx = y2 dA . (16.4)
A
Bei allen bisherigen Betrachtungen war stillschweigend vorausgesetzt worden, dass ein um die
Biegeachse x drehendes Biegemoment Mb nur Verformungen in einer Ebene senkrecht zur x-
Achse hervorruft. Tatsächlich ist dies nur der Fall, wenn die x-Achse eine Hauptzentralachse
218 16 Biegung
der Querschnittsfläche des Trägers ist, anderenfalls muss das Problem nach den Regeln der so
genannten schiefen Biegung (Abschnitt 19.1) gelöst werden.
Die wichtigsten Erkenntnisse aus den bisherigen Betrachtungen zur Biegetheorie werden nach-
folgend noch einmal zusammengestellt:
ê Ein Biegemoment Mb , das um eine Biegeachse x dreht, die eine Hauptzentralachse des Trä-
gerquerschnitts ist, ruft im Querschnitt eine Biegespannung hervor, deren Verteilung über
die Querschnittsfläche nach 16.3 berechnet werden kann. Das nach 16.4 zu berechnende
Flächenträgheitsmoment Ixx ist (wegen des Quadrats bei y) stets positiv.
Die Koordinate y weist vom Schwerpunkt des Querschnitts in Richtung zur Bezugsfaser, mit
der das positive Biegemoment definiert wird. Unter Beachtung dieser Vorschrift liefert 16.3
für jeden Punkt des Querschnitts auch das korrekte Vorzeichen für die Biegespannung. Im
Schwerpunkt der Querschnittsfläche (y = 0) tritt keine Biegespannung auf (neutrale Faser).
ê Die Biegespannung ist in einem Quer-
schnitt in y-Richtung linear veränderlich
und nimmt an den Rändern des Quer-
schnitts (in der Abbildung 16.4 bei y =
e1 bzw. y = −e2 ) die größten Werte an,
2
wobei jeweils ein Wert positiv (Zugspan-
nung), der andere negativ (Druckspan-
nung) ist. Die absolut größte Spannung ei- 1
nes Querschnitts ergibt sich für die Punk-
te mit dem größten Abstand von der Bie-
geachse x (Punkte mit absolut größtem y- Abbildung 16.4: Die Biegespannungen haben am
oberen und unteren Rand des Querschnitts ihre Ma-
Wert y = emax ). Es ist üblich, für einen
ximalwerte
Querschnitt auch den Quotienten aus Ixx
und emax zu ermitteln:
Ixx
Mit dem so genannten Widerstandsmoment Wx = (16.7)
emax
Beispiel:
Für den skizzierten Träger mit 0
Die Gültigkeit der Biegespannungsformel ist an die Erfüllung der Beziehung 16.6 geknüpft.
Ohne Rechnung ist klar, dass
16.1 Biegemoment und Biegespannung 219
Z
x y dA = 0 2 2
A
/2
ist, weil zu jedem Flächenelement dA = dx·dy auf der positiven Ko-
ordinatenseite ein entsprechendes Element auf der negativen Koor-
/2
dinatenseite vorhanden ist (Abbildung 16.5), so dass x und y Haupt-
zentralachsen sind. Diese Aussage gilt natürlich nicht nur für das
Rechteck: Symmetrieachsen sind immer Hauptzentralachsen.
Für die Berechnung von Ixx wird zweckmäßig ein Flächenelement Abbildung 16.5: Sym-
dA = b · dy (Abbildung 16.6) verwendet, so dass aus dem Integral metrieachsen sind immer
über die Fläche ein Integral über die Höhe wird: Hauptzentralachsen
h
Z2
b h3
Z
y2 dA = y2 b dy =
/2
Ixx = .
12
A y=− h2
/2
Das maximale Biegemoment (vgl. Abschnitt 7.2, Beispiel 1 auf Sei-
te 100) befindet sich an der Stelle z1 = 0, 375 l und hat den Wert
9 Abbildung 16.6: Flächen-
Mb,max = q0 l 2 ,
128 element dA = b · dy
16.2 Flächenträgheitsmomente
16.2.1 Definitionen
Zur Berechnung von Biegespannungen und -verformungen werden die im Abschnitt 16.1 einge-
führten Kennwerte für die Querschnittsflächen benötigt, in die die Abstände der Flächenelemente
von einer Achse quadratisch eingehen. Für diese Flächenmomente zweiten Grades (die für die
Schwerpunktberechnung benötigten statischen Momente sind Momente ersten Grades) wird üb-
licherweise der (nicht sehr glücklich gewählte) Begriff Flächenträgheitsmomente verwendet, der
sich wegen der formalen Übereinstimmung der mathematischen Ausdrücke mit den Massenträg-
heitsmomenten der Kinetik durchgesetzt hat.
Ix̄x̄ und Iȳȳ werden auch als äquatoriale Flächenträgheitsmomente bezeichnet, das Deviationsmo-
ment Ix̄ȳ wird auch (in Anlehnung an den Begriff aus der Kinetik) Zentrifugalmoment genannt.
Die Querstriche über den Koordinaten sollen andeuten, dass die Definitionsformeln sich auf ein
beliebiges Koordinatensystem beziehen. Koordinaten ohne Querstriche werden im Folgenden
nur benutzt, wenn sie ihren Ursprung im Schwerpunkt der Fläche haben.
Man beachte, dass das Flächenträgheitsmoment Ix̄x̄ , das sich auf die x̄-Achse bezieht, mit dem
„Hebelarm“ ȳ definiert werden muss und dementsprechend Iȳȳ mit dem „Hebelarm“ x̄ definiert
ist. Die Vorstellung, dass die Flächenelemente an (quadratisch in die Rechnung einfließenden)
„Hebelarmen“ wirken, ist durchaus gerechtfertigt. Die Produkte aus Flächenelementen und die-
sen Hebelarmen kamen (Abschnitt 16.1) über die Momentwirkungen der Spannungen am Flä-
chenelement in die Rechnung hinein.
Aus den Definitionen lassen sich folgende Aussagen ablesen:
ê Die Werte für die axialen Flächenträgheitsmomente und das Deviationsmoment sind sowohl
von der Art der Fläche als auch von dem gewählten Bezugskoordinatensystem abhängig. Sie
haben die Dimension „Länge hoch 4“, z. B.: cm4 .
ê Für Flächen, die aus mehreren Teilflächen zusammengesetzt sind, gilt: Axiale Flächenträg-
heitsmomente, die sich auf gleiche Achsen beziehen (bzw. Deviationsmomente, die sich auf
das gleiche Achsenpaar beziehen), dürfen addiert werden.
ê Ix̄x̄ und Iȳȳ sind für beliebige Flächen und bei beliebigem Koordinatensystem stets positiv.
16.2 Flächenträgheitsmomente 221
ê Ix̄ȳ kann positiv oder negativ werden. Es wird Null, wenn mindestens eine der beiden Koor-
dinatenachsen eine Symmetrieachse der Fläche ist, weil dann zu jedem Flächenelement dA
bei x̄, ȳ ein entsprechendes mit einem negativen Produkt x̄ · ȳ existiert.
Das (recht willkürliche, aber auch nicht weiter störende) Minuszeichen in der Definition des
Deviationsmomentes ist üblich, weil dadurch die Transformationsformeln für die Drehung des
Koordinatensystems (Abschnitt 16.2.5) exakt den gleichen Aufbau haben wie die (im Kapitel 22
behandelten) Formeln für die Transformation der Spannungen des ebenen Spannungszustandes.
Beispiel:
Ein rechtwinkliges Dreieck liegt mit seinen Seiten a und b
auf den Koordinatenachsen. Ix̄x̄ , Iȳȳ und Ix̄ȳ sind zu berechnen.
Gegeben: a , b .
Für die Berechnung der axialen Flächenträgheitsmomente können die Flächenintegrale in einfa-
che Integrale überführt werden, indem jeweils ein streifenförmiges Flächenelement benutzt wird.
Dies ist erlaubt, weil alle Flächenanteile eines solchen Streifens am gleichen „Hebelarm“ x̄ bzw.
ȳ hängen. Dabei wird das linke Streifen-Element (nachfolgende Skizze) für das Flächenträgheits-
moment bezüglich der x̄-Achse benutzt und das in der Mitte skizzierte bezüglich der ȳ-Achse.
Für die Berechnung des Deviationsmomentes muss ein Doppelintegral gelöst werden, weil die
Lage eines jeden Flächenelementes durch ein individuelles Wertepaar x̄, ȳ bestimmt wird.
= 1
=
Zb
a a b3
Z
2
Ix̄x̄ = ȳ dA = ȳ 2 (b − ȳ) d ȳ = ,
b 12
A ȳ = 0
Za
b a3 b
Z
Iȳȳ = x̄ 2 dA = x̄ 2 (a − x̄) d x̄ = ,
a 12
A x̄ = 0
x̄
Za b (1−
Z a)
a2 b2
Z
Ix̄ȳ = − x̄ ȳ dA = − x̄ ȳ d ȳ d x̄ = − .
24
A x̄ = 0 ȳ = 0
222 16 Biegung
Alle nachfolgend angegebenen Formeln beziehen sich auf ein im Schwerpunkt der jeweiligen
Fläche liegendes x-y-Koordinatensystem.
Rechteck:
b h3 b3 h
Ixx = ; Iyy = ; Ixy = 0
12 12
Kreis:
π d4 π r4
Ixx = Iyy = = ; Ixy = 0
64 4
/3 /3
Rechtwinkliges Dreieck:
a b3
Ixx = ;
/3 /3 36
a3 b
Iyy =
36
a2 b2 a2 b2
Ixy = Ixy = −
72 72
Kreissektor:
r4 sin2 α
Ixx = 18α + 9 sin 2α − 32 ;
72 α
r4
Iyy = (2α − sin 2α) ; Ixy = 0
8
Kreisabschnitt:
r4 64 sin6 α
Ixx = 36α − 9 sin 4α − ;
144 α − sin α cos α
r4
2 1
Iyy = α − sin 2α + sin 4α ; Ixy = 0
4 3 12
Man beachte: In den Formeln für den Kreissektor und den Kreisabschnitt ist α der halbe Öff-
nungswinkel. Selbstverständlich müssen dimensionslose Werte für α (Bogenmaß) eingesetzt
werden.
16.2 Flächenträgheitsmomente 223
Das Integral des mittleren Summanden ist das statische Moment bezüglich einer Schwerpunkt-
achse und hat dementsprechend den Wert Null.
Auf gleichem Wege ergeben sich die Formeln für die beiden anderen Trägheitsmomente. Nach
JACOB S TEINER (1796 - 1863) werden diese Umrechnungsformeln bezeichnet als
Steinerscher Satz:
Beispiel:
Man ermittle mit Hilfe der Formeln des Abschnitts 16.2.2
und den Formeln 4.12 bzw. 4.13 des Abschnitts 4.2 die Lage des
Schwerpunkts und die Flächenträgheitsmomente eines Halbkreises
und zeige, dass sich die Formeln für die Flächenträgheitsmomente
der Kreisfläche ergeben, wenn man diese aus zwei Halbkreisflächen
(natürlich unter Berücksichtigung der Steinerschen Anteile) zusam-
mensetzt.
π
Als Sonderfälle des Kreissektors oder des Kreisabschnitts mit halbem Öffnungswinkel α = 2
erhält man die Formeln für den Halbkreis:
9π 2 − 64 4 π r4 4r
Ixx = r ; Iyy = ; Ixy = 0 ; e= . (16.11)
72π 8 3π
Da das Koordinatensystem im Schwerpunkt der vollen Kreisfläche nur in y-Richtung gegen-
über den Schwerpunktsystemen der beiden Halbkreisflächen parallel verschoben ist (also nur ein
Abstand zwischen den x-Achsen vorliegt), muss bei der Ermittlung von Ixx der Steinersche Satz
angewendet werden, während die Iyy der beiden Halbkreisflächen einfach addiert werden können.
Man beachte, dass sich die Koordinaten x und y für den Kreis auf seinen Mittelpunkt beziehen
und nicht mit den Schwerpunktkoordinaten des Halbkreises der obigen Skizze übereinstimmen:
2 " 2 #
2 9π 2 − 64 4 π r2 π r4 π d4
9π − 64 4 2 πr 4r
Ixx, Kreis = 2 r +e =2 r + = = ,
72π 2 72π 3π 2 4 64
π r4 π r4 π d4
Iyy, Kreis = 2 = = .
8 4 64
Für die Berechnung von Aufgaben nach der Biegetheorie werden die Flächenträgheitsmomente
benötigt, die sich auf Achsen durch den Schwerpunkt der Querschnittsfläche beziehen. Wenn sich
die Querschnittsfläche aus mehreren Teilflächen zusammensetzt, muss zuerst der Gesamtschwer-
punkt der Fläche ermittelt werden.
Die axialen Flächenträgheitsmomente sind ein Maß für den Wi-
derstand, den ein Querschnitt der Biegeverformung entgegen-
setzt. Da in die Steinerschen Formeln die Abstände der Flächen
von der Bezugsachse quadratisch eingehen, kann man mit rela-
tiv kleinen Querschnittsflächen große Flächenträgheitsmomente
erreichen, wenn Teilflächen in möglichst großem Abstand von
der Bezugsachse (Achse durch den Schwerpunkt der Gesamt-
fläche) angeordnet werden (vorteilhaft sind Hohlquerschnitte, Abbildung 16.9: -Profil und
-Träger usw., Abbildung 16.9). Kasten-Profil
In die Formeln für die axialen Flächenträgheitsmomente (einschließlich der zugehörigen Steiner-
Formeln) gehen jeweils nur die Abstände in einer Richtung ein (in die Ixx -Formeln z. B. nur die
Abstände in y-Richtung).
16.2 Flächenträgheitsmomente 225
1 2
1
Abbildung 16.10: Wenn b = b1 + b2 ist, gilt für alle drei Querschnitte: Ixx = 12 (BH 3 − bh3 )
Deshalb ergeben sich für unterschiedliche Flächen, die aus gleichen Teilflächen zusammenge-
setzt sind und deren Teilflächenschwerpunkte die gleichen Abstände von der Bezugsachse haben,
die gleichen Werte für die Flächenträgheitsmomente für diese Bezugsachse. Diese Aussage kann
bei Änderungen einer Konstruktion nützlich sein und wird in Tabellenbüchern genutzt, um mit
einer Formel eine ganze Klasse von Querschnitten abzuhandeln. So erhält man z. B. für die drei
Querschnitte in der Abbildung 16.10 unter der Voraussetzung, dass b = b1 + b2 ist, jeweils das
gleiche Ixx . Natürlich haben diese drei Querschnitte unterschiedliche Iyy , weil die Teilflächen zur
y-Achse unterschiedliche Abstände haben.
Die wichtige Aufgabe, die Flächenträgheitsmomente einer Fläche zu bestimmen, die sich aus
mehreren Teilflächen zusammensetzt, für die die Flächenträgheitsmomente bekannt sind, soll
zunächst am einfachen Beispiel demonstriert werden:
Beispiel:
Für die beiden skiz-
zierten Flächen sind Ixx , Iyy und
Ixy zu berechnen, jeweils bezüg- 1,5
4
lich des gezeichneten Schwer-
punktkoordinatensystems.
Gegeben: a .
2
1 2
1 25 2 19
x̄S = 0 ; ȳS = Ai ȳi = 2 3a a + 2a a = a .
Ages i∑
2
=1 5a 2 10
226 16 Biegung
Schließlich ergeben sich die Flächenträgheitsmomente aus der Subtraktion der Anteile von Kreis
und Rechteck, jeweils unter Berücksichtigung der Steiner-Anteile:
Die im Abschnitt 16.1 hergeleitete Biegespannungsformel 16.3 (Seite 217) gilt nur, wenn sich das
Flächenträgheitsmoment Ixx auf eine durch den Schwerpunkt des Querschnitts gehende x-Achse
bezieht und außerdem das Deviationsmoment Ixy für das x-y-Koordinatensystem verschwindet.
Die zweite Bedingung ist immer dann erfüllt, wenn wenigstens eine der beiden Achsen (x oder
y) eine Symmetrieachse des Querschnitts ist. Aber auch für unsymmetrische Querschnitte exis-
tiert ein Achsenpaar, für das das Deviationsmoment verschwindet. In diesem Abschnitt wird das
Problem behandelt, die Richtungen dieser Achsen zu ermitteln.
Zunächst wird untersucht, wie sich die Flächenträgheitsmo-
mente bei einer Drehung des Bezugskoordinatensystems än-
dern. Aus der Abbildung 16.12 können die Transformati-
onsformeln für den Übergang vom x-y-Koordinatensystem
auf ein um den Winkel ϕ gedrehtes ξ -η-Koordinatensystem
abgelesen werden:
ξ = x cos ϕ + y sin ϕ ,
η = −x sin ϕ + y cos ϕ .
Wenn diese Transformationen in die Definitionsformeln für Abbildung 16.12: Drehung des Ko-
die Flächenträgheitsmomente eingesetzt werden, z. B. ordinatensystems
Z Z Z Z
Iξ ξ = η 2 dA = sin2 ϕ x2 dA + cos2 ϕ y2 dA − 2 sin ϕ cos ϕ x y dA = . . . ,
A A A A
so erhält man nach einigen elementaren Umformungen die Formeln für die
Zu besonders wichtigen Aussagen führt die Beantwortung der Frage, für welche Winkel die
Flächenträgheitsmomente Iξ ξ und Iηη extreme Werte annehmen. Die Bedingungsgleichungen
dafür sind:
d Iξ ξ d Iηη
=0 bzw. =0 .
dϕ dϕ
Beide liefern das gleiche Ergebnis:
2 Ixy
tan 2ϕ ∗ = .
Ixx − Iyy
228 16 Biegung
Da der Tangens des Winkels 2ϕ ∗ im Bereich von 0◦ bis 360◦ auf zwei Winkel führt, die sich um
180◦ unterscheiden, erhält man für den einfachen Winkel ϕ ∗ zwei Lösungen, die sich um 90◦
unterscheiden: Die Extremwerte der Flächenträgheitsmomente ergeben sich für zwei aufeinan-
der senkrecht stehende Richtungen. Die Frage, welcher der beiden Winkel zum Maximum und
welcher zum Minimum gehört, wird durch die zweite Ableitung entschieden. Diese Rechnung
führt auf die unten angegebene Formel 16.14.
Durch Einsetzen der Bedingungsgleichung für den Winkel ϕ ∗ in die allgemeinen Transforma-
tionsformeln für die Flächenträgheitsmomente 16.12 ergeben sich die Formeln 16.13 für das
maximale bzw. minimale Flächenträgheitsmoment und eine weitere wichtige Erkenntnis: Das
Deviationsmoment verschwindet für das durch ϕ ∗ definierte Koordinatensystem, diese beiden
Koordinaten sind also auch die Hauptzentralachsen der Fläche.
Alle für die Biegetheorie erforderlichen Kennwerte einer Fläche können errechnet wer-
den, wenn Ixx , Iyy und Ixy für ein beliebiges, im Schwerpunkt der Fläche liegendes x-y-
Koordinatensystem bekannt sind:
Es existiert immer ein gegenüber dem x-y-Koordinatensystem um den Winkel ϕ1 gedrehtes
Koordinatensystem mit den Achsen 1 und 2, für das das Deviationsmoment verschwindet
(1 und 2 sind die Hauptzentralachsen der Fläche). Die Flächenträgheitsmomente bezüglich
dieser Achsen heißen Hauptträgheitsmomente:
r
Ixx + Iyy (Ixx − Iyy )2 2
I1 = + + Ixy ,
2 4 (16.13)
r
Ixx + Iyy (Ixx − Iyy )2 2
I2 = − + Ixy .
2 4
I1 ist das größte und I2 das kleinste aller Flächenträgheitsmomente, die sich bezüglich beliebi-
ger Schwerpunktachsen finden lassen. Die Achsen 1 und 2 stehen senkrecht aufeinander. Der
Winkel ϕ1 zwischen der x-Achse und der Achse 1 des größten Flächenträgheitsmoments
errechnet sich nach: Ixy
tan ϕ1 = . (16.14)
I1 − Iyy
Beispiel:
Für die skizzierte Fläche
ermittle man
2
a) die Hauptträgheitsmomente, 1
b) die Lage der Hauptzentralachsen.
8
1
Der Schwerpunkt der entsprechend 1 2
der Skizze aufgeteilten Fläche wird
bezüglich des x̄-ȳ-Koordinatensystems
ermittelt: 6
1 2a 27 1 2 2a
x̄S = 8 a + 5 a a = 1, 654 a ; ȳS = 8 a 4a + 5a = 2, 654 a .
13a2 2 2 13a2 2
Die beiden Flächenträgheitsmomente Ixx und Iyy , die sich auf das x-y-Koordinatensystem im
Schwerpunkt der Gesamtfläche beziehen, ergeben sich aus jeweils vier Summanden (zwei Recht-
ecke, jeweils unter Berücksichtigung der Steiner-Anteile). Das Deviationsmoment Ixy resultiert
ausschließlich aus den Steiner-Anteilen, da die Rechtecke bezüglich ihres eigenen Schwerpunkt-
Koordinatensystems (Symmetrieachsen) keine Deviationsmomente haben:
a (8a)3 5 a a3 a 2
Ixx = + 8 a2 (4a − ȳS )2 + + 5 a2 ȳS − = 80, 78 a4 ;
12 12 2
2
8 a a3 a 2 a (5 a)3
7
Iyy = + 8 a2 x̄S − + + 5 a2 a − x̄S = 38, 78 a4 ;
12 2 12 2
a 7 a
Ixy = −8 a2 −x̄S + (4 a − ȳS ) − 5 a2 a − x̄S − ȳS = 32, 31 a4 .
2 2 2
Aus diesen Werten errechnen sich die beiden Hauptträgheitsmomente nach 16.13 und der Lage-
winkel für das Hauptachsensystem (vgl. Skizze oben rechts) nach 16.14:
I1 = 98, 31 a4 ; I2 = 21, 24 a4 ;
◦
tan ϕ1 = 0, 5427 ⇒ ϕ1 = 28, 49 .
ê Für eine -förmige Fläche mit gleichen Schenkellängen ist das Hauptachsensystem um 45◦
gegenüber dem x-y-System gedreht. Obwohl man für eine solche Fläche aus der Anschau-
ung sofort die Lage der Hauptachsen kennt (Symmetrie), ist zur Ermittlung von I1 und I2
trotzdem eine Rechnung wie bei dem gerade gelösten Beispiel erforderlich.
230 16 Biegung
Eine in der Praxis sehr häufig vorkommende Aufgabe ist die Ermittlung der Trägheitsmomente
einer Fläche, die sich aus Teilflächen zusammensetzt, deren Schwerpunkte und Trägheitsmomen-
te bekannt sind. Dafür wird folgendes Vorgehen empfohlen:
À Die Fläche wird in geeignete Teilflächen Ai
zerlegt. Dabei ist es oft sinnvoll, aus größe-
ren Teilflächen eine kleinere auszuschneiden
(Abbildung 16.14: 2 Rechtecke mit einem Kreis-
ausschnitt). Ausschnittflächen gehen mit negati-
vem Vorzeichen in die Rechnung ein. 1
à Ausfüllen der schattierten Zellen in folgender Ta- Abbildung 16.14: Eine Fläche wird aus Teil-
belle (vgl. auch www.TM-aktuell.de): flächen und Ausschnitten zusammengesetzt
∑1 ∑2 ∑3 ∑4 ∑5 ∑6
i x̄i − x̄S ȳi − ȳS Ai (x̄i − x̄S )2 Ai (ȳi − ȳS )2 −Ai (x̄i − x̄S )(ȳi − ȳS )
∑7 ∑8 ∑9
Die Ai sind die einzelnen Teilflächen (negativ für Ausschnittflächen), x̄i und
ȳi die Schwerpunktkoordinaten der Teilflächen, bezogen auf das globale Ko-
ordinatensystem. Ixixi , Iyiyi und Ixiyi sind die Flächenträgheitsmomente der
Teilflächen (negativ für Ausschnitte), bezogen jeweils auf das zugehörige lo-
kale Koordinatensystem der Teilfläche.
Ä Nur der schattierte innere Teil der Tabelle hat einen unmittelbaren Bezug zur aktuellen Auf-
gabe („Eingabewerte“ der Rechnung), die Ermittlung der übrigen Werte folgt einem formalen
Algorithmus, der durch die Angaben im Tabellenkopf, die Summenbildung in den angegebe-
nen Spalten und die folgenden Formeln bestimmt wird.
16.2 Flächenträgheitsmomente 231
Å Zunächst muss der obere Teil der Tabelle ergänzt werden, Schwerpunkt-Koordinaten:
um die Schwerpunktkoordinaten der Gesamtfläche, bezo-
∑ ∑
gen auf das globale Koordinatensystem, nach nebenste- x̄S = 5 , ȳS = 6 .
henden Formeln berechnen zu können. ∑1 ∑1
Beispiel 1: 4 6
Für die skizzierte Fläche sind die Hauptträgheitsmo-
mente und die Lage der Hauptzentralachsen zu ermitteln.
3
Hinweis: Die in der Skizze eingetragenen Längen sollen die Di-
mension mm haben. Bei der Tabellenrechnung werden die Maß-
einheiten mm, mm2 , mm3 und mm4 weggelassen. 4
8
Für die in der unteren Skizze angegebene Einteilung der Fläche
3
Mit den nun bekannten Schwerpunktkoordinaten x̄S und ȳS kann auch der zweite Teil der Tabelle
ausgefüllt werden, wobei man nur formal den angegebenen Rechenvorschriften folgen muss:
232 16 Biegung
i x̄i − x̄S ȳi − ȳS Ai (x̄i − x̄S )2 Ai (ȳi − ȳS )2 −Ai (x̄i − x̄S )(ȳi − ȳS )
1 −2, 863 0, 511 360, 7 11, 49 64, 37
2 2, 137 −0, 989 219, 2 46, 96 101, 45
3 −1, 863 −1, 989 −43, 6 −49, 72 46, 57
∑7 = 536, 2 ∑8 = 8, 73 ∑9 = 212, 4
Mit diesen Werten berechnet man die Flächenträgheitsmomente der Gesamtfläche bezüglich des
x-y-Koordinatensystems, das (parallel zu x̄, ȳ) im Schwerpunkt der Gesamtfläche liegt:
Ixx = ∑2 + ∑8 = 695, 8 mm4 ;
Iyy = ∑3 + ∑7 = 726, 3 mm4 ;
Ixy = ∑4 + ∑9 = 212, 4 mm4 .
Damit ergeben sich die Hauptträgheitsmo-
mente (bezüglich der Hauptachsen 1 und 2):
r
Ixx + Iyy (Ixx − Iyy )2 2
I1,2 = ± + Ixy
2 4
⇒ I1 = 924 mm4 ; I2 = 498 mm4 .
Den Winkel zwischen der x-Achse und der
Hauptachse 1 berechnet man folgendermaßen:
Ixy
tan ϕ1 = = 1, 074 ⇒ ϕ1 = 47, 1◦ .
I1 − Iyy
Natürlich bieten sich für die
Auswertung der Tabellen
moderne Tabellenkalkulati-
onsprogramme geradezu an
(Abbildung 16.15, siehe Abbildung 16.15: Auswertung mit einem Tabellen-
kalkulationsprogramm, hier: MS-Excel
auch www.TM-aktuell.de).
Beispiel 2: 3
Für die skizzierte Fläche sind die Koordinaten des
Schwerpunkts, die Hauptträgheitsmomente und die Lage der
Hauptzentralachsen zu berechnen.
Bei der Aufteilung der Fläche in Teilflächen und Festlegung der
10
Bei der Einteilung der Fläche entsprechend Abbildung 16.16 in zwei Rechteckflächen, eine
Dreiecksfläche und eine Halbkreisfläche (als Fehlfläche) sind für die ersten drei Teilflächen die
Koordinaten der Schwerpunkte sofort anzugeben.
Für die Halbkreisfläche, deren Schwerpunkt auf ihrer
8
Symmetrieachse liegt, ist e durch die Formel 16.11 3
gegeben (Sonderfall des Kreissektors bzw. Kreisab- 4 2
1 3
schnitts, vgl. auch Abschnitt 4.2). 4
4
Da die Halbkreisfläche unter einem Winkel von 45◦
gedreht liegt, sind die horizontale und vertikale Kom- 1 4
4
3 4
ponente von e gleich groß: 4
√ √ 1
8a 2 4 2 3 3
eh = ev = = a . = 45 o
3π 2 3π 2
2
2
Aus diesen Komponenten und den gegebenen Koor-
dinaten des Mittelpunktes des Halbkreises ergeben
Abbildung 16.16: Rechteck + Rechteck +
sich die Koordinaten x̄4 und ȳ4 bezüglich des skiz- Dreieck − Halbkreis
zierten Koordinatensystems:
√ ! √ !
4 2 4 2
x̄4 = 4 − a , ȳ4 = 5 − a .
3π 3π
Für das im Halbkreis eingetragene x∗ -y∗ -Koordinatensystem (für diese Teilfläche die Hauptzen-
tralachsen) sind die Flächenträgheitsmomente als Formeln 16.11 im Abschnitt 16.2.3 bereits
bereitgestellt worden (die Drehung des Koordinatensystems um 180◦ ist prinzipiell für die Flä-
chenträgheitsmomente bedeutungslos):
9 π 2 − 64
Ix∗ x∗ = 16 a4 , Iy∗ y∗ = 2 π a4 , Ix∗ y∗ = 0 .
72 π
Die Beziehungen für die Drehung des Bezugskoordinatensystems 16.12 im Abschnitt 16.2.5
transformieren mit ϕ = 45◦ und damit cos 2ϕ = 0 und sin 2ϕ = 1 die Flächenträgheitsmomente
aus dem x∗ -y∗ -System in ein ξ -η-System (hier mit dem x4 -y4 -System identisch):
64 64 64 4
Iξ ξ = Ix4x4 = 2 π − a4 , Iηη = Iy4y4 = 2 π − a4 , Iξ η = Ix4y4 = a .
9π 9π 9π
Der Rest ist wieder formales Einspeichern in die Tabelle und Abarbeiten des 8-Punkte-Algorith-
mus, der am Beginn des Abschnitts 16.2.6 beschrieben wurde. Die komplette Tabellenrechnung
findet man unter www.TM-aktuell.de.
Aber es geht natürlich noch wesentlich bequemer. Neben der Möglichkeit,
ein Tabellenkalkulationsprogramm zu nutzen, ist die Berechnung von Flä-
chenträgheitsmomenten ein geeigneter Kandidat für die Benutzung eines so
genannten „WYSIWYG-Programms“1 , wie man es mit dem Script „Flächen-
trägheitsmomente - Online-Berechnung“ unter www.TM-interaktiv.de findet.
Abbildung 16.17: Besonders komfortabel: Der Benutzer beschreibt die Fläche, und die Software zeichnet
und berechnet alle interessierenden Parameter
Die Abbildung 16.17 zeigt das Ergebnis für das Beispiel 2, das man auf diesem Wege ohne die
auf der Seite 233 angestellten Überlegungen erhält.
Und da ist sie natürlich schon wieder, die Frage: „Und warum muss ich das alles lernen,
wenn es mit der verfügbaren Software so einfach ist?“
Zum ersten Mal wurde diese Frage auf der Seite 46 beantwortet. Alles, was dort zu lesen ist,
gilt auch hier.
Für das Thema „Flächenträgheitsmomente“ kommt noch ein wichtiges Argument hinzu: Die
Biegebeanspruchung von Trägern ist wohl das häufigste (und besonders kritische) Problem
in der Festigkeitslehre. Die Flächenträgheitsmomente bilden die Grundlage für die Beurtei-
lung der Tragfähigkeit, und man sollte unbedingt ein Gefühl dafür entwickeln, wie man ihre
Größe beeinflussen kann. Das gelingt nur durch das Berechnen von möglichst vielen Bei-
spielen, denn die Größe eines Parameters mit der merkwürdigen Dimension cm4 entzieht
sich zunächst ganz sicher der Vorstellungskraft.
Noch viel weniger kann man sich unter dem Deviationsmoment Ixy vorstellen. Zunächst ge-
nügt es, ein Ixy 6= 0 als „Spielverderber“ anzusehen: Es bedeutet, dass die Biegespannungsfor-
mel 16.3 (Seite 217) nicht verwendet werden darf. Deshalb kommt den Hauptzentralachsen
eine besondere Bedeutung zu, und als Test, ob man schon ein „Gefühl“ für das gesamte The-
ma „Flächenträgheitsmomente“ hat, kann empfohlen werden: Vor der Berechnung eines Bei-
spiels (ob „von Hand“ oder mit Software-Unterstützung) sollte man versuchen abzuschätzen,
welche Lage die Hauptzentralachse 1 für diese Fläche haben wird.
16.2 Flächenträgheitsmomente 235
Für Querschnitte, die sich nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht in
Standardquerschnitte zerlegen lassen (diese Zerlegung war Voraus-
setzung für die Beispiele im Abschnitt 16.2.6), liefert in jedem Fall
das nachfolgend beschriebene Verfahren eine Lösung, zumindest ei-
ne ausgezeichnete Näherungslösung. Behandelt wird eine Fläche, 2
deren Außenkontur und (beliebig viele) Innenkonturen (Ausschnit-
te) sich durch Polygonzüge beschreiben lassen (Abbildung 16.18).
1
Zunächst wird ein einzelnes Geradenstück der Außenkontur betrach-
tet (Abbildung 16.19): Die Gerade 1 − 2 schließt mit den Koordi-
Abbildung 16.18: Durch
natenachsen Flächen (Trapeze) ein, die durch Integrale ausgedrückt
Polygonzüge begrenzte
und wie folgt mit Vorzeichen behaftet werden:
Fläche mit Ausschnitt
Zx̄2 Zȳ2
∆ Ax̄ = − ȳ d x̄ , ∆ Aȳ = x̄ d ȳ
x̄1 ȳ1
2
(mit dem ∆ wird angedeutet, dass ein Trapez als Teilfläche betrach- 2
tet wird). Wenn Punkt 2 links von Punkt 1 liegt, kehren sich die
Vorzeichen der Flächen automatisch um. Es ist leicht nachzuvollzie- 1
hen, dass für einen geschlossenen Polygonzug bei Nummerierung 1
der Punkte entgegen dem Uhrzeigersinn die Summe aller (mit den 1 2
∆ Ax̄ oder den ∆ Aȳ gebildeten) Trapezflächen die von dem Polygon
umschlossene Gesamtfläche liefert (sinnvoll für Außenkontur), bei Abbildung 16.19: Ein Ge-
radenstück der Außenkon-
Nummerierung im Uhrzeigersinn wird das Ergebnis negativ (sinn-
tur
voll für Ausschnitte).
Dieses bereits im Abschnitt 4.5.1 für die Berechnung von Flächenschwerpunkten genutzte Ver-
fahren wird nun auf die statischen Momente und Flächenträgheitsmomente erweitert.
Die statischen Momente der Trapeze setzen sich aus den statischen Momenten unendlich vieler
unendlich schmaler Rechtecke zusammen, für das statische Moment bezüglich der x̄-Achse sind
dies z. B. Rechtecke ȳ d x̄ mit dem Schwerpunkt bei 2ȳ :
Zx̄2 2 Zȳ2 2
ȳ x̄
∆ Sx̄ = − d x̄ , ∆ Sȳ = d ȳ .
2 2
x̄1 ȳ1
Bei den axialen Flächenträgheitsmomenten ist zu beachten, dass das unendlich schmale Recht-
eck ȳ d x̄ mit dem Schwerpunkt bei 2ȳ z. B. bezüglich der x̄-Achse einschließlich eines Steiner-
Anteils aufzuschreiben ist:
Zx̄2 3 Zx̄2 3 Zȳ2 3
" 2 #
ȳ d x̄ ȳ ȳ x̄
∆ Ix̄x̄ = − + ȳ d x̄ = − d x̄ , ∆ Iȳȳ = d ȳ .
12 2 3 3
x̄1 x̄1 ȳ1
Dementsprechend ist für das Deviationsmoment für ein unendlich schmales Rechteck nur der
Steiner-Anteil zu beachten, dessen negatives Vorzeichen nach 16.10 für das Trapez unter der
Geraden 1 − 2 das positive Vorzeichen vor dem Integral erzeugt:
236 16 Biegung
Zx̄2 Zx̄2 2
ȳ x̄ ȳ
∆ Ix̄ȳ = − −x̄ ȳ d x̄ = + d x̄ .
2 2
x̄1 x̄1
Zur Auswertung der Integrale wird die Geradengleichung benötigt, als Zwei-Punkte-Gleichung
wahlweise nach x̄ oder ȳ aufgelöst:
x̄2 − x̄1 ȳ2 − ȳ1
x̄ = (ȳ − ȳ1 ) + x̄1 , ȳ = (x̄ − x̄1 ) + ȳ1 .
ȳ2 − ȳ1 x̄2 − x̄1
Die Auswertung der Integrale ist nicht schwierig (aber mühsam). Durch Summation über alle
Geradenstücke, die einen geschlossenen Polygonzug bilden müssen, erhält man die
ê Ein geschlossener Polygonzug aus n Geradenstücken mit n Eckpunkten wird in den For-
meln 16.15 durch n + 1 Punkte dargestellt, indem der Startpunkt als Endpunkt noch einmal
verwendet wird. Dabei sind die Punkte entgegen dem Uhrzeigersinn abzuarbeiten.
ê Innenkonturen (Ausschnitte) sind im Uhrzeigersinn abzuarbeiten. Da bei formaler Anwen-
dung der Formeln auch das Geradenstück zwischen dem letzten Punkt der Außenkontur und
dem ersten Punkt der Innenkontur einen Anteil liefert und damit die Rechnung verfälschen
würde, muss entweder die Innenkontur gesondert behandelt werden, oder man hält sich an
folgende einfache Regel (ein zweimal in unterschiedlichen Richtungen durchlaufendes Ge-
radenstück liefert zwei gleiche Anteile, die sich aufheben):
16.2 Flächenträgheitsmomente 237
Die Außenkontur wird, beginnend mit einem beliebigen Punkt, entgegen dem Uhrzeigersinn
durchlaufen. Vom Endpunkt (gleich Startpunkt) geht man zu einem beliebigen Punkt einer
Innenkontur, die dann im Uhrzeigersinn durchlaufen wird, vom Endpunkt (gleich Startpunkt)
der Innenkontur eventuell zu weiteren Innenkonturen (sämtlich im Uhrzeigersinn zu durch-
laufen). Nach Durchlaufen der letzten Innenkontur geht man über die Verbindungslinien der
einzelnen Konturen bis zum Startpunkt der Außenkontur zurück. Die Summen in den Formeln
16.15 erstrecken sich über alle auf diesem Weg berührten Punkte.
4
Beispiel:
Für die nebenstehend skizzierte Fläche mit einer Außen-
8 (12) 3
kontur mit 6 Punkten und einer Innenkontur (Ausschnitt) mit 4 Punk- 5
ten erstrecken sich die Summen in den Formeln 16.15 über insgesamt 11
9
13 Summanden. Dabei könnten die Knotenkoordinaten z. B. in fol- 2
gender Reihenfolge berücksichtigt werden: 6 10
1 Ù 2 Ù 3 Ù 4 Ù 5 Ù 6 Ù 7 (= 1) Ù 1 (7) (13)
8 Ù 9 Ù 10 Ù 11 Ù 12 (= 8) Ù 13 (= 1)
Für viele krummlinig berandete Flächen, die nicht durch mathematische
Funktionen beschrieben werden können, ist die Annäherung durch Polygone
häufig die einzige Möglichkeit, um die Flächenkennwerte zu ermitteln. Der
nachfolgende Bildschirm-Schnappschuss zeigt die Berechnung der Flächen-
kennwerte für eine Turbinenschaufel, deren Kontur als Polygon mit insgesamt
43 Punkten genähert wurde (siehe www.TM-aktuell.de):
238 16 Biegung
Zur Erinnerung: Die Biegeachse ist die Achse in der Querschnittsfläche, um die das Biegemo-
ment Mb dreht. Sie steht senkrecht auf der Lastebene, in der die Wirkungslinien aller Kräfte
liegen. Nur wenn die Biegeachse x eine Hauptzentralachse der Querschnittsfläche ist, gilt die
einfache Biegespannungsformel
Mb
σb = y .
Ixx
Auf diese wichtige Einschränkung soll mit dem nachfolgenden Beispiel noch einmal aufmerk-
sam gemacht werden.
Beispiel 1:
Ein Träger mit Dreiecksquerschnitt ist einseitig eingespannt und 2
nur durch sein Eigengewicht belastet (in den Skizzen durch die konstante Li-
nienlast angedeutet). Für den nebenstehend skizzierten Querschnitt (gleich-
schenkliges rechtwinkliges Dreieck) sind die Achsen 1 und 2 die Hauptzen- 1
tralachsen (1 ist Symmetrieachse) mit den Hauptträgheitsmomenten
a4 a4
I1 = , I2 = .
24 72
a) In der ersten Einbauvariante wird der Träger um die
Achse des kleinsten Flächenträgheitsmoments gebo-
gen, und in die Biegespannungsformel ist einzusetzen:
a4
Ixx = .
72
b) In der um 90◦ gedrehten Einbauvariante wird der Trä-
ger um die Achse des Hauptträgheitsmoments I1 gebo-
gen, und in die Biegespannungsformel ist einzusetzen:
a4
Ixx = .
24
c) In der letzten Einbauvariante ist die x-Achse, um die
das Biegemoment Mb infolge der Belastung in der Last-
ebene y-z dreht, keine Hauptzentralachse, und es gilt:
a4 a4
Ixx = Iyy = 36 und Ixy = − 72 , (vgl. Abschnitt 16.2.2).
Deshalb darf die einfache Biegespannungsformel
nicht verwendet werden. Die Biegespannungen müs-
sen nach den (im Abschnitt 19.1 behandelten) Regeln
der schiefen Biegung berechnet werden.
Es soll aber schon hier erwähnt werden, dass sich der Träger (im Unterschied zu den Einbauvari-
anten a und b) bei der Einbauvariante c nicht nur in der Belastungsebene verformt, sondern auch
in x-Richtung ausweicht.
16.3 Gültigkeit der Biegespannungsformel, Widerstandsmomente, Beispiele 239
Die absolut größte Biegespannung in einem Querschnitt tritt in dem Punkt auf, der den absolut
größten Abstand emax von der Biegeachse hat. Das als Quotient des zugehörigen Flächenträg-
heitsmoments I und des Abstands emax definierte Widerstandsmoment W kann genutzt werden,
um die absolut größte Biegespannung |σb |max im Querschnitt zu berechnen:
I |Mb |
W= ⇒ |σb |max = .
emax W
Die Biegeachse muss dabei natürlich eine der beiden Hauptzentralachsen des Querschnitts
sein: Widerstandsmomente beziehen sich immer auf Hauptzentralachsen. Im allgemeinen Fall
gehören zu einem Querschnitt also zwei Widerstandsmomente.
2 /3
I2 2a I1 2a
Wx = 1 √ = , Wy = 1 √ = .
3 2 a 48 2 2 a 24
Die Formel für die maximale Biegespannung (mit dem Widerstandsmoment im Nenner) liefert
keine Aussage darüber, ob diese Spannung eine Druck- oder Zugspannung ist. Wenn diese Infor-
mation benötigt wird (und man der durch Anschauung eigentlich immer zu gewinnenden Aus-
sage nicht traut), muss mit der allgemeinen Biegespannungsformel 16.3 (mit dem Flächenträg-
heitsmoment im Nenner) gearbeitet werden. Diese liefert bei Einhaltung der Konventionen über
die Koordinaten und die Definition positiver Biegemomente für jeden Punkt des Querschnitts die
Biegespannung mit dem richtigen Vorzeichen.
Für Querschnitte, die zur Biegeachse symmetrisch sind, ist diese Überlegung meist schon des-
halb belanglos, weil die maximale Biegespannung an einem Rand des Querschnitts als Druck-
spannung und in gleicher Größe am gegenüberliegenden Rand als Zugspannung auftritt.
Dies gilt z. B. für das Rechteck und den Kreis. Aus den Formeln für die Flächenträgheitsmomente
(Abschnitt 16.2.2) errechnet man die
Das Widerstandsmoment W einer Querschnittsfläche ist ein Maß für die Festigkeit des Quer-
schnitts gegenüber einer Biegebelastung, das Flächenträgheitsmoment ist ein Maß für die Stei-
figkeit (gegen Verformung). Widerstandsmomente haben die Dimension "Länge hoch 3", z. B.:
cm3 . Weil sie als Quotient und nur für die Biegung um Hauptzentralachsen definiert sind, gilt
bei Querschnittsflächen, die sich aus mehreren Teilflächen zusammensetzen, gegenüber den Flä-
chenträgheitsmomenten folgender wichtiger Unterschied:
240 16 Biegung
Beispiel 2:
Es ist das Widerstandsmoment der skizzierten Kreis-
ringfläche zu ermitteln.
Weil Widerstandsmomente nicht addiert bzw. subtrahiert werden dür-
fen, wird zuerst das Flächenträgheitsmoment als Differenz
π D4 π d 4 π (D4 − d 4 )
I = − =
64 64 64
berechnet, um dann das Widerstandsmoment zu ermitteln:
I π (D4 − d 4 )
W = D = .
2
32 D
Man überzeugt sich leicht, dass die Differenz der beiden Widerstandsmomente des äußeren und
inneren Kreises mit den Formeln 16.18 zu einem anderen (falschen!) Ergebnis führen würde.
Da für die Dimensionierung auf Festigkeit die maximale Spannung maßgebend ist, muss für
jeden Querschnitt eines Biegeträgers die Beziehung
|Mb |
|σb |max = ≤ σzul (16.19)
W
erfüllt sein. Bei Biegeträgern mit konstantem Querschnitt bestimmt das maximale Biegemo-
ment den gefährdeten Querschnitt, für den dann zweckmäßig zunächst das erforderliche Wi-
derstandsmoment nach
|Mb |max
Wer f = (16.20)
σzul
ermittelt wird, um danach die erforderlichen Querschnittsabmessungen festzulegen.
Für Materialien mit unterschiedlichen ertragbaren Spannungen im Zug- und Druckbereich sind
natürlich dann, wenn der Querschnitt nicht symmetrisch zur Biegeachse ist, gesonderte Betrach-
tungen für die gezogene bzw. die gedrückte Faser des Biegeträgers anzustellen.
Beispiel 3:
Ein Biegeträger ist aus einem
Flachstahl mit Rechteckquerschnitt (Breite Flachstahl
100mm x 10mm
100 mm, Höhe 10 mm) und einem Normpro-
fil 50 (DIN EN 10055, früher: DIN 1024,
Querschnittswerte siehe Abbildung 16.20) Normprofil
zusammengeschweißt. Es ist das für den skiz- 50
zierten Belastungsfall maßgebliche Wider-
standsmoment zu ermitteln.
Der Schwerpunkt der zusammengesetzten Fläche liegt auf der Sym-
metrielinie. Seine Lage in vertikaler Richtung wird im gewählten x̄-ȳ-
Koordinatensystem (nebenstehende Skizze) aufgeschrieben:
16.3 Gültigkeit der Biegespannungsformel, Widerstandsmomente, Beispiele 241
b h A ex Ixx Wx Iyy Wy
mm mm cm2 cm cm4 cm3 cm4 cm3
50 50 5,66 1,39 12,1 3,36 6,06 2,42
1
ȳS = (1000 · 5 − 566 · 13, 9) mm = −1, 831 mm .
1000 + 566
Da bei dem skizzierten Lastfall die x-Achse (Schwerpunkt-Achse der Gesamtfläche) die Biege-
achse ist, muss vor der Ermittlung des Widerstandsmoments das Flächenträgheitsmoment Ixx der
Gesamtfläche berechnet werden:
100 · 103
Ixx = + 1000 · (5 + 1, 831) + 121000 + 566 · (−13, 9 + 1, 831) mm4 = 25, 84 cm4 .
2 2
12
Den größten Abstand zum Schwerpunkt hat die untere Randfaser. Mit
emax = h − |ȳs | = (5 − 0, 1831) cm = 4, 8169 cm
ergibt sich das Widerstandsmoment:
Ixx
Wx = = 5, 37 cm3 .
emax
Beispiel 4:
Ein Träger mit Quadratquerschnitt bei linear
veränderlicher Kantenlänge ist nur durch eine Kraft F be-
lastet. Man ermittle in Abhängigkeit von F, l und a0 Ort
1
0
dσb a1 − a0 a1 − a0
=0 ⇒ a0 + z̄ − 3 z̄ = 0
dz l l
erhält man den Ort des relativen Extremwerts der Spannungsfunktion:
a0 l l
z̄ = = .
2(a1 − a0 ) 2( aa10 − 1)
Bei der Auswertung ist zu beachten, dass die Spannungsfunktion für beliebige z definiert ist, aber
für die Aufgabe nur Lösungen im Bereich 0 ≤ z ≤ l gesucht sind.
a1 l l 8Fl
a) =2 ⇒ z̄ = ⇒ σb, max = σb = .
a0 2 2 9 a30
b) Formal ergibt sich mit a1 5
= 1, 25 = ⇒ z̄ = 2 l
a0 4
ein Wert für den Ort des relativen Extremwerts, der außerhalb des interessierenden Bereichs
liegt, also muss der maximale Wert an einer Bereichsgrenze liegen. Da bei z = 0 das Biege-
moment (und damit die Spannung) Null ist, liegt der Extremwert bei z = l:
384 F l
σb, max = σb (l) = .
125 a30
c) Für den konstanten Querschnitt versagt die Formel für z̄ (eine lineare Funktion hat keinen
relativen Extremwert). Auch hier ergibt sich die maximale Spannung bei z = l:
6F l
σb, max = σb (l) = .
a30
Beispiel 5:
Ein an den Enden gestützter Träger
mit konstantem Querschnitt ist nur durch sein Ei-
gengewicht belastet. Welche Länge l darf er ma-
ximal haben, ohne dass die zulässige Spannung
σzul = 240 N/mm2 überschritten wird bei 1 2 3
a) einem Träger 200 nach DIN EN 10024 (frü-
her: DIN 1025-1, Querschnittswerte siehe Ab-
bildung 16.21) in der Einbauvariante À,
b) dem gleichen Träger in der Einbauvariante Á,
c) einem Rundstab  aus dem gleichen Material
und gleicher Masse pro Länge?
d) Wie lang können die Träger in den Fällen a, b und c sein, wenn sie nicht an den Enden,
sondern im günstigsten Abstand a von den Enden symmetrisch gelagert werden?
Die konstante Linienlast wird aus dem Gewicht pro Länge ermittelt:
kg m N
q0 = 26, 2 · 9, 81 2 = 257 .
m s m
16.3 Gültigkeit der Biegespannungsformel, Widerstandsmomente, Beispiele 243
b h A G Ixx Wx Iyy Wy
mm mm cm2 kg/m cm4 cm3 cm4 cm3
90 200 33,4 26,2 2140 214 117 26,0
Die Lager nehmen jeweils die halbe Gewichtskraft auf, das größte Biegemoment wirkt in Trä-
germitte:
1 l l l 1
Mb, max = q0 l − q0 = q0 l 2 .
2 2 24 8
Bei konstantem Querschnitt ergibt sich dort auch die größte Spannung, und es muss gelten:
1 2
Mb, max = q0 l = σzul W .
8
Dies wird nach l umgestellt. Mit der zulässigen Spannung erhält man die maximal mögliche
Stützweite:
s
8 σzul W
lmax = .
q0
Bei der Einbauvariante À ist die x-Achse die Biegeachse, bei der Einbauvariante Á ist es die
y-Achse. Die Widerstandsmomente Wx bzw. Wy können aus der Abbildung 16.21 entnommen
werden:
s
N 3
8 · 240 mm 2 · 214000 mm
a) lmax,À = N
= 39, 98 m .
0, 257 mm
b) lmax,Á = 13, 94 m .
c) Ein Rundstab aus gleichem Material bei gleicher Masse pro Länge muss die gleiche Quer-
schnittsfläche wie der Träger 200 haben. Damit ist sein Durchmesser bekannt:
π d2
AKreis = = 33, 4 cm2 ⇒ d = 6, 521 cm .
4
Das Widerstandsmoment errechnet sich nach 16.18, und man erhält die Stützweite:
s s
8 σzul π d 3 240 · π · 65, 213
lmax, = = mm = 14, 26 m .
q0 · 32 0, 257 · 4
Die drei Ergebnisse verdeutlichen den erheblichen Einfluss des Widerstandsmoments einer Quer-
schnittsfläche. Obwohl die Querschnittsflächen gleich sind (gleiches Gesamt-Gewicht der Kon-
struktionen), weichen die möglichen Stützlängen erheblich voneinander ab.
244 16 Biegung
Der Betrag des Biegemoments am Lager verringert sich mit kleiner werdendem a, der Betrag
des Biegemoments in der Trägermitte wird dabei größer. Der günstigste Fall tritt also bei
gleichen Beträgen der beiden Biegemomente ein. Damit ist die Bestimmungsgleichung für
diesen Fall gegeben. Aus der Forderung
1 l 1
q0 l − ā = q0 ā2
2 4 2
resultiert eine quadratische Gleichung für die Berechnung der optimalen Lagerstellung ā:
√
2 l2 l 2
ā + l ā − = 0 ⇒ ā1, 2 = − ± l .
4 2 2
Nur eine der beiden Lösungen ist sinnvoll. Aus
√ l
ā = ( 2 − 1) = 0, 2071 l
2
errechnet sich der Betrag des größten Biegemoments, das an den Lagern und in der Träger-
mitte auftritt: √
1 2 3−2 2 2
|Mb |max = q0 ā = q0 l .
2 8
Wird dieses Moment in die Formel zur Ermittlung der Stützlängen lmax für die Einbauvarian-
ten À, Á und  eingesetzt, so ergeben sich folgende Stützlängen:
a) l¯max,À = 96, 5 m ; b) l¯max,Á = 33, 7 m ; c) l¯max, = 34, 4 m .
Die errechneten Längen sind für den Fall d deutlich größer als bei Lagerung an den Trägeren-
den: Durch eine optimale Lagerung kann die Beanspruchung des Materials erheblich verringert
werden.
16.3 Gültigkeit der Biegespannungsformel, Widerstandsmomente, Beispiele 245
Beispiel 6: 2 2
Ein Träger 400 mit einem Widerstands-
moment Wx = 1460 cm3 wird durch die Last F, die über
die beiden Räder einer Laufkatze übertragen wird, belas-
tet.
Gegeben: l = 10m ; a = 0, 8m .
Für die ungünstigste Stellung der Laufkatze soll die
maximal zulässige Last F berechnet werden, wenn die 2 2
Spannung σzul = 160 N/mm2 nicht überschritten werden
1 2
darf.
Da der Träger nur durch Einzelkräfte belastet ist, ergibt sich ein stückweise linearer Biegemo-
mentenverlauf mit jeweils einem Knick unter den Kräften F2 . Damit kann das größte Biegemo-
ment nur an einer dieser beiden Stellen auftreten. Seine Größe ist von der Stellung der Laufkatze
abhängig. Zur Ermittlung der ungünstigsten Laststellung werden die Lagerkräfte und die Biege-
momente an den Stellen À und Á in Abhängigkeit von z̄ ermittelt. Die Ergebnisse sind:
F F
FAV = (2 l − 2 z̄ − a) ; FB = (2 z̄ + a) ;
2l 2l
F
Mb, À = FAV z̄ = (2 l z̄ − 2 z̄2 − a z̄) ;
2l
F
Mb, Á = FB (l − z̄ − a) = (2 l z̄ + a l − 2 z̄2 − 3 a z̄ − a2 ) .
2l
Eine Extremwertbetrachtung für die beiden Funktionen Mb, À und Mb, Á liefert:
l a
Mb, À wird maximal für 2 l − 4 z̄ − a = 0 ⇒ z̄1 = − ;
2 4
l 3a
Mb, Á wird maximal für 2 l − 4 z̄ − 3 a = 0 ⇒ z̄2 = − .
2 4
Die Abbildung 16.23 zeigt die berechneten Laststellun-
gen, bei denen das eine bzw. andere Moment am größten 4
wird. Durch Einsetzen der Werte z̄1 in Mb, À bzw. z̄2 in
Mb, Á werden diese Maximalwerte berechnet. Sie sind er-
1
wartungsgemäß gleich groß (symmetrisches Problem): 2
F l 2 a l a2
3
Mb, max,À = Mb, max,Á = − + . 4
2l 2 2 8
Die gesuchte maximal zulässige Kraft F wird aus der Be-
dingung 2
N 3 3
2 σzul Wx 2 · 160 mm 2 · 1460 · 10 mm
Fmax = 2 = 2 = 101 kN .
l
2 − a2 + a8 l (5 − 0, 4 + 0,8 3
80 ) · 10 mm
246 16 Biegung
16.4 Aufgaben
Aufgabe 16.1:
Ein Biegeträger mit Kreisquerschnitt
wird durch eine Einzelkraft F belastet.
/2 /2
Gegeben: l = 3m ; F = 10 kN .
a) Man ermittle den erforderlichen Durchmesser der f , so dass eine zulässige Spannung σzul =
150 N/mm2 nicht überschritten wird.
b) Welche prozentuale Materialeinsparung ergibt sich beim Ersetzen des Kreisquerschnitts durch
einen Kreisringquerschnitt mit Dd = 0, 8 (Innendurchmesser/Außendurchmesser)?
Aufgabe 16.2:
Für den Biegeträger mit Quadratquer-
schnitt wähle man die Kantenabmessung so, dass bei Be-
lastung durch die Kraft F die zulässige Spannung σzul nicht
überschritten wird. Anschließend ermittle man die tatsäch- /2 /2
lich vorhandene Maximalspannung, wenn zusätzlich das
Eigengewicht des Trägers (Dichte ρ) berücksichtigt wird.
Gegeben: l = 1m ; F = 1 kN ; σzul = 200 N/mm2 ; ρ = 7, 85 g/cm3 .
Aufgabe 16.3:
Ein so genannter Träger gleicher Fes-
tigkeit ist so dimensioniert, dass in jedem Querschnitt
die gleiche maximale Spannung σmax auftritt. Ein Krag-
träger mit Rechteckquerschnitt (konstante Breite b) soll
durch eine veränderliche Höhe h(z) zum Träger gleicher
Biegefestigkeit werden.
Gegeben: F , b , σmax . Gesucht: h(z) .
Aufgabe 16.4:
Aus einem kreisrunden Baumstamm mit dem Durchmesser D ist ein Balken
mit einem Rechteckquerschnitt h · b so auszuschneiden, dass dieser ein möglichst großes Wider-
standsmoment hat. Man ermittle h und b in Abhängigkeit von D.
Aufgabe 16.5:
Für den skizzierten Biege-
träger ermittle man 5
a) Ort und Größe des absolut größten Bie-
gemoments |Mb |max , 3
2
b) die erforderliche Breite b für einen
Rechteckquerschnitt mit h = 2 b.
Gegeben: a = 20 cm ; F = 60 N ; σzul = 160 N/mm2 .
16.4 Aufgaben 247
Aufgabe 16.6:
Für den skizzierten Rahmen berech-
ne man
3
a) die Kantenlänge a des Quadrat-Querschnitts 1−1,
b) den maximal zulässigen Durchmesser d der Boh-
1 1
rung im Schnitt 2 − 2 bei gegebener Kantenlänge
3
des Quadrat-Querschnitts b,
2 2
so dass die zulässige Spannung σb, zul nicht überschrit-
ten wird.
2
Gegeben: σb, zul = 240 N/mm2 ; c = 32 mm ; 2 2
F = 160 N ; b = 10 mm .
2 2
Aufgabe 16.7:
Für den skizzierten Rahmen be-
rechne man
a) den Ort und die Größe des absolut größten
2
Biegemoments |Mb |max , 3
b) die maximale Biegespannung im Schnitt c − c,
4
wenn der Träger dort den skizzierten kreuzför-
migen Querschnitt hat.
Gegeben: F = 1000 N ; a = 87 cm ; b = 3 cm .
Aufgabe 16.8:
Der skizzierte Träger ist
aus zwei Normprofilen ∪50 nach DIN 4 3
1026 (Querschnittswerte siehe Abbildung
16.24) zusammengeschweißt. 2 3 3
Gegeben: F = 1, 5 kN ; a = 200 mm .
Man ermittle
a) den Ort und die Größe des maximalen Biegemoments,
b) die maximale Biegespannung für die skizzierte Einbauvariante der Normprofile.
c) Wäre eine um 90◦ gedrehte Einbauvariante der zusammengeschweißten Normprofile für die
Größe der entstehenden maximalen Biegespannungen günstiger?
b h A G e Ixx Wx Iyy Wy
mm mm cm2 kg/m cm cm4 cm3 cm4 cm3
38 50 7,12 5,59 1,37 26,4 10,6 9,12 3,75
Aufgabe 16.9:
1 2
4
2
4
5
2 5
Für den skizzierten Biegeträger berechne man
a) den Ort und die Größe des absolut größten Biegemoments |Mb |max ,
b) für eine gegebene zulässige Spannung σzul die erforderlichen Querschnittsabmessungen aer f , À
und aer f , Á für die beiden Einbauvarianten À und Á.
Gegeben: F = 250 N ; b = 6 cm ; σzul = 120 N/mm2 .
Das ist Ihnen hoffentlich aufgefallen, lieber Leser: Von den 8 Seiten des Abschnitts 16.3 wur-
den mehr als 6 Seiten für die Beispiele verwendet, und im Abschnitt 16.4 gab es deutlich mehr
Übungsaufgaben als in den vorangegangenen Kapiteln. Das hat im Wesentlichen drei Gründe:
• Die Biegebeanspruchung ist ein ganz besonders wichtiges Thema der Festigkeitslehre,
weil in der Regel durch die Biegemomente sehr große Spannungen hervorgerufen werden.
Deshalb beschäftigen sich auch die drei folgenden Kapitel noch mit diesem Thema.
• Der in diesem Kapitel behandelte Stoff ist ein besonders typisches (tückisches) Beispiel
für die Aussage: „In keinem anderen Fach wird man von der Vorstellung, etwas verstan-
den zu haben, so ge- und enttäuscht wie in der Technischen Mechanik, wenn man die
recht einfach erscheinende Theorie auf praktische Probleme anwendet.“
• Im Abschnitt 16.3 wird deutlich, dass man verloren ist, wenn man den Stoff vorangegan-
gener Kapitel nicht beherrscht: Die Themen „Lagerreaktionen“ und „Schnittgrößen“ (die
Themen, die in der Statik erfahrungsgemäß Schwierigkeiten machen) und „Flächenträg-
heitsmomente“ sind unabdingbare Voraussetzungen für die Biegespannungsberechnung.
Immer wieder „Sigma gleich M durch W“, und doch ist jede Aufgabe anders! Und wenn
Sie sich, lieber Leser, gerade auf eine Klausur vorbereiten, in der auch das Thema Biegung
ansteht, dann können Sie darauf vertrauen, dass demjenigen, der die Klausur stellt, auch wie-
der etwas Neues eingefallen ist. Da hilft weder das Lernen von Formeln noch das Einpauken
eines Algorithmus. Üben und Aufgaben rechnen (und das immer wieder) ist die einzige emp-
fehlenswerte Strategie. Die vier letzten Aufgaben des Abschnitts 16.4 stammen übrigens aus
Klausuren, die die Autoren dieses Buchs ihren Studenten zugemutet haben.
Es gibt aber auch eine angenehme Aussage: Wenn man den im Kapitel 16 behandelten Stoff
nicht nur verstanden, sondern auch auf wirklich unterschiedliche Probleme erfolgreich ange-
wendet hat, kann man ein positives Fazit der bisherigen Beschäftigung mit der Technischen
Mechanik ziehen und darf an die vielen noch folgenden (und ganz gewiss nicht leichteren)
Themen recht optimistisch herangehen.
17 Verformungen durch Biegemomente
Eine beliebige Längsfaser im Abstand y vom Schwerpunkt verlängert sich um den Betrag
(|ρ| + y) dϕ − dz = |ρ| dϕ + y dϕ − dz = y dϕ
und dehnt sich also um
y dϕ y dϕ y
ε= = = .
dz |ρ| dϕ |ρ|
Aus der Dehnung kann mit dem Hookeschen Gesetz (σb = Eε) auf die Spannung in dieser Faser
geschlossen werden, die sich andererseits auch nach der Biegespannungsformel 16.3 (Seite 217)
aus dem Biegemoment errechnen lässt:
|Mb | y
σb = y = Eε = E .
I |ρ|
Die Querschnittskoordinate y hebt sich aus dieser Beziehung heraus, und es ergibt sich der Zu-
sammenhang zwischen Biegemoment und Verformung:
1
|Mb | = EI .
|ρ|
1
|ρ| ist der Betrag der Krümmung einer Kurve:
Die Krümmung der Schwerpunktfaser ist dem Biegemoment proportional. Der Proportionali-
tätsfaktor EI (Produkt aus Elastizitätsmodul und Flächenträgheitsmoment bezüglich der Bie-
geachse) wird als Biegesteifigkeit bezeichnet.
ê Es wird vereinbart: Als Kurve des durch ein Biegemoment unverformter Träger
verformten Trägers wird die verformte neutrale Faser (Bie-
gelinie) angesehen, deren Verschiebung gegenüber der un-
verformten Lage mit einer Koordinate v (positiv in glei-
cher Richtung wie die Querschnittskoordinate y) gemes- verformter Träger
sen wird (Abbildung 17.2). Abbildung 17.2: Biegelinie v(z)
Der mathematische Zusammenhang zwischen der Funktion v(z) und der (vorzeichenbehafteten)
Krümmung der zugehörigen Kurve ist durch
1 v 00
= 3 (17.1)
ρ [1 + (v 0 )2 ] 2
gegeben (siehe „Mathematik für die Technische Mechanik“ unter www.TM-
aktuell.de). Das Vorzeichen der Krümmung wird durch die 2. Ableitung (Än-
derung des Anstiegs) der Verschiebung v bestimmt.
Die Biegelinie 2. Ordnung 17.3 ist eine lineare inhomogene gewöhnliche Differenzialgleichung
2. Ordnung, in der der Koeffizient von v 00 (Biegesteifigkeit) und die rechte Seite (Biegemoment)
von der Koordinate z abhängig sein können.
Zweimaliges Differenzieren von 17.3 führt auf
(EIv 00 )00 = −Mb 00 ,
und mit den aus der Statik (Abschnitt 7.2, Seite 99) bekannten Differenzialbeziehungen 7.1 für
die Schnittgrößen
Mb 0 = FQ , FQ 0 = −q bzw. Mb 00 = FQ 0 = −q
(q ist eine auf den Träger wirkende Linienlast) erhält man (für kleine Verformungen) die
v(z = l) = 0 , v 0 (z = l) = 0
zur Verfügung (eine Einspannung lässt keine Absenkung zu und erzwingt eine horizontale Tan-
gente), mit denen bei Verwendung der Differenzialgleichung der Biegelinie 2. Ordnung die bei-
den Integrationskonstanten ermittelt werden können.
Dem Nachteil, bei Verwendung der Differenzialgleichung der Biegelinie 2. Ordnung vorab den
Biegemomentenverlauf ermitteln zu müssen, steht bei Verwendung der Differenzialgleichung der
Biegelinie 4. Ordnung der Nachteil gegenüber, mehr (und vielfach kompliziertere) Randbedin-
gungen zu benötigen. Zwar könnte bei dem folgenden Beispiel 1 der Integrationsprozess mit der
besonders einfachen Differenzialgleichung
EIv 0000 = 0 (keine Linienlast!) bzw. v 0000 = 0
Beispiel 1:
Ein Kragträger mit konstanter Biegesteifigkeit EI
(Quadratquerschnitt mit der Kantenlänge a) ist am linken Rand
durch die Kraft F belastet. Man berechne
a) die Biegelinie v(z),
b) die Absenkung des Lastangriffspunktes.
Gegeben: l = 1 m ; F = 500 N ; a = 4 cm ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
Aus den beiden Randbedingungen ergeben sich die Bestimmungsgleichungen für die Inte-
grationskonstanten C1 und C2 :
1 3
v (z = l) = 0 ⇒ 6 Fl +C1 l +C2 =0 ,
v 0 (z = l) = 0 ⇒ 1 2
2 Fl +C1 = 0 .
17.2 Integration der Differenzialgleichung 253
Beispiel 2:
Ein 40 m langer Stahlträger mit dem 0
Normprofil 200 nach DIN EN 10024 (früher: DIN
1025-1) ist an beiden Enden gelenkig gelagert und
nur durch sein Eigengewicht belastet. Die erfor-
derlichen Parameter sind der Abbildung 16.21 auf
Seite 243 (Biegung um die x-Achse) zu entnehmen
(Elastizitätsmodul: E = 2, 1 · 105 N/mm2 ).
Man berechne die maximale Durchbiegung des Trägers und die maximale Tangentenneigung
(Biegewinkel).
Mit der konstanten Linienlast q0 kann die Rechnung mit der Differenzialgleichung der Biegelinie
4. Ordnung sofort starten:
EIv 0000 = q0 .
Aus diesen vier Randbedingungen erhält man die erforderlichen Bestimmungsgleichungen für
die Integrationskonstanten:
v(z = 0) = 0 ⇒ C4 = 0 ,
Mb (z = 0) = 0 ⇒ v 00 (z = 0) = 0 ⇒ C2 = 0 ,
1 4 1 3
v(z = l) = 0 ⇒ 24 q0 l + 6 C1 l +C3 l =0 ,
Mb (z = l) = 0 ⇒ v 00 (z = l) = 0 ⇒ 1 2
2 q0 l + C1 l =0 .
Aus den letzten beiden Gleichungen werden die Konstanten C1 und C3 bestimmt:
C1 = − 12 q0 l , C3 = 241
q0 l 3 .
Damit können die Biegelinie und ihre erste Ableitung aufgeschrieben werden:
q0 l 4
z 3 z
z 4
v(z) = −2 + ,
24 E I l l l
q0 l 3
z 3 z 2
v 0 (z) = 4 −6 +1 .
24 E I l l
Der Ort der maximalen Durchbiegung ist bei dieser Aufgabe durch die Anschauung gegeben
(Trägermitte aus Symmetriegründen). Für eine kompliziertere unsymmetrische Belastung müss-
te diese Stelle durch die Auswertung von v 0 = 0 gewonnen werden. Die größten Tangentennei-
gungen (maximale Biegewinkel) ergeben sich an den Lagern. Wenn diese Aussage nicht (wie bei
dieser Aufgabe) aus der Anschauung zu gewinnen ist, müsste v 00 = 0 ausgewertet werden. Die
gesuchten Maximalwerte sind:
5 q0 l 4 q0 l 3
l
vmax = v z = = , v0max = v 0 (z = 0) = .
2 384 E I 24 E I
Mit den Zahlenwerten für 200 (Abbildung 16.21 auf Seite 243) und den gegebenen Werten
erhält man:
vmax = 1, 91m , v0max = 0, 1525 .
Die Durchbiegung ist recht erheblich wegen der großen Stützlänge von 40 m, bei der dieser Trä-
ger (Beispiel 5 des Abschnitts 16.3 auf Seite 242) aber auch an der Grenze seiner Tragfähigkeit
ist (er erträgt gerade sein Eigengewicht).
ê Es ist üblich, v 0 als „Biegewinkel“ zu bezeichnen, obwohl die erste Ableitung natürlich der
Tangens des Anstiegswinkels der Kurve ist. Bei den im Allgemeinen sehr kleinen Winkeln
ist der Unterschied gering. Selbst bei dem außergewöhnlich großen Zahlenwert des gerade
behandelten Beispiels würden sich aus v 0 = 0, 1525 exakt 8, 74◦ ergeben, bei Interpretation
des Anstiegs als Biegewinkel käme man auf 8, 67◦ (Abweichung ist kleiner als 1%).
ê Während bei dem Beispiel 1 wegen des relativ einfach aufzuschreibenden Biegemomenten-
verlaufs die Verwendung der Differenzialgleichung der Biegelinie 2. Ordnung vorteilhaft
ist (man vermeidet so auch die schwierige Formulierung der Querkraft- und Momenten-
Randbedingungen), ist bei dem Beispiel 2 die Arbeit mit der Differenzialgleichung der Bie-
gelinie 4. Ordnung empfehlenswert, zumal die Randbedingungen (v = 0 und v 00 = 0 an
beiden Rändern) recht einfach zu formulieren sind.
17.2 Integration der Differenzialgleichung 255
Eine generelle Empfehlung, welche der beiden Differenzialgleichungen der Biegelinie bei be-
stimmten Aufgabentypen zu bevorzugen ist, kann kaum gegeben werden. Einzelkräfte als Be-
lastungen erschweren die Formulierung der Randbedingungen für die Differenzialgleichung 4.
Ordnung, Linienlasten (insbesondere veränderliche Linienlasten) machen das Aufschreiben des
Biegemomentenverlaufs (für die Differenzialgleichung 2. Ordnung) schwieriger.
Als Basis für Computerprogramme und die Anwendung numerischer Verfahren bei komplizier-
teren Aufgaben wird die Differenzialgleichung der Biegelinie 4. Ordnung allgemein bevorzugt,
weil der formalere Rechenprozess der Programmierung entgegenkommt.
Wenn der Biegemomentenverlauf nur abschnittsweise aufgeschrieben werden kann (Einzelkräf-
te, Einzelmomente, Zwischenstützen, ...), muss für jeden Abschnitt auch die Differenzialglei-
chung der Biegelinie 2. Ordnung gesondert formuliert (und integriert) werden. Entsprechendes
gilt bei Verwendung der Differenzialgleichung der Biegelinie 4. Ordnung, weil in diesen Fällen
Unstetigkeiten in den Ableitungen der Funktion v(z) vorkommen (z. B. ein Querkraftsprung bei
Einzelkräften oder Zwischenstützen), über die nicht integriert werden darf.
In diesen Fällen erhöht sich natürlich die Anzahl der Integrationskonstanten, und man muss
Randbedingungen auch an den „Bereichsrändern“ formulieren, die häufig nur als so genannte
Übergangsbedingungen aufgeschrieben werden können.
Für das nachfolgende Beispiel 3 wird die Arbeit mit der Differenzialgleichung der Biegelinie 2.
Ordnung empfohlen. Da der Momentenverlauf für zwei Abschnitte aufgeschrieben werden muss,
ergeben sich vier Integrationskonstanten. Neben den beiden Randbedingungen (keine Absenkung
an den beiden Lagern A und B) müssen noch zwei Übergangsbedingungen am Kraftangriffspunkt
formuliert werden: Die Absenkung am rechten Rand des linken Abschnitts muss gleich der Ab-
senkung am linken Rand des rechten Abschnitts sein. Eine entsprechende Bedingung muss für
die Biegewinkel gelten, weil die Biegelinie an dieser Stelle keinen Knick haben darf.
Beispiel 3:
Für den skizzierten Träger ermittle man
a) die Biegelinie,
b) Ort und Größe der maximalen Durchbiegung.
2 /3 /3
Gegeben: l , F , EI =konstant .
1 2 l
Mb1 = 3 Fz1 , Mb2 = 3 F 3 − z2 ,
EIv001 − 31 Fz1 , EIv002 − 23 l
= = F 3 − z2 ,
2
EIv01 = − 61 Fz21 +C1 , EIv02 = 1
3 F l
3 − z2 +C3 ,
1
3
EIv1 = − 18 Fz31 +C1 z1 +C2 , EIv2 = − 19 F l
3 − z2 +C3 z2 +C4 .
Zur Bestimmung der vier Integrationskonstanten werden zwei Randbedingungen und zwei Über-
gangsbedingungen formuliert und ausgewertet:
v1 (z1 = 0) = 0 ⇒ C2 = 0 ,
v1 (z1 = 32 l) = v2 (z2 = 0) ⇒ 4
− 243 Fl 3 + 23 C1 l = − 243
1
Fl 3 +C4 ,
v01 (z1 2
= l) =
3 v02 (z2 = 0) ⇒ 2
− 27 Fl 2 +C1 = 1
27 Fl 2 +C3 ,
l 1
v2 (z2 = 3) =0 ⇒ 3 C3 l +C4 =0 .
Aus den drei letzten Gleichungen errechnet man:
C1 = 4
81 Fl 2 , 5
C3 = − 81 Fl 2 , C4 = 5
243 Fl 3 .
a) Mit den ermittelten Konstanten werden die Biegelinien für beide Bereiche aufgeschrieben:
Fl 3
z1 3 z1 2
v1 = −9 +8 für 0 ≤ z1 ≤ l ,
162 EI l l 3
" 3 #
3
Fl 1 z2 z2
v2 = −27 − − 15 + 5
243 EI 3 l l
Fl 3
z2 3 z2 2
z2 1
= 27 − 27 − 6 + 4 für 0 ≤ z2 ≤ l .
243 EI l l l 3
b) Aus der Anschauung ist klar, dass die größte Durchbiegung im linken Abschnitt liegt. Des-
halb wird die Ableitung der Funktion v1 (z) gebildet und zur Ermittlung des Ortes z̄1 von
v1, max gleich Null gesetzt:
Fl 2
z 2
1
v01 = −27 +8 ,
162 EI l
2√
r
8
v01 =0 ⇒ −27z̄21 + 8 l 2 =0 ⇒ z̄1 = l= 6l ,
27 9
16 √ Fl 3 Fl 3
vmax = v1 (z1 = z̄1 ) = 6 = 0, 01792 .
2187 EI EI
ê Die Überprüfung, ob der errechnete Extremwert ein Minimum oder Maximum ist (mit Hilfe
der zweiten Ableitung) kann man sich ersparen, wenn (wie im vorliegenden Fall) klar ist,
welche Form der verformte Träger etwa hat.
ê Formal ergeben sich für den Ort z̄1 des Extremwerts von v1 zwei Lösungen. Der negative
Wert wurde nicht berücksichtigt, weil er nicht im Trägerbereich liegt. Wer seiner Anschau-
ung nicht traut und auch im rechten Bereich nach der gleichen Strategie nach Extremwerten
17.3 Rand- und Übergangsbedingungen 257
für die Durchbiegung sucht, würde dort formal zwei Lösungen finden, die beide nicht im Trä-
gerbereich liegen. Generell gilt natürlich: Innerhalb eines interessierenden Bereichs nimmt
eine Funktion ihre Extremwerte entweder an Stellen mit verschwindender erster Ableitung
oder an den Rändern des Bereichs an.
ê Die in der Statik (Abschnitt 7.1, Seite 95) gegebene Empfehlung, beim Aufschreiben der
Momentenverläufe sämtliche Koordinatensysteme gleichsinnig zu definieren, findet hier ei-
ne weitere Begründung.
Die Abbildung 17.6 verdeutlicht, wie bei Nicht-
beachtung dieser Empfehlung die Übergangsbe-
dingungen formuliert werden müssen, weil glei- 1 2
che Tangentenneigungen in den beiden Abschnit-
ten dann unterschiedliches Vorzeichen haben:
1 1< 0 2 >0
2
v1 z1 = 32 l = v2 z2 = 13 l
, 1 2
v01 z1 = 23 l = −v02 z2 = 13 l
. 2 /3 /3
Eine ähnliche Fehlerquelle ergibt sich in diesem
Abbildung 17.6: Nicht zu empfehlen: Ge-
Fall für die Querkraft-Bedingung an der Über- genläufige Koordinaten haben unterschied-
gangsstelle (erforderlich für das Arbeiten mit der liche Vorzeichen für den Anstieg zur Folge
Differenzialgleichung 4. Ordnung).
Beim Arbeiten mit der Differenzialgleichung der Biegelinie 2. Ordnung werden die Integrations-
konstanten mit Hilfe von Aussagen über die Verschiebung v und die Ableitung v 0 (Biegewinkel)
bestimmt. Die Abbildung 17.7 zeigt die häufigsten Varianten der Randbedingungen (es sind
Aussagen über die Werte von v bzw. v 0 möglich) und Übergangsbedingungen (es sind nur Aus-
sagen über die Gleichheit von v bzw. v 0 an den Übergangsstellen von einem Bereich zum anderen
möglich).
1 2 3 4
0 2
mogliche
Form der
Biegelinie
1 2 3 4
Da die Differenzialgleichungen für vier Bereiche aufgeschrieben (und integriert) werden müssen,
wurden vier Koordinaten eingeführt (aus den bereits im vorigen Abschnitt genannten Gründen
258 17 Verformungen durch Biegemomente
sind alle z-Koordinaten von links nach rechts gerichtet). Randbedingungen können formuliert
werden
• am linken Rand des 1. Abschnitts (keine Verschiebung v und horizontale Tangente der Bie-
gelinie an der Einspannung A),
• am rechten Rand des 3. Abschnitts (v = 0 am Lager B),
• am linken Rand des 4. Abschnitts (v = 0 am Lager B).
• Gleichheit der Verschiebungen v am rechten Rand des 1. Abschnitts und linken Rand des 2.
Abschnitts und Gleichheit der Biegewinkel an dieser Stelle (Biegelinie hat keinen Knick),
• Gleichheit der Verschiebungen v am rechten Rand des 2. Abschnitts und linken Rand des 3.
Abschnitts (am Gelenk jedoch keine Gleichheit der Biegewinkel),
• Gleichheit der Biegewinkel am rechten Rand des 3. Abschnitts und linken Rand des 4. Ab-
schnitts (auch am Lager ergibt sich kein Knick in der Biegelinie).
Für die Bestimmung der 8 Integrationskonstanten stehen also 8 Bedingungen zur Verfügung:
Beim Arbeiten mit der Differenzialgleichung der Biegelinie 4. Ordnung kommen zu diesen Be-
dingungen noch Aussagen über die 2. und 3. Ableitung von v hinzu, so dass an Rändern und
Übergangsstellen das Gleichgewicht der Schnittgrößen (Biegemoment und Querkraft) mit den
äußeren Kräften und Momenten hergestellt wird. Dazu werden Schnitte „unendlich dicht“ ne-
ben Rändern und Übergangsstellen betrachtet. Deshalb gehen Linienlasten, die ja bereits von der
Differenzialgleichung erfasst werden, in diese Gleichgewichtsbedingungen nicht ein. Die acht so
genannten geometrischen Rand- und Übergangsbedingungen, die für das Arbeiten mit der Diffe-
renzialgleichung 2. Ordnung aufgeschrieben wurden, werden um noch einmal acht dynamische
Rand- und Übergangsbedingungen ergänzt.
Folgende Randbedingungen können formuliert werden:
• Die Biegemomente sind Null am rechten Rand des 2. Ab- 2
schnitts und am linken Rand des 3. Abschnitts (Gelenk kann
kein Moment übertragen), ebenso am rechten Rand des 4. Ab- 4 4=
schnitts (freier Rand ohne äußeres Moment).
• Am rechten Rand des 4. Abschnitts muss die Querkraft mit der
Abbildung 17.8: Schnitt
Kraft F2 im Gleichgewicht sein (Abbildung 17.8): „unendlich dicht“ am
rechten Rand
FQ4 (z4 = d) = −(EI v004 )0 |z4 =d = F2 .
17.3 Rand- und Übergangsbedingungen 259
1
2 3 4
1 2 0
0
3 4 0
1 2 0 3
Aus den in Abbildung 17.9 dargestellten Schnitten der Übergangsstellen lassen sich folgende
Übergangsbedingungen ablesen:
• Gleichheit der Biegemomente links und rechts von der Kraft F1 bzw. links und rechts vom
Lager B,
• Gleichheit der Querkräfte links und rechts vom Gelenk.
• Der Querkraftsprung bei F1 wird durch die Gleichgewichtsbedingung der Kräfte in vertikaler
Richtung beschrieben:
FQ1 (z1 = a) = F1 + FQ2 (z2 = 0) ⇒ −(EI v001 )0 |z1 =a = F1 − (EI v002 )0 |z2 =0 .
In dieser allgemeinen Form müssen die Bedingungen formuliert werden, wenn die Biege-
steifigkeit veränderlich ist.
Nachfolgend sind diese für die Arbeit mit der Differenzialgleichung der Biegelinie 4. Ordnung
zusätzlich erforderlichen Rand- und Übergangsbedingungen zusammengestellt, wobei vereinfa-
chend angenommen wurde, dass die Biegesteifigkeit über alle Abschnitte des Trägers konstant
ist, so dass sie aus den meisten Gleichungen verschwindet:
9.) v002 (z2 = b) = 0 , 13.) v001 (z1 = a) = v002 (z2 = 0) ,
10.) v003 (z3 = 0) = 0 , 14.) v003 (z3 = c) = v004 (z4 = 0) ,
11.) v004 (z4 = d) = 0
, 15.) v000 000
2 (z2 = b) = v3 (z3 = 0)
,
F2 F 1
12.) v000
4 (z4 = d) = − , 16.) v000 000
1 (z1 = a) = v2 (z2 = 0) − .
EI EI
ê Die Gesamtanzahl der Rand- und Übergangsbedingungen entspricht auch hier der Anzahl
der Integrationskonstanten (4 · 4 = 16), die bei Integration der Differenzialgleichungen für
vier Abschnitte entstehen. Man beachte, dass dafür an den Lagern die Querkraft- und Biege-
momentbedingungen, in die die Lagerreaktionen eingehen würden, nicht benötigt werden.
ê Da bei statisch bestimmt gelagerten Trägern die Lagerreaktionen aus Gleichgewichtsbedin-
gungen bestimmt werden können, stehen mit diesen nicht benutzten Bedingungen wirksame
Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung. So müssen bei dem betrachteten Beispiel Biegemo-
ment und Querkraft am linken Rand des 1. Abschnitts mit den Lagerreaktionen an der Ein-
spannstelle im Gleichgewicht sein. Am Lager B muss z. B. gelten:
FQ3 (z3 = c) + FB = FQ4 (z4 = 0) ⇒ −EI v000 000
3 (z3 = c) + FB = −EI v4 (z4 = 0) .
Eine komplett durchgerechnete Aufgabe mit einer besonders großen Vielfalt an Rand- und Über-
gangsbedingungen findet man als Beispiel 3 im Abschnitt 17.5 (Seite 265).
260 17 Verformungen durch Biegemomente
Fa2 b2
vF =
1 2 3 EI l
a) 0 Fab(l + b)
v1 (z1 = 0) =
1 1 2 6 EI l
Fab(l + a)
v02 (z2 = b) = −
6 EI l
Fab2 z31
l z1
v1 = 1+ − für 0 ≤ z1 ≤ a
6 EI b l abl
2 l b − z2 (b − z2 )3
Fa b
v2 = 1+ − für 0 ≤ z2 ≤ b
6 EI a l abl
r
Fb z̄31 l 2 − b2
Für a ≥ b : vmax = bei z̄1 =
3 EI l r3
Fa (b − z̄2 )3 l 2 − a2
Für a ≤ b : vmax = bei z̄2 = b −
3 EI l 3
Fl 3
vmax = vF =
a∗ ) 48 EI
/2 /2 Fl 2
v 0 (z = 0) = −v 0 (z = l) =
16 EI
5 q0 l 4
0 vmax =
384 EI
b) q0 l 3
v 0 (z = 0) = −v 0 (z = l) =
24 EI
/2 /2
q0 l 4 z
z 3 z 4
v= −2 +
24 EI l l l
s r
1 q0 l 4 8
vmax = 0, 006522 bei z̄ = l 1−
EI 15
c) 7 q1 l 3 q1 l 3
v 0 (z = 0) = ; v 0 (z = l) = −
360 EI 45 EI
4
q1 l z z 3 z 5
v= 7 − 10 +3
360 EI l l l
17.4 Einige einfache Biegelinien 261
√ √ !
3 Ml 2 3
vmax = bei z̄ = l 1−
27 EI 3
d) Ml Ml
v 0 (z = 0) = ; v 0 (z = l) = −
3 EI 6 EI
Ml 2
z 2 z 3
z
v= 2 −3 +
6 EI l l l
Fl 3 Fl 2
vmax = ; v 0 (z = 0) = −
e) 3 EI 2 EI
3
Fl z z 3
v= 2−3 +
6 EI l l
0
q0 l 4 q0 l 3
vmax = ; v 0 (z = 0) = −
f) 8 EI 6 EI
q0 l 4
z z 4
v= 3−4 +
24 EI l l
1
q1 l 4 q1 l 3
vmax = ; v 0 (z = 0) = −
g) 30 EI 24 EI
q1 l 4
z z 5
v= 4−5 +
120 EI l l
1
11 q1 l 4 q1 l 3
vmax = ; v 0 (z = 0) = −
h) 120 EI 8 EI
q1 l 4
z 4 z 5
z
v= 11 − 15 + 5 −
120 EI l l l
Ml 2 Ml
vmax = ; v 0 (z = 0) = −
i) 2 EI EI
Ml 2
z z 2
v= 1−2 +
2 EI l l
262 17 Verformungen durch Biegemomente
Bei statisch unbestimmten Problemen können Lagerreaktionen und Schnittgrößen nicht allein
aus den statischen Gleichgewichtsbedingungen berechnet werden. Mit Hilfe von Verformungs-
betrachtungen sind auch diese Aufgaben lösbar, weil für jedes zusätzliche Lager eine weitere
Verformungsaussage (Rand- oder Übergangsbedingung) formuliert werden kann. Dies soll am
Problem des nachfolgenden Beispiels 1 (Abbildung 17.10) diskutiert werden.
Beim Arbeiten mit der Differenzialgleichung der Biegelinie 2. Ordnung kann der Biegemomen-
tenverlauf zunächst nur mit einer noch unbekannten Lagerreaktion (zum Beispiel der Lagerkraft
FB des Lagers B) aufgeschrieben werden (die übrigen Lagerreaktionen müssen gegebenenfalls
mit Hilfe der statischen Gleichgewichtsbedingungen eliminiert werden). Nach der Integration
der Differenzialgleichung stehen jedoch für die 3 Unbekannten der allgemeinen Lösung (2 In-
tegrationskonstanten und die Lagerkraft) auch 3 Randbedingungen zur Verfügung, so dass auch
die unbekannte Lagerkraft (und aus den statischen Gleichgewichtsbedingungen dann auch die
übrigen Lagerreaktionen) und die Schnittgrößen berechnet werden können.
Beim Arbeiten mit der Differenzialgleichung der Biegelinie 4. Ordnung ist kein prinzipieller
Unterschied zum statisch bestimmten Problem zu nennen, weil die Lagerreaktionen ohnehin
nicht in die Differenzialgleichung eingehen, so dass man mit vier Randbedingungen auskommt.
Nach dem Bestimmen der Integrationskonstanten können die Schnittgrößen nach
Mb = −EIv 00 , FQ = −(EIv 00 )0
und die Lagerreaktionen aus den Gleichgewichtsbedingungen mit den Schnittgrößen an den La-
gerstellen bestimmt werden.
Beispiel 1: 0
Für den skizzierten Träger mit der konstanten
Biegesteifigkeit EI sind die Lagerreaktionen bei A und B
und der Biegemomentenverlauf zu ermitteln.
Gegeben: l , q0 , EI . Abbildung 17.10: Einfach statisch
unbestimmter Biegeträger
Das System ist einfach statisch unbestimmt. Die Lagerreaktionen und der Biegemomentenver-
lauf können nicht allein aus Gleichgewichtsbeziehungen berechnet werden. Für die erforderli-
chen Verformungsbetrachtungen wird hier die Differenzialgleichung der Biegelinie 4. Ordnung
gewählt (Diskussion der Vor- und Nachteile dieser Wahl siehe oben), mit der die Rechnung (ohne
Vorarbeit) sofort gestartet werden kann:
EIv 0000 = q0 ,
EIv 000 = q0 z + C1 ,
EIv 00 = 1
2 q0 z
2 + C1 z + C2 ,
EIv 0 = 1
6 q0 z
3 + 1
2 C1 z
2 + C2 z + C3 ,
1 4 1 3 1 2
EIv = 24 q0 z + 6 C1 z + 2 C2 z + C3 z + C4 .
17.5 Statisch unbestimmte Systeme 263
0 0
Die vier Randbedingungen zur Bestimmung der vier Integrationskonstanten („Absenkung bei
A gleich Null“, „Biegewinkel bei A gleich Null“, „Absenkung bei B gleich Null“ und „Bie-
gemoment bei B gleich Null“) werden mit Bezug auf das in der Abbildung 17.11 definierte
Koordinatensystem formuliert:
v(z = 0) = 0 ⇒ C4 = 0 ,
v0 (z = 0) = 0 ⇒ C3 = 0 ,
1 4 1 3 1 2
v(z = l) = 0 ⇒ 24 q0 l + 6 C1 l + 2 C2 l =0 ,
v 00 (z = l) = 0 ⇒ 1 2
2 q0 l + C1 l + C2 =0 .
Die beiden letzten Gleichungen liefern die Integrationskonstanten
C1 = − 85 q0 l , C2 = 18 q0 l 2 ,
mit denen der Momentenverlauf aufgeschrieben werden kann:
q0 l 2
00 z 2 z
Mb (z) = −EIv = −4 +5 −1 .
8 l l
Zur Berechnung der Lagerreaktionen wird zuvor der Querkraftverlauf bereitgestellt:
q0 l z
FQ (z) = −EIv 000 = −8 + 5 .
8 l
Aus Gleichgewichtsbetrachtungen an den freigeschnittenen Lagern (Schnitte „unendlich dicht“
neben den Lagern, Abbildung 17.12) erhält man mit den bereits ermittelten Funktionen für Bie-
gemoment und Querkraft die gesuchten Lagerreaktionen:
0 =0
5
FAV = FQ (0) = q0 l ,
8
1 0
MA = Mb (0) = − q0 l 2 ,
8
3 Abbildung 17.12: Schnitte „unendlich dicht“ an
FB = −FQ (l) = q0 l , FAH = 0 . den Lagern
8
Die Kontrolle des Gleichgewichts am Gesamtsystem zeigt, dass die ermittelten Lagerreaktionen
die Gleichgewichtsbedingungen identisch erfüllen.
Zur grafischen Darstellung des Biegemomentenverlaufs werden markante Stellen (Extremwert
und Nullstellen) der Funktion ermittelt. Mb (z) hat einen relativen Extremwert bei z̄l = 58 (Null-
stelle des Querkraftverlaufs):
5 9
M̄b = Mb z̄ = l = q0 l 2 .
8 128
264 17 Verformungen durch Biegemomente
Die Nullstellen im Momentenverlauf ergeben sich als Lösungen einer quadratischen Gleichung:
2
z̄ 5 z̄ 1 l
− + =0 ⇒ z̄1 = l , z̄2 = .
l 4l 4 4
Beispiel 2:
Für den skizzierten statisch
2
1
unbestimmt gelagerten Träger mit Kasten-
querschnitt und konstanter Biegesteifigkeit
sind Ort und Größe der maximalen Biege- 1
spannung zu bestimmen. 2
Gegeben: b1 = 30 mm ; b2 = 40 mm ; h1 = 40 mm ; h2 = 50 mm ; F = 4 kN ; a = 500 mm .
Obwohl keine Biegeverformungen gefragt sind, ist die Ermittlung von Verformungen nötig, da
es sich um ein statisch unbestimmtes System handelt. Die Biegelinien müssen für zwei Bereiche
formuliert werden. Weil das Aufschreiben der Biegemomente in diesem Fall relativ einfach ist,
wird die Differenzialgleichung 2. Ordnung verwendet.
1
1.) v1 (z1 = a) = 0 ⇒ 6 Fa3 +C1 a +C2 = 0 ,
2.) v2 (z2 = 0) = 0 ⇒ C4 = 0 ,
3.) v01 (z1 = a) = v02 (z2 = 0) ⇒ 1 2
2 Fa +C1 = C3 ,
1 3 1 2
4.) v2 (z2 = b) = 0 ⇒ 6 (F − FA ) b + 2 Fab +C3 b +C4 = 0 ,
5.) v02 (z2 = b) = 0 ⇒ 1 2
2 (F − FA ) b + Fab +C3 = 0 .
17.5 Statisch unbestimmte Systeme 265
Da für die Ermittlung der Biegespannung nur der Momentenverlauf erforderlich ist, der wieder-
um nur die unbekannte Lagerkraft FA enthält, wird nur diese berechnet: Gleichung 5 wird nach
C3 umgestellt und C3 und C4 (Gleichung 2) werden in Gleichung 4 eingesetzt. Diese liefert dann:
3a
FA = F +1 .
2b
Mit FA sind auch die Momentenverläufe bekannt. Die gesuchte maximale Biegespannung tritt
bei konstantem Querschnitt des Trägers am Ort des absolut größten Biegemoments auf. Der
Biegemomentenverlauf ist stückweise linear, so dass für die Extremwerte nur die Punkte A und
B infrage kommen. Für die beiden Stellen errechnet man:
1
MbA = −Fa , MbB = FA b − F(a + b) = Fa .
2
Bemerkenswert ist, dass die Abmessung b für den Biegemomentenverlauf (und damit für die
Biegespannungen) keine Rolle spielt. Mit den Querschnittskennwerten
1 I
I= (b2 h32 − b1 h31 ) = 25, 67 cm4 ⇒ W h = 10, 27 cm3
12 2
2
und dem absolut größten Biegemoment berechnet man die maximale Biegespannung
Fa
σb, max = = 195 N/mm2 .
W
Sie tritt an der Trägeroberkante als Zugspannung und an der Trägerunterkante als Druckspannung
im Querschnitt über dem Lager A auf.
Beispiel 3: 1
Für den skizzierten
Träger sollen die Biegelinie, der
Biegemomentenverlauf und der
Querkraftverlauf berechnet werden. 1 1 2 2
1 2
Gegeben:
l1 = 1200 mm ; EI1 = 2, 5 kNm2 ; c1 = 50 N/mm ; q1 = 1, 3 N/mm ; F = 800 N ;
l2 = 1300 mm ; EI2 = 5 kNm2 ; c2 = 250 N/mm ; cT = 5 kNm ; M = 250 Nm .
Mit diesem Beispiel eines Trägers mit stückweise konstantem Querschnitt und einem Gelenk,
der durch ein Lager, Federn und eine Drehfeder gefesselt ist und durch eine Kraft, ein Moment
und eine Linienlast belastet ist, sollen möglichst viele Besonderheiten demonstriert werden. Eine
Aufgabe dieser Art analytisch zu lösen, ist hart an der Grenze der Zumutbarkeit. Hier soll die
Lösung so weit aufbereitet werden, dass die Auswertung dem Computer übertragen werden kann.
Die Differenzialgleichung der Biegelinie muss für zwei Abschnitte formuliert werden. Wegen
der nur mit erheblicher Mühe zu formulierenden Momentenverläufe, die außerdem mehrere un-
bekannte Kräfte enthalten würden, empfiehlt sich das Rechnen mit der Differenzialgleichung der
Biegelinie 4. Ordnung, in die die Linienlastverläufe (im linken Bereich gleich Null, im rech-
ten Bereich linear veränderlich) eingesetzt werden. Der auf diese Weise sehr bequeme Start der
Rechnung wird mit dem aufwendigeren Integrationsprozess und der größeren Anzahl zu bestim-
mender Integrationskonstanten bezahlt.
266 17 Verformungen durch Biegemomente
1 1
v1 = C1 z31 + C2 z21 +C3 z1 +C4 ;
6 2
q1 1 1
v2 = z5 + C5 z32 + C6 z22 +C7 z2 +C8 .
120 EI2 l2 2 6 2
Es sind 8 Integrationskonstanten zu bestimmen, für die Aussagen über die Verschiebung, die
Ableitung der Verschiebung, das Biegemoment und die Querkraft formuliert werden können.
Da in die Rand- und Übergangsbedingungen die Federkräfte und das Federmoment eingehen,
sind die in Abbildung 17.14 zu sehenden Schnittskizzen hilfreich. Für die Richtungen der an-
zutragenden Schnittgrößen gelten die auf der Seite 97 zu sehenden Definitionen, und für die
Richtung der anzutragenden Federkräfte gilt: Weil positive Verschiebungen nach unten gerichtet
sind (Feder wird zusammengedrückt), reagiert die Feder mit einer nach oben gerichteten Kraft.
Verdrehwinkel sind in einem solchen System im Uhrzeigersinn positiv (siehe Abbildung 17.14,
rechte Skizze), so dass das von der Drehfeder auf den Träger wirkende Moment entgegen dem
Uhrzeigersinn anzutragen ist:
' 2= 2
0 2= 2
1=
2 2
1
1 1= 1 2 2= 0 +
1= 0
1
+
2= 0
0 +
1=
2 2
1 1
0 −EI1 0 0 0 0 0 0 C M
−EI 1
1 0 0 −c1 0 0 0 0
C2 0
l3 2
l1 0
1
6 2 l1 1 0 0 0 −1
C3
l
1 1 0 0 0 0 0 0
C4
0
= .
0
0 0 0 0 1 0 0 C5
0
−EI1 0
0 0 EI2 0
0 c2 C6 F
3 2 q l4
− 1201 EI
l2 l2
2
C7
0 0 0 0 l2 1
6 2 2
c l 2
C8 q1 l22 cT q1 l23
0 0 0 0 −EI2 l2 − T2 2 −EI2 − cT l2 −cT 0 6 + 24 EI2
Die Lösung dieses Gleichungssystems ist (mit einiger Mühe) durchaus noch
„von Hand“ möglich. Weil danach die Auswertung der allgemeinen Lösung
mit den dann bekannten Integrationskonstanten aber auch recht aufwendig
(und natürlich fehleranfällig) ist, kann dieser Weg kaum empfohlen werden.
17.6 Superposition
Die Differenzialgleichungen der Biegelinie für kleine Durchbiegungen sind linear. Deshalb
dürfen Lösungen von Einzel-Lastfällen zu einer Gesamtlösung (gleichzeitiges Wirken aller
Einzel-Lastfälle) überlagert (superponiert) werden.
Neben der Verschiebungsfunktion v dürfen auch deren Ableitungen und damit der Biegewin-
kel v 0 und die Schnittgrößen Mb und FQ superponiert werden.
Beispiel 1:
Der skizzierte Träger mit konstanter Biegesteifigkeit
0
ist durch die konstante Linienlast q0 und die Einzelkraft F belastet.
Man ermittle die Biegelinie. 2 /3
Gegeben: l , F , q0 , EI .
Die Lösung wird entsprechend Abbildung 17.16 aus zwei Lastfällen zusammengesetzt:
2 /3 2 /3
0 = 0
+
1 2 1 2
Die Biegelinie muss wegen der Einzelkraft in zwei Bereichen formuliert werden, für die die
beiden Koordinaten z1 und z2 eingeführt wurden. Für den „Lastfall F“ kann die Biegelinie für
die beiden Bereiche direkt der Formelzusammenstellung im Abschnitt 17.4 entnommen werden
(Fall a mit a = 32 l und b = 3l ):
Fl 3
z1 3 z1
v1,F = −9 +8 ,
162 EI l l
Fl 3
z2 3 z 2
2 z2
v2,F = 27 − 27 −6 +4 .
243 EI l l l
Der „Lastfall q0 “ (Fall b im Abschnitt 17.4 mit der Koordinate z) muss nun für die gleichen
Koordinaten z1 und z2 aufgeschrieben werden. Im linken Bereich mit z = z1 gilt:
q0 l 4 z1 4
z 3 z
1 1
v1, q = −2 + .
24 EI l l l 2
" #
q0 l 4 2 z2 4 2 z2 3 2 z2
v2, q = + −2 + + +
24 EI 3 l 3 l 3 l
q0 l 4 z2 4 2 z2 3 4 z2 2 13 z2 22
= + − − + .
24 EI l 3 l 3 l 27 l 81
Die Gesamtlösung für die Biegelinie ergibt sich aus der Addition beider Teillösungen:
Besonders sinnvoll kann man die Superposition einzelner Lastfälle für die Lösung statisch
unbestimmter Probleme nutzen. Dafür bietet sich z. B. folgende Lösungs-Strategie an:
ê Lager werden durch (unbekannte) Lagerreaktionen ersetzt, so dass ein statisch bestimmt
gelagertes System verbleibt.
ê Die Verformungen an den Punkten, an denen Lager entfernt wurden, werden mit Hilfe der
Superposition einzelner Lastfälle aufgeschrieben. Anschließend werden die unbekannten
Lagerreaktionen aus Bestimmungsgleichungen ermittelt, die die Verformungen an genau
diesen Punkten Null werden lassen.
Beispiel 2:
Für den statisch unbestimmt gelagerten Träger mit
konstanter Biegesteifigkeit berechne man die Lagerkraft bei A.
Gegeben: a, b, F .
Das Lager A wird durch die (unbekannte) Lagerkraft FA ersetzt.
Dann liefert Lastfall e (Formeln im Abschnitt 17.4) an der Stelle
A eine Durchbiegung infolge der Kraft F:
" 3 #
F(a + b)3
3a a
vA,F = v(z = a) = 2− + .
6 EI a+b a+b
An der gleichen Stelle ergibt sich (ebenfalls Lastfall e) die
Durchbiegung infolge der Kraft FA :
FA b3
vA,FA = − .
3 EI
Die Überlagerung liefert die Gesamt-Durchbiegung an der Stelle A, die wegen des Lagers gleich
Null sein muss. Dies liefert entsprechend
3a
vA,F + vA,FA = 0 ⇒ FA = F +1
2b
das Ergebnis, das bereits im Abschnitt 17.5 für dieses System (siehe Seite 264) auf anderem
Wege gefunden wurde.
270 17 Verformungen durch Biegemomente
Beispiel 3: 1 2
Der skizzierte Träger mit konstanter Biege-
steifigkeit ist durch eine Linienlast (Trapezlast) belastet.
Gegeben: l , q1 , q2 .
Man ermittle die vertikalen Lagerkräfte und die Einspannmomente bei A und B.
Der beidseitig eingespannte Träger ist dreifach statisch unbestimmt gelagert. Da aber keine Kräf-
te in Längsrichtung eingeleitet werden, sind die horizontalen Lagerreaktionen gleich Null, weil
(Theorie 1. Ordnung) Längskräfte, die durch die Biegung entstehen (der verformte Träger ist
zwangsläufig länger als der gerade Träger), vernachlässigt werden.
Das zu behandelnde Berechnungsmodell muss al- 1 2
so an einem Lager eine Längsverschiebung zulassen
(Abbildung 17.18) und ist nur noch zweifach statisch
unbestimmt. Diese Nachgiebigkeit des Lagers in Längs-
richtung kommt bei Biegeproblemen der Praxis der Rea- Abbildung 17.18: Korrektes Berech-
lität ohnehin meist näher. nungsmodell nach Theorie 1. Ordnung
17.7 Aufgaben
Aufgabe 17.1: 0
Für den skizzierten zusam-
mengesetzten Träger sind sämtliche Rand-
und Übergangsbedingungen anzugeben, die
benötigt werden
Aufgabe 17.2:
Der skizzierte Träger mit konstanter Biege- 0
steifigkeit ist durch eine konstante Linienlast q0 im Bereich
B − C belastet. Wie groß muss eine bei A angreifende Kraft
F sein, damit die Durchbiegung am Punkt B Null wird?
3 2
Gegeben: a , q0 .
Aufgabe 17.3:
Ein Biegeträger ist aus einem Profil
∪40 nach DIN 1026 und zwei Profilen 20 nach DIN
1028 zusammengeschweißt, bei A starr eingespannt
und nur durch sein Eigengewicht belastet (Gewicht des
Schweißwerkstoffs ist vernachlässigbar).
Man berechne die vertikale Verschiebung des freien Trägerendes.
Gegeben: l = 800 mm ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
a A G e Ixx Wx Iyy Wy
mm cm2 kg/m cm cm4 cm3 cm4 cm3
20 1,12 0,88 0,60 0,39 0,28 0,39 0,28
b h A G e Ixx Wx Iyy Wy
mm mm cm2 kg/m cm cm4 cm3 cm4 cm3
35 40 6,21 4,87 1,33 14,1 7,05 6,68 3,08
Aufgabe 17.4:
Für den skizzierten Träger mit
konstanter Biegesteifigkeit berechne man die 1
Lagerkräfte bei A, B und C (Empfehlung: Su-
perposition unter Verwendung der Formeln aus
dem Abschnitt 17.4). 3 /4 /4
Gegeben: l , q1 .
Aufgabe 17.5: 1
Für den zweifach statisch un-
bestimmt gelagerten Träger mit konstanter Bie-
gesteifigkeit ermittle man
a) die Biegelinie,
b) die Schnittgrößenverläufe (Biegemoment und Querkraft) einschließlich
grafischer Darstellung (siehe auch www.TM-aktuell.de),
c) die Lagerreaktionen bei A, B und C,
d) den Ort und die Größe der maximalen Durchbiegung,
e) den Ort und die Größe des absolut größten Biegemoments.
Gegeben: a , q1 , EI = konstant .
Aufgabe 17.6:
Für den skiz-
zierten Träger mit stückweise 1
konstantem Querschnitt berechne
man
a) die Biegelinie,
b) den Ort und die Größe der 1 2
maximalen Durchbiegung.
1 2
c) den Ort und die Größe des
maximalen Biegemoments,
d) die Federkraft.
Gegeben: l1 = 600 mm ; EI1 = 3 · 109 Nmm2 ; q1 = 5, 2 N/mm ; F = 2000 N ;
l2 = 800 mm ; EI2 = 8 · 109 Nmm2 ; c = 200 N/mm ; M = 106 Nmm .
Hinweis: Bei diesem System können die Federkraft und die Schnittgrößenverläufe aus den stati-
schen Gleichgewichtsbedingungen ermittelt werden. Empfehlenswert ist trotzdem das Arbeiten
mit der Differenzialgleichung der Biegelinie 4 . Ordnung zur Verformungsberechnung, wobei
die Schnittgrößen als Nebenprodukt anfallen. Dann steht mit den statischen Gleichgewichtsbe-
dingungen eine ganze Reihe recht wirksamer Kontrollen zur Verfügung, z. B. muss die Querkraft
am linken Rand der Federkraft entsprechen.
Wegen der Wichtigkeit der Biegebeanspruchung wurden deshalb in der Vergangenheit zahlreiche
Verfahren für solche Aufgaben entwickelt (die Verformung abgesetzter Wellen wurde besonders
gern grafisch ermittelt, was zwar enorm aufwendig, aber immerhin praktikabel war).
Heute sind eigentlich nur noch die Verfahren sinnvoll, bei denen der größte Teil des Aufwands
dem Computer übertragen werden kann. Selbst in der relativ kurzen Geschichte der Computer-
Nutzung für die Berechnung von Mechanik-Problemen gibt es schon Veränderungen: Die an-
fänglich (wegen des knappen Speicherplatzes) sehr beliebten Verfahren mit so genannten Über-
tragungsmatrizen spielen heute keine Rolle mehr.
Die beiden nachfolgend beschriebenen Verfahren kommen der Computer-
Nutzung in besonderem Maße entgegen. Wie an den behandelten Beispie-
len deutlich werden wird, ist das Differenzenverfahren sehr gut anwend-
bar auf Probleme, wie sie in der Abbildung 18.1 skizziert sind. Für biege-
steife Rahmenkonstruktionen (Abbildung 18.2) ist es weniger geeignet,
während die bereits im Kapitel 15 (am Beispiel von Fachwerken) behan-
delte Methode der finiten Elemente gerade auch für solche Aufgaben das Abbildung 18.2: Bie-
geeignete Verfahren ist. gesteifer Rahmen
tet. Um den damit unvermeidlich verbundenen Fehler in Grenzen zu halten, müssen die Stützstel-
len möglichst nah beieinander liegen, was zwangsläufig auf ein recht großes Gleichungssystem
führt. Praktikabel ist das Verfahren (auch bei Computer-Nutzung) deshalb nur für lineare Rand-
wertprobleme, weil dann auch das Gleichungssystem linear wird.
18.1.1 Differenzenformeln
Die Abszisse x wird äquidistant (Abstand h) unterteilt
(Abbildung 18.3). Dann kann der Differenzialquotient als
Grenzwert des Differenzenquotienten
dy ∆y y(x + h) − y(x)
= y0 (x) = lim = lim 1 +1
dx ∆x→0 ∆x h→0 h 2 +2
an der beliebigen Stützstelle i (bei xi ) auf unterschiedliche
Art durch Differenzenquotienten angenähert werden, wobei 2 1 +1 +2
jeweils der Anstieg der Tangente durch einen Sekantenan-
stieg ersetzt wird: Abbildung 18.3: Stützstellen
∆y y i+1 − yi
y0i ≈ = (vorwärts genommene Differenzenformel) ,
∆x i h
∆y yi − yi−1
y0i ≈ = (rückwärts genommene Differenzenformel) .
∆x i h
Beide Näherungswerte sind mit einem Fehler behaftet, der umso kleiner ist, je kleiner h ist. Wenn
die zweite Ableitung (Änderung des Anstiegs) im Intervall xi−1 ≤ x ≤ xi+1 das Vorzeichen nicht
wechselt, wird eine der beiden Formeln einen etwas zu großen, die andere einen etwas zu kleinen
Wert liefern, so dass das arithmetische Mittel aus beiden Formeln im Allgemeinen einen besseren
Näherungswert liefert. Dieser Mittelwert
∆y 1 yi+1 − yi yi − yi−1 yi+1 − yi−1
y0i ≈ = + =
∆x i 2 h h 2h
wird als zentrale Differenzenformel bezeichnet und kann geometrisch als Anstieg der Sekante
vom Punkt i − 1 zum Punkt i + 1 gedeutet werden. Auf die gleiche Formel kommt man, wenn
man durch die Punkte i − 1, i und i + 1 eine quadratische Parabel legt und deren Anstieg an der
Stelle xi berechnet.
Auf analoge Weise können höhere Ableitungen genähert werden, z. B.:
2
00 ∆ y ∆ ∆y 1 yi+1 − yi yi − yi−1
yi ≈ = = − ,
∆x2 i ∆x ∆x i h h h
wobei in der Klammer die Differenz der ersten Ableitungen an den Zwischenpunkten i+½ und
i−½ steht.
18.1 Das Differenzenverfahren 275
Für die Berechnung der Biegelinie mit dem Differenzenverfahren werden die ersten vier Ablei-
tungen benötigt, die nachfolgend zusammengestellt sind.
Zentrale Differenzenformeln:
1
y0i ≈ (−yi−1 + yi+1 ) ,
2h
1
y00i ≈ 2 (yi−1 − 2 yi + yi+1 ) ,
h
1 (18.1)
y000
i ≈ (−yi−2 + 2 yi−1 − 2 yi+1 + yi+2 ) ,
2 h3
1
y0000
i ≈ 4 (yi−2 − 4 yi−1 + 6 yi − 4 yi+1 + yi+2 ) .
h
Beispiel:
Für den skizzierten Träger mit konstanter Biegestei- 0
figkeit EI sind die Durchbiegung und die Schnittgrößen nähe-
rungsweise mit dem Differenzenverfahren zu bestimmen und mit
den Werten der exakten Lösung zu vergleichen.
Gegeben: a , q1 , EI = konstant .
Der Träger wird zunächst (sehr grob) in
nA = 4 äquidistante Abschnitte der Länge
1 2 3 4 5 6 7 8 9
h = l/4 unterteilt (nebenstehende Skizze).
Für die 5 Punkte 3 . . . 7 (Innenpunkte), für die natürlich die Differenzialgleichung der Biegelinie
gelten muss, werden ersatzweise die Differenzengleichungen entsprechend 18.2 aufgeschrieben,
in die für die randnahen Punkte zusätzliche Außenpunkte eingehen:
q0 l 4
i = 3 : v1 − 4 v2 + 6 v3 − 4 v4 + v5 =
n4A EI
q0 l 4
i = 4 : v2 − 4 v3 + 6 v4 − 4 v5 + v6 =
n4A EI
q0 l 4
i = 5 : v3 − 4 v4 + 6 v5 − 4 v6 + v7 =
n4A EI
q0 l 4
i = 6 : v4 − 4 v5 + 6 v6 − 4 v7 + v8 =
n4A EI
q0 l 4
i = 7 : v5 − 4 v6 + 6 v7 − 4 v8 + v9 =
n4A EI
In diesen fünf Differenzengleichungen erscheinen einschließlich der Werte für die Außenpunkte
1, 2, 8 und 9 insgesamt neun Unbekannte. Das Defizit von vier Gleichungen wird genau durch
die Randbedingungen ausgeglichen:
v(z = 0) = 0 ⇒ v3 = 0 ⇒ v3 = 0
v0 (z = 0) = 0 ⇒ v03 =0 ⇒ −v2 + v4 = 0
FQ (z = l) = 0 ⇒ FQ7 = 0 ⇒ −v5 + 2 v6 − 2 v8 + v9 = 0
Mb (z = l) = 0 ⇒ Mb7 = 0 ⇒ v6 − 2 v7 + v8 = 0
Dieses lineare Gleichungssystem (9 Gleichungen mit 9 Unbekannten) ließe sich leicht auf weni-
ger Unbekannte reduzieren (v3 ist bekannt, v2 wird durch v4 ersetzt usw.). Wenn man es ohnehin
mit Hilfe des Computers lösen will, ist dies weder erforderlich noch sinnvoll. Es kommt vielmehr
darauf an, das Gleichungssystem für die Computerrechnung in geeigneter Form aufzuschreiben.
Aus nachfolgend noch ausführlich diskutierten Gründen werden die beiden Randbedingungen
des linken Randes als erste Gleichungen, die Randbedingungen des rechten Randes als die bei-
den letzten Gleichungen aufgeschrieben. Aus den Ausdrücken auf den rechten Seiten der Glei-
4
chungen wird der gemeinsame Faktor qEI 0l
herausgezogen, so dass das Ergebnis der Rechnung
für beliebige Werte dieser Größen gilt.
18.1 Das Differenzenverfahren 277
Es ist dagegen nicht sinnvoll, auch noch den Faktor n4A aus dem Vektor der rechten Seite heraus-
zuziehen, weil nA ein Verfahrensparameter ist, der das Ergebnis der Rechnung möglichst nicht
beeinflussen sollte.
Für nA = 4 ist also folgendes Gleichungssystem mit n = nA + 5 = 9 Gleichungen zu lösen:
0 0 1 0 0 0 0 0 0 v1 0
0 −1 0 1 0 0 0 0 0 v2 0
1
1 −4 6 −4 1 0 0 0 0 v3 256
0 1 −4 6 −4 1 0 0 0 v4 1 4
256 q0 l
0 0 1 −4 6 −4 1 0 0 v5 = 1 .
256
0 0 0 1 −4 6 −4 1 0 v 1 EI
6 256
1
0 0 0 0 1 −4 6 −4 1 v7 256
0 0 0 0 −1 2 0 −2 1 v8 0
0 0 0 0 0 1 −2 1 0 v9 0
ê Schon bei dieser sehr groben Einteilung des Trägers in vier Abschnitte sind in der Koeffizi-
entenmatrix des Gleichungssystems zahlreiche Nullen zu sehen, und weil auch bei feinerer
Diskretisierung in jeder Zeile maximal 5 von Null verschiedene Elemente auftreten können,
nimmt der Prozentsatz der Nullelemente drastisch zu (und das so genannte Fill-in wird klei-
ner). Es sind „Dünn besetzte Matrizen“ (sparse matrices), für die außerordentlich effektive
Lösungsalgorithmen verfügbar sind. Ab einer gewissen Größenordnung der Matrizen bie-
ten diese Algorithmen auch auf sehr leistungsfähigen Computern die einzige Chance, die
Gleichungssysteme zu lösen.
ê Hier kommt noch ein weiterer Vorteil hinzu: Die von Null verschiedenen Matrixelemente
konzentrieren sich in einem relativ schmalen Band in der Nähe der Hauptdiagonalen. Für
diese so genannten Bandmatrizen (band matrices) stehen besonders effektive Algorithmen
zur Verfügung.
ê Vorteilhaft ist auch die Regelmäßigkeit der Matrix im „Mittelteil“, so dass auch sehr große
Matrizen mit wenigen Programmieranweisungen aufgebaut werden können. Große Matri-
zen müssen grundsätzlich „aufgebaut“ werden, man kann sie nicht „eingeben“ (z. B.: nA =
100 ⇒ n = 105 ⇒ 105 · 105 = 11025 Werte für die Koeffizientenmatrix, unzumutbar!).
Für das Biegemoment an der Einspannstelle erhält man genauso wie für die Querkraft
EI
FQ3 = − (−v1 + 2 v2 − 2 v4 + v5 ) = q0 l
2 h3
Ergebnisse, die mit der exakten Lösung übereinstimmen, weil für konstante
Linienlast der Biegemomentenverlauf eine quadratische Parabel ist, für die
die zentralen Differenzenformeln die Differenzialquotienten fehlerfrei erset-
zen. Bei diesem Beispiel sind also nur Durchbiegung (Funktion 4. Grades)
und Biegewinkel (Funktion 3. Grades) mit einem Fehler behaftet, der bei fei-
nerer Einteilung des Trägers (größeres nA ) kleiner wird.
Die Tabelle in Abbildung 18.4 (vgl. www.TM-aktuell.de) zeigt dies für die Absenkung des Trä-
gerendes v(l) und den Biegewinkel v0 (l), der entsprechend 18.1 berechnet wird:
1
v0 (l) = v0n−2 = (−vn−3 + vn−1 ) EI
v(l) Fehler
EI 0
2h nA 4 3
v (l) Fehler
nA q 0 l q0l
= (−vn−3 + vn−1 )
2l 4 0,132813 6,25% 0,171875 3,125%
(der rechte Randpunkt des Trägers 20 0,125313 0,25% 0,166875 0,125%
ist jeweils der Punkt n − 2). 50 0,125050 0,04% 0,166700 0,020%
Selbst bei grober Einteilung des 100 0,125013 0,01% 0,166675 0,005%
Trägers ist die Genauigkeit für 500 0,125000 0,00% 0,166667 0,000%
praktische Anforderungen mehr Exakt 0,125000 0,166667
als ausreichend. Abbildung 18.4: Absenkung und Biegewinkel am Trägerende
Andererseits hat die Biegelinie bei diesem einfachen Beispiel einen recht glatten Verlauf (ohne
Wendepunkte), der sich besonders gut annähern lässt. Doch selbst bei komplizierteren Verläufen
erhält man mit nA = 100 im Allgemeinen sehr gute Ergebnisse (und es spricht ja nichts dagegen,
bei der Computerrechnung nA = 1000 zu wählen, siehe Hinweis unten).
Es soll schon hier darauf hingewiesen werden, wie einfach Va-
riantenrechnungen zu realisieren sind. Der Träger in Abbil- 0
dung 18.5 ist zusätzlich durch ein Lager am rechten Rand
(und damit statisch unbestimmt) gestützt. Bei einer Berech-
nung mit dem Differenzenverfahren ist (unabhängig von der
Abbildung 18.5: Variantenrech-
Feinheit der Diskretisierung) nur eine einzige Gleichung (die
nungen sind besonders einfach:
vorletzte) zu ändern. Die Querkraftrandbedingung wird durch
Nur eine Gleichung muss geändert
folgende Gleichung ersetzt: werden, um aus dem Träger des
vn−2 = 0 Beispiels 1 dieses statisch unbe-
(n ist die Anzahl der Gleichungen, n − 2 der Randpunkt). stimmte System zu machen
wird in zwei Schritten in eine Differenzengleichung überführt. Zunächst wird die 2. Ableitung
der eckigen Klammer entsprechend 18.1 ersetzt:
1 n 00
00
00
o
EI v i−1
− 2 EI v i
+ EI v i+1
= qi .
h2
Nun werden die 2. Ableitungen in den eckigen Klammern durch die gleiche Differenzenformel
ersetzt, wobei beachtet werden muss, dass dies an drei verschiedenen Punkten geschieht und
jeweils für diese Punkte die Nachbarpunkte in die Formel eingehen:
1
EI v00 i−1 ≈ EIi−1 2 (vi−2 − 2 vi−1 + vi ) ,
h
00
1
EI v i ≈ EIi (vi−1 − 2 vi + vi+1 ) ,
h2
1
EI v00 i+1 ≈ EIi+1 2 (vi − 2 vi+1 + vi+2 ) .
h
Es ergibt sich die Differenzengleichung der Biegelinie bei veränderlicher Biegesteifigkeit:
qi h4
Ii−1 vi−2 − 2 (Ii−1 + Ii ) vi−1 + (Ii−1 + 4 Ii + Ii+1 ) vi − 2 (Ii + Ii+1 ) vi+1 + Ii+1 vi+2 = . (18.4)
E
Bei den Schnittgrößen
Mb (z) = −EI(z) v00 (z) ,
0
FQ (z) = Mb0 (z) = − EI(z) v00 (z)
muss nur bei der Querkraft das Ersetzen der Differenzialquotienten in zwei Schritten erfolgen,
während sich für das Biegemoment die gleiche Differenzenformel wie bei konstanter Biegestei-
figkeit ergibt. Für die Querkraft errechnet man:
1 n o
− EI v00 i−1 + EI v00 i+1
FQi ≈ −
2h
1 1 1
=− − EIi−1 2 (vi−2 − 2 vi−1 + vi ) + EIi+1 2 (vi − 2 vi+1 + vi+2 ) .
2h h h
Dies wird nach den Verschiebungen geordnet, und man erhält die Differenzengleichungen der
Schnittgrößen bei veränderlicher Biegesteifigkeit:
EIi
Mbi = − (vi−1 − 2 vi + vi+1 ) ,
h2 (18.5)
EI
FQi = − 3 (−Ii−1 vi−2 + 2 Ii−1 vi−1 − (Ii−1 − Ii+1 ) vi − 2 Ii+1 vi+1 + Ii+1 vi+2 ) .
2h
280 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
... 0 0 1 −4 6 −4 1 0 0 ...
im Mittelteil der Matrix stehen, sind also durch
zu ersetzen. Man sieht, dass der Fall konstanter Biegesteifigkeit (alle µi = 1) als Sonderfall
in den Differenzenformeln für veränderliche Biegesteifigkeit enthalten ist.
ê Auch bei den Zeilen im Gleichungssystem, die die Randbedingungen beschreiben, sollten
die Biegesteifigkeiten entsprechend ersetzt werden. Empfohlen wird also die Verwendung
der folgenden
Beispiel:
Der skizzierte Träger mit Rechteckquerschnitt
(konstante Höhe, linear veränderliche Breite) ist nur durch
sein Eigengewicht belastet. Mit dem Differenzenverfahren
ist näherungsweise die Durchbiegung zu berechnen.
bB
Gegeben: bA , λ = , E , Dichte ρ .
bA
Die mit einem Breitenverhältnis λ = 2 berechneten Werte
sollen ausgewertet werden.
Mit der linear veränderlichen Breite
bB − bA h zi
b(z) = bA + z = bA 1 + (λ − 1)
l l
werden auch die Linienlast
h zi
q(z) = ρghb(z) = qA 1 + (λ − 1)
l
(Trapezlast, nebenstehende Skizze) und die Biegesteifigkeit
1 h zi
EI(z) = E h3 b(z) = EIA 1 + (λ − 1)
12 l 3 103
linear veränderlich. Der Wert für die Biegesteifigkeit am lin-
ken Rand
1
EIA = EI0 = E · h3 bA
12
wird als Bezugsgröße verwendet. In der eckigen Klammer
der Formel oben stehen also die für die Formeln 18.7 benö-
tigten µ-Werte, die bei einer Einteilung des Trägers in nA
Abschnitte (Punkt 3 ist linker Randpunkt) in der Form i v̄i Exakt
i−3
1 −0.000409445
µi = 1 + (λ − 1) 2 −0.000204956
nA
3 0.000000000 0.000000000
aufgeschrieben werden können. Damit kann das Glei-
4 0.000204956
chungssystem bei entsprechender Unterstützung durch die
5 0.000409464
Software (siehe www.TM-aktuell.de) mit geringem Auf-
wand erzeugt werden. 13 0.001981580 0.001980908
23 0.003606643 0.003605449
Für eine (recht grobe) Einteilung des Trägers in nur nA =
33 0.004657002 0.004655431
100 Abschnitte (105 Gleichungen) wurden die Ergebnisse
43 0.005040644 0.005038842
ermittelt, von denen nebenstehend eine kleine Auswahl im
Vergleich mit der exakten Lösung angegeben ist. Es sind 52 0.004825657
die dimensionslosen Verschiebungen v̄i , die noch mit dem 53 0.004771756 0.004769868
4 54 0.004712320
Faktor qEIA lA , der aus den Gleichungen ausgeklammert wur-
de, multipliziert werden müssen. 63 0.003956104 0.003954281
73 0.002780082 0.002778476
Die Abweichungen von der exakten Lösung liegen deutlich
83 0.001502345 0.001501113
unter 0,2%, die Ergebnisse können praktisch als exakt ange-
sehen werden. Eine Rechnung mit einer feineren Untertei- 93 0.000447305 0.000446607
lung erübrigt sich. 103 0.000000000 0.000000000
282 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Die Frage, woher denn die Werte der exakten Lösung kommen, ist übrigens durchaus berechtigt.
Sie stammen aus der Auswertung der nachfolgend angegebenen exakten Biegelinie2 , die (un-
ter erheblichem Zeit- und Papieraufwand) durch Integration der Differenzialgleichung ermittelt
wurde. Von einer Nachahmung wird dringend abgeraten, das Nachempfinden der numerischen
Lösung mit dem Differenzenverfahren wird allerdings nachdrücklich empfohlen.
EIA 1 z 4 1 z 3 29 − 36 ln 2 z 2
v exakt (z) = 1 − − 1 − + 1 −
qA l 4 72 l 9 l 72 (1 − 2 ln 2) l
(18.8)
11 z z 1 z
− 1 − + 1 + ln + .
36 (1 − 2 ln 2) l l 2 2l
ê Eine Einzelkraft, die nicht am Trägerrand angreift (und dort über die Querkraft-Randbedin-
gung zu erfassen ist), wird zu einer Linienlast „verschmiert“:
Eine am Knoten i angreifende Kraft Fi
wird durch eine Linienlast
Fi
q∗i =
h
1 +1 1 +1
ersetzt (Abbildung 18.6), die mit einer
Wirkungsbreite h (jeweils h2 links und
rechts vom Punkt i) nur in die Glei- Abbildung 18.6: „Verschmieren“ einer Einzelkraft
chung für den Knoten i eingeht.
Der Fehler, der dadurch in die Rechnung hineinkommt, ist vernachlässigbar, weil er in der
Größenordnung des unvermeidbar beim Differenzenverfahren in Kauf genommenen Feh-
lers liegt und mit feinerer Unterteilung des Trägers kleiner wird (eigentlich ist ohnehin die
Einzelkraft eine „künstliche“ Größe, die in der Realität immer „verschmiert“ angreift).
2 Die
Möglichkeit des Vergleichs mit einer exakten Lösung ist natürlich eine seltene Ausnahme. Die exakte Biegelinie
wurde hier auch deshalb angegeben, um zu zeigen, wo man mit dem Versuch einer analytischen Lösung landet, wenn
man vom Pfad der „akademischen Probleme“ auch nur leicht abweicht.
18.1 Das Differenzenverfahren 283
ê Ein Einzelmoment Mi am Punkt i wird erfasst, indem es vorher durch ein an den Punkten
i − 1 und i + 1 angreifendes Kräftepaar ersetzt wird (die gewählten Vorzeichen gelten für ein
linksdrehendes Moment):
Mi Mi
Fi−1 = −Fi+1 = ⇒ q∗i−1 = −q∗i+1 = 2 .
2h 2h
ê Eine diskrete Feder am Punkt i bringt dort eine Einzel-
kraft
Fci −ci vi 1 +1
Fci = −ci vi ⇒ q∗i = =
h h
ein. Das Minuszeichen ist erforderlich, weil bei nach un-
ten gerichteter positiver Verschiebung die Feder mit einer
nach oben gerichteten Kraft (also entgegen der Richtung Abbildung 18.7: Diskrete Feder
positiver Kräfte) reagiert.
Auch diese Kraft wird verschmiert, q∗i kann allerdings nicht einfach der rechten Seite der
entsprechenden Gleichung zugeschlagen werden, weil die noch unbekannte Verschiebung vi
darin enthalten ist. Der von der Feder erzeugte Linienlastanteil wird deshalb als gesonderter
h4
Anteil in die Differenzengleichung 18.7 eingesetzt (muss dabei mit EI 0
multipliziert werden)
und wird dann auf die linke Seite der Gleichung gebracht. Die entstehende Gleichung
ci h3
µi−1 vi−2 − 2 (µi−1 + µi ) vi−1 + (µi−1 + 4 µi + µi+1 + ) vi
EI0
qi h4
− 2 (µi + µi+1 ) vi+1 + µi+1 vi+2 =
EI0
zeigt, dass es eine ganz einfache Möglichkeit gibt, eine diskrete Feder am Punkt i zu reali-
h3
sieren: Zum Hauptdiagonalelement dieser Gleichung wird ci EI 0
addiert. Eine andere Mög-
lichkeit der Realisierung von diskreten Federn wird im Abschnitt 19.2.3 vorgestellt. Diese
führt auf das gleiche Ergebnis wie die hier demonstrierte Variante.
ê Eine vorgeschriebene Verschiebung (dem Punkt i wird eine Verschiebung vv aufgezwun-
gen) wird erfasst, indem im Gleichungssystem die i-te Gleichung ersetzt wird durch
vi = vv .
ê Eine starre Zwischenstütze ist nur ein Sonderfall der vor- 1 +1
geschriebenen Verschiebung und wird dementsprechend
durch
vi = 0 Abbildung 18.8: Zwischenstütze
erfasst (man beachte die besondere Interpretation dieser Realisierung im Abschnitt 19.2.3).
ê Ein Gelenk am Punkt i wird berücksichtigt, indem die Biegesteifigkeit für den Punkt i gleich
Null gesetzt wird, realisiert durch
µi = 0 .
Natürlich müssen (auch bei ansonsten konstanter Biegesteifigkeit) bei der Realisierung ei-
nes Gelenks durch diesen simplen Trick in jedem Fall die Differenzengleichungen für die
Biegelinie bei veränderlicher Biegesteifigkeit 18.7 verwendet werden, weil neben der i-ten
Gleichung auch jeweils eine Gleichung davor und danach betroffen sind.
284 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Mh2
µ3 v2 − 2 µ3 v3 + µ3 v4 = ,
EI0
2 Fh3
−µ2 v1 + 2 µ2 v2 − (µ2 − µ4 )v3 − 2 µ4 v4 + µ4 v5 = .
EI0
ê Am rechten Rand angreifende Ein-
zelkräfte und Einzelmomente müs- 2
Mh2
µn−2 vn−3 − 2 µn−2 vn−2 + µn−2 vn−1 = − ,
EI0
2 Fh3
−µn−3 vn−4 + 2 µn−3 vn−3 − (µn−3 − µn−1 )vn−2 − 2 µn−1 vn−1 + µn−1 vn = − .
EI0
18.1 Das Differenzenverfahren 285
2 ch3
−µ2 v1 + 2 µ2 v2 − µ2 − µ4 − v3 − 2 µ4 v4 + µ4 v5 = 0 .
EI0
2 ch3
−µn−3 vn−4 + 2 µn−3 vn−3 − µn−3 − µn−1 + vn−2 − 2 µn−1 vn−1 + µn−1 vn = 0 .
EI0
Das folgende Beispiel zeigt, wie am linken Rand die Querkraft-Bedingung für die Feder nach
Abbildung 18.13 mit der Biegemoment-Bedingung nach Abbildung 18.11 kombiniert wird.
286 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Beispiel: 1
Für den skizzierten Trä-
ger, mit dem im Abschnitt 17.5
die Realisierung unterschiedlicher
Rand- und Übergangsbedingungen 1 1 2 2
demonstriert wurde (Seite 266),
1 2
sollen die Absenkung des Gelenks
und die Kraft in der Feder c2 be-
rechnet werden. 3 2
nur in den vier Elementen, die von den Federn beeinflusst sind. Wenn man also von nA = 25 auf
nA = 2500 übergeht, sind nur diese Elemente von der Änderung betroffen:
1 −2 1 v1 −1
−1 2 0, 04 −2 1
v2 0
1 −4 6 −4 1 v3 0
1 −4 6 −4 1
v4 0
.. ..
... ... ... ... . .
... ... ... ... .. ..
. .
1 −4 6 −4 1 v 0
13
1 −4 5 −2 0 v14 0
= .
1 −2 3, 1 −4 2
v15 0, 32
0 −4 10 −8 2 v16 0, 004
2 −8 12 −8 2 v17 0, 008
. .
.. ..
... ... ... ... ...
. . . . . . . . . . . . . . . ... ...
v28 0, 052
2 −8 12 −8 2
1 v29 0
1, 9 −4 2, 1 v30 0
Unter www.TM-aktuell.de findet man ein Matlab-Script, nA vGelenk [mm] Fc2 [N]
das dieses Gleichungssystem aufbaut und löst. Realisiert
25 4,9772 1244,3
wird das natürlich nicht durch den Aufbau einer 30*30-
250 4,9826 1245,6
Matrix und des entsprechenden Vektors der rechten Seite,
sondern für eine beliebige Diskretisierung nA . In der neben- 2500 4,9826 1245,7
stehenden Tabelle sind einige Ergebnisse zusammengestellt. Exakt 4,9826 1245,7
12 EIe 6 EIe
V̂1 = −V̂2 = − 3 v2 + 2 ϕ2 ,
le le 1
6 EIe 2 EIe Abbildung 18.19: Verformungen
M̂1 = −V̂2 le − M̂2 = − v2 + ϕ2 .
le2 le und Belastungen am Knoten 2
Wenn die für die beiden Fälle a und b berechneten Belastungen gleichzeitig auf das Element
aufgebracht werden (Addieren der Kräfte und Momente), dann rufen sie auch die Summe der
unter a und b erzeugten Verformungen hervor (Abbildung 18.20):
2 2
1 1
2 2
1 1
Abbildung 18.20: Addition der beiden Verformungsfälle zur Verformung des finiten Elements
V1 = V 1 + V̂1 , M1 = M 1 + M̂1 ,
V2 = V 2 + V̂2 , M2 = M 2 + M̂2
führt zur
ê Damit ist die theoretische Vorarbeit für die Berechnung des geraden Biegeträgers nach der
Finite-Elemente-Methode geleistet. Die Elemente mit zwei Freiheitsgraden pro Knoten (Ver-
schiebung und Biegewinkel) können - wie im Kapitel 15 beschrieben - zu Systemen zu-
sammengebaut werden. Wie im Kapitel 15 erläutert, werden durch den Einspeicherungs-
Algorithmus, der unverändert übernommen werden kann, die Gleichgewichtsbedingungen
erfüllt. Der wesentliche Vorteil der Finite-Elemente-Strategie liegt darin, dass man sie ganz
formal auf unterschiedliche Probleme übertragen kann.
ê Beim Einspeichern der Element-Steifigkeitsmatrizen in die System- 1,1 1,2
Steifigkeitsmatrix werden jeweils 2*2-Untermatrizen übertragen (wie bei
den Fachwerk-Elementen des Abschnitts 15.3). Im Gegensatz zu den
Fachwerk-Elementen des Abschnitts 15.3 können mit den durch 18.9 be-
schriebenen Elementen jedoch nur gerade Biegeträger (fluchtende Ele-
2,1 2,2
mente, keine Rahmen) berechnet werden.
Beispiel:
Für den skizzierten Biegeträger soll die Be-
rechnung der Verformung am Kraftangriffspunkt und des
Biegewinkels am rechten Lager nach dem Finite-Elemente-
Algorithmus demonstriert werden. Für das Element a sol-
len die Element-Knotenlasten berechnet werden.
EIb lb
Gegeben: EIa ; λ = = 0, 25 ; la ; µ = = 0, 5 ; F .
EIa la
1 2 2 2
1
1 1 2 2
1 2
1
1 1 2 2 1 1 2 2
Abbildung 18.21: FEM-Berechnungsmodell: 2 Elemente, 3 Knoten
−12
Die Abbildung 18.21 zeigt die Einteilung des 12 6 la 6 la
Systems in zwei finite Elemente a und b und die
4 la2 −6 la 2 la2
EIa
drei von den Elementen gelösten Systemknoten I, Ka =
la3
12 −6 la
II und III, auf die die äußeren Belastungen wirken
(gegebene Kraft F und die Lagerreaktionen FI , MI symm. 4 la2
und FIII ).
−24
24 6 la 6 la
Die Element-Steifigkeitsmatrizen für die Elemen-
2 la2 −6 la la2
te a und b werden nach 18.9 aufgeschrieben (ne- EIa
Kb = 3
benstehend, bei K b wurden die gegebenen Werte la
24 −6 la
für λ und µ bereits eingearbeitet).
symm. 2 la2
Zur Erinnerung: Wenn die Element-Steifigkeitsmatrizen nach den Regeln aus dem Kapitel 15
in die System-Steifigkeitsmatrix und die äußeren Belastungen in den System-Belastungsvektor
eingespeichert werden, dann garantiert die Lösung des so entstehenden Gleichungssystems,
18.2 Der Biegeträger als finites Element 291
Die äußere Kraft F wurde mit negativem Vorzeichen in den Belastungsvektor eingefügt, weil sie
entgegen dem für den Aufbau der Element-Steifigkeitsbeziehung gewählten Richtungssinn wirkt.
Auf die Positionen 4 und 6 des Belastungsvektors wurden Nullen gesetzt, weil keine äußeren
Momente an den Knoten II und III angreifen.
In der System-Steifigkeitsbeziehung sind die beiden Kräfte FI und FIII und das Moment MI und
die drei gesuchten Knotenverformungen vII , ϕII und ϕIII unbekannt. Die Gleichungen 1, 2 und 5
mit den unbekannten Belastungsgrößen werden zunächst aus dem Gleichungssystem herausge-
nommen. Gleichzeitig können die entsprechenden Spalten 1, 2 und 5 der System-Steifigkeitsma-
trix gestrichen werden, die ohnehin keinen Beitrag liefern, weil die zugehörigen Verschiebungs-
größen vI , ϕI und vIII den Wert Null haben (Einarbeiten der geometrischen Randbedingungen
durch „Zeilen-Spalten-Streichen“). Die zu streichenden Zeilen und Spalten sind in der System-
Steifigkeitsbeziehung grau unterlegt. Es verbleibt das folgende Gleichungssystem:
Fla3
36 vII + 6 la ϕIII = −
EIa
6 la2 ϕII + la2 ϕIII = 0
6 la vII + la2 ϕII + 2 la2 ϕIII = 0
292 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Wenn man die erste Gleichung durch la und die beiden anderen Gleichungen durch la2 dividiert,
findet man la nur noch bei der Unbekannten vII , so dass man mit der neuen Unbekannten vlIIa das
Gleichungssystem allgemein lösen kann:
vII v
II
36 0 6 −1 −11
la 2 la 2
0 Fla −6 Fla
0 6 1 = ⇒ = 180 EIa .
ϕII
EIa ϕII
6 1 2 ϕIII 0 ϕIII 36
Mit den nun bekannten Verformungen können aus den drei Gleichungen, die aus der System-
Steifigkeitsbeziehung zunächst gestrichen wurden, die Lagerreaktionen FI , FIII und MI berechnet
werden:
−11 Fla3 −6 Fla2
EIa 8
FI = 3 12 · 0 + 6 la · 0 − 12 · + 6 la · = F ,
la 180 EIa 180 EIa 15
−11 Fla3 −6 Fla2
EIa 3
MI = 3 6 la · 0 + 4 la2 · 0 − 6 la · + 2 la2 · = Fla ,
la 180 EIa 180 EIa 10
−11 Fla3 −6 Fla2 36 Fla2
EIa 7
FIII = 3 −24 · − 6 la · + 24 · 0 − 6 la · = F .
la 180 EIa 180 EIa 180 EIa 15
le le2
F1r = (7 q1 + 3 q2 ) , M1r = (3 q1 + 2 q2 ) ,
20 60 (18.10)
le le2
F2r = (3 q1 + 7 q2 ) , M2r = − (2 q1 + 3 q2 ) .
20 60
Auf entsprechendem Wege könnte man für andere Element-Belastungen die reduzierten Belas-
tungen ermitteln, im Allgemeinen kommt man aber mit den Formeln 18.10 aus, die als Sonder-
fälle die konstante Linienlast und die Dreieckslast enthalten. Für andere Verläufe bevorzugt der
Praktiker meist eine stückweise Näherung der tatsächlichen Belastungsfunktion durch Trapez-
lasten (Einteilung des Linienlastbereichs in mehrere finite Elemente).
294 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Die wichtigste Schritte bei der Berücksichtigung von Linienlasten, die am nachfolgenden Bei-
spiel noch einmal demonstriert werden, sind also:
ê Die auf die Elemente wirkenden Linienlasten werden durch reduzierte Belastungen ersetzt,
die als äußere Knotenlasten behandelt werden.
ê Das System, das dann nur noch durch Einzelkräfte und Einzelmomente an den Knoten be-
lastet ist, liefert bei der Berechnung nach dem Finite-Elemente-Algorithmus die Knoten-
verformungen exakt.
ê Bei der Berechnung der Element-Knotenbelastungen müssen für die Elemente, bei denen
Linienlasten ersetzt wurden, die reduzierten Belastungen subtrahiert werden. Für diese Ele-
mente verwendet man die nachfolgende Beziehung 18.11.
Beispiel: 0
Für den Biegeträger des Beispiels aus dem
vorigen Abschnitt sollen mit der nebenstehend skizzier-
ten Belastung alle Knotenverformungen und die Element-
Knotenlasten des Elements a berechnet werden.
EIb lb
Gegeben: EIa ; λ = = 0, 25 ; la ; µ = = 0, 5 ; q0 .
EIa la
Die Linienlast am Element a wird nach 18.10 durch 1 2
1
reduzierte Belastungen an den Elementknoten ersetzt
2
(negative Vorzeichen, weil die Linienlast in diesem
Beispiel nach unten gerichtet ist):
1
F1ra = F2ra = −
q0 la ,
FI − 21 q0 la
2
1 1
M1ra = −M2ra = − q0 la2 . MI − 12 q0 la2
12
−1 q l
Da die Abmessungen und Biegesteifigkeiten mit denen des Bei- 2 0 a
1 2
spiels aus dem vorigen Abschnitt übereinstimmen, können die q
12 0 a
l
Element-Steifigkeitsmatrizen und die System-Steifigkeitsmatrix
FIII
ungeändert übernommen werden. Im (nebenstehend zu sehenden)
0
System-Belastungsvektor tauchen nun allerdings die reduzierten
Knotenlasten auf den Positionen der Systemknoten I und II auf. System-Belastungsvektor
18.2 Der Biegeträger als finites Element 295
Man beachte, dass am Knoten I die reduzierten Belastungen zusätzlich zu den Lagerreaktionen FI
und MI auftauchen. Zwar werden diese Gleichungen bei der Verformungsberechnung zunächst
gestrichen, bei einer anschließenden Berechnung der Lagerreaktionen mit diesen Gleichungen
müssten diese Anteile berücksichtigt werden.
Nach dem Einarbeiten der geometrischen Randbedingungen durch „Zeilen-Spalten-Streichen“
verbleibt ein Gleichungssystem wie im Beispiel des vorigen Abschnitt, das sich von diesem nur
durch die geänderte rechte Seite unterscheidet:
q0 la4
36 vII + 6 la ϕIII = −
2 EIa
q0 la5
6 la2 ϕII + la2 ϕIII =
12 EIa
6 la vII + la2 ϕII + 2 la2 ϕIII = 0
Wenn man wieder die erste Gleichung durch la und die beiden anderen Gleichungen durch la2 di-
vidiert, findet man la nur noch bei der Unbekannten vII , so dass man mit der neuen Unbekannten
vII
la das Gleichungssystem allgemein lösen kann:
vII v
II
36 0 6 − 12 −1
la 3 la 3
1 q0 la 0 q0 la
0 6 1 = ⇒ = 36 EIa .
ϕ
II 12 EIa ϕ
II
6 1 2 ϕIII 0 ϕIII 3
Die Element-Knotenbelastungen für das Element a müssen hier mit der erweiterten Element-
Steifigkeitsbeziehung ermittelt werden. Der Element-Verformungsvektor wird mit den bekannten
bzw. berechneten Werten
q0 la4
vI = 0 , ϕI = 0 , vII = − , ϕII = 0
36 EIa
bestückt und in die erweiterte Element-Steifigkeitsbeziehung eingesetzt:
12 6 la −12 6 la −6
V1a 0 10
M1a EIa 6 la 4 la2 −6 la 2 la2 0 q0 la4 −la q0 la 3 la q0 la
= − =
.
V2a
la3
−12 −6 la 12 −6 la −1 36 EIa −6 12
2 12
ê Hier soll noch einmal auf die konsequent gehandhabte Vorzeichen-Regelung aufmerksam
gemacht werden: Sämtliche Kräfte und Verschiebungen wurden positiv nach oben definiert,
die Momente und Winkel sind linksdrehend positiv. Dies gilt für die äußere Belastung der
Knoten (Einzelkräfte bzw. -momente) und der Elemente (Linienlasten) ebenso wie für die
Ergebnisse (Knotenverformungen, Element-Knotenbelastungen, Lagerreaktionen).
Diese Aussage gilt für die Formulierung der Theorie. Den Programmierern von FEM-Pro-
grammen ist es natürlich freigestellt, für die Eingabe über die Benutzeroberfläche der Soft-
ware Vorzeichenregelungen zu treffen, die den Konventionen entsprechen, die dem Anwen-
der vertraut sind (z. B. für Biegeträger: Kräfte und Verschiebungen positiv nach unten).
296 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Auch wenn es bisher nicht so aussah: Die Methode der finiten Elemente ist ein Näherungsver-
fahren. Alle Beispiele im Kapitel 15 und im Abschnitt 18.2 lieferten allerdings Ergebnisse, die
im Rahmen der klassischen Theorien (ebene Fachwerke bzw. ebene Biegeträger) exakt waren.
Am Biegeträger lässt sich sehr schön demonstrieren, wo die Grenzen für die exakte Lösung sind.
Als bei der Herleitung der Element-Steifigkeitsbeziehung (Abschnitt 18.2.1) die Frage beantwor-
tet wurde, welche Knotenkräfte die Knotenverformungen v1 , ϕ1 , v2 und ϕ2 herrufen (Abbildung
18.25), war die Basis für die Antwort die Biegelinie (Kapitel 17). Wie diese Funktion aussieht,
die einen (lastfreien) verformten Träger mit vorgeschriebenen Verformungen an den Rändern
beschreibt, ist durch Integration der Biegelinie v0000 = 0 leicht zu ermitteln. Es wird nach vierma-
liger Integration eine Funktion 3. Grades, aus der sich mit den vier Randbedingungen v(0) = v1 ,
v0 (0) = ϕ1 , v(le ) = v2 , v0 (le ) = ϕ2 ergibt:
2 z2 z3 z2 z3
1 v(z) = 1 − 3 2 + 2 3 v1 + z − 2 + 2 ϕ1
2 le le le le
1 (18.12)
2 3 z2 z3
z z
+ 3 2 − 2 3 v2 + − + 2 ϕ2 .
Abbildung 18.25: v1 , ϕ1 , v2 , ϕ2
le le le le
Wenn sich die Verformungen aller Elemente mit dieser Funktion beschreiben lassen, ist das Er-
gebnis exakt. Mit dem Programm „Gerade Biegeträger“ (steht unter www.TM-interaktiv.de zur
interaktiven Nutzung zur Verfügung) soll demonstriert werden, was zu tun ist (und was von der
Software bereits getan werden konnte), um für die Fälle, bei denen sich die Verformung nicht
mehr durch die Biegelinie 18.12 beschreiben lässt, eine ausreichende Genauigkeit zu bekommen.
Die Abbildung 18.26 zeigt die Berechnung des Biegeträgers von Seite 290.
Die Ergebnisse sind erwartungsgemäß exakt, weil die Verformung der last-
freien Elemente mit 18.12 beschrieben werden kann. Deshalb darf man auch
auf die grafische Darstellung der Biegelinie (Verformungen innerhalb der Ele-
mente) und die Angabe der maximalen Durchbiegung vertrauen.
0
Die Aussage des letzten Satzes gilt nicht mehr für das Bei-
spiel aus dem Abschnitt 18.2.2 (Abbildung 18.27), weil
bei der Herleitung der reduzierten Lasten, die die Linien-
last für die FEM-Rechnung ersetzen, gezeigt wurde, dass
dann mit dem FEM-Algorithmus nur noch die Knotenver- Abbildung 18.27: Verformungen des
formungen exakt berechnet werden. linken Elements können nicht mehr al-
Aber dieser Mangel kann geheilt werden: lein nach 18.12 berechnet werden
Das Originalsystem setzt sich nach Abbildung 18.23 auf Seite 293 aus dem reduzierten System
und einem beidseitig eingespannten Träger zusammen. Den nach 18.12 berechneten Verformun-
gen innerhalb eines Elements müssen die Verformungen des beidseitig eingespannten Trägers
unter der entsprechenden Linienlast überlagert werden.
Das Programm „Gerade Biegeträger“ unter www.TM-interaktiv.de führt die-
se Nachbesserung der FEM-Berechnung automatisch aus, so dass auch die
Verformungen von Elementen mit linear veränderlicher Linienlast (Trapez-
last) exakt ausgegeben werden. Weil es auch die unterschiedlichsten Lager
(einschließlich Feder und Drehfeder) und Gelenke exakt erfasst, liefert sogar
das System der Abbildung 18.28 exakte Werte im Sinne der klassischen Bie-
getheorie. Dies ist für dieses System sogar überprüfbar, weil dieser Träger im
Abschnitt 17.5 (Seite 265) durch Integration der Biegelinie berechnet wurde.
Fazit: Exakt werden fol-
gende Eigenschaften des
Biegeträgers erfasst bzw.
durch Nachbesserung korri-
giert: Stückweise konstan-
te Biegesteifigkeiten, star-
re Einspannungen, momen-
tenfreie Lager, lineare Fe-
dern und Drehfedern, Ge-
lenke, Einzelkräfte, Einzel-
momente und linear verän-
Abbildung 18.28: Biegeträger des Beispiels 3 aus Abschnitt 17.5
derliche Linienlasten.
298 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Der Zusammenhang zwischen den Kräften in Längsrichtung und den entsprechenden Knoten-
verschiebungen ist mit Gleichung 15.3 (Seite 197) für den durch Normalkräfte belasteten Stab
gegeben, der Zusammenhang zwischen den Kräften in Querrichtung und den Momenten einer-
seits und den zugehörigen Verformungen andererseits wird durch die Element-Steifigkeitsmatrix
für den Biegeträger 18.9 (Seite 289) hergestellt. Beide Gleichungen werden nun zur Element-
Steifigkeitsbeziehung für das Rahmenelement zusammengefasst:
Al 2 Al 2
0 0 − 0 0
ũ1
Ũ1
I e I e
ṽ1
−12 6 le
Ṽ1
12 6 le 0
4 le2 0 2
−6 le 2 le ϕ̃1
M̃1 EI
= .
(18.13)
3
l e Al 2
Ũ2
ũ2
0 0
I
ṽ2
Ṽ
2
e
12 −6 le ϕ̃2
M̃ 2
symm. 4 le2
300 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Auf die gleiche Weise entstehen fünf weitere Gleichungen, die mit der für U1 entwickelten Glei-
chung zusammengefasst werden zur
1
mit den Untermatrizen
12 s2 + β c2 (β − 12)sc −6 le s −12 s2 − β c2 −(β − 12)sc −6 le s
K 11 =
12 c2 + β s2 6 le c 2 2
, K 12 = −(β − 12)sc −12 c − β s 6 le c ,
Auch hier werden Elementbelastungen durch äquivalente Knotenlasten ersetzt und den äußeren
Belastungen zugeschlagen. Dafür werden folgende Vereinbarungen getroffen:
ê Für Linienlasten, die senkrecht zum Element wirken, wird eine Vorzeichenregel vereinbart:
Bei Fortschreiten vom ersten zum zweiten Elementknoten zeigen die Pfeilspitzen positiver
Linienlasten nach links. Die reduzierten Knotenlasten für eine linear veränderliche Lini-
enlast (Trapezlast) können dann durch Zerlegung der mit 18.10 gegebenen Belastungen in
Komponenten in Richtung der Achsen des globalen Koordinatensystems gewonnen werden.
ê Anfangsdehnungen und
Temperaturdehnungen wer- 2
2 2
den wie im Abschnitt 15.4 1
durch die Knotenkräfte 2
0 1
15.10 ersetzt, die für das 1
1
Rahmenelement auf die
Positionen der Kräfte gesetzt
werden (Abbildung 18.36), Abbildung 18.36: Reduzierte Knotenlasten infolge Linienlast,
Momente entstehen durch Temperatur- und Anfangsdehnung
diese Belastungen nicht.
302 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Die erweiterte Element-Steifigkeitsbeziehung für das Rahmenelement kann dann in der Form
U1 u1 F1xr
V1 v F
1 1yr
M1
K 11 K 12
ϕ M
= EI 1 − 1r (18.17)
U2
l3 e K T12 K 22 u2 F2xr
V v F
2 2 2yr
M2 ϕ2 M2r
mit
le
−EAe (αt ∆T + ε0 )e cos α − (7 q1 + 3 q2 ) sin α
20
l
F1xr e
−EAe (αt ∆T + ε0 )e sin α + (7 q1 + 3 q2 ) cos α
F1yr 20
2
le
M1r (3 q1 + 2 q 2 )
= 60
(18.18)
F2xr EA (α ∆T + ε ) cos α − le (3 q + 7 q ) sin α
e t 0 e 1 2
F
20
2yr
EA (α ∆T + ε ) sin α + le (3 q + 7 q ) cos α
e t 0 e 1 2
M2r
20
le2
− (2 q1 + 3 q2 )
60
aufgeschrieben werden.
Nach der Verformungsberechnung am System können bei dann bekannten Knotenverformungen
die Element-Knotenbelastungen nach 18.16 oder 18.17 ermittelt werden, deren Richtungen sich
auf das globale Koordinatensystem beziehen. Deshalb ist es vielfach wünschenswert, diese wie-
der in die „normalen“ Schnittgrößen umzuwandeln. Aus der nachfolgenden Skizze abzulesen
sind die
2 2
Schnittgrößen für ein Rahmenelement:
1 2
FN1 = −U1 cos α −V1 sin α ,
1
FQ1 = −U1 sin α +V1 cos α , 1
Mb1 = −M1 ,
(18.19) 2 2
FN2 = U2 cos α +V2 sin α ,
FQ2 = U2 sin α −V2 cos α , 1
2
Mb2 = M2 .
1 1
18.2 Der Biegeträger als finites Element 303
Beispiel:
Für den skizzierten Rah-
men sind die Verformungsgrößen
und die Schnittgrößen an der Kraft-
angriffsstelle und an der Rahmen-
ecke zu berechnen.
Al 2
Gegeben: l ; F ; EI ; β = = 104 ; αa = 45◦ .
I
Wegen der Symmetrie (Abmessungen, Lagerung, Belastung) /2
braucht nur eine Hälfte des Rahmens betrachtet zu werden, so 1 2
2
dass das System nur in zwei finite Elemente unterteilt werden
muss. Entsprechend Abbildung 18.37 ist eine Symmetriehälfte
durch die Kraft F2 belastet. Die geometrischen Symmetriebedin- 1
gungen (verhinderte Verschiebung in horizontaler Richtung und
horizontale Tangente der Biegelinie im Symmetrieschnitt) wer- Abbildung 18.37: Berechnungs-
den durch eine entsprechende Lagerung simuliert. modell: Symmetriehälfte
Für die beiden Elemente a und b können die Element-Steifigkeitsmatrizen nach 18.16 mit den
folgenden Untermatrizen aufgeschrieben werden:
√
5006 4994 −3 2 l 10000 0 0
√
K 11,a =
5006 3 2l , K 11,b =
12 6l ,
symm. 4l 2 symm. 4l 2
√
−5006 −4994 −3 2 l −10000 0 0
√
−4994 −5006
K 12,a = 3 2l , K 12,b = 0 −12 6 l ,
√ √ 2 2
3 2 l −3 2 l 2l 0 −6 l 2 l
√
5006 4994 3 2l 10000 0 0
√
K 22,a =
5006 −3 2 l , K 22,b =
12 −6 l .
symm. 4l 2 symm. 4l 2
Fünf Knotenverformungen sind durch die Lagerung behindert (uI , vI und ϕI an der Einspannung
und uIII und ϕIII im Symmetrieschnitt). Nach Streichen der entsprechenden Zeilen und Spal-
ten 1, 2, 3, 7 und 9 (Einarbeiten der geometrischen Randbedingungen durch „Zeilen-Spalten-
Streichen“) verbleibt das folgende Gleichungssystem (es wurde wieder der auf Seite 292 be-
schriebene kleine Trick angewendet, der dimensionslose Matrixelemente erzeugt):
304 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
uII
√
15006 4994 3 2 0 l 0
√
vII
6−3 2 −12
2
5018 0
Fl
l
=
.
EI
8 −6 0
ϕII
v
symm. 12 III −0, 5
l
Für den Vektor der äußeren Knotenbelastungen (rechte Seite des Gleichungssystems) lieferte nur
die Kraft F2 am Knoten III einen Anteil (negativ, weil nach unten gerichtet), weil der Knoten II
unbelastet ist.
Die nebenstehend angegebene Lösung zeigt, dass uII
sich die Rahmenecke (im Vergleich zum Kraftan- l 0, 00009227
vII
griffspunkt) kaum verschiebt (www.TM-aktuell.de). −0, 00023454 Fl 2
l
Dies liegt daran, dass nur durch Längenänderung der =
EI
II −0, 05027731
ϕ
Elemente eine Verschiebung dieses Punktes möglich
v
ist, während sich der Kraftangriffspunkt im Wesent- III −0, 06703986
lichen infolge der Biegeverformung verschiebt. l
Die Berechnung der Element-Knotenkräfte soll für das Element b demonstriert werden. Die be-
reits formulierten Untermatrizen der Element-Steifigkeitsmatrix und die nun bekannten Knoten-
verformungen der Knoten II und III werden in 18.16 eingesetzt:
10000 0 0 −10000 0 0
U1 0, 00009227 l
0 12 6l 0 −12 6l
−0, 00023454 l
V1
4 l2 2 l2
M1
EI 0 6l 0 −6 l −0, 05027731 Fl 2
=
EI .
l 3 −10000
U2
0 0 10000 0 0 0
0 −12 −6 l 0 12 −6 l −0, 06703986 l
V
2
M2 0 6l 2 l2 0 −6 l 4 l2 0
b
Die Element-Knotenkräfte, die sich aus dieser Matrizenmultiplikation ergeben, stimmen für das
Element b bis auf die Vorzeichen mit den Schnittgrößen an den Elementknoten, die nach 18.19
berechnet werden, überein:
U1 0, 9227 FN1 −0, 9227
V1 0, 5000 FQ1 0, 5000
0, 1997 l −0, 1997 l
M1 Mb1
= F ⇒
=
F .
U2 −0, 9227 FN2 −0, 9227
V −0, 5000 F 0, 5000
2 Q2
M2 b
0, 3003 l Mb2 b
0, 3003 l
18.3 Aufgaben 305
18.3 Aufgaben
Aufgabe 18.1: 1
Für den skizzierten zweifach statisch
unbestimmt gelagerten Träger mit konstanter Biege-
steifigkeit EI ist die Durchbiegung näherungsweise mit
dem Differenzenverfahren zu bestimmen. /4 /4 /2
Aufgabe 18.2:
Für den skizzierten Biegeträger sind mit
Hilfe des Differenzenverfahrens die Biegelinie und die 4 2
Verläufe von Biegemoment und Querkraft zu berechnen.
Gegeben: l , F , I , E = konst.
2
5 5 5 5
Für das statisch bestimmte System sind die Schnittgrößen am mittleren Lager problemlos exakt
zu berechnen. Man vergleiche diese Werte mit den Näherungswerten, die das Differenzenverfah-
ren liefert. Die Absenkungen der Kraftangriffspunkte sind mit der Finite-Elemente-Methode zu
überprüfen3 .
Aufgabe 18.3:
Für den skizzierten
1
Biegeträger sind mit Hilfe des Diffe- 2 3
renzenverfahrens die Biegelinie und die
Verläufe von Biegemoment und Quer- 1 1 2 2
kraft zu berechnen.
Gegeben:
a = 150 mm ; b = 100 mm ; EI1 = 3 · 109 Nmm2 ; c1 = 8 kN/mm ; F = 12 kN ;
c = 200 mm ; d = 300 mm ; EI2 = 6 · 109 Nmm2 ; c2 = 0, 4 kN/mm ; M = 160 Nm ;
e = 100 mm ; f = 200 mm ; EI3 = 2 · 109 Nmm2 ; cT = 180 kNm ; q1 = 20 N/mm .
Die Ergebnisse sind mit der Finite-Elemente-Methode zu überprüfen3 .
3 Nutzung eines geeigneten Programms, zu finden z. B. unter www.TM-interaktiv.de
306 18 Computer-Verfahren für Biegeprobleme
Aufgabe 18.4:
Die Theorie des idealen Fachwerks (reibungsfreie Gelenke, Stäbe nehmen nur
Zug- bzw. Druckkräfte auf) ist mit der (im Allgemeinen realen) Ausführung des Tragwerks mit
biegesteifen Verbindungen (Knotenbleche) zu vergleichen. Alle Stäbe bzw. Biegeträger haben
den gleichen Rechteckquerschnitt mit der Breite b und der Höhe h.
1 7 3 2 1 7 3 2
6 6
5 1 5 1
8 3 8 3
4 4
9 4 7 9 4 7
6 6
10 10
2 5 2 5
2 2 2 2
Aufgabe 18.5: 0 1 1
Ein biegesteifer Rahmen ist
durch eine Dreieckslast und zwei konstan- 0
te Linienlasten belastet. Alle Elemente haben
den gleichen Querschnitt. 2 2
Gegeben: a = 2 m ; EA = ; 1010 N
q0 = 3 kN/m ; EI = 1012 Nmm2 ;
q1 = q2 = 1 kN/m .
2
a) Mit einem FEM-Programm, das die Berechnung ebener biegesteifer Rahmentragwerke ge-
stattet4 , berechne man die Knotenverschiebungen des Rahmens und vergleiche sie mit den
Ergebnissen, die man erhält, wenn die Linienlasten durch ihre Resultierenden (rechte Skiz-
ze) ersetzt werden.
b) Man stelle die ermittelten Schnittgrößen an den Elementknoten des mit e bezeichneten Ele-
ments für beide Varianten einander gegenüber.
c) Das Gleichgewicht der Lagerreaktionen mit den äußeren Lasten ist zu überprüfen.
Wie in der Statik vereinbart (Abschnitt 8.4), werden die Biegemomente Mby und Mbx am posi-
tiven Schnittufer so angetragen, dass die im Bereich positiver x- bzw. y-Werte liegenden Fasern
auf Zug beansprucht werden (Abbildung 19.1). Der Vorteil dieser Vereinbarung, zwei ebene
Probleme mit gleicher Definition positiver Momente betrachten zu können, gilt auch für die Bie-
gespannungsberechnung: Die aus zwei gleichartigen Formeln zu gewinnenden Spannungsanteile
können einfach durch Addition überlagert werden, und man erhält die
ê Die Formel 19.1 gestattet die Berechnung der Biegespannung für jeden Punkt des Quer-
schnitts. Bei Beachtung der Vereinbarung für die Definition positiver Biegemomente erge-
ben sich automatisch auch die richtigen Vorzeichen für die Spannungswerte.
Die Spannungsfunktion σb (x, y) ist linear in x und y. Man kann sie sich als Ebene veranschauli-
chen, die die x-y-Ebene (Querschnitts-Ebene) entlang der Geraden
Mbx Mby
y+ x=0
Ixx Iyy
schneidet. Diese so genannte Spannungs-Null-Linie geht durch den Schwerpunkt des Quer-
schnitts. Die auf ihr liegenden Punkte des Querschnitts sind biegespannungsfrei.
Auf einer Seite der Spannungs-Null-Linie liegen die Punkte mit positiver Biegespannung (Zug),
auf der anderen Seite die Punkte mit negativer Biegespannung (Druck). Da die Spannungsfunk-
tion durch eine Ebene repräsentiert wird, wachsen die σb -Werte proportional mit dem (senk-
rechten) Abstand der Querschnittspunkte von der Spannungs-Null-Linie, und es ergibt sich die
wichtige Aussage über den
Beispiel 1:
Ein Kragträger
mit Rechteckquerschnitt sin
(Seitenverhältnis: bh = 2)
cos
ist am freien Ende durch
eine Einzelkraft F belas-
tet, deren Wirkungslinie
durch den Schwerpunkt der
Querschnittsfläche verläuft
Abbildung 19.2: Kraft F: Zerlegung in Hauptzentralachsen-Richtungen
(tan α = 2).
Man diskutiere den Spannungsverlauf im Einspannquerschnitt.
Die Kraft F wird in zwei Komponenten in Richtung der Hauptzentralachsen zerlegt (Abbildung
19.2), und an der Einspannstelle ergeben sich damit die Extremwerte der Biegemomente
Mbx = −Fl sin α , Mby = −Fl cos α .
Damit erhält man nach 19.1 folgende Biegespannungsvertei-
lung im Einspannquerschnitt:
12 Fl y x
Drehachse
σb = − sin α + cos α .
bh h2 b2 von =
Aus σb = 0 ergibt sich die Spannungs-Null-Linie für diesen
Querschnitt:
h2
y = −x 2 cot α Spannungs-
b Null-Linie
bzw. mit den gegebenen Zahlenwerten: Abbildung 19.3: Biegeachse und
Spannungs-Null-Linie sind im
y = −2 x (Abbildung 19.3) .
Allgemeinen nicht identisch
Die Extremwerte der Biegespannung ergeben sich in den Eckpunkten der Rechteckfläche im
ersten Quadranten (Druck) und im dritten Quadranten (Zug).
ê Dieses Beispiel bringt eine wichtige Information: Die Spannungs-Null-Linie steht im Allge-
meinen nicht senkrecht auf der Belastungsebene und ist damit auch nicht mit der Biegeachse
(Drehachse des Gesamtbiegemoments Mb = Fl in diesem Querschnitt) identisch.
Beispiel 2:
Der skizzierte Träger mit einem
Normprofil (Abmessungen siehe Abbildung
Quer-
19.4) ist durch die vertikale Kraft F belastet. schnitt
Gegeben: F = 1 kN ; l = 1 m . /3 2 /3 30
tan α oξ oη eξ eη aξ aη Iξ ξ Iηη
cm cm cm cm cm cm cm4 cm4
1,655 3,86 0,58 0,61 1,39 3,54 0,87 18,1 1,54
30
Die maximale Spannung tritt in dem Querschnittspunkt auf, der am weitesten von der Spannungs-
Null-Linie Iξ ξ Spannungs-
η =− tan α · ξ = −19, 45 ξ Null-Linie
Iηη
entfernt ist (nebenstehende Skizze). Dies sind offensichtlich die Punkte
e bzw. ē. Mit den auf das ξ -η-System bezogenen Koordinaten dieser
Punkte, die man der Tabelle in Abbildung 19.4 entnimmt, erhält man
für die Punkte e bzw. ē:
σb, e = −176 N/mm2 ; σb, ē = +176 N/mm2 .
Es empfiehlt sich, vorsichtshalber auch für die Punkte a und o die Spannungen zu berechnen.
Man erhält jedoch (wie erwartet) kleinere Werte.
19.1 Schiefe Biegung 311
Beispiel 3:
Der skizzierte Träger mit 0
Rechteckquerschnitt trägt Belastungen in 0
zwei unterschiedlichen Lastebenen. Es sind
die Richtungen der resultierenden Durchbie-
2
gungen am freien Trägerende und in Träger-
mitte für das Belastungsverhältnis qF0 l = 2 zu
berechnen.
Da die beiden Lastebenen senkrecht zu den Hauptzentralachsen des
Querschnitts liegen, dürfen jeweils die Beziehungen der einfachen Bie-
gung verwendet werden. Mit dem nebenstehend skizzierten Koordina- 0
tensystem gelten sowohl für die x-z-Ebene, in der die Kraft F wirkt, als
auch für die y-z-Ebene, in der die Linienlast wirkt, alle Vereinbarungen,
die im Kapitel 17 (für das ebene Biegeproblem) verwendet wurden, so
dass die Formeln des Abschnitts 17.4 verwendet werden dürfen.
Zur Unterscheidung werden die Verschiebungen in y-Richtung (wie im
Kapitel 17) mit v und die in x-Richtung mit u bezeichnet (nebenstehende
Skizze). Die Richtung der durch geometrische Überlagerung zu ermit-
telnden Gesamtverschiebung wird durch den Winkel α gekennzeichnet.
Mit den Flächenträgheitsmomenten (Abschnitt 16.2.2)
2 4 1 4
Ixx = a , Iyy = a
3 6
errechnet man mit den Formeln der beiden Lastfälle e bzw. f des Abschnitts 17.4 die Durchbie-
gungen: q0 l 4 3 q0 l 4 Fl 3 Fl 3
v(z = 0) = = 4
, u(z = 0) = − = −2 4 ,
8 EIxx 16 Ea 3 EIyy Ea
l 17 q0 l 4 17 q0 l 4 5 Fl 3 5 Fl 3
, u z = 2l = −
v z= 2 = = 4
=− .
384 EIxx 256 Ea 48 EIyy 8 Ea4
Die resultierenden Durchbiegungen an den betrachteten Stellen folgen aus
q q
f (z = 0) = u2 (0) + v2 (0) , f z = 2l = u2 2l + v2 l
2
Unter Beibehaltung der Definitionen des Kapitels 17 für die Schnittgrößen, die Koordinaten und
Durchbiegungen kann die Differenzialgleichung der Biegelinie 4. Ordnung 17.4 um ein zusätzli-
ches Glied (Linienlast infolge des Bettungsdrucks) ergänzt werden. Die resultierende Linienlast
aus der äußeren Belastung q(z) und der entgegengesetzt gerichteten Bettungs-Linienlast p(z)
qres (z) = q(z) − p(z) = q(z) − k(z)v(z)
wird in 17.4 eingesetzt, und man erhält aus
d2 d 2 v(z)
EI(z) = qres (z) = q(z) − k(z)v(z)
dz2 dz2
durch Umordnen die
Die vier Integrationskonstanten, die in der allgemeinen Lösung der Differenzialgleichung 4. Ord-
nung auftauchen, müssen aus Rand- und Übergangsbedingungen bestimmt werden. Dafür gilt
alles, was im Abschnitt 17.3 behandelt wurde. Auch für die Schnittgrößen gelten weiter die be-
kannten Beziehungen:
Die „Gewöhnliche inhomogene lineare Differenzialgleichung 4. Ordnung“ 19.3 kann in der Re-
gel nicht geschlossen gelöst werden. Glücklicherweise ist der nachfolgend behandelte Sonderfall
„Biegesteifigkeit EI = konstant und Bettungszahl k = konstant“ besonders wichtig. Die Differen-
zialgleichung kann unter dieser Voraussetzung durch die Biegesteifigkeit dividiert werden, es
ergibt sich die
Differenzialgleichung der Biegelinie des elastisch gebetteten Trägers mit konstanter Bie-
gesteifigkeit und konstanter Bettungszahl:
k q(z)
v0000 + k∗ v = q∗ mit k∗ = , q∗ (z) = . (19.4)
EI EI
Lösung der Differenzialgleichung des elastisch gebetteten Trägers mit konstanter Bie-
gesteifigkeit und konstanter Bettungszahl, belastet mit einer Linienlast, die durch eine
Potenzfunktion maximal 3. Grades beschrieben wird:
q(z) z
z z −z z z
v= +e L C1 cos +C2 sin + e L C3 cos +C4 sin
k L L L L
r (19.6)
4 4 EI
mit L= .
k
Beispiel:
Für den skizzierten elastisch gebetteten Träger 0
sind der Verlauf der Biegelinie und der Biegemomentenver-
lauf zu bestimmen.
EI
Gegeben: q0 , EI , l , k = 1024 4 .
l
Es gilt die allgemeine Lösung 19.6 für die Differenzialgleichung der Biegelinie des elastisch
gebetteten Trägers mit konstanter Biegesteifigkeit und konstanter Bettungszahl, die folgenden
Randbedingungen angepasst werden muss:
1.) v(0) = 0 , 2.) v0 (0) = 0 , 3.) v(l) = 0 , 4.) Mb (l) = 0 ⇒ v00 (l) = 0 .
Neben der Verschiebungsfunktion v(z) werden also noch deren 1. und 2. Ableitungen benötigt:
q0 z
z z −z z z
v(z) = + e L C1 cos +C2 sin + e L C3 cos +C4 sin ,
k L L L L
z z
eL h z z i e− L h z zi
v0 (z) = (C1 +C2 ) cos + (C2 −C1 ) sin + (C4 −C3 ) cos − (C3 +C4 ) sin ,
L L L L L L
2 z z z 2 z
z z
v00 (z) = 2 e L −C1 sin +C2 cos + 2 e− L C3 sin −C4 cos .
L L L L L L
Die Verschiebungsfunktion v(z) und ihre Ableitungen werden in die vier Randbedingungs-Glei-
chungen eingesetzt, und es ergibt sich ein lineares Gleichungssystem für die vier Integrations-
konstanten:
1 0 1 0 C1
−1
l 1 1 −1 1
= 0 q0 .
C2
l l l − l l − l l
e cos L e L sin L e L cos L e L sin L C3 −1 k
L
l l l l
−e L sin l e L cos l e− L sin l −e− L cos l C4 0
L L L L
q0 l 4
z 4z 4z z 4z 4z
v(z) = 1 + e 4 l C1∗ cos +C2∗ sin + e− 4 l C3∗ cos +C4∗ sin ,
1024 EI l l l l
2
q0 l z 4z 4z z 4z 4z
Mb (z) = − e 4 l −C1∗ sin +C2∗ cos + e− 4 l C3∗ sin −C4∗ cos .
32 l l l l
Der Zahlenwert für k war erforderlich, um in der Koeffizientenmatrix des Gleichungssystems für
die Bestimmung der Integrationskonstanten für den Quotienten Ll einen Zahlenwert zu erhalten.
Die Frage, ob man das Gleichungssystem (immerhin nur vier Gleichungen) nicht allgemein lösen
könnte, ist in diesem Fall mit einem „Ja, aber“ zu beantworten.
Dabei braucht man sich die Lösung des Gleichungssystems „von Hand“ nicht
anzutun. Programme, die symbolisch rechnen können, liefern durchaus ein
korrektes Ergebnis ab (Ergebnisse dieser Art siehe www.TM-aktuell.de). Die
Ausdrücke für die Konstanten sind aber so kompliziert, dass das eigentliche
Ziel solcher Rechnungen, den Einfluss der Parameter auf die Resultate zu
erkennen, nur sehr bedingt erreicht wird.
Aber es geht! Folgende Integrationskonstanten liefert z. B. Maple nach symbolischer Rechnung
ab:
2 −l/L cos(l/L)+e−2l/L −el/L cos(l/L)
− −1+2cos (l/L)+2sin(l/L)cos(l/L)−e
4sin(l/L)cos(l/L)−e 2l/L +e −2l/L
C1 −1+2cos2 (l/L)−2sin(l/L)cos(l/L)−2e−l/L cos(l/L)+el/L sin(l/L)+e−l/L sin(l/L)+e−2l/L
C2 q0 4sin(l/L)cos(l/L)−e2l/L +e−2l/L
= .
C3 k
e 2l/L 2 l/L
−1+2cos (l/L)−2sin(l/L)cos(l/L)−e cos(l/L)−e −l/L cos(l/L)
4sin(l/L)cos(l/L)−e2l/L +e−2l/L
C4
e2l/L −el/L sin(l/L)−2el/L cos(l/L)+2sin(l/L)cos(l/L)+2cos2 (l/L)−1−e−l/L sin(l/L)
4sin(l/L)cos(l/L)−e2l/L +e−2l/L
Auch wenn der geübte Rechner hier noch etwas Potenzial zur Vereinfachung dieser Ausdrücke
sieht, kann man aus solchen Formel-Monstern doch nichts entnehmen. Um es deutlich zu sagen:
Symbolische Rechnung kann hier nicht empfohlen werden. Gegebenenfalls sollte man die Rech-
nung für mehrere unterschiedliche Parameterwerte durchführen, so dass man eine Kurvenschar
erhält, aus der man den Einfluss der interessierenden Parameter ablesen kann.
19.2 Der elastisch gebettete Träger 317
Das einfache Beispiel des vorigen Abschnitts hat gezeigt, dass trotz konstanter Biegesteifigkeit
und konstanter Bettungszahl der Rechenaufwand bei einer exakten Lösung recht erheblich wird.
Deshalb bietet sich schon für solche Aufgaben eine numerische Lösung an, die bei komplizier-
teren Problemen ohnehin unumgänglich ist.
Da sich die Differenzialgleichungen der Biegelinie des elastisch gebetteten Trägers 19.3 bzw.
19.4 nur durch den Bettungsanteil k(z)v(z) von den Differenzialgleichungen der Biegelinie des
nicht gebetteten Trägers unterscheiden, für die im Abschnitt 18.1 die Differenzenformeln herge-
leitet wurden, müssen die Formeln 18.2 bzw. 18.4 nur um diesen Anteil ergänzt werden. Weil der
4
Bettungsanteil keine Ableitung enthält, wird er am Punkt i einfach zu ki vi , und die mit hE multi-
plizierten Differenzengleichungen des Abschnitts 18.1 werden um genau einen Term ergänzt.
Differenzengleichung der Biegelinie des elastisch gebetteten Trägers bei konstanter Bie-
gesteifigkeit:
ki h4 qi h4
vi−2 − 4 vi−1 + 6 + vi − 4 vi+1 + vi+2 = . (19.8)
EI EI
ê Auch in der einfacheren Differenzenformel 19.8 darf die Bettungszahl veränderlich sein (an
jedem Punkt i einen anderen Wert haben). Dies wird in den nachfolgenden Überlegungen zu
den Übergangsbedingungen genutzt.
ê Für die Berechnung der Biegemomente und Querkräfte gelten für den elastisch gebetteten
Träger die gleichen Differenzialbeziehungen wie für den Träger ohne elastische Bettung.
Deshalb dürfen die Differenzenformeln 18.3 bzw. 18.5 ungeändert übernommen werden.
zusätzliche Möglichkeiten für die Berücksichtigung von linearen Federn, vorgeschriebenen Ver-
schiebungen und Zwischenstützen an, die einerseits eine Bestätigung der Strategien sind, die im
Abschnitt 18.1.4 beschrieben wurden, andererseits sogar noch einfacher zu realisieren sind.
ê Federn mit linearem Federgesetz können zu
einer elastischen Bettung „verschmiert“ wer- 1 +1 1 +1
den, die (wie die Linienlast, die eine Einzel-
kraft ersetzt) nur auf einen Punkt wirkt:
ci =
ki = .
h Abbildung 19.6: „Verschmieren“ einer Feder
Praktische Realisierung: Das Hauptdiagonalelement der i-ten Gleichung wird vergrößert um
4 3
ki hE = ci hE . Dies entspricht der bereits im Abschnitt 18.1.4 beschriebenen Strategie.
ê Eine Zwischenstütze kann als Sonderfall einer „Feder mit unendlicher Steifigkeit“ angese-
hen werden und deshalb besonders bequem durch extreme Vergrößerung des Hauptdiago-
nalelements der i-ten Gleichung realisiert werden (bei Division dieser Gleichung durch ihr
Hauptdiagonalelement wird dieses gleich 1, und alle übrigen Koeffizienten dieser Gleichung
werden näherungsweise Null, was der im Abschnitt 18.1.4 besprochenen Realisierung von
Zwischenstützen entspricht).
Diese Realisierungsvariante hat den Vorteil, dass nur
ein Matrixelement geändert werden muss. Eventuell im i
Belastungsvektor (rechte Seite) stehende Größen ha-
|
ben ebenso wenig Einfluss wie die übrigen Elemente in
30
− − 10 − − i
der Zeile i der Koeffizientenmatrix. Deshalb wird die-
|
se Möglichkeit, verhinderte Verschiebungen zu simu- |
lieren, auch bei der Finite-Elemente-Rechnung bevor-
Ein „Riese“ auf der Hauptdiagonalen
zugt, zumal die dort sehr wichtige Symmetrie der Ko- verhindert die Verschiebung vi .
effizientenmatrix dadurch nicht gestört wird.
ê Der beschriebene „Zwischenstützen-Trick“ kann für die Realisierung einer vorgeschriebe-
nen Verschiebung (dem Punkt i wird die Verschiebung vv aufgezwungen) folgendermaßen
modifiziert werden: Zusätzlich zu dem extrem großen Wert auf der Hauptdiagonalen wird
als rechte Seite das vv -fache dieses Wertes eingesetzt. Es ist evident, dass dann nach einer
Division der Gleichung durch ihr Hauptdiagonalelement genau die im Abschnitt 18.1.4 für
diesen Fall angegebene Gleichung entsteht.
Beispiel:
Der skizzierte Träger mit
stückweise konstantem Querschnitt ist im
1
linken Bereich elastisch gebettet. Es sind 1
die Biegelinie und der Verlauf des Biege-
moments zu ermitteln. Speziell sind die
Verschiebungen am Angriffspunkt von F 2
und am rechten Rand sowie die Feder-
1 2 3 4
kraft zu berechnen.
Gegeben:
l1 = l2 = 250 mm ; l3 = 400 mm ; EI1 = 6 · 109 Nmm2 ; c = 6 kN/mm ; F = 2 kN ;
k = 12 N/mm2 ; l4 = 300 mm ; EI2 = 3 · 1010 Nmm2 ; q1 = 14 N/mm ; M = 240 Nm .
À Der Träger mit der Gesamtlänge l = 1200 mm wird in nA = 600 Abschnitte der Breite h =
l
nA = 2 mm unterteilt. Es entstehen n = nA + 5 = 605 Stützstellen. Der linke Randpunkt des
Trägers hat die Nummer 3, der rechte Randpunkt die Nummer 603. Die Kraft F greift am
Punkt 128 an, die Feder befindet sich am Punkt 253, die Zwischenstütze am Punkt 453.
Á. . .Ä Als Bezugs-Biegesteifigkeit wird EI0 = EI1 gewählt. Die 3 Vektoren qi, ki und mi wer-
den folgendermaßen mit den gegebenen Werten bestückt:
0 0 1 ← 1
0
0
1
← 2
0 12 1 ← 3
. . . ..
. . .
. . . .
0
12
1
← 127
1000
12
1
← 128
0
12
1
← 129
. . . ..
. . .
. . . .
← 252
0 12 1
0
3006
3
← 253
qi = 0, 04 , ki = 0 , mi =
5
← 254
0, 08
0
5
← 255
. . . ..
.. .. .. .
7, 96 0 5 ← 452
30
8
10
5
← 453
8, 04
0
5
← 454
. . . ..
.. .. .. .
13, 96
0
5
← 602
14 0 5 ← 603
← 604
0 0 5
0 0 5 ← 605
19.2 Der elastisch gebettete Träger 321
Å Damit können alle Differenzengleichungen nach 19.9 aufgeschrieben werden. Man findet
unter www.TM-aktuell.de die Realisierung mit einem Matlab-Script.
Æ Die vier Randbedingungsgleichungen werden Durchbiegung
aus dem Katalog des Abschnitts 18.1.5 entnom- −0.5
vF = 0,226 mm vM = 0,334 mm
men. Mit den gegebenen Zahlenwerten ergibt
0
sich:
v3 = 0 0.5
0 200 400 600 800 1000 1200
−v2 + v4 = 0 5 Biegemoment
x 10
5 v602 − 10 v603 + 5 v604 = −0, 00016 5
19.3.1 Schnittgrößen
In enger Anlehnung an die Vereinbarungen, die für den geraden Träger (Kapitel 7) getroffen
wurden, definiert man die
Analog zur Vorgehensweise beim geraden Träger werden nun die differenziellen Beziehungen
ermittelt, die für die Schnittgrößen des gekrümmten Trägers gelten müssen. Dazu wird ein sehr
kleines Element (Länge ∆s) aus dem Träger herausgeschnitten (Abbildung 19.10). Die Schnitt-
größen verändern vom linken bis zum rechten Schnittufer dieses Elements ihre Größen um ∆FN ,
∆FQ bzw. ∆Mb .
324 19 Spezielle Biegeprobleme
Diese führen nach dem Grenzübergang ∆s → 0 (und damit ∆FN → 0, ∆FQ → 0 und ∆Mb → 0)
nach etwas mühsamerer Rechnung als beim geraden Träger auf die
ê Der Leser, der bei dem (lobenswerten) Versuch, die Rechnung nachzuvollziehen, die zu
den Formeln 19.11 führt, Schwierigkeiten hat, sollte sich noch einmal die im Abschnitt 9.2
vorgeführte Herleitung der Formel für die Seilhaftung ansehen, bei der exakt die gleichen
Überlegungen anzustellen waren.
ê Der wichtige Sonderfall des Kreisbogenträgers (mit konstantem Krümmungsradius R) ist in
den Formeln 19.11 enthalten. Empfehlenswert ist, für Kreisbogenträger mit einer Winkelko-
ordinate ϕ zu arbeiten, so dass in 19.11 ds durch Rdϕ ersetzt werden kann.
Führt man mit den Formeln für den Kreisbogenträger den Grenzübergang
R → ∞ ⇒ Rdϕ → dz
durch, so ergeben sich die für gerade Träger geltenden Beziehungen 7.1.
0
Beispiel:
Ein halbkreisförmiger Träger ist durch eine
konstante radiale Linienlast belastet. Man ermittle die La-
gerreaktionen bei A und B und die Schnittgrößenverläufe.
Gegeben: R , q0 .
19.3 Der gekrümmte Träger 325
Die beiden Komponenten werden zusammengefasst zur Resultierenden einer radial gerichteten
konstanten Linienlast über den Winkel ϕ, die aus Symmetriegründen bei ϕ2 angreifen muss:
q q
FRϕ = FRx 2 + F 2 = q R sin2 ϕ + (cos ϕ − 1)2 = 2 q R sin ϕ .
Ry 0 0
2
ê Der Betrag der Resultierenden einer konstanten radial gerichteten Linienlast q0 (konstante
Radiallast) über einen Kreisbogen mit dem Öffnungswinkel ϕ ergibt sich aus dem Produkt
der Linienlastintensität q0 und der Sehnenlänge des Kreisbogens.
Für den Spezialfall, der für die Berechnung der Lagerreaktionen des Beispiels benötigt wird
(Halbkreis), ist dies der Durchmesser 2 R, und man erhält für die beiden Vertikalkomponenten
der Lagerkräfte:
FAV = FBV = q0 R .
Die einfache Formel für die Berechnung der Resultierenden einer konstanten Radiallast wird nun
auch für die Ermittlung der Schnittgrößen verwendet. Die Abbildung 19.11 zeigt den Schnitt an
326 19 Spezielle Biegeprobleme
der Stelle, die durch die Koordinate ϕ gekennzeichnet ist, mit den dort wirkenden Schnittgrößen,
der Resultierenden der Linienlast und der Vertikalkomponente der Lagerreaktion bei B.
Das Momenten-Gleichgewicht um die Schnittstelle
ϕ
Mb (ϕ) + q0 R2 (1 − cos ϕ) − 2q0 R2 sin2 = 0 2 0 sin
2 2
führt nach einigen elementaren Umformungen auf das über-
raschende Ergebnis /2
Mb (ϕ) = 0 .
0
Der statisch bestimmt gelagerte Halbkreis unter konstanter
Radiallast ist momentenfrei. Abbildung 19.11: Schnittgrößen
Damit erübrigt sich das Aufschreiben der Kraft-Gleichgewichtsbedingungen, denn nach 19.11
ist auch die Querkraft gleich Null, und die Normalkraft muss konstant sein. Da die Normalkraft
an den Lagern mit den Vertikalkomponenten der Lagerreaktionen im Gleichgewicht sein muss,
gilt also:
FQ (ϕ) = 0 , FN (ϕ) = −q0 R .
ê Die konstante radial gerichtete Linienlast ruft bei diesem Halbkreisträger als einzige Schnitt-
größe eine (konstante) Normalkraft hervor. Der Träger hat damit für diese Belastung die
ideale Form einer Stützlinie (vgl. Beispiel 2 im Abschnitt 11.2 auf Seite 166, wo die Stützli-
nie für konstante vertikal gerichtete Linienlast berechnet wurde).
Aus diesem Beispiel lassen sich folgende Aussagen für einen wichtigen Spezialfall ableiten:
Kreisring unter konstanter radialer 0 0
Linienlast
Eine Symmetriehälfte eines geschlosse-
nen Kreisrings (Abbildung 19.12, linke
Skizze) stützt sich auf der anderen Hälf-
te mit den tangential gerichteten „Lager-
reaktionen“ q0 R ab, die in jedem Schnitt
die Momentwirkung der äußeren Belas-
tung kompensieren (Skizze 19.11). Abbildung 19.12: Geschlossener und geschlitzter Kreisring
Deshalb treten im geschlossenen Kreisring weder Biegemoment noch Querkraft auf, die Nor-
malkraft hat den konstanten Wert
FN = −q0 R .
Für den geschlitzten Kreisring (Abbildung 19.12, rechte Skizze) erhält man mit einer Schnittskiz-
ze wie in Abbildung 19.11 (ohne die Lagerreaktion) aus Gleichgewichtsbetrachtungen:
ϕ ϕ
FN (ϕ) = −2q0 R sin2 , Mb (ϕ) = 2q0 R2 sin2
2 2
mit den Maximalwerten bei ϕ = π:
FN, max = −2q0 R , Mb, max = 2q0 R2 .
Beim geschlitzten Kreisring ist eine Hälfte (bei ϕ = π) an der anderen starr eingespannt. Dort
tritt (zusätzlich zur Normalkraft) das gefährlich große Biegemoment Mb, max auf.
19.3 Der gekrümmte Träger 327
Die Schnittgrößen repräsentieren die resultierenden Wirkungen der über den Querschnitt verteil-
ten Spannungen. Die Normalkraft und das Biegemoment sind den Wirkungen der Normalspan-
nungen äquivalent (wie beim geraden Träger, vgl. Formeln 14.1 und 16.2).
Z Z
FN = σ (y) dA , Mb = y σb (y) dA . (19.12)
A A
In diesen Formeln können bei Gültigkeit des Hookeschen Gesetzes die Spannungen durch die
Dehnungen ersetzt werden. Die folgenden Betrachtungen konzentrieren sich darauf, die Deh-
nungen beliebiger Fasern des Trägers zu erfassen.
Wie beim geraden Träger beginnt die y-Achse im Schwerpunkt des Querschnitts (in der Träger-
achse) und zeigt zu der Seite, auf der die Bezugsfaser liegt. Es wird auch für den gekrümmten
Träger die Gültigkeit der Bernoullischen Hypothese (vgl. Abschnitt 16.1, Seite 216) vorausge-
setzt: Die Trägerquerschnitte behalten bei der Verformung ihre ursprünglich ebene Form bei.
Dann verformt sich ein aus dem Träger herausgeschnittenes differenziell kleines Element (Ab-
messung entlang der Trägerachse vor der Verformung sei ds0 ) entsprechend Abbildung 19.13.
= 0 0
=
+ neutrale Faser
Tragerachse
0
+
Da es nur auf die relative Verschiebung der einzelnen Punkte zueinander ankommt, wurde zur
Vereinfachung der folgenden Überlegungen die Verformung so dargestellt, als hätte sich nur der
rechte Querschnitt gedreht. Die Lage des gedrehten Querschnitts wird durch die Verlängerung
der Trägerachse du0 und den Winkel dψ eindeutig beschrieben.
Die Verlängerung einer beliebigen Faser im Abstand y von der Trägerachse kann dann durch
du = du0 + ydψ = ε0 ds0 + y dψ = ε0 ρ dϕ + y dψ
ausgedrückt werden, wobei die Verlängerung der Trägerachse durch das Produkt aus ihrer Deh-
nung ε0 und ihrer Ursprungslänge ersetzt wurde.
Die Dehnung einer beliebigen Faser ist der Quotient aus ihrer Verlängerung du und ihrer ur-
sprünglichen Länge, die aus der linken Skizze in Abbildung 19.13 abgelesen wird:
du ε0 ρ dϕ + y dψ dψ y
ε(y) = = = ε0 + − ε0 .
ds(y) (ρ + y)dϕ dϕ ρ +y
328 19 Spezielle Biegeprobleme
ê Die Normalkraft führt zu einer konstanten Spannungsverteilung wie beim geraden Träger
und könnte (wie dort) gesondert erfasst und mit den Biegespannungen überlagert werden.
ê Das Biegemoment erzeugt eine nichtlineare Spannungsverteilung über die Querschnittshö-
he. Auch bei reiner Biegung (FN = 0) verläuft die Spannungs-Null-Linie nicht durch die
Trägerachse (Schwerpunktachse ist nicht die neutrale Faser).
ê Für ρ → ∞ geht 19.17 in die Formel für den geraden Träger über. Aus 19.16 ergibt sich:
ρ y2 y2
Z Z Z
κρ 2 A = dA = dA ⇒ lim (κρ 2 A) = y2 dA = Ixx . (19.18)
ρ +y 1 + ρy ρ→∞
A A A
19.3 Der gekrümmte Träger 329
Beispiel 1: = /2
Für spezielle Querschnittsformen (Rechteck, sym-
metrisches Trapez, Kreis) eines gekrümmten Trägers sollen die
zur Spannungsberechnung erforderlichen κ-Werte in Abhän-
gigkeit von ρe berechnet werden. Das Verhältnis ρe mit dem
Abstand e vom Flächenschwerpunkt zum Innenrand der Quer-
schnittsfläche kann als Maß für die Stärke der Krümmung des =
Trägers gedeutet werden.
In den Skizzen ist auch jeweils eine Empfehlung angedeutet,
wie man das differenziell kleine Flächenelement dA wählen
kann, um ein Doppelintegral beim Integrieren über die Quer-
schnittsfläche A zu vermeiden.
Für das Rechteck mit dem Flächenelement dA = bdy erhält man
ein in geschlossener Form lösbares Integral:
h
1
Z
y b
Z2
ρ
=
κ =− dA = − 1− dy
A ρ +y A ρ +y
A − h2
h
1 + ρe
! !
ρ 1+ 2ρ ρ
= ln −1 = ln −1 .
h 1− h
2ρ
2e 1 − ρe
Beispiel 2:
Am Beispiel des Kreisquerschnitts soll der Einfluss der
Krümmung des Trägers auf die Spannungen im Querschnitt disku-
tiert werden. Der skizzierte Träger hat in allen Bereichen den glei-
1
chen Kreisquerschnitt mit dem Radius r. Die beiden gekrümmten
Bereiche zeigen (maßstäblich) Krümmungen, die durch ρe1 = 0, 1
bzw. ρe2 = 0, 5 charakterisiert werden können (für Kreisquerschnit-
te gilt: ρe = ρr ).
Weil der Träger nur durch ein äußeres Moment M0 belastet ist, wirkt
in allen Querschnitten das gleiche Biegemoment Mb = M0 (Normal-
und Querkräfte gibt es nicht). Dann kann im geraden Trägerbereich
die Spannung an den Querschnittsrändern (vgl. Abschnitt 16.3) nach 2
Mb M0
σb = =4 3 2 0
Wb πr
berechnet werden. In den gekrümmten Trägerteilen gilt 19.17, wobei
am Innenrand y = −r und am Außenrand y = r zu setzen ist.
Man errechnet nach 19.17 σbi für den Innenrand und σba für den Außenrand:
r
Mb 1 −r M0 r ρ M0 r
σbi = 1+ = 3 1− = 3 si
,
ρA κ ρ −r πr ρ κ 1− ρ r πr ρ
r
Mb 1 r M0 r M r
σba = 1+ = 3 1+
ρ
= 03 sa .
ρA κ ρ +r πr ρ κ 1+ r πr ρ
ρ
Die Funktionen si und sa dürfen als Maß für den Einfluss der Krümmung angesehen werden und
können mit dem Faktor 4, der für den geraden Träger steht, verglichen werden. Für den Bereich
mit schwacher Krümmung erhält man mit
si (0, 1) = −4, 32 und sa (0, 1) = 3, 72
Werte, die nur wenig (< 10%) von den Werten für den geraden Träger abweichen. Im Bereich
starker Krümmung dagegen sind die Abweichungen der Spannungswerte für den gekrümmten
Träger deutlich größer:
si (0, 5) = −6, 46 und sa (0, 5) = 2, 82 .
Die an diesem Beispiel gewonnenen Aussagen lassen sich verallgemeinern:
Die absolut größte Spannung tritt bei gekrümmten Trägern am Innenrand auf.
Als Maß für die Krümmung eines Trägers wird das Verhältnis des Abstands e der Innenrand-
faser vom Schwerpunkt des Querschnitts zum Krümmungsradius ρ der Trägerachse definiert.
Für schwach gekrümmte Träger ( ρe 1) sind die Abweichungen der Maximalspannungen
gegenüber der Berechnung mit der Formel für den geraden Träger gering, so dass (natürlich
abhängig von den Genauigkeitsforderungen) gegebenenfalls mit dieser einfacheren Formel ge-
rechnet werden kann. Man beachte jedoch, dass man damit nicht „auf der sicheren Seite“ liegt.
19.3 Der gekrümmte Träger 331
Beispiel 3:
Ein Kranhaken mit dem Krümmungsradius R ist ein
typischer Vertreter eines (in der Regel sehr hoch belasteten) stark
gekrümmten Trägers. Für den zu untersuchenden Bereich des skiz-
zierten Kranhakens gilt: Re = 0, 5.
Es ist zu berechnen, ob ein Kreisquerschnitt oder ein Rechteck-
querschnitt mit gleicher Querschnittsfläche (bei gleicher Krüm-
mung Re ) günstiger ist.
Gegeben: R = 10 cm ; F = 25 kN .
Für den Kreisquerschnitt mit r = e = 5 cm und der Querschnittsflä-
che
AKreis = πr2
entnimmt man der Tabelle in der Abbildung 19.14 auf Seite 329:
κKreis = 0, 071797 .
Für den Rechteckquerschnitt mit h2 = e = 5 cm und damit h = 10 cm errechnet sich die Breite
(bei gleicher Querschnittsfläche wie für den Kreis) nach
πr2 πr
ARechteck = b h = AKreis ⇒ b= = = 7, 854 cm .
h 2
Auch der κ-Wert für das Rechteck wird der Tabelle in der Abbildung 19.14 auf Seite 329 ent-
nommen:
κRechteck = 0, 098612 .
Die Abbildung 19.15 zeigt die Schnittgrößen im gefährde-
ten Querschnitt (maximale Normalkraft, maximales Biegemo-
ment). Die Gleichgewichtsbedingungen liefern:
Mb = −FR , FN = F .
Nach 19.17 erhält man die Spannungsverteilung in diesem
Querschnitt:
F 1 y
σ (y) = −
A κ R+y
mit den Maximalwerten an den Rändern bei y = − R2 (In-
nenrand) bzw. y = R2 (Außenrand). Die folgende Tabelle ver- Abbildung 19.15: Schnittgrößen
gleicht die Spannungen an beiden Rändern für beide Quer- im gefährdeten Querschnitt
schnitte:
Innenrand Außenrand
Kreis: σ [N/mm2 ] = 44,33 −14, 78
Rechteck: σ [N/mm2 ] = 32,28 −10, 76
Der Rechteckquerschnitt erweist sich als günstiger als der Kreisquerschnitt. Die Absolutwerte
der Spannungen sind am Innenrand wegen der starken Krümmung deutlich größer als am Au-
ßenrand.
332 19 Spezielle Biegeprobleme
Die Untersuchung der Verformung wird hier auf Kreisbogenträger beschränkt. Dann kann
• anstelle des veränderlichen Krümmungsradius ρ des unverformten Trägers der konstante
Radius R angenommen werden und
• ein beliebiger Punkt der Trägerachse durch eine Winkelkoordinate ϕ identifiziert werden.
Die Abbildung 19.16 zeigt ein aus dem Träger herausgeschnittenes differenziell kleines Ele-
ment, dessen Krümmungsradius R (des gestrichelt gezeichneten unverformten Elements) sich
durch die Verformung auf ρ̄ ändert. Dabei wird gleichzeitig aus dem Öffnungswinkel dϕ der
Öffnungswinkel (dϕ + dψ) des verformten Elements, wobei das Ebenbleiben der Querschnitte
(Bernoulli-Hypothese) vorausgesetzt wird.
Die Trägerachse des unverformten Elements
ds0 = R dϕ
dehnt sich bei der Verformung um
d s̄ − ds0
ε0 = .
ds0 +
Diese Formel wird nach der Länge der verformten Träger-
achse
d s̄ = ds0 + ε0 ds0 = R dϕ(1 + ε0 )
umgestellt, die auch durch den Krümmungsradius ρ̄ der
verformten Trägerachse und den geänderten Öffnungswin- 0
kel (dϕ + dψ) dargestellt werden kann:
d s̄ = ρ̄(dϕ + dψ) .
Gleichsetzen dieser beiden Ausdrücke (und gleichzeitige
Division durch dϕ) liefert: Abbildung 19.16: Unverformtes (ge-
dψ strichelt gezeichnetes) und verformtes
R (1 + ε0 ) = ρ̄ 1 + .
dϕ Element des Kreisbogenträgers
Der Ausdruck dψdϕ konnte im vorigen Abschnitt aus der zweiten Gleichung von 19.14 unter Ein-
beziehung von 19.16 ersetzt werden, wobei der dort verwendete Krümmungsradius ρ durch den
Radius des Kreisbogenträgers R ersetzt werden muss. Nach einigen elementaren Umformungen
erhält man:
1 1 1 Mb
− = . (19.19)
ρ̄ R 1 + ε0 κ R2 EA
Hierin könnte ε0 auch noch (wie dψdϕ ) ersetzt werden, so dass ein Zusammenhang zwischen ρ̄
und den Schnittgrößen entstehen würde. Darauf wird verzichtet, weil für die folgenden Überle-
gungen ohnehin (wie auch in der Biegetheorie des geraden Trägers, vgl. Abschnitt 17.1) kleine
Verformungen vorausgesetzt werden. Dann kann wegen ε0 1 der erste Bruch auf der rechten
Seite von 19.19 als Faktor weggelassen werden:
1 1 Mb
− = . (19.20)
ρ̄ R κ R2 EA
19.3 Der gekrümmte Träger 333
Gleichung 19.20 beschreibt die Verformung eines Kreisbogenträgers infolge der Biegebelastung,
wobei für eine sinnvolle praktische Handhabbarkeit der Krümmungsradius des verformten Trä-
gers ρ̄ noch durch die Verschiebungen der Punkte der Trägerachse ersetzt werden muss.
Die Abbildung 19.17 verdeutlicht, dass (im Ge-
gensatz zum geraden Träger) der Verformungszu-
verformte
stand stets durch zwei Verschiebungskomponen- Tragerachse
ten beschrieben werden muss (Punkt A der Trä-
gerachse verschiebt sich nach A0 ), weil die tan-
gential gerichtete Verschiebung u nicht nur durch
die Normalkraft hervorgerufen wird.
Es wird vereinbart,
• die Punkte der Trägerachse des unverform-
ten Kreisbogenträgers durch die Koordinate
ϕ festzulegen,
• die Radialverschiebung v positiv nach außen
(zur Bezugsfaserseite wie beim geraden Trä-
ger) zu richten und
• die Tangentialverschiebung u positiv in Abbildung 19.17: Radialverschiebung v und
Richtung größer werdender Winkelkoordi- Tangentialverschiebung u
nate ϕ anzunehmen.
In 19.20 wird nun ρ̄ durch die Verschiebungskomponenten u und v ersetzt. In dem (willkürlich
in den Mittelpunkt des unverformten Kreisbogenträgers gelegten) x-y-Koordinatensystem kann
die Verformungskurve (Lage des beliebigen Punktes A0 ) aus der Skizze abgelesen werden:
x = (R + v) cos ϕ − u sin ϕ ,
y = (R + v) sin ϕ + u cos ϕ .
Dies kann als Parameterdarstellung der Verformungskurve (Parameter ist die Winkelkoordinate
ϕ) aufgefasst werden, für die die Krümmung (reziproker Krümmungsradius) nach
1 ẋ ÿ − ẍ ẏ dx dy
= 3 mit ẋ = , ẏ =
ρ̄ (ẋ2 + ẏ2 ) 2 dϕ dϕ
aufgeschrieben werden kann. Im Zähler dieses Bruchs und innerhalb der Klammer im Nenner
entstehen ausschließlich Produkte aus zwei Größen, die jeweils die Dimension einer Länge ha-
ben. Alle Produkte aus Verschiebungen und Verschiebungsableitungen (z. B.: u2 , v2 , uv̇, uv̈, . . .)
können gegenüber den Produkten aus dem Radius R und den Verschiebungen bzw. Verschie-
bungsableitungen (z. B.: Ru, Rv̇, Rv̈, . . .) vernachlässigt werden, wobei klar wird, in welchem
Sinne der Begriff „kleine Verschiebungen“ zu verstehen ist: Die Verschiebungen müssen klein
gegenüber dem Radius des unverformten Kreisbogenträgers sein. Nach etwas mühsamer (aber
nicht schwieriger) Rechnung erhält man mit
1 1 1 + R1 (2 v + 3 u̇ − v̈)
= 3
ρ̄ R
1 + R2 (v + u̇) 2
334 19 Spezielle Biegeprobleme
einen Ausdruck, der wegen der vorausgesetzten Kleinheit der Verschiebungen noch weiter zu
vereinfachen ist. Da natürlich für den Ausdruck im Nenner
2
δ = (v + u̇) 1
R
gilt, kann die Potenzreihenentwicklung des Nenners
3 3 3·5 2
(1 + δ )− 2 = 1 − δ + δ −+...
2 2·4
nach dem linearen Glied abgebrochen werden, und man erhält über
1 1 1 3
≈ 1 + (2 v + 3 u̇ − v̈) 1 − (v + u̇)
ρ̄ R R R
durch Ausmultiplizieren bei weiterer Vernachlässigung der oben beschriebenen Verschiebungs-
produkte mit 1 1 1
≈ − 2 (v + v̈)
ρ̄ R R
einen in den Verschiebungsgrößen linearen Ausdruck für die Krümmung der verformten Träger-
achse, der in die Beziehung 19.20 eingesetzt werden kann. Dass in der so entstehenden Differen-
zialgleichung
Mb
v̈ + v = − (19.21)
κEA
nur die Radialverschiebung v vorkommt, lässt hoffen, wie beim geraden Träger die Verschiebung
v unabhängig von der Verschiebung u berechnen zu können. Leider bestätigt sich diese Hoffnung
nur für wenige Ausnahmen, weil in der Regel über die Randbedingungen eine Kopplung der
Verschiebungskomponenten unvermeidlich wird (vgl. nachfolgendes Beispiel).
Deshalb muss 19.21 noch um die Differenzialgleichung zur Berechnung
der Tangentialverschiebung u ergänzt werden. Die Abbildung 19.18 +
zeigt ein differenziell kleines Element (Länge der unverformten Trä- +
gerachse: Rdϕ), dessen Endpunkte A und B nach der Verformung bei
A0 bzw. B0 liegen. Die Trägerachse verlängert sich durch die Radialver-
schiebung v von Rdϕ auf (R + v)dϕ und durch die Tangentialverschie-
bungen u bzw. (u + du) um du (der Einfluss von dv kann als klein von
höherer Ordnung vernachlässigt werden).
Abbildung 19.18: Ver-
Damit kann die Dehnung der Trägerachse aufgeschrieben werden: knüpfung der Verschie-
(R + v)dϕ − R dϕ + du 1 bungen u und v
ε0 = = (v + u̇) .
R dϕ R
Diese Dehnung kann wieder gleichgesetzt werden mit dem ε0 , das sich aus der zweiten Formel
von 19.14 errechnet, und man erhält den gesuchten Zusammenhang von Radialverschiebung und
Schnittgrößen. Gemeinsam mit der bereits für die Radialverschiebungen angegebenen Beziehung
hat man damit die
ê In 19.22 gelten für die Winkelkoordinate ϕ, die Tangentialverschiebung u und die Radialver-
schiebung v die Definitionen nach Abbildung 19.17 (Seite 333). Die Schnittgrößen müssen
der im Abschnitt 19.3.1 (Seite 323) gegebenen Definition entsprechen.
ê Der dimensionslose Parameter κ (Flächenkennwert für die Querschnittsflächen gekrümmter
Träger) ist in der Beziehung 19.17 (Seite 328) definiert worden. Für einige Querschnitte
finden sich κ-Werte in der Tabelle des Beispiels 1 (Seite 329).
ê Es muss zunächst die Differenzialgleichung für die Radialverschiebung v gelöst werden, de-
ren allgemeine Lösung danach in die Differenzialgleichung für die Tangentialverschiebung
eingesetzt wird, die dann (Umstellung nach u̇) durch einfaches Integrieren gelöst werden
kann. Für eine Differenzialgleichung 2. Ordnung und eine Differenzialgleichung 1. Ordnung
sind insgesamt drei Integrationskonstanten aus drei Randbedingungen zu bestimmen.
ê Die allgemeine Lösung der linearen inhomogenen Differenzialgleichung 2. Ordnung für die
Radialverschiebung setzt sich entsprechend
v = vhom + v part (19.23)
aus der Lösung der homogenen Differenzialgleichung v̈ + v = 0 und einer beliebigen Parti-
kulärlösung zusammen. Für den homogenen Lösungsanteil gilt immer:
vhom = C1 cos ϕ +C2 sin ϕ . (19.24)
Die Partikulärlösung ist problemabhängig und kann nur bei vorgegebener Funktion für die
rechte Seite ermittelt werden, die bei konstantem Querschnitt ausschließlich von der Funk-
tion Mb (ϕ) bestimmt wird. Neben einem konstanten Anteil tauchen dort in der Regel cos-
und sin-Funktionen auf. Für die ausgesprochen typische Form der rechten Seite der Diffe-
renzialgleichung
f (ϕ) = a + b sin ϕ + c cos ϕ (19.25)
darf als Partikulärlösung immer verwendet werden3 :
b c
v part = a − ϕ cos ϕ + ϕ sin ϕ . (19.26)
2 2
ê Bei Trägern mit großem Radius R (im Vergleich mit den Querschnittsabmessungen) kann
mit im Allgemeinen vertretbarer Genauigkeitseinbuße die Differenzialgleichung für die Ra-
dialverschiebung 19.22 unter Benutzung von 19.18 ersetzt werden durch die Differenzial-
gleichung für den schwach gekrümmten Kreisbogenträger:
Mb R2
v̈ + v = − . (19.27)
EI
In diesem Fall kann das für gerade Träger benutzte Flächenträgheitsmoment verwendet wer-
den, wodurch eventuell aufwendige κ-Wert-Berechnungen bei komplizierten Querschnitten
entfallen.
3 DerLeser, der sich in diesem Zweig der Mathematik schon gut auskennt, wird registrieren, dass für die trigonometri-
schen Funktionen der um den Faktor ϕ „erweiterte Partikuläransatz“ verwendet werden muss, weil die Funktionen
cos und sin die homogene Differenzialgleichung erfüllen. Für alle anderen Leser wird die Internet-Ergänzung zum
Thema „Gewöhnliche Differenzialgleichungen“ hilfreich sein, auf die auf Seite 314 verwiesen wird.
336 19 Spezielle Biegeprobleme
Beispiel: 2
Der skizzierte Kreisbogenträger (Radius R) wird durch
zwei Festlager (einfach statisch unbestimmt) gestützt. Er hat einen
konstanten Kreisquerschnitt mit dem Radius r = 0, 05 R.
Gegeben: R = 40 cm ; F = 10 kN ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
a) Es sind die Verformungen des gesamten Trägers, speziell die Absenkung des Lastangriffs-
punktes, und die Schnittgrößen FN und Mb am Lastangriffspunkt zu berechnen.
b) Welche Abweichungen von den unter a ermittelten Ergebnissen ergeben sich, wenn der Trä-
ger als „schwach gekrümmt“ betrachtet wird?
Wegen der Symmetrie braucht nur eine Hälfte des Trägers (Abbildung 19.19) berechnet zu wer-
den. Diese Trägerhälfte wird am Kraftangriffspunkt so gelagert, dass die Symmetriebedingungen
(horizontale Tangente, keine Verschiebung in horizontaler Richtung) erfüllt sind.
In die Schnittgrößen geht zwangsläufig (wegen der sta-
tisch unbestimmten Lagerung) eine der vier Lagerreak-
tionen ein. Wenn entschieden wird, die Lagerkraft FC
in den Schnittgrößenverläufen zu behalten, sollte das
Moment MC durch FC ausgedrückt werden. Momenten-
Gleichgewicht um den Punkt A liefert :
MC = FC R − FR . Abbildung 19.19: Symmetrieschnitt
Mit der wie skizziert gewählten Koordinate ϕ erhält man aus den Gleichgewichtsbedingungen
am geschnittenen Träger (Kraft-Gleichgewicht in Richtung der Normalkraft und Momenten-
Gleichgewicht um die Schnittstelle, Abbildung 19.20):
FN = −F sin ϕ − FC cos ϕ , Mb = −FR(1 − sin ϕ) + FC R cos ϕ .
Damit können die Differenzialgleichungen 19.22 aufgeschrieben werden:
FR FC FR
v̈ + v = 1 − sin ϕ − cos ϕ , u̇ + v = − .
κEA F EA
Abbildung 19.20:
Zunächst muss für die erste Differenzialgleichung eine Partikulärlösung Schnittgrö-
gefunden werden: ßen
Ein Vergleich der rechten Seite mit Formel 19.25 zeigt, dass sie genau dieser „typischen Form“
entspricht. Also wird 19.26 an das aktuelle Problem angepasst, und man hat die Partikulärlösung
FR 1 FC
v part = 1 + ϕ cos ϕ − ϕ sin ϕ ,
κEA 2 2F
die gemeinsam mit der Lösung der homogenen Differenzialgleichung 19.24 die allgemeine Lö-
sung der Differenzialgleichung für die Radialverschiebung bildet:
FR 1 FC
v = C1 cos ϕ +C2 sin ϕ + 1 + ϕ cos ϕ − ϕ sin ϕ .
κEA 2 2F
Diese wird in die zweite Differenzialgleichung eingesetzt, und eine einfache Integration, die noch
eine Integrationskonstante erzeugt, liefert die allgemeine Lösung für die Tangentialverschiebung:
19.3 Der gekrümmte Träger 337
FR
u =− ϕ −C1 sin ϕ +C2 cos ϕ
EA
FR 1 FC 1 FC
− ϕ+ ϕ− sin ϕ + 1 + ϕ cos ϕ +C3 .
κEA 2 F 2 F
Die beiden allgemeinen Lösungen enthalten insgesamt drei Integrationskonstanten und die un-
bekannte Lagerkraft FC , für deren Bestimmung vier Randbedingungen zur Verfügung stehen:
π π
u(ϕ = 0) = 0 , u ϕ = = 0 , v̇(ϕ = 0) = 0 , v ϕ = =0 .
2 2
Einsetzen der vier Bedingungen in die allgemeinen Lösungen für v und u liefert:
FR 3 1 π FR FR 2
C1 = 1− π + −κ , C2 = − , C3 = , FC = F .
κEA 4 π 2 2 κEA κEA π
a) Damit können die Verschiebungsfunktionen aufgeschrieben werden:
FR 3 1 π 1 1 1
v= 1 + 1 − π + − κ + ϕ cos ϕ − + ϕ sin ϕ ,
κEA 4 π 2 2 2 π
FR 3 π 1 1
u=− (1 + κ)ϕ − 1 + 1 − π − κ + ϕ sin ϕ + 1 + ϕ cos ϕ .
κEA 4 2 2 π
Hierin ist A = πr2 die Querschnittsfläche des Trägers, und aus der Tabelle auf Seite 329 kann
κ = 0, 00062594 für Rr = 0, 05 entnommen werden. Für die Absenkung des Kraftangriffs-
punktes errechnet man mit den gegebenen Zahlenwerten:
FR 3 1 π
vF = v(ϕ = 0) = 2− π + −κ = −0, 9419 mm .
κEA 4 π 2
Die Schnittgrößen an der Kraftangriffsstelle müssen mit den dort wirkenden Lagerreaktionen
des „Symmetrieschnitt-Lagers“ im Gleichgewicht sein:
2
FN (ϕ = 0) = −FC = − F = −6, 366 kN ;
π
2
Mb (ϕ = 0) = MC = FC R − FR = − 1 FR = −1, 454 kNm .
π
b) Die Rechnung nach der Differenzialgleichung für den schwach gekrümmten Träger 19.27
unterscheidet sich nur in dem Faktor für das Biegemoment in der Differenzialgleichung für
die Radialverschiebung. Dieser (bei diesem Beispiel konstante) Faktor bleibt während der
gesamten Rechnung erhalten, so dass nur in den berechneten Funktionen κ durch ARI 2 mit
πr4
I= 4 ersetzt werden muss: 4
I πr
4 r2
κ ⇒ = = = 0, 000625 .
AR2 πr2 R2 4R2
Der Unterschied ist minimal: Die unter Voraussetzung schwacher Krümmung berechnete
Verschiebung unter der Kraft vergrößert sich bei diesem Träger nur auf vF = −0, 9426 mm
(Abweichung < 0,1%). Wenn also der κ-Wert für den Querschnitt nicht ohnehin zur Verfü-
gung steht, ist für schwach gekrümmte Träger eine aufwendige κ-Berechnung nicht gerecht-
fertigt, zumal sich für die Schnittgrößen überhaupt keine Unterschiede ergeben.
338 19 Spezielle Biegeprobleme
Das relativ einfache Beispiel des vorigen Abschnitts zeigte, dass die (bei statisch unbestimm-
ten Problemen unumgängliche) Verformungsberechnung für gekrümmte Träger recht aufwendig
werden kann. Da die Verformungen durch ein lineares Randwertproblem beschrieben werden,
ist es naheliegend, dies mit dem im Abschnitt 18.1 behandelten Differenzenverfahren zu lösen.
Mit den zentralen Differenzenformeln 18.1, mit denen in den Differenzialgleichungen 19.22 die
Ableitungen näherungsweise ersetzt werden, entstehen die
Dann gehen als unbekannte u-Werte gerade die Tangentialverschiebungen an den Punkten
ein, für die keine „u-Gleichungen“ formuliert werden (die Differenzenformel bezieht sich
nur auf die Nachbarpunkte), aber u. a. auch die Werte der Randpunkte, für die gegebenenfalls
Randbedingungen aufgeschrieben werden müssen.
Diese Strategie ist gerechtfertigt, weil die Änderung der Tangentialverschiebung u im Allgemei-
nen deutlich geringer ist als die Änderung der Radialverschiebung v, so dass ein gröberes Raster
für die Approximation der Ableitungen von u ausreichend ist. Die Koeffizientenmatrix des ent-
stehenden linearen Gleichungssystems ist besonders dünn mit von Null verschiedenen Elementen
besetzt, weil in jeder Gleichung nur 3 unbekannte Verschiebungen auftauchen.
19.3 Der gekrümmte Träger 339
Beispiel:
Die Berechnung der Verformungen mit dem Differen- 2
zenverfahren wird an dem bereits im Abschnitt 19.3.3 (Seite 336)
exakt gelösten (statisch unbestimmt gelagerten) Halbkreisbogen
mit konstantem Kreisquerschnitt mit dem Radius r = 0, 05 R de-
monstriert.
Gegeben: R = 40 cm ; F = 10 kN ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
Wie bei der exakten Lösung im vorigen Abschnitt wird nur eine Symme-
triehälfte betrachtet (Abbildung 19.19 auf Seite 336), für die die benö-
tigten Schnittgrößen in Abhängigkeit von der unbekannten Lagerkraft FC
formuliert werden (nebenstehende Skizze):
FN = −F sin ϕ − FC cos ϕ ,
Mb = −FR(1 − sin ϕ) + FC R cos ϕ .
Der Viertelkreis wird in nA = 80 Abschnitte unterteilt, so dass sich die 4 2
Schrittweite π 3 1
h=
160
=
ergibt. Die Punkte (einschließlich der beiden Außenpunkte) werden von 160
1 bis 83 nummeriert (Abbildung 19.22).
81
82
Für die Punkte 2 bis 82 werden die „v-Gleichungen“ formuliert (81 83
Gleichungen), wobei neben den Verschiebungen auch die Unbekannte Abbildung 19.22: Dis-
FC auf die linke Seite geschrieben wird: kretisierung: nA = 80
FC R 2 FR 2
vi−1 + (h2 − 2) vi + vi+1 + h cos ϕi = h (1 − sin ϕi ) , i = 2, 3, 4, . . . , 82 .
κEA κEA
Für die in der Abbildung 19.22 besonders hervorgehobenen Punkte 3, 5, . . . , 81 werden die „u-
Gleichungen“ aufgeschrieben (40 Gleichungen):
FR
−ui−1 + ui+1 + 2 hvi = −2 h , i = 3, 5, 7, . . . , 81 .
EA
Schließlich sind noch die Randbedingungen zu ergänzen (4 Gleichungen):
v02 = 0 ⇒ −v1 + v3 = 0 (horizontale Tangente im Symmetrieschnitt),
u2 = 0 , u82 = 0 , v82 = 0 .
Dies sind insgesamt 125 Gleichungen für die 125 Unbekannten
FC ( 1 Wert) ;
v1 , v2 , v3 , . . . , v83 (83 Werte) ;
u2 , u4 , u6 , . . . , u82 (41 Werte) .
Der Wert für den Parameter κ = 0, 00062594 für Rr = 0, 05 wird der Tabelle auf Seite 329 ent-
nommen. Der Zusammenhang zwischen dem Winkel ϕi und der Nummerierung der Punkte kann
so formuliert werden: π
ϕi = (i − 2) .
160
340 19 Spezielle Biegeprobleme
Differenzenverfahren FEM-Rechnung
Exakt
nA = 80 nA = 160 80 Elemente 160 Elemente
vF [mm] = −0, 9419 −0, 9420 −0, 9414 −0, 9450 −0, 9451
FC [kN] = 6, 366 6, 367 6, 366 6, 359 6, 358
MC [kNm] = −1, 454 −1, 453 −1, 453 −1, 457 −1, 457
Abbildung 19.24: Die sicherste Variante zur Bestätigung der Ergebnisse: Berechnung nach verschiedenen
Verfahren mit unterschiedlichen Software-Produkten
19.4 Aufgaben 341
19.4 Aufgaben
Aufgabe 19.1:
Der skizzierte Kragträger mit
-förmigem Querschnitt ist durch zwei Einzel-
2
kräfte belastet. Man ermittle Ort und Größe der
maximalen Biegespannung. 2
Gegeben: F , l, a. 3
Aufgabe 19.2:
Ein Biegeträger mit Dreiecksquer-
schnitt (rechtwinkliges gleichschenkliges Dreieck) ist
bei A starr eingespannt und nur durch sein Eigenge-
wicht (Dichte ρ) belastet.
Gegeben: l = 80 cm ; ρ = 7, 85 g/cm3 ;
a = 2 cm ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
Man ermittle
a) die Biegespannungen an den drei Eckpunkten des Einspannquerschnitts,
b) die Lage der Spannungs-Null-Linie,
c) Größe und Richtung der Gesamtverschiebung des freien Trägerendes.
Aufgabe 19.3:
Die auf elastischem Untergrund liegenden
Schwellen eines Schienenweges werden wie skizziert über
die Schienen durch zwei Kräfte F belastet.
l kl 4
Gegeben: F , EI = konstant , l , a = , =2.
4 EI
a) Für die exakte Lösung müsste unter Ausnutzung der Symmetrie die allgemeine Lösung 19.6
der Differenzialgleichung für zwei Bereiche (mit 8 Integrationskonstanten) aufgeschrieben
werden. Die erforderlichen Rand- und Übergangsbedingungen für die Berechnung der Inte-
grationskonstanten sind zu formulieren.
b) Mit Hilfe des Differenzenverfahrens sind die Verformung und der Biege-
momentenverlauf zu ermitteln.
c) Die unter b ermittelten Ergebnisse sind durch eine FEM-Rechnung mit
einem geeigneten Programm zu bestätigen (siehe www.TM-interaktiv.de).
342 19 Spezielle Biegeprobleme
Aufgabe 19.4:
Die Ermittlung der größten Bean-
spruchung in einem Kranhaken (Beispiel 3 im Ab-
schnitt 19.3.2 auf Seite 331) zeigte, dass ein Recht-
eckquerschnitt günstiger als ein Kreisquerschnitt (bei
gleicher Querschnittsfläche) ist. Es ist zu untersuchen,
ob auch die Verwendung eines elliptischen Quer-
2
schnitts anstelle eines Kreisquerschnittes zu einer ge-
ringeren Maximalspannung führt, wenn die Quer-
2
schnittsflächen gleich sind (gleicher Materialeinsatz)
und der Krümmungsradius R beibehalten wird.
Gegeben: R , r = 0, 5 R .
a) Man ermittle die κ-Werte für einen elliptischen Querschnitt nach der
Formel 19.17 mit Hilfe eines geeigneten Computerprogramms (vgl.
www.TM-aktuell.de) für unterschiedliche Werte Ra .
b) Man berechne das Verhältnis der betragsmäßig größten Biegespannung bei elliptischen Quer-
schnitten zu der betragsmäßig größten Biegespannung bei einem Kreisquerschnitt mit dem
gleichen Flächeninhalt für verschiedene Formen der Ellipse ( ab = 2 ; 1, 5 ; 0, 5).
Aufgabe 19.5:
Eine Kette besteht wie skizziert aus
kreisringförmigen Gliedern. Wegen der doppelten Sym-
metrie braucht für die Verformungs- und Spannungsbe- /2
rechnung nur ein Viertel eines Gliedes betrachtet zu wer-
den.
Die Skizze oben rechts zeigt ein Viertel eines Ketten-
gliedes mit der halben Belastung und den beiden La-
gern, die die in Symmetrieschnitten möglichen Verschie-
bungen zulassen. In die Skizze unten rechts sind die in /2
den Symmetrieschnitten wirkenden Kräfte und Momente
eingezeichnet. Da die Kraft-Gleichgewichtsbedingungen 1
bereits erfüllt sind, bleibt bei zwei unbekannten Momen-
ten nur eine Gleichgewichtsbedingung: Das Problem ist /2 2
einfach statisch unbestimmt.
r
Gegeben: F ; R ; = 0, 25 ; E .
R
Man berechne mit dem Differenzenverfahren
a) die Verformungen eines Kettengliedes infolge der Kraft F,
b) den Biegemomentenverlauf und Ort und Größe des absolut größten Biegemoments.
An einem differenziell kleinen Element der Länge dz, das aus dem Träger herausgeschnitten wird
(Abbildung 20.1), wirken die Schnittgrößen Mb und FQ . Die durch Mb hervorgerufenen Biege-
spannungen sind über die Höhe (in y-Richtung) linear veränderlich, die Art der Veränderlichkeit
der Schubspannungen τzy ist zunächst nicht bekannt (Hinweis zu den Indizes von τ: Der erste
Index kennzeichnet die Schnittfläche durch die Koordinate, die senkrecht zur Fläche gerichtet
ist, der zweite Index bestimmt die Richtung der Schubspannung).
In der Abbildung 20.1 sieht man, dass aus dem differenziell kleinen Element der Länge dz in ver-
tikaler Richtung noch einmal ein Element mit der Höhe dy herausgeschnitten wird (Abbildung
20.2). Die Spannungen an den Schnittflächen b dy können zu Kräften zusammengefasst werden
(b ist die Breite des Trägers).
Es ist erkennbar, dass an dem Element dz · dy das
Momentengleichgewicht (z. B. um den Mittelpunkt)
nur erfüllt sein kann, wenn auch in den horizontalen
Schnittflächen Schubspannungen wirken, die nach
der getroffenen Vereinbarung mit τyz bezeichnet wer-
den. Die Momentwirkungen der Normalspannungen
heben sich (bis auf Anteile, die von höherer Ordnung
klein sind) auf, und man erhält für das Momenten-
gleichgewicht um den Mittelpunkt des Elements:
Abbildung 20.2: Element dz · dy
τyz b dz dy = τzy b dy dz .
Alle Abmessungen fallen aus dieser Beziehung heraus, und man erhält als allgemeingültige Aus-
sage das
Dass Schubspannungen auch in den Längsschnitten eines Biegeträgers auftreten, lässt sich recht
gut veranschaulichen (Abbildung 20.3): Werden zwei übereinander liegende Träger auf Bie-
gung belastet, so verschieben sie sich gegeneinander. Wenn sie verbunden werden (Schweißen,
Kleben, Nieten, ....), so wird diese Verschiebung durch die in der Verbindung hervorgerufene
Schubspannungen verhindert.
Abbildung 20.3: Im kompakten Träger (rechts) verhindern Schubspannungen das Abscheren der Schichten
Es soll nun die Schubspannung an einer beliebigen Stelle y des Querschnitts bei z berechnet wer-
den (die Indizes für die Schubspannung werden jetzt weggelassen, weil ohnehin für die beiden
betrachteten Schnitte die gleichen Werte gelten). Dazu wird eine differenziell kleine Scheibe des
Trägers (Dicke dz) noch einmal in der Höhe y zerschnitten, so dass sie in zwei Teile zerfällt
(Abbildung 20.4).
20.1 Ermittlung der Schubspannungen 345
Resultierende der
Biegespannung
..uber
infolge
bzw.
Am unteren Teil wirken in horizontaler Richtung (z-Richtung) die Biegespannungen der anteili-
gen Fläche Ā und die Schubspannungen der Fläche b dz. Die Biegespannungen werden am linken
Schnittufer durch das Moment Mb , am rechten Schnittufer durch (Mb + dMb ) hervorgerufen. Die
Spannungen infolge Mb heben sich gegenseitig auf, so dass das Gleichgewicht in z-Richtung
durch die Resultierende der Schubspannungen τ b dz und die Resultierende aus den Normalspan-
nungen infolge dMb hergestellt werden muss.
Die Spannung infolge dMb an einer beliebigen Stelle ȳ innerhalb Ā errechnet sich nach der Bie-
gespannungsformel 16.3, wobei Mb durch dMb ersetzt werden muss. Der Querstrich bei ȳ wird
verwendet, weil y bereits vergeben ist für die Kennzeichnung des horizontalen Schnitts (y und
ȳ zählen beide vom Schwerpunkt der Gesamt-Querschnittsfläche positiv nach unten). Die Inte-
gration dieser Biegespannungen dM b
Ixx ȳ über die Fläche Ā liefert die resultierende Kraft, die der
Schubspannung im horizontalen Schnitt das Gleichgewicht hält:
dMb dMb
Z Z
τ b dz = ȳ d Ā = ȳ d Ā .
Ixx Ixx
Ā Ā
Das Integral Z
Sx = ȳ d Ā
Ā
ist das aus dem Abschnitt 4.2 als Formel 4.8 bekannte statische Moment der Fläche Ā, das sich
hier auf die durch den Schwerpunkt der Gesamt-Querschnittsfläche verlaufende x-Achse (senk-
recht zur y-Achse) bezieht. Damit wird aus der Gleichgewichtsbedingung in z-Richtung (nach
Division durch b dz):
dMb Sx
τ= ,
dz b Ixx
dMb
und mit dz = FQ (vgl. Abschnitt 7.2) ergibt sich die Formel für die Berechnung der
346 20 Querkraftschub
FQ Sx
Schubspannung infolge Querkraftbelastung: τ= . (20.2)
b Ixx
• FQ (z) ist die Querkraft in der Schnittfläche bei z und Ixx das Flächenträgheitsmoment
dieser Fläche bezüglich der durch den Flächenschwerpunkt (senkrecht zur FQ -Richtung)
verlaufenden Hauptzentralachse x (Biegeachse).
• Die Breite des Querschnitts b(y) darf veränderlich sein. Die y-Achse beginnt im Schwer-
punkt der Querschnittsfläche und steht senkrecht auf der x-Achse.
• Sx (y) ist das statische Moment einer Teilquerschnittsfläche, die durch die Parallele zur
x-Achse bei y vom Gesamtquerschnitt abgetrennt wird. Sx (y) bezieht sich auf die Schwer-
punktachse des Gesamtquerschnitts (x-Achse).
Beispiel 1:
Der skizzierte Kragträger mit Recht-
eckquerschnitt wird durch die Kraft F belastet.
Dann wirkt in allen Querschnitten die Querkraft
FQ = F .
Die Breite b des Querschnitts ist konstant, und für
das Flächenträgheitsmoment des gesamten Recht-
+ /2 /2
/2
Damit erhält man die Schubspannungsverteilung über die Höhe des Rechteckquerschnitts:
y 2 F
3
τ(y) = 1−4 .
2 h bh
Der quadratische Verlauf (nebenstehende Skizze) hat die Randwerte
h
τ y=± =0
2
und den Maximalwert in der Schwerpunktfaser:
3 F
τmax = τ(y = 0) = .
2 bh
Diese Schubspannung wirkt nach
dem Gesetz der zugeordneten
Schubspannungen auch in ei-
nem Horizontalschnitt des Trä-
/2
gers (Abbildung 20.6). Sie muss
besonders dann beachtet werden,
wenn dieser Längsschnitt z. B. ei-
ne Kleb-, Schweiß- oder Nietver- Abbildung 20.6: Schubspannungen in Biegeträgern sind eigentlich
bindung ist. nur dadurch gefährlich, weil sie auch in Längsschnitten wirken
Falls ein Balken aus mehreren Teilen zusammengesetzt wird, sollte die Fuge nicht in Höhe des
Gesamtschwerpunktes der zusammengesetzten Fläche gelegt werden.
8
Beispiel 2:
3
/4 3 /4
6
Gegeben: F , l, a.
Ein -Träger wurde aus zwei Rechteckprofilen so zusammengeschweißt, dass die Naht eine
Verbindung über die gesamte Stegbreite a herstellt. Für die in der Skizze angegebene Lagerung
und Belastung ist die größte Schubspannung in der Schweißnaht zu ermitteln.
Mit den Lagerreaktionen
3 1
FA = F und FB = F + 3 /4
4 4
ergibt sich der nebenstehend skizzierte Querkraftver- /4
lauf mit der maximalen Querkraft Abbildung 20.7: Querkraftverlauf
3
FQ,max = F .
4
348 20 Querkraftschub
0,6
fläche (bezogen auf das x-y-Koordinatensystem) berechnet:
Ixx = 133, 2 a4
3
ȳS = 2, 4 a ; .
Die Schweißnaht liegt also im Abstand
y = 0, 6 a
vom Schwerpunkt der Gesamtfläche, und das in die Formel 20.2 eingehende statische Moment
der Teilfläche kann entweder für den Flansch oder den Steg (jeweils bezogen auf die x-Achse)
berechnet werden. Für den Steg ergibt sich z. B. folgende Rechnung:
Sx (y = 0, 6 a) = 6 a2 (0, 6 a + 3 a) = 21, 6 a3 .
Mit den ermittelten Querschnittswerten, der maximalen Querkraft und der Breite b = a an der
Nahtstelle erhält man die maximale Schubspannung in der Schweißnaht nach 20.2:
F
τNaht,max = 0, 1216 .
a2
Der krasse Sprung an der Übergangsstelle (bedingt durch die sich sprunghaft ändernde Breite)
gibt Anlass, die Gültigkeit der Voraussetzungen dieser Berechnung noch einmal zu diskutieren,
denn speziell die gleichmäßige Verteilung der Schubspannung über die Querschnittsbreite wird
im viel breiteren Flansch in der Nähe der Übergangsstelle nicht realistisch sein. Vielmehr gilt:
ê Genauere Untersuchungen zeigen, dass bei breiten Trägern die Schubspannungen sich nicht
gleichmäßig über die Breite verteilen. Sie sind am Rand etwas größer als in der Mitte, nach
der Formel 20.2 wird ein über die Breite genommener Mittelwert errechnet. Dies hat im
Allgemeinen wenig praktische Bedeutung, da bei breiten Trägern die Schubspannungen na-
türlich entsprechend klein (und damit meist unbedeutend) sind (vgl. das gerade behandelte
Beispiel, bei dem die Schubspannungen nur in dem schmalen Steg bedeutsam sind).
ê Eine besondere Betrachtung erfordern die so genannten dünnwandigen offenen Profile, bei
denen (im Gegensatz zum gerade behandelten Beispiel) die „breiten“ Querschnittsabschnitte
eine sehr kleine Höhe haben (z. B. -, - und ∪-Profile). Diese werden deshalb im nächsten
Abschnitt gesondert behandelt.
20.2 Dünnwandige offene Profile, Schubmittelpunkt 349
An dem in Abbildung 20.9 skizzierten -Profil wird gezeigt, dass in den Flanschen auch in verti-
kalen Längsschnitten aus Gleichgewichtsgründen Schubspannungen wirken müssen. Dazu wird
ein differenziell kleines Element (Länge dz) betrachtet, an dessen Schnittufern die Biegespan-
nungen σ bzw. (σ + dσ ) wirken (in der Skizze sind die Spannungspfeile nur für die Flansche
eingezeichnet, wobei willkürlich angenommen wurde, dass oben eine Druckspannung und unten
eine Zugspannung wirkt).
+ +
+
(Druck)
+
(Zug)
Abbildung 20.9: Auch im vertikalen Schnitt durch einen Flansch wirken Schubspannungen
Wenn Streifen der Flansche von dem Element abgeschnitten werden (Abbildung 20.9, rechts),
dann wird deutlich, dass in den (vertikalen) Schnitten Schubspannungen wirken müssen, die
mit den dσ -Anteilen der Biegespannung das Kraft-Gleichgewicht in Träger-Längsrichtung her-
stellen. Wie bei der Herleitung der Formel 20.2 im vorigen Abschnitt werden diese Biegespan-
nungsanteile dσ = dM Ixx ȳ über die Fläche s · t integriert und mit der resultierenden Kraft der
b
Natürlich wirken Schubspannungen der gleichen Größe (Gesetz der zugeordneten Schubspan-
nungen) auch in den Querschnittsflächen. Da die Schubspannungen an den Rändern des Flan-
sches gleich Null sind, werden sie mit wachsender Koordinate s (und damit größer werdendem
statischen Moment der Teilfläche) nach innen größer. Ihre Richtung weist an einem Flansch (ab-
hängig davon, ob die Biegespannung im Flansch Zug oder Druck ist) entweder zum Steg hin
350 20 Querkraftschub
oder vom Steg weg, im Steg stimmt die Schubspannungsrichtung mit der Richtung der Querkraft
an dem entsprechenden Schnittufer überein.
Die Abbildung 20.11 veranschaulicht, wie die Schubspannungen
über die Querschnittsfläche „fließen“, wobei die über bzw. unter den
Flanschen und rechts vom Steg angedeuteten Funktionen die Intensi-
tät verdeutlichen.
Da in die Formeln 20.2 bzw. 20.3 jeweils das statische Moment der
gesamten Teilfläche eingeht, die durch einen Längsschnitt bei y bzw.
s abgetrennt wird, ist klar, dass die Summe der am Steg „zusammen-
fließenden“ Anteile dem Wert am Anschlusspunkt im Steg entspricht.
Wegen der vorausgesetzten Dünnwandigkeit sind die an dieser Stel-
le nicht mit der Herleitung übereinstimmenden Voraussetzungen (im Abbildung 20.11: Schub-
Flanschteil über bzw. unter dem Steg schneidet ein vertikaler Schnitt spannungsfluss
keine Scheibe des Flansches ab) vernachlässigbar.
ê Für dünnwandige Querschnitte (im betrachteten Beispiel: t ist klein im Vergleich mit Steg-
höhe und Flanschbreite) werden nur die Schubspannungen in die Rechnung einbezogen,
die parallel zur Profil-Mittellinie gerichtet sind. Für das -Profil bedeutet dies z. B., dass in
den Flanschen keine vertikalen Schubspannungen, wie sie sich nach 20.2 durchaus ergeben
würden, berücksichtigt werden.
ê Da nur die durch die Querkraft hervorgerufenen Schubspannungen betrachtet wurden, müs-
sen sie der eingeleiteten Querkraft äquivalent sein. Für das behandelte Beispiel bedeutet das,
dass die Resultierende aus der Schubspannung im Steg die Querkraft ist. Die Schubspannun-
gen in den Flanschen bilden beim -Profil ein Gleichgewichtssystem, was leider nicht bei
allen Profilformen der Fall ist (vgl. nachfolgendes Beispiel).
ê Für dünnwandige Profile darf auch das Flächenträgheitsmoment vereinfacht berechnet wer-
den. Für das -Profil werden der Anteil des Stegs und für die Flansche nur die „Steiner-
Anteile“ berücksichtigt, weil der t 3 -Faktor die Anteile bezüglich der Flansch-Schwerpunkt-
achsen verschwindend klein macht.
Der Praktiker geht häufig noch einen Schritt weiter und bezieht auch den (speziell bei breiten
Flanschen deutlich kleineren) Anteil des Stegs nicht mit ein (und liegt damit auf der sicheren
Seite): „Bei -Profilen nehmen die Flansche die Biegung und der Steg die Querkraft auf.“
Eine nennenswerte Erleichterung bei der Rechnung bringt diese weitere Vereinfachung je-
doch nicht und wird deshalb im Folgenden nicht verwendet.
Beispiel:
Für das skizzierte dünnwandige Profil ist der Verlauf der
Schubspannungen infolge einer vertikal nach unten gerichteten Querkraft
zu ermitteln.
Gegeben: h , b , t h, b .
20.2 Dünnwandige offene Profile, Schubmittelpunkt 351
Das Flächenträgheitsmoment der Gesamtfläche wird vereinfacht aufgeschrieben (für die Quer-
riegel werden nur die Steiner-Anteile berücksichtigt):
2
h t h3 t h2
Ixx = 2t b + = (6 b + h) .
2 12 12
Es werden die nebenstehend skizzierten Koordina- 1
ten s1 und s2 verwendet. Die in 20.3 für die beiden
Abschnitte eingehenden statischen Momente beziehen
/2
2
sich jeweils auf die Linie x-x und sind für die schraf-
fierten Flächen aufzuschreiben:
h
S1x = t s1 ,
2
h h s2 t
S2x = t b + t s2 − = (b h + h s2 − s22 ) .
2 2 2 2
Damit erhält man die Schubspannungsverläufe in den beiden Abschnitten:
FQ S1x 6 FQ
τ1 (s1 ) = = s1 ,
t Ixx t h (6 b + h)
s22
FQ S2x 6 FQ
τ2 (s2 ) = = b + s2 − .
t Ixx t h (6 b + h) h
Der lineare τ1 -Verlauf hat sein Maximum an der Ecke:
6 FQ b
τ1,max = .
t h (6 b + h)
Mit dem gleichen Wert startet der parabolische τ2 -Verlauf für den vertikalen Teil, der sein Maxi-
mum im Symmetrieschnitt hat:
3 FQ (4 b + h)
τ2,max = . 1
2t h (6 b + h)
Im unteren Querriegel ist der Verlauf analog zum
oberen Querriegel, allerdings mit entgegengesetzter
Richtung, so dass die Schubspannungen keine hori-
zontal gerichtete resultierende Komponente erzeugen 2
(Abbildung 20.12).
Die vertikal gerichtete Resultierende der Schubspan- 1
nungen (hier ausschließlich durch τ2 repräsentiert) ist Abbildung 20.12: Die Schubspannungen
die Querkraft FQ selbst, wovon man sich durch Inte- infolge der Querkraft erzeugen in einem ∪-
gration des τ2 -Verlaufs über die Höhe leicht überzeu- Profil ein Moment um den Schwerpunkt
gen kann.
Die Abbildung 20.12 verdeutlicht allerdings, dass die Schubspannungen ein Moment um den
Schwerpunkt des Querschnitts hervorrufen. Die Wirkungslinie der Querkraft, die diesen Schub-
spannungen äquivalent ist, kann also nicht durch den Schwerpunkt des Querschnitts gehen.
352 20 Querkraftschub
Der Punkt des Querschnitts, durch den die Wirkungslinie der Querkraft tatsächlich verläuft, der
so genannte Schubmittelpunkt T , kann durch eine Äquivalenzbetrachtung ermittelt werden: Das
Moment der Querkraft (um einen beliebigen Punkt der Querschnittsebene) muss gleich dem
Moment der aus den Schubspannungen resultierenden Kräften sein.
Als Bezugspunkt bietet sich der Punkt A an (Abbildung 20.13),
weil nur die Resultierende der Schubspannungen des unteren
Querriegels eine Momentwirkung um diesen Punkt hat. Diese ist
für die linear veränderliche τ1 -Funktion leicht zu ermitteln. Mo-
/2
mentwirkungen aus Schubspannungen und Querkraft sind äqui-
valent, wenn
1 3 FQ b2
FQ xT = τ1,max bt h =
2 6b+h Abbildung 20.13: Berech-
nung des Schubmittelpunk-
gilt. Daraus errechnet sich der Abstand des Schubmittelpunkts T
tes aus Äquivalenz der Mo-
von der vertikalen Profil-Mittellinie:
mente um den Punkt A
3 b2
xT = .
6b+h
Aus diesem Beispiel kann man eine allgemein gültige Definition ableiten:
Der Schubmittelpunkt
eines Profils ist derjenige Punkt, durch den die Wirkungslinie der Querkraft verläuft. Er ist im
Allgemeinen nicht mit dem Flächenschwerpunkt identisch
Bei symmetrischen Querschnitten liegt der Schubmittelpunkt auf der Symmetrielinie und fällt
bei doppelt-symmetrischen Querschnitten mit dem Schwerpunkt zusammen.
Um für den in Abbildung 20.14 skizzierten Träger Torsionsfreiheit zu garantieren, muss die
belastende Kraft F „neben dem eigentlichen Querschnitt“ angreifen, wie es die Abbildung 20.15
zeigt. Die (Querkraft-)Schubspannungen in der Schnittfläche bilden dann mit der äußeren Kraft
ein Gleichgewichtssystem.
20.2 Dünnwandige offene Profile, Schubmittelpunkt 353
Abbildung 20.15: Mit einem (eher zweifelhaften) konstruktiven Trick kann auch der Querschnitt eines
offenen dünnwandigen Profils torsionsfrei bleiben
Im Allgemeinen ist ein Konstrukteur gut beraten, wenn er solche Probleme umgeht (Einbau des
Profils um 90◦ gedreht, Verwendung anderer Profile, Zusammensetzen von mehreren Profilen zu
symmetrischen Querschnitten, ...).
ê Bei einigen Profilen ist das Lasteinlei-
tungsproblem wesentlich einfacher lösbar,
weil der Schubmittelpunkt innerhalb der
Querschnittsfläche liegt. Aus dem oben
demonstrierten Algorithmus zur Ermitt-
lung des Schubmittelpunkts (Momenten-
Äquivalenz) folgt, dass für die beiden in
der Abbildung 20.16 skizzierten Profile die Abbildung 20.16: Für - und -Profile lie-
Schubmittelpunkte nur im Schnittpunkt der gen die Schubmittelpunkte im Schnittpunkt der
Profil-Mittellinien
Profil-Mittellinien liegen können.
ê An dieser Stelle fördert es sicher das Verständnis, eine in der Technischen Mechanik übliche
(und auch in diesem Buch immer wieder verwendete) Formulierung zu diskutieren: „Die
Schnittgrößen rufen im Querschnitt Spannungen hervor“, ist eigentlich nicht korrekt. Die
Spannungen sind unmittelbare Folge der Verzerrungen, die durch die äußere Belastung ver-
ursacht werden. Die Schnittgrößen sind als Resultierende dieser Spannungen fiktive Größen,
die allerdings außerordentlich nützlich auf dem Weg zur Spannungsberechnung sind. Weil
der Weg zu den Spannungen in einem Träger fast immer über die Schnittgrößen führt, soll
die oben zitierte Formulierung auch weiter gestattet sein.
ê Als Konsequenz gilt für die Schubspannungsberechnung: Die Querkräfte werden in der
Schnittfläche immer so angetragen, dass ihre Wirkungslinien durch den Schubmittelpunkt
gehen (über das Antragen des Torsionsmoments braucht keine Vereinbarung getroffen zu
werden, weil Momente auch senkrecht zur Drehachse verschoben werden dürfen). Wenn
die Gleichgewichtsbedingungen auch ein Torsionsmoment liefern, ist neben der Berech-
nung der Querkraftschubspannungen noch eine Schubspannungsberechnung infolge Torsi-
on (Kapitel 21) erforderlich. Zur Berechnung des Torsionsmoments wird eine Momenten-
Gleichgewichtsbedingung bezüglich einer Achse durch den Schubmittelpunkt des Quer-
schnitts empfohlen, in die die Querkräfte nicht eingehen.
354 20 Querkraftschub
Werden Längsfugen in Trägern durch Verbindungsmittel (Nägel, Niete, Dübel, Bolzen, Schrau-
ben, Schweißnähte ...) überbrückt, die ein Verschieben der Trägerteile gegeneinander verhindern,
so müssen diese die in der Fuge wirkenden Schubspannungen aufnehmen. Diese stellen in den
meisten Fällen die wesentliche Belastung des Verbindungsmittels dar.
Wenn es sich um eine flächenhafte Verbindung handelt (Klebefläche, Reibschweißfläche, ...),
können die zu übertragenen Schubspannungen wie in einem kompakten Träger berechnet wer-
den.
Sind die Trägerteile nur an diskreten Stellen verbunden, so muss die mit einem Vergleichsträger
zu berechnende Schubspannung auf die (in der Regel kleinere) Scherfläche des Verbindungsele-
mentes umgerechnet werden. Dieses Vorgehen soll an zwei Beispielen erläutert werden.
Beispiel 1:
Der aus zwei Rechteckquer-
schnitten zusammengefügte Träger überträgt
am Übergang beider Querschnitte eine Schub-
spannung, die sich für den kompakten Träger Fuge
für jede Stelle der Fuge nach 20.2 berechnen
1 2
lässt:
FQ Sx, Fuge 2
τFuge = . +
b Ixx 6
Es wird nun angenommen, dass die beiden
Trägerteile nur an sieben äquidistanten Stellen Felder der
..
Scherflachen
verbunden sind. Dann werden die Schubspan-
nungen einer Scherfläche, die man dem „Ein- Abbildung 20.17: Verteilung der Schubspannung
zugsbereich“ eines Verbindungsmittels zuord- auf 7 Scherflächen
nen kann, zu einer Scherkraft zusammenge-
fasst, wie es die Abbildung 20.17 andeutet.
Für den linken Bereich mit konstanter Querkraft (und damit wegen der konstanten geometrischen
Parameter auch mit konstanter Schubspannung) ergibt sich diese Scherkraft aus der Multiplika-
tion der Schubspannung mit der Scherfläche, im rechten Bereich mit veränderlicher Querkraft
(bzw. Schubspannung) muss über die Fläche integriert werden, für die skizzierten Flächen 2
bzw. 6 also z. B.:
a Sx, Fuge
FS2 = τFuge,1 a b = FQ1 ,
Ixx
Z3 a Z3 a
Sx, Fuge
FS6 = τFuge,2 (z2 ) b dz2 = FQ2 (z2 ) dz2 .
Ixx
z2 =2 a z2 =2 a
Die Schubkräfte ergeben sich vorzeichenbehaftet (die Abbildung 20.17 zeigt die tatsächlichen
Richtungen), für die Berechnung der Spannungen ist nur ihr Betrag interessant.
20.3 Schubspannungen in Verbindungsmitteln 355
Bei einem Bolzen pro Feld (Abbildung 20.18 oben) ergibt Bolzen
sich die zu übertragende Spannung aus dem Quotienten von (Durchmesser )
Scherkraft und Querschnittsfläche des Bolzens:
|FSi |
τBolzen, i = 2 .
π d4
Wenn die beiden Trägerteile in jedem Feld durch zwei
Schweißnähte der Länge l0 und der Nahtbreite a0 verbunden
..
sind (Abbildung 20.18 unten), übertragen diese die Schub- Schwei nahte
..
spannung (Lange 0 Breite 0
)
|FSi | 0
τNaht, i = .
2 l0 a 0
Wenn die Schweißnähte auf beiden Seiten über die gesamte
Trägerlänge (ohne Unterbrechung) ausgeführt wären, könnte
der Umweg über die Scherkräfte unterbleiben, weil die nach
20.2 berechnete Schubspannung einfach mit dem Verhältnis
der fiktiven zur tatsächlichen Scherbreite 2 ba0 multipliziert Abbildung 20.18: Verbindung
werden könnte. durch Bolzen bzw. Schweißnähte
Beispiel 2:
In dem außermittig belasteten
Träger sind die Querkräfte und damit die
Schubspannungen in der Fuge links bzw. /3 2 /3 Fuge
rechts von der Kraftangriffsstelle jeweils kon-
stant:
2 2 F Sx, Fuge /3
FQ1 = F ⇒ τFuge,1 = ,
3 3 b Ixx 2 /3
1 1 F Sx, Fuge
FQ2 = F ⇒ τFuge,2 = .
3 3 b Ixx
1 2
Die Schubkräfte in der Fuge dürfen durch
Multiplikation der Schubspannungen mit den
Scherflächen aufgeschrieben werden:
1 2 Sx, Fuge l
FS1 = τFuge,1 lb = F , 2
3 9 Ixx
1
2 2 Sx, Fuge l
FS2 = τFuge,2 lb = F .
3 9 Ixx Abbildung 20.19: Verteilte Schubbelastung in der
Fuge (z.Ḃ in einer Klebefläche)
Die Gleichheit der beiden Schubkräfte überrascht nicht, weil sie aus Gleichgewichtsgründen
(Abbildung 20.19 unten) unumgänglich ist. Sie bedeutet, dass bei Verbindung durch diskrete
Verbindungsmittel in beiden Abschnitten jeweils die gleiche Anzahl zu verwenden ist, um alle
mit der gleichen Schubspannung zu belasten.
356 20 Querkraftschub
Diese Verwölbung kann im Rahmen der Theorie des geraden Trägers nicht berücksichtigt werden
(genauere Verformungsberechnungen können für praxisnahe Probleme im Allgemeinen nur mit
Hilfe der Finite-Elemente-Methode ausgeführt werden).
Es wird deshalb näherungsweise eine mittle-
re konstante Schubspannung τ̄ angenommen
(Abbildung 20.21), die dann einen konstan-
ten Gleitwinkel γ̄ über die Querschnittshöhe er-
zeugt. So bleiben die Querschnitte auch durch
die Schubspannungsverformung eben. Der durch
=
diese Näherungsannahme erzeugte Fehler wird
weitgehend durch eine Korrektur der Quer- Abbildung 20.21: Näherungsannahme „Mittle-
schnittsfläche A ausgeglichen: re Schubspannung“ Ù Konstanter Gleitwinkel
Die wirksame Schubfläche AS , auf die die mittlere Schubspannung wirkt, errechnet sich mit ei-
nem Korrekturparameter κS , der aus der Bedingung gewonnen wird, dass die bei der Verformung
erzeugten Formänderungsenergien des realen bzw. gemittelten Schubspannungszustandes gleich
sind. Dies wird im Kapitel 24 behandelt und führt auf folgende Formeln:
FQ A A Sx2
Z
τ̄ = , AS = , κS = 2
dA . (20.4)
AS κS Ixx b2
A
Das Trägerelement der Länge dz verformt sich zum Parallelogramm (Abbildung 20.21), wo-
bei die Vertikalverschiebung sich vom linken zum rechten Rand des Elements um dvS = γ̄ dz
ändert (der Index S soll andeuten, dass es sich um reine Schubverformung ausschließlich durch
20.4 Verformungen durch Querkräfte 357
die Querkraft handelt im Gegensatz zur Biegeverformung durch das Biegemoment). Die Ver-
formungsberechnung wird nun besonders einfach, wenn auch noch angenommen wird, dass die
vertikalen Schnittflächen des Elements sich bei der Schubverformung nicht drehen, was immer
dann der Fall sein wird, wenn die Schnittflächen der Nachbarelemente auch ihre vertikale Rich-
tung behalten. Mit diesen Annahmen erhält man unter Verwendung des Hookeschen Gesetzes
und mit 20.4 die Differenzialbeziehung für die Verformung infolge Querkraftbelastung
dvS τ̄ FQ κS FQ
= γ̄ = = = , (20.5)
dz G G AS GA
die genau dann gilt (siehe nachfolgende Diskussion), wenn das Produkt GA im Nenner der rech-
ten Seite, die Schubsteifigkeit des Trägers, und der Korrekturparameter κS konstant sind. Bei der
Integration von 20.5 entsteht eine Integrationskonstante, die durch eine Verschiebungsrandbedin-
gung bestimmt wird.
Beispiel 1:
Für den skizzierten Träger ist die Schub-
verformung infolge der Querkraftbelastung zu ermit-
teln. Die maximale Absenkung ist mit der durch
das Biegemoment hervorgerufenen Biegeverformung zu
vergleichen.
Gegeben: E, G, h, b, l.
Die Querschnittswerte und die Querkraft FQ = F sind konstant, so
dass auf der rechten Seite von 20.5 eine Konstante steht.
Der κS -Wert ist nur von der Querschnittsform abhängig. Er wird nach
20.4 berechnet, wobei das Sx unter dem Integral wie in der Formel =
20.2 das statische Moment der bei y abgetrennten Teilfläche bezüg-
lich der Schwerpunktachse x ist (nebenstehende Skizze):
h
Z2 2
Sx2
A bh 1 h 1 h 6
Z
κS = 2 2
dA = 2 2
b −y +y b dy = .
Ixx b bh3 b 2 2 2 5
A 12 y=− h2
" #
Fl 3 6 Fl 4 Fl 3 3 E h 2
vmax = vB,max + vS,max = 3 + = 1+ .
3 E bh 5 Gbh Ebh3 10 G l
12
2
ê Der Faktor hl beim zweiten Summanden in der eckigen Klammer, der die Größenordnung
des Schubverformungsanteils charakterisiert, macht deutlich, dass dieser für schlanke Träger
wesentlich kleiner als der Biegeanteil ist. Diese Aussage gilt allgemein.
ê Dass die Trägerquerschnitte bei reiner Schub-
0
verformung ihre vertikale Lage beibehal-
ten und vS damit nach 20.5 berechnet wer-
den darf, gilt auch für veränderliche Quer-
kraft. Die Abbildung 20.23 zeigt dafür ein
Beispiel. Die Ähnlichkeit von Schubverfor-
mungslinie und Biegemomentenverlauf ist +
durchaus nicht zufällig, denn bei konstantem
Querschnitt ist die Ableitung der Schubver-
formung der Querkraft proportional, die an-
+
dererseits nach 7.1 auch die Ableitung des
Biegemoments ist. Abbildung 20.23: Die Schubverformung ist
bei konstantem Trägerquerschnitt proportional
Das Beispiel verdeutlicht allerdings ein neues
zum Biegemomentenverlauf
Problem:
Es gibt drei Rand- und Übergangsbedingungen (keine Absenkungen an den Lagern, gleiche Ab-
senkungen an der Übergangsstelle), aber bei Integration in zwei Bereichen nur zwei Integrations-
konstanten. Wenn man jedoch die Integrationskonstanten aus zwei Bedingungen errechnet hat,
ist die dritte Bedingung identisch erfüllt.
Das gilt natürlich alles nicht mehr bei veränderlichem Querschnitt, doch bevor man dafür nach
(durchaus zu findenden) Reparatur-Möglichkeiten sucht, sollte man beachten: Wenn die Schub-
verformungen überhaupt zusätzlich zu den im Allgemeinen deutlich größeren Biegeverformun-
gen berücksichtigt werden sollen, dann sollten bei veränderlichen Querschnitten die nachfol-
genden Formeln verwendet werden (wegen der geringen praktischen Bedeutung wird auf eine
Herleitung hier verzichtet).
Beispiel 2: 2 2
Für den skizzierten Träger mit stück-
weise konstantem Querschnitt kann die Berech-
nung der Gesamtverformung nach 20.6 in folgen- 1 2
den Schritten ablaufen:
• Für beide Bereiche werden Querkraft- und Biegemomentenverlauf nach den vereinbarten
Regeln formuliert. Damit können die Differenzialgleichungen 20.6 aufgeschrieben werden:
F F
2 EIψ10 = z1 , 2 GA(v01 + ψ1 ) = κS ,
2 2
F F
EIψ20 = (l − z2 ) , GA(v02 + ψ2 ) = −κS .
2 2
• Es werden zunächst die beiden „ψ 0 -Gleichungen“ integriert (es entstehen 2 Integrationskon-
stanten), die Ergebnisse werden in die beiden anderen Gleichungen eingesetzt, die nach v0
umgestellt und ebenfalls integriert werden. Es entstehen 2 weitere Integrationskonstanten.
• Die 4 Integrationskonstanten werden aus folgenden Bedingungen bestimmt:
v1 (z1 = 0) = 0 , v2 (z2 = l) = 0 , v1 (z1 = l) = v2 (z2 = 0) ,
ψ1 (z1 = l) = ψ2 (z2 = 0) (Schrägstellung der Querschnitte an der Übergangsstelle) .
Fl 3
3 κS F z1 z1 3
v1 (z1 ) = z1 + 4 − ,
8 GA 24 EI l l
Fl 3
z 2 z 3
3 κS F z2 2 2
v2 (z2 ) = (l − z2 ) + 3+ −6 +2 .
8 GA 24 EI l l l
• Die ersten Summanden in den beiden Formeln sind die Schubverformungsanteile. Die bei-
den anderen Summanden (Biegeverformung) würden sich natürlich auch nach der im Kapitel
17 behandelten Theorie der Biegeverformung ergeben.
Als Fazit aus den theoretischen Überlegungen und den Ergebnissen der beiden Beispiele bleibt:
ê Die Trägerquerschnitte bleiben auch bei Berücksichtigung der Schubverformung eben, lie-
gen allerdings nicht mehr senkrecht zur Verformungslinie.
ê Die Schubverformung kann für schlanke Träger gegenüber der Biegeverformung im Allge-
meinen vernachlässigt werden.
Nur für gedrungene Träger (Querschnittshöhe liegt in der Größenordnung der Trägerlänge)
kann die Schubverformung in die Nähe der Größenordnung der Biegeverformung kommen.
Für solche Träger liefert 20.6 allerdings nur noch eine Abschätzung der tatsächlichen Werte,
weil für gedrungene Träger sowohl die Bernoulli-Hypothese der Biegeverformungstheorie
als auch die Annahme der Schubverformungstheorie (gemittelte Schubspannungen über die
Trägerhöhe) nur noch in grober Näherung erfüllt sind.
360 20 Querkraftschub
20.5 Aufgaben
Aufgabe 20.1:
Der skizzierte Träger ist aus zwei 0
Balken mit Quadratquerschnitten zusammenge-
2
leimt und trägt die konstante Linienlast q0 . Man
ermittle Ort und Größe der maximalen Schubspan-
nung in der Leimfuge.
Gegeben: a = 4 cm ; l = 40 cm ; q0 = 5 kN/m .
Aufgabe 20.2: 2
Ein Träger ist wie skizziert aus drei 0
2
Gegeben: F = 20 q0 a , a , q0 . 100
3
Man ermittle
a) die absolut größte Querkraft im Träger,
b) Ort und Größe der maximalen Schubspannungen in den Schweißnähten 1 und 2, wenn als
Schweißnahtbreite die Stegbreite a angenommen wird,
c) Ort und Größe der maximalen Schubspannungen im Träger.
Aufgabe 20.3: /4 /2
Zwei Träger mit Rechteckquer-
schnitten liegen übereinander und sind durch 2
Bolzen (Durchmesser d) bzw. 9 Niete verbunden,
so dass ein Verschieben der beiden Träger gegen-
einander verhindert wird. Die zulässige Schub-
spannung in den Nieten ist τzul .
Gegeben: F , h , l , d , τzul .
a) Man berechne die Schubspannung in den bei-
den Bolzen in Höhe der Trennfuge für die Stel-
lungen I und II der Last F.
b) Für die Verbindung der beiden Träger durch
neun gleichmäßig verteilte Niete (untere Skiz-
ze) berechne man die erforderlichen Niet- /10 /10
durchmesser für die Laststellung II.
Daraus ergibt sich mit dem Hookeschen Gesetz der Zusammenhang zwischen dem Verdrehwin-
kel und der Schubspannung:
dϕ
τ = Gr = G r ϕ0 .
dz
Am differenziell kleinen Flächenelement dA des Querschnitts hat die
dort wirkende Schubspannung die Kraftwirkung τ dA und damit um
den Mittelpunkt die Momentwirkung r τ dA (Abbildung 21.3). Die
resultierende Momentwirkung (Integration über die Querschnittsflä-
che A) muss dem Torsionsmoment Mt entsprechen:
Z Abbildung 21.3: Mo-
Mt = τ r dA . mentwirkung der Schub-
spannung τ
A
Mit dem bereits bekannten Zusammenhang zwischen Schubspannung und Verformung ergibt
sich: Z Z
Mt = G r ϕ 0 r dA = G ϕ 0 r2 dA = G I p ϕ 0
A A
mit dem so genannten polaren Flächenträgheitsmoment
Z
Ip = r2 dA . (21.1)
A
Die polaren Flächenträgheitsmomente lassen sich auf recht einfache Weise aus den äquatorialen
Flächenträgheitsmomenten Ixx und Iyy berechnen. Wegen r2 = x2 + y2 (Abbildung 21.4) gilt:
Z Z Z
Ip = r2 dA = x2 dA + y2 dA = Iyy + Ixx .
A A A
Man beachte, dass diese I p -Formel zwar allgemein gilt, das polare
Flächenträgheitsmoment aber nur für die Torsionsberechnung von
Kreis- und Kreisringquerschnitten verwendet werden darf.
Aus den nun bekannten Zusammenhängen zwischen Schubspan-
nung und Verdrehwinkel bzw. Torsionsmoment und Verdrehwinkel
ergeben sich die folgenden Formeln. Abbildung 21.4: r, x und y
Mt
Torsionsschubspannungen in Kreis- und Kreisringquerschnitten: τ= r (21.2)
Ip
Differenzialgleichung für den Verdrehwinkel: G I p ϕ 0 = Mt (21.3)
π d4
Polares Flächenträgheitsmoment für Kreisquerschnitt: Ip = (21.4)
32
π
da4 − di4 (21.5)
Polares Flächenträgheitsmoment für Kreisringquerschnitt: I p =
32
Aus der Differenzialgleichung für den Verdrehwinkel 21.3 ergibt sich für einen wichtigen Son-
derfall folgende einfache Formel.
Relativer Verdrehwinkel zweier Endquerschnitte eines Bereichs der Länge l mit kon-
stantem Torsionsmoment Mt und konstanter Torsionssteifigkeit GI p :
Mt l
∆ϕ = . (21.9)
G Ip
Beispiel 1:
Ein Torsionsstab hat in einem Ab-
schnitt einen konstanten Kreisquerschnitt (Durch-
messer D) und im zweiten Abschnitt einen Kreis-
ringquerschnitt (Innendurchmesser di , Außendurch-
messer da ). Er ist bei A starr eingespannt und bei B 2
und C durch die Momente MB bzw. MC belastet.
Gegeben: MB = 1, 8 kNm ; a = 1 m ; di = 20 mm ; G = 0, 808 · 105 N/mm2 ;
MC = 0, 6 kNm ; D = 60 mm ; da = 40 mm .
Es sind die maximale Torsionsschubspannung τmax und die Verdrehwinkel der Querschnitte B
und C (relativ zum Einspannquerschnitt A) zu berechnen.
Das Torsionsmoment ist bereichsweise konstant. Wenn der linke Bereich mit dem Index 1 und
der rechte Bereich mit dem Index 2 gekennzeichnet wird, gilt:
Mt1 = MB + MC , Mt2 = MC .
Damit können nach 21.6 bis 21.8 die maximalen Schubspannungen berechnet werden:
π D3
1. Bereich (A . . . B): Wt1 = ⇒ τ1,max = 56, 6 N/mm2 ,
16
π (da4 − di4 )
2. Bereich (B . . .C): Wt2 = ⇒ τ2,max = 50, 9 N/mm2 .
16 da
Die größte Schubspannung tritt im ersten Bereich auf. Da sowohl Torsionsmomente als auch
Torsionssteifigkeiten bereichsweise konstant sind, berechnet man die Verdrehwinkel nach 21.9.
364 21 Torsion
Für den Punkt C setzt sich der Verdrehwinkel aus zwei Anteilen (jeweils der relative Verdreh-
winkel der Endquerschnitte eines Abschnitts) zusammen:
(MB + MC ) a 32
ϕB = = 0, 02335 ⇒ ϕB = 1, 34◦ ;
G πD4
MC 2 a 32
ϕC = ϕB + = ϕB + 0, 06303 = 0, 08638 ⇒ ϕC = 4, 95◦ .
G π(da4 − di4 )
Beispiel 2:
Ein Torsionsfederstab mit dem Durch- 0
messer D soll durch einseitiges Aufbohren (Bohr-
lochdurchmesser d, Bohrlochtiefe l1 ) so geeicht 1
werden, dass er durch ein Moment M0 genau um ins-
gesamt ϕges = 10◦ verdreht wird.
Gegeben: M0 = 600 Nm ; D = 20 mm ; G = 0, 808 · 105 N/mm2 ;
l = 350 mm ; d = 10 mm .
Gesucht: Bohrlochtiefe l1 und die maximale Torsionsschubspannung.
Da sowohl das Torsionsmoment als auch die Torsionssteifigkeit bereichsweise konstant sind,
kann der Verdrehwinkel als Summe aus zwei Anteilen nach 21.9 aufgeschrieben werden:
M0 (l − l1 ) 32 M0 l1 32
ϕges = 4
+
Gπ D G π (D4 − d 4 )
wird nach der gesuchten Länge umgestellt. Man erhält mit den gegebenen Werten:
4
G π D4
D
l1 = − 1 ϕ ges − l ⇒ l1 = 288 mm .
d4 32 M0
Da das Torsionsmoment konstant ist, tritt die größte Schubspannung im Bereich mit dem kleine-
ren Widerstandsmoment auf, und es gilt für den rechten Bereich:
M0 16 D
τt, max = = 407 N/mm2 .
π (D4 − d 4 )
ê Bei gleicher Querschnittsfläche haben Kreisringquerschnitte im Ver-
gleich mit Kreisquerschnitten immer das größere polare Flächenträg-
heitsmoment und ein größeres Widerstandsmoment gegen Torsion.
ê Natürlich gilt auch für die durch Torsion hervorgerufenen Spannun-
gen das Gesetz der zugeordneten Schubspannungen 20.1. Das bedeu-
tet, dass auch in Längsschnitten eines Torsionsstabes die Schubspan-
nungen in gleicher Größe wie in den Querschnitten auftreten.
Die Abbildung 21.5 zeigt, dass diese Schubspannungen nur in den
Seitenflächen wirken (senkrecht zu den tangential gerichteten Schub-
spannungen in den Querschnitten). Eine Vorstellung von diesen
Spannungen gewinnt man z. B. beim Tordieren eines Holzstabes mit Abbildung 21.5: Torsi-
Kreisquerschnitt, der bei entsprechend hoher Belastung in Längsrich- ons-Schubspannungen
tung reißt, weil Holz in Faserrichtung die geringere Festigkeit hat. in den Längsschnitten
21.1 Torsion von Kreis- und Kreisringquerschnitten 365
ê Die Berechnung der Torsionsverformung kann für die weitaus meisten praktisch wichtigen
Fälle mit der Formel 21.9 ausgeführt werden, weil das Torsionsmoment fast immer zumin-
dest bereichsweise konstant ist. Die Differenzialbeziehung 21.3 wird allerdings bei stetig
veränderlichem Querschnitt benötigt, wobei im Allgemeinen eine (in jedem Fall numerisch)
einfach zu lösende Integrationsaufgabe entsteht.
ê Eine sehr wichtige Aufgabe ist das Dimensionieren von Wellen mit Kreis- oder Kreisring-
querschnitt, die die Antriebsleistung eines Motors auf eine Arbeitsmaschine übertragen und
dabei in keinem Betriebszustand eine zulässige Spannung bzw. einen zulässigen Verdreh-
winkel überschreiten dürfen. Deshalb wird als Torsionsmoment das größte zu übertragene
Moment aus der Antriebsleistung und der Drehzahl aus der Beziehung P = M ω (Leistung
= Moment · Winkelgeschwindigkeit) berechnet:
P
M= . (21.10)
ω
Man beachte, dass das größte Moment nicht unbedingt beim Übertragen der maximalen
Leistung auftreten muss. Gegebenenfalls muss man aus der Kennlinie der Antriebsmaschine
den Punkt heraussuchen, der dem größten abzugebenden Drehmoment zuzuordnen ist.
Die Leistung wird in W (Watt) bzw. kW (Kilowatt) angegeben, definiert als
1 W = 1 Nm/s
(häufig noch anzutreffen ist die veraltete Leistungsangabe in PS, es gilt: 1 PS = 0,73550 kW).
Anstelle der Winkelgeschwindigkeit ω wird häufig die Drehzahl n angegeben (Anzahl der Um-
drehungen pro Zeiteinheit, gemessen in min−1 ), es gilt der Zusammenhang:
ω = 2π n .
Da ω üblicherweise in s−1 angegeben wird, ist eine Dimensionsumrechnung erforderlich (man
hüte sich vor der Anwendung von Praktikerformeln wie „ω = π n/30“, die mit unterschiedli-
chen Dimensionen arbeiten, es sei denn, man ist ganz sicher, selbst ein Praktiker und sicher im
Umgang mit solchen Formeln zu sein).
Beispiel 3:
Ein Motor liefert sein maximales Drehmoment bei einer Leistung von 100 kW
und einer Drehzahl von 5000 Umdrehungen pro Minute. Wie groß muss der Durchmesser der
ausschließlich auf Torsion beanspruchten Abtriebswelle sein, wenn in ihr eine zulässige Schub-
spannung von τzul = 140 N/mm2 nicht überschritten werden darf?
Das nach 21.10 zu berechnende maximale Drehmoment
P P 100 · 103 Nm
s
M= = = = 191 Nm
ω 2 π n 2 π 5000 601 s
wird als Torsionsmoment in die Formel 21.8 eingesetzt, und mit 21.6 errechnet man den erfor-
derlichen Durchmesser:
s
3
π der f Mt 16 M
W1,er f = = ⇒ der f = 3 = 19, 1 mm .
16 τzul π τzul
366 21 Torsion
Die für Kreis- und Kreisringquerschnitte getroffene Annahme, dass die Querschnitte bei der
Torsionsverformung eben bleiben, kann für andere Querschnittsformen nicht aufrechterhalten
werden. Im Allgemeinen führen die unterschiedlichen Gleitwinkel benachbarter Querschnitts-
elemente dazu, dass sich die Querschnitte bei Torsionsbelastung verwölben.
Unter der Voraussetzung, dass sich die Querschnittsverwölbungen ungehindert ausbilden kön-
nen, ist die Theorie der so genannten St.-Venantschen Torsion anwendbar.
Bei vielen praktischen Problemen ist diese Voraussetzung allerdings nicht erfüllt (eine starre
Einspannung eines Trägers lässt z. B. keine Verwölbung zu). In diesen Fällen liefert die St.-
Venantsche Torsionstheorie vielfach eine gute Näherung. Wenn die durch die behinderte Ver-
wölbung zusätzlich hervorgerufenen Spannungen nicht vernachlässigt werden dürfen und die
Verwölbung durch konstruktive Maßnahmen nicht verhindert werden kann (z. B. bei dünnwandi-
gen Querschnitten), ist nach der (mathematisch wesentlich anspruchsvolleren) Theorie der Wölb-
krafttorsion zu rechnen, die im Rahmen dieses Buches nicht behandelt wird.
ê Die St.-Venantsche Torsionstheorie basiert auf den Grundannahmen der linearen Elastizi-
tätstheorie: Es gilt das Hookesche Gesetz, und die Verformungen sind klein gegenüber den
Abmessungen des Bauteils. In allen Abschnitten dieses Kapitels wird die Gültigkeit der St.-
Venantschen Torsionstheorie vorausgesetzt.
Die wichtigsten Formeln und Differenzialgleichungen der allgemeinen St.-Venantschen Torsi-
onstheorie werden in diesem Abschnitt (ohne Herleitung) zusammengestellt. Die beiden folgen-
den Abschnitte behandeln als besonders wichtige Sonderfälle die dünnwandigen Querschnitte.
Analog zu den Formeln, die sich für Kreis- und Kreisringquerschnitte ergaben, gelten bei belie-
bigem Querschnitt die nachfolgenden Beziehungen.
St.-Venantsche Torsion
ê Die Formeln 21.11 bis 21.13 für die allgemeine St.-Venantsche Torsion unterscheiden sich
von den entsprechenden Formeln für den Spezialfall „Kreis- und Kreisringquerschnitt“ nur
dadurch, dass das polare Flächenträgheitsmoment I p durch das Torsionsträgheitsmoment It
ersetzt wird. Das Problem reduziert sich damit auf die (leider nicht triviale) Frage, wie die
Querschnittskennwerte It und Wt für beliebige Querschnitte zu ermitteln sind.
21.2 St.-Venantsche Torsion beliebiger Querschnitte 367
Also ist Φ(x, y) die Torsionsfunktion für den Kreisquerschnitt (und natürlich auch für den Kreis-
ringquerschnitt) und darf in 21.16 eingesetzt werden:
Z Z Z
∂Φ ∂Φ
It = 2 x +y dA = x dA + y2 dA = Iyy + Ixx = I p ,
2
∂x ∂y
A A A
Mt ∂ Φ Mt Mt ∂ Φ Mt
τzx = −2 =− y , τzy = 2 = x .
It ∂ y It It ∂ x It
Als Torsionsträgheitsmoment erhält man für Kreis- und Kreisringquerschnitte wie erwartet das
polare Flächenträgheitsmoment, auch die Schubspannungsformeln werden bestätigt.
Für kompliziertere Querschnittsformen lässt sich die Torsionsaufgabe im Allgemeinen nur nu-
merisch lösen. Mit Hilfe geeigneter Diskretisierungsverfahren (Differenzenverfahren, Methode
der finiten Elemente) stellt dies aber heute kein grundsätzliches Problem mehr dar.
Die in der nachfolgenden Tabelle angegebenen Werte für den Rechteckquerschnitt können z. B.
(bis auf den theoretischen Wert für hb → ∞ in der letzten Spalte) mit einem Finite-Elemente-
Programm nachgerechnet werden, das eine Element-Matrix für die Lösung der Poissonschen
Differenzialgleichung bereitstellt (siehe Beispiel im Abschnitt 34.3.3, wo die Berechnung eines
Wertes demonstriert wird).
ê Die maximale Schubspannung tritt immer am Außenrand der engsten Querschnittsstelle auf,
beim Rechteckquerschnitt also in der Mitte der längeren Seite.
ê Für sehr schmale Rechtecke ( bh → 0) nähern sich die Werte für c1 und c2 immer mehr dem
3 2
Wert 31 , so dass It = h 3b und Wt = h 3b als Torsionsträgheitsmoment bzw. Torsionswider-
standsmoment für das „unendlich dünne Rechteck“ angesehen werden dürfen. Auf diese
beiden Formeln wird im Abschnitt 21.3.2 noch einmal zurückgegriffen.
ê Früher wurden Lösungen für die Torsionsaufgaben vielfach experimentell ermittelt, wobei
die Tatsache genutzt wurde, dass die Poissonsche Differenzialgleichung auch andere physi-
kalische Vorgänge beschreibt:
Eine ebene Membran mit festgehaltenem Rand, die von einer Seite unter konstanten Druck
gesetzt wird, wölbt sich so, dass die Verschiebung w(x, y) der Poissonschen Differenzial-
gleichung genügt. Der Anstieg des Membranhügels ist also der Schubspannung in einem
entsprechenden Querschnitt unter Torsionsbelastung proportional („Seifenhaut-Gleichnis“).
Auch die Strömung einer in einem oben offenen Gefäß zirkulierenden Flüssigkeit (das Gefäß
habe konstanten Querschnitt) wird durch die Poissonsche Differenzialgleichung beschrie-
ben. Dabei ist die Strömungsgeschwindigkeit in einem beliebigen Punkt der Schubspannung
in einem tordierten Stab mit gleichem Querschnitt proportional.
21.3 St.-Venantsche Torsion dünnwandiger Querschnitte 369
Neben den Kreis- und Kreisringquerschnitten gibt es noch eine große Gruppe praktisch sehr
wichtiger Querschnitte, für die durch (recht restriktiv anmutende, aber gerechtfertigte) zusätz-
liche Annahmen das St.-Venantsche Torsionsproblem unter Umgehung der Lösung der Pois-
sonschen Differenzialgleichung 21.14 behandelt werden kann. Es sind die dünnwandigen Profi-
le (Wandstärken sind wesentlich kleiner als die übrigen Querschnittsabmessungen), für die die
Spannungs- und Verformungsberechnung in den beiden folgenden Abschnitten behandelt wird.
Dabei muss zwischen geschlossenen Querschnitten (z. B.: Ringquerschnitte, Kastenquerschnitte)
und offenen Querschnitten (z. B.: - und -Profile) unterschieden werden.
Diese Profil-Mittellinie repräsentiert gemeinsam mit der Dicke t(s) die Geometrie des Quer-
schnitts. Die Querschnitts-Koordinate s, die an einem beliebigen Punkt beginnt, folgt der Profil-
Mittellinie. Die Koordinate, die (in Längsrichtung des Torsionsstabes) die Lage des Querschnitts
beschreibt, wird wie bisher mit z bezeichnet. Folgende Annahmen werden für die Berechnung
der Spannungen und Verformungen dünnwandiger geschlossener Querschnitte getroffen:
ê Die Dicke t(s) ist klein im Vergleich mit den übrigen Querschnittsabmessungen und verän-
dert sich mit s nicht sehr stark.
ê Die Querschnittsabmessungen sind wie das Torsionsmoment Mt in Längsrichtung des Tor-
sionsstabes (z-Richtung) konstant (Hohlzylinder, in den ein Torsionsmoment über den End-
querschnitt eingeleitet wird).
ê Bei der Verformung behalten die Querschnitte ihre ursprüngliche Form, es dürfen aller-
dings unterschiedliche Verschiebungen der Querschnittspunkte in z-Richtung (Querschnitts-
Verwölbungen) auftreten.
Abbildung 21.7 zeigt die Lage ei-
niger spezieller Punkte des Quer-
schnitts (A, B, . . .) nach der Verformung
(A0 , B0 , . . .). Die Längsverschiebungen
(wA , wB , . . .) verwölben den Querschnitt,
der sich außerdem um den Torsionswin-
kel ϕ verdreht und in der Draufsicht (aus
der z-Richtung) seine ungeänderte Form Abbildung 21.7: Querschnitte behalten (in der Drauf-
zeigt. sicht) ihre Form, dürfen sich aber verwölben
370 21 Torsion
ê Die Verwölbung des Querschnitts kann sich frei ausbilden (St.-Venantsche Torsion), so dass
keine Normalspannungen durch die Längsverschiebungen hervorgerufen werden.
ê Die Schubspannungen sind über die Profildicke konstant.
Der Fehler, der mit der letzten Annahme hingenommen wird, kann am einfachen Beispiel abge-
schätzt werden: Für einen dünnwandigen Kreisring mit dem Innenradius ri und dem Außenradius
ri + t ergibt die Rechnung nach den Formeln für den Kreisring 21.2 und 21.5 ein Verhältnis der
Schubspannungen am Außenrand τa und am Innenrand τi von ττai = rir+ti
= 1 + rti . Die Theorie des
dünnwandigen geschlossenen Querschnitts würde etwa den Mittelwert dieser beiden Spannun-
gen liefern. Wenn t klein gegenüber dem Radius ist, kann dieser Fehler hingenommen werden.
Die (über die Dicke t konstanten) Schubspannungen werden zum Schubfluss
T =τt (21.18)
(Dimension: „Kraft/Länge“) zusammengefasst, der in der Profil-Mittellinie angreift und tangen-
tial zu dieser gerichtet ist.
Die Abbildung 21.8 zeigt ein aus dem Torsionsstab
herausgeschnittenes Element. Nach dem Gesetz der
zugeordneten Schubspannungen 20.1 wirkt natürlich
auch der Schubfluss in den Längsschnitten in gleicher
Größe. Da keine Normalspannungen wirken (span-
nungsfreies Verwölben, Querschnitte behalten ihre
Form), kann das Gleichgewicht am Element nur er- Abbildung 21.8: Der Schubfluss T muss
füllt sein, wenn T an allen Elementrändern den glei- (Gleichgewicht) konstant sein
chen Wert hat:
Der Schubfluss T = τ t infolge Torsion ist in den Querschnitten eines dünnwandigen geschlos-
senen Profils konstant.
Der Kreis im Integralsymbol deutet ein Umlaufintegral an: Die obere Grenze beschreibt den
gleichen Punkt wie die untere Grenze, wobei s sich um die Gesamtlänge der Profil-Mittellinie
vergrößert hat. T kann vor das Integral gezogen werden, das verbleibende Integral lässt sich sehr
schön geometrisch deuten: Die in der Abbildung 21.9 angedeutete Dreiecksfläche dAm = r∗ ds 2
21.3 St.-Venantsche Torsion dünnwandiger Querschnitte 371
(„Grundlinie · Höhe / 2“) summiert sich mit den anderen differenziell kleinen Dreiecksflächen bei
der Integration über den Umfang zur Gesamtfläche Am , die von der Profil-Mittellinie umschlos-
sen wird. Das in der Formel verbliebene Integral liefert also die doppelte Fläche 2 Am , und man
erhält nach RUDOLF B REDT (1842 - 1900) eine recht einfache Formel zur
Die Verzerrungen der Elemente des ausschließlich durch Schubspannungen belasteten Torsions-
stabs werden durch die Gleitwinkel γ beschrieben, die nach dem Hookeschen Gesetz 12.6 mit
den Schubspannungen entsprechend τ = G γ verknüpft sind. Um die daraus resultierenden Ver-
formungen zu berechnen, wird zunächst am einfachen Beispiel demonstriert, wie aus der Glei-
tung γ die Verdrehung und die Verwölbung der Querschnitte entstehen.
Abbildung 21.10: Die konstante Dicke eines Kreisrings (links) führt zu konstanten Verzerrungen, verän-
derliche Dicke (rechts) und damit veränderliche Verzerrungen führen zu Verwölbungen
Betrachtet wird zunächst eine unendlich dünne Scheibe, die aus einem Torsionsstab mit Kreis-
ringquerschnitt konstanter Dicke herausgeschnitten wurde (Abbildung 21.10, links). Der über
den Umfang konstante Schubfluss ist bei konstanter Dicke einer konstanten Schubspannung
äquivalent, die wiederum zu konstanten Gleitwinkeln führt: Die in der Abbildung angedeuteten
Rechtecke werden zu kongruenten Parallelogrammen verzerrt, die ohne Verwölbung der Quer-
schnittsflächen auch nach der Verformung zusammenpassen.
Bei einem Kreisringquerschnitt mit veränderlicher Dicke (Abbildung 21.10, rechts) entspricht
der über den Umfang konstante Schubfluss nach 21.20 einer veränderlichen Schubspannung,
die benachbarte Elemente unterschiedlich verzerrt. Diese können nach der Verformung nur bei
gleichzeitiger Verschiebung der Querschnittspunkte in Längsrichtung des Torsionsstabes zusam-
menpassen: Der Querschnitt verwölbt sich.
372 21 Torsion
Die Abbildung 21.12 zeigt den Zusammenhang zwischen γϕ und dem Torsionswinkel ϕ. Zwei
benachbarte Querschnitte (Abstand dz) verdrehen sich (unter Beibehaltung ihrer Form) gegen-
einander um den Winkel dϕ. Für die differenziell kleinen Größen (γϕ ≈ tan γϕ ) liest man ab:
dv
γϕ = ,
dz
wobei dv die Verschiebung eines Punktes tangential zur Profil-
Mittellinie ist. Tatsächlich bewegen sich alle Punkte der Profil-
Mittellinie bei der Verdrehung auf konzentrischen Kreisen. Ein
Punkt A (unterer Teil der Abbildung 21.12) bewegt sich nach A0
entlang r dϕ, und man liest den Zusammenhang
dv = r dϕ cos α = r∗ dϕ
ab, wobei r∗ = r cos α der senkrechte Abstand vom Bezugs-
punkt P zur Tangente an die Profil-Mittellinie ist. Zwischen dem
Abbildung 21.12: Gleitung γϕ
Gleitwinkel-Anteil γϕ und dem Torsionswinkel ϕ besteht also
und Torsionswinkel ϕ
der Zusammenhang:
dϕ
γϕ = r ∗ = r∗ ϕ 0 . (21.21)
dz
Der Zusammenhang zwischen dem Gleitwinkel-Anteil γw und der (senk-
recht zur Querschnittsfläche gerichteten) Verschiebung w, die die Verwöl-
bung darstellt, kann aus der Abbildung 21.13 abgelesen werden:
dw Abbildung 21.13: γw
γw = . (21.22) und dw
ds
Damit sind beide Gleitwinkel-Anteile mit den entsprechenden Verschiebungen verknüpft. Ande-
rerseits kann die Gleitung γ über das Hookesche Gesetz im Zusammenhang mit 21.19 und 21.20
aus dem im Querschnitt wirkenden Torsionsmoment berechnet werden:
τ T Mt
γ= = = = γϕ + γw . (21.23)
G Gt 2 Am Gt
Mit einem kleinen Trick gelingt die Entkopplung der beiden Verschiebungen. Die Beziehung
21.23 wird auf beiden Seiten über den gesamtem Umfang der Profil-Mittellinie integriert (Um-
laufintegral). In
Mt
I I I
ds = γϕ ds + γw ds
2 Am Gt
wird das letzte Integral
dw
I I I
γw ds = ds = dw = wEND − wANF = 0 ,
ds
21.3 St.-Venantsche Torsion dünnwandiger Querschnitte 373
weil Endpunkt und Anfangspunkt beim geschlossenen Profil zusammenfallen, so dass ihre Ver-
schiebungen gleich sind. Es verbleibt
Mt ds
I I I
= γϕ ds = ϕ 0 r∗ ds = 2 Am ϕ 0 ,
2 Am G t(s)
wobei alle nicht von s abhängigen Größen vor die Integrale gezogen wurden. Außerdem wurde
die bereits bei der Herleitung der Spannungsformel 21.19 gewonnene Erkenntnis genutzt, dass
das Umlaufintegral über r∗ gleich der doppelten Fläche ist, die von der Profil-Mittellinie um-
schlossen wird. Nach Umstellen der Beziehung entsprechend
4 A2
G H dsm ϕ 0 = Mt
t(s)
erkennt man die Ähnlichkeit mit der Gleichung 21.11, die es nahelegt, den Bruch als Torsions-
trägheitsmoment It für den dünnwandigen geschlossenen Querschnitt zu definieren1 .
ê Das Umlaufintegral in 21.24 lässt sich für einen wichtigen Sonderfall recht einfach lösen.
Für Querschnitte mit stückweise konstanter Dicke t1 , t2 , . . . jeweils auf Abschnitten mit den
Längen s1 , s2 , . . . gilt (auch bei gekrümmter Profil-Mittellinie):
ds s1 s2
I
U(s) = = + +... . (21.25)
t(s) t1 t2
Wenn ϕ 0 = GMItt berechnet wurde, kann bei Bedarf auch die Verwölbung des Querschnitts aus
21.23 in Verbindung mit 21.21 und 21.22 ermittelt werden. Man erhält
dw(s) Mt
= − ϕ 0 r∗ (s)
ds 2 Am Gt(s)
bzw. nach Integration über s:
Mt ds
Z Z
w(s) = − ϕ0 r∗ (s) ds +C . (21.26)
2 Am G t(s)
Die Integrationskonstante in 21.26 kann ermittelt werden, indem für einen beliebigen Punkt s des
Querschnitts die Verschiebung w = 0 gesetzt wird. Dann erhält man alle übrigen Verschiebungen
w relativ zu der tatsächlichen Verschiebung an dieser Stelle. Man darf natürlich auch w(s = 0) = 0
setzen, so dass die Integrationskonstante verschwindet. Hier soll 21.26 benutzt werden, um zu
untersuchen, unter welchen Bedingungen ein spezieller Querschnitt zu wölbfreier Torsion führt.
1 Zwischenruf in der Vorlesung: „Was muss das für ein Mensch sein, der sich solche Formeln ausdenkt?“ Antwort:
Rudolf Bredt war ein erfolgreicher Unternehmer. Seine Kranbaufirma brachte 1876 den weltweit ersten elektrisch
betriebenen Kran auf den Markt. Er war ein begnadeter Praktiker, der sich auch vor der Theorie nicht scheute.
374 21 Torsion
Beispiel:
Für den skizzierten geschlossenen dünnwandigen
einfach-symmetrischen Querschnitt mit konstanter Wandstärke t
ist die Abmessung x zu bestimmen, für die der Querschnitt bei
Torsionsbelastung wölbfrei bleibt.
3
Gegeben: a.
Mit der von der Profil-Mittellinie umschlossenen Fläche
2 2
Am = 12 a2 + 2 a x
4 (12 a2 + 2 a x)2 t
It = √ .
10 a + 2 4 a2 + x2
Die Koordinate s soll (wie skizziert) auf der Symmetrielinie starten, mit w = 0 bei s = 0 ver-
schwindet die Integrationskonstante in 21.26, und mit ϕ 0 = GMItt erhält man:
" √ #
Mt 1 s 10 a + 2 4 a2 + x2
Z
w(s) = − r∗ ds .
G 2 (12 a2 + 2 a x) t 4 (12 a2 + 2 a x)2 t
12 a2 + 2 a x
y2a+2a3a = √ 5a .
5 a + 4 a2 + x2
Daraus berechnet man
21.3 St.-Venantsche Torsion dünnwandiger Querschnitte 375
3
x= a und damit y = 2a .
2
Bevor kontrolliert wird, ob sich auch für den Punkt C (und damit auch für den gesamten Bereich
B-C) keine w-Verschiebung ergibt, soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Berech-
nung des Integrals über r∗ auch dann geometrisch anschaulich deutbar ist, wenn sich die Integra-
tion nicht über den gesamten Umfang erstreckt: Das Ergebnis entspricht der doppelten Fläche,
die von einer Linie überstrichen wird, die von P zur Profil-Mittellinie gezogen wird und dort
über den Integrationsbereich wandert. Von s = 0 bis zum Punkt C überstreicht diese Linie gerade
die halbe „Profil-Mittellinien-Fläche“, so dass das Integral über r∗ gleich der gesamten Fläche
Am ist. So lässt sich leicht bestätigen, dass auch am Punkt C keine Verschiebung w auftritt und
damit aus Symmetriegründen der gesamte Querschnitt wölbfrei ist, wenn (wie oben berechnet)
x = 1, 5a ist.
ê Der Bezugspunkt P ist (vgl. die Herleitung der Verformungsbeziehungen) der Punkt, um
den sich der Querschnitt dreht (alle Punkte des Querschnitts bewegen sich auf konzentri-
schen Kreisen). Bei wölbfreien Querschnitten wie im gerade behandelten Beispiel bleiben
alle Querschnittspunkte bei Drehung um diesen Punkt in der Ebene, in der sie vor der Ver-
formung lagen. Man beachte, dass der Punkt P nicht mit dem Schwerpunkt des Querschnitts
identisch ist.
ê Man überzeugt sich leicht, dass für das Fünfeck des behandelten Beispiels bei den Abmes-
sungen, die zu Wölbfreiheit führen, der Punkt P der Mittelpunkt eines Kreises ist, der die
Mittellinien aller Geradenstücke tangiert. Es lässt sich zeigen, dass diese Aussage verallge-
meinerungsfähig ist:
Betrachtet wird zunächst ein schmales Rechteck, dessen Breite t deutlich kleiner als seine Höhe s
ist (Bezeichnungen t und s mit Rücksicht auf die anschließende Erweiterung der Betrachtungen).
Zur Berechnung der Schubspannungen, die einem Torsionsmoment Mt in diesem Querschnitt
äquivalent sind, werden folgende Annahmen getroffen:
ê Die Schubspannungen verlaufen parallel zu den Rändern der langen Seiten des Rechtecks,
sind über die Höhe konstant und werden am oberen und unteren Rand innerhalb eines sehr
schmalen Bereichs umgelenkt.
ê Die Schubspannungen sind über die Breite des Rechtecks linear veränderlich mit gleich
großen, entgegengesetzt gerichteten Maximalwerten τmax an den Rändern.
1 3
It = st .
3
Der Fehler, der mit der Anwendung dieser Formeln verbunden ist, ist also umso geringer, je
kleiner das Verhältnis st ist. Für st = 0, 1 beträgt die Abweichung sowohl für It als auch für Wt
etwa 6 % vom exakten Wert.
Für dieses Seitenverhältnis sind in Abbildung =1
21.17 einige Schubspannungsverläufe der ex-
akten Lösung skizziert, die die eingangs getrof- =1
fenen Annahmen bestätigen: Die vertikal ge-
richtete Schubspannung τzy folgt über die Brei-
te praktisch exakt einem linearen Verlauf und
bleibt über die Höhe (hier dargestellt für den
Außenrand) konstant bis auf einen sehr kleinen
Bereich am Ende. Sie wird dort umgelenkt, wo- = 0,74
bei wieder nur in einem sehr schmalen Bereich
horizontal gerichtete Schubspannungen τzx vor- Abbildung 21.17: Die exakte Lösung für ein
handen sind. schmales Rechteck bestätigt die Modellvorstellung
Die Modellvorstellung, nach der ein schmales Rechteck wie ein dünnwandiger geschlossener
Querschnitt betrachtet werden kann, bietet sich geradezu dafür an, auf andere dünnwandige of-
fene Profile ausgedehnt zu werden. Tatsächlich ist es gerechtfertigt, die Formeln für das schmale
Rechteck auch auf Profile mit gekrümmter Mittellinie anzuwenden.
Die Abbildung 21.18 zeigt einen Querschnitt, dessen Mittellinie ein
Kreisbogen ist. Bei einem Radienverhältnis rrai = 1, 2 entspricht der Öff-
nungswinkel α = 104, 2◦ exakt dem Abmessungsverhältnis st = 0, 1, wo-
bei als Breite t (Profildicke) die Differenz der Radien ra − ri und als
„Höhe“ s die Länge der Profil-Mittellinie verwendet wird.
Für diesen Querschnitt sollen die Ergebnisse, die sich mit den oben ange- /2
gebenen Formeln ergeben, verglichen werden mit denen, die eine Lösung
nach der „exakten“ St.-Venantschen Theorie (Gleichungen 21.14 und
21.15) liefert (diese Lösung ist für den betrachteten Querschnitt nur auf Abbildung 21.18: Ge-
numerischem Wege möglich und wurde hier mit einem Finite-Elemente- krümmte Mittellinie
Programm gewonnen, vgl. www.TM-aktuell.de, siehe auch Abbildung
21.22 auf Seite 383). Für das Torsionsträgheitsmoment ergibt sich:
st 3
Dünnwandiges offenes Profil: It = = 3, 33t 4 ,
3
exakt: It = 3, 12t 4 .
Der Fehler entspricht exakt dem, der sich bei diesem Abmessungsverhältnis auch für das schmale
Rechteck ergab. Für die Schubspannung erhält man nach der exakten Theorie unterschiedliche
Werte für die beiden Ränder, nach der Theorie des dünnwandigen offenen Querschnitts nur einen
Wert für die Maximalspannung:
378 21 Torsion
Mt
Dünnwandiges offenes Profil: ,
τmax = 0, 300
t3
Mt Mt
exakt: τA = 0, 333 3 , τB = 0, 309 3 .
t t
Die Anwendbarkeit der Formeln für das schmale Rechteck auf dünnwandige offene Querschnitte,
deren Profil-Mittellinie keine Gerade ist, erstreckt sich natürlich auch auf Profile mit abgewin-
kelter Mittellinie (z. B. -Profil). Es ist sogar gerechtfertigt, bei Querschnitten, die aus mehreren
dünnwandigen Abschnitten zusammengesetzt sind, das Torsionsträgheitsmoment It (näherungs-
weise) durch Addition der Anteile aus den einzelnen Abschnitten zu berechnen, und dies gilt
auch für verzweigte Profile (z. B.: -Profil, -Profil) und für Profile mit unterschiedlichen Brei-
ten ti in den einzelnen Abschnitten. Das Torsions-Widerstandsmoment Wt zur Berechnung der
maximalen Schubspannung ergibt sich dann als Quotient aus It und der größten Breite tmax .
Für die Berechnung der maximalen Schubspannung und der Verformung in dünnwan-
digen offenen Profilen können die Formeln für die St.-Venantsche Torsion 21.12 und
21.13 verwendet werden mit
1
It ≈ si ti3 , (21.27)
3∑ i
It
Wt ≈ . (21.28)
tmax
Man beachte, dass die maximale Schubspannung (im Gegensatz zum geschlossenen Quer-
schnitt) dort auftritt, wo der Querschnitt seine größte Wanddicke tmax hat.
ê Dünnwandige offene Querschnitte sind gegen Torsion wesentlich empfindlicher als geschlos-
sene Querschnitte (vgl. die nachfolgenden Beispiele). Dies ist verständlich, denn die gegen-
läufigen Schubflüsse entlang der langen Seiten haben wegen des kleinen Hebelarms nur eine
geringe Momentwirkung.
ê Die Formel 21.27 gilt für Querschnitte mit abschnittsweise
konstanter Dicke ti . Für einen Abschnitt i mit veränderlicher
Dicke ti (si ) darf der entsprechende Summand aus
1
Z
Abbildung 21.19: Abschnitt
It,i = ti3 (s) ds mit kontinuierlich veränderli-
3
si cher Dicke
berechnet werden.
ê Natürlich ist die Spannungs- und Verformungsberechnung nach 21.12 und 21.13 unter Ver-
wendung der Querschnittswerte für das dünnwandige offene Profil nach 21.27 und 21.28 nur
erlaubt, wenn sich die Querschnittsverwölbungen frei ausbilden können. Anderenfalls tre-
ten (im Allgemeinen nicht vernachlässigbare) Normalspannungen auf, der Torsionsstab wird
steifer, und man muss die (hier nicht behandelte) Theorie der Wölbkrafttorsion bemühen.
21.3 St.-Venantsche Torsion dünnwandiger Querschnitte 379
Die Verwölbung eines einzelnen Rechteck-Abschnitts kann wegen der Dünnwandigkeit ver-
nachlässigt werden. Als Verwölbung des dünnwandigen offenen Profils werden die Verschie-
bungen der Punkte der Profil-Mittellinie senkrecht zur Querschnittsfläche bezeichnet. Zwei
benachbarte Querschnittsflächen, die sich (unter Beibehaltung ihrer geometrischen Form)
gegeneinander verdrehen, würden auch die zwischen ihnen liegenden Mittellinienelemente
verzerren. Da aber in der Mittellinie gerade keine Schubspannung (und damit keine Verzer-
rung) auftritt, weichen die Punkte der Mittellinie so aus (Mittellinie verwölbt sich), dass die
Elemente unverzerrt bleiben.
ê Für einige häufig verwendete offene Profile darf
die Theorie der St.-Venantschen Torsion jedoch
bedenkenlos verwendet werden: Querschnitte, die
aus sternförmig in einem Punkt zusammenlaufen-
den dünnen Rechtecken (auch bei unterschiedli-
chen Wanddicken) bestehen (und damit sämtliche Abbildung 21.20: Wölbfreie dünnwandi-
- und -Profile), sind wölbfrei. ge offene Profile
Beispiel 1:
Wenn die beiden nebenstehend skizzierten /2
dünnwandigen ∪-Profile (t a) durch eine Schweißnaht
verbunden werden (Fall a), entsteht ein offener Quer-
schnitt, mit zwei Schweißnähten (Fall b) wird der Quer-
schnitt geschlossen.
Im Fall a errechnet sich die maximale Schubspannung in-
folge eines Torsionsmoments Mt nach 21.27 und 21.28 zu
Mt t 3 Mt
τmax, a = = ,
It 4 at 2
im Fall b ergibt sich nach 21.19 und 21.20:
Mt Mt
τmax, b = = 2 .
2 Am t 2a t
Das Verhältnis der maximalen Schubspannungen von offenem und geschlossenem Querschnitt
beträgt in diesem Fall
τmax, a a
= 1, 5 .
τmax, b t
In der Praxis sieht das z. B. so aus: Ein Normprofil ∪100, das mit einer Höhe h = 100 mm und ei-
ner Breite h = 50 mm genau dem Abmessungsverhältnis dieses Beispiels (mit a = h) entspricht,
hat eine Profildicke von t = 8, 5 mm. Damit ergäbe sich ein Verhältnis der maximalen Schub-
τ
spannungen von offenem und geschlossenem Querschnitt von τmax, a = 17, 6.
max, b
ê Man beachte, dass wegen des Gesetzes der zugeordneten Schubspannungen 20.1 die Tor-
sionsschubspannungen nicht nur im Querschnitt, sondern auch in Längsschnitten auftreten.
Im Beispiel 1 würden sie also die Schweißnähte in Längsrichtung auf Abscherung beanspru-
chen.
380 21 Torsion
Beispiel 2:
Ein Torsionsstab (Länge: l) mit dünn-
wandigem Querschnitt ist durch ein konstantes Torsi-
onsmoment Mt belastet. Im Fall a ist der Querschnitt
ein geschlossener Kreisring, im Fall b ist der Ring in
Längsrichtung aufgeschlitzt (die Breite des Schlitzes
kann vernachlässigt werden). Für ein Abmessungs-
verhältnis Rt = 8 sind zu berechnen
a) die maximalen Torsionsschubspannungen,
b) die relativen Verdrehwinkel der Endquerschnitte.
Mit Hilfe der Formeln 21.19, 21.20 und 21.24 für geschlossene dünnwandige Profile ergibt sich
für den Fall a:
Mt Mt T Mt
T = = 2
⇒ τmax, a = = ,
2 Am 2π R t 2 π R2 t
4 A2 4 π 2 R4 Mt l Mt l
It = H dsm = 2 π R = 2 π R3 t ⇒ ∆ϕa = = .
t t
G It 2 G π R3 t
Die maximale Schubspannung und der relative Verdrehwinkel für den offenen Querschnitt (Fall
b) wird mit den Querschnittswerten nach 21.27 und 21.28 berechnet:
2 It 2
It = π Rt 3 , Wt = = π Rt 2 ,
3 t 3
Mt 3 Mt Mt l 3 Mt l
τmax, b = = , ∆ϕb = = .
Wt 2 π Rt 2 G It 2 G π Rt 3
Die Werte, die sich für das offene Profil ergeben, sind deutlich größer, wie sich aus
τmax, b R ∆ϕb R2
=3 und =3 2
τmax, a t ∆ϕa t
mit dem gegebenen Abmessungsverhältnis R/t = 8 erkennen lässt:
τmax, b ∆ϕb
= 24 ; = 192 .
τmax, a ∆ϕa
ê Dieses Ergebnis ist repräsentativ und zeigt die geringe Tragfähigkeit von dünnwandigen of-
fenen Profilen. Im Gegensatz zur Biegebeanspruchung, bei der z. B. ein -Profil ideal ist,
weil der wesentliche Anteil der Querschnittsfläche möglichst weit von der Biegeachse ent-
fernt liegt, ist ein solches Profil für die Torsionsbeanspruchung ausgesprochen ungeeignet.
ê Wenn Torsionsbeanspruchung für dünnwandige Profile unvermeidbar ist, sollte nach Mög-
lichkeit wenigstens eine geschlossene Zelle vorhanden sein. Besteht ein Querschnitt aus ei-
ner solchen geschlossenen Zelle und nicht geschlossenen dünnwandigen Teilquerschnitten,
können letztere im Allgemeinen bei der Torsionsrechnung vernachlässigt werden. Ein guter
Kompromiss ist in der Regel ein Kastenprofil, wie es die beiden zusammengeschweißten
∪-Profile des Beispiels 1 bilden, das bei sehr günstiger Ausnutzung der Querschnittsfläche
sowohl für Biegung als auch Torsion als steif und fest gelten darf.
21.4 Formeln für die St.-Venantsche Torsion 381
Für alle behandelten Torsionsprobleme dürfen die Verformungen und die maximalen Schubspan-
nungen nach den auf der Seite 366 zusammengestellten Formeln 21.11 bis 21.13 berechnet wer-
den, wenn man die folgenden Torsionsträgheitsmomente It und Torsionswiderstandsmomente Wt
verwendet:
π d4 π d3
Kreis It = , Wt =
32 16
π a3 b3 π a b2
It = , Wt =
2
Ellipse 2
a +b 2 2
2 (Voraussetzung für Wt -Formel: b ≤ a)
It = c1 h b3 , Wt = c2 h b2
Rechteck
mit c1 und c2 aus der Tabelle auf Seite 368
Dünnwandiger 4 A2m
I
ds
geschlossener It = mit U(s) =
U(s) t(s)
Querschnitt
Wt = 2 Am tmin
n
1 It
Dünnwandiger
It ≈
3 ∑ si ti3 , Wt ≈
tmax
i=1
offener Abschnitt mit veränderlicher Wanddicke:
Querschnitt
1
Z
It,i = ti3 (s) ds
3
si
Z
∂Φ ∂Φ
It = 2 x +y dA ,
Beliebiger ∂x ∂y
A
Querschnitt
Mt ∂ Φ Mt ∂ Φ
τzx = −2 , τzy = 2
It ∂ y It ∂ x
∂ 2Φ ∂ 2Φ
Φ(x, y) ist Lösung des Randwertproblems + =1 mit ΦRand = konst.
∂ x2 ∂ y2
382 21 Torsion
Im Formelsatz für den beliebigen Querschnitt (letzter Eintrag in der Zusammenstellung auf der
Seite 381) ergibt sich für einen wichtigen Sonderfall eine Vereinfachung der It -Formel. Der In-
tegrand kann identisch durch
∂Φ ∂Φ ∂ (x Φ) ∂ (y Φ)
x +y = + −2Φ
∂x ∂y ∂x ∂y
ersetzt werden (man überzeugt sich leicht durch Ausdifferenzieren der rechten Seite). In
Z
∂ (x Φ) ∂ (y Φ)
Z
It = 2 + dA − 4 Φ dA
∂x ∂y
A A
kann das erste Integral nach dem Gaußschen Integralsatz
Z
∂Q ∂P
I I
− dA = P dx + Q dy
∂x ∂y
A
durch zwei Umlaufintegrale ersetzt werden (Hinweis: Der Gaußsche
Integralsatz gilt auch für mehrfach zusammengesetzte Flächen, wenn
alle Konturen so durchlaufen werden, dass die Fläche immer links
Abbildung 21.21: Gauß-
liegt, Abbildung 21.21). Man erhält:
I I Z scher Integralsatz, Um-
It = −2 y Φ dx + 2 x Φ dy − 4 Φ dA . laufsinn bei mehrfach zu-
sammengesetzter Fläche
A
Da in die beiden Umlaufintegrale nur die Φ-Werte der Ränder eingehen, liefern sie keinen Anteil
für einen Rand mit ΦRand = 0. Wenn es nur genau einen Rand gibt, kann diese Bedingung na-
türlich die allgemeine Bedingung ΦRand = konst. ersetzen, und für einfach zusammenhängende
Querschnittsflächen (Flächen ohne Ausschnitte) darf ein vereinfachter Formelsatz für das St.-
Venantsche Torsionsproblem verwendet werden:
∂ 2Φ ∂ 2Φ
Z
+ =1 mit ΦRand = 0 und It = −4 Φ dA . (21.29)
∂ x2 ∂ y2
A
21.6 Aufgaben
Aufgabe 21.1:
Der Antriebsmotor eines Rührwerks
leistet 2 kW bei 100 Umdrehungen pro Minute. Es darf
angenommen werden, dass jeweils die Hälfte dieser 3
Leistung an den Punkten 2 bzw. 3 von der ausschließ-
Hohlwelle
2
Aufgabe 21.2: 1 2
Die Achse eines Radsatzes muss aus konstruk- 0
tiven Gründen außermittig angetrieben werden.
l1
Gegeben: λ = . 1 2
l2
I
a) Es ist das Verhältnis der polaren Flächenträgheitsmomente κ = Ip1
p2
zu berechnen, bei dem an
beiden Rädern Momente gleicher Größe übertragen werden.
b) Man berechne die erforderlichen Durchmesser in den Bereichen 1 und 2, wenn folgende
Parameter gegeben sind: M0 = 1 kNm ; λ = 2 ; τzul = 120 N/mm2 .
Aufgabe 21.3:
Man weise nach, dass die Funktion
a2 b2 x 2 y2
Φ(x, y) = +
2 (a2 + b2 ) a2 b2
die Poissonsche Differenzialgleichung 21.14 und die Randbedingung 21.15 für einen elliptischen
Rand erfüllt und damit die Torsionsfunktion für einen elliptischen Querschnitt darstellt, und leite
dann das Torsionsträgheitsmoment It her, das in der Tabelle auf Seite 381 angegeben ist.
Aufgabe 21.4: 50 60
Für die Herstellung eines
5
4 4
Torsionsstabes stehen dünnwandige - und
40
∪-Profile zur Verfügung. Zur Erhöhung der 6
70
6
zwei -Profile (Variante a) oder das ∪-Profil
mit einem Deckblech (Variante b) zu einem 5
geschlossenem Kastenprofil verbunden wer-
den.
a) Man ermittle, welche Variante zur Minimierung der Schubspannungen bzw. des Verdrehwin-
kels günstiger ist.
b) Wie groß ist das Verhältnis ττ12 der größten Schubspannung τ1 im offenen ∪-Profil zu der größ-
ten Schubspannung τ2 im geschlossenen Profil (∪-Profil und Deckblech)? Wie groß ist das
∆ϕ1
Verhältnis der relativen Verdrehwinkel ∆ϕ 2
zweier Torsionsstäbe mit entsprechenden Quer-
schnitten?
Aufgabe 21.5:
Für den skizzierten einfach symmetrischen Trapezquer- 1
schnitt ist die Abmessung b2 so zu bestimmen, dass der auf Torsion belastete
Querschnitt wölbfrei ist. Die Dicke t ist über den gesamten Umfang konstant.
2
Gegeben: b1 , h , t .
22 Zusammengesetzte Beanspruchung
In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Spannungen in Bauteilen berechnet, bei denen
eine Abmessung deutlich größer war als die beiden anderen. Dabei wurde jeweils in nur einer
Schnittfläche (z = konstant) die Spannung ermittelt, die sich infolge einer speziellen Schnittgröße
ergibt.
Natürlich treten die unterschiedlichen Belastungsarten häufig gekoppelt auf, so ist zum Bei-
spiel eine Biegespannung fast immer mit einer Querkraftbelastung (Schubspannung) verbunden.
Außerdem beschränken sich die Spannungen auch bei den einfachen Bauteilen nicht auf eine
Schnittfläche, weil Schubspannungen immer in zwei senkrecht aufeinander stehenden Schnitt-
flächen paarweise auftreten.
In diesem Kapitel wird deshalb das Problem behandelt, wie ein Spannungszustand (hinsichtlich
der Festigkeit des Bauteils) zu beurteilen ist, wenn mehrere Spannungskomponenten gleichzei-
tig wirken. Da diese Frage gerade auch für die komplizierteren Berechnungsmodelle der Fes-
tigkeitslehre bedeutsam ist, sollen diese hier erwähnt werden, auch wenn ihre Berechnung mit
Ausnahme weniger Spezialfälle im Rahmen dieses Buches nicht behandelt werden kann.
Die Theorie der Berechnung von Flächentragwerken basiert auf ebenso sinnvollen (und durch
die Praxis bestätigten) Annahmen, wie sie für die eindimensionalen Modelle getroffen wurden,
allerdings gelingt nur für relativ wenige geometrische Formen (z. B. Rechteckscheibe, Recht-
eckplatte, Kreisscheibe und Kreisplatte, Zylinder-, Kugel- und Kegelschale) eine geschlossene
analytische Lösung, meist sogar nur für ganz spezielle Belastung und Lagerung (z. B. für rotati-
onssymmetrische Probleme, vgl. Kapitel 25).
Nicht zu unterschätzen ist jedoch der Aufwand, der mit der Beschreibung des Berechnungsmo-
dells durch Eingabedaten auch dann verbunden ist, wenn komfortable Datengeneratoren verfüg-
bar sind. Die Entscheidung für eine „3D-Rechnung“ sollte gut überlegt werden. Finite-Elemente-
Berechnungen von Flächentragwerken sind dagegen mit vergleichsweise geringem manuellen
Aufwand für die Vorarbeiten verbunden.
Als Alternative zur numerischen Berechnung bietet sich häufig die experimentelle Spannungs-
und Verformungsanalyse an, auf die man ohnehin dann zurückgreifen muss, wenn nicht alle
erforderlichen Eingangsdaten für die Berechnung verfügbar sind, speziell die Belastung (z. B.
in durchströmten oder umströmten Bauteilen, thermische Belastungen, . . .) ist häufig nicht mit
der gewünschten Genauigkeit verfügbar. Das Ziel der Festigkeitsrechnung (ob analytisch oder
numerisch) oder der experimentellen Analyse ist jedoch immer die Ermittlung der Spannungen
an verschiedenen Punkten des Bauteils, um sie mit den ertragbaren Spannungen vergleichen zu
können (Festigkeitsnachweis, vgl. Kapitel 13).
22.2 Der einachsige Spannungszustand 387
Beispiel:
Für den skizzierten Träger mit Quadratquerschnitt soll die
Normalspannung in einem beliebigen Querschnitt des vertikalen Ab-
schnitts bestimmt werden.
Gegeben: F , l, a.
2
Mit den Schnittgrößen
FN = F und Mb = −Fl
(Bezugsfaser und damit y-Achse wie eingezeichnet) und den Quer-
schnittskennwerten
a4
A = a2 und Ixx =
12
ergibt sich die Spannungsverteilung:
FN Mb F Fl F ly
σz = + y = 2 − 12 4 y = 2 1 − 12 2 .
A Ixx a a a a
ê Die Spannungs-Null-Linie (vgl. Abschnitt 19.1) liegt bei dieser kombinierten Beanspru-
chung (durch FN und Mb ) nicht mehr im Schwerpunkt der Querschnittsfläche.
ê Man erkennt an dem Ergebnis, dass die Normalspannung infolge FN wesentlich kleiner als
die Biegespannung ist. Die maximale Biegespannung σb, max = 6aF3 l im Querschnitt (am Rand
bei y = − a2 ) hat schon für l = 6a den gleichen Betrag wie die Spannung infolge der Normal-
kraft. Das bedeutet: Eine äußere Kraft in Trägerlängsrichtung ruft schon bei etwas außermit-
tigem Angriffspunkt eine Biegespannung hervor, die größer ist als die Spannung infolge der
Normalkraft.
Wenn ein Bauteil ausschließlich durch eine Normalspannung in einer Richtung beansprucht wird,
so spricht man von einem einachsigen Spannungszustand. Bei einer reinen Biegebeanspruchung
388 22 Zusammengesetzte Beanspruchung
(ohne Querkraftschub) und Beanspruchung durch eine Normalkraft (wie im gerade behandelten
Beispiel) ist diese Voraussetzung erfüllt.
Am Beispiel eines Zugstabs, dessen Quer-
schnitt durch eine konstante Spannung σ0
beansprucht ist (Abbildung 22.4), wird 0 0
Schubspannungen auftreten.
Gleichgewicht in horizontaler Richtung ist 0
an dem aus dem Stab herausgeschnittenen
Keil nur herzustellen, wenn in der schrä- 0 0
gen Schnittfläche Aϕ neben der Normal- Abbildung 22.4: Auch beim einachsigen Spannungs-
spannung σϕ auch eine Schubspannung τϕ zustand gibt es Schubspannungen
wirkt.
Die (konstanten) Spannungen in den Schnittflächen A0 bzw. Aϕ werden durch Multiplikation mit
den Flächen zu Kräften σ0 A0 bzw. σϕ Aϕ . Diese Kräfte müssen die folgenden Gleichgewichtsbe-
dingungen erfüllen:
σϕ Aϕ − σ0 A0 cos ϕ = 0 ,
τϕ Aϕ − σ0 A0 sin ϕ = 0 .
ê Die Normalspannung wird (wie zu erwarten) am größten für ϕ = 0. In diesem Schnitt wirkt
keine Schubspannung, und dies ist auch im Folgenden das Kriterium dafür, dass σ0 eine so
genannte Hauptspannung ist.
ê Bei Materialien, die besonders empfindlich gegen Schubbeanspruchung sind, ist also zu be-
achten, dass selbst beim einachsigen Spannungszustand, bei dessen Berechnung sich im
Allgemeinen nur eine Normalspannung ergibt, eine Schubspannung wirkt, die in speziellen
Fällen durchaus für das Versagen eines Bauteils verantwortlich sein kann.
Beim einachsigen Spannungszustand ergibt sich die maximale Schubspannung für ϕ = 45◦ .
Es ist die so genannte
1
Hauptschubspannung τmax = σ0 . (22.3)
2
Die Formeln 22.2 und 22.3 gelten für einen beliebigen Punkt des Bauteils und damit auch, wenn
die Spannung σ0 nicht konstant ist (Beispiel: Biegespannung).
22.3 Der ebene Spannungszustand 389
Der ebene Spannungszustand wird durch drei Spannungen bestimmt: σx , σy und τxy . Dabei wurde
bereits berücksichtigt, dass die in den beiden Schnittflächen wirkenden Schubspannungen gleich
sind (Gesetz der zugeordneten Schubspannungen 20.1).
Abbildung 22.5 zeigt ein aus einem Bauteil herausgeschnittenes differenziell kleines Element
mit den Abmessungen dx · dy. Die am Element angetragenen Spannungen sind nicht unabhängig
voneinander, sie müssen ein Gleichgewichtssystem bilden. Dies wird hier nicht betrachtet, weil
die Gleichgewichtsbedingungen in der Theorie der Spannungsberechnung bereits berücksichtigt
sein müssen (man vergleiche hierzu die Theorie des Querkraftschubes, die das Gleichgewicht
mit den Biegespannungen garantiert). Es sind vielmehr folgende Fragen interessant:
À Das x-y-Koordinatensystem, an dem sich die Richtungen der drei Spannungen σx , σy und τxy
orientieren, liegt recht willkürlich so, wie es für die Berechnung dieser Spannungen günstig
gewesen sein mag. Wie groß sind die Spannungen in beliebigen Schnitten, die parallel zu
einem (um den Winkel ϕ gedrehten) ξ -η–Koordinatensystem liegen?
Á Bei welcher Schnittrichtung treten
die maximalen Spannungen auf, wie
groß sind die Maximalspannungen? cos
Zur Beantwortung dieser Fragen wird
ein Keil aus dem Element heraus- cos
geschnitten, dessen eine Schnittfläche sin
sin
senkrecht zur Koordinatenachse ξ liegt
Abbildung 22.6: Spannungen in einem beliebigen Schnitt
(Abbildung 22.6).
390 22 Zusammengesetzte Beanspruchung
Wenn diese Schnittfläche mit A bezeichnet wird, haben die zur x- bzw. y-Achse senkrecht stehen-
den Flächen die Größen A cos ϕ bzw. A sin ϕ. In der Abbildung 22.6 sind die aus den Spannungen
resultierenden Kräfte an den drei Flächen angetragen, die folgende Gleichgewichtsbedingungen
erfüllen müssen:
σξ A = σx A cos2 ϕ + τxy A cos ϕ sin ϕ + σy A sin2 ϕ + τxy A sin ϕ cos ϕ ,
(22.4)
τξ η A = τxy A cos2 ϕ − σx A cos ϕ sin ϕ − τxy A sin2 ϕ + σy A sin ϕ cos ϕ .
Nach einigen elementaren Umformungen ergeben sich die nachfolgenden Formeln, die durch
eine Beziehung für ση ergänzt wurden, die sich aus Gleichgewichtsbetrachtungen an einem Keil
mit einer Schnittfläche senkrecht zur η-Achse ergibt.
Transformation der Spannungen des ebenen Spannungszustandes auf ein gedrehtes Ko-
ordinatensystem:
1 1
σξ = (σx + σy ) + (σx − σy ) cos 2ϕ + τxy sin 2ϕ ,
2 2
1 1
ση = (σx + σy ) − (σx − σy ) cos 2ϕ − τxy sin 2ϕ , (22.5)
2 2
1
τξ η = − (σx − σy ) sin 2ϕ + τxy cos 2ϕ .
2
Der Aufbau dieser Formeln entspricht exakt der Struktur der Transformationsformeln 16.12 für
die Flächenträgheitsmomente (Seite 227). Deshalb können alle dort gewonnenen Aussagen sinn-
gemäß übernommen werden:
Die maximalen Schubspannungen treten in Schnitten auf, deren Richtungen um 45◦ zu den
Hauptspannungsrichtungen gedreht sind. In den Hauptschubspannungsrichtungen
ϕτ = ϕ1 ± 45◦
wirken die Hauptschubspannungen:
1
τmax = ± (σ1 − σ2 ) . (22.8)
2
Abbildung 22.7 zeigt diesen Mohrschen Spannungskreis. Man erkennt, dass er bei einem ge-
gebenen Satz von Spannungen für einen Punkt σx , σy und τxy einfach zu konstruieren ist. Jeder
beliebige Durchmesser verbindet zwei Punkte auf dem Kreis, für die die Spannungen für die ent-
sprechende Spannungsrichtung ϕ abgelesen werden können. Speziell sieht man auf der σ -Achse
die beiden Hautspannungen σ1 und σ2 , der Radius entspricht dem τmax .
Dass σ1 und τmax um 90◦ versetzt erscheinen (und nicht um 45◦ , wie es nach 22.8 sein muss),
deutet darauf hin, dass im Mohrschen Spannungskreis mit dem doppelten Winkel 2 ϕ gearbei-
tet werden muss, was speziell dann zu beachten ist, wenn man die Spannungen unter einem
bestimmten Winkel entnehmen will.
Darauf wird hier nicht weiter eingegangen, denn der Mohrsche Spannungskreis war ein sehr
nützliches Werkzeug, als der Ingenieur noch mit dem Rechenschieber arbeitete1 . Heute gibt es
1 Dassder Mohrsche Spannungskreis hier erläutert wird, hat neben der Tatsache, dass Abbildung 22.7 noch einmal
recht anschaulich alle wesentlichen Größen des ebenen Spannungszustands zeigt, auch den Grund, Chr. O. Mohr
zu würdigen, auf den z. B. auch ein geniales Verfahren zur grafischen Ermittlung der Durchbiegung einer Welle
zurückgeht, das allerdings (welch ein Glück für alle Studenten!) überhaupt nicht mehr verwendet wird.
392 22 Zusammengesetzte Beanspruchung
natürlich keinen Grund mehr, die Auswertungen der Formeln 22.5 bis 22.8 durch das Zeichnen
eines Kreises zu realisieren.
Es sollen hier noch die Zusammenhänge der Spannungen mit den Dehnungen behandelt werden,
weil bei der experimentellen Spannungsanalyse mittels Dehnmessstreifen primär die Dehnun-
gen als Versuchsergebnisse anfallen, die dann (unter der Voraussetzung elastischer Verformung)
über das Hookesche Gesetz in die Spannungen umgerechnet werden können. Dabei ist zu be-
achten, dass beim ebenen Spannungszustand mit Normalspannungen in zwei Richtungen jede
Normalspannung auch die Dehnung in der jeweils dazu senkrechten Richtung beeinflusst (Quer-
kontraktion, vgl. Abschnitt 12.4). Die Dehnung in einer Richtung ergibt sich also beim ebenen
Spannungszustand aus der Überlagerung des Anteils aus der Spannung in dieser Richtung mit
der Querkontraktion aus der anderen Spannung:
1 1
εx = (σx − ν σy ) , εy = (σy − ν σx ) . (22.9)
E E
Diese beiden Formeln lassen sich nach den Spannungen umstellen und werden ergänzt durch den
Zusammenhang zwischen Schubspannung und Gleitung nach 12.6 im Zusammenhang mit 12.7.
Dieser Formelsatz wird bezeichnet als
Die Formeln 22.10 gelten für zwei beliebige zueinander senkrechte Richtungen, also auch für
die Hauptspannungsrichtungen, für die wegen der verschwindenden Schubspannung (und damit
auch der Gleitung γxy ) die dritte Gleichung entfällt.
Durch Einsetzen der Spannungen nach 22.10 in die Transformationsformeln 22.5 erhält man die
Formeln für die
Transformation der Dehnungen und der Gleitung des ebenen Spannungszustandes auf
ein gedrehtes Koordinatensystem:
1 1 1
εξ = (εx + εy ) + (εx − εy ) cos 2ϕ + γxy sin 2ϕ ,
2 2 2
1 1 1
εη = (εx + εy ) − (εx − εy ) cos 2ϕ − γxy sin 2ϕ , (22.11)
2 2 2
γξ η = − (εx − εy ) sin 2ϕ + γxy cos 2ϕ .
Die formale Ähnlichkeit dieser Formeln mit den Transformationsformeln 22.5 gestattet die Über-
tragung der Erkenntnisse über die Spannungen auf Aussagen über die Dehnung:
22.3 Der ebene Spannungszustand 393
Beispiel 1:
Für den skizzierten Kragträger mit veränder-
lichem Quadrat-Querschnitt wurde (als Beispiel 4 im Ab-
schnitt 16.3 auf Seite 241) berechnet, dass bei z = 2l die ma-
2
ximale Biegespannung auftritt. Für diesen Querschnitt sollen
die Hauptspannungen (bei Berücksichtigung der Biegespan-
nung und der Querkraftschubspannung) ermittelt werden.
Gegeben: F , a , l = 10 a .
l
Der Querschnitt bei z = 2 hat die Kantenlänge 1, 5 a. Mit
l (1, 5 a)4 27 4
Mb = −F , Ixx = = a
2 12 64
ergibt sich die Biegespannungsverteilung nach 16.3:
32 F l
σb = − y .
27 a4
Nach 20.2 (Seite 346) erhält man mit (vgl. Beispiel 1 im Abschnitt 20.1 auf Seite 346)
(1, 5 a)2
2 1, 5 a
FQ = −F , Sx = −y
4 2
den Verlauf der Querkraftschubspannung
32 F 9 2
τ =− a − y2 .
27 a4 16
Zur Erinnerung: Die y-Achse hat ihren Ursprung im Schwerpunkt des Querschnitts und ist nach
unten gerichtet, die Biegespannungen wirken senkrecht zum Querschnitt (in z-Richtung), so dass
alle Spannungen in der y-z-Ebene zu sehen sind (Abbildung 22.8).
Für das betrachtete Beispiel gilt also:
σy = 0 , σz = σb , τzy = τ .
394 22 Zusammengesetzte Beanspruchung
Biegespannung Schubspannung
Abbildung 22.8: Biegespannungs- und Schubspannungsverteilung über die Querschnittshöhe, eine Nor-
malspannung σy gibt es bei diesem Beispiel nicht
Die Abbildung 22.8 zeigt die Spannungsverteilung über die Querschnittshöhe und das Definiti-
onsbild mit den Bezeichnungen, die für die Formeln des ebenen Spannungszustands verwendet
werden. Die Hauptspannungen in einem beliebigen Punkt des Querschnitts (sie sind über die
Breite konstant) berechnen sich bei entsprechender Modifizierung der Indizes nach 22.6:
s
16 F l 2
2
16 Fl 32 F 9 2 2
σ1, 2 = − y± y + a −y .
27 a4 27 a4 27 a4 16
Bei einer Höhe von 1, 5a für den betrachteten Querschnitt darf y in dieser Formel Werte im
Bereich −0, 75 a ≤ y ≤ 0, 75 a annehmen. Die folgende Tabelle vergleicht für einige Punkte des
Querschnitts die Biegespannungen und Querkraftschubspannungen mit den Hauptspannungen:
y σb τ σ1 σ2
−0, 75 a 8, 889 F/a2 0 8, 889 F/a2 0
−0, 50 a 5, 926 F/a2 −0, 370 F/a2 5, 949 F/a2 −0, 023 F/a2
−0, 25 a 2, 963 F/a2 −0, 593 F/a2 3, 077 F/a2 −0, 114 F/a2
0 0 −0, 667 F/a2 0, 667 F/a2 −0, 667 F/a2
0, 25 a −2, 963 F/a2 −0, 593 F/a2 0, 114 F/a2 −3, 077 F/a2
0, 50 a −5, 926 F/a2 −0, 370 F/a2 0, 023 F/a2 −5, 949 F/a2
0, 75 a −8, 889 F/a2 0 0 −8, 889 F/a2
ê Die Ergebnisse zeigen, dass die Hauptspannung in keinem Punkt größer wird als die ma-
ximale Biegespannung. Dieses Ergebnis ist repräsentativ: Im Allgemeinen kann der aus
der Querkraft herrührende Spannungsanteil vernachlässigt werden, zumal die Querkraft-
schubspannungen an den Punkten der maximalen Biegespannung (Ober- bzw. Unterkante
des Querschnitts) verschwinden.
ê Die Schubspannung aus der Querkraftbelastung kann aller-
dings zur Beurteilung der Haltbarkeit von Fügestellen (vgl.
Abschnitt 20.3) bedeutsam sein. Die maximale Schubspan-
nung tritt in der Schwerpunktfaser auf. Da dort keine Nor-
malspannungen wirken (neutrale Faser für Biegebeanspru- Abbildung 22.9: Hauptspan-
chung), verlaufen die beiden Hauptspannungen unter einem nungen am Punkt der größten
Winkel von 45◦ zur Horizontalen. Schubspannung
22.3 Der ebene Spannungszustand 395
Die „reine Schubbelastung“ in der neutralen Faser eines Biegeträgers wird durch eine Zug- und
eine Druckspannung repräsentiert. Da diese beiden Hauptspannungen den gleichen Absolutbe-
trag haben, können sie (und damit die Schubspannung) gegebenenfalls durch nur eine Dehnungs-
messung (z. B. mit einem unter 45◦ angebrachten Dehnmessstreifen) ermittelt werden.
45°
Beispiel 2:
Bei einer experimentellen Spannungsanaly-
se wurden mit der skizzierten Dehnmessstreifen-Rosette
45°
die Dehnungen in den beiden senkrecht aufeinander ste-
henden Richtungen a und c und die Dehnung in der unter
45◦ zu a und c geneigten Richtung b gemessen:
εa = 0, 70 · 10−3 ; εb = 0, 81 · 10−4 ; εc = 0, 27 · 10−3 .
Der allgemeine Fall ist der räumliche Spannungszustand: In drei aufeinander senkrecht stehen-
den Schnittflächen wirken
• 3 Normalspannungen σx , σy , σz und
• 6 Schubspannungen τxy , τxz , τyx , τyz , τzx , τzy .
Der erste Index kennzeichnet die Schnittfläche (der Index x steht also z. B. für die Schnittfläche
x = konstant), der zweite Index bei den Schubspannungen steht für die Richtung innerhalb der
Schnittfläche (bei den Normalspannungen erübrigt sich die Richtungsangabe, weil sie immer
senkrecht zur Schnittfläche gerichtet sind).
Nach dem Gesetz von der Gleichheit der zugeordneten Schubspannungen 20.1 gilt
τxy = τyx , τxz = τzx , τyz = τzy ,
so dass der räumliche Spannungszustand durch die Angabe von insgesamt 6 unterschiedlichen
Spannungskomponenten beschrieben wird.
Der räumliche Spannungszustand in einem Punkt kann durch die Angabe von sechs Span-
nungskomponenten (3 Normalspannungen σx , σy , σz und 3 Schubspannungen τxy , τxz , τyz )
eindeutig beschrieben werden.
Es ergeben sich nun die entsprechenden Probleme, die auf Seite 389 für den ebenen Spannungs-
zustand als Fragen À und Á formuliert wurden: Wie sieht es bei beliebiger anderer Schnittfläche
aus und wo treten die maximalen Spannungen auf? Für den ebenen Spannungszustand konn-
ten die Antworten darauf mit Gleichgewichtsbetrachtungen entsprechend Abbildung 22.6 auf
anschaulichem Wege gefunden werden. Weil die Anschauung im dreidimensionalen Fall sehr
schnell verloren geht, empfiehlt sich ein eher formaler Weg.
Dieser Weg wird zunächst noch einmal für den ebenen Spannungszustand demonstriert, weil
er dafür auch anschaulich ist, um ihn dann formal auf den räumlichen Spannungszustand zu
übertragen:
• Die Koordinaten x und y werden durch x1 und x2 ersetzt, = 2
und die Spannungen werden sämtlich mit dem Symbol σ
bezeichnet, das durch zwei Indizes ergänzt wird:
σx , σy , τxy ⇒ σ11 , σ22 , σ12 . (22.14)
2
• Die Schnittebene in beliebiger Richtung wird durch den = 1 = 1
(auf ihr senkrecht stehenden) Einheitsvektor eξ beschrie-
Ebene = konst.
ben (Abbildung 22.11):
Abbildung 22.11: Ebener
cos ϕ cos α1 Spannungszustand, Übergang
eξ = = . (22.15)
sin ϕ cos α2 zu neuen Bezeichnungen
22.4 Der räumliche Spannungszustand 397
Räumlicher Spannungszustand:
ê Die Koordinaten x, y und z werden durch x1 , x2 und x3 ersetzt, und die Spannungen
werden sämtlich mit dem Symbol σ bezeichnet, das durch zwei Indizes ergänzt wird:
σx , σy , σz , τxy , τxz , τyz ⇒ σ11 , σ22 , σ33 , σ12 , σ13 , σ23 . (22.22)
ê Die Schnittebene in beliebiger Richtung wird durch den (auf ihr senkrecht stehenden)
Einheitsvektor eξ beschrieben. Die cos αi sind die Richtungskosinusse (Abbildung 8.1
auf Seite 110 zeigt, wie diese gemessen werden):
cos α1
eξ = cos α2 . (22.23)
cos α3
ê Die Spannungen werden in einer (symmetrischen) Spannungsmatrix S zusammengestellt,
für die in einer beliebigen Schnittfläche wirkenden Spannungen wird der Spannungsvek-
tor s definiert:
σ11 σ12 σ13 s1
S = σ12 σ22 σ23 , s = s2 . (22.24)
σ13 σ23 σ33 s3
ê Der Spannungsvektor sξ für die durch eξ definierte Ebene kann dann aus
sξ = S · eξ (22.25)
berechnet werden. Den Betrag der Normalspannung σξ in dieser Schnittebene und den
Betrag der resultierenden Schubspannung τξ errechnet man dann so:
q
σξ = sξ · eξ , τξ = |sξ |2 − σξ2 . (22.26)
ê Die Hauptspannungen ergeben sich aus der Transformation S · n = σ · n, die auf ein ho-
mogenes Gleichungssystem führt:
σ11 − σ σ12 σ13 n1 0
σ12 σ22 − σ σ23 n2 = 0 . (22.27)
σ13 σ23 σ33 − σ n3 0
Zu einem räumlichen Spannungszustand gehören also drei Hauptspannungen σ1 , σ2 und
σ3 in drei senkrecht aufeinanderstehenden Ebenen, die schubspannungsfrei sind (zur Lö-
sung von 22.27 siehe nachfolgende Bemerkung). Eine der Hauptspannungen ist die größ-
te, eine andere die kleinste aller Normalspannungen, die in beliebigen Schnittebenen auf-
treten können. Die dritte Hauptspannung liegt zwischen den beiden anderen.
ê Die größten Schubspannungen (Hauptschubspannungen) treten in Ebenen auf, die mit je-
weils zwei Hauptspannungsebenen einen Winkel von 45◦ bilden. Wenn man (wie üblich)
die größte Hauptspannung mit σ1 und die kleinste mit σ3 bezeichnet, errechnet sich die
maximale Schubspannung nach
1
τmax = (σ1 − σ3 ) . (22.28)
2
22.5 Festigkeitshypothesen 399
ê Das System 22.27 hat nichttriviale Lösungen, wenn die Koeffizientendeterminante verschwin-
det (die immer existierende „triviale Lösung“ n1 = n2 = n3 = 0 ist nicht interessant):
σ11 − σ σ12 σ13
σ12
σ22 − σ σ23 = 0 . (22.29)
σ
13 σ 23 σ33 − σ
Diese Bedingung würde (mit etwas mühsamer Rechnung) auf eine Gleichung
3. Grades führen, aus der man (auch nicht ganz mühelos) drei (reelle) Lösun-
gen errechnet3 . Zu jeder Lösung gehört ein Normalenvektor, der die Schnitt-
fläche definiert und auch aus 22.27 berechnet werden kann.
22.5 Festigkeitshypothesen
Die zulässigen Spannungen werden im Allgemeinen mit Hilfe der Spannungswerte ermittelt, die
durch den Zugversuch (einachsiger Spannungszustand) gewonnen werden (Abschnitt 12.3 und
Kapitel 13). Ein Bauteil ist aber in der Regel nicht nur einem einachsigen Spannungszustand
unterworfen, so dass die Frage beantwortet werden muss, wie das gleichzeitige Auftreten ver-
schiedener Spannungen (wie zum Beispiel beim ebenen Spannungszustand) beim Vergleich mit
einer aus einem recht einfachen Modellversuch gewonnenen Spannung beurteilt werden muss.
Naheliegend ist die Berechnung der Hauptspannungen, um diese einzeln mit der zulässigen Span-
nung zu vergleichen. Dabei bleibt die Frage offen, welchen Einfluss die gleichzeitige Wirkung
der anderen (beim Zugversuch nicht vorhandenen) Hauptspannungen hat.
Um einen beliebigen Spannungszustand mit dem σzul , das auf Versuchen mit einem einachsigen
Spannungszustand basiert, vergleichen zu können, wurden zahlreiche Festigkeitshypothesen ent-
wickelt, die alle der Ermittlung einer so genannten Vergleichsspannung σV dienen, mit der dann
der Spannungsnachweis durchgeführt wird. Im Idealfall müsste die Vergleichsspannung als Re-
präsentant aller wirkenden Spannungen die Veränderungen des Materialverhaltens (insbesondere
das Fließen und das Versagen durch Bruch) bei den gleichen Werten hervorrufen, bei denen sie
bei einem einachsigen Spannungszustand (Zugversuch) auftreten.
Leider gibt es die ideale, für alle Werkstoffe gleichermaßen gültige Festigkeitshypothese nicht.
Deshalb werden im Folgenden die drei gebräuchlichsten Hypothesen vorgestellt.
Bei mehrachsigen Spannungszuständen wird aus den ermittelten Spannungen auf der Basis
einer geeigneten Hypothese eine Vergleichsspannung σV berechnet, mit der dann der Span-
nungsnachweis
σV ≤ σzul (22.30)
durchgeführt wird.
3 Sowird man natürlich 22.27 nicht lösen, denn diese Form des homogenen Gleichungssystems ist ein so genanntes
Spezielles Matrizeneigenwertproblem. Dafür gibt es neben einer ausgefeilten Theorie eine große Anzahl leistungsfä-
higer Berechnungsverfahren. Ausführliche Informationen mit Beispielen findet man auf der Internet-Site Mathematik
für die Technische Mechanik (www.TM-Mathe.de), siehe auch den Hinweis auf Seite 419.
400 22 Zusammengesetzte Beanspruchung
Die Normalspannungshypothese geht von der Annahme aus, dass „die größte auftretende Nor-
malspannung für ein eventuelles Versagen des Materials verantwortlich ist“. Das Maximum der
Absolutbeträge der Hauptspannungen ist also die Vergleichsspannung3 der
Die Normalspannungshypothese wird vornehmlich für spröde Werkstoffe (z. B. Grauguss) ver-
wendet.
Die Schubspannungshypothese geht von der Annahme aus, dass „die größte auftretende Schub-
spannung für ein eventuelles Versagen des Materials verantwortlich ist“. Also werden die maxi-
malen Schubspannungen (Hauptschubspannungen) des ebenen bzw. räumlichen Spannungszu-
stands 22.8 bzw. 22.28 mit der maximalen Schubspannung des einachsigen Spannungszustands,
wie er beim Zugversuch entsteht, verglichen. Nach 22.3 (Seite 388) gilt für den einachsigen
Spannungszustand
1
τmax = σmax ,
2
und daraus folgt die Vergleichsspannung für die
Schubspannungshypothese:
σV, 2 = 2 τmax ≤ σzul . (22.33)
Für den räumlichen Spannungszustand müssen zunächst σ1 , σ2 und σ3 aus 22.29 berechnet
werden, um dann τmax aus 22.28 zu berechnen. Für den ebenen Spannungszustand kann bei
bekannten Hauptspannungen τmax aus 22.8 berechnet werden. Anderenfalls liefert die Kom-
bination von 22.33 mit 22.8 und 22.6 die Formel:
q
σV, 2 = (σx − σy )2 + 4 τxy2 ≤ σzul . (22.34)
Die Schubspannungshypothese liefert für zähe Werkstoffe (z. B. Stahl) recht gute Ergebnisse,
wird aber heute nur noch selten verwendet, weil im Allgemeinen mit der nachfolgend behandel-
ten Gestaltänderungshypothese eine noch bessere Annäherung an die Realität erzielt wird.
3 Das Symbol für die Vergleichsspannung σV wird zur Unterscheidung der einzelnen Hypothesen mit einem zusätzli-
chen Index versehen. Es gilt σV, 1 für die Normalspannungshypothese, σV, 2 für die Schubspannungshypothese und
σV, 3 für die Gestaltänderungshypothese (von-Mises-Vergleichsspannung).
22.5 Festigkeitshypothesen 401
22.5.2 Gestaltänderungshypothese
Die Gestaltänderungshypothese geht von der Annahme aus, dass „die Materialbeanspruchung
ausschließlich durch die Veränderung der Gestalt und nicht durch die Volumenänderung her-
vorgerufen wird“. Hier soll nur die sich nach dieser Theorie ergebende Formel ohne die (etwas
aufwendige) Herleitung angegeben werden.
Gestaltänderungshypothese (von-Mises-Vergleichsspannung):
r
1
σV, 3 = [(σ1 − σ2 )2 + (σ2 − σ3 )2 + (σ3 − σ1 )2 ] ≤ σzul . (22.35)
2
Für den räumlichen Spannungszustand werden σ1 , σ2 und σ3 aus 22.29 berechnet. Für den
ebenen Spannungszustand entfällt σ3 in 22.35, so dass sich folgende Formel ergibt:
q q
σV, 3 = σ12 + σ22 − σ1 σ2 = σx2 + σy2 − σx σy + 3 τxy 2 ≤σ
zul . (22.36)
Die Gestaltänderungshypothese ist die für zähe Werkstoffe gegenwärtig am häufigsten verwen-
dete Hypothese. Deshalb soll am Beispiel 22.36 die Betrachtung einiger Spezialfälle auf die
Besonderheiten dieser Hypothese aufmerksam machen:
ê Der einachsige Spannungszustand mit σx = σ0 , σy = 0 und τxy = 0 ist in der Gestaltände-
rungshypothese sinnvoll enthalten und führt auf
σV, 3 = σ0 ≤ σzul .
ê Reine Schubbeanspruchung mit τxy = τ0 , σx = σy = 0 führt auf
√
σV, 3 = 3τ0 ≤ σzul .
σzul √
In der Gestaltänderungshypothese steckt also die Annahme τzul = 3 (in der Schubspan-
σ
nungshypothese steckt die Annahme τ zul = 2). Wenn die durch Versuche ermittelten Werte
zul
deutlich von dieser Annahme abweichen, ist es üblich, die Hypothese mit einem Korrektur-
faktor zu verfeinern (vgl. das im nächsten Abschnitt erwähnte Anstrengungsverhältnis).
ê Gleichmäßiger Zug (ohne Schub) mit σx = σy = σ0 (gleiche Zugspannung in zwei senkrecht
aufeinander stehenden Richtungen) führt auf
σV, 3 = σ0 ≤ σzul
und wird damit nach der Gestaltänderungshypothese als nicht gefährlicher für das Material
als eine Zugspannung in nur einer Richtung angesehen.
ê Dagegen liefert Zug in einer Richtung und Druck in der dazu senkrechten Richtung nach
der Gestaltänderungshypothese höhere Vergleichsspannungen, was mit der Vorstellung über
diese Beanspruchung gut übereinstimmt (die Druckspannung „unterstützt“ genau die Ver-
formung, die durch die Querkontraktion infolge der Zugspannung hervorgerufen wird), zum
Beispiel erhält man mit σx = σ0 , σy = −σ0 , τxy = 0:
√
σV, 3 = 3σ0 ≤ σzul .
402 22 Zusammengesetzte Beanspruchung
Wellen, die für die Übertragung eines Drehmoments bestimmt sind (Antriebswellen, Getriebe-
wellen, . . .), werden fast immer auch auf Biegung beansprucht. Der mit der Biegebeanspruchung
gleichzeitig auftretende Querkraftschub kann im Allgemeinen vernachlässigt werden, zumal die
größte Schubbelastung aus der Querkraft mit der neutralen Faser der Biegung zusammenfällt.
Die Normalspannung aus der Biegung und die
Schubspannung infolge Torsion bilden den Son-
derfall eines ebenen Spannungszustandes, bei dem
nur eine Normalspannung wirkt (Abbildung 22.12).
Dementsprechend vereinfachen sich die Formeln
für die Vergleichsspannungsberechnung. Nach der
vorwiegend verwendeten Gestaltänderungshypothe-
se (Wellen werden aus zähem Material gefertigt) er-
gibt sich aus der Biegespannung σb und der Torsi-
onsschubspannung τt nach 22.36 die Vergleichsspan-
nung q Abbildung 22.12: Getriebewelle, bean-
σV, 3 = σb2 + 3 τt2 . sprucht auf Biegung und Torsion
Im vorigen√ Abschnitt wurde gezeigt, dass diese Formel ein Verhältnis der zulässigen Spannungen
σ
von τ zul = 3 voraussetzt, was bei den dynamisch belasteten Wellen auch durch unterschiedliche
zul
Belastungsarten (vgl. Abschnitt 13.1) für die Biege- bzw. Torsionsbelastung gestört sein kann.
Dies kann ausgeglichen werden durch das Anstrengungsverhältnis α0 (auch als Korrekturfaktor
nach BACH bezeichnet), mit dem die Schubspannung in der Vergleichsspannungsformel multi-
pliziert wird: q
σV, 3 = σb2 + 3 (α0 τt )2 .
Für Stahl nimmt dieser Korrekturfaktor Werte von α0 ≈ 0, 7 (Biegewechselbelastung, statische
Torsionsbelastung) bis α0 ≈ 1, 5 (Torsionswechselbelastung, statische Biegebelastung) an. Im
Allgemeinen ist α0 ≈ 1 (beide Belastungsarten als Wechselbelastung) ein sinnvoller Wert, zumal
statische Biegebelastung (und damit der größere Wert für α0 ) bei umlaufenden Wellen ohnehin
nicht gegeben ist.
Für Wellen mit Kreis- oder Kreisringquerschnitten gibt es auf dem Außenrand immer zwei Punk-
te, in denen die maximale Biegespannung mit der ebenfalls am Außenrand auftretenden maxima-
len Torsionsschubspannung zusammenfällt, so dass die maximale Vergleichsspannung in einem
Querschnitt mit
Mb Mt
σb, max = , τt, max =
Wb Wt
berechnet werden kann. Dabei muss das Biegemoment Mb bei einer Belastung in zwei Ebenen
stets vorab nach q
Mb = Mbx 2 + M2
by
Bei einem Vergleich der Formeln für die Widerstandsmomente 16.18 und 21.6 stellt man fest,
dass für den Kreis (und auch für den Kreisring)
Wt = 2Wb
gilt. Wenn dies in die Formel für die Vergleichsspannung eingesetzt wird, erhält man
s
α0 Mt 2
r
Mb2
1 3
σV, 3 = 2
+3 = Mb2 + (α0 Mt )2 ,
Wb 2Wb Wb 4
Berechnung von Wellen mit Kreis- oder Kreisringquerschnitt, die auf Biegung und Tor-
sion beansprucht werden:
Es wird ein Vergleichsmoment
q
MV, 3 = Mb2 + 0, 75 (α0 Mt )2 (22.37)
berechnet, das den gemischten Belastungsfall Biegung-Torsion auf einen (nach der Gestaltän-
derungshypothese) äquivalenten reinen Biegebelastungsfall reduziert, für den
MV, 3
σV, 3 = ≤ σzul (22.38)
Wb
gelten muss. Wb ist das Widerstandsmoment gegen Biegung für den Kreis- bzw. Kreisring-
querschnitt, α0 das oben besprochene Anstrengungsverhältnis.
Beispiel:
Der skizzierte Winkel mit Kreisquerschnitt ist so
zu dimensionieren, dass in keinem Querschnitt die nach der
Gestaltänderungshypothese berechnete Spannung größer ist
als σzul .
Gegeben: a = 500 mm ; σzul = 200 N/mm2 ;
b = 1000 mm ; F = 2 kN .
Berechnet werden soll der erforderliche Durchmesser der f bei
einem Anstrengungsverhältnis α0 = 1.
Der Bereich der Länge a wird nur auf Biegung, der Bereich der Länge b auf Biegung und Torsion
beansprucht. Da b größer als a ist, tritt das größte Biegemoment an der Einspannung auf, und der
gefährdete Querschnitt ist der Einspannquerschnitt. Mit den Momenten |Mb | = F b und |Mt | = F a
ergibt sich das Vergleichsmoment
p
MV, 3 = F b2 + 0, 75 a2 .
Mit dem Widerstandsmoment gegen Biegung 16.18 für den Kreisquerschnitt errechnet man:
s
3
r
π der f MV, 3 3 32 F 3
Wb, er f = = ⇒ der f = b2 + a2 = 48, 1 mm .
32 σzul π σzul 4
404 22 Zusammengesetzte Beanspruchung
22.6 Aufgaben
Gegeben: εa , εb , εc , E , ν .
Man ermittle die Formeln, nach denen bei bekannten Dehnun-
gen in den drei Messrichtungen und bekannten Materialkenn-
werten (Elastizitätsmodul und Querkontraktionszahl)
a) die Hauptdehnungen,
b) die Hauptspannungen berechnet werden können.
1 1
Aufgabe 22.2:
Eine Getriebewelle mit konstantem
Durchmesser d ist mit den geradverzahnten Rädern
1 und 2 besetzt. Zwischen der radialen Zahnkraft Fr
und der Umfangskraft Fu besteht über den Zahnein-
2
griffswinkel der Zusammenhang
Fr = Fu tan α mit α = 20◦ . 2
Abbildung 23.4: Kippen eines Kragträger, Beulen einer Platte und Beulen einer Schale
23.2 Stab-Knickung
Zur Einführung in die Problematik soll an dem nachfolgenden Beispiel 1 diese wichtige Aussage
demonstriert werden:
Biegeträger können auch dann als Tragwerke versagen, wenn die maximale Spannung unter-
halb der zulässigen Spannung liegt.
Beispiel 1:
Der skizzierte Träger ist durch die Kraft
F belastet. Die vertikale Abmessung a sei wesentlich
kleiner als der Abstand der beiden Lager A und B.
Gegeben: EI = konstant , F , l , a (a l) .
Es soll die Biegeverformung des horizontalen Teils
zwischen den Lagern berechnet werden.
Aus den statischen Gleichgewichtsbedingungen erge-
ben sich die Lagerreaktionen zu
a
FAH = F , FAV = −FB = F .
l
23.2 Stab-Knickung 407
Da die vertikale Komponente FAV der Lagerreaktion bei A (wegen a l) deutlich kleiner ist als
die Horizontalkomponente, ist es unter Umständen nicht mehr gerechtfertigt, den für die Verfor-
mungsberechnung benötigten Biegemomentenverlauf am unverformten System (nach der Theo-
rie 1. Ordnung) zu berechnen, weil FAH dann in die Verformungsberechnung gar nicht eingehen
würde.
Deshalb wird („vorsichtshalber“) Mb (z) durch eine Gleichgewichtsbetrachtung am verformten
System ermittelt (Theorie 2.Ordnung). Natürlich müssten konsequenterweise dann auch die La-
gerreaktionen am verformten System berechnet werden, was aber in diesem Fall auf die gleichen
Ergebnisse führen würde. Am geschnittenen Teilabschnitt erhält man (mit der noch unbekannten
Durchbiegung v an der Stelle z) für den Momentenverlauf:
z
Mb (z) = FAV z + FAH v = F a + F v .
l
Nach der Theorie 1. Ordnung hätte sich nur der erste Summand für den Biegemomentenverlauf
ergeben. Es ist einleuchtend, dass der zweite Summand dann nicht vernachlässigt werden darf,
wenn a in der Größenordnung von v liegt.
Mit dieser Funktion Mb (z) erhält man aus der Differenzialgleichung der Biegelinie 17.3
z
EI v00 = −Mb = −F a − F v
l
für die Berechnung der Verschiebung v mit
F F a
v00 + v=− z
EI EI l
eine gewöhnliche inhomogene lineare Differenzialgleichung 2. Ordnung mit konstanten Koef-
fizienten (man beachte, dass die Begriffe „Differenzialgleichung 2. Ordnung“ und „Theorie 2.
Ordnung“ nichts miteinander zu tun haben).
Die Lösung dieser Differenzialgleichung ist etwas mühsamer als der einfache Integrationspro-
zess, der bei Rechnung nach der Theorie 1. Ordnung erforderlich ist. Der Leser, der mit der
Theorie der Lösung solcher Differenzialgleichungen1 noch nicht vertraut ist, darf (ohne Gefahr,
die nachfolgenden Überlegungen nicht zu verstehen) einfach glauben, dass
r ! r !
F F z
v = C1 cos z +C2 sin z −a
EI EI l
die allgemeine Lösung dieser Differenzialgleichung ist (Skeptiker überzeu-
gen sich durch Einsetzen, dass die Lösung die Differenzialgleichung erfüllt).
Die Integrationskonstanten ergeben sich aus den geometrischen Randbedingungen
v(z = 0) = 0 , v(z = l) = 0
zu a
C1 = 0 , C2 = q .
F
sin EI l
1 Hilfreich ist sicher die Diskussion der Lösung der Differenzialgleichung 19.22. Man beachte besonders den Hin-
weis auf Seite 314 auf das Thema Gewöhnliche Differenzialgleichungen auf der Internet-Site Mathematik für die
Technische Mechanik (www.TM-Mathe.de).
408 23 Knickung
Diese Funktion ist in der Auswertung sicher etwas unbequemer als die Lösungsfunktion, die man
nach der Theorie 1. Ordnung erhält (Fall d im Abschnitt 17.4, wenn für das Belastungsmoment
M = F a gesetzt wird). Schon der Nachweis, dass sich für F = 0 (Träger ohne Belastung) für
beliebiges z keine Durchbiegung v ergibt, erfordert eine Grenzwertbetrachtung.
Allerdings ist die Lösung nach der Theorie 2. Ordnung genauer. Interessant ist, dass die prozen-
tualen Abweichungen der errechneten Verformungen nach den beiden Theorien (im Gegensatz
zum Biegemoment) nicht von der Größe a abhängen, da a in beiden Fällen als linearer Faktor in
der Verformungsfunktion v(z) steht.
Viel wichtiger ist jedoch eine andere Erkenntnis, die sich nur mit der Theorie höherer Ordnung
gewinnen lässt: Der Ausdruck im Nenner des ersten Lösungsanteils wird nicht nur dann Null,
wenn F = 0 ist, sondern zum Beispiel auch für
q
F
EI l = π .
Die Kraft, die sich aus dieser Formel zu
π 2 EI
Fkr =
l2
errechnet, wird kritische Belastung genannt, weil sie auch bei beliebig kleinem a zu theoretisch
unendlich großen Verschiebungen v führt.
ê Durch Versuche kann dieses Ergebnis bestätigt werden: Auch der zentrisch belastete Druck-
stab knickt bei dieser Belastung. Eine „beliebig kleine“ Abweichung vom Schwerpunkt der
Querschnittsfläche ist bei der Lasteinleitung praktisch ohnehin nicht zu vermeiden.
ê Die bei dem Beispiel 1 theoretisch ermittelten „unendlich großen“ Verschiebungen v bei
Belastung mit der kritischen Kraft Fkr lassen sich allerdings durch Versuche nicht bestätigen.
Es ergeben sich vielmehr auch jenseits der kritischen Belastung (im ausgeknickten Zustand)
Gleichgewichtslagen, die auch mit der Theorie 2.Ordnung nicht zu berechnen sind. Diese
geht mit der Verwendung der linearisierten Differenzialgleichung für die Biegelinie 17.3
ja immer noch von kleinen Verformungen aus. Diese Voraussetzung ist im überkritischen
Bereich natürlich nicht mehr erfüllt. Hier müsste mit der nichtlinearen Differenzialgleichung
der Biegelinie 17.2 gerechnet werden (Theorie 3. Ordnung). Die Theorie 2. Ordnung genügt
nur zur Berechnung der (allerdings besonders wichtigen) kritischen Belastung, nicht zur
Verformungsberechnung bei kritischer (oder überkritischer) Belastung.
Der „Umweg“, der im Beispiel 1 demonstriert wurde, über eine Exzentrizität a der Lasteinlei-
tung (und schließlich das Nullsetzen dieser Exzentrizität) zur kritischen Belastung zu kommen,
ist nicht typisch für die Lösung von Stabilitätsproblemen. Vielmehr ist es üblich, nach der Theo-
rie 2. Ordnung die Gleichgewichtsbedingungen an einem System aufzuschreiben, das nach der
Theorie 1. Ordnung momentenfrei wäre. Dies führt auf ein Eigenwertproblem, was aus mathe-
matischer Sicht eine ganz andere Betrachtungsweise darstellt (nachfolgendes Beispiel 2). Beide
Wege führen zum gleichen Ergebnis.
23.2 Stab-Knickung 409
Beispiel 2:
Für den skizzierten Stab ist die kritische
Kraft Fkr zu berechnen.
Gegeben: EI = konstant , l .
Da die Lagerung einfach statisch unbestimmt ist, muss
eine Lagerreaktion im Momentenverlauf verbleiben (ge-
wählt wird dafür FAV ). Am verformten System (Skizze)
erhält man
Mb = FAV z + F v .
Mb wird in die Differenzialgleichung der Biegelinie 2. Ordnung 17.3
EI v00 = −Mb = −FAV z − F v
eingesetzt, die folgendermaßen umgestellt wird:
FAV F
v00 + κ 2 v = − z mit κ2 = .
EI EI
Die allgemeine Lösung dieser Differenzialgleichung
FAV
v = C1 cos κ z +C2 sin κ z −
z
EI κ 2
enthält mit C1 , C2 und FAV drei unbekannte Größen, man kann (wie bei statisch unbestimmten
Biegeproblemen, vgl. Abschnitt 17.5) Randbedingungen in gleicher Anzahl formulieren:
v(z = 0) = 0 ⇒ C1 = 0 ,
FAV l
v(z = l) = 0 ⇒ C1 cos κ l +C2 sin κ l − =0 ,
EI κ 2
FAV
v0 (z = l) = 0 ⇒ −κ C1 sin κ l + κ C2 cos κ l − =0 .
EI κ 2
Hier zeigt sich nun der prinzipielle Unterschied zu den bisher behandelten Biegeproblemen: Es
ist ein lineares homogenes Gleichungssystem2 (auf der rechten Seite steht ein Nullvektor)
1 0 0
C1 0
l
cos κ l sin κ l −
EI κ 2 C2 = 0 (23.1)
1
−κ sin κ l κ cos κ l − FAV 0
EI κ 2
entstanden, für das folgende Aussage gilt:
Ein lineares homogenes Gleichungssystem hat immer die so genannte triviale Lösung (hier:
C1 = C2 = 0, FAV = 0). Es kann auch nichttriviale Lösungen haben, wenn seine Koeffizien-
tendeterminante den Wert Null hat. Die nichttrivialen Lösungen sind dann allerdings nicht
eindeutig.
2 Auf der Internet-Site Mathematik für die Technische Mechanik (www.TM-Mathe.de) findet man eine ausführliche
Darstellung des Themas „Homogene Gleichungssysteme“, siehe den Hinweis auf Seite 73.
410 23 Knickung
Die triviale Lösung ist für die Aufgabe uninteressant, denn sie besagt nur, dass v ≡ 0 (keine
Verschiebung senkrecht zur Stabachse) auch eine mögliche (unter Umständen instabile) Lösung
ist. Es interessiert gerade der Fall nichttrivialer Lösungen für C2 und FAV (C1 = 0 gilt ohnehin
immer), für den v 6= 0 (Knicken!) möglich ist. Eine Besonderheit ist, dass diese Lösungen nicht
eindeutig sind, man kann z. B. (nach der Theorie 2. Ordnung) nicht berechnen, welche Kraft FAV
im ausgeknickten Zustand tatsächlich wirkt, man kommt jedoch zu der (wesentlich wichtigeren)
Aussage, unter welchen Umständen FAV 6= 0 (und damit v = 6 0) überhaupt möglich ist.
In den Koeffizienten der Matrix des homogenen Gleichungssystems steckt noch die äußere Kraft
F (in dem Parameter κ), und es werden nun die Werte dieser Kraft berechnet, für die die Deter-
minante der Matrix den Wert Null hat. Die Bedingung
1 0 0
l
cos κ l sin κ l − = − sin κ l + κ l cos κ l = 0
EI κ 2 EI κ 2 EI κ 2
1
−κ sin κ l κ cos κ l −
EI κ 2
elastischen Bereich) die Knickgefährdung nicht durch die Verwendung hochfester Materia-
lien verringert werden, denn als Materialeigenschaft geht nur der Elastizitätsmodul in die
kritische Kraft ein (und der ist z. B. für alle Stahlsorten annähernd gleich).
Die beiden behandelten Beispiele gehören zu den vier für den Praktiker wichtigsten Lagerungs-
fällen für Knickstäbe, deren Lösung schon L EONHARD E ULER (1707-1783) gefunden hat und
die nach ihm im Allgemeinen kurz bezeichnet werden als die vier
π 2 EI π 2 EI 20, 19 EI 4 π 2 EI
Fkr = Fkr = Fkr = Fkr = (23.2)
4 l2 l2 l2 l2
ê Konstruktionen werden in der Regel nur dann als tragfähig angesehen, wenn die aufgebrach-
te Last kleiner als die kritische Belastung ist. Im Allgemeinen wird sogar die
Fkr
Knicksicherheit SK = (23.3)
Fvorh
größer gewählt als die übrigen Sicherheitsbeiwerte (zum Beispiel: SK = 2 . . . 5).
Beispiel 3:
Die drei Stäbe des skizzierten Systems haben kreis- /2 /2
förmige Querschnitte.
1
Gegeben: F = 5 kN ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 ;
α = 20◦ ; l = 300 mm . 2 3
Die Durchmesser sollen so gewählt werden, dass eine zulässige
Spannung σzul = 200 N/mm2 nicht überschritten wird und außer-
dem eine Sicherheit gegen Knicken von SK = 3 garantiert ist.
Die Stabkräfte ergeben sich aus Gleichgewichtsbedingungen („Rundum-Schnitte“ um die Kno-
ten):
F F
F1 = − , F2 = F3 = .
2 tan α 2 sin α
F2, 3
Die auf Zug beanspruchten Stäbe 2 und 3 können mit der Forderung σ2, 3 = A2, 3 = σzul dimen-
sioniert werden, da bei Zugstäben keine Knickgefahr besteht. Es ergibt sich:
412 23 Knickung
s s
F2 F
d2, 3, er f = 2 =2 = 6, 82 mm .
π σzul 2 π σzul sin α
Für Stab 1 würde eine entsprechende Rechnung d1 = 6, 61 mm ergeben. Die vorgegebene Knick-
sicherheit (Euler-Fall mit beidseitig gelenkiger Lagerung) erfordert dagegen, wie die folgende
Rechnung zeigt, einen größeren Durchmesser des Stabes 1, so dass dieser die Dimensionierung
bestimmt:
π 2 EIer f 4
r
Fkr l2 SK F l 2 π d1, er f 4 2 SK F l 2
SK = = F ⇒ Ier f = = ⇒ d1, er f = 2 = 11, 6 mm .
Fvorh 2 tan α
2 π 2 E tan α 64 π 3 E tan α
Beispiel 4:
Die beiden skizzierten Fachwerke unterscheiden
sich nur durch den zusätzlichen Stab 8, der im unteren Fachwerk
eingezogen ist und den Untergurt in zwei Stäbe 6 und 7 teilt. 1 2
Alle Stäbe sollen den gleichen Querschnitt haben. Die Knicksi- 3 4 5
cherheit der Stäbe beider Fachwerke soll untersucht werden. 6
Gegeben: F , a.
Da der Stab 8 ein Nullstab ist (vgl. Abschnitt 6.4.2, Nullstab- 1 2
Kriterien auf Seite 82), ergeben sich für beide Fachwerke die
gleichen Stabkräfte. Für das Knickproblem sind nur die auf 3 8 4 5
Druck belasteten Stäbe 3, 5 und 6 und 7 mit den Stabkräften 6 7
√
F3 = F5 = − 2 F , F6 = F7 = −2 F
von Bedeutung (zur Berechnung von Fachwerken vgl. Abschnitt 6.4). Für die Stäbe 3 und 5
ergibt sich die Knicksicherheit nach 23.3 in Verbindung mit der zweiten Formel von 23.2:
√ 2
π 2 EI 2 π EI
SK, 3 = SK, 5 = √ √ = .
2
( 2 a) 2 F 4 F a2
Für den Stab 6 im oberen Fachwerk ergibt sich die geringste Knicksicherheit
π 2 EI 1 π 2 EI
SK, 6 = 2
= ,
(2 a) 2 F 8 F a2
im unteren Fachwerk dagegen hat der Stab 6 im Vergleich dazu die vierfache Knicksicherheit:
π 2 EI 1 π 2 EI
SK, 6 = SK, 7 = = ,
a2 2 F 2 F a2
die sogar noch größer ist als die Knicksicherheit der Stäbe 3 und 5.
Mit Nullstäben, die keine Kraft aufnehmen und deshalb extrem materialsparend konstruiert
werden dürfen, kann die Knicksicherheit in Fachwerken erheblich erhöht (und in der Regel
problemlos in den zulässigen Bereich gebracht) werden.
23.2 Stab-Knickung 413
ê Für die Fachwerkstäbe in den Beispielen 3 und 4 wurde (entsprechend der üblichen Idea-
lisierung des Fachwerks) der Euler-Fall mit beidseitig gelenkiger Lagerung verwendet. Da
Fachwerkknoten in der Regel durch Knotenbleche realisiert werden, liegt man damit auf der
sicheren Seite.
ê Wenn der Knickstab in eine beliebige Ebene ausweichen kann, ist stets das kleinste Flächen-
trägheitsmoment (Hauptträgheitsmoment I2 , vgl. Abschnitt 16.2.5) in die Formeln einzuset-
zen. Es gibt jedoch auch Lagerungen, bei denen für verschiedene Ebenen unterschiedliche
Euler-Fälle gelten. So darf zum Beispiel für ein Pleuel, für das in der Knickebene senk-
recht zu Kolbenbolzen und Kurbelwelle die beidseitig gelenkige Lagerung zutrifft, in der
anderen Ebene bei relativ breitem Lager auf der Kurbelwelle die günstigere Einspannung
angenommen werden, so dass ein kleineres Flächenträgheitsmoment erforderlich ist (Pleu-
elquerschnitt elliptisch oder als -Profil).
ê In Formelsammlungen findet man die Euler-Fälle häufig durch eine einzige Formel
π 2 EI
Fkr = 2 (23.4)
lred
mit der reduzierten Knicklänge lred repräsentiert. Diese hat, wie man sich durch einen Ver-
gleich mit 23.2 überzeugt, für die vier Euler-Fälle die Werte 2 l, l, 0, 7 l und 2l .
ê Alle bisherigen Untersuchungen setzten voraus, dass die Knicklast erreicht wird, bevor der
Druckstab den linear-elastischen Bereich verlässt. Um dies gleich mit zu überprüfen, ersetzt
der Praktiker gern die Berechnung der kritischen Kraft durch die Ermittlung der kritischen
Spannung (Spannung, die beim Erreichen der kritischen Kraft im Stab wirkt)
Fkr π 2 EI π2 E
σkr = = 2 = 2 (23.5)
A lred A λ r
lred I
mit dem Schlankheitsgrad λ = und dem Trägheitsradius i = .
i A
Die kritische Spannung darf für die Gültigkeit der Euler-Formeln nicht oberhalb der Propor-
tionalitätsgrenze |σP | des Materials liegen (vgl. Abschnitt 12.3), wobei der Wert im Druck-
bereich des Spannungs-Dehnungs-Diagramms verwendet werden muss. Wenn in der Formel
für die kritische Spannung 23.5 diese durch die Proportionalitätsgrenze ersetzt wird, kann
man den nur noch von Materialwerten abhängigen Grenzschlankheitsgrad
s
E
λ0 = π (23.6)
|σP |
berechnen, der die Gültigkeit der Euler-Formeln begrenzt. Beispiel: Für den Stahl S235JR
(St37) mit σP = 190 N/mm2 und E = 2, 1 · 105 N/mm2 errechnet man λ0 = 104. Für gedrun-
genere Stäbe mit kleinerem Schlankheitsgrad gelten die Euler-Formeln nicht. Gegebenen-
falls kann mit einem der Verfahren für den nicht-elastischen Bereich gerechnet werden, die
hier nicht behandelt werden.
ê Der Ingenieur in der Praxis muss sich gerade bei Stabilitätsuntersuchungen vielfach an bran-
chentypische Vorschriften halten. Die Berechnungen (auch die dafür zuständigen Normen)
basieren allerdings auf den hier behandelten Grundlagen.
414 23 Knickung
Der Winkel α ist der Biegewinkel der Verformungslinie, für den wegen der Kleinheit der Verfor-
mungen dv
tan α = ≈ sin α , cos α ≈ 1
dz
gesetzt werden darf. Aus dem Kräfte-Gleichgewicht in horizontaler Richtung
∆FNH + ∆FQH = ∆(FN sin α) + ∆(FQ cos α) = 0
folgt nach Division durch ∆z und dem Grenzübergang ∆z → 0 :
∆(. . .) d(. . .) d dv dFQ
lim = ⇒ FN + =0 .
∆z→0 ∆z dz dz dz dz
Werden in diese Gleichung die Beziehungen für FQ und Mb (23.8 und 23.7) eingesetzt, ergibt
sich die unten angegebene Differenzialgleichung 23.10.
In das Kräfte-Gleichgewicht am Element in vertikaler Richtung geht ein Anteil aus der Linienlast
in Längsrichtung qz ein:
qz ∆z + ∆FNV − ∆FQV = qz ∆z + ∆(FN cos α) − ∆(FQ sin α) = 0 .
Hier liefert der Grenzübergang (wie oben nach Division durch ∆z unter Ausnutzung der Verein-
fachungen für kleine Verschiebungen):
d dv
FN − FQ = −qz .
dz dz
Dies ist eine nichtlineare Beziehung (die in FQ enthaltenen Verschiebungsableitungen werden
mit der ersten Ableitung der Verschiebung multipliziert), die aber linearisiert werden darf, weil
das Produkt aus der Querkraft und der (sehr kleinen) Verschiebungsableitung im Vergleich mit
der Normalkraft vernachlässigbar ist, und man erhält:
dFN
= −qz . (23.9)
dz
Mit dieser Beziehung könnte die Normalkraft berechnet werden, die dann in die Differenzial-
gleichung 23.10 einzusetzen ist. Andererseits sagt die Formel 23.9 aus, dass die Normalkraft FN
am unverformten Stab berechnet werden darf (und bei qz ≡ 0 konstant ist), so dass sicher diese
einfachere Variante vorzuziehen ist.
Die in 23.10 eingehende Normalkraft FN (z) darf am unverformten Stab ermittelt werden.
Für den Spezialfall des Knickstabs mit konstanter Biegesteifigkeit und konstanter Normalkraft
vereinfacht sich 23.10 zu
FN 00
v0000 − v =0 . (23.11)
EI
Die Knickprobleme werden sowohl mit 23.10 als auch mit 23.11 durch gewöhnliche lineare
homogene Differenzialgleichungen 4. Ordnung beschrieben.
416 23 Knickung
Die analytische Lösung von Knickproblemen gelingt nur für relativ wenige Spezialfälle (und
auch dann erzwingt die Eigenwertgleichung häufig eine numerische Behandlung, vgl. Beispiel
2 im Abschnitt 23.2). Für die numerische Lösung von Stabilitätsproblemen der Elastostatik sind
das Differenzenverfahren und die Methode der finiten Elemente vorzüglich geeignet.
Die Methode der finiten Elemente erfordert einige theoretische Voraussetzungen, die an dieser
Stelle noch nicht behandelt worden sind (im Kapitel 33 werden dafür die Grundlagen vermittelt).
Deshalb soll hier nur die Lösung der Differenzialgleichung 23.10 mit Hilfe des Differenzenver-
fahrens an einem Beispiel demonstriert werden.
Der erste Term in 23.10 ist identisch mit der linken Seite der Differenzialgleichung der Biegeli-
nie 4. Ordnung des Biegeproblems, wofür im Abschnitt 18.1.3 bereits die Differenzenformel 18.7
angegeben wurde, so dass nur noch die Umwandlung des zweiten Ausdrucks (FN v0 )0 behandelt
werden muss. Da man davon ausgehen kann, dass die Normalkraft nicht numerisch nach 23.9
berechnet werden muss, sondern für jeden Punkt des (unverformten) Knickstabs angegeben wer-
den kann, empfiehlt sich für die Approximation der ersten Ableitungen eine leichte Modifikation
der als 18.1 angegebenen Differenzenformel:
Es werden jeweils Nachbarpunkte im Abstand der 1
+ 12
2
halben Schrittweite links und rechts vom betrach-
teten Punkt einbezogen, so dass die erste Formel in 2 1 +1 +2
18.1 zu
1
y0i ≈ −yi− 1 + yi+ 1 Abbildung 23.6: h für Zwischenpunkte
h 2 2
wird. Bei der erforderlichen zweifachen Anwendung dieser Formel liegen die v-Werte dann doch
wieder auf dem gewählten Raster mit dem h-Abstand, während die FN -Werte für die Zwischen-
punkte „i − 21 “ und „i + 12 “ eingehen (Abbildung 23.6). In zwei Schritten entsteht der Ausdruck,
der den zweiten Term in 23.10 annähert:
1h i 1 1 1
0 0 0 0
[FN v ] ≈ −(FN v )i− 1 + (FN v )i+ 1 ≈ −FN, i− 1 (−vi−1 + vi ) + FN, i+ 1 (−vi + vi+1 ) .
h 2 2 h 2 h 2 h
Damit und mit dem Ausdruck, der aus Formel 18.7 übernommen wird, kommt man zur
Für den wichtigen Spezialfall konstanter Biegesteifigkeit und konstanter Normalkraft vereinfacht
sich 23.12 zur
23.4 Numerische Lösung von Knickproblemen 417
Für die Anwendung werden die für die Verformungsberechnung gegebenen Empfehlungen (Seite
319) wie folgt modifiziert:
ê Ein Knickstab der Länge l wird in nA äquidistante Abschnitte unterteilt (h = nlA ). Dabei
entstehen nA + 1 Stützstellen 0 . . . nA (Achtung, die hier empfohlene Nummerierung ist an-
ders als bei der Verformungsberechnung). Die in die Differenzengleichungen eingehenden
Außenpunkte erhalten die Nummern −2, −1, nA + 1, nA + 2.
ê Die für die Verformungsberechnung benötigten Vektoren qi und ki entfallen. Der Vektor mi
(für die µi -Werte) wird so verwendet, wie es im Punkt Ä auf Seite 319 empfohlen wird.
ê Da das entstehende Gleichungssystem im Gegensatz zur Verformungsberechnung homogen
wird, sollten die Gleichungen als Matrizeneigenwertproblem (vgl. nachfolgendes Beispiel)
formuliert werden.
ê Im Gegensatz zur Verformungsberechnung wird für das Knickproblem nicht empfohlen, die
Randbedingungen zu den übrigen Differenzengleichungen hinzuzufügen. Vielmehr ist es
sinnvoll, die Randbedingungs-Gleichungen zu nutzen, um die Außenpunkte zu eliminieren,
weil dann das Eigenwertproblem mit symmetrischen Matrizen formuliert werden kann, was
für dessen numerische Auswertung von erheblichem Vorteil ist.
ê Wenn ein Randpunkt in einem starren Lager gelagert ist (Loslager, Festlager, Einspannung),
sollte für diesen Punkt keine Differenzengleichung formuliert werden (seine Verschiebung
ist ohnehin bekannt). Es geht dann nur ein Außenpunkt in die Rechnung ein, der mit Hilfe
der anderen Randbedingung zu eliminieren ist.
Beispiel:
Der skizzierte Stab mit konstantem Querschnitt ist nur durch
sein Eigengewicht belastet. Es soll ermittelt werden, bei welcher kriti-
schen Länge er allein durch die Eigengewichts-Belastung knickt.
Gegeben: EI , Dichte ρ , Querschnittsfläche A .
Das Eigengewicht des Stabs bewirkt eine linear veränderliche Normal-
kraft (muss mit der über der Schnittstelle bei z liegenden Gewichtskraft
im Gleichgewicht sein):
FN = −ρ g A z .
Da die Biegesteifigkeit aber konstant ist, kann die Differenzengleichung Abbildung 23.7: Stab,
23.12 wenigstens teilweise vereinfacht werden, so dass mit folgender belastet durch sein Ei-
Gleichung gearbeitet wird: gengewicht
Die Randbedingungen werden gleich so umgeformt, dass für die verbleibenden Außenpunkte die
Verschiebungen durch Verschiebungen von Innenpunkten ersetzt werden können:
v0 = 0 ⇒ v0 = 0 ,
EI
M0 = 0 ⇒ − 2 (v−1 − 2 v0 + v1 ) = 0 ⇒ v−1 = −v1 ,
h
vnA = 0 ⇒ vnA = 0 ,
EI
MnA = 0 ⇒ − 2 (vnA −1 − 2 vnA + vnA +1 ) = 0 ⇒ vnA +1 = −vnA −1 .
h
Es wird zunächst die sehr grobe Einteilung nA = 4 gewählt, so dass die Differenzengleichungen
nur für die Punkte 1, 2 und 3 aufgeschrieben werden müssen:
ρ g A h3 2 ρ g A h3 3 ρ g A h3
v−1 − 4 − v0 + 6 − v1 − 4 − v2 + v3 = 0 ,
2 EI EI 2 EI
3 ρ g A h3 4 ρ g A h3 5 ρ g A h3
v0 − 4 − v1 + 6 − v2 − 4 − v3 + v4 = 0 ,
2 EI EI 2 EI
5 ρ g A h3 6 ρ g A h3 7 ρ g A h3
v1 − 4 − v2 + 6 − v3 − 4 − v4 + v5 = 0 .
2 EI EI 2 EI
Die Verschiebungen der beiden Randpunkte v0 und v4 und der beiden Außenpunkte v−1 und v5
werden mit Hilfe der Randbedingungen eliminiert. Es wird die Abkürzung
ρ g A h3 ρ g A l3 ρ g A l3
κ= = 3 =
EI nA EI 64 EI
eingeführt, und es verbleiben drei Gleichungen für die drei Verschiebungen v1 , v2 und v3 :
5−2κ −4 + 1, 5 κ 1 v1 0
−4 + 1, 5 κ 6−4κ −4 + 2, 5 κ v2 = 0 . (23.14)
1 −4 + 2, 5 κ 5−6κ v3 0
Es ist wie bei der analytischen Lösung des Beispiels 2 (Seite 409) wieder ein homogenes li-
neares Gleichungssystem entstanden, das prinzipiell nach der gleichen Strategie gelöst werden
23.4 Numerische Lösung von Knickproblemen 419
nA = 4 nA = 8 nA = 100 Exakt
q q q q
lkr 2, 599 3 ρEI
gA 2, 635 3 ρEI
gA 2, 648 3 ρEI
gA 2, 648 3 ρEI
gA
Dieses Beispiel wurde auch deshalb gewählt, weil es einer analytischen Lösung (gerade noch)
zugänglich ist (unter anderem unter Verwendung Besselscher Funktionen für die Lösung der
Differenzialgleichung). Der Vergleich mit der exakten Lösung zeigt, dass selbst das Ergebnis
für nA = 4 praktischen Anforderungen genügt (aber es gibt natürlich keinen Grund, mit dem
Computer „vorsichtshalber“ nicht auch noch feiner zu unterteilen).
23.5 Aufgaben
Aufgabe 23.1:
Ein Wandkran a und ein Brückenkran b sind durch die Kraft F belastet (Ge-
samtgewicht der Laufkatze mit angehängter Last), deren Stellung jeweils im Bereich 2 a verän-
derlich ist. Der Stützstab ist für die ungünstigste Laststellung bei vorgegebener Knicksicherheit
SK zu dimensionieren. Zu bestimmen ist sein Außendurchmesser Da , wenn ein Rohr mit dem
Durchmesserverhältnis DDai = 1, 2 verwendet wird.
Gegeben:
F = 20 kN ;
a = 2m ;
l = 6m ;
h = 5m ;
SK = 3 ;
E = 2, 1 · 105 N/mm2 . /2 /2
Aufgabe 23.2:
Ein Knickstab ist entsprechend der
Abbildung gelagert. Die scharnierartigen Lager kön-
nen keine Momente um die x-Achse aufnehmen, wir-
ken jedoch in der x-z-Ebene wie Einspannungen. Das
linke Lager ist unverschieblich, das rechte Lager ist in
z-Richtung verschieblich.
Gegeben: F , l, E, a, R.
Es sollen die beiden skizzierten Querschnittsvarianten
untersucht werden. Gesucht ist jeweils die Abmessung
b, so dass sich für beide Ebenen die gleiche Knicksi-
cherheit ergibt. 3
Aufgabe 23.3:
Ein Stab mit Kreisquer-
schnitt, dessen Durchmesser linear veränder-
2
Man ermittle a) die kritische Last Fkr mit dem Differenzenverfahren bei einer Einteilung der
Länge l in nA = 4 Abschnitte,
b) die Matrizen A und B des allgemeinen Matrizeneigenwertproblems
(A − κ B) x = o für die Einteilung der Länge l in nA = 8 Abschnitte.
Definition:
Mechanische Arbeit ist das Produkt des Weges, den der Angriffspunkt einer Kraft F zurück-
legt, und der in Wegrichtung wirkenden Komponente dieser Kraft FS . Weil die Kraft entlang
des Weges s veränderlich sein kann, gilt für die Arbeit W folgende Formel:
Z
W= FS ds . (24.1)
s
Die geleistete Arbeit wird im Inneren des Bauteils als Energie („Arbeitsvermögen“) gespeichert,
die wiederum dafür sorgt, dass ein elastisches Bauteil nach Entlastung wieder seine ursprüngliche
Form annimmt (Abbildung 24.1).
24.1 Arbeitssatz
Betrachtet wird zunächst der in Abbildung 24.2 skizzierte Zugstab, an dem eine Kraft F vom
Anfangswert Null auf ihren Endwert F0 anwächst, entsprechend wächst die Verschiebung w des
Kraftangriffspunktes bis zu ihrem Endwert w0 .
0
Während des gesamten Vorgangs gilt immer (Formel 14.6 im
Abschnitt 14.1)
Fl EA 0
w= ⇒ F= w ,
EA l
bis der Endzustand
F0 l
w0 = Abbildung 24.2: Äußere und
EA
innere Kräfte am Zugstab
erreicht ist. Dabei leistet die äußere Kraft die Arbeit
Zw0 Zw0
EA 1 EA 2 1 F02 l 1
Wa = F dw = w dw = w = = F0 w0 , (24.2)
l 2 l 0 2 EA 2
w=0 w=0
die im Kraft-Verformungs-Diagramm (Abbildung 24.4) als Fläche unter der linearen Funktion
F(w) veranschaulicht werden kann. Eine entsprechende Formel (mit dem typischen Faktor 12 )
ergibt sich immer dann, wenn ein linearer Zusammenhang zwischen einer Belastungsgröße und
der durch sie an ihrem Angriffspunkt hervorgerufenen Verformung besteht.
Es wird nun für den Zugstab der Abbildung 24.2 die Arbeit der inneren Kräfte (Normalkraft
FN ) berechnet. Das herausgeschnittene differenziell kleine Element mit der Länge dz verlängert
sich nach 14.4 um ε dz, und weil die Normalkraft natürlich auch „von Null auf ihren Endwert“
anwächst, leistet sie am Element die Arbeit 12 FN ε dz (die Gesamtverschiebung wurde in der
Abbildung 24.2 willkürlich an einem Schnittufer des Elements angetragen, so dass nur eine
Kraft FN Arbeit leistet, bei einer Aufteilung auf beide Schnittufer ändert sich insgesamt nichts).
Die gesamte Arbeit der Normalkraft im Stab ergibt sich nach Integration über die Länge l, und
FN
mit FN = F0 für das betrachtete Beispiel und ε = EA nach 14.3 erhält man:
Zl Zl
1 1 F02 1 F02 l
Wi = FN ε dz = dz = . (24.4)
2 2 EA 2 EA
z=0 z=0
Dies ist exakt der Wert, der sich bereits für die Arbeit der äußeren Kraft (Formel 24.2) ergeben
hat: Die Arbeit, die die innere Kraft FN bei der Verformung leistet (Formänderungsarbeit) wird
als Formänderungsenergie im verformten System gespeichert, und die an dem einfachen Beispiel
gewonnene Erkenntnis gilt allgemein als
Arbeitssatz:
Die an einem elastischen System von den äußeren Belastungen geleistete Arbeit Wa wird als
Formänderungsenergie Wi im verformten System gespeichert, und es gilt:
Wi = Wa . (24.5)
Für die Berechnung der Arbeit Wa , die die äußeren Belastungen leisten, können die am Beispiel
des Zugstabs gewonnenen Erkenntnisse verallgemeinert werden: Bei linear-elastischem Material
(und kleinen Verformungen, so dass der Zusammenhang zwischen Belastung und Verformung
auch linear ist) gilt immer Wa = 21 · „Endwert der Belastung“ · „Endwert der Verformung“. Ist
die äußere Belastung ein Moment, wird als Verformungsgröße ein Winkel eingesetzt.
0
Äußere Arbeit infolge einer Kraft bzw. eines 0
0
Moments:
0
1 1
Wa, F = F0 v0 , Wa, M = M0 ϕ0 . (24.6)
2 2
24.2 Formänderungsenergie für Grundbeanspruchungen 423
1 1
dWi, σ = σ dA ε dz = σ ε dV
2 2
liefert (es wurde das Volumen des Elements dV = dA · dz eingesetzt). Nach Division durch dV
entsteht die (auf das Volumen bezogene) spezifische Formänderungsenergie infolge einer Nor-
malspannung
dWi, σ 1 1 1 σ2
Wi,∗σ = = σ ε = E ε2 = , (24.7)
dV 2 2 2 E
wobei die beiden Umformungen durch Einsetzen des Hookeschen Gesetzes 12.3 entstanden.
Auf entsprechendem Wege kommt man zur spezifischen Formänderungsenergie infolge einer
Schubspannung
dWi, τ 1 1 1 τ2
Wi,∗τ = = τ γ = G γ2 = . (24.8)
dV 2 2 2 G
Wenn die zu einer bestimmten Schnittgröße gehörende Spannungsverteilung in 24.7 bzw. 24.8
eingesetzt wird, erhält man nach Integration über das Volumen die gesuchte Formel für die For-
mänderungsenergie. Für einen ausschließlich durch eine Normalkraft FN beanspruchten Stab ist
z. B. die Spannungsverteilung entsprechend 14.2 über den Querschnitt konstant, so dass man
mit σ = FAN und dV = A dz zur Formel für die Formänderungsenergie für den Zug/Druck-Stab
kommt:
1 σ2 1 FN2 1 FN2
Z Z Z Z
Wi = Wi,∗σ dV = dV = 2
A dz = dz . (24.9)
2 E 2 EA 2 EA
V V l l
Für den ausschließlich durch ein Biegemoment Mb beanspruchten Träger wird die Rechnung
etwas komplizierter, weil mit der Biegespannungsverteilung σb = M b
Ixx y nach 16.3 eine Verän-
derlichkeit mit y über die Querschnittshöhe zu berücksichtigen ist, so dass das Volumenelement
dV = dA · dz verwendet werden muss (dA ist ein Flächenelement im Abstand y von der Schwer-
punktfaser). Es ergibt sich
1 Mb2 2 1 Mb2 dz = 1 Mb2
Z Z Z Z
2
Wi = 2
y dA dz = 2
y dA dz , (24.10)
2 EIxx 2 EIxx 2 EIxx
V l A l
424 24 Formänderungsenergie
worin berücksichtigt wurde, dass unter dem Integral noch einmal das Flächenträgheitsmoment
Ixx entsprechend 16.4 entstand.
Für die Beanspruchungsarten Torsion und Querkraftschub kommt man durch Einsetzen der Span-
nungsbeziehungen in die spezifische Formänderungsarbeit und Auswerten der Integrale zu den
Formeln, die nachfolgend zusammengestellt wurden. Es sind auch die für verschiedene Anwen-
dungen wichtigen Abhängigkeiten von den Verformungen angegeben, die entstehen, wenn die
Schnittgrößen durch die entsprechenden Differenzialbeziehungen 14.3 (Normalkraft), 17.3 (Bie-
gemoment), 21.11 (Torsionsmoment) und 20.5 (Querkraft) ersetzt werden:
Man beachte den ähnlichen Aufbau, den alle sieben Formeln haben. Bei gleichzeitiger Beanspru-
chung eines Bauteils durch mehrere Grundbeanspruchungsarten dürfen die Anteile aus 24.11 bis
24.17 addiert werden. Entsprechendes gilt für komplexe Bauteile: Die in den Arbeitssatz 24.5
eingehende Formänderungsenergie Wi bezieht sich immer auf das gesamte elastische System,
darf aber bereichsweise formuliert und dann addiert werden.
24.3 Satz von M AXWELL und B ETTI 425
1 2
1 2 1 2
11 21 12 22
Abbildung 24.6: Jede Kraft trägt zu jeder Verformung einen ganz bestimmten Anteil bei
Abbildung 24.8: Maxwell-Betti für Fachwerke (u2y im linken Fachwerk = u3y im rechten Fachwerk, be-
rechnet mit dem Programm „Statisch unbestimmte ebene Fachwerke (FEM)“ unter www.TM-interaktiv.de)
24.4 Verfahren auf der Basis der Formänderungsenergie 427
Neben der Lösung der Differenzialgleichungen (Randwertprobleme), die die Verformungen elas-
tischer Systeme beschreiben (Kapitel 14 bis 21), bieten sich als Alternative zahlreiche Verfahren
auf der Basis der Formänderungsenergie an, die in der Mehrzahl der Fälle (insbesondere bei
praxisrelevanten Problemen) effektiver, häufig sogar die einzig praktikablen Verfahren sind. Die
wichtigsten Verfahren werden hier kurz vorgestellt (und bewertet), einigen werden noch spezielle
Abschnitte in diesem Buch gewidmet.
Die Verfahren sind für alle Belastungsarten (wie sie z. B. auf der Seite 424 zusammengestellt
sind) anwendbar. Hier werden zunächst ausschließlich die Verformungen infolge von Biegemo-
menten betrachtet.
Arbeitssatz
Der Arbeitssatz 24.5 in der schlichten Formulierung Wi = Wa eignet sich zur Berechnung von
Verformungen am Angriffspunkt einer äußeren Last. Die Formänderungsenergie Wi kann (mit
gegebenenfalls mehreren Summanden) nach den Formeln 24.11 bis 24.17 aufgeschrieben werden
(hier soll nur 24.12 berücksichtigt werden), für die Arbeit der äußeren Last gilt 24.6.
Beispiel 1:
Für den skizzierten Träger soll die Absenkung vF des Kraftan-
griffspunktes berechnet werden.
Gegeben: EI = konstant , F , a .
Die Skizze unten zeigt die Lagerreaktionen und die Koordinaten, auf die sich 2
die Biegemomentenverläufe beziehen:
F F
Mb1 = −F z1 , Mb2 = z2 , Mb3 = − z3 .
3 3
Damit kann der Arbeitssatz formuliert werden (auf der linken Seite steht die
Arbeit der Kraft F entlang des Weges vF , auf der rechten Seite die Summe
der Formänderungsenergien der drei Trägerabschnitte): 3
Za Z2 a Za 3
1 1 (−F z1 )2 1 ( F3 z2 )2 1 (− F3 z3 )2
F vF = dz1 + dz2 + dz3 .
2 2 EI 2 EI 2 EI 1
z1 =0 z2 =0 z3 =0
Die Integrale sind problemlos zu berechnen, Umstellen nach der gesuchten
Verschiebung liefert: 3 2
2 F a3
vF = .
3 EI
ê Eine Verformung ergibt sich positiv, wenn sie den gleichen Richtungssinn wie die äußere
Belastungsgröße hat. Dies gilt für eine Verschiebung, die am Angriffspunkt einer äußeren
Kraft berechnet wird, ebenso wie für eine Verdrehung, die am Angriffspunkt eines äußeren
Moments berechnet wird (diese Aussage gilt auch für die beiden folgenden Verfahren).
Der Arbeitssatz in der Fassung 24.5 ist für die Mechanik von grundsätzlicher Bedeutung:
Die von der äußeren Belastung bei der Verformung geleistete Arbeit bleibt als Energie im
verformten System erhalten. Diese Aussage entspricht dem Energiesatz in der Kinetik (Ab-
schnitte 28.4.2 und 29.5.3).
Für die Berechnung von Verformungen, wie es im Beispiel 1 demonstriert wurde, ist der
Arbeitssatz in der Fassung 24.5 aus zwei Gründen nur bedingt (bzw. nicht) brauchbar:
• Mehrere äußere Belastungen können zwar berücksichtigt werden, weil diese aber mehre-
re unterschiedliche (unbekannte) Verformungen erzeugen, können diese nicht berechnet
werden.
• Verformungen an Punkten, an denen keine Einzellast eingeleitet wird, können nicht be-
rechnet werden.
Beide Mängel werden geheilt durch die beiden nachfolgend beschriebenen Verfahren, die
unmittelbar auf dem Arbeitssatz basieren.
Dabei wurde berücksichtigt, dass nur Mb2 von F abhängig und bei der Ableitung die „Ketten-
regel“ zu beachten ist. Die Lösung des Integrals nach 24.24 ist im Allgemeinen deutlich we-
niger aufwendig als die Integration über das Quadrat der Schnittgröße. Die mit l symbolisch
angedeuteten Integrationsgrenzen sind großzügig zu interpretieren als „über alle Trägerbe-
reiche, die gegebenenfalls auch einen Rahmen oder ein verzweigtes System bilden können“.
Das ist in der Regel nur bereichsweise möglich.
Beispiel 2:
Für den skizzierten Träger sollen die Ab-
senkung vF des Kraftangriffspunktes und die Horizon- 2 3
talverschiebung vC des Punkte C berechnet werden. 3 3
Gegeben: EI = konstant , F , a .
Weil am Punkt C keine Kraft wirkt, nach der partiell 1
Die Hilfskraft FH hat damit ihre Schuldigkeit getan, sie kann für die Berechnung der Verschie-
bungen Null gesetzt werden. Die konstante Biegesteifigkeit EI wird vor die Integrale gezogen:
Za Z2 a Za
1 F z2 F z
3 2 F a3
vF = −F z1 · (−z1 ) dz1 + z2 dz2 + − z3 · − dz3 = ,
EI 3 3 3 3 3 EI
z1 =0 z2 =0 z3 =0
Z2 a Za
1 F z2 F 2 z3 2 F a3
vC = z2 dz2 + − z3 dz3 = .
EI 3 3 3 3 9 EI
z2 =0 z3 =0
ê Dass bei dieser Aufgabe in Anlehnung an die Definitionen der Schnittgrößen in der Statik
zum Teil mit negativen Biegemomenten gerechnet wurde, ist nicht erforderlich, im Gegen-
teil: Weil Mb (wie auch die anderen Schnittgrößen) in der Formel für die Formänderungs-
energie quadriert wird (bzw. mit der eigenen partiellen Ableitung multipliziert wird), sind
für die Wahl der Koordinaten und der positiven Richtungen alle Freiheiten gegeben.
die zweiten Summanden, so dass sich diese vier Anteile aus der Beziehung herausheben, und es
verbleibt:
MbÀ MbÁ
Z
v12 F1 = dz .
EI
l
Ein kleiner Trick führt zu einer weiteren Vereinfachung und einer wichtigen Aussage: Die Kraft
F1 wird durch eine Einheitslast „1“ (dimensionslos) ersetzt, so dass auf der linken Seite nur
v12 verbleibt. Dann muss auch MbÀ durch das Biegemoment ersetzt werden, das durch diese
Einheitslast erzeugt wird. Dieses wird mit M b bezeichnet:
M b MbÁ
Z
v12 = dz .
EI
l
Die Verschiebung v12 ist die „Verschiebung des Punktes 1 infolge einer Kraft am Punkt 2“, also
die Verschiebung an der Stelle der Einheitslast infolge der übrigen Belastung. Es ist klar, dass
diese Aussage auch gilt, wenn die „übrige“ Belastung nicht nur aus dieser einen Kraft bestehen
würde. Deshalb wird auf der linken Seite nur v1 geschrieben, wenn auf der rechten Seite MbÁ
durch das Biegemoment Mb infolge aller Lasten (außer der Einheitslast) ersetzt wird:
Beispiel 3:
Für den skizzierten Trä-
ger sollen die Absenkung vF des
Kraftangriffspunktes und die Horizon- 3 2 3
talverschiebung vC des Punktes C be- 3 3
rechnet werden (Aufgabe ist identisch
mit Beispiel 2). 1
1 1
Gegeben: EI = konstant , F , a .
2
Die mittlere Skizze zeigt die Lagerre-
aktionen und die Koordinaten, auf die 1
3 2 2
3
sich die Biegemomentenverläufe für
das Originalsystem beziehen:
F F
Mb1 = −F z1 , Mb2 = z2 , Mb3 = − z3 .
3 3
Die für die Verschiebung des Kraftangriffspunktes erforderlichen M b -Verläufe infolge einer Ein-
heitslast an dieser Stelle sehen genauso aus (allerdings eine 1 anstelle F). Die M b -Verläufe für
die Berechnung der Verschiebung des Punktes C ergeben sich aus der rechten Skizze:
1 2
M b1 = 0 , M b2 = z2 , M b3 = z3 .
3 3
Damit können die gesuchten Verschiebungen nach 24.26 aufgeschrieben werden. Die konstante
Biegesteifigkeit EI wird vor die Integrale gezogen:
Za Z2 a Za
1 F z2 F z
3 2 F a3
vF = −F z1 · (−z1 ) dz1 + z2 dz2 + − z3 · − dz3 = ,
EI 3 3 3 3 3 EI
z1 =0 z2 =0 z3 =0
Z2 a Za
1 F z2 F 2 z3 2 F a3
vC = z2 dz2 + − z3 dz3 = .
EI 3 3 3 3 9 EI
z2 =0 z3 =0
ê Man erhält (selbstverständlich) die gleichen Ergebnisse wie bei der Berechnung nach dem
Satz von Castigliano. Aber auch die Integrale, die zu den Ergebnissen führen, sind identisch.
Auch wenn sich die beiden Strategien in der Begründung deutlich unterschieden, sieht man
doch die enge Verwandtschaft der beiden Verfahren, die sich schon in den Formeln 24.24 und
24.26 zeigte: Die partielle Ableitung des Biegemoments nach einer Belastungsgröße, die in
den Schnittgrößen immer nur als linearer Faktor auftaucht, macht diese zur „Einheitslast 1“,
mit der das Biegemoment M b erzeugt wird.
ê Der Hinweis für die Anwendung des Arbeitssatzes und des Satzes von Castigliano, dass die
Wahl der Koordinaten und die damit verbundene Festlegung positiver Schnittgrößen bedeu-
tungslos ist, weil letztere in den Formeln der Formänderungsenergie quadratisch auftreten,
gilt mit einer kleinen Einschränkung auch für das Arbeiten mit Einheitslasten: Die Festle-
gung kann für jeden Integrationsbereich beliebig erfolgen, muss jedoch für das Aufschreiben
der Schnittgrößen für die Originalbelastung und der Schnittgrößen für die Einheitslast gleich
sein.
24.4 Verfahren auf der Basis der Formänderungsenergie 433
Die beiden sich aus dem Arbeitssatz ableitenden Strategien zur Berechnung von Verformun-
gen (Satz von Castigliano und das Arbeiten mit Einheitslasten) sind nicht nur verwandt,
sondern beinahe identisch. Persönliche Präferenzen mögen entscheiden, ob man lieber die
Schnittgrößen einmal berechnet und dann formal partielle Ableitungen bildet oder ob man
zwei Schnittgrößenverläufe (aus Originalbelastung und aus Einheitsbelastung) ermittelt. Die
Verfahren können deshalb einheitlich bewertet werden:
• Die Verfahren sind für die Berechnung von Verformungen an einzelnen speziellen Punk-
ten außerordentlich effizient. Der Anwender kann frei entscheiden, welche Einflüsse be-
rücksichtigt werden sollen (z. B.: Biegung mit oder ohne Erfassung der Querkraftanteile
oder speziell bei Rahmen Berücksichtigung oder Vernachlässigung der Normalkraft).
• Der (vermeintliche) Nachteil (z. B. im Vergleich mit der Verformungsberechnung mittels
Differenzialgleichung der Biegelinie), dass man die Verformung nur an speziellen Punk-
ten erhält, ist (wegen der damit verbundenen Beschränkung des Aufwands) häufig als
Vorteil zu sehen, wenn (wie für die Behandlung statisch unbestimmter Probleme) ohne-
hin nur diese Ergebnisse gefragt sind.
• Die für die Berechnung zu lösenden bestimmten Integrale enthalten (bei zumindest stück-
weise konstanter Biegesteifigkeit) nur Funktionen, die problemlos sogar per „Handrech-
nung“ zu behandeln sind.
• Die Universalität der Anwendbarkeit drückt sich besonders in der eleganten Formulierung
des Satzes von Castigliano 24.23 aus. Diese Formeln gelten auch für linear-elastische
Bauteile, die hier nicht behandelt werden (Platten, Schalen, . . .). Aber natürlich ist auch
eine Erweiterung von 24.27 möglich.
Aus den genannten Gründen wurden in der Vergangenheit die etwas aufwendigeren struktur-
mechanischen Probleme (Fachwerke, statisch unbestimmte Durchlaufträger, biegesteife Rah-
men, Bauteile mit gemischter Belastung, . . .) vornehmlich mit diesen Verfahren gelöst. Das
ist (zumindest in der technischen Praxis) vorbei. Wenn ein Computerprogramm verfügbar ist,
das für beliebig komplizierte Strukturen alle hier beschriebenen Einflüsse exakt erfasst, dann
kann die Handrechnung natürlich nicht konkurrieren.
Beispiel 1:
Ein in der Horizontalebene zweifach abgewin-
kelter Träger mit Kreisquerschnitt (Durchmesser d) ist in allen
drei Abschnitten aus gleichem Material mit dem Elastizitäts-
1 1
modul E und dem Gleitmodul G gefertigt.
Gegeben: F , E, G, a, b, c, d. 1
2 2 1 2
2 2 2
1 1 1 1
3 3 3 3 3 3
2 2 2
3 1 3 1 3 1
Abbildung 24.13: Systeme für das Arbeiten mit Einheitslasten
• Berechnen der Verformungen nach 24.23 unter Ausnutzung von 24.24 (Castigliano) bzw.
24.27 (Arbeiten mit Einheitslasten), wobei die Integration jeweils über alle drei Bereiche zu
erstrecken ist. Die Rechnung ist für beide Verfahren identisch. Um dies zu demonstrieren,
wird die Formel für vF nach der Vorschrift von Castigliano aufgeschrieben, die Formel für
ϕFz nach der Vorschrift des Einheitslastverfahrens.
Die nachfolgende Tabelle enthält die Schnittgrößenverläufe Mbi und Mti für die drei Abschnitte
und die für die Verformungsberechnungen nach Castigliano benötigten partiellen Ableitungen
nach F1 und MHz , die mit den M bi bzw. Mti (für das Einheitslastverfahren) identisch sind (die
in Klammern hochgestellten Indizes bei M bi bzw. Mti deuten an, ob diese Schnittgrößen für die
Berechnung von vF oder ϕFz vorgesehen sind).
Vor der Integration dürfen F1 = F und MHz = 0 gesetzt werden. Man errechnet:
3 Zli Zli
1 ∂ M bi 1 ∂ Mti
vF = ∑ Mbi dzi + Mti dzi
i=1 EI ∂ F1 GI p ∂ F1
zi =0 zi =0
c b Za
1
Z Z
= (−F z1 )(−z1 ) dz1 + (−F z2 )(−z2 ) dz2 + −F(c + 2 z3 )[−(c + z3 )] dz3
EI
0 0 0
b a
1
Z Z
+ Fc2 dz2 + Fb2 dz3
GI p
0 0
32 F 32 F 2
= 4
[2 (2 a3 + b3 + c3 + 3 a c2 ) + 9 a2 c] + [c b + b2 a] ,
3E π d G π d4
3 Zli Zli
1 (ϕFz ) 1 (ϕFz ) 32 F b b a
ϕFz = ∑ Mbi M bi dzi + Mti Mti dzi =
+ .
i=1 EI GI p π d4 E G
zi =0 zi =0
436 24 Formänderungsenergie
Beispiel 2:
Für die skizzierte Biegefeder mit einem
Rechteckquerschnitt konstanter Höhe t bei linear ver-
änderlicher Breite soll die Absenkung des Kraftan-
0
griffspunktes berechnet werden.
1
Gegeben: t , b0 , b1 , l , F , E . /2 /2
Mit dem Biegemomentenverlauf für die linke Symmetriehälfte (bezüglich der skizzierten Ko-
ordinate z) und seiner partiellen Ableitung nach F bzw. dem M b infolge einer Einheitslast in
Trägermitte
1 ∂ Mb 1 1
Mb (z) = F z , = z , Mb = z
2 ∂F 2 2
und dem ebenfalls mit z veränderlichen Flächenträgheitsmoment
t 3 b(z) t3 h zi
I(z) = = b0 + 2 (b1 − b0 )
12 12 l
kann die Formänderungsenergie für eine Hälfte des Trägers aufgeschrieben werden. Für den
gesamten Träger gilt dann der doppelte Wert, so dass sich entsprechend 24.24 bzw. 24.27 die
Verschiebung vF des Kraftangriffspunktes aus dem folgenden Integral berechnet:
l l
Z2 Z2
Mb (z) ∂ Mb (z) Mb (z)
vF = 2 dz = 2 M b (z) dz
EI(z) ∂ F EI(z)
z=0 z=0
l l
Z2 1 Z2
2 Fz 1 6F l z2
=2 z dz = dz .
E t3 z 2 E t3 l b0 + 2 (b1 − b0 ) z
z=0 12 b0 + 2 (b1 − b0 ) l z=0
Die veränderliche Biegesteifigkeit führt auf ein Integral, dessen Lösung etwas mehr Mühe berei-
tet. In diesem Fall findet man die Lösung recht problemlos:
3 F l3 b1
vF = (β 2 − 4 β + 3 + 2 ln β ) mit β = .
8 E t 3 b0 (β − 1)3 b0
ê Die Lösung gilt für jedes sinnvolle Breitenverhältnis β . Typisch für solche Probleme mit
veränderlichem Querschnitt ist jedoch, dass bei β = 1 (Träger konstanter Breite) gerade für
den einfachsten Spezialfall, mit dem man die Lösung gern kontrollieren würde, die Formel
versagt. Eine Grenzwertbetrachtung entsprechend
3 F l3
2
vF (β = 1) = lim (β − 4 β + 3 + 2 ln β ) ,
β →1 8 E t 3 b0 (β − 1)3
durchgeführt nach der aus der Mathematik bekannten Regel von DE L’H OSPITAL, liefert im
dritten Versuch das Ergebnis, das als Fall a∗ im Abschnitt 17.4 angegeben ist:
F l3 F l3 b0 t 3
vF (β = 1) = 3
= mit I0 = .
4 E t b0 48 EI0 12
24.6 Statisch unbestimmte Probleme 437
Systeme sind statisch unbestimmt gelagert, wenn man allein mit den Gleichgewichtsbedingungen
die Lagerreaktionen (und damit die Schnittgrößen) nicht berechnen kann. In den Kapiteln 14
bis 21 wurde gezeigt, wie mit Verformungsbetrachtungen auch solche Probleme gelöst werden
können (zusätzliche Lager gestatten immer zusätzliche Verformungsaussagen).
Da mit den Verfahren auf der Basis der Formänderungsenergie die Verformungen an einzelnen
Punkten sehr effektiv berechnet werden können, eignen sich diese Verfahren in besonderem Ma-
ße für die Berechnung statisch unbestimmter Systeme. Das nachfolgende Beispiel demonstriert
das typische Vorgehen im einfachsten Fall: Das „überzählige“ Lager B wird durch eine Kraft
(Lagerkraft FB ) ersetzt. Dann kann man die Verschiebung des Kraftangriffspunktes vB berech-
nen. Da aber an dieser Stelle gerade keine Verschiebung auftreten kann, liefert die Bedingung
vB = 0 eine Bestimmungsgleichung für die gesuchte Lagerkraft.
Beispiel 1:
Für das skizzierte System mit konstanter Biegesteifigkeit sol-
len die Lagerreaktionen bei A und B sowie die Horizontalverschiebung vH
und die Vertikalverschiebung vF des Kraftangriffspunktes ermittelt werden
(Normalkraft- und Querkraftanteile dürfen vernachlässigt werden).
Gegeben: EI = konstant , F , a .
2
Das System ist einfach statisch unbestimmt. Als „Statisch Unbestimmte“ wird
die Lagerkraft FB gewählt. Dann dürfen die übrigen Lagerreaktionen in den
Biegemomentenverläufen nicht vorkommen.
Da auch die Horizontalverschiebung des Kraftangriffspunktes gesucht ist, wird dort die Hilfskraft
FH angebracht3 . Die Verschiebungen in Richtung der Kräfte F, FH und FB werden dann mit Hilfe
der partiellen Ableitungen der Formänderungsenergie des Gesamtsystems nach diesen Kräften
(Verfahren von Castigliano) berechnet, wobei die Verschiebung am Lager B verhindert ist, so
dass diese „Verschiebungsgleichung“ zur Bestimmungsgleichung für die Lagerkraft wird.
3 Inden Abschnitten 24.4 und 24.5 wurde gezeigt, dass das Verfahren von Castigliano und das Einheitslastverfahren
hinsichtlich Strategie und Aufwand identisch sind. Deshalb wird in diesem und den folgenden Beispielen nur noch
ein Verfahren (Castigliano) demonstriert. Wer lieber zusätzliche Schnittgrößenverläufe (infolge von Einheitslasten)
formuliert als partielle Ableitungen bildet, sollte das Einheitslastverfahren verwenden. Schon die Tabelle, in der die
Schnittgrößen und ihre partiellen Ableitungen zusammengestellt werden, ist für beide Verfahren identisch.
438 24 Formänderungsenergie
Die Hilfskraft FH darf wieder Null gesetzt werden, und die Lagerkraft FB wird berechnet:
Z2 a Za
∂Wi 1 5
vB = = FB z22 dz2 + [FB (2 a + z3 ) − F a] (2 a + z3 ) dz3 = 0 ⇒ FB = F.
∂ FB EI 18
z2 =0 z3 =0
Entsprechend berechnen sich die gesuchten Verschiebungen:
Za Za 23 Fa3
∂Wi 1
vF = = F z21 dz1 + [FB (2 a + z3 ) − F a] (−a) dz3 = ,
∂F EI 36 EI
z1 =0 z3 =0
Za
∂Wi 1 7 Fa3
vH = = [FB (2 a + z3 ) − F a] z3 dz3 = − .
∂ FH EI 54 EI
z3 =0
Das Minuszeichen im Ergebnis für vH deutet an, dass sich der Punkt entgegen der willkürlichen
Annahme des Richtungssinns für die Hilfskraft FH nach links verschiebt.
Die noch fehlenden Lagerreaktionen bei A werden aus Gleichgewichtsbedingungen ermittelt:
5 1
FAH = −FB = − F , FAV = F , MA = F a − FB 3 a = F a .
18 6
ê Dem Leser, der dieses Beispiel aufmerksam durchgearbeitet hat, wird aufgefallen sein, dass
für die Verschiebungsberechnung z. B. die Ableitungen der Momentenverläufe nach F ge-
bildet wurden, ohne die Abhängigkeit der darin noch vorkommenden Lagerreaktion FB von
F zu berücksichtigen. Dies ist erlaubt, obwohl bei diesen Abhängigkeiten
Wi = f (F, FB (F)) = f ∗ (F)
die Ableitung nach F eigentlich entsprechend
d f∗ ∂f ∂ f dFB
= +
dF ∂ F ∂ FB dF
berechnet werden müsste. Weil der erste Faktor des zweiten Anteils (Ableitung nach der
„Statisch Unbestimmten“) Null wird, gilt aber:
Die beim Verfahren von Castigliano benötigten Ableitungen der Schnittgrößenverläufe nach
Belastungsgrößen (dazu zählen auch die Hilfskräfte bzw. -momente) dürfen bei statisch un-
bestimmten Aufgaben gebildet werden, ohne die Abhängigkeit der „Statisch Unbestimmten“
von den Belastungsgrößen zu berücksichtigen.
Diese Aussage gilt nur für die gewählten „Statisch Unbestimmten“ (ihre Anzahl muss dem
Grad der statischen Unbestimmtheit entsprechen), nicht z. B. für die übrigen Lagerreaktionen,
die vorab aus den Schnittgrößenverläufen (wie bei statisch bestimmten Problemen) eliminiert
werden sollten.
Im folgenden Beispiel wird eine Aussage genutzt, die im Abschnitt 24.5 den Anlass zu der Emp-
fehlung gab, Belastungsgrößen, nach denen für eine Verformungsberechnung partiell abgeleitet
werden soll, eindeutig zu bezeichnen, denn „wenn die Formänderungsenergie nach einer Be-
lastungsgröße abgeleitet wird, die mehrfach im System vorkommt, erhält man die Summe aller
Verformungen der Angriffspunkte“. Für einen Spezialfall ist dies sinnvoll:
24.6 Statisch unbestimmte Probleme 439
Ein System sei (unter anderem) durch zwei gleich große, auf gleicher Wirkungslinie liegen-
de, aber entgegengesetzt gerichtete Kräfte F belastet. Dann liefert die partielle Ableitung der
Formänderungsenergie nach F die relative Verschiebung der beiden Kraftangriffspunkte (Ver-
ringerung bzw. Vergrößerung ihres Abstandes).
Beispiel 2:
Für den skizzierten Rahmen, der in allen Teilen die 3
gleiche Biegesteifigkeit hat, soll die relative Verschiebung der
beiden Kraftangriffspunkte berechnet werden (Normalkraft- und
Querkrafteinflüsse sind zu vernachlässigen).
Gegeben: EI = konstant , F , a .
2
Das System ist einfach statisch unbestimmt, als „Statisch Unbe-
stimmte“ wird die Horizontalkomponente FAH der Lagerkraft bei
A gewählt. Dann dürfen die anderen Lagerkräfte in den Momen-
tenverläufen nicht vorkommen.
Da es beim Aufschreiben der Mb -Verläufe bequemer ist, zunächst auch FAV und FBH einfließen zu
lassen, werden diese über zwei Gleichgewichtsbedingungen am Gesamtsystem durch FAH ersetzt.
Horizontales Kraft-Gleichgewicht und Momenten-Gleichgewicht um den Punkt B liefern:
1
FBH = FAH , FAV = FAH .
3
Diese Beziehungen wären nicht so einfach, wenn man die Kräfte (für die Verschiebungsberech-
nung eines Kraftangriffspunktes) unterschiedlich bezeichnet hätte, weil sie dann aus den Gleich-
gewichtsbedingungen nicht mehr herausgefallen wären.
Die folgende Tabelle enthält die Momentenverläufe für die fünf Bereiche, die nur noch F und
die „Statisch Unbestimmte“ FAH enthalten.
∂ Mbi ∂ Mbi 3
i Mbi
∂ FAH ∂F 2
4
1 FAH z1 z1 0
2 FAH (2 a + z2 ) + F z2 2 a + z2 z2 5
3 FAH 3 a + F a − 13 FAH z3 3 a − 13 z3 a
1
4 FAH (a + z4 ) + F z4 a + z4 z4
5 FAH z5 z5 0
Es wird zunächst die Lagerkraft berechnet, anschließend die gesuchte relative Verschiebung:
5 Zli
∂Wi 1 ∂ Mbi 29
=0 ⇒ ∑ Mbi dzi = 0 ⇒ FAH = − F ,
∂ FAH EI i=1 ∂ FAH 92
zi =0
5 Zli
∂Wi 1 ∂ Mbi 57 Fa3
vF, rel = = ∑ Mbi dzi = .
∂F EI i=1 ∂F 92 EI
zi =0
440 24 Formänderungsenergie
Dies sind die drei Bestimmungsgleichungen für die drei „Statisch Unbestimmten“. Es sind in-
nere Kräfte bzw. Momente, die dafür (unter der Voraussetzung, nicht allein durch statisches
Gleichgewicht berechenbar zu sein) genauso gewählt werden dürfen wie Lagerreaktionen und
aus Gleichungen berechnet werden, wie sie auch für die Bestimmung statisch unbestimmter La-
gerreaktionen aufgestellt wurden. Man darf sich vom Zwang zur Anschaulichkeit („verhinderte
Verschiebung“) lösen und ganz allgemein formulieren:
Beispiel 3:
Für das skizzierte Fachwerk sind die Stabkräfte 3
zu ermitteln. Alle Stäbe haben den gleichen Querschnitt und 1 2
sind aus dem gleichen Material gefertigt.
Gegeben: F , a. 5 7
Es werden (willkürlich) die Stabkräfte FS1 und FS8 als „Statisch Unbestimmte“ gewählt. Dabei
ist es unerheblich, ob FS1 als Lagerkraft des Festlagers („verhinderte Verschiebung“) oder als
Stabkraft aufgefasst wird, in jedem Fall muss 24.28 für beide Stabkräfte gelten. Darin ist Wi die
gesamte Formänderungsenergie in den 8 Stäben des Fachwerks, für die Formel 24.17 gilt.
442 24 Formänderungsenergie
Mit den Stablängen li errechnet sich Wi aus der Summe der in allen
Stäben gespeicherten Energien: 3
8
FSi2 li 1 2
Wi = ∑ .
i=1 2 EA
5 7
Damit werden die beiden Bestimmungsgleichungen 24.28 für FS1
und FS8 formuliert: 4 8
6
8
∂Wi 1 8 ∂ FSi
= ∑ FSi ∂ FS1 li = 0 ,
∂ FS1 EA i=1
∂Wi 1 8 ∂ FSi
= ∑ FSi ∂ FS8 li = 0 . Abbildung 24.17: Statisch
∂ FS8 EA i=1 bestimmtes Fachwerk
Alle Stabkräfte müssen (vor dem Bilden der partiellen Ableitungen) als Funktionen der Kraft
F und der beiden „Statisch Unbestimmten“ FS1 und FS8 aufgeschrieben werden. Dies gelingt
an dem in Abbildung 24.17 skizzierten statisch bestimmten Fachwerk (Stäbe 1 und 8 wurden
durch die Stabkräfte ersetzt) nach den Verfahren des Abschnitts 6.4. Das Ergebnis sieht man in
der dritten Spalte der nachfolgenden Tabelle.
∂ FSi ∂ FSi
i li FSi = f (F, FS1 , FS8 ) FSi
∂ FS1 ∂ FS8
1 a FS1 1 0 −0, 04301 F
2 2a 3 FS1 + √210 FS8 3 √2
10
−0, 17886 F
3 a −3 FS1 −3 0 0, 12903 F
√ √ √
4 10 a 10 FS1 + FS8 10 1 −0, 21480 F
√ √ √
5 2a −3 2 FS1 − √35 FS8 −3 2 − √35 0, 28818 F
6 2a −F − 6 FS1 − √610 FS8 −6 − √610 −0, 59245 F
√ √ √
7 2a −3 2 FS1 − √35 FS8 −3 2 − √35 0, 28818 F
√
8 10 a FS8 0 1 −0, 07878 F
Mit den partiellen Ableitungen liefert das Einsetzen in die Bestimmungsgleichungen für FS1 und
FS8 zwei lineare Gleichungen, aus denen die beiden Unbekannten berechnet werden:
FS1 = −0, 04301 F ; FS8 = −0, 07878 F .
Mit Hilfe der Formeln in der Spalte 3 der oben angegebenen Tabelle lassen sich die übrigen
Stabkräfte ermitteln. Die Ergebnisse sind in Spalte 6 der Tabelle zu finden.
ê Am Ende dieses wichtigen Kapitels über die Formänderungsenergie sind zur richtigen Ein-
ordnung des behandelten Stoffs einige ergänzende Bemerkungen angebracht: Energiemetho-
den sind die Basis fast aller modernen Berechnungsverfahren der Technischen Mechanik.
24.7 Aufgaben 443
24.7 Aufgaben
Aufgabe 24.1:
Gegeben:
EI , l , F , M , q .
Gesucht: Lagerkraft FB .
Aufgabe 24.2:
Für den skizzierten Träger sind alle Lagerre-
aktionen und die Verschiebung des Lagers B zu berechnen.
/2
Gegeben: EI , l , q .
Aufgabe 24.3: 1
Es sind die Absenkungen v1 und v2 an den 2
Punkten À und Á und der Biegewinkel bei Á zu berechnen.
Gegeben: EI , l , q .
444 24 Formänderungsenergie
Aufgabe 24.4:
Für einen Kragträger mit konstanter Hö-
he und linear veränderlicher Breite ist die Absenkung des
Kraftangriffspunktes zu berechnen. Es ist zu zeigen, dass 1
Aufgabe 24.5:
Für das skizzierte (statisch unbestimm-
te) Fachwerk sind sämtliche Stabkräfte zu berechnen. Die
2
Dehnsteifigkeit EA ist für alle Stäbe gleich. 2
Gegeben: F , a , EA .
2 2
Aufgabe 24.6: /2 /2
Für das System aus zwei Stäben und einer Fe-
der berechne man:
a) die Stabkräfte und die Federkraft,
b) Horizontal- und Vertikalverschiebungskomponenten des
Kraftangriffspunktes. 1 2
EA1
Gegeben: F , l , EA1 , EA2 = 2 EA1 , c = 4 .
l
Aufgabe 24.7:
Für den skizzierten Halbrahmen mit
der konstanten Biegesteifigkeit EI, dessen Punkte C
und D durch eine Feder verbunden sind, berechne man
a) die Kraft Fc in der Feder,
b) die relative Verschiebung vCD der beiden Kraftan-
2
griffspunkte.
c) Man zeige, dass die berechneten Werte für Fc und vCD dem Federgesetz genügen, und versu-
che, die Grenzwerte von Fc und vCD für γ → 0 und γ → ∞ anschaulich zu deuten.
c a3
Gegeben: F , a , EI , γ = .
EI
Von den im Abschnitt 22.1 vorgestellten Modellen der Festigkeitsberechnung sind bisher aus-
schließlich die „eindimensionalen Modelle“ behandelt worden. In diesem Kapitel werden mit
ausgewählten rotationssymmetrischen Berechnungsmodellen einige (einfache, aber für die Pra-
xis wichtige) Probleme behandelt, die sich nicht eindimensional idealisieren lassen.
Die Spannungen werden durch Multiplikation mit den Schnittflächen und die Volumenlast durch
Multiplikation mit dem (angenäherten) Elementvolumen zu Kräften, die am Element eine Gleich-
gewichtsgruppe bilden müssen:
Fr = σr t r ∆ϕ , Ft = σt t ∆r , F = f t r ∆ϕ ∆r . 2 +
Nur für die radial gerichtete Kraft ist von einem Schnittufer zum ande-
ren ein Zuwachs ∆Fr zu berücksichtigen (Rotationssymmetrie!), die-
ser allerdings repräsentiert sowohl eine veränderliche Spannung σr
als auch eine geänderte Schnittfläche (Abbildung 25.3). Das Kräfte- 2
Gleichgewicht in radialer Richtung liefert:
Abbildung 25.3: Kräfte
∆ϕ am differenziell kleinen
∆Fr + F − 2 Ft sin =0 .
2 Element
Einsetzen der oben angegebenen Ausdrücke für Fr , Ft und F und Division der Gleichung durch
∆ϕ und ∆r ergibt:
∆(σr t r) sin ∆ϕ
+ f t r − σt t ∆ϕ 2 = 0 .
∆r
2
Der Grenzübergang ∆r → 0 und ∆ϕ → 0 und damit
∆(. . .) d(. . .) sin ∆ϕ
2
lim = und lim =1
∆r→0 ∆r dr ∆ϕ→0 ∆ϕ
2
führt nach einigen elementaren Umformungen auf folgende Beziehung:
r d
(σr t) + σr − σt + r f = 0 .
t dr
Da das Kräfte-Gleichgewicht in Umfangsrichtung identisch erfüllt ist, kann dieser Gleichung
mit den beiden unbekannten Spannungen keine weitere Gleichgewichtsbedingung hinzugefügt
werden. Dies ist typisch für Flächentragwerke:
Die Spannungsberechnung für Flächentragwerke ist (bis auf ganz wenige Ausnahmen) stets
mit einer Verformungsbetrachtung gekoppelt. Diese Aussage gilt (im Gegensatz z. B. zu Bie-
geträgern) unabhängig von der Lagerung: Flächentragwerke sind „innerlich statisch unbe-
stimmt“ (vgl. die Erläuterung dieses Begriffs für Biegeträger auf Seite 440).
Die Faser in Umfangsrichtung hat vor der Verformung die Länge r∆ϕ und nach der Verformung
die Länge (r + u)∆ϕ. Aus der Differenz berechnet sich die Tangentialdehnung
25.1 Rotationssymmetrische Scheiben 447
(r + u)∆ϕ − r∆ϕ u
εt = = .
r∆ϕ r
Diese Beziehung wird nach u = r εt umgestellt und in die Formel für εr eingesetzt, so dass ein
Zusammenhang zwischen den beiden Dehnungen entsteht:
d dεt
εr = (r εt ) = εt + r .
dr dr
Ersetzt man in dieser Beziehung die Dehnungen nach dem Hookeschen Gesetz
1 1
εr = (σr − ν σt ) , εt = (σt − ν σr ) (25.1)
E E
(vgl. Formeln 22.9) durch die Spannungen, ergibt sich eine zweite Gleichung für σr und σt . Die
beiden Spannungen können also berechnet werden aus den beiden
r
Radialverschiebung: u = r εt = (σt − ν σr ) . (25.3)
E
Beispiel 1:
Für eine mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω
umlaufende Kreisscheibe konstanter Dicke t0 sollen die allgemeine
0
Lösung der Differenzialgleichungen 25.2 und die Radialverschie-
bung u(r) nach 25.3 bereitgestellt werden.
Gegeben: ω , t0 = konstant , Dichte ρ .
Die an einer rotierenden Masse auftretenden Fliehkräfte berechnen
sich aus dem Produkt der Masse, ihrem Abstand vom Drehpunkt
und dem Quadrat der Winkelgeschwindigkeit (vgl. Abschnitt 29.2).
An dem Volumenelement dV der Scheibe mit der Masse dm = ρ dV
im Abstand r von der Drehachse der Welle wirkt demnach
f dV = dm r ω 2 = r ω 2 ρ dV ⇒ f = r ρ ω2 .
Dies wird in die erste Differenzialgleichung 25.2 eingesetzt, aus der sich außerdem die konstante
Dicke herauskürzt. Sie wird nach σt aufgelöst, und
dσr
σt = r + σr + r2 ρ ω 2 (25.4)
dr
wird in die zweite Differenzialgleichung 25.2 eingesetzt. Man erhält mit
d 2 σr dσr
r2 +3r = −(3 + ν) ρ ω 2 r2 (25.5)
dr2 dr
eine lineare Differenzialgleichung 2. Ordnung mit variablen Koeffizienten für die Radialspan-
nung σr . Differenzialgleichungen des Typs 25.5 heißen Eulersche Differenzialgleichungen (als
Koeffizient steht bei der k-ten Ableitung eine Potenz der unabhängigen Variablen mit dem glei-
chen Exponenten k), die sich für verschiedene Probleme der Technischen Mechanik ergeben.
Die allgemeine Lösung der inhomogenen Differenzialgleichung1 setzt sich entsprechend
σr (r) = σr, part (r) + σr, hom (r)
aus einer beliebigen Partikulärlösung σr, part und der allgemeinen Lösung der homogenen Diffe-
renzialgleichung σr, hom zusammen. Für die Lösung der homogenen Differenzialgleichung
r2 σr00 + 3 r σr0 = 0
führt ein Potenzansatz σr = Crλ zum Ziel. Man erhält die charakteristische Gleichung
C λ (λ − 1) rλ + 3C λ rλ = 0 ⇒ λ (λ − 1) + 3 λ = 0 .
Diese liefert die Lösungen λ1 = 0 und λ2 = −2, damit ist σr = C1 und σr = C2 r−2 ein Funda-
mentalsystem für die homogene Differenzialgleichung.
Man kann durch Einsetzen leicht bestätigen, dass
1
σr, part. = − (3 + ν) ρ ω 2 r2
8
1 Leser,
die mit der Theorie der Lösung von Differenzialgleichungen noch nicht vertraut sind, dürfen die folgenden Pas-
sagen bis zum Ergebnis 25.6 ohne Einbuße des Verständnisses „überlesen“. Für alle Interessierten wird die Internet-
Ergänzung zum Thema „Gewöhnliche Differenzialgleichungen“ hilfreich sein, auf die auf Seite 314 verwiesen wird.
25.1 Rotationssymmetrische Scheiben 449
die inhomogene Differenzialgleichung erfüllt und damit als Partikulärlösung verwendet wer-
den kann (man findet diese Partikulärlösung, indem man z. B. mit dem naheliegenden Ansatz
σr, part. = A r2 in die Differenzialgleichung hineingeht und den Parameter A bestimmt).
Damit kann die allgemeine Lösung von 25.5 aufgeschrieben werden. Sie wird in 25.4 und 25.3
eingesetzt, und man erhält den
Die allgemeine Lösung 25.6 muss noch den Randbedingungen des aktuellen Problems angepasst
werden (Bestimmung der Integrationskonstanten C1 und C2 , vgl. nachfolgendes Beispiel).
Beispiel 2:
Eine mit der Winkelgeschwindigkeit ω rotierende
Kreisscheibe konstanter Dicke t0 ist auf eine starre Nabe aufge- 0
Die gesuchte maximale Winkelgeschwindigkeit, bei der in der Klebefuge die zulässige Spannung
nicht überschritten wird, ergibt sich aus der Grenzbedingung
σr (r = ri ) = σzul .
Man errechnet
v h i
2
u
u
u 4 (1 + ν) rra2 + 1 − ν σzul
ωmax = u h i 2
i
ρ(ra − ri ) (3 + ν) rra2 + 1 − ν
2
t 2
i
Die im Abschnitt 25.1 für die rotationssymmetrischen Scheiben entwickelte allgemeine Lösung
wird (zum Teil mit geringfügiger Modifikation) auf eine Reihe praktischer Probleme angewendet,
von denen hier zwei vorgestellt werden sollen.
Das Aufschrumpfen einer Scheibe auf eine Welle oder Hülse kann für die Scheibe konstanter
Dicke unmittelbar auf der Basis der Formeln 25.6 behandelt werden. Der Innenradius der Scheibe
wird mit einem Untermaß ∆r gefertigt. Im einfachsten Fall (Beispiel 1) wird angenommen, dass
die Scheibe aufgeweitet und auf die als starr angenommene Welle gezogen wird (praktische
Realisierung: Erwärmen der Scheibe, Aufbringen auf die Welle, bei der Abkühlung entspricht
die Verhinderung des Zusammenziehens auf das Fertigungsmaß der Aufweitung um ∆r).
25.2 Spezielle Anwendungsbeispiele 451
Beispiel 1:
Eine Kreisscheibe konstanter Dicke wird an ihrem
Innenrand um den Betrag ∆r aufgeweitet. Der Verformungs- und
Spannungszustand u(r), σr (r) und σt (r) und die Vergleichsspan-
nung nach der Gestaltänderungshypothese sollen berechnet werden.
Gegeben: ra = 3 ri = 300 mm ; ν = 0, 3 ;
5 2
E = 2, 1 · 10 N/mm ; ∆r = 0, 001 ri .
starr
0
Die Gleichungen 25.6 mit ω = 0 müssen den Randbedingungen
σr (r = ra ) = 0 , u(r = ri ) = ∆r
angepasst werden. Daraus errechnen sich die Integrationskonstanten
C2 ∆r E ri ra2
C1 = − 2 , C2 = − ,
ra (1 − ν) ri2 + (1 + ν) ra2
mit denen die gesuchten Funktionen aufgeschrieben werden können:
ra2
∆r E ri
σr (r) = 1− 2 ,
(1 − ν) ri2 + (1 + ν) ra2 r
ra2
∆r E ri
σt (r) = 1 + ,
(1 − ν) ri2 + (1 + ν) ra2 r2
ra2
∆r ri r
u(r) = 1 − ν + (1 + ν) .
(1 − ν) ri2 + (1 + ν) ra2 r2
Die Vergleichsspannung nach der Gestaltänderungshypothese ergibt sich für den ebenen Span-
nungszustand (ohne Schubspannung, σr und σt sind Hauptspannungen) nach 22.36 zu
q
σV, 3 = σr2 + σt2 − σr σt .
ê Mit der Annahme einer starren Welle wie im Beispiel 1 liegt man hinsichtlich der errech-
neten Spannungen in der Scheibe auf der sicheren Seite. Andererseits sind die Radialspan-
nungen am Innenrand erwünscht, weil durch sie die Scheibe auf die Welle gepresst wird.
Da sich diese Radialspannungen bei Rotation von Welle und Scheibe verringern (durch die
Zentrifugalkräfte werden die Scheibenpunkte und damit auch der Innenrand nach außen ver-
schoben), ist für diesen Fall eine Berechnung unter zumindest angenäherter Erfassung der
Elastizität der Welle sinnvoll.
Eine übliche Näherung basiert auf der Idee, eine Scheibe der Welle mit der gleichen Breite
wie die aufzuschrumpfende Scheibe in die Rechnung einzubeziehen, so dass „eine ringför-
mige Scheibe der Breite t0 auf eine Vollscheibe der Breite t0 aufgebracht wird“ (wird im
Beispiel 2 demonstriert).
Beispiel 2:
Die Kreisringscheibe des Beispiels 1 wird auf eine Vollscheibe gleicher Dicke und
gleichen Materials aufgeschrumpft. Der Außenradius der Vollscheibe und der Innenradius der
Kreisringscheibe unterscheiden sich um den im Beispiel 1 angegebenen Wert ∆r.
Berechnet werden sollen die Schrumpfspannung σS , die nach dem Aufbringen der Kreisring-
scheibe in der Schrumpffuge zwischen Vollscheibe und Kreisringscheibe wirkt, und die Winkel-
geschwindigkeit ω0 , bei der diese Spannung Null wird, wodurch sich die beiden Scheiben wieder
voneinander lösen.
Die allgemeinen Lösungen nach 25.6 für die Kreisringscheibe 1 und die Vollscheibe 2 enthalten
insgesamt drei Integrationskonstanten (für die Vollscheibe gilt C2 = 0, siehe die entsprechende
Bemerkung auf der Seite 447). Hier werden nur die Funktionen für σr und u angegeben, weil σt
zur Beantwortung der untersuchten Fragen nicht erforderlich ist:
C2 3 + ν
Kreisringscheibe: σr1 = C1 + 2 − ρ ω 2 r2 ,
r 8
1 − ν2
r C2 2 2
u1 = C1 (1 − ν) − 2 (1 + ν) − ρω r ,
E r 8
3+ν
Vollscheibe: σr2 = C1 − ρ ω 2 r2 ,
8
1 − ν2
r
u2 = C1 (1 − ν) − ρ ω 2 r2 .
E 8
Aus diesen drei Bedingungen errechnet man (problemlos, wenn auch etwas mühsam) die drei
Integrationskonstanten, mit denen die Fragestellungen der Aufgabe beantwortet werden können.
Die Schrumpfspannung σS ergibt sich zu:
1 1 1 3+ν
σS = σr1 (ri ) = σr2 (ri ) = E ∆r ri 2 − 2 + ρ ω 2 (ra2 − ri2 ) .
2 ra ri 8
Die Spannung in der Schrumpffuge der nicht rotierenden Scheiben beträgt
σS (ω = 0) = −93, 3 N/mm2
(im Vergleich zu σS = σr (ri ) = −135, 5 N/mm2 bei Annahme einer starren Welle im Beispiel 1).
Die Spannung in der Schrumpffuge wird Null für
ω0 = 600 s−1 .
ê Bei der Übertragung des Berechnungsmodells des Beispiels 2 auf die Kreisringscheibe, die
auf eine Welle aufgeschrumpft wird, ist zu beachten, dass die Welle tatsächlich steifer ist
als eine aus ihr herausgeschnittene Vollscheibe (die Querdehnung kann behindert sein, in je-
dem Fall widersetzen sich auch die Nachbarscheiben der Welle einer Zusammendrückung).
Eine genauere Rechnung, die auch dies berücksichtigt, ist aufwendig, mit den hier vorge-
stellten Berechnungsmodellen nicht zu realisieren, allerdings für die meisten praktischen
Fälle auch nicht erforderlich. Man beachte, dass die Verwendung des Modells des Beispiels
1 eine zu starre Welle annehmen würde, so dass die tatsächlichen Ergebnisse von beiden
Berechnungsmodellen eingegrenzt werden.
Mit guter Annäherung an die Realität darf vorausgesetzt werden, dass sich die Spannungen σz
gleichmäßig über die Schnittfläche verteilen. Die Differenz der Kraft pi π ri2 , die der Innendruck
auf die innere Stirnfläche ausübt, und der Kraft pa π ra2 , die der Außendruck auf die äußere Stirn-
fläche ausübt, muss mit der aus σz resultieren Kraft σz π(ra2 − ri2 ) im Gleichgewicht sein. Die-
ses Kraftgleichgewicht in vertikaler Richtung (z. B. am unteren Teil des bei B-B geschnittenen
Behälters) wird durch die Querschnittsfläche A = π(ra2 − ri2 ) des Kreisrings dividiert, und man
erhält:
pi ri2 − pa ra2
σz = . (25.7)
ra2 − ri2
Diese Spannung wirkt sich natürlich auch auf die Verformungen in der Scheibenebene aus (Quer-
kontraktion), so dass das Hookesche Gesetz des ebenen Spannungszustands 25.1 um einen Anteil
zu erweitern ist (dreidimensionaler Spannungszustand):
1 1
εr = (σr − ν σt − ν σz ) , εt = (σt − ν σr − ν σz ) . (25.8)
E E
Wenn nun 25.8 anstelle von 25.1 für die Herleitung der Beziehungen 25.2 benutzt wird, zeigt
sich, dass dies bei (vorausgesetzter) konstanter Spannung σz gar keine Auswirkungen auf die
beiden Spannungs-Differenzialgleichungen hat, nur die Formel für die Radialverschiebung muss
korrigiert werden:
r
u = r εt = (σt − ν σr − ν σz ) . (25.9)
E
Damit gilt für die Spannungen σr und σt die allgemeine Lösung 25.6, die (mit ω = 0) noch den
Randbedingungen
σr (ri ) = −pi , σr (ra ) = −pa
angepasst werden muss. Man erhält schließlich zusammen mit 25.7 die
Die (im Allgemeinen allerdings kaum interessierende) Radialverschiebung u kann bei bekannten
Spannungen nach 25.9 berechnet werden.
ê Die Formeln 25.7 und 25.10 gelten nur für den mittleren zylindrischen Teil eines Behälters
(in der Abbildung 25.8 etwa durch die Schnitte A-A und B-B angedeutet), weil die in der
Herleitung der Formeln vorausgesetzte freie Radialverformung in der Nähe von Behälter-
boden und -deckel erheblich gestört ist. Diese Formeln sind also nur für eine grob über-
schlägige Dimensionierung geeignet. Der Ingenieur in der Praxis ist ohnehin gerade beim
Sicherheitsnachweis für Druckbehälter im Allgemeinen an branchentypische Vorschriften
und Normen (z. B. DIN EN 13480-3) gebunden.
25.3 Dünnwandige Behälter (Membranspannungen) 455
pr pr
Kesselformeln für Zylinderbehälter: σt = , σl = ,
t 2t
pr (25.11)
Kugelbehälter: σl = σt = .
2t
ê Die eingeschränkte Gültigkeit der Kesselformeln bezieht sich vor allen Dingen auf die nicht
berücksichtigten Biegewirkungen am Zylinderboden und den unvermeidlichen Biegewir-
kungen an den Punkten, an denen der Behälter gelagert ist. Dagegen rechtfertigt sich die
Vernachlässigung der Radialspannungen, die mit σr = −p an der Innenwand ihren Maxi-
malwert hätten: Die beiden anderen Spannungen enthalten jeweils den Faktor rt , was zu
wesentlich größeren Werte führt.
456 25 Rotationssymmetrische Modelle
In diesem Kapitel wurde ein ganz kleiner Einblick in die Berechnung von sehr einfachen
Flächentragwerken gegeben. Trotzdem war es nicht zu vermeiden, dass immer wieder von
„recht grober Näherung“ oder „eingeschränkter Gültigkeit“ die Rede war. Deshalb bleibt bei
der praktischen Anwendung immer ein etwas unangenehmes Gefühl.
Eine genauere Berechnung (z. B. die Erfassung der Biegespannungen bei Schalen) ist auf
analytischem Wege nur für wenige Ausnahmen und auch dann nur mit erheblichem Aufwand
möglich. Deshalb ist die Benutzung eines der vielen Finite-Elemente-Programme, die auch
die Berechnung von (beliebig räumlich gekrümmten) Schalen anbieten, im Allgemeinen eine
gute Idee, aber eine deutliche Warnung muss ausgesprochen werden:
Man informiere sich genau, welche Eigenschaften die verwendeten Elemente haben. Das ist
häufig nicht ganz einfach, denn die Hersteller dieser Programme sind nicht so sehr an skep-
tischen Anwendern interessiert, und deshalb sind diese Informationen in den Manuals nicht
sehr umfangreich. Gerade für die Berechnung von Schalen werden aber sehr gern Elemente
benutzt, die nicht (oder kaum) mehr als die Membranspannungen erfassen.
Diese Bemerkung soll nicht vor der Verwendung dieser Elemente warnen, aber man sollte
schon wissen, was man tut, und wer sich bei der Anwendung der Kesselformeln unwohl fühlt,
sollte sich nicht von den schönen bunten Grafiken der FEM-Programme eine hohe Genauig-
keit suggerieren lassen, wenn nur Membranspannungselemente verwendet wurden.
25.4 Aufgaben
Aufgabe 25.1:
Für eine rotierende Vollscheibe konstanter Dicke sind der Spannungs- und Ver-
formungszustand, die Spannungen im Mittelpunkt der Scheibe sowie die maximale Radialver-
schiebung zu berechnen und die Verläufe grafisch darzustellen.
Gegeben: ω0 = 260 s−1 ; ra = 500 mm ; ρ = 7, 85 g/cm3 ; ν = 0, 3 ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
Aufgabe 25.2:
Eine Buchse wird auf eine starre Welle auf-
geschrumpft.
+
Gegeben: ra = 2 ri = 200 mm ; ν = 0, 3 ;
E = 2, 1 · 105 N/mm2 ; ρ = 7, 85 g/cm3 .
a) Bei welchem Übermaß der Welle wird im Schrumpfsitz starr
2
eine Druckspannung von 150 N/mm erzeugt?
b) Bei welcher Winkelgeschwindigkeit würde für das unter a ermittelte Übermaß die Schrumpf-
spannung auf 50 N/mm2 abgebaut werden?
Aufgabe 25.3:
Ein dickwandiger zylindrischer Behälter ist ausschließlich durch den Innen-
druck pi belastet. Man ermittle die Verläufe der Spannungen σr , σt und σz und der Radialver-
schiebung u in Abhängigkeit vom Radius r (einschließlich grafischer Darstellung).
Gegeben: ri = 30 cm ; ra = 50 cm ; pi = 6 MPa = 6 N/mm2 ; ν = 0, 3 ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 .
26 Kinematik des Punktes
Die Kinematik ist die Lehre vom geometrischen und zeitlichen Ablauf von Bewegungen, ohne
nach Ursachen (z. B. den Kräften) und Wirkungen zu fragen. Die Kinetik dagegen, die ab Kapitel
28 behandelt wird, untersucht die Wechselwirkungen zwischen Kräften und den Bewegungen
von Massen (der vielfach auch gebräuchliche Begriff Dynamik schließt die Kinetik und die Statik
als Lehre vom Gleichgewicht ruhender Körper ein).
Dem Prinzip der Darstellung in diesem Buch folgend, stets die einfachen Probleme an den An-
fang zu stellen, um dann zu verallgemeinern, wird zunächst die Kinematik des Punktes behandelt.
Dabei braucht man nicht die Vorstellung zu haben, nur den (unendlich kleinen) Punkt zu betrach-
ten. Es wird die Bewegung eines einzelnen Punktes beschrieben, der durchaus zu einem Körper
mit endlichen Abmessungen und komplizierter Struktur gehören darf. Vielfach werden sogar die
wesentlichen Aussagen der Bewegung des Gesamtkörpers durch einen Punkt beschrieben (und
deshalb können in den Kinematik-Beispielen durchaus Lokomotiven oder gar Planeten auftau-
chen).
Der wesentliche Unterschied der Kinematik des Punktes zur Kinematik des Körpers kann darin
gesehen werden, dass ein Punkt keine Drehbewegung (um seine eigene Achse) ausführen kann
(Beispiel: Planetenbahnen können so beschrieben werden, nicht aber die Rotation um eine Achse
des Planeten).
Die Geschwindigkeit v ist ein Maß dafür, wie schnell sich die Wegkoordinate s mit der Zeit
ändert. Der Quotient aus dem pro Zeitintervall ∆t zurückgelegten Weg ∆s = s2 − s1 und diesem
∆t = t2 − t1 wird deshalb als mittlere Geschwindigkeit vm im Zeitintervall definiert.
Analog dazu definiert man als Maß für die Geschwindigkeitsänderung die Beschleunigung a: Die
Differenz der Geschwindigkeiten ∆v = v2 − v1 am Ende und am Beginn eines Zeitintervalls ∆t
wird durch ∆t dividiert, es ist die mittlere Beschleunigung am im Zeitintervall.
s2 − s1 ∆s
Mittlere Geschwindigkeit: vm = = , (26.1)
t2 − t1 ∆t
v2 − v1 ∆v
Mittlere Beschleunigung: am = = . (26.2)
t2 − t1 ∆t
Während 26.1 und 26.2 die Mittelwerte über ein endliches Zeitintervall definieren, kommt man
mit dem Grenzübergang ∆t → 0 zur Geschwindigkeit und zur Beschleunigung zu einem Zeit-
punkt t.
∆s ds
Momentangeschwindigkeit: v = lim = = ṡ(t) , (26.3)
∆t→ 0 ∆t dt
∆v dv d 2 s
Momentanbeschleunigung: a = lim = = 2 = v̇(t) = s̈(t) . (26.4)
∆t→ 0 ∆t dt dt
ê Wenn die Weg-Zeit-Funktion s(t) bekannt ist, so ist damit der Bewegungsvorgang vollstän-
dig beschrieben. Die Geschwindigkeits-Zeit-Funktion v(t) und die Beschleunigungs-Zeit-
Funktion a(t) erhält man durch ein- bzw. zweimalige Differenziation der Weg-Zeit-Funktion
nach der Zeit (der Punkt über der Funktion wird als Ableitungssymbol nach der Zeit t ver-
einbart).
ê Bei bekannter Geschwindigkeits-Zeit-Funktion gewinnt man die Weg-Zeit-Funktion durch
Integration über die Zeit. Für die Bestimmung der sich dabei ergebenden Integrationskon-
stanten ist eine zusätzliche Aussage erforderlich (z. B. die Angabe der Wegkoordinate s0 zu
einem bestimmten Zeitpunkt t0 ).
ê Bei bekannter Beschleunigungs-Zeit-Funktion (dies ist der typische Fall in der Kinetik) sind
zur kompletten Beschreibung der Bewegung noch zwei zusätzliche Angaben erforderlich.
Da dies bei den meisten Aufgaben die Aussagen über die Wegkoordinate s0 und die Ge-
schwindigkeit v0 beim Beginn der Betrachtung der Bewegung (Zeitpunkt t0 ) sind, nennt
man diese zusätzlichen Aussagen Anfangsbedingungen. Natürlich können diese Zusatzbe-
dingungen sich auf jeden beliebigen Zeitpunkt der Bewegung beziehen, auch auf verschie-
dene Zeitpunkte für Weg- und Geschwindigkeitsaussage, es können auch zwei Aussagen
über die Wegkoordinate zu verschiedenen Zeitpunkten sein.
ê Empfehlung für die Zahlenrechnung mit unterschiedlichen Dimensionen der einzelnen Grö-
ßen: Man beziehe die Dimensionen in die Rechnung mit ein, um auf diese Weise Umrech-
nungen möglichst sicher zu machen. Im nachfolgenden Beispiel 1 wird z. B. die Sekunde
h
mit s = 3600 durch die Stunde ersetzt, die 3600 geht in die Zahlenrechnung ein, die Sekunde
s ersetzt die Stunde h in der Dimension des Ergebnisses.
ê Besonders wichtig bei Aufgaben der Kinematik und Kinetik: Wenn Zahlenwerte ge-
geben sind, dann rechne man bis zu einem bestimmten Punkt ausschließlich mit Formel-
symbolen und ab diesem Punkt ausschließlich mit den Zahlenwerten (einschließlich ihrer
26.1 Geradlinige Bewegung des Punktes 459
Dimensionen), weil sonst Verwechselungen nahezu unvermeidlich sind, denn die typischen
Formelsymbole (z. B. s für den Weg oder h für eine Höhe) dürfen natürlich nicht mit den
Dimensionen (z. B. s für Sekunde und h für die Stunde) vermischt werden. In diesem Buch
wird diese Empfehlung konsequent eingehalten und damit eine doppelte Sicherheit erzeugt,
weil Formelsymbole zusätzlich kursiv gesetzt sind (was leider bei der Handrechnung kaum
nachzuahmen ist).
Beispiel 1:
Zwischen den Kilometersteinen 67,5 und 70 zeigt der Tachometer eines Autos
konstant 130 km/h an. Tatsächlich werden für die Strecke 71 s benötigt.
Aus den Messwerten ergibt sich nach 26.1 eine mittlere Geschwindigkeit von
s2 − s1 70 − 67, 5 km 2, 5 km · 3600
vm = = = = 126, 76 km/h ,
t2 − t1 71 − 0 s 71 h
woraus sich ein relativer Fehler der Tachometeranzeige von 2,56% errechnet.
Beispiel 2:
Ein Pkw benötigt für eine 18 km lange Strecke bei konstanter Geschwindigkeit von
90 km/h eine Fahrzeit von 12 min. Auf der gleichen Strecke fährt ein zweiter Pkw die ersten
9 km (halbe Stecke) mit 120 km/h und den Rest mit 60 km/h, ein dritter Pkw fährt in den ersten
6 Minuten (halbe Zeit, die der erste Pkw für die Gesamtstrecke benötigt) mit 60 km/h und den
Rest der Strecke mit 120 km/h. Gibt es Unterschiede in der Gesamtfahrzeit?
Berechnung der Gesamtfahrzeiten tges für Pkw 2 und Pkw 3:
9 9 27
Pkw 2: tges, 2 = + h= h = 0, 225 h = 13, 5 min ,
120 60 120
s2 sges − v1 t1
Pkw 3: s1 = v1 t1 ⇒ tges, 3 = t1 + = t1 + = 12 min .
t2 v2
ê Man beachte, dass der Begriff „Mittlere Geschwindigkeit“ sich auf eine Mittelwertbildung
über die Zeit bezieht. Im Beispiel 2 hat Pkw 3 (je 6 min mit 60 bzw. 120 km/h) eine mittlere
Geschwindigkeit für die Gesamtstrecke von 90 km/h. Dagegen hat Pkw 2 (je 9 km mit 60
18 km
bzw. 120 km/h) nur eine mittlere Geschwindigkeit für die Gesamtstrecke von vm = 13,5 min =
80 km/h.
Beispiel 3:
Mit Kurvenscheibengetrieben sind fast beliebige
Weg-Zeit-Funktionen zu realisieren. Der Endpunkt des skizzierten
Stößels bewegt sich nach dem Weg-Zeit-Gesetz
s(t) = k1 t 3 + k2 t 2 + k3 t + k4
mit k1 = 0, 004 m/s3 ; k2 = −0, 04 m/s2 ;
k3 = 0, 1 m/s ; k4 = 0, 06 m .
Damit ist die geradlinige Bewegung vollständig beschrieben. Man
berechnet z. B. durch Differenzieren nach der Zeit:
460 26 Kinematik des Punktes
v(t) = 3 k1 t 2 + 2 k2 t + k3 , a(t) = 6 k1 t + 2 k2 .
Für jeden Zeitpunkt sind alle Bewegungsgrößen berechenbar, nach t = 4 s erhält man z. B.:
s(t = 4 s) = 0, 076 m ; v(t = 4 s) = −0, 028 m/s ; a(t = 4 s) = 0, 016 m/s2 .
ê Interpretation der Vorzeichen: Eine negative Geschwindigkeit besagt, dass die momentane
Bewegungsrichtung der Wegkoordinate s entgegengesetzt ist. Eine negative Beschleunigung
bei positiver Geschwindigkeit bedeutet eine Verlangsamung (Verzögerung) der Geschwin-
digkeit, bei negativer Geschwindigkeit eine Vergrößerung des Absolutbetrags der Geschwin-
digkeit, im Beispiel bei t = 4 s: „Bewegung nach links, langsamer werdend“.
Die Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit ist als Sonderfall in der Formel 26.1 enthalten:
Wenn der Beginn der Zeitzählung t = 0 mit dem Passieren des Ursprungs der Wegkoordinate
s = 0 zusammenfällt, gelten die einfachen Formeln für die gleichförmige Bewegung:
s
v0 = ⇒ s = v0 t (v0 = konstant) . (26.5)
t
ê Da der Antrieb von Mechanismen vielfach mit konstanter Geschwindigkeit (oder konstanter
Winkelgeschwindigkeit, vgl. Abschnitt 26.2.3) erfolgt, sind die Formeln 26.5 häufig der
Einstieg in die Analyse der Bewegung (nachfolgendes Beispiel 4).
Beispiel 4:
Zwei Gleitsteine A und B sind durch eine starre
Stange gekoppelt. Der Gleitstein A bewegt sich mit der kon-
stanten Geschwindigkeit vA . Zum Zeitpunkt t = 0 befinden
sich die Gleitsteine in der skizzierten Lage.
Gegeben: a = 4 m , b = 3 m , vA = 0, 8 m/s .
Für den Gleitstein B sollen die Funktionen sB (t), vB (t) und
aB (t) ermittelt werden.
Die untere Skizze zeigt die geometrischen Verhältnisse des
Mechanismus zu einem beliebigen Zeitpunkt t.
Der vom Gleitstein A bis zum Zeitpunkt t zurückgelegte Weg ist nach
Formel 26.5: sA = vA t. Für sB liest man aus der Skizze ab:
q q
sB = a2 + b2 − (a − vA t)2 = b2 + 2 a vA t − v2A t 2 .
2
b2 + a2 2
aB = − q 3 vA .
b2 + 2 a vA t − v2A t 2
26.1 Geradlinige Bewegung des Punktes 461
Für die Bewegung mit konstanter Beschleunigung können v(t) und s(t) allgemein durch Integra-
tion ermittelt werden. Man gewinnt die
Wenn die Bewegung mit konstanter Beschleunigung ohne Anfangsgeschwindigkeit mit der Zeit-
zählung t = 0 im Koordinatenursprung s = 0 beginnt, vereinfachen sich die Formeln 26.6 zu
1 p
v = a0 t , s = a0 t 2 , v = 2 a0 s , (26.7)
2
wobei die letzte dieser drei Formeln unmittelbar aus den beiden ersten folgt.
Beispiel 5:
In einem Transportsystem, bestehend aus Vakuumröhren, bewe-
gen sich die Gegenstände über eine vertikale Strecke im freien Fall (ohne An-
fangsgeschwindigkeit). Für einen nachfolgenden Sortierprozess wird die Infor-
mation benötigt, aus welcher horizontalen Zuführung sie kommen. Mit einer
Lichtschrankenmessung wird die Zeit tAB ermittelt, die sie für das Durchfallen
der Strecke sAB benötigen. Nach welcher Formel kann aus tAB und sAB die Höhe
h berechnet werden, die der fallende Körper bis zum Erreichen des Punktes A
zurückgelegt hat?
Der freie Fall ohne Luftwiderstand ist als Sonderfall mit der Erdbeschleunigung
g = 9, 81 m/s2 in den Formeln 26.6 und 26.7 enthalten. Für die eingezeichnete
Koordinate s kann das Weg-Zeit-Gesetz nach 26.6 mit s0 = 0 aufgeschrieben
werden, wenn die Zeitzählung beim Passieren des Punktes A beginnt:
1 p
s = gt 2 + v0 t mit v0 = 2 g h ,
2
wobei sich die Anfangsgeschwindigkeit v0 , die der Körper am Beginn der Messstrecke hat, nach
26.7 errechnet (freier Fall ohne Anfangsgeschwindigkeit von der horizontalen Zuführung bis
zum Punkt A). Am Ende der Messstrecke gilt
1 2 p
s(t = tAB ) = sAB ⇒ sAB = gtAB + 2 g h tAB ,
2
und durch Umstellen nach der gesuchten Höhe h ergibt sich daraus
2 2
sAB − 21 gtAB
h= 2
.
2 gtAB
462 26 Kinematik des Punktes
Beispiel:
Es sollen die kinematischen Diagramme der Funktionen sB (t), vB (t) und aB (t) für
die Bewegung des Gleitsteins B des Beispiels 4 aus dem vorigen Abschnitt für den Bereich
0 ≤ t ≤ 11 s gezeichnet und diskutiert werden.
In der Abbildung 26.2 sind die drei Diagram-
me in einer Skizze zusammengefasst (es wurden
die Zahlenwerte der Aufgabenstellung verwen-
det). Folgende Aussagen lassen sich ablesen:
• Die Geschwindigkeit vB hat einen Nulldurch-
gang zu dem Zeitpunkt, in dem die Wegko-
ordinate sB ihren größten Wert annimmt. Das
ist der obere Umkehrpunkt des Gleitsteins B.
Die Umkehrzeit tu kann z. B. aus
sA (t = tu ) = vA tu = a
(Gleitstein A hat den Weg a zurückgelegt) be-
rechnet werden: tu = vaA = 5 s. Abbildung 26.2: Kinematische Diagramme
• Die Beschleunigung aB ist im gesamten Zeit-Bereich negativ (die Wahl der positiven Rich-
tung von sB definiert auch die positiven Richtungen von vB und aB ). Während der Aufwärts-
bewegung kennzeichnet dies die Verzögerung (kleiner werdende Geschwindigkeit), nach
dem Passieren des Umkehrpunktes die wieder schneller werdende Bewegung (Geschwindig-
keit und Beschleunigung sind dann abwärts gerichtet, gleicher Richtungssinn dieser beiden
Größen bedeutet immer, dass sich der Absolutbetrag der Geschwindigkeit vergrößert).
• Die Beschleunigung hat zu keinem Zeitpunkt den Wert Null, selbstverständlich auch nicht
im Moment des Stillstands im Umkehrpunkt (Beschleunigung gleich Null im Moment des
Stillstands würde diesen Zustand andauern lassen).
• Geschwindigkeit vB und Beschleunigung aB nehmen gegen Ende des betrachteten Zeitrau-
mes stark zu. Beide Funktionen hätten (theoretisch) an der Stelle einen Pol, an der die Kurve
von sB außerhalb des betrachteten Zeitraumes einen Nulldurchgang hat. Der Zeitpunkt te ,
bei dem dies eintreten würde, kann aus dieser Bedingung errechnet werden:
q
sB = b2 + 2 a vA te − v2A te2 = 0 ⇒ te = 11, 25 s .
26.2 Allgemeine Bewegung des Punktes 463
Für die Darstellung der allgemeinen Bewegung eines Punktes (auf einer beliebigen Bahn) bieten
sich zwei Möglichkeiten an:
a) Die Bewegung erfolgt auf einer vorgeschriebenen Bahn und wird
durch Angabe der Funktion s = s(t) beschrieben. Die Wegkoordinate
s folgt dabei allen Krümmungen der Bahn (Abbildung 26.3).
Vorteile dieser Darstellungsweise: Es gilt der gesamte (besonders ein-
fache) Formelsatz 26.1 bis 26.7, der für die geradlinige Bewegung an- Abbildung 26.3: Die
gegeben wurde, wobei die Beschleunigung allerdings jeweils nur die Wegkoordinate s folgt
tangential zur Bahnkurve gerichtete so genannte Bahnbeschleunigung allen Krümmungen
der Bahn
ist.
Nachteile: Die Funktion s(t) enthält keine Informationen über die Bahnkurve, auch nicht
über einen bei einer gekrümmten Bahn immer vorhandenen zusätzlichen Beschleunigungs-
anteil (Normalbeschleunigung).
Für viele Aufgabenstellungen ist diese (im Allgemeinen einfachere) Betrachtungsweise aus-
reichend (man denke an die „Fahrzeugaufgaben“ des vorigen Abschnitts, bei denen die Ein-
schränkung auf eine geradlinige Bewegung ohne weiteres fallengelassen werden kann, s ent-
spricht dabei z. B. der Anzeige des Tageskilometerzählers).
b) Die Beschreibung der Bewegung in einem Koordinatensystem durch einen Ortsvektor ~r,
dessen Komponenten von der Zeit t abhängig sind, enthält die komplette Information über
die Bahnkurve (die Komponenten des Ortsvektors definieren eine Parameterdarstellung der
Bahnkurve) und die Lage des bewegten Punktes auf der Bahnkurve zu jedem beliebigen Zeit-
punkt t.
Als Maß für die Änderung des Ortsvektors mit der Zeit wird (analog zur Änderung des zu-
rückgelegten Weges pro Zeit, vgl. Abschnitt 26.1.1) der Geschwindigkeitsvektor definiert. Der
Zuwachs des Ortsvektors im Zeitintervall ∆t kann als Differenz der benachbarten Ortsvektoren
aufgeschrieben werden.
464 26 Kinematik des Punktes
Geschwindigkeitsvektor:
∆x(t)
∆~r ∆t ẋ(t) d~r
~v = lim = lim = = . (26.8)
∆t→0 ∆t ∆t→0 ∆y(t) ẏ(t) dt
∆t
ê Die Richtung des Sekantenvektors ∆~r wird beim Grenzübergang zur Tangentenrichtung der
Bahnkurve, und damit wird ~v ein tangential zur Bahnkurve gerichteter Vektor.
ê Der Geschwindigkeitsvektor ~v(t) ergibt sich durch Ableitung des Ortsvektors nach der Zeit
(ein Vektor wird nach einer skalaren Größe differenziert, indem seine Komponenten diffe-
renziert werden). Die Angabe eines „mittleren Geschwindigkeitsvektors“ (analog zur mitt-
leren Geschwindigkeit in einem Zeitintervall) ist nicht sinnvoll.
s 2 2 s 2 2
∆~r ∆x ∆y ∆s d~r dx dy ds
= + ≈ ⇒ =
dt + = = ṡ = v .
∆t ∆t ∆t ∆t dt dt dt
Auf der linken Seite dieser Gleichung steht der Betrag des nach der Zeit abgeleiteten Ortsvektors,
so dass der gesuchte Zusammenhang gefunden ist.
Der Betrag des Geschwindigkeitsvektors (Quadratwurzel aus der Summe der Quadrate seiner
Komponenten) ist gleich der Bahngeschwindigkeit v(t):
q
d~r p
v = |~v| = = v2x + v2y = ẋ2 + ẏ2 . (26.9)
dt
26.2 Allgemeine Bewegung des Punktes 465
ê Der Geschwindigkeitsvektor muss also immer darstellbar sein als Produkt der (skalaren)
Bahngeschwindigkeit mit einem tangential an die Bahnkurve gerichteten Einheitsvektor:
~v(t) = v(t) ·~et (t) . (26.10)
Der Tangenteneinheitsvektor ~et hat die (konstante) Länge 1 und die (mit der Zeit t veränder-
liche) Richtung der Tangente an die Bahnkurve.
ê Durch bestimmte Integration von 26.9 über die Zeit erhält man den zwischen zwei Zeitpunk-
ten t1 und t2 zurückgelegten Weg (Länge s1, 2 eines Stücks der Bahnkurve):
Zt2 p
s1, 2 = ẋ2 + ẏ2 dt . (26.11)
t1
Beispiel:
Ein Rad mit dem Radius R rollt (ohne zu gleiten)
mit der konstanten Geschwindigkeit v0 auf der Horizonta-
len. Für einen Punkt A im Abstand a vom Radmittelpunkt
sollen die Bahnkurve und die Bahngeschwindigkeit ermit-
0
telt werden.
Das Koordinatensystem wird (wie skizziert) so gelegt, dass
sich das Rad zur Zeit t = 0 bei x = 0 befindet und der Punkt
0
A senkrecht unter dem Radmittelpunkt liegt.
Nach einer Zeit t (gestrichelt gezeichnet) hat das Rad nach 26.5 den Weg v0 t zurückgelegt und
die gleiche Strecke auf dem Umfang abgewälzt (fett gezeichnet), so dass der Punkt A unter dem
eingezeichneten Winkel („Bogen/Radius“) zu finden ist. Für seine Lage zum Zeitpunkt t lassen
sich die Koordinaten
v0 t v0 t
x = v0 t − a sin , y = R − a cos (26.12)
R R
ablesen. Es sind die Komponenten des Ortsvektors ~r, der die Bewegung des
Punktes A beschreibt. Seine Bahngeschwindigkeit errechnet sich nach 26.9:
r a 2
p a v0 t
v = ẋ2 + ẏ2 = v0 1 + − 2 cos .
R R R
Die Bahnkurve, die durch die Para-
meterdarstellung 26.12 beschrieben
wird, heißt Zykloide (in Abhängig-
keit vom Abmessungsverhältnis Ra
verkürzt, spitz oder verlängert). Ani-
mationen rollender Räder, die un-
terschiedliche Zykloiden erzeugen, Abbildung 26.7: Bildschirm-Schnappschuss des rollenden
kann man unter www.TM-aktuell.de Rades mit einem Punkt, der eine verlängerte Zykloide erzeugt
sehen1 .
Die Berechnung des vom Punkt A zurückgelegten Weges (Länge der Bahnkurve für eine Umdre-
hung des Rades) nach 26.11 findet man unter www.TM-Mathe.de (numerische Integration).
1 DerBildschirm-Schnappschuss der Abbildung 26.7 wurde von der Animation mit einem Maple-Script (im Internet
verfügbar) erzeugt, das der Student Thomas Dulz geschrieben hat.
466 26 Kinematik des Punktes
Als Maß für die Änderung des Geschwindigkeitsvektors mit der Zeit wird der Beschleunigungs-
vektor ~a als Ableitung des Geschwindigkeitsvektors nach der Zeit definiert. Für die in einem
kartesischen Koordinatensystem beschriebene ebene Bewegung ergibt sich der
Beschleunigungsvektor:
d d~r d 2~r
d~v v̇x (t) ẍ(t) ax (t)
~a = = = 2 = = = ,
dt dt dt dt v̇y (t) ÿ(t) ay (t) (26.13)
q
a = a2x + a2y .
Da die Geschwindigkeit ein Vektor ist, bei dem sich sowohl der Betrag (Bahngeschwindigkeit v)
als auch die Richtung mit der Zeit ändern können, ergibt sich auch bei konstanter Bahngeschwin-
digkeit ein Beschleunigungsvektor, wenn die Bewegung nicht geradlinig ist. Dies wird deutlich,
wenn man den als Produkt von Bahngeschwindigkeit und Tangenteneinheitsvektor dargestellten
Geschwindigkeitsvektor 26.10 nach der Zeit ableitet. Unter Beachtung der Produktregel erhält
man:
d~v d dv(t) d~et
~a = = [v(t) ·~et (t)] = ·~et (t) + v(t) · . (26.14)
dt dt dt dt
Der erste Anteil ist die tangential zur Bahnkurve gerichtete Bahnbeschleunigung (mit dem Be-
trag, der sich auch nach 26.4 ergeben würde). Zur Interpretation des zweiten Anteils muss vorab
untersucht werden, was für ein Vektor der nach der Zeit abgeleitete Tangenteneinheitsvektor ist.
Dazu sollen zunächst zwei Spezialfälle betrachtet werden.
• d~et steht senkrecht auf ~et, 1 bzw. ~et, 2 , also senkrecht auf dem 1
Tangenteneinheitsvektor ~et ,
• d~et hat die Länge dα, =
Für die allgemeine ebene Bewegung eines Punktes (Bewegung auf einer beliebigen ebenen Bahn)
führt eine entsprechende Überlegung auf eine ähnliche Beziehung, wobei der (konstante) Radius
der Kreisbahn durch den (im Allgemeinen veränderlichen) Krümmungsradius ρ der Bahnkurve
zu ersetzen ist (ds = ρ dα). Dies ist jeweils der Radius des Krümmungskreises eines Kurven-
punktes. Der Krümmungskreis hat mit der Kurve im gemeinsamen Punkt die Koordinaten, die
Tangente (Anstieg y0 ) und die 2. Ableitung y00 gemeinsam2 .
2 Unter dem Stichwort „Krümmungskreis, Krümmungsradius“ findet man auf der Internet-Site www.TM-Mathe.de eine
ausführliche Darstellung dieses Themas mit Herleitung der Formeln und einer Animation.
468 26 Kinematik des Punktes
ê Der Beschleunigungsvektor der Bewegung eines Punktes setzt sich aus zwei senkrecht auf-
einander stehenden Komponenten zusammen: Die Bahnbeschleunigung mit dem Betrag
at = v̇ ist wie die Geschwindigkeit tangential zur Bahnkurve gerichtet (Tangentialbeschleu-
2
nigung), die Normalbeschleunigung mit dem Betrag an = vρ ist senkrecht dazu zum Krüm-
mungsmittelpunkt der Bahnkurve gerichtet.
ê Die Bahnbeschleunigung hat den Wert Null, wenn die Bewegung mit konstanter Bahnge-
schwindigkeit erfolgt.
ê Die Normalbeschleunigung ist bei Bewegung auf einer beliebigen Bahnkurve nur dann
gleich Null, wenn die Bahn nicht gekrümmt ist (z. B. bei geradliniger Bewegung oder in
Wendepunkten). Bei Bewegung eines Punktes auf einer Kreisbahn ist die Normalbeschleu-
nigung stets ungleich Null.
ê Der Betrag der Gesamtbeschleunigung kann nach
q
a = at2 + a2n (26.17)
berechnet werden. Dies ergibt den gleichen Wert wie die Berechnung des Betrages des Be-
schleunigungsvektors nach 26.13. Die Gesamtbeschleunigung ist stets zur konkaven Seite
der Bahn gerichtet (bei verschwindender Normalbeschleunigung tangential zur Bahnkurve).
Beispiel:
Ein Gleitstein A bewegt sich mit konstanter Ge-
schwindigkeit vA auf einer vertikalen Führung. Er nimmt die
Stange A-B mit, die durch eine drehbar gelagerte Hülse glei-
tet. Bei t = 0 nimmt die Stange eine horizontale Lage ein.
Es sollen die Bahnkurve, die Geschwindigkeit und die Be-
schleunigung des Punktes B ermittelt werden.
Gegeben: a , l , vA , l = 3 a .
Bezüglich des skizzierten Koordinatensystems wird die Lage
des Punktes B durch die Koordinaten xB und yB beschrieben.
Mit dem Weg vA t nach 26.5, den der Gleitstein A bis zum
Zeitpunkt t zurückgelegt hat, und den gegebenen geometri-
2
schen Größen liest man aus nebenstehender Skizze z. B. ab: 2
2
q
xB l − a2 + v2A t 2
= q
a a2 + v2 t 2
A
(Strahlensatz). Eine entsprechende Beziehung (ebenfalls nach dem Strahlensatz) findet sich für
yB , und damit sind die Komponenten des Ortsvektors von B (Parameterdarstellung der Bahnkur-
ve, siehe auch www.TM-aktuell.de) bekannt:
l l
xB = a q − 1 , yB = vA t q − 1 .
2 2
a + vA t 2 a + v2A t 2
2
26.2 Allgemeine Bewegung des Punktes 469
Durch Differenzieren nach der Zeit t erhält man die Komponenten des Geschwindigkeitsvektors
und des Beschleunigungsvektors:
" #
a l v2A t a2 l
vBx = ẋB = − 3 , vBy = ẏB = vA 3 −1 ,
(a2 + v2A t 2 ) 2 (a2 + v2A t 2 ) 2
a l v2A 3 v2A t 2 3 a2 l v3A t
aBx = v̇Bx = 3 2 2 2
− 1 , aBy = v̇By = − 5 .
(a2 + v2A t 2 ) 2 a + vA t (a2 + v2A t 2 ) 2
Die Bewegung eines Punktes auf einer Kreisbahn ist ein wichtiger
Spezialfall der allgemeinen Bewegung des Punktes. Zur Beschrei-
bung der Lage des Punktes auf der Kreisbahn ist die Angabe einer
Winkelkoordinate ϕ(t) meist besser geeignet als die Wegkoordinate
s(t) (Abbildung 26.10) und wohl immer günstiger als die Beschrei-
bung durch einen Ortsvektor.
Wenn R der Radius der Kreisbahn ist, dann gilt
s(t) = R ϕ(t) , Abbildung 26.10: Weg-
v(t) = ṡ(t) = R ϕ̇(t) , (26.18) koordinate s und Winkel-
koordinate ϕ
at (t) = v̇(t) = R ϕ̈(t) .
Es ist üblich und zweckmäßig, analog zur Winkelkoordinate ϕ(t) auch eine Winkelgeschwin-
digkeit und eine Winkelbeschleunigung zur Beschreibung der Bewegung eines Punktes auf der
Kreisbahn zu definieren:
Während die meisten Menschen eine recht gute Vorstellung von Geschwindigkeiten haben (zu-
mindest in den Größenordnungen, die von Autos erreicht werden), ist die Vorstellungskraft für
Beschleunigungen im Allgemeinen nicht sehr groß (Autohersteller wissen das und verstecken
den Begriff der Beschleunigung in einer Geschwindigkeitsaussage: „Beschleunigt von 0 auf
100 km/h in 8,3 s“). Deshalb werden in den Beispielen 1 bis 4 einige Zahlenwerte berechnet.
Beispiel 1:
Ein Pkw beschleunigt von 0 auf 100 km/h in 8,3 s. Wie groß ist die mittlere Be-
schleunigung?
Nach 26.2 berechnet man:
v2 − v1 100 − 0 km 100 · 1000 m
am = = = = 3, 35 m/s2 .
t2 − t1 8, 3 − 0 h s 8, 3 · 3600 s2
Dies ist für ein anfahrendes Auto ein beachtlicher Wert. Beim freien Fall (ohne Luftwiderstand)
allerdings tritt die Beschleunigung g = 9,81 m/s2 auf, ein Wert, der von keinem Pkw erreicht wird
(es sei denn, er durchbricht ein Brückengeländer und geht zum freien Fall über).
Beispiel 2:
Ein Pkw fährt mit konstanter Geschwindigkeit v = 40 km/h eine Kurve mit dem
Radius R = 20 m. Wie groß ist die Normalbeschleunigung?
Nach 26.22 berechnet man:
v2 402 (km)2 402 · 106 m2
an = = 2
= = 6, 173 m/s2 .
R 20 h m 20 · 36002 m s2
Auch dieses Ergebnis ist repräsentativ für die meisten technischen Bewegungsabläufe: Die Nor-
malbeschleunigungen sind im Allgemeinen deutlich größer als die Bahnbeschleunigungen. Das
folgende Beispiel zeigt allerdings eine Ausnahme von dieser Regel.
Beispiel 3:
Bei einem Crash-Test prallt ein Pkw mit 50 km/h gegen eine starre Wand. Nach
80 ms sind Fahrzeug und Dummies auf die Geschwindigkeit 0 abgebremst. Wie groß ist die
mittlere Beschleunigung während des Aufpralls?
Aus der Geschwindigkeitsdifferenz und der Abbremszeit ergibt sich nach 26.2:
v2 − v1 0 − 50 km 50 · 103 m
am = = =− = −173, 6 m/s2 .
t2 − t1 0, 08 − 0 h s 0, 08 · 3600 s2
Beispiel 4:
Ein Pkw-Motor läuft mit einer Drehzahl n = 5000 min−1 . Wie groß ist die Win-
kelgeschwindigkeit ω? Welche Normalbeschleunigung an erfährt ein Punkt auf der Kurbelwelle,
der R = 6 cm von der Drehachse entfernt ist?
Die Winkelgeschwindigkeit wird nach 26.21 berechnet:
1
ω = 2 π n = 2 π · 5000 · = 523, 6 s−1 .
60 s
Damit ergibt sich die sehr große Normalbeschleunigung für den Punkt auf der Kurbelwelle:
an = R ω 2 = 16449 m/s2 .
472 26 Kinematik des Punktes
26.2.4 Koppelgetriebe
Beispiel 1:
Die skizzierte Schubkurbel (sie-
he www.TM-aktuell.de) wird mit der konstan-
cos 0
ten Winkelgeschwindigkeit ω0 angetrieben. Bei
t = 0 soll die Kurbel ihre tiefste Stelle einneh- 0
men. Gesucht sind die Funktionen x(t), v(t) und
a(t), die die Lage, die Geschwindigkeit und die sin 0
Beschleunigung des Kolbens beschreiben.
Gegeben: R = 12 cm , l = 30 cm , ω0 = 2 s−1 .
Rechts ist eine ausgelenkte Lage mit den wich-
tigsten Abmessungen skizziert. Die Kurbel hat
sich entsprechend 26.23 um den Winkel ω0t ge-
dreht.
Die durch die Koordinate x beschriebene Lage des Kolbens ergibt sich aus
der Summe der beiden Katheten zweier rechtwinkliger Dreiecke:
q
x(t) = R cos ω0t + l 2 − R2 sin2 ω0t .
Durch Differenzieren dieser Funktion kommt man zu v(t) und a(t):
!
R2 ω0 sin ω0t cos ω0t λ sin 2ω0t
v(t) = −Rω0 sin ω0t − p = −Rω0 sin ω0t + p ,
l 2 − R2 sin2 ω0t 2 1 − λ 2 sin2 ω0t
cos 2ω t + λ 2 sin4 ω t R
0 0
a(t) = −Rω02 cos ω0t + λ 23 mit λ= .
2 2 l
1 − λ sin ω0t
An dem einfachen Beispiel werden die typischen Probleme der Untersuchung von Koppelge-
trieben deutlich, die allerdings bei fast allen kinematischen Problemen ähnlich sind: Die Bezie-
hungen sind hochgradig nichtlinear. Das Differenzieren des Weg-Zeit-Gesetzes mag schon bei
diesem Beispiel lästig sein, immerhin konnte man auf diesem Wege v(t) und a(t) ermitteln, weil
es möglich war, x(t) als Funktion aufzuschreiben (und gegebenenfalls kann man das Differen-
zieren einem symbolisch rechnenden Programm übertragen).
3 AlsBeispiel 1 wird hier die einfache Schubkurbel behandelt, bei der der Mittelpunkt der Kurbel auf der Geraden liegt,
auf der sich der Kolben bewegt. Im Abschnitt 27.4 findet man den allgemeineren Fall der exzentrischen Schubkurbel.
26.2 Allgemeine Bewegung des Punktes 473
−60
Beispiel 2:
Eine so genannte Viergelenkkette besteht aus
zwei Gliedern AB bzw. CD, die an jeweils einem Endpunkt
(A bzw. D) fixiert sind (je nach Bewegungsmöglichkeit als
Kurbeln oder Schwingen bezeichnet) und über den jeweils
anderen Punkt über eine Koppel BC verbunden sind. Hier
soll das Glied AB als Antrieb betrachtet werden, dessen Lage
durch die Angabe eines Winkel ϕ bestimmt wird.
Gegeben sind die Koordinaten xA und yA des Punktes A im
skizzierten Koordinatensystem und die Längen a, b und c der
Getriebeglieder, gesucht sind die Koordinaten der Punkte B Abbildung 26.12: Viergelenkkette
und C in Abhängigkeit von ϕ.
Die Koordinaten des Punktes B können unmittelbar aus der Abbildung 26.12 abgelesen werden:
xB = xA − a cos ϕ , yB = yA + a sin ϕ .
Mit den bekannten Punkten B und D findet man den Punkt C als Schnittpunkt der beiden Kreise
um diese Punkte mit den Radien b bzw. c, und damit beginnen die typischen Schwierigkeiten.
Die Kreisgleichungen können noch problemlos formuliert werden:
(x − xB )2 + (y − yB )2 = b2 , x2 + y2 = c2 .
Man stellt eine Gleichung nach y um, setzt das Ergebnis in die andere ein, und nach etwas müh-
samer Rechnung erhält man eine quadratische Gleichung für x:
2 xB L2 L4 − c2 y2B 1
x2 + p x + q = 0 mit p=− , q= , L2 = (xB2 + y2B − b2 + c2 ) .
xB2 + y2B xB2 + y2B 2
Bei der Lösung dieser Gleichung können folgende Fälle auftreten:
• Man erhält zwei reelle Lösungen. Dies sind die x-Werte der Punkte C und C (siehe Abbil-
dung 26.12), die für die Stellung ϕ möglich sind.
474 26 Kinematik des Punktes
• Man erhält eine (Doppel-)Lösung. Dann berühren sich die beiden Kreise nur. B, C und D
liegen in diesem Fall auf einer Geraden.
• Es ergibt sich keine reelle Lösung, die Kreise schneiden sich nicht. Dann hat das Getriebe
entweder eine unmögliche Geometrie, oder die durch ϕ beschriebene Stellung ist unmöglich.
Für den Fall zweier reeller Lösungen x1 und x2 müssen noch die zugehörigen y-Werte durch Ein-
setzen in die Kreisgleichungen ermittelt werden. Wegen der Doppeldeutigkeit der Wurzel erhält
man zu jedem x-Wert jeweils zwei y-Werte, die die Kreisgleichung erfüllen. Deshalb müssen die
y-Werte für beide Kreisgleichungen berechnet werden, und von den vier Wertepaaren sind die
beiden x-y-Paare die Koordinaten der Punkte C und C, die für beide Kreise gleich sind.
Schließlich muss noch entschieden werden, ob die Koordinaten für C oder C verwendet werden
sollen. Weil die gesamte beschriebene Rechnung für jede Stellung ϕ ausgeführt werden muss,
wird man den Punkt wählen, der näher an dem entsprechenden Punkt der vorhergehenden Stel-
lung liegt. Für den Sonderfall nur einer reellen Lösung muss speziell überlegt werden, denn aus
dieser Speziallage (B, C und D liegen auf einer Geraden) ist die weitere Bewegung in beiden
Richtungen möglich. Man wird dann die Entscheidung so fällen, dass die Bewegungsrichtung
beibehalten wird.
Das Dilemma kann so formuliert werden: Der gesamte gerade beschriebene Entscheidungspro-
zess stellt für die Handrechnung gar kein Problem dar. Man sieht sofort, welche Lösung zu
verwenden ist, und es ist auch klar, wie es nach einer Speziallage weitergeht. Bei der Computer-
rechnung sind aber alle Entscheidungen vorab zu programmieren, was nicht nur recht schwierig
ist, es bleibt auch immer aus numerischen Gründen kritisch, denn die Speziallagen werden nie-
mals genau getroffen, was häufig zu Überraschungen bei der Fortsetzung der Rechnung führt.
Aber natürlich gibt es zur Computerrechnung keine vernünfti-
ge Alternative, weil im Allgemeinen nicht nur die Bewegung
der Viergelenkkette interessiert, sondern das Bewegungsgesetz K
C
von so genannten Koppelpunkten (Punkte, die mit einem Ge- B
triebeglied, vorzugsweise der Koppel, starr verbunden sind). D A
Die Abbildung 26.13 zeigt eine Viergelenkkette mit einem
Koppelpunkt K, der mit der Koppel BC starr verbunden ist. Um
die (in der Abbildung zu sehende) Koppelkurve zu ermitteln,
müssen vorab die Koordinaten der Punkte B und C nach dem Abbildung 26.13: Kurbelschwin-
oben beschriebenen Algorithmus berechnet werden. ge mit Koppelpunkt K
In Abhängigkeit von den Abmessungen der drei Glieder und der Lage der
beiden Lagerpunkte können die beiden gelagerten Glieder in ihren Bewe-
gungsmöglichkeiten eingeschränkt sein. Man nennt sie Kurbeln, wenn sie ei-
ne komplette Kreisbewegung ausführen können, ansonsten Schwingen:
ê Die Abbildung 26.13 zeigt eine so genannte Kurbelschwinge, weil die (Antriebs-)Kurbel
AB bei ihrem kompletten Umlauf eine schwingende Bewegung des Gliedes DC erzeugt (die
von den Punkten B bzw. C durchlaufenen Bahnen sind in der Abbildung angedeutet).
26.2 Allgemeine Bewegung des Punktes 475
B C
B B K
C K
A A
D
C D
K A
ê Die Abbildung 26.14 zeigt eine so genannte Doppelschwinge, weil bei dieser geometrischen
Konfiguration beide gelagerten Glieder nur schwingende Bewegungen ausführen können
(die von den Gelenken B bzw. C erreichbaren Punkte sind als Bahnkurven eingezeichnet).
Dieses Koppelgetriebe, bei der der mit der Koppel BC starr verbundene Punkt K auf der
durch B und C definierten Geraden liegt, ist mit den hier dargestellten Abmessungen ein
Beispiel für das Erzeugen einer speziell gewünschten Bahnkurve. Man erkennt, dass diese
in einem gewissen Bereich eine fast ideale horizontale Gerade ist. Das wird für so genannte
Wippkräne ausgenutzt, bei denen die anhängende Last bei Transport in der Horizontalen in
diesem Bereich weder gehoben noch gesenkt wird, so dass für diese Bewegung nur eine
minimale Antriebsleistung erforderlich ist.
ê Die Abbildung 26.15 zeigt eine Doppelkurbel, weil beide
gelagerten Glieder eine komplette Kreisbewegung ausfüh- 25
vmax= 25,17
ren können. An diesem Beispiel wird auch gezeigt, dass
die Bewegung (und damit auch die Bahnkurve eines Kop-
20
pelpunktes) von der Anfangsstellung abhängig ist. Für die Bahn−
geschwindigkeit
beiden völlig identischen Getriebe sind zwei Anfangstel- des
Koppelpunktes
lungen möglich (entsprechend der beiden Punkte C und C,
15
wie im Beispiel 2 für die allgemeine Viergelenkkette ge-
zeigt), die zu völlig unterschiedlichen Bewegungen führen.
Man beachte, dass die Antriebskurbel AB in beiden Skizzen
10
exakt die gleiche Lage einnimmt.
Weil die Ergebnisse für die Bahnkurven (z. B. die Komponenten sges= 22,45
xK (ϕ) und yK (ϕ) des Ortsvektors ~rK eines Koppelpunktes) nur 5
punktweise ermittelt werden können, müssen alle weiteren ge-
wünschten Ergebnisse numerisch berechnet werden. Die Kom-
ponenten des Vektors der Bahngeschwindigkeit ẋ und ẏ können 0
nach der im Kapitel 18 auf Seite 275 angegebenen Differenzen-
formel für die erste Ableitung berechnet werden. Der Betrag der 0 5 10
Abbildung 26.16 (erzeugt mit Matlab) zeigt die Bahngeschwindigkeit für die Kurbelschwinge
nach Abbildung 26.13, die hier für den Moment der maximalen Geschwindigkeit des Koppel-
476 26 Kinematik des Punktes
punktes dargestellt ist. Um den bei einem kompletten Umlauf zurückgelegten Weg zu berechnen,
musste nach 26.11 integriert werden, was natürlich auch nur numerisch möglich ist. Weil die
Bahnkurve punktweise bekannt ist, kann man allerdings auch die Länge des von den Punkten
definierten Polygons berechnen.
Die Analyse der Bewegung solcher Getriebe birgt eine ganze Reihe von Fehlermöglichkeiten.
Für eine besonders wirksame Kontrolle der durchgeführten Rechnung bieten sich deshalb Ani-
mationen an, bei denen man sofort erkennt, ob die gewünschte Bewegung auch berechnet wurde.
Unter www.TM-aktuell.de findet man deshalb auch die „bewegten Bilder“ dieser Getriebe.
Schon mit Viergelenkketten sind interessante und für die technische Praxis wichtige Bewegungen
zu erzeugen (siehe den Wippkranmechanismus in Abbildung 26.14). Wenn an die bewegten
Punkte einer Viergelenkkette und/oder an Koppelpunkte weitere Getriebeglieder angeschlossen
werden, sind praktisch beliebige Bewegungen zu realisieren. Allerdings ist die Aufgabe, eine
Bewegung mit ganz bestimmten vorgegebenen Eigenschaften zu erzeugen (Getriebesynthese),
sehr schwierig. Nachfolgend wird ein besonders gelungenes Beispiel vorgestellt.
Beispiel 3:
Der niederländische Künstler T HEO JANSEN stellt Laufmaschinen her, die sich auf
zahlreichen Beinen (vom Wind angetrieben) auf Sand sehr geschickt fortbewegen4 .
Die Abbildung 26.17 zeigt den Mechanismus eines Beins ei-
B
nes solchen „Strandbeests“ maßstäblich mit den von Jansen
gefundenen Abmessungen. Fixpunkte sind die beiden Gelen- D
ke O1 und O2 . Angetrieben wird der Mechanismus durch O1
Drehung der Kurbel O1 A, die gleich zwei Viergelenkketten O2
A
(O1 ABO2 und O1 ACO2 ) bewegt. Von der Schwinge O2 B der
oberen Kurbelschwinge wird der Koppelpunkt D mitgenom- E
men und dieser und der Punkt C der unteren Kurbelschwinge
bestimmen die Lage des Punktes E. Schließlich ist mit dem C
Glied CE der Punkt F starr verbunden, dessen Bahnkurve die
Bewegung des „Fußes“ ist.
Die Analyse dieses Mechanismus ist mit dem Algorithmus
F
möglich, der ausführlich im Beispiel 2 beschrieben wurde,
allerdings muss er fünfmal nacheinander angewendet wer- Abbildung 26.17: Mechanismus
des Beines eines Strandbeests
den, um die Lage eines Punktes F zu bestimmen.
Die Willkürlichkeit, die der Komponentendarstellung eines Vektors bei Wahl eines kartesischen
Koordinatensystems mit festen (zeitlich unveränderlichen) Einheitsvektoren ~ex und ~ey anhaftet,
war der Grund dafür, im Abschnitt 26.2.2 die Beschleunigung in ihre „natürlichen Komponen-
ten“ (tangential und normal zur Bahnkurve) zu zerlegen. Bei der Verwendung dieser natürlichen
Koordinaten musste beachtet werden, dass die Einheitsvektoren ~et und ~en ständig ihre Richtung
ändern (zeitabhängig sind), was beim Differenzieren nach der Zeit beachtet werden musste.
Eine ähnliche Situation liegt vor, wenn die Bewegung mit Hil-
fe von Polarkoordinaten beschrieben wird, was für eine Reihe
Bahnkurve
von Problemen vorteilhaft sein kann. Zur Beschreibung der La-
ge des bewegten Punktes wird sein Abstand r(t) von einem zu
wählenden festen Punkt und der Winkel ϕ(t) bezüglich einer
Bezugsgeraden benutzt (Abbildung 26.19). Mit dem Einheits-
vektor ~er , der stets die Richtung des Ortsvektors hat, kann der
Ortsvektor in der Form Abbildung 26.19: Polarkoordi-
naten
~r(t) = r(t) ·~er (t) (26.24)
angegeben werden. Die Koordinate ϕ(t) steckt bei dieser Darstellung in dem Einheitsvektor ~er .
Da Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektor nicht die Richtung von~er haben, wurde in die
Skizze auch gleich der zweite erforderliche Einheitsvektor ~eϕ eingezeichnet.
478 26 Kinematik des Punktes
1
Die Länge von ∆~er kann für sehr kleine Winkel ∆ϕ (im recht-
winkligen Dreieck mit tan ∆ϕ ≈ ∆ϕ und dem Einheitsvektor als
Kathete mit der Länge 1) mit ∆ϕ angegeben werden, so dass der
Zuwachs von ~er als 1
∆~er = ∆ϕ ·~eϕ Abbildung 26.20: Einheitsvek-
aufgeschrieben werden kann. toren für Polarkoordinaten
Entsprechend liest man ab, dass die Änderung von ~eϕ gerade die entgegengesetzte Richtung von
~er hat, die Länge von ∆~eϕ kann (wie die Länge von ∆~er ) als ∆ϕ angenommen werden, und für
∆~eϕ gilt also:
∆~eϕ = −∆ϕ ·~er .
Division durch ∆ϕ und der Grenzübergang ∆ϕ → 0 liefern die Ableitungen der Einheitsvektoren
nach ϕ und damit auch nach der Zeit:
d~er d~er d~er dϕ
= ~eϕ ⇒ = = ~eϕ ϕ̇ ,
dϕ dt dϕ dt
(26.25)
d~eϕ d~eϕ d~eϕ dϕ
= −~er ⇒ = = −~er ϕ̇ .
dϕ dt dϕ dt
Nun kann der Ortsvektor 26.24 nach der Zeit t abgeleitet werden, und man erhält unter Beachtung
von 26.25
Geschwindigkeitsvektor und Beschleunigungsvektor in Polarkoordinaten:
d~r
~v(t) = = ṙ ·~er + r ϕ̇ ·~eϕ ,
dt
d~v (26.26)
~a(t) = = (r̈ − ϕ̇ 2 r) ·~er + (r ϕ̈ + 2 ṙ ϕ̇) ·~eϕ .
dt
ê Der Sonderfall r = konstant (Kreisbewegung) ist in diesen Formeln enthalten (für die
Kreisbewegung sind Polarkoordinaten die natürlichen Koordinaten). Man erkennt die Bahn-
geschwindigkeit rϕ̇, die Bahnbeschleunigung rϕ̈ und die Normalbeschleunigung rϕ̇ 2 , deren
Minuszeichen anzeigt, dass sie dem Einheitsvektor ~er entgegengesetzt gerichtet ist.
ê In Erweiterung der Begriffe für die Kreisbewegung werden auch für die allgemeine Bewe-
gung ϕ̇ als Winkelgeschwindigkeit und ϕ̈ als Winkelbeschleunigung bezeichnet.
ê Man kann sich eine in kartesischen Koordinaten beschriebene allgemeine Bewegung als
Überlagerung von zwei (rechtwinklig zueinander verlaufenden) geradlinigen Bewegungen
vorstellen (wie z. B. bei der Fahrt eines Brückenkrans, bei dem sich gleichzeitig die Lauf-
katze quer zur Fahrtrichtung bewegt).
26.2 Allgemeine Bewegung des Punktes 479
Analog dazu darf man sich eine mit Polarkoordinaten beschriebene Bewegung als Über-
lagerung einer geradlinigen Bewegung und einer Drehbewegung vorstellen (Beispiel: Ein
Baukran dreht sich und die Laufkatze bewegt sich nach außen). Dementsprechend findet
man in 26.26 den Geschwindigkeitsanteil ṙ und den Beschleunigungsanteil r̈ der geradlini-
gen Bewegung und die bereits diskutierten Anteile der Kreisbewegung. Eine gewisse Son-
derstellung nimmt der Beschleunigungsanteil 2ṙϕ̇ ein. Für das „Baukran-Beispiel“ würde
also neben den bekannten Anteilen noch eine zusätzliche Beschleunigung auch dann auf-
treten, wenn die Drehbewegung mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ erfolgt und die
Laufkatze sich mit konstanter Geschwindigkeit ṙ nach außen bewegt. Die beschleunigende
Wirkung entsteht dadurch, dass sich die Laufkatze in Richtung von Kreisbahnen mit größe-
rem Umfang (und damit größerer Bahngeschwindigkeit) bewegt. Dieser etwas schwierige
Sachverhalt wird im Abschnitt 27.2 ausführlicher diskutiert.
Beispiel:
Für den als Beispiel im Abschnitt 26.2.2 mit kar-
tesischen Koordinaten untersuchten Mechanismus soll die
Bahnkurve in Polarkoordinaten formuliert werden.
Gegeben: a , l , vA = konstant .
Aus dem Bild der Aufgabenstellung liest man ab:
a
r(ϕ) = l −
cos ϕ
(siehe auch www.TM-aktuell.de).
Mehr Information enthält natürlich die Parameterdarstellung.
Wenn die Zeitzählung mit t = 0 in dem Moment beginnt, 2
2
wenn die Stange A-B die horizontale Lage einnimmt, gilt ent- 2
sprechend nebenstehender Skizze:
vA t
q
r(t) = l − a2 + v2A t 2 , ϕ(t) = arctan .
a
Diese Darstellung enthält alle Informationen über den Bewegungsablauf, und es ist im Allgemei-
nen nicht sinnvoll, nach 26.24 den Ortsvektor mit dem zeitlich veränderlichen Einheitsvektor
cos ϕ(t)
~er (t) =
sin ϕ(t)
aufzuschreiben, zumal sämtliche Geschwindigkeits- und Beschleunigungsanteile nach 26.26 durch
Differenzieren von r(t) und ϕ(t) gewonnen werden können. Man erhält z. B.:
v2A t a2 v2A
ṙ(t) = − q , r̈(t) = − 3 ,
a2 + v2A t 2 (a2 + v2A t 2 ) 2
v3A t
1 vA 2 a3
ϕ̇(t) = , ϕ̈(t) = − 2 .
v2A t 2 a v2 t 2
1+ a2 1 + aA2
Damit kann man sämtliche Geschwindigkeits- und Beschleunigungsanteile aufschreiben. Sie
sind radial gerichtet bzw. senkrecht dazu (nicht normal bzw. tangential zur Bahnkurve).
480 26 Kinematik des Punktes
ẋ(t)
d~r
Geschwindigkeitsvektor: ~v(t) = = ẏ(t) (26.27)
dt
ż(t)
p
Bahngeschwindigkeit: v(t) = |~v| = ẋ2 + ẏ2 + ż2 (26.28)
Zt2
Länge der Bahnkurve: p
s1, 2 = ẋ2 + ẏ2 + ż2 dt (26.29)
t1
ẍ(t)
d~v d 2~r
Beschleunigungsvektor: ~a(t) = = 2 = ÿ(t) (26.30)
dt dt
z̈(t)
Gesamtbeschleunigung:
p
a(t) = |~a| = ẍ2 + ÿ2 + z̈2 (26.31)
ê Auch für die Bewegung im Raum gilt, dass der Geschwindigkeitsvektor in jedem Punkt
tangential zur Bahnkurve gerichtet ist und damit als Produkt aus Bahngeschwindigkeit und
Tangenteneinheitsvektor dargestellt werden kann:
~v(t) = v(t) ·~et (t) . (26.32)
ê Durch Differenzieren von 26.32 nach der Zeit ergibt sich der Beschleunigungsvektor
d~v dv d~et d~et ds
~a = = ·~et + v · = v̇ ·~et + v ·
dt dt dt ds dt
2 (26.33)
2 d~et v
= v̇ ·~et + v · = v̇ ·~et + ·~en
ds ρ
mit den gleichen Beschleunigungsanteilen (Bahnbeschleunigung v̇ und Normalbeschleuni-
2
gung vρ ) wie im ebenen Fall. Der Einheitsvektor~en ist der senkrecht zum Tangenteneinheits-
vektor ~et gerichtete Hauptnormalenvektor, der zum Krümmungsmittelpunkt der Bahnkurve
zeigt, ρ ist der Krümmungsradius.
26.3 Aufgaben 481
ê Die Einheitsvektoren ~et und ~en spannen die Schmiegungsebene der Bahnkurve in dem be-
trachteten Punkt auf. In ihr liegen der Geschwindigkeitsvektor und beide Beschleunigungs-
anteile (und damit auch der Vektor der Gesamtbeschleunigung). Es gibt also in jedem Punkt
der Bahnkurve eine „beschleunigungsfreie“ Richtung. Es ist die Richtung des Binormalen-
vektors ~eb , der senkrecht zu ~et und ~en gerichtet ist und mit diesen das begleitende Dreibein
der Bahnkurve bildet.
Wenn also die Beschleunigungswerte bei der räumlichen Bewegung eines Punktes nur für
bestimmte Zeitpunkte interessieren, kann die Bewegung jeweils wie eine ebene Bewegung
in der Schmiegungsebene des aktuellen Punktes der Bahnkurve betrachtet werden.
26.3 Aufgaben
Aufgabe 26.1:
Ein Formel-1-Rennwagen beschleunigt (im Jahr 1993) aus dem Stand auf eine
Geschwindigkeit von 100 km/h in 2,6 s. Aus einer Geschwindigkeit von 280 km/h stoppt er bei
Vollbremsung nach 151,3 m.
a) Wie groß ist die mittlere Beschleunigung am in m/s2 während des Anfahrvorgangs?
b) Wie groß ist die mittlere Bremsverzögerung (negative Beschleunigung) bei dem beschriebe-
nen Bremsvorgang?
a) Zum Zeitpunkt t = 0 befindet sich das Planetenrad in der skizzierten horizontalen Lage. Es ist
die Bahnkurve des Punktes A in Parameterdarstellung x(t) und y(t) bezüglich des skizzierten
Koordinatensystems zu ermitteln.
r
b) Für welche Radienverhältnisse R ist der Punkt A nach einem vollen Umlauf des Steges wieder
in der skizzierten Lage?
c) Man ermittle die Funktionen für die Bahngeschwindigkeit v(t) und die
Gesamtbeschleunigung a(t).
d) Mit einer geeigneten Software (www.TM-aktuell.de) stelle man die Bahn-
kurve des Punktes A für ar = 2 und Rr = 1, 5 grafisch dar und berechne die
Länge des Weges, den er bei zwei vollen Stegumläufen zurücklegt.
482 26 Kinematik des Punktes
Aufgabe 26.3:
Ein sternförmiger Mitnehmer rotiert mit
der konstanten Winkelgeschwindigkeit ω0 . Er führt Werk-
stücke in einer Rinne. Betrachtet werden soll die Bewe-
gung eines Werkstücks im geraden Rinnenabschnitt von
A nach B.
Gegeben: l = 10 cm ; a = 6 cm ; ω0 = 0, 3 s−1 .
0
Man ermittle
a) das Bewegungsgesetz s(t) eines Werkstücks, wenn es bei t = 0 den Punkt A passiert,
b) das Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz v(t) und das Beschleunigungs-Zeit-Gesetz a(t),
c) die Zeit tAB , die das Werkstück für die Bewegung von A bis B benötigt,
d) die Geschwindigkeit vB des Werkstücks, die es bei Punkt B hat.
Aufgabe 26.4:
Eine Kurbel dreht sich mit der kon-
stanten Winkelgeschwindigkeit ω0 und nimmt die Stan-
ge A-B mit. Bei t = 0 befindet sich A im Punkt D.
Gegeben: a , l , R , ω0 . 0
Aufgabe 26.5:
Ein Zahnrad mit dem Radius R treibt eine hori- 0 0
zontal geführte Zahnstange nach dem Winkel-Zeit-Gesetz
ϕ(t) = ϕ0 sin k1t
an. Die Zahnstange ist über einen starren Hebel gelenkig mit dem
auf einer vertikalen Bahn geführten Gleitstein G verbunden. Das
System nimmt zur Zeit t = 0 die dargestellte Lage ein. 0
π
Gegeben: R , l = 2 R , k1 , ϕ0 = 4 .
Man ermittle
a) das Bewegungsgesetz y(t) des Gleitsteins G und seinen maximalen Hub y0 ,
b) die Zeit t1 bis zum ersten Erreichen des oberen Totpunktes.
Ein starrer Körper besteht aus einer unendlichen Anzahl von Punkten, die ihre Lage zueinander
nicht ändern. Für die weitaus meisten Probleme der Kinematik und Kinetik ist dieses fiktive
Gebilde das völlig ausreichende Modell zur Untersuchung von Bewegungsvorgängen (wie in der
Statik zur Untersuchung von Gleichgewichtszuständen).
Man könnte die ebene Bewegung des starren Körpers mit den Verfahren aus dem Kapitel 26
(Kinematik des Punktes) beschreiben, wenn man die Bewegung von zwei Punkten des Körpers
beschreiben würde. Da der Abstand der Punkte konstant bleibt, genügt jedoch bereits die Angabe
der zeitlichen Abhängigkeit
• der beiden Koordinaten eines Punktes und einer Koordinate eines zweiten Punktes oder
• der beiden Koordinaten eines Punktes und einer zusätzlichen Winkelkoordinate.
Der starre (durch keine Bindungen behinderte) Körper in der Ebene hat drei Freiheitsgrade.
Seine Lage ist durch die Angabe von drei geeigneten Koordinaten eindeutig bestimmt, seine
Bewegung wird durch die zeitliche Abhängigkeit dieser Koordinaten beschrieben.
ê Durch zusätzliche Bindungen (z. B. an eine vorgeschriebene Bahn) kann die Anzahl der
Freiheitsgrade eingeschränkt sein. Für die Probleme der technischen Praxis ist die Bewegung
eines Körpers mit nur einem Freiheitsgrad sogar eher die Regel als die Ausnahme.
Mit dem Weg vA t nach 26.5, den der Mitnehmer bis zum Zeitpunkt t zurückge-
legt hat, entnimmt man dem nebenstehend skizzierten rechtwinkligen Dreieck das
Bewegungsgesetz:
vA t vA t
tan ϕ = ⇒ ϕ = arctan .
l l
Durch Differenzieren erhält man die Winkelgeschwindigkeit und die Winkelbe-
schleunigung der Gabel:
1 vA vA l 2 v3 l t
ωG (t) = ϕ̇(t) = = 2 , αG (t) = ω̇G (t) = − 2 A2 2 2 .
vA t 2 l 2
l + vA t 2 (l + vA t )
1+ l
Beispiel 2:
Eine Kurbel mit dem Radius R läuft mit der konstanten
Winkelgeschwindigkeit ω0 um und nimmt dabei eine Schwinge mit
(eine Animation unter www.TM-aktuell.de zeigt die Bewegung die-
0
ses Getriebes). Es sollen das Bewegungsgesetz der Schwinge ϕ(t), ihre
Winkelgeschwindigkeit ωS (t) und Winkelbeschleunigung αS (t) ermit-
telt werden.
l
Gegeben: ω0 , β = = 3 .
R
Als Beginn der Zeitzählung t = 0 wird die vertikale
Lage der Schwinge ϕ = 0 gewählt, bei der der Mit-
nehmer der Kurbel seine tiefste Lage hat. Dann ist
der bis zum Zeitpunkt t von der (mit konstanter Win-
0
kelgeschwindigkeit umlaufenden) Kurbel zurückgeleg-
cos
te Winkel nach 26.23 gleich ω0 t. 0
Die Schwinge hat sich bis zu diesem Zeitpunkt um den Winkel ϕ ge- sin 0
dreht, und der Skizze rechts wird der geometrische Zusammenhang ent-
nommen, der das Bewegungsgesetz der Schwinge liefert:
R sin ω0t sin ω0t
tan ϕ = ⇒ ϕ(t) = arctan .
l − R cos ω0t β − cos ω0t
Diese Kontrollmöglichkeit wurde bereits im Beispiel 1 des Abschnitts 26.2.4 genutzt und ist
bei Aufgaben dieser Art immer zu empfehlen: Wenn die grafischen Darstellungen der analy-
tisch erzeugten Ableitungen mit den durch numerisches Differenzieren gewonnenen Kurven de-
ckungsgleich sind, ist das ein vorzügliches Indiz für die Richtigkeit. Gleichwertig ist natürlich
die Benutzung eines Programms, das symbolisch differenzieren kann.
ê Der Antrieb mit konstanter Winkelgeschwindigkeit über eine Schwinge, die die Bewegung
umwandelt, ist in der technischen Praxis recht häufig anzutreffen. Neben der Möglichkeit,
gleichmäßige Drehbewegungen in „Hin-und-Herbewegungen“ umzuformen (Werkzeugma-
schinen, Schwingtische, . . .), zeigt das nachfolgende Beispiel eine weitere Variante.
Beispiel 3:
Das so genannte Malteserkreuz ist ein Mechanismus, 0
der eine kontinuierliche Drehbewegung in eine periodische (durch
Rasten unterbrochene) Drehbewegung umwandelt.
Der Mitnehmer der sich mit ω0 drehenden Kurbel nimmt nur auf
einem Teil seines Weges (während des Eingriffs in einen Schlitz)
das Malteserkreuz mit, das sich bei einem Eingriff um den Winkel
2 ϕ ∗ weiterdreht. Die Skizze zeigt gerade das Ende eines Eingriffs
und den Beginn der Ruhephase (vgl. www.TM-aktuell.de, dort auch
als Animation).
Während des Eingriffs gilt genau das Bewegungsgesetz, das für die Schwinge des Beispiels 2 her-
geleitet wurde. Die kinematischen Diagramme dieses Beispiels zeigten erwartungsgemäß, dass
für den Punkt des größten Ausschlags der Schwinge (Umkehrpunkt ihrer Bewegung) die Win-
kelgeschwindigkeit ωS gleich Null ist. Wenn nun das Malteserkreuz so konstruiert wird, dass
der Austrittspunkt des Mitnehmers aus dem Schlitz (und aus Symmetriegründen damit auch der
Eintrittspunkt) mit dem Stillstand des Malteserkreuzes zusammenfällt, dann beginnt dessen Ru-
hephase genau in dem Moment, in dem es ohnehin keine Winkelgeschwindigkeit hat, so dass
es nicht zusätzlich gebremst werden muss (es wird allerdings sicherheitshalber während der Ru-
hephase vom hinteren Teil des Mitnehmers, der genau in die bogenförmigen Aussparungen des
Malteserkreuzes passt, arretiert).
Aus den für das Beispiel 2 ermittelten Funktionen entnimmt man, dass ωS = 0
wird, wenn R
cos ω0t ∗ =
l
ist. R und l sind zum Zeitpunkt t ∗ also Kathete bzw. Hypotenuse eines recht-
winkligen Dreiecks, der Winkel ϕ ∗ berechnet sich in diesem Dreieck aus
R
ϕ ∗ = arcsin . 2 ϕ∗
R
l l
Während des Mitnehmereingriffs dreht sich das Malteserkreuz um 120◦ 0,866
den Winkel 2 ϕ ∗ . Es ist klar, dass eine volle Umdrehung (360◦ ) ein
90◦ 0,707
ganzzahliges Vielfaches von 2 ϕ ∗ sein muss, so dass nur spezielle
72◦ 0,588
Abmessungsverhältnisse sinnvoll sind, von denen die nebenstehende
Tabelle einige zeigt. 60◦ 0,500
486 27 Kinematik starrer Körper
Ein Körper führt eine reine Translation aus, wenn jede beliebige Gerade, die zwei Punkte des
starren Körpers verbindet, während der Bewegung ihre Richtung beibehält. Bei einer solchen Be-
wegung mit zwei Freiheitsgraden bewegen sich alle Punkte des Körpers auf kongruenten Bahnen,
so dass die Beschreibung der Bewegung eines Punktes genügt (Kinematik des Punktes, Kapitel
26). Dieser Spezialfall braucht also nicht noch einmal betrachtet zu werden. Man beachte:
ê Die Bahnen bei der translatorischen Bewegung können beliebige Kurven sein, zum Beispiel
auch Kreise: Die Kabine eines Paternosters führt (zum Glück für verträumte Mitfahrer) wäh-
rend der gesamten Bewegung eine Translation aus, auch in den Umkehrbereichen, in denen
sich alle Punkte der Kabine auf Kreisbahnen bewegen.
Es ist üblich (und meist zweckmäßig), die allgemeine Bewegung als eine Überlagerung einer
Translation mit einer Rotation zu beschreiben.
Beispiel 1:
Das skizzierte Dreieck bewegt sich aus der
Anfangslage ABC in die Endlage A0 B0C0 . Man kann diese
Bewegung zum Beispiel auffassen als eine reine Transla-
tion aus ABC nach A0 B00C00 (alle Punkte bewegen sich auf
kongruenten Bahnen) und eine Drehung um den Punkt A0 .
Bei dieser Betrachtung wurde der Punkt A als Bezugspunkt
(zur Beschreibung der Translation und als Zentrum der Ro- Abbildung 27.2: Die Bahnen A-A0 ,
tation) verwendet. Natürlich kann dafür auch jeder andere B-B00 und C-C00 sind deckungsgleich
Punkt benutzt werden. (auch wenn es nicht so aussieht)
ê Die mit dem Beispiel 1 demonstrierte Betrachtungsweise ist selbst dann in vielen Fällen
noch sinnvoll, wenn eine Bewegung mit nur einem Freiheitsgrad untersucht wird. Sie ist
für die Analyse komplizierter Bewegungsabläufe so wichtig, dass sie nachfolgend an zwei
einfachen Beispielen noch einmal verdeutlicht werden soll.
Beispiel 2:
Eine Walze, die auf einer schiefen Ebene eine
reine (schlupffreie) Rollbewegung ausführt, hat nur einen
Freiheitsgrad.
Die Translation (beschrieben zum Beispiel durch eine Ko-
ordinate x, die die jeweilige Lage des Mittelpunktes angibt)
erfolgt auf einer Geraden, und die Drehbewegung ist von
der Translation nicht unabhängig, weil die auf dem Umfang
abgewälzte Strecke gleich sein muss mit der Strecke, die der Abbildung 27.3: Reines Rollen
Mittelpunkt zurückgelegt hat. Es gilt die so genannte
Rollbedingung: x = Rϕ . (27.1)
Obwohl Translation und Rotation gleichzeitig ablaufen, ist es vielfach zweckmäßig, auch bei der
reinen Rollbewegung Translation und Rotation gesondert zu betrachten (Abbildung 27.4).
27.1 Die ebene Bewegung des starren Körpers 487
Beispiel 3:
Die Bewegung eines bei A drehbar gelagerten Stabes, der sich aus der vertikalen
Lage um den Winkel ϕ gedreht hat, wird durch Überlagerung einer Translation, bei der der Stab
die vertikale Lage beibehält, mit einer Rotation beschrieben.
Es werden unterschiedliche Punkte (A,
B, C) zur Beschreibung der Translati-
on benutzt. Um den gleichen Endzu-
stand der Bewegung zu erreichen, muss
der Stab (abhängig vom gewählten Be-
zugspunkt) unterschiedliche translatori-
sche Wege zurücklegen (für den Bezugs-
punkt C ist der translatorische Weg am
größten, bei Wahl des Punktes A ist er =0
Null), während sich der Stab in allen drei
betrachteten Varianten immer um den
gleichen Winkel drehen muss. Da dies
zu jedem Zeitpunkt der Bewegung gilt,
ist auch die Ableitung der Winkelkoor-
dinate nach der Zeit unabhängig vom ge- Abbildung 27.5: Unterschiedliche Translation, aber der
wählten Bezugspunkt für die Rotation: Rotationswinkel ϕ ist immer gleich
Die Winkelgeschwindigkeit des rotatorischen Anteils der ebenen Bewegung eines starren Kör-
pers ist von der Wahl des Bezugspunktes (Drehpunkt für die Rotation) unabhängig.
Im Beispiel 3 bietet sich Punkt A als Bezugspunkt an, weil dann kein translatorischer Anteil zu
berücksichtigen ist. Es gibt jedoch (in der Kinetik) oft gute Gründe, den Schwerpunkt zu wählen,
so dass selbst eine reine Rotation als Kombination aus Translation und Rotation betrachtet wird.
488 27 Kinematik starrer Körper
Bei gleichzeitiger Translation und Rotation können die Geschwindigkeiten aller Punkte des Kör-
pers aus der Überlagerung der beiden Anteile ermittelt werden (Abbildung 27.6). Es ist ein-
leuchtend, dass es in der Ebene genau einen Punkt geben muss, für den sich die beiden Ge-
schwindigkeitsanteile gerade aufheben. Wenn dieser Punkt als Bezugspunkt für die Bewegung
gewählt wird, entfällt also der translatorische Anteil.
Zu jedem Zeitpunkt der allgemeinen Bewegung eines starren Körpers in der Ebene kann der
Geschwindigkeitszustand wie bei einer (momentanen) reinen Rotation um einen festen Punkt,
den so genannten Momentanpol, analysiert werden.
ê Der Momentanpol befindet sich in dem betrachteten Augenblick in Ruhe, während alle übri-
gen Punkte des Körpers Rotationen um ihn ausführen. Die Geschwindigkeiten dieser Punkte
sind tangential an die (konzentrischen) Kreise um den Momentanpol gerichtet.
ê Der Momentanpol liegt in der Bewegungsebene (muss kein Punkt des bewegten Körpers
selbst sein). Er ändert im Allgemeinen ständig seine Lage. Er ist im betrachteten Moment
geschwindigkeitsfrei, in der Regel aber nicht beschleunigungsfrei.
Beispiel 1:
Im Beispiel 2 des vorigen Abschnitts wurde herausge-
funden, dass der Berührungspunkt zwischen Rad und Unterlage mo-
mentan in Ruhe ist. Dieser Punkt ist der Momentanpol M der Be-
wegung. Die Geschwindigkeit des beliebigen Punktes B des Rades
ist dann senkrecht zur Verbindungslinie MB gerichtet. Wenn die Ge-
schwindigkeit vA eines Punktes A des starren Körpers bekannt ist (hier
soll es die horizontale Geschwindigkeit des Radmittelpunktes sein), Abbildung 27.7: Ge-
kann die momentane Winkelgeschwindigkeit ω des Körpers nach schwindigkeiten sind
vA proportional zum Ab-
ω= (27.2) stand vom Momentanpol
rA
berechnet werden (rA ist der Abstand des Punktes A vom Momentanpol M). Da für jeden Punkt
des Körpers eine entsprechende Formel gilt, kann z. B. für den Punkt B im Abstand rB vom
Momentanpol die Geschwindigkeit nach
vB = rB ω (27.3)
berechnet werden. Diese am speziellen Beispiel gewonnenen Erkenntnisse gelten allgemein.
27.1 Die ebene Bewegung des starren Körpers 489
Die Geschwindigkeiten zweier Punkte A und B eines starren Körpers verhalten sich wie ihre
Abstände vom Momentanpol:
vA rA
= . (27.4)
vB rB
Die Geschwindigkeiten sind senkrecht zu den Verbindungslinien der Punkte A bzw. B mit dem
Momentanpol gerichtet.
Diese Aussagen ermöglichen es, die Geschwindigkeiten beliebiger Punkte eines starren Körpers
anzugeben, wenn die Lage des Momentanpols und die Geschwindigkeit eines Punktes bekannt
sind. Andererseits kann die Lage des Momentanpols auf der Grundlage dieser Erkenntnisse ge-
funden werden.
Im Allgemeinen kann man die Lage des Momentanpols mit einer der
vier folgenden Aussagen finden:
ê Bei reinem Rollen eines starren Körpers (ohne Schlupf) auf ei-
ner ruhenden Unterlage ist immer der Berührungspunkt zwi-
schen Körper und Unterlage der Momentanpol (Abbildung 27.8,
oben).
ê Wenn die nicht parallelen Geschwindigkeitsrichtungen zweier
Punkte A und B bekannt sind, findet man den Momentanpol als
Schnittpunkt der Senkrechten zu diesen Richtungen (Abbildung
27.8, Mitte).
ê Bei bekannten parallelen Geschwindigkeitsrichtungen zweier
Punkte A und B (Abbildung 27.8, unten) müssen zusätzlich
auch Richtungssinn und Größe der Geschwindigkeiten bekannt
sein. Der Momentanpol liegt auf der Verbindungsgeraden bei-
der Punkte, die Abstände der Punkte vom Momentanpol sind
nach 27.4 proportional zu den Beträgen ihrer Geschwindigkeiten
(Strahlensatz-Figur).
ê Bei parallelen Geschwindigkeiten zweier Punkte mit gleichem
Richtungssinn und gleicher Größe liegt der Momentanpol „im Abbildung 27.8: Lage
des Momentanpols
Unendlichen“ (reine Translation).
Beispiel 2:
Für das (schraffiert gezeichnete) Pleuel einer Schub-
kurbel (Animation unter www.TM-aktuell.de) soll der Momentan-
pol für die skizzierte Lage bestimmt werden.
Für die beiden Endpunkte des Pleuels sind die Geschwindigkeits-
richtungen bekannt, da sich der Kolben nur vertikal bewegen kann
und die Kurbel eine Kreisbewegung (mit tangential gerichteter Ge-
schwindigkeit) ausführt. Der Schnittpunkt der Senkrechten auf die
Geschwindigkeitsrichtungen ist der gesuchte Momentanpol M.
Die Drehrichtung der Kurbel (hier rechtsdrehend gezeichnet) hat
keinen Einfluss auf die Lage des Momentanpols.
490 27 Kinematik starrer Körper
Beispiel 3:
Die Koppel BC der skizzierten Viergelenkkette führt
bei Antrieb durch eines der beiden gelagerten Glieder (z. B. AB) ei-
ne relativ komplizierte Bewegung aus (Animation unter www.TM-
aktuell.de, siehe auch Abschnitt 26.2.4).
Für jede Lage findet man den Momentanpol
auf der Verlängerungslinie der beiden gelagerten
Glieder, weil sich die Punkte B und C auf Krei-
sen um A bzw. D mit tangential zu den Kreisen
gerichteten Geschwindigkeiten bewegen.
Beispiel 4:
Die Endpunkte zweier Seile, die m m
=3s =5 s
auf unterschiedlichen Radien eine Walze um-
schlingen, werden wie skizziert bewegt.
Man findet den Momentanpol der Bewegung der
Walze nach der Strahlensatz-Figur und könnte
bei gegebenen Radien für jeden Punkt der Walze
die Geschwindigkeit ermitteln. Der Skizze ist zu
entnehmen, dass die Walze eine Linksdrehung
ausführt und der Mittelpunkt (mit der einge-
zeichneten Geschwindigkeit) angehoben wird.
Beispiel 5:
Die Gleitsteine A und B sind durch eine starre Stan-
ge gekoppelt. In der skizzierten Stellung bewegt sich Gleitstein
A mit vA . Die Geschwindigkeit vB des Punktes B sowie Rich-
tung und Betrag der Geschwindigkeit vC des Mittelpunktes C der
Stange AB sollen ermittelt werden (Animation unter www.TM-
aktuell.de).
Gegeben: vA , a = 2 b .
Die beiden Senkrechten zu den Geschwindigkeiten in den Punkten A und B
schneiden sich im Momentanpol M. Nach 27.4 errechnet man
vB a a
= ⇒ vB = vA = 2 vA .
vA b b
vB
Der Punkt C liegt in der Mitte der Stange, sein Abstand zum M a
Momentanpol ist also gleich der halben Diagonalen: vC B
vC 1
√
2 a +b
2 2
√
5 b a f
vA
=
b
⇒ vC =
2
vA . a C
A a
Wegen der Gleichschenkligkeit von MAC liest man ab: vA
π b
ϕ = −α mit α = arctan ⇒ ϕ = 63, 43◦ .
2 a
27.1 Die ebene Bewegung des starren Körpers 491
Entsprechend der Idee, die Bewegung eines starren Körpers durch die Translation eines Punktes
des Körpers und eine Rotation um diesen Punkt zu beschreiben, wird dieser ausgewählte Punkt
O mit dem Ortsvektor~rO verfolgt.
Dieser Vektor beschreibt die Translation des Körpers nach den
Regeln der Kinematik des Punktes (Kapitel 26), wofür ein ge-
eignetes raumfestes Koordinatensystem verwendet wird (in der
Abbildung 27.9 wurde willkürlich ein kartesisches Koordinaten-
system eingezeichnet, es könnten z. B. durchaus auch Polarkoor- =
dinaten sein).
Für die Beschreibung der Rotation um den Punkt O werden Po-
larkoordinaten mit dem Ursprung in O gewählt (in der Abbil-
dung 27.9 wurde die Lage eines beliebigen Punktes P des Kör-
pers durch r∗ und ϕ festgelegt). Weil für den starren Körper der
Abbildung 27.9: Translation
Abstand r∗ der Punkte O und P konstant bleibt, ist in dem Vektor
und Rotation
~r∗ , der die Lage von P relativ zu O beschreibt, nur der Einheits-
vektor ~er von der Zeit abhängig.
Für den beliebigen Punkt P des Körpers, dessen Lage im raumfesten Koordinatensystem durch
~r(t) =~rO (t) +~r∗ (t) =~rO (t) + r∗ ·~er (t) (27.5)
beschrieben wird, können der Geschwindigkeitsvektor und der Beschleunigungsvektor durch
ein- bzw. zweimaliges Ableiten von 27.5 nach der Zeit ermittelt werden. Mit den Formeln 26.25
für die Ableitung der zeitabhängigen Einheitsvektoren (Abschnitt 26.2.5) erhält man:
d~r d~rO d~r∗ d~rO d~er d~rO
~v = = + = + r∗ = + r∗ ϕ̇ ·~eϕ ,
dt dt dt dt dt dt
d~v d 2~rO d~eϕ d 2~rO
~a = = 2
+ r∗ ϕ̈ ·~eϕ + r∗ ϕ̇ = + r∗ ϕ̈ ·~eϕ − r∗ ϕ̇ 2 ·~er .
dt dt dt dt 2
Die Ableitung des Winkels ϕ nach der Zeit ist nach 26.19 die Winkelgeschwindigkeit ω der
Rotation um den Punkt O. Damit erhält man (wegen~eϕ =~et und~er = −~en für die Kreisbewegung
um den Punkt O) die
d~r d~rO
~v = = + r∗ ω ·~et =~vtrans +~vrot ,
dt dt
(27.6)
d~v d 2~rO
~a = = + r∗ ω̇ ·~et + r∗ ω 2~en = ~atrans +~at, rot +~an, rot .
dt dt 2
ê Die ebene Bewegung des starren Körpers wird beschrieben durch die Translation eines belie-
bigen Bezugspunktes O, der eine Rotation um den Bezugspunkt überlagert ist. Die Translati-
on des Bezugspunktes kann auf einer beliebigen (im Allgemeinen gekrümmten) Bahnkurve
492 27 Kinematik starrer Körper
erfolgen und wird nach den Regeln der „Kinematik des Punktes“ (Kapitel 26) beschrieben.
Die Rotation um den Bezugspunkt erfolgt mit der (im Allgemeinen zeitlich veränderlichen)
Winkelgeschwindigkeit ω um den Bezugspunkt, wobei jeder Punkt des starren Körpers eine
Kreisbewegung um den Bezugspunkt ausführt.
ê Die Geschwindigkeit eines beliebigen Punktes P setzt sich aus einem translatorischen Anteil
vtrans und dem rotatorischen Anteil vrot zusammen. Dabei ist
vtrans die Bahngeschwindigkeit des Bezugspunktes O,
vrot = r∗ ω die Bahngeschwindigkeit der Kreisbewegung von P auf einem Kreis mit
dem Radius r∗ um den Bezugspunkt O.
Die beiden Anteile vtrans und vrot sind vektoriell zur Gesamtgeschwindigkeit v des Punktes
P zu überlagern.
Hinweis: Um die momentane Geschwindigkeit eines Punktes P des starren Körpers
zu bestimmen, ist es meist günstiger, als Bezugspunkt O den Momentanpol
zu wählen, so dass sich für Punkt P nur ein Rotationsanteil ergibt.
ê Die Beschleunigung eines beliebigen Punktes P setzt sich aus einem translatorischen Anteil
atrans und dem rotatorischen Anteil vrot zusammen. Dabei ist
atrans die Gesamtbeschleunigung des Bezugspunktes O, die sich im Allgemeinen
nach 26.16 aus der Bahnbeschleunigung des Bezugspunktes at,trans und sei-
ner Normalbeschleunigung
v2
an,trans = trans
ρ
zusammensetzt (ρ ist der Krümmungsradius der Bahn des Bezugspunktes),
arot die sich im Allgemeinen auch aus zwei Anteilen (at, rot und an, rot ) zusam-
mensetzende Beschleunigung der Kreisbewegung des Punktes P um den
Bezugspunkt O:
at, rot = r∗ ω̇ , an, rot = r∗ ω 2 .
Im allgemeinen Fall ist also die Gesamtbeschleunigung des Punktes P aus vier Anteilen
vektoriell zusammenzusetzen.
Beispiel 1:
Ein Planetenrad mit dem Radius r rollt auf
einem feststehenden Sonnenrad (Radius R) ab. Der Steg
dreht sich mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit ωS . Steg
Gegeben: R , r , ωS .
Für den Außenpunkt B und den Punkt C (Berührungs-
punkt mit dem Sonnenrad) des Planetenrades sollen die
Beträge der Geschwindigkeiten vB bzw. vC und die Be-
träge der Gesamtbeschleunigungen aB bzw. aC ermittelt Abbildung 27.10: Sonnenrad und Pla-
netenrad
werden.
27.1 Die ebene Bewegung des starren Körpers 493
Infolge der Drehbewegung des Steges mit konstanter Winkelgeschwindigkeit bewegt sich der
Punkt A, der zum Steg und zum Planetenrad gehört, nach 26.18 mit der Geschwindigkeit
vA = (R + r) ωS
auf einer Kreisbahn. Für die Ermittlung der Geschwindigkeiten der Punkte B und C werden die
beiden Wege a) und b) demonstriert, unter c) werden die Beschleunigungen berechnet:
a) Der Momentanpol MP des Planetenrades ist der Berührungs-
punkt C des rollenden Rades mit dem feststehenden Sonnen-
rad (Abbildung 27.11). Die Geschwindigkeit des Punktes A
ist bekannt, und damit ergibt sich nach 27.4:
=
vB = 2 vA = 2 (R + r) ωS , vC = 0 .
Die Winkelgeschwindigkeit des Planetenrades errechnet sich
nach 27.2: Abbildung 27.11: Momentan-
vA R
ωP = = 1+ ωS . pol und Geschwindigkeiten
r r
b) Für die Überlagerung einer Translation mit ei-
ner Rotation nach 27.6 wird der Mittelpunkt
A als Bezugspunkt gewählt. Allen Punkten
des Planetenrades wird die translatorische Ge-
schwindigkeit vA zugeordnet, und der Trans-
lation wird die Rotation um den Punkt A mit
der Winkelgeschwindigkeit ωP überlagert. Die Abbildung 27.12: Translation und Rotation
Überlagerung nach 27.6 liefert:
vB = vA + r ωP = 2 (R + r) ωS , vC = vA − r ωP = 0 .
c) Die Beschleunigungen werden ebenfalls
durch Überlagerung nach 27.6 ermittelt.
Da die Translation eine Kreisbewegung mit
konstanter Winkelgeschwindigkeit ωS ist,
gibt es nur eine Normalbeschleunigung als
translatorischen Anteil, der für alle Punkte Translation
des Planetenrades in gleicher Größe und auf Kreisbahn
Auch die Rotation erfolgt mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ωP , so dass auch der rota-
torische Anteil nur eine Normalbeschleunigung liefert, die aber immer vom betrachten Punkt
zum Bezugspunkt A gerichtet ist und vom Abstand des Punktes zum Drehpunkt A abhängt.
In der Abbildung 27.13 sind die Beschleunigungsanteile in den Punkten B und C angetra-
gen. Da sie gleich bzw. entgegengesetzt zu den Translationsanteilen gerichtet sind, können
sie skalar zusammengefasst werden, und es entsteht:
R2
aB = an,trans + an, rot = (R + r) ωS2 + r ωP2 = 3 R + 2 r + ωS2 ,
r
R
aC = an,trans − an, rot = (R + r) ωS2 − r ωP2 = −R 1 + ωS2 .
r
494 27 Kinematik starrer Körper
ê Für die Ermittlung der Geschwindigkeiten erweist sich die Methode, den Momentanpol der
Bewegung zu bestimmen, um dann auf sehr einfache Weise für alle Punkte zu den gewünsch-
ten Aussagen zu kommen, fast immer als der günstigere Weg.
ê Die (hier nicht behandelte) Möglichkeit, die Analyse des Beschleunigungszustandes mit
Hilfe des Beschleunigungspols (Punkt, der momentan keine Beschleunigung erfährt) durch-
zuführen, kann nicht empfohlen werden. Die Betrachtung der Bewegung als Translation
(beschrieben durch die Bewegung eines Punktes) mit überlagerter Rotation ist dafür im All-
gemeinen deutlich übersichtlicher und auch einfacher.
Beispiel 2:
Die Achse eines Rades wird mit der kon-
stanten horizontalen Geschwindigkeit v0 geführt. Das Rad
0
durchfährt eine Bodenwelle, die man im Bereich A . . . B als
kreisförmig ansehen darf. Beim Passieren des Punktes A sei
t = 0.
Gegeben: R , r , v0 . 45°
Berechnet werden sollen
a) die Bahngeschwindigkeit vS (t) und die Gesamtbe-
schleunigung aS (t) des Radmittelpunktes und die Win-
kelgeschwindigkeit ω(t) sowie die Winkelbeschleuni-
gung α(t) des Rades,
b) für ϕ = 45◦ die Geschwindigkeit vD und die Gesamtbe-
schleunigung aD des Punktes D.
a) Der Radmittelpunkt bewegt sich auf einer Kreisbahn mit dem Radius R − r. Für diese Bewe-
gung wird das Bewegungsgesetz ϕ(t) formuliert, um dann nach 26.18 die Bahngeschwindig-
keit und die Bahnbeschleunigung zu berechnen.
Nach 26.5 ist v0t der bei konstanter Geschwindigkeit v0 bis zum
Zeitpunkt t zurückgelegte (horizontale) Weg, und aus der neben-
stehenden Skizze liest man ab (rechtwinkliges Dreieck):
v0 t v0 t
sin ϕ = ⇒ ϕ(t) = arcsin .
R−r R−r
Nach 26.18 erhält man die Bahngeschwindigkeit
(R − r) v0
vS = (R − r) ϕ̇ = q
(R − r)2 − v20 t 2 0
und die Bahnbeschleunigung
v30 t
at, S = (R − r)ϕ̈(t) = (R − r) 3 .
(R − r)2 − v20 t 2 2
Die Gesamtbeschleunigung berechnet sich nach 26.17 aus der Bahnbeschleunigung at, S und
der Normalbeschleunigung an, S , für die 26.22 gilt:
27.1 Die ebene Bewegung des starren Körpers 495
s
2
v2S
(R − r)2 v20
q
aS = at,2 S + a2n, S = at,2 S + = 3 .
R−r
(R − r)2 − v20 t 2 2
Der Berührungspunkt zwischen Rad und Boden ist der Momentanpol der Bewegung des
Rades. Der Radmittelpunkt mit der Geschwindigkeit vS hat vom Momentanpol den Abstand
r, so dass man nach 27.2 die Winkelgeschwindigkeit des Rades erhält:
vS R v0
ω(t) = = −1 q .
r r (R − r)2 − v2 t 2 0
Die Winkelbeschleunigung des Rades ergibt sich nach 26.20:
v30 t
R
α(t) = ω̇(t) = −1 3 .
r (R − r)2 − v20 t 2 2
b) Aus dem Bewegungsgesetz ϕ(t) errechnet sich die Zeit tB , nach der ein Win-
kel von ϕ = 45◦ erreicht wird:
R−r R−r
tB = sin 45◦ = √ .
v0 2 v0
Dies wird in die Formel für vS eingesetzt, und man erhält die Geschwin-
digkeit des Mittelpunktes zum Zeitpunkt tB . Der Punkt D mit der doppelten
Entfernung vom Momentanpol (nebenstehende Skizze) hat die doppelte Ge-
schwindigkeit:
√ √
vS = vS (tB ) = 2 v0 ⇒ vD = 2 2 v0 .
Für die Berechnung der Beschleunigung des Punktes D wird die Bewegung als Translation
des Mittelpunktes S und Rotation um diesen Punkt betrachtet: Beide Bewegungen liefern je
einen Bahnbeschleunigungsanteil at und einen Normalbeschleunigungsanteil an , so dass sich
die Beschleunigung des Punktes D aus vier Anteilen zusammensetzt.
Die für den Punkt S (Bewegung auf einer Kreisbahn
mit dem Radius R − r) geltenden Anteile werden als
Translations-Beschleunigung für alle Punkte des Ra-
des (mit Betrag und Richtung) übernommen (neben-
stehende Skizze), für die Rotation um diesen Punkt
(mit ω und α) gelten 26.18 und 26.22.
Aus den vier Beschleunigungsanteilen errechnet sich die Gesamtbeschleunigung für den
Punkt D:
2 v20 v2 (tB ) 2 v20
at,trans = at, S (tB ) = , an,trans = S = ,
R−r R−r R−r
2 v20 2 v2
at, rot = r α(tB ) = , an, rot = r ω 2 (tB ) = 0 .
R−r r
s 2
2
2 v0 R R
q
2 2
aD = (at,trans + at, rot ) + (an,trans − an, rot ) = 8−4 + .
R−r r r
496 27 Kinematik starrer Körper
Beispiel 1:
In einem sich bewegenden Fahrzeug
wird ein Gegenstand senkrecht nach oben geworfen:
Die Beobachter im Fahrzeug bzw. außen stehende
Beobachter (im ruhenden System) sehen unterschied-
liche Bahnkurven (Abbildung 27.14).
Ein Punkt auf dem Umfang eines Rades führt aus der
Sicht des Mitfahrers eine Kreisbewegung aus, für den Abbildung 27.14: Bahnkurven aus der Sicht
ruhenden Beobachter bewegt sich der Punkt auf einer von mitfahrenden und nicht mitfahrenden
Zykloide (vgl. Beispiel auf Seite 465). Beobachtern
In diesem Abschnitt sollen Probleme behandelt werden, bei denen sich ein Punkt relativ zu einem
sich ebenfalls bewegenden starren Körper bewegt. Natürlich kann die Bewegung des Punktes im-
mer mit Bezug auf ein festes Koordinatensystem betrachtet werden. Vielfach ist es jedoch zweck-
mäßiger, die Führungsbewegung (Bewegung des starren Körpers im festen Koordinatensystem)
und die Relativbewegung (des Punktes relativ zum starren Körper) gesondert zu betrachten und
die beiden Bewegungen anschließend zu überlagern. Das folgende Beispiel zeigt, was dabei zu
beachten ist.
Beispiel 2:
Eine Kreisscheibe rotiert mit der konstanten Winkelge-
schwindigkeit ω0 . Zum Zeitpunkt t = 0 beginnt ein Punkt P vom Au-
ßenrand aus eine Bewegung mit konstanter Relativgeschwindigkeit vrel
radial nach innen.
Gegeben: R , ω0 , vrel . 0
In einem festen (nicht mitrotierenden) Koordinatensystem sollen der
Ortsvektor, der Geschwindigkeitsvektor und der Beschleunigungsvek-
tor für den Punkt P ermittelt werden.
Bis zum Zeitpunkt t hat sich die Scheibe nach 26.23 um den Winkel ω0t
gedreht, der Punkt ist nach 26.5 um vrel t radial nach innen gewandert.
Bezüglich des skizzierten (festen) Koordinatensystems wird seine Lage
0
durch folgenden Ortsvektor beschrieben:
cos ω0t
~r(t) = (R − vrel t)
sin ω0t
Die Ableitung des Ortsvektors nach der Zeit liefert den Geschwindigkeitsvektor und den Be-
schleunigungsvektor:
27.2 Ebene Relativbewegung eines Punktes 497
− sin ω0t − cos ω0t
~v(t) = (R − vrel t) ω0 + vrel ,
cos ω0t − sin ω0t
2 − cos ω0 t sin ω0t
~a(t) = (R − vrel t) ω0 + 2 vrel ω0 .
− sin ω0t − cos ω0t
Die Vektoren
− sin ω0t − cos ω0t
~et = und ~en =
cos ω0t − sin ω0t
sind der tangentiale Einheitsvektor bzw. der (nach innen gerichtete) Normalen-Einheitsvektor, so
dass die Faktoren vor diesen Vektoren deren Beträge sind.
Das Ergebnis gestattet eine anschauliche Interpretation der Geschwindig-
keits- und Beschleunigungsanteile:
Der Geschwindigkeitsvektor ~v setzt sich wie erwartet aus der Führungs-
geschwindigkeit mit dem Betrag
v f = (R − vrel t) ω0 Abbildung 27.15:
(Bahngeschwindigkeit des Punktes der rotierenden Scheibe, in dem sich P Führungsgeschwin-
zur Zeit t gerade befindet) und der Relativgeschwindigkeit mit dem Betrag digkeit und Relativ-
vrel zusammen. Die nebenstehende Skizze zeigt diese beiden Anteile. geschwindigkeit
Auch bei der Beschleunigung wird der erste Summand des Ergebnisses durch die Führungs-
bewegung (Drehung der Scheibe) verursacht: Es ist die Normalbeschleunigung der Punkte der
Scheibe, die sich auf einer Kreisbahn mit dem Radius (R − vrel t) bewegen (dort befindet sich P
gerade). Diese so genannte Führungsbeschleunigung a f könnte im allgemeinen Fall noch um die
Bahnbeschleunigung dieses Punktes ergänzt werden müssen, wenn die Führungsgeschwindigkeit
(hier die Winkelgeschwindigkeit ω0 ) nicht konstant ist.
Eine im Allgemeinen auch mögliche Relativbeschleunigung arel kommt im Ergebnis nicht vor,
weil die Relativgeschwindigkeit des Punktes P gegenüber der Scheibe konstant ist.
Dafür tritt ein Beschleunigungsanteil auf, der nur in der Kombination der beiden Bewegungen
seine Ursache haben kann, da diese so genannte Coriolisbeschleunigung
aC = 2 ω0 vrel
(nach dem französischen Physiker G USTAVE G ASPARD C ORIOLIS, 1792
- 1843) das Produkt der Winkelgeschwindigkeit der Führungsbewegung
und der Relativgeschwindigkeit enthält (aC tritt nicht auf, wenn nicht
ω0 und vrel gleichzeitig vorhanden sind). In dem betrachteten Beispiel
kann die Coriolisbeschleunigung als „Verzögerung“ interpretiert werden,
die der Punkt P erfährt, weil er sich aus Bereichen höherer Führungsge- Abbildung 27.16:
schwindigkeit auf das Niveau geringerer Führungsgeschwindigkeit (klei- Führungsbeschleuni-
nerer Radius bei gleicher Winkelgeschwindigkeit ω0 ) begibt. Dement- gung und Coriolisbe-
sprechend ist dieser Beschleunigungsanteil in diesem Fall der Führungs- schleunigung
geschwindigkeit entgegengerichtet (Abbildung 27.16).
498 27 Kinematik starrer Körper
Das Phänomen der Coriolisbeschleunigung kann mit folgendem Gedanken-Experiment gut ver-
anschaulicht werden: Auf einem Kinder-Karussell, das sich mit der Winkelgeschwindigkeit ω0
dreht, seien die Mitfahrerplätze (Pferde, Feuerwehr-Autos, . . .) in zwei Reihen angeordnet. Auf
dem inneren Kreis mit dem kleineren Radius ri fahren die Kinder mit der Bahngeschwindigkeit
vi = ri ω0 . Die Kinder auf den „Außen-Pferden“, die auf einem Kreis mit dem größeren Radius ra
angeordnet sind, fahren mit der größeren Geschwindigkeit va = ra ω0 . Der Karussell-Betreiber,
der während der Fahrt (z. B. zum Kassieren) von einem „Innen-Pferd“ zu einem „Außen-Pferd“
geht, wird vorher vom Karussell mit vi bewegt, danach mit va , wird also schneller. Seine Be-
schleunigung von vi auf va ist die Coriolisbeschleunigung.
Aber auch dann, wenn die Relativbewegung nicht in radialer Richtung erfolgt (der Karussell-
Betreiber geht z. B. von einem „Außen-Pferd“ zum nächsten), ergibt sich ein entsprechender Be-
schleunigungsanteil, wie das nachfolgende Beispiel einer Relativbewegung in Umfangsrichtung
zeigt.
Beispiel 3:
Ein Punkt P bewegt sich in einer kreisförmigen Rinne mit
dem Radius r auf einer mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit ω0
rotierenden Scheibe. Die ebenfalls konstante Relativgeschwindigkeit vrel
habe die gleiche Richtung wie die Führungsgeschwindigkeit 0
v f = r ω0
(Bahngeschwindigkeit des Scheibenpunktes, in dem sich P gerade befin-
det), so dass sich P mit der konstanten Gesamtgeschwindigkeit
Abbildung 27.17:
v = r ω0 + vrel Relativbewegung in
auf einem Kreis mit dem Radius r bewegt. Dann erfährt er ausschließlich Tangentialrichtung
eine Normalbeschleunigung, die nach 26.22 aufgeschrieben werden kann:
v2 (r ω0 + vrel )2 v2
a= = = r ω02 + rel + 2 ω0 vrel = a f + arel + aC .
r r r
Auch in diesem Fall kommt zur Führungsbeschleunigung a f (Normalbeschleunigung infolge der
Kreisbewegung mit ω0 ) und zur Relativbeschleunigung arel (Normalbeschleunigung infolge der
Kreisbewegung mit vrel ) noch der Anteil der Coriolisbeschleunigung aC (Beschleunigung infolge
Überlagerung zweier Kreisbewegungen) hinzu.
ê Die Coriolisbeschleunigung des Beispiels 3 hat den gleichen Betrag wie bei der radial ge-
richteten Relativbewegung im Beispiel 2 und ist wie dort senkrecht zur Relativgeschwindig-
keit gerichtet. Man darf also schlussfolgern, dass eine beliebig gerichtete Relativgeschwin-
digkeit (diese ließe sich in eine tangentiale und eine radiale Komponente zerlegen) eine
Coriolisbeschleunigung aC = 2 ω vrel hervorruft, die senkrecht zur Relativgeschwindigkeit
gerichtet ist.
ê Schon bei der Beschreibung der Bewegung eines Punktes mit Polarkoordinaten (Abschnitt
26.2.5) war in der Beschleunigungsformel 26.26 ein Anteil aufgetaucht, der der Coriolisbe-
schleunigung entsprach, weil man sich eine Bewegung in Polarkoordinaten als Drehung um
den Winkel ϕ(t) vorstellen kann, der eine radiale „Relativbewegung“ r(t) überlagert wird.
27.2 Ebene Relativbewegung eines Punktes 499
Die Führungsbewegung des starren Körpers wird in einem festen Koordinatensystem be-
schrieben. Für den Punkt des starren Körpers, in dem sich der Punkt P, der die Relativbe-
wegung ausführt, gerade befindet, werden nach den Formeln 27.6 die Führungsgeschwindig-
keit ~v f (maximal zwei Anteile) und die Führungsbeschleunigung ~a f (maximal vier Anteile)
ermittelt.
Für die Untersuchung der Relativbewegung des Punktes P darf man das Führungssystem als
in Ruhe befindlich ansehen. Nach den Regeln der Kinematik des Punktes werden die Relativ-
geschwindigkeit vrel und die Relativbeschleunigung arel (maximal zwei Anteile) ermittelt.
Die Absolutgeschwindigkeit (Geschwindigkeit des Punktes P bezüglich des festen Koordina-
tensystems) ergibt sich durch Addition von Führungs- und Relativgeschwindigkeit:
~v =~v f +~vrel . (27.7)
Die Absolutbeschleunigung (Beschleunigung des Punktes P bezüglich des festen Koordina-
tensystems) ergibt sich durch Addition von Führungs-, Relativ- und Coriolisbeschleunigung:
~a = ~a f +~arel +~aC . (27.8)
Der Vektor der Coriolisbeschleunigung hat den Betrag
aC = 2 ω f vrel (27.9)
(ω f ist die Winkelgeschwindigkeit der Führungsbewegung). Die Richtung von ~aC findet man
durch Drehung des Vektors ~vrel um 90◦ mit dem Drehsinn von ω f .
500 27 Kinematik starrer Körper
Beispiel 4:
Der Mittelpunkt einer starren Scheibe bewegt
sich mit der Winkelgeschwindigkeit ω0 und der Winkelbe-
schleunigung α0 auf einer Kreisbahn mit dem Radius R. Die
Scheibe dreht sich um ihren Mittelpunkt mit ω1 und α1 (alle 1
1
vier Werte beziehen sich auf die „ruhende Welt“).
0
In einer kreisförmigen Rinne (Radius r) bewegt sich relativ zur 0
Scheibe ein Punkt P mit vrel und arel . Zum betrachteten Zeit-
punkt hat P den Abstand r∗ vom Mittelpunkt der Scheibe.
Gegeben: ω0 , α0 , R , ω1 , α1 , r∗ , vrel , arel , r .
Bei diesem Beispiel kommen alle Geschwindigkeits- und Beschleunigungsanteile vor, die für
den Punkt P überhaupt möglich sind. Die Führungsbewegung, die P erfährt, wird als Translation
mit dem Scheibenmittelpunkt als Bezugspunkt (Bewegung auf einer Kreisbahn mit dem Radius
R) und einer Rotation um diesen Punkt (Radius r∗ ) betrachtet. Die Relativbewegung ist eine
Bewegung auf einer Kreisbahn mit dem Radius r.
Der translatorische Anteil der Führungs-
geschwindigkeit (Bahngeschwindigkeit des = 0
Scheibenmittelpunktes) gilt für alle Scheiben-
punkte und damit auch für P (in der Abbil-
dung 27.18 in der linken Skizze gestrichelt
angedeutet). Hinzu kommt die Bahngeschwin-
= 1
digkeit der Rotation um den Mittelpunkt. Zu-
sammen mit der Relativgeschwindigkeit muss
Abbildung 27.18: Führungsgeschwindigkeit (Trans-
die Absolutgeschwindigkeit also aus drei An-
lation + Rotation) und Relativgeschwindigkeit
teilen vektoriell zusammengesetzt werden.
Die Führungsbeschleunigung besteht aus vier Anteilen: Der Bezugspunkt (Scheibenmittelpunkt)
erfährt eine Bahnbeschleunigung und eine Normalbeschleunigung, beide gelten auch für P (in der
linken Skizze der Abbildung 27.19 gestrichelt angedeutet), die Rotation um den Bezugspunkt
(Kreisbahn mit dem Radius r∗ ) liefert ebenfalls zwei Anteile. Die Relativbewegung (Punkt P auf
Kreisbahn mit dem Radius r) steuert noch einmal zwei Anteile bei, gemeinsam mit der Corio-
lisbeschleunigung (senkrecht zu vrel , in Drehrichtung von ω1 gedreht), setzt sich die Absolutbe-
schleunigung also aus sieben Anteilen vektoriell zusammen.
= 0
= =2 1
2
= 0 =
2
1
2
= 1 =
Abbildung 27.19: Vier Anteile aus der Führungsbeschleunigung (links), zwei Anteile aus der Relativbe-
schleunigung (Mitte) und die Coriolisbeschleunigung setzen sich zur Absolutbeschleunigung zusammen.
27.3 Bewegung des starren Körpers im Raum 501
Der starre (durch keine Bindungen behinderte) Körper im Raum hat sechs Freiheitsgrade. Sei-
ne Lage ist durch die Angabe von sechs geeigneten Koordinaten eindeutig bestimmt (z. B. drei
Koordinaten eines Punktes und drei Winkel um drei senkrecht aufeinander stehende Achsen),
seine Bewegung wird durch die zeitliche Abhängigkeit der Koordinaten beschrieben.
Eine reine Translation eines starren Körpers im Raum ist eine Bewegung mit drei Freiheitsgraden
(jede beliebige Gerade, die zwei Punkte des starren Körpers verbindet, behält ihre Richtung, alle
Punkte bewegen sich auf kongruenten Bahnen). Die reine Translation wird durch die Bewegung
eines einzelnen Punktes eindeutig beschrieben, und es gilt der komplette Formelsatz 26.27 bis
26.31, der für die allgemeine Bewegung des Punktes im Raum bereitgestellt wurde.
zu definieren, wobei der Einheitsvektor ~eω neben der Drehachse auch noch den Drehsinn nach
der „Rechtsschrauben-Regel“ festlegt (Daumen in Pfeilrichtung, dann zeigen die gekrümmten
Finger die Drehrichtung an).
Mit dem Vektor der Winkelgeschwindigkeit kann für einen beliebigen Punkt P des Körpers, der
durch einen Vektor~r beschrieben wird, der Geschwindigkeitsvektor nach
~ ×~r = ω(t) ·~eω ×~r(t)
~v = ω (27.11)
berechnet werden (~r zeigt von einem beliebigen Punkt O der Drehachse zum Punkt P, siehe
Abbildung 27.20).
Zur Erinnerung: Das Vektorprodukt liefert als Ergebnis wieder einen Vektor, dessen Betrag in
diesem Fall ω|~r| sin α ist (α ist der von ~r und ~eω eingeschlossene Winkel). Da |~r| sin α gerade
der senkrechte Abstand r des Punktes P von der Drehachse ist, hat der Ergebnisvektor ~v den
Betrag der Bahngeschwindigkeit rω. Außerdem liegt der Ergebnisvektor des Vektorprodukts
senkrecht zu beiden Faktoren (und damit zwangsläufig tangential an der Kreisbahn von P). Die
Vektoren ~eω , ~r und ~v bilden in dieser Reihenfolge ein Rechtssystem, so dass die Definition des
Drehsinns für den Vektor der Winkelgeschwindigkeit und die sich daraus ergebende Richtung
der Bahngeschwindigkeit „zueinander passen“.
Die Ableitung von 27.11 nach der Zeit (unter Beachtung der Produktregel) ergibt
d~v d~r(t)
~a = = ω̇(t) ·~eω ×~r(t) + ω(t) ·~eω × .
dt dt
In diesem Ausdruck taucht noch einmal die Bahngeschwindigkeit des Punktes P
d~r
~ ×~r = ω(t) ·~eω ×~r(t)
=~v = ω
dt
auf, und es ergibt sich schließlich der Vektor der Beschleunigung bei Rotation eines starren
Körpers um eine feste Achse:
~a = ω̇(t) ·~eω ×~r(t) + ω 2 (t) ·~eω × (~eω ×~r(t)) = ~at +~an . (27.12)
Man erkennt, dass der erste Anteil wie die Geschwindigkeit nach 27.11 tangential zur Bahnkurve
von P gerichtet ist (man vergleiche die Diskussion zur Formel für den Geschwindigkeitsvektor).
Es ist die Bahnbeschleunigung ~at auf der Kreisbahn mit dem Betrag rω̇. Das zweifache Vektor-
produkt des zweiten Summanden liefert (in der durch die Klammer vorgegebenen Reihenfolge,
das Vektorprodukt ist weder kommutativ noch assoziativ) einen Vektor, der zur Drehachse weist.
Es ist die Normalbeschleunigung ~an mit dem Betrag rω 2 .
Übrigens: Dass die Regeln des Vektorprodukts so hervorragend zu diesem Problem passen (wie
z. B. auch schon zur Definition des Momentes, vgl. Abschnitt 8.3.2), ist durchaus kein Zufall. Sie
sind vielmehr speziell für die Anwendungen in der Mechanik (und in einigen anderen Gebieten
der Physik) so sinnvoll definiert worden.
27.3 Bewegung des starren Körpers im Raum 503
Der allgemeine Fall der Rotation liegt vor, wenn nur noch
ein Punkt O des starren Körpers festgehalten wird, so
dass die Drehachse keine raumfeste Lage mehr hat (und
selbst eine Rotation um O ausführt). Dann wird auch der
Einheitsvektor~eω (t), der ihre Lage kennzeichnet, zeitab-
hängig.
Die Lage des Punktes P wird durch einen vom Punkt
O ausgehenden Vektor ~r beschrieben. Durch Ableitung
von ~r nach der Zeit, wobei zusätzlich die Zeitabhän-
gigkeit von ~eω (t) beachtet werden muss, erhält man Abbildung 27.21: Rotation um einen
festen Punkt
Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektor für die
Rotation des starren Körpers um einen festen Punkt:
~ ×~r = ω ·~eω ×~r(t) ,
~v = ω
d~v d~eω (27.13)
~a = =ω· ×~r + ω̇ ·~eω ×~r + ω 2 ·~eω × (~eω ×~r) .
dt dt
Bis auf den ersten Term im Ausdruck für die Beschleunigung, der die Veränderlichkeit der Dreh-
achse kennzeichnet, stehen in 27.13 wieder die bekannten Anteile.
Zunächst muss diskutiert werden, welche Konsequenzen der im Abschnitt 27.2 für die ebene
Relativbewegung verwendete „Trick“, mit zwei unterschiedlichen Koordinatensystemen zu ope-
rieren (festes System für die Führungsbewegung und bewegtes System für die Relativbewegung),
für das Arbeiten mit Vektoren hat. Der Führungsgeschwindigkeit, beschrieben im ruhenden Ko-
ordinatensystem nach 27.14 durch
d~rO
~v = +ω ~ ×~r∗
dt
(siehe Abbildung 27.22), wird die Relativgeschwindigkeit ~vrel überlagert, die sich für einen
Beobachter im bewegten System als Änderung des Vektors~r∗ darstellt:
d ∗~r∗
~vrel = .
dt
Der Stern beim Ableitungssymbol deutet an, dass es die „Ableitung im bewegten System“ ist,
die nicht berücksichtigt, dass sich~r∗ auch durch die Bewegung des starren Körpers ändert.
Die Absolutgeschwindigkeit kann also entweder nach
d~rO d~r d ∗~r∗
~v = +ω~ ×~r∗ +~vrel = O + ω ~ ×~r∗ + (27.15)
dt dt dt
oder durch Ableitung des Ortsvektors im ruhenden System
d~rO d~r∗
~v = +
dt dt
ermittelt werden. Ein Vergleich dieser beiden Formeln liefert mit
d~r∗ d ∗~r∗
=ω~ ×~r∗ + (27.16)
dt dt
den allgemeingültigen Zusammenhang der Ableitung eines Vektors nach der Zeit im ruhenden
bzw. bewegten Koordinatensystem, der z. B. auch für die Ableitung von ~vrel gilt:
d~vrel d ∗~vrel
=ω ~ ×~vrel + .
dt dt
Nach 27.15 kann die Absolutgeschwindigkeit also durch die einfachere Betrachtung in zwei un-
terschiedlichen Koordinatensystemen gewonnen werden.
Um auch zu einer entsprechenden Formel für die Absolutbeschleunigung zu kommen, wird 27.15
nach der Zeit abgeleitet:
d~v d 2~rO d ω~ d~r∗ d~vrel
~a = = 2
+ ×~r∗ + ω
~ × +
dt dt dt dt dt
2 ∗ ∗ d ∗~vrel
d ~rO d ω~ d ~r
= 2
+ ×~r∗ + ω
~ × ω ~ ×~r∗ + +ω ~ ×~vrel +
dt dt dt dt (27.17)
2
d ~rO d ω~ ∗
d ~vrel
= + ×~r∗ + ω ~ ×~r∗ ) + 2 ω
~ × (ω ~ × ~vrel +
dt 2 dt dt
= ~a f + ~aC + ~arel .
27.3 Bewegung des starren Körpers im Raum 505
ê Die Formel 27.17 bestätigt, dass die Strategie, die für die ebene Bewegung (Abschnitt 27.2)
empfohlen wurde, ungeändert für die Bewegung im Raum übernommen werden kann:
• Die ersten drei Glieder in 27.17 entsprechen exakt der Beschleunigungsformel 27.14.
Es ist die Führungsbeschleunigung des Punktes P des starren Körpers, die ohne Be-
rücksichtigung der Relativbewegung ermittelt werden kann.
• Der letzte Term in 27.17 ist die Relativbeschleunigung, betrachtet im bewegten Koor-
dinatensystem. Man darf für ihre Berechnung den starren Körper also als momentan in
Ruhe befindlich ansehen.
• Schließlich ergibt sich als dritter Anteil wie im ebenen Fall die Coriolisbeschleunigung,
für die folgende Vektorformel gilt:
~ ×~vrel .
~aC = 2 ω (27.18)
ê Für die ebene Bewegung, bei der der Vektor der Winkelgeschwindigkeit der Führungsbe-
wegung ω ~ konstante Richtung (senkrecht zur Ebene und damit senkrecht zur Relativge-
schwindigkeit) hat, ergibt sich auch nach 27.18 der Betrag, den die Formel 27.9 ausweist.
Bei der räumlichen Bewegung können ω ~ und ~vrel einen beliebigen Winkel bilden. Nach der
Definition des Vektorprodukts gilt für den Betrag der Coriolisbeschleunigung
aC = 2 ω vrel sin α (27.19)
mit dem von den beiden Vektoren eingeschlossenen Winkel α. Die Coriolisbeschleunigung
~ und ~vrel parallel sind.
ist gleich Null, wenn ω
Beispiel:
Ein Pkw auf der Autobahn in Richtung Norden kurz vor Hamburg (etwa 53, 5◦ nörd-
licher Breite) fährt mit 200 km/h (kurzzeitig bei sehr schönem Wetter im Sommer um 4:30 Uhr,
wenn es schon hell und die Autobahn noch leer ist und eigentlich ohnehin nur wegen dieser
Aufgabe). Welcher Coriolisbeschleunigung infolge der Erddrehung ist das Fahrzeug ausgesetzt?
zahl der Erde nErde = 1 d−1 (eine Umdrehung pro Tag) und der Hamburg
Die Anzahl der Koordinaten, die mindestens erforderlich ist, um die Lage eines Systems star-
rer Körper eindeutig zu beschreiben, entspricht der Anzahl der Freiheitsgrade des Systems.
ê Häufig ist folgendes Gedankenexperiment recht nützlich: Man behindert nacheinander die
einzelnen Freiheitsgrade der starren Körper des Systems durch Arretieren (entspricht dem
Einführen einer notwendigen Koordinate). Wenn das System keine Bewegungsmöglichkeit
mehr hat, entspricht die Anzahl der Arretierungen der Anzahl der Freiheitsgrade.
Beispiel 1:
Das in Abbildung 27.24 skizzierte kinematische
Modell eines Satelliten mit „Sonnenpaddeln“ besteht aus 5 star-
ren Körpern und hat 10 Freiheitsgrade: Die Lage eines Körpers
(z. B. des Satellitenkörpers) ist durch die Angabe von 6 Koordi-
naten eindeutig festgelegt. Nach Fixierung des Satellitenkörpers
durch Arretierung dieser 6 Bewegungsmöglichkeiten können die
beiden unmittelbar an ihm befestigten Paddel nur noch je eine
(von der Lage des Satelliten unabhängige) Drehbewegung aus-
Abbildung 27.24: System mit
führen, die durch jeweils eine weitere Koordinate beschrieben 10 Freiheitsgraden
wird. Entsprechendes gilt für die Außenpaddel, nachdem auch
die Lage der Innenpaddel festgelegt wurde.
Zur Beschreibung der Bewegung eines Systems starrer Körper (insbesondere in der Kinetik) ist
es meist vorteilhaft, eine größere Anzahl von Koordinaten einzuführen.
27.4 Systeme starrer Körper 507
Fast immer ist man jedoch gezwungen, irgendwann die Anzahl der Koordinaten auf die Anzahl
der Freiheitsgrade des Systems zu reduzieren. Dafür müssen die Zwangsbedingungen, die die
Koordinaten untereinander verknüpfen, formuliert werden.
Zwangsbedingungen sind Gleichungen, die die von den einzelnen Koordinaten anzunehmenden
Werte auf die geometrisch verträglichen Möglichkeiten einschränken. Dementsprechend können
sie im Allgemeinen aus Geometriebetrachtungen gewonnen werden. Ihre Ableitungen nach der
Zeit führen auf die Zwangsbedingungen, die für die Geschwindigkeiten und die Beschleunigun-
gen gelten müssen.
Vielfach ist es (besonders bei ebener Bewegung) einfacher, unter Ausnutzung der Eigenschaften
des Momentanpols (vgl. Abschnitt 27.1.3) zunächst die Zwangsbedingungen für die Geschwin-
digkeiten zu formulieren, um dann durch Integration auf die Bedingungen für die Bewegungs-
koordinaten zu kommen. Die dabei auftretenden Integrationskonstanten werden durch Vergleich
der Werte für die einzelnen Koordinaten zu einem speziellen Zeitpunkt bestimmt, was jedoch
meist unproblematisch ist. Da man im Allgemeinen den Koordinatenursprung für jede einzelne
Koordinate willkürlich festlegen kann, ist es zweckmäßig, folgende Regel einzuhalten:
Alle Koordinaten, die die Lage eines Systems starrer Körper beschreiben und durch Zwangs-
bedingungen verknüpft sind, sollten (wenn es irgendwie möglich ist) zum gleichen Zeitpunkt
den Wert Null annehmen.
An den nachfolgenden Beispielen wird das Aufschreiben der Zwangsbedingungen für typische
Fälle der technischen Praxis demonstriert.
Beispiel 2: 3
Die skizzierte Seilwinde mit Gegengewicht
wird von dem Antriebsrad 3 angetrieben. Es darf ange- 2 2 3 3
nommen werden, dass das Seil und die Verbindungsstan- 1 2
gen zwischen den Körpern 1 und 2 bzw. 4 und 5 dehnstarr
2
sind und dass sich das Seil schlupffrei über die Rollen be- 1
wegt.
Gegeben: r2 , r3 , r4 .
4 4
Die Körper 2 und 4 führen jeweils eine allgemeine Be- 4 4
wegung aus (Translation und Rotation), das Antriebsrad
5
3 eine reine Rotation, das Gegengewicht 5 und der Kör-
5
per 1 jeweils eine reine Translation. In der Skizze sind
dementsprechend 7 Koordinaten eingetragen, die unter
Abbildung 27.25: System mit einem
den genannten Voraussetzungen natürlich nicht unabhän-
Freiheitsgrad
gig voneinander sind.
Das System hat nur einen Freiheitsgrad. Bei Vorgabe einer Bewegung (z. B. des Antriebsrades
3) bewegen sich alle anderen Körper zwangsläufig, so dass 6 Zwangsbedingungen formuliert
und die 7 Koordinaten durch eine ersetzt werden können. Als verbleibende Koordinate wird der
Winkel ϕ3 des Antriebsrades gewählt.
508 27 Kinematik starrer Körper
Beispiel 3:
Das skizzierte Planetengetriebe (Umlauf- 3
getriebe, Animation unter www.TM-aktuell.de) kann mit 2 2
einem Freiheitsgrad oder mit zwei Freiheitsgraden be- 2
4
trieben werden. 4 1 4
Gegeben: r1 , r2 . 1 1
1
Bei feststehendem Gehäuse 3 (Getrie-
be hat einen Freiheitsgrad) gibt es einen 3
3
eindeutigen Zusammenhang zwischen
der Drehzahl des Steges 4 und der Dreh- Abbildung 27.27: Planetengetriebe
zahl des Sonnenrades 1.
27.4 Systeme starrer Körper 509
Es wird angenommen, dass der Steg 4 mit der Winkelgeschwindigkeit ω4 = 2 π n4 umläuft. Der
sich auf einer Kreisbahn mit dem Radius (r1 + r2 ) bewegende äußere Stegpunkt treibt den Mit-
telpunkt des Planetenrades 2 mit seiner Bahngeschwindigkeit (r1 + r2 )ω4 .
Beispiel 4:
Der skizzierte Mechanismus (exzentrische Schub-
kurbel, siehe auch die Animation unter www.TM-aktuell.de) ist
0
ein System aus drei starren Körpern. Die Kurbel dreht sich mit
der konstanten Winkelgeschwindigkeit ω0 und befindet sich zum
Zeitpunkt t = 0 in der dargestellten Lage.
Gegeben: R , l , a , ω0 . /2
Für den Gleitstein G und den Mittelpunkt S der Verbindungsstan-
ge sollen die Geschwindigkeits-Zeit-Gesetze vG (t) bzw. vS (t), für /2
die Verbindungsstange auch das Winkelgeschwindigkeits-Zeit-
Gesetz ωS (t) ermittelt werden.
Die nebenstehende Skizze zeigt das System zum Zeitpunkt
t, die Kurbel hat sich nach 26.23 um den Winkel ω0t 0
und das Differenzieren dieser beiden Komponenten des Ortsvektors nach der Zeit ergibt wie-
der die bereits angegebenen Geschwindigkeitskomponenten vx und vy .
Typisch für die Analyse der > comt :=t -> cos(omega[0]*t);
Bewegung von Mechanismen > somt :=t -> sin(omega[0]*t);
ist, dass die Funktionen ziem- > l[BG] :=t -> a+R*comt(t);
lich unbequem in der Hand- > l[AB] :=t -> sqrt(l^2-l[BG](t)^2);
habung werden. Der Ehrgeiz, > x[S] :=t -> a-l[BG](t)/2;
durch „Einsetzen und Verein- > y[S] :=t -> R*somt(t)-l[AB](t)/2;
fachen“ zu möglichst „schö- > v[X] :=diff(x[S](t),t);
nen Endformeln“ zu kommen, > v[Y] :=diff(y[S](t),t);
rächt sich häufig durch Re- > v[S] :=sqrt(v[X]^2+v[Y]^2);
chenfehler. Deshalb sollte man > omega[S]:=t -> R*omega[0]/l[AB](t)*somt(t);
mit einem Funktionensatz ar- > v[G] :=t -> R*omega[0]*(comt(t)-
beiten, wie ihn Abbildung > l[BG](t)/l[AB](t)*somt(t));
27.30 für das Mathematik-
Abbildung 27.30: Funktionensatz in Maple
Programm Maple zeigt.
512 27 Kinematik starrer Körper
In einem Funktionensatz enthalten alle Funktionen (neben der unabhängigen Variablen, hier ist
das die Zeit t) nur die gegebenen Größen und die vorab definierten Funktionen. Ein Mathematik-
Programm sollte damit umgehen können und z. B. die so definierten Funktionen auch grafisch
darstellen und differenzieren können.
Die Abbildung 27.31 zeigt
die in der Aufgabenstellung
geforderten kinematischen
Diagramme ωS (t), vS (t)
und vG (t) für einen vol-
len Umlauf der Kurbel
bei Annahme folgender
Abmessungsverhältnisse:
R l
=2 ; =4 .
a a
Zusätzlich ist im rechten
unteren Fenster die Bahn-
kurve des Mittelpunktes
S der Verbindungsstange
dargestellt (siehe auch
www.TM-aktuell.de). Abbildung 27.31: Kinematische Diagramme und Bahnkurve von S
ê Das Beispiel 4 am Ende dieses Kapitels über die Kinematik des starren Körpers soll noch
einmal eine wichtige Tatsache verdeutlichen, die bereits in einem einleitenden Beispiel er-
läutert und dann immer wieder genutzt wurde:
Bei der Bewegung eines starren Körpers hat zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Regel
jeder Punkt eine andere Geschwindigkeit (Ausnahme ist die reine Translation), es gibt
zu einem Zeitpunkt aber immer nur eine Winkelgeschwindigkeit, die für den gesamten
Körper gilt.
Diese Aussage gilt auch für die Bewegung im Raum, bei der es zu jedem Zeitpunkt nur
einen (für den gesamten Körper gültigen) Winkelgeschwindigkeitsvektor gibt. Es ist also
nicht sinnvoll, von der „Winkelgeschwindigkeit bezüglich eines Punktes“ zu sprechen.
Da diese Aussage erfahrungsgemäß dem Anfänger erhebliche Schwierigkeiten bereitet, soll die
Starrkörperbewegung der Verbindungsstange, die im Beispiel 4 als „Translation mit dem Be-
zugspunkt G und Rotation um G“ behandelt wurde, noch einmal mit einem anderen Bezugspunkt
analysiert werden:
Die Geschwindigkeit des Punktes A ist bekannt: vA = Rω0 ist tangential zum Kurbelkreis ge-
richtet. Wenn die Bewegung der Verbindungsstange nun als Translation mit dem Punkt A als
Bezugspunkt und Drehung um A betrachtet wird, ist diese Geschwindigkeit allen Punkten (und
damit auch S, siehe Abbildung 27.32) zuzuordnen. Für die Rotation ist aber wieder die gleiche
Winkelgeschwindigkeit ωS wie für die Berechnung mit G als Bezugspunkt zu verwenden. Sie
erzeugt allerdings eine andere Bahngeschwindigkeit für den Punkt S.
27.5 Aufgaben 513
27.5 Aufgaben
Aufgabe 27.1:
Eine große Walze bewegt sich (reine Rollbe-
wegung ohne Schlupf) auf der Horizontalen und zieht über ei-
ne exzentrisch angebrachte Stange eine kleine Walze nach, die
ebenfalls auf einer Horizontalen rollt. Man zeichne für den dar-
gestellten Bewegungszustand den Momentanpol der Bewegung
der (schraffiert dargestellten) Verbindungsstange ein.
Aufgabe 27.2:
Die skizzierte Walze führt eine reine 1
1
Rollbewegung aus, die Seile sind starr und laufen ohne
2
Schlupf über die Rollen. Die Masse 4 bewegt sich mit 1
2
der Geschwindigkeit v4 abwärts.
Gegeben: R1 = 2 r1 , r2 , v4 . 3
Aufgabe 27.3:
Ein Kettenfahrzeug bewegt sich mit der 2 Kette
Geschwindigkeit v und der Beschleunigung a. Man ermitt- 1
le die Geschwindigkeiten der Kettenpunkte P1 , P2 und P3
und die Gesamtbeschleunigung für P1 .
3
Gegeben: v, a, R.
514 27 Kinematik starrer Körper
Aufgabe 27.4:
In dem skizzierten Mechanismus
dreht sich die Kurbel mit der konstanten Winkelge-
schwindigkeit ω0 .
a l
Gegeben: R ; ω0 ; = 1, 5 ; =2. 0
R R
Man ermittle die Momentanpole der Bewegung der
Stange AB für die spezielle Lagen, wenn der Punkt A
die Punkte E bzw. F passiert. Für beide Lagen sind
mit Hilfe des Momentanpols die Geschwindigkeiten
des Punktes B zu berechnen und mit den Ergebnis-
sen der Aufgabe 26.4 zu vergleichen.
Aufgabe 27.5:
Bei dem skizzierten Planetengetriebe
treibt der Steg 4 die beiden Planetenräder 2 und 3, die
mit dem Sonnenrad 1 bzw. dem Gehäuse 5 im Ein-
3 3
griff sind (eine Animation findet man unter www.TM- 3
aktuell.de). 2 2
2
Gegeben: r1 , r2 , r3 . 4
4 1 4
a) Man ermittle das Drehzahlverhältnis nn14 unter der 1 1
1
Annahme, dass das Gehäuse 5 festgehalten wird.
Aufgabe 27.6:
Die Laufkatze eines Drehkrans bewegt
sich mit der konstanten Geschwindigkeit vK nach außen
und hebt dabei eine Last mit der konstanten Geschwindig-
keit vL an, während sich der Kran mit der konstanten Win-
kelgeschwindigkeit ω dreht.
Gegeben: vK = 0, 5 m/s ; ω = 0, 1 s−1 ;
vL = 0, 3 m/s ; a = 4, 5 m .
Für die skizzierte Laststellung ermittle man die resultieren-
de Geschwindigkeit der Last, die Führungs- und die Corio-
lisbeschleunigung (Führungsbewegung ist die Drehung des
Krans).
Weitere Aufgaben findet man im Internet unter www.TM-aktuell.de.
28 Kinetik des Massenpunktes
Während in der Statik das Gleichgewicht der Kräfte in ruhenden Systemen betrachtet wurde und
die Kinematik die Bewegungsabläufe ohne Frage nach ihren Ursachen (Kräfte) untersucht, wird
in der Kinetik der Zusammenhang zwischen den kinematischen Größen (Weg, Zeit, Geschwin-
digkeit, Beschleunigung, . . .) und den Kräften behandelt.
Die Beschränkung in diesem Kapitel auf den Massenpunkt hat nichts mit der Größe der Abmes-
sungen des Körpers zu tun (vgl. die entsprechende Bemerkung am Anfang des Kapitels 26). Die
Abmessungen dürfen allerdings keinen Einfluss auf die zu untersuchende Bewegung haben, und
nach den Ausführungen in den Kapiteln 26 und 27 ist die Konsequenz dieser Beschränkung klar:
Ein Massenpunkt kann keine (bzw. nur eine zu vernachlässigende) Rotationsbewegung ausfüh-
ren.
Zu den Axiomen der Statik (Abschnitt 1.2), die auch weiterhin gelten, kommt in der Kinetik nur
ein weiteres hinzu. Es ist das
~F = d (m~v) (28.1)
dt
ist das dynamische Grundgesetz mit dem Vektor des Impulses ~p = m~v.
ê Das 1. Newtonsche Gesetz ist ein Sonderfall des 2. Gesetzes: Die Bewegungsgröße ändert
sich nicht, wenn keine Kraft auf den Massenpunkt einwirkt. Das 3. Newtonsche Gesetz ist
das bereits aus der Statik bekannte Wechselwirkungsgesetz (actio = reactio).
ê Wenn die Masse m zeitlich unveränderlich ist, vereinfacht sich 28.1 zu
~F = m d~v = m~a (28.2)
dt
(„Kraft = Masse · Beschleunigung“).
ê Die Gültigkeit von 28.1 und 28.2 ist an zwei Bedingungen geknüpft: Die Geschwindig-
keit muss wesentlich kleiner als die Lichtgeschwindigkeit sein (diese Bedingung ist in der
Technischen Mechanik wohl immer erfüllt, anderenfalls ist die Relativitätstheorie zustän-
dig), und das Bezugssystem muss ein Inertialsystem (beschleunigungsfreies System) sein.
Da Beschleunigungsfreiheit nur bei Bewegung auf gerader Bahn möglich ist (vgl. Abschnitt
26.2), kann es ein Inertialsystem auf der Erde nicht geben. Für die weitaus meisten techni-
schen Anwendungen darf die Erde jedoch als ruhendes Bezugssystem angesehen werden.
ê Weil zwei Vektoren nur gleich sein können, wenn jede Komponente des einen Vektors gleich
der entsprechenden Komponente des anderen Vektors ist, stehen 28.1 bzw. 28.2 für drei
skalare Gleichungen (für die drei Freiheitsgrade des Massenpunktes im Raum).
ê Das 2. Newtonsche Gesetz setzt natürlich voraus, dass die angreifenden Kräfte die Beschleu-
nigungen auch tatsächlich hervorrufen können (und nicht etwa durch Führungen, Lager oder
ähnliches auch nur teilweise daran gehindert werden, dazu mehr im Abschnitt 28.2.2). Das
nachfolgende Beispiel behandelt einen der wenigen Sonderfälle (schiefer Wurf unter Ver-
nachlässigung von Bewegungswiderständen), für den dies erfüllt ist.
Beispiel:
Ein Leichtathlet stößt die Kugel w = 22 m weit (diese Aufgabe stammt aus der Zeit
vor der Einführung der strengen Dopingkontrollen). Unter der Annahme, dass der Luftwider-
stand vernachlässigt werden darf und dass die Kugel die Hand in einer Höhe h = 2 m unter
einem Winkel zur Horizontalen von α = 44◦ verlässt, ist ihre Anfangsgeschwindigkeit v0 (beim
Verlassen der Hand) zu ermitteln. Welche Weite w1 würde erzielt werden, wenn mit gleicher
Anfangsgeschwindigkeit und bei gleicher Abwurfhöhe unter einem Winkel von α1 = 45◦ ge-
stoßen würde, bei welchem Abwurfwinkel α0 würde die größte Weite erzielt werden? Hinweis:
Eine Aufgabe, die dieses Problem mit einer geänderten Fragestellung behandelt, findet man unter
www.TM-aktuell.de.
Während des Fluges wirkt auf die Kugel nur ihr (konstantes) Eigengewicht
mg (senkrecht nach unten). Die Flugbahn ist eine ebene Kurve, so dass 28.2
nur für zwei Komponenten aufzuschreiben ist. In einem kartesischen Koordi-
natensystem mit nach oben gerichteter positiver y-Achse gilt also:
0 a
~F = m~a ⇒ =m x .
−m g ay
Nach 26.27 und 26.30 ist der Geschwindigkeitsvektor die Ableitung des Ortsvektors und der
Beschleunigungsvektor die Ableitung des Geschwindigkeitsvektors nach der Zeit. Dieser Weg
muss also in umgekehrter Richtung (Integration) beschritten werden, er wird für die einzelnen
Komponenten aufgeschrieben:
ax = 0 , ay = −g ,
vx = C1 , vy = −gt +C3 ,
1 2
x = C1 t +C2 , y = − gt +C3 t +C4 .
2
Für die vier Integrationskonstanten müssen vier Anfangsbedingungen formuliert werden. Wenn
das Koordinatensystem (willkürlich, siehe Abbildung 28.1) so gelegt wird, dass sich der Ab-
28.1 Dynamisches Grundgesetz 517
wurfpunkt bei x = 0 und y = h befindet, und die Abwurfgeschwindigkeit in eine horizontale und
eine vertikale Komponente zerlegt wird, lauten diese (Zeitzählung beginnt beim Abwurf):
x(t = 0) = 0 , vx (t = 0) = v0 cos α , 0
y(t = 0) = h , vy (t = 0) = v0 sin α .
Mit den daraus berechneten Konstanten
C1 = v0 cos α , C2 = 0 , C3 = v0 sin α , C4 = h
erhält man die Komponenten des Ortsvektors der Bahnkurve
1 Abbildung 28.1: Anfangsbe-
x = v0 t cos α , y = − gt 2 + v0 t sin α + h , dingungen, Wurfweite w
2
die (in Parameterdarstellung) die Flugbahn der Kugel beschreiben. Wenn man die Zeit t aus den
beiden Gleichungen eliminiert, wird deutlich, dass es eine Parabel ist (Wurfparabel):
1 x2
y = − g 2 2 + x tan α + h .
2 v0 cos α
Am Auftreffpunkt ist y = 0 (und x = w):
1 w2
− g 2 2 + w tan α + h = 0
2 v0 cos α
muss zur Beantwortung der Fragestellungen einmal nach v0 und einmal nach w umgestellt wer-
den. Die für die Aufgabenstellung relevanten Ergebnisse sind:
r
g
v0 = w ,
w sin 2α + 2 h cos2 α
s
v2 v40 v20
w = 0 sin 2α + sin2
2α + 2 h cos2 α .
2g 4 g2 g
ê Hier soll auf ein typisches Problem bei der Lösung von Aufgaben aus der Kinetik aufmerk-
sam gemacht werden: Es gibt mehrere Ergebnisse, von denen nicht alle für die Aufgaben-
stellung relevant sind. Hier ist es einfach zu übersehen und zu interpretieren: Das mathe-
matische Modell (die Parabel) hat den Definitionsbereich −∞ < x < ∞ und damit zwei (in
diesem Fall reelle) Nullstellen (zwei Ergebnisse für w). Die Nullstelle im negativen Bereich
ist hier nicht relevant, aber prinzipiell nicht nur richtig, sondern auch physikalisch möglich,
denn die Wurfparabel sieht auch für ein negatives v0 , mit dem man bei der anderen Nullstelle
landen würde, nicht anders aus.
Bei einem Abwurfwinkel von α = 44◦ wird die Wurfweite von 22 m bei einer Anfangsgeschwin-
digkeit von v0 = 14, 05 m/s erreicht. Mit diesem v0 ergibt sich bei α1 = 45◦ eine Wurfweite
w1 = 21, 95 m. Die Berechnung des Extremwertes der Funktion w(α) bereitet analytisch schon
einige Mühe. Empfohlen wird deshalb die Extremwertberechnung mit einem geeigneten Pro-
gramm (siehe www.TM-aktuell.de). Man erhält für α0 = 42, 41◦ die Wurfweite w0 = 22, 03 m.
Der günstigste Abwurfwinkel zur Erzielung großer Wurfweiten beträgt nur dann 45◦ , wenn
Abwurf- und Auftreffpunkt auf gleicher Höhe liegen.
518 28 Kinetik des Massenpunktes
Wie in der Statik ist es sinnvoll, zu unterscheiden zwischen eingeprägten Kräften (Gewicht, An-
triebskräfte, Magnetkräfte, . . .) und Reaktionskräften (Zwangskräfte, die durch Bewegungsein-
schränkung hervorgerufen werden, z. B.: Kräfte an Führungen, die Normalkraft zwischen Masse
und schiefer Ebene, Lagerreaktionen, Federkräfte, Haftkräfte, . . .). Bei bewegten Massen kom-
men noch Bewegungswiderstände und die so genannten Massenkräfte hinzu, die in den folgenden
beiden Unterabschnitten behandelt werden.
Einem sich mit der Geschwindigkeit v bewegenden Massenpunkt können durch das umgebende
Medium oder eine Führung Widerstandskräfte entgegenwirken. Obwohl diese Kräfte von ihrem
Charakter her Reaktionskräfte sind, werden sie hier gesondert aufgeführt, denn in der Rechnung
müssen sie eher wie die eingeprägten Kräfte behandelt werden. Diese Besonderheit wird noch
mehrfach an Beispielen verdeutlicht.
Die Erfassung der geschwindigkeitsabhängigen Widerstandskräfte ist immer mit einer gewissen
Unsicherheit verbunden, weil die Kennwerte von zahlreichen Einflüssen abhängen. Hier werden
die drei wichtigsten Varianten zur Einbeziehung dieser Kräfte in die Berechnung vorgestellt.
Der Widerstand, den die Oberfläche eines Körpers aufbringt, über den eine bewegte Masse glei-
tet, wird (auch bei einer Schmierschicht zwischen den Flächen) berücksichtigt durch die
FR = −µ FN sgn v . (28.3)
Die Geschwindigkeit dient nur als Steuergröße für die =
Richtung der Kraft FR , die immer der Geschwindigkeit
der sich bewegenden Masse entgegengesetzt gerichtet ist.
ê In 28.3 ist FN die Normalkraft (senkrecht zu den sich berührenden Gleitflächen), µ ist der
Gleitreibungskoeffizient, der vom Material und der Oberflächenbeschaffenheit der Gleitflä-
chen abhängig ist. Da er auch von anderen Größen (Temperatur, Feuchtigkeit, unter Umstän-
den auch von der Größe von FN ) beeinflusst wird, ist eine gewisse Vorsicht geboten, wenn
man diesen Kennwert aus Tabellenbüchern entnimmt. Für höhere Genauigkeitsanforderun-
gen an die Rechnung sind gegebenenfalls Versuche zur Ermittlung von µ (möglichst unter
Betriebsbedingungen) empfehlenswert.
ê Die sgn-Funktion eignet sich nicht für die analytische Rechnung (bei numerischen Aus-
wertungen kann sie durchaus nützlich sein). Deshalb sollte man die Kraft FR entgegen der
angenommenen Geschwindigkeitsrichtung antragen. Wenn sich die angenommene Richtung
im Verlauf der Rechnung als falsch herausstellt, muss man die Rechnung mit korrigierter
Richtung wiederholen.
28.2 Kräfte am Massenpunkt 519
ê Da die Gleitreibung wie die im Kapitel 9 behandelte Haftung mit dem Namen Coulomb
verbunden ist und das Haftungsgesetz 9.1 sich von 28.3 formal kaum unterscheidet, muss
nachdrücklich auf die Unterschiede aufmerksam gemacht werden:
• Der Haftungskoeffizient µ0 ist in der Regel größer als der Gleitreibungskoeffizient µ.
• Besonders wichtig ist die Beachtung des unterschiedlichen Charakters der beiden Kräf-
te. Die Gleitreibungskraft geht in der von 28.3 gegebenen Größe (wie eine eingeprägte
Kraft) in das Gleichgewicht der Kräfte ein. Die Haftkraft wird (wie eine Lagerreakti-
on) aus dem Gleichgewicht der Kräfte berechnet, denn die durch das Haftungsgesetz zu
ermittelnde Größe definiert nur das obere Limit (und nicht die tatsächliche Größe) der
Haftkraft (vgl. Beispiel 1 im Abschnitt 9.1 auf Seite 134).
Neben der Coulombschen Reibung sind noch die beiden folgenden Annahmen für die Berück-
sichtigung von Bewegungswiderständen in der technischen Praxis gebräuchlich:
ê Der lineare Ansatz 28.4, mit dem z. B. die Wirkung von Stoßdämpfern recht gut erfasst wird,
ist für theoretische Untersuchungen sehr beliebt, weil er auf lineare Differenzialgleichungen
führt. In der Schwingungslehre werden die unterschiedlichsten Dämpfungsursachen deshalb
gern pauschal in dieser Form (oft nur näherungsweise) berücksichtigt.
ê Der Proportionalitätsfaktor in 28.5 kann in der Form
ρ Ap
k2 = cW (28.6)
2
angesetzt werden. In 28.6 ist ρ die Dichte des umströmenden Mediums, A p die Projekti-
onsfläche (Schattenfläche) des sich darin bewegenden Körpers und der „cW -Wert“ eine di-
mensionslose Widerstandszahl, die von der Körperform (und in einigen Fällen auch von der
Reynold-Zahl, dem Maß für die Zähigkeit des umströmenden Mediums) abhängt und durch
Versuche ermittelt werden muss, einige Beispiele: Für den langen Kreiszylinder gilt cW = 1,
für eine Kreisplatte cW = 1, 11 und für eine Kugel in Abhängigkeit von der Reynold-Zahl
cW = 0, 09 . . . 0, 47. Moderne Pkw-Formen liegen im Bereich cW = 0, 3 . . . 0, 4 .
ê Man beachte, dass mit den mathematischen Modellen für die Bewegungswiderstände 28.3
bis 28.5 die Realität in den meisten Fällen nur unvollkommen angenähert wird.
520 28 Kinetik des Massenpunktes
In dem Beispiel des Abschnitts 28.1 zur Anwendung des dynamischen Grundgesetzes (schiefer
Wurf) durfte vorausgesetzt werden, dass alle auf den Körper einwirkenden Kräfte (im Beispiel
nur die Gewichtskraft) in Beschleunigungen umgesetzt werden können. Bei geführten Bewe-
gungen und bei geschwindigkeitsabhängigen Bewegungswiderständen (Abschnitt 28.2.1) gibt es
natürlich Anteile der eingeprägten Kräfte, die sich nicht in Beschleunigungen umsetzen, sondern
von den Reaktionskräften bzw. den Widerstandskräften im Gleichgewicht gehalten werden.
Beispiel 1:
Die eingeprägten Kräfte F und mg haben unterschied-
liche Wirkungen auf die nebenstehend skizzierte Masse m. Bei rei-
bungsfreier Bewegung wirkt die Kraft F beschleunigend auf m, bei
reibungsbehafteter Bewegung nur die Differenz zwischen F und der
Widerstandskraft.
Die Gewichtskraft mg wirkt nicht beschleunigend, da sie mit der Normalkraft (Reaktionskraft
der Unterlage) im Gleichgewicht ist.
Aus dieser Überlegung resultiert folgende Schlussfolgerung: Man muss bei geführten Massen
und auftretenden Bewegungswiderständen in die Formeln des dynamischen Grundgesetzes 28.1
bzw. 28.2 alle eingeprägten Kräfte, die Zwangskräfte und die Bewegungswiderstände einsetzen:
ê Die Idee der Einführung negativer Massenkräfte gestattet die Behandlung von Problemen
der Kinetik mit den aus der Statik vertrauten Gleichgewichtsbedingungen. Diese Massen-
kräfte werden hier wie üblich als d’Alembertsche Kräfte bezeichnet, obwohl sie erstmals
bereits bei J OHANNES K EPLER (1571 - 1630) auftauchen.
ê Das Minuszeichen vor der d’Alembertschen Kraft fordert, dass diese entgegen der positiven
Beschleunigungsrichtung angetragen werden muss, was (bei gekrümmter Bahn) sowohl für
die Bahnbeschleunigung als auch für die Normalbeschleunigung (und bei Relativbewegung
auch für die Coriolisbeschleunigung) gilt. Die positive Richtung der Bahnbeschleunigung
kann selbst bei einfachen Problemen nicht immer vorausgesagt werden (ob sich eine Masse
auf der schiefen Ebene unter Einwirkung einer aufwärts gerichteten Kraft auch aufwärts
bewegt, ist vom Anstiegswinkel, der Größe der Kraft und der Größe der Masse abhängig).
Die d’Alembertschen Kräfte für die Bahnbeschleunigungen werden deshalb entgegen der
frei zu wählenden Koordinatenrichtung angetragen, was automatisch auch bei negativen
Beschleunigungen und Richtungsumkehr der Bewegung zu richtigen Ergebnissen führt.
ê Die Richtung der Massenkraft, die für die Normalbeschleunigung angetragen werden muss,
ist dagegen eindeutig vorgegeben, weil die Normalbeschleunigung immer zum Krümmungs-
mittelpunkt der Bahnkurve gerichtet ist:
Bei der Bewegung eines Massenpunktes auf einer gekrümmten Bahn ist immer eine vom
Krümmungsmittelpunkt der Bahnkurve nach außen gerichtete Massenkraft infolge der zum
Krümmungsmittelpunkt weisenden Normalbeschleunigung 26.15 zu berücksichtigen. Es ist
die Zentrifugalkraft (Fliehkraft)
v2
m an = m (28.8)
ρ
(ρ ist der Krümmungsradius und v die Bahngeschwindigkeit). Speziell für die Bewegung auf
einem Kreis mit dem Radius R gilt:
m an = m R ω 2 = m R ϕ̇ 2 . (28.9)
Beispiel 2:
Auf einer schiefen Ebene beginnt eine Masse m
zum Zeitpunkt t = 0 aus der Ruhelage heraus abwärts zu rut-
schen. Unter Berücksichtigung von Gleitreibung zwischen der Mas-
se und der schiefen Ebene sollen das Weg-Zeit-Gesetz und das
Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz ermittelt werden.
Gegeben: m , α , µ .
Es wird eine x-Koordinate zur Verfolgung der Masse vom Startpunkt
der Bewegung aus eingeführt. Die Skizze zeigt die freigeschnittene
Masse mit der Gewichtskraft mg (eingeprägte Kraft), der Normal-
kraft FN (Zwangskraft, die die Masse an ihre Bahn bindet), dem Be-
wegungswiderstand FR = µFN und der d’Alembertschen Kraft, die
entgegen der eingeführten Bewegungskoordinate angetragen wurde.
Die Gleichgewichtsbedingungen in Hangrichtung bzw. senkrecht dazu liefern mit
m ẍ + µ FN − m g sin α = 0 ,
FN − m g cos α = 0
zwei Gleichungen, aus denen die nicht interessierende Kraft FN eliminiert wird. Es verbleibt ein
Ausdruck für die (in diesem Fall konstante) Beschleunigung, der zweimal integriert wird:
1
ẍ = (sin α − µ cos α) g = a , ẋ = at +C1 , x = at 2 +C1 t +C2 .
2
Für die Berechnung der Integrationskonstanten stehen zwei Anfangsbedingungen zur Verfügung.
Es ist typisch, dass eine durch die Problemstellung („aus der Ruhelage heraus“) vorgegeben ist,
die andere von der (willkürlichen) Wahl des Koordinatensystems bestimmt wird:
x(t = 0) = 0 ⇒ C2 = 0 ,
ẋ(t = 0) = 0 ⇒ C1 = 0 .
Damit können die gesuchten Bewegungsgesetze aufgeschrieben werden:
1
x(t) = (sin α − µ cos α) gt 2 , ẋ(t) = (sin α − µ cos α) gt .
2
ê Eigentlich hätte man bei diesem Beispiel noch überprüfen müssen, ob die Bewegung aus der
Ruhelage heraus überhaupt beginnt. Dazu wäre allerdings die Kenntnis des Haftungskoeffi-
zienten µ0 nötig.
ê Auf jeden Fall muss das Ergebnis mit dem Zusatz gekennzeichnet werden, dass es nur für
positive Geschwindigkeit ẋ ≥ 0 gilt, weil diese Bedingung bei der Annahme der Richtung
der Gleitreibkraft vorausgesetzt wurde. Der Einwand, dass diese Bedingung ja wohl automa-
tisch erfüllt ist, weil eine Masse, die nur durch ihr Eigengewicht belastet ist, aus der Ruhe
heraus keine Aufwärtsbewegung beginnen kann, ist für die Praxis richtig, die errechneten
Bewegungsgesetze lassen dies zu (man setze z. B. die sehr sinnvollen Werte µ = 0, 3 und
α = 15◦ ein, und schon geht es aufwärts). Die Bewegungsgesetze des Beispiels 2 müssen
also unbedingt mit dem Zusatz
sin α ≥ µ cos α bzw. tan α ≥ µ
versehen werden.
28.2 Kräfte am Massenpunkt 523
Beispiel 3:
Ein Massenpunkt m wird wie skizziert in eine
halbkreisförmige Rinne gelegt und ohne Anfangsgeschwindigkeit
freigegeben. Das Bewegungsgesetz ϕ(t) soll
a) bei Vernachlässigung der Gleitreibung,
b) bei Berücksichtigung der Gleitreibung
zwischen Massenpunkt und Rinne berechnet werden.
= sgn
Gegeben: R = 1 m ; µ = 0, 05 . 2
Beispiel 4:
Eine horizontale Scheibe dreht sich mit konstanter Win- 0
kelgeschwindigkeit ω0 . In einer radialen Rinne (mit rechteckigem
Querschnitt) wird ein Massenpunkt m im Abstand a vom Mittelpunkt
der Scheibe festgehalten und zum Zeitpunkt t = 0 freigelassen.
Gegeben: a = 1 m ; R = 10 m ; ω0 = 2 s−1 ; µ = 0, 3 .
Unter Berücksichtigung der Gleitreibung zwischen der Masse m und der Rinne soll der Zeitpunkt
tR ermittelt werden, zu dem der Massenpunkt die Rinne verlässt (die konstante Winkelgeschwin-
digkeit ω0 soll durch die Bewegung von m nicht beeinflusst werden).
Das Problem wird als Relativbewegung des Punktes mit einer Koordinate x behandelt, die die Be-
wegung des Massenpunktes in der Rinne verfolgt und die Drehbewegung der Scheibe mitmacht
(der Punkt x = 0 soll im Scheibenmittelpunkt liegen).
Für eine beliebige Lage des Punktes zeigt die obe-
re Skizze die Beschleunigungen, die sich nach den
0
Regeln der Relativbewegung des Punktes (Abschnitt
2 =2 0
27.2) ergeben: Die Führungsbewegung (Drehung der = 0
Scheibe mit konstanter Winkelgeschwindigkeit) trägt =
nur einen Anteil bei (Normalbeschleunigung des
Punktes, in dem sich m gerade befindet), die Relativ-
beschleunigung der geradlinigen Bewegung ist nach
außen gerichtet, während die Coriolisbeschleunigung 2 0
28.3.1 Problemstellung
Das Beispiel 2 des vorigen Abschnitts, das auf eine konstante Beschleunigung führte, ist ein
Vertreter der wenigen „akademischen Beispiele“, die problemlos lösbar sind. Dagegen ist das
einfache Beispiel 3 repräsentativ für viele Probleme der Kinetik: Die Bewegungs-Differenzial-
gleichungen sind nichtlinear und entziehen sich einer geschlossenen Lösung.
Lineare Differenzialgleichungen sind in der Kinetik selten. Wenn sie dann auch noch konstante
Koeffizienten haben (wie im Beispiel 4, weil ω0 konstant ist), sind sie geschlossen lösbar2 .
Bis auf ganz wenige Ausnahmen sind die Bewegungs-Differenzialgleichungen der Kinetik
nichtlineare Differenzialgleichungen 2. Ordnung, die nur numerisch gelöst werden können.
werden), dann muss man doch die Algorithmen für Anfangswertprobleme verwenden, die dann iterativ mehrfach
angewendet werden („Zielschießen“), bis die vorgeschriebene Endbedingung erfüllt ist
526 28 Kinetik des Massenpunktes
Die Verfahren für die numerische Integration von Anfangswertproblemen werden üblicherweise
für eine Differenzialgleichung 1. Ordnung formuliert4 , weil damit auch der allgemeine Fall ab-
gedeckt wird: Differenzialgleichungen höherer Ordnung (auch Differenzialgleichungssysteme)
lassen sich immer durch Einführen von zusätzlichen Variablen auf ein Differenzialgleichungs-
system 1. Ordnung überführen.
Der erste Schritt zur numerischen Lösung einer Bewegungs-Differenzialgleichung ist also das
Umschreiben auf ein System 1. Ordnung. Man führt dazu für die erste Ableitung der Variablen
(ϕ̇ bzw. ẋ) neue Bezeichnungen ein, sinnvollerweise die Symbole für die Geschwindigkeiten.
Das Anfangswertproblem 28.11 wird also z. B. folgendermaßen formuliert:
ẋ = v , x(t = 0) = a ,
2
(28.12)
v̇ = −µ g − 2 µ ω0 v + ω0 x , v(t = 0) = 0 .
Allgemein sieht ein solches Anfangswertproblem mit zwei Differenzialgleichungen 1. Ordnung
und den zugehörigen Randbedingungen so aus:
ẋ = f1 (t, x, v) , x(t = t0 ) = x0 ,
(28.13)
v̇ = f2 (t, x, v) , v(t = t0 ) = v0 .
Gesucht sind die Funktionen x(t) und v(t), die die Differenzialgleichungen und die Anfangsbe-
dingungen in 28.13 erfüllen. Ausgehend vom einzigen Zeitpunkt, für den der gesuchte x-Wert
und der gesuchte v-Wert bekannt sind, dem Anfangspunkt t0 mit den Werten x0 und v0 , sucht
man die Werte x1 und v1 für den Zeitpunkt t1 = t0 + ∆t, um anschließend auf gleiche Weise zum
nächsten Zeitpunkt zu kommen usw.
Dieser Prozess sei bis zum Zeitpunkt ti abgelaufen, xi und vi sind bekannt. Dann ist das Be-
rechnen von xi+1 und vi+1 für den Zeitpunkt ti+1 = ti + ∆t der typische Integrationsschritt des
Verfahrens, der am Beispiel der ersten Differenzialgleichung in 28.13 demonstriert werden soll:
Beide Seiten der Differenzialgleichung ẋ = f1 (t, x, v)
werden über das Zeitintervall ∆t integriert:
ti+1
Z ti+1
Z
ẋ(t) dt = f1 (t, x, v) dt ,
t=ti t=ti
+1
ti+1
Z
t
[ x(t) ]ti+1
i
= xi+1 − xi = f1 (t, x, v) dt ,
t=ti
+1
ti+1
Z
xi+1 = xi + f1 (t, x, v) dt . (28.14)
Abbildung 28.2: Integrationsschritt für x(t)
t=ti
4 Es gibt auch Formelsätze für Differenzialgleichungen höherer Ordnung (z. B. das Verfahren von Runge-Kutta-Nyström
für die in der Kinetik typischen Differenzialgleichungen 2. Ordnung), die aber im Wesentlichen eine Zusammenfas-
sung der Formeln für die Differenzialgleichungen 1. Ordnung sind und keine nennenswerten Vorteile bringen
28.3 Lösungen für Bewegungs-Differenzialgleichungen 527
Das Integral auf der rechten Seite von 28.14, das den Zuwachs des Funktionswertes vom Punkt
i zum Punkt i + 1 repräsentiert, muss näherungsweise gelöst werden, weil die im Integranden
enthaltenen Funktionen x(t) und v(t) nicht bekannt sind. Die verschiedenen Verfahren der nume-
rischen Integration von Anfangswertproblemen unterscheiden sich im Wesentlichen in der Art
und Qualität, wie dieses Integral angenähert wird.
Die gröbste Näherung für das Integral in 28.14 ist die Annahme, der Integrand f1 (t, x, v) sei im
gesamten Integrationsintervall ti ≤ t ≤ ti+1 konstant und kann durch den Wert f1 (ti , xi , vi ) am
linken Rand des Integrationsintervalls ersetzt werden (ti , xi und vi sind bekannt). Mit
ti+1
Z
t
f1 (t, x, v) dt ≈ [t f1 (ti , xi , vi ) ]ti+1
i
= f1 (ti , xi , vi )(ti+1 − ti ) = ẋi ∆t
t=ti
wird aus 28.14 die nach L EONHARD E ULER (1707 - 1783) und AUGUSTIN L OUIS C AUCHY
(1789 - 1857) benannte Integrationsformel von Euler-Cauchy:
xi+1 = xi + ẋi ∆t , vi+1 = vi + v̇i ∆t , ti+1 = ti + ∆t (28.15)
(die auf gleichem Wege zu gewinnende Formel für vi+1 wurde in 28.15 ergänzt).
Dies ist die einfachste Näherungsformel für die numerische Integration eines Anfangswertpro-
blems, die Lösungen x(t) und v(t) werden durch Polygonzüge approximiert. Die einfache Be-
rechnungsvorschrift verdeutlicht in besonderer Schärfe das Problem aller Integrationsformeln
für Anfangswertprobleme: Die Näherungslösung für das Integral in 28.14 erzeugt einen Fehler
(Quadraturfehler), der in die Berechnung von ẋ und v̇ für den nächsten Integrationsschritt eingeht
und dabei einen weiteren Fehler (Steigungsfehler) erzeugt.
Eine Verbesserung der Näherung für das Integral in 28.14 kann durch das Einbeziehen weiterer
Punkte des Integrationsintervalls ∆t erreicht werden. Natürlich ist auch das problematisch, denn
die Werte für den Integranden können ja nur am linken Rand mit bekannten Größen berech-
net werden. Zwischenwerte erfordern vorab die Berechnung der (wieder nur näherungsweise zu
gewinnenden) Werte von x(t) und v(t) an diesen Stellen.
Nach C ARL RUNGE (1856 - 1927) und M ARTIN W ILHELM K UTTA (1867 - 1944) ist eine be-
sonders beliebte Verfahrensfamilie benannt, bei denen man mit einem Formelsatz vom Zeitpunkt
ti zum Zeitpunkt ti+1 so gelangt, dass die Genauigkeit der Berücksichtigung einer bestimmten
Anzahl von Gliedern der Taylorreihen-Entwicklung der Lösung entspricht. Ein Runge-Kutta-
Verfahren 4. Ordnung, das für einen Integrationsschritt vier Funktionswerte berechnet, arbeitet
z. B. mit folgendem Formelsatz:
xi+1 = xi + ∆t6 (k1x + 2 k2x + 2 k3x + k4x ) , ti+1 = ti + ∆t ,
vi+1 = vi + ∆t6 (k1v + 2 k2v + 2 k3v + k4v ) ,
k1x = f1 (ti , xi , vi ) , k1v = f2 (ti , xi , vi ) ,
∆t ∆t ∆t
(28.16)
k2x = f1 (ti + 2 , xi + 2 k1x , vi + 2 k1v ) , k2v = f2 (ti + ∆t2 , xi + ∆t2 k1x , vi + ∆t2 k1v ) ,
∆t ∆t ∆t
k3x = f1 (ti + 2 , xi + 2 k2x , vi + 2 k2v ) , k3v = f2 (ti + ∆t2 , xi + ∆t2 k2x , vi + ∆t2 k2v ) ,
k4x = f1 (ti + ∆t, xi + ∆t k3x , vi + ∆t k3v ) , k4v = f2 (ti + ∆t, xi + ∆t k3x , vi + ∆t k3v ) .
528 28 Kinetik des Massenpunktes
Beispiel 1:
Das Beispiel 3 im Abschnitt 28.2.2 auf Seite 523 (sie-
he auch nebenstehende Skizze) führte auf das Anfangswertproblem
28.10 (Seite 525). Durch Einführen der neuen Variablen ω = ϕ̇
kommt man zu Differenzialgleichungen 1.Ordnung:
ϕ̇ = ω , ϕ(t = 0) = 0 ,
g g
ω̇ = −µ ω 2 + sin ϕ sgn ω + cos ϕ , ω(t = 0) = 0 .
R R
ϕa(t) ϕ (t)
a
In dieser Form kann es ein- 3.2
schlägigen Programmen ange- 3
3.1
boten werden. Abbildung 28.3
2
zeigt die Lösung der beiden 3
Anfangswertprobleme für die 1 2.9
in der Aufgabenstellung vorge-
0 2.8
gebenen Werte (R = 1 m und 0 2 4 6 8 10 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
µ = 0 bzw. µ = 0, 05) im Zeit- ϕb(t) ωb(t)
bereich 0 ≤ t ≤ 10 s. 3 5
In den beiden oberen Diagram- 2.5
2
men ist die Funktion ϕa (t) bei
0
Vernachlässigung der Gleitrei- 1
bung (Fragestellung a) zu se- −2.5
Die Verläufe der Funktionen, die sich ohne Gleitreibung ergeben, zeigen, dass die numerische
Rechnung „gesund“ ist: Der Massenpunkt muss theoretisch immer wieder die Ausgangshöhe er-
reichen. Der Zoom oben rechts zeigt einerseits, dass das Ergebnis natürlich nur ein Polygonzug
ist, andererseits hat der letzte positive Maximalwert für ϕa im untersuchten Intervall den erwar-
teten Wert. Die Lösung dieser Aufgabe findet man unter www.TM-aktuell.de, wo auch gezeigt
wird, wie man durch Vergleich der Funktionswerte am Ende des Zeitbereichs bei Rechnung mit
unterschiedlichen Schrittweiten einen für das Problem angemessenen Wert findet.
Beispiel 2:
Ein Gleitstein mit der Masse m kann auf einer vertikalen Füh-
rung reibungsfrei gleiten. Er ist durch eine (lineare) Feder gefesselt, die im
entspannten Zustand die Länge b hat. Der Gleitstein wird um xan f ausgelenkt
und zum Zeitpunkt t = 0 ohne Anfangsgeschwindigkeit freigelassen (Anima-
tion der Bewegung unter www.TM-aktuell.de).
Für das Intervall 0 ≤ t ≤ 20 s sollen die Bewegungsgesetze x(t) für die
Anfangsauslenkungen
xan f , 1 = −8 a , xan f , 2 = −4, 493 a , xan f , 3 = −4, 492 a
ermittelt werden.
ca b g
Gegeben: =1 ; =4 ; = 9, 81 s2 .
mg a a
Die untere Skizze zeigt die freigeschnittene Masse mit der eingepräg-
ten Kraft mg, den Reaktionskräften FN und Fc (Federkraft) und der
d’Alembertschen Kraft m ẍ, die der Weg-Koordinate x entgegengerichtet
ist (kein Bewegungswiderstand, weil reibungsfreie Führung).
Die Gleichgewichtsbedingung für die horizontalen Kraftkomponenten
wird nicht benötigt, weil die Normalkraft FN nicht gefragt ist und we-
gen der Vernachlässigung der Gleitreibung in der Gleichgewichtsbedin-
gung für die vertikalen Kraftkomponenten nicht erscheint. Das Kräfte-
Gleichgewicht in vertikaler Richtung
m ẍ + Fc cos α − m g = 0
enthält die Federkraft, für die nach dem Federgesetz
p
Fc = c a2 + x 2 − b
eingesetzt werden kann („Federkonstante · Differenz aus Federlänge und Länge der entspannten
Feder“, vgl. Abschnitt 10.1). Für die Winkelfunktion liest man aus der Skizze ab:
x
cos α = √ ,
a + x2
2
Die Abbildung 28.4 zeigt links den Bewegungsablauf für die Anfangsauslenkung xan f , 1 = −8 a.
Es ergibt sich eine „fast normale Schwingung“, bei der nur die „kleinen Zacken“ im Geschwin-
digkeitsdiagramm andeuten, dass die Masse sich auf ihrem Weg nach unten und oben am Lager
bei stark zusammengedrückter Feder „vorbeidrängeln“ muss.
Bei einem Fall aus der geringeren Höhe xan f , 2 = −4, 493 a gelingt es der Masse gerade noch,
am Lager vorbeizukommen (Abbildung 28.4, Mitte). Die Geschwindigkeit wird sowohl bei der
Abwärts- als auch bei der Aufwärtsbewegung vorübergehend fast Null. Dies geschieht an dem
Punkt der größten Zusammendrückung der Feder (dies ist übrigens - vgl. Kapitel 10 - die insta-
bile statische Gleichgewichtslage der Masse). Bei der nur unwesentlich geringeren Anfangsaus-
lenkung xan f , 3 = −4, 492 a (Abbildung 28.4, rechts) kommt die Masse an diesem Punkt nicht
vorbei: Der Punkt der größten Federzusammendrückung wird zum Umkehrpunkt der Bewegung.
Da keine Reibungsverluste berücksichtigt werden, muss die Masse in jedem Fall die Ausgangs-
höhe immer wieder erreichen. Die grafischen Darstellungen der Funktionen bestätigen das.
Dieses Beispiel verdeutlicht mit den völlig unterschiedlichen Bewegungsverläufen bei nur ge-
ringfügigen Änderungen der Anfangsbedingungen auch, wie kritisch sich Verfahrensfehler bei
der numerischen Integration von Anfangswertproblemen auswirken können, denn in jedem Inte-
grationsschritt haben die (mehr oder weniger fehlerbehafteten) Ergebnisse des vorherigen Schrit-
tes den Charakter von Anfangsbedingungen für die gesamte nachfolgende Rechnung (und das
hier behandelte Beispiel liefert bei zu grober Schrittweite tatsächlich falsche Bewegungsverläu-
fe, siehe www.TM-aktuell.de).
Dieses Thema wird deshalb noch mehrmals mit etwas anspruchsvolleren
Aufgaben aufgegriffen. Dann wird auch (neben der immer zu empfehlenden
Mehrfachrechnung mit unterschiedlichen Schrittweiten) die Möglichkeit dis-
kutiert, „Kontrollfunktionen“ zusätzlich zu berechnen (die theoretische Basis
dafür wird im nachfolgenden Abschnitt 28.4 behandelt).
532 28 Kinetik des Massenpunktes
Mechanische Arbeit (vgl. auch die Definition auf Seite 421) ist das Produkt aus dem Weg
und der tangential zur Bahnrichtung wirkenden Kraft:
Z~r2 Zs2
W= ~F d~r = FS ds . (28.17)
~r1 s1
ê Das skalare Produkt zweier Vektoren ist gerade so definiert, dass es zur Definition des me-
chanischen Arbeitsbegriffs passt. Dagegen muss in der skalaren Form der Gleichung 28.17
für FS der Betrag der Komponente des Kraftvektors in Richtung der Bahntangente des Weges
eingesetzt werden. Die Arbeit W ist eine skalare Größe mit der Dimension „Kraft · Länge“
und wird z. B. in Nm („Newtonmeter“) oder J („Joule“) gemessen:
1 Nm = 1 J .
ê Erfolgt die Bewegung auf einer Kreisbahn mit dem Radius R, dann hat die tangential ge-
richtete Kraftkomponente FS bezüglich des Mittelpunktes ein Drehmoment M = FS R und
mit ds = Rdϕ bzw. FS ds = FS R dϕ = M dϕ erhält man die Formel für die Arbeit bei einer
Drehbewegung: ϕ Z2
W= M dϕ . (28.18)
ϕ1
Bei dreidimensionalen Problemen ist zu beachten, dass M in 28.18 nur der Betrag der Kom-
ponente des Momentvektors parallel zur Drehachse ist.
ê Arbeit kann immer nur von den an einem System angreifenden äußeren Kräften bzw. Mo-
menten geleistet werden (vgl. die im Kapitel 24 angestellten Überlegungen zur Formände-
rungsarbeit in elastischen Systemen).
Beispiel 1:
Ein Waggon wird mit einer Kraft F = 12 kN, die
unter einem Winkel α = 25◦ angreift, über eine Strecke s = 50 m
bewegt. Welche Arbeit wird dabei geleistet.
Da die Kraft konstant ist und nur die Komponente in Wegrichtung Arbeit leistet, errechnet man:
W = F cos α · s = 544 kN m = 544 kJ .
28.4 Integration des dynamischen Grundgesetzes 533
Beispiel 2:
Es soll die Arbeit berechnet werden, die
von der Gewichtskraft einer Masse m geleistet wird,
1
die auf einer schiefen Ebene reibungsfrei entlang des
2
Weges s abwärts gleitet und dabei den Höhenunter-
schied h = h1 − h2 überwindet.
Auch hier leistet nur die in Wegrichtung fallende Komponente der Gewichtskraft m g sin α eine
Arbeit, und man erhält:
h
W = m g sin α · s = m g sin α = m g h = m g (h1 − h2 ) .
sin α
ê In das Ergebnis des Beispiels 2 gehen weder die Strecke s noch der Winkel α ein. Eine stei-
lere schiefe Ebene und ein kürzerer Weg s würde wie eine flachere schiefe Ebene und ein
längerer Weg s dann die gleiche Arbeit der Gewichtskraft liefern, wenn die Höhendifferen-
zen von Ausgangs- und Endpunkt gleich sind. Es ist klar, dass dies nicht nur für die schiefe
Ebene (mit einer geradlinigen Wegstrecke) gilt, denn das am Beispiel 2 ermittelte Ergebnis
gilt für die geleistete Arbeit der Gewichtskraft entlang einer beliebigen differenziell klei-
nen Wegstrecke ds und damit auch für das Integral 28.17, mit dem die differenziell kleinen
Arbeitsanteile summiert werden.
Die Arbeit der Gewichtskraft einer Masse m ist vom Weg unabhängig, in das Ergebnis geht
nur die Höhendifferenz h = h1 − h2 des Anfangs- und Endpunktes der Bewegung ein:
W = m g h = m g (h1 − h2 ) . (28.19)
ê Das Arbeitsvermögen der Gewichtskraft einer Masse m (das Potenzial der Gewichtskraft)
hängt also ausschließlich von der Höhe h ab, in der sich die Masse über einer willkürlich
zu definierenden Bezugsebene befindet. Die Arbeit, die sie bei einer Bewegung bis zum
Erreichen dieser Bezugsebene leistet, ist nach 28.19 vom Weg dahin völlig unabhängig. Das
Arbeitsvermögen (die Fähigkeit, Arbeit zu leisten) wird als Energie bezeichnet: Eine Masse
m in der Höhe h über einer Bezugsebene hat die potenzielle Energie
U = mgh . (28.20)
ê Kräfte, die (wie die Gewichtskraft) ein Potenzial besitzen, so dass die von ihnen geleistete
Arbeit nur vom Anfangs- und Endpunkt der Bewegung abhängt (und nicht von dem Weg,
der dabei zurückgelegt wird), nennt man konservative Kräfte. Neben der Gewichtskraft ist
die Federkraft ein Beispiel dafür: Eine Feder mit der Federkonstanten c hat (vgl. Abschnitt
24.1) die potenzielle Energie
1
U = c s20 (28.21)
2
(s0 ist der Federweg, die Verlängerung oder Verkürzung bezüglich der Länge der entspannten
Feder).
ê Arbeit und Energie sind äquivalente Größen und werden dementsprechend mit den gleichen
physikalischen Einheiten gemessen.
534 28 Kinetik des Massenpunktes
Weil in die Arbeit die Zeit, in der sie verrichtet wird, nicht eingeht, definiert man als Maß für die
pro Zeiteinheit verrichtete Arbeit die
dW
Leistung: P= . (28.22)
dt
Für eine in Wegrichtung konstante Kraft F gilt
ds
P=F =Fv (28.23)
dt
und für eine Drehbewegung mit konstantem Moment M:
P = Mω . (28.24)
ê Die Leistung ist eine skalare Größe mit der Dimension „Arbeit/Zeit“, z. B.:
1 Nm/s = 1 J/s = 1 W .
Die Leistungseinheiten W (Watt) und kW (Kilowatt) werden auch häufig als Ws (Wattse-
kunde) bzw. kWh (Kilowattstunde) für die Arbeit verwendet.
Der Impulssatz 28.25 eignet sich für die Lösung von Problemen, bei denen nach einer Geschwin-
digkeit bei bekannter Kraftwirkung über die Zeit gefragt wird.
Beispiel:
Durch Einwirkung einer konstanten Bremskraft F = 3 kN über ∆t = 5 s wird ein Pkw
mit der Masse m = 1000 kg, der sich mit v = 150 km/h bewegte, abgebremst. Wie groß ist danach
seine Geschwindigkeit ve ?
Da die Kraft während des Bremszeitraumes konstant ist und der Bewegungsrichtung entgegen-
gesetzt wirkt, folgt aus dem Impulssatz:
− F ∆t = m ve − m v ,
F km 3000 N
ve = v − ∆t = 150 − · 5 s = 96 km/h .
m h 1000 kg
Für den einzelnen Massenpunkt hat der Impulssatz 28.25 nur untergeordnete Bedeutung, er wird
deshalb im Kapitel 30 (Kinetik des Massenpunktsystems) ausführlicher behandelt.
28.4 Integration des dynamischen Grundgesetzes 535
(Voraussetzung: Masse m ist konstant) liefert unter Ausnutzung von 28.17 für das Integral auf
der linken Seite den
Zs2
m 2 m 2
Arbeitssatz: FS ds = v − v = T2 − T1 . (28.26)
2 2 2 1
s1
Die von der (tangential an die Bahnkurve gerichteten) äußeren Kraft FS längs des Weges s ge-
leistete Arbeit ist gleich der Differenz der kinetischen Energie des Massenpunktes m zwischen
Endpunkt und Anfangspunkt der Bewegung.
Die kinetische Energie
1
T= m v2 (28.27)
2
ist das Arbeitsvermögen des Massenpunktes m infolge seiner Bewegung mit der Geschwin-
digkeit v.
Im Abschnitt 28.4.1 wurde am Beispiel der Gewichtskraft der Masse m gezeigt, dass das Integral
auf der linken Seite von 28.26 für Potenzialkräfte vom Integrationsweg unabhängig ist. Bei aus-
schließlicher Wirkung der Gewichtskraft des Massenpunktes m kann dieses Integral durch 28.19
ersetzt werden. Aus
1 1
m g (h1 − h2 ) = m v22 − m v21
2 2
folgt mit
1 1
m g h1 + m v21 = m g h2 + m v22 (28.28)
2 2
die einfachste Form des Energiesatzes, weil die Arbeit der äußeren Kraft (Gewichtskraft des
Massenpunktes m) durch Terme in Form der potenziellen Energie des Massenpunktes 28.20 aus-
gedrückt wurde. Mit 28.20 und 28.27 wird aus 28.28 der
ê Die Entwicklung des Energiesatzes, die unter ausschließlicher Berücksichtigung der Ge-
wichtskraft für das Integral auf der linken Seite des Arbeitssatzes auf 28.28 führte, würde
bei Berücksichtigung anderer Potenzialkräfte entsprechend verlaufen, so dass der Energie-
satz in der Fassung 28.29 bei Wirkung beliebiger Potenzialkräfte gilt, z. B. auch für Feder-
kräfte, deren potenzielle Energie nach 28.21 einfließen kann.
ê Bei ausschließlicher Wirkung konservativer Kräfte fließen in die Gleichung des Energiesat-
zes 28.29 nur Zustandsgrößen zweier ausgewählter Zeitpunkte der Bewegung ein (und die
Zeit kommt in dieser Gleichung nicht einmal explizit vor). Der Energiesatz 28.29 vergleicht
gewissermaßen zwei „Momentaufnahmen“, ohne den Verlauf der Bewegung im Detail zu
verfolgen. Er ermöglicht gerade bei komplizierten Bewegungen vielfach einige spezielle
Aussagen über das Verhalten des bewegten Massenpunktes.
Wenn neben den konservativen noch andere („nicht-konservative“) Kräfte auf den Massenpunkt
einwirken (ihre Wirkung kann nicht über die potenzielle Energie erfasst werden), so muss die
von ihnen verrichtete Arbeit über das Arbeitsintegral (linke Seite des Arbeitssatzes) in die Ener-
giebilanz einbezogen werden. Nachfolgend wird angenommen, dass die Arbeit dieser Kräfte
(Antriebskraft, Gleitreibungskraft, . . .) nach 28.17 berechnet wird. Wenn mit dem Symbol W die
gesamte Arbeit der Nichtpotenzialkräfte erfasst wird, erfährt der Energiesatz mit diesem Anteil
(der linken Seite des Arbeitssatzes) folgende sinnvolle Erweiterung.
U1 + T1 +W = U2 + T2 . (28.30)
Die Gleichung 28.30 vergleicht zwei Bewegungszustände 1 und 2 mit den zugehörigen po-
tenziellen Energien U1 und U2 und den kinetischen Energien T1 und T2 .
W ist die während der Bewegung von 1 nach 2 durch die Nichtpotenzialkräfte verrichtete
Arbeit, die nach 28.17 berechnet werden kann. W enthält positive Anteile, wenn Energie zu-
geführt wird (Antriebskräfte), und negative Anteile, wenn Energie abgeführt wird (Abtriebs-
kräfte, Reibung).
Empfohlenes Vorgehen bei der Lösung von Problemen mit Hilfe des Energiesatzes:
ê Aus den Energiebilanz-Gleichungen 28.29 und 28.30 wird deutlich, dass die Höhe, in der das
Null-Potenzial angesiedelt wird, beliebig gewählt werden darf, denn unterschiedliche Höhen
resultieren in unterschiedlichen additiven Konstanten, die auf beiden Seiten der Gleichungen
in gleicher Größe auftauchen.
ê Da in die Energiebetrachtungen im Wesentlichen Geschwindigkeiten und Wege eingehen,
liefert der Energiesatz unmittelbar einen Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit des
Massenpunktes und seiner Lage (im Unterschied zur Behandlung von Problemen mit dem
Prinzip von d’Alembert, die primär auf Abhängigkeiten von der Zeit führt).
ê Natürlich können mit dem Energiesatz nicht nur die Bewegungsgrößen zu speziellen Zeit-
punkten betrachtet werden. Wenn man z. B. den Zustand 2 als den Bewegungszustand zu
einem beliebigen Zeitpunkt t ansieht, erhält man ein Bewegungsgesetz, das den Verlauf
der Bewegung beschreibt. Es ist eine Geschwindigkeits-Weg-Funktion, die gegebenenfalls
durch Differenzieren nach der Zeit in eine Beschleunigungs-Zeit-Funktion umgewandelt
werden kann (vgl. nachfolgendes Beispiel 2).
Beispiel 1:
Eine Masse m wird in der Höhe h mit der 0 0
Anfangsgeschwindigkeit v0 senkrecht nach oben geworfen. 1
Wie groß ist ihre Geschwindigkeit beim Aufprall auf dem
Erdboden (Luftwiderstand ist zu vernachlässigen)? Wie än-
dert sich das Ergebnis, wenn die Masse in beliebiger Rich- 2 2
2
tung abgeworfen wird?
Als Bewegungszustand 1 wird der Abwurf (Masse hat in der Höhe h die Geschwindigkeit v0 )
und als Bewegungszustand 2 wird das Auftreffen auf dem Boden definiert. Das Null-Potenzial
wird bei 2 angenommen, so dass aus der Energiebilanz nach 28.29 die Aufprallgeschwindigkeit
berechnet werden kann:
1 1
q
m g h + m v20 = m v22 ⇒ v2 = v20 + 2 g h . (28.31)
2 2
ê Die Größe der Aufprallgeschwindigkeit ist von der Abwurfrichtung unabhängig, nicht aber
ihre Richtung, auch nicht die von der Masse während des Flugs erreichte Höhe.
Beispiel 2: 1
Ein Massenpunkt m wird bei ϕ = 0 in eine kreisför- Null-Pot.
mige Rinne gelegt und ohne Anfangsgeschwindigkeit freigegeben. 2
Seine Bewegung wird durch die Koordinate ϕ verfolgt. Unter Ver-
nachlässigung von Reibungseinflüssen soll ϕ̇ in Abhängigkeit von ϕ
ermittelt werden.
Die Startposition wird (wie skizziert) als Bewegungszustand 1 definiert und der beliebige Zeit-
punkt, zu dem der Winkel ϕ erreicht wird, als Zustand 2. Das Null-Potenzial soll mit Zustand 1
zusammenfallen. Dann lautet die Energiebilanz nach 28.29 mit der Bahngeschwindigkeit Rϕ̇:
r
1 g
0 = −m g R sin ϕ + m (Rϕ̇)2 ⇒ ϕ̇ = 2 sin ϕ . (28.32)
2 R
538 28 Kinetik des Massenpunktes
ê Die Null auf der linken Seite in der Energiebilanz 28.32 sagt aus, dass keine kinetische Ener-
gie im Zustand 1 vorhanden ist, weil die Bewegung ohne Anfangsgeschwindigkeit beginnt,
und auch keine potenzielle Energie wegen der Wahl des Null-Potenzials auf dieser Höhe. Im
Zustand 2 wird die potenzielle Energie negativ, weil der Massenpunkt unter dem gewählten
Null-Potenzial liegt.
ê Die erstaunlich problemlose Berechnung der Aufprallgeschwindigkeit aus der Energiebilanz
28.31 beim schiefen Wurf und die einfache Berechnung der Funktion ϕ̇(ϕ) aus der Bilanz
28.32 stehen im Gegensatz zu den Schwierigkeiten, die mit der Ermittlung der Bewegungs-
gesetze für die gleichen Aufgaben (Beispiel im Abschnitt 28.1 bzw. Beispiel 3 im Abschnitt
28.2.2) verbunden waren.
Das mit dem Energiesatz für den schiefen Wurf mühelos ermittelte Ergebnis wäre mit Hilfe
des Prinzips von d’Alembert nur unter erheblichem Aufwand zu erlangen. Andererseits gibt
die Energiebilanz (im Gegensatz zur d’Alembert-Rechnung) keine Auskünfte über Wurf-
weite, Auftreffwinkel und Flugzeiten.
ê Mit 28.32 ist natürlich auch eine hervorragende Kontrollmöglichkeit (für jedes einzelne Wer-
tepaar) der numerisch ermittelten Funktionen ϕ(t) und ϕ̇(t) gegeben (siehe Seite 529).
ê Auch über den Energiesatz kann man zu den zeitabhängigen Funktionen gelangen: Diffe-
renziation von 28.32 auf beiden Seiten nach der Zeit entsprechend
g cos ϕ g cos ϕ g
ϕ̈ = q ϕ̇ = ϕ̇ = cos ϕ
g
R 2 sin ϕ R ϕ̇ R
R
führt auf die gleiche Differenzialgleichung, die sich auch nach dem Prinzip von d’Alembert
ergab (Seite 523). Sie ist der Ausgangspunkt für die Berechnung von ϕ(t) und ϕ̇(t).
ê Ausdrücklich gewarnt werden muss vor dem (naheliegenden) Versuch, 28.32 direkt nume-
risch lösen zu wollen, denn eigentlich liegt mit
r
g
ϕ̇ = f (t, ϕ) = 2 sin ϕ , ϕ(t = 0) = 0
R
genau das Anfangswertproblem 28.13 (mit sogar nur einer Differenzialgleichung) vor, für
das im Abschnitt 28.3.2 die numerischen Lösungsmöglichkeiten vorgestellt wurden. Dass
sich als Lösung
ϕ ≡0
ergibt, darf auch nicht dem numerischen Lösungsverfahren angelastet werden, denn es ist
tatsächlich eine Lösung dieses Anfangswertproblems (man überzeugt sich leicht durch Ein-
setzen). In der Mathematik wird gezeigt, dass die Eindeutigkeit der Lösung des Anfangs-
wertproblems an die Erfüllung der so genannten Lipschitz-Bedingung (nach RUDOLF L IP -
SCHITZ , 1832 - 1903)
∂ f (t, ϕ)
∂ϕ ≤ K (28.33)
gebunden ist (mit der beliebigen, aber endlichen Lipschitz-Konstanten K). Für ϕ = 0 ist
28.33 aber bei dem betrachteten Anfangswertproblem nicht erfüllt. Dies ist typisch für sol-
che mit dem Energiesatz formulierten Anfangswertprobleme.
28.5 Aufgaben 539
Beispiel 3:
Die Walzen eines Walzwerks (Durchmes-
ser d) drehen sich mit der Drehzahl n. Ein Stahlblock
mit der Masse m, der das Walzwerk verlässt, kommt
auf einer horizontalen Bremsstrecke nach s0 zur Ruhe.
Gegeben: n = 300 min−1 ; s0 = 28 m ; 0
d = 480 mm ; m = 500 kg .
Wie groß ist der Gleitreibungskoeffizient µ auf der Bremsstrecke? Wie stark würde ein masselo-
ser elastischer Puffer (Federzahl c = 1000 N/cm) bei s = 20 m von dem aufprallenden Stahlblock
zusammengedrückt werden?
Beim Verlassen des Walzwerkes hat der Stahlblock die Umfangsgeschwindigkeit der Walzen.
Seine kinetische Energie (potenzielle Energie braucht nicht berücksichtigt zu werden, weil der
Stahlblock sich immer auf gleicher Höhe bewegt) wird um die Reibarbeit vermindert und im
Zustand 2 (Ruhe) ist auch keine kinetische Energie mehr vorhanden. Aus der Bilanz nach 28.30
berechnet man mit der Umfangsgeschwindigkeit der Walzen nach 26.18 bis 26.21 und der Reib-
arbeit W = −FR s0 (konstante Reibkraft infolge konstanter Normalkraft):
d 2 (π d n)2
1 1
m v21 − µ FN s0 = 0 ⇒ m 2π n − µ m g s0 = 0 ⇒ µ = = 0, 103 .
2 2 2 2 g s0
Wird der Block schon vorher durch die Pufferfeder abgebremst, lautet die Energiebilanz mit der
im Zustand 2 um den Federweg x zusammengedrückten Feder, deren potenzielle Energie sich
nach 28.21 berechnet:
1 1
m v21 − µ FN s = c x2 ⇒ x = 28, 5 cm .
2 2
Der unwesentliche Anteil der auf dem Federweg noch anfallenden Reibarbeit wurde vernachläs-
sigt, wäre jedoch relativ problemlos durch den Weg s + x (anstelle von s) im Reibarbeitsanteil zu
berücksichtigen.
28.5 Aufgaben
Aufgabe 28.1:
Ein Massenpunkt gleitet reibungsfrei eine Schan-
ze hinab. Er beginnt die Bewegung in der Höhe h ohne Anfangsge-
schwindigkeit und verlässt die Schanze aus dem letzten kreisför-
migen Teil unter einem Winkel von 45◦ .
Wie groß ist seine Anfangsgeschwindigkeit für den sich anschlie- 45°
ßenden schiefen Wurf?
Gegeben: h = 2 m ; R = 0, 5 m .
540 28 Kinetik des Massenpunktes
Aufgabe 28.2:
Eine Winde zieht mit konstantem 0
Moment M0 eine Masse m eine schiefe Ebene hin-
auf. Zwischen der Masse m und der schiefen Ebe-
ne ist Gleitreibung mit dem Gleitreibungskoeffizi-
enten µ zu berücksichtigen. Die Masse der Win-
de kann vernachlässigt werden. Die Bewegung be-
ginnt aus der Ruhe heraus.
Gegeben: M0 , m , α , s , R , µ .
Wie groß ist die Geschwindigkeit v der Masse m, nachdem sie den Weg s zurückgelegt hat?
Aufgabe 28.3:
Ein Massenpunkt m wird mit der Anfangsge-
schwindigkeit v0 in eine Kreisbahn mit dem Radius r geschossen.
Gegeben: m = 1 kg ; r = 1m ;
v0 = 4 m/s ; µ= 0, 2 .
0
a) Die Kreisbahn liegt als Rinne in der Horizontalebene. Reibung
ist am Boden der Rinne und am Außenrand zu berücksichtigen.
Man ermittle die grafischen Darstellungen der Funktionen ϕ(t)
und ϕ̇(t) sowie den Winkel ϕend und die Zeit tend am Ende der
Bewegung.
b) Die Kreisbahn liegt in der Vertikalebene. Unter Berücksichti-
gung von Gleitreibung sind die grafischen Darstellungen der
Funktionen ϕ(t), ϕ̇(t) und der Normalkraft FN (t) zu ermitteln.
0
Aufgabe 28.4:
Eine horizontale Scheibe dreht sich mit der
konstanten Winkelgeschwindigkeit ω0 . In einer geraden Rinne 0
wird ein Massenpunkt m in der skizzierten Lage festgehalten
und zum Zeitpunkt t = 0 freigelassen.
a) Bei Vernachlässigung von Reibungseinflüssen ermittle
man für den Massenpunkt die Bewegungsgesetze xrel (t)
und ẋrel (t) bezüglich der mitrotierenden Koordinate xrel
und die horizontale Normalkraftkomponente FN (t), mit der
der Massenpunkt seitlich gegen die Führung drückt.
b) Zu welchem Zeitpunkt tR verlässt der Massenpunkt die Rinne, welche Relativgeschwindig-
keit und welche Absolutgeschwindigkeit hat er in diesem Moment?
Gegeben: a = 10 cm ; b = 8 cm ; R = 80 cm ; ω0 = 1, 5 s−1 ; m = 2 kg .
Weitere Aufgaben findet man im Internet unter www.TM-aktuell.de.
29 Kinetik starrer Körper
Die allgemeine Bewegung eines starren Körpers wird aufgefasst (vgl. Kapitel 27) als Translation,
beschrieben durch die Bewegung eines Bezugspunktes, und Rotation aller übrigen Körperpunkte
um diesen Punkt. Zunächst werden einige wichtige Sonderfälle untersucht.
Alle Untersuchungen für diesen Fall dürfen zunächst in der Ebene angestellt werden, weil Kraft-
komponenten parallel zur Drehachse nur eine Translation in Achsrichtung hervorrufen könnten
und die Achse die Momente, die nicht um die Achse drehen, aufnehmen würde.
Alle äußeren Kräfte und Momente werden nach den Regeln der Statik (Abschnitt 3.5) zu einer
resultierenden Kraft, deren Wirkungslinie die Drehachse schneidet, und einem resultierenden
Moment zusammengefasst. Die resultierende Kraft (in der Abbildung 29.1 durch ihre beiden
gestrichelt gezeichneten Komponenten angedeutet) wird von der Drehachse aufgenommen, so
dass nur noch das resultierende Moment Mz eine Bewegung hervorrufen kann. Diese soll nun
(ausschließlich unter Verwendung der für den Massenpunkt bereits behandelten Hilfsmittel) un-
tersucht werden.
Ein beliebiger (differenziell kleiner) Massenpunkt dm im Abstand r von der Drehachse führt eine
Kreisbewegung aus mit einer Bahnbeschleunigung nach 26.18 und einer (radial zum Drehpunkt
gerichteten) Normalbeschleunigung nach 26.22:
at = r ϕ̈ , an = r ϕ̇ 2 .
Nach dem Prinzip von d’Alembert (Abschnitt 28.2.2) sind also die Massenkräfte
dm r ϕ̈ und dm r ϕ̇ 2
Damit ist der Zusammenhang zwischen der äußeren Belastung und der Drehbewegung einer
Masse um eine feste Achse bekannt. Der Integralausdruck in 29.1 ist das
ê Die kinetische Energie einer Masse, die sich um eine feste Achse dreht, berechnet sich auf
der Basis von 28.27 analog zur Herleitung von 29.1 als Summe der kinetischen Energien der
differenziell kleinen Massenelemente dm, die sich auf Kreisbahnen mit den Bahngeschwin-
digkeiten rϕ̇ bewegen. Aus
1 1
Z Z
Trot = (r ϕ̇)2 dm = ϕ̇ 2 r2 dm
2 2
m m
ergibt sich die kinetische Rotationsenergie
1 1
Trot = Jz ϕ̇ 2 = Jz ω 2 . (29.4)
2 2
ê Analog zum Impuls mv (vgl. Abschnitt 28.1) wird für die Drehbewegung der Drehimpuls
(auch: Drall)
Lz = Jz ω (29.5)
aufgeschrieben werden und ist in dieser Form eine einfache Variante des später noch aus-
führlicher zu behandelnden Drallsatzes (auch: Impulsmomentensatz):
Die zeitliche Änderung des Dralls ist gleich der Wirkung des resultierenden äußeren Mo-
ments.
ê Man beachte die Analogien, die sich in den Formeln für die Translation bzw. Rotation wi-
derspiegeln. Wenn man den
Translationsgrößen s , v , a , m , F
die Rotationsgrößen ϕ , ω , α , J , M
zuordnet, ergeben sich alle „Rotationsformeln“ durch Austausch der äquivalenten Größen
aus den „Translationsformeln“, z. B.:
Translation Rotation
Geschwindigkeit/Winkelgeschwindigkeit v = ṡ ω = ϕ̇
Beschleunigung/Winkelbeschleunigung a = v̇ α = ω̇
R R
Arbeit FS ds M dϕ
Leistung Fv Mω
d’Alembertsche Kraft/d’Alembertsches Moment m ẍ J ϕ̈
1 2 1 2
Kinetische Energie 2 mv 2 Jω
Impuls/Drehimpuls mv Jω
Die Behandlung der Rotation eines Körpers um eine feste Achse als ebenes Problem (hier aus-
geführt unter alleiniger Wirkung des Moments Mz ) ist für die Analyse der Drehbewegung aus-
reichend. Für die in der Praxis besonders wichtige Berechnung der auftretenden Kräfte und Mo-
mente, speziell in den Lagern, die die Drehachse fixieren, ist eine dreidimensionale Untersuchung
erforderlich.
544 29 Kinetik starrer Körper
Es wird auch weiterhin angenommen, dass der Rotor um die z-Achse rotiert, x-Achse und y-
Achse eines kartesischen Koordinatensystems liegen also parallel zum Rotorquerschnitt. Die
Drehbewegung wird durch die Winkelkoordinate ϕ (und die Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ und die
Winkelbeschleunigung ϕ̈) beschrieben.
Zur Erinnerung: Der Querstrich über den Koordinaten be-
deutet, dass es (außer der hier gültigen Besonderheit, dass
z mit der Rotationsachse übereinstimmt) ein allgemei-
nes Koordinatensystem ist (der Schwerpunkt des Körpers
braucht weder auf der Rotationsachse noch auf einer der
Koordinatenachsen zu liegen).
Eine andere über dieses Koordinatensystem zu treffende
Vereinbarung muss bei den nachfolgenden Untersuchun-
gen (und vor allen Dingen bei der Anwendung der herzu-
leitenden Formeln) unbedingt beachtet werden: Das ver-
wendete x-y-z-Koordinatensystem ist mit dem Rotor fest
verbunden, macht also die Rotationsbewegung mit.
Nach dem Freischneiden des Rotors werden sämtliche äu- Abbildung 29.2: Mit dem Rotor rotie-
ßeren Kräfte (einschließlich der Kräfte in den Lagern) zu rendes x-y-z-Koordinatensystem, auch
einer resultierenden Kraft und einem resultierenden Mo- die äußeren Kräfte und Momente ma-
ment zusammengefasst (Abbildung 29.2, untere Skizze). chen die Rotationsbewegung mit
Die Abbildung 29.2 zeigt jeweils die drei Komponenten dieser beiden Größen, die mit den
Massenkräften (d’Alembertschen Kräften) des Rotors ein Gleichgewichtssystem bilden müssen.
ê Eine erste Konsequenz des mitrotierenden Koordinatensystems wird schon deutlich: Da
auch die äußeren Kräfte und Momente auf dieses System bezogen werden müssen, erhält
man z. B. bei der Bestimmung der Lagerreaktionen „mitrotierende Lagerkraftkomponen-
ten“. Dies stellt keinen nennenswerten Nachteil dar. Bei Berücksichtigung des Eigenge-
wichts (und nicht vertikal stehender Rotationsachse) muss allerdings beachtet werden, dass
die Richtung dieser Kraft (im Gegensatz zu ihrem Angriffspunkt) natürlich nicht mitrotiert
und bezüglich des x-y-z-Koordinatensystems zeitlich veränderlich ist.
Z Z
2
Fx + r ϕ̇ cos ϕ dm + rϕ̈ sin ϕ dm = 0 ,
m m
Z Z
Fy + r ϕ̇ 2 sin ϕ dm − rϕ̈ cos ϕ dm = 0 .
m m
Diese Gleichungen lassen sich mit den aus der Abbildung 29.3 abzulesenden Beziehungen
x = r cos ϕ , y = r sin ϕ
umformen zu
Z Z
Fx = −ϕ̇ 2 x dm − ϕ̈ y dm ,
m m
Z Z
Fy = −ϕ̇ 2 y dm + ϕ̈ x dm .
m m
Die Integrale auf den rechten Seiten sind die aus der Statik (Berechnung von Schwerpunkten)
bekannten statischen Momente der Masse m bezüglich der z-Achse (vgl. Abschnitt 4.1). Mit den
Gleichungen 4.3 in der Form
Z Z
x dm = m xS , y dm = m yS
m m
(m - Gesamtmasse des Körpers, xS , yS - Schwerpunktkoordinaten) erhält man:
Fx = −m xS ϕ̇ 2 − m yS ϕ̈ ,
2
(29.7)
Fy = −m yS ϕ̇ + m xS ϕ̈ .
ê Die Formeln 29.7 zeigen einen ersten Vorteil des mitrotierenden Koordinatensystems: Die
Schwerpunktkoordinaten des starren Körpers xS und yS sind unveränderliche Größen.
Die rechten Seiten von 29.7 sind die durch die Rotation hervorgerufenen Massenkräfte, und man
liest aus den Gleichungen ab:
Bei der Rotation einer Masse um eine feste Achse treten keine resultierenden Massenkräfte
auf, wenn ihr Schwerpunkt mit der Rotationsachse zusammenfällt.
Diese Aussage gilt sowohl bei Rotation mit konstanter Winkelgeschwindigkeit als auch bei
veränderlicher Winkelgeschwindigkeit (Anfahr- und Bremsvorgänge).
Das Momentengleichgewicht um die z-Achse wurde bereits untersucht und lieferte Gleichung
29.1. Die Momenten-Gleichgewichtsbedingungen um die x-Achse und die y-Achse lauten (die
Komponenten der differenziell kleinen Massenkräfte haben jeweils den Hebelarm z):
Z Z
Mx − z r ϕ̇ 2 sin ϕ dm + z rϕ̈ cos ϕ dm = 0 ,
m m
Z Z
2
My + z r ϕ̇ cos ϕ dm + z rϕ̈ sin ϕ dm = 0 .
m m
546 29 Kinetik starrer Körper
Mx = −Jy z ϕ̇ 2 + Jx z ϕ̈ ,
2 (29.10)
My = Jx z ϕ̇ + Jy z ϕ̈ ,
Mz = Jz ϕ̈ .
x, y und z sind mitrotierende Koordinaten, die
äußeren Momente Mx , My und Mz beziehen
sich auf dieses Koordinatensystem.
ê Bei den Beziehungen 29.10 zeigt sich der entscheidende Vorteil des mitrotierenden Koordi-
natensystems, weil die Deviationsmomente sich auch auf dieses System beziehen und damit
(wie die Masse, die Schwerpunktkoordinaten und die Massenträgheitsmomente) als Kenn-
werte des Körpers unveränderliche Größen sind.
ê Für die Analyse der Bewegung ist die dritte Gleichung in 29.10 ausreichend. Die Achse ist
die feste Rotationsachse, sonst muss sie keine speziellen Bedingungen erfüllen. Die beiden
anderen Gleichungen in 29.10 werden im Zusammenhang mit den Gleichungen 29.7 für die
Berechnung der äußeren Kräfte (z. B.: Lagerreaktionen) benötigt.
ê Die Rotation um eine feste Achse ist ein besonders wichtiger Spezialfall der allgemeinen
Bewegung des starren Körpers. Trotzdem wird hier auf Beispiele zunächst verzichtet, weil
im nachfolgenden Abschnitt erst die Massenträgheitsmomente und die Deviationsmomente
ausführlich behandelt werden. Den Beispielen zu dem Thema, für das in diesem Abschnitt
die theoretischen Grundlagen gelegt wurden, ist ein eigener Abschnitt 29.4 gewidmet.
29.3 Massenträgheitsmomente 547
29.3 Massenträgheitsmomente
Das Massenträgheitsmoment einer Masse m berechnet sich nach der Formel 29.2. Es wird z. B.
mit der Dimension kg cm2 angegeben. Als Maß für die Drehträgheit der Masse bezieht es sich
immer auf eine ganz bestimmte Drehachse, so dass zu jeder Angabe eines Massenträgheitsmo-
ments die Angabe der Drehachse gehört.
In die Formel 29.2 geht der Abstand der Masseteilchen quadratisch ein, so dass mit der An-
ordnung von Teilmassen in großem Abstand von der Drehachse ein sehr großes Massenträg-
heitsmoment erreicht werden kann. Das wird in der technischen Praxis vielfach genutzt (z. B.:
Schwungräder).
Die formale Ähnlichkeit der Formel 29.2 mit den Formeln für die Flächenträgheitsmomente 16.9
(Seite 220) hat letzteren zu dem etwas unpassenden Namen verholfen. Viele im Abschnitt 16.2
besprochene Eigenschaften der Flächenträgheitsmomente sind übertragbar, z. B. folgt aus der
Definition 29.2 für Körper, die sich aus mehreren Teilmassen zusammensetzen:
Massenträgheitsmomente, die sich auf gleiche Drehachsen beziehen, dürfen addiert bzw. sub-
trahiert werden.
Man darf sich vom Massenträgheitsmoment eines Körpers die Modellvorstellung machen, dass
die gesamte Masse in einem (unendlich) dünnen Ring mit dem Radius R konzentriert ist. Das
Integral 29.2 degeneriert in diesem Fall zu einem Ergebnis, das man näherungsweise für sehr
dünne Zylinder (z. B.: Wand einer Zentrifuge, Radreifen eines Schienenfahrzeugs) verwenden
darf: JS = m R2 . Für alle anderen Körper muss die Massenverteilung berücksichtigt werden.
Beispiel 1:
Für einen dünnen Stab (Masse m, Länge l) darf angenommen werden, dass alle
Massenelemente in einem Querschnitt den gleichen Abstand r von der Drehachse haben. Mit
dem differenziell kleinen Massenelement (A - Querschnittsfläche, ρ - Dichte)
dm = ρ A dr
berechnet man die Massenträgheitsmomente bezüglich einer
Drehachse im Schwerpunkts S
l
Z2
1 1
JS = r2 ρ A dr = ρ A l3 = m l2 (29.11)
12 12
r=− l
2
bzw. einer Drehachse im Endpunkt A:
Zl
1 1
JA = r2 ρ A dr = ρ A l3 = m l2 . (29.12)
3 3
r=0
548 29 Kinetik starrer Körper
Beispiel 2:
Für die Berechnung des Massenträgheitsmoments eines kreiszylindrischen Körpers
(Voll- bzw. Hohlzylinder) bezüglich der Zylinderachse wählt man zweckmäßig als Massenele-
ment dm einen unendlich dünnen Hohlzylinder (unterste der drei Skizzen):
dm = 2 π r dr l ρ .
Hinweis: Im allgemeinen Fall ist 29.2 ein Volumenintegral. Durch
geschicktes Aufschreiben von dm kann daraus ein Flächenintegral
oder ein einfaches Integral werden. Natürlich müssen alle in dm ein-
fließenden Massenteilchen den gleichen Abstand von der Drehachse
haben.
Für den Hohlzylinder errechnet man
Zra
1
JS = r2 2 π r l ρ dr = π lρ (ra4 − ri4 ) ,
2
r=ri
was mit der Gesamtmasse m = π ρ l (ra2 − ri2 ) umgeformt werden
kann zu:
1
JS = m (ra2 + ri2 ) , (29.13)
2
Mit ri = 0 und ra = R entsteht ein Vollzylinder:
1
JS = m R2 . (29.14)
2
Der Hohlzylinder könnte natürlich auch als Differenz zweier Vollzylinder angesehen werden,
wobei zu beachten ist, dass in den Formeln 29.11 bis 29.14 das Symbol m immer für die Ge-
samtmasse des Körpers steht, so dass bei der Differenzbildung zwei unterschiedliche Massen
einzusetzen sind (großer Vollzylinder und kleiner Vollzylinder).
Beispiel 3:
Rotoren haben vornehmlich eine rotationssymmetrische Form. Wenn diese durch
eine Konturlinie y(x) beschrieben wird (Skizze), kann man sich den Rotor aus unendlich vielen
unendlich dünnen Scheiben zusammengesetzt denken (Scheibendicke jeweils dx, Scheibenradius
y). Eine solche Scheibe hat die Masse dm = ρ π y2 dx und bei Rotation um die x-Achse das
Massenträgheitsmoment 12 dm y2 .
Die Summation der differenziell kleinen Trägheitsmomente (Inte-
gration von a bis b) ergibt eine Formel für das Massenträgheits-
moment eines Rotationskörpers:
Rb
Zb y4 dx
π 4 m x=a
Jxx = ρ y dx = , (29.15)
2 2 Rb
x=a y2 dx
x=a
wobei die Formel mit der Gesamtmasse des Rotationskörpers m durch Einsetzen der Volumen-
formel für Rotationskörper entstand. Aus Gründen, die im Abschnitt 29.3.3 erläutert werden,
wurde in 29.15 ein Doppelindex für die Kennzeichnung der Bezugsachse verwendet. Das gilt
auch für die folgende Zusammenstellung einiger wichtiger Formeln.
29.3 Massenträgheitsmomente 549
Die Querstriche über den Koordinaten wurden in der Zusammenstellung weggelassen, weil es
nicht mehr beliebige Bezugsachsen, sondern Schwerpunktachsen sind. In diesem Sinne sind es
Kugel: 2
Jxx = Jyy = Jzz = m R2
5
1
Kreiszylinder: Jzz = m R2
2
1
Jxx = Jyy = m (3 R2 + l 2 )
12
1
Jzz = m (ra2 + ri2 )
Hohlzylinder: 2
1
Jxx = Jyy = m (3 ra2 + 3 ri2 + l 2 )
12
1 1
Jxx = m (b2 + c2 ) , Jyy = m (a2 + b2 )
Quader: 12 12
1
Jzz = m (a2 + c2 )
12
Dünne 1 1
Rechteck- Jxx = m h2 , Jyy = m b2
12 12
scheibe: 1
Jzz = m (b2 + h2 )
12
1
Dünne Kreis- Jzz = m R2
2
scheibe: 1
Jxx = Jyy = m R2
4
550 29 Kinetik starrer Körper
die sich auf die Schwerpunktachsen beziehen, verschwinden (vgl. Abschnitt 4.1). Es verbleibt
die gesuchte Formel, auch für die Massenträgheitsmomente bezeichnet als
Steinerscher Satz:
JA = JS + m r2S . (29.16)
ê Bei der Anwendung der Formel 29.16 ist zu beachten, dass A ein beliebiger Punkt ist, wäh-
rend S der Schwerpunkt des Körpers sein muss. Die beiden durch diese Punkte gehenden
Achsen, auf die sich JA bzw. JS beziehen, müssen parallel sein. Ihr Abstand ist rS , und m ist
die Gesamtmasse des Körpers.
ê Aus 29.16 folgt, dass das auf eine Schwerpunktachse bezogene Massenträgheitsmoment im-
mer kleiner ist als ein beliebiges Massenträgheitsmoment, das sich auf eine parallele Achse
bezieht.
29.3 Massenträgheitsmomente 551
Beispiel 1:
Als Beispiel 1 im Abschnitt 29.3.1 wurden die Massenträgheitsmomente des dün-
nen Stabes bezüglich des Schwerpunktes S und des Endpunktes A berechnet. Natürlich lässt
sich JA bei bekanntem JS auch nach 29.16 berechnen. Mit dem Abstand 2l des Punktes A vom
Schwerpunkt S ergibt der Steinersche Satz mit
2
l 1 1 1
JA = JS + m = m l2 + m l2 = m l2
2 12 4 3
wieder das Ergebnis 29.12.
Beispiel 2:
Das skizzierte Schwungrad dreht sich mit der 1
2
Drehzahl n. Es soll die kinetische Energie berechnet wer-
den, die in dem sich drehenden Rad gespeichert ist. 2 1
Steiner-
4 Anteil
Die Massenträgheitsmomente entnimmt man der Zusammenstellung auf Seite 549. Nur für die
vier Bohrungen sind Steiner-Anteile (Abstand r3 von der Drehachse) zu berücksichtigen:
1 1 1
JS = mKranz (R21 + R22 ) + mGelochteScheibe (R22 + r12 ) − 4 mAusschnitt r22 + mAusschnitt r32
2 2 2
1 1 1
= ρ π (R21 − R22 ) b1 (R21 + R22 ) + ρ π (R22 − r12 ) b2 (R22 + r12 ) − 4 ρ π r22 b2 r22 + ρ π r22 b2 r32
2| {z } 2| {z } 2
mKranz mGelochteScheibe | {z }
Ausschnitt + Steiner-Anteil
π
= ρ [b2 (R42 − r14 − 4 r24 − 8 r22 r32 ) + b1 (R41 − R42 )] = 238 kgm2 .
2
Die kinetische Energie errechnet sich nach 29.4 in Verbindung mit 26.21:
800 2
1 1
Trot = JS (2 π n)2 = · 238 kgm2 · 2 π · = 0, 835 · 106 Nm = 835 kJ .
2 2 60 s
552 29 Kinetik starrer Körper
Axiale Massenträgheitsmomente:
Z
Jx x = (y2 + z2 ) dm ,
m
Z
Jy y = (x2 + z2 ) dm , (29.17)
m
Z
Jz z = (x2 + y2 ) dm .
m
Deviationsmomente (Zentrifugalmomente):
Die Definitionen der Massenträgheits-
Z
Jx y = − x y dm ,
momente und der Deviationsmomente
m
beziehen sich auf ein beliebiges karte- Z
sisches Koordinatensystem. Jx z = − x z dm , (29.18)
m
Z
Jy z = − y z dm .
m
Häufig lassen sich die Massenträgheitsmomente von Körpern zusammensetzen aus den bekann-
ten Massenträgheitsmomenten von Teilkörpern (in der Regel auf Schwerpunktachsen der Teil-
körper bezogen, vgl. Tabelle auf Seite 549). Da sie nur addiert bzw. subtrahiert werden dürfen,
wenn sie sich auf gleiche Achsen beziehen, müssen der Steinersche Satz (für Parallelverschie-
bung) und Transformationsformeln für die Drehung des Koordinatensystems benutzt werden.
Die folgenden Formeln setzen zunächst voraus, dass keine Drehung der Koordinatensysteme
erforderlich ist. In diesem Sinne sind es die
Jx x = ∑ Jx xi + (y2i + z2i ) mi
,
i
Jy y = ∑ Jy yi + (z2i + x2i ) mi
,
i
Jz z = ∑ Jz zi + (x2i + y2i ) mi
,
i
(29.19)
Jx y = ∑ [Jx yi − xi yi mi ] ,
i
Jy z = ∑ [Jy zi − yi zi mi ] ,
i
Jx z = ∑ [Jx zi − xi zi mi ] .
i
x, y, z - Koordinatensystem für das Trägheitsmoment des Gesamtkörpers,
xi , yi , zi - Koordinatensystem im Schwerpunkt Si des i-ten Teilkörpers parallel zum
x-y-z-System.
Auch die axialen Massenträgheitsmomente in 29.17 bzw. 29.19 wurden aus formalen Gründen
mit zwei Indizes versehen, weil es üblich und sinnvoll ist, sie mit den Deviationsmomenten zum
Trägheitstensor zusammenzufassen. Die sechs zu einem speziellen Koordinatensystem gehören-
den Werte werden als symmetrische Matrix angeordnet:
Jx x Jx y Jx z
Jx y z = Jx y Jy y Jy z . (29.20)
Jx z Jy z Jz z
554 29 Kinetik starrer Körper
Auch die Drehung des Koordinatensystems ist nach den aus der Mathematik bekannten Regeln
formalisierbar. Der Trägheitstensor nach 29.21 möge für ein x-y-z-Koordinatensystem gegeben
sein, es sollen die axialen Massenträgheitsmomente und die Deviationsmomente für ein gedreh-
tes ξ -η-ζ -System bestimmt werden (Hinweis: Die nachfolgend angegebenen Transformations-
formeln, hier aufgeschrieben für das Schwerpunkt-Koordinatensystem mit x, y und z, gelten un-
eingeschränkt auch für das beliebige x-y-z-System). Wenn
α1 , β1 und γ1 die Winkel zwischen x-, y- bzw. z- Achse und der ξ -Achse,
α2 , β2 und γ2 die Winkel zwischen x-, y- bzw. z- Achse und der η-Achse,
α3 , β3 und γ3 die Winkel zwischen x-, y- bzw. z- Achse und der ζ -Achse
sind (Abbildung 29.6 zeigt als Beispiel die Winkel, die die Lage der
ξ -Achse definieren), dann gilt für die Koordinatentransformation
ξ x
1
η = CT y
ζ y 1 1
(29.22)
cos α1 cos α2 cos α3
mit C = cos β1 cos β2 cos β3 Abbildung 29.6: Winkel,
cos γ1 cos γ2 cos γ3 die die Lage der ξ -Achse
definieren
(CT ist die transponierte Matrix). Damit ergibt sich die
29.3 Massenträgheitsmomente 555
In der Transformationsmatrix C ist jede Spalte ein Einheitsvektor, der die Richtung einer Koordi-
natenachse des ξ -η-ζ -Systems im x-y-z-Koordinatensystem hat. Wenn nun eine Transformation
29.23 gefunden werden kann, die Jx y z in eine Diagonalmatrix überführt (die auf den Nichtdia-
gonalpositionen stehenden Deviationsmomente sollen Null werden), dann würden die Spalten
dieser speziellen Transformationsmatrix CH die Richtungen der Hauptzentralachsen definieren
(bei einem allgemeinen Koordinatensystem die Richtungen der Hauptachsen für den entspre-
chenden Koordinatenursprung), und die Transformation
J1 0 0
J1 2 3 = CTH Jx y z CH = 0 J2 0 (29.24)
0 0 J3
liefert die drei Hauptträgheitsmomente J1 , J2 und J3 .
Das Finden einer Hauptachsentransformation 29.24 für eine gegebene Matrix Jx y z entspricht
genau der Aufgabenstellung des speziellen Matrizeneigenwertproblems
(Jx y z − κ E) x = o , (29.25)
für dessen Lösung die Verwendung eines geeigneten Computerprogramms empfohlen wird (sie-
he www.TM-aktuell.de1 ). Weil man allerdings mit einer 3 · 3-Matrix auch noch ohne Computer
operieren kann, soll hier kurz eine (für dieses kleine Problem durchaus zumutbare) Lösungsmög-
lichkeit für die Handrechnung beschrieben werden:
29.25 ist ein homogenes lineares Gleichungssystem (E steht für eine Einheitsmatrix), die drei
Eigenwerte κi , für die es nichttriviale Lösungen hat, sind die gesuchten Hauptträgheitsmomente
J1 , J2 und J3 . Die zugehörigen (bis auf einen Faktor bestimmbaren) nichttrivialen Lösungsvek-
toren xi (Eigenvektoren) sind die Spalten der gesuchten Transformationsmatrix C (und damit die
Richtungsvektoren der Hauptzentralachsen bzw. Hauptachsen).
Da ein homogenes Gleichungssystem nur dann nichttriviale Lösungen haben kann, wenn die
Koeffizientendeterminante verschwindet, können aus der Bedingung
Jx x − κ Jx y Jx z
Jx y
Jy y − κ Jy z = 0
J
xz Jy z Jz z − κ
die drei gesuchten κ-Werte berechnet werden (die Entwicklung der Determinante führt auf eine
Gleichung dritten Grades). Für jeden κ-Wert findet man einen Lösungsvektor des homogenen
Gleichungssystems 29.25. Sinnvoll ist es, diese Lösungsvektoren durch ihre Beträge zu dividie-
ren, so dass Einheitsvektoren entstehen, deren Komponenten dann die Richtungskosinusse der
Hauptzentralachsen (bzw. Hauptachsen) sind.
1 Manbeachte auch die beiden Hinweise auf die Themen Matrizenrechnung und Matrizeneigenwertprobleme in den
Boxen auf den Seiten 199 bzw. 419.
556 29 Kinetik starrer Körper
Beispiel 1:
Für den skizzierten Kreiszylinder soll
der Trägheitstensor bezüglich des eingezeichneten
Schwerpunkt-Koordinatensystems ermittelt werden (die
ζ -Achse durchstößt die Stirnflächen jeweils im Abstand
a vom Kreismittelpunkt).
Gegeben: m , a , R = 2a , l = 6a .
Da es ein typisches Problem ist, die Massenträgheitsmo-
mente und Deviationsmomente für ein Koordinatensys-
tem zu suchen, das gegenüber dem System der Haupt-
zentralachsen nur um eine Achse gedreht ist (hier: Dre-
hung um die y-Achse um den Winkel α), soll die Rech-
nung zunächst allgemein ausgeführt werden. Die Skizze 1
zeigt von den neun Winkeln, die die Transformations- 1
3
matrix 29.22 bilden, nur die vier, die von 0◦ und 90◦ 3
verschieden sind.
Zur Erinnerung: Die Winkel α1 , β1 und γ1 zählen von der x-, y- bzw. z-Achse bis zur ξ -Achse,
entsprechend die Winkel mit den Indizes 2 und 3 bis zur η- bzw. ζ -Achse. Aus der Skizze liest
man ab:
α1 = α ; α2 = π2 ; α3 = π2 − α ; cα 0 sα
β1 = π2 ; β2 = 0 ; β3 = π2 ; ⇒ C= 0 1 0 .
π π
γ1 = 2 + α ; γ2 = 2 ; γ3 = α ; −sα 0 cα
mit den Abkürzungen cα = cos α und sα = sin α. Damit erhält man nach 29.23 eine allgemein-
gültige Beziehung für die Berechnung der Massenträgheits- und Deviationsmomente bezüglich
eines Koordinatensystems, das sich aus dem System der Hauptzentralachsen durch Drehung um
die y-Achse ergibt:
Jx x c2α + Jz z s2α
Jx x 0 0 0 (Jx x − Jz z ) sα cα
Jξ η ζ = CT 0 Jy y 0 C = 0 Jy y 0 . (29.26)
0 0 Jz z (Jx x − Jz z ) sα cα 0 2 2
Jx x sα + Jz z cα
Für das aktuelle Beispiel sind die Massenträgheitsmomente für die Hauptzentralachsen bekannt.
Man entnimmt der Tabelle auf Seite 549
1 1
Jx x = Jy y = m (3 R2 + l 2 ) , Jz z = m R2
12 2
und errechnet mit den gegebenen Größen:
Jξ ξ Jξ η Jξ ζ 2 19 0 3
m a
Jξ η ζ = Jξ η Jη η Jη ζ = 0 20 0 .
5
Jξ ζ Jη ζ Jζ ζ 3 0 11
29.3 Massenträgheitsmomente 557
Beispiel 2:
Für den aus einem Quader und einem Würfel zusam-
mengesetzten homogenen Körper sollen
a) alle Komponenten des Trägheitstensors bezüglich des skizzier-
ten Koordinatensystems und
b) die Lage der Hauptzentralachsen und die zugehörigen Haupt-
trägheitsmomente ermittelt werden.
Gegeben: a , Dichte ρ .
a) Die Massenträgheitsmomente der beiden Teilkörper (jeweils bezogen auf die Teilkörper-
schwerpunkte, der Würfel ist natürlich auch nur ein Sonderfall des Quaders) können der
Tabelle auf Seite 549 entnommen werden. Nach 29.19 ist für jeden Summanden (Teilkörper
Quader bzw. Würfel) ein Steiner-Anteil zu berücksichtigen, und man berechnet z. B.:
Steiner-Anteil Quader
z
" }| #{
1 a 2 3a 2
ρ · 6 a3 · (3 a)2 + a2 + ρ · 6 a3
Jx x = +
12 | {z } | {z } 2 2
mQuader mQuader
mWürfel mWürfel "
#
z}|{ 2 2
1 3a a 68 5
z}|{
3 2 2 3
+ ρ a ·(a + a ) + ρ a + = ρa .
12 2 2 3
| {z }
Steiner-Anteil Würfel
Bei der Berechnung der Deviationsmomente ist zu beachten, dass die Symmetrieachsen
der Teilkörper Hauptzentralachsen sind und nur für den Gesamtkörper infolge der Steiner-
Anteile in 29.19 Deviationsmomente entstehen, z. B.:
Steiner-Anteil Würfel
z }| {
2a a3 a 3a 15 5
Jx y = −ρ · 6 a −ρ a3 =− ρa .
| {z 2 2} 2 2 4
Steiner-Anteil Quader
Entsprechend errechnen sich die anderen Elemente des Trägheitstensors, man erhält:
272 −45 111
ρ a5
Jx y z = −45 320 63 .
12
111 63 152
b) Die Schwerpunktberechnung wurde im Kapitel 4 behandelt. Nach 4.4 erhält man:
1 3 a 3 2a 13
xS = 3 3
a · +6a · = a ,
a +6a 2 2 14
1 3a a 9
yS = 3 a3 · + 6 a3 · = a ,
a + 6 a3 2 2 14
1 3 a 3 3a 19
zS = 3 3
a · − +6a · − =− a .
a +6a 2 2 14
| {z }
Gesamt-Volumen
558 29 Kinetik starrer Körper
Die normierten Spalten der Matrix CH sind Einheitsvektoren, die die Richtungen der drei
Hauptzentralachsen anzeigen. In der durch die Transformation entstehenden Diagonalmatrix
J1 2 3 stehen die zugehörigen Hauptträgheitsmomente.
Die Abbildung 29.7 zeigt den Einheitsvektor (dritte
Spalte der Matrix CH )
cos 98, 5◦
−0, 1485 cos α3
~e3 = 0, 2098 = cos β3 = cos 77, 9◦ , 3
3
0, 9664 cos γ3 cos 14, 9◦ 3
3
ê Das kleinste der drei Hauptträgheitsmomente bezüglich der Schwerpunktachsen ist immer
das kleinste Massenträgheitsmoment des Körpers überhaupt (wegen der immer positiven
Steiner-Anteile der axialen Massenträgheitsmomente haben alle parallelen Achsen größere
Trägheitsmomente). Die in der Abbildung 29.7 eingezeichnete Drehachse ist für diesen
Körper also die Achse mit der geringsten Drehträgheit.
ê Zur Erinnerung: Nur bei Rotation um eine der drei Hauptzentralachsen (im gerade behan-
delten Beispiel durch die Spalten der Matrix CH definiert) werden die Lager ausschließlich
durch die Gewichtskraft der Masse (und eventuell weitere äußere Kräfte) und nicht durch
die Trägheitskräfte der Bewegung belastet.
29.4 Beispiele zur Rotation um eine feste Achse 559
Beispiel 1:
Der skizzierte dünne Stab mit der Masse m
wird in der horizontalen Lage gehalten und beginnt nach
Durchtrennen des Fadens infolge seines Eigengewichts ei-
ne Drehbewegung um den Punkt A.
Gegeben: m, l.
Gesucht sind das Anfangswertproblem für die Berechnung
des Bewegungsgesetzes ϕ(t) und die Lagerreaktionen im
Lager A unmittelbar nach Durchtrennen des Fadens.
Für die Analyse der Bewegung des Stabs genügt die dritte Gleichung von 29.10, das Massenträg-
heitsmoment des dünnen Stabs ist durch die Formel 29.12 gegeben. Das Eigengewicht erzeugt
ein Moment um A, das infolge des sich ständig ändernden Hebelarms auch veränderlich ist.
Nach den Definitionen der positiven Koordinatenrichtungen, die den Formeln 29.10 zugrunde
liegen, ist (bei linksdrehend positivem Winkel ϕ) das Moment Mz linksdrehend positiv einzuset-
zen. Aus
l
Mz = −m g sin ϕ
2
und mit dem Massenträgheitsmoment nach 29.12 ergibt sich die
Bewegungs-Differenzialgleichung:
l 1 3g sin
−m g sin ϕ = m l 2 ϕ̈ ⇒ ϕ̈ = − sin ϕ . 2
2 3 2l
Mit den Anfangsbedingungen (Start aus der Horizontalen ohne Abbildung 29.8: m g erzeugt
Anfangsgeschwindigkeit) erhält man das Anfangswertproblem ein Moment um A
3g π
ϕ̈ = − sin ϕ , ϕ(t = 0) = , ϕ̇(t = 0) = 0 .
2l 2
Selbst dieses einfache Problem führt auf eine nichtlineare Differenzialglei-
chung, die nicht in geschlossener Form lösbar ist (Lösung siehe www.TM-
aktuell.de). Für den speziellen Zeitpunkt t = 0 kann man jedoch die Bewe-
gungsgrößen auch ohne Integration des Anfangswertproblems angeben. Ab-
bildung 29.9 zeigt die äußeren Kräfte. Mit den Schwerpunktkoordinaten
l
xS = , yS = 0
2
und den Bewegungsgrößen für den Startzeitpunkt
3g
ϕ̇(t = 0) = 0 , ϕ̈(t = 0) = −
2l Abbildung 29.9: Lagerreaktionen
errechnet man aus den Gleichungen 29.7:
l 3g 1
Fx = FAH = 0 , Fy = FAV − m g = m − ⇒ FAV = mg .
2 2l 4
560 29 Kinetik starrer Körper
Beispiel 2:
Ein Kreiszylinder kann um eine vertikale Achse ro-
tieren, die durch seinen Schwerpunkt geht, aber nicht mit der Zy- 0
linderachse übereinstimmt. Er wird durch ein konstantes Moment
M0 angetrieben.
/2
/2
Gegeben: m , a , M0 , R = 2 a , l = 6 a , h .
Die Abmessungen des Zylinders entsprechen denen des Beispiels
/2
1 im vorigen Abschnitt (Seite 556), die Lage der Drehachse ent-
/2
spricht der ζ -Achse dieses Beispiels.
Die Bewegung beginnt aus der Ruhe heraus. Es sollen die zeitab-
hängigen Lagerreaktionen und die Gesamtzeit t1 berechnet wer-
den, die für die erste volle Umdrehung benötigt wird.
Die Analyse der Bewegung ist in diesem Fall einfach. Für die in der Skizze angegebene Koordi-
nate (ϕ hat den gleichen Drehsinn wie das äußere Moment) und die Anfangsbedingungen
ϕ(t = 0) = 0 , ϕ̇(t = 0) = 0
(die Bedingung für ϕ ist willkürlich, die für ϕ̇ durch die Aufgabenstellung vorgegeben) kann die
dritte Gleichung von 29.10 aufgeschrieben und integriert werden:
M0 M0 1 M0 2
M0 = Jz z ϕ̈ ⇒ ϕ̈ = ⇒ ϕ̇ = t ⇒ ϕ= t .
Jz z Jz z 2 Jz z
Die Integrationskonstanten wurden Null wegen der speziellen Anfangsbedingungen. Für Jz z kann
der auf Seite 556 errechnete Wert Jζ ζ eingesetzt werden, so dass die Frage nach der Zeit für die
erste volle Umdrehung bereits zu beantworten ist:
r s
11 m a2
r
Jz z m
t1 = t(ϕ = 2 π) = 4 π = 4π = 5, 26 a .
M0 5 M0 M0
Da die Drehachse durch den Schwerpunkt der rotierenden Masse verläuft, gibt es keine resultie-
renden Massenkräfte infolge der Bewegung. Aus Gleichgewichtsgründen muss deshalb
FA x = −FB x , FA y = −FB y 0
gelten, und die Gewichtskraft wird von der Vertikalkomponente bei B aufge-
nommen:
FB z = m g .
Die Momenten-Gleichgewichtsbedingungen um die x-Achse und um die y-
Achse werden von den ersten beiden Gleichungen 29.10 erfüllt. Dabei ist
für die Momentwirkung der äußeren Kräfte (Lagerkraftkomponenten, siehe
Abbildung 29.10) die Vereinbarung über die Drehrichtung zu beachten (Mo-
mentenpfeile haben den Richtungssinn der x- bzw. y-Achse):
h h
Mx = −FA y + FB y = −FA y h = −Jy z ϕ̇ 2 + Jx z ϕ̈ , Abbildung 29.10:
2 2
h h Kräfte am rotie-
My = FA x − FB x = FA x h = Jx z ϕ̇ 2 + Jy z ϕ̈ . renden Zylinder
2 2
29.4 Beispiele zur Rotation um eine feste Achse 561
Massenträgheitsmoment und Deviationsmomente werden von der Rechnung auf Seite 556 über-
nommen:
11 3
Jz z = Jζ ζ = m a2 , Jx z = Jξ ζ = m a2 , Jy z = Jη ζ = 0 ,
5 5
und man erhält die Lagerreaktionen:
1 1 M0 3 M0
FA y = −FB y = − Jx z ϕ̈ = − Jx z =− ,
h h Jz z 11 h
M0 2 15 M0 t 2
1 1
FA x = −FB x = Jx z ϕ̇ 2 = Jx z t = .
h h Jz z 121 m a2 h
ê Die Komponenten der Lagerreaktionen im gerade behandelten Beispiel beziehen sich auf
die Richtungen der x- bzw. y-Achse des Rotors, machen also die Drehbewegung mit und
haben damit bezüglich des rotierenden Körpers immer die Richtung der in der Skizze zur
Aufgabenstellung eingezeichneten Koordinaten. Man erkennt, dass die x-Komponenten der
Lagerreaktionen dem durch die Fliehkräfte erzeugten Moment um die y-Achse entgegen-
wirken müssen. Dieses Moment, das natürlich auch bei konstanter Drehzahl vorhanden ist,
wird bei diesem Beispiel ausschließlich durch die Schiefstellung der Masse hervorgerufen
(der „Rotor ist nicht dynamisch ausgewuchtet“, vgl. Abschnitt 29.4.2), und die Vorzeichen
der Lagerreaktionen zeigen, dass der Rotor die Tendenz hat, die Schiefstellung zu vergrö-
ßern (und dies auch tun würde, wenn die durch die umlaufenden Kräfte erheblich belasteten
Lager dies nicht verhindern würden).
Beispiel 3:
Die skizzierte Masse wird von den bei-
den Stäben À und Á gehalten. Infolge eines Bruchs 2
2
von Stab Á beginnt die Masse eine Drehbewegung
um den Stab À. Es sollen der Winkel und die Winkel- 2
geschwindigkeit, die die Drehbewegung beschreiben, 1 3
sowie die Lagerreaktionen bei A und B in Abhängig- 2
keit von der Zeit ermittelt werden.
Der komplette Trägheitstensor für diese Masse wurde im Beispiel 2
des vorigen Abschnitts (Seite 557) berechnet. Es wird deshalb auch
das dort verwendete Koordinatensystem benutzt, um die benötigten
Massenträgheitsmomente und Deviationsmomente übernehmen zu
können (Schwerpunkt-Koordinatensystem kann nicht benutzt wer-
den, weil die z-Achse mit der Drehachse übereinstimmen muss).
Die nebenstehende Skizze zeigt die Definition des Drehwinkels
(linksdrehend positiv, passend zum Koordinatensystem). Er verfolgt
die Unterkante der Masse. Das Koordinatensystem rotiert mit, so
dass die Schwerpunktkoordinaten unveränderlich sind. Auch die cos
Komponenten der Lagerreaktionen folgen der Drehbewegung, so
dass nur das Eigengewicht m g nicht die Richtung der Koordinaten- sin
achsen hat und wie skizziert in zwei Komponenten zerlegt wird.
562 29 Kinetik starrer Körper
Das Bewegungsgesetz folgt aus der dritten Gleichung von 29.10. Die äußeren Kräfte (Kompo-
nenten des Eigengewichts) drehen entgegen der positiven ϕ-Richtung, das Moment wird negativ:
−m g xS sin ϕ − m g yS cos ϕ = Jz z ϕ̈ .
Für die Berechnung der vier Lagerkraftkomponenten stehen
die beiden restlichen Gleichungen von 29.10 und die Gleichun-
gen 29.7 zur Verfügung. Die Abbildung 29.11 zeigt noch ein- sin
mal die Kräfte, die in der y-z-Ebene bzw. der x-z-Ebene wirken. 2 5
Die Gleichungen 29.7 liefern:
FA x + FB x + m g cos ϕ = −m xS ϕ̇ 2 − m yS ϕ̈ ,
2
FA y + FB y − m g sin ϕ = −m yS ϕ̇ + m xS ϕ̈ .
cos
Beim Aufschreiben der restlichen Momentenbeziehungen nach
Abbildung 29.11: Eigengewicht
29.10 ist zu beachten, dass die Schwerpunktkoordinate zS einen und Lagerkraftkomponenten
negativen Wert hat:
−FA y · 2 a + FB y · 5 a − m g sin ϕ · (−zS ) = −Jy z ϕ̇ 2 + Jx z ϕ̈ ,
2
FA x · 2 a − FB x · 5 a − m g cos ϕ · (−zS ) = Jx z ϕ̇ + Jy z ϕ̈ .
Diese fünf Gleichungen beschreiben die Bewegung und gestatten die Berechnung der Lagerre-
aktionen. Vom Beispiel 2 des Abschnitts 29.3.3 (Seite 557) werden übernommen:
13 9 19
xS = a , yS = a , zS = − a ,
14 14 14
38 5 38 37 5 37 21 5 3
Jz z = ρa = m a2 , Jx z = ρa = m a2 , Jy z = ρ a = m a2 ,
3 21 4 28 4 4
wobei für die Gesamtmasse m = 7 a3 ρ eingesetzt wurde. Damit kann z. B. die Bewegungs-
Differenzialgleichung folgendermaßen aufgeschrieben werden:
13 9 38
−m g a sin ϕ + a cos ϕ = m a2 ϕ̈ ,
14 14 21
3 g
ϕ̈ = − (13 sin ϕ + 9 cos ϕ) .
76 a
Zunächst muss diese Differenzialgleichung unter Beachtung der Anfangsbedingungen
π
ϕ(t = 0) = , ϕ̇(t = 0) = 0
2
gelöst werden, was nur numerisch gelingt. Die Aufbereitung der Gleichungen für die Computer-
rechnung soll zum Anlass genommen werden, die (gerade für die numerische Rechnung) beson-
ders elegante Verwendung ausschließlich dimensionsloser Größen zu demonstrieren.
Die Winkelkoordinate ϕ ist ohnehin dimensionslos, von den veränderlichen Größen sind nur die
Winkelgeschwindigkeit, die Winkelbeschleunigung und die Zeit dimensionsbehaftet. Der Faktor
auf der rechten Seite der Differenzialgleichung gibt den Hinweis, dass man mit der „dimensions-
losen Zeit“ r
g
τ= t
a
29.4 Beispiele zur Rotation um eine feste Achse 563
und den entsprechend umgeschriebenen Ableitungen der Winkelkoordinate nach der Zeit
d2ϕ
r
dϕ dϕ dτ 0 g d ϕ̇ dτ g
ϕ̇ = = =ϕ , ϕ̈ = 2 = = ϕ 00
dt dτ dt a dt dτ dt a
zu einer dimensionslosen Bewegungs-Differenzialgleichung kommen kann (der Strich symboli-
siert die Ableitung nach τ):
3
ϕ 00 = − (13 sin ϕ + 9 cos ϕ) .
76
In den vier Gleichungen für die Berechnung der vier Lagerkraftkomponenten werden ebenfalls
die Ableitungen nach t durch Ableitungen nach τ ersetzt, und die Werte für die Schwerpunktko-
ordinaten und die Deviationsmomente werden eingesetzt. Dann verbleiben zweimal zwei Glei-
chungen mit je zwei unbekannten Lagerkräften, die nach diesen auflösbar sind:
1
FA x = (−102 cos ϕ − 93 ϕ 02 − 69 ϕ 00 ) m g ,
196
1
FA y = ( 102 sin ϕ − 69 ϕ 02 + 93 ϕ 00 ) m g ,
196
1
FB x = (− 94 cos ϕ − 89 ϕ 02 − 57 ϕ 00 ) m g ,
196
1
FB y = ( 94 sin ϕ − 57 ϕ 02 + 89 ϕ 00 ) m g .
196
Der Vorteil der dimensionslosen Rechnung wird deutlich: In den Klammern stehen nur dimen-
sionslose Größen, und natürlich geht man nach Division der vier Gleichungen durch m g auch
noch zu dimensionslosen Kräften über. Dann fließen weder aktuelle Werte für die Abmessung a
noch für die Masse m in die Rechnung ein. Die numerische Berechnung wird „parametrisiert“.
Die Ergebnisse können dann mit den speziellen Parametern für ein aktuelles Problem multipli-
ziert werden, falls z. B. für die Kräfte die Aussage nicht ohnehin schon ausreichend ist, dass „die
maximale Lagerkraftkomponente etwa das 1,4-fache des Eigengewichts ist“.
Die Abbildung 29.12 (die Berech-
nung dieses Beispiels mit verschie-
denen Programmen findet man un-
ter www.TM-aktuell.de) zeigt links
die numerisch ermittelten Funktionen
ϕ(t) und ϕ 0 (t), rechts oben die La-
gerkraftkomponenten und rechts un-
ten die aus den Komponenten berech-
neten resultierenden Lagerkräfte.
Der so definierte Unwuchtvektor kennzeichnet die Richtung und mit seinem Betrag auch die
Größe der Unwucht.
Von einer statischen Unwucht spricht man, wenn die Drehachse parallel zu einer Hauptzen-
tralachse des Rotors liegt. Die Abbildung 29.13 zeigt dafür eine Modellvorstellung: Eine Zu-
satzmasse wurde am ideal ausgewuchteten Rotor in der zur Rotationsachse senkrechten Schwer-
punktebene angebracht.
Die Zusatzmasse m im Abstand r von der Drehachse des Rotors
mit der Masse M ruft die Unwucht m~r hervor und verschiebt den
Schwerpunkt und damit die Hauptzentralachse des Rotors um
mr Abbildung 29.13: Modell
e=
M+m einer statischen Unwucht
(zur Berechnung von Schwerpunkten siehe Kapitel 4). Das Produkt aus der Summe der beiden
Massen mges = M + m und dem Abstand e des Gesamtschwerpunkts von der Rotationsachse
(M + m) m r
(M + m) e = = mr
M+m
zeigt, dass bei bekannter Gesamtmasse mges und der Exzentrizität des Schwerpunkts e die Un-
wucht auch nach
~ = mges ~e
U
berechnet werden kann.
Der Begriff „statische Unwucht“ besagt, dass sie auch mit den Mitteln der Statik nachweisbar ist:
Der nur durch sein Eigengewicht belastete Rotor wäre nur im stabilen statischen Gleichgewicht,
wenn der Unwuchtvektor nach unten zeigt, und würde sich selbstständig in diese Lage drehen.
Dies ist bei einer „rein dynamischen Unwucht“ nicht der Fall. Die Ab-
bildung 29.14 zeigt ein Modell dafür: Dieser Rotor wäre in jeder Lage
im statischen Gleichgewicht, aber seine Hauptzentralachse weicht von
der Rotationsachse ab.
Der allgemeine Fall liegt vor, wenn in verschiedenen Querschnittsebe- Abbildung 29.14: „Rein
nen des Rotors unterschiedliche Unwuchten existieren. dynamische Unwucht“
ê Immer dann, wenn die Rotationsachse nicht mit einer Hauptzentralachse des Rotors zusam-
menfällt, spricht man von einer dynamischen Unwucht. In diesem Begriff sind die statische
und die rein dynamische Unwucht als Sonderfälle enthalten.
29.4 Beispiele zur Rotation um eine feste Achse 565
Dem Ziel, die dynamische Unwucht eines Rotors zu beseitigen, kommt man durch Klärung fol-
gender Frage sehr nahe: „Wie kann der allgemeine Fall eines Unwuchtzustands durch möglichst
wenige Unwuchtvektoren beschrieben werden?“ Da die Unwuchtvektoren sich nur durch den
skalaren Faktor ω 2 von den Fliehkräften unterscheiden, bietet sich folgende für Kräfte erlaubte
Überlegung an:
Man zerlegt alle Unwuchtvektoren in zwei Komponenten in x- bzw. y-Richtung (naheliegend,
aber nicht zwingend, ist die Verwendung kartesischer Koordinaten, es können jedoch zwei be-
liebige, aber für alle Unwuchtvektoren gleiche Richtungen senkrecht zur Rotationsachse sein,
die nicht senkrecht zueinander sein müssen). Dann können alle x-Komponenten nach den Regeln
der Zusammenfassung paralleler Kräfte zu einer Unwucht in einer bestimmten Ebene zusammen-
gefasst werden, dementsprechend die y-Komponenten, wobei sich im Allgemeinen eine andere
Ebene für diese Resultierende ergeben wird. Die Richtungen von x und y sind dabei natürlich
frei wählbar, bei anderen Richtungen wird sich ein anderes Unwuchtpaar in zwei anderen Ebe-
nen ergeben. Aus dieser Überlegung folgt:
Damit ist die Möglichkeit des Auswuchtens (Beseitigen der Unwucht) vorgezeichnet: Man bringt
in den beiden Ebenen der resultierenden Unwuchten die entsprechenden „negativen Unwuchten“
(Zusatzmassen gerade auf der entgegengesetzten Seite des Rotors) an.
In der Praxis sind dabei meist die beiden Ebenen vorgeschrieben, in denen die „Gegenunwuch-
ten“ angebracht werden können (beim Auswuchten von Kraftfahrzeugrädern werden im Allge-
meinen Bleigewichte an den Felgenrändern befestigt). Die Aufgabe, einen Unwuchtvektor in
einer Ebene durch ein Paar äquivalenter Unwuchtvektoren in zwei parallelen Ebenen zu erset-
zen, ist in gleicher Weise wie das statisch äquivalente Ersetzen einer Kraft durch zwei parallele
Kräfte zu lösen: Die beiden „Ersatzunwuchten“ sind parallel zur „Originalunwucht“ und haben
gemeinsam gleiche „Kraftwirkung“ und „Momentwirkung“ bezüglich einer beliebigen Achse
wie die Originalunwucht (vgl. nachfolgendes Beispiel 2).
ê Folgende Möglichkeiten werden in der technischen Praxis genutzt, um den Unwuchtzustand
eines Rotors auszugleichen:
• Man ermittelt (experimentell, eventuell auch durch Rechnung) die tatsächliche Haupt-
zentralachse des Rotors, markiert sie (z. B. durch Zentrierbohrungen) und passt die La-
gerzapfen entsprechend an (Wuchtzentrieren).
• Dazu alternativ ist die Korrektur der Hauptzentralachse des Rotors, bis sie mit der Rota-
tionsachse übereinstimmt durch Zugabe von Material (z. B. Bleigewichte, . . .), Wegnah-
me von Material (Abschleifen, Anbringen von Bohrungen, . . .), Verlagern von Material
(z. B. durch Verändern der Einschraubtiefe von Schrauben, die in der Konstruktion für
diesen Zweck vorgesehen sind, . . .).
566 29 Kinetik starrer Körper
Beispiel 1: /3
Eine Stiftwalze besteht aus dem zylindrischen Grundkör-
/3
per und vier jeweils um 90◦ versetzt angebrachten Massen m, deren /3
4
Schwerpunkte sich im Abstand R von der Walzenachse befinden.
3
Der Unwuchtzustand infolge der Zusatzmassen m soll durch Betrag 1
2
und Richtung zweier Unwuchtvektoren angegeben werden, die in den 1
Ebenen 1 bzw. 4 liegen.
4 2
Die vier Unwuchtvektoren in den Ebenen 1 bis 4 haben alle den glei-
chen Betrag
3
U1 = U2 = U3 = U4 = m R
bei unterschiedlichen Richtungen. Um den Unwuchtzustand nur durch zwei Vektoren in den
beiden Ebenen 1 bzw. 4 beschreiben zu können, müssen zunächst die beiden Vektoren der Ebenen
2 und 3 durch jeweils ein äquivalentes Vektorpaar ersetzt werden.
Die Abbildung 29.15 zeigt das für die Un- /3
wucht U2 , die durch die beiden Unwuchten /3
4 4
U2, 1 (in der Ebene 1) und U2, 4 (in der Ebene /3
3 3
4) ersetzt wird. 2 = 2
1 1 2 ,4
Äquivalenz ist gegeben, wenn U2 einerseits
und U2, 1 und U2, 4 andererseits gleiche resul- 2 2 ,1
tierende „Kraftwirkung“ und gleiche resultie-
rende „Momentwirkung bezüglich einer be- Abbildung 29.15: Ersetzen von U2 durch ein Un-
wuchtpaar in den Ebenen 1 und 4
liebigen Achse“ haben (vgl. Kapitel 3).
Um eine beliebige vertikale Achse in der Ebene 1 hat U2, 1 keine Momentwirkung, die Gleichheit
der Momentwirkungen von U2 bzw. U2, 4 um eine solche Achse liefert
1 1 1
U2, 4 l = U2 l ⇒ U2, 4 = U2 = m R .
3 3 3
Die Äquivalenz der Momentwirkungen um eine vertikale Achse in der Ebene 4 ergibt:
2 2 2
U2, 1 l = U2 l ⇒ U2, 1 = U2 = m R .
3 3 3
Auf entsprechende Weise wird die Unwucht U3 äquivalent ersetzt:
1 1 2 2
U3, 1 = U3 = m R , U3, 4 = U3 = m R .
3 3 3 3
Die vier Unwuchten in vier Ebenen sind durch sechs Unwuchten in zwei Ebenen ersetzt worden.
Innerhalb der Ebenen werden die jeweils drei Unwuchten (Abbildung29.16) nach den „Regeln
des Kräfteparallelogramms“ zusammengefasst:
1 1
q
1 4 2,4
U1, red = (U1 −U3, 1 )2 +U2,2 1 = 0, 943 m R , 4
q 1 2,1 4
U4, red = (U4 −U2, 4 )2 +U3,2 4 = 0, 943 m R , 3,1 4 3, 4
Beispiel 2:
Mit Hilfe einer Auswuchtmaschine wur- 2
den in den Lagerebenen 1 und 2 (Abstand l) die Un- 2
wuchten U1 und U2 unter den Winkeln α1 bzw. α2 ge- 2
messen. Der Unwuchtzustand soll durch Zusatzmassen
mI und mII in den Ebenen I und II ausgeglichen wer-
den. Die Ausgleichsmassen mI und mII werden in den
Abständen rI bzw. rII von der Drehachse angebracht. 1 1
Gegeben: U1 , U2 , α1 , α2 , a , b , rI , rII , l . 1
Z Z
x̃ dm = m x̃S , ỹ dm = m ỹS (29.31)
m m
geschrieben werden kann, wobei zu beachten ist, dass x̃S und ỹS sich während der Bewegung
ändern, so dass nicht die für ein körperfestes Koordinatensystem ermittelten Schwerpunktkoor-
dinaten eingesetzt werden dürfen. Mit 29.30 und 29.31 wird aus 29.29:
Fx = m ẍ0 − m ỹS ϕ̈ − m x̃S ϕ̇ 2 ,
Fy = m ÿ0 + m x̃S ϕ̈ − m ỹS ϕ̇ 2 , (29.32)
M = −m ỹS ẍ0 + m x̃S ÿ0 + J0 ϕ̈ .
Die ersten beiden Gleichungen 29.32 gehen für ẍ0 = 0 und ÿ0 = 0 „beinahe“ in die Formeln 29.7
über, die für die Rotation um eine feste Achse gefunden wurden. Die Frage, weshalb anstelle von
x̃ und ỹ nicht wie dort ein mitrotierendes x-y-Koordinatensystem verwendet wurde, so dass wie
in 29.7 die festen Schwerpunktkoordinaten in den Formeln auftauchen, findet eine recht prag-
matische Antwort: Auch die äußeren Kräfte sind jeweils auf das verwendete Koordinatensystem
bezogen. „Mitrotierende äußere Kräfte“ (z. B. „mitrotierende Lagerreaktionen“) sind bei Rota-
tion um eine feste Achse kein nennenswerter Nachteil, bei der allgemeinen ebenen Bewegung
würden sie erheblich stören. Sie sind deshalb vermieden worden, zumal die Unbequemlichkeit,
die mit den sich ändernden Schwerpunktkoordinaten in den Gleichungen 29.32 verbunden ist,
dann nicht auftaucht, wenn man den Schwerpunkt S der Masse als Bezugspunkt O wählt. Dann
gehen die ersten beiden Gleichungen über in den
Schwerpunktsatz:
Fx = m ẍS , Fy = m ÿS . (29.33)
Der Schwerpunkt eines Körpers bewegt sich so, als würden alle äußeren Kräfte an ihm an-
greifen und die Gesamtmasse des Körpers in ihm konzentriert sein.
29.33 sagt nichts über eine mögliche Drehung des Körpers. Dies führt zu bemerkenswerten Kon-
sequenzen des Schwerpunktsatzes:
ê Eine an einem Körper angreifende Kräftegruppe darf beliebig verschoben (nicht gedreht)
werden, ohne dass sich die Bewegung des Schwerpunkts ändert. Die Bewegungen der ande-
ren Körperpunkte werden natürlich beeinflusst.
ê Ein äußeres Moment hat auf die Bewegung des Schwerpunkts allein keinen Einfluss. Das
Gegenargument, dass ein Rad durch das Aufbringen eines Moments zum Rollen (und damit
auch zu einer Bewegung seines Schwerpunkts) gebracht wird, ist leicht zu widerlegen: Ein
äußeres Moment versetzt ein Rad zunächst nur in Rotation (man denke an die vom Drehmo-
ment des Motors angetriebenen Räder eines Fahrzeugs auf spiegelblanker Eisfläche). Erst
durch die Haftkraft zwischen Rad und Untergrund wird auch der Schwerpunkt des Rades in
Bewegung gesetzt. Genau diese Kraft wäre in 29.33 einzusetzen.
Auch die dritte Gleichung 29.32 vereinfacht sich erheblich, wenn man als Bezugspunkt O den
Schwerpunkt S wählt. Da die gleiche Vereinfachung sich auch bei beschleunigungsfreiem Be-
zugspunkt (ẍ0 = 0 und ÿ0 = 0) ergibt, formuliert man diesen Spezialfall etwas allgemeiner. Es ist
der
29.5 Ebene Bewegung starrer Körper 571
Drallsatz:
M = JA ϕ̈ = JA ω̇ = L̇A . (29.34)
Die zeitliche Änderung des Dralls ist gleich der Summe aller angreifenden äußeren Momente.
Als Bezugspunkt A sind der Schwerpunkt oder ein beschleunigungsfreier Punkt des Körpers
zugelassen.
ê Die dritte Gleichung von 29.10, mit der die Drehbewegung um eine starre Achse beschrieben
wurde, ist der Sonderfall des Drallsatzes 29.34 mit ruhendem Bezugspunkt. Die Gleichge-
wichtsbedingungen der ebenen Statik 5.1 sind die Sonderfälle von Schwerpunkt- und Drall-
satz für den ruhenden Körper (ẍ0 = 0, ÿ0 = 0, ϕ̈ = 0).
Schwerpunktsatz und Drallsatz werden im Abschnitt 29.6 und im Kapitel 30 noch einmal mit
erweiterter Gültigkeit behandelt. Für die ebene Bewegung des starren Körpers sind sie die Ba-
sis für das Aufschreiben der Bewegungsgleichungen und gestatten, die für den Massenpunkt
behandelte Strategie (Abschnitt 28.2.2), Aufgaben der Kinetik formal auf das Formulieren von
Gleichgewichtsbedingungen zurückzuführen, auf den starren Körper zu erweitern.
Die Herleitung von Schwerpunkt- und Drallsatz im vorigen Abschnitt erfolgte unter Verwen-
dung der d’Alembertschen Kräfte für den differenziell kleinen Massenpunkt, deren Wirkung
dann summiert (integriert) wurde. Mit dem Schwerpunkt als Bezugspunkt der Bewegung blie-
ben nur zwei Integrale über die Gesamtmasse mit jeweils vertrauten Größen als Ergebnis übrig:
Die Gesamtmasse m darf man sich laut Schwerpunktsatz „im Schwerpunkt konzentriert“ vor-
stellen (damit ist für den translatorischen Anteil die Situation exakt wie beim Massenpunkt),
und das Massenträgheitsmoment JS repräsentiert die Trägheitswirkung der Masse gegenüber der
Drehbewegung um den Schwerpunkt.
Die Konsequenzen für die Erweiterung des Prinzips von d’Alembert, das im Abschnitt 28.2.2
für den Massenpunkt formuliert wurde, sind damit klar: Die d’Alembertschen Kräfte müssen im
Schwerpunkt des Körpers (den Richtungen der eingeführten Bewegungskoordinaten entgegen-
gesetzt) angetragen werden und sind zu ergänzen durch das d’Alembertsche Moment JS ϕ̈, das
der positiven Drehrichtung der für die Rotationsbewegung eingeführten Koordinate entgegenge-
richtet ist.
Damit kann das kinetische Problem durch das Aufschreiben von Gleichgewichtsbedingungen
gelöst werden (wie in der Statik kommt für das ebene Problem eine Momenten-Gleichgewichts-
bedingung hinzu). Das d’Alembertsche Prinzip in dieser Form gestattet die Analyse von Be-
wegungsvorgängen auch mit mehreren Freiheitsgraden und die Berechnung der auftretenden
Zwangskräfte, bei Systemen starrer Körper einschließlich der Kräfte in den Verbindungsglie-
dern (sollten diese Kräfte nicht interessieren und nur der Bewegungsablauf analysiert werden, ist
für kompliziertere Systeme häufig eine spezielle Fassung des Prinzips von d’Alembert zu bevor-
zugen, die im Kapitel 33 behandelt wird). Bewährt für die Behandlung von Aufgaben hat sich
ein schrittweises Vorgehen entsprechend den nachfolgend gegebenen
572 29 Kinetik starrer Körper
Empfehlungen für das Lösen von Problemen nach dem Prinzip von d’Alembert:
À Wahl geeigneter Bewegungskoordinaten: Zweckmäßig ist es, für jede Bewegungsmöglich-
keit des starren Körpers eine eigene Koordinate zu wählen (z. B. für das rollende Rad ei-
ne Weg- und eine Winkelkoordinate), auch wenn zwischen den eingeführten Koordinaten
Zwangsbedingungen zu berücksichtigen sind. Man sollte darauf achten, dass alle gewählten
Koordinaten gleichzeitig positiv werden.
Á Freischneiden des starren Körpers von allen äußeren Bindungen: Es ist sinnvoll, den (oder
die) Körper in einer ausgelenkten Lage (alle Koordinaten ungleich Null und positiv) zu skiz-
zieren. Bei Systemen starrer Körper ist es ratsam (und wird dringend empfohlen), auch die
Bindungen zwischen den einzelnen Körpern zu schneiden (für kompliziertere Systeme ist
gelegentlich das Arbeiten mit dem Prinzip von d’Alembert in der Fassung günstiger, die im
Abschnitt 33.3 behandelt wird).
 Antragen aller wirkenden Kräfte und Momente:
• Eingeprägte Kräfte und Momente: Eigengewicht, Antriebskräfte und -momente, . . .
• Zwangskräfte und -momente, die durch das Freischneiden sichtbar werden: Dies sind
die aus der Anwendung des Schnittprinzips in der Statik bekannten Lagerreaktionen,
Seilkräfte, Kräfte zwischen den starren Körpern und Führungen, Haftkräfte, . . .
• Bewegungswiderstände, z. B.: Gleitreibung, Rollreibung (nicht: Haftkräfte, die zu den
Zwangskräften gehören und sich aus den Gleichgewichtsbedingungen ergeben), Luft-
widerstand. Bewegungswiderstände sind immer entgegen der tatsächlichen Bewegungs-
richtung anzutragen. Wenn diese nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden kann, ist die
Rechnung gegebenenfalls mit den korrigierten Richtungen für die Bewegungswiderstän-
de zu wiederholen.
• d’Alembertsche Kräfte (im Schwerpunkt) und d’Alembertsche Momente (Massenträg-
heitsmomente bezogen auf Schwerpunktachsen), die entgegen den Richtungen der ein-
geführten Bewegungskoordinaten anzutragen sind. Dabei spielt die tatsächliche Bewe-
gungsrichtung keine Rolle, da sich die Bewegungsgrößen (Bahnbeschleunigung und Ge-
schwindigkeit) mit dem sich ergebenden Vorzeichen auf die gewählten Koordinaten be-
ziehen. Bei der Bewegung des Schwerpunkts auf einer gekrümmten Bahn ist entspre-
chend 28.8 oder 28.9 die vom Krümmungsmittelpunkt der Bahn nach außen gerichtete
Zentrifugalkraft zu ergänzen, die von der Bewegungsrichtung ohnehin unabhängig ist.
à Aufstellen der Gleichgewichtsbedingungen: Dabei muss der Bezugspunkt für das Momenten-
gleichgewicht natürlich nicht der Schwerpunkt sein. Es ist häufig (wie bei statischen Proble-
men) vorteilhaft, die Momentenbezugspunkte so zu wählen, dass die für die weitere Rech-
nung nicht interessierenden Kräfte gar nicht in den Gleichgewichtsbedingungen erscheinen.
Ä Einsetzen der kinematischen Zwangsbedingungen in die Gleichgewichtsbeziehungen: Die
Anzahl der erforderlichen Zwangsbedingungen entspricht der Differenz der Anzahl der ein-
geführten Bewegungskoordinaten n und der Anzahl der Freiheitsgrade des Systems, bei ei-
nem System mit nur einem Freiheitsgrad müssen also n − 1 Zwangsbedingungen berück-
sichtigt werden. Nach Einsetzen der Zwangsbedingungen in die Gleichgewichtsbeziehungen
muss die Anzahl der Unbekannten (Zwangskräfte, Beschleunigungen) mit der Anzahl der
29.5 Ebene Bewegung starrer Körper 573
Beispiel:
Eine zylindrische Walze mit der Masse m beginnt unter
Einwirkung einer Kraft F zum Zeitpunkt t = 0 aus der Ruhe heraus
eine Bewegung auf einer horizontalen Bahn.
Gegeben: m ; F = 12 mg ; α = 40◦ ; R = 500 mm .
a) Welchen Weg hat die Walze nach t = 5 s zurückgelegt und um wel-
chen Winkel hat sie sich gedreht, wenn eine reine Rollbewegung
vorausgesetzt werden darf?
b) Wie groß muss der Haftungskoeffizient µ0 zwischen Walze und Untergrund mindestens sein,
damit sich eine reine Rollbewegung einstellt?
c) Wie ändern sich die unter a gefragten Werte, wenn für den Haftungskoeffizienten µ0 = 0, 12
und den Gleitreibungskoeffizienten µ = 0, 1 gilt?
Da die Aufgabenstellung a nach den Zwangskräften FN und FH nicht fragt, wird (bei Verzicht
auf zwei weitere Gleichgewichtsbedingungen) nur die Momenten-Gleichgewichtsbedingung
bezüglich des Punktes A aufgeschrieben, in die diese beiden Kräfte nicht eingehen. Mit dem
Massenträgheitsmoment für den Kreiszylinder JS = 12 m R2 nach 29.14 ergibt sich:
1 F
A' F cos α · R − m ẍ R − JS ϕ̈ = 0 ⇒ ẍ + R ϕ̈ = cos α .
2 m
Die kinematische Zwangsbedingung ϕ = Rx für die reine Rollbewegung nach 27.1 und das
Einsetzen des für F gegebenen Wertes führen auf:
2F 1 1 1
ẍ = cos α = g cos α , ẋ = gt cos α +C1 , x = gt 2 cos α +C1 t +C2 .
3m 3 3 6
Die Integration war wegen der konstanten Beschleunigung besonders einfach, aus den An-
fangsbedingungen x(t = 0) = 0 (willkürlich) und ẋ(t = 0) = 0 (Aufgabenstellung) ergeben
sich die Integrationskonstanten C1 = 0 und C2 = 0, so dass das Bewegungsgesetz
1
x = gt 2 cos α (29.35)
6
gemeinsam mit der kinematischen Zwangsbedingung die ersten Fragen beantworten kann:
x(t = 5 s)
x(t = 5 s) = 31, 3 m ; ϕ(t = 5 s) = = 62, 62 = 3588◦ .
R
b) Eine reine Rollbewegung stellt sich nur ein, wenn das Coulombsche Haftungsgesetz 9.1
|FH | ≤ |FH, max | = µ0 FN erfüllt ist. FH und FN können aus den bisher nicht genutzten Kräfte-
Gleichgewichtsbedingungen an der freigeschnittenen Walze berechnet werden:
1
↑ FN = m g − F sin α = m g 1 − sin α ,
2
2 1
← FH = F cos α − m ẍ = F cos α − F cos α = m g cos α .
3 6
Damit errechnet man aus 9.1 die Bedingung für reines Rollen der Walze:
|FH |
µ0 ≥ = 0, 188 .
FN
c) Die Bedingung für reines Rollen ist mit dem Haftungskoeffizienten, der für die Aufgaben-
stellung c gegeben ist, nicht mehr erfüllt. Damit gilt auch die Zwangsbedingung für die bei-
den Bewegungskoordinaten (Rollbedingung) nicht mehr. Die Walze führt eine Bewegung
mit zwei Freiheitsgraden aus. An die Stelle der Haftkraft (Zwangskraft) tritt die Gleitrei-
bungskraft (Bewegungswiderstand, Abbildung 29.20), für die nach 28.3 die Formel für die
Coulombsche Gleitreibung gilt (im Unterschied zur Haftkraft, die aus einer Gleichgewichts-
bedingung berechnet wurde). In diesem Fall werden alle drei Gleichgewichtsbedingungen
benötigt:
↑ FN − m g + F sin α = 0 , ← m ẍ − F cos α + µ FN = 0 ,
S& JS ϕ̈ − µ FN R = 0 .
Für das Momenten-Gleichgewicht wurde der Bezugspunkt S gewählt, um gleich zu entkop-
pelten Beschleunigungsgleichungen zu kommen. Die Normalkraft wird eliminiert, und nach
Einsetzen von JS = 12 m R2 und des gegebenen Wertes für F verbleiben:
29.5 Ebene Bewegung starrer Körper 575
1 g
ẍ = g (cos α + µ sin α − 2 µ) , ϕ̈ = µ (2 − sin α) .
2 R
Beschleunigung und Winkelbeschleunigung sind konstant und
können problemlos integriert werden. Mit den Anfangsbedin-
gungen x(t = 0) = 0, ẋ(t = 0) = 0, ϕ(t = 0) = 0, ϕ̇(t = 0) = 0
werden alle Integrationskonstanten Null, und aus
1
x = gt 2 (cos α + µ sin α − 2 µ) , =
4 (29.36)
1 g 2
ϕ = µ t (2 − sin α)
2 R Abbildung 29.20: Frei-
ergeben sich die Antworten auf die Fragestellungen: geschnittenes System mit
Gleitreibung
x(t = 5 s) = 38, 6 m ; ϕ(t = 5 s) = 33, 29 = 1907◦ .
ê Das Ergebnis des gerade behandelten Beispiels ist im Hinblick auf den im folgenden Ab-
schnitt behandelten Energiesatz interessant: Bei Gleitreibung wird ein Teil der von der Kraft
F geleisteten Arbeit als Reibarbeit „verbraucht“, die als Wärme abgeführt wird (und damit
nicht zur Bewegung beiträgt). Trotzdem bewegt sich die rutschende Walze weiter als die
Walze bei reiner Rollbewegung, weil sie nur einen geringeren Teil der geleisteten Arbeit
in Rotationsenergie umsetzt (sie hat sich dementsprechend auch nur um einen wesentlich
kleineren Winkel gedreht).
ê Und noch einmal der so wichtige Unterschied zwischen Haftung und Gleitreibung:
Das unter a gefundene Bewegungsgesetz 29.35 gilt immer, wenn tatsächlich reines Rollen
vorausgesetzt werden darf, auch dann, wenn man für die Haftkraft einen falschen Rich-
tungssinn angenommen hat. Da diese aus einer Gleichgewichtsbedingung berechnet wird,
korrigiert sich ein falscher Richtungssinn über das Vorzeichen des Ergebnisses.
Das unter c gefundene Bewegungsgesetz 29.36 gilt nur, wenn der für die Gleitreibungskraft
angenommene Richtungssinn (nach links) richtig ist, wenn sich die Walze also tatsächlich
nach rechts bewegt. Dem Ergebnis entnimmt man, dass dies nur erfüllt ist, wenn folgende
Bedingung gilt:
cos α
cos α + µ sin α − 2 µ > 0 ⇒ µ< . (29.37)
2 − sin α
Für die Werte der Aufgabenstellung c ist diese Bedingung erfüllt, aber z. B. bei einem Winkel
α = 85◦ (bei ansonsten ungeänderten Werten) müsste µ < 0, 0868 für die Gültigkeit von
29.36 gefordert werden. Im Gegensatz zu der ähnlichen Diskussion nach dem Beispiel 2 im
Abschnitt 28.2.2 (Seite 522) würde bei Nichterfüllung von 29.37 die Masse nicht in Ruhe
bleiben, sondern eine Rollbewegung beginnen, weil dann die Bedingung für reines Rollen
(Fragestellung b) erfüllt ist. Auf keinen Fall aber würde sie das tun, was 29.36 dafür ergeben
würde, die „sich bei Rechtsdrehung nach links bewegende Walze“.
ê Eigentlich müsste auch noch überprüft werden, ob die Walze nicht „abhebt“ (Indikator dafür
ist eine negative Normalkraft), was genau dann passiert, wenn die Vertikalkomponente von F
größer als das Eigengewicht der Walze ist. Mit dem Wert F = 12 m g aus der Aufgabenstellung
besteht aber in dieser Hinsicht keine Gefahr.
576 29 Kinetik starrer Körper
29.5.3 Energiesatz
Die im Abschnitt 28.4.3 demonstrierte Integration des dynamischen Grundgesetzes über den Weg
kann auf den starren Körper übertragen werden, wenn für die kinetische Energie, die dort für den
Massenpunkt definiert wurde, ein entsprechender Ausdruck für die unendlich vielen differenziell
kleinen Massenpunkte dm verwendet wird.
Die Abbildung 29.21 zeigt den Bezugspunkt O des star-
ren Körpers, der sich mit der Geschwindigkeit v0 bewegt
(gezeichnet sind die Komponenten ẋ0 und ẏ0 ). Der Massen- 0
Nun kann die kinetische Energie für den Massenpunkt dm aufgeschrieben werden, und nach
Integration über die gesamte Masse m erhält man die gesuchte Formel:
1 1
Z Z
T= v2 dm = (ẋ2 + ẏ2 ) dm
2 2
m m
1 1
Z Z Z Z
= (ẋ02 + ẏ20 ) dm + ϕ̇ 2 (x̃2 + ỹ2 ) dm + ẏ0 ϕ̇ x̃ dm − ẋ0 ϕ̇ ỹ dm
2 2
m m m m
1 2 1 2
Z Z Z Z
= v dm + ϕ̇ r2 dm + ϕ̇ ẏ0 x̃ dm − ẋ0 ỹ dm
2 0 2
m m m m
1 1
= m v20 + J0 ϕ̇ 2 + ϕ̇ (m x̃S ẏ0 − m ỹS ẋ0 ) ,
2 2
wobei wieder 29.30 und 29.31 genutzt wurden, und wie bei der Herleitung von Schwerpunkt-
und Drallsatz im Abschnitt 29.5.1 verschwindet der Ausdruck in der Klammer bei geeigneter
Wahl des Bezugspunktes.
ê Man beachte den feinen (aber nicht ganz unwichtigen) Unterschied in der Gültigkeitsbe-
schränkung für den Drallsatz 29.34 und für die Formel der kinetischen Energie 29.39, wenn
nicht der Schwerpunkt als Bezugspunkt gewählt wird. Für das Aufschreiben der kinetischen
Energie zu einem bestimmten Zeitpunkt darf auch der Momentanpol als Bezugspunkt ge-
wählt werden, während für den Drallsatz 29.34 ein beschleunigungsfreier Punkt gefordert
wird, so dass der Momentanpol in der Regel dafür ausscheidet.
ê Der im Abschnitt 28.4.3 für den Massenpunkt formulierte Energiesatz 28.30 einschließlich
der für seine Anwendung gegebenen Empfehlungen (Seite 536) können auf die ebene Be-
wegung des starren Körpers unter Beachtung folgender Besonderheiten übertragen werden:
• Die kinetischen Energien T1 und T2 der beiden betrachteten Bewegungszustände 1 und
2 sind nach 29.39 aufzuschreiben.
• Die Höhe h (relativ zum Null-Potenzial) in der Formel für die potenzielle Energie 28.20
bezieht sich beim starren Körper auf den Schwerpunkt. Bei einem System aus mehreren
Körpern darf für jeden Körper ein eigenes Null-Potenzial festgelegt werden.
29.5.4 Beispiele
Zur Analyse der ebenen Bewegung starrer Körper wurden bisher der Schwerpunktsatz, der Drall-
satz, das Prinzip von d’Alembert und der Energiesatz behandelt. Für das Lösen von Problemen
sind Schwerpunkt- und Drallsatz einerseits und das Prinzip von d’Alembert, wie es im Abschnitt
29.5.2 dargestellt wurde, gleichwertig. Man darf die gegebenen „Empfehlungen für das Lösen
von Problemen nach dem Prinzip von d’Alembert“ (Seite 572) durchaus auch als Strategie des
möglichst sicheren Anwendens von Schwerpunkt- und Drallsatz ansehen.
Der Energiesatz dagegen hat seine eigenen Stärken und Schwächen. Die folgenden Beispiele
sollen auch die Vor- und Nachteile der einzelnen Verfahren zu verdeutlichen.
Beispiel 1:
Eine Kugel mit dem Radius r beginnt in
der Höhe h aus der Ruhe heraus eine reine Rollbewe-
gung, die im Punkt A in eine kreisförmige Loopingbahn
mit dem Radius R mündet.
Gegeben: h, r, R.
a) Wie groß ist die Bahngeschwindigkeit des Kugel- =0 1
1
mittelpunkts in Abhängigkeit von β ? 1
=0
b) Aus welcher Höhe h∗ muss sie starten, damit sie 2
sich bei β ∗ = 120◦ von der Kreisbahn löst, bei wel- 2
Null-Potenzial wird (willkürlich) auf dem Niveau des tiefsten Bahnpunktes festgelegt. Im Zu-
stand 1 hat die Kugel nur potenzielle Energie (Höhe h über dem Null-Potenzial), im Zustand 2
befindet sie sich in der Höhe R − (R − r) cos β , ihr Mittelpunkt hat die Geschwindigkeit v2 , und
sie dreht sich mit der Winkelgeschwindigkeit ω2 . Auf dem Weg von 1 nach 2 wird weder Energie
zugeführt (kein Antrieb) noch abgeführt (keine Reibung), so dass die Energiebilanz lautet:
1 1
m g h = m g [R − (R − r) cos β ] + m v22 + JS ω22 .
2 2
Nach Einsetzen der Zwangsbedingung ω2 = vr2 (reines Rollen) und des Massenträgheitsmoments
für die Kugel, das man der Tabelle auf Seite 549 entnimmt, kürzt sich m aus der Energiebilanz
heraus, die nach v2 aufgelöst werden kann:
r
10
v2 = g [h − R + (R − r) cos β ] .
7
Um die Fragestellung b zu beantworten, müssen die wirkenden Kräf-
2
te betrachtet werden. Die Abbildung 29.22 zeigt alle Kräfte, die bei 2
2
Arbeit mit dem Prinzip von d’Alembert anzutragen wären: Eigenge-
wicht (eingeprägte Kraft), Normalkraft und Haftkraft (Zwangskräfte),
keine Bewegungswiderstände, d’Alembertsche Kräfte (entgegen der
Bahnbeschleunigung des Schwerpunkts und die nach außen gerichte- 2
te Zentrifugalkraft) und das d’Alembertsche Moment. Bei der Zentri- Abbildung 29.22: Freige-
fugalkraft nach 28.8 ist der Radius R − r der Kreisbahn einzusetzen, schnittene Kugel
auf der sich der Schwerpunkt der Kugel bewegt.
Wenn die Normalkraft FN negativ wird, löst sich die Kugel von der Führung. Zur Berechnung
der Normalkraft genügt die Gleichgewichtsbedingung in radialer Richtung
m v22
FN − m g cos β − =0 ,
R−r
in die neben einer Komponente des Eigengewichts nur die Zentrifugalkraft eingeht, die mit
der bereits bekannten Geschwindigkeit aufgeschrieben werden kann, so dass die unbekannten
Bewegungsgrößen (Bahnbeschleunigung v̇2 und Winkelbeschleunigung ω̇2 ) nicht benötigt wer-
den. Einsetzen von v2 und Nullsetzen der Normalkraft liefert die Bestimmungsgleichung für den
Punkt, bei dem sich die Kugel von der Bahn löst. Diese lässt sich vereinfachen zu
10 h − R
cos β = −
17 R − r
und liefert für β ∗ = 120◦ bzw. β ∗∗ = 180◦ (höchster Punkt der Loopingbahn):
1 1
h∗ = (37 R − 17 r) , h∗∗ = (27 R − 17 r) .
20 10
ê Wenn die Kugel bei β ∗ die Loopingbahn verlässt, beginnt sie eine freie Bewegung (oh-
ne Zwangskräfte). Ihr Schwerpunkt bewegt sich nach 29.33 wie ein Massenpunkt, so dass
die im Beispiel des Abschnitts 28.1 für den schiefen Wurf des Massenpunktes entwickelten
Formeln bei einer Anfangsgeschwindigkeit v0 = v2 (β ∗ ) und einem Abwurfwinkel α = 60◦
gelten. Da keine äußeren Momente mehr wirken, bleibt nach dem Drallsatz 29.34 die Win-
kelgeschwindigkeit der Kugel während des Fluges gleich ω2 (β ∗ ).
29.5 Ebene Bewegung starrer Körper 579
Beispiel 2:
Eine Winde wird mit einem konstanten Mo-
ment M0 angetrieben und zieht über ein (dehnstarres, mas- 2
zwei Gleichungen für die beiden Unbekannten FS und ẍ1 . Nach Elimination von FS erhält man
M0
2 − m1 g sin α
R2
ẍ1 = ,
JS1 JS2
m1 + 2 + 4 2
R1 R2
und damit sind auch die gesuchten Kräfte bekannt:
M0 JS2
FS = − 2 2 ẍ1 , FAH = FS cos α , FAV = m2 g + FS sin α .
R2 R2
ê Das System des Beispiels 2 bewegt sich mit konstanter Beschleunigung, so dass auch das
Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz und das Weg-Zeit-Gesetz durch Integration problemlos zu
berechnen wären. Der Ausdruck für die Beschleunigung ẍ1 zeigt einen typischen Aufbau
(Kontrollmöglichkeit): Im Nenner stehen (sämtlich positiv) die „trägen Massen“, im Zähler
haben die antreibenden Größen (hier: M0 ) ein positives und die bremsenden Größen (hier:
Eigengewicht der Walze) ein negatives Vorzeichen.
ê Wenn nur die Beschleunigung zu ermitteln gewesen wäre, hätte dafür auch der Energiesatz
effektiv angewendet werden können: Für beide Massen werden getrennte Null-Potenziale in
Höhe ihrer Schwerpunkte (bei t = 0) festgelegt, so dass im Zustand 1 (Start der Bewegung)
weder potenzielle noch kinetische Energie zu berücksichtigen ist. Auf dem Weg zum Zu-
stand 2 (beliebiger Zeitpunkt t) wird die äußere Arbeit M0 ϕ2 geleistet, im Zustand 2 liegt m1
um x1 sin α über dem Null-Potenzial, und für beide Massen sind kinetische Energien nach
29.39 zu berücksichtigen. In der Energiebilanz
1 1 1
M0 ϕ2 = m1 g x1 sin α + m1 ẋ12 + JS1 ϕ̇12 + JS2 ϕ̇22
2 2 2
werden die Winkelkoordinate ϕ2 und die Winkelgeschwindigkeiten ϕ̇1 und ϕ̇2 unter Ver-
wendung der Zwangsbedingungen ersetzt, und man erhält mit
M0 1 JS1 JS2
2 − m1 g sin α x1 = m1 + 2 + 4 2 ẋ12
R2 2 R1 R2
primär eine Geschwindigkeits-Weg-Beziehung (typisch bei Anwendung des Energiesatzes).
Diese Beziehung wird auf beiden Seiten nach der Zeit t abgeleitet:
M0 1 JS1 JS2
2 − m1 g sin α ẋ1 = m1 + 2 + 4 2 2 ẋ1 ẍ1 .
R2 2 R1 R2
Die Geschwindigkeit ẋ1 hebt sich heraus, und nach Umstellung erhält man die gleiche Be-
schleunigung wie nach dem Prinzip von d’Alembert.
ê Die konstante Beschleunigung führt natürlich dazu, dass die Bewegung des Systems immer
schneller wird. Ursache dafür ist die Annahme eines konstanten Antriebsmoments. Dies
ist in der technischen Praxis in der Regel nicht realistisch. Vielmehr geben Motoren ein
drehzahlabhängiges Moment ab, der Zusammenhang zwischen Drehmoment und Drehzahl
wird als Kennlinie des Antriebs bezeichnet (vgl. folgendes Beispiel).
29.5 Ebene Bewegung starrer Körper 581
Beispiel 3:
Eine Seilwinde wird von einem An-
trieb mit „fallender Kennlinie“ (Antriebsmoment
wird bei größerer Drehzahl kleiner) angetrieben.
Aus der Ruhe heraus wird eine Masse m angeho- 2
= 0 1
ben (das Seil sei dehnstarr und masselos). 0
Beispiel 4:
Zwei Massen m1 und m2 können auf einer /2
vertikalen bzw. einer horizontalen Führung reibungsfrei 1 /2
gleiten. Sie sind durch eine starre Stange (Masse mS und
/3
Massenträgheitsmoment JS bezüglich des Schwerpunktes
S) gekoppelt. Das gesamte System wird aus der skizzierten
Lage ohne Anfangsgeschwindigkeit freigelassen. Für den
Bewegungsvorgang sollen die Kräfte in den Bolzen berech- 2
net werden, die die Massen mit der Stange verbinden.
JS 1 m1 m2 g
Gegeben: = ; = 0, 5 ; =2 ; = 29, 43 s−2 .
mS l 2 12 mS mS l
Während sich die Massen m1 und m2 rein translatorisch be-
wegen, führt die Stange eine allgemeine ebene Bewegung
aus (Animation der Bewegung unter www.TM-aktuell.de).
Die Abbildung 29.26 zeigt die gewählten Koordinaten: 1
↑1 F1y − m1 g − m1 ÿ1 = 0 ,
→2 F2x − m2 ẍ2 = 0 , 1
(29.40)
↑S −F1y + F2y − mS g − mS ÿ = 0 , 1
→S F1x − F2x − mS ẍ = 0 , 2
y1 x2
S' F1x + F2x y − F1y x − F2y − JS ϕ̈ = 0 . 1 1 2
2 2
Dies sind 5 Gleichungen für 4 unbekannte Kräfte und 1
2
die unbekannten Beschleunigungen. Da das System 1
nur einen Freiheitsgrad hat, können alle Beschleuni- 2 2 2 2
1 1
gungen durch eine ausgedrückt werden (Zwangsbe- 2
dingungen), so dass (wie beim Beispiel 2) die An- Abbildung 29.27: Freigeschnittene Massen
zahl der Gleichungen mit der Anzahl der Unbekann-
ten übereinstimmt.
Trotzdem können die gesuchten Kräfte nicht unmittelbar aus diesen Gleichungen berechnet wer-
den, weil die Zwangsbedingungen auch die anderen Bewegungsgrößen enthalten. Aus relativ
29.5 Ebene Bewegung starrer Körper 583
einfachen geometrischen Zusammenhängen für die eingeführten Koordinaten erhält man für die
Beschleunigungen wesentlich kompliziertere Ausdrücke. Es gilt z. B.:
l l
x = cos ϕ ⇒ ẍ = − (ϕ̈ sin ϕ + ϕ̇ 2 cos ϕ) ,
2 2
l l
y = sin ϕ ⇒ ÿ = (ϕ̈ cos ϕ − ϕ̇ 2 sin ϕ) , (29.41)
2 2
x2 = l cos ϕ ⇒ ẍ2 = − l (ϕ̈ sin ϕ + ϕ̇ 2 cos ϕ) ,
y1 = l sin ϕ ⇒ ÿ1 = l (ϕ̈ cos ϕ − ϕ̇ 2 sin ϕ) .
Auch wenn alle Koordinaten durch eine ersetzt werden (z. B. durch ϕ), kann diese nicht direkt
eliminiert werden, weil sie auch durch ihre beiden Ableitungen nach der Zeit in den Gleichungen
vertreten ist. Zuerst muss also das Bewegungsgesetz ermittelt werden, danach erst sind auch die
Kräfte berechenbar.
Die ersten 4 Gleichgewichtsbedingungen 29.40 können nach den Kräften aufgelöst werden:
F1x = mS ẍ + m2 ẍ2 , F1y = m1 g + m1 ÿ1 ,
(29.42)
F2x = m2 ẍ2 , F2y = mS g + mS ÿ + m1 g + m1 ÿ1 .
Die Kräfte nach 29.42 werden in die fünfte Gleichung 29.40 eingesetzt, in der auch noch alle
Koordinaten mit Hilfe der Zwangsbedingungen 29.41 durch ϕ ersetzt werden, und man erhält
die Bewegungs-Differenzialgleichung
1 m2 2 m1 2 JS
+2 sin ϕ + 2 cos ϕ + 2 ϕ̈
2 mS mS mS l 2
m2 m1 m1 g
+ − ϕ̇ 2 sin 2 ϕ + 2 +1 cos ϕ = 0 ,
mS mS mS l
F1 1 q 2 F2 1 q 2
F1∗ = = 2
F1x + F1y , F2∗ = = 2
F2x + F2y .
mS g mS g mS g mS g
ê Aufgaben dieser Art können mit dem Energiesatz allein nicht gelöst werden. Dieser eignet
sich jedoch sehr gut zur Kontrolle einzelner Ergebnisse.
Hier werden als Zustand À der Start der Bewegung und als Zustand Á die horizontale Lage
der Stange betrachtet (Abbildung 29.29).
/3
zielle Energie. Im Zustand Á befindet sich Masse 2
/6
im Umkehrpunkt ihrer Bewegung, hat also keine ki-
Null-Potenzial
netische Energie. Da sich damit auch der Bolzen 2
der Stange in Ruhe befindet, ist er der Momentanpol
2 2
für die Stange, deren kinetische Energie in der Form 1
1 2
2 J2 ω aufgeschrieben werden darf. Dies ist nach
2
29.39 erlaubt, wenn (mit dem Steinerschen Satz) für
2 1
J2 = JS + mS l4 das Massenträgheitsmoment bezüg- Abbildung 29.29: Null-Potenzial, Be-
lich des Momentanpols eingesetzt wird. wegungszustände À und Á
Für die Winkelgeschwindigkeit ω der Stange und die Geschwindigkeit v1 der Masse m1 gilt
im Bewegungszustand Á die Zwangsbedingung v1 = ω l, so dass aus der Energiebilanz
l l 1 1
m1 g + mS g = m1 v21 + J2 ω 2
3 6 2 2
die Winkelgeschwindigkeit ω berechnet werden kann:
v
m1 1
m +2
u
u2 g
ω =t m S J = 4, 85 s−1 .
3 m1 + S 2 + 14 l
S mS l
Dieser Wert stimmt exakt mit dem Zwischenergebnis überein, das sich für diese spezielle
Lage aus der Integration der Bewegungs-Differenzialgleichung ergibt. Die komplette Be-
rechnung einschließlich der Verifizierung der Ergebnisse mit dem Energiesatz findet man
unter www.TM-aktuell.de.
ê Wäre im Beispiel 4 nur die Bewegung zu untersuchen gewesen, hätte sich auch der Energie-
satz angeboten. Man müsste dann als Zustand À den Start und als Zustand Á eine beliebige
(durch die Bewegungskoordinaten definierte) Lage betrachten und dafür die Energiebilanz
aufstellen.
ê Anwendbarkeit des Energiesatzes: Am Ende des Abschnitts, in dem an Beispielen die
Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Verfahren demonstriert wurden, muss noch darauf
hingewiesen werden, dass der für viele Probleme auf recht einfache Weise anwendbare Ener-
giesatz sich (im Gegensatz zum Prinzip von d’Alembert, vgl. Beispiel im Abschnitt 29.5.2)
nicht für Systeme mit mehreren Freiheitsgraden eignet, weil er nur eine Bilanzgleichung
liefert. Das Aufschreiben von Bewegungs-Differenzialgleichungen aus Energiebetrachtun-
gen für kompliziertere Systeme wird im Abschnitt 33.4 gesondert behandelt.
29.6 Räumliche Bewegung starrer Körper 585
Die Strategie der Herleitung der Aussagen über die Kinetik der räumlichen Bewegung starrer
Körper folgt dem bewährten Muster, das bereits für die ebene Bewegung im Abschnitt 29.5
verwendet wurde: Die Wirkung der (nun drei) Komponenten der d’Alembertschen Kraft am
unendlich kleinen Massenpunkt dm wird über die gesamte Masse m summiert (integriert) und
mit der Wirkung der äußeren Belastung ins Gleichgewicht gebracht.
Zur Vereinfachung der Schreibarbeit werden die (in einem raumfesten Koordinatensystem ge-
messenen) Koordinaten, Geschwindigkeits- und Beschleunigungskomponenten zu Vektoren zu-
sammengefasst:
x ẋ ẍ
~r = y , ~v = ẏ , ~a = ÿ . (29.43)
z ż z̈
Auch die Koordinaten des Schwerpunkts der Masse m nach
Abbildung 29.30: Vektoren~r und~rS
4.3 werden vektoriell formuliert (Abbildung 29.30):
xS x
1 y dm = 1 ~r dm
Z Z Z
~rS = yS = ⇒ ~r dm = m~rS . (29.44)
m m
zS m z m m
Gewählt wird ein (zunächst beliebiger) körperfester Bezugspunkt O, auf den alle angreifenden
äußeren Lasten reduziert werden. In der Abbildung 29.31 sind die Komponenten der resultieren-
den äußeren Lasten angedeutet, die ab sofort durch einen Kraftvektor und einen Momentvektor
repräsentiert werden:
F0x M0x
~F0 = F0y , M ~ 0 = M0y . (29.45)
F0z M0z
Die drei Komponenten der d’Alembertschen Kräfte des Mas-
senpunkts dm werden entsprechend 29.43 im Vektor~a dm zu- 0
0
sammengefasst. Das Gleichgewicht der äußeren Kräfte mit
Abbildung 29.31: Kraft- und Mo-
den über die Gesamtmasse integrierten Massenkräften liefert
mentvektor (Komponenten)
unter Berücksichtigung von 29.44:
d 2~r d2 d2
Z Z Z
~F0 = ~a dm = dm = 2 ~r dm = (m~rS ) = m~aS . (29.46)
dt 2 dt dt 2
m m m
Dies entspricht dem schon für die ebene Bewegung hergeleiteten Schwerpunktsatz: Auch im
Raum bewegt sich der Schwerpunkt eines Körpers so, als würden alle äußeren Kräfte an ihm
angreifen und die Gesamtmasse des Körpers in ihm konzentriert sein.
586 29 Kinetik starrer Körper
Für das Momenten-Gleichgewicht aller Massenkräfte mit dem Moment der äußeren Belastung
wird der Vektor~r∗ (vom Bezugspunkt O zum Massenpunkt dm) eingeführt (Abbildung 29.32):
d~v
Z Z
~0 =
M ~r∗ ×~a dm = ~r∗ × dm . (29.47)
dt
m m
Mit der Identität
d ∗ d~v d~r∗
(~r ×~v) =~r∗ × + ×~v Abbildung 29.32: „Hebelarm“~r∗
dt dt dt
(Differenziation eines Produkts) und den aus der Kinematik bekannten Beziehungen 27.14
d~r∗
~ ×~r∗
=ω , ~ ×~r∗
~v =~v0 + ω (29.48)
dt
lässt sich 29.47 folgendermaßen umformen:
d~r∗
Z
~ 0 = ~r∗ × d~v dm = d ∗
Z
M (~r ×~v) − ×~v dm
dt dt dt
m m
d
Z Z
∗ ~ ×~r∗ ) × (~v0 + ω
~ ×~r∗ ) dm
= ~r ×~v dm − (ω
dt
m m
d
Z Z Z
∗ ~ ×~r∗ ) ×~v0 dm − ~ ×~r∗ ) × (ω
~ ×~r∗ ) dm
= ~r ×~v dm − (ω (ω
dt
m m m
d
Z Z
∗ ∗
= ~r ×~v dm − ~ ×~r ) ×~v0 dm .
(ω
dt
m m
Das erste Integral wird als Drall (Drehimpuls) der Masse bezüglich des Punktes O
Z
~L0 = ~r∗ ×~v dm (29.49)
m
bezeichnet, im zweiten Integral ist nur der mittlere Faktor über das Volumen der Masse verän-
derlich (das dritte Integral ist bereits verschwunden wegen ~c ×~c = ~o bei beliebigem Vektor ~c):
d~L0 Z
~0 =
M − ω~ × ~r∗ dm ×~v0 . (29.50)
dt
m
Man erkennt, dass sich 29.50 wesentlich vereinfacht, wenn der Bezugspunkt O sich nicht bewegt.
Um den von der ebenen Bewegung bekannten besonderen Einfluss des Schwerpunkts zu klären,
wird~r∗ entsprechend Abbildung 29.33 ersetzt. Der „Umweg über den Schwerpunkt“ liefert:
d~L0 Z Z
~0 =
M − ω~ × ~r0S dm + ~rS∗ dm ×~v0 .
dt
m m
Der Vektor~r0S als Verbindung zweier fester Punkte des Körpers 0
durfte vor das Integral gezogen werden, das zweite Integral ver-
schwindet (statisches Moment bezüglich des Schwerpunkts): Abbildung 29.33:~r∗ =~r0S +~rS∗
29.6 Räumliche Bewegung starrer Körper 587
~
~ 0 = d L0 − m (ω
M ~ ×~r0S ) ×~v0 . (29.51)
dt
Damit wird noch eine zweite Möglichkeit erkennbar, das Momenten-Gleichgewicht des beweg-
ten Körpers im Raum besonders einfach zu formulieren. Es ist der
Drallsatz (Momentensatz):
~
~ A = d LA .
M (29.52)
dt
Die zeitliche Änderung des Drallvektors entspricht der Wirkung des resultierenden Moment-
vektors aller äußeren Belastungen. Als Bezugspunkt A sind der beliebig bewegte Schwerpunkt
oder ein ruhender Punkt des Körpers zugelassen.
Der Drallvektor in 29.52 wird nach 29.49 berechnet, wobei die Geschwindigkeit nach 29.48
eingesetzt werden kann:
Z Z Z Z
~LA = ~r∗ ×~v dm = ~r∗ × (~vA + ω
~ ×~r∗ ) dm = ~r∗ dm ×~vA + ~r∗ × (ω
~ ×~r∗ ) dm .
m m m m
Der erste Summand verschwindet in jedem Fall, denn A muss ein ruhender Punkt (~vA = ~o) oder
der Schwerpunkt sein (dann ist das Integral als statisches Moment gleich Null):
Z
~LA = ~r∗ × (ω
~ ×~r∗ ) dm . (29.53)
m
Wenn für~r∗ und ω ~ die Komponentendarstellungen in kartesischen Koordinaten
∗
x ωx
~r∗ = y∗ , ~ = ωy
ω
z∗ ωz
in 29.53 eingesetzt werden, entstehen beim Ausmultiplizieren der Vektorprodukte genau die Inte-
grale, die im Abschnitt 29.3.3 als axiale Massenträgheitsmomente 29.17 und Deviationsmomente
29.18 definiert wurden:
∗
Jx x ωx + Jx∗y ωy + Jx∗z ωz Jx∗x Jx∗y Jx∗z
LAx∗ ωx
~LA = LAy∗ = ∗ ∗ ∗ ∗ ∗ ∗ ~ .
Jx y ωx + Jy y ωy + Jy z ωz = Jx y Jy y Jy z ωy = Jx∗ y∗ z∗ ω
LAz∗ ∗ ∗ ∗
Jx z ωx + Jy z ωy + Jz z ωz ∗ ∗ ∗
Jx z Jy z Jz z ωz
(29.54)
ê Man beachte, dass der Drallsatz 29.52 für ein raumfestes Koordinatensystem formuliert wur-
de, so dass auch die Elemente des Trägheitstensors in 29.54 sich auf dieses System beziehen
müssen und nicht einfach aus der üblichen Berechnung im körperfesten Koordinatensystem
übernommen werden können. Gegebenenfalls kann die Drehung des Körpers während der
Bewegung über die Transformation 29.23 erfasst werden.
In vielen Fällen ist es jedoch günstiger, mit körperfesten Koordinaten zu arbeiten. Dies wird
im nachfolgenden Abschnitt besprochen.
588 29 Kinetik starrer Körper
Im Bezugspunkt O des bewegten Körpers wird ein körperfestes ξ -η-ζ -Koordinatensystem de-
~ werden auf diese Koordinatenrichtungen bezogen, die
finiert. Die Komponenten des Vektors ω
Elemente des Trägheitstensors sind bezüglich dieses Systems konstant. Der analog zu 29.54 im
bewegten Koordinatensystem aufzuschreibende Drallvektor
LA ξ Jξ ξ Jξ η Jξ ζ ωξ
~LA =
LA η = Jξ η Jη η Jη ζ ωη = Jξ η ζ ω
~ (29.55)
LA ζ Jξ ζ Jη ζ Jζ ζ ωζ
darf natürlich nicht in 29.52 eingesetzt werden, weil sich die Zeitableitung in 29.52 auf das raum-
feste Koordinatensystem bezieht. Im Abschnitt 27.3.3 wurde der Zusammenhang 27.16 zwischen
der Ableitung eines Vektors im ruhenden bzw. bewegten Koordinatensystem hergeleitet, der hier
für die Ableitung des Drallvektors genutzt wird:
d~LA d ∗~LA
=ω ~ ×~LA + . (29.56)
dt dt
Der Stern beim Ableitungssymbol, deutet die „Ableitung im bewegten (körperfesten) System“
an. Mit dieser „Transformation der zeitlichen Ableitung“ wird aus 29.52 mit 29.55 der Drallsatz
bezüglich des bewegten (körperfesten) Systems:
~A =ω d ∗~LA d∗ω
~
M ~ ×~LA + ~ × (Jξ η ζ ω
=ω ~ ) + Jξ η ζ . (29.57)
dt dt
ê Der Vektor ω~ in 29.57 ist mit seinen Komponenten für das bewegte System zu formulie-
ren. Er beschreibt natürlich trotzdem die Drehung des Körpers (oder besser: „Drehung des
körperfesten Koordinatensystems“) gegenüber der „ruhenden Umwelt“.
Wenn man sich für das Arbeiten mit einem körperfesten Koordinatensystem entscheidet, können
(und sollten) dessen Achsen natürlich mit den Hauptachsen für den Punkt A zusammenfallen.
Dann wird die Matrix in 29.55 zur Diagonalmatrix mit den Hauptträgheitsmomenten, die (vgl.
Abschnitt 29.3.3) nach 29.24 als J1 , J2 und J3 bezeichnet werden. Dementsprechend sollen auch
die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit und des äußeren Momentvektors um diese Achsen
die Indizes 1, 2 und 3 haben. Die Beziehung 29.57 vereinfacht sich erheblich. Man erhält nach
Ausführen der Multiplikationen die Komponenten des Momentvektors, nach L EONARD E ULER
(1707 - 1783) bezeichnet als
Eulersche Gleichungen:
M1 = J1 ω̇1 − (J2 − J3 ) ω2 ω3 ,
M2 = J2 ω̇2 − (J3 − J1 ) ω3 ω1 , (29.58)
M3 = J3 ω̇3 − (J1 − J2 ) ω1 ω2 .
Die Gleichungen gelten für ein körperfestes Hauptachsensystem, dessen Ursprung im Schwer-
punkt oder in einem ruhenden Punkt des Körpers liegt.
29.6 Räumliche Bewegung starrer Körper 589
ê Der wesentliche Vorteil des Arbeitens mit körperfesten Koordinaten zeigt sich in den Glei-
chungen 29.58: Die Massenträgheitsmomente sind keine zeitabhängigen Größen. Allerdings
beschreiben die Eulerschen Gleichungen nur die Drehbewegung des Körpers um die körper-
festen Achsen, deren (sich während der Bewegung ändernde) Lage im Raum kann allein
aus diesen Gleichungen nicht berechnet werden. Wenn allerdings die Bewegung der Achsen
(z. B. bei Zwangsführung) bekannt ist, können die Gleichungen 29.58 recht nützlich sein.
ê Als Kreisel wird ein starrer Körper bezeichnet, der eine Bewegung um einen festen Punkt
ausführen kann (drei Freiheitsgrade). Die Berechnung von Kreiselbewegungen ist ein typi-
scher Anwendungsfall für die Eulerschen Gleichungen.
Für die Beschreibung der Bewegung der (körperfesten) Haupt-
achsen eines Kreisels sind drei Winkelkoordinaten erforderlich,
3 2
die (auch auf einen Vorschlag Eulers zurückgehend) entsprechend
Abbildung 29.34 definiert werden. Im ruhenden Punkt des Krei-
1
sels liegt ein raumfestes x-y-z-Koordinatensystem.
Die Neigung der Hauptachse 3 zur der z-Achse wird durch den
Winkel ϑ beschrieben (die Wahl der Hauptachse 3 ist willkür-
lich). Die körperfesten Hauptachsen 1 und 2 behalten ihre recht-
winklige Lage zu 3 natürlich bei, die von 1 und 2 aufgespannte
(körperfeste) Ebene schneidet die (raumfeste) x-y-Ebene entlang Abbildung 29.34: Definition
der so genannten Knotenachse. der Eulerschen Winkel
Die Drehung der Knotenachse in der x-y-Ebene wird durch den Winkel ψ verfolgt. Da die Haupt-
achse 3 senkrecht auf der von 1 und 2 gebildeten Ebene steht, ist auch die Knotenachse stets
senkrecht zur Hauptachse 3 gerichtet.
Die beiden Koordinaten ϑ und ψ beschreiben die Lage der
Hauptachse 3 eindeutig, der Kreisel kann allerdings noch eine 3 2
Rotation um diese Achse ausführen, die durch eine dritte Ko-
ordinate beschrieben wird: Der Winkel ϕ wird in der durch 1 1
Die Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ beschreibt also die Eigendrehung um die Figurenachse, die selbst
mit ψ̇ um die raumfeste z-Achse rotiert. Zur Berechnung des Bewegungsgesetzes eines Kreisels,
das durch die Funktionen ϑ (t), ψ(t) und ϕ(t) eindeutig beschrieben wird, können die Eulerschen
Gleichungen 29.58 verwendet werden, es muss jedoch vorab der Zusammenhang zwischen den
Winkelgeschwindigkeiten ω1 , ω2 und ω3 (bezüglich der körperfesten Achsen) und den durch ϑ̇ ,
ψ̇ und ϕ̇ definierten Winkelgeschwindigkeiten geklärt werden.
Die Abbildung 29.35 zeigt, dass ϕ̇ die Richtung der Hauptachse 3 und damit der Winkelge-
schwindigkeit ω3 hat. Die Richtung der Knotenachse bestimmt die Richtung von ϑ̇ , die also in
der von den Hauptachsen 1 und 2 aufgespannten Ebene liegt.
590 29 Kinetik starrer Körper
Die erste Zerlegung in der von der z-Achse und der Achse 3
2
aufgespannten Ebene liefert die beiden in Abbildung 29.36 3
skizzierten Komponenten. Die Komponente in der von 1 und sin
2 aufgespannten Ebene bildet mit der Achse 1 den Winkel
(90◦ − ϕ) und wird noch einmal zerlegt. Insgesamt gilt also: cos
1
ω1 = ϑ̇ cos ϕ + ψ̇ sin ϑ sin ϕ ,
ω2 = −ϑ̇ sin ϕ + ψ̇ sin ϑ cos ϕ , (29.59)
ω3 = ϕ̇ + ψ̇ cos ϑ . Abbildung 29.36: Zerlegung von ψ̇
Für die Eulerschen Gleichungen werden noch die Ableitungen nach der Zeit benötigt:
ω̇1 = ϑ̈ cos ϕ − ϑ̇ ϕ̇ sin ϕ + ψ̈ sin ϑ sin ϕ + ψ̇ ϑ̇ cos ϑ sin ϕ + ψ̇ ϕ̇ sin ϑ cos ϕ ,
ω̇2 = −ϑ̈ sin ϕ − ϑ̇ ϕ̇ cos ϕ + ψ̈ sin ϑ cos ϕ + ψ̇ ϑ̇ cos ϑ cos ϕ − ψ̇ ϕ̇ sin ϑ sin ϕ , (29.60)
ω̇3 = ϕ̈ + ψ̈ cos ϑ − ψ̇ ϑ̇ sin ϑ .
Nach dem Einsetzen von 29.59 und 29.60 in die Eulerschen Gleichungen entsteht ein Differen-
zialgleichungssystem zweiter Ordnung für die drei Winkelkoordinaten. Es ist hochgradig nicht-
linear und im Allgemeinen nur numerisch lösbar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Differen-
zialgleichungen auch in den zweiten Ableitungen gekoppelt sind2 .
Beispiel:
Ein starrer Körper rotiert um seine Hauptachse 1 3
mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit ω1 . Die Punkte A 1
2
und B der Rotationsachse bewegen sich auf einer horizontalen
Kreisbahn mit konstanter Geschwindigkeit, so dass dem ro-
tierenden Körper eine Drehbewegung mit konstanter Winkel-
geschwindigkeit ωF um eine vertikale Achse überlagert wird 1
(„geführter Kreisel“). Es soll untersucht werden, welche Mo-
mente erforderlich sind, um diese Bewegung hervorzurufen.
Gegeben: ω1 , ωF , J1 , J2 , J3 .
Für das mitrotierende Hauptachsensystem gelten die Eulerschen Gleichun-
gen, wenn ωF in zwei Komponenten in Richtung dieser Achsen zerlegt wird. 3
Die nebenstehende Skizze zeigt eine beliebige (durch den Winkel ϑ gekenn-
zeichnete) Lage. Man liest ab: 2 3
2
ω2 = ωF sin ϑ , ω3 = ωF cos ϑ .
2 Man beachte hierzu den Hinweis auf Seite 529 auf dieses Thema im Internet. Das Problem „Kopplung in den Be-
schleunigungsgleidern“ wird ausführlich im Bereich „Mathematik für die Technische Mechanik“ behandelt.
29.6 Räumliche Bewegung starrer Körper 591
Die folgenden Untersuchungen beschränken sich auf den für die technische Praxis besonders
wichtigen symmetrischen Kreisel, für den alle Achsen senkrecht zur Rotationsachse Hauptach-
sen sind (er braucht nicht rotationssymmetrisch zu sein, zwei Hauptachsen senkrecht zur Ro-
tationsachse mit gleichen Massenträgheitsmomenten garantieren die Erfüllung der genannten
Bedingung). Für solche Körper bringt das mitrotierende Koordinatensystem keine Vorteile, es ist
sogar lästig, weil Winkelgeschwindigkeitsvektoren mit raumfester Richtung (ωF im Beispiel des
vorigen Abschnitts) auf die rotierenden Achsen umgerechnet werden müssen.
Ein kleiner Trick hilft: Man wählt ein Koordinatensystem, das die Bewegung des Körpers nur
insofern mitmacht, dass der Drallvektor bezüglich dieses Systems konstant bleibt. Die verblei-
bende Bewegung wird als Führungsbewegung dem Koordinatensystem überlagert und durch die
Formel 29.56 erfasst. Weil die Ableitung des Drallvektors sich in dieser Formel auf das bewegte
Koordinatensystem bezieht, verschwindet dieser Anteil, wenn der Drallvektor im bewegten Ko-
ordinatensystem konstant ist. Der Winkelgeschwindigkeitsvektor im ersten Anteil ist dann nur
die überlagerte Führungsbewegung (folgendes Beispiel), und der Drallsatz vereinfacht sich zu
~
~ A = d LA = ω
M ~ F ×~LA . (29.62)
dt
Diese vereinfachte Form darf also angewendet werden, wenn der Drallvektor konstant ist bezüg-
lich des verwendeten Koordinatensystems, das sich selbst jedoch gegenüber einem festen System
mit der „Führungs-Winkelgeschwindigkeit“ ω ~ F dreht.
Beispiel:
Ein symmetrischer Kreisel rotiert mit der konstanten Win-
kelgeschwindigkeit ωK in einem Rahmen um seine Hauptzentralach-
se 1. Der Rahmen wird mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit ωF 1
gedreht. Die Masse des Rahmens soll vernachlässigt werden, um die
3
Wirkung des „geführten Kreisels“ zu untersuchen.
Gegeben: J1 , J2 = J3 , ωK , ωF , α .
Die Gesamt-Winkelgeschwindigkeit des Kreisels ergibt bei Überlage-
1
rung von ωK und ωF die beiden Komponenten in Richtung der Achsen
2 = 3
1 und 3 (Skizze unten rechts):
ω1 = ωK + ωF cos α , ω3 = ωF sin α .
Weil Hauptachsen vorausgesetzt werden, kann der Drallvektor wie folgt formuliert werden:
J1 ω1 J1 (ωK + ωF cos α)
~L0 = J2 ω2 = 0 . (29.63)
cos
J3 ω3 J3 ωF sin α sin
Der Bezugspunkt O für den Drall ~L0 ist der in Ruhe befindliche Punkt des Kreisels (Schnitt-
punkt der beiden Drehachsen), es braucht nicht der Schwerpunkt zu sein. Der Drall 29.63 mit
konstanten Massenträgheitsmomenten gilt eigentlich für das mit dem Kreisel bewegte Haupt-
achsensystem.
29.6 Räumliche Bewegung starrer Körper 593
Der Vektor des äußeren Moments, das die Lager auf den Rahmen auf-
bringen müssen, steht senkrecht auf beiden Winkelgeschwindigkeits-
Vektoren. Wenn J3 nicht wesentlich größer als J1 ist, wirkt auf den Rah-
men ein rechtsdrehendes Moment (Abbildung 29.38).
ê Das Ergebnis dieses Beispiels ist auf viele Probleme anwendbar.
Vor der weiteren Diskussion wird es etwas umgeformt:
~ ωF
M = J1 + (J1 − J3 ) cos α ωF ωK sin α ·~e2
ωK
ωF
= J1 + (J1 − J3 ) cos α ω~F ×ω~K .
ωK
Dies ist das Moment, das auf den Rahmen wirkt. Es ist üblich, gera-
de das entgegengesetzt wirkende Moment, das auf die Lager wirkt, Abbildung 29.38: La-
anzugeben (realisiert durch Vertauschen der Faktoren des Vektor- gerreaktionen erzeugen
das Moment M ~
produkts). Es ist das
Kreiselmoment:
~ ωF
MK = J1 + (J1 − J3 ) cos α ω~K ×ω
~F . (29.64)
ωK
Ein symmetrischer Kreisel (Rotor) dreht sich um seine Hauptzentralachse 1 mit der Win-
kelgeschwindigkeit ωK (J1 ist das Massenträgheitsmoment bezüglich der Achse 1, J3 das
Hauptträgheitsmoment einer dazu senkrechten Achse). Der Bewegung des Kreisels wird eine
Führungsbewegung ωF überlagert (die Drehachsen von ωK und ωF schließen den Winkel α
ein).
Dann müssen die Lager (zusätzlich zu den anderen Belastungen, z. B. das Eigengewicht) das
Kreiselmoment 29.64 aufnehmen, dessen Vektor stets senkrecht auf den Drehachsen von ωK
und ωF steht, so dass die Lagerreaktionen mit ωF umlaufen.
ê In der Maschinendynamik wird häufig nur der erste Summand von 29.64 berücksichtigt.
Dies ist korrekt, wenn die Drehachsen von ωK und ωF senkrecht zueinander sind (dann
gilt: cos α = 0), aber auch dann gerechtfertigt, wenn ωF wesentlich kleiner als ωK ist. Die
vereinfachte Formel
~ K = J1 ω
M ~K ×ω~F (ωF ωK ) (29.65)
darf z. B. verwendet werden, um den Einfluss der Drehung um eine Querachse eines Flug-
zeugs beim Start und bei der Landung bzw. um eine vertikale Achse beim Kurvenflug auf die
Lager der Triebwerksturbine zu untersuchen. Auch die Drehungen um die Querachse eines
Schiffes („Stampfen“) auf die Lagerkräfte der (in Längsrichtung liegenden) Antriebswelle
werden nach 29.65 erfasst.
ê Auch für den
Sonderfall ωK = 0 kann
29.64 nützlich sein. Die kleine Umformung
~ K = J1 + (J1 − J3 ) ωF
M cos α ωK ~e1 × ω
~ F = [J1 ωK + (J1 − J3 ) ωF cos α]~e1 × ω
~F
ωK
(~e1 ist der Einheitsvektor in Richtung der Hauptzentralachse 1) ge-
stattet das Nullsetzen von ωK (der Kreisel rotiert nicht mehr), und 1
man erhält:
~ S = (J1 − J3 ) ωF cos α ·~e1 × ω
M ~F
(29.66) 3
2
= (J3 − J1 ) ωF cos α sin α ·~e2 . 2
Zylinder
Damit können die Lagerreaktionen von Wellen mit „schief aufge-
brachten“ Scheiben und Zylindern (Abbildung 29.39) berechnet
werden (vgl. Beispiel 2 im Abschnitt 29.4.1 auf Seite 560). Viel-
fach wird auch der Effekt, der sich durch die schief aufgebrachten Abbildung 29.39: Schief
Scheiben und Zylinder ergibt, als Kreiselwirkung bezeichnet. aufgesetzter Zylinder
Sicher ist es besser, von „dynamischer Unwuchtwirkung“ (vgl. Abschnitt 29.4.2) zu spre-
chen. Leider hat sich der von R ICHARD G RAMMEL (1889 - 1964) in seinem grundlegenden
Werk über den Kreisel3 für den Ausdruck 29.66 vorgeschlagene Begriff Schleudermoment
nicht durchgesetzt.
Beispiel 2:
In Kollermühlen verstärkt die Kreiselwirkung die Kraft,
die der Läufer auf die Mahlplatte aufbringt. Der skizzierte Läufer wird
mit der Winkelgeschwindigkeit ωF um eine zentrale Achse bewegt.
Er rollt auf einem Kreis mit dem Radius r∗ = R cos β + r sin β mit
der Bahngeschwindigkeit v, so dass sich der Läufer (reines Rollen
vorausgesetzt) mit der Winkelgeschwindigkeit
v R
ωK = = ωF cos β + sin β .
r r
um seine eigene Längsachse dreht. Da die beiden Winkelgeschwin- 3
digkeiten von gleicher Größenordnung sind, muss das Kreiselmoment
1
nach 29.64 aufgeschrieben werden. Die Skizze unten zeigt die Rich-
tungen der Hauptachsen für die Hauptträgheitsmomente J1 und J3 .
3 R. Grammel: Der Kreisel. Verlag Friedrich Vieweg & Sohn Braunschweig, 1920
29.7 Aufgaben 595
Mit dem Winkel α = π2 + β erhält man nach der Definition des Vektorprodukts ein rechtsdrehen-
des Moment mit dem Betrag
ωF R
MK = J1 + (J1 − J3 ) cos α ωK ωF sin α = J1 cos β + J3 sin β ωF2 cos β ,
ωK r
MK
das (zusätzlich zur Komponente, die das Eigengewicht des Läufers liefert) eine Kraft FN =
R
auf die Mahlplatte aufbringt (senkrecht zur Oberfläche der Mahlplatte).
29.7 Aufgaben
Aufgabe 29.1:
Die an einem masselosen Seil hängende Masse m wird zur
Zeit t = 0 freigelassen. Bei der Abwärtsbewegung rollt das Seil von der sich
reibungsfrei drehenden zylindrischen Rolle (Masse M, Radius R) ab.
Gegeben: M = 20 kg ; m = 5 kg .
a) Man bestimme für die Masse m den nach 5 s zurückgelegten Weg und
ihre Geschwindigkeit zu diesem Zeitpunkt.
b) Wie groß ist die Kraft FS im Seil während der Bewegung?
Aufgabe 29.2:
Eine Kugel mit der Masse m rollt (ohne
zu gleiten) von B (aus der Ruhelage heraus) nach A und
dann auf einer schiefen Ebene aufwärts.
Gegeben: h = 1 m ; α = 30◦ ; m = 1 kg .
a) Man ermittle die Zeit, die vom Passieren des Punktes A bis zum Erreichen des höchsten
Punktes auf der schiefen Ebene vergeht.
b) Wie groß sind die Normalkraft FN und die Haftungskraft FH zwischen Kugel und schiefer
Ebene?
Aufgabe 29.3:
Ein konstantes Antriebsmoment MA an einer Scheibe mit
dem auf den Drehpunkt bezogenen Massenträgheitsmoment J1 hebt die Mas-
sen m2 (zylindrische Rolle) und m3 , die durch einen masselosen starren Stab 1
verbunden sind.
Gegeben: R , m1 , J1 = 21 m1 R2 , m2 = 4 m1 , m3 = 12 m1 .
Man ermittle
a) die Beschleunigung a3 der Masse m3 , 2
b) die Kraft FS im Stab zwischen den Massen m2 und m3 .
c) Wie groß muss das Antriebsmoment MA mindestens sein, damit sich die
Masse m3 aufwärts bewegt?
3
596 29 Kinetik starrer Körper
Aufgabe 29.4: 1
Um das Massenträgheitsmoment JS eines Zahnrades mit
dem Radius R zu ermitteln, wird der skizzierte Versuchsaufbau verwendet:
Eine Zahnstange mit der Masse m1 wird aus der Ruhe heraus fallenge-
lassen. Sie nimmt bei ihrer Bewegung das Zahnrad und drei zylindrische
Führungsrollen schlupffrei mit. Die Führungsrollen haben alle den glei-
chen Radius und jeweils die Masse m. Die Zeit T , die die Zahnstange für
das Durchfallen der Höhe H benötigt, wird gemessen.
Gegeben: R = 60 mm ; m1 = 2 kg ; m = 0, 4 kg ; H = 500 mm ; T = 1, 5 s .
Es sind das Massenträgheitsmoment JS und die Geschwindigkeit vEND der
Zahnstange am Ende der Messstrecke zu ermitteln.
Aufgabe 29.5:
Ein Rotor besteht aus einer Welle mit
drei zylindrischen Scheiben gleicher Dicke. An der
3
Scheibe 1 des ideal ausgewuchteten Rotors müssen nach-
träglich wie skizziert noch zwei Bohrungen (Durchmes- 3
ser d) angebracht werden. Durch jeweils eine zusätzliche 2
1
Bohrung gleichen Durchmessers in den Scheiben 2 und 2
3 soll der ausgewuchtete Zustand des Rotors wieder her- 2
2
gestellt werden. 1
In welchen Abständen r2 bzw. r3 von der Drehachse und
1
unter welchen Winkeln α2 bzw. α3 müssen die Zusatz-
bohrungen angebracht werden?
Gegeben: R1 = 30 mm ; R2 = 40 mm ; l1 = 45 mm ; l2 = 90 mm .
Aufgabe 29.6:
Ein Quader kann sich um seine untere
Flächendiagonale drehen. 2
Gegeben: ρ , a , M0 . 4
a) Man berechne den Trägheitstensor des Körpers bezüg-
lich des x-y-z-Koordinatensystems. 0
b) Es sind das Anfangswertproblem für die Berechnung der Drehbewegung um die z-Achse (aus
der dargestellten Ruhelage heraus) und die Bestimmungsgleichungen für die Lagerreaktionen
bei A und B (beschrieben durch Komponenten im mitrotierenden x-y-z-Koordinatensystem)
zu formulieren. Die Lager haben jeweils den Abstand a von den Eckpunkten des Körpers.
c) Mit einem geeigneten Programm ist die numerische Lösung (Bewegungsablauf, Lagerreak-
tionen) für zwei volle Umdrehungen bei Verwendung des folgenden Parameters zu erzeugen:
M0 M0
= =1 .
m g a 8 ρ g a4
Weitere Aufgaben findet man im Internet unter www.TM-aktuell.de.
30 Kinetik des Massenpunktsystems
Ein Massenpunktsystem setzt sich aus n Massenpunkten zusammen, zwischen denen starre oder
nicht starre Bindungen bestehen können. Seine Lage kann in jedem Fall durch 3 n Koordinaten
im Raum eindeutig beschrieben werden. Die 3 n Freiheitsgrade, die das freie Massenpunktsystem
hätte, können durch starre Lager und starre (kinematische) Bindungen der Punkte untereinander
reduziert werden (Zwangsbedingungen). Auf die einzelnen Punkte können äußere Kräfte (ein-
schließlich der Lagerkräfte) einwirken.
Der starre Körper (Kapitel 27 und 29) ist ein Sonderfall des Massenpunktsystems mit unendlich
vielen unendlich kleinen Massenpunkten, die sämtlich starr miteinander verbunden sind.
Der Ausdruck auf der rechten Seite von 30.3 ist die Ableitung des Impulses ~pi = mi~vi des Mas-
senpunkts mi nach der Zeit (bei vorausgesetzter konstanter Masse mi ). Wenn der Gesamtim-
puls des Massenpunktsystems als Summe der Impulse der einzelnen Massenpunkte entsprechend
~p = ∑ ~pi definiert wird, kann 30.4 auch in der Form
! ! !
n n n n
~FR = ∑ ~Fi = d ∑ ~pi = d ∑ mi~vi = d ∑ mi d~ri = d~p (30.5)
i=1 dt i=1 dt i=1 dt i=1 dt dt
geschrieben werden. Mit der Ableitung von 30.1 nach der Zeit wird daraus der
n
Impulssatz: ~FR = d~p mit ~p = ∑ mi~vi = m~vS . (30.6)
dt i=1
Die Ableitung des Gesamtimpulses eines Massenpunktsystems nach der Zeit ist gleich der
Resultierenden aller äußeren Kräfte. Der Gesamtimpuls kann als Summe der Impulse aller
Einzelmassen oder als Produkt aus Gesamtmasse und Geschwindigkeit des Schwerpunktes
des Massenpunktsystems gebildet werden.
Sonderfall: Ist die Resultierende der äußeren Kräfte gleich Null, dann bleibt der Gesamtim-
puls eines Massenpunktsystems konstant (Impulserhaltungssatz).
Beispiel 1:
Ein Mensch in einem Boot, das sich in Ruhe befindet, schießt ein Geschoss (Masse
m = 50 g) mit der Anfangsgeschwindigkeit v0 = 800 m/s in horizontaler Richtung ab. Mensch,
Boot und Gewehr haben die Gesamtmasse M = 150 kg.
Unter der Annahme, dass die Einwirkung äußerer Kräfte vernachlässigt werden darf, kann die
Geschwindigkeit, die die Masse M unmittelbar nach dem Schuss hat, mit dem Impulserhaltungs-
satz berechnet werden. Vor dem Schuss ist der Gesamtimpuls des Systems (Mensch, Boot, Ge-
wehr, Geschoss) gleich Null (alles ist in Ruhe), nach dem Schuss tragen sowohl M als auch m
einen Beitrag zum Gesamtimpuls bei, dessen Summe aber unverändert Null ist:
m
0 = m v 0 + M vM ⇒ vM = − v0 = −0, 267 m/s .
M
Da die Geschwindigkeit des Geschosses positiv angenommen wurde, bedeutet das negative Vor-
zeichen für vM , dass sich das Boot in entgegengesetzter Richtung bewegt. Der errechnete Wert ist
eine gute Näherung für die Anfangsgeschwindigkeit des Bootes, die sich natürlich sehr schnell
durch Einwirkung äußerer Kräfte (Bewegungswiderstände) verringert.
ê Man beachte, dass beim Impulssatz die Wirkungslinie der Resultierenden der äußeren Kräfte
(wie beim Schwerpunktsatz) nicht durch den Schwerpunkt des Massenpunktsystems verlau-
fen muss, beim Impulserhaltungssatz dürfen die äußeren Kräfte durchaus ein resultierendes
Moment haben. Deshalb liefern diese Sätze auch keine Aussage über eine eventuelle Dre-
hung des Massenpunktsystems.
Wenn (wie bei der Herleitung des Impulssatzes) der Ausdruck auf der rechten Seite von 30.3 als
Ableitung des Impulses ~pi = mi~vi des Massenpunkts mi nach der Zeit aufgefasst wird, erhält man
nach Multiplikation der Gleichung auf beiden Seiten mit~ri :
30.1 Schwerpunktsatz, Impulssatz, Drallsatz 599
k
d
~ri × ~Fi + ∑ ~ri × ~Fi j =~ri × (mi ~vi ) , i = 1, 2, . . . , n . (30.7)
j=1 dt
Es werden wieder alle n Gleichungen 30.7 addiert. Dabei heben sich sämtliche Momentantei-
le der inneren Kräfte auf, da die Kräfte paarweise (an unterschiedlichen Angriffspunkten, aber
auf gleicher Wirkungslinie entgegengesetzt gleich groß) vorhanden sind. Auf der linken Seite
entsteht das resultierende Moment aller äußeren Kräfte:
n n n
M~ 0 = ∑~ri × ~Fi = ∑~ri × d (mi ~vi ) = ∑ d [~ri × (mi ~vi ) ] . (30.8)
i=1 i=1 dt i=1 dt
Die Ableitung nach der Zeit auf der rechten Seite von 30.8 durfte vor das Vektorprodukt gezogen
werden, weil beim Differenzieren des Produkts
d d~ri d d
[~ri × (mi ~vi ) ] = × (mi ~vi ) +~ri × (mi ~vi ) =~vi × (mi ~vi ) +~ri × (mi ~vi )
dt dt dt dt
der erste Summand verschwindet (~vi und mi~vi haben gleiche Richtung). Der Ausdruck
~Li =~ri × (mi ~vi ) (30.9)
ist das Impulsmoment (Drall) des Massenpunktes mi bezüglich des festen Koordinatenursprungs.
Die Summe der Impulsmomente 30.9 aller Massenpunkte ist der Gesamtdrall des Massenpunkt-
systems, und 30.8 geht damit über in den
~ n
Impulsmomentensatz (Drallsatz): ~ 0 = d L0
M mit ~L0 = ∑~ri × (mi ~vi ) . (30.10)
dt i=1
Die Ableitung des Gesamtdralls eines Massenpunktsystems nach der Zeit ist gleich dem resul-
tierenden äußeren Moment.
Sonderfall: Ist das resultierende äußere Moment gleich Null, dann bleibt der Gesamtdrehim-
puls eines Massenpunktsystems konstant (Drallerhaltungssatz).
ê Die formale Übereinstimmung von 30.10 mit dem für den starren Körper gefundenen Drall-
satz 29.52 bestätigt, dass der starre Körper als Sonderfall des Massenpunktsystems angese-
hen werden darf. Wenn die Summe in 30.10 über „unendlich viele unendlich kleine“ Mas-
senpunkte dm erstreckt wird, entsteht die Integral-Formel 29.49.
ê Der Drallsatz 30.10 für ein Massenpunktsystem darf also als allgemeine Formulierung ange-
sehen werden (für Massenpunktsysteme und starre Körper). Der Drall setzt sich gegebenen-
falls summarisch aus Anteilen (für Massenpunkte) nach 30.9 und (für starre Körper) nach
29.54 zusammen. Die (praktisch sehr wichtigen) Sonderfälle „Rotation um eine feste Ach-
se“ bzw. „ebene Bewegung“ mit den für den starren Körper besonders einfachen Formeln
29.6 bzw. 29.34 sind auch in 30.10 enthalten. Für den Massenpunkt, der um eine feste Achse
rotiert (bzw. eine ebene Rotation um einen festen Punkt ausführt), vereinfacht sich 30.9 zu
Li = mi ri vi = mi ri2 ω . (30.11)
ê Der Drallsatz für das Massenpunktsystem 30.10 gilt für einen festen Bezugspunkt. Es lässt
sich zeigen (ist aber praktisch von untergeordneter Bedeutung), dass auch der Gesamtschwer-
punkt (wie beim starren Körper) als Bezugspunkt verwendet werden darf.
600 30 Kinetik des Massenpunktsystems
Beispiel 2:
Eine zylindrische Welle I (Län-
ge: 2 m, Durchmesser: 160 mm) ist mit ei-
ner zylindrischen Kupplungsscheibe (Dicke:
30 mm, Durchmesser: 300 mm) starr verbun-
2000 30
den (Dichte des Materials von Welle und
Kupplungsscheibe: ρ = 7, 85 g/cm3 ).
Die Welle I ist zunächst in Ruhe und soll durch eine Kraft F gegen eine mit der Drehzahl
nII = 800 min−1 rotierende Welle II gedrückt werden, bis beide Wellen gleiche Drehzahl ha-
ben. Welle II hat einschließlich Kupplungsscheibe die gleichen Abmessungen wie Welle I, ist
aber am anderen Ende noch wie skizziert mit einem Schwungrad verbunden (Abmessungen und
Material des Schwungrades wie im Beispiel auf Seite 551). Der Kupplungsvorgang geschieht
im Leerlauf, so dass keine äußeren Momente auf die Wellen wirken. Es sollen die gemeinsame
Drehzahl n der Wellen nach dem Kupplungsvorgang und der prozentuale Energieverlust infolge
des Kupplungsvorgangs ermittelt werden.
Da keine äußeren Momente während des Kupplungsvorgangs wirken, gilt der Drallerhaltungs-
satz. Vor dem Kuppeln hat nur die Welle II einen Drehimpuls (Drall) und nach dem Kuppeln das
Gesamtsystem, das sich dann mit der Drehzahl n dreht, so dass gilt:
JII ωII = (JI + JII ) ω ⇒ JII 2 π nII = (JI + JII ) 2 π n .
Diese Beziehung wird nach n aufgelöst und dabei beachtet, dass sich JII aus den Massenträg-
heitsmomenten von Welle mit Kupplung JW +K und dem Schwungrad JS zusammensetzt und
JI = JW +K gilt: 1 + JWJ+K
S
JII JW +K + JS
n= nII = nII = nII .
JI + JII 2 JW +K + JS 2 + J JS
W +K
Die Größe der Drehzahl nach dem Kuppeln hängt wesentlich vom Massenträgheitsmoment des
Schwungrades ab. Ohne Schwungrad würde sich die Drehzahl wegen der Gleichheit beider Wel-
len halbieren. Mit den gegebenen Abmessungen berechnet man
JW +K = 1, 197 kgm2 ; JS = 238 kgm2 ; n = 796 min−1 .
Der Energieverlust ist die Differenz der kinetischen Energien im System vor bzw. nach dem
Kuppeln, so dass für den prozentualen Verlust pV gilt:
1 2 1 2
2 JII (2 π nII ) − 2 (JI + JII )(2 π n) JI + JII n2
pV = 1
100% = 1 − 100%
2 JII (2 π nII )
2 JII n2II
JII JI 1
= 1− 100% = 100% = 100% ≈ 0, 5% .
JI + JII JI + JII 2 + JWJ+K
S
ê Die Kupplungskraft F, Einzelheiten des Kupplungsvorgangs und die Bauart der Kupplung
(z. B.: Reibscheiben, ruckartiges oder sanftes Kuppeln) gehen in die Berechnung nicht ein,
wirken sich weder auf die Drehzahl noch auf den Energieverlust aus. Natürlich haben sie auf
die Kupplungszeit und die Beanspruchung der Kupplungselemente einen großen Einfluss.
Dies ist typisch: Mit dem Drallerhaltungssatz, dem Impulserhaltungssatz und dem Energie-
satz können Aussagen zu Bewegungszuständen gefunden werden, ohne die Übergangsphase
analysieren zu müssen.
30.2 Stoß 601
30.2 Stoß
Als Stoß wird das Aufeinandertreffen zweier Körper bezeichnet, wobei sich eine Bewegungsän-
derung ergibt. Die nachfolgend behandelte Theorie basiert auf folgenden Annahmen:
• Die Dauer tS des Stoßvorgangs und die Deformationen der Körper sind so klein, dass die
Lageänderung der Körper während des Stoßvorgangs nicht berücksichtigt werden muss. Die
Bewegungen dürfen nach der Theorie der starren Körper analysiert werden.
• Die Kräfte an der Stoßstelle sind so groß, dass dagegen die Wirkungen aller übrigen auf die
Körper wirkenden Kräfte während des Stoßvorgangs vernachlässigt werden dürfen.
Der Berührungspunkt der am Stoß beteiligten Körper wird
Stoßpunkt genannt, die durch den Stoßpunkt gehende Gera-
de senkrecht zur Berührungsebene (Tangentialebene beider 2
Körper) heißt Stoßnormale (Abbildung 30.2).
Sto normale
Liegen die Geschwindigkeiten der Stoßpunkte der beiden Sto punkt
Massen unmittelbar vor dem Stoß in Richtung der Stoßnor- 1
malen, so ist es ein gerader Stoß, anderenfalls ein schie-
..
fer Stoß. Wenn die Schwerpunkte der beiden Massen auf Beruhrungsebene
der Stoßnormalen liegen, spricht man von einem zentrischen Abbildung 30.2: Definitionen
Stoß, anderenfalls von einem exzentrischen Stoß.
Für den interessanten Sonderfall gleicher Massen liefern diese Formeln mit m1 = m2 = m:
ê Beim vollkommen plastischen Stoß gleicher Massen bewegen sich diese danach mit dem
arithmetischen Mittel ihrer Geschwindigkeiten vor dem Stoß:
1
v1 = v2 = (v1 + v2 ) .
2
ê Beim vollkommen elastischen Stoß gleicher Massen tauschen diese ihre Geschwindigkeiten
aus:
v1 = v2 , v2 = v1 .
Der vollkommen plastische und der vollkommen elastische Stoß sind die Grenzzustände des rea-
len Stoßvorgangs. Um diesen zu untersuchen, muss der Impulssatz für beide Massen gesondert
formuliert werden. Dabei ist zu beachten, dass dann die zwischen den Massen wirkende Stoßkraft
F(t) für die einzelne Masse jeweils zur äußeren Kraft wird (Abbildung 30.4).
Das Erfassen des realen Ablaufs eines Stoßes ist sehr schwierig.
Deshalb basieren die weiteren Überlegungen auf folgender Hypo-
these über den Stoßvorgang: Während einer Kompressionsperiode
(0 ≤ t ≤ tK ) baut sich die Kraft F(t) von Null bis zu ihrem Maxi-
malwert auf. Zum Zeitpunkt tK bewegen sich die Massen mit der
gemeinsamen Geschwindigkeit vK . In der so genannten Restituti-
onsperiode (tK ≤ t ≤ tS ) geht die Kraft F(t) auf den Wert Null zu-
rück. Zum Zeitpunkt tS ist der Stoßvorgang beendet. Auf der Basis
Abbildung 30.4: Stoßkraft
dieser Annahmen werden für beide Massen jeweils der Impulssatz
F(t) wird zur äußeren Kraft
28.25 für die Kompressionsphase formuliert:
ZtK ZtK
m1 (vK − v1 ) = − F(t) dt = − fK , m2 (vK − v2 ) = F(t) dt = fK .
t=0 t=0
Für die Restitutionsphase lauten die Impulssätze für die beiden Massen:
ZtS ZtS
m1 (v1 − vK ) = − F(t) dt = − fR , m2 (v2 − vK ) = F(t) dt = fR .
t=tK t=tK
Die Stoßzahl k kann experimentell ermittelt werden und wird für die weiteren Betrachtungen als
bekannt vorausgesetzt. Damit stehen für fünf Unbekannte (v1 , v2 , vK , fK , und fR ) fünf Gleichun-
gen zur Verfügung, die vier Impulssätze für Kompressions- und Restitutionsphase beider Massen
und 30.15. Wenn vK , fK und fR eliminiert werden, verbleiben die beiden
ê Es ist ein positiver Richtungssinn zu definieren, der dann für alle vier Geschwindigkeiten in
den Formeln 30.16 gilt.
ê Die erste Gleichung 30.16 ist der Impulserhaltungssatz, die zweite kann als Definitionsglei-
chung für die Stoßzahl k angesehen werden. Diese nimmt Werte im Bereich
0≤k≤1
an. Mit den Grenzwerten für k sind die beiden Idealfälle des Stoßvorgangs in den allgemei-
nen Gleichungen 30.16 enthalten:
k=0 ⇒ v1 = v2 (vollkommen plastisch)
k=1 ⇒ v1 − v2 = v2 − v1 (vollkommen elastisch)
Während der Gesamtimpuls bei einem Stoßvorgang erhalten bleibt, ergibt sich (mit Ausnahme
des vollkommen elastischen Stoßes) ein Energieverlust (exakter: Verlust an kinetischer Energie).
Aus der Differenz der kinetischen Energien vor und nach dem Stoß
1 1 1 1
∆Tkin = m1 v21 + m2 v22 − m1 v21 − m2 v22
2 2 2 2
ergibt sich mit v1 und v2 aus 30.16 nach etwas mühsamer Umformung die Formel für den
Beispiel 1:
Zur Ermittlung der Stoßzahl wird ein so genannter Rücksprungversuch ausgeführt:
Eine Masse m1 wird in der Höhe H fallengelassen und trifft auf eine ruhende sehr große Masse
m2 . Die von m1 erreichte Rücksprunghöhe h wird gemessen. Unter der Voraussetzung, dass die
Versuchsbedingungen die Vernachlässigung des Luftwiderstands gestatten und die Masse m2 als
sehr groß gegenüber m1 angesehen werden darf (m2 → ∞), kann die Stoßzahl k berechnet werden.
Aus dem Impulssatz folgt (nach Division durch m2 ) mit m2 → ∞ und v2 = 0 (Geschwindigkeit
vor dem Stoß), dass m2 auch nach dem Stoß in Ruhe ist (v2 = 0). Die Auftreffgeschwindigkeit
(Geschwindigkeit vor dem Stoß) der Masse m1 folgt aus dem Energiesatz
1 p
m1 g H = m1 v21 ⇒ v1 = 2 g H ,
2
604 30 Kinetik des Massenpunktsystems
ebenso die Geschwindigkeit nach dem Stoß mit der gemessenen Rücksprunghöhe h:
1 p
m v21 = m1 g h ⇒ v1 = − 2 g h .
2
Das negative Vorzeichen für v1 muss gewählt werden, weil Auftreff- und Rücksprunggeschwin-
digkeit unterschiedliche Richtungen haben. Die Stoßzahl errechnet sich nach 30.16:
√ r
v1 − v2 − 2gh−0 h
k= = √ = .
v2 − v1 0− 2gH H
ê Die Stoßzahl k darf nicht als Materialkonstante angesehen werden. Neben den Materialei-
genschaften beider am Stoß beteiligter Körper ist sie von zahlreichen anderen Einflüssen
(Körperformen, Aufprallgeschwindigkeiten, umgebendes Medium) abhängig, so dass für
genauere Untersuchungen spezielle Versuche (möglichst realitätsnah) zur Ermittlung von k
erforderlich sind.
Beispiel 2:
Ein Fahrzeug mit der Masse m1 = 1200 kg fährt auf ein stehendes Fahrzeug (Masse
m2 = 1000 kg) auf, das mit blockierten Rädern dadurch um die Strecke s2 = 16 m verschoben
wird. Wie groß war die Auffahrgeschwindigkeit v1 , wenn die Stoßzahl k = 0, 15 und ein Gleit-
reibungskoeffizient zwischen Fahrzeug und Straße von µ = 0, 5 angenommen werden dürfen?
Der Energiesatz für die Bewegung von m2 nach dem Stoß 1 2
=0
(Abbildung 30.5, untere Skizze) liefert die Geschwindigkeit
1 2
v2 , die dieses Fahrzeug unmittelbar nach dem Stoß hat:
1
m2 v22 − µ m2 g s2 = 0
p
⇒ v 2 = 2 µ g s2 .
2 2
Für den Stoß gelten die Gleichungen 30.16: 2 2
v1 − v2
m1 v1 = m1 v1 + m2 v2 , k= .
−v1
2
Nach Elimination der nicht interessierenden Unbekannten v1
(Geschwindigkeit von m1 unmittelbar nach dem Stoß) ver- Abbildung 30.5: Bewegung der
bleibt eine Gleichung für v1 : Masse m2 nach dem Stoß
m1 + m2 m1 + m2 p
v1 = v2 = 2 µ g s2 = 19, 97 m/s = 71, 9 km/h .
m1 (1 + k) m1 (1 + k)
Beispiel 3:
Für verschiedene technologische Verfahren (Hämmern, Schmieden, Rammen, . . .),
bei denen ein Werkzeug (Masse m1 ) mit der Geschwindigkeit v1 auf ein ruhendes Werkstück
(Masse m2 ) stößt, ist der mit 30.17 zu berechnende „relative Energieverlust“ ϕ = ∆T kin
Tkin ein Maß
für die Effektivität des Verfahrens (Tkin = 21 m1 v21 ist die kinetische Energie des Werkzeugs m1
unmittelbar vor dem Stoß, der Querstrich bei ϕ soll Verwechslungen mit dem in der Umform-
technik anders definierten Umformgrad ϕ vorbeugen). Mit v2 = 0 in 30.17 errechnet man:
∆Tkin m2 1 − k2
ϕ= = (1 − k2 ) = m1 .
T1 m1 + m2 m2 + 1
Bemerkenswert ist, dass die Geschwindigkeit des Werkzeugs v1 in das Ergebnis nicht eingeht.
Wenn große Werte für ϕ gewünscht sind (z. B. beim Schmieden), sollte das Verhältnis m1
m2 klein
30.2 Stoß 605
sein (da der Hammer des Schmieds nicht beliebig klein sein kann und das Werkstück vorgegeben
ist, muss m2 durch einen schweren Amboss „künstlich vergrößert“ werden). Dagegen ist die
Verwendung eines leichten Hammers der sicherste Weg, den Nagel, der eingeschlagen werden
soll, zu verbiegen. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die mit jedem Hammer jeden Nagel
krumm schlagen, widerspricht dieser Aussage nicht.
Der schiefe Stoß gegen eine starre glatte Wand ist als wichtiger
Sonderfall in 30.18 enthalten. Mit v2 = 0 und m2 → ∞ ergibt sich:
vy = vy , vx = −k vx (30.19)
(Geschwindigkeitskomponente senkrecht zur Stoßnormalen bleibt
konstant, Geschwindigkeitskomponente in Richtung der Stoßnor-
malen wird mit dem Faktor k reduziert und ändert ihre Richtung).
Außerdem entnimmt man der Abbildung 30.7:
vy vy
tan α = , tan α = − , Abbildung 30.7: Stoß gegen
vx vx
eine starre glatte Wand
und damit errechnen sich α und v aus:
1 p
tan α = tan α , v=v sin2 α + k2 cos2 α . (30.20)
k
606 30 Kinetik des Massenpunktsystems
Beispiel:
Ein an einem Faden hängender Mas-
1
senpunkt m1 wird ohne Anfangsgeschwindigkeit
losgelassen und stößt auf einen ruhenden Mas-
senpunkt m2 (Stoßzahl k1 ). Die Bewegungen bei- 2
der Massenpunkte nach dem Stoß sollen analysiert
werden (k2 ist die Stoßzahl für den Aufprall der
1 2
Masse m2 auf den starren Untergrund).
1 2
Gegeben: h = 50 cm ; k1 = 0, 6 ;
m2 1 2
H= 30 cm ; k2 = 0, 5 ; =3 .
m1
Die Geschwindigkeit v1 der Masse m1 vor dem Stoß ergibt sich aus dem Energiesatz:
1 p
m1 g h = m1 v21 ⇒ v1 = 2 g h .
2
Aus den Formeln für den geraden zentrischen Stoß 30.16 werden die Geschwindigkeiten beider
Massen nach dem Stoß ermittelt:
1 − k1 m
m1
2
v1 1p 2 2p
v1 = m2 v1 = − =− 2gh , v2 = k1 v1 + v1 = v1 = 2gh .
1 + m1 5 5 5 5
Dies sind die Anfangsgeschwindigkeiten der Bewegungen beider Massen nach dem Stoß. Die
Masse m1 pendelt nach links zurück (v1 ist negativ), und die Masse m2 führt eine Wurfbewe-
gung aus. Diese wird mit den Gleichungen, die das Beispiel auf Seite 516 lieferte, mit α = 0
(horizontale Abwurfgeschwindigkeit) im x1 -y1 -Koordinatensystem beschrieben:
1 g
x1 = v2 t , y1 = − gt 2 + H ⇒ y1 = − 2 x12 + H ,
2 2 v2
ẋ1 = v2 , ẏ1 = −gt .
Die Wurfweite w1 ergibt sich mit y1 = 0 für den Auftreffpunkt:
s
4√
r
2 H 16
w1 = 2 v2 = hH = h H = 30, 98 cm .
g 25 5
Die Geschwindigkeitskomponenten am Auftreffpunkt berechnen sich entsprechend:
s
∗ 2p ∗ H
v∗y = ẏ1 (t ∗ ) = − 2 g H .
p
vx = v2 = 2gh , t = 2 ⇒
5 g
Nach 30.19 ergeben sich daraus die Komponenten der Anfangsgeschwindigkeit der zweiten
Wurfbewegung:
2p 1p
v∗x = v∗x = 2gh , v∗y = −k2 v∗y = 2gH .
5 2
Damit kann das Bewegungsgesetz der zweiten Wurfbewegung aufgeschrieben werden:
!
∗ ∗ 1 2 v∗y 1 g 2
x2 = vx t , y2 = vy t − gt ⇒ y2 = ∗ x2 − x .
2 vx 2 v∗x v∗y 2
Daraus errechnet sich z. B. die Wurfweite w2 :
4√
w2 = x2 (y2 = 0) = h H = 30, 98 cm .
5
30.2 Stoß 607
Da beim exzentrischen Stoß (vgl. die Definition am Anfang des Abschnitts 30.2) die Stoßnor-
male nicht durch die Schwerpunkte der beiden Massen verläuft, ergibt sich für mindestens einen
der beiden Körper ein Moment der Stoßkraft bezüglich seines Schwerpunkts. Dadurch wird zu-
sätzlich zur Translation noch eine Rotation hervorgerufen.
Im allgemeinen Fall bewegen sich die Massen vor dem Stoß mit v1 bzw. v2 (Translationsbewe-
gungen der Schwerpunkte) und ω1 bzw. ω2 (Winkelgeschwindigkeiten der Rotationen). Nach
dem Stoß werden die Bewegungen dann durch die Geschwindigkeiten v1 , v2 und die Winkelge-
schwindigkeiten ω 1 , ω 2 beschrieben. Die Bestimmungsgleichungen für die zusätzlichen Unbe-
kannten liefert der Drallsatz (bei rauen Oberflächen kommen gegebenenfalls auch kinematische
Zwangsbedingungen hinzu).
Wie beim schiefen zentrischen Stoß werden für die folgenden Untersuchungen glatte Oberflä-
chen angenommen, es soll auch weiter die Definition der Stoßzahl
v1, x − v2, x
k= (30.21)
v2, x − v1, x
gelten (x ist die Richtung der Stoßnormalen): Zähler bzw. Nenner sind die Differenzen der Ge-
schwindigkeitskomponenten des Stoßpunktes in Richtung der Stoßnormalen vor bzw. nach dem
Stoß (Reihenfolge so, dass k positiv wird).
Im Regelfall müssen Drallsatz und Impulssatz auf jeden Körper einzeln angewendet werden, so
dass die an der Stoßstelle übertragene Kraft in die Beziehungen eingeht (die zusätzliche Glei-
chung zur Elimination dieser zusätzlichen Unbekannten ist durch 30.21 gegeben). Nur im Aus-
nahmefall (nachfolgendes Beispiel 1) kann der Drallerhaltungssatz gemeinsam für beide Körper
(mit Bezug auf einen gemeinsamen festen Punkt) aufgeschrieben werden, so dass die an der
Stoßstelle übertragene Kraft als innere Kraft nicht in die Rechnung eingeht.
Besondere Bedeutung haben die Fälle, bei denen mindestens einer der beiden am Stoß beteiligten
Körper (drehbar) gelagert ist. Dabei ist zu beachten, dass durch den Stoß auch in den Lagern
Kräfte hervorgerufen werden, die nicht gegenüber den Kräften an der Stoßstelle vernachlässigt
werden dürfen, weil sie in der gleichen Größenordnung wie diese sind.
Beispiel 1:
Ein Massenpunkt m1 stößt gegen einen bei A drehbar
gelagerten Körper (Masse m2 , Massenträgheitsmoment bezüglich
des Punktes A: J2A ), der sich vor dem Stoß in Ruhe befand. Gesucht
sind v1 und ω 2 unmittelbar nach dem Stoß. 2
Gegeben: m1 , v1 , m2 , J2A , l , s , k . 2
Da m2 vor dem Stoß in Ruhe ist und nach dem Stoß eine reine Dreh-
1
bewegung mit ω 2 ausführt (der Stoßpunkt bewegt sich dann mit der
Bahngeschwindigkeit v2 = ω 2 l), gilt 1
v1 − ω 2 l
k= .
−v1
608 30 Kinetik des Massenpunktsystems
Als zweite Bestimmungsgleichung darf der Drallerhaltungssatz bezüglich des Punktes A aufge-
schrieben werden (Gesamtdrall beider Massen vor bzw. nach dem Stoß):
m1 v1 l = m1 v1 l + J2A ω 2 .
Aus diesen beiden Gleichungen errechnet man die Geschwindigkeiten nach dem Stoß:
J2A
1−k
1 + k v1 m1 l 2
ω2 = , v1 = v . (30.22)
J2A l J2A 1
1+ 1 +
m1 l 2 m1 l 2
Die für viele Probleme in der technischen Praxis interessante Frage, unter welchen Bedingungen
die infolge des Stoßes im Lager A hervorgerufene Kraft Null ist, kann mit folgender Überlegung
beantwortet werden: Die Lagerkraft als für das Massensystem (einzige) äußere Kraft müsste
beim Aufschreiben des Impulssatzes mit einem entsprechenden Integralausdruck berücksichtigt
werden. Wenn sie Null wird, kann dieser Anteil entfallen, und nur für diesen Fall darf der
Impulserhaltungssatz verwendet werden:
m1 v1 = m1 v1 + m2 ω 2 s .
Mit den bereits berechneten Werten für v1 und ω 2 ergibt sich daraus ein verallgemeinerungsfä-
higes Ergebnis. Es ist die
J2A
Lage des Stoßmittelpunktes: l∗ = . (30.23)
m2 s
Der Stoßmittelpunkt liegt im Abstand l ∗ von der Wirkungslinie der Stoßkraft auf einer Senk-
rechten zur Wirkungslinie, die durch den Schwerpunkt des Körpers geht. In 30.23 sind s der
Abstand des Schwerpunkts vom Stoßmittelpunkt, J2A das auf den Stoßmittelpunkt bezogene
Massenträgheitsmoment, m2 die Masse des Körpers.
ê Wenn im Beispiel 1 das Lager A in dem durch 30.23 gegebenen Abstand vom Stoßpunkt
liegt, treten in ihm keine Kräfte infolge des Stoßes auf. Bei stoßartig belasteten Bauteilen
(Schlagwerke, Typenhebel, . . .) sollte diese einfache Art, Lagerbelastungen zu minimieren,
unbedingt genutzt werden. Ein Schmied weiß gefühlsmäßig (im wahrsten Sinne des Wortes)
sehr genau, wo der Stoßmittelpunkt seines Hammers ist.
ê Die hohe Geschwindigkeit einer kleinen Masse (Geschoss) kann mit einer Versuchsanord-
nung nach Beispiel 1 experimentell ermittelt werden. Der hängende Körper m2 wird so gefer-
tigt, dass m1 eindringt und stecken bleibt (ideal plastischer Stoß). Man misst den maximalen
Winkelausschlag ϕmax der Masse m2 . Ihr Schwerpunkt hebt sich also um s(1 − cos ϕmax ),
und man kann mit dem Energiesatz
1
J2A ω 22 = m gs (1 − cos ϕmax )
2
ω 2 ermitteln. Damit ergibt sich aus 30.22 unter Beachtung von k = 0:
J2A
v1 = 1 + l ω2 .
m1 l 2
30.2 Stoß 609
Das nachfolgende Beispiel behandelt den typischen Fall: Der Drallsatz muss für jeden Körper ge-
sondert formuliert werden, weil unterschiedliche Bezugspunkte gewählt werden müssen. Dabei
wird der Drallsatz 30.10 über die gesamte Stoßzeit tS integriert (die unterschiedlichen Verhältnis-
se in Kompressions- und Restitutionsperiode, die auf die Definition der Stoßzahl führten, werden
auch weiterhin über diese erfasst). Für das ebene Problem kann auf eine vektorielle Formulierung
verzichtet werden: tSZ
M0 (t) dt = L0 − L0 (30.24)
t=0
(der Querstrich kennzeichnet den Wert des Dralls nach dem Stoß). M0 ist das durch die Kraft an
der Stoßstelle hervorgerufene Moment bezüglich des Bezugspunktes, wobei über die Stoßzeit tS
ein konstanter Hebelarm angenommen werden darf.
Beispiel 2:
Ein bei A drehbar gelagerter Körper 1 (Massenträgheits-
moment bezüglich A: J1A ) stößt mit der Winkelgeschwindigkeit ω1
2
auf einen bei B drehbar gelagerten Körper 2 (Massenträgheitsmoment
bezüglich B: J2B ), der sich vor dem Stoß in Ruhe befindet. 1
Gegeben: ω1 , J1A , J2B , l1 , l2 , k .
2
1
Es sollen die Gleichungen aufgeschrieben werden, mit denen die Win- 1
kelgeschwindigkeiten beider Körper unmittelbar nach dem Stoß be- Sto normale
rechnet werden können.
Für die beiden Körper werden Gleichungen nach 30.24 mit den Bezugspunkten A bzw. B formu-
liert, in die die Stoßkraft F(t) eingeht (glatte Flächen, F(t) in Stoßnormalen-Richtung):
ZtS ZtS
MA (t) dt = −l1 F(t) dt = −l1 fS = J1A ω 1 − J1A ω1 ,
t=0 t=0
ZtS ZtS
MB (t) dt = −l2 F(t) dt = −l2 fS = J2B ω 2
t=0 t=0
ê Natürlich könnte auch der Kraftstoß fS berechnet werden. Mit dem Impulssatz (je zwei
Gleichungen für die beiden Körper) könnten vier weitere Gleichungen formuliert werden,
in die die vier Komponenten der von den Lagern aufzunehmenden Kraftstöße eingehen,
so dass diese berechnet werden könnten. Allerdings sind damit nicht die durch den Stoß
hervorgerufenen Kräfte bekannt, so dass diese Berechnung wenig praktischen Nutzen hat.
30.3 Aufgaben
Aufgabe 30.1:
Die Masse m1 wird in der Höhe h1 ohne
Anfangsgeschwindigkeit losgelassen, bewegt sich reibungsfrei 1
und stößt bei A auf die ruhende Masse m2 (Stoßzahl k).
1
m2
Gegeben: = 4 ; k = 0, 8 ; h1 .
m1 2
Auf welche Höhe h2 gleitet m1 nach dem Stoß zurück, wie groß
ist die Geschwindigkeit von m2 unmittelbar nach dem Stoß?
Aufgabe 30.2
Der skizzierte Holzhammer besteht aus ei-
nem Quader und einem zylindrischen Griff, der als dünner
Stab angesehen werden darf.
Gegeben: m1 = 170 g ; a = 8 cm ; 1
m2 = 720 g ; b = 14 cm ; l = 30 cm . 2
Aufgabe 30.3
Ein Pendel 1 besteht aus einem
1
dünnen Stab (Masse m1 ) und einer Kreisscheibe 2
(Masse m2 ), das Pendel 2 aus zwei dünnen Stäben
(Massebelegung ρA). Pendel 1 wird aus der hori- 1
zontalen Ruhelage freigegeben und stößt in seiner
2
Wenn sich bei einer Bewegung, die durch x(t) beschrieben wird, die Bewegungsrichtung mehr-
mals ändert (Wechsel des Vorzeichens der Geschwindigkeit ẋ) und x(t) mehrfach den gleichen
Wert wieder annimmt, so spricht man von einer Schwingung.
Eine Bewegung, die sich regelmäßig nach einer Zeit T wiederholt, so dass
x(t + T ) = x(t)
gilt (vgl. Beispiel auf Seite 530), wird periodische Schwingung genannt. Die für eine Schwin-
gungsperiode benötigte Zeit T heißt Schwingungsdauer. Ihr reziproker Wert
1
f= (31.1)
T
ist die Schwingungsfrequenz und gibt die Anzahl der Schwingungen pro Zeiteinheit an. Die Fre-
quenz wird mit der physikalischen Einheit Hz (Hertz) gemessen:
1 Hz = 1 s−1 .
Da die cos-Funktion die Extremwerte −1 und +1 annimmt, ist x0 der jeweils größte (positive und
negative) Wert, den x während einer Schwingungsperiode annimmt, die Amplitude. Besondere
praktische Bedeutung hat das Argument der cos-Funktion: Weil diese Funktion periodisch mit
2 π ist, entspricht die Zeit, die bis zum Erreichen dieses Werts vergeht, der Schwingungsdauer T
einer Periode, und nach 31.1 ergibt sich die Schwingungsfrequenz:
r r r
c m 1 1 c
T = 2π ⇒ T = 2π ⇒ f= = . (31.5)
m c T 2π m
In der technischen Praxis ist es üblich, mechanische Schwingungen durch die Angabe der Kreis-
frequenz r
c
ω= (31.6)
m
zu charakterisieren, die sich von der Frequenz f nur durch den Faktor 2 π unterscheidet. Der
Begriff „Kreisfrequenz“ erklärt sich aus folgender Analogie: Ein mit der konstanten Winkelge-
schwindigkeit ω auf einer Kreisbahn umlaufender Punkt hat dieselbe „Frequenz“ (Anzahl von
Umläufen) wie ein Schwinger mit der entsprechenden Kreisfrequenz. Man beachte die Analogie
der Zusammenhänge (vgl. Gleichung 26.21 im Abschnitt 26.2.3):
ω = 2π f ω = 2π n
(31.7)
Kreisfrequenz Ö Frequenz Winkelgeschwindigkeit Ö Drehzahl
ω führt aber entsprechend 31.9 wieder auf eine harmonische Bewegung mit der gleichen
Kreisfrequenz. Es ergibt sich allerdings eine vergrößerte Amplitude
p
C = A2 + B2 .
ê Die Lösung 31.9 hat den Vorteil, dass beide Integrationskonstanten interpretierbar sind. C
ist die Amplitude der Schwingung und die so genannte Phasenverschiebung α bestimmt den
Zeitpunkt t0 , zu dem die Schwingung erstmalig die Amplitude erreicht:
α
cos(ω t0 − α) = 1 ⇒ t0 = .
ω
Ein schwingungsfähiges System, das nach einmaligem Anstoß (z. B.: Anfangsauslenkung oder
Anfangsgeschwindigkeit) sich selbst überlassen wird (und keinen äußeren „Erregerkräften“ mehr
ausgesetzt ist), führt eine freie Schwingung (Eigenschwingung) aus. Fließt während der Bewe-
gung keine Energie ab, ist es eine freie ungedämpfte Schwingung.
Wenn bei einem Schwinger mit einem Freiheitsgrad (wie im Beispiel des vorigen Abschnitts) die
Rückstellkraft linear von der Bewegungskoordinate abhängt, wird die freie ungedämpfte Schwin-
gung immer durch eine Bewegungs-Differenzialgleichung der Form
ẍ + ω 2 x = 0 (31.10)
beschrieben, und der Schwinger führt eine harmonische Bewegung aus. Die Kreisfrequenz der
Eigenschwingung wird Eigenkreisfrequenz genannt und ist bei linearen Schwingern, die durch
eine Differenzialgleichung des Typs 31.10 beschrieben werden, von den Anfangsbedingungen
unabhängig (die Beispiele 1 und 2 im Abschnitt 28.3.3 behandelten dagegen nichtlineare unge-
dämpfte freie Schwinger, deren Frequenzen von den Anfangsbedingungen abhängig sind).
Wenn der tatsächliche Bewegungsverlauf einer linearen Schwingung nicht interessiert (bei
den meisten Problemen der technischen Praxis ist dies der Fall), kann auf die Lösung der
Differenzialgleichung 31.10 verzichtet werden, weil die wichtigste Kenngröße, die Eigen-
kreisfrequenz, direkt aus der Differenzialgleichung ablesbar ist.
Beispiel 1:
Eine zylindrische Kreisscheibe ist im Schwerpunkt drehbar
gelagert und durch zwei Federn am Rand gefesselt. Für kleine Ausschläge
soll die Eigenkreisfrequenz der Drehschwingung ermittelt werden.
Gegeben: c , m .
An der freigeschnittenen Scheibe werden für die gewählte Koordinaten-
richtung das d’Alembertsche Moment (reine Drehbewegung, Massen-
trägheitsmoment der zylindrischen Scheibe: JS = 12 m r2 ) und die Feder-
Rückstell-Kräfte angetragen. Bei Voraussetzung kleiner Ausschläge dür- 1 2
fen die Federkräfte in Richtung der unbelasteten Feder (tangential an den 2
Kreis) angetragen und ihre Verlängerung näherungsweise durch rϕ er-
fasst werden. Für große Winkel müsste die Schräglage der verformten
Feder durch die genaue Erfassung der Geometrie berücksichtigt werden,
was zu nichtlinearen Zusammenhängen führen würde.
Die Bewegungs-Differenzialgleichung ergibt sich aus dem Momentengleichgewicht um den La-
gerpunkt. Die Eigenkreisfrequenz der Schwingung kann direkt abgelesen werden:
r
1 2 4c c
m r ϕ̈ + 2 c r ϕ r = 0 ⇒ ϕ̈ + ϕ =0 ⇒ ω =2 .
2 m m
ê Für das Aufschreiben der Bewegungsgleichung des freien ungedämpften Schwingers mit
einem Freiheitsgrad (Beispiel 1) bietet sich auch der Energiesatz in der Form
U + T = konstant (31.11)
an. Potenzielle und kinetische Energie werden für die beliebige Lage (in Abhängigkeit von
der Bewegungskoordinate) formuliert, und die Ableitung von 31.11 nach der Zeit (vgl. nach-
folgendes Beispiel 2) führt auf die Bewegungs-Differenzialgleichung 31.10.
Beispiel 2:
Eine Zahnstange der Masse m ist auf zwei Zahnrädern mit dem Radius r (Massen-
trägheitsmomente JS bezüglich der Drehpunkte) gelagert und durch zwei Federn gefesselt.
Die Eigenkreisfrequenz des Schwingungssystems (einfa-
ches Modell eines Schwingsiebs) soll ermittelt werden.
Gegeben: c , m , JS = 3, 5 m r2 .
Wenn für die Bewegung von m eine Koordinate x eingeführt wird und für die Drehung der Zahn-
räder jeweils eine Winkelkoordinate ϕ, so dass alle Koordinaten gleichzeitig positiv werden, gilt
die Zwangsbedingung x = rϕ. Beim Aufschreiben des Energiesatzes ist potenzielle Energie nur
für die Federn zu berücksichtigen (alle Massen bleiben stets auf ihrer Ausgangshöhe):
31.2 Freie ungedämpfte Schwingungen 615
ẋ2
1 2 1 2 1 2 1
m ẋ + 2 JS ϕ̇ + c x = konst. ⇒ m ẋ2 + 3, 5 m r2 2 + c x2 = konst.
2 2 2 2 r
Die Beziehung wird noch vereinfacht und dann nach der Zeit abgeleitet. Aus der Differenzial-
gleichung des Typs 31.10 kann die Eigenkreisfrequenz direkt abgelesen werden: r
2 2 c 1 c
4 m ẋ + c x = konst. ⇒ 8 m ẋ ẍ + 2 c x ẋ = 0 ⇒ ẍ + x=0 ⇒ ω = .
4m 2 m
Beispiel 3:
An dem skizzierten einfachen Feder-Masse-
Schwinger soll der Einfluss des Eigengewichts der Masse auf die
Eigenkreisfrequenz untersucht werden.
Die Bewegungskoordinate x wird von der statischen Gleichge-
wichtslage aus gezählt, in der die Feder bereits vorgespannt ist.
Die Skizze zeigt alle zu berücksichtigenden Kräfte in der belie-
bigen ausgelenkten Lage, und nach dem Prinzip von d’Alembert
liefert die Gleichgewichtsbedingung in vertikaler Richtung:
m ẍ + c x + c xstat − m g = 0 .
Wegen c xstat = m g ergibt sich die gleiche Differenzialgleichung wie beim horizontalen Feder-
Masse-Schwinger (Einführungsbeispiel im Abschnitt 31.1): m ẍ + c x = 0 .
ê Die vertikal hängende Masse m schwingt mit der gleichen Eigenkreisfrequenz wie die rei-
bungsfrei gelagerte horizontal schwingende Masse m. Diese exemplarisch gefundene Aussa-
ge darf wie folgt verallgemeinert werden: Beim Aufstellen der Bewegungs-Differenzialglei-
chung kann die statische Vorspannung der Feder unberücksichtigt bleiben, wenn gleichzeitig
die diese Vorspannung hervorrufende Kraft (hier: Eigengewicht der Masse m) nicht berück-
sichtigt wird und der Koordinatenursprung mit der statischen Ruhelage zusammenfällt.
Das Eigengewicht kann selbstverständlich nicht aus der Rechnung herausgelassen werden, wenn
es selbst zur Rückstellkraft beiträgt (Rückstellkräfte werden durchaus nicht immer durch Federn
hervorgerufen, siehe nachfolgendes Beispiel 4).
Beispiel 4:
Beim so genannten mathematischen Pendel (Punkt-
masse am masselosen Faden) ist die in Bahnrichtung gerichtete
Komponente des Eigengewichts die Rückstellkraft, und man er-
hält aus dem Kraftgleichgewicht in Bahnrichtung:
2
m l ϕ̈ + m g sin ϕ = 0 ⇒ l ϕ̈ + g sin ϕ = 0 .
Dies ist eine nichtlineare Differenzialgleichung, deren Lösung zwar einen periodischen Vorgang
beschreibt, dessen Frequenz allerdings von den Anfangsbedingungen abhängt. Nur unter der
Voraussetzung sehr kleiner Pendelausschläge, für die sin ϕ ≈ ϕ gesetzt werden darf, ergibt sich
eine lineare Differenzialgleichung, aus der die Eigenkreisfrequenz abgelesen werden kann:
r
g
l ϕ̈ + gϕ = 0 ⇒ ω= .
l
616 31 Schwingungen
Für die beiden einfachen elastischen Systeme der Abbildung 31.2 (Zugstab, Biegeträger) soll ge-
zeigt werden, dass dieser Zusammenhang für einen ausgewählten belasteten Punkt in der Form
des linearen Federgesetzes aufgeschrieben werden kann. Für den Zugstab ist die benötigte For-
mel mit 14.6 gegeben, für den Biegeträger entnimmt man sie der Tabelle auf Seite 260:
Fl EA EA
∆l = ⇒ F= ∆l = cS ∆l mit cS = ,
EA l l
F l3 48 EI 48 EI
vF = ⇒ F = 3 vF = cB vF mit cB = 3 .
48 EI l l
ê Wenn sich an der Stelle, für die der Zusammenhang von Kraft und Verschiebung als Fe-
dergesetz formuliert wurde, eine Masse m befindet und das elastische System als masselos
angesehen werden darf, kann das gesamte Feder-Masse-System durch das Modell des ein-
fachen Schwingers aus dem Beispiel 3 im vorigen Abschnitt ersetzt werden, und die Eigen-
kreisfrequenz ergibt sich aus ω 2 = mc .
Beispiel 1:
Die skizzierte Biegefeder (konstante Dicke
t, linear veränderliche Breite) trägt eine Masse m. Es soll
/2
Beispiel 2:
Die Beziehung 21.13 (Seite 366), mit
der der Verdrehwinkel infolge eines Torsionsmoments
berechnet wird, liefert:
Mt l G It
ϕ= ⇒ Mt = ϕ = cT ϕ
G It l
G It
mit der Drehfeder-Konstanten cT = . (31.12)
l
Für die Berechnung der Torsionsschwingungen einer Scheibe mit dem Massenträgheitsmoment
JS (bezüglich der vertikalen Achse) kann aus dem Momenten-Gleichgewicht des d’Alembertschen
Moments mit dem Rückstellmoment der Drehfeder die Differenzialgleichung
JS ϕ̈ + cT ϕ = 0
aufgeschrieben werden, die wieder vom Typ 31.10 ist, so dass unmittelbar die Eigenkreisfre-
quenz abzulesen ist: r
cT cT
ϕ̈ + ϕ = 0 ⇒ ω= .
JS JS
ê Die im Abschnitt 10.1 behandelte Möglichkeit, mehrere lineare Federn zu einer äquivalenten
Ersatzfeder zusammenzufassen, gestattet es, auch kompliziertere elastische Systeme durch
den einfachen Feder-Masse-Schwinger zu simulieren (folgendes Beispiel).
Beispiel 3:
Eine Masse m ist wie skizziert über eine Feder (Fe-
derkonstante c) an einem elastischen Kreisbogenträger befestigt
(κ ist der nach 19.17 auf der Seite 328 definierte Querschnittspa-
rameter für den gekrümmten Träger). Es soll die Eigenkreisfre-
quenz der Vertikalschwingungen der Masse ermittelt werden (Fe-
der und Kreisbogen sind masselos). Abbildung 31.3: Reihenschal-
tung zweier Federn
Gegeben: m , c , R , EA , κ .
Im Abschnitt 19.3.3 wurde als Beispiel auf der Seite 336 der mit einer Kraft 2 F belastete Kreis-
bogenträger behandelt (Kraftangriffspunkt war der Punkt, an dem hier die Feder befestigt ist).
Die dort ermittelte Kraft-Verformungs-Beziehung wird für ϕ = 0 (und F anstelle von 2 F) als
Federgesetz formuliert:
FR 3 1 π 2 κ EA
vF = 2− π + −κ ⇒ F= vF = cB vF .
2 κ EA 4 π 2 2 − 4 π + π1 − κ π2 R
3
Mit der so definierten Federkonstanten cB wird der Kreisbogenträger durch eine Feder ersetzt,
die mit der anderen Feder (Federkonstante c) „in Reihe geschaltet“ ist und mit dieser nach 10.3
zu einer Ersatzfeder (Federkonstante cers ) zusammengefasst wird, so dass sich wieder das Modell
des einfachen Feder-Masse-Schwingers (Beispiel 3 im vorigen Abschnitt) ergibt:
r
cers 1 1 1 2 κ EA
ω= mit = + und cB = .
2 − 4 π + π1 − κ π2 R
3
m cers c cB
618 31 Schwingungen
ê Bei den bisher behandelten Beispielen wurden masselose Federn vorausgesetzt. Wenn die
Bewegungs-Differenzialgleichung mit dem Energiesatz formuliert wird, kann häufig auf re-
lativ einfache Weise die Wirkung der Federmasse wenigstens näherungsweise erfasst wer-
den, indem sie bei der kinetischen Energie berücksichtigt wird. Die dabei zu treffende Nä-
herungsannahme wird am nachfolgenden einfachen Beispiel demonstriert.
Beispiel 4:
Die Eigenkreisfrequenz der Vertikalschwin-
gung der Masse m soll bei genäherter Berücksichtigung der
Masse mB des Biegeträgers ermittelt werden.
Die Federkonstante ergibt sich aus dem Modell „Kragträger
mit Einzelkraft am freien Ende“ (Fall e im Abschnitt 17.4 auf
Seite 261): Abbildung 31.4: Masse der Biege-
F l3 3 EI feder wird näherungsweise berück-
vF = ⇒ F = 3 vF = cB vF .
3 EI l sichtigt
Die Masse m bewegt sich mit der Geschwindigkeit ẋ. Es wird angenommen, dass sich das Mas-
senteilchen des Trägers dm = mB dzl an der Stelle z mit einer Geschwindigkeit ẋ∗ bewegt, die sich
zu ẋ verhält wie die statische Durchbiegung v(z) (infolge F) zur statischen Durchbiegung vF .
Die statische Biegelinie v(z) wird ebenfalls der Zusammenstellung auf Seite 261 entnommen,
und man kann mit
∗ v(z) ẋ z z 3
ẋ = ẋ = 2−3 +
vF 2 l l
die kinetische Energie aufschreiben:
Zl 2 Zl z 3 2
1 1 2 ẋ 1 z
Tkin = m ẋ2 + x˙∗ dm = m + mB 2−3 + dz .
2 2 2 4l l l
z=0 z=0
Das Integral
Zl
z z 3 2
1 33
2−3 + dz =
4l l l 140
z=0
liefert den Faktor, mit dem aus der Masse mB des Biegeträgers der für die Schwingung zu berück-
sichtigende Anteil mB berechnet wird, und das Gesamtsystem darf wieder durch den einfachen
Feder-Masse-Schwinger ersetzt werden:
r
cB 3 EI 33
ω= mit cB = 3 und mB = mB .
m + mB l 140
ê Die mit dem Beispiel 4 demonstrierte Erfassung der Federmasse ist eine (im Allgemeinen
recht gute) Näherung. Für Federn, deren Massenteilchen in Feder-Längsrichtung schwingen
(Stab, Schraubenfeder) darf eine lineare Geschwindigkeitsverteilung angenommen werden,
die auf 13 mC als zusätzlich zu berücksichtigende Masse führt (mC ist die Federmasse).
31.2 Freie ungedämpfte Schwingungen 619
Wenn die Bewegungs-Differenzialgleichung nichtlinear ist, kann sie bis auf wenige Ausnahmen
nur numerisch gelöst werden (zahlreiche Beispiele hierzu unter www.TM-aktuell.de). Dies kann
fast immer nur die Analyse eines ganz speziellen Bewegungsvorgangs sein,
weil im Gegensatz zu den linearen Problemen auch bei freien ungedämpf-
ten Schwingungen die Bewegungsabläufe (und damit die Eigenfrequenzen)
von den Anfangsbedingungen abhängig sind. Dies soll an einem (bereits im
Abschnitt 28.3.3 behandelten) relativ einfachen Beispiel verdeutlicht werden.
Beispiel:
Die Masse m kann auf der vertikalen Führung reibungsfrei glei-
ten, so dass nach einmaliger Auslenkung eine freie ungedämpfte Schwin-
gung mit konstanter Amplitude entsteht. Die Aufgabe wurde im Abschnitt
28.3.3 für verschiedenen Anfangsauslenkungen gelöst. Die Diagramme auf
Seite 531 zeigen, dass sich in jedem Fall eine freie ungedämpfte Schwin-
gung ergibt, allerdings mit stark unterschiedlichen Formen und Zeiten, die
für eine volle Schwingung benötigt werden (Schwingungsdauer).
Hier wird die Schwingungsdauer T in Abhängigkeit von der Anfangsaus-
lenkung xa0 für die bereits im Abschnitt 28.3.3 benutzten Parameter mc ag = 1,
b g −2 berechnet (b ist die Länge der entspannten Feder).
a = 4 und a = 9, 81 s
Die nichtlineare Differenzialgleichung, die den Bewegungsvorgang beschreibt (siehe Seite 530)
muss für jede Anfangsauslenkung xa0 gesondert numerisch integriert werden. Die Rechnung kann
abgebrochen werden, wenn die Masse wieder die Ausgangslage erreicht hat. Die bis dahin ver-
gangene Zeit ist die Schwingungsdauer T für die spezielle Anfangsauslenkung.
Das Diagramm in Abbildung 31.5 zeigt
die Funktion T ( xa0 ), in dem einige mar-
kante Punkte auffallen. Mit den Verfahren,
die im Kapitel 10 behandelt wurden, kann
man nachweisen, dass für die Masse drei
statische Gleichgewichtslagen existieren (bei
x0
a = −2, 76 ; −0, 362 ; 4, 92), von denen eine
instabil ist ( xa0 = −0, 362). Bei kleinen An- 2,76 0/
4,92
fangsauslenkungen aus einer stabilen Gleich-
gewichtslage schwingt die Masse mit einer 4,49 0,362 9,22
Schwingungsdauer, die sich mit der Größe Abbildung 31.5: Schwingungsdauer in Abhängigkeit
der Auslenkung nur unwesentlich ändert. von der Anfangsauslenkung
Eine besondere Rolle spielt die instabile statische Gleichgewichtslage, um die keine Schwingung
möglich ist. Bei Anfangsauslenkungen mit xa0 ≈ −0, 362 entstehen bei nur geringen Abweichun-
gen völlig unterschiedliche Bewegungen. Gleiches gilt für die beiden Punkte bei xa0 = −4, 49 und
x0
a = 9, 22: Kleine Abweichungen von diesen Anfangsauslenkungen nach oben bzw. unten füh-
ren zu völlig anderen Bewegungsgesetzen, abhängig davon, ob sich die Masse bei xa0 ≈ −0, 362
„vorbeidrängeln“ kann oder nicht.
620 31 Schwingungen
6
Die Abbildung 31.7 zeigt eine durch 31.17 x
Gedämpfte Schwingung
beschriebene Bewegung. Analytisch lässt
4
sich leicht bestätigen, was die Kurven er-
"Obere Einhüllende"
kennen lassen: Das Weg-Zeit-Gesetz x(t) der
2
Schwingung wird von zwei Funktionen
xo = C e−D ω t und xu = −C e−D ω t 0
Beispiel:
Um eine Vorstellung vom Einfluss der Dämpfung auf die Eigenkreisfrequenz zu ge-
ben, soll angenommen werden, dass bei einem Schwingungsvorgang die Amplituden in jeder Pe-
riode auf die Hälfte des Wertes der vorhergehenden Periode zurückgehen. Dann erhält man mit
1
q = 0,5 = 2 ein logarithmisches Dekrement von Λ = 0, 693 und das Dämpfungsmaß D = 0, 110.
Nach 31.18 errechnet sich die Eigenkreisfrequenz
p
ωD = ω 1 − D2 = 0, 994 ω .
Bei q = 2 verringert sich die Amplitude recht schnell. Die Schwingung ist nach wenigen Pe-
rioden praktisch abgeklungen. Trotzdem ist der Einfluss dieser (relativ starken) Dämpfung auf
die Eigenkreisfrequenz des Schwingers außerordentlich gering, und die Aussage dieses Beispiels
darf als wichtigste Erkenntnis aus den Betrachtungen in diesem Abschnitt gelten:
Wenn nur die Eigenkreisfrequenz des freien gedämpften Schwingers interessiert, ist dafür
mit der Eigenkreisfrequenz ω des ungedämpften Schwingers im Allgemeinen eine sehr gute
Näherung gegeben. Nur bei sehr starker Dämpfung muss das Lehrsche Dämpfungsmaß (ge-
gebenenfalls experimentell) ermittelt und ωD nach (31.18) berechnet werden.
31.4 Erzwungene Schwingungen 623
m ẍ + k ẋ + c x = F0 cos Ωt . (31.20)
Diese Gleichung kann für beliebiges t nur erfüllt sein, wenn jede Klammer auf der linken Seite
einzeln verschwindet. Nullsetzen der zweiten Klammer liefert:
Ω
2Dω Ω 2D ω
tan ϕ = = . (31.24)
ω 2 − Ω2 Ω 2
1− ω
2 Das Stichwort „Erzwungene Schwingung“ unter www.TM-Mathe.de führt zu einer Seite, auf der die Lösung von 31.20
Das Nullsetzen der ersten Klammer führt nach Einsetzen von 31.24 und einigen elementar-
mathematischen Umformungen (sin- und cos-Funktionen werden durch tan ersetzt) auf:
F0 1
A= rh . (31.25)
c Ω 2
i2
Ω 2
1− ω + 4 D2 ω
Damit ist die Lösung von 31.21 komplett. Beide Lösungsanteile enthalten die cos-Funktion, so
dass man sich die Bewegung als Überlagerung zweier Schwingungen vorstellen darf. Während
der Anteil
xhom = C e−D ω t cos(ωDt − α)
nach 31.17 wegen der Exponentialfunktion
mit negativem Exponenten mit der Zeit im-
mer kleiner wird, ist die Partikulärlösung
31.23 eine cos-Funktion mit der konstanten
Amplitude 31.25. Die Abbildung 31.10 zeigt
dies für zwei typische Fälle:
Sowohl für ω > Ω (obere Kurve) als auch
für ω < Ω (untere Kurve) erkennt man das
Abklingen der Eigenschwingung infolge der
Dämpfung, und nach einer gewissen Zeit Abbildung 31.10: Eigenschwingungen klingen infol-
schwingt die Masse mit der Erregerkreisfre- ge der Dämpfung in jedem Fall ab
quenz Ω und der Amplitude A.
Nach einer bestimmten Einschwingzeit schwingt der durch die harmonisch veränderliche
Kraft F(t) = F0 cos Ωt erregte gedämpfte Schwinger nach einem Bewegungsgesetz, das nur
noch durch die Partikulärlösung der Bewegungs-Differenzialgleichung bestimmt wird. Diese
heißt deshalb stationäre Lösung
F0
xst = p c cos(Ωt − ϕ) (31.26)
(1 − η 2 )2 + 4 D2 η 2
mit dem Abstimmungsverhältnis
r
Ω c
η= mit ω= , (31.27)
ω m
das als Quotient von Erregerkreisfrequenz Ω und Eigenkreisfrequenz ω des ungedämpften
Schwingers definiert wird. Die Schwingung im stationären Zustand erfolgt mit der Erreger-
kreisfrequenz Ω. Die Phasenverschiebung ϕ in 31.26 berechnet sich aus
2Dη
tan ϕ = . (31.28)
1 − η2
D ist das Lehrsche Dämpfungsmaß nach 31.14.
ê Der Ausdruck vor der cos-Funktion in 31.26 ist die Amplitude der Schwingung. Die Am-
plitude der stationären Schwingung ist konstant. Im Zähler des Bruchs, der die Größe der
31.4 Erzwungene Schwingungen 625
Amplitude bestimmt, steht mit xstatisch = Fc0 die Auslenkung der Feder unter einer konstanten
statischen Last F0 . Für sehr kleine Erregerkreisfrequenzen wird der Nenner des Bruchs nä-
herungsweise 1, und die Schwingungsamplitude entspricht etwa der statischen Auslenkung.
ê Bei sehr kleiner Dämpfung nimmt die Vergrößerungsfunktion in der Nähe von η = 1 sehr
große Werte an (für D = 0 hat sie bei η = 1 eine Polstelle). Eine Erregung mit einer Kreis-
frequenz Ω, die der Eigenkreisfrequenz ω des ungedämpften Schwingers entspricht, führt
bei kleiner Dämpfung zu sehr großen Amplituden (Resonanz).
ê Für η > 1 streben die Vergrößerungsfunktionen gegen den Wert Null. Bei überkritischer
Erregung mit Ω > ω (Ω = ω wird als kritische Erregerkreisfrequenz bezeichnet) sind die
Amplituden deutlich geringer als im unterkritischen Bereich Ω < ω.
ê Die relativen Maxima der Vergrößerungsfunktionen liegen stets vor dem Punkt η = 1. Bei
Dämpfungen oberhalb D = √12 = 0, 7071 treten keine Maxima in der Nähe der Resonanz-
stelle mehr auf.
ê Die Phasenverschiebung ϕ, die nach 31.28 be-
rechnet werden kann, ist wie folgt zu interpretie-
ren: Maxima, Minima und Nullstellen der Erre-
gerkraft fallen mit den entsprechenden Punkten
des Bewegungsgesetzes des Schwingers 31.26
zeitlich nicht zusammen. Bei sehr kleiner Dämp-
fung ist ϕ im unterkritischen Bereich annähernd
Null, die Bewegung erfolgt phasengleich zur Er-
regung. Im überkritischen Bereich gilt wegen
des negativen Nenners von 31.28 bei kleiner
Dämpfung ϕ ≈ π, und die Bewegungsrichtung
des Schwingers ist stets der Richtung der Er-
regerkraft entgegengerichtet. Für η = 1 (Reso- Abbildung 31.12: Phasenverschiebung
nanzfall) gilt immer: ϕ = π2 .
Die Abbildung 31.12 zeigt die Phasenverschiebung in Abhängigkeit vom Abstimmungsver-
hältnis für verschiedene Dämpfungen.
626 31 Schwingungen
Unabhängig davon, ob eine Schwingung erwünscht ist (z. B.: Schwingsieb) oder nicht (z. B.:
Kraftfahrzeug), ist es meist sinnvoll, die Erregung über eine Feder oder einen Dämpfer in das
System einzuleiten. Dabei darf häufig angenommen werden, dass sich ein Punkt (der Feder oder
des Dämpfers) nach einem vorgegebenen (harmonischen) Bewegungsgesetz bewegt.
Betrachtet wird zunächst das Masse-Feder-Dämpfer-System der Abbildung 31.13, bei dem der
Feder-Fußpunkt nach dem angegebenen Weg-Zeit-Gesetz bewegt wird. Dementsprechend nimmt
die Masse über die Feder eine Kraft auf, die der Änderung der Federlänge (Differenz aus Weg
des Feder-Fußpunktes und dem Weg x, den m zurückgelegt hat) proportional ist.
Das vertikale Gleichgewicht aller Kräfte
m ẍ + k ẋ − c (x0 cos Ωt − x) = 0
liefert nach Umstellen, Division durch m und Einführen
der bekannten Abkürzungen mit
ẍ + 2 D ω ẋ + ω 2 x = x0 ω 2 cos Ωt (31.30)
0 cos
eine Differenzialgleichung der Form 31.21, so dass nach
Einführen von x0 = Fc0 alle im vorigen Abschnitt ermit- Abbildung 31.13: Schwinger mit Feder-
Fußpunkt-Erregung
telten Ergebnisse und die getroffenen Aussagen gelten.
ê Der stützenerregte Schwinger ist auch ein geeignetes Modell, um die Wirkung von Schwin-
gungsisolierungen zu analysieren. Man geht davon aus, dass eine Arbeitsmaschine (z. B.
infolge einer Unwucht, siehe folgenden Abschnitt) eine Schwingungsbewegung xS erzeugt,
die über Feder und Dämpfer auf das Fundament übertragen wird (man denke sich die Ab-
bildung 31.15 auf der Seite 627 um 180◦ gedreht, m ist dann die Fundamentmasse). Dann
kann man VS als „Durchlässigkeit der Isolierung“ interpretieren und dem√Diagramm der
Abbildung 31.17 entnehmen, dass Schwingungsisolierung erst für η > 2 √ möglich ist.
Die Arbeitsmaschine sollte möglichst mit einer Winkelgeschwindigkeit Ω > 2 ω betrie-
ben werden.
√
Bemerkenswert ist, dass im Bereich η > 2 ein kleinerer Dämpfungswert vorteilhafter ist.
Andererseits darf D nicht zu klein sein, um die Schwingungen in der Nähe von η = 1 nicht
zu groß werden zu lassen (immerhin muss auch dieser Bereich beim Hochlaufen und beim
Abbremsen der Arbeitsmaschine durchfahren werden).
31.4.3 Unwuchterregung
Der in der Praxis häufigste Fall ist die Unwuchterregung eines
Schwingers: Eine mit der Winkelgeschwindigkeit Ω umlaufende 2
Unwucht mu r erregt das System in vertikaler Richtung mit der Kom-
ponente der Fliehkraft
F(t) = mu r Ω2 cos Ωt .
Die Masse m soll die (im Allgemeinen wesentlich kleinere) Un-
wuchtmasse mit einschließen. Dann kann die Differenzialgleichung
für die harmonische Erregung 31.20 aufgeschrieben werden mit 2
2 mu r 2 mu r 2 2
F0 = mu r Ω = mΩ = cη , cos
m m
und durch entsprechende Modifizierung von 31.26 erhält man die Abbildung 31.18: Erregung
stationäre Lösung für den unwuchterregten Schwinger: durch umlaufende Unwucht
mu r 2 mu r
xst = η V (η) cos(Ωt − ϕ) = VU (η) cos(Ωt − ϕ) (31.38)
m m
mit der Vergrößerungsfunktion für die Unwuchterre-
gung
VU (η) = η 2 V (η) , (31.39)
wobei ϕ wieder nach 31.28 und V (η) nach 31.29 be-
rechnet werden können.
Für die Unwuchterregung ist der Begriff der stati-
schen Auslenkung nicht sinnvoll, weil erst durch die
mit Ω kreisende Unwucht eine Erregerkraft entsteht.
Als Bezugsgröße bei der Definition der Vergröße-
rungsfunktion wird deshalb das Verhältnis aus der
Unwucht mu r und der schwingenden Masse m ge-
wählt. Abbildung 31.19: Unwuchterregung
31.4 Erzwungene Schwingungen 629
Die Abbildung 31.19 zeigt die Vergrößerungsfunktionen VU (η) für einige ausgewählte Dämp-
fungen. Auf folgende Besonderheiten soll aufmerksam gemacht werden:
ê Im überkritischen Bereich (η > 1) nähern sich die Werte aller Vergrößerungsfunktionen VU
dem Wert 1: Für hohe Erregerfrequenzen sind die Amplituden der unwuchterregten Schwin-
gung von der Erregerfrequenz und der Dämpfung nahezu unabhängig.
ê Für Dämpfungswerte D < √12 = 0, 7071 haben die Kurven ein Maximum, das im Unter-
schied zu allen übrigen betrachteten Erregungen rechts von der Stelle η = 1 bei
1
ηmax = √ (31.40)
1 − 2 D2
liegt. Die zugehörige Erregerkreisfrequenz ist weder mit der Eigenkreisfrequenz des ge-
dämpften noch mit der des ungedämpften Schwingers identisch, ηmax liegt aber für kleine
Dämpfungswerte sehr nahe bei 1 (Erregerkreisfrequenz gleich Eigenkreisfrequenz des un-
gedämpften Schwingers).
Die wichtigste Erkenntnis aus allen Untersuchungen in den Abschnitten 31.4.1 bis 31.4.3 ist:
Bei jeder Art von Erregung führt eine Erregerkreisfrequenz, die sich nur wenig von der Eigen-
kreisfrequenz des ungedämpften Schwingers unterscheidet, zu besonders großen Amplituden
der erzwungenen Schwingung.
ê Die Exzentrizität kann beliebig klein sein. Auch bei der ideal ausgewuchteten Welle führt die
geringste (unvermeidliche) Störung bei kritischer Drehzahl zu sehr großen Verformungen.
ê Die vernachlässigten (meist ohnehin unbedeutenden) Dämpfungseinflüsse würden das Er-
gebnis im Allgemeinen nur geringfügig beeinflussen, führen aber immerhin dazu, dass die
Verformungen der Welle endlich bleiben, so dass ein kurzzeitiges Arbeiten im kritischen
Bereich (beim Hochfahren bzw. Abbremsen) zu keinen Schäden führen muss. Die vernach-
lässigte Wellenmasse kann gegebenenfalls näherungsweise bei der Berechnung der Biegeei-
genkreisfrequenz berücksichtigt werden, wie es im Beispiel 4 des Abschnitts 31.2.2 (Seite
618) demonstriert wurde.
ê Im überkritischen Bereich (η > 1) wird die Vergrößerungsfunktion VB negativ (im Gegensatz
zur ansonsten identischen Vergrößerungsfunktion VU des unwuchterregten Schwingers, bei
dem sich allerdings der gleiche Effekt durch die Phasenverschiebung ϕ = π äußert). Die
Verschiebung v und die Exzentrizität e haben entgegengesetzte Richtungen, und bei großen
Drehzahlen wird v ≈ −e, so dass die Exzentrizität ausgeglichen wird. Diesen Effekt nennt
man Selbstzentrierung. Es ist also sinnvoll, Wellen so auszulegen, dass sie im überkritischen
Bereich arbeiten, der kritische Bereich sollte möglichst schnell durchfahren werden.
ê Die Herleitung der Formel 31.41 wurde mit einer vertikal angeordneten Welle (Abbildung
31.20) durchgeführt, um den Einfluss des Gewichtskraft der Masse auf die Wellenverfor-
mung auszuschalten. Wie bei den Eigenschwingungen (vgl. Beispiel 3 im Abschnitt 31.2.1
auf Seite 615) ist das Eigengewicht in jeder Lage mit der statischen Verformung der Bie-
gefeder im Gleichgewicht und hat auf die kritische Drehzahl keinen Einfluss, so dass 31.41
auch für die horizontal liegende Welle gilt.
31.5 Aufgaben 631
ê Dass die Gewichtskraft der Masse (und damit die statische Durchbiegung der Welle) auf
die Größe der kritischen Drehzahl keinen Einfluss hat, wird auch deshalb besonders betont,
weil in vielen Büchern die kritische Drehzahl (durchaus korrekt) mit Hilfe der statischen
Durchbiegung vG infolge der Gewichtskraft mg der Masse berechnet wird. Das Federgesetz
mg = cB vG kann nach cB umgestellt und in 31.41 eingesetzt werden. Man erhält
r
1 g
nkrit = (31.42)
2 π vG
mit der Erdbeschleunigung g und der statischen Durch-
biegung vG der horizontal liegenden Welle unter der Ge-
wichtskraft der Masse. Häufig findet man auch die For-
mel nkrit = √299
vG , die (durch Einsetzen des Zahlenwer-
Abbildung 31.22: vG ist die Basis
tes für die Erdbeschleunigung) aus 31.42 hervorgeht und
einer beliebten „Praktikerformel“
nkrit in min−1 liefert, wenn man vG in cm (!) einsetzt.
Weil vor der Verwendung solcher Formeln eigentlich gar nicht oft genug gewarnt werden
kann, ist sie hier im Text auch besonders klein gedruckt.
31.5 Aufgaben
1/2 1/2
Aufgabe 31.1:
Eine Masse m ist zwischen zwei masselo-
sen Biegefedern gelagert. 1
Aufgabe 31.2:
Zwei miteinander im Eingriff stehende
Zahnräder mit den Massenträgheitsmomenten J1 bzw. J2 sind 1
1 2 2
in ihren Schwerpunktachsen gelagert und an zwei Federn ge-
fesselt. Für Drehschwingungen mit kleinen Ausschlägen ist
die Eigenkreisfrequenz ω zu ermitteln. 2
1
Gegeben: R1 = 3 r1 = 2 r2 , J2 = 41 J1 , c2 = 2 c1 . 1
Aufgabe 31.3:
Auf eine durch eine Feder gefesselte Kreisscheibe (Mas-
se m) sollen symmetrisch zum Drehpunkt zwei dünne Stäbe (jeweils Län-
ge l und Masse mS ) so aufgeklebt werden, dass sich dadurch die Eigen-
kreisfrequenz der Drehschwingungen mit kleinen Ausschlägen halbiert.
Man ermittle xS .
Gegeben: l = 4 R , mS = 12 m .
632 31 Schwingungen
Aufgabe 31.4:
Der Schwinger wird aus der statischen starr, zylindrische
masselos Walze
Ruhelage ausgelenkt und ohne Anfangsgeschwindigkeit
freigelassen. Man berechne die Zeit, nach der erstmals
eine Amplitude kleiner als 6% der Anfangsauslenkung 3 4
auftritt, und die Anzahl der vollen Schwingungen, die
reibungsfreies reines
bis zu diesem Zeitpunkt ausgeführt wurden. Gleiten Rollen
Gegeben: m = 400 kg ; c = 104 N/cm ; k = 60 Ns/cm .
Aufgabe 31.5:
Die Mo-
toren (Masse M) sind auf /2 /2
Trägern (Biegesteifigkeit
EI) gelagert. Die Träger-
massen können vernach-
lässigt werden. /2 /2 /2 /2
Aufgabe 31.6:
Ein Schwingsieb soll von
zwei gegenläufig umlaufenden Unwuchten
(Drehzahl: n = 1000 min−1 ) in Resonanz be-
trieben werden. Man ermittle
a) die Größe der Federzahl c der Stützfedern ohne Berücksichtigung der Dämpfung,
b) die Dämpfungszahl k von zusätzlich einzubauenden Dämpfungselementen, so dass die sta-
tionäre Schwingungsamplitude des Siebs durch den Wert VU = 3 der Vergrößerungsfunktion
für die Unwuchterregung bei einer Abstimmung η = 1 beschrieben wird.
Gegeben: m = 500 kg (Summe der Massen von Sieb, Siebgut und Unwuchten);
mr = 50 kg (Masse einer von zwei zylindrischen Lagerrollen).
Aufgabe 31.7:
Auf einer Welle mit der Masse mW
ist zusätzlich eine Einzelmasse m befestigt. 2 /3 /3
Für die eindeutige Beschreibung der Lage eines Systems mit f Freiheitsgraden werden f von-
einander unabhängige Koordinaten benötigt. Zur Berechnung der Bewegungsgesetze ist dement-
sprechend ein System von Differenzialgleichungen zu lösen, das z. B. nach dem Prinzip von
d’Alembert aufgeschrieben werden kann. Dabei kann man weiter genau nach den Empfehlungen
verfahren, die im Abschnitt 29.5.2 formuliert wurden. Bei n eingeführten Bewegungskoordinaten
findet man jedoch nur n − f Zwangsbedingungen, so dass in den f Bewegungs-Differenzialglei-
chungen f Koordinaten verbleiben.
Der Energiesatz, der stets nur eine Energiebilanz-Gleichung liefert, genügt allein zum Auf-
stellen der Differenzialgleichungen für ein System mit mehreren Freiheitsgraden nicht. Im
Abschnitt 33.4 wird ein Verfahren behandelt, das auch bei mehr als einem Freiheitsgrad die Dif-
ferenzialgleichungen aus Energiebetrachtungen herleitet.
Vornehmlich für lineare Systeme, deren Bewegung durch lineare Differenzialgleichungen be-
schrieben werden, können wesentliche verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse gewonnen wer-
den. Dieses Kapitel beschränkt sich auf solche Probleme, einige nichtlineare Systeme mit meh-
reren Freiheitsgraden werden im Kapitel 33 behandelt.
Am einfachen Beispiel sollen zunächst die Probleme diskutiert werden, die für die Behandlung
von Systemen mit mehreren Freiheitsgraden typisch sind.
Beispiel:
Eine lineare Schwingerkette besteht wie skizziert aus drei Federn und zwei Massen,
die sich auf der Unterlage reibungsfrei bewegen können.
Gegeben: m1 , m2 , c1 , c2 , c3 .
1 1 2 2 3
In der Skizze der in ausgelenkter Lage frei-
geschnittenen Massen wurde die Bewegungs-
koordinate x2 (willkürlich) größer als x1 an- 1 2
genommen, so dass die mittlere Feder verlän-
gert wird und Zugkräfte auf beide Massen auf- 2 2 1 3 2
1 1
bringt. Das Gleichgewicht der Federkräfte mit 2 2
den d’Alembertschen Kräften liefert das Diffe- 1 1
2 2 1
renzialgleichungssystem
m1 ẍ1 + c1 x1 − c2 (x2 − x1 ) = 0 ,
(32.1)
m2 ẍ2 + c3 x2 + c2 (x2 − x1 ) = 0 .
Wenn in das lineare homogenen Differenzialgleichungssystem der Lösungsansatz
x1 = A1 cos(ωt + ϕ) , x2 = A2 cos(ωt + ϕ) (32.2)
eingesetzt wird, heben sich die cos-Anteile heraus, und es verbleibt:
(c1 + c2 − m1 ω 2 ) A1 − c2 A2 = 0 ,
(32.3)
−c2 A1 + (c2 + c3 − m2 ω 2) A 2 =0 .
Dieses lineare homogene Gleichungssystem für die Ansatzparameter A1 und A2 kann (neben der
trivialen Lösung A1 = A2 = 0, die den Ruhezustand beschreibt und hier nicht interessiert) nur
dann nichttriviale Lösungen haben, wenn seine Koeffizientendeterminante verschwindet:
c + c − m ω2 −c2
1 2 1
=0 (32.4)
c2 + c3 − m2 ω 2
−c2
führt auf eine quadratische Gleichung für ω 2 :
m1 m2 ω 4 + [(c1 + c2 ) m2 + (c2 + c3 ) m1 ] ω 2 + (c1 + c2 )(c2 + c3 ) − c22 = 0 (32.5)
hat die beiden Lösungen:
(c1 + c2 ) m2 + (c2 + c3 ) m1
ω1,2 2 =
2 m1 m2
s (32.6)
(c1 + c2 ) m2 + (c2 + c3 ) m1 2 c22 − (c1 + c2 )(c2 + c3 )
± + .
2 m1 m2 m1 m2
Mit den beiden Werten ω1 und ω2 können also nach 32.2 zwei linear unabhängige Partikulärlö-
sungen von 32.1 aufgeschrieben werden, die wegen der Linearität der Differenzialgleichungen
summiert werden dürfen. In
x1 = A11 cos(ω1t + ϕ1 ) + A12 cos(ω2t + ϕ2 ) ,
(32.7)
x2 = A21 cos(ω1t + ϕ1 ) + A22 cos(ω2t + ϕ2 )
sind die Koeffizienten Ai j nicht unabhängig voneinander, weil sowohl A11 und A21 als auch A12
und A22 das homogene Gleichungssystem 32.3 erfüllen müssen. Aus der ersten der beiden Glei-
chungen 32.3 folgt z. B.
1
A2 j = (c1 + c2 − m1 ω 2j ) A1 j = µ j A1 j , (32.8)
c2
und man erhält schließlich als allgemeine Lösung von 32.1:
x1 = A11 cos(ω1t + ϕ1 ) + A12 cos(ω2t + ϕ2 ) ,
(32.9)
x2 = µ1 A11 cos(ω1t + ϕ1 ) + µ2 A12 cos(ω2t + ϕ2 )
mit den Integrationskonstanten A11 , A12 , ϕ1 und ϕ2 , die z. B. aus vier Anfangsbedingungen (La-
gen und Geschwindigkeiten beider Massen beim Beginn der Bewegung) bestimmt werden.
32.1 Freie ungedämpfte Schwingungen 635
ê Es lassen sich immer Anfangsbedingungen finden, für die einer der beiden Faktoren der
cos-Funktionen Null wird (z. B.: Auslenkungen, die sich um den Faktor µ1 bzw. µ2 un-
terscheiden und keine Anfangsgeschwindigkeiten). Dann schwingen beide Massen mit der
gleichen Eigenkreisfrequenz ω1 bzw. ω2 , ihre Amplituden unterscheiden sich bei diesen Ei-
genschwingungen um die Faktoren µ1 bzw. µ2 , die so genannten Modalkoeffizienten.
ê Bei beliebigen Anfangsbedingungen sind die Bewegungsgesetze der beiden Massen entspre-
chend 32.9 Überlagerungen der beiden Eigenschwingungen.
ê Mit dem Vietaschen Wurzelsatz bestätigt man, dass die Lösungen 32.6 der Gleichung 32.5
immer positiv und damit ω1 und ω2 für jede Parameterkombination reell sind.
Am vereinfachten Modell (Abbildung 32.1)
sollen die Aussagen veranschaulicht werden.
Gleichzeitig wird demonstriert, wie der Lö-
sungsweg 32.1 bis 32.7 mit Hilfe der Matri-
zenschreibweise formalisiert werden kann. Das Abbildung 32.1: Vereinfachtes Modell der Schwin-
Differenzialgleichungssystem 32.1 wird zu: gerkette mit m1 = m2 = m und c1 = c2 = c3 = c
" #" # " #" # " #
m 0 ẍ1 2 c −c x1 0
+ = ⇒ M ẍ + K x = o . (32.10)
0 m ẍ2 −c 2 c x2 0
Der Lösungsansatz entsprechend 32.2
" # " #
x1 A1
= cos(ωt + ϕ) ⇒ x = a cos(ωt + ϕ) (32.11)
x2 A2
führt analog zu 32.3 auf das allgemeine Matrizeneigenwertproblem
" # " #! " # " #
2 c −c 2 m 0 A1 0
−ω = ⇒ ( K − ω2 M ) a = o . (32.12)
−c 2 c 0 m A2 0
Für diesen einfachen Fall kann 32.12 als homogenes Gleichungssystem aufgefasst werden, aus
dem die Eigenkreisfrequenzen und die Modalkoeffizienten berechnet werden können, wie es mit
32.4 bis 32.8 demonstriert wurde. Man erhält:
r r
c c
ω1 = , ω2 = 3 , µ1 = 1 , µ2 = −1 . (32.13)
m m
ê Auch für (beliebig komplizierte) lineare ungedämpfte Schwingungssysteme entsteht ein Ma-
trizeneigenwertproblem
( K − ω2 M ) a = o (32.14)
mit der Steifigkeitsmatrix K und der Massenmatrix M. Beide Matrizen sind symmetrisch
(und die sich ergebenden Werte für ω 2 damit garantiert nicht negativ). Für die Lösung von
32.14 stehen leistungsfähige Programme bereit (z. B. unter www.TM-interaktiv.de1 ), so dass
die wesentliche Arbeit mit dem Aufstellen des Differenzialgleichungssystems 32.10 erledigt
ist, weil daraus die Matrizen K und M unmittelbar abgelesen werden können.
1 Manbeachte auch die beiden Hinweise auf die Themen Matrizenrechnung und Matrizeneigenwertprobleme in den
Boxen auf den Seiten 199 bzw. 419.
636 32 Systeme mit mehreren Freiheitsgraden
ê Programme zur Lösung von 32.14 liefern als Ergebnis einen Vektor ω, der die Eigenkreisfre-
quenzen enthält, und eine Modalmatrix A, die (spaltenweise) die zugehörigen Eigenvektoren
enthält. Wie die Modalkoeffizienten, die nach 32.8 nur die Verhältnisse der Schwingungsaus-
schläge für die einzelnen Freiheitsgrade kennzeichnen (die tatsächlichen Ausschläge hängen
von den Anfangsbedingungen ab), sind die Eigenvektoren in der Modalmatrix auch nur bis
auf beliebige Faktoren bestimmbar. Um zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen, ist es üb-
lich, die Eigenvektoren zu normieren (jeder Vektor wird durch seinen Betrag dividiert und
auf diese Weise zum Einheitsvektor). Das Ergebnis von 32.12 ergibt sich dann in der Form:
" # " #r " #
ω1 1 c 1 1 1
ω= = √ , A= √ . (32.15)
ω2 3 m 2 1 −1
Der Faktor vor der Modalmatrix sorgt ausschließlich für die Normierung der Spalten. Die erste
Spalte von A (Eigenvektor zur Eigenschwingung mit ω1 ) zeigt wie der Modalkoeffizient µ1 in
32.13, dass beide Massen mit gleicher Amplitude in die gleiche Richtung schwingen, der zweiten
Spalte entnimmt man, dass bei einer Schwingung mit der Eigenkreisfrequenz ω2 die Massen sich
stets entgegengesetzt (aber auch mit gleicher Amplitude) bewegen.
Bei den weitaus meisten Problemen der technischen Praxis sind die aus der Lösung 32.15 zu
gewinnenden Erkenntnisse ausreichend. Wenn tatsächlich der Schwingungsverlauf für vorgege-
bene Anfangsbedingungen interessiert, können die Bewegungsgesetze in sinnvoller Erweiterung
von 32.9 aufgeschrieben werden. Günstiger ist es, bei einer größeren Anzahl von Freiheitsgra-
den auch dafür die übersichtliche Form der Matrizenschreibweise zu nutzen. Schließlich kann
natürlich auch ein lineares Schwingungsproblem als Anfangswertproblem numerisch integriert
werden.
Die Abbildung 32.2 zeigt
die Bewegungen der beiden
Massen bei unterschiedli-
chen Anfangsauslenkungen
(jeweils ohne Anfangs-
geschwindigkeiten). Bei
beliebiger Anfangsauslen-
kung (links, nur eine Masse
wurde ausgelenkt) ergibt
sich eine Überlagerung aus
beiden Eigenschwingungen.
Bei Anfangsauslenkungen
proportional zum 2. Ei-
genvektor (rechts, gleiche
Anfangsauslenkungen für
beide Massen in entge-
gengesetzten Richtungen) Abbildung 32.2: Bewegungsgesetze für die Schwingerkette (Abbildung
schwingen die Massen mit 32.1) bei beliebiger Anfangsauslenkung beider Massen (links) bzw. An-
der 2. Eigenkreisfrequenz. fangsauslenkungen proportional zum 2. Eigenvektor (rechts)
32.2 Torsionsschwingungen 637
32.2 Torsionsschwingungen
das wie das System 32.1 im vorigen Abschnitt mit einem zu 32.2 analogen Ansatz
ϕ1 = A1 cos(ωt + ϕ) , ϕ2 = A2 cos(ωt + ϕ)
behandelt werden kann, und die Rechnung wie dort liefert wieder ein homogenes Gleichungs-
system, dessen Koeffizientendeterminante für nichttriviale Lösungen verschwinden muss:
cT c cT
−A1 ω 2 − (A2 − A1 ) = 0 T
− ω 2 −
J1 J1
J1
⇒ =0 .
cT − cT cT
2 2
− ω
−A2 ω + (A2 − A1 ) = 0 J2 J2
J2
Die Determinante liefert eine quadratische Gleichung, die zwei Lösungen hat:
r
cT 2 cT 2 cT cT cT cT
−ω −ω − =0 ⇒ ω1 = 0 , ω2 = + .
J1 J2 J1 J2 J1 J2
Eine Eigenkreisfrequenz ω1 = 0 ist typisch für Systeme, für die eine Starrkörperbewegung mög-
lich ist. Im vorliegenden Fall kann sich die Welle ohne elastische Verformung drehen, beide
Scheiben drehen sich dabei um gleiche Winkel. Dies ist keine Schwingung (bzw. eine „Schwin-
gung mit der Eigenkreisfrequenz Null“).
ê Für die Behandlung komplizierterer Systeme (nachfolgendes Beispiel) empfiehlt sich die
Formulierung des Differenzialgleichungssystems in Matrizenschreibweise, aus dem ein all-
gemeines Matrizeneigenwertproblem abgelesen werden kann, das mit Hilfe des Computers
gelöst werden sollte.
638 32 Systeme mit mehreren Freiheitsgraden
Beispiel:
Für das skizzierte Getriebe mit fünf (starren) Rä-
12 2
dern und drei (masselosen) Torsionsfedern (Wellenabschnitte)
soll das Matrizeneigenwertproblem für die Berechnung der Ei- 1 2
genkreisfrequenzen der Torsionsschwingungen formuliert wer- 34 45
3
den. Es darf vorausgesetzt werden, dass die beiden Zahnräder
mit den Massenträgheitsmomenten J2 und J3 und den Teilkreis- 3 4 5
radien r2 und r3 spielfrei miteinander kämmen.
Gegeben: J1 ; J2 = 2 J1 ; J3 = 1, 2 J1 ; J4 = 0, 6 J1 ; J5 = 0, 8 J1 ;
c12 ; c34 = 2 c12 ; c45 = 1, 5 c12 ;
r2 ; r3 = 0, 8 r2 .
r2 ϕ2 = −r3 ϕ3 3 3 4 4 5 5
(entgegengesetzter Drehsinn). Abbildung 32.4: Definition von Kräften, Momenten und Koordinaten
Die Kraft F23 ist die tangentiale (ein Drehmoment bewirkende) Komponente der Kraft, die beim
Freischneiden der beiden Räder 2 und 3 sichtbar wird. Beim Antragen der von den Torsionsfe-
dern erzeugten Momente wurde (willkürlich) angenommen, dass sich jeweils am rechten Rad
der größere Verdrehwinkel eingestellt hat.
Momenten-Gleichgewicht an den fünf Rädern liefert:
J1 ϕ̈1 − c12 (ϕ2 − ϕ1 ) =0 ,
J2 ϕ̈2 + c12 (ϕ2 − ϕ1 ) + F23 r2 =0 , (∗)
J3 ϕ̈3 − c34 (ϕ4 − ϕ3 ) + F23 r3 =0 , (∗)
J4 ϕ̈4 + c34 (ϕ4 − ϕ3 ) − c45 (ϕ5 − ϕ4 ) = 0 ,
J5 ϕ̈5 + c45 (ϕ5 − ϕ4 ) =0 .
Die beiden mit (*) gekennzeichneten Gleichungen werden bei gleichzeitiger Elimination von F23
zu einer Gleichung zusammengefasst, und in allen Gleichungen wird die Koordinate ϕ2 durch
ϕ2 = −ϕ3 rr32 ersetzt. Die verbleibenden vier Differenzialgleichungen
c12 rr23
J1 0 0 0 ϕ̈1 c12 0 0 ϕ 0
1
0 J r3 2 + J 0 0
2
r r
ϕ̈3 c12 r3 c12 r3 + c34 −c34 ϕ3 0
0
2 r2 3 + =
2 2
c34 + c45 −c45 ϕ4 0
0 0 J4 0 ϕ̈4 0 −c34
0 0 0 J ϕ̈5 0 0 −c c ϕ5 0
5 45 45
ê Da das System eine Starrkörperbewegung zulässt, wird ein λ -Wert (und damit ein ω-Wert)
gleich Null. Der zugehörige 1. Eigenvektor kennzeichnet die Starrkörperdrehung: Die Kom-
ponenten für die Räder 3, 4 und 5 haben gleiche Werte, der Wert für Rad 1 entspricht diesen
Werten unter Beachtung des Übersetzungsverhältnisses vom unteren zum oberen Wellen-
strang (Zwangsbedingung zwischen ϕ2 und ϕ3 ).
ê Es ergeben sich also drei Eigenkreisfrequenzen für die Torsionsschwingungen des Systems,
deren kleinste den Wert
r r
c12 c12
ωmin = λmin = 0, 985
J1 J1
hat. Der 2. Eigenvektor zeigt, dass sich die Räder 4 und 5 gegen die Drehrichtung von Rad
3 drehen. Zwischen Rad 3 und 4 liegt für diese Eigenschwingung ein Schwingungsknoten.
2 Die Symmetrieeigenschaft (für alle Elemente einer Matrix A gilt a
i j = a ji ) ist eine sehr wichtige Eigenschaft bei Matri-
zeneigenwertproblemen. Einerseits sind die Lösungsverfahren deutlich einfacher und numerisch stabiler, andererseits
garantieren symmetrische Matrizen, dass alle Eigenwerte reell sind. Die Matrizen, die bei Schwingungsproblemen,
wie sie hier behandelt werden, entstehen, sind außerdem positiv definit und haben deshalb garantiert keine negativen
Eigenwerte. Ausführliche Informationen zu diesen Problemen findet man auf der Internet-Site „Mathematik für die
Technische Mechanik“ (www.TM-Mathe.de, siehe Hinweis in den Boxen auf den Seiten 199 bzw. 419)
640 32 Systeme mit mehreren Freiheitsgraden
Dämpfung wird vernachlässigt, weil dies bei der Ermittlung der Eigenfrequenzen ohnehin fast
immer gerechtfertigt ist (vgl. das Beispiel auf Seite 622). Das Vorgehen wird am einfachen Bei-
spiel demonstriert:
Beispiel:
Ein (masseloser) Biegeträger (konstante Biegestei- 1 2
wieder ein Differenzialgleichungssystem vom Typ 32.10 dar. Man beachte, dass die erste Matrix
im Gegensatz zu allen bisher behandelten Problemen nicht symmetrisch ist, was allerdings durch
Multiplikation der zweiten Gleichung mit dem Faktor m 2
m1 leicht zu beheben ist. Das einfache
System ist (wie das Beispiel des Abschnitts 32.1) der „Handrechnung“ noch zugänglich. Man
erhält z. B. die beiden Eigenkreisfrequenzen
r r
EI EI
ω1 = 7, 397 ; ω2 = 24, 45 . (32.19)
m1 l 3 m1 l 3
Die Abbildung 32.8 zeigt die zugehörigen Eigenschwingungs-
formen, die aus den Modalkoeffizienten oder den Eigenvektoren Abbildung 32.8: Eigenschwin-
gungsformen
abzulesen sind.
ê Bei komplizierteren Problemen ist es ratsam, den Algorithmus zur Formulierung des Dif-
ferenzialgleichungssystems zu formalisieren. Dies soll an dem behandelten Beispiel nach
einer geringfügigen Modifikation des Lösungsweges noch diskutiert werden.
Alternativ zu der oben ausgeführten Rechnung werden zunächst die beiden Beziehungen 32.17
nach den Kräften umgestellt. Man erhält:
α22 −α12
F1 = 2
v1 + 2 2
v = k11 v1 + k12 v2 ,
α11 α22 − α12 α11 α22 − α12
(32.20)
−α12 α11
F2 = 2 1
v + 2 2
v = k12 v1 + k22 v2 .
α11 α22 − α12 α11 α22 − α12
Dies wird in 32.16 eingesetzt, und man erhält mit
" #" # " #" # " #
m1 0 v̈1 k11 k12 v1 0
+ = ⇒ M v̈ + K v = o (32.21)
0 m2 v̈2 k12 k22 v2 0
ein Differenzialgleichungssystem, das die gleichen Ergebnisse liefert wie 32.18. Die Vorteile
dieses Weges, der (zumindest für das behandelte Beispiel) etwas umständlicher erscheint, werden
erst bei komplizierteren Problemen deutlich:
ê Das aus 32.21 abzulesende Matrizeneigenwertproblem
( K − ω2 M ) a = o (32.22)
hat symmetrische Matrizen, und die Massenmatrix M ist eine Diagonalmatrix (beides ist
vorteilhaft für die numerische Lösung, siehe Fußnote auf Seite 639). Auf der Hauptdiagona-
len stehen die zu den Verschiebungen in v gehörenden Massen, bei Winkelkoordinaten die
Massenträgheitsmomente.
642 32 Systeme mit mehreren Freiheitsgraden
ê Die Matrix K verknüpft entsprechend 32.20 die Verschiebungen mit den Kräften:
" # " #" #
F1 k11 k12 v1
= ⇒ f =Kv . (32.23)
F2 k12 k22 v2
K ist die Steifigkeitsmatrix des elastischen Systems. Damit ist der Weg vorgezeichnet, der
zum Matrizeneigenwertproblem 32.22 für komplizierte elastische Systeme führt: Mit Hil-
fe des Finite-Elemente-Algorithmus (für Biegeträger und biegesteife ebene Rahmen siehe
Abschnitt 18.2) wird die System-Steifigkeitsmatrix K erzeugt. Zu jedem Freiheitsgrad (Ver-
schiebung, Verdrehung) wird in der Massenmatrix M eine Masse bzw. ein Massenträgheits-
moment auf der Hauptdiagonalen platziert.
ziellen Beispiel (Abbildung 32.10) untersucht werden. Die mit der Win-
kelgeschwindigkeit Ω rotierende (masselose) Welle ist mit zwei Massen
1
m1 und m2 besetzt. Es wird vereinfachend angenommen, dass beide Mas-
sen in der gleichen Ebene mit Exzentrizitäten e1 bzw. e2 montiert sind 1
(es wird sich herausstellen, dass dadurch die Allgemeingültigkeit der zu
2
gewinnenden Aussagen nicht beeinträchtigt wird).
Infolge der Exzentrizitäten treten bei der Rotation Fliehkräfte auf, die die 2
wachsen sie (beim ungedämpften System) über alle Maßen. 32.24 ist die Bedingungsgleichung
für die Berechnung der kritischen Winkelgeschwindigkeiten Ωkrit . Bei einem Vergleich mit der
Bedingungsgleichung 32.22 für die Bestimmung der Eigenkreisfrequenzen ω des durch 32.21
beschriebenen Systems zeigt sich, dass für 32.22 formal die gleiche Determinantenbedingung
für die Berechnung der ω-Werte formuliert werden könnte. Diese Erkenntnis lässt sich natürlich
verallgemeinern:
Für die Untersuchung linearer Schwingungssysteme mit mehreren Freiheitsgraden, die einer har-
monisch veränderlichen äußeren Einflussgröße (Krafterregung, Unwuchterregung, . . .) unterwor-
fen sind, lassen sich viele Erkenntnisse (auch hinsichtlich der mathematischen Behandlung) vom
Schwinger mit einem Freiheitsgrad übertragen, wobei als wesentlicher Unterschied beachtet wer-
den muss: An die Stelle einer Differenzialgleichung tritt ein Differenzialgleichungssystem, das
lineare Schwingungssystem mit n Freiheitsgraden besitzt n Eigenkreisfrequenzen.
ê Die allgemeine Lösung eines linearen Differenzialgleichungssystems setzt sich aus der Lö-
sung des zugehörigen homogenen Systems und einer Partikulärlösung zusammen. Die ho-
mogene Lösung enthält die harmonischen Funktionen mit den Argumenten ωit, wobei die
ωi die Eigenkreisfrequenzen des Systems sind (die Lösung des homogenen Differenzialglei-
chungssystems beschreibt die Eigenschwingungen des Schwingungssystems).
ê Für den gedämpften Schwinger klingen die homogenen Lösungen (Eigenschwingungen)
auch bei kleinen Dämpfungen mit der Zeit ab. Die Eigenkreisfrequenzen des gedämpften
Systems unterscheiden sich (Voraussetzung: Dämpfung ist nicht extrem groß) nur unwe-
sentlich von denen des ungedämpften Systems, so dass bei ihrer Ermittlung in der Regel auf
die Berücksichtigung der Dämpfung verzichtet werden kann.
ê Nur für die Beschreibung von Anlaufvorgängen (auch Abbremsen oder Aus-
laufen) einer Anlage wird die allgemeine Lösung des Systems der Bewe-
gungsdifferenzialgleichungen benötigt. Zur Analyse solcher Vorgänge ist
trotz analytischer Lösungsmöglichkeit eine numerische Behandlung meist be-
quemer (www.TM-aktuell.de).
Von besonderem Interesse sind die stationären Zwangsschwingungen (Dauerschwingungen), die
sich nach dem Abklingen der Eigenschwingungen einstellen. Auch die Erkenntnisse, die dafür
beim Schwinger mit einem Freiheitsgrad gewonnen wurden, können sinngemäß auf ein System
mit mehreren Freiheitsgraden übertragen werden:
ê Eine Erregung mit einer Erregerkreisfrequenz, die in der Nähe einer Eigenkreisfrequenz
liegt, führt zu großen Schwingungsausschlägen. Bei jeder Eigenkreisfrequenz (Ω = ωi ,
i = 1 , . . . , n) liegt eine Resonanzstelle. Beim ungedämpften System streben die Ampli-
tuden der stationären Schwingung bei Resonanz gegen unendlich. Dämpfungen reduzieren
die Amplituden, auch bei Resonanz bleiben die Schwingungsausschläge endlich.
Es gibt jedoch noch ein sehr wichtiges Phänomen, für das es bei den Systemen mit einem Frei-
heitsgrad kein entsprechendes Beispiel geben kann: In Abhängigkeit von den Parametern (Mas-
sen, Federn, Dämpfer, . . .) können die Amplituden der einzelnen Massen stark unterschiedlich
sein. Dies kann bei geeigneter Auslegung des schwingungsfähigen Systems mit Vorteil genutzt
werden.
Die Berechnung der Zwangsschwingungen linearer Schwingungssysteme soll hier nur am nach-
folgenden einfachen Beispiel demonstriert werden, an dem allerdings der für die technische Pra-
xis wichtigste Effekt gezeigt werden kann.
32.5 Zwangsschwingungen, Schwingungstilgung 645
Beispiel 1:
Die Masse m1 des skizzierten Zwei-Massen- 0 cos 1
Schwingers ist der harmonisch veränderlichen Erreger- 1 2
kraft F0 cos Ω1t unterworfen. Die Massen bewegen sich
reibungsfrei auf der Unterlage, Dämpfung ist zu vernach- 1 2
lässigen.
Gegeben: m1 , m2 , c1 , c2 , F0 .
Es sollen die Amplituden der stationären Schwingungen beider Massen in Abhängigkeit von der
Erregerkreisfrequenz Ω1 ermittelt werden.
Die Abbildung 32.11 zeigt die gewählten Bewe- 1 2
gungskoordinaten und die an den freigeschnittenen
Massen in horizontaler Richtung wirkenden Kräfte. 0 cos 1
1 1 2 2 1
Gleichgewicht liefert:
m1 ẍ1 + c1 x1 − c2 (x2 − x1 ) = F0 cos Ω1t , 1 1 2 2
2 2 1
m2 ẍ2 + c2 (x2 − x1 ) = 0 . Abbildung 32.11: Freigeschnittene Massen
Da nur das stationäre Schwingungsverhalten untersucht werden soll, wird für das inhomogene
Differenzialgleichungssystem nur eine Partikulärlösung gesucht. Wenn der Ansatz
x1 = B1 cos Ω1t , x2 = B2 cos Ω1t
(passend zur rechten Seite) in die Differenzialgleichungen eingesetzt wird, ergibt sich über
die Koeffizientendeterminante der Matrix A des Gleichungssystems 32.26, die genau für die
Ω1 -Werte Null wird, die den Eigenkreisfrequenzen der freien Schwingungen des Systems ent-
sprechen, weil eine Gleichung der Form 32.28 sich auch als Bestimmungsgleichung für die Ei-
genkreisfrequenzen ergibt. Man vergleiche das Beispiel im Abschnitt 32.1, für das mit c3 = 0
das hier betrachtete Schwingungssystem entsteht, Gleichung 32.5 wird zu
646 32 Systeme mit mehreren Freiheitsgraden
c1 + c2 c2 c1 c2
ω4 − + ω2 + =0 , (32.29)
m1 m2 m1 m2
und diese Gleichung, aus der ω1 und ω2 berechnet werden können, zeigt, dass die Nenner in
32.27 für Ω1 = ω1 und Ω1 = ω2 den Wert Null haben, und nach dem Vietaschen Wurzelsatz
kann 32.28 deshalb in der Form
det(A) = (Ω21 − ω12 ) (Ω21 − ω22 )
aufgeschrieben werden. Damit erhält man für die Amplituden nach 32.27:
F0 c2 2 F0 c2
m1 m2 − Ω1 m1 m2
B1 = 2 , B 2 = . (32.30)
(Ω1 − ω12 ) (Ω21 − ω22 ) (Ω21 − ω12 ) (Ω21 − ω22 )
Aus diesem Ergebnis lässt sich ein bemerkenswertes Phänomen ablesen: Während die Masse m2 ,
auf die die Erregerkraft nur mittelbar (von der Masse m1 über die zwischengeschaltete Feder)
wirkt, bei jeder Parameterkombination Schwingungen mit der Amplitude B2 ausführt, bleibt die
Masse m1 bei Ω21 = mc22 in Ruhe. Diesen Effekt nennt man
Schwingungstilgung:
2
Die stationäre Zwangsschwingung einer harmonisch 0 cos 1 2= 2 1
1
mit der Erregerkreisfrequenz Ω1 erregten Masse m1
kann durch Anbringen eines zusätzlichen Schwingers
(Tilgers) unterdrückt („getilgt“) werden, Bedingung bleibt in Ruhe
1
für die Tilgung der Schwingung von m1 ist:
Erregerkreisfrequenz = Eigenkreisfrequenz des Tilgers.
ê Man beachte, dass die Eigenkreisfrequenz ω des Tilgers so anzusetzen ist, als wäre er ein
selbstständiger Schwinger. Es gilt ω 2 = mc22 , so dass die beiden Parameter c2 und m2 für die
Auslegung des Tilgers zur Verfügung stehen. Bei Ω1 = ω wird die Schwingung der Masse
m1 getilgt, unabhängig von ihrer Größe und unabhängig von der Federzahl c1 .
ê Schwingungstilgung3 ist selbst dann möglich, wenn ein Schwinger mit
einer Frequenz Ω1 erregt wird, die seiner Eigenkreisfrequenz entspricht
(Resonanz). Dann muss ein Tilger angekoppelt werden, dessen Eigen-
kreisfrequenz ebenfalls Ω1 ist. Das entstehende System mit zwei Frei-
heitsgraden hat zwei Eigenkreisfrequenzen, die sich von Ω1 unterschei-
den, bei Erregung mit Ω1 bleibt die Masse m1 in Ruhe (Beispiel 2).
ê Das Phänomen der Schwingungstilgung wurde hier mit einer harmonischen Erregerkraft an
einem dämpfungsfreien System demonstriert. Die gewonnenen Erkenntnisse (insbesondere
die Tatsache, dass für die Schwingungstilgung die Eigenkreisfrequenz des Tilgers mit der
3 Schwingungstilgung wird in der technischen Praxis in den verschiedensten Bereichen genutzt, z. B. bei Kraftfahrzeu-
gen zur Verminderung der Karosserieschwingungen, in der Antriebstechnik, wo vornehmlich Torsionsschwingungen
getilgt werden, aber auch im Bauwesen (speziell für Brücken). Der spektakulärste Tilger ist sicher die pendelnd
aufgehängte Riesenkugel im 101-Tower in Taipeh (Höhe: 509 m), der in einem der obersten Stockwerke als Erdbe-
benschutz dient. Einige Links zu interessanten Anwendungen findet man unter www.TM-aktuell.de.
32.5 Zwangsschwingungen, Schwingungstilgung 647
Erregerkreisfrequenz übereinstimmen muss) lassen sich jedoch auf den (praktisch besonders
wichtigen) Schwinger mit Unwuchterregung übertragen.
ê Die Dämpfungsfreiheit ist praktisch natürlich nicht realisierbar. Dies hat den Vorteil, dass
die Eigenschwingung in jedem Fall abklingt und nur die stationäre Schwingung betrachtet
werden muss. Für gedämpfte Schwinger bleibt jedoch auch im stationären Zustand immer
eine Restschwingung. Wenn Schwingungen getilgt werden sollen, sollte die Dämpfung also
möglichst klein sein. Bezüglich der unvermeidlichen Restschwingungen bei vorhandener
Dämpfung beachte man die Ergebnisse der Aufgabe 32.3.
Beispiel 2:
Der skizzierte Schwinger (Masse m1 , Federzahl 0 cos 1
1
c1 ) wird mit der Erregerkreisfrequenz Ω1 erregt. Für den Fall
r
c1
Ω1 = 1
m1
(Resonanz) wachsen die Ausschläge über alle Maßen. Es soll ein Tilger (Masse mT g = 15 m1 ,
Federzahl cT g ) angebracht werden, der genau die Resonanzfrequenz tilgt. Dies wird erreicht,
wenn folgende Bedingung gilt:
r r
cT g c1 cT g c1 1
ωT g = = ⇒ = ⇒ cT g = c1 .
mT g m1 mT g m1 5
Die beiden Eigenkreisfrequenzen des Schwingungssystems aus Masse m1
und Tilger mT g werden nach 32.29 berechnet. Man erhält:
ω1 = 0, 801 ωT g , ω2 = 1, 248 ωT g .
Damit können die Amplituden nach 32.30 aufgeschrieben werden. Die Grafik in der Abbildung
32.12 (siehe auch www.TM-aktuell.de) zeigt sie in der dimensionslosen Form
c1 c2 2
B1 m1 m2 − Ω1 ωT2 g (ωT2 g − Ω21 ) 1 − η2
B1 = F = 2 = = ;
c
0 (Ω1 − ω12 ) (Ω21 − ω22 ) (Ω21 − ω12 ) (Ω21 − ω22 ) (η 2 − 0, 8012 ) (η 2 − 1, 2482 )
1
c1 c2
B2 m1 m2 ωT4 g 1
B2 = F0
= = = .
c1
(Ω21 − ω12 ) (Ω21 − ω22 ) (Ω21 − ω12 ) (Ω21 − ω22 ) (η 2 − 0, 8012 ) (η 2 − 1, 2482 )
Ω1
In diesen Formeln wurde η = ωT g gesetzt, so dass der Tilgungspunkt bei η = 1 liegt.
Im Abschnitt 17.1 wurde die Differenzialgleichung vierter Ordnung für die Biegeverformung
gerader Träger (EIv 00 )00 = q hergeleitet, die sich auf die im Kapitel 7.1 definierten Schnittgrößen
bezieht. Eine positive Linienlast q ist nach unten gerichtet.
Als einzige Belastung des schwingenden Trägers tritt die
d’Alembertsche Kraft ρA dz v̈ am differenziell kleinen Masseteilchen
auf (Abbildung 32.14), die entgegen der positiven Richtung für die
Verschiebung v angetragen werden muss. Es ist damit eine negati-
ve Linienlast (Kraft pro Länge dz) q = −ρAv̈, und man erhält die
Differenzialgleichung
Abbildung 32.14: d’Alem-
(EIv 00 )00 = −ρAv̈ . (32.31) bertsche Kraft
Dies ist eine partielle Differenzialgleichung für die Funktion v(z,t), die Striche bedeuten Ablei-
tungen nach der Koordinate z, die Punkte Ableitungen nach der Zeit t.
Mit dem so genannten Bernoullischen Produktansatz für die gesuchte Funktion
v(z,t) = Z(z) T (t) (32.32)
(die beiden Funktionen Z bzw. T sind jeweils nur von einer der beiden unabhängigen Variablen
abhängig) gelingt es, die partielle Differenzialgleichung in zwei gewöhnliche Differenzialglei-
chungen zu überführen. Einsetzen dieses Ansatzes in 32.31 liefert:
(EI Z 00 )00 T̈
(EI Z 00 )00 T = −ρA Z T̈ ⇒ =− =k . (32.33)
ρA Z T
32.6 Kontinuierliche Massebelegung, unendlich viele Freiheitsgrade 649
Es wurden alle von z abhängigen Funktionen (das können auch die Biegesteifigkeit EI und die
Massebelegung ρA sein) auf einer Seite der Gleichung und alle von t abhängigen Funktionen
auf der anderen Seite zusammengefasst. Dann können die Gesamtausdrücke auf beiden Seiten
von keiner der beiden unabhängigen Variablen abhängig sein. Sie wurden deshalb gleich einer
Konstanten k gesetzt, mit der nun zwei gewöhnliche Differenzialgleichungen formuliert werden.
Die einfachere der beiden T̈ + k T = 0 ist die bekannte Differenzialgleichung der freien unge-
dämpften Schwingung 31.10 (Seite 613), und damit ist klar, dass die Konstante k das Quadrat
der Eigenkreisfrequenz einer harmonischen Schwingung ist: k = ω 2 .
Von Interesse ist also vornehmlich dieses ω und eventuell die zugehörige Schwingungsform.
Beides kann aus der anderen gewöhnlichen Differenzialgleichung berechnet werden:
(EI Z 00 )00
= k = ω2 ⇒ (EI Z 00 )00 − ω 2 ρA Z = 0 . (32.34)
ρA Z
32.34 ist eine homogene Differenzialgleichung 4. Ordnung für die Schwingungsform Z, die unter
Beachtung der Randbedingungen (lineares Randwertproblem) gelöst werden muss.
Beispiel 1:
Für den skizzierten Träger sind die drei kleinsten
Eigenkreisfrequenzen der Biegeschwingungen und die zuge-
hörigen Schwingungsformen zu ermitteln.
Gegeben: EI = 3000 Nm2 ; ρA = 3 kg/m ; l = 1 m .
Die allgemeine Lösung für die Schwingungsform 32.36 muss folgenden Randbedingungen an-
gepasst werden:
1.) v(z = 0) = 0 ⇒ Z(z = 0) = 0 ,
2.) v0 (z = 0) = 0 ⇒ Z 0 (z = 0) = 0 ,
3.) v(z = l) = 0 ⇒ Z(z = l) = 0 ,
4.) Mb (z = l) = −EI v00 (z = l) = 0 ⇒ Z 00 (z = l) = 0 .
Es werden also auch die ersten beiden Ableitungen der Funktion Z(z) benötigt:
λ h z z z z i
Z0 = −C1 sin λ +C2 cos λ +C3 sinh λ +C4 cosh λ ,
l l l l l
(32.38)
00 λ2 h z z z z i
Z = 2 −C1 cos λ −C2 sin λ +C3 cosh λ +C4 sinh λ .
l l l l l
Die vier Randbedingungen ergeben folgende vier Gleichungen:
1.) C1 +C3 = 0 ⇒ C3 = −C1 ,
2.) C2 +C4 = 0 ⇒ C4 = −C2 ,
3.) C1 cos λ +C2 sin λ +C3 cosh λ +C4 sinh λ = 0 ,
4.) −C1 cos λ −C2 sin λ +C3 cosh λ +C4 sinh λ = 0 .
Die beiden ersten Gleichungen können genutzt werden, um die Anzahl der Unbekannten auf
zwei zu reduzieren, so dass folgendes Gleichungssystem verbleibt:
" #" # " #
cos λ − cosh λ sin λ − sinh λ C1 0
= .
− cos λ − cosh λ − sin λ − sinh λ C2 0
Dieses homogene Gleichungssystem kann nur nichttriviale Lösungen haben, wenn die Koeffizi-
entendeterminante verschwindet:
(cos λ − cosh λ ) (− sin λ − sinh λ ) − (− cos λ − cosh λ )(sin λ − sinh λ ) = 0 .
Nach einigen elementaren Umformungen erhält man die Gleichung
f (λ ) = sin λ cosh λ − cos λ sinh λ = 0 , (32.39)
die nur numerisch gelöst werden kann. Die drei kleinsten (positiven) Werte, die diese Gleichung
erfüllen, sind:
λ1 = 3, 927 ; λ2 = 7, 069 ; λ3 = 10, 21 .
Daraus errechnet man die Eigenkreisfrequenzen:
ω1 = 487, 6 s−1 ; ω2 = 1580 s−1 ; ω3 = 3297 s−1 .
32.6 Kontinuierliche Massebelegung, unendlich viele Freiheitsgrade 651
Zur Berechnung der Schwingungsformen Z(z) wird (willkürlich) die Konstante C1 = 1 gesetzt.
Dann erhält man C3 = −1 und
cos λ − cosh λ
C2 = − , C4 = −C2 ,
sin λ − sinh λ
so dass sich die zum Eigenwert λi gehörende Schwingungsform folgendermaßen darstellen lässt:
z z cos λ − cosh λ h z z i
i i
Zi (z) = cos λi − cosh λi − sin λi − sinh λi .
l l sin λi − sinh λi l l
Aber für den Träger mit konstantem Querschnitt ist die analytische Lösung die im Sinne des
Berechnungsmodells exakte Lösung auch dann noch, wenn zum Schluss die Lösung der Ei-
genwertgleichung nur numerisch gelingt, denn man kann die Eigenwerte aus dieser „exakten“
Gleichung beliebig genau bestimmen. Und genau aus diesem Grund bietet es sich an, mit der
Numerik schon etwas früher einzusteigen, an einem Punkt, an dem die Vorteile der „exakten“
Lösung erhalten bleiben, aber der aufwendige (und damit fehleranfällige) Teil der Handrech-
nung deutlich reduziert werden kann. Dieser Punkt ist bei diesem Beispiel erreicht, wenn man
das homogene Gleichungssystem für die Berechnung der Integrationskonstanten aufgestellt hat,
denn dann kann man ohne Verlust der Genauigkeit der Rechnung für das Suchen der Nullstel-
len die Bedingung „Koeffizientendeterminante gleich Null“ schon numerisch realisieren. Und
wenn man sich dazu entschließt, sollte man konsequent sein und mit der numerischen Rechnung
schon unmittelbar nach dem Aufschreiben der Gleichungen starten (ohne den Versuch, einige
„einfach“ zu eliminierende Unbekannte vorab zu entfernen). Im betrachteten Beispiel wäre dies
das Gleichungssystem mit vier Gleichungen, das sich aus den Randbedingungen ergibt:
1 0 1 0 C1 0
0 1 0 1 C 0
2 =
⇒ Ac=o .
cos λ sin λ cosh λ sinh λ C3 0
Beispiel 2:
Für den skizzierten Bie-
geschwinger ist das homogene Glei-
chungssystem zu formulieren, mit dem
1 2
die Eigenfrequenzen und die Eigen- 1
2
schwingungsformen berechnet werden /2 /2
können.
Gegeben: EI , ρA , l .
Es muss in zwei Abschnitten gearbeitet werden (die nachfolgend verwendeten Koordinaten sind
im Bild der Aufgabenstellung zu sehen). Die auf die beiden Abschnitte bezogenen Lösungen (als
„beliebige Bezugslänge“ wird l ∗ = 2l gewählt)
z z z z
1 1 1 1
Z1 = C1 cos λ ∗ +C2 sin λ ∗ +C3 cosh λ ∗ +C4 sinh λ ∗ ,
l
z l
z l
z l
z
2 2 2 2
Z2 = C5 cos λ ∗ +C6 sin λ ∗ +C7 cosh λ ∗ +C8 sinh λ ∗
l l l l
enthalten acht Integrationskonstanten und müssen folgenden Rand- und Übergangsbedingungen
angepasst werden:
1.) v1 (z1 = 0) = 0 ⇒ Z1 (z1 = 0) = 0 ,
2.) v01 (z1 = 0) = 0 ⇒ Z10 (z1 = 0) = 0 ,
3.) v1 (z1 = l ∗ ) = 0 ⇒ Z1 (z1 = l ∗ ) = 0 ,
4.) v01 (z1 = l ∗ ) = v02 (z2 = 0) ⇒ Z10 (z1 = l ∗ ) = Z20 (z2 = 0) ,
5.) Mb1 (z1 = l ∗ ) = Mb2 (z2 = 0) ⇒ Z100 (z1 = l ∗ ) = Z200 (z2 = 0) ,
6.) v2 (z2 = 0) = 0 ⇒ Z2 (z2 = 0) = 0 ,
7.) Mb2 (z2 = l∗) = 0 ⇒ Z200 (z2 = l ∗ ) = 0 ,
8.) FQ2 (z2 = l ∗ ) = 0 ⇒ Z2000 (z2 = l ∗ ) = 0 .
Zusätzlich zu den beiden ersten Ableitungen von Z (Gleichungen 32.38) wird hier für die Quer-
kraft-Randbedingung im rechten Bereich noch die dritte Ableitung benötigt:
λ3 h z z z z i
Z 000 = 3 C1 sin λ −C2 cos λ +C3 sinh λ +C4 cosh λ . (32.40)
l l l l l
32.7 Aufgaben 653
Einsetzen der allgemeinen Lösungen Z1 (z1 ) bzw. Z2 (z2 ) und deren Ableitungen in die Rand-
und Übergangsbedingungen liefert das homogene Gleichungssystem für die acht Integrations-
konstanten:
1 0 1 0 0 0 0 0 C1 0
0 1 0 1 0 0 0 0 C2 0
cos λ sin λ cosh λ sinh λ 0 0 0 0 C3 0
− sin λ cos λ sinh λ cosh λ 0 −1 0 −1 C4 0
= .
− cos λ − sin λ cosh λ sinh λ 1 0 −1 0 C5 0
0 0 0 0 1 0 1 0 C6 0
0 0 0 0 − cos λ − sin λ cosh λ sinh λ C7 0
32.7 Aufgaben
Aufgabe 32.1:
Ein masseloser Träger mit konstanter Bie-
gesteifigkeit EI ist mit zwei Massen m besetzt.
Gegeben: m , EI , l . /2
Man ermittle die beiden Eigenkreisfrequenzen für die Biege-
schwingungen des Systems.
654 32 Systeme mit mehreren Freiheitsgraden
Aufgabe 32.2:
Eine Anlage A wird von einem Motor 1
mit dem Massenträgheitsmoment J1 angetrieben. J2 , J3
und J4 sind die Massenträgheitsmomente des Verzwei-
gungsgetriebes, J5 das Massenträgheitsmoment des Lüf- 3 2 4
tersystems.
2
/2
Das Massenträgheitsmoment JA der anzutreibenden An- 3
lage ist wesentlich größer als die anderen Drehmassen, so 5
dass das Antriebssystem bezüglich seiner Drehschwin-
gungen als an der Anlage A starr eingespannt betrachtet
werden darf.
1 1
Man ermittle
a) für den Antrieb ohne Lüftersystem die Eigenkreisfre-
quenzen der Torsionsschwingungen, 3 2 3 2 4
b) für den Antrieb mit Lüftersystem das Matrizeneigen-
wertproblem, aus dem die Eigenkreisfrequenzen der
5
Torsionsschwingungen berechnet werden könnten.
r3 r4
Gegeben: GI p , l , J1 , J2 = 51 J1 , J3 = J4 = 2 J1 , J5 = 10 J1 , r2 =5, r2 =2.
Aufgabe 32.3:
Ein mit der Drehzahl n betriebener Mo-
tor ist auf einem elastisch und gedämpft abgestützten Kas- 2
tenfundament befestigt.
Die durch die Motorunwucht U = mu e verursachte Flieh-
kraft wird in horizontaler Richtung durch die Führung
des Fundaments aufgenommen. Die vertikale Komponen-
te kann zu störenden Vertikalschwingungen des Motor-
Fundament-Blockes führen, wenn die Erregerkreisfre-
quenz in der Nähe der Eigenkreisfrequenz des erregten /2 /2
Systems liegt. Deshalb soll ein Tilger im Inneren des Fun-
daments diese Bewegung tilgen.
Gegeben: mM = 50 kg ; mF = 100 kg ; c = 2, 6 · 105 N/m ; n = 400 min−1 ;
mT g = 75 kg ; mu e = 0, 1 kgcm ; k = 3, 75 · 103 kg/s .
a) Man berechne die Federzahl cT g für den Schwingungstilger (cT g soll die resultierende Feder-
zahl der parallel geschalteten Federn zwischen Fundament und Tilger sein).
b) Durch numerische Integration der Bewegungs-Differenzialgleichungen ist der Einschwing-
vorgang zu analysieren: Man ermittle die Bewegung des Motor-Fundament-Blocks ohne Til-
ger und mit dem dimensionierten Tilger die Bewegungen von Motor-Fundament-Block und
Tilger (t = 0 . . . 1, 5 s). Anfangsgeschwindigkeiten und -auslenkungen sollen gleich Null an-
genommen werden.
Weitere Aufgaben findet man im Internet unter www.TM-aktuell.de.
33 Prinzipien der Mechanik
Die Technische Mechanik kann vollständig auf wenigen Axiomen (mathematisch nicht beweis-
baren, aber empirisch gesicherten und experimentell nachprüfbaren Aussagen) aufgebaut wer-
den. Auf den Axiomen der Statik (Abschnitt 1.2) und dem 2. Newtonschen Axiom (Abschnitt
28.1) ruht das gesamte Gebäude der Klassischen Mechanik.
Als Prinzipien der Mechanik werden Aussagen bezeichnet, die die klassischen Axiome ersetzen
können. Sie haben damit selbst axiomatischen Charakter, könnten anstelle der klassischen Axio-
me die Grundlage der Mechanik sein, sie erweitern jedoch das Gebiet der Klassischen Mechanik
nicht. Natürlich dürfen die Prinzipien auch nicht im Widerspruch zu den klassischen Axiomen
stehen. Sie sind wechselseitig auseinander herleitbar. Mit diesen Querverbindungen zwischen
den klassischen Axiomen und den Prinzipien der Mechanik befasst sich die Analytische Mecha-
nik, die darüber hinaus für spezielle Problemstellungen handliche Regeln für die mathematische
Formulierung bereitstellt.
In diesem Kapitel werden die Prinzipien behandelt, die für wichtige spezielle Probleme erhebli-
che Vorteile gegenüber der Anwendung der klassischen Axiome bieten.
Die virtuelle Arbeit einer Kraft ist das skalare Produkt aus der Kraft und der virtuellen Ver-
schiebung des Kraftangriffspunktes, analog dazu wird auch die virtuelle Arbeit eines Mo-
ments definiert:
δW = ~F · δ~r , δW = M ~ · δ ~ϕ . (33.1)
Virtuelle Verschiebungen bzw. Verdrehungen sind nur möglich, wenn das System mindestens
einen Freiheitsgrad an. Bei statisch fixierten Systemen hilft das Lösen von Bindungen (und
Ersetzen durch Kräfte bzw. Momente).
Beispiel 1:
Das Loslager bei B wird durch die Kraft FB
ersetzt. Der (damit nur teilweise von äußeren Bindungen
gelöste) Träger kann sich dann um den Punkt A drehen,
eingezeichnet ist die virtuelle Verdrehung δ ϕ. Weil diese
infinitesimal klein ist, dürfen die virtuellen Verschiebungen
der Kraftangriffspunkte in der Form aδ ϕ bzw. lδ ϕ aufge-
schrieben werden, und die von den beiden Kräften geleis-
tete virtuelle Arbeit beträgt:
δW = FB l δ ϕ − F a δ ϕ = (FB l − F a)δ ϕ
(Minuszeichen, weil die virtuelle Verschiebung des Angriffspunktes von F dem Richtungssinn
der Kraft entgegengesetzt ist). In der Klammer steht exakt das Momentengleichgewicht um den
Punkt A, das nach den Regeln der Statik Null ist, so dass sich für die virtuelle Arbeit δW = 0
ergibt. Diese am speziellen Beispiel demonstrierte Aussage ist umkehrbar und verallgemeine-
rungsfähig und wird bezeichnet als
ê Das Prinzip der virtuellen Arbeit ist gleichwertig mit dem Gleichgewichtsaxiom der Statik
und könnte an dessen Stelle die Grundlage sein, auf der die Statik aufbaut.
ê Man beachte, dass in 33.2 nur die äußeren Belastungen eingehen. Zwangskräfte (im Bei-
spiel 1 die Lagerreaktionen bei A) sind keinen virtuellen Verschiebungen ausgesetzt und
leisten dementsprechend keine virtuelle Arbeit. Genau dies ist der Vorteil (speziell für kom-
pliziertere Systeme) bei der Anwendung des Prinzips der virtuellen Arbeit: Man löst nur so
viele Bindungen (im Beispiel 1 das Lager B), wie für das Aufschreiben der Gleichungen
für die gesuchten Größen erforderlich ist. Diesem Vorteil steht der Nachteil gegenüber, ge-
gebenenfalls komplizierte kinematische Überlegungen anstellen zu müssen. Diese können
häufig anschaulich unter Beachtung der Regeln für die „Kinematik starrer Körper“ (Kapitel
27) oder formal gewonnen werden, was nachfolgend beschrieben wird.
Die Lage eines starren Systems mit f Freiheitsgraden kann immer durch f voneinander unab-
hängige (generalisierte) Koordinaten q1 , . . . , q f eindeutig beschrieben werden. Häufig bietet sich
folgender Weg für das Aufschreiben der virtuellen Verschiebung δ~r eines Kraftangriffspunktes
an: Die Komponenten des Ortsvektors ~r, der die Lage des Kraftangriffspunktes in einem festen
Koordinatensystem beschreibt, werden in Abhängigkeit von den generalisierten Koordinaten for-
muliert. Weil eine virtuelle Verschiebung wie ein Differenzial behandelt werden darf, ergibt sich
δ~r dann formal nach:
33.1 Prinzip der virtuellen Arbeit 657
Beispiel 2:
Eine Walze auf der schiefen Ebene wird 1
über ein starres Seil von einem Gegengewicht im Gleich- 1
gewicht gehalten. 2
1
Gegeben: m1 , m2 , R1 , r1 , α .
Die Größe der Masse m3 soll so bestimmt werden, dass
das System im Gleichgewicht ist. 3
Das System hat einen Freiheitsgrad, so dass alle Verschiebungen durch eine Koordinate ausge-
drückt werden können. Die kinematischen Zusammenhänge sind mit Hilfe der Momentanpole
M1 und M2 (Abbildung 33.1) der Bewegungen von Walze bzw. Rolle recht einfach zu analy-
sieren (vgl. Abschnitt 27.1.3): Wenn der Masse m3 die virtuelle Verschiebung δ x3 erteilt wird,
bewegt sich auch der Mittelpunkt der Rolle m2 um diese Strecke.
Das Seil muss die doppelte Strecke zurücklegen und
bringt die virtuelle Verschiebung 2 δ x3 auf die Walze m1
auf, deren Mittelpunktverschiebung sich aus der skizzier- 1
ten Strahlensatzfigur ergibt: 2
2 3
δ x1 R1 2 R1 2
= ⇒ δ x1 = δ x3 . 1 2 3 3
2 δ x3 R1 − r1 R1 − r1 1
Während sich die Gewichtskräfte m2 g und m3 g jeweils 3
ê Das Beispiel 2 verdeutlichte, wann die Anwendung des Prinzips der virtuellen Arbeit einen
Vorteil bringt. Weil das System nicht freigeschnitten werden musste, gingen die Zwangs-
kräfte (Normalkraft und Haftkraft zwischen Walze und schiefer Ebene, Seilkraft, . . .) in die
Rechnung nicht ein. Das äußere Gleichgewicht von Systemen starrer Körper konnte auf die-
se Weise recht einfach analysiert werden. Wenn auch die Zwangskräfte interessieren, sollte
man Gleichgewichtsbetrachtungen vorziehen.
Beispiel 3:
Zwei Stäbe mit den Längen l1 und l2 , de- 1
ren Eigengewicht zu vernachlässigen ist, sind wie skiz- 2
ziert gelagert und durch die Gewichtskräfte der Massen
mB und mC belastet.
l2 h mB
Gegeben: = 2, 5 ; =1; = 0, 5 .
l1 l1 mC
Es soll der Winkel α ermittelt werden, für den das System
im Gleichgewicht ist.
Das System hat einen Freiheitsgrad, seine Lage ist durch die Angabe einer Koordinate (Winkel
α) eindeutig bestimmt. Es wird eine virtuelle Verdrehung δ α aufgebracht und zunächst unter-
sucht, welche virtuellen Verschiebungen sich dadurch für die Kraftangriffspunkte B und C ein-
stellen. Wegen der etwas komplizierteren kinematischen Zusammenhänge werden die Ortsvek-
toren~rB (α) bzw.~rC (α) zu beiden Punkten in einem (willkürlich definierten) Koordinatensystem
aufgeschrieben, δ~rB und δ~rC ergeben sich dann jeweils nach 33.3:
q " #
l1 cos α + l22 − (h + l1 sin α)2 l1 cos α
~rB = ; ~rC = ;
0 h + l1 sin α
(h + l1 sin α) l1 cos α
−l1 sin α −
" #
∂~rB
q
2 − (h + l sin α)2
−l1 sin α
δ~rB = δα = l 2 1 δα ; δ~rC = δα .
∂α l1 cos α
0
Auf diesem formalen Weg ergeben sich auch die richtigen Vorzeichen der virtuellen Verschie-
bungen, deshalb ist es konsequent, die Kräfte ebenfalls als Vektoren bezüglich der gewählten
Koordinaten aufzuschreiben. Mit
" # " #
−mB g 0
~FB = , ~FC = und δW = ~FB · δ~rB + ~FC · δ~rC
0 −mC g
liefert das Prinzip der virtuellen Arbeit:
(h + l1 sin α) l1 cos α
δW = −mB g −l1 sin α − q − mC g l1 cos α δ α = 0 .
l 2 − (h + l sin α)2
2 1
Nullsetzen der geschweiften Klammer führt nach einigen elementaren Umformungen auf
33.2 Prinzip der virtuellen Arbeit für Potenzialkräfte, Stabilität des Gleichgewichts 659
h
+ sin α
mB
tan α + s l1
−1 = 0 .
mC
l2 2
h
2
− + sin α
l1 l1
Mit den gegebenen Zahlenwerten liefert ein geeignetes Programm für diese transzendente Glei-
chung im Bereich 0◦ ≤ α ≤ 360◦ die beiden Lösungen (vgl. www.TM-aktuell.de):
α1 = 46, 35◦ ; α2 = 242, 92◦ .
ê Die im Abschnitt 10.4 bei der Beurteilung von Gleichgewichtslagen gewonnenen Erkennt-
nisse lassen vermuten, dass nicht beide errechneten Gleichgewichtslagen stabil sind. Die
Möglichkeit, auch die Stabilität von Gleichgewichtslagen mit dem Prinzip der virtuellen
Arbeit zu beurteilen, wird im folgenden Abschnitt behandelt.
Zunächst werden Systeme mit nur einem Freiheitsgrad betrachtet, deren Lage sich eindeutig in
Abhängigkeit von einer Koordinate q beschreiben lässt. Dann kann die potenzielle Energie in der
Form U(q) aufgeschrieben werden, und weil die virtuellen Größen wie Differenziale behandelt
werden dürfen, folgt aus 33.6 unter Beachtung, dass diese Bedingung für eine beliebige virtuelle
Verschiebung δ q erfüllt sein muss:
dU dU
δU = δq = 0 ⇒ =0 . (33.7)
dq dq
Weil das Vorzeichen der 2. Ableitung einer Funktion die Information liefert, ob ein Extremwert
ein Minimum oder Maximum ist, steht ein Kriterium zur Verfügung für die Beurteilung von
d2 U
instabil für <0 . (33.9)
d q2
ê Wenn auch die zweite Ableitung von U(q) verschwindet, müssen gegebenenfalls noch die
höheren Ableitungen untersucht werden. Ist die erste nicht verschwindende Ableitung un-
gerade (z. B.: U 000 6= 0), dann hat U(q) an dieser Stelle einen Sattelpunkt. Dieser Gleichge-
wichtszustand heißt indifferent.
Ist die erste nicht verschwindende Ableitung gerade, dann liegt ein relatives Extremum vor,
das nach dem Vorzeichen dieser Ableitung in entsprechender Modifikation der Bedingungen
33.8 und 33.9 beurteilt werden kann.
ê Für ein System mit mehreren Freiheitsgraden gilt U = U(q1 , q2 , . . . , q f ). Die Aussagen
der Bedingungen 33.7 bis 33.9 dürfen sinngemäß durch die entsprechenden mathematischen
Aussagen für die Berechnung und Beurteilung von Extremwerten für Funktionen mit meh-
reren unabhängigen Variablen ersetzt werden, z. B.: Das System kann nur im Gleichgewicht
sein, wenn alle partiellen Ableitungen von U nach den generalisierten Koordinaten qi ver-
schwinden.
33.2 Prinzip der virtuellen Arbeit für Potenzialkräfte, Stabilität des Gleichgewichts 661
Beispiel 1:
Für das Beispiel 3 aus dem vorigen 1
Abschnitt (Seite 658) soll die Stabilität der beiden
Gleichgewichtslagen untersucht werden. 2
Aus rein geometrischen Überlegungen (es müssen nur einige rechtwinklige Dreiecke betrachtet
werden) liest man aus Abbildung 33.4 ab:
vC = l1 sin α ,
q q
2 2 2
vB = l1 + l2 − h − l1 cos α + l2 − (h + l1 sin α)2 .
U(α) = mC g vC − mB g vB
s s
2 2 2 2
mB l2 h l2 h
= mC g l1 sin α − 1+ − − cos α + − + sin α .
mC l1 l1 l1 l1
Ableiten nach α und Nullsetzen dieses Ausdrucks (es genügt der Inhalt der geschweiften Klam-
mer) entsprechend 33.7 führt auf die gleiche Beziehung (Seite 659), aus der bereits im Beispiel
3 des vorigen Abschnitts die Gleichgewichtslagen berechnet wurden. Bilden der zweiten Ablei-
tungen und Einsetzen der Winkel, für die Gleichgewicht möglich ist, ergibt nach 33.8 bzw. 33.9
die Aussagen zur Stabilität.
Da das Bilden der Ableitungen et-
was lästig ist (und die Gleichung 0.5 U
für die Gleichgewichtslagen oh- 242,92° α
0
nehin nur numerisch lösbar ist), 46,35°
liegt es nahe, U(α) direkt nume- −0.5
U = mCUgl1 und ihre relativen Ex- 0 50 100 150 200 250 300 350
trema für die auch im vorigen Ab- Abbildung 33.5: Die Lagen der Extremwerte der Funktion U(α)
schnitt verwendeten Parameter. werden numerisch bestimmt
Es ergeben sich exakt die gleichen Werte α1 und α2 , die sich auch im Beispiel 3 des vorigen
Abschnitts als Gleichgewichtslagen ergaben, hier allerdings mit den wichtigen Zusatzinforma-
tionen: Das relative Maximum bei α1 = 46, 35◦ weist diese Gleichgewichtslage als instabil aus,
während das relative Minimum bei α2 = 242, 92◦ auf eine stabile Gleichgewichtslage hinweist.
662 33 Prinzipien der Mechanik
Beispiel 2:
Für den drehbar gelagerten Stab mit der Masse
m, der in eine nicht vorgespannte Feder der Länge l0 einge-
0
hängt wird, wurden bereits im Abschnitt 10.3 die vier mög-
lichen Gleichgewichtslagen berechnet. Mit einem kleinen
Trick konnte im Beispiel 2 des Abschnitts 10.4 anschaulich
gezeigt werden, dass nur zwei Gleichgewichtslagen stabil
sind. Die Ergebnisse (Gleichgewichtslagen und ihre Stabili-
tät) sollen hier noch einmal durch eine Analyse der potenzi-
ellen Energie bestätigt werden.
Das Null-Potenzial wird so gelegt, dass der horizontal lie- Null-Potenzial
gende Stab keine potenzielle Energie hat (in dieser Lage ist
auch in der Feder keine Energie gespeichert). In der durch
den Winkel β gekennzeichneten Lage gilt dann für die po-
tenzielle Energie
q 2
l 1 2 2
U = −m g sin β + c (l sin β + l0 ) + (l − l cos β ) − l0 ,
2 2
wobei in der eckigen Klammer die Differenz aus der Federlänge und der Län-
ge der ungedehnten Feder steht. Der Ausdruck wird umgeformt:
s 2
2
l cl l0 2
l0 l
U(β ) = m g − sin β + sin β + + (1 − cos β ) − = m g U(β ) .
2 mg l l 2
2
Auch wenn man das bei Aufga-
U
ben dieser Art etwas lästige Bilden 1.5
der Ableitungen einem symbolisch
1
rechnenden Programm übertragen
kann (siehe www.TM-aktuell.de), 0.5
muss die nachfolgende Nullstel- 28,4°
0
lensuche doch numerisch erfolgen, 173,7° 270° 304,9° β
so dass man die relativen Extrem- −0.5
0 50 100 150 200 250 300 350
werte von U(β ) auch direkt nume-
Abbildung 33.6: Die Lagen der Extremwerte der Funktion U(β )
risch suchen kann.
werden numerisch bestimmt
Die kleinen Bildchen unterhalb der Funktion U zeigen die 4 Gleichgewichtslagen, von denen nur
die beiden Lagen β01 = 28, 4◦ und β03 = 270◦ (relative Minima der Funktion U) stabil sind.
33.2 Prinzip der virtuellen Arbeit für Potenzialkräfte, Stabilität des Gleichgewichts 663
Alle bisherigen Beispiele in diesem Kapitel haben Systeme mit einem Freiheitsgrad behandelt.
Um zu zeigen, dass das Prinzip der virtuellen Arbeit auch auf Systeme mit mehreren Freiheits-
graden angewendet werden kann, wird nachfolgend ein (akademisches) Beispiel mit 2 Freiheits-
graden konstruiert, das gerade noch einfach genug ist, um die dabei auftretenden Probleme mit
erträglichem Aufwand zu verdeutlichen.
Beispiel 3:
Es sollen die Gleichgewichtslagen ermittelt wer-
den, die die beiden skizzierten Stäbe (Massen m1 und m2 , Län-
1 1
gen l1 und l2 ) einnehmen können. Dabei soll auch die Stabilität
der einzelnen Gleichgewichtslagen untersucht werden. 2 2
Der rechte Stab ist in einem Gleitstein G gelagert, der sich in ei- 3
ner vertikalen Führung reibungsfrei bewegen kann und mit einer
Masse m3 belastet ist. Die Führung selbst kann sich horizontal
bewegen und ist durch die Masse m4 belastet.
4
Gegeben: m1 , m2 , m3 , m4 , l1 , l2 .
Betrachtet wird der in Abbildung 33.7 skizzierte Stab-
Null-Potenzial
zweischlag, auf den im Punkt G die beiden Gewichts-
kräfte der Massen m3 und m4 wirken. Als Null-Potenzial
1
wird (willkürlich) die horizontal gestreckte Lage der bei-
2
1 2
den Stäbe (und die dazu gehörenden Lagen der Massen
m3 und m4 ) festgelegt. Die allgemeine Lage soll durch die
1
aus denen die Winkel berechnet werden können, für die Gleichgewicht möglich ist:
m2
−m4 + m3
tan ϕ1 = m1 , tan ϕ2 = 2 . (33.10)
m3 + 2 + m2 m4
Das Verschwinden der ersten Ableitungen nach ϕ1 bzw. ϕ2 ist notwendig für die Existenz von
relativen Extremwerten der Funktion U. In der Mathematik wird gezeigt, dass ein Extremum für
die Funktion mit zwei unabhängigen Variablen tatsächlich vorliegt, wenn
664 33 Prinzipien der Mechanik
2
∂ 2U ∂ 2U ∂ 2U
· − >0 (33.11)
∂ ϕ12 ∂ ϕ22 ∂ ϕ1 ∂ ϕ2
für die aus den notwendigen Bedingungen errechneten Werte gilt. Es ist ein
∂ 2U ∂ 2U
Minimum für > 0 und ein Maximum für <0 . (33.12)
∂ ϕ12 ∂ ϕ12
Für das aktuelle Beispiel errechnet man:
∂ 2U
= 21 m1 g + m2 g + m3 g l1 cos ϕ1 − m4 g l1 sin ϕ1 ,
∂ ϕ12
∂ 2U 1
∂ 2U
= − 2 m 2 g + m3 g l 2 sin ϕ 2 − m4 g l 2 cos ϕ 2 , =0 .
∂ ϕ22 ∂ ϕ1 ∂ ϕ2
Da die gemischte zweite Ableitung verschwindet, entscheiden hier ausschließlich die Vorzeichen
der zweiten Ableitungen nach ϕ1 bzw. ϕ2 über die Stabilität der Gleichgewichtslagen.
Die numerische Auswertung soll für die folgenden speziellen Werte erfolgen:
m2 = m1 , m4 = 2 m1 , m3 = 0 .
Dies entspricht der vereinfachten Fragestellung: In welcher La-
ge kann ein Stabzweischlag ausschließlich durch eine am frei- 1
en Ende horizontal (nach links) gerichtete Kraft im Gleich-
gewicht gehalten werden (Abbildung 33.8)? Bemerkenswert
ist, dass über die Längen der Stäbe keine Angaben erforderlich
sind, weil sie in die Ergebnisse nicht eingehen. 2
Abbildung 33.8: Kann eine hori-
Aus 33.10 berechnet man mit den speziellen Werten: zontale Kraft bei G dem Stabzwei-
4 1 schlag das Gleichgewicht halten?
tan ϕ1 = − , tan ϕ2 = .
3 4
Es ergeben sich jeweils 2 Winkel, so dass man insgesamt vier Lösungen erhält, für die in der
folgenden Tabelle die zweiten Ableitungen der Funktion U ausgewertet werden:
∂ 2U ∂ 2U
ϕ1 ϕ2
∂ ϕ12 ∂ ϕ22
a) −53, 1◦ −166◦ >0 >0 33.11 erfüllt, nach 33.12 Ù Minimum
b) −53, 1◦ 14, 0◦ >0 <0 33.11 nicht erfüllt Ù Sattelpunkt
c) 126, 9◦ −166◦ <0 >0 33.11 nicht erfüllt Ù Sattelpunkt
d) 126, 9◦ 14, 0◦ <0 <0 33.11 erfüllt, nach 33.12 Ù Maximum
Mit dem in den Abschnitten 28.2.2 und 29.5.2 behandelten Prinzip von d’Alembert ist es mög-
lich, durch Einführen von Kräften und Momenten, die die Trägheit der bewegten Massen berück-
sichtigen, die Bewegungsgleichungen für kinetische Probleme durch Aufschreiben von Gleich-
gewichtsbedingungen (wie in der Statik) zu gewinnen. Es erweist sich als besonders effektiv,
wenn auch die Zwangskräfte (Kräfte an Führungen) zu ermitteln sind.
Wenn allerdings nur die Bewegungsgesetze gesucht sind, kann das Einbeziehen und anschließen-
de Eliminieren der Zwangskräfte ausgesprochen lästig sein. Für diesen Fall bietet sich eine Kom-
bination des Prinzips von d’Alembert mit dem Prinzip der virtuellen Arbeiten an. Betrachtet wird
zunächst ein Massenpunkt m, auf den eingeprägte Kräfte, Zwangskräfte und die d’Alembertsche
Kraft m~a (keine Bewegungswiderstände wie Gleitreibung usw.) wirken. Beim Aufbringen ei-
ner virtuellen Verschiebung δ~r, die mit den Zwangsführungen verträglich sein muss, leisten die
(senkrecht zu den Führungen gerichteten) Zwangskräfte ~FZ keine virtuelle Arbeit:
~FZ δ~r = 0 . (33.13)
Das Prinzip von d’Alembert 28.7 geht nach Multiplikation mit der virtuellen Verschiebung δ~r
und bei Beachtung von 33.13 in die auf J OSEPH L OUIS C OMTE DE L AGRANGE (1736 - 1813)
zurückgehende Fassung über:
ê Die Zwangskräfte erscheinen in dieser Fassung des d’Alembertschen Prinzips nicht. Die
Gleichung 33.14 führt unmittelbar zu einer Bewegungs-Differenzialgleichung.
ê Für ein System von Massenpunkten mit starren Bindungen untereinander modifiziert sich
33.14 zu
δW = ∑(~Fi, e − mi ~ai )δ~ri = 0 , (33.15)
i
weil auch die Kräfte in den starren Verbindungen keinen Beitrag zur virtuellen Arbeit leis-
ten, da sie paarweise mit entgegengesetzten Richtungen auftreten und den gleichen virtuellen
Verschiebungen ausgesetzt sind. Man beachte, dass diese Aussage bei nicht-starren Verbin-
dungen (z. B. Federn) nicht gilt, weil die Endpunkte der Verbindungsglieder unterschiedliche
virtuelle Verschiebungen erfahren.
ê Die Aussagen 33.14 und 33.15 können sinngemäß auf starre Körper erweitert werden. Zu
den d’Alembertschen Kräften kommen die d’Alembertschen Momente hinzu, auch einge-
prägte Momente sind zulässig, und die virtuelle Arbeit dieser Momente errechnet sich durch
Multiplikation mit virtuellen Verdrehungen, so dass man 33.14 bzw. 33.15 analog zu Glei-
chung 33.2 erweitern darf.
666 33 Prinzipien der Mechanik
Beispiel 1:
Ein Hubwerk wird durch das konstante Moment M0 angetrieben. Es soll die Be-
schleunigung ermittelt werden, mit der die Masse m angehoben wird.
Gegeben: M0 , JS1 , JS2 , r1 , r2 , R2 , m . 2 2
ê Die Vorzeichenregel beim Aufschreiben der virtuellen Arbeit ist einfach: Eingeprägte Kräf-
te und Momente (im Beispiel mg und M0 ) liefern positive Anteile, wenn sie in Richtung
der virtuellen Verschiebungen bzw. virtuellen Verdrehungen wirken. Die d’Alembertschen
Kräfte und Momente gehen immer mit negativem Vorzeichen ein.
ê Der Versuch, das Beispiel 1 durch Freischneiden der drei Massen, Antragen aller Kräfte und
Momente und Aufschreiben der Gleichgewichtsbedingungen zu lösen (vgl. die Empfehlun-
gen für das Lösen von Problemen nach dem Prinzip von d’Alembert im Abschnitt 29.5.2),
würde auf Schwierigkeiten stoßen. Die Kräfte im Übertragungsglied von der unteren zur
oberen Scheibe (Seil, Flachriemen, Zahnriemen, Kette, . . .) lassen sich allein aus den Gleich-
gewichtsbedingungen nicht berechnen. Es sind (vielfach nur experimentell zu ermittelnde)
Zusatzannahmen über das Kraftverhältnis in den beiden Trums zu treffen, gegebenenfalls
ist eine Vorspannung zu berücksichtigen. Wie der Energiesatz (vgl. Abschnitt 29.5.3) ge-
stattet das Prinzip von d’Alembert in der Lagrangeschen Fassung das Aufschreiben von
Bewegungs-Differenzialgleichungen auch ohne Kenntnis der inneren Kräfte. Im Gegensatz
zum Energiesatz beschränkt sich die Anwendbarkeit des Prinzips von d’Alembert jedoch
nicht auf Probleme mit einem Freiheitsgrad.
ê Bei Systemen mit f Freiheitsgraden können die Ortsvektoren~ri bzw. die virtuellen Verschie-
bungen δ~ri (gegebenenfalls auch virtuelle Verdrehungen) in Abhängigkeit von f generali-
sierten Koordinaten q1 , q2 , . . . , q f aufgeschrieben werden, und 33.15 kann in die Form
33.3 Prinzip von d’Alembert in der Fassung von Lagrange 667
δW = (. . .) δ q1 + (. . .) δ q2 + . . . + (. . .) δ q f = 0 (33.16)
gebracht werden. Da die δ qi beliebige (voneinander unabhängige) Werte annehmen können,
ist Gleichung 33.16 nur erfüllbar, wenn jede Klammer für sich Null wird. Man erhält f
Bewegungs-Differenzialgleichungen für die f Freiheitsgrade (nachfolgendes Beispiel).
Beispiel 2:
Für eine Laufkatze mit angehängter Last darf als einfaches Berechnungsmodell
das skizzierte System mit zwei Massenpunkten mK und mL und einem masselosen dehnstarren
Seil der Länge l verwendet werden. Es sollen die Bewegungs-Differenzialgleichungen für dieses
System mit zwei Freiheitsgraden formuliert werden.
Als generalisierte Koordinaten werden xK (horizontale Bewegung der
Laufkatze) und ϕ (Pendelwinkel der Last) verwendet. Bei Systemen mit
mehreren Freiheitsgraden empfiehlt sich das Aufschreiben der Ortsvek-
toren bezüglich eines festen Koordinatensystems (in Abhängigkeit von
den generalisierten Koordinaten), um dann formal zu Beschleunigun-
gen und virtuellen Verschiebungen zu kommen:
" # " # " #
xK 1 d 2~rK ẍK
~rK = ⇒ δ~rK = δ xK , ~aK = 2
= ,
0 0 dt 0
" # " # " #
xK + l sin ϕ 1 l cos ϕ
~rL = ⇒ δ~rL = δ xK + δϕ ,
l cos ϕ 0 −l sin ϕ
" #
d 2~rL ẍK − l ϕ̇ 2 sin ϕ + l ϕ̈ cos ϕ
~aL = 2 = .
dt −l ϕ̇ 2 cos ϕ − l ϕ̈ sin ϕ
Mit diesen Vektoren liefert 33.15 nach Einsetzen und Sortieren:
" # " #
0 0
(~FK, e − mK ~aK ) δ~rK + (~FL, e − mL ~aL ) δ~rL = 0 mit ~FK, e = , ~FL, e =
mK g
mL g
−(mK + mL ) ẍK − mL l ϕ̈ cos ϕ + mL l ϕ̇ 2 sin ϕ δ xK
⇒
+ −mL l ẍK cos ϕ − mL l 2 ϕ̈ − mL g l sin ϕ δ ϕ = 0 .
Für beliebige δ xK und δ ϕ kann diese Gleichung nur erfüllt sein, wenn beide eckigen Klammern
einzeln verschwinden:
ẍK (mK + mL ) + ϕ̈ mL l cos ϕ = mL l ϕ̇ 2 sin ϕ ,
ẍK cos ϕ + ϕ̈ l = −g sin ϕ .
Dieses hochgradig nichtlineare Differenzialgleichungssystem ist sogar in den Beschleunigungs-
gliedern gekoppelt und für beliebige Anfangsbedingungen nur numerisch lösbar. Im Abschnitt
33.4.3 wird es (mit zusätzlichen Kräften) noch einmal aufgegriffen und im Kapitel 35 gelöst.
ê Das Prinzip von d’Alembert in der Lagrangeschen Fassung ist bei Systemen starrer Körper,
die untereinander durch starre Verbindungsglieder gekoppelt sind, besonders effektiv.
Für die Berücksichtigung elastischer Verbindungsglieder (Federn) wird auf das im folgenden
Abschnitt vorgestellte Verfahren verwiesen.
668 33 Prinzipien der Mechanik
Betrachtet wird zunächst ein System mit n Massenpunkten mi , deren Lagen in einem kartesischen
Koordinatensystem durch die Ortsvektoren~ri beschrieben werden. Die Punkte sind untereinander
durch starre oder nicht-starre Bindungen gekoppelt. Das Massenpunktsystem möge f Freiheits-
grade haben, so dass seine Lage eindeutig durch f (voneinander unabhängige) generalisierte
Koordinaten q j beschrieben werden kann. Unter der Voraussetzung, dass die nicht-starren Bin-
dungen aufgetrennt werden, so dass die in ihnen wirkenden Kräfte als äußere Kräfte behandelt
werden dürfen, gilt das Prinzip von d’Alembert 33.15:
n n n
δW = ∑ (~Fi, e − mi ~ai )δ~ri = ∑ ~Fi, e δ~ri − ∑ mi ~ai δ~ri = δWe − δWm = 0 . (33.17)
i=1 i=1 i=1
Die Ortsvektoren~ri können in Abhängigkeit von den generalisierten Koordinaten in der Form
~ri =~ri (q1 , . . . , q j , . . . , q f ) (33.18)
aufgeschrieben werden, und für die virtuellen Verschiebungen gilt entsprechend 33.3:
∂~ri ∂~ri ∂~ri
δ~ri = δ q1 + . . . + δqj +...+ δqf . (33.19)
∂ q1 ∂qj ∂qf
Der erste Term in 33.17, die virtuelle Arbeit der eingeprägten Kräfte, lässt sich mit 33.19 folgen-
dermaßen umformen:
n n
~ ~ ∂~ri ∂~ri ∂~ri
δWe = ∑ Fi, e δ~ri = ∑ Fi, e δ q1 + . . . + δqj +...+ δqf
i=1 i=1 ∂ q1 ∂qj ∂qf
n n n
∂~ri ∂~ri ∂~ri
= ∑ ~Fi, e δ q1 + . . . + ∑ ~Fi, e δ q j + . . . + ∑ ~Fi, e δqf
i=1 ∂ q1 i=1 ∂ q j i=1 ∂ qf
f
= Q1 δ q1 + . . . + Qj δqj +...+ Qf δqf = ∑ Qj δqj
j=1
mit n
∂~ri
Q j = ∑ ~Fi, e . (33.20)
i=1 ∂ qj
Die virtuelle Arbeit δWe kann also aus dem Produkt der eingeprägten Kräfte mit den virtuellen
Verschiebungen der Kraftangriffspunkte δ~ri oder dem Produkt aus den nach 33.20 zu berech-
nenden Q j und den virtuellen Verschiebungen δ q j berechnet werden. Man nennt deshalb die Q j
generalisierte Kräfte.
Wenn die eingeprägten Kräfte ausschließlich Potenzialkräfte sind, kann die virtuelle Arbeit δWe
entsprechend 33.5 durch −δU ersetzt werden:
∂U ∂U ∂U
δWe = −δU = − δ q1 − . . . − δqj −...− δqf , (33.21)
∂ q1 ∂qj ∂qf
33.4 Lagrangesche Bewegungsgleichungen 669
und der Vergleich mit der Herleitung von 33.20 zeigt, dass die generalisierten Kräfte sich in
diesem Fall recht einfach aus der potenziellen Energie berechnen lassen:
∂U
Qj = − . (33.22)
∂qj
Wenn nur ein Teil der eingeprägten Kräfte Potenzialkräfte sind, sollten diese durch 33.22 erfasst
und nur für die Nicht-Potenzialkräfte sollte 33.20 benutzt werden. Dabei ist es möglich, dass eine
generalisierte Kraft aus beiden Quellen Anteile bezieht.
Der zweite Term in 33.17, die virtuelle Arbeit der Massenkräfte, lässt sich mit 33.19 folgender-
maßen umformen:
n n
∂~ri ∂~ri ∂~ri
δWm = ∑ mi ~ai δ~ri = ∑ mi ~ai δ q1 + . . . + δqj +...+ δqf
i=1 i=1 ∂ q1 ∂qj ∂qf
n f
!
f n (33.23)
∂~ri ∂~ri
= ∑ mi ~ai ∑ δ q j = ∑ ∑ mi ~ai δqj .
i=1 j=1 ∂ q j j=1 i=1 ∂qj
Es soll nun gezeigt werden, wie δWm mit der kinetischen Energie des Massenpunktsystems
n
1 n 1 n
1 1 1
T=∑ mi vx + mi vy + mi vz = ∑ mi v2x + v2y + v2z = ∑ mi ~vi2
2 2 2
(33.24)
i=1 2 2 2 2 i=1 2 i=1
zusammenhängt. Für die Geschwindigkeitsvektoren der Massenpunkte gilt mit 33.18:
d~ri ∂~ri ∂~ri ∂~ri
~vi = = q̇1 + . . . + q̇ j + . . . + q̇ f . (33.25)
dt ∂ q1 ∂qj ∂qf
Die Ableitungen der generalisierten Koordinaten nach der Zeit q̇ j sind die generalisierten Ge-
schwindigkeiten. Nachfolgend wird die partielle Ableitung von ~vi nach q̇ j benötigt. Es gilt
∂~vi ∂~ri
= , (33.26)
∂ q̇ j ∂qj
weil die Ortsvektoren~ri nicht von den generalisierten Geschwindigkeiten abhängig sind.
Mit den partiellen Ableitungen der kinetischen Energie 33.24 nach q j bzw. q̇ j
n n n
∂T ∂~vi ∂T ∂~vi ∂~ri
= ∑ mi ~vi , = ∑ mi ~vi = ∑ mi ~vi
∂ q j i=1 ∂qj ∂ q̇ j i=1 ∂ q̇ j i=1 ∂qj
und der nochmaligen Differenziation des zweiten Ausdrucks nach der Zeit
n n n n
d ∂T d~vi ∂~ri d ∂~ri ∂~ri ∂~vi
= ∑ mi + ∑ mi ~vi = ∑ mi ~ai + ∑ mi ~vi
dt ∂ q̇ j i=1 dt ∂ q j i=1 dt ∂ q j i=1 ∂ q j i=1 ∂ qj
ist folgender Zusammenhang zu erkennen:
n
d ∂T ∂T ∂~ri
− = ∑ mi ~ai . (33.27)
dt ∂ q̇ j ∂ q j i=1 ∂qj
Der Ausdruck auf der rechten Seite entspricht exakt der inneren Summe in 33.23, kann dort
eingesetzt werden, und der Zusammenhang von δWm und kinetischer Energie ist gefunden.
670 33 Prinzipien der Mechanik
In 33.17 können die virtuelle Arbeit der eingeprägten Kräfte nach 33.20 durch
f n
∂~ri
δWe = ∑ Qj δqj mit Q j = ∑ ~Fi, e
j=1 i=1 ∂ qj
und die virtuelle Arbeit der Massenkräfte nach 33.23 in Verbindung mit 33.27 durch
f n f
∂~ri d ∂T ∂T
δWm = ∑ ∑ mi ~ai δqj = ∑ − δqj
j=1 i=1 ∂qj j=1 dt ∂ q̇ j ∂qj
ersetzt werden. Man erhält:
f
d ∂T ∂T
δW = δWe − δWm = − −
∑ j dt ∂ q̇ j ∂ q j δ q j = 0 .
Q (33.28)
j=1
ê Man beachte, dass bei der Herleitung der Lagrangeschen Gleichungen 2. Art konsequent
die Verwendung generalisierter Koordinaten vorausgesetzt wurde (diese dürfen nicht über
Zwangsbedingungen voneinander abhängig sein). Die Lagrangesche Funktion L(q j , q̇ j ) darf
also z. B. beim Einsetzen in 33.30 nur noch diese Koordinaten enthalten.
ê Die Lagrangeschen Gleichungen 2. Art 33.29 und 33.30 wurden hier für Massenpunktsys-
teme hergeleitet, gelten aber auch für Systeme starrer Körper. Dann sind unter den genera-
lisierten Koordinaten im Allgemeinen auch Winkel, so dass 33.20 und 33.22 generalisierte
Momente liefern. In die kinetische Energie fließen auch die rotatorischen Anteile ein.
ê Vereinfachend wurde bei der Herleitung angenommen, dass die Ortsvektoren ~ri entspre-
chend 33.18 nicht auch explizit von der Zeit t abhängig sind (natürlich sind sie von t ab-
hängig über die zeitabhängigen generalisierten Koordinaten). Berücksichtigung auch einer
expliziten Zeitabhängigkeit führt allerdings ebenfalls auf die Gleichungen 33.29 und 33.30,
so dass diese Beziehungen auch für diesen Spezialfall gelten.
ê Erinnerung an die Differenziationsregeln: Partielle Ableitungen nach einer Variablen wer-
den gebildet, indem alle übrigen Größen als Konstanten betrachtet werden. Beim Bilden der
partiellen Ableitung nach q j ist also auch q̇ j wie eine Konstante zu behandeln (und umge-
kehrt). Im Gegensatz dazu bezieht sich die Ableitung nach der Zeit in den Lagrangeschen
Gleichungen 2. Art auf alle zeitabhängigen Größen.
ê Wenn nicht alle eingeprägten Kräfte Potenzialkräfte sind, kann auch mit einer Kombination
von 33.30 und 33.29 gearbeitet werden. Die Potenzialkräfte werden über die Lagrangesche
Funktion erfasst, und für die Nicht-Potenzialkräfte werden generalisierte Kräfte nach 33.20
berechnet, die entsprechend 33.29 einfließen.
Beispiel 1:
Für das Beispiel von Seite 530 (nebenstehende Skizze) soll
die Bewegungs-Differenzialgleichung mit Hilfe der Lagrangeschen Glei-
0-Pot.
chung bestätigt werden. Mit dem Null-Potenzial bei x = 0 können die
Energien so aufgeschrieben werden:
1 1 p 2 2
T = m ẋ2 , U = −m g x + c a + x2 − b
2 2
(in der Klammer steht die Differenz der aktuellen Federlänge und der
Länge der entspannten Feder b). Für die Lagrangesche Funktion
1 1 p 2 2
L = T −U = m ẋ2 + m g x − c a + x2 − b
2 2
werden die benötigten Ableitungen gebildet:
∂L d ∂L ∂L p x
= m ẋ ⇒ = m ẍ , = mg−c a2 + x2 − b √ .
∂ ẋ dt ∂ ẋ ∂x a + x2
2
Einsetzen der Ableitungen in 33.30 liefert die gleiche Differenzialgleichung, die auf Seite 530
mit dem Prinzip von d’Alembert hergeleitet wurde:
p x
m ẍ + c a2 + x 2 − b √ −mg = 0 .
a2 + x2
672 33 Prinzipien der Mechanik
Beispiel 2:
Für ein Doppelpendel sollen die Bewegungs-
Differenzialgleichungen der freien Schwingungen hergeleitet wer-
1
1
den. Die Massenträgheitsmomente der beiden Pendel beziehen sich
jeweils auf die Schwerpunkte. 1
1 1
Gegeben: m1 , m2 , JS1 , JS2 , s1 , s2 , l1 .
Ein Doppelpendel hat zwei Freiheitsgrade. Als generalisierte Ko- 2
2 2
ordinaten eignen sich die beiden Winkel ϕ1 und ϕ2 (untere Skizze).
Für das Aufschreiben der kinetischen Energie werden beide Pendel- 2
bewegungen als Translation des jeweiligen Schwerpunkts mit über-
lagerter Rotation betrachtet. Die Schwerpunktlagen sind durch die
im x-y-Koordinatensystem aufzuschreibenden Ortsvektoren ~r1 und
~r2 zu verfolgen:
" # " # 1
s1 sin ϕ1 l1 sin ϕ1 + s2 sin ϕ2 1
~r1 = , ~r2 = .
s1 cos ϕ1 l1 cos ϕ1 + s2 cos ϕ2 1
Da nur Potenzialkräfte wirken, wird für 33.30 die Lagrangesche Funktion formuliert:
1 1
L = T −U = m1 s21 ϕ̇12 + JS1 ϕ̇12
2 2
1 2 2 2 2 1
+ m2 l1 ϕ̇1 + s2 ϕ̇2 + 2 l1 s2 ϕ̇1 ϕ̇2 cos(ϕ1 − ϕ2 ) + JS2 ϕ̇22
2 2
+ m1 g s1 cos ϕ1 + m2 g (l1 cos ϕ1 + s2 cos ϕ2 ) .
33.4 Lagrangesche Bewegungsgleichungen 673
Beispiel 3:
Eine Laufkatze (Masse mK ) trägt 0
eine Last (Masse einschließlich Anhängevor-
richtung: mL , Massenträgheitsmoment bezüg-
lich des Schwerpunktes S: JL ). In der skizzierten
Ruhelage beginnt für eine kurze Zeit ∆t die kon-
stante Antriebskraft F0 zu wirken, die danach
wieder abgeschaltet wird. Nach dem Zurückle-
gen der Strecke a stößt die Laufkatze auf einen
elastischen Puffer (Federzahl c).
Die Besonderheit dieser Aufgabe besteht in dem Eintreten von „Ereignissen“ (Abschalten der
Antriebskraft, Zu- und Abschalten einer Feder). Man erfasst sie, indem an die Stelle der Kraft F0
die zeitabhängige Kraft Ft tritt und die Federkonstante c durch ct ersetzt wird:
( (
F0 für t < ∆t 0 für x < a
Ft = , ct = .
0 für t ≥ ∆t c für x ≥ a
Aus den beiden Komponenten von ~vS kann der Betrag der Bahngeschwindigkeit des Punktes S
berechnet werden:
Die potenzielle Energie setzt sich aus Energie der Lage von mL und der Energie in der Feder
zusammen. Mit dem Null-Potenzial nach Abbildung 33.10 erhält man:
1
U = −mL g lS cos ϕ + ct (x − a)2 .
2
In die beiden Lagrangeschen Gleichungen
d ∂L ∂L d ∂L ∂L
− = Qx , − =0
dt ∂ ẋ ∂x dt ∂ ϕ̇ ∂ϕ
geht neben den Ableitungen der Lagrangeschen Funktion L noch die generalisierte Kraft Qx = Ft
ein. Aus
1 1 1 1
L = T −U = mK ẋ2 + mL (ẋ2 + lS2 ϕ̇ 2 + 2 lS ẋ ϕ̇ cos ϕ) + JL ϕ̇ 2 + mL g lS cos ϕ − ct (x − a)2
2 2 2 2
errechnet man die benötigten Ableitungen:
∂L
= mK ẋ + mL ẋ + mL lS ϕ̇ cos ϕ ,
∂ ẋ
d ∂L
= mK ẍ + mL ẍ + mL lS ϕ̈ cos ϕ − mL lS ϕ̇ 2 sin ϕ ,
dt ∂ ẋ
∂L
= −ct (x − a) ,
∂x
∂L
= mL lS2 ϕ̇ + mL lS ẋ cos ϕ + JL ϕ̇ ,
∂ ϕ̇
d ∂L
= mL lS2 ϕ̈ + mL lS ẍ cos ϕ − mL lS ẋ ϕ̇ sin ϕ + JL ϕ̈ ,
dt ∂ ϕ̇
∂L
= −mL lS ẋ ϕ̇ sin ϕ − mL g lS sin ϕ .
∂ϕ
Das sich damit ergebende Differenzialgleichungssystem sieht in geordneter Form so aus:
(mK + mL ) ẍ + (mL lS cos ϕ) ϕ̈ = mL lS ϕ̇ 2 sin ϕ − ct (x − a) + Ft ,
(33.33)
(mL lS cos ϕ) ẍ + (mL lS2 + JL ) ϕ̈ = −mL g lS sin ϕ .
Auch wenn dieses Differenzialgleichungssystem nicht ganz so kompliziert aussieht wie das Sys-
tem 33.32 für das Doppelpendel (Beispiel 2), so hat es aus mathematischer Sicht doch alle dort
aufgelisteten unangenehmen Eigenschaften. Hinzu kommen ein zeitabhängiges Ereignis (Ft wird
plötzlich Null bei t = ∆t) und mehrere wegabhängige Ereignisse (Anschlagen an die Feder, Lö-
sen von der Feder). Da das System aber ohnehin nur numerisch lösbar ist, machen diese zusätz-
lichen Schwierigkeiten die Lösung nur unwesentlich komplizierter.
Die numerische Lösung der Differenzialgleichungssysteme 33.32 und 33.33 ist zwar formal
nicht sehr schwierig, die Bewertung der Ergebnisse ist allerdings nicht ganz einfach.
Die Lösungen für die Beispiele 2 und 3 aus diesem Abschnitt werden deshalb in das Kapitel
35 „Verifizieren von Computerrechnungen“ verschoben, weil dort diskutiert werden kann, ob
damit auch die Richtigkeit der Differenzialgleichungen zu bestätigen ist.
676 33 Prinzipien der Mechanik
Beispiel 1:
Nach dem im Abschnitt 33.2 behandelten
Prinzip der virtuellen Arbeit für Potenzialkräfte kann die
Federverlängerung s infolge des Einhängens der Masse m 0-Pot.
aus der potenziellen Energie
1
U = −m g s + c s2 Abbildung 33.11: Elastische Verfor-
2
mung einer Feder
nach 33.7 berechnet werden:
dU mg
=0 ⇒ −m g + c s = 0 ⇒ s= .
ds c
Im Folgenden soll nur die Formänderungsenergie Wi in den elastischen Bauteilen durch die po-
tenzielle Energie erfasst werden (im Beispiel 1 die Formänderungsenergie der Feder 12 c s2 ), wäh-
rend die Arbeit der äußeren Kräfte (im Beispiel 1 die Gewichtskraft mg, in der Abbildung 33.11
die Kraft F in der rechten Skizze) gesondert als Wea eingeht.
Im Abschnitt 33.2 wurde gezeigt, dass für die virtuelle Arbeit einer Potenzialkraft δW und dem
durch die gleiche virtuelle Verschiebung erzeugten Zuwachs an potenzieller Energie δU entspre-
chend Gleichung 33.5 der Zusammenhang δW = −δU besteht. Daraus leitete sich die Beziehung
33.6 ab: δU = 0. Diese kann, wenn nur ein Teil der Belastung über die potenzielle Energie erfasst
wird, zu δ (U −W ) = 0 modifiziert werden. Mit der gerade erwähnten gesonderten Erfassung von
Wi und Wea muss also
δ (Wi − W
ea ) = 0 (33.34)
gelten. Man überzeugt sich leicht, dass für das Beispiel 1 mit Wi = 12 c s2 und W ea = mgs bzw.
Wea = Fs die folgende Bedingung zu dem bekannten Ergebnis für die Verlängerung s der Feder
führt:
d (Wi − Wea ) d 1 2 F
=0 ⇒ cs −F s = cs−F = 0 ⇒ s = .
ds ds 2 c
Die Beziehung 33.34 ist eine Erweiterung des im Abschnitt 33.2 behandelten Prinzips der virtuel-
len Arbeit. Für die Differenz in der Klammer wird der Begriff elastisches Potenzial Π verwendet,
und die im Abschnitt 33.2 gewonnene Erkenntnis, dass bei einer stabilen Gleichgewichtslage die
potenzielle Energie ein relatives Minimum hat, lässt sich erweitern zum
Π = Wi − W
ea ⇒ Minimum . (33.35)
Darin ist Wi die in dem elastischen System gespeicherte Formänderungsenergie, W
ea ist die
Endwertarbeit der äußeren Kräfte.
33.5 Prinzip vom Minimum des elastischen Potenzials 677
ê Die virtuelle Arbeit einer äußeren Kraft ergibt sich nach 33.2 aus dem Produkt der Kraft und
der virtuellen Verschiebung. Deshalb ist Wea auch in 33.35 als Produkt „Kraft · Verschiebung“
zu bilden (vgl. das Einführungsbeispiel: Wea = mgs bzw. W ea = Fs). Man beachte unbedingt:
Die Endwertarbeit W ea ist nicht identisch mit der im Kapitel 24 eingeführten Arbeit
der äußeren Kräfte Wa . Während Wa die „tatsächlich zu leistende Arbeit“ ist (vgl. Ar-
beitssatz 24.5: Wi = Wa ), ist W
ea so zu bilden, als hätte die Kraft entlang des gesamten
Verformungsweges bereits ihre volle Größe (deshalb der Begriff „Endwertarbeit“).
Zwangskräfte (Lagerreaktionen) sind keinen virtuellen Verschiebungen ausgesetzt (vgl.
Abschnitt 33.1) und liefern keinen Beitrag zu W
ea .
ê Die Formänderungsenergie Wi kann mit den im Abschnitt 24.2 für die Grundbeanspru-
chungsarten hergeleiteten Formeln (Zusammenstellung auf Seite 424) aufgeschrieben wer-
den, in denen die Schnittgrößen mit den in den Kapiteln 17 bis 21 entwickelten Zusammen-
hängen durch die Verformungen ersetzt wurden.
Beispiel 2:
Für einen Kragträger mit einer Kraft F am
ea = Fv(l), und mit
freien Ende beträgt die Endwertarbeit W
der Formänderungsenergie für den Biegeträger nach 24.12
liefert 33.35: =
1
Z
2
Π= EI v00 dz − F v(l) ⇒ Minimum . (33.36)
2
l
ê Man beachte, dass damit für die Verformungsberechnung für ein elastisches Bauteil eine
Formulierung gegeben ist, die sich von den bisher behandelten mathematischen Modellen
wesentlich unterscheidet. Während bei den in den Kapiteln 17 bis 21 behandelten Randwert-
problemen (z. B.: Differenzialgleichung der Biegelinie einschließlich der Randbedingungen)
eine Funktion gesucht war, die die Differenzialgleichung und die Randbedingungen erfüllt,
wird bei der Benutzung des Prinzips vom Minimum des elastischen Potenzials eine Funktion
gesucht, die einen Integralausdruck minimiert.
Die Bedingung der Verträglichkeit virtueller Verschiebungen mit den geometrischen Bin-
dungen (Abschnitt 33.1) überträgt sich sinngemäß auf die Funktionen, die zur Konkurrenz
bei der Suche nach dem Minimum des elastischen Potenzials zugelassen sind:
Die Funktionen, die die Verformungen eines Bauteils beschreiben, müssen die geometri-
schen Randbedingungen erfüllen. Nur unter diesen so genannten (zulässigen) Vergleichs-
funktionen dürfen diejenigen gesucht werden, für die das elastische Potenzial Π nach
33.35 zum Minimum wird.
ê Bemerkenswert ist, dass sich die Anforderungen an die Vergleichsfunktionen auf die Er-
füllung der geometrischen Randbedingungen beschränken (für ein Biegeproblem sind das
die Aussagen über v und v0 ). Natürlich muss die Lösung auch die so genannten dynamischen
678 33 Prinzipien der Mechanik
Randbedingungen erfüllen (bei Biegeproblemen die Aussagen über Biegemoment und Quer-
kraft). Dies braucht jedoch nicht als gesonderte Forderung formuliert zu werden, weil sich
das Minimum des elastischen Potenzials nur für diese Funktionen einstellen kann.
ê Die Frage, wie man (unter den im Allgemeinen unendlich vielen zulässigen Vergleichs-
funktionen) die Funktion herausfinden kann, die für einen vorgegebenen Integralausdruck
einen Extremwert liefert, ist Gegenstand eines speziellen Zweiges der Mathematik. In der
Variationsrechnung werden einerseits die Zusammenhänge zwischen den Variationsproble-
men (Integralausdruck soll extrem werden) und den zugehörigen Randwertproblemen unter-
sucht, andererseits werden sehr leistungsfähige Näherungsverfahren für die Variationspro-
bleme bereitgestellt1 . Die Überlegungen des nachfolgenden Beispiels bereiten auf das im
nächsten Abschnitt zu behandelnde Verfahren vor.
Beispiel 3:
Mit den im Kapitel 17 beschriebenen Verfah-
ren (Differenzialgleichungen der Biegelinie) ermittelt man
für den Kragträger des Beispiels 2 unter der Voraussetzung
=
konstanter Biegesteifigkeit EI die „exakte“ Lösung:
F l 3 z 2 z 3
vexakt (z) = 3 − . (33.37)
6 EI l l
Wenn diese Funktion in den Ausdruck für Π (Formel 33.36) eingesetzt wird, erhält man mit
Zl
EI F 2 l 2 z 2 F l3 F 2 l3
Πmin = 1− dz − F =−
2 (EI)2 l 3 EI 6 EI
z=0
einen Wert, der von keiner zulässigen Vergleichsfunktion unterboten werden kann.
Dies soll mit einer Funktion demonstriert werden: Die Funktion v1 (z) = a z4 z. B. mit zunächst
beliebigem Faktor a erfüllt die beiden geometrischen Randbedingungen v1 (0) = 0 und v01 (0) = 0
und ist damit als Vergleichsfunktion zulässig. Mit v1 ergibt sich
Zl
EI 72
Π1 = (12 a z2 )2 dz − F a l 4 = EI a2 l 5 − F a l 4 ,
2 5
z=0
und Π1 ist bei beliebigem a größer als Πmin , wie folgende Extremwertbetrachtung beweist:
∂ Π1 144 5F 5 F 2 l3
=0 ⇒ EI a l 5 − F l 4 = 0 ⇒ a= ⇒ Π1 = − .
∂a 5 144 EI l 288 EI
Der errechnete Wert (nicht sein Betrag) ist auch für das optimale a größer als Πmin .
1 Diewichtigste Strategie in der Variationsrechnung zum Auffinden der Funktion, für die das Variationsproblem den
Extremwert tatsächlich annimmt, ist die Überführung in ein Randwertproblem. Für das Problem 33.36 wäre dies
die Differenzialgleichung der Biegelinie mit den zugehörigen Randbedingungen. Genau diese Strategie ist aber für
den Ingenieur in der Regel nicht interessant, weil er dann gleich das Randwertproblem formulieren kann. Deshalb
sind die so genannten direkten Verfahren der Variationsrechnung normalerweise die einzige sinnvolle Alternative.
Besonders wichtige Vertreter dieser Verfahren werden nachfolgend behandelt.
33.5 Prinzip vom Minimum des elastischen Potenzials 679
Die Strategie der Realisierung dieses universell anwendbaren Verfahrens (auch für mehrdimen-
sionale Probleme) wird zunächst noch einmal an dem sehr einfachen Beispiel aus dem vorigen
Abschnitt demonstriert.
Beispiel 1:
Mit den drei Funktionen
v1 (z) = z2 , v2 (z) = z3 und v3 (z) = z4 ,
=
die einzeln die geometrischen Randbedingungen
v(z = 0) = 0 , v0 (z = 0) = 0
für den skizzierten Kragträger erfüllen und damit als Vergleichsfunktionen zulässig sind, wird
der Ritz-Ansatz
ve(z) = a1 z2 + a2 z3 + a3 z4
gebildet. Für J wird das elastische Potenzial (vgl. Beispiel 2 im vorigen Abschnitt) mit ve formu-
liert, und 33.40 liefert die Bestimmungsgleichungen für die Koeffizienten ai :
680 33 Prinzipien der Mechanik
Zl
1 2
J=Π= EI ve 00 dz − F ve(l) ⇒ Minimum ,
2
z=0
Zl
∂Π ∂ ve 00 ∂ ve(l)
=0 ⇒ EI ve 00 dz − F =0 .
∂ ai ∂ ai ∂ ai
z=0
Mit
∂ ve 00 ∂ ve 00 ∂ ve 00
ve 00 = 2 a1 + 6 a2 z + 12 a3 z2 , =2 , = 6z , = 12 z2
∂ a1 ∂ a2 ∂ a3
können die drei Bestimmungsgleichungen für a1 , a2 und a3 aufgeschrieben werden:
Zl
∂Π
=0: EI (2 a1 + 6 a2 z + 12 a3 z2 ) · 2 dz − F l 2 = 0 ,
∂ a1
z=0
Zl
∂Π
=0: EI (2 a1 + 6 a2 z + 12 a3 z2 ) · 6 z dz − F l 3 = 0 ,
∂ a2
z=0
Zl
∂Π
=0: EI (2 a1 + 6 a2 z + 12 a3 z2 ) · 12 z2 dz − F l 4 = 0 .
∂ a3
z=0
Nach der Integration erhält man ein lineares Gleichungssystem mit folgender Lösung:
8 l2
4 6l a1 1
2 F l Fl F
6 12 l 18 l a2 = 1 ⇒ a1 = , a2 = − , a3 = 0 .
EI 2 EI 6 EI
144 2
8 18 l 5 l a3 1
Damit liefert das Ritz-Verfahren mit den gewählten Ansatzfunktionen dieses Ergebnis:
F 3 F l3
Fl 2 z 2 z 3
ve(z) = z − z = 3 − .
2 EI 6 EI 6 EI l l
ê Die „Näherungslösung“ ist in diesem Fall mit der exakten Lösung identisch. Es gilt generell:
Wenn im Ritz-Ansatz ve(z) (zufällig) die exakte Lösung enthalten ist, liefert das Verfahren
die Koeffizienten ai so, dass ve(z) zur exakten Lösung wird.
ê Die Qualität der Näherungslösung wird wesentlich dadurch bestimmt, wie gut mit den An-
satzfunktionen vi (z) die tatsächliche (das elastische Potenzial minimierende) Lösungsfunk-
tion anzunähern ist. Die Wahrscheinlichkeit, eine gute Näherung zu ermöglichen, erhöht
sich natürlich mit einer größeren Anzahl von Ansatzfunktionen. Sollten völlig untaugliche
Vergleichsfunktionen darunter sein, dann werden sie vom Verfahren ohnehin herausgefil-
tert (a3 = 0 im gerade behandelten Beispiel sorgt dafür, dass die Ansatzfunktion v3 (z) = z4
keinen Anteil zur Lösung beiträgt).
33.5 Prinzip vom Minimum des elastischen Potenzials 681
Das elastische Potenzial Π, das in 33.35 als Differenz von Wi und W ea definiert wurde und beim
Verfahren von Ritz entsprechend 33.38 für die Funktion J steht, muss für ein beliebiges System
natürlich mit allen Formänderungsenergien für Wi und der Endwertarbeit aller äußeren Kräfte
für W
ea aufgeschrieben werden. Dies soll hier exemplarisch für Biegeträger formuliert werden,
bei denen außer der Formänderungsenergie, die im verformten Träger steckt, auch noch Beiträge
von elastischen Lagern (Federn und
Drehfedern) zu berücksichtigen 1
sind. Belastet werden Biegeträger
durch Einzelkräfte, Einzelmomente
und Linienlasten (Abbildung 33.12 1 2
zeigt einen Biegeträger mit diesen
Lagern und Lasten). Abbildung 33.12: Biegeträger mit elastischen Lagern
Elastisches Potenzial für einen Biegeträger mit Linienlast, Einzelkräften und Einzelmo-
menten, der elastisch auf Federn und Drehfedern gelagert ist:
1 1 1
Z Z
2 2
Π= EI v 00 dz + ck v2k + ∑ cT, k vk 0 − q v dz − ∑ Fk vk − ∑ Mk vk 0 . (33.41)
2 2∑k 2 k k k
l l
vk und vk 0 sind die Durchbiegungen bzw. Biegewinkel an den Angriffspunkten von Lasten
bzw. Federn.
Für das zentrale Problem bei der Benutzung des Ritzschen Verfahrens, geeignete Ansatzfunkti-
onen zu finden, bieten sich folgende Möglichkeiten an:
• Mit Polynomfunktionen lassen sich immer Ansätze finden, die die geo-
metrischen Randbedingungen erfüllen. Für diese Funktionen sind die In-
tegrale (zumindest bei konstanter Biegesteifigkeit) geschlossen lösbar.
Unter www.TM-aktuell.de findet man zahlreiche Beispiele, die mit die-
ser Strategie gelöst werden.
• Im Abschnitt 33.5.4 wird mit bereichsweise formulierten Ansatzfunktionen eine besonders
leistungsfähige Variante behandelt.
• Oft bietet sich eine recht pragmatische (und schnelle) Lösung an: Man entnimmt Formel-
sammlungen oder Taschenbüchern die Lösung von Problemen mit gleichen geometrischen
Randbedingungen (bei beliebigen Belastungen, Steifigkeiten, . . .) und hat damit zulässige
Vergleichsfunktionen. Dies demonstriert das nachfolgende Beispiel.
Beispiel 2:
Für den skizzierten Biegeträger mit linear verän-
derlicher Linienlast und linear veränderlicher Biegesteifigkeit
z z
q(z) = qA 1 + , EI(z) = EIA 1 +
l l
soll eine grobe Näherungslösung mit einem nur eingliedrigen
Ritz-Ansatz für die Biegeverformung bestimmt werden.
Gegeben: l , qA , EIA .
682 33 Prinzipien der Mechanik
Die Aufgabe entspricht dem Keil unter Eigengewichtsbelastung, für den auf Seite 282 die exakte
Lösung angegeben ist, so dass ein Genauigkeitsvergleich möglich sein wird.
Das elastische Potenzial wird entsprechend 33.41 mit zwei Anteilen aufgeschrieben (Formände-
rungsenergie des verformten Trägers und Endwertarbeit der Linienlast):
Zl Zl
1 00 2
Π= EI(z) v (z) dz − q(z) v(z) dz ⇒ Minimum . (33.42)
2
z=0 z=0
In einem Taschenbuch2 findet
man die Lösung für das nachstehend skizzierte Problem mit kon-
stanter Biegesteifigkeit und konstanter Linienlast (aber den gleichen Randbedingungen wie für
das Problem der Aufgabenstellung):
0
q0 l 4 z
z 3 z 4
v(z) = −3 +2 .
0 48 EI0 l l l
Abbildung 33.13: Biegelinie für konstante Biegesteifigkeit EI0 und konstante Linienlast q0
Diese Funktion ist also als Vergleichsfunktion zulässig (es genügt selbstverständlich der Aus-
druck in der eckigen Klammer). Da nur ein eingliedriger Ritz-Ansatz verwendet werden soll,
kann dieser folgendermaßen formuliert werden:
z 3 z 4
z
ve = a1 v1 = a1 − 3 +2 .
l l l
Werden ve = a1 v1 und ve 00 = a1 v1 00 in die Formel für das elastische Potenzial 33.42 eingesetzt,
liefert die Minimalbedingung:
Zl Zl
∂Π 2
=0 ⇒ a1 EI(z) v1 00 (z) dz − q(z) v1 (z) dz = 0 ,
∂ a1
Rl z=0 z=0
q(z) v1 (z) dz
l4 13 qA l 4 z
z 3 z 4
z=0 13 qA
a1 = = ⇒ ve = −3 +2 .
Rl 684 EIA 648 EIA l l l
EI(z) v1 00 2 (z) dz
z=0
2 Z. B.: Dubbel, Taschenbuch für den Maschinenbau, aber auch in vielen anderen Büchern und Formelsammlungen.
33.5 Prinzip vom Minimum des elastischen Potenzials 683
Wi∗ und W ea∗ sind diskrete Anteile, die beim Randwertproblem über die Randbedingungen
erfasst werden. Bei elastostatischen Problemen fließt über Wi∗ die Formänderungsenergie dis-
kreter Federn ein, W ea∗ ist die Endwertarbeit, die von äußeren Einzelkräften bzw. -momenten
geleistet wird (vgl. Erläuterungen auf Seite 681):
1 1 2
Wi∗ = ∑ ck v2k + ∑ cT, k vk 0 , W ea∗ = ∑ Fk vk + ∑ Mk vk 0 . (33.46)
2 k 2 k k k
ê Man erkennt, dass 33.43 ein Sonderfall von 33.44 für f2 = 0 und f3 = 0 ist. Mit f1 = EI und
r = q entsteht aus 33.45 das Variationsproblem 33.42.
ê Auch die Differenzialgleichungen für den elastisch gebetteten Träger
19.3 und für den Torsionswinkel 21.11, die Differenzialgleichung für den
Knickstab 23.10 (siehe auch www.TM-aktuell.de) und die Differenzial-
gleichung für den Biegeschwinger 32.34 sind Sonderfälle von 33.44, so
dass man mit 33.45 zum jeweils zugehörigen Variationsproblem kommt.
ê Die Endwertarbeit W ea∗ ist dabe jeweils nur für Belastungen zu ergänzen, die nicht schon über
die Differenzialgleichung einfließen. Beim nur durch Kräfte in Stablängsrichtung belasteten
Knickstab zum Beispiel werden diese durch die Normalkraft erfasst, die in 33.44 in der
Funktion f2 steckt und über diese in das Variationsproblem einfließt.
684 33 Prinzipien der Mechanik
Beispiel 1:
Ein Stab mit konstantem Querschnitt ist nur durch sein Eigenge-
wicht belastet (vgl. Beispiel auf Seite 417). Seine kritische Länge soll nähe-
rungsweise mit dem Verfahren von Ritz berechnet werden.
Gegeben: EI , Dichte ρ , Querschnittsfläche A .
Zur Differenzialgleichung für den Knickstab [EI(z) v00 (z)]00 − [FN (z) v0 (z)]0 = 0
(siehe Seite 415) gehört nach 33.45 das äquivalente Variationsproblem
Zl h
1 2 2
i
Π= EI(z) v 00 (z) + FN (z) v 0 (z) dz ⇒ Minimum
2
z=0
mit der Normalkraft FN , für die bei Eigengewichtsbelastung bezüglich der skizzierten Koordinate
FN = −ρ g A z
einzusetzen ist. Für den einfachen Lagerungsfall lassen sich problemlos Vergleichsfunktionen
für das Ritzsche Verfahren finden. Man überzeugt sich leicht, dass z. B.
v1 = z (l − z) und v2 = z2 (l − z)2
jeweils die geometrischen Randbedingungen v(0) = 0 und v(l) = 0 erfüllen. Nach dem Einsetzen
des zweigliedrigen Ritz-Ansatzes
ve = a1 v1 + a2 v2 , ve 0 = a1 v01 + a2 v02 , ve 00 = a1 v001 + a2 v002
in das Variationsproblem liefern die beiden Minimalbedingungen:
Zl
∂Π
EI(a1 v001 + a2 v002 ) v001 − ρ g A z (a1 v01 + a2 v02 ) v01 dz = 0 ,
=0 ⇒
∂ a1
z=0
Zl
∂Π
EI(a1 v001 + a2 v002 ) v002 − ρ g A z (a1 v01 + a2 v02 ) v02 dz = 0 .
=0 ⇒
∂ a2
z=0
Beispiel 2:
Zur Differenzialgleichung für die Biege-
schwingungen von Trägern mit kontinuierlicher Massebe-
legung [EI(z) Z 00 (z)]00 − ω 2 ρA(z) Z(z) = 0 (siehe Seite 649)
soll nach 33.45 das äquivalente Variationsproblem formu-
Abbildung 33.14: Biegeschwinger
liert werden.
Wenn (wie in Abbildung 33.14 angedeutet) Federn mit den Federsteifigkeiten ck , Drehfedern
mit den Steifigkeiten cT, k und Einzelmassen Mk berücksichtigt werden (auf Punkte wirkende
Federn und Punktmassen gehen bei der Lösung mit Hilfe der Differenzialgleichung über Rand-
und Übergangsbedingungen ein), lautet das Variationsproblem:
1
Z
2
Π= EI Z 00 − ω 2 ρ A Z 2 dz
2
l (33.47)
1 2 1 02 1 2 2
+ ∑ ck Zk + ∑ cT, k Zk − ω ∑ Mk Zk ⇒ Minimum .
2 k 2 k 2 k
An diesem Beispiel soll gezeigt werden, wie das Verfahren von Ritz formalisiert werden kann.
Es wird ein Ansatz mit n Vergleichsfunktionen entsprechend
n
e = ∑ ai Zi (z)
Z(z) (33.48)
i=1
gewählt, mit dem n Minimalbedingungen
∂Π
=0 , i = 1, 2, . . . , n (33.49)
∂ ai
formuliert werden. Die Rechnung, die im Beispiel 1 für zwei spezielle Ansatzfunktionen ausge-
führt wurde, führt hier (mit durchaus erträglichem Aufwand) auf analoge Weise für n allgemeine
Funktionen Zi auf das allgemeine Matrizeneigenwertproblem
k11 k12 · · · k1n m11 m12 · · · m1n a1 0
k12 k22 · · · k2n m m · · · m2n a2 0
− ω 2 12 22 = (33.50)
· · · · · · ··· ··· ··· · · · · · · 0
mit Z
ki j = EI Zi 00 Z j 00 dz + ∑ ck Zi, k Z j, k + ∑ cT, k Zi,0 k Z 0j, k (33.51)
k k
l
und Z
mi j = ρ A Zi Z j dz + ∑ Mk Zi, k Z j, k . (33.52)
k
l
Weil sowohl die Berechnung der Matrixelemente ki j und mi j nach 33.51 bzw. 33.52 als auch die
Lösung des allgemeinen Matrizeneigenwertproblems 33.50 einem Mathematik-Programm über-
tragen werden kann, beschränkt sich der Aufwand im Wesentlichen auf die Bereitstellung der
Ansatzfunktionen 33.48. Unter www.TM-aktuell.de findet man mehrere Beispiele, die auf diese
Weise mit Polynomansätzen gelöst wurden. Die Anzahl der Eigenwerte (Eigenkreisfrequenzen),
die man erhält, entspricht der Anzahl n der verwendeten Ansatzfunktionen.
686 33 Prinzipien der Mechanik
Beispiel 3:
Für den skizzierten Träger mit konstanter Biege-
steifigkeit EI und konstanter Massebelegung ρA ist die kleins-
te Eigenkreisfrequenz der Biegeschwingungen näherungswei-
se mit Hilfe des Rayleighsche Quotienten zu bestimmen und
mit der exakten Lösung (siehe Seite 650) zu vergleichen.
Gegeben: EI = 3000 Nm2 ; ρA = 3 kg/m ; l = 1 m .
Bei Verwendung einer beliebigen Ansatzfunktion Z, die die geometrischen Randbedingungen
erfüllt, ist das Ergebnis erwartungsgemäß sehr ungenau. So erfüllt die Funktion Z = z3 − l z2
zum Beispiel, wie man sich leicht überzeugt, die geometrischen Randbedingungen, doch 33.55
liefert damit den unbrauchbaren Wert ω1 = 648, 1 s−1 (zum Vergleich: ω1, exakt = 487, 6 s−1 ).
Ein wesentlich besseres Ergebnis darf man erwarten, wenn man eine elastostatische Biegelinie
als Ansatzfunktion verwendet. Es bietet sich natürlich an, die Biegelinie für einen Träger mit
konstanter Linienlast zu verwenden (Abbildung 33.15, vgl. Beispiel auf Seite 262):
q0 l 4
z 2
z 4 z 3
v(z) = 2 −5 +3 . 0
48 EI0 l l l
Als Ansatzfunktion muss nur der Inhalt der eckigen Klam-
0
mer verwendet werden. Mit
z 4 z 3 z 2
Z(z) = 2 −5 +3 Abbildung 33.15: Biegeträger
l l l
−1
erhält man die ausgezeichnete Näherung ω1 = 488, 6 s , und dass auch dieser Wert über dem
exakten Wert liegt, ist kein Zufall: Alle mit dem Verfahren von Ritz und dem Rayleighschen
Quotienten berechneten Frequenzen nähern den exakten Wert „von oben“.
33.5 Prinzip vom Minimum des elastischen Potenzials 687
Die Genauigkeit einer Näherungslösung nach dem Verfahren von Ritz ist wesentlich davon ab-
hängig, ob die gewählten Ansatzfunktionen flexibel genug sind, die exakte Lösung möglichst gut
nachzubilden. Dieses Ziel kann erreicht werden durch
• Verwendung einer großen Anzahl von Ansatzfunktionen oder
• Aufschreiben der Ansatzfunktionen für Teilbereiche bei möglichst großer Anzahl von Be-
reichen (die Lösung wird „stückweise angenähert“). Bei dieser Variante muss natürlich auch
die Einschränkung der Auswahlmöglichkeiten (Abschnitt 33.5.1) beachtet werden: Die An-
satzfunktionen für das Verfahren von Ritz müssen den Kriterien für zulässige Vergleichs-
funktionen genügen („geometrisch zulässig“ sein).
Beispiel:
Für den skizzierten Träger mit konstanter Biegesteifigkeit soll die Durchbiegung nä-
herungsweise nach dem Verfahren von Ritz berechnet werden, indem für die beiden Bereiche
jeweils eine Ansatzfunktion dritten Grades verwendet wird.
Gegeben: le , EI , F , qB .
Die 8 Parameter der beiden Ansatzfunktionen
ve1 = a0 + a1 z1 + a2 z21 + a3 z31 ,
ve2 = a0 + a1 z2 + a2 z22 + a3 z32
1 2
müssen zunächst für die geometrische Kompatibilität
sorgen, die bei Erfüllung folgender geometrischer Rand-
und Übergangsbedingungen gegeben ist: 2 2
1 1
ve1 (z1 = 0) = 0 ⇒ a0 = 0 ,
ve1 (z1 = le ) = ve2 (z2 = 0) ⇒ a1 le + a2 le2 + a3 le3 = a0 ,
ve1 0 (z1 = le ) = ve2 0 (z2 = 0) ⇒ a1 + 2 a2 le + 3 a3 le2 = a1 ,
ve2 (z2 = le ) = 0 ⇒ a0 + a1 le + a2 le2 + a3 le3 = 0 ,
ve2 0 (z2 = le ) = 0 ⇒ a1 + 2 a2 le + 3 a3 le2 = 0 .
688 33 Prinzipien der Mechanik
Nach Erfüllung dieser fünf Rand- und Übergangsbedingungen bleiben von den acht Ansatzpa-
rametern drei unbestimmt. Als verbleibende Parameter werden a0 , a1 und a1 gewählt, weil sich
deren geometrische Interpretierbarkeit als Vorteil erweisen wird: a0 ist die Verschiebung in Trä-
germitte (wegen ve2 (z2 = 0) = a0 ), a1 und a1 sind die Biegewinkel ve1 0 am linken Lager bzw. ve2 0
in der Trägermitte. Dafür werden
a1 = ϕ1 , a0 = v2 , a1 = ϕ2
gesetzt, die übrigen Ansatzparameter können mit den Rand- und Übergangsbedingungen durch
diese drei Größen ersetzt werden, und man erhält (nach etwas mühsamer Rechnung) die beiden
Ansatzfunktionen mit insgesamt nur noch drei freien Parametern:
z2 z3 z3 z3
2 2
z z
ve1 = ϕ1 z1 − 2 1 + 21 + v2 3 21 − 2 31 + ϕ2 − 1 + 21 = ϕ1 g1 + v2 g2 + ϕ2 g3 ,
le le le l le le
3 e
2 z2 z3
z z
ve2 = v2 1 − 3 22 + 2 32 + ϕ2 z2 − 2 2 + 22 = v2 g2 + ϕ2 g3
le le le le
(für die Klammern stehen die Abkürzungen g1 , g2 , . . .). Das Prinzip vom Minimum des elasti-
schen Potenzials muss mit den Anteilen aus beiden Bereichen aufgeschrieben werden:
Zle Zle Zle
1 00 2 1 00 2
Π= EI ve1 dz1 + EI ve2 dz2 − q2 ve2 dz2 − F v2 ⇒ Minimum
2 2
z1 =0 z2 =0 z2 =0
z2
mit q2 = qB . Die Minimalbedingungen
le
∂Π ∂Π ∂Π
=0 , =0 , =0
∂ ϕ1 ∂ v2 ∂ ϕ2
liefern schließlich ein lineares Gleichungssystem für die Ansatzparameter:
k11 k12 k13 ϕ1 b1 Zle
k12 k22 k23 v2 = b2 mit k1 j = EI g1 00 g j 00 dz1 ( j = 1, 2, 3) ,
Zle Zle
00 00
ki j = EI gi g j dz1 + EI gi 00 g j 00 dz2 (i, j = 2, 3) ,
z1 =0 z2 =0
Zle Zle
b1 = 0 , b2 = q2 g2 dz2 + F , b3 = q2 g3 dz2 .
z2 =0 z2 =0
Das Erzeugen dieses Gleichungssystems war nicht schwierig, ist allerdings etwas aufwendig,
und dieser Algorithmus ist deshalb für die Handrechnung nicht zu empfehlen. Man erkennt je-
doch einen bemerkenswert formalen Aufbau der Integrale, die die Koeffizienten des Gleichungs-
systems bilden. Die Vermutung liegt nahe (und wird sich als richtig erweisen), dass sich das
Aufschreiben der Integrale auch bei komplizierteren Problemen formalisieren lässt. Die Matrix
ist symmetrisch, es gehen Abmessungen und Steifigkeiten ein („Steifigkeitsmatrix“), die Be-
lastungen stehen im Vektor der rechten Seite („Belastungsvektor“), die Verwandtschaft mit der
Finite-Elemente-Methode wird deutlich.
33.5 Prinzip vom Minimum des elastischen Potenzials 689
Das im vorigen Abschnitt demonstrierte Aufschreiben von Ritz-Ansätzen, die nur jeweils für
einen Bereich gelten, bietet sich als generell anwendbare Strategie in dem Sinne an, dass ein für
einen Bereich geltender Ansatz auch für eine größere Anzahl anderer Bereiche verwendet wird.
Behandelt wird exemplarisch der durch eine Linienlast
belastete Biegeträger, für den das Prinzip vom Mini-
mum des elastischen Potenzials auf das Variationspro-
blem 33.42 führt. Die Durchbiegung soll mit dem Ritz-
schen Verfahren berechnet werden, wobei bereichsweise
Ansatzfunktionen 3. Grades verwendet werden.
Betrachtet wird zunächst ein beliebiger Bereich e mit den
Endpunkten i und j, der Länge le und einer eigenen Be-
reichskoordinate ze (Abbildung 33.17). Die Biegesteifig-
keit EIe (ze ) und die Linienlast qe (ze ) werden als bekannt
vorausgesetzt. Bezogen auf die bereichseigene Koordi-
nate werden die vier Ansatzparameter einer allgemeinen
Funktion dritten Grades
vee (ze ) = a0 + a1 ze + a2 z2e + a3 z3e (33.56)
durch die Verformungsgrößen vi , ϕi , v j und ϕ j an den
Punkten i bzw. j ersetzt (vgl. das Beispiel im vorigen Ab- Abbildung 33.17: Ein beliebiger Be-
reich e aus einem System
schnitt). Aus den vier Bedingungen
gelten, ist gesichert, dass sich an den Bereichsgrenzen (hier: Punkt j) zweier benachbarter Be-
reiche (hier: Bereiche e und f ) gleiche Verformungsgrößen (hier: v j und ϕ j ) einstellen. Dies soll
als besonders wichtige Erkenntnis festgehalten werden:
690 33 Prinzipien der Mechanik
Durch die Wahl der Verformungsgrößen an den Endpunkten als Ansatzparameter für die be-
reichsweise geltenden Ansatzfunktionen wird automatisch die innere geometrische Verträg-
lichkeit der verformten Struktur garantiert.
ê Die Einschränkung dieser Aussage auf die „innere“ geometrische Verträglichkeit ist erfor-
derlich, weil z. B. die Verformungsbehinderung „von außen“ (durch Lager) noch nicht be-
rücksichtigt ist. Man sollte sich die geometrischen Randbedingungen infolge der Lager da-
durch erfüllt denken, dass die entsprechenden Verformungsgrößen vL bzw. ϕL den Wert Null
haben, und Teile der Ansatzfunktionen entfallen.
Das elastische Potenzial wird mit diesen Ansatzfunktionen für das gesamte System (Summe über
alle Bereiche) aufgeschrieben:
1 1
Z Z
00 2 2
Π =...+ EIe (ze ) vee (ze ) dze + EI f (z f ) vef 00 (z f ) dz f + . . .
2 2
le lf
Z Z (33.59)
...− qe (ze ) vee (ze ) dze − q f (z f ) vef (z f ) dz f − . . . ⇒ Minimum .
le lf
aufgeschrieben werden, und aus den partiellen Ableitungen nach den drei anderen Ansatzpara-
metern, für die der Bereich e Beiträge liefert, resultieren entsprechende Beziehungen:
33.5 Prinzip vom Minimum des elastischen Potenzials 691
Entsprechende Beziehungen sind für alle Bereiche aufzuschreiben, wobei sich die Integrale, die
(e)
die kmn -Werte liefern, nur durch die Funktionen für die Biegesteifigkeit unterscheiden, in den In-
(e)
tegralen für die fm -Werte ist jeweils die Funktion für die Linienlast des aktuellen Bereichs ein-
zusetzen. Im betrachteten Beispiel würde der „Bereich- f -Anteil“ der partiellen Ableitung nach
v j formal den gleichen Aufbau haben wie die erste Zeile in 33.60:
∂Π (f) (f) (f) (f) (f)
=0 ⇒ k11 v j + k12 ϕ j + k13 vk + k14 ϕk − f1 =0 .
∂vj
Dieser Anteil des Bereichs f wird mit dem entsprechenden „Bereich-e-Anteil“ dieser partiellen
Ableitung aus der 3. Zeile in 33.60 zu einer kompletten Minimalbedingung zusammengesetzt:
∂Π (e) (e)
(e) (f)
=0 ⇒ k31 vi + k32 ϕi + k33 + k11 v j
∂vj (33.61)
(e) (f) (f) (f) (e) (f)
+ k34 + k12 ϕ j + k13 vk + k14 ϕk − f3 − f1 = 0 .
Eine entsprechende Gleichung ergibt sich am Punkt j für die partielle Ableitung von Π nach
ϕ j . Auch an jedem anderen Punkt entstehen zwei Gleichungen dieser Art, die ein lineares Glei-
chungssystem bilden. Zur Formalisierung dieses Prozesses empfiehlt es sich, 33.60 in Matrix-
form aufzuschreiben:
(e) (e) (e) (e)
(e) Z
k11 k12 k13 k14 vi f1 0 (e)
(e) mit kmn = EIe g00m g00n dze
(e) (e) (e)
(e)
21 k22 k23 k24 ϕi f2 0
k le
(e) (e) (e)
− (e) =
(e)
Z (33.62)
(e)
31 k32 k33 k34 v j f3 0
k
und fm = qe gm dze .
(e) (e) (e) (e) (e)
k41 k42 k43 k44 ϕj f4 0 le
Und mit 33.61 und 33.62 wird deutlich, dass der Ritz-Algorithmus, wie er in diesem Abschnitt
beschrieben wurde, nicht nur Ähnlichkeiten mit der Finite-Elemente-Methode hat, sondern mit
dieser identisch ist:
• Der in diesem Abschnitt verwendete Begriff „Bereich“ kann durch „Element“ ersetzt wer-
den, die „Verbindungspunkte“ der Bereiche sollte man als „Knoten“ bezeichnen.
692 33 Prinzipien der Mechanik
• Die Beziehung 33.62 ist eine Element-Steifigkeitsbeziehung, wie sie im Abschnitt 18.2 für
den Biegeträger hergeleitet wurde. Dazu gibt es nachfolgend noch einige Erläuterungen.
• Der Algorithmus zur Herstellung der kompletten Minimalbedingungen (mit 33.61 für ei-
ne Gleichung angedeutet), kann durch die „Einspeicherungsvorschrift“ für den Aufbau von
System-Steifigkeitsbeziehungen aus Element-Steifigkeitsbeziehungen (im Kapitel 15 aus-
führlich beschrieben) ersetzt werden. Auch die in der Finite-Elemente-Methode übliche
Strategie, die äußeren geometrischen Bedingungen (verhinderte Verschiebungen) erst nach-
träglich (in der System-Steifigkeitsbeziehung) zu berücksichtigen, kann übernommen wer-
den.
Bei einem Vergleich der Element-Steifigkeitsbeziehung 33.62 mit der entsprechenden Beziehung
für ein Biegeträger-Element 18.11 fallen zwei formale Unterschiede auf:
• Während 18.11 nur für konstante Biegesteifigkeit gilt, darf EIe in 33.62 veränderlich sein.
Dass 33.62 mit 18.11 identisch ist, wenn die Biegesteifigkeit als konstant angenommen (und
vor die Integrale gezogen) werden darf, soll exemplarisch an einem Matrixelement gezeigt
(e)
werden. Mit m = n = 1 errechnet man nach 33.62 z. B. das Matrixelement k11 :
z2e z3 6 ze
g1 (ze ) = 1 − 3 2
+ 2 3e ⇒ g001 (ze ) = − 2
+ 12 3
le le le le
Zle Zle 2
(e) 2 6 ze 12 EI
⇒ k11 = EI g001 dze = EI − 2 + 12 3 dze = .
le le le3
ze =0 ze =0
(e) (e)
Dies ist genau der Wert für k11 aus 18.11. Die fm -Werte, die sich nach 33.62 ergeben,
entsprechen den reduzierten Knotenlasten in 18.11. Für linear veränderliche Linienlast erhält
man auch hier die im Abschnitt 18.2.2 auf anderem Wege erhaltenen Formeln 18.10.
• Die in der Element-Steifigkeitsbeziehung 18.11 auf der linken Seite stehenden Element-
Knotenlasten tauchen als innere Kräfte bzw. Momente des Systems in der nach dem Ritz-
schen Verfahren gefundenen Formulierung gar nicht auf. Die Vorschrift zum Aufbau der
System-Steifigkeitsbeziehung, die im Kapitel 15 hergeleitet wurde, basiert auf dem Gleich-
gewicht dieser Element-Knotenlasten mit den äußeren Knotenlasten. Bemerkenswert ist,
dass mit dem Ritzschen Verfahren auf anderem Weg der gleiche Algorithmus für den Aufbau
der System-Beziehungen gefunden wird.
33.6 Aufgaben
Aufgabe 33.1:
Für den skizzierten Gerber-Träger (vgl.
Beispiel auf Seite 64) ist die Lagerkraft FB mit Hilfe des
Prinzips der virtuellen Arbeit zu berechnen (man ersetze
nur das Lager B durch eine Kraft und bringe eine virtuelle
Verschiebung in Richtung dieser Kraft auf). 2 1,5 2,5
Gegeben: F.
Aufgabe 33.2:
Für den durch zwei Federn in einer Führung 1
1
gehaltenen Gleitstein (vgl. Aufgabe 10.3 auf Seite 156) er-
2
mittle man für die folgenden Parameterkombinationen durch
grafische Darstellung der potenziellen Energie des Systems
in Abhängigkeit von der Lage des Gleitsteins die Gleichge- 2
wichtslagen und entscheide über deren Stabilität.
Die obere Skizze zeigt die Federn im unbelasteten Zustand,
nicht die Gleichgewichtslage des Systems. Für das Aufschrei-
ben der potenziellen Energie verwende man die in der unteren
Skizze angedeutete Koordinate x. 1
c1 l1 c2 l2 l1
a) mg =1, mg =0, l2 = 1 , α = 60◦ ,
c 1 l1 c2 l2 l1
b) mg =0, mg =1, l2 = 1 , α = 45◦ , 2
c1 l1 c2 l2 l1
c) mg =5, mg =5, l2 =1, α = 45◦ .
Aufgabe 33.3:
Eine zylindrische
Walze (Masse m, Massenträgheits-
moment bezüglich des Schwerpunkts Haltefaden
JS ) ist durch eine lineare Feder ge-
fesselt und wird auf einer schiefen
Ebene durch einen Haltefaden in
Ruhe gehalten. In dieser Lage ist die
Feder der Länge b entspannt. Nach
Durchtrennen des Haltefadens beginnt
die Walze eine reine Rollbewegung
auf der schiefen Ebene.
Gegeben: c , b , α , m .
Die Bewegung der Walze soll mit einer Koordinate x beschrieben werden, die die Lage des Mit-
telpunktes der Walze verfolgt, parallel zur schiefen Ebene gerichtet ist und ihren Ursprung in der
skizzierten Ruhelage des Systems hat. Es ist die Bewegungs-Differenzialgleichung aufzustellen
(Verwendung der Lagrangeschen Gleichung 2. Art) .
694 33 Prinzipien der Mechanik
Aufgabe 33.4:
Das Pendeln der Last ei-
ner auf der Kranbahn stehenden Laufkatze
regt gleichzeitig Biegeschwingungen der elas-
1
tischen Kranbahn an. Die Bewegung des Sys-
tems kann durch das angegebene Berechnungs-
modell erfasst werden. Gegeben sind die Feder-
zahl c der als Biegeträger idealisierten Kran- 2
bahn für die jeweilige Katzstellung, die Pen-
dellänge l der Last, die Masse m1 der Laufkat- Abbildung 33.18: Originalsysteme (links) und das
ze einschließlich der anteilig mitschwingenden zugehörige Berechnungsmodell (rechts)
Trägermasse, die Lastmasse m2 .
Man ermittle die Bewegungs-Differenzialgleichungen (Verwendung der Lagrangeschen Glei-
chungen 2. Art) für das System mit zwei Freiheitsgraden. Die Koordinate x zählt von der sta-
tischen Gleichgewichtslage aus.
Aufgabe 33.5:
Für die skizzierte Biegefeder
mit einem Rechteckquerschnitt konstanter Höhe
t bei linear veränderlicher Breite soll näherungs-
weise die Biegelinie mit dem Verfahren von Ritz
0
1
den.
/2 /2
Gegeben: t , b0 , b1 , l , F , E .
Man verwende als Ritz-Ansatz die Funktion der Biegelinie für den Träger mit konstantem Quer-
schnitt (Tabelle auf Seite 260) und vergleiche die Näherungslösung für die Absenkung des Kraft-
angriffspunktes mit der exakten Lösung (Beispiel auf Seite 436) für folgende Breitenverhältnisse:
b1
b0 = 1 ; 1, 2 ; 1, 5 ; 2.
Aufgabe 33.6:
Eine Einzelmasse M ist wie
skizziert auf einem Biegeträger befestigt.
Gegeben: M , l , ρA = kM
. /2 /2
l
a) Die kleinste Eigenkreisfrequenz der Biegeschwingungen soll mit Hilfe des Rayleighschen
Quotienten berechnet werden bei Näherung der Verformung durch die Funktion der Biege-
linie unter konstanter Linienlast (Fall b auf Seite 260) für die Parameter k = 0 (Vernachläs-
sigung der Trägermasse), k = 1 (Trägermasse in der Größenordnung der Einzelmasse) und
k = 10 (Trägermasse dominierend).
b) Der Fall k = 0 (Vernachlässigung der Trägermasse) soll überprüft werden mit der Näherungs-
rechnung, die im Abschnitt 31.2.2 vorgestellt wurde.
Weil die Methode der finiten Elemente heute sicher das am meisten benutzte Verfahren zur Lö-
sung naturwissenschaftlicher und technischer Probleme ist, wurde sie in diesem Buch mehrfach
im Zusammenhang mit den jeweils behandelten Themen vorgestellt. Aber die Grundlagen der
Technischen Mechanik sind nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der Anwendungspalette für die-
ses Verfahren. Deshalb soll hier noch einmal eine Zusammenfassung präsentiert werden, die
sich natürlich auch auf (allerdings anspruchsvollere) Probleme der Technischen Mechanik be-
schränkt. Dabei wird einerseits das Ziel verfolgt, die Leistungsfähigkeit des Verfahrens gera-
de für die komplizierteren praxisnahen Aufgaben zu verdeutlichen, andererseits aber auch auf
die Gefahren und Grenzen bei der Benutzung der verfügbaren (außerordentlich leistungsfähigen
kommerziellen) Sofware-Produkte hinzuweisen.
Im Folgenden wird vorausgesetzt, dass der Leser sich zumindest teilweise mit den im Kapitel 15
und den Abschnitten 18.2, 19.2.4 und 33.5.4 gegebenen Einführungen befasst hat, anderenfalls
wird bei den entsprechenden Verweisen ein „Zurückblättern“ empfohlen.
Man kann sich der Methode der finiten Elemente auf zwei recht unterschiedlichen Wegen nähern,
und aus historischer Sicht (siehe die einführenden Bemerkungen zum Kapitel 15.1) hat es einige
Jahrzehnte gedauert, bis man merkte, dass beide Wege zum gleichen Ziel führen:
À Man ermittelt Lösungen für die Elemente und setzt die Elementlösungen zu Systemlösungen
zusammen, indem in jedem Schritt die Anforderungen an die Lösung beachtet werden (Gleich-
gewicht, Kompatibilität, Elastizitätsgesetz, ...). Dieser Weg ist im Kapitel 15 und im Ab-
schnitt 18.2 beschritten worden. Er führte jeweils auf ein lineares Gleichungssystem für die
Verformungen an speziellen Punkten (Knoten).
Á Man betrachtet zunächst das Gesamtsystem und macht einen Ansatz für die zu berechnende
Funktion (bei elastostatischen Problemen z. B. für die Verformung), der noch zu bestimmen-
de Freiwerte enthält. Für den Ansatz werden allerdings viele (nur bereichsweise „in einem
Element“ geltende) Funktionen verwendet, und als Freiwerte nimmt man die Funktionswerte
an den Übergangsstellen (Knoten). Dadurch wird die Kompatibilität gewährleistet. Schließ-
lich werden die Freiwerte so bestimmt, dass der Ansatz mit den berechneten Freiwerten die
Anforderungen an eine Lösung erfüllt oder besonders gut annähert. Dieser Weg wurde im
Abschnitt 33.5.4 unter Nutzung eines Minimalprinzips demonstriert.
Der Weg À (häufig als „strukturdynamischer“ Zugang bezeichnet) hat den Vorteil, dass man
jederzeit die Konsequenzen der einzelnen Schritte verfolgen kann. Weg Á ist zweifellos aus
mathematischer Sicht eleganter und wird deshalb von Mathematikern und Physikern bevorzugt
(auch deshalb, weil er nicht beim physikalischen Modell, sondern erst beim mathematischen
Modell ansetzt, vgl. hierzu die Ausführungen im Abschnitt 15.5)1 .
Ingenieure favorisieren im Allgemeinen Weg À, vornehmlich aus dem Grunde, weil man die
vielen möglichen Zusatzbedingungen mit stets plausiblen Begründungen realisieren kann, z. B.
unterschiedliche Modelle in einem System (Stäbe, Biegeträger, Torsionsstäbe, Scheiben, Platten,
Schalen, . . .), alle denkbaren Lagervarianten einschließlich Federn und Drehfedern, Gelenke,
Scharniere, . . . Im Abschnitt 18.2.3 wurde am Beispiel des Biegeträgers gezeigt, wie auf diesem
Wege auch wesentliche „Nachbesserungen“ realisiert werden können.
Der Weg Á ist nicht beschränkt auf Probleme, für die (wie im Abschnitt 33.5.4) ein Extremal-
prinzip existiert. Dieser Weg lässt sich ebenso elegant realisieren mit Differenzialgleichungen
und den zugehörigen Randbedingungen als Ausgangspunkt. Die theoretische Basis dafür liefert
die so genannte Methode der gewichteten Residuen. Darauf wird hier nicht eingegangen, weil für
die weitaus meisten Probleme der Technischen Mechanik ein Extremalprinzip verfügbar ist.
Für die komplizierteren (zwei- und dreidimensionalen) Probleme kann als theoretischer Zugang
zur Methode der finiten Elemente eine Kombination der Wege À und Á empfohlen werden: Man
startet mit dem mathematischen Modell (z. B.: Extremalprinzip), wählt geeignete (bereichsweise
geltende) Ansatzfunktionen mit geeigneten Freiwerten (z. B.: Knotenverformungen) und kommt
über die Extremalbedingungen zu den Gleichungen für die Freiwerte, wie es im Abschnitt 33.5.4
für den Biegeträger bis zur Beziehung 33.61 demonstriert wurde. Dann geht man allerdings noch
einen (eigentlich auf diesem Wege nicht erforderlichen) Schritt weiter, und schreibt eine „Ele-
mentbeziehung“ auf (im Abschnitt 33.5.4 ist dies die Gleichung 33.62).
Und weil innere Kräfte bzw. Momente des Systems bei diesem Weg gar nicht auftauchen, sollte
man an diesem Punkt (bei Problemen der Technischen Mechanik) an den Weg À anknüpfen. Für
das Beispiel im Abschnitt 33.5.4 bedeutet dies, dass die Element-Beziehung, die in der Formu-
lierung 33.62 nur der „Elementanteil zur System-Beziehung“ ist, zur „echten“ Element-Steifig-
keitsbeziehung gemacht wird: Der Nullvektor auf der rechten Seite wird durch den „Vektor der
Element-Knotenlasten“ ersetzt, so dass die „erweiterte Element-Steifigkeitsbeziehung“ entsteht,
wie sie sich für das Biegeträger-Element nach Weg À mit 18.11 ergab. Dies ist deshalb empfeh-
lenswert, weil bei Problemen der Technischen Mechanik die inneren Belastungen (Schnittgrö-
ßen, Stabkräfte, Spannungen) meistens die wichtigeren Ergebnisse sind.
Gemeinsam ist beiden Wegen (neben dem Ziel) das Arbeiten mit Ansatzfunktionen, und genau
die sind der Schlüssel zum Erfolg oder Misserfolg der Rechnung: Kann mit den verwendeten
Ansätzen die exakte Lösung ausreichend genau beschrieben werden? Diese Frage steht deshalb
bei den nachfolgenden Betrachtungen im Mittelpunkt.
Der folgende Satz kann eigentlich gar nicht oft genug wiederholt werden:
1 DieAutoren haben häufig registrieren müssen, dass es erhebliche Verständigungsschwierigkeiten gab (vornehmlich
zwischen Ingenieuren einerseits und Mathematikern und Physikern andererseits), obwohl über den gleichen Gegen-
stand geredet wurde, und hoffen, dass diese mit den Ausführungen hier etwas abgebaut werden können.
34.1 Zugang zur Theorie 697
Im Abschnitt 22.1 wurde erläutert, dass für viele Probleme der Praxis die „eindimensionalen“
Modelle (z. B.: Stab, Biegeträger) nicht ausreichend sind. Für zweidimensionale Bauteile (Schei-
ben, Platten, Schalen) gibt es zwar ausgezeichnete mathematische Modelle (Differenzialglei-
chungen, Variationsprobleme), die sich aber einer analytischen Lösung (bis auf wenige „akade-
mische“ Spezialfälle) entziehen. Dies gilt in noch schärferer Form für dreidimensionale Modelle.
Es hat Knoten (20, bei den einfachen Elementen waren es nur 2), dem Element sind die Materi-
aleigenschaften zugeordnet, seine Geometrie definiert sich über die Knotenkoordinaten, es wird
mit seinen Nachbarelementen über die Knoten verbunden. Die sehr aufwendige und komplizierte
Berechnung der Element-Steifigkeitsbeziehung (die Steifigkeitsmatrix, die auch hier die Knoten-
verschiebungen mit den Knotenkräften verknüpft, hat 60 Zeilen bzw. Spalten) braucht den Pro-
grammbenutzer so wenig zu interessieren wie bei der Verwendung eines Stab- oder Biegeträger-
Elements.
Aber es gibt auch gravierende Unterschiede, so bildet z. B. die Element-Steifigkeitsbeziehung
des 3D-Elements die zugrunde liegende Theorie (z. B. die Elastizitätstheorie isotroper Materia-
lien) nur näherungsweise ab. Dies sollte der Benutzer eines Programmsystems wissen und auch
beachten. Im folgenden Abschnitt werden die Konsequenzen am wesentlich einfacheren zweidi-
mensionalen Beispiel beschrieben.
698 34 Methode der finiten Elemente
Das einfachste zweidimensionale Modell ist die Scheibe (flächenhaftes ebenes dünnwandiges
Gebilde, das nur in seiner Ebene belastet ist). An den beiden nachfolgend skizzierten einfachen
Beispielen soll der Unterschied beim Erzeugen eines Finite-Elemente-Berechnungsmodells für
den biege- und dehnsteifen Rahmen bzw. eine ebene Scheibe demonstriert werden.
Eine Analyse der beiden Modelle der Abbildungen 34.2 und 34.3 aus der Sicht des Berechnungs-
Ingenieurs, der mit „klassischen Berechnungsverfahren“ arbeitet, liefert folgendes Ergebnis:
• Das skizzierte Rahmentragwerk kann nach der klassischen Biegetheorie (Kapitel 16, 17
und 24) berechnet werden (Verformungen, Schnittgrößen, Spannungen), „im Prinzip“. Der
Einfluss der Dehnung infolge der Normalkräfte kann sicher mit gutem Gewissen vernach-
lässigt werden. Aber: Kein mit normaler Vernunft ausgestatteter Ingenieur würde sich die
Mühsal der „Handrechnung“ heute noch antun (das Tragwerk ist immerhin achtfach statisch
unbestimmt).
• Die Konsole kann nach der Theorie der ebenen Scheiben behandelt werden. Eine analytische
Lösung des Problems der einseitig eingespannten und krummlinig berandeten Scheibe ist
jedoch unmöglich.
Bei der Anwendung der Finite-Elemente-Methode auf beide Probleme gibt es (neben vielen
Gemeinsamkeiten) ähnliche Unterschiede in der Beurteilung der zu erwartenden Ergebnisse:
• FEM-Programme können die Theorie der biege- und dehnsteifen Träger exakt erfas-
sen. Bei Benutzung des Programms „Biege- und dehnsteife ebene Rahmen“ z. B., das unter
www.TM-interaktiv.de zur interaktiven Nutzung zur Verfügung steht, erhält man die Ergeb-
nisse, die sich nach der Handrechnung ergeben würden, wenn die Handrechnung für das
Problem fehlerfrei gelänge, was allerdings eher unwahrscheinlich ist.
• Die Scheiben-Theorie kann auch von der Finite-Elemente-Methode nur approximiert
werden. Man kann dem Ergebnis der Scheiben-Theorie möglicherweise sehr nahe kommen
(man weiß allerdings nie genau, wie nahe, denn eine analytische Lösung ist mit Ausnahme
sehr weniger „akademischer“ Probleme unmöglich), schließlich entscheidet der betriebene
Aufwand weitgehend darüber, wie gut das Ergebnis ist. Der erforderliche Aufwand und
die zu erwartende Qualität des Ergebnisses sind eng verknüpft mit dem Problem, das zu
berechnende System in finite Elemente zu unterteilen.
34.2 Ein- bzw. zweidimensionale FEM-Modelle 699
lung zu wählen, denn die „Elementlösungen“ basie- Abbildung 34.4: Nur diese Elementein-
ren auf den Annahmen der klassischen Biegetheorie. teilung für den Rahmen ist sinnvoll
• Ganz anders muss für das Scheibenproblem überlegt werden: Da in jedem Fall auch die Ele-
mentlösungen zwangsläufig Näherungen sind, trifft man schon mit der Auswahl geeigneter
Elemente eine wichtige Vorentscheidung für die Qualität der Ergebnisse, so dass hier sowohl
Elementauswahl als auch die Einteilung des Systems in Elemente entscheidend sind.
Die Abbildung 34.5 zeigt drei gebräuchliche Scheibenelemente mit 3, 6 bzw. 8 Knoten. Nur
über diese Knoten haben sie mit den Nachbarelementen Kontakt und können, wie in der Abbil-
dung angedeutet, zwei Kraftkomponenten an den Knoten übertragen. Die Knotenverschiebungen
(Anzahl und Richtungen stimmen mit den Knotenkräften überein) sind die Freiwerte für den Ver-
schiebungsansatz, so dass die skizzierten Elemente 6, 12 bzw. 16 Freiheitsgrade haben.
Wie später noch demonstriert werden wird, ist das einfache Element mit nur 6 Freiheitsgraden
wenig empfehlenswert, weil damit nur bei einer sehr großen Elementanzahl brauchbare Nähe-
rungen erreicht werden können.
Eine wesentlich bessere Näherung darf man mit dem Dreieckselement mit 6 Knoten erwarten (je-
weils zusätzliche Knoten in den Seitenmitten). Die ohnehin schon sehr gute Anpassungsmöglich-
keit von Dreieckselementen auch an kompliziertere Konturen kann noch dadurch erhöht werden,
dass (wie skizziert) ein Element mit gekrümmten Kanten verwendet wird. Mit 12 Freiheitsgraden
kann der Verschiebungszustand wesentlich besser erfasst werden.
700 34 Methode der finiten Elemente
Ähnliche Aussagen gelten für das in der Abbildung 34.5 skizzierte Viereckselement. Es sind
natürlich auch Elemente mit noch größerer Knotenanzahl denkbar, die beiden Elemente mit 12
bzw. 16 Freiheitsgraden haben sich allerdings in der Praxis als besonders günstiger Kompromiss
zwischen gewünschter Genauigkeit und erforderlichem Aufwand erwiesen.
Die Abbildung 34.6 zeigt eine Einteilung der Konsole in 11 Sechs-Knoten-Dreieckselemente
(für zwei- und dreidimensionale Systeme wird die Element-Einteilung als Vernetzung bezeich-
net). Es ergeben sich 32 Knoten (bei 2 Freiheitsgraden pro Knoten entsteht ein Gleichungssystem
mit 64 Gleichungen).
Die Frage, ob eine solche Einteilung ausrei-
chend fein ist, kann allgemein nicht beantwortet
werden. Der Praktiker, der nicht bereits durch
zahlreiche Finite-Elemente-Berechnungen aus-
reichende Erfahrungen gesammelt hat, kommt
nicht umhin, gegebenenfalls mehrere Rech-
nungen mit unterschiedlich feiner Vernetzung
durchzuführen. Allgemein gilt: In Bereichen mit
starker Änderung der Spannungen (speziell z. B.
in der Nähe von Kerben, wo Spannungsspitzen
zu erwarten sind) muss eine besonders feine Ver-
Abbildung 34.6: Vernetzung der Konsole
netzung gewählt werden.
Speziell für das betrachtete Problem gilt: Auch bei sehr bescheidenen Anforderungen an die
Genauigkeit der Ergebnisse ist die skizzierte Vernetzung wesentlich zu grob.
Die sinnvolle Einteilung eines Systems in finite Elemente (Vernetzung) ist außerordent-
lich schwierig und verlangt Erfahrung. Man lasse sich nicht täuschen von Aussagen über
„Datengenerator-Programme“, die das angeblich automatisch (das allerdings können sie tat-
sächlich) und damit auch immer sinnvoll erledigen.
Im Gegensatz dazu kann man bei der Elementeinteilung für Probleme, deren „klassische
Theorie“ von der Finite-Elemente-Methode exakt erfasst wird (z. B.: Fachwerke oder biege-,
dehn- und torsionssteife Rahmen) praktisch nichts falsch machen.
Problematisch ist die (aus kommerziellen Gründen durchaus verständliche) Tendenz der An-
bieter großer (und zweifelsfrei außerordentlich leistungsfähiger) FEM-Programmsysteme, die
Probleme der Elementauswahl und Vernetzung hinter komfortablen Benutzeroberflächen zu
verstecken. Die Aussage „Automatische Netzgenerierung unter Verwendung leistungsfähiger
Elemente“ darf nicht dazu verleiten, Netz und Elemente nicht zu hinterfragen. Eine Aussa-
ge über die Anzahl der Elemente (mit einer möglichst beeindruckenden Zahl) ist ohne die
Kenntnis des Elementtyps nicht ausreichend (siehe Beispiel 1 auf Seite 705) und sagt auch
noch nichts über die Qualität des Netzes, denn viel wichtiger ist die Antwort auf die Frage,
ob der automatisch arbeitende Netzgenerator die kritischen Bereiche überhaupt erkannt (und
entsprechende Netzverfeinerungen vorgesehen) hat.
34.2 Ein- bzw. zweidimensionale FEM-Modelle 701
Auch die tatsächliche Lagerung der Scheibe kann natürlich nur approximiert werden. Die
Abbildung 34.8 zeigt, wie der eingespannte Rand durch Festlager für alle auf dem Rand
liegenden Knoten angenähert werden muss.
702 34 Methode der finiten Elemente
Das Bereitstellen der Element-Steifigkeitsmatrix und des Vektors der reduzierten Elementlas-
ten ist die entscheidende Vorarbeit für die Behandlung einer Aufgabenklasse mit der Finite-
Elemente-Methode. Diese Vorarbeit muss nur einmal geleistet werden (z. B. vor dem Schreiben
eines Computerprogramms, nicht von dem Benutzer des Programms). Was der Anwender von
Finite-Elemente-Computerprogrammen unbedingt wissen sollte, sind die Eigenschaften der ver-
wendeten finiten Elemente und die Näherungsannahmen, die bei der Herleitung der Element-
Steifigkeitsbeziehung getroffen wurden. Die unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die bei ein-
bzw. zweidimensionalen Problemen zu ziehen sind, sollen am ebenen Rahmenelement und dem
einfachsten ebenen Scheibenelement (Dreieck mit 6 Freiheitsgraden) erläutert werden:
ê Für das ebene Rahmenelement wurde die Element-Steifigkeitsbeziehung im Abschnitt 18.2.4
hergeleitet. Mit Formel 18.16 ergab sich eine Element-Steifigkeitsmatrix mit 6 Zeilen bzw.
Spalten (2 Knoten mit je 3 Freiheitsgraden: Verschiebungen ui und vi und Verdrehwinkel
ϕi ). Beim Einsatz dieses Elements ist die Kompatibilität der Verformungen mit den Nach-
barelementen automatisch garantiert, weil diese an den Knoten die gleichen Verformungen
erfahren.
ê Auch das einfache Scheibenelement hat 6 Freiheitsgrade (3 Knoten mit je 2 Freiheitsgraden:
Verschiebungen ui und vi ). Damit ist zunächst nur die Kompatibilität der Verschiebungen mit
den Nachbarelementen an den Knoten garantiert, aber natürlich müssen alle Punkte einer
Elementkante die gleichen Verformungen wie die Punkte der Elementkante des Nachbarele-
ments haben, um ein Auseinanderklaffen oder Überlappen zu vermeiden. Dafür muss durch
geeignete Verschiebungsansätze benachbarter Elemente gesorgt werden.
Für den Verschiebungszustand innerhalb des Scheibenelements muss eine Näherungsannahme
getroffen werden. Für die beiden Verschiebungskomponenten u(x, y) und v(x, y) müssen zwei
Funktionen angesetzt werden, die beim ebenen Problem von zwei Koordinaten abhängen. Üb-
licherweise werden algebraische Funktionen benutzt, bei einem Element mit 6 Freiheitsgraden
kann nur ein Ansatz mit 6 Freiwerten verwendet werden. Da keine Koordinatenrichtung bevor-
zugt werden soll, sind dies also 3 Terme für jede Verschiebungskomponente:
u(x, y) = a0 + a1 x + a2 y , v(x, y) = b0 + b1 x + b2 y . (34.1)
Wie man mit diesem Ansatz zu der auf der Seite 703 angegebenen Element-Steifigkeitsmatrix
34.2 kommt, braucht den Benutzer eines FEM-Programms nicht zu interessieren. Für Interessen-
ten sei angemerkt, dass der eleganteste Weg der im Abschnitt 33.5.4 am Beispiel des Biegeträgers
beschriebene Algorithmus ist, der mit der Ansatzfunktion 33.56 startet, die das Pendant zu 34.1
ist. Auch für das Scheibenproblem existiert ein Variationsproblem, das mit dem Verfahren von
Ritz schließlich zur Element-Steifigkeitsbeziehung führt.
Aber die Konsequenzen, die in diesem einfachen Fall sehr deutlich sind, müssen vom Benutzer
eines FEM-Programms beachtet werden:
ê Ein „exaktes Ergebnis“ ist nur zu erwarten, wenn sich die Verschiebungen tatsächlich nur
nach einer linearen Funktion ändern. Das ist z. B. für den einfachen Zug- oder Druckstab
mit konstanter Normalkraft der Fall (siehe Beispiel auf Seite 708).
34.2 Ein- bzw. zweidimensionale FEM-Modelle 703
v3
Dass die Element-Steifigkeitsmatrix 34.2 direkt mit Formeln für jedes einzelne Matrixelement
angegeben werden kann, ist bei zweidimensionalen Problemen eine seltene Ausnahme. Die For-
meln für das (ansonsten nicht zu empfehlende) Drei-Knoten-Element wurden hier angegeben,
um die Gemeinsamkeiten der beiden betrachteten Problemklassen zu zeigen:
704 34 Methode der finiten Elemente
Beispiel:
Für die skizzierten „biegeträger-ähnlichen“ Systeme sind nach der Scheibentheorie
die Verformungen und die Spannungen zu berechnen. Die Dicke t, der Elastizitätsmodul E und
die Querkontraktionszahl ν sind jeweils für die gesamte Scheibe konstant.
Gegeben: F = 200 N ; l = 200 mm ; h = 20 mm ; t = 5 mm ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 ; ν = 0, 3 .
2 Die hier angegebenen Ergebnisse wurden mit Programmen berechnet, die mit dem „Finite-Elemente-Baukasten“ Fem-
set erzeugt wurden, siehe Informationen in der Box auf Seite 714. Für das Beispiel 1 findet man unter www.TM-
aktuell.de auch die ausführlich kommentierte Berechnung mit einem kommerziellen System (Ansys).
706 34 Methode der finiten Elemente
Nachfolgend sind die Ergebnisse für zwei Elementtypen (Drei-Knoten-Dreieck und Acht-Knoten-
Viereck) zusammengestellt:
Fall a) Fall b)
Element- Anzahl der Anzahl der vF σx, max vF σx, max
Typ Elemente Knoten [mm] [N/mm2 ] [mm] [N/mm2 ]
3 7 1
1×2 = 2 13 0,709 104 0,0410 −20, 5
6 5
2 × 10 = 20 85 0,764 124 0,0491 −31, 1
2
4 8 4 × 30 = 120 429 0,767 132 0,0495 −35, 8
3 2×2 = 4 6 0,027 2,99 0,00024 −0, 43
4 × 10 = 40 33 0,283 45,0 0,0186 −10, 4
1 8 × 30 = 240 155 0,602 97,4 0,0388 −24, 4
2
10 × 80 = 800 486 0,691 113 0,0445 −30, 4
Biegetheorie 0,762 120 0,0476 −30
Theoretisch müssten die Ergebnisse nach der Scheibentheorie aus folgenden Gründen besser sein
als nach der Theorie des Biegeträgers:
• Die Scheibentheorie unterliegt nicht der „Bernoulli-Annahme“ der Biegetheorie vom Eben-
bleiben der Querschnitte.
• Die Lasteinleitung kann tatsächlich dort erfolgen, wo die Last wirkt. In der Biegetheorie
steckt z. B. immer die stillschweigende Annahme, dass Einzellasten in den Querschnitt ent-
sprechend der Querkraftverteilung über die Höhe eingeleitet werden.
• Eine entsprechende Aussage gilt für die Lagerung, und an einer Einspannung z. B. (Fall a)
setzt die Biegetheorie voraus, dass sich Vertikaldehnungen ungestört einstellen können.
Praktisch kann aber nach der Scheibentheorie nur eine Näherungslösung erzeugt werden. Bei
einer groben Näherung werden die Ergebnisse der Biegetheorie die Realität sicher besser annä-
hern, wenn man allerdings den (unbekannten) theoretischen Lösungen mit der Finite-Elemente-
Methode sehr nahe kommt, sind diese Ergebnisse zu bevorzugen. Die berechneten Ergebnisse
zeigen das: Bei einer groben Einteilung des Systems in finite Elemente erhält man eine entspre-
chend grobe Näherung der Realität, und die klassische Biegetheorie liefert bessere Ergebnisse.
Bei feiner werdender Vernetzung sind die Ergebnisse der Finite-Elemente-Methode den Ergeb-
nissen der Biegetheorie überlegen.
Die Ergebnisse für das Acht-Knoten-
Viereckselement bestätigen diese Aussage.
Während die extrem grobe Einteilung in
nur 2 Elemente immerhin schon Ergebnisse
liefert, die in der zu erwartenden Größen-
ordnung liegen, sind die Ergebnisse mit 20
Elementen brauchbar und genügen bei 120
Elementen auch gehobenen Ansprüchen
(Abbildung 34.11 zeigt zwei Netze). Abbildung 34.11: Netze mit Acht-Knoten-Elementen
34.3 Weitere Elementtypen, Testrechnungen 707
Es ist übrigens kein Zufall, dass die berechneten Verschiebungen mit feiner werdender Vernet-
zung immer größer werden. Dies ist mit dem im Abschnitt 33.5 behandelten Prinzip vom Mini-
mum des elastischen Potenzials zu erklären: Die zur Konkurrenz zugelassenen Vergleichsfunk-
tionen werden mit feinerer Vernetzung immer anpassungsfähiger an die (unbekannte) Lösungs-
funktion, mit der sich tatsächlich das Minimum des elastischen Potenzials ergeben würde, weil
die elementweise aufzuschreibenden Ansatzfunktionen natürlich beliebige Funktionen bei klei-
ner werdenden Elementen besser approximieren können.
Interessant ist der Einfluss der starren Ein- Element- Anzahl der vF σx, max
spannung, der sich erst bei noch wesentlich Typ Elemente [mm] [N/mm2 ]
feinerer Vernetzung deutlich zeigt. Während 3 7 1
480 0,768 141
sich der Wert für die Verschiebung unter 6 5
1920 0,768 160
der Kraft nicht mehr ändert (und sehr nah 4 8 2
Ursache dafür sind die an der Einspannstelle verhinderten Vertikalverschiebungen, die an den
kritischen Stellen (oberer und unterer Rand) zu erheblichen Zwängen führen, die von der Theorie
des Biegeträgers nicht erfasst werden. Wenn man bei der Vergleichsrechnung „dem Biegeträger
entgegenkommen wollte“, müssten für die Scheibe am linken Rand nur die Horizontalverschie-
bungen verhindert werden (und nur z. B. für den mittleren Punkt auch die Vertikalverschiebung).
Dann könnten sich auch (wie in der Theorie der Biegeträger angenommen) an der Einspannstelle
die Vertikalverschiebungen ohne Zwang einstellen. Eine solche Rechnung liefert dann dort auch
für die Spannungen fast genau die Werte des Biegeträgers.
Ganz anders ist die Situation mit den 3-Knoten-Elementen (zur Erinnerung: Linear veränderli-
cher Verschiebungsansatz, deshalb konstante Spannungen in einem Element).
Die Einteilung in nur 4 Elemente (Abbildung
34.13) kann natürlich kein vernünftiges Er-
gebnis liefern (gefährlich ist aber, dass das
Verfahren überhaupt ein Ergebnis liefert).
Doch auch bei feiner werdender Vernetzung
steigt die Genauigkeit nur sehr langsam. Abbildung 34.13: Unbrauchbares Netz
Die Ergebnisse mit einer Einteilung in 40
Elemente sind immer noch unbrauchbar.
Selbst mit 800 Elementen ist das Resultat
noch sehr unbefriedigend und hat nicht annä-
hernd die Qualität, die mit dem Acht-Knoten-
Element schon bei einer Einteilung in 20 Ele-
mente erreicht wird. Man bedenke, dass bei
der 800-Elemente-Rechnung immerhin 486
Knoten berücksichtigt werden, so dass ein
Gleichungssystem mit 972 Unbekannten ge-
löst werden muss. Abbildung 34.14: Netze mit Drei-Knoten-Elementen
708 34 Methode der finiten Elemente
Selbst eine sehr feine Vernetzung kann bei Verwendung ungeeigneter Elemente zu äußerst
ungenauen bis unbrauchbaren Ergebnissen führen.
ê Das hier am zweidimensionalen Modell demonstrierte Problem gilt in ganz ähnlicher Weise
auch für dreidimensionale Elemente. Recht beliebt sind für 3D-Modelle wegen der Möglich-
keit, annähernd beliebige geometrische Formen sehr gut nachbilden zu können, die Tetraeder-
Elemente. Das einfachste Element dieses Typs hat vier Knoten mit je 3 Freiheitsgraden, so
dass für die 3 Richtungen jeweils ein viergliedriger Ansatz für die Verschiebungsfunktion
verwendet werden kann. Das bedeutet: Nur lineare Glieder im Verschiebungsansatz, kon-
stante Verzerrungen und damit konstante Spannungen im Element. Dieses Element verlangt
ähnlich feine Vernetzungen wie das Drei-Knoten-Element bei der Berechnung von Scheiben-
problemen.
Eindrücklich gewarnt werden muss vor der Versuchung, ein möglichst feines Netz (mit einfachen
Elementen) zu erzeugen, mit dem eine hohe Qualität der Rechnung suggeriert werden soll. Das
Beispiel zeigte, dass die Verwendung geeigneter Elementtypen ein mindestens ebenso wichtiges
Kriterium für die Beurteilung einer Rechnung ist, denn Verifizieren kann man die Ergebnis-
se vieler Finite-Elemente-Berechnungen sehr häufig nicht, gerade weil Probleme gelöst werden
können, die sich einer Lösung mit anderen Verfahren entziehen.
Und weil nach den vielen positiven Aussagen über die Finite-Elemente-Methode das gerade
behandelte Beispiel möglicherweise abschreckend wirkte, soll hier noch einmal betont werden:
Die Methode der finiten Elemente ist ein außerordentlich leistungsfähiges (und für zahlrei-
che Probleme das einzige praktikable) Verfahren. Komfortable FEM-Programmsysteme sind
unverzichtbare Hilfsmittel für den Ingenieur.
Aber: Der Anwender sollte wissen, was er tut!
2
dert. Mit der Formel für das Flächenträgheitsmoment
1
für einen Kreisquerschnitt (Seite 222) kann die von ze
abhängige Biegesteifigkeit so formuliert werden:
ze 4
π 4 π
EIe (ze ) = E de (ze ) = E d1 + (d2 − d1 ) . Abbildung 34.16: Biegeträger mit linear
64 64 le veränderlichem Durchmesser
In die Formeln der Matrixelemente der Elementsteifigkeitsmatrix gehen neben EIe (ze ) noch die
zweiten Ableitungen der Ansatzfunktionen 33.58 ein:
6 ze 4 ze
g001 (ze ) = − 2
+ 12 3 , g002 (ze ) = − +6 2 ,
le le le le
6 ze 2 ze
g003 (ze ) = − 12 3 , g004 (ze ) = − + 6 2 .
le2 le le le
Damit können die Integrale für die Matrixelemente der Elementsteifigkeitsmatrix
Zle
(e)
kmn = EIe (ze ) g00m (ze ) g00n (ze ) dze
ze =0
aufgeschrieben und geschlossen gelöst werden. Dies ist etwas mühsam (für das einfache Problem
aber durchaus nicht schwierig) und wird deshalb im Allgemeinen numerisch erledigt. Dafür wer-
den bevorzugt die Quadraturformeln von Gauß (nach C ARL F RIEDRICH G AUSS , 1777 - 1855)
verwendet, bei denen nG (nicht äquidistante) Stützstellen im Integrationsbereich (Gauß-Punkte)
so liegen, dass ein Polynom (2 nG − 1)-ten Grades exakt integriert wird3 . Im Allgemeinen ist die
Genauigkeit der Gauß-Formel für nG = 3 ausreichend, die ein Integral folgendermaßen nähert:
Zl
l 3 ∗ l
f (z) dz ≈ ∑ wi f (zi ) mit zi = (1 + ξi ) ,
2 i=1 2
z=0 (34.5)
r r
3 3 5 8 5
ξ1, 2, 3 = − , 0 , , w∗1, 2, 3 = , , .
5 5 9 9 9
Damit ergeben sich die Matrixelemente der Elementsteifigkeitsmatrix aus folgender Summe:
(e) le 3 ∗ le
kmn ≈ ∑ wi EIe (zi ) g00m (zi ) g00n (zi )
2 i=1
mit zi =
2
(1 + ξi ) . (34.6)
3 Unter www.TM-aktuell.de findet man (Stichwort „Gauß-Integration“) eine ausführlicher Darstellung dieses Themas
710 34 Methode der finiten Elemente
Beispiel:
Für die skizzierte konische Welle, 2000 N 4000 N
bei der sich der Durchmesser in zwei Abschnit-
20
50
ten jeweils linear ändert, ist die Durchbiegung
(Elastizitätsmodul: E = 2, 1 · 105 N/mm2 ) zu be-
rechnen. Der Einfluss der Feinheit der Vernet- 100 250 250 400 100
zung auf die Ergebnisse ist zu untersuchen.
Die „natürliche“ Einteilung des Systems in 5 Ele- 1 2 3 4 5
mente (Abbildung 34.17, obere Skizze), die sich
mit der Verfügbarkeit eines Elements mit veränder-
lichem Querschnitt3 anbietet, liefert nur eine Nä-
herungslösung, weil die verwendeten Ansatzfunk- 1 2 3 4 5 6
tionen die komplizierten Funktionen, mit denen ei-
1 2 9 10 11 18 19
ne Biegelinie bei veränderlichem Querschnitt be-
schrieben wird, nicht exakt nachbilden können.
Für den Vergleich werden die Durchbiegungen an
den vier Übergangsstellen von jeweils konstan-
1 2 10 11 19 20
tem zu veränderlichem Querschnitt gewählt (in der
mittleren Skizze der Abbildung 34.17 sind das die Abbildung 34.17: Einteilung der Welle in 5
Knoten 2, 3, 4 und 5). bzw. 19 Elemente
Bei noch feinerer Einteilung (jeweils nur die konischen Abschnitte, die 3 Abschnitte mit kon-
stantem Querschnitt werden von der Element-Steifigkeitsmatrix exakt abgebildet) in insgesamt
35 Elemente sind die Ergebnisse praktisch exakt (die entsprechend der jeweils feineren Element-
einteilung ausgewiesenen Knotennummern in einer Zeile beziehen sich immer auf den gleichen
Punkt der Welle).
Es bietet sich an, die Ergebnisse mit einer Vergleichsrechnung mit dem ein-
fachen Biegeträger-Element mit konstantem Querschnitt zu überprüfen, weil
die Ergebnisse zumindest in gleicher Größenordnung zu erwarten sind. Als
Durchmesser des Querschnitts wird z. B. für jedes Element der „mittlere
Durchmesser“ angenommen.
3 Daskonische Biegeträger-Element ist so, wie es auf Seite 709 beschrieben wird, im „Finite-Elemente-Baukasten“
Femset verfügbar, siehe Informationen in der Box auf Seite 714. Die Berechnungen für das Beispiel wurden mit
Matlab-Femset ausgeführt, siehe www.TM-aktuell.de.
34.3 Weitere Elementtypen, Testrechnungen 711
Abbildung 34.20: Berechnung mit dem Programm „Gerade Biegeträger“ (www.TM-interaktiv.de): Der
Benutzer beschreibt 5 Elemente, für die interne Berechnung werden 500 Elemente verwendet.
712 34 Methode der finiten Elemente
Im Kapitel 21 wurde gezeigt, dass im Rahmen der St.-Venantschen Torsionstheorie das Torsions-
trägheitsmoment eines beliebigen einfach zusammenhängenden Querschnitts nach 21.29 (Seite
382) berechnet werden kann:
∂ 2Φ ∂ 2Φ
Z
+ =1 mit ΦRand = 0 und It = −4 Φ dA . (34.7)
∂ x2 ∂ y2
A
Nur für sehr wenige Querschnitte lässt sich dieses Problem geschlossen lösen. Eine Näherungslö-
sung mit der Methode der finiten Elemente unterscheidet sich deutlich von allen bisher in diesem
Buch behandelten Aufgaben:
ê Es ist (von diesem Startpunkt aus) ein rein mathematisches Problem (Lösung der Pois-
sonschen Differenzialgleichung), die Begriffe „Kraft“, „Verschiebung“, „Steifigkeitsmatrix“
verlieren hier ihre Bedeutung. Sie werden aber (üblicherweise) weiter verwendet.
Es gibt kein Pendant zu den Element-Knotenlasten (und auch nicht zu den Schnittgrößen).
Diese Aufgabe eignet sich deshalb hervorragend zur Demonstration des am Anfang dieses
Kapitels (Seite 695) als Zugang Á zur Finite-Elemente-Theorie beschriebenen Weges.
In der Variationsrechnung wird gezeigt, dass das Minimalproblem
" # 3
∂Φ 2 ∂Φ 2
Z
J{Φ} = + + 2 Φ dA ⇒ Minimum (34.8)
∂x ∂y 6
A 5
zu 34.7 äquivalent ist. Es wird ein Dreieckselement mit 6 Knoten ver-
wendet (Abbildung 34.21). Dies ist einerseits einfach genug, um das 1
Vorgehen zu demonstrieren, andererseits auch bei kompliziert beran- 4 2
deter Fläche anpassungsfähig genug. Die Knoten haben einen Frei-
Abbildung 34.21: Drei-
heitsgrad (Funktionswert Φi ), so dass der Näherungsansatz für Φ
eckselement für die St.-
sechsgliedrig ist und damit etwa die Qualität des im Abschnitt 34.2.3
Venantsche Torsion
diskutierten Sechs-Knoten-Scheibenelements hat.
Für das Aufschreiben der Ansatzfunktionen von Dreieckselementen benutzt
man üblicherweise so genannte Flächenkoordinaten, die auf kartesische Ko-
ordinaten transformiert werden. Darauf kann hier nicht eingegangen werden
(siehe www.TM-aktuell.de). Der gesamte Weg vom Variationsproblem 34.8
über den Ritz-Ansatz und die Minimalbedingungen entspricht aber ansonsten
dem im Abschnitt 33.5.4 für den Biegeträger demonstrierten Weg. Schließlich
entsteht eine der Element-Beziehung 33.62 entsprechende Gleichung:
K e Φ e − f e,red = o . (34.9)
Mit den Abkürzungen
xi j = xi − x j , yi j = yi − y j ,
2 + y2
h11 = x32 , h12 = x13 x32 + y31 y23 , 2 + y2
h22 = x13 ,
23 13
∗
h1 = h11 + h12 , h∗2 = h12 + h22 , 2 A = x21 y31 − x31 y21
34.3 Weitere Elementtypen, Testrechnungen 713
Beispiel:
Für einen Rechteckquerschnitt mit einem Seitenverhältnis hb = 2 ist
das Torsions-Trägheitsmoment zu berechnen. Der Einfluss der Feinheit des Finite-
Elemente-Netzes auf die Genauigkeit des Ergebnisses ist zu untersuchen.
Die Tabelle zeigt einige Ergebnisse für unterschiedlich feine Vernetzung (ein Matlab-Script, mit
dem die Rechnungen nachvollzogen werden können, findet man unter www.TM-aktuell.de):
It
0,2139 0,2246 0,2283 0,2286 0,2287 0,2287
h b3
Mit recht grobem Netz erzielt man schon brauchbare Ergebnisse (man bedenke, dass das Netz
mit 8 Elementen nur einen einzigen Funktionswert Φi 6= 0 für den Punkt in der Mitte erzeugt).
Für sehr feine Netze ändert sich das Ergebnis praktisch nicht mehr. Der Wert, der in der Tabelle
auf Seite 368 angegeben ist, wird bestätigt.
714 34 Methode der finiten Elemente
34.4 Aufgaben
Aufgabe 34.1: 2
Der skizzierte Fachwerkstab wird definiert
durch die jeweils drei Koordinaten seiner Endpunkte und seine 2
Dehnsteifigkeit EA. Es ist die Element-Steifigkeitsmatrix zu er-
2
mitteln, die die sechs skizzierten Knotenkräfte mit den in glei-
che Richtungen zeigenden Knotenverschiebungen verknüpft. 1 1
2
Hinweis: Man folge dem Algorithmus, mit dem im Abschnitt
15.3 die Element-Steifigkeitsmatrix für das zweidimensionale 1
Fachwerk-Element erzeugt wurde. Für die Transformation der 1
2
Stabkraft und der in Stablängsrichtung definierten Verschie- 1
1
bungen auf das skizzierte Koordinatensystem wird das Arbei- 2
ten mit Richtungskosinussen empfohlen (Abschnitt 8.1).
Aufgabe 34.2:
Für einen elastisch gebetteten Biegeträ-
ger ist die Element-Steifigkeitsbeziehung zu ermitteln.
Hinweis: Man folge dem Algorithmus, mit dem im Ab-
schnitt 33.5.4 die Element-Steifigkeitsbeziehung für den
Biegeträger ohne Bettung erzeugt wurde und verwende
auch die dort benutzten Ansatzfunktionen 33.58. Das zur
Differenzialgleichung für den elastisch gebetteten Träger
19.3 äquivalente Variationsproblem kann über die Bezie-
hungen 33.44 und 33.45 formuliert werden.
35 Verifizieren von Computerrechnungen
„Warum muss ich das denn alles lernen, wenn es dafür so komfortable Computerprogamme
gibt?“. Auch wenn diese Frage bereits an mehreren Stellen in diesem Buch beantwortet wurde,
der Hauptgrund wird durch die Überschrift dieses Kapitels gegeben.
Dem fatalen Trend, Berechnungen mit Hilfe des Computers eher zu glauben als der „Handrech-
nung“, folgen glücklicherweise diejenigen am ehesten nicht mehr, die die Berechnungen selbst
durchführen, spätestens dann, wenn sie die Folgen falscher Ergebnisse selbst zu verantworten
haben. Aber bei der Verteidigung der gewonnenen Ergebnisse verzichtet trotzdem kaum jemand
auf den Verweis auf das „bekannte und bewährte Programm“, mit dem sie gewonnen wurden.
Das Problem, ein (auf welchem Wege auch immer gewonnenes) Ergebnis einer Berechnung zu
verifizieren, ist schwierig und mit letzter Konsequenz wohl genauso unmöglich wie der Nach-
weis, dass ein Rechenprogramm korrekt arbeitet. Gerade den mit Computerprogrammen ermit-
telten Ergebnissen sollte Skepsis entgegengebracht werden, weil einige zusätzliche Fehlerquellen
bei der Nutzung von Programmen hinzukommen:
ê Computerprogramme können fehlerhaft sein (und sind es in der Regel auch). Da die gro-
ben Fehler im Allgemeinen in der Testphase bemerkt werden, sind es gerade die speziellen
Probleme, die bei einem auch über lange Zeit zuverlässig arbeitenden Programm plötzlich
zu einem Fehler führen, der sich im „günstigen Fall“ durch einen „Programm-Absturz“ oder
ein eindeutig unsinniges Ergebnis äußert, im wesentlich häufigeren ungünstigen Fall aber
beim Benutzer keine Skepsis gegenüber dem ermittelten Ergebnis hervorruft.
Übrigens: Viele Anwender wären entsetzt, wenn sie wüssten, wie viele Fehler in ihren Pro-
grammen den Software-Herstellern selbst bekannt sind. Diese Fehler werden nicht beseitigt,
weil natürlich jede Programm-Änderung (auch und gerade die Fehlerbeseitigung) Ursache
für neue Fehler sein kann. Außerdem ist die Suche nach Fehler-Ursachen außerordentlich
mühselig und könnte mit Erfolg meist nur von den Programm-Entwicklern erledigt werden,
die schon längst an einem anderen Projekt arbeiten, wenn ein Fehler bekannt wird. Und
noch eine Bemerkung, die auch hin und wieder als kleiner Trost gelten darf: Der gefürchtete
(aber jedem Computer-Benutzer vertraute) „Programm-Absturz“ ist immer ein Fehler der
Software-Entwickler und nicht etwa ein Fehler des Anwenders (ein Programmierer hat für
eine - offensichtlich nicht unrealistische - Situation keine adäquate Reaktion des Programms
vorgesehen).
ê Man kann das falsche Programm einsetzen. Wer einen biegesteifen Rahmen mit einem
Fachwerk-Programm berechnet (und wenn man Pech hat, stürzt das Programm nicht ab)
und sich freut, dass keine Biegemomente (und damit auch nicht die gefährlichen Biegespan-
nungen) hervorgerufen werden, darf das falsche Ergebnis natürlich nicht dem Programm
anlasten.
ê Man kann auch ein zum Problem passendes und richtig rechnendes Programm falsch be-
dienen, indem man ihm falsche Eingabedaten anbietet. Die hierbei wohl häufigsten Fehler
bei Ingenieur-Problemen sind falsche Dimensionen für richtige Zahlenwerte. Viele Program-
me schreiben die Dimensionen der Eingabewerte fest vor oder gestatten dem Benutzer die
Einstellung. Daran muss man sich dann natürlich konsequent halten. Häufiger ist der Fall,
dass keine Vorschriften über die Dimensionen für die Eingabewerte getroffen werden, die
berechneten Ergebnisse orientieren sich dann an den gewählten Dimensionen. In diesem Fall
ist noch größere Konsequenz erforderlich: Wenn zum Beispiel m und kN für Abmessungen
und Kräfte gewählt werden, dann muss der Elastizitätsmodul in der Dimension kN/m2 ein-
gegeben werden, Biegemomente als Ergebnis würde man in diesem Fall in kNm erhalten
(im Allgemeinen ist der Maschinenbauer mit der Wahl „mm und N“ gut beraten, der Bauin-
genieur mag „m und kN“ bevorzugen).
Aber neben der Fehlerquelle „Dimensionen“ kann der Benutzer durch Fehleingaben, häufi-
ger jedoch durch Missverständnisse, unklare Benutzerführung, unzureichende Programmbe-
schreibung usw. noch beliebig viele Fehler produzieren, die vom Programm nicht bemerkt
werden können, so dass dieses ein völlig falsches Ergebnis liefert, das sich mit schönen
farbigen Grafiken so elegant wie ein richtiges Resultat präsentiert.
Mit der zu benutzenden Software sollte man vertraut sein. Dieser Idealzustand ist schon des-
halb bestenfalls vorübergehend erreichbar, weil eine neue Version sich gern auch mit geänderter
Benutzer-Schnittstelle präsentiert. Auf keinen Fall sollte man ein aktuell anstehendes Problem
gleich mit einer bisher nicht genutzten Software angehen, ohne nicht vorher damit eine Aufgabe
mit bekanntem Ergebnis gelöst zu haben.
Für die Einarbeitung in eine neue Software (oder eine neue Version einer bekannten Software) ist
das Lesen von Handbüchern nur bedingt zu empfehlen (für die junge Generation von Computer-
Benutzern ist dieser Hinweis überflüssig, man liest ohnehin keine Handbücher und hat auch eine
starke Abneigung gegen die Benutzung der Hilfe-Funktion). Es gibt nur eine Empfehlung: Man
benutze die Software. Hilfreich kann ein „Tutorial“ sein (man wird „Klick für Klick“ durch
die Lösung eines einfachen Problems geführt). Wenn dies nicht verfügbar ist, versuche man es
mit einer einfachen selbst gewählten Aufgabe mit bekannter Lösung, und wenn man dann doch
irgendwann nicht weiter kommt, kann man immer noch die Hilfe-Funktion oder das Internet
befragen1 .
Das in ein Computerprogramm eingegebene Berechnungsmodell sollte in jedem Fall einer ge-
nauen Kontrolle unterworfen werden. Das mühsame Vergleichen vieler Zahlenwerte wird von
1 Die Autoren dieses Buchs gehören zwar noch der Generation an, die Handbücher gelesen und auch manchmal die
Hilfe-Funktion benutzt hat, aber sie hüten sich davor, die jüngere Generation zu kritisieren, die mit Fragen sofort
ins Internet geht. Gerade dann, wenn man meint, ein Programm müsse doch wohl eine bestimmte Funktion ganz
bestimmt anbieten, man findet sie nur nicht, stellt man fest, dass es anderen auch schon so gegangen ist und irgendwer
Rat wusste.
35.1 Allgemeine Empfehlungen 717
Ergebnisse, die mit Computerprogrammen ermittelt worden sind, sollten unbedingt einer sehr
skeptischen Kontrolle unterzogen werden. Dazu kann man z. B.
À die zu erwartenden Ergebnisse vorher abschätzen und die errechneten Ergebnisse mit
den Schätzungen vergleichen (für den unerfahrenen Anwender meist schwierig), immer-
hin hat man meistens eine recht gute (qualitative) Vorstellung eines sich einstellenden
Verformungszustands bzw. eines zu erwartenden Bewegungsverlaufs,
Á die Erfüllung der Gleichgewichtsbedingungen an Teilsystemen und am Gesamtsystem
(unter Einbeziehung von vorgegebenen und berechneten Kräften) überprüfen,
 auf die Einhaltung physikalischer Gesetzmäßigkeiten achten (Biegemoment am Trä-
gerrand gleich Null, wenn von außen kein Moment eingeleitet wird, Querkraftverlauf in
unbelasteten Abschnitten konstant, Nullstellen der Querkraft, wenn Biegemoment einen
Extremwert hat, Nullstab-Kriterien bei Fachwerken auswerten, berechnete Geschwindig-
keiten sollten deutlich kleiner als die Lichtgeschwindigkeit sein, Temperaturen nicht we-
sentlich unter −273◦ C liegen . . .),
à Kontrollrechnungen mit vereinfachten (überprüfbaren) Modellen durchführen,
Ä Berechnungen nach verschiedenen Verfahren (mit unterschiedlichen Rechenprogram-
men) ausführen, im Idealfall mit einem mathematischen Modell und zusätzlich mit einem
Programm, dem das physikalische Modell beschrieben werden kann,
Å untersuchen, ob nicht wenigstens Teilergebnisse mit erträglichem Aufwand nachge-
rechnet werden können,
Æ zusätzliche Kontrollfunktionen (speziell bei der Integration von Bewegungs-
Differenzialgleichungen) berechnen lassen, wenn man ihren Verlauf (zumindest
qualitativ) voraussagen kann,
Ç bei Finite-Elemente-Berechnungen mehrere Rechnungen mit unterschiedlicher Vernet-
zung und/oder unterschiedlichen Elementtypen durchführen,
È bei Diskretisierungsverfahren (Differenzenverfahren, numerische Lösung von Anfangs-
wertproblemen) mehrfach mit unterschiedlich feiner Schrittweite rechnen.
Zum Beispiel wird für eine nach der Biegetheorie ermittelten analytischen Lösung für die Durch-
biegung einer Welle vorausgesetzt, dass
• die Verformungen „klein“ sind,
• die Querschnittsabmessungen klein gegenüber den Längenabmessungen sind,
• die Schubverformungen vernachlässigt werden dürfen,
• das Materialverhalten ideal-elastisch ist (Gültigkeit des Hookeschen Gesetzes),
• die Querschnitte bei der Verformung eben bleiben,
• Einzelkräfte punktförmig angreifen und entsprechend der Querkraftverteilung in die Quer-
schnitte eingeleitet werden,
• die punktförmig wirkenden Lager starr und in der neutralen Faser angebracht sind,
• der an einer starren Einspannung liegende Querschnitt sich in seiner Fläche ungehindert
verformen kann,
• die in die Rechnung einfließenden Werte (Belastungen, Abmessungen, Materialeigenschaf-
ten) korrekt sind.
Meistens sind auf diesem Weg wesentlich mehr Unsicherheiten in die Rechnung eingeflossen als
selbst durch ein grobes Näherungsverfahren hinzukommen können. Der Ingenieur weiß das und
betrachtet auch analytisch gewonnene Ergebnisse mit der gebührenden Skepsis (und darf darauf
hoffen, dass alle Unwägbarkeiten z. B. durch den Sicherheitsbeiwert aufgefangen werden).
Sehr viele Probleme der technischen Praxis führen (auf der Basis unterschiedlicher Verfah-
ren) auf die Lösung eines sehr großen linearen Gleichungssystems. Bei der Finite-Elemente-
Methode oder dem Differenzenverfahren gilt die Aussage: „Je feiner die Diskretisierung, desto
größer das Gleichungssystem, desto besser die Ergebnisse“.
Weil sich die Rechenzeiten mit modernen Computern auch bei sehr großen
Gleichungssystemen in erträglichen Grenzen halten, wird gern nach dem
Motto „Viel ist besser“ verfahren, das prinzipiell nicht falsch ist, aber ein
zusätzliches Problem erzeugen kann: Wegen der begrenzten Stellenanzahl,
mit der im Computer gerechnet wird, sind alle Operationen zwangsläufig mit
Rundungsfehlern behaftet. Diese können sich durchaus so akkumulieren, dass
das Ergebnis ungenau bis unbrauchbar wird2 .
Die Maßnahmen zur Verifizierung von Computerrechnungen lassen sich nur schwer katego-
risieren (für viele Probleme sind auch mehrere Maßnahmen empfehlenswert). Deshalb wer-
den im folgenden Abschnitt Beispiele vorgestellt, an denen die gegebenen Empfehlungen de-
monstriert werden. Die Auswahl der Beispiele verfolgt einen weiteren Zweck: Es soll gezeigt
werden, dass auf der Basis der Grundlagen der Technischen Mechanik, die in diesem Buch
behandelt wurden, bei Benutzung des Computers auch anspruchsvollere „nicht-akademische“
Probleme gelöst werden können. Die Aufgaben sollen den Übergang zu den (im Allgemeinen
deutlich komplizierteren) Problemen der technischen Praxis markieren.
2 Zu diesem Thema gibt es im Bereich Mathematik für die Technische Mechanik (www.TM-Mathe.de) eine ausführlich
Betrachtung mit mehreren Beispielen, siehe Box auf Seite 73.
35.2 Beispiele 719
35.2 Beispiele
3
Eine Dachkonstruktion wird für die statische Be- 2
3
rechnung wie skizziert modelliert als System aus
vier starren Körpern, die untereinander durch Ge-
2
lenke und zwei einander kreuzende Seile verbun-
den sind. Es sind die Lager-, Gelenk- und Seilkräf-
te zu berechnen.
b c
Gegeben: F , F1 = 2 F , F2 = F , F3 = 3 F , =3, =1.
a a
Vor der Berechnung:
Nach Empfehlung À (Seite 717) kann zwar kein Einzelergebnis vorausgesagt werden, aber ganz
sicher werden die Summe der Horizontalkomponenten der beiden Lagerkräfte gleich F1 und die
Summe ihrer Vertikalkomponenten gleich F2 + F3 sein.
Dies sind für jedes Teilsystem das Kraft-Gleichgewicht in horizontaler und das Kraft-Gleich-
gewicht in vertikaler Richtung, außerdem eine Momenten-Gleichgewichtsbedingung, für die je-
weils als Bezugspunkt der Seilbefestigungspunkt gewählt wird, so dass die schräg angreifenden
720 35 Verifizieren von Computerrechnungen
Ergebnis verifizieren:
ê Die Kontrolle des Kraftgleichgewichts am Gesamtsystem ist einfach. Ohne Rechnung er-
kennt man, dass die äußeren Kräfte mit den Lagerkraftkomponenten im Gleichgewicht sind.
ê Wenn bei der Vorbereitung der Computerrechnung das Aufschreiben möglichst einfacher
Gleichgewichtsbedingungen empfohlen wird, gilt für die Kontrollbedingungen gerade das
Gegenteil: Beim Formulieren des Momenten-Gleichgewichts der äußeren Kräfte sollte man
einen Bezugspunkt wählen, für den alle Kräfte Anteile liefern, hier z. B. den Punkt C.
ê Die Gleichgewichtsbedingungen am Gesamtsystem können auch dem
auf Seite 720 formulierten Gleichungssystem hinzugefügt werden. Dann
entsteht ein System mit 15 Gleichungen für nur 12 Unbekannte. Weil mit
12 Unbekannten im Allgemeinen 15 Gleichungen nicht erfüllt werden
können, kann nur nach den Regeln der Ausgleichsrechnung eine „best-
mögliche Lösung“ berechnet werden. Diese muss in diesem Fall (alle
Gleichgewichtsbedingungen müssen erfüllt sein, auch die äußeren) mit
der Lösung des Systems mit 12 Unbekannten identisch sein3 .
ê Eine besonders bequeme (und wirkungs-
volle) Kontrolle kann mit einem Programm
erreicht werden, dem ein physikalisches
Modell beschrieben wird. Abbildung 35.2
zeigt ein Fachwerk, das als statisch gleich-
wertiges Ersatzsystem nach den im Ab-
schnitt 6.4.4 beschriebenen Regeln gebildet
wurde (um die Ähnlichkeit mit dem Origi-
nalsystem zu verdeutlichen, wurden mehr Abbildung 35.2: Ersatzsystem (Fachwerk)
Stäbe als erforderlich eingebaut).
3 Diese
Möglichkeit wird für das hier behandelte Problem unter www.TM-aktuell.de mit Matlab demonstriert. Zur
Theorie der Lösung überbestimmter Gleichungssysteme (Ausgleichsrechnung) findet man Informationen im Bereich
Mathematik für die Technische Mechanik (www.TM-Mathe.de), siehe Box auf Seite 73.
722 35 Verifizieren von Computerrechnungen
Beispiel 2
(3D-Fachwerk, Kontrollen nach den
Empfehlungen À, Á, Â, Ä und Å von Seite 717)
Die Abbildung 35.5 zeigt, dass der Ausleger als ebenes System betrachtet werden kann,
das über die Seile in den Knoten 46 und 37 befestigt und im Knoten 47 gelenkig gelagert
ist. Dei beiden Teile des Auslegers sind im Knoten 62 durch ein Gelenk verbunden. Mit
einem Schnitt durch Knoten 62 und Seil 182 entsteht ein freies System, an dem die Seilkraft
F182 berechnet werden kann. Danach berechnet man mit einem Schnitt durch Knoten 47
und beide Seile die andere Seilkraft. Dies ist durchaus „von Hand“ möglich. Bequemer ist
natürlich die Kontrollrechnung mit einem Programm zur Berechnung ebener Fachwerke.
Beispiel 3
(Biegeträger, Kontrollen nach den
Empfehlungen À, Á, Â, Ä, Å und
È von Seite 717) 3 0 7 0 1 2
Die Abbildung 35.8 zeigt die Ergebnisse der Berechnung mit einem Pro-
gramm, das auf der Basis des im Abschnitt 18.2 beschriebenen Verfahrens
arbeitet.
Ergebnisse verifizieren:
ê Die Verschiebungen können direkt nur qualitativ überprüft werden, das sich einstellende
Verformungsbild entspricht aber den Erwartungen (Null-Verschiebungen an den Lagern, ho-
rizontale Tangente an der Einspannung, Knick in der Biegelinie am Gelenk).
ê Die Schnittgrößen sind bei den meisten Verfahren (z. B.: Differenzenverfahren, FEM) „se-
kundäre Ergebnisse“, die aus den primär ermittelten Verformungen berechnet werden. Ihre
Kontrolle ist damit auch immer eine indirekte Kontrolle der berechneten Verschiebungen.
Bei dem behandelten Problem können alle Schnittgrößen und Lagerreaktionen im rechten
Teil DEFG des Trägers mit den Mitteln der Statik überprüft werden: Nach einem Schnitt
am Gelenk D können mit Hilfe der drei verfügbaren Gleichgewichtsbedingungen am rech-
ten Teil die beiden Gelenkkräfte und die Lagerkraft bei F (und damit natürlich auch alle
Schnittgrößen in diesem Bereich) berechnet werden. Weil das im Abschnitt 18.2 beschrie-
bene Finite-Elemente-Modell für den geraden Biegeträger die Biegetheorie exakt abbildet,
müssen alle angegebenen Ergebnisse in diesem Rahmen ebenfalls exakt sind.
ê Die Gleichgewichtsbedingungen am Gesamtsystem (äußere Lasten müssen mit den Lager-
reaktionen im Gleichgewicht sein) sollten immer überprüft werden. Und wenn z. B. das
Momenten-Gleichgewicht um den Punkt A
b b 2b
3 q0 b a + + 4 q0 a+ + F1 (a + b + c + d) + F2 (a + b + c + d + e + f )
2 2 3
+ MA − FB a − FC (a + b) − FF (a + b + c + d + e) = 0
erfüllt ist, dann ist das deshalb eine sehr wirksame Kontrolle, weil sowohl die Belastung als
auch die Abmessungen in diese Gleichung einfließen.
ê Die wirksamste Kontrolle ist jedoch das Berechnen nach zwei unter-
schiedlichen Verfahren mit verschiedenen Programmen. Die Abbildung
35.9 zeigt die Ergebnisse, die mit dem Differenzenverfahren ermittelt
wurden. Sie sind zu vergleichen mit den exakten Werten der Berechnung
mit dem Programm „Biegeträger“ (siehe www.TM-aktuell.de).
ren Unterteilung um weniger als 1,5% un- 0 500 1000 1500 2000
x 10
5 Biegemoment
terschieden. 4
2
Lager- bzw. Biege- Absenkung 0
Punkt Gelenk- moment v [mm] −2
kraft [N] Mb [Nm] −4
0 500 1000 1500 2000
A - 1914,5 140,39 0,0000 Querkraft
B 3869,2 - 280,79 0,0000 2000
C 2517,4 - 101,25 0,0000
0
D 482,1 0,00 1,8992
E 130,18 0,6734 −2000
F 2517,9 - 310,00 0,0000 0 500 1000 1500 2000
G 0,00 4,8316
Beispiel 4
(Rahmentragwerk, Kontrollen nach den
Empfehlungen À und Á von Seite 717)
• Für alle Träger gilt: Elastizitätsmodul E = 200 000 N/mm2 ; 6 4500 6000
Querschnittsfläche A = 10 000 mm2 ; Flächenträgheitsmoment 7 4500 3000
I = 108 mm4 . 8 4500 0
Beispiel 5
(Ebene Scheibe, Kontrollen nach den Empfehlungen
Á und Ç von Seite 717)
2
Eine doppeltsymmetrische ebene Rechteck-Scheibe
mit kreisförmigem Ausschnitt ist wie skizziert be- Dicke
lastet.
2
Zu berechnen sind
a) die Änderung des Lochdurchmessers (horizontal und vertikal),
b) der Verlauf der Normalspannung in einem Schnitt AB.
Gegeben: b = 150 mm ; h = 100 mm ; ν = 0, 3 ; E = 2, 1 · 105 N/mm2 ;
R = 50 mm ; t = 5 mm ; F = 20 kN .
Hier bietet sich die Finite-Elemente-Methode (fast alternativlos) an. Die Lö-
sung wurde mit Matlab-Femset erzeugt (siehe www.TM-aktuell.de).
Wegen der doppelten Symmetrie braucht nur ein Vier-
tel der Scheibe betrachtet zu werden. Die Abbildung
35.13 zeigt das mit der Kraft F2 belastete Teilsystem mit
sehr grober Vernetzung, um die Lagerung der Symme-
trieschnitte zu verdeutlichen: Alle Knoten sind frei ver-
schieblich in Richtung des Symmetrieschnitts, senkrecht
F/2
dazu sind die Verschiebungen verhindert.
Weil ein recht gutes Element verwendet wird (siehe
Abschnitt 34.3.1), liefert selbst diese grobe Vernetzung Abbildung 35.13: Viertelscheibe, halbe
schon Ergebnisse brauchbarer Qualität. Last und Symmetrieschnitt-Lagerungen
Die Ergebnisse bei einer Vernetzung mit 80 Acht-Knoten-Elementen genügen den normalen An-
forderungen an die Genauigkeit. Die extrem feinen Vernetzungen mit 1500 bzw. 6000 Elementen
zeigen nur noch sehr kleine Abweichungen. Die Abbildungen 35.14 und 35.15 zeigen die ge-
suchten Ergebnisse für die Vernetzung mit 80 Elementen.
Ergebnisse verifizieren:
ê Ein wesentlicher Schritt zur Verifizierung der Ergebnisse ist bereits mit der Mehrfachrech-
nung mit verschieden feiner Vernetzung erledigt.
35.2 Beispiele 729
σx
ê Die Kraft F erzeugt bei der Durchleitung durch den Schnitt AB eine mittlere Spannung
F
σ x = − 2 (h−R)t = −40 N/mm2 , die einer resultierenden Normalkraft von FN = F2 = 10 000 N
entspricht. Diese Normalkraft müsste sich auch ergeben, wenn man die tatsächliche Span-
nungsverteilung über die Schnittfläche integriert:
Zh
FN = σx t dy .
y=R
Mit den punktweise an den Knoten anfallenden Spannungswerten kann nur numerisch inte-
griert werden, wobei eine einfache Integrationsformel für diese Kontrollrechnung natürlich
ausreichend ist. Mit der Trapezregel errechnet man z. B. bei der Einteilung der Scheibe in 80
Elemente (17 Knoten im Schnitt AB) FN = −9 914 N, bei Vernetzung mit 6 000 Elementen
(121 Knoten im Schnitt AB) FN = −9 999 N.
Beispiel 6
(Ebene Scheibe, Kontrollen nach den 0
Empfehlungen À, Á, Ã und Ç von Seite 717)
3
Eine Wand mit 2 Ausschnitten ist wie
skizziert gelagert und an ihrem oberen
Rand durch eine Kraft F = q0 b belastet, 2 5 5 2
5
die als konstante Linienlast aufgebracht
wird.
Es sind die Verformungen und Spannun- Dicke
gen der als ebene Scheibe zu modellie-
renden Wand zu berechnen. 4
Gegeben:
b = 4 m ; a = 0, 25 m ; ν = 0, 16 ; E = 3 · 107 kN/m2 ; F = 500 kN ;
h = 2, 75 m ; t = 0, 2 m .
Ergebnisse verifizieren:
ê Das in der Abbildung 35.18 zu sehende Verformungsbild (mit stark vergrößerten Verfor-
mungen) erscheint plausibel.
ê Entsprechend Empfehlung Ç von Seite 717 wur- Ele- Kno- vP σx, P
mente ten [mm] [N/m2 ]
den drei Berechnungen mit unterschiedlich feiner
Vernetzung durchgeführt. Die nebenstehende Tabel- 504 1699 −0.227 3032
le zeigt die berechneten Werte für den Referenz- 2016 6423 −0.242 3049
punkt P: Vertikalverschiebung vP und Normalspan- 8064 24943 −0.256 3062
nung σx, P . Die Spannungswerte zeigen bei feinerer
Ergebnisse von drei Rechnungen mit
Vernetzung nur sehr geringe Änderungen. unterschiedlich feiner Vernetzung
Es sollte vermerkt werden, dass alle bisherigen Kontrollen der Lösung dieses Beispiels die Kon-
sistenz der Ergebnisse überprüfte. Systematische Fehler können dabei unbemerkt bleiben. Die
Eingabe eines falschen Elastizitätsmoduls bleibt z. B. unbemerkt, wenn dies nicht zu völlig un-
sinnigen Verformungen führt. Weil der unerfahrene Anwender eines Programms keine Vorstel-
lung von den zu erwartenden Größenordnungen der Ergebnisse hat, ist eine Berechnung nach
einem anderen Verfahren auf der Basis einer anderen Theorie auch dann angebracht, wenn man
dafür ein Modell verwendet, mit dem man zwar nicht die Ergebnisse kontrollieren, immerhin
aber ihre Größenordnung überprüfen kann:
ê Die Scheibe soll als Rahmentragwerk be- 0
3
sind. Die horizontal liegenden Träger haben
Rechteckquerschnitte mit der Breite t (Dicke
der Scheibe) und der Höhe 3 a, die vertikalen
Stiele haben bei gleicher Breite die Höhe 2 a.
Mit der Querschnittsfläche A1 = 2 at für 3
2
einen Stiel ergeben sich die Dehnsteifigkeit
Abbildung 35.21: Rahmentragwerk als (sehr
EA1 = E · 2 at = 3 · 106 kN grobes) Ersatzmodell für die Scheibe
und die Biegesteifigkeit
t (2 a)3
EI1 = E · = 6, 25 · 104 kNm2 .
12
Entsprechend berechnen sich die Steifigkeiten der horizontalen Träger:
EA2 = 4, 5 · 106 kN , EI2 = 2, 11 · 105 kNm2 .
Das Programm „Biege- und dehnsteife ebene Rahmen“ (www.TM-interaktiv.de) liefert die
nachstehend zu sehenden Ergebnisse. Das Verformungsbild ähnelt Abbildung 35.18, die
Vertikalverschiebung v5 liegt in der Größenordnung des für die Scheibe berechneten Wertes
vP . Aus den Schnittgrößen FN und Mb errechnet man für diesen Punkt eine Normalspannung
σx = 4082 kN/m2 , die auch die Größenordnung der Scheibenberechnung bestätigt.
35.2 Beispiele 733
Beispiel 7
(Nichtlineare gedämpfte Schwingung, Kontrollen nach
den Empfehlungen À, Ã, Æ und È von Seite 717)
Weil alle Parameter in dimensionsloser Form gegeben sind, empfiehlt sich eine komplett dimen-
sionslose Rechnung. Mit der bereits für die Bestimmung der Gleichgewichtslage verwendeten
dimensionslosen Koordinate x = ax und der dimensionslosen Zeit
d2x c d2x
r r r
c dx c dx c
τ= t ⇒ =a =a v ⇒ = a
m dt m dτ m dt 2 m dτ 2
kann schließlich folgendes Anfangswertproblem formuliert werden:
p
00 k 0 2 b x mg
x =− √ x −2 1+x − p − ,
mc a 1+x 2 ca
xan f
x(τ = 0) = , x 0 (τ = 0) = v(τ = 0) = 0
a
(der Strich steht für die Ableitung nach der dimensionslosen Zeit τ).
ê Weil sich am Ende des Integrationsintervalls die Masse bereits der Ruhelage annähert, ist in
diesem Fall das letztgenannte Kriterium nur bedingt aussagefähig. Deshalb empfiehlt sich
entsprechend Empfehlung à von Seite 717 eine Kontrollrechnung mit einem vereinfachten
Berechnungsmodell, in diesem Fall bietet sich die Abschaltung der Dämpfung an. Die Ab-
bildung 35.24 zeigt x(τ) für das ungedämpfte System mit den erwarteten gleichbleibenden
Amplituden. Der Zoom in die Spitze der letzten Schwingung im Intervall macht deutlich,
dass tatsächlich die Anfangsauslenkung exakt wieder erreicht wird.
35.2 Beispiele 735
Für das betrachtete System (ohne Dämpfung) errechnet sich die Gesamtenergie aus der po-
tenziellen Energie der schwingenden Masse, aus ihrer kinetischen Energie und der potenzi-
ellen Energie in den Federn. Man bestätigt leicht, dass mit den Parametern der Aufgabe zu
jedem Zeitpunkt die „dimensionslose Energie“ wie folgt aufgeschrieben werden kann:
b 2
p
T mg 1 2 2
T= 2= x+ v + 1+x − .
ca ca 2 a
Allerdings zeigt der „sehr scharfe Zoom“ für die Achse, auf der die dimensionslose Energie
eingetragen ist, dass es doch (in diesem Fall natürlich unwesentliche) Änderungen gibt.
Warum eine genaue Kontrolle der berechneten Werte erforderlich ist, wird mit den Grafiken
in der Abbildung 35.26 deutlich, die zwei Berechnungen für das (gedämpfte) Originalsystem
zeigen: Bei einer geringen Änderung der Anfangsauslenkung (von xan f = 2, 5 auf xan f = 2, 490,
linke Grafik) ergibt sich eine andere Endlage. Für die Anfangsauslenkung xan f = 2, 491 macht
die rechte Grafik deutlich, woran dies liegt: Die Masse kommt bei dem Versuch, die instabile
statische Gleichgewichtslage x0, 2 = 0, 0250 zu überwinden, fast zur Ruhe, „schafft es ein letztes
Mal“ (rechte Grafik) bzw. „schafft es nicht“ (linke Grafik). In solchen Situationen führen kleinste
Verfahrensfehler zu grundlegend falschen Ergebnissen im weiteren Verlauf.
4 4
x Gedämpfte Schwingung x Gedämpfte Schwingung
2 2
0 0
−2 Anfangsauslenkung: −2 Anfangsauslenkung:
xanf = 2,490 xanf = 2,491
τ τ
−4 −4
0 20 40 60 80 100 0 20 40 60 80 100
Abbildung 35.26: Kleine Änderungen mit großen Auswirkungen
736 35 Verifizieren von Computerrechnungen
Beispiel 8
(Doppelpendel, System mit 2 Freiheitsgraden,
Kontrollen nach den Empfehlungen Ä, Æ und È von Seite 717)
1
1
1
Ein Doppelpendel wird definiert durch die beiden Pendel-
massen m1 und m2 , die auf die jeweiligen Schwerpunk-
1
te bezogenen Massenträgheitsmomente JS1 und JS2 , die 1 1
Schwerpunktabstände von den Drehpunkten s1 und s2 und
den Abstand l1 der beiden Drehpunkte voneinander. 2 2
2
Die Bewegung soll durch die Funktionen ϕ1 (t) und ϕ2 (t) 2 2
beschrieben werden, die für das Zeitintervall 0 ≤ t ≤ 10 s
zu berechnen sind.
m2 JS1 1 JS2 1 s1 1 s2 1 g
Gegeben: =1; = ; = ; = ; = ; = 9, 81 s−2 .
m1 m1 l12 12 m1 l12 12 l1 2 l1 2 l1
Die gegebenen Werte gelten für zwei schlanke Stäbe gleicher Mas-
se und gleicher Länge. Sie sollen aus der nebenstehend skizzierten
Anfangslage ohne Anfangsgeschwindigkeiten freigelassen werden,
so dass folgende Anfangsbedingungen gelten:
π
ϕ1 (t = 0) = , ϕ̇1 (t = 0) = 0 ,
2
ϕ2 (t = 0) = 0 , ϕ̇2 (t = 0) = 0 .
Damit wird aus den beiden Differenzialgleichungen 2. Ordnung 33.32 ein System von 4 Diffe-
renzialgleichungen 1. Ordnung, das in Kurzform so formuliert werden kann:
ϕ̇1 = ω1 1 0 0 0 ϕ̇1 ω1
ϕ̇2 = ω2 0 1 0 0 ϕ̇ ω
2 = 2
⇒ ⇒ Mx = r
a11 ω̇1 + a12 ω̇2 = b1 0 0 a11 a12 ω̇1 b1
m2 s2 2 s1 m2 g
und b1 = − ω sin(ϕ1 − ϕ2 ) − + sin ϕ1 ,
m1 l1 2 l1 m1 l1
m2 s2 2 m2 s2 g
b2 = ω1 sin(ϕ1 − ϕ2 ) − sin ϕ2 .
m1 l1 m1 l1 l1
Das Anfangswertproblem wird durch die Matrix M, den Vektor r und die 4 Anfangsbedingungen
vollständig beschrieben und kann z. B. Matlab in dieser Form angeboten werden.
2 2
ϕ1 ϕ
2
0
1
−2 "Salto"
0 −4 "Salto
rückwärts"
−6
−1
−8
t [s] t [s]
−2 −10
0 5 10 0 5 10
Abbildung 35.27: Funktionen ϕ1 (t) und ϕ2 (t) für ein Doppelpendel
In der Abbildung 35.27 sind die Funktionen zu sehen, die sich aus der nu-
merischen Lösung dieses Anfangswertproblems ergeben. Die recht bizarren
Funktionsverläufe spiegeln den tatsächlich außerordentlich komplizierten Be-
wegungsablauf eines solchen Doppelpendels wider. Während das obere Pen-
del eine recht unregelmäßige Schwingung ausführt, beginnt das untere Pen-
del mit einem „Salto“, dem bald darauf ein „Salto rückwärts“ folgt. Unter
www.TM-aktuell.de kann man eine Animation dieser Bewegung sehen.
Ergebnisse verifizieren:
Obwohl nur über einen relativ kleinen Zeitbereich integriert wird, muss das Ergebnis mit der
gebotenen Skepsis betrachtet werden. Deshalb wird hier auch der (häufig unvermeidliche) erste
Fehlversuch der Rechnung vorgestellt.
ê Der Empfehlung Ä von Seite 717 folgend, wird nach zwei verschiedenen Verfahren inte-
griert. Unter www.TM-aktuell.de wird auch die zusätzliche Empfehlung „mit verschiede-
nen Programmen“ berücksichtigt, hier werden nur die mit Matlab gewonnenen Ergebnisse
vorgestellt, um beide in einer Grafik erfassen zu können. Mit folgenden Verfahren wurde
gerechnet:
• Der Matlab-Standard-Solver ode45 (ode steht für „Ordinary Differential Equation“) ar-
beitet mit Formelsätzen 4. und 5. Ordnung. Bei diesem so genannten Dormand-Prince-
Verfahren werden die beiden Ergebnisse am Ende eines jeden Integrationsschrittes ver-
glichen und die Differenz zur automatischen Steuerung der Schrittweite verwendet (sie-
he Abschnitt 28.3.3).
738 35 Verifizieren von Computerrechnungen
ê Die Mehrfachrechnung mit unterschiedlichen Schrittweiten ist bei Problemen dieser Art un-
umgänglich (auch bei Programmen, die die Schrittweite selbst optimieren bzw. mit variablen
Schrittweiten rechnen, wenn diese Programme Optionen für die Strategie anbieten, mit der
dies realisiert wird).
Eine besonders einfache Möglichkeit, die Ergebnis-
se der Berechnungen mit unterschiedlichen Schritt- Zeit- ode45 RK4
schritte ϕ2 (t = 10 s) ϕ2 (t = 10 s)
weiten zu vergleichen, um schließlich die ausrei-
chend feine Diskretisierung zu identifizieren, ist der 457 - 18,880 12,441
Vergleich von Funktionswerten am Ende des Zeit- 2021 - 0,666 1,693
intervalls. Die nebenstehende Tabelle zeigt dies am 4017 1,768 1,775
Beispiel des Endwerts ϕ2 (t = 10 s) für das untere 8017 1,777 1,777
Pendel. Bei etwa 8000 Zeitschritten darf man also
Endlagen des unteren Pendels
dem Ergebnis vertrauen.
Beim Vergleich der beiden verwendeten Verfahren muss zur „Ehrenrettung“ des Dormand-
Prince-Algorithmus vermerkt werden, dass er natürlich qualitativ besser ist als das klassi-
sche Runge-Kutta-Verfahren 4. Ordnung, auch wenn die Ergebnisse in der Tabelle nicht so
aussehen. Matlab liefert standardmäßig bei diesem Verfahren für jeden Integrationsschritt
4 Ergebnisse, die Zwischenwerte werden durch Interpolation ermittelt. Bei der Angabe der
Zeitschritte sind also nur ein Viertel dieser Anzahl als Integrationsschritte ausgeführt wor-
den.
ê Wenn die Möglichkeit besteht, eine Kontrollfunktion zu erzeugen, sollte man dies unbedingt
tun. Da das behandelte Doppelpendel ein konservatives System ist, muss die Gesamtenergie
konstant sein (und zu jedem Zeitpunkt den Wert der potenziellen Energie beim Start der
Bewegung haben). Diese etwas aufwendige Kontrolle ist natürlich sehr wirkungsvoll (und
ist in gewissen Grenzen auch eine Kontrolle des Berechnungsmodells).
Auf Seite 672 findet man die Beziehungen für die potenzielle und die kinetische Energie
während der Bewegung (Null-Potenzial auf der Höhe des Aufhängepunktes A). Mit einigen
elementaren Umformungen lässt sich daraus die „dimensionslose Gesamtenergie“ formulie-
ren:
35.2 Beispiele 739
" 2 # " #
m2 l1 2 1 m2 s2 2
Tges 1 s1 JS1 JS2 l1 2
T ges = = + + ω + + ω
m1 g l1 2 l1 m1 l12 m1 g 1 2 m1 l1 m1 l12 g 2
m2 s2 l1 s1 m2 m2 s2
+ cos(ϕ1 − ϕ2 ) ω1 ω2 − + cos ϕ1 − cos ϕ2 .
m1 l1 g l1 m1 m1 l1
Dieser komplizierte Ausdruck muss für jeden Satz der Bewegungsgrößen ϕ1 , ϕ2 , ω1 und
ω2 eines beliebigen Zeitpunkts t den gleichen Wert ergeben. Es ist die Gesamtenergie, die
bereits am Anfang der Bewegung (als potenzielle Energie) vorhanden ist:
T0 m2 s2 1
T0 = −m2 g s2 ⇒ T0 = =− =− .
m1 g l1 m1 l1 2
stattet, den Maßstab auf der T ges -Achse Abbildung 35.29: Die Gesamtenergie weicht auch
automatisch zu wählen. bei kleinen Schrittweiten noch vom Sollwert ab
• Mit den Variablen u(1), . . . , u(4) und den gegebenen Größen können in so genannten
„Function-Blocks“, hier bezeichnet als „b1“, „a12“, „b2“ und „Kontrollfunktion Tges“, die
für die Definition der Differenzialgleichungen benötigten Ausdrücke formuliert werden (bei
einem Klick auf einen „Function Block“ öffnet sich ein Dialog-Fenster, in das der Ausdruck
eingetragen werden kann).
• Die Weiterverarbeitung erfolgt in „Product-Blocks“ (die kleinen Quadrate mit dem Kreuz),
„Sum-Blocks“ (die kleinen Kreise mit den Symbolen + und -) und „Gain-Blocks“ (Drei-
ecke, die die Multiplikation mit dem reziproken Wert eines Ausdrucks erzeugen), so dass
schließlich die links in das Schema eingeführten Beschleunigungsgrößen entstehen.
Die Rechnung bestätigt die auf anderem Wege gewonnenen Ergebnisse (Abbildung 35.32), die
Funktion Tges (t) signalisiert auch hier, dass immer Vorsicht geboten ist.
Eine Wertung der Simulink-Software findet man nach einem weiteren Beispiel, das damit gelöst
wurde, auf der Seite 746.
Abbildung 35.32: Simulink-Ergebnisse ϕ2 (t) und Tges (t) für das Doppelpendel
742 35 Verifizieren von Computerrechnungen
Beispiel 9
(Laufkatze mit Last, System mit 2 Freiheitsgraden, 0
Berücksichtigung von Ereignissen, Kontrollen nach
den Empfehlungen À, Ä, Æ und È von Seite 717)
Wie dieses Anfangswertproblem der für die Lösung verwendeten Software vermittelt wird, wie
speziell die beiden zeit- bzw. wegabhängigen Ereignisse zu realisieren sind (Matlab bietet dafür
eine spezielle „Event-Strategie“), soll hier nicht diskutiert werden (man findet alles ausführlich
kommentiert unter www.TM-aktuell.de).
Die Abbildung 35.33 zeigt den Verlauf der Bewegungskoordinaten x(t) und ϕ(t) für die Lauf-
katze bzw. die Last. Die Laufkatze bewegt sich erwartungsgemäß zunächst nach rechts und tritt
nach etwa t = 4 s den Rückweg an. Die Last schwingt nach dem Start der Bewegung relativ weit
aus, um dann auf dem Rückweg eine recht regelmäßige Schwingung auszuführen. Es lohnt sich,
speziell das Weg-Zeit-Gesetz für die Laufkatze etwas genauer zu analysieren.
35.2 Beispiele 743
10 1
x[m] ϕ
5
0.5
0
−5
0
−10
−15
−0.5
Laufkatze Last
−20
t[s] t[s]
−25 −1
0 2 4 6 8 10 0 2 4 6 8 10
Abbildung 35.33: Funktionen x(t) und ϕ(t) für die Laufkatze mit pendelnder Last
Die Abbildung 35.34 zeigt einen Zoom in das Bewegungsgesetz der Laufkatze. Bevor sie ihren
Rückweg antritt, gibt es insgesamt fünfmal eine Umkehr der Bewegungsrichtung, erstmals kurz
nach dem Abschalten der Antriebskraft deutlich vor dem Erreichen der Feder.
6
x[m] Umkehr der Bewegungsrichtung nach Kontakt mit der Feder
Es folgt aber unmittelbar eine wei-
tere Umkehr (wie die erste ohne äu- 5
ßere Krafteinwirkung), so dass es
doch zum Anschlag an die Feder 4
kommt.
3
Nach dem (ersten) Kontakt mit der
Umkehr der Bewegungsrichtung
Feder gibt es eine weitere (die drit-
2 ohne äußere Krafteinwirkung
te) Umkehr der Bewegungsrich-
tung ohne äußere Krafteinwir- 1
kung, so dass es zu einem zweiten
Abschalten der Kraft nach t=1s
Anschlag an die Feder kommt, der 0
dann eine recht gleichmäßig verlau-
t[s]
fende Bewegung (Rückweg) einlei- −1
0 1 2 3 4 5
tet.
Abbildung 35.34: Bewegung der Laufkatze
Ergebnisse verifizieren:
ê Der Empfehlung Ä von Seite 717 folgend, wurde nach zwei verschiedenen Verfahren inte-
griert. Unter www.TM-aktuell.de wird auch die zusätzliche Empfehlung „mit verschiedenen
Programmen“ berücksichtigt. Die Übereinstimmung der Ergebnisse ist ein wichtiges Indiz
für ihre Richtigkeit. Die Mehrfachrechnung mit unterschiedlichen Schrittweiten ist bei Pro-
blemen dieser Art zwingend.
Die Ergebnisse für unterschiedliche Schrittweiten Zeitschritte x(t = 10 s) ϕ(t = 10 s)
werden zunächst durch den Vergleich der Funktions-
477 - 24,71 0,1716
werte für x und ϕ am Ende des Zeitintervalls be-
wertet (nebenstehende Tabelle für die Rechnung mit 2021 - 24,76 0,1447
ê Die Bewegung der Laufkatze mit mehrfachem Wechsel der Bewegungsrichtung ist schwer
vorstellbar und kann nur durch die Interaktion zwischen Laufkatze und schwingender Last
erklärt werden. Weil es nicht gerade einfach ist, dies aus den Diagrammen herauszulesen, ist
eine Animation der Bewegung sehr hilfreich. Generell erhält man durch Animationen eine
gute Vorstellung davon, ob die berechneten Bewegungsabläufe plausibel sind.
Unter www.TM-aktuell.de kann man sich die Bewegung ansehen und sehr schön erkennen,
wie die pendelnde Last die Laufkatze beeinflusst. Abbildung 35.35 zeigt einige Bilder aus
dem Zeitbereich, in dem nach Abschalten der Kraft die Laufkatze zum ersten Mal (ohne
äußeren Einfluss) ihre Bewegungsrichtung ändert.
ê Es bietet sich an, die Energiekurve als Kontrollfunktion parallel zur nu-
0-Pot.
merischen Integration der Bewegungs-Differenzialgleichungen zu ermit-
teln. Die kinetische Energie wurde bereits für die Aufstellung der Dif-
ferenzialgleichungen benötigt (Seite 675). Die potenzielle Energie soll
auch nur für das bewegte System berücksichtigt werden (während des
Kontakts mit der Feder ist auch in dieser potenzielle Energie gespei-
chert). Mit dem Null-Potenzial entsprechend Abbildung 35.36 gilt dann
Abbildung 35.36:
für die Gesamtenergie:
Null-Potenzial
1 1 1
Tges = mK v2 + mL (v2 + lS2 ω 2 + 2 lS v ω cos ϕ) + JL ω 2 − mL g lS cos ϕ .
2 2 2
Die Abbildung 35.37 zeigt die Funktion Tges (t). Erst bei 8000 Zeitschritten hat die Kurve
für t > 1 s den zu erwartenden horizontalen Verlauf. Die beiden „Zacken“ kennzeichnen die
vorübergehende Abgabe von Energie an die Feder.
4
x 10
0
Tges[Nm]
−0.5 Tges = −12296 Nm
Kontakt mit der Feder
−1
−1.5
Potenzielle Energie der Last im Ruhezustand t[s]
−2
0 2 4 6 8 10
Abbildung 35.37: Gesamtenergie im bewegten System
35.2 Beispiele 745
Die Energiefunktion startet mit dem Wert für die potenzielle Energie der Last im Ruhezu-
stand
Tges (t = 0) = −mL g lS = −19 620 Nm .
Die Arbeit der konstanten Kraft F0 auf dem Weg von x = 0 bis x1 = x(t = 1 s) = 3, 662 m
erhöht die Energie im bewegten System auf den Endwert
Tges (t = 0) + F0 x1 = −12 296 Nm .
Genau dieser Wert stellt sich ein.
Unter www.TM-aktuell.de findet man die komplette Simulink-Rechnung mit dem Blockschalt-
bild und detaillierter Beschreibung.
746 35 Verifizieren von Computerrechnungen
Abbildung 35.38: Simulink-Ergebnisse x(t) und Tges (t) für die Laufkatze
Kreissektor, 33 Gelenkkraftkomponente, 63
Online-Berechnung, 35, 46 Gelenksysteme, 63
Polygon, 38 Generalisierte Koordinaten, 656, 668
Polygon mit Ausschnitten, 40 Generalisierte Kräfte, 668
Polygon mit Matlab, 40 Geometrie-Information, 87
Programm, 35 Geometrische Randbedingung, 258, 677
rechtwinkliges Dreieck, 32 Gerader Stoß, 601
Flächenträgheitsmoment, 217, 220, 227, 346 Geradlinige Bewegung, 457, 466
Online-Berechnung, 234 Gerber-Träger, 62
Polygonzug, 235 Gesamtbeschleunigung, 480, 491
Flächentragwerke, 385, 445 Gesamtgeschwindigkeit, 491
Flansch, 349 Gesamtverformung, 358
Fließgrenze, 171 Geschlitzter Kreisring, 326
Fliehkraft, 448, 521, 629 Geschlossene Querschnitte, 369
Fliehkraftbelastung, 449 Geschoss, 608
Flugbahn, 517 Geschwindigkeit, 457, 491, 543
Formänderungsenergie, 421, 676 Geschwindigkeitsvektor, 463, 480
Formelsatz, 113, 149 Gestaltänderungshypothese, 401, 451
Formzahl, 177 Gestaltfestigkeit, 177
Freie Schwingung, 613, 633 Getriebe, 638
Freier Fall, 461 Getriebegehäuse, 119
Freier Vektor, 122 Getriebeglied, 473
Freiheitsgrad, 49, 483, 506, 633 Getriebesynthese, 476
Freischneiden, 6, 572 Getriebewelle, 402
Freiwerte, 695 Gewöhnliche Differenzialgleichung, 314
Frequenz, 611 Gewichtskraft, 1, 533
Fuge, 347, 354 Givens-Rotation, 419
Fügestelle, 394 Gleichförmige Bewegung, 460
Führungsbeschleunigung, 497, 505 Gleichgewicht, 4, 200, 656
Führungsbewegung, 499, 524, 592 ebenes Kraftsystem, 47
Führungsgeschwindigkeit, 497, 504 räumliche Probleme, 126
Fundament, 654 zentrales ebenes Kraftsystem, 13
Fundamentalsystem, 448 Gleichgewichtsbedingungen, 13, 47, 110, 126
Fundamentmasse, 628 Gleichgewichtslage, 148, 660, 733
Funktionensatz, 511 Gleichungssystem, 73
überbestimmtes, 79
Gaßner-Kurve, 181 Gleitlager, 51
Gaußscher Integralsatz, 382 Gleitmodul, 172
Gedämpfte Schwingung, 620, 733 Gleitreibung, 134, 518, 572
Geführter Kreisel, 590 Gleitreibungskoeffizient, 518
Gegengewicht, 507 Gleitstein, 460, 468, 530
Gekrümmte Träger, 323 Gleitung, 169
Gelenk, 62, 283 Gleitwinkel, 169, 361
Gelenkiges Lager, 50 Grafische Lösungen, 11
752 Sachwortverzeichnis